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Campbell
Biologie
10., aktualisierte Auflage

Reece Ě Urry Ě Cain Ě Wasserman


Minorsky Ě Jackson

Deutsche Ausgabe herausgegeben von


Jürgen J. Heinisch und Achim Paululat
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Authorized translation from the English language edition,entitled CAMPBELL BIOLOGY, 10th Edition by JANE REECE; LISA URRY;
MICHAEL CAIN; STEVEN WASSERMAN; PETER MINORSKY; ROBERT JACKSON, published by Pearson Education, Inc,
publishing as Benjamin Cummings, Copyright © 2014.

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GERMAN language edition published by PEARSON DEUTSCHLAND GMBH, Copyright © 2016.

10 9 8 7 6 5 4 3 2 1

20 19 18 17 16

ISBN 978-3-86894-259-0 (Buch)


ISBN 978-3-86326-725-4 (E-Book)

© 2016 by Pearson Deutschland GmbH


Lilienthalstraße 2, D-85399 Hallbergmoos/Germany
Alle Rechte vorbehalten
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Übersetzung und Fachlektorat:


Prof. Dr. Achim Paululat (Kapitel 1, 28, 40, 46, 47); apl. Prof. Dr. Siegfried Engelbrecht-Vandré (Kapitel 2–9); Prof. Dr. Renate Scheibe
(Kapitel 10, 36, 37, 39); Dr. Anja Lorberg (Kapitel 11); Priv. Doz. Dr. Hans-Peter Schmitz (Kapitel 12, 19, 21); Priv. Doz. Dr.Knut Jahreis
(Kapitel 13–17); Prof. Dr. Jürgen Heinisch (Kapitel 18, 20, 31); Prof. Dr. Sabine Zachgo/Dr. Andrea Busch (Kapitel 22–25); apl. Prof.
Dr. Günter Purschke (Kapitel 26, 32–34); Dr. Gabi Deckers-Hebestreit/Dr. Petra Zimmann (Kapitel 27); apl. Prof. Dr. Klaus Mummen-
hoff (Kapitel 29–30); apl. Prof. Dr. Barbara Neuffer (Kapitel 35, 38); Priv. Doz. Dr. Thomas Krüppel (Kapitel 41–43); Prof. Dr. Hans
Merzendorfer (Kapitel 44–45); Prof. Dr. Roland Brandt/Dr. Lidia Bakota/apl. Prof. Dr. Gunnar Jeserich (Kapitel 48–50); Prof. Dr. Lars
Lewejohann/Prof. Dr. Susanne Menzel (Kapitel 51); Prof. Dr. Thomas Fartmann (Kapitel 52–56)
Korrektorat: Toni Schmid, Puchheim (Kapitel 3, 4, 6–15, 17–21, 28–31, 33, 36, 37, 39, 41, 44–47, 50);
Isabelle de la Rosée, Höhenkirchen-Siegertsbrunn (Kapitel 1, 2, 5, 16, 22–27, 32, 34, 35, 38, 40, 42, 43, 48, 49, 51–56)
Programmleitung: Kathrin Mönch, kmoench@pearson.de
Lektorat: Elisabeth Prümm, epruemm@pearson.de
Herstellung: Claudia Bäurle, cbaeurle@pearson.de
Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)
Coverillustration: www.shutterstock.com, fotografiert in Masai Mara, Kenia
Druck und Verarbeitung: Neografia, a.s., Martin-Priekopa

Printed in Slovakia
Inhaltsübersicht
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe XXXV
Vorwort zur 10. deutschen Auflage des Campbell XXXVIII
Was den Campbell auszeichnet XLIII

Kapitel 1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung . . . . . . . . . . . . . . 1

Teil I Die chemischen Grundlagen des Lebens 37

Kapitel 2 Der chemische Kontext des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39


Kapitel 3 Wasser und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Kapitel 4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Kapitel 5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Teil II Die Zelle 125

Kapitel 6 Ein Rundgang durch die Zelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127


Kapitel 7 Struktur und Funktion biologischer Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Kapitel 8 Einführung in den Stoffwechsel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Kapitel 9 Zelluläre Atmung und Gärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Kapitel 10 Photosynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Kapitel 11 Zelluläre Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Kapitel 12 Der Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Teil III Genetik 323

Kapitel 13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325


Kapitel 14 Mendel und das Genkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
Kapitel 15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Kapitel 16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
Kapitel 17 Vom Gen zum Protein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
Kapitel 18 Regulation der Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
Kapitel 19 Viren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
Kapitel 20 Gentechnik in der Biotechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
Kapitel 21 Genome und ihre Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565

Teil IV Evolutionsmechanismen 597

Kapitel 22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie –


Abstammung mit Modifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
Kapitel 23 Die Evolution von Populationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Kapitel 24 Die Entstehung der Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649
Kapitel 25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
Inhaltsübersicht

Teil V Die Evolutionsgeschichte der biologischen Vielfalt 707

Kapitel 26 Der phylogenetische Stammbaum der Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709


Kapitel 27 Bacteria und Archaea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737
Kapitel 28 Protisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769
Kapitel 29 Die Vielfalt der Pflanzen I: Wie Pflanzen das Land eroberten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801
Kapitel 30 Die Vielfalt der Pflanzen II: Evolution der Samenpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825
Kapitel 31 Pilze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 851
Kapitel 32 Eine Einführung in die Diversität und Evolution der Metazoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875
Kapitel 33 Eine Einführung in die wirbellosen Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895
Kapitel 34 Herkunft und Evolution der Wirbeltiere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937

Teil VI Pflanzen – Form und Funktion 991

Kapitel 35 Pflanzenstruktur, Wachstum und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993


Kapitel 36 Stoffaufnahme und Stofftransport bei Gefäßpflanzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023
Kapitel 37 Boden und Pflanzenernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1049
Kapitel 38 Fortpflanzung und Biotechnologie der Angiospermen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1069
Kapitel 39 Pflanzenreaktionen auf innere und äußere Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1097

Teil VII Tiere – Form und Funktion 1135

Kapitel 40 Grundprinzipien tierischer Form und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1137


Kapitel 41 Hormone und das endokrine System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1169
Kapitel 42 Die Ernährung der Tiere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1195
Kapitel 43 Kreislauf und Gasaustausch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1229
Kapitel 44 Das Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1269
Kapitel 45 Osmoregulation und Exkretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1303
Kapitel 46 Fortpflanzung der Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1333
Kapitel 47 Entwicklung der Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1365
Kapitel 48 Neurone, Synapsen und Signalgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1399
Kapitel 49 Nervensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1419
Kapitel 50 Sensorische und motorische Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1447
Kapitel 51 Tierisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1487

Teil VIII Ökologie 1517

Kapitel 52 Ökologie und die Biosphäre: Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1519


Kapitel 53 Populationsökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1557
Kapitel 54 Ökologie der Lebensgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1589
Kapitel 55 Ökosysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1625
Kapitel 56 Naturschutz und Renaturierungsökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1657
Anhang A: Lösungen 1687
Anhang B: Anleitungen zu den wissenschaftlichen Übungen 1759
Anhang C: Weiterführende Literatur 1763
Anhang D: Bildnachweis 1765
Anhang E: Stichwortverzeichnis 1775

VI
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe XXXV

Vorwort zur 10. deutschen Auflage des Campbell XXXVIII

Was den Campbell auszeichnet XLIII

Kapitel 1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung 1


1.1 Theorien und Konzepte verbinden die Disziplinen der Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1.1 Jede Organisationsebene in der biologischen Hierarchie ist durch emergente
Eigenschaften charakterisiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.1.2 Die Kontinuität des Lebens beruht auf vererbbarer Information in Form von DNA . . . 8
1.1.3 Die Energieumwandlung durch belebte Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.1.4 Vom Ökosystem zum Molekül – Wechselwirkungen sind wichtig in biologischen
Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.1.5 Evolution, der große, die gesamte Biologie überspannende Bogen . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.2 Einheitlichkeit und Vielfalt der Organismen sind das Ergebnis der Evolution . . . . . . . . . . . . . . 14
1.2.1 Ordnung in die Vielfalt der Lebewesen bringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1.2.2 Charles Darwin und die Theorie der natürlichen Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1.2.3 Der Stammbaum des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1.3 Naturwissenschaftler verwenden unterschiedliche Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
1.3.1 Biologie als empirische Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.3.2 Induktion und empirische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
1.3.3 Hypothesen in der Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
1.3.4 Naturwissenschaftliche Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
1.3.5 Fallstudie: Die Erforschung der Mimikry an Schlangenpopulationen . . . . . . . . . . . . . . 26
1.3.6 Die Planung von Kontrollexperimenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1.3.7 Wissenschaftstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
1.4 Wissenschaftskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1.4.1 Auf den Erkenntnissen anderer Wissenschaftler und Vorgänger aufbauen . . . . . . . . . . 29
1.4.2 Naturwissenschaft, Technik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1.4.3 Die Bedeutung unterschiedlicher Standpunkte in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 31

Teil I Die chemischen Grundlagen des Lebens 37

Kapitel 2 Der chemische Kontext des Lebens 39


2.1 Materie besteht aus chemischen Elementen und Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.1.1 Elemente und Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.1.2 Elemente des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.1.3 Fallstudie: Toleranzbildung bei toxischen Elementen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.2 Die Atomstruktur bedingt die Eigenschaften eines Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.2.1 Subatomare Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.2.2 Ordnungszahl und Massenzahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.2.3 Isotope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
2.2.4 Die Energieniveaus von Elektronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
2.2.5 Elektronenverteilung und chemische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
2.2.6 Atomorbitale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Inhaltsverzeichnis

2.3 Die Bildung und Funktion von Molekülen hängen von den chemischen Bindungen
zwischen den Atomen ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
2.3.1 Die kovalente Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
2.3.2 Die Ionenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
2.3.3 Schwache, nichtkovalente Bindungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
2.3.4 Molekülform und -funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
2.4 Bindungen werden im Verlauf chemischer Reaktionen gebildet und gebrochen . . . . . . . . . . . . 55

Kapitel 3 Wasser und Leben 61


3.1 Wasserstoffbrückenbindungen sind eine Folge der Polarität des Wassermoleküls . . . . . . . . . . . 62
3.2 Das Leben auf der Erde hängt vom Wasser ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
3.2.1 Kohäsion und Adhäsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
3.2.2 Ausgleich von Temperaturunterschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.2.3 Schwimmendes Eis als Garant für den Lebensraum Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.2.4 Des Lebens Lösungsmittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
3.2.5 Leben auf anderen Planeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
3.3 Organismen benötigen zum Leben bestimmte Säure/Base-Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
3.3.1 Säuren und Basen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.3.2 Die pH-Skala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
3.3.3 Puffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
3.3.4 Gefährdungen der Wasserqualität auf der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Kapitel 4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens 79


4.1 Organische Chemie ist die Chemie der Kohlenstoffverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
4.1.1 Organische Moleküle und die Entstehung des Lebens auf der Erde. . . . . . . . . . . . . . . . 81
4.2 Kohlenstoffatome können komplexe Makromoleküle bilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
4.2.1 Das Entstehen von Kohlenstoff-Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
4.2.2 Molekulare Vielfalt durch Variation des Kohlenstoffgerüsts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
4.3 Wenige funktionelle Gruppen entscheiden über die biologische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
4.3.1 Die für die Lebensprozesse wichtigsten funktionellen Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
4.3.2 ATP: Eine wichtige Energiequelle zellulärer Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
4.3.3 Die chemischen Elemente des Lebens: Eine Rückschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Kapitel 5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle 93


5.1 Makromoleküle sind aus Monomeren aufgebaute Polymere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
5.1.1 Synthese und Abbau von Polymeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
5.1.2 Die Vielfalt der Polymere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5.2 Kohlenhydrate dienen als Brenn- und Baustoffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5.2.1 Zucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5.2.2 Polysaccharide. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
5.3 Lipide bilden eine heterogene Gruppe hydrophober Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
5.3.1 Fette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
5.3.2 Phospholipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
5.3.3 Steroide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.4 Proteine: Funktionsvielfalt durch Strukturvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
5.4.1 Aminosäure-Monomere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
5.4.2 Polypeptide (Aminosäurepolymere). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
5.4.3 Proteinstruktur und -funktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
5.5 Nucleinsäuren speichern, übertragen und verwerten Erbinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
5.5.1 Aufgaben von Nucleinsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
5.5.2 Bestandteile von Nucleinsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
5.5.3 DNA- und RNA-Strukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
5.6 Biologie im Wandel durch Genomik und Proteomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
5.6.1 DNA und Proteine als Zeitmaß der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

VIII
Inhaltsverzeichnis

Teil II Die Zelle 125

Kapitel 6 Ein Rundgang durch die Zelle 127


6.1 Mikroskopie und biochemische Analytik für das Studium von Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
6.1.1 Mikroskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
6.1.2 Zellfraktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
6.2 Eukaryontische Zellen sind kompartimentiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
6.2.1 Vergleich prokaryontischer mit eukaryontischen Zellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
6.2.2 Die eukaryontische Zelle im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
6.3 Die genetischen Anweisungen eukaryontischer Zellen finden sich im Zellkern,
ihre Umsetzung erfolgt durch die Ribosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
6.3.1 Der Zellkern: die Informationszentrale der Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
6.3.2 Ribosomen: die Proteinfabriken der Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
6.4 Das Endomembransystem steuert den Proteinverkehr und wirkt im Zwischenstoffwechsel mit . . . 140
6.4.1 Das endoplasmatische Reticulum: die biosynthetische Fabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
6.4.2 Der Golgi-Apparat: Logistikzentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
6.4.3 Lysosomen: Verdauungs-Kompartimente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
6.4.4 Vakuolen: vielseitige Mehrzweckorganellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
6.4.5 Das Endomembransystem im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
6.5 Mitochondrien und Chloroplasten arbeiten als Energiewandler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
6.5.1 Die evolutionäre Herkunft von Mitochondrien und Chloroplasten . . . . . . . . . . . . . . . . 146
6.5.2 Mitochondrien: Umwandlung chemischer Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
6.5.3 Chloroplasten: Einfangen von Lichtenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
6.5.4 Peroxisomen: Weitere Oxidationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
6.6 Das Cytoskelett ist ein Netzwerk aus Filamenten zur Organisation von zellulären Strukturen . . . 149
6.6.1 Funktionen des Cytoskeletts: Stütze und Beweglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
6.6.2 Bestandteile des Cytoskeletts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
6.7 Zelluläre Aktivitäten werden durch extrazelluläre Komponenten und direkte
Zell-Zell-Verbindungen koordiniert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
6.7.1 Pflanzenzellwände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
6.7.2 Die extrazelluläre Matrix tierischer Zellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
6.7.3 Zell-Zell-Verbindungen (interzelluläre Verbindungen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
6.7.4 Die Zelle: eine lebendige Einheit, mehr als die Summe ihrer Teile . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Kapitel 7 Struktur und Funktion biologischer Membranen 163


7.1 Zellmembranen sind ein flüssiges Mosaik aus Lipiden und Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
7.1.1 Die Fluidität von Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
7.1.2 Membranproteine und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
7.1.3 Die Rolle von Membran-Kohlenhydraten bei der Zell-Zell-Erkennung . . . . . . . . . . . . . 168
7.1.4 Synthese und topologische Asymmetrie von Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
7.2 Membranen sind aufgrund ihrer Struktur selektiv permeabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
7.2.1 Die Permeabilität der Lipiddoppelschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
7.2.2 Transportproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
7.3 Passiver Transport ist die energieunabhängige Diffusion einer Substanz durch eine Membran . . 171
7.3.1 Osmotische Effekte und die Wasserbalance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
7.3.2 Erleichterte Diffusion: Protein-gestützter passiver Transport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
7.4 Aktiver Transport ist die energieabhängige Bewegung von Stoffen entgegen ihrem
Konzentrationsgradienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
7.4.1 Der Energiebedarf des aktiven Transportes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
7.4.2 Wie Ionenpumpen das Membranpotenzial aufrechterhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
7.4.3 Cotransport: Gekoppelter Transport durch ein Membranprotein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
7.5 Endocytose und Exocytose vermitteln den Großteil des Transportes durch die
Plasmamembran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
7.5.1 Exocytose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
7.5.2 Endocytose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

IX
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 8 Einführung in den Stoffwechsel 185


8.1 Der Stoffwechsel von Organismen wandelt Stoffe und Energie gemäß den Gesetzen der
Thermodynamik um . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
8.1.1 Die biochemischen Prozesse sind in Stoffwechselpfaden organisiert . . . . . . . . . . . . . . 186
8.1.2 Energieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
8.1.3 Die Gesetze der Energietransformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
8.2 Die Änderung der freien Enthalpie entscheidet über die Richtung, in der eine Reaktion abläuft. . . 190
8.2.1 Die Änderung der freien Enthalpie (ΔG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
8.2.2 Freie Enthalpie, Stabilität und chemisches Gleichgewicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
8.2.3 Freie Enthalpie und Stoffwechsel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
8.3 ATP ermöglicht Zellarbeit durch die Kopplung von exergonen an endergone Reaktionen . . . . 194
8.3.1 Struktur und Hydrolyse von ATP. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
8.3.2 Wie durch die Hydrolyse von ATP Arbeit geleistet wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
8.3.3 Die Regeneration des ATP. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
8.4 Enzyme beschleunigen metabolische Reaktionen durch das Absenken von Energiebarrieren. . 197
8.4.1 Die Aktivierungsenergie als Hürde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
8.4.2 Wie Enzyme Reaktionen beschleunigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
8.4.3 Die Substratspezifität von Enzymen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
8.4.4 Katalyse im aktiven Zentrum des Enzyms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
8.4.5 Die Abhängigkeit der Enzymaktivität von Umgebungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . 201
8.5 Die Regulation der Enzymaktivität hilft bei der Kontrolle des Stoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . 205
8.5.1 Allosterische Regulation von Enzymen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
8.5.2 Allosterische Aktivierung und Hemmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
8.5.3 Die spezifische Lokalisation von Enzymen in der Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Kapitel 9 Zelluläre Atmung und Gärung 211


9.1 Katabole Stoffwechselwege liefern Energie durch die Oxidation organischer Brennstoffe. . . . . 212
9.1.1 Katabole Stoffwechselwege und die ATP-Produktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
9.1.2 Redoxreaktionen: Oxidation und Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
9.1.3 Die Stadien der Zellatmung: Eine Vorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
9.2 Die Glykolyse gewinnt chemische Energie aus der Oxidation von Glucose zu Pyruvat . . . . . . . 218
9.3 Nach der Pyruvat-Oxidation vervollständigt der Citratzyklus die energieliefernde
Oxidation organischer Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
9.3.1 Oxidation von Pyruvat zu Acetyl-CoA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
9.3.2 Der Citratzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
9.4 Die oxidative Phosphorylierung verknüpft den Elektronentransport über eine
chemiosmotische Kopplung mit der ATP-Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
9.4.1 Die Elektronentransportkette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
9.4.2 Die chemiosmotische Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
9.4.3 Eine Bilanzierung der ATP-Produktion durch die Zellatmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
9.5 ATP kann auch ohne Sauerstoff durch Gärung oder anaerobe Atmung erzeugt werden . . . . . . 231
9.5.1 Verschiedene Gärungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
9.5.2 Ein Vergleich von Gärung und aerober Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
9.5.3 Die evolutionäre Bedeutung der Glykolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
9.6 Die Glykolyse und der Citratzyklus sind vielfach mit anderen Stoffwechselwegen verknüpft . . . 234
9.6.1 Die Vielseitigkeit des Katabolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
9.6.2 Biosynthesen (anabole Stoffwechselwege). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
9.6.3 Die Regulation der Zellatmung durch Rückkopplungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . 235

Kapitel 10 Photosynthese 241


10.1 Die Photosynthese wandelt Lichtenergie in chemische Energie um . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
10.1.1 Chloroplasten: Die Orte der Photosynthese in Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
10.1.2 Der Weg einzelner Atome im Verlauf der Photosynthese: Wissenschaftliche Forschung . . 244
10.1.3 Zwei Teilschritte der Photosynthese: Eine Vorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

X
Inhaltsverzeichnis

10.2 Die Lichtreaktionen wandeln Sonnenenergie in chemische Energie in Form von ATP
und NADPH um . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
10.2.1 Die Natur des Lichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
10.2.2 Photosynthesepigmente: Die Lichtrezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
10.2.3 Anregung von Chlorophyll durch Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
10.2.4 Photosystem = Reaktionszentrum + Lichtsammelkomplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
10.2.5 Der lineare Elektronenfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
10.2.6 Der zyklische Elektronenfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
10.2.7 Der chemiosmotische Prozess in Chloroplasten und Mitochondrien im Vergleich . . . . 255
10.3 Der Calvin-Zyklus benutzt ATP und NADPH, um CO2 in Zucker umzuwandeln . . . . . . . . . . . . 257
10.4 In heißen, trockenen Klimazonen haben sich entwicklungsgeschichtlich alternative
Mechanismen der Kohlenstofffixierung herausgebildet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
10.4.1 Die Photorespiration: Ein Überbleibsel der Evolution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
10.4.2 C4-Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
10.4.3 CAM-Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
10.4.4 Die Bedeutung der Photosynthese: Eine Rückschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Kapitel 11 Zelluläre Kommunikation 271


11.1 Externe Signale werden in intrazelluläre Antworten umgewandelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
11.1.1 Evolution der zellulären Signalverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
11.1.2 Signalwirkungen über kurze und lange Distanzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
11.1.3 Die drei Stadien der zellulären Signaltransduktion: Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . 275
11.2 Signalwahrnehmung: Ein Signalmolekül bindet an ein Rezeptorprotein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
11.2.1 Rezeptorproteine in der Plasmamembran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
11.2.2 Intrazelluläre Rezeptorproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
11.3 Signalübertragung: Wechselwirkungen auf molekularer Ebene leiten stufenweise das
Signal vom Rezeptor an Zielmoleküle in der Zelle weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
11.3.1 Signaltransduktionswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
11.3.2 Proteinphosphorylierung und Proteindephosphorylierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
11.3.3 Kleine Moleküle und Ionen als sekundäre Botenstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
11.4 Die zelluläre Antwort: Signalwege steuern die Transkription oder Aktivitäten im
Cytoplasma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
11.4.1 Regulationen im Zellkern und im Cytoplasma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
11.4.2 Feinabstimmung der Antwort auf Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
11.5 Die Verschaltung verschiedener Signaltransduktionswege bei der Apoptose . . . . . . . . . . . . . . . 291
11.5.1 Apoptose beim Fadenwurm Caenorhabditis elegans. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
11.5.2 Die verschiedenen Wege der Apoptose und ihre auslösenden Signale . . . . . . . . . . . . . 292

Kapitel 12 Der Zellzyklus 299


12.1 Aus der Zellteilung gehen genetisch identische Tochterzellen hervor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
12.1.1 Die Organisation des genetischen Materials in der Zelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
12.1.2 Die Verteilung der Chromosomen bei der eukaryontischen Zellteilung. . . . . . . . . . . . . 301
12.2 Der Wechsel von Mitose und Interphase im Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
12.2.1 Die Phasen des Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
12.2.2 Der Spindelapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
12.2.3 Die Cytokinese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
12.2.4 Zweiteilung bei Bakterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
12.2.5 Die Evolution der Mitose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
12.3 Der eukaryontische Zellzyklus wird durch ein molekulares Kontrollsystem gesteuert . . . . . . . 311
12.3.1 Hinweise auf die Existenz cytoplasmatischer Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
12.3.2 Das Zellzyklus-Kontrollsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
12.3.3 Der Verlust der Zellzyklus-Kontrolle bei Krebszellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

XI
Inhaltsverzeichnis

Teil III Genetik 323

Kapitel 13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung 325


13.1 Gene werden auf Chromosomen von den Eltern an ihre Nachkommen weitergegeben . . . . . . . 326
13.1.1 Die Vererbung von Genen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
13.1.2 Ein Vergleich von geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung . . . . . . . . . 327
13.2 Befruchtung und Meiose wechseln sich beim geschlechtlichen Generationswechsel ab . . . . . . 328
13.2.1 Die Chromosomensätze menschlicher Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
13.2.2 Das Verhalten der Chromosomensätze im menschlichen Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . 330
13.2.3 Die Vielfalt der Lebenszyklen bei der geschlechtlichen Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . 331
13.3 In der Meiose wird der diploide auf einen haploiden Chromosomensatz reduziert . . . . . . . . . . 332
13.3.1 Die Meiosestadien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
13.3.2 Mitose und Meiose im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
13.4 Die geschlechtliche Fortpflanzung erhöht die genetische Variabilität – ein wichtiger Motor
der Evolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
13.4.1 Ursprung der genetischen Variabilität unter Nachkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
13.4.2 Die Bedeutung der genetischen Variabilität von Populationen für die Evolution . . . . . 341

Kapitel 14 Mendel und das Genkonzept 345


14.1 Das wissenschaftliche Vorgehen von Mendel führte zu den Gesetzen der Vererbung. . . . . . . . . 346
14.1.1 Mendels quantitativ-experimenteller Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
14.1.2 Die Spaltungsregel (Zweite Mendel’sche Regel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
14.1.3 Die Unabhängigkeitsregel (Dritte Mendel’sche Regel). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
14.2 Die Mendel’sche Vererbung von Merkmalen unterliegt den Gesetzen der Statistik . . . . . . . . . . 355
14.2.1 Die Anwendung von Multiplikations- und Additionsregel auf Einfaktor-Kreuzungen . . 355
14.2.2 Die Lösung komplexer genetischer Probleme mit den Regeln der
Wahrscheinlichkeitsrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
14.3 Die Mendel’schen Regeln reichen nicht zur Erklärung aller Erbgänge aus . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
14.3.1 Die Erweiterung der Mendel’schen Regeln bei einzelnen Genen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
14.3.2 Die Erweiterung der Mendel’schen Regeln auf die Wechselwirkungen von Genen . . . 360
14.3.3 Gene und Erziehung: Der Einfluss der Umwelt auf den Phänotyp . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
14.3.4 Eine integrierte „Mendel’sche Sicht“ auf die Vererbung und die genetische
Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
14.4 Auch die Vererbung beim Menschen folgt den Mendel’schen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
14.4.1 Die Analyse von Stammbäumen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
14.4.2 Rezessive Erbkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
14.4.3 Dominante Erbkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
14.4.4 Multifaktorielle Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
14.4.5 Genetische Untersuchungen und Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Kapitel 15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung 379


15.1 Die Chromosomen bilden die strukturelle Grundlage der Mendel’schen Vererbung . . . . . . . . . 380
15.1.1 Ein Beispiel für einen wissenschaftlichen Ansatz: Thomas Hunt Morgan und
die Verknüpfung der Mendel’schen Regeln mit dem Verhalten der Chromosomen
bei der Zellteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
15.2 Die Eigenschaften der Geschlechtschromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
15.2.1 Die Geschlechtschromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
15.2.2 Die Vererbung geschlechtsgebundener Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
15.2.3 Die Inaktivierung eines X-Chromosoms bei weiblichen Säugetieren . . . . . . . . . . . . . . . 386
15.3 Die Vererbung gekoppelter Gene auf einem Chromosom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
15.3.1 Der Einfluss der Genkopplung auf die Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
15.3.2 Rekombination und Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
15.3.3 Die Kartierung von Genen anhand von Rekombinationshäufigkeiten:
ein wissenschaftlicher Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

XII
Inhaltsverzeichnis

15.4 Abweichungen in der Zahl oder Struktur von Chromosomen verursachen einige
bekannte Erbkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
15.4.1 Abweichende Chromosomenzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
15.4.2 Abweichende Chromosomenstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
15.4.3 Menschliche Erbkrankheiten, die auf Veränderungen in der Chromosomenzahl
oder -struktur zurückzuführen sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
15.5 Erbgänge, die nicht den Mendel’schen Regeln folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
15.5.1 Genomische Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
15.5.2 Genome von Organellen und ihre Vererbung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400

Kapitel 16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung 405


16.1 Die DNA ist die Erbsubstanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
16.1.1 Die Suche nach der Erbsubstanz: Wissenschaftliche Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
16.1.2 Ein Strukturmodell der DNA: Wissenschaftliche Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
16.2 Bei der DNA-Replikation und -Reparatur arbeiten viele Proteine zusammen . . . . . . . . . . . . . . . 414
16.2.1 Das Grundprinzip: Basenpaarung mit einem Matrizenstrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
16.2.2 Die molekularen Mechanismen der DNA-Replikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
16.2.3 Korrekturlesen und DNA-Reparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
16.2.4 Die evolutionäre Bedeutung veränderter DNA-Nucleotide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
16.2.5 Die Replikation an den Enden linearer DNA-Moleküle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
16.3 Ein Chromosom besteht aus einem mit Proteinen verpackten DNA-Molekül . . . . . . . . . . . . . . . 425

Kapitel 17 Vom Gen zum Protein 433


17.1 Die Verbindung von Genen und Proteinen über Transkription und Translation . . . . . . . . . . . . . 434
17.1.1 Die Untersuchung von Stoffwechselstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
17.1.2 Die Grundlagen der Transkription und der Translation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
17.1.3 Der genetische Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
17.2 Transkription – die DNA-abhängige RNA-Synthese: Eine nähere Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . 442
17.2.1 Die molekularen Komponenten des Transkriptionsapparats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
17.2.2 Die Synthese eines RNA-Transkripts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
17.3 mRNA-Moleküle werden in eukaryontischen Zellen nach der Transkription modifiziert . . . . . 445
17.3.1 Veränderung der Enden einer eukaryontischen mRNA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
17.3.2 Mosaikgene und RNA-Spleißen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
17.4 Translation – die RNA-abhängige Polypeptidsynthese: Eine nähere Betrachtung. . . . . . . . . . . . 448
17.4.1 Die molekularen Komponenten des Translationsapparats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
17.4.2 Die Biosynthese von Polypeptiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
17.4.3 Vom Polypeptid zum funktionsfähigen Protein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
17.4.4 Die gleichzeitige Synthese vieler Polypeptide in Bakterien und Eukaryonten. . . . . . . . 457
17.5 Punktmutationen können Struktur und Funktion eines Proteins beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . 459
17.5.1 Verschiedene Formen der Punktmutation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
17.5.2 Neue Mutationen und Mutagene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
17.5.3 Was ist ein Gen? Eine neue Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

Kapitel 18 Regulation der Genexpression 467


18.1 Bakterien passen ihr Transkriptionsmuster den wechselnden Umweltbedingungen an . . . . . . . 468
18.1.1 Das Operon-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
18.1.2 Reprimierbare und induzierbare Operone: Zwei Formen der negativen Regulation
der Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
18.1.3 Positive Regulation der Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
18.2 Die Expression eukaryontischer Gene kann auf verschiedenen Stufen reguliert werden . . . . . . 473
18.2.1 Differenzielle Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
18.2.2 Regulation der Chromatinstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
18.2.3 Regulation der Transkriptionsinitiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
18.2.4 Mechanismen der posttranskriptionalen Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481

XIII
Inhaltsverzeichnis

18.3 Die Regulation der Genexpression durch nicht-codierende RNAs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483


18.3.1 Die Wirkung von Mikro-RNAs und kleinen interferierenden RNAs auf die mRNA . . . 483
18.3.2 Chromatinumbau und Stilllegung der Transkription durch nicht-codierene RNAs . . . 484
18.3.3 Die Bedeutung kleiner nicht-codierender RNAs für die Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . 485
18.4 Die verschiedenen Zelltypen in einem Lebewesen entstehen nach einem Programm zur
differenziellen Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
18.4.1 Ein genetisches Programm für die Embryonalentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
18.4.2 Cytoplasmatische Determinanten und Induktionssignale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
18.4.3 Die schrittweise Regulation der Genexpression während der Zelldifferenzierung . . . . 487
18.4.4 Musterbildung zur Festlegung des Körperbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
18.5 Krebs entsteht durch genetische Veränderungen, die den Zellzyklus deregulieren . . . . . . . . . . 493
18.5.1 Gene und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
18.5.2 Die Störung zellulärer Signalketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
18.5.3 Das Mehrstufenmodell der Krebsentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
18.5.4 Genetische Veranlagung und krebsfördernde Umweltbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . 497
18.5.5 Die Rolle von Viren bei einigen Krebsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

Kapitel 19 Viren 505


19.1 Ein Virus besteht aus einer von einer Proteinhülle eingeschlossenen Nucleinsäure . . . . . . . . . 506
19.1.1 Die Entdeckung der Viren: Ein wissenschaftlicher Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
19.2 Viren vermehren sich nur in Wirtszellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
19.2.1 Grundlagen der Virenvermehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
19.2.2 Die Phagenvermehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510
19.2.3 Vermehrungszyklen von Tierviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512
19.2.4 Die Evolution von Viren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
19.3 Viren, Viroide und Prionen als Pathogene von Tieren und Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517
19.3.1 Viruserkrankungen von Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517
19.3.2 Das Auftreten neuer Viren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518
19.3.3 Viruserkrankungen bei Pflanzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
19.3.4 Viroide und Prionen: Die einfachsten Krankheitserreger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522

Kapitel 20 Gentechnik in der Biotechnologie 527


20.1 DNA-Sequenzierung und Klonierung sind wichtige Werkzeuge der Gentechnik und der
biologischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
20.1.1 DNA-Sequenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
20.1.2 Die Vervielfältigung von Genen und anderen DNA-Fragmenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
20.1.3 Die Verwendung von Restriktionsenzymen zur Herstellung rekombinanter Plasmide . . 533
20.1.4 Die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) und ihre Verwendung bei der DNA-Klonierung . . . 535
20.1.5 Die Klonierung und Expression eukaryontischer Gene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
20.2 Die Verwendung der Gentechnik zur Untersuchung der Expression und Funktion von Genen . . . 538
20.2.1 Genexpressionsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
20.2.2 Die Aufklärung der Funktion eines Gens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
20.3 Die Klonierung von Organismen zur Bereitstellung von Stammzellen für die Forschung
und andere Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
20.3.1 Die Klonierung von Pflanzen aus Einzelzellkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
20.3.2 Die Klonierung von Tieren: Zellkerntransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
20.3.3 Tierische Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548
20.4 Die Gentechnik beeinflusst unser Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
20.4.1 Medizinische Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
20.4.2 Genetische Profile in der Gerichtsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
20.4.3 Umweltsanierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556
20.4.4 Landwirtschaftliche Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556

Kapitel 21 Genome und ihre Evolution 565


21.1 Die Entwicklung von schnelleren und billigeren Techniken zur Genomsequenzierung . . . . . . 566
21.2 Genomanalyse mithilfe der Bioinformatik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568
21.2.1 Zentralisierte Ressourcen zur Analyse von Genomsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568

XIV
Inhaltsverzeichnis

21.2.2 Das Aufspüren proteincodierender Gene in DNA-Sequenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569


21.2.3 Untersuchungen von Genen und ihren Produkten in komplexen Systemen . . . . . . . . . 570
21.3 Genome unterscheiden sich in der Größe und der Zahl der Gene sowie in der Gendichte . . . . 572
21.3.1 Genomgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
21.3.2 Genzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
21.3.3 Gendichte und nicht-codierende DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
21.4 Das Genom eukaryontischer Vielzeller enthält viel nicht-codierende DNA und viele
Multigenfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575
21.4.1 Transponierbare Elemente und verwandte Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575
21.4.2 Andere repetitive DNA-Sequenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577
21.4.3 Gene und Multigenfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578
21.5 Genomevolution durch Duplikation, Umlagerung und Mutation der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
21.5.1 Duplikation ganzer Chromosomensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
21.5.2 Veränderungen der Chromosomenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
21.5.3 Duplikation und Divergenz einzelner Genbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
21.5.4 Umlagerungen innerhalb von Genen: Exonduplikation und Exonaustausch
(„exon shuffling“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
21.5.5 Wie transponierbare genetische Elemente zur Genomevolution beitragen. . . . . . . . . . . 585
21.6 Der Vergleich von Genomsequenzen liefert Hinweise auf evolutionäre und entwicklungs-
biologische Mechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586
21.6.1 Die Bedeutung von Genomvergleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586
21.6.2 Sequenzvergleiche geben Aufschluss über Entwicklungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . 590

Teil IV Evolutionsmechanismen 597

Kapitel 22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie –


Abstammung mit Modifikation 599
22.1 Die Darwin’sche Theorie widersprach der traditionellen Ansicht, die Erde sei jung und
von unveränderlichen Arten bewohnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
22.1.1 Scala naturae und die Klassifikation der Arten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
22.1.2 Vorstellungen über die Veränderungen von Organismen im Lauf der Zeit . . . . . . . . . . 602
22.1.3 Lamarcks Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602
22.2 Die gemeinsame Abstammung und die Variationen zwischen Individuen, auf die die
natürliche Selektion wirkt, erklären die vielfältigen Anpassungen von Organismen . . . . . . . . . 603
22.2.1 Darwins Feldforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
22.2.2 Die Entstehung der Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606
22.3 Die Evolutionstheorie wird durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde gestützt . . . . . . . . 609
22.3.1 Direkte Beobachtungen evolutionärer Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
22.3.2 Homologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
22.3.3 Fossilbelege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
22.3.4 Biogeografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
22.3.5 Die Evolutionstheorie – Begriffsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618

Kapitel 23 Die Evolution von Populationen 623


23.1 Genetische Variabilität ermöglicht Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624
23.1.1 Genetische Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625
23.1.2 Wie wird genetische Variabilität erzeugt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
23.2 Mithilfe der Hardy-Weinberg-Gleichung lässt sich herausfinden, ob in einer Population
Evolution stattfindet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
23.2.1 Genpool und Allelfrequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
23.2.2 Das Hardy-Weinberg-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
23.3 Natürliche Selektion, genetische Drift und Genfluss können die Allelfrequenzen in einer
Population verändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
23.3.1 Natürliche Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
23.3.2 Genetische Drift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
23.3.3 Genfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636

XV
Inhaltsverzeichnis

23.4 Die natürliche Selektion ist der einzige Mechanismus, der beständig für eine adaptive
Evolution sorgt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
23.4.1 Eine genauere Betrachtung der natürlichen Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
23.4.2 Die Schlüsselrolle der natürlichen Selektion bei der adaptiven Evolution . . . . . . . . . . 638
23.4.3 Sexuelle Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
23.4.4 Erhaltung der genetischen Variabilität: Balancierter Polymorphismus . . . . . . . . . . . . . 641
23.4.5 Warum die natürliche Selektion keine „perfekten“ Organismen hervorbringen kann. . . 643

Kapitel 24 Die Entstehung der Arten 649


24.1 Das biologische Artkonzept betont die reproduktiven Isolationsmechanismen . . . . . . . . . . . . . 650
24.1.1 Das biologische Artkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650
24.1.2 Weitere alternative Artkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654
24.2 Artbildung mit und ohne geografische Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
24.2.1 Allopatrische Artbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
24.2.2 Sympatrische Artbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659
24.2.3 Allopatrische und sympatrische Artbildung: Eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 661
24.3 Hybridzonen ermöglichen die Analyse von Faktoren, die zur reproduktiven Isolation führen. . . 662
24.3.1 Evolutionsprozesse in Hybridzonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662
24.3.2 Zeitliche Entwicklung von Hybridzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
24.4 Artbildung kann schnell oder langsam erfolgen und aus Veränderungen weniger oder
vieler Gene resultieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666
24.4.1 Der zeitliche Verlauf der Artbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666
24.4.2 Die Genetik der Artbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
24.4.3 Von der Artbildung zur Makroevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669

Kapitel 25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde 673


25.1 Die Umweltbedingungen auf der jungen Erde ermöglichten die Entstehung des Lebens . . . . . . 674
25.1.1 Synthese organischer Verbindungen zu Beginn der Erdentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . 674
25.1.2 Abiotische Synthese von Makromolekülen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
25.1.3 Protobionten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
25.1.4 Selbstreplizierende RNA und die Frühzeit der natürlichen Selektion . . . . . . . . . . . . . . 677
25.2 Fossilfunde dokumentieren die Geschichte des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
25.2.1 Die Fossilfunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678
25.2.2 Datierung von Gesteinen und Fossilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
25.2.3 Die Entstehung neuer Organismengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680
25.3 Zu den Schlüsselereignissen in der Evolution gehören die Entstehung einzelliger und
vielzelliger Organismen sowie die Besiedlung des Festlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682
25.3.1 Die ersten einzelligen Organismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683
25.3.2 Der Ursprung der Vielzelligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685
25.3.3 Die Besiedlung des Festlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686
25.4 Aufstieg und Niedergang dominanter Gruppen in Zusammenhang mit Kontinentaldrift,
Massenaussterben und adaptiver Radiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
25.4.1 Kontinentaldrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
25.4.2 Massenaussterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691
25.4.3 Adaptive Radiationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694
25.5 Veränderungen im Körperbau können durch Änderungen in der Sequenz und Regulation
von Entwicklungsgenen entstehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
25.5.1 Evolutionäre Effekte von Entwicklungsgenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
25.5.2 Evolution von Entwicklungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697
25.6 Evolution ist nicht zielorientiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700
25.6.1 Evolutionäre Neuerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700
25.6.2 Evolutionäre Trends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701

XVI
Inhaltsverzeichnis

Teil V Die Evolutionsgeschichte der biologischen Vielfalt 707

Kapitel 26 Der phylogenetische Stammbaum der Lebewesen 709


26.1 Phylogenien (Stammbäume) zeigen evolutionäre Verwandtschaftsbeziehungen. . . . . . . . . . . . . 710
26.1.1 Die binominale Nomenklatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711
26.1.2 Hierarchische Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711
26.1.3 Der Zusammenhang zwischen Klassifikation und Phylogenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712
26.1.4 Was sagen phylogenetische Stammbäume aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714
26.1.5 Bedeutung und Anwendung der Phylogenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714
26.2 Die Ableitung der Stammesgeschichte aus morphologischen und molekularbiologischen
Befunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715
26.2.1 Morphologische und molekulare Homologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716
26.2.2 Homologie und Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716
26.2.3 Bewertung molekularer Homologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717
26.3 Gemeinsame abgeleitete Merkmale (evolutive Neuheiten) erlauben die Rekonstruktion
phylogenetischer Stammbäume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718
26.3.1 Kladistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718
26.3.2 Phylogenetische Stammbäume mit proportionaler Länge der Äste . . . . . . . . . . . . . . . . 721
26.3.3 Maximale Sparsamkeit und maximale Wahrscheinlichkeit (maximum parsimony
und maximum likelihood). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722
26.3.4 Phylogenetische Stammbäume als Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724
26.4 Das Genom als Beleg für die evolutive Vergangenheit eines Lebewesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
26.4.1 Genduplikationen und Genfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726
26.4.2 Evolution von Genomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727
26.5 Mit molekularen Uhren kann man den zeitlichen Ablauf der Evolution verfolgen. . . . . . . . . . . 727
26.5.1 Molekulare Uhren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727
26.5.2 Der Ursprung von HIV wurde mithilfe der molekularen Uhr aufgeklärt . . . . . . . . . . . . 729
26.6 Neue Befunde und die stetige Weiterentwicklung unserer Kenntnisse über den
Stammbaum der Organismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
26.6.1 Von zwei Organismenreichen zu drei Großgruppen, sogenannten „Domänen“. . . . . . . 730
26.6.2 Die besondere Bedeutung horizontalen Gentransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731

Kapitel 27 Bacteria und Archaea 737


27.1 Strukturelle und funktionelle Anpassung als Erfolgsrezept der Prokaryonten . . . . . . . . . . . . . . 738
27.1.1 Zelloberflächenstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739
27.1.2 Beweglichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
27.1.3 Innerer Aufbau und Genomorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742
27.1.4 Fortpflanzung und Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742
27.2 Schnelle Vermehrung, Mutation und Rekombination von Genen als Ursache der genetischen
Vielfalt von Prokaryonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743
27.2.1 Schnelle Vermehrung und Mutation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743
27.2.2 Rekombination von Genen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744
27.3 Evolution vielfältiger Anpassungen in der Ernährung und im Stoffwechsel der Prokaryonten. . . 747
27.3.1 Rolle des Sauerstoffs im Stoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 748
27.3.2 Stickstoff-Stoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749
27.3.3 Kooperation im Stoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749
27.4 Radiäre Entwicklung der Prokaryonten in mehrere Stammeslinien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750
27.4.1 Überblick über die prokaryontische Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750
27.4.2 Stammbegriff bei Prokaryonten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750
27.4.3 Kultivierbarkeit von Prokaryonten und Phylogenie nicht-kultivierter
Prokaryontenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750
27.4.4 Der phylogenetische Stammbaum der Prokaryonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
27.4.5 Bacteria. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754
27.4.6 Archaea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755

XVII
Inhaltsverzeichnis

27.5 Kommunikation mit der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757


27.5.1 Zweikomponenten-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757
27.5.2 Chemotaxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758
27.6 Bedeutung der Prokaryonten für die Biosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759
27.6.1 Chemisches Recycling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759
27.6.2 Ökologische Wechselwirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760
27.7 Schädliche und nützliche Auswirkungen der Prokaryonten auf den Menschen . . . . . . . . . . . . 761
27.7.1 Mutualistische Bakterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761
27.7.2 Bakterielle Pathogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761
27.7.3 Prokaryonten in Forschung und Technik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762

Kapitel 28 Protisten 769


28.1 Die meisten Eukaryonten sind Einzeller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770
28.1.1 Struktur- und Funktionsvielfalt bei Protisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771
28.1.2 Endosymbiose in der Evolution der Eukaryonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771
28.1.3 Die vier Übergruppen der Eukaryonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772
28.2 Excavata: Protisten mit abgewandelten Mitochondrien und bemerkenswerten Flagellen . . . . . 776
28.2.1 Diplomonadida und Parabasalia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776
28.2.2 Euglenozoa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777
28.3 Die „SAR“-Übergruppe: Ihre Einführung wird durch neue genomweite Sequenzanalysen
unterstützt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778
28.3.1 Stramenopilata. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778
28.3.2 Alveolata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782
28.3.3 Rhizaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786
28.4 Archaeplastida: Die engsten Verwandten der Landpflanzen – Rotalgen und Grünalgen . . . . . . 787
28.4.1 Rhodophyta (Rotalgen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787
28.4.2 Chloroplastida (Chlorobionta, Viridiplantae, Grüne Pflanzen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788
28.5 Unikonta: Protisten, die eng mit Pilzen und Tieren verwandt sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790
28.5.1 Amoebozoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792
28.5.2 Opisthokonta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794
28.6 Protisten spielen eine Schlüsselrolle in allen ökologischen Wechselbeziehungen . . . . . . . . . . . 794
28.6.1 Symbiontische und parasitische Protisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794
28.6.2 Photosynthetisch aktive Protisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795

Kapitel 29 Die Vielfalt der Pflanzen I: Wie Pflanzen das Land eroberten 801
29.1 Die Entstehung der Landpflanzen aus Grünalgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802
29.1.1 Morphologische und molekularbiologische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802
29.1.2 Notwendige Anpassungen beim Übergang an Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803
29.1.3 Schlüsselinnovationen bei Landpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806
29.1.4 Ursprung und Radiation der Landpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806
29.2 Moose haben einen vom Gametophyten dominierten Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809
29.2.1 Die Gametophyten der Bryophyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
29.2.2 Die Sporophyten der Bryophyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
29.2.3 Die ökologische und ökonomische Bedeutung der Moose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813
29.3 Die ersten hochwüchsigen Pflanzen: Farne und andere samenlose Gefäßpflanzen . . . . . . . . . . 814
29.3.1 Entstehung und Merkmale der Gefäßpflanzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814
29.3.2 Klassifikation der samenlosen Gefäßpflanzen (Pteridophyten, Farngewächse) . . . . . . . 818
29.3.3 Die Bedeutung der samenlosen Gefäßpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820

Kapitel 30 Die Vielfalt der Pflanzen II: Evolution der Samenpflanzen 825
30.1 Samen und Pollen: Schlüsselanpassungen an das Landleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826
30.1.1 Vorteile reduzierter Gametophyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826
30.1.2 Heterosporie ist bei Samenpflanzen die Regel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
30.1.3 Samenanlagen und die Produktion der Eizellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
30.1.4 Pollen und die Bildung von Spermazellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828
30.1.5 Der Vorteil von Samen in der Evolution der Landpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828

XVIII
Inhaltsverzeichnis

30.2 Die Zapfen der Gymnospermen tragen „nackte“, direkt zugängliche Samenanlagen . . . . . . . . . 830
30.2.1 Frühe Samenpflanzen und die Evolution der Gymnospermen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 830
30.2.2 Der Entwicklungszyklus einer Kiefer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831
30.3 Die wichtigsten Weiterentwicklungen der Angiospermen sind Blüten und Früchte . . . . . . . . . 835
30.3.1 Merkmale der Angiospermen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835
30.3.2 Die Evolution der Angiospermen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839
30.3.3 Die Vielfalt der Angiospermen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841
30.4 Die Bedeutung der Samenpflanzen für die Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842
30.4.1 Produkte aus Samenpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842
30.4.2 Gefahren für die Artenvielfalt der Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846

Kapitel 31 Pilze 851


31.1 Pilze sind heterotroph und nehmen ihre Nährstoffe durch Absorption auf. . . . . . . . . . . . . . . . . 852
31.1.1 Ernährung und Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852
31.1.2 Aufbau des Pilzkörpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852
31.2 Pilze nutzen Sporen für ihre geschlechtliche oder ungeschlechtliche Vermehrung . . . . . . . . . . 856
31.2.1 Die geschlechtliche Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856
31.2.2 Die ungeschlechtliche Vermehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
31.3 Die Entwicklung der Pilze aus einem im Wasser lebenden, begeißelten Protisten . . . . . . . . . . . 858
31.3.1 Der Ursprung der Pilze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858
31.3.2 Die divergente Entwicklung früher Pilzgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859
31.3.3 Der Wechsel vom Wasser zum Land. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859
31.4 Die verschiedenen Abstammungslinien der Pilze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861
31.4.1 Chytridien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861
31.4.2 Zygomyceten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861
31.4.3 Glomeromyceten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862
31.4.4 Ascomyceten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863
31.4.5 Basidiomyceten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865
31.5 Die zentrale Bedeutung der Pilze für Nährstoffkreisläufe, ökologische Wechselbeziehungen
und den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867
31.5.1 Pilze als Destruenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867
31.5.2 Pilze als Mutualisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867
31.5.3 Pilze als Krankheitserreger und Parasiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 870
31.5.4 Der praktische Nutzen von Pilzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871

Kapitel 32 Eine Einführung in die Diversität und Evolution der Metazoa 875
32.1 Metazoa sind vielzellige heterotrophe Eukaryonten mit Geweben, die sich aus
embryonalen Keimblättern entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876
32.1.1 Ernährungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876
32.1.2 Zellstruktur und Zellspezialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877
32.1.3 Fortpflanzung und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877
32.2 Die Evolutionsgeschichte der Metazoa umfasst mehr als eine halbe Milliarde Jahre . . . . . . . . . 879
32.2.1 Schritte zur Entstehung der vielzelligen Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879
32.2.2 Neoproterozoikum (vor einer Milliarde bis 542 Millionen Jahren). . . . . . . . . . . . . . . . . 880
32.2.3 Paläozoikum (vor 542–251 Millionen Jahren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881
32.2.4 Mesozoikum (vor 251–65,5 Millionen Jahren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884
32.2.5 Känozoikum (vor 65,5 Millionen Jahren bis zur Gegenwart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884
32.3 Tiere lassen sich über „Baupläne“ beschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884
32.3.1 Symmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885
32.3.2 Gewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885
32.3.3 Leibeshöhlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885
32.3.4 Proterostome und deuterostome Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 886
32.4 Aus neuen molekularen und morphologischen Daten erwachsen fortlaufend neue
Erkenntnisse über die Phylogenie der Tiere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888
32.4.1 Die evolutive Differenzierung der Metazoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888
32.4.2 Künftige Richtungen der phylogenetisch-systematischen Forschung. . . . . . . . . . . . . . . 891

XIX
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 33 Eine Einführung in die wirbellosen Tiere 895


33.1 Porifera (Schwämme) sind Tiere ohne echte Gewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900
33.2 Cnidaria (Nesseltiere) bilden ein phylogenetisch altes Metazoentaxon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 901
33.2.1 Anthozoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903
33.2.2 Tesserazoa (Medusozoa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903
33.3 Spiralia, ein Taxon, das anhand morphologischer und molekularer Daten identifiziert
wurde, weist das breiteste Spektrum aller Baupläne im Tierreich auf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905
33.3.1 Plathelminthes (Plattwürmer). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905
33.3.2 Rotatoria (Rotifera; Rädertiere) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909
33.3.3 Lophotrochozoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 910
33.4 Ecdysozoa sind die artenreichste Tiergruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919
33.4.1 Nematoda (Fadenwürmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919
33.4.2 Arthropoda (Gliederfüßer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 920
33.5 Echinodermata und Chordata sind Deuterostomia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930
33.5.1 Echinodermata (Stachelhäuter). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930
33.5.2 Chordata (Chordatiere) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 932

Kapitel 34 Herkunft und Evolution der Wirbeltiere 937


34.1 Chordaten haben eine Chorda dorsalis und ein dorsales Neuralrohr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938
34.1.1 Abgeleitete Chordatenmerkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939
34.1.2 Acrania/Cephalochordata (Lanzettfischchen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
34.1.3 Tunicata (Manteltiere). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
34.1.4 Die frühe Chordatenevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942
34.2 Craniota sind Chordaten, die einen Schädel und eine Wirbelsäule haben . . . . . . . . . . . . . . . . . 943
34.2.1 Abgeleitete Craniotenmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943
34.2.2 Cyclostomata/Agnatha (Rundmäuler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944
34.2.3 Die Frühevolution der Craniota . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 945
34.2.4 Der Ursprung von Knochen und Zähnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947
34.3 Gnathostomata sind Wirbeltiere, die einen Kieferapparat haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947
34.3.1 Abgeleitete Merkmale der Gnathostomata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947
34.3.2 Fossile Gnathostomata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 948
34.3.3 Chondrichthyes (Knorpelfische: Haie, Rochen und Verwandte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949
34.3.4 Actinopterygii, Actinistia und Dipnoi (Strahl(en)flosser, Hohlstachler und
Lungenfische) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 951
34.4 Tetrapoda sind Osteognathostomata, die Laufbeine haben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954
34.4.1 Abgeleitete Tetrapodenmerkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954
34.4.2 Die Entstehung der Tetrapoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954
34.4.3 Lissamphibia (Amphibien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 956
34.5 Amniota sind Tetrapoda, bei denen ein an das Landleben angepasstes Eistadium
entstanden ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959
34.5.1 Abgeleitete Amniotenmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959
34.5.2 Frühe Amnioten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961
34.5.3 Sauropsida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961
34.6 Mammalia sind Amnioten, die behaart sind und Milch produzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
34.6.1 Abgeleitete Säugetiermerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
34.6.2 Die frühe Evolution der Säugetiere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969
34.6.3 Monotremata (Kloakentiere) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970
34.6.4 Marsupialia (Beuteltiere). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970
34.6.5 Placentalia, Eutheria (Placentatiere). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971
34.7 Menschen sind Säugetiere, die ein großes Gehirn haben und sich auf zwei Beinen fortbewegen . . 976
34.7.1 Abgeleitete Merkmale des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976
34.7.2 Die ersten Homininen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977
34.7.3 Die Australopithecinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 979
34.7.4 Zweibeinigkeit (Bipedie). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981
34.7.5 Werkzeuggebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 982
34.7.6 Frühe Vertreter der Gattung Homo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 982
34.7.7 Die Neandertaler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983
34.7.8 Homo sapiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984

XX
Inhaltsverzeichnis

Teil VI Pflanzen – Form und Funktion 991

Kapitel 35 Pflanzenstruktur, Wachstum und Entwicklung 993


35.1 Pflanzen sind hierarchisch organisiert – in Form von Organen, Geweben und Zellen . . . . . . . . 994
35.1.1 Die drei Pflanzenorgane: Wurzel, Spross und Blatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 994
35.1.2 Abschlussgewebe, Leitgewebe und Grundgewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998
35.1.3 Grundtypen der Pflanzenzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1002
35.2 Verschiedene Meristeme erzeugen neue Zellen für das primäre und das sekundäre Wachstum . . 1002
35.3 Primäres Wachstum ist für die Längenzunahme der Wurzeln und Sprosse verantwortlich . . . . 1004
35.3.1 Primäres Wachstum der Wurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004
35.3.2 Primäres Wachstum des Sprosses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1006
35.4 Sekundäres Dickenwachstum vergrößert bei verholzten Pflanzen den Umfang von Spross
und Wurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1008
35.4.1 Cambium und sekundäres Leitgewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1010
35.4.2 Das Korkcambium und die Bildung des Periderms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1012
35.4.3 Evolution des sekundären Wachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1012
35.5 Wachstum, Morphogenese und Differenzierung formen den Pflanzenkörper . . . . . . . . . . . . . . . 1012
35.5.1 Molekularbiologie und ihre Modellorganismen revolutionieren die
Pflanzenwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013
35.5.2 Wachstum – Zellteilung und Zellstreckungsausdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1014
35.5.3 Morphogenese und Musterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1016
35.5.4 Genexpression und Kontrolle der Zelldifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1016
35.5.5 Veränderte Entwicklungsprozesse durch Phasenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017
35.5.6 Genetische Kontrolle der Blütenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1018

Kapitel 36 Stoffaufnahme und Stofftransport bei Gefäßpflanzen 1023


36.1 Anpassungen zur Aufnahme der Ressourcen waren wichtige Schritte in der Evolution
der Landpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1024
36.1.1 Aufbau der Sprossachse und Lichtabsorption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025
36.1.2 Wurzelaufbau und die Aufnahme von Wasser und Mineralstoffen . . . . . . . . . . . . . . . . 1026
36.2 Der Transport über Kurz- oder Langstrecken erfolgt durch verschiedene Mechanismen . . . . . . 1027
36.2.1 Apoplast und Symplast: Zwei kontinuierliche Wege für den Transport . . . . . . . . . . . . 1028
36.2.2 Kurzstreckentransport von gelösten Stoffen über Plasmamembranen . . . . . . . . . . . . . . 1028
36.2.3 Kurzstreckentransport von Wasser über die Plasmamembran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1029
36.2.4 Massenströmung beim Langstreckentransport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1032
36.3 Der Transport von Wasser und Mineralstoffen von der Wurzel zum Spross durch das
Xylem wird durch die Transpiration angetrieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033
36.3.1 Aufnahme von Wasser und Mineralstoffen in die Wurzelzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033
36.3.2 Transport von Wasser und Mineralstoffen ins Xylem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033
36.3.3 Massenströmung wird durch negativen Druck im Xylem angetrieben . . . . . . . . . . . . . . 1034
36.3.4 Das Steigen des Xylemsafts durch Massenströmung: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . 1038
36.4 Die Transpirationsrate wird durch die Stomata reguliert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1038
36.4.1 Stomata als wichtigster Ort des Wasserverlusts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1039
36.4.2 Mechanismen der Spaltöffnungsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1039
36.4.3 Reize für die Spaltöffnungsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1040
36.4.4 Auswirkungen der Transpiration auf Welken und Blatttemperatur . . . . . . . . . . . . . . . . 1040
36.4.5 Anpassungen, die den Wasserverlust durch Verdunstung vermindern . . . . . . . . . . . . . 1040
36.5 Zucker werden im Phloem vom Produktionsort zum Verbrauchs- oder Speicherort
transportiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1042
36.5.1 Zucker-Transport – from Source to Sink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1042
36.5.2 Massenströmung durch positiven Druck – Der Mechanismus des Assimilat-
Transports bei Angiospermen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1043
36.6 Der Symplast – ein dynamisches System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044
36.6.1 Plasmodesmen – ständig wechselnde Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044
36.6.2 Elektrisches „Signaling“ im Phloem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045
36.6.3 Das Phloem – eine „Datenautobahn“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045

XXI
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 37 Boden und Pflanzenernährung 1049


37.1 Boden – eine lebende, jedoch endliche Ressource . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1050
37.1.1 Bodenart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1050
37.1.2 Zusammensetzung des Oberbodens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051
37.1.3 Bodenschutz und nachhaltige Landwirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1052
37.2 Pflanzen benötigen für ihren Lebenszyklus essenzielle Nährelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054
37.2.1 Makro- und Mikronährelemente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1055
37.2.2 Symptome des Nährstoffmangels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1057
37.2.3 Verbesserung der Pflanzenernährung durch Gentechnik – einige Beispiele . . . . . . . . . 1057
37.3 Zur Pflanzenernährung tragen auch andere Organismen bei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1058
37.3.1 Bakterien und Pflanzenernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1058
37.3.2 Pilze und Pflanzenernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1062
37.3.3 Epiphyten, parasitische Pflanzen und carnivore Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1064

Kapitel 38 Fortpflanzung und Biotechnologie der Angiospermen 1069


38.1 Blüten, doppelte Befruchtung und Früchte: Wichtige Besonderheiten im Entwicklungs-
zyklus der Angiospermen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1070
38.1.1 Aufbau und Funktion der Blüte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1071
38.1.2 Der Lebenszyklus angiospermer Pflanzen: Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1071
38.1.3 Mechanismen der Pollenübertragung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1075
38.1.4 Vom Samen zur blühenden Pflanze: der Blick ins Detail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1077
38.1.5 Gestalt und Funktion der Frucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1080
38.2 Sexuelle und asexuelle Fortpflanzung bei Angiospermen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083
38.2.1 Mechanismen der asexuellen (vegetativen) Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083
38.2.2 Vor- und Nachteile von sexueller und asexueller Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084
38.2.3 Mechanismen zur Verhinderung der Selbstbefruchtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1085
38.2.4 Totipotenz, vegetative Vermehrung und Gewebekulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1086
38.3 Der Mensch verändert die Nutzpflanzen durch Züchtung und Gentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . 1088
38.3.1 Pflanzenzüchtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1088
38.3.2 Biotechnologie und Gentechnik bei Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089
38.3.3 Für und Wider der Pflanzenbiotechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1090

Kapitel 39 Pflanzenreaktionen auf innere und äußere Signale 1097


39.1 Signaltransduktionswege verbinden Signalwahrnehmung und Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1098
39.1.1 Perzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099
39.1.2 Transduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099
39.1.3 Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1100
39.2 Pflanzenhormone koordinieren Wachstum, Entwicklung und Reizantworten . . . . . . . . . . . . . . 1101
39.2.1 Übersicht über die Phytohormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1102
39.3 Pflanzen brauchen Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1113
39.3.1 Blaulicht-Photorezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114
39.3.2 Phytochrome als Photorezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114
39.3.3 Biologische Uhren und circadiane Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1116
39.3.4 Die Wirkung des Lichts auf die biologische Uhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1117
39.3.5 Photoperiodismus und Anpassungen an Jahreszeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1117
39.4 Pflanzen reagieren, abgesehen von Licht, auf viele weitere Reize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1120
39.4.1 Schwerkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1120
39.4.2 Mechanische Reize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1121
39.4.3 Umweltstress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1122
39.5 Reaktionen der Pflanze auf Pathogenbefall und Herbivoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1125
39.5.1 Verteidigungsstrategien gegen Pathogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126
39.5.2 Verteidigungsstrategien gegen Herbivoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1130

XXII
Inhaltsverzeichnis

Teil VII Tiere – Form und Funktion 1135

Kapitel 40 Grundprinzipien tierischer Form und Funktion 1137


40.1 Form und Funktion sind bei Tieren auf allen Organisationsebenen eng miteinander korreliert . . 1138
40.1.1 Physikalische Gesetze beeinflussen die Größe und Gestalt von Tieren . . . . . . . . . . . . . 1138
40.1.2 Austausch mit der Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139
40.1.3 Hierarchische Organisation der Körperbaupläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141
40.1.4 Struktur und Funktion von Geweben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1142
40.1.5 Koordination und Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1146
40.2 Regulation des inneren Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1147
40.2.1 Regulierer und Konformer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1147
40.2.2 Homöostase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1148
40.3 Einfluss von Form, Funktion und Verhalten auf homöostatische Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . 1150
40.3.1 Endothermie und Ektothermie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1150
40.3.2 Veränderung der Körpertemperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151
40.3.3 Gleichgewicht zwischen Wärmeabgabe und Wärmeaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151
40.3.4 Anpassung an unterschiedliche Temperaturbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1156
40.3.5 Physiologischer Thermostat und Fieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1156
40.4 Energiebedarf eines Tieres in Abhängigkeit von Größe, Aktivität und Umwelt. . . . . . . . . . . . . . 1157
40.4.1 Bereitstellung und Nutzung von Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1157
40.4.2 Quantifizierung des Energieverbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1157
40.4.3 Minimale Stoffwechselrate und Thermoregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1158
40.4.4 Faktoren, die die Stoffwechselrate beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1158
40.4.5 Torpor und Energiesparen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1161

Kapitel 41 Hormone und das endokrine System 1169


41.1 Hormone und andere Signalmoleküle, ihre Bindung an die Rezeptoren und die von ihnen
ausgelösten spezifischen Reaktionswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1171
41.1.1 Interzelluläre Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1171
41.1.2 Chemische Klassen von lokalen Regulatoren und Hormonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1172
41.1.3 Signalwege in den Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1173
41.1.4 Mehrfachwirkungen von Hormonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1175
41.1.5 Endokrine Gewebe und Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1176
41.2 Endokrine Hormone: Regulation durch Rückkopplung und Koordination mit dem
Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1177
41.2.1 Einfache hormonelle Reaktionswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1177
41.2.2 Rückkopplungskreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1178
41.2.3 Koordination von Hormon- und Nervensystem bei Wirbellosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1178
41.2.4 Koordination von Hormon- und Nervensystem bei Wirbeltieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1180
41.2.5 Hormone des Hypophysenhinterlappens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1180
41.2.6 Hormone des Hypophysenvorderlappens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181
41.2.7 Die Regulation der Schilddrüse: Eine Hormonkaskade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1182
41.2.8 Hormonelle Regulation des Wachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183
41.3 Reaktionen endokriner Drüsen auf verschiedene Reize in der Regulation von Homöostase,
Entwicklung und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1184
41.3.1 Parathormon und Vitamin D: Steuerung des Ca2+-Spiegels im Blut. . . . . . . . . . . . . . . . 1184
41.3.2 Hormone der Nebennieren: Stressantwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185
41.3.3 Geschlechtshormone aus den Geschlechtsdrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1188
41.3.4 Melatonin und Biorhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1189
41.3.5 Evolution und Hormonfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1190

XXIII
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 42 Die Ernährung der Tiere 1195


42.1 Die Nahrung der Tiere muss die Versorgung mit chemischer Energie, organischen
Molekülen und essenziellen Nährstoffen gewährleisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1196
42.1.1 Essenzielle Nährstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1197
42.1.2 Mangelernährung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1202
42.1.3 Ermittlung des Nährstoffbedarfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203
42.2 Nährstoffverarbeitung: Aufnahme, Verdauung, Resorption und Ausscheidung . . . . . . . . . . . . . 1204
42.2.1 Verdauungskompartimente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1206
42.3 Spezialisierte Organe für die verschiedenen Stadien der Nahrungsverarbeitung im
Verdauungssystem der Säugetiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1208
42.3.1 Mundhöhle, Schlund und Speiseröhre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1208
42.3.2 Verdauung im Magen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1210
42.3.3 Verdauung im Dünndarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1212
42.3.4 Resorption im Dünndarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1213
42.3.5 Resorption im Dickdarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1215
42.4 Ernährung und die evolutive Anpassung der Verdauungssysteme von Wirbeltieren . . . . . . . . . 1216
42.4.1 Anpassung der Zähne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1216
42.4.2 Anpassungen von Magen und Darm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1216
42.4.3 Anpassungen durch Symbiose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217
42.4.4 Anpassungen durch Symbiose bei Pflanzenfressern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1218
42.5 Regelkreise steuern Verdauung, Energiehaushalt und Appetit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219
42.5.1 Regulation der Verdauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219
42.5.2 Regulation des Energiehaushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219
42.5.3 Regulation von Appetit und Verbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1222

Kapitel 43 Kreislauf und Gasaustausch 1229


43.1 Kreislaufsysteme verknüpfen alle Zellen des Körpers mit Austauschflächen . . . . . . . . . . . . . . . 1230
43.1.1 Gastrovaskularsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1230
43.1.2 Offene und geschlossene Kreislaufsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1231
43.1.3 Die Organisation von Kreislaufsystemen bei Wirbeltieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1232
43.2 Koordinierte Kontraktionszyklen des Herzens treiben den doppelten Kreislauf bei Säugern an . . 1234
43.2.1 Der Säugerkreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1234
43.2.2 Das Säugerherz: Eine nähere Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1235
43.2.3 Der rhythmische Herzschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1236
43.3 Blutdruck und Blutfluss spiegeln Bau und Anordnung der Blutgefäße wider . . . . . . . . . . . . . . 1238
43.3.1 Bau und Funktion von Blutgefäßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1238
43.3.2 Strömungsgeschwindigkeit des Bluts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239
43.3.3 Blutdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239
43.3.4 Kapillarfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1242
43.3.5 Flüssigkeitsrückführung durch das Lymphsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243
43.4 Blutbestandteile und ihre Funktion bei Stoffaustausch, Transport und Abwehr . . . . . . . . . . . . 1244
43.4.1 Blutzusammensetzung und Funktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1244
43.4.2 Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1247
43.5 Gasaustausch erfolgt an spezialisierten respiratorischen Oberflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1250
43.5.1 Partialdruckgradienten beim Gasaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1250
43.5.2 Atemmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1251
43.5.3 Respiratorische Oberflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1251
43.5.4 Kiemen bei wasserlebenden Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1252
43.5.5 Tracheensysteme bei Insekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1253
43.5.6 Lungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1254
43.6 Atmung: Ventilation der Lunge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1257
43.6.1 Atmung bei Amphibien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1257
43.6.2 Atmung bei Vögeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1257
43.6.3 Atmung bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1257
43.6.4 Kontrolle der Atmung beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1258

XXIV
Inhaltsverzeichnis

43.7 Anpassungen an den Gasaustausch: Respiratorische Proteine binden und transportieren


Atemgase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1259
43.7.1 Koordination von Zirkulation und Gasaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1260
43.7.2 Respiratorische Proteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1260
43.7.3 Tierische „Spitzenathleten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263

Kapitel 44 Das Immunsystem 1269


44.1 Das angeborene Immunsystem basiert auf der Erkennung gemeinsamer Muster von
Krankheitserregern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1271
44.1.1 Angeborene Immunabwehr wirbelloser Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1271
44.1.2 Angeborene Immunabwehr der Wirbeltiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1272
44.1.3 Wie Krankheitserreger dem angeborenen Immunsystem entgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . 1277
44.2 Im adaptiven Immunsystem ermöglicht eine Vielzahl an Rezeptoren die spezifische
Erkennung von Pathogenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1277
44.2.1 Antigenerkennung durch B-Zellen und Antikörper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1278
44.2.2 Antigenerkennung durch T-Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1279
44.2.3 Die Entwicklung von B- und T-Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1280
44.3 Adaptive Immunität und die Abwehr von Infektionen in Körperzellen und
Körperflüssigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1284
44.3.1 Helfer-T-Zellen: Reaktion auf nahezu alle Antigene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1284
44.3.2 Cytotoxische T-Zellen: Abwehr gegen intrazelluläre Pathogene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1285
44.3.3 B-Zellen: Abwehr gegen extrazelluläre Pathogene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1286
44.3.4 Aktive und passive Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1289
44.3.5 Antikörper als Hilfsmittel in Forschung und Diagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1291
44.4 Störungen des Immunsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1292
44.4.1 Übermäßige, gegen körpereigene Strukturen gerichtete und verminderte
Immunreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1292
44.4.2 Strategien der Krankheitserreger der adaptiven Immunabwehr zu entgehen. . . . . . . . . 1295
44.4.3 Krebs und Immunität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299

Kapitel 45 Osmoregulation und Exkretion 1303


45.1 Osmoregulation: Gleichgewicht zwischen Aufnahme und Abgabe von Wasser und
den darin gelösten Stoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1304
45.1.1 Osmose und Osmolarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1304
45.1.2 Strategien zur Bewältigung osmotischer Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1305
45.1.3 Die Energetik der Osmoregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1309
45.1.4 Transportepithelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1309
45.2 Die stickstoffhaltigen Exkretionsprodukte eines Tieres spiegeln dessen Phylogenie und
Habitat wider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1310
45.2.1 Formen stickstoffhaltiger Exkretionsprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1311
45.2.2 Einfluss von Evolution und Umwelt auf stickstoffhaltige Exkretionsprodukte . . . . . . . 1312
45.3 Verschiedene Exkretionssysteme sind Abwandlungen tubulärer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . 1312
45.3.1 Exkretionsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1312
45.3.2 Ein Überblick über verschiedene Exkretionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313
45.4 Das Nephron: Schrittweise Verarbeitung des Ultrafiltrats. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1316
45.4.1 Vom Ultrafiltrat zum Urin: Eine genauere Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1317
45.4.2 Osmotische Gradienten und Wasserkonservierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1320
45.4.3 Anpassungen der Wirbeltierniere an unterschiedliche Lebensräume . . . . . . . . . . . . . . 1321
45.5 Hormonelle Regelkreise verknüpfen Nierenfunktion, Wasserhaushalt und Blutdruck . . . . . . . . 1325
45.5.1 Antidiuretisches Hormon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1325
45.5.2 Das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1326
45.5.3 Homöostatische Regulation der Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1328

XXV
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 46 Fortpflanzung der Tiere 1333


46.1 Sexuelle und asexuelle Fortpflanzung im Tierreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1334
46.1.1 Mechanismen ungeschlechtlicher Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1334
46.1.2 Unisexuelle Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1335
46.1.3 Bisexuelle Fortpflanzung: Ein evolutionäres Rätsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1335
46.1.4 Fortpflanzungszyklen und -muster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1336
46.2 Die Befruchtung hängt von Mechanismen ab, die Eizellen und Spermien derselben
Art zusammenbringen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1338
46.2.1 Das Überleben des Nachwuchses sichern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1339
46.2.2 Gametenproduktion und -übergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1339
46.3 Keimzellenproduktion und -transport mittels Fortpflanzungsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1342
46.3.1 Das weibliche Fortpflanzungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1342
46.3.2 Das männliche Fortpflanzungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343
46.3.3 Die sexuelle Reaktion des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345
46.4 Unterschiede in Zeitverlauf und Muster der Meiose bei männlichen und weiblichen Säugern . . 1345
46.5 Fortpflanzungsregulierung bei Säugern: Ein komplexes Zusammenspiel von Hormonen . . . . . 1348
46.5.1 Hormonelle Kontrolle des männlichen Fortpflanzungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1349
46.5.2 Der weibliche Fortpflanzungszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1350
46.6 Bei placentalen Säugern findet die gesamte Embryonalentwicklung im Uterus statt . . . . . . . . . 1353
46.6.1 Empfängnis, Embryonalentwicklung und Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1353
46.6.2 Maternale Immuntoleranz gegenüber Embryo und Fetus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1356
46.6.3 Empfängnisverhütung und Abtreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1356
46.6.4 Moderne Reproduktionstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1358

Kapitel 47 Entwicklung der Tiere 1365


47.1 Nach der Befruchtung schreitet die Embryonalentwicklung durch Furchung, Gastrulation
und Organogenese fort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1367
47.1.1 Besamung und Befruchtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1367
47.1.2 Furchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1371
47.2 An der tierischen Morphogenese sind spezifische Veränderungen in Zellform,
Zellposition und Zelladhäsion beteiligt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1374
47.2.1 Gastrulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1374
47.2.2 Entwicklungsphysiologische Anpassungen von Amnioten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1378
47.2.3 Organogenese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1379
47.2.4 Mechanismen der Morphogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1381
47.3 Das Schicksal von sich entwickelnden Zellen ist von ihrer Vorgeschichte und von
induktiven Signalen abhängig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1384
47.3.1 Anlagepläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1384
47.3.2 Festlegung des Zellschicksals und Musterbildung durch induktive Signale . . . . . . . . . 1389

Kapitel 48 Neurone, Synapsen und Signalgebung 1399


48.1 Neuronale Organisation und Struktur als Spiegel der Funktion bei der Informations-
übermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1400
48.1.1 Einführung in die Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1400
48.1.2 Neuronale Struktur und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1401
48.2 Aufrechterhaltung des Ruhepotenzials eines Neurons durch Ionenpumpen und Ionenkanäle. . . 1402
48.2.1 Entstehung des Ruhepotenzials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1403
48.2.2 Ein Modell des Ruhepotenzials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1404
48.3 Axonale Fortleitung von Aktionspotenzialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1405
48.3.1 Erzeugung von Aktionspotenzialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1406
48.3.2 Erzeugung von Aktionspotenzialen: Eine nähere Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1406
48.3.3 Fortleitung von Aktionspotenzialen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1408
48.4 Synapsen als Kontaktstellen zwischen Neuronen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1410
48.4.1 Erzeugung postsynaptischer Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411
48.4.2 Summation postsynaptischer Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411
48.4.3 Modulation der synaptischen Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1412
48.4.4 Neurotransmitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1413

XXVI
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 49 Nervensysteme 1419


49.1 Nervensysteme bestehen aus Neuronenschaltkreisen und unterstützenden Zellen . . . . . . . . . . 1420
49.1.1 Organisation des Wirbeltiernervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1421
49.1.2 Das periphere Nervensystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1423
49.2 Regionale Spezialisierung des Wirbeltiergehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1425
49.2.1 Der Hirnstamm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1427
49.2.2 Das Kleinhirn (Cerebellum). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1429
49.2.3 Das Zwischenhirn (Diencephalon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1429
49.2.4 Funktionelle Bildgebung des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1430
49.2.5 Das Großhirn (Cerebrum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1431
49.2.6 Die Evolution der Kognition bei Wirbeltieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1431
49.3 Die Großhirnrinde: Kontrolle von Willkürbewegungen und kognitiven Funktionen . . . . . . . . . 1432
49.3.1 Informationsverarbeitung in der Großhirnrinde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1432
49.3.2 Sprache und Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1434
49.3.3 Lateralisierung corticaler Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1434
49.3.4 Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1435
49.3.5 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1436
49.4 Gedächtnis und Lernen als Folge von Veränderungen der synaptischen Verbindungen. . . . . . . 1436
49.4.1 Neuronale Plastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1437
49.4.2 Gedächtnis und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1437
49.4.3 Langzeitpotenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1438
49.5 Störungen des Nervensystems: Erklärungen auf molekularer Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1439
49.5.1 Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1439
49.5.2 Depressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1440
49.5.3 Substanzmissbrauch und das Belohnungssystem des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1440
49.5.4 Alzheimer-Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1441
49.5.5 Parkinson-Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1442
49.5.6 Stammzelltherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1442

Kapitel 50 Sensorische und motorische Mechanismen 1447


50.1 Sensorische Rezeptoren: Umwandlung von Reizenergie und Signalübermittlung an . . . . . . . .
das Zentralnervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1448
50.1.1 Sensorische Bahnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1448
50.1.2 Sensorische Rezeptortypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1450
50.2 Die für Gehör und Gleichgewicht zuständigen Mechanorezeptoren nehmen Flüssigkeits-
oder Partikelbewegungen wahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1453
50.2.1 Wahrnehmung von Schwerkraft und Schall bei Wirbellosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1453
50.2.2 Gehör und Gleichgewichtssinn bei Säugern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1453
50.2.3 Gehör und Gleichgewichtssinn bei anderen Wirbeltieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1457
50.3 Geschmacks- und Geruchssinn basieren auf ähnlichen Sinneszelltypen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1458
50.3.1 Der Geschmackssinn bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1459
50.3.2 Der Geruchssinn des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1461
50.4 Im ganzen Tierreich basiert das Sehen auf ähnlichen Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1463
50.4.1 Sehen bei Wirbellosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1463
50.4.2 Das Sehsystem von Wirbeltieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1464
50.5 Muskelkontraktion erfordert die Interaktion von Muskelproteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1469
50.5.1 Die Skelettmuskulatur von Wirbeltieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1469
50.5.2 Andere Muskeltypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1475
50.6 Das Skelettsystem wandelt Muskelkontraktion in Fortbewegung um . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1476
50.6.1 Skelettsystemtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1477
50.6.2 Verschiedene Formen der Fortbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1480
50.6.3 Energetische Kosten der Fortbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1481

XXVII
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 51 Tierisches Verhalten 1487


51.1 Einfaches und komplexes Verhalten kann durch bestimmte sensorische Eingangssignale
ausgelöst werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1488
51.1.1 Festgelegte Reaktionsmuster (Erbkoordination). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1489
51.1.2 Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1490
51.1.3 Verhaltensbiologische Rhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1490
51.1.4 Signalgebung und Kommunikation bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1491
51.2 Lernen: Spezifische Verknüpfung von Erfahrung und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1493
51.2.1 Erfahrung und Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1493
51.3 Verhaltensweisen lassen sich durch Selektion auf Überleben und Fortpflanzungserfolg
eines Individuums erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1500
51.3.1 Evolution von Verhalten zum Nahrungserwerb. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1500
51.3.2 Paarungsverhalten und Partnerwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1502
51.4 Genetische Analysen und die Theorie der Gesamtfitness liefern eine Basis für
Untersuchungen zur Evolution von Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1507
51.4.1 Die genetische Basis von Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1507
51.4.2 Genetische Variabilität und die Evolution von Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1508
51.4.3 Altruismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1509
51.4.4 Gesamtfitness. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1510
51.4.5 Evolution und menschliche Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1512

Teil VIII Ökologie 1517

Kapitel 52 Ökologie und die Biosphäre: Eine Einführung 1519


52.1 Die Ökologie integriert viele biologische Forschungsrichtungen und dient als
wissenschaftliche Grundlage für den Natur- und Umweltschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1520
52.1.1 Der Zusammenhang zwischen Ökologie und Evolutionsbiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1522
52.1.2 Ökologie und Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1522
52.2 Die Wechselbeziehungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt bestimmen ihre
Verbreitung und Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1523
52.2.1 Ausbreitung und Verbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1525
52.2.2 Verhalten und Habitatselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1525
52.2.3 Biotische Faktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1526
52.2.4 Abiotische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1527
52.2.5 Klima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1528
52.3 Aquatische Biome: Vielfältige und dynamische Systeme, die den größten Teil der
Erdoberfläche einnehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1534
52.3.1 Struktur aquatischer Biome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1535
52.4 Klima und unvorhersagbare Umweltveränderungen bestimmen die Struktur und
Verbreitung der terrestrischen Biome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1544
52.4.1 Makroklima und terrestrische Biome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1545
52.4.2 Allgemeine Eigenschaften terrestrischer Biome und die Bedeutung von Störungen. . . 1545

Kapitel 53 Populationsökologie 1557


53.1 Dynamische Prozesse und ihr Einfluss auf die Individuendichte, Individuenverteilung
und Demografie von Populationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1558
53.1.1 Individuendichte und Verteilungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1558
53.1.2 Demografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1562
53.2 Wichtige Phasen im Lebenszyklus einer Organismenart als Produkt der natürlichen
Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1565
53.2.1 Evolution und die Vielfalt von Lebenszyklen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1565
53.2.2 „Kompromisse“ und Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1566

XXVIII
Inhaltsverzeichnis

53.3 Exponentielles Wachstum: Ein Modell für Populationen in einer idealen, unbegrenzten
Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1568
53.3.1 Pro-Kopf-Zunahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1568
53.3.2 Exponentielles Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1569
53.4 Das logistische Wachstumsmodell: Langsameres Populationswachstum bei Annäherung
an die Umweltkapazität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1570
53.4.1 Das logistische Wachstumsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1570
53.4.2 Das logistische Modell und natürliche Populationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1572
53.4.3 Logistisches Modell und Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1573
53.5 Dichteabhängige Einflüsse auf das Populationswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1574
53.5.1 Populationsveränderungen und Individuendichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1575
53.5.2 Dichteabhängige Regulation von Populationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1575
53.5.3 Populationsdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1577
53.6 Die menschliche Bevölkerung: Kein exponentielles Wachstum mehr, aber immer noch
ein steiler Anstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1580
53.6.1 Die Erdbevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1580
53.6.2 Globale Umweltkapazität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1583

Kapitel 54 Ökologie der Lebensgemeinschaften 1589


54.1 Wechselbeziehungen zwischen Organismen: Positiv, negativ oder neutral . . . . . . . . . . . . . . . . . 1590
54.1.1 Interspezifische Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1591
54.1.2 Prädation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1593
54.1.3 Parasitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1596
54.1.4 Herbivorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1597
54.1.5 Mutualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1598
54.1.6 Parabiose und Kommensalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1598
54.1.7 Metabiose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1599
54.2 Der Einfluss von dominanten Arten und Schlüsselarten auf die Struktur von
Lebensgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1600
54.2.1 Artendiversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1600
54.2.2 Trophische Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1601
54.2.3 Arten mit einer großen Bedeutung für die Lebensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1604
54.2.4 Bottom-up- und Top-down-Kontrolle in Nahrungsnetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1606
54.3 Der Einfluss von Störungen auf Artendiversität und Artenzusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . 1608
54.3.1 Charakterisierung von Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1609
54.3.2 Sukzession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1610
54.3.3 Von Menschen verursachte Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1612
54.4 Biogeografische Faktoren und ihre Bedeutung für die Artendiversität in
Lebensgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1613
54.4.1 Breitengradabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1613
54.4.2 Effekte der Flächengröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1614
54.4.3 Insel-Biogeografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1615
54.5 Lebensgemeinschaften: ihre Bedeutung für das Verständnis der Lebenszyklen von
Pathogenen und ihre Bekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1617
54.5.1 Pathogene und die Struktur von Lebensgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1617
54.5.2 Lebensgemeinschaften und Zoonosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1618

Kapitel 55 Ökosysteme 1625


55.1 Der Energiehaushalt und die biogeochemischen Kreisläufe von Ökosystemen. . . . . . . . . . . . . . 1627
55.1.1 Energieerhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1627
55.1.2 Erhaltung der Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1628
55.1.3 Energie, Masse und Trophieebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1628
55.2 Energie und andere limitierende Faktoren der Primärproduktion der Ökosysteme . . . . . . . . . . 1630
55.2.1 Energiebilanzen von Ökosystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1630
55.2.2 Primärproduktion in aquatischen Ökosystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1632
55.2.3 Primärproduktion in terrestrischen Ökosystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1634

XXIX
Inhaltsverzeichnis

55.3 Energietransfer zwischen Trophieebenen: Effizienz meist unter zehn Prozent . . . . . . . . . . . . . . 1635
55.3.1 Produktionseffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1635
55.3.2 Die Grüne-Welt-Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1637
55.4 Biologische und geochemische Prozesse regulieren die Nährstoffkreisläufe eines Ökosystems . . 1638
55.4.1 Biogeochemische Kreisläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1638
55.4.2 Mineralisierungs- und Umlaufraten bei Nährstoffkreisläufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1642
55.4.3 Fallstudie: Nährstoffkreisläufe im Hubbard Brook Experimental Forest . . . . . . . . . . . . 1643
55.5 Der Einfluss des Menschen auf die biogeochemischen Kreisläufe der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . 1644
55.5.1 Nährstoffanreicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1644
55.5.2 Saurer Regen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1646
55.5.3 Umweltgifte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1647
55.5.4 Treibhausgase und globale Erwärmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1648
55.5.5 Abbau der stratosphärischen Ozonschicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1651

Kapitel 56 Naturschutz und Renaturierungsökologie 1657


56.1 Der Mensch als Gefahr für die biologische Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1658
56.1.1 Die drei Ebenen der biologischen Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1659
56.1.2 Biologische Vielfalt und das Wohlergehen des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1661
56.1.3 Drei Gefahren für die biologische Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1662
56.2 Populationsgröße, genetische Variabilität und kritische Habitatgröße beim Schutz von
Populationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1665
56.2.1 Ermittlung der minimalen überlebensfähigen Populationsgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1665
56.2.2 Populationsextinktion durch zufällige und häufige Umweltereignisse . . . . . . . . . . . . . 1668
56.2.3 Abwägen konkurrierender Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1670
56.3 Landschafts- und Gebietsschutz zur Erhaltung ganzer Biota . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1671
56.3.1 Struktur und biologische Vielfalt von Landschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1671
56.3.2 Einrichtung von Schutzgebieten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1672
56.4 Renaturierung: Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1676
56.4.1 Biologische Sanierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1677
56.4.2 Biologische Bestandsstützung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1677
56.4.3 Renaturierung als Zukunftsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1680
56.5 Nachhaltige Entwicklung: Das Wohlergehen der Menschen durch die Bewahrung der
biologischen Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1681
56.5.1 Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1681
56.5.2 Fallstudie: Nachhaltige Entwicklung in Costa Rica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1682
56.5.3 Die Zukunft der Biosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1682

Anhang A: Lösungen 1687

Anhang B: Anleitungen zu den wissenschaftlichen Übungen 1759

Anhang C: Weiterführende Literatur 1763

Anhang D: Bildnachweis 1765

Anhang E: Stichwortverzeichnis 1775

XXX
Inhaltsverzeichnis

Wissenschaftliche Übungen
Interpretation von Balkendiagrammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Abgleichen der Standardzerfallskurve eines radioaktiven Isotops und Dateninterpretation . . . . . . . . 45
Interpretation eines Streudiagramms mit einer Regressionsgeraden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Das Arbeiten mit Molzahlen und molaren Verhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Die Analyse von Polypeptidsequenzdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Gebrauch eines Maßstabes zur Berechnung von Oberfläche und Volumen einer Zelle . . . . . . . . . . . . 135
Die Interpretation eines Streudiagramms mit zwei Datensätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Zeichnen eines Liniendiagramms und Berechnen einer Steigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
Ein Balkendiagramm erstellen und eine Hypothese beurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Erstellen eines Punktediagramms mit Regressionsgerade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Das Überprüfen eines Modells durch Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Die Auswertung von Histogrammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
Erstellung eines Liniendiagramms und Umwandlung von Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
Die Erstellung eines Histogramms und die Auswertung von Verteilungsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Der Chi-Quadrat-Test (χ2-Test) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
Auswertung tabellarischer Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
Wie liest man ein Sequenzlogo? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
Die Auswertung von DNA-Deletionsversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
Analyse der Evolution von Viren mithilfe eines auf Sequenzdaten basierenden
phylogenetischen Stammbaums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
Die Analyse der Genexpression nach Menge und Expressionsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
Wie liest man eine Identitätstabelle für Aminosäuren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
Vorhersagen treffen und überprüfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618
Daten interpretieren und Vorhersagen treffen mithilfe der Hardy-Weinberg-Gleichung . . . . . . . . . . . 632
Identifikation von abhängigen und unabhängigen Variablen, Anfertigen eines Streudiagramms
und Interpretation von Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658
Abschätzung quantitativer Daten anhand eines Diagramms und Entwicklung von Hypothesen . . . . 688
Testen einer Verwandtschaftshypothese unter Verwendung von Proteinsequenzdaten . . . . . . . . . . . 732
Zeichnen Sie ein Balkendiagramm und interpretieren Sie die Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764
Interpretation von Sequenzvergleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
Erstellung von Säulendiagrammen und Dateninterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
Dateninterpretation mithilfe des natürlichen Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829
Die Auswertung von Genomsequenzen, um eine Hypothese aufzustellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 854
Berechnung und Interpretation von Korrelationskoeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882
Versuchsdesign verstehen und Daten Interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 913
Bestimmung der Gleichung für eine Regressionsgerade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 980
Interpretieren von Daten anhand von Balkendiagrammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998
Berechnung und Interpretation von Temperaturkoeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1030
Positive und negative Korrelationen helfen Daten zu interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1085
Interpretation von Versuchsergebnissen anhand eines Säulendiagramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123
Interpretation von Kreisdiagrammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160
Planung eines kontrollierten Experiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1187
Die Interpretation von experimentellen Daten in Verbindung mit Genmutationen . . . . . . . . . . . . . . . 1223
Wie zeichnet und interpretiert man Histogramme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1249
Vergleiche zwei Variablen auf einer gemeinsamen x-Achse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1296
Beschreibung und Interpretation wissenschaftlicher Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1308

XXXI
Inhaltsverzeichnis

Einen Versuch aufsetzen und Schlussfolgerungen ziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1349


Interpretation von Zellzyklen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1373
Hypothesentesten mit einem quantitativen Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1501
Erstellung von Balken- und Liniendiagrammen mit Interpretation der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1547
Modellierung des Populationswachstums mithilfe der logistischen Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1574
Erstellen eines Balken- und Streudiagramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1595
Analyse von quantitativen Daten in einer Tabelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1637
Erstellung eines Fehlerbalkendiagramms und Interpretation der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1680

Arbeitstechniken
Zellfraktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
Aufnahme eines Absorptionsspektrums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
Erstellung eines Karyogramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
Die Kreuzung von Erbsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
Die Rückkreuzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Die Erstellung einer Gen- oder Kopplungskarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
Die Didesoxy-Kettenabbruch-Methode zur DNA-Sequenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
DNA-Sequenzierung der nächsten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531
Die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
Die RT-PCR zur Analyse der Expression eines bestimmten Gens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541
Die reproduktive Klonierung eines Säugetieres durch Transplantation von Zellkernen . . . . . . . . . . . 547
Das CRISPR/Cas9-System zur gezielten Veränderung von Genomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557
Anwendung des Parsimonieprinzips auf eine Fragestellung aus der molekularen Systematik . . . . . . 723
Klimaforschung mithilfe der Dendrochronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011
Mit Ti-Plasmiden können transgene Pflanzen hergestellt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013
Hydroponische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1055
Intrazelluläre Ableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1405
Ermittlung der Populationsgröße mit der Fang-Wiederfang-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1559
Die Diversität der Mikroorganismen, ermittelt mit molekularbiologischen Methoden . . . . . . . . . . . . 1601
Ermittlung der Nettoprimärproduktion mit Satelliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1631

Aus der Forschung


Schützt die Anwesenheit giftiger Korallenschlangen die sie imitierende Dreiecksnatter vor
räuberischen Tierarten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Können sich organische Moleküle unter Bedingungen bilden, die vermutlich denen auf der
frühen Erde ähneln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Was kann uns die 3D-Struktur der RNA-Polymerase über ihre Funktion verraten? . . . . . . . . . . . . . . . 113
Bewegen sich Membranproteine? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
Ist die Rotation der „Nockenwelle“ der ATP-Synthase für die ATP-Synthese verantwortlich? . . . . . . 236
Welche Lichtwellenlängen unterstützen die Photosynthese am wirkungsvollsten? . . . . . . . . . . . . . . . 249
An welchem Ende verkürzen sich die Mikrotubuli während der Anaphase? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Steuern cytoplasmatische Faktoren den Zellzyklus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Welche Merkmalszustände erscheinen in der F2-Generation, wenn sich F1-Hybriden selbst
bestäuben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
Werden die Allele für ein Merkmal unabhängig oder abhängig von den Allelen eines anderen
Merkmals auf die Gameten verteilt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

XXXII
Inhaltsverzeichnis

Welche Augenfarbe haben die Nachkommen der F1- und F2-Generationen aus der Kreuzung
einer weiblichen Wildtyp-Taufliege mit einer weißäugigen männlichen Mutantenfliege? . . . . . . . . 383
Wie wirkt sich die Kopplung zweier Gene auf die Vererbung der Merkmale aus? . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Kann ein Erbmerkmal von einem Bakterienstamm auf einen anderen übertragen werden? . . . . . . . . 407
Besteht das Erbmaterial des Phagen T2 aus Protein oder aus DNA? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
Wird DNA nach dem konservativen, dem semikonservativen oder dem dispersiven Modus
repliziert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
Codieren einzelne Gene die Enzyme eines Stoffwechselwegs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
Ist Bicoid ein Morphogen, welches das anteriore Ende einer Taufliege festlegt? . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
Was verursacht die Tabakmosaikkrankheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
Kann der Zellkern einer differenzierten Tierzelle die Entwicklung eines gesamten Lebewesens
steuern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
Kann eine vollständig differenzierte menschliche Zelle wieder „deprogrammiert“ und zu einer
Stammzelle werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
Welche Funktion hat das sich in der Abstammungslinie des Menschen rasch verändernde
FOXP2-Gen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589
Kann ein Wechsel der Futterressourcen mittels natürlicher Selektion Evolutionsprozesse
auslösen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
Wählen Weibchen ihre Geschlechtspartner auf der Basis von Merkmalen aus, die für eine bessere
individuelle Fitness sprechen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641
Kann eine divergierende Entwicklung getrennter Populationen zu einer reproduktiven
Isolation führen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657
Führt sexuelle Selektion bei den Buntbarschen zur Entwicklung eines reproduktiven
Isolationsmechanismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661
Wie hat die Hybridisierung bei Sonnenblumenarten zur Speziation geführt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
Was führt zum Verlust der Bauchstacheln bei im Süßwasser lebenden Stichlingen? . . . . . . . . . . . . . . 699
Von welcher Walart stammt das Fleisch, das als Walfleisch verkauft wird? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715
Können Prokaryonten bei Umweltveränderungen eine schnelle Evolution durchlaufen? . . . . . . . . . . 744
Wo liegt die Wurzel des Eukaryontenstammbaums? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791
Verringern Moose den mineralischen Nährstoffverlust im Boden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813
Nützen Endophyten dem Wachstum von Kiefern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 868
War der Körperbauplan der Arthropoden die Folge neuer Hox-Gene? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921
Hat zwischen Neandertalern und modernen Menschen Genfluss stattgefunden? . . . . . . . . . . . . . . . . 984
Enthält der Phloemsaft in der Nähe der Source-Regionen mehr Zucker als in der Nähe der
Sink-Regionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044
Wie stark unterscheiden sich bakterielle Lebensgemeinschaften innerhalb von Wurzeln von
denen außerhalb? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1059
Welcher Teil der Getreidekoleoptile nimmt Licht wahr, und wie wird das Signal übermittelt? . . . . . 1103
Wie kommt der polare Auxintransport von der Sprossspitze zur Basis zustande? . . . . . . . . . . . . . . . . 1105
Wie wirkt sich die Reihenfolge von Hellrotlicht und Dunkelrotlicht auf die Samenkeimung aus? . . . 1115
Wie erzeugt ein Tigerpython-Weibchen Wärme, während es sein Gelege bebrütet? . . . . . . . . . . . . . . . 1155
Was geschieht mit der circadianen Uhr während des Winterschlafs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1164
Hat die Ernährung Einfluss auf die Häufigkeit angeborener Fehlbildungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203
Wie kontrollieren Endothelzellen die Vasokonstriktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1240
Was verursacht das Surfactant-Mangelsyndrom (Atemnotsyndrom bei Frühgeborenen)? . . . . . . . . . . 1256
Worauf basiert die ungewöhnlich hohe O2-Aufnahme bei Gabelböcken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263
Kann ein einziges antimikrobielles Peptid eine Taufliege vor Infektionen schützen? . . . . . . . . . . . . . 1273
Können Aquaporin-Mutationen zu Diabetes insipidus führen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1327

XXXIII
Inhaltsverzeichnis

Von welchen Männchen wird Sperma genutzt, wenn Taufliegenweibchen sich mehrmals
hintereinander paaren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1341
Steht die Verteilung von Ca2+ im Ei mit der Bildung der Befruchtungshülle in Zusammenhang? . . . 1369
Wie beeinflusst die Verteilung des grauen Halbmonds das Entwicklungspotenzial der ersten
beiden Tochterzellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1388
Kann die dorsale Urmundlippe Zellen in einem anderen Teil des Amphibienembryos dazu
veranlassen, ihr Entwicklungsschicksal zu ändern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1390
Welche Rolle spielt die Zone polarisierender Aktivität (ZPA) bei der Musterbildung der
Wirbeltierextremität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1392
Verfügt das Gehirn über ein spezielles Rezeptorprotein für Opiate? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1415
Welche Zellen kontrollieren die circadiane Rhythmik bei Säugern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1430
Wie nehmen Säuger unterschiedliche Geschmacksqualitäten wahr? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1461
Wie hoch sind die Energiekosten für die Fortbewegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1482
Benutzt eine Grabwespe Landmarken, um ihr Nest zu finden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1496
Sind Unterschiede in der Zugorientierung innerhalb einer Art genetisch determiniert? . . . . . . . . . . 1509
Begrenzen Seeigel das Vorkommen von Seetang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1526
Wie wirkt sich die Versorgung der Nachkommen beim Turmfalken (Falco tinnunculus) auf die
Überlebensrate der Elterntiere aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1567
Kann die ökologische Nische einer Art durch interspezifische Konkurrenz verändert werden? . . . . . 1592
Ist Pisaster ochraceus eine Schlusssteinart? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1605
Unterliegt die Nematoden-Lebensgemeinschaft in der Antarktis einer Top-down- oder einer
Bottom-up-Kontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1607
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Artenreichtum und der Flächengröße einer Insel? . . . . . 1616
Welcher Nährstoff begrenzt die Phytoplanktonproduktion vor der Küste von Long Island? . . . . . . . . 1633
Wie wirkt sich die Temperatur in einem Ökosystem auf die Zersetzung des Laubs aus? . . . . . . . . . . 1642
Was war die Ursache für den drastischen Populationsrückgang des Präriehuhns in Illinois? . . . . . . . 1666

XXXIV
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe

Wir fühlen uns geehrt, Ihnen die 10. Auflage von der Biologie verändert, angefangen von der Moleku-
Campbell Biologie präsentieren zu dürfen. Seit einem lar- und Zellbiologie bis zur Phylogenese, Physiolo-
viertel Jahrhundert ist „der Campbell“ das führende gie und Ökologie. Kapitel 5 stellt den Ausgangs-
Lehrbuch in den Biowissenschaften. Er wurde in über punkt hierfür bereit mit dem neuen Abschnitt 5.6
ein Dutzend Sprachen übersetzt und hat Millionen von Biologie im Wandel durch Genomik und Proteomik.
Studenten mit einer soliden Basis an biologischem  Nutzen Sie Ihr Wissen: An allen Kapitelenden findet
Grundwissen ausgestattet. Dieser Erfolg ist nicht nur ein sich diese Frage. Sie hilft Ihnen zu realisieren, dass
Erbe Neil Campbells, sondern auch die Hinterlassen- Sie das, was sie in dem Kapitel gelernt haben, nut-
schaft von Tausenden von Reviewern, die zusammen zen können, um Ihre Welt zu verstehen und um Ein-
mit Lektoren, Korrektoren, Setzern, Grafikern und vie- blicke in spannende Naturphänomene zu gewinnen.
len weiteren dieses Werk gestaltet und inspiriert haben.  MyLab | Deutsche Version für Campbell Biologie:
Obwohl diese 10. Auflage ein Meilenstein ist, sind Mit dem vorne ins Buch eingedruckten Code können
die Wissenschaft und Pädagogik nicht statisch – so Sie online auf umfangreiche interaktive Übungen
wie sie sich fortentwickeln, entwickelt sich auch der und Vertiefungen zugreifen. Neben dem kompletten
Campbell weiter. eText des Lehrbuchs, Übungsaufgaben, 3D-Animati-
Unsere Ziele für die 10. Auflage waren u.a.: onen und Videobeiträgen finden sich u.a. (auf Eng-
 Sie dabei zu unterstützen, Zusammenhänge zwi- lisch) animierte „Activities“ sowie die beliebten
schen den verschiedenen Bereichen der Biologie zu BioFlix®-Tutorien, mit denen Sie die schwierigsten
erkennen; Lerninhalte anschaulich nachvollziehen können.
 Ihnen eine starke Grundlage für wissenschaftliches
und quantitativ-logisches Denken zu geben;
 Sie für das Spannende und die Bedeutung moderner Über die Autoren
Biologie, v.a. im Bereich der Genomik, zu begeistern.
Die 10. Auflage des Campbell ist verfasst von einem
Unser Ausgangspunkt ist, wie immer, unsere Verpflich- Autorenteam erstklassiger Experten aus dem gesamten
tung, Text und Abbildungen so zu gestalten, dass sie biologischen Spektrum, deren biologische Expertise als
exakt und aktuell sind und dass sie unsere Leiden- Forscher sich ebenso in dem Buch widerspiegeln, wie
schaft für die Biologie widerspiegeln. ihr Verständnis für die Lehre, das sie in ihren Jahren als
Dozenten an verschiedenen Institutionen gewonnen
haben. Die sehr gute Zusammenarbeit des Autoren-
Neue Elemente in dieser Auflage teams zeigt sich in der Geschlossenheit und Konsistenz
dieser 10. Auflage.
 Zusammenhänge erkennen: Diese Einschübe brin- Jane B. Reece (2. von links), Neil Campbells langjäh-
gen Inhalte aus unterschiedlichen Kapiteln zusam- rige Mitarbeiterin, hat an sämtlichen Auflagen von
men und visualisieren das „Big picture“. Indem die Biologie mitgewirkt – erst als Lektorin, dann als Auto-
Verbindungen der grundlegenden Konzepte durch rin. Sie lehrte Biologie u.a. an der University of Cali-
die ganze Biologie hindurch betont werden, wird fornia, Berkeley, und an der Stanford University; der
eine zu starke Wissenszersplitterung vermieden. Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf der geneti-
 Wissenschaftliche Übungen: Diese Kästen finden schen Rekombination von Bakterien.
sich in allen Kapiteln und helfen, das Auswerten Lisa A. Urry (4. von links) ist Professorin für Biolo-
von Daten, Versuchsaufbauten und mathematische gie und Leiterin des Biologischen Instituts am Mills
Fähigkeiten zu lernen und zu üben. College in Oakland, Kalifornien, sowie Gastdozentin
 Datenauswertung: Solche, über den ganzen Text an der University of California, Berkeley. Lisa Urry hat
verteilte Fragen sollen Sie zu eigenen wissenschaft- zahlreiche wissenschaftliche Artikel veröffentlicht,
lichen Untersuchungen ermutigen, indem wir Sie v.a. zur Genexpression während der Embryonal- und
auffordern, in Graphen, Abbildungen oder Tabellen Larvenentwicklung bei Seeigeln.
bereit gestellte Daten zu interpretieren. Ähnliche Michael L. Cain (3. von links) ist Ökologe und Evo-
Übungen finden sich auch im MyLab | Deutsche lutionsbiologe und Autor zahlreicher wissenschaft-
Version für Campbell Biologie. licher Artikel insb. zur Interaktion zwischen Pflanzen
 Genomik: Der Einfluss der Genomik in allen Berei- und Insekten, zur Samenverbreitung über weite Ent-
chen der Biologie wird durch das ganze Buch hin- fernung und zur Artbildung bei Grillen. Er forschte
durch mit vielen Beispielen aufgezeigt, die darle- und lehrte u.a. am Carleton College, der New Mexico
gen, wie unsere Fähigkeit zur Sequenzierung von State University und dem Rose-Hulman Institute of
DNA und Proteinen in großem Maßstab alle Bereiche Technology in Indiana.

XXXV
Vorwort

Steven A. Wasserman (ganz links) ist Professor der ety of America. Rob Jackson erhielt zahlreiche Preise,
Biologie an der University of California, San Diego. u.a. den Presidential Early Career Award der National
Durch seine Forschung zu Regulierungsmechanismen Science Foundation, und ist Fellow der Ecological Soci-
bei der Taufliege Drosophila trug er zu wichtigen ety of America und der American Geophysical Union.
Erkenntnissen in der Entwicklungs- und Reproduk- Neil A. Campbell (1946–2004) hat seine wissen-
tionsbiologie sowie in der Immunologie bei. 2007 schaftliche Neugier als Forscher mit seiner Freude am
erhielt er an der University of California für seine Lehren verknüpft. Er erwarb seinen Master of Arts in
Lehrtätigkeit den Academic Senate Distinguished Tea- Zoologie an der University of California, Los Angeles
ching Award. (UCLA), und promovierte anschließend an der Univer-
Peter V. Minorsky (ganz rechts) ist Professor für Bio- sity of California, Riverside, in Botanik. Dort wurde er
logie am Mercy College in New York, wo er Evolution, 2001 mit dem Distinguished Alumnus Award ausge-
Ökologie, Botanik und Einführung in die Biologie zeichnet. Campbell veröffentlichte zahlreiche wissen-
unterrichtet. Sein Forschungsinteresse richtet sich v.a. schaftliche Artikel über Wüsten- und Küstenpflanzen
auf Pflanzenreaktionen in Antwort auf Umweltverän- und über die Blattbewegung von Pflanzen wie Mimo-
derungen. 2008 erhielt Peter Minorsky am Mercy Col- sen. Im Lauf seiner 30-jährigen Lehrerfahrung unter-
lege den Award for Teaching Excellence. richtete er an verschiedenen Instituten, darunter Allge-
Robert B. Jackson (2. von rechts) ist Professor für meine Biologie an der Cornell University, am Pomona
Biologie und Inhaber des Douglas-Lehrstuhls für College und am San Bernadino Valley College, wo er
Umwelt und Energie an der Stanford University. Er lei- 1986 den ersten vom College verliehenen Outstanding
tete viele Jahre lang das Institut für Ökologie der Duke Professor Award erhielt.
University und war Vizepräsident der Ecological Soci-

XXXVI
Gutachter der 10. amerikanischen Auflage

Gutachter der 10. amerikanischen Auflage Thomas Keller, Florida State University
Janice Knepper, Villanova University
John Alcock, Arizona State University Charles Knight, California Polytechnic State University
Rodney Allrich, Purdue University Jacob Krans, Western New England University
Teri Balser, University of Wisconsin, Madison Barb Kuemerle, Case Western Reserve University
David Bos, Purdue University Jani Lewis, State University of New York
Scott Bowling, Auburn University Nancy Magill, Indiana University
Beverly Brown, Nazareth College Charles Mallery, University of Miami
Warren Burggren, University of North Texas Mark Maloney, University of South Mississippi
Dale Burnside, Lenoir-Rhyne University Darcy Medica, Pennsylvania State University
Mickael Cariveau, Mount Olive College Mike Meighan, University of California, Berkeley
Jung Choi, Georgia Institute of Technology Jan Mikesell, Gettysburg College
Steve Christensen, Brigham Young University Sarah Milton, Florida Atlantic University
Reggie Cobb, Nashville Community College Linda Moore, Georgia Military College
Sean Coleman, University of the Ozarks Karen Neal, Reynolds University
Deborah Dardis, Southeastern Louisiana University Ross Nehm, Ohio State University
Melissa Deadmond, Truckee Meadows Community College Eric Nielsen, University of Michigan
Jean DeSaix, University of North Carolina, Chapel Hill Gretchen North, Occidental College
Jason Douglas, Angelina College Margaret Olney, St. Martin’s College
Anna Edlund, Lafayette College Rebecca Orr, Spring Creek College
Kurt Elliott, North West Vista College Matt Palmtag, Florida Gulf Coast University
Rob Erdman, Florida Gulf Coast College Eric Peters, Chicago State University
Dale Erskine, Lebanon Valley College Larry Peterson, University of Guelph
Margaret Folsom, Methodist College Deb Pires, University of California, Los Angeles
Robert Fowler, San Jose State University Crima Pogge, San Francisco Community College
Kim Fredericks, Viterbo University Michael Pollock, Mount Royal University
Craig Gatto, Illinois State University Jason Porter, University of the Sciences, Philadelphia
Kristen Genet, Anoka Ramsey Community College Elena Pravosudova, University of Nevada, Reno
Phil Gibson, University of Oklahoma Eileen Preston, Tarrant Community College Northwest
Eric Gillock, Fort Hayes State University Pushpa Ramakrishna, Chandler-Gilbert Community College
Edwin Ginés-Candelaria, Miami Dade College David Randall, City University Hong Kong
Eileen Gregory, Rollins College Robert Reavis, Glendale Community College
Bradley Griggs, Piedmont Technical College Todd Rimkus, Marymount University
Edward Gruberg, Temple University John Rinehart, Eastern Oregon University
Carla Guthridge, Cameron University Diane Robins, University of Michigan
Carla Haas, Pennsylvania State University Deb Roess, Colorado State University
Pryce Pete Haddix, Auburn University Suzanne Rogers, Seton Hill University
Heather Hallen-Adams, University of Nebraska, Lincoln Glenn-Peter Saetre, University of Oslo
Monica Hall-Woods, St. Charles Community College Sanga Saha, Harold Washington College
Bill Hamilton, Washington & Lee University Kathleen Sandman, Ohio State University
Dennis Haney, Furman University Andrew Schaffner, Cal Poly San Luis Obispo
Jean Hardwick, Ithaca College Duane Sears, University of California, Santa Barbara
Luke Harmon, University of Idaho Joan Sharp, Simon Fraser University
Chris Haynes, Shelton State Community College Eric Shows, Jones County Junior College
Jean Heitz, University of Wisconsin, Madison John Skillman, California State University, San Bernardino
Albert Herrera, University of Southern California Doug Soltis, University of Florida, Gainesville
Chris Hess, Butler University Mike Toliver, Eureka College
Kendra Hill, San Diego State University Victoria Turgeon, Furman University
Laura Houston, Northeast Lakeview College Amy Volmer, Swarthmore College
Harry Itagaki, Kenyon College James Wandersee, Louisiana State University
Kathy Jacobson, Grinnell College James Wee, Loyola University
Roishene Johnson, Bossier Parish Community College Murray Wiegand, University of Winnipeg
The-Hui Kao, Pennsylvania State University Kimberly Williams, Kansas State University
Judy Kaufman, Monroe Community College Shuhai Xiao, Virginia Polytechnic Institute

XXXVII
Vorwort

Vorwort zur 10. deutschen Auflage


des Campbell
Nun liegt also das beliebteste deutschsprachige Bio- beiten konnten, durch neue Bearbeiter zu ersetzen,
logielehrbuch bereits in der 10. Auflage vor. Der die, wenn auch die aktuellen Adressen das nicht
„Campbell“ umfasst wie immer die gesamte Spann- immer widerspiegeln, ursprünglich mit der Biologie
breite der Biologie, vom Molekül bis zum Ökosystem, der Universität Osnabrück eng verbunden waren. Hier
und es steht zu erwarten, dass es auch weiterhin das gilt unser zutiefst empfundener Dank all denjenigen,
führende Standardwerk für Biologiestudentinnen und die sich erstmals oder erneut zu dieser Mammutauf-
-studenten und Biologielehrerinnen und -lehrer sein gabe durchringen konnten und ohne deren Hilfe und
wird. Darüber hinaus hat sich der „Campbell“ bei unermüdlichen Einsatz (Nächte und Wochenenden
allen biologisch Interessierten als fester Bestandteil im eingeschlossen) die fristgerechte Abgabe der Überar-
Leserepertoire etabliert. Aber nicht nur Studentinnen beitung mit allen Erst-, Zweit- und Endkorrekturen
und Studenten der Fachrichtung Biologie, auch Stu- nicht möglich gewesen wäre. Trotzdem müssen wir
dierende der Chemie, Physik, Pharmazie und anderer zugeben, dass die Einhaltung der „deadline“ bis Ende
biologieaffiner Fächer profitieren von der exzellenten August 2015 durchaus noch eine Herausforderung
didaktischen Aufbereitung des umfangreichen Stoffs. darstellte. Hier gilt auch ein besonderer Dank den
Als vom Verlag die Bitte an die Osnabrücker Biolo- Doktorand(inn)en der Arbeitsgruppe Genetik (Chris-
gie herangetragen wurde, die aktuelle amerikanische tian Kock, Anne-Kathrin Langenberg, Dorthe Rippert,
10. Auflage des Campbell für die deutschsprachige Severin Schweisthal, Carolin Sterk), die bei der Über-
Leserschaft zu überarbeiten, waren wir mit drei Tatsa- prüfung vieler Druckfahnen mitgearbeitet haben.
chen konfrontiert: 1) Das frühere Herausgebertrio mit Auch möchten wir nicht versäumen, uns für die kon-
den Kolleg(inn)en Kratochwil, Scheibe, Wieczorek – struktive Zusammenarbeit und Unterstützung des Ver-
die bei der 8. und 9. Auflage hervorragende Geduld lags, insbesondere durch Frau Mönch und Frau
und Übersicht bewiesen hatten – wünschte sich eine Prümm, zu bedanken. Sie haben es geschafft, die teil-
Übergabe dieser Aufgabe in neue verantwortungsvolle weise sehr kryptischen Anmerkungen oder persön-
Hände. Die neuen Herausgeber der deutschsprachigen lichen Eigenheiten in der Bearbeitung der verschiede-
Auflage, Jürgen J. Heinisch und Achim Paululat, nen Textversionen doch in ein einheitliches Bild
waren hierzu gerne bereit, da, und hierfür möchten zusammenzufassen. Auch Frau Pahlmann, als Schnitt-
wir den bisherigen Herausgebern besonders danken, stelle zwischen den Wissenschaftlern in Osnabrück
bereits eine perfekte Grundlage für eine neue Über- und dem Verlag in München, die unermüdlich neue
arbeitung des Campbell gelegt war. 2) Obwohl viele und verbesserte Versionen und Anmerkungen hin- und
Kolleginnen und Kollegen aus dem vorherigen Bear- hergesendet hat, soll hier nicht unerwähnt bleiben.
beitungsteam erneut bereit waren, wieder bei der Neu- Bezüglich der vorliegenden Überarbeitung haben wir
auflage zu helfen, bestand dennoch die dringende diesmal darauf verzichtet, die einzelnen Kapitel noch-
Notwendigkeit, neue Mitarbeiter für dieses großartige mals vorher an Übersetzer zu geben. Vielmehr hat das
Buchprojekt zu gewinnen. 3) Zunächst war geplant, Team aus Biologen zwar die alte deutsche Ausgabe zur
auf der 8./9. deutschen Auflage aufzubauen und nur Vorlage genommen, allerdings jedes einzelne Kapitel
einige Abschnitte mit wesentlichen Neuerungen aus vollständig neu überarbeitet und umfangreiche Passagen
der amerikanischen Version einzufügen. Sehr schnell neu übersetzt. Auch wenn es dabei bei „klassischen“
stellte sich jedoch heraus, dass ausnahmslos alle Kapi- Themen (z.B. bei den Grundlagen der Zellbiologie, der
tel von einer intensiven und gründlichen inhaltlichen Stoffwechselphysiologie oder bei der Mendelgenetik)
und editoriellen Überarbeitung profitieren würden. keine wesentlichen Neuerungen zu verzeichnen gibt, so
In der Tat konnten all diese Probleme gelöst werden, haben wir doch die Ausdrucksweise in vielen Teilen
so dass das vorliegende Werk nun von einem Zweier- überprüft und viele „Anglizismen“ ausgemerzt. Dagegen
team koordiniert wurde, wobei auch wir uns der Ver- hat sich die Wissenschaft in anderen Themengebieten
pflichtung bewusst waren, die hervorragende Lesbar- dramatisch weiterentwickelt und dieser Tatsache wurde
keit der amerikanischen Version beizubehalten, ohne durch zahlreiche neue Kapitelabschnitte in der vorlie-
dabei die wesentlichen Inhalte und Ziele zu verwäs- genden Auflage Rechnung getragen. Eines der herausste-
sern. Wie Sie aus der Übersicht des vollständigen chendsten Beispiele ist hier das Kapitel über Biotechno-
Bearbeitungsteams entnehmen können, haben sich logie, in dem etwa die neuesten Sequenziermethoden
wieder zahlreiche Experten jedes einzelnen der insge- der nächsten Generation ebenso Einzug gefunden haben
samt 56 Kapitel angenommen, sodass die Fachkompe- wie die CRISPR-Technologie (ein Thema, das in der US-
tenz erhalten geblieben ist. Zudem ist es uns gelun- Ausgabe, die wesentlich früher erschienen ist, noch
gen, diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die nicht nicht berücksichtigt werden konnte).
mehr an der aktuellen Auflage des „Campbell“ mitar-

XXXVIII
Vorwort zur 10. deutschen Auflage des Campbell

Neu sind auch die „Wissenschaftlichen Übungen“, die „Fehlerteufel“ trotz aller Bemühungen nicht ganz aus-
den Studierenden einen Einstieg in die Herangehens- zuschließen. Dies gilt sowohl inhaltlich als auch
weise in der biologischen Forschung vermitteln sol- redaktionell. Die Herausgeber und der Verlag sind des-
len. Sie zeigen nicht nur, wie gesammelte Daten sinn- halb für alle Rückmeldungen dankbar, die dazu beitra-
voll und übersichtlich dargestellt werden können, gen können, auch diese letzten Fehler in der nächsten
sondern auch, worauf bei der Planung und Auswer- Ausgabe noch auszumerzen.
tung von Experimenten und Beobachtungen zu achten
ist. Osnabrück, den 25. August 2015
Abschließend noch eine Bitte an die Leserinnen und
Leser: Natürlich ist bei dem Umfang dieses Werks der Prof. Dr. Jürgen J. Heinisch und Prof. Dr. Achim Paululat

XXXIX
Vorwort

Über die Bearbeiter der deutschen Ausgabe

Dr. Lidia Bakota PD Dr. Thomas Fartmann


Abteilung Neurobiologie Lehre: Tier- und Vegetationsökolo-
Lehre: Zell- und Neurobiologie gie, Naturschutzbiologie
Forschung: Entwicklung und Dege- Forschung: Auswirkungen des aktu-
neration von Nervenzellen ellen Landnutzungs- und Klimawan-
Lektorat: Kapitel 48–50 dels auf die Biodiversität (Global
Change Ecology), Störungsökologie
(Disturbance Ecology) und Renatu-
rierungsökologie (Restoration Eco-
logy)
Prof. Dr. Roland Brandt Lektorat: Kapitel 52–56
Abteilung Neurobiologie
Lehre: Zell- und Neurobiologie
Forschung: Entwicklung und Dege- Dr. Heiko Harten
neration von Nervenzellen Abteilung Zoologie / Entwicklungs-
Lektorat: Kapitel 48–50 biologie
Lehre: Molekulare Entwicklungs-
biologie, Morphologie und Anato-
mie der Tiere
Forschung: Drosophila-Entwicklung,
Dr. Andrea Busch Funktion von Metalloproteasen,
Abteilung Botanik Peptidmetabolismus, Stoffwechsel-
Lehre: Molekulare Entwicklungs- physiologie
genetik der Pflanzen Mitarbeit an: Kapitel 46, 47
Forschung: Funktion von TCP-Tran-
skriptionsfaktoren in der Ausbil-
dung monosymmetrischer Blüten Prof. Dr. Jürgen J. Heinisch
Lektorat: Kapitel 22–25 Abteilung Genetik
Lehre: Allgemeine Genetik, Schwer-
punkte der Vorlesungen sind Mole-
Dr. Gabriele Deckers-Hebestreit kulargenetik von Viren, Bakterien
Abteilung Mikrobiologie und niederen Eukaryonten; Signal-
Lehre: Molekulare Mikrobiologie, transduktion und Regulation der
Bakterielle Bioenergetik, Immuno- Genexpression; Biotechnologie von
logie Hefen und Pilzen
Forschung: ATP-Synthase von Esche- Forschung: Signaltransduktion zur
richia coli, Assemblierung eines Gewährleistung der Zellintegrität in verschiedenen
Multienzymkomplexes, Einfluss der Hefen; Bedeutung der pilzlichen Zellwand; Kohlenhy-
Fluidität und Dicke der Membran dratstoffwechsel bei Hefen; heterologe Genexpression
auf Proteinkomplexe und angewandte Hefegenetik
Lektorat: Kapitel 27, Mitarbeit an: Kapitel 7, 44 Lektorat: Kapitel 18, 20, 31, Mitarbeit an: Kapitel 1–9,
11–17, 19,21
Mitherausgeber der aktuellen deutschsprachigen Auflage
apl. Prof. Dr. Siegfried Engelbrecht-
Vandré
Abteilung Biochemie Priv. Doz. Dr. Knut Jahreis
Lehre: Biochemie Abteilung Genetik
Wissenschaftliche Interessen: Pro- Lehre: Grundlagen der Genetik, All-
teinstruktur und -funktion, Bio- gemeine Genetik, Genomics, Bakte-
energetik, Nanomotorik riengenetik, wissenschaftlicher Lei-
Lektorat: Kapitel 2–9, Mitarbeit an: ter des Schülerlabors Explain-OS
Kapitel 10 Forschung: Prokaryonten-Genetik,
Kohlenhydrattransport, Physiologie,
Stoffflussanalysen, Regulationsnetz-
werke, Signaltransduktion, Biosen-
soren, Chemotaxis, Systembiologie
Lektorat: Kapitel 13–17, Mitarbeit an: Kapitel 18

XL
Vorwort zur 10. deutschen Auflage des Campbell

apl. Prof. Dr. Gunnar Jeserich Prof. Dr. Hans Merzendorfer


Abteilung Neurobiologie Abteilung Tierphysiologie (Uni
Lehre: Neurobiologie Osnabrück), Abteilung Molekular-
Forschung: Entwicklung und Dege- biologie (Uni Siegen)
neration von Nerven – und Gliazel- Lehre: Tier- und Humanphysiolo-
len, Elektrophysiologie gie, Humanbiologie, Pathophysio-
Lektorat: Kapitel 48–50 logie, Immunologie, Molekularbio-
logie und molekulare Evolution
Forschung: Chitin-Metabolismus,
Bildung und Funktion chitinhalti-
PD. Dr. Thomas Krüppel ger Strukturen bei Pilzen und Insekten, Inhibitoren
Abteilung: Tierphysiologie der Chitinsynthese, Insektizid-Resistenz, Struktur und
Lehre: Tier- und Humanphysiolo- Regulation membranintegraler Transportproteine ins-
gie, Sinnesphysiologie, Elektrophy- besondere Chitinsynthasen und ABC-Transporter
siologie Lektorat: Kapitel 44, 45, Mitarbeit an: Kapitel 41–43
Forschung: Membranbiologie,
Ionenkanäle, elektrische Steuerung
der Cilienbewegung apl. Prof. Dr. Klaus Mummenhoff
Lektorat: Kapitel 41, 42, 43, Mitar- Abteilung Botanik
beit an: Kapitel 45 Lehre: Systematik, Ökologie, Geo-
botanik, Evolutionsbiologie der
Pflanzen mit den Schwerpunkten
PD Dr. Lars Lewejohann ökologische Anatomie/Morpholo-
Abteilung Verhaltensbiologie gie, molekulare Systematik, Evolu-
Lehre: Verhaltensbiologie, Verhal- tion und Anpassungsstrategien der
tensneurobiologie, Verhaltensphy- Landpflanzen
siologie, Verhaltensgenetik, Verhal- Forschung: Brassicaceen: Evolution
tensökologie, Evolutionsbiologie und Systematik, genetische Regulation morphologischer
Forschung: Mechanismen der Ent- Merkmale, Keimungs- und Ausbreitungsbiologie
stehung individueller Unterschiede, Lektorat: Kapitel 29, 30, Mitarbeit an: Kapitel 26, 28
Gen-Umwelt-Interaktion, Tierschutz
und Wohlergehensdiagnostik, Verhaltenscharakterisie-
rung von transgenen und Knockout-Mäusen, Kosten- apl. Prof.in Dr. Barbara Neuffer
Nutzen-Analyse kognitiver Prozesse Abteilung Botanik
Lektorat: Kapitel 51 Lehre: Morphologie und Anatomie
der Landpflanzen, Bionik, Flora und
Vegetation der Erde, Evolution von
Dr. Anja Lorberg Leit- und Festigungsgewebe, Blüten-
Institut/Abteilung: Genetik (Uni- biologie, Befruchtungssysteme
versität Osnabrück), Ursulaschule Forschung: Populationsbiologie,
Osnabrück Anpassungsstrategien kolonisieren-
Lehre: Molekulare Genetik, Gene- der Pflanzenarten, sporophytisches
tik und Zellbiologie von Hefen, Selbstinkompatibilitätssystem, Pflanzenbiogeographie
Fächer Biologie und Physik Sekun- der eurasiatischen Steppe, Florenwandel, Herbarium
darstufe II OSBU
Forschung: Signaltransduktionswege Lektorat: Kapitel 35, 38, Mitarbeit an: Kapitel 36, 37, 39
zur Wachstumsregulation bei Hefen
Lektorat: Kapitel 11
Birte Pahlmann
Fremdsprachenkorrespondentin u.
Prof. Dr. Susanne Menzel Akademisch gepr. Übersetzerin, Ab-
Abteilung Biologiedidaktik teilung Ökologie u. Dekanat
Lehre: Grundlagen der Biologie- Koordination des Fachlektorats
didaktik, Bioethik, Grundlagen der
Umweltpsychologie
Forschung: Erklärung umweltschüt-
zenden Verhaltens; GIS-gestützte
Erforschung von Landschaftswahr-
nehmung und -bewertung junger
Menschen; Interesse und Motivation
in unterschiedlichen Lernsettings
Lektorat: Kapitel 51

XLI
Vorwort

Prof. Dr. Achim Paululat Lektorat: Kapitel 10, 36, 37, 39, Mitarbeit an: Kapitel

© Uwe Lewandowski, Universität Osnabrück


Abteilung Zoologie-Entwick- 9, 35, 38
lungsbiologie Priv.-Doz. Dr. Hans-Peter Schmitz
Lehre: Molekulare Entwicklungs- Institut/Abteilung: Genetik
biologie und Entwicklungsgene- Lehre: Molekulare Genetik, Bio-
tik, Morphologie und Anatomie technologie, Angewandte Genomik
der Tiere mit Schwerpunkt Fort- und Bioinformatik, Genetik und
pflanzung und Entwicklung, Dro- Zellbiologie von Hefen und fila-
sophila-Biologie mentösen Pilzen
Forschung: Herz- und Muskeldif- Forschung: Wachstumssteuerung bei
ferenzierung, Organogenese, Kreislaufsystem der Insek- Hefen und Pilzen, Regulation des
ten, Bedeutung der extrazellulären Matrix für die Organ- Cytoskeletts, vergleichende Geno-
bildung und- Funktion. mik von Hefen und Pilzen, Endozytose
Lektorat: Kapitel 1, 28, 40, 46, 47, Mitarbeit an: Kapi- Lektorat: Kapitel 12, 19, 21, Mitarbeit an: Kapitel 20, 31
tel 32–34
Mitherausgeber der aktuellen deutschsprachigen Auflage
Prof. Dr. Sabine Zachgo
Botanik Universität Osnabrück
apl. Prof. Dr. Günter Purschke Lehre: Molekulare Entwicklungsge-
© Uwe Lewandowski, Universität Osnabrück

Abteilung Zoologie netik der Pflanzen, Evolution und


Lehre: Zoologie, Schwerpunkte: Entwicklungsgenetik der Landpflan-
Evolution, Morphologie, Phyloge- zen, Mechanismen der Evolution
nie, Systematik und Meeresbiolo- Forschungsschwerpunkte: Pflanz-
gie liche Entwicklungsgenetik, Steue-
Forschung: Evolution, Systematik, rung der Blütenorganogenese, mole-
Stammesgeschichte und Funkti- kulare Prozesse zur Ausbildung von
onsmorphologie von Ringelwür- Landpflanzendiversität
mern (Annelida) und verwandten Lektorat: Kapitel 22–25, Mitarbeit an: Kapitel 35
Taxa; Phylogenie der Metazoa mit Schwerpunkt Lopho-
trochozoa
Lektorat: Kapitel 26, 32–34, Mitarbeit an: Kapitel 6, Dr. Petra Zimmann
25, 28, 40 Hochschule Osnabrück,
University of Applied Sciences
Fakultät Agrarwissenschaften und
Dr. Dominique Remy, Dipl.-Biol. Landschaftsarchitektur
© Uwe Lewandowski, Universität Osnabrück

& Dipl.-Geol. Fachgebiet: Agrarbiotechnologie,


Abteilung Ökologie Bioverfahrenstechnik
Lehre: Grundlagen der Ökologie, Lehre: Allgemeine Biologie und Ge-
Vegetationsökologie, Methoden netik, Biochemie, Molekularbiologie
der Umweltanalytik Forschung: Molekulare Biotechno-
Forschung: Renaturierung, logie mit pflanzlichen, tierischen und bakteriellen Orga-
Nährstoffeinträge und Nährstoff- nismen und deren Produkten in der Agrar- und
verlagerung, Standortbedingun- Lebensmittelwirtschaft
gen von Gewässermakrophyten, Lektorat: Kapitel 27
Kunststoffe in aquatischen Ökosystemen
Mitarbeit an: Kapitel 52–56

Prof. Dr. Renate Scheibe


Abteilung Pflanzenphysiologie
Lehre: Energie- und Baustoffwechsel
der Pflanzen, Sekundärstoffwechsel,
Regulation des Stoffwechsels, Ent-
wicklungsphysiologie, Ökophysiolo-
gie, Molekularbiologie der Pflanzen
Forschung: Photosynthese, Regula-
tion der CO2-Assimilation, Licht/
Dunkelmodulation von Chloroplas-
tenenzymen, Redox-Modifikation von cytosolischen
Enzymen, Thioredoxin-Systeme, Protein-Protein-Wech-
selwirkungen, Redox-Signaling

XLII
Was den Campbell auszeichnet

Was den Campbell auszeichnet

Unser Buch soll Studenten als Einführung in die Allge- Um Ihnen zu helfen, „den Wald vor lauter Bäumen zu
meine Biologie und später als nützliches Werkzeug zur sehen“, ist daher jedes Kapitel um eine kleine Zahl
Wiederholung sowie als Referenzwerk dienen. Breite, von – gewöhnlich drei bis sechs – Schlüsselkonzepten
Tiefe und flexible Organisation dieses Buches ermögli- organisiert, die Ihnen dabei helfen, das ‚große Ganze‘
chen es, dieses dreifache Ziel zu erreichen. Auch die im Blick zu behalten und die Ihnen den Kontext für
Studenten schätzen Breite und Tiefe dieses Lehrbuchs das Detailwissen bereitstellen.
offenbar; in einer Zeit, in der viele ihre Lehrbücher wie- Alle Kapitel werden von einem dynamischen Foto
der verkaufen, haben mehr als 75 Prozent aller Studen- eröffnet, das auf eine interessante Fragestellung hin-
ten, die Biologie benutzt haben, das Buch nach ihren weist, die im folgenden Abschnitt im Überblick
Grundvorlesungen behalten. Zu unserer großen Freude behandelt wird und in das Kapitel einführt.
erhalten wir immer wieder Post von Studenten in Am Ende eines jeden Abschnitts können Sie anhand
höheren Semestern, darunter auch Medizinstudenten, von Wiederholungsfragen überprüfen, ob sie den Stoff
die Biologie als allgemeine Informationsquelle von blei- verstanden haben, bevor sie zum nächsten Schlüssel-
bendem Wert schätzen und im Lauf ihrer Ausbildung konzept weitergehen. Die Wiederholungsfragen bestär-
immer wieder darauf zurückgreifen. ken Sie, aktiv zu lesen und helfen Ihnen, sich eine
breite Basis für das zu erarbeiten, was in Prüfungen
Orientierung an Schlüsselkonzepten auf Sie zukommt.
Die Fülle von Entdeckungen, die die moderne Biolo-
gie so aufregend macht, droht gleichzeitig auch, die
Wiederholungsfragen 47.1
Studenten unter einer Lawine von Informationen zu
ersticken. Unser wichtigstes didaktisches Ziel seit vie-
1. Wie bildet sich die Befruchtungshülle beim
len Auflagen ist es daher, den Studenten zu helfen,
Seeigel? Welche Aufgabe hat sie?
sich ein Gerüst zu erarbeiten und biologische Zusam-
menhänge zu verstehen. 2. WAS WÄRE, WENN? Was würde Ihrer Meinung
nach geschehen, wenn man Ca2+ in ein unbe-
fruchtetes Seeigel-Ei injiziert?

3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Wie viele Chorien


und Amnien sind bei siamesischen Zwillingen
Das Immunsystem
vorhanden? (Diese Zwillinge sind stets ein-
eiig.) Anmerkung: Der Name siamesische Zwil-
44.1 Das angeborene Immunsystem basiert auf der Erkennung 44 linge leitet sich von dem gut dokumentierten
gemeinsamer Muster von Krankheitserregern . . . . . . . . . . . . . . . . . 1269
44.2 Im adaptiven Immunsystem ermöglicht eine Vielzahl an Fall zweier Brüder aus Siam (heute Thailand)
KONZEPTE

Rezeptoren die spezifische Erkennung von Pathogenen . . . . . . . 1275


44.3 Adaptive Immunität und die Abwehr von Infektionen in
Körperzellen und Körperflüssigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1282
ab. In modernen englischsprachigen Lehrbü-
44.4 Störungen des Immunsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1290 chern wird bevorzugt nur der neutrale Begriff
„conjoined twins“ verwendet.
T Abbildung 44.1: Was hat den Angriff dieser
Immunzelle auf die Bakterien ausgelöst?

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

„Was wäre, wenn?“-Fragen ermutigen Sie, Ihr Wissen


anzuwenden.
„Zusammenhänge erkennen“-Fragen verbinden in
diesem Abschnitt erworbenes Wissen mit dem Wissen
früherer Kapitel.
Anhand der Lösungshinweise in Anhang A können
Sie überprüfen, ob Sie die Wiederholungsfragen kor-
rekt beantwortet haben. Damit sind Sie gut für das
weitere Kapitel gerüstet.

XLIII
Vorwort

Zusammenfassungen an den Kapitelenden richten das  Ebene 1: Wissen und Verständnis


Augenmerk auf die wichtigsten Punkte des Kapitels.  Ebene 2: Anwendung und Auswertung
Zusammenfassende Abbildungen visualisieren wich-  Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
tigen Inhalt und Fragen zur Zusammenfassung prü-
fen, ob das jeweilige Schlüsselkonzept verstanden Zur Vertiefung endet jedes Kapitel mit Fragen aus den
wurde. Wenn Sie diese Fragen nicht beantworten kön- Bereichen „Verbindung zur Evolution“, „Wissenschaft-
nen, lesen Sie nochmals die entsprechenden Abschnitte liche Fragestellung“ und „Skizzieren Sie ein Thema“.
dieses Kapitels. Die letzte Frage bezieht sich jeweils auf den Bereich
Übungsaufgaben an den Kapitelenden sind (gemäß „Nutzen Sie Ihr Wissen“ und fordert Sie auf, das im
Blooms Lernzieltaxonomie) in drei didaktische Ebe- Kapitel Gelernte zu nutzen, um eine interessante Frage-
nen unterteilt: stellung zu bearbeiten.

19 Viren

XZ USA M M E N F A S S U NG KAP ITEL 1 9 W

Konzept 19.1 ein, um ihr RNA-Genom in eine DNA umzuschrei-


Ein Virus besteht aus einer von einer Proteinhülle ben, die dann als Provirus in das Genom des Wirts
eingeschlossenen Nucleinsäure integriert werden kann.

„ Viren wurden erstmals gegen Ende des 19. Jahrhun- „ Da sich Viren nur innerhalb von Zellen vermehren
derts entdeckt, als die durch das Tabakmosaikvirus können, haben sie sich wahrscheinlich erst nach
verursachte Pflanzenkrankheit erforscht wurde. deren Entstehung entwickelt. Der Ursprung der
Viren in der Evolution wird unter den Fachleuten
„ Ein Virus ist ein kleines Nucleinsäuregenom, das in noch immer diskutiert.
ein Protein-Capsid eingeschlossen ist. Oft findet
sich noch eine äußere Membranhülle mit eingelager- ? Beschreiben Sie Enzyme, die Sie normalerweise nicht in Zellen finden,
die aber essenziell für die Replikation bestimmter Typen von Viren sind.
ten viralen Proteinen, die der Erkennung und Infek-
tion der Wirtszelle dienen. Das Genom kann eine
einzel- oder doppelsträngige DNA oder RNA sein. Konzept 19.3
Viren, Viroide und Prionen als Pathogene von Tieren
Teil 3 ? Werden Viren generell als lebendig oder nicht lebendig angesehen? und Pflanzen
Begründen Sie Ihre Antwort.
„ Symptome einer Virusinfektion können durch virale
Konzept 19.2 Schädigung der Körperzellen oder durch die Immun-
Viren vermehren sich nur in Wirtszellen abwehr des Wirts ausgelöst werden. Impfstoffe (Vak-
zine) stimulieren das Immunsystem und verteidigen
„ Viren benutzen Enzyme, Ribosomen und andere den Wirt gezielt gegen bestimmte Viren, mit denen er
Inhaltsstoffe der Wirtszelle, um neue Viruspartikel in Kontakt gekommen ist.
von der Zelle synthetisieren zu lassen. Jeder Virus-
typ weist ein für ihn typisches Wirtsspektrum auf. „ Eine Epidemie, ein weitverbreiteter Ausbruch einer
Krankheit, kann zu einer Pandemie, einem welt-
„ Phagen (Bakterienviren) können sich über den lyti- weiten Ausbruch der Krankheit werden.
schen oder den lysogenen Zyklus vermehren – zwei
Übungsaufgaben
Wege, die sich durch die Art der Replikation und „ „Neue“ Viruskrankheiten des Menschen werden in
die Möglichkeit der Vermehrung ohne Zerstörung der Regel durch bereits vorher existierende Viren
der Wirtszelle unterscheiden. verursacht, die ihr Wirtsspektrum und/oder ihre
geografische Verbreitung ausdehnen. Der H1N1-Aus-
Der Phage lagert sich 2. „Neue Viren“ entstehen durch
bruch des Grippevirus von 2009 war eine Neukom- 8. Wissenschaftliche Fragestellung Wenn Bakterien
an die Wirtszelle an
und injiziert seine DNA. bination von Genen aus Schweine-, Menschen-a. Mutation
und existierender Viren ein Tier infizieren, steigt die Bakterienzahl zu-
Phagen-DNA Vogelgrippe-Viren, der zur Pandemie wurde.b. Verbreitung existierender Viren unter neuen nächst exponentiell an, wenn eine Immunabwehr
Wirtsarten ausbleibt und die Wachsstumsressourcen begrenzt
Prophage
Bakterien-
chromosom
„ Viren dringen durch Beschädigungen der c.Epider-
stärkere Verbreitung existierender Viren in der sind (Bild A). Nach der Infektion mit einem viru-
mis in Pflanzen ein (horizontale Transmission)bisherigen
oder Wirtsart lenten Tiervirus und einem lytischen Vermeh-
d. Trans-
werden von Elternpflanzen vererbt (vertikale alle vorgenannten Mechanismen rungszyklus treten die Symptome einer Infektion
Lytischer Zyklus Lysogener Zyklus mission). erst verzögert auf. Dann schnellt die Zahl der Viren
• Virulenter oder temperenter Phage • Nur temperente Phagen
3. Um eine weltweite Pandemie unter Menschen plötzlich hoch und nimmt in der Folge schritt-
• Zerstörung der Wirts-DNA • Genom integriert sich als Prophage, auszulösen, muss das H5N1-Vogelgrippe-Virus
• Produktion neuer Phagenpartikel in das bakterielle Wirtsgenom und „ Viroide sind nackte RNA-Moleküle, die Pflanzen weise zu (Bild B). Versuchen Sie, den Unterschied
• Lyse der Wirtszelle führt zur Freisetzung wird (1) im Rahmen der normalen a. sich auf Primaten wie Schimpansen ausbreiten zwischen den beiden Kurven zu erklären.
der neuen Phagenpartikel. Replikation kopiert und an die infizieren und deren Wachstum stören. b. Prionen
sich zu einem Virus mit neuem Wirtsspektrum
Tochterzellen weitergegeben und
kann (2) durch äußere Einflüsse
sind falsch gefaltete, sehr stabile, infektiöseentwickeln
Pro-
veranlasst werden, das Chromosom teine, die bei Säugetieren chronische Erkrankungen
c. die Fähigkeit der Übertragung von Mensch zu A B
Anzahl der Bakterien

zu verlassen und den lytischen


Anzahl der Viren

Vermehrungszyklus einzuleiten. des Gehirns verursachen. Mensch erwerben


„ Viele Tierviren besitzen eine Membranhülle. Retrovi- ? Durch welche Eigenschaft eines RNA-Virus erhöht sich d.
dieviel pathogener werden
Wahr-
scheinlichkeit gegenüber einem DNA-Virus, dass ein hochansteckender
ren wie HIV setzen das Enzym Reverse Transkriptase
Stamm entsteht?
Ebene 2: Anwendung und Auswertung Teil 3
Zeit Zeit
Ü B U NG S AUF G A B E N
Ein Bakterium wird mit einem experimentell
4.
erzeugten Bakteriophagen infiziert, der aus der Pro- 9. Skizzieren Sie ein Thema: Organisation Obwohl
Ebene 1: Wissen und Verständnis a. Metabolismus (Stoffwechsel)
teinhülle von T2 und der DNA von T4 besteht. Die Viren von den meisten Wissenschaftlern als nicht
b. Ribosomen
in der Zelle neu gebildeten Phagen enthalten lebendig angesehen werden, zeigen sie doch einige
1. Welche der folgenden Merkmale, Strukturen oder c. genetisches Material in Form von Nucleinsäuren
a. T2-Protein und T4-DNA Merkmale von Leben, einschließlich des Zusam-
Prozesse kommt sowohl bei Bakterien wie auch d. Zellteilung
b. T2-Protein und T2-DNA menhangs zwischen Morphologie und Funktion.
bei Viren vor?
c. T4-Protein und T4-DNA Diskutieren Sie in einem kurzen Aufsatz (in 150–
d. T4-Protein und T2-DNA 200 Worten), wie die Funktion eines Virus mit sei-
ner Struktur korreliert.
524 5. RNA-Viren sind auf eigene Enzyme angewiesen,
weil 10. NUTZEN SIE IHR WISSEN Oseltamivir (Tamiflu) – ein
a. die Wirtszellen die Viren rasch zerstören wirksames antivirales Medikament bei Grippe-
b. den Wirtszellen die Enzyme für die Replikation erkrankungen – hemmt das Enzym Neuramini-
des Virusgenoms fehlen dase. Erklären Sie, wie dieses Medikament bei
c. diese Enzyme virale mRNA in Proteine über- einer Person, die sich mit Grippeviren infiziert
setzen hat, die Ansteckung verhindern könnte, oder wie
d. diese Enzyme die Membran der Wirtszelle der Krankheitsverlauf einer bereits erkrankten
durchdringen Person verkürzt werden könnte (dies sind genau
die beiden Indikationen, bei denen das Medika-
6. ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie eine neue Fassung ment verschrieben wird).
von Abbildung 19.7, um den Vermehrungszyklus
eines Virus mit einem Einzelstranggenom der
Klasse IV (Funktion als mRNA) darzustellen.

Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten

7. Verbindung zur Evolution Der Erfolg mancher


Viren beruht auf ihrer Fähigkeit, sich schnell in
den Wirtszellen zu verändern. Ein derartiges
Virus entgeht häufig der Immunabwehr des Wirts
durch fortwährende Mutation und die dabei ent-
stehenden Veränderungen, gegen die das Immun-
system erst eine neue spezifische Abwehr (Immu-
nität) ausbilden muss. Die im späten Verlauf einer
längeren Infektionszeit auftauchenden Viren un-
terscheiden sich von denen, die ursprünglich den Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
Befall verursachten. Erörtern Sie dies als Beispiel weitere Übungen und vertiefende Materia-
von Evolution in einem Mikrokosmos. Welche lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
Viruslinien werden sich durchsetzen? für Campbell Biologie.

525

XLIV
Was den Campbell auszeichnet

Zusammenhänge erkennen gestaltet, dass das Buch diesen unterschiedlichen Lehr-


Neben der Betonung von Schlüsselthemen hat sich der plänen gerecht werden kann. Die acht Teile des Buches
Campbell stets durch einen integrativen Ansatz ausge- sind weitgehend eigenständig, und für die meisten
zeichnet, der unser Buch von einer Biologieenzyklopä- Teile gilt, dass die Kapitel in einer anderen Reihenfolge
die unterscheidet. Denn obgleich das Inhaltsverzeich- angeordnet werden können, ohne dass der große
nis eines Biologielehrbuchs linear aufgebaut sein muss, Zusammenhang verloren geht.
gleicht die Biologie selbst eher einem Gewebe mitein- Große „Zusammenhänge erkennen“-Abbildungen
ander vernetzter Konzepte ohne bestimmten Ausgangs- bringen Inhalte verschiedener Kapitel zusammen und
punkt oder einem fest vorgeschriebenen Weg. Je nach bieten eine anschauliche Darstellung zentraler Zusam-
Kurskonzept kann man den Gang durch dieses Netz- menhänge.
werk mit einem Überblick über Moleküle und Zellen Zu zahlreichen wichtigen Abbildungen stehen
beginnen, mit Evolution und der Vielfalt der Organis- ergänzend online Vertiefungsmaterialien wie
men oder aber mit einem umfassenden Ansatz, wie ihn Videos oder 3D-Animationen bereit. Das MyLab-
die Ökologie bietet. Wir haben das Buch so flexibel Logo weist Sie gezielt darauf hin.

Abbildung 10.22

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN
Im MyLab|Deutsche Version für Campbell Biologie
Die Zelle bei der Arbeit finden Sie 3D-Animationen zu Zellen.
Diese Abbildung illustriert, wie eine verallgemeinerte Pflanzenzelle
funktioniert; alle Zellaktivitäten, von denen Sie in den Kapiteln 5 bis 10
gehört haben, wurden hier integriert.

Transport über Biomembranen


(Kapitel 7)
DNA
1 Energietransformationen in der Zelle:
Zellkern 9 Wasser diffundiert direkt sowie über
Photosynthese und Zellatmung (Kapitel 8–10) erleichterte Diffusion durch Aquaporine
mRNA über die Zellmembran in die Zelle und aus
7 In den Chloroplasten wird die Lichtenergie in der Photosynthese ihr hinaus. Siehe Abbildung 7.1.
Kern- genutzt, um CO2 und H2O in organische Moleküle umzuwan-
pore 10 Passiver Transport befördert CO2 und O2
deln; O2 entsteht als Nebenprodukt. Siehe Abbildung 10.21.
über die Biomembranen. Beide Moleküle
2 8 In den Mitochondrien werden organische Moleküle durch die folgen dabei ihrem Konzentrationsgefälle.
Zellatmung abgebaut, wobei die freiwerdende Energie in ATP Siehe Abbildung 7.10 und Abbildung 10.21.
umgewandelt wird, welches benutzt wird, um in der Zelle
Arbeit zu verrichten, zum Beispiel für Proteinsynthese und 11 Aktiver Transport verbraucht Energie
Protein raues endoplasma- aktiven Transport. Siehe Abbildung 8.9–8.11, 9.2 und 9.16.
Protein (gewöhnlich ATP), um gelöste Substanzen
in Vesikel tisches Reticulum
gegen ihr Konzentrationsgefälle zu transpor-
3
tieren. Siehe Abbildung 7.16.

Über Exocytose (gezeigt in Schritt 5) und


Ribosom mRNA Vakuole Endocytose wandern größere Bestandteile
aus der Zelle hinaus und in sie hinein. Siehe
Abbildung 7.9 und 7.19.

Fluss der genetischen Information in der 4


7 Photosynthese CO2
Zelle: DNA RNA Protein (Kapitel 5–7)
Vesikel wird im Chloroplast
1 Im Zellkern dient die DNA als Vorlage für die Golgi- abgeschnürt
Synthese von mRNA, die ins Cytoplasma wandert. Apparat H2O
Siehe Abbildung 5.23 und 6.9.
Protein
2 mRNA heftet sich an ein Ribosom, das entweder ATP
frei im Cytoplasma bleibt oder an das ER bindet. organische
6
Proteine werden synthetisiert. Siehe Abbildung 5.23 Moleküle
und 6.10. 8 ATP Transport-
Plasma- O2 pumpe
3 Proteine und durch das raue ER synthetisierte 5 Zellatmung im
membran
Membranen werden in Vesikel verpackt und zum Mitochondrium ATP
Golgi-Apparat transportiert, wo sie weiter bear- 11
beitet werden. Siehe Abbildung 6.15 und 7.9. ATP
4 Transportvesikel, die mit Proteinen beladen
sind, werden vom Golgi-Apparat abgeschnürt.
Siehe Abbildung 6.15.
5 Einige Vesikel fusionieren mit der Zellmembran
und setzen die Proteine mittels Exocytose frei.
Siehe Abbildung 7.9. 10
6 An den freien Ribosomen synthetisierte Proteine 9
bleiben in der Zelle und haben verschiedene
Funktionen; zum Beispiel als Enzyme, die die
Reaktionen der Zellatmung und der Photosyn-
Zellwand
these katalysieren. Siehe Abbildung 9.7, 9.9 und 10.18. O2

CO2 ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Das Eingangsenzym in die


Glykolyse ist die Hexokinase. Beschreiben Sie anhand der hier
H2O gezeigten Pflanzenzelle den gesamten Prozess, in dem das Enzym
produziert wird und wo es aktiv ist, indem Sie für jeden Schritt die
zelluläre Lokalisierung nennen. (Siehe Abbildungen 5.19, 5.23 und 9.9).

XLV
Vorwort

Aktives Lernen und wirkliches Verstehen Die Bedeutung wissenschaftlicher Forschung


Die Abbildungen in diesem Buch sind keineswegs Für ein erfolgreiches Biologiestudium müssen Sie
schmückendes Beiwerk. Die meisten Prozesse der Bio- mehr tun als nur Fakten auswendig zu lernen – Sie
logie sind so komplex, dass ihre Visualisierung ein ver- müssen lernen, wie wissenschaftliche Fragestellungen
tieftes Verständnis stets erleichtert, in manchen Fällen entwickelt und Phänomene untersucht werden.
überhaupt erst ermöglicht. Achten Sie daher bei der
Lektüre auf die mit einem orangenen Pfeil () gekenn- X Abbildung 10.9: Aus der Forschung

zeichneten Hinweise auf Abbildungen und beziehen Sie Welche Lichtwellenlängen unterstützen die
Photosynthese am wirkungsvollsten?
die Absorption von Licht durch akzessorische
Pigmente wie Chlorophyll b und die Caroti-
diese in Ihre Lektüre mit ein. Experiment Absorptions- und Wirkungsspektren noide zurück.
enthüllen in Verbindung mit einem klassischen
aerobe Bakterien
Experiment von Theodor W. Engelmann, welche
Wellenlängenbereiche des sichtbaren Lichts für die Algenfaden
Photosynthese am wirksamsten sind.
X Abbildung 7.19: Näher betrachtet
Ergebnis
Die Endocytose in Tierzellen 400 500 600 700

der Chloroplasten-
Chloro- (c) Das Engelmann’sche Experiment. Im Jahr 1883

Lichtabsorption
phyll a Chlorophyll b
hat der Botaniker Engelmann eine Fadenalge

pigmente
Phagocytose Pinocytose Rezeptorvermittelte Endocytose mit Licht bestrahlt, das zuvor durch ein Prisma
Carotinoide geleitet wurde, so dass die Algen an verschie-
EXTRAZELLULÄRE denen Stellen von Licht unterschiedlicher Wel-
FLÜSSIGKEIT lenlänge getroffen wurden. Er verwendete
Gelöste
Teilchen 400 500 600 700 aerobe Bakterien, die sich im Umkreis von Sau-
Wellenlänge des Lichts (nm) erstoffquellen ansammeln, um zu bestimmen,
Pseudopodium welche Abschnitte der Algenfäden den meisten
Rezeptor (a) Absorptionsspektren. Die drei Kurven zeigen
Plasma-
Sauerstoff freisetzen und daher die höchste
membran
den Absorptionsverlauf für die drei Pigmente. Photosyntheseleistung zeigen. Die Bakterien
Bei den Maxima erfolgt die stärkste Absorption. versammelten sich in größter Zahl in den
Bereichen, die von blauviolettem oder von
Hüllprotein

der O2-Entwicklung)
(gemessen anhand
Photosyntheserate
(Clathrin)
rotem Licht bestrahlt wurden.

Nahrungs- Schlussfolgerung Das Licht im blauvioletten und


oder sonstiges „coated pit“ im roten Bereich des Spektrums treibt die Photo-
Teilchen synthese am effektivsten an.

400 500 600 700


Quelle: T. W. Engelmann, Bacterium photometricum. Ein Beitrag zur
Die rezeptorvermittelte Endocytose versetzt die
Zelle in die Lage, größere Mengen spezifischer (b) Wirkungsspektrum. In dieser Graphik ist die vergleichenden Physiologie des Licht- und Farbensinnes. Archiv für
Stoffe kontrolliert aufzunehmen, obgleich der Physiologie 30: 95–124 (1883).
Photosyntheserate gegen die Wellenlänge auf-
betreffende Stoff in der extrazellulären Flüssigkeit
Clathrin-
vielleicht nur in geringer Konzentration vorliegt. In getragen. Das resultierende Wirkungsspek-
vesikel DATENAUSWERTUNG Bei welchen Wellenlängen des
die Membran sind spezifische, in den extrazellu- trum ähnelt dem Absorptionsspektrum für das
lären Raum gerichtete Rezeptorproteine einge- Chlorophyll a, entspricht diesem aber nicht Lichts läuft die Photosynthese mit der höchsten
Nahrungs- bettet. Diese Rezeptorproteine sind normalerweise
genau (siehe unter (a)). Dies geht zum Teil auf Rate ab?
vakuole Bei der Pinocytose „verschluckt“ die Zelle in Membranbereichen angereichert, die infolge
Tröpfchen der extrazellulären Flüssigkeit in Form ihrer Erscheinung auf elektronenmikroskopischen
kleiner Vesikel. Es ist nicht die Flüssigkeit selbst, Bildern als coated pit bezeichnet werden. Sie sind
die die Zelle benötigt, sondern die darin gelösten auf der cytoplasmatischen Seite der Membran mit
CYTOPLASMA
Stoffe. Da alle in der Extrazellularflüssigkeit einer Schicht aus Hüllproteinen, namentlich
Bei der Phagocytose verleibt sich eine Zelle ein gelösten Stoffe dabei von der Zelle aufgenommen Clathrin, besetzt. An die Rezeptoren bindende
Teilchen ein, indem sie es mit Pseudopodien
(Scheinfüßchen) umfließt und es schließlich ganz
werden, ist die Pinocytose bezüglich der
aufgenommenen Substanzen ein unspezifischer
Stoffe werden als deren Liganden bezeichnet.
Kommt es zu einer ausreichenden Ligandenbin- In jedem Kapitel finden Sie einen oder mehrere Käs-
mit seiner Plasmamembran umhüllt. Solche Vorgang. dung, ist dies ein Signal, das die Abschnürung der
phagocytotischen Vesikel bezeichnet man nach
ihrer Internalisierung als Nahrungsvakuolen.
coated pits als Clathrinvesikel (coated vesicle)
veranlasst. Diese knospen in das Zellinnere ab.
ten „Aus der Forschung“, die zeigen, wie wissen-
Das phagocytierte Teilchen wird verdaut, wenn Man beachte, dass im Inneren der Vesikel die
diese Nahrungsvakuole mit einem oder mehreren
Lysosomen zu einem Phagolysosom verschmolzen
Konzentration gebundener Ligandenmoleküle
(lila) relativ erhöht ist, dass aber auch andere
schaftliche Experimente angelegt werden, wie man sie
Stoffe darin vorhanden sind (grün). Nach der
ist.
Freisetzung des aufgenommenen Materials von
den Rezeptoren (dies geschieht auf der Ebene
auswertet und welche Schlüsse man aus den Ergebnis-
Pseudopodium
der Endosomen) werden die Rezeptoren zur
Plasmamembran zurückgeführt und wieder in sen ziehen kann.
0,25 μm

einer Amöbe diese integriert.

Bildung pinocytotischer Vesikel Plasma- Hüll-


X Wissenschaftliche Übung
(TEM-Aufnahmen) membran protein
1 μm

Bakterium Analyse von quantitativen Daten in einer Tabelle zu ermitteln, wurde die Biomasse getrocknet,
Nahrungsvakuole
Wie effizient ist der Energietransfer in einem Salz- anschließend in einem Kalorimeter verbrannt und
marschökosystem? In einem klassischen Experi- die Wärmeproduktion gemessen.
Eine Amöbe umfließt ein Bakterium während der
Phagocytose (TEM-Aufnahme).
ment hat John Teal den Energiefluss von den Pri-
märproduzenten über die Konsumenten bis hin zu Versuchsdaten
0,25 μm

den Destruenten in einer Salzmarsch untersucht.


Energiequelle kcal/(m2 × Jahr)
In dieser Übung sollen Sie die Daten der Studie
nutzen, um den Energiefluss zwischen den trophi- Solarstrahlung 600.000
Oben: Ein coated pit
Unten: Ein Clathrinvesikel bildet sich im
schen Ebenen des Ökosystems zu berechnen. Brutto-Grasproduktion 34.580
Verlauf der rezeptorvermittelten Endocytose
(TEM-Aufnahmen).
Netto-Grasproduktion 6.585
Brutto-Insektenproduktion 305
Netto-Insektenproduktion 81
Fortgespülter Detritus 3.671
Weil Text und Abbildungen gleichermaßen wichtig für
Datenauswertung
das Lernen sind, ist die Verbindung von Text und Abbil-
1. Welcher Anteil der Solarenergie, der die Salz-
dungen seit der ersten Auflage ein Kennzeichen des marsch erreicht, ist in der Brutto- und in der
Nettoprimärproduktion enthalten?
Campbell. Die „Näher betrachtet“-Kästen verkörpern 2. Wie viel Energie geht durch Atmung, erstens
diesen Ansatz besonders deutlich: Jeder dieser Kästen der Primärproduzenten und zweitens der In-
sekten in diesem Ökosystem, verloren?
Durchführung des Versuchs Teal ermittelte die
ist die Lerneinheit eines Kernthemas, das aufeinander Solarstrahlung in einer Salzmarsch im Bundesstaat
3. If all of the detritus leaving the marsh is plant
Georgia (USA). Weiterhin wurde die Biomasse der
bezogene Texte und Abbildungen zusammenbringt. Ein dominanten Primärproduzenten (Gräser), der domi-
material, what proportion of all net primary pro-
duction leaves the marsh as detritus each year?
nanten Konsumenten (Insekten, Spinnen und Krab-
weiteres Beispiel sind die Schritt-für-Schritt-Abbildun- ben) und des Detritus, der bei Flut fortgespült wird, Quelle: J. M. Teal, Energy flow in the salt marsh ecosystem of Geor-
erfasst. Um die Energiemenge pro Biomasseeinheit gia, Ecology 43:614–624 (1962).
gen, in denen die Studenten wie von einem Dozenten
Schritt für Schritt durch die Abbildung geleitet werden.
Um aktives Lesen zu fördern, enthält der Campbell In den meisten Kapiteln finden Sie Kästen mit „Wis-
zahlreiche Gelegenheiten innezuhalten und über das senschaftlichen Übungen“, bei denen Sie anhand rea-
Gelesene nachzudenken. So sind immer wieder Fra- ler Daten Schritt für Schritt wissenschaftliche Fertig-
gen in den Text eingestreut, die Sie dazu anregen sol- keiten wie das Auswerten und Interpretieren von
len, sich näher mit einem Abschnitt oder einer Abbil- Daten, das Aufbauen eines Versuchs oder mathemati-
dung auseinanderzusetzen und Ihr Verständnis zu sche Methoden verstehen und vertiefen können.
überprüfen. „Zeichenübungen“ in jedem Kapitel for-
dern Sie auf, zu Papier und Stift zu greifen und eine
Struktur zu zeichnen, eine Abbildung zu beschriften
oder Versuchsdaten grafisch darzustellen.

XLVI
Was den Campbell auszeichnet

X Abbildung 20.4: Arbeitstechniken „Arbeitstechniken“-Kästen zeigen beispielhaft Experi-


DNA-Sequenzierung der nächsten Generation. mente und Felduntersuchungen. Jeder dieser Kästen
Anwendung Bei den gängigen Sequenziermethoden
beginnt mit einer wissenschaftlichen Fragestellung,
der nächsten Generation ist jedes sequenzierte Frag-
ment zwischen 400–1.000 Nucleotide lang. Da paral-
gefolgt von Abschnitten, in denen die Versuchsdurch-
1 Genomische DNA wird zerkleinert und
Fragmente mit einer Länge von 400–1000
Basenpaaren werden ausgewählt.
lel viele Fragmente sequenziert werden, erhält man so
700–900 Millionen Nucleotide in nur zehn Stunden.
führung, die Versuchsergebnisse und die daraus resultie-
Methode Siehe die angegebenen Schritte. rende Schlussfolgerung beschrieben werden. In diesen
2 Jedes Fragment wird mit einem Kügelchen
in einem Tropfen wässriger Lösung isoliert.
Ergebnis Jede der 2.000.000 Bohrungen in einem vor-
gefertigten Träger („Multiwell“-Platte), enthält ein
Kästen finden sich auch Angaben zu den Forschungsme-
anderes DNA-Fragment und ergibt so eine unter-
schiedliche Sequenz. Die Ergebnisse für ein solches thoden, in denen es darum geht, Sie mit den Techniken
Fragment sind hier unten gezeigt. Die Sequenzen aller
3 Das Fragment wird mit Hilfe der PCR-Technik (die
später im Kapitel beschrieben wird) immer wieder
kopiert. Alle 5'-Enden der so erhaltenen DNA-
Fragmente werden mit Computerprogrammen analy- und Werkzeugen der modernen Biologie vertraut zu
siert und zur Gesamtsequenz zusammengesetzt, die in
Fragmente werden auf dem Kügelchen fixiert.
Letztlich erhält man 106 Kopien des gleichen
DNA-Einzelstrangs an die Kügelchen gebunden,
diesem Beispiel ein ganzes Genom umfasst. machen.
die als Matrizen für die Sequenzierung dienen.

4-mer A
T
4 Die Kügelchen werden in kleine Bohrungen eines G
Trägermaterials gefüllt und mit DNA-Polymerasen 3-mer TTCTGCGAA
und Primern versetzt, die an die 3'-Enden der C
synthetisierten Einzelstränge der Matrizen-DNA
2-mer
hybridisieren können.
DNA-
Polymerase DNA-Einzelstrang 1-mer
3′
5′ 3′ 5′
Primer A T GC

5 Die hier gezeigte Bohrung ist eine von zwei Millionen im Trägermaterial, von denen
jede eine andere zu sequenzierende DNA enthält. Die Bohrungen werden mit einer
Lösung mit einem der vier Nucleotide gefüllt und danach gewaschen. Dies wird
immer abwechselnd für alle vier Nucleotide wiederholt (dATP, dCTP, dGTP, dTTP).

A T GC A T GC A T GC A T GC

DNA-
C Einzel- C C C
C strang C C C
A A dTTP A dGTP A dCTP
A dATP A A A
T T T T
G G G GC PPi
TA PPi TA TA TA
DNA- GC GC GC GC
Polymerase GC GC GC GC
AG Primer AG AG AG
TA TA TA TA

6 Ist die nächste Base in der Matrizen-DNA in 7 Das Nucleotid wird ausgewaschen 8 Die Zugabe und das Auswaschen der vier Nucleotide
einer Bohrung komplementär zum gerade und ein anderes Nucleotid wird wird wiederholt, bis alle Matrizenstränge mit einem
zugesetzten Nucleotid (hier im Beispiel ein T zugesetzt (hier dTTP). Ist dieses komplementären, neu synthetisierten DNA-Strang
in der Matrizen-DNA und ein A im neu nicht komplementär zum Matrizen- versehen sind. Die Abfolge und Intensität der Licht-
synthetisierten Strang), wird das Nucleotid strang (hier ein G), dann kann es blitze spiegelt die ursprüngliche DNA-Sequenz wider.
eingebaut und Pyrophosphat (PPi) wird nicht eingebaut werden und es
dabei freigesetzt. Letzteres erzeugt durch folgt kein Lichtblitz.
eine angekoppelte Enzymreaktion einen
Lichtblitz, der gemessen werden kann.

DATENAUSWERTUNG Wenn ein Matrizenstrang zwei- gramm? – Beachten Sie dazu die kurze Beispiel-
mal oder mehrfach das gleiche Nucleotid hinterein- sequenz im Kasten oben rechts. Schreiben Sie die
ander trägt, werden die komplementären Nucleotide Sequenz der ersten 25 Nucleotide des dort gezeigten
eins nach dem anderen im gleichen Reaktionsschritt Flussdiagramms von links nach rechts auf (ignorie-
eingebaut. Wie erkennt man zwei oder mehrere sol- ren Sie dabei die sehr kurzen Linien).
cher fortfolgenden gleichen Nucleotide im Flussdia-

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XLVII
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dium (Kontakte unter http://www.pearson-studium.de/ erreichen: info@pearson.de.
dozenten).

XLVIII
Einführung: Evolution, Schlüsselthemen
der Biologie, Forschung

1.1 Theorien und Konzepte verbinden die Disziplinen der Biologie . . . 3 1


1.2 Einheitlichkeit und Vielfalt der Organismen sind das Ergebnis

KONZEPTE
der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1.3 Naturwissenschaftler verwenden unterschiedliche Methoden . . 21
1.4 Wissenschaftskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

 Abbildung 1.1: Wie ist der Löwenzahn


an seine Umgebung angepasst?
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

Biologie, die Wissenschaft des Lebens


Der Löwenzahn, den Sie in Abbildung 1.1 sehen, pflanzlichen und tierischen Lebensformen in einem
besiedelt neue Standorte, indem er seinen Samen mit Wald miteinander in Wechselwirkung stehen. Kommen
dem Wind verbreitet. Der Samen einer Pflanze ist Ihnen einige Fragen über Lebewesen in den Sinn, die
nichts anderes als ein Embryo, umgeben von Nah- Sie interessieren? Wenn das der Fall ist, fangen Sie
rungsspeichern und einer schützenden Hülle. Erst schon an, biologisch zu denken. Die Biologie ist ein
spezielle Strukturen, die wie ein kleiner Fallschirm Streben, ein fortschreitendes, immer tieferes Hinter-
aussehen, ermöglichen es den Löwenzahnsamen, an fragen des Wesens des Lebendigen.
neue Standorte zu gelangen, dort zu keimen, zu wach- Was aber ist „das Leben“? Schon ein Kind weiß,
sen und so zur Ausbreitung der Art beizutragen. dass ein Hund oder eine Pflanze lebt, ein Stein aber
Derartige Anpassungen (Adaptationen) eines Lebe- nicht. Dennoch entzieht sich das Phänomen, das wir
wesens an seine Umwelt sind das Ergebnis der Evolu- „Leben“ nennen, einer einfachen, in einem Satz formu-
tion – dem Prozess der Veränderung der Organismen, lierbaren Definition. Wir erkennen das Leben an dem,
der das Leben auf der Erde was Lebewesen tun. Die
gestaltet und entwickelt hat, Abbildung 1.2 beleuchtet
beginnend mit seinen frü- schlaglichtartig einige der
hesten Anfängen bis hin zur Eigenschaften und Vor-
Vielfalt der heute lebenden gänge, die wir gemeinhin
Organismenarten. Wie wir mit dem Leben, beziehungs-
im späteren Verlauf dieses weise dem Zustand des Le-
Kapitels noch ausführen bendigseins, verbinden.
werden, ist die Evolution Obwohl wir uns auf we-
das zentrale und grund- nige Bilder beschränken
legende Organisationsprin- müssen, erinnert uns Abbil-
zip in der Biologie und da- dung 1.2 daran, dass die
mit ein Hauptthema des belebte Welt von wunder-
gesamten Buches. barer Vielgestaltigkeit ist.
Obwohl Biologen heute Wie können Biologen diese
schon sehr viel über das Vielfalt und Komplexität er-
Leben auf unserer Erde wis- klären? Dieses Kapitel lie-
sen, sind noch viele Fragen fert Ihnen einen Leitfaden
ungelöst, beispielsweise, was zur Beantwortung dieser
genau zur Entstehung von Blütenpflanzen geführt hat. Frage. Der erste Teil des Kapitels vermittelt einen Über-
Die Formulierung von Fragen und Hypothesen über blick über die Breite der Biologie und spricht einige
die belebte Welt sowie das Suchen nach wissenschaft- Schlüsselthemen an. Danach wenden wir uns dem al-
lich fundierten Antworten sind die grundlegenden les überspannenden großen Bogen der Evolution zu
Ansätze in der Biologie – der Wissenschaft vom Leben, und geben eine Einführung in die Denkweise, die
seinen Eigenschaften, seinem Ursprung, seinen Erschei- Charles Darwin und einige seiner Zeitgenossen dazu
nungsformen, seiner Struktur- und Funktionsvielfalt gebracht hat, die Evolutionstheorie mit ihrer immen-
und seiner Entwicklung in Zeit und Raum. Die Fragen, sen Erklärungskraft zu entwickeln. Abschließend wer-
die Biologen stellen, können sehr anspruchsvoll sein. den wir den wissenschaftlichen Forschungsprozess
So kann man sich Gedanken darüber machen, wie betrachten, also die Art und Weise, wie Wissenschaft-
eine einzelne befruchtete Eizelle zu einem ganzen ler Fragen über die Natur – die Welt schlechthin – stel-
Baum oder einem Hund wird, wie der menschliche Ver- len und wie sie vorgehen, um Antworten zu finden.
stand funktioniert oder wie die vielen verschiedenen

2
1.1 Theorien und Konzepte verbinden die Disziplinen der Biologie

Ordnung. Diese Nahaufnahme des




Blütenstandes einer Sonnenblume


(Helianthus annuus) verdeutlicht den
hohen Ordnungsgrad, der kennzeich-
nend für Leben ist.


Reaktion auf die Umwelt.
Diese Venusfliegenfalle
(Dionaea muscipula)
hat ihre Falle als Reaktion
auf einen Umweltreiz, der


Evolutive Anpassung. Das Erschei- durch eine landende Libelle


nungsbild dieses Zwergseepferd- in der geöffneten Falle
chens (Hippocampus bargibanti)
erzeugt wurde, schnell
tarnt das Tier in seiner natürlichen
Umwelt. Solche Anpassungen geschlossen.
entwickeln sich über viele Genera-
tionen hinweg durch den reproduk-
tiven Erfolg derjenigen Individuen,
deren Erbmerkmale am besten an
die jeweiligen Umweltbedingungen
angepasst sind.


Wachstum und Ent-


wicklung. In den Genen
niedergelegte Erbin-
formation steuert den
Verlauf von Wachstum
und Entwicklung von
Lebewesen wie im Falle
dieses schlüpfenden


Regulation. Die Re-


gulierung des Blut- Nilkrokodils (Crocodylus
flusses durch die Blut- niloticus).


gefäße in den Ohren Energieumwandlung. Dieser


dieses Kalifornischen Kolibri, ein Violettsäbelflügler
Eselhasen (Lepus cali- (Campylopterus hemileucurus),
fornicus) helfen dem nimmt aus den Blüten Nahrung


Tier, über Wärme- in Form von Nektar auf. Der Fortpflanzung. Organismen
austausch mit der Kolibri wird die in dieser (Lebewesen) reproduzieren
umgebenden Luft Nahrung gespeicherte chemische sich auf ihre spezifische
eine konstante Energie für Flugleistungen und Weise. Hier umsorgt ein
Körpertemperatur andere energieverbrauchende Kaiserpinguin (Aptenodytes
aufrechtzuerhalten. Prozesse einsetzen. forsteri) sein Junges.

Abbildung 1.2: Eine Auswahl von Eigenschaften des Lebendigen.

Theorien und Konzepte Aspekte wird Ihnen helfen, Ihr Wissen zu ordnen und
verbinden die Disziplinen all den Informationen, die Sie im Biologiestudium
der Biologie
1.1 vorfinden werden, einen Sinn zu entlocken. Um Ihnen
dabei Hilfestellung zu leisten, haben wir fünf allge-
meine Prinzipien (Schlüsselthemen) ausgewählt, die
Die Biologie ist eine Wissenschaft von enormer Spann- Ihnen bei Ihrem Weg durch dieses Buch als Wegweiser
breite, und jeder, der die Nachrichten verfolgt, weiß, dienen mögen:
dass das biologische Wissen in immer rascherem Tempo
zunimmt. Wie können Sie, die Leser, als Lernende dann  Organisation
über die Sammlung von Fakten hinausgehen und zu  Information
einem zusammenhängenden Bild des Lebens und der  Energie und Materie
Biologie als Wissenschaft vom Leben gelangen? Die  Wechselwirkungen (Interaktionen)
Konzentration auf einige wenige große, tief reichende  Evolution.

3
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

1.1.1 Jede Organisationsebene in der Emergente Eigenschaften


biologischen Hierarchie ist durch Wenn wir uns, ausgehend von der molekularen Ebene
emergente Eigenschaften in Abbildung 1.3, in umgekehrter Richtung von einfa-
cheren zu komplexeren Organisationsstufen bewegen,
charakterisiert
so können wir auf jeder einzelnen jeweils höheren
ORGANISATION Stellen Sie sich vor, Sie nähern sich Ebene neue qualitative Eigenschaften entdecken, die auf
der Erde aus dem Weltall und betrachten dabei die der vorangegangenen, niedrigeren Hierarchieebene
Biosphäre aus immer kürzerem Abstand. Unser Ziel noch nicht existierten. Diese neuen, sogenannten emer-
ist ein Waldgebiet im nordwestdeutschen Tiefland, an genten Eigenschaften (aus dem Lateinischen „emergere“
der Ems gelegen. Dort werden wir schließlich das Blatt für „sich zeigen“, „auftauchen“) gehen auf Wechselwir-
einer Stieleiche (Quercus robur) bis auf die molekulare kungen der Bestandteile und Strukturen innerhalb der
Ebene unter die Lupe nehmen. Die Abbildung 1.3 auf jeweiligen Komplexitätsstufe zurück. Dabei lassen
den Folgeseiten fasst diese Reise durch verschiedene sich die emergenten Eigenschaften der betrachteten
hierarchische Ebenen des Lebendigen in Bilder. Die Organisationsstufe nicht offensichtlich auf die Eigen-
Ziffern geleiten Sie durch die Ebenen der biologischen schaften der einzelnen Bestandteile zurückführen, die
Organisationsstufen, die auf den Bildern beispielhaft diese isoliert aufweisen. Stellt man zum Beispiel in
zu sehen sind. einem Reagenzglas ein Gemisch aus Chlorophyll und
Da die Eigenschaften des Lebendigen aus seiner kom- all den anderen Molekülen her, die sich in einem
plexen Organisationsstruktur erwachsen, sehen sich die Chloroplasten finden, so kommt es nicht zur Photo-
Wissenschaftler, die biologische Systeme analysieren synthese. Diese kann nur dann ablaufen, wenn alle
und verstehen möchten, einem Dilemma gegenüber. Auf notwendigen Moleküle in einer bestimmten Art und
der einen Seite können wir keine Organisationsstufe der Weise angeordnet sind, gerade so, wie es in einem
biologischen Hierarchie vollständig erklären, wenn wir intakten Chloroplasten der Fall ist. Betrachten wir als
sie (reduktionistisch) in ihre Einzelteile zerlegen und ein weiteres Beispiel eine schwere Kopfverletzung,
diese einzelnen Elemente losgelöst untersuchen. Ein die die feingliedrige Architektur und komplexe Funk-
seziertes Tier funktioniert als solches nicht mehr; eine tionalität eines menschlichen Gehirns durcheinander-
Zelle, reduziert auf ihre chemischen Bestandteile, ist bringt. Dies kann dazu führen, dass das Bewusstsein
nicht länger eine Zelle. Die Zerlegung eines lebenden eingeschränkt wird oder ganz verloren geht, obwohl
Systems in seine Einzelkomponenten verhindert, dass alle Teile des Gehirns noch vorhanden sind. Unsere
es weiterhin funktionstüchtig ist. Auf der anderen Gedanken und Gedächtnisinhalte sind emergente
Seite kann man etwas Komplexes wie ein Lebewesen Eigenschaften eines komplexen Netzwerks aus Ner-
oder auch nur eine Zelle nicht analysieren, ohne seine venzellen. Auf einer weitaus höheren Ebene der biolo-
Bestandteile auch isoliert zu untersuchen. gischen Organisationshierarchie – der des Ökosystems
Reduktionismus – ein Ansatz, bei dem komplexe – ist der Abbau komplexer organischer Verbindungen
Systeme in einfachere Komponenten zerlegt werden, zu einfachen anorganischen chemischen Bestand-
die sich isoliert besser untersuchen lassen – ist eine teilen, zum Beispiel Ammonium oder Nitrat, essenzi-
sehr leistungsfähige und erfolgversprechende Strate- ell für die Aufrechterhaltung des Nährstoffkreislaufs
gie, die in der Biologie und auch in anderen wissen- im Ökosystem. Dieser Prozess hängt von einem kom-
schaftlichen Disziplinen vielfach eingesetzt wird. So plizierten Netzwerk von Wechselwirkungen zwischen
konnten zum Beispiel die beiden Wissenschaftler James verschiedenen Bodenorganismen, organischer toter
Watson und Francis Crick durch die Untersuchung der Substanz, Wasser und Sauerstoff ab.
Molekülstruktur der DNA (des Erbmaterials), die sie Emergente Eigenschaften gibt es nicht nur in leben-
aus Zellen extrahiert hatten, ableiten, in welcher Weise den (biotischen) Systemen. Die Bedeutung der spezifi-
dieses Molekül als chemische Grundlage der Vererbung schen Anordnung von Systemteilen lässt sich auch am
dient. Die zentrale Rolle der DNA in Zellen und viel- Beispiel einer Kiste von Fahrradteilen im Vergleich zu
zelligen Organismen wurde noch klarer, als man in einem funktionstüchtigen Fahrrad verdeutlichen. Und
der Lage war, die Wechselwirkung der DNA mit ande- obgleich Graphit wie Diamant aus reinem Kohlenstoff
ren Molekülen im Detail zu untersuchen. Der Biologe bestehen, haben sie sehr verschiedene Eigenschaften,
muss die reduktionistische Strategie mit einem ganz- da die Kohlenstoffatome in den beiden Mineralen
heitlichen, holistischen Ziel unter Berücksichtigung unterschiedlich angeordnet sind. Im Vergleich zu den
emergenter Eigenschaften in Einklang bringen, also unbelebten (abiotischen) Systemen lässt die unüber-
der Frage nachgehen, wie die Teile von Zellen, Orga- troffene Komplexität und Mannigfaltigkeit biologi-
nismen und Artengemeinschaften bis hin zu noch scher Systeme emergente Eigenschaften aber als ein
höheren Hierarchieebenen wie Ökosystemen und besonderes Charakteristikum des Lebendigen erschei-
Ökosystemkomplexen zusammenarbeiten. An der vor- nen, deren Erforschung eine besondere Herausforde-
dersten Front dieser Forschungsrichtung steht heute rung für den Wissenschaftler darstellt.
ein Ansatz, der als Systembiologie bezeichnet wird.

4
1.1 Theorien und Konzepte verbinden die Disziplinen der Biologie

Systembiologie Ansätze, um das Netzwerk der Wechselwirkungen zwi-


Ein System ist einfach eine regelhafte Anordnung von schen Organismen und den abiotischen Komponenten
Komponenten, die miteinander in Wechselwirkung eines Ökosystems quantitativ zu modellieren. Derartige
(Interaktion) stehen und dadurch diesem System Modelle haben sich für die Vorhersage der Reaktion
besondere Eigenschaften verleihen. Biologen können eines Systems auf veränderte Parameter als sehr nütz-
ein lebendes System auf jeder beliebigen Organisa- lich erwiesen. In jüngerer Zeit hat der systembiologi-
tionsstufe untersuchen. Ein System kann eine einzelne sche Ansatz auch die zelluläre und die molekulare
Zelle eines Blattes sein, aber ebenso ein Frosch, ein Ebene erreicht. Wir werden darauf an späterer Stelle
Ameisenhaufen oder das Ökosystem einer Wüste. Um eingehen, wenn wir das Erbmaterial DNA vorstellen.
verstehen zu können, wie ein solches System funktio-
niert, reicht es nicht aus, eine Inventarliste seiner Struktur und Funktion
Bestandteile zu erstellen, selbst dann nicht, wenn Ein weiteres wichtiges Kennzeichen der Biologie ist,
diese vollständig wäre. Im Licht dieser Erkenntnis dass es in biologischen Systemen immer um Struktu-
fügen daher heute viele Wissenschaftler dem reduktio- ren und Funktionen geht, was auch aus Abbildung 1.3
nistischen Ansatz neue Untersuchungsstrategien hinzu, deutlich hervorgeht. Dieses Grundprinzip zeigt sich
die auf die Erforschung ganzer Systeme abzielen. Diese auf allen Organisationsebenen, von den Molekülen bis
sich verändernde Sichtweise entspricht einem Wech- zu den Lebensgemeinschaften und Ökosystemen. In
sel des Beobachtungsortes: der Wechsel vom Boden an der Abbildung 1.3 sehen wir als Beispiel für dieses
einer Straßenecke in einen Hubschrauber, von dem Prinzip ein Blatt (anatomische Ebene): Seine dünne,
aus zu erkennen ist, wie zu unterschiedlichen Tages- flächige Struktur maximiert die Menge an eingestrahl-
zeiten Baustellen, Verkehrsunfälle und versagende tem Sonnenlicht, das von den Chloroplasten in den
Ampelanlagen den Verkehr in der ganzen Stadt beein- Zellen eingefangen werden kann. Die Analyse einer
flussen. Gleichzeitig bemerkt man eine Verflachung der biologischen Struktur gibt uns Hinweise darauf, wofür
Perspektive bei der Analyse aus der Luft; der betrach- sie geeignet ist und in welchem Funktionszusammen-
tete Ausschnitt erscheint im Vergleich zur Bodenpers- hang sie steht. Umgekehrt erleichtern die Erkennt-
pektive zweidimensional. Erst aus der Kombination nisse über die biologische Funktion das Verständnis
beider Perspektiven ergibt sich ein vollständiges Bild. für die Strukturen. Auch im Tierreich gibt es zahlrei-
Das Ziel der Systembiologie ist es, Modelle für das che Beispiele, die das Struktur-Funktions-Prinzip auf
dynamische Verhalten biologischer Teilsysteme oder eindrucksvolle Weise illustrieren. Kolibris können
sogar ganzer biologischer Systeme zu entwerfen. Erfolg- ihre Flügel im Schultergelenk rotieren. Sie sind daher
reiche Modelle versetzen Biologen in die Lage, vorher- die einzigen Vögel, die rückwärts oder sogar auf der
zusagen, wie die Änderung einer oder mehrerer Vari- Stelle fliegen können (siehe untenstehende Abbildung).
ablen andere Bestandteile des Systems sowie das ganze Kolibris nutzen den Schwebeflug und ihre fantastische
System beeinflussen wird. Der systemische Ansatz Manövrierfähigkeit, um mit ihrem schlanken Schnabel
versetzt uns somit auch in die Lage, neue Fragen zu Nahrung aus Blüten aufzunehmen. Besondere Körper-
stellen. Wie wirkt sich ein den Blutdruck senkendes anatomien oder Bauformen entstanden durch einen
Medikament auf die Funktionen anderer Organe im Prozess, den wir natürliche Selektion nennen und auf
Körper aus? Wie beeinflusst die Verbesserung der Was- den wir in den nächsten Kapiteln eingehen werden.
serversorgung einer Pflanze die Speicherung von Nähr-
stoffen, die für die menschliche Ernährung wichtig
sind? Wie verändert ein allmähliches Ansteigen des
Kohlendioxidgehaltes der Atmosphäre ganze Ökosys-
teme und vielleicht die gesamte Biosphäre? Das Ziel
der Systembiologie ist die Beantwortung solcher Fra-
gen.
Die Systembiologie ist für Untersuchungen auf allen
Hierarchieebenen der Biologie von Bedeutung. Zu
Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Biologen, die
sich damals mit tierphysiologischen Fragestellungen
beschäftigten, Daten zu vernetzen, um Vorgänge besser
verstehen zu können, die von mehreren Organen koor-
diniert werden, wie etwa die Regulation des Blutzucker-
gehaltes. In den 60er Jahren desselben Jahrhunderts
benutzten Ökosystemforscher erstmals mathematische

5
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

 Abbildung 1.3: Näher betrachtet


Ebenen der biologischen Organisation


(a) Biosphäre. (b) Ökosystem. Hudelandschaftsmosaik „Borkener Paradies“,
eines der eindrucksvollsten Naturschutzgebiete im Emsland
bei Meppen mit alten Stieleichen-Wäldern (Quercus robur)
und offenen Silbergras-Fluren (Corynephorus canescens).

 (c) Lebensgemeinschaft (Biozönose). Hudewald mit domi-


nierender Stieleiche (Quercus robur), außerdem mit
Hainbuche (Carpinus betulus), Feldahorn (Acer cam-
pestre), Feldulme (Ulmus minor) und Schwarzerle
(Alnus glutinosa); sowie einige Beispiele dort vor-
kommender Tierarten (linke Bildreihe).

Schwarzspecht
(Dryocopus martius)

Hirschkäfer
(Lucanus cervus)

Feuersalamander
(Salamandra salamandra)


(e) Individuum. Alte Hudeeiche mit


Malen ehemaliger Eichelmast,
Laubgewinnung und Weidenut-
zung (alte kallus-förmige Verbiss-
marken).

Brauner Waldvogel


(Aphantopus hyperantus) (d) Population von Stieleichen.

6
1.1 Theorien und Konzepte verbinden die Disziplinen der Biologie


(f) Organe und Organsysteme. Die strukturelle Hierarchie des (h) Zellen. Die Zelle ist die bauliche und funktionelle Grundeinheit
Lebens enthüllt sich weiter, wenn wir fortschreiten, die Ar- des Lebens. Einige Lebewesen, wie Amöben und die meisten
chitektur komplexer gebauter Organismen zu untersuchen. Bakterien, sind Einzeller. Andere Organismen, wie die Höhe-
Das Blatt einer Stieleiche ist ein Beispiel für ein Organ, das ren Pflanzen und die meisten Tiere, sind Vielzeller. Statt alle
aus zwei oder mehreren unterschiedlichen Geweben (die wir Lebensfunktionen in einer einzigen Zelle zu vereinen,
auf der nächsten niedrigeren Hierarchieebene kennen lernen zeigt ein vielzelliges Lebewesen eine Arbeitsteilung zwischen
werden) besteht. Ein Organ hat eine bestimmte Funktion. unterschiedlich spezialisierten Zellen. Ein menschlicher Körper
Sprossachsen und Wurzeln sind andere wichtige Organe besteht aus etwa 100 Billionen mikroskopisch kleiner Zellen
Höherer Pflanzen. Beispiele für Organe des Menschen sind vieler unterschiedlicher Typen, wie etwa Muskel- und Nerven-
das Gehirn, das Herz und die Nieren. Die Organe des Menschen, zellen, die zu verschiedenartigen, spezialisierten Geweben
die von anderen höher entwickelten Tieren und von Höheren angeordnet sind. Beispielsweise besteht Muskelgewebe aus
Pflanzen sind zu Organsystemen zusammengefasst. Jedes Bündeln von Muskelzellen. In dem abgebildeten Foto sehen Sie
Organsystem stellt eine Gruppe von Organen dar, die eine eine stärker vergrößerte Ansicht einiger Zellen aus einem
spezifische Aufgabe zu erfüllen haben. So gehören beispiels- Blattgewebe. Jede dieser Zellen ist nur ca. 25 Mikrometer
weise zum menschlichen Verdauungssystem Organe wie die (µm = tausendstel Millimeter) groß. Man müsste mehr als
Zunge, der Magen und der Darm. 700 dieser Zellen nebeneinander legen, um den Durchmesser
eines Zweicentstücks zu erreichen. So klein wie diese Zellen
auch sind, auf dem Foto kann man doch erkennen, dass jede
einzelne zahlreiche grüne Strukturen enthält, die als Chloro-
eine Zelle plasten bezeichnet werden. In ihnen läuft die Photosynthese ab.
10 µm

(i) Organellen. Chloroplasten sind Bei-


spiele für Organellen, verschieden-
artige funktionelle Kompartimente,
die in einer Zelle vorliegen. In dieser
Abbildung ist ein Schnitt durch einen
einzelnen Chloroplasten zu erkennen,
der mithilfe eines Elektronen-
mikroskops sichtbar gemacht wurde.

1 µm

Atome

50 µm


(g) Gewebe. Unsere nächste Dimension erfordert ein Mikroskop,




um zum Beispiel die Gewebe eines Blattes erkennen zu kön- (j) Moleküle. Unser letzter Maßstab in der Hierarchie führt uns
nen. Das hier gezeigte Blatt wurde unter einem bestimmten tief in das Innere eines Chloroplasten und ermöglicht es uns,
Winkel geschnitten. Das schwammartig erscheinende Gewebe einen Blick auf die molekulare Ebene des Lebens zu werfen.
im Blattinneren (linker Teil des Fotos) ist der Hauptort der Ein Molekül ist eine chemische Struktur, die aus zwei oder
Photosynthese – demjenigen Vorgang, durch den Lichtenergie mehreren chemischen Einheiten, den Atomen, zusammen-
in chemische Energie in Form von Zucker und anderen organischen gesetzt ist. In dieser Computergrafik sind die Atome eines
Molekülen umgewandelt wird. Oben und unten wird das Blatt Chlorophyllmoleküls als Kugeln dargestellt. Chlorophyll ist
jeweils durch eine Schicht aus lückenlos miteinander verzahn- der Farbstoff, der die Blätter grün erscheinen lässt. Als eines
ten Zellen begrenzt, die als Epidermis bezeichnet wird und die der wichtigsten Moleküle auf der Erde absorbiert das Chloro-
„Haut“ an der Oberfläche des Blattes bildet (rechter Teil des phyll Sonnenlicht für den ersten Schritt der Photosynthese.
Fotos). Die Öffnungen in der Epidermis erlauben den Einstrom In jedem Chloroplasten liegen Millionen von Chlorophyllmole-
von Kohlendioxid – dem Ausgangsstoff für die Zuckersynthese – külen und anderen Molekülen vor, wohlgeordnet zu einer
damit dieses Gas in das photosynthetisch aktive Gewebe Maschinerie, die Lichtenergie in chemische Energie umwandelt.
im Blattinneren gelangen kann. Bei dieser Vergrößerung
können wir außerdem erkennen, dass jedes Gewebe aus
Zellen aufgebaut ist.

7
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

Zellen sind die grundlegenden Struktur- und tionsräume (Kompartimente) untergliedert. Beispiele
Funktionseinheiten eines Lebewesens für Organellen sehen Sie in Abbildung 1.4 oder in Form
In der strukturellen Hierarchie des Lebens nimmt die der Chloroplasten in Abbildung 1.3. In vielen euka-
Zelle einen besonderen Platz ein, da sie die unterste ryontischen Zellen ist der Zellkern das größte Organell.
Struktur- und Organisationsebene darstellt, die alle Er enthält die Hauptmasse der DNA der Zelle. Die
charakteristischen Eigenschaften des Lebens aufweist anderen Organellen liegen im Cytoplasma; das ist der
(Abbildung 1.4). Eine Zelle ist die kleinste lebende gesamte Bereich innerhalb der Außenmembran der
Einheit, die wir kennen. Darüber hinaus hängen alle Zelle mit Ausnahme des Zellkerns. Wie Sie ebenfalls
Lebensprozesse der Organismen von ihren Zellaktivitä- der Abbildung 1.4 entnehmen können, sind proka-
ten ab. Beispielsweise ist die Teilung von Zellen und die ryontische Zellen viel einfacher gebaut und im Allge-
Bildung neuer Zellen die Grundlage jeglicher Fortpflan- meinen auch deutlich kleiner als eukaryontische. In
zung, und sie ist ebenso von entscheidender Bedeutung prokaryontischen Zellen ist die DNA nicht in einem
für Wachstum und Zellregeneration bei mehrzelligen von einer Membran umgebenen Zellkern vom Rest der
Lebewesen (Abbildung 1.5). Die Bewegungen Ihrer Zelle abgetrennt. Die Prokaryonten besitzen auch keine
Augen, während Sie diesen Text lesen – um ein weiteres anderen durch eine begrenzende Membran definierte
Beispiel zu geben – hängen von der Aktivität von Ner- Organellen, die für die Eukaryonten so charakteristisch
ven- und Muskelzellen ab. Selbst ein weltumspannender sind. Unabhängig davon, ob ein Lebewesen prokaryon-
Prozess wie der Kohlenstoff- und Sauerstoffkreislauf ist tische oder eukaryontische Zellen besitzt, hängen seine
das kumulative Produkt der Tätigkeit zahlloser Zellen, Strukturen und Funktionen in jedem Fall von Zellen
einschließlich des Prozesses der Photosynthese, die in als Grundbausteinen und Basiseinheiten ab.
den Chloroplasten von Blattzellen abläuft. Das Verständ-
nis der Struktur und Funktion der Zelle ist eines der
Hauptanliegen der biologischen Forschung. 1.1.2 Die Kontinuität des Lebens beruht
auf vererbbarer Information in
prokaryontische Zelle
Form von DNA
DNA (kein
eukaryontische Zelle Zellkern) INFORMATION In der sich teilenden Zelle von Abbil-
Membran
Membran dung 1.5 erkennen Sie Strukturen, die als Chromoso-
Cytoplasma men bezeichnet werden und die hier mit einem blau
leuchtenden Farbstoff angefärbt wurden. Die Chromo-
somen enthalten fast das gesamte Erbgut der Zelle –
ihre DNA (Desoxyribonucleinsäure, engl. deoxyribo-
nucleic acid). Die DNA ist die Substanz, aus der Gene
(Erbfaktoren) bestehen, welche die Einheiten der Ver-
erbung von Eltern auf ihre Nachkommen darstellen.

25 μm

Zellkern
(von Membran
umgeben)

von Membran
Membrane- DNA
umgebene Organellen
enclosed organelles (im Zellkern) 1 μm

Abbildung 1.4: Gegenüberstellung einer eukaryontischen und


einer prokaryontischen Zelle bezüglich Größe und Komplexität.

Alle Zellen besitzen eine Reihe gemeinsamer Merk-


male. So ist jede Zelle von einer Membran umgeben, Abbildung 1.5: Eine Lungenzelle eines Wassermolches teilt sich in
die den Durchtritt von Stoffen aus der Umgebung in zwei kleinere Zellen, die heranwachsen und sich später erneut tei-
die Zelle und umgekehrt kontrolliert. Und jede Zelle len.
enthält Desoxyribonucleinsäure (DNA) als Erbgut zur
Speicherung der Erbinformationen. Grundsätzlich las-
sen sich zwei Zelltypen unterscheiden: prokaryon- DNA, das genetische Material
tische und eukaryontische Zellen. Die Zellen jedes Jedes Chromosom enthält ein einziges, durchgehendes,
Lebewesens gehören einem dieser beiden Grundtypen sehr langes DNA-Molekül, auf dessen gesamter Länge
an. Die Zellen der Bakterien und der Archaeen gehö- Hunderte oder sogar Tausende von Genen aufgereiht
ren zum prokaryontischen Typ. Alle anderen Organis- sind. Die DNA des Chromosoms, das außerdem noch
mengruppen – Pflanzen, Tiere und Pilze – setzen sich zahlreiche Proteinmoleküle enthält, wird repliziert (ver-
aus Zellen des eukaryontischen Typs zusammen. doppelt), wenn eine Zelle sich zu teilen beginnt. An
Eine eukaryontische Zelle ist durch innere Membra- jede der beiden sich bildenden Tochterzellen wird ein
nen in verschiedene, als Organellen bezeichnete Reak- vollständiger Satz von Genen vererbt.

8
1.1 Theorien und Konzepte verbinden die Disziplinen der Biologie

Die Zellkerne in einer Bakterienzelle kann bedeuten:


enthalten die DNA „Stelle eine bestimmte Komponente der
Zellmembran her“; ein anderes Gen, etwa
Samenzelle des Menschen, hingegen: „Stelle Wachs-
(Spermium) tumshormon her“.
Die Gene in den Zellen geben präzise
„Anweisungen“ für die Herstellung gro-
ßer Moleküle, bei denen es sich meist
Eizelle um Proteine (Eiweißstoffe) handelt. Pro-
(Oocyte) teine des Menschen sind etwa an der
Muskelkontraktion beteiligt oder gehö-
ren zu den als Antikörper bezeichneten
Die befruchtete Abwehrproteinen. Eine für alle Zellen
Eizelle mit der DNA entscheidende Gruppe von Proteinen
beider Eltern Embryozellen sind Enzyme, die als Katalysatoren
mit Kopien der chemischer Reaktionen dienen. Enzyme
vererbten DNA beschleunigen mit hoher Präzision je-
weils ganz bestimmte chemische Pro-
Kind mit Merkmalen,
Abbildung 1.6: Die DNA steuert die Entwicklung die von beiden Eltern
zesse. Die DNA ist der Bauplan, die Pro-
eines Lebewesens. vererbt wurden teine sind die Werkzeuge und vielfach
auch wichtige Bausteine, durch die sich
die Zellen strukturieren und ihre Funk-
Ein jeder von uns hat sein Leben als befruchtete Ei- tionsfähigkeit erlangen.
zelle begonnen, die mit DNA ausgestattet war, welche
wir von unseren Eltern vererbt bekommen haben.
Durch die Replikation der DNA in jeder Zellteilungs-
runde sind Billionen von Kopien davon (für jede Zellkern
unserer Körperzellen) entstanden. In jeder einzelnen DNA
dieser Zellen (mit wenigen Ausnahmen) liegt die In-
formation zum Aufbau aller Bestandteile der Zelle in
Form der entlang der DNA aneinandergereihten Gene Zelle
codiert vor. Auf diese Weise steuert die DNA den Bau-
und Betriebsstoffwechsel des gesamten Organismus A
(Abbildung 1.6). Die DNA dient demnach als zentraler C
Datenspeicher. Nucleotide
T
Der molekulare Aufbau der DNA steht im Zusam-
menhang mit ihrer Fähigkeit, Informationen zu spei- A
chern. Jedes DNA-Molekül besteht aus zwei langen T
Molekülketten, die zu einer umeinander gewundenen
A
Doppelspirale (Doppelhelix) angeordnet sind. Jedes
Glied der Molekülketten rekrutiert sich aus einer Aus- C
wahl von nur vier verschiedenen Grundbausteinen, C
die als Nucleotide bezeichnet und mit A, T, C und G
G
abgekürzt werden (Abbildung 1.7). Die Art und Weise,
wie in der DNA Informationen codiert sind, kann in T
unserer Sprache damit verglichen werden, wie die A
Buchstaben des Alphabets zu Buchstabenfolgen anein-
G
andergereiht werden, die dann eine bestimmte Bedeu-
tung erlangen (Wörter, Sätze, ...). Die Wörter Blau und T
Laub haben eine unterschiedliche Bedeutung, obgleich A
sie dieselben Buchstaben in gleicher Anzahl enthalten.
Bibliotheken beherbergen Tausende von Büchern mit
(a) DNA-Doppelhelix. Dieses (b) Einzelner DNA-Strang. Diese
Informationen, die aus der variierenden, aber sinnvoll Modell zeigt alle Atome eines abstrakten Formen und Buch-
aneinandergereihten Folge (Sequenz) von Buchstaben, Abschnitts eines DNA-Moleküls. staben sind einfache Symbole
Wörtern, Sätzen, Absätzen und Kapiteln bestehen. In In den doppelsträngigen DNA- für die Nucleotide eines Stranges
Molekülen bilden deren Bau- eines DNA-Moleküls. Die Erb-
Analogie dazu kann man sich die Nucleotide der DNA
steine, die Nucleotide, lange information ist in spezifischen
als das Alphabet der biologischen Vererbung vorstel- Ketten, die zu einer doppel- Sequenzen der vier Typen von
len. Eine bestimmte Reihenfolge der vier chemischen helikalen räumlichen Gestalt Nucleotiden codiert. (Deren
Buchstaben codiert einen bestimmten Informationsge- ineinander verwunden sind. Namen werden hier mit A, T, C
und G abgekürzt.)
halt der Gene, die im Regelfall Hunderte oder gar Tau-
sende von Nucleotiden umfassen. Ein bestimmtes Gen Abbildung 1.7: DNA – das Erbmaterial.

9
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

Die Gene auf der DNA sind indirekt für die Proteinpro- Die Sequenz der Nucleotide in einem Gen wird in eine
duktion verantwortlich. Dabei kommen mit der DNA RNA umgeschrieben (transkribiert). Das Transkript, die
eng verwandte Moleküle zum Einsatz – die Ribo- mRNA (mRNA, messenger-RNA), wird dann in ein Pro-
nucleinsäuren (RNA, engl. ribonucleic acid). Sie stellen tein übersetzt (translatiert), das jeweils eine charakteris-
Zwischenstufen bei der Informationsverarbeitung durch tische Form und Funktion aufweist. Bei der Translation,
die Zelle dar (Abbildung 1.8). die man sich als Übersetzung der „genetischen Sprache“
der Nucleinsäuren in die „biochemische Sprache“ der
Proteine vorstellen kann, bedienen sich alle Lebewesen
im Wesentlichen desselben genetischen Codes, also
desselben Übersetzungs-Schlüssels. Eine bestimmte
Nucleotidsequenz eines Organismus hat bei einem ganz
anderen Organismus dieselbe Bedeutung. Die Unter-
schiede zwischen den Organismen spiegeln somit Unter-
schiede in den Nucleotidabfolgen ihres Erbguts wider.
Aber nicht alle Ribonucleinsäuren einer Zelle werden
direkt für die Proteinsynthese genutzt. Schon seit Jahr-
(a) Mithilfe der Linse können Linsen-
unsere Augen Licht bündeln
zehnten ist bekannt, dass bestimmte Typen von RNA
zelle
und Objekte scharf darstellen. (rRNAs) am Aufbau von Ribosomen beteiligt sind,
Die Linsenzellen sind dicht mit also jener Zellorganellen, die für die Übersetzung von
einem transparenten Protein
gefüllt, dem Crystallin.
mRNAs in Proteine benötigt werden. Andere RNA-
Typen sind an der Translation am Ribosom beteiligt, die
sogenannten Transfer-RNAs (tRNAs). Seit einigen Jahren
weiß man, dass bestimmte RNA-Typen in der Zelle auch
(b) Wie stellen Linsenzellen Crystallin-Proteine her?
eine andere wichtige Bedeutung haben. Hierzu gehört
Crystallin-Gen zum Beispiel die Regulation der Funktion der mRNAs
Das Crystal- von proteincodierenden Genen. All diese RNA-Typen
lin-Gen ist ein
kleiner DNA- werden durch Gene codiert, und auch ihre Produktion
Abschnitt und hängt von der Genexpression ab. Indem die DNA für
Bestandteil eines Proteine und RNAs codiert und vor jeder Zellteilung
Chromosoms.
repliziert wird, sichert sie die exakte Weitergabe der
Erbinformation von einer Generation zur nächsten.
DNA
(ein Ausschnitt A C C A A A C C G A G T
aus dem Genomik: Hochdurchsatz-Analyse von DNA-
Crystallin-Gen) T G G T T T G G C T C A Sequenzen
Die gesamte „Bibliothek“ der genetischen Anweisun-
gen, die ein Organismus erbt, bezeichnet man als sein
Den 4-Buchstaben-Code der DNA nutzt die
Zelle, um eine spezifische RNA, die mRNA,
Genom. Eine normale menschliche Zelle enthält zwei
TRANSKRIPTION
herzustellen (Transkription). sehr ähnliche Chromosomensätze von gleicher Größe,
die aus jeweils ca. drei Milliarden Nucleotiden zusam-
mengesetzt sind (insgesamt also DNA aus etwa sechs
U G G U U U G G C U C A Milliarden Nucleotiden pro Zelle). Würde diese Erbin-
mRNA
formation mit den gängigen Ein-Buchstaben-Abkürzun-
An Ribosomen wird die Sequenzinformation
gen für die Nucleotide in der gleichen Schriftgröße nie-
TRANSLATION der mRNA genutzt, um ein Protein herzustel- dergeschrieben werden wie der Text dieses Buches,
len (Translation) würden die drei Milliarden Buchstaben rund 600 Bände
füllen! – In dieser „Genom-Bibliothek“ aus Nucleotid-
Aminosäure- sequenzen ist die Information für geschätzte 25.000 Pro-
Kette teine enthalten (die tatsächliche Zahl unterschiedlicher
Proteine, die aus einer
Proteine erhöht sich noch erheblich durch mögliche
spezifischen Abfolge von Splice-Varianten auf Ebene der mRNAs und sekundäre
PROTEINFALTUNG Aminosäuren be- Modifikationen), sowie für eine noch unbekannte Zahl
stehen, besitzen eine
spezifische dreidimensio-
von RNA-Molekülen.
nale Gestalt, die wich- Durch enorme Fortschritte bei Sequenziertechniken
tig für ihre Funktion ist die Gesamtsequenz der Nucleotide im menschlichen
sind. Crystallin-Proteine
sind in Linsenzellen des Genom heute ebenso entschlüsselt wie die vollständi-
Protein Auges dicht gepackt, gen Genomsequenzen zahlreicher Bakterien, Archaeen,
fokussieren das Licht Pilz-, Pflanzen- und Tierarten. Die Grundlage dafür
und erlauben uns so zu
Crystallin-Protein sehen. bildete die Entwicklung neuer molekularbiologischer
Methoden und Geräte zur DNA-Sequenzierung, die in
Abbildung 1.8: Genexpression: Die Information eines Gens wird Kapitel 20 näher vorgestellt werden. Der beste Weg, der
von der Zelle letztlich in funktionsfähige Proteine umgesetzt. Flut von Daten aus den zahlreichen Genomprojekten

10
1.1 Theorien und Konzepte verbinden die Disziplinen der Biologie

und dem immer weiter anwachsenden Katalog bekann- verbünde besteht letztlich darin, ein Verständnis dafür
ter Proteine und Proteinfunktionen einen Sinn zu ent- zu entwickeln, wie die Funktionen der von der DNA
locken, besteht in der Anwendung eines systemischen codierten Proteine und nicht-codierenden RNAs in Zel-
Ansatzes auf den Ebenen der Zelle und der Moleküle. len und Organismen koordiniert werden.
Statt einzelne Gene zu untersuchen, analysieren For-
scher Gengruppen oder ganze Genome einer oder meh-
rerer Arten – ein Ansatz, der als „Genomik“ bezeichnet 1.1.3 Die Energieumwandlung durch
wird. In einem ganz ähnlichen Sinne wird der Begriff belebte Materie
„Proteomik“ für die Analyse von Proteingruppen bis zur
Gesamtheit aller Proteine einer Zelle (dem sogenannten ENERGIE UND MATERIE Bewegung, Wachstum, Fortpflan-
Proteom) und ihrer Eigenschaften verwendet. zung und andere Lebensvorgänge erfordern Energie. Der
Drei entscheidende methodische Fortschritte waren Austausch von Energie zwischen einem Organismus
es, die Genom- und Proteom-Analysen möglich mach- und seiner Umwelt geht oftmals mit der Umwandlung
ten. Einer davon war die Entwicklung von Methoden einer Energieform in eine andere einher. So absorbieren
mit hohem Durchsatz (der sogenannten „High-through- die Blätter eines Baums Licht (Strahlungsenergie) und
put“-Technologie). Hierunter versteht man Methoden, wandeln die Sonnenenergie während der Photosyn-
die die Analyse vieler biologischer Proben gleichzeitig these in chemische Energie um, die wiederum in
in kurzer Zeit oder die Analyse vieler verschiedener Form von Zuckermolekülen gespeichert werden kann.
Parameter gleichzeitig in einer biologischen Probe Die gespeicherte chemische Energie wird dann von
erlauben. Diese Methoden sind größtenteils automa- Pflanzen und anderen photosynthetisch aktiven Orga-
tisiert und liefern riesige Datenmengen. Zahlreiche mit- nismen, den Produzenten, an die Verbraucher weiter-
einander verbundene Hochleistungsrechner können gegeben. Als Verbraucher werden diejenigen Organis-
diese Daten verarbeiten. Die vollautomatischen DNA- men bezeichnet, die sich von Produzenten oder anderen
Sequenzierer („Sequenzier-Roboter“), die die Sequen- Verbrauchern ernähren, beispielsweise die Tiere.
zierung des menschlichen Genoms möglich gemacht Wenn z.B. die Muskelzellen eines Tieres Zuckermo-
haben, sind nur ein Beispiel für eine „High-throughput“- leküle als Treibstoff für ihre Fortbewegung einsetzen,
Technologie und ihre Anwendung. Der zweite Durch- wird die gespeicherte chemische Energie in kinetische
bruch war die Entwicklung einer neuen Disziplin, der Energie (Bewegungsenergie) umgewandelt. Bei allen
Bioinformatik. Hochleistungsrechner werden dabei ein- Energieumwandlungen wird auch immer ein Teil in
gesetzt, um die riesigen Datenmengen zu speichern, zu Wärmeenergie überführt, von der wiederum ein Teil an
ordnen, zu verwalten und schließlich zu analysieren. die Umgebung abgegeben wird. Im Gegensatz zu den
Der dritte Durchbruch bestand in der Bildung interdis- chemischen Bausteinen, die in einem Ökosystem einem
ziplinärer Forschergruppen, in denen unterschied- Kreislauf unterliegen, fließt Energie durch ein Ökosys-
lichste Spezialisten zusammenarbeiten. Solchen Grup- tem hindurch. Dabei strömt sie für gewöhnlich als
pen gehören neben Biologen oft auch Mathematiker, Strahlungsenergie ein (Licht) und verlässt es in Form
Informatiker, Chemiker, Physiker, Ingenieure und Vertre- von Wärmeenergie (Abbildung 1.9). Chemische Bau-
ter anderer Disziplinen an. Das Ziel dieser Forschungs- steine werden dagegen innerhalb eines Ökosystems wie-

ENERGIEFLUSS
Nährstoffe und
Minerale wer-
den an pflan-
er Nährstoffe
misch zenfressende
e
ch Organismen
uf weitergegeben.
a
isl
Kre

Chemische
Sonnen- Energie Wärme-
strahlung in der verlust
Nahrung

Pflanzen Bodenorganismen
nehmen (Bakterien, Pilze
Nährstoffe und andere) zer-
aus dem setzen abgestor-
Boden und bene Pfanzenteile
Nährstoffe
der Luft auf. und führen dem
und
Minerale Boden Minerale
und Nährstoffe Abbildung 1.9:
zu. Nährstoffkreisläufe
und Energiefluss.

11
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

der nutzbar gemacht. Beispielsweise dienen Moleküle, spiel, wenn ein Löwe ein Zebra tötet und frisst. In
die von der Pflanze aus der Luft oder dem Erdboden anderen Fällen ist die Wechselbeziehung zum Nachteil
aufgenommen werden, zunächst als Baumaterial, wer- beider Spezies, etwa, wenn zwei Pflanzen um einen
den dann aber an das Tier, welches diese Pflanze frisst, seltenen Nährstoff im Boden konkurrieren. Durch alle
weitergegeben. Letztlich gelangen diese Moleküle diese Variationen von Wechselbeziehungen zwischen
(oder deren Grundbausteine) dank der Aktivität von Organismen wird letztendlich ein bestehendes Ökosys-
sogenannten Kompostierern (Bakterien und Pilze, die tem aufrechterhalten.
sich von Abfallprodukten, Blattresten oder toten Tierkör- Organismen stehen aber auch mit ihrer unbelebten
pern ernähren) wieder in die Umwelt und können Umwelt in Wechselwirkung. So absorbieren die Blätter
dann erneut von Pflanzen aufgenommen werden. eines Baums Sonnenlicht, nehmen Kohlendioxid aus
der Luft auf und geben Sauerstoff in die Atmosphäre ab
(Abbildung 1.10).
1.1.4 Vom Ökosystem zum Molekül – Jeder lebende Organismus beeinflusst auch seine
Wechselwirkungen sind wichtig Umwelt. So nehmen die Wurzeln einer Pflanze nicht
in biologischen Systemen nur Wasser und Minerale aus dem Boden auf, sondern
sie lockern auch den Boden oder bringen durch ihr
WECHSELWIRKUNGEN (INTERAKTIONEN) In einem Ökosys- Wachstum Gestein zum Bersten. Daher leistet jede
tem steht jeder einzelne Organismus mit vielen ande- Pflanze auch einen eigenen kleinen Beitrag zur Boden-
ren in Wechselwirkung. Eine Schirmakazie in der afri- beschaffenheit. Dies kann enorme Auswirkungen haben.
kanischen Savanne steht über ihre Wurzeln mit den So wurde beispielsweise der gesamte Sauerstoff in unse-
Mikroorganismen im Boden, mit Insekten, die auf ihren rer Erdatmosphäre durch photosynthetische Bakterien
Zweigen leben, und mit den Tieren, die ihre Blätter und und Pflanzen produziert.
Früchte fressen, in Wechselwirkung (Abbildung 1.10).
Ein weiteres Beispiel ist die Wechselbeziehung zwi- Moleküle: Wechselwirkungen im Organismus
schen einer Meeresschildkröte und ihren „Putzer- Die Wechselwirkungen zwischen Organen, Geweben,
fischen“, die ständig um sie herum schwimmen. Die Zellen und Molekülen sind für alle Körperfunktionen
Fische ernähren sich von den Parasiten, die auf dem lebensnotwendig. Sehen wir uns einmal die Regula-
Panzer und der Hautoberfläche der Schildkröte leben. tion der Zuckerkonzentration im Blut an: Unmittelbar
Die Schildkröte profitiert wiederum von ihrer Bezie- nach einer Mahlzeit steigt die Glucosekonzentration
hung mit den Fischen, indem sie von den lästigen im Blut an (Abbildung 1.11). Eine Erhöhung des Glu-
Parasiten befreit wird. Den „Putzerfischen“ steht damit cosespiegels veranlasst die Bauchspeicheldrüse dazu,
eine sichere Nahrungsquelle zur Verfügung und sie Insulin zu produzieren und ins Blut abzugeben. Erreicht
sind vor Fressfeinden geschützt, weil sie in der Nähe das Insulin Leber- oder Muskelzellen, fördert es dort die
der Schildkröte leben. Wechselbeziehungen müssen Speicherung von Glucose in Form von Glykogen (ein
nicht immer von beiderseitigem Vorteil sein, zum Bei- stark verzweigtes Polysaccharid, das als Energiespei-

Sonnenstrahlung

Pflanzen nehmen
Mithilfe ihrer Blätter können
Kohlendioxid aus
Pflanzen Lichtenergie nutzen. CO2 der Luft auf und
geben Sauerstoff
ab.
O2

Destruenten im
Boden bauen herab-
fallende Blätter ab
und führen dem
Boden so Minerale
zu.

Über seine
Wurzeln nimmt Über die Ausschei-
der Baum Was- dungen der Tiere, die
ser und Mine- sich von Blättern und Abbildung 1.10:
rale aus dem Früchten ernähren, Wechselbeziehungen
Boden auf. gelangen Nähr- und einer afrikanischen
Mineralstoffe zurück Schirmakazie mit ande-
in den Erdboden. ren Organismen und
ihrer Umgebung.

12
1.1 Theorien und Konzepte verbinden die Disziplinen der Biologie

cher dient). Durch den Einbau in Glykogen wird die Abläufe durch einen auch in der Technik bekannten
Konzentration freier Glucose im Blut wiederum auf ein Mechanismus, der als Rückkopplung bezeichnet wird.
physiologisch gesundes Maß reduziert und die Produk- Bei der Regulation über einen Rückkopplungs-Mecha-
tion von Insulin in der Bauchspeicheldrüse wird nicht nismus wirkt das Endprodukt eines Prozesses regulie-
länger stimuliert. Beträchtliche Mengen Glucose wer- rend auf diesen zurück. In biologischen Systemen ist
den übrigens auch durch unsere Körperzellen ver- die häufigste Form der Regulation die negative Rück-
braucht, z.B. wenn wir Sport treiben. kopplung, bei der ein Zuviel eines produzierten Stoffes
die weitere Produktion verlangsamt oder gar hemmt
und die Menge der vorhandenen Substanz in einem
– AUSLÖSER (STIMULUS): bestimmten Gleichgewicht hält. So führt etwa der
Hohe Glucosekonzentra-
tion im Blut Abbau von Zucker in einer Zelle zur Bildung eines
Stoffes namens ATP (Adenosintriphosphat), dem wich-
tigsten Molekül der Energiespeicherung aller Lebe-
Insulin-produzierende wesen. Stellt eine Zelle mehr ATP her, als sie im Moment
Zelle der Bauchspeicheldrüse verwerten kann, hemmt das überschüssige ATP ein
Enzym, das am Anfang des betreffenden Stoffwech-
selweges steht (Abbildung 1.11).
Insulin Zahlreiche biologische Prozesse werden auch durch
Negative Rückkopplung

eine positive Rückkopplung reguliert, obgleich sie


Verteilung des weniger verbreitet ist als die negative Rückkopplung.
Insulins über
den Blutkreislauf Hierbei kommt es zu einer Anhäufung des Endpro-
duktes bis zu einem bestimmten Grenzwert, der zu
einer bestimmten Reaktion führt. Das Gerinnen von
Blut nach einer Verletzung ist ein Beispiel für eine
positive Rückkopplung: Wird ein Blutgefäß so weit
Leber- und beschädigt, dass Blut austritt, beginnen sich kleine
Muskelzellen Blutbestandteile, die Blutplättchen (Thrombocyten),
an der verletzten Stelle zu sammeln. Wenn Stoffe, die
von den Blutplättchen freigesetzt werden, weitere
Thrombocyten anlocken, kommt es zu einer positiven
Rückkopplung. Die Anhäufung der Thrombocyten
ANTWORT (REAKTION):
Leber- und Muskelzellen setzt dann den komplizierten Prozess der Gerinnung
nehmen Glucose auf in Gang, durch den die Wunde schließlich mit einem
Blutpfropf verschlossen wird.
Die Regulation durch Rückkopplung ist ein in der
Abbildung 1.11: Regulation durch Rückkopplung. Im menschli-
Biologie immer wiederkehrendes Prinzip, das sich auf
chen Körper wird die Menge an freier Glucose, dem zentralen Energieträ-
ger in tierischen Organismen, streng reguliert. Die Abbildung illustriert die allen hierarchischen Ebenen findet – von den Molekü-
negative Rückkopplung: Die Antwort (Zellen nehmen Glucose auf) senkt len in einer Zelle über Ökosysteme bis hin zur gesam-
die Konzentration an freier Glucose im Blut und wirkt so negativ auf den ten Biosphäre. Diese Art der Regulation ist ein Bei-
Stimulus (Insulinproduktion aufgrund hoher Glucosekonzentration). spiel für die Integrationsleistungen, die zu den oben
diskutierten emergenten Eigenschaften führen kön-
nen, durch die belebte Systeme in ihrer Gesamtheit
Bei den meisten biochemischen Vorgängen in einer weitaus mehr sind als die Summe ihrer Teile.
Zelle wirken bestimmte Proteine, die als Enzyme
bezeichnet werden, als Katalysatoren beschleunigend
auf chemische Reaktionen. Dies ist auch der Fall, wenn 1.1.5 Evolution, der große, die gesamte
die Zuckermoleküle abgebaut oder als Speicherstoffe Biologie überspannende Bogen
eingelagert werden. Jedes Enzym katalysiert nur eine
bestimmte chemische Reaktion. In vielen Fällen lau- Die Evolution ist das zentrale Thema der Biologie – das
fen solche Reaktionen in Reaktionsketten nacheinan- grundlegende Konzept, das allem, was wir über Lebe-
der ab; man spricht dann von Stoffwechselwegen. wesen wissen, einen Sinn verleiht. Das Leben auf der
Jeder Umwandlungsschritt wird in der Regel durch Erde hat eine mehrere Milliarden Jahre umfassende
ein eigenes Enzym katalysiert. Wie koordiniert nun Evolution durchlaufen, die eine gewaltige Vielfalt aus-
die Zelle all die verschiedenen chemischen Reaktio- gestorbener und heute lebender Organismen hervorge-
nen und Stoffwechselwege? Angewandt auf unser Bei- bracht hat. Neben der überwältigenden Mannigfaltigkeit
spiel des Zuckerstoffwechsels heißt das: Wie passt die finden wir aber auch zahlreiche gemeinsame Merkmale,
Zelle die Bereitstellung der Glucose an den Energie- die immer wieder auftreten. Obgleich das Seepferd-
bedarf an? oder: Wie steuert sie die gegenläufigen Reak- chen, der Hase, der Kolibri, das Krokodil und der Pin-
tionen der Stoffwechselwege für den Zuckerabbau guin sehr verschieden aussehen, ähneln sich ihre
und die Zuckerspeicherung? Die Antwort liegt in der Skelette in ihrer Architektur. Die wissenschaftliche
Möglichkeit zur Selbstregulation vieler biologischer Erklärung für diese Gemeinsamkeiten, aber auch für

13
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

die Vielfalt der an ihre Umwelt angepassten Organis- logie ist: Es ist dies die Evolution, oder, wie es Theodo-
men, liefert die Evolution. Sie beruht auf der Vorstel- sius Dobzhansky (1900–1975), einer der Gründerväter
lung, dass die heute auf der Erde lebenden Organis- der modernen Evolutionstheorie, formuliert hat: „Nichts
men Nachfahren gemeinsamer Vorfahren sind. Anders in der Biologie macht Sinn, wenn man es nicht im
ausgedrückt, können wir die Merkmale, die zwei ver- Lichte der Evolution betrachtet.“
schiedenen Organismen gemeinsam sind, nur dadurch Neben der Tatsache, dass die Biologie ein weites
erklären, dass beide von einem gemeinsamen Vorfah- Spektrum an Größendimensionen umfasst, das von den
ren abstammen. Andererseits lassen sich erkennbare Molekülen bis zur Biosphäre reicht, erstreckt es sich
Unterschiede mit einem Konzept erklären, nach dem auch über die immense Vielfalt (Diversität) und Man-
entlang der die beiden betrachteten Organismen verbin- nigfaltigkeit an Pflanzen-, Tier- und Mikroorganismen-
denden Ahnenreihe erbliche Veränderungen (Mutatio- arten, die früher auf der Erde gelebt haben, und jene,
nen) eingetreten sind, welche für die Unterschiede die heute unseren Planeten besiedeln. Um die Aussage
verantwortlich sind. Viele Befunde (zum Beispiel ver- von Dobzhansky besser verstehen zu können, müssen
gleichende Beobachtungen und Ergebnisse von Expe- wir uns damit vertraut machen, wie Biologen diese
rimenten) untermauern die Theorie der Evolution und gewaltige Vielfalt interpretieren.
der ihr zugrunde liegenden Mechanismen. Wir wer-
den später in diesem Kapitel zur Evolution zurück-
kehren, nachdem wir die anderen Prinzipien bespro- 1.2.1 Ordnung in die Vielfalt der
chen und uns ein vollständigeres Bild vom breiten Lebewesen bringen
Spektrum der Biologie gemacht haben.
Biologische Diversität ist eines der kennzeichnenden
Merkmale des Lebens und der Lebewesen. Bis heute
 Wiederholungsfragen 1.1 haben Biologen ungefähr 1,8 Millionen Arten von Orga-
nismen beschrieben, mit Namen belegt und sys-
1. Schreiben Sie für jede der in Abbildung 1.3 tematisch eingeordnet. Diese unvorstellbare Vielfalt
dargestellten biologischen Ebenen einen Satz umfasst momentan mindestens 6.300 Arten von Pro-
nieder, der die nächstniedrigere Ebene mit ein- karyonten (zumeist mikroskopisch kleine Einzeller, die
schließt. Ein Beispiel: „Eine Biozönose besteht keinen Zellkern besitzen), rund 100.000 Arten von Pil-
aus Populationen verschiedener Pflanzen- und zen, etwa 290.000 Arten von Pflanzen und weit über
Tierarten, die ein bestimmtes Gebiet besie- eine Million Tierarten. Unter diesen finden sich etwa
deln.“ 52.000 Arten von Wirbeltieren (Vertebraten) und eine
2. Welche biologischen Prinzipien werden durch Million Insektenarten, die damit mehr als die Hälfte
(a) die spitzen Stacheln des Stachelschweins, aller bekannten Arten ausmachen. Dazu kommen
(b) die Entwicklung eines vielzelligen Orga- Zehntausende weitere Arten wirbelloser Tiere und
nismus aus einer einzelnen befruchteten Ei- viele weitere Arten, die jedes Jahr neu entdeckt und
zelle, und (c) den Verbrauch von Zucker für beschrieben werden. Wenig verlässliche Angaben zur
den Flug des Kolibris exemplarisch angespro- Gesamtzahl der Organismenarten auf der Erde reichen
chen? von 10 bis über 100 Millionen; allerdings sind diese
Zahlen im Wesentlichen das Ergebnis von groben
3. WAS WÄRE, WENN? Nennen Sie für jedes der Schätzungen und Hochrechnungen. Wie auch immer
in diesem Kapitel vorgestellten biologischen die tatsächliche Artenzahl ausfällt, die enorme Vielfalt
Prinzipien ein Beispiel, das hier im Buch nicht der verschiedenen Organismen verleiht der Biologie
erwähnt worden ist. einen sehr weiten Horizont. Die Biologen sehen sich
mit ihren Bestrebungen, diese Vielfalt zu erfassen und
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. zu verstehen, einer großen Herausforderung gegenüber.

Die Eingruppierung von Arten in das hierarchische


biologische System
Einheitlichkeit und Vielfalt Der Mensch hat von Natur aus eine Veranlagung, Objekte
nach ihrer Ähnlichkeit, nach bestimmten Eigenschaften
der Organismen sind das oder Kriterien zu kategorisieren und einzugruppieren.
Ergebnis der Evolution
1.2 Wir sprechen von Schmetterlingen und von Nagetieren
und wissen gleichzeitig, dass zwar zu jeder dieser
Gruppen viele einzelne, unterscheidbare Arten gehö-
EVOLUTION Die in Konzept 1.1 besprochenen Prinzi- ren, im Grundbauplan jedoch eine Ähnlichkeit besteht,
pien der Biologie sind zwar von herausragender Bedeu- die sie als Schmetterlinge oder Nagetiere auszeichnet.
tung, aber sie stellen nur eine kleine Auswahl dar. Ver- Wir können dann solche Gruppen in größere Katego-
schiedene Biologen werden zu einer kürzeren oder zu rien einordnen: die Schmetterlinge unter die Insekten
einer längeren Auflistung kommen und diese nützli- und die Nagetiere unter die Säugetiere. Die Taxonomie
cher finden. Es herrscht jedoch allgemein Überein- ist das Teilgebiet der Biologie, das sich mit der Klassifi-
stimmung darin, welches das zentrale Thema der Bio- kation (Systematik) von Arten befasst, die Nomenklatur

14
1.2 Einheitlichkeit und Vielfalt der Organismen sind das Ergebnis der Evolution

Art Gattung Familie Ordnung Klasse Stamm Reich Domäne

Ursus arctos
(Braunbär)

Ursus
(Bären)

Ursidae (Bärenartige)

Carnivora (Beutegreifer)

Mammalia (Säugetiere)

Chordata (Chordatiere)

Animalia (Tiere)
Abbildung 1.12: Klassifikation der Organismen.
Um Ordnung in die Vielfalt der Organismen auf der Erde zu
bringen, benutzen Biologen eine Klassifikation durch Einordnung
in ein hierarchisches System. Arten, die nah miteinander verwandt
sind, wie der Eis- und Braunbär, werden in dieselbe Gattung gestellt; Gat-
tungen werden zu Familien zusammengefasst, Familien zu Ordnungen und so Eukarya
weiter. Diese Abbildung zeigt beispielhaft die Einordnung des Braunbären (Ursus (Eukaryonten)
arctos) sowie seine Stellung im Reich der Tiere und im gesamten Organismenreich.

hingegen beschäftigt sich mit der Kennzeichnung und den Neubewertung der Zahl der Organismenreiche und
Benennung von Arten und höheren Einheiten (Taxa). deren Abgrenzung zueinander geführt. Wissenschaftler
Dabei ist im Laufe der Zeit ein weitgehend ausgereif- haben dabei Modelle entwickelt, die sechs oder bis zu
tes System mit immer weiteren Kategorien entstanden mehrere Dutzend Organismenreiche unterscheiden.
(Abbildung 1.12). In Kapitel 26 werden Sie mehr Der fachliche Disput hierüber ist noch nicht abgeschlos-
über dieses taxonomische System, seine Grundlagen sen. Über der Ebene der Organismenreiche wurde eine
und Probleme erfahren. An dieser Stelle wollen wir uns weitere taxonomische Ebene errichtet, auf der die Lebe-
auf die Organismenreiche und Domänen beschränken, wesen drei Domänen zugeordnet werden. Die Verfech-
die die umfassendsten taxonomischen Klassifizierungs- ter dieses Systems unterscheiden Bakterien (Bacteria),
einheiten darstellen. Archaeen (Archaea) und Eukaryonten (Eukarya,
Abbildung 1.13).
Die Domänen und Reiche der Organismen Die zu den Domänen Bacteria und Archaea gehören-
Bis vor etwa 25 Jahren war unter den Biologen ein den Organismen sind ausnahmslos Prokaryonten. Die
taxonomisches Grundmodell allgemein akzeptiert, das meisten von ihnen sind einzellig und nur unter dem
die belebte Natur in fünf Organismenreiche (Einzahl Mikroskop sichtbar. Im System mit fünf Organismen-
Regnum, Mehrzahl Regna) – Pflanzen, Tiere, Pilze, reichen waren die Bakterien und die Archaeen zu
einzellige Eukaryonten (Protisten) und Prokaryonten – einem einzigen Reich zusammengefasst, weil ihnen der
untergliederte. Seitdem haben neuartige Methoden wie prokaryontische Zelltyp gemeinsam ist. Heute liegen
DNA-Sequenzvergleiche (vergleichende Genomik) bei zahlreiche Befunde vor, die Bakterien und Archaeen
verschiedenen Arten zu einer immer noch andauern- zwei weit voneinander getrennten Zweigen der Pro-

15
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

(a) Domäne Bacteria. Bakterien sind die vielgestaltigsten (b) Domäne Archaea. Viele der als Archaeen bezeichneten
und am weitesten verbreiteten Prokaryonten. Sie Prokaryonten leben in extremen Lebensräumen der
werden heute in mehrere Reiche unterteilt. Jedes der Erde, wie Salzseen und kochend heißen Quellen. Die
stäbchenförmigen Gebilde auf diesem Foto ist eine Domäne Archaea umfasst mehrere Reiche. Die Foto-
Bakterienzelle. grafie zeigt eine aus vielen Zellen bestehende Kolonie.

2 μm

(c) Domäne Eukarya. 2 μm

100 μm

 Protisten (mehrere Reiche)  Das Reich der Tiere besteht aus


sind einzellige Eukaryonten vielzelligen Eukaryonten, die
sowie mit diesen verwandte, sich von anderen Organismen
relativ einfach gebaute viel- ernähren.
zellige Formen. Abgebildet
finden Sie hier eine Ansamm-
lung von Protisten, die in
Gewässern leben. Die Bio-  Das Reich der
logen debattieren gegen- Pflanzen setzt sich
wärtig darüber, wie sich die aus vielzelligen
Protisten Reichen zuordnen Eukaryonten
lassen, die ihre evolutiven  Das Reich der Pilze definiert zusammen, die zur
Verwandtschaftsbeziehungen sich zum Teil durch den Ernäh- Photosynthese –
genauer widerspiegeln. rungsmodus seiner Arten, der Umwandlung
zum Beispiel dieses Hutpilzes, von Lichtenergie
die Nährstoffe absorbieren, in chemische
nachdem sie organisches Energie – befähigt
Material zersetzt haben. sind.

Abbildung 1.13: Die drei Domänen der Lebewesen.

karyonten zuordnen. Auf welche Weise sich diese Grup- marine, benthische (am Meeresgrund festsitzende)
pen unterscheiden, erfahren Sie im Detail in Kapitel 27. Algen gefasst, die mit bestimmten einzelligen Protisten
Manche Befunde deuten darauf hin, dass die Archaeen eng verwandt sind. Der Trend der „neueren“ Taxonomie
ebenso nah mit den Eukaryonten wie mit den Eubakte- geht dahin, die Protisten (wieder) in diverse eigenstän-
rien verwandt sind. dige Organismenreiche aufzuteilen. Zusätzlich zu die-
Alle Eukaryonten werden verschiedenen Reichen sen umfasst die Domäne Eukarya allgemein die Organis-
zugeordnet, und diese werden in der Domäne Eukarya menreiche vielzelliger Eukaryonten: das Reich der
zusammengefasst. Im System mit fünf Organismenrei- Pflanzen (Regnum Plantae), das der Tiere (Regnum Ani-
chen wurden die meisten einzelligen Eukaryonten (wie malia) und das der Pilze (Regnum Mycota). Die Vertreter
etwa die Protozoen oder Urtiere) in ein gemeinsames dieser drei Organismenreiche werden zum Teil aufgrund
Reich mit der Bezeichnung Protista eingruppiert. Zahl- ihrer Ernährungsweise unterschieden. Pflanzen erzeu-
reiche Systematiker haben dann die Grenzen der Pro- gen durch die Photosynthese selbstständig Kohlenhyd-
tista erweitert und darunter auch einige wenigzellige rate sowie ihre gesamte Phytomasse. Pilze sind zumeist

16
1.2 Einheitlichkeit und Vielfalt der Organismen sind das Ergebnis der Evolution

5 μm

Querschnitt durch ein Cilium,


wie es im Elektronen-
mikroskop erscheint

15 μm

Cilien des Pantoffeltierchens Cilienbesatz von Luft-


(Paramecium sp.). Die Cilien röhrenzellen. Die Zellen,
(Zellwimpern) des Einzellers die die menschliche Luft-
Paramecium sp. dienen zur röhre auskleiden, sind mit
Fortbewegung im Wasser. Cilien besetzt. Deren Be-
wegungen unterstützen
die Reinigung der Atem-
0,1 μm wege von Fremdpartikeln,
indem sie den Transport
des Atemwegsschleims
mit darin eingefangenen
Abbildung 1.14: Ein Beispiel für die Einheitlichkeit, die der Vielfalt des Lebens zugrunde liegt: die Partikeln nach oben
Cilienarchitektur bei Eukaryonten. Cilien (wimpernförmige Bewegungsorganellen) sind Zellfortsätze, die zur bewirken.
Bewegung von Flüssigkeiten über die Zelloberfläche oder zur eigenen Fortbewegung dienen. Sie finden sich bei so
verschiedenen Eukaryonten wie dem Pantoffeltierchen (Paramecium) und dem Menschen. Selbst Organismen, die so
unterschiedlich sind, zeigen im Prinzip einen gleichartigen Bau ihrer Cilien. Diese bestehen, wie man im Querschnitt
gut erkennen kann, aus neun doppelten peripheren und zwei einfachen zentralen Mikrotubuli. Diese 9+2-Struktur hat
sich in der Evolution nahezu aller Eukaryonten erhalten.

„Zersetzer“ (Destruenten), die abgestorbene Organismen Organismen und fügt unserem Bild von der Biologie
und andere organische Abfälle (wie gefallenes Laub und eine weitere wichtige Dimension hinzu, die histori-
Tierexkremente) abbauen, um daraus Nährstoffe zu ent- sche Komponente.
nehmen. Tiere beziehen ihre Nahrung durch Konsump-
tion, das heißt durch Fressen und Verdauen anderer
Lebewesen. Das Reich der Tiere ist natürlich das, zu 1.2.2 Charles Darwin und die Theorie der
welchem wir Menschen selbst gehören. natürlichen Selektion
Einheitlichkeit in der Vielfalt des Lebens Die Geschichte des Lebens auf der Erde, wie sie sich in
So vielfältig sich das Leben und so vielgestaltig sich Form von Fossilien (Reste und Spuren vorzeitlicher
die Organismen darstellen, so zeigt sich doch auch Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen), Gesteinen und
eine bemerkenswerte Einheitlichkeit. Wir haben oben Mineralen offenbart, belegt eine sich stetig wandelnde,
bereits auf die Ähnlichkeit der Skelette verschiedener Milliarden Jahre alte Erde mit einer sich ebenfalls stän-
Wirbeltierarten hingewiesen. Auf der molekularen dig verändernden Organismenwelt (Abbildung 1.15).
und zellulären Ebene finden sich noch weitaus mehr Diese evolutionäre Sichtweise der sich in der Zeitachse
Ähnlichkeiten. So ist etwa allen Lebewesen die uni- verändernden Organismen trat im November des Jahres
verselle genetische „Sprache“ der DNA gemeinsam – 1859 in das allgemeine Bewusstsein, als der Engländer
selbst solchen, die so verschieden wie Bakterien und Charles Robert Darwin (1809–1882) eines der bedeut-
Tiere sind. Die Einheitlichkeit wird auch in zahlreichen samsten und einflussreichsten naturwissenschaftlichen
Merkmalen der Zellstruktur deutlich (Abbildung Bücher veröffentlichte, das jemals geschrieben wurde.
1.14). Darwins Buch mit dem Titel „Die Entstehung der Arten
Wie lassen sich die gleichzeitige Einheitlichkeit und durch natürliche Zuchtwahl“ wurde augenblicklich zu
Vielfalt erklären? Der Prozess der Evolution, dem wir einem Bestseller und ließ den Begriff „Darwinismus“
uns als Nächstes zuwenden werden, erhellt sowohl die gleichsam zu einem Synonym für das Konzept der bio-
Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede zwischen den logischen Evolution werden (Abbildung 1.16).

17
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

Abbildung 1.16: Charles Darwin. Nach einem Portrait von George


Richmond im Jahr 1840, vier Jahre nach der Rückkehr von der Weltumseg-
lung mit der „HMS Beagle“.

Generationenfolge von Vorfahren hervorgegangen


sind. (Wir werden diese Belege für die Evolution im
Detail in Kapitel 22 vorstellen.) Darwin bezeichnete
diese Stammesgeschichte der Arten als „gemeinsame
Abstammung mit allmählicher Abwandlung (Modifi-
kation)“. Dies war eine wohlüberlegte Formulierung,
da sie den Dualismus zwischen Einheitlichkeit und
Abbildung 1.15: Die „Vergangenheit“ ausgraben. Paläontologen Vielfalt des Lebendigen gut erfasste – Einheit in der
legen hier behutsam Beinknochen eines Dinosauriers (Rapetosaurus
Verwandtschaft der Arten, die sich von gemeinsamen
krausei) in Madagaskar frei.
Vorfahren herleiten, und Vielfalt in Gestalt der Merk-
male und Anpassungen, die sich im Laufe der Evolu-
Das Werk „Die Entstehung der Arten durch natürliche tion herausgebildet haben (Abbildung 1.17). Darwins
Zuchtwahl“ brachte zwei Hauptgesichtspunkte ins zweiter wichtiger Gesichtspunkt war, einen Mechanis-
Bewusstsein. Zunächst legte Darwin aussagekräftige mus zu finden, der diesen Prozess zu erklären ver-
Beweise vor, die die Vorstellung untermauerten, dass die mochte. Er selbst nannte diesen Mechanismus die
heute existierenden Arten aus einer kontinuierlichen „natürliche Auslese“ oder „natürliche Selektion“.

Abbildung 1.17: Einheitlichkeit und


Vielfalt der Vögel. Diese drei Vogelarten
 Austernfischer zeigen Variationen eines gemeinsamen Grund-
(Haematopus bauplans. So besitzt jeder Vogel Federn, einen
ostralegus) Schnabel und Flügel – allerdings jeweils in
einer der Lebensweise angepassten Abwand-
lung.

 Basstölpel (Morus bassanus)  Eselspinguin (Pygoscelis papua)

18
1.2 Einheitlichkeit und Vielfalt der Organismen sind das Ergebnis der Evolution

1 Individuen einer 2 Eliminierung 3 Reproduktion der 4 Zunahme derjeni-


Population mit von Individuen. Überlebenden. gen Erbmerkmale,
unterschiedlichen die ihren Trägern
Erbmerkmalen. den höchsten Über-
lebens- und Fort-
Abbildung 1.18: Die natürliche Selektion. Das folgende theoretische Beispiel soll den Mechanismus der pflanzungserfolg
natürlichen Selektion verdeutlichen. Eine Käferpopulation hat ein Gebiet besiedelt, dessen Untergrund durch ermöglichen.
einen kürzlichen Waldbrand schwarz geworden ist. Vorher zeichnete sich die Käferpopulation durch ein breites
Spektrum genetisch verankerter Farbvarianten aus, von hellgrau bis schwarz. Für Vögel, die sich von den Käfern
ernähren, ist es am einfachsten, die Käfer mit der hellsten Körperfärbung als Beute auszuwählen.

Darwin entwickelte seine Theorie der natürlichen Selek- für eine Anpassung aufweisen. Die Evolution äußert sich
tion anhand von Beobachtungen, die für sich genommen somit auf der Ebene des größeren Fortpflanzungserfolgs
weder neu noch grundlegend waren. Auch andere kann- von Individuen mit besserer Umweltanpassung. Diese
ten die Teile des Puzzles, doch war es Darwin, der Auffassung stand im Gegensatz zu der damals gängigen
erkannte, wie sie sich zu einem Gesamtbild zusammenfü- Lehrmeinung des französischen Botanikers und Zoolo-
gen lassen. Er ging von Beobachtungen in der Natur, aber gen Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829). Lamarck, der
auch von Züchtungen durch den Menschen aus (zum im Übrigen zu dieser Zeit auch den Begriff „Biologie“
Beispiel Taubenrassen): Die Individuen in einer Popula- prägte, ging davon aus, dass auch erworbene Eigenschaf-
tion unterscheiden sich in ihren Merkmalen, von denen ten vererbt werden könnten („Lamarckismus“).
viele erblich zu sein scheinen (also von den Elternorga- Darwin definierte den Mechanismus der Evolution
nismen auf die Nachkommen übergehen können). Außer- als „natürliche Selektion“ (natürliche Auslese), weil
dem produziert eine Population wesentlich mehr Nach- die in der Natur wirkenden selektiven Kräfte bestim-
kommen, als unter natürlichen Bedingungen überleben men, welche Merkmalskombinationen in einer Popula-
können. Da die Anzahl der Nachkommen einer Elternge- tion an die nächste Generation weitergegeben werden.
neration wesentlich größer ist als der Lebensraum mit all Das in Abbildung 1.18 dargestellte Beispiel illustriert
seinen Ressourcen, ist Konkurrenz unvermeidlich. Des- die Wirkung der natürlichen Selektion, wobei die erbli-
halb können nur diejenigen Individuen innerhalb einer chen Farbvarianten von Käfern einen unterschiedlichen
Population überleben und weitere Nachkommen haben, Anpassungswert besitzen. Nur die hellen Farbvarianten
die besser als ihre Konkurrenten an die jeweiligen werden vom Vogel gefressen. Die dunklen Farbvarian-
Umweltbedingungen angepasst sind. ten werden hingegen entweder gemieden oder erst über-
Letztendlich sind auch die einzelnen Arten im Rah- haupt nicht gesehen und können im Laufe der Genera-
men dieses Prozesses der natürlichen Selektion ent- tionen an Zahl zunehmen, da es sich um ein erbliches
standen und zeigen Anpassungen, die sie im Laufe der Merkmal handelt. Wir sehen die Ergebnisse einer natür-
Stammesgeschichte „erworben“ haben und die ihnen lichen Selektion in Form von hochgradig spezifi-
erst ein Überleben ermöglichen. Beispielsweise sind schen Anpassungen der verschiedenen Organismen-
Vogelarten, die in Regionen leben, wo harte Pflanzen- arten an eine jeweils sehr spezifische Lebensweise
samen eine gute Nahrungsquelle bieten, mit besonders und an besondere Umweltbedingungen. Ebenso sind
kräftigen Schnäbeln ausgestattet. Dies gilt zum Bei- die Flügel einer Fledermaus, die Sie in Abbildung 1.19
spiel für den Kernbeißer (Coccothraustes coccothraus- sehen, ein exzellentes Beispiel für eine Adaptation.
tes), den größten und schwersten Finkenvogel Mittel-
europas, der mit seinem überaus kräftigen Schnabel
sogar Kirschkerne knacken kann.
Darwin zog Schlüsse aus all diesen Beobachtungen,
die er unter anderem während einer mehrjährigen Welt-
umsegelung größtenteils selbst gemacht hatte, und
gelangte schließlich zu seiner Theorie der Evolution. Er
argumentierte, dass diejenigen Individuen die besten
Abbildung 1.19: Anpassungen in der Evolution. Fle-
Überlebens- und Fortpflanzungsaussichten haben, die
dertiere (Chiroptera), zu denen die Fledermäuse und die Flug-
durch ererbte Eigenschaften über einen größtmöglichen hunde gehören, sind die einzigen aktiv flugfähigen Säugetiere.
Anpassungswert an die jeweiligen lokalen Umwelt- An den Körperseiten bilden Oberhaut und Lederhaut die elasti-
bedingungen verfügen. Über einen Zeitraum von vielen sche Flughaut, deren Stützskelett die stark verlängerten Mittelhand-
Generationen kann dadurch dann ein immer höherer knochen und Finger sind. Solche Anpassungen lassen sich nur auf der
Prozentsatz der Individuen vorteilhafte Voraussetzungen Basis der Evolutionstheorie über die natürliche Selektion erklären.

19
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

1.2.3 Der Stammbaum des Lebens nischen Kontinents verwandt. Nachdem die Galapagos-
Inselgruppe vor einigen Millionen Jahren durch Vul-
Werfen wir noch einmal einen Blick auf den Skelettbau kantätigkeit entstand, ist wahrscheinlich eine einzelne
der Fledertiere (Abbildung 1.19). Die Vordergliedmaßen Finkenart zunächst dort eingewandert. Aus dieser
dieser Tiere weisen genauso wie bei anderen Säuge- Stammform oder Ursprungsart haben sich dann auf dem
tieren Knochen, Gelenke, Nerven und Blutgefäße auf, Wege der Artbildung (Speziation) in der Folge auf den
obgleich sie an eine fliegende Fortbewegungsweise einzelnen Inseln die heute unterscheidbaren Darwinfin-
angepasst sind. So entsprechen ihre Vordergliedmaßen ken-Arten (Abbildung 1.20) entwickelt. Nachdem man
beispielsweise den Armen des Menschen, den Vorder- lange davon ausgegangen war, dass die Stammform von
beinen von Pferden und den Brustflossen von Walen. Südamerika aus nach Galapagos gelangt sei, nimmt man
Tatsächlich leiten sich sämtliche Bestandteile der Vor- heute an, dass sie ursprünglich in der Inselwelt der Kari-
dergliedmaßen der Säugetiere von einem gemeinsamen bik beheimatet gewesen ist. Lange nachdem Darwin
Grundbauplan ab. Das Gleiche gilt für die Flügel der seine Sammlung der auf Galapagos gefundenen Finken
Vögel in Abbildung 1.17. Solche Beispiele für verwandt- angelegt hatte, begannen andere Wissenschaftler damit,
schaftliche Ähnlichkeit verbinden das Konzept der Ein- die genauen Verwandtschaftsverhältnisse unter diesen
heitlichkeit in der Vielfalt mit der Darwin’schen Theorie Arten zu erforschen – zunächst durch vergleichende
der „gemeinsamen Abstammung mit allmählicher Ab- anatomische, morphologische und biogeografische Stu-
wandlung (Modifikation)“. Nach dieser Theorie spiegelt dien, in jüngerer Zeit auch durch molekulargenetische
sich in der Einheitlichkeit des Grundbauplans der Glie- Vergleiche von DNA-Sequenzen.
dmaßenanatomie der Säugetiere die Vorstellung wider, Die Diagramme, mit denen die Verwandtschaftsbe-
dass alle Säugetiere auf einen gemeinsamen Vorfahren ziehungen von Arten oder anderen taxonomischen
(eine Ursprungsart) zurückgehen, von dem sich alle üb- Gruppen (zum Beispiel Unterarten) dargestellt wer-
rigen Säugetiere im Laufe der Stammesgeschichte ablei- den, weisen Verzweigungen auf, die an einen Baum
ten. Die Vielgestaltigkeit der Vordergliedmaßen von Säu- erinnern. Man bezeichnet sie deshalb traditionell als
getieren ist das Ergebnis von genetisch bedingten Stammbäume, auch wenn sie horizontal angeordnet
Modifikationen (Adaptationen) und der natürlichen werden können, wie der in Abbildung 1.20 gezeigte.
Selektion, die über Jahrmillionen hinweg an zahllosen Stammbäume sind eine sinnvolle Darstellungsme-
Generationen unter den unterschiedlichsten Umweltbe- thode zur Veranschaulichung stammesgeschichtlicher
dingungen gewirkt hat. Fossilfunde und die Ergebnisse Verwandtschaftsverhältnisse. Genauso wie jedes ein-
vergleichender Untersuchungen an rezenten Organis- zelne Individuum eine familiäre Herkunft besitzt, die
menarten bestätigen die anatomische Einheitlichkeit sich als Familienstammbaum nachzeichnen lässt, bildet
und untermauern die Vorstellung der Abstammung der auch jede heute existierende biologische Art, bleibt man
Säugetiere von einem gemeinsamen Vorfahren. beim Beispiel eines Baums, die Spitze eines Zweiges in
Darwin ging davon aus, dass die natürliche Selektion einem sich mehr oder minder stark verzweigenden Ast-
durch die kumulative Wirkung über lange Zeiträume werk. Das Astwerk in Richtung Baumstamm entspricht
dazu führen kann, dass aus einer einzigen Ursprungsart der in die Vergangenheit orientierten Zeitachse bis hin
allmählich zwei oder mehrere neue Arten hervorgehen. zu immer entfernter verwandten Arten. Die Arten, die
Dies kann zum Beispiel dann geschehen, wenn eine einander morphologisch sehr ähnlich sind, wie die Dar-
Population in mehrere räumlich getrennte Teilpopula- winfinken, gehen auf eine gemeinsame Ahnenform
tionen zerfällt, die unter verschiedenartigen Umweltbe- zurück, die sich auf dem Stammbaum an einem nicht
dingungen weiterexistieren. Auf diesen separaten „Büh- weit entfernt liegenden Verzweigungspunkt befindet.
nen“ könnte die „Regiearbeit“ der natürlichen Selektion Die Finken (Fringillidae) sind als Gruppe mit Sperlingen
schließlich dazu führen, dass die Ursprungsart sich in (Passeridae), Störchen (Ciconiidae), Pinguinen (Sphenis-
mehrere Arten aufspaltet, wenn sich die geografisch cidae) und allen anderen Vogeltaxa – teils enger, teils
voneinander getrennten Populationen über Zeiträume weitläufiger – verwandt, obwohl die gemeinsame
von vielen Generationen an die jeweils herrschenden, Ahnenform zeitlich viel weiter entfernt liegt. Die Vögel
unterschiedlichen Umweltbedingungen anpassen. Einen (Aves) wiederum gehen zusammen mit den Säugetieren
solchen Vorgang bezeichnet man in der Evolutionsbiolo- (Mammalia) und allen anderen Wirbeltieren (Vertebrata)
gie als „adaptive Radiation“. auf eine gemeinsame Ahnenform zurück, die evolutions-
Der Stammbaum der 14 Darwinfinken-Arten (Geospi- geschichtlich noch wesentlich älter ist. Beweise für eine
zinae) in Abbildung 1.20 zeigt ein berühmt gewordenes noch basalere und tiefer reichende Verwandtschaftsbe-
Beispiel für eine adaptive Radiation neuer Arten ausge- ziehung finden sich in Form von Ähnlichkeiten wie dem
hend von einer gemeinsamen Stammform. Darwin selbst gleichförmigen Bau aller eukaryontischen Cilien (Abbil-
sammelte Exemplare dieser Vogelarten, als er auf seiner dung 1.14). Verfolgt man die Spur des Lebens weit genug
Weltumsegelung im Jahr 1835 die abgelegenen Galapa- zurück, so findet man schließlich nur noch Fossilien
gos-Inseln im Pazifik besuchte, die auf Äquatorhöhe urtümlicher Prokaryonten, die die Erde vor über 3,5 Mil-
rund 900 km vor der südamerikanischen Küste liegen. liarden Jahren besiedelt haben. Überreste ihres evoluti-
Diese geologisch jungen Vulkaninseln sind die Heimat ven Vermächtnisses finden wir noch heute in unseren
vieler Pflanzen- und Tierarten, die nur dort vorkommen eigenen Zellen – zum Beispiel in der Universalität des
(endemische Arten) und dort entstanden sind. Gleichzei- genetischen Codes (Einzelheiten hierzu in den Kapiteln
tig sind die meisten auf den Galapagos-Inseln vorkom- 16 und 17). Jegliches Leben auf der Erde ist so über seine
menden Arten nachweislich mit Arten des südamerika- lange evolutive Geschichte miteinander verknüpft.

20
1.3 Naturwissenschaftler verwenden unterschiedliche Methoden

Laubsängerfinken

Insektenfresser
Grüner Laubsängerfink
(Certhidea olivacea)

gemeinsame Grauer Laubsängerfink


(Certhidea fusca)

Körnerfresser
Stammform

Spitzschnabel-
Grundfink
(Geospzia difficilis)

Knospen-
fresser
Dickschnabel-Darwinfink
(Platyspiza crassirostris)

Mangrovefink
(Cactospiza heliobates)

Insektenfresser
Baumfinken
Spechtfink
(Cactospiza pallida)

Kleinschnabel-Darwinfink
(Camarhynchus pauper)

Papageischnabel-
Darwinfink
(Camarhynchus psittacula)
Zweig-Darwinfink
(Camarhynchus parvulus)
Kaktusblüten-
Opuntien-Grundfink
fresser

(Geospiza conirostris)

Abbildung 1.20: Adaptive Radiation der Kaktus-Grundfink


Körnerfresser
Grundfinken

(Geospiza scandens)
Darwinfinken auf den Galapagos-Inseln.
Dieser Stammbaum gibt das gegenwärtig weit- Kleiner Grundfink
gehend akzeptierte Modell der Evolution der Dar- (Geospiza fuliginosa)
winfinken-Arten des Galapagos-Archipels wieder.
Ein gutes Unterscheidungsmerkmal sind die ver- Mittlerer Grundfink
(Geospiza fortis)
schiedenartigen Schnabelformen, die Anpassun-
gen an die verfügbaren Nahrungsquellen auf den Großer Grundfink
verschiedenen Inseln darstellen. (Geospiza magnirostris)

 Wiederholungsfragen 1.2
Naturwissenschaftler
verwenden unterschied-
1. In welcher Hinsicht gleicht eine Postadresse
dem hierarchischen System der biologischen
Taxonomie?
liche Methoden
1.3
2. Erklären Sie den Begriff „natürliche Selektion“. Ursprung und Antrieb wissenschaftlichen Arbeitens
liegen in der Neugier des Menschen und dem Bestre-
3. WAS WÄRE, WENN? Die drei Domänen (Kon- ben, etwas über sich selbst und seine Umwelt (zum
zept 1.2) lassen sich im Stammbaum des Le- Beispiel über andere Menschen, die Pflanzen-, Tier-
bens durch drei Hauptzweige darstellen. Von und Mikroorganismenwelt, unseren Planeten und das
der eukaryontischen Linie zweigen drei wei- Weltall) herauszufinden und die Vielfalt der Beobach-
tere Äste ab, die die Organismenreiche der tungen einzuordnen und zu verstehen. Das Streben
Pflanzen, Tiere und Pilze repräsentieren. Ge- nach einem Verständnis der Dinge und des eigenen
hen Sie davon aus, dass die Pilze und die Tiere Daseins ist ein hohes Ziel des Menschen. Der Kern der
näher miteinander verwandt sind als jede die- Wissenschaft ist die Forschung – die Suche nach
ser Gruppen mit den Pflanzen (was aus jünge- Informationen und kausalen Erklärungen. Dabei kon-
ren Forschungen geschlossen wird) und zeich- zentriert sie sich in der Regel auf eng umgrenzte und
nen Sie ein einfaches Verzweigungsdiagramm präzise Fragestellungen. Forscherdrang trieb Darwin
auf, das die Verwandtschaftsbeziehungen die- dazu, Antworten auf die Frage zu suchen, wie sich die
ser drei Organismengruppen nach heutigem Pflanzen- und Tierarten an ihre Umwelt anpassen und
Kenntnisstand korrekt wiedergibt. warum sie überhaupt an diese angepasst sind. Heutzu-
tage ist es genau derselbe Forscherdrang, der eine wei-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. tere wissenschaftlich vertiefte Analyse, zum Beispiel der
funktionellen Bedeutung unterschiedlicher Genome,

21
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

ermöglicht. Letztlich hilft sie uns zu verstehen, wie schaft. Man beschränkt sich hierbei auf die Untersu-
sich biologische Einheitlichkeit und Vielfalt auf der chung von Strukturen und Prozessen biologischer
molekularen Ebene darstellen. In der Tat ist der neu- Objekte und versucht, diese so exakt und sorgfältig wie
gierige Intellekt der wichtigste Motor, der allen Fort- möglich zu analysieren. Dieser Analyse liegen oft schon
schritt in der Biologie bewirkt. bestimmte Arbeitshypothesen zugrunde. So führte zum
Es gibt kein einfaches Rezept für Erfolg in der wis- Beispiel eine empirische wissenschaftliche Vorgehens-
senschaftlichen Forschung, auch keine allgemeingül- weise zur Entdeckung der Zellen, einschließlich ihres
tige Vorschrift, der Wissenschaftler streng folgen müs- strukturellen Aufbaus aus einzelnen Kompartimenten.
sen. Gemeinsam ist ihnen aber die strikte Anwendung Auch die immer weiter wachsenden Genomdaten-
wissenschaftlicher Methoden und wissenschaftlicher banken einer großen Zahl von verschiedensten Arten
Denkweise, die bei der Suche nach belegbaren Fakten basieren auf einer empirischen Datenerfassung. Nur
und Zusammenhängen die Leitschnur sind, der Wis- nachprüfbare, nach logischen Kriterien geordnete
senschaftler bei ihrer Arbeit folgen müssen. Das jewei- Beobachtungen haben einen informativen Wert und
lige Vorgehen und die verwendete Methode hängen können als Daten bezeichnet werden. Daten sind
dabei von der Fragestellung und der Natur des For- Informationseinheiten, auf denen die wissenschaftli-
schungsgegenstands ab. Sie ändern sich daher je nach che Forschung basiert.
Forschungsausrichtung und auch über die Zeit, durch In der Vorstellung vieler Menschen ist der Begriff
die Entwicklung verbesserter oder gänzlich neuer „Daten“ mit Zahlen verknüpft. Manche Daten sind aber
methodischer Ansätze. Wie bei allen Vorhaben, bei auch qualitativer Natur, die oftmals in Form komplizier-
denen Neuland betreten wird, ist auch die wissen- ter Beschreibungen statt in numerischer (quantitativer)
schaftliche Forschung mit vielen Herausforderungen, Form vorliegen. Beispielsweise hat die britische Verhal-
Zweifeln und Misserfolgen, aber auch mit Erfolgen tensforscherin Jane Goodall Jahrzehnte damit zuge-
verbunden. All dies gehört ebenso zum Forscheralltag bracht, das Verhalten von freilebenden Schimpansen im
wie sorgfältige Planung, logisches Denken, Kreativität, ostafrikanischen Urwald des Staates Tansania zu beob-
Kooperation, Konkurrenz im positiven Sinne, Geduld achten (Abbildung 1.21). Dabei hat sie ihre Beobach-
und Ausdauer. Ein so vielfältiges Repertoire von ver- tungen auch durch Fotografien und Filme dokumen-
schiedenen Einflussgrößen lässt den wissenschaft- tiert. Neben diesen qualitativen Daten hat Jane Goodall
lichen Forschungsprozess in der Realität viel weniger die Disziplin der Verhaltensforschung auch mit einer
vorstrukturiert erscheinen, als es sich die meisten Men- Fülle quantitativer Daten in Form von Messwerten
schen vorstellen. Ungeachtet davon können bestimmte bereichert. Wissenschaftler bedienen sich immer zusätz-
Methoden wissenschaftlichen Arbeitens im Vergleich licher statistischer Verfahren, um zu überprüfen, ob ihre
zu anderen Möglichkeiten, die Natur zu beschreiben Resultate signifikant sind oder auf zufälligen Fluktuatio-
und zu erklären, als besonders charakteristisch heraus- nen beruhen.
gestellt werden.
Biologen benutzen, wie auch die Forscher in den
anderen Naturwissenschaften, bei ihrer Vorgehensweise
zwei unterschiedliche Ansätze: den empirischen über
Beobachtung und Experiment und den theoretischen
über Hypothesen und Modelle. Der empirische Erkennt-
nisprozess zielt in der Hauptsache darauf, Naturphäno-
mene zu beschreiben, vergleichend zu analysieren und
über Experimente kausale Zusammenhänge aufzuzei-
gen. Der theoretische Ansatz beschäftigt sich dagegen
vorrangig mit Erklärungsmodellen (Theorien), die durch
experimentelle Befunde und/oder Beobachtungen ermit-
telt und in ein derzeit bestehendes Wissensgebäude
eingeordnet werden oder zu dessen Erweiterung oder
Umbau beitragen können. Bei den meisten naturwissen-
schaftlichen Forschungsvorhaben sind diese beiden
komplementären Ansätze eng miteinander verzahnt. In
der Biologie arbeiten in der Regel auch oft im Freiland
und im Labor tätige Biologen eng mit denen zusammen,
die beobachten, Experimente durchführen und theoreti-
sche Ansätze verfolgen.
Abbildung 1.21: Die britische Primatologin Jane Goodall beim
Aufnehmen qualitativer Daten über das Verhalten von Schim-
pansen. Jane Goodall hat ihre Beobachtungen in einem Notizbuch aufge-
1.3.1 Biologie als empirische Wissenschaft zeichnet und dabei oft Zeichnungen der Verhaltensweisen einzelner Schim-
pansen angefertigt.
Die Beobachtung und die experimentelle Erfassung von
Messdaten kennzeichnet die empirische Naturwissen-

22
1.3 Naturwissenschaftler verwenden unterschiedliche Methoden

1.3.2 Induktion und empirische Forschung der Astronomie, der Geologie, Paläontologie und auch
zum Beispiel in der Evolutionsforschung nur bedingt
Die empirische Wissenschaft kann auf der Grundlage oder gar nicht durchführbar sind).
einer bestimmten Methode, die als Induktion oder Wir alle verwenden Hypothesen bei der Bewältigung
induktives Folgern bezeichnet wird, zu wichtigen von Alltagsproblemen. Nehmen wir zum Beispiel an,
Schlüssen gelangen. Beim induktiven Verfahren kommt dass während eines Campingaufenthaltes unsere
man aus einer großen Zahl spezifischer und reprodu- Taschenlampe versagt. Das ist zunächst eine Beobach-
zierbarer Einzelbeobachtungen zu allgemeinen Schlüs- tung und Feststellung. Die sich ergebende Frage liegt
sen und Gesetzmäßigkeiten. Man geht dabei von der auf der Hand: „Warum funktioniert die Lampe nicht?“
Annahme aus, dass, wenn sich etwas bei einer Reihe Zwei aus der Erfahrung ableitbare, vernünftige Hypo-
von beobachteten Ereignissen als wahr erweist, es sich thesen bieten sich an: (1) Die Batterien der Taschen-
bei allen gleichartigen Ereignissen ebenfalls mit größter lampe sind leer, oder (2) die Glühbirne ist defekt. Die
Wahrscheinlichkeit als wahr erweisen wird. Man fol- beiden Hypothesen lassen sich experimentell über-
gert also vom Speziellen auf das Allgemeine. Beispiele prüfen. So führt die erste Hypothese zu der Vorher-
für eine aus der Induktion erschlossene allgemeine sage, dass durch einen Austausch der Batterien gegen
Aussage wären: „Die Sonne beginnt ihren Lauf immer neue die Funktion wiederhergestellt werden sollte.
im Osten“ oder „Alle Lebewesen bestehen aus Zel- Abbildung 1.22 fasst das „Campingplatz-Beispiel“
len.“ Letztere Verallgemeinerung stützt sich immerhin schematisch zusammen. Natürlich gliedern wir unsere
auf mehrere Jahrhunderte biologischer Forschung, in Gedankengänge nur selten in dieser Form in wohlfor-
denen unzählige Einzelbeobachtungen gemacht wor- mulierte Hypothesen, Vorhersagen und Experimente,
den sind, die in jedem Fall diese allgemeine Aussage wenn wir vor einem konkreten Problem stehen und es
nicht widerlegt (falsifiziert) haben. Bisher wurde kein lösen möchten. Intuitiv folgen wir aber meist diesem
einziges Lebewesen gefunden, auf das diese allgemeine Schema. Die theoretische Seite der Wissenschaft hat
Aussage nicht zugetroffen hätte. Das sorgfältige Beob- ihren Ursprung in der Neigung des Menschen, Prob-
achten und die ebenso gewissenhafte und kritische lemstellungen durch Experimentieren zu lösen.
Datenaufnahme, -gruppierung und -analyse in der empi-
rischen Naturwissenschaft sind zusammen mit den dar- Beobachtung: Taschenlampe funktioniert nicht.
aus induktiv abgeleiteten Verallgemeinerungen von
grundlegender Bedeutung für unser naturwissenschaft-
liches Verständnis der Welt. Zahlreiche auf diese Weise Frage: Warum funktioniert die Taschenlampe nicht?
abgeleitete allgemeine Einsichten sind als Gesetzmä-
ßigkeiten in der Natur bekannt. Da sich die Aussagen
in der Regel immer nur auf eine bestimmte Organis-
mengruppe beziehen, spricht man auch von sogenann- Hypothese Nr. 1: Hypothese Nr. 2: durchge-
ten Allsätzen (zum Beispiel alle Fledermäuse verfügen leere Batterien. brannte Glühbirne.
über die Fähigkeit zur Ultraschallortung).
Die Beobachtungen und induktiven Schlüsse der Vorhersage: Austausch Vorhersage: Austausch
empirischen Naturwissenschaft helfen uns, nach Ursa- der Batterien wird das der Glühbirne wird das
chen und Erklärungen für sie zu suchen. Was ist die Problem beseitigen. Problem beseitigen.
Ursache für die Artenbildung der Darwinfinken auf den
Galapagos-Inseln? Was verursacht das Wachstum der Überprüfung der Vorhersage: Überprüfung der Vorhersage:
Wurzeln eines Keimlings in den Boden, wohingegen der Austausch der Batterien Austausch der Glühbirne
Spross mit seinen Blättern zum Licht hin wächst? Wie
lässt sich die allgemein anerkannte Beobachtung erklä-
ren, dass die Sonne immer im Osten aufgeht? In der Ergebnis: Ergebnis:
Taschenlampe funktioniert nicht. Taschenlampe funktioniert.
Naturwissenschaft sind solche Fragestellungen gewöhn- Hypothese ist widerlegt. Hypothese ist bestätigt
lich mit dem Aufstellen und Überprüfen von Hypothe-
sen (Erklärungsversuchen) verbunden. In der der Wis- Abbildung 1.22: Ein Beispiel aus der Praxis des Alltagslebens
senschaft zugrunde liegenden Erkenntnistheorie versteht für eine auf Hypothesenbildung beruhende Problemlösung.
man unter einer Hypothese eine vorläufige Antwort („im
Voraus“) auf eine präzise formulierte Frage, also einen Deduktion: Die „Wenn-dann“-Logik
Erklärungsansatz („auf Probe“). Dabei handelt es sich Ein anderer Ansatz als der induktive ist die Deduktion
gewöhnlich nicht um eine „Spekulation“, sondern um oder das deduktive Folgern. Er wird in der Naturwis-
eine wohlbegründete Annahme, die sich auf die Kennt- senschaft ebenfalls häufig angewandt und ist bei wis-
nisse und die Erfahrung der jeweiligen Wissenschaftler senschaftstheoretischen Fragestellungen besonders
und die bislang vorliegenden empirisch gewonnenen wichtig. Die Deduktion ist gewissermaßen die Umkeh-
Daten und Informationen stützt. Eine wissenschaftliche rung der Induktion, da hier vom Allgemeinen ausge-
Hypothese muss, um brauchbar zu sein, bestimmte Vor- hend zum Speziellen hin geschlussfolgert wird und
hersagen machen können, die sich anhand von Experi- aus allgemeinen Aussagen auf den spezifischen Ein-
menten oder vergleichenden Beobachtungen überprü- zelfall hin extrapoliert wird. Dabei wird vorausgesetzt,
fen lassen (da Experimente in manchen Disziplinen wie dass die Verallgemeinerungen zutreffend und für den

23
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

analysierten speziellen Fall gültig sind. Das folgende hin orientierten Naturwissenschaft. Im Idealfall können
Beispiel mag dies erläutern: Wenn alle Lebewesen aus zwei oder mehrere alternative Hypothesen formuliert
Zellen bestehen (Voraussetzung 1) und Menschen und entsprechende geeignete Experimente entwickelt
Lebewesen sind (Voraussetzung 2), folgt daraus, dass werden, mit deren Hilfe mögliche Erklärungsansätze
Menschen aus Zellen bestehen müssen (deduktive ausgeschlossen werden können. Über die beiden in
Vorhersage für einen spezifischen Fall). Abbildung 1.22 dargestellten Hypothesen hinaus sind
In einem theoretisch ausgerichteten Ansatz nehmen viele weitere denkbare Hypothesen möglich, zum Bei-
deduktive Schlussfolgerungen gewöhnlich die Form spiel die, dass sowohl die Glühbirne kaputt, als auch
von Voraussagen zum Ausgang von Experimenten oder die Batterien leer sind. Zu welchen Voraussagen hin-
von Vorhersagen für mögliche Beobachtungen an, sichtlich der in Abbildung 1.22 dargestellten Expe-
die eintreten sollten, falls eine bestimmte Hypothese rimente und deren Ergebnissen führt diese neue
zutrifft. Man überprüft dann die Hypothese, indem Hypothese? Welches weitere Experiment würden Sie
man das dafür geeignete Experiment durchführt. Das durchführen, um diese Hypothese der mehrfachen
Ergebnis zeigt, ob die Vorhersagen der Hypothese Fehlfunktionen zu überprüfen?
zutreffen (die Hypothese erweist sich als nicht wider- Wir können aus unserem Beispiel mit der Taschen-
legbar) oder nicht (die Hypothese muss verworfen wer- lampe noch eine weitere Erkenntnis hinsichtlich eines
den). Diese Überprüfungen im Sinne der Deduktion fol- theoretischen Ansatzes ziehen. Obwohl die Hypothese,
gen einer „Wenn-dann“-Logik. Auf das Beispiel mit der dass die Glühbirne durchgebrannt ist, sich als die wahr-
Taschenlampe bezogen bedeutet dies: Wenn die Hypo- scheinlichste Erklärung herausstellt, fällt bei näherer
these der leeren Batterien sich nicht widerlegen lässt, Analyse auf, dass die Überprüfung dieser Hypothese
dann wird ein Austauschen der Batterien dazu führen, durch das Experiment nicht beweist, dass sie zutreffend
dass die Lampe leuchtet. Die Formulierungen zeigen, ist. Sie wird lediglich nicht durch Falsifikation ausge-
dass Hypothesen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt über- schlossen. Vielleicht saß die Glühbirne einfach nur lose
prüft werden, sondern auf ihre Falsifizierbarkeit. Dies in der Fassung und die Ersatzbirne wurde dafür fest ein-
bedeutet aber auch, dass der Wahrheitsgehalt einer geschraubt! Man könnte versuchen, die Hypothese der
Hypothese umso mehr steigt, je mehr vergebliche Ver- defekten Glühbirne in einem weiteren Experiment zu
suche unternommen wurden, sie zu widerlegen. falsifizieren, indem man die Glühbirne herausnimmt
und dann wieder festdreht. Wie auch immer – durch
keinen noch so hohen experimentellen Aufwand lässt
1.3.3 Hypothesen in der Naturwissenschaft sich in einem streng logischen Sinn eine Hypothese
abschließend beweisen (das heißt, ohne die geringste
Das Beispiel mit der Taschenlampe verdeutlicht zwei Spur eines Zweifels an ihrer Richtigkeit), da es unmög-
wichtige „Qualitäten“ wissenschaftlicher Hypothesen. lich ist, alle denkbaren alternativen Hypothesen in einer
Erstens muss eine Hypothese zumindest im Grundsatz endlichen Zeit zu überprüfen. Eine Hypothese gewinnt,
überprüfbar sein. Es muss also einen Weg geben, wie wie schon gesagt, dadurch zunehmend an Gewicht,
die Gültigkeit (Validität) der zugrunde liegenden dass sie wiederholte Versuche der Falsifizierung über-
Annahme überprüft werden kann. Zweitens muss eine steht, während gleichzeitig andere, alternative Hypothe-
Hypothese falsifizierbar (widerlegbar) sein. Es muss sen durch Falsifizierung ausgeschlossen werden.
also möglich sein, sie durch Beobachtung oder Experi- Leser und Leserinnen, die an einer vertiefenden Dar-
ment als unrichtig zu entlarven. Anders ausgedrückt: stellung der hier nur abrissartig dargelegten wissen-
Es müssen (zumindest theoretisch) Bedingungen exis- schaftlichen Erkenntnistheorie interessiert sind, sei das
tieren, die es erlauben nachzuweisen, dass die Hypo- folgende Werk empfohlen: G. Vollmer (2008): Was kön-
these unzutreffend ist. Die Hypothese, dass die Taschen- nen wir wissen? Hirzel, Stuttgart. 2 Bände.
lampe nicht funktioniert, weil die Batterien leer sind,
lässt sich falsifizieren, wenn man die alten gegen neue
Batterien austauscht (von denen mit einer anderen 1.3.4 Naturwissenschaftliche
Lampe gezeigt wurde, dass sie Strom liefern) und die Vorgehensweise
Lampe noch immer kein Licht aussendet. Nicht alle
denk- und formulierbaren Hypothesen erfüllen diese Das Beispiel mit der Taschenlampe von Abbildung 1.22
Kriterien der Wissenschaftlichkeit. Derartige Hypo- stellt eine stark vereinfachte Vorgehensweise zum
thesen sind als Arbeitsgrundlage für den Wissenschaft- Erkenntnisgewinn dar. Wissenschaftliche Methodenan-
ler unbrauchbar. (Versuchen Sie beispielsweise einen sätze sind hingegen in der Regel wesentlich komplizier-
Test zu finden, mit dem die Hypothese, dass auf dem ter. Beispiele finden sich in den meisten naturwis-
Campingplatz umherirrende Geister die Taschenlampe senschaftlichen Veröffentlichungen. Nur sehr wenige
unbrauchbar gemacht haben, falsifiziert werden kann.) Forschungsvorhaben halten sich starr an die beschrie-
An der Forderung der Überprüfbarkeit und Falsifizier- bene Vorgehensweise. Zum Beispiel kann ein Wissen-
barkeit von Hypothesen zeigt sich eindringlich, dass schaftler damit beginnen, sich ein Experiment zu überle-
der empirische und der theoretische Zweig der Natur- gen, dann aber feststellen, dass weitere Beobachtungen
wissenschaft untrennbar miteinander verbunden sind! oder Daten notwendig sind, und einen Schritt zurückge-
Unser Beispiel mit der Taschenlampe illustriert einen hen. In anderen Fällen führen widersprüchliche Beob-
weiteren wichtigen Gesichtspunkt einer auf die Theorie achtungen oder Versuchsergebnisse nicht unmittelbar zu

24
1.3 Naturwissenschaftler verwenden unterschiedliche Methoden

einfachen und einleuchtenden Antworten, so dass wei- erklären können. Natürlich gehört noch einiges mehr zur
tere Forschungsergebnisse notwendig werden (viel- Wissenschaft als nur Prüfen und Experimentieren. Wel-
leicht sogar solche, die zu einer völligen Neubewertung che Hypothesen können aufgestellt werden, wie inter-
und einer neuen Hypothesenbildung führen, weil die pretiere ich die Ergebnisse meiner Experimente und mit
gewonnenen Daten in einem ganz neuen Zusammen- welchen Methoden überprüfe ich sie, und wie ent-
hang zu sehen sind). Als Beispiel können die Individuen scheide ich, welche Idee weiter verfolgt werden sollte? –
der Finken von den Galapagos-Inseln dienen, die Dar- Wir wollen dies kurz betrachten:
win gesammelt hat. Erst Jahre später, nachdem er von 1. Ideen für neue Hypothesen und ausgefeilte Experi-
seiner Forschungsfahrt zurückgekehrt war, nahm die mente fallen nicht einfach vom Himmel, sie entstehen
Hypothese von der natürlichen Selektion Gestalt an. oft erst im Zuge der wissenschaftlichen Untersuchun-
Und noch später begannen dann auch andere Biologen gen und nach neuen Entdeckungen (dargestellt im obe-
damit, Fragen zur Evolution dieser und anderer Vogel- ren Kreis in Abbildung 1.23). 2. Das Überprüfen neuer
taxa zu stellen. Im Falle der Galapagos-Schildkröte (Geo- Hypothesen findet nicht in einem sozialen Vakuum
chelone nigra) bedauerte es Darwin, dass er nicht genau statt; die Diskussion der eigenen Forschungsergebnisse
dokumentiert hatte, auf welchen der Inseln er die einzel- mit anderen Wissenschaftlern und deren Rückmeldung
nen Unterarten gefunden hatte. Über Rückfragen, unter spielen eine wichtige Rolle (dargestellt im unteren
anderem beim Schiffskoch, versuchte er, die Herkunft rechten Kreis in Abbildung 1.23). Manchmal richten
im Nachhinein aufzuschlüsseln. Naturwissenschaftler ihre Forschungen auch völlig neu
Ein deutlich realistischeres Model wissenschaftlicher aus, wenn sie zu der Einsicht kommen, dass sie viel-
Vorgehensweise ist in Abbildung 1.23 dargestellt. Kern leicht die falsche Frage gestellt haben oder die verfüg-
der Überlegungen ist die Formulierung und Überprü- baren Methoden oder technischen Möglichkeiten nicht
fung einer Hypothese (dargestellt im zentralen Kreis in ausreichen, um der Lösung eines wissenschaftlichen
der Abbildung). Dies ist der wichtigste Aspekt wissen- Problems näherzukommen. 3. Darüber hinaus ist Wis-
schaftlichen Arbeitens und erklärt, warum die Naturwis- senschaft auch immer mit gesellschaftlichen Aspekten
senschaften so erfolgreich Phänomene unserer Welt verknüpft (dargestellt im unteren linken Kreis in Abbil-

Abbildung 1.23: Wie funktioniert Wissenschaft – D


EN UN ENTDE
ein realitätsnahes Modell. Tatsächlich verläuft wissen- CH CK
RS
schaftlicher Fortschritt nicht linear sondern beinhaltet O
EN
F

immer auch Wiederholungen, zurückkehren zu ursprüngli-


• Natur beobachten
chen Hypothesen und ein Zusammenspiel der unterschied- • Fragen stellen
lichen Herangehensweisen an eine Fragestellung. Die • Forschungsergebnisse und
Abbildung basiert auf einem gängigen Modell „Wie Ideen mit anderen teilen
• Ideen entwickeln
Wissenschaft funktioniert“ wie es auf der Web- • Wissenschaftliche Fachlite-
seite www.understandingscience.org vorge- ratur durchsuchen
stellt wird.

ELLEN UND
UFST
NA ÜB
ESE ER
PR
TH IDEEN TESTEN
PO

ÜF

• Hypothesen formulieren
EN
HY

• Ergebnisse vorhersagen
• Experimente durchführen
und/oder beobachten
• Messungen durchführen
FORSCHUNGSERGEBNISSE AUSWERTEN
Ergebnisse können ...
AFTLICHER SION
DURCH DIE
SCH NU • eine Hypothese stützen US WI
LL TZ SK
SS
EN
SE • eine Hypothese widerlegen DI
ND
GE

SC
EN

• zu einer veränderten oder


HA
EU

• Entwicklung neuer neuen Hypothese führen • Begutachtung und


FTS
LYS

Technologien • zu neuen Vermutungen Rückmeldung


GEM
DATENANA

• Soziale Aspekte führen


• Wiederholung von Experimenten
berücksichtigen • Diskussion von Forschungsergeb-
EINDE

• politische Entwicklungen nissen mit Kolleginnen und Kollegen


einbeziehen • Veröffentlichung von
Forschungsergebnissen
• Lösen alltäglicher Probleme
• Neugierde befriedigen • Neue Fragen und Ideen
• Wissen aufbauen formulieren
• Theorien aufstellen

25
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

dung 1.23). So ist z.B. der Klimawandel ein drängendes sity of North Carolina (USA) zusammen mit dem Stu-
gesellschaftliches Problem, welches viele Wissenschaft- denten William Harcombe daran, einfache, aber viel-
ler zu neuen Hypothesen und Studien anregt – mit dem versprechende Freilandversuche zu entwickeln, um die
Ziel, die Ursachen des Klimawandels verstehen zu ler- Hypothese der Bates’schen Mimikry experimentell zu
nen und Lösungen für die Gesellschaft aufzuzeigen. überprüfen.
Für jeden angehenden Naturwissenschaftler ist es Die Wissenschaftler untersuchten einen Fall der Mimi-
unerlässlich, sich im Laufe seiner Ausbildung – im bes- kry bei Schlangen, die in Nord- und Süd-Carolina im
ten Fall durch eigene Forschertätigkeit – mit der Leis- Südosten der USA vorkommen (Abbildung 1.24). Die
tungsfähigkeit und auch den Grenzen der wissenschaft- giftige Korallenschlange (Micrurus fulvius) zeigt eine
lichen Methoden vertraut zu machen. Dies geschieht auffällige Warnfärbung aus roten, gelben (oder wei-
schrittweise durch die zahlreichen Praktika, die Sie ßen) und schwarzen Querstreifen (Abbildung 1.24).
während Ihres Studiums absolvieren können. Es ist Räuberisch lebende Tierarten greifen diese Schlangen-
allerdings wichtig zu bemerken, dass Wissenschaft kei- art nur selten an. Es ist unwahrscheinlich, dass ein
nem stereotypen Handeln folgt, das sich sklavisch in Räuber dieses Meideverhalten durch Versuch und Irr-
ein starres Schema pressen lässt. Die Kriterien der Wis- tum lernen kann, da das erste akute Zusammentreffen
senschaftlichkeit sind jedoch klar definiert und werden mit einer Korallenschlange in der Regel tödlich endet.
bei der Bewertung von Forschungsleistungen in aller In Gebieten, in denen Korallenschlangen vorkommen,
Welt in gleicher Weise als Maßstab angelegt. Dies hat die natürliche Selektion offenbar zu einem Anstieg
geschieht zum Beispiel durch die Begutachtung von der Häufigkeit von räuberisch lebenden Tierarten
bei Fachzeitschriften eingereichten Manuskripten durch geführt, denen angeboren ist, das Farbmuster von Koral-
mehrere erfahrene Fachwissenschaftler, ebenso wie lenschlangen zu meiden (eine Hypothese, die selbst der
durch Wissenschaftsevaluationen an den Universitäten Überprüfung bedürfte!). Die ungiftige Dreiecksnatter
oder bei der Verleihung wissenschaftlicher Preise, wie (Lampropeltis triangulum) ahmt die Warntracht der
etwa dem Nobelpreis. Korallenschlangen nach.

die ungiftige Dreiecksnatter (Lampropeltis triangulum)


1.3.5 Fallstudie: Die Erforschung der Verbreitungsgebiet
Mimikry an Schlangenpopulationen der Dreiecksnatter
überlappende
Nachdem die Kriterien des naturwissenschaftlichen Verbreitungsgebiete
der Dreiecksnatter
Vorgehens vorgestellt wurden, soll im Folgenden ein und der Harlekin-
konkretes Fallbeispiel biologischer Freilandforschung Korallenschlange
vorgestellt werden, bei dem ein bestimmter naturwis-
senschaftlich-methodischer Ansatz zur Anwendung
kommt.
Das Beispiel geht von einer Serie empirischer Beob-
achtungen und allgemeiner Erkenntnisse aus: Viele gif- North
tige Tierarten sind auffallend gefärbt, vielfach mit einer Carolina
charakteristischen Musterung, die sich vom Hinter-
grund des Lebensraums deutlich abhebt. Dieses Phäno- South
Carolina
men wird als Warnfärbung (Warntracht) bezeichnet,
weil es potenziellen Fressfeinden eine „gefährliche
Art“ optisch zu erkennen gibt. Man kennt jedoch auch
Nachahmer, die völlig ungefährlich sind. Diese Nach-
ahmer sehen den giftigen Arten täuschend ähnlich,
sind aber tatsächlich harmlos. Man bezeichnet dieses
Phänomen als Mimikry, wobei neben der Gestalt und
Färbung oft auch das Verhalten nachgeahmt wird. Eine
sich aus dieser Beobachtung ableitende Frage ist: Was
ist die Funktion einer solchen Mimikry? Eine vernünf- die giftige Harlekin-
Korallenschlange
tig erscheinende Hypothese besagt, dass eine solche (Micrurus fulvius)
„Irreführung“ eine evolutive Anpassung darstellt: sie
vermindert für das harmlose Tier das Risiko, gefressen
zu werden, da räuberische Tierarten den Nachahmer Dreiecksnatter (ungiftig)
mit dem gefährlichen Vorbild verwechseln. Diese Abbildung 1.24: Das Verbreitungsgebiet einer Giftschlange und
Hypothese wurde erstmals von dem britischen Wissen- ihres (ungiftigen) Nachahmers. Die Dreiecksnatter (Lampropeltis tri-
schaftler Henry Bates im Jahr 1862 formuliert und wird angulum) ahmt die Warnfärbung der giftigen Korallenschlange (Micrurus
daher heute als Bates’sche Mimikry bezeichnet. fulvius) nach.
So einleuchtend diese Hypothese auch sein mag, so
schwierig ist es, sie im Experiment – insbesondere in Beide Schlangenarten kommen in den Carolina-Staaten
Freilandversuchen – zu überprüfen. Im Jahr 2001 gingen vor. Die Dreiecksnatter findet sich aber auch in Gebieten,
die Biologen David und Karin Pfennig von der Univer- in denen Korallenschlangen nicht auftreten (Abbildung

26
1.3 Naturwissenschaftler verwenden unterschiedliche Methoden

1.24). Die unterschiedlichen Verbreitungsgebiete der bei- giftigen Korallenschlangen lagen. Die Abbildung 1.26
den Schlangenarten ermöglichen die Überprüfung einer fasst die Ergebnisse dieser Freilandversuche zusammen.
entscheidenden Annahme der Mimikry-Hypothese. Das
Meiden von Schlangen mit einer Warnfärbung ist eine
Anpassung, die man nur dann erwartet, wenn sich Räu- 1.3.6 Die Planung von Kontrollexperimenten
berpopulationen daran genetisch in Gebieten adaptiert
haben, in denen die giftigen Korallenschlangen auch tat- Das Experiment zur Mimikry bei Schlangen ist ein Bei-
sächlich vorkommen. Die Mimikry sollte daher die Drei- spiel für ein Experiment mit Kontrollen. Solche Experi-
ecksnattern vor Räubern schützen, aber nur dort, wo mente sind so ausgelegt, dass der Ausgang des Versuchs
gleichzeitig auch Korallenschlangen vorkommen. Die bei einer Versuchsgruppe (in diesem Fall den künst-
Mimikry-Hypothese sagt voraus, dass räuberische Tierar- lichen Korallenschlangen) mit dem bei einer Kontroll-
ten, die sich an die Warnfärbung der Korallenschlangen gruppe (in diesem Fall den braunen Kunstschlangen)
angepasst haben, Dreiecksnattern weniger häufig angrei- verglichen werden kann. Im günstigsten Fall unterschei-
fen werden als solche, die in Gebieten ohne Korallen- det sich die Kontrollgruppe beziehungsweise der Kon-
schlangen leben. trollansatz bei Laborversuchen nur in einem Faktor
Um die Mimikry-Hypothese zu überprüfen, stellte Har- (einer Variablen) vom Testansatz (in unserem verhaltens-
combe aus Draht und Plastilin Hunderte von künstlichen ökologischen Beispiel die Färbung des Schlangenkör-
Schlangen her. Er fertigte zwei Typen von Kunstschlan- pers). Ohne die Einbeziehung einer Kontrollgruppe
gen an, eine Gruppe mit rot-schwarz-weißer Ringelung („Nullprobe“) hätten die Wissenschaftler andere Fakto-
und eine Kontrollgruppe aus gleich vielen Exemplaren ren nicht ausschließen können, die eventuell für die
von einheitlich brauner Farbe (Abbildung 1.25). häufigeren Attacken auf die künstlichen Korallenschlan-
gen verantwortlich sein könnten. So könnte etwa eine
unterschiedliche Anzahl von Räubern oder eine andere
Umgebungstemperatur in den miteinander verglichenen
Testgebieten ebenfalls eine Rolle spielen. Der gewählte
Versuchsaufbau hat jedoch nur die unterschiedliche
Färbung als einzigen Faktor variiert, der die geringere
Angriffshäufigkeit auf die künstlichen Korallenschlan-
gen erklärt. Es war nicht die absolute Anzahl von Atta-
cken auf die künstlichen Korallenschlangen, die den
Ausschlag gab, sondern die Differenz zwischen der
Anzahl der Angriffe auf die Korallenschlangen-Attrap-
pen und der Anzahl der Angriffe auf die braunen Kunst-
schlangen.
Ein verbreitetes Missverständnis besteht darin, dass
bei einem unter kontrollierten Bedingungen durchge-
führten Experiment das experimentelle Umfeld bis auf
eine einzige der Überprüfung unterliegende Variable
konstant gehalten wird. Dies ist zwar wünschenswert,
in der Regel bei Freilandversuchen aber nicht möglich
und auch bei Laborversuchen nicht immer zu realisie-
Abbildung 1.25: In Freilandversuchen wurde die Mimikry-Hypo- ren. In bestimmten naturwissenschaftlichen Disziplinen
these mit Schlangenattrappen überprüft. Beißmale eines Bären an und Fragestellungen ist ein solches Vorgehen jedoch
einer braunen Kunstschlange (Bild b). durchführbar; daher wird häufig zwischen „harter“
(stringenter) und „weicher“ wissenschaftlicher Analyse,
Die Wissenschaftler setzten eine gleiche Anzahl der beziehungsweise „harten“ und „weichen“ Ergebnissen
beiden Typen von Schlangenattrappen an ausgewähl- unterschieden. Da unbeabsichtigte Schwankungen oder
ten Stellen in den Carolina-Staaten aus – einschließ- falsche Ergebnisse prinzipiell nicht auszuschließen
lich dort, wo es keine Korallenschlangen gibt. Nach sind, müssen immer mehrere Experimente durchgeführt
vier Wochen sammelten die Wissenschaftler die und ein statistischer Mittelwert errechnet werden. Es ist
Schlangenattrappen wieder ein und zählten anhand wichtig anzumerken, dass in jedes wissenschaftliche
vorhandener Biss- und Kratzspuren aus, wie viele von Experiment mit einem hohen Aussagewert geeignete
ihnen attackiert worden waren. Die häufigsten Räuber Kontrollansätze mit einbezogen werden müssen. Fehlen
waren Füchse (Vulpes vulpes), Kojoten (Canis latrans) solche Kontrollen, sind die Versuchsergebnisse meist
und Waschbären (Procyon lotor), aber auch Schwarz- wertlos und werden von Fachkollegen – zum Beispiel
bären (Ursus americanus, Abbildung 1.25b). nach Einreichung bei einer anspruchsvollen Fachzeit-
Die Ergebnisse stimmten mit der Mimikry-Hypothese schrift – in der Regel abgelehnt. Kontrollansätze sind
überein. Im Vergleich zu den braunen Schlangenattrap- daher von entscheidender Bedeutung für die Bewertung
pen (Kontrollgruppe) wurden die quergestreiften Exem- von Forschungsergebnissen. Es ist also ganz und gar
plare nur an solchen Stellen in geringerer Anzahl von verfehlt, „Kontrollen“ für etwas Nebensächliches oder
den Räubern angegriffen, die im Verbreitungsgebiet der Unwichtiges zu halten!

27
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

 Abbildung 1.26: Aus der Forschung

Schützt die Anwesenheit giftiger Ergebnis An Stellen, an denen Korallenschlangen


Korallenschlangen die sie imitierende vorkamen, überwogen die Attacken auf die braunen
Dreiecksnatter vor räuberischen Tierarten? Kunstschlangen diejenigen auf die wie die Korallen-
schlangen gefärbten Attrappen. Wo Korallenschlan-
Experiment David Pfennig und seine Kollegen stell- gen nicht vorkamen, richteten sich die meisten
ten Kunstschlangen her, um eine Voraussage der Angriffe auf die künstlichen Dreiecksnattern.
Mimikry-Hypothese zu prüfen, die besagt, dass die
100 künstliche
Dreiecksnattern aus der Nachahmung der Warnfär-

auf die künstlichen Schlangen


„Dreiecks-
bung der giftigen Korallenschlange nur in solchen 83% 84% nattern“

prozentuale Angriffe
Gebieten profitieren, in denen auch Korallenschlan- 80 braune
gen vorkommen. Die Forscher setzten eine gleiche Kunst-
Anzahl von künstlichen Dreiecksnattern (Versuchs- 60 schlangen
gruppe) und braunen Kunstschlangen (Kontroll-
gruppe) an 14 Stellen im Freiland aus; die Hälfte in 40
einem Gebiet, in dem beide Schlangenarten vorkom-
men, die andere Hälfte in einem Gebiet, in dem es 20 17% 16%
keine Korallenschlangen gibt. Die Wissenschaftler
sammelten die Kunstschlangen nach vier Wochen
0
wieder ein und tabellierten Zahn- und Klauenabdrü-
cke, die an den Attrappen zu sehen waren. Korallenschlangen Korallenschlangen
fehlen vorhanden

Schlussfolgerung Die Freilandforschungen untermauern die Mimikry-Hypothese, da sie die Hypothese, dass
die Nachahmung der Korallenschlange nur dort wirkungsvoll ist, wo auch Korallenschlangen vorkommen,
nicht falsifiziert. Das beschriebene Experiment war auch dafür geeignet, eine weitere Hypothese zu überprü-
fen. Diese besagte, dass Räuber generell alle Schlangen meiden, die eine auffallende, farbige Musterung ihres
Körpers aufweisen. Diese Hypothese konnte durch die ermittelten Daten falsifiziert werden, weil diese zeigen,
dass die farbige Ringelung bei der Abschreckung von Raubfeinden dort versagte, wo Korallenschlangen nicht
vorkommen. Die imitierten Dreiecksnattern waren in solchen Gebieten wahrscheinlich deshalb öfter den
Attacken von Räubern ausgesetzt, weil ihre Warntracht optisch weithin sichtbar und wesentlich auffälliger ist
als die braunen Schlangenattrappen.

Quelle: D. Pfennig et al., Frequency-dependent Batesian mimicry, Nature 410:323 (2001).

WAS WÄRE, WENN? Welche Versuchsergebnisse würden Sie voraussagen, wenn die Räuber in den Carolina-
Staaten der USA alle Schlangenarten mit auffälligen Farbmustern meiden würden?

1.3.7 Wissenschaftstheorien Eine einzelne Theorie kann zahlreiche neue Hypothe-


sen hervorbringen. So wurden Peter und Rosemary
Umgangssprachlich verwenden wir den Begriff Theorie Grant, Forscher an der Princeton Universität, durch
oft im Sinne spekulativer Aussagen: „Das ist nur Theo- Darwins Theorie der natürlichen Selektion dazu ermu-
rie!“. In den Naturwissenschaften kommt dem Begriff tigt, eine neue Hypothese zur Evolution der Schnabel-
Theorie eine ganz andere Bedeutung zu. Was genau form der Darwinfinken aufzustellen. Diese Hypothese
verstehen Wissenschaftler unter einer Theorie und besagt, dass die Schnabelform eine Anpassung an die
was unterscheidet eine Theorie von einer Hypothese auf den einzelnen Inseln des Galapagos-Archipels vor-
oder einer reinen Spekulation? herrschenden Nahrungsbedingungen darstellt. Die For-
Zunächst einmal umfasst eine Theorie ein weitaus schungsergebnisse, die diese Hypothese unterstützen,
breiteres Spektrum an Aspekten als eine Hypothese. sind in Kapitel 23 näher beschrieben.
„Eine an die Umgebung angepasste Fellfarbe schützt Verglichen mit einer Hypothese wird eine Theorie
Mäuse vor Fressfeinden“ ist eine Hypothese. Aber dies von einer großen Vielzahl von Belegen gestützt. So wird
ist eine Theorie: „Evolutionäre Anpassungen entstehen etwa die Theorie der natürlichen Selektion durch eine
durch natürliche Selektion“. Die Theorie besagt, dass nahezu täglich wachsende Zahl von wissenschaftlichen
die natürliche Selektion einen generellen Mechanis- Untersuchungen und deren Ergebnissen bestätigt. Dem-
mus der Evolution darstellt und für die enorme Vielfalt gegenüber gibt es keinerlei Experimente oder Beobach-
all jener Anpassungen verantwortlich ist, die wir in der tungen (wissenschaftliche Befunde), die diese Theorie
Natur vorfinden. Die Fellfarbe der Maus ist nur ein ein- widerlegen könnten. Ähnlich bedeutsame Theorien
zelnes Beispiel. sind z.B. die Gravitationstheorie und die Theorie, dass

28
1.4 Wissenschaftskultur

die Erde um die Sonne kreist. Alle in den Wissenschaf- Kommunikationsfähigkeit. Forschungsergebnisse haben
ten weithin anerkannten Theorien erklären ein breites keinerlei Einfluss, bevor sie nicht in der Gemeinschaft
Spektrum von Beobachtungen und werden durch zahl- der Fachwissenschaftler bekannt gegeben wurden und
reiche Beweise unterstützt. Jede Theorie wird darüber dort Gehör fanden (durch Veröffentlichungen in Fach-
hinaus durch die Überprüfung einzelner Hypothesen, zeitschriften und Fachbüchern – heute oft ausschließ-
die sich aus dieser Theorie entwickelt haben, immer lich „online“ – oder durch Vorträge auf Tagungen und
wieder auf den Prüfstand gestellt. im Internet).
Tatsächlich müssen Wissenschaftler auch oft ihre
Hypothesen oder Theorien verändern oder gar verwer-
fen. Dies geschieht immer dann, wenn durch neue For-
schungsansätze Ergebnisse erzielt werden, die der Hypo- 1.4.1 Auf den Erkenntnissen anderer
these widersprechen oder nicht durch sie erklärt werden Wissenschaftler und Vorgänger
können. Beispielsweise konnte aufgrund neuer zell- und aufbauen
molekularbiologischer Befunde die Theorie, dass Bakte-
rien und Archaea gemeinsam das Reich der Prokaryon- Dem berühmten Wissenschaftler Isaac Newton wer-
ten bilden, nicht aufrechterhalten werden. Erst durch die den folgende Aussprüche zugeordnet: „Die Welt zu
Anwendung neuester Analysemethoden konnten einige erklären ist eine zu schwierige Aufgabe für einen ein-
der bislang gültigen Hypothesen zu Verwandtschaftsbe- zelnen Menschen oder sogar für eine ganze Genera-
ziehungen zwischen Organismen geprüft und überarbei- tion“, „Es ist deshalb besser, Weniges gewissenhaft zu
tet werden. Die wissenschaftliche Wirklichkeit steht fort- tun und den Rest denjenigen zu überlassen, die nach
während auf dem Prüfstand, denn grundsätzlich gilt, uns kommen“. Jeder junge Wissenschaftler, begierig
dass Beobachtungen und Experimente reproduzierbar Neues zu entdecken, kann auf eine großartige Band-
und Hypothesen überprüfbar und falsifizierbar sein breite von Erkenntnissen zurückgreifen, die von zahl-
müssen. losen Vorgängerinnen und Vorgängern zusammenge-
tragen wurden. So profitierten die Experimente von
David und Karin Pfennig (Abbildung 1.26) von den in
 Wiederholungsfragen 1.3 den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlichten
Arbeiten eines anderen Forschers, D. W. Kaufmann. In
1. Stellen Sie die wissenschaftlichen Methoden der Wissenschaftlichen Übung lernen Sie die Experi-
der Induktion denen der Deduktion gegenüber. mente von Kaufmann genauer kennen.
2. Warum spricht man im Zusammenhang mit Einzelbeobachtungen können interessant sein, stel-
dem Konzept der natürlichen Selektion von len aber keine „Beweise“ im Sinn einer wissenschaft-
der „Theorie der natürlichen Selektion“? lichen Methode dar. Bei einer wissenschaftlichen
Auswertung müssen sie verworfen werden. In der Wis-
3. WAS WÄRE, WENN? Nehmen Sie an, Sie dehn- senschaft sind die durch Beobachtungen oder Experi-
ten das Experiment zur Schlangenmimikry in mente gewonnenen Ergebnisse nur dann verwertbar,
ein Gebiet des US-Staates Virginia aus, in dem wenn sie auch reproduzierbar sind. Eine Schwierig-
keine der beiden im Experiment geprüften keit besteht darin, dafür immer eine überprüfbare und
Schlangenarten vorkommt. Welche Ergeb- somit potenziell falsifizierbare Hypothese zu formu-
nisse würden Sie für Ihren Freilandversuch lieren. Ein professioneller Wissenschaftsbetrieb ist
vorhersagen? gleichermaßen durch Kooperation sowie durch Kon-
kurrenz im positiven Sinne gekennzeichnet. Wissen-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. schaftler, die auf dem gleichen Feld arbeiten, überprü-
fen oft die Hypothesen ihrer Kollegen (oder nutzen
diese als Grundlage eigener Arbeiten). Sie wieder-
holen Versuche direkt oder nutzen ähnliche Ansätze,
Wissenschaftskultur
1.4 zum Beispiel mit neuen Methoden. Wenn sich meh-
rere Wissenschaftler der gleichen oder einer sehr ähn-
lichen Fragestellung zuwenden, nimmt dies häufig
Filme und Witzblätter porträtieren Wissenschaftler oft den Charakter eines Wettlaufs an. Genau wie im Sport
als verschrobene Einzelgänger, die allein in einem oder in einem politischen Wahlkampf gibt es auch bei
Laboratorium arbeiten. In der Realität ist Wissenschaft der Konkurrenz in der Forschung – insbesondere der
eine Tätigkeit, die in einem engen sozialen Umfeld sogenannten „Spitzenforschung“ – nur einen oder
stattfindet. Die meisten in der Forschung tätigen Wis- wenige „Gewinner“. Viele der ebenfalls Angetretenen
senschaftler sind Mitglieder einer mehr oder weniger verlieren bei der Lösung eines bestimmten Problems
großen Gruppe, der oft Personen angehören, die sich in und bleiben „auf der Strecke“. Genau wie ein Renn-
verschiedenen Etappen ihrer Ausbildung oder beruf- fahrer genießt es auch ein Wissenschaftler, mit einer
lichen Spezialisierung befinden (Studenten, Doktoran- Entdeckung oder einem wichtigen Experiment „Ers-
den, festangestellte Wissenschaftler, Dozenten, techni- ter“ zu sein, weil damit oft ein beruflicher Aufstieg,
sche Assistenten). Einer von vielen Faktoren, die zum mehr Forschungsgelder oder wissenschaftliche Preise
Erfolg in der Forschung beitragen, ist eine ausgeprägte verbunden sind.

29
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

 Wissenschaftliche Übung

Interpretation von Balkendiagrammen hängige Variable. Was sind die unabhängigen


Wie beeinflusst die Fell- Variablen, d.h. die Variablen, die von den
farbe der Maus den Forschern getestet wurden? Auf welcher Achse
Jagderfolg von Eulen im Diagramm finden Sie diese unabhängigen
mit und ohne Mond- Variablen? (b) Was ist die abhängige Variable in
licht? D. W. Kaufman diesem Diagramm, also die „Antwort“ auf die
untersuchte den Einfluss Variablen, die getestet wurden? Welche Achse
einer Tarnfärbung von des Diagramms zeigt die abhängige Variable?
Mäusen auf den Jagder-
folg von Eulen. Kaufman 2. (a) Wie viele Mäuse mit dunkelbraunem Fell
überprüfte experimentell wurden bei Mondlicht und heller Umgebungs-
seine Hypothese, nach farbe (heller Boden) von der Eule erbeutet? (b)
der der Kontrast zwischen Fellfarbe und Umge- Wie viele Mäuse mit dunkelbraunem Fell wur-
bung einen unmittelbaren Einfluss auf den nächt- den bei Mondlicht und dunkler Umgebungs-
lichen Jagderfolg hat. In dieser Übung sollen Sie farbe (dunkler Boden) von der Eule erbeutet?
seine Ergebnisse analysieren. (c) Würde eine Maus mit dunkelbraunem Fell
Durchführung des Experiments Jeweils zwei der Eule bei Mondlicht eher auf hellem oder
Mäuse (Peromyscus polionotus) mit unterschied- dunklem Boden entkommen? Begründen Sie
lichen Fellfarben, hellbraun und dunkelbraun, wur- Ihre Antwort.
den gleichzeitig in ein Fluggehege mit einer hungri-
gen Eule gesetzt. Forscher notierten die Fellfarbe 3. (a) Würde eine Maus mit dunkelbraunem Fell
der Maus, die zuerst von der Eule erbeutet wurde. auf dunkler Umgebungsfarbe (dunkler Boden)
Fing die Eule innerhalb von 15 Minuten keine der eher bei Neu- oder bei Vollmond entkommen?
beiden Mäuse, wurde das Experiment mit „Null“ (b) Und eine Maus mit hellbraunem Fell auf
bewertet. Das Experiment wurde oft wiederholt. hellem Boden? Begründen Sie Ihre Antwor-
Darüber hinaus veränderten die Forscher die Umge- ten.
bungsfarbe (der Boden des Geheges war entweder
hell oder dunkel) und die Lichtsituation (Simula- 4. (a) Unter welchen Bedingungen würde eine
tion von Mondlicht). Maus mit dunklem Fell am ehesten der nächt-
lichen Jagd einer Eule entkommen? (b) Und
Experimentelle Daten eine Maus mit hellbraunem Fell?

40
5. (a) Welche Kombination unabhängiger Variab-
helles Fell 40 helles Fell
len führt zum besten Jagderfolg der Eule bei
Anzahl gefangener Mäuse

Anzahl gefangener Mäuse

35 dunkles Fell 35 dunkles Fell


hellem Boden? (b) Welche Kombination unab-
30 30
hängiger Variablen führt zum besten Jagd-
25 25 erfolg der Eule bei dunklem Boden? (c) Wel-
20 20 chen Zusammenhang, wenn überhaupt, sehen
15 15 Sie zwischen Ihren Antworten auf die Fragen
10 10 (a) und (b)?
5 5
6. Welche Umgebungsbedingungen sind sowohl
0 0
Vollmond Neumond Vollmond Neumond für Mäuse mit hellem als auch mit dunklem
A: helle Umgebungsfarbe B: dunkle Umgebungsfarbe Fell am gefährlichsten?

7. Kombinieren Sie die Daten aus beiden Dia-


Datenauswertung grammen und bestimmen Sie jeweils die
Gesamtzahl der erbeuteten Mäuse mit und
1. Zunächst ist es wichtig, den Aufbau der Grafi- ohne Mondlicht. Was sind die optimalen Jagd-
ken zu verstehen. Abbildung A zeigt die Er- bedingungen für Eulen? Begründen Sie Ihre
gebnisse, die bei einem hellen Boden erzielt Antwort.
wurde, Abbildung B die Ergebnisse bei dun-
kelfarbigem Boden – ansonsten sind die bei- Daten aus: D. W. Kaufman, Adaptive coloration in Peromyscus polio-
den Abbildungen gleich aufgebaut. (a) In den notus: Experimental selection by owls, Journal of Mammalogy
Diagrammen finden Sie mehr als eine unab- 55:271–283 (1974).

30
1.4 Wissenschaftskultur

Kooperation, aber auch Konkurrenz, ergeben sich vor über einem halben Jahrhundert ein entscheiden-
auch, wenn Wissenschaftler mit den gleichen Organis- der Baustein für die Entwicklung der Gentechnologie,
men arbeiten. In der Forschung werden viele Unter- mit deren Einsatz sich viele Ansätze in der Medizin,
suchungen an (einigen wenigen) Modellorganismen der Landwirtschaft und der Kriminalistik grundlegend
durchgeführt, die stellvertretend für eine ganze Gruppe verändert haben. Möglicherweise haben die beiden
stehen, wie etwa die winzigen Fliegen der Gattung Dro- Wissenschaftler James Watson und Francis Crick, als
sophila (Taufliegen) in der Entwicklungs- und Ver- sie die Molekülstruktur der DNA aufklärten, voraus-
erbungsforschung. Untersuchungen an Drosophila gesehen, dass ihre Entdeckung eines Tages gewaltige
melanogaster haben zu zahlreichen neuen Einblicken Anwendungsmöglichkeiten eröffnen würde. Allerdings
in die Wirkungsweise von Genen, z.B. bei der Diffe- ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie den Umfang
renzierung von Körperabschnitten oder Organen, und das Ausmaß tatsächlich abschätzen konnten.
geführt. Viele dieser Erkenntnisse lassen sich auch auf Die Richtung des technischen Fortschritts wird weni-
andere Organismen und z.T. auch auf den Menschen ger vom Wissensdurst bestimmt, der die Grundlagen-
übertragen. Andere wichtige Modellorganismen sind forschung antreibt, sondern hängt eher von den aktu-
z.B. die Acker-Schmalwand Arabidopsis thaliana, der ellen menschlichen Bedürfnissen und Wünschen ab,
Fadenwurm Caenorhabditis elegans, der Zebrafisch sowie von den praktischen Herausforderungen, denen
Danio rerio, die Hausmaus Mus musculus, die Bäcker- sie sich stellen müssen. Auch das jeweilige soziale
hefe Saccharomyces cerevisiae und das Bakterium Umfeld spielt dabei eine Rolle. Debatten um techni-
Escherichia coli. Viele der Beiträge in diesem Buch sche Entwicklungen drehen sich mehr um das „Sollte
gehen auf Untersuchungen und Beobachtungen an man das tun?“ als um „Ist es möglich, das zu tun?“ Der
diesen oder anderen Modellorganismen zurück. technische Fortschritt erfordert oft schwierige und
verantwortungsvolle Entscheidungen. Unter welchen
Umständen ist es erlaubt, die DNA-Analysetechnik
einzusetzen, um herauszufinden, ob ein bestimmter
1.4.2 Naturwissenschaft, Technik und Mensch genetische Anlagen für bestimmte Erbkrank-
Gesellschaft heiten in sich trägt? Sollten solche Tests grundsätzlich
freiwillig sein oder gibt es Umstände, unter denen sie
Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Gesellschaft verpflichtend sein sollten? Sollten Versicherungskon-
wird deutlicher, wenn man die Technik mit in das zerne oder Arbeitgeber Zugang zu solchen Informatio-
Bild einbezieht. Obgleich Wissenschaft und Technik nen haben, wie es bereits für viele andere Arten von
sich vielfach auf die gleichen oder zumindest ähnli- gesundheitsrelevanten Daten der Fall ist?
che grundlegende Methoden stützen, unterscheiden Derartige ethische Fragen haben ebenso viel mit
sie sich in ihren Zielsetzungen. Das Ziel der Wissen- Politik, Ökonomie und kulturellen Wertvorstellungen
schaft ist ein Verständnis von Naturphänomenen. Im zu tun, wie mit Wissenschaft und Technologie. Alle
Gegensatz dazu zielt die Technik auf eine Anwendung Bürger eines Landes – nicht nur die Wissenschaftler –
dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnisse für einen haben die Pflicht, sich darüber zu informieren, nach
speziellen – meistens kommerziellen – Zweck. Man welchen Grundsätzen die Wissenschaft arbeitet und
spricht daher auch von „reiner Wissenschaft“ (erkennt- worin der potenzielle Nutzen und die Risiken neuer
nisorientierte Wissenschaft ohne konkrete Anwen- Technologien bestehen. Dies ist infolge der rasanten
dungsabsicht, Grundlagenforschung) und von „an- Geschwindigkeit des technischen Fortschritts und der
gewandter Wissenschaft“ (= Technologieforschung, Komplexität der zugrunde liegenden Prinzipien oft
Ingenieurwissenschaften, Forst- und Agrarwissenschaf- nicht einfach! Die Beziehung zwischen Wissenschaft,
ten, Umweltwissenschaften und andere Disziplinen). Technik und Gesellschaft steigert so die Bedeutung
Biologen und Wissenschaftler anderer Disziplinen und den Wert eines Biologiestudiums.
sprechen im Rahmen ihrer Arbeit oftmals von „Entde-
ckungen“, Ingenieure dagegen von „Erfindungen“ oder
„Entwicklungen“. Zu den Nutznießern solcher Erfin- 1.4.3 Die Bedeutung unterschiedlicher
dungen und Entwicklungen gehören auch die Wissen- Standpunkte in der Wissenschaft
schaftler, die neue Technologien bei ihrer Forschungs-
arbeit einsetzen. Der Einfluss der Informations- und Viele der für die menschliche Gesellschaft besonders
Computertechnik auf die Systembiologie ist hier nur bedeutsamen Entdeckungen und Erfindungen hatten
ein Beispiel. Wissenschaft und Technik sind daher eng ihren Ursprung an Orten entlang der großen Handels-
verzahnt und wechselseitig voneinander abhängig. routen, dort wo viele unterschiedliche Kulturen auf-
Technische Fortschritte ermöglichen neue Erkenntnisse, einandertrafen und zu neuen Ideen führten. So wurde
während neue Erkenntnisse oft zu neuartigen techni- z.B. die Kunst des Buchdrucks in Deutschland um
schen Entwicklungen führen und letztlich wieder zu 1440 von Johannes Gutenberg entwickelt. Sein Buch-
neuen Herausforderungen. druckverfahren gründete sich auf alte chinesische Erfin-
Eine effiziente Verzahnung von Wissenschaft und dungen, u.a. die Tinte und das Papier. Papier gelangte
Technik hat erhebliche gesellschaftliche Auswirkun- über Handelsrouten von China nach Bagdad, wo seine
gen. So war die Entdeckung der DNA als Erbmaterial Massenherstellung gelang. Letztlich erreichte das Wis-
und die Aufklärung der Struktur von DNA-Molekülen sen um die Papierherstellung und auch eine auf Was-

31
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

serbasis hergestellte Tinte Mitteleuropa. Gutenberg neue Studenten in der Biologie willkommen und wün-
entwickelte hieraus seine für den Buchdruck verwen- schen Ihnen viel Spaß und Erfolg in diesem aufregen-
dete ölbasierte Drucktinte. Einflüsse unterschiedlicher den Zweig der Naturwissenschaften.
Kulturen führten nicht nur zur Erfindung des Buch-
drucks, sondern auch zu zahlreichen anderen wichti-
gen Entdeckungen mit erheblichen gesellschaftlichen  Wiederholungsfragen 1.4
Konsequenzen.
Die Gemeinschaft der Biologen ist Teil der Gesell- 1. Wie unterscheidet sich Wissenschaft von Tech-
schaft im Allgemeinen und damit in das kulturelle nik?
Milieu ihrer Zeit eingebettet. So hatten Frauen in der
Vergangenheit oft Benachteiligungen und andere 2. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Sichelzellanämie
Schwierigkeiten hinzunehmen, wenn sie eine wissen- wird durch eine Genmutation hervorgerufen,
schaftliche Karriere anstrebten. In den Industrienatio- die weitaus häufiger bei den Bewohnern von
nen hat in den letzten Jahrzehnten eine Veränderung südlich der Sahara gelegenen Regionen auf-
der Rolle der Frau zu einer drastischen Erhöhung des tritt als z.B. bei Amerikanern mit afrikani-
Frauenanteils in der Biologie (einschließlich der höher- schen Wurzeln in ihrer Familie. Merkmalsträ-
rangigen Positionen) geführt. Auch finanzielle, kultu- ger, die die Mutation nur von einem Elternteil
relle oder religiöse Aspekte können dazu führen, dass geerbt haben, erkranken weniger häufig an
bestimmte Minoritäten kaum oder keinen Zugang zum Malaria, einer Krankheit, die in den Staaten
universitären Ausbildungssystem erhalten. Dies führt südlich der Sahara weit verbreitet ist. Gibt es
letztendlich zu einer verengten Sichtweise bei der Bear- evolutionsbiologische Prozesse, die die unter-
beitung wissenschaftlicher Fragestellungen, da innova- schiedliche Häufigkeit des Sichelzellenanä-
tive Ansätze oft z.B. auf den diversen kulturellen Hin- mie-Gens in den verschiedenen Populationen
tergründen der beteiligten Forscher beruhen. Je mehr erklären könnten?
Stimmen gehört werden, umso robuster, wertvoller und
produktiver wird der wissenschaftliche Austausch sein. Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Die Autoren und Bearbeiter dieses Buchs heißen alle

  ZUSAMM ENFASSUNG KAPITE L 1  

Konzept 1.1  Zellen sind die strukturellen und


Theorien und Konzepte verbinden die Disziplinen funktionellen Basiseinheiten des
der Biologie Lebens. Die Zelle ist die unterste
Ebene, auf der alle biologischen
 Auf jeder Ebene der biologischen Aktivitäten ablaufen können, die
Hierarchie treten für sie typische notwendig sind, um einen Orga-
emergente Eigenschaften auf. Die nismus am Leben zu erhalten.
Hierarchie des Lebens stellt sich Eine Zelle ist entweder vom prokaryontischen oder
wie folgt dar: Biosphäre > Öko- vom eukaryontischen Typ. Eukaryontische Zellen
system > Lebensgemeinschaft > enthalten Organellen, die von einer Membran umge-
Population > Individuum > ben sind, zum Beispiel den Zellkern, der die Haupt-
Organsystem > Organ > Gewebe > masse des Erbguts (DNA) enthält. Prokaryontischen
Zelle > Organell > Molekülverband > Molekül > Zellen fehlen derartige, von einer Membran begrenzte
Atom. Vom Atom ausgehend, treten auf jeder höhe- Organellen.
ren Hierarchieebene neue, spezifische emergente  Die Kontinuität des Lebens
Eigenschaften in Erscheinung, die sich aus Wech- beruht auf vererbbarer Informa-
selwirkungen zwischen den Komponenten dieser tion in Form der DNA. Gene-
bestimmten Ebene ableiten. Sie unterscheiden sich tische Information (Erbinforma-
von denen der nächstniedrigeren und nächsthöhe- tion) ist in den Nucleotidsequen-
ren Ebene. Bei einem reduktionistischen Ansatz zen von DNA-Molekülen codiert
wird ein komplexes System in seine einfacheren niedergelegt. Es ist die DNA,
und leichter zu untersuchenden Bestandteile zer- die als Erbinformation von den
legt. In der Systembiologie erstellt der Wissen- Eltern auf ihre Nachkommen
schaftler Modelle komplexer biologischer Systeme. übertragen wird. DNA-Nucleo-
tidsequenzen steuern die Pro-
teinproduktion einer Zelle durch

32
Zusammenfassung

Transkription in Ribonucleinsäuren (RNA), die dann Konzept 1.2


in Polypeptidsequenzen übersetzt (translatiert) wer- Einheitlichkeit und Vielfalt der Organismen sind das
den. Diverse RNA-Typen, die nicht in Proteine Ergebnis der Evolution
übersetzt werden, üben weitere wichtige Funktio-
nen in der Zelle aus.  Ordnung in die Vielfalt der Lebewesen bringen. Bio-
 Die Organismen ste- ENERGIEFLUSS logen ordnen definierte Arten in ein hierarchisches
hen mit ihrer Um- ISLAUF
System mit immer weiter aufgefächerten Organis-
KRE
welt in Wechselwir- mengruppen. Die Domänen Bacteria und Archaea
kung und tauschen bestehen aus Prokaryonten. Die Domäne Eukarya
dabei Materie und umfasst eine Reihe von Protisten sowie das Reich
Energie aus. Die Um- der Pflanzen (Plantae), das Reich der Tiere (Anima-
welt eines Individu- lia) und das Reich der Pilze (Mycota). So vielgestaltig
ums innerhalb eines das Leben erscheint, besteht doch eine bemerkens-
bestimmten Lebens- werte Einheitlichkeit, die sich in den Ähnlichkeiten
raums umfasst alle zwischen den verschiedenen Lebensformen offen-
anderen Organismen (biotische Umwelt) ebenso wie bart.
die unbelebte Umwelt (abiotische Umwelt). Wäh-  Charles Darwin und die Theorie der natürlichen
rend die chemischen Bestandteile (zum Beispiel die Selektion. Charles Darwin entwickelte das Konzept
Nährstoffe und Elemente) in einem Ökosystem über der natürlichen Selektion, die in einem lang andau-
Kreisläufe erhalten bleiben, geht ein steter Energie- ernden Prozess zu Veränderungen durch Anpassun-
fluss durch das System. Alle Organismen müssen gen (Evolution) und zur Entstehung aller Organis-
Arbeit verrichten; dazu ist Energie notwendig. Der mengruppen geführt hat.
Energiefluss geht in der Regel von der Sonne aus
und fließt durch die verschiedenen Trophiestufen Population
von den Primärproduzenten über die verschiede- von Individuen
nen Konsumentenebenen. Auf jeder dieser Ebenen
wird Wärmeenergie freigesetzt.
 Biologische Systeme werden über –
REIZ Überproduktion von
Rückkopplungen reguliert. Im Fall genetische Nachkommen und
einer negativen Rückkopplung Variabilität innerartliche
negative Rückkopplung

wird bei einem Zuviel eines pro- Konkurrenz


duzierten Stoffes die weitere Pro-
Umwelt-
duktion verlangsamt oder ganz
faktoren
gehemmt, um die Menge der vor-
handenen Substanz in einem be-
stimmten Gleichgewicht zu hal- Unterschiede im
ten. Im Fall einer positiven Fortpflanzungserfolg
Rückkopplung stimuliert ein End- zwischen den Individuen
produkt den Prozess seiner eige- ANTWORT

nen weiteren Herstellung bis zu


einem bestimmten Grenzwert, ab dem andere Regu-
Evolution von Anpassungen
lationsmechanismen greifen. Solche Rückkopplungs- in der Population
prozesse stellen Regulationsmechanismen dar, die
auf allen Ebenen der biologischen Hierarchie anzu-
treffen sind – von der biochemischen Ebene der  Der Stammbaum des Lebens. Jede Art steht am Ende
Moleküle bis zur Ebene von Ökosystemen. Sie sind eines Zweiges eines stark verzweigten Stammbaums,
aber auch in abiotischen technischen Systemen zu der in der Zeit zurückreicht und zu immer ursprüng-
finden. licheren Arten in der Frühzeit der Erdentwicklung
 Die Evolution ist der alles umspannende Bogen der führt. Alle Lebewesen auf der Erde sind durch eine
Biologie. Die Evolutionstheorie erklärt sowohl die lange evolutive Geschichte miteinander verbunden.
Einheitlichkeit als auch die Vielfalt des Lebens durch
die individuellen Unterschiede und die Anpassung ? Wie konnten die Fallschirm-gleichen Samen, wie sie in der ersten
der Lebewesen an ihre Umwelt. Abbildung dieses Kapitels gezeigt werden, durch natürliche Selektion ent-
stehen?
? Warum wird Evolution als das Kernthema der Biologie betrachtet?

33
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

Konzept 1.3 prüfbaren und damit auch widerlegbaren Hypothe-


Naturwissenschaftler verwenden unterschiedliche sen abhängig. Unvernünftige, weil unüberprüfbare
Methoden Hypothesen können zwar leicht aufgestellt werden,
sind jedoch ohne jeden erkenntnistheoretischen
 Die Biologie als empirische Naturwissenschaft. Bei (wissenschaftlichen) Wert.
einer empirischen Vorgehensweise beobachten und  Die Theorie in der Naturwissenschaft. Eine wis-
beschreiben Wissenschaftler Naturphänomene und senschaftliche Theorie ist ein breit angelegtes und
versuchen über experimentelle Ansätze auf Kausal- in der Regel sehr komplexes Erklärungsmodell für
zusammenhänge zu schließen. Dabei setzen sie in ein bestimmtes Naturphänomen. Sie erzeugt gleich-
der Regel die Methode der Induktion ein, um zu zeitig immer neue (überprüfbare) Hypothesen und
verallgemeinernden Schlüssen und zu Gesetzmä- wird von einer großen Zahl empirischer Beweise
ßigkeiten zu gelangen. gestützt. Sie steht im Einklang mit anderen akzep-
 Die Biologie als theoretische Naturwissenschaft. tierten Theorien und Hypothesen aller naturwis-
Auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse entwi- senschaftlichen Disziplinen.
ckeln die Naturwissenschaftler Hypothesen, die zu
Vorhersagen (Annahmen, abgeleiteten Prämissen) ? Nach welchen Regeln werden wissenschaftliche Daten gesammelt
führen, die dann experimentell überprüft werden und ausgewertet?
können. Sie versuchen herauszufinden, ob die Vor-
hersagen der Hypothese zutreffend sind. Bei der
Formulierung und Überprüfung von Hypothesen Konzept 1.4
kommt die Methode der Deduktion zum Einsatz: Wissenschaftskultur
Falls eine Hypothese nicht widerlegt (falsifiziert)
werden kann, und sie auch im Experiment überprüft  Modelle in der Naturwissenschaft. Modelle sind
wird, kann man einen bestimmten, von der Hypo- vereinfachte Darstellungen oder Analogien kompli-
these vorausgesagten Ausgang des Experiments zierter naturwissenschaftlicher Sachverhalte. Sie
annehmen. Wissenschaftliche Hypothesen müssen erleichtern die Analyse und machen wissenschaft-
überprüfbar und falsifizierbar sein. liche Zusammenhänge besser verständlich. Modelle
 Fallstudie: Die Erforschung der Mimikry an haben in der Regel einen hypothetischen Charakter
Schlangenpopulationen. Experimente müssen so und erlauben es auch, weitere Hypothesen zu for-
angelegt sein, dass der Einfluss oder die Wirkung mulieren.
einer einzelnen Variablen durch den Vergleich der  Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. In der
Versuchsgruppe mit einer oder mehreren Kontroll- Technik und in vielen Technologiebereichen kom-
gruppen nachgewiesen werden kann. Kontrollgruppe men wissenschaftliche Erkenntnisse zum Nutzen
und Versuchsgruppe sollten sich, soweit möglich, der Gesellschaft und der Menschheit zur Anwen-
nur in dieser einen veränderlichen Stellgröße unter- dung und wirken sich umgekehrt auf den wissen-
scheiden. schaftlichen Fortschritt aus.
 Grenzen der Naturwissenschaft. Grundsätzlich sind
mit wissenschaftlichen Methoden eine Vielzahl ? Begründen Sie, warum verschiedene experimentelle Ansätze und die
denkbarer Fragestellungen zu bearbeiten. Die Zusammensetzung eines Forscherteams aus Wissenschaftlern unterschied-
naturwissenschaftliche Beweisführung ist jedoch licher Fachdisziplinen für die Lösung einer wissenschaftlichen Frage hilf-
von vernünftigen, reproduzierbaren, jederzeit nach- reich sind.

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜBU NG S A UF G ABE N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis a. Gehirn, Organsystem, Nervenzelle, Nervenge-


webe
1. Alle Organismen in der Nähe ihres Universitäts- b. Organsystem, Nervengewebe, Gehirn
gebäudes bilden c. Organismus, Organsystem, Gewebe, Zelle, Organ
a. ein Ökosystem d. Nervensystem, Gehirn, Nervengewebe, Nerven-
b. eine Lebensgemeinschaft zelle
c. eine Population
d. eine taxonomische Einheit 3. Welche der folgenden Aussagen beruht auf keiner
Beobachtung oder Schlussfolgerung, die mit Dar-
2. Welche Begriffsfolge stellt eine korrekte Abfolge wins Theorie der natürlichen Selektion in Ein-
biologischer Hierarchieebenen dar, ausgehend von klang gebracht werden kann?
einem einzelnen Tier und in absteigender Folge?

34
Übungsaufgaben

a. Schlecht angepasste Individuen bringen nie- Ebene 2: Anwendung und Auswertung


mals Nachkommen hervor.
b. Zwischen Individuen gibt es erblich bedingte 8. Ein Experiment mit Kontrollgruppen ist dadurch
Unterschiede. charakterisiert, dass es
c. Aufgrund des Überschusses an Nachkommen a. langsam genug abläuft, um dem Wissenschaft-
kommt es zur Konkurrenz um begrenzte Res- ler eine präzise Aufzeichnung der Ergebnisse
sourcen. zu ermöglichen.
d. Eine Population kann sich an ihre Umwelt an- b. experimentelle und Kontrollansätze einbezieht,
passen. die parallel den Bedingungen des Experimentes
unterworfen werden.
4. Die Systembiologie beschäftigt sich im Wesent- c. oft wiederholt wird, um sicherzustellen, dass
lichen damit, die Ergebnisse korrekt sind.
a. die systemimmanenten Prozesse auf allen Ebe- d. alle Umweltvariablen konstant hält.
nen der biologischen Organisation von den Mo-
lekülen bis hin zur Biosphäre aufzuschlüsseln. 9. Welche der folgenden Aussagen ist am besten dazu
b. komplexe Systeme zu vereinfachen, indem sie geeignet, eine empirische Naturwissenschaft von
in kleinere, weniger komplexe Einheiten zer- einer theoretischen abzugrenzen?
legt werden. a. Theorien sind bewiesene Hypothesen.
c. Modelle vollständiger biologischer Systeme zu b. Hypothesen sind Spekulationen, Theorien sind
konstruieren. zutreffende Antworten.
d. eine „High-throughput“-Technologie für die c. Hypothesen sind für gewöhnlich eng begrenzt,
schnelle Verarbeitung biologisch relevanter Da- Theorien besitzen eine weiter reichende Erklä-
ten aufzubauen. rungskraft.
d. Theorien sind für alle denkbaren Fälle als zu-
5. Protisten und Bakterien werden unterschiedlichen treffend bewiesen. Hypothesen werden für ge-
Domänen zugeordnet, weil wöhnlich durch Überprüfung falsifiziert.
a. Protisten Bakterien fressen.
b. Bakterien nicht aus Zellen bestehen. 10. ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie in groben Umrissen
c. Protisten einen von einer Membran umgebe- verschiedene biologische Hierarchieebenen, die
nen Zellkern besitzen, der den Bakterien fehlt. der von Abbildung 1.3 ähnlich sind, aber ein Ko-
d. Protisten zur Photosynthese befähigt sind. rallenriff als Ökosystem, eine Fischart als Organis-
mus, den Magen als Organ und die DNA als Mole-
6. Welche der folgenden Aussagen beruht auf einer kültyp umfassen. Beziehen Sie dabei alle Ebenen
qualitativen Datenerhebung? der Hierarchie mit ein.
a. Eine Temperaturzunahme von 20 °C auf 25 °C.
b. Die Wuchshöhe einer Pflanze beträgt 25 cm.
c. Der Fischschwarm bewegt sich in einer Zick- Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
zackbewegung vorwärts.
d. Der Mageninhalt wird alle 20 Sekunden umge- 11. Verbindung zur Evolution Eine typische pro-
wälzt. karyontische Zelle enthält in ihrer DNA ungefähr
3.200 Gene – eine menschliche Zelle dagegen etwa
7. Welche der folgenden Aussagen beschreibt die 25.000. Ungefähr 1.000 dieser Gene finden sich in
Logik einer auf Hypothesen beruhenden Wissen- beiden Zelltypen. Versuchen Sie mit Ihrem erwor-
schaft? benen evolutionsbiologischen Wissen zu erklären,
a. Wenn ich eine überprüfbare Hypothese formu- warum diese beiden doch so verschiedenen Orga-
liere, werden Beobachtungen und Experimente nismen eine gemeinsame Gruppe von Genen ent-
diese stützen. halten. Welche Funktionen könnten diese gemein-
b. Wenn meine Vorhersage zutrifft, wird sie zu samen Gene erfüllen?
einer überprüfbaren Hypothese führen.
c. Wenn meine Hypothese zutrifft, kann ich erwar- 12. Wissenschaftliche Fragestellung Schlagen Sie auf
ten, dass sich bestimmte Versuchsergebnisse ein- der Grundlage der experimentellen Ergebnisse zur
stellen werden. Schlangenmimikry eine weitere Hypothese vor,
d. Wenn mein experimenteller Ansatz gut gewählt die dafür geeignet sein könnte, die Forschungen
ist, wird er zu einer überprüfbaren Hypothese zu dieser Fragestellung weiterzuführen.
führen.

35
1 Einführung: Evolution, Schlüsselthemen der Biologie, Forschung

13. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft Die


Früchte wilder Tomatenpflanzen sind im Vergleich
zu den riesigen Gemüsetomaten der heutigen Zeit
winzig. Dieser Unterschied in der Fruchtgröße geht
fast vollständig auf eine größere Anzahl von Zellen
in den Früchten der gezüchteten Tomatenpflanzen
zurück. Mit molekularbiologischen Methoden ar-
beitende Botaniker haben jüngst Gene gefunden,
die die Zellteilung von Tomatenpflanzen steuern.
Welche Bedeutung könnte diese Entdeckung für die
Produktion anderer Kulturpflanzen, die zu unserer
Ernährung dienen, haben? Welche Bedeutung ha-
ben solche Ergebnisse für die Entwicklung des
Menschen oder bei Krankheiten? In welchem Um-
fang tragen zu unserem grundlegenden biologi-
schen Verständnis bei?

14. NUTZEN SIE IHR WISSEN Sehen Sie den Gecko (Blatt-
schwanzgecko, Uroplatus sp.) auf dem moos-
bewachsenen Baumstamm? Ist das Aussehen des
Geckos ein Vorteil? Erklären Sie anhand dessen,
was Sie bisher über Evolution, natürliche Selek-
tion und Genetik gelernt haben, wie die Färbung
des Geckos entstanden sein könnte.

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

36
Die chemischen Grundlagen Teil
des Lebens
I
2 Der chemische Kontext des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3 Wasser und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens . . . . . . . . . 79
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle . . . . . . . . . 93
Der chemische Kontext des Lebens

2.1 Materie besteht aus chemischen Elementen und Verbindungen . . 40 2


2.2 Die Atomstruktur bedingt die Eigenschaften eines Elements . . . 42

KONZEPTE
2.3 Die Bildung und Funktion von Molekülen hängen von den
chemischen Bindungen zwischen den Atomen ab . . . . . . . . . . . . . . 49
2.4 Bindungen werden im Verlauf chemischer Reaktionen
gebildet und gebrochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

 Abbildung 2.1: Mit welcher Waffe


verteidigen sich diese Holzameisen?
2 Der chemische Kontext des Lebens

Die Verbindung zwischen Chemie Materie besteht aus


Teil 1
und Biologie chemischen Elementen
Wie viele andere Tiere haben Ameisen ausgeklügelte
Verfahren entwickelt, die sie vor Angriffen schützen.
und Verbindungen
2.1
Holzameisen leben in Kolonien zu Hunderten oder Tau-
senden, und jede Kolonie in ihrer Gesamtheit verfügt Lebewesen bestehen aus Materie, die Raum bean-
über besonders wirksame Verteidigungsmechanismen. sprucht und eine Masse1 besitzt. Materie kommt in
Unter Bedrohung schießen sie Salven aus Ameisen- nahezu endlos vielen Formen vor, als Felsen, Metall,
säure aus ihren Hinterleibern in die Luft, so dass ein Öl, Gas oder eben als lebende Organismen.
saurer Regen auf die potenziellen An-
greifer niedergeht (Abbildung
2.1). Ameisensäure wird von 2.1.1 Elemente und Verbindungen
vielen Ameisenarten pro-
duziert, und der wissen- Materie besteht aus Elementarteilchen, die zu chemi-
schaftliche Name For- schen Elementen zusammengefügt sind. Ein chemi-
miat (für die deproto- sches Element ist ein Stoff, der durch chemische
nierte Form) ist aus Umsetzungen nicht weiter in andere Stoffe zerlegt wer-
dem lateinischen Wort den kann, wenngleich, wie wir noch sehen werden,
für Ameise (formica) ab- subatomare Teilchen wie Protonen und Elektronen bei
geleitet. Eine Reihe von chemischen Reaktionen eine große Rolle spielen. Es
Ameisenarten verspritzt gibt heute 92 natürlich vorkommende Elemente, zum
die Säure nicht, sondern Beispiel Gold, Kupfer, Kohlenstoff und Sauerstoff.
nutzt sie vermutlich als Des- Jedes chemische Element wird in chemischen Formeln
infektionsmittel gegen mikrobi- durch ein Symbol dargestellt, meist der erste oder die
elle Parasiten. Seit Langem ist wissen- beiden ersten Buchstaben des Elementnamens. Einige
schaftlich gesichert, dass bestimmten Chemikalien eine Symbole leiten sich nicht aus dem Deutschen, sondern
wichtige Funktion bei der Insektenkommunikation zu- dem Lateinischen ab. So ist das Elementsymbol für das
kommt, so etwa beim Anlocken von Paarungspartnern Metall Natrium (engl. sodium) Na, das für das Gas Sau-
und der Verteidigung gegen Fressfeinde. erstoff O, abgeleitet vom lateinischen Oxygenium.
Diese Forschungsergebnisse bei Ameisen und ande-
ren Insekten sind gute Beispiele für die Bedeutung der
Chemie zum Verständnis lebender Systeme. Anders
als an einer Hochschule ist die Natur nicht in klar
voneinander getrennte Disziplinen wie Biologie, Che-
mie oder Physik aufgeteilt. Biologinnen und Biologen +
sind auf die Untersuchung des Phänomens Leben in
allen seinen Ausprägungen spezialisiert, doch gelten
für Organismen und ihre Umgebungen selbstverständ-
lich auch die Gesetze der Chemie und Physik. Biologie
ist multidisziplinär. Natrium Chlor Natriumchlorid
Die Kapitel 2–5 führen in einige grundlegende Kon-
zepte der allgemeinen Chemie ein, die für das Studium Abbildung 2.2: Emergente Eigenschaften einer chemischen Ver-
lebender Systeme unerlässlich sind. Die Darstellung bindung. Das Metall Natrium verbindet sich mit dem giftigen Gas Chlor
beschränkt sich notgedrungen auf die wesentlichsten zur essbaren Verbindung Natriumchlorid (Kochsalz).
Aspekte, zum Teil werden die Zusammenhänge verein-
facht. Die Lektüre der Kapitel 2–5 kann daher nicht die Eine chemische Verbindung ist ein reiner, chemisch
entsprechenden Darstellungen in den spezialisierteren einheitlicher Stoff aus zwei oder mehr Elementen in
Fachbüchern ersetzen. einem festen Verhältnis. Kochsalz etwa ist die Verbin-
Beim Übergang von Molekülen zu Zellen überschrei- dung Natriumchlorid (NaCl), also eine chemische Ver-
ten wir die nicht scharf abgegrenzte Linie von der bindung des Metalls Natrium mit dem Gas Chlor im
unbelebten zur belebten Welt. Im vorliegenden Kapitel Teilchenzahlverhältnis 1:1. Elementares Natrium ist ein
konzentrieren wir uns auf die chemischen Bestand- weiches, hochreaktives, unedles Leichtmetall, Chlor ein
teile jeglicher Materie. stark giftiges und ätzendes Gas. Die chemische Verbin-

1 Die Masse ist die Materiemenge eines Objekts. Sein


Gewicht gibt an, wie stark die Masse durch Gravitation
angezogen wird. Im täglichen Umgang werden die beiden
Begriffe oft ausgetauscht, obwohl sie nicht das Gleiche
bedeuten. So beträgt das Gewicht eines Astronauten auf
dem Mond etwa ein Sechstel seines Gewichts auf der
Erde, seine Masse bleibt dagegen gleich.

40
2.1 Materie besteht aus chemischen Elementen und Verbindungen

dung Kochsalz ist ein weißer, in Wasser gut löslicher, 2.3). Vermutlich haben sich die heutigen Varianten
essbarer Feststoff. Wasser (H2O), eine weitere chemi- durch natürliche Selektion aus nicht serpentinadaptier- Teil 1
sche Verbindung, besteht aus den Elementen Wasser- ten Vorfahren entwickelt. Gegenwärtig wird untersucht,
stoff (H) und Sauerstoff (O) im Teilchenzahlverhältnis inwieweit diese Pflanzen giftige Schwermetalle in konta-
2:1. Dies sind einfache Beispiele für Verbindungen mit minierten Bereichen aufnehmen und konzentrieren kön-
neuen Qualitäten, die die daran beteiligten Elemente so nen, was eine sicherere Lagerung erlauben würde.
nicht haben. Derart neue, nicht vorhersag(seh)bare
Eigenschaften, die sich aus dem Wechselspiel mehrerer Tabelle 2.1
Parameter ergeben, werden wissenschaftstheoretisch als
Emergenz bezeichnet (Abbildung 2.2).
Elemente im menschlichen Körper.

2.1.2 Elemente des Lebens Prozent der Körper-


masse eines Menschen
Von den 92 natürlich vorkommenden Elementen sind Symbol Element (mit Wasser)
etwa ein Viertel essenziell für gesunde, sich reprodu- Die folgenden Elemente machen 96,3 % der Körpermasse
zierende Organismen. Diese essenziellen Elemente eines Menschen aus:
ähneln sich von Organismus zu Organismus, variieren
jedoch in ihrer Anzahl. So benötigt der Mensch 25 O Sauerstoff 65,0
Elemente, Pflanzen dagegen nur 17. C Kohlenstoff 18,5
H Wasserstoff 9,5
Nur vier Elemente – Kohlenstoff (C), Sauerstoff (O),
N Stickstoff 3,3
Stickstoff (N) und Wasserstoff (H) – machen dabei
durchschnittlich 96 Prozent der belebten Materie aus. Die folgenden Elemente machen 3,7 % der Körpermasse
Phosphor (P), Schwefel (S), Calcium (Ca), Kalium (K) eines Menschen aus:
und einige weitere Elemente machen den Großteil der Ca Calcium 1,5
verbleibenden vier Prozent der Masse eines Lebewesens P Phosphor 1,0
aus. Spurenelemente werden von einem Lebewesen nur K Kalium 0,4
in sehr geringen Mengen benötigt, Eisen (Fe) von allen S Schwefel 0,3
Lebensformen, andere Spurenelemente dagegen nur Na Natrium 0,2
von bestimmten Organismen. Das Element Iod (I; Cl Chlor 0,2
umgangssprachlich auch als Jod bezeichnet) ist bei Wir- Mg Magnesium 0,1
beltieren unverzichtbarer Bestandteil der Schilddrüsen-
Die folgenden Elemente machen weniger als 0,01 % der Kör-
hormone. Eine Tagesdosis von nur 150 Mikrogramm
permasse eines Menschen aus:
(μg) Iod reicht für die normale Funktion menschlicher
Schilddrüsen aus. Iodmangel führt zum Anwachsen der Bor (B), Chrom (Cr), Cobalt (Co), Eisen (Fe), Fluor (F), Iod (I),
Schilddrüse auf eine abnorme Größe, es bildet sich ein Kupfer (Cu), Mangan (Mn), Molybdän (Mo), Selen (Se),
Kropf. Die Häufigkeit der Kropfbildung geht bei Ver- Silicium (Si), Vanadium (V), Zink (Zn), Zinn (Sn).
fügbarkeit von Meeresfrüchten oder iodiertem Salz stark
zurück. Tabelle 2.1 listet die für den menschlichen
DATENAUSWERTUNG Angesichts Ihrer Kenntnis des menschlichen
Körper erforderlichen chemischen Elemente auf. Körpers – warum ist Sauerstoff mit 65 % das häufigste Element?
Einige natürlich vorkommende Elemente sind für
bestimmte Organismen giftig. Arsen ist bei Menschen
für viele Krankheiten verantwortlich und in hoher
Dosierung letal. In manchen Gegenden kommt es natür-
lich vor und gelangt bis in das Grundwasser. Wasser
aus Bohrlöchern in Südasien hat Millionen von Men-
schen mit Arsen kontaminiert. Es wird noch daran
gearbeitet, den Arsengehalt in der Wasserversorgung
dort zu senken.

2.1.3 Fallstudie: Toleranzbildung bei


toxischen Elementen
EVOLUTION Einige Arten haben sich an Umgebungen
angepasst, die normalerweise giftige Elemente enthalten.
Serpentinit-Pflanzengemeinschaften sind ein Beispiel.
Das Mineral enthält erhöhte Konzentrationen von Abbildung 2.3: Eine Pflanzengemeinschaft
Chrom, Nickel und Cobalt. Die meisten Pflanzen können auf giftigem Untergrund. Diese Pflanzen wachsen
auf solchen Untergründen nicht überleben, eine kleine auf Serpentinit, das giftige Elemente enthält. Die Ausschnittvergrößerungen
Anzahl hat sich jedoch daran angepasst (Abbildung zeigen das Mineral und eine der Pflanzen, die Lilie Calochortus tiburonensis.

41
2 Der chemische Kontext des Lebens

sche Ladung des Atomkerns verantwortlich. Die Elek-


Teil 1  Wiederholungsfragen 2.1 tronen halten sich mit einer bestimmten Wahrschein-
lichkeit in bestimmten Abständen vom Atomkern auf;
1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Erklären Sie die dieser Raum wird als „Elektronen-Wolke“ aus negativer
emergenten Eigenschaften von Kochsalz (siehe elektrischer Ladung beschrieben, die den positiven
Konzept 1.1). Atomkern umgibt. Die Anziehung zwischen ungleich-
2. Ist ein Spurenelement essenziell? Erläutern namigen Ladungen (elektrostatische Anziehung) hält
Sie Ihre Antwort. die Elektronen in der Umgebung des Atomkerns fest.
Abbildung 2.4 zeigt zwei oft benutzte Modelle des
3. WAS WÄRE, WENN? Beim Menschen ist Eisen Heliumatoms als Beispiele.
(Fe) ein Spurenelement, das für die ordnungs-
gemäße Funktion des Blutfarbstoffs Hämoglo- negativ geladene elektrische
Ladungswolke (2 Elektronen) Elektronen
bin, der in den roten Blutkörperchen Sauer-
stoff bindet, notwendig ist. Wie würde sich Atomkern
ein Eisenmangel bemerkbar machen? – –

4. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Erklären Sie, wie


die natürliche Selektion bei der Evolution von + +
Arten eine Rolle gespielt haben könnte, die + +
Serpentinit-tolerant sind (siehe Konzept 1.2)

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

(a) Dieses Atommodell stellt (b) In diesem weiter verein-


die Elektronen als diffuse fachten Modell sind die
Wolke negativer elektri- Elektronen als zwei
Die Atomstruktur bedingt die scher Ladung dar. kleine gelbe Kreise
Eigenschaften eines Elements
2.2 dargestellt, die sich auf
einer Kreisbahn um den
Atomkern bewegen.
Abbildung 2.4: Vereinfachte Modelle eines Heliumatoms (He).
Jedes chemische Element besteht aus einer bestimmten Der Heliumatomkern besteht aus zwei Neutronen (braun) und zwei Proto-
Atomsorte, die sich von den Atomen aller anderen Ele- nen (pink). Zwei Elektronen (gelb) befinden sich außerhalb des Atomkerns.
mente unterscheidet. Ein Atom ist die kleinste Einheit Diese Modelle sind nicht maßstabsgetreu, sondern stellen den Atomkern
der Materie, die die makroskopischen (Ensemble-)Eigen- im Vergleich zur Elektronenhülle viel zu groß dar.
schaften des jeweiligen Elementes hervorbringt. Atome
sind so winzig, dass mehr als eine Million aufgereiht Das Neutron und das Proton besitzen sehr ähnliche Mas-
werden müssten, um den Durchmesser des Punktes hier sen von jeweils etwas weniger als 1,7 × 10–24 Gramm
am Satzende darzustellen. Atome werden in Formeln (g). Das Gramm und andere Masseneinheiten unseres
und chemischen Gleichungen mit den bereits eingeführ- Alltags sind für die Beschreibung winziger Objekte sper-
ten Elementsymbolen dargestellt. Ein „C“ kann in der rige Größen. Für Atome und Moleküle hat sich daher
(Bio-) Chemie daher sowohl für das Element Kohlenstoff eine eigene Masseneinheit, die unified atomic mass unit
als auch für ein einzelnes Kohlenstoffatom stehen. [u] bzw. das Dalton [Da], eingebürgert (nach John
Dalton, einem britischen Naturforscher, 1766–1844). Ein
Dalton ist definiert als 1/12 der gleich 12,00000 gesetz-
2.2.1 Subatomare Teilchen ten Masse des Kohlenstoffnuklids 12C. Es entspricht
1,660538921 × 10–27 kg. Das Kohlenstoffnuklid 12C ist
Atome bestehen ungeachtet ihrer Winzigkeit aus noch die „Atomsorte“ des Kohlenstoffs mit zwölf Protonen
kleineren sogenannten Elementar- oder subatomaren und zwölf Neutronen im Kern (es gibt noch weitere
Teilchen. Durch hochenergetische Zusammenstöße wichtige Kohlenstoffnuklide wie 13C und 14C, die sich
haben Physiker 61 Arten von Elementarteilchen in vom 12C jeweils in der Zahl der Neutronen unterschei-
Atomen identifiziert, aber für die Biologie sind davon den). Da die Masse eines Elektrons nur etwa 1/2.000stel
nur drei relevant: Protonen, Elektronen und Neutro- der eines Neutrons oder Protons beträgt, kann man den
nen. Protonen und Elektronen sind elektrisch geladen. Beitrag der Elektronen bei der Berechnung von Atom-
Jedes Proton besitzt eine positive elektrische Ladung, massen im Allgemeinen vernachlässigen.
jedes Elektron eine negative. Die Vorzeichenzuwei-
sung ist historisch und willkürlich. Das Neutron ist,
worauf der Name bereits hindeutet, elektrisch neutral, 2.2.2 Ordnungszahl und Massenzahl
also ungeladen.
Protonen und Neutronen lagern sich im Atom zu Die Atome der verschiedenen Elemente unterscheiden
einem dichten, massereichen Verband, dem Atomkern, sich in der Anzahl der subatomaren Teilchen, aus
zusammen. Die Protonen sind für die positive elektri- denen sie bestehen. Alle Atome eines gegebenen Ele-

42
2.2 Die Atomstruktur bedingt die Eigenschaften eines Elements

ments weisen in ihren Kernen die gleiche Anzahl Pro- Atome ein und desselben Elements nennt man Isotope,
tonen auf. Die Zahl der Protonen, die für ein Element weil sie im Periodensystem am selben Platz stehen. Teil 1
charakteristisch ist, wird als dessen Ordnungszahl Dem übergeordnet ist der Begriff Nuklid. Eine „Atom-
oder als Kernladungszahl bezeichnet. Sie wird unten sorte“ mit definierter Neutronenzahl heißt Nuklid;
links an das Elementsymbol geschrieben (siehe Perio- Isotope sind also Nuklide mit der gleichen Anzahl von
densystem der Elemente). Die Symbolschreibung 2He Protonen. Die meisten chemischen Elemente sind Gemi-
besagt also, dass ein Atom des Elements Helium in sche aus stabilen Isotopen. Zwanzig Elemente sind
seinem Atomkern zwei Protonen enthält. Ein einzel- isotopenrein (mononuklidisch), zum Beispiel Natrium,
nes Atom ist immer elektrisch neutral. Die positiven Aluminium (Al), Phosphor (P), Mangan (Mn) oder
Ladungen der Protonen im Atomkern werden folglich Cobalt (Co). Betrachten wir als Beispiel die beiden stabi-
durch eine gleiche Anzahl negativer Ladungen von len Isotope des Elements Kohlenstoff mit der Ordnungs-
Elektronen in der Hülle ausgeglichen. Die Ordnungs- zahl 6. Das weitaus häufigste Kohlenstoffisotop ist
zahl gibt daher neben der Anzahl der Protonen im Kohlenstoff-12 ( 126 C ) mit sechs Neutronen im Atomkern,
Atomkern gleichzeitig auch die Anzahl der Elektronen das 98,9 Prozent aller natürlich vorkommenden stabilen
in der Hülle des elektrisch neutralen Atoms an. C-Atome stellt. 13C enthält sieben Neutronen bei einer
Die Anzahl der Neutronen lässt sich aus einer zwei- Häufigkeit von 1,1 Prozent. Neben den stabilen Kohlen-
ten Kenngröße, der Massenzahl, ableiten. Darunter stoffisotopen gibt es dreizehn instabile Isotope. Das
versteht man die Summe der Anzahl an Protonen plus Langlebigste unter ihnen ist das 146 C mit acht Neutronen
Neutronen im Atomkern. Die Massenzahl wird oben und einer Halbwertszeit von 5.730 Jahren. Alle drei
links an das Elementsymbol geschrieben. Ein typi- genannten Kohlenstoffnuklide enthalten jeweils sechs
sches Heliumatom lässt sich daher folgendermaßen Protonen, sonst wären es keine Kohlenstoffatome. Trotz
formelmäßig darstellen: 42 He (gelesen 4-2-Helium). Da der unterschiedlichen Massen verhalten sich die Iso-
die Ordnungszahl angibt, wie viele Protonen das tope eines Elements bei chemischen Reaktionen fast
Atom enthält, ergibt sich die Zahl der Neutronen aus immer völlig identisch. Die in Tabellenwerken ange-
der Differenz von Massenzahl und Ordnungszahl (also gebenen genauen Atommassen, wie die von 12,011 für
für 42 He 4 – 2 = 2). Kohlenstoff, sind gewichtete Werte, in denen die pro-
zentualen Anteile der verschiedenen Isotope eines Ele-
Massenzahl = Zahl der Protonen + Neutronen ments, so wie sie in einer natürlichen Probe vorliegen,
= 23 für Natrium
23
Na
11
berücksichtigt sind.
Sowohl 12C als auch 13C sind stabile Isotope, deren
Ordnungszahl = Zahl der Protonen Atomkerne nicht (radioaktiv) zerfallen. Das Isotop 14C
= Zahl der Elektronen
= 11 für Natrium ist instabil, es zerfällt radioaktiv – der Grund für seine
Seltenheit. Die Atomkerne (instabiler) radioaktiver
Zahl der Neutronen = Massenzahl – Ordnungszahl
= 23 – 11 = 12 für Natrium Isotope zerfallen spontan. Dabei werden subatomare
Teilchen und Energie freigesetzt. Wenn ein derartiger
Das einfachste Atom ist das Wasserstoffatom 11 H mit Zerfall zu einer Änderung der Protonenzahl führt,
einem Atomkern ganz ohne Neutronen. Folglich besteht wird das betreffende Atom in ein anderes Element
der Wasserstoffatomkern aus nur einem einzigen Proton transformiert; so wandelt sich 14C in das stabile Stick-
und die Hülle aus einem einzelnen Elektron. stoffisotop 14N um.
Da die Massenbeiträge der Elektronen zur Atom-
masse vernachlässigbar sind, ist fast die gesamte Radioaktive „Tracer“
Masse eines Atoms in dessen Kern konzentriert. Die Radioaktive Isotope haben viele nützliche Anwendun-
Massen des Protons und des Neutrons liegen nahe gen in der Biologie und Medizin gefunden. Mit ihrer
einem Dalton. Daher ist die Massenzahl eines Atoms Hilfe können Verbindungen im Stoffwechsel eines Lebe-
praktisch gleich der Atommasse. Meist reicht es aus, wesens verfolgt werden. Zellen verwerten radioaktive
mit diesen Näherungswerten zu rechnen. Somit genauso wie nichtradioaktive Nuklide desselben Ele-
beträgt die Masse eines Natriumatoms etwa 23 Da. Der ments, doch lassen sich die radioaktiven Atome anhand
genaue Wert ist 22,9898 Da. Die Differenz geht aller- ihrer Strahlung leicht nachweisen. Radioaktive Markie-
dings nicht nur auf die Nichtberücksichtigung der rungen sind in manchen Bereichen der Medizin wich-
Elektronenmasse zurück, sondern auf einen weiteren, tige diagnostische Hilfsmittel. So lassen sich zum Bei-
den Atomkern betreffenden Umstand, der sich bei vie- spiel bestimmte Nierenkrankheiten durch die Injektion
len Elementen findet und nachfolgend erklärt wird. kleiner Mengen eines Radioisotops in das Blut nach-
weisen, wenn man die mit dem Harn ausgeschiedene
Menge an markierter Substanz misst. Radioaktive Mar-
2.2.3 Isotope kierungen werden auch in Verbindung mit empfind-
lichen bildgebenden Instrumenten verwendet. Mit
Atome ein und desselben Elementes sind durch ihre PET-Scannern können zum Beispiel chemische Umset-
Anzahl von Protonen definiert. Die Zahl ihrer Neutro- zungen im Körper verfolgt und bildlich dargestellt
nen im Atomkern ist jedoch variabel, und daher können werden. Damit lassen sich abnorme physiologische
selbst Atome eines Elements unterschiedliche Massen Vorgänge, wie das Wachstum und der Stoffwechsel
haben. Diese sich in ihrer Masse unterscheidenden einer Krebsgeschwulst, nachweisen (Abbildung 2.5).

43
2 Der chemische Kontext des Lebens

wertszeit. Diese Zeit ist für jedes Isotop charakteristisch


Teil 1 und wird nicht durch Umgebungsvariable wie Tempera-
tur oder Druck beeinflusst. Bei der radiometrischen
Datierung wird das Verhältnis verschiedener Isotope
gemessen. Daraus lässt sich dann errechnen, wie viele
Halbwertszeiten in Jahren vergangen sind, seitdem das
Fossil, eine Sedimentschicht oder ein Fels entstand. Die
Halbwertszeiten verschiedener Isotope bewegen sich
vom (Sub)Nanosekundenbereich bis hin zu 4,5 Milliar-
den Jahren beim Uran-238. Verschiedene Isotope kön-
nen somit für verschiedene Altersbereiche verwendet
werden, 238U zum Beispiel für 4,5 Milliarden Jahre altes
krebsartig Mondgestein, ähnlich dem geschätzten Alter der Erde.
entartetes In der Wissenschaftlichen Übung arbeiten Sie mit den
Gewebe
des Rachens
Daten eines Experimentes, bei dem mittels 14C das Alter
eines wichtigen Fossils bestimmt wurde. In Kapitel 25
werden Sie noch mehr darüber erfahren.

2.2.4 Die Energieniveaus von Elektronen


Abbildung 2.5: Medizinische Anwendung radioaktiver Isotope:
ein PET-Scan. PET steht für Positronen-Emissions-Tomographie. Damit Das vereinfachte Modell des Atoms in Abbildung 2.4
können Orte mit intensiver chemischer Aktivität im Körper lokalisiert übertreibt die Größe des Atomkerns im Verhältnis zum
werden. Der hellgelbe Fleck zeigt einen Bereich erhöhter Konzentration an
Volumen des gesamten Atoms sehr stark. Falls ein Heli-
radioaktiv markierter Glucose, was seinerseits auf hohe Stoffwechselakti-
vität hindeutet, eines der wichtigsten Kennzeichen für Krebsgewebe.
umatom die Größe eines Olympiastadiums hätte, wäre
der Atomkern kaum größer als ein in der Stadionmitte
liegender Radiergummi. Die Elektronen wären zwei
Obwohl radioaktive Isotope sehr nützlich in der bio- winzige Fliegen, die im Stadion herumsummen. Der
logischen Forschung und der medizinischen Anwen- größte Teil von Atomen ist leerer Raum mit allerdings
dung sind, stellt die von den zerfallenden Atomen aus- starken Kraftfeldern. Wenn sich zwei Atome bei einer
gehende Strahlung durch ihre schädigende Wirkung auf chemischen Reaktion einander annähern, kommen ihre
zahlreiche zelluläre Moleküle gleichzeitig eine Gefahr Atomkerne sich nie nahe genug, um in Wechselwir-
für das Leben dar. Der Schweregrad dieser Schädigung kung zu treten. Von den drei Sorten subatomarer Teil-
hängt vom Typ und der Menge an Strahlung ab, welcher chen, die wir vorgestellt haben, sind an chemischen
der Organismus ausgesetzt ist. Eine der größten Umwelt- Reaktionen nur die Elektronen direkt beteiligt.
gefahren geht von dem radioaktiven Niederschlag aus, Die Elektronen eines Atoms unterscheiden sich
der nach Nuklearunfällen und Atombombentests auf die hinsichtlich ihres Energiegehalts. Energie ist die Fähig-
Umwelt niedergeht. Die in der medizinischen Diagnos- keit, Veränderungen herbeizuführen, zum Beispiel,
tik eingesetzten Dosen sind dagegen verhältnismäßig indem Arbeit verrichtet wird. Als potenzielle Energie
harmlos. Sowohl bei medizinischen Untersuchungen oder Lageenergie wird die Energie bezeichnet, die
wie auch in der Forschung wird jedoch eine Minimie- Materie aufgrund ihrer Lage im Raum oder als Folge
rung der Strahlenexposition angestrebt. ihrer Struktur besitzt. Wasser in einem hoch gelegenen
Reservoir wie einem Stausee besitzt aufgrund der
Radiometrische Datierungen Höhenlage potenzielle Energie (vom Tal aus betrachtet).
EVOLUTION Wissenschaftler messen den radioaktiven Wenn die Schleusentore des Damms geöffnet werden
Zerfall in Fossilien, um ihr Alter zu bestimmen. Fossi- und das Wasser talwärts strömt, kann diese potenzielle
lien vermitteln viele Hinweise auf die Evolution, indem Energie zur Verrichtung von Arbeit genutzt werden
sie die Unterschiede zwischen ausgestorbenen und (zum Beispiel zum Antrieb von Turbinen eines Wasser-
noch lebenden Organismen dokumentieren und uns kraftwerks). Da Energie „verbraucht“ worden ist, hat
Einsichten in Spezies erlauben, die längst ausgestorben das im Tal ankommende Wasser einen geringeren Ener-
sind. Die Schichtung von Fossilien korreliert zwar mit giegehalt als das im Stausee. Materie tendiert immer zu
ihrem Alter (jüngere weiter oben), aber das tatsächliche einem Zustand möglichst geringer potenzieller Energie.
Alter einer jeden Schicht folgt nicht aus seiner Lage. In unserem Beispiel wird dies durch das Talwärtsströ-
Hier erweisen sich radioaktive Isotope als nützlich. men erreicht. Um den Wert der potenziellen Energie
Instabile Isotope zerfallen mit einer definierten des Wassers im Staubecken wiederherzustellen, muss
Geschwindigkeit in die Zerfallsprodukte. Die Zeit, in Arbeit verrichtet werden, da das Wasser gegen die
der die Hälfte des Ausgangsisotopes zerfällt, heißt Halb- Schwerkraft wieder heraufbefördert werden muss.

44
2.2 Die Atomstruktur bedingt die Eigenschaften eines Elements

 Wissenschaftliche Übung Teil 1


Abgleichen der Standardzerfallskurve eines Experimentelle Daten Die Forscher fanden heraus,
radioaktiven Isotops und Dateninterpretation dass das Neandertal-Fossil nur noch 0,0078-mal so
Wann sind die Neandertaler ausgestorben? Homo viel 14C enthielt wie die Atmosphäre (in der wissen-
neanderthalensis lebte vor etwa 350.000 Jahren in schaftlichen Schreibweise also 7,8 × 10−3). Im fol-
Europa, womöglich für Hunderte oder Tausende von genden Abschnitt wird gezeigt, wie man dieses Ver-
Jahren in Koexistenz mit frühen Homo sapiens in hältnis in das Alter des Fossils übersetzen kann.
Teilen Eurasiens. Die Dauer der Überlappung sollte
eingegrenzt werden, indem man den Zeitpunkt des Datenauswertung
Aussterbens der Neandertaler genauer bestimmte.

Im Fossil verbliebener Anteil an Restisotop


Dazu verwendete man Fossilien aus der obersten, 1,0
das heißt jüngsten archäologischen Schicht mit Kno- 0,9
chen der Neandertaler und die Radiocarbon-(14C)- 0,8
Methode. In der vorliegenden Übung werden Sie 0,7
eine Standard-14C-Zerfallskurve abgleichen und 0,6
dann zur Altersbestimmung des Fossils heranziehen. 0,5
Mit dem so ermittelten Alter kann der letzte Zeit- 0,4
punkt abgeschätzt werden, zu dem die beiden Spe- 0,3
zies am Fundort des Fossils noch koexistiert haben.
0,2
0,1
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Vergangene Zeit (Halbwertszeiten)
 Fossilien eines
Neandertalers
1. In der Grafik ist die Kurve eines radioaktiven
Zerfalls gezeigt. Der Anteil an Restisotop (y-
Achse) ist gegen die Zeit (x-Achse) in Einheiten
der Halbwertszeit aufgetragen. Die Halbwerts-
zeit ist die Zeitspanne, in der die Hälfte des
radioaktiven Isotops zerfällt. Korrelieren Sie je-
den Datenpunkt mit den zugehörigen Werten
auf den beiden Achsen. Welche Gesetzmäßig-
Durchführung des Experiments 14C ist ein radio- keit können Sie aus den Werten für die Halb-
aktives Kohlenstoffisotop, das mit konstanter wertszeiten von 0, 1, 2 und 3 ableiten? Berech-
Geschwindigkeit zu 14N zerfällt. 14C ist in der Atmos- nen Sie jetzt die numerischen y-Achsenwerte
phäre in geringen Mengen und in einem festen Ver- für alle markierten Punkte auf der x-Achse und
hältnis zu 13C und 12C vorhanden. Wenn Kohlenstoff zeichnen Sie die Zahlenwerte in den Graphen
durch die Photosynthese von einer Pflanze aus der ein. Runden Sie die Dezimalzahlen auf maxi-
Atmosphäre aufgenommen wird, gelangen die drei mal drei signifikante Stellen (Nullen am Anfang
Isotope in genau dem Verhältnis in die Pflanze, in zählen nicht dazu). Schreiben Sie diese Zahlen
dem sie auch in der Atmosphäre vorhanden sind. auch in der wissenschaftlichen Notation.
Dieses Verhältnis ändert sich im Gewebe eines Tieres,
14C
das die Pflanze verzehrt hat, nicht. Im lebendigen 2. hat eine Halbwertszeit von 5.730 Jahren.
Organismus zerfällt das 14C zwar dauernd in 14N, Skalieren Sie die x-Achse entsprechend um,
wird aber laufend durch Kohlenstoff aus der Umge- indem Sie die Anzahl an Jahren unter die An-
bung ersetzt. Nach dem Tod des Organismus stoppt zahl an Halbwertszeiten schreiben. Alternativ
die 14C-Zufuhr, nicht aber der Zerfall des vorhande- können Sie eine Tabelle mit den berechneten
nen 14C. Dagegen bleibt der 12C-Gehalt gleich, da 12C Werten erstellen.
nicht zerfällt. Man kann daher berechnen, wie lange
das ursprünglich in der Probe vorhandene 14C zerfal- 3. Die Forscher fanden heraus, dass die unter-
len ist, indem man das Verhältnis 14C:12C bestimmt suchten Neandertal-Fossilien nur noch etwa
und es mit dem Verhältnis in der Atmosphäre ver- 0,0078-mal so viel 14C enthielten, wie in der
gleicht. Der Rest an 14C im Fossil kann in Jahre umge- Atmosphäre vorhanden ist. (a) Bestimmen Sie
rechnet werden, da man weiß, dass die Halbwertszeit anhand Ihrer Wertetabelle, wie viele Halb-
von 14C 5.730 Jahre beträgt, also alle 5.730 Jahre wertszeiten seit dem Tod des Neandertalers
jeweils die Hälfte des ursprünglich vorhandenen 14C vergangen sind. (b) Wie groß ist das ungefähre
zerfallen ist.

45
2 Der chemische Kontext des Lebens

 Forts.
Teil 1
Alter des Fossils in Jahren (verwenden Sie Ihre meisten Dinosaurier starben vor 65,5 Millionen
umskalierte x-Achse oder die Wertetabelle und Jahren aus. (b) Kann die 14C-Methode zur Datie-
runden Sie auf das nächste Tausend). (c) Wann rung von Dinosaurierknochen benutzt werden?
starben die Neandertaler gemäß dieser Studie (c) Radioaktives Uran-235 hat eine Halbwerts-
aus? (d) Andere Befunde ergaben, dass Homo zeit von 704 Millionen Jahren. Könnte 235U zur
sapiens in der gleichen Region vor 39.000– Datierung benutzt werden, wenn es in die Dino-
42.000 Jahren zu siedeln begann. Was folgt saurierknochen eingelagert worden wäre? Be-
daraus bezüglich der Überlappung zwischen gründen Sie Ihre Antwort.
Neandertalern und dem modernen Menschen?

14 Daten aus: R. Pinhard et al., Revised age of late Neanderthal occu-


4. C-Datierungen sind auf Fossilien anwendbar,
pation and the end of the Middle Paleolithic in the northern Caucasus,
die bis zu 75.000 Jahre alt sind. Ältere Proben Proceedings of the National Academy of Sciences USA 147:8611–
enthalten 14C unterhalb der Nachweisgrenze. 8616 (2011). doi 10.1073/pnas. 1018938108.
(a) Welche Nachweisgrenze folgt daraus? Die

Die Elektronen eines Atoms besitzen aufgrund ihrer oder Molekül nur bestimmte, genau festgelegte („dis-
Anordnung im Umfeld des Atomkerns (dessen elek- krete“) Werte annehmen. Änderungen der potenziel-
trischem Feld) potenzielle Energie (Abbildung 2.6). len Energie eines Elektrons können daher ebenfalls
Die negativ geladenen Elektronen werden vom positiv nur in festgelegten Stufen oder Sprüngen erfolgen. Ein
geladenen Atomkern angezogen und umgekehrt. Um solches gebundenes Elektron mit seinen festgelegten
ein Elektron weiter vom Atomkern wegzubewegen, Energiestufen kann mit einem Ball auf einer Treppe
muss Arbeit verrichtet und damit Energie aufgewen- verglichen werden (Abbildung 2.6a). Der Ball kann, je
det werden. Je weiter entfernt sich das Elektron vom nach Höhe der Treppenstufe, auf der er liegt, unter-
Atomkern aufhält, desto höher ist seine potenzielle schiedliche potenzielle Energien haben, sich aber nicht
Energie (bei gegebener Feldstärke, die von der Ladung dauerhaft zwischen den Stufen aufhalten. In ähnlicher
des Atomkerns abhängt). Anders als beim kontinuier- Weise wird die potenzielle Energie eines Elektrons
lichen, talwärts gerichteten Strom des Wassers, kann durch sein Energieniveau bestimmt. Zwischen diesen
die potenzielle Energie der Elektronen in einem Atom definierten Energieniveaus eines Atoms kann ein Elek-
tron nicht existieren.
Das Energieniveau eines Elektrons korreliert mit sei-
(a) Ein Ball, der eine Treppe ner durchschnittlichen Entfernung vom Atomkern. Bei
herunterhüpft, veran- Atomen mit mehreren Elektronen sind diese in unter-
schaulicht die Energie- schiedlichen Elektronenschalen angeordnet, die jeweils
niveaus von Elektronen,
weil der Ball zwar auf
eine charakteristische mittlere Entfernung vom Atom-
jeder Stufe zur Ruhe kern aufweisen. In schematischen Querschnitten eines
kommen kann, nicht aber Atoms haben die Hauptenergieniveaus die Form von
zwischen zwei Stufen. Kreisen (Abbildung 2.6b). Die erste Elektronenschale
absorbierte
dritte Schale Energie
(K-Schale) ist dem Atomkern am nächsten, die Elektro-
(zweites angehobenes nen dieser Schale (K-Elektronen) besitzen die geringste
Energieniveau) potenzielle Energie. Die Elektronen der zweiten Schale
(L-Schale) besitzen erwartungsgemäß mehr Energie, die
zweite Schale
(erstes angehobenes Elektronen der dritten (M-Schale) noch mehr und so
Energieniveau) abge- weiter. Ein Elektron kann nur dann von einer Schale in
gebene eine andere überwechseln, wenn es die der Energie-
erste Schale Energie
differenz zwischen beiden Zuständen entsprechende
(Grundzustand)
Energiemenge aufnimmt oder abgibt (in Form von Strah-
lung). Wenn ein Elektron Energie absorbiert, springt es
Atomkern in eine Schale, die sich weiter weg vom Atomkern befin-
det (d.h. einen größeren Radius aufweist). So kann etwa
sichtbares Licht Elektronen bestimmter Energiezustände
(b) Ein Elektron kann nur von einer Schale zur nächsten über-
gehen, wenn die Energie, die es gewinnt oder verliert, anregen, auf ein höheres Energieniveau überzuwech-
genau der Differenz der Energieniveaus entspricht. Die seln. Dies ist von biologischer Bedeutung, weil es der
Pfeile zeigen einige mögliche stufenweise Änderungen erste Schritt in der Photosynthese ist, mit der Pflanzen
in der potenziellen Energie an. die Energie des Sonnenlichts zur Synthese von Koh-
Abbildung 2.6: Energieniveaus der Elektronen in einem Atom. lenhydraten aus Kohlendioxid und Wasser ausnutzen
Elektronen belegen in Atomen festgelegte Niveaus an potenzieller Ener- (mehr dazu in Kapitel 10). Wenn ein Elektron Energie
gie, die sogenannten Elektronenschalen. verliert, fällt es in eine näher beim Atomkern befind-

46
2.2 Die Atomstruktur bedingt die Eigenschaften eines Elements

liche Schale zurück. Die überschüssige Energie wird als Hinzufügung eines Protons und eines Elektrons (plus
elektromagnetische Strahlung emittiert (ultraviolettes ein oder mehr Neutronen). Ein vollständiges Perioden- Teil 1
oder sichtbares Licht). Die Elektronenübergänge zwi- system finden Sie ganz hinten im Buch.
schen verschiedenen Energieniveaus sind die Ursache Das einzige Elektron des Wasserstoffatoms und die
für die Farbigkeit vieler Substanzen, das Leuchten von zwei Elektronen des Heliumatoms belegen im Grund-
Glühbirnen und Leuchtstoffröhren und das Aufheizen zustand die erste Schale (K-Schale). Wie alle Materie
von Oberflächen. werden auch Elektronen einen Zustand geringstmög-
licher potenzieller Energie einnehmen. In einem Atom
mit ein oder zwei Elektronen ist dies die erste Elektro-
2.2.5 Elektronenverteilung und chemische nenschale, die durch maximal zwei Elektronen belegt
Eigenschaften werden kann. Wasserstoff und Helium sind deshalb
die beiden einzigen Elemente der ersten Periode. Ein
Das chemische Verhalten eines Atoms wird von der Atom mit mehr als zwei Elektronen muss eine weitere
Verteilung der Elektronen in seiner Elektronschale Elektronenschale ausbilden, weil die erste bereits voll
bestimmt. Ausgehend vom Wasserstoffnuklid 11 H, dem besetzt ist. Das dritte Element ist das Metall Lithium
einfachsten Atom überhaupt, können wir die Atome der mit drei Elektronen. Zwei davon besetzen die energie-
übrigen Elemente konstruieren, wenn wir jeweils ein arme erste Schale, das verbleibende besetzt die nächst-
Proton und ein Elektron hinzufügen (zusammen mit höhere L-Schale. Diese kann ein Maximum von acht
einer geeigneten Anzahl von Neutronen). Abbildung Elektronen aufnehmen. Das Edelgas Neon am Ende
2.7 zeigt eine stark gekürzte Fassung des Periodensys- dieser Periode enthält in der zweiten Schale acht Elek-
tems der Elemente mit der Anordnung der Elektronen tronen, die damit vollständig gefüllt ist, und eine
für die ersten 18 Elemente (Ordnungszahl 1–18) von Gesamtelektronenzahl von zehn.
Wasserstoff (1H) bis Argon (18Ar). Die Elemente sind in Das chemische Verhalten eines Atoms hängt in erster
drei Reihen – den Perioden – angeordnet. Die Periode Linie von der Zahl der Elektronen in der äußersten
gibt die Zahl der Elektronenschalen (Hauptenergie- besetzten Elektronenschale ab. Diese Schale wird
niveaus) in den Atomen wieder, die die betreffende Valenzschale genannt, die in ihr befindlichen Elektro-
Periode bevölkern. Die Abfolge der Elemente in einer nen Valenzelektronen. Im Fall des Lithiums ist die
Periode entspricht von links nach rechts jeweils der L-Schale die Valenzschale mit nur einem einzigen „ein-

Wasserstoff 2 Ordnungszahl Helium


1H He 2He
Atommasse 4,00 Elementsymbol
erste
Schale Elektronen-
schalen-
diagramm

Lithium Beryllium Bor Kohlenstoff Stickstoff Sauerstoff Fluor Neon


3Li 4Be 5B 6C 7N 8O 9F 10Ne

zweite
Schale

Natrium Magnesium Aluminium Silicium Phosphor Schwefel Chlor Argon


11Na 12Mg 13Al 14Si 15P 16S 17Cl 18Ar

dritte
Schale

Abbildung 2.7: Die Elektronenverteilung der ersten 18 Elemente des Periodensystems. Zu jedem chemischen Element sind bestimmte Infor-
mationen aufgeführt, wie im Ausschnitt am Beispiel des Heliums gezeigt. Elektronen werden durch gelbe Punkte symbolisiert und Elektronenschalen durch
konzentrische Ringe. Diese vereinfachten Darstellungen zeigen schematisch die Elektronenverteilung der Atome eines Elements, aber sie geben nicht die
Form der Aufenthaltsräume der Elektronen und die tatsächlichen Größenverhältnisse im Atom wieder. Die Elemente sind in Reihen („Perioden“) angeord-
net, in denen von links nach rechts eine Elektronenschale aufgefüllt wird. Neu hinzukommende Elektronen besetzen jeweils die verfügbaren Zustände mit
der niedrigsten Energie.

? Welchen Wert hat die Ordnungszahl von Magnesium? Wie viele Protonen und Elektronen enthält ein Magnesiumatom? Wie viele Elektronenschalen?
Wie viele Valenzelektronen?

47
2 Der chemische Kontext des Lebens

samen“ Valenzelektron. Atome mit der gleichen Anzahl trons mit beliebiger Genauigkeit zu kennen (Heisen-
Teil 1 von Valenzelektronen verhalten sich in chemischen berg’sche Unschärferelation). Man kann lediglich einen
Reaktionen ähnlich. So haben etwa das Fluor (9F) und Raum angeben, in dem das Elektron mit einer bestimm-
das Chlor (17Cl) jeweils sieben Valenzelektronen, und ten Wahrscheinlichkeit anzutreffen ist. Die Räume, in
beide bilden bei der Reaktion mit Elementen wie denen sich ein Elektron mit einer definierten, hohen
Natrium (siehe Abbildung 2.2) oder Lithium ähnliche, Wahrscheinlichkeit aufhält (üblicherweise 90, 95 oder
als Salze bezeichnete Verbindungen. Ein Atom mit einer 99 Prozent), heißen Orbitale.
voll besetzten Valenzschale ist unreaktiv, es neigt nicht Jede Elektronenschale eines Atoms hat ein definiertes
dazu, Reaktionen mit anderen Atomen einzugehen. Energieniveau mit einer festen Anzahl von Orbitalen
Ganz rechts im Periodensystem befinden sich Helium, unterschiedlicher Form und Ausrichtung im Raum. Die
Neon und Argon mit jeweils vollständig besetzten Anzahl der verschiedenen Orbitale jeder Elektronen-
Valenzschalen (siehe Abbildung 2.7). Diese Elemente schale hängt von deren Energiegehalt (der Hauptquan-
heißen Edelgase. Die Bezeichnung „edel“ deutet an, tenzahl) ab. Man kann sich die Orbitale als Komponen-
dass sie reaktionsträge sind. Alle anderen in Abbildung ten einer Elektronenschale vorstellen. In Abbildung
2.7 aufgeführten Atome sind mehr oder weniger reaktiv, 2.8 sind die Orbitale eines Neonatoms dargestellt. Die
weil sie unvollständige Valenzschalen mit Elektronen- erste, innerste Elektronenschale umfasst nur ein einzi-
lücken haben. ges, sphärisches Orbital, das 1s-Orbital heißt. Die zweite
Schale umfasst vier Orbitale: ein größeres sphärisches
2s-Orbital sowie drei hantelförmige 2p-Orbitale. Die
2.2.6 Atomorbitale dritte und alle weiteren Elektronenschalen enthalten
neben jeweils einem s- und drei p-Orbitalen zusätzliche
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Elektro- Orbitale mit noch komplizierterer Geometrie.
nenschalen eines Atoms als konzentrische Bahnen von Ein einzelnes Orbital kann in jedem Fall höchstens
um den Atomkern kreisenden Elektronen dargestellt, zwei Elektronen beherbergen. Die erste Elektronen-
die an Planeten auf ihren Umlaufbahnen erinnerten (so schale kann daher bis zu zwei Elektronen in ihrem ein-
wie auch wir es in Abbildung 2.7 getan haben). Es ist zelnen s-Orbital aufnehmen. Das einzelne Elektron
für manche Zwecke noch immer sinnvoll, diese Dar- eines Wasserstoffatoms besetzt im Grundzustand dieses
stellungsweise zu benutzen. Man darf jedoch nicht ver- 1s-Orbital, das Gleiche trifft für die beiden Elektronen
gessen, dass die Kreisbahnen Abstraktionen darstellen, des Heliumatoms zu. Die vier Orbitale der zweiten
die einen festen mittleren Abstand der Elektronen von- Schale können maximal acht Elektronen aufnehmen,
einander und vom Atomkern suggerieren, was keines- zwei im 2s-Orbital und sechs in den drei 2p-Orbitalen.
falls den wahren Verhältnissen in einem Atom ent- Die Elektronen in den Orbitalen einer Schale (eines
spricht. In der Realität ist es prinzipiell unmöglich, die Hauptenergieniveaus) besitzen sehr ähnliche Energien,
Energie und den genauen Aufenthaltsort eines Elek- die p-Orbitale (und die hier nicht besprochenen d- und

(a) Elektronenkonfiguration für ein Neon-Atom. Neon-Atom mit zwei vollständig besetzten Schalen
Es enthält insgesamt 10 Elektronen. Jeder Kreis stellt (10 Elektronen)
eine Elektronenschale dar, die in jeweils mehrere
Orbitale untergliedert sein kann.

erste Schale zweite Schale


(b) Einzelne Orbitale. Die dreidimensionalen Konturen
stellen Orbitale dar. Dies sind die mithilfe der
Quantenmechanik berechneten wahrscheinlichsten
Aufenthaltsräume der Elektronen. Jedes Orbital kann
höchstens zwei Elektronen beherbergen. Die erste
Elektronenschale (in der Abbildung links) umfasst nur
ein einziges Orbital. Es ist kugelförmig und wird als x y
1s-Orbital bezeichnet. Die zweite Elektronenschale
(rechts) umfasst ein etwas größeres, ebenfalls
kugelsymmetrisches 2s-Orbital und drei energetisch z
gleichwertige, hantelförmige 2p-Orbitale. Die drei
2p-Orbitale erstrecken sich im rechten Winkel 1s-Orbital 2s-Orbital drei 2p-Orbitale
zueinander entlang den Achsen in x-, y- und z-Richtung.
Zur Verdeutlichung ist jedes der 2p-Orbitale in einer
anderen Farbe umrandet.

(c) Überlagerte Orbitale. Für ein vollständiges Bild der


Orbitale eines Neon-Atoms sind hier das 1s-Orbital
der ersten Schale und das 2s- und die 2p-Orbitale
der zweiten Schale überlagert. 1s-, 2s- und 2p-Orbitale

Abbildung 2.8: Atomorbitale.

48
2.3 Die Bildung und Funktion von Molekülen hängen von den chemischen Bindungen zwischen den Atomen ab

f-Orbitale) sind energetisch sogar identisch („energe- net. Die beiden stärksten Formen der chemischen Bin-
tisch entartet“). Orbitale gleicher Energie weisen ledig- dung sind die Kovalenzbindung und die Ionenbindung Teil 1
lich in andere Raumrichtungen oder unterscheiden in Feststoffen.
sich in ihrer Form. So ist die maximale Besetzungszahl
von sechs für die drei 2p-Orbitale durch je zwei Elek-
tronen im 2px, 2py und 2pz-Orbital erklärbar, wobei die 2.3.1 Die kovalente Bindung
Indizes x, y und z die drei Raumrichtungen angeben.
Die Reaktivität eines Atoms beruht auf dem Vor- Unter einer kovalenten Bindung versteht man die
handensein ungepaarter Elektronen in einem oder gemeinschaftliche Nutzung eines Valenzelektronen-
mehreren Orbitalen seiner Valenzschale. Wie wir im paares durch zwei Atome. Betrachten wir als Beispiel
nächsten Abschnitt sehen werden, reagieren Atome die Annäherung zweier Wasserstoffatome. Wir erinnern
miteinander, indem sie ihre Valenzschalen möglichst uns, dass in einem Wasserstoffatom die einzige (erste)
ganz auffüllen. Dabei sind meistens ihre ungepaarten Elektronenschale von einem einzigen (Valenz-)Elektron
Elektronen beteiligt. besetzt ist. Diese Schale kann höchstens zwei Elektro-
nen aufnehmen und ist dann voll besetzt. Wenn zwei
Wasserstoffatome sich nahe genug kommen, so dass es
 Wiederholungsfragen 2.2 zu einer Überlappung der beiden 1s-Orbitale kommt,
können die beiden Elektronen der zwei Atome „gemein-
1. Ein Lithiumatom enthält drei Protonen und vier schaftlich genutzt“ werden (Abbildung 2.9). Jedes
Neutronen. Wie groß ist seine Massenzahl? H-Atom verfügt nunmehr weitgehend über zwei Elek-
2. Ein Stickstoffatom enthält sieben Protonen, tronen in der Umgebung seines Atomkerns und damit
und das häufigste Stickstoffisotop enthält zu- über eine abgeschlossene Valenzschale. Zwei oder mehr
sätzlich sieben Neutronen. Ein radioaktives Atome, die durch kovalente Bindungen zusammen-
Sickstoffisotop enthält acht Neutronen. Schrei- gehalten werden, bezeichnet man als ein Molekül. In
ben Sie das Elementsymbol des Isotops mit unserem Beispiel entsteht ein Wasserstoffmolekül.
Angabe der Ordnungs- und der Massenzahl als
hoch- beziehungsweise tiefgestellte Indizes. Wasserstoffatome (2 H)
1 In jedem Wasser-
stoffatom wird das
3. Wie viele Elektronen besitzt ein Fluoratom? einzelne Elektron
Wie viele Elektronenschalen? Geben Sie die durch die elektro- + +
besetzten Orbitale an. Wie viele Elektronen wä- statische Anziehung
ren nötig, um die Valenzschale aufzufüllen? des Atomkerns in
seinem Orbital
4. WAS WÄRE, WENN? Was haben zwei oder mehr festgehalten.
Elemente, die in Abbildung 2.7 in derselben 2 Wenn sich zwei
Reihe liegen, gemeinsam? Was, wenn sie in Wasserstoffatome
einander annähern,
der gleichen Spalte stehen?
wird das Elektron + +
jedes der Atome
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. zunehmend auch
vom Atomkern des
anderen Atoms
angezogen.
3 Schließlich teilen sich
Die Bildung und Funktion von die beiden Elektronen
Molekülen hängen von den ein gemeinsames
Orbital; zwischen den + +
chemischen Bindungen Atomen hat sich eine
zwischen den Atomen ab
2.3 kovalente Bindung
ausgebildet. Ein Wasser-
stoffmolekül (H2)
ist entstanden.
Wasserstoff-
molekül (H2)
Nachdem wir uns mit der Atomstruktur vertraut Abbildung 2.9: Ausbildung einer kovalenten Bindung.
gemacht haben, wechseln wir in der Hierarchie der
Strukturbildung eine Stufe nach oben, um zu sehen, wie
Atome miteinander reagieren und Moleküle oder ioni- Die gemeinsame Nutzung von Elektronen lässt sich über-
sche Verbindungen bilden. Atome mit unvollständigen sichtlich mit den Elementsymbolen darstellen. Die um
Valenzschalen können mit bestimmten anderen Atomen das Elementsymbol gruppierten Punkte symbolisieren
derart wechselwirken, dass jeder Partner seine Valenz- die Elektronen der Valenzschale. Derartige Formelbilder
schale vervollständigt. Dabei teilen sich die Atome ihre werden nach ihrem Urheber Lewis-Formeln genannt.
Elektronen oder übertragen sie. Die Wechselwirkungen Die Lewis-Formel eines Wasserstoffmoleküls ist H:H
führen dazu, dass die Atome eng beieinander bleiben (Abbildung 2.10a). Eine alternative Darstellung ist H-H;
und dabei von Anziehungskräften zusammengehalten diesen Formeltyp nennt man Valenzstrichformel. Hier-
werden, die man als chemische Bindung(en) bezeich- bei symbolisiert der Strich das bindende Elektronenpaar

49
2 Der chemische Kontext des Lebens

(= die Einfachbindung) zwischen den beiden Wasser- zu ermitteln, indem Sie die Elektronenverteilungsdia-
Teil 1 stoffatomen. Eine dritte, noch weiter verdichtete Formel- gramme der Abbildung 2.7 betrachten. Offenbar ist die
schreibung gibt das Wasserstoffmolekül als H2 wieder. Bindigkeit des Wasserstoffs 1, die des Sauerstoffs 2, die
Diese Darstellungsweise wird Summenformel genannt. des Stickstoffs 3 und die des Kohlenstoffs 4. Man sagt
Summenformeln geben die atommengenmäßige (stö- auch, der Kohlenstoff habe vier „Valenzen“, „Bindungs-
chiometrische) Zusammensetzung einer chemischen plätze“, „ist vierwertig“ o.ä. (für die anderen Elemente
Verbindung an, sagen aber nichts über das Bindungs- entsprechend). Die Verhältnisse sind jedoch in vielen
muster der beteiligten Atome aus. Der tatsächlichen Ge- Fällen (vor allem bei Elementen der dritten und nach-
stalt eines Moleküls kommen die raumfüllenden Kalot- folgenden Perioden) komplizierter – so etwa beim Phos-
tenmodelle wie in Abbildung 2.10 am nächsten. Die phor (15P), der in biologischen Systemen eine wichtige
sogenannten Kugel-Stab-Modelle in Abbildung 2.15 Rolle spielt. Phosphor tritt häufig mit drei Bindungen
bilden dagegen die Bindungswinkel zwischen den auf, wie man es aus der Zahl von drei ungepaarten Elek-
Atomen deutlicher ab. tronen in seiner Valenzschale erwarten würde. In biolo-
Sauerstoffatome weisen in der zweiten Elektronen- gisch wichtigen Molekülen kann Phosphor jedoch außer
schale (L-Schale) sechs Elektronen auf. Um diese den drei Einfachbindungen auch noch eine Doppelbin-
Valenzschale zu füllen, fehlen mithin noch zwei Elektro- dung ausbilden.
nen. „Elementarer Sauerstoff“ liegt als O2-Molekül vor,
in dem die beiden Atome gegenseitig ihre Valenzelek- Lewis- raum-
tronenlücken ergänzen. Allerdings sind die Bindungs- Name Elektronen- und füllende
verhältnisse im Sauerstoffmolekül komplizierter, als es und schalen- Valenz- Modelle
zunächst scheinen mag. Wir hatten erwähnt, dass jedes Summenformel diagramm strich- (Kalotten-
formeln modelle)
Orbital maximal zwei Elektronen aufnehmen kann.
Diese beiden Elektronen müssen sich in einer weiteren (a) Wasserstoff (H2).
Zwei Wasserstoff- H •• H
Eigenschaft voneinander unterscheiden, dem sogenann-
atome bilden eine H H
ten spin. Das ist eine quantenmechanische Eigenschaft, Einfachbindung. H H
die sich klassisch noch am ehesten als eine Art Drehim-
puls verstehen lässt. In Anbetracht der „Drehrichtung“
(b) Sauerstoff (O2).
gibt es also genau zwei Arten spin, die in voll besetzten




Zwei Sauerstoffatome O •• •• O
Orbitalen jeweils kombiniert werden. Die drei p-Orbitale




teilen sich zwei Elek- O O
werden nun jeweils so aufgefüllt, dass jedes zunächst tronenpaare und

mit nur einem Elektron besetzt wird (dies gilt für die bilden eine Doppel- O • O
bindung aus.
Elemente 5B, 6C und 7N) und erst dann die Vollbeset-
zung erfolgt. Somit hat Sauerstoff (8O) ein voll besetztes (c) Wasser (H2O).
px-Orbital und die beiden mit nur je einem Elektron Zwei Wasserstoff-




• O •• H
besetzten py- und pz-Orbitale. Im O2-Molekül führt dies atome und ein Sauer-



stoffatom sind durch O H H
dazu, dass zwei Bindungselektronen ungepaart bleiben,
kovalente Einfach-
das Sauerstoffmolekül befindet sich im sogenannten bindungen zu einem H O H
Triplett-Zustand. Dies bedingt eine Art Zwischen- gewinkelten Wasser-
H
stellung der Bindung(en) im Sauerstoffmolekül: Einer- molekül miteinander
seits haben sie Doppelbindungs-Charakter ( O = O ), verbunden.
der jedoch durch besetzte, sogenannte antibindende (d) Methan (CH4). H
(Molekül)orbitale gemindert wird ( O − O ). Anderer-

Vier Wasserstoff- H H •• C •• H

seits bringen die beiden ungepaarten Elektronen eine atome sättigen die H
gewisse Reaktionsfreudigkeit mit sich, die üblicher- Valenzen eines H C H
H
weise für sogenannte Radikale charakteristisch ist. Kohlenstoffatoms
ab; dabei wird ein H C H
Dem trägt die folgende „Zwitterdarstellung“ noch am Methanmolekül H

ehesten Rechnung ( O ÷ O ; Abbildung 2.10b). Häufig gebildet. H


werden diese Feinheiten in der vereinfachten Schreib-
weise O=O vernachlässigt. Abbildung 2.10: Vier unterschiedliche Moleküle mit kovalenten
Vereinfacht gesagt entspricht die Zahl der verfügbaren Bindungen. Eine Kovalenzbindung besteht aus einem Paar gemeinsam
Valenzelektronen beziehungsweise der zum Erreichen genutzter Elektronen. Die Zahl der Elektronen, die notwendig sind, um die
einer vollständig gefüllten Valenzschale erforderlichen Valenzschale eines Atoms zu vervollständigen, legt oft fest, wie viele
Elektronen der Bindungsfähigkeit, das heißt der Zahl Bindungen das Atom ausbilden wird. Vier verschiedene Darstellungsarten der
der kovalenten Bindungen, die ein Atom ausbilden kovalenten Bindungen werden hier vorgestellt. Das raumfüllende Kalotten-
modell kommt der tatsächlichen Form und Größe der Moleküle am nächsten
kann. Man spricht von der Bindigkeit des Atoms. Durch
(siehe auch Abbildung 2.15 ). Die Striche oben und neben den Sauerstoffato-
die Ausbildung von chemischen Bindungen erlangen
men deuten in Valenzstrichformeln die Existenz freier Elektronenpaare an.
die beteiligten Atome also in vielen Fällen eine voll-
ständig besetzte Valenzschale. Die kovalente Bindigkeit
eines Sauerstoffatoms ist 2, da dem Sauerstoffatom zwei Die Moleküle H2 und O2 sind homoatomare Ver-
Valenzelektronen „fehlen“. Versuchen Sie, auch die bindungen, also Verbindungen des reinen Elements
Bindigkeit von Wasserstoff, Stickstoff und Kohlenstoff mit sich selbst. Sie stellen die gewöhnlichen Erschei-

50
2.3 Die Bildung und Funktion von Molekülen hängen von den chemischen Bindungen zwischen den Atomen ab

nungsformen dieser Elemente dar. Wasser mit seiner kerns auf als in der des Wasserstoffatomkerns. Da die
bekannten Formel H2O ist dagegen eine Verbindung Elektronen negative elektrische Ladungen tragen, führt Teil 1
aus Atomen zweier unterschiedlicher Elemente. Zwei diese Ungleichverteilung dazu, dass das Wassermolekül
Wasserstoffatome sättigen die Valenzen (Bindungsstel- polarisiert ist. Das Sauerstoffatom trägt eine negative
len) eines einzelnen Sauerstoffatoms ab. Abbildung Teilladung (Symbol δ–), die beiden Wasserstoffatome
2.10c zeigt die Struktur des Wassermoleküls. Wasser positive (δ+); das Wassermolekül ist ein sogenannter
ist für lebende Systeme so bedeutungsvoll, dass das Dipol. Im Gegensatz dazu sind die C-H-Bindungen im
gesamte Kapitel 3 seinem Aufbau und seinem Ver- Methanmolekül (CH4) nur sehr wenig polarisiert, weil
halten gewidmet ist. der Elektronegativitätsunterschied der C-H-Bindung
Eine weitere heteroatomare Verbindung ist das Me- viel geringer ist als der einer O-H-Bindung.
than, der Hauptbestandteil von Erdgas. Seine Summen-
formel ist CH4 (Abbildung 2.10d). Vier einwertige
Wasserstoffatome sind notwendig, um die vier Valenzen 2.3.2 Die Ionenbindung
des Kohlenstoffatoms abzusättigen. In Kapitel 4 werden
wir viele weitere Verbindungen des Kohlenstoffs ken- In manchen Fällen ist der Unterschied in der Elektro-
nenlernen. nenanziehung so groß, dass das elektronegativere Atom
Das Bestreben eines Atoms, in einer kovalenten ein oder mehrere Elektronen vollständig von seinem
Bindung Elektronen in den Bereich seines Atomkerns Reaktionspartner abzieht und zwei entgegengesetzt
zu ziehen, wird dessen Elektronegativität genannt. Je geladene Teilchen entstehen. Ein solches Atom oder
elektronegativer ein Atom ist, desto stärker zieht es die Molekül mit einer oder mehreren Nettoladungen (Über-
Bindungselektronen zu sich hin. Bei einer Kovalenz- schussladungen) heißt Ion. Wenn die Überschuss-
bindung zwischen gleichartigen Atomen (zwei Atomen ladung positiv ist, spricht man von einem Kation, nega-
desselben Elements) ist der Zug auf die Elektronen tiv geladene Ionen heißen Anionen. Aufgrund ihrer
natürlich gleich groß, da beide Atome die gleiche Elek- entgegengesetzten elektrischen Ladungen ziehen sich
tronegativität haben. Eine Bindung, in der eine solche Kationen und Anionen wechselseitig an, es entsteht
gleichmäßige Verteilung beziehungsweise Nutzung der eine Ionenbindung oder elektrostatische Bindung. Die
Elektronen stattfindet, stellt eine unpolare Kovalenz- reine Übertragung eines Elektrons an sich stellt noch
bindung dar. Die kovalenten Bindungen homoatomarer keine Bindungsbildung dar, die ergibt sich erst durch
Moleküle wie H2 oder O2 sind Beispiele für unpolare die (Coulomb-)Wechselwirkung der elektrischen Felder
Bindungen. In Verbindungen mit Atomen sehr unter- der Ionen. Auch ist die gegenseitige Übertragung von
schiedlicher Elektronegativität kommt es zu einer Elektronen keine Voraussetzung für die Bindungsbil-
Ungleichverteilung der Bindungselektronen. Dieser dung. Zwei oder mehr beliebige Ionen entgegengesetzter
Typ der chemischen Bindung heißt polare Kovalenz- Ladung können eine Ionenbindung ausbilden (soweit
bindung. Das Ausmaß der Polarität kann abhängig von ihre räumlichen Verhältnisse dies zulassen).
den Elektronegativitäten der beteiligten Atome in Unter Umständen kann die Bindungsbildung sogar
weiten Grenzen schwanken. So sind etwa die Bindun- noch durch das Bestreben eines Reaktionspartners, Elek-
gen zwischen dem Sauerstoff- und den beiden Wasser- tronen nicht hinzuzugewinnen, sondern abzugeben,
stoffatomen im Wassermolekül stark polar (Abbildung erleichtert werden. Betrachten wir die Reaktion eines
2.11). Sauerstoff ist nach Fluor das zweitstärkste elek- Natriumatoms (11Na) mit einem Chloratom (17Cl;
tronegative Element und zieht deshalb Elektronen viel Abbildung 2.12). Ein Natriumatom besitzt insgesamt
mehr zu sich hin als Wasserstoff. In einer kovalenten elf Elektronen, ein einzelnes Valenzelektron bevölkert
Bindung zwischen einem Sauerstoff- und einem allein die dritte Elektronenschale (M-Schale). Ein Chlor-
Wasserstoffatom halten sich die Bindungselektronen im atom besitzt 17 Elektronen, sieben davon in seiner
zeitlichen Mittel mehr in der Nähe des Sauerstoffatom- Valenzschale. Wenn diese beiden Atome zusammen-
kommen, geht das einsame Valenzelektron des Natriums
Da Sauerstoff (O) elektronegativer als Wasserstoff (H) ist, auf das Chloratom über, und die resultierenden Ionen
sind die Bindungselektronen zum Sauerstoffatom hin gehen mit abgeschlossenen (= vollständig besetzten)
verschoben (die Bindung ist polarisiert).
Valenzschalen aus der Reaktion hervor (die zweite
δ– Schale wird zur Valenzschale des Natriumions, da die
Dies führt zu einer dritte Schale jetzt leer ist). Die Elektronenübertragung
negativen Teilladung zwischen den beiden Atomen verschiebt eine negative
am Sauerstoffatom elektrische Ladung von Natrium zum Chlor. Das
und positiven Teil-
O ladungen an den Natriumatom mit elf Protonen, aber nur noch zehn
Wasserstoffatomen. Elektronen, trägt eine positive Überschussladung (Netto-
ladung, +1), es ist durch die Reaktion zum Natrium-
H H Kation geworden. Das Chloratom hat bei der Reaktion
δ+ δ+ ein Elektron hinzugewonnen. Seinen 17 Protonen ste-
H2O
hen nunmehr 18 Elektronen gegenüber, was eine elektri-
Abbildung 2.11: Polare Kovalenzbindungen in einem Wasser- sche Nettoladung von –1 für das Chlorid-Anion ergibt.
molekül.

51
2 Der chemische Kontext des Lebens

Abbildung 2.12: Elektronen-


1 Das einzelne Valenzelektron eines Natrium- 2 Beide Ionen weisen nun eine abge-
Teil 1 übertragung und Ionenbin- atoms wird auf das Chloratom übertragen schlossene Valenzschale auf. Zwischen
dung. Eine Ionenbindung wird und ergänzt dort dessen 7 Valenzelektronen den entgegengesetzt geladenen Ionen
durch die Anziehung zwischen zu einer komplett gefüllten Schale. kann sich eine Ionenbindung ausbilden.
entgegengesetzt geladenen Ionen + –
(Kationen (+), Anionen (–) be-
wirkt. Sie kann sich auch dann
ausbilden, wenn die Ionen nicht
zuvor durch direkten Elektronen- Na Cl Na Cl
transfer entstanden sind, sondern
Elektronen auf andere Partner
übertragen haben.
Na Cl Na+ Cl–
Natriumatom Chloratom Natriumion Chloridion
(ein Kation) (ein Anion)

Natriumchlorid (NaCl)

Aus Ionen aufgebaute chemische Verbindungen bezeich- Der Begriff Ion wird auf Moleküle mit elektrischen Über-
net man als Salze. Die aus Ionen bestehende Verbindung schussladungen ebenso angewendet wie auf Atome. In
Natriumchlorid (Na+Cl–) ist das allgemein bekannte dem Salz Ammoniumchlorid (NH4Cl) ist das Anion das
Koch- oder Speisesalz (Abbildung 2.13). Salze finden uns schon bekannte Chloridion, das Kation dagegen ein
sich in der Natur oft als kristalline Feststoffe verschiede- zusammengesetztes Teilchen namens Ammoniumion,
ner Form und Größe. Jeder Salzkristall ist ein Aggregat NH4+. Es besteht, wie die Formel zeigt, aus einem
aus einer riesigen Zahl von Kationen und Anionen, die zentralen Stickstoffatom, an das vier Wasserstoffatome
durch ihre elektrische Anziehung in einem regelmäßi- gebunden sind (vergleichen Sie dies mit dem oben
gen Raumgitter, dem Kristallgitter, zusammengehalten erwähnten Methan!). Das Ammoniumion als Ganzes
werden. Anders als kovalente Verbindungen, die aus trägt eine positive Gesamtladung (+1), da ein Elektron
Molekülen definierter Größe und Anzahl der sie konsti- fehlt, um alle Kernladungen zu kompensieren.
tuierenden Atome bestehen, ist ein Salzkristall ein Die chemische Umgebung beeinflusst die Stärke von
einziges, in seiner Größe nicht prinzipiell beschränk- Ionenbindungen. In einem trockenen Kochsalzkristall
tes Riesenmolekül. Die Summenformel einer ionischen sind diese Bindungen so stark, dass man mit einem
Verbindung wie NaCl gibt nur das stöchiometrische Ver- Hammer auf den Kristall schlagen muss, um Stücke
hältnis der Elemente im Kristall an. „NaCl“ selbst ist abzusprengen. Wird derselbe Salzkristall in Wasser auf-
aber kein isolierbares Molekül. gelöst, nimmt die Wechselwirkung zwischen den Ionen
so stark ab, dass gar kein regelmäßiger Verband mehr
bestehen bleibt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass
die sich zwischen die Ionen drängenden Wassermole-
küle die elektrischen Ladungen so weit abschirmen,
Na+ dass die Anziehung nicht mehr ausreicht, einen starren
Cl– Festkörper zu bilden. Die meisten Medikamenten-
wirkstoffe werden als Salze hergestellt, weil sie dann
im getrockneten Zustand ziemlich stabil sind, sich aber
verhältnismäßig leicht in Wasser auflösen. Im nächsten
Kapitel werden Sie erfahren, was bei der Auflösung
Abbildung 2.13: Ein Kochsalzkristall. Das Natrium-Kation (Na+) und von Salzen in Wasser im Detail passiert.
das Chlorid-Anion (Cl–) werden durch ionische Wechselwirkungen (Ionen-
bindung) zusammengehalten. Die Summenformel NaCl gibt an, dass das
Teilchenverhältnis von Na+ zu Cl– 1:1 ist. 2.3.3 Schwache, nichtkovalente
Bindungstypen
Nicht alle Salze weisen gleiche Anzahlen von Kationen
und Anionen auf. Das ebenfalls aus Ionen bestehende In lebenden Organismen sind die meisten starken che-
Magnesiumchlorid beispielsweise besitzt die Summen- mischen Bindungen, durch die Atome zu den Molekü-
formel MgCl2 – auf ein Magnesiumion kommen hier len einer Zelle verknüpft sind, kovalente Bindungen.
zwei Chloridionen. Ein Magnesiumatom (12Mg) muss Darüber hinaus sind schwache Wechselwirkungen
seine beiden Außenelektronen abgeben, um eine abge- (nichtkovalente Bindungen) innerhalb von Molekülen
schlossene Valenzschale („Edelgaskonfiguration“) zu (intramolekular) und zwischen ihnen (intermolekular)
erreichen. Es ist daher bestrebt, zweifach positiv gela- entscheidend. Die wichtigsten biologischen Großmole-
dene Ionen (zweiwertige Kationen) zu bilden (Mg2+). küle werden durch schwache, nichtkovalente Bindun-
Ein Magnesiumion kann folglich die Ladungen zweier gen in ihrer Form gehalten. Außerdem können zwei
einfach geladener Chloridionen (Cl–) kompensieren. oder mehr Moleküle, die in einer Zelle in Kontakt mit-
Das Ionenverhältnis im nach außen elektrisch neutra- einander treten, durch solche schwachen, leicht wieder
len Magnesiumchlorid-Kristall beträgt 1:2. lösbaren Bindungen zeitweilig aneinander „kleben“.

52
2.3 Die Bildung und Funktion von Molekülen hängen von den chemischen Bindungen zwischen den Atomen ab

Die Reversibilität der schwachen Bindungen kann von und in einem Molekül nicht immer homogen verteilt. In
Vorteil sein: Zwei Moleküle können zusammenkom- jedem Moment können sie sich zufällig in einem Bereich Teil 1
men, in irgendeiner Weise auf die Anwesenheit des eines Moleküls stärker anhäufen und so zu einer zeit-
anderen reagieren und sich dann wieder trennen (tran- weiligen Ladungsverschiebung führen (Dipolbildung).
siente Wechselwirkungen). Schließlich können zahlrei- Das Ergebnis sind sich beständig ändernde Bereiche
che schwache Wechselwirkungen, die in der Summe positiver und negativer Ladung. Die daraus resultie-
(gleichzeitig) zusammenwirken, einen ebenso großen renden dynamischen Wechselwirkungen führen nach
strukturgebenden Beitrag leisten wie eine geringere Synchronisation zu einer Anziehung zwischen allen
Anzahl von Kovalenz- oder Ionenbindungen. Atomen und Molekülen. Diese fluktuierenden Wechsel-
Bestimmte Formen schwacher, nichtkovalenter Bin- wirkungen sind sehr schwach (das heißt, sie haben eine
dungen sind für Lebewesen von besonderer Bedeutung. geringe Energie) und werden nach ihrem Entdecker
Eine beruht auf abgeschwächten Coulomb-Wechsel- Van-der-Waals-Wechselwirkungen genannt (Johannes
wirkungen zwischen in Wasser gelösten Ionen, wie wir van der Waals, holländischer Physiker, 1837–1923). Sie
soeben dargelegt haben. Weitere schwache Bindungen treten nur dann auf, wenn Atome beziehungsweise
sind die Wasserstoffbrückenbindung und Van-der- Moleküle sich sehr nahe kommen. Trotz des sehr gerin-
Waals-Wechselwirkungen. Beide sind von entscheiden- gen Energiebeitrags jeder einzelnen Van-der-Waals-
der Bedeutung für viele Lebensvorgänge. Wechselwirkung können sie immer dann, wenn viele
dieser Wechselwirkungen simultan auftreten, durchaus
Wasserstoffbrückenbindungen relativ starke Bindungen ausbilden. Van-der-Waals-
Unter den verschiedenen Formen der schwachen Bin- Wechselwirkungen erlauben einem Gecko (unten rechts
dungen ist die Wasserstoffbrückenbindung von solcher im Bild), an einer Wand hinaufzukriechen. An den
Wichtigkeit für die Chemie der Lebensvorgänge, dass sie Zehenspitzen besitzt jeder Gecko Hunderttausende win-
eine gesonderte Betrachtung rechtfertigt. Eine Wasser- ziger Härchen, die an ihren Spitzen ihrerseits in mehre-
stoffbrückenbindung kommt dadurch zustande, dass ren, noch feineren Ausläufern enden. Dies erhöht die
ein kovalent an ein deutlich elektronegativeres Atom wirksame Oberfläche enorm. Offenbar sind Van-der-
gebundenes Wasserstoffatom eine positive Teilladung Waals-Wechselwirkungen zwischen den Molekülen
ausbildet und dann von einem weiteren stark elektrone- an diesen Haarspitzen und den Molekülen des Unter-
gativen Atom in der Nähe angezogen wird. In der leben- grunds, ungeachtet der Schwäche der Einzelwechsel-
den Zelle sind diese elektronegativen Partneratome wirkung, in ihrer Summe ausreichend, um das
meist Sauerstoff- oder Stickstoffatome. Abbildung 2.14 Gewicht des Gecko-Körpers zu halten, wenn dieser
zeigt das Beispiel einer Wasserstoffbrückenbildung zwi- aufrecht an einer Wand oder einem Baum „klebt“.
schen Wasser (H2O) und Ammoniak (NH3). Van-der-Waals-Wechselwirkungen, Wasserstoffbrü-
ckenbindungen, elektrostatische Anziehungen von Io-
δ– δ+ nen in Lösung und andere Formen schwacher Bindun-
gen können sich nicht nur zwischen verschiedenen
Wasser H
O Molekülen, sondern auch zwischen unterschiedlichen
(H2O)
Bereichen eines einzigen Riesenmoleküls ausbilden.
Eine Wasserstoffbrücken-
Solche Makromoleküle sind zum Beispiel die Prote-
bindung entsteht zum
Beispiel durch die An- ine. Obwohl jede einzelne dieser Wechselwirkungen
H
δ+ ziehung zwischen der schwach ist, summieren sie
positiven Teilladung sich so, dass sie die
δ– eines Wasserstoffatoms Raumstruktur ei-
in einem Wassermolekül
und der negativen Teil- nes sehr großen
Ammoniak ladung eines Stickstoff- Moleküls stabili-
N
(NH3) atoms in einem Ammo- sieren (Synergis-
niakmolekül. mus). Über die bio-
H H
δ+ δ+ logische Rolle schwa-
H cher Bindungen werden Sie
in Kapitel 5 mehr erfahren.
δ+
Abbildung 2.14: Eine Wasserstoffbrückenbindung.
2.3.4 Molekülform und -funktion
ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie Strukturformeln von fünf Wassermole-
külen, bezeichnen Sie die Partialladungen mit Symbolen und zeigen Sie, Ein Molekül hat eine charakteristische Größe und Form,
wie die Moleküle untereinander Wasserstoffbrücken ausbilden können. die für seine Funktion in der lebenden Zelle von aus-
schlaggebender Bedeutung sind. Ein aus zwei Atomen
Van-der-Waals-Wechselwirkungen bestehendes Molekül wie H2 oder O2 ist notwendiger-
Selbst ein Molekül ohne polare Kovalenzbindungen weise linear, aber die meisten Moleküle mit mehr als
kann vorübergehend Bereiche mit positivem und nega- zwei Atomen besitzen kompliziertere Strukturen. Die
tivem Ladungsüberschuss aufweisen. Die Elektronen Molekülstruktur wird von der Ausrichtung der an der
von Atomen und Molekülen sind ständig in Bewegung Bindungsbildung beteiligten Atomorbitale und weiteren

53
2 Der chemische Kontext des Lebens

Faktoren bestimmt (Abbildung 2.15). Wenn ein Atom orbitale sind mit je einem Elektronenpaar („freie“ oder
Teil 1 kovalente Bindungen ausbildet, ordnen sich in bestimm- „einsame“ Elektronenpaare) besetzt. Das Ergebnis ist
ten Fällen die Orbitale der Valenzschale neu. 2s- und 2p- ein V-förmiges Molekül, dessen Bindungswinkel im
Orbitale unterscheiden sich zwar durch ihre Form, aber Mittel 104,5° beträgt.
nicht sehr stark in ihren Energieniveaus. Bei Atomen mit Das Methanmolekül (CH4) besitzt die Form eines
Valenzelektronen in s- und p-Orbitalen (Abbildung 2.8) regelmäßigen Tetraeders, weil alle vier sp3-Hybrid-
können das eine s- und ein, zwei oder auch alle drei orbitale des Kohlenstoffatoms Bindungen zu Wasser-
p-Orbitale in energetisch gleichwertige Hybridorbitale stoffatomen ausgebildet haben (Abbildung 2.15b).
übergehen. Im Fall der Hybridisierung von einem s- und Der Kern des C-Atoms liegt in der Mitte des Tetra-
allen drei p-Orbitalen (sp3) entstehen vier tropfen- eders, die vier kovalenten Bindungen zu den H-Ato-
förmige Hybridorbitale, die in die Ecken eines regel- men weisen in seine Ecken. Größere Moleküle mit
mäßigen Tetraeders weisen (Abbildung 2.15a). mehreren Kohlenstoffatomen – das sind die meisten
am Aufbau lebender Materie beteiligten Moleküle –
s-Orbital drei p-Orbitale vier sp3-Hybridorbitale haben komplexere Strukturen. Die tetraedrische Kon-
z figuration des Kohlenstoffatoms ist jedoch in diesen
Molekülen ein immer wiederkehrendes Motiv.
x Die Molekülgestalt ist von entscheidender Bedeutung
für biochemische Vorgänge, weil sie darüber bestimmt,
wie biologische Moleküle sich gegenseitig erkennen
y
und mit hoher Spezifität reagieren. Nur Moleküle mit
komplementären Strukturen können schwache Wech-
Tetraeder selwirkungen miteinander eingehen. Diese Spezifität
(a) Hybridisierung von Orbitalen bei kovalenten Bindungen. lässt sich an der Wirkung von Opiaten, das sind aus
Das einzelne s- und die drei p-Orbitale in der Valenzschale den Inhaltsstoffen des Opiums hergeleitete Wirkstoffe,
eines Atoms verschmelzen zu vier „tropfenförmigen“ ablesen. Die narkotisierende Wirkung des Opiums ist
sp3-Hybridorbitalen. Diese Hybridorbitale weisen in die
vier Ecken eines regelmäßigen Tetraeders (roter Umriss). seit alters her bekannt. Im 19. Jahrhundert wurde von
dem deutschen Apotheker Sertürner aus Opium das
Alkaloid Morphin als wirksames Prinzip isoliert. Aus
Kalotten- Kugel-Stab- Hybridorbitalmodell
modell Modell (mit überlagertem diesem wurde später durch chemische Derivatisierung
Kugel-Stab-Modell) das Heroin synthetisiert. Diese äußerst effektiven Opi-
ate wirken stark schmerzlindernd, verändern gleich-
freies Elektronenpaar zeitig aber auch das Bewusstsein, da sie an bestimmte
Rezeptoren in der Zellmembran mancher Neurone im
O Zentralnervensystem binden. Diese Rezeptoren heißen
H H O deswegen Opiatrezeptoren. Warum enthalten Gehirn-
104,5° H H zellen Rezeptoren für Opiate, also für Moleküle, die der
Körper selbst gar nicht herstellt? Die Entdeckung der
Wasser (H2O) Endorphine im Jahr 1975 lieferte eine Antwort auf
diese Frage. Endorphine sind Signalmoleküle, die von
H
der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) gebildet werden und
H
die an die Opiatrezeptoren binden. Sie wirken ebenfalls
schmerzlindernd und können bei bestimmten Formen
C C
H H
von Stress, wie dem bei intensiver körperlicher Anstren-
H H
gung, sogar euphorisieren. Opiatmoleküle enthalten
H H
Bereiche, die Endorphinen ähneln und ihre Wirkung
Methan (CH4) durch Bindung an die gleichen Rezeptoren im Gehirn
nachahmen, so dass Opiate und Endorphine an sich
(b) Molekülstrukturmodelle. Dargestellt sind drei Modelle, ähnliche Effekte hervorrufen (Abbildung 2.16). Aller-
welche die molekularen Umrisse von Wasser und Methan dings ist die Passform der Opiumalkaloide oder ihrer
wiedergeben. Der Umriss eines Moleküls wird durch die biochemischen Abbauprodukte nicht mit der drei-
Orientierung der Hybridorbitale bestimmt.
dimensionalen Struktur der Endorphine identisch, wor-
Abbildung 2.15: Molekülstrukturen als Folge der Orbitalhybridi- auf einerseits eine stärkere Wirkung, andererseits aber
sierung. eine schlechtere Regulation zurückgeht. Aus dieser
Kombination resultiert die gefährliche Suchtwirkung.
Im Fall des Wassermoleküls (H2O) bilden zwei der Die Bedeutung der Molekülgestalt für biochemische
vier sp3-Hybridorbitale in der Valenzschale des Sau- Reaktionen des Gehirns illustriert das Verhältnis von
erstoffatoms Bindungen zu Wasserstoffatomen aus Struktur und Funktion, einem der vereinheitlichenden
(Abbildung 2.15b). Die beiden verbleibenden Hybrid- Zentralthemen der molekularen Biologie.

54
2.4 Bindungen werden im Verlauf chemischer Reaktionen gebildet und gebrochen

Legende: Bindungen werden im Verlauf


Teil 1
Kohlenstoff Stickstoff chemischer Reaktionen

natürliches Endorphin
Wasserstoff Schwefel
Sauerstoff
gebildet und gebrochen
2.4
Chemische Reaktionen sind die Ausbildung und Auf-
Morphin lösung chemischer Bindungen, die mit einer Verände-
rung der Zusammensetzung oder des Zustandes von
Materie einhergehen. Ein einfaches Beispiel für eine
chemische Reaktion ist die Umsetzung von Wasser-
stoff mit Sauerstoff zu Wasser:

(a) Die Strukturen von Endorphin und Morphin. Der umrandete


Teil des Endorphinmoleküls (links) bindet an Rezeptormoleküle auf
Zielzellen im Gehirn. Der umrandete Teil des Morphinmoleküls
2 H2 + O2 2 H2O
(rechts) sieht sehr ähnlich aus.
Reaktanden Reaktion Reaktions-
produkte

natürliches
Endorphin Morphin Diese Reaktion geht mit der Auflösung der kovalenten
Bindungen von H2 und O2 einher und führt zur Bil-
dung neuer kovalenter Bindungen – denen des H2O-
Moleküls. Wenn man die Gleichung einer chemischen
Reaktion niederschreibt, gibt ein Pfeil an, in welcher
Endorphin- Richtung sie verläuft, oder – anders ausgedrückt – wel-
rezeptoren
Neuron ches die Ausgangsstoffe (Reaktanden) und welches die
Reaktionsprodukte (kurz Produkte) sind. Die stöchio-
(b) Bindung an Endorphinrezeptoren. Sowohl das Endorphin als auch metrischen Koeffizienten geben an, wie viele Teilchen
das Morphin können an Endorphinrezeptoren (Opiatrezeptoren) in
der Zellmembran von Neuronen im zentralen Nervensystem binden. jeweils an der Umsetzung beteiligt sind. Die Zahl 2 vor
dem chemischen Symbol des Wasserstoffmoleküls (H2)
Abbildung 2.16: Molekulare Mimikry. Morphin wechselwirkt mit etwa zeigt, dass zwei Moleküle Wasserstoff im Rahmen
Schmerzrezeptoren und beeinflusst Gefühlszustände durch die Nachahmung der beschriebenen Reaktion umgesetzt werden. Man
der Wirkung im Gehirn natürlich vorkommender Endorphine. könnte auch von einem Molekül H2 ausgehen, aber
dann müsste man formal ½ O2 in die Gleichung schrei-
ben, damit die Bilanz stimmt, obwohl Sauerstoff auch
als Element stets in Form des zweiatomigen Moleküls
 Wiederholungsfragen 2.3 vorliegt. Beachten Sie, dass alle Atome der Edukte in
den Produkten wieder auftauchen müssen. Die Materie
1. Warum ergibt das Molekül H-C=C-H keinen
bleibt bei chemischen Reaktionen vollständig erhalten:
rechten chemischen Sinn?
Chemische Reaktionen können Materie nicht erschaf-
2. Erläutern Sie, was die Ionen in einem Magne- fen oder vernichten, sondern nur in eine andere stoff-
siumchlorid-Kristall (MgCl2) zusammenhält. liche Form umwandeln.
Die Photosynthese, die in grünen Pflanzenzellen
3. WAS WÄRE, WENN? Warum ist die pharmazeu- abläuft, ist ein besonders wichtiges Beispiel dafür, wie
tische Forschung an der Aufklärung von Raum- chemische Reaktionen zu einer Umordnung von Mate-
strukturen natürlich vorkommender Signalmo- rie führen. Der Mensch und andere Tiere hängen in
leküle interessiert? letzter Konsequenz für die Bereitstellung von Nahrung
und Sauerstoff von der Photosynthese ab, die damit
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. die Grundlage nahezu aller Ökosysteme bildet. Die fol-
gende chemische Bruttogleichung gibt stark verkürzt
den Vorgang der Photosynthese wieder:

6 CO2 + 6 H2O → C6H12O6 + 6 O2

Die Ausgangsmaterialien für die Photosynthese sind


das Gas Kohlendioxid (CO2), das aus der Luft aufge-
nommen wird, und Wasser (H2O), das aus dem Boden

55
2 Der chemische Kontext des Lebens

gesaugt wird. In den Pflanzenzellen ermöglicht Licht diesem Fall ist die Gleichgewichtslage stark tempera-
Teil 1 (in der freien Natur Sonnenlicht) die Umwandlung turabhängig; bei −10 °C liegt nur N2O4 vor, bei +140 °C
dieser Stoffe in Traubenzucker (Glucose, C6H12O6) nur NO2.
und Sauerstoff (O2), der als „Abfallprodukt“ der Reak- Einer der Faktoren, die die Geschwindigkeit einer
tionen von den Pflanzen an die Umgebung abgegeben Reaktion beeinflussen (aber nicht ihre Gleichgewichts-
wird (Abbildung 2.17). Obwohl die Photosynthese in lage!), ist die Teilchendichte im Reaktionsansatz, anders
Wirklichkeit eine Sequenz vieler verschiedener chemi- gesagt die (Reaktanden-)Konzentration. Je höher die
scher Reaktionen ist, kommt man in der Summe auf Konzentration der reagierenden Stoffe, desto öfter
die gleiche Anzahl gleichartiger Atome wie zu Beginn kommt es zu Zusammenstößen zwischen ihnen und
der Abfolge. Die Materie ist durch den Energieeintrag damit zu Gelegenheiten für eine chemische Reaktion.
des Lichts neu geordnet worden. Das Gleiche gilt für die Produkte: Wenn sie sich im
Reaktionsgefäß ansammeln, steigt die Häufigkeit von
Zusammenstößen, die zur Rückreaktion führen können.
Schließlich laufen Hin- und Rückreaktion mit gleicher
Geschwindigkeit ab, dann ändern sich die Konzentra-
tionen von Produkten und Edukten nicht mehr, und das
chemische Gleichgewicht ist erreicht. Dieses Gleich-
gewicht ist dynamisch, denn die Reaktion läuft noch
immer ab, aber ohne dass dies makroskopisch sichtbar
wäre, das heißt ohne Änderung der Gleichgewichtskon-
zentrationen. Gleichgewicht, und das ist wichtig, heißt
nicht, dass es gleiche Mengen an Reaktanden und Pro-
dukten gibt, sondern lediglich, dass sich das Konzentra-
tionsverhältnis bei einem bestimmten Wert eingepen-
delt hat. Dies nennt man ein Fließgleichgewicht (engl.
steady state). Die Stickoxidreaktion erreicht ihr Gleich-
gewicht, wenn NO2 und N2O4 ebenso schnell wieder
zerfallen, wie sie sich bilden. Bei manchen chemischen
Reaktionen liegt das Gleichgewicht so weit auf Seiten
Abbildung 2.17: Photosynthese: die lichtgetriebene Umstruktu- der Produkte, dass die Reaktion praktisch vollständig
rierung von Materie. Elodea sp. (Wasserpest) ist eine in der Aquaristik (quantitativ) verläuft. Das heißt, das Ausmaß der Rück-
beliebte Süßwasserpflanze. Sie erzeugt Zucker, indem sie die Moleküle von reaktion ist vernachlässigbar gering, und praktisch das
Kohlendioxid und Wasser durch die lichtgetriebene Photosynthese „umord-
gesamte Edukt wird in Produkt überführt. Dies trifft
net“. Ein großer Teil des so erzeugten Zuckers wird dann in andere Bestand-
zum Beispiel für Reaktionen zu, wo bei der Produkt-
teile der Pflanze überführt. Gasförmiger Sauerstoff (O2) ist ein Abfallprodukt
der Photosynthese. Auf dem Foto sind aufsteigende Blasen des aus den bildung (Hinreaktion) viel Energie freigesetzt wird. Bei
Blättern austretenden Sauerstoffs gut zu erkennen. Reaktionen im biologischen Kontext ist das aber nicht
häufig der Fall; Ausnahmen sind die Photosynthese und
? Erläutern Sie, in welcher Beziehung diese Aufnahme zu den Reaktanden die mitochondriale Atmung.
und Produkten der weiter oben im Text genannten Bruttogleichung der Jede chemische Reaktion zeichnet sich nach Erreichen
Photosynthese steht. (In Kapitel 10 werden Sie mehr über die Photosynthese ihres Gleichgewichtszustands durch ein konstantes
erfahren.) Verhältnis der Konzentrationen der Reaktionsprodukte
relativ zu den Konzentrationen der Reaktanden aus.
Strenggenommen sind alle chemischen Reaktionen Diese Beziehung ist auch als Massenwirkungsgesetz
prinzipiell reversibel, das heißt in ihrem Verlauf bekannt und hat für eine allgemeine chemische Reak-
umkehrbar, also sogenannte Gleichgewichtsreaktionen. tion die folgende Form:
Das bedeutet, dass nach Erreichen des Gleichgewichts
die Geschwindigkeiten von Hin- und Rückreaktion 
mA + nB + …  
 xM + yN + …
gleich groß sind, die Reaktion selbst auf molekularer KGG = [M]x[N]y ×…/([A]m[B]n ×…)
Ebene weiterläuft, die Mengenverhältnisse von Reak-
tanden zu Produkten aber gleich bleiben. K ist die sogenannte Gleichgewichtskonstante, die
Das oder die Produkt(e) der Reaktion in einer Rich- Zahlen in eckigen Klammern geben die Konzentration
tung können also zu Ausgangsstoffen der in umgekehr- des jeweiligen Reaktionspartners in mol/l nach Errei-
ter Richtung ablaufenden (Rück-)Reaktion werden. So chen des Gleichgewichtszustands an. Der Konzentra-
reagieren beispielsweise in der sogenannten Stickoxid- tionsbegriff wird in Kapitel 3 genauer erläutert.
Gleichgewichtsreaktion die Moleküle des Stickstoffdi- Wir werden zum Thema chemische Reaktionen noch
oxids NO2 zu Distickstofftetraoxid N2O4 und umgekehrt: einmal zurückkehren, nachdem wir die verschiedenen
für die Lebensvorgänge wichtigen Moleküle eingehen-


2 NO2 
 N2O4 der betrachtet haben. Im nächsten Kapitel konzentrie-
ren wir uns auf das Wasser – die Substanz, in der alle
Die beiden gegenläufigen, einspitzigen Pfeile sind das chemischen Vorgänge eines Lebewesens stattfinden.
Symbol für eine (reversible) Gleichgewichtsreaktion. In

56
Zusammenfassung

 Wiederholungsfragen 2.4 3. Schreiben Sie eine Reaktionsgleichung mit den Teil 1


Produkten der Photosynthese als Reaktanden
1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Zeichnen Sie mit und den Reaktanden als Produkte. Fügen Sie
Lewis-Formeln die Reaktionsgleichung für die Energie als weiteres „Reaktionsprodukt“ hinzu.
am Anfang dieses Abschnitts dargestellte Diese neue Gleichung beschreibt einen Vor-
Reaktion zwischen Sauerstoff und Wasserstoff. gang, der in Ihren eigenen Körperzellen abläuft.
Beschreiben Sie diese Gleichung in Worten. In
2. Welche Reaktion läuft nach Erreichen des welcher Beziehung steht diese Gleichung zur
Gleichgewichts schneller ab: die Bildung von Atmung (siehe Kapitel 9)?
Produkten aus Reaktanden oder die Bildung
von Reaktanden aus Produkten? Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

ZUSAMMENFAS SUNG KAPITEL 2 

Konzept 2.1 beim radioaktiven Zerfall Teilchen und Energie ab.


Materie besteht aus chemischen Elementen und Ver- Eine Atomart mit einer genau definierten Zahl an
bindungen Kernteilchen heißt Nuklid.
 Die Energieniveaus von Elektronen. In einem Atom
 Elemente und Verbindungen. Chemische Elemente besetzen die Elektronen definierte, diskrete Energie-
können durch chemische Verfahren nicht weiter in zustände, die Elektronenschalen des Atoms.
andere Stoffe zerlegt werden. Eine chemische Ver-  Elektronenverteilung und chemische Eigenschaften.
bindung enthält zwei oder mehr unterschiedliche Die Elektronenverteilung in den Schalen bestimmt
Elemente in einem festgelegten stöchiometrischen das chemische Verhalten eines Atoms. Ein Atom mit
Verhältnis. einer unvollständig besetzten Valenzschale verhält
 Essenzielle chemische Elemente des Lebens. Kohlen- sich reaktiv.
stoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff machen  Atomorbitale. Die bevorzugten Aufenthaltsräume
ungefähr 96 Prozent lebender Materie aus. von Elektronen heißen Orbitale und sind Raumele-
mente mit spezifischer Gestalt.
? Inwiefern unterscheidet sich Ihr Bedarf an Iod oder Eisen von dem für
Calcium oder Phosphor?
ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie die Elektronenvertei-
lungsdiagramme für Neon (10Ne) und Argon (18Ar).
Konzept 2.2 Begründen Sie anhand dieser Diagramme, warum diese
Die Atomstruktur bedingt die Eigenschaften eines Ele- Elemente chemisch inert sind.
ments
Konzept 2.3
 Subatomare Teilchen. Ein Atom, die kleinste Ein- Die Bildung und Funktion von Molekülen hängen von
heit eines chemischen Elements, besteht aus den den chemischen Bindungen zwischen den Atomen ab
folgenden Komponenten:
 Kovalenzbindungen. Chemische Bindungen werden
Atomkern gebildet, wenn Atome in Wechselwirkung treten und
Protonen (Ladung: +) + – ihre Valenzschale absättigen. Kovalente Bindungen
bestimmen das Element + Elektronen (Ladung: –) bilden sich aus, wenn Elektronen gemeinsam genutzt
– bilden eine negativ
geladene Wolke und
werden.
Neutronen (elektrisch neutral) bestimmen das chemische
bestimmen das Isotop Atom Verhalten
H• + H• H •• H
kovalente
 Ordnungszahl und Massenzahl. Ein Atom ist elek- Einfachbindung
m

trisch neutral und besitzt daher die gleiche Anzahl


von Protonen und Elektronen. Die Zahl der Protonen  Moleküle bestehen aus zwei oder mehr kovalent
gibt die Ordnungszahl (= Kernladungszahl) des Ele- gebundenen Atomen. Die Anziehung, die ein Atom
ments an. Die Atommasse wird in Atommassenein- auf die Elektronen einer kovalenten Bindung ausübt,
heiten (Dalton) angegeben und ist in erster Näherung ist die Elektronegativität. Die Elektronen einer pola-
gleich der Summe der Massen aller Kernteilchen ren Kovalenzbindung sind stärker zum elektronega-
(Protonen plus Neutronen). tiveren Bindungspartner hin verschoben. Falls beide
 Isotope. Die Isotope eines Elements unterscheiden Atome gleich sind, gibt es keinen Elektronegativitäts-
sich voneinander in der Zahl der Neutronen und unterschied, und die kovalente Bindung ist apolar.
somit in ihren Atommassen. Instabile Isotope geben

57
2 Der chemische Kontext des Lebens

 Ionenbindung. Ein Ion bildet sich, wenn ein Atom oft Hybridorbitale beteiligt. Diese sind zum Beispiel
Teil 1 oder Molekül Elektronen aufnimmt oder abgibt und für die Molekülgestalten von Wasser, Methan und
dann geladen ist. Eine Ionenbindung ist die Anzie- vielen komplex gebauten biochemischen Molekülen
hung zwischen den entgegengesetzt geladenen Ionen. verantwortlich. Die Molekülgestalt ist normalerweise
die Grundlage für die Erkennung eines biologischen
Ionenbindung Moleküls durch ein anderes.
+ –
Elektronen-
übertragung ? Vergleichen Sie apolare und polare Kovalenzbindungen sowie die Bil-
führt zur dung von Ionen bezüglich der Aufteilung von Elektronen zwischen den
Ionenbildung
Na Cl Na Cl
Atomen.

Konzept 2.4
Na Cl Na+ Cl– Bindungen werden im Verlauf chemischer Reaktionen
Natriumatom Chloratom Natriumion Chloridion
(ein Kation) (ein Anion) gebildet und gebrochen

 Schwache, nichtkovalente Bindungen. Eine Wasser-  Chemische Reaktionen wandeln Reaktanden in Pro-
stoffbrückenbindung kommt durch die Anziehung dukte um. Dabei bleibt die Masse erhalten. Alle che-
eines kovalent gebundenen Wasserstoffatoms mit mischen Umwandlungen sind theoretisch umkehr-
positiver Teilladung (δ+) durch ein stark elektronega- bar. Das chemische Gleichgewicht ist erreicht, wenn
tives Atom (δ–) zustande. Van-der-Waals-Wechsel- Hin- und Rückreaktion mit gleicher Geschwindigkeit
wirkungen entstehen aus der transienten Polarisation ablaufen. Dann hat sich ein festes, für die betreffende
von Atomen oder Molekülen. Schwache Bindungen Reaktion charakteristisches und unabänderliches
stabilisieren große Moleküle strukturell und unter- Verhältnis von Produkt- zu Reaktanden-Konzentra-
stützen das Aneinanderhaften von Molekülen. tionen eingestellt (Massenwirkungsgesetz).
 Molekülstruktur und -funktion. Die Gestalt (Konfi-
guration) eines Moleküls wird im Wesentlichen durch ? Was würde mit den Produktkonzentrationen einer chemischen Reak-
tion geschehen, wenn mehr Reaktanden zugefügt werden, nachdem sich
die Ausrichtung der Valenzorbitale seiner Atome
die Reaktion im Gleichgewicht befindet? Wie würde die Hinzufügung das
bestimmt. An der Bildung kovalenter Bindungen sind Gleichgewicht beeinflussen?

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜBU NG S A UF G ABE N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.

Ebene 1: Wissen und Verständnis 4. Welche Aussage trifft für alle Anionen zu?
a. Das Ion hat mehr Elektronen als Protonen.
1. Im Begriff Spurenelement bedeutet „Spuren“ so viel b. Das Ion hat mehr Protonen als Elektronen.
wie: c. Das Ion besitzt weniger Protonen als ein neut-
a. Das Element wird in sehr geringer Menge be- rales Atom desselben Elements.
nötigt. d. Das Ion hat mehr Neutronen als Protonen.
b. Das Element kann eingesetzt werden, um Atome
für den Durchgang durch den Stoffwechsel zu 5. Welche der folgenden Aussagen beschreibt zutref-
markieren. fend eine beliebige chemische Reaktion im Gleich-
c. Das Element ist auf der Erde sehr selten. gewicht?
d. Das Element fördert die Gesundheit, ist aber a. Die Konzentrationen von Edukten und Pro-
für das Überleben auf lange Sicht nicht erfor- dukten sind gleich.
derlich. b. Die Reaktion ist jetzt irreversibel.
c. Hin- und Rückreaktion sind zum Erliegen ge-
2. Im Vergleich zum stabilen Isotop 31P besitzt das kommen.
radioaktive Isotop 32P d. Die Geschwindigkeit von Hin- und Rückreak-
a. eine abweichende Ordnungszahl. tion sind gleich.
b. ein zusätzliches Proton.
c. ein zusätzliches Elektron. Ebene 2: Anwendung und Auswertung
d. ein zusätzliches Neutron.
6. Atome können durch eine Auflistung der Anzahl
3. Die Reaktivität eines Atoms resultiert aus der Protonen, Neutronen und Elektronen dar-
a. der mittleren Distanz der äußersten Elektro- gestellt werden; zum Beispiel: 2p+, 2n0, 2e– für
nenschale vom Atomkern. Helium. Welche der folgenden Auflistungen gibt
b. dem Vorliegen ungepaarter Elektronen in der das Isotop 18O des Sauerstoffs korrekt wieder?
Valenzschale. a. 7p+, 2n0, 9e–
c. der Summe der potenziellen Energien aller b. 8p+, 10n0, 8e–
Elektronenschalen. c. 9p+, 9n0, 9e–
d. der potenziellen Energie der Valenzschale. d. 10p+, 8n0, 9e–

58
Übungsaufgaben

7. Die Ordnungszahl von Schwefel ist 16. Schwefel nen. Schlagen Sie auf der Grundlage dessen, was
verbindet sich mit Wasserstoff zu einer kovalen- Sie in diesem Kapitel gelernt haben, eine Hypo- Teil 1
ten Verbindung, dem Schwefelwasserstoff. Sagen these vor, um die Fähigkeit des männlichen Fal-
Sie anhand der Zahl der Valenzelektronen des ters, eine spezifische Substanz in Gegenwart vieler
Schwefelatoms die Summenformel für Schwefel- anderer in der Luft zu erkennen, zu erklären. Wel-
wasserstoff voraus. che Vorhersagen lassen sich aus Ihrer Hypothese
a. HS ableiten? Entwerfen Sie ein Experiment, um eine
b. HS2 dieser Vorhersagen zu überprüfen.
c. H2S
d. H4S

8. Welche Koeffizienten müssen in die nachfolgen-


den Leerstellen eingetragen werden, damit die
stöchiometrische Bilanz der Reaktion aufgeht?

C6H12O6 → ___ C2H6O + ___ CO2

a. 2, 1
b. 3, 1 12. Skizzieren Sie ein Thema: Organisation Beim
c. 1, 3 Warten an einem Flughafen hat unser Autor Neil
d. 2, 2 Campbell einmal diese Behauptung aufgeschnappt:
„Es ist paranoid oder zeugt von Unwissenheit, sich
9. ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie die Lewis-Formeln darüber aufzuregen, dass Industrie und Landwirt-
der unter a) und b) wiedergegebenen Moleküle. Ge- schaft die Umwelt mit ihren chemischen Abfällen
ben Sie dabei für alle Atome sämtliche Valenzelek- kontaminieren. Schließlich besteht das Zeug ja aus
tronen an. Ermitteln Sie, welches der Moleküle den gleichen Atomen, die vorher schon in der Um-
nach Ihrem jetzigen chemischen Wissensstand welt vorhanden waren.“ Wie würden Sie dieser Be-
Sinn macht, weil jedes der Atome eine abgeschlos- hauptung begegnen? Schreiben Sie dazu einen kur-
sene Valenzschale besitzt und jede Bindung die zen Aufsatz (in 100–150 Worten) und bringen Sie
„korrekte“ Anzahl von Elektronen aufweist. Geben Ihr Wissen um die Elektronenverteilung, Bindung
Sie eine Erklärung dafür, warum für Sie das/die und Emergenz (siehe Konzept 1.1) ein.
andere/n Molekül/e keinen Sinn ergibt/ergeben.
Stützen Sie sich auf Ihr Wissen über die Anzahl 13. NUTZEN SIE IHR WISSEN Der hier unten gezeigte
von Bindungen, die jede Atomsorte eingehen kann. Bombardierkäfer versprüht eine siedend heiße
Flüssigkeit mit ätzenden Chemikalien als Vertei-
H H H H digung gegen Feinde. Der Käfer lagert zwei Che-
mikalien in seinen Drüsen. Nutzen Sie Ihre neu
H O C C O H C H C O gewonnenen Chemiekenntnisse aus diesem Kapi-
tel und schlagen Sie eine Erklärung dafür vor, wa-
(a) H (b) H
rum der Käfer nicht selbst durch die Chemikalien
geschädigt wird und wodurch ihre explosive
Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
Freisetzung bewirkt werden könnte.
10. Verbindung zur Evolution Die prozentualen An-
teile chemischer Elemente im menschlichen Kör-
per (siehe Tabelle 2.1) ähneln den anteiligen Pro-
zentsätzen in anderen Organismen. Wie lässt sich
das erklären?

11. Wissenschaftliche Fragestellung Weibliche Sei-


denspinner (Bombyx mori) locken Männchen
durch einen flüchtigen Lockstoff an, der sich
durch die Luft verbreitet. Ein mehrere hundert
Meter entferntes Männchen kann diese Moleküle
in großer Verdünnung wahrnehmen und sich auf
die Suche nach der Quelle machen. Die Sinnesor-
gane, mit deren Hilfe diese Signale aufgefangen Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
werden, sind kammartige Antennen, wie auf der weitere Übungen und vertiefende Materia-
Fotografie oben rechts zu sehen. Jedes Filament lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
der Antennen ist mit Tausenden von Sinneszellen für Campbell Biologie sowie im Anhang A.
besetzt, die den Sexuallockstoff wahrnehmen kön-

59
Wasser und Leben

3.1 Wasserstoffbrückenbindungen sind eine Folge der Polarität 3

KONZEPTE
des Wassermoleküls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
3.2 Das Leben auf der Erde hängt vom Wasser ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
3.3 Organismen benötigen zum Leben bestimmte
Säure/Base-Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

 Abbildung 3.1: Wie hängt der Lebensraum des


Singschwans von der Chemie des Wassers ab?
3 Wasser und Leben

Ohne Wasser kein Leben


Teil 1
Das Leben auf der Erde begann im Wasser und entwi- sich um polare kovalente Bindungen (siehe Abbildung
ckelte sich dort für 3 Milliarden Jahre, bevor es sich auf 2.11). Die ungleichförmige Elektronenverteilung und
das Festland ausbreitete. Die uns vertrauten Lebens- die gewinkelte Struktur machen das Wassermolekül zu
formen sind durch die Existenz von Wasser überhaupt einem polaren Molekül und Dipol. Die Ladungen sind
erst möglich. Alle uns bekannten Organismen bestehen im Molekül ungleich verteilt, es gibt zwei Bereiche mit
größtenteils aus Wasser und leben in einer von Wasser unterschiedlicher elektrischer Ladung. Das Sauer-
dominierten Umgebung. Wasser ist das biologische stoffatom trägt eine negative Teilladung (δ–) und die
Medium hier auf der Erde und möglicherweise auch beiden Wasserstoffatome jeweils eine positive (δ+).
auf anderen Planeten. Die besonderen Eigenschaften des Wassers beruhen
Drei Viertel der Erdoberfläche liegen unter Wasser. auf ausgeprägten Wechselwirkungen zwischen den
Meist liegt es in flüssiger Form vor, aber teilweise auch polaren Molekülen: Die positiv polarisierten Wasser-
als Eis oder Dampf. Wasser ist die einzige verbreitete stoffatome werden von den negativ polarisierten
chemische Verbindung, die in der Sauerstoffatomen anderer Wassermoleküle angezogen,
Natur in allen drei Aggregat- und daher bilden sich zwischen den Wassermole-
zuständen – fest, flüssig und külen Wasserstoffbrückenbindungen aus (Abbildung
gasförmig – vorkommt. 3.2). In flüssigem Wasser sind diese Bindungen sehr
Zudem schwimmt Eis auf fragil, ihre Festigkeit beträgt nur etwa 5 Prozent der
flüssigem Wasser, eine Festigkeit einer kovalenten Bindung. Wasserstoff-
seltene Eigenschaft in- brückenbindungen bilden und lösen sich mit hoher
folge seiner physikoche- Geschwindigkeit. Jede einzelne hat eine Halbwertszeit
mischen Eigenschaften. von nur wenigen Billionstel Sekunden (Picosekun-
Alle drei Zustandsfor- den), aber die Moleküle bilden sofort neue Wasser-
men des Wassers sind in stoffbrückenbindungen mit einer endlosen Abfolge
Abbildung 3.1 zu sehen, neuer Partner. Im Mittel sind zu jedem Zeitpunkt die
die Wasserdampf zeigt, der meisten Wassermoleküle durch Wasserstoffbrücken
aus heißen Quellen aufsteigt, miteinander verbunden, was insgesamt einen höheren
Ein junger Singschwan die in einen teilweise zugefrorenen Grad an struktureller Organisation der Einzelmoleküle
mit einem Elternteil See in Hokkaido in Japan münden. zur Folge hat.
Der See ist Zwischenstation für die
eleganten Singschwäne (Cygnus cygnus). Die heran-
wachsenden Jungvögel brauchen Wasser in ihrer Umge-
bung, da ihre Beine ihr Körpergewicht an Land noch gar
nicht über längere Zeit tragen können.
In diesem Kapitel werden Sie erfahren, wie die
Struktur des Wassermoleküls Wechselwirkungen mit d–
Wasserstoff-
anderen Molekülen ermöglicht. Diese Fähigkeit ist für
d+ brückenbindung
die Entwicklung und den Erhalt lebender Organismen
H
auf der Erde unerlässlich.
O
d+ d–
H
d– d+
Wasserstoffbrückenbindungen d–
d+
sind eine Folge der Polarität
des Wassermoleküls
3.1
Wasser ist so verbreitet, dass man seine vielen unge-
wöhnlichen Eigenschaften leicht übersieht. Sie sind
eine Folge seiner Struktur und der Wechselwirkungen Abbildung 3.2: Wasserstoffbrückenbindungen zwischen Wasser-
zwischen Wassermolekülen. molekülen. Als Konsequenz der deutlich polaren kovalenten Bindungen
entstehen elektrisch geladene Bereiche im Wassermolekül, die von ent-
Für sich genommen ist das Wassermolekül recht ein-
gegengesetzt geladenen Bereichen benachbarter Moleküle angezogen
fach. Es hat eine V-förmige Gestalt, und die beiden
werden. Jedes Molekül kann Wasserstoffbrücken zu mehreren Partnermole-
Wasserstoffatome sind durch kovalente Einfachbindun- külen ausbilden. Diese Assoziate unterliegen einer ständigen, durch die
gen mit dem zentralen Sauerstoffatom verbunden. Da Wärmebewegung bedingten Veränderung.
Sauerstoff deutlich elektronegativer als Wasserstoff ist,
verbringen die Elektronen der Kovalenzbindungen ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie die Teilladungen in das Wassermolekül
mehr Zeit in der Nähe des Sauerstoffatoms als bei den ganz links ein und dazu zwei weitere Moleküle, die über Wasserstoffbrü-
Wasserstoffatomen. Anders ausgedrückt: Es handelt ckenbindungen daran binden.

62
3.2 Das Leben auf der Erde hängt vom Wasser ab

sermolekülen an die Zellwände hilft zusätzlich bei der


 Wiederholungsfragen 3.1 Teil 1
Überwindung des durch die Schwerkraft ausgeübten
Zuges nach unten (siehe Abbildung 3.3).
1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Was versteht man
unter Elektronegativität, und wie beeinflusst Die Adhäsion von Wassermole-
sie die Wechselwirkungen zwischen Wasser- külen an die Zellwände durch
molekülen (vergleiche Abbildung 2.11)? Wasserstoffbrückenbindungen
hilft, der abwärts gerichteten
2. Warum ist die folgende Anordnung zweier be- Schwerkraft zu widerstehen.
nachbarter Wassermoleküle unwahrscheinlich?
Wasserleitungs-
HH bahnen
O O
HH
3. WAS WÄRE, WENN? Welche Auswirkung auf
die Eigenschaften des Wassers hätten gleich
große Elektronegativitäten von Sauerstoff und
Wasserstoff? Richtung
des Wasser-
transports 150 µm
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Die Kohäsion zwischen den
Wassermolekülen durch
Wasserstoffbrückenbindungen
erhält die Wassersäule in den
Leitungsbahnen der Pflanze.
Das Leben auf der Erde
hängt vom Wasser ab
3.2 Abbildung 3.3: Wassertransport in Pflanzen. Die Verdunstung über
die Blätter zieht von den Wurzeln aus Wasser durch spezielle Leitungs-
zellen nach oben. Durch Kohäsion und Adhäsion können die höchsten
Bäume Wasser mehr als 100 m nach oben transportieren, was immerhin
Wir betrachten vier Eigenschaften des Wassers, die knapp zwei Drittel der Höhe des Kölner Doms entspricht.
wesentlich für die Eignung des Planeten Erde als Umge-
bung lebender Organismen sind: der innere Zusammen- Im MyLab|Deutsche Version für Campbell Biologie finden Sie
halt, das Temperatur-Ausgleichsvermögen, die Aus- eine 3D-Animation zum Wassertransport in Pflanzen.
dehnung beim Gefrieren und die Vielseitigkeit als
Lösungsmittel. Im Zusammenhang mit der Kohäsion steht die Ober-
flächenspannung, ein Maß dafür, wie stark die Ober-
fläche einer Flüssigkeit gedehnt werden kann und wann
3.2.1 Kohäsion und Adhäsion sie reißt. Wasser hat eine höhere Oberflächenspannung
als die meisten anderen Flüssigkeiten. An der Grenz-
Wassermoleküle bleiben aufgrund der Wasserstoff- fläche zwischen Wasser und Luft befindet sich eine
brückenbindungen nahe beieinander. Obwohl sich die ziemlich regelmäßige Anordnung von Wassermolekü-
Anordnung der Moleküle im flüssigen Wasser ständig len, die durch Wasserstoffbrückenbindungen miteinan-
ändert, sind in jedem Moment die meisten Moleküle der und mit den darunter befindlichen Wasserschichten
untereinander durch zahlreiche Wasserstoffbrücken- verbunden sind. Das führt dazu, dass sich das Wasser so
bindungen verknüpft. Dies bewirkt eine deutlichere verhält, als sei es mit einem widerstandsfähigen, aber
Strukturierung als bei den meisten anderen Flüssig- unsichtbaren Film überzogen. Man kann die Ober-
keiten. In ihrer Gesamtheit halten die Wasserstoff- flächenspannung des Wassers unmittelbar beobachten,
brückenbindungen die Substanz zusammen – ein Phä- wenn man ein Trinkglas vorsichtig bis über den Rand
nomen, das man Kohäsion nennt. Auch die Adhäsion, hinaus füllt. Einige Tiere, wie die Spinne in Abbildung
das Aneinanderhaften zweier Stoffe, ist bei Wasser 3.4, können auf dem Wasser sitzen oder sogar laufen,
wesentlich durch seine hohe Wasserstoffbrückenbin- ohne dabei die Oberfläche zu durchbrechen.
dungskapazität bedingt.
Die durch Wasserstoffbrückenbindungen bedingte Abbildung 3.4: Laufen auf dem Wasser. Die hohe Oberflächenspan-
Kohäsion trägt in Pflanzen zum Transport von Wasser nung des Wassers ist eine Folge des synergistischen Effekts der Gesamtheit
aller Wasserstoffbrückenbindungen und erlaubt der Jagdspinne Dolomedes
und darin gelösten Nährstoffen gegen die Schwerkraft
fimbriatus, auf einer Teichoberfläche zu laufen.
bei. Von den Wurzeln aufsteigendes Wasser erreicht die
Blätter über ein Netzwerk aus wasserleitenden Zellen
(Abbildung 3.3). Wenn Wasser aus den Blättern ver-
dunstet, üben die Wasserstoffbrückenbindungen zwi-
schen den Wassermolekülen in den Blattadern einen
Sog auf weiter unten befindliche Moleküle aus. Der nach
oben gerichtete Sog setzt sich durch die wasserleitenden
Zellen bis in die Wurzeln fort. Die Adhäsion von Was-

63
3 Wasser und Leben

3.2.2 Ausgleich von Temperatur- Faktor ≈ 4,184 verknüpft: 1 cal ≈ 4,184 J. Üblicherweise
Teil 1 unterschieden werden Kilojoule angegeben, also das Tausendfache
von einem Joule: 1.000 J = 1 kJ. Bei Nährwertangaben
Wasser gleicht Lufttemperaturunterschiede aus, indem auf Lebensmitteln wird mitunter das „k“, also der
es Wärme aus wärmerer Luft absorbiert, vorübergehend Faktor 1.000, weggelassen, was die Werte zumindest
speichert, und an kältere Luft abgibt. Es kann relativ zahlenmäßig verschlankt.
große Mengen an Wärme aufnehmen oder abgeben,
ohne seine eigene Temperatur dabei groß zu ändern. Die hohe spezifische Wärmekapazität des Wassers
Zum besseren Verständnis dieser Vorgänge wollen wir Die Fähigkeit des Wassers, die Temperatur verhältnis-
zunächst den Unterschied zwischen Temperatur und mäßig stabil zu halten, ist eine Folge seiner hohen spezi-
Wärme betrachten. fischen Wärmekapazität. Das ist diejenige Wärme-
menge, die zu- oder abgeführt werden muss, um 1 g
Temperatur und Wärme einer Substanz um 1 °C zu erwärmen oder abzukühlen.
Alles, was sich bewegt, besitzt kinetische Energie, also Damit ergibt sich die Einheit der spezifischen Wärme-
Bewegungsenergie. Atome und Moleküle besitzen kine- kapazität zu J · K–1 · kg–1 (Joule pro Kelvin und Kilo-
tische Energie, die aus ihrer regellosen Bewegung resul- gramm). Man beachte, dass die spezifische Wärmekapa-
tiert. Je schneller sich ein gegebenes Molekül oder zität keine Konstante, sondern eine Funktion der
Atom bewegt, desto höher ist seine kinetische Energie. Temperatur ist. Näherungsweise beträgt die spezifische
Diese regellose Bewegung macht sich makroskopisch Wärmekapazität von Wasser ca. 4 kJ · °C–1 · kg–1, ein im
als thermische Energie bemerkbar, eine Erscheinungs- Vergleich zu vielen anderen Stoffen auffallend hoher
form kinetischer Energie. Bei einer gegebenen Materie- Wert. So hat etwa Ethanol eine Wärmekapazität von nur
menge ist der Gehalt an thermischer Energie ein Maß 2,5 kJ · °C–1 · kg–1. Man muss also nur 60 Prozent der
für die Gesamtmenge der kinetischen Energie ihrer Menge an Wärmeenergie aufwenden, um 1 kg Alkohol
Bestandteile. Trotz ihrer Verwandtschaft sind thermi- um den gleichen Betrag zu erwärmen wie 1 kg Wasser.
sche Energie und Temperatur aber nicht das Gleiche. Aufgrund dieser hohen spezifischen Wärmekapazi-
Die Temperatur ist ein Maß für die mittlere kinetische tät ändert Wasser seine Temperatur nur wenig, wenn
Energie der Teilchen makroskopischer Materie und es Wärme aufnimmt oder abgibt. Dass man sich die
unabhängig von der betrachteten Stoffmenge. Wenn Finger an einem Kochtopf auf dem Herd verbrennen
man Wasser in einer Kaffeemaschine erhitzt, nimmt die kann, in dem das darin befindliche Wasser gerade erst
mittlere kinetische Energie der Moleküle zu. An einem lauwarm ist, liegt in der ungefähr zehnmal größeren
Thermometer ist dies als Temperaturanstieg ablesbar. spezifischen Wärmekapazität von Wasser im Vergleich
Die Menge an thermischer Energie nimmt dabei volu- zu Metall begründet. Eine zugeführte Energiemenge
menabhängig zu. Man mache sich jedoch klar, dass das führt daher beim Metall zu einer wesentlich stärkeren
sehr viel größere Volumen eines Schwimmbeckens eine Temperaturerhöhung als bei der gleichen Menge
viel größere Menge thermischer Energie enthält als ein Wasser. Anschaulich, aber nicht quantitativ, kann man
kleiner Espresso mit seiner hohen Temperatur. sich die spezifische Wärmekapazität als den Wider-
Wenn man zwei Objekte unterschiedlicher Tempera- stand vorstellen, den ein Stoff einer Temperatur-
tur zusammenbringt, geht thermische Energie vom wär- erhöhung entgegensetzt, wenn ihm Wärme zugeführt
meren auf das kältere Objekt über, bis die Temperaturen wird. Wasser reagiert auf Wärmezufuhr nur träge mit
beider Körper schließlich gleich sind. Man sagt, sie einer Temperaturveränderung. Bevor es seine Tempe-
befinden sich im thermischen Gleichgewicht. Die Teil- ratur merklich ändert, absorbiert es eine relativ große
chen (Moleküle, Atome) in dem kälteren Körper werden Wärmemenge (oder gibt sie ab).
auf Kosten der kinetischen Energie der Teilchen in dem Die hohe spezifische Wärmekapazität lässt sich –
wärmeren beschleunigt. Ein Eiswürfel kühlt also ein wie viele andere seiner Eigenschaften – auf die Aus-
Getränk nicht ab, weil er ihm Kälte zuführt, sondern bildung von Wasserstoffbrückenbindungen zurück-
weil er ihm thermische Energie entzieht, die schließlich führen. Um Wasserstoffbrücken dauerhaft aufzulösen,
dazu führt, dass der Eiswürfel schmilzt. Der Transfer muss Wärme zugeführt und vom Wasser absorbiert
thermischer Energie von einem Körper auf einen ande- werden. Bei der Ausbildung der Wasserstoffbrücken-
ren ist als Wärme definiert. bindungen wird Wärme freigesetzt. Ein Joule Wärme
Die Standardeinheit der Wärmemenge ist das Joule ruft eine vergleichsweise geringe Temperaturerhöhung
(J). Ein Joule entspricht einer Kraft von einem Newton1 hervor, weil ein großer Teil dieser Wärme notwendig
über eine Distanz von einem Meter: 1 J = 1 Nm = 1 Ws ist, um die Wasserstoffbrückenbindungen aufzulösen,
(Watt · Sekunde). Mit der früher verwendeten Einheit bevor die mittlere Translationsenergie der Wasser-
der Kalorie (die Wärmemenge, um 1 g Wasser von moleküle und damit die Temperatur ansteigen kann.
14,5 °C auf 15,5 °C zu bringen) ist das Joule durch den Und wenn umgekehrt die Temperatur des Wassers
leicht absinkt, bilden sich viele zusätzliche Wasser-
stoffbrücken aus, wobei eine beträchtliche Menge an
1 1 N = 1 kg · m · s−2, anders gesagt ist ein Newton die Größe Energie in Form von Wärme freigesetzt wird.
der Kraft, die man aufbringen muss, um einen bewegungs- Worin besteht die Relevanz der hohen spezifischen
losen Körper mit einer Masse von 1 kg innerhalb von einer
Sekunde auf eine Geschwindigkeit von 1 Meter pro Sekun-
Wärmekapazität des Wassers für das Leben? Eine große
de zu beschleunigen. Menge Wasser kann eine sehr große Wärmemenge

64
3.2 Das Leben auf der Erde hängt vom Wasser ab

absorbieren und speichern – zum Beispiel Sonnen- Flüssigkeiten hohe Verdampfungswärme. Um 1 g Was-
wärme des Tages – und sich dabei um einige Grade ser bei 25 °C zu verdampfen, ist eine Energiemenge von Teil 1
erwärmen. Während der Nacht und im Winter kann 2.430 J notwendig. Das ist beinahe doppelt so viel Ener-
das sich abkühlende Wasser die darüber liegende Luft gie wie für die Verdampfung eines Gramms Ethanol
langsam erwärmen. Das ist der Grund, warum Küsten- oder Ammoniak notwendig ist. Die hohe Verdamp-
gebiete im Allgemeinen ein milderes Klima haben, als fungswärme des Wassers ist eine weitere Eigenschaft,
landeinwärts gelegene Regionen (Abbildung 3.5). Die die von den zwischenmolekularen Wasserstoffbrücken-
hohe spezifische Wärmekapazität des Wassers führt bindungen herrührt. Damit die Moleküle aus der Flüs-
außerdem zu einer Stabilisierung der Meerestempera- sigkeit entweichen können, müssen diese Bindungen
turen, günstige Bedingungen für marines Leben. gelöst werden.
Aufgrund seiner hohen spezifischen Wärmekapazität Die große Energiemenge, die notwendig ist, um
hält das Wasser, das den größten Teil der Erde bedeckt, Wasser zu verdampfen, hat weitreichende Folgen. Auf
Temperaturschwankungen auf dem Land und im der globalen Ebene hilft dies beispielsweise bei der
Wasser in Grenzen, in denen Leben möglich ist. Da Mäßigung des Erdklimas. Ein beträchtlicher Teil der von
Lebewesen selbst viel Wasser enthalten, können sie den Tropenmeeren absorbierten Sonnenstrahlung wird
Schwankungen der eigenen Temperatur besser ausglei- durch die Verdunstung von Oberflächenwasser bean-
chen, als das mit einer Flüssigkeit mit geringerer spezi- sprucht. Wenn dann die feuchten tropischen Luftmas-
fischer Wärmekapazität möglich wäre. sen polwärts ziehen, wird die enthaltene Wärmemenge
bei der Umkehrung der Verdampfung, also der Konden-
Santa Barbara Burbank San Bernadino sation zu Regentropfen, als Kondensationswärme wie-
23°C 32°C 38°C der frei. Bei Lebewesen ist die große Verdampfungs-
Los Angeles Riverside 35,5°C wärme des Wassers der Grund für Verbrühungen durch
(Flughafen) 24°C Santa Ana
29°C Palm Springs heißen Dampf. Heißer Dampf kondensiert auf der Haut
21°-Zone 41°C zu flüssigem Wasser und überträgt dabei seinen
27°-Zone Pazifischer Ozean Wärmeinhalt auf das Gewebe. In der Küche macht man
32°-Zone beim Dünsten von Lebensmitteln von diesen physikali-
38°-Zone San Diego 22°C schen Gegebenheiten Gebrauch.
Wenn eine Flüssigkeit verdampft, kühlt der zurück-
65 km bleibende, noch nicht verdampfte Anteil des Flüssig-
Abbildung 3.5: Die Wirkung einer großen Wassermenge auf das keitsvolumens ab. Diese Verdunstungskälte kommt
lokale Klima: Ozeane mäßigen das Küstenklima. Tageshöchsttem- dadurch zustande, dass die „schnellsten“ Moleküle
peraturen für einen Augusttag in Südkalifornien (USA). mit der größten kinetischen Energie am wahrschein-
lichsten in die Gasphase übertreten und dabei einen
Abkühlung durch Verdunstung Großteil ihrer Energie mitnehmen: Wenn alle Sprinter
Wenn nicht genügend Energie für die Verdampfung zur emigrieren, sinkt die Durchschnittsgeschwindigkeit
Verfügung steht, bleiben die Moleküle einer Flüssigkeit der zurückbleibenden Läufer.
infolge ihrer gegenseitigen Anziehung eng beieinander. Die Verdunstungskälte des Wassers trägt zur Tempera-
Moleküle, die sich schnell genug bewegen (genügend turstabilisierung in Seen und Teichen bei und verhindert
kinetische Energie besitzen), um diese Anziehungskräfte das Überhitzen landlebender Organismen. Die Verdun-
zu überwinden, können aus der Flüssigkeit in die Gas- stung von Wasser aus den Blättern einer Pflanze sorgt
phase übertreten. Der Übergang von der flüssigen in die dafür, dass sich der Pflanzenkörper in der Sonnenhitze
gasförmige Phase wird Verdunstung oder Verdampfung nicht zu stark erwärmt. Die Verdunstung von Schweiß
genannt. Rufen wir uns in Erinnerung, dass die Transla- auf der menschlichen Haut dissipiert (zerstreut) Körper-
tionsgeschwindigkeit von Atomen und Molekülen einer wärme und hilft, an heißen Tagen eine Überhitzung zu
statistischen Verteilung unterliegt und die Temperatur vermeiden, wenn bei körperlicher Anstrengung die
einer makroskopischen Menge die mittlere kinetische Wärmeproduktion zu hoch ist. Die hohe Luftfeuchtigkeit
Energie der darin enthaltenen Teilchen widerspiegelt. an warmen Tagen oder in feuchtwarmen Gebieten der
Selbst bei niedrigen Temperaturen können die schnells- Erde ist besonders belastend, weil der hohe Feuchtig-
ten Teilchen in die Gasphase übergehen (Dampfdruck keitsgehalt der Luft die effektive Verdunstung von
der Flüssigkeit). Bei jeder Temperatur, außer am absolu- Wasser von der Körperoberfläche behindert.
ten Nullpunkt, tritt ein gewisses Maß an Verdampfung
ein. Ein Glas Wasser wird bei Zimmertemperatur letzt-
lich vollständig verdampfen, wenn die Luft nicht mit 3.2.3 Schwimmendes Eis als Garant für
Wasserdampf gesättigt ist. Falls eine Flüssigkeit erhitzt den Lebensraum Wasser
wird, nimmt die mittlere Translationsenergie der Teil-
chen zu und die Flüssigkeit verdampft rascher. Wasser ist eine der wenigen Substanzen, die im festen
Die Verdampfungswärme ist diejenige Wärmemenge, Zustand weniger dicht sind als im flüssigen. Daher
die einer Flüssigkeit zugeführt werden muss, um sie in schwimmt Eis auf flüssigem Wasser und geht nicht
die Gasphase zu überführen. Aus dem gleichen Grund, darin unter. Während andere Stoffe sich in aller Regel
aus dem es eine hohe spezifische Wärmekapazität hat, bei der Verfestigung zusammenziehen, dehnt Wasser
besitzt Wasser auch eine im Vergleich zu anderen sich aus. Die Ursache für dieses ungewöhnliche Verhal-

65
3 Wasser und Leben

ten sind wiederum die Wasserstoffbrückenbindungen. rend des Sommers würden nur die obersten Zentimeter
Teil 1 Bei Temperaturen über 4 °C verhält sich Wasser wie eines Gewässers auftauen. Wenn Wasser sich abkühlt,
andere Flüssigkeiten: Es dehnt sich beim Erwärmen aus isoliert das treibende Eis das flüssige Wasser darunter.
und zieht sich bei Abkühlung zusammen. Das Wasser Dieser Umstand und die Konvektion im flüssigen
beginnt wie andere Stoffe zu gefrieren, wenn die einzel- Wasser bewahren es innerhalb gewisser Grenzen vor
nen Moleküle sich nicht mehr heftig genug bewegen, dem Gefrieren und erlauben Organismen, unter der
um die Wasserstoffbrücken dabei aufzulösen. Bei 0 °C gefrorenen Oberfläche zu existieren, wie auf dem Foto
erstarrt die Anordnung der Wassermoleküle zu einem der Abbildung 3.6 zu sehen ist. Neben seiner Isolations-
Kristallgitter, in dem jedes Wassermolekül an seinem wirkung bildet Eis außerdem noch eine im Wortsinn
Gitterplatz durch Wasserstoffbrücken mit vier weiteren feste Lebensgrundlage für bestimmte Tiere wie Eisbären
Wassermolekülen in Kontakt steht (Abbildung 3.6). und Seehunde.
Die Wasserstoffbrücken halten die Moleküle auf Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
„Armeslänge“ voneinander entfernt – weit genug, sind besorgt, dass die polaren Eiskappen schmelzen
damit Eis eine ca. zehn Prozent geringere Dichte hat als könnten. Kohlendioxid und andere Treibhausgase in
flüssiges Wasser bei 4 °C (bei dieser Temperatur hat der Atmosphäre bewirken eine globale Erwärmung mit
Wasser seine größte Dichte). Wenn Eis genügend Ener- gravierenden Folgen für alle Eismassen auf der Erde. In
gie absorbiert, um die Temperatur über 0 °C ansteigen der Arktis sind die Durchschnittstemperaturen in der
zu lassen, werden die dauerhaften Wasserstoffbrücken kurzen Zeitspanne seit 1961 um 1,4 °C gestiegen. Der
zwischen den Molekülen aufgelöst. Der Kristall fällt in Anstieg beeinflusst die saisonale Balance zwischen
sich zusammen, das Eis schmilzt und die Moleküle dem arktischen Eis und flüssigem Wasser, derart dass
rücken näher zusammen. Ab 4 °C dehnt sich Wasser das Eis sich später bildet, früher schmilzt und insge-
langsam aus, da die Bewegungen der Moleküle zuneh- samt eine kleinere Ausdehnung hat. Das Tempo, mit
men. Rufen Sie sich jedoch in Erinnerung, dass auch in dem Gletscher und Polareis verschwinden, stellt eine
flüssigem Wasser die meisten Moleküle noch Wasser- extreme Herausforderung für die Tierarten dar, die für
stoffbrückenbindungen zu Nachbarmolekülen unter- ihr Überleben auf Eis angewiesen sind.
halten, nur sind diese Bindungen sehr kurzlebig, das
heißt, sie lösen sich dauernd auf und bilden sich neu.
Die Fähigkeit von Eis, aufgrund seiner geringeren 3.2.4 Des Lebens Lösungsmittel
Dichte beim Schmelzen auf dem Wasser zu treiben, ist
ein bedeutender Umweltfaktor für die Entwicklung von Ein in ein Glas Wasser geworfener Zuckerwürfel wird
Leben. Falls Eis schwerer wäre und zu Boden sänke, sich auch ohne Umrühren allmählich auflösen. Das Glas
würden schließlich alle Teiche, Seen und sogar die enthält am Ende eine homogene Lösung aus Zucker und
Meere vollständig durchfrieren und das Leben, so wie Wasser, in der die Konzentration von gelöstem Zucker
wir es kennen, auf der Erde unmöglich machen. Wäh- überall gleich ist. Eine flüssige homogene Mischung aus

Abbildung 3.6: Eis – Kristallstruktur und schwimmende Barriere. Im Eis ist jedes Molekül durch
Wasserstoffbrückenbindungen mit vier Nachbarmolekülen zu einem Kristallgitter verbunden. Da die kristalline
Anordnung raumgreifender ist, enthält Eis weniger Moleküle als ein gleichgroßes Volumen flüssigen Wassers, es
ist also weniger dicht als flüssiges Wasser. Schwimmendes Eis ist eine Barriere, die das flüssige Wasser darun-
ter von der kälteren Luft isoliert. Das hier gezeigte Meereslebewesen gehört zu den als Krill bezeichneten
Garnelen. Es wurde unmittelbar unterhalb des antarktischen Eispanzers fotografiert.

Wasserstoffbrückenbindung

flüssiges Wasser:
fluktuierende Wasserstoff-
brückenbindungen

Eis:
stabile Wasserstoff-
brückenbindungen

WAS WÄRE, WENN? Was würde mit der Lebensumgebung der Garnele passie-
ren, falls Wasser keine Wasserstoffbrückenbindungen ausbildete?

66
3.2 Das Leben auf der Erde hängt vom Wasser ab

zwei oder mehr Stoffen ist eine Lösung. Die lösende ren, aber nichtionischen Molekülen wie etwa Zucker
Komponente ist das Lösungsmittel, die andere Kompo- sind ebenfalls gut wasserlöslich, weil ihre Moleküle Teil 1
nente ist die gelöste Substanz. Bei einer wässrigen Wasserstoffbrückenbindungen mit den Wassermolekü-
Lösung ist Wasser das Lösungsmittel. len eingehen. Selbst Makromoleküle wie Proteine sind
Wasser ist aufgrund seiner Polarität ein sehr viel- wasserlöslich, wenn sie ionisierbare und/oder polare
seitiges Lösungsmittel. Aus genau diesem Grund ist es Bereiche auf der Oberfläche haben (Abbildung 3.8).
für unpolare Stoffe wie Fette oder Lipide aber nicht Viele verschiedene Arten polarer Verbindungen sind
geeignet: Zellen mit ihrer Zellmembran aus Lipiden neben zahlreichen Ionen in physiologischen Flüssig-
sind in wässriger Umgebung beständig. keiten wie Blut, dem Saft von Pflanzen oder dem Cyto-
Was passiert, wenn wir einen Löffel voll Kochsalz sol löslich. Wasser ist tatsächlich das „Lösungsmittel
(Natriumchlorid) in Wasser geben (Abbildung 3.7)? des Lebens“.
An der Oberfläche jedes Salzkörnchens kommen ein-
zelne Natrium- und Chloridionen des Kristalls in Kon- Negativ polarisierte
takt mit dem Lösungsmittel. Die Ionen des Salzes und Bereiche der Sauerstoff-
atome von Wassermole- _
Wassermoleküle ziehen sich infolge elektrostatischer Na+
külen ziehen Natrium- +_
Wechselwirkungen gegenseitig an. Die Sauerstoffatome kationen (Na+) an.
+ _
der Wassermoleküle sind negativ polarisiert und wer- +
_ _
den von den Natriumkationen angezogen. Die Wasser- Positiv polarisierte Na+ _
stoffatome der Wassermoleküle sind positiv polarisiert Bereiche der Wasserstoff- + +
und werden von den Chloridanionen angezogen. Als atome von Wasser- Cl– Cl–
+ _
molekülen ziehen _
Folge dieser Wechselwirkungen ist jedes Ion von Chloridanionen (Cl–) an. +
Wassermolekülen umgeben, die die Ionen voneinander –
+
abschirmen. Die Hülle aus Wassermolekülen, die jedes _
_
gelöste Ion umgibt, wird dessen Hydrathülle genannt.
Von der Oberfläche eines jeden Salzkristalls aus-
gehend, löst das Wasser schließlich sämtliche Ionen
aus dem Kristallverband. Das Ergebnis ist eine Lösung
mit zwei gelösten Teilchenarten: positiv geladenen
Natriumionen und negativ geladenen Chloridionen,
die homogen mit dem Lösungsmittel Wasser vermischt Abbildung 3.7: Die Auflösung von Kochsalz in Wasser. Eine Hülle
sind. Ionische Verbindungen lösen sich meist recht gut aus Wassermolekülen, die sogenannte Hydrathülle, umgibt jedes gelöste Ion.
in Wasser. Meerwasser enthält beispielsweise eine
große Vielfalt gelöster Ionen, genau wie lebende Zellen. WAS WÄRE, WENN? Was würde passieren, wenn man diese Lösung
Eine wasserlösliche Verbindung braucht aber nicht längere Zeit erhitzte?
unbedingt ionisch zu sein. Viele Verbindungen aus pola-

Dieses Sauerstoff-
atom wird von einer
leicht positiven Ober-
flächenladung des
Lysozymmoleküls
angezogen.

δ+

δ– δ–

δ+

Dieses Wasserstoff-
atom wird von einer
leicht negativen
Oberflächenladung
des Lysozymmole-
küls angezogen.

Abbildung 3.8: Ein wasserlösliches Protein. Menschliches Lysozym ist ein antibakteriell wirksames Protein der Tränenflüssigkeit und des Speichels.
Das Modell zeigt ein Lysozymmolekül (violett) in wässriger Umgebung. Ionische und polare Oberflächenbereiche haben Wassermoleküle gebunden.

67
3 Wasser und Leben

Hydrophile und hydrophobe Stoffe largewicht“, siehe die Fußnote in Konzept 2.1) ist
Teil 1 Alle Stoffe mit einer Affinität für Wasser heißen hydro- schlicht die Summe aller Atommassen der Verbin-
phil (griech. hydro, Wasser + philos, liebend). Eine dung, gegebenenfalls multipliziert mit den jeweiligen
Substanz kann hydrophil sein, ohne sich aufzulösen. stöchiometrischen Koeffizienten. Wir wollen als Bei-
Manche Moleküle von Zellen sind so groß, dass sie spiel die Molekülmasse von Rohrzucker (Saccharose)
sich nicht in Wasser auflösen, sondern in der wäss- mit der Summenformel C12H22O11 berechnen. Für
rigen Zellflüssigkeit kolloidal suspendiert werden. unsere Zwecke ist es genau genug, mit gerundeten
Darunter versteht man eine Phase mit stabil feinst ver- Atommassen zu rechnen. Die Masse des Kohlen-
teilten hochmolekularen Teilchen (Makromolekülen stoffatoms beträgt zwölf Dalton, die des Wasser-
oder winzigsten Feststoffteilchen). Man nennt dies stoffatoms ein Dalton und die des Sauerstoffatoms
eine kolloid-disperse Phase; das Medium, in dem die 16 Dalton. Damit ergibt sich die Molmasse des Rohr-
Teilchen dispergiert vorliegen, heißt Dispersionsme- zuckers zu (12 × 12) + (22 × 1) + (11 × 16) = 342 Dal-
dium und entspricht dem Lösungsmittel bei einer klas- ton. Das Abwiegen kleiner Molekülmengen ist weder
sischen Lösung. Baumwolle ist beispielsweise eine praktikabel noch nützlich. In der Chemie wird daher
hydrophile Substanz, die sich nicht auflöst. Sie besteht eine Stoffmenge namens Mol verwendet. So wie ein
aus den Riesenmolekülen der Cellulose, einem Poly- Dutzend immer „zwölf Stück“ von etwas bezeichnet,
saccharid mit zahlreichen polaren Gruppen und posi- entspricht ein Mol immer 6,022 × 1023 Teilchen.
tiven und negativen Partialladungen, so dass Wasser- Diese zunächst willkürlich erscheinende Zahl wird
stoffbrückenbindungen ausgebildet werden können. als Avogadro-Zahl (früher auch Loschmidt’sche Zahl)
Wasser lagert sich an die Cellulosefasern an. Deshalb bezeichnet. Sie ergibt sich aus den Massen der Ele-
ist ein Baumwollhandtuch zwar sehr gut zum Abtrock- mentarteilchen und gibt die Anzahl der Teilchen an,
nen geeignet, löst sich aber in der Waschmaschine deren Masse in der Einheit „Gramm“ der Atom- oder
nicht auf. Cellulosemoleküle finden sich in allen Molekülmasse in der Einheit „Dalton“ entspricht.
pflanzlichen Zellwänden, so auch denen der wasser- 6,022 × 1023 Kohlenstoffatome entsprechen „1 Mol C-
leitenden Zellen. Wir haben bereits ausgeführt, wie die Atome“ mit einer Masse von etwa zwölf Dalton, die
Adhäsion von Wasser an hydrophile Zellwände den daher gerade zwölf Gramm wiegen (die Abweichung
Wassertransport unterstützt. vom gerundeten Wert ergibt sich aus der Isotopen-
Es gibt natürlich auch Stoffe, die gar keine Affinität verteilung, vergleiche Konzept 2.2). Die Beziehung ist
für Wasser haben, da sie ungeladen, nichtionisch oder von größter praktischer Bedeutung. Kennt man die
unpolar sind und keine Wasserstoffbrücken ausbilden Molmasse einer Verbindung, so lässt sich daraus
können. Derartige Stoffe lösen sich nicht in Wasser, sie sofort die in einer gewissen Masse des Stoffes vorhan-
stoßen es ab. Man nennt diese Stoffe hydrophob (griech. dene Molekülanzahl berechnen. Unser Rohrzucker
phobos, Furcht). Ein Beispiel aus der heimischen Küche mit seiner Molmasse von 342 Dalton sagt uns, dass
ist Salatöl, das sich bekanntlich nicht dauerhaft mit 342 g Rohrzucker 6,022 × 1023 Rohrzuckermoleküle
Wasser oder wasserlöslichen Substanzen wie Essig enthalten. Benötigt man im Labor 3,011 × 1022 Mole-
vermischen lässt. Die Hydrophobie der Öltröpfchen küle Rohrzucker (entsprechend 0,05 mol), wiegt man
beruht auf dem weitgehenden Fehlen polarer Bindun- einfach 17,1 g (= 342 g × 0,05) ab.
gen in den Molekülen. Öle sind im weitesten Sinne Der praktische Vorzug der Mengenbestimmung in
Kohlenwasserstoffverbindungen. Bindungen zwischen Mol beruht darauf, dass ein Mol einer beliebigen Sub-
Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen sind apolar, da sich stanz immer genau die gleiche Anzahl von Teilchen
die Elektronen ziemlich gleichmäßig zwischen den enthält, unabhängig von deren chemischer Beschaffen-
Atomen verteilen. Den Ölen chemisch verwandte, heit, Struktur usw. Falls die Molmasse einer Substanz
hydrophobe Moleküle sind die Hauptbestandteile von A 342 Dalton beträgt, und die einer Substanz B 10 Dal-
Zellmembranen. Was würde aus einer Zelle werden, ton, so sind in 342 g A ebenso viele Teilchen enthalten
wenn sich ihre Membran auflösen würde?! wie in 10 g B. Ein Mol Ethanol (C2H5OH) enthält
natürlich ebenfalls 6,022 × 1023 Ethanolmoleküle, die
Konzentrationen wässriger Lösungen Masse dieser Stoffmenge (die Molmasse des Ethyl-
Die meisten chemischen Reaktionen in Organismen alkohols) beträgt 46 g/mol. Das Rechnen mit molaren
laufen zwischen in Wasser gelösten Stoffen ab. Um der- Mengen ist für Chemiker und Biologen äußerst prak-
artige Reaktionen verstehen zu können, muss man wie tisch, da auf diese Weise sichergestellt werden kann,
bei jeder chemischen Reaktion wissen, wie viele Atome dass Stoffe in vorher festlegbaren Teilchenzahlverhält-
und/oder Moleküle daran teilnehmen, und man muss in nissen miteinander zur Reaktion gebracht werden.
der Lage sein, die Konzentration (die in einem Bezugs- Man spricht dann von stöchiometrischen Verhältnis-
volumen vorliegende Stoffmenge) der in der Lösung sen beziehungsweise stöchiometrischen Stoffmengen.
vorliegenden Stoffe zu berechnen und zu messen. Wie würden wir vorgehen, um einen Liter (l) einer
Wenn man Experimente durchführt, verwendet man Lösung herzustellen, die 1 mol Rohrzucker in Wasser
für Berechnungen die Molmassen der betreffenden enthält? Man würde 342 g Rohrzucker abwiegen und
Stoffe, diese setzen Teilchenmassen in Beziehung zur dann unter Rühren Wasser zugeben, bis sich der
Teilchenanzahl. Da die Massen der Atome bekannt Zucker vollständig aufgelöst hat. Dann füllt man das
sind, lassen sich daraus Molekülmassen leicht errech- Volumen genau bis zur 1 Liter-Marke an einem kali-
nen, denn die Masse eines Moleküls (früher „Moleku- brierten Gefäß auf. Damit hätten wir eine Rohrzucker-

68
3.3 Organismen benötigen zum Leben bestimmte Säure/Base-Bedingungen

lösung der Konzentration 1 mol/l. Man sagt auch, die Raumfahrzeugen zeigen, dass Eis unter der Marsober-
Lösung sei „einmolar“ an Rohrzucker (1 M = 1 mol/l). fläche vorhanden ist und auch genügend Wasser- Teil 1
Die Molarität einer Lösung gibt an, wie viele Mol in dampf in der Atmosphäre, um Raureif zu bilden.
einem Liter Lösung (aber nicht einem Liter Lösungs- Abbildung 3.9 zeigt Ausschlämmungen an steilen
mittel!) vorliegen. Molaritäten sind die am häufigsten Abhängen, die sich während des Marsfrühjahres und
verwendeten Konzentrationsangaben. In Fällen, in -sommers bilden und im Winter wieder verschwin-
denen die Molmasse (n) entweder nicht bekannt ist den. Einige Interpretationen sehen diese Phänomene
oder nicht verwendet werden kann (zum Beispiel bei als saisonale Wasserströme aus geschmolzenem Eis
Gemischen), wird oft auf prozentuale Angaben ausge- unter der Marsoberfläche. Alternativ könnte es sich
wichen. Diese Vorgehensweise ist auf fest/flüssige und jedoch auch um Auswirkungen von Kohlendioxid,
auf flüssig/flüssige Gemische anwendbar: 10 % (w/v) nicht Wasser, handeln. Oberflächenbohrungen wären
bedeuten 10 g einer Substanz in 100 ml Lösung (w der nächste Schritt bei der Suche nach Leben auf dem
steht für engl. weight; v für volume), 10 % (v/v) ent- Mars. Der Fund anderer Lebensformen oder Fossilien
sprechen 10 ml Flüssigkeit in 100 ml Lösung. Ins- würde aus einer völlig neuen Perspektive Licht auf
besondere bei Proteinen wird oft die Konzentration in evolutionäre Prozesse werfen.
mg/ml angegeben. Wenn nur ein einziges Protein in der
Lösung vorliegt und seine Molmasse bekannt ist, kann
man die mg/ml-Angabe in mol/l umrechnen. Bei Gemi-  Wiederholungsfragen 3.2
schen verschiedener Proteine in unbekannten Mengen-
verhältnissen geht das natürlich nicht und daraus 1. Beschreiben Sie, wie die Eigenschaften des
erklärt sich auch die Verwendung der Einheit [mg/ml]. Wassers zur Aufwärtsbewegung von Wasser
innerhalb eines Baumes beitragen.
2. Erläutern Sie den volkstümlichen Ausspruch:
3.2.5 Leben auf anderen Planeten „Es ist nicht die Hitze, es ist die Feuchtigkeit!“

Die Verwendbarkeit von Wasser als breit einsetzbares 3. Wie kann das Gefrieren von Wasser Steine
Lösungsmittel ergänzt seine anderen Eigenschaften, die sprengen?
wir bereits diskutiert haben. Diese recht bemerkens-
4. WAS WÄRE, WENN? Die Beine des Wasserläu-
werten Eigenschaften und ihr Zusammenspiel machen
fers sind mit einer hydrophoben Substanz über-
Wasser zum idealen Medium für das Leben auf der
zogen. Welchen Vorteil hat das? Was würde
Erde. Die Suche nach möglichen Lebensformen im Uni-
passieren, wenn die Substanz hydrophil wäre?
versum (Astrobiologie) beinhaltet daher die Suche nach
Planeten mit Wasser auf der Oberfläche. 5. DATENAUSWERTUNG Die Konzentration des Ap-
petit-regulierenden Hormons Ghrelin im Blut
einer fastenden Person ist ca. 1,3 × 10–10 mol/l.
Wie viele Ghrelinmoleküle enthält ein Liter
Blut?

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

Organismen benötigen zum


Leben bestimmte Säure/Base-
Bedingungen
3.3
Bei der Wechselwirkung von Wassermolekülen kommt
Abbildung 3.9: Hinweise auf unterirdisches Wasser auf dem es gelegentlich vor, dass ein Wasserstoffatom eines
Mars. Die dunklen Streifen im unteren Teil des Fotos könnten Ströme Wassermoleküls auf ein anderes übergeht. Dies ent-
unterirdisch fließenden Wassers sein, da sie nur in den warmen Jahres- spricht einer chemischen Reaktion zweier Wassermole-
zeiten auftreten. Die Rinnen im Zentrum der Aufnahme könnten durch küle, bei der Ionen entstehen. Ein Wasserstoffion (H+),
fließendes Wasser ausgewaschen worden sein. also ein Wasserstoffatomkern (Proton), wird von einem
Wassermolekül abgespalten und an ein anderes gebun-
EVOLUTION Außerhalb unseres Sonnensystems sind den. Das Wassermolekül, welches das Wasserstoffion
bislang mehr als 1.900 Planeten entdeckt worden und abgespalten hat, ist nun ein einfach negativ geladenes
ein paar davon zeigen Anzeichen für die Existenz von Hydroxidanion (OH–). Das Wassermolekül, welches
Wasserdampf. In unserem eigenen Sonnensystem das Proton aufgenommen hat, ist ein einfach positiv
steht der Planet Mars im Zentrum des Interesses. Er geladenes Hydroniumkation (H3O+). Die Reaktion ist
hat genau wie die Erde Polkappen aus Eis. Bilder von

69
3 Wasser und Leben

eine sogenannte Protolyse mit der folgenden chemi- der zu einer Erhöhung der Hydroniumionenkonzen-
Teil 1 schen Reaktionsgleichung: tration führt. Gibt man beispielsweise Chlorwasser-
stoff (HCl) in Wasser, so dissoziieren Wasserstoffionen
+ – ab. Zurück bleiben Chloridionen. Die Lösung von HCl
H H in Wasser heißt Salzsäure:
O H O O H + O
H H H H HCl + H2O → H3O+ + Cl–
2H2O Hydroniumion Hydroxidion
(H3O+) (OH–) Diese H+-Ionenquelle bewirkt eine Ansäuerung der
Lösung, die saure Lösung enthält mehr H+- als OH–-
Aus Gründen der Vereinfachung ist es jedoch üblich, Ionen.
in Reaktionsgleichungen nur H+ zu schreiben. Dabei Ein Stoff, der durch die entgegengesetzte Protolyse-
handelt es sich in wässrigen Lösungen tatsächlich reaktion zu einer Herabsetzung der Hydroniumionen-
aber immer um das Hydroniumion H3O+, eigentlich konzentration einer wässrigen Lösung führt, wird Base
sogar eher um das noch weitergehender hydratisierte genannt. Basen sind Wasserstoffionenakzeptoren.
H9O4+. Freie Protonen kommen in wässrigen Lösun- Ammoniak (NH3) beispielsweise wirkt als Base, weil
gen nicht vor. Wir folgen der vereinfachenden Praxis das freie Elektronenpaar am Stickstoffatom mit einem
und schreiben nur „H+“. Wasserstoffion reagieren kann, dabei bildet sich das
Wie der Gleichgewichtsdoppelpfeil andeutet, handelt Ammoniumion (NH4+) und das Hydroxidion (OH–):
es sich um eine reversible Reaktion, die einen dynami-
schen Gleichgewichtszustand genau dann erreicht, 

 NH4+ + OH–
NH3 + H2O 
wenn die Dissoziationsgeschwindigkeit der Wasser-
moleküle gleich der Neubildungsrate aus H+ + OH– ist. Andere Basen reduzieren die H+-Ionenkonzentration
Im Gleichgewicht überwiegt die Konzentration der direkt, indem sie sofort in Hydroxidionen dissoziie-
Wassermoleküle die der H+- und OH–-Ionen sehr stark, ren, die als starke Basen wirken und mit H+-Ionen zu
das Gleichgewicht liegt also weit auf der linken Seite H2O reagieren. Ein Beispiel dafür ist das Natriumhy-
der obigen Gleichung. In reinem Wasser ist bei Zimmer- droxid (NaOH), dessen wässrige Lösung Natronlauge
temperatur nur ein Molekül aus 554 Millionen disso- heißt und stark ätzend wirkt:
ziiert. Die Konzentration von H+ bzw. OH– in reinem
Wasser beträgt bei 25 °C jeweils 10–7 mol/l. In einem NaOH → Na+ + OH–
Liter reinen Wassers liegt also nur ein Zehntelmillions-
tel Mol an Hydroxidionen vor, sowie eine gleichgroße In jedem Fall bewirkt eine Base eine Verminderung der
Menge an Hydroniumionen. Die tatsächlichen Anzah- H+-Ionenkonzentration. Lösungen, deren Gehalt an
len sind mit 6,022 × 1016 trotzdem beträchtlich. OH–-Ionen höher ist als ihr Gehalt an H+-Ionen, werden
Obwohl die Dissoziation des Wassers reversibel ist Basen oder Laugen genannt. Eine Lösung mit gleichen
und statistisch gesehen ziemlich selten, hat sie für die Konzentrationen an H+- und OH–-Ionen ist neutral, sie
Chemie lebender Organismen außerordentliche Bedeu- reagiert weder sauer noch basisch (alkalisch).
tung. H+ und OH– sind sehr reaktiv. Eine Veränderung Man beachte, dass bei der Reaktion von Chlor-
ihrer Konzentrationen kann Proteine und andere kom- wasserstoff beziehungsweise Natriumhydroxid mit
plexe Verbindungen in einer Zelle dramatisch beein- Wasser statt des Doppelpfeils herkömmliche Pfeilsym-
flussen. Wie wir gesehen haben, sind die Konzentratio- bole in den Reaktionsgleichungen verwendet wurden.
nen von H+ und OH– in reinem Wasser gleich groß. Der Dies erfolgt mit Absicht: Die Gleichgewichtslage dieser
Zusatz bestimmter, als Säuren und Basen bezeichneter Reaktionen liegt so weit rechts auf Seiten der Dissozia-
Stoffe, ändert jedoch dieses Konzentrationsverhältnis. tionsprodukte, dass man in guter Näherung von einer
Für die Angabe, wie basisch oder wie sauer eine wäss- vollständigen Dissoziation ausgehen und die Reaktion
rige Lösung ist, wird die sogenannte pH-Skala benutzt. als quantitativ ansehen kann (jedenfalls in hinreichend
Basisch (oder auch alkalisch) ist das genaue Gegenteil verdünnten Lösungen). Verbindungen, die bei der Pro-
von sauer. Der Rest des Kapitels wird sich mit Säuren, tolyse in Wasser ihr H+ vollständig abdissoziieren,
Basen und dem pH-Wert befassen, sowie mit der Frage, sind starke Säuren. Chlorwasserstoff ist dafür ein
warum Veränderungen des pH-Wertes Lebewesen in Beispiel. Natriumhydroxid ist analog eine starke Base.
Mitleidenschaft ziehen können. Im Vergleich dazu ist Ammoniak eine schwächere
Base. Der Gleichgewichtspfeil zeigt an, dass im Gleich-
gewichtszustand deutliche Mengen an unprotoniertem
3.3.1 Säuren und Basen und an protoniertem Ammoniak vorliegen. Das Gleich-
gewicht liegt also nicht vollständig auf nur einer Seite.
Welche Faktoren führen zu einem Ungleichgewicht In gleicher Weise dissoziieren auch schwache
zwischen H+- und OH–-Ionen in wässrigen Lösungen? Säuren nicht vollständig, sondern nur teilweise und in
Wenn eine Säure in Wasser gelöst wird, dissoziiert sie einer reversiblen Reaktion. Ein Beispiel ist die Essig-
teilweise oder ganz und gibt dabei H+-Ionen in die säure, auf die wir weiter unten noch zurückkommen:
Lösung ab, die dort Hydroniumionen bilden. Eine


 H+ + CH3COO–
CH3COOH 
Säure ist ein Wasserstoffionendonor, also ein Stoff,

70
3.3 Organismen benötigen zum Leben bestimmte Säure/Base-Bedingungen

3.3.2 Die pH-Skala konzentration 10–10 mol/l und daher die OH–-Ionen-
konzentration 10–4 mol/l. Der pH-Wert ist für Protolyse- Teil 1
In wässrigen Lösungen beträgt das Produkt der Konzen- reaktionen in wässrigen Lösungen definiert und daher
trationen von Hydronium- und Hydroxidionen 10–14: nicht ohne Weiteres auf andere Lösungsmittel übertrag-
bar. Außerdem sollte beachtet werden, dass der pH-Wert
[H+] [OH–] = 10–14 nur für Konzentrationsbereiche von 100 (= 1) bis 10–14
gilt.
Die eckigen Klammern bedeuten definitionsgemäß die Der pH-Wert einer neutralen Lösung bei 25 °C
molare Konzentration des in der Klammer stehenden beträgt 7 und liegt in der Mitte der Skala. Ein pH-Wert
Stoffes. unter 7 bezeichnet eine saure Lösung. Je niedriger der
In einer neutralen Lösung bei Standardtemperatur ist pH-Wert, desto stärker sauer reagiert die Lösung. Die
[H+] = [OH–] = 10–7 mol/l. Setzt man so viel Säure zu, pH-Werte basischer Lösungen liegen oberhalb von 7.
dass [H+] auf 10–5 mol/l ansteigt, so sinkt [OH–] folg- Die meisten biologischen Flüssigkeiten liegen im pH-
lich auf 10–9 mol/l, da das Produkt von beiden immer Wertbereich zwischen 6 und 8. Es gibt jedoch einige
10–14 mol2/l2 ist. Dieses konstante Konzentrations- Ausnahmen, wie den stark sauren Magensaft des Men-
verhältnis beschreibt das Verhalten von starken Säuren schen, der einen pH-Wert von etwa 2 hat.
und Basen in verdünnten wässrigen Lösungen. Die von Machen Sie sich klar, dass eine Veränderung um eine
der Säure freigesetzten H+-Ionen verbinden sich vor- pH-Einheit eine Änderung der H+- und der OH–-Ionen-
zugsweise mit den OH–-Ionen zu neutralen Wasser- konzentration um das Zehnfache bedeutet. Diese mathe-
molekülen, wodurch die Konzentration an freiem OH– matische Eigenschaft macht die pH-Skala so „hand-
absinkt. Eine Base (Lauge) hat den gegenteiligen Effekt lich“. Eine Lösung mit einem pH-Wert von 3 ist nicht
und bewirkt durch ihre Funktion als H+-Ionen-Akzep- etwa doppelt so sauer wie eine mit einem pH-Wert von
tor eine Erhöhung der OH–-Ionenkonzentration. Setzt 6, sondern (10 × 10 × 10) = 1.000-mal (drei Zehner-
man genügend Lauge zu, um die OH–-Konzentration potenzen). Eine nur leichte Änderung des pH-Wertes
auf 10–4 mol/l zu erhöhen, sinkt die H+-Ionenkonzent- einer Lösung entspricht also erheblichen Veränderun-
ration auf 10–10 mol/l. Kennt man die Konzentration gen der H+- und OH–-Ionenkonzentrationen.
entweder der H+- oder der OH–-Ionen in einer wäss-
rigen Lösung, lässt sich die Konzentration der jeweils
anderen Ionensorte aus der obigen Beziehung leicht pH-Skala
berechnen. Man beachte, dass das chemische Gleich- 0

gewicht temperaturabhängig ist. Weicht die Tempe-


1 Batteriesäure
ratur stark von den Normbedingungen ab, muss gege-
benenfalls eine Korrektur durch Berücksichtigung
2 Magensaft,
veränderter Dissoziationsgrade durchgeführt werden. H+ Zitronensaft
zunehmend sauer

+
H
Weiterhin gelten die aufgezeigten Bedingungen streng – +
H+ OH + H
[H+] > [OH–]

3 Essig, Bier,
genommen nur für ideale Lösungen, also solche, die OH– H H+ Wein, Cola
H+ H+
hinreichend verdünnt sind, um ein ideales Verhalten 4 Tomatensaft
saure
der Teilchen voraussetzen zu können.
Lösung
Da die H+- und die OH–-Ionenkonzentration einer 5
schwarzer Kaffee
Lösung über einen Bereich von vielen Zehnerpotenzen Regenwasser
variieren können, hat man eine spezielle Werteskala 6 Harn (Urin)
entwickelt, um diese chemisch wichtigen Konzentra- OH– Speichel
OH–
tionsverhältnisse in übersichtlicher Form ausdrücken neutral
H H+ OH–
+
7 reines Wasser
– [H+]= [OH–]
zu können, die sogenannte pH-Skala (Abbildung OH– OH + menschliches Blut,
H+ H+ H Tränenflüssigkeit
3.10). Der pH-Wert einer Lösung ist als der negative 8 Meerwasser
neutrale
dekadische Logarithmus (Logarithmus zur Basis 10) der Lösung
Wasserstoffionenkonzentration definiert: 9
zunehmend basisch

pH = –log10 [H+]
[H+] < [OH–]

10

OH– –
Magnesiamilch
OH
In reinem Wasser oder einer neutralen wässrigen OH– H+ OH– 11
Lösung ist [H+] = 10–7 mol/l. Daher gilt: –
OH– OH – Salmiak
H+ OH
12
–log 10–7 = –(–7) = 7 basische
(= alkalische) handelsübliche
13 Bleiche
Lösung
Beachten Sie, dass der pH-Wert sinkt, wenn die H+- Ofenreiniger
Ionenkonzentration steigt. Zwar gibt die pH-Skala die 14

H+-Ionenkonzentration an, aber dies impliziert auch die Abbildung 3.10: Die pH-Skala und pH-Werte einiger wässriger
OH–-Ionenkonzentration. Bei pH 10 ist die H+-Ionen- Lösungen.

71
3 Wasser und Leben

3.3.3 Puffer H2CO3/HCO3–-System stabilisiert den Blut-pH innerhalb


Teil 1 enger Grenzen, er wird gepuffert. Neu gebildetes H2CO3
Der pH-Wert im Inneren der meisten Zellen liegt nahe zerfällt sofort in H2O und CO2. Letzteres kann durch die
bei 7. Selbst kleine Änderungen im pH-Wert können Atemfrequenz innerhalb gewisser Grenzen abgeatmet
schädlich sein, da die chemischen Vorgänge in einer werden. Das Kohlensäure/Hydrogencarbonat-Puffer-
Zelle sehr empfindlich auf die Konzentrationen der system besteht aus einer schwachen Säure und einer
Hydronium- und Hydroxidionen reagieren. ebenfalls schwachen Base, die im Gleichgewicht mitein-
Der pH-Wert des menschlichen Bluts liegt nahe bei ander stehen. Die meisten anderen Puffersysteme beste-
7,4 – also im leicht basischen Bereich. Fällt der Blut- hen ebenfalls aus Säure/Base-Paaren. Wir haben oben
pH-Wert auf 7,0 ab oder steigt auf 7,8 an, so droht der bereits die Essigsäure und ihre Base, das Acetatanion,
Tod schon nach wenigen Minuten. Daher existiert im kennengelernt. Das quantitative Verhalten gepufferter
Blut ein chemisches Ausgleichssystem, das den pH- Systeme wird durch die Henderson/Hasselbalch-Glei-
Wert stabil hält und Schwankungen entgegenwirkt. chung beschrieben, die letztlich nur die logarithmierte
Setzt man einem Liter reinen Wassers 0,01 mol einer Form des Massenwirkungsgesetzes für Säuren ist:
starken Säure zu, fällt der pH-Wert von 7 auf 2 ab (die
H+-Ionenkonzentration verändert sich um das 100.000- pH = pK + log10([A–]/[HA])
Fache). Setzt man die gleiche Säuremenge einem Liter
Blut zu, sinkt der pH-Wert nur von 7,4 auf 7,3 (ein Darin ist pK der negative dekadische Logarithmus der
Abfall um das knapp 1,3-Fache). Warum hat der Säure- Gleichgewichtskonstanten, [A–] die Konzentration der
zusatz eine so viel geringere Wirkung auf den pH-Wert konjugierten Base (zum Beispiel HCO3– oder CH3COO–)
des Blutes als auf den von Wasser? und [HA] die Konzentration der zugehörigen Säure
Für den verhältnismäßig gleichbleibenden pH-Wert (Kohlensäure oder Essigsäure). Welchen pH-Wert stabi-
physiologischer Flüssigkeiten selbst bei Zugabe gerin- lisieren derartige schwache Säure/Base-Paare am bes-
ger Mengen von Säuren oder Basen sind sogenannte ten? Anders gesagt, bei welchem pH-Wert ist ihre Puff-
Puffer verantwortlich. Sie wirken der Veränderung des erwirkung am größten? Die Antwort folgt aus der
pH-Wertes von Lösungen – also der Änderung der Gleichung oben: Wenn die Säure zur Hälfte dissoziiert
Konzentrationen von H+- und OH–-Ionen – entgegen, ist, liegen gleiche Konzentrationen von HA und A– vor.
indem sie Wasserstoffionen aus der Lösung abfangen, Dann entfällt der logarithmische Term, da der Bruch 1
wenn deren Konzentration sich erhöht, oder Wasser- wird und somit log101 = 0 (denn 100 = 1). Die Wirkung
stoffionen abdissoziieren, wenn ihre Konzentration eines Puffers ist also bei pH = pK am besten. Der pK der
fällt. Puffer bestehen aus einer schwachen Säure (HA) Kohlensäure liegt bei 6,5, Essigsäure hat einen pK von
und ihrer konjugierten Base (A–). Im Blut und anderen 4,76. Es gibt keinen biologisch relevanten Puffer mit
biogenen Lösungen gibt es mehrere Puffersysteme, die einem pK von genau 7,4.
zur Aufrechterhaltung des physiologischen pH-Werts
beitragen. Eines dieser Puffersysteme ist der Hydrogen-
carbonatpuffer, der sich formal von der zweibasigen 3.3.4 Gefährdungen der Wasserqualität
Kohlensäure (H2CO3) ableitet. Diese bildet sich durch auf der Erde
die Reaktion von Kohlendioxid mit Wasser (zum
Beispiel im Blutplasma). Kohlensäure ist instabil und Führt man sich die Abhängigkeit allen Lebens vom
dissoziiert sofort protolytisch zu Hydrogencarbonatio- Wasser vor Augen, so stellt sich die Kontamination von
nen (HCO3–) und H+: Flüssen, Seen, Meeren und dem Regen als schwerwie-
gendes Umweltproblem dar. Viele Gefährdungen der
Reaktion auf pH-Abfall
H2CO3 
 
 HCO−
3 + H+ Wasserqualität sind Folgen menschlicher Aktivitäten,
Reaktion auf pH-Anstieg
wie zum Beispiel die Verbrennung fossiler Brennstoffe
H+ -Ionendonor H+ -Akzeptor Wasserstoff- (Kohle, Erdöl, Erdgas). Diese Praxis, seit ihrem Beginn
(Säure) (Base) ion im Rahmen der industriellen Revolution Anfang des
19. Jahrhunderts stetig im Ansteigen begriffen, setzt
Das chemische Gleichgewicht zwischen der Kohlen- Gase frei, darunter reichlich Kohlendioxid. Die chemi-
säure und dem Hydrogencarbonat wirkt pH-regulierend: sche Reaktion von CO2 und anderen Verbindungen mit
Wenn der Lösung Wasserstoffionen entzogen werden, Wasser führt zu einer Störung der empfindlichen
dissoziiert mehr Kohlensäure; wenn durch H+-Zugabe Balance der für das Leben auf der Erde relevanten
angesäuert wird, bildet sich Kohlensäure. Die Gleichge- Umweltbedingungen. Insbesondere sinkt der pH-Wert
wichtslage insgesamt, also das Verhältnis von Produkt- des Wassers, außerdem ändert sich die Oberflächentem-
zu Reaktandenkonzentrationen gemäß Massenwirkungs- peratur durch den Treibhauseffekt.
gesetz (Konzept 2.4), bleibt natürlich unverändert, denn Das Verbrennen fossiler Brennstoffe ist außerdem die
genau darauf beruht die Pufferwirkung. Das H2O/CO2/ Hauptquelle für Schwefeldioxid und Stickstoffoxide

72
3.3 Organismen benötigen zum Leben bestimmte Säure/Base-Bedingungen

(„Stickoxide“). Diese Verbindungen reagieren mit Was- liegende Reaktion noch mehr in diese Richtung. Das
serdampf in der Luft zum Teil unter Bildung starker Carbonatanion reagiert stark basisch und kommt nur bei Teil 1
Säuren wie Schwefel- und Salpetersäure, die mit Regen sehr hohen pH-Werten in bedeutenden Mengen vor. Die
oder Schnee auf die Erdoberfläche fallen. Saure Nieder- biologische Kalzifizierung, das heißt das Ausfällen von
schläge in Form von Regen, Schnee oder Nebel mit pH- Calciumcarbonat (CaCO3) durch Korallen und andere
Werten von unter 5,2 gehen vielerorts nieder. Auch Organismen, wird von der Carbonatkonzentration direkt
unkontaminierter Regen reagiert sauer und besitzt einen beeinflusst. Jede Verringerung der ohnehin geringen
pH-Wert von ca. 5,6, der auf die Bildung und Dissozia- Carbonationenmenge ist daher Grund zur ökologischen
tion von Kohlensäure durch die Reaktion mit Kohlen- Besorgnis, da die Kalzifizierung, ein Beispiel für Bio-
dioxid zurückzuführen ist. Kohlekraftwerke produzie- mineralisation, die Grundlage für die Bildung von
ren und setzen mehr von diesen Oxiden frei als jede Korallenriffen in Tropenmeeren ist. Diese empfind-
andere Quelle. Der Wind trägt die Schadstoffe fort, so lichen Ökosysteme beherbergen eine große Vielfalt an
dass es Hunderte von Kilometern von industriellen Organismen. Die Wissenschaftliche Übung bietet Gele-
Ballungszentren entfernt zu saurem Regen kommen genheit zum Arbeiten mit den Daten eines Experiments,
kann, in Deutschland zum Beispiel in den Mittelgebir- in dem die Auswirkungen der Carbonationenkonzentra-
gen, die westlich und südlich der Industriekomplexe tion auf Korallenriffe untersucht wurden. Korallenriffe
des Ruhrgebietes liegen. Saure Niederschläge sind aus sind empfindliche Ökosysteme mit vielen unterschied-
vielen Gegenden der Erde bekannt. Alle Industrieländer lichen marinen Organismen. Ihr Verschwinden wäre ein
sind mehr oder weniger stark betroffen. In den 1980er tragischer Verlust biologischer Diversität.
Jahren gab es eine breite öffentliche Diskussion der Falls es einen Grund für Optimismus hinsichtlich
Problematik, als es in Teilen Europas infolge des sauren der künftigen Wasserqualität auf unserem Planeten
Regens zu einem drastischen und daher nicht mehr gibt, so besteht er aus den Fortschritten beim Ver-
ignorierbaren Waldsterben kam. ständnis der empfindlichen chemischen Fließgleich-
Das als Hauptprodukt der Verbrennung fossiler gewichte in den Meeren und Gewässern. Anhaltender
Brennstoffe anfallende Kohlendioxid ruft andere Prob- Fortschritt erfordert Menschen, die sich Sorgen um
leme hervor. Seine Freisetzung in die Atmosphäre hat ihre Umwelt machen. Das Verstehen der Bedeutung
sich ständig erhöht und soll sich, Voraussagen zufolge, des Wassers für das Fortbestehen des Lebens auf der
bis zum Jahr 2065 gegenüber dem Wert von 1880 ver- Erde ist dabei ein unerlässlicher Aspekt.
doppeln. Etwa die Hälfte des Kohlendioxids verbleibt
in der Luft und verhindert wie eine „Schutzdecke“ die
Abstrahlung von Wärmestrahlung in den Weltraum
(„Treibhauseffekt“). Diese Wirkung und ihre Folgen
werden in Kapitel 55 erörtert. Ein Teil des Kohlen- Etwas Kohlendioxid
dioxids wird von Bäumen und anderen Pflanzen im (CO2) aus der
CO2 Atmosphäre löst
Rahmen der Photosynthese absorbiert, wir haben in
sich im Ozean und
Kapitel 2 bereits darauf hingewiesen. Der verbleibende reagiert dort mit
Anteil von ca. 30 Prozent wird von den Ozeanen aufge- Wasser zu Kohlen-
nommen. Ungeachtet des gewaltigen Wasservolumens säure (H2CO3).

der Weltmeere sind die Geowissenschaftler besorgt,


dass die Absorption von so viel CO2 die Ökosysteme Kohlensäure dissozi-
CO2 + H2O H2CO3
iert in Wasserstoff-
der Meere in Mitleidenschaft ziehen könnte. ionen (H+) und
Wenn sich CO2 im Meerwasser löst, reagiert ein Hydrogencarbonat-
H2CO3 H+ + HCO3– ionen (HCO3–).
kleiner Teil mit Wasser zu Kohlensäure (H2CO3, siehe
oben), die den pH-Wert senkt, dies wird als Meeres- Das zusätzliche
ansäuerung bezeichnet (Abbildung 3.11). Messungen H+ + CO32– HCO3– H+ reagiert mit
Carbonationen
haben ergeben, dass der pH-Wert der Ozeane heute um (CO32–) und bildet
0,1 Einheiten niedriger ist, als zu irgendeiner Zeit in noch mehr HCO3–.
CO32– + Ca2+ CaCO3
den vergangenen 420.000 Jahren und bis zum Ende des Daraufhin ist weni-
21. Jahrhunderts um weitere 0,3 bis 0,5 Einheiten fallen ger CO32– für die
könnte. Die Kohlensäure dissoziiert zum Teil zu Hydro- Kalzifizierung ver-
fügbar – die Bildung
gencarbonat, das – weil es selbst ein dissoziierbares von Calciumcarbonat
Wasserstoffion enthält und daher eine Säure ist – in (CaCO3) durch Mee-
einer zweiten Protolysestufe geringe Mengen von resorganismen wie
Korallen wird behin-
Carbonationen (CO32–) erzeugt. Wenn das Meerwasser dert.
durch den CO2-Eintrag angesäuert wird, verschiebt sich
Abbildung 3.11: Anthropogenes CO2 in der Atmosphäre und
die ohnehin stark auf Seiten des Hydrogencarbonats sein Schicksal im Ozean.

73
3 Wasser und Leben

Teil 1  Wissenschaftliche Übung

Interpretation eines Streudiagramms mit einer Datenauswertung


Regressionsgeraden
Wie beeinflusst die Carbonationenkonzentration von 1. Angesichts eines Graphen mit experimentellen
Meerwasser die Biomineralisation von Korallenrif- Daten ist der erste Schritt jeweils die Ermitt-
fen? Die Ansäuerung der Meere infolge der gestiege- lung der Bedeutung der beiden Achsen. (a) Er-
nen atmosphärischen Kohlendioxidkonzentrationen klären Sie mit Ihren Worten, was die x-Achse
wird die Konzentration gelöster Carbonationen sen- (die Abszisse) zeigt, mitsamt der Einheit. (b)
ken. Lebende Korallen nutzen gelöstes Carbonat, um Was zeigt die y-Achse (die Ordinate) in welcher
die aus Calciumcarbonat bestehenden Riffe aufzu- Einheit? (c) Welche Variable ist unabhängig
bauen. In der Übung analysieren Sie Daten eines kon- (diese Variable wurde experimentell vorge-
trollierten Experiments, mit dem die Auswirkungen geben)? (d) Was ist die abhängige Variable, die
der Carbonatkonzentration [CO32–] auf die Calcium- auf die vorgegebenen experimentellen Bedin-
carbonatablagerung (die sogenannte Kalzifizierung) gungen reagierte und gemessen wurde?
untersucht wurden.
Durchführung des Experiments Das Aquarium 2. Beschreiben Sie in eigenen Worten die im Gra-
„Biosphäre 2“ im US-Bundesstaat Arizona enthält phen dargestellte Beziehung von Kalzifizie-
ein großes Korallenriffsystem, ähnlich den Systemen rungsrate und Carbonatkonzentration.
in freier Natur. Über mehrere Jahre hinweg hat man
die Kalzifizierungsgeschwindigkeit durch die Riff- 3. (a) Wie groß ist die ungefähre Geschwindig-
organismen in Abhängigkeit von [CO32–] gemessen. keit der Kalzifizierung bei einer Carbonat-
Experimentelle Daten Die schwarzen Datenpunkte konzentration von 270 μmol/kg? Wie viele
des Graphen bilden ein Streudiagramm. Die rote Tage würde 1 Quadratmeter Riff benötigen,
Linie, bekannt als lineare Regressionsgerade, ist die um 30 mmol Calciumcarbonat (CaCO3) anzu-
am besten passende Gerade durch die Datenpunkte. häufen? (b) Welche entsprechenden Werte er-
geben sich für 250 μmol/kg? (c) Wie ändert
sich die Kalzifizierungsrate bei abnehmender
Carbonationenkonzentration? Wie beeinflusst
dies die Wachstumszeit der Korallen?

4. (a) Verwenden Sie die Gleichungen aus Abbil-


dung 3.11, um festzustellen, welcher Schritt
des dort dargestellten Prozesses im vorliegen-
den Experiment gemessen wurde. (b) Stehen
die experimentellen Befunde in Einklang mit
der Annahme, dass die atmosphärische CO2-
(mmol CaCO3 /m2 • d)

20 Konzentration das Korallenriffwachstum ver-


Kalzifizierungsrate

langsamt? Warum oder warum nicht?

10
Daten aus: C. Langdon et al., Effect of calcium carbonate saturation
state on the calcification rate of an experimental coral reef, Global
Biogeochemical Cycles 14:639–654 (2000).
0
220 240 260 280

[CO32 ] (μmol/kg Meerwasser)

74
Zusammenfassung

 Wiederholungsfragen 3.3 Grund dafür? Wie würden Sie in dieser Hin- Teil 1
sicht die Trichloressigsäure (TCA, CCl3COOH)
1. Im Vergleich zu einer basischen Lösung mit pH einschätzen (siehe Konzept 2.3)?
9 enthält das gleiche Volumen einer sauren
Lösung mit pH 4 _____-mal so viele Wasser- 4. WAS WÄRE, WENN? Sie haben je einen Liter
stoffionen (H+). reinen Wassers und einen Liter verdünnter
Essigsäure vorliegen, denen Sie jeweils 0,01 mol
2. HCl ist eine starke Säure, die in Wasser prak- einer starken Säure zusetzen. Wie würde sich
tisch vollständig dissoziiert: HCl → H+ + Cl–. der pH-Wert der beiden Lösungen ändern?
Berechnen Sie den pH-Wert einer 0,01 M HCl- Verwenden Sie die entsprechenden Reaktions-
Lösung. gleichungen, um das Ergebnis zu erklären.
3. Essigsäure (CH3COOH) kann zusammen mit ei-
nem ihrer Salze als Puffer eingesetzt werden
(Acetatpuffer), wie oben dargestellt. Was ist der Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

ZUSAMMENFAS SUNG KAPITEL 3 

Konzept 3.1  Temperaturausgleich. Wasser hat eine hohe spezifi-


Wasserstoffbrückenbindungen sind eine Folge der sche Wärmekapazität. Beim Lösen von Wasserstoff-
Polarität des Wassermoleküls brückenbindungen wird Wärme absorbiert, sie wird
freigesetzt, wenn Wasserstoffbrücken sich ausbilden.
 Wasser ist ein polares Molekül. Wasserstoffbrücken- Dies hilft, die Temperatur innerhalb lebensverträg-
bindungen bilden sich aus, wenn sich das negativ licher Grenzen relativ stabil zu halten. Die Verdun-
polarisierte Sauerstoffatom eines Wassermoleküls stungskälte beruht auf der hohen Verdampfungs-
und das positiv polarisierte Wasserstoffatom eines wärme des Wassers. Der Verlust der Wassermoleküle
anderen Wassermoleküls gegenseitig anziehen. Die mit dem höchsten Energiegehalt an der Oberfläche
ungewöhnlichen Eigenschaften des Wassers beruhen führt zur Abkühlung des Körpers.
auf seinen Wasserstoffbrückenbindungen.  Isolation von Wasserkörpern durch schwimmen-
des Eis. Eis schwimmt, weil es weniger dicht als
flüssiges Wasser ist. Dies ermöglicht die Existenz
von Leben unterhalb der zugefrorenen Oberflächen
δ– von Seen und Polarmeeren.
 Des Lebens Lösungsmittel. Wasser ist ein ungewöhn-
δ+
lich vielseitiges Lösungsmittel, weil seine polaren
H
Moleküle elektrisch geladene und andere polare Teil-
δ– O chen, die Wasserstoffbrücken bilden können, anzie-
δ+ H
δ– δ+ hen. Hydrophile Substanzen haben eine Affinität für
δ+ δ– Wasser, hydrophobe nicht.
 Konzentration. Die Konzentration einer Lösung ent-
spricht der Anzahl gelöster Teilchen pro Volumen-
einheit. Die Molarität gibt die Anzahl der Mole eines
Stoffes in einem Liter Lösung an und ist daher ein
ZEICHENÜBUNG Markieren Sie in der Abbildung eine Konzentrationsmaß. Ein Mol ist die durch eine
Wasserstoffbrückenbindung und eine polare kovalente bestimmte Teilchenzahl definierte Stoffmenge. Die
Bindung. Ist die Wasserstoffbrückenbindung kovalent? Masse eines Mols einer Substanz in Gramm ent-
Erklären Sie. spricht ihrer Atom- oder Molekülmasse in Atom-
masseneinheiten (Dalton). Ein Mol einer Substanz
Konzept 3.2 enthält immer 6,022 × 1023 Teilchen. Diese Zahl heißt
Das Leben auf der Erde hängt vom Wasser ab Avogadro’sche Zahl. Die Konzentrationen von Lösun-
gen mit Gemischen verschiedener gelöster Stoffe wer-
 Kohäsion. Wasserstoffbrückenbindungen halten den in Gewichts- oder Volumenprozent (% (w/v) oder
Wassermoleküle dicht zusammen, und diese % (v/v)) angegeben oder in g/l bzw. mg/ml.
Kohäsion hilft beim Aufwärtstransport von Wasser  Die emergenten Eigenschaften des Wassers sind
in den mikroskopischen Gefäßen von Pflanzen. die Voraussetzung für das Leben auf der Erde und
Wasserstoffbrückenbindungen sind auch für die vielleicht auch auf anderen Planeten.
Oberflächenspannung des Wassers verantwortlich.
? Beschreiben Sie, wie sich unterschiedliche Stoffarten in Wasser lösen.
Erklären Sie, was eine Lösung ist.

75
3 Wasser und Leben

Konzept 3.3 0
Teil 1 Organismen benötigen zum Leben bestimmte Säure/ sauer
[H ] > [OH–]
+
Base-Bedingungen Säuren geben in wässrigen
Lösungen H+-Ionen ab
 Ein Wassermolekül kann unter Bildung eines neutral
Hydroniumions (H3O+, genauer H9O4+, meist ver- [H+] = [OH–] 7
einfacht zu H+) ein H+-Ion (Proton) auf ein anderes
Basen geben in wässrigen
Wassermolekül übertragen. Es wird dabei zum Lösungen OH–-Ionen ab
Hydroxidion (OH–). basisch oder nehmen H+-Ionen auf
 Säuren, Basen, pH. Die Konzentration der H+-Ionen (alkalisch)
[H+] < [OH–]
wässriger Lösungen wird durch den pH-Wert ange- 14
geben. Es gilt die Definition pH = –log10[H+]. Säuren
sind Wasserstoffionendonoren, Basen sind Wasser-  Gefährdungen der Wasserqualität auf der Erde. Die
stoffionenakzeptoren (Säure/Base-Definition nach Verbrennung fossiler Brennstoffe führt zur Emission
Brønsted). Säurelösungen haben pH-Werte kleiner von Oxiden, von denen einige zur Bildung saurer
als 7, Basen größer als 7. Neutrale Lösungen haben Niederschläge beitragen. Hauptprodukt ist das Treib-
einen pH-Wert von genau 7. In biologischen Flüssig- hausgas CO2. Ein Teil des Kohlendioxids löst sich in
keiten enthaltene Puffer mildern pH-Änderungen den Meeren. Dort vermindert es den pH-Wert und
ab. Sie bestehen aus einer schwachen Säure und beeinflusst potenziell die Kalzifizierungsrate von
ihrer konjugierten Base, die reversibel Wasserstoff- Korallenriffen.
ionen abdissoziieren oder binden können. Puffer
entfalten ihre optimale Wirkung bei einem für den ? Erklären Sie, wie steigende Mengen von CO2 sich in den Ozeanen
jeweiligen Puffer charakteristischen pH-Wert, dem lösen und für ihre Ansäuerung sorgen. Wie beeinflusst diese pH-Änderung
pK, der aus der Henderson-Hasselbalch-Gleichung die Carbonationenkonzentration und die Kalzifizierungsrate?
folgt, einer Alternativformulierung des Massenwir-
kungsgesetzes für Säuren in logarithmischer Form.

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜBU NG S A UF G ABE N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.

Ebene 1: Wissen und Verständnis Ebene 2: Anwendung und Auswertung

1. Was ist hydrophob? 5. Ein Stück Pizza enthält 2.093 kJ (500 kcal) ver-
a. Papier wertbare Energie. Wie groß wäre der ungefähre
b. Tafelsalz Temperaturanstieg, falls wir die gesamte Energie-
c. Wachs menge durch Verbrennen der Pizza nutzbar ma-
d. Zucker chen und zum Erwärmen von 50 l Wasser ver-
wenden könnten? (Hinweis: Ein Liter kaltes
2. Ein Mol Zucker und ein Mol Vitamin C sind auf Wasser wiegt 1 kg.)
jeden Fall identisch bezüglich a. 50 °C
a. ihrer Masse b. 5 °C
b. ihres Volumens c. 100 °C
c. der Zahl ihrer Atome d. 10 °C
d. der Zahl ihrer Moleküle
6. ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie die Wasserhüllen um
3. Der pH-Wert eines Sees beträgt 4. Wie hoch ist die ein Kalium- bzw. Chloridion, die sich bilden, wenn
Wasserstoffionenkonzentration im See? (M = mol/l) Kaliumchlorid (KCl) in Wasser gelöst wird. Geben
a. 4,0 M Sie positive, negative und Partialladungen an.
b. 10–10 M
c. 10–4 M
d. 104 M Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten

4. Wie groß ist die Hydroxidionenkonzentration in 7. In landwirtschaftlich genutzten Gebieten hat die
dem See aus Frage 3? Wettervorhersage für die Bauern große Bedeutung.
a. 10–10 M Vor Nachtfrösten besprühen sie ihre Feldfrüchte
b. 10–4 M mit Wasser, um die Pflanzen zu schützen. Welche
c. 10–7 M Eigenschaften des Wassers sind für die Wirk-
d. 10,0 M samkeit dieser Methode verantwortlich? Gehen
Sie insbesondere auf die Rolle von Wasserstoff-
brückenbindungen ein.

76
Übungsaufgaben

8. Verbindung zur Evolution Im vorliegenden Kapi- 11. NUTZEN SIE IHR WISSEN Wie trinken Katzen? Hunde
tel wurde erklärt, warum die emergenten Eigen- bilden mit ihrer Zunge eine Art Löffel und schöpfen Teil 1
schaften des Wassers optimale Voraussetzungen so Wasser. Hochgeschwindigkeitsvideos zeigen,
für das Entstehen von Leben bieten. Bis vor Kur- dass Katzen eine ganz andere Technik zum Trinken
zem wurden weitere physikalische Rahmenbedin- von Wasser oder Milch benutzen. Vier Mal pro
gungen als wesentlich dafür angesehen, beispiels- Sekunde taucht die Katze ihre Zungenspitze ins
weise gemäßigte Temperaturbereiche, pH-Wert, Wasser und zieht so eine Wassersäule ins Maul
Atmosphärendruck, Salzgehalt und geringe Kon- (siehe Foto), das sich schließt, bevor die Schwer-
zentrationen giftiger Chemikalien. Diese Sicht hat kraft das Wasser wieder fallen lässt. Beschreiben
sich mit der Entdeckung sogenannter Extremophi- Sie, welche Eigenschaften des Wassers es den Kat-
ler geändert. Man hat Organismen in heißen, sau- zen erlauben, so zu trinken. Beziehen Sie die mole-
ren Schwefelquellen, in der Nähe von hydrother- kulare Struktur des Wassers in Ihre Betrachtung ein.
malen Spalten tief im Ozean und in Böden mit
hohen Gehalten an giftigen Metallen gefunden.
Warum könnten Astrobiologen an der Untersu-
chung von Extremophilen interessiert sein? Was
bedeutet die Existenz von Leben unter derart ext-
remen Bedingungen für die Wahrscheinlichkeit
von Leben auf anderen Planeten?

9. Wissenschaftliche Fragestellung Entwerfen Sie


ein wissenschaftliches Experiment zur Überprü-
fung der Hypothese, dass saurer Regen das Wachs-
tum der Wasserpest (Elodea sp.; siehe Abbildung
2.17) hemmt.

10. Skizzieren Sie ein Thema: Struktur Mehrere


emergente Eigenschaften des Wassers sind wesent-
lich für die Entstehung von Leben. Beschreiben
Sie in einem kurzen Aufsatz (in 100–150 Worten),
wie die universellen Lösungsmitteleigenschaften
des Wassers sich aus seiner Struktur ergeben.

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

77
Kohlenstoff und die molekulare
Vielfalt des Lebens

4.1 Organische Chemie ist die Chemie der Kohlenstoffverbindungen. . 80 4


4.2 Kohlenstoffatome können komplexe Makromoleküle bilden . . . 83

KONZEPTE
4.3 Wenige funktionelle Gruppen entscheiden über die
biologische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

 Abbildung 4.1: Welche Eigenschaften machen


Kohlenstoff zur Grundlage allen Lebens?
4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens

Kohlenstoff: Grundlage des Lebens ren Ausgangsstoffen unter geeigneten Bedingungen


Teil 1 herzustellen. Die Synthese komplexer Verbindungen,
Lebende Organismen wie die Pflanzen und die Gold- wie man sie aus Lebewesen isolieren konnte, erschien
stumpfnasenaffen (Rhinopithecus roxellana) im Qinling- jedoch als unmöglich. Der einflussreiche schwedische
Gebirge in China (Abbildung 4.1) bestehen größtenteils Chemiker Jöns Berzelius machte dann einen Unter-
aus Kohlenstoffverbindungen. Kohlenstoff gelangt durch schied zwischen organischen Verbindungen, von denen
Pflanzen und andere photosynthetisch aktive Organis- allgemein angenommen wurde, dass nur Lebewesen sie
men in die Biosphäre. Pflanzen nutzen die Sonnenener- synthetisieren können, und den anorganischen Ver-
gie, um atmosphärisches Kohlendioxid in Biomoleküle bindungen der unbelebten Welt. Letztlich gründete
umzuwandeln (siehe Kapitel 10), die ihrerseits als Nah- dies auf dem Vitalismus, der als philosophische Spe-
rungsquelle für Pflanzenfresser dienen. kulation annahm, es gäbe eine spezielle, das Leben-
Von allen chemischen Elementen ist der Kohlenstoff dige hervorbringende Kraft (die vis vitalis). Der Vita-
unübertroffen in seiner Fähigkeit, große, komplexe lismus ordnete Lebewesen in eine eigene Kategorie
und vielgestaltige Moleküle zu bilden. Die Vielfalt der außerhalb der Gesetze von Chemie und Physik ein.
Lebensformen, die sich auf der Erde entwickelt haben, Die Chemiker haben den Vitalismus als Denkrichtung
wird durch diese molekulare Vielseitigkeit erst ermög- zu Grabe getragen, als sie es schafften, organische Ver-
licht. Proteine, DNA, Kohlenhydrate und andere Ver- bindungen ohne Zuhilfenahme lebender Organismen
bindungsklassen, die typisch für die belebte Welt sind, im Labor aus „anorganischen“ Verbindungen herzustel-
bestehen sämtlich aus Kohlenstoffatomen, die unterein- len. Eine epochale Leistung war die Harnstoffsynthese
ander und mit anderen Atomsorten verbunden sind. des deutschen Chemikers Friedrich Wöhler, selbst ein
Wasserstoff (H), Sauerstoff (O), Stickstoff (N), Schwe- Schüler von Berzelius. Bei dem Versuch, aus Ammo-
fel (S) und Phosphor (P) sind andere häufig in bioche- nium- und Cyanationen (NH4+ und NCO–) das anorgani-
mischen Verbindungen anzutreffende Elemente, doch sche Salz Ammoniumcyanat herzustellen, erhielt Wöh-
nur der Kohlenstoff (C) ist für die enorme Vielfalt an ler Harnstoff (engl. urea, NH2CONH2), eine organische
Biomolekülen verantwortlich. Verbindung, die sich im Urin und als Additiv vieler
Proteine und andere Makromoleküle werden in Kapi- rückfeuchtender Hautcremes findet. „Ich muss Ihnen
tel 5 näher betrachtet. Im vorliegenden Kapitel wollen mitteilen, dass es mir gelungen ist, Harnstoff herzustel-
wir die Eigenschaften kleinerer, niedermolekularer Ver- len, ohne dass ich dazu der Niere eines Tieres – ob Hund
bindungen betrachten, um daran die Konzepte der oder Mensch – bedurft hätte.“ Das Cyanat, das Wöhler
molekularen Architektur zu illustrieren. Das wird zei- als Reaktand (Ausgangsstoff) benutzt hatte, wurde
gen, warum Kohlenstoff so wichtig für das Leben ist. damals noch aus Blut extrahiert, was die Vitalisten als
Die Organisation von Materie bringt neue und zusätz- Gegenargument benutzten. Einige Jahre später gelang es
liche Eigenschaften hervor, die die einzelnen Bestand- aber Hermann Kolbe, einem ehemaligen Mitarbeiter
teile so nicht haben und die erst in ihrer Gesamtheit Wöhlers, Essigsäure aus anorganischen Ausgangsstoffen
„Leben“ ermöglichen. herzustellen, die unmittelbar aus den Elementen
zugänglich waren. Der Vitalismus verschwand endgül-
tig von der Bildfläche, als es Eduard Buchner 1897
Organische Chemie gelang, die alkoholische Gärung – einen Stoffwechsel-
prozess – ohne lebende Organismen in zellfreien Ex-
ist die Chemie der trakten aus Hefen im Reagenzglas ablaufen zu lassen.
Kohlenstoffverbindungen
4.1 Die Pioniere der organischen Chemie des 19. Jahr-
hunderts haben stark dazu beigetragen, das damals ver-
breitete vitalistische Denken durch ein wissenschaft-
Aus historischen Gründen werden Verbindungen, die liches abzulösen. Diesem bis heute gültigen Denkansatz
Kohlenstoff enthalten, bis auf wenige Ausnahmen als liegt zugrunde, dass die allgemeinen Gesetze der Phy-
„organisch“ bezeichnet und daher wird der Zweig der sik und der Chemie ausnahmslos für alle in der Welt
Chemie, der sich mit den Verbindungen des Kohlen- ablaufenden Vorgänge gelten, einschließlich der Lebens-
stoffs befasst, organische Chemie genannt. Die Vielfalt prozesse. Diese Annahme konnte in zahlreichen Expe-
organischer Verbindungen reicht vom Methan (CH4), rimenten in den letzten 150 Jahren nicht widerlegt
der einfachsten aller organischen Verbindungen, bis zu werden, was stark für ihre Richtigkeit spricht. Die
sehr großen Makromolekülen wie den Proteinen, die organische Chemie wurde im Laufe ihrer Entwicklung
aus mehreren tausend Atomen bestehen können. Die zur „Chemie der Verbindungen des Kohlenstoffs“ ver-
meisten organischen Verbindungen enthalten außer allgemeinert. Die Zahl der bekannten Kohlenstoffver-
Kohlenstoff- auch noch Wasserstoffatome. bindungen übertrifft die Zahl der bekannten Verbindun-
Im Laufe seiner Entwicklung hat der Mensch andere gen aller übrigen Elemente bei Weitem. Viele organische
Lebewesen als Quellen für vielerlei wertvolle Sub- Verbindungen weisen eine Komplexität im Bau auf, die
stanzen und Werkstoffe genutzt: als Nahrung, für Heil- sich bei „anorganischen“ Verbindungen so nicht zeigt.
mittel und für Textilien. Die organische Chemie hat Die Gesetze der Chemie gelten aber ausnahmslos für alle
ihren Ursprung in dem Bemühen, derartige Stoffe zu Stoffe. Die Grundlage der organischen Chemie ist nicht
reinigen und zu charakterisieren. Im frühen 19. Jahr- irgendeine geheimnisvolle, nicht greifbare „Lebens-
hundert hatten Chemiker gelernt, zahlreiche einfache kraft“, sondern die einzigartige chemische Vielseitig-
Verbindungen im Labor aus den Elementen oder ande- keit des Elements Kohlenstoff.

80
4.1 Organische Chemie ist die Chemie der Kohlenstoffverbindungen

4.1.1 Organische Moleküle und die Die prozentualen Anteile der wichtigsten Elemente
Entstehung des Lebens auf der Erde lebender Organismen, das sind C, H, O, N, S und P, Teil 1
sind von Organismus zu Organismus ziemlich einheit-
EVOLUTION 1953 schlug Stanley Miller, Student im lich, was einen gemeinsamen evolutionären Ursprung
Labor von Harold Urey an der Universität von Chicago, nahelegt. Aufgrund der chemischen Vielseitigkeit vor
die Brücke zwischen organischer Chemie und moleku- allem des Kohlenstoffs, der vier Bindungen ausbilden
larer Evolution (Abbildung 4.2), als er die abiotische kann, ergibt diese begrenzte Auswahl an atomaren Bau-
Synthese organischer Verbindungen aus einfachsten steinen durch Kombination in verschiedenen Mengen-
anorganischen Vorstufen untersuchte. Der experimen- verhältnissen eine unerschöpfliche Vielfalt organischer
telle Ansatz zielte auf die Frage, ob komplexe organi- Moleküle. Unterschiedliche Arten von Lebewesen, aber
sche Moleküle unter den mutmaßlichen Bedingungen auch die verschiedenen Individuen einer Art, unter-
der jungen, unbelebten Erde spontan entstehen könn- scheiden sich hinsichtlich der Variationen in den orga-
ten. In der Wissenschaftlichen Übung arbeiten Sie mit nischen Molekültypen, aus denen sie bestehen. In die-
Daten eines ähnlich gelagerten Experiments. Millers ser Hinsicht geht die biologische Diversität lebender
Daten stützen die Idee, dass die abiotische Synthese Organismen auf dem Planeten Erde und ihrer Über-
organischer Verbindungen, womöglich in der Nähe bleibsel in Form von Fossilien auf die einzigartige che-
von Vulkanen, ein frühes Stadium der Entstehung des mische Vielfalt des Elements Kohlenstoff zurück.
Lebens auf der Erde gewesen sein könnte.

 Abbildung 4.2: Aus der Forschung

Können sich organische Moleküle unter


Bedingungen bilden, die vermutlich denen
2 Die „Atmosphäre“ enthielt ein 3 „Gewitterblitze“
auf der frühen Erde ähneln? Gemisch aus Wasserstoff (H2), wurden durch
Experiment Im Jahr 1953 baute der Doktorand Stan- Methan (CH4), Ammoniak (NH3) Funkenentla-
und Wasserdampf (H2O). dungen imitiert.
ley Miller eine geschlossene Apparatur auf, um
Bedingungen zu simulieren, von denen angenom- „Atmosphäre”
men wurde, dass sie jenen auf der frühen Erde gli- 1 Die wässrige
Lösung im CH4
chen. Ein Reaktionskolben mit Wasser sollte den „Urozean-
Wasserdampf
Urozean („Ursuppe“) nachahmen. Das Wasser wurde Kolben“
kontinuierlich erhitzt, so dass ein Teil verdampfte wurde er- NH
H2
3
und in einen zweiten, höher gelegenen Kolben hitzt; dabei
ging Dampf Elektrode
gelangte, der die aus einem Gasgemisch bestehende Kühler
in den „Atmo-
„Uratmosphäre“ enthielt. In dieser synthetischen sphären-Kol-
Atmosphäre wurden durch elektrische Entladungen abgekühltes
ben“ über.
Wasser mit
Funken erzeugt, die die Blitze von Gewittern simu- gelösten
lieren sollten. organischen kaltes
Ergebnis Miller identifizierte eine Reihe von organi- Stoffen Wasser
schen Molekülen, von denen die komplexeren durch-
aus in Organismen vorkommen: Neben einfachen
Verbindungen wie Formaldehyd (HCHO) und Blau-
säure (HCN) waren das komplexere Moleküle wie
H2O-
Aminosäuren und langkettige Kohlenwasserstoffe. „Urozean“
Schlussfolgerung Organische Verbindungen, als
erster Schritt in der Entstehung von Leben, könnten
Proben für die
auf der jungen Erde abiotisch entstanden sein und chemische Analyse
sich dann angereichert haben. Ungeachtet anderer
Hinweise, nach denen die frühe Erdatmosphäre 5 Während die Stoffe 4 Ein Teil der „Atmosphäre“
anders zusammengesetzt war, als die von Miller durch die Apparatur wurde in einem Kühler
kreisten, zog Miller kondensiert. Das Gemisch
benutzte, ergeben auch entsprechend veränderte in regelmäßigen aus Wasser und gelösten
Gasgemische organische Moleküle. Wir werden auf Abständen Proben Stoffen tropfte in den
diese Hypothese in Kapitel 25 zurückkommen. für die Analyse. „Urozean-Kolben“.

Quelle: S. L. Miller, A production of amino acids under possible primitive Earth conditions, Science 117:528–529 (1953).

WAS WÄRE, WENN? Wie könnten sich die relativen Mengen der Produkte HCN und HCHO unterschieden
haben, wenn Miller die Ammoniakkonzentration in seinem Ansatz erhöht hätte?

81
4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens

Teil 1  Wissenschaftliche Übung

Das Arbeiten mit Molzahlen und molaren Millerschen H2S-Experiments. Molare Verhält-
Verhältnissen nisse beziehen jeden dimensionslosen Wert
auf den Standard des betreffenden Experi-
Könnten sich die ersten Biomoleküle auf der jun- ments, hier die Molzahl der Aminosäure Gly-
gen Erde in der Nähe von Vulkanen gebildet cin. Beispielsweise entsprechen jedem Mol
haben? 2007 entdeckte Jeffrey Bada, ein ehemali- Glycin 3 × 10–2 Mol Serin. (a) Geben Sie das
ger Student von Stanley Miller, einige Proben aus molare Verhältnis von Methionin zu Glycin an
einem Experiment von Miller, das 1958 durchge- und erklären Sie, was das bedeutet. (b) Wie-
führt worden war, aber nie analysiert wurde. In viele Glycinmoleküle sind in 1 Mol Glycin ent-
diesen Ansätzen war unter anderem Schwefelwas- halten? (c) Wieviele Methioninmoleküle sind,
serstoff (H2S) verwendet worden, ein Gas, das aus bezogen auf ein Mol Glycin in der Probe, vor-
Vulkanen freigesetzt wird. Es sollte Bedingungen handen? Beachten Sie die Rechenregeln für Po-
simulieren, wie sie in Vulkannähe herrschen. 2011 tenzen: Multiplikation durch Addition der
veröffentlichten Bada und seine Kollegen die Ergeb- Exponenten, Division durch Subtraktion der
nisse dieser Analysen der vergessenen Proben. In Exponenten.
der Übung führen Sie Berechnungen mit den mola-
ren Verhältnissen von Reaktanden und Produkten 2. (a) Welche Aminosäure ist in größeren Mengen
des H2S-Experimentes durch. vorhanden als Glycin? (b) Wieviel Mal mehr
Durchführung des Experiments Laut seinem Labor- Moleküle dieser Aminosäure sind im Vergleich
buch benutzte Miller dieselbe Apparatur wie in sei- zur Zahl der Moleküle in 1 Mol Glycin vor-
nem Originalexperiment (siehe Abbildung 4.2). Das handen?
Gasgemisch enthielt Methan (CH4), Kohlendioxid
(CO2), Schwefelwasserstoff (H2S) und Ammoniak 3. Die Synthese von Produkten wird durch die
(NH3). Nach drei Tagen simulierter vulkanischer Menge an Reaktanden begrenzt. (a) Wenn je ein
Aktivität wurden Kondensatproben entnommen, teil- Mol CH4, NH3, H2S und CO2 in ein Gefäß mit ei-
gereinigt und in sterilen Proberöhrchen eingeschmol- nem Liter Wasser (entsprechend 55,55 Mol Was-
zen. 2011 benutzte das Forschungsteam von Bada ser – wieso?) gegeben würde, wie viele Mol
moderne analytische Methoden, um die Inhalte die- Wasserstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff
ser Röhrchen auf die Anwesenheit von Aminosäuren und Schwefel wären dann in dem Gefäß? (b) In
zu untersuchen. Aminosäuren sind die Grundbau- Anbetracht der Formel in der Tabelle, wie viele
steine von Proteinen. Mol jeden Elements würden für 1 Mol Glycin
Experimentelle Daten Die Tabelle zeigt 4 der 23 benötigt? (c) Was wäre die maximale Anzahl
Aminosäuren, die in den Proben des 1958er H2S- an Molen Glycin, die in dem Gefäß entstehen
Experiments von Miller nachgewiesen wurden. könnten? Nehmen Sie an, dass aus den genann-
ten Stoffen nur Glycin entsteht. Begründen Sie.
(d) Wenn Serin oder Methionin jeweils getrennt
Produkt Summen- molares Verhältnis
synthetisiert würden, welches Element (oder
formel (bezogen auf Glycin)
welche Elemente) würden jeweils als erstes auf-
Glycin C2H5NO2 1,0 gebraucht sein? Wieviel Produkt würde jeweils
entstehen?
Serin C3H7NO3 3 × 10–2
Methionin C5H11NO2S 1,8 × 10–3 4. Das früher publizierte Experiment von Miller
Alanin C3H7NO2 1,1 enthielt kein H2S unter den Reaktanden (siehe
Abbildung 4.2). Welche Komponente in der
Datentabelle kann nur in Gegenwart von H2S
Datenauswertung synthetisiert werden?

1. Ein Mol ist die Menge einer Substanz in Gramm,


die zahlenmäßig ihrer Molekül- oder Atom-
masse entspricht. Ein Mol enthält 6,022 × 1023 Daten aus: E. T. Parker et al., Primordial synthesis of amines and
Moleküle (oder Atome) (Avogadro’sche Zahl, amino acids in a 1958 Miller H2S-rich spark discharge experiment, Pro-
siehe Konzept 3.2). Die Datentabelle zeigt die ceedings of the National Academy of Sciences USA 108:5526–5531
molaren Verhältnisse einiger Produkte des (2011). www.pnas.org/cgi/doi/10.107/pnas.1019191108.

82
4.2 Kohlenstoffatome können komplexe Makromoleküle bilden

der zweiten. Mit vier Valenzelektronen in einer Schale,


 Wiederholungsfragen 4.1 Teil 1
die mit acht Elektronen komplett gefüllt und damit am
stabilsten wäre, könnte ein Kohlenstoffatom entweder
1. Warum war Wöhler über seine Harnstoffsyn-
vier Elektronen abgeben oder vier aufnehmen. Dadurch
these erstaunt?
würde zwar eine vollständig gefüllte äußere Schale
2. WAS WÄRE, WENN? Als Miller das in Abbildung entstehen, aber auch eine ausgeprägte Ionisierung von
4.2 beschriebene Experiment ohne elektrische +4 oder –4 Ladungen. Stattdessen komplettiert ein Koh-
Entladungen durchführte, fand er keine organi- lenstoffatom seine Valenzschale, indem es seine 4 Elek-
schen Reaktionsprodukte. Was könnte die Er- tronen mit anderen Atomen teilt, so dass vier kovalente
klärung für dieses Ergebnis sein? Bindungen mit insgesamt 8 Elektronen entstehen. Jedes
Paar gemeinsam genutzter Elektronen steht somit für
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. eine kovalente Bindung (siehe Abbildung 2.10d), was
auch Doppel- oder sogar Dreifachbindungen erlaubt.
Jedes Kohlenstoffatom kann als Verzweigungspunkt
dienen, von dem bis zu vier Seitenzweige abgehen kön-
nen. Diese Vierbindigkeit ist eine Facette der Vielsei-
Kohlenstoffatome können tigkeit des Kohlenstoffs und ermöglicht die Bildung
komplexe Makromoleküle großer Moleküle mit komplexer Struktur.
bilden
4.2 Wenn ein Kohlenstoffatom vier kovalente Einfachbin-
dungen eingeht, weisen die vier gleichartigen Hybrid-
orbitale in die Ecken eines gedachten Tetraeders (siehe
Der Schlüssel zum Verständnis der chemischen Cha- Abbildung 2.15b). Die Bindungswinkel in ideal tetra-
rakteristiken eines Elements ist die Elektronenkonfi- edrischen Molekülen wie Methan (CH4) betragen 109,5°
guration seiner Atome. Diese Elektronenkonfiguration (Tetraederwinkel, siehe Abbildung 4.3a). Dieser Win-
bestimmt die Art und Anzahl der Bindungen, die ein kel gilt für alle Moleküle mit der Summenformel CX4,
Atom mit anderen Atomen ausbilden kann. Relevant aufgrund unterschiedlicher Größen der Bindungspartner
sind dabei nur die Valenzelektronen in der äußersten kann es manchmal zu leichten Abweichungen durch ste-
Elektronenschale. rische Hinderung kommen. Das Ethanmolekül (C2H6)
hat die Gestalt zweier, an ihren Spitzen überlappender
Tetraeder (Abbildung 4.3b). In Molekülen mit noch
4.2.1 Das Entstehen von Kohlenstoff- mehr Kohlenstoffatomen ist jede Gruppe mit einem
Bindungen vierbindigen C-Atom ebenfalls tetraedrisch.
Kohlenstoffatome, die Doppelbindungen eingehen,
Kohlenstoffatome enthalten sechs Elektronen, zwei in sind nicht mehr tetraedrisch koordiniert, sondern
der ersten Elektronenschale und die restlichen vier in planar. Alle an diese C-Atome gebundenen weiteren

Name und Kommentar Summenformel Strukturformel Kugel-Stab-Modell Kalottenmodell

(a) Methan. Wenn ein


Kohlenstoffatom vier H
Einfachbindungen zu an-
deren Atomen ausbildet, CH4 H C H
hat das Molekül eine
tetraedrische Form. H

(b) Ethan. Ein Molekül kann


mehr als eine tetraedrische H H
Gruppe einfach gebunde-
ner Atome enthalten. C2H6 H C C H
(Ethan besteht aus zwei
solchen Gruppen.) H H

(c) Ethen (= Ethylen). Wenn


zwei Kohlenstoffatome
durch eine Doppelbindung H H
miteinander verbunden C2H4 C C
sind, liegen alle mit diesen H H
C-Atomen direkt verbun-
denen Atome in einer
Ebene und das Molekül
ist planar.

Abbildung 4.3: Die Struktur von drei einfachen organischen Molekülen.

83
4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens

Atome liegen in einer Ebene. Ethen (C2H4) ist ein Bei- Wie lauten die Regeln der kovalenten Bindungsbildung
Teil 1 spiel für solch ein flaches Molekül (Abbildung 4.3c). für C-Atome, die sich mit anderen Bindungspartnern
C-Atome mit Mehrfachbindungen bilden keine Hybrid- als Wasserstoff verbinden? Wir betrachten die beiden
orbitale aus einem s- und drei p-Orbitalen (wie bei der einfach gebauten Verbindungen Kohlendioxid und
tetraedrischen sp3-Hybridisierung), sondern in Dop- Harnstoff als Beispiele.
pelbindungen sind die beteiligten C-Atome sp2-hybridi- Im Kohlendioxidmolekül (CO2) ist ein einzelnes
siert, Dreifachbindungen erfordern eine sp-Hybridisie- Kohlenstoffatom jeweils durch zwei Doppelbindun-
rung, die lineare Moleküle ergibt. Das liegt daran, dass gen mit zwei Sauerstoffatomen verbunden. Die Struk-
zwar die sp2-Hybridorbitale (genau wie die sp3-Hybride) turformel für CO2 ist wie folgt:
maximale Winkelabstände einnehmen, aber bei drei sp2- O=C=O
Hybridorbitalen ergibt das eine planare, y-förmige Struk-
tur, bei den beiden sp-Hybridorbitalen eine lineare Jeder Strich in der Strukturformel stellt ein Elektronen-
Struktur. Die nicht hybridisierten p-Orbitale bilden bei paar dar. Die beiden Doppelbindungen im CO2-Molekül
sp2-hybridisierten C-Atomen annähernd zylindrische enthalten die gleiche Anzahl gemeinsam genutzter
Molekülorbitale ober- und unterhalb der Bindungsachse Elektronen wie vier Einfachbindungen. Diese Anord-
der Hybridorbitale aus, bei sp-hybridisierten C-Atomen nung vervollständigt die Valenzschalen aller Atome des
zusätzlich vor- und hinter der Bindungsachse. Damit Moleküls. Kohlendioxid wird zu den „anorganischen“
wird die freie Drehbarkeit um die C-C-Einfachbindung Stoffen gerechnet. Diese Zuordnung ist jedoch insofern
aufgehoben, was seinerseits Folgen für die dreidimen- ohne Belang, als Kohlendioxid in der belebten Welt
sionale Gestalt von Molekülen insbesondere mit unter- eine bedeutende Rolle als Kohlenstoffquelle aller orga-
schiedlichen Bindungspartnern („Substituenten“) hat. nischen Verbindungen in Organismen spielt.
Es können so zusätzliche Molekülvarianten mit iden- Harnstoff, H2NCONH2, ist die von Friedrich Wöhler
tischer Summenformel, aber unterschiedlichen Raum- synthetisierte Verbindung, mit der die organische Che-
strukturen entstehen. Man nennt diese Erscheinung Iso- mie ihren Anfang nahm. Die Strukturformel des Harn-
merie, wir werden darauf im übernächsten Abschnitt stoffs ist untenstehend wiedergegeben. Wieder hat jedes
noch zurückkommen. Zwar ist es bequem, alle Mole- Atom die erforderliche Anzahl kovalenter Bindungen.
küle mit Strukturformeln in nur einer Ebene, der Zei- In diesem Fall ist das Kohlenstoffatom sowohl zwei Ein-
chenebene, darzustellen. Vergessen Sie jedoch nie, dass fachbindungen mit den beiden —NH2-Gruppen als auch
ein Molekül ein räumliches Gebilde ist und seine Form eine Doppelbindung mit dem Sauerstoff eingegangen.
meist entscheidend für seine Funktion.
Die Elektronenkonfiguration des Kohlenstoffs ver- O
leiht ihm eine „kovalente Kompatibilität“ mit vielen H C H
verschiedenen chemischen Elementen. Abbildung 4.4
N N
zeigt schematisch die Valenzen des Kohlenstoffs und
seiner häufigsten Bindungspartner Sauerstoff, Wasser- H H
stoff und Stickstoff. Diese vier Elemente bilden die ato- Harnstoff
maren Hauptbestandteile organischer Moleküle. Die
Valenzen sind die Grundlage der Regeln, nach denen Kohlendioxid und Harnstoff sind Verbindungen mit
organische Verbindungen entstehen, sozusagen die Bau- nur je einem C-Atom. Abbildung 4.3 zeigt, dass ein
anleitung für organische Moleküle. Kohlenstoffatom aber auch eines oder mehrere seiner
Valenzelektronen dazu benutzen kann, um kovalente
Wasserstoff Sauerstoff Stickstoff Kohlenstoff Bindungen mit anderen Kohlenstoffatomen einzuge-
(Bindig- (Bindig- (Bindig- (Bindig- hen. Dadurch lassen sich C-Atome zu Molekülen mit
keit = 1) keit = 2) keit = 3) keit = 4)
praktisch unbegrenzter Variabilität verbinden.

H O N C
4.2.2 Molekulare Vielfalt durch Variation
des Kohlenstoffgerüsts


H• • O •
• • N• • C•

Abbildung 4.4: Valenzen der Hauptelemente organisch-chemi- Ketten aus Kohlenstoffatomen bilden die Gerüste orga-
scher Verbindungen. Die Bindigkeit gibt an, wie viele kovalente Bindun- nischer Verbindungen (Abbildung 4.5). Die Kohlen-
gen ein Atom ausbildet oder theoretisch ausbilden kann. Sie entspricht im stoffskelette variieren in ihrer Größe und können line-
Regelfall der Anzahl von Elektronen, die notwendig sind, um die außen lie-
are Ketten ausbilden, aber auch Verzweigungen oder
gende Valenzschale zu vervollständigen (siehe Abbildung 2.7 ). Alle Elektro-
ringförmige Strukturen. Manche dieser Kohlenstoffge-
nen der jeweiligen Atome sind in den schematischen Elektronenvertei-
lungsdiagrammen dargestellt (oben). Nur die Valenzelektronen sind als rüste enthalten Doppelbindungen, die sich in ihrer Zahl
Punkte in der Lewis’schen Formelschreibung darunter dargestellt. Beach- und Stellung im Molekül unterscheiden. Derartige Varia-
ten Sie, dass Kohlenstoff vier Bindungen ausbilden kann. tionen in den Kohlenstoffgerüsten sind eine wichtige
Quelle molekularer Diversität und Komplexität und
ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Zeichnen Sie in Anlehnung an Abbil- Kennzeichen vieler Bestandteile der belebten Materie.
dung 2.7 die Lewis-Formeln von Natrium, Phosphor, Schwefel und Chlor. Zudem können Atome anderer Elemente an geeigneten
Stellen mit dem Kohlenstoffgerüst verbunden sein.

84
4.2 Kohlenstoffatome können komplexe Makromoleküle bilden

H H H H H H H H H H H H H Teil 1
H C C H H C C C H H C C C C H H C C C C H
H H H H H H H H H
Ethan Propan 1-Buten 2-Buten

(a) Länge. Kohlenstoffgerüste unterscheiden sich in (c) Doppelbindungen. Die Molekülgerüste können
ihrer Länge. Doppelbindungen in variablen Positionen enthalten.

H H H H
H C H
H C H C C H C H
H H C C
H H H H H C C H
H H H H C C
H C C C C H H C H H C H
H C C C H
H H H H H
H H H Cyclohexan Benzol
Butan 2-Methylpropan
(= Isobutan) (d) Ringe. Einige Kohlenstoffgerüste besitzen Ringform.
In den abstrahierten Strukturformeln (jeweils rechts)
symbolisiert jede Ecke ein Kohlenstoffatom (ein-
(b) Verzweigungsgrad. Molekülgerüste können schließlich der/des daran gebundenen Wasserstoff-
unverzweigt oder verzweigt sein. atome(s)).
Abbildung 4.5: Vier Formen unterschiedlicher Kohlenstoffskelette.

Kohlenwasserstoffe einen Nicht-Kohlenwasserstoff-Anteil gebunden sind


Alle in Abbildung 4.3 und Abbildung 4.5 gezeigten (Abbildung 4.6).
Moleküle sind Kohlenwasserstoffe, also organische Weder Erdöl noch Fette lösen sich in Wasser, da
Verbindungen, die nur aus Kohlenstoff- und Wasser- beide Stoffgruppen hydrophob sind. Dies liegt daran,
stoffatomen bestehen. Wasserstoffatome sind überall dass sie fast nur unpolare Kohlenstoff-Wasserstoffbin-
dort an das Kohlenstoffgerüst gebunden, wo „über- dungen enthalten. Kohlenwasserstoffe sind reaktions-
schüssige“ Elektronen für die Ausbildung kovalenter träge und die Reaktionen, die sie eingehen, mit einem
Bindungen verfügbar sind. Man sagt, der Wasserstoff hohen Energieumsatz verbunden. Das Benzin unserer
sättigt die Valenzen des Kohlenstoffs ab. Kohlenwas- Autos besteht ebenso wie Heizöl und Erdgas aus Koh-
serstoffe sind die Hauptbestandteile des Erdöls, das lenwasserstoffen, und Fette dienen Tieren als Energie-
als fossiler Brennstoff bezeichnet wird, weil es aus speicher.
den partiell zersetzten Überbleibseln von Organismen
besteht, die vor vielen Jahrmillionen gelebt haben. Isomere
Obwohl reine Kohlenwasserstoffe in Lebewesen ver- Wir hatten die Isomerie bereits kurz erwähnt. Isomere
gleichsweise selten sind, enthalten viele organische sind Verbindungen mit identischen Summenformeln,
Verbindungen in einer Zelle doch Bereiche nur aus aber verschiedenen Strukturen. Isomere haben infol-
Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen. Fettmoleküle gedessen unterschiedliche Eigenschaften. Vergleichen
bestehen aus langen Kohlenwasserstoffketten, die an wir zur Illustration die beiden C5-Verbindungen der

Abbildung 4.6: Kohlenwasserstoffanteile in Fetten. (a) Die Fettzellen von


Säugetieren lagern Fettmoleküle (Lipide) als Energiereserve ein. Der auf dieser kolo-
rierten Mikroskopaufnahme sichtbare Teil einer Fettzelle enthält
viele Fetttröpfchen, jedes mit einer großen Zahl von Lipid-
Zellkern
molekülen. (b) Ein Lipidmolekül besteht aus einem
Fetttröpfchen eher hydrophilen Nicht-Kohlenwasserstoff-Kopf-
bereich und drei Fortsätzen aus langen Koh-
lenwasserstoffketten, die für die Hydropho-
bie von Fetten verantwortlich sind. Diese
Ketten können im Stoffwechsel abge-
baut werden, um Energie zu gewinnen.
(schwarz = Kohlenstoffatome, grau =
© Pearson Education, Inc.

Wasserstoffatome, rot = Sauerstoff-


atome.)

10 μm
(a) Ausschnitt einer menschlichen Fettzelle (b) Ein Fettmolekül

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Inwiefern tragen die Fortsätze der Lipidmoleküle zur Hydrophobie bei (siehe Konzept 3.2 )?

85
4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens

Abbildung 4.7a. Beide haben die Summenformel den Anordnungen verhalten sich wie Bild und Spiegel-
Teil 1 C5H12, unterscheiden sich aber in der Anordnung der bild oder, anders ausgedrückt, wie die links- und rechts-
Kohlenstoffatome, also in ihrer C-Skelett-Struktur. Das händige Version eines Moleküls. Genauso wie die rechte
Grundgerüst ist entweder eine lineare oder eine ver- Hand nicht in einen Handschuh für die linke passt, kön-
zweigte Kette. Wir werden drei Formen der Isomerie nen viele in einer Zelle vorhandene Moleküle zwischen
eingehender betrachten: Strukturisomerie, geometri- den beiden Formen unterscheiden. Für gewöhnlich ist
sche Isomerie und als Beispiel für Stereoisomerie die nur ein Enantiomer eines Enantiomerenpaares biolo-
Enantiomerie. gisch aktiv, das andere ist inaktiv. Manchmal haben
Strukturisomere (= Konstitutionsisomere, Stellungs- auch beide, eine dann jedoch unterschiedliche, biologi-
isomere) unterscheiden sich bei gleicher Summenfor- sche Wirkung.
mel im Verknüpfungsmuster ihrer C-Atome, das heißt
in der sogenannten chemischen Konstitution. Die Zahl H
der möglichen Isomere einer organischen Verbindung
H C H
steigt mit der Zahl an C-Atomen dramatisch an. Es gibt
nur drei mögliche Isomere mit der Summenformel H C H
H H H H H H H
C5H12 (von denen zwei in Abbildung 4.7a wiederge-
geben sind), aber schon 18 Oktane der Summenformel H C C C C C H H C C C H
C8H18. Von C20H42 gibt es 366.319 verschiedene Iso- H H H H H H H H
mere. Strukturisomerie liegt auch dann vor, wenn bei
(a) Strukturisomere (= Konstitutionsisomere) unter-
gleichem Kohlenstoffskelett Doppelbindungen unter- scheiden sich im Muster der kovalenten Bindungen
schiedliche Positionen einnehmen. wie hier am Beispiel von zwei Isomeren der Sum-
Cis/trans-Isomere (= geometrische Isomere) unter- menformel C5H12 gezeigt. Links sehen Sie n-Pentan,
scheiden sich in der Anordnung der Substituenten rechts 2-Methylbutan (= Isopentan).
(Bindungspartner) an C=C-Doppelbindungen. Um die
Achse einer Einfachbindung können sich die Substitu-
X X H X
enten normalerweise frei drehen (es sei denn, sie sind
C C C C
extrem sperrig), ohne dass dies die physikalischen und
chemischen Eigenschaften des Stoffes beeinflusst. Dop- H H X H
pelbindungen verhindern jedoch die freie Rotation um cis-Isomer: Die beiden trans-Isomer: Die beiden
die Doppelbindungsachse aus den oben genannten X-Substituenten befinden X-Substituenten befinden
Gründen (siehe Abschnitt 4.2.1 Das Entstehen von Koh- sich auf derselben Seite. sich auf gegenüberliegen-
lenstoffbindungen). Die daraus folgende Fixierung der den Seiten.
Substituenten im Raum ist die Ursache der geometri- (b) Geometrische Isomere (= cis/trans-Isomere) unter-
schen Isomerie. Falls jedes der beiden durch eine C=C- scheiden sich in der Anordnung der Substituenten
Doppelbindung verbundenen Kohlenstoffatome außer- an C–C doppelt gebundenen Kohlenstoffatomen.
dem zwei nicht-identische Substituenten hat, ergibt das X symbolisiert ein Atom oder eine Gruppe von Atomen.
zwei unterschiedliche cis/trans-Isomere. Betrachten wir
zur Verdeutlichung ein einfaches Molekül CH2X2 wie in
COOH COOH
Abbildung 4.7b gezeigt. Die Anordnung, bei der beide
X-Substituenten auf derselben Seite liegen, wird als
cis-Isomer bezeichnet, diejenige, bei der sie auf gegen- C C
überliegenden Seiten liegen, als trans-Isomer. Dieser H NH2 NH2 H
scheinbar geringe Unterschied im räumlichen Bau
der Moleküle kann dramatische Auswirkungen auf CH3 CH3
die biologische Aktivität der beiden Isomere haben. So L-Alanin D-Alanin
ist die durch Licht verursachte Umwandlung des Reti-
nals im Sehfarbstoff Rhodopsin von der cis- in die trans- (c) Enantiomere (= Spiegelbildisomere) unterscheiden
Form die molekulare Grundlage des Sehvorgangs im sich in der räumlichen Anordnung an einem asym-
metrisch (vierfach unterschiedlich) substituierten
Auge (siehe Abbildung 50.18). Ein anderes Beispiel
(„chiralen“) Kohlenstoffatom. Dies führt zu Molekül-
betrifft die trans-Fette, auf die wir in Kapitel 5 zurück- paaren, die Spiegelbilder des jeweils anderen sind
kommen werden. und sich zueinander verhalten wie die linke zur rech-
Enantiomere sind Isomere, die sich wie Bild und ten Hand. Die beiden Isomere werden als D- und als
Spiegelbild zueinander verhalten. Sie bilden eine spe- L-Isomere bezeichnet, da sie polarisiertes Licht in
unterschiedliche Richtungen drehen (D: lat. dexter,
zielle Klasse von Stereoisomeren. In den Kugel-/Stab-
rechts und L: laevus, links). Enantiomere können nicht
modellen in Abbildung 4.7c trägt das in der Tetraeder- zur Deckung gebracht werden.
mitte befindliche, zentrale C-Atom vier verschiedene
Substituenten. Man spricht von einem chiral substitu- Abbildung 4.7: Drei Formen der Isomerie. Verbindungen mit glei-
cher Summenformel, aber unterschiedlichen Strukturen sind Isomere.
ierten oder auch asymmetrischen Kohlenstoffatom oder
von einem Chiralitätszentrum des Moleküls. Die vier
ZEICHENÜBUNG Es gibt drei Strukturisomere mit der Summenformel
Substituenten können auf zweierlei Weise um das C5H12. Zeichnen Sie das dritte, in Abbildung 4.7a nicht gezeigte Isomer.
Chiralitätszentrum herum gruppiert werden. Die bei-

86
4.3 Wenige funktionelle Gruppen entscheiden über die biologische Funktion

Die Enantiomerie ist für die Pharmazie wichtig, weil


 Wiederholungsfragen 4.2 Teil 1
enantiomere Formen eines Medikamentenwirkstoffs
nicht die gleiche Spezifität oder sogar deutlich ver-
1. ZEICHENÜBUNG (a) Zeichnen Sie die Struktur-
schiedene Wirkungen entfalten können. Beispiele
formel von C2H4. (b) Zeichnen Sie das trans-
sind das Schmerzmittel Ibuprofen und das Asthma-
Isomer von C2H2Cl2.
medikament Albuterol (Abbildung 4.8). In manchen
Fällen kann ein Enantiomer sogar schädlich sein. Ein 2. Welche Moleküle in Abbildung 4.5 sind Iso-
trauriges Beispiel dafür ist das Thalidomid („Con- mere? Geben Sie für jedes Paar den Isomeren-
tergan“), das als Schlaf- und Beruhigungsmittel entwi- typ an.
ckelt und in den späten 1950er und frühen 1960er
Jahren an mehrere Tausend schwangere Frauen ausge- 3. Inwiefern sind sich Benzin und Fette chemisch
geben worden war. Das Medikament besteht aus einem ähnlich?
Enantiomerengemisch, einem sogenannten racemi- 4. Hat Propan (C3H8) Isomere? Erklären Sie.
schen Gemisch oder Racemat. Eines der Enantiomere
dämpft die bei Schwangerschaften nicht selten auftre- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
tende morgendliche Übelkeit, dies war eine durchaus
erwünschte (Neben-)Wirkung des Medikaments. Das
andere Enantiomer ist jedoch stark teratogen (erzeugt
Missbildungen), was zunächst nicht erkannt wurde. Das Wenige funktionelle
erste umfassende deutsche Arzeimittelgesetz wurde Gruppen entscheiden über
nicht zuletzt infolge der Thalidomidtragödie erlassen.
Etwa seit der Jahrtausendwende ist Thalidomid unter
strengen Sicherheitsauflagen wieder im Handel, da es
die biologische Funktion
4.3
sich in der Behandlung anderer Krankheiten als wirk-
sam erwiesen hat (siehe Übungsaufgabe 10). Die Eigenschaften einer organisch-chemischen Verbin-
dung hängen nicht nur von der Anordnung ihrer
wirksames unwirksames Atome im Kohlenstoffgerüst ab, sondern ebenso von
Wirkstoff Symptome den chemischen Gruppen, die an das Grundgerüst
Enantiomer Enantiomer
gebunden sind. Die einfach gebauten Kohlenwasser-
stoffe dienen gewissermaßen als Fundament für kom-
Schmerz,
Ibuprofen
Entzündung
plexere organische Moleküle. Einige Substituenten,
auch als funktionelle Gruppen bekannt, können ein
S-Ibuprofen R-Ibuprofen oder mehrere Wasserstoffatome der Kohlenwasser-
stoffe ersetzen. Funktionelle Gruppen können an den
Albuterol chemischen Reaktionen der Verbindung teilnehmen
(= Salbu- Asthma oder indirekt wirken, indem sie die Molekülform oder
tamol)
die physikalischen Eigenschaften der Substanz prägen.
R-Albuterol S-Albuterol
Die Art, Anzahl und Anordnung funktioneller Grup-
Abbildung 4.8: Die pharmakologische Bedeutung der Enantio- pen verleiht den verschiedenen Substanzklassen ihre
merie. Ibuprofen und Albuterol sind Beispiele für Medikamentenwirk- speziellen physikochemischen Eigenschaften.
stoffe, deren Enantiomere unterschiedliche Wirkungen haben. Die Sym-
bole S- und R- werden zur Unterscheidung von Enantiomeren verwendet,
sie stellen eine der D/L-Nomenklatur vergleichbare, jedoch noch allgemei- 4.3.1 Die für die Lebensprozesse
ner verwendbare Bezeichnung dar. Ibuprofen lindert Entzündungen und
Schmerzen. Es wird normalerweise als Gemisch der beiden Enantiomere
wichtigsten funktionellen Gruppen
verkauft, wobei das S-Enantiomer hundertmal wirksamer ist als das R-
Enantiomer. Albuterol entspannt die Bronchialmuskulatur, dadurch wird Betrachten wir die Unterschiede zwischen Testosteron
der Luftstrom bei Asthmakranken verbessert. Albuterol wird enantiome- (einem sogenannten Androgen) und Östradiol (einem
renrein als R-Albuterol synthetisiert und verkauft. Das S-Isomer würde die Östrogen). Beide sind Geschlechtshormone: Testoste-
Wirkung des R-Enantiomers aufheben und das Medikament unwirksam ron wirkt beim Menschen und anderen Wirbeltieren
machen. unter anderem virilisierend (vermännlichend), Östra-
diol unter anderem feminisierend (verweiblichend).
Die unterschiedlichen Wirkungen von Enantiomeren
im Körper verdeutlichen, wie empfindlich Lebewesen Östradiol
für kleinste Veränderungen in der molekularen Archi- OH Testosteron
CH3
tektur sind. Einmal mehr wird deutlich, dass die beson- OH
deren Eigenschaften eines Moleküls nicht zuletzt von CH3
der räumlichen Anordnung seiner Atome abhängen.
CH3

HO
O

87
4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens

Die beiden Hormone gehören in die Substanzgruppe pelbindungen in einem Ring, was Auswirkungen auf
Teil 1 der Steroide, das sind organische Verbindungen, die dessen Planarität hat. Die geschlechtsspezifischen
sich vom Kohlenwasserstoff Steran und seinem typi- Merkmale weiblicher und männlicher Individuen
schen Kohlenstoffgerüst aus vier kondensierten Rin- gehen auf die unterschiedlichen Effekte der beiden
gen ableiten. Die beiden Hormone unterscheiden sich Hormone an vielen Wirkorten im Körper zurück. Folg-
durch unterschiedliche funktionelle Gruppen am lich haben sogar unsere Geschlechter und unser Sexu-
Ringsystem und die Zahl und Anordnung von Dop- alverhalten ihre biologische Basis in Unterschieden

Bezeichnung und
Funktionelle Gruppe Beispiele
Eigenschaften

Hydroxylgruppe ( OH ) Bezeichnung: Alkohol (Endung -ol )


H H
Polar infolge des elektronegativen Ethanol, der Alkohol in
OH H C C OH
Sauerstoffs. Bildet Wasserstoffbrücken- entsprechenden Getränken
bindungen mit Wasser aus, unterstützt H H
(kann auch als HO
die Auflösung von Verbindungen wie
geschrieben werden)
Zucker.

Carbonylgruppe ( C O) Bezeichnung: Keton (innerhalb eines Koh-


lenstoffgerüstes) oder Aldehyd (am Ende H O H H H O
eines Kohlenstoffgerüstes, dann mit Was-
serstoff abgesättigt, -CHO = Aldehydgruppe) H C C C H H C C C
O
Zucker enthalten eine Carbonylgruppe. Je H H H H H
C
nach ihrer Position im Molekül heißen die Aceton, das einfachste Keton Propanal, ein Aldehyd
Zucker dann entweder Ketosen oder
Aldosen.

Carboxylgruppe ( COOH ) Bezeichnung: Karbonsäure (oder auch


organische Säure) H
O O
Wirkt als Säure (=Protonendonor), da H C C C + H+
O
die kovalente Bindung zwischen dem OH O–
C Wasserstoff und Sauerstoff sehr polar ist H

OH Essigsäure (verleiht dem Essig ionisierte Form, wie sie


seinen sauren Geschmack) in Zellen vorkommt
(Carboxylatanion, COO-)
Aminogruppe ( NH2) Bezeichnung: Amin
H
O H H
Wirkt als Base (=Protonenakzeptor),
H C C N + H+ +N H
kann H+ aus der umgebenden Lösung
N (in Lebewesen Wasser) aufnehmen HO H H
H
H Glycin, eine Aminosäure ionisierte Form des NH2,
(man beachte die Carboxyl- die in Zellen vorkommt
gruppe!)
Thiolgruppe ( SH) Bezeichnung: Thiol (oder auch Sulfhydryl)

Zwei –SH-Gruppen können miteinander O OH


reagieren und eine Disulfidbrücke ausbilden, C
eine Quervernetzung, die Proteinstrukturen Cystein, eine schwefel-
SH stabilisieren kann. Das Haar-Protein Keratin H C CH2 SH haltige Aminosäure
enthält Disulfidbrücken, die für die Glätte
(kann auch als HS N
oder Kräuselung des Haares verantwortlich
geschrieben werden)
sind. Durch Lösen und Neuknüpfen der H H
Quervernetzungen läßt sich das Haar in die
gewünschte Form bringen.
Phosphatgruppe ( OPO32–) Bezeichnung: Phosphat

Fügt eine einfach negative Ladung hinzu, OH OH H O


O wenn innerhalb einer Kette von Phosphat- Glycerolphosphat,
gruppen befindlich, eine zweifach negative, H C C C O P O– Bestandteil einiger wichtiger
O P O– biochemischer Reaktionen
wenn am Ende. Verleiht einem Molekül die
Eigenschaft, mit Wasser unter Energiefrei- H H H O–
O–
setzung zu reagieren.

Methylgruppe ( CH3) Bezeichnung: Methyl- (oder auch NH2


methyliert)
C CH3 5-Methyl-Cytosin, Bestandteil
H Beeinflußt die Genexpression durch N C
Bindung an DNA oder an DNA-bindende einer DNA, die durch die Addi-
Proteine. Beeinflußt die Gestalt und tion einer Methylgruppe modi-
C H C C
Funktion der Geschlechtshormone. O N H fiziert wurde.
H
H

Abbildung 4.9: Einige biochemisch wichtige funktionelle Gruppen.

88
4.3 Wenige funktionelle Gruppen entscheiden über die biologische Funktion

der Molekülarchitektur, die eng mit der Funktion der reagiert mit
Moleküle verbunden ist. H2O Teil 1
P P P Adenosin P i + P P Adenosin + Energie
Die Geschlechtshormone unterscheiden sich in ihrer
Raumstruktur und damit ihrem Bindungsverhalten an ATP „anorganisches“ ADP
biologische Partnermoleküle. Oft sind die funktionellen Phosphat
Gruppen sogar direkt an chemischen Reaktionen der
betreffenden Verbindungen beteiligt. Jede funktionelle
Gruppe nimmt an bestimmten chemischen Umsetzun-
 Wiederholungsfragen 4.3
gen in einer für sie charakteristischen Art und Weise und
unter Bildung eines typischen Reaktionsproduktes teil. 1. Was sagt die Bezeichnung Aminosäure über
Die sieben bei biochemischen Prozessen wichtigsten den Aufbau des betreffenden Moleküls aus?
funktionellen Gruppen sind die Hydroxyl-, die Carbo-
nyl-, die Carboxyl-, die Amino-, die Sulfhydryl-, die 2. Wie verändert sich ATP, wenn es mit Wasser
Phosphoryl- und die Methylgruppe. Die ersten sechs reagiert und Energie freigesetzt wird?
sind chemisch reaktiv und alle außer der Sulfhydryl-
gruppe (heute auch Thiolgruppe genannt) sind hydro- 3. WAS WÄRE, WENN? Nehmen Sie an, Sie hätten
phil und tragen zur Wasserlöslichkeit organischer ein organisches Molekül wie das Cystein (Ab-
Verbindungen bei. Die Methylgruppe ist zwar sehr bildung 4.9, unter Sulfhydrylgruppe) und wür-
reaktionsträge, fungiert aber oft als „Erkennungsmerk- den die Aminogruppe (—NH2) durch eine Car-
mal“ biologischer Moleküle. Sie kann als eine Art Sperre boxylgruppe (—COOH) ersetzen. Zeichnen Sie
bestimmte chemische Reaktionen hemmen, man spricht die Strukturformel dieses Moleküls und schla-
dann von sterischer Hinderung. Machen Sie sich mit gen Sie denkbare chemische Eigenschaften
den in Abbildung 4.9 aufgeführten funktionellen dieses Moleküls vor. Ist das zentrale C-Atom
Gruppen vertraut. vor der Änderung asymmetrisch? Hinterher?

4. ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie in die Struktur-


4.3.2 ATP: Eine wichtige Energiequelle formeln der beiden Geschlechtshormone zu
zellulärer Prozesse Beginn dieses Abschnitts die Hybridisierungs-
arten der Kohlenstoffe des Steroidgerüsts ein.
Abbildung 4.9 zeigt als Beispiel für die Phosphatgruppe Welche Unterschiede ergeben sich daraus be-
ein einfach gebautes organisches Phosphorsäurederi- züglich der dreidimensionalen Strukturen der
vat. Ein komplizierter gebautes organisches Phosphat ist beiden Hormone? Beachten Sie, dass die „Dop-
das Adenosintriphosphat (ATP), das für alle Zellen eine pelbindungselektronen“ im linken unteren
kaum zu überschätzende Rolle als universale „Energie- Ring des Östradiols in Wirklichkeit homogen
währung“ spielt. ATP besteht aus einem organischen über den gesamten Ring verteilt sind.
Molekülteil, dem Adenosin, das kovalent an eine Kette
von drei Phosphorsäureresten gebunden ist: Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

O O O
–O P O P O P O Adenosin

O– O– O–
4.3.3 Die chemischen Elemente des
Lebens: Eine Rückschau
Die räumliche Nähe dreier (negativ geladener!) Phospho-
rylgruppen und die höhere Stabilität der Reaktionspro- Lebende Materie besteht in der Hauptsache aus Koh-
dukte erlauben die vergleichsweise leichte Abspaltung lenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff, neben
der endständigen (γ-) Phosphorylgruppe: ATP hat ein kleineren Anteilen an Schwefel und Phosphor. All
hohes Phosphatgruppenabspaltungs- oder Phosphat- diese chemischen Elemente können starke kovalente
gruppen-Übertragungspotential. Die Reaktion kann mit Bindungen ausbilden, ein essenzielles Merkmal der
Wasser („Hydrolyse“) erfolgen, oder durch die Übertra- Struktur komplexer organischer Verbindungen. Unter
gung einer Phosphorylgruppe auf andere Moleküle. Frei- diesen Elementen ist der Kohlenstoff geradezu virtuos
gesetztes Hydrogenphosphat steht im Gleichgewicht mit bei der Bildung kovalenter Bindungen. Seine Vielseitig-
dem Dihydrogenphosphatanion und wird üblicherweise keit ermöglicht die grandiose Vielfalt organischer Mole-
durch das Symbol i dargestellt. Durch den Verlust küle, die alle besondere Eigenschaften haben, die sich
eines Phosphorsäurerestes wird aus dem ATP das ADP, aus der jeweiligen Konfiguration des Kohlenstoffge-
Adenosindiphosphat. ATP mit seinem hohen Phosphat- rüsts und aus den daran gebundenen funktionellen
gruppenübertragungspotenzial dient der Zelle als Spei- Gruppen ergeben. Die Biodiversität auf der Erde basiert
cher für schnell mobilisierbare chemische Energie. In auf den sich daraus ergebenden vielfältigen Strukturen.
Kapitel 8 werden Sie mehr darüber erfahren.

89
4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens

 ZUSAMMENFASSUNG KAPITEL 4  
Teil 1

Konzept 4.1 Konzept 4.3


Organische Chemie ist die Chemie der Kohlenstoff- Wenige funktionelle Gruppen entscheiden über die
verbindungen biologische Funktion

 Einst hat man angenommen, dass die organischen  Die für Lebensvorgänge wichtigsten funktionellen
chemischen Verbindungen nur in Lebewesen entste- Gruppen. An das Kohlenstoffgerüst organischer Ver-
hen könnten. Diese vitalistische Vorstellung wurde bindungen gebundene funktionelle Gruppen nehmen
jedoch widerlegt, als es den Chemikern gelang, orga- an chemischen Reaktionen teil oder tragen zur Funk-
nische Verbindungen im Labor zu synthetisieren. tion bei, indem sie die Form des Moleküls oder/und
 Lebende Organismen bestehen hauptsächlich aus seine physikalischen Eigenschaften beeinflussen
Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff. (Abbildung 4.9).
Die Biodiversität ist eine Folge der Fähigkeit des  ATP, die wichtigste Energiequelle zellulärer Pro-
Kohlenstoffs, eine riesige Zahl von Molekülen mit zesse. Adenosintriphosphat besteht aus Adenosin
jeweils unterschiedlicher Struktur und Funktion zu mit einer Kette aus drei Phosphorylgruppen. Auf-
bilden. grund seiner Struktur hat ATP ein hohes Phosphat-
gruppen-Übertragungspotential, was es zur univer-
? Inwiefern stützen Stanley Millers Experimente die Hypothese, dass sellen Energiewährung aller lebenden Zellen macht.
schon am Anfang der Entwicklung des Lebens die physikochemischen
Gesetze den Ablauf bestimmten? reagiert mit
H2O
P P P Adenosin P i + P P Adenosin + Energie

Konzept 4.2 ATP „anorganisches“ ADP


Phosphat
Kohlenstoffatome können komplexe Makromoleküle
bilden
 Die chemischen Elemente des Lebens: Eine Rück-
 Bindungsbildung des Kohlenstoffs. Der vierbindige schau. Lebende Materie besteht zum größten Teil
Kohlenstoff kann verschiedene andere Atomsorten aus Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stick-
binden, so etwa O, H und N. Kohlenstoffatome kön- stoff plus gewissen Anteilen an Schwefel und Phos-
nen sich auch mit anderen Kohlenstoffatomen ver- phor sowie anderen Elementen. Die biologische
binden und dadurch die Kohlenstoffgerüste organi- Vielfalt basiert auf der Fähigkeit des Kohlenstoffs,
scher Verbindungen aufbauen. nahezu unendlich viele unterschiedliche Moleküle
 Molekulare Vielfalt entsteht durch Variation von mit spezieller Struktur und besonderen chemischen
Kohlenstoffgerüsten. Die Kohlenstoffgerüste orga- Eigenschaften zu bilden.
nischer Moleküle variieren in Größe und Form und
besitzen Bindungsstellen für Atome anderer Ele- ? Inwiefern unterscheidet sich die Methylgruppe chemisch von den
mente. anderen sechs wichtigen funktionellen Gruppen in Abbildung 4.9 ?
 Kohlenwasserstoffe bestehen nur aus Kohlenstoff
und Wasserstoff.
 Isomere sind Verbindungen mit identischen Sum-
menformeln, aber unterschiedlichen Strukturen und
Eigenschaften. Drei Formen der Isomerie sind die
Strukturisomerie, die cis/trans-Isomerie und die
Enantiomerie als eine Form der Stereoisomerie.

? Betrachten Sie Abbildung 4.9. Welche Isomertypen sind Aceton und


Propanal? Wieviele asymmetrische C-Atome gibt es in Essigsäure, Glycin
und Glycerinphosphat? Können diese drei Moleküle als Enantiomeren-
paare auftreten?

90
Übungsaufgaben

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜB UN GSA U FG AB E N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.
Teil 1
Ebene 1: Wissen und Verständnis 6. Welches Kohlenstoffatom im folgenden Molekül
ist ein Chiralitätszentrum?
1. Die organische Chemie wird heute definiert als
a. das Studium von Verbindungen, die nur von OH H H H
O
lebenden Zellen gebildet werden a b c d e
b. das Studium von Kohlenstoffverbindungen C C C C C H
c. das Studium natürlich vorkommender, nicht- H H H H H
synthetischer Verbindungen
d. das Studium von Kohlenwasserstoffen
7. Welche chemische Umwandlung würde eine Car-
2. Welche funktionelle Gruppe ist im gezeigten Mo- bonylgruppe erzeugen?
lekül nicht vorhanden? a. Ersatz der OH-Funktion einer Carboxylgruppe
durch Wasserstoff
HO O b. Addition eines Thiols an eine Hydroxylgruppe
C H c. Addition einer Hydroxylgruppe an einen Phos-
H C C OH phatrest
d. Ersatz des Stickstoffatoms eines Amins durch
N H Sauerstoff
H H
8. Welche Moleküle aus Frage 5 enthalten ein asym-
a. Carboxyl- metrisches C-Atom? Welches C-Atom ist das Chira-
b. Sulfhydryl- litätszentrum?
c. Hydroxyl-
d. Amino-
Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Welche funktionelle
Gruppe ist wahrscheinlich dafür verantwortlich, 9. Verbindung zur Evolution
dass eine organische Verbindung basisches Verhal- ZEICHENÜBUNG Manche Wissenschaftler sind der
ten zeigt? (siehe Konzept 3.3) Ansicht, dass sich Leben an anderen Orten im
a. Hydroxyl- Universum auf das Element Silicium (Si) anstelle
b. Carbonyl- von Kohlenstoff, wie auf der Erde, stützen könnte.
c. Amino- Betrachten Sie das Elektronenverteilungsschema
d. Phosphat- in Abbildung 2.7 und zeichnen Sie eine Lewis-
Formel für das Siliciumatom. Welche elektroni-
Ebene 2: Anwendung und Auswertung schen Eigenschaften hat Silicium mit Kohlenstoff
gemeinsam? Was lässt die Vision von Silicium-ba-
4. Welcher der folgenden Kohlenwasserstoffe hat in sierten Lebensformen wahrscheinlicher erschei-
seinem Kohlenstoffgerüst eine Doppelbindung? nen als die von Formen, die auf Neon oder Alumi-
a. C3H8 nium gründen?
b. C2H6
c. C2H4 10. Wissenschaftliche Fragestellung Thalidomid, be-
d. C2H2 rüchtigt, weil seine Verabreichung an Schwangere
eine Welle von Missbildungen bei Neugeborenen
5. Wählen Sie den Begriff aus, der die Beziehung der auslöste, ist ein Enantiomerengemisch, von de-
beiden folgenden Zuckermoleküle zueinander be- nen das eine die morgendliche Übelkeit reduziert,
schreibt: während das andere Missbildungen hervorruft. In-
zwischen haben die zuständigen Zulassungs-
H behörden erneut grünes Licht für Thalidomid ge-
H O geben, allerdings nur für Nicht-Schwangere mit
H C OH C
der Infektionskrankheit Lepra (eine Bakterien-
C O H C OH infektion) oder dem multiplen Myelom, einem
H C OH H C OH
Blut- und Knochenmarkskrebs. Das erwünschte
Enantiomer kann zwar synthetisiert und den Pa-
H H tienten verabreicht werden, aber mit der Zeit sind
trotzdem beide Enantiomere im Körper nach-
a. Strukturisomere weisbar. Woran könnte das liegen?
b. cis/trans-Isomere
c. Enantiomere
d. Isotope

91
4 Kohlenstoff und die molekulare Vielfalt des Lebens

11. Skizzieren Sie ein Thema: Organisation 1918 13. NUTZEN SIE IHR WISSEN Erklären Sie, wie die Struk-
Teil 1 verursachte eine Epidemie der afrikanischen tur des Kohlenstoffatoms für die Unterschiede zwi-
Schlafkrankheit bei einigen Überlebenden eine schen den beiden Löwen auf dem Foto verantwort-
ungewöhnliche Form der starren Paralyse, die lich ist.
den Symptomen einer fortgeschrittenen Parkin-
son’schen Krankheit ähnelte. Jahre später wurde
einigen dieser Patienten der Wirkstoff L-DOPA
(L-3,4-Dihydroxyphenylalanin, siehe Abbildung)
verabreicht, der auch eingesetzt wird, um die Par-
kinson’sche Krankheit zu behandeln. Das L-DOPA
erwies sich als bemerkenswert wirkungsvoll, um
die Lähmung zumindest zeitweilig aufzuheben.
Das enantiomere D-DOPA (rechts im Bild) wurde
in der Folge als ebenso wirkungslos wie bei der
Parkinson’schen Krankheit entlarvt. Diskutieren
Sie in einem kurzen Aufsatz (in 100–150 Worten),
inwiefern die Effektivität nur eines der beiden
Enantiomere den Bezug zwischen Struktur und
Funktion verdeutlicht.

L-DOPA D-DOPA

12. NUTZEN SIE IHR WISSEN Warum wird Harnstoff als


Feuchtigkeitsfaktor Hautcremes zugesetzt? Kon-
sultieren Sie die Konzepte 2.3 und 3.2 und über-
legen Sie, wie Harnstoff die Wasserstruktur verän-
dern könnte. Ein anderer Feuchtigkeitsfaktor ist
Glycerol. Wieso?

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

92
Struktur und Funktion biologischer
Makromoleküle

5.1 Makromoleküle sind aus Monomeren aufgebaute Polymere . . . . 94 5


5.2 Kohlenhydrate dienen als Brenn- und Baustoffe . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5.3 Lipide bilden eine heterogene Gruppe hydrophober Moleküle . . . 100

KONZEPTE
5.4 Proteine: Funktionsvielfalt durch Strukturvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . 104
5.5 Nucleinsäuren speichern, übertragen und verwerten
Erbinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
5.6 Biologie im Wandel durch Genomik und Proteomik . . . . . . . . . . . . . 117

 Abbildung 5.1: Warum ist die Struktur


eines Proteins wichtig für seine Funktion?
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Die Moleküle lebender Organismen 5.1.1 Synthese und Abbau von Polymeren
Teil 1
In Anbetracht der reichen Vielfalt des Lebens auf der Die Polymerklassen unterscheiden sich zwar durch
Erde überrascht es, dass die entscheidenden Moleküle ihre Monomere, doch sind die chemischen Mechanis-
aller Lebensformen – vom Bakterium bis zum Elefanten – men, mit denen Zellen Polymere auf- und wieder
nur fünf chemischen Stoffklassen zugerechnet wer- abbauen, sehr ähnlich. Die Reaktionen werden immer
den können: Kohlenhydraten, Lipiden, Proteinen und durch Enzyme katalysiert. Enzyme sind spezialisierte
Nucleinsäuren sowie einer überschaubaren Anzahl Makromoleküle, die chemische Reaktionen beschleu-
hochspezialisierter organischer Cofaktoren, die sich nigen. Die Monomere reagieren miteinander, indem
unter anderem von den Vitaminen ableiten. Drei Stoff- zwei Moleküle kovalent aneinander binden und dabei
klassen – die Proteine, Nucleinsäuren und bestimmte ein Molekül Wasser freisetzen. Dieser Reaktionstyp
Kohlenhydrate – bilden Moleküle mit Tausenden von heißt Kondensation, genauer eine dehydratisierende
Atomen, die deshalb Makromoleküle genannt werden. Kondensation, wenn das freigesetzte Molekül Wasser
Proteine können beispielsweise Riesenmoleküle mit Mol- ist (nicht jede Dehydratisierungsreaktion ist auch eine
massen von mehr als 100.000 Dalton bilden. Angesichts Kondensation!; Abbildung 5.2a). Bei einer Verknüp-
ihrer Größe und Komplexität ist es bemerkenswert, fung von zwei Monomeren spaltet das eine Molekül
dass es trotzdem gelang, die detaillierte Struktur vieler eine OH-Gruppe ab, das andere ein H-Atom; beides
Makromoleküle aufzuklären. Abbildung 5.1 zeigt das zusammen wird als H2O freigesetzt. Diese Reaktion
Molekülmodell eines Proteins namens Alkoholdehy- wiederholt sich bei der Bildung eines Polymers stän-
drogenase. Dieses Enzym baut Alkohol im Körper ab. dig, indem neue Monomere, eines nach dem anderen,
Die Architektur biologischer Makromoleküle ist der an die sich bildende Molekülkette angehängt werden.
Schlüssel zum Verständnis ihrer Funktion. Wie Was-
ser und einfach gebaute organische Moleküle besitzen
auch die biogenen Makromoleküle spezielle Eigen- HO 1 2 3 H HO H
schaften, die auf ihre komplexe Struktur zurückgehen.
In diesem Kapitel werden wir zunächst den Aufbau kurzes Polymer freies Monomer
von Makromolekülen erörtern. Danach betrachten wir
die Struktur und Funktion von vier Klassen biologi- Dehydratisierung: Wasser-
abspaltung führt zur Bildung
scher Moleküle: der Kohlenhydrate, der Lipide, der H2O
einer neuen Bindung
Proteine und der Nucleinsäuren. Die Cofaktoren wer- (Kondensation).
den bei Bedarf vorgestellt.

HO 1 2 3 4 H

längeres Polymer

(a) Dehydratisierende Kondensationsreaktion bei der


Synthese eines Polymers.

HO 1 2 3 4 H
Biologische Makromoleküle sind so komplex, dass zum Betrachten moderne
Rechner mit Stereodarstellung erforderlich sind.

Hydrolyse: Addition von H2O


Makromoleküle sind aus Mono- Wasser bewirkt die Auf-

5.1
lösung einer Bindung.
meren aufgebaute Polymere

Die Makromoleküle von drei der fünf Verbindungs-


klassen der lebenden Welt – Polysaccharide, Proteine HO 1 2 3 H HO H
und Nucleinsäuren – sind kettenförmige, polymere
Moleküle (griech. polys, viele; meros, Teil). Ein Poly-
mer ist ein langes Molekül, das aus zahlreichen iden- (b) Hydrolyse eines Polymers.
tischen oder ähnlichen, sich wiederholenden Einhei-
Abbildung 5.2: Synthese und Abbau von Polymeren.
ten zusammengesetzt ist. Diese kleineren Einheiten
heißen Monomere (griech. monos, ein, einer, eines;
meros, Teil), sie sind kovalent miteinander verbunden. Polymere können durch Hydrolyse wieder in ihre Mono-
Manche Monomere haben außerdem andere, eigenstän- mere gespalten werden. Die Hydrolyse (griech. hydor,
dige Funktionen im Zellgeschehen. Wasser; lysis, Spaltung, Auflösung) ist die Umkehrung

94
5.2 Kohlenhydrate dienen als Brenn- und Baustoffe

der Kondensation – also die Bindungsspaltung durch jede Klasse biologischer Makromoleküle in Augen-
eine Reaktion mit Wasser (Abbildung 5.2b). Die Bin- schein nehmen. Teil 1
dungen zwischen den Monomeren werden aufgelöst
und das Wasserstoffatom eines Wassermoleküls an das
eine und die OH-Gruppe an das andere Monomer ange-  Wiederholungsfragen 5.1
fügt. Ein Beispiel einer in unserem Körper ablaufenden
Hydrolysereaktion ist die Verdauung. Der Großteil der 1. Nennen Sie die fünf Klassen biologischer
organischen Substanz in unserer Nahrung liegt in Form Moleküle. Welche Klasse(n) bestehen nicht
von Polymeren vor, die nicht direkt von den Zellen auf- aus Polymeren?
genommen werden können. Im Verdauungstrakt greifen 2. Wie viele Wassermoleküle sind erforderlich,
verschiedene „hydrolytische“ Enzyme die Polymere um ein Polymer aus zehn Monomeren völlig
an und beschleunigen katalytisch ihren Abbau in die zu hydrolysieren?
Monomere, die dann in den Blutkreislauf aufgenommen
und im Körper verteilt werden. In den Zellen können die 3. WAS WÄRE, WENN? Nehmen Sie an, Sie essen
Monomere dann durch weitere Kondensationsreaktio- eine Portion Fisch. Welche Reaktionen müs-
nen neue, von den ursprünglichen verschiedene Poly- sen ablaufen, damit die Aminosäuren der Fisch-
mere ergeben, die spezifische Funktionen gemäß den Proteine in körpereigene Proteine umgewan-
zellulären Erfordernissen erfüllen. delt werden?

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.


5.1.2 Die Vielfalt der Polymere

Jede Zelle verfügt über Tausende unterschiedlicher


(Makro-)Moleküle. Die Kollektion variiert von einem Kohlenhydrate dienen als
5.2
Zelltyp zum anderen, auch innerhalb ein und dessel-
ben Lebewesens. Die ererbten Unterschiede zwischen Brenn- und Baustoffe
nahen Verwandten wie menschlichen Geschwistern
spiegeln die Variationen in den Polymeren wider –
insbesondere der DNA und der Proteine. Die moleku- Kohlenhydrate umfassen Zucker und die daraus beste-
laren Unterschiede zwischen nicht verwandten Indi- henden polymeren Polysaccharide. Die einfachsten
viduen sind ausgeprägter, die zwischen verschiedenen Kohlenhydrate sind Monosaccharide; das sind die
Arten noch größer. Die Vielfalt der Makromoleküle in Monomere, aus denen die komplexeren Kohlenhydrate
der belebten Welt ist ausgesprochen groß und der zusammengesetzt sind. Disaccharide entstehen durch
Variantenreichtum praktisch unbegrenzt. Kondensation unter Wasserabspaltung aus zwei Mono-
Worin liegt die Ursache für diese makromolekulare sacchariden, die kovalent verbunden werden. Hierzu
Vielfalt? Die Moleküle bestehen aus nur 40 bis 50 allge- gehören der gewöhnliche Haushaltszucker (Rohrzucker,
mein verbreiteten unterschiedlichen Monomeren und Saccharose) und der Milchzucker (Lactose).
einigen wenigen, die nur selten vorkommen. Der Auf-
bau eines riesigen Repertoires von Polymeren aus einer
so begrenzten Anzahl von Monomeren ist vergleich- 5.2.1 Zucker
bar mit dem Aufbau von Wörtern und Sätzen aus den
26 Buchstaben des Alphabets. Entscheidend ist die Monosaccharide (griech. monos, ein, einzeln; sac-
Anordnung der Bausteine oder Buchstaben – die spezi- charon, Zucker) haben generell die Summenformel
elle lineare Abfolge der Baueinheiten. Diese Analogie CnH2nOn, was auch die Bezeichnung „Kohlenhydrat“
greift jedoch nicht weit genug, um die enorme Vielfalt erklärt (Abbildung 5.3). Glucose (Traubenzucker),
der Makromoleküle zu beschreiben, da die meisten bio- C6H12O6, ist das häufigste Monosaccharid und von
genen Polymere viel länger als selbst die längsten Wör- zentraler Bedeutung für die Biochemie lebender Orga-
ter sind. Proteine beispielsweise setzen sich aus 20 ver- nismen. Die Glucosestruktur verdeutlicht die Kennzei-
schiedenen Typen von Aminosäuren zusammen, die in chen eines Kohlenhydrats: Das Molekül enthält eine Car-
einer vorgegebenen Abfolge kovalent miteinander ver- bonyl- (C=O) sowie mehrere Hydroxylgruppen (–OH). Je
bunden und in der Regel Hunderte von Aminosäureres- nach Stellung der Carbonylfunktion im Molekül ist der
ten lang sind. Die molekulare Logik des Lebens ist so Zucker entweder eine Aldose (ein Aldehyd) oder
einfach wie elegant: Niedermolekulare Verbindungen, eine Ketose (ein Keton). Glucose ist eine Aldose,
die allen Organismen gemeinsam sind, werden in Fructose (Fruchtzucker, ein Glucose-Isomer) hinge-
Makromolekülen in einer Weise angeordnet, die für die gen eine Ketose. Glucose und Fructose sind Konstitu-
Spezies und sogar für das Einzelwesen charakteristisch tionsisomere. Die die Kohlenhydrate kennzeichnende
ist. Die jeweiligen Makromoleküle haben emergente Endung in der chemischen Fachsprache ist „-ose“. Die
Eigenschaften, die den Monomeren fehlen. weitere Klassifizierung von Kohlenhydraten richtet
Ungeachtet dieser immensen Vielfalt können die sich nach der Größe des Kohlenstoffgerüsts, also der
molekularen Strukturen und Funktionen dennoch Anzahl von C-Atomen im Molekül. Sie reicht bei den
bestimmten Klassen zugeordnet werden. Wir werden biogenen Kohlenhydraten von drei bis sieben. Glucose,

95
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Fructose und eine Reihe weiterer Zucker enthalten Die Einfachzucker gewinnen durch die räumliche
Teil 1 sechs C-Atome und werden deshalb als Hexosen Anordnung einzelner Molekülteile um ihre Chiralitäts-
bezeichnet (griech. hexa, sechs). Triosen (C3-Kohlenhy- zentren zusätzlich an Vielfalt. (Erinnern Sie sich: Ein
drate) und Pentosen (C5-Kohlenhydrate) sind ebenfalls Chiralitätszentrum ist ein Kohlenstoffatom mit vier ver-
verbreitet und werden uns wiederholt begegnen. schiedenen Substituenten.) Glucose und Galactose bei-
spielsweise unterscheiden sich bezüglich der räumli-
Aldosen (Aldehydzucker) Ketosen (Ketozucker) chen Anordnung ihrer Substituenten durch nur eines
Carbonylgruppe am Ende des Carbonylgruppe innerhalb ihrer vier asymmetrischen Kohlenstoffatome, sie sind
Kohlenstoffgerüstes des Kohlenstoffgerüstes also Isomere (siehe die lila unterlegten Bereiche in
Triosen: 3C-Zucker (C3H6O3)
Abbildung 5.3). Dieser scheinbar kleine Unterschied ist
hinreichend, um den beiden Zuckern unterscheidbare
H Molekülgestalten und physikalische Eigenschaften zu
H O
verleihen. Obgleich es bequem und übersichtlich ist,
C H C OH
Kohlenhydrate wie die Glucose mit linearen Kohlen-
H C OH C O stoffgerüsten zu zeichnen, ist diese Darstellung nicht
H C OH H C OH ganz korrekt, denn in wässriger Lösung liegt Glucose
ebenso wie die meisten anderen Zucker fast nur in
H H
Form geschlossener Ringe vor (Abbildung 5.4).
Glycerolaldehyd Dihydroxyaceton
Glucose-Abbauprodukt Glucose-Abbauprodukt
Monosaccharide sind Hauptnährstoffe von Zellen.
In dem als Zellatmung bezeichneten Vorgang extrahie-
ren die Zellen in einer Reihe chemischer Reaktionen
Pentosen: 5C-Zucker (C5H10O5) aus der Nahrung Energie. Glucose ist dabei einer der
wichtigsten Ausgangsstoffe. Die Einfachzucker dienen
H jedoch nicht nur als Energiequelle der Zelle; ihre Koh-
H O
C H C OH lenstoffgerüste sind Rohstoffe für die Synthese ande-
C O
rer Arten niedermolekularer Verbindungen, beispiels-
H C OH
weise Amino- oder Fettsäuren. Nicht sofort benötigte
H C OH H C OH Zuckermoleküle werden in Di- und/oder Polysaccha-
H C OH H C OH ride eingebaut und zwischengelagert.
Ein Disaccharid besteht aus zwei durch eine gly-
H C OH H C OH
kosidische Bindung miteinander verbundenen Mono-
H H sacchariden. Die glykosidische Bindung ist kovalent;
Ribose Ribulose sie bildet sich bei der Kondensationsreaktion der
RNA-Bestandteil Photosynthese- Monosaccharide. Maltose (Malzzucker) ist ein Bei-
Zwischenprodukt
spiel für ein Disaccharid, das sich durch die Reaktion
Hexosen: 6C-Zucker (C6H12O6) von zwei Glucosemolekülen unter Wasserabspaltung
bildet (Abbildung 5.5a). Malzzucker ist ein Aus-
H O H O H gangsstoff für die alkoholische Gärung beim Brauen
C C H C OH
von Bier, bei der Whiskyherstellung und ähnlichen
Prozessen. Er ist auch für den süßlichen Geschmack
H C OH H C OH C O von Schwarzbrotsorten wie Pumpernickel verantwort-
HO C H HO C H HO C H lich. Das häufigste Disaccharid ist Saccharose, als Haus-
H C OH HO C H
haltszucker allgemein verbreitet. Saccharose wird aus
H C OH
Zuckerrüben oder Zuckerrohr großtechnisch gewon-
H C OH H C OH H C OH nen. Sie besteht aus einem Glucose- und einem Fruc-
H C OH H C OH H C OH tose-Monomer (Abbildung 5.5b). Pflanzen transpor-
H H
tieren Kohlenhydrate im Allgemeinen in Form von
H
Saccharose aus den Blättern zu den Wurzeln und in
Glucose Galactose Fructose
Energiequelle für Organismen
andere nicht photosynthetisch aktive Gewebeberei-
Energiequellen für Organismen
che. Lactose ist ein weiteres Disaccharid. In diesem
Fall ist Glucose mit Galactose verknüpft. Scheinbar
Abbildung 5.3: Struktur und Klassifizierung einiger Monosac- geringfügige chemische Unterschiede können spürbar
charide. Zucker variieren in der Position ihrer Carbonylgruppen (orange),
unterschiedliche physiologische Reaktionen hervor-
der Länge ihres Kohlenstoffskeletts und der räumlichen Anordnung von
Substituenten um asymmetrische C-Atome herum (vergleichen Sie bei-
rufen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass viele
spielsweise die lila unterlegten Teile von Glucose und Galactose). Menschen zwar Saccharose (Rohrzucker) problemlos
vertragen, nicht aber Lactose, ihnen also der Milchzu-
ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN In den 1970er Jahren wurde ein Ver- cker Beschwerden verursacht. Diese als Lactose-Into-
fahren entwickelt, um Glucose aus Maissirup in das süßer schmeckende Iso- leranz bezeichnete Erkrankung wird durch einen
mer Fructose umzuwandeln. Maissirup mit hohem Fructosegehalt ist häufig erworbenen oder angeborenen Mangel des Enzyms
Bestandteil von Softdrinks und industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln. Lactase verursacht, welches das Disaccharid in die
Welche Art Isomere sind Glucose und Fructose (siehe Abbildung 4.7 )? Monosaccharide spaltet.

96
5.2 Kohlenhydrate dienen als Brenn- und Baustoffe

H O Teil 1
1C 6 6 CH
CH2OH 2OH
2 CH2OH
H C OH 5C O H 5C O
6
H H H H H 5 O H
3
HO C H H H H
4C 1C 4C 1C 4 1
4 OH H OH H OH H
H C OH O 3 2
2 2
HO OH
5 OH C OH OH
H C OH
3 C 3 C C
H OH
6 H OH H OH
H C OH

(a) Offenkettige lineare Form und Ringform. (b) Vereinfachte Ringstrukturformel.


Das chemische Gleichgewicht zwischen Jede Ecke symbolisiert ein Kohlen-
der offenkettigen linearen Form und stoffatom. Die stärker gezeich-
der Ringform liegt stark auf Seiten der neten Linien stellen Bindungen
Ringform. Die Kohlenstoffatome des hier dar, die, wie bei einer Seitenan-
abgebildeten Zuckermoleküls sind von sicht, zum Betrachter hin orien-
1 bis 6 durchnummeriert. Bei der tiert sind. Die nach oben oder
Bildung des Glucoserings reagiert C-1 unten weisenden Substituenten
mit dem Sauerstoff am C-5. liegen oberhalb beziehungsweise
unterhalb der Ringebene.

Abbildung 5.4: Offenkettige Form und Ringform der Glucose.

ZEICHENÜBUNG Beginnen Sie mit der linearen, offenkettigen Form der Fructose (Abbildung 5.3 ). Zeichnen Sie die Ausbildung des Fructoserings in zwei
Schritten. Nummerieren Sie zunächst die C-Atome von oben beginnend. Dann zeichnen Sie das Molekül in der gleichen Orientierung wie das Glucosemolekül
mitten in (a) oben. Verbinden Sie C-5 über sein Sauerstoffatom mit C-2. Vergleichen Sie die Zahl der Kohlenstoffatome in den Fructose- und Glucoseringen.

CH2OH CH2OH CH2OH (1 4)- CH2OH


glykosidische
H O H H O H H O H Bindung H O H
H H H 1 4 H
OH H OH H OH H OH H
OH HO OH
HO HO O OH
H OH H OH H OH H OH
H2O
Glucose Glucose Maltose (Malzzucker)
(Traubenzucker)

(a) Die Dehydratisierungsreaktion bei der Synthese der Maltose. Die Verknüpfung von zwei Glucosemolekülen führt
zur Bildung von Malzzucker (Maltose). Bei dieser Glykosidbildung wird das C-1 des einen Glucoserestes mit dem C-4
des zweiten kovalent verknüpft. Bei dieser Kondensation wird Wasser abgespalten. Werden die Glucosemonomere
auf andere Art miteinander verknüpft, entstehen andere Zweifachzucker (Disaccharide).

CH2OH CH2OH (1 2)-


CH2OH glykosidische CH2OH
H O H O H H O H Bindung O H
H H 1 2
OH H H HO OH H H HO
OH HO
HO CH2OH HO O CH2OH

H OH OH H H OH OH H
H2O
Glucose Fructose (Fruchtzucker) Saccharose (Rohrzucker)

(b) Die Dehydratisierungsreaktion bei der Synthese der Saccharose. Saccharose (Rohrzucker) ist ein Disaccharid, das
sich aus Glucose und Fructose bildet. Man beachte, dass die Fructose, obgleich es sich bei ihr wie bei der Glucose
um eine Hexose handelt, einen fünfgliedrigen Kohlenstoffring ausbildet.

Abbildung 5.5: Beispiele für Disaccharidsynthesen.

ZEICHENÜBUNG Beachten Sie Abbildung 5.3 und Abbildung 5.4 und nummerieren Sie die Kohlenstoffe jedes Zuckers in Abbildung 5.5. Verbinden Sie
die betreffenden C-Atome durch Pfeile, um zu verdeutlichen, dass die Nummerierung mit der Bezeichnung einer jeden glykosidischen Bindung übereinstimmt.

97
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

5.2.2 Polysaccharide nen, was Glucose als Nährstoff für die Zellen verfüg-
Teil 1 bar macht. Kartoffeln und Getreide sind Hauptquellen
Polysaccharide sind Makromoleküle, Polymere aus für Stärke in der menschlichen Nahrung.
einigen Hundert bis einigen Tausend Monosaccharid- Die meisten Glucosereste in Stärkemolekülen sind
resten, die durch glykosidische Bindungen miteinan- durch 1→4-glykosidische Bindungen kovalent miteinan-
der verknüpft sind. Einige Polysaccharide dienen als der verbunden, das heißt das C1 des einen ist mit dem C4
Speicherstoffe, die je nach Bedarf von der Zelle hydroly- des anderen Glucoserests verknüpft. Dieser Bindungstyp
siert werden können, wenn Zuckernachschub benötigt ist auch beim Malzzucker (Maltose) realisiert (Abbildung
wird. Andere Polysaccharide dienen als Baumaterial 5.5a). Man kann sich die Maltose daher als einen Bau-
für Strukturen, die der Zelle oder dem ganzen Orga- stein des Stärkemoleküls vorstellen. Der Bindungswinkel
nismus Stütze und Schutz bieten. Der Aufbau und die der glykosidischen Bindung bedingt die helikale Konfor-
Funktion eines Polysaccharids werden von seinen mation von Stärkemolekülen. Stärke ist jedoch keine
Monosaccharideinheiten und dem Ort ihrer glykosi- homogene Substanz: Man unterscheidet zwischen der
dischen Verknüpfung bestimmt. unverzweigten Amylose und dem verzweigten Amy-
lopectin, bei dem in gewissen Abständen Glucosylketten
Speicherpolysaccharide in 1→6-Bindung abzweigen (Abbildung 5.6a).
Sowohl Pflanzen als auch Tiere lagern Zucker zur späte- Tiere speichern Glucose in Form des Polysaccharids
ren Verwendung in Form von Speicherpolysacchariden Glykogen („tierische Stärke“), ebenfalls eine Polyglu-
ein (Abbildung 5.6). Pflanzen lagern Stärke, ein Glu- cose, aber im Vergleich zu Amylopectin noch stärker
cosepolymer, in Form von Körnchen (Granula) in die verzweigt (Abbildung 5.6b). Der Mensch und andere
Plastiden ihrer Zellen ein. Die Stärkesynthese versetzt Wirbeltiere lagern Glykogen hauptsächlich in der
die Pflanze in die Lage, überschüssige Glucose in Leber und in Muskelzellen ein. Durch Hydrolyse des
„osmotisch neutraler“ Form zu speichern, das heißt, Glykogens wird bei Bedarf Glucose freigesetzt, zum
ohne merkliche Volumenveränderungen durch Was- Beispiel wenn der Zuckerbedarf hoch ist oder der
serein- oder -ausstrom. Da Glucose eine Hauptenergie- Blutzuckerspiegel stark absinkt. Dieser Energievorrat
quelle der Zellen ist, stellt die Stärke gespeicherte reicht allerdings nicht sehr lange aus. Beim Menschen
Energie dar. Der Zucker kann später von diesem Koh- ist der Glykogenvorrat nach ungefähr einem Tag aufge-
lenhydrat-„Sparkonto“ hydrolytisch „abgehoben“ wer- zehrt, falls er nicht durch die Zufuhr von Nahrung
den. Die meisten Tiere einschließlich des Menschen aufgefüllt wird. Dies kann bei einer Kohlenhydrat-
haben Enzyme, mit denen sie Stärke hydrolysieren kön- mangeldiät zu Müdigkeit und Erschöpfung führen.

Speicherstrukturen (Plastide) Amylose (unverzweigt)


mit Stärkegranula in der Wurzel-
knollenzelle einer Kartoffel O
O O O O O O O
O
O
O O O O O O O
O O
Glucose-
Amylopectin monomer
(etwas verzweigt)

50 μm O
O O O O O O O
O
O O O O O O O
(a) Stärke O
O O

Glykogen-
granula im
Muskel-
gewebe
Glykogen (verzweigt)
O O O O O O O O
O O O
O O O O O O
O
Zellwand O
1 μm
O
O

(b) Glykogen

Cellulosemikrofibrillen in
einer pflanzlichen Zellwand Cellulosemolekül (unverzweigt)
Pflanzenzelle,
von einer Zell- 10 μm Mikrofibrille O O
wand umgeben (ein Bündel aus etwa O
O OH
O
80 Cellulosemolekülen) Wasserstoffbrückenbindungen
zwischen parallel angeordenten
O O
Cellulosemolekülen halten diese
O O O OH zusammen
0,5 μm
O O O O O
O O O O
O O O O O
O O O O O
(c) Cellulose

Abbildung 5.6: Speicher- und Strukturpolysaccharide bei Pflanzen und Tieren. (a) Stärke in Pflanzenzellen, (b) Glykogen in Muskelzellen und (c)
strukturbildende Cellulosefasern in pflanzlichen Zellwänden. Alle gezeigten Beispiele bestehen nur aus Glucose-Monomeren (grüne Sechsecke). In Stärke und
Glykogen tendieren die Polymerketten in ihren unverzweigten Bereichen zur Helixbildung, da die Winkel der glykosidischen Bindungen dies begünstigen. Es
gibt zwei Arten von Stärke: Amylose und Amylopectin. Cellulose enthält eine andere Art der glykosidischen Verknüpfung und ist immer unverzweigt.

98
5.2 Kohlenhydrate dienen als Brenn- und Baustoffe

Strukturpolysaccharide Die unterschiedlichen glykosidischen Bindungen der


Organismen synthetisieren stabile Stützstrukturen aus Stärke und der Cellulose verleihen den beiden Mole- Teil 1
Strukturpolysacchariden. So ist etwa das Polysaccha- külsorten verschiedene räumliche Strukturen. Wäh-
rid Cellulose ein Hauptbestandteil robuster pflanz- rend Stärkemoleküle eine vorwiegend helikale (spiralig
licher Zellwände (Abbildung 5.6c). Global werden pro gewundene) Konformation einnehmen, sind Cellulose-
Jahr fast 1014 kg (= 100 Milliarden Tonnen) Cellulose moleküle gestreckt. Cellulosemoleküle sind auch nie-
synthetisiert, was Cellulose zur mengenmäßig häufigs- mals verzweigt und einige der Hydroxylgruppen an den
ten organischen Verbindung auf der Erde macht. Untereinheiten können Wasserstoffbrückenbindungen
Genau wie Stärke ist auch Cellulose ein Glucose- mit anderen Cellulosemolekülen ausbilden, wenn diese
polymer, aber die beiden Moleküle unterscheiden sich parallel zueinander liegen. In der pflanzlichen Zell-
durch ihre glykosidischen Bindungen. Glucose kann in wand lagern sich parallel angeordnete Cellulosemole-
zwei stereochemisch verschiedenen Ringformen vorlie- küle zu supramolekularen Einheiten, den Mikrofibril-
gen (Abbildung 5.7a). Wenn sich der Glucose-Ring bil- len, zusammen (Abbildung 5.6). Die kabelartigen
det, kann die Hydroxylgruppe am C-1 ober- oder unter- Mikrofibrillen bilden ein robustes Baumaterial für die
halb der Ringebene zu liegen kommen. Diese beiden Pflanze und sind auch für den Menschen von Bedeu-
Konfigurationsisomere (α-D-Glucose und β-D-Glucose) tung, da Cellulose der Hauptbestandteil von Papier und
sind Diastereomere (Stereoisomere, die sich nicht wie der ausschließliche Inhaltsstoff der Baumwollfasern ist.
Bild und Spiegelbild zueinander verhalten); in diesem Enzyme, die Stärke durch hydrolytische Spaltung
speziellen Fall werden sie als Anomere bezeichnet. der α-glykosidischen Bindungen verdauen, können β-
(Griechische Buchstaben werden oft als Identifikatoren glykosidische Bindungen in den Cellulosemolekülen
unterschiedlicher Versionen biologischer Strukturen nicht spalten, weil sich die beiden Moleküle deutlich
verwendet, genauso, wie man in Abbildungen die Buch- unterscheiden. Tatsächlich verfügen nur wenige Orga-
staben a, b, c usw. benutzt.) Stärke enthält nur α-konfi- nismen über Enzyme, die Cellulose spalten können
gurierte Glucose-Monomere (Abbildung 5.7b). Wir (Cellulasen). Der Mensch kann Cellulose nicht ver-
sind dieser Anordnung in den Abbildung 5.4 und dauen; die in unserer Nahrung enthaltene Cellulose
Abbildung 5.5 bereits wiederholt begegnet. Im Gegen- durchläuft den Verdauungstrakt und wird ausgeschie-
satz dazu liegen die Glucosereste in der Cellulose in β- den. Bei ihrem Durchgang reibt die Cellulose an der
Konfiguration vor, was dazu führt, dass sie relativ zu Darmwand und stimuliert die Darmschleimhaut zur
ihren Nachbarn gedreht sind (Abbildung 5.7c, siehe Absonderung von Schleim. Dies unterstützt den Durch-
auch Abbildung 5.6c). gang der Nahrung durch den Darm. Obwohl Cellulose

H O
(a) Die Ringstrukturen von C
α- und von β-Glucose. Diese CH2OH CH2OH
beiden ineinander überführ- O H C OH O OH
H H H
baren isomeren Formen der H H
Glucose unterscheiden sich in 4 1 HO C H 4 1
OH H OH H
der Konfiguration am C-1 (der HO HO
OH H C OH H
Stellung der Hydroxylgruppe
am Kohlenstoffatom Nr. 1). H OH H OH
H C OH
α-D-Glucose β-D-Glucose
H C OH

(b) Stärke: α1 4-Verknüpfung von α-Glucoseresten. CH2OH CH2OH CH2OH CH2OH


Alle Monosaccharidreste weisen dieselbe O O O O
Orientierung auf. Vergleichen Sie die Stellung 1 4
der gelb hervorgehobenen OH-Gruppen mit OH O OH O OH O OH
HO OH
denen im Cellulosemolekül (c).
OH OH OH OH

(c) Cellulose: β1 4-Verknüpfung von β-Glucoseresten. CH2OH OH CH2OH OH


Im Cellulosemolekül steht jeder zweite Glucose- O O
rest auf dem Kopf (relativ zu den benachbarten O OH O OH
Resten). OH 1 4 OH
HO O OH
O O
OH CH2OH OH CH2OH

Abbildung 5.7: Stärke- und Cellulose-Strukturen.

99
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Teil 1
CH2OH

H O OH
H
OH H
OH H

H NH

C O

CH3

(a) Struktur eines Chitinmonomers. (b) Das Chitin ist Teil des Exoskeletts (c) Chitin wird in der Wundbehandlung
von Gliederfüßern (Arthropoden). eingesetzt. Es bildet stark belas-
Diese Zikade häutet sich gerade. tungsfähige und biegsame Fäden,
Sie streift ihr altes Exoskelett ab die nach dem Verheilen der Wunde
und es schlüpft das Adulttier. oder nach einem chirurgischen Ein-
griff resorbiert werden.
Abbildung 5.8: Chitin, ein strukturgebendes Polysaccharid.

also für den Menschen keinen Nährstoff darstellt, ist sie


ein nützlicher Bestandteil gesunder Ernährung. Die  Wiederholungsfragen 5.2
meisten Früchte, Gemüse und sonstigen pflanzlichen
Nahrungsmittel sind reich an Cellulose. Die auf 1. Schreiben Sie die Strukturformel eines Mono-
Lebensmittelverpackungen deklarierten „Ballaststoffe“ saccharids mit drei Kohlenstoffatomen.
enthalten größtenteils unverdauliche Cellulose.
2. Eine Kondensation verknüpft zwei Glucose-
Manche Prokaryonten und einige Pilze können
moleküle zu einem Molekül Maltose. Die Sum-
Cellulose verdauen, die dabei in Glucose-Monomere
menformel der Glucose ist C6H12O6. Wie lautet
gespalten wird. Eine Kuh beherbergt in ihrem Pansen
die Summenformel der Maltose?
(dem ersten ihrer vier Mägen) auf die Celluloseverdau-
ung spezialisierte Prokaryonten und Protisten. Die 3. WAS WÄRE, WENN? Nachdem man einer Kuh
Mikroorganismen im Magen hydrolysieren die Cellu- Antibiotika verabreichte, um eine Infektion
lose der Pflanzen und wandeln die dabei entstehende zu behandeln, gibt der Tierarzt eine Darmkul-
Glucose in andere Nährstoffe um, welche die Kuh tur mit verschiedenen Prokaryonten. Warum?
letztlich ernähren. In ganz ähnlicher Weise finden
sich im Darm von Termiten, die ebenfalls nicht selbst Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Cellulose spalten können, Prokaryonten oder Protis-
ten, die aus Holz Nahrung aufbereiten. Manche Pilze
zersetzen ebenfalls die Cellulose enzymatisch und
helfen dadurch bei der Rückführung chemischer Ele-
mente in die Ökosysteme der Erde. Lipide bilden eine heterogene
Ein weiteres wichtiges Polysaccharid ist das Chitin,
das Strukturkohlenhydrat von Arthropoden (Glieder-
füßer wie Spinnen, Insekten, Crustaceen und ver-
Gruppe hydrophober Moleküle
5.3
wandte Formen), die aus ihm ihr Exoskelett aufbauen Lipide sind eine Klasse hydrophober Moleküle, die
(Abbildung 5.8). Ein Exoskelett (Außenskelett) ist eine keine kovalent verbundenen Polymere ausbilden, sich
harte Hülle, die die Weichteile eines Tieres umschließt. jedoch leicht zu großen Aggregaten zusammenlagern.
Chitin-/Proteinhüllen sind zunächst biegsam und von Makromoleküle im eigentlichen Sinn sind sie also
lederartiger Konsistenz. Sie verhärten, wenn die Protein- nicht. Die als Lipide (griech. lipos, Fett) bezeichneten
anteile chemisch quervernetzt werden (Insekten) oder Stoffe werden hier zusammengefasst, weil ihnen eine
durch die Abscheidung von Calciumcarbonat (Kalk) wichtige Eigenschaft gemeinsam ist: Sie mischen sich –
verkrusten (Krabben). Das Außenskelett der Glieder- falls überhaupt – nur schlecht mit Wasser. Die Hydro-
füßer ist ein Verbundwerkstoff. Chitin findet sich auch phobie der Lipide ist durch ihre Molekülstruktur
in vielen Pilzen, die es anstelle von Cellulose zum Auf- bedingt. Sie bestehen zum größten Teil aus apolaren
bau ihrer Zellwände verwenden. Chitin ähnelt der Cel- aliphatischen Kohlenwasserstoffketten, die an kleinere
lulose, allerdings sind die Chitin-Monomere von der polare Bereiche gebunden sind, die sogenannten hydro-
Glucose abgeleitete Aminozucker (siehe Abbildung 5.8, philen Kopfgruppen. Lipide sind in Form und Funktion
oben rechts). vielgestaltig; Wachse und bestimmte Pigmente sowie

100
5.3 Lipide bilden eine heterogene Gruppe hydrophober Moleküle

zahlreiche andere Stoffgruppen werden ihnen zugerech- In einem Fett sind drei Fettsäuremoleküle mit einem
net. Wir beschränken unsere Diskussion auf die biolo- Glycerolmolekül unter Ausbildung von drei Esterbin- Teil 1
gisch wichtigsten Lipidtypen: die Fette, die Phospholi- dungen verbunden. Ester entstehen durch die Reaktion
pide und die Steroide. von Säuren mit Alkoholen, in diesem Fall der OH-Grup-
pen des Glycerols mit den Carboxylgruppen der Fett-
säuren. Das resultierende Lipidmolekül wird auch als
5.3.1 Fette Triacylglycerol bezeichnet. Acylreste sind die Anteile
der Carbonsäuren, die in das Estermolekül eingehen
Obgleich Fette keine Polymere sind, werden sie aus (RCO–). Ein weiterer synonymer Begriff, der ebenfalls
einigen wenigen Typen kleinerer Moleküle durch Kon- ein Neutralfett bezeichnet, ist Triglycerid (häufig zu fin-
densation gebildet. Ein Fettmolekül besteht aus Gly- den auf der Inhaltsstoffliste von Fertigspeisen). Die drei
cerol und Fettsäuren (Abbildung 5.9a). Glycerol Fettsäurereste eines Lipids können identisch sein oder
(umgangssprachlich Glycerin) ist ein dreiwertiger Alko- sich unterscheiden (Abbildung 5.9b).
hol, dessen drei C-Atome jeweils eine OH-Gruppe tra- Die einzelnen Fettsäuren können sich in der Länge
gen: CH2OHCHOHCH2OH. Eine Fettsäure ist eine (Zahl der Kohlenstoffatome) sowie gegebenenfalls in
langkettige Carbonsäure, deren aliphatisches Kohlen- der Zahl und Stellung von Doppelbindungen unter-
stoffgerüst häufig aus 16 oder 18 Kohlenstoffatomen scheiden. Die Begriffe gesättigte und ungesättigte Fette
besteht. Endständig enthalten Fettsäuren eine einzige beziehungsweise Fettsäuren sind im Zusammenhang
Carboxylgruppe, also die funktionelle Gruppe, die dem mit der Ernährung vertraut (Abbildung 5.10). Falls
Molekül seine Säureeigenschaften verleiht. Der apo- überhaupt keine Doppelbindungen (–C=C–) im Mole-
lare Bereich der aliphatischen Kohlenwasserstoffkette kül vorhanden sind, ist die maximale Zahl von Wasser-
macht Fette hydrophob. Sie sind in Wasser unlöslich, stoffatomen an die C-Atome gebunden und man spricht
weil sie keine Wasserstoffbrückenbindungen mit den von einer gesättigten Fettsäure (Abbildung 5.10a).
Wassermolekülen ausbilden können. Daher trennt sich Besitzt eine ungesättigte Fettsäure hingegen eine oder
Salatöl (ein flüssiges Fett) ziemlich schnell von der auch mehrere C=C-Doppelbindungen, kann sie geome-
wässrigen Essiglösung eines Salatdressings. trische Isomere bilden (siehe Kapitel 4). Falls die Dop-
pelbindung cis-konfiguriert ist, hat das Molekül an die-
H O H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H ser Stelle einen Knick (Abbildung 5.10b).
H C OH C C C C C C C C H Ein Fett mit nur gesättigten Fettsäuren ist gesättigt.
C C C C C C C C
HO
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H Die meisten tierischen Fette sind gesättigt, besitzen also
H C OH keine Doppelbindungen in den Kohlenwasserstoffket-
H2O Fettsäuremolekül
(Palmitinsäure) ten. Aufgrund ihrer Kompaktheit lassen sich diese Mole-
H C OH
küle dicht zusammenpacken. Gesättigte Fette wie Tran
H
und Butter sind bei Zimmertemperatur fest. Im Gegen-
Glycerol satz dazu sind pflanzliche Fette und die Fette von
(a) Dehydratisierungsreaktion bei der Synthese eines Fischen meistens ungesättigt, sie enthalten also einen
Fettmoleküls. oder mehrere ungesättigte Fettsäurereste. Fette, die bei
Zimmertemperatur flüssig sind, werden Öle genannt.
Esterbindung Beispiele hierfür sind Pflanzen- und Fischfette wie Oli-
venöl und Dorschleberöl. Der durch die cis-Doppelbin-
H O
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H dungen verursachte Knick verhindert die dichte Zusam-
H C O C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
H menlagerung der Moleküle und daher ihre Verfestigung
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H bei Zimmertemperatur. Die Bezeichnung „gehärtetes
O H H H H H H H Pflanzenfett“ auf Lebensmitteln besagt, dass die unge-
H H H H H H H H
H C O C C C C C C C C H sättigten Fette durch Reaktion mit Wasserstoff (Hydrie-
C C C C C C C C
H H H H H H H rung) in gesättigte umgewandelt worden sind. Die Dop-
H H H H H H H H
pelbindungen sind durch die Addition von Wasserstoff
O H H H H H H H
H H H H H H H H reduziert worden. Erdnussbutter, Margarine und viele
H C O C C C C C C C C H
C C C C C C C C andere Produkte werden „gehärtet“, um zu verhindern,
H H H H H H H H
H H H H H H H H dass sich die Fettphase in flüssiger Form abscheidet.
Auch sind gesättigte Fette viel weniger oxidationsemp-
(b) Ein Fettmolekül (Triacylglycerol).
findlich, werden also nicht so schnell ranzig.
Abbildung 5.9: Synthese und Struktur eines Fettmoleküls (Tri- Eine an gesättigten Fetten reiche Nahrung kann zur
acylglycerol). Die molekularen Bausteine eines Fettmoleküls sind ein Entstehung chronischer kardiovaskulärer Krankheiten
Molekül Glycerol und drei Fettsäuremoleküle. (a) Bei der Esterbildung wird wie der Arteriosklerose beitragen. Bei dieser schlei-
für jeden gebundenen Acylrest ein Wassermolekül abgespalten. (b) Ein chenden Erkrankung lagern sich an den Innenseiten
Fettmolekül mit drei identischen Fettsäureresten. Die C-Atome der Fett-
der Blutgefäße Plaques ab, die – wenn sie eine gewisse
säurereste sind zickzackförmig angeordnet. Dies entspricht der tatsächli-
chen Bindungsgeometrie der vier von jedem Kohlenstoffatom ausgehen-
Dicke erreicht haben – den Blutfluss durch das Gefäß
den Bindungen (Tetraedergeometrie; siehe Abbildung 4.3a ). behindern und dem Blutstrom einen höheren Wider-
stand entgegensetzen. Neuere Untersuchungen haben
gezeigt, dass die Härtung von Pflanzenfetten nicht nur

101
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

gesättigte Fette erzeugt, sondern als Nebenprodukte ebenso energiereich. Ein Gramm Fett enthält rund dop-
Teil 1 auch ungesättigte Fette in trans-Konfiguration. Diese pelt so viel verwertbare Energie wie die gleiche Menge
„trans-Fette“ sollen noch stärker zu arterioskleroti- eines Proteins oder eines Polysaccharids. Da Pflanzen
schen Ablagerungen und anderen Problemen beitra- immobil sind, können sie mit voluminöseren Spei-
gen als gesättigte (siehe dazu Kapitel 43). cherstoffen wie Stärke zurechtkommen. Pflanzenöle
werden in der Regel aus Samen gewonnen, in denen
die kompaktere Speicherform vorteilhaft ist. Tiere
müssen ihre Energiereserven mit sich herumtragen,
und so ist es ein Selektionsvorteil, eine kompaktere
H O Treibstoffreserve in Form von Fett mitzuführen. Der
H C O C
O
Mensch und andere Säugetiere lagern ihre langfristi-
Strukturformel H C O C gen Energiereserven in Fettzellen (siehe Abbildung
eines gesättigten O 4.6a), die an- und abschwellen, wenn Fett deponiert
Fettmoleküls H C O C oder abgerufen wird. Über die Speicherung von Ener-
H gie hinaus wirkt das Fettgewebe auch als mechanische
Dämpfung der inneren Organe. Außerdem isoliert eine
Fettschicht unterhalb der Haut den Körper auch ther-
Stearinsäure, eine misch. Das Unterhautfettgewebe ist bei Walen, Robben
gesättigte Fettsäure und den meisten anderen wasserlebenden Säugetieren
besonders dick und schützt sie so gegen Auskühlung.

(a) Gesättigte Fette. Bei Zimmertemperatur sind die


Moleküle eines gesättigten Fettes (wie in Butter) so
dicht gepackt, dass ein Feststoff entsteht. 5.3.2 Phospholipide

Zellen sind ohne eine andere Art von Lipiden, den


sogenannten Phospholipiden (Abbildung 5.11), nicht
vorstellbar. Phospholipide sind als Hauptbestandteile
aller Zellmembranen unabdingbar. Ihre Strukturen lie-
fern ein klassisches Beispiel für die Entsprechung von
H O
H C O C
Form und Funktion auf molekularer Ebene. Abbildung
O 5.11 zeigt, dass sich Phospholipidmoleküle und Fett-
Strukturformel eines H C O C moleküle zwar ähneln, doch in der Zahl der mit dem
ungesättigten Fettes O Glycerylrest veresterten Acylreste unterscheiden. Die
H C O C dritte Hydroxylfunktion des Glycerols ist mit einer
H Phosphorylgruppe verestert, die unter physiologischen
Bedingungen negativ geladen ist. Zusätzliche nieder-
molekulare polare oder geladene kleine Gruppen sind
mit dem Phosphorylrest verknüpft. Cholin ist nur ein
Ölsäure, eine unge- Beispiel (Abbildung 5.11); es gibt viele weitere, was zur
sättigte Fettsäure Vielfalt der Phospholipide mit jeweils unterschiedli-
Die cis-ständige chen Eigenschaften beiträgt.
Doppelbindung Die beiden Enden eines Phospholipidmoleküls ver-
führt zu einer halten sich gegenüber Wasser unterschiedlich. Der Koh-
Krümmung im Molekül. lenwasserstoffanteil der Acylreste ist hydrophob und
vermeidet den Kontakt mit Wasser. Die Phosphorsäure-
(b) Ungesättigte Fette. Bei Zimmertemperatur können
sich die Moleküle eines ungesättigten Fettes (wie in gruppe und daran gegebenenfalls befindliche hydro-
Olivenöl) aufgrund der Krümmungen nicht dicht phile Kopfgruppen besitzen eine Affinität für Wasser,
genug zusammenlagern, um das Fett zu verfestigen. verhalten sich also hydrophil. Wenn Phospholipide und
Wasser zusammengebracht werden, organisieren sich
Abbildung 5.10: Gesättigte und ungesättigte Fette und Fett-
säuren.
die Phospholipide automatisch zu doppelschichtigen
Aggregaten (engl. bilayer), deren hydrophile Bereiche
mit dem Wasser in Kontakt stehen, während sich die
Fette haben sich in der jüngeren Vergangenheit einen hydrophoben Anteile vom Wasser weg und aufeinander
so negativen Ruf erworben, dass man sich fragt, wel- zu orientieren (Abbildung 5.11d).
chen Nutzen sie denn überhaupt haben. Die Haupt- An der Oberfläche einer Zelle sind die Phospholipide
funktion von Fetten liegt in der Speicherung von Ener- in einer ähnlichen Doppelschicht organisiert. Die hydro-
gie für den Organismus. Die Kohlenwasserstoffketten philen Kopfgruppen der Moleküle befinden sich auf der
der Lipidmoleküle sind chemisch den Kohlenwasser- Außenseite der Doppelschicht und stehen in Kontakt
stoffen des Benzins und Heizöls nicht unähnlich und mit der wässrigen Lösung innerhalb und außerhalb der

102
5.3 Lipide bilden eine heterogene Gruppe hydrophober Moleküle

+ Abbildung 5.11: Die Struktur eines Phospholipids. Ein Phospho-


hydrophile Kopfgruppe

CH2 N(CH3)3
CH2
Cholinrest lipidmolekül hat eine hydrophile (polare) Kopfgruppe und zwei hydro- Teil 1
phobe (apolare) Fortsätze. Das spezielle, hier dargestellte Phospholipid ist
O
ein Phosphatidylcholin mit einer Cholin-Kopfgruppe. (a) Strukturformel, (b)
O P O– Phosphor-
säurerest raumfüllendes Kalottenmodell (Kohlenstoff, schwarz; Wasserstoff, grau;
O Phosphor, gelb; Stickstoff, blau), (c) das Symbol für ein Phospholipid, wie
CH2 CH CH2 wir es durchgängig verwenden werden, (d) eine Doppelschichtstruktur, die
Glycerolrest
O O Phospholipide ohne weiteres Zutun in wässriger Umgebung ausbilden.
C O C O
ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie ein Oval um die hydrophile Kopf-
gruppe im Kalottenmodell!
Kohlenwasserstoffkette

Fettsäure-
reste
hydrophobe

© Pearson Education, Inc.

Krümmung infolge
der cis-Doppelbindung hydrophile
Kopfgruppe

hydrophobe
Kohlenwasserstoff-
Kette

(a) Strukturformel (b) Kalottenmodell (c) Schema eines (d) Phospholipid-


Phospholipidmoleküls Doppelschicht

Zelle. Die hydrophoben Molekülfortsätze weisen im H3C CH3


Inneren der Doppelschicht aufeinander zu, weg vom
CH3
Wasser. Diese Anordnung ist nichts Überraschendes; sie CH3
stellt schlicht den energieärmsten Zustand dar, den die-
ses Stoffgemisch einnehmen kann, wie durch thermo- CH3
dynamische Messungen und rechnerisch gezeigt werden
kann. Die Phospholipid-Doppelschicht bildet eine
Grenzfläche zwischen der Zelle und ihrer Umgebung.
Lebende Zellen können ohne Phospholipide nicht exis- HO
tieren. Abbildung 5.12: Das Steroid Cholesterol. Cholesterol ist die Aus-
gangsverbindung für die Synthese der anderen Steroide im Körper, ein-
schließlich der Geschlechtshormone. Die Steroide unterscheiden sich in den
funktionellen Gruppen, die an die vier kondensierten Ringe (gelb unterlegt)
5.3.3 Steroide gebunden sind, sowie durch den Sättigungsgrad der Ringe.

Cholesterol (umgangssprachlich Cholesterol) und ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Vergleichen Sie Cholesterol mit den
zahlreiche daraus hervorgehende Hormone gehören beiden Geschlechtshormonen in der Abbildung am Anfang von Konzept
4.3. Kreisen Sie die Gruppen ein, die Cholesterol mit Östradiol gemeinsam
zur Gruppe der Steroide, einer Gruppe von Lipiden
hat und ziehen Sie ein Quadrat um die gemeinsamen Gruppen von Choles-
mit einem Kohlenstoffgerüst aus vier kondensierten terol und Testosteron.
Ringen, die sich vom Kohlenwasserstoff Steran als
Grundkörper ableiten (Abbildung 5.12). Die einzelnen
Steroide unterscheiden sich in den funktionellen Grup-  Wiederholungsfragen 5.3
pen, die an verschiedenen Stellen an das Ringsystem
gebunden sein können, sowie gegebenenfalls in der 1. Vergleichen Sie die Struktur eines Fettmoleküls
Ringkonformation. Das Cholesterol ist ein verbreiteter (eines Triacylglycerols) mit der eines Phospho-
Bestandteil tierischer Zellmembranen. Es stellt auch lipidmoleküls.
bei Tieren die gemeinsame Vorstufe dar, aus der die
anderen Steroide synthetisiert werden. Bei Wirbeltie- 2. Warum werden die menschlichen Geschlechts-
ren wird das Cholesterol in der Leber gebildet. Es ist hormone zu den Lipiden gerechnet?
somit für Tiere eine höchst wichtige Verbindung,
3. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich eine Mem-
obwohl eine zu hohe Konzentration im Blut zur Arte-
bran vor, die ein Öltröpfchen umgibt, wie es
rienverkalkung (Arteriosklerose) beitragen kann. Gesät-
zum Beispiel in den Zellen vieler Pflanzen-
tigte und ungesättigte trans-Fette beeinträchtigen die
samen der Fall ist. Beschreiben und erläutern
Gesundheit dadurch, dass sie auf den Cholesterolspie-
Sie, welche Form diese annehmen könnte.
gel einwirken.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

103
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Proteine: Funktionsvielfalt stanzen und Organismen beteiligt. Abbildung 5.13 zeigt


Teil 1
durch Strukturvielfalt
5.4 Beispiele von Proteinen mit den genannten Funktionen,
Details werden Sie in späteren Kapiteln kennenlernen.
Leben ist ohne katalytisch wirksame Proteine, die
Enzyme, nicht möglich. Allerdings besitzen bestimmte
Nahezu alle in Lebewesen ablaufende Prozesse sind von Ribonucleinsäuren („Ribozyme“) ebenfalls katalytische
Proteinen abhängig. Diesem Umstand trägt auch ihre Eigenschaften, die wahrscheinlich in der Frühphase
Namensgebung Rechnung: Das griechische Wort pro- der Evolution die proteinvermittelte Katalyse vorweg-
teios bedeutet „Erster, erster Platz“. Proteine machen genommen haben. Enzyme regulieren den Stoffwech-
mehr als 50 Prozent der Trockenmasse der meisten Zel- sel, indem sie bestimmte chemische Reaktionen hoch-
len aus, und sie spielen bei praktisch allem, was einen spezifisch beschleunigen, ohne dabei selbst verbraucht
lebenden Organismus auszeichnet, eine unersetzliche zu werden. Da ein Enzym seine Aufgabe immer wieder
Rolle. Manche Proteine – die Enzyme – beschleunigen neu erfüllen kann, ist der Begriff „Arbeitspferd“ für
chemische Reaktionen, andere sind strukturgebend diese Stoffklasse angemessen. Zelluläre Lebensvorgänge
beziehungsweise -stützend, und wieder andere sind an sind ohne Enzyme nicht möglich.
Transportvorgängen, der zellulären Kommunikation, Ein Mensch verfügt über mehrere Tausend unter-
Bewegungsvorgängen oder der Abwehr fremder Sub- schiedliche Proteine, jedes mit einer spezifischen Mole-

Enzyme Abwehrproteine

Funktion: spezifische Beschleunigung bestimmter chemischer Reaktionen Funktion: Schutz gegen Krankheiten
Beispiele: Antikörper inaktivieren und helfen bei der Zerstörung von
Beispiel: Verdauungsenzyme katalysieren die Hydrolyse von Bindungen in
Bakterien und Viren
Nahrungsmolekülen.
Antikörper

Enzym Virus Bakterium

Speicherproteine Transportproteine

Funktion: Speicherung von Aminosäuren Funktion: Transport von Substanzen


Beispiele: Casein, ein Milchprotein, ist die Hauptquelle für Aminosäuren Beispiele: Hämoglobin, das eisenhaltige Protein im Wirbeltierblut, trans-
neugeborener Säugetiere. Pflanzen enthalten in ihren Samen Speicher- portiert Sauerstoff von der Lunge in andere Teile des Körpers. Andere
proteine. Ovalbumin ist ein Protein im Hühnereiweiß und die Aminosäure- Proteine transportieren Moleküle durch Zellmembranen, wie hier gezeigt.
quelle des sich entwickelnden Kükens.
Transport-
protein

Ovalbumin Aminosäuren
für den Embryo
Zellmembran

Peptidhormone Rezeptorproteine
Funktion: Koordination bestimmter Abläufe in einem Lebewesen Funktion: Reaktion der Zelle auf chemische Reize
Beispiele: Insulin, ein aus der Bauchspeicheldrüse sezerniertes Hormon, Beispiele: Rezeptoren in Nervenzellmembranen detektieren chemische
beeinflusst die Glucoseaufnahme von Geweben und reguliert so die Signale anderer Nervenzellen.
Blutzuckerkonzentration.

Rezeptorprotein

Insulin wird
hohe Blutzucker- normale Signalmoleküle
sezerniert
konzentration Blutzuckerkonzentration

Kontraktile Proteine und Motorproteine Strukturproteine

Funktion: Bewegung Funktion: mechanische Stütze


Beispiele: Motorproteine sind für die Wellenbewegungen von Cilien und Beispiele: Keratin ist das strukturgebende Protein in Haaren, Nägeln,
Flagellen verantwortlich, Actin und Myosin für die Muskelkontraktion. Hörnern, Federn und anderen Hautanhangsgebilden. Insekten und Spinnen
verwenden Seidenfasern, um Kokons und Netze zu bauen. Kollagen und
Elastin bilden im Bindegewebe von Tieren ein fiberartiges Maschenwerk.
Actin Myosin

Kollagen

Muskelgewebe 30 μm Bindegewebe 60 μm

Abbildung 5.13: Proteinfunktionen im Überblick.

104
5.4 Proteine: Funktionsvielfalt durch Strukturvielfalt

külstruktur und -funktion. Proteine sind in der Tat die 5.14 nicht berücksichtigt. Außerdem gibt es nicht-pro-
strukturell komplexesten aller bekannten Molekülgrup- teinogene Aminosäuren mit wichtigen physiologischen Teil 1
pen. Im Einklang mit ihren vielfältigen Funktionen Funktionen, zum Beispiel die γ-Aminobuttersäure
unterscheiden sie sich untereinander erheblich in ihrer (GABA, H2NCγH2CβH2CαH2COOH), ein Botenstoff (Neu-
Gestalt, jedes Protein hat seine eigene charakteristische rotransmitter) im Nervensystem.
Raumstruktur. Die physikalischen und chemischen Eigenschaften
Ungeachtet ihrer enormen Diversität bestehen doch der Seitenkette bestimmen den speziellen Charakter
alle Proteine aus dem gleichen Satz von 20 Aminosäu- einer Aminosäure und beeinflussen dadurch die funk-
ren, die zu unverzweigten linearen Ketten polymerisie- tionelle Rolle, die der entsprechende Aminosäurerest
ren. Die Bindung zwischen zwei Aminosäuren heißt in einem Polypeptid spielt. In Abbildung 5.14 sind die
Peptidbindung, und daher werden Aminosäurepoly- Aminosäuren nach den Eigenschaften ihrer Seiten-
mere auch Polypeptide genannt. Da die beteiligten Ami- ketten aufgelistet. Eine Gruppe besteht aus Amino-
nosäuren bei ihrer Kondensationsreaktion ein Molekül säuren mit apolaren, hydrophoben Seitenketten, eine
Wasser freisetzen, enthalten Polypeptide keine Amino- andere hat polare, hydrophile Seitenketten. Aminosäu-
säuren, sondern Aminosäurereste. Ein Protein ist ein ren mit einer zusätzlichen Säurefunktion (Carboxyl-
Molekül aus einer oder mehreren Polypeptidketten mit gruppe) in der Seitenkette sind normalerweise negativ
einer biologischen Funktion. Jede Kette faltet sich in geladen, da das Säureproton abdissoziiert, sie sind
eine spezifische dreidimensionale Struktur. also unter physiologischen Bedingungen deprotoniert.
Aminosäuren mit basisch reagierenden Seitenketten
(Aminogruppen) sind normalerweise kationisch, ihre
Aminogruppen sind protoniert. Man beachte, dass alle
5.4.1 Aminosäure-Monomere Aminosäuren definitionsgemäß Amino- und Carboxyl-
funktionen enthalten. Bei sauren (negativ geladenen)
Allen Aminosäuren ist dieselbe Seitenkette (R) oder basischen (positiv geladenen) Aminosäuren bezieht
Grundstruktur gemeinsam. Amino- R α-Kohlen-
sich dies jeweils auf die Seitenketten. Diese Amino-
säuren sind organische Verbin- stoffatom säuren sind in jedem Fall hydrophil.
dungen, die sowohl eine Carboxyl-
O
als auch eine Aminogruppe enthal- H
N C C
ten (siehe Abbildung 4.9). Das For- H 5.4.2 Polypeptide (Aminosäurepolymere)
OH
melbild rechts zeigt die allgemeine H
Struktur einer Aminosäure. Im Amino- Carboxyl- Nachdem wir die einzelnen Aminosäuren betrachtet
Zentrum des Moleküls liegt ein chi- gruppe gruppe haben, wenden wir uns ihrer Polymerisation zu
ral substituiertes (asymmetrisches) (Abbildung 5.15). Die Kondensation einer Carboxyl-
Kohlenstoffatom, das α-Kohlenstoffatom (Cα). Die vier mit einer Aminogruppe unter Abspaltung eines Was-
daran gebundenen Substituenten sind eine Amino- sermoleküls führt zur Ausbildung einer kovalenten
gruppe, eine Carboxylgruppe, ein Wasserstoffatom sowie Säureamidbindung, der sogenannten Peptidbindung.
ein von Aminosäure zu Aminosäure unterschiedlicher Die daran beteiligten Atome – CONH – werden zusam-
Rest R, der auch als Seitenkette der Aminosäure mengefasst als Peptidgruppe bezeichnet. Wiederholt
bezeichnet wird. Aminosäuren, bei denen die beiden sich dieser Vorgang sehr oft, so entsteht ein Polypep-
funktionellen Gruppen an demselben C-Atom hängen, tid, also ein Polymer aus zahlreichen Monomeren, die
heißen -Aminosäuren. jeweils durch eine Peptidbindung miteinander ver-
Abbildung 5.14 zeigt die 20 Aminosäuren, aus denen bunden sind. An einem Ende der Polypeptidkette
die Proteine lebender Zellen bestehen, die sogenannten sitzt eine freie Aminogruppe, am anderen eine Car-
proteinogenen Aminosäuren. Aus chemischer Sicht boxylgruppe. Jede Polypeptidkette hat also einen
stellen sie lediglich einen kleinen Teil theoretisch Richtungssinn mit einem Amino-Ende (N-Terminus)
denkbarer Aminosäuren dar. Die Amino- und die Car- und einem Carboxyl-Ende (C-Terminus). Die Amino-
boxylgruppen sind in ihrer ionisierten Form gezeigt, säure-Reihenfolge („Aminosäuresequenz“) GAVLI steht
was unter den Lebensbedingungen einer Zelle („phy- mithin für ein anderes Pentapeptid als ILVAG.
siologische Bedingungen“) normalerweise der Fall ist. Die sich wiederholende Sequenz von Atomen, die
Die Seitenkette R kann sehr einfach gebaut sein wie im in Abbildung 5.15 in lila farblich hervorgehoben ist,
Fall des Glycins, in dem R nur ein Wasserstoffatom ist. wird Polypeptidrückgrat genannt; es besteht aus Cα-
Glycin ist die einzige proteinogene Aminosäure ohne Atomen und den Peptidgruppen. An die Cα-Atome
Chiralitätszentrum, da ihr Cα zwei H-Atome bindet. Die sind die verschiedenen Seitenketten der Aminosäure-
Seitenkette kann auch zusätzliche funktionelle Gruppen reste gebunden. Die Größe der Polypeptidketten von
enthalten, wie zum Beispiel im Glutamin. Außer den Proteinen variiert von weniger als hundert Aminosäu-
proteinogenen kommen in Organismen weitere Amino- reresten bis hin zu tausend oder mehr. Jedes unter-
säuren vor, manchmal auch in Proteinen. Diese ver- scheidbare Polypeptid zeichnet sich durch seine spezi-
gleichsweise seltenen Aminosäuren sind in Abbildung fische lineare Aminosäuresequenz aus. Die chemische

105
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Natur von Polypeptiden ist durch die Art und Reihen- Konzept: Verschiedenartigkeit infolge der Sequenzvari-
Teil 1 folge ihrer Seitenketten vorgegeben. Die immense Viel- abilität von Polymeren aus relativ wenigen Monome-
falt der Proteine in der Natur illustriert ein wichtiges ren.

Unpolare Seitenketten, hydrophob

CH3 CH3 CH3


Seitenketten (R)
CH3 CH3 CH CH2
H CH3 CH CH2 H3C CH
H3N+ C C O– H3N+ C C O– H3N+ C C O– H3N+ C C O– H3N+ C C O–

H O H O H O H O H O
Glycin Alanin Valin Leucin Isoleucin
(Gly oder G) (Ala oder A) (Val oder V) (Leu oder L) (Ile oder I)

CH3

S
NH
CH2 CH2
CH2 CH2 CH2 H2C CH2

H3 N+ C C O– H3 N+ C C O– H3 N+ C C O– H2 N+ C C O–

H O H O H O H O
Methionin Phenylalanin Tryptophan Prolin
(Met oder M) (Phe oder F) (Trp oder W) (Pro oder P)

Polare Seitenketten, hydrophil

Da Cystin nur schwach polar ist,


wird es manchmal auch als un-
OH NH2 O
polare Aminosäure klassifiziert. C
NH2 O
OH SH C CH2
OH CH3
CH2 CH CH2 CH2 CH2 CH2

H3 N+ C C O– H3 N+ C C O– H3N+ C C O– H3 N+ C C O– H3 N+ C C O– H3 N+ C C O–

H O H O H O H O H O H O
Serin Threonin Cystein Tyrosin Asparagin Glutamin
(Ser oder S) (Thr oder T) (Cys oder C) (Tyr oder Y) (Asn oder N) (Gln oder Q)

Elektrisch geladene Seitenketten, hydrophil

basisch reagierend (positiv geladen)

NH2
sauer reagierend (negativ geladen) NH3+ C NH2+

O– O CH2 NH

O– O C CH2 CH2 NH+


C CH2 CH2 CH2 NH
CH2 CH2 CH2 CH2 CH2

H3N+ C C O– H3N+ C C O– H3N+ C C O– H3N+ C C O– H3N+ C C O–

H O H O H O H O H O
Asparaginsäure Glutaminsäure Lysin Arginin Histidin
(Asp oder D) (Glu oder E) (Lys oder K) (Arg oder R) (His oder H)

Abbildung 5.14: 20 proteinogene Aminosäuren. Die Aminosäuren sind anhand der chemischen Eigenschaften ihrer Seitenketten (R) angeordnet
und in der unter physiologischen Bedingungen (pH 7,2) vorherrschenden ionisierten Form dargestellt. In Klammern stehen die drei- und einbuchstabigen
Abkürzungen. Alle proteinogenen Aminosäuren sind L-Enantiomere (siehe Abbildung 4.7c ).

106
5.4 Proteine: Funktionsvielfalt durch Strukturvielfalt

CH3
der Zusammenhalt im Wesentlichen durch nichtkova-
OH Teil 1
lente Wechselwirkungen vermittelt wird, wie H-Brü-
S cken, ionische und hydrophobe Wechselwirkungen
CH2 SH
und van-der-Waals-Kräfte. Manche komplexen Proteine
weisen darüber hinaus noch eine Quartärstruktur auf,
CH2 CH2 CH2 die Zusammenlagerung mehrerer gefalteter Polypeptid-
H H H ketten aufgrund von nichtkovalenten Wechselwirkun-
gen.
H N C C N C C OH H N C C OH
Pioniere der Aminosäuresequenzanalyse waren Fre-
H O H O H O derick Sanger und seine Mitarbeiter von der Universi-
Peptidbindung tät Cambridge in England. Sie klärten in den späten
H 2O 1940er und frühen 1950er Jahren die Primärstruktur
des Peptidhormons Insulin auf. Sanger verwendete
sich neu bildende dazu Reagenzien, die die Peptidkette an bestimmten,
CH3 Peptidbindung vorhersagbaren Punkten spalteten. Diesem Schritt folgte
OH
die chemische Identifizierung der einzelnen Amino-
Seiten- S
ketten säurereste in den kurzen Bruchstücken. Nach jahre-
CH2 SH langer Arbeit konnte so die vollständige Aminosäure-
sequenz des Insulins rekonstruiert werden. Sanger als
CH2 CH2 CH2
treibende Kraft des Projekts erhielt dafür den Nobel-
H H H preis für Chemie – es sollte nicht sein einziger blei-
ben, denn gut 20 Jahre später bekam er einen zweiten
Gerüst H N C C N C C N C C OH
für seine Arbeiten zur Nucleinsäure-Sequenzierung.
H O H O H O Heute sind die meisten Schritte zur Sequenzierung
Peptid- von Polypeptiden weitgehend automatisiert. Außer-
Aminoterminus bindung Carboxyterminus dem gibt es indirekte, genetische Methoden, um Ami-
(N-Terminus) (C-Terminus)
nosäuresequenzen aus den Sequenzen der sie codieren-
Abbildung 5.15: Bildung einer Polypeptidkette. Peptidbindungen den Nucleinsäuren abzuleiten (siehe spätere Kapitel).
entstehen durch die Kondensation der Carboxylgruppe eines Aminosäure- Was kann uns die Aminosäuresequenz über die
moleküls mit der Aminogruppe eines anderen unter Wasserabspaltung.
dreidimensionale Raumstruktur (meist nur „Struktur“
Peptidbindungen bilden sich konsekutiv, beginnend am N-Terminus. Das
genannt) eines Proteins und seine Funktion verraten?
Polypeptid hat ein durchgehendes Rückgrat (lila unterlegt), von welchem
die Aminosäure-Seitenketten (gelb und grün) abzweigen.
Obwohl er im Alltag meist so verwendet wird, ist der
Begriff Polypeptid eigentlich nicht synonym mit Pro-
ZEICHENÜBUNG Markieren Sie die drei Aminosäurereste im oberen tein. Selbst bei einem Protein aus nur einer einzigen
Teil der Abbildung mit ihren drei- und einbuchstabigen Kürzeln. Identifizie- Polypeptidkette ist das Verhältnis beider Begriffe zuei-
ren Sie die Carboxyl- und Aminogruppen, die die neue Peptidbindung aus- nander etwa vergleichbar mit einem Garnfaden und
bilden werden. der daraus gewebten Textilie mit ihrer besonderen
Form und Größe. Ein funktionelles Protein ist nicht
einfach eine Polypeptidkette, sondern eine oder meh-
5.4.3 Proteinstruktur und -funktion rere Polypeptidketten, die in definierter Weise zu einem
Molekül mit einer charakteristischen Struktur gefaltet
Die spezielle Aktivität eines Proteins ergibt sich aus sind (Abbildung 5.16). Unter physiologischen Bedin-
seiner dreidimensionalen Raumstruktur, unter physio- gungen bestimmt die Aminosäuresequenz die drei-
logischen Bedingungen der Kulmination aus insge- dimensionale Struktur des Proteins.
samt vier Strukturebenen, der Primär-, Sekundär-, Ter- Wenn eine Zelle ein Polypeptid synthetisiert, faltet
tiär- und Quartärstruktur. Die einfachste Ebene, also sich die Aminosäurekette meist spontan und nimmt
die Primärstruktur, ist die Aminosäuresequenz. Infolge ihre funktionelle Konformation ein. Dieser Faltungs-
des Wasserstoffbrückenbindungspotenzials der Peptid- vorgang ist ein thermodynamisch getriebener Prozess,
gruppen und des Bestrebens hydrophober Seitenketten, der durch die Ausbildung verschiedener nichtkova-
der wässrigen Umgebung auszuweichen, faltet sich lenter intramolekularer Wechselwirkungen, die ihrer-
die Polypeptidkette in gewendelte, gestreckte oder seits von der Aminosäuresequenz abhängen, verursacht
(scheinbar) zufällige Sekundärstrukturen, die als α- und verstärkt wird. Obwohl die Faltungsanweisung in
Helices, β-Stränge oder Schleifen (engl. coils) bezeichnet der Primärstruktur codiert ist, sind am Faltungspro-
werden. Mehrere β-Stränge können sich zu sogenannten zess in der Zelle bei einigen Proteinen spezielle Hel-
β-Faltblättern zusammenlagern, wobei die Faltblatt- ferproteine, die sogenannten Chaperone, beteiligt, die
struktur auf die tetraedrische Raumstruktur der sp3-hy- den Vorgang dadurch unterstützen, dass sie die sich
bridisierten Cα-Atome zurückgeht. Diese Sekundär- faltende Kette abschirmen und so die Aggregation und
strukturelemente lagern sich in einer für jedes Protein das Ausfallen teilgefalteter Proteine infolge hydropho-
eindeutigen Weise zur Tertiärstruktur zusammen, wobei ber Effekte verhindern.

107
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Teil 1
Zielmolekül

Furche

Furche

(a) Ein Bändermodell verdeutlicht die Fal- (b) Ein Kalottenmodell lässt die globuläre Form (c) In dieser Ansicht ist die Bänderdarstellung
tung der Polypeptidkette. Die gelben dieses Proteins deutlicher hervortreten. Es einem Drahtmodell überlagert, welches das
Linien zeigen die chemische Querver- gibt die Raumstruktur der Moleküle mit der Proteinrückgrat mitsamt der Aminosäure-
netzung „Disulfidbrücke“ an, die Lage aller von außen sichtbaren Atome – seitenketten zeigt. Die gelbe Struktur ist das
Proteinstrukturen stabilisieren kann. hier von Lysozym – wieder. Zielmolekül.

Abbildung 5.16: Proteinstruktur: das Enzym Lysozym. Das in der Tränenflüssigkeit, im Speichel und im Schweiß vorkommende Lysozym ist ein
Enzym, das hilft, Infektionen zu verhindern, indem es an bestimmte Moleküle auf den Oberflächen zahlreicher Bakterien bindet und ihre Zerstörung kata-
lysiert. Die Furche ist der Teil des Proteins, der das Zielmolekül (= Substrat) in einer Bakterienzellwand erkennt und bindet.

Antikörpermolekül Protein eines Grippevirus existieren viele Varianten und Übergangsformen. Die
spezielle Struktur eines Proteinmoleküls bestimmt, wie
es funktioniert. In praktisch allen Fällen hängt die Funk-
tion eines Proteins von seiner Fähigkeit ab, ein bestimm-
tes anderes oder mehrere andere Moleküle zu erkennen
und zu binden. Ein besonders eindrückliches Beispiel
der engen Verzahnung von Form und Funktion zeigt
Abbildung 5.17, die exakte Entsprechung der Gestalt
eines Antikörpers (eines körpereigenen Proteins) und
einer bestimmten Fremdsubstanz, in diesem Fall das
Protein eines Grippevirus, das durch die Antikörperbin-
dung für die Zerstörung durch das Abwehrsystem des
Körpers kenntlich gemacht wird. Kapitel 44 behandelt
das Immunsystem und wie es Antikörper erzeugt, die
den Oberflächen bestimmter körperfremder Proteine
genau angepasst sind. Das Enzym in Abbildung 5.16 ist
Abbildung 5.17: Ein Antikörper bindet an ein Grippeviruspro- ein weiteres Beispiel für Erkennungs- und Bindungspro-
tein. Aus röntgenkristallografischen Daten wurde dieses Computermodell zesse auf molekularer Ebene. In Kapitel 2 haben wir
eines Antikörpermoleküls (blau und orange, links) errechnet, das an ein erfahren, dass natürlich vorkommende Signalmoleküle,
Grippevirusprotein gebunden hat (grün und gelb, rechts). Am Rechner las- die Endorphine, an bestimmte Rezeptorproteine in der
sen sich die beiden Moleküle leicht auseinanderschieben, wodurch ihre Plasmamembran von Neuronen des Gehirns binden und
exakt komplementären Oberflächen sichtbar werden. dadurch schmerzlindernd und euphorisierend wirken.
Morphin, Heroin und andere Opiate ahmen diese Wir-
Gefaltete Proteine können näherungsweise kugelförmig kung mehr oder minder gut nach, weil sie ähnliche
sein (globulär), aber auch langgestreckt und faserförmig Molekülgestalten haben, deshalb in die Bindungsstellen
(fibrös). Innerhalb dieser breit angelegten Kategorien der Endorphinrezeptoren im Gehirn gut hineinpassen

108
5.4 Proteine: Funktionsvielfalt durch Strukturvielfalt

Primär- Sekundär- und


Quartärstruktur Funktion Zellform der roten Blutzellen Teil 1
struktur Tertiärstrukturen

1 Val Normales Keine Assoziation der Moleküle; Normale Zellen


Hämoglobin jedes Molekül kann mit Sauerstoff sind mit freien
Normales Hämoglobin

2 His beladen werden. Hämoglobinmole-


3 Leu β külen angefüllt;
jedes kann
4 Thr α Sauerstoff binden.
5 Pro

6 Glu

7 Glu Normale 5 μm
β-Untereinheit β α

Sichelzellen- Moleküle aggregieren zu einem Die abnorm


1 Val
hämoglobin fadenförmigen Polymer; gestalteten
Sichelzellhämoglobin

2 His die Fähigkeit zum Hämoglobin-


3 Leu β Sauerstoff- aggregate
transport ist deformieren
4 Thr die Zellen zur
α stark vermin-
5 Pro dert. Sichelform.
6 Val
Sichelzellen-
7 Glu
β-Untereinheit α 5 μm
β

Abbildung 5.18: Eine einzige Aminosäuresubstitution in der β-Kette des Hämoglobins (HbS: βE6V) verursacht die Sichelzellkrankheit.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Schlagen Sie eine Erklärung für die dramatischen Auswirkungen einer Glu → Val-Substitution auf die Proteinfunk-
tion vor. Ziehen Sie dazu die chemischen Charakteristika von Valin und Glutamat (Abbildung 5.14 ) heran.

und so eine Reaktion auslösen. Diese Passform ist sehr Sichelzellenanämie: Eine Änderung in der
spezifisch (Prinzip der Komplementarität), etwa wie die Primärstruktur
zwischen Schloss und Schlüssel (siehe Abbildung 2.16). Selbst leichte Änderungen der Aminosäuresequenz
Allerdings sind Proteine – bei weitgehender Wahrung (zum Beispiel durch Mutationen) können unter Umstän-
ihrer Tertiärstruktur – dennoch flexible Moleküle, die den die Molekülgestalt und die Funktion eines Pro-
sich meistens ihren Reaktionspartnern (Liganden, Sub- teins beeinträchtigen. So wird etwa die Sichelzell-
strate usw.) etwas anpassen. Dieser Vorgang heißt krankheit (Sichelzellenanämie), eine Erbkrankheit
„induced fit“. Die Funktion eines Proteins – zum Bei- des Blutes, durch den Austausch eines einzigen Gluta-
spiel die Fähigkeit eines Rezeptorproteins zur „Identi- matrestes gegen Valin in der Primärstruktur des roten
fizierung“ und Assoziation mit einem bestimmten Blutfarbstoffs Hämoglobin verursacht. Gesunde rote
schmerzstillenden Signalmolekül – ist ein weiteres Bei- Blutkörperchen (Erythrocyten) sind scheibchenförmig
spiel für die Emergenz, die aus der komplexen molekula- mit Eindellungen an der Ober- und Unterseite. Das
ren Struktur erwächst. Hämoglobinmolekül besteht aus je zwei (nahe verwand-
ten) α- und β-Untereinheiten. Sichelzellhämoglobin
Vier Proteinstrukturebenen aggregiert zu langen Ketten, eine Folge des Austauschs
Zum umfassenden Verständnis der Funktion eines des hydrophilen Glutamatrests 6 der β-Kette gegen das
Proteins ist die Kenntnis seiner Struktur unabdingbar. hydrophobe Valin. Die mutierten Ketten können sich
Abbildung 5.19 auf den Folgeseiten beschreibt die zu Fasern zusammenlagern und dann das rote Blut-
bereits erwähnten vier Strukturebenen von Proteinen. körperchen in charakteristischer Weise sichelförmig
Es ist überaus hilfreich, sich mit diesen Zusammen- verzerren (Abbildung 5.18). Das Leben der Betroffe-
hängen genau vertraut zu machen. nen wird durch wiederkehrende „Sichelzellkrisen“
gefährdet, die auftreten, wenn das Blut sauerstoffarm
ist, die erkrankten Zellen kleinste Blutgefäße verstop-
fen und den Blutfluss zum Erliegen bringen. Die Sichel-
zellenanämie ist ein schlagendes Beispiel für die dra-
matischen Folgen, die eine minimale Änderung der
Proteinprimärstruktur in Bezug auf die Proteinfunk-
tion haben kann.

109
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Teil 1
 Abbildung 5.19: Näher betrachtet
Proteinstrukturebenen

Primärstruktur Sekundärstruktur
Durch Wasserstoffbrückenbindungen zwischen
Lineare Kette aus Aminosäureresten Atomen des Polypeptidgerüstes stabilisierte Abschnitte

H O R H O
H + H
Amino- H
N C C N C
säure- D-Helix

C N C C
reste H H
R H O R
Wasserstoff-
1 5 10 brückenbindung
E-Faltblatt
+H N Gly Pro Thr Gly Thr Gly Glu Ser Lys Cys
3 Pro
Aminoterminus E-Strang,
 oft (wie hier)
Leu als flacher Pfeil dargestellt,
Met der in Richtung des
30 25 20 15
Val
Carboxyterminus zeigt
His Val Ala Val Asn Ile Ala Pro Ser Gly Arg Val Ala Asp Leu Val Lys
Val
Wasserstoffbrücken-
Phe bindung
Arg
35 40 45 50
Lys
Ala Ala Asp Asp Thr Trp Glu Pro Phe Ala Ser Gly Lys Thr Ser Glu Ser
Gly Die meisten Proteine weisen in ihren Polypeptidketten Bereiche auf, welche
durch die Wiederholung eines Musters (zum Beispiel Faltblatt) gekennzeichnet
Glu
Primärstruktur von Transthyretin sind und zur Formbildung des Proteins beitragen. Die resultierende Form wird als
55 Leu die Sekundärstruktur des Proteins bezeichnet und durch Wasserstoffbrücken-
70 65 60 bindungen zwischen sich wiederholenden Bestandteilen des Polypeptidgerüstes
His
Ile Glu Val Lys Tyr Ile Gly Glu Val Phe Glu Glu Glu Thr Thr Leu Gly (nicht der Seitenketten der Aminosäurereste) stabilisiert. Sowohl die Sauer-
Asp stoffatome als auch die Stickstoffatome des Grundgerüstes tragen aufgrund
Thr 75 ihrer Elektronegativität negative Partialladungen (siehe Abbildung 2.14).
Wasserstoffatome von Aminogruppen, die durch die kovalente Bindung an
Lys 80 85 90 Stickstoffatome schwach positiv polarisiert sind, besitzen eine Affinität für die
Ser negativ polarisierten Sauerstoffatome von räumlich nahen Peptidbindungen.
Tyr Trp Lys Ala Leu Gly Ile Ser Pro Phe His Glu His Ala Glu Val Val
Phe Einzeln betrachtet sind diese Wasserstoffbrückenbindungen schwach; da sie
95 aber über einen relativ ausgedehnten Bereich der Polypeptidkette immer wieder
Thr
auftreten, stabilisieren sie in diesem Teil des Proteins eine bestimmte Form.
Ala Ein derartiges Sekundärstrukturelement ist die α-Helix, eine schraubenartig
115 110 105 100
Asn
verdrillte Kette, die durch Wasserstoffbrückenbindungen zwischen jedem vierten
Ser Tyr Pro Ser Leu Leu Ala Ala Ile Thr Tyr Arg Arg Pro Gly Ser Asp Aminosäurerest zusammengehalten wird (siehe Abbildung). Obwohl das
Tyr
Transthyretin nur einen α-helikalen Bereich aufweist (siehe weiter unten unter
Ser Tertiärstruktur), finden sich in anderen globulären Proteinen mehrere bis viele
Thr solcher α-helikaler Abschnitte, die durch nicht helikale Regionen voneinander
120 125 O getrennt sind. Einige Faserproteine, wie etwa α-Keratin, das Strukturprotein
Thr
Ala Val Val Thr Asn Pro Lys Glu C Carboxyterminus der Haare, sind zum größten Teil α-helikal.
O– Das andere Sekundärstrukturelement ist das β-Faltblatt. Wie an der
Formelzeichnung zu erkennen, sind bei diesem Strukturelement zwei oder mehr
Die Primärstruktur eines Proteins ist gleich seiner Aminosäure- Bereiche der Polypeptidkette Seite an Seite zueinander ausgerichtet und
sequenz. Wir wollen als Beispiel das Transthyretin betrachten, untereinander durch Wasserstoffbrücken verbunden. Die beteiligten Bereiche des
ein globuläres Protein des Blutes, das dem Transport von Peptidgerüstes können dabei parallel oder antiparallel zueinander orientiert sein.
Faltblattstrukturen bilden die Kernbereiche vieler globulärer Proteine, darunter
Vitamin A und den Schilddrüsenhormonen im Körper dient. die Seidenproteine, aus denen Spinnennetze bestehen. Das Zusammenspiel so
Jede der vier identischen Polypeptidketten, die zusammen das vieler Wasserstoffbrückenbindungen führt dazu, dass Fäden aus Spinnenseide
Transthyretin ausmachen, besteht aus 127 Aminosäureresten. eine höhere Zugfestigkeit besitzen als ein gleich schwerer Stahlfaden.
Hier ist die Aminosäuresequenz einer der Ketten gezeigt. Jede
der 127 Positionen entlang der Molekülkette wird von einer  Die Spinne sondert aus ihren Hinterleibsdrüsen Fäden aus Spinnen-
bestimmten der 20 proteinogenen Aminosäuren, hier mit seide aus. Diese bestehen aus einem Strukturprotein, das viele
β-Faltblattbereiche enthält, die die Elastizität und Stabilität des
ihrem Dreibuchstabenkürzel bezeichnet, besetzt. Die Primär-
Spinnennetzes bewirken.
struktur verhält sich wie die Buchstabenfolge eines sehr langen
Wortes. Statistisch gibt es 20127 Möglichkeiten, eine Poly-
peptidkette von 127 Aminosäureresten Länge zu erzeugen.
Die Primärstruktur eines Proteins wird nicht durch die zufällige
Verknüpfung von Aminosäuren festgelegt, sondern durch die
ihr zugrunde liegende Erbinformation.

110
5.4 Proteine: Funktionsvielfalt durch Strukturvielfalt

Teil 1

Tertiärstruktur Quartärstruktur
Dreidimensionale Gestalt zur Stabilisierung der Verbindung von zwei oder mehr
Wechselwirkungen zwischen den Seitenketten Polypeptiden (nicht bei allen Proteinen)

Transthyretin-
Tetramer
Transthyretin- (vier identische
Untereinheit Untereinheiten)

Der Sekundärstruktur gewissermaßen überlagert ist die Tertiärstruktur des Manche Proteine bestehen aus zwei oder mehr Polypeptidketten, die sich zu einem
Proteins, die in der obigen Abbildung für eine Polypeptidkette des Transthyretins einzigen funktionellen Makromolekül zusammenlagern. Ein solches multimeres
schematisch dargestellt ist. Während die Sekundärstruktur im Wesentlichen auf Protein wird durch die so genannte Quartärstruktur beschrieben. Die Monomere
Wechselwirkungen der Gerüstbestandteile beruht, versteht man unter der werden nur durch nicht kovalente Wechselwirkungen zusammengehalten. Als
Tertiärstruktur eines Proteins die gesamte Raumstruktur einer Polypeptidkette, Beispiel ist das vollständige, globuläre Transthyretinmolekül in seinem Umriss oben
die sich durch die Wechselwirkung aller Seitenketten (–R) der verschiedenen dargestellt, das aus vier Polypeptiden (Untereinheiten) besteht. Ein anderes Beispiel
beteiligten Aminosäurereste ergibt. Dabei spielen sowohl nicht kovalente ist das unten dargestellte Faserprotein Collagen. Seine helikalen Untereinheiten sind
(hydrophobe Wechselwirkungen, Wasserstoffbrückenbindungen, ionische und zu einer langgestreckten Tripelhelix umeinander gewunden, was den langen Fasern
van-der-Waals-Wechselwirkungen) als auch kovalente Wechselwirkungen eine eine große Festigkeit verleiht. Das ist der Grund, warum Collagenfasern als
Rolle. Der Begriff hydrophobe Wechselwirkung beschreibt das Phänomen, dass Zugelemente im Bindegewebe von Haut, Knochen, Sehnen und Bändern (Liga-
es energetisch günstig ist, wenn sich unpolare (hydrophobe) Gruppen zusammen- menten) und anderen Körperteilen weit verbreitet sind (Collagen macht 40 Prozent
lagern und damit die Gesamtkontaktfläche zum polaren Lösungsmittel verringern. des Proteins im menschlichen Körper aus).
Dadurch wird die geordnete Solvathülle aus Wasser kleiner, das Volumen für die
ungeordnete Bewegung von Wasser aber größer. Insgesamt handelt es sich also
um einen entropischen Effekt, der bei der Faltung einer Polypeptidkette in ihre
funktionelle Konfiguration dazu führt, dass sich Aminosäurereste mit hydrophoben
(unpolaren) Seitenketten vorwiegend in das Innere des Proteins, weg vom Kollagen
umgebenden Wasser, orientieren. (Hydrophobe Wechselwirkungen spielen auch
bei der Ausbildung von Lipid-Membranen eine Rolle.)
Wenn die nicht polaren Aminosäureseitenketten sich einander annähern, führen
schwache van-der-Waals-Kräfte zusätzlich zu weiteren – anziehenden –
Wechselwirkungen. Zudem sorgen Wasserstoffbrückenbindungen zwischen Hämoglobin, das Sauerstoffbindungsprotein der roten Blutzellen, ist ein weiteres
polaren Seitenketten und Ionenbindungen zwischen ungleichnamig geladenen Beispiel für ein globuläres Protein mit Quartärstruktur. Es besteht aus vier Unter-
Seitenketten für die Stabilisierung der Tertiärstruktur (beziehungsweise führen einheiten, je zwei desselben Typs, die als α-Globin und als β-Globin bezeichnet
dazu, dass das Molekül eine energiearme Konformation einnimmt). Auch wenn werden. Sowohl die α- wie die β-Untereinheiten des Hämoglobins zeigen primär
die nicht kovalenten Wechselwirkungen an sich schwach sind, führt ihre kumu- eine α-helikale Sekundärstruktur. Jede Untereinheit
lative Wirkung dazu, dass das Protein eine charakteristische Struktur annimmt. enthält eine Nichtpeptidkomponente, das
Die Molekülgestalt eines Proteins kann durch kovalente Bindungen, die man als Häm. Das Häm besitzt ein Eisenion im
Disulfidbrücken bezeichnet, noch weiter strukturell verstärkt werden. Disulfid- Zentrum, an welches das Sauerstoff-
brücken können sich zwischen zwei Cysteinresten ausbilden, wenn diese bei der molekül gebunden wird.
Faltung der Polypeptidkette in räumliche Nähe geraten (Cystein besitzt als funktio-
nelle Gruppe in der Seitenkette eine Sulfhydrylgruppe, –SH; siehe Abbildung 4.9).
Das Schwefelatom eines Cysteinrestes bildet mit dem des anderen eine kovalente
Bindung (–S–S–), die als Disulfidbrücke bezeichnet wird und Teile des Proteins
starr miteinander verbindet (gelbe Linien in Abbildung 5.16a). Häm
All diese verschiedenen Bindungstypen können in ein und demselben Protein
Eisenion
auftreten, wie es hier unten für einen kleinen Teil eines hypothetischen Proteins
schematisch dargestellt ist. E-Unter-
einheit

D-Unter-
CH2
einheit
OH Wasserstoff- CH
NH2 O brücken- CH3 CH3
C bindung CH3 CH3
hydrophobe
CH2 Wechselwirkungen D-Unter-
CH
und van-der-Waals- einheit
CH2 Wechselwirkungen
CH2
Disulfid- C
S O O–
brücke E-Unter-
S NH3+ einheit
Ionenbindung Hämoglobin
CH2 CH2
CH2
CH2
CH2
Polypeptidgerüst

111
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Welche Faktoren bestimmen die Proteinstruktur? bildung der spezifischen Molekülgestalt, das heißt die
Teil 1 Die charakteristische Gestalt verleiht jedem Protein seine Faltungsanweisung für die native Proteinstruktur, eine
spezielle Funktionalität. Doch was sind die entscheiden- intrinsische Eigenschaft der Proteinprimärstruktur. Die
den strukturbestimmenden Faktoren? Eine Polypeptid- Aminosäuresequenz bestimmt, wo sich (unter physio-
kette mit einer gegebenen Aminosäuresequenz faltet sich logischen Bedingungen!) eine α-Helix bildet, wo ein β-
spontan in eine 3D-Raumstruktur, die durch nichtkova- Strang, wo Disulfidbrücken geschlossen werden, wo
lente Wechselwirkungen stabilisiert wird. Diese Faltung Coulomb-Wechselwirkungen (ionische Bindungen) auf-
vollzieht sich meist schon während der Synthese des treten. Es fragt sich, wie die Proteinfaltung in der Zelle
Proteins in der Zelle (cotranslational) und sie kann abläuft.
durch andere Proteine befördert werden. Die Struktur
eines Proteins hängt entscheidend von den physikali- Proteinfaltung in der Zelle
schen und chemischen Umgebungsfaktoren ab. Der pH- Man kennt heute die Aminosäuresequenzen von
Wert, die Ionenstärke (Salzkonzentration) der Lösung, mehr als 24 Millionen Proteinen. Monatlich kommt
die Temperatur sowie weitere Umgebungsparameter etwa eine Million dazu. Die 3D-Strukturen von mehr
sind wesentlich. Werden sie geändert, verliert das Pro- als 25.000 Proteinen sind ebenfalls bekannt. Insofern
tein seine unter diesen (physiologischen) Bedingungen sollte es relativ leicht sein, die Primärstrukturen von
native (funktionelle) Form, ein Vorgang, der als Denatu- Proteinen mit ihren Tertiärstrukturen in Beziehung zu
rierung bezeichnet wird (Abbildung 5.20). Ohne ihre setzen und daraus Regeln für den Faltungsvorgang abzu-
native Struktur sind Proteine denaturiert und biologisch leiten. Leider ist eben dieser Prozess aber alles andere als
inaktiv. einfach. Die meisten Proteine durchlaufen mehrere
Zwischenzustände auf ihrem Weg zu einer stabilen
naturierung
Struktur und das Betrachten des nativen Endzustands
De enthüllt den Weg dorthin nicht. In der Thermodynamik
zählen nur Ausgangs- und Endzustand, der Streckenver-
lauf von A nach B ist unerheblich und lässt sich nicht
ohne Weiteres rekonstruieren.
Sogenannte Faltungshelferproteine (engl. chaperone
Re proteins, chaperonins) unterstützen andere Proteine
normales na t g denaturiertes
(natives) Protein urierun Protein beim Erlangen ihrer korrekten Faltung (Abbildung
5.21). Faltungshelfer bestimmen nicht die endgültige
Abbildung 5.20: Denaturierung und Renaturierung eines Pro-
teins. Hohe Temperatur oder bestimmte Chemikalien führen zur Denatu-
Struktur eines Polypeptids. Sie schirmen vielmehr ein
rierung von Proteinen. Der Verlust der typischen Molekülgestalt resultiert neu entstandenes Polypeptid von Einflüssen ab, die die
in einem Funktionsverlust. Falls das denaturierte Protein gelöst bleibt und spontan erfolgende Faltung behindern könnten. Tatsäch-
nicht ausfällt, kann es in manchen Fällen renaturieren, wenn es zurück in lich kann eine Polypeptidkette bei ihrer Faltung leicht in
seine native, physiologische Umgebung versetzt wird. viele Sackgassen geraten, aus denen sie von sich aus
nicht wieder herausfindet. Die Zahl der Sackgassen ist
Viele Proteine werden denaturiert, wenn sie aus einer dabei unter Umständen viel größer als die Zahl der kor-
wässrigen Umgebung in ein hydrophobes Lösungsmittel rekten Faltungswege. Der Chaperon-Komplex des Bakte-
wie Ether oder Chloroform überführt werden. Die Poly- riums Escherichia coli in Abbildung 5.21 ist ein großer,
peptidkette faltet sich dann so um, dass die hydropho- hohlzylindrischer Multiproteinkomplex. Der Hohlraum
ben Bereiche in Kontakt mit dem Lösungsmittel treten. im Inneren bietet dem sich faltenden Polypeptid eine
Andere denaturierende Reagenzien lösen Wasserstoff- geschützte Umgebung. So wird der Faltungsprozess in
brückenbindungen oder ionische Wechselwirkungen. die richtige Bahn gelenkt. Das Faltungsergebnis wird auf
Säuren und Basen wirken unter anderem denaturierend Korrektheit überprüft, gegebenenfalls wird eine Umfal-
durch Protolysereaktionen. Denaturierend wirkt auch tung der fehlgefalteten Proteine eingeleitet oder sie wer-
Hitze, die die Polypeptidkette derart in thermische den für die Zerstörung durch andere Effektorsysteme
Schwingungen versetzt, dass die Faltung kollabiert, markiert und dann neu synthetisiert.
weil die stabilisierenden schwachen Wechselwirkun- Fehlgefaltete Proteine können für die Zelle ein erns-
gen überwunden werden. Eiweiß wird beim Kochen tes Problem darstellen. Alzheimer, Parkinson und Rin-
undurchsichtig und fest, weil die Proteine denaturieren, derwahn gehen mit einer Anreicherung fehlgefalteter
unlöslich werden (präzipitieren) und sich verfestigen. Proteine einher oder werden davon ausgelöst. Fehl-
Wie viel Hitze ein Protein verträgt, ist von Fall zu Fall gefaltetes Transthyretin (Abbildung 5.19) spielt bei meh-
unterschiedlich. Die meisten Proteine denaturieren aber reren Krankheiten eine Rolle, unter anderem bei der
bei Temperaturen deutlich unter 100 °C. Altersdemenz.
Wenn ein gelöstes Protein durch Hitze oder Chemika- Selbst wenn ein korrekt gefaltetes Protein vorliegt,
lien denaturiert wurde, kann es mitunter in seine funkti- ist die Bestimmung der genauen Molekülstruktur ein
onelle Konformation zurückkehren (renaturieren), wenn schwieriges Unterfangen. Die Raumstruktur des Myoglo-
das Denaturierungsmittel entfernt wird. Schlichtes bins und des mit ihm verwandten Hämoglobins wurde
Abkühlen reicht dazu jedoch nicht aus: Ein gekochtes bereits 1959 durch Perutz und Kendrew in Cambridge
Ei wird sicher nicht wieder flüssig, wenn man es in den (England) nach jahrzehntelanger Arbeit aufgeklärt, lange
Kühlschrank legt. Offenbar ist die Information zur Aus- bevor leistungsfähige Computer zur Verfügung standen,

112
5.4 Proteine: Funktionsvielfalt durch Strukturvielfalt

und 1962 mit dem Nobelpreis für Chemie gewürdigt. Die mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Roger
Methode, die dafür benutzt und weiterentwickelt wurde, Kornberg und seine Mitarbeiter (Stanford/Kalifornien) Teil 1
war die Röntgenstrukturanalyse, ein kristallographi- haben diese (mittlerweile Standard-) Technik für die
sches Verfahren, mit dem seither die Raumstrukturen Strukturaufklärung der RNA-Polymerase verwendet.
zahlreicher anderer Proteine im kristallinen Zustand Dieses Enzym spielt eine entscheidende Rolle bei der
beschrieben wurden. Die Technik wurde von William Genexpression (Abbildung 5.22). Eine weitere häufig
Henry und William Lawrence Bragg (Vater und Sohn) verwendete Methode ist die in Zürich von Kurt Wüth-
bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Cambridge rich und Mitarbeitern entwickelte Kernmagnetresonanz-
(England) in ihren Grundzügen entwickelt, allerdings spektroskopie (NMR-Spektroskopie), mit der nicht zu
ohne die Anwendung auf Makromoleküle, und 1915 große Proteine (∼30–40 kDa) in Lösung untersucht wer-

Polypeptid korrekt gefaltetes Protein


Kappe

Hohl-
zylinder

Chaperon Schritte der Chaperonwirkung:


(vollständig 1 Ein ungefaltetes 2 Die Kappe assoziiert, wodurch der 3 Die Kappe löst sich
zusammengelagert) Polypeptid tritt von Zylinder seine Gestalt so verändert, dass ab und das korrekt
einem Ende her in eine hydrophile Umgebung für die Fal- gefaltete Protein
den Zylinder ein. tung der Polypeptidkette entsteht. wird freigesetzt.

Abbildung 5.21: Funktion und Wirkung eines Chaperons. Die Computergrafik links im Bild zeigt einen großen Chaperon-Proteinkomplex aus
dem Bakterium Escherichia coli . Dieser besitzt einen Hohlraum, der eine geschützte Umgebung für die Faltung neu entstandener Polypeptidketten bietet.
Der Komplex besteht aus zwei Proteinen: Eines bildet den Hohlzylinder, das andere eine Kappe, die auf jedes Ende passt.

 Abbildung 5.22: Aus der Forschung

Was kann uns die 3D-Struktur der RNA- ermittelten Aminosäuresequenz erstellten Kornberg
Polymerase über ihre Funktion verraten? und seine Kollegen mithilfe von Computerprogram-
Experiment 2006 bekam Roger Kornberg den men ein dreidimensionales Strukturmodell des Mole-
Nobelpreis für Chemie für die Aufklärung der külkomplexes.
Struktur des „Kernstücks“ der RNA-Polymerase II,
RNA-
einem Enzym, das an die DNA-Doppelhelix bindet Polymerase II
und RNA synthetisiert. Nach der Kristallisation (Elongations-
des vollständigen Proteinkomplexes aus drei komplex) DNA
Untereinheiten durchleuchteten Kornberg und
seine Kollegen den Kristall mit Röntgenstrahlen. RNA
Die Atome im Kristall beugten die durchgehenden
Röntgenstrahlen zu einem regelmäßigen Muster,
das von einem digitalen Detektor als Muster von
Flecken aufgenommen wurde, dem sogenannten
Röntgenbeugungsbild des Proteinkomplexes.

Röntgen- gestreute Schlussfolgerung Aus der Analyse ihres Modells


strahlen- Röntgen- entwickelten die Forscher eine Hypothese zur
quelle strahlen Funktion der drei unterscheidbaren Bereiche der
RNA-Polymerase II. So soll etwa der Bereich ober-
Röntgen-
strahl halb der DNA in der Computergrafik als Klemme
wirken, der die Nucleinsäuren an ihrem Platz fest-
Kristall digitaler Röntgen- hält. (In Kapitel 17 werden Sie mehr über die RNA-
Detektor beugungsbild Polymerase erfahren.)

Ergebnis Aus den Daten des gewonnenen Rönt- Quelle: A. L. Gnatt et al., Structural basis of transcription: an RNA
genbeugungsmusters (Verteilung und Intensität der polymerase II elongation complex at 3.3 Å, Science 292:1876–1882
Reflexe) sowie aus der durch chemische Analyse (2001). Computergraphik © 2001 by AAAS. Mit Erlaubnis abgedruckt.

113
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

den können. Das Verfahren erfordert keine vorherige, oft wesen in die Lage, ihre komplexen Bestandteile von
Teil 1 sehr schwierige, Kristallisation und wurde ebenfalls mit einer Generation an die nächste weiterzugeben. Als ein-
einem Nobelpreis ausgezeichnet (2002). In jüngerer Zeit zige bekannte Molekülart enthält die DNA die Anwei-
gelang auch die rechnergestützte Rekonstruktion dreidi- sung für ihre eigene Vervielfältigung. Die DNA dirigiert
mensionaler Strukturen von Einzelpartikeln aus elektro- außerdem die Synthese der RNA und steuert so die Pro-
nenmikroskopischen Aufnahmen. Noch neuere Ansätze teinbiosynthese, ein Prozess, der Genexpression heißt
stützen sich auf die Bioinformatik (Konzept 5.6), wo mit- (Abbildung 5.23).
hilfe von computerberechneten Modellstrukturen ver-
sucht wird, die Molekülstrukturen von Polypeptiden aus DNA
ihren Aminosäuresequenzen abzuleiten.
Die Röntgenkristallografie, die NMR-Spektroskopie,
die Elektronenmikroskopie und die Bioinformatik sind
1 Synthese
sich gegenseitig ergänzende methodische Ansätze von mRNA
zur Aufklärung von Proteinstrukturen. Sie alle tragen im Zellkern mRNA
wesentlich zur Einsicht in die Funktion zahlreicher Pro-
teine bei.

Zellkern
 Wiederholungsfragen 5.4 Cytoplasma

1. Welche Teile einer Polypeptidkette sind an der mRNA


2 Transport der
Ausbildung derjenigen Bindungen beteiligt, die mRNA durch die
die Sekundärstrukturelemente zusammenhal- Kernporen in Ribosom
ten? Welche an der Ausbildung der Tertiärstruk- das Cytoplasma
tur?
2. Im vorliegenden Kapitel werden die griechi- 3 Proteinbio-
synthese
schen Buchstaben alpha (α) und beta (β) benutzt,
um drei unterschiedliche Paare von bestimmten
Strukturen zu bezeichnen. Beschreiben Sie diese Polypeptid Aminosäuren
kurz.
Abbildung 5.23: Genexpression: DNA → RNA → Protein. In einer
3. WAS WÄRE, WENN? Wo würden Sie in einem ge- eukaryontischen Zelle diktiert die DNA im Zellkern die Proteinbiosynthese im
falteten Polypeptid Regionen mit vielen Resten Cytoplasma durch die Anweisung zur Synthese von Boten-RNA (mRNA).
V, L und I vermuten? Begründen Sie Ihre Ant-
wort. Die DNA ist das Genmaterial, das ein Lebewesen von
seinen Eltern erbt. Jedes Chromosom enthält ein einzi-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. ges langes DNA-Molekül, auf dem viele Hundert Gene
lokalisiert sein können. Wenn sich eine Zelle durch
Teilung vermehrt, werden zuvor die DNA-Moleküle
kopiert und von einer Zellgeneration an die nächste
Nucleinsäuren speichern, weitergegeben. In der DNA-Struktur ist die Information
codiert, die alle Aktivitäten der Zelle vorgibt. Die DNA
übertragen und verwerten selbst ist jedoch nicht unmittelbar am Betrieb der Zelle
Erbinformation
5.5 beteiligt, ebenso wenig wie ein Computerprogramm
allein einen Kontoauszug drucken oder den Strichcode
auf einer Lebensmittelverpackung lesen kann. Genauso
Wenn die Primärstruktur letztlich die 3D-Struktur wie ein Drucker zur Erstellung des Kontoauszuges und
eines Proteinmoleküls festlegt – was bestimmt dann ein Lesegerät für den Strichcode notwendig sind, sind
die Primärstruktur? Die Aminosäuresequenzen von in einer Zelle Proteine notwendig, um die Anweisun-
Polypeptiden werden durch die Basensequenz in Ver- gen des genetischen Programms umzusetzen. Die
erbungseinheiten festgelegt, die als Gene bezeichnet Maschinen und Werkzeuge der Zelle zur Ausführung
werden. Gene bestehen in den meisten Organismen der biologischen Funktionen bestehen zum größten Teil
aus DNA (in manchen Viren auch aus RNA), einem aus Proteinen. Das Medium für den Sauerstofftransport
Polymer aus der Verbindungsklasse der Nucleinsäu- durch das Blut beispielsweise ist das Protein Hämoglo-
ren. Die Monomere sind die sogenannten Nucleotide. bin (Abbildung 5.17), nicht die DNA, die den Aufbau
des Hämoglobins spezifiziert.
Wie passt die RNA – der andere Nucleinsäuretypus –
5.5.1 Aufgaben von Nucleinsäuren in den genetischen Ablaufplan, der von der DNA zum
Protein führt? Jedes Gen auf der DNA steuert die Syn-
Die beiden Nucleinsäuretypen Desoxyribonucleinsäure these eines Typs von RNA, der Boten-RNA genannt
(DNA) und Ribonucleinsäure (RNA) versetzen Lebe- wird (mRNA, von engl. messenger RNA). Die mRNA-

114
5.5 Nucleinsäuren speichern, übertragen und verwerten Erbinformation

Moleküle wechselwirken mit der Proteinsynthesema- (Abbildung 5.24a). Die Monomere sind die Nucleo-
schinerie der Zelle, um die Produktion eines bestimm- tide. Ein Nucleotid besteht aus drei Komponenten: Teil 1
ten, durch die mRNA codierten Polypeptids zu steuern. einem stickstoffhaltigen, heterozyklischen Molekül-
Wir können den Fluss der Erbinformation demnach fol- teil, der Nucleinbase (auch Stickstoffbase genannt),
gendermaßen zusammenfassen: DNA → RNA → Protein einem Zuckerrest mit fünf C-Atomen (Ribose oder
(Abbildung 5.23). Die Proteinbiosynthese erfolgt durch Desoxyribose) sowie einem Phosphorsäurerest („Phos-
winzige, aber komplexe Strukturen, die Ribosomen. In phatgruppe“; Abbildung 5.24b). Der Verbund aus
eukaryontischen Zellen befinden sich die meisten Ribo- Base und Zucker ohne Phosphatgruppe wird als
somen im Cytoplasma, die DNA im Zellkern. Boten- Nucleosid bezeichnet.
RNA-Moleküle überbringen die genetischen Anweisun-
gen zur Proteinsynthese aus dem Zellkern ins Cyto- Nucleotid-Monomere
plasma, wo sie von den Ribosomen abgelesen und Wir wollen zunächst die Nucleinbasen in Augen-
umgesetzt werden. Prokaryontische Zellen haben kei- schein nehmen (Abbildung 5.24c). Man unterschei-
nen Zellkern, verwenden aber auch RNA zur Über- det zwei Gruppen mit einem oder zwei Ringsystemen,
mittlung der Erbinformation an die Ribosomen, die die sich vom Pyrimidin oder vom Purin ableiten. Die
die codierte Information gemeinsam mit weiteren Zell- Stickstoffatome verfügen über je ein freies Elektronen-
komponenten in Aminosäuresequenzen übersetzen. paar; Pyrimidin und Purin sind daher an ihren Stick-
RNA kommt in der Zelle nicht nur als mRNA vor, son- stoffatomen protonierbare Basen. Das Pyrimidin ist
dern auch in anderen Erscheinungsformen, die mehrere ein sechsgliedriger Heterozyklus aus Kohlenstoff- und
weitere wichtige Aufgaben im Zellgeschehen erfüllen. Stickstoffatomen. Die drei Nucleinbasen Cytosin (C),
In Kapitel 18 werden Sie mehr darüber erfahren. Thymin (T) und Uracil (U) sind Abkömmlinge des
Pyrimidins. Die beiden vom Purinmolekül abgeleite-
ten Nucleinbasen Adenin (A) und Guanin (G) sind
5.5.2 Bestandteile von Nucleinsäuren bizyklisch mit kondensierten sechs- und fünfgliedri-
gen Ringen. Die einzelnen Pyrimidin- und Purinbasen
Nucleinsäuren sind Makromoleküle, wegen ihrer unterscheiden sich durch ihre Ringsubstituenten.
Polymerstruktur auch als Polynucleotide bezeichnet Adenin, Guanin und Cytosin finden sich sowohl in

5′-Ende stickstoffhaltige Basen


Pyrimidinderivate
NH2 O O
5′-C O
C C CH3 C
N CH HN C HN CH
3′-C
C CH C CH C CH
O N O N O N
Nucleosid H H H
O
stickstoffhaltige Cytosin (C) Thymin Uracil
Basen (T, in DNA) (U, in RNA)

Purinderivate
O 5′-C NH2 O
O
–O P O CH2
O N C N C
C N C NH
O– HC HC
N C CH N C C
Phosphatrest 3′-C N N NH2
Zuckerrest H H
5′-C O (Pentose) Adenin (A) Guanin (G)

3′-C (b) Nucleotid


Zucker
OH 5′ 5′
3′-Ende HOCH2
O
OH HOCH2
O
OH
(a) Polynucleotid (= Nucleinsäure) 4′ H H 1′ 4′ H H 1′

H H H H
3′ 2′ 3′ 2′
OH H OH OH

Desoxyribose (in DNA) Ribose (in RNA)

(c) Nucleosidbestandteile
Abbildung 5.24: Bestandteile von Nucleinsäuremolekülen. (a) Polynucleotide bestehen aus einer Zucker-Phosphat-Kette und stickstoffhaltigen
Nucleinbasen, die an die Zuckerreste des Polynucleotidrückgrats gebunden sind. (b) Ein einzelnes Nucleotid enthält eine Nucleinbase, die an einen Zucker
gebunden ist, und einen Phosphorsäurerest. Das Gebilde aus Base und Zucker ohne den Phosphorsäurerest heißt Nucleosid. Beachten Sie, dass die Kohlen-
stoffnummern des Zuckers Striche enthalten (′). (c) Ein Nucleosid besteht aus einer stickstoffhaltigen Nucleinbase (einem Purin- oder Pyrimidinderivat) und
einer Pentose (Desoxyribose oder Ribose).

115
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

der DNA als auch in der RNA, Thymin hingegen ist 5.5.3 DNA- und RNA-Strukturen
Teil 1 DNA-spezifisch und Uracil RNA-spezifisch.
Die Nucleinbasen sind kovalent mit Zuckerresten ver- Die RNA-Moleküle von Zellen bestehen ganz überwie-
knüpft. Im Fall der RNA sind dies Ribosylreste (abgelei- gend aus einzelnen Polynucleotidketten. Im Gegensatz
tet vom Zucker Ribose), im Fall der DNA Desoxyribosyl- dazu bestehen die DNA-Moleküle der Zelle aus zwei
reste (abgeleitet von der Desoxyribose; Abbildung 5.24c). Polynucleotidketten, die wendelförmig (wie eine Spi-
Der einzige Unterschied zwischen der Ribose und der rale) um eine gedachte gemeinsame Achse verlaufen.
Desoxyribose besteht darin, dass letzterer das Sauer- Diese Anordnung wird als Doppelhelix (= Doppelwen-
stoffatom am C-2 fehlt; anstelle der OH-Gruppe ist hier del) bezeichnet (Abbildung 5.25a). James Watson
nur ein H-Atom gebunden. Zur eindeutigen Zuordnung und Francis Crick an der Universität von Cambridge
der Zucker-Kohlenstoffatome werden sie durchnumme- (England) sowie Maurice Wilkins haben die Doppel-
riert und mit einem Strich (′) versehen. Das 2′-C-Atom ist helixstruktur der DNA 1953 entdeckt und dafür 1962
das C-Atom der Desoxyribose, dem die OH-Gruppe fehlt. den Nobelpreis für Physiologie bekommen. Die bei-
Das nicht an der Ringbildung des Zuckers beteiligte Koh- den Zucker-Phosphat-Gerüste der Stränge verlaufen
lenstoffatom ist das 5′-C-Atom. gegenläufig zueinander. Das 5′-Ende des einen Molekül-
Bislang haben wir ein Nucleosid betrachtet. Für ein strangs liegt also am 3′-Ende des anderen. Diese Anord-
Nucleotid wird die OH-Gruppe des 5′-C-Atoms der nung der Molekülketten in der Doppelhelix ist antipa-
Ribose oder Desoxyribose mit Phosphorsäure verestert rallel, vergleichbar den Fahrbahnen einer Autobahn. Die
(Ester entstehen aus Säuren und alkoholischen Hydro- Zucker-Phosphat-Gerüste liegen auf der Außenseite der
xylgruppen unter Wasserabspaltung, Abbildung 5.24b). Helix, die Nucleinbasen liegen im Inneren der Wendel
Das resultierende Molekül ist ein Nucleosidmono- und weisen aufeinander zu. Die beiden Polynucleotid-
phosphat. Der Begriff Nucleotid kann sich sowohl nur ketten werden durch Wasserstoffbrückenbindungen zwi-
auf die Monophosphate als auch allgemeiner auf alle schen den paarweise angeordneten („gepaarten“) Basen
drei Varianten beziehen: Mono-, Di- und Triphosphate. zusammengehalten (Abbildung 5.25a). Die Struktur wird
außerdem durch van-der-Waals-Wechselwirkungen zwi-
Nucleotidpolymere (Polynucleotide) schen den übereinanderliegenden Basen stabilisiert. Die
Nucleotide werden durch Phosphodiesterbindungen zu meisten DNA-Moleküle sind sehr lang und umfassen
Polynucleotiden verbunden. Die Reaktion ist eine Dehy- Tausende bis Millionen von Basenpaaren, die die beiden
dratation, auf die wir in Kapitel 16 noch zurückkom- Molekülketten verbinden. Ein einzelnes, langes DNA-
men werden. Folglich verknüpft ein einziger Phospho- Molekül kann viele Gene beinhalten. Dabei beansprucht
rylrest jeweils zwei Zuckerreste von zwei Nucleosiden jedes Gen einen bestimmten Abschnitt des Moleküls.
über Esterbindungen, wobei die Orthophosphorsäure Nur bestimmte Basenpaarungen sind kompatibel.
die Säurefunktion und die 5′- beziehungsweise 3′-OH- Adenin (A) in einem Strang paart sich immer mit Thy-
Gruppen der (Desoxy-)Ribose die Hydroxyl (Alkohol-)- min (T) im anderen Strang, Guanin (G) paart sich
funktion beisteuern. Aus der Wiederholung resultiert immer mit Cytosin (C). Liest man die Sequenz der
die regelmäßige, über die ganze Länge des Moleküls ver- Basen eines Strangs, erfährt man damit indirekt immer
laufende Zucker-Phosphat-Kette (Abbildung 5.24a). Die gleichzeitig auch die Sequenz des anderen, des Gegen-
Polymerkette hat ein 5′-Ende mit einem freien Phosphat strangs. Hat ein Strang die Basenfolge 5′-AGGTCCG-3′,
am 5′-C-Atom des „ersten“ Zuckerrestes und ein 3′- dann folgt aus den Basenpaarungsregeln zwingend,
Ende mit einer freien Hydroxylgruppe am 3′-C des „letz- dass die Sequenz des Gegenstranges 5′-CGGACCT-3′
ten“ Zuckerrestes. Ein Nucleinsäurestrang besitzt also ist. Man sagt, die beiden Stränge des DNA-Moleküls
einen Richtungssinn, der konventionsgemäß in 5′→3′- sind komplementär zueinander, jeder ist das vorher-
Richtung angegeben und gelesen wird, wie bei seiner sagbare Gegenstück des anderen. Diese Anordnung
Biosynthese. Entlang dieses Zucker-Phosphat-Rück- hat Konsequenzen für die präzise Verdopplung der
grats sind über die gesamte Länge etwa rechtwinklig Gene, die Replikation, als Grundlage der Vererbung.
zur Längsachse die Nucleinbasen gebunden. Im Rahmen einer Zellteilung dient jeder DNA-Einzel-
Die Basensequenz eines DNA- oder (m)RNA-Mole- strang als Matrize für die Nucleotidsequenz des neuen
küls ist die entscheidende genetische Information für komplementären Stranges. Das Ergebnis sind zwei
die Zelle. Mit Hunderten bis Tausenden von Nucleo- identische Kopien des ursprünglichen doppelsträngi-
tiden pro Gen ist die Zahl der möglichen Basensequen- gen DNA-Moleküls, die auf die Tochterzellen verteilt
zen praktisch unbegrenzt. Die Bedeutung eines Gens werden. Die Struktur der DNA trägt daher ihrer Funk-
für die Zelle liegt in der spezifischen Abfolge der vier tion für die Weitergabe der Erbinformation bei jeder
DNA-Basen. So bedeutet die Sequenz 5′-AGGTAACTT-3′ Zellteilung Rechnung.
etwas anderes als die Sequenz 5′-CGCTTTAAC-3′. RNA-Moleküle sind im Gegensatz zur DNA einzel-
(Vollständige Gene sind natürlich viel länger.) Die strängig. Allerdings kann eine komplementäre Basen-
Basensequenz eines codierenden Genabschnitts spezifi- paarung zwischen Abschnitten zweier RNA-Moleküle
ziert eine Aminosäuresequenz – also die Primärstruktur oder sogar zwischen zwei Bereichen ein und desselben
– eines Proteins. Diese legt ihrerseits die Raumstruktur RNA-Moleküls erfolgen. Die Basenpaarung in einem
und damit die Funktion des Proteins in der Zelle oder einzigen RNA-Molekül ist für die besondere 3D-Struk-
im Organismus fest. tur verantwortlich, die für seine Funktion erforderlich
ist. So liefert die sogenannte Transfer-RNA (tRNA) die

116
5.6 Biologie im Wandel durch Genomik und Proteomik

5′- 3′-
Ende Ende Zucker-Phosphat- Teil 1
Gerüst
Wasserstoffbrücken-
bindungen

T A

Basenpaar (durch Wasser-


G C
stoffbrückenbindungen
verknüpft)
C G
A T
C G G
G C
U C
A
T A

3′- 5′- Basenpaar (durch Wasserstoff-


Ende Ende brückenbindungen verknüpft)
(a) DNA (b) tRNA
Abbildung 5.25: Die Strukturen von DNA- und tRNA-Molekülen. (a) Das DNA-Molekül ist normalerweise dop-
pelsträngig mit dem Zucker-Phosphat-Rückgrat der antiparallel verlaufenden Polynucleotidketten (hier durch blaue Bän-
der dargestellt) auf der Außenseite der Helix. Die beiden Stränge werden durch Wasserstoffbrücken zwischen komplemen-
tären Nucleinbasenpaaren zusammengehalten. Wie hier anhand von Symbolen für die Basen dargestellt ist, paart sich
Adenin (A) nur mit Thymin (T) und Guanin (G) nur mit Cytosin (C). Wenn sich eine Zelle zu teilen beginnt, trennen sich die
beiden Stränge der Doppelhelix und jeder dient als Matrize für die präzise Reihenfolge der Basen in dem neuen, komple-
mentären Strang (orange). Jeder DNA-Strang in dieser Abbildung ist das strukturelle Äquivalent des in Abbildung 5.24a
schematisch dargestellten Polynucleotids. (b) Ein tRNA-Molekül ist etwa L-förmig, bedingt durch die komplementäre
Basenpaarung antiparalleler RNA-Abschnitte. In der RNA paart sich Adenin (A) mit Uracil (U).

einzelnen Aminosäuren bei der Proteinsynthese zum Biologie im Wandel durch


Ribosom. Ein tRNA-Molekül besteht aus ungefähr 80
Nucleotiden. Die funktionelle tRNA-Struktur resultiert
aus einer Basenpaarung zwischen Nucleotidabschnit-
Genomik und Proteomik
5.6
ten, in denen komplementäre Sequenzen antiparallel
zueinander verlaufen (Abbildung 5.25b). Die Rolle der DNA als Trägerin der Erbinformation
Man beachte, dass sich in der RNA Adenin (A) mit wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch
Uracil (U) paart; Thymin (T) kommt in RNA nicht vor. experimentelle Ansätze etabliert. Die genetische Infor-
Ein anderer Unterschied besteht darin, dass DNA prak- mation wird von Generation zu Generation vererbt
tisch immer als Doppelhelix existiert, während RNA- und sichert das Funktionieren von lebenden Zellen
Moleküle variabler in ihrer Struktur sind. RNA ist sehr und Organismen. Nachdem die DNA-Struktur 1953
vielseitig und könnte sogar der DNA als Erbinforma- beschrieben worden war und der Zusammenhang zwi-
tionsträger vorausgegangen sein (siehe Konzept 25.1). schen einer linearen Basensequenz und der Amino-
säuresequenz eines Proteins, das heißt der genetische
Code, entschlüsselt wurde, rückte die Bestimmung der
 Wiederholungsfragen 5.5 Basensequenzen in den Fokus und damit die Decodie-
rung von Genen.
1. ZEICHENÜBUNG Nummerieren Sie alle C-Atome Die ersten chemischen Verfahren zur DNA-Sequenzie-
in den Zuckerresten der obersten drei Nucleo- rung, also der Bestimmung der Nucleotid-Reihenfolge
tide in Abbildung 5.24a. Umkreisen Sie die entlang eines DNA-Strangs, wurden in den 1970er Jah-
Nucleinbasen und versehen Sie die Phosphat- ren entwickelt. Man begann die Gensequenzen, eine
gruppen mit einem Sternchen. nach der anderen, zu studieren, und je mehr man lernte,
desto mehr Fragen stellten sich. Wie wird die Gen-
2. ZEICHENÜBUNG Ein Strangabschnitt einer DNA- expression reguliert? Zweifellos wechselwirken Gene
Doppelhelix hat die folgende Sequenz: 5′- oder besser ihre Proteinprodukte miteinander, aber wie?
TAGGCCT-3′. Schreiben Sie die Sequenz ab Welche Funktion hat die DNA, die nicht Teil von Genen
und fügen Sie die komplementäre Sequenz ist? Um die genetische Basis eines lebenden Organismus
des Gegenstrangs dazu. Geben Sie jeweils das zu verstehen, wäre die gesamte DNA-Sequenz, das
5′- und das 3′-Ende an. Genom eines Organismus, äußerst hilfreich. Ungeachtet
dieser zunächst scheinbar unmöglichen Idee schlugen in
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. den späten 1980er Jahren mehrere führende Biologen ein
kühnes Projekt vor – die Sequenzierung des gesamten

117
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

menschlichen Genoms, insgesamt mehr als drei Milliar- Gene enthält, lässt sich folgern, dass auch die Gene
Teil 1 den (!) Basenpaare. Das Unternehmen begann 1990 und und ihre Produkte (die Proteine) Dokumente der ver-
war Anfang der 2000er Jahre weitgehend fertiggestellt. erbbaren Familiengeschichte eines Lebewesens sind.
Ein nicht geplanter, aber schwerwiegender Neben- Die lineare Abfolge der Nucleotide in den DNA-Mole-
effekt des menschlichen Genomprojekts war die rasche külen wird von den Eltern auf ihre Nachkommen wei-
Entwicklung schneller und weniger teurer Sequenzier- tergegeben. Diese Sequenzen legen die Aminosäure-
methoden (die näher in Kapitel 20 beschrieben sind). sequenzen der Proteine fest. Geschwister weisen in
Dieser Trend hat dafür gesorgt, dass sich die Kosten für ihrer DNA eine größere Ähnlichkeit auf als nicht mit-
das Sequenzieren von einer Million Basen von etwa einander verwandte Individuen derselben Art.
5.000 € auf heute weniger als 10 Cent verringert haben. Dieses Konzept der „molekularen Genealogie“ kann
Die Sequenzierung eines vollständigen menschlichen man auf die Verwandtschaftsverhältnisse von Arten
Genoms, die zu Beginn mehr als 10 Jahre erfordert hat, erweitern. Dann wäre zu erwarten, dass zwei Arten,
kann heute in ein paar Tagen erfolgen. Die Zahl voll- die aufgrund der fossilen und anatomischen Befunde
ständig sequenzierter Genome hat enorm zugenommen, eng miteinander verwandt zu sein scheinen, auch
ungeahnte Datenmengen produziert und die Entwick- einen größeren Anteil an DNA- und Proteinsequenzen
lung der Bioinformatik befördert, der Verwendung von gemeinsam haben sollten als weiter entfernt verwandte
Software und anderen Werkzeugen zur Datenverar- Arten. Das ist in der Tat der Fall. Ein Beispiel liefert
beitung, um mit derartigen Datenmengen umgehen der Sequenzvergleich der β-Kette des menschlichen
und sie analysieren zu können. Hämoglobins mit entsprechenden β-Ketten von ande-
Im Rückblick haben diese Entwicklungen die Biologie ren Wirbeltierarten. In der Abfolge der 146 Amino-
und anverwandte Gebiete revolutioniert. Oft werden säurereste des Polypeptids, das eine Untereinheit des
biologische Fragestellungen durch die Analyse großer Hämoglobins darstellt, unterscheiden sich Gorilla und
Gengruppen angegangen, alternativ durch den Genom- Mensch in nur einem einzigen Aminosäurerest, Men-
vergleich unterschiedlicher Spezies. Dieser Ansatz heißt schen und Frösche dagegen in 67 Positionen. Interes-
Genomik. Die ähnlich gelagerte Analyse großer Zahlen sant ist, dass selbst diese große Anzahl an Veränderun-
von Proteinen mit ihren Sequenzen heißt Proteomik. gen das Protein nicht funktionslos macht. In der
Aminosäuresequenzen können entweder biochemisch Wissenschaftlichen Übung wenden Sie diese Argumen-
bestimmt oder über die codierenden DNA-Sequenzen tationslinie auf weitere Spezies an. Die Schlussfolge-
abgeleitet werden. Derartige Vorgehensweisen durch- rung bleibt selbst dann korrekt, wenn ganze Genome
dringen alle Bereiche der modernen Biologie; einige miteinander verglichen werden: Das menschliche
Beispiele sind in Abbildung 5.26 gezeigt. Genom ist zu 95–98 Prozent identisch mit dem des
Die vielleicht wichtigsten Auswirkungen hatten Schimpansen, aber nur zu 85 Prozent mit dem der
Genomik und Proteomik im Rahmen der Biologie auf Maus, einem entfernteren evolutionären Verwandten.
unser Evolutionsverständnis. Neben bestätigenden Bele- Die Molekularbiologie hat der Biologie ein neues Werk-
gen für die Evolution durch das Studium von Fossilien zeug in die Hand gegeben, mit dem evolutionäre Ver-
und der Charakteristika gegenwärtig existierender Spe- wandtschaftsgrade genau festgestellt werden können.
zies hat die Genomik dabei geholfen, Beziehungen zwi-
schen unterschiedlichen Organismengruppen heraus-
zukitzeln, die vorher so nicht aufgelöst werden konnten
 Wiederholungsfragen 5.6
und die fundierte Rückschlüsse auf die Evolution
ermöglichen.
1. Wie würde die Sequenzierung des gesamten
Genoms eines Organismus dabei helfen, seine
Funktion zu verstehen?
5.6.1 DNA und Proteine als Zeitmaß der
Evolution 2. Warum würden Sie angesichts der DNA-Funk-
tion erwarten, dass zwei Spezies mit sehr ähnli-
EVOLUTION Wir sind mit der Vorstellung vertraut, chen Merkmalen auch sehr ähnliche Genome
dass gemeinsame Merkmale wie Haare oder Milchpro- haben?
duktion bei Säugetieren Beweise für ihre Abstam-
mung von gemeinsamen Vorfahren sind. Da wir heute Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
wissen, dass die DNA Erbinformationen in Form der

118
Abbildung 5.26

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Paläoontologie


Neue DNA-Sequen-
Beiträge vonof
Contributions Genomik
Genomicsund ziertechniken haben
die Analyse winzigster
Proteomik
and zur to
Proteomics Biologie
Biology DNA-Mengen erlaubt,
die in alten Geweben
Die Sequenzierung von ausgestorbener
Nucleinsäuren und die Verwandter wie den
Analyse großer Mengen Neandertalern (Homo
neanderthalensis)
von Genen und Proteinen
gefunden wurden. Die
sind dank technologischer Sequenzierung des Nean-
Verbesserungen und der dertalgenoms hat unsere
Informationsverarbeitung Sicht ihres Aussehens und
schnell und preiswert ihrer Verwandtschaft mit dem
möglich. Insgesamt gesehen modernen Menschen erweitert
haben die Genomik und (siehe Abbildung 34.50).
Proteomik unser biologisches Verständnis Medizin
in vielen Bereichen erweitert. Die Identifikation der genetischen Grundlage menschlicher Krankheiten wie
Krebs hilft bei der Suche nach möglichen künftigen Behandlungsformen.
Evolution Derzeit kann die Sequenzierung der Gene, die in einem individuellen Tumor
exprimiert werden, eine
Das zentrale Anliegen der Evolutionsbiologie ist
zielgerichtetere Behand-
das Verständnis der Verwandtschaftsbeziehun-
lung von Krebs gestat-
gen zwischen Spezies, seien sie ausgestorben
ten, eine Art personali-
oder noch lebendig. Genomvergleiche haben
sierter Medizin (siehe
beispielsweise gezeigt, dass das Flusspferd unter
die Abbildungen 12.20
den Landbewohnern der nächste Verwandte der
und 18.27).
Wale ist (siehe Abbildung 22.20).

Flusspferd
Kurzflossen-Grindwal

Schutz der biologischen Spezies-Wechsel-


Vielfalt wirkungen
Die Werkzeuge der Molekulargenetik Mehr als 90 % aller Pflanzen-
und Genomik werden zunehmend spezies existieren in gegen-
von Ökologen benutzt, zum Beispiel seitigen Nutzbeziehungen mit
um die Pflanzen- und Tierspezies zu Pilzen, die mit den Pflanzen-
identifizieren, die illegal getötet wurzeln assoziiert sind. Die
werden. In einem Fall wurden Genomsequenzierung und
genomische DNA-Sequenzen Genexpressionsanalyse mehrerer
aus illegalen Elfenbein- Pflanzen-Pilz-Gemeinschaften
lieferungen dazu versprechen wesentliche Fortschritte
benutzt, um Wilderer in unserem Verständnis derartiger
aufzuspüren und das Wechselwirkungen und könnten landwirtschaftliche Praktiken
genaue Gebiet zu beeinflussen (siehe die Wissenschaftliche Übung in Kapitel 31).
lokalisieren, wo sie
arbeiteten.
ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Beschreiben Sie angesichts der hier
aufgeführten Beispiele, wie die Vorgehensweisen der Genomik und Proteomik
uns bei der Beantwortung einer Reihe biologischer Fragestellungen helfen
können.
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Teil 1  Wissenschaftliche Übung

Die Analyse von Polypeptidsequenzdaten und des Gibbons wieder. Da eine komplette Sequenz
nicht in eine Zeile passen würde, sind die Sequenzen
Wer ist näher mit dem Menschen verwandt – Rhe- in drei Segmente aufgeteilt. Die Sequenzen sind so
susaffen oder Gibbons? DNA- und Polypeptid- ausgerichtet, dass sie leicht miteinander verglichen
sequenzen nahe verwandter Spezies ähneln sich werden können. Beispielsweise ist ersichtlich, dass
mehr als die Sequenzen weiter voneinander ent- der erste Aminosäurerest aller drei Spezies ein V
fernter Spezies. In der Übung werden Sie Amino- (Valin) ist und der letzte Rest ein Histidin (H).
säuresequenzdaten der β-Kette von Hämoglobin
betrachten, oft nur β-Globin genannt. Sie werden Datenauswertung
die Daten interpretieren, um Vermutungen darüber
anzustellen, ob der Affe oder der Gibbon näher mit 1. Durchmustern Sie die Sequenzen des Affen
dem Menschen verwandt ist. und des Gibbons Buchstabe für Buchstabe
und kringeln Sie alle Reste ein, die nicht mit
der Humansequenz übereinstimmen. (a) Wie
viele unterschiedliche Reste gibt es zwischen
Affe und Mensch? (b) Wie viele zwischen Gib-
 Mensch  Rhesus-  Gibbon bon und Mensch?
affe
2. Wieviel Prozent der beiden nichtmenschli-
chen Sequenzen sind mit der menschlichen
Durchführung des Experiments Das interessierende Sequenz identisch?
Polypeptid wird aus einem Organismus isoliert und
seine Aminosäuresequenz bestimmt. Meistens wird 3. Formulieren Sie auf der Grundlage nur dieser
dazu die DNA des betreffenden Gens sequenziert Daten eine Hypothese, welche der beiden Spe-
und daraus die Aminosäuresequenz abgeleitet. zies näher mit dem Menschen verwandt ist.
Wie begründen Sie Ihre Entscheidung?
Experimentelle Daten Die Buchstaben der Auflis-
tung unten geben die Sequenz der 146 Aminosäure- 4. Welche anderen Hinweise und Belege können
reste des β-Globins des Menschen, des Rhesusaffen Ihre Annahme stützen?

Art Position Aminosäure-Sequenzen des β-Globins


Mensch 1 VHLTPEEKSA VTALWGKVNV DEVGGEALGR LLVVYPWTQR FFESFGDLST
Rhesusaffe 1 VHLTPEEKNA VTTLWGKVNV DEVGGEALGR LLLVYPWTQR FFESFGDLSS
Gibbon 1 VHLTPEEKSA VTALWGKVNV DEVGGEALGR LLVVYPWTQR FFESFGDLST

Mensch 51 PDAVMGNPKV KAHGKKVLGA FSDGLAHLDN LKGTFATLSE LHCDKLHVDP


Rhesusaffe 51 PDAVMGNPKV KAHGKKVLGA FSDGLNHLDN LKGTFAQLSE LHCDKLHVDP
Gibbon 51 PDAVMGNPKV KAHGKKVLGA FSDGLAHLDN LKGTFAQLSE LHCDKLHVDP

Mensch 101 ENFRLLGNVL VCVLAHHFGK EFTPPVQAAY QKVVAGVANA LAHKYH


Rhesusaffe 101 ENFKLLGNVL VCVLAHHFGK EFTPQVQAAY QKVVAGVANA LAHKYH
Gibbon 101 ENFRLLGNVL VCVLAHHFGK EFTPQVQAAY QKVVAGVANA LAHKYH

Daten aus: Mensch: http//www.ncbi.nlm.nih.gov/protein/AAA21113.1; Rhesusaffe: http//www.ncbi.nlm.nih.


gov/protein/122634; Gibbon: http//www.ncbi.nlm.nih.gov/protein/122616

120
Zusammenfassung

ZUSAMMENFASSUNG KAPITEL 5 
Teil 1

Konzept 5.1 bei denen Wasser abgespalten wird. Polymere kön-


Makromoleküle sind aus Monomeren aufgebaute Poly- nen durch die Umkehrung dieses Vorgangs, die
mere Hydrolyse, zerlegt werden.
 Die Vielfalt der Polymere. Enorm vielfältige Poly-
 Synthese und Abbau von Polymeren. Polysaccha- mere können aus vergleichsweise wenigen verschie-
ride, Proteine und Nucleinsäuren sind Polymere, denartigen Monomeren aufgebaut werden.
die aus Ketten von Monomeren bestehen. Die Kom-
ponenten der Lipide variieren. Monomere bilden ? Was begründet die grundlegenden Unterschiede zwischen Polysac-
größere Moleküle durch Kondensationsreaktionen, chariden, Proteinen und Nucleinsäuren?

Komponenten Beispiele/Eigenschaften Funktionen

Konzept 5.2 CH2OH Monosaccharide: Glucose, Fructose Treibstoff; Kohlenstoffquellen, die in


Kohlenhydrate dienen als H O H andere Molekülarten oder in Poly-
Brenn-und Baustoffe H Disaccharide: Lactose, Saccharose mere überführt werden können
OH H
HO OH
? Vergleichen Sie die Zusam- Polysaccharide:
H OH
mensetzung, Struktur und Funktion · Cellulose (Pflanzen) · Verstärkender Bestandteil pflanz-
von Stärke und Cellulose. Welche Monosaccharid licher Zellwände
Rolle spielen diese beiden Stoffe im · Stärke (Pflanzen) · Glucosespeicherung
menschlichen Körper? (Stoffwechselenergie)
· Glykogen (Tiere) · Glucosespeicherung
(Stoffwechselenergie)
· Chitin (Tiere, Pilze) · Strukturell verstärkender
Bestandteil des Exoskeletts vieler
Tiere und der Zellwände von Pilzen

Konzept 5.3 Glycerol Triacylglycerole (Fette und Öle): Wichtige Energiequelle


Lipide bilden eine hetero- Glycerol + drei Fettsäuremoleküle
gene Gruppe hydrophober 3 Fettsäurereste
Moleküle

? Warum werden Lipide nicht als


Polymere oder Makromoleküle an-
gesehen?

Kopf Phospholipide: Glycerol + Phos- Lipiddoppelschichten von Mem-


mit P phorylrest + zwei Fettsäuren branen
2 Fett- hydrophobe
säurereste Ketten

hydrophile
Kopfgruppen

Steroide: vier kondensierte Kohlen- · Bestandteile von Zellmembranen


stoffringe plus kurze Seitenketten (Cholesterol)
· Chemische Botenstoffe des
Steroidgrundgerüst Körpers (Hormone)

Konzept 5.4 R
· Enzyme · Katalyse chemischer Reaktionen
Proteine: Funktionsviel- · Strukturproteine · Stützfunktion
falt durch Strukturvielfalt H O
· Transportproteine · Stofftransport
N C C · Hormone · Koordination zellulärer Abläufe
? Erklären Sie den Grund für die H OH · Rezeptorproteine · Empfang extrazellulärer Signale
H
enorme Proteindiversität. · Motorproteine · Zellbewegung
Aminosäure
(20 Typen)
· Abwehrproteine · Schutz vor Krankheiten

121
5 Struktur und Funktion biologischer Makromoleküle

Teil 1 Komponenten Beispiele/Eigenschaften Funktionen

Konzept 5.5 stickstoffhaltige Base DNA: Speicherung der gesamten Erbin-


Nucleinsäuren speichern,
Phosphat-
· Zuckeranteil = Desoxyribose formation
übertragen und verwerten gruppe · Nucleinbasen = C, G, A, T
Erbinformation P CH2
O
· Für gewöhnlich doppelsträngig
Zucker
? Welche Rolle spielt die kom- RNA: Verschiedene Funktionen bei der
plementäre Basenpaarung für die · Zuckeranteil = Ribose Genexpression, einschließlich der
Nucleinsäurefunktion? Nucleotid · Nucleinbasen = C, G, A, U Überführung der Proteinbauanlei-
· Für gewöhnlich einzelsträngig tungen von der DNA zu den Ribo-
somen

Konzept 5.6  Je näher zwei Spezies evolutionär miteinander ver-


Biologie im Wandel durch Genomik und Proteomik wandt sind, umso mehr ähneln sich ihre DNA-
Sequenzen. Sequenzdaten bestätigen Evolutions-
 Kürzlich eingeführte technologische Neuerungen modelle, die mithilfe von Fossilien und anatomi-
bei der DNA-Sequenzierung haben zur Entwick- schen Hinweisen aufgestellt wurden.
lung der Genomik geführt, einem Verfahren zur
Analyse großer Zahlen unterschiedlicher Gene oder ? Sagen Sie vorher, inwieweit die menschliche Sequenz den Sequenzen
ganzer Genome. Außerdem hat sich die Proteomik bestimmter Gene in Fruchtfliegen, Fischen oder Mäusen ähneln dürfte.
entwickelt, ein ähnlicher Ansatz zur gleichzeitigen
Analyse vieler unterschiedlicher Proteine.

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜBU NG S A UF G ABE N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.

Ebene 1: Wissen und Verständnis 4. Die Strukturebene eines Proteins, die von einem
Aufbrechen der Wasserstoffbrückenbindung am
1. Welcher der folgenden Begriffe ist ein Oberbe- wenigsten betroffen wird, ist
griff, der alle anderen einschließt? a. die primäre.
a. Monosaccharid b. die sekundäre.
b. Polysaccharid c. die tertiäre.
c. Stärke d. die quartäre.
d. Kohlenhydrat
5. Enzyme, die DNA abbauen, katalysieren die Hy-
2. Das Enzym Amylase spaltet glykosidische Bindun- drolyse der kovalenten Bindungen der Nucleotide
gen zwischen Glykosylresten nur dann, wenn diese untereinander. Was würde demnach passieren,
α-glykosidisch verknüpft sind. Welche der folgen- wenn ein DNA-Molekül mit einem dieser Enzyme
den Verbindungen könnte die Amylase abbauen? (einer DNAse) behandelt wird?
a. Glykogen, Stärke und Amylopectin a. Die beiden Stränge der Doppelhelix würden
b. Glykogen und Cellulose sich trennen.
c. Cellulose und Chitin b. Die Phosphodiesterbindungen des Polynucleo-
d. Stärke, Chitin und Cellulose tidrückgrats würden gespalten.
c. Die Pyrimidinbasen würden von den Desoxy-
3. Welche der folgenden Aussagen über ungesättigte ribosylresten getrennt.
Fette trifft zu? d. Alle Basen würden von den Desoxyribosylres-
a. Sie kommen bei Tieren häufiger vor als bei ten getrennt.
Pflanzen.
b. Sie weisen Doppelbindungen in den Kohlen- Ebene 2: Anwendung und Auswertung
stoffketten der Fettsäurereste auf.
c. Sie verfestigen sich im Allgemeinen bei Zim- 6. Die Summenformel der Glucose ist C6H12O6. Wie
mertemperatur. lautet die Summenformel eines Polymers aus zehn
d. Sie enthalten mehr Wasserstoff als gesättigte Glucoseresten, das durch eine Dehydratationsreak-
Fette mit der gleichen Anzahl von Kohlen- tion gebildet wird?
stoffatomen. a. C60H120O60
b. C60H102O51
c. C60H100O50
d. C60H111O51

122
Übungsaufgaben

7. Welche der folgenden Paare von Basenfolgen 11. Wissenschaftliche Fragestellung Nehmen Sie an,
könnte ein kurzes Stück einer normalen DNA-Dop- Sie wären ein Forschungsassistent in einem La- Teil 1
pelhelix ausbilden? bor, in dem DNA-Bindeproteine untersucht wür-
a. 5′-AGCT-3′ mit 5′-TCGA-3′ den. Sie verfügen über die Aminosäuresequenzen
b. 5′-GCGC-3′ mit 5′-TATA-3′ aller Proteine, die durch das Genom einer be-
c. 5′-ATGC-3′ mit 5′-GCAT-3′ stimmten Spezies codiert werden. Sie sollen Pro-
d. Alle Paarungen sind korrekt. teinkandidaten finden, die DNA binden könnten.
Welche Typen von Aminosäuren würden Sie in
8. Erstellen Sie eine Tabelle, in der Sie die folgenden den DNA-Binderegionen derartiger Proteine er-
Begriffe auflisten, und benennen Sie die Spalten warten und warum?
und Zeilen Ihrer Tabelle.
Aminosäuren 12. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft Manche
Esterbindungen Hobby- und die meisten Berufsathleten nehmen
Fettsäuren Steroide, die ihnen dabei helfen, Muskelmasse
glykosidische Bindungen aufzubauen oder ihre Kraft zu erhöhen. Die Ge-
Monosaccharide sundheitsrisiken dieser Praxis sind ausgiebig do-
Nucleotide kumentiert. Was denken Sie jenseits gesundheit-
Peptidbindungen licher Erwägungen über die Verwendung solcher
Phosphodiesterbindungen Mittel zur Steigerung der athletischen Leistung?
Polynucleotide Betrügt ein Sportler, der anabole Steroide ein-
Polypeptide nimmt? Oder ist die Verwendung solcher Sub-
Polysaccharide stanzen Teil der Vorbereitung, die notwendig ist,
Triacylglycerole um im Konkurrenzkampf mithalten zu können
und vielleicht siegreich zu sein? Erläutern Sie
9. ZEICHENÜBUNG Kopieren Sie den Polynucleotid- Ihre Einschätzung.
strang von Abbildung 5.24a und markieren Sie
die Basen G, T, C und T. Beginnen Sie am 5′- 13. Skizzieren Sie ein Thema: Organisation Pro-
Ende. Zeichnen Sie danach den komplementären teine mit all ihren unterschiedlichen Funktionen
Strang der Doppelhelix und verwenden Sie dabei in der Zelle sind ausnahmslos Polymere aus den-
die gleichen Symbole für die Phosphatreste selben Monomeren, den Aminosäuren. Schreiben
(Kreise), Zuckerreste (Fünfecke) und Basen. Be- Sie einen kurzen Aufsatz (in 100–150 Worten), in
nennen Sie die Basen. Zeichnen Sie Pfeile ein, dem Sie diskutieren, wie die Aminosäurestruktur
die die 5′→3′-Richtung von beiden Molekülsträn- die Funktionsvielfalt dieses einen Polymertyps,
gen angibt. Stellen Sie anhand der Pfeile sicher, der Proteine, ermöglicht.
dass der zweite Strang antiparallel zum ersten
verläuft. Hinweis: Drehen Sie, nachdem Sie den 14. NUTZEN SIE IHR WISSEN Das Eigelb ernährt und un-
ersten Strang gezeichnet haben, das Papier auf terstützt das sich entwickelnde Küken. Warum
den Kopf. Es ist dann einfacher, den zweiten enthält Eigelb so viel Fett, Protein und Choles-
Strang vom 5′- zum 3′-Ende hin zu zeichnen, als terol?
von unten nach oben vorzugehen.

Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten

10. Verbindung zur Evolution Der Vergleich von


Aminosäuresequenzen kann dazu beitragen, die
Aufspaltung verwandter Arten im Laufe der Evo-
lution zu verstehen. Würden Sie erwarten, dass
alle Proteine einer gegebenen Auswahl rezenter
Arten den gleichen Divergenzgrad zeigen? Wa-
rum oder warum nicht?

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

123
Die Zelle Teil
6 Ein Rundgang durch die Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 II
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen . . . . . . . . . . . . . 163
8 Einführung in den Stoffwechsel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
9 Zelluläre Atmung und Gärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
10 Photosynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
11 Zelluläre Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
12 Der Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Ein Rundgang durch die Zelle

6.1 Mikroskopie und biochemische Analytik für das Studium 6


von Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
6.2 Eukaryontische Zellen sind kompartimentiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
6.3 Die genetischen Anweisungen eukaryontischer Zellen finden
sich im Zellkern, ihre Umsetzung erfolgt durch die Ribosomen . . . 138
6.4 Das Endomembransystem steuert den Proteinverkehr
und wirkt im Zwischenstoffwechsel mit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
6.5 Mitochondrien und Chloroplasten arbeiten als Energiewandler . . 146

KONZEPTE
6.6 Das Cytoskelett ist ein fiberartiges Netzwerk zur
Organisation von zellulären Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
6.7 Zelluläre Aktivitäten werden durch extrazelluläre
Komponenten und direkte Zell-Zell-Verbindungen koordiniert . . . 155

 Abbildung 6.1: Wie helfen Ihnen Ihre Zellen


beim Verständnis biologischer Vorgänge?
6 Ein Rundgang durch die Zelle

Der kleinste gemeinsame Nenner lebender Organismen


Zellen sind für lebende Systeme genauso grundlegend 6.1.1 Mikroskopie
wie Atome für die Chemie. Viele unterschiedliche
Zelltypen arbeiten in eben diesem Moment für Sie. Die Die technische Entwicklung von Instrumenten, die die
Kontraktion von Muskelzellen bewegt Ihre Augen, menschlichen Sinne erweitern, hat den Fortschritt der
wenn Sie diesen Satz lesen. Abbildung 6.1 zeigt die Wissenschaft überhaupt erst ermöglicht. Die Entdeckung
Fortsätze einer Nervenzelle (orange), die im Kontakt von Zellen und erste, frühe Untersuchungen sind mit
mit Muskelzellen (rot) stehen. Die gedruckten Wörter der Erfindung des Mikroskops um das Jahr 1590 und sei-
auf dieser Seite werden in Signale übersetzt, die von nen technischen Verbesserungen im 17. Jahrhundert ver-
Teil 2
den Nervenzellen ins Gehirn weitergeleitet und an bunden. Mikroskope sind bis heute beim Studium von
weitere Nervenzellen übergeben werden. Indem Sie Zellen unverzichtbar und werden noch immer weiter-
den Text studieren, erzeugen Sie Zell-Zell-Verbindun- entwickelt.
gen, die Ihre Erinnerung an das Gelesene verfestigen Die Mikroskope, die die ersten Wissenschaftler der
und Ihnen das Lernen überhaupt erst ermöglichen. Moderne am Ende der Renaissance verwendet haben,
Alle Organismen bestehen aus Zellen. Im Kontext waren – ebenso wie die, die Sie vielleicht schon bei
biologischer Organisationsebenen ist die Zelle die ein- einem Praktikum benutzt haben – Lichtmikroskope.
fachste lebensfähige Materieansammlung. Tatsächlich Beim Lichtmikroskop (LM) wird sichtbares Licht durch
gibt es viele einzellige Lebensformen. Dagegen sind das Untersuchungsmaterial und durch Systeme aus
größere, komplexere Organismen mitsamt Pflanzen Glaslinsen geleitet. Die Linsen brechen das Licht derart,
und Tieren multizellulär aufgebaut. Die Kombination dass ein vergrößertes Abbild erzeugt wird, das von den
vieler Sorten spezialisierter Zellen erlaubt zwar dem Okularen projiziert und vom Auge aufgefangen werden
gesamten multizellulären Organismus das Überleben, kann. Eine Abbildung auf einen Film oder den lichtemp-
die einzelnen Zellarten dagegen sind für sich genom- findlichen Sensor einer analogen oder digitalen Kamera
men kaum lebensfähig. Aber selbst wenn Zellen auf ist ebenso möglich. Gerade in jüngster Zeit sind bei der
höheren Ebenen organisiert sind (Beispiele dafür wären Weiterentwicklung der Lichtmikroskope entscheidende,
Gewebe und Organe), bleiben sie trotzdem die grund- leistungssteigernde Innovationen gelungen.
legende strukturelle und funktionelle Einheit der Orga- Drei wichtige Kenngrößen der Mikroskopie sind die
nismen. Vergrößerung, das Auflösungsvermögen und der Kon-
Alle Zellen sind aufgrund ihrer Abstammung von trast. Die Vergrößerung gibt das Verhältnis der Bild-
früheren Zellformen miteinander verwandt. Im Ver- größe zur tatsächlichen Größe des Objektes an. Sie liegt
lauf der Evolution auf der Erde sind die Zellen leben- für die Lichtmikroskopie maximal bei etwa 1.000fach,
der Systeme vielfach abgeändert worden. Trotz aller bei höheren Vergrößerungen werden keine weiteren
Unterschiede haben Zellen dennoch einige ursprüng- Details aufgelöst. Das Auflösungsvermögen, der mini-
liche Charakteristika beibehalten. male Abstand zweier noch getrennt wahrnehmbarer
In diesem Kapitel wollen wir zunächst die Werk- Punkte, ist ein Maß für die Bildschärfe und die ent-
zeuge und Techniken zur Untersuchung von Zellen scheidende Größe für die Abbildungsleistung optischer
betrachten, um dann einen Rundgang durch eine Geräte. Dies gilt für die Mikroskopie ebenso wie für
Zelle anzuschließen und dabei ihre Bestandteile ken- Teleskope und fotografische Objektive. Was dem unbe-
nenzulernen. waffneten Auge als ein einzelner Stern am Nachthim-
mel erscheint, zeigt sich mit einem Teleskop vielleicht
als Doppelsternsystem.
Das Auflösungsvermögen aller optischen Abbil-
Mikroskopie und dungssysteme ist begrenzt. Ein Lichtmikroskop kann
unter Standardbedingungen keine Details kleiner als
biochemische Analytik für 0,2 Mikrometer (μm, entsprechend 200 Nanometer, nm)
das Studium von Zellen
6.1 auflösen. Dies entspricht ungefähr der Größe einer
kleinen Bakterienzelle. Diese Auflösung entspricht bei
der Lichtmikroskopie der sogenannten Abbe-Grenze
Eigentlich ist es schwer zu verstehen, wie eine Zelle, zu (nach Ernst Abbe, deutscher Physiker, 1840–1905), die
klein um mit dem bloßen Auge wahrgenommen zu unabhängig von der erreichbaren Vergrößerung ist
werden, so komplex sein kann. Wie können Zellbio- (Abbildung 6.2). Die Auflösungsgrenze ist durch die
logen ein so winziges Gebilde erforschen? Bevor wir in Wellenlänge des verwendeten Lichtes vorgegeben.
das Zellinnere eintauchen, wollen wir Untersuchungs- Durch gänzlich neue, technisch aufwendige Verfahren
methoden beim Zellstudium kennenlernen. ist es in den Jahren nach 2000 gelungen, die Abbe-
Grenze zu überwinden und das Auflösungsvermögen

128
6.1 Mikroskopie und biochemische Analytik für das Studium von Zellen

des Lichtmikroskops deutlich zu steigern. Für diese für das Lichtmikroskop. Durch die erwähnten neuen
Entwicklung erhielten der deutsche Biophysiker Ste- Techniken der Lichtmikroskopie hat sich der Abstand
fan Hell und die beiden Amerikaner Eric Betzig und jedoch verkürzt. Allerdings ist mit dem Elektronenmi-
William Moerner 2014 den Nobelpreis für Chemie. kroskop die Beobachtung lebender Zellen nicht mög-
Ein dritter wichtiger Parameter bei optischen Abbil- lich – ein entscheidender Nachteil. Der Begriff Ultra-
dungen, und so auch in der Mikroskopie, ist der Kon- struktur (von Zellen) bezieht sich auf die elektronenmik-
trast. Kontrast (lat. contrasto = Gegensatz) ist der Unter- roskopische Ebene, also auf zellanatomische Strukturen,
schied zwischen dunklen und hellen Bereichen eines die nur das Elektronenmikroskop sichtbar machen kann.
Bildes. Anders ausgedrückt gibt er an, wie stark sich Man unterscheidet zwei verschiedene Typen des Elek-
nebeneinander liegende Bildpunkte in ihrem Tonwert tronenmikroskops.
Teil 2
(Farbe, Graustufe) unterscheiden. Tatsächlich haben sich Das Rasterelektronenmikroskop (REM oder SEM,
viele Verbesserungen im Sinne der Leistungssteigerung, engl. scanning electron microscope) ist besonders für
die im 20. Jahrhundert in der Lichtmikroskopie erreicht die detaillierte Betrachtung und Untersuchung von
werden konnten, durch die Steigerung des Bildkontras- Oberflächen geeignet (Abbildung 6.3). Mit einem sehr
tes ergeben. Dies schließt Färbungs- und andere Markie- fein fokussierten Elektronenstrahl wird bei diesem Ver-
rungsmethoden ein, die insgesamt in einer deutliche- fahren die Oberfläche des Objektes abgetastet. Dazu
ren Unterscheidbarkeit bestimmter Zellkomponenten muss diese elektrisch leitend sein. Bei biologischen
resultieren. Abbildung 6.3 fasst unterschiedliche Mik- Objekten wird dieses für gewöhnlich durch Überlage-
roskopieverfahren zusammen und hilft beim Verständ- rung mit einer sehr dünnen Schicht aus einem Schwer-
nis der technischen Zusammenhänge. metall wie Gold oder Platin erreicht. Der Elektronen-
Zellen von Lebewesen wurden erstmals von Robert strahl erzeugt in der Objektoberfläche unter anderem
Hooke im Jahr 1665 beobachtet, als dieser mit einem Elektronen mit geringer Energie; die Anzahl dieser
Mikroskop den Aufbau der Borke (Korkgewebe) eines Sekundärelektronen pro Bildpunkt wird vom Detektor
Eichenbaumes untersuchte. Die Zellen, die Hooke sah, des Gerätes bestimmt und in ein elektronisches Bild-
waren aber keine lebenden Zellen, sondern nur die toten signal zur Darstellung auf einem Bildschirm umgewan-
Zellwände der ehemaligen Außenzellen des Pflanzen- delt. Das Ergebnis ist eine Abbildung der Objekttopogra-
körpers. Um lebende Zellen beobachten zu können, fie. Das REM verfügt über eine im Vergleich zu
waren die meisterhaft geschliffenen Linsen des Nieder- Lichtmikroskopen sehr große Tiefenschärfe, die den Bil-
länders Anton van Leeuwenhoek notwendig. Man ver- dern einen räumlichen Charakter verleiht. Neuere tech-
suche, sich Hookes Verblüffung und Begeisterung vor- nische Entwicklungen haben das Auflösungsvermögen
zustellen, als er im Jahr 1674 Leeuwenhoek besuchte und die Anwendung des Rasterelektronenmikroskops
und erstmals die Welt der einzelligen Mikroorganismen, dramatisch erweitert. So können beispielsweise auch
die damals „Animalculi“ genannt wurden, zu sehen Abbildungen mit fast derselben Auflösung wie im TEM
bekam. Ungeachtet dieser frühen Entdeckungen blieb (siehe unten) erzeugt werden. Einige dieser Verfahren
die „Geografie der Zelle“ für lange Zeit danach weitge- sind besonders für die 3-dimensionale Darstellung zel-
hend „unkartiert“. Die meisten subzellulären Struktu- lulärer und subzellulärer Strukturen geeignet.
ren, einschließlich der von Membranen umgebenen Das Transmissionselektronenmikroskop (TEM =
Organellen, sind einfach zu klein oder von nicht ausrei- Durchstrahlungselektronenmikroskop) wird eingesetzt,
chendem Kontrast, um ohne Zuhilfenahme spezieller, um die innere Ultrastruktur von Zellen zu erforschen
erst im 20. Jahrhundert entwickelter Techniken sicht- (Abbildung 6.3). Das TEM – meist ist dieses gemeint,
bar zu sein. wenn vom Elektronenmikroskop die Rede ist – schießt
Die Zellbiologie machte dann seit den fünfziger Jahren einen Elektronenstrahl durch die sehr dünn geschnit-
des vergangenen Jahrhunderts rasche Fortschritte, als tene Schicht einer speziell eingebetteten und vorbe-
kommerzielle Elektronenmikroskope verfügbar wurden. handelten Probe, ähnlich dem Lichtstrahl, der bei
Statt Licht benutzt ein Elektronenmikroskop (EM) einen einem Lichtmikroskop oder einem Diaprojektor durch
Elektronenstrahl, um das untersuchte Objekt zu „durch- das abbildende Objekt geht. Für die Elektronenmikro-
leuchten“ oder zu „beleuchten“. Das Auflösungsvermö- skopie werden die Objekte meistens zweifach fixiert
gen ist, wie in der Lichtmikroskopie, umgekehrt pro- (Proteine mit Dialdehyden und Lipide mit Osmium-
portional zur Wellenlänge der Strahlung (Licht oder tetroxid), eingebettet und durch die Behandlung mit
Elektronen). Elektronen besitzen jedoch von Natur aus Schwermetallen (meist Uran und Blei) kontrastiert,
eine viel kürzere Wellenlänge als sichtbares Licht. um die Zellstrukturen sichtbar zu machen. Die Atom-
Moderne Elektronenmikroskope besitzen ein theoreti- kerne und die dicht mit Elektronen besetzten Elektro-
sches Auflösungsvermögen von 0,002 nm (= 2 pm = nenhüllen der relativ kleinen Schwermetallatome len-
2 × 10–12 m). In der Praxis ist das Auflösungsvermögen ken den Elektronenstrahl stärker ab als die großen
jedoch auf Strukturen von ca. 0,2 nm Größe limitiert, Nichtmetallatome und wirken so kontrastverstärkend.
immerhin noch einhundertfach über der Abbe-Grenze Das im Elektronenmikroskop sichtbare Bild zeigt also

129
6 Ein Rundgang durch die Zelle

die Verteilung der vom Objekt nicht abgelenkten Elek- Beschreibung der verschiedenen Organellen und ande-
tronen (Negativbild). Insbesondere in der Zellbiologie rer Gebilde in einer Zelle sagt aber noch nicht viel
werden heute zunehmend auch neuere und andere über ihre Funktion. Die moderne Zellbiologie hat sich
Fixierungs-, Kontrastierungs- und Abbildungsverfah- aus der Schnittmenge der klassischen Zellbiologie mit
ren eingesetzt. Elektronenmikroskope benutzen Mag- der Biochemie (der Untersuchung der molekularen
netspulen (Elektromagneten), die als Linsen wirken Bestandteile und der chemischen Vorgänge in Zellen)
und in ihrer Funktion dem Kondensor und dem Objek- sowie der Molekulargenetik herausgebildet.
tiv des Lichtmikroskops entsprechen. Schließlich wird
das Abbild auf einen phosphoreszierenden Schirm
geworfen oder auf einen Kamerachip gelenkt, um Bilder 10 m
Teil 2
zu erstellen. Heute sind Elektronenmikroskope in der
Körpergröße
Regel mit Digitalkameras ausgestattet, um das Bild als
des Menschen
Datei abspeichern zu können. Bei manchen Modellen 1m
Länge mancher

unbewaffnetes Auge
ist ein digitaler Bilddetektor bereits eingebaut und ein Nerven- und
Leuchtschirm gar nicht mehr vorhanden. Muskelzellen
Das Elektronenmikroskop zeigt viele Organellen und
0,1 m
andere subzelluläre Strukturen, die in diesem Detail-
Hühnerei
reichtum im Lichtmikroskop nicht darstellbar wären.
Doch bietet das Lichtmikroskop gewisse Vorteile, ins-
besondere die Möglichkeit, lebende Zellen zu betrach- 1 cm
ten, während für die Elektronenmikroskopie die Zellen
bei der Probenaufbereitung immer abgetötet werden. Froschei
Weiterhin ist der Zeitaufwand bei der Herstellung 1 mm
elektronenmikroskopischer Präparate immer sehr hoch,
in der Lichtmikroskopie aber sehr variabel. Ein Nach-
teil der Elektronenmikroskopie liegt auch darin, dass

Lichtmikroskop
100 µm
sie besonders anfällig ist für das unabsichtliche Erzeu-
die meisten
gen von Artefakten, das heißt Gebilden, die erst bei der Pflanzen- und
beziehungsweise durch die Probenbearbeitung fälsch- Tierzellen
licherweise entstehen und in der lebenden Zelle so gar 10 µm
Zellkern
nicht vorkommen. Die Interpretation elektronenmikro-
die meisten
skopischer Bilder ist daher anspruchsvoll. Dies gilt Bakterien
allerdings für fast alle mikroskopischen Techniken. In Mitochondrium

Elektronenmikroskop
1 µm
diesem Lehrbuch werden wir die gezeigten Mikroskop-
bilder nach Mikroskoptypen einordnen: LM für licht-
mikroskopische Aufnahmen, TEM für Aufnahmen mit
die kleinsten Bakterien
dem Transmissionselektronenmikroskop, und SEM für 100 nm
Viren
Aufnahmen mit dem Rasterelektronenmikroskop.
Mikroskopbilder – insbesondere elektronenoptische Ribosomen
Aufnahmen, die naturgemäß schwarz-weiß sind – 10 nm
können auch nachträglich gefärbt werden, um beson- Proteine
dere Strukturen besser kenntlich zu machen.
Lipide
Mikroskope haben in der Vergangenheit die Biologie
1 nm
als Wissenschaft stark befördert, diese Entwicklung kleine Moleküle
hat sich bis heute fortgesetzt. Die Wiederbelebung der
Lichtmikroskopie durch einschneidende technische
Atome
Verbesserungen (siehe oben und Abbildung 6.3) mit- 0,1 nm
samt der Etablierung der Fluoreszenzmikroskopie hat
zu einer stark verbesserten Detailauflösung geführt. 1 Zentimeter (cm) = 10–2 Meter (m)
1 Millimeter (mm) = 10–3 m
Konfokale Techniken und Algorithmen zur Dekonvo- 1 Mikrometer (µm) = 10–3 mm = 10–6 m
lution ergeben schärfere Bilder im dreidimensionalen 1 Nanometer (nm) = 10–3 µm = 10–9 m
Raum. Super-auflösende Mikroskope lassen Strukturen
Abbildung 6.2: Das Größenspektrum von Zellen. Die meisten Zel-
mit 10–20 nm Durchmesser sichtbar werden und lie-
len sind zwischen 1 und 100 μm groß (gelber Bereich der Abbildung) und
fern Bilder, die ebenso aufregend sind, wie es seiner-
daher nur unter dem Mikroskop erkennbar. Die Bestandteile von Zellen
zeit die van Leeuwenhoekschen Bilder für Robert sind noch kleiner, etwa so wie Viren. Beachten Sie, dass die Größenskala
Hooke gewesen sein dürften. auf der linken Seite logarithmisch skaliert ist, um den enormen Größen-
Mikroskope gehören weiterhin zu den wichtigsten bereich mit vielen Zehnerpotenzen überhaupt darstellen zu können. Oben
Werkzeugen in der Zellbiologie, dem Teilgebiet der bei einer Größenordnung von 10 m beginnend, gibt jeder neue Zahlenwert
Biologie, das sich mit dem Aufbau, der Funktion und eine zehnfache Verkleinerung des Maßstabs an.
den Eigenschaften von Zellen befasst. Eine einfache

130
6.1 Mikroskopie und biochemische Analytik für das Studium von Zellen

 Abbildung 6.3: Näher betrachtet


Mikroskopie

Lichtmikroskopie (LM)
Hellfeld (ungefärbte Probe). Konfokal.
Licht durchstrahlt die Probe direkt. Wenn Die obere Aufnahme ist eine
die Zelle nicht von sich aus pigmentiert Standard-Fluoreszenz-Mikrografie Teil 2
ist oder künstlich angefärbt wurde, ist fluoreszent-markierten Nervengewebes
das Bild kontrastarm. (Die ersten vier (Nervenzellen grün, Stützzellen orange,
Aufnahmen zeigen menschliche Zellen überlappende Bereiche gelb). Darunter
des Wangenepithels, der Maßstab gilt für ist eine konfokale Aufnahme abgebildet.
alle vier Aufnahmen). Mittels Laser eliminiert diese „optische
50 μ m

Dünnschnitttechnik“ nicht sauber


fokussiertes Licht aus einer dicken
Probe und bildet so nur eine einzige
Fluoreszenzebene ab. Indem scharfe
Hellfeld (angefärbte Probe). Bilder vieler unterschiedlicher Ebenen
Das Anfärben mit unterschiedlichen aufgenommen werden, kann eine drei-
Farbstoffen verstärkt den Kontrast. Die dimensionale Rekonstruktion erfolgen.
meisten Färbungen erfordern das Abtöten Die Standardaufnahme erscheint ver-
der Zellen durch vorherige Fixierung. schwommen, weil das nicht fokussierte

50 μ m
Licht mit wiedergegeben wird.

Dekonvolution.
Die obere Hälfte des geteilten Bildes ist
die Zusammenfassung von Standard-
Fluoreszenz-Mikrografien eines weißen
Phasenkontrast. Blutkörperchens. Im unteren Teil ist das
Dichteunterschiede in der Probe werden Bild derselben Zelle gezeigt, nachdem es
verstärkt und vergrößern so den Kontrast aus vielen verschwommenen Aufnahmen
in ungefärbten Zellen. Diese Methode ist unter verschiedenen Winkeln rekonstru-
besonders für lebende, nicht pigmentierte iert wurde. Jedes Einzelbild wurde zuvor
Zellen geeignet. mit einer Dekonvolutions-Software bear-
beitet. Dies entfernt durch digitale Bild-

10 μ m
verarbeitung unfokussiertes Licht und
ordnet es seiner Quelle zu. Zusammen
mit einer Punktspreizfunktion wird
damit die 3-D-Bildqualität wesentlich
verbessert.
Differentieller Interferenzkontrast
(Nomarski). Höchstauflösung (engl. Super-resolution).
Wie bei der Phasenkontrastmikroskopie Oben ist das konfokale Bild eines Teils
werden optische Modifikationen dazu benutzt, einer Nervenzelle zu sehen. Für die
um Dichteunterschiede stark hervorzuheben, Aufnahme wurden Einzelmoleküle
wodurch die Bilder beinahe dreidimensional fluoreszent markiert, das in kleinen
wirken. Vesikeln mit einem Durchmesser von
40 nm konzentriert vorliegt. Die
grüngelben Flecken sind unscharf, weil
40 nm unterhalb der 200 nm-Auflösung
einer Standard-Lichtmikroskopie liegen.
Die untere Aufnahme zeigt den gleichen
Fluoreszenz. Ausschnitt höchstauflösend aufgenom-
Die Aufenthaltsorte bestimmter Moleküle in men. Die sehr aufwendige Technik regt
der Zelle können durch ihre Markierung mit einzelne fluoreszierende Moleküle an
fluoreszierenden Farbstoffen oder Antikörpern und lokalisiert sie. Die Kombination der
sichtbar gemacht werden. Manchmal enthalten Informationen vieler Einzelmoleküle an
die Zellen auch Moleküle, die von sich aus unterschiedlichen Orten durchbricht die
fluoreszieren. Fluoreszierende Stoffe absorbie- Auflösungsbegrenzung und ergibt die
ren oft ultraviolette Strahlung und emittieren scharfen grün-gelben Punkte, die
sichtbares Licht. In dieser fluoreszent markier- 40 nm-Vesikeln entsprechen.
ten Uteruszelle erscheint der Zellkern blau,
Mitochondrien orange und das Zellskelett grün.
1 μm

10 μ m
Elektronenmikroskopie (EM)
Rasterelektronenmikroskopie (REM). Längsschnitt Querschnitt
Transmissionselektronen-
Rasterelektronenmikroskopische Mikrografien zeigen durch ein durch ein
mikroskopie (TEM).
das dreidimensionale Bild einer Probenoberfläche. Cilien 1 µm Ein Transmissionselektro-
Cilium Cilium
Im Bild ist die Oberfläche einer Tracheenzelle mit nenmikroskop profiliert
1 µm
ihrem Cilienbesatz zu sehen. Der Cilienschlag hilft den Dünnschnitt einer
beim Entfernen eingeatmeter Partikel in Richtung Probe. Der Schnitt durch
Rachen. EM-Aufnahmen sind an sich schwarz/weiß, eine Tracheenzelle zeigt
werden aber oft koloriert, um spezielle Strukturen ihren inneren Aufbau. Bei
hervorzuheben. der Probenvorbereitung
wurden einige Cilien
längs geschnitten, andere
Abkürzungen in Abbildungslegenden in diesem Buch: quer.

LM = lichtmikroskopische Aufnahme
REM = rasterelektronenmikroskopische Aufnahme
TEM = transmissionselektronenmikroskopische
Aufnahme

131
6 Ein Rundgang durch die Zelle

6.1.2 Zellfraktionierung
 Abbildung 6.4: Arbeitstechniken
Eine nützliche Technik zum Studium des Aufbaus und
Zellfraktionierung
der Abläufe innerhalb von Zellen ist die Zellfraktionie-
rung (Abbildung 6.4). Dabei werden Zellen zerteilt und Anwendung Die Zellfraktionierung wird einge-
die Organellen und andere Zellbestandteile mehr oder setzt, um Zellkomponenten nach ihrer Größe und
weniger intakt voneinander getrennt, so dass schließlich ihrer Dichte zu trennen (zu fraktionieren).
eine Reihe von Fraktionen entsteht, in der verschiedene, Methode Als Erstes werden die Zellen homogeni-
typische Komponenten der Zelle stark konzentriert vor- siert (zum Beispiel in einem Mixer), um sie aufzu-
liegen. Das wichtigste Instrument hierbei ist die Zentri- brechen. Das resultierende Gemisch (das Zell-
Teil 2
fuge, mit der Zellhomogenate bei verschiedenen Rota- homogenat) wird in der Folge bei verschiedenen
tionsgeschwindigkeiten durch die Zentrifugalkraft Geschwindigkeiten und für verschieden lange Zei-
aufgetrennt werden. Dies führt dazu, dass sich größere ten zentrifugiert, um die Zellbestandteile zu frak-
Zellbestandteile am schnellsten am Boden des Zentrifu- tionieren. Bei den Zentrifugationsläufen bilden
gationsgefäßes als Niederschlag absetzen. Bei niedrigen sich Niederschläge („Pellets“), die von dem verblie-
Umdrehungsgeschwindigkeiten setzen sich zuerst nur benen Rest des Homogenats überschichtet sind
relativ große Zelltrümmer ab. Je höher die Rotations- (Überstand; siehe Abbildung unten rechts).
geschwindigkeit, desto kleiner sind die Zellbestandteile,
die sich absetzen (sedimentieren). Die leistungsstärksten
dieser Apparate werden als Ultrazentrifugen bezeichnet
und erreichen bis zu 130.000 Umdrehungen pro Minute
(UpM, engl. rpm, rotations per minute). Dabei treten
Fliehkräfte (Zentrifugalkräfte) bis zum Millionenfachen Homogenisierung
der Erdbeschleunigung auf (= 1.000.000 × g). Gewebe-
Durch die Zellfraktionierung können bestimmte zellen
Zellbestandteile angereichert und näher charakte- 1.000 g Homogenat
risiert werden – was mit intakten Zellen weitaus (1.000-fache
Erdbeschleu-
schwieriger wäre. Beispielsweise haben biochemische nigung) Zentrifugation
Experimente gezeigt, dass eine Zellfraktion, die bei für 10 Min.
der differenziellen Zentrifugation anfällt, Enzyme ent- Überstand
hält, die an der Zellatmung beteiligt sind. Das Elektro- wird in das
nenmikroskop enthüllte dann, dass diese Fraktion in nächste Röhrchen differenzielle
überführt. Zentrifugation
großer Zahl die als Mitochondrien bezeichneten Orga-
20.000 g
nellen enthielt. Zusammengenommen sind also die für 20 Min.
Mitochondrien der Ort, an dem die Zellatmung statt-
findet. Bestimmte Fragestellungen lassen sich indes
nur an lebenden, intakten Zellen bearbeiten und 100.000 g
durch biochemische Analysen allein nicht lösen. Dies für 60 Min.

betrifft insbesondere die dynamischen Aspekte des Niederschlag


ist reich an
Zellgeschehens, wie die räumliche Organisation ein- Zellkernen 150.000 g
schließlich ihrer Veränderungen (Lokalisationsstudien) und Zell- für 3 Std.
trümmern.
und Ähnliches. Biochemie und Zellbiologie ergänzen
sich also wechselseitig in der Korrelation von zellu- Niederschlag
ist reich an
lären Funktionen mit zellulären Strukturen. Mitochondrien
(und Chloro-
plasten, falls
die Zellen aus Niederschlag
einer Pflanze ist reich an
stammten).
 Wiederholungsfragen 6.1 „Mikrosomen“
(Teile der
Plasma- und
1. Vergleichen sie die Methoden mit denen in der internen Niederschlag
Membranen ist reich an
Licht- und der Elektronenmikroskopie Zellen der Zelle). Ribosomen.
und deren Strukturen sichtbar gemacht werden.
Ergebnis In frühen Experimenten benutzten die
2. WAS WÄRE, WENN? Welchen Mikroskoptyp wür- Forscher Mikroskope, um die in den einzelnen
den Sie wählen, um (a) die Gestaltveränderun- Niederschlägen vorhandenen Organellen zu iden-
gen weißer Blutkörperchen zu untersuchen, tifizieren, und biochemische Methoden, um deren
(b) die Details der Oberflächenbeschaffenheit metabolische Funktionen zu ermitteln. Dies erlaubt
von Haaren zu untersuchen, (c) die Detailstruk- das Erstellen einer allgemein anwendbaren Metho-
tur eines Organells zu untersuchen? dik, die den heutigen Forscher befähigt, definierte
Fraktionen auszuwählen, um bestimmte Organel-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. len isolieren und studieren zu können.

132
6.2 Eukaryontische Zellen sind kompartimentiert

Eukaryontische Zellen karyontischen Zellen (griech. pro-, vor + karyon,


sind kompartimentiert
6.2 Kern) liegt die DNA in einem als Nucleoid bezeichne-
ten Bereich der Zelle konzentriert vor, ist aber nicht von
einer eigenen Membran umgeben (Abbildung 6.5). Das
Innere einer prokaryontischen Zelle wird als Cytoplasma
Die grundlegenden strukturellen und funktionellen Ein- bezeichnet. Derselbe Begriff bezeichnet den Inhalt einer
heiten jedes Lebewesens sind Zellen. Es gibt zwei Typen eukaryontischen Zelle ohne den Zellkern. Das Cyto-
– prokaryontische und eukaryontische Zellen. Die bei- plasma einer eukaryontischen Zelle enthält zahlrei-
den Organismendomänen Archaea und Bacteria sind che Organellen mit jeweils charakteristischen Formen
vom prokaryontischen Typ, das heißt Prokaryonten. Pro- und Funktionen. Diese von Membranen umgebenen
Teil 2
tisten (eine Gruppe meist einzelliger Eukaryonten), Pilze, Gebilde fehlen in prokaryontischen Zellen. Das Vorlie-
Pflanzen und Tiere sind Eukaryonten. Dieses Kapitel gen oder Fehlen eines Zellkerns ist mithin nur ein Bei-
konzentriert sich auf die verallgemeinernde Betrachtung spiel für die strukturellen Unterschiede beider Zell-
tierischer und pflanzlicher Zellen, die aber zuvor mit der typen und die deutlich unterschiedliche Komplexität
prokaryontischen Zelle verglichen werden sollen. ihrer inneren Organisation.
Eukaryontische Zellen sind im Allgemeinen viel
größer als die Zellen von Prokaryonten (Abbildung
6.2.1 Vergleich prokaryontischer mit 6.2). Die Größe ist ein Aspekt der Zellstruktur, der mit
eukaryontischen Zellen der Funktion im Zusammenhang steht. Die Logistik
des Zellstoffwechsels begrenzt die Zellgröße. Am
Alle Zellen haben gewisse Merkmale gemeinsam: Sie unteren Ende der Größenskala bekannter Lebensfor-
sind von einer Grenzschicht, der Plasmamembran, men steht eine Gruppe von Bakterien, die Mycoplas-
umgeben. Die Membran umhüllt eine gelartige Flüssig- men heißen. Sie haben Zelldurchmesser von 0,1–1,0
keit, das Cytosol, in das die Organellen und andere Zell- μm. Sie stellen vielleicht die kleinsten Einheiten mit
bestandteile eingebettet sind. Alle Zellen (mit wenigen genügend DNA dar, um einen Stoffwechsel betreiben
Ausnahmen wie den roten Blutkörperchen) enthalten zu können, und enthalten ausreichend Enzyme und
Chromosomen, die Träger der Erbinformation in Form andere Zellausstattung zum Lebenserhalt und für die
von DNA. Weiterhin enthalten alle Zellen Ribosomen, Fortpflanzung. Typische Bakterien sind 1–5 μm groß
supramolekulare Komplexe, an denen die Proteinbio- und damit etwa zehnmal größer als die Mycoplasmen.
synthese stattfindet. Ein Unterschied zwischen pro- und Typische eukaryontische Zellen sind 10–100 μm groß,
eukaryontischen Zellen besteht in der Lokalisation der allerdings mit erheblichen Abweichungen.
zellulären DNA, was sich in der Namensgebung der Zell- Die Erfordernisse des Stoffwechsels setzen der Zell-
typen widerspiegelt. In eukaryontischen Zellen ist der größe ebenfalls eine Grenze. Als Abgrenzung zur Umge-
Großteil der DNA in einem Organell, dem Zellkern, ein- bung dient bei jeder Zelle die Plasmamembran. Sie bil-
geschlossen, der von einer Doppelmembran umgeben ist det eine selektive Barriere, die den hinreichenden
(Abbildung 6.8). (Das Wort eukaryontisch leitet sich aus Durchtritt von Sauerstoff, Nährstoffen und Abfallpro-
dem Griechischen ab: eu-, wahr + karyon, Kern.) In pro- dukten gewährleistet, um die gesamte Zelle zu versor-

Fimbrien: Anheftungsgebilde an der


Oberfläche mancher Prokaryonten

Nucleoid: Bereich, in dem die DNA


der Zelle lokalisiert ist (nicht von
einer Membran umgeben)

Ribosomen: Komplexe,
die Proteine synthetisieren

Plasmamembran: Membran,
die das Cytoplasma einhüllt
Zellwand: starre Struktur
bakterielles außerhalb der Plasmamembran
Chromosom
Kapsel: gelartige Außenhülle
vieler Prokaryonten
0,5 µm
Flagellen: Organellen zur
Fortbewegung mancher
(a) Ein typisches stäbchen- Bakterien (b) Dünnschnitt durch das Bakterium
förmiges Bakterium Bacillus coagulans (TEM)

Abbildung 6.5: Eine prokaryontische Zelle. Ohne einen echten Zellkern und andere membranumschlossene Organellen wie bei den Eukaryonten ist
die prokaryontische Zelle insgesamt einfacher aufgebaut. Prokaryonten umfassen Bakterien und Archaeen mit recht ähnlichen Zellstrukturen.

133
6 Ein Rundgang durch die Zelle

gen (Abbildung 6.6). Durch jeden Quadratmikrometer sprochen. Prokaryontische Zellen werden detaillierter in
der Membran kann in jeder Sekunde nur eine gewisse, Kapitel 27 beschrieben. Der Rest des vorliegenden Kapi-
begrenzte Stoffmenge wechseln. Somit ist das Ober- tels ist weitgehend der eukaryontischen Zelle gewidmet.
fläche/Volumen-Verhältnis eine kritische Größe. Wenn
eine Zelle (oder ein beliebiger anderer Körper) an Größe Die Oberfläche vergrößert
sich, obwohl das Volumen
zunimmt, wächst das Volumen proportional stärker als fast gleich bleibt.
die Oberfläche (die Oberfläche gehorcht einem Wachs-
tumsgesetz zweiter, das Volumen dem einer dritten
Potenz). Ein kleinerer Körper besitzt daher relativ zu
einem großen die größere Oberfläche (sein Oberfläche/
Teil 2 5
Volumen-Verhältnis ist größer; Abbildung 6.7). 1
1
(a) TEM-Bild einer Plasmamembran.
Zellaußenseite Gesamtoberfläche
Die Plasmamembran – hier die einer
roten Blutzelle – erscheint als Paar [Summe der
dunkler Linien, die durch eine Einzeloberflächen 6 150 750
dazwischenliegende helle Linie (Breite Höhe) aller
getrennt sind. Würfelseiten An-
zahl der Würfel]
Zellinneres
0,1 µm Gesamtvolumen
Kohlenhydrat-Seitenketten
[Höhe Breite
1 125 125
Länge Anzahl
der Würfel]

hydrophiler Oberfläche/Volu-
Bereich men-Verhältnis 6 1,2 6
[Oberfläche:
Volumen]
hydrophober
Bereich Abbildung 6.7: Das Verhältnis von Körperoberfläche zu Volumen.
hydrophiler In der Zeichnung sind die Zellen als Kuben dargestellt. Bei willkürlich gewähl-
Bereich Phospholipidmolekül Proteine ten Längeneinheiten können wir die Oberfläche einer Zelle in Quadrateinhei-
(b) Struktur der Plasmamembran. ten, ihr Volumen in Kubikeinheiten und das Verhältnis von Oberfläche zu
Volumen berechnen. Ein großes Oberfläche/Volumen-Verhältnis erleichtert
Abbildung 6.6: Die Plasmamembran. Plasma- und Organellenmembra- den Austausch von Stoffen zwischen einer Zelle und ihrer Umgebung.
nen bestehen aus Phospholipid-Doppelschichten, in die verschiedene, organel-
lenspezifische Proteine eingelagert sind. Im Inneren der Membranen liegen
einander zugekehrt die hydrophoben Kohlenwasserstoffketten der Phospholi-
pide. Die in der Membranebene liegenden Teile von Transmembranproteinen
6.2.2 Die eukaryontische Zelle im Überblick
sind ebenfalls hydrophob. Die Kopfbereiche der Phospholipidmoleküle sind
hydrophil, ebenso wie die Bereiche der Proteinmoleküle, die auf beiden Seiten Zusätzlich zur Plasmamembran, die ihre äußere Ab-
der Membran die wässrige Phase kontaktieren. Die Kanäle, die gewisse Trans- grenzung darstellt, besitzt eine eukaryontische Zelle
membranproteine durchziehen, haben ebenfalls hydrophile Oberflächen.
ein ausgedehntes und ausgefeiltes System innerer
Membranproteine und viele Membranlipide der Plasmamembran-Außenseite
sind häufig mit Kohlenhydratresten verknüpft, das heißt glykosyliert.
Membranen, die den Zellkörper in Kompartimente –
die schon früher erwähnten Organellen – unterglie-
ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Beschreiben Sie mithilfe von Abbil- dern. Die Zellkompartimente schaffen verschiedene Re-
dung 5.11 die Komponenten eines Phospholipidmoleküls, die es zu einem aktionsräume für spezielle Stoffwechselaufgaben. Auf
Hauptbestandteil der Plasma- und anderer Zellmembranen machen. diese Weise können in der Zelle inkompatible Vorgänge
gleichzeitig ablaufen, ohne sich gegenseitig zu stören.
Die Notwendigkeit, die Oberfläche ausreichend groß zu Die Plasma- und die Organellmembranen nehmen auch
halten, um das eingeschlossene Volumen versorgen zu unmittelbar am Stoffwechsel der Zelle teil, weil viele
können, liefert einen Erklärungsansatz für die mikrosko- Enzyme fest in Membranen eingebettet sind, wo sie oft
pische Größe der meisten Zellen und die langgestreckte funktionelle Verbände mit anderen Enzymen und Pro-
Gestalt anderer, größerer Zelltypen wie Nervenzellen teinen nichtenzymatischer Natur bilden.
mit langen Ausläufern. Größere Lebewesen verfügen im Da Membranen von fundamentaler Bedeutung für
Allgemeinen nicht über größere Zellen, sondern über die Organisation der Zelle sind, werden wir sie in
eine größere Anzahl von Zellen (Abbildung 6.7). Ein Kapitel 7 separat und im Detail behandeln. Im Allge-
hinreichend großes Oberfläche/Volumen-Verhältnis ist meinen bestehen biogene Membranen aus Doppel-
für Zellen, die große Stoffmengen mit der Umgebung schichten von Phospho- und anderen Lipiden. In
austauschen (zum Beispiel Darmzellen) von besonderer diese Lipiddoppelschicht sind zahlreiche Proteine
Bedeutung. Derartige Zellen verfügen oft über zahlrei- eingebettet (Abbildung 6.6). Jeder Membrantyp besitzt
che, lange, dünne Fortsätze an ihren Oberflächen, die jedoch eine bestimmte chemische Zusammensetzung
Mikrovilli heißen. Sie vergrößern die Oberfläche ohne aus Lipiden und Proteinen, die der spezifischen Funk-
eine nennenswerte Vergrößerung des Volumens. tion der betreffenden Membran angepasst sind. So
Evolutionäre Beziehungen zwischen pro- und euka- sind etwa die Proteine der Mitochondrien-Membran
ryontischen Zellen werden später in diesem Kapitel be- für die Zellatmung zuständig.

134
6.2 Eukaryontische Zellen sind kompartimentiert

Studieren Sie vor der Fortsetzung Ihrer Lektüre gründ- rische Zelle einer typischen Pflanzenzelle gegenüber.
lich die Übersicht über die eukaryontische Zelle in Als Vertreter des eukaryontischen Zelltyps haben sie
Abbildung 6.8. Diese verallgemeinerten Schemazeich- vieles gemeinsam – mehr als jede von ihnen mit pro-
nungen von Zellen machen Sie mit den verschiedenen karyontischen Zellen gemeinsam hat. Dennoch bestehen
Organellen bekannt und geben Ihnen eine Art Land- zwischen tierischen und pflanzlichen Zellen wesentli-
karte für die nachfolgende Erkundung der Zelle an die che Unterschiede.
Hand. Abbildung 6.8 stellt außerdem eine typische tie-

 Wissenschaftliche Übung
Teil 2
Gebrauch eines Maßstabes zur Berechnung von sendstel eines Millimeters. Indem sie den Maß-
Oberfläche und Volumen einer Zelle stab als Grundeinheit verwenden, bestimmen
Sie den Durchmesser der reifen Elternzelle so-
Wie viel neues Cytoplasma und wie viel neue Plas- wie der neuen Zelle. Beginnen Sie mit der
mamembran werden durch eine wachsende Hefe- Messung des Maßstabs, und danach messen
zelle synthetisiert? Die einzellige Hefe Saccharomy- Sie den Durchmesser einer jeden Zelle. Die
ces cerevisiae teilt sich, indem sie eine kleine neue Einheiten, die sie benutzen, sind nicht von Be-
Zelle durch Knospung hervorbringt, die dann zur deutung. Aber es ist bequem, mit Millimetern
vollen Größe heranreift (man vergleiche die Hefezel- zu arbeiten. Teilen Sie den gemessenen Wert
len unten in Abbildung 6.8). Während ihres Wachs- für den Durchmesser durch den gemessenen
tums synthetisiert die neue Zelle neues Cytoplasma, Wert für den Maßstab und multiplizieren Sie
so dass ihr Volumen zunimmt, und sie erzeugt neue dann mit der Maßstabsangabe (1 μm), um den
Plasmamembran, die die Zelloberfläche vergrößert. Durchmesser in Mikrometern zu erhalten.
In dieser Übung benutzen wir einen Maßstab, um die
Größe einer Hefezelle und der daraus durch Knos- 2. Die Gestalt einer Hefezelle kann durch eine Ku-
pung hervorgehenden Tochterzelle zu bestimmen. gel angenähert werden. (a) Berechnen Sie das
Wir wollen das Volumen und die Oberfläche jeder Volumen jeder Zelle, indem Sie die Gleichung
Zelle berechnen. Das Ergebnis werden wir benut- für das Kugelvolumen benutzen: V = 4/3 πr 3.
zen, um zu bestimmen, wie viel Cytoplasma und Beachten Sie, dass π (der griechi-
wie viel Plasmamembran die neue Zelle benötigt, sche Buchstabe Pi) eine Kon- r d
um zur vollen Größe heranzuwachsen. stante mit einem ungefähren
Durchführung des Experiments Hefezellen wuch- Wert von 3,14 ist. d steht für den
sen unter Bedingungen, die ihre Teilung durch Knos- Durchmesser, r für den Radius
pung begünstigten. Anschließend wurden die Zel- (Hälfte des Durchmessers). (b)
len in einem Differential-Interferenz-Kontrast-Licht- Wie viel neues Cytoplasma wird die neue Zelle
mikroskop betrachtet und fotografiert. synthetisieren müssen, wenn sie heranreift? Zur
Experimentelle Daten Diese lichtmikroskopische Beantwortung dieser Frage berechnen wir die
Aufnahme zeigt eine knospende Hefezelle unmittel- Differenz zwischen dem Volumen der reifen
bar vor der Freisetzung von der Elternzelle: Zelle und dem der heranwachsenden Zelle.

3. Wenn die neue Zelle wächst, muss ihre Plas-


mamembran vergrößert werden, um das zu-
Elternzelle sätzliche Zellvolumen aufnehmen zu können.
(a) Berechnen Sie die Oberfläche einer jeden
Tochter-
zelle Zelle, indem Sie die Gleichung für die Ober-
fläche einer Kugel benutzen: A = 4πr 2. (b) Wie
groß ist die Fläche der neuen Plasmamem-
bran, die die neue Zelle synthetisieren muss,
1 μm
während sie heranreift?

Datenauswertung 4. Um wie viel voluminöser und größer wird die


neue Zelle am Ende im Vergleich zu ihrer auf
1. Betrachten Sie die Mikrografie der Hefezellen. dem Bild gezeigten Größe sein?
Der Maßstab unter dem Foto ist mit 1 μm be-
schriftet. Dieser Maßstab funktioniert auf die
gleiche Weise wie der Maßstab einer Straßen- Mikrografie von Kelly Tatchell mit Hefezellen entnommen aus
karte, wo beispielsweise ein Zentimeter einem L. Kozubowski et al., Role of the septin ring in the asymmetric locali-
Kilometer entspricht. In unserem Bild entspricht zation of proteins at the mother-bud neck in Saccharomyces cerevi-
der Maßstab einem Mikrometer, also einem Tau- siae, Molecular Biology of the Cell 16:3455–3466 (2005).

135
6 Ein Rundgang durch die Zelle

 Abbildung 6.8: Näher betrachtet


Eukaryontische Zellen

Tierzelle (Ausschnittsansicht einer verallgemeinerten Zelle)

Zellkernhülle: doppelte
Teil 2 Membran, die den Zellkern
Endoplasmatisches Reticulum (ER): umhüllt; von Kernporen
Netzwerk aus Membransäcken und durchbrochen; bildet ein
-röhren; Ort der Membranbiosyn- Kontinuum mit dem ER
these sowie anderer synthetischer
und metabolischer Vorgänge; Nucleolus: nicht von einer
besitzt raue (mit Ribosomen Membran umhüllter Bereich,
Cilium oder Flagellum (Zellgeißel): besetzte) und glatte Bereiche
Lokomotionsorganell, das bei der an der Herstellung von Zellkern
einigen Tierzellen vorhanden ist; Ribosomen beteiligt ist; ein
besteht aus einem charakteristi- raues ER glattes ER Zellkern kann einen oder
schen Verband von Mikrotubuli in mehrere Nucleoli aufweisen
einer Ausstülpung der
Plasmamembran Chromatin: aus DNA und
Proteinen bestehendes
Centrosom: die Region, von Material; in einer sich
der aus sich die zellulären teilenden Zelle als einzelne
Mikrotubuli bilden, enthält Chromosomen sichtbar
außerdem ein Paar von
Centriolen mit bislang
unbekannter Funktion

Zellskelett (Cytoskelett):
unterstützt die Zellgestalt, wirkt
an der Zellbewegung mit;
besteht aus Proteinen,
darunter:
Plasmamembran:
Mikrofilamente Membran, welche die
ganze Zelle umhüllt
Intermediärfilamente

Mikrotubuli

Ribosomen: Komplexe (als kleine


braune Punkte dargestellt), die
Mikrovilli: die Proteinbiosynthese durch-
Ausstülpungen, die führen; frei im Cytosol oder
die Zelloberfläche gebunden an den Membranen
vergrößern des rauen ER (einschließlich der
äußeren Zellkernmembran)

Golgi-Apparat: Organell, das in


die Synthese, Modifikation,
Peroxisom: Organell mit Sortierung und Sekretion von
verschiedenartigen Stoff- Zellprodukten eingebunden ist
wechselaufgaben; erzeugt
Wasserstoffperoxid als
Nebenprodukt, das dann in Mitochondrium: Organell, Lysosom: Verdauungs-
in dem die Zellatmung In tierischen, aber nicht in pflanzlichen Zellen:
Wasser umgewandelt wird organell, in dem Lysosomen
abläuft und der Großteil Makromoleküle
des ATP gebildet wird Centrosomen, mit Centriolen
hydrolysiert werden Cilien oder Flagellen sind nur bei tierischen und manchen
pflanzlichen Spermien vorhanden

Elternzelle 1 μm
10 μm

Zellwand
Pilzzellen
Tierzellen

Zelle Vakuole
Knospe
Zellkern
1 μm

Nucleolus
Zellkern
Hefezellen vermehren sich durch
Menschliche Gebärmutterschleimzellen Knospung (oben, kolorierte REM) und Mitochondrium
(kolorierte TEM) eine einzige Zelle (rechts, kolorierte TEM).

136
6.2 Eukaryontische Zellen sind kompartimentiert

Pflanzenzelle (Ausschnittsansicht einer verallgemeinerten Zelle)


Falls Sie den Rest des Kapitels schon jetzt durchblättern, so werden
Sie feststellen, dass Abbildung 6.9 wiederholt in verkleinerter Form Teil 2
Im MyLab|Deutsche Version für Campbell Biologie finden als Orientierungsdiagramm auftritt. In allen Fällen ist ein bestimmtes
Organell hervorgehoben, wobei die Farbgebung jener in der Abbil-
Sie 3D-Animationen zur Tier- und zur Pflanzenzelle. dung 6.9 entspricht. Wenn wir uns die verschiedenen Organellen
näher ansehen, werden Ihnen diese Orientierungsdiagramme dabei
helfen, diese Strukturen in den Kontext einer ganzen Zelle zu stellen.

Zellkernhülle raues endoplas-


matisches Reticulum
Zellkern Nucleolus
Chromatin

glattes endoplas-
matisches Reticulum

Ribosomen (als kleine braune Punkte dargestellt)

Zellsaftvakuole: hervorstechendes Organell älterer


Pflanzenzellen; dient der Einlagerung von Substanzen,
dem Abbau von Abfallprodukten, der Hydrolyse von
Golgi-Apparat Makromolekülen; die Vergrößerung der Vakuole ist
der Hauptmechanismus des Pflanzenzellwachstums.

Mikrofilamente

Intermediärfilamente Cytoskelett

Mikrotubuli

Mitochondrium

Peroxisom
Chloroplast: Photosyntheseorganell;
Plasmamembran wandelt Lichtenergie in chemische Energie
in Form von Zuckermolekülen um
Zellwand: Außenschicht, die die Zelle in ihrer
Form hält und vor mechanischer Beschädigung In pflanzlichen, aber nicht
bewahrt; sie besteht aus Cellulose, anderen in tierischen Zellen:
Polysacchariden und Proteinen. Plasmodesmen: Die Zell- Chloroplasten
wände durchziehende Zellsaftvakuole
Wand einer benachbarten Zelle Kanäle, die das Cytoplasma Zellwand
benachbarter Zellen mit- Plasmodesmen
einander verbinden.

Zelle Flagellen
1 μm
5 μm

8 μm

Zellwand
Eukaryonten

Chloroplast Zellkern
Pflanzenzelle

Einzellige

Mitochondrium Nucleolus
Zellkern
Vakuole
Nucleolus
Einzellige Grünalge Chlamydomonas Chloroplast
Zellen der Wasserlinse (Spirodela oligorrhiza), (oben, kolorierte REM, rechts kolorierte
einer schwimmenden Pflanze (kolorierte TEM) TEM) Zellwand

137
6 Ein Rundgang durch die Zelle

Rändern der Kernporen stehen die innere und die


 Wiederholungsfragen 6.2 äußere Membran der Kernhülle miteinander in Kontakt.
Ein kompliziert gebautes Gebilde aus zahlreichen Pro-
1. Beschreiben Sie, nachdem Sie Abbildung 6.8
teinen namens Kernporenkomplex kleidet jede Kernpore
gründlich studiert haben, knapp den Aufbau
aus und gibt ihr ihre Form. Der Kernporenkomplex spielt
und die Funktion des Zellkerns, der Mito-
eine wichtige Rolle bei der Regulation des Ein- und Aus-
chondrien, der Chloroplasten und des endo-
tritts von Makromolekülen wie RNA und Proteinen in
plasmatischen Reticulums.
und aus dem Zellkern. Die Kernporen sind gewisserma-
2. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich eine lang ßen Zollstationen, die den Warenverkehr des Zellkerns
gestreckte Zelle vor (wie etwa eine Nerven- kontrollieren. Mit Ausnahme der Kernporenbereiche ist
Teil 2
zelle), die die Maße 125 × 1 × 1 hat. Die Maß- die Innenseite der Kernhülle (die innere Zellkernmem-
einheit spielt hierbei, wie in Abbildung 6.7, bran) von der Kernlamina ausgekleidet. Die Kernlamina
keine Rolle. Schätzen Sie ab, wo in Abbildung ist ein netzartiges Maschenwerk aus Proteinfilamenten,
6.7 ihr Oberfläche/Volumen-Verhältnis ange- das für die Formgebung des Zellkerns verantwortlich ist.
siedelt wäre. Führen Sie dann die Berechnung Sie bildet eine mechanische Stütze der Kernhülle, stellt
durch und vergleichen Sie das Ergebnis mit also ein molekulares Skelett des Zellkerns dar. Es gibt
ihrer Abschätzung. außerdem viele Hinweise auf eine nucleäre Matrix, ein
Gerüst aus Proteinfasern im Inneren des Zellkerns. Ver-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. mutlich organisieren die Kernlamina und die Matrix die
Erbinformation effektiver.
Innerhalb des Zellkerns ist die DNA in diskrete Ein-
heiten, die Chromosomen, aufgeteilt. Die Chromosomen
sind diejenigen Gebilde, die die stoffliche Grundlage der
Die genetischen Anweisungen genetischen Information darstellen. Jedes Chromosom
eukaryontischer Zellen finden sich besteht aus einem als Chromatin bezeichneten Ver-
im Zellkern, ihre Umsetzung bundmaterial aus Proteinen und DNA (Näheres fin-
den Sie in Abbildung 16.22). Angefärbtes Chromatin
erfolgt durch die Ribosomen
6.3 (griech. chroma, Farbe) erscheint für gewöhnlich als dif-
fuse Masse, und dies sowohl im Licht- als auch im Elek-
tronenmikroskop. In Vorbereitung der Zellteilung rollen
Zunächst wollen wir die Zellbestandteile näher betrach- sich die dünnen Chromatinfasern auf (sie kondensieren).
ten, die an der genetischen Steuerung der Zelle betei- Dabei verdicken sie sich stark genug, um als getrennte,
ligt sind: den Zellkern, der den allergrößten Teil der unterscheidbare Gebilde in Erscheinung zu treten, die
DNA der Zelle beherbergt, und die Ribosomen, die die uns als Chromosomen vertraut sind. Das Chromatin
in der DNA gespeicherte Information letztlich in Pro- stellt also die Gesamtheit der Chromosomen in einem
teine übersetzen. strukturell lockeren Zustand dar. Jede eukaryontische
Art besitzt eine für sie charakteristische Anzahl von
Chromosomen. Menschliche Zellen enthalten bei-
6.3.1 Der Zellkern: spielsweise 46 Chromosomen. Ausnahmen sind die
die Informationszentrale der Zelle Geschlechts- oder Fortpflanzungszellen (Eizellen und
Samenzellen), die je 23 Chromosomen – also gerade die
Der Zellkern beherbergt die weitaus meisten Gene Hälfte im Vergleich zu gewöhnlichen Körperzellen – ent-
einer eukaryontischen Zelle (eine geringe Anzahl halten. Eine Fruchtfliege hat in den meisten Zel-
von Genen findet sich in eigenen Genomen len ihres Körpers acht Chromosomen, in
der Mitochondrien und Plastiden). Er ist ihren Fortpflanzungszellen jeweils vier.
in vielen eukaryontischen Zellen das Zellkern Ein hervorstechendes Gebilde, das
augenfälligste Organell. In tierischen sich in einem nicht in Teilung be-
Zellen hat er einen typischen Durch- findlichen Zellkern findet, ist der
messer von etwa 5 μm. Die Zellkern- Nucleolus (lat. „Kernchen“; Plur.
hülle umschließt den Zellkern Nucleoli). Er erscheint im elektro-
(Abbildung 6.9) und trennt seinen nenmikroskopischen Bild als nicht
Inhalt weitgehend vom Cytoplasma. scharf umgrenzte Masse dunkler
Die Zellkernhülle ist eine Doppel- Granula und Fasern, die an das
membran. Die beiden Membranen der Chromatin angelagert sind. An die-
Kernhülle bestehen aus je zwei Lipid- sem Ort wird ein spezieller RNA-Typ,
doppelschichten mit darin eingebetteten die ribosomale RNA (rRNA) syntheti-
und peripher assoziierten Proteinen; sie siert. rRNA-Gene der DNA dienen als Mat-
sind 20–40 nm voneinander entfernt (typischer 5 μm rize für die Herstellung dieser RNA-Sorte. Im
Durchmesser einer Lipidmembran ca. 7 nm). Die Zell- Nucleolusbereich werden diese RNA-Moleküle mit
kernhülle ist von zahlreichen Kernporen durchsetzt, speziellen, aus dem Cytoplasma importierten Proteinen
deren Durchmesser ca. 100 nm (0,1 μm) beträgt. An den (ribosomalen Proteinen) zu Untereinheiten eines Ribo-

138
6.3 Die genetischen Anweisungen eukaryontischer Zellen finden sich im Zellkern, ihre Umsetzung erfolgt durch die Ribosomen

Zellkern
1 μm
Zellkern

Nucleolus

Chromatin

Zellkernhülle: Teil 2
innere Membran
äußere Membran

Kernpore

raues ER

 Oberfläche der Zellkernhülle. Kernporen-


TEM-Bild eines Präparates, das durch komplex
Gefrierbruchtechnik erzeugt wurde. Ribosom

 Detailan-
sicht der  Chromatin. Dieses
0.25 μm

Zellkern- Teilstück eines Chromosoms


hülle aus einer sich nicht teilenden
Zelle zeigt zwei Arten der
Verdrillung des DNA- (blau)
Proteinkomplexes (lila). Die dickere
0.5 μm

Variante legt sich manchmal auch


in lange Schleifen.
 Kernporenkomplexe (TEM-
Aufnahme). Jede Kernpore wird
von Proteinpartikeln umkränzt.  Kernlamina (TEM-Aufnahme).
Die netzartige Lamina kleidet die
innere Oberfläche der Zellkernhülle aus.

© Pearson Education, Inc.

Abbildung 6.9: Der Zellkern und seine Hülle. Innerhalb des Zellkerns befinden sich die Chromosomen, die in der Interphase als unstrukturierte Chromatin-
masse (DNA plus assoziierte Proteine) erscheinen, sowie ein oder mehrere Nucleoli. Der Nucleolus ist der Ort der Ribosomenbildung. Die Zellkernhülle, die aus
zwei Membranen besteht, die durch einen schmalen Spalt getrennt sind, ist von Poren durchzogen und innen durch die Kernlamina ausgekleidet.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Die Chromosomen enthalten das Erbmaterial. Sie befinden sich im Zellkern. Wie gelangt der Rest der Zelle an die
Informationen, die sie enthalten? (Siehe Abbildung 5.23 )

soms zusammengefügt. Dabei entstehen große und küle werden dann durch die Kernporen in das Cyto-
kleine ribosomale Untereinheiten, die sich in ihren plasma verbracht und dort von Ribosomen in die
molekularen Zusammensetzungen unterscheiden und Primärstruktur eines Polypeptids übersetzt (translatiert).
zusammen funktionsfähige Ribosomen bilden. Diese Die Vorgänge des Umschreibens der Erbinformation
Untereinheiten verlassen separat durch die Kernporen aus DNA in RNA (Transkription) und der Übersetzung
den Zellkern und treten in das Cytoplasma über, wo je der mRNA in Protein (Translation) werden in Kapitel 17
eine große und eine kleine Ribosomen-Untereinheit zu- detaillierter besprochen.
sammen mit einem mRNA-Molekül einen Transla-
tionskomplex bilden können. Manchmal finden sich
zwei oder mehr Nucleoli in einem Zellkern. Die Zahl 6.3.2 Ribosomen:
der Nucleoli ist art- und zellzyklusabhängig. Neuere die Proteinfabriken der Zelle
Untersuchungen weisen darauf hin, dass dem Nucleo-
lus möglicherweise auch eine Funktion bei der Regula- Die Ribosomen – kompliziert gebaute Gebilde aus ribo-
tion zellulärer Vorgänge wie der Zellteilung zukommt. somalen Ribonucleinsäuren (rRNA) und einer Reihe ver-
Abbildung 5.23 zeigte, dass der Zellkern die Pro- schiedener Proteine – sind für die Proteinbiosynthese
teinbiosynthese durch die Synthese von Boten-RNA zuständige Zellbestandteile (Abbildung 6.10). Zellen
(mRNA) nach den in der DNA niedergelegten Anwei- mit hohen Proteinsyntheseraten besitzen eine große
sungen steuert und beaufsichtigt. Die mRNA-Mole- Anzahl von Ribosomen. So enthält beispielsweise eine

139
6 Ein Rundgang durch die Zelle

0,25 μm

Ribosomen ER freie Ribosomen in Cytosol

raues endoplasmatisches Reticulum (ER)

ER-gebundene Ribosomen
große
Untereinheit

kleine
Untereinheit
Teil 2 TEM-Aufnahme mit Schemazeichnung Computermodell
ER und Ribosomen eines Ribosoms eines Ribosoms
Abbildung 6.10: Ribosomen. Diese elektronenmikroskopische Aufnahme zeigt einen Ausschnitt aus einer Bauchspeicheldrüsenzelle mit zahlreichen
freien und membranständigen Ribosomen. Die Schemazeichnung und das Computermodell zeigen die beiden ribosomalen Untereinheiten.

menschliche Pankreaszelle (Zelle der Bauchspeichel- Das Endomembransystem steuert


drüse) einige Millionen Ribosomen. Es überrascht nicht,
dass Zellen mit einer sehr hohen Proteinsyntheseaktivi-
den Proteinverkehr und wirkt
tät auch ausgeprägte Nucleoli aufweisen.
Ribosomen liegen entweder frei, das heißt im Cytosol
im Zwischenstoffwechsel mit
6.4
suspendiert, vor, oder sie sind an die Außenseite des
endoplasmatischen Reticulums (ER) beziehungsweise Viele der verschiedenen Membranen einer eukaryonti-
die äußere Zellkernhülle gebunden (Abbildung 6.10). schen Zelle sind Teile des Endomembransystems, das
Membrangebundene und freie Ribosomen sind struktu- in der Zelle eine Reihe unterschiedlicher Aufgaben
rell identisch; jedes Ribosom kann frei oder membran- erfüllt. Zu diesen Aufgaben gehört die Synthese von
ständig vorkommen. Tatsächlich hängt die Membran- Proteinen, ihre Modifikation, der Einbau in Membra-
assoziation vom entstehenden Protein ab, vor allem von nen und der Transport zum Bestimmungsort in Orga-
dem N-terminalen Bereich der Polypeptidkette mit ihrer nellen oder aus der Zelle heraus (engl. protein traf-
Erkennungssequenz für das ER, und nicht vom Ribosom. ficking), weiterhin der Stoffwechsel und Transport von
Die meisten der Proteine, die an freien Ribosomen gebil- Lipiden sowie die Entgiftung toxisch wirkender Stoffe.
det werden, üben ihre Funktion im Cytosol der Zelle Die Membranen dieses Systems stehen entweder in
aus. Beispiele dafür sind die Enzyme, die die Anfangs- direktem Kontakt miteinander oder sind durch Trans-
schritte des Zuckerabbaus (Glykolyse) katalysieren. Die portvesikel (lat. vesicula, Bläschen; winzige, von einer
membrangebundenen Ribosomen sind im Allgemeinen Membran umschlossene kleine Strukturen) funktionell
mit der Herstellung von Proteinen befasst, die für den miteinander verbunden. Ungeachtet dieser Beziehun-
Einbau in Membranen, für das Innere bestimmter Orga- gen sind die verschiedenen inneren Membranen weder
nellen wie zum Beispiel Lysosomen (Abbildung 6.8) in ihrem chemischen Aufbau noch in ihrer Funktion
oder für den Export aus der Zelle bestimmt sind. Auf die identisch. Darüber hinaus sind weder die Dicke, noch
Proteinsekretion spezialisierte Zellen – zum Beispiel die die molekulare Zusammensetzung oder die von einer
Zellen der Bauchspeicheldrüse (Pankreas), die Verdau- bestimmten Membran ausgeführten chemischen Reak-
ungsenzyme herstellen und ausschütten – enthalten oft- tionen streng festgelegt, sondern werden im Laufe der
mals eine sehr große Zahl von membranständigen Ribo- Existenz der Membran unter Umständen mehrfach
somen. Die Struktur und Funktion von Ribosomen umgewidmet. Zum Endomembransystem einer eukary-
werden in Kapitel 17 ausführlicher behandelt. ontischen Zelle gehören die Zellkernhülle, das endo-
plasmatische Reticulum (ER), der Golgi-Apparat, die
Lysosomen, die Vakuole(n), die Endosomen, sowie
 Wiederholungsfragen 6.3 gegebenenfalls noch andere, zellspezifische Organel-
1. Welche Rolle spielen die Ribosomen bei der len. Die Plasmamembran, sowie die Membranen der
Umsetzung der genetischen Instruktionen der Mitochondrien und der Plastiden, gehören definitionsge-
Zelle? mäß nicht zum Endomembransystem, sondern werden
gesondert betrachtet. Nachdem wir die Zellkernhülle
2. Beschreiben Sie den molekularen Aufbau der
erörtert haben, wenden wir uns nun dem endoplasmati-
Nucleoli und erläutern Sie ihre Funktion.
schen Reticulum und den übrigen Endomembranen zu,
3. WAS WÄRE, WENN? Wenn eine Zelle mit dem die daraus direkt oder indirekt hervorgehen.
Teilungsprozess beginnt, werden ihre Chromo-
somen kürzer, dicker und einzeln im Lichtmi-
kroskop sichtbar. Erklären Sie den Ablauf 6.4.1 Das endoplasmatische Reticulum:
durch die zugehörigen molekularen Vorgänge. die biosynthetische Fabrik
(Ziehen Sie dazu gegebenenfalls den letzten
Teil von Kapitel 16 zu Rate.) Das endoplasmatische Reticulum (ER) ist ein ausge-
dehntes Netzwerk aus Membranen, das in vielen euka-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
ryontischen Zellen mehr als die Hälfte der Gesamt-

140
6.4 Das Endomembransystem steuert den Proteinverkehr und wirkt im Zwischenstoffwechsel mit

membranfläche stellt (griech. endo, innen + plasma, einige der an solchen Entgiftungsreaktionen beteiligten
Gebilde, + lat. reticulum, Netz, Netzwerk). Besonders Enzyme wenig substratspezifisch sind, kann die Tole-
ausgeprägt ist es in Zellen mit einer hohen Produkti- ranzbildung durch Vermehrung des glatten ER, die auf
vität wie beispielsweise Drüsenzellen. Das Membran- einen Wirkstoff hin erfolgt, eine Toleranzbildung auch
netzwerk des ER besteht aus Membrantubuli und gegen andere Substanzen nach sich ziehen. Ein Barbi-
abgeflachten Membranbereichen, die als Zisternen turatmissbrauch kann beispielsweise die Wirksamkeit
bezeichnet werden (lat. cisterna, Brunnen, Sammelbe- bestimmter Antibiotika und anderer nützlicher Wirk-
hälter). Die ER-Membran umschließt einen Innenraum stoffe herabsetzen (Barbiturate führen leicht zu einer
des Organells, das Lumen, der durch diese Membran Gewöhnung und darüber hinaus zur Suchtbildung).
vom Cytosol getrennt ist. Da sich die ER-Membran in Das glatte ER speichert außerdem Calciumionen. In
Teil 2
der äußeren Zellkernhülle fortsetzt, gehört der Raum Muskelzellen pumpen spezielle Calciumpumpen in
zwischen den beiden Zellkernmembranen topologisch den Membranen des glatten ER Calciumionen aus dem
zum ER-Lumen (Abbildung 6.11). Cytosol in das ER-Lumen. Wenn die Muskelzelle durch
Man unterscheidet zwei funktionell verschiedene einen Nervenreiz stimuliert wird, öffnen sich Kanalpro-
Bereiche des ER, die kontinuierlich ineinander überge- teine und die Calciumionen strömen schlagartig aus
hen können. Das glatte ER verdankt seinen Namen der dem ER in das Cytosol und lösen eine Kontraktion der
Tatsache, dass sich an diesen Membranbereichen keine Faserproteine von Muskelzellen aus. In anderen Zell-
außen anhaftenden Ribosomen finden. Das raue ER typen lösen aus dem ER-Lumen freigesetzte Calcium-
trägt auf seiner Membranaußenseite Ribosomen, die die- ionen andere Vorgänge aus.
sen Membranbereichen in elektronenmikroskopischen
Bildern ein raues, körniges Aussehen verleihen. Wie
bereits erwähnt wurde, sind auch auf der cytoplasma-
tischen Seite der äußeren Zellkernhülle Ribosomen ver-
ankert. Man kann also sagen, dass dieser Teil der Zell-
kernhülle einen Teil des rauen ER darstellt.

Die Funktionen des glatten ER


Das glatte ER ist an verschiedenen Stoffwechselvorgän- glattes ER
gen beteiligt, die von Zelltyp zu Zelltyp variieren. Dazu
gehören die Synthese von Lipiden, der Kohlenhydrat-
stoffwechsel und die Detoxifizierung von Medikamen- raues ER
Zellkernhülle
tenwirkstoffen und Giften.
Das glatte ER enthält die Enzyme für die Lipidbiosyn-
these (Öle, Phospholipide, Steroide). Zu den vom glat-
ten ER in Tierzellen gebildeten Stoffen gehören bei den
Wirbeltieren die Geschlechtshormone und die ver-
schiedenen, von der Nebenniere sezernierten Steroid-
hormone. Die Zellen, die diese Hormone herstellen und Lumen
ausschütten – zum Beispiel in den Hoden und den des ER
Eierstöcken – sind reich an glattem ER – ein Struktur- Zisternen
merkmal, das der Funktion dieser Zellen entspricht. Ribosomen transitorisches ER
Andere Enzyme des glatten ER helfen bei der Detoxi- Transportvesikel 200 nm
glattes ER raues ER
fikation von Fremdstoffen (Giften, Medikamentenwirk-
stoffen). Dies gilt insbesondere für Leberzellen. Die Ent-
giftung solcher Substanzen umfasst für gewöhnlich
eine Hydroxylierung (die Hinzufügung einer Hydroxyl-
gruppe), um die Moleküle löslicher und damit leichter
aus dem Körper entfernbar zu machen. Das Narkotikum
Phenobarbital (ein Derivat der Barbitursäure) und
andere Barbiturate sind Beispiele für Substanzen, die
auf diese Weise vom glatten ER der Leberzellen ver-
stoffwechselt werden. Tatsächlich induzieren Barbi-
turate, Trinkalkohol und viele andere Wirkstoffe eine
Proliferation (starke Vermehrung) des glatten ER und Abbildung 6.11: Das endoplasmatische Reticulum (ER). Als Mem-
der mit diesen Membranen assoziierten Entgiftungs- bransystem aus miteinander verbundenen Tubuli und abgeflachten Mem-
bransäcken (Zisternen) setzt sich das ER in der äußeren Zellkernhülle fort. Die
enzyme, wodurch die erreichbare Detoxifizierungskapa-
ER-Membranen umschließen ein zusammenhängendes Kompartiment, das
zität erhöht wird. Dies zieht wiederum eine Toleranzbil- ER-Lumen. Das auf seiner Außenseite mit Ribosomen besetzte raue ER ist auf
dung gegenüber den genannten Stoffen nach sich, was elektronenoptischen Aufnahmen vom glatten ER, dem die Ribosomen fehlen,
nichts anderes bedeutet, als dass immer höhere Dosen zu unterscheiden (untere Aufnahme in der Abbildung). Transportvesikel knos-
notwendig sind, um eine Wirkung herbeizuführen, wie pen von einem als transitorisches ER bezeichneten Bereich des rauen ER ab
etwa die Schlafinduktion oder die Sedierung. Weil und werden zum Golgi-Apparat oder zu anderen Zielorten transportiert.

141
6 Ein Rundgang durch die Zelle

Die Funktionen des rauen ER Vesikel sind mit dem Transport von Material zwischen
Viele Zelltypen sezernieren Proteine, die von am rauen Teilen des Golgi-Komplexes und hin zu anderen Zell-
ER verankerten Ribosomen synthetisiert werden. So strukturen befasst.
stellen etwa bestimmte Zellen der Bauchspeichel- Der Membranstapel des Golgi-Apparates besitzt eine
drüse das Proteinhormon Insulin her und schütten es Polarität. Die auf gegenüberliegenden Seiten eines Mem-
in den Blutstrom aus. Schon während der Synthese branstapels liegenden Membranen unterscheiden sich
wird die Polypeptidkette cotranslational durch eine bezüglich ihrer Dicke und ihrer chemischen Zusammen-
von einem speziellen Porenkomplex in der ER-Mem- setzung. Die beiden Seiten einer Golgi-Zisterne werden
bran gebildete Öffnung in das Lumen des Organells als ihre cis- und ihre trans-Seite bezeichnet. Die cis-Seite
geschleust. Bei seinem Eintritt in das ER-Lumen ist dem ER zugewandt, sie ist die Empfängerseite, an die
Teil 2
beginnt sich die noch wachsende Polypeptidkette zu Transportvesikel andocken und mit der sie fusionieren.
falten. Die meisten Proteine, die dem sekretorischen An der trans-Seite des Golgi-Apparates verlassen die
Weg folgen, sind Glykoproteine – weisen also kovalent Transportvesikel das Organell und wandern zu ihren
gebundene Kohlenhydratketten auf. Die Kohlenhydrate Zielorten (Endosomen, Plasmamembran, Vakuolen,
werden im ER und im Golgi-Apparat (siehe unten) von Lysosomen). Ein vom ER kommendes Transportvesikel
speziellen Enzymen (Glykosylasen) angefügt. Die Gly- überträgt seinen Inhalt und seine Membran durch
kosylasen des ER sind membranständig. Fusion mit der cis-Seite einer Golgi-Zisterne. Der Inhalt
Die Proteine des sekretorischen Weges unterscheiden vereinigt sich mit dem Lumen des Golgi-Apparates, die
sich bezüglich ihres Transportes in das ER-Lumen von Membrananteile können dort verbleiben oder zum ER
den an freien Ribosomen gebildeten, cytosolischen Pro- zurückgeführt werden (retrograder Transport).
teinen. Sekretorische Proteine verlassen das ER ver- Vom ER an den Golgi-Komplex übergebene Produkte
packt in Vesikel, die vom sogenannten transitorischen werden bei der Durchwanderung des Membranstapels
ER gebildet und abgeschnürt werden (Abbildung 6.11). chemisch modifiziert. Zum Beispiel wird die im ER
Vesikel, die Stoffe von einem Ort der Zelle zu einem begonnene Glykosylierung durch Enzyme des Golgi-
anderen bringen, heißen Transportvesikel. Sie werden Apparates erweitert und/oder abgeändert. Im Bereich
noch genauer vorgestellt. des rauen ER werden erste Kohlenhydratseitenketten
Über die Produktion sekretorischer Proteine hinaus an die Polypeptidkette angefügt, schon während sie
ist das raue ER allgemein der Syntheseort für neue gebildet wird. Dies nennt man Kernglykosylierung. Beim
Membranen. Das raue ER wächst dauernd durch die Durchgang durch den Golgi-Komplex werden dann
Einlagerung von Proteinen und Phospholipiden in seine zusätzliche Glykosylreste angefügt oder die Kerngly-
eigene Membran. Künftige Membranproteine werden in kosylierung des ER modifiziert (zum Beispiel durch Ent-
den meisten Fällen cotranslational gefaltet, in die Mem- fernen einiger Kohlenhydratreste). Dadurch entsteht eine
bran inseriert und dort durch hydrophobe Wechselwir- große Vielfalt an Glykosylierungsmustern. Membran-
kungen verankert. Am rauen ER findet auch die Phos- phospholipide können im Golgi-Apparat ebenfalls che-
pholipid-Biosynthese statt. In die Membran eingelagerte misch modifiziert werden.
Enzyme synthetisieren die Phospholipide aus Vorstu- Über die Nachbearbeitung hinaus synthetisiert der
fen, die im Cytosol vorliegen. Die ER-Membran erwei- Golgi-Apparat bestimmte Makromoleküle auch selbst.
tert sich und wandert in Form von Transportvesikeln zu Viele der von Zellen sezernierten Polysaccharide wer-
anderen Teilen des Endomembransystems. den im Golgi-Apparat gebildet. Dazu gehören die Pek-
tine und andere Polysaccharide pflanzlicher Zellen,
die außer der Cellulose in die Zellwände eingebaut
6.4.2 Der Golgi-Apparat: Logistikzentrum werden. Cellulose wird von Enzymen hergestellt, die
in der Plasmamembran lokalisiert sind, und direkt auf
Nach dem Verlassen des ER gelangt ein Großteil der der Membranaußenseite deponiert. Die Plasmamem-
Transportvesikel zum Golgi-Apparat (nach Camillo bran ist die natürliche Endstation der von der trans-
Golgi, italienischer Physiologe, 1843–1926). Man kann Seite des Golgi-Komplexes abgehenden Transportvesi-
sich den Golgi-Apparat als Fabrik, Lagerhaus, Sortier- kel, sofern diese kein anderes spezifiziertes Ziel im
anlage und Frachtzentrum vorstellen. Hier werden die Zellinneren anlaufen.
Produkte des ER, zum Beispiel Proteine, chemisch Der Golgi-Apparat produziert und prozessiert seine
modifiziert und an andere Zielorte weiterverschifft. Es Produkte schrittweise, dabei kommen jeder Zisterne
überrascht daher nicht, dass der Golgi-Apparat in Zel- eines Membranstapels bestimmte, durch ihre Enzym-
len, die auf sekretorische Aufgaben spezialisiert sind, ausstattung definierte Aufgaben zu. Bis vor etwa zehn
besonders ausgeprägt ist. Jahren war man davon ausgegangen, dass der Golgi-
Der Golgi-Apparat besteht aus abgeflachten Mem- Apparat eine statische Struktur ist, die von den Pro-
branstapeln, den Golgi-Zisternen, die wie aufgeschich- teinen von der cis- zur trans-Seite durch vesikulären
tetes Fladenbrot aussehen (Abbildung 6.12). Eine Transport innerhalb des Golgi-Apparates in beide Rich-
einzelne Zelle kann viele – sogar hunderte – dieser tungen (anterograd und retrograd) durchlaufen wird.
Membranstapel enthalten. Die Membranen jeder Golgi- Neuere Untersuchungen deuten jedoch auf eine andere
Zisterne trennen den von ihnen eingeschlossenen Innen- Funktionsweise des Organells. Das Maturierungsmodell
raum, das Golgi-Lumen, vom Cytosol. In der unmittel- geht davon aus, dass die Zisternen selbst von der cis- zur
baren Nachbarschaft des Golgi-Apparates konzentrierte trans-Seite wandern und dabei einen Reifungsprozess

142
6.4 Das Endomembransystem steuert den Proteinverkehr und wirkt im Zwischenstoffwechsel mit

Golgi-Apparat

cis-Seite
(„Empfängerseite“
des Golgi-Apparates)
1 Vesikel werden 2 Vesikel fließen zu einer
vom ER zum neuen cis-Golgi-Zisterne
6 Vesikel transportieren Golgi-Apparat zusammen.
auch bestimmte Proteine verbracht. 0,1 µm Teil 2
zum ER, ihrem Funktions-
ort, zurück. Zisternen

3 Zisternenreifung:
Die Golgi-Zisternen
„wandern“ in
cis-trans-Richtung.

4 Vesikel bilden sich


und knospen vom
Golgi-Apparat ab.
Sie befördern Pro-
teine zu anderen
Orten innerhalb der
Zelle oder zur Plas-
5 Vesikel transportieren
einige Proteine zu weniger mamembran zum
reifen Golgi-Zisternen zurück, trans-Seite Zweck der Sekretion.
wo sie ihre Aufgaben erfüllen. („Senderseite“ TEM-Aufnahme des
des Golgi-Apparates) Golgi-Apparates einer Zelle

Abbildung 6.12: Der Golgi-Apparat. Der Golgi-Apparat der Zelle besteht aus abgeflachten Membransäcken (Zisternen), die – anders als die Zister-
nen des ER – nicht direkt miteinander in Verbindung stehen (siehe Anschnittzeichnung oben). Ein Golgi-Membranstapel nimmt Transportvesikel auf und
schnürt andere ab. Der Membranstapel des Golgi-Apparates besitzt eine strukturelle und funktionelle Polarität mit einer cis -Seite, an der Vesikel vom ER
ankommen und fusionieren, und einer trans-Seite, von der neu gebildete Vesikel abknospen. Das „Zisternenmaturierungsmodell“ geht davon aus, dass
die Golgi-Zisternen selbst einem als Reifung bezeichneten Veränderungsprozess unterliegen, bei dem sie als Ganzes von der cis- zur trans-Seite des Sta-
pels wandern und dabei bestimmte Proteine und andere Inhaltsstoffe mitführen. Darüber hinaus bringen manche Vesikel Enzyme aus trans-Zisternen in
weiter vorn liegende zurück (retrograder Transport), in denen ihre katalytische Funktion erforderlich ist.

durchlaufen, bis sie durch den Übergang in das Trans- Inneren von Lysosomen und den Vakuolen von Pilzen
Golgi-Netzwerk (TGN) schließlich zu Transportvesikeln daher im sauren Bereich. Falls ein Lysosom platzt oder
zerfallen. Die Reifung erfolgt dabei sowohl durch Modi- seine Membran ein Loch aufweist, durch das der Inhalt
fikation des Inhaltes als auch durch selektiven Verlust austreten kann, verlieren die freigesetzten Enzyme im
von Transport- und Strukturkomponenten, die retrograd neutralen Cytosol ihre Wirkung, so dass der Schaden
in Vorläuferkompartimente zurücktransportiert werden. begrenzt wird. Der Zerfall einer größeren Zahl von
Abbildung 6.12 illustriert dieses Modell im Einzelnen. Lysosomen kann jedoch eine Zelle total zerstören.
Indem ein Golgi-Stapel seine Produkte durch das Ab- Die Hydrolasen der Lysosomen werden im rauen ER
knospen von Vesikeln an der trans-Seite entlässt, wer- hergestellt und durchlaufen den Golgi-Apparat für die
den diese bezüglich ihrer Zielorte in der Zelle sortiert weitere Modifizierung. Lysosomen entstehen aus Vesi-
und in entsprechende Vesikel verpackt. Molekulare keln, die an der trans-Seite des Golgi-Apparates abge-
„Adressaufkleber“ wie Phosphatreste, die im Verlauf der schnürt werden und zunächst mit einem sogenannten
posttranslationalen Modifikation angefügt worden sind, Endosom verschmelzen. Ebenso fusionieren von der
fungieren wie Postleitzahlen. Die vom Golgi-Apparat ab- Plasmamembran kommende Vesikel mit dem Endosom,
gehenden Vesikel weisen an ihren Oberflächen spezi- das schließlich zum Lysosom reift (Abbildung 6.12). Die
fische Erkennungs-Moleküle auf, die als Andockstellen Proteine der inneren Oberfläche der lysosomalen Mem-
für Rezeptoren auf den Zielmembranen dienen. bran sowie die Verdauungsenzyme entgehen der Zerstö-
rung, weil sie durch ihre Tertiärstruktur vor enzymati-
schem Abbau geschützt sind. Die lysosomalen Enzyme
6.4.3 Lysosomen: werden als inaktive Vorstufen gebildet und erst im Lyso-
Verdauungs-Kompartimente som selbst durch den niedrigen pH-Wert aktiviert.
Lysosomen führen die intrazelluläre Verdauung durch.
Ein Lysosom ist ein in tierischen Zellen vorkommendes Amöben und andere Protisten fressen, indem sie sich
Organell, das viele hydrolytische Enzyme enthält, mit noch kleinere Organismen und andere Nahrungsteilchen
deren Hilfe Makromoleküle und andere Moleküle zer- einverleiben (der Vorgang heißt Phagocytose (griech.
legt werden können. Lysosomale Enzyme arbeiten bei phagein, ich esse + kytos, Gefäß, Hohlkörper)). Die dabei
niedrigen pH-Werten. Durch das aktive Pumpen von gebildete Nahrungsvakuole fusioniert mit Lysosomen
Protonen aus dem Cytoplasma liegt der pH-Wert im der Zelle zum Phagolysosom (Abbildung 6.13a unten).

143
6 Ein Rundgang durch die Zelle

Die lysosomalen Enzyme besorgen dann die Verdauung. hydrolytischen Enzyme, die normalerweise in diesem
Die Verdauungsprodukte, wie zum Beispiel Kohlen- Organell vorhanden sind. In den Lysosomen stauen
hydrate und Aminosäuren, treten in das Cytosol über sich daraufhin unverdaute und unverdauliche Stoffe,
und dienen der Zelle als Nährstoffe. Manche Zelltypen die bald andere zelluläre Aktivitäten stören. Im Fall
des Menschen sind ebenfalls zur Phagocytose befähigt. der Tay-Sachs-Krankheit fehlt zum Beispiel eine
Zu diesen Zellen gehören die Makrophagen – ein Typ Lipase oder ist inaktiv. Das Gehirn wird dann durch
von weißen Blutkörperchen, der den Körper gegen Bak- einen Rückstau von Lipiden in den Zellen in Mitlei-
terien und andere Eindringlinge verteidigt, indem er sie denschaft gezogen. Glücklicherweise sind lysosomale
durch Phagocytose aufnimmt und dann zerstört (Abbil- Speicherkrankheiten recht selten.
dung 6.13a oben und Abbildung 6.32).
Teil 2
Lysosomen setzen ihre Hydrolasen außerdem dafür
ein, die zelleigenen organischen Bestandteile zu ver- 6.4.4 Vakuolen: vielseitige
dauen und für die weitere Verwendung zurückzuge- Mehrzweckorganellen
winnen. Man spricht in diesem Fall von Autophagie.
Während einer Autophagocytose wird ein irgendwie Vakuolen sind große Vesikel, die sich aus dem endo-
geschädigtes und dadurch funktionsunfähig geworde- plasmatischen Reticulum und dem Golgi-Apparat bil-
nes Organell oder eine kleine Menge des Cytosols von den. Insofern sind sie also auch integraler Bestandteil
einer doppelten Membran eingeschlossen, deren Her- des zellulären Endomembransystems. Wie alle Bio-
kunft noch nicht geklärt ist. Anschließend fusioniert membranen sind auch die Vakuolenmembranen selek-
die äußere Membran des Gebildes mit einem Lysosom tiv durchlässig für gelöste Stoffe und daher unter-
zum Autophagosom (Abbildung 6.13b). Die lysosoma- scheiden sich das Cytosol und die Lösung innerhalb
len Enzyme bauen das eingeschlossene Material ab und einer Vakuole in ihrer Zusammensetzung.
die dabei freigesetzten organischen Bausteine werden Die genaue Funktion der Vakuolen hängt vom Zelltyp
in das Cytosol zurückgeführt. Mithilfe ihrer Lysosomen ab. Nahrungsvakuolen bilden sich bei der Phagocytose,
erneuert sich eine Zelle gewissermaßen ständig neu. sie wurden bereits erwähnt (Abbildung 6.13a). Viele
Eine menschliche Leberzelle resynthetisiert beispiels- Protisten des Süßwassers besitzen kontraktile Vakuo-
weise die Hälfte ihrer Makromoleküle pro Woche. len, die überschüssiges Wasser aus der Zelle pumpen
Den Zellen von Menschen mit einem angeborenen und ein Platzen der Zelle verhindern, indem sie die
(erblichen) lysosomalen Speicherdefekt fehlt eines der richtige Elektrolytkonzentration und den korrekten

1 µm
Zellkern 1 µm

Vesikel, das
zwei beschädigte
Organellen enthält

Mitochondrien-
fragment

Peroxisomen-
fragment
Lysosom

Lysosomen ent- Eine Nahrungs- Die hydrolytischen Ein Lysosom fusioniert mit Hydrolasen verdauen
halten aktive vakuole fusioniert Enzyme verdauen einem Vesikel, das beschä- Organellenbestandteile.
Hydrolasen. mit einem Lysosom. die Nahrungsteilchen. digte Organellen enthält.

Verdauungs-
enzyme Lysosom

Plasma- Lysosom Peroxisom


membran
Verdauung

Nahrungsvakuole Verdauung
Mitochondrium
Vesikel

(a) Phagocytose: Ein Lysosom verdaut Nahrung. (b) Autophagie: Ein Lysosom baut beschädigte
Organellen ab.

Abbildung 6.13: Lysosomen. Lysosomen verdauen (hydrolysieren) in die Zelle aufgenommenes Material und gewinnen zelleigenes Material zur Wie-
derverwertung zurück. (a) Oben: In diesem Makrophagen (einem weißen Blutkörperchen) einer Ratte erscheinen die Lysosomen sehr dunkel, weil sie das
Kontrastierungsmittel, das mit einem der Verdauungsprodukte reagiert, angereichert haben (TEM-Aufnahme). Makrophagen verleiben sich Bakterien und
Viren ein und zerstören sie mithilfe ihrer Lysosomen. Unten : Diese Schemazeichnung zeigt das Lysosom einer Protistenzelle bei der Fusion mit einer Nah-
rungsvakuole. (b) Oben : Im Cytoplasma dieser Rattenleberzelle ist ein Vesikel erkennbar, das zwei beschädigte Organellen eingeschlossen hat. Solche
Vesikel werden als multivesikuläre Körper bezeichnet. Sie fusionieren schließlich mit einem Lysosom in einem Vorgang, der der Bildung eines Phagolyso-
soms homolog ist. Man spricht aufgrund der Herkunft des Verdauungsgutes aus der Zelle selbst von Autophagie (TEM-Aufnahme). Unten : Die Schema-
zeichnung zeigt die Fusion eines Vesikels mit einem Lysosom. Die Herkunft der Doppelmembran dieser Vesikel ist noch ungeklärt. Die äußere Membran
fusioniert mit der Membran des Lysosoms. Die innere Membran wird zusammen mit den beschädigten Organellen abgebaut.

144
6.4 Das Endomembransystem steuert den Proteinverkehr und wirkt im Zwischenstoffwechsel mit

osmotischen Druck in der Zelle aufrechterhalten (siehe der ausgedehnten Zellsaftvakuole und der Plasmamem-
Abbildung 7.13). Bei Pflanzen und Pilzen, die keine bran ein. Das Oberfläche/Volumen-Verhältnis von Plas-
Lysosomen besitzen, erfüllen die Vakuolen ähnliche mamembran und Cytosol ist deshalb selbst bei großen
Aufgaben wie die Lysosomen tierischer Zellen: sie sind Pflanzenzellen günstig, weil es hoch ist.
für den enzymatisch katalysierten hydrolytischen Ab-
bau zuständig, weshalb man sie als eine Sonderform
der Lysosomen auffassen kann. Darüber hinaus haben
sie in diesen Organismen aber noch andere Aufgaben.
Zellsaftvakuole
Ausdifferenzierte Pflanzenzellen enthalten im Allge-
meinen eine große Zellsaftvakuole (Abbildung 6.14),
Teil 2
die sich durch die Fusion kleinerer Vakuolen bildet. Sie
kann Reserven wichtiger organischer Verbindungen auf- Cytosol
nehmen und lagern, zum Beispiel einen Vorrat an Prote-
inen in den Speicherzellen von Pflanzensamen (Bei-
spiel: Leguminosensamen wie Erbsen und Bohnen). Sie
stellt außerdem den Hauptspeicherort der Pflanze für Zellkern
Zellsaft-
Ionen wie Kalium (K+) und Chlorid (Cl–) dar. Viele Pflan- vakuole
zenzellen nutzen ihre Vakuolen auch als Deponie für Zellwand
Stoffwechselabfälle – Stoffe, die nicht weiter verwertet
Chloroplast
oder abgebaut werden, aber die Zellen schädigen könn-
ten, wenn sie sich im Cytosol oder in anderen Organel-
len als der Vakuole anhäuften. Vakuolen mancher Pflan- 5 µm

zenzellen enthalten wasserlösliche Farbstoffe, die die Abbildung 6.14: Die pflanzliche Zellsaftvakuole. Die Zellsaftvakuole
Gewebe färben. Dies ist zum Beispiel bei den roten und ist normalerweise das größte Organell einer Pflanzenzelle. Das Cytoplasma
blauen Blütenfarbstoffen der Fall, mit denen verschie- ist im Allgemeinen auf eine schmale Zone am Rand, zwischen der Vakuolen-
dene Blütenpflanzen bestäubende Insekten anlocken. membran und der Plasmamembran, beschränkt (TEM-Aufnahme).
Vakuolen können Pflanzen auch gegen Fressfeinde
schützen, indem darin Stoffe eingelagert werden, die
für Tiere giftig sind oder die Pflanze ungenießbar 6.4.5 Das Endomembransystem im
machen. Den Vakuolen kommt eine wesentliche Rolle Überblick
beim Wachstum von Pflanzenzellen zu. Wachsende Zel-
len vergrößern ihre Vakuolen, indem sie Wasser absor- Abbildung 6.15 fasst die wichtigsten Teile des Endo-
bieren und in die Vakuole leiten. Dies erlaubt es den Zel- membransystems zusammen. Sie zeigt den Strom der
len, sich bei minimalem Aufwand für die Produktion Membranlipide und Proteine durch verschiedene
neuen Cytoplasmas entscheidend zu vergrößern. Das Organellen. Wenn sich die Membran vom ER zum
Cytosol nimmt oft nur ein kleines Volumen zwischen Golgi-Komplex und darüber hinaus vorwärts bewegt,

Zellkern

1 Die Zellkernhülle steht mit


dem rauen ER in Verbin-
dung, das sich seinerseits raues ER
im glatten ER fortsetzt.

glattes ER
2 Vom ER erzeugte Proteine
cis-Golgi
und Membranen werden
in Form von Vesikeln zum
Golgi-Apparat transportiert.

3 Der Golgi-Komplex schnürt


Transportvesikel und andere
Vesikel, aus denen Lysoso-
men, Vakuolen und andere Plasma-
spezialisierte Vesikeltypen trans-Golgi membran
hervorgehen, ab.

4 Das Lysosom steht für 5 Transportvesikel 6 Die Plasmamembran


die Fusion mit anderen verfrachten Proteine vergrößert sich durch
Vesikeln zur Verdauung zur Sekretion aus die Fusion von Vesikeln;
des Inhaltes zur der Zelle zur Plasma- Proteine werden aus
Verfügung. membran. der Zelle sezerniert.
Abbildung 6.15: Übersicht der Beziehungen ausgewählter Organellen des Endomembransystems untereinander. Die roten
Pfeile geben die Wege einiger Transportvesikel an.

145
6 Ein Rundgang durch die Zelle

werden ihre molekulare Zusammensetzung und ihre lutionäre Ursprünge, die wir kurz besprechen wollen,
metabolischen Funktionen modifiziert. Das Endo- bevor wir uns ihren Strukturen widmen. In diesem
membransystem ist ein komplexer und höchst dyna- Abschnitt werden wir auch das Peroxisom betrachten,
mischer Teil der kompartimentierten Organisation der ein oxidierend wirkendes Organell. Die evolutionäre
eukaryontischen Zelle. Herkunft des Peroxisoms ist ebenso wie sein Bezug zu
Wir werden unsere Reise durch die Zelle mit einer anderen Organellen eine noch immer ungeklärte Frage.
Besichtigung von Organellen fortsetzen, die biogene-
tisch nicht mit dem Endomembransystem verwandt
sind, aber entscheidende Rollen bei der zellulären Ener- 6.5.1 Die evolutionäre Herkunft von
Teil 2
gieversorgung spielen. Mitochondrien und Chloroplasten
EVOLUTION Mitochondrien und Chloroplasten weisen
 Wiederholungsfragen 6.4 Gemeinsamkeiten mit Bakterien auf, was zur Aufstel-
lung der sogenannten Endosymbiontentheorie geführt
1. Beschreiben Sie die strukturellen und funktio- hat (Abbildung 6.16). Diese Theorie besagt, dass ein
nellen Unterschiede zwischen rauem und Vorläufer eukaryontischer Zellen eine Sauerstoff-nut-
glattem endoplasmatischen Reticulum. zende, aber nicht photosynthetisch aktive prokaryonti-
2. Beschreiben Sie, welche Funktionen die Trans- sche Zelle umschloss und letztlich in sich aufnahm. So
portvesikel im Rahmen des Endomembransys- bildete die eingeschlossene Zelle eine Beziehung zur sie
tems der eukaryontischen Zelle haben. umschließenden Zelle aus, sie wurde zu einem Endo-
symbionten (einer Zelle die innerhalb einer anderen
3. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich ein ER- Zelle lebt). Im weiteren Lauf der Evolution entwickelten
Protein vor, das noch im Golgi-Apparat modi- sich die Wirtszelle und ihr Endosymbiont zu einem ein-
fiziert werden muss, bevor es seine Aufgabe im zigen Organismus, einer eukaryontischen Zelle mit
ER erfüllen kann. Beschreiben Sie den Weg, einem Mitochondrium. Schließlich könnte eine dieser
den das betreffende Protein durch die Zelle Zellen dann noch einen photosynthetisch aktiven Pro-
nimmt. Beginnen Sie mit der mRNA, die das karyonten aufgenommen haben und so zu einem Vorläu-
Protein codiert. fer der eukaryontischen Zellen geworden sein, die heute
zusätzlich zu den Mitochondrien auch Chloroplasten
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. enthalten.

Endoplasmatisches
Zellkern
Reticulum
Mitochondrien und Aufnahme eines
Kernhülle Sauerstoff-verbrauchenden,
Chloroplasten arbeiten nicht-photosynthetisch
als Energiewandler
6.5 aktiven Prokaryonten,
der über viele Zellgenera-
tionen hinweg zu einem
Mitochondrium wird
Vorläufer einer
Organismen wandeln die Energie um, die sie aus ihrer eukaryontischen Zelle (Wirtszelle)
Umgebung aufnehmen. In eukaryontischen Zellen sind
Mitochondrien und Chloroplasten die Organellen, die
Energie in eine für Zellen verwertbare Form umwan- Mitochondrium
Aufnahme eines
deln. Mitochondrien (Plural, im Singular das Mito- photosynthetisch
chondrium) sind die Orte, an denen die Zellatmung aktiven Prokaryonten
Chloroplast
stattfindet. Das ist der Stoffwechselprozess, der mole-
wenigstens
kularen Sauerstoff zur Synthese von ATP verwendet, Mitochondrium eine Zelle Eukaryont ohne
indem er die dazu erforderliche Energie aus Zuckern, Photosynthese
Fetten und anderen Nährstoffen bezieht. Adenosintri-
phosphat (ATP) ist der universelle Energieträger aller
lebenden Zellen, sozusagen die Energiewährung der
Zellen. Wir werden diese Verbindung in Kapitel 8 noch
genauer kennenlernen. Chloroplasten finden sich in
verschiedenen Einzellern, Algen und Pflanzen. In den Photosynthetisch aktiver Eukaryont
Chloroplasten läuft die Photosynthese ab, die die Licht-
Abbildung 6.16: Die Endosymbiontentheorie. Gemäß dieser Theorie
energie der Sonne in chemische Energie in Form orga- gingen heutige Mitochondrien und Chloroplasten in eukaryontischen Zellen
nischer Moleküle umwandelt. So entstehen Zucker aus Sauerstoff-verbrauchenden nicht-photosynthetischen Prokaryonten her-
(Kohlenhydrate) und molekularer Sauerstoff aus Koh- vor. Die mutmaßlichen Vorläufer der Chloroplasten waren photosynthetisch
len(stoff)dioxid und Wasser. aktive Prokaryonten. Die langen Pfeile symbolisieren Änderungen im Verlauf
der Evolution. Die kleineren Pfeile in den Zellen deuten auf die vergleichbar
Außer ihren miteinander verwandten Funktionen tei-
zeitintensive Wandlung eines Endosymbionten zu einer Organelle.
len die Mitochondrien und Chloroplasten ähnliche evo-

146
6.5 Mitochondrien und Chloroplasten arbeiten als Energiewandler

Dies ist eine weithin akzeptierte Theorie, die wir noch ren, Pilzen und den meisten Protisten. Manche Zellen
detaillierter in Kapitel 25 diskutieren werden. Sie besitzen ein einziges, großes mitochondriales Netz-
stimmt mit vielen strukturellen Besonderheiten von werk, meist findet man aber Zellen mit hunderten oder
Mitochondrien und Chloroplasten überein. Zum einen gar Tausenden von kleinen tubulären Mitochondrien,
sind Mitochondrien ebenso wie Chloroplasten nicht von die kontinuierliche Teilungs- und Fusionsprozesse
einer einzigen Membranhülle umgeben (wie dies bei den durchlaufen. Die Größe des mitochondrialen Netzwerks
Organellen des Endomembransystems der Fall ist), son- korreliert mit der metabolischen Aktivität des Zelltyps.
dern von einer Doppelmembran. Chloroplasten enhalten Motile und kontraktile Zellen weisen proportional mehr
darüber hinaus noch interne, membranumschlossene Mitochondrien pro Volumeneinheit auf als weniger
gestapelte Strukturen, die Thylakoide. Es gibt Hinweise aktive Zellen.
Teil 2
darauf, dass der ursprüngliche, umschlossene Prokary- Jede der beiden Membranen, die ein Mitochondrium
ont zwei äußere Membranen besaß, die dann zur Dop- umschließen, ist eine typische Phospholipiddoppel-
pelmembran der Mitochondrien und Chloroplasten wur- schicht mit einer einzigartigen Sammlung eingebetteter
den. Zum anderen enthalten beide Organellen ebenso Membranproteine (Abbildung 6.17). Die äußere Mem-
wie die Prokaryonten, Ribosomen und mehrere zirkuläre bran ist glatt, die innere dagegen vielfach gefaltet (invagi-
DNA-Moleküle, die an die innere Membran angelagert niert). Die eingestülpten Membranteile heißen Cristae
sind. Ribosomen und DNA entsprechen in ihrer Organi- (Einzahl: Crista). Die innere Membran teilt das Mito-
sation der von Prokaryonten und nicht der von Eukary- chondrium in zwei interne Kompartimente. Das eine ist
onten. Diese DNA codiert die Synthese einiger weniger der Membranzwischenraum, also der schmale Bereich
Organellenproteine durch Ribosomen, die ihrerseits zwischen der inneren und der äußeren Membran. Das
ebenfalls in den Organellen synthetisiert und zusammen- andere Subkompartiment ist die von der inneren Mem-
gefügt werden. Die bis heute nicht kerncodierten Proteine bran eingeschlossene mitochondrielle Matrix. Sie beher-
könnten der Qualitätskontrolle der Atmungskettenkom- bergt viele verschiedene Enzyme, sowie die mitochon-
plexe dienen. In Übereinstimmung mit ihrem Ursprung drielle DNA (mtDNA) und die Ribosomen des Organells.
aus eigenständigen Zellen haben Mitochondrien und Die Matrixenzyme katalysieren einige Schritte der Zel-
Chloroplasten Reste ihrer einstigen Autonomie bewahrt. latmung. Andere an der Zellatmung beteiligte Enzyme,
Mittlerweile müssen jedoch beide Organellen fast alle einschließlich derer, die das ATP synthetisieren, sind
Proteine importieren und auch ihre Teilung und Fusion in die innere Membran eingelagert. Als stark gefaltete
erfolgen in enger Abstimmung mit ihrer Wirtszelle. Als Struktur verleihen die Cristae der inneren Mitochondri-
Nächstes werden wir die Strukturen von Mitochondrien enmembran eine große Oberfläche, was der Produktivi-
und Chloroplasten betrachten, ihre Funktion wird dabei tät der Zellatmung zugute kommt und ein gutes Beispiel
nur kurz gestreift. In den Kapiteln 9 und 10 werden wir für eine optimal der Funktion angepasste Struktur ist.
ihre Rolle als Energiewandler genauer untersuchen. Mitochondrien sind etwa 1–10 μm lang. Zeitraffer-
filme lebender Zellen zeigen, dass sie sich in der Zelle
bewegen, dabei ihre Form verändern, miteinander
6.5.2 Mitochondrien: Umwandlung fusionieren oder sich teilen. Das sieht ganz anders aus
chemischer Energie als die statischen Strukturen in elektronenmikroskopi-
schen Aufnahmen von (notwendigerweise toten) Zel-
Mitochondrien finden sich in fast allen eukaryonti- len. Diese Beobachtungen führten zu einer Sichtweise
schen Zellen, einschließlich denen von Pflanzen, Tie- von Mitochondrien als weitverzweigtes röhrenförmi-
Mitochondrium
10 μm

Zwischenmembranraum
Außen- Mitochondrien
membran

DNA

Innen-
membran mitochondriale
freie Ribo- DNA
somen in
der Mito- Cristae
chondrien-
matrix Matrix Zellkern-DNA
0,1 μm
(a) Schema und TEM-Aufnahme eines Mitochondriums (b) Ein mitochondrielles Netzwerk in Euglena (LM)
Abbildung 6.17: Das Mitochondrium – Ort der Zellatmung. (a) Die innere und die äußere Membran des Mitochondriums sind sowohl in der
Skizze als auch in der elektronenmikroskopischen Aufnahme (TEM) erkennbar. Die Cristae sind Einfaltungen der inneren Membran, die die verfügbare
Membranoberfläche vergrößern. Die Anschnittzeichnung zeigt die beiden von Membranen begrenzten Subkompartimente des Organells, den Membran-
zwischenraum (Intermembranraum) und die Matrix. Die meisten Enzyme der Atmung befinden sich in der inneren Membran und in der Matrix. Letztere
enthält außerdem freie Ribosomen. Mitochondriale DNA (zu klein, um hier sichtbar zu sein) ist meist zirkulär und an der inneren Mitochondrienmembran
verankert. (b) Die lichtmikroskopische Aufnahme von Euglena gracilis zeigt eine vollständige Zelle des einzelligen Eukaryonten bei deutlich geringerer
Vergrößerung als in der TEM (beachten Sie die Maßstäbe!). Die mitochondriale Matrix ist grün eingefärbt. Die Mitochondrien bilden ein verzweigtes
röhrenförmiges Netzwerk. Die DNA im Zellkern ist rot eingefärbt, mitochondrielle DNA-Moleküle erscheinen als hellgelbe Flecken.

147
6 Ein Rundgang durch die Zelle

ges Netzwerk, das fortwährend in dynamischem Fluss sind mobil und bewegen sich – zusammen mit den
begriffen ist (siehe Abbildung 6.17b). Mitochondrien und anderen Organellen – auf oder ent-
lang von „Schienen“, die vom Cytoskelett gebildet wer-
den. Wir werden auf dieses wichtige Strukturelement
6.5.3 Chloroplasten: Einfangen von der Zelle später in diesem Kapitel zu sprechen kom-
Lichtenergie men.
Chloroplasten sind spezialisierte Mitglieder einer
Chloroplasten enthalten den grünen Farbstoff Chloro- Familie eng verwandter Pflanzenorganellen die man
phyll, außerdem Enzyme und andere Komponenten des unter dem Sammelbegriff Plastiden zusammenfasst.
photosynthetischen Apparates zur Erzeugung von Koh- Ein besonderer Typ sind die Amyloplasten, farblose
Teil 2
lenhydraten. Die meist linsenförmigen, 3–6 μm langen Organellen, die Stärke (Amylose) speichern, dies vor
Organellen finden sich in den Blättern und anderen grü- allem in Speicherorganen wie manchen Wurzeln und
nen Teilen höherer Pflanzen und in Algen (Abbildung Knollen oder Samen und Früchten. Chromoplasten
6.18; siehe auch Abbildung 6.26c). enthalten in ihren Membransystemen fettlösliche Pig-
Das Innere eines Chloroplasten ist vom Cytosol durch mente wie Carotinoide, die Blüten und Früchten ihre
eine Hülle aus zwei Membranen getrennt, mit einem gelben und orangen Farbtöne geben.
engen Spalt dazwischen. Innerhalb des Chloroplasten
findet sich ein weiteres Membransystem in Form von
abgeflachten, miteinander verbundenen Membransta- 6.5.4 Peroxisomen: Weitere Oxidationen
peln, den Thylakoiden. In einigen Bereichen sind die
Thylakoide wie Münzstapel aufgeschichtet, diese Sta- Das Peroxisom ist ein spezialisiertes Stoffwechselkom-
pel heißen Grana (Einzahl: das Granum). Die Flüssig- partiment, das von einer einzigen Membran umgeben
keit, in der die Thylakoide sich befinden, heißt das ist (Abbildung 6.19). Peroxisomen enthalten Enzyme,
Stroma. Es enthält neben zahlreichen Enzymen die die Wasserstoffatome von unterschiedlichen Substraten
DNA und die Ribosomen der Chloroplasten. Durch die abziehen, auf elementaren Sauerstoff (O2) übertragen
Membranen wird der Chloroplast in drei Subkomparti- und dabei Wasserstoffperoxid (H2O2) produzieren. Aus
mente untergliedert: den Membranzwischenraum, das Letzterem leitet sich auch der Name des Organells ab.
Stroma und den Thylakoidinnenraum. In Kapitel 10 Einige Peroxisomen benutzen den Sauerstoff, um Fett-
werden wir erfahren, wie diese Kompartimentierung säuren oxidativ in kleinere Moleküle zu zerlegen, die in
Chloroplasten in die Lage versetzt, durch den als Photo- Mitochondrien importiert werden, wo sie als Substrate
synthese bezeichneten Vorgang Lichtenergie in chemi- für die Zellatmung dienen. Peroxisomen in Leberzellen
sche Energie umzuwandeln. bauen Alkohol (Ethanol) und andere schädliche Ver-
Wie bei den Mitochondrien ist das statische und bindungen ab, indem sie diese dehydrogenieren und
starre Erscheinungsbild der Chloroplasten auf Mikro- den abgespaltenen Wasserstoff auf Sauerstoff übertra-
fotografien oder Schemazeichnungen kein Abbild ihrer gen. Das von den Peroxisomen erzeugte Wasserstoff-
wahren Dynamik in der lebenden Zelle. Ihre Form ist peroxid ist als kräftiges Oxidationsmittel selbst ein star-
veränderlich, sie wachsen, wobei sie sich gelegentlich kes Zellgift. Das Peroxisom enthält daher das Enzym
durch Abschnürung teilen und dadurch vermehren. Sie Katalase, welches das Wasserstoffperoxid sofort durch

Chloroplast

Ribosomen 50 μm
Stroma
innere und
äußere
Hüllmembran
Granum

Chloroplasten
(rot)
DNA
Thylakoid Intermembranraum 1 μm
(a) Diagramm und TEM-Aufnahme eines Chloroplasten (b) Chloroplasten einer Grünalge

Abbildung 6.18: Der Chloroplast – Ort der Photosynthese. (a) Viele Pflanzen enthalten linsenförmige Chloroplasten, wie hier gezeigt. Ein typi-
scher Chloroplast hat drei Kompartimente: den schmalen Intermembranraum, das Stroma und den Thylakoidinnenraum. Das Stroma enthält freie Riboso-
men und mehrere Kopien chloroplastidärer DNA-Moleküle. (b) Die Fluoreszenzaufnahme zeigt eine ganze Zelle der Grünalge Spirogyra crassa, deren
Name auf ihre spiralförmigen Chloroplasten zurückgeht. Unter natürlichem Umgebungslicht erscheinen Chloroplasten grün, aber im Ultravioletten fluo-
reszieren sie rot, wie hier gezeigt.

148
6.6 Das Cytoskelett ist ein Netzwerk aus Filamenten zur Organisation von zellulären Strukturen

eine sogenannte Disproportionierungsreaktion in Wasser Das Cytoskelett ist ein Netzwerk aus
und Sauerstoff umwandelt (2 H2O2 → 02 + 2 H2O). Die
genannten Reaktionen unterstreichen die Bedeutung
Filamenten zur Organisation
einer Kompartimentierung der Zelle für ihre Funk-
tion: Die H2O2-produzierenden und -abbauenden
von zellulären Strukturen
6.6
Enzyme sind in einem einzigen Reaktionsraum ver-
eint, jedoch räumlich von anderen Zellkomponenten, In der Frühzeit der Elektronenmikroskopie wurden die
die geschädigt werden würden, getrennt. Organellen in eukaryontischen Zellen als frei beweg-
Eine spezielle, als Glyoxysom bezeichnete Variante lich im Cytosol angesehen. Technische Verbesserungen
des Peroxisoms kommt in fettspeichernden Geweben der Mikroskopie führten dann jedoch zur Entdeckung
Teil 2
von Pflanzensamen vor. Diese Organellen enthalten des Cytoskeletts – eines Maschenwerks aus Protein-
Enzyme zur Umwandlung von Fettsäuren in Kohlen- fasern im gesamten Cytoplasma (Abbildung 6.20).
hydrate. Letztere nutzt der Keimling so lange als Ener- Bakterienzellen haben ein den Eukaryonten verwand-
gie- und Kohlenstoffquelle, bis er mittels Photosyn- tes Cytoskelett, das wir hier jedoch nicht betrachten
these selbstständig neue Kohlenhydrate synthetisieren wollen. Das eukaryontische Cytoskelett spielt eine
kann. wesentliche Rolle bei der Organisation der zellulären
Die Verwandtschaftsbeziehungen von Peroxisomen Struktur und Aktivität. Es besteht aus drei Typen supra-
zu anderen Zellorganellen sind nach wie vor unbe- molekularer Strukturen: Mikrotubuli, Intermediärfila-
kannt. Peroxisomen wachsen durch den Einbau von mente und Mikrofilamente.
cytosolisch und im ER synthetisierten Proteinen, Lipi-
den aus dem ER und dem Peroxisom selbst. Peroxi-
somen können sich ab einer bestimmten Größe durch
Teilung vermehren, was als Hinweis auf ihre endosym-
biotisch evolutionäre Herkunft interpretiert wurde,
jedoch noch weiter zu belegen wäre.

Peroxisom
Mitochon-
drium

10 μm
Abbildung 6.20: Das Cytoskelett. Die Fluoreszenzaufnahme verdeut-
licht die Struktur des Cytoskeletts in einer Zelle. Verschiedene Bestandteile
Chloroplasten des Cytoskeletts wurden mit unterschiedlich fluoreszierenden Molekülen
1 μm markiert – Mikrotubuli grün, Mikrofilamente rotorange. Der Zellkern ist
Abbildung 6.19: Ein Peroxisom. Peroxisomen sind annähernd kugelför- durch seine blau markierte DNA hervorgehoben. Intermediärfilamente, eine
mig. Häufig enthalten sie einen granulären oder kristallinen Kernbereich, weitere Komponente des Cytoskeletts, sind hier nicht sichtbar.
der vermutlich eine dichte, regelmäßige Packung von Enzymmolekülen
darstellt. Das auf dieser TEM-Aufnahme abgebildete Peroxisom liegt in
einer Blattzelle der Tabakpflanze unmittelbar neben zwei Chloroplasten
und einem Mitochondrium. Die drei Organelltypen kooperieren bei man-
chen Stoffwechselprozessen.
6.6.1 Funktionen des Cytoskeletts:
Stütze und Beweglichkeit
 Wiederholungsfragen 6.5 Die offensichtlichste Funktion des Cytoskeletts liegt
in der mechanischen Festigung und Gestaltgebung.
1. Beschreiben Sie die gemeinsamen Merkmale Dies ist für tierische Zellen ohne Zellwand und
von Chloroplasten und Mitochondrien unter Vakuole besonders wichtig. Die bemerkenswerte Fes-
Beachtung ihrer Funktion und Membran- tigkeit und Widerstandsfähigkeit des Cytoskeletts ins-
struktur. gesamt beruht auf seiner Architektur. Wie die Kuppel-
konstruktion eines Gebäudes wird es durch die
2. Enthalten Pflanzenzellen Mitochondrien? Er-
Gesamtheit aller wirkenden Kräfte stabilisiert. Und
klären Sie warum.
ebenso wie das Knochengerüst eines Tieres die Posi-
3. WAS WÄRE, WENN? Eine Mitstudentin ordnet tionen der anderen Körperteile festlegt, bildet das
Mitochondrien und Chloroplasten in das euka- Cytoskelett einen Anker für viele Organellen und
ryontische Endomembransystem ein. Welche sogar cytosolische Enzymmoleküle. Das Cytoskelett ist
Argumente sprechen dagegen? aber viel dynamischer als ein tierisches Skelett. Es
kann an einer Stelle der Zelle rasch abgebaut und an
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. einer anderen wieder aufgebaut werden und so die
Form der Zelle verändern.

149
6 Ein Rundgang durch die Zelle

Einige Arten der Zellbeweglichkeit (Motilität) erfordern Mikrotubuli


ebenfalls das Cytoskelett. Der Begriff zelluläre Motilität Alle eukaryontischen Zellen enthalten Mikrotubuli,
bezeichnet sowohl Ortsveränderungen der gesamten hohle Stäbchen aus dem globulären Protein Tubulin.
Zelle als auch Bewegungen einzelner Teile. Die Zell- Jedes Tubulinmolekül besteht seinerseits aus zwei nicht
motilität erfordert immer die Wechselwirkung des Cyto- kovalent verbundenen Untereinheiten namens α- und β-
skeletts mit sogenannten Motorproteinen. Dafür gibt es Tubulin, es ist ein Heterodimer. Mikrotubuli wachsen
zahlreiche Beispiele: Teile des Cytoskeletts, Motorpro- durch Anlagerung von Tubulin-Dimeren an den Enden
teine und Moleküle der Plasmamembran vermitteln und verkürzen sich durch Dissoziation. Somit können
gemeinsam die Bewegung ganzer Zellen entlang extra- Mikrotubuli an einem Ort abgebaut und an einem ande-
zellulärer Proteinfasern. Im Inneren der Zelle nutzen ren wieder aufgebaut werden, Recycling auf Molekül-
Teil 2
Transportvesikel und Organellen häufig Motorpro- ebene. Infolge der räumlichen Orientierung der Tubu-
tein„füße“, um entlang eines „cytoskelettalen Gleises“ lin-Dimere unterscheiden sich die beiden Enden von
zu ihrem Ziel zu „gehen“. In dieser Weise wandern Vesi- Mikrotubuli. Am sogenannten Plusende können sich
kel mit Neurotransmittermolekülen an die Spitze von Tubulindimere sehr viel schneller anlagern und wieder
Axonen (das sind die langen Fortsätze von Nervenzel- abdissoziieren als am anderen (Minus)Ende. Daher
len), wo sie freigesetzt werden, durch den sogenannten wächst und schrumpft der Mikrotubulus im Rhythmus
synaptischen Spalt diffundieren und so die chemisch der Zellaktivitäten vor allem am Plusende. Mikrotubuli
vermittelte Signalweiterleitung auf die angrenzende(n) formen und stützen die Zelle. Außerdem dienen sie als
Zelle(n) bewirken (Abbildung 6.21). Das Cytoskelett Leitschienen, an denen Organellen mit der Hilfe von
wirkt zudem auf die Plasmamembran ein, indem es sie Motorproteinen entlang bewegen können. Zusätzlich zu
ins Zellinnere einstülpt und so Nahrungsvakuolen oder dem Beispiel in Abbildung 6.21 leiten Mikrotubuli Vesi-
andere phagocytotische Vesikel ausbildet. kel vom ER zum Golgi-Apparat und vom Golgi-Apparat
zur Plasmamembran. Mikrotubuli sind auch an der
Trennung der Chromosomen während einer Zellteilung
Vesikel beteiligt, was in Kapitel 12 genauer beleuchtet wird.
ATP
Rezeptor für
ein Motorprotein

Centrosom
Motorprotein Mikrotubulus
(ATP-getrieben) des Cytoskeletts

(a) Motorproteine, die sich an Rezeptoren auf Vesikel-


oberflächen anlagern, können die Vesikel an Mikrotubulus
den Mikrotubuli oder – in manchen Fällen – an
Mikrofilamenten entlang bewegen.
0,25 µm Centriolen
Mikrotubulus Vesikel
0,25 µm

(b) Neurotransmitter enthaltende Vesikel wandern mithilfe


der in (a) dargestellten Mechanismen zur Spitze eines
Nervenzellaxons. In dieser SEM-Aufnahme aus dem
Riesenaxon eines Tintenfisches sind zwei Vesikel erkenn-
bar, die sich an einem Mikrotubulus entlang bewegen. Längsschnitt durch einzelner Querschnitt durch
(Das gleiche Experiment lieferte Beweise dafür, dass ein Centriol Mikrotubulus ein Centriol
sie sich tatsächlich vorwärtsbewegten.)
Abbildung 6.22: Centrosom mit Centriolenpaar. Die meisten Tier-
Abbildung 6.21: Motorproteine und das Cytoskelett.
zellen besitzen ein Centrosom. Das ist ein Bereich in der Nähe des Zell-
kerns, von dem aus sich die Mikrotubuli in die Zelle erstrecken. Innen im
Centrosom liegt ein Centriolenpaar mit einem Durchmesser von jeweils
6.6.2 Bestandteile des Cytoskeletts etwa 250 nm (0,25 μm). Die beiden Centriolen bilden immer einen rech-
ten Winkel, jedes besteht aus neun Mikrotubulus-Tripletts. In der Schema-
Werfen wir einen näheren Blick auf die drei Typen von zeichnung sind Nichttubulinproteine, die die Tripletts miteinander verbin-
Fasern, aus denen das Zellskelett besteht (Tabelle 6.1). den, blau gezeichnet (elektronenmikroskopische Aufnahme).
Die Mikrotubuli sind mit etwa 25 nm die dicksten unter
den drei Filamentformen, die Mikrofilamente (= Actin- ? Wie viele Mikrotubuli enthält ein Centrosom? Umkreiseln und kenn-
filamente) mit 7 nm die dünnsten. Der Durchmesser der zeichnen Sie einen Mikrotubulus, beschreiben Sie seine Struktur. Kreiseln
Intermediärfilamente liegt mit etwa 10 nm dazwischen. Sie ein Triplett ein.

150
6.6 Das Cytoskelett ist ein Netzwerk aus Filamenten zur Organisation von zellulären Strukturen

Tabelle 6.1

Struktur und Funktion des Cytoskeletts


Merkmal Mikrotubuli Mikrofilamente Intermediärfilamente
(Tubulinpolymere) (Actinpolymere)
Aufbau Hohle Röhren Zwei miteinander verflochtene Zu Strängen gewickelte Faserpro-
Actinstränge teine
Durchmesser 25 nm, davon 15 nm Hohlraum 7 nm 8–12 nm Teil 2
Proteinuntereinheiten Tubulin (Dimer aus α- und Actin Eins von mehreren unterschied-
β-Tubulin) lichen Proteinen (z.B. Keratine)
Hauptfunktion(en) – Erhalt der Zellgestalt (kompres- – Erhalt der Zellgestalt (Zugspan- – Erhalt der Zellgestalt (Zugspannung
sionsresistente „Stützbalken“) nung aufnehmende Elemente) aufnehmende Elemente)
– Zellmotilität (wie in Cilien und – Änderungen der Zellgestalt – Verankerung des Zellkerns und
Flagellen) – Muskelkontraktion bestimmter anderer Organellen
– Chromosomentransport bei – Cytoplasmaströmung (in – Bildung der Zellkernlamina
der Zellteilung Pflanzenzellen)
– Organellentranslokation – Zellmotilität (wie bei amö-
boiden Bewegungen)
– Zellteilung tierischer Zellen
Fluoreszenzmikroskopbil- 10 µm 10 µm 5 µm
der von Fibroblasten,
einem zellbiologisch gut
untersuchten Zelltyp.
Die jeweiligen Struktu-
ren sind fluoreszenz-
markiert. Die DNA im
Zellkern ist in der Mikro-
grafie links blau und
rechts orange markiert.

Röhre aus Tubulindimeren


Keratine (Proteine)
faserartige Untereinheit
Actinuntereinheit (umeinander gewickelte
25 nm Keratine)

7 nm 8–12 nm

α β Tubulindimer

Centrosomen und Centriolen. In Tierzellen wachsen anderen Aufbau unterscheiden. Viele einzellige
die Mikrotubuli aus einem Centrosom heraus, einem Eukaryonten werden durch Cilien oder Flagellen als
Bereich der Zelle meist in der Nähe des Zellkerns. Diese lokomotorische Antriebe im Wasser fortbewegt. Das
Mikrotubuli dienen als druckresistente Träger des Cyto- gilt auch für die Spermien (Samenzellen) von Meta-
skeletts. Innerhalb des Centrosoms liegt ein Centriolen- zoen, Algen und einigen Pflanzen. Cilien auf den
paar aus jeweils neun Mikrotubulus-Tripletts, die Oberflächen ortsfester Zellen in Geweben schieben
jeweils einen Ring bilden (Abbildung 6.22). Obwohl durch ihre vereinten Bewegungen Flüssigkeit über die
Centrosomen und Centriolen die Zusammenlagerung Gewebeoberfläche. Beispielsweise schwemmt das Flim-
von Mikrotubuli in tierischen Zellen organisieren, gibt merepithel in der Luftröhre und in den Luftwegen der
es auch viele eukaryontische Zellen, die ohne dies aus- Lunge Schleim mit Schwebstoffteilchen aufwärts aus
kommen und ihre Mikrotubuli anders organisieren. der Lunge heraus und hält sie so sauber (siehe die EM-
Cilien und Flagellen. In Eukaryonten ist eine spezi- Aufnahmen in Abbildung 6.3). In den Eileitern einer
elle Anordnung der Mikrotubuli verantwortlich für das Frau hilft deren Cilienbesatz der Eizelle, in die Gebär-
Schlagen der Flagellen (Zellgeißeln; lat. flagellum, Gei- mutter zu gelangen. Bei kleinen Metazoen wie Acoela
ßel, Peitsche) und Cilien (Zellwimpern, Kinozilien, oder Plattwürmern (s. Kapitel 33) dienen sie auch zur
Flimmerhärchen; lat. cilium, (Augen)Wimper). Beides Fortbewegung der ganzen Tiere.
sind Mikrotubuli-enthaltende Ausstülpungen bestimm- Bewegliche Cilien finden sich normalerweise in gro-
ter Zelltypen, die sich deutlich von dem in Abbildung ßer Zahl an Oberflächen von bestimmten Epithelzellen.
6.5 gezeigten bakteriellen Flagellum mit seinem völlig Ihr Durchmesser beträgt etwa 0,25 μm bei einer Länge

151
6 Ein Rundgang durch die Zelle

von 2–20 μm. Flagellen sind bei vergleichbarem Durch- sind ringförmig um zwei einzelne Mikrotubuli in der
messer mit 10–200 μm wesentlich länger. Außerdem Mitte angeordnet (Abbildung 6.24b). Diese sogenannte
treten sie meist einzeln oder in nur wenigen Exempla- „9+2-Anordnung“ findet sich bei fast allen euka-
ren pro Zelle auf. Flagellen und Cilien unterscheiden ryontischen Flagellen und Cilien, während die nicht-
sich in ihrem Schlagverhalten (Abbildung 6.23). Fla- beweglichen sensorischen Cilien oft eine 9+0-Anord-
gellen vollführen eine kegelartige Drehbewegung und nung ohne das zentrale Pärchen haben. Der Mikro-
erzeugen so eine Antriebskraft in Richtung der Längs- tubuli-Komplex in einem Cilium oder Flagellum ist in
achse. Dagegen wirken Cilien eher wie Ruder mit der Zelle über einen Basalkörper verankert. Er ent-
abwechselndem Kraft- und Rückholschlag, ähnlich dem spricht strukturell einem Centriol mit 9 Mikrotubulus-
Vortrieb eines Ruderbootes. Die Kraftachse steht senk- Tripletts (Abbildung 6.24c). Tatsächlich dringt bei vie-
Teil 2
recht zur Cilienlängsachse, genau wie die Ruder seit- len Tieren und auch beim Menschen der Basalkörper
lich abstehen und trotzdem das Boot in Längsrichtung des befruchtenden Spermiums in die Eizelle ein und
vorantreiben. wird zu einem Centriol.
Ein Cilium kann auch wie eine Signal-empfangende Wie bewirkt die Anordnung der Mikrotubuli die
„Antenne“ der Zelle wirken. Cilien mit dieser Funktion Durchbiegung von Flagellen und beweglichen Cilien?
sind immer unbeweglich. Ursprünglich gibt es pro Zelle Große Motorproteine, die Dyneine (rot im Diagramm
immer nur genau ein derartig spezialisiertes Exemplar. in Abbildung 6.24), sitzen außen an den Mikrotubuli-
Bei Wirbeltieren deutet vieles darauf hin, dass fast alle Dubletten. Ein typisches Dyneinmolekül hat zwei
Zellen über dieses eine primäre Cilium verfügen. Mem- „Füße“, die an den Mikrotubuli der benachbarten
branproteine dieser Klasse von Cilien senden „moleku- Dublette entlang „gehen“, mit ATP als Energiequelle.
lare Signale“ aus der Zellumgebung ins Zellinnere und Jeweils ein „Fuß“ hält den Kontakt, während der andere
lösen so Änderungen der Zellaktivitäten aus. So besitzen sich löst und zum nächsten Schritt ansetzt (siehe Abbil-
Sinneszellen (auf Reizaufnahme spezialisierte Zellen) in dung 6.21). Die äußeren Dubletten und die beiden zen-
der Regel ein Cilium oder doch Reste davon. Die Cilien- tralen Mikrotubuli werden durch flexible querverbin-
basierte Signalgebung scheint unter anderem auch von dende Proteine (im Diagramm Abbildung 6.24 blau)
entscheidender Bedeutung für die Gehirnfunktion und zusammengehalten. Die Gehbewegung ist so abge-
die embryonale Entwicklung zu sein. stimmt, dass sie zu jedem Zeitpunkt jeweils nur auf
Obwohl sie sich in Länge, Anzahl pro Zelle und einer Seite des Ringes stattfindet. Ohne die Fixierung
Schlagverhalten unterscheiden, weisen bewegliche würden sich die Dubletten gegeneinander verschie-
Cilien und Flagellen eine gemeinsame Struktur auf, bei ben. In der gezeigten Anordnung rufen dagegen die
der eine Ausstülpung der Plasmamembran eine Gruppe Dynein„füße“ die Biegung der Mikrotubuli und damit
von Mikrotubuli umgibt (Abbildung 6.24a): Neun der gesamten Organelle hervor.
Doppeltubuli mit jeweils einer gemeinsamen Wand

(a) Flagellenbewegung. Ein Flagellum


(Zellgeißel) führt normalerweise eine Schwimmrichtung
wellenförmige Bewegung aus. Diese
treibt die Zelle in Richtung der ge-
dachten Mittelachse der Zellgeißel.
Die Vorwärtsbewegung eines mensch-
lichen Spermiums liefert ein Beispiel
für eine Fortbewegung mithilfe eines
Flagellums.

5 µm
(b) Cilienbewegung. Cilien (Zellwimpern) Bewegungsrichtung
führen eine Vor-und-zurück-Bewe- des Gesamtorganismus
gung aus. Der schnelle Kraftschlag
treibt die Zelle in einer senkrecht zur
Cilienachse liegenden Richtung voran.
Während der langsameren Rückholbe- Kraftschlag Rückholbewegung
wegung verbiegt sich das Cilium und
schwenkt seitwärts, in größerer Nähe
zur Zelloberfläche. Ein dichter Besatz
aus Cilien, die mit einer Rate von 40–60
Schlägen pro Sekunde arbeiten, über-
zieht die Zellen des Süßwasserpro-
tisten Colpidium sp. (kolorierte raster-
elektronenmikroskopische Aufnahme
mit Cilien in verschiedenen Bewegungs- 15 µm
phasen).
Abbildung 6.23: Vergleich der Schlagbewegungen von Flagellen (Zellgeißeln) und Cilien (Zellwimpern).

152
6.6 Das Cytoskelett ist ein Netzwerk aus Filamenten zur Organisation von zellulären Strukturen

0,1 µm äußere Doppel- Plasmamembran


tubuli
Dyneinmoleküle
zentrale
Mikrotubuli
Radial-
speichen
Teil 2
die äußeren
Mikrotubuli
Doppeltubuli
vernetzendes Protein
(b) Querschnitt durch ein Cilium, an
Plasmamembran dem die „9+2“-Anordnung der Mikrotubuli
erkennbar ist (elektronenmikroskopische Auf-
nahme). Die außen liegenden Doppeltubuli
Basalkörper und die beiden zentralen Mikrotubuli werden
durch Quervernetzungsproteine (blau) in ihrer
Position gehalten. Dies schließt die Radial-
speichen ein. An den Doppeltubuli sind Motor-
0,5 µm proteine namens Dynein verankert (rot).
(a) Längsschnitt durch ein Cilium, an 0,1 µm
dem erkennbar ist, dass die Mikro-
tubuli durch die ganze Länge des Organells ver- Triplett
laufen (elektronenmikroskopische Aufnahme).
(c) Basalkörper. Die neun äußeren Doppeltubuli eines
Ciliums oder Flagellums erstrecken sich bis in den Basal-
körper, wo jeder Doppeltubulus sich mit einem
weiteren Mikrotubulus unter Ausbildung eines Rings
aus neun Mikrotubulus-Tripletts verbindet. Jedes Trip-
lett ist mit dem nächsten über Nicht-Tubulin-Proteine
verbunden (dünne blaue Linien in der Schemazeich-
nung). Die beiden zentralen Mikrotubuli fehlen im Querschnitt durch einen
Basalkörper; sie enden oberhalb des Basalkörpers Basalkörper
(elektronenmikroskopische Aufnahme).

Abbildung 6.24: Ultrastruktur eines eukaryontischen Flagellums oder Ciliums.

ZEICHENÜBUNG Kreiseln Sie in (a) und (b) das zentrale Mikrotubulipärchen ein. Zeigen Sie in (a) ihr Ende und erklären Sie, warum sie im Querschnitt
des Basalkörpers in (c) nicht sichtbar sind.

Mikrofilamente (Actinfilamente)
Mikrovillus
Mikrofilamente sind dünne massive Stäbe mit einem
Durchmesser von etwa 7 nm. Sie werden auch Actin-
filamente genannt, da sie aus Actin bestehen, einem
globulären Protein. Ein Mikrofilament ist eine ver-
Plasmamembran drillte Doppelkette aus Actinmonomeren (siehe Tabelle
6.1). Mikrofilamente können in linearer Form auftre-
ten oder Maschenwerke ausbilden. Im letzten Fall bin-
den bestimmte Proteine entlang einer Seite eines
Filamentes und sorgen so für Verzweigungspunkte.
Mikrofilamente Mikrofilamente scheint es in allen eukaryontischen Zel-
(Actinfilamente) len zu geben.

Abbildung 6.25: Die strukturelle Rolle von Mikrofilamenten. Die


Oberfläche dieser Nährstoff-aufnehmenden Darmzelle wird durch ihre vie-
len Mikrovilli (Singular Mikrovillus ) vergrößert. Mikrovilli sind zelluläre
Erweiterungen mit einer Verstärkung aus Mikrofilamentbündeln. Sie
Intermediärfilamente bestehen aus Actinfilamenten und sind an einem Netzwerk von Intermediär-
filamenten verankert (TEM-Aufnahme).

0,25 µm

153
6 Ein Rundgang durch die Zelle

leiht dem äußeren Cytoplasmabereich der Zelle –


ihrem Cortex – die halbfeste Konsistenz eines Gels (im
Gegensatz zum eher flüssigen Zustand des innen befind-
Muskelzelle
lichen Cytoplasmas). In besonderen Tierzellen, die wie
0,5 μm Darmzellen auf den Transport von Stoffen durch die
Plasmamembran spezialisiert sind, befinden sich Mikro-
filamentbündel im Kern der Mikrovilli, der filigranen
Actin-
filament
Verlängerungen, die die Zelloberfläche vergrößern
(Abbildung 6.25).
Myosin-
filament
Die Bedeutung der Mikrofilamente für zelluläre
Teil 2
Bewegungen ist wohlbekannt, insbesondere als Teil
Myosin-
kopf des kontraktilen Apparates von Muskelzellen. Dort
liegen Tausende von Actinfilamenten parallel neben-
(a) Myosinmotoren bei der Muskelzellkontraktion. Die Hin- und
Herbewegung der Myosinköpfe schiebt die parallel zueinander einander mit dazwischen eingelagerten dickeren Fila-
liegenden Myosin- und Actinfilamente aneinander vorbei, mit dem menten aus dem Protein Myosin (Myosinfilamente;
Ergebnis, dass sich die Actinfilamente aufeinander zu bewegen (rote Abbildung 6.26a). Wie das Dynein bei den Mikrotu-
Pfeile). In der Summe führt das zu einer Verkürzung der Muskelzelle.
An der Kontraktion eines Muskels sind die Verkürzungen vieler buli fungiert das Myosin als Motorprotein der Actinfi-
Muskelzellen zur selben Zeit beteiligt. (TEM-Aufnahme) lamente. Die Kontraktion einer Muskelzelle beruht auf
einem die Zelle verkürzenden Aneinandervorbeiglei-
Cortex (äußere Schicht eines ten von Actin- und Myosinfilamenten, sie wird
gelartigen Cytoplasmas genauer in Kapitel 50 beschrieben. Im einzelligen
mit einem Actinnetzwerk) 100 μm Eukaryont Amoeba und bestimmten Typen unserer
inneres Cyto- weißen Blutzellen sind örtlich begrenzte Kontraktio-
plasma (flüssi- nen aufgrund der Actin-Myosin-Wechselwirkungen
gere Konsistenz) für die amöboide, kriechende Bewegung dieser Zellen
verantwortlich (Abbildung 6.26b). Die Zelle kriecht
dabei über eine Oberfläche mithilfe von Ausstülpun-
gen namens Pseudopodien (griech. pseudes, falsch +
ausgreifendes
pod, Fuß), die sie abwechselnd ausstreckt und wieder
Pseudopodium zusammenzieht. In Pflanzenzellen tragen Actin-Myo-
sin-Wechselwirkungen zum cytoplasmatischen Strom
(b) Amöbenartige Bewegung. Die Wechselwirkung von Actinfilamenten bei. Das ist der zirkuläre Fluss von Cytoplasma inner-
mit Myosin bewirkt das Zusammenziehen der Zelle, wodurch das hintere
Zellende (links) nach vorn (nach rechts) gezogen wird halb der Zelle (Abbildung 6.26c). Diese Strömung, die
insbesondere in großen Pflanzenzellen beobachtbar ist,
beschleunigt die Materialverteilung innerhalb der
Zelle.

Intermediärfilamente
Die Intermediärfilamente tragen ihren Namen infolge
ihres Durchmessers von 8–12 nm: größer als Mikro-
filamente, aber kleiner als Mikrotubuli (Tabelle 6.1).
Während man früher annahm, dass Intermediärfila-
30 μm mente nur bei Wirbeltieren vorkommen, sind sie mitt-
Chloroplast
lerweile auch für sehr viele Taxa der Wirbellosen
(c) Cytoplasmaströmung in Pflanzenzellen. Eine Cytoplasmaschicht nachgewiesen worden; ihr Vorkommen ist aber wohl
kreist in der Zelle und bewegt sich dabei über einen „Teppich“ auf die Metazoa beschränkt. So wie die Mikrofila-
aus parallelen Actinfilamenten. Myosin-Motorproteine, die an den
Organellen im Cytoplasma verankert sind, treiben möglicherweise mente auf die Aufnahme von Zugspannungen spezia-
diese Strömung durch Wechselwirkung mit dem Actinsystem an. lisiert sind, bilden die Intermediärfilamente eine
umfangreiche und vielgestaltige Familie von Cytos-
Abbildung 6.26: Mikrofilamente und Motilität. An drei Beispielen
kelettproteinen. Jeder Intermediärfilamenttyp ist aus
werden die Wechselwirkungen zwischen Actinfilamenten und Motorpro-
teinen illustriert, die die Zellbewegung ermöglichen.
anderen Untereinheiten aufgebaut, die häufig zur gro-
ßen Gruppe der Keratine gehören. Verschiedene Zellty-
pen sind mit verschiedenen Intermediärfilamenttypen
Im Gegensatz zu den druckfesten Mikrotubuli besteht ausgestattet. Mikrotubuli und Mikrofilamente sind im
die strukturgebende Funktion der Mikrofilamente Gegensatz dazu in allen eukaryontischen Zellen von
darin, Zugspannungen zu neutralisieren. Ein drei- einheitlichem Durchmesser und einheitlicher Zusam-
dimensionales Netzwerk aus Mikrofilamenten knapp mensetzung.
unterhalb der Plasmamembran (corticale Mikrofila- Die Intermediärfilamente sind dauerhaftere gestalt-
mente) unterstützt die Aufrechterhaltung der Zellge- gebende Elemente der Zellen als die Mikrofilamente
stalt (siehe Abbildung 6.8). Dieses Maschenwerk ver- oder Mikrotubuli, die in den verschiedenen Teilen der

154
6.7 Zelluläre Aktivitäten werden durch extrazelluläre Komponenten und direkte Zell-Zell-Verbindungen koordiniert

Zelle regelmäßig auf- und wieder abgebaut werden. Plasmamembran wird normalerweise als die Außen-
Selbst nach dem Absterben einer Zelle besteht das grenze einer lebenden Zelle angesehen, doch syntheti-
Maschenwerk der Intermediärfilamente vielfach wei- sieren und sezernieren die meisten Zellen Stoffe, die
ter. So bestehen die Außenlagen unserer Haut aus dann vollständig extrazellulär oder außen an der Plas-
abgestorbenen Zellen voller Keratinfilamente. Chemi- mamembran lokalisiert sind. Obwohl diese Materia-
sche Behandlungen, die Mikrofilamente und Mikro- lien und ihre Strukturen eigentlich außerhalb der Zelle
tubuli aus dem Cytoplasma lebender Zellen auflösen, liegen, ist ihre Untersuchung von zentraler Bedeutung
lassen oftmals ein Gespinst aus Intermediärfilamenten für die Zellbiologie, weil sie an einer Vielzahl von zel-
zurück, dessen ursprüngliche Form erhalten geblieben lulären Funktionen beteiligt sind.
ist. Derartige Beobachtungen zeigen, dass die Interme-
Teil 2
diärfilamente besonders widerstandsfähig und für die
Aufrechterhaltung der Zellgestalt und der räumlichen 6.7.1 Pflanzenzellwände
Fixierung mancher Organellen von besonderer Bedeu-
tung sind. So sitzt etwa der Zellkern gemeinhin in Die Zellwand ist ein extrazellulärer Bestandteil pflanz-
einem „Käfig“ aus Intermediärfilamenten und wird licher Zellen und ein Unterscheidungsmerkmal zwi-
durch Verzweigungen der Filamente, die sich in das schen pflanzlichen und tierischen Zellen (Abbildung
Cytoplasma hinein erstrecken, in seiner Position 6.8). Die Wand schützt die Pflanzenzelle, festigt ihre
gehalten. Andere Intermediärfilamente bilden die Gestalt und verhindert die exzessive Wasseraufnahme.
Zellkernlamina, die die Innenseite der Zellkernhülle Bezogen auf die Pflanze insgesamt stützen die stark
auskleidet (Abbildung 6.9). Durch ihre formerhaltende ausgebildeten Wände spezialisierter Zellen den Pflan-
Funktion unterstützen die Intermediärfilamente die zenkörper gegen die Schwerkraft ab. Prokaryonten, Pilze
spezifische Zellfunktion. Beispielsweise verankert ein (Mycota) und einige Protisten wie Kieselalgen besitzen
Netzwerk aus Intermediärfilamenten die Mikrofila- ebenfalls Zellwände (Abbildung 6.5 und Abbildung
mente, die im Darm die Mikrovilli stützen (Abbildung 6.8), die Erörterung dieser anders strukturierten Gebilde
6.9). Unterschiedliche Intermediärfilamenttypen schei- erfolgt in Teil 5 des Buches.
nen gemeinsam als dauerhaftes Stützgerüst der gesam- Pflanzenzellwände sind wesentlich dicker als Plasma-
ten Zelle zu dienen. membranen. Ihre Dicke reicht von 0,1 μm bis hin zu
mehreren Mikrometern. Die genaue chemische Zusam-
mensetzung einer Zellwand variiert von Art zu Art
 Wiederholungsfragen 6.6 und selbst innerhalb ein und derselben Pflanze von
Zelltyp zu Zelltyp. Der grundlegende Aufbau der Zell-
1. Beschreiben Sie die gemeinsamen Merkmale wände ist jedoch immer gleich. Mikrofibrillen aus
des Mikrotubulus-basierten Flagellenschlags dem Polysaccharid Cellulose (siehe Abbildung 5.6)
und der Mikrofilament-basierten Muskelkon- werden von dem Enzym Cellulosesynthase aufgebaut
traktion. und von der Zelle in den extrazellulären Raum sezer-
niert. Dort werden die Cellulosemoleküle in eine
2. WAS WÄRE, WENN? Am Kartagener-Syndrom
Matrix aus Polysacchariden und Proteinen eingebettet.
leidende Männer tendieren zu Lungenentzün-
Eine derartige Kombination von Baustoffen – starke
dungen und sind steril, weil ihre Spermien un-
Fasern in einer Matrix – wird als Verbundbauweise
beweglich sind. Die Krankheit wird autosomal
bezeichnet. Sie liegt auch bei technischen Konstruk-
rezessiv vererbt. Was könnte der zugrundelie-
tionen wie Stahlbeton und Glasfaserverbundwerkstof-
gende Defekt sein?
fen vor.
Eine junge Pflanzenzelle sezerniert zunächst eine
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
verhältnismäßig dünne und flexible Wand, die soge-
nannte Primärzellwand (Abbildung 6.27). Zwischen
den Primärzellwänden benachbarter Zellen befindet
sich die Mittellamelle, eine dünne Schicht mit einem
Zelluläre Aktivitäten werden durch hohen Anteil klebriger Polysaccharide namens Pec-
extrazelluläre Komponenten und tine. Die Mittellamelle verklebt angrenzende Zellen
miteinander. (Pectin wird auch in der Küche zum
direkte Zell-Zell-Verbindungen Andicken von Marmelade und Gelee verwendet.)
koordiniert
6.7 Wenn die Zelle reift und zu wachsen aufhört, verstärkt
sie ihre Zellwand. Einige Pflanzenzellen erreichen
dies, indem sie aushärtende Substanzen in die Primär-
Nachdem wir das Innere der Zelle durchquert und zellwand einlagern. Andere Zellen fügen eine Sekun-
dabei ihre Bestandteile untersucht haben, beenden därzellwand zwischen der Plasmamembran und der
wir unsere Rundreise durch die Zelle und kehren an Primärzellwand hinzu. Die oft in mehreren, aufeinan-
die Oberfläche dieser Mikrowelt zurück. Dort gibt es derliegenden Schichten abgelagerte Sekundärwand
weitere Strukturen mit wichtigen Funktionen. Die hat eine feste und haltbare Matrix mit starker Stütz-

155
6 Ein Rundgang durch die Zelle

und Schutzfunktion. Beispielsweise besteht Holz haupt- 6.7.2 Die extrazelluläre Matrix tierischer
sächlich aus Sekundärzellwänden. Pflanzenzellwände Zellen
zwischen benachbarten Zellen sind normalerweise von
Kanälen durchzogen, den sogenannten Plasmodesmen Den Zellen vielzelliger Tiere (Metazoa) fehlen Wände,
(Abbildung 6.27), die wir kurz erörtern wollen. wie sie für Pflanzenzellen kennzeichnend sind. Aber sie
verfügen über eine komplexe extrazelluläre Matrix
(Abk. ECM, engl. extracellular matrix; Abbildung 6.28).
Hauptbestandteil der extrazellulären Matrix sind Gly-
sekundäre koproteine, die von den Zellen sezerniert werden. Gly-
Zellwand koproteine sind Proteine mit kovalent verbundenen
Teil 2
primäre Kohlenhydratanteilen, meist kurze Ketten aus Glykosyl-
Zellwand resten. Das mengenmäßig häufigste Glykoprotein in der
extrazellulären Matrix der meisten Tierzellen ist das
Mittel- Kollagen, das außerhalb der Zellen feste Fasern ausbil-
lamelle
det (Abbildung 5.18). 40 % des gesamten Proteins im
menschlichen Körper bestehen aus Kollagen. Die Kolla-
genfasern sind in ein Netzwerk aus Proteoglycanmole-
1 µm külen eingebettet. Ein Proteoglycan-Molekül besteht
Zellsaftvakuole
aus einem verhältnismäßig kleinen Kernbereich aus
Cytosol
Protein, an den zahlreiche Kohlenhydratketten (bis zu
95 % Massenanteil) kovalent gebunden sind. Große Pro-
Plasmamembran teoglycankomplexe bestehen aus hunderten von Proteo-
glycanmolekülen, die sich nichtkovalent mit einem ein-
Pflanzenzellwände
zigen sehr langen Polysaccharidmolekül verbinden
(Abbildung 6.28). Manche Zellen sind an das ECM über
ECM-Glykoproteine wie Fibronectin gebunden. Fibro-
nectin und andere ECM-Proteine binden an Zelloberflä-
Plasmodesmen chenproteine aus der Gruppe der Integrine, die in die
Plasmamembran eingelassen sind. Integrine durch-
Abbildung 6.27: Pflanzliche Zellwände. Die Zeichnung zeigt mehrere spannen die Membran. Auf der cytoplasmatischen
Zellen jeweils mit einer Zellsaftvakuole, einem Zellkern sowie mehreren Chlo- Seite assoziieren sie mit Proteinen, die ihrerseits am
roplasten und Mitochondrien. Die transmissionselektronenmikroskopische
Mikrofilamentsystem des Cytoskeletts verankert sind.
Aufnahme zeigt die Wände zweier Zellen im Kontaktbereich. Die mehrlagige
Schicht zwischen den Pflanzenzellen besteht aus benachbarten und miteinan-
Die Bezeichnung Integrine leitet sich von „integrie-
der verbundenen Wänden, die von der zugehörigen Zelle gebildet werden. ren“ (= zusammenführen) ab. Integrine erlauben auf-

Ein Proteoglycan-
Die Kollagen- komplex besteht
fasern sind in EXTRAZELLULÄRE FLÜSSIGKEIT aus hunderten von
ein Geflecht aus Proteoglycanmole- Polysaccharidmolekül
Proteoglycan- külen, die durch
komplexen nichtkovalente
eingebettet. Wechselwirkungen Kohlen-
mit einem einzigen, hydratreste
Fibronectinmoleküle langen Polysaccha-
verbinden die extra- ridmolekül verbun-
den sind. Protein-
zelluläre Matrix kern
mit Integrinmole-
külen, die in die
Plasmamembran Integrine sind inte-
eingebettet sind. grale Membranpro-
teine aus zwei Unter-
einheiten. An sie bindet
auf der einen Seite der Proteoglycan-
Plasma-
Membran die extrazellu- molekül
membran
läre Matrix, auf der Zell-
innenseite der Membran Proteoglycankomplex
binden Proteine an die
Integrine, die mit dem
Mikro- Mikrofilamentsystem assoziiert sind. Durch diese
CYTOPLASMA Verbindungskette können Signale zwischen der
filamente
Außenumgebung und dem Zellinneren übermittelt
werden, die zu einer Reaktion der Zelle führen.

Abbildung 6.28: Die extrazelluläre Matrix einer Tierzelle. Die molekulare Zusammensetzung und der Aufbau der extrazellulären Matrix können von
einem Zelltyp zum nächsten variieren. In diesem Beispiel sind drei verschiedene Glykoproteine vorhanden: Proteoglycane, Kollagen und Fibronectin.

156
6.7 Zelluläre Aktivitäten werden durch extrazelluläre Komponenten und direkte Zell-Zell-Verbindungen koordiniert

grund ihrer Lokalisierung die Übermittlung von Signa- branen benachbarter Zellen kleiden die Kanäle der Plas-
len zwischen ECM und Cytoskelett und kommunizieren modesmen aus und bilden ein Kontinuum. Wasser und
somit Veränderungen innerhalb und außerhalb der niedermolekulare gelöste Stoffe können frei von Zelle zu
Zelle. Integrine und die beschriebenen cytoplasmati- Zelle diffundieren. Unter gewissen Umständen können
schen Proteine können zu größeren, im Elektronenmi- sogar bestimmte Proteine und RNA-Moleküle durch die
kroskop erkennbaren Komplexen zusammentreten und Plasmodesmen transportiert werden (siehe Konzept
werden dann als Hemidesmosomen bezeichnet. Derar- 36.6). Die für Nachbarzellen bestimmten Makromoleküle
tige Hemidesmosomen verankern beispielsweise Epi- scheinen die Plasmodesmen zu erreichen, indem sie sich
thel- und Muskelzellen an der ECM, sorgen so für einen an den Fasern des Cytoskeletts entlangbewegen.
strukturellen Zusammenhalt und stellen die Kraftüber-
Zellwände
Teil 2
tragung der Muskelzellen an die Zielstrukturen sicher.
Aktuelle Forschungen zum Fibronectin, weiteren Zell-
ECM-Molekülen und den Integrinen belegen die Bedeu- inneres
tung, die die extrazelluläre Matrix für Zellen hat. Durch
die Kommunikation mit der Zelle mittels Integrinen
Zell-
kann die extrazelluläre Matrix das Verhalten der Zellen inneres
regulieren. So wandern manche Zellen in einem sich
0,5 µm Plasmodesmen Plasmamembran
entwickelnden Embryo über festgelegte Wege, indem sie
die Ausrichtung ihrer eigenen Mikrofilamente mit der Abbildung 6.29: Plasmodesmen zwischen Pflanzenzellen. Das
Ausrichtung der Fasern in der extrazellulären Matrix Cytoplasma einer Pflanzenzelle steht mit dem Cytoplasma benachbarter Zel-
abgleichen. Es hat sich außerdem gezeigt, dass die eine len über Plasmodesmen – die Zellwände durchziehende und von Membra-
Zelle umgebende Matrix die Genexpression im Zellkern nen umschlossene Cytoplasmastränge – in Verbindung (TEM-Aufnahme).
beeinflussen kann. Informationen über die extrazelluläre
Matrix erreichen den Zellkern wahrscheinlich über eine Tight junctions, adhering junctions und
Kombination aus mechanischen und chemischen Sig- gap junctions tierischer Zellen
naltransduktionswegen. An der mechanischen Signallei- Neben Zell-Matrix-Verbindungen finden sich bei viel-
tung sind das Fibronectin, die Integrine und die Mikrofi- zelligen Tieren drei Typen von Zell-Zell-Verbindungen:
lamente des Zellskeletts beteiligt. Veränderungen am tight junctions, adhering junctions und gap junctions.
Cytoskelett können ihrerseits chemische Signaltransduk- Letztere sind den Plasmodesmen der Pflanzen am ähn-
tionswege innerhalb der Zelle aktivieren, die zu Verän- lichsten, allerdings sind die Poren in den gap junc-
derungen im zellulären Proteinbesatz und dadurch zu tions nicht durch Membranen begrenzt. Alle drei
Veränderungen zellulärer Funktionen führen. Auf diese Typen interzellulärer Verbindungen sind in Epithelge-
Weise ist die extrazelluläre Matrix eines Gewebes bei der weben besonders verbreitet. Das Epithel bildet die
Koordination des Verhaltens aller Zellen innerhalb des äußere und innere Begrenzung der Körperoberfläche.
betreffenden Gewebes behilflich. Direkte Verbindungen Abbildung 6.30 bedient sich daher epithelialer Zellen
zwischen den Zellen dienen ebenfalls solchen Koordina- der Darmwand eines Wirbeltieres, um diese Zellkon-
tionsleistungen, wie wir im Folgenden zeigen werden. takte konkret darzustellen (wobei die Zell-Matrix-Ver-
bindungen zur Vereinfachung weggelassen wurden).
Während die tight junction bei Wirbeltieren durch die
6.7.3 Zell-Zell-Verbindungen Abdichtung des interzellulären Raumes eine unkontrol-
(interzelluläre Verbindungen) lierte Diffusion von Stoffen zwischen den Zellen eines
Epithels hindurch verhindert, wird diese Funktion bei
Die Zellen von höheren Tieren, Pflanzen und Pilzen allen wirbellosen Tieren durch die septierte Verbindung
sind zu Geweben, Organen und Organsystemen zusam- (septate junction) übernommen (Abbildung 6.31). Unter
mengefasst. Benachbarte Zellen haften in der Regel den Zell-Zell-Verbindungen, die den mechanischen
aneinander, und sie wechselwirken und kommunizie- Zusammenhalt von Zellen gewährleisten (adhering junc-
ren über direkte physische Kontakte. tions) ist sicher die Zonula adhaerens (Gürteldesmosom,
belt desmosome, Abbildung 6.31) die bedeutendste,
Die Plasmodesmen pflanzlicher Zellen sichert sie doch den apikalen mechanischen Zusammen-
Man könnte meinen, dass die nichtlebendigen Zell- schluss von Epithelzellen und ermöglicht so erst, dass
wände von Pflanzen die Pflanzenzellen voneinander die tight junctions oder septate junctions keiner zu gro-
isolieren würden. In Wirklichkeit sind die Zellwände ßen mechanischen Belastung ausgesetzt werden. Cadhe-
jedoch von zahlreichen, als Plasmodesmen oder Plas- rine sind die typischen Adhäsionsmoleküle dieser Zell-
modesmata bezeichneten Kanälen durchzogen (griech. verbindung. Sie liegt als Band oberhalb der septierten
plasso, gestalten, formen, schaffen + desmos, Band) Verbindung oder unterhalb der tight junction (in Abbil-
(Abbildung 6.29), die die Zellen miteinander verbin- dung 6.30 nicht dargestellt). In diese Gruppe von Verbin-
den. dungsstrukturen gehören auch die Desmosomen (Abbil-
Durch die membranumschlossenen cytoplasmatischen dung 6.30) und die Hemidesmosomen (s.o. ECM). Die
Plasmodesmen sind benachbarte Zellen so miteinander Zonula adhaerens und die tight junctions teilen darüber
verbunden, dass eine Pflanze nahezu ein einziges leben- hinaus die Plasmamembran in eine apikale (nach außen
diges Kontinuum darstellt (Symplast). Die Plasmamem- gerichtete) und eine basale (nach innen gerichtete)

157
6 Ein Rundgang durch die Zelle

Domäne, so dass beispielsweise bestimmte Transport- domäne vorkommen können und so ein gerichteter
proteine nur in der einen oder der anderen Membran- Transport über die Epithelzellen möglich ist.

 Abbildung 6.30: Näher betrachtet

Zell-Zell-Verbindungen zwischen Zellen in tierischen Geweben

tight junctions.
Im Bereich von tight junctions sind die
Plasmamembranen benachbarter Zellen sehr
Teil 2 dicht zusammengepresst und werden durch,
für diese Art des Zellkontaktes, spezifische
tight junction Proteine (lila) zusammengehalten. Die tight
junctions bilden eine die Zellen umlaufende
Versiegelung. Dadurch verhindern sie den
tight junctions verhindern, dass Austritt extrazellulärer Flüssigkeit durch die
zwischen den Zellen eines Epithels Zellzwischenräume von Epithelzellschichten.
Flüssigkeit ein- oder austritt. Unterhalb der tight junction befindet sich stets
eine Zonula adhaerens (Gürteldesmosom),
die für den mechanischen Zusammenhalt der
Epithelzellen sorgt.
0,5 µm

adhering junctions.
adhering junctions funktionieren wie
Nieten, die Zellen zu festen Lagen zusam-
menknüpfen. Intermediärfilamente aus dem
widerstandsfähigen Protein Keratin veran-
kern die Desmosomen im Cytoskelett. Des-
tight junction mosomen-analoge Strukturen verbinden die
Muskelzellen in einem Muskel untereinan-
der und mit den zu bewegenden Elementen
(z.B. Knochengewebe). Manche „Muskel-
zerrungen“ sind mikroskopisch nichts ande-
Intermediärfilamente res als Desmosomen-Brüche zwischen den
einzelnen Muskelfasern.
Desmosom

1 µm
gap junctions.
gap junctions gap junctions bilden cytoplasmatische Ka-
gap junction näle, die von einer Zelle in die nächste ver-
laufen. Sie entsprechen in dieser Funktion
den Plasmodesmen von Pflanzenzellen. gap
junctions bestehen aus Proteinen, die eine
Pore in der Membran umgeben beziehungs-
weise bilden, durch die niedermolekulare Sub-
stanzen wie kleine Ionen, Zuckermoleküle,
Aminosäuremoleküle und ähnliche Stoffe in
extrazelluläre Matrix die Nachbarzelle überwechseln können. gap
Zellzwischenraum junctions sind für die Zwischenzellkommuni-
kation in vielen Gewebetypen notwendig.
Plasmamembranen benachbarter Zellen Dazu gehören der Herzmuskel und der tieri-
sche Embryo.
0,1 µm

 Wiederholungsfragen 6.7 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Die Polypeptidket-


te des Proteins, aus dem eine tight junction
1. Wie unterscheiden sich die Zellen höherer besteht, durchquert die Membran vier Mal.
Pflanzen und Tiere strukturell von denen ein- Sie hat zwei extrazelluläre Schleifen und eine
zelliger Eukaryonten? cytoplasmatische Schleife sowie je ein kurzes
N- und C-terminales Stück im Cytoplasma.
2. WAS WÄRE, WENN? Welche Auswirkungen hätte Was würden Sie im Hinblick auf Abbildung
es auf die Zellfunktion, wenn pflanzliche Zell- 5.14 bezüglich der Aminosäuresequenz dieses
wände oder die extrazelluläre Matrix tierischer Proteins vorhersagen?
Zellen undurchlässig wären?
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

158
Zusammenfassung

tieren und verteidigt deren Körper gegen Infektionen


Cuticula durch in den Körper gelangte Bakterien (die kleineren
septierte Verbindung Zellen auf dem Bild), indem sie diese in phagocytoti-
sche Vesikel aufnimmt. Der Makrophage kriecht über
Zonula adhaerens Gewebeoberflächen und greift mit dünnen Pseudopo-
dien (genauer: Filopodien) nach den Bakterienzellen.
Actinfilamente wechselwirken bei dieser Bewegung
mit anderen Elementen des Cytoskeletts. Nachdem der
Makrophage sich die Bakterien einverleibt hat, werden
sie von seinen Lysosomen zerstört. Lysosomen entste-
Teil 2
hen aus dem ausgefeilten Endomembransystem des
Makrophagen. Die Verdauungsenzyme in den Lysoso-
men, wie auch die Proteine des Cytoskeletts, werden an
extrazelluläre Ribosomen synthetisiert. Die Proteinsyntheseanwei-
Matrix sung ist in der genetischen Information der DNA im
0,5 µm Zellkern programmiert. All diese Prozesse erfordern
Energie, die die Mitochondrien in Form von ATP
Abbildung 6.31: Apikale Zell-Zell-Verbindungen zwischen tieri- bereitstellen. Zelluläre Funktionen erwachsen aus zel-
schen Epithelzellen. Epithelzellen von wirbellosen Tieren stehen nahe lulärer Ordnung: Die Zelle ist eine lebendige Einheit
der Oberfläche untereinander über eine Zonula adhaerens, gefolgt von und mehr als die Summe ihrer Teile.
einer septierten Verbindung in Kontakt (elektronenmikroskopische Auf-
nahme aus der Epidermis des Anneliden Parergodrilus heideri ).

6.7.4 Die Zelle: eine lebendige Einheit,


mehr als die Summe ihrer Teile
Von unserem kurzen Blick auf die Kompartimentierung
einer Zelle bis hin zur genaueren Betrachtung einzelner
Organell-Strukturen: Die Rundreise durch die Zelle lie-
ferte vielfältige Belege für Struktur-Funktions-Bezie-
hungen. (Betrachten Sie Abbildung 6.8 erneut unter
diesem Aspekt!) Selbst wenn man eine Zelle gedank-
lich in ihre Einzelteile zerlegt, darf darüber das Zusam- 5 μm
menspiel aller ihrer Bestandteile zu einer Funktions-
einheit nicht vergessen werden. Als ein Beispiel für die
Abbildung 6.32: Das Entstehen zellulärer Funktionen. Die Fähig-
zelluläre Integration von Strukturen und Funktionen
keit eines Makrophagen, (braun) Bakterien (gelb) zu erkennen, zu fixieren
kann die in der mikroskopischen Aufnahme in und zu zerstören, erfordert das Zusammenwirken mehrerer Zellaktivitäten.
Abbildung 6.32 gezeigte Szene dienen. Die große Zelle Das Cytoskelett, die Lysosomen und die Plasmamembran sind Bestand-
ist ein Makrophage (Riesenfresszelle; siehe auch Abbil- teile, die an der sogenannten Phagocytose beteiligt sind (kolorierte raster-
dung 6.13a). Sie ist Teil des Abwehrsystems von Säuge- elektronenmikroskopische Aufnahme).

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 6 

Konzept 6.1  Zellfraktionierung. Man kann angereicherte Prä-


Mikroskopie und biochemische Analytik für das Stu- parationen herstellen, in denen bestimmte Zell-
dium von Zellen bestandteile in hoher Konzentration vorliegen,
indem aufgesprengte Zellen konsekutiv bei immer
 Mikroskopie. Verbesserungen der Mikroskopie- höheren Beschleunigungen zentrifugiert werden.
technik, die die Kenndaten Vergrößerung, Auf- Größere Zellfragmente finden sich bei niedrigeren
lösungsvermögen und Kontrast betreffen, haben die Umdrehungsgeschwindigkeiten im Niederschlag,
Zellbiologie befruchtet und zu Fortschritten auf kleinere und/oder leichtere in den Niederschlägen
diesem Gebiet geführt. Die Licht- und die Elektro- hochtourigerer Zentrifugationsschritte.
nenmikroskopie sind und bleiben gemeinsam mit
ihren Weiterentwicklungen wichtige zellbiologische ? Wie ergänzen sich Mikroskopie und Biochemie bei der Aufklärung
zellulärer Strukturen und Funktionen?
Methoden.

159
6 Ein Rundgang durch die Zelle

Konzept 6.2  Das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen ist eine


Eukaryontische Zellen sind kompartimentiert wichtige Kenngröße für die Zellabmessungen und
ihre Gestalt.
 Vergleich prokaryontischer und eukaryontischer
Zellen. Alle Zellen sind von einer Plasmamembran  Pflanzen- und Tierzellen haben größtenteils die glei-
umgeben. Im Gegensatz zu eukaryontischen Zellen chen Organellen: einen Zellkern, das endoplasma-
fehlen den Prokaryonten ein Zellkern sowie andere tische Reticulum, den Golgi-Apparat sowie Mito-
von Membranen umgebene Organellen. Eukaryon- chondrien. Chloroplasten gibt es dagegen nur in den
ten haben innere Membranen zur Kompartimentie- Zellen photosynthetisch aktiver Eukaryonten.
rung zellulärer Funktionen.
Teil 2 ? Erklären Sie, wie die Kompartimentierung eines Eukaryonten zu sei-
ner biochemischen Funktion beiträgt.

Zellbestandteil Bau Funktion


Konzept 6.3 Zellkern
Umgeben von der Zell- Beherbergt die Chromosomen, die aus Chromatin
kernhülle (doppelte (der Erbsubstanz DNA mit anhaftenden Proteinen)
Die genetischen Anweisun- Membran), die von Kern- bestehen; enthält Nucleoli, an denen die Biosyn-
gen eukaryontischer Zellen poren durchbrochen ist. these der Ribosomen vonstatten geht. Poren regu-
finden sich im Zellkern, ihre Die äußere Membran der lieren den Eintritt und den Ausstrom von Stoffen.
Umsetzung erfolgt durch Zellkernhülle bildet mit
die Ribosomen dem endoplasmatischen
Reticulum (ER) ein Konti-
? Beschreiben Sie die Bezie- (ER) nuum.
hung zwischen Zellkern und Ribo-
somen. Ribosom Zwei Untereinheiten, Proteinbiosynthese.
bestehend aus riboso-
malen RNAs und zahlrei-
chen Proteinen; können
frei im Cytosol oder am
ER verankert vorliegen.

Konzept 6.4 Endoplasmatisches Reticulum (ER) Ausgedehntes Netz- Glattes ER: Synthese von Lipiden, Kohlenhydrat-
(Zellkern- werk aus Membran- stoffwechsel, Calciumionenspeicher, chemische
Das Endomembransystem hülle) zisternen und -tubuli; Modifikation von Wirkstoffen (Medikamenten),
steuert den Proteinver- Membranen scheiden Giften usw.
kehr und wirkt im Zwi- das ER-Lumen vom
schenstoffwechsel mit Cytosol; schließt die Raues ER: Synthese von Organellproteinen und von
äußere Membran des zur Sekretion bestimmten Proteinen sowie von
? Beschreiben Sie die Schlüs- Zellkerns mit ein. Phospholipiden; Anfangsschritte der Glykoprotein-
selrolle, die Transportvesikel im bildung; Erzeugung neuer Membranen; Vesikelbil-
Endomembransystem spielen. dung und -abschnürung.
Stapel abgeflachter Modifikation von Proteinen des sekretorischen
Membranzisternen mit Weges; Glykoproteinprozessierung; Weiterverarbei-
Polarität der Membran- tung von Phospholipiden; Synthese zahlreicher
stapel (cis- und trans- Polysaccharide; Aussortieren von Bestandteilen;
Seite). Rückverfrachtung ausgewählter Stoffe zum ER;
Vesikelbildung und -abschnürung.
Golgi-Apparat

Lysosom Mit hydrolytischen Enzy- Abbau von einverleibten Substanzen, zellulären


men angereichertes Makromolekülen und beschädigten Organellen;
Organell (in Tierzellen). Rückgewinnung und Rückführung wiederverwert-
barer Substanzen.

Vakuole Großes Organell in Pflan- Zelluläre Verdauung, Stoffspeicherung, Entsor-


zen- und Pilzzellen. gung, Wasserhaushalt der Zelle; Zellwachstum und
Zellschutz.

160
Übungsaufgaben

Zellbestandteil Bau Funktion


Konzept 6.5 Mitochondrium Von doppelter Mem- Zellatmung.
bran umgeben; innere
Mitochondrien und Chloro- Membran weist Einfal-
plasten arbeiten als tungen (Cristae) auf.
Energiewandler
Drei Membranen; im Photosynthese.
? Was besagt die Endosym-
Chloroplast
Regelfall zwei Membra-
biontentheorie? nen, die ein flüssiges
Stroma umgeben; darin Teil 2
zu Stapeln (Grana) ange-
ordnete Thylakoidmem-
branen (in Pflanzen).

Peroxisom Spezialisiertes Stoff- Enthält Enzyme, die Wasserstoff auf molekularen


wechselorganell, das Sauerstoff übertragen, wobei Wasserstoffperoxid
von einer einfachen (H2O2) entsteht. Dieses wird durch andere Enzyme
Membran umgeben ist. innerhalb des Organells wieder abgebaut. Mehrere
Stoffwechselzyklen.

Konzept 6.6 Konzept 6.7


Das Cytoskelett ist ein Netzwerk von unterschiedlichen Zelluläre Aktivitäten werden durch extrazelluläre
Filamenten zur Organisation von zellulären Strukturen Komponenten und direkte Zell-Zell-Verbindungen
koordiniert
 Die Rolle des Cytoskeletts: Stütze, Motilität und
Regulation. Das Cytoskelett dient dem Struktur-  Pflanzliche Zellwände. Die Zellwände von Pflan-
erhalt der Zelle und ist an Bewegungsvorgängen und zen bestehen aus Cellulosefasern, die in andere
an der Signalübermittlung beteiligt. Polysaccharide und Proteine eingebettet sind. Die
Ausrichtung der Celluloseablagerung richtet sich
 Komponenten des Cytoskeletts. Mikrotubuli verlei- nach der Ausrichtung der Mikrotubuli.
hen Zellen ihre Gestalt, ermöglichen die geordnete
Bewegung von Organellen und ziehen die Chromo-  Die extrazelluläre Matrix von Tierzellen. Tierzellen
somen einer sich teilenden Zelle auseinander. sezernieren Glykoproteine und Proteoglycane, die
Cilien und Flagellen sind bewegliche Zellanhänge, die extrazelluläre Matrix bilden und bei der mecha-
die Mikrotubuli enthalten. Mikrofilamente sind nischen Versteifung, der Adhäsion, der Bewegung
dünne Stäbe, die bei der Muskelkontraktion, der und der Regulation der Zellen mitwirken.
amöboiden Bewegung, der Cytoplasmaströmung
und der mechanischen Aussteifung von Mikrovilli  Zell-Zell-Verbindungen. Pflanzen besitzen Plasmo-
eine Rolle spielen. Die Intermediärfilamente stüt- desmen, die aneinandergrenzende Zellwände durch-
zen die Zellgestalt und fixieren Organellen an ihren ziehen. Tierzellen verfügen über tight junctions,
Plätzen in der Zelle. Desmosomen und gap junctions.

? Beschreiben Sie die Rollen, die Motorproteine im Inneren einer ? Vergleichen Sie Struktur und Funktionen der Pflanzenzellwand mit
eukaryontischen Zelle und bei der Bewegung der Zelle als Ganzes spielen. denen der extrazellulären Matrix einer Tierzelle.

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜB UN GSA U FG AB E N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.

Ebene 1: Wissen und Verständnis

1. Welche Struktur gehört nicht zum Endomembran- 2. Welche Struktur ist pflanzlichen und tierischen
system? Zellen gemeinsam?
a. Kernhülle a. Chloroplast
b. Chloroplast b. Zentralvakuole
c. Golgi-Apparat c. Mitochondrium
d. Plasmamembran d. Centriol

161
6 Ein Rundgang durch die Zelle

3. Was ist in einer prokaryontischen Zelle enthalten? 10. Wissenschaftliche Fragestellung Stellen Sie sich
a. Mitochondrium ein Protein X vor, welches dazu bestimmt ist, die
b. Ribosom Plasmamembran zu durchspannen. Nehmen Sie
c. Kernhülle an, die mRNA, die für das Protein X codiert, wäre
d. Chloroplast bereits durch Ribosomen in einer Zellkultur trans-
latiert worden. Sie fraktionieren diese Zellen (siehe
4. Welche Struktur-Funktions-Beziehung ist falsch? Abbildung 6.4). In welcher Fraktion würden Sie
a. Mikrotubuli/Muskelkontraktion das Protein X vorfinden? Begründen Sie den Be-
b. Ribosom/Proteinsynthese fund, indem Sie den Weg des Proteins durch die
c. Golgi-Apparat/Proteinverkehr Zelle beschreiben.
Teil 2
d. Nucleolus/Produktion ribosomaler Untereinhei-
ten 11. Skizzieren Sie ein Thema: Organisation Schrei-
ben Sie eine Kurzdarstellung (in 100–150 Wor-
Ebene 2: Anwendung und Auswertung ten), die die folgende Behauptung diskutiert: Le-
ben ist eine emergente Eigenschaft, die sich auf
5. Cyanid bindet an mindestens ein Molekül, das an der Ebene von Zellen manifestiert (siehe dazu
der ATP-Synthese beteiligt ist. Wenn eine Zelle auch Konzept 1.1). Betrachten Sie in diesem Zu-
Cyanid ausgesetzt wird, findet sich das meiste Cya- sammenhang einige der Charakteristika lebender
nid in den Systeme und beziehen Sie Ihre Kenntnisse zellu-
a. Mitochondrien lärer Strukturen und Funktionen in Ihre Überle-
b. Ribosomen gungen ein.
c. Peroxisomen
d. Lysosomen 12. NUTZEN SIE IHR WISSEN Betrachten Sie die Epi-
thelzellen aus einem Dünndarm in der rasterelek-
6. Welchen Weg nimmt ein neu synthetisiertes Protein tronenmikroskopischen Aufnahme unten. Disku-
wahrscheinlich, wenn es aus der Zelle sezerniert tieren Sie, wie Aspekte ihrer Struktur zu ihrer
wird? speziellen Funktion bei der Aufnahme von Nah-
a. Golgi-Apparat → ER → Lysosom rungsmitteln beitragen und gleichzeitig eine Bar-
b. Kern → ER → Golgi-Apparat riere zwischen dem Dünndarminhalt und der
c. ER → Golgi-Apparat → Vesikel, die letztlich Blutversorgung auf der entgegengesetzten Seite
mit der Plasmamembran fusionieren der Epithelzellschicht bilden.
d. ER → Lysosomen → Vesikel, die mit der Plasma-
membran fusionieren

7. Welcher Zelltyp eignet sich am besten für das Stu-


dium von Lysosomen?
a. Muskelzelle
b. Nervenzelle
c. phagozytierende weiße Blutzelle
d. Bakterienzelle
Epithelzelle
8. ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie aus der Erinnerung
zwei eukaryontische Zellen unter Verwendung der
hier aufgelisteten Strukturbezeichnungen. Vermer-
ken Sie auch die physischen Verbindungen zwi-
schen den inneren Strukturen der Zellen: Kern,
raues ER, glattes ER, Mitochondrium, Centrosom,
Chloroplast, Vakuole, Lysosom, Mikrotubulus,
Zellwand, ECM, Mikrofilament, Golgi-Apparat,
Intermediärfilament, Plasmamembran, Peroxisom,
Ribosom, Nucleolus, Kernpore, Vesikel, Flagelle,
Mikrovillus, Plasmodesma.

Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten

9. Verbindung zur Evolution Welche Aspekte der


Zellstruktur verdeutlichen am besten einheitliche
Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
Entwicklungen in der Evolution? Nennen Sie Bei-
weitere Übungen und vertiefende Materia-
spiele für Veränderungen, die spezifischer (nicht
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
einheitlich für alle Zellen) sind.
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

162
Struktur und Funktion biologischer
Membranen

7.1 Zellmembranen sind ein flüssiges Mosaik aus Lipiden 7


und Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
7.2 Membranen sind aufgrund ihrer Struktur selektiv permeabel . . 169
7.3 Passiver Transport ist die energieunabhängige Diffusion
einer Substanz durch eine Membran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

KONZEPTE
7.4 Aktiver Transport ist die energieabhängige Bewegung von
Stoffen entgegen ihrem Konzentrationsgradienten . . . . . . . . . . . . 175
7.5 Endocytose und Exocytose vermitteln den Großteil des
Transportes durch die Plasmamembran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

 Abbildung 7.1: Wie können Membranproteine


Transportvorgänge steuern?
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

Biomembranen: Grenze und Barriere Zellmembranen sind ein


Die Plasmamembran ist die Begrenzung, die eine
flüssiges Mosaik aus
lebende Zelle von ihrer Umgebung trennt: Eine bemer-
kenswert dünne Schicht von wenigen Nanometern
Lipiden und Proteinen
7.1
Dicke, die den Transport von Stoffen in die Zelle hin-
ein und aus ihr heraus regelt. Man müsste mehrere Lipide und Proteine sind die Hauptbestandteile von
Tausend davon übereinanderstapeln, um die Dicke Membranen, wichtig sind außerdem Kohlenhydrate.
dieser Buchseite zu erreichen. Trotzdem ist die Plasma- Die zahlenmäßig häufigsten Lipide sind in den meis-
membran genau wie alle anderen biologischen Mem- ten Membranen die Phospholipide. Die Fähigkeit von
Teil 2
branen selektiv permeabel, das heißt nur für bestimmte Phospholipiden, in wässriger Umgebung Membranen
Moleküle durchlässig. Manche Stoffe können die Mem- auszubilden, beruht auf ihrer molekularen Struktur.
bran weitgehend ungehindert durchqueren, andere Ein Phospholipidmolekül ist amphipathisch, das heißt,
dagegen nur mittels ausgefeilter Mechanismen. Die die Substanz hat sowohl hydrophile als auch hydro-
Fähigkeit einer Zelle zum präzise auswählenden phobe Bereiche (Abbildung 5.11). Auch andere Mem-
Stoffaustausch mit ihrer Umgebung ist grundlegend branlipide sind amphipathisch. Eine Phospholipid-
für die Entwicklung lebender Systeme. Die Plasma- Doppelschicht existiert als stabile Begrenzung zweier
membran und die Moleküle, aus denen sie besteht, wässriger Kompartimente, weil ihre molekulare Struk-
ermöglichen diese Selektivität. tur die hydrophoben Fortsetzungen der Phospholipide
In diesem Kapitel werden Sie erfahren, wie zelluläre von der Wasserphase abschirmt und gleichzeitig die
Membranen den Durchtritt von Stoffen steuern. hydrophilen Kopfgruppen mit dem Wasser in Kontakt
Abbildung 7.1 zeigt ein computergeneriertes Modell stehen (Abbildung 7.2).
von Wassermolekülen (in rot und grau) bei der Pas-
sage durch einen kleinen Membranausschnitt. Die
blauen helikalen Bänder in der Lipid-Doppelschicht
(in grün) stellen die α-helikalen Bereiche des Mem-
branproteins Aquaporin dar. Ein einziges Aquaporin-
molekül erlaubt den Durchtritt von mehreren Milliar-
den Wassermolekülen pro Sekunde durch die Membran
– sehr viel schneller, als Wassermoleküle das von sich
aus schaffen würden. Aquaporine kommen in vielen
Zellmembranen vor, sind aber dennoch nur ein Bei-
spiel unter vielen dafür, wie die Plasmamembran und Wasser
ihre Proteine den Zellen das Überleben und Funktio- hydrophiler
nieren ermöglichen. Zum Verständnis der Funktions- Kopfbereich
weise von Membranen ist es unerlässlich, ihre Struktur
zu kennen. Danach werden wir der Frage nachgehen, hydrophobe
Fortsätze
wie Plasmamembranen den Import und Export von
Stoffen kontrollieren, manchmal mithilfe von Pro- Wasser
teinen wie dem Ionenkanal im kleinen Bild unten. Abbildung 7.2: Eine Phospholipid-Doppelschicht im Querschnitt.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Kreisen Sie unter Beachtung von


Abbildung 5.11 die hydrophilen und hydrophoben Bereiche der vergrößer-
ten Phospholipide in der Abbildung rechts ein. Erläutern Sie, womit die
jeweiligen Bereiche in Kontakt stehen, wenn die Phospholipide sich in der
Plasmamembran befinden.

Genau wie die Membranlipide sind auch die meisten


Membranproteine amphipathisch. Derartige Proteine
sind in die Phospholipid-Doppelschicht eingelagert,
ihre hydrophilen Bereiche ragen in das umgebende
Wasser hinein. Diese molekulare Anordnung maximiert
sowohl die Kontaktzone hydrophiler Bereiche mit Was-
ser im Cytosol und der extrazellulären Flüssigkeit als
auch die der hydrophoben Regionen mit einer nicht-
wässrigen Umgebung. Die derzeit akzeptierte Vorstel-
lung von der Anordnung von Molekülen in der Plasma-
membran ist in Abbildung 7.3 gezeigt. Im sogenannten
Flüssig-Mosaik-Modell ist die Membran ein Mosaik
aus Proteinmolekülen, die in einer flüssigen Doppel-
schicht aus Membranlipiden „dümpeln“.

164
7.1 Zellmembranen sind ein flüssiges Mosaik aus Lipiden und Proteinen

Molekülfasern
der extrazellulären
Matrix (ECM)

Glyco- Kohlenhydrat Teil 2


protein-
Glycolipid-
molekül
molekül
extrazelluläre
Seite der
Membran

Cholesterol-
molekül

Mikrofilamente periphere
des Cytoskeletts Membanproteine
integrales
Membranprotein
cytoplasmatische
Seite der Membran

Abbildung 7.3: Ein aktuelles Modell der Plasmamembran einer tierischen Zelle im Anschnitt.

Die Proteine sind in einer Membran allerdings nicht pro Sekunde ihre Plätze. Daraus folgt, dass ein Phospho-
zufällig verteilt, vielmehr sind sie in Gruppen asso- lipidmolekül pro Sekunde eine Strecke von etwa 2 μm
ziiert, die in recht langlebigen spezialisierten Mem- zurücklegen kann, was der Länge vieler Bakterienzellen
branbereichen bestimmte Funktionen ausüben. Auch entspricht. Proteine sind viel größer als Lipide und
die Lipide scheinen definierte Bereiche zu bilden. bewegen sich daher viel langsamer, können jedoch in
Zudem kann die Proteindichte in einigen Bereichen der Membran umherdriften, wie in einem klassischen
einer Membran deutlich höher sein, als in anderen Experiment gezeigt wurde (Abbildung 7.4). Manche
(siehe Abbildung 7.3). Wie alle wissenschaftlichen Membranproteine scheinen sich sogar in einer klar
Modellvorstellungen unterliegt auch das Flüssig- gerichteten Weise zu bewegen. Vielleicht werden sie
Mosaik-Modell einer kontinuierlichen Verfeinerung in von Motorproteinen, die an ihrem cytoplasmatischen
dem Maße, in dem neue Forschungsbefunde bisher Teil andocken, an Fasern des Cytoskeletts entlanggezo-
unbekannte Details der Membranstruktur offenlegen. gen. Viele andere Membranproteine scheinen dagegen
durch eine Verankerung am Cytoskelett oder der extra-
zellulären Matrix fixiert zu sein (Abbildung 7.3).
7.1.1 Die Fluidität von Membranen Bei abnehmender Temperatur bleibt eine Membran
so lange flüssig, bis sich die Phospholipidmoleküle
Membranen sind keine statischen Schichten von Mole- schließlich bei der Erstarrungstemperatur dicht gepackt
külen, die fest an ihrem Platz fixiert sind. Eine Mem- anordnen (Phasenübergang) und die Membran sich ver-
bran wird durch hydrophobe Wechselwirkungen festigt, vergleichbar dem Übergang von flüssigem Brat-
zusammengehalten, die viel schwächer sind als kova- fett in festes Schmalz. Die Erstarrungstemperatur einer
lente Bindungen (siehe Abbildung 5.18). Die meisten Membran hängt von ihrer molekularen Zusammenset-
Lipide, und auch manche Proteine, sind lateral in der zung ab. Die Fluidität einer Membran bleibt länger
Membranebene verschiebbar, wie Partygäste, die sich erhalten, wenn sie einen höheren Anteil an Phospholi-
durch einen überfüllten Raum drängeln. Sehr selten piden mit ungesättigten Kohlenwasserstoffketten auf-
kann ein Lipid sogar in der Membran kippen („flip- weist (siehe Abbildungen 5.10 und 5.11). Die durch
flop“) und dabei von einer Schicht in die andere wech- Doppelbindungen erzeugten Knicke in ungesättigten
seln. Die lateralen Bewegungen der Phospholipidmole- Kohlenwasserstoffketten verhindern ihre dichte Zusam-
küle in der Membran sind schnell. Benachbarte Phos- menlagerung und erhöhen so die Membranfluidität
pholipidmoleküle wechseln mit einer Rate von etwa 107 (Abbildung 7.5a).

165
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

den. Allerdings werden die Proteinfunktionen auch


 Abbildung 7.4 : Aus der Forschung durch sehr flüssige Membranen beeinträchtigt. Extreme
Umgebungen stellen daher eine Herausforderung für
Bewegen sich Membranproteine?
lebende Systeme dar, an die sie sich im Laufe der Evolu-
Experiment Die Plasmamembranproteine von tion mithilfe unterschiedlicher Membranzusammenset-
Maus- und Humanzellen wurden mit zwei unter- zungen angepasst haben. Bei vielen kältetoleranten
schiedlichen Markierungen versehen und danach Pflanzen (zum Beispiel Winterweizen) erhöht sich im
wurden die Zellen fusioniert. Anschließend wur- Herbst der Anteil ungesättigter Phospholipide. Dies ver-
den die so markierten Proteine in der Membran hindert, dass sich die Membranen im Winter verfestigen.
der Hybridzelle unter dem Mikroskop beobachtet.
Teil 2
(a) ungesättigte im Vergleich zu gesättigten
Ergebnis Kohlenwasserstoffketten

flüssig viskos
Membranproteine

+
vermischte
Mauszelle Proteine
Humanzelle Hybridzelle (nach 1 Stunde)
ungesättigte („geknickte“) Koh- gesättigte Kohlenwasserstoff-
Schlussfolgerung Die Durchmischung der Mem- lenwasserstoffketten verhindern ketten packen sich dicht
eine dichte Lipidpackung und aneinander, was die
branproteine aus Mensch und Maus in der Hybrid- erhöhen so die Membranfluidität Membranviskosität erhöht
zelle zeigt, dass sich zumindest einige Proteine late-
ral in der Membranebene bewegen können. (b) Cholesterol in der Zellmembran eines Tieres

Quelle: L. D. Frye & M. Edidin, The rapid intermixing of cell surface Cholesterol senkt die Membran-
antigens after formation of mouse-human heterokaryons, Journal fluidität bei gemäßigten Tempera-
turen durch Verminderung der
of Cell Science 7:319 (1970). Phospholipid-Bewegungen. Bei
tiefen Temperaturen verhindert es
WAS WÄRE, WENN? Nehmen Sie an, die Proteine jedoch die Verfestigung der Mem-
bran, da es auch die regelmäßige
hätten sich auch nach vielen Stunden in der Packung der Phospholipide stört.
Hybridzelle nicht vermischt. Hätte dies den Cholesterol
Schluss erlaubt, dass sich Proteine nicht in der
Membranebene bewegen können? Welche alter- Abbildung 7.5: Faktoren, die die Membranfluidität beeinflussen.
nativen Erklärungen wären denkbar?

Das Steroid Cholesterol (= Cholesterin), das zwischen


7.1.2 Membranproteine und ihre Funktionen
den Phospholipidmolekülen tierischer Plasmamem- Membranen bilden also ein Mosaik aus Lipiden und
branen eingelagert ist, hat bei verschiedenen Tempera- Proteinen. Nicht unähnlich einem Mosaik aus Fliesen
turen unterschiedliche Wirkungen auf die Membran- sind sie gewissermaßen Kollagen aus unterschiedli-
fluidität (Abbildung 7.5b). Bei vergleichsweise höheren chen Proteinen, häufig in Gruppen zusammengelagert
Temperaturen, wie der Körpertemperatur des Menschen und eingebettet in die flüssige Matrix der Lipiddoppel-
von 37 °C, vermindert Cholesterol die Fluidität von schicht (Abbildung 7.3). Allein in der Plasmamembran
Membranen, indem es die Bewegungen der Phospho- roter Blutkörperchen hat man bis heute über 50 ver-
lipidmoleküle einschränkt. Es behindert aber gleichzei- schiedene Proteine gefunden. Phospholipide sind zwar
tig auch eine dichte Packung der Phospholipidmoleküle die Strukturbildner, doch bestimmen die Membranpro-
und senkt damit die Erstarrungstemperatur der Mem- teine größtenteils die Funktion(en) der betreffenden
bran. Cholesterol wirkt mithin wie ein „Fluiditätspuf- Membran. Unterschiedliche Zelltypen enthalten unter-
fer“, der Veränderungen der Membranfluidität unter- schiedliche Membranproteine und auch die verschie-
drückt, die durch Temperaturschwankungen ausgelöst denen Membranen innerhalb einer Zelle weisen jeweils
werden. eine charakteristische Proteinzusammensetzung auf.
Membranen müssen flüssig sein, um ihre Funktion Abbildung 7.3 verdeutlicht auch, dass es zwei große
erfüllen zu können. Die Membranfluidität beeinflusst Populationen von Membranproteinen gibt: integrale
sowohl die Membranpermeabilität (also die Durchläs- Membranproteine und periphere Membranproteine.
sigkeit für den Stoffdurchtritt) als auch die Beweglich- Integrale Membranproteine sind tief in den hydrophoben
keit von Membranproteinen hin zu ihrem Wirkort. Kernbereich der Lipiddoppelschicht eingebettet; häufig
Membranen haben normalerweise die Konsistenz von durchspannen sie ihn ganz, dann sind es sogenannte
Salatöl. Wenn sich eine Membran verfestigt, verändert Transmembranproteine. Die Oberfläche eines integralen
sich dadurch zwangsläufig ihre Permeabilität und mem- Membranproteins ist innerhalb der Membran hydrophob
branständige Proteine können ihre Aktivität in dem und besteht weitgehend aus Aminosäureresten mit
Maße verlieren, in dem Konformations- und Ortsände- hydrophoben Seitenketten (Abbildung 5.14), meist in
rungen durch die erstarrende Umgebung erschwert wer- Form transmembraner α-Helices (Abbildung 7.6).

166
7.1 Zellmembranen sind ein flüssiges Mosaik aus Lipiden und Proteinen

Einige integrale Membranproteine (zum Beispiel die Abbildung 7.6: Struktur eines
EXTRAZELLULÄRE
Porine) weisen aber auch eine reine β-Faltblatt-Struktur Transmembranproteins. Bakterio- SEITE
auf. Die hydrophilen Anteile des Moleküls ragen aus der rhodopsin ist eine bakterielle licht- N-Terminus
getriebene Protonenpumpe, also ein
Membranebene heraus und sind der Wasserphase zuge-
Transportprotein mit einer definierten
wandt. Einige Transmembranproteine (z.B. Aquaporine)
Orientierung in der Membran. Der N-
enthalten einen hydrophilen Kanal beziehungsweise Terminus liegt außerhalb der Zelle, der
eine Pore, die den relativ ungehinderten Durchtritt einer C-Terminus innen. Das Bändermodell
hydrophilen Substanz (beispielsweise Wasser) erlaubt hebt die α-helikale Sekundärstruktur
(Abbildung 7.1). Periphere Membranproteine sind nicht der hydrophoben Bereiche hervor, die
in die Lipiddoppelschicht eingebettet, sondern liegen größtenteils innerhalb des hydropho-
ben Kernbereichs der Membran liegen.
Teil 2
relativ lose gebunden auf der Membranoberfläche. Dabei
sind sie oft mit den freiliegenden Teilen integraler Mem- Das Protein besitzt insgesamt sieben
branproteine assoziiert (Abbildung 7.3). Manche peri- Transmembranhelices. Die nichthelika- α-Helix
len hydrophilen Abschnitte stehen mit
phere Membranproteine enthalten (posttranslationale) C-Terminus
den wässrigen Phasen auf der extra-
kovalente Modifikationen wie zum Beispiel Fettsäuren,
und der intrazellulären (cytoplasmati- CYTOPLASMATISCHE
die das Protein in der Membran verankern. Einige Vertre- schen) Seite der Membran in Kontakt. SEITE
ter dieser Klasse können solche „Lipidanker“ ein- und Die häufige Darstellung von Membran-
ausklappen, wenn sie bestimmte Signalmoleküle binden proteinen als schlichte purpurfarbene Umrisse in vielen Abbildungen in
und wechseln damit zwischen der Membran und der diesem Buch soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass jedes Protein seine
wässrigen Phase hin und her. eigene, einzigartige Struktur hat.

(a) Transport. Links: Ein Protein durch- (b) Enzymatische Aktivität. Ein mem-
spannt die Membran und bildet branständiges Protein kann enzy-
einen hydrophilen selektiven Enzymmoleküle matische Aktivität entfalten,
Kanal quer zur Membran aus. wobei das aktive Zentrum des
Rechts: Andere Proteine transpor- Proteins für Substrate in der an-
tieren eine Substanz von einer grenzenden Lösung zugänglich ist.
Seite der Membran auf die ande- In einigen Fällen sind mehrere
re, indem sie im Verlauf des Trans- Enzyme in einer Membran zu einer
portvorgangs ihre Konformation Gruppe assoziiert. Diese Gruppe
ändern. Einige dieser Proteine katalysiert aufeinander folgende
pumpen Stoffe aktiv durch die (konsekutive) Schritte eines
ATP Membran, angetrieben durch Stoffwechselweges in räumlicher
ATP-Hydrolyse. Nähe zueinander.

(c) Signaltransduktion. Ein Rezeptor- (d) Zell-Zell-Erkennung. Einige Glyco-


Signalmolekül protein hat eine Bindungsstelle, proteine dienen als molekulare
Rezeptor die zur Raumstruktur eines Boten- „Etiketten“, die von anderen
stoffes (z.B. ein Hormon) komple- Zellen spezifisch erkannt werden
mentär ist. Der externe Botenstoff und die Identifizierung des
(Signalmolekül) verursacht durch Zelltyps erlauben.
Bindung an das Rezeptorprotein
eine Konformationsänderung, die
Glyco-
eine Weiterleitung des Signals in
protein-
das Zellinnere zur Folge hat. Dies
molekül
geschieht normalerweise durch
die Bindung eines weiteren Pro-
Signaltransduktion teins auf der cytoplasmatischen
Seite der Membran (siehe auch
Abbildung 11.4).

(e) Zell-Zell-Verbindung. Membran- (f) Verankerung des Cytoskeletts und


proteine benachbarter Zellen der extrazellulären Matrix (ECM).
können durch verschiedene Typen Mikrofilamente oder andere Be-
von Zellkontakten wie tight standteile des Zellskeletts können
junctions und gap junctions durch nicht kovalente Wechsel-
miteinander wechselwirken wirkungen an Membranproteine
(siehe auch Abbildung 6.30). binden – eine Fähigkeit, die dabei
hilft, die Zellgestalt aufrecht zu
halten und die außerdem be-
stimmte Membranproteine an
ihren Plätzen verankert. Proteine,
die an ECM-Moleküle binden
können, koordinieren extra- und
intrazelluläre Änderungen (siehe
auch Abbildung 6.28).

Abbildung 7.7: Einige Funktionen von Membranproteinen. Oft erfüllt ein und dasselbe Protein mehrere Aufgaben.

? Manche Transmembranproteine können an ein bestimmtes Molekül der extrazellulären Matrix binden und nach erfolgter Bindung ein Signal in die
Zelle senden. Versuchen Sie dies im Hinblick auf die Proteine in (c) und (f) zu erklären.

167
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

Auf der cytoplasmatischen Seite der Plasmamembran 7.1.3 Die Rolle von Membran-
werden bestimmte Membranproteine durch Veranke- Kohlenhydraten bei der
rung am Cytoskelett fixiert. Auf der extrazellulären Zell-Zell-Erkennung
Seite sind manche Membranproteine an Fasern der ex-
trazellulären Matrix gebunden (siehe Abbildung 6.28; Unter Zell-Zell-Erkennung versteht man die Fähigkeit
Integrine sind ein Beispiel für diesen Typus integraler von Zellen, einen Nachbarzelltyp von einem anderen,
Membranproteine). Diese Verankerungen wirken ko- oder eine körperfremde von einer körpereigenen Zelle
operativ und verleihen der Tierzelle ein festeres Gerüst zu unterscheiden. Diese Eigenschaft ist bei der Asso-
als die Plasmamembran allein dies könnte. ziation von Zellen zu Geweben und weiter zu Organen
Eine einzige Zelle kann Plasmamembranproteine mit in der Embryonalentwicklung ebenso von Bedeutung
Teil 2
sehr unterschiedlichen Funktionen enthalten: Trans- wie bei der Immunabwehr von Krankheitserregern
membrantransport, enzymatische Aktivitäten, Anhef- (siehe Kapitel 44). Zellen erkennen andere Zellen
tung der Zelle an ihre Nachbarn oder die extrazelluläre durch Wechselwirkung mit Molekülen auf der Ober-
Matrix, Signalübertragung. Ein einziges Membranpro- fläche der Plasmamembran. Vielfach sind Kohlen-
tein kann sogar mehrere unterschiedliche Aufgaben hydratketten an diesem Erkennungsprozess beteiligt
erfüllen. Die Membran ist folglich nicht nur ein struk- (Abbildung 7.7d).
turelles, sondern auch ein funktionelles Mosaik. Membranständige Kohlenhydratreste sind normaler-
Abbildung 7.7 zeigt die sechs Hauptfunktionen von weise zu kurzen, verzweigten Ketten aus maximal
Proteinen der Plasmamembran. 15 Glykosylresten verknüpft. Wenn diese kovalent an
Zelloberflächenproteine sind auch in der Medizin Lipide gebunden sind, spricht man von Glykolipiden.
von Bedeutung. Beispielsweise unterstützt das Protein Häufiger liegen sie jedoch an Proteine gebunden vor
CD4 auf der Oberfläche von Immunzellen das mensch- (Glykoproteine; Abbildung 7.3).
liche Immundefizienzvirus (HIV) bei der Infektion die- Die Kohlenhydratreste auf der extrazellulären Seite
ser Zellen und führt so zur erworbenen Immunschwäche der Plasmamembran variieren von Art zu Art, ebenso
AIDS. Es gibt Ausnahmen von wenigen Menschen, wie unter Individuen derselben Art, ja sogar zwischen
deren Zellen trotz mehrfachen Kontakts mit HIV nicht den verschiedenen Zelltypen eines Individuums.
befallen werden und die auch keine Symptome von Durch die Vielfalt der glykosylierten Moleküle und
AIDS entwickeln. Durch Genvergleiche stellte sich ihre Verteilung auf der Zelloberfläche helfen Koh-
heraus, dass dieser Personenkreis ein ungewöhnliches lenhydrate als Erkennungsmoleküle dabei, eine Zelle
Gen für das Protein CCR5 besitzt, das sich an der Ober- von einer anderen zu unterscheiden.
fläche von Immunzellen befindet. Obwohl CD4 der pri- So werden beispielsweise die vier Blutgruppen des
märe HIV-Rezeptor ist, muss das HI-Virus bei einer Infek- Menschen (A, B, AB und 0) durch unterschiedliche
tion auch an CCR5 als „Korezeptor“ binden (Abbildung Kohlenhydratstrukturen auf der Oberfläche der roten
7.8a). Das Fehlen von CCR5 in Zellen von Personen mit Blutkörperchen bestimmt.
dem veränderten Gen verhindert, dass das Virus in die
Wirtszelle gelangt (Abbildung 7.8b).
7.1.4 Synthese und topologische
HIV Asymmetrie von Membranen
Membranen haben unterscheidbare Innen- und Außen-
seiten. Die beiden Lipidschichten einer Membran kön-
nen sich in der Lipidzusammensetzung unterscheiden
und die Membranproteine haben eine definierte Ori-
entierung in der Membranebene, die für ihre Funktion
Rezeptor Rezeptor (CD4), wichtig ist (Abbildung 7.6). Abbildung 7.9 zeigt, wie
(CD4) aber kein CCR5
Korezeptor Plasma- die Membranasymmetrie entsteht: Die Verteilung von
(CCR5) membran
Proteinen, Lipiden und der assoziierten Kohlen-
(a) (b) hydrate in der Plasmamembran wird bereits bei ihrer
Synthese durch das endoplasmatische Reticulum (ER)
Abbildung 7.8: Die genetische Grundlage der HIV-Resistenz.
und den Golgiapparat festgelegt, beides Bestandteile
(a) HIV-infizierte Zellen mit dem CCR5-Protein auf ihrer Oberfläche (dies
ist bei den meisten Menschen der Fall) (b) einigen Personen fehlt das
des Endomembransystems (siehe Abbildung 6.15).
CCR5-Protein und sie sind gegen eine HIV-Infektion resistent.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Betrachten Sie die Abbildungen 2.16


und 5.17, in denen Moleküle gezeigt sind, die aneinander binden. Was
könnten Sie daraus für die Rolle des CCR5-Proteins bei der Bindung von
HIV ableiten? Wie könnte ein Medikament diese Bindung verhindern?

168
7.2 Membranen sind aufgrund ihrer Struktur selektiv permeabel

11 Membranproteine und Lipide werden im endoplasmatischen


Reticulum (ER) synthetisiert. Kohlenhydratreste (grün) werden an
die Proteine (lila) angeknüpft, so entstehen Glykoproteine. Die
Kohlenhydratketten können schon im ER erste Modifizierungen
erfahren.
sekretorisches 21 Im Golgi-Apparat werden die Glykoproteine weiter modi-
Transmembran- Protein
fiziert, Lipide erhalten Kohlenhydratreste und werden zu
glykoprotein Golgi- Glykolipiden.
Apparat
31 Glykoproteine, Glykolipide und sekretorische
Vesikel Proteine (lila Kugeln) werden durch Vesikel zur
Plasmamembran transportiert.

assoziiertes 41 Indem die Vesikel mit der Plasmamembran


Teil 2
Kohlenhydrat fusionieren, verschmilzt ihre Außenseite mit der
ER cytoplasmatischen (Innen)Seite der Membran und
sekretorische Proteine werden in einem Prozess
Glykolipid- namens Exocytose aus der Zelle sezerniert. Bei
molekül dieser Fusion gelangen die Kohlenhydratreste
ER- von Membranglykoproteinen und Glykolipiden
Lumen auf die Außenseite der Plasmamembran. Die
asymmetrische Anordnung von Proteinen,
Lipiden und damit assoziierten
Plasmamembran: Kohlenhydratresten in der Plasmamembran wird
also bereits festgelegt, wenn diese Verbindungen
cytoplasmatische Seite Transmembran- im ER und im Golgi-Apparat synthetisiert und in
glykoprotein die Membran inseriert werden. Wenn ein
extrazelluläre Seite sezerniertes
Protein Transportvesikel mit der Plasmamembran
Membran- fusioniert, verschmilzt seine Außenseite mit der
glykolipid cytoplasmatischen (inneren) Seite der
Plasmamembran. Moleküle, die auf der
Innenseite des endoplasmatischen Reticulums
ihren Transport beginnen, landen so schließlich
auf der Außenseite der Plasmamembran.

Abbildung 7.9: Synthese von Membrankomponenten und ihre Ausrichtung in der Membran. Die Plasmamembran hat zwei unterschiedliche Sei-
ten, eine cytoplasmatische (orange) und eine extrazelluläre (türkis). Letztere entsteht aus den Innenseiten der ER-, Golgi- und Transportvesikelmembranen.

ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie ein integrales Membranprotein, das zum Teil aus der ER-Membran ins ER-Lumen ragt. Zeichnen Sie den Weg des Pro-
teins bis zur Plasmamembran. Würde das Protein dort ins Cytoplasma oder zur extrazellulären Seite hinaus ragen? Begründen Sie Ihre Wahl.

 Wiederholungsfragen 7.1 Membranen sind aufgrund


ihrer Struktur selektiv
1. Die Kohlenhydratreste, mit denen die meisten
Proteine und manche Lipide der Plasmamem-
bran modifiziert sind, werden bei der Biosyn-
permeabel
7.2
these dieser Membrankomponenten im ER Biologische Membranen sind ausgezeichnete Beispiele
und im Golgi-Komplex angefügt, in Transport- für supramolekulare Gebilde, also eine Ansammlung
vesikel integriert und zur Zelloberfläche ge- vieler Moleküle, die in eine höhere Organisationsebene
bracht. Auf welcher Seite der Vesikelmem- eingebunden sind. Diese Strukturierung bringt zusätz-
bran befinden sich die Glykosylreste? liche neue Eigenschaften mit sich, die über die der ein-
zelnen Moleküle deutlich hinausgehen: „Das Ganze ist
2. WAS WÄRE, WENN? Wie sollte sich die Lipid- mehr als die Summe seiner Teile“ (Emergenz). Der Rest
zusammensetzung der Membran von Pflanzen dieses Kapitels wird sich auf eine der bedeutsamsten
in kalten Umgebungen von denen in heißen dieser Eigenschaften konzentrieren – die Fähigkeit, den
Umgebungen (zum Beispiel in der Nähe hei- Transport durch zelluläre Grenzflächen zu regulieren.
ßer Quellen) unterscheiden? Diese Fähigkeit ist unerlässlich für die Existenz einer
Zelle. Erneut wird deutlich, wie sich Form und Funk-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. tion entsprechen. Das Flüssig-Mosaik-Modell hilft zu
erklären, wie Membranen Stoffströme in und durch die
Zelle regulieren.
Ein stetiger Fluss von niedermolekularen Verbin-
dungen und Ionen durchquert die Plasmamembran in
beide Richtungen. Betrachten wir den Stoffaustausch
zwischen einer Muskelzelle und der extrazellulären

169
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

Flüssigkeit, die sie umgibt: Zucker, Aminosäuren und die Pore durchwandern, die bis zu zehn Moleküle
andere Nährstoffe gelangen in die Zelle, Stoffwechsel- gleichzeitig aufnehmen kann. Ohne die Aquaporine
abfälle verlassen sie. Die Zelle nimmt Sauerstoff auf, würde nur ein winziger Bruchteil davon in der gleichen
um die Zellatmung durchführen zu können, und sie Zeit durch eine vergleichbare Membranfläche diffun-
gibt Kohlendioxid ab. Außerdem reguliert die Zelle dieren. Kanalproteine führen mithin zu einer enormen
die Konzentrationen von Ionen wie Na+, K+, Ca2+ und Beschleunigung dieses Vorganges. Andere Transport-
Cl–, indem diese in der einen oder anderen Richtung proteine, als Carrier bezeichnet, binden ihre Fracht
durch die Plasmamembran befördert werden. Obwohl zunächst an der einen Seite der Membran und trans-
dem umfangreichen Stofftransport scheinbar keine Hin- portieren sie, indem sie ihre Konformation ändern und
dernisse im Wege stehen, sind Zellmembranen selektiv sich zur anderen Seite hin öffnen (Abbildung 7.7a
Teil 2
durchlässig und unterscheiden sehr wohl, welche Sub- rechts).
stanzen die Barriere durchqueren können und welche Ein Transportprotein ist spezifisch für das transpor-
nicht. Die Zelle nimmt daher zwar zahlreiche nieder- tierte Molekül oder die transportierten Moleküle. Glu-
molekulare Substanzen wie die genannten Ionen auf, cose, die im Blut zirkuliert und unerlässlich für die
andere jedoch nicht. zelluläre Aktivität roter Blutkörperchen (Erythrocyten)
ist, gelangt etwa 50.000 Mal schneller mittels spezifi-
scher Transportproteine in der Plasmamembran in die
7.2.1 Die Permeabilität der Erythrocyten als durch reine Diffusion. Dabei ist der
Lipiddoppelschicht Glucosetransporter so selektiv, dass sogar das Glucose-
isomer Fructose nicht transportiert wird.
Apolare Moleküle wie hydrophobe Kohlenwasser- Die selektive Permeabilität einer Membran hängt
stoffe sowie Gase wie Kohlendioxid und Sauerstoff somit sowohl von der diskriminierenden Barriere der
lösen sich in der Lipiddoppelschicht und durchque- Lipiddoppelschicht ab, als auch von den spezifischen
ren diese daher auch ohne die Unterstützung durch Transportproteinen, die darin eingelagert sind. Es stellt
Membranproteine. Der hydrophobe Kernbereich der sich nun die Frage, was denn die Richtung eines durch
Membran erlaubt jedoch nicht die direkte Passage von eine Membran erfolgenden Transportvorganges be-
Ionen und hydrophilen Molekülen. Moleküle wie Glu- stimmt. Welche Faktoren legen fest, ob eine spezielle
cose und andere Zucker passieren eine Lipiddoppel- Substanz zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Zelle
schicht daher bestenfalls sehr langsam. Selbst Wasser, eintreten oder diese verlassen wird? Und welche
das ja ein sehr kleines polares Molekül ist, durchquert Mechanismen treiben den molekularen Transport durch
sie nicht sehr schnell, wenngleich Membranen nicht Membranen letztlich an? Mit diesen Fragen werden wir
wirklich wasserundurchlässig sind. Für ein elektrisch uns nachfolgend befassen, wenn wir zwei Arten des
geladenes Ion und seine Hydrathülle (siehe Abbildung Membrantransports genauer untersuchen: den passiven
3.7) ist der hydrophobe Kern der Membran noch und den aktiven Transport.
schwieriger zu überwinden. Die Lipiddoppelschicht ist
nur ein Aspekt des Kontrollsystems, das für die selek-
tive Durchlässigkeit (Permeabilität) einer Zellmembran
verantwortlich ist. Darüber hinaus spielen intrinsische  Wiederholungsfragen 7.2
Membranproteine bei der Regulierung von Transport-
vorgängen eine entscheidende Rolle. 1. Welche Eigenschaften erlauben es Sauerstoff
(O2) und Kohlendioxid (CO2) eine Lipiddop-
pelschicht ohne die Hilfe von Membranpro-
7.2.2 Transportproteine teinen zu durchqueren?
2. Warum sind Wassermoleküle auf ein Trans-
Bestimmte Ionen und eine Vielzahl polarer Moleküle
portprotein angewiesen, um rasch und in gro-
können eine Zellmembran nicht von sich aus durch-
ßer Menge durch eine Membran gelangen zu
queren. Diese hydrophilen Stoffe umgehen den direk-
können?
ten Kontakt mit der hydrophoben Lipidphase der
Membran, indem sie durch transmembrane Transport- 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Aquaporine sind
proteine ins Zellinnere gelangen. für Hydroniumionen (H3O+) undurchlässig.
Eine Untergruppe derartiger „Transporter“ sind die Manche Aquaporine lassen jedoch auch die
Kanalproteine, die einen hydrophilen Kanal (eine Pore) Passage von Glycerol (dt. Glycerin) zu (ein
durch die Membran bilden, der so bemessen ist, dass dreiwertiger Alkohol mit der Formel CH2OH-
nur bestimmte Moleküle oder kleine Ionen ihn als Tun- CHOHCH2OH, siehe Abbildung 5.9). Worin
nel durch die Membran nutzen können (Abbildung vermuten Sie die Grundlage für diese Selekti-
7.7a links). So wird etwa der Durchtritt von Wassermo- vität, da doch das H3O+-Ion größenmäßig dem
lekülen durch die Membranen vieler Zellen durch spe- Wassermolekül ähnelt, das Glycerolmolekül
zielle Kanalproteine, die Aquaporine, sehr erleichtert aber viel größer ist?
(Abbildung 7.1). Jedes Aquaporinmolekül erlaubt den
Durchtritt von bis zu drei Milliarden (3 × 109) Wasser- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
molekülen pro Sekunde, die eins nach dem anderen

170
7.3 Passiver Transport ist die energieunabhängige Diffusion einer Substanz durch eine Membran

Passiver Transport ist statt, und zwar so lange, bis auf beiden Seiten der
Membran gleiche Konzentrationen an Farbstoffmole-
die energieunabhängige külen vorliegen. Statistisch gesehen hat dieser Zustand
Diffusion einer Substanz die höchste Wahrscheinlichkeit; mit anderen Worten,
durch eine Membran
7.3 an diesem Punkt ist das thermodynamische Gleich-
gewicht erreicht. Ab jetzt stoppt der Farbstofftransport
jedoch nicht, sondern es wandern zu jedem Zeitpunkt
Alle Moleküle und Atome unterliegen einer ständi- im Mittel gleich viele Farbstoffmoleküle in beide
gen, durch den Wärmegehalt des Körpers hervorge- Richtungen, so dass die Konzentrationen letztlich
rufenen (thermischen) translatorischen Bewegung, der gleich bleiben. Dies ist ein weiteres Beispiel für ein
Teil 2
sogenannten Brown’schen Molekularbewegung. Eine dynamisches Gleichgewicht, ähnlich dem, das wir bei
Folge dieser Bewegung ist die Diffusion, die spontane der Erörterung chemischer Reaktionen bereits kennen-
Bewegung von Teilchen derart, dass sie sich gleich- gelernt haben. Vereinfacht gesagt gilt, dass ein Stoff so
mäßig im verfügbaren Raum verteilen. Jedes einzelne lange vom Ort seiner höheren Konzentration zum Ort
Teilchen (Molekül, Atom, Ladungsträger) bewegt sich seiner niedrigeren Konzentration diffundiert, bis der
zwar völlig regellos, aber eine Vielzahl von Teilchen Konzentrationsunterschied ausgeglichen ist (sofern
(ein Ensemble) kann unter bestimmten Bedingungen keine anderen Kräfte einwirken): Man sagt, der Stoff
in seiner Gesamtheit in eine Vorzugsrichtung diffun- diffundiert entlang seines Konzentrationsgefälles (engl.
dieren. Betrachten wir im Gedankenexperiment eine gradient). Dieser Vorgang erfordert keine Arbeit. Die
künstliche Membran in einem Gefäß mit reinem Was- Diffusion ist ein spontaner Prozess, der keinen Energie-
ser auf der einen und einer wässrigen Farbstofflösung eintrag erfordert, da sich das System insgesamt durch
auf der anderen Seite. Die Membran sei für die das Erreichen des thermodynamischen Gleichgewichts
Farbstoffmoleküle durchlässig (Abbildung 7.10a). am Ende in einem energieärmeren Zustand als zu
Zwar wandert jedes einzelne Farbstoffmolekül infolge Beginn befindet. Man beachte, dass jeder Stoff seinem
der Brown’schen Molekularbewegung ziel- und regel- eigenen Konzentrationsgefälle folgt, welches von Kon-
los (stochastisch) umher, trotzdem findet insgesamt zentrationsgefällen anderer Substanzen weitgehend
eine Nettowanderung in das zunächst reine Wasser unbeeinflusst ist (Abbildung 7.10b).

(a) Diffusion eines gelösten Stoffes. Farbstoffmoleküle Membran (Querschnitt)


Die Membran enthält Poren, die
groß genug sind, um die Farb-
stoffmoleküle durchzulassen.
Die stochastisch erfolgende Mo-
lekularbewegung wird dazu
führen, dass einige Farbstoffmo-
leküle durch die Poren der Trenn- Wasser
wand hindurchtreten. Dies wird
sich auf der Seite, die die höhere
Konzentration an Farbstoffmole-
külen enthält, im Mittel häufiger
ereignen. In der Summe diffun- Nettodiffusion Nettodiffusion Gleichgewichtszustand
dieren die Farbstoffmoleküle von
der Seite, wo sie konzentrierter sind, auf die Seite, wo ihre Konzentration geringer ist. Man spricht von einer Diffusion
entlang eines Konzentrationsgefälles. Schließlich stellt sich ein dynamisches Gleichgewicht ein: Die gelösten Moleküle
durchqueren weiterhin die Membran, jedoch mit gleicher Geschwindigkeit in beiden Richtungen.

(b) Diffusion von zwei gelösten


Stoffen. Die Lösungen zweier
verschiedener Farbstoffe sind
durch eine Membran voneinan-
der getrennt, die durchlässig für
beide Stoffe ist. Jeder Farbstoff
diffundiert entlang seines Kon-
zentrationsgefälles. Es wird
eine Nettodiffusion des purpur-
nen Farbstoffs nach links (und
des orangen Farbstoffes nach
Nettodiffusion Nettodiffusion Gleichgewichtszustand
rechts) geben, obgleich die
Gesamtkonzentration an gelös-
ten Stoffen auf der linken Seite Nettodiffusion Nettodiffusion Gleichgewichtszustand
schon zu Anfang höher war.

Abbildung 7.10: Die Diffusion gelöster Stoffe durch eine synthetische Membran. Die dicken Pfeile unter den Schemazeichnungen geben die
Richtung der Nettodiffusion der Farbstoffmoleküle mit der entsprechenden Farbe an.

171
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

Ein Großteil der Transportvorgänge durch Membranen niedrigere


ist diffusionsgetrieben. Ist ein Stoff auf einer Seite der Konzentration
des gelösten höhere Zucker- gleiche
Membran stärker konzentriert als auf der anderen, Stoffes (Zucker) konzentration Zuckerkonzentration
besitzt das System eine Tendenz, dieses Konzentra-
tionsgefälle durch Diffusion durch die Membran aus-
zugleichen, was natürlich nur möglich ist, wenn die
Membran für die betreffende Substanz durchlässig ist.
Ein wichtiges Beispiel ist die Aufnahme von Sauer-
H2O
stoff durch Zellen, in denen die Zellatmung abläuft.
Gelöster Sauerstoff wird so lange durch Diffusion
Teil 2 selektiv
durch die Plasmamembran der Zelle nachgeliefert,
permeable
wie die Zellatmung ihn verbraucht. Membran
Die Diffusion eines Stoffes durch eine biologische Wassermoleküle Wassermoleküle
können durch sammeln sich
Membran wird als passiver Transport bezeichnet, die Poren hin- um die Zucker-
weil die Zelle keine Energie dafür aufwenden muss. durchtreten, moleküle.
Das Konzentrationsgefälle selbst beinhaltet die erfor- Zuckermoleküle
nicht.
derliche (potenzielle) Energie (siehe Konzept 2.2 und
Abbildung 8.5b). Allerdings sind biologische Membra- weniger gelöste mehr gelöste
nen selektiv permeabel, daher unterscheiden sich die Moleküle, mehr Moleküle,
Diffusionsgeschwindigkeiten verschiedener Stoffe. freie Wasser- weniger freie
moleküle Wassermoleküle
Wassermoleküle können mithilfe der Aquaporine Osmose
Zellmembranen sehr schnell durchqueren. Wie sich
Wasser diffundiert vom Bereich höherer zum Bereich
noch zeigen wird, hat diese Nettowanderung des Was- niedrigerer Konzentration „freien Wassers“.
sers durch die Plasmamembran wichtige Konsequen-
zen für die Zelle.
Abbildung 7.11: Osmose. Zwei Zuckerlösungen unterschiedlicher
Konzentration sind durch eine Membran getrennt, durch die das Lösungs-
mittel (Wasser) hindurchtreten kann, der gelöste Stoff (Zucker) jedoch
7.3.1 Osmotische Effekte und die nicht. Die Wassermoleküle bewegen sich stochastisch und können in
Wasserbalance beide Richtungen wandern, aber letztlich diffundiert Wasser entlang sei-
nes Konzentrationsgefälles aus der geringer konzentrierten Zuckerlösung
Um zu erkennen, wie zwei Lösungen unterschiedlicher in die höher konzentrierte. Dieser gerichtete passive Wassertransport, die
Konzentration miteinander wechselwirken, stellen wir Osmose, gleicht die Zuckerkonzentrationen auf beiden Seiten nahezu aus.
uns ein U-Rohr vor, in dem sich eine synthetische (Nahezu, weil der Wasserdruck auf beiden Seiten unterschiedlich ist, die-
semipermeable Membran befindet, die zwei Zucker- sen Umstand lassen wir hier der Einfachheit halber außer Betracht.)
lösungen unterschiedlicher Konzentration voneinan-
der trennt (Abbildung 7.11). Die Poren in der Mem- WAS WÄRE, WENN? Wie sähe die Verteilung eines orangefarbenen
Farbstoffes am Ende des Vorganges aus, falls dieser in den linken Schenkel
bran sind zu klein für die gelösten Zuckermoleküle,
des U-Rohres gegeben würde und der Stoff membrangängig wäre? Wären
aber groß genug für Wassermoleküle. Die relativ feste die Flüssigkeitspegel in dem Röhrchen davon betroffen? (Abbildung 7.11 )
Bindung einiger Wassermoleküle an die hydrophilen
Zuckermoleküle (Adhäsion) hindert diese Wasser-
moleküle an der Membranpassage. Folglich hat die Die Wasserbalance zellwandloser Zellen
Lösung mit der höheren Zuckerkonzentration zwangs- Wenn wir betrachten, was mit einer Zelle in einer
läufig eine geringere Konzentration an freiem Wasser, Lösung geschieht, müssen sowohl die Konzentration
daher wird Wasser so lange aus der niedriger konzen- der Lösung als auch die Membranpermeabilität der
trierten Zuckerlösung (mit der höheren Konzentration Zelle in Betracht gezogen werden. Beide Faktoren flie-
an freiem Wasser) diffundieren, bis der Konzentra- ßen in das Konzept der Tonizität ein, das die Fähigkeit
tionsunterschied zwischen beiden Bereichen nahezu einer Lösung beschreibt, einer Zelle Wasser zu entzie-
ausgeglichen ist (bei konzentrierteren Lösungen bedeu- hen oder hinzuzufügen, also das Zellvolumen zu ver-
tet das nicht unbedingt „identisch“). Die durch eine ändern. Die Tonizität einer Lösung hängt zum Teil von
semipermeable Membran erfolgende gerichtete Diffu- ihrer Konzentration an gelösten, membranimperme-
sion von Wasser aufgrund eines Konzentrationsgefäl- ablen Stoffen im Verhältnis zu deren Konzentration
les heißt Osmose. Die Passage von Wassermolekülen innerhalb der Zelle ab. Falls im umgebenden Medium
durch Zellmembranen und die Wasserbalance zwischen eine höhere Konzentration membranimpermeabler
Zellen und ihrer Umgebung sind von entscheidender gelöster Stoffe vorliegt (das heißt, falls im umgebenden
Bedeutung für einen Organismus. Diese Erkenntnisse Medium die Wasserkonzentration niedriger ist), wird
wollen wir nun auf lebende Zellen anwenden. Wasser aus der Zelle austreten.

172
7.3 Passiver Transport ist die energieunabhängige Diffusion einer Substanz durch eine Membran

hypotone Lösung isotone Lösung hypertone Lösung Abbildung 7.12: Die Wasserbalance
(a) Tierzelle. Einer Tier- lebender Zellen. Wie Zellen auf Verän-
H2O H2O H2O H2O
zelle geht es in einer derungen in der Tonizität des umgeben-
isotonen Umgebung den Mediums reagieren, hängt davon ab,
am besten, außer ob sie eine Wand besitzen oder nicht. (a)
wenn sie über spezielle
Tierzellen, wie das hier dargestellte rote
Anpassungen verfügt,
die die osmotische Blutkörperchen, verfügen über keine Zell-
Wasseraufnahme lysiert normal geschrumpft wand. (b) Pflanzenzellen sind von Wän-
kompensieren. den umgeben. (Die Pfeile zeigen die Rich-
Plasma- Zellwand tung der Nettowanderung des Wassers
membran H2O Plasma- H2O
(b) Pflanzenzelle. Pflanzen- membran an, wenn die betreffende Zelle in das ent-
zellen sind turgeszent H2O H2O Teil 2
sprechende Medium überführt wird.)
(prall gefüllt) und im Allge-
meinen in einer hypotonen
Umgebung, in der der
Gegendruck der Zellwand
dem Bestreben des Wasser-
einstroms entgegenwirkt,
am „gesündesten“.
turgeszent (normal) schlaff plasmolysiert

Wird eine Zelle ohne Zellwand – etwa die Zelle eines kontraktile Vakuole besitzen, mit deren Hilfe sie über-
vielzelligen Tieres – in eine Umgebung gebracht, die schüssiges Wasser aus der Zelle pumpen können.
isoton mit der Zelle ist, so findet keine Nettowanderung Kontraktile Vakuolen sind Organellen, die wie eine
von Wasser durch die Plasmamembran statt (griech. iso, Lenzpumpe in einem Schiff funktionieren und das
gleich + tonos, Spannung). Wasser diffundiert mit glei- immer wieder nachströmende Wasser so rasch aus der
cher Geschwindigkeit in beide Richtungen durch die Zelle schaffen, wie es per Osmose hereinkommt
Membran. In einer isotonen Umgebung bleibt das Volu- (Abbildung 7.13). Wir werden in Kapitel 44 weitere
men der Tierzelle unverändert (Abbildung 7.12a). evolutionäre Anpassungen der Osmoregulation ken-
Bringt man die Zelle in eine hypertone Lösung nenlernen.
(griech. hyper, über (hinaus)), dann gibt sie Wasser an
die Umgebung ab, da die Wasserkonzentration in der 50 μm
sich kontrahierende Vakuole
Zelle höher ist als im umgebenden Medium. Die Zelle
schrumpft und stirbt schließlich ab, wenn der Vorgang
weit genug fortschreitet und lange genug anhält. Dies
ist der Mechanismus, durch den ein Anstieg des Salz-
gehaltes in einem Gewässer zum Absterben der Tiere
darin führen kann. Die Aufnahme einer übergroßen
Wassermenge kann für eine Zelle jedoch ebenso gefähr-
lich sein wie der Wasserverlust. Bringt man eine Zelle
in eine hypotone Lösung (griech. hypo, unter („weni-
Abbildung 7.13: Die kontraktile Vakuole eines Pantoffeltier-
ger“)), so diffundiert Wasser schneller in die Zelle hin- chens (Paramecium caudatum). Die Vakuole dieses Süßwasserprotozoons
ein als aus ihr heraus. Die Zelle schwillt an und platzt sammelt Flüssigkeit durch ein System von Kanälen im Cytoplasma. Wenn
(lysiert) schließlich. der Füllstand erreicht ist, kontrahieren Vakuole und Kanäle und drücken so
Eine Zelle ohne eine starre Zellwand kann weder ein Flüssigkeit aus der Zelle heraus (lichtmikroskopische Aufnahme).
übermäßiges Einströmen von Wasser noch dessen über-
mäßigen Verlust tolerieren. Dieses Problem entfällt,
wenn sich die Zelle in isotoner Umgebung befindet. Die Wasserbalance von Zellen mit Zellwand
Meerwasser ist isoton bezüglich der meisten Wirbello- Die Zellen von Pflanzen, Prokaryonten, Pilzen und man-
sen des Meeres. Die Zellen der meisten landlebenden chen Protisten haben Zellwände (siehe Abbildung 6.27).
(terrestrischen) Tiere sind von einer extrazellulären Wird eine solche Zelle in eine hypotone Lösung ver-
Flüssigkeit umgeben, die isoton bezüglich dieser Zel- bracht (zum Beispiel Regenwasser), ist die Zellwand an
len ist. Tiere und andere Organismen ohne feste Zell- der Aufrechterhaltung der Wasserbalance entscheidend
wände, die in hypo- oder hypertonen Umgebungen beteiligt. Betrachten wir eine Pflanzenzelle, die durch
leben, müssen über spezielle Mechanismen zur Osmo- den osmotischen Einstrom anschwillt (Abbildung
regulation – der Kontrolle des osmotischen Druckes – 7.12b). Die vergleichsweise feste und wenig elastische
verfügen. Das Pantoffeltierchen (Paramecium cauda- Zellwand wird sich nur geringfügig ausdehnen, bevor
tum) lebt in Teichen, deren Wasser hypoton relativ sie einen Gegendruck ausübt, der dem weiteren Was-
zum Zellinhalt ist. Paramecium-Arten besitzen eine sereinstrom entgegenwirkt. Die Zelle ist nun ange-
Plasmamembran, die weit weniger permeabel für Was- schwollen (turgeszent), für die meisten Pflanzenzellen
ser ist als die Membranen der meisten anderen Zellen, ein gesunder Zustand. Bei nichtverholzenden Pflanzen,
doch verlangsamt dies nur die Diffusionsrate für Was- wie den meisten Zimmerpflanzen, beruht die aufrechte
ser, das trotzdem unablässig in die Zelle hineindiffun- Gestalt des Pflanzenkörpers auf diesem Innendruck
diert. Paramecium-Zellen platzen nicht, weil sie eine (Turgor) der Zellen in hypotoner Umgebung. Sind die

173
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

Zellen einer Pflanze isoton relativ zum umgebenden Eine andere und sehr umfangreiche Klasse von Kanal-
Medium, so findet kein Nettoeinstrom von Wasser proteinen sind die Ionenkanäle, von denen viele gesteu-
statt. Daraufhin sinkt der Turgor, die Zellen und dann erte Kanäle sind (engl. gated channels), die sich als
die gesamte Pflanze erschlaffen, ein erstes Symptom Reaktion auf einen Stimulus hin öffnen oder schließen.
des Welkens. Die Reize können chemischer oder physikalischer
Die Zellwand stellt allerdings keinen Vorteil dar, falls Natur sein (chemische Liganden, elektrische Spannung,
die Zelle in eine hypertone Umgebung gelangt. In die- mechanische Verformung, siehe Kapitel 48). Liganden-
sem Fall verlieren Zellen mit Zellwand genauso wie gesteuerte Ionenkanäle werden von einem Molekül regu-
Tierzellen Wasser an die Umgebung und schrumpfen. liert, das nicht mit dem transportierten Ion identisch ist.
In dem Maß, in dem der Zellkörper schrumpft, löst sich Die Reizung einer Nervenzelle durch einen Neuro-
Teil 2
die Plasmamembran von der Zellwand ab. Diese soge- transmitter (Nervenbotenstoff) öffnet ligandengesteuerte
nannte Plasmolyse ist ein fortgeschrittenes Zeichen des Ionenkanäle, die bestimmte Ionen durchlassen, zum Bei-
Welkens und kann zum Tod der Pflanze führen. Die spiel Natrium- oder Calciumionen. Zu einem späteren
Plasmolyse ist anfänglich noch umkehrbar, später dann Zeitpunkt aktiviert ein elektrischer Impuls einen
jedoch irreversibel. Zellen von Bakterien und Pilzen spannungsgesteuerten Ionenkanal, was den Ausstrom
mit einer Zellwand unterliegen in hypertoner Umge- von Kaliumionen aus der Zelle bewirkt (siehe das
bung ebenfalls der Plasmolyse. orangefarbige Ion im Zentrum des Ionenkanals im Bild
links unten auf der ersten Textseite dieses Kapitels).

7.3.2 Erleichterte Diffusion: Protein-


extrazelluläre
gestützter passiver Transport Flüssigkeit

Schauen wir uns genauer an, wie Wasser und bestimmte


andere hydrophile Stoffe die Membran durchqueren.
Wie bereits früher erwähnt, diffundieren viele polare
Moleküle und Ionen mit Unterstützung spezieller
transmembraner Transportproteine passiv in die Zelle
hinein oder aus ihr heraus. Dieses Phänomen wird als
erleichterte Diffusion bezeichnet. Zur Zeit werden die Kanalprotein gelöstes Teilchen
molekularen Mechanismen, die dem Transport durch Cytoplasma
erleichterte Diffusion zugrunde liegen, noch intensiv
(a) Ein Kanalprotein (lila) formt einen Kanal, durch den
untersucht. Die meisten Transportproteine sind hoch Wassermoleküle oder bestimmte gelöste Teilchen
spezifisch und tranportieren nur bestimmte Stoffe. diffundieren können.
Man unterscheidet bei den Membrantransportern
zwischen Kanalproteinen (kurz „Kanälen“) und Carrier-
proteinen. Kanalproteine schaffen einfach Poren
(= Kanäle), die den selektiven Durchtritt bestimmter
Moleküle oder Ionen durch die Membran erlauben
(Abbildung 7.14a). Die hydrophilen Kanäle dieser
Proteine ermöglichen den sehr raschen Durchtritt von
Ionen durch die Membran. Obwohl Wassermoleküle an
sich klein genug sind, um die Lipiddoppelschicht ohne
weitere Hilfe zu durchqueren, geschieht dies aufgrund
Transportprotein gelöstes Teilchen
ihrer Polarität nur sehr langsam. Aquaporine erleichtern
(„Carrierprotein“)
in Pflanzenzellen und in Tierzellen wie den roten Blut-
körperchen als spezielle Wasserkanäle die Diffusion (b) Ein Transportprotein (engl. carrier) wechselt zwischen
(Abbildung 7.12). Bestimmte Nierenzellen besitzen zwei alternativen Konformationen hin und her. Durch
den Wechsel der Konformation wird ein Teilchen durch
ebenfalls große Mengen von Aquaporinmolekülen in die Membran geschleust. Das Protein kann das gelöste
ihren Membranen und können so Wasser aus dem Teilchen in beide Richtungen befördern. Die Netto-
Harn zurückgewinnen, bevor er ausgeschieden wird. bewegung dieser Transportvorgänge erfolgt entlang
Ohne Nieren würde ein Mensch ca. 180 Liter Flüssig- des herrschenden Konzentrationsgradienten des für
den Kanal spezifischen Frachtgutes.
keit pro Tag ausscheiden und müsste diese Menge
durch Trinken auch wieder ersetzen! Abbildung 7.14: Zwei Typen von Transportproteinen, die die
erleichterte Diffusion vermitteln. In beiden Fällen ermöglicht das Pro-
tein den Transport eines Stoffs in beide Richtungen, der Nettotransport
erfolgt jedoch entlang des vorliegenden Konzentrationsgefälles.

174
7.4 Aktiver Transport ist die energieabhängige Bewegung von Stoffen entgegen ihrem Konzentrationsgradienten

Carrierproteine wie der zuvor erwähnte Glucosetrans- stuft, weil der gelöste Stoff dabei einfach einem beste-
porter durchlaufen zyklische Konformationsänderun- henden Konzentrationsgefälle folgt. Die erleichterte
gen, die das transportierte Molekül auf der einen Mem- Diffusion beschleunigt den Transport eines Stoffes
branseite binden und sich danach zur anderen hin durch die Bereitstellung einer geeigneten Membran-
öffnen (Abbildung 7.14b). Die Konformationsände- passage, ohne dabei die Transportrichtung zu beein-
rungen können durch die Bindung und/oder Freiset- flussen. Manche Transportproteine können jedoch
zung des transportierten Moleküls ausgelöst werden. gelöste Stoffe gegen ihr Konzentrationsgefälle zum
Genau wie Ionenkanäle ermöglichen Carrierproteine Beispiel durch die Plasmamembran pumpen und zwar
mittels erleichterter Diffusion den Nettotransport einer von der Seite geringerer Konzentration hin zur Seite
Substanz gemäß ihrem Konzentrationsgefälle, also ohne höherer Konzentration, unabhängig davon, ob diese
Teil 2
Energieaufwand (passiver Transport). Bei einigen Erb- Seiten innen oder außen liegen.
krankheiten sind bestimmte Transportsysteme entwe-
der defekt oder sie fehlen ganz. Ein Beispiel dafür ist
die Cystinurie, eine Krankheit des Menschen, bei der ein 7.4.1 Der Energiebedarf des aktiven
Carrierprotein der Nierenzellen ausgefallen ist, das Cys- Transportes
tin (das Oxidationsprodukt des Cysteins) sowie Arginin,
Lysin und Ornithin (ausnahmslos Aminosäuren) trans- Um ein Teilchen gegen sein Konzentrationsgefälle
portiert. Nierenzellen reabsorbieren diese Aminosäuren durch eine Membran zu befördern, ist Arbeit notwen-
normalerweise aus dem sich bildenden Harn und über- dig. Die Zelle muss Energie aufwenden, um das betref-
führen sie zurück in das Blut. Bei einem an Cystinurie fende Teilchen an den neuen Ort zu „pumpen“, da es
leidenden Menschen gelangen diese Aminosäuren in von allein nicht in diese Richtung wandern würde.
erhöhter Menge in den Harn und fallen dort aufgrund Diese Form des Membrantransportes wird daher als
ihrer schlechten Löslichkeit als Harnsteine aus, die sich aktiver Transport bezeichnet. Die Transportproteine,
in den ableitenden Harnwegen und der Harnblase die gelöste Stoffe gegen ein Konzentrationsgefälle beför-
ablagern und die Harnwege verstopfen können. In der dern, sind ausschließlich Carrierproteine und keine
Wissenschaftlichen Übung haben Sie Gelegenheit, mit Kanalproteine. Das ist einsichtig, denn ein offener Kanal
experimentellen Daten zum Glucosetransport umzuge- kann kaum den Stoffdurchtritt in Richtung des beste-
hen. henden Gefälles verhindern.
Durch den aktiven Transport können im Zellinneren
Konzentrationen von niedermolekularen Substanzen
 Wiederholungsfragen 7.3 aufrechterhalten werden, die sich von denen in der
Umgebung unterscheiden. Im Vergleich zu ihrer Umge-
1. Wie entledigt sich eine die Zellatmung durch- bung weist etwa eine Tierzelle eine wesentlich höhere
führende Zelle des anfallenden Kohlendi- Konzentration an Kaliumionen und eine wesentlich
oxids? niedrigere an Natriumionen auf. Die Plasmamembran ist
für die steilen Konzentrationsgefälle dieser und anderer
2. WAS WÄRE, WENN? Wird die Aktivität der kon-
Stoffe verantwortlich, weil sie dauernd Natriumionen
traktilen Vakuole zu- oder abnehmen, wenn
aus der Zelle heraus pumpt und Kaliumionen in sie hin-
eine Paramecium-Zelle aus einer hypotonen
ein transportiert.
in eine isotone Umgebung schwimmt? Wa-
Wie bei anderen Arbeitsvorgängen der Zelle liefert
rum?
das ATP auch für den aktiven Transport die notwen-
dige Energie. Eine Möglichkeit, dies zu gewährleisten,
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
ist die direkte Phosphorylierung des Transportpro-
teins. Dies bewirkt eine Konformationsänderung des
Transporters, die zur Translokation des Teilchens
durch die Membran führt. Ein Transportsystem, das
Aktiver Transport ist die so funktioniert, ist die Natrium/Kaliumpumpe, die
energieabhängige Bewegung gleichzeitig ein Natriumion (Na+) aus der Zelle her-
ausbefördert und im Gegenzug ein Kaliumion (K+)
von Stoffen entgegen ihrem hinein (Abbildung 7.15). Abbildung 7.16 stellt noch
Konzentrationsgradienten
7.4 einmal den passiven und den aktiven Transport ver-
gleichend nebeneinander.

Ungeachtet der Unterstützung durch Proteine wird die


erleichterte Diffusion als passiver Transport einge-

175
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

extrazelluläre [Na+] hoch Na+


Flüssigkeit [K+] niedrig Na+

Na+ Na+ Na+

Na+ Na+

Na+

+ ATP
Na+ [Na ] niedrig P
Cytoplasma P
[K+] hoch ADP
Teil 2 1 Cytoplasmatische Natrium- 2 Die Natriumionenbindung 3 Die Phosphorylierung führt
ionen binden an die stimuliert die Phosphory- dazu, dass das Protein seine
Natrium/Kaliumpumpe. Die lierung des Transporters Konformation ändert. Dies
Affinität für Na+-Ionen ist durch ATP. vermindert die Affinität für
hoch, wenn das Protein Na+-Ionen, die an der Außen-
diese Form hat. seite der Zelle abgegeben
werden.

K+

K+
K+
K+
K+

P
K+ Pi
6 K+-Ionen werden freige- 5 Der Verlust des Phosphat- 4 Die neue Konformation be-
setzt; die Affinität für Na+- restes bringt das Protein in sitzt eine hohe Affinität für
Ionen ist wieder hoch und seine ursprüngliche Konfor- K+-Ionen, die auf der extra-
der Zyklus wiederholt sich. mation zurück, die eine nie- zellulären Seite an das Pro-
drigere Affinität für Kalium- tein binden und die Abspal-
ionen hat. tung des Phosphatrestes
induzieren.

Abbildung 7.15: Die Natrium/Kaliumpumpe: eine spezielle Form des aktiven Transports. Dieses Transportsystem pumpt Ionen gegen steile
Konzentrationsgefälle: Die Natriumionenkonzentration, [Na+], ist außerhalb der Zelle hoch und in der Zelle niedrig, die Kaliumionenkonzentration, [K+],
ist dagegen außerhalb der Zelle niedrig, aber in der Zelle hoch. Die „Pumpe“ (das Transportprotein) oszilliert zyklisch zwischen zwei alternativen Konfor-
mationen hin und her. Bei jedem Durchgang werden drei Natriumionen aus der Zelle gepumpt, im Gegenzug werden zwei Kaliumionen hineintranspor-
tiert. (Man beachte, dass so neben der Konzentrationsdifferenz gleichzeitig auch eine elektrische Potenzialdifferenz erzeugt wird, da der Transport insge-
samt nicht elektroneutral ist, sondern „elektrogen“.) Die beiden Konformationen des Proteins besitzen unterschiedliche Affinitäten für die beiden
Ionentypen. Die Energie für die Konformationsänderung wird in Form von ATP durch eine Phosphorylierung des Transportproteins bereitgestellt.

a Passiver Transport. Stoffe diffundieren spontan ent-


a b
lang ihres Konzentrationsgefälles. Dabei durchqueren
sie die Membran ohne Energieaufwand. Die Diffu-
sionsrate kann durch spezielle Transportproteine in
der Membran stark erhöht werden.

b Aktiver Transport. Manche Transportproteine wirken


als Pumpen, die Stoffe gegen ein vorliegendes Kon-
zentrationsgefälle oder eine anliegende elektrische
Spannung (= elektrochemisches Membranpotenzial)
durch eine Membran befördern. Die dafür erforder-
liche Energie wird meist in Form von ATP bereitgestellt.

c Diffusion. Hydrophobe Moleküle und (mit einer sehr


kleinen Rate) auch sehr kleine ungeladene polare
Moleküle können direkt durch die Lipid-Doppelschicht
ATP diffundieren.

c d Erleichterte Diffusion. Viele Stoffe diffundieren unter


d
Verwendung von Kanal- oder Carrierproteinen durch
Membranen.

Abbildung 7.16: Gegenüberstellung von passivem und aktivem Membrantransport.

? Beschreiben Sie für beide gelösten Stoffe in der rechten Abbildung die jeweilige Bewegungsrichtung und geben Sie an, ob sich der Stoff gegen sein
oder mit seinem Konzentrationsgefälle bewegt.

176
7.4 Aktiver Transport ist die energieabhängige Bewegung von Stoffen entgegen ihrem Konzentrationsgradienten

 Wissenschaftliche Übung

Die Interpretation eines Streudiagramms mit aufzutragen. Im vorliegenden Fall bildet jeder ein-
zwei Datensätzen zelne Datensatz (blau bzw. rot gekennzeichnet) ein
Streudiagramm, in dem jeder Datenpunkt zwei
Ist die Glucoseaufnahme in Zellen altersabhän- numerische Werte repräsentiert, einen für jede Vari-
gig? Glucose ist eine wichtige Energiequelle für able. Für beide Datensätze wurde eine Kurve durch
Tiere. Sie wird durch erleichterte Diffusion über die einzelnen Datenpunkte gelegt, damit wird der
Carrierproteine in die Zelle transportiert. In dieser Trend besser sichtbar. In der Praxis muss man meist
Übung werden Sie eine grafische Auftragung mit auf mathematische Algorithmen zur optimalen Teil 2
zwei Datensätzen interpretieren. Die beiden Daten- Anpassung der Kurve an die tatsächlich gemessenen
sätze lieferte ein Experiment, das die zeitabhängige Daten zurückgreifen. (Zusätzliche Informationen zu
Glucoseaufnahme in die roten Blutkörperchen von Graphen sind in der Zusammenfassung der wissen-
Meerschweinchen unterschiedlichen Alters unter- schaftlichen Fertigkeiten im Anhang B verfügbar.)
suchte. Sie werden bestimmen, ob das Alter der
Meerschweinchen die Glucose-Aufnahmerate in Datenauswertung
ihre Zellen beeinflusste oder nicht.
1. Stellen Sie sicher, dass Sie alle Bestandteile des
zeitabhängige Glucoseaufnahme in roten Blutkörperchen Graphen verstanden haben. (a) Welche Variable
aus Meerschweinchen ist die unabhängige, d.h. durch die Forscherin-
100 nen vorgegeben bzw. kontrolliert? (b) Welche
Variable ist die von der experimentellen Vorge-
hensweise abhängige? Diese Variable muss je-
Konzentration radioaktiver

80 weils messtechnisch erfasst werden. (c) Wofür


stehen die roten Punkte? (d) Wofür die blauen?
Glucose (mM)

60
2. Konstruieren Sie eine Datentabelle aus den Da-
tenpunkten im Graphen. Setzen Sie „Inkuba-
40 tionszeit [min]“ in die linke Tabellenspalte.

15 Tage altes Tier 3. Was zeigt der Graph? Vergleichen Sie die Werte
20
1 Monat altes Tier für die Glucoseaufnahme durch rote Blutkör-
perchen in dem 15 Tage bzw. einen Monat al-
0 ten Tier. Was unterscheidet die Werte?
0 10 20 30 40 50 60
Inkubationszeit (min)
4. Stellen Sie eine Vermutung auf, um den beob-
Durchführung des Experiments Die Forscherinnen achteten Unterschied zu erklären. Beachten
inkubierten rote Blutkörperchen von zwei Meer- Sie in diesem Zusammenhang, wie Glucose in
schweinchen in einer 300 mM (millimolaren) radio- die Zellen hinein gelangt.
aktiven Glucoselösung bei pH 7,4 und 25 °C. In
zehnminütigem Abstand entnahmen sie Proben 5. Entwerfen Sie ein Experiment zur Prüfung Ih-
und bestimmten die Glucosekonzentration im Zell- rer Hypothese.
inneren. Die beiden Meerschweinchen waren 15
und 30 Tage alt.
Experimentelle Daten Wenn Sie mehrere Daten- Daten aus: T. Kondo & E. Beutler, Developmental changes in glucose
sätze vorliegen haben, ist es oft nützlich, sie zum transport of guinea pig erythrocytes, Journal of Clinical Investigation
besseren Vergleich in ein und demselben Graphen 65:1–4 (1980).

7.4.2 Wie Ionenpumpen das Membran- Anionen und Kationen auf beiden Seiten der Mem-
potenzial aufrechterhalten bran ungleich verteilt sind. Die an der Membran anlie-
gende Spannung wird Membranpotenzial genannt,
An den Plasmamembranen aller Zellen liegt eine elek- ihre Werte liegen zwischen –50 und –200 mV (Milli-
trische Spannung (U) an, eine Quelle potenzieller volt). Das negative Vorzeichen zeigt konventionsge-
Energie. Das System verhält sich wie ein Plattenkon- mäß an, dass das Zellinnere negativ geladen ist.
densator, bei dem zwei Ladungen mit unterschied- Das Membranpotenzial wirkt wie eine Batterie, eine
lichem Vorzeichen durch ein Dielektrikum voneinan- Energiequelle, die den Transport aller elektrisch gelade-
der getrennt sind. Das Cytoplasma ist gegenüber der nen Substanzen durch die Membran beeinflusst. Da das
extrazellulären Flüssigkeit negativ geladen, weil die Zellinnere im Vergleich zum Außenraum negativ gela-

177
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

den ist, begünstigt das Membranpotenzial den passiven von ATP während der Zellatmung (siehe Kapitel 9).
Einstrom von Kationen in die Zelle und den Ausstrom Eine weitere Nutzanwendung findet sich in Form des
von Anionen. Es gibt daher zwei Kraftkomponenten, sogenannten Cotransports.
die die Diffusion von Ionen durch die Membran antrei-
ben: eine chemische (der Konzentrationsunterschied)
und eine elektrische (das Membranpotenzial). Diese ATP – +
EXTRAZELLULÄRE
Kombination von Kräften, die auf Ionen einwirkt, wird FLÜSSIGKEIT
– +
als ionenmotorische Kraft oder auch als elektrochemi- H+
H+
sches Membranpotenzial bezeichnet. H+
Für Ionen müssen wir daher unsere Vorstellung des Protonenpumpe H+
Teil 2 – + H+
passiven Transports verfeinern: Ein Ion diffundiert
nicht einfach entlang seines Konzentrationsgefälles, – + H+
CYTOPLASMA
sondern entlang des bestehenden elektrochemischen
Membranpotenzials. So ist etwa die Konzentration an Abbildung 7.17: Die Protonenpumpe als Beispiel für eine elek-
Natriumionen, [Na+], in einer Nervenzelle im Ruhe- trogene Ionenpumpe. Protonenpumpen sind Membranproteine, die
zustand viel geringer als außerhalb. Wenn die Zelle durch Ladungstrennung eine an der Membran anliegende elektrische
gereizt wird, öffnen sich gesteuerte Ionenkanäle und Spannung erzeugen und so Energie speichern. Meist unter Verwendung
durch Diffusion strömen Natriumionen infolge der von ATP transportieren Protonenpumpen positive Ladungen in Form von
ionenmotorischen Kraft ein. In diesem Fall weisen Wasserstoffionen. Die elektrische Spannung und der Konzentrationsunter-
schied der H+-Ionen stellen Energiequellen dar, die andere Vorgänge wie
sowohl die elektrische als auch die chemische Kom-
die Aufnahme von Nährstoffen antreiben können.
ponente der ionenmotorischen Kraft in dieselbe Rich-
tung, doch ist dies keineswegs immer so. Wenn der
elektrische Anteil des elektrochemischen Membran-
7.4.3 Cotransport: Gekoppelter Transport
potenzials infolge seiner Polarität der Diffusion einer
Ionensorte entlang ihrem Konzentrationsgefälle entge-
durch ein Membranprotein
gensteht, kann daher ein aktiver Transport der betref-
fenden Ionen notwendig werden. In Kapitel 48 werden Ein gelöster Stoff, der in unterschiedlichen Konzentra-
Sie mehr über die Bedeutung des elektrochemischen tionen auf den beiden Seiten einer Membran vorliegt,
Membranpotenzials bei der Weiterleitung von Nerven- kann Arbeit verrichten, indem er den Konzentrations-
impulsen erfahren. unterschied durch seine Diffusion durch die Membran
Manche Proteine, die am aktiven Transport von Ionen ausgleicht, ähnlich einem Wasserkraftwerk, bei dem
beteiligt sind, tragen dadurch auch zum Membran- zuvor aufgestautes Wasser beim Zurückfließen eine
potenzial bei. Ein Beispiel ist die schon erwähnte Turbine antreibt, die an einen Generator gekoppelt ist,
Natrium/Kaliumpumpe. Aus Abbildung 7.15 haben Sie der elektrischen Strom erzeugt. Eine durch ATP ange-
entnommen, dass dieses Protein Na+ und K+ nicht im triebene Pumpe, die einen bestimmten gelösten Stoff
Verhältnis 1:1 durch die Membran pumpt, sondern im durch eine Membran befördert, kann durch einen als
Austausch für drei exportierte Natriumionen zwei Cotransport bezeichneten Mechanismus indirekt an
Kaliumionen in die Zelle importiert. So gelangt also bei den Transport mehrerer anderer Stoffe gekoppelt wer-
jedem Pumpvorgang eine positive Ladung mehr auf die den. So nutzen Pflanzenzellen die protonenmotori-
extrazelluläre Seite, als ins Cytoplasma hinein. Dies sche Kraft der ATP-getriebenen Protonenpumpen in
entspricht der Aufladung eines Kondensators und ist ihren Membranen für den aktiven Transport von Ami-
nichts anderes als die Speicherung von Energie in Form nosäuren, Zuckern und diversen anderen Nährstoffen in
einer elektrischen Spannung. Ein solcher Transporter, die Zelle. In dem Beispiel in Abbildung 7.18 koppelt
der durch seine Tätigkeit zum Aufbau einer elektri- ein solches Protein den Rückstrom der Wasserstoffionen
schen Spannung über der Membran beiträgt, wird als an die Aufnahme von Saccharosemolekülen (Rohrzu-
elektrogene Pumpe bezeichnet. Der Natrium/Kalium- cker). Dieses Protein kann Saccharose gegen ein Kon-
transporter scheint bei Tierzellen die wichtigste elek- zentrationsgefälle transportieren, aber nur zusammen
trogene Pumpe zu sein. Die wichtigste elektrogene mit einem Wasserstoffion (Proton). Das Wasserstoffion
Ionenpumpe von Pflanzen, Pilzen und Bakterien ist benutzt den Saccharose/H+-Cotransporter als Schleuse,
hingegen eine Protonenpumpe, die aktiv Wasserstoffio- um entlang eines bestehenden elektrochemischen Mem-
nen (Protonen) aus der Zelle herauspumpt. Das Heraus- branpotenzials zu fließen, das durch die Aktivität der
pumpen der Protonen verfrachtet positive elektrische Protonenpumpe erzeugt und aufrechterhalten wird.
Ladungen aus dem Cytoplasma in die extrazelluläre Pflanzen benutzen den Saccharose/H+-Cotransport,
Flüssigkeit (Abbildung 7.17). Die daraus resultierende um die durch die Photosynthese produzierte Saccha-
an der Membran anliegende elektrische Spannung rose in die Zellen der Blattadern zu überführen. Die
stellt eine Energiequelle dar, die die Zelle zur Verrich- Leitgewebe der Pflanze verteilen dann den erzeugten
tung von Arbeit nutzen kann. Eine wichtige Nutzung Zucker in der gesamten Pflanze, auch an photosynthe-
der protonenmotorischen Kraft liegt in der Synthese tisch nicht aktive Bereiche wie die Wurzeln.

178
7.5 Endocytose und Exocytose vermitteln den Großteil des Transportes durch die Plasmamembran

Was man über Phänomene wie den Cotransport, die


 Wiederholungsfragen 7.4
Osmose und den Wasserhaushalt bei Tierzellen gelernt
hat, war hilfreich für die Entwicklung einer wirksamen
1. Natrium/Kaliumpumpen unterstützen Nerven-
Behandlung von Dehydrierungszuständen als Folge
zellen beim Aufbau einer elektrischen Span-
von Durchfallerkrankungen. Diese stellen in Entwick-
nung an ihrer Plasmamembran. Nutzen diese
lungsländern ein ernsthaftes Problem dar, in denen
Pumpen ATP oder erzeugen sie es? Warum?
die hygienischen Zustände mangelhaft und Darmpara-
siten weit verbreitet sind. Normalerweise werden Na- 2. Erläutern Sie, warum die in Abbildung 7.15
triumionen im Darm reabsorbiert, so dass ein gleich- dargestellte Natrium/Kaliumpumpe nicht als
bleibendes Konzentrationsniveau aufrecht erhalten Cotransporter angesehen wird.
Teil 2
wird. Bei Durchfall ist der Verlust jedoch so hoch,
dass die Reabsorption nicht mehr greifen kann; da- 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Betrachten Sie die
raufhin fällt die Natriumionenkonzentration steil ab. Charakteristika von Lysosomen aus Konzept
Dieser lebensbedrohlichen Situation wird durch Ver- 6.4. Angesichts des Lysosomeninneren würde
abreichung einer Lösung mit hohem Glucose- und man welches Transportprotein in der Lysoso-
Salzgehalt begegnet. Die gelösten Stoffe werden von menmembran erwarten?
Transportern an der Oberfläche der Darmzellen aufge-
nommen und in den Blutstrom überführt. Der Anstieg Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
der Menge gelöster Stoffe im Blut zieht Wasser aus
den Darmzellen in das Blut, was zur Rehydratisierung
des gesamten Körpers eingesetzt wird. Diese simple
Therapie hat die Kindersterblichkeit weltweit gesenkt. Endocytose und Exocytose
Aufgrund der an diesem Vorgang beteiligten Transpor-
ter müssen sowohl Glucose als auch Natriumionen in vermitteln den Großteil des
der Substitutionslösung enthalten sein. Daher nehmen Transportes durch die
Spitzensportler, die viel Flüssigkeit verlieren, angerei-
cherte Spezialgetränke zu sich (die aber im Rahmen
der normalen Ernährung weder notwendig noch emp-
Plasmamembran
7.5
fehlenswert sind). Wasser und andere niedermolekulare Substanzen drin-
gen durch passive Diffusion in die Zelle ein und ver-
lassen sie ebenso wieder oder sie werden durch Trans-
+ portproteine aktiv in die Zelle hinein- oder aus ihr

Saccharose-
herausgepumpt. Große Moleküle wie Proteine und Poly-
Saccharose-
molekül Saccharose/ H+- molekül saccharide sowie größere Partikel gelangen dagegen in
Cotransporter Diffusion von Protonen Vesikeln verpackt in die Zelle. Genau wie beim aktiven
Transport wird dafür Stoffwechselenergie benötigt.
H+
+
H+ –
H+
+ 7.5.1 Exocytose
– H+
H+ Wie wir in Kapitel 6 ausgeführt haben, sezerniert die
H+ H+ Zelle bestimmte Biosyntheseprodukte durch die Fusion
Protonenpumpe
von Vesikeln mit der Plasmamembran. Dieser Vorgang
H+ wird Exocytose genannt. Ein vom Trans-Golgi-Appa-
ATP
– + H+
rat stammendes Transportvesikel wandert entlang der
Mikrotubuli des Cytoskeletts zur Plasmamembran.
Abbildung 7.18: Cotransport: von einem Konzentrationsgefälle
Wenn die Vesikelmembran und die Plasmamembran
getriebener aktiver Transport. Ein Carrierprotein wie der hier
gezeigte Saccharose/H+-Cotransporter kann die durch eine protonenmo-
in Kontakt kommen, ordnen spezielle Proteine die
torische Kraft (engl.: proton motive force, pmf) getriebene gerichtete Dif- Lipidmoleküle beider Doppelschichten so um, dass sie
fusion von Protonen zur Aufnahme von Saccharose in die Zelle nutzen. Die miteinander verschmelzen. Der Vesikelinhalt ergießt
pmf wird von einer ATP-getriebenen Protonenpumpe erzeugt, die Proto- sich dann in die Umgebung der Zelle, und die Vesikel-
nen außerhalb der Zelle konzentriert und dadurch Energie für den aktiven membran wird zu einem Teil der Plasmamembran
Transport von in diesem Fall Saccharose bereitstellt. Die für den Cotrans- (Abbildung 7.9/Schritt 4).
port notwendige Energie entstammt somit indirekt dem ATP.

179
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

Viele sekretorisch aktive Zellen bedienen sich zum bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um Aggregate
Export ihrer Erzeugnisse der Exocytose. Bestimmte aus Lipid- und Proteinmolekülen. Die LDL-Teilchen
Bauchspeicheldrüsenzellen stellen zum Beispiel das sind die Liganden (Bindungspartner) für spezielle
Hormon Insulin her und schütten es durch Exocytose LDL-Rezeptoren in den Plasmamembranen der Ziel-
in den Blutstrom aus. Ein weiteres Beispiel sind Ner- zellen. Erwartungsgemäß werden sie auf dem Weg der
venzellen (Neurone), die die Exocytose verwenden, Endocytose internalisiert. Bei Menschen mit familiärer
um Neurotransmitter (Nervenbotenstoffe) freizusetzen, Hypercholesterinämie (erblich bedingtem, pathologisch
die chemische Signale an andere Nervenzellen oder erhöhtem Blutfettwert) funktionieren die LDL-Rezep-
an Muskel- oder Drüsenzellen übermitteln. Wenn Pflan- toren nicht oder fehlen ganz, so dass die LDL-Partikel
zen- oder Pilzzellen neue Zellwände bilden, wird das nicht in die Zellen gelangen können und sich stattdessen
Teil 2
Wandmaterial (Proteine und Polysaccharide) durch im Blut anreichern, wo sie zur Bildung arterioskleroti-
Exocytose von den vom Golgi-Apparat abgehenden scher Ablagerungen an den Innenseiten der Blutgefäße
Transportvesikeln in den extrazellulären Raum ver- beitragen. Durch diese Lipidablagerungen verengen sich
bracht. die Gefäße und behindern den Blutfluss.
Vesikel dienen nicht nur dem Transport von Stoffen
zwischen der Zelle und ihrer Umgebung, sondern stel-
7.5.2 Endocytose len auch einen Mechanismus zur „Verjüngung“ oder
zum Umbau der Plasmamembran dar. Endo- wie Exo-
Bei der Endocytose nimmt eine Zelle Moleküle und/ cytose laufen bei den meisten eukaryontischen Zellen
oder größere Teilchen wie andere Zellen oder Zell- konstitutiv ab, dennoch bleibt die Plasmamembranflä-
bruchstücke auf, indem sie an der Plasmamembran che einer nicht im Wachstum befindlichen Zelle bei-
Vesikel bildet und nach innen abschnürt. Obwohl sich nahe konstant. Offensichtlich wird der Membranverlust
die meisten Moleküle, die an der Endocytose beteiligt bei der Endocytose durch den Gewinn an Membranflä-
sind, von denen der Exocytose unterscheiden, entspricht che bei der Exocytose weitgehend ausgeglichen.
die endocytotische Vesikelbildung einer Umkehrung der Energie und zelluläre Arbeit haben bei unserer
exocytotischen Vesikelfusion. Ein kleiner Bereich der Beschreibung der Membranen im Vordergrund gestan-
Membran wird durch spezielle Proteine nach innen den. So haben wir etwa gesehen, dass der aktive Trans-
gezogen und bildet so eine becherförmige Vertiefung. port durch ATP angetrieben wird. In den kommenden
Dieser Membranbecher vertieft sich und wird schließ- drei Kapiteln werden Sie mehr darüber erfahren, wie
lich als Vesikel vollständig abgeschnürt. In das Vesikel Zellen die Energie gewinnen, die sie für die Lebens-
ist Material eingeschlossen, das sich zuvor außerhalb vorgänge benötigen.
der Zelle befunden hatte. Man unterscheidet phäno-
menologisch drei Formen der Endocytose: die Phago-
cytose (griech. phagein, ich esse), die Pinocytose  Wiederholungsfragen 7.5
(griech. pinein, ich trinke) und die rezeptorvermittelte
Endocytose (Abbildung 7.19). Bei der Phagocytose 1. Wenn eine Zelle wächst, muss ihre Plasma-
werden feste Teilchen (Teilchen mit einer unveränder- membran expandieren. Ist daran die Endo-
lichen Form) einverleibt, bei der Pinocytose extrazellu- cytose oder die Exocytose beteiligt? Begründen
läre Flüssigkeit mit allen darin enthaltenen Stoffen. Bei Sie.
der rezeptorvermittelten Endocytose werden gezielt
bestimmte Rezeptormoleküle mit den daran gebunde- 2. ZEICHENÜBUNG Betrachten Sie nochmals Ab-
nen Liganden internalisiert. Die über endocytotische bildung 7.9. Kreisen Sie einen Plasmamem-
Vesikel transportierten Teilchen gelangen in der Regel branbereich ein, der von einem exocytotischen
über das Endosom zum Lysosom und werden dort ver- Vesikel abstammt.
daut. Alternativ kann der Rezeptor nach der Trennung
von gebundenen Molekülen im Endosom an die Plas- 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN In Konzept 6.7 ha-
mamembran zurücktransportiert werden. ben Sie von der Synthese einer extrazellulä-
Zellen des Menschen und anderer Tiere bedienen ren Matrix (ECM) durch Tierzellen erfahren.
sich der rezeptorvermittelten Endocytose, um bei- Beschreiben Sie den zellulären Synthesepfad
spielsweise Cholesterol zum Aufbau von Membranen und die Ablagerung eines ECM-Glykoproteins.
oder andere Steroide aufzunehmen. Das Cholesterol
wird im Blut in Partikeln transportiert, die als LDL Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
(low density lipoproteins, Lipoproteine geringer Dichte)

180
7.5 Endocytose und Exocytose vermitteln den Großteil des Transportes durch die Plasmamembran

 Abbildung 7.19: Näher betrachtet


Die Endocytose in Tierzellen

Phagocytose Pinocytose Rezeptorvermittelte Endocytose

EXTRAZELLULÄRE Teil 2
FLÜSSIGKEIT
Gelöste
Teilchen

Pseudopodium Rezeptor
Plasma-
membran

Hüllprotein
(Clathrin)

Nahrungs-
oder sonstiges „coated pit“
Teilchen

Die rezeptorvermittelte Endocytose versetzt die


Zelle in die Lage, größere Mengen spezifischer
Stoffe kontrolliert aufzunehmen, obgleich der
betreffende Stoff in der extrazellulären Flüssigkeit
Clathrin-
vielleicht nur in geringer Konzentration vorliegt. In
vesikel
die Membran sind spezifische, in den extrazellu-
lären Raum gerichtete Rezeptorproteine einge-
Nahrungs- bettet. Diese Rezeptorproteine sind normalerweise
vakuole Bei der Pinocytose „verschluckt“ die Zelle in Membranbereichen angereichert, die infolge
Tröpfchen der extrazellulären Flüssigkeit in Form ihrer Erscheinung auf elektronenmikroskopischen
kleiner Vesikel. Es ist nicht die Flüssigkeit selbst, Bildern als coated pit bezeichnet werden. Sie sind
die die Zelle benötigt, sondern die darin gelösten auf der cytoplasmatischen Seite der Membran mit
CYTOPLASMA
Stoffe. Da alle in der Extrazellularflüssigkeit einer Schicht aus Hüllproteinen, namentlich
Bei der Phagocytose verleibt sich eine Zelle ein gelösten Stoffe dabei von der Zelle aufgenommen Clathrin, besetzt. An die Rezeptoren bindende
Teilchen ein, indem sie es mit Pseudopodien werden, ist die Pinocytose bezüglich der Stoffe werden als deren Liganden bezeichnet.
(Scheinfüßchen) umfließt und es schließlich ganz aufgenommenen Substanzen ein unspezifischer Kommt es zu einer ausreichenden Ligandenbin-
mit seiner Plasmamembran umhüllt. Solche Vorgang. dung, ist dies ein Signal, das die Abschnürung der
phagocytotischen Vesikel bezeichnet man nach coated pits als Clathrinvesikel (coated vesicle)
ihrer Internalisierung als Nahrungsvakuolen. veranlasst. Diese knospen in das Zellinnere ab.
Das phagocytierte Teilchen wird verdaut, wenn Man beachte, dass im Inneren der Vesikel die
diese Nahrungsvakuole mit einem oder mehreren Konzentration gebundener Ligandenmoleküle
Lysosomen zu einem Phagolysosom verschmolzen (lila) relativ erhöht ist, dass aber auch andere
ist. Stoffe darin vorhanden sind (grün). Nach der
Freisetzung des aufgenommenen Materials von
den Rezeptoren (dies geschieht auf der Ebene
der Endosomen) werden die Rezeptoren zur
Pseudopodium Plasmamembran zurückgeführt und wieder in
0,25 μm

einer Amöbe diese integriert.

Bildung pinocytotischer Vesikel Plasma- Hüll-


(TEM-Aufnahmen) membran protein
1 μm

Bakterium
Nahrungsvakuole

Eine Amöbe umfließt ein Bakterium während der


Phagocytose (TEM-Aufnahme).
0,25 μm

Im MyLab | Deutsche Version für Campbell Biologie finden Oben: Ein coated pit
Sie eine 3D-Animation zum Membrantransport. Unten: Ein Clathrinvesikel bildet sich im
Verlauf der rezeptorvermittelten Endocytose
(TEM-Aufnahmen).

181
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

 ZUSAMMENFASSUNG KAPITEL 7 

Konzept 7.1 durchqueren Membranen rasch. Polare Moleküle


Zellmembranen sind ein flüssiges Mosaik aus Lipi- und Ionen benötigen spezielle Transportproteine
den und Proteinen für den Membrantransfer.

 Gemäß dem Flüssig-Mosaik-Modell sind amphipathi- ? Wie beeinflussen Aquaporine die Membrandurchlässigkeit?
sche Proteine in eine Phospholipiddoppelschicht
eingebettet. Proteine mit verwandten Funktionen
Teil 2
sind oft in Ansammlungen assoziiert. Konzept 7.3
 Die Fluidität von Membranen. Phospholipide und Passiver Transport ist die energieunabhängige Diffu-
manche Proteine bewegen sich innerhalb der Mem- sion einer Substanz durch eine Membran
branebene (lateral). Die ungesättigten Alkylreste
mancher Phospholipide halten die Membranen bei  Diffusion ist zum einen die thermisch bedingte
niedrigen Temperaturen flüssig. Cholesterol fungiert spontane Bewegung einer Substanz, zum anderen
als Puffer, der temperaturbedingte Veränderungen wird darunter aber auch die vollständige Durch-
der Fluidität und Phasenübergänge der Membran mischung von Stoffen verstanden, die aufgrund der
abmildert. Evolutionär bedingte Unterschiede in der genannten spontanen Bewegung, jedoch entlang
Zusammensetzung der Membranlipide und entspre- eines Konzentrationsgefälles, stattfindet.
chende Anpassungen in der Lipidsynthese stellen die  Effekte der Osmose auf die Wasserbalance. Wasser
Membranfluidität sicher. diffundiert von der Seite einer permeablen Mem-
 Membranproteine und ihre Funktionen. Integrale bran mit der verdünnteren (hypotonen) Lösung zur
Membranproteine sind in die Phospholipidschich- Seite mit der höher konzentrierten (hypertonen)
ten der Membran eingebettet. Periphere Membran- Lösung (Osmose). Sind die Konzentrationen gleich
proteine sind außen an die Membran gebunden. (isoton), findet kein osmotischer Fluss statt. Das
Membranproteine ermöglichen Transportvorgänge, Überleben der Zelle hängt vom Ausgleich zwischen
enzymatische Katalyse, Signaltransduktion, Zell- Wasseraufnahme und Wasserverlust ab. Zellen
Zell-Erkennung, interzelluläre Verbindungen und ohne Wände (wie bei Tieren und vielen Protisten)
die Verbindung des Cytoskeletts mit der extrazellu- sind isoton mit ihrer Umgebung oder verfügen über
lären Matrix. Mechanismen zur Osmoregulation. Die Zellen von
 Die Rolle von Membrankohlenhydraten bei der Zell- Pflanzen, Pilzen, zahlreichen Protisten und Pro-
Zell-Erkennung. Kurze Ketten aus Zuckerresten sind karyonten besitzen relativ feste Wände, die verhin-
kovalent mit Proteinen oder Lipiden auf der Außen- dern, dass die Zellen in hypotoner Umgebung plat-
seite der Plasmamembran verknüpft (Glykoproteine zen.
und Glykolipide). Dort wechselwirken sie mit Mole-  Erleichterte Diffusion: Passiver Transport mit Unter-
külen auf den Oberflächen anderer Zellen. stützung durch Proteine. Bei der erleichterten Diffu-
 Synthese und topologische Asymmetrie von Mem- sion beschleunigt ein Transportprotein den Durchtritt
branen. Membranproteine und Membranlipide von Wasser oder einem Stoff durch eine Membran.
werden im endoplasmatischen Reticulum (ER) syn- Der Fluss folgt dem Konzentrationsgefälle. Ionenka-
thetisiert und im ER wie im Golgi-Apparat che- näle, die auch geregelt sein können, erleichtern die
misch modifiziert. Die Innen- und die Außenhälften Diffusion von Ionen durch eine Membran. Carrierpro-
(innere und äußere Lipidschicht) zellulärer Membra- teine transportieren gelöste Moleküle vermittels einer
nen unterscheiden sich in ihrer molekularen Zusam- Konformationsänderung über eine Membran.
mensetzung.
passiver Transport:
? Wieso sind Membranen lebensnotwendig? erleichterte Diffusion

Konzept 7.2
Membranen sind aufgrund ihrer Struktur selektiv per-
meabel Kanal- Transport-
protein protein

 Eine Zelle muss Moleküle und Ionen mit ihrer


Umgebung austauschen. Dieser Vorgang findet an
der Plasmamembran statt. Er wird durch die selek-
tive Permeabilität der Plasmamembran reguliert.
 Die Permeabilität der Lipiddoppelschicht. Hydro- ? Was geschieht mit einer Zelle in hypertoner Lösung? Beschreiben Sie
phobe (= lipophile) Stoffe sind lipidlöslich und die Konzentrationen an freiem Wasser innerhalb und außerhalb der Zelle.

182
Übungsaufgaben

Konzept 7.4  Cotransport: Durch ein Membranprotein gekop-


Aktiver Transport ist die energieabhängige Bewegung pelte Transportvorgänge. Die „bergab“ erfolgende
von Stoffen entgegen ihrem Konzentrationsgradienten Diffusion eines gelösten Stoffes treibt den „Bergauf-
transport“ eines anderen an.
 Der Energiebedarf des aktiven aktiver Transport
Transports. Spezifische Mem- ? ATP ist nicht direkt an der Funktion eines Cotransporters beteiligt.
branproteine verbrauchen Ener- Warum wird der Cotransport dennoch als aktiver Transport angesehen?
gie, in der Regel in Form von
ATP, um den aktiven Transport
zu bewerkstelligen. Ein Bei- Konzept 7.5
Teil 2
spiel dafür ist die Natrium/ Endocytose und Exocytose vermitteln den Großteil
Kaliumpumpe. des Transportes durch die Plasmamembran
 Ionenpumpen halten das Mem-
branpotenzial aufrecht. Ionen  Exocytose. Bei der Exocytose wandern Transport-
können sowohl eine Konzen- vesikel zur Plasmamembran, fusionieren mit ihr
trationsdifferenz haben als auch ATP und setzen dabei ihren Inhalt frei.
ein elektrisches Potenzial in  Endocytose. Bei der Endocytose werden Stoffe über
Form einer Spannung erzeugen. Vesikel, die sich von der Plasmamembran abschnü-
Diese Triebkräfte addieren sich ren, internalisiert. Die drei Spielarten der Endo-
zum elektrochemischen Mem- cytose sind die Phagocytose, die Pinocytose und die
branpotenzial beziehungsweise der ionenmotorischen rezeptorvermittelte Endocytose.
Kraft, die die Diffusionsrichtung der betreffenden
Ionensorte bestimmt. Elektrogene Ionenpumpen ? Welcher Endocytosetyp erfordert Liganden? Wozu befähigt dieser
wie die Natrium/Kaliumpumpe und Protonenpum- Transporttyp die Zelle?
pen sind Transportproteine, die elektrochemische
Membranpotenziale erzeugen.

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜB UN GSA U FG AB E N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.

Ebene 1: Wissen und Verständnis c. eine niedrigere Temperatur


d. ein verhältnismäßig hoher Proteingehalt der
1. Auf welche Weise unterscheiden sich eukaryonti- Membran
sche Zellmembranen in ihrem Aufbau?
a. Phospholipide finden sich nur in bestimmten Ebene 2: Anwendung und Auswertung
Membranen.
b. Bestimmte Proteine sind einzigartig für die be- 4. Welcher der folgenden Prozesse schließt alle an-
treffende Membran. deren ein?
c. Nur bestimmte Membranen der Zelle sind selek- a. Osmose
tiv permeabel. b. Diffusion eines gelösten Stoffes durch eine Mem-
d. Nur bestimmte Membranen sind aus amphipa- bran
thischen Molekülen aufgebaut. c. passiver Transport
d. Transport eines Ions entlang seiner ionenmoto-
2. Laut dem Flüssig-Mosaik-Modell sind die Pro- rischen Kraft
teine einer Membran größtenteils
a. in einer regelmäßigen Schicht über die innere 5. Bezugnehmend auf Abbildung 7.18: Unter wel-
und die äußere Oberfläche einer Membran ver- chen experimentellen Bedingungen würde sich die
teilt Aufnahmegeschwindigkeit von Saccharose in eine
b. auf den hydrophoben Innenbereich einer Mem- Pflanzenzelle erhöhen?
bran beschränkt a. eine verminderte extrazelluläre Saccharosekon-
c. in die Lipiddoppelschicht eingebettet zentration
d. zufällig in der Membran ausgerichtet, ohne b. eine Verminderung des extrazellulären pH-Wer-
festgelegte Innen/Außen-Polarität tes
c. eine Verminderung des cytoplasmatischen pH-
3. Welche(r) der folgenden Faktoren würde zu einer Wertes
Erhöhung der Membranfluidität führen? d. Zugabe einer Substanz, die die Membran durch-
a. ein höherer Anteil ungesättigter Phospholipide lässiger für Wasserstoffionen macht
b. ein höherer Anteil gesättigter Phospholipide

183
7 Struktur und Funktion biologischer Membranen

6. ZEICHENÜBUNG Eine künstliche „Zelle“ bestehe 9. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft Eine aus-
aus einer wässrigen Lösung in einer semiperme- giebige Bewässerung führt in Trockengebieten (ari-
ablen Membran und schwimme in einem Becher- den Landschaften) zur Anreicherung von Salz im
glas mit einer anderen Lösung, der „Umgebung“, Boden. (Wenn Wasser verdunstet, bleiben darin
wie unten gezeigt. Die Membran ist für Wasser gelöste Stoffe wie Salze zurück und konzentrieren
und die Monosaccharide Glucose und Fructose sich im Erdreich.) Warum sollte, angesichts des-
durchlässig, jedoch impermeabel für das Disac- sen, was Sie über den Wasserhaushalt von Pflan-
charid Saccharose. zen gelernt haben, eine erhöhte Salinität des Erd-
bodens schädlich für Nutzpflanzen sein?
Teil 2
10. Skizzieren Sie ein Thema: Wechselwirkungen
Eine menschliche Pankreaszelle bezieht Sauerstoff
sowie andere notwendige Moleküle (Glucose,
„Zelle“ „Umgebung“
0,01 M Saccharose
Aminosäuren, Cholesterol) aus ihrer Umgebung
0,03 M Saccharose
0,02 M Glucose 0,01 M Glucose und entlässt Kohlendioxid als Abfallprodukt. Als
0,01 M Fructose Reaktion auf hormonelle Signale sezerniert die
Zelle Verdauungsenzyme. Außerdem reguliert sie
ihre Ionenkonzentrationen durch Austausch mit
der Umgebung. Beschreiben Sie, unter Einbezie-
hung Ihrer Kenntnisse der Struktur und Funktion
a. Zeichnen Sie Pfeile ein, die die Nettowande- zellulärer Membranen, in einem kurzen Aufsatz
rung gelöster Stoffe in die Zelle oder aus der von 100–150 Wörtern, wie solch eine Zelle diese
Zelle angeben. Wechselwirkungen mit ihrer Umgebung reali-
b. Ist die Lösung außerhalb der Zelle im Vergleich siert.
zu dieser isoton, hypoton oder hyperton?
c. Zeichnen Sie ggf. einen gestrichelten Pfeil in
Richtung des osmotischen Flusses. 11. NUTZEN SIE IHR WISSEN Im Supermarkt werden Sa-
d. Wird die künstliche Zelle erschlaffen, ihren lat und andere Gemüse oft mit Wasser besprüht. Er-
Turgor steigern oder unverändert bleiben? klären Sie, warum dies die Produkte frisch ausse-
e. Werden die beiden Lösungen letztlich die glei- hen lässt.
che oder unterschiedliche Konzentrationen an
gelösten Stoffen aufweisen?

Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten

7. Verbindung zur Evolution Pantoffeltierchen (Pa-


ramecium sp.) und andere Protisten, die in hypo-
toner Umgebung leben, besitzen Zellmembranen,
die die Wasseraufnahme begrenzen, während die
in isotoner Umgebung lebenden Arten stärker für
Wasser durchlässige Zellmembranen haben. Wel-
che Anpassungen könnten sich bei den Protisten
evolutionär herausgebildet haben, die in hyper-
tonen Habitaten wie dem Großen Salzsee leben?
Oder in Habitaten mit wechselndem Salzgehalt?

8. Wissenschaftliche Fragestellung Der Mechanis-


mus der Saccharoseaufnahme durch Pflanzenzel-
len soll experimentell untersucht werden. Die
Zellen werden in eine Rohrzuckerlösung über-
führt und der pH-Wert der Lösung gemessen. In
regelmäßigen Zeitabständen werden Zellproben
entnommen und ihr Saccharosegehalt bestimmt.
Nach einer Abnahme des pH-Wertes der Lösung
auf einen gleichbleibend leicht sauren Wert star-
tet die Saccharoseaufnahme. Schlagen Sie eine
Erklärung für diese Befunde vor. Was würde die Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
Zugabe eines Hemmstoffes der zellulären ATP- weitere Übungen und vertiefende Materia-
Regeneration bewirken (nach der pH-Stabilisie- lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
rung)? für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

184
Einführung in den Stoffwechsel

8.1 Der Stoffwechsel von Organismen wandelt Stoffe und 8


Energie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik um . . . . . . . . . 186
8.2 Die Änderung der freien Enthalpie entscheidet über die
Richtung, in der eine Reaktion abläuft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
8.3 ATP ermöglicht Zellarbeit durch die Kopplung von
exergonen an endergone Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

KONZEPTE
8.4 Enzyme beschleunigen metabolische Reaktionen durch
das Absenken von Energiebarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
8.5 Die Regulation der Enzymaktivität hilft bei der Kontrolle
des Stoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

 Abbildung 8.1: Wodurch wird


das Meeresleuchten bewirkt?
8 Einführung in den Stoffwechsel

Die Energie des Lebens Der Stoffwechsel ist eine emergente Eigenschaft leben-
der Systeme, die sich aus den geordneten Wechselwir-
Die lebende Zelle ist eine Fabrik im Kleinen, in der Tau- kungen zwischen den beteiligten Molekülen ergibt.
sende von chemischen Reaktionen gleichzeitig und auf
kleinstem Raum ablaufen. Zucker können in Aminosäu-
ren umgewandelt und diese bei Bedarf weiter zu Pro- 8.1.1 Die biochemischen Prozesse sind in
teinen verknüpft werden. Proteine können in Amino- Stoffwechselpfaden organisiert
säuren zerlegt, diese erneut in Zucker umgewandelt
und schließlich als Nahrung verwertet werden. Nie- Der Stoffwechsel einer Zelle kann in Form eines ausge-
dermolekulare Stoffe werden zu Polymeren verknüpft feilten Plans mit Tausenden von Reaktionen, arrangiert
Teil 2
und später, je nach den Erfordernissen der Zelle, wie- in sich kreuzenden Pfaden, dargestellt werden. Stoff-
der zerlegt. Bei vielzelligen Organismen exportieren wechselpfade können mehr als eine Ausgangsverbin-
zahlreiche Zellen chemische Syntheseprodukte, die dung und mehr als ein Produkt haben. Sie können
von anderen Teilen des Lebewesens genutzt werden. sich verzweigen (divergieren), zusammenlaufen (kon-
Der als Zellatmung bekannte Prozess macht die in Zu- vergieren) oder als Kreisverkehr (zyklisch) verlaufen.
ckern und anderen Betriebsstoffen enthaltene Energie Das Ausgangsprodukt oder die Ausgangsprodukte eines
nutzbar. Diese Energieversorgung erlaubt verschie- Stoffwechselpfades werden in einer Serie definierter
dene Arbeitsleistungen, wie zum Beispiel den Trans- Schritte in ein bestimmtes oder in mehrere Endprodukte
port gelöster Stoffe durch die Plasmamembran, den umgewandelt. Jeder Schritt des Pfades wird durch ein
wir im siebten Kapitel beschrieben haben. Ein etwas spezifisches Enzym katalysiert:
ausgefalleneres Beispiel sind die Brandungswellen in
Abbildung 8.1, die von innen heraus hell leuchten. Enzym 1 Enzym 2 Enzym 3
Diese sogenannte Biolumineszenz wird durch frei A B C D
Reaktion 1 Reaktion 2 Reaktion 3
schwimmende, einzellige Meeresorganismen, die Dino- Ausgangs- End-
flagellaten erzeugt. Dazu wandeln sie die Energie be- molekül produkt
stimmter organischer Moleküle in Lichtenergie um.
Die meisten biolumineszenten Organismen finden Analog zu den Ampeln im Straßenverkehr regeln Kon-
sich in den Ozeanen, aber einige gibt es auch auf dem trollmechanismen die Enzymaktivität, gleichen da-
Festland, wie zum Beispiel den biolumineszenten Pilz, durch Angebot und Nachfrage aus und verhüten so
der in der kleinen Abbildung (unten) zu sehen ist. Bio- den Mangel oder Überschuss an wichtigen zellulären
lumineszenz und andere Stoffwechselaktivitäten einer Molekülen.
Zelle werden – außer bei manchen Krankheiten – ge- Der Stoffwechsel insgesamt verwaltet die Stoff- und
nau koordiniert und überwacht. In ihrer Komplexität, Energiereserven der Zelle. Einige Stoffwechselpfade set-
Effizienz und ihrer Fähigkeit, auf kleinste Änderungen zen Energie durch den Abbau komplexer Moleküle zu
zu reagieren, ist die Zelle als chemische Fabrik einzigar- einfacheren Verbindungen frei. Diese Abbauprozesse
tig. Die Grundzüge des werden als katabole Stoffwechselwege, in
Stoffwechsels, die Sie ihrer Gesamtheit auch als Katabolismus
in diesem Kapitel ken- bezeichnet. Ein zentraler Stoffwechselweg
nen lernen, werden Ih- des Katabolismus ist die Zellatmung, in
nen dabei helfen, zu deren Verlauf der Zucker Glucose sowie
verstehen, wie der andere organische Brennstoffe letztlich
Stoff- und Energie- durch Sauerstoff zu Kohlendioxid und Was-
fluss in lebenden Sys- ser oxidiert werden. Energie, die in den
temen abläuft und wie organischen Verbindungen gespeichert war,
er reguliert wird. wird so für die Zelle verfügbar gemacht –
zum Beispiel für den Cilienschlag oder
den Stofftransport durch Membranen. Im
Der Gegensatz dazu verbrauchen anabole Stoff-
wechselwege Energie für den Aufbau komplexerer Ver-
Stoffwechsel von Organismen bindungen aus einfachen Vorstufen, man spricht auch
wandelt Stoffe und Energie von biosynthetischen Stoffwechselwegen. Beispiele
für anabole Prozesse sind die Aminosäuresynthese
gemäß den Gesetzen der aus einfachen Vorstufen und die Proteinbiosynthese
Thermodynamik um
8.1 aus Aminosäuren. Katabole und anabole Stoffwech-
selwege sind die „bergab“ beziehungsweise „bergauf“
verlaufenden Wege unserer Stoffwechselkarte. Die
Der Stoffwechsel oder Metabolismus (griech. meta- durch katabole Prozesse freigesetzte Energie wird in
bole, Veränderung) ist die Gesamtheit der in einem dafür besonders geeigneten organischen Molekülen
Organismus ablaufenden (bio)chemischen Prozesse, gespeichert und später dazu verwendet, den energie-
die seinem Auf- und Umbau und dem Erhalt seiner verbrauchenden Anabolismus zu ermöglichen.
Substanz, Funktion und Energieversorgung dienen.

186
8.1 Der Stoffwechsel von Organismen wandelt Stoffe und Energie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik um

In diesem Kapitel werden wir uns auf die Mechanismen dadurch die Kolben in Bewegung. Deutlich weniger
konzentrieren, die vielen Stoffwechselwegen gemein- explosiv verläuft die ansonsten ganz ähnliche Oxida-
sam sind. Da die Energieversorgung grundlegend für tion der Nahrungsmoleküle, denen schrittweise Elek-
den gesamten Stoffwechsel ist, benötigen wir Grund- tronen entzogen werden, um sie letztlich auf Sauer-
kenntnisse der Energetik zum Verständnis der Funk- stoff zu übertragen. Dabei entstehen in biologischen
tionsweise einer lebenden Zelle. Obwohl wir dafür Systemen chemische Energie sowie Kohlendioxid und
Beispiele aus der unbelebten Welt heranziehen, sind Wasser als Abfallprodukte. Ihre Struktur und ihr Stoff-
die dabei verdeutlichten Konzepte direkt auf die Bio- wechsel befähigen die Zelle, chemische Energie aus
energetik, das Studium der Energieumsätze in leben- der Nahrung zu gewinnen und erhalten sie so am
den Organismen, übertragbar. Leben.
Teil 2
Wie wird Energie von einer Form in eine andere
überführt? Betrachten wir dazu die sportlichen Zeit-
8.1.2 Energieformen genossen in Abbildung 8.2. Eine junge Frau erklimmt
die Stufen einer Tauchplattform und verbraucht dafür
Unter Energie versteht man die Fähigkeit, Arbeit zu ver- einen Teil der Energie aus ihrer Nahrung, um die Treppe
richten und so Veränderungen an einem System zu hochzuklettern. Die kinetische Energie der Muskel-
bewirken. Im täglichen Leben ist Energie unabdingbar, bewegung wird dabei infolge des Höhenunterschieds in
beispielsweise um Materie gegen widerstrebende Kräfte potenzielle Energie überführt. Der gerade ins Wasser
wie die Schwerkraft oder die Reibung zu bewegen. Man springende Mann wandelt seine potenzielle Energie
könnte auch sagen, dass Energie die Fähigkeit zum Um- wieder in kinetische Energie um, die beim Eintauchen
sortieren von Materie ist. Das Umblättern der Seiten die- ins Wasser übergeht, wobei sich immer etwas Energie
ses Buches erfordert Energie. Die Zellen Ihres Körpers in Reibungswärme verliert.
verbrauchen Energie für den Stofftransport durch Mem- Gehen wir einen Schritt zurück und betrachten den
branen. Energie tritt in verschiedenen Erscheinungsfor- Ursprung der organischen Nahrungsmoleküle, aus
men auf und das Leben hängt von der Fähigkeit der Zel- denen die für das Erklettern der Plattform notwendige
len ab, diese ineinander überführen zu können. chemische Energie stammte. Diese chemische Energie
Energie kann mit der Bewegung von Objekten ver- wurde ursprünglich durch Pflanzen mittels Photosyn-
bunden sein, dann heißt sie kinetische Energie. Sich these aus der Lichtenergie der Sonne gewonnen: Lebe-
bewegende Körper können Arbeit verrichten, indem wesen sind Energiewandler.
sie andere Objekte in Bewegung versetzen: Ein Billard-
spieler stößt mit der Bewegung seines Billardstocks Ein Taucher hat auf dem Der Sprung wandelt poten-
eine Kugel an, die ihrerseits weitere Kugeln in Bewe- Sprungbrett eine höhere zielle Energie (Lageenergie)
potenzielle Energie als im in kinetische Energie (Bewe-
gung versetzen kann. Wasser, das durch einen Stau- Wasser. gungsenergie) um.
damm schießt, treibt Turbinen an. Die Kontraktion
von Beinmuskeln bewegt die Pedale eines Fahrrads.
Thermische Energie ist die kinetische Energie der
Zufallsbewegung von Atomen und Molekülen. Ther-
mische Energie, die von einem Objekt auf ein anderes
übertragen wird, heißt Wärme. Licht ist ebenfalls eine
Energieform, die beispielsweise zum Antrieb der Pho-
tosynthese grüner Pflanzen genutzt werden kann.
Selbst ein ruhender Körper enthält Energie, die man
als potenzielle Energie bezeichnet und die sich aus
seiner Position im Raum oder seiner Struktur ergibt.
Beispielsweise besitzt das Wasser hinter einem Stau-
damm Energie schon aufgrund seiner erhöhten Lage.
Moleküle besitzen Energie aufgrund der Anordnung
ihrer Atome. Chemische Energie ist ein in der Biologie
benutzter Begriff für die potenzielle Energie, die durch
chemische Reaktionen verfügbar wird. Erinnern wir
uns daran, dass katabole Stoffwechselwege durch den
Abbau komplexer Verbindungen Energie freisetzen. Im
biologischen Zusammenhang werden komplexe Mole-
küle wie Glucose als reich an chemischer Energie
bezeichnet. Im Verlauf einer katabolen Reaktion ent-
stehen energieärmere Abbauprodukte durch die Neu-
Das Hochklettern wandelt Ein Taucher hat im Wasser
ordnung von Atomen unter Bindungsbruch und Bin- die kinetische Energie der eine geringere potenzielle
dungsaufbau und unter Freisetzung von Energie. Eine Muskelbewegung zum Teil Energie als auf dem Sprung-
vergleichbare Umwandlung vollzieht sich im Motor in potenzielle Energie um. brett.
eines Autos: Die Kohlenwasserstoffe des Treibstoffs Abbildung 8.2: Umwandlungen zwischen potenzieller und kine-
reagieren explosionsartig mit Sauerstoff und versetzen tischer Energie.

187
8 Einführung in den Stoffwechsel

8.1.3 Die Gesetze der gie kann zwar übertragen und umgewandelt, nicht aber
Energietransformation erzeugt oder vernichtet werden. Stromkonzerne erzeu-
gen keine Energie, sondern wandeln sie lediglich in
Die Beschreibung der Energieumwandlungsprozesse in eine bequem nutzbare Form um. Durch die Umwand-
Stoffen ist Gegenstand der klassischen Thermo- lung von Sonnenlicht in chemische Energie fungiert
dynamik. Naturwissenschaftler verwenden in diesem auch eine Pflanze als Energiewandler, nicht als Energie-
Zusammenhang den Begriff System und bezeichnen produzent.
damit die Materie, die im betreffenden Zusammenhang Der Braunbär in Abbildung 8.3a wird die chemi-
betrachtet wird, also einen klar umrissenen Teil des sche Energie der organischen Moleküle des Beutetieres
gesamten Universums. Biologische Beispiele für Sys- durch die in seinem Körper ablaufenden biologischen
Teil 2
teme wären ein paar Moleküle, ein Organell, ein Bakte- Prozesse in kinetische und andere Formen von Energie
rium, eine Petrischale mit einer Bakterienkultur oder umwandeln. Was geschieht mit dieser Energie, nach-
das Labor mit der Petrischale. Alles, was außerhalb des dem sie für Arbeiten verbraucht wurde? Die Antwort
betrachteten Systems liegt, ist dessen Umgebung. Man darauf liefert der 2. Hauptsatz der Thermodynamik.
unterscheidet verschiedene Typen von Systemen. Ein
isoliertes System, näherungsweise zum Beispiel die Der 2. Hauptsatz der Thermodynamik
Flüssigkeit in einer Thermosflasche, kann mit der Wenn Energie nicht vernichtet werden kann, sollten
Umgebung weder Materie noch Energie austauschen. Organismen ihre Energie einfach wiederverwenden
Ein geschlossenes System kann zwar Energie, aber („recyceln“) können. Leider zeigt sich, dass im Verlauf
keine Materie mit seiner Umgebung austauschen. In jeder Energieübertragung und jeder Energieumwand-
einem offenen System können sowohl Materie als auch lung ein Teil der Energie aus dem System „verloren
Energie mit der Umgebung ausgetauscht werden. Orga- geht“ und daher für Arbeitsprozesse nicht mehr verfüg-
nismen sind folglich offene Systeme. Sie absorbieren bar ist. Bei den meisten Energietransformationen wird
Energie, wie beispielsweise die Lichtenergie der Sonne zumindest ein Teil der nutzbaren Energie in Wärme
oder die chemische Energie organischer Verbindungen, umgewandelt, also in die Zufallsbewegung von Ato-
und setzen Wärme und Stoffwechselendprodukte wie men und Molekülen. Nur ein kleiner Teil der in der
Kohlendioxid in die Umgebung frei. Die Energietrans- Nahrung (Abbildung 8.3a) enthaltenen chemischen
formationen in Organismen und allen anderen Stoff- Energie wird daher tatsächlich in die Bewegung des
ansammlungen unterliegen thermodynamischen Geset- Bären (Abbildung 8.3b) umgewandelt. Der größte Teil
zen, die auch als Hauptsätze der Thermodynamik geht als Wärme verloren, die sich rasch in der Umge-
bekannt sind. Hauptsätze sind außerordentlich nützli- bung verteilt (Dissipation).
che, prinzipiell widerlegbare Aussagen, die allerdings Energieverluste in Form von Wärme sind bei den
nur beschreibend und deshalb nicht beweisbar sind. chemischen Reaktionen in einer Zelle unvermeidlich.
Sie werden durch unsere Erfahrung und eine Vielzahl In einem System ist Wärmeenergie aber nur dann nutz-
von Experimenten gestützt. bar, wenn eine Temperaturdifferenz den gerichteten
Wärmefluss von einem wärmeren zu einem kälteren
Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik Ort bewirkt. Ist die Temperatur ausgeglichen wie in einer
Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik, der sogenannte Zelle, liegt die einzige Verwendung für chemisch er-
Energieerhaltungssatz, besagt, dass die Gesamtenergie zeugte Wärmeenergie im Warmhalten des Organismus.
des Universums konstant ist. Mit anderen Worten: Ener- In einem geschlossenen Raum voller Menschen kann es

Wärme
CO2
+
H2O

chemische
Energie

(a) Der erste Hauptsatz der Thermodynamik: (b) Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: Jede nichtreversible Energieübertra-
Energie kann übertragen oder von einer Form in eine gung oder Energieumwandlung („Energietransformation“) vermehrt die Unordnung
andere umgewandelt, aber weder erschaffen noch (Entropie) im Universum. In unserem Beispiel wird der Ordnungsgrad in der Umgebung
vernichtet werden. So wird beispielsweise durch die des Bären durch Wärmeaufnahme oder Nebenprodukte seines Stoffwechsels (in Form
chemischen Reaktionen in dem Braunbär ein Teil der kleiner Moleküle) abnehmen. (Eine kleine Information am Rande: Ein Braunbär erreicht
chemischen (potenziellen) Energie des Fisches in die eine Geschwindigkeit von bis zu 56 km/h und ist damit genauso schnell wie ein Renn-
kinetische Energie der Bewegungen des Braunbären pferd.)
umgewandelt.

Abbildung 8.3: Die zwei Hauptsätze der Thermodynamik.

188
8.1 Der Stoffwechsel von Organismen wandelt Stoffe und Energie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik um

ungemütlich warm werden, da in jeder Person dauernd tige Prozesse erfordern die Zufuhr von Energie, damit
chemische Reaktionen ablaufen, die alle auch Wärme sie ablaufen können. Unsere Erfahrung lehrt, dass
erzeugen. Allerdings darf man dabei nicht vergessen, manche Ereignisse spontan geschehen und andere
dass wegen der Temperaturabhängigkeit chemischer nicht. Zum Beispiel fließt Wasser spontan bergab, aber
Reaktionen aus biologischer Sicht auch eine bestimmte bergauf nur dann, wenn es gegen die Schwerkraft
Minimaltemperatur aufrecht erhalten werden muss, da gepumpt wird, also unter Energiezufuhr. Tatsächlich
sonst bestimmte chemische Prozesse verlangsamt wür- kann man den 2. Hauptsatz auch folgendermaßen aus-
den oder sogar ganz zum Erliegen kämen, was für drücken: Damit ein Prozess spontan abläuft, muss er
lebende Organismen ein ernstes Problem sein kann. die Entropie des Universums vergrößern.
Eine logische Folge des Verlustes an nutzbarer Ener-
Teil 2
gie bei der Ernergieübertragung und -umwandlung Biologische Ordnung und Unordnung
besteht darin, dass die Unordnung der Umgebung und Lebende Systeme verursachen eine Zunahme der Entro-
somit des gesamten Universums zunimmt. Als Maß für pie in ihrer Umgebung, genau wie es die Hauptsätze
die Unordnung oder Zufälligkeit verwendet man die der Thermodynamik voraussagen. Andererseits ist es
Entropie: Je zufälliger eine Materieverteilung, desto unstrittig, dass Zellen geordnete Strukturen aus weniger
größer ihre Entropie. Wir können jetzt den 2. Haupt- geordneten Ausgangsmaterialien erzeugen. So werden
satz der Thermodynamik wie folgt formulieren: Jede etwa einfache Moleküle zu den komplexeren Amino-
irreversible Energieübertragung oder Energieumwand- säuren zusammengesetzt und diese wiederum zu
lung erhöht die Entropie des Universums. Obwohl die Polypeptidketten mit jeweils geordneter, definierter
Ordnung lokal zunehmen kann, gibt es einen unauf- Reihenfolge der einzelnen Aminosäurereste. Auch
haltsamen Trend des Universums als Gesamtes zur innerhalb eines Organismus entstehen so komplexe
zufälligen (gleichmäßigen) Verteilung der Materie. und wunderbar geordnete Strukturen aus biologischen
In vielen Fällen ist diese Entropiezunahme durch Prozessen, die von einfacheren Strukturen ausgehen
den physischen Zerfall der Struktur eines Systems (Abbildung 8.4). Allerdings kann ein Organismus
augenfällig. So lässt sich die Vergrößerung der Entropie auch hoch organisierte Formen von Materie aus der
am Beispiel eines sich selbst überlassenen und daher Umgebung aufnehmen und sie durch weniger geord-
langsam verfallenden Gebäudes ablesen. Die Zunahme nete Strukturen ersetzen. Beispielsweise nimmt ein
der Entropie des Universums insgesamt fällt jedoch Tier Stärke, Proteine und andere komplexe Moleküle
wenig auf, weil sie sich in einer Wärmezunahme auf mit der Nahrung auf. Durch den Katabolismus werden
Kosten des Anteils an geordneter Materie niederschlägt. diese Stoffe abgebaut und das Tier setzt schließlich
Der Bär in Abbildung 8.3b wandelt zwar chemische in Kohlendioxid und Wasser frei – kleine Moleküle, die
kinetische Energie um, erhöht dabei jedoch auch den weniger chemische Energie enthalten als die Nahrung
Grad der Unordnung in seiner Umgebung durch die (Abbildung 8.3b). Ein Teil der chemischen Energie
Erzeugung von Wärme und kleinen Molekülen wie geht im Verlauf des Stoffwechsels unweigerlich als
dem ausgeatmeten Kohlendioxid, einem Abbauprodukt Wärme verloren und bewirkt damit eine Entropiezu-
seiner Nahrung. nahme der Umgebung. Im großen Maßstab geht Ener-
Das Konzept der Entropie hilft uns zu verstehen, gie in Form von Licht in ein Ökosystem ein und ver-
wie bestimmte Abläufe überhaupt zustande kommen. lässt es in Form von Wärme (siehe Abbildung 1.10).
Damit ein Prozess von selbst in einem System ablau-
fen kann, also ohne Hilfe von außen in Form von
Energiezufuhr, muss dieses System in einen energie-
ärmeren Zustand übergehen. Die Energiedifferenz zwi-
schen Ausgangs- und Endzustand wird in die Umgebung
des Systems abgegeben, deren Entropie sich folglich
erhöht und damit die Entropie des Universums insge-
samt vergrößert.
Verwenden wir den Begriff spontan für einen Pro-
zess, der ohne Energiezufuhr abläuft. Es ist überaus
wichtig, sich klarzumachen, dass „spontan“ keinesfalls
und automatisch auch „schnell“ oder „sofort“ bedeutet
(wir werden darauf im Zusammenhang mit der „gene-
rellen Energiewährung von Zellen“, dem Molekül ATP,
in Abschnitt 8.3 noch zurückkommen). Insofern ist es
sogar günstiger, anstelle von „spontan“ lieber „ener-
getisch begünstigt“ zu verwenden. Einige spontane Pro-
zesse können zwar in der Tat sehr schnell sein, wie
zum Beispiel eine Explosion. Andere verlaufen dage- Abbildung 8.4: Ordnung als Merkmal des Lebens. Ordnung offen-
gen viel langsamer, wie das Rosten eines alten Autos bart sich im detaillierten Aufbau dieses Seeigelskeletts und dieser Saft-
im Laufe der Zeit. Ein Prozess, der nicht von allein pflanze (Sukkulente). Als offene Systeme können Lebewesen ihren Ord-
ablaufen kann, ist energetisch nicht begünstigt. Derar- nungsgrad auf Kosten der Ordnung der Umgebung erhöhen.

189
8 Einführung in den Stoffwechsel

In der Frühgeschichte des Lebens haben sich kom- (1839–1903) eine sehr nützliche Funktion definiert,
plexe Organismen aus einfacheren Vorfahren entwi- die freie Enthalpie eines Systems (ohne seine Umge-
ckelt. So können wir etwa die Entwicklungsgeschichte bung!), symbolisiert durch den Buchstaben G. Man
des Pflanzenreichs von einfach gebauten Organismen, findet dafür auch den Begriff „Gibbs’sche (frei verfüg-
den Grünalgen, bis zu den kompliziert gebauten Blüten- bare) Energie“. Sie ist der Teil der Gesamtenergie ei-
pflanzen nachverfolgen. Diese allmähliche Zunahme nes Systems, der bei gleichbleibender Temperatur und
des Organisationsgrads verletzt jedoch überhaupt nicht bei gleichbleibendem Druck, also unter den normalen
den 2. Hauptsatz der Thermodynamik. Die Entropie Lebensbedingungen einer Zelle, Arbeit leisten kann.
eines Lebewesens, also eines definierten Systems, kann Betrachten wir, wie man die Änderung der freien Enthal-
sehr wohl abnehmen, solange die Gesamtentropie des pie bestimmen kann, die beispielsweise durch eine
Teil 2
Universums, also des Systems mitsamt seiner Umge- chemische Reaktion in einem System auftritt.
bung, zunimmt. Organismen sind Inseln der Ordnung Für die Änderung der freien Enthalpie (ΔG) durch
in zunehmend ungeordneter Umgebung. Die Evolu- eine chemische Reaktion gilt die folgende Gleichung:
tion biologischer Ordnung steht daher mit den Geset-
zen der Thermodynamik vollständig im Einklang. ΔGgesamt = ΔHSystem – TΔSSystem

Diese Gleichung verwendet nur sogenannte System-


 Wiederholungsfragen 8.1 eigenschaften, das heißt, die rechte Seite enthält keine
Bezüge zur Umgebung des betrachteten Systems: ΔH
1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Wie lässt sich die
steht für die Änderung der System-Enthalpie und ΔS
Diffusion eines Stoffes durch eine Membran für die Änderung der System-Entropie. T ist die abso-
mithilfe des 2. Hauptsatzes der Thermodyna- lute Temperatur, gemessen in Kelvin (K). Ein Kelvin
mik erklären (siehe Abbildung 7.10)? unterscheidet sich von einem Grad Celsius nur durch
2. Beschreiben Sie die Energieformen eines Ap- einen festen Wert: 0 K = –273 °C, 298 K = 25 °C. Die
fels, der zunächst an einem Baum wächst, dann (System-)Enthalpie H darf keinesfalls mit der freien
herunterfällt und schließlich von jemandem Enthalpie G verwechselt werden. Für allgemeine bio-
gegessen und verdaut wird. logische Belange entspricht die Enthalpie H der
Gesamtenergie des Systems. Bezogen auf biochemi-
3. WAS WÄRE, WENN? Wenn Sie einen Teelöffel sche Reaktionen bei konstanter Temperatur und unter
Zucker in ein Glas mit Wasser geben, löst sich konstantem Druck repräsentiert sie in guter Näherung
der Zucker mit der Zeit vollständig auf. Lässt die Energie, die für den Bruch einer chemischen Bin-
man das Glas stehen, wird das Wasser allmäh- dung aufgewendet werden muss, beziehungsweise die
lich verdunsten und es werden sich erneut bei der Bindungsbildung frei wird. Die absolute Tem-
Zuckerkristalle bilden. Erklären Sie diese Be- peratur kommt als Normierung ins Spiel, weil sich –
obachtungen mithilfe des Entropiebegriffs. stark vereinfacht gesagt – Wärmeänderungen in kalter
Umgebung stärker auswirken als in wärmerer.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Wenn wir den ΔG-Wert eines Prozesses kennen, kön-
nen wir vorhersagen, ob dieser Prozess von sich aus,
freiwillig und ohne Energiezufuhr von außen, abläuft
oder nicht. Nur Prozesse mit negativem ΔG laufen von
Die Änderung der freien Enthalpie sich aus „spontan“ ab. Dafür muss das System daher
entweder Enthalpie abgeben (H muss abnehmen), an
entscheidet über die Richtung, innerer Ordnung verlieren (T × S muss zunehmen),
in der eine Reaktion abläuft
8.2 oder beides zugleich. Es kommt nur darauf an, dass der
Term ΔH – TΔS insgesamt negativ ist und somit ΔG < 0.
Jeder spontan verlaufende Prozess senkt die freie
Die Hauptsätze der Thermodynamik, die wir gerade Enthalpie des Systems, in dem er abläuft. Prozesse mit
beschrieben haben, gelten für das Universum insgesamt. positivem ΔG sind nie spontan. Bei ΔG = 0 befindet
Als Biologen wollen wir die chemischen Reaktionen in sich der Prozess im Gleichgewicht, bezogen auf che-
lebenden Organismen verstehen, also zum Beispiel, wel- mische Reaktionen heißt das, dass Hin- und Rückreak-
che Reaktionen von sich aus ablaufen und welche nur tion gleich schnell verlaufen. Dieser Sachverhalt wird
unter Energiezufuhr von außen. Aber wie können wir im nächsten Abschnitt noch genauer betrachtet.
das in Erfahrung bringen, ohne gleich die Energie- und Diese Konzepte sind für Biologen von enormer
Entropieänderungen des gesamten Universums für jede Bedeutung, weil sie eine Vorhersage darüber erlauben,
einzelne Reaktion abschätzen zu müssen? welche Arten von Änderungen in einem System ohne
Hilfe von außen, also spontan, möglich sind. Nur
diese können nämlich für die Verrichtung von Arbeit
8.2.1 Die Änderung der freien Enthalpie (ΔG) genutzt werden. Dieser Zusammenhang ist wichtig für
die Betrachtung des Stoffwechsels, weil unser Haupt-
Rufen wir uns in Erinnerung, dass „das Universum“ interesse den chemischen Reaktionen gilt, die Energie
gleichbedeutend ist mit „ein System plus seine Umge- für zelluläre Arbeit liefern können.
bung“. 1878 hat der US-Amerikaner J. Willard Gibbs

190
8.2 Die Änderung der freien Enthalpie entscheidet über die Richtung, in der eine Reaktion abläuft

8.2.2 Freie Enthalpie, Stabilität und ger stabilen Lage, also mit einer höheren Wahrschein-
chemisches Gleichgewicht lichkeit herunterzufallen, als unten im Wasser. Ein
Tropfen konzentrierten Farbstoffs umgeben von einer
Im vorherigen Abschnitt haben wir festgestellt, dass Flüssigkeit ohne Farbstoff ist weniger stabil als der
das ΔG für spontane Prozesse einen negativen Wert gleichmäßig verteilte Farbstoff und genau deswegen ist
hat. Betrachten wir ΔG einmal als die Differenz zwi- die Wahrscheinlichkeit für seine Verteilung in der Flüs-
schen der freien Enthalpie des Endzustandes und der sigkeit auch sehr hoch. Ein Zuckermolekül hat eine
freien Enthalpie des Ausgangszustandes: Tendenz, in kleinere Bruchstücke zu zerfallen, weil
diese stabiler sind (Abbildung 8.5). Falls es nicht
ΔG = GEndzustand – GAusgangszustand daran gehindert wird, bewegt sich jedes dieser Systeme
Teil 2
in Richtung größerer Stabilität: Der Schwimmer fällt ins
ΔG kann nur dann negative Werte annehmen, wenn der Wasser, die Lösung färbt sich gleichmäßig und das
ablaufende Prozess mit einem Verlust an freier Enthal- Zuckermolekül wird in kleinere Moleküle gespalten.
pie beim Übergang vom Ausgangs- in den Endzustand Ein Zustand maximaler Stabilität wird auch durch
einhergeht. Da das System jetzt eine geringere freie Ent- den Begriff „Gleichgewicht“ beschrieben. Wir sind
halpie hat, ist die Wahrscheinlichkeit für eine weitere ihm schon in Kapitel 2 im Zusammenhang mit chemi-
Zustandsänderung ebenfalls geringer geworden, mit schen Reaktionen begegnet. Zwischen dem chemi-
anderen Worten, das System ist stabiler als vorher. schen Gleichgewicht und der freien Enthalpie besteht
Man kann die freie Enthalpie daher auch als Maß für ein wichtiger Zusammenhang. Zahlenmäßig unter-
die Instabilität des Systems nehmen, oder seine Nei- scheiden sich die Änderung der freien Standardent-
gung, in einen stabileren Zustand zu wechseln. Anders halpie1 und die in Kapitel 2 eingeführte Gleichgewichts-
gesagt, instabile Systeme mit großer freier Enthalpie konstante nur durch einen Proportionalitätsfaktor und
tendieren zum Übergang in einen stabileren Zustand das Vorzeichen:
mit niedrigerer freier Enthalpie. Unser Schwimmer
befindet sich oben auf dem Sprungbrett in einer weni- ΔG0′ = –RT ln KGG

• mehr freie Enthalpie


(G größer)
• weniger stabil
• größeres Vermögen
zur Verrichtung von Arbeit

Bei einer spontan ablau-


fenden Änderung
• nimmt die freie Enthalpie
des Systems ab (ΔG < 0)
• nimmt die Stabilität des
Systems zu
• kann die frei werdende
freie Enthalpie zur
Verrichtung von Arbeit
genutzt werden

• weniger freie Enthalpie


(G kleiner)
• stabiler
• geringeres Vermögen (a) Bewegung infolge der (b) Diffusion. Farbstoff- (c) Chemische Reaktion.
zur Verrichtung von Wirkung der Schwerkraft. moleküle in einem In einer Zelle wird
Arbeit Objekte bewegen sich Tropfen diffundieren, ein Zuckermolekül in
spontan aus größerer bis sie gleichmäßig einfachere (energie-
Höhe zu einem niedriger verteilt sind. ärmere) Stoffe zerlegt.
gelegenen Punkt.

Abbildung 8.5: Die Beziehung zwischen freier Enthalpie und Stabilität, Arbeitsvermögen und spontanen Änderungen. Instabile Sys-
teme (jeweils oberer Teil der Skizzen) sind reich an freier Enthalpie (G). Sie besitzen eine Tendenz, von sich aus in einen stabileren Zustand überzugehen
(untere Teile der Skizzen). Diese „bergab“ gerichtete Veränderung kann genutzt werden, um Arbeit zu verrichten.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Vergleichen Sie die Umverteilung der Moleküle in Abbildung 8.5 (b) mit dem Protonentransport durch eine Mem-
bran mittels Protonenpumpe, der einen Konzentrationsunterschied erzeugt (siehe Abbildung 7.17 ). Welcher Prozess oder welche Prozesse ergeben die
höhere freie Enthalpie? Welche(s) System(e) kann/können Arbeit leisten?

191
8 Einführung in den Stoffwechsel

Dabei ist R eine Konstante mit dem Wert 8,315 × 10–3 kJ/ Exergone und endergone Reaktionen des
(mol · K) und T die absolute Temperatur in Kelvin. Stoffwechsels
Mithilfe dieser Gleichung kann man aus einem Bezogen auf die Änderung ihrer freien Enthalpie lassen
bekannten Wert für ΔG0′ sofort das Verhältnis der Kon- sich chemische Reaktionen in endergone, das heißt
zentrationen der Produkte zu den Edukten errechnen. Energie erfordernde, und in exergone, Energie abge-
Ebenso ist es möglich, bei Kenntnis der freien Stan- bende, unterteilen (Abbildung 8.6a). Da das Reaktions-
dardenthalpieänderung die tatsächliche Änderung der gemisch bei exergonen Reaktionen freie Enthalpie ver-
freien Enthalpie für gegebene Konzentrationen der liert (G nimmt ab), ist ΔG negativ (ΔG < 0). Mit ΔG als
Reaktionspartner zu berechnen: Maß für Prozessverläufe folgt, dass exergone Reaktio-


mA + nB  nen immer auch spontan, von sich aus, ablaufen kön-
Teil 2  xM + yN
nen. Allerdings bedeutet dies nicht automatisch, dass
ΔG = ΔG0′ + RT ln ([M]x[N]y)/([A]m[B]n) sie das auch tun: Eine spontan mögliche, exergone
Reaktion muss weder augenblicklich, also „sofort“
Vergegenwärtigen wir uns erneut, dass alle chemischen ablaufen, noch muss sie schnell sein! Der ΔG-Wert
Reaktionen reversibel sind und an einen Punkt gelan- einer exergonen Reaktion gibt in etwa die maximal
gen, an dem die Geschwindigkeiten der Hinreaktion nutzbare Arbeit2 an, die das System leisten kann. Je
und der Rückreaktion gleich groß sind. Der Prozess größer die Abnahme an freier Enthalpie ist, desto mehr
befindet sich dann im chemischen Gleichgewicht und Arbeit kann geleistet werden. Über die Geschwindigkeit,
es findet keine weitere Änderung der relativen Kon- mit der ein Prozess seinem Gleichgewicht entgegen
zentrationen von Edukten und Produkten mehr statt. strebt, gibt die Änderung der freien Enthalpie ΔG
Es ist möglich, aber keineswegs immer so, dass das jedoch keine Auskunft.
Verhältnis der Konzentrationen von Produkten zu
Edukten dann so groß ist, dass für alle praktischen Edukte
Belange von einer vollständigen Reaktion in einer
Menge
Richtung ausgegangen werden kann, also ein vollstän- der freige-
diger („quantitativer“) Umsatz erfolgt ist. setzten
Während eine Reaktion sich dem Gleichgewicht Energie
freie Enthalpie

(Änderung
nähert, nimmt die freie Enthalpie des Gemisches aus negativ)
Energie
Edukten und Produkten kontinuierlich ab. Diese
Produkte
Abnahme erfolgt nicht, wenn die Reaktion am Errei-
chen des Gleichgewichtszustandes gehindert wird. Das
kann durch das dauernde Entfernen eines Reaktions-
produktes aus dem Gemisch geschehen, zum Beispiel Fortschreiten der Reaktion
durch eine Folgereaktion, das heißt eine Veränderung
(a) Eine exergone Reaktion: Freie Enthalpie wird frei
der relativen Konzentrationen der Reaktionspartner. Im (ΔG < 0).
thermodynamischen Gleichgewicht hat der Betrag der
freien Enthalpie (G) – bezogen auf das dann vorlie- Produkte
gende System – seinen kleinsten Wert und die Ände-
rung der freien Enthalpie ist null (ΔG = 0). Man könnte
Menge er-
auch sagen, dass das Gleichgewicht eine energetische forderlicher
freie Enthalpie

Talsenke ist. Jedes Verlassen der Gleichgewichtslage Energie


hätte ein positives ΔG zur Folge und kann daher nicht (Änderung
Energie positiv)
spontan erfolgen. Ein System wird sich also niemals
Edukte
spontan vom Gleichgewichtszustand weg bewegen und
kann in diesem Zustand auch keine Arbeit verrichten.
Ein Prozess erfolgt nur dann spontan und kann nur
dann Arbeit verrichten, wenn er in Richtung Gleichge- Fortschreiten der Reaktion
wicht verläuft.
(b) Eine endergone Reaktion: Freie Enthalpie wird ver-
braucht (ΔG > 0).

8.2.3 Freie Enthalpie und Stoffwechsel Abbildung 8.6: Änderungen der freien Enthalpie (ΔG) bei exer-
gonen und endergonen Reaktionen.
Wir können nun das Konzept der freien Enthalpie auf
spezifische biochemische Vorgänge anwenden.

1 „Standard“ heißt, dass alle Reaktionspartner in (ein)mola-


ren Konzentrationen vorliegen, bis auf Protonen (10–7 M ≙
pH 7) und Wasser, dessen Konzentration als konstant
55,55 M angenommen wird. Die beiden letzten Einschrän- 2 Der Begriff maximal ist nicht ganz präzise, da immer ein
kungen sind den besonderen Gegebenheiten lebender Syste- Teil der freien Enthalpie als Wärme verloren geht und da-
me geschuldet. Sie werden durch das Zeichen ' angedeutet her keine Arbeit leisten kann. ΔG ist die theoretische Ober-
(also ΔG0' statt ΔG0). grenze der nutzbaren Energie.

192
8.2 Die Änderung der freien Enthalpie entscheidet über die Richtung, in der eine Reaktion abläuft

Wir nehmen die Bruttoreaktion der Zellatmung als Bei- Arbeit mehr leisten kann, ist eine Zelle, die sich im
spiel: chemischen Gleichgewicht befindet, schlicht tot. Die
C6H12O6 + 6 O2 → 6 CO2 + 6 H2O Tatsache, dass sich der Stoffwechsel insgesamt niemals
im Gleichgewicht befindet, ist das herausragende Merk-
ΔG0′ = –2.870 kJ/mol mal des Lebens.

Für jedes Mol Glucose (180 g), das durch die Atmung
abgebaut wird, ergibt sich unter biochemischen Stan- ΔG < 0 ΔG = 0
dardbedingungen (Konzentration aller Reaktionspart-
ner zu Beginn = 1 mol/l, T = 298 K, pH = 7,0) eine ver-
Teil 2
fügbare freie Enthalpie von 2.870 kJ. Weil Energie nicht
vernichtet werden kann, enthalten die Reaktionspro-
dukte der Atmung also 2.870 kJ weniger freie Enthal-
pie pro Mol als die Ausgangsstoffe. Kohlendioxid und
Wasser sind die energiearmen Endprodukte eines Pro- Abbildung 8.7: Gleichgewicht und Arbeit in einem isolierten
zesses, der die in den Zuckermolekülen gespeicherte hydroelektrischen System. Wasser fließt bergab und dreht dabei eine
freie Enthalpie abgerufen hat. Turbine, die einen Generator zur Stromerzeugung antreibt. Der erzeugte
Ein Bindungsbruch liefert keine Energie, sondern Strom bringt die Lampe jedoch nur zum Leuchten, solange das System ins-
erfordert Energie, damit er überhaupt stattfindet. Der gesamt noch nicht sein Gleichgewicht erreicht hat.
Ausdruck „Bindungsenergie“ (in einer Bindung gespei-
cherte Energie) ist ein Kürzel für die potenzielle Ener- Die lebende Zelle ist also ein offenes System, welches
gie, die frei wird, wenn sich neue Bindungen bilden – niemals den Gleichgewichtszustand erreicht: Der andau-
nachdem die alten gelöst wurden und die Reaktions- ernde Ein- und Ausstrom von Stoffen verhindert, dass
produkte insgesamt weniger freie Energie enthalten die chemischen Reaktionen des Stoffwechsels jemals ihr
als die Ausgangsstoffe. Gleichgewicht erreichen, und daher verrichtet die Zelle
Eine endergone Reaktion verläuft unter Aufnahme während ihres gesamten Lebens Arbeit. Dieses Prinzip
von freier Enthalpie aus der Umgebung (Abbildung wird durch das realistischere, offene hydroelektrische
8.6b). Da eine solche Reaktion gewissermaßen freie System in Abbildung 8.8a illustriert. Aber anders als
Enthalpie in Molekülen abspeichert (G nimmt zu), gilt dieses einfache Einschrittsystem setzt ein kataboler
ΔG > 0. Derartige Reaktionen sind nicht spontan, und Stoffwechselpfad in einer Zelle freie Enthalpie in einer
der Betrag von ΔG entspricht der Energie, die für den Serie von aufeinanderfolgenden Reaktionen frei. Als
Ablauf der Reaktion erforderlich ist. Wenn eine che- Beispiel dient die Zellatmung, die in der Analogie in
mische Reaktion exergon ist („bergab“), dann ist die Abbildung 8.8b dargestellt ist. Einige der reversiblen
Gegenreaktion, der umgekehrte Vorgang, endergon Reaktionen der Atmung werden fortwährend in eine
(„bergauf“) und verbraucht Energie. Mit ΔG = –2.870 kJ/ bestimmte Richtung „gezogen“, also am Erreichen ihres
mol für die Reaktion von Zucker und Sauerstoff zu Gleichgewichts gehindert. Der Trick liegt darin, dass
Kohlendioxid und Wasser muss der umgekehrte Vor- eine Anhäufung von Reaktionsprodukten verhindert
gang – die Umwandlung von Kohlendioxid und Was- wird, indem das Produkt einer Reaktion zugleich Aus-
ser in Zucker und Sauerstoff – zwangsläufig ausge- gangsstoff einer Folgereaktion ist. Zuletzt werden
prägt endergon sein (ΔG = +2.870 kJ/mol). Eine solche Abfallstoffe aus der Zelle befördert. Die gesamte Reak-
Reaktion würde niemals von sich aus ablaufen. tionsfolge wird durch die große Differenz der freien
Aber wie stellen dann die Pflanzen den Zucker her, Enthalpie der Glucose und des Sauerstoffs am energie-
den sie und andere Organismen zur Energieversorgung reichen Beginn der Kette im Vergleich zum energie-
nutzen? Sie entziehen die erforderliche Energie von ärmeren Ende mit Kohlendioxid und Wasser in Gang
+2.870 kJ/mol Zucker der Umgebung, indem sie Licht- gehalten. Solange unsere Zellen über eine anhaltende
energie einfangen und in chemische Energie umwan- Versorgung mit Glucose, anderen Brennstoffen und
deln. Danach verwenden sie diesen Vorrat an chemi- Sauerstoff verfügen und Abfallprodukte ausscheiden
scher Energie allmählich und in einer langen Abfolge können, erreichen die chemischen Reaktionen des Stoff-
von exergonen Reaktionsschritten, um Zuckermoleküle wechsels nie ihr Gleichgewicht und halten die Lebens-
zu synthetisieren. prozesse so fortwährend in Gang.
Erneut wird deutlich, wie wichtig es ist, Lebewesen
Gleichgewicht und Stoffwechsel als offene Systeme zu betrachten. Das Sonnenlicht stellt
In einem isolierten System erreichen Reaktionen un- eine Quelle täglich verfügbarer Energie für die Pflan-
weigerlich den Gleichgewichtszustand, in dem sie keine zen eines Ökosystems und anderer photosynthetisch
Arbeit mehr leisten können, wie zum Beispiel das hy- aktiver Organismen bereit. Tiere und photosynthetisch
droelektrische System in Abbildung 8.7. Die chemi- nicht aktive Organismen müssen verwertbare Energie
schen Reaktionen des Stoffwechsels sind reversibel in Form der organischen Produkte der Photosynthese
und auch sie würden ihr Gleichgewicht erreichen, nutzen. Nun, nachdem wir die thermodynamischen
wenn sie isoliert in einem Reagenzglas abliefen. Da Konzepte auf den Stoffwechsel angewendet haben, kön-
ein System im Gleichgewicht den minimalen Wert der nen wir betrachten, wie Zellen tatsächlich durch Arbeit
freien Enthalpie G aufweist und infolge ΔG = 0 keine leben.

193
8 Einführung in den Stoffwechsel

 Transportarbeit, wie das Pumpen von Stoffen durch


(a) Ein offenes hydroelektrisches
System. Das fließende Wasser Membranen entgegen der spontanen Transportrich-
treibt den Generator fortlaufend ΔG < 0 tung (siehe Kapitel 7).
an, weil der stetige Zustrom an
Wasser das System daran hin-  Mechanische Arbeit, wie das Schlagen von Cilien
dert, den Zustand des thermo-
dynamischen Gleichgewichts zu
(siehe Kapitel 6), die Kontraktion von Muskeln und
erreichen. Man spricht von ein- die Bewegung der Chromosomen während der Mitose
em Fließgleichgewicht, wenn die
Zuflussrate der Abflussrate (Abbildung 12.7).
entspricht.
Ein wesentliches Merkmal des Umgangs einer Zelle
mit ihren Energieressourcen bei diesen Arbeitsvorgän-
Teil 2 ΔG < 0
ΔG < 0
gen ist die energetische Kopplung. Sie ist definiert als
ΔG < 0
die Verwendung eines exergonen Prozesses zum Antrieb
eines endergonen Prozesses. Adenosintriphosphat (ATP)
vermittelt den größten Teil der energetischen Kopp-
lung in Zellen und agiert meistens als unmittelbare
Energiequelle, die zelluläre Arbeitsprozesse versorgt.
Man kann ATP daher mit Fug und Recht als die „Ener-
(b) Ein mehrstufiges, offenes hydroelektrisches System. Die
giewährung“ der Zelle bezeichnen.
Zellatmung ist diesem System analog. Glucose wird in einer Reihe
exergoner Reaktionen abgebaut, die der Zelle Energie liefern. Das
Produkt jeder dieser Reaktionen wird zum Edukt der nachfolgenden,
so dass keine der Reaktionen den Gleichgewichtszustand erreicht. 8.3.1 Struktur und Hydrolyse von ATP
Abbildung 8.8: Gleichgewicht und Arbeit in offenen Systemen.
ATP wurde in Konzept 4.3 eingeführt, wo wir die
Phosphatgruppe als funktionelle Gruppe vorstellten.
 Wiederholungsfragen 8.2 ATP enthält den Zucker Ribose und daran gebunden
die Stickstoffbase Adenin sowie eine Kette aus drei
1. Die Zellatmung verwertet energiereiche Glu- Phosphatgruppen (Abbildung 8.9a). Zusätzlich zu
cose und Sauerstoff und setzt energieärmeres seiner Rolle bei der energetischen Kopplung ist ATP
Kohlendioxid und Wasser frei. Verläuft die auch eines der Nucleosidtriphosphate, aus denen die
Atmung spontan oder nicht? Ist sie exergon RNA synthetisiert wird (siehe Abbildung 5.24). Genau
oder endergon? Was geschieht mit der freien betrachtet ist das ATP-Molekül mit seinen drei Phos-
Enthalpie der Glucose? phorylresten vierfach negativ geladen. Unter zellulä-
ren Bedingungen liegt es aber fast immer in Form von
2. Wie verhalten sich Anabolismus und Kata-
ATP4–⋅Mg2+ und insofern nur zweifach negativ gela-
bolismus im Hinblick auf Abbildung 8.5c?
den vor. Der Begriff ATP muss daher mit Bedacht als
3. WAS WÄRE, WENN? Es gibt Armbänder oder chemisches Symbol in chemischen Gleichungen ver-
Ketten, die im Dunkeln leuchten. Dazu werden wendet und gegebenenfalls durch Angabe der Ladun-
sie durch Knicken aktiviert, was die Reaktion gen und beteiligten Protonen präzisiert werden.
zweier Chemikalien miteinander ermöglicht. Die Bindungen zwischen den drei Phosphorylresten
Bei der einsetzenden „chemilumineszenten“ im ATP-Molekül können hydrolytisch gespalten werden.
Reaktion wird Lichtenergie freigesetzt. Ist die Die Hydrolyse der terminalen Phosphoanhydridbindung
Reaktion endergon oder exergon? Erläutern (das heißt die Abspaltung des endständigen Phosphat-
Sie Ihre Antwort. restes) liefert ein „anorganisches Phosphat“ (im Fol-
genden durch i symbolisiert, unter physiologischen
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Bedingungen meist als Hydrogenphosphation HPO42–
vorliegend) und Adenosindiphosphat (ADP, Abbildung
8.9b). Diese Reaktion ist exergon und setzt pro Mol ATP
30,5 kJ Energie frei. In vereinfachter Form:
ATP ermöglicht Zellarbeit durch ATP + H2O → ADP + i ΔG0′ = –30,5 kJ/mol
die Kopplung von exergonen
an endergone Reaktionen
8.3 Dieser Wert gilt unter Standardbedingungen, so wie sie
oben definiert wurden. Allerdings wird eine Zelle kaum
jemals unter Standardbedingungen existieren, da die
Eine Zelle verrichtet im Wesentlichen drei Formen von Konzentrationen der Reaktionspartner kaum jemals bei 1
Arbeit: mol/l liegen. Bei der Hydrolyse von ATP unter realen,
 Chemische Arbeit, wie das Antreiben endergoner zellulären Bedingungen liegt die tatsächliche Energie-
Reaktionen, zum Beispiel die Synthese von Poly- ausbeute deshalb sogar mit etwa –51 kJ/mol um 67 Pro-
meren (die chemische Arbeit wird uns weiter unten zent höher.
sowie in den Kapiteln 9 und 10 noch weiter be- Da bei der ATP-Hydrolyse Energie frei wird, werden
schäftigen). die Phosphoanhydridbindungen des ATP manchmal

194
8.3 ATP ermöglicht Zellarbeit durch die Kopplung von exergonen an endergone Reaktionen

irreführend als „energiereiche“ Bindungen bezeichnet. 8.3.2 Wie durch die Hydrolyse von ATP
Tatsächlich beruht die Tendenz von ATP zur Hydrolyse Arbeit geleistet wird
jedoch lediglich darauf, dass ADP + i energieärmer
sind als ATP + H2O, wobei unter anderem die Absto- Wenn ATP im Reagenzglas hydrolysiert wird, erwärmt
ßung der benachbarten negativen Teilladungen der drei die freigesetzte Energie das System. In einem Organis-
Phosphorylgruppen und die Stabilisierung des entste- mus kann das manchmal von Nutzen sein. So wird etwa
henden Phosphatanions durch Verteilung seiner negati- beim Zittern vor Kälte die Hydrolyse von ATP während
ven Ladungen über das ganze Molekül eine Rolle spie- der Muskelkontraktion benutzt, um Wärme zu erzeugen
len (Abbildung 8.9a). Insgesamt geht das System aus und den Körper aufzuheizen. Die Beschränkung auf
genau den Gründen in einen Zustand geringerer freier Wärmeerzeugung wäre für eine Zelle in den meisten
Teil 2
Enthalpie über, die wir oben bereits ausführlich erörtert Fällen jedoch eine ineffiziente, möglicherweise gefähr-
haben. Man kann den Triphosphatanteil des ATP-Mole- liche Verwendungsweise einer wertvollen Energiequelle.
küls als das chemische Gegenstück einer gespannten Tatsächlich wird die bei der ATP-Hydrolyse freigesetzte
Feder auffassen. Da die „Federspannung“ größer ist als Energie durch die Proteine einer Zelle genutzt, um drei
die der meisten anderen Moleküle, ist ATP für die Zelle Formen zellulärer Arbeit – chemische, mechanische
als Energiewährung besonders gut geeignet. Erneut sei und Transportarbeit – zu verrichten.
darauf hingewiesen, dass die deutlich negative freie
Enthalpie der ATP-Hydrolyse, die ja Kennzeichen einer NH2
an sich spontan ablaufenden Reaktion ist, nicht auto-
matisch bedeutet, dass die Reaktion sofort und schnell NH3
Glu
+ ΔGo’ = 14,2 kJ/mol
abläuft. Spontan hydrolysierende ATP-Moleküle wären Glu
Glutamin-
für die Bioenergetik lebender Zellen völlig nutzlos. säure
Ammoniak Glutamin
Stattdessen muss sichergestellt werden, dass die ATP-
(a) Endergone Reaktion. Die Derivatisierung der Amino-
Hydrolyse (1) direkt an endergone Reaktionen gekop- säure ist ein endergoner Prozess (ΔG > 0), der nicht
pelt ist und (2) auch nur in Verbindung mit ihnen spontan abläuft.
abläuft. Beides lässt sich durch enzymatische Katalyse
erreichen (siehe unten).
P
1 + ATP + ADP
Glu Glu
Adenin NH2
NH2
N C
C N P
O O O HC 2 + NH3 + Pi
C CH Glu Glu
–O N
P O P O P O CH2 N
O
(b) In Verbindung mit der Hydrolyse von ATP wird die-
O– O– O–
H H selbe Reaktion exergon. In der Zelle läuft die Gluta-
Triphosphatgruppe minsynthese in zwei Schritten ab, die durch ein
H H Ribose phosphoryliertes Intermediat miteinander verknüpft
OH OH sind: 1 ATP phosphoryliert die Glutaminsäure, wo-
durch die Stabilität der Aminosäure vermindert wird.
(a) Die ATP-Struktur. In Zellen sind die Hydroxylgruppen der drei 2 Ammoniak verdrängt den Phosphorsäurerest. Es
Phosphorylgruppen ionisiert (— O – ) und teilweise mit Mg2+
bildet sich Glutamin.
komplexiert (hier nicht eingezeichnet).

P P P Glu + NH3 Glu NH2 ΔGo’ = 14,2 kJ/mol


ATP ADP + P i ΔGo’ = 30,5 kJ/mol
Netto: ΔGo’ = 16,3 kJ/mol
Adenosintriphosphat (ATP)
(c) Gesamtenergiebilanz. Die Addition der ΔGo’ -Werte für
H2O die Derivatisierung der Aminosäure und für die Hydro-
lyse des ATP (Teilreaktionen) liefert das ΔG der Gesamt-
reaktion. Da der Prozess insgesamt exergon ist
(ΔG < 0), läuft er spontan ab. Achtung: In Abhängig-
keit von den tatsächlichen (zellulären) Konzentratio-
Pi + P P + Energie nen der beteiligten Stoffe kann der numerische
Wert der freien Enthalpiedifferenz gegenüber Stan-
dardbedingungen (alle Konzentrationen = 1 molar,
anorganisches pH=7) erheblich abweichen.
Adenosindiphosphat (ADP)
Phosphat
Abbildung 8.10: Wie ATP chemische Arbeit verrichtet – energe-
(b) ATP-Hydrolyse. Die Reaktion von ATP und Wasser ergibt ADP tische Kopplung durch ATP-Hydrolyse. In diesem Beispiel treibt die
und anorganisches Phosphat ( P i ). Die Abgabe oder Über- exergone ATP-Hydrolyse die endergone Synthese der Aminosäure Gluta-
tragung einer Phosphatgruppe auf ein anderes Molekül ist
eine Reaktion, bei der Energie freigesetzt wird. min aus Glutaminsäure und Ammoniak an.

Abbildung 8.9: Struktur und Hydrolyse von Adenosintriphosphat ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Erklären Sie unter Bezug auf Abbil-
(ATP). Im Rahmen dieses Buchs wird die chemische Struktur der Triphosphat- dung 5.14, warum Glutamin (Gln) als Glutaminsäure (Glu) mit einer ange-
gruppe in (a) durch die drei gelben Kreise wie in (b) dargestellt. hängten Aminogruppe skizziert ist.

195
8 Einführung in den Stoffwechsel

So kann eine Zelle beispielsweise mithilfe spezifischer lang des Cytoskeletts geleistet werden (Abbildung
Enzyme die bei der exergonen ATP-Hydrolyse freige- 8.11b). Ein solcher Reaktionszyklus beginnt mit der
setzte Energie unmittelbar zum Antreiben endergoner nichtkovalenten Assoziation von ATP an das Motor-
chemischer Reaktionen nutzen. Falls der ΔG-Wert einer protein, gefolgt von der Hydrolyse zu ADP und
endergonen Reaktion kleiner ist als jener der ATP- Phosphat und ihrer Freisetzung. Dadurch ist der Platz
Hydrolyse, können die beiden Reaktionen unmittelbar frei für das nächste ATP-Molekül. Jeder Teilschritt ver-
gekoppelt werden und die resultierende Gesamtreak- ändert die Konformation des Motorproteins und seine
tion ist dann exergon (Abbildung 8.10). Meist verlau- Fähigkeit, an das Cytoskelett zu binden, was insgesamt
fen derartig gekoppelte Reaktionen unter Übertragung zur Bewegung des Proteins entlang der cytoskelettalen
eines Phosphorylrestes vom ATP auf ein anderes Mole- Matrix führt. Auch viele andere wichtige zelluläre
Teil 2
kül, das heißt, das Substrat der Reaktion wird phospho- Prozesse hängen von Konformationsänderungen ab,
ryliert. Die Bildung eines solchen phosphorylierten die durch Phosphorylierung oder Dephosphorylierung
Zwischenprodukts ist der Schlüssel zur Kopplung von von Zielproteinen hervorgerufen werden.
endergonen an exergone Reaktionen, denn die phos-
phorylierte Zwischenstufe ist reaktiver (weniger stabil)
als ihr nicht phosphoryliertes Gegenstück. 8.3.3 Die Regeneration des ATP

Membranprotein Ein Organismus verbraucht ständig ATP, doch ist das


ATP eine erneuerbare Energiequelle, die durch die
Phosphorylierung von ADP regeneriert werden kann
(Abbildung 8.12). Die zur Phosphorylierung des ADP
erforderliche freie Enthalpie wird durch exergone Reak-
P Pi tionen des Katabolismus bereitgestellt. Der Pendel-
verkehr von Phosphat und Energie wird ATP-Zyklus
gelöstes transportiertes
Teilchen gelöstes genannt. Er verbindet die energieliefernden (exergonen)
Teilchen Prozesse der Zelle mit den energieverbrauchenden (end-
ergonen) Abläufen. Der ATP-Zyklus vollzieht sich mit
(a) Transportarbeit. ATP phosphoryliert
das Transporterprotein. ADP erstaunlicher Geschwindigkeit. So setzt eine arbeitende
ATP + Muskelzelle ihren gesamten ATP-Vorrat in weniger als
Pi einer Minute einmal um, das entspricht einem Umsatz
Vesikel cytoskelettale
von ca. zehn Millionen ATP-Molekülen pro Sekunde
„Schiene“
und Zelle. Falls das ATP nicht durch die Phosphorylie-
rung von ADP regeneriert werden könnte, würde ein
Mensch jeden Tag eine ATP-Menge aufnehmen müssen,
ATP die nahezu seiner Körpermasse entspricht.

Die Synthese von ATP aus Die Hydrolyse von ATP


Motorprotein weiterbewegtes ADP und P i erfordert zu ADP + P i liefert
Protein Energie-Input. freie Enthalpie.
(b) Mechanische Arbeit. ATP bindet an das
Motorprotein und wird hydrolysiert. ATP + H2O

Abbildung 8.11: Wie ATP Transportvorgänge antreibt und mecha-


nische Arbeit verrichtet. Die ATP-Hydrolyse führt zur Veränderung der
Konformation und der Fähigkeit zur Bindung von Proteinen. Dies geschieht Energie aus dem Energie für
entweder (a) direkt durch Phosphorylierung, wie hier bei einem Membranpro- Katabolismus zelluläre Arbeit
tein beim aktiven Transport (siehe auch Abbildung 7.15 ), oder (b) indirekt (exergone, freie ADP + P i (endergone, freie
über eine nichtkovalente Bindung von ATP und seinen Hydrolyseprodukten, Enthalpie liefernde Enthalpie verbrau-
wie dies bei Motorproteinen geschieht, die Vesikel und andere Organellen ent- Vorgänge) chende Vorgänge)
lang des Cytoskeletts bewegen (siehe auch Abbildung 6.21 ).
Abbildung 8.12: Der ATP-Zyklus. Energie aus zellulären Abbaureak-
tionen (dem Katabolismus) wird zur Phosphorylierung von ADP benutzt
und so ATP regeneriert. Das chemische Potenzial von ATP (anders ausge-
Transportvorgänge und mechanische Arbeit sind in drückt, sein hohes Phosphatgruppenübertragungspotenzial) treibt die meis-
der Zelle ebenfalls fast immer mit der Hydrolyse von ten zellulären Arbeitsprozesse an.
ATP verbunden. In diesen Fällen führt die ATP-
Hydrolyse zu einer Veränderung der Konformation
eines Proteins, was oft dessen Fähigkeit, andere Mole- Da die Hydrolyse des ATP mit ΔG0′ = –30,5 kJ/mol exer-
küle zu binden, beeinflusst. Manchmal verläuft auch gon ist, muss die Rückbildung des ATP aus ADP und
das über eine phosphorylierte Zwischenstufe, wie bei Phosphat notwendigerweise mit genau diesem Betrag
dem in Abbildung 8.11a gezeigten Transportprotein an freier Enthalpie endergon sein (die Werte gelten für
zu sehen ist. Mechanische Arbeit kann von einer Zelle Standardbedingungen). Vereinfacht gilt die folgende
meist durch die Bewegung eines Motorproteins ent- Gleichung:

196
8.4 Enzyme beschleunigen metabolische Reaktionen durch das Absenken von Energiebarrieren

ADP + i → ATP + H2O ΔG0′ = +30,5 kJ/mol Wie macht das Enzym das?
Ein Enzym ist ein Makromolekül, das als Katalysator
Die ATP-Synthese aus ADP und Phosphat ist kein wirkt, also eine chemische Reaktion zwar beschleu-
spontaner Prozess, sondern erfordert freie Enthalpie zu nigt, jedoch selbst unverändert daraus hervorgeht. Wir
ihrem Ablauf. Der katabole Stoffwechsel – insbeson- konzentrieren uns in diesem Kapitel auf katalytisch
dere die Zellatmung – liefert die Energie für die ender- aktive Proteine, die Enzyme im eigentlichen Sinn. Es
gone ATP-Synthese. Pflanzen nutzen dafür hauptsäch- gibt jedoch auch katalytisch aktive RNA-Moleküle,
lich Lichtenergie. Der ATP-Zyklus ist also eine Art die Ribozyme, die in den Kapiteln 17 und 25 behan-
Drehkreuz, das die Energie während ihres Transfers von delt werden. Ohne die enzymkatalysierte Beschleuni-
den katabolen zu den anabolen Stoffwechselwegen pas- gung würde der Stoffwechsel schnell verstopfen, weil
Teil 2
siert. praktisch alle Reaktionen viel zu langsam abliefen. In
den nächsten beiden Abschnitten dieses Kapitels wer-
den wir erfahren, wodurch an sich spontane Reaktio-
 Wiederholungsfragen 8.3 nen daran gehindert werden schneller abzulaufen und
wie Enzyme dazu beitragen, diesen Zustand zu über-
1. Wie überträgt ATP in einer Zelle normalerweise winden.
Energie von exergonen auf endergone Reaktio-
nen?
2. Welche der folgenden Kombinationen hat mehr 8.4.1 Die Aktivierungsenergie als Hürde
freie Enthalpie: Glutaminsäure + Ammoniak +
ATP oder Glutamin + ADP + i? Erläutern Sie Jede chemische Reaktion von Molekülen beinhaltet
Ihre Antwort. Bindungsbrüche, Bindungsbildungen und/oder Elek-
tronenumverteilungen. Beispielsweise werden bei der
3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Zeigt Abbildung Hydrolyse von Saccharose die Bindung zwischen Glu-
8.11a passiven oder aktiven Transport? Begrün- cose und Fructose sowie eine der beiden Bindungen
den Sie unter Verwendung der Konzepte 7.3 des Wassermoleküls gebrochen und stattdessen zwei
und 7.4. neue Bindungen gebildet (s. Schema links unten). Die
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Umwandlung eines Moleküls in ein anderes erfordert
im Allgemeinen die Verzerrung des Startmoleküls in
einen hochgradig instabilen Zustand, bevor die eigent-
liche Reaktion voranschreitet. Als Vergleich soll das
Enzyme beschleunigen Verbiegen eines Schlüsselringes dienen, bevor man
einen neuen Schlüssel einfädelt. In der aufgebogenen
metabolische Reaktionen Form ist der Ring recht instabil, aber er kehrt in einen
durch das Absenken von stabilen Zustand zurück, nachdem der neue Schlüssel
Energiebarrieren
8.4 in Position geschoben wurde. Das Erreichen des ver-
formten Zustandes, in dem sich Bindungen gelockert
haben, erfordert von den beteiligten Molekülen eine
Die Hauptsätze der Thermodynamik sagen uns, welche Energieaufnahme aus ihrer Umgebung. Nachdem sich
Prozesse unter gegebenen Bedingungen von alleine die Bindungen der Produktmoleküle gebildet haben,
ablaufen können und welche nicht. Das hat jedoch wird Energie in Form von Wärme freigesetzt und die
nichts mit der Geschwindigkeit der Prozessverläufe Moleküle nehmen stabile Konformationen mit einem
bzw. chemischen Reaktionen zu tun. Eine exergone che- geringeren Energiegehalt als vorher ein.
mische Reaktion verläuft zwar ohne Energiezufuhr, Die energetische Startinvestition, also die Energie, die
doch kann das unmerklich langsam geschehen. Obwohl zur Verformung der reagierenden Moleküle erforderlich
beispielsweise die Hydrolyse von Rohrzucker (Saccha- ist, um Bindungsbrüche zu ermöglichen, bezeichnet
rose) zu Glucose und Fructose mit ΔG0′ = –29,3 kJ/mol man als freie Energie der Aktivierung (oder kurz als
exergon ist und somit von sich aus ablaufen könnte, Aktivierungsenergie). Sie wird in diesem Buch mit EA
wird eine Rohrzuckerlösung in reinem Wasser bei Zim- abgekürzt. Wir können uns die Aktivierungsenergie als
mertemperatur über Jahre hinweg stabil bleiben und den Energiebetrag vorstellen, den man braucht, um die
keine Anzeichen von Hydrolyse zeigen. Setzt man der Reaktionspartner über eine Energiebarriere oder einen
Lösung jedoch eine winzige Menge des Enzyms Inver- Hügel zu heben. Der weitere Weg danach verläuft bergab
tase (auch Saccharase genannt) zu, dann wird der und somit von selbst. Die Aktivierungsenergie wird oft
gesamte Rohrzucker in Sekunden hydrolysiert. in Form von Wärme aufgebracht, die der Umgebung ent-
stammt. Die Absorption von Wärmeenergie erhöht die
Saccharase Geschwindigkeit der Teilchen, sie stoßen häufiger und
(Invertase)
wuchtiger zusammen. Die thermische Anregung führt
+ H2O +
O OH HO außerdem zur Schwächung der Bindungen innerhalb
eines Moleküls infolge verstärkter Bewegungen der ein-
Saccharose Glucose Fructose
(C12H22O11) (C6H12O6 ) (C6H12O6 ) zelnen Atome in Form von Vibrationen und Translatio-
nen. Die Aktivierungsenergie kann aber auch nichtther-

197
8 Einführung in den Stoffwechsel

misch, zum Beispiel durch die Absorption von Licht, Die in Abbildung 8.13 dargestellte Reaktion ist exer-
aufgebracht werden. Abbildung 8.13 zeigt die Energie- gon und verläuft spontan. Die Aktivierungsenergie
änderungen einer hypothetischen, exergonen Reaktion, stellt jedoch eine Schwelle dar, die die Reaktionsge-
die Teile zweier reagierender Moleküle gegeneinander schwindigkeit entscheidend beeinflusst. Die Reaktions-
austauscht: partner müssen die Aktivierungsenergie aufbringen,
AB + CD → AC + BD damit die Reaktion ablaufen kann. Bei manchen Reak-
tionen ist EA so gering, dass schon bei Zimmertempe-
Die Aktivierung der Reaktionspartner wird durch den ratur die Wärmeenergie ausreicht, um viele Teilchen
aufsteigenden Ast des Graphen dargestellt, in dem der den Übergangszustand in kurzer Zeit erreichen zu las-
Energiegehalt der reagierenden Moleküle zunimmt. sen. In den meisten Fällen ist EA jedoch so hoch, dass
Teil 2
Am Maximum befinden sich die Teilchen in einem der Übergangszustand nur selten erreicht wird, dann
instabilen Zustand, dem sogenannten Übergangs- läuft die Reaktion kaum ab. In derartigen Fällen wird
zustand der Reaktion. Dort sind die Reaktionspartner sie nur dann mit merklicher Geschwindigkeit vonstat-
aktiviert und Bindungsbrüche möglich. Die folgende ten gehen, wenn die Reaktionspartner erwärmt wer-
Phase der Bindungsneubildung entspricht dem bergab den. So ist die Reaktion von Benzin mit Sauerstoff
verlaufenden Teil der Kurve, der den Verlust an Ener- zwar stark exergon und daher im Prinzip spontan,
gie widerspiegelt. Die Gesamtabnahme an freier Ent- dennoch ist Energie zum Erreichen des Übergangszu-
halpie bedeutet, dass EA sozusagen mit Dividende standes erforderlich. In einem Benzinmotor wird nur
zurückgezahlt wurde, da die Bildung neuer Bindun- dann durch die explosive Verbrennung Energie frei
gen mehr Energie freisetzt, als in den Bruch der alten und die Kolben werden in Bewegung versetzt, wenn
Bindungen investiert wurde. zuvor ein elektrischer Funke das Gasgemisch gezün-
det hat. Ohne den Zündfunken reagieren gasförmige
Gemische aus Kohlenwasserstoffen und Luftsauerstoff
Die Edukte AB und CD Nach der Auflösung
müssen ausreichend Energie der Bindungen bil-
nicht, weil die Energiebarriere EA zu hoch ist.
aus der Umgebung absor- den sich neue Bin-
bieren, um den instabilen dungen. Dabei wird
Übergangszustand (Zustand freie Enthalpie an 8.4.2 Wie Enzyme Reaktionen
höchster potenzieller Ener- die Umgebung ab-
gie) erreichen zu können. gegeben.
beschleunigen
Dort kommt es zum Bin-
dungsbruch. Proteine, DNA und andere komplexe Biomoleküle sind
reich an freier Enthalpie und haben daher das Poten-
zial, spontan zu zerfallen. Anders gesagt: Ihr Abbau ist
A B thermodynamisch begünstigt. Diese Moleküle haben
nur deshalb Bestand, weil sie bei physiologischen Tem-
C D
peraturen kaum jemals die Aktivierungsenergie für
Übergangszustand ihren Zerfall aufbringen. Die Hürden müssen jedoch für
bestimmte Reaktionen und zu bestimmten Zeitpunkten
überwunden werden, damit Zellen überhaupt lebens-
A B EA
freie Enthalpie

fähig sind. Wärme beschleunigt chemische Reaktionen,


C D weil die Reaktionspartner häufiger den Übergangs-
zustand erreichen, doch ist dieser Weg für biologische
Edukte Systeme nicht gangbar. Zum einen denaturieren bei
A B
hohen Temperaturen die meisten Proteine durch Verlust
ΔG < 0
ihrer Sekundär- und Tertiärstruktur, was für lebende
C D Zellen tödlich ist. Zum anderen beschleunigt eine Tem-
peraturerhöhung unterschiedslos alle chemischen Reak-
Produkte
tionen, nicht nur die gewünschten. Aus diesen Grün-
Fortschreiten der Reaktion den sind Organismen auf die selektive katalytische
Reaktionsbeschleunigung angewiesen.
Abbildung 8.13: Energieprofil einer exergonen Reaktion. A, B, C Ein Enzym katalysiert eine Reaktion durch die Ver-
und D stehen für Teile hypothetischer Moleküle. Thermodynamisch gese- minderung ihrer Aktivierungsenergie (Abbildung 8.14).
hen ist die gezeigte Reaktion exergon, mit ΔG < 0, also spontan. Die Akti- Dadurch können die betroffenen Reaktionsteilnehmer
vierungsenergie (EA) stellt jedoch eine Hürde dar, die die Reaktionsge- bei niedrigeren Temperaturen die Aktivierungshürde
schwindigkeit verlangsamt. nehmen. Ein Enzym kann das ΔG einer Reaktion nicht
ändern, es kann eine endergone Reaktion nicht exer-
ZEICHENÜBUNG Erstellen Sie einen Graphen für den Verlauf einer gon machen. Enzyme können nur solche Reaktionen
endergonen Reaktion, in der die Ausgangsverbindungen EF und GH die
beschleunigen, die ohnehin ablaufen würden (nur
Produkte EG und FH bilden. Nehmen Sie dabei an, dass auch diese Reak-
eben sehr viel langsamer). Genau diese Funktion
tion einen Übergangszustand durchläuft.
ermöglicht es einer Zelle, durch ihren dynamischen
Stoffwechsel Metaboliten glatt die Stoffwechselpfade
durchlaufen zu lassen. Weil Enzyme ausgesprochen

198
8.4 Enzyme beschleunigen metabolische Reaktionen durch das Absenken von Energiebarrieren

spezifische Katalysatoren sind, bestimmen sie, welche Beispielsweise katalysiert das Enzym Saccharase (auch
chemischen Prozesse wann in einer Zelle ablaufen. bekannt als Invertase oder Sucrase; die meisten Enzym-
namen enden auf „-ase“) die Hydrolyse des Disaccha-
Reaktions- rids Saccharose in die beiden Monosaccharide Glucose
verlauf EA und Fructose (Strukturformeln siehe oben):
ohne ohne
Enzym Enzym Mit Enzym
ist EA Saccharase + Saccharase/ Saccharase +
niedriger. 

Saccharose +  

 Saccharose/ 
 Glucose +
freie Enthalpie

Edukte H 2O H2O-Kom- Fructose


plex
Reaktions- Das Enzym Teil 2
verlauf ändert das
ΔG nicht. Jedes Enzym ist sehr spezifisch und kann „sein“ Sub-
mit Enzym
strat auch unter chemisch eng verwandten Verbindun-
gen wie etwa Isomeren erkennen. So setzt beispiels-
Produkte weise die Saccharase nur Saccharose (Rohrzucker) um,
Fortschreiten der Reaktion nicht aber andere Disaccharide wie Maltose (Malz-
zucker). Wie wird eine solche Genauigkeit auf moleku-
Abbildung 8.14: Die Wirkung eines Enzyms auf die Aktivie- larer Ebene erreicht? Erinnern wir uns daran, dass
rungsenergie. Enzyme beschleunigen Reaktionen nicht durch eine Enzyme Proteine sind, Makromoleküle mit einzigarti-
Änderung der Differenz der freien Enthalpie (ΔG), sondern nur indem sie ger dreidimensionaler Struktur. Die Spezifität eines
die Aktivierungsenergie (EA) senken. Enzyms beruht auf seiner dem Substrat weitgehend
komplementären Tertiärstruktur, die durch seine Ami-
nosäuresequenz vorgegeben ist.
8.4.3 Die Substratspezifität von Enzymen An der eigentlichen Substratbindung ist nur ein
begrenzter Bereich des Enzymmoleküls beteiligt. Die-
Das Edukt (auch als Reaktand bezeichnet) einer enzym- ser Bereich wird als aktives Zentrum bezeichnet und
katalysierten Reaktion wird als Substrat des Enzyms liegt meistens in einer Tasche oder Furche auf der
bezeichnet. Ein Enzym bindet sein Substrat (oder Oberfläche des Proteins, dort, wo die Katalyse stattfin-
seine Substrate, da auch mehrere Reaktanden gleich- det (Abbildung 8.15a). Normalerweise besteht das
zeitig eine enzymkatalysierte Reaktion eingehen kön- aktive Zentrum aus nur einigen wenigen Aminosäure-
nen) und bildet einen Enzym/Substratkomplex. In resten, während der überwiegende Teil des Protein-
oder an diesem Komplex läuft dann die Umwandlung moleküls die Ankerpunkte für diese Reste und damit
des Substrats oder der Substrate ab. Der Gesamtpro- die Konfiguration des aktiven Zentrums insgesamt
zess lässt sich wie folgt zusammenfassen: festlegt. Die Enzymspezifität beruht in erster Nähe-
rung auf der räumlichen Komplementarität von akti-
Enzym + Enzym- Enzym + vem Zentrum und Substrat, oft auch als Schlüssel-
Substrat(e) 


 Substrat- 


 Produkt(e) Schloss-Beziehung umschrieben.
Komplex

Abbildung 8.15: Induzierte Passung


Substrat
(„induced fit“) zwischen einem En-
zym und seinem Substrat.

aktives
Zentrum

Enzym Enzym/
Substratkomplex
(a) Die Computergrafik zeigt eine Furche auf (b) Wenn das Substrat das aktive Zentrum besetzt, bildet es schwache
der Oberfläche des Hexokinase-Moleküls Bindungen mit dem Enzymmolekül und löst so eine Konformationsände-
(blau), in der sich das aktive Zentrum rung aus. Das erlaubt die Ausbildung weiterer schwacher Wechselwir-
befindet. Die Substrate sind Glucose (rot) kungen und letztlich das passgenaue Aneinanderlagern beider Moleküle.
und ATP (in dieser Ansicht nicht sichtbar). Je nach katalysiertem Reaktionstyp (so auch in diesem Beispiel) werden
unerwünschte Reaktionspartner wie das allgegenwärtige Wasser ausge-
schlossen (Wasser könnte die „nutzlose“ Hydrolyse des ATP bewirken,
ohne dass ein Phosphatrest auf das Glucosemolekül übertragen würde).

199
8 Einführung in den Stoffwechsel

Das aktive Zentrum ist jedoch kein starrer Behälter für gen wie zum Beispiel Wasserstoffbrücken und Van-
das Substrat. Tatsächlich wechseln Enzyme und auch der-Waals-Kräfte oder elektrostatische Wechselwir-
andere Proteine sehr schnell zwischen leicht unter- kungen im aktiven Zentrum fixiert. Die Seitenketten
schiedlichen Konformationen mit leicht unterschied- einiger weniger Aminosäurereste im aktiven Zentrum
lichen freien Enthalpiegehalten hin und her. Die Kon- katalysieren die eigentliche Reaktion, danach werden
formation, die am besten zum Substrat passt, ist nicht die Produkte freigesetzt. Das Enzym ist jetzt bereit für die
unbedingt die energieärmste, aber während der kur- Bindung des nächsten Substratmoleküls. Der gesamte
zen Zeitspanne ihrer Existenz kann das Substrat in Katalysezyklus kann so schnell sein, dass ein einziges
das aktive Zentrum binden. Wenn ein Substrat an ein Enzymmolekül pro Sekunde mehr als tausend Sub-
Enzymmolekül bindet, führen Wechselwirkungen zwi- stratmoleküle umsetzt. Manche Enzyme arbeiten sogar
Teil 2
schen dem Substrat und den Aminosäureseitenketten noch schneller; ihr Tempo wird nur durch die Diffu-
des aktiven Zentrums dazu, dass das Enzym und meist sionsrate des Substrats ins aktive Zentrum begrenzt.
auch das Substrat ihre Gestalt geringfügig ändern und Da Enzyme ebenso wie andere Katalysatoren unverän-
sich so noch enger aneinanderschmiegen (Abbildung dert aus der katalysierten Reaktion hervorgehen, können
8.15b), ähnlich dem wechselseitigen Griff beim Hände- selbst geringe Mengen eines Enzyms enorme Wirkungen
schütteln. Diese induzierte Passung (engl. induced fit) im Stoffwechsel entfalten, da sie immer wieder ihren
positioniert die funktionellen Gruppen des aktiven katalytischen Zyklus durchlaufen. Abbildung 8.16 zeigt
Zentrums so, dass der katalytische Prozess ablaufen einen katalytischen Zyklus mit zwei Substraten und
kann (und sorgt außerdem noch dafür, dass Neben- zwei Produkten.
reaktionen weitgehend ausgeschlossen werden). Die meisten Stoffwechselreaktionen sind reversibel.
Da Enzyme das ΔG einer Reaktion nicht ändern kön-
nen, katalysieren sie bei einer gleichgewichtsnahen
8.4.4 Katalyse im aktiven Zentrum Reaktion sowohl deren Hinreaktion als auch die Rück-
des Enzyms reaktion. Die relativen Anteile von Hin- und Rück-
reaktion am Gesamtumsatz sind durch das tatsächlich
Bei den meisten enzymkatalysierten Reaktionen wird vorliegende Konzentrationsverhältnis von Edukten zu
das Substrat durch schwache nichtkovalente Bindun- Produkten vorgegeben. Letztlich schreitet natürlich

1 Substratmoleküle treten in das aktive Zentrum


ein; das Enzym verändert seine Form derart, dass
das aktive Zentrum die Substrate genau umfasst
(induzierte Passung, induced fit).
2 Die Substratmoleküle werden durch kovalente
und/oder nicht kovalente Wechselwirkungen
im aktiven Zentrum gebunden.

3 Im aktiven Zentrum wird die Aktivierungs-


energie (EA) herabgesetzt und dadurch wird
Substrate Enzym/Substrat- die Reaktion beschleunigt, da es
Komplex
• als „Gussform“ für die Ausrichtung der
Substrate zueinander dient
• Spannung auf die Substrate ausübt und den
Übergangszustand der chemischen Reaktion
stabilisiert
6 Das aktive • eine für die Reaktion günstige Mikro-
Zentrum ist für umgebung schafft
die Bindung • direkt an der katalysierten Reaktion teilnimmt
neuer Substrate
verfügbar. Eine Kombination mehrerer oder aller dieser
Enzym Faktoren ist möglich.

4 Die Substrate werden in Reaktions-


5 Die Produkte
produkte überführt.
werden freigesetzt.

Produkte
Abbildung 8.16: Das aktive Zentrum und der katalytische Zyklus eines Enzyms. Ein Enzym kann ein oder mehrere Substratmoleküle in ein
oder mehrere Produktmoleküle umwandeln, im gezeigten Beispiel jeweils zwei.

ZEICHENÜBUNG Der Enzym-Substrat-Komplex durchläuft einen Übergangszustand (siehe Abbildung 8.13 ). Markieren Sie im hier gezeigten Zyklus
den Teil, in dem der Übergang erfolgt.

200
8.4 Enzyme beschleunigen metabolische Reaktionen durch das Absenken von Energiebarrieren

auch die katalysierte Reaktion in Richtung Gleich- Enzyms. Das Ausmaß der Beschleunigung einer Reak-
gewicht fort. Sie würde es auch erreichen, wenn vor- tion durch Erhöhung der Substratkonzentration bei
beziehungsweise nachgeschaltete Reaktionen nicht gleichbleibender Enzymkonzentration ist jedoch be-
dauernd Edukt oder Produkt nachliefern oder entziehen grenzt. Ab einem gewissen Punkt ist die Substratkon-
würden (wobei meist auch diese Reaktionen durch zentration so hoch, dass alle vorhandenen Enzymmo-
Enzyme katalysiert werden). leküle besetzt sind. Sobald ein Reaktionsprodukt ein
Enzyme bedienen sich einer Reihe von Mechanismen aktives Zentrum verlässt, tritt sofort ein neues Sub-
zur Herabsetzung der Aktivierungsenergie und somit zur strat an seine Stelle. Jetzt ist das Enzym mit Substrat
Reaktionsbeschleunigung (Abbildung 8.16, Schritt 3): gesättigt und die Reaktionsgeschwindigkeit hängt nun
 Bei Reaktionen mit mehr als einem Substrat wirkt weitgehend von der Umsatzrate des aktiven Zentrums
Teil 2
das aktive Zentrum des Enzyms wie eine Scha- ab. Unter solchen Bedingungen der Substratsättigung
blone, die die Substrate nahe zusammen und in der (und auch ansonsten optimalen Reaktionsbedingun-
passenden Orientierung zueinander anordnet und gen) kann eine enzymkatalysierte Reaktion nur noch
so die Reaktion begünstigt. durch Zugabe von weiterem Enzym beschleunigt wer-
 Das aktive Zentrum kann durch die Bindung die den. Tatsächlich erhöhen Zellen gelegentlich die Ge-
Substratmoleküle so verformen, dass der Übergangs- schwindigkeit einer Reaktion durch (Nach-)Synthese
zustand der Reaktion annähernd erreicht wird. Dabei von Enzymmolekülen. Sie können den Fortschritt einer
können Bindungen gedehnt und gebogen werden, Enzym-katalysierten Reaktion in der folgenden Wis-
was einen Bindungsbruch erleichtert. Die Größe der senschaftlichen Übung grafisch darstellen.
Aktivierungsenergie ist der Bindungsstärke propor-
tional. Die Verzerrung des Substrats senkt also die
Energiemenge, die zum Erreichen des Übergangszu- 8.4.5 Die Abhängigkeit der Enzymaktivität
standes aufgebracht werden muss. von Umgebungsbedingungen
 Das aktive Zentrum kann zudem eine Mikroum-
gebung bereitstellen, die einem bestimmten Reak- Die Effizienz eines Enzyms wird durch Rahmenbedin-
tionstyp zuträglicher ist, als das in Lösung und gungen wie pH-Wert und Temperatur beeinflusst. Es
ohne Enzym der Fall wäre. Beispielsweise kann das gibt zudem bestimmte Stoffe, die sehr spezifisch ein
aktive Zentrum Aminosäurereste mit protonierten Enzym beeinflussen können. Durch solche Stoffe wur-
sauren Seitenketten enthalten, die in einer ansons- den viele Einzelheiten zur Funktionsweise von Enzy-
ten neutralen Umgebung leicht einen Protonen- men aufgeklärt.
transfer auf das Substrat als entscheidenden Schritt
der Katalyse bewerkstelligen. Das aktive Zentrum Die Wirkung von Temperatur und pH-Wert
kann unter Zuhilfenahme der induzierten Passung Aus Kapitel 5 wissen wir, dass sich die Umgebungsbe-
auch eine katalytische Umgebung bereitstellen, die dingungen stark auf die Raumstruktur eines Proteins
sich durch den Ausschluss bestimmter Moleküle, auswirken können. Entsprechend funktioniert jedes
wie zum Beispiel Wasser, auszeichnet. Die in Abbil- Enzym unter bestimmten Bedingungen besser als unter
dung 8.15 gezeigte Hexokinase katalysiert die Phos- anderen, weil nur optimale Rahmenbedingungen seine
phorylierung von Glucose durch ATP zu Glucose-6- optimale Funktion erlauben.
Phosphat und ADP. Durch das enge Schließen des Temperatur und pH-Wert der Umgebung sind Fakto-
aktiven Zentrums um die beiden Substrate wird Was- ren, die für die Aktivität eines Enzyms wichtig sind.
ser ausgeschlossen. Dies verhindert die Hydrolyse Bis zu einem gewissen Punkt erhöht sich die Umsatz-
von ATP ohne die gleichzeitige Phosphorylierung rate eines Enzyms mit ansteigender Temperatur – teil-
der Glucose, was einer Verschwendung chemischer weise deshalb, weil die Substratmoleküle öfter mit den
Energie gleichkäme. aktiven Zentren zusammenstoßen, wenn sich alles
 Ein weiterer katalytischer Mechanismus beinhaltet schneller bewegt. Oberhalb dieser Temperatur nimmt
die direkte Beteiligung des aktiven Zentrums an der die Geschwindigkeit der enzymatischen Katalyse je-
chemischen Reaktion durch die vorübergehende doch rasch ab. Die thermische Anregung der Enzym-
Ausbildung kovalenter Bindungen zwischen dem moleküle stört die nichtkovalenten Wechselwirkungen,
Substrat und bestimmten Aminosäureseitenketten die die aktive Konformation des Enzyms stabilisieren
des Enzyms. Die folgenden Reaktionsschritte sorgen und schließlich wird das Protein denaturiert. Jedes
dafür, dass die betreffenden Reste wieder in ihren Enzym besitzt ein charakteristisches Temperaturopti-
ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden und mum, bei dem die Umsatzrate am höchsten ist. Ohne
das aktive Zentrum kehrt zum Ausgangszustand das Enzym zu denaturieren, erlaubt diese Temperatur
zurück. die größtmögliche Zahl molekularer Kollisionen und
die schnellstmögliche Umwandlung der Substrate. Die
Die Geschwindigkeit, mit der das Substrat durch eine meisten Enzyme des Menschen haben im Einklang mit
bestimmte Enzymmenge in Produkt umgewandelt wird, der Körpertemperatur ein Optimum zwischen 35 und
ist zum Teil von der Anfangskonzentration des Sub- 40 °C. Die thermophilen Bakterien heißer Quellen ent-
strats abhängig: Je mehr Substratmoleküle vorliegen, halten dagegen Enzyme mit Temperaturoptima von
desto häufiger binden sie an das aktive Zentrum des 70 °C oder höher (Abbildung 8.17a).

201
8 Einführung in den Stoffwechsel

 Wissenschaftliche Übung

Zeichnen eines Liniendiagramms und able, die auf der Ordinate (y-Achse) aufgetragen
Berechnen einer Steigung wird. (d) Wofür steht die Abkürzung der Einhei-
ten? Beschriften Sie jede Achse mitsamt der zu-
Verändert sich die Aktivität der Glucose-6- gehörigen Einheiten.
Phosphatase mit der Zeit in isolierten Leberzel-
len? Glucose-6-Phosphatase aus den Leberzellen 2. Als Nächstes sollen die Achsen so unterteilt
von Säugetieren ist ein Schlüsselenzym bei der werden, dass genau die richtige Anzahl an
Teil 2 Kontrolle des Glucosegehaltes im Blut. Das Enzym Markierungen vorhanden ist, um alle Werte
katalysiert den Abbau von Glucose-6-Phosphat in abzubilden. Bestimmen Sie den Wertebereich
Glucose und anorganisches Phosphat i. Die Glu- für jede Achse. (a) Was ist der größte Wert auf
cose wird aus der Leber ins Blut transportiert und der x-Achse? Wie groß ist ein vernünftiger Ab-
erhöht so dessen Glucosegehalt. In der Übung wer- stand der Markierungen und welcher Maxi-
den Sie Daten aus einem Experiment verwenden, malwert muss vorgegeben werden? (b) Führen
bei dem die Zeitabhängigkeit der Phosphatkonzen- Sie dies entsprechend für die Ordinate durch.
tration im Suspensionspuffer (der Pufferlösung, in
der die isolierten Leberzellen schwammen) gemes- 3. Tragen Sie die Datenpunkte in Ihr Diagramm
sen wurde. Dies ist indirektes Maß für die Glucose- ein, indem Sie einen Punkt für jeden x-Wert
6-Phosphatase-Aktivität in den Zellen. mit dem entsprechenden y-Wert an der ent-
Durchführung des Experiments Isolierte Ratten- sprechenden Schnittstelle des Graphen ein-
leberzellen wurden in einer Schale mit Puffer unter zeichnen. Verbinden Sie die Punkte durch
physiologischen Bedingungen suspendiert (pH 7,4; eine Linie. Zusätzliche Informationen zu Gra-
37 °C). Das Substrat Glucose-6-Phosphat wurde hin- phen finden Sie in Anhang B.
zugefügt und von den Zellen aufgenommen. Alle
fünf Minuten wurde eine Probe aus dem Suspen- 4. Betrachten Sie Ihren
sionspuffer entnommen und darin die jeweilige Graphen und suchen
Phosphatkonzentration bestimmt. Sie nach Mustern. (a)
Steigt die Phosphat-
Experimentelle Daten konzentration gleich-
mäßig über den ge-
samten Verlauf des
Zeit [min] i-Konzentration [μmol/ml]
Experimentes an? Zur
0 0 Beantwortung dieser
5 10 Frage beschreiben Sie
das Muster, das Sie
10 90
sehen. (b) Welcher Teil des Graphen zeigt die
15 180 höchste Rate der Enzymaktivität? Die Rate (=
20 270 Geschwindigkeit) ergibt sich aus der Steigung
25 330
der Kurve, Δy/Δx, in μmol/(ml⋅min). Die
höchste Geschwindigkeit ergibt sich am steils-
30 355 ten Anstieg der Kurve. Berechnen Sie diese
35 355 Rate. (c) Geben Sie eine biologische Erklärung
40 355 für das beobachtete Verhalten.

5. Ihr Blutzuckergehalt ist niedrig, da Ihr Mittag-


Interpretieren Sie die Daten essen ausfiel. Welche in der vorliegenden
Übung diskutierte Reaktion findet jetzt in Ih-
1. Um Muster in Datensätzen aus einem zeitab- ren Leberzellen statt? Schreiben Sie die Reak-
hängigen Experiment wie diesem zu erkennen, tion hin und setzen Sie den Namen des En-
ist es hilfreich, die Daten aufzutragen. Als Ers- zyms über den Reaktionspfeil. Wie wird sich
tes wird festgelegt, welcher Datensatz auf der je- diese Reaktion auf Ihren Blutzuckerspiegel
weiligen Achse dargestellt wird. (a) Welche auswirken?
Größe wurde durch die Experimentatoren ab-
sichtlich variiert? Dies ist die unabhängige Vari-
able, die auf der Abszisse (x-Achse) aufgetragen
wird. (b) Welche Einheit hat die unabhängige Daten aus: S. R. Commerford et al., Diets enriched in sucrose or fat
Variable? Erklären Sie in eigenen Worten, wofür increase gluconeogenesis and G-6-Pase but not basal glucose produc-
die Abkürzung steht. (c) Was wurde durch die tion in rats, American Journal of Physiology – Endocrinology and
Forscher gemessen? Dies ist die abhängige Vari- Metabolism 283:E545–E555 (2002).

202
8.4 Enzyme beschleunigen metabolische Reaktionen durch das Absenken von Energiebarrieren

Außer einer bestimmten Temperatur, bei der es opti- ionen. Organische Cofaktoren sind als Coenzyme be-
mal arbeitet, hat jedes Enzym auch ein pH-Optimum. kannt. Die meisten Vitamine sind als Inhaltsstoffe
Der optimale pH-Bereich liegt für die meisten Enzyme unserer Nahrung unverzichtbar, weil sie entweder
bei 6–8, aber es gibt Ausnahmen. Pepsin zum Beispiel direkt als Coenzym oder als direkte Synthesevorstufe
ist ein Verdauungsenzym im menschlichen Magen, von Coenzymen dienen und der Mensch die Fähigkeit
das am besten bei pH 2 arbeitet. In einer derart sauren zu ihrer Synthese aus einfachen Vorläufermolekülen
Umgebung würden die meisten Enzyme sofort denatu- verloren hat. Cofaktoren sind in unterschiedlicher,
rieren, doch Pepsin ist daran angepasst, seine funktio- aber stets entscheidender Weise am katalytischen Pro-
nale Tertiärstruktur auch unter den sauren Umge- zess beteiligt. Wir werden im weiteren Verlauf noch
bungsbedingungen des Magens aufrechtzuerhalten. Im zahlreichen Cofaktoren begegnen.
Teil 2
Gegensatz dazu hat das Verdauungsenzym Trypsin ein
pH-Optimum von 8, passend zum alkalischen Milieu Enzyminhibitoren
des menschlichen Darms, wo es aktiv ist. Im Magen Bestimmte Stoffe hemmen selektiv die Wirkung be-
würde Trypsin sehr rasch denaturieren (Abbildung stimmter Enzyme. Aus dem Studium der Wirkungs-
8.17b). weise dieser Hemmstoffe (Inhibitoren) hat man viel
über die Funktionsweise von Enzymen gelernt. Man
Temperaturoptimum unterscheidet die reversible und die irreversible Hem-
Temperaturoptimum für ein Enzym eines mung. Letztere erfordert in der Regel die kovalente
für ein typisches Enzym thermophilen
Reaktionsgeschwin-

Bindung des Inhibitors an das Enzym.


des Menschen Bakteriums*
Wenn die Bindung über schwächere, nichtkovalente
Wechselwirkungen erfolgt, ist die Hemmung aufhebbar
und nicht von Dauer. Einige reversible Inhibitoren
ähneln dem Substrat und konkurrieren mit ihm um die
digkeit

Bindung an das aktive Zentrum (Abbildung 8.18a, b).


Solche kompetitiven Inhibitoren mindern die Produk-
0 20 40 60 80 100 tivität eines Enzyms durch Blockade des aktiven Zent-
Temperatur (°C) rums. Diese Art der Hemmung lässt sich durch Erhö-
(a) Temperaturoptima zweier Enzyme. hung der Substratkonzentration überwinden, da dann
weitaus mehr Substratmoleküle in der Nähe eines so-
pH-Optimum von pH-Optimum von eben frei gewordenen, besetzbaren aktiven Zentrums
Reaktionsgeschwin-

Pepsin (Magenenzym) Trypsin (Darmenzym) sind als Inhibitormoleküle.


Im Gegensatz dazu konkurrieren nichtkompetitive
Inhibitoren nicht mit dem Substrat um die Bindung an
das aktive Zentrum des Enzyms (Abbildung 8.18c).
digkeit

Sie verlangsamen enzymatische Reaktionen durch ihre


Bindung an einen anderen Bereich des Proteins. Das
veranlasst das Enzym und damit auch sein aktives Zen-
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
trum zu einer Konformationsänderung, so dass die
pH-Wert
Katalyse insgesamt weniger effizient verläuft.
(b) pH-Optima zweier Enzyme.
Durch Organismen ausgeschiedene Toxine und andere
* Thermophile Bakterien sind (nur) bei erhöhten Temperaturen
lebensfähig und daher auch hitzetolerant. Giftstoffe sind oft irreversible Enzyminhibitoren. Ein
Beispiel ist das ursprünglich für Militärzwecke entwi-
Abbildung 8.17: Umgebungsfaktoren, die die Enzymaktivität ckelte Nervengas Sarin, das 1995 den Tod mehrerer
beeinflussen. Jedes Enzym hat (a) ein Temperatur- und (b) ein pH-Opti- Menschen und die Schädigung vieler weiterer in der
mum, die seine maximale Funktionalität gewährleisten. U-Bahn von Tokio verursachte, als es von Terroristen
für einen Anschlag verwendet wurde. Sarin reagiert
ZEICHENÜBUNG Das Innere von reifen Lysosomen hat einen pH-Wert kovalent mit der Hydroxylgruppe in der Seitenkette
von etwa 4,5. Zeichnen Sie eine Kurve wie in (b), die Ihre Voraussage der Aminosäure Serin, die wesentlicher Bestandteil des
bezüglich der pH-Abhängigkeit eines lysosomalen Enzyms illustriert. aktiven Zentrums der Acetylcholinesterase ist. Dieses
Enzym ist im Nervensystem von zentraler Bedeutung.
Cofaktoren Weitere Beispiele sind die Pestizide DDT und Parathion
Viele Enzyme benötigen für ihre katalytische Aktivität (E605), die ebenfalls Enzyme des Nervensystems hem-
zusätzliche chemische Verbindungen (sogenannte men. Manche Antibiotika sind Hemmstoffe bestimm-
funktionelle Gruppen), um Reaktionen zu unterstüt- ter bakterieller Enzyme. So blockiert etwa Penicillin
zen, die durch Aminosäureseitenketten nicht realisiert das aktive Zentrum eines Enzyms, das viele Bakterien
werden können. Derartige Moleküle werden Cofakto- zur Zellwandsynthese benötigen.
ren genannt. Sie können dauernd und kovalent an den Die Darstellung von Enzyminhibitoren als Stoffwech-
Proteinanteil des Enzyms gebunden sein oder nicht- selgifte könnte den Eindruck erwecken, die Enzymhem-
kovalent und reversibel zusammen mit dem Substrat mung sei generell unnormal und schädlich. Tatsächlich
binden. Manche Enzyme enthalten anorganische Co- reguliert jedoch eine Vielzahl stets vorhandener zellu-
faktoren, beispielsweise Zink-, Eisen-, oder Kupfer- lärer Inhibitoren dauernd die Aktivitäten zahlreicher

203
8 Einführung in den Stoffwechsel

Enzyme. Steuerung durch selektive Hemmung ist von einer neuen Aktivität oder einer anderen Substratspe-
zentraler Bedeutung für die Kontrolle des Stoffwechsels. zifizität führen. Unter Umgebungsbedingungen, bei
denen die neue Funktion dem Organismus insgesamt
Ein Substrat nützt, würden durch die natürliche Selektion Indivi-
kann an das Substrat duen mit der mutierten Form des Gens bevorzugt,
aktive Zentrum
des Enzyms womit dieses in der Population erhalten bliebe. Dieses
aktives vereinfachte Modell wird allgemein als die Hauptursa-
binden.
Zentrum
che für die Evolution der meisten so unterschiedlichen
Enzyme angesehen, die sich über die Jahrmilliarden
der Erdgeschichte in Lebewesen entwickelt haben.
Teil 2 Enzym Belege für dieses Modell wurden mithilfe von Labor-
experimenten gesammelt, in denen die Evolution
natürlicher Populationen quasi „in Zeitraffer“ nachge-
ahmt wurde. Eine Gruppe untersuchte, ob die Funk-
tion eines Enzyms namens β-Galactosidase sich im
Lauf der Zeit in Populationen des Bakteriums Escheri-
(a) Normale Bindung.
chia coli geändert hat. β-Galactosidase baut das Disac-
Ein kompetitiver
charid Lactose in die einfacheren Zucker Glucose und
Inhibitor ähnelt Galactose ab. Mithilfe gentechnischer Methoden führ-
dem Substrat ten die Forscher zufällige Mutationen in E. coli-Gene
und konkurriert ein und untersuchten die Bakterien anschließend auf
mit diesem um ihre Fähigkeit, leicht unterschiedliche Disaccharide
die Bindungs- kompetitiver
stelle im aktiven Inhibitor abzubauen (beispielsweise wurde in einem Substrat
Zentrum. die Galactose durch Fuctose im Disaccharid ersetzt).
Am Ende des Experimentes band das „evolvierte“
Enzym das neue Substrat mehrere hundert Mal fester
und baute es 10 bis 20 Mal schneller ab als das ursprüng-
liche, nicht mutierte β-Galactosidase-Enzym.
Es zeigte sich, dass sechs Aminosäurereste des
Enzyms verändert waren, zwei im aktiven Zentrum,
(b) Kompetitive Hemmung. zwei weitere in seiner Nähe und zwei auf der Pro-
teinoberfläche (Abbildung 8.19). Dieses Experiment
Ein nicht kompe-
titiver Inhibitor und weitere ähnlich gelagerte untermauern die Auf-
bindet nicht im fassung, dass vergleichsweise wenige Austausche in
aktiven Zentrum, der Primärstruktur (Aminosäuresequenz) tatsächlich
sondern an einer die gesamte Enzymfunktion ändern können.
anderen Stelle des
Enzymmoleküls.
Zwei geänderte Aminosäurereste katalytisches Zentrum
Dadurch wird wurden in der Nähe des kata-
dessen Konfor- („active site“)
lytischen Zentrums gefunden.
mation so verän-
dert, dass die
Substratbindung,
die Katalyse oder
beides nicht mehr nicht kompetitiver Inhibitor
stattfinden.

(c) Nicht kompetitive Hemmung.


Abbildung 8.18: Hemmung der Enzymaktivität.

Die Evolution von Enzymen


EVOLUTION Bislang sind mehr als 4.000 verschiedene
Zwei geänderte Aminosäure- Zwei geänderte Amino-
Enzyme in verschiedenen Spezies entdeckt und reste wurden im katalytischen säurereste fanden sich an
beschrieben worden. Dies ist vermutlich nur ein sehr Zentrum gefunden. der Proteinoberfläche.
kleiner Teil aller Enzyme, die es auf der Erde gibt. Abbildung 8.19: Nachahmen der Evolution eines Enzyms mit
Woher kommt dieser Überfluss? Die meisten Enzyme neuer Funktion. Nach sieben Runden Mutation und Selektion im Labor
sind Proteine, die durch Gene codiert werden. Eine per- evolvierte das Enzym β-Galactosidase in ein Enzym mit einer anderen Sub-
manente Änderung in einem Gen, eine Mutation, kann stratspezifizität als der für Lactose. Das Bändermodell zeigt eine Unterein-
zur Bildung eines Proteins mit einem oder mehreren heit des neuen Enzyms mit den Positionen von sechs geänderten Amino-
veränderten Aminosäureresten führen. Wenn bei einem säureresten.
Enzym ein geänderter Rest im aktiven Zentrum oder in
einem anderen wichtigen Bereich sitzt, könnte das zu

204
8.5 Die Regulation der Enzymaktivität hilft bei der Kontrolle des Stoffwechsels

durch die Bindung eines regulatorischen Moleküls an


 Wiederholungsfragen 8.4 einem zweiten Ort beeinflusst wird (daher auch der
Name von griech. allos = anders, stereos = Ort). Dies
1. Viele „spontane“ (exergone) Reaktionen verlau-
kann sowohl zur Hemmung als auch zur Stimulation
fen sehr langsam. Warum laufen nicht alle (ther-
der Enzymaktivität führen.
modynamisch) spontanen Reaktionen augen-
blicklich ab?
2. Wie erklärt sich die Substratspezifität von En- 8.5.2 Allosterische Aktivierung und
zymen? Hemmung
3. WAS WÄRE, WENN? Malonat hemmt das Enzym Teil 2
Alle bekannten allosterisch regulierten Enzyme beste-
Succinatdehydrogenase. Wie könnten Sie he- hen aus mindestens zwei Untereinheiten, einzelnen
rausfinden, ob Malonat ein kompetitiver oder Polypeptidketten mit jeweils eigenen aktiven Zentren,
ein nichtkompetitiver Inhibitor ist? die sich zu dem dann funktionsfähigen Enzym mittels
4. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Bestimmte Bakte- nichtkovalenter Wechselwirkungen zusammenlagern
rien enthalten Enzyme, die Fucose-haltige (Abbildung 8.20a). Allosterie ist also an das Vorlie-
Disaccharide (siehe den obigen Abschnitt zur gen einer Quartärstruktur gebunden. Das multimere
Evolution) abbauen können. Welche Bedin- Proteinmolekül schaltet zwischen zwei Zuständen –
gungen könnten in der Natur zu einer natürli- dem katalytisch aktiven und dem inaktiven – hin und
chen Selektion dieser Bakterien geführt ha- her. Im einfachsten Fall einer allosterischen Regula-
ben? Beachten Sie auch die entsprechende tion bindet ein hemmendes oder aktivierendes regula-
Diskussion in Konzept 1.2. torisches Molekül (allgemein: ein allosterischer Effek-
tor) an eine allosterische Bindungsstelle. Die Bindung
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. eines allosterischen Aktivators stabilisiert die aktive
Konformation des Proteins, die eines allosterischen
Inhibitors die inaktive. Die Untereinheiten eines allos-
terisch regulierten Enzyms passen so zusammen, dass
sich die Konformationsänderung einer Untereinheit in
Die Regulation der Enzymaktivität alle anderen Untereinheiten fortpflanzt. Infolge dieser
hilft bei der Kontrolle des Wechselwirkung kann ein einziges allosterisches Effek-
Stoffwechsels
8.5 tormolekül durch Besetzung einer einzigen Bindungs-
stelle die aktiven Zentren aller anderen Untereinheiten
beeinflussen.
Wenn alle Stoffwechselpfade gleichzeitig aktiv wären, Schwankende Effektorkonzentrationen können zel-
würde in der Zelle das chemische Chaos ausbrechen. luläre Enzyme in einem sehr komplexen Zusammen-
Lebensprozesse sind unabdingbar mit der Fähigkeit spiel aktivieren und/oder hemmen. Die Produkte der
von Zellen verknüpft, den Stoffwechsel durch zeitliche ATP-Hydrolyse, ADP und i sorgen zum Beispiel für
und räumliche Kontrolle der Enzymaktivitäten genau das richtige Verhältnis zwischen katabolen und anabo-
zu regulieren. Das kann einerseits durch das An- und len Stoffwechselaktivitäten in einer Zelle indem sie
Abschalten der Gene, die bestimmte Enzyme codieren, deren Schlüsselenzyme allosterisch regulieren. ATP
geschehen (siehe Teil 3). Andererseits kann die Akti- bindet allosterisch an mehrere katabole Enzyme, senkt
vität von Enzymen auch nach ihrer Synthese noch ihre Substrataffinität und hemmt so ihre Aktivität. ADP
gesteuert werden, beispielsweise durch die reversible, dagegen wirkt auf dieselben Enzyme aktivierend. Das
nichtkovalente Bindung von Effektormolekülen oder ist deswegen sinnvoll, weil eine Hauptfunktion des
kovalent durch eine reversible chemische Veränderung Katabolismus in der Regeneration von ATP liegt. Falls
(Modifikation) von Aminosäureseitenketten. die ATP-Produktion hinter den Bedarf zurückfällt, rei-
chert sich ADP an und aktiviert die Enzyme, die den
Katabolismus beschleunigen und so mehr ATP produ-
8.5.1 Allosterische Regulation von zieren. Falls der ATP-Nachschub den Bedarf über-
Enzymen steigt, wird der Katabolismus verlangsamt, weil die
sich dann anreichernden ATP-Moleküle an dieselben
In vielen Fällen verhalten sich die Moleküle, die natür- Enzyme binden und sie hemmen. Im nächsten Kapitel
licherweise die Enzymaktivitäten in einer Zelle regulie- werden wir einige weitere Beispiele für diese Art der
ren, annähernd wie reversible nichtkompetitive Inhibi- Regulation im Zusammenhang mit der Zellatmung
toren (Abbildung 8.18c). Sie ändern die Konformation kennenlernen. ATP, ADP und andere, verwandte
eines Enzyms und damit seine katalytische Wirksam- Moleküle beeinflussen auch die Schlüsselenzyme ana-
keit durch nichtkovalente Bindung an einen vom kata- boler Stoffwechselwege. Damit können allosterische
lytischen Zentrum räumlich getrennten Wirkort. Der Enzyme die Geschwindigkeiten von entscheidenden
Begriff allosterische Regulation bezeichnet all die Reaktionen in beiden Spielarten des Stoffwechsels
Fälle, in denen die Funktion eines aktiven Zentrums steuern.

205
8 Einführung in den Stoffwechsel

Eine andere Variante der allosterischen Regulation Ein allosterischer Aktivator


beinhaltet die Aktivierung aller aktiven Zentren eines allosterisches Enzym stabilisiert die aktive Form
aus mehreren Untereinheiten bestehenden Enzyms aus vier Untereinheiten des Enzyms.
durch die Bindung eines einzigen Substratmoleküls aktives
(Abbildung 8.20b). Bei einem solchen Enzym kann Zentrum
die durch die Substratbindung erfolgende Konforma- (eines von
tionsänderung einer Untereinheit vergleichbar günstige vieren)
Konformationsänderungen in allen übrigen Unterein-
heiten hervorrufen. Diese sogenannte Kooperativität Regulations-
verstärkt die Reaktion des Enzyms auf sein Substrat: stelle (eine
Teil 2 von vieren)
Aktivator
Ein einzelnes Substratmolekül bereitet den Weg für aktive Form stabilisierte aktive Form
die erleichterte Bindung weiterer Substratmoleküle.
Das Sauerstofftransportprotein der Wirbeltiere, Hämo-
globin, ist ein klassisches Beispiel für Kooperativität. Ein allosterischer
Oszillation Inhibitor stabilisiert
Obwohl es kein Enzym ist, hat das Studium der ko- die inaktive Form
operativen Bindung bei diesem Protein wesentlich zur des Enzyms.
Aufklärung der molekularen Grundlagen der Koopera-
tivität beigetragen. Hämoglobinmoleküle bestehen aus
vier Untereinheiten mit je einer Sauerstoffbindungs-
stelle (siehe Abbildung 5.18). Die Bindung eines Sau-
erstoffmoleküls an eine der vier Bindungsstellen er-
höht die Tendenz zur Sauerstoffbindung (Affinität) nicht
der drei anderen. In Gegenwart höherer Sauerstoffkon- funk- Inhibitor stabilisierte
tionelles inaktive Form
zentrationen, wie sie in der Lunge oder in Kiemen vor- aktives Zentrum inaktive Form
liegen, wird Hämoglobin also eine immer größere Sauer-
(a) Allosterische Aktivierung und Hemmung. Niedrige
stoffaffinität entwickeln, je mehr Bindestellen besetzt
zelluläre Effektor-Konzentrationen führen zu ihrer
sind. In sauerstoffarmen Geweben wird dagegen die Dissoziation vom Enzym, das daraufhin wieder zwi-
Freisetzung eines jeden Sauerstoffmoleküls die Affinität schen aktiver und inaktiver Form hin und her zu
der verbleibenden besetzten Zentren für Sauerstoff er- schalten beginnt.
niedrigen, mithin seine Freisetzung dort begünstigen,
Die Bindung eines Substratmoleküls
wo er am meisten benötigt wird. Auch andere Enzyme
an das aktive Zentrum einer Unter-
mit mehreren Untereinheiten zeigen ein ähnliches ko- einheit verriegelt alle Untereinheiten
operatives Verhalten. in ihrer aktiven Konformation.

Substrat
Kovalente Modifikationen zur Regulation der
Enzymaktivität
Als sehr effektive Methode der Regulation werden einige
wichtige Stoffwechselenzyme nach ihrer Synthese (post-
translational) noch chemisch verändert (modifiziert).
Obwohl es sich hierbei um kovalente Veränderungen des
Zielproteins handelt, sind diese trotzdem noch rever-
sibel. Sowohl die Hin- als auch die Rückreaktion wer- inaktive Form stabilisierte aktive Form
den durch Konverterenzyme (X, Y) katalysiert. Häufig
(b) Kooperativität – ein weiterer Typ der allosterischen
anzutreffende Varianten dieser Art einer Kontrolle Aktivierung. Die links dargestellte inaktive Form wech-
der Enzymaktivität sind die Phosphorylierung und selt so lange schnell in die rechts dargestellte aktive
Dephosphorylierung von Serin-, Threonin- oder Tyro- und wieder zurück in die inaktive Form, wie die aktive
sinresten (bei Bakterien auch Histidinreste), sowie die Form nicht durch Substratbindung stabilisiert wird.
Redoxmodifikation von Cysteinresten. Im ersten Fall X
sind Proteinkinasen und -phosphatasen die verantwort-
lichen Konverterenzyme (Beispiele finden Sie in Kapi-
tel 11), die oft selbst unter der Kontrolle von Metaboli- OH O P
ten stehen oder bei denen bereits die Transkription der
codierenden Gene reguliert wird. Im zweiten Fall kata-
lysieren redoxaktive Proteine wie Thioredoxine oder Y
Glutaredoxine die reversible Oxidation von Cysteinres-
ten zu Disulfidbrücken. Die Licht/Dunkel-Modulation (c) Kovalente Modifikation. Hierbei wird bei einem Teil
der Enzymmoleküle ein bestimmter Aminosäurerest
von einigen Enzymen in Chloroplasten ist ein typisches verändert, was zur Folge hat, dass zwei unterschied-
Beispiel für eine Redoxmodifikation durch reversible lich aktive Populationen entstehen. Das Mengenver-
Disulfidbrückenbildung, die eine schnelle Anpassung hältnis der beiden Formen bestimmt danach die
von Stoffwechselflüssen an den aktuellen Bedarf tatsächliche Enzymaktivität.
ermöglicht (siehe Kapitel 10). Abbildung 8.20: Allosterische Regulation der Enzymaktivität.

206
8.5 Die Regulation der Enzymaktivität hilft bei der Kontrolle des Stoffwechsels

Rückkopplungshemmung Enzymen, die aufeinanderfolgende Schritte desselben


Wenn ATP allosterisch ein Enzym eines ATP-erzeugen- Stoffwechselweges katalysieren, zu Multienzymkom-
den Stoffwechselweges hemmt, wie bereits angespro- plexen zusammengefasst. Diese Anordnung erleichtert
chen, so ist das eine Hemmung durch Rückkopplung die Reaktionsabfolge, da das Produkt des ersten
(engl. „feedback inhibition“), ein allgemein verbreiteter Enzyms gleichzeitig Substrat des benachbarten zweiten
Modus der Stoffwechselkontrolle. Bei der Rückkopp- Enzyms ist und so weiter bis zur Freisetzung des End-
lungshemmung wird ein Stoffwechselweg dadurch produkts. Einige Enzyme und Enzymkomplexe befin-
abgeschaltet, dass ein am Anfang des Weges befindli- den sich an festgelegten Orten innerhalb einer Zelle
ches Enzym durch ein Endprodukt des betreffenden und fungieren als strukturelle Bestandteile bestimmter
Pfades gehemmt wird. Abbildung 8.21 zeigt ein Bei- Membranen. Andere befinden sich in Lösung innerhalb
Teil 2
spiel für diesen Kontrollmechanismus in einem anabo- von membranumschlossenen Organellen, jede mit
len Stoffwechselweg. Manche Zellen verwenden diesen ihrem eigenen chemischen Milieu. So sind etwa in
Weg, der fünf Einzelschritte umfasst, zur Biosynthese eukaryontischen Zellen die Enzyme der Zellatmung an
der Aminosäure Isoleucin aus der Aminosäure Threo- spezifischen Orten innerhalb der Mitochondrien lokali-
nin. In dem Maß, in dem sich Isoleucin anreichert, ver- siert (Abbildung 8.22).
langsamt es seine eigene Synthese durch allosterische
Hemmung des ersten Enzyms im Syntheseweg. Die
Rückkopplungshemmung verhindert so die Verschwen-
dung chemischer Ressourcen durch Synthese von mehr
Isoleucin als notwendig.
Mitochon-
Ausgangs- drium
substrat
(Threonin)
Die Matrix enthält
Aktives wasserlösliche Enzyme,
Zentrum ist Threonin, an die für einen bestimm-
Isoleucin zugänglich. das aktive ten Teil der Zellatmung
wird von Zentrum zuständig sind.
der Zelle gebunden
verstoff- Enzym 1 Die Enzyme eines
wechselt. anderen Teils der

1 μm
(Threonin-
desaminase) Zellatmung sind in
die innere Mem-
bran eingebettet.
Intermediat A
Rückkopplungs- Das aktive Abbildung 8.22: Organellen und strukturelle Ordnung im Stoff-
hemmung Zentrum von Enzym 2 wechsel. Organellen wie die Mitochondrien (transmissionselektronen-
Enzym 1 bin-
mikroskopische Aufnahme, rechts) enthalten unter anderem die speziellen
det nicht
länger Intermediat B Enzyme der Zellatmung.
Threonin;
Enzym 3
der Stoff-
wechsel- In diesem Kapitel haben Sie gelernt, dass der Stoff-
weg ist ab- Intermediat C
Isoleucin geschaltet.
wechsel, die sich kreuzenden chemischen Reaktions-
bindet an Enzym 4 folgen, die für das „Leben“ charakteristisch sind, ein
den allos- choreografiertes Miteinander tausender unterschied-
terischen
Regulator- Intermediat D licher Moleküle ist. Im nächsten Kapitel betrachten
bereich. wir die Zellatmung, den grundlegenden Stoffwechsel-
Enzym 5
weg, durch den organische Verbindungen abgebaut
werden und so Energie für Lebensprozesse liefern.

Endprodukt
(Isoleucin)  Wiederholungsfragen 8.5
Abbildung 8.21: Hemmung durch Rückkopplung in der Isoleucin- 1. Wie können sich ein Aktivator und ein Inhibi-
Biosynthese. tor (Hemmstoff) unterschiedlich auf ein allo-
sterisch reguliertes Enzym auswirken?

8.5.3 Die spezifische Lokalisation von 2. Die Regulation der Isoleucin-Biosynthese ist
Enzymen in der Zelle ein Beispiel für die Rückkopplungshemmung
eines anabolen Stoffwechselweges. Erklären
Sie vor diesem Hintergrund, wie ATP in die
Die Zelle ist nicht einfach ein Sack voller Stoffe mit Rückkopplungshemmung eines katabolen Pfa-
tausenden von unterschiedlichen Enzymen und Sub- des eingebunden sein könnte.
straten in einer zufälligen Mischung. Sie ist komparti-
mentiert und ihre Struktur bringt Ordnung in die Stoff- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
wechselwege. In einigen Fällen sind Gruppen von

207
8 Einführung in den Stoffwechsel

 ZUSAMMENFASSUNG KAPITEL 8

Konzept 8.1 ΔG0′ = –RT ln KGG


Der Stoffwechsel von Organismen wandelt Stoffe und
Energie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik um (R = 8,315·10–3 kJ/(mol⋅K), T ist die absolute Tem-
peratur in Kelvin). Die tatsächliche Änderung der
 Die Organisation der Chemie der Lebensvorgänge freien Enthalpie für gegebene Konzentrationen der
in Stoffwechselwegen. Der Stoffwechsel (Metabo- Reaktionspartner errechnet sich für die Reaktion
lismus) ist die Gesamtheit der chemischen Reaktio- 
mA + nB  
 xM + yN zu:
Teil 2
nen, die in einem Lebewesen ablaufen. Unterstützt
ΔG = ΔG0′ + RT ln ([M]x⋅[N]y)/([A]m⋅[B]n)
durch Enzyme folgt der Stoffwechsel sich kreuzen-
den Wegen, die kataboler (abbauender, Energie  Freie Enthalpie und Stoffwechsel. Bei einer exergo-
gewinnender) oder anaboler (aufbauender, Energie nen (spontanen) chemischen Reaktion enthält das
verbrauchender) Natur sein können. System nach Erreichen des Gleichgewichtszustan-
 Energieformen. Energie ist die Fähigkeit, Arbeit zu des weniger freie Enthalpie als zu Anfang (ΔG < 0).
verrichten. Kinetische Energie ist gleich Bewe- Endergone (nicht spontane) Reaktionen erfordern
gungsenergie, sie schließt thermische Energie – die einen Aufwand an zugeführter Energie (ΔG > 0).
zufällige Bewegung von Atomen oder Molekülen – Der fortwährende Zusatz von Ausgangsstoffen oder
ein. Wärme ist thermische Energie, die von einem die dauernde Entnahme von Reaktionsprodukten
Objekt auf ein anderes übergeht. Potenzielle Energie verhindern, dass sich im Stoffwechsel eines lebenden
(Lageenergie) hängt mit der Lokalisation oder der Organismus jemals das thermodynamische Gleichge-
Struktur der Materie zusammen. Sie schließt die in wicht einstellen kann.
chemischen Verbindungen infolge ihrer Struktur
enthaltene chemische Energie als Sonderform ein. ? Erklären Sie die Bedeutung jeder Größe in der Gleichung für die Ände-
 Die physikalischen Gesetze der Energieumwand- rung der freien Enthalpie bei einer von selbst ablaufenden chemischen Reak-
lung. Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik (= Ener- tion. Warum sind derart spontane Reaktionen für den Stoffwechsel wichtig?
gieerhaltungssatz) besagt, dass Energie weder erschaf-
fen noch zerstört, sondern nur übertragen oder Konzept 8.3
umgewandelt werden kann. Der 2. Hauptsatz (Entro- ATP ermöglicht Zellarbeit durch die Kopplung von
piesatz) besagt, dass sich bei spontanen Prozessen, exergonen an endergone Reaktionen
die ohne Zufuhr von Energie von außen von selbst
ablaufen, die Entropie des Universums stets vergrö-  Struktur und Hydrolyse des ATP. ATP ist die Ener-
ßert. giewährung der Zelle. Die hydrolytische Abspal-
tung des terminalen Phosphorylrestes ergibt ADP
? Erklären Sie, warum die hochorganisierte Zellstruktur mit dem zwei- und Hydrogenphosphat, Energie wird frei.
ten Hauptsatz der Thermodynamik in Einklang steht.  Wie ATP Arbeit verrichtet. Die ATP-Hydrolyse
treibt durch aktivierende Phosphorylierung von
Konzept 8.2 Edukten (Reaktanden) endergone Reaktionen an.
Die Änderung der freien Enthalpie entscheidet über Die Hydrolyse von ATP verursacht (manchmal mit
die Richtung, in der eine Reaktion abläuft der Phosphorylierung von Proteinen einhergehend)
Veränderungen in der Gestalt und der Bindungsaffi-
 Änderung der freien Enthalpie (ΔG). Die freie Ent- nität von Transport- und Motorproteinen.
halpie ist die für die Verrichtung von Nutzarbeit  Die Regeneration des ATP. Katabole Stoffwechsel-
verfügbare Energie. Die Änderung der freien Gesamt- wege erbringen die zur Synthese von ATP aus ADP
enthalpie (ΔGGesamt), mit der ein Prozess einhergeht, und anorganischem Phosphat erforderliche freie
ist über die folgende Beziehung mit der Enthalpie- Enthalpie.
änderung (ΔH) und der Entropieänderung (ΔS) des
Systems verknüpft: ΔGGesamt = ΔHSystem – TΔSSystem. ? Beschreiben Sie den ATP-Zyklus: Wie wird ATP genutzt, wie regeneriert?
 Freie Enthalpie, Stabilität und Gleichgewicht. Orga-
nismen bestreiten ihr Leben mittels der verfügbaren
freien Enthalpie. Durch spontane Prozesse nimmt Konzept 8.4
die freie Enthalpie ab und die Stabilität des Sys- Enzyme beschleunigen metabolische Reaktionen durch
tems nimmt zu. Im thermodynamischen Gleich- das Absenken von Energiebarrieren
gewicht erreicht das System zwar seine größte Sta-
bilität, kann jedoch keine Arbeit mehr verrichten.  Die Aktivierungsenergieschwelle. Der Ablauf che-
Die Änderung der freien Standardenthalpie ist mit mischer Reaktionen erfordert in der Regel das Auf-
der Gleichgewichtskonstante (Massenwirkungskon- bringen einer Aktivierungsenergie EA.
stante) einer chemischen Reaktion durch die fol-
gende Beziehung verknüpft:

208
Übungsaufgaben

 Wie Enzyme die Aktivierungsenergie senken. ? Wie unterstützen sowohl Aktivierungsenergiebarrieren als auch Enzyme
die strukturelle und metabolische Ordnung lebender Organismen?
Reaktions-
verlauf EA
ohne ohne
Enzym Enzym Mit Enzym Konzept 8.5
ist EA Die Regulation der Enzymaktivität hilft bei der Kon-
niedriger.
freie Enthalpie

trolle des Stoffwechsels


Edukte

Reaktions- Das Enzym  Allosterische Regulation von Enzymen. Viele En-


verlauf ändert das zyme werden allosterisch reguliert: Allosterische
mit Enzym ΔG nicht. Teil 2
Effektoren – Aktivatoren oder Inhibitoren – binden
an spezielle Effektorstellen und beeinflussen da-
Produkte
durch die Gestalt und Funktion des Enzyms (Pro-
Fortschreiten der Reaktion teins). Von Kooperativität spricht man, wenn die
Bindung eines Substratmoleküls die Bindung oder
die Aktivität anderer Bindungsstellen beeinflusst.
 Die Substratspezifität von Enzymen. Jedes Enzym Bei der Rückkopplungshemmung hemmt das End-
verfügt über ein charakteristisches aktives Zentrum, produkt eines Stoffwechselweges allosterisch das
an das ein spezifisches Substrat bindet (das Edukt Enzym eines vorhergehenden Schrittes in dem be-
[der Reaktand] der katalysierten Reaktion). Enzym treffenden Weg.
und Substrat verändern oft infolge der Substratbin-  Kovalente Modifikation von Enzymen. Die aktive
dung ihre Molekülgestalten (induzierte Passung). und inaktive Form eines Enzyms können durch
 Katalyse im aktiven Zentrum eines Enzyms. Das eine reversible chemische Veränderung ineinander
aktive Zentrum vermindert die Aktivierungsenergie umgewandelt werden. Dabei handelt es sich oft um
der Reaktion durch Ausrichtung des oder der reagie- die Phosphorylierung/Dephosphorylierung an einem
renden Stoffe, das Strecken von Bindungen, die Serin-, Threonin- oder Tyrosinrest oder um eine Di-
Bereitstellung einer die Reaktion begünstigenden sulfidbrückenbildung durch Cystein-Oxidation. Kon-
Mikroumgebung oder die zeitweise Ausbildung kova- verterenzyme katalysieren die reversiblen Umwand-
lenter Bindungen mit dem oder den Substraten (Kom- lungen und können ihrerseits selbst reguliert werden.
binationen dieser Faktoren sind möglich und üblich).  Die spezifische Lokalisation von Enzymen in der
 Die Wirkung lokaler Bedingungen auf die Enzym- Zelle. Manche Enzyme sind zu Komplexen (Mole-
aktivität. Jedes Enzym besitzt ein Temperatur- und külverbänden) zusammengefasst, manche sind in
ein pH-Optimum. Inhibitoren setzen die Enzym- Membranen eingebaut und manche finden sich im
aktivität herab. Ein kompetitiver Inhibitor bindet Inneren von Organellen. All dies dient der Steige-
im aktiven Zentrum, ein nichtkompetitiver bindet rung der Effizienz von Stoffwechselprozessen.
an einer anderen Stelle des Enzymmoleküls.
 Selektion. Die auf Organismen mit Enzymvarian- ? Welche Rollen spielen die allosterische Regulation und die Rückkopp-
ten einwirkende natürliche Selektion ist für die lungshemmung im zellulären Metabolismus?
Enzymdiversität verantwortlich.

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜB UN GSA U FG AB E N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.

Ebene 1: Wissen und Verständnis d. Wärme nie zur Verrichtung von Arbeit benutzt
werden kann
1. Wählen Sie dasjenige Begriffspaar aus, das den
folgenden Satz korrekt vervollständigt: 3. Welche/r der folgenden Stoffwechselprozesse
Der Katabolismus verhält sich zum Anabolis- kann ohne einen Nettoeintrag an Energie aus an-
mus wie ____________ zu ____________. deren Prozessen ablaufen?
a. exergon; spontan a. ADP + i → ATP + H2O
b. exergon; endergon b. C6H12O6 + 6 O2 → 6 CO2 + 6 H2O
c. freie Enthalpie; Entropie c. 6 CO2 + 6 H2O → C6H12O6 + 6 O2
d. Arbeit; Energie d. Aminosäuren → Protein
2. Zellen können Wärme nicht zur Verrichtung von 4. Falls ein in Lösung befindliches Enzym mit Subs-
Arbeit heranziehen, weil trat gesättigt ist, besteht die effektivste Methode
a. Wärme keinen Energietransfer beinhaltet zu einer noch schnelleren Produktgewinnung im
b. Zellen nicht viel Wärme enthalten; sie sind rela-
a. Zusatz von mehr Enzym
tiv kühl
b. Erhitzen der Lösung auf 90 °C
c. die Temperatur in einer Zelle für gewöhnlich c. Zusatz von mehr Substrat
überall gleich ist
d. Zusatz eines nichtkompetitiven Inhibitors

209
8 Einführung in den Stoffwechsel

5. Einige Bakterien sind in heißen Quellen metabo- 9. Wissenschaftliche Fragestellung


lisch aktiv, weil
ZEICHENÜBUNG Eine Forscherin hat eine Testme-
a. sie eine kühlere Innentemperatur aufrechterhal-
thode entwickelt, um die Aktivität eines wichti-
ten können
gen Enzyms aus in Kultur gehaltenen Leberzellen
b. höhere Temperaturen Katalyse unnötig machen
zu messen. Sie setzt einer Kulturschale mit Zel-
c. ihre Enzyme höhere Temperaturoptima besitzen
len das Substrat des Enzyms zu und misst dann
d. ihre Enzyme vollständig unempfindlich gegen
das Erscheinen des Produkts. Die Ergebnisse wer-
Temperatureinwirkungen sind
den grafisch aufgetragen: Produktmenge auf der
y-Achse gegen die Zeit auf der x-Achse. Sie un-
Ebene 2: Anwendung und Auswertung terscheidet anhand des Graphen vier Abschnitte.
Teil 2
Für eine kurze Zeitspanne ist kein Produkt nach-
6. Falls ein Enzym einer Lösung zugesetzt ist, in der weisbar (Abschnitt A). Dann (Abschnitt B) ist die
sich das Substrat und das Produkt der von ihm Reaktionsgeschwindigkeit ziemlich hoch (der
katalysierten Reaktion im chemischen Gleichge- Graph steigt steil an). Nach einiger Zeit verlang-
wicht befinden, würde samt sich die Reaktion allmählich (Abschnitt C).
a. zusätzliches Substrat gebildet Schließlich verläuft der Graph flach (Abschnitt D).
b. die Reaktion von endergon nach exergon um- Zeichnen Sie den Graphen und schlagen Sie ein
schlagen Modell vor, das die dem Reaktionsprofil zugrunde
c. sich die freie Enthalpie des Systems verändern liegenden molekularen Ereignisse erklärt.
d. nichts passieren; die Reaktion würde im Gleich-
gewichtszustand verharren 10. Skizzieren Sie ein Thema: Energie und Materie
Leben erfordert Energie. Beschreiben Sie in einem
Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten kurzen Aufsatz von 100–150 Worten die Grund-
prinzipien der Bioenergetik in einer tierischen
7. ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie unter Verwendung Zelle. Wie unterscheidet sich eine photosynthetisch
von Pfeilen den durch die folgenden Aussagen defi- aktive Zelle in Bezug auf Energiefluss und -um-
nierten, verzweigten Stoffwechselweg. Beantworten wandlung von einer tierischen Zelle? Berücksichti-
Sie anschließend die Frage unten. Verwenden Sie gen Sie auch die Rolle von ATP und Enzymen.
rote Pfeile und Minuszeichen um Hemmung anzu-
deuten. 11. NUTZEN SIE IHR WISSEN Erklären Sie mithilfe der
Begriffe „kinetische und potenzielle Energie“ was
L kann M oder N bilden. auf diesem Foto dargestellt ist. Berücksichtigen
M kann O bilden. Sie auch die Energieumwandlungen, die mit dem
O kann P oder R bilden. Fressen von Fisch durch die Pinguine und ihrem
P kann Q bilden. Zurückklettern auf den Gletscher einhergehen.
R kann S bilden. Beschreiben Sie die Rolle des ATP und von Enzy-
O hemmt die Reaktion von L zu M. men bei den zugrundeliegenden molekularen
Q hemmt die Reaktion von O zu P. Prozessen. Was geschieht mit der freien Enthalpie
S hemmt die Reaktion von O zu R. einiger beteiligter Moleküle?
Welche Reaktion würde vorherrschen, falls so-
wohl Q als auch S in der Zelle in hoher Konzen-
tration vorlägen?
a. L → M
b. M → O
c. L → N
d. O → P

8. Verbindung zur Evolution Ein in jüngerer Zeit


wiederaufgeflammtes antievolutionäres „Design-
argument“ (Kreationismus) besagt, dass bioche-
mische Reaktionswege viel zu komplex sind, um
sich im Rahmen einer Evolution herausgebildet
haben zu können, da alle Zwischenschritte eines
gegebenen Stoffwechselweges zur Bildung des
Endprodukts vorhanden sein müssen. Entkräften
Sie diese Argumentation anhand der Existenz un- Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
terschiedlicher Stoffwechselwege mit den glei- weitere Übungen und vertiefende Materia-
chen oder ähnlichen Produkten! lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

210
Zelluläre Atmung und Gärung

9.1 Katabole Stoffwechselwege liefern Energie durch die 9


Oxidation organischer Brennstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
9.2 Die Glykolyse gewinnt chemische Energie aus der
Oxidation von Glucose zu Pyruvat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
9.3 Nach der Pyruvat-Oxidation vervollständigt der Citratzyklus
die energieliefernde Oxidation organischer Moleküle . . . . . . . . . . 219
9.4 Die oxidative Phosphorylierung verknüpft den Elektronen-
transport über eine chemiosmotische Kopplung mit der
ATP-Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

KONZEPTE
9.5 ATP kann auch ohne Sauerstoff durch Gärung oder anaerobe
Atmung erzeugt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
9.6 Die Glykolyse und der Citratzyklus sind vielfach mit anderen
Stoffwechselwegen verknüpft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

 Abbildung 9.1: Wie versorgen


diese Blätter die Giraffe mit Energie?
9 Zelluläre Atmung und Gärung

Leben ist Arbeit Katabole Stoffwechselwege liefern


Lebende Zellen sind als offene Systeme auf die Zufuhr
Energie durch die Oxidation
von Energie von außen angewiesen, um ihre vielfältigen
Aufgaben, wie die Synthese von Biopolymeren, den akti-
organischer Brennstoffe
9.1
ven Transport durch Membranen und die Vermehrung,
erfüllen zu können. Die Giraffe in Abbildung 9.1 deckt Die Gesamtheit der Stoffwechselwege, die gespeicherte
ihren Energiebedarf durch den Verzehr von Pflanzen, Energie durch den Abbau komplexer Moleküle frei-
andere Tiere beziehen ihre Energie aus dem Verzehr von setzt, wird als Katabolismus bezeichnet (siehe Kapitel
Organismen, die wiederum Pflanzenfresser sind. 8). Zwei wesentliche Endprodukte des Katabolismus
Teil 2
Somit stammt die in den organischen Molekülen der entstehen durch Oxidation von reduzierten Kohlen-
Nahrung gespeicherte Energie letztlich von der Sonne. stoffverbindungen zu Kohlendioxid und Reduktion
Energie geht in Form von Sonnenlicht in ein Ökosystem von molekularem Sauerstoff zu Wasser. Mithin spielt
ein und verlässt es in Form von Wärme. Im Gegensatz der Transfer von Elektronen bei diesen Stoffwechsel-
dazu werden die für das Leben unverzichtbaren chemi- wegen eine wesentliche Rolle. Wir werden zunächst
schen Elemente ständig wiederverwendet („recycelt“; diese für die Zellatmung zentralen Prozesse betrachten.
Abbildung 9.2). Die Photosynthese erzeugt Sauerstoff
und organische Moleküle, die in den Mitochondrien von
Algen, Pflanzen und Tieren als Betriebsstoffe der Zell- 9.1.1 Katabole Stoffwechselwege und die
atmung (Respiration) verwertet werden. Die Atmung baut ATP-Produktion
diese Stoffe ab und erzeugt dabei ATP. Die Abfallpro-
dukte dieser Art der Respiration, Kohlendioxid und Was- Organische Verbindungen enthalten potenzielle Ener-
ser, sind ihrerseits die Ausgangsstoffe der Photosynthese. gie, die auf der Anordnung der Elektronen in den Bin-
In diesem Kapitel werden wir sehen, wie Zellen die dungen zwischen den Atomen der Moleküle beruht.
in organischen Verbindungen gespeicherte Energie zur Brennstoffe sind daher die Reaktanden exergoner Reak-
Synthese von ATP verwenden. ATP treibt die meisten tionen, die jedoch nicht ohne Weiteres ablaufen. Um
zellulären Arbeitsvorgänge an. Einem Blick auf einige komplexe organische Moleküle schrittweise zu einfa-
Grundlagen der Atmung folgen drei wesentliche Stoff- cheren Produkten abzubauen, müssen in der Regel die
wechselwege, die alle an der Zellatmung beteiligt sind: durch die Aktivierungsenergien bestehenden Hürden
die Glykolyse, die Pyruvatoxidation/der Citratzyklus überwunden werden, wofür die Zellen auf Enzyme
und die oxidative Phosphorylierung. Die Gärung ist angewiesen sind (Kapitel 8). Damit haben sie gleichzei-
eine frühe Entwicklung der Evolution, sie stellt eine tig auch vielfältige Möglichkeiten der Regulation. Nur
einfachere Art der Energieversorgung im Zusammen- ein Teil der Energie organischer Moleküle ist für Arbeit
hang mit der Glykolyse dar. nutzbar, der Rest geht immer als Wärme verloren.
Eine Gruppe kataboler Vorgänge, die Gärungen oder
Fermentationen, beinhaltet den teilweisen Abbau von
Lichtenergie Zuckern oder anderen organischen Brennstoffen ohne
Beteiligung von Sauerstoff. Der bei Eukaryonten sehr
viel leistungsfähigere katabole Stoffwechselweg ist
Ökosystem
jedoch die aerobe Atmung, bei der molekularer Sauer-
stoff zusammen mit organischen Brennstoffen als Reak-
tand verwertet wird (aerob; griech. aer, Luft + bios,
Photosynthese Leben). Die Zellen der meisten Eukaryonten und viele
in Chloroplasten
CO2 + H2O organische Prokaryonten atmen aerob. Einige Prokaryonten verwer-
Verbindungen + O2 ten jedoch andere Substanzen zur Gewinnung von che-
Zellatmung
in Mitochondrien mischer Energie, ohne dass daran Sauerstoff beteiligt ist;
ein Vorgang, der als anaerobe Atmung (griech. a-/an-,
ohne, nicht, kein) bezeichnet wird. Der Begriff Zell-
atmung umfasst beide Varianten, obwohl er ursprüng-
lich als Synonym nur für die aerobe Atmung diente.
Damit sollte auf die Beziehung der intrazellulären
ATP Atmung von Tieren und das Einatmen von Sauerstoff
ATP liefert die Energie für die meisten
hingewiesen werden. Der Begriff Zellatmung wird daher
zellulären Abläufe. oft stillschweigend mit der aeroben Variante gleichge-
setzt – eine Praxis, der auch wir folgen.
Wärmeenergie Ungeachtet mechanistischer Unterschiede ähnelt die
aerobe Atmung insgesamt der Verbrennung von Benzin
(= Kohlenwasserstoffe) in einem Automotor. Die Nah-
Abbildung 9.2: Energieaustausch und chemisches Recycling in
Ökosystemen. Energie geht in Form von Sonnenlicht in die meisten
rung liefert die Brennstoffe für die Atmung und die
Ökosysteme ein und verlässt sie letztlich als Wärme, während die für das
Leben wesentlichen chemischen Elemente recycelt werden.

212
9.1 Katabole Stoffwechselwege liefern Energie durch die Oxidation organischer Brennstoffe

„Abgase“ sind Kohlendioxid und Wasser. Der Gesamt- Prinzipien von Redoxreaktionen
vorgang kann wie folgt zusammengefasst werden: Bei vielen chemischen Reaktionen kommt es zur Über-
tragung eines Elektrons oder mehrerer Elektronen (e–)
organische Verbindungen + Sauerstoff → von einem Reaktionspartner auf einen anderen. Solche
Kohlendioxid + Wasser + Energie Vorgänge werden als Redoxreaktionen (eine Verkür-
zung von Reduktions-/Oxidationsreaktionen) bezeich-
Kohlenhydrate, Fette und Proteine aus der Nahrung net. Eine Redoxreaktion besteht formal aus der Elektro-
können als Brennstoffe verwendet und verbraucht wer- nenabgabe (Oxidation) eines Reaktionsteilnehmers
den, wie wir später noch sehen werden. Die Nahrung und der gleichzeitigen Elektronenaufnahme (Reduk-
der Tiere enthält zu einem großen Teil Stärke als Ener- tion) eines anderen (lat. reducere, zurückführen). Die
Teil 2
gieträger. Dieses Speicher-Polysaccharid wird zunächst Aufnahme von negativ geladenen Elektronen durch
in Glucose-Einheiten (C6H12O6) zerlegt. Wir werden ein Molekül ist also eine Reduktion, die die Anzahl
die einzelnen Schritte der Zellatmung anhand des der positiven Ladungen des Moleküls verringert (redu-
Schicksals von Traubenzucker (Glucose) bei seinem ziert). Als einfaches (allerdings nicht biologisches) Bei-
Abbau durch die Zelle verfolgen: spiel wollen wir die Reaktion zwischen den Elementen
Natrium (Na) und Chlor (Cl) unter Bildung von Koch-
C6H12O6 + 6 O2 → 6 CO2 + 6 H2O + Energie (in Form salz (Natriumchlorid) betrachten:
von ATP + Wärme)
wird oxidiert
Glucose ist der am häufigsten verwendete zelluläre (verliert Elektron)
Brennstoff. Andere organische Verbindungen, die Na + Cl Na+ + Cl–
auch in der Nahrung enthalten sind, können ebenfalls wird reduziert
als Treibstoff dienen. Der Abbau von Glucose ist exer- (gewinnt Elektron)
gon mit ΔG0′ = –2.870 kJ/mol. Das System setzt folg-
lich Energie frei, denn ein negatives ΔG bedeutet, dass Wir können dieses Beispiel zur folgenden Gleichung
die Reaktionsprodukte energieärmer sind als die Aus- einer Redoxreaktion verallgemeinern:
gangsstoffe. Solche Reaktionen sind insgesamt ther-
modynamisch begünstigt. wird oxidiert
Die Bewegung von Flagellen, das Pumpen gelöster (Elektronenabgabe)
Stoffe durch Membranen, die Polymerisation von Xe– + Y X + Ye–
Monomeren und die Verrichtung anderer zellulärer wird reduziert
(Elektronenaufnahme)
Arbeiten werden nicht direkt durch entsprechende
katabole Prozesse angetrieben. Vielmehr wird durch
den Katabolismus eine energieliefernde chemische In dieser Redoxreaktion ist der Stoff Xe– der Elektro-
Verbindung in Form von ATP bereitgestellt, die als nendonor, also das Reduktionsmittel. Xe– selbst wird
universelle zelluläre Energiewährung unterschiedliche oxidiert und reduziert dadurch Y, welches das von X
Arbeitsprozesse miteinander verknüpft beziehungs- abgegebene Elektron übernimmt. Y ist daher der Elek-
weise überhaupt erst ermöglicht (siehe Kapitel 8). Zur tronenakzeptor beziehungsweise das Oxidationsmit-
Verrichtung von Arbeit muss eine Zelle ihren Vorrat an tel. Y oxidiert Xe– durch Übernahme des Elektrons. Da
ATP aus ADP und anorganischem Phosphat (i) lau- freie Elektronen in Lösung keinen Bestand haben,
fend regenerieren (siehe Abbildung 8.12). Um verste- erfordert ein solcher Elektronentransfer immer einen
hen zu können, wie das im Rahmen der Zellatmung Donor und einen Akzeptor: Reduktion und Oxidation
geschieht, wollen wir zunächst die grundlegenden sind stets als Redoxreaktion aneinandergekoppelt.
Reaktionstypen der Oxidation und Reduktion bespre- Eine Redoxreaktion muss nicht zwangsläufig mit
chen. der vollständigen Übertragung von Elektronen von
einem Teilchen auf ein anderes einhergehen, manch-
mal kommt es lediglich zu einer Umverteilung der Elek-
9.1.2 Redoxreaktionen: Oxidation und tronen. Die unten gezeigte Reaktion zwischen Methan
Reduktion und Sauerstoff ist dafür ein Beispiel (Abbildung 9.3).
Die Bindungselektronen in den Kohlenstoff-Wasserstoff-
Wie kann durch katabole Stoffwechselwege, die Glucose Bindungen des Methanmoleküls sind annähernd gleich-
und andere organische Brennstoffe abbauen, Energie mäßig verteilt, weil Kohlenstoff und Wasserstoff ähnli-
gewonnen werden? Letztlich hängt dies mit der Über- che Elektronegativitäten haben (siehe Kapitel 2). Bei der
tragung von Elektronen im Verlauf chemischer Reak- Oxidation von Methan entstehen Kohlendioxid und
tionen zusammen. Die Aufnahme von Elektronen Wasser. Die Bindungselektronen sind in den Reaktions-
durch Sauerstoff, dem im biologischen Kontext elek- produkten zu den stark elektronegativen Sauerstoffato-
tronegativsten Reaktionsteilnehmer, wird durch die men hin verschoben (wie im unteren Teil von Abbil-
Abgabe von Elektronen aus organischen Verbindun- dung 9.3 angedeutet) und das Kohlenstoff- und die
gen ermöglicht. Dies setzt gespeicherte Energie frei, Wasserstoffatome haben ihre Elektronen zum Teil abge-
die ihrerseits zur Synthese von ATP genutzt wird. geben.

213
9 Zelluläre Atmung und Gärung

Sauerstoffmoleküls O2 teilen sich ihre Bindungselek-


Edukte (= Reaktanden) Produkte
tronen gleichmäßig, daher hat ein Sauerstoffatom im
wird oxidiert
Sauerstoffmolekül die Oxidationsstufe 0. Reagiert Sau-
CH4 + 2 O2 CO2 + Energie + 2 H2O erstoff mit Methan unter Bildung von Kohlendioxid
und Wasser, so verbringen die Bindungselektronen in
H wird reduziert den Produktmolekülen im Mittel mehr Zeit in der
Nähe der Sauerstoffkerne (Abbildung 9.3), wodurch
H C H O O O C O H O H diese teilweise Elektronen hinzugewinnen und daher
den formalen Oxidationszustand –2 einnehmen. Die
H
Wasserstoffatome ändern in dieser Reaktion ihren Oxi-
Teil 2 Methan Sauerstoff Kohlendioxid Wasser
(Reduktions- (Oxidations- dationszustand (+1) nicht, da sie immer in Verbindun-
mittel) mittel) gen und nie elementar vorliegen. Das Kohlenstoffatom
des Methans ändert (siehe oben) seinen formalen Oxi-
Abbildung 9.3: Die Verbrennung von Methan als Beispiel für dationszustand von –8 auf 0 im Kohlendioxid. Die acht
eine energieliefernde Redoxreaktion. Diese Reaktion führt zur Elektronen, die das Kohlenstoffatom des Methanmole-
Abgabe von Energie an die Umgebung, weil die Reaktionsprodukte energie-
küls formal abgibt, gehen an die vier Sauerstoffatome,
ärmer als die Ausgangsstoffe sind. Die Bindungselektronen halten sich im
die in den Verbindungen CO2 und H2O formale Oxida-
zeitlichen Mittel mehr in der Nähe der elektronegativeren Sauerstoffatome
auf. tionszustände von –2 haben. Im Vergleich zum Sauer-
stoffmolekül (O2) ist der Sauerstoff im Wassermolekül
(H2O) also reduziert. Die hohe Elektronegativität des
Da ein solcher Elektronentransfer in Reaktionsglei- Sauerstoffs macht ihn zum stärksten biologischen Oxi-
chungen nicht immer sofort ersichtlich ist, hat man dationsmittel. Die Tendenz, Reaktionspartner durch
(formale) Oxidationszustände eingeführt, die mittels Elektronenentzug zu oxidieren, wird durch das Redox-
einfacher Regeln für jedes beteiligte Atom unter potenzial ausgedrückt. Eine Verbindung mit einer
Berücksichtigung seiner Elektronegativität die Zuord- hohen Elektronenaffinität (was in der Verbindung
nung von Elektronen erlauben. So haben Atome in enthaltene elektronegative Atome voraussetzt) hat ein
Elementmolekülen wie H2 oder O2 immer den Oxida- hohes Redoxpotenzial und eine Verbindung, die Elek-
tionszustand 0, Sauerstoff hat in allen Verbindungen tronen eher leicht abgibt, ein niedriges.
außer Peroxiden (H2O2) den Oxidationszustand –2 Um ein Elektron aus einem Atom herauszulösen,
und Wasserstoff hat in allen organischen Verbindun- muss Energie aufgewendet werden. Dieser Energie-
gen den Oxidationszustand +1. Das bedeutet nichts betrag heißt Ionisierungsenergie. Je elektronegativer ein
anderes, als dass Wasserstoff sein einziges Elektron Atom ist, desto stärker ist die Anziehungskraft, die es
weitgehend dem Reaktionspartner überlässt, während auf Elektronen ausübt, und umso mehr Energie ist auf-
Sauerstoff zwei Elektronen zu sich heranzieht und zuwenden, um es zu ionisieren. Geht ein Elektron von
damit annäherungsweise eine elektronische Edelgas- einem weniger elektronegativen auf einen stärker elek-
konfiguration erreicht. Ein Blick ins Periodensystem tronegativen Reaktionspartner über, nimmt die poten-
der Elemente klärt diese Zusammenhänge. Der Oxida- zielle Energie des Systems ab. Eine Redoxreaktion, die
tionszustand einzelner Kohlenstoffatome kann jeweils Elektronen auf Sauerstoff überträgt, wie die Oxidation
mittels der folgenden Regeln bestimmt werden: In des Methans, setzt daher Energie frei, die zur Verrich-
einer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindung werden die bei- tung von Arbeit ausgenutzt werden kann.
den Bindungselektronen beiden Kohlenstoffatomen zu
gleichen Teilen zugeordnet, also je eines pro Kohlen- Die Oxidation organischer Brennstoffmoleküle
stoffatom. In einer Kohlenstoff-Wasserstoff-Bindung während der Zellatmung
werden beide Bindungselektronen dem Kohlen- Die Oxidation des Methans durch Sauerstoff ist die
stoffatom zugerechnet (womit der an sich geringe Elek- wesentliche Verbrennungsreaktion in Erdgasheizungen.
tronegativitätsunterschied zwischen den beiden Ele- Die Verbrennung von Treibstoff in einem Fahrzeug-
menten recht drastisch interpretiert wird). In einer motor ist ebenfalls eine Redoxreaktion. Die freigesetzte
Kohlenstoff-Sauerstoff-Bindung werden die Bindungs- Energie treibt die Kolben des Motors an. Der für Bio-
elektronen ganz dem Sauerstoff zugerechnet. Mit die- logen interessanteste energieliefernde Prozess ist die
sen Regeln ergeben sich die formalen Oxidations- Atmung, das heißt die vollständige Oxidation von Trau-
zustände des Kohlenstoffatoms in Methan (CH4), benzucker und anderen Nahrungsmolekülen. Betrach-
Methanol (CH3OH), Formaldehyd (HCHO), Ameisen- ten wir erneut die Bruttogleichung der Zellatmung im
säure (HCOOH) und Kohlendioxid (CO2) zu 8, 6, 4, 2 Hinblick auf die dabei ablaufenden Redoxvorgänge:
und 0. Die Umwandlung eines Kohlenwasserstoffs wie
Methan über den Alkohol (Methanol), den Aldehyd wird oxidiert
(Formaldehyd), die Carbonsäure (Ameisensäure) hin C6H12O6 + 6 O2 6 CO2 + 6 H2O + Energie
zum Kohlen(stoff)dioxid entspricht also jeweils einer
wird reduziert
Oxidation unter Abgabe zweier Elektronen an die Sau-
erstoffatome.
Betrachten wir die Oxidationsstufen aller beteiligten Wie bei der Verbrennung von Methan oder Benzin
Atome bei der Methanoxidation. Die beiden Atome des wird der Treibstoff oxidiert und Sauerstoff reduziert.

214
9.1 Katabole Stoffwechselwege liefern Energie durch die Oxidation organischer Brennstoffe

Die Elektronen gruppieren sich um und das System tronenzwischenträger ist beispielsweise das Coenzym
verliert potenzielle Energie. Diese wird freigesetzt, das Nicotinsäureamid-Adenin-Dinucleotid (abgekürzt
heißt vom System abgegeben. NAD+), ein Abkömmling des Vitamins Niacin. Im Ver-
Organische Verbindungen mit vielen Wasserstoff- lauf der Zellatmung fungiert das NAD+ einerseits als
atomen und wenigen Sauerstoffatomen sind gute Brenn- Elektronenakzeptor (= Oxidationsmittel), andererseits
stoffe, weil sie leicht oxidiert werden können und kann das reduzierte NAD+ (= NADH) in Reaktionen mit
dabei ihre Elektronen dem Sauerstoff überlassen. Diese anderen Partnern auch als Reduktionsmittel wirken und
Reaktion ist durch die Elektronegativität des Sauer- Elektronen abgeben. Diese Partner müssen dann ein
stoffs begünstigt und daher exergon. Die Bruttoglei- höheres Redoxpotenzial als NAD+/NADH haben (siehe
chung für die Atmung zeigt, dass Wasserstoff von Glu- oben).
Teil 2
cose auf Sauerstoff übergeht. Aus der Bruttogleichung Wie fängt NAD+ aus der Glucose und anderen organi-
nicht sogleich ersichtlich ist ihr Redoxcharakter, der schen Molekülen stammende Elektronen und deren
jedoch deutlich wird, wenn man die oben erläuterten Energie ein? sogenannte Dehydrogenasen katalysieren
Regeln anwendet. In der Summe überführt die Oxida- das Entfernen von zwei Wasserstoffatomen (2 Protonen
tion von Glucose bei der Atmung das System in einen + 2 Elektronen) von geeigneten Substratmolekülen, was
energieärmeren Zustand. Die freigesetzte Energie steht als Substratoxidation bezeichnet wird. Die zwei Elek-
für die ATP-Synthese zur Verfügung. tronen werden gemeinsam mit einem Proton durch die
Energiereiche Moleküle der Nahrung wie Kohlenhy- Dehydrogenase auf das Coenzym NAD+ übertragen
drate und Fette sind hoch reduziert und somit Speicher (Abbildung 9.4). Das verbleibende Proton geht als
für Elektronen, die auf Sauerstoff übertragen werden Hydroniumion in die umgebende Lösung über:
können. Nur die Aktivierungsenergiehürde verhindert
den spontanen Elektronenfluss hin zu einem energie- Dehydrogenase
H C OH + NAD+ C O + NADH + H+
ärmeren Zustand (siehe Abbildung 8.13). Ohne diese
Barriere würde ein Nahrungsbestandteil wie Glucose
praktisch augenblicklich durch Luftsauerstoff oxidiert. Durch die Aufnahme von zwei negativ geladenen Elek-
Bringt man die Aktivierungsenergie auf, indem man tronen und einem positiv geladenen Proton geht der
Glucose oder einen anderen Einfachzucker anzündet, Nicotinamid-Teil des Moleküls in den elektrisch neutra-
verbrennt er an der Luft unter Freisetzung von 2870 kJ len Zustand über und aus NAD+ wird NADH (reduzier-
Wärme pro Mol (entsprechend etwa 180 g Glucose). tes Nicotinsäureamid-Adenin-Dinucleotid). Das H in der
Die Körpertemperatur ist natürlich nicht hoch genug, Abkürzung NADH zeigt das aufgenommene Wasser-
um diesen Verbrennungsprozess anzustoßen. Wenn wir stoffatom an. NAD+ ist einer von zwei Elektronen-
Glucose aufnehmen, senken Enzyme in den Zellen die akzeptoren in der Zellatmung und tritt bei mehreren
Aktivierungsenergie, um die Oxidation des Zuckers in Redoxreaktionen im Verlauf der Glucose-Oxidation in
einer Serie von kontrollierten Reaktionen zu ermögli- Erscheinung. Der andere Akzeptor ist das Flavin-Ade-
chen. nin-Dinucleotid FAD, das durch zwei Elektronen und
zwei Protonen zu FADH2 reduziert werden kann.
Schrittweiser Energiegewinn mittels NAD+ und der Ein Elektron verliert nur wenig an potenzieller Ener-
Elektronentransportkette gie, wenn es von Glucose auf NAD+ übergeht. Jedes
Falls die gesamte Energie eines Brennstoffs auf einmal NADH-Molekül, das während der Atmung gebildet
freigesetzt würde, wäre es sehr schwierig, sie effizient wird, stellt daher gespeicherte Energie dar, die ange-
für die Verrichtung von Arbeit einzusetzen. Wenn zum zapft werden kann, um ATP zu synthetisieren.
Beispiel der Benzintank eines Autos explodiert, wird Wie werden die Elektronen, die aus der Glucose
die schlagartig freigesetzte Energiemenge nicht zu des- stammen und die im NADH zwischengespeichert
sen Fortbewegung genutzt, sondern nur zu seiner Zer- wurden, schließlich auf den Sauerstoff übertragen? Es
störung. Daher wird Glucose in der Zellatmung auch ist hilfreich, die Chemie der Zellatmung mit einer viel
nicht in einem einzigen Schritt oxidiert, sondern in einfacheren, in der Summe jedoch identischen Reak-
einer Abfolge von Schritten. Jeder Schritt ist eine ein- tion zu vergleichen – der Bildung von Wasser aus
zige chemische Reaktion, die in der Regel von einem Wasserstoff und Sauerstoff (Abbildung 9.5a). Ver-
spezifischen Enzym katalysiert wird. Bei bestimmten mischt man Wasserstoff und Sauerstoff, so verbrennt
Schritten des Gesamtprozesses werden Elektronen aus das Gasgemisch bei Aktivierung (zum Beispiel durch
den neu gebildeten Abbauprodukten der Glucose durch einen Funken) explosionsartig in der sogenannten
Redoxreaktionen entnommen. Die Übertragung eines Knallgasreaktion. Die Umsetzung flüssigen Wasser-
Elektrons kann gemeinsam mit einem Proton erfolgen, stoffs mit flüssigem Sauerstoff wird beim Antrieb von
das entspricht dann formal dem Übergang eines ganzen Raketen ausgenutzt. Diese Verbrennung setzt beträcht-
Wasserstoffatoms, welches ja aus einem Proton im liche Energie frei. Die Zellatmung kombiniert letztlich
Atomkern und einem Elektron in der Hülle besteht. ebenfalls Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser, doch
Allerdings folgen Protonen und Elektronen in diesem mit zwei wichtigen Unterschieden im Vergleich zur
Prozess unterschiedlichen Wegen. Die Wasserstoffatome Knallgasreaktion: Zum einen entstammen die Wasser-
werden nicht direkt auf molekularen Sauerstoff übertra- stoffatome, die mit dem Sauerstoff reagieren, organi-
gen, sondern über einen zwischengeschalteten Elektro- schen Molekülen und nicht elementarem Wasserstoff.
nenträger. Ein solcher Elektronenüberträger oder Elek- Zum anderen verwendet die Zellatmung eine Elektro-

215
9 Zelluläre Atmung und Gärung

2 e– + 2 H+
2 e– + H+
NAD +
NADH H+
Dehydrogenase
H O O
Reduktion von NAD+ H H
C NH2 + 2[H] C NH2 + H+
(aus der Oxidation von NADH
N+ Nahrung) N
Nicotinsäureamid Nicotinsäureamid
O CH2 (oxidierte Form) (reduzierte Form)
O
Teil 2 O P O–
O H H
O P O– HO OH
NH2
O CH2 N
N Abbildung 9.4: NAD+ als Elektronen-Shuttle. Der Name des Coenzyms NAD+, Nico-
H
tinsäureamid-Adenin-Dinucleotid, beschreibt seine Struktur: Das Molekül besteht aus zwei
N N H
O Nucleotiden, die über eine Pyrophosphatgruppe miteinander verbunden sind (gelb). Nicotin-
säureamid ist eine stickstoffhaltige Base, die jedoch nicht in DNA oder RNA vorkommt
(siehe Abbildung 5.24). Durch den enzymatisch katalysierten Transfer von zwei Elektronen
H H und zwei Protonen (H+) aus einem organischen Nahrungsmittelmolekül wird NAD+ zu
HO OH NADH reduziert und das zweite Proton freigesetzt. Die meisten der Nahrungsoxidation ent-
stammenden Elektronen werden zunächst auf NAD+ übertragen, wobei NADH entsteht.

nentransportkette (auch Atmungskette genannt), um Plasmamembran (Mitochondrien sind laut Endosym-


die Reduktion des Sauerstoffs in mehrere energielie- biontentheorie entwicklungsgeschichtlich endocytierte
fernde Schritte zu zerlegen, statt sie in nur einer Bakterien, siehe Konzept 6.5). Die der Glucose-Oxida-
schlagartigen, explosiven Reaktion ablaufen zu lassen tion entstammenden Elektronen werden in Form von
(Abbildung 9.5b). Eine Elektronentransportkette besteht NADH und FADH2 in die Elektronentransportkette
aus einer Reihe von Molekülen (meist Proteine) in der eingespeist und in mehreren Schritten auf Sauerstoff
inneren Membran der Mitochondrien eukaryontischer übertragen, dabei entsteht Wasser. Anaerob atmende
Zellen. Bei aerob atmenden Prokaryonten befinden Prokaryonten verwenden statt Sauerstoff einen anderen
sich die entsprechenden Molekülkomplexe in der terminalen Elektronenakzeptor.

H2 + ½ O2 2H + ½ O2
(aus der Nahrung
über NADH)
kontrollierte
Freisetzung von
2 H+ + 2 e– Energie für die
ATP-Synthese
freie Enthalpie, G

freie Enthalpie, G

ATP
explosionsartige
tran
Elek ortkett

Freisetzung ATP
sp

von Wärme und


tron

Lichtenergie
ATP
en-
e

2 e–
½ O2
2 H+

H2O
H2O

(a) Unkontrollierte Reaktion. (b) Zellatmung.


Abbildung 9.5: Eine Einführung in Elektronentransportketten. (a) Die in einem Schritt erfolgende Verbindung von Wasserstoff mit Sauerstoff zu
Wasser ist eine exergone Reaktion, die explosionsartig enorme Energiemengen in Form von Wärme und Licht freisetzt. (b) Im Rahmen der Zellatmung
erfolgt die gleiche Reaktion stufenweise: Eine Elektronentransportkette (Atmungskette) verteilt die Gesamtreaktion auf mehrere aufeinanderfolgende Teil-
reaktionen und speichert die jeweils verfügbare Energie in einer Weise, die zur ATP-Synthese verwendet werden kann. Ein Teil der frei werdenden Energie
geht immer auch als Wärme verloren.

216
9.1 Katabole Stoffwechselwege liefern Energie durch die Oxidation organischer Brennstoffe

Abbildung 9.6: Übersicht über die Zell-


atmung. Im Verlauf der Glykolyse wird jedes Gluco-
von NADH über- von NADH und semolekül zu zwei Molekülen Pyruvat umgesetzt. In
brachte Elektronen FADH2 über-
eukaryontischen Zellen wird, wie hier schematisch
brachte Elektronen
gezeigt, das Pyruvat in die Mitochondrien transpor-
tiert, wo es zunächst zu Acetyl-CoA und dann im
Citratzyklus zu Kohlendioxid oxidiert wird. NADH und
GLYKOLYSE PYRUVAT- OXIDATIVE
OXYDATION
FADH2 übertragen Elektronen auf die Elektronentrans-
CITRAT- PHOSPHORYLIERUNG
portkette in der inneren Mitochondrienmembran. In
Acetyl-CoA ZYKLUS (Elektronentransport
Glucose Pyruvat prokaryontischen Zellen sind die Proteinkomplexe der
und chemi-
osmotischer Prozess) Elektronentransportkette in die Plasmamembran inte-
griert. Im Verlauf der oxidativen Phosphorylierung Teil 2
CYTOSOL MITOCHONDRIUM überführt diese Elektronentransportkette die chemi-
sche Energie in eine für die Synthese von ATP geeig-
nete Form. Die eigentliche ATP-Synthese erfolgt dann
ATP über eine sogenannte chemiosmotische Kopplung.
ATP ATP
Im MyLab|Deutsche Version für Campbell
Substratketten- Substratketten- oxidative Biologie finden Sie eine 3D-Animationen
phosphorylierung phosphorylierung Phosphorylierung zur Zellatmung.

Die Übertragung der Elektronen von NADH auf Sauer- Meist werden unter dem Begriff der Zellatmung nur
stoff ist eine exergone Reaktion mit einer Änderung der der Citratzyklus und die oxidative Phosphorylierung
freien Enthalpie von –220 kJ/mol (unter Standardbe- zusammengefasst. Wir beziehen hier die Glykolyse
dingungen). Anstatt diese Energie schlagartig in einer mit ein, weil die meisten atmenden Zellen Energie aus
einzigen Reaktion zu verschwenden, wandern die Glucose beziehen und so die Ausgangsstoffe gewin-
Elektronen „bergab“ entlang der Elektronentransport- nen, die in den Citratzyklus eingeschleust werden.
kette, wobei sie in einer Serie von Redoxreaktionen Das Schema in Abbildung 9.6 zeigt, dass die Gly-
von einem Zwischenträger zum nächsten weiterge- kolyse und die Pyruvatoxidation gefolgt vom Citrat-
reicht werden. Dabei geben sie jeweils eine kleine zyklus die katabolen Stoffwechselwege sind, durch die
Energiemenge ab, bis sie zuletzt auf den Sauerstoff Glucose und andere organische Betriebsstoffe abgebaut
übergehen, den terminalen Elektronenakzeptor mit der werden. Die Glykolyse erfolgt im Cytosol der Zelle und
größten Elektronegativität und dem höchsten Redoxpo- beginnt den Abbauprozess durch die Zerlegung von
tenzial. Entlang der Elektronentransportkette nehmen Glucose mit sechs Kohlenstoffatomen in zwei Moleküle
die Redoxpotenziale der Zwischenträger schrittweise Pyruvat mit je drei Kohlenstoffatomen. In Eukaryonten
immer weiter zu, daher können diese jeweils ihren Vor- gelangt das Pyruvat in die Mitochondrien und wird
läufer oxidieren und dabei selbst reduziert werden. Die dort zu Acetyl-Coenzym A oxidiert, das in den Citrat-
Elektronen, die der Glucose durch NAD+ entzogen wer- zyklus eingeht. Der läuft in eukaryontischen Zellen in
den, versetzen das System insgesamt in einen energie- der Matrix der Mitochondrien ab, bei Prokaryonten im
ärmeren Zustand, weil sie sehr viel fester an den Cytosol. Nach Durchlaufen des Citratzyklus ist das
elektronegativen Sauerstoff binden. Anders gesagt zieht Pyruvat zu drei Kohlendioxidmolekülen abgebaut, und
der Sauerstoff Elektronen aus Verbindungen mit weni- damit ist das Glucosemolekül in die höchstoxidierte,
ger elektronegativen Atomen ab, ähnlich wie die energieärmste Form überführt worden.
Erdanziehung Gegenstände nach unten fallen lässt. Die durch diese Reaktionen freigesetzte Energie wird
Zusammengefasst nehmen Elektronen im Verlauf der zum Teil direkt in Form von ATP, zum größeren Teil
Zellatmung etwa den folgenden Weg „bergab“: Glucose jedoch in Form von NADH und FADH2 gespeichert,
→ NADH → Elektronentransportkette → Sauerstoff. denn sowohl die Glykolyse als auch der Citratzyklus
Nachdem wir nun die grundlegenden Redoxreaktionen beinhalten Redoxreaktionen, bei denen Dehydrogena-
der Zellatmung kennengelernt haben, wollen wir sen Elektronen von Substratmolekülen auf NAD+ oder
sehen, wie die Zelle die Nutzenergie dieses exergonen FAD übertragen, wobei NADH sowie FADH2 entste-
Elektronentransports zum Wiederauffüllen ihres ATP- hen. Im dritten Stadium der Atmung übernimmt die
Vorrats verwendet. Elektronentransportkette Elektronen aus den Abbau-
produkten der ersten beiden Stadien und gibt sie von
einem Molekül der Kette zum nächsten weiter. Zuletzt
9.1.3 Die Stadien der Zellatmung: werden die Elektronen auf molekularen Sauerstoff
Eine Vorschau übertragen und zusammen mit Protonen (= Wasserstoff-
ionen, H+) bildet sich Wasser (Abbildung 9.5b). Die bei
Die Zellatmung gewinnt Energie aus Glucose durch jedem Schritt der Reaktionskette freigesetzte Energie
das Zusammenwirken mehrerer Stoffwechselwege: wird in einer Form zwischengespeichert, die dem
Mitochondrium (oder einer prokaryontischen Zelle)
1. GLYKOLYSE die ATP-Synthese ermöglicht. Der Prozess wird als
2. PYRUVATOXIDATION UND CITRATZYKLUS oxidative Phosphorylierung bezeichnet, weil die Phos-
3. OXIDATIVE PHOSPHORYLIERUNG: Elektronentransport phorylierung von ADP zu ATP durch die Redoxreak-
und chemiosmotische Kopplung tionen der Elektronentransportkette angetrieben wird.

217
9 Zelluläre Atmung und Gärung

In eukaryontischen Zellen laufen Elektronentransport gen NADH und FADH2 zwischengespeichert und erst
und chemiosmotische Kopplung an der inneren Mem- im Verlauf des Elektronentransports für die oxidative
bran der Mitochondrien ab, zusammen als oxidative Phosphorylierung verwertet. Die Atmung stellt daher
Phosphorylierung bezeichnet. Bei Prokaryonten finden mit 28 Molekülen ATP den Großteil der Energie bereit,
diese Prozesse in und an der Plasmamembran statt. Die die aus dem Abbau von Glucose insgesamt gewonnen
oxidative Phosphorylierung ist für fast 90 Prozent des werden kann. Die Änderung der freien Enthalpie unter
im Rahmen der Zellatmung erzeugten ATP verantwort- Standardbedingungen beträgt ΔG0′ = –2.870 kJ/mol für
lich. Ein kleinerer Teil an ATP wird durch bestimmte die direkte Glucoseverbrennung. ATP liefert bei der
Reaktionen der Glykolyse und des Citratzyklus gebil- Hydrolyse unter zellulären Bedingungen etwa 50 kJ/
det, was als Substratketten-Phosphorylierung bezeich- mol, also werden insgesamt etwa 32 mal 50 kJ/mol =
Teil 2
net wird (Abbildung 9.7). Diese Art der ATP-Synthese 1600 kJ/mol gewonnen, ein respektabler Wirkungsgrad
beruht auf der enzymatisch katalysierten Übertragung von 56 Prozent.
eines Phosphorylrestes von einem phosphorylierten Diese Vorschau hat Sie mit der Glykolyse, dem Citrat-
Substratmolekül auf ADP. Als Substrate dienen dabei zyklus und der oxidativen Phosphorylierung und
organische Intermediate mit einem noch höheren ihrem Zusammenwirken bei der Zellatmung bekannt-
Phosphatgruppen-Übertragungspotenzial als ATP, die gemacht. Als Nächstes betrachten wir diese Prozesse
im Verlauf der Glykolyse und des Citratzyklus entste- genauer.
hen. Im Gegensatz dazu wird bei der oxidativen Phos-
phorylierung ADP durch die direkte Verbindung mit
„anorganischem Phosphat“ i zu ATP umgesetzt.  Wiederholungsfragen 9.1
1. Vergleichen Sie die aerobe mit der anaeroben
Enzym Atmung und benennen Sie wesentliche Unter-
Enzym
schiede.
ADP
2. WAS WÄRE, WENN? Welche Verbindung würde
P
bei der folgenden hypothetischen Redoxreak-
Substrat + ATP tion oxidiert, welche reduziert?
Produkt
Abbildung 9.7: Substratketten-Phosphorylierung. ATP kann auch
C4H6O5 + NAD+ → C4H4O5 + NADH + H+
durch die enzymatisch katalysierte direkte Übertragung von Phosphoryl-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
resten von organischen Substraten auf ADP gebildet werden (beispiels-
weise in der Glykolyse, Abbildung 9.9, Schritte 7 und 10).

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Betrachten Sie Abbildung 8.9. Wel-


che potenzielle Energie halten Sie für größer, die der Edukte (Reaktanden) Die Glykolyse gewinnt chemische
oder die der Produkte? Erläutern Sie Ihre Antwort.
Energie aus der Oxidation
Wenn Sie einen Geldbetrag von Ihrem Konto abheben,
erhalten Sie ihn in der Regel nicht in Form einiger „gro-
von Glucose zu Pyruvat
9.2
ßer Scheine“ sondern in mehreren Banknoten mit klei-
nerem Nennwert, die später weniger Wechseln erfor- Das aus dem Griechischen abgeleitete Wort Glykolyse
dern. Die ATP-Produktion während der Zellatmung bedeutet „Spaltung von Zucker“ und genau das
folgt einem ähnlichen Prinzip. Pro Molekül Glucose, geschieht im Verlauf dieses Stoffwechselweges. Der
das durch Glykolyse, Pyruvatoxidation und Citratzyk- Traubenzucker (Glucose, ein Monosaccharid mit sechs
lus sowie oxidative Phosphorylierung vollständig zu Kohlenstoffatomen, eine „Hexose“) wird dabei in zwei
Kohlendioxid und Wasser oxidiert wird, erzeugt die Triosen mit je drei Kohlenstoffatomen gespalten. Diese
Zelle maximal 32 Moleküle ATP (tatsächlich eher etwas kleineren Kohlenhydratmoleküle werden dann oxidiert
weniger, da ATP für Transportvorgänge verbraucht und letztlich zu zwei Molekülen Pyruvat, dem deproto-
wird, siehe Konzept 9.4). An dieser Gesamtzahl sind nierten Säureanion der Brenztraubensäure, umgesetzt.
die Glykolyse und der Citratzyklus nur mit je 2 ATP Abbildung 9.8 zeigt schematisch, dass sich die
beteiligt, die aus Substratketten-Phosphorylierungen Glykolyse formal in zwei Abschnitte einteilen lässt,
stammen. Darüber hinaus liefern Glykolyse und zuerst einen energieverbrauchenden und danach
Pyruvatoxidation je 2 NADH pro Molekül Glucose, einen energieliefernden Abschnitt. Während der ers-
der Citratzyklus 6 NADH und 2 FADH2 pro Glucose ten Phase verbraucht die Zelle ATP. Diese Investition
(FADH2 wird im übernächsten Abschnitt noch genauer wird in der zweiten Phase gewissermaßen verzinst,
besprochen). Der größte Teil der Energie aus Glucose wenn sich ATP durch Substratketten-Phosphorylie-
wird also zunächst in Form der reduzierten Verbindun- rung bildet und NAD+ durch die Elektronen aus der

218
9.3 Nach der Pyruvat-Oxidation vervollständigt der Citratzyklus die energieliefernde Oxidation organischer Moleküle

Glucoseoxidation zu NADH reduziert wird. Der Gesamt- Nach der Pyruvat-Oxidation ver-
energieertrag der Glykolyse beträgt pro Molekül Glu-
cose zwei Moleküle ATP plus zwei Moleküle NADH.
vollständigt der Citratzyklus die
Die zehn Schritte der Glykolyse sind detailliert in energieliefernde Oxidation
Abbildung 9.9 dargestellt.
Die Kohlenstoffatome des ursprünglichen Glucose-
moleküls liegen schließlich in Form zweier Pyruvat-
organischer Moleküle
9.3
moleküle vor, ohne dass Kohlendioxid gebildet wor- Die Glykolyse erschließt nur weniger als ein Viertel der
den wäre. Die Glykolyse an sich ist vom Sauerstoff im Glucosemolekül gespeicherten chemischen Energie,
unabhängig und läuft auch in seiner Abwesenheit ab. der größte Teil verbleibt dagegen in den beiden
Teil 2
Falls jedoch Sauerstoff (O2) vorhanden ist, kann die im Pyruvatmolekülen. In Gegenwart von Sauerstoff wird
Pyruvat und im NADH steckende chemische Energie das Pyruvat in Eukaryonten in das Mitochondrium
durch die Pyruvatoxidation, den Citratzyklus und die transportiert, wo die Enzyme des Citratzyklus die Oxi-
oxidative Phosphorylierung noch weiter verfügbar dation der Glucose vervollständigen. In Prokaryonten
gemacht werden. läuft dieser Prozess im Cytosol ab. (Später werden wir
diskutieren, was in der Abwesenheit von Sauerstoff
oder bei Prokaryonten geschieht, die Sauerstoff nicht
verwenden können.)
OXIDATIVE
PYRUVAT- CITRAT-
GLYKOLYSE PHOSPHORY-
OXIDATION ZYKLUS
LIERUNG
9.3.1 Oxidation von Pyruvat zu Acetyl-CoA

ATP Pyruvat wird über aktiven Transport in Mitochondrien


importiert und dort zunächst in Acetyl-Coenzym A
nvestition
Phase der Energieinvestition
(Acetyl-CoA) umgewandelt (Abbildung 9.10). Diese
Glucose
Reaktion verknüpft die Glykolyse mit dem Citratzyklus.
Sie wird von einem Multienzymkomplex (dem Pyruvat-
2 ATP verbraucht 2 ADP + 2 P dehydrogenase-Komplex) katalysiert und umfasst drei
Teilreaktionen: 1 Die Carboxylatgruppe (–COO–) des
Pyruvatmoleküls mit bereits vollständig oxidiertem
Phase des Energiegewinns Kohlenstoff – und daher wenig verwertbarer chemi-
4 ADP + 4 P 4 ATP gebildet scher Energie – wird als Kohlendioxidmolekül (CO2)
abgespalten. Dies ist der erste Schritt der Zellatmung,
in dem Kohlendioxid freigesetzt wird. 2 Das verblei-
2 NAD+ + 4 e– + 4 H+ 2 NADH + 2 H+
bende Fragment mit zwei Kohlenstoffatomen wird zu
Acetat oxidiert, dem deprotonierten Anion der Essigs-
2 Pyruvat + 2 H2O
äure. Die dabei frei werdenden Elektronen werden auf
Nettobilanz
NAD+ übertragen, wodurch Energie in Form von redu-
Glucose 2 Pyruvat + 2 H2O ziertem NADH gespeichert wird (NAD+ + 2H+ + 2e– →
4 ATP gebildet – 2 ATP verbraucht 2 ATP NADH + H+). 3 Der Acetylrest wird mit einem Mole-
2 NAD+ + 4 e– + 4 H+ 2 NADH + 2 H+ kül Coenzym A (CoA) über eine relativ leicht lösbare
Bindung verknüpft. Coenzym A ist, wie weitere drei
Abbildung 9.8: Energieverbrauch und Energieausbeute der Coenzyme des Pyruvatdehydrogenase-Komplexes, ein
Glykolyse. Abkömmling der Vitamin B-Gruppe. Über sein Schwe-
felatom wird das CoA-Molekül mit dem Acetylrest in
Form eines reaktionsfreudigen Thioesters verknüpft.
 Wiederholungsfragen 9.2 Daher ist der Zerfall des Acetyl-CoA eine deutlich exer-
gone Reaktion. Acetyl-CoA speist die Acetylgruppe zur
1. Welche Moleküle dienen bei der einzigen Re- weiteren Oxidation in den Citratzyklus ein.
doxreaktion im Rahmen der Glykolyse (Abbil-
dung 9.9, Schritt 6) als Oxidations- beziehungs-
weise Reduktionsmittel?

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

219
9 Zelluläre Atmung und Gärung

OXIDATIVE
PYRUVAT- CITRAT-
GLYKOLYSE PHOSPHORY-
OXIDATION ZYKLUS LIERUNG
GLYKOLYSE: Energieinvestitionsphase

ATP

Glycerinaldehyd-
3-Phosphat (G3P)
HC O
Teil 2 ATP Glucose- Fructose- Fructose-
ATP CHOH
Glucose 6-Phosphat 6-Phosphat 1,6-Bisphosphat
ADP ADP CH2O P
CH2OH CH2O P CH2O P CH2OH P OCH2 CH2O P Triosephoshat-
O O O Isomerase
H H O H H H H
OH H OH H
H HO H HO 5
HO OH H
HO OH Phospho- H OH H OH
Hexokinasee
Hexokinase Phospho- Aldolase
l
glucose- HO H HO H
Dihydroxyaceton-
y
ydrox
xyacet
fructokinase
H OH
1 H OH Isomerase 4 phosphat (DHAP)
2 3 CH2O P

Die Hexokinase überträgt eine Die Aldose Die Phosphofructokinase Die Aldolase C O
Phosphatgruppe vom ATP auf Glu- Glucose-6-Phos- überträgt eine weitere spaltet den CH2OH
cose, wodurch diese reaktionsfreu- phat wird in die Phosphatgruppe vom ATP Zucker mit sechs
diger wird. Die Ladung der Phos- Ketose Fructose- auf das andere Ende des in zwei unter- Die Isomerisierung von DHAP
phatgruppe hält Glucose-6-Phos- 6-Phosphat um- Fructose-6-Phosphat-Mole- schiedliche und G3P erreicht niemals das
phat in der Zelle zurück (geladene gewandelt. küls. Diese Reaktion ist für Zucker mit Gleichgewicht, da G3P im
Moleküle können Membranen die Regulation der Glykolyse drei Kohlen- Folgeschritt ebenso schnell
nicht ohne weiteres durchqueren). von zentraler Bedeutung. stoffatomen. verbraucht wird, wie es entsteht.

Abbildung 9.9: Übersicht über die Glykolyse. Das kleine Bild als Einschub verdeutlicht die Rolle der Glykolyse bei der Zellatmung. Trotz der sehr
detaillierten Darstellung der Glykolyse in der größeren Abbildung sollten Sie nicht übersehen, dass sie auch eine Quelle für ATP und NADH ist.

OXIDATIVE
PYRUVAT- CITRAT-
GLYKOLYSE PHOSPHORY-
OXIDATION ZYKLUS
LIERUNG

MITOCHONDRIUM
Abbildung 9.10: Oxidation von Pyruvat zu Acetyl- CYTOSOL
CoA, dem Bindeglied zwischen Glykolyse und Citrat-
Coenzym A
zyklus. Das elektrisch geladene Pyruvat-Anion kann die CO2
Membran nicht durchqueren und muss daher in Eukaryonten O–
1 3 S-CoA
durch aktiven Transport in das Mitochondrium transportiert
werden. Danach katalysiert ein Komplex aus mehreren Enzy- C O
C O
men (der Pyruvatdehydrogenase-Komplex) die drei Teilreak-
C O 2
tionen, die im Haupttext erläutert werden. Die Acetylgruppe CH3
des Acetyl-Coenzyms A tritt in den Citratzyklus ein. Das abge- CH3
spaltene Kohlendioxid diffundiert aus der Zelle heraus. NAD + NADH + H+ Acetyl-CoA
Pyruvat
Coenzym A wird immer dann, wenn es an ein Molekül gebun-
den ist, als „S-CoA“ abgekürzt, um die Bindung über das Transporterprotein
Schwefelatom hervorzuheben.

9.3.2 Der Citratzyklus land geflohen, entdeckte 1937 den Citratzyklus und
erhielt 1953 den Nobelpreis). Der Zyklus oxidiert die
Der Citratzyklus wird auch als Citronensäurezyklus, Tri- Acetylgruppe des Acetyl-CoA. Die Acetylgruppe kann
carbonsäurezyklus oder Krebszyklus bezeichnet (nach vielen organischen Nährstoffen entstammen, nicht nur
Hans Krebs, 1900–1981, deutscher Mediziner und Bio- Kohlenhydraten wie der Glucose, sondern auch Fetten
chemiker, 1933 vor den Nationalsozialisten nach Eng- oder Aminosäuren. Abbildung 9.11 fasst die Stoff-

220
9.3 Nach der Pyruvat-Oxidation vervollständigt der Citratzyklus die energieliefernde Oxidation organischer Moleküle

Die Energiegewinnphase setzt nach der Spaltung des Glucosemoleküls mit sechs Kohlenstoffatomen in zwei Zuckermoleküle
mit je drei Kohlenstoffatomen ein. Daher haben alle Reaktionsteilnehmer in dieser Phase den stöchiometrischen Koeffizienten 2.

GLYKOLYSE: Energiegewinnphase

2 ATP 2 ATP
2 NADH 2 H2O
2 ADP
2 NAD + + 2 H+ 2 ADP 2 2 2 2
O– O– O– O–
2
P OC O C O C O C O C O Teil 2
CHOH CHOH H CO P CO P C O
Triosephosphat- Phospho- Phospho- Enolase Pyruvat-
Dehydrogenase 2 Pi CH2O P glyceratkinase CH2 O P glyceratmutase CH2OH CH2 kinase CH3
9
1,3-Bisphospho- 7 3-Phospho- 8 2-Phospho- Phospho- 10 Pyruvat
6 glycerat glycerat glycerat enolpyruvat (PEP)

Zwei aufeinander folgende Reak- In einer exergonen Sub- Dieses Enzym Enolase extrahiert ein Was- Die Phosphatgruppe
tionen. (1) Der Zucker wird oxi- stratketten-Phosphory- verschiebt die sermolekül und erzeugt so des PEP wird in einer
diert und überträgt Elektronen auf lierung wird die zuvor verbleibende eine Doppelbindung im zweiten Substratket-
NAD+, wobei sich NADH bildet. (2) angehängte Phosphat- Phosphat- Substrat 2-Phosphoglycerat. ten-Phosphorylierung
Mit der Energie aus dieser exer- gruppe auf ADP übertra- gruppe inner- Dadurch entsteht das Phos- auf ADP übertragen,
gonen Redoxreaktion wird das gen. Die Carbonylgruppe halb des Mole- phoenolpyruvat, eine wei- wobei außerdem
oxidierte Substrat gleichzeitig des G3P wird zur Carboxyl- küls. tere Verbindung mit einem Pyruvat entsteht.
phosphoryliert und so zu einer gruppe der organischen (sehr hohen) Phosphatgrup-
Verbindung mit hohem Phosphat- Säure 3-Phosphoglycerat pen-Übertragungspotenzial.
gruppen-Übertragungspotenzial. oxidiert. © Pearson Education, Inc.

ströme des Citratzyklus zusammen. Pyruvat wird zu


drei Molekülen Kohlendioxid abgebaut, wobei ein Koh-
PYRUVAT-OXIDATION OXIDATIVE
lendioxidmolekül schon bei der Bildung des Acetyl- GLYKOLYSE
PYRUVAT-
OXIDATION
CITRAT-
ZYKLUS
PHOSPHORY-
LIERUNG
Pyruvat
CoA durch die vorgeschaltete Pyruvatoxidation ent- (aus der Glykolyse;
steht, also vor dem eigentlichen Citratzyklus. Pro 2 Moleküle pro Molekül
Umlauf erzeugt der Zyklus ein Molekül ATP (oder GTP, Glucose) ATP

siehe unten) durch Substratketten-Phosphorylierung.


CO2
Der größte Anteil der chemischen Energie wird jedoch NAD+
auf NAD+ und FAD (Flavin-Adenin-Dinucleotid, ent- CoA
steht aus Riboflavin, einem Vitamin der B-Gruppe) über- NADH
tragen, die durch diese Reduktionsreaktionen zu NADH + H+ Acetyl-CoA
und FADH2 werden. Die beiden reduzierten Coenzyme CoA
geben dann ihrerseits die Elektronen im nächsten Schritt
an die Elektronentransportkette (Atmungskette) weiter. CoA
Betrachten wir den Citratzyklus noch eingehender.
Der Zyklus umfasst acht Schritte, die jeweils durch ein
spezifisches Enzym katalysiert werden. Abbildung
9.12 zeigt, dass pro Durchgang zwei Kohlenstoffatome
(rot) in mäßig reduzierter Form als Acetylgruppe
(Schritt 1 ) in den Zyklus eintreten und zwei andere CITRAT-
ZYKLUS 2 CO2
Kohlenstoffatome (blau) ihn vollständig oxidiert als
Kohlendioxidmoleküle verlassen (Schritte 3 und 4 ). FADH2 3 NAD+
Acetyl-Coenzym A tritt in den Zyklus ein und über-
trägt den Acetylrest auf Oxalacetat, womit das namen- FAD 3 NADH
gebende Citrat entsteht (Schritt 1 ). Citronensäure liegt + 3 H+
wie die meisten organischen Säuren in der Zelle ioni- ADP + P i
siert in Form ihres deprotonierten Anions als Citrat
vor. Die folgenden sieben Schritte setzen das Citrat in ATP
Oxalacetat um, dessen Regeneration im achten Schritt
den Kreis schließt. Abbildung 9.11: Übersicht über die Pyruvatoxidation und den
Citratzyklus. Um die Einträge und Ausbeuten für ein Molekül Glucose zu
berechnen, müssen die hier angegebenen Werte mit zwei multipliziert
werden, da jedes Glucosemolekül im Verlauf der Glykolyse in zwei Pyru-
vatmoleküle umgesetzt wird.

221
9 Zelluläre Atmung und Gärung

OXIDATIVE
PYRUVAT- CITRAT-
GLYKOLYSE PHOSPHORY-
OXIDATION ZYKLUS
LIERUNG

1 Das Acetyl-CoA überträgt


ATP
S-CoA
seine zwei Kohlenstoffatome
enthaltende Acetylgruppe
C O auf Oxalacetat; es entsteht
CH3 Citrat.
Teil 2
Acetyl-CoA

8 Das Substrat 2 Das Citrat wird


wird oxidiert. CoA-SH durch Dehydratisierung
Wiederum wird und anschließende
NAD+ zu NADH Rehydratisierung in
reduziert. Dieser NADH O C COO– das isomere Isocitrat
Schritt regeneriert + H+ CH2 1 COO– H2O umgewandelt.
das Oxalacetat.
+ COO– CH2 COO–
NAD
8 Oxalacetat HO C COO– CH2
2
CH2 HC COO– 3 Das Isocitrat
COO–
COO –
HO CH
wird oxidiert.
HO CH Dabei wird
Malat Citrat
CH2
COO– NAD+ zu NADH
Isocitrat reduziert. Die
COO–
NAD + aus dem Iso-
7 Addition citrat hervorge-
von Wasser NADH hende Verbin-
CITRATCYCLUS 3
und Um- + H+ dung wird
7
lagerung des H2O decarboxyliert
Moleküls CO2 (CO2 wird abge-
COO–
COO–
spalten).
CH
Fumarat CoA-SH CH2
HC

COO –
CH2 -Ketoglutarat
4 C O
6 CoA-SH COO–
COO– COO–
4 Ein weiteres CO2-
CH2 CH2 Molekül wird bei
FADH 2 5 CO2 gleichzeitiger Oxidation
CH2 CH2 NAD +
FAD des -Ketoglutarates
COO– C O abgespalten. Wiederum
6 Zwei Wasserstoff-
atome werden auf Succinat Pi S-CoA NADH wird NAD+ zu NADH
FAD übertragen. In + H+ reduziert. Das zurück-
GTP GDP Succinyl-CoA bleibende Molekül wird
dieser Redoxreaktion
entstehen FADH2 mit Coenzym A umge-
(reduziertes FAD) setzt und durch eine
ADP
und Fumarat. labile Thioesterbindung
an dieses angeknüpft. Es
ATP entsteht Succinyl-CoA.
5 Der CoA-Rest wird von einem
Phosphorsäurerest verdrängt.
Dieser wird nachfolgend unter
Bildung von GTP auf GDP
übertragen. Das GTP ist eine
dem ATP analoge Verbindung.
Abbildung 9.12: Übersicht über den Citratzyklus. In den Strukturformeln sind die beiden Kohlenstoffatome rot hervorgehoben, die über das Acetyl-
CoA in den Zyklus eintreten (Schritt 1). Die beiden Kohlenstoffatome, die als Kohlendioxid (CO2) in den Schritten 3 und 4 den Zyklus verlassen, sind blau
gekennzeichnet. Die rote Markierung ist nur bis zum Schritt 5 sinnvoll, da das Succinatmolekül symmetrisch ist und daher seine beiden Enden nicht unter-
schieden werden können. Man beachte, dass die beiden Kohlenstoffatome, die in den Zyklus eintreten, ihn nicht im gleichen Durchgang wieder verlassen. Sie
verbleiben im Zyklus und nehmen beim nächsten Durchgang andere Positionen in den jeweiligen Molekülen ein, nachdem eine neue Acetylgruppe hinzuge-
kommen ist. Daher besteht das in Schritt 8 regenerierte Oxalacetat aus Kohlenstoffatomen mit jeweils unterschiedlicher Herkunft. In eukaryontischen Zellen
finden sich alle Enzyme des Citratzyklus in der mitochondrialen Matrix, jedoch mit einer Ausnahme: Das Enzym für Schritt 6, die Succinatdehydrogenase, ist in
die innere Mitochondrienmembran integriert. Alle Carbonsäuren sind als deprotonierte Carboxylatanionen dargestellt (R–COO–), weil sie infolge des pH-Wer-
tes innerhalb des Mitochondriums in dieser Form vorliegen.

Wie viele energiereiche Moleküle erzeugt der Citrat- FAD übertragen. Durch die Aufnahme von zwei Elek-
zyklus insgesamt? Pro Acetylrest werden drei NAD+ tronen und zwei Protonen wird FAD zu FADH2 redu-
zu NADH reduziert (Schritte 3 , 4 und 8 ). In Schritt ziert. In den Zellen vieler tierischer Gewebe führt die
6 werden Elektronen nicht auf NAD+, sondern auf Substratketten-Phosphorylierung in Schritt 5 zur

222
9.4 Die oxidative Phosphorylierung verknüpft den Elektronentransport über eine chemiosmotische Kopplung mit der ATP-Synthese

Bildung eines Moleküls Guanosintriphosphat (GTP), diesem Punkt speichern NADH und FADH2 den größten
nicht ATP. GTP kann jedoch infolge der strukturellen Teil der aus der Glucose stammenden Energie. Beide
Verwandtschaft bei Bedarf leicht in ATP umgewandelt Moleküle verbinden die Glykolyse und den Citratzyklus
werden. In den Zellen von Pflanzen, Bakterien und mit der oxidativen Phosphorylierung. Dabei wird die in
manchen tierischen Geweben wird in Schritt 5 direkt der Atmungskette freigesetzte Energie zur Synthese von
ATP mittels Substratketten-Phosphorylierung synthe- ATP genutzt. Im folgenden Abschnitt werden Sie
tisiert. Der Citratzyklus insgesamt erzeugt nur dieses zunächst erfahren, wie die Elektronentransportkette
eine GTP- beziehungsweise ATP-Molekül. Allerdings funktioniert, und danach, wie der Elektronenfluss an
entstehen pro Glucosemolekül jeweils zwei Moleküle die ATP-Synthese gekoppelt wird.
Acetyl-CoA. Daher liefert der Citratzyklus bezogen auf
Teil 2
ein Glucosemolekül 6 NADH-, 2 FADH2- und 2 GTP-
beziehungsweise ATP-Moleküle. 9.4.1 Die Elektronentransportkette
Der weitaus größte Teil des bei der Atmung gebil-
deten ATP entsteht im Verlauf der oxidativen Phos- Die Atmungskette besteht aus einer Anordnung von
phorylierung, wenn die im Citratzyklus gebildeten Molekülen, die bei Eukaryonten in die innere Mito-
reduzierten Coenzyme NADH und FADH2 die den chondrienmembran und bei Prokaryonten in die Plas-
Nahrungsmolekülen entzogenen Elektronen an die mamembran eingebettet ist. Die Faltung der inneren
Elektronentransportkette weitergeben. Dabei wird die Mitochondrienmembran zu Cristae oder Tubuli vergrö-
erforderliche Energie für die ATP-Synthese aus ADP ßert ihre Oberfläche, so dass Tausende von Elektronen-
und i gewonnen. Dieser Prozess ist Gegenstand des transportketten in jedem Mitochondrium Platz finden –
nächsten Abschnitts. wiederum ein Beispiel für den Zusammenhang zwi-
schen Form und Funktion. Die meisten Komponenten
der Atmungskette sind Proteine, die in Multiprotein-
 Wiederholungsfragen 9.3 komplexen vorliegen und mit römischen Ziffern von
I bis IV durchnummeriert werden. Prosthetische Grup-
1. Nennen Sie die Moleküle, die die meiste Ener- pen sind als Nicht-Protein-Komponenten fest an die
gie aus den Redoxreaktionen des Citratzyklus Proteinkomplexe gebunden und für die katalytischen
konservieren (siehe Abbildung 9.12). Wie wird Funktionen bestimmter Enzyme in den Komplexen
diese Energie in eine Form überführt, die für unabdingbar.
die Synthese von ATP verwendbar ist? Abbildung 9.13 zeigt die Abfolge der Elektronen-
2. Welche zellulären Prozesse führen zur Erzeu- überträger in der Atmungskette und die damit einher-
gung des Kohlendioxids, das wir ausatmen? gehende Abnahme der freien Enthalpie des Systems. Im
Zuge des Elektronentransports durch die Kette wech-
3. WAS WÄRE, WENN? Die in Abbildung 9.10 und seln die Elektronenüberträger zwischen ihren reduzier-
in Schritt 4 von Abbildung 9.12 gezeigten ten und oxidierten Zuständen hin und her, je nachdem,
Umwandlungen werden jeweils von großen ob sie Elektronen aufnehmen oder abgeben. Jedes Glied
Multienzymkomplexen katalysiert. Worin äh- der Kette wird reduziert, wenn es Elektronen vom vor-
neln sich die beiden Reaktionen? angehenden Komplex aufnimmt, der infolge seines
Gehalts an Atomen mit geringer Elektronegativität Elek-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. tronen leichter abgibt, also ein stärker negatives (allge-
mein: kleineres) Redoxpotenzial besitzt. Bei der Weiter-
gabe der Elektronen an den nachfolgenden Komplex mit
größerem Redoxpotenzial wird der ursprüngliche Kom-
Die oxidative Phosphorylierung plex wieder oxidiert.
Schauen wir uns die in Abbildung 9.13 dargestellte
verknüpft den Elektronen- Elektronentransportkette etwas genauer an. Wir wer-
transport über eine chemi- den zunächst den Durchgang der Elektronen durch
Komplex I detailliert betrachten, als Beispiel für die
osmotische Kopplung mit allgemeinen Prinzipien des Elektronentransports. Elek-
der ATP-Synthese
9.4 tronen, die im Rahmen der Glykolyse oder des Citrat-
zyklus auf NAD+ übertragen wurden, werden vom
NADH an das erste Molekül der Elektronentransport-
Das Hauptanliegen dieses Kapitels ist die Beantwor- kette in Komplex I übergeben. Dieses Molekül ist ein
tung der Frage, wie Zellen die in der Glucose und Flavoprotein, das seinen Namen seiner prosthetischen
anderen Nährstoffen enthaltene Energie nutzen, um Gruppe verdankt, dem Flavinmononucleotid (FMN). In
ATP zu synthetisieren. Die bisher betrachteten Stoff- der nachfolgenden Redoxreaktion wird dieses Flavo-
wechselwege der Atmung – die Glykolyse und der protein wieder oxidiert, indem es Elektronen auf ein
Citratzyklus – erbringen pro Molekül umgesetzter Glu- Eisen-Schwefel-Protein (Fe⋅S in Komplex I) überträgt,
cose lediglich vier Moleküle ATP, die alle durch Sub- eines aus einer ganzen Proteinfamilie, die sich durch
stratketten-Phosphorylierung entstanden sind: je zwei fest gebundene Eisen-Schwefel-Atomverbände aus-
ATP durch die Glykolyse und den Citratzyklus. Bis zu zeichnet. Das Eisen-Schwefel-Protein übergibt die

223
9 Zelluläre Atmung und Gärung

Elektronen im nächsten Schritt an Ubichinon (auch als nicht Elektronen. In der Atmungskette finden sich
Coenzym Q bezeichnet; „Q“ in Abbildung 9.13). Ubi- mehrere Cytochrom-Typen, die sich zwar alle etwas
chinon ist kein Protein, sondern ein kleines hydropho- voneinander unterscheiden, aber dennoch miteinan-
bes Molekül. Es ist innerhalb der Membran frei beweg- der verwandte Proteine sind. Die darin enthaltenen
lich und nicht fester Bestandteil eines bestimmten prosthetischen Gruppen sind jeweils leicht abgewan-
Molekülkomplexes. delte Hämgruppen mit abgestuften Elektronenaffini-
täten. Das letzte Cytochrom in der Atmungskette
(Cytochrom a3) überträgt seine Elektronen schließlich
auf den Sauerstoff, das elektronegativste Glied der
Elektronentransportkette. Jedes Sauerstoffatom nimmt
Teil 2 OXIDATIVE
zwei Elektronen und zwei Wasserstoffionen (H+) aus
PYRUVAT- CITRAT-
GLYKOLYSE ZYKLUS PHOSPHORY-
OXIDATION
LIERUNG

der umgebenden Lösung auf, wird also reduziert und


bildet so Wasser (Abbildung 9.13).
ATP
Außer NADH speist auch das FADH2, das im Citrat-
zyklus durch Reduktion von FAD entsteht, Elektronen
NADH
in die Atmungskette ein (FAD + 2H+ + 2e– → FADH2).
200 Abbildung 9.13 zeigt, dass FADH2 seine Elektronen an
2 e–
NAD+ Komplex II übergibt, also später als NADH und somit
FADH2 näher am Sauerstoff. Obwohl FADH2 genau wie
freie Enthalpie (G) (kJ/mol) (relative Werte, bezogen auf O2)

Proteinkomplexe NADH jeweils zwei Elektronen in die Atmungskette


2 e– FAD
160 I einbringt, liefert dies nur etwa zwei Drittel der Ener-
FMN
Fe•S II gie, die NADH als Elektronendonor für die ATP-Syn-
Fe•S
these beisteuert. Das Redoxpotenzial des FAD/FADH2
Q
III (–0,22 V) ist größer als das des NAD+/NADH (–0,32 V)
Cyt b
und liegt daher näher am Potenzial des Sauerstoffs
Fe•S
120 (+0,82 V). Die Nutzenergie, die aus dem Potenzial-
Cyt c1 IV unterschied gezogen werden kann, ist daher beim
Cyt c FAD/FADH2 niedriger als beim NAD+/NADH.
Cyt a Die Elektronentransportkette synthetisiert ATP
Cyt a3 nicht direkt. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, die
80
infolge des hohen Redoxpotenzials von Sauerstoff
stark exergone Oxidation von Nahrungsmolekülen in
eine Serie kleiner Schritte mit jeweils handhabbarer
Energie aufzuteilen, anstatt sofort und in einem
40 2 e– Schritt eine große Menge freier Enthalpie freizusetzen.
(ursprünglich aus Wie koppeln nun ein Mitochondrium oder die Plas-
NADH und FADH2)
mamembran eines Prokaryonten den Elektronentrans-
port und die damit einhergehende Energiefreisetzung
2 H+ + 12 O2 an die Synthese von ATP? Die Antwort liefert die
0 sogenannte chemiosmotische Kopplung.

H2 O 9.4.2 Die chemiosmotische Kopplung


Abbildung 9.13: Änderung der freien Enthalpie während des In die innere Membran eines Mitochondriums, die
Elektronentransports in der Atmungskette. Die Gesamtänderung Thylakoidmembran eines Chloroplasten oder die
der freien Enthalpie unter biochemischen Standardbedingungen für den
Plasmamembran einer Prokaryontenzelle sind zahlrei-
Elektronentransport vom NADH zum Sauerstoff beträgt ΔG0′ = –220 kJ/mol.
che Kopien des Proteinkomplexes der ATP-Synthase
Dieser Betrag wird durch die Elektronentransportkette (Atmungskette) in
eine Reihe von Schritten mit jeweils kleineren ΔG0′-Werten aufgeteilt. eingebettet. Im Unterschied zur Substratketten-Phos-
Sauerstoffatome sind durch ½ O2 dargestellt. Dies soll betonen, dass die phorylierung synthetisiert dieses Enzym ATP direkt
Atmungskette molekularen Sauerstoff reduziert, nicht etwa einzelne Sauer- aus ADP und freiem Hydrogenphosphat (Abbildung
stoffatome. 9.14). Da die Reaktion unter zellulären Bedingungen
mit ~50 kJ/mol stark endergon ist, muss die ATP-Syn-
thase nicht nur die Synthesereaktion katalytisch
Die meisten weiteren Redoxproteine zwischen Ubi- beschleunigen, sondern sie zusätzlich an eine Energie-
chinon und Sauerstoff sind Proteine aus der Gruppe quelle koppeln: Die ATP-Synthase ist eine molekulare
der Cytochrome mit Häm als prosthetischer Gruppe. Maschine. Sie wird von einer ionenmotorischen Kraft
Die Hämgruppe enthält ein Eisenion als eigentlichen über die Membran, in der das Molekül lokalisiert ist,
Elektronenakzeptor und -donor. Sie ähnelt dem Häm angetrieben. Die ATP-Synthase ist auf diese (Kopp-
im Hämoglobin, dem roten Blutfarbstoff, aber mit dem lungs-)Membran, genauer auf die räumliche Trennung
Unterschied, dass Hämoglobin Sauerstoff bindet und zweier Reaktionsräume, zwingend angewiesen; in

224
9.4 Die oxidative Phosphorylierung verknüpft den Elektronentransport über eine chemiosmotische Kopplung mit der ATP-Synthese

freier Lösung kann kein ATP aus ADP und i synthe- rechtfertigt.) In Mitochondrien pumpen drei der vier
tisiert werden. Proteinkomplexe, die am Elektronentransport der
In Kapitel 7 wurde gezeigt, wie beim aktiven Trans- Atmungskette beteiligt sind, Protonen von einer Seite
port Ionenpumpen ATP als Energiequelle nutzen der Membran auf die andere Seite (vergleichbare Pro-
können, um Ionen gegen bestehende Konzentrationsun- zesse laufen an der Plasmamembran von Prokaryonten
terschiede zu transportieren. Tatsächlich war die in und der Thylakoidmembran von Chloroplasten ab).
Abbildung 7.17 gezeigte Protonenpumpe eine ATP-Syn- Dadurch erzeugen sie ein elektrochemisches Mem-
thase. In Kapitel 8 haben wir ausgeführt, dass Enzyme branpotenzial mit zwei Komponenten. Zum einen
chemische Reaktionen durch Absenken der jeweiligen gibt es die chemische Komponente, das ist der Kon-
Aktivierungsenergie katalysieren. Sie beschleunigen zentrationsunterschied an Protonen auf den beiden
Teil 2
also sowohl die Hin- als auch die Rückreaktion, je nach Membranseiten (ΔpH). Zum anderen ist damit eine
Unterschied zwischen den Gleichgewichtskonzentratio- elektrische Komponente verbunden, die auf der unter-
nen der Reaktionspartner und ihren tatsächlich vorlie- schiedlichen Ladungsverteilung beruht: Protonen sind
genden Konzentrationen (siehe Massenwirkungsgesetz, positiv geladen (ΔΨ). Oft wird in diesem Zusammen-
Kapitel 2). hang der Begriff „Protonengradient“ verwendet, der
Die ATP-Synthesereaktion ist die Umkehrung der jedoch irreführend ist, weil er einerseits eine Kontinu-
ATP-Hydrolyse. Anstatt ATP zu hydrolysieren, um ität suggeriert, die gar nicht gegeben ist, und anderer-
zum Beispiel Protonen gegen ein bestehendes Konzen- seits die – meist ausschlaggebendere – elektrische
trationsgefälle zu pumpen, synthetisiert die ATP-Syn- Komponente ignoriert. Die Bereitstellung freier Ent-
thase unter den Bedingungen der Zellatmung (oder halpie durch den Aufbau eines elektrochemischen
Photosynthese) ATP unter Ausnutzung der freien Ent- Membranpotenzials und ihre Nutzung für die ATP-
halpie der an der Kopplungsmembran anliegenden Synthese wird als chemiosmotische Kopplung bezeich-
ionenmotorischen Kraft. (Da in den meisten Fällen net. Der Osmose (griech. osmos, Schub, Stoß) sind wir
Protonen für die ionenmotorische Kraft verantwortlich bereits bei der Erörterung des Wassertransports begeg-
sind, wird sie meist auch „protonenmotorische Kraft“ net. Der chemiosmotische Mechanismus umfasst dage-
genannt. Einige Prokaryonten verwenden jedoch statt gen den durch einen Konzentrations- und/oder Ladungs-
Protonen Natriumionen, was den allgemeineren Begriff unterschied getriebenen Durchtritt von Ionen durch

Intermembranraum
1 H+-Ionen (Protonen) fließen dem elektrochemischen Membranpotenzial folgend
in den Zutritts-Kanal eines membranständigen Stators, der mit einem membran-
ständigen Rotor verbunden ist.

H+ 2 H+-Ionen protonieren Bindungsstellen am Rotor. Dabei verändert sich die Ladung


Stator der einzelnen Rotoruntereinheiten. Die thermisch bedingte Hin- und Herbewe-
Rotor gung des Rotors in der Membranebene führt dann mit den entsprechenden
elektrostatischen Wechselwirkungen zwischen Aminosäure-Seitenketten mit den
Untereinheiten des Stators dazu, dass sich der Rotor nur in eine Richtung dreht.

3 Jedes H+-Ion muss einen kompletten Umlauf mitmachen, bevor es den Rotor
verlassen kann und durch einen Austrittskanal (wahrscheinlich zwischen Rotor
und Stator) in den Matrixraum des Mitochondriums übertritt.

„Nocken-
welle“ 4 Mit dem membranständigen Rotor ist eine weitere Untereinheit der ATP-Synthase
verbunden, die sich als „Nockenwelle“ mitdreht und in den Kopfteil des Enzyms
ragt, der über weitere Untereinheiten mit dem membranständigen Stator
verbunden ist.

5 Die Drehung der „Nockenwelle“ öffnet und schließt nacheinander die drei
ADP katalytischen Zentren im Kopfteil, in denen sich spontan ATP in einer Kondensa-
+ tionsreaktion aus ADP und P i bildet. Dieses ist zunächst noch gebunden und wird
katalytisch
Pi ATP dann abhängig von der Winkelposition der „Nockenwelle“ freigesetzt.
wirksamer
Kopfteil

Mitochondrienmatrix

Abbildung 9.14: Die ATP-Synthase ist eine molekulare Maschine. Der Proteinkomplex der ATP-Synthase arbeitet wie ein Generator, der durch
einen Ionenfluss angetrieben wird. ATP-Synthasen finden sich in prokaryontischen Zellen in der Plasmamembran, in eukaryontischen Zellen in der inne-
ren Membran der Mitochondrien und in der Thylakoidmembran von Chloroplasten. ATP-Synthasen bestehen aus einer Reihe von Untereinheiten. Diese
lassen sich räumlich in einen membranständigen Teil untergliedern und in einen, der daraus hervorragt. Mechanisch kann man eine Unterteilung in
Rotor und Stator vornehmen und funktionell in einen Teil zum Elektronentransport und einen mit katalytischen Bindungsstellen. Die diesen verschiede-
nen Einteilungen zugeordneten Untereinheiten sind nicht unbedingt immer die gleichen.

225
9 Zelluläre Atmung und Gärung

ein spezifisches Membranprotein und die daran eine Maschine antreibt. Aufgrund der spezifischen
gekoppelte Arbeitsleistung. Aufgrund der zentralen Zusammensetzung und Funktion der Untereinheiten
Bedeutung der Energieumwandlung in prokaryonti- der ATP-Synthase erfolgt die Drehbewegung aller-
schen und eukaryontischen Zellen war das Konzept dings nicht kontinuierlich, sondern eher schrittweise.
der chemiosmotischen Kopplung von immenser Wie erzeugen und erhalten die innere Mitochondri-
Bedeutung. Für die Entdeckung dieses zunächst als enmembran, die Thylakoidmembran oder die Plasma-
„chemiosmotische Hypothese“ bezeichneten Mecha- membran einer Prokaryontenzelle die erforderliche
nismus erhielt Peter Mitchell (englischer Biochemiker, ionenmotorische Kraft für die ATP-Synthese? Im Fall
1920–1992) im Jahr 1978 den Nobelpreis. der Atmungskette, den wir hier näher betrachten wol-
Aus Untersuchungen zur Struktur der ATP-Synthase len, werden nicht nur Elektronen, sondern auch Proto-
Teil 2
wurden Modelle abgeleitet, die den Fluss von Ionen nen transportiert. Die Atmungskette ist in Abbildung
durch die ATP-Synthase und seine Kopplung an die 9.15 in ihrer mitochondrialen Membranumgebung
eigentliche Synthesereaktion erklären. Die ATP-Syn- dargestellt. Die Kette insgesamt ist ein Energiewand-
thase ist ein aus mindestens acht unterschiedlichen ler, der den exergonen Fluss von Elektronen aus dem
Polypeptidketten zusammengesetzter Proteinkomplex NADH und dem FADH2 hin zum Sauerstoff für das
mit insgesamt mindestens 22 Untereinheiten (zwei an Pumpen von Protonen durch die Membran benutzt,
der Katalyse beteiligte Untereinheiten sind in drei aus dem Matrixraum in den Intermembranraum. Die
Kopien, eine Untereinheit ist in zwei und die mem- Protonen haben die Neigung, durch die Membran
branständige „Rotor“-Untereinheit in mindestens zehn zurück zu diffundieren, also den Konzentrations- und
Kopien vorhanden). Im einfachsten Fall (dem Enzym Ladungsunterschied auszugleichen. Die Kopplungs-
in der Plasmamembran von Prokaryonten) sind drei membran ist jedoch für Protonen weitgehend undurch-
Untereinheiten des Komplexes zu einem weitgehend lässig. Einzig der Membranteil des ATP-Synthasekom-
in die Membran eingelagerten Subkomplex zusam- plexes ist für Protonen durchlässig. Damit treibt der
mengelagert, der für den Ionentransport durch die exergone Protonenfluss durch die ATP-Synthase die
Kopplungsmembran zuständig ist. In den meisten bis- Phosphorylierung von ADP durch i an. Die im elek-
her bekannten ATP-Synthasen, auch denen in Mito- trochemischen Membranpotenzial gespeicherte Ener-
chondrien und Chloroplasten, werden ausschließlich gie verknüpft die Redoxreaktionen des Elektronentrans-
Protonen transportiert, in manchen prokaryontischen ports mit der ATP-Synthese-Reaktion, das klassische
Enzymen ist dagegen Na+ das „Kopplungsion“. Auf Beispiel für eine chemiosmotische Kopplung.
dem membranständigen Teil der ATP-Synthase sitzt Man mag sich fragen, wie die Atmungskette Proto-
der wasserlösliche, extrinsische Teil, der aus mindes- nen durch die Membran pumpen kann. Es hat sich
tens fünf verschiedenen Untereinheiten besteht und gezeigt, dass bestimmte Teilreaktionen der Elektronen-
für die Katalyse zuständig ist. Der größte Teil des mem- transportkette nicht nur Elektronen übertragen, son-
branständigen Komplexes kann in der Membranebene dern gleichzeitig auch Protonen aus dem umgebenden
rotieren und vollführt in der Tat eine (thermisch getrie- Medium aufnehmen oder sie ans Medium abgeben. Die
bene) „Hin-und-Her-Rotation“. Durch sequenzielle wässrige Umgebung ist eine gute Quelle für H+. In
Bindung der transportierten Ionen an den membran- eukaryontischen Zellen ist die Elektronentransport-
ständigen „Rotor“ und Umlauf an dessen Peripherie kette so in die Membran eingebettet, dass Protonen aus
wird diese ungerichtete Rotationsbewegung durch eine der mitochondrialen Matrix aufgenommen und in den
gerichtete überlagert. Die „Nockenwelle“ dreht sich Intermembranraum abgegeben werden (Abbildung 9.15).
entsprechend in eine Richtung. Sie ragt in den äußeren Die sich daraus ergebende Konzentrations- und
Teil des Enzyms hinein und öffnet beziehungsweise Ladungsdifferenz mitsamt ihrer Tendenz sich auszu-
schließt dort nacheinander infolge ihrer Drehbewe- gleichen, wird in Mitochondrien als protonenmotori-
gung die (drei) aktiven Zentren, in denen ATP aus ADP sche Kraft (allgemein: ionenmotorische Kraft) bezeich-
und Phosphat sozusagen „zusammengequetscht“ wird. net. Sie treibt Protonen durch den membranständigen
Das Mitdrehen dieses Teils des Enzyms wird durch Teil der ATP-Synthase zurück in ihr Ursprungskom-
einen Stator verhindert. partiment.
Die ATP-Synthase wandelt also zunächst das elek- Allgemein formuliert erlaubt die chemiosmotische
trochemische Membranpotenzial, welches sich in der Kopplung die Verrichtung zellulärer Arbeit durch ihre
ionenmotorischen Kraft manifestiert, in eine rein Verknüpfung mit einer Energiequelle. Diese liegt in
mechanische Drehbewegung um. Diese führt ihrerseits Form einer Ladungsdifferenz oder eines Konzentra-
zur Synthese und Freisetzung von ATP, so dass eine tionsunterschieds auf den beiden Seiten einer an sich
mechanische Rotation letztlich in die chemische Ener- ionenundurchlässigen Membran vor. Wesentlicher
gie des ATP umgewandelt wird (Abbildung 9.14). Dies Bestandteil der chemiosmotischen Kopplung ist einer-
ist mit einem Wasserkraftwerk vergleichbar, bei dem seits die Existenz zweier getrennter Räume, von denen
das gestaute Wasser durch den Staudamm schießt und einer zum Beispiel mit Protonen angereichert wird,
eine Turbine in Rotation versetzt. Der an die Turbinen- was auf Kosten des anderen Raums geschehen kann,
welle angesetzte Generator erzeugt mithilfe dieser aber nicht muss. Zweitens müssen beide Räume so
Rotation elektrischen Strom. Ein weiterer Vergleich ist miteinander verbunden sein, dass die Protonen nur an
der einer „molekularen Mühle“, bei der der Ionenfluss dieser Verbindung von einem Raum in den anderen

226
9.4 Die oxidative Phosphorylierung verknüpft den Elektronentransport über eine chemiosmotische Kopplung mit der ATP-Synthese

innere
Mitochondrien-
membran
CITRAT- OXIDATIVE
PYRUVAT-
GLYKOLYSE ZYKLUS PHOSPHORY-
OXIDATION
LIERUNG

ATP

H+
H+
H+ ATP-Synthase Teil 2
H+
Proteinkomplex Cyt c
Intermembran- aus Elektronen-
raum transportproteinen

IV
Q
I III

innere II
2 H+ + 1 2 O2 H2O
Mitochondrien- FADH2 FAD
membran
NADH NAD+
ADP + P i ATP
(mit Elektronen aus organischen
Molekülen letztlich der Nahrung) H+

1 Elektronentransportkette 2 chemiosmotischer Prozess


Matrix des Elektronentransport und Protonen-Translokation Die ATP-Synthese wird durch den
Mitochondriums erzeugen ein elektrochemisches Membranpotenzial. Rückfluss der Protonen durch die
ATP-Synthase angetrieben.
oxidative Phosphorylierung

Abbildung 9.15: Atmungskette und ATP-Synthese sind durch chemiosmotische Kopplung miteinander verknüpft. 1 NADH und FADH2
übertragen die im Verlauf der Glykolyse und des Citratzyklus übernommenen Elektronen auf die in die innere Mitochondrienmembran eingebettete Elek-
tronentransportkette. Die goldfarbenen Pfeile bezeichnen den Weg der Elektronen, die schließlich am Ende der Kette unter Bildung von Wasser auf moleku-
laren Sauerstoff übertragen werden. Laut Abbildung 9.13 lagern sich die meisten Bestandteile der Atmungskette zu vier Multiproteinkomplexen zusam-
men. Zwei Redoxüberträger, das Ubichinon (Coenzym Q) und das Cytochrom c (Cyt c ), sind sehr mobil und vermitteln den Elektronentransport zwischen
den Multiproteinkomplexen. Im Verlauf ihrer Redoxzyklen pumpen die Komplexe I, III und IV Protonen aus dem mitochondrialen Matrixraum in den Inter-
membranraum zwischen der inneren und äußeren Mitochondrienmembran. In Prokaryonten werden die Protonen durch die Plasmamembran nach außen
gepumpt. FADH2 speist seine Elektronen in Komplex II ein, daher werden durch die FADH2-Oxidation weniger Protonen in den Intermembranraum
gepumpt als durch die NADH-Oxidation. Die ursprünglich aus der Nahrung stammende Energie wird in eine protonenmotorische Kraft umgewandelt.
2 Im Verlauf der chemiosmotischen Kopplung fließen die zuvor in Gegenrichtung gepumpten Protonen über den in die innere Mitochondrienmembran
eingebetteten membranständigen Teil der ATP-Synthase zurück. Dieser Protonenfluss wird durch die ATP-Synthase zur Phosphorylierung von ADP durch
Phosphat genutzt. Atmungskette und chemiosmotische Kopplung werden zusammen als oxidative Phosphorylierung bezeichnet.

WAS WÄRE, WENN? Könnte durch eine chemiosmotische Kopplung auch dann ATP erzeugt werden, wenn Komplex IV defekt wäre? Falls ja, wie
würde sich die Syntheserate des ATP von der unter normalen Bedingungen unterscheiden?

übertreten können und der Protonenfluss an der Ver- mittel erzeugt. Der Transport von Elektronen über eine
bindungsstelle in Nutzarbeit umgewandelt wird. Damit entsprechende Transportkette baut dann die protonen-
wird deutlich, wie wichtig biologische Membranen für motorische Kraft auf, die die ATP-Synthese ermöglicht
diesen Prozess sind und von welch grundsätzlicher (Photophosphorylierung, siehe Kapitel 10). Prokaryon-
Bedeutung die Kompartimentierung lebender Organis- ten erzeugen eine ionenmotorische Kraft über ihre Plas-
men auch in diesem Zusammenhang ist. mamembran. Sie verwenden diese Kraft nicht nur zur
In Mitochondrien stammt die Energie für die Ausbil- Synthese von ATP, sondern auch zur Flagellenrotation
dung der protonenmotorischen Kraft aus exergonen und zur Nährstoffaufnahme in die Zelle, zur „Abfallent-
Redoxreaktionen und die Arbeitsleistung erfolgt in Form sorgung“ bestimmter Stoffe aus der Zelle mithilfe ent-
der ATP-Synthese. Chemiosmotische Kopplungen sind sprechender Pumpen sowie durch aktiven Transport
jedoch keinesfalls auf Mitochondrien beschränkt, son- (siehe Kapitel 7).
dern weit verbreitet. Wie bereits erwähnt, nutzen Chlo- Die chemiosmotischen Kopplungen in den drei Bei-
roplasten eine chemiosmotische Kopplung, um mittels spielen unterscheiden sich auch durch die jeweiligen
Photosynthese ATP zu synthetisieren. In diesen Orga- Beiträge der Konzentrationsdifferenz beziehungsweise
nellen ist Licht anstelle von chemischer Energie die des elektrischen Potenzials zum Aufbau der ionen-
Energiequelle, die zunächst ein starkes Reduktions- motorischen Kraft. In Mitochondrien wird die pH-

227
9 Zelluläre Atmung und Gärung

Differenz zwischen Matrix- und Intermembranraum fert daher genügend protonenmotorische Kraft, um etwa
durch andere Mechanismen weitgehend ausgeglichen, 2,5 Moleküle ATP zu synthetisieren. Der Citratzyklus
nicht jedoch das elektrische Membranpotenzial. Dieses stellt außerdem über das FADH2 Elektronen für die
reicht aus, um Protonen aufgrund elektrostatischer Atmungskette bereit. Da diese Elektronen erst in Kom-
Kräfte durch die ATP-Synthasen der Kopplungsmem- plex II in die Kette eintreten (siehe Abschnitt 9.4.1),
bran zu „saugen“. In der Thylakoidmembran von Chlo- reicht die vom FADH2 aufgebrachte Energie nur für die
roplasten (siehe Kapitel 10) neutralisiert der gegenläu- Synthese von 1,5 ATP-Molekülen aus. Diese Zahlen
fige Transport von anderen Ionen (beispielsweise Mg2+ berücksichtigen auch die energetischen Kosten des ATP-
teilweise das elektrische Potenzial. Die pH-Differenz Transports aus der mitochondriellen Matrix ins Cytosol.
sorgt zusammen mit dem verbleibenden elektrischen Der zweite Grund für die Ungenauigkeit liegt in der
Teil 2
Potenzial dafür, dass Protonen durch die ATP-Synthase Variation der ATP-Ausbeute, die entsteht, weil das in
von Chloroplasten getrieben werden. Prokaryonten sind der Glykolyse (also im Cytosol) gebildete NADH in das
bezüglich der relativen Anteile von Konzentrationsdif- Mitochondrium importiert werden muss. Die innere
ferenz oder elektrischem Potenzial noch weniger festge- Mitochondrienmembran ist für NADH undurchlässig.
legt und können beide Komponenten in Kombinationen Die beiden Elektronen, die im Verlauf der Glykolyse
verwenden, die ihr Lebensraum vorgibt. auf NAD+ übertragen wurden, werden je nach Zelltyp
von unterschiedlichen Transportsystemen in das
Mitochondrium überführt und fallen dort entweder in
9.4.3 Eine Bilanzierung der ATP-Produktion Form von NADH oder in Form von FADH2 an (Abbil-
durch die Zellatmung dung 9.16). Falls die Elektronen mittels FADH2 in die
Atmungskette eingehen, wie beispielsweise in Hirn-
In den vorangegangenen Abschnitten haben wir die zellen, werden letztlich pro cytosolischem NADH-
wichtigsten Vorgänge bei der Zellatmung näher betrach- Molekül nur 1,5 Moleküle ATP synthetisiert. In Leber-
tet. Treten wir nun einen Schritt zurück und rufen uns oder Herzzellen, in denen das cytosolische NADH
in Erinnerung, was der Zweck des Unternehmens war: auch in der Matrix wieder als NADH auftaucht, sind
die Gewinnung von Energie aus Glucose für die Syn- es dagegen 2,5 Moleküle ATP.
these von ATP. In pflanzlichen Mitochondrien können NADH oder
Im Verlauf der Atmung fließt der größte Teil der Ener- NADPH sogar direkt aus dem Cytosol (durch externe
gie in der folgenden Reihenfolge: Glucose → NADH → NAD(P)H-Dehydrogenasen) oder aus der Mitochondri-
Atmungskette → protonenmotorische Kraft → ATP. Wir enmatrix (interne NAD(P)H-Dehydrogenasen) Elektro-
können nun berechnen, wie viel ATP die Zellatmung nen an Ubichinon abgeben. Pflanzen verfügen allerdings
durch die Oxidation von einem Molekül Glucose zu auch über eine alternative Oxidase, die die Elektronen
sechs Molekülen Kohlendioxid liefert. Die beteiligten von Ubichinon auf O2 überträgt. Dabei entsteht kein
Stoffwechselwege sind die Glykolyse, die Pyruvatoxi- ATP, sondern lediglich Wärme.
dation, der Citratzyklus und die Atmungskette, die die Der dritte Grund für die Ungenauigkeit liegt in der
oxidative Phosphorylierung antreibt. In unsere Aufstel- Tatsache, dass die ATP-Ausbeute schon deshalb sinkt,
lung beziehen wir folglich die vier ATP-Moleküle mit weil die protonenmotorische Kraft noch für andere
ein, die durch Substratketten-Phosphorylierung im Ver- Arbeiten als nur die ATP-Synthese herangezogen wird,
lauf der Glykolyse und des Citratzyklus entstehen und beispielsweise für den Import von Pyruvat aus dem
addieren sie zu der Zahl von ATP-Molekülen, die Cytosol in das Mitochondrium (erinnern wir uns: Das
durch die oxidative Phosphorylierung gebildet werden. Pyruvat ist eine Vorstufe der Biosynthese von Acetyl-
Pro NADH-Molekül, das ein Elektronenpaar und ein Coenzym A, das in den Citratzyklus eingeht). Falls die
Proton von der Glucose beziehungsweise ihren Abbau- protonenmotorische Kraft der Atmungskette vollstän-
produkten in die Atmungskette überführt, werden etwa dig zur Synthese von ATP verwendet würde, ergäbe
2,5 Moleküle ATP synthetisiert, pro FADH2 ungefähr die Glucoseoxidation eine Maximalausbeute von 28
1,5 Moleküle ATP. Molekülen ATP im Rahmen der oxidativen Phospho-
Warum sind die in Abbildung 9.16 angegebenen Zah- rylierung, dazu weitere vier Moleküle durch Substrat-
len nicht genau? Aus drei Gründen können wir keine ketten-Phosphorylierung, also insgesamt 32 Moleküle
präzise Zahl für die beim Abbau eines Glucosemoleküls ATP. Diese Zahl erniedrigt sich auf 30, falls die weni-
gebildeten ATP-Moleküle angeben. Zunächst sind die ger effizienten Transportsysteme beteiligt sind.
ADP-Phosphorylierung und die energieliefernden Mit diesen Daten können wir den Wirkungsgrad der
Redoxreaktionen nicht unmittelbar aneinander gekop- Atmung abschätzen, also den Anteil an chemischer
pelt, das Verhältnis NADH : ATP ist daher nicht Energie errechnen, der von Glucose auf ATP übertragen
unbedingt ganzzahlig. Ein NADH-Molekül bewirkt wurde. Die vollständige Oxidation von einem Mol Glu-
das Pumpen von zehn Protonen durch die innere cose liefert unter Standardbedingungen 2.870 kJ (ΔG0′ =
Mitochondrienmembran. Die ATP-Synthase benötigt –2.870 kJ/mol). Die Phosphorylierung von ADP zu ATP
nach neueren Befunden etwa vier Protonen für die Syn- erfordert unter Standardbedingungen 30,5 kJ/mol. Der
these von einem Molekül ATP. Ein Molekül NADH lie- thermodynamische Wirkungsgrad der Atmung ergibt

228
9.4 Die oxidative Phosphorylierung verknüpft den Elektronentransport über eine chemiosmotische Kopplung mit der ATP-Synthese

Proteine für den Elek-


CYTOSOL MITOCHONDRIUM
tronentransport durch-
spannen die Membran 2 NADH
oder
2 FADH2

2 NADH 2 NADH 6 NADH 2 FADH2

GLYKOLYSE PYRUVAT-OXIDATION OXIDATIVE


PHOSPHORYLIERUNG
CITRAT-
Glucose 2 Pyruvat 2 Acetyl-CoA ZYKLUS (Elektronentransport Teil 2
und chemi-
osmotische Kopplung)

+ 2 ATP + 2 ATP + etwa 26 oder 28 ATP


durch Substratketten- durch Substratketten- durch die oxidative Phosphorylierung;
Phosphorylierung Phosphorylierung abhängig davon, welcher Transporter
die Elektronen in Form von NADH aus
dem Cytosol hereinbringt

Maximum pro Molekül Glucose: + etwa 26


oder 28 ATP

Abbildung 9.16: ATP-Ausbeute pro Molekül Glucose im Verlauf verschiedener Stoffwechselprozesse.

? Erklären Sie genau, wie die 26 oder 28 ATP-Moleküle (im orangen Balken in Abbildung 9.16 ) zustande kommen.

sich somit zu (30,5 kJ/mol ⋅ 32 ⋅ 100 %) / 2.870 kJ/mol gerter Nährstoffe zur Wärmeproduktion, jedoch ohne
= 34 %. Der tatsächliche Wert ist sicher höher, weil für die gleichzeitige Synthese von ATP. Ohne diese Anpas-
die hier angegebenen Berechnungen die freie Enthalpie sung würde die ATP-Erzeugung letztlich das Abschalten
unter Standardbedingungen eingesetzt wurde, die so in der Zellatmung durch regulatorische Mechanismen
Zellen nicht vorkommt. Die Zellatmung ist als energie- bewirken, die wir noch kennenlernen werden. In der fol-
wandelnder Prozess bemerkenswert effizient. Im Ver- genden Wissenschaftlichen Übung können Sie mit
gleich dazu erreicht der leistungsfähigste Automotor Daten eines ähnlich gelagerten Falles arbeiten, bei dem
nur einen Wirkungsgrad von 25 %, bezogen auf die im die Abnahme der metabolischen Effizienz in Zellen zur
Treibstoff enthaltene Energie. Dagegen können Wasser- Erzeugung von Wärme genutzt wird.
kraftwerke deutlich höhere Wirkungsgrade von mehr
als 60 % erreichen.
Die nicht ausgenutzte Restenergie der Atmung geht als  Wiederholungsfragen 9.4
Wärme verloren. Wir Menschen und diverse Tiere nut-
zen einen Teil dieser Wärme zur Aufrechterhaltung 1. Welche Auswirkung hätte das Fehlen von
unserer relativ hohen Körpertemperatur von 37 °C, der Sauerstoff (O2) auf die in Abbildung 9.15 dar-
Rest wird durch Schwitzen und andere Kühlmechanis- gestellten Abläufe?
men dissipiert. Überraschend ist, dass es unter bestimm-
ten Bedingungen sogar vorteilhaft sein kann, die Effizi- 2. WAS WÄRE, WENN? Was würde Ihrer Meinung
enz der Zellatmung zu reduzieren. Eine bemerkenswerte nach in Abwesenheit von Sauerstoff geschehen,
Anpassung zeigen bestimmte Säugetierarten, die ver- wenn man den pH-Wert des Intermembran-
gleichsweise inaktiv und bei erniedrigter Stoffwechsel- raums im Mitochondrium herabsetzte? Erläu-
rate überwintern. Ungeachtet der Erniedrigung ihrer tern Sie Ihre Antwort.
Körpertemperatur in dieser Zeit, muss diese trotzdem
deutlich höher als die Umgebungstemperatur sein. Das 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Wie in Konzept
sogenannte braune Fettgewebe besteht aus Zellen voller 7.1 dargelegt, müssen Membranen relativ flüssig
Mitochondrien, die in ihrer inneren Membran ein sein, um ordentlich funktionieren zu können.
Kanalprotein, das sogenannte entkoppelnde Protein Inwiefern unterstützt die Wirkungsweise der
(engl. uncoupling protein) enthalten. Dieses Protein Elektronentransportkette diese Behauptung?
gestattet den energetisch entkoppelten Rückfluss von
Protonen. Die Aktivierung dieses Entkopplers in über- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
winternden Säugetieren erlaubt die Oxidation eingela-

229
9 Zelluläre Atmung und Gärung

 Wissenschaftliche Übung

Ein Balkendiagramm erstellen und eine


Hypothese beurteilen

Beeinflusst der Hormonspiegel in der Schilddrüse


den zellulären Sauerstoffverbrauch? Säugetiere
und Vögel halten eine relativ konstante Körpertem-
peratur oberhalb der ihrer Umgebung aufrecht,
Teil 2 indem sie Wärme als Nebenprodukt ihres Stoff-
wechsels erzeugen. Wenn die Kerntemperatur die-
ser Tiere unter einen bestimmten Wert sinkt, werden
die Zellen veranlasst, die Effizienz ihrer ATP-Pro-
duktion durch die mitochondriale Elektronentrans-
portkette zu senken. Bei einer geringeren Effizienz
muss zusätzlicher Brennstoff verbraucht werden,
um die gleiche Anzahl von ATP-Molekülen zu
erzeugen, was zusätzliche Wärme erzeugt. Dieser messen wurde? Sie wird auf der y-Achse dar-
Regelkreis wird durch das endokrine System gesteu- gestellt (der Ordinate). (c) Welche (abgekürzte)
ert, und daher wurde angenommen, dass ein Schild- Einheit sollte für die Ordinatenbeschriftung
drüsenhormon diese zelluläre Reaktion auslöst. verwendet werden? Bestimmen Sie den Wer-
In der vorliegenden Übung werden Sie ein Bal- tebereich, der für die Ordinate benötigt wird
kendiagramm verwenden, um die Messwerte eines und zeichnen Sie die Zahlenwerte entspre-
Experiments darzustellen. Darin sollen die Stoff- chend ein, indem Sie gleichmäßige Abstände,
wechselrate der Mitochondrien aus Zellen von Tieren beginnend bei Null, verwenden.
miteinander verglichen werden, die unterschiedliche
Gehalte des Schilddrüsenhormons aufwiesen. Zur 2. Tragen Sie die Daten für jede der drei Proben
Bestimmung der Stoffwechselaktivität wurde der in das Diagramm ein, indem Sie für jeden
Sauerstoffverbrauch gemessen. Abszissenwert mit dem entsprechenden Ordi-
natenwert eine Markierung im Diagramm ein-
Durchführung des Experiments Leberzellen ver- tragen. Danach zeichnen Sie einen Balken mit
schwisterter Ratten mit erniedrigten, normalen oder der korrekten Höhe ein. Warum ist ein Balken-
erhöhten Schilddrüsenhormonspiegeln wurden diagramm in diesem Fall besser geeignet, als
isoliert. Damit wurden die Sauerstoffverbrauchsraten ein Streu- oder Liniendiagramm? Zusätzliche
unter kontrollierten Bedingungen bestimmt. Informationen zu Graphen finden Sie im
Überblick über die wissenschaftlichen Fertig-
Experimentelle Daten keiten in Anhang B.

3. Betrachten Sie Ihren Graphen und suchen Sie


Schilddrüsen- Sauerstoffverbrauchsrate
nach einem Muster in den experimentellen
hormonspiegel [nmol O2/(min ⋅ mg Zellen)]
Daten. (a) Welche Zelle hatte die höchste,
niedrig 4,3 welche die niedrigste Geschwindigkeit beim
normal 4,8 Sauerstoffverbrauch? (b) Wird dadurch die For-
schungshypothese gestützt? Begründen Sie. (c)
erhöht 8,7 Angesichts Ihrer Kenntnisse des mitochondria-
len Elektronentransportes und der Wärme-
Datenauswertung erzeugung: Welche Ratten hatten die höchste,
welche die niedrigste Körpertemperatur?
1. Um die Unterschiede im Sauerstoffverbrauch
der einzelnen Zelltypen darzustellen, bietet
sich ein Balkendiagramm an. Zuerst werden
die Achsen gezeichnet. (a) Wie lautet die un-
abhängige Variable, die durch die Forscher va- Daten aus: M. E. Harper und M. D. Brand, The quantitative contribu-
riiert wurde? Diese Variable wird auf der x- tions of mitochondrial proton leak and ATP turnover reactions to the
Achse (Abszisse) dargestellt. (b) Wie lautet die changed respiration rates of hepatocytes from rats of different thyroid
abhängige Variable, die durch die Forscher ge- status, Journal of Biological Chemistry 268:14850–14860 (1993).

230
9.5 ATP kann auch ohne Sauerstoff durch Gärung oder anaerobe Atmung erzeugt werden

ATP kann auch ohne Sauerstoff zur Verfügung steht oder nicht. Dies ist so-
wohl unter aeroben als auch unter anaeroben Bedin-
Sauerstoff durch Gärung gungen möglich und liefert ATP etwa einhundert Mal
oder anaerobe Atmung schneller als die Atmungskette.
erzeugt werden
9.5 Die Oxidation organischer Nährstoffe durch die Gly-
kolyse mit ihrer Substratketten-Phosphorylierung bie-
tet so eine Alternative zur Atmungskette für die ATP-
Da der größte Teil des bei der Zellatmung erzeugten ATP Synthese. Dafür muss ein ausreichender Nachschub
auf die oxidative Phosphorylierung zurückgeht, setzt an NAD+ gegeben sein, um die Elektronen, die wäh-
unsere Abschätzung der ATP-Ausbeute bei der aeroben rend der oxidativen Schritte der Glykolyse anfallen,
Teil 2
Atmung eine ausreichende Versorgung der Zelle mit aufzunehmen. Ohne einen Mechanismus zur NAD+-
Sauerstoff voraus. Ohne den elektronegativen Sauerstoff Regeneration aus NADH würde die Glykolyse den zel-
am Ende der Elektronentransportkette würde die oxida- lulären Vorrat an NAD+ sehr bald erschöpfen, weil das
tive Phosphorylierung zum Erliegen kommen. Es gibt gesamte NAD+ zu NADH reduziert wäre. In Ermange-
jedoch zwei Mechanismen, durch die bestimmte Zellen lung des Sauerstoffs als Elektronenakzeptor käme die
auch ohne molekularen Sauerstoff organische Nährstoffe Glykolyse zum Erliegen. Man mag einwenden, dass
oxidieren und ATP synthetisieren können: die anaerobe dann einfach andere Elektronenakzeptoren verwendet
Atmung und die Gärung (Fermentation). Der Unter- werden könnten. Dem steht jedoch entgegen, dass die
schied zwischen diesen beiden Vorgängen ist durch das entsprechenden Schritte der Glykolyse ausnahmslos
Vorhandensein beziehungsweise das Fehlen einer Elek- enzymatisch katalysiert sind und die spezifischen
tronentransportkette gegeben. (Die Elektronentransport- Enzyme auf NAD+ als Coenzym angewiesen sind.
kette wird in beiden Fällen als Atmungskette bezeich- Unter aeroben Bedingungen wird das NAD+ durch die
net, auch wenn landläufig mit dem Begriff der Atmung Oxidation des NADH im Laufe der Atmungskette rege-
der sauerstoffabhängige Prozess assoziiert wird.) neriert. Eine anaerobe Alternative ist der Transfer von
Wir haben die anaerobe Atmung bereits gestreift, sie Elektronen von NADH auf das durch die Glykolyse
läuft in bestimmten Prokaryonten ab, die in Umgebun- selbst gebildete Pyruvat.
gen ohne Sauerstoff leben. Diese Organismen verfügen
über eine Elektronentransportkette, die ohne Sauer-
stoff als terminalem Elektronenakzeptor auskommt. 9.5.1 Verschiedene Gärungsformen
Zwar ist Sauerstoff aufgrund seines großen Redoxpo-
tenzials dafür bestens geeignet, aber andere Stoffe mit Eine Gärung besteht aus der Glykolyse und ihr nachge-
etwas geringerem Redoxpotenzial können ebenfalls als schalteten Reaktionen, die das NAD+ durch Elektronen-
terminale Elektronenakzeptoren dienen. Sulfatreduzie- übertragung vom NADH auf Pyruvat oder Abkömmlinge
rende Meeresbakterien benutzen das Sulfatanion des Pyruvats regenerieren. Das so gebildete NAD+ kann
(SO42–) als terminalen Elektronenakzeptor. Diese auf dann erneut verwendet werden, um weitere Zucker-
Sulfat basierende Kette baut ebenfalls eine protonen- moleküle zu oxidieren, mit einem Nettogewinn von
motorische Kraft auf, die zur ATP-Produktion genutzt zwei Molekülen ATP durch Substratketten-Phospho-
wird, jedoch anstelle von Wasser Schwefelwasserstoff rylierung. Es gibt zahlreiche Gärungen, die sich hin-
(H2S) erzeugt. Der Geruch nach faulen Eiern in einer sichtlich des aus dem Pyruvat gebildeten Endprodukts
Salzmarsch oder dem Schlick im Watt weist auf die unterscheiden. Verbreitete und vom Menschen industri-
Tätigkeit Sulfat-reduzierender Bakterien hin. ell genutzte Formen sind die alkoholische Gärung, die
Durch die Gärung (Fermentation) kann chemische Essigsäuregärung und die Milchsäuregärung.
Energie sowohl ohne Sauerstoff als auch ohne eine Bei der alkoholischen Gärung (Abbildung 9.17a)
Elektronentransportkette, also ganz ohne Zellatmung, wird Pyruvat in zwei Schritten zu Ethanol umgesetzt.
gewonnen werden. Wie kann Nahrung ohne Zell- Im ersten Schritt wird Kohlendioxid aus Pyruvat freige-
atmung oxidiert werden? Erinnern wir uns, dass Oxi- setzt, eine Decarboxylierung, bei der außerdem Acet-
dation ja lediglich „Elektronenabgabe an einen Elek- aldehyd entsteht. Im zweiten Schritt wird Acetaldehyd
tronenakzeptor“ bedeutet, was nicht automatisch auf durch NADH zu Ethanol reduziert. Letztlich wird so
Sauerstoff als Elektronenakzeptor beschränkt ist. Schon NAD+ regeneriert, das für die Fortsetzung der Gly-
im Verlauf der Glykolyse wird Glucose zu zwei Mole- kolyse notwendig ist. Viele Bakterien schalten unter
külen Pyruvat oxidiert und das nicht durch Sauerstoff, anaeroben Bedingungen auf die alkoholische Gärung
sondern durch NAD+ und ohne Beteiligung einer Elek- um. Manche Hefen (einzellige Pilze) sind sogar auf die
tronentransportkette. Insgesamt ist die Glykolyse ein alkoholische Gärung spezialisiert. Seit Jahrtausenden
exergoner Prozess mit einer Ausbeute von zwei ATP nutzt der Mensch diese Stoffwechselleistung der Hefe
durch Substratketten-Phosphorylierung. Falls Sauer- (namentlich der Art Saccharomyces cerevisiae), um
stoff in der Zelle verfügbar ist, kann sehr viel mehr ATP Bier zu brauen, Wein zu keltern und andere alkoholi-
durch oxidative Phosphorylierung gewonnen und sche Getränke herzustellen, sowie um Teige für Brot
gleichzeitig NAD+ regeneriert werden. Doch kann die und Kuchen durch das im ersten Schritt der Gärung
Glykolyse prinzipiell aus sich heraus schon zwei ATP gebildete gasförmige CO2 gehen zu lassen.
pro Glucose erzeugen und das unabhängig davon, ob

231
9 Zelluläre Atmung und Gärung

lange für die Ermüdung des Muskels und den nachfol-


2 ADP + 2 P i 2 ATP O–
genden „Muskelkater“ verantwortlich gemacht. Neu-
ere Befunde machen dafür andere Prozesse verant-
C O wortlich: Nach einer Hypothese sind erhöhte K+-
C O Konzentrationen die Ursache für Muskelkater, wäh-
Glucose GLYKOLYSE
CH3 rend wieder andere Wissenschaftler mikroskopisch
kleine Verletzungen der Muskelfasern für ursächlich
2 Pyruvat
halten, während das Lactat die Muskelleistung sogar
2 NAD+ 2 NADH 2 CO2 verbessern soll. In jedem Fall wird überschüssiges
+ 2 H+ Lactat nach und nach mit dem Blutstrom zur Leber
Teil 2 H H transportiert, wo es wieder in Pyruvat umgewandelt
H C OH C O wird.
Wenn es bei Überflutung des Bodens in pflanzlichen
CH3 CH3
Geweben zu Sauerstoffmangel kommt, kann zwar
2 Ethanol 2 Acetaldehyd auch die Gärung die Energieversorgung leidlich auf-
rechterhalten, die Gärungsprodukte Ethanol und Milch-
(a) Alkoholische Gärung
säure führen jedoch schnell zur Zerstörung der Zellen.
Dies erklärt das paradoxe Phänomen, dass zu stark
2 ADP + 2 P i 2 ATP gewässerte Zimmerpflanzen im Blumentopf buchstäb-
lich vertrocknen, weil ihr Wurzelsystem durch Gärung
geschädigt wurde (siehe Kapitel 39).
Glucose GLYKOLYSE O–
C O 9.5.2 Ein Vergleich von Gärung und
C O aerober Atmung
2 NAD+ 2 NADH
O– CH3
+ 2 H+ Gärungen und die aerobe Zellatmung sind alternative
C O 2 Pyruvat
Wege zur anaeroben beziehungsweise aeroben Syn-
H C OH these von ATP durch Gewinnung chemischer Energie
CH3
aus organischen Molekülen (Assimilate bei Pflanzen,
Nahrung bei Tieren). Beide Stoffwechselprozesse
2 Lactat beginnen mit dem glykolytischen Abbau von Glucose
(b) Milchsäuregärung oder anderen Kohlenhydraten zu Pyruvat, was einer
Nettoproduktion von zwei ATP bei der Substratketten-
Abbildung 9.17: Gärung. In der Abwesenheit von Sauerstoff nutzen Phosphorylierung entspricht. Sowohl bei den Gärungen
viele Zellen die Gärung (Fermentation) um ATP durch Substratketten-Phos- wie bei der Atmung ist NAD+ der Elektronenakzeptor
phorylierung zu erzeugen. Pyruvat, das Endprodukt der Glykolyse, dient als beziehungsweise das Oxidationsmittel, das im Verlauf
Elektronenakzeptor für die Rückoxidation von NADH zu NAD+, welches der Glykolyse Elektronen aus den Nahrungsmolekülen
dann wieder in der Glykolyse verwendet werden kann. Zwei verbreitete aufnimmt.
Endprodukte einer Gärung sind (a) Ethanol und (b) Lactat, die deproto-
Ein wesentlicher Unterschied besteht in dem Mecha-
nierte Form der Milchsäure.
nismus, durch den das entstehende NADH wieder zu
NAD+ reoxidiert wird, das in der Glykolyse benötigt
Im Verlauf der Milchsäuregärung (Abbildung 9.17b) wird. Bei einer Gärung ist eine organische Verbindung
wird das Pyruvat ohne vorherige Decarboxylierung der Elektronenakzeptor, wie das Pyruvat im Fall der
unmittelbar durch NADH zu Lactat (dem Anion der Milchsäuregärung oder Acetaldehyd bei der alkoho-
Milchsäure) reduziert, dem Endprodukt dieser Gärung. lischen Gärung. Bei der aeroben Atmung ist dagegen
CO2 wird hier also nicht freigesetzt. Die Milchsäure- Sauerstoff der terminale Akzeptor für die Elektronen
gärung findet sich bei Bakterien (beispielsweise den des NADH. Dabei wird nicht nur das für die Glykolyse
Milchsäurebakterien) und bestimmten Pilzen. Sie ist in notwendige NAD+ regeneriert, sondern darüber hinaus
der milchverarbeitenden Industrie bei der Herstellung auch noch mehr ATP gewonnen, indem der schritt-
von Joghurt, Quark und Käse unerlässlich. weise erfolgende Elektronentransport vom NADH zum
Menschliche Muskelzellen erzeugen ATP durch Sauerstoff die oxidative Phosphorylierung stimuliert.
Milchsäuregärung, wenn Sauerstoff knapp ist. Dies Ein noch größerer Gewinn an ATP kommt durch die
kommt in der Frühphase großer körperlicher Anstren- Oxidation des vom Pyruvat abgeleiteten Acetyl-CoA im
gung vor, wenn der Zuckerkatabolismus zur Produk- Citratzyklus zustande. Dieser bedeutende Energiege-
tion von ATP schneller vonstatten geht, als das Mus- winn ist für die Atmung charakteristisch. Ohne Sauer-
kelgewebe über das Blut mit Sauerstoff versorgt stoff ist die im Pyruvat am Ende der Glykolyse gespei-
werden kann. Unter diesen Bedingungen schalten die cherte Energie nicht verfügbar. Die Zellatmung gewinnt
Zellen von der aeroben Atmung auf die Gärung um. deutlich mehr Energie aus jedem Zuckermolekül als
Das sich im Muskelgewebe anreichernde Lactat wurde jegliche Gärung. Tatsächlich wird damit etwa das Sech-

232
9.5 ATP kann auch ohne Sauerstoff durch Gärung oder anaerobe Atmung erzeugt werden

zehnfache an ATP aus jedem Glucosemolekül im Ver- kolyse im Cytosol der Zellen abläuft ist ebenfalls ein
gleich zu den Gärungen gewonnen (bis zu 32 Moleküle Hinweis auf ihr Alter. An diesem Stoffwechselweg
ATP anstelle von zwei Molekülen ATP durch Substrat- sind keine von einer Membran umgebenen Organellen
ketten-Phosphorylierung pro Molekül Glucose). Aller- beteiligt, wie sie für eukaryontische Zellen charakteris-
dings steht der deutlich höheren ATP-Ausbeute durch tisch sind. Eukaryontische Zellen haben sich nach
die Atmung die etwa einhundert Mal schnellere Gly- heutigem Kenntnisstand erst etwa eine Milliarde Jahre
kolyse gegenüber, so dass die Glykolyse kurzfristig ins- nach den prokaryontischen Zellen herausgebildet. Die
gesamt mehr ATP bereitstellen kann als die Atmung. Glykolyse ist also ein metabolisches Erbe früher Zellen,
Einige Organismen, die als obligate Anaerobier das weiterhin bei Gärungen und als erster Schritt des
bezeichnet werden, führen nur eine Form der Gärung Abbaus organischer Verbindungen durch die Atmung
Teil 2
oder eine anaerobe Atmung durch und können in seinen Platz behauptet hat.
Gegenwart von Sauerstoff gar nicht überleben, da der
Sauerstoff für diese Lebewesen giftig ist. Einige wenige
Zelltypen, wie die des Wirbeltiergehirns, können Pyru- Glucose
vat nur aerob oxidieren, aber nicht vergären. Andere
Organismen wie Hefen und viele Bakterien nutzen je Glykolyse
Cytosol
nach Verfügbarkeit von Sauerstoff entweder die Atmung
oder die Gärung für ihre ATP-Synthese. Solche Lebens- Pyruvat
formen nennt man fakultative Anaerobier. Sie stellen
ihren Stoffwechsel auf die herrschenden Umgebungs- kein O2 verfügbar: O2 verfügbar: aerobe
Gärung Zellatmung
bedingungen ein. Auf der zellulären Ebene verhalten
sich unsere Muskelzellen fakultativ anaerob. Auf ihre
Fähigkeit zur Milchsäuregärung sind wir schon ein-
gegangen. In solchen Zellen steht das Pyruvat an der Mitochondrium
Verzweigung zu alternativen katabolen Stoffwechsel- Ethanol Acetyl-CoA
wegen (Abbildung 9.18). Unter aeroben Bedingungen oder
Lactat
kann das Pyruvat in Acetyl-CoA überführt werden, das Citrat-
dann im Citratzyklus weiter oxidiert wird. Unter zyklus
anaeroben Bedingungen wird das Pyruvat nicht durch
Decarboxylierung in den Citratzyklus eingespeist, son-
dern dient als Elektronenakzeptor für die Rückbildung
von NAD+. Um in einer gegebenen Zeitspanne die glei-
che Menge ATP zu erzeugen wie bei der Atmung, setzt Abbildung 9.18: Pyruvat als wichtiges Zwischenprodukt an
ein fakultativ anaerobes Lebewesen Zucker mit viel einer Zweigstelle im Katabolismus. Die Glykolyse ist den Gärungen
höherer Geschwindigkeit durch Gärung um. und der Zellatmung gemeinsam. Beim Endprodukt der Glykolyse, dem
Pyruvat, gabeln sich die katabolen Stoffwechselwege der Glucoseoxida-
tion. Bei fakultativen Anaerobiern oder Muskelzellen, die sowohl zur aero-
ben Zellatmung wie zur Gärung befähigt sind, wird das Pyruvat in den
9.5.3 Die evolutionäre Bedeutung
einen oder anderen dieser Wege eingeschleust. Dies ist in der Regel davon
der Glykolyse abhängig, ob Sauerstoff verfügbar ist oder nicht.

EVOLUTION Die Rolle der Glykolyse sowohl bei der


Gärung als auch bei der Atmung hat einen entwick-
lungsgeschichtlichen Hintergrund. Frühe Prokaryon-
ten erzeugten ATP wahrscheinlich mithilfe der Gly-  Wiederholungsfragen 9.5
kolyse und Substratketten-Phosphorylierung, lange
bevor Sauerstoff in der Atmosphäre der Erde verfügbar 1. Betrachten Sie das im Verlauf der Glykolyse
wurde; diese Frühformen des Lebens waren also gebildete NADH. Welche Verbindung ist der
obligat anaerob. Die ältesten bekannten Fossilien von terminale Elektronenakzeptor bei Gärungen?
Bakterien sind 3,5 Milliarden Jahre alt, doch erst vor Welche bei der aeroben Atmung?
etwa 2,7 Milliarden Jahren hatte sich Sauerstoff in grö-
ßeren Mengen in der Atmosphäre angesammelt, der als 2. WAS WÄRE, WENN? Eine mit Glucose gesättigte
Nebenprodukt der Photosynthese von Cyanobakterien Hefezelle wird von einer aeroben in eine
freigesetzt wurde. Da Sauerstoff eigentlich für Zellen anaerobe Umgebung versetzt. Wie müsste sich
tödlich ist, zog dies Anpassungen des gesamten Stoff- der Glucoseverbrauch dieser Zelle verändern,
wechsels nach sich. Die Tatsache, dass die Glykolyse damit sie die ATP-Bildung mit der gleichen
auch heute noch der am weitesten verbreitete Stoff- Rate fortsetzen könnte wie zuvor?
wechselweg unter den Lebewesen der Erde ist, deutet
darauf hin, dass sie sehr früh in der Entwicklungs- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
geschichte des Lebens entstanden ist. Dass die Gly-

233
9 Zelluläre Atmung und Gärung

Die Glykolyse und der Citrat- drate umsetzen. Beispielsweise wird im Verdauungstrakt
Stärke durch Hydrolyse in Glucose gespalten, die dann
zyklus sind vielfach mit durch die Glykolyse und den nachfolgenden Citratzyk-
anderen Stoffwechselwegen lus abgebaut wird. In gleicher Weise kann das Speicher-
verknüpft
9.6 polysaccharid Glykogen, das der Mensch und zahlreiche
Tierarten in der Leber und im Muskelgewebe einlagern,
bei Bedarf zu Glucose hydrolysiert werden. Die Verdau-
Bisher haben wir den oxidativen Abbau der Glucose ung der Disaccharide, zu denen auch der Rohrzucker
isoliert vom metabolischen Gesamthaushalt der Zelle gehört, liefert ebenfalls Glucose und andere Monosac-
betrachtet. In diesem Abschnitt wollen wir aufzeigen, charide als Brennstoffe für die Atmung.
Teil 2
dass die Glykolyse und der Citratzyklus Hauptschnitt- Damit auch Proteine als Brennstoffe verwertet werden
stellen der katabolen und der anabolen (biosyntheti- können, müssen sie zunächst zu Aminosäuren hydroly-
schen) Stoffwechselwege der Zelle sind. siert werden. Viele der so gewonnenen Aminosäuren
werden natürlich durch den Organismus zum Aufbau
eigener Proteine verwendet. Überschüssige Aminosäu-
9.6.1 Die Vielseitigkeit des Katabolismus ren werden aber von Enzymen zu Zwischenprodukten
der Glykolyse und des Citratzyklus abgebaut. Bevor
Im vorliegenden Kapitel haben wir Glucose als alleini- Abkömmlinge der Aminosäuren in diese Stoffwechsel-
gen Brennstoff der Zellatmung betrachtet. Glucose ist wege eingeschleust werden können, müssen zunächst
jedoch in der menschlichen und tierischen Nahrung die Aminogruppen durch Desaminierung entfernt wer-
nicht sehr verbreitet. Wir beziehen den Großteil unserer den. Der überschüssige Stickstoff wird von Tieren in
Energie in Form von Fetten, Proteinen, Rohrzucker Form von Ammoniumionen, Harnstoff oder Harnsäure
(Saccharose) und anderen Disacchariden sowie dem ausgeschieden.
Polysaccharid Stärke. All diese organischen Verbindun- Der Katabolismus kann auch Energie aus Fetten gewin-
gen der Nahrung werden zur Herstellung von ATP im nen, die in der Nahrung enthalten sind oder die der Kör-
Rahmen der Zellatmung verwertet (Abbildung 9.19). per selbst als Vorrat in Fettzellen angelegt hat. Nach der
Hydrolyse von Fettmolekülen in Glycerin und Fettsäu-
ren wird das Glycerin in Glycerinaldehyd-3-phosphat
Proteine Kohlenhydrate Fette überführt, ein Zwischenprodukt der Glykolyse. Der
Großteil der in Fetten enthaltenen Energie steckt aller-
Amino- Zucker Glycerin Fett- dings in den Fettsäuren. Ein als β-Oxidation bezeichneter
säuren (Monosaccharide) säuren Stoffwechselweg, der in speziellen als Peroxisomen
bezeichneten Organellen abläuft, baut die Fettsäuremole-
Glykolyse küle zu Acetyl-Coenzym A ab, so können sie als C2-
Glucose Bruchstücke in den Citratzyklus eingeschleust werden.
Bei der β-Oxidation fallen auch große Mengen an NADH
Glycerinaldehyd- und FADH2 an, die in die Atmungskette eingehen und
3-phosphat
zur ATP-Produktion beitragen. Fette sind ausgezeichnete
NH3 Brennstoffe, weil es sich um stark reduzierte, wasser-
Pyruvat
stoffreiche Verbindungen handelt, die sich unter erhebli-
chem Energiegewinn oxidieren lassen. Als Faustregel
Acetyl-CoA gilt, dass 1 g Fett durch vollständige Oxidation in der
Atmungskette mehr als doppelt so viel ATP liefert wie
1 g Kohlenhydrat. Für übergewichtige Menschen hat das
Citrat-
die praktische Auswirkung, dass sie sehr lange hungern
zyklus oder sehr viel Arbeit verrichten müssen, um die in ihrem
Körperfett gespeicherte Energie zu verstoffwechseln.
Pflanzen, die vor allem Fett als Reservestoff speichern
(Nüsse, Ölfrüchte), können über einen besonderen Stoff-
oxidative
Phosphorylierung wechselweg das aus dem Fettsäureabbau gewonnene
Acetyl-CoA in den Glyoxisomen (mit den Peroxisomen
verwandte Organellen) wieder zu C4-Körpern zusam-
Abbildung 9.19: Der Katabolismus verschiedener Nahrungs- mensetzen. Im Cytosol kann daraus über die Gluconeo-
bestandteile. Sowohl Kohlenhydrate als auch Fette und Proteine können genese wieder Glucose hergestellt werden. Diese dient
als Betriebsstoffe für die Zellatmung dienen. Diese Moleküle, oder Teile
dann dem wachsenden Keimling als Grundbaustoff,
davon, gelangen an verschiedenen Punkten in die Glykolyse oder/und in
den Citratzyklus. Die Glykolyse und der Citratzyklus sind katabole Trichter,
zum Beispiel für die Synthese von Cellulose und ande-
durch die Elektronen aus vielen organischen Stoffklassen der exergonen ren Zellwandbestandteilen. Der Keimling ist auf die
Übertragung auf Sauerstoff zugeführt werden. letztlich aus den Fettreserven gewonnenen Kohlenhy-
drate angewiesen, solange er noch aus der Erde heraus-
wachsen und Blätter bilden muss, die ihm über die Pho-
Die Glykolyse beruht zwar auf Glucose als Ausgangs- tosynthese dann erst eine photoautotrophe Lebensweise
stoff, kann jedoch auch zahlreiche andere Kohlenhy- ermöglichen.

234
9.6 Die Glykolyse und der Citratzyklus sind vielfach mit anderen Stoffwechselwegen verknüpft

9.6.2 Biosynthesen Die Zelle steuert auch ihren Katabolismus. Falls eine
(anabole Stoffwechselwege) Zelle angestrengt arbeitet und ihren ATP-Vorrat zu
erschöpfen droht, beschleunigt sich die Atmung. Bei
Zellen benötigen außer Energie auch Baustoffe. Nicht reichlichem ATP-Vorrat verlangsamt sich dagegen die
alle organischen Bestandteile der Nahrung sind dazu Atmung und spart wertvolle organische Stoffe für
bestimmt, zur Herstellung von ATP als Brennstoffe andere Zwecke. Auch dabei beruht die Steuerung wie-
oxidiert zu werden. Neben Energie muss die Nahrung der hauptsächlich auf der Regulation von Enzymakti-
auch Kohlenstoffgerüste liefern, die die Zelle benötigt, vitäten an strategischen Punkten der katabolen Stoff-
um eigene chemische Verbindungen aufzubauen. Einige wechselwege. Wie in Abbildung 9.20 dargestellt, ist
niedermolekulare organische Verbindungen, die durch die Phosphofructokinase ein solcher bedeutender Re-
Teil 2
die Verdauung entstehen, können unmittelbar verwertet gulationspunkt. Das Enzym katalysiert den dritten
werden. Ein Beispiel dafür sind die bei der Hydrolyse Schritt der Glykolyse (Abbildung 9.9). Dies ist der
von Proteinen aus der Nahrung entstehenden Amino- erste Schritt, der ein Substrat irreversibel in die
säuren, die wieder zur Synthese körpereigener Proteine Glykolyse einspeist. Durch Steuerung der Geschwin-
verwendet werden können. Oft benötigt ein Organismus digkeit dieses Schritts kann die Zelle den gesamten
aber bestimmte Verbindungen, die nicht in der Nahrung katabolischen Prozess schneller oder langsamer laufen
enthalten sind. Zwischenstufen (Intermediate) der Gly- lassen. Die Phosphofructokinase wird deshalb oft als
kolyse und des Citratzyklus können als Ausgangsstoffe „Schrittmacherenzym“ des Kohlenhydratabbaus (so-
oder Vorstufen anaboler Stoffwechselwege dienen, aus wohl für die Atmung als auch für die Gärung) angese-
denen die Zelle solche Verbindungen herstellt. Bei- hen.
spielsweise kann ein Mensch knapp die Hälfte der 20
proteinogenen (in Proteinen vorkommenden) Amino- Glucose

säuren durch chemische Modifizierung aus Zwischen- AMP


GLYKOLYSE
stufen des Citratzyklus synthetisieren. Der Rest sind soge- allosterische
nannte essenzielle Aminosäuren, die mit der Nahrung Fructose-6-phosphat Aktivierung
+
aufgenommen werden müssen. Glucose kann auch aus Phosphofructokinase
Pyruvat im Körper synthetisiert werden, Fettsäuren aus –

Acetyl-CoA. Natürlich liefern diese anabolen (biosynthe- Fructose-1,6-bisphosphat
allosterische allosterische
tischen) Prozesse kein ATP, sondern verbrauchen es. Hemmung Hemmung
Darüber hinaus können die Glykolyse und der Citrat-
zyklus als „metabolische Wechselstuben“ dienen, die
unsere Zellen in die Lage versetzen, bestimmte Verbin-
dungen bei Bedarf in andere umzuwandeln. Ein Inter- Pyruvat
mediat der Glykolyse, das Dihydroxyacetonphosphat
(Abbildung 9.9, Schritt 5) kann zum Beispiel in eine ATP Citrat
wichtige Vorstufe für Fette umgewandelt werden. Acetyl-CoA

Wenn wir mehr Nahrung zu uns nehmen, als wir benö-


tigen, kommt es zur Einlagerung von Fett – auch dann,
wenn die Nahrung praktisch fettfrei ist. Der Stoffwech- Citrat-
zyklus
sel ist bemerkenswert vielseitig und anpassungsfähig.

9.6.3 Die Regulation der Zellatmung durch oxidative


Rückkopplungsmechanismen Phosphorylierung

Grundlegende Prinzipien von Angebot und Nachfrage Abbildung 9.20: Die Regulation der Zellatmung. Die Geschwindig-
regulieren die Ökonomie des Stoffwechsels. Die Zelle keit des Stoffumsatzes durch die Glykolyse und den Citratzyklus kann durch
verschwendet in der Regel keine Energie, indem sie die allosterische Regulation von Enzymen an bestimmten Punkten der Zell-
mehr von einer bestimmten Substanz herstellt, als sie atmung gesteuert werden. Dabei wirken bestimmte kleine Moleküle als
benötigt. Falls es ein akutes Überangebot einer bestimm- Aktivatoren oder Hemmstoffe (Inhibitoren). Die Phosphofructokinase, die
ten Aminosäure gibt, wird genau der Stoffwechselweg, einen frühen Schritt der Glykolyse katalysiert (Abbildung 9.9, Schritt 3), ist
der die betreffende Aminosäure aus einer Zwischenstufe ein solches Enzym. Sie wird durch AMP (Adenosinmonophosphat) aktiviert
des Citratzyklus synthetisiert, abgeschaltet. Der am häu- und durch ATP und Citrat gehemmt. Diese Rückkopplung regelt die
Atmungsrate gemäß den katabolen und anabolen Bedürfnissen der Zelle.
figsten bei solchen Regulationsvorgängen anzutreffende
Mechanismus ist die Rückkopplungshemmung (engl.
feedback inhibition): Das Endprodukt eines anabolen Die Phosphofructokinase ist ein allosterisch reguliertes
Stoffwechselwegs hemmt ein Enzym, das einen frühen Enzym mit Rezeptorstellen für spezifische Hemmstoffe
Schritt des Biosynthesewegs katalysiert (siehe Abbil- (Inhibitoren) und Aktivatoren. Sie wird durch ATP
dung 8.21). Dies verhindert das nutzlose Einspeisen von gehemmt und durch AMP stimuliert (AMP, Adenosin-
Schlüsselmetaboliten in Stoffwechselwege, deren Pro- monophosphat, wird in Zellen aus ADP gebildet).
dukte zu dem Zeitpunkt gar nicht benötigt werden. Wenn sich ATP anstaut, verlangsamt die Hemmung der

235
9 Zelluläre Atmung und Gärung

Phosphofructokinase den Substratfluss durch die Gly- küle bereitgestellt wurden, die wir als Nahrung bezeich-
kolyse. Das Enzym wird aktiviert, wenn die zellulären nen und verzehren. Im nächsten Kapitel werden Sie
Arbeitsvorgänge ATP schneller zu ADP und AMP erfahren, wie durch die Photosynthese Licht einge-
abbauen als ATP nachgebildet wird. Die Phosphofruc- fangen und in chemische Energie umgewandelt wird.
tokinase reagiert außerdem auf Citrat, das erste Synthe-
seprodukt des Citratzyklus. Falls sich Citrat in den
Mitochondrien ansammelt, gelangt dies teilweise ins  Wiederholungsfragen 9.6
Cytosol und hemmt dort die Phosphofructokinase. Die-
ser Mechanismus hilft dabei, die Raten von Glykolyse 1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Vergleichen Sie
und Citratzyklus zu synchronisieren. Wenn sich Citrat die chemische Struktur von Fetten (siehe Ab-
Teil 2 bildung 5.9) mit der von Kohlenhydraten (siehe
anstaut, verlangsamt sich die Glykolyse und der Nach-
schub an Acetyl-CoA über diesen Weg nimmt ab. Abbildung 5.3). Welche Strukturmerkmale ma-
Erhöht sich der Citratumsatz – entweder, weil mehr chen Fette zu viel besseren Brennstoffen?
ATP benötigt wird oder weil anabole Prozesse Interme-
2. Unter welchen Umständen synthetisiert Ihr
diate aus dem Citratzyklus abziehen – wird die Gly-
Körper möglicherweise Fett?
kolyse beschleunigt und passt sich dem Bedarf an.
Die metabolische Balance wird durch die Steuerung 3. WAS WÄRE, WENN? Was macht eine Muskel-
von Enzymen, die andere Schlüsselschritte der Gly- zelle, wenn sie ihren Vorrat an Sauerstoff und
kolyse oder des Citratzyklus katalysieren, unterstützt. ATP aufgebraucht hat? (siehe Abbildung 9.18
Zellen gehen mit ihrem Stoffwechsel sparsam um, sind und Abbildung 9.20)
auf Effektivität bedacht und überwachen laufend die
Konzentrationen wichtiger Stoffwechselprodukte. 4. WAS WÄRE, WENN? Kann eine Muskelzelle wäh-
Betrachten Sie nochmals Abbildung 9.2 unter dem rend einer intensiven sportlichen Anstren-
Gesichtspunkt, dass die Zellatmung einen wichtigen gung Fett als konzentrierte Quelle chemischer
Teil der energetischen Flüsse und Stoffkreisläufe in Energie nutzen? (siehe Abbildung 9.18 und
Ökosystemen darstellt. Die Energie, die uns am Leben Abbildung 9.19)
erhält, wird durch die Zellatmung bereitgestellt, aber
nicht erzeugt. Letztlich zapfen wir Energiequellen an, Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
die durch die Photosynthese in Form organischer Mole-

 Abbildung 9.21: Aus der Forschung

Ist die Rotation der „Nockenwelle“ der ATP- sischen (katalytischen) Teil des Komplexes mit-
Synthase für die ATP-Synthese verantwortlich? samt der Welle. Der Teilkomplex wurde in einer
Hintergrund Die ATP-Synthase ist die kleinste heute vorgegebenen Orientierung auf einer geeigneten
bekannte molekulare Maschine. Die Forschung an Oberfläche verankert und dann eine mikroskopisch
diesem System zeigte zunächst die Rotation der kleine Magnetkugel an die in die Lösung zeigende,
„Nockenwelle“ nur im extrinsischen Teil des frei drehbare Welle gebunden. Dieser Aufbau
Enzyms, danach dann auch die Rotation des mem- wurde in eine kleine Kammer gesetzt, die von einer
branständigen Teils, beide jeweils angetrieben durch Reihe von Elektromagneten umgeben war. Durch
ATP-Hydrolyse. Es ist außerordentlich anspruchs- die nacheinander erfolgende Aktivierung der Elek-
voll, eine ionenmotorische Kraft in einem isolierten tromagneten wurde das Magnetkügelchen in eine
experimentellen System zu erzeugen. Obwohl man Drehbewegung gezwungen, dieser folgte die daran
davon ausging, dass der gleiche Rotationsmechanis- hängende Welle innerhalb des auf der Glasplatte
mus auch in Syntheserichtung wirkt, gab es bis zum fixierten Kopfteils und drehte sich somit in der
Jahr 2004 keinen Beweis für diese Vermutung. Dann gewünschten Rotationsrichtung. Die Forscher nah-
gelang es im Rahmen eines Forschungsverbunds, men an, dass die ATP-Synthese genau dann erfol-
diese Frage mittels einer Technik zur Prozesskont- gen würde, wenn die Welle in die der Rotations-
rolle auf molekularer Ebene („Nanotechnologie“) zu richtung bei der ATP-Hydrolyse entgegengesetzten
lösen. Richtung gedreht würde. Die ATP-Menge im Expe-
Experiment Vorangegangene Experimente mit der riment wurde durch ein Reporterenzym gemessen,
ATP-Synthase hatten gezeigt, dass ihre zentrale das ein Licht aussendet, wenn es ATP hydrolysiert.
Welle rotiert, wenn ATP hydrolysiert wird (Abbil- Unter diesen Bedingungen sollte die Rotation in
dung 9.14). Hiroyasu Itoh und seine Kollegen frag- der einen Richtung zu einer größeren Lichtemis-
ten sich, ob bei Umkehr der Rotationsrichtung das sion führen als die Rotation in Gegenrichtung oder
Enzym ATP synthetisieren würde, anstatt es zu ganz ohne Rotation.
hydrolysieren. Sie isolierten daraufhin den extrin-

236
Zusammenfassung

Schlussfolgerung Die Rotation der Welle in einer


magnetisches
Kügelchen bestimmten Richtung innerhalb des ATP-Synthase-
Elektromagnet
Komplexes genügt, um ATP zu synthetisieren.
Proben-
„Nocken- Künftige Forschungsarbeiten werden zeigen, ob die
material
welle“ ATP-Synthase als der kleinste bis heute bekannte
Glas- katalytisch Motor für andere Anwendungen nutzbar gemacht
platte wirksamer
Kopfteil werden kann.

Ergebnis Durch das Drehen der Welle in einer Quelle: H. Itoh et al., Mechanically driven ATP synthesis by F1- Teil 2
Richtung (gelbe Balken) während einer Zeit von ATPase, Nature 427:465–486 (2004).
fünf Minuten wurde mehr Licht emittiert, als beim
Drehen in die andere Richtung (blaue Balken), oder WAS WÄRE, WENN? Die grauen Balken im obigen
wenn gar keine Drehung erfolgte (graue Balken). Diagramm („ohne Rotation“) stellen die unter die-
sen Bedingungen unvermeidliche und ohnehin
Rotation in einer Richtung vorhandene ATP-Menge dar, den sogenannten
Anzahl aufgefangener

Rotation in Gegenrichtung „ATP-Hintergrund“. Wenn die zentrale Welle des


keine Rotation
Photonen (x103)

Enzyms in einer bestimmten Richtung gedreht


30
wird (gelbe Balken), weist die zunehmende ATP-
Menge auf eine ATP-(Neu-)Synthese hin. Welche
25
ATP-Mengen würden Sie, relativ zu den grauen
20 Balken (keine Rotation), für die Rotation in Gegen-
richtung (blaue Balken) erwarten? (Anmerkung:
0 Erwartung und realisierbare experimentelle Bedin-
aufeinanderfolgende Versuche
gungen können unvereinbar sein.)

ZUSAMMENFAS SUNG KAPITEL 9 

Konzept 9.1 frei, da die Elektronen bei der Übertragung von Glu-
Katabole Stoffwechselwege liefern Energie durch die cose oder anderen organischen Stoffen auf Sauerstoff
Oxidation organischer Brennstoffe potenzielle Energie verlieren. Die Elektronen werden
auf NAD+ und FAD übertragen, die dadurch zu
 Katabole Stoffwechselwege und die Erzeugung von NADH und FADH2 reduziert werden. Beide übertra-
ATP. Zellen bauen Glucose und andere organische gen dann die Elektronen auf die Elektronentrans-
Nährstoffe ab, um chemische Energie in Form von portkette, die sie schließlich an molekularen Sauer-
ATP zu gewinnen. Bei der Gärung (Fermentation) stoff abgibt, wobei die frei werdende Energie in ein
wird Glucose nur teilweise und ohne den Verbrauch elektrochemisches Membranpotenzial umgewandelt
von Sauerstoff abgebaut. Die Zellatmung beinhaltet wird, das der Synthese von ATP dient.
dagegen eine vollständigere Verstoffwechselung von  Stadien der Zellatmung. Die aerobe Atmung umfasst
Glucose. Bei der aeroben Atmung dient Sauerstoff als drei Stadien: (1) die Glykolyse, (2) die Pyruvatoxida-
Elektronenakzeptor. Mit Glucose oder einer anderen tion und den Citratzyklus und (3) die oxidative Phos-
organischen Verbindung als Startmaterial liefert die phorylierung (Elektronentransport und chemiosmoti-
aerobe Atmung unter O2-Verbrauch H2O, CO2 und sche Kopplung).
Energie in Form von ATP und Wärme. Der Begriff
Zellatmung umfasst sowohl die aerobe als auch die ? Beschreiben Sie den Unterschied zwischen den zwei Prozessen der
zellulären Atmung, die ATP erzeugen: oxidative Phosphorylierung und
anaerobe Atmung. Letztere bedient sich eines ande-
Substratketten-Phosphorylierung.
ren terminalen Elektronenakzeptors anstelle von
molekularem Sauerstoff, liefert aber ebenso ATP.
 Redoxreaktionen: Oxidation und Reduktion. Zellen Konzept 9.2
verwerten die in den Nahrungsmittelmolekülen ent- Die Glykolyse gewinnt chemische Energie aus der
haltene Energie mithilfe von Redoxreaktionen, bei Oxidation von Glucose zu Pyruvat
denen Elektronen ganz oder teilweise von einer Sub-
stanz auf eine andere verschoben werden. Der Ver-  Die Glykolyse ist eine Folge von biochemischen
lust (die Abgabe) von Elektronen entspricht dabei Reaktionen, die Glucose in zwei Moleküle Pyruvat
einer Oxidation, der Zugewinn (die Aufnahme) einer abbauen. Dabei entstehen je zwei Moleküle ATP
Reduktion. Im Verlauf der Zellatmung wird Glucose und NADH. Das Pyruvat kann oxidiert werden und
(C6H12O6) zu Kohlendioxid oxidiert und Sauerstoff danach in den Citratzyklus eingehen.
(O2) zu Wasser (H2O) reduziert. Dabei wird Energie

237
9 Zelluläre Atmung und Gärung

eine mechanische Rotation umgesetzt, die ihrerseits


GLYKOLYSE
Glucose 2 Pyruvat + 2 ATP + 2 NADH
die Phosphorylierung von ADP durch Phosphat
antreibt und so ATP synthetisiert. Prokaryonten
erzeugen eine ionenmotorische Kraft über ihre
Plasmamembran und nutzen diese zur Synthese
? Welche Reaktionen der Glykolyse liefern ATP und NADH? von ATP in der Zelle.

Konzept 9.3
Intermembranraum
Nach der Pyruvat-Oxidation vervollständigt der Citrat- H+
Teil 2 H+
zyklus die Energie-liefernde Oxidation organischer
H+
Moleküle Proteinkomplex Cyt c
mit Elektronen-
überträgern
 In eukaryontischen Zellen verknüpft der Import
von Pyruvat in die Mitochondrien und seine IV
Q
Umwandlung in Acetyl-CoA die Glykolyse mit dem I III
Citratzyklus. In prokaryontischen Zellen läuft der
II
Citratzyklus im Cytosol ab. FADH 2 FAD
2 H+ + 1 2 O2 H2O

NAD +
NADH mitochondrielle Matrix
NADH (überträgt Elektronen aus der Nahrung)
2 Pyruvat 2 Acetyl-CoA 2 ATP 8 NADH
2 Oxaloacetat CITRAT-
ZYKLUS
6 CO2 2 FADH 2  Bilanz der ATP-Produk- Intermembran-
raum
tion durch die Zellat- H+
mung. Etwa 34 Prozent
der in der Glucose gespei-
? Welche Reaktionsprodukte entstehen bei der vollständigen Oxidation cherten Energie werden
von Glucose im Verlauf der zellulären Atmung? im Verlauf der Zellat-
mung in Form von ATP mitochon-
drielle
gewonnen. Die Ausbeute Matrix ATP-
Synthase
Konzept 9.4 beträgt maximal 32 ATP
Die oxidative Phosphorylierung verknüpft den Elek- pro Glucose.
tronentransport über eine chemiosmotische Kopp-
ADP + Pi H+ ATP
lung mit der ATP-Synthese

 NADH und FADH2 übertragen Elektronen auf die ? Erklären Sie kurz den Mechanismus der ATP-Synthase. An welchen
Stellen findet man ATP-Synthasen in eukaryontischen und in prokaryonti-
Elektronentransportkette. Die Elektronen werden in
schen Zellen?
mehreren Schritten weitertransportiert, wobei sie
jeweils Energie verlieren. In der Kette sind die
beteiligten Elektronenakzeptoren nach steigendem Konzept 9.5
Redoxpotenzial geordnet. Zuletzt werden sie auf ATP kann auch ohne Sauerstoff durch Gärung oder
molekularen Sauerstoff (der Systemkomponente anaerobe Atmung erzeugt werden
mit dem höchsten Redoxpotenzial) übertragen, der
dabei zu Wasser reduziert wird.  Gärungstypen. Die Glykolyse liefert zwei ATP durch
 Chemiosmotische Kopplung. An bestimmten Stel- Substratketten-Phosphorylierung, unabhängig davon,
len entlang der (membranständigen!) Elektronen- ob Sauerstoff zugegen ist oder nicht. Unter anaeroben
transportkette pumpen Proteinkomplexe Ionen Bedingungen können entweder eine anaerobe At-
(meist Protonen) von einer Seite der Membran auf mung oder eine Gärung stattfinden. Die anaerobe
die andere (in Mitochondrien aus der Matrix in den Atmung nutzt eine Elektronentransportkette ohne
Intermembranraum). Das dadurch erzeugte elektro- Sauerstoff als terminalen Elektronenakzeptor.
chemische Membranpotenzial hat eine chemische  Bei einer Gärung wird das NADH durch Pyruvat
und eine elektrische Komponente und wirkt sich in oder ein Derivat des Pyruvats rückoxidiert. Diese
Form einer ionenmotorischen Kraft aus, die zur Regeneration des NAD+ ist erforderlich, um weitere
Verrichtung von Arbeit genutzt werden kann. Die Glucose zu oxidieren und die Glykolyse in Gang zu
Ionen können nur durch den membranintegralen halten. Zwei verbreitete Formen sind die alkoholi-
Teil der ATP-Synthase zurückfließen. Die Gesamt- sche Gärung und die Milchsäuregärung.
heit dieser Vorgänge wird als chemiosmotische Kopp-  Gärung und aerobe Atmung im Vergleich. Beide
lung bezeichnet. Der (Rück-)Fluss des sogenannten bedienen sich der Glykolyse zur Oxidation der Glu-
Kopplungsions, also des Ions, das in Folge des Elek- cose, unterscheiden sich aber hinsichtlich des termi-
tronentransportes in der Membranebene quer durch nalen Elektronenakzeptors und durch die Nutzung
die (Kopplungs-)Membran gepumpt wird, wird in einer Elektronentransportkette (Atmung) oder nicht

238
Übungsaufgaben

(Gärung). Die Atmung liefert deutlich mehr ATP, bei verwendet werden, meist nach vorheriger Umwand-
der aeroben Atmung mit Sauerstoff als finalem Elek- lung in Glucose. Aminosäuren oder Proteine müssen
tronenakzeptor sechzehn Mal mehr. vor der Oxidation desaminiert werden, das heißt,
 Pflanzliche Gewebe wie Wurzeln und keimende ihre Aminogruppen werden entfernt. Die Fettsäuren
Samen können nur sehr begrenzt ohne Sauerstoff der Fette durchlaufen eine β-Oxidation zu Verbin-
auskommen, da die Gärungsprodukte als Zellgifte dungen mit zwei Kohlenstoffatomen (Acetylgrup-
wirken. pen CH3CO–), sie gehen in den Citratzyklus als Ace-
 Entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Die Glyko- tyl-Coenzym A ein.
lyse läuft in beinahe allen Organismen ab und hat  Biosynthese (Anabolismus). Zellen können nieder-
sich wahrscheinlich in frühen Prokaryonten entwi- molekulare Verbindungen aus der Nahrung direkt
Teil 2
ckelt, lange bevor es freien Sauerstoff (O2) in der verwerten oder diese benutzen, um daraus durch
Erdatmosphäre gab. die Glykolyse oder den Citratzyklus andere Verbin-
dungen herzustellen.
? Welcher Prozess liefert mehr ATP, die Gärung oder die anaerobe  Pflanzen können aus gespeicherten Fetten Kohlen-
Atmung? Begründen Sie!
hydrate für ihren Stoffwechsel synthetisieren (Gluco-
neogenese). Um die hierfür benötigten C4-Gerüste
Konzept 9.6 nicht dem Citratzyklus zu entziehen, entstehen in den
Die Glykolyse und der Citratzyklus sind vielfach mit Glyoxisomen aus Acetyl-CoA zusätzliche C4-Körper.
anderen Stoffwechselwegen verknüpft  Die Regulation der Zellatmung beruht unter anderem
auf der allosterischen Steuerung von Enzymen an
 Die Vielseitigkeit des Katabolismus. Katabole Stoff- Schaltstellen der Glykolyse und des Citratzyklus.
wechselwege speisen Elektronen aus unterschied-
lichen organischen Verbindungen in die Zellatmung ? Beschreiben Sie, wie im Zellstoffwechsel die katabolen Wege der Gly-
ein. Viele Kohlenhydrate können in der Glykolyse kolyse und des Citratzyklus mit anabolen Stoffwechselwegen verbunden sind.

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜB UN GSA U FG AB E N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.

Ebene 1: Wissen und Verständnis 4. In den Mitochondrien sind exergone Redoxreak-


tionen
1. Die unmittelbare Energiequelle, welche die ATP- a. die Quelle der Energie, die die ATP-Synthese
Synthese durch die ATP-Synthase bei der oxida- von Prokaryonten antreibt
tiven Phosphorylierung antreibt, ist b. diejenigen Vorgänge, die die Energie für den
a. die Oxidation von Glucose und anderen orga- Aufbau der protonenmotorischen Kraft liefern
nischen Verbindungen c. der Reaktionstyp, durch den Kohlenstoffatome
b. der Fluss von Elektronen durch die Elektro- zu Kohlendioxid reduziert werden
nentransportkette d. über phosphorylierte Intermediate an ender-
c. die protonenmotorische Kraft durch die innere gone Prozessen gekoppelt
Mitochondrienmembran
d. der Phosphat-Transfer auf ADP Ebene 2: Anwendung und Auswertung

2. Welcher Stoffwechselweg ist sowohl der Gärung 5. Welche Verbindung ist das Reduktionsmittel in
wie der Zellatmung bei der Verwertung von Glu- der folgenden Reaktion?
cose gemeinsam?
Pyruvat + NADH + H+ → Lactat + NAD+
a. der Citratzyklus
b. die Elektronentransportkette a. Sauerstoff
c. die Glykolyse b. NADH
d. die Reduktion von Pyruvat zu Lactat c. Lactat
d. Pyruvat
3. Der terminale Elektronenakzeptor der Elektronen-
transportkette bei der aeroben oxidativen Phos- 6. Welche Veränderungen treten ein, wenn Elektro-
phorylierung ist nen durch die mitochondriale Elektronentrans-
a. Sauerstoff portkette fließen?
b. Wasser a. Der pH-Wert der Matrix erhöht sich.
c. NAD+ b. Die ATP-Synthase pumpt Protonen durch akti-
d. Pyruvat ven Transport.
c. Die Elektronen gewinnen freie Enthalpie.
d. NAD+ wird oxidiert.

239
9 Zelluläre Atmung und Gärung

7. Das meiste CO2 wird im Katabolismus freigesetzt


durch
a. Glykolyse

pH-Differenz über
die Membran
b. den Citratzyklus
c. die Milchsäuregärung
d. Elektronentransport

8. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Schritt 3 in Abbil- Zeit

dung 9.9 ist ein Hauptregulationspunkt der Gly- 12. Verbindung zur Evolution ATP-Synthasen fin-
Teil 2 kolyse. Das Enzym Phosphofructokinase wird den sich in den Plasmamembranen prokaryon-
allosterisch durch ATP und andere Moleküle tischer Zellen aber auch in Mitochondrien und
reguliert (siehe Abbildung 9.20 und Konzept 8.5). Chloroplasten. Worauf deutet dies in Bezug auf
Würden Sie angesichts der Reaktionsprodukte der die entwicklungsgeschichtliche Verwandtschaft
Glykolyse insgesamt eine Stimulation oder Hem- zwischen Prokaryonten und eukaryontischen
mung der Phosphofructokinase durch ATP erwar- Organellen hin? Wie könnten gegebenenfalls die
ten? Begründen Sie und beachten Sie die Rolle Aminosäuresequenzen von ATP-Synthase-Mole-
von ATP als allosterischem Regulator, nicht als külen aus unterschiedlichen biologischen Quel-
Substrat des Enzyms. len Ihre Hypothese stützen oder widerlegen?

9. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Die Protonenpumpe 13. Wissenschaftliche Fragestellung In den dreißiger


in Abbildung 7.17 ist vereinfacht als purpurnes Oval Jahren des 20. Jahrhunderts verschrieben manche
dargestellt. Tatsächlich ist sie eine ATP-Synthase Ärzte Dinitrophenol (DNP) in niedriger Dosierung
(siehe Abbildung 9.14). Vergleichen Sie die Pro- als Mittel zum Abnehmen. Diese äußerst fragwür-
zesse, die in den beiden Abbildungen gezeigt wer- dige Methode wurde aufgegeben, nachdem einige
den. Sind sie an aktivem oder passivem Transport Patienten daran gestorben waren. DNP führt zur
beteiligt (siehe dazu Konzept 7.3 und Konzept 7.4)? Entkopplung und damit dem Zusammenbruch der
chemiosmotischen Kopplung, da es die Lipiddop-
Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten pelschicht der inneren Mitochondrienmembran für
Protonen durchlässig macht. Erklären Sie, wie dies
einen Gewichtsverlust und den Tod bewirken kann.
10. DATENAUSWERTUNG Die Phosphofructokinase setzt
Fructose-6-Phosphat im dritten Schritt der Glyko- 14. Skizzieren Sie ein Thema: Organisation Erklä-
lyse um. Ihre Regulation kontrolliert den Stofffluss ren Sie in einem kurzen Aufsatz (in 150–200
durch die Glykolyse. Betrachten Sie den unten ab- Worten), inwiefern die oxidative Phosphorylie-
gebildeten Graphen und entscheiden Sie, unter rung ein weiteres Beispiel für das Auftauchen
welchen Bedingungen die Phosphofructokinase ak- neuer Eigenschaften auf jeder biologischen Hier-
tiver ist. Erklären Sie unter Nutzung Ihrer Kennt- archieebene ist. Die oxidative Phosphorylierung
nisse der Glykolyse und der Regulation des Stoff- ist die ATP-Produktion unter Verwendung freier
wechsels durch dieses Enzym den Mechanismus, Energie aus den Redoxreaktionen einer räumlich
mittels dessen die Phosphofructokinaseaktivität organisierten Elektronentransportkette, gefolgt
durch die ATP-Konzentration reguliert wird. von der chemiosmotischen Kopplung, mit deren
Hilfe ATP direkt aus ADP und anorganischem
niedrige ATP- Phosphat synthetisiert werden kann.
Phosphofructokinase-

Konzentration
Aktivität

15. NUTZEN SIE IHR WISSEN Coenzym Q


(CoQ) wird als Nahrungsergän-
hohe ATP- zungsmittel verkauft. Ein Anbieter
Konzentration verwendet dafür den folgenden
Fructose-6-Phosphat- Marketing-Slogan: „Geben Sie Ih-
Konzentration rem Herzen den Treibstoff, nach
dem es am meisten verlangt.“ Wie
11. ZEICHENÜBUNG Der Graph unten zeigt die zeitab- könnte dieses Produkt, angesichts
hängige pH-Differenz zwischen dem Matrixraum der Rolle von CoQ, zur „Verbesse-
und dem Intermembranraum des Mitochondri- rung Ihres Herzens“ funktionieren? Findet CoQ bei
ums einer atmenden Zelle. Zu dem durch den der Zellatmung als „Treibstoff“ Verwendung?
Pfeil markierten Zeitpunkt wurde ein Stoffwech-
selgift zugesetzt, das spezifisch und vollständig
Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
alle Funktionen der mitochondrialen ATP-Syn-
weitere Übungen und vertiefende Materia-
thase hemmt. Zeichnen Sie den weiteren Kurven-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
verlauf und begründen Sie Ihre Vorgehensweise.
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

240
Photosynthese

10.1 Die Photosynthese wandelt Lichtenergie in 10


chemische Energie um . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
10.2 Die Lichtreaktionen wandeln Sonnenenergie in
chemische Energie in Form von ATP und NADPH um . . . . . . . . . . . . 247
10.3 Der Calvin-Zyklus benutzt ATP und NADPH, um CO2 in

KONZEPTE
Zucker umzuwandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
10.4 In heißen, trockenen Klimazonen haben sich
entwicklungsgeschichtlich alternative Mechanismen
der Kohlenstofffixierung herausgebildet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

 Abbildung 10.1: Wie kann das Sonnenlicht dabei helfen,


Stamm, Äste und Blätter dieses Laubbaums zu synthetisieren?
10 Photosynthese

Der Prozess, der die Biosphäre ernährt


Irdisches Leben speist sich aus Sonnenenergie. Die rung). Ohne ihre Nahrung selbst herstellen zu können,
Chloroplasten der Pflanzen wandeln Lichtenergie von sind sie auf Verbindungen angewiesen, die andere
der 150 Millionen Kilometer entfernten Sonne in die Lebewesen synthetisiert haben. Die Heterotrophen sind
chemische Energie von Zuckern und anderen organi- die Konsumenten (Verbraucher) der Biosphäre. Dieser
schen Verbindungen um. Dieser Umwandlungsprozess Art der Ernährung in ihrer augenfälligsten Form begeg-
heißt Photosynthese. Wir wollen zunächst die Photo- nen wir, wenn Tiere andere Tiere (Fleischfresser) oder
synthese in ihren ökologischen Zusammenhang stel- Pflanzen (Pflanzenfresser) verzehren. Die heterotro-
len. phe Ernährung kann jedoch auch in anderer Form
Teil 2
Die Photosynthese ernährt direkt oder indirekt fast erfolgen, zum Beispiel durch den Verzehr der Über-
die gesamte belebte Welt. Lebewesen beziehen die bleibsel abgestorbener Organismen, also zerfallender
organischen Verbindungen, die sie zur Energiever- organischer Substanz wie Aas, Exkrementen und
sorgung oder als Rohstoffquelle benötigen, durch zwei Laubstreu. Derartige Organismen werden als Zersetzer
grundlegend verschiedene Ernährungsarten (auto- bezeichnet, die meisten Pilze und viele Prokaryonten
troph oder heterotroph): Autotrophe Organismen gehören dazu. Fast alle heterotrophen Lebewesen ein-
(griech. autos, selbst + trophos, Ernährung) sind nicht schließlich des Menschen sind direkt oder indirekt
auf andere Lebewesen angewiesen, sondern stellen und vollständig von den photoautotrophen Lebensfor-
ihre organischen Verbindungen aus Kohlendioxid und men abhängig – sowohl bezüglich ihrer Nahrung als
anderen anorganischen Stoffen ihrer Umgebung selbst auch bezüglich des Sauerstoffs, der als Nebenprodukt
her. Sie sind letztlich die Quelle organischer Stoffe für der Photosynthese entsteht.
alle nicht autotrophen Organismen, daher werden die Der Vorrat an fossilen Brennstoffen ist aus den Über-
autotrophen Lebewesen der Biosphäre auch als Pro- resten von Organismen entstanden, die vor Hunderten
duzenten (Erzeuger) bezeichnet. von Millionen Jahren gestorben sind. In gewisser Weise
Die meisten Pflanzen sind autotroph. Die einzigen stellen die fossilen Brennstoffe ein Vorratslager der
Nährstoffe, die sie benötigen, sind Wasser und gelöste Sonnenenergie aus lange vergangener Zeit dar. Da
Mineralien aus dem Boden sowie Kohlendioxid aus diese Vorräte nun mit viel größerer Geschwindigkeit
der Luft (oder, bei Wasserpflanzen, aus dem Wasser). verbraucht als wieder aufgefüllt werden, wollen die
Noch enger gefasst sind Pflanzen photoautotroph, also Wissenschaftler Methoden entwickeln, um die heutige
Lebewesen, die Licht (griech. photon) als Energiequelle Photosyntheseaktivität als alternative Energiequelle zu
für die Synthese organischer Verbindungen nutzen nutzen.
(Abbildung 10.1). Die Photosynthese läuft auch in In diesem Kapitel werden Sie erfahren, wie die Pho-
Algen und bestimmten anderen Protisten sowie in eini- tosynthese funktioniert. Nach einer Erörterung der all-
gen Prokaryonten ab (Abbildung 10.2). Zwar werden gemeinen Prinzipien werden wir die beiden Abschnitte
wir diese Gruppen kurz streifen, doch liegt unser der Photosynthese eingehender betrachten: die Licht-
Hauptaugenmerk auf den höheren Pflanzen. Varianten reaktionen, durch die Lichtenergie eingefangen und in
der autotrophen Ernährung, wie bei den Prokaryonten chemische Energie umgewandelt wird, und die soge-
und einzelligen Algen, werden im Detail in den Kapi- nannten Dunkelreaktionen (Calvin-Zyklus), in deren
teln 27 und 28 behandelt. Verlauf die gewonnene chemische Energie verwendet
Heterotrophe Organismen beziehen ihre organi- wird, um organische Moleküle zu synthetisieren. Schließ-
schen Materialien durch die zweite Ernährungsart lich werden wir einige Aspekte der Photosynthese aus
(griech. heteros, anders, verschieden + trophos, Ernäh- einem Blickwinkel der Evolution betrachten.

Andere Organismen profitieren ebenfalls von der Photosynthese.

242
10.1 Die Photosynthese wandelt Lichtenergie in chemische Energie um

Die Photosynthese wandelt Photosynthese und andere funktionelle Moleküle sind


in oder an Membranen lokalisiert, die es erlauben, die
Lichtenergie in chemische notwendigen chemischen Reaktionen in richtiger Rei-
Energie um
10.1 henfolge und Topologie effizient ablaufen zu lassen.
Der Prozess der Photosynthese hat sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit in einer Gruppe von Bakterien
Die bemerkenswerte Fähigkeit von Organismen, mittels herausgebildet, die entweder schon Einfaltungen der
Lichtenergie organische Verbindungen zu synthetisie- Plasmamembran mit entsprechenden Molekülanord-
ren, ist in ihrer Zellstruktur verankert. Die Enzyme der nungen hatten oder diese parallel zur Entstehung des
photosynthetischen Apparates entwickelten. In ent-
Teil 2
wicklungsgeschichtlich neueren photosynthetisch akti-
ven Bakterien funktionieren eingefaltete (invaginierte)
Membranen ganz ähnlich wie die inneren Membranen
bei Chloroplasten. Über dieses eukaryontische Orga-
nell haben Sie in Kapitel 6 schon etwas gelernt. Tat-
sächlich gilt es heute als sicher, dass der Urchloroplast
ein photosynthetisch aktiver Prokaryont gewesen ist,
der in eine eukaryontische Zelle gelangte und dort
sesshaft wurde. Im Laufe der Evolution wurde er dann
zu einem Organell (die sogenannte Endosymbionten-
hypothese wird in Kapitel 25 behandelt). Chloroplas-
ten finden sich in einer Vielzahl photosynthetisch akti-
(a) Pflanzen ver Eukaryonten (Abbildung 10.2). Hier wollen wir uns


jedoch auf die höheren Pflanzen konzentrieren.

10.1.1 Chloroplasten: Die Orte der


Photosynthese in Pflanzen
Alle grünen Teile eines Pflanzenkörpers, einschließlich
grüner Sprosse und unreifer Früchte, enthalten Chloro-
(b) Vielzellige Alge plasten, doch sind die Blätter in den meisten Pflanzen


die Orte, an denen die Photosynthese hauptsächlich


stattfindet (Abbildung 10.3). Pro Quadratmillimeter
(mm2) Blattfläche finden sich durchschnittlich etwa
eine halbe Million Chloroplasten. Die Farbe der Blätter
10 μm

rührt vom Chlorophyll her, dem grünen Farbstoff in


den Chloroplasten. Die von den Chlorophyllmolekülen
(c) Einzelliger Protist absorbierte Lichtenergie treibt die Synthese organi-


scher Verbindungen in den Chloroplasten an. Chloro-


plasten finden sich vornehmlich in den Mesophyll-
zellen der Blätter. Das Mesophyll ist das zwischen den
beiden Abschlussgeweben im Blattinneren gelegene
Gewebe. Kohlendioxid gelangt durch mikroskopisch
kleine Löcher, die Spaltöffnungen oder Stomata (griech.
(d) Cyanobakterien


40 μm stoma, Mund), in das Blatt. Der Sauerstoff verlässt es


auf gleichem Wege. Wasser wird von den Wurzeln
absorbiert und über Blattadern zu den Blättern trans-
portiert. Die Blätter exportieren synthetisierten Zucker
1 μm

über die Blattadern zu den Wurzeln und in andere


(e) Purpurschwefelbakterien nicht photosynthetisch aktive Teile der Pflanze.


Eine typische Mesophyllzelle enthält ca. 30–40


Abbildung 10.2: Photoautotrophe Lebewesen. Diese Organismen
nutzen Lichtenergie, um organische Verbindungen aus Kohlendioxid, anor- Chloroplasten von jeweils 2–4 × 4–7 μm Größe. Eine
ganischen Nährsalzen und (in den meisten Fällen) Wasser zu synthetisieren. Hülle, bestehend aus zwei Membranen, umgibt einen
Sie ernähren nicht nur sich selbst, sondern die gesamte belebte Welt. (a) An in diesen Organellen als Stroma bezeichneten Innen-
Land sind die höheren Pflanzen die vorherrschenden Produzenten. In der raum mit einer Flüssigkeit hoher Dichte darin. Ein
aquatischen Umwelt gehören zu den photosynthetisch aktiven Organismen ausgefeiltes System aus miteinander verbundenen
auch vielzellige Algen wie Seetang (b), einzellige Protisten wie Augentier- Membransäckchen, den Thylakoiden, durchzieht das
chen (Euglena sp.) (c) und Prokaryonten wie Cyanobakterien (d) und Purpur-
Stroma und grenzt es gegen ein weiteres Kompar-
schwefelbakterien (e). Die Letztgenannten produzieren als Abfallprodukt
Schwefel anstelle von Sauerstoff (gelbe Kügelchen in den Zellen; c–e: licht- timent im Inneren der Thylakoide ab, das Thylakoid-
mikroskopische Aufnahmen). lumen. An manchen Stellen sind die Thylakoide zu so

243
10 Photosynthese

genannten Grana (lat. gra-


num, Korn, Körnchen) aufge-
stapelt. Das Chlorophyll, das
den Blättern ihre grüne Farbe ver-
leiht, befindet sich, an Proteine
angelagert, in den Thylakoidmembra- Blattquerschnitt
nen. (Die invaginierten Photosynthese- Chloroplasten Blattader
membranen von Prokaryonten werden
ebenfalls Thylakoidmembranen genannt;
siehe Abbildung 27.8b.) Nachdem wir
Teil 2
den Ort der Photosynthese in Pflanzen Mesophyll
in Augenschein genommen haben, wol-
len wir nun den Prozess selbst eingehen-
der betrachten.

10.1.2 Der Weg einzelner Atome im Spaltöffnungen


Verlauf der Photosynthese: CO2 O2
Wissenschaftliche Forschung
Die Wissenschaftler haben jahrhundertelang
versucht, den Vorgang aufzuklären, durch den Mesophyllzelle
eine Pflanze ihre Nahrung erzeugt. Obwohl
einige Details noch immer fehlen, ist die Brutto-
gleichung der Photosynthese seit dem 19. Jahrhun-
dert bekannt. In Gegenwart von Licht erzeugen die
grünen Teile einer Pflanze organische Verbindungen
und Sauerstoff aus Kohlendioxid, anorganischen
Nährsalzen und Wasser. Die in Wahrheit sehr differen- Chloroplast
zierte Folge von chemischen Reaktionen, die zusam-
men die Photosynthese ausmachen, lässt sich als 20 μm
Summengleichung wie folgt zusammenfassen:

6 CO2 + 12 H2O + Lichtenergie →


C6H12O6 + 6 O2 + 6 H2O

Wir verwenden hier Glucose (C6H12O6), um die Wech-


selbeziehung zwischen Photosynthese und Atmung zu
vereinfachen, denn das unmittelbare Produkt der Pho-
tosynthese ist ein Zucker mit drei Kohlenstoffatomen,
äußere
der von der Pflanze verwendet werden kann, um Glu- Hüllmembran
cose herzustellen. Wasser erscheint auf beiden Seiten Thylakoid
Membran-
unserer Summengleichung, weil zwölf Moleküle davon Thylakoid-
zwischenraum
verbraucht werden und sechs neue entstehen. Wenn lumen
Stroma Granum innere
wir lediglich den Nettoverbrauch an Wasser betrach- Hüllmembran
ten, können wir die Reaktionsgleichung kürzen:

6 CO2 + 6 H2O + Lichtenergie → C6H12O6 + 6 O2

Schreibt man die Gesamtreaktion in dieser Form, so


wird deutlich, dass der chemische Umsatz durch die
Photosynthese insgesamt gerade die Umkehrung der
bei der Zellatmung stattfindenden Vorgänge ist (siehe
Konzept 9.1). Beide Stoffwechselwege vollziehen sich
in Pflanzenzellen. Allerdings synthetisieren die Chlo- 1 μm
roplasten Zucker nicht durch eine einfache Umkeh-
Abbildung 10.3: Die Orte der Photosynthese in einer Pflanze in
rung der Schritte der Atmung. Die Gesamtbilanz von steigender Vergrößerung. Die Photosynthese findet in Pflanzen
Photosynthese und Atmung ist nicht ausgeglichen, da hauptsächlich in den Blättern statt. Die Bildfolge führt Sie in das Innere
sonst kein Pflanzenwachstum stattfinden würde. eines Blattes, dann in eine Zelle und schließlich in einen Chloroplasten,
das Organell der Photosynthese (Mitte: lichtmikroskopische Aufnahme,
unten: transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme).

244
10.1 Die Photosynthese wandelt Lichtenergie in chemische Energie um

Teilen wir die obige Bruttogleichung der Photosyn- Van Niel sagte also voraus, dass Pflanzen Wasser spal-
these noch durch den stöchiometrischen Faktor sechs, ten, um daraus Elektronen zu gewinnen, mit Sauer-
so gelangen wir zur folgenden Gleichung: stoff als Nebenprodukt.
Beinahe 20 Jahre später wurde diese Hypothese
CO2 + H2O → [CH2O] + O2 durch Versuche mit dem Sauerstoffisotop 18O bewie-
sen. Das Schicksal von Sauerstoffatomen aus einer
Der Ausdruck [CH2O] bezeichnet allgemein ein definierten Quelle, die mit 18O markiert war, wurde
Kohlenhydrat. Wir betrachten hier also gedanklich die im Verlauf der Photosynthese verfolgt. Die Experi-
Synthese eines Zuckermoleküls pro Kohlenstoffatom. mente zeigten, dass der von Pflanzen freigesetzte Sau-
Sechs Wiederholungen würden theoretisch ein Mole- erstoff nur dann das Isotop 18O enthielt, wenn dieses
Teil 2
kül Glucose ergeben. Unter Verwendung der abstra- vorher im Wasser (H218O) enthalten war (Experiment
hierten Formel wollen wir nun sehen, wie die Bioche- 1). Falls das Sauerstoffisotop über markiertes Kohlen-
miker das Schicksal der Elemente Kohlenstoff (C), dioxid in die Pflanzen eingebracht worden war, fand
Wasserstoff (H) und Sauerstoff (O) von den Ausgangs- es sich dagegen nicht im freigesetzten Sauerstoff
stoffen bis zu den Endprodukten der Photosynthese (Experiment 2). In der folgenden Zusammenfassung
nachverfolgt haben. sind Atome des Sauerstoffisotops 18O orange markiert:

Die Wasseroxidation Experiment 1: CO2 + 2 H2O → [CH2O] + H2O + O2


Einer der ersten Hinweise auf den Mechanismus der Experiment 2: CO2 + 2 H2O → [CH2O] + H2O + O2
Photosynthese war die Entdeckung, dass der von den
Pflanzen abgegebene Sauerstoff (O2) aus Wasser und Ein wichtiges Resultat der Atomumgruppierung im
nicht aus Kohlendioxid (CO2) stammt. Die Chloroplas- Verlauf der Photosynthese ist die Extraktion von
ten zerlegen also Wasser in Sauerstoff und Wasser- Wasserstoff aus dem Wasser und sein Einbau in die
stoff. Vor dieser Entdeckung war die vorherrschende gebildeten Zucker. Das Nebenprodukt der Photosyn-
Meinung, dass es bei der Photosynthese zur Spaltung these, Sauerstoff, wird in die Atmosphäre entlassen.
von Kohlendioxid gemäß der Gleichung CO2 → C + O2 Das Schicksal aller an der Photosynthese beteiligten
käme und danach an den Kohlenstoff Wasser angela- Atome ist in Abbildung 10.4 zusammengefasst.
gert würde (C + H2O → [CH2O]). Diese Hypothese
hatte natürlich die Vorhersage zur Folge, dass der frei-
gesetzte Sauerstoff aus den CO2-Molekülen stammen Edukte: 6 CO2 12 H2O
sollte. Diese Vorstellung wurde in den 1930er Jahren
von Cornelis B. van Niel von der Stanford University
in Kalifornien infrage gestellt. Bei seinen Unter-
suchungen der Photosynthese in Bakterien fiel ihm Produkte: C6H12O6 6 H2O 6 O2
auf, dass manche zwar Kohlenhydrate aus Kohlen-
dioxid bildeten, aber keinen Sauerstoff freisetzten. Van
Abbildung 10.4: Das Schicksal einzelner Atome während der
Niel folgerte daraus, dass zumindest diese Bakterien
Photosynthese. Die aus dem Kohlendioxid stammenden Atome sind
das absorbierte Kohlendioxid nicht in Kohlenstoff und rosa dargestellt, die aus dem Wasser stammenden blau.
Sauerstoff spalten. Eine Gruppe von Bakterien verwer-
tet sogar Schwefelwasserstoff (H2S) anstelle von Wasser
(H2O) für ihre Photosynthese und scheidet gelbe Photosynthese als Redox-Prozess
Schwefelkörnchen als Abfallprodukt ab (diese Körn- Lassen Sie uns einmal kurz die Photosynthese mit der
chen sind in Abbildung 10.2e zu sehen). Die chemische Atmung vergleichen. In beiden Prozessen finden Redox-
Bruttogleichung der in diesen Schwefelbakterien ablau- Prozesse statt. Während der Zellatmung wird Energie
fenden Form der Photosynthese lautet: aus Zucker freigesetzt, wenn Elektronen, gemeinsam mit
Protonen, über Redox-Systeme auf den Sauerstoff über-
CO2 + 2 H2S → [CH2O] + H2O + 2 S tragen werden, wobei Wasser als Nebenprodukt entsteht.
Die Elektronen verlieren an potenzieller Energie, indem
Van Niel folgerte, dass die Bakterien Schwefelwasser- sie über die Elektronentransportkette auf den elektro-
stoff spalten und dessen Wasserstoffatome für die negativen Sauerstoff übertragen werden. Mitochondrien
Bildung von Zuckermolekülen verwenden. Er verall- nutzen diese Energie, um ATP aus ADP und Phosphat zu
gemeinerte diese Idee und schlug vor, dass alle photo- synthetisieren (siehe Abbildung 9.15). In der Photosyn-
synthetisch aktiven Organismen eine Quelle für these wird dieser Prozess insofern umgekehrt, als Wasser
Wasserstoff benötigen, die jedoch unterschiedlicher oxidiert wird und dabei Elektronen und Protonen abgibt,
Natur sein kann: die dann zur Reduktion von CO2 zu Zuckern verwendet
Schwefelbakterien: CO2 + 2 H2S → [CH2O] + H2O + 2 S werden.

Pflanzen: CO2 + 2 H2O → [CH2O] + H2O + O2 wird reduziert

Energie + 6 CO2 + 12 H2O C6H12O6 + 6 O2 + 6 H2O


allgemein: CO2 + 2 H2X → [CH2O] + H2O + 2 X
wird oxidiert

245
10 Photosynthese

Abbildung 10.5: Eine Übersicht über die


Photosynthese: Kooperation zwischen
Licht- und Dunkelreaktionen. In den Chlo- H2O
Licht CO2
roplasten ist die Thylakoidmembran der Ort, an
dem die Lichtreaktionen stattfinden, während
der Calvin-Zyklus im Stroma des Chloroplasten
abläuft. Im Verlauf der Lichtreaktionen werden
ATP und NADPH synthetisiert, beide sind Trä-
NADP +
ger chemischer Energie für den Calvin-Zyklus
sowie für andere Assimilationsprozesse. Der ADP
Calvin-Zyklus fixiert Kohlenstoffatome durch +
Teil 2 LICHT- Pi CALVIN-
den Einbau von Kohlendioxidmolekülen in ein
REAKTIONEN ZYKLUS
bestehendes Kohlenhydrat. (Erinnern Sie sich,
dass die allgemeine Summenformel für Koh- ATP
Thylakoid Stroma
lenhydrate [CH2O] ist.) Dieses Schema wird in
verkleinerter Form immer wieder verwendet, NADPH
um die behandelten Prozesse jeweils den Licht-
oder Dunkelreaktionen zuzuordnen.

Im MyLab|Deutsche Version für Camp- Chloroplast


O2 [CH2O]
bell Biologie finden Sie eine 3D-Anima-
(Zucker)
tionen zur Photosynthese.

Da die Elektronen dabei an potenzieller Energie tidphosphat). Die Lichtreaktionen nutzen die Licht-
gewinnen, benötigt dieser Prozess Energie – mit ande- energie, um NADP+ zu NADPH zu reduzieren. Dabei
ren Worten, er ist endergon. Die Energie wird in der werden analog zur Situation beim NAD+ zwei Elektro-
Photosynthese vom Licht geliefert. nen und ein Proton auf das NADP+ übertragen. Die
Lichtreaktionen stellen außerdem genügend Energie
zur Synthese von ATP aus ADP und Phosphat bereit.
10.1.3 Zwei Teilschritte der Photosynthese: Die Synthese folgt einem chemiosmotischen Mecha-
Eine Vorschau nismus und wird Photophosphorylierung genannt.
Die Lichtenergie wird also zunächst in Form zweier
Die Grundgleichung für die Photosynthese ist zwar Verbindungen als chemische Energie gespeichert:
verführerisch einfach, aber sie stellt nur die Zusam- NADPH und ATP. NADPH, ein Elektronenzwischen-
menfassung eines sehr komplizierten Prozesses dar. speicher, kann als Reduktionsmittel dienen, das Elek-
Tatsächlich ist die Photosynthese kein einzelner Pro- tronen auf einen Akzeptor übertragen kann und ihn
zess, sondern sie zerfällt in zwei Vorgänge, die ihrer- dabei reduziert, während ATP die bereits hinlänglich
seits wieder aus zahlreichen Einzelschritten bestehen. bekannte, universelle chemische Energiewährung
Die beiden Teilschritte der Photosynthese sind als lebender Zellen ist. Man beachte, dass die Lichtreak-
Lichtreaktionen (Photo-Teil der Photosynthese) und tionen nicht zur Produktion von Zuckermolekülen
als Calvin-Zyklus (Synthese-Teil der Photosynthese) führen. Diese erfolgt erst im zweiten Teilschritt der
bekannt (Abbildung 10.5). Photosynthese, dem Calvin-Zyklus.
Die Lichtreaktionen umfassen die Schritte der Pho- Der Calvin-Zyklus ist nach Melvin Calvin benannt,
tosynthese, die Lichtenergie in chemische Energie der zusammen mit seinen Kollegen James Bassham
umwandeln. Wasser wird gespalten und dient als und Andrew Benson in den späten 1940er Jahren
Quelle für Elektronen und Protonen1. Sauerstoff wird begann, die Schritte dieser Reaktionsfolge aufzuklären.
als Nebenprodukt gebildet. Das vom Chlorophyll Der Zyklus beginnt mit dem Einbau von Kohlendioxid
absorbierte Licht treibt die Übertragung von Elektro- aus der Luft in bereits in den Chloroplasten vorlie-
nen und Protonen von Wassermolekülen auf einen gende organische Moleküle. Dieser Einbau von Kohlen-
Zwischenträger an. Dieser Elektronenakzeptor ist mit dioxid in eine organische Verbindung wird als Kohlen-
dem NAD+ nahe verwandt, er unterscheidet sich stofffixierung bezeichnet. Der Calvin-Zyklus reduziert
lediglich durch eine Phosphorylgruppe vom NAD+ dann den fixierten Kohlenstoff zu Kohlenhydrat,
und heißt NADP+ (Nicotinsäureamidadenindinucleo- indem er Elektronen zuführt. Das Reduktionsmittel ist
NADPH, das seine Elektronen aus den Lichtreaktionen
erhalten hat. Um Kohlendioxid in Kohlenhydrate ein-
1 Wir verwenden hier ausschließlich den Begriff Protonen. bauen zu können und in der Summe neue Kohlenhyd-
Bitte vergessen Sie nicht, dass Protonen und Wasserstoff- rate zu bilden, ist außerdem Energie in Form von ATP
ionen beziehungsweise „H+“ oder auch „H+-Ionen“ ein
und dasselbe sind. Protonen liegen zudem in wässriger notwendig, das ebenfalls indirekt durch die Lichtreak-
Umgebung hydratisiert vor, von Wasser umgeben, als H3O+ tionen erzeugt wird. Damit der Calvin-Zyklus Zucker
oder eher noch als H9O4+. Der pH-Wert gibt die Wasserstoff- bilden kann, ist er auf die Produkte NADPH und ATP
ionenkonzentration in Form ihres negativen dekadischen aus den Lichtreaktionen angewiesen. Die Reaktionen
Logarithmus an. Wenn der pH-Wert sinkt, dann steigt die
Protonenkonzentration: pH 7 = 10–7 mol/l Protonen, pH 0
des Calvin-Zyklus werden auch als Dunkelreaktionen
= 100 mol/l = 1 mol/l Protonen. bezeichnet, weil kein Schritt direkt auf Lichtenergie

246
10.2 Die Lichtreaktionen wandeln Sonnenenergie in chemische Energie in Form von ATP und NADPH um

angewiesen ist, sondern nur auf in der Zelle vorhande- ATP und NADPH um. Um diesen Umwandlungsvorgang
nes ATP und NADPH. Trotzdem läuft auch der Calvin- besser verstehen zu können, müssen wir über die wich-
Zyklus ausschließlich tagsüber ab, da nur dann die tigsten Eigenschaften des Lichts Bescheid wissen.
Lichtreaktionen genügend NADPH und ATP nachsyn-
thetisieren können, um den Zyklus in Gang zu halten.
Außerdem werden einige der beteiligten Enzyme im 10.2.1 Die Natur des Lichts
Licht reduktiv aktiviert (siehe Kapitel 8). Kurz gesagt
nutzen Chloroplasten die Energie des Lichts, um Licht ist Energie in Form von elektromagnetischer
Zucker herzustellen. Die beiden unabhängigen, aber Strahlung. Diese breitet sich wellenförmig aus, ähn-
stark ineinandergreifenden Teilschritte der Licht- und lich wie die Wellen in einem Teich, nachdem man
Teil 2
der Dunkelreaktionen laufen koordiniert ab. einen Kiesel hineingeworfen hat. Elektromagnetische
Abbildung 10.5 zeigt, dass die Thylakoide in den Wellen sind jedoch Störungen elektrischer und mag-
Chloroplasten die Orte sind, an denen die Lichtreak- netischer Felder, nicht Störungen eines stofflichen
tionen ablaufen, während der Calvin-Zyklus im Mediums wie Wasser.
Stroma vonstatten geht. In den Thylakoiden wird Der Abstand zwischen zwei Wellenkämmen oder Wel-
NADP+ zu NADPH reduziert und ADP wird zu ATP lentälern wird als Wellenlänge bezeichnet. Die Wellen-
phosphoryliert. Die Reaktionsprodukte NADPH und länge elektromagnetischer Strahlung reicht von weniger
ATP werden dann in das Stroma freigesetzt, wo sie als einem Nanometer (nm) bei Gammastrahlen bis hin
ihre wichtigen Rollen in der Reaktionsfolge des Cal- zu mehr als einem Kilometer (km) bei Radiowellen. Der
vin-Zyklus spielen. Die beiden Stadien der Photosyn- Gesamtbereich der elektromagnetischen Wellen wird als
these werden in dieser Abbildung als Stoffwechselmo- elektromagnetisches Spektrum bezeichnet (Abbildung
dule behandelt, die Stoffe aufnehmen und Produkte 10.6). Der für Lebensprozesse wichtigste Teil des Spek-
nach außen schaffen. Unser nächster Schritt auf dem trums ist ein schmaler Bereich von etwa 380 bis 750 nm,
Weg zu einem Verständnis der Photosynthese besteht der als sichtbares Licht bezeichnet wird, weil wir ihn
aus einer näheren Betrachtung dieser beiden Stadien. durch unsere Augen wahrnehmen können.
Beginnen wir mit den Lichtreaktionen.
1m
10–5 nm 10–3 nm 1 nm 103 nm 106 nm (109 nm) 103 m
 Wiederholungsfragen 10.1 Gamma- Röntgen- Infrarot- Mikro- Radio-
UV
strahlen strahlen strahlung wellen wellen
1. Wie erreichen die Edukte der Photosynthese
die Chloroplasten in den Blättern?
2. Wie hat die Verwendung eines Sauerstoffiso-
tops bei der Aufklärung der chemischen Reak-
tionen der Photosynthese geholfen? sichtbares Licht

3. WAS WÄRE, WENN? Der Calvin-Zyklus ist auf


die Produkte der Lichtreaktionen, ATP und 380 450 500 550 600 650 700 750 nm
NADPH, angewiesen. Nehmen Sie an, jemand kürzere Wellenlängen längere Wellenlängen
würde behaupten, der umgekehrte Fall würde höhere Energie geringere Energie
nicht gelten. Damit hingen die Lichtreaktionen
nicht vom Calvin-Zyklus ab und könnten bei Abbildung 10.6: Das elektromagnetische Strahlungsspektrum.
fortdauernder Lichteinstrahlung weiterhin ATP Weißes Licht ist ein Gemisch aus allen Wellenlängen des sichtbaren
und NADPH produzieren. Stimmen Sie dem zu Lichtspektrums. Ein Prisma kann weißes Licht in seine Farbkomponenten
oder nicht? Begründen Sie Ihre Meinung. zerlegen, weil es verschiedene Wellenlängen unterschiedlich stark beugt.
(Wassertröpfchen in der Atmosphäre können ebenfalls als Prismen wirken
und einen Regenbogen erzeugen.) Die Photosynthese wird durch sichtba-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
res Licht angetrieben.

Das Wellenmodell des Lichts kann viele seiner Eigen-


Die Lichtreaktionen wandeln schaften erklären, doch es versagt unter manchen
Umständen, bei denen Licht eher einen Teilchencha-
Sonnenenergie in chemische rakter aufweist. Die „Lichtteilchen“ werden Photonen
Energie in Form von ATP genannt, nicht wirklich greifbare Teilchen, sondern
und NADPH um
10.2 Objekte mit Teilchencharakter und einer bestimmten,
definierten Energiemenge. Dieser Energiegehalt ist der
Wellenlänge der Strahlung umgekehrt proportional: je
kürzer die Wellenlänge, desto höher die Energie eines
Chloroplasten sind chemische Fabriken, die vom Son- jeden Photons der betreffenden Strahlung. Ein Photon
nenlicht in Gang gehalten werden. Ihre Thylakoide des violetten Lichts enthält fast doppelt so viel Ener-
wandeln Lichtenergie in chemische Energie in Form von gie wie ein Photon des roten Lichts.

247
10 Photosynthese

Obwohl die Sonne das volle Spektrum an elektromag-


 Abbildung 10.8: Arbeitstechniken
netischer Energie abstrahlt, wirkt die Erdatmosphäre
wie ein selektiver Filter, der sichtbares Licht passieren
Aufnahme eines Absorptionsspektrums
lässt, einen erheblichen Anteil der verbleibenden
Strahlung mit anderen Wellenlängen jedoch nicht. Der Anwendung Ein Absorptionsspektrum ist eine
sichtbare Teil des Spektrums umfasst gleichzeitig auch graphische Darstellung davon, wie gut ein
diejenige Strahlung, die die Photosynthese antreibt. bestimmtes Pigment (ein Farbstoff) unterschied-
liche Wellenlängen absorbiert. Die Absorptions-
spektren verschiedener Chloroplastenpigmente
10.2.2 Photosynthesepigmente: helfen den Wissenschaftlern, die Rolle zu ent-
Teil 2 schlüsseln, die jedes Pigment in der Pflanze
Die Lichtrezeptoren
spielt.
Wenn Licht auf Materie trifft, kann es reflektiert Methode Ein Spektralphotometer misst die von
(zurückgeworfen), transmittiert (durchgelassen) oder einer Farbstofflösung bekannter Konzentration
absorbiert (geschluckt) werden. Stoffe, die sichtbares durchgelassene beziehungsweise absorbierte
Licht absorbieren, heißen Farbstoffe, die, wenn sie Menge an Strahlung bei verschiedenen Wellen-
unlöslich sind, auch als Pigmente bezeichnet werden. längen.
Unterschiedliche Farbstoffe absorbieren Licht verschie- 1 Weißes Licht wird durch ein Prisma in ver-
dener Wellenlängen. Wird ein Farbstoff mit weißem schiedene Farben (Wellenlängenbereiche) zerlegt.
Licht beschienen, ist die Farbe, die wir sehen, entweder 2 Die verschiedenen Wellenlängen werden ein-
diejenige, die am stärksten reflektiert wird, oder dieje- zeln und nacheinander durch die zu vermessende
nige, die von dem Stoff durchgelassen wird. (Wenn ein Probe geleitet (in diesem Fall eine Chlorophyll-
Stoff alle Wellenlängen des sichtbaren Lichts absor- lösung). Hier sind beispielhaft grünes und blaues
biert, erscheint er schwarz.) Blätter erscheinen grün, Licht dargestellt.
weil das darin enthaltene Chlorophyll blauviolettes 3 Das durchgelassene Licht trifft auf eine Photo-
und rotes Licht absorbiert, grünes Licht aber durchlässt zelle, die Licht in Elektrizität umwandelt.
beziehungsweise reflektiert (Abbildung 10.7). Die 4 Der elektrische Strom wird mit einem Galva-
Fähigkeit eines Farbstoffs, verschiedene Wellenlängen nometer gemessen. Der Ausschlag des Messgeräts
des Lichts zu absorbieren, kann mit einem Spektral- gibt an, wie viel Licht der betreffenden Wellen-
photometer gemessen werden. Dieses Instrument länge die Probe passiert hat. Mithilfe der Konzen-
schickt einen Lichtstrahl mit definierter Wellenlänge tration der Lösung und der Lichtstärke des einge-
durch eine Lösung des Farbstoffs und misst den Anteil strahlten Lichts lässt sich daraus die Menge an
des bei der betreffenden Wellenlänge transmittierten absorbiertem Licht errechnen.
Lichts im Vergleich zu einem Referenzwert. Die graphi-
weißes lichtbrechen- Chlorophyll- Photozelle
sche Auftragung der Absorption in Abhängigkeit von Licht des Prisma Lösung
der Wellenlänge des Lichts heißt Absorptionsspektrum Galvanometer
(Abbildung 10.8). 2 3
1 4 0 100

Licht Die hohe Transmission


reflektiertes beweglicher Spalt grünes
Licht (niedrige Absorption)
zur Durchleitung Licht zeigt an, dass das Chlo-
des gewünschten rophyll sehr wenig
Chloroplast Wellenlängenbereichs grünes Licht absorbiert.

0 100

Die niedrige Transmis-


blaues sion (hohe Absorption)
absorbiertes Granum Licht zeigt an, dass das Chlo-
Licht rophyll den Großteil
des blauen Lichts ab-
sorbiert.
durchgelassenes
Licht
Ergebnis Sehen Sie sich zum Vergleich die
Abbildung 10.7: Warum sind Blätter grün? Die Wechselwirkung Abbildung 10.9 an; dort sind die Absorptions-
von Licht mit Chloroplasten. Die Chlorophyllmoleküle in einem Chlo- spektren von drei Chlorophylltypen dargestellt.
roplasten absorbieren blauviolettes und rotes Licht (die Wellenlängenbe-
reiche, die die Photosynthese am wirkungsvollsten antreiben) und reflek-
tieren oder transmittieren grünes Licht. Daher sind Blätter grün.

248
10.2 Die Lichtreaktionen wandeln Sonnenenergie in chemische Energie in Form von ATP und NADPH um

Die Absorptionsspektren der Pigmente in den Chloro- genommen, indem isolierte Chloroplasten mit Licht ver-
plasten liefern uns Hinweise auf die Effektivität verschie- schiedener Farben (= Wellenlängenbereiche) beschienen
dener Wellenlängen zum Antrieb der Photosynthese, da und dann die Photosyntheserate anhand einer Kenn-
Licht nur dann in den Chloroplasten Arbeit verrichten größe wie der CO2-Aufnahme oder der O2-Abgabe
kann, wenn es dort absorbiert wird. Abbildung 10.9a gemessen wird. Die Auftragung der Geschwindigkeit als
zeigt die Absorptionsspektren von drei verschiedenen Funktion der Wellenlänge wird als Wirkungsspektrum
Chloroplastenpigmenten: Chlorophyll a, das unmittel- bezeichnet. Das Wirkungsspektrum der Photosynthese
bar an den Lichtreaktionen beteiligt ist, Chlorophyll b, wurde erstmals im Jahr 1883 von dem deutschen Bota-
das als akzessorischer Farbstoff wirkt, sowie von Caro- niker Theodor W. Engelmann aufgezeichnet. Ohne eine
tinoiden, einer ebenfalls akzessorischen Gruppe von geeignete Apparatur zur Messung der Sauerstoffmenge
Teil 2
Farbstoffen. Das Spektrum von Chlorophyll a zeigt, dass ersann Engelmann ein cleveres Experiment, indem er
blauviolettes und rotes Licht am besten für die Photo- sauerstoffliebende Bakterien zur Messung der Photosyn-
synthese geeignet sind, da diese Wellenlängenbereiche theserate filamentöser Grünalgen (Fadenalgen) der Gat-
gut absorbiert werden, während Licht im grünen tung Spirogyra verwendete (Abbildung 10.9c). Seine
Bereich am wenigsten effektiv ist. Diese Hypothese Versuchsergebnisse stehen in verblüffender Überein-
wird vom Wirkungsspektrum der Photosynthese bestä- stimmung mit modernen Wirkungsspektren (Abbildung
tigt (Abbildung 10.9b). Ein Wirkungsspektrum wird auf- 10.9b).

 Abbildung 10.9: Aus der Forschung

Welche Lichtwellenlängen unterstützen die die Absorption von Licht durch akzessorische
Photosynthese am wirkungsvollsten? Pigmente wie Chlorophyll b und die Caroti-
Experiment Absorptions- und Wirkungsspektren noide zurück.
enthüllen in Verbindung mit einem klassischen
aerobe Bakterien
Experiment von Theodor W. Engelmann, welche
Wellenlängenbereiche des sichtbaren Lichts für die Algenfaden
Photosynthese am wirksamsten sind.

Ergebnis
400 500 600 700
der Chloroplasten-

Chloro- (c) Das Engelmann’sche Experiment. Im Jahr 1883


Lichtabsorption

phyll a Chlorophyll b
hat der Botaniker Engelmann eine Fadenalge
pigmente

mit Licht bestrahlt, das zuvor durch ein Prisma


Carotinoide geleitet wurde, so dass die Algen an verschie-
denen Stellen von Licht unterschiedlicher Wel-
lenlänge getroffen wurden. Er verwendete
400 500 600 700 aerobe Bakterien, die sich im Umkreis von Sau-
Wellenlänge des Lichts (nm) erstoffquellen ansammeln, um zu bestimmen,
welche Abschnitte der Algenfäden den meisten
(a) Absorptionsspektren. Die drei Kurven zeigen Sauerstoff freisetzen und daher die höchste
den Absorptionsverlauf für die drei Pigmente. Photosyntheseleistung zeigen. Die Bakterien
Bei den Maxima erfolgt die stärkste Absorption. versammelten sich in größter Zahl in den
Bereichen, die von blauviolettem oder von
der O2-Entwicklung)
(gemessen anhand

rotem Licht bestrahlt wurden.


Photosyntheserate

Schlussfolgerung Das Licht im blauvioletten und


im roten Bereich des Spektrums treibt die Photo-
synthese am effektivsten an.

400 500 600 700


Quelle: T. W. Engelmann, Bacterium photometricum. Ein Beitrag zur
(b) Wirkungsspektrum. In dieser Graphik ist die vergleichenden Physiologie des Licht- und Farbensinnes. Archiv für
Physiologie 30:95–124 (1883).
Photosyntheserate gegen die Wellenlänge auf-
getragen. Das resultierende Wirkungsspek-
DATENAUSWERTUNG Bei welchen Wellenlängen des
trum ähnelt dem Absorptionsspektrum für das
Chlorophyll a, entspricht diesem aber nicht Lichts läuft die Photosynthese mit der höchsten
genau (siehe unter (a)). Dies geht zum Teil auf Rate ab?

249
10 Photosynthese

Beim Vergleich von Abbildung 10.9a und Abbildung Farben von gelb über orange bis tiefrot aufweisen, weil
10.9b stellt man fest, dass das Wirkungsspektrum der sie überwiegend im violetten und blaugrünen Teil des
Photosynthese nicht völlig mit dem Absorptionsspekt- Spektrums Licht absorbieren (Abbildung 10.9a). Die
rum des Chlorophylls a übereinstimmt. Das Absorp- Carotinoide vergrößern das für die Photosynthese nutz-
tionsspektrum des Chlorophylls a für sich allein bare Farbspektrum. Eine noch wichtigere Funktion,
genommen führt zu einer Unterschätzung der Wirksam- wenigstens einiger Carotinoide, scheint jedoch in einer
keit bestimmter Wellenlängenbereiche bezüglich der als Photoprotektion bezeichneten Schutzwirkung zu
Photosynthese. Der Grund liegt teilweise darin, dass liegen: Diese Verbindungen absorbieren überschüssiges
akzessorische Farbstoffe mit anderen Absorptionsspek- Licht und verteilen es als Wärme, da zu viel Licht Chlo-
tren ebenfalls an der photosynthetischen Lichternte rophyll in einen stark angeregten, sehr reaktiven
Teil 2
beteiligt sind und das Spektrum an Farben, das die Zustand überführt. Durch eine übermäßige Belichtung
Pflanze für die Photosynthese nutzen kann, vergrößern. können dann in Verbindung mit Sauerstoff durch
Abbildung 10.10 zeigt Chlorophyll a im Vergleich mit unkontrollierte Folgereaktionen oxidative Schäden an
einem dieser akzessorischen Pigmente, dem nah ver- der Zelle entstehen. Interessanterweise finden sich im
wandten Chlorophyll b. Ein geringfügiger Unterschied menschlichen Auge ebenfalls Carotinoide, die den pho-
in der chemischen Struktur der beiden Moleküle reicht toprotektiven Carotinoiden der Pflanzen ähneln. Man
aus, um das Absorptionsvermögen im roten und im geht davon aus, dass sie im Auge eine vergleichbare
blauen Bereich des Spektrums leicht zu verschieben Schutzwirkung haben. Diese und noch andere Mole-
(Abbildung 10.9a). Als Folge davon ist eine Lösung von küle, die sich oft in als besonders gesund bezeichneten
Chlorophyll a bläulich-grün und eine von Chlorophyll b Lebensmitteln finden, werden verhältnismäßig nichts-
olivgrün. Außerdem beeinflussen die Proteine, an die sagend als „Phytochemikalien“ bezeichnet (griech.
Chlorophyllmoleküle gebunden sind, die Absorptions- phyton, Pflanze), was lediglich auf ihren pflanzlichen
spektren von Chlorophyll a und b, so dass ein größerer Ursprung hinweist. Eine Reihe dieser Stoffe hat eine
Bereich an Wellenlängen genutzt werden kann. zumindest im Reagenzglas nachgewiesene, vor Oxida-
tion schützende (antioxidative) Wirkung. Pflanzen kön-
CH3 beim Chlorophyll a nen alle benötigten Antioxidantien selbst herstellen.
CHO beim Chlorophyll b Der Mensch und andere Tiere müssen diese zum Teil
CH2 mit der Nahrung aufnehmen.
CH H CH3

C C C Porphyrinring:
H3C C C C C CH2 CH3 lichtabsorbieren- 10.2.3 Anregung von Chlorophyll
C N N C der Bereich des
Moleküls; beachten
durch Licht
H C Mg C H
H3C C N N C
Sie das Magnesium-
Ion im Zentrum. Was passiert genau, wenn Chlorophyll oder andere
C C C C CH3
H C C C
Farbstoffe Licht absorbieren? Die den absorbierten Wel-
CH2 H
H C C
lenlängenbereichen entsprechenden Farben fehlen im
CH2 O Spektrum des durchgelassenen oder zurückgeworfenen
C O
Lichts. Energie kann jedoch, wie wir wissen, nicht ein-
C O O
fach verschwinden. Wenn ein Molekül ein Lichtquant
CH3
O (ein Photon) absorbiert, wird eines seiner Elektronen in
CH2 ein anderes, energetisch höherwertiges Orbital über-
führt. Man sagt, das Molekül befindet sich im angereg-
ten Zustand. Vor dem Absorptionsereignis befindet sich
Kohlenwasserstoff-Fortsatz: das Elektron im energieärmsten verfügbaren Orbital und
wechselwirkt mit hydropho- das Molekül ist im Grundzustand. Bei einer Absorption
ben Bereichen von Proteinen werden von dem Molekül nur die Photonen absorbiert,
in der Thylakoidmembran
der Chloroplasten; das Ende deren Energiegehalt genau der Energiedifferenz zwi-
der Teilstriche und die Knick- schen dem Grund- und dem angeregten Zustand ent-
stellen symbolisieren jeweils spricht. Moleküle besitzen mehrere angeregte Zustände,
ein C-Atom (H-Atome sind in
aber nur einen Grundzustand. Die genaue, für eine
diesem Teil nicht eingezeich-
net). Anregung erforderliche Energiemenge hängt von der
chemischen Konstitution des absorbierenden Mole-
Abbildung 10.10: Struktur der Chlorophyllmoleküle in den Chlo-
küls ab. Deshalb absorbieren unterschiedliche Mole-
roplasten von Pflanzen. Chlorophyll a und b sind eng verwandt und
unterscheiden sich nur in einer funktionellen Gruppe, die an das Mehr-
küle (und auch einzelne Atome) bei verschiedenen
ringsystem des Porphyrins gebunden ist. (Schauen Sie sich auch das raum- Wellenlängen. Da die Wellenlänge des Lichts in direk-
füllende Modell von Chlorophyll in Abbildung 1.3 an.) ter Beziehung zu seinem Energiegehalt steht, entspre-
chen unterschiedliche Wellenlängen verschiedenen
Energiebeträgen. Deswegen hat jede Substanz ihr eige-
Weitere akzessorische Farbstoffe, die zu einer anderen nes, charakteristisches Absorptionsspektrum.
Verbindungsklasse gehören, sind die Carotinoide, Koh- Nachdem es durch die Absorption eines Photons
lenwasserstoffe, deren chemisch vielfältige Vertreter vom Grundzustand in einen angeregten Zustand über-

250
10.2 Die Lichtreaktionen wandeln Sonnenenergie in chemische Energie in Form von ATP und NADPH um

Abbildung 10.11: Anregung isolierter Chlorophyll-


moleküle durch Licht. (a) Die Absorption eines Photons angeregter
bewirkt den Übergang des Chlorophyllmoleküls vom Grund- e– Zustand
zustand in einen angeregten Zustand. Das absorbierte

Energie des Elektrons


Photon hebt ein Elektron in ein energiereicheres Orbital. Ein Wärme
isoliertes Molekül fällt nach sehr kurzer Zeit aus dem ange-
regten wieder in den Grundzustand zurück. Die aufgenom-
mene Energie wird in Form von Fluoreszenz und Wärme
wieder abgegeben. (b) Eine durch ultraviolettes Licht ange-
regte Chlorophyll-Lösung fluoresziert rötlich-orange. Photon
(Fluoreszenz)
WAS WÄRE, WENN? Setzt man ein Blatt und eine vor-
Photon
Grundzustand
Teil 2
Chlorophyll-
bereitete Lösung mit gleichen Chlorophyllkonzentrationen molekül
der gleichen ultravioletten Strahlung aus, beobachtet man
im Blatt keine Fluoreszenz. Versuchen Sie, den Unterschied
im Fluoreszenzverhalten zwischen der Lösung und dem (a) Anregung eines isolierten Chlorophyllmoleküls (b) Chlorophyll-Fluoreszenz
Blatt zu erklären.

gegangen ist, verbleibt das System nur für sehr kurze Ein Photosystem besteht aus einem als Reaktions-
Zeit in diesem Zustand. Angeregte atomare und mole- zentrum bezeichneten Proteinkomplex, der von mehre-
kulare Zustände sind, wie alle energiereichen ren Lichtsammelkomplexen umgeben ist (Abbildung
Zustände, instabil. Wenn einzelne Farbstoffmoleküle 10.12). Das Reaktionszentrum beinhaltet ein „speziel-
Licht absorbieren, verbleiben sie nur für etwa eine Mil- les“ Paar aus zwei Chlorophyll a-Molekülen. Jeder
liardstel Sekunde im angeregten Zustand und fallen Lichtsammelkomplex setzt sich aus verschiedenen
dann unter Abgabe der aufgenommenen Energie wieder Farbstoffmolekülen zusammen (Chlorophyll a, Chloro-
in den Grundzustand zurück, wobei ein Teil als Wärme phyll b, Carotinoide), die an Proteine gebunden sind.
verloren geht. Diese Umwandlung von Lichtenergie in Anzahl und Art der Farbstoffmoleküle erlauben es
Wärme ist der Grund, warum dunkle Automobile in einem Photosystem, Licht über einen größeren Ober-
der Sonne heiß werden. (Weiß lackierte Autos bleiben flächenbereich und über einen größeren Teil des Spekt-
am kühlsten, da sie alle Wellenlängen des sichtbaren rums zu sammeln, als es einem einzelnen Farbstoff-
Lichts reflektieren, sie können aber ultraviolette und molekül möglich wäre. Im Verbund wirken diese
andere nicht sichtbare Strahlung absorbieren.) Der Lichtsammelkomplexe wie mit dem Reaktionszentrum
nicht als Wärme, das heißt durch Zusammenstöße mit verbundene Antennen. Wenn ein Farbstoffmolekül ein
anderen Atomen oder Molekülen zerstreute Anteil der Photon absorbiert, wird die Energie innerhalb des
Energie eines angeregten Teilchens wird in Form von Lichtsammelkomplexes von einem Farbstoffmolekül
Licht wieder abgestrahlt. Auch isolierte Chlorophyll- zum nächsten weitergeleitet, ähnlich einer Eimerkette
moleküle in Lösung emittieren nach einer Anregung beim Löschen eines Feuers. Der Prozess setzt sich fort,
Licht. Wenn die angeregten Elektronen in den Grund- bis ein Reaktionszentrum erreicht ist. Das Reak-
zustand zurückkehren, strahlen sie ihrerseits ein tionszentrum enthält ein Molekül, das Elektronen auf-
Photon ab. Die Wellenlänge dieser Strahlung ist jedoch nehmen kann und dadurch reduziert wird. Dieses
verschieden von der absorbierten Strahlung, sie ist Molekül wird als primärer Elektronenakzeptor
langwelliger und damit energieärmer, die Energiediffe- bezeichnet. Chemisch ist es ein Chinon, ähnlich wie
renz geht als Wärme verloren. Dieses Phänomen wird wir es schon in der Atmungskette angetroffen haben.
als Fluoreszenz bezeichnet. Eine bestrahlte Chloro- Die beiden bereits erwähnten speziellen Chlorophyll a-
phyll-Lösung fluoresziert rötlich-orange. Gleichzeitig Moleküle im Reaktionszentrum sind aufgrund ihrer
findet eine geringe Erwärmung des Systems statt molekularen Umgebung gegenüber den anderen Chlo-
(Abbildung 10.11). Die abgegebene Gesamtenergie rophyllmolekülen des Photosystems ausgezeichnet.
entspricht immer genau dem vorher aufgenommenen Ihre bevorzugte Stellung erlaubt es diesem Molekül-
Energiebetrag (Energieerhaltungssatz). paar, die Energie des absorbierten Lichts nicht allein
zur Anregung von Elektronen, sondern ebenso für die
Übertragung auf ein anderes Molekül, eben den primä-
10.2.4 Photosystem = Reaktionszentrum + ren Elektronenakzeptor, zu verwenden. Dies bedeutet,
Lichtsammelkomplex dass an dieser Stelle eine durch Licht bewirkte
Ladungstrennung stattfindet. Ein Chlorophyll gibt ein
Die Chlorophyllmoleküle eines intakten Chloroplas- Elektron ab und ein Akzeptor nimmt es auf – der pri-
ten verhalten sich bei der Anregung durch absorbier- märe Elektronenakzeptor.
tes Licht völlig anders als isolierte Chlorophyllmole- Diese lichtgetriebene Redoxreaktion zwischen einem
küle in Lösung (Abbildung 10.11), da sie in ihrer Chlorophyll a-Molekül des Reaktionszentrums und
natürlichen Umgebung in der Thylakoidmembran dem primären Elektronenakzeptor Plastochinon ist der
zusammen mit anderen niedermolekularen Verbin- erste Schritt der als Lichtreaktionen bezeichneten
dungen und bestimmten Proteinen zu Photosystemen Folge von molekularen Ereignissen. Unmittelbar nach
zusammengefasst sind. der Anregung des Chlorophylls im Reaktionszentrum

251
10 Photosynthese

kommt es zur Redoxreaktion mit dem Plastochinon. In Die Thylakoidmembranen enthalten zwei Typen von
Lösung befindliche Chlorophyllmoleküle fluoreszie- Photosystemen, die bei den Lichtreaktionen der Photo-
ren, weil ein Oxidationsmittel (Elektronenakzeptor) synthese zusammenarbeiten und als Photosystem I (PS
fehlt und die angeregten Elektronen unter Abgabe von I) und Photosystem II (PS II) bezeichnet werden. (Die
Fluoreszenzstrahlung in den Grundzustand zurück- Benennung erfolgte in der Reihenfolge ihrer Ent-
kehren und damit am Chlorophyllmolekül verbleiben deckung, doch liegt PS II in der photosynthetischen
(Abbildung 10.11b). In Chloroplasten geht die Energie Reaktionsfolge vor PS I). Jedes Photosystem verfügt
des angeregten Zustands jedoch nicht verloren. Jedes über ein charakteristisches Reaktionszentrum, das
Photosystem, also das von seinen Lichtsammel- heißt einen primären Elektronenakzeptor in unmittel-
komplexen umgebene Reaktionszentrum, agiert in der barer Nachbarschaft zu einem speziellen Chlorophyll a-
Teil 2
Thylakoidmembran als Funktionseinheit, indem es Molekülpaar, das mit spezifischen Proteinen assoziiert
Lichtenergie in chemische Energie umwandelt, die ist. Das Reaktionszentrum von Photosystem II wird
letztlich der Synthese eines Kohlenhydrats dient. nach der Wellenlänge des Absorptionsmaximums in
Nanometern als P680 bezeichnet. Das Reaktionszent-
rum von Photosystem I heißt entsprechend P700. Die
Thylakoid beiden Molekülverbände enthalten identische Chloro-
phyll a-Moleküle, doch resultiert die unterschiedliche
Proteinumgebung in verschiedenen Absorptionsma-
xima. Wir wollen uns jetzt anschauen, wie die beiden
Photosystem STROMA Photosysteme bei der Nutzung der Lichtenergie zur
Photon Erzeugung von ATP und NADPH, den beiden Haupt-
Lichtsammel- Reaktions- primärer produkten der Lichtreaktionen, zusammenarbeiten.
komplex zentrum Elektronen-
akzeptor

10.2.5 Der lineare Elektronenfluss

Licht treibt die Synthese von ATP und NADPH an,


Thylakoidmembran

indem es den beiden in die Thylakoidmembranen der


e– Chloroplasten eingelagerten Photosystemen Energie
zuführt. Der Mechanismus dieser Energieumwandlung
beruht auf dem Fluss von Elektronen durch die Photo-
systeme und andere molekulare Komponenten, die
ebenfalls in die Thylakoidmembranen eingelagert sind.
Dieser Vorgang wird als linearer Elektronenfluss
Energie- „Special pair“, Pigment- bezeichnet und vollzieht sich im Verlauf der Lichtreak-
übertragung bestehend aus zwei moleküle
Chlorophyll a-Molekülen
tionen der Photosynthese (Abbildung 10.13). Die nach-
folgende Bezifferung unserer detaillierten Beschreibung
THYLAKOIDLUMEN (INNEN) folgt der Bezifferung in der Abbildung.
1 Ein Lichtquant (Photon) trifft auf ein Farbstoff-
(a) Wie ein Photosystem Licht sammelt. Wenn ein Photon ein Farbstoff-
molekül eines Lichtsammelkomplexes trifft, wird die absorbierte Energie molekül eines Lichtsammelkomplexes und hebt eines
von Molekül zu Molekül weitergereicht, bis sie ein Reaktionszentrum seiner Elektronen in einen energetisch höherwertigen,
erreicht. Von dort aus wird das energetisch angeregte Elektron von
einem speziellen Paar von Chlorophyll a-Molekülen auf den primären
angeregten Zustand. Wenn das Elektron in den Grund-
Elektronenakzeptor übertragen. zustand zurückfällt, wird dadurch ein in der Nähe
gelegenes anderes Farbstoffmolekül, das die Energie
Chlorophyll STROMA übernimmt, angeregt. Dieser Vorgang setzt sich unter
Übertragen der Energie auf weitere Farbstoffmoleküle
Thylakoidmembran

fort, bis zwei spezielle Chlorophyll a-Moleküle im


Reaktionszentrum P680 des Photosystems II erreicht
sind. Auch diese Moleküle werden in den angeregten
Zustand überführt, indem ein Elektron in ein Molekül-
orbital höherer Energie wechselt.
2 Das angeregte Elektron wird vom Reaktionszentrum
© 2004 AAAS

Protein- (P680*, um den angeregten Zustand anzuzeigen) auf


THYLAKOID-
untereinheiten den primären Elektronenakzeptor übertragen. Nach
LUMEN
der Redoxreaktion ist das Reaktionszentrum oxidiert
(b) Struktur eines Photosystems. Dieses Computermodell, das aus
Daten einer Röntgenstrukturanalyse erstellt wurde, zeigt zwei sich
(es „fehlt“ ihm ein Elektron), dieser Zustand wird
gegenüber liegende Photosystemkomplexe. Chlorophyllmoleküle durch P680+ symbolisiert. Beide Chlorophyll a-Mole-
(kleine grüne Kugel-Stab-Modelle) liegen zerstreut zwischen den küle des Reaktionszentrums werden dabei oxidiert.
Proteinuntereinheiten (Zylinder und Bänder). Zur Vereinfachung
werden die Photosysteme in diesem Kapitel nur als einzelne 3 Ein Enzym katalysiert die Spaltung eines Wasser-
Komplexe gezeigt. moleküls in zwei Elektronen, zwei Protonen und ein
Abbildung 10.12: Struktur und Funktion eines Photosystems. Sauerstoffatom. Die Elektronen werden nacheinander

252
10.2 Die Lichtreaktionen wandeln Sonnenenergie in chemische Energie in Form von ATP und NADPH um

auf das oxidierte Paar der P680+-Chlorophyll-Mole- in eine mechanische Drehbewegung und dann in die
külionen übertragen und ersetzen dort die auf den chemische Energie des ATP umgewandelt wird.
primären Elektronenakzeptor übergegangenen Elek- 6 In der Zwischenzeit wird die von den Lichtsammel-
tronen. P680+ ist das stärkste bekannte biologische komplexen des Photosystems I eingefangene Energie
Oxidationsmittel. Die elektronische Fehlstelle in auf das P700-Reaktionszentrum dieses Komplexes
diesen Molekülionen hat daher ein sehr starkes übertragen, wodurch wiederum ein dort befindliches
Bestreben, wieder aufgefüllt zu werden. Dieses hohe Chlorophyll a-Molekülpaar angeregt wird. Die ange-
Redoxpotenzial liefert die Triebkraft für die oxidative regten Elektronen werden ebenfalls auf einen primä-
Spaltung des Wassers. Das im Entstehen begriffene ren Elektronenakzeptor übertragen. Dies erzeugt eine
(„naszierende“) Sauerstoffatom verbindet sich sofort neue Fehlstelle, jetzt im P700-Reaktionszentrum
Teil 2
mit einem zweiten bei der Wasserspaltung entstande- (P700+). P700+ ist seinerseits ein wirkungsvoller Elek-
nen Sauerstoffatom zu einem Sauerstoffmolekül (O2). tronenakzeptor für die Elektronen, die durch die Elek-
4 Jedes durch die Absorption eines Photons angeregte tronentransportkette des Photosystems II angeliefert
Elektron wird von dem primären Elektronenakzeptor werden (siehe oben).
des Photosystems II (PS II) über eine Elektronen- 7 Diese vom Licht angeregten Elektronen werden
transportkette zum Photosystem I (PS I) transportiert. vom primären Elektronenakzeptor des Photosystems I
Die Komponenten dieser Elektronentransportkette durch eine zweite Elektronentransportkette auf Ferre-
sind denen der Atmungskette ähnlich. Die zwischen doxin (Fd) übertragen (lat. ferrum, Eisen). (Diese
PS II und PS I geschaltete Elektronentransportkette zweite Elektronentransportkette erzeugt keine proto-
besteht aus Plastochinon (PQ, eine dem Ubichinon der nenmotorische Kraft und trägt daher auch nicht zur
Atmungskette homologe Verbindung), einem Cyto- ATP-Synthese bei.)
chrom-Komplex (Cytochrom b6f) und Plastocyanin 8 Das Enzym Ferredoxin-NADP+-Oxidoreduktase kata-
(PC, ein kupferhaltiges Protein). lysiert die Reoxidation des reduzierten Ferredoxins
5 Ein Teil der im System verfügbaren Energie wird für durch NADP+ zu NADPH. Für diese Reduktion sind
die Synthese von ATP verwendet. Beim Durchgang der zwei Elektronen und ein Proton erforderlich. Das Redox-
Elektronen durch den Cytochrom-Komplex werden potenzial dieser Verbindung ist höher als das von Was-
Protonen über die Membran hinweg gepumpt und es ser, so dass es für den Calvin-Zyklus ein besserer Reak-
entsteht eine protonenmotorische Kraft, die genau wie tionspartner ist als das reaktionsträge Wasser. Bei diesem
in Mitochondrien durch eine ATP-Synthase zunächst Schritt wird auch ein Proton aus dem Stroma entfernt.

H2O CO2 Abbildung 10.13: Wie der lineare Elektronenfluss während der Licht-
reaktionen ATP und NADPH erzeugt. Die goldfarbenen Pfeile zeichnen den
Licht
lichtgetriebenen Fluss der Elektronen vom Wasser zum NADPH nach.
NADP+
ADP
Licht- Calvin-
reak-
Zyklus
tionen
ATP
NADPH

El
[CH2O] (Zucker)
ek
O2 tro
ne
Ele primärer nt
ktr Akzeptor ra
one ns
primärer ntr 4 7 po
Akzeptor ans Fd rtk
por et
PQ tkett e– te

2 e e– – 8
H2O e e NADP+
2 H+ Cytochrom- Ferredoxin- + H+
+ Komplex NADP+-
½ O2 3 NADPH
PC Oxidoreduktase
e–
e– P700
1 Licht
P680 5 Licht

ATP

Pigmentmoleküle

Photosystem I (PS I)
Photosystem II (PS II)

253
10 Photosynthese

So kompliziert das Schema in Abbildung 10.13 auch tionszentrums. Es werden weder NADPH synthetisiert
ist, versuchen Sie, die Funktionalität im Auge zu noch Sauerstoff freigesetzt, es findet aber ATP-Syn-
behalten. Die Lichtreaktionen nutzen die Energie des these statt, weil dabei eine protonenmotorische Kraft
Lichts, um ATP und NADPH zu erzeugen, die ihrer- aufgebaut wird.
seits die chemische Energie für die Kohlenhydratsyn- Mehrere photosynthetisch aktive Bakteriengruppen
these im Rahmen des Calvin-Zyklus liefern. Die Ände- verfügen über ein Photosystem I, aber kein Photosys-
rungen der freien Enthalpie der Redoxkomponenten tem II. Dazu gehören die Purpurschwefelbakterien
im Verlauf der Lichtreaktionen sind in Abbildung (Abbildung 10.2e), für die der zyklische Elektronen-
10.14 in Form eines mechanischen Analogons darge- fluss der einzige Weg zur Photophosphorylierung ist.
stellt und stark schematisiert. Die Evolutionsbiologen nehmen an, dass diese Bakte-
Teil 2
riengruppen sich von den Bakterien herleiten, in
denen sich die Photosynthese ursprünglich entwi-
ATP
e– ckelte, das heißt in einer dem zyklischen Elektronen-
fluss ähnlichen Form.
e– e–
Der zyklische Elektronenfluss kann auch bei Orga-
nismen auftreten, die beide Arten von Photosystemen
NADPH besitzen. Dazu gehören manche Prokaryonten wie die
e–
e– in Abbildung 10.2d exemplarisch dargestellten Cyano-
e–
bakterien, sowie alle zur Photosynthese befähigten
Eukaryonten, die man bislang untersucht hat. Obwohl
n

Das Mühlrad
Photo

ermöglicht der Prozess vielleicht ein entwicklungsgeschicht-


ATP-Synthese. liches „Überbleibsel“ ist, nutzen ihn diese Organis-
e– men. Mutierte Pflanzen, die über keinen zyklischen
Elektronentransport verfügen, können unter Schwach-
n
Photo

licht gut wachsen, gedeihen bei intensiver Lichtein-


Photosystem II Photosystem I
strahlung aber nicht gut. Dies ist ein Anzeichen dafür,
Abbildung 10.14: Ein mechanisches Analogon der Lichtreaktio- dass der zyklische Elektronenfluss eine photoprotek-
nen. tive Wirkung hat und durch überschüssiges Licht ver-
ursachte Schäden vermeiden oder vermindern hilft.
Wir werden später nochmals auf den zyklischen Elek-
10.2.6 Der zyklische Elektronenfluss tronenfluss zurückkommen, weil er in Beziehung zu
einer besonderen photosynthetischen Anpassung,
Unter bestimmten Umständen können die durch dem C4-Weg, steht (Konzept 10.4).
Lichtabsorption angeregten Elektronen auch einen Der Mechanismus der ATP-Synthese ist unabhängig
alternativen Weg einschlagen, den zyklischen Elektro- von der Erzeugung der Triebkraft durch den linearen
nenfluss. Dabei ist nur Photosystem I aktiv, nicht oder den zyklischen Elektronenfluss. Bevor wir uns
jedoch Photosystem II. Abbildung 10.15 zeigt, dass dem Calvin-Zyklus zuwenden, wollen wir uns daher
der zyklische Elektronenfluss eine Art Kurzschluss den chemiosmotischen Prozess in Erinnerung rufen,
darstellt. Die Elektronen gelangen vom Ferredoxin den Vorgang, der Redoxreaktionen über ein elektro-
(Fd) zurück zum Cytochrom-Komplex und von dort chemisches Membranpotenzial (die protonenmotori-
weiter zu einem P700-Chlorophyll des PS-I-Reak- sche Kraft) an die ATP-Synthese koppelt.

Abbildung 10.15: Der zyklische Elek-


tronenfluss. Durch Licht angeregte Elektro- primärer
nen von Photosystem I (PS I) können auch primärer Akzeptor
Fd
vom Ferredoxin (Fd) über den Cytochrom- Akzeptor Fd
+
Komplex und das Plastocyanin (PC) zu den NADP
PQ +
Chlorophyllen des Reaktionszentrums zurück- Ferredoxin- +H
befördert werden. Diese Variante erhöht NADP+-
die Photophosphorylierungsrate, jedoch ohne Cytochrom- Oxido- NADPH
Komplex reduktase
NADPH zu erzeugen. Zu Vergleichszwecken
ist der lineare Elektronenfluss als Halbton im
Schema abgebildet. Die zwei dargestellten PC
Ferredoxin-Moleküle sind in Wirklichkeit iden-
tisch mit dem terminalen Elektronenzwi-
schenträger in der Elektronentransportkette
von Photosystem I. Photosystem I
Photosystem II
ATP

254
10.2 Die Lichtreaktionen wandeln Sonnenenergie in chemische Energie in Form von ATP und NADPH um

10.2.7 Der chemiosmotische Prozess in roplasten. Im Mitochondrium fließen die Protonen,


Chloroplasten und Mitochondrien getrieben durch die protonenmotorische Kraft (die
im Vergleich aufgrund von Ausgleichstransporteffekten praktisch
nur aus der elektrischen Komponente besteht), aus
Chloroplasten und Mitochondrien erzeugen ATP auf dem Intermembranraum durch die ATP-Synthase
grundsätzlich gleiche Weise, durch die chemiosmoti- zurück in den Matrixraum, dabei wird dort ATP syn-
sche Kopplung. Eine in die Organellenmembran einge- thetisiert. In Chloroplasten erfolgt die ATP-Synthese,
bettete Elektronentransportkette pumpt Protonen durch wenn Protonen aus dem Thylakoidlumen durch die
die Membran, wenn Elektronen in einer Abfolge von ATP-Synthasen zurück in das Stroma fließen. Der
Redoxreaktionen auf immer stärker wirkende Oxida- katalytisch wirksame Teil der ATP-Synthase befindet
Teil 2
tionsmittel mit zunehmendem Redoxpotenzial übertra- sich auf der Stromaseite der Membran. ATP entsteht
gen werden. Dadurch wird die freie Enthalpie exergoner also im Stroma des Organells, wo es verwendet wird,
Redoxreaktionen in ein elektrochemisches Membranpo- um die Zuckersynthese durch den Calvin-Zyklus
tenzial umgewandelt. Dieses manifestiert sich in einer anzutreiben (Abbildung 10.17).
protonenmotorischen Kraft, die aus zwei Komponenten
zusammengesetzt ist, dem Protonenkonzentrationsun- höhere Protonenkonzentration
terschied (der pH-Differenz) und der Ladungsdifferenz niedrigere Protonenkonzentration
(Protonen sind elektrisch geladen). In diese ansonsten Mitochondrium Chloroplast
protonenundurchlässige („Kopplungs“-)Membran sind
ATP-Synthase-Komplexe eingelagert, die den Rückfluss
der Protonen, getrieben durch die protonenmotorische
Kraft, an die Phosphorylierung von ADP durch Pi zu
ATP koppeln. Einige der Redoxkomponenten, ein-
schließlich der eisenhaltigen Cytochrome, sind bei
Chloroplasten und Mitochondrien sehr ähnlich. Die Mitochondrien- Chloroplasten-
ATP-Synthasen der beiden Organellen sind einander struktur struktur
H+ -Fluss
ebenfalls sehr ähnlich. Es gibt jedoch zwei erwähnens- Intermem- Thylakoid-
werte Unterschiede zwischen der oxidativen Phospho- branraum lumen
rylierung in Mitochondrien und der Photophospho- Elektronen-
innere Thylakoid-
transport-
rylierung in Chloroplasten. In den Mitochondrien Membran membran
kette
stammen die Elektronen, die die Elektronentrans- ATP-Synthase
portkette durchwandern, letztlich aus organischen
Nahrungsmolekülen, die im Stoffwechsel oxidiert wer- Matrix Stroma
den. In Chloroplasten stammen diese aus Wasser. Chlo- ADP + P i
+
ATP
H
roplasten benötigen keine Nahrungsmoleküle, um ATP
zu erzeugen, stattdessen sammeln Photosysteme Ener-
gie in Form von Licht und verwenden sie, um aus dem Abbildung 10.16: Vergleich des chemiosmotischen Prozesses bei
Mitochondrien und Chloroplasten. In beiden Organellen bewirkt der
Wasser stammende Elektronen die Elektronentransport-
Elektronentransport den Aufbau einer protonenmotorischen Kraft über die
kette in Richtung kleiner werdender Redoxpotenziale weitgehend protonenundurchlässige Kopplungsmembran. Die Protonen
„bergauf“ zu schicken. Mitochondrien verwenden also fließen in der Folge durch den membranständigen Teil der ATP-Synthase
die chemiosmotische Kopplung, um chemische Energie zurück und treiben dabei die ATP-Synthese an. Die dunkel- und hellgrau
der verdauten Nahrung in chemische Energie des ATP unterlegten Bereiche symbolisieren höhere und niedrigere Protonen-
umzuwandeln. Chloroplasten wandeln durch die che- konzentrationen als Folge des Pumpens von Protonen. In lebenden Zellen
miosmotische Kopplung Lichtenergie in chemische ist jedoch die Ladungsdifferenz für die protonenmotorische Kraft bestim-
Energie des ATP um. mender als der tatsächliche Konzentrationsunterschied an Protonen.
Obwohl sich die räumliche Organisation der
chemiosmotischen Prozesse bei Chloroplasten und Die protonenmotorische Kraft über der Thylakoid-
Mitochondrien im Detail unterscheidet, ist die Ähn- membran ist von beträchtlicher Größe. Wenn isolierte
lichkeit beider Systeme klar erkennbar (Abbildung Chloroplasten im Experiment mit Licht bestrahlt wer-
10.16). In Mitochondrien werden Protonen aus der den, sinkt der pH-Wert im Thylakoidlumen bis auf ca.
mitochondrialen Matrix über die innere Mitochondri- 5 ab, die Protonenkonzentration steigt an. Im Stroma
enmembran in den Intermembranraum gepumpt. In dagegen steigt der pH-Wert bis auf etwa 8 an, die Proto-
Chloroplasten werden Protonen aus dem Stroma in nenkonzentration nimmt dort ab. Es gibt allerdings
das Thylakoidlumen (den Innenraum der Thylakoide) gute Belege dafür, dass in den Blättern einer lebenden
gepumpt. Wenn man sich vorstellt, wie sich die Pflanze, genau wie in den Mitochondrien, wohl die
Cristae (Einfaltungen der inneren Mitochondrien- elektrische Potenzialdifferenz entscheidend ist und
membran) von der inneren Membran abschnüren, so die vorhandene pH-Differenz eine eher untergeordnete
erkennt man, dass das Thylakoidlumen der Chloro- Rolle spielt. Ein ΔpH = 3 im Experiment entspricht
plasten dem Intermembranraum der Mitochondrien einem tausendfachen Konzentrationsunterschied. Wird
topologisch äquivalent ist. Die mitochondriale Matrix das Licht in diesem Experiment abgeschaltet, ver-
ist das topologische Äquivalent des Stromas in Chlo- schwindet bald danach die pH-Differenz. Sie baut sich

255
10 Photosynthese

H2O CO2

Licht
NADP+
ADP
Licht- Calvin-
reak- Zyklus
tionen
ATP
NADPH

Stroma
(geringe H+-Konzentration) O2 [CH2O] (Zucker) Ferredoxin-
Teil 2 NADP+-
Photosystem II Cytochrom- Photosystem I Oxidoreduktase
Komplex Licht
Licht 4 H+
Fd 3
NADP+ + H+

PQ NADPH

e– PC
e– 2
H2O
1 ½ O2
Thylakoidlumen 4 H+
(hohe H+-Konzentration) +2 H+

zum
Calvin-
Zyklus

Thylakoidmembran

ATP-Synthase
ADP
+ ATP
Stroma Pi +
(geringe H+-Konzentration) H

Abbildung 10.17: Lichtreaktionen und chemiosmotischer Prozess: die strukturelle Organisation der Thylakoidmembran. Das Schema
zeigt ein aktuelles Modell der Thylakoidmembran. Die goldfarbenen Pfeile zeichnen den linearen Elektronenfluss nach, der schon kurz in Abbildung 10.13
gezeigt wurde. Der Wechsel der Elektronen von einem Redoxpartner zum nächsten ist an das Pumpen von Protonen aus dem Stroma in das Thylakoidlu-
men gekoppelt. Dabei wird Energie in Form einer protonenmotorischen Kraft gespeichert. Wenigstens drei Schritte im Verlauf der Lichtreaktionen tragen
zum Aufbau dieser Kraft bei: 1 Wasser wird auf der dem Thylakoidlumen zugewandten Seite der Membran vom Photosystem II gespalten. 2 Bei der
Übertragung von Elektronen durch den mobilen Zwischenträger Plastochinon (PQ) werden Protonen aus dem Stroma aufgenommen, die bei der Weiter-
gabe der Elektronen von PQ auf den Cytochrom-Komplex in das Thylakoidlumen wieder abgegeben werden. 3 Bei der Reduktion von NADP+ wird
zusammen mit den beiden Elektronen ein Proton aus dem Stroma aufgenommen. Wie in Abbildung 10.16 gezeigt wird, werden also insgesamt Protonen
aus dem Stroma in das Thylakoidlumen gepumpt. Der Protonenfluss aus dem Thylakoidlumen zurück in das Stroma treibt die ATP-Synthase an. Diese
lichtgetriebenen Reaktionen führen zur Speicherung von chemischer Energie in Form von NADPH und ATP, die in den Calvin-Zyklus eingespeist werden.

jedoch schnell wieder auf, wenn das Licht wieder ein- Fassen wir die Lichtreaktionen zusammen: Elektronen
geschaltet wird. Experimente wie dieses untermauern werden durch die Aufnahme von Lichtenergie vom
den chemiosmotischen Mechanismus und haben sei- energiearmen, stabilen Wasser zum energiereicheren,
nerzeit zu seiner Akzeptanz stark beigetragen. weniger stabilen NADPH getrieben, wobei außerdem
Auf der Grundlage von Untersuchungen in mehreren ATP entsteht. Die Proteinkomplexe der Thylakoid-
Laboratorien wurde ein Modell der strukturellen membran wandeln also Lichtenergie in chemische
Organisation der an den Lichtreaktionen beteiligten Energie in Form von ATP und NADPH um, mit Sauer-
Proteinkomplexe in der Thylakoidmembran erstellt. stoff als Nebenprodukt. Als Nächstes wollen wir sehen,
Abbildung 10.17 fasst die gegenwärtigen Vorstellungen wie der Calvin-Zyklus die Produkte der Lichtreaktio-
zusammen. Alle gezeigten Moleküle und Molekülkom- nen verwertet, um Kohlendioxid in Kohlenhydrate ein-
plexe sind in vielfachen Kopien vorhanden. Beachten zubauen und so neue Zuckermoleküle zu bilden.
Sie, dass sowohl NADPH als auch ATP auf der dem
Stroma zugewandten Seite der Membran gebildet wer-
den, also dort, wo der Calvin-Zyklus abläuft und sie
benötigt werden.

256
10.3 Der Calvin-Zyklus benutzt ATP und NADPH, um CO2 in Zucker umzuwandeln

Phase 1: Kohlenstofffixierung. Im ersten Schritt


 Wiederholungsfragen 10.2 des Calvin-Zyklus wird jedes Kohlendioxid-
molekül einzeln durch Addition an eine Pentose,
1. Welche Lichtwellenlänge ist beim Betrieb der
den C5-Zucker Ribulose-1,5-Bisphosphat (RuBP)
Photosynthese am wenigsten wirksam? Erläu-
angelagert. Das Enzym, das diesen einleitenden
tern Sie Ihre Antwort.
Schritt katalysiert, heißt RubisCO (Ribulose-1,5-
2. Warum setzen intakte Chloroplasten im Ver- Bisphosphat-Carboxylase/Oxygenase). Dieses En-
gleich zu einer Chlorophylllösung weniger zym stellt in mehrfacher Hinsicht eine Besonder-
Wärme und Fluoreszenz frei, wenn sie mit heit dar. Es besitzt neben der hier angesproche-
Licht bestrahlt werden? nen Carboxylase-Aktivität eine weitere Aktivität,
Teil 2
nämlich die einer Oxygenase. Dies bedeutet, dass
3. Wie heißt der erste Elektronendonator der es außer CO2 auch O2 an Ribulose-1,5-bisphosphat
Lichtreaktionen? Wo landen die Elektronen anlagern kann. Der dabei entstehende C2-Körper,
schließlich? das Glykolat, wird im Zuge der Photorespiration
WAS WÄRE, WENN? Isolierte Chloroplasten kön-
weiter verstoffwechselt (Konzept 10.4). Um effek-
4.
tiver zu arbeiten, muss die RubisCO in ihrem ak-
nen in einer Lösung mit den notwendigen
tiven Zentrum noch eine Aktivierung erfahren,
chemischen Komponenten ATP synthetisieren.
die nur im Licht stattfindet. Die RubisCO ist das
Sagen Sie voraus, wie sich die Syntheserate
häufigste Protein in Chloroplasten und wahr-
ändern würde, wenn man die Membranen
scheinlich sogar das häufigste Protein auf der
der Organellen für Protonen frei durchlässig
Erde. Hier liegt der seltene Fall vor, dass das En-
machte.
zym in höherer Konzentration vorliegt als sein
Substrat, das CO2. Das Produkt der Additionsre-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
aktion ist ein C6-Intermediat, das so instabil ist,
dass es ohne weiteres Zutun sofort unter Bildung
von zwei Molekülen 3-Phosphoglycerat zerfällt.
Phase 2: Reduktion. Jedes einzelne 3-Phosphogly-
Der Calvin-Zyklus benutzt ceratmolekül wird durch ATP zum 1,3-Bisphos-
ATP und NADPH, um CO2 phoglycerat phosphoryliert. Dieses wird durch
in Zucker umzuwandeln
10.3 NADPH unter gleichzeitiger teilweiser Dephos-
phorylierung zu Glycerinaldehyd-3-Phosphat (G3P)
umgesetzt, indem die Carboxylgruppe am C-1 des
1,3-Bisphosphoglycerats zur Aldehydgruppe re-
Der Calvin-Zyklus führt, wie jeder Stoffwechselzyk- duziert wird. Bei G3P handelt es sich erstmals im
lus, am Ende zur Regeneration seiner Ausgangsverbin- Verlauf der CO2-Assimilation um einen Zucker,
dung (wir haben dieses Prinzip schon beim Citratzyk- nämlich eine Triose (ein C3-Zucker, der an seiner
lus kennen gelernt). Der Citratzyklus ist jedoch Teil dritten Position phosphoryliert vorliegt). Beach-
des Katabolismus; Acetyl-CoA wird unter Produktion ten Sie, dass in der Darstellung in Abbildung
von ATP/GTP, NADH und FADH2 zu CO2 oxidiert. 10.18 nach der Fixierung von drei Molekülen CO2
Dagegen ist der Calvin-Zyklus ein anaboler Prozess, in sechs Moleküle G3P entstehen. Nur eines dieser
dessen Verlauf unter Energieverbrauch Kohlenhydrat- C3-Zuckermoleküle stellt einen Nettogewinn an
moleküle aus CO2 aufgebaut werden. Anorganischer Kohlenhydrat für die Zelle dar. Der Zyklus hat mit
Kohlenstoff gelangt in Form von Kohlendioxidmole- 15 Kohlenstoffatomen in Form von drei C5-Mole-
külen in den Kreislauf und verlässt ihn in Form eines külen (RuBP) begonnen. Nun liegen 18 Kohlen-
Zuckermoleküls. Der Zyklus verbraucht ATP als Ener- stoffatome in Form von sechs Molekülen G3P vor.
giequelle und NADPH als Reduktionsmittel. Eines dieser Moleküle verlässt den Zyklus, um zum
Wie bereits angemerkt, ist das vom Calvin-Zyklus Beispiel in Stärke oder Saccharose umgewandelt zu
erzeugte Kohlenhydrat nicht die uns wohlvertraute werden. Die anderen fünf Moleküle müssen einge-
Glucose, sondern das Triosephosphat (ein C3-Kohlen- setzt werden, um drei RuBP-Moleküle zu regenerie-
hydrat) Glycerinaldehyd-3-Phosphat (G3P). Für die ren, die wieder als CO2-Akzeptor benötigt werden.
Synthese eines Moleküls G3P muss der Zyklus dreimal Phase 3: Regeneration des CO2-Akzeptors Ribu-
durchlaufen werden, jedes Mal unter Fixierung eines lose-1,5-Bisphosphat (RuBP). In einer verwickel-
weiteren CO2-Moleküls. Der Begriff Kohlenstofffixie- ten Folge von Reaktionen wird das Kohlenstoff-
rung bezieht sich auf eben diesen Einbau von Kohlendi- gerüst von fünf Molekülen G3P durch die beiden
oxid in eine schon vorliegende organische Verbindung. letzten Schritte des Calvin-Zyklus so umgelagert,
Wenn wir die Schritte des Zyklus nachzeichnen, wollen dass die drei Moleküle RuBP zurückgebildet wer-
wir im Gedächtnis behalten, dass drei Kohlendioxid- den. Um dies zu erreichen, verbraucht der Zyklus
moleküle diese Reaktionen durchlaufen. Abbildung drei weitere Moleküle ATP. Damit steht RuBP be-
10.18 unterteilt den Zyklus in drei Phasen: die Kohlen- reit, um wieder Kohlendioxid anzulagern, und der
stofffixierung, die Reduktion des Fixierungsprodukts Zyklus startet von Neuem.
und die Regeneration der Ausgangsverbindung.

257
10 Photosynthese

Für die Nettosynthese eines G3P-Moleküls verbraucht Glucose und anderer Kohlenhydrate. Weder die Licht-
der Calvin-Zyklus insgesamt neun Moleküle ATP und reaktionen noch der Calvin-Zyklus allein können aus
sechs Moleküle NADPH. Die Lichtreaktionen regene- Kohlendioxid Zucker erzeugen. Die Photosynthese ist
rieren ATP und NADPH. Das vom Calvin-Zyklus abge- ebenfalls ein Beispiel für Emergenz: hier die Eigen-
zweigte G3P ist Baustein für viele Stoffwechselwege, schaft ausschließlich von intakten Chloroplasten,
in denen Stärke, Saccharose und andere organische beide Teilschritte der Photosynthese miteinander zu
Verbindungen synthetisiert werden, einschließlich verknüpfen.

Teil 2 H2O CO2

Licht
NADP+ Eintrag
ADP
Licht- Calvin-
3 (eines nach dem anderen)
reak-
tionen
Zyklus CO2
ATP
NADPH
Phase 1: Kohlenstofffixierung
O2 [CH2O] (Zucker)
RubisCO
3 P P
instabiles
Intermediat
3P P 6 P
Ribulose-1,5-Bisphosphat 3-Phosphoglycerat
(RuBP) 6 ATP
2 Pi
6 ADP

3 ADP Calvin-Zyklus

3 6 P P
ATP
1,3-Bisphosphoglycerat
6 NADPH
Phase 3: Regeneration
des CO2-Akzeptors (RuBP) 6 NADP+
6 Pi
5 P
G3P 6 P
Glycerinaldehyd-3-Phosphat
(G3P)
Phase 2: Reduktion

1 P
G3P Hexosen und andere
(ein Zuckerphosphat) organische Verbindungen
Netto-Gewinn
Abbildung 10.18: Der Calvin-Zyklus. Dieses Schema verfolgt Kohlenstoffatome (graue Kugeln) durch den Zyklus. Die drei Phasen des Zyklus
entsprechen den im Text beschriebenen Phasen. Aus drei Molekülen CO2, die in den Zyklus einmünden, entsteht als Nettoprodukt ein Molekül Glycerin-
aldehyd-3-Phosphat (G3P), ein C3-Zucker. Die Lichtreaktionen halten den Calvin-Zyklus durch die kontinuierliche Anlieferung von ATP und NADPH
aufrecht.

258
10.4 In heißen, trockenen Klimazonen haben sich alternative Mechanismen der Kohlenstofffixierung herausgebildet

die Hauptwege der Transpiration, also der Verdun-


 Wiederholungsfragen 10.3 stung von Wasser. An heißen Tagen mit trockener Luft
schließen die meisten Pflanzen ihre Spaltöffnungen,
1. Um ein Molekül Glucose zu synthetisieren,
eine Reaktion, durch die der Wasserverlust stark einge-
verbraucht der Calvin-Zyklus _____ Moleküle
schränkt wird. Dadurch wird aber gleichzeitig auch die
CO2, ________ Moleküle ATP und ________
Photosyntheserate durch Begrenzung der CO2-Auf-
Moleküle NADPH. nahme vermindert. Selbst wenn die Spaltöffnungen
2. Erläutern Sie, warum die hohe Zahl an ATP- teilweise geschlossen werden, nimmt der CO2-Partial-
und NADPH-Molekülen, die im Verlauf des druck in den luftgefüllten Interzellularen im Blatt ab,
Calvin-Zyklus verbraucht werden, im Ein- während zur selben Zeit der Partialdruck des durch
Teil 2
klang mit dem hohen Wert stehen, den Glu- die Lichtreaktionen freigesetzten Sauerstoffs ansteigt.
cose als Energiequelle besitzt. Diese physiologischen Bedingungen im Blattinneren
begünstigen einen jedoch nur scheinbar nutzlosen
3. WAS WÄRE, WENN? Erklären Sie, warum ein Prozess, die Lichtatmung (Photorespiration).
Gift, das ein Enzym im Calvin-Zyklus hemmt,
auch die Lichtreaktionen beeinträchtigt.
10.4.1 Die Photorespiration: Ein Über-
4. ZEICHENÜBUNG Fertigen Sie eine Zeichnung bleibsel der Evolution?
des in Abbildung 10.18 dargestellten Zyklus
an, indem Sie statt der grauen Kugeln die In den meisten Pflanzenarten verläuft die Fixierung
Anzahl der C-Atome einsetzen und dabei die des Kohlenstoffs über die RubisCO, das Calvin-Zyk-
Mulitiplikationen ausführen, um sicherzustel- lus-Enzym, das die Addition von CO2 an Ribulose-1,5-
len, dass dieselbe Anzahl an C-Atomen dem Bisphosphat katalysiert (Konzept 10.3). Derartige
Zyklus entnommen wird, die eingefüttert wird. Pflanzen werden allgemein als C3-Pflanzen bezeich-
net, weil das erste fassbare Produkt der Kohlenstoff-
5. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Vergleichen Sie die fixierung eine Verbindung mit 3 C-Atomen ist, näm-
Abbildungen 9.9 und 10.18 miteinander. Disku- lich das 3-Phosphoglycerat (Abbildung 10.18). Reis,
tieren Sie die Rolle von Glycerinaldehyd-3- Weizen und die Sojabohne sind C3-Pflanzen von
Phosphat (G3P) als Zwischen- bzw. Endprodukt großer landwirtschaftlicher Bedeutung. Wenn die
in den beiden abgebildeten Stoffwechselwegen. Spaltöffnungen dieser Pflanzen an heißen, trockenen
Tagen nur teilweise geöffnet sind, produzieren solche
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. C3-Pflanzen weniger Zucker, weil durch den geringe-
ren Kohlendioxidpartialdruck im Blattgewebe die
Rate der CO2-Fixierung durch RubisCO sinkt. Dazu
kommt, dass die RubisCO nicht nur CO2, sondern
In heißen, trockenen Klimazonen auch O2 binden kann. Wenn das Blattgewebe an
haben sich entwicklungsgeschichtlich Kohlendioxid verarmt, bindet das Enzym stattdessen
vermehrt Sauerstoffmoleküle. Nach dieser Addition
alternative Mechanismen entstehen allerdings jetzt nicht zwei Moleküle 3-Phos-
der Kohlenstofffixierung phoglycerat, sondern nur noch ein Molekül 3-Phos-
herausgebildet
10.4 phoglycerat und ein Molekül 2-Phosphoglykolat, eine
C2-Verbindung. Da Glykolat toxisch ist, wird dieses
Produkt der Photorespiration in zahlreichen weiteren
Schritten entweder zu Glycin und Serin umgesetzt
EVOLUTION Seit die Pflanzen vor ungefähr 475 Millio- oder vollends zu CO2 oxidiert. Diese Schritte erfolgen
nen Jahren zum ersten Mal begannen, festes Land zu in Blattperoxisomen und Mitochondrien. Der gesamte
besiedeln, mussten sie sich mit den Problemen der Vorgang heißt Lichtatmung oder Photorespiration,
terrestrischen Lebensweise auseinandersetzen und weil RubisCO nur unter Lichteinstrahlung aktiv ist
haben sich immer weiter daran angepasst. Ein großes und weil unter Sauerstoffverbrauch Kohlendioxid
Problem für Landpflanzen stellt die Austrocknungs- produziert wird (Respiration). Anders als bei der nor-
gefahr dar. In den Kapiteln 29 und 36 werden wir die malen Zellatmung (Dunkelatmung), mit der wir aus
anatomischen Anpassungen betrachten, die die Pflan- den vorangegangenen Kapiteln vertraut sind, kommt
zen vor unkontrolliertem Wasserverlust schützen. An es bei der Lichtatmung nicht zur Synthese von ATP.
dieser Stelle sollen uns metabolische Anpassungen Tatsächlich geht sie mit einem Verbrauch von ATP
beschäftigen, die oft Kompromisse erfordern. Ein einher. Anders als bei der Photosynthese kommt es bei
wichtiges Beispiel dafür ist die Verhinderung des mit der Lichtatmung auch nicht zur Fixierung von Koh-
der Photosynthese einhergehenden übermäßigen lenstoff. Tatsächlich führt sie sogar zu einer Verminde-
Wasserverlustes durch die Pflanze. Das für die Photo- rung der photosynthetischen Effektivität, weil organi-
synthese erforderliche Kohlendioxid gelangt durch die sche Substanz aus dem Calvin-Zyklus abfließt und
Spaltöffnungen der Blätter in die Pflanze (Abbildung bereits fixierter Kohlenstoff als CO2 freigesetzt wird.
10.3). Die Spaltöffnungen sind aber gleichzeitig auch Wenn dieses CO2 im Blatt verbleibt und seine Konzen-

259
10 Photosynthese

tration ausreicht, wird es auch wieder fixiert. Dieser 10.4.2 C4-Pflanzen


Prozess ist jedoch hinsichtlich der Energieeffizienz
teuer, und ähnelt eher der Situation eines Hamsters, Die C4-Pflanzen verdanken diese Bezeichnung dem
der in seinem Rad läuft. Umstand, dass bei ihnen als erstes stabiles Produkt
Wie lässt sich die Existenz eines Stoffwechselpro- der Kohlenstofffixierung eine C4-Verbindung auftritt.
zesses erklären, der für die Pflanze kontraproduktiv zu Man kennt mehrere tausend Pflanzenarten, die in
sein scheint? Bei der Photorespiration könnte es sich mindestens 19 taxonomische Familien fallen, die sich
um eine entwicklungsgeschichtliche Hinterlassen- des C4-Stoffwechsels bedienen. Zu den für die Land-
schaft handeln, ein metabolisches Relikt aus einer wirtschaft bedeutsamen Pflanzen mit C4-Stoffwechsel
sehr viel früheren Zeit, als die Atmosphäre wenig gehören das Zuckerrohr (Saccharum officinarum), der
Teil 2
Sauerstoff, aber dafür mehr Kohlendioxid enthielt als Mais (Zea mays) und diverse Hirsearten, die alle zur
heute. In der Uratmosphäre, in der sich die RubisCO Familie der Gräser (Poaceae) gehören und in heißen
entwickelte, wäre die Unfähigkeit des Enzyms, mole- Regionen beheimatet sind.
kularen Sauerstoff (O2) aus ihrem aktiven Zentrum Der C4-Stoffwechsel dieser Pflanzen ist mit ihrer cha-
auszuschließen, wenig bedeutungsvoll gewesen. Die rakteristischen Blattanatomie verbunden (Abbildung
Hypothese nimmt an, dass die moderne Form des 10.19, vergleiche mit Abbildung 10.3). In C4-Pflanzen
Enzyms diese zufällig entstandene Bindungsaffinität gibt es zwei unter dem Mikroskop unterscheidbare
für O2-Moleküle beibehalten hat. Infolge des deutlich Typen photosynthetisch aktiver Zellen: Bündelschei-
gewachsenen Anteils an Sauerstoff in der heutigen denzellen und Mesophyllzellen. Die Bündelscheiden-
Atmosphäre ist ein Verlust durch Photorespiration zellen sind als dicht gepackte Lage angeordnet, die die
unvermeidlich. Es ist auch denkbar, dass die Unter- Blattadern als Leitbündelscheiden umschließen. Zwi-
scheidung der beiden gasförmigen Substrate, CO2 und schen den Bündelscheiden und den Blattoberflächen
O2, durch das aktive Zentrum eines Enzyms außer- liegt das lockerer gepackte Mesophyllgewebe. Der
ordentlich schwierig zu bewerkstelligen oder sogar Calvin-Zyklus ist auf die Chloroplasten der Bündel-
unmöglich ist, so dass eine absolute Spezifität, auch scheidenzellen beschränkt. Dem Calvin-Zyklus geht
während langer Zeiten der Evolution, gar nicht jedoch der Einbau des Kohlendioxids in eine organi-
erreichbar ist. sche Verbindung in den Mesophyllzellen voraus, die
Man weiß, dass die Photorespiration, zumindest in zur Bildung des C4-Körpers Malat (Anion der Äpfel-
einigen Fällen, auch eine Schutzfunktion hat. Mutan- säure) führt. Malat ist eine stabile, transportierbare
ten mit Defekten in Genen, die für die Lichtatmung Form für CO2, das letztlich in den Bündelscheiden-
der Pflanzen verantwortlich sind, sind empfindlicher zellen wieder freigesetzt und assimiliert werden kann
gegenüber Schädigungen, die durch zu starke Licht- (nummerierte Schritte in Abbildung 10.19). 1 Der erste
einstrahlung verursacht werden. Die Forscher werten Schritt wird von einem Enzym katalysiert, das im Cyto-
dies als Beleg dafür, dass die Lichtatmung eine Rolle sol von Mesophyllzellen vorkommt, der Phosphoenol-
bei der Neutralisierung schädlicher Nebenprodukte pyruvat-Carboxylase (PEP-Carboxylase). Sie knüpft
der photosynthetischen Lichtreaktionen spielt, die ein CO2-Molekül an Phosphoenolpyruvat (PEP). Als
sich ansammeln, wenn ein zu niedriger CO2-Partial- Produkt entsteht die vier Kohlenstoffatome ent-
druck den Durchsatz durch den Calvin-Zyklus haltende Verbindung Oxalacetat. Die PEP-Carboxylase
begrenzt. Diese Hypothese ist sicher der anfangs hat eine viel höhere Bindungsaffinität für CO2 als die
erwähnten überlegen. Ob außerdem noch andere RubisCO, aber ihr fehlt jegliche Affinität für O2-Mole-
Nutzwirkungen der Photorespiration existieren, ist küle. Die PEP-Carboxylase kann also auch dann effizi-
unbekannt. In vielen Pflanzen, einschließlich einer ent Kohlenstoff fixieren, wenn dies der RubisCO nicht
beträchtlichen Anzahl von Nutzpflanzen, kommt es mehr möglich wäre, also wenn es heiß und trocken ist,
durch die Lichtatmung zu bis zu 50 Prozent Einbuße die Spaltöffnungen teilweise geschlossen sind und der
an potenziell fixiertem Kohlenstoff. Bei der Bewälti- Kohlendioxid-Partialdruck im Blattinneren fällt und
gung von Stresssituationen ist dieser Prozess jedoch der des Sauerstoffs im Gegenzug ansteigt. 2 Das insta-
möglicherweise unabdingbar, da dadurch aufgenom- bile Oxalacetat wird zu Malat reduziert. Diese C4-Ver-
mene Lichtenergie schadlos abgeleitet werden kann, bindung wird über die Plasmodesmen aus den Meso-
ohne dass es in den Lichtreaktionen zur Bildung von phyllzellen in die Bündelscheidenzellen transportiert
angeregten Zuständen und Radikalen kommt. (siehe Abbildung 6.29). 3 In den Bündelscheidenzel-
In manchen Pflanzenfamilien haben sich alternative len wird aus der C4-Verbindung CO2 freigesetzt, das
Wege der Kohlenstofffixierung entwickelt, die die Ver- über die RubisCO fixiert und im Calvin-Zyklus assimi-
luste durch Lichtatmung minimieren und den Calvin- liert wird. Dabei entsteht außerdem Pyruvat, das in die
Zyklus optimieren, und das selbst – oder gerade – in Mesophyllzellen zurücktransportiert wird. Dort wird
heißen, trockenen Klimazonen. Die beiden bedeu- es unter relativ hohem Aufwand an ATP-Verbrauch in
tendsten photosynthetischen Anpassungen sind die Phosphoenolpyruvat überführt, so dass der Reaktions-
C4-Photosynthese und der Crassulaceen-Säure-Meta- zyklus erneut beginnen kann. Das hier verbrauchte
bolismus (CAM, engl. crassulacean acid metabolism). ATP ist der Preis, den die Pflanze für das Konzentrie-

260
10.4 In heißen, trockenen Klimazonen haben sich alternative Mechanismen der Kohlenstofffixierung herausgebildet

Mesophyllzelle
photosynthe- Mesophyllzelle CO2
PEP-Carboxylase
tisch aktive
Bündel- Der C4-Stoffwechselweg
Zellen im Blatt
einer C4-Pflanze scheiden- 1 In den Mesophyll-
zelle zellen führt das Enzym
Oxalacetat (4C) PEP (3C) PEP-Carboxylase die
ADP Addition von Kohlen-
Blattader
dioxid an Phospho-
(Leitgewebe) Malat (4C) ATP enolpyruvat (PEP) durch.
Anatomie eines C4-Blattes
2 Eine Verbindung mit
Pyruvat (3C) vier Kohlenstoffatomen
Teil 2
transportiert die Atome
CO2 des fixierten CO2-Mole-
Bündel- küls in die Bündelschei-
Spaltöffnung denzelle (über Plasmo-
(Stoma) scheiden- Calvin-
zelle desmen).
Zyklus
3 In den Bündelschei-
denzellen wird das CO2
Abbildung 10.19: Blattanatomie von C4-Pflanzen und der C4-Stoff- Zucker wieder freigesetzt und
wechselweg. Der Aufbau und die biochemischen Funktionen der Blätter von in den Calvin-Zyklus
C4-Pflanzen sind eine Anpassung an heiße, trockene Klimabedingungen. Bei die- eingeschleust.
ser Anpassung wird in den Bündelscheidenzellen ein Kohlendioxid-Partialdruck Leitgewebe
aufrecht erhalten, der die Photosynthese gegenüber der konkurrierenden Photo-
respiration begünstigt.

ren des fixierten Kohlenstoffs in den Bündelscheiden- lichen Temperatur auf der Erde, hat möglicherweise
zellen bezahlt. Die Bündelscheidenzellen führen wei- weitreichende Folgen für die Pflanzen. Die Wissen-
testgehend nur zyklischen Elektronentransport durch, schaftler befürchten, dass sich die ansteigende CO2-
der weiter oben in diesem Kapitel beschrieben wurde Konzentration in der Atmosphäre unterschiedlich auf
(Abbildung 10.15). Tatsächlich enthalten diese Zellen C3- und auf C4-Pflanzen auswirken könnte und
nur Photosystem I und kaum Photosystem II, so dass dadurch die relative Häufigkeit ihres Vorkommens in
der zyklische Elektronenfluss der einzige Modus zur bestimmten Vegetationsgemeinschaften verändert.
Erzeugung von ATP in diesen Zellen ist und kein Welcher Pflanzentyp würde stärker von den steigen-
Sauerstoff durch Wasseroxidation entsteht. Dies wirkt den CO2-Konzentrationen profitieren? Erinnern Sie
sich vorteilhaft auf die Fixierung von CO2 gegenüber sich daran, dass in C3-Pflanzen das Binden von O2
O2 durch die RubisCO aus. anstelle von CO2 zur Photorespiration führt und
C4-Pflanzen befördern also mit diesem Mechanismus dadurch die Effizienz der Photosynthese senkt. C4-
sehr effizient Kohlendioxid in die Bündelscheiden- Pflanzen überwinden dieses Problem, indem sie CO2
zellen und halten dadurch den Partialdruck des Gases unter Verbrauch von ATP in den Bündelscheidenzellen
dort so hoch, dass die RubisCO CO2 statt O2 an Ribu- konzentrieren. Erhöhte CO2-Konzentrationen sollten
lose-1,5-Bisphosphat addiert. Die zyklische Abfolge sich positiv auf C3-Pflanzen auswirken, weil damit der
von Reaktionen, bestehend aus der Reaktion der PEP- Anteil der Photorespiration gesenkt werden sollte.
Carboxylase, der Reduktion des Fixierungsprodukts zu Gleichzeitig haben aber steigende Temperaturen einen
Malat, der CO2-Freisetzung und der PEP-Regeneration, gegenteiligen Effekt, indem sie die Photorespiration
kann man sich als eine Kohlendioxid konzentrierende erhöhen. (Andere Faktoren wie Wassermangel können
Pumpe vorstellen, die von ATP angetrieben wird. ebenfalls hinzukommen.) Dagegen blieben C4-Pflanzen
Dadurch wird in der C4-Photosynthese die Licht- durch erhöhte CO2-Konzentrationen oder Temperatu-
atmung minimiert und die Zuckerproduktion durch ren weitgehend unberührt. Wissenschaftler haben diese
die Pflanze erhöht. Diese Anpassung ist in heißen Frage unter verschiedenen Aspekten untersucht; Sie
Gegenden mit intensiver Sonneneinstrahlung (Bedin- können die Ergebnisse aus einem dieser Experimente
gungen, die zu teilweise geschlossenen Spaltöffnungen in der Wissenschaftlichen Übung nachvollziehen. In
führen) besonders vorteilhaft. In solchen Umgebungen verschiedenen Regionen wird eine jeweils spezielle
haben sich die C4-Pflanzen herausgebildet und dort Kombination von CO2-Konzentration und Temperatur
gedeihen sie auch heute noch. das Gleichgewicht zwischen C3- und C4-Pflanzen in
Seit dem Beginn der Industrialisierung um 1800 hat unterschiedlicher Weise beeinflussen. Die globalen
der CO2-Gehalt in der Atmosphäre stark zugenommen Auswirkungen von solchen großflächigen Änderungen
und er steigt auch heute auf Grund der menschlichen der Zusammensetzung der Pflanzengesellschaften sind
Aktivitäten, wie der Verbrennung fossiler Brennstoffe, nicht vorhersehbar und geben Anlass zu berechtigter
weiter an. Der daraus resultierende globale Klima- Besorgnis.
wandel, einschließlich der Erhöhung der durchschnitt-

261
10 Photosynthese

 Wissenschaftliche Übung

Erstellen eines Punktediagramms mit


Regressionsgerade

Beeinflusst die CO2-Konzentration der Atmosphäre


den Ertrag einer angebauten Nutzpflanze? Die
CO2-Konzentration der Atmosphäre ist global ange-
stiegen, und die Wissenschaftler haben sich gefragt,
Teil 2 ob dies unterschiedliche Auswirkungen auf C3- und
C4-Pflanzen hat. In dieser Übung erstellen Sie ein
Punktediagramm, um die Beziehung zwischen CO2-
Konzentration und Wachstum von Mais (Zea mays),
einer C4-Pflanze, und der sich als Unkraut in Mais-
kulturen ausbreitenden Samtpappel (Abutilon theo-
phrasti; eine C3-Pflanze) zu analysieren.

Durchführung des Experiments Die Wissenschaft-


ler haben Mais und Samtpappel 45 Tage unter kon-
trollierten Bedingungen kultiviert, wobei alle
Pflanzen die gleichen Mengen an Wasser und Licht
erhielten. Die Pflanzen wurden in drei Gruppen
aufgeteilt; jede wurde einer anderen atmosphäri- 2. Zeichnen Sie eine Ausgleichsgerade durch die
schen CO2-Konzentration ausgesetzt: 350, 600 und Werte aus den beiden Datensätzen. Eine Aus-
1.000 ppm (parts per million, Promille). gleichsgerade verläuft nicht unbedingt durch
die einzelnen Punkte hindurch. Es ist vielmehr
Experimentelle Daten Die Tabelle zeigt das Tro- eine Gerade, die möglichst nah an allen Punk-
ckengewicht (in Gramm) von Mais und Samtpap- ten eines Datensatzes vorbei verläuft. Zeichnen
pel, die unter den drei verschiedenen CO2-Konzen- Sie jeweils die am besten passende Ausgleichs-
trationen gewachsen waren. Das Trockengewicht gerade für beide Datensätze. Da dies nach indi-
wurde als durchschnittlicher Wert aus Blättern, viduellem Empfinden geschieht, können zwei
Stängeln und Wurzeln von je 8 Pflanzen ermittelt. unterschiedliche Personen durchaus etwas un-
terschiedliche Ausgleichsgeraden in denselben
350 ppm 600 ppm 1000 ppm Datensatz legen. Die Linie, die tatsächlich am
CO2 CO2 CO2 besten passt, kann ermittelt werden, indem
man die Abstände aller Punkte zu der betref-
Durchschnitt- 91 89 80
fenden Linie ins Quadrat setzt und dann den
liches Trocken-
gewicht Mais-
kleinsten Wert für die Summe der Quadrate er-
pflanze (g) mittelt. (Siehe auch das Beispiel einer linearen
Regressionsgerade in der Wissenschaftlichen
Durchschnitt- 35 48 54 Übung in Kapitel 3.) Mit Excel oder einem an-
liches Trocken- deren Programm, einschließlich eines Rech-
gewicht Samt- ners mit Graphenfunktion, kann die Regres-
pappel (g) sionsgerade ermittelt werden, nachdem man
die Werte eingegeben hat. Geben Sie die Werte
Datenauswertung ein und erstellen Sie mithilfe von Excel oder
einem entsprechenden anderen Programm die
1. Um die Beziehung zwischen den beiden Varia- Regressionsgeraden. Vergleichen Sie diese mit
blen zu ermitteln, ist es nützlich, die Daten in den von Ihnen gelegten Geraden.
einem Punktediagramm darzustellen und dann
eine Regressionsgerade hindurch zu legen. (a) 3. Beschreiben Sie die Tendenz der Regressions-
Zuerst beschriften Sie die abhängigen und die geraden in Ihrem Punktediagramm. (a) Ver-
unabhängigen Variablen auf den entsprechen- gleichen Sie die Beziehung zwischen CO2-
den Achsen. Erklären Sie Ihre Wahl. (b) Nun Konzentration und Trockengewicht bei Mais
tragen Sie die Werte für Mais und Samtpappel mit derjenigen bei der Samtpappel. (b) Wenn
für jeden Datensatz ein, indem Sie verschie- Sie berücksichtigen, dass es sich bei der Samt-
dene Symbole benutzen und deren Definition pappel um ein Unkraut in Maiskulturen han-
als Legende hinzufügen. delt, können Sie vorhersagen, was eine erhöhte

262
10.4 In heißen, trockenen Klimazonen haben sich alternative Mechanismen der Kohlenstofffixierung herausgebildet

CO2-Konzentration für das Verhältnis zwischen den sich das Trockengewicht beim Anstieg der
den beiden Arten bedeuten würde. CO2-Konzentration auf 800 ppm bei Mais und
bei der Samtpappel erhöht:
4. Ausgehend von den Daten auf dem Punkte- (TG800 – TG390)/TG390 × 100
diagramm können Sie nun abschätzen, um
wieviel Prozent das Trockengewicht von Mais (d) Unterstützen diese Ergebnisse die Schluss-
und Samtpappel sich ändern würde, wenn die folgerungen aus anderen Experimenten, dass
CO2-Konzentration von 390 ppm (aktueller C3-Pflanzen bei erhöhtem CO2 besser wachsen
Wert) auf 800 ppm ansteigt. (a) Welchen Wert als C4-Pflanzen? Warum oder warum nicht?
hat das geschätzte Trockengewicht von Mais Teil 2
und Samtpappel bei 390 ppm? (b) Berechnen Daten aus: D. T. Patterson and E. P. Flint, Potential effect of global
Sie nun durch Subtraktion den Prozentsatz, um atmospheric CO2 enrichment on the growth and competitiveness of
C3 and C4 weed and crop plants, Weed Science 28:71–75 (1980).

10.4.3 CAM-Pflanzen lagerung zu einer deutlichen Ansäuerung des Zell-


saftes führt, die im Laufe des Tages wieder abnimmt,
Eine zweite photosynthetische Anpassung an aride spricht man auch vom diurnalen Säurerhythmus. Für
Bedingungen hat sich bei zahlreichen sukkulenten alle Pflanzenarten, CAM-, C4- und C3-Pflanzen, gilt
(wasserspeichernden) Pflanzen entwickelt (Kakteen, ausnahmslos, dass nur im Calvin-Zyklus neue Zucker-
Ananas sowie andere Bromeliengewächse und weitere moleküle mithilfe des fixierten Kohlendioxids synthe-
Vertreter vieler anderer Pflanzenfamilien). Diese Pflan- tisiert werden können.
zen öffnen ihre Spaltöffnungen nachts und halten sie
tagsüber geschlossen. Dieses Verhalten ist dem anderer
Pflanzen gerade entgegengesetzt. Das Verschließen der
Spaltöffnungen tagsüber hilft den Pflanzen, Wasserver-
lust zu vermeiden, verhindert aber gleichzeitig auch
den Einstrom von CO2 in den Pflanzenkörper. In der
Nacht, wenn die Spaltöffnungen der CAM-Pflanzen
geöffnet sind, nehmen sie Kohlendioxid auf und bauen
es in eine Reihe organischer Säuren (Carbonsäuren)
ein. Diese Form der Kohlenstofffixierung wird als
Crassulaceen-Säurestoffwechsel bezeichnet und mit
CAM (engl. Crassulacean acid metabolism) abgekürzt. Zuckerrohr Ananas
Namensgebend war die Familie der Dickblattgewächse C4 CAM
(Crassulaceae), bei der dieser Mechanismus zum ersten 1 1
CO2 CO2
Mal entdeckt wurde. Er kommt jedoch auch bei etwa
zwei Dutzend anderer Pflanzenfamilien ebenfalls vor. Mesophyll- Carbonsäure Carbonsäure in der
Die Mesophyllzellen von CAM-Pflanzen speichern die zelle Nacht
organische Säure Äpfelsäure, einen C4-Körper, der
nachts als primäres Fixierungsprodukt erzeugt wird.
CO2 2 CO2 2
Tagsüber werden die Spaltöffnungen geschlossen und
Bündel-
CO2 wird aus den in der Nacht gebildeten Carbon- scheiden- am Tag
Calvin- Calvin-
säuremolekülen freigesetzt und in den Chloroplasten zelle
Zyklus Zyklus
im Calvin-Zyklus assimiliert. Die Synthese der Koh-
lenhydrate nach der CO2-Fixierung durch RubisCO
Zuckermolekül Zuckermolekül
hängt in jedem Fall von den Produkten der Lichtreak-
tionen, ATP und NADPH, ab und kann daher nur tags-
(a) Räumliche Trennung der (b) Zeitliche Trennung der
über ablaufen. Schritte. In C4-Pflanzen voll- Schritte. In CAM-Pflanzen
Wie man in Abbildung 10.20 sehen kann, gleicht ziehen sich die Kohlenstoff- laufen die Kohlenstofffixierung
der CAM-Stoffwechsel dem C4-Stoffwechsel dahinge- fixierung und der Calvin-Zyklus und der Calvin-Zyklus in den-
in unterschiedlichen Zelltypen. selben Zellen zu unterschied-
hend, dass bei der Kohlendioxidfixierung zunächst lichen Zeiten ab.
ein Intermediat mit vier Kohlenstoffatomen gebildet
wird, bevor der fixierte Kohlenstoff an den Calvin- Abbildung 10.20: Die C4- und die CAM-Photosynthese im Ver-
gleich. Beide Anpassungen sind geprägt durch 1 die vorübergehende
Zyklus weitergereicht wird. Der Unterschied der bei-
Fixierung von CO2 durch Bildung von Carbonsäuren, gefolgt von 2 der Frei-
den Mechanismen besteht darin, dass in C4-Pflanzen setzung des CO2 und dem Einbau in Kohlenhydrate mithilfe des Calvin-Zyk-
die Kohlenstofffixierung durch die PEP-Carboxylase lus. Der C4- und der CAM-Mechanismus sind zwei entwicklungsgeschichtli-
vom Calvin-Zyklus räumlich getrennt ist, während die che Lösungen des Problems, Photosynthese und CO2-Assimilation bei
beiden Vorgänge in CAM-Pflanzen zeitlich getrennt in teilweise oder vollständig geschlossenen Spaltöffnungen an heißen, trocke-
derselben Zelle ablaufen. Da die nächtliche Säureein- nen Tagen dennoch weiterlaufen zu lassen.

263
10 Photosynthese

fähr die Hälfte der durch die Photosynthese gebildeten


 Wiederholungsfragen 10.4 organischen Substanz wird als Betriebsstoff für die
Zellatmung im mitochondrialen Stoffwechsel wieder
1. Erläutern Sie, warum die Photorespiration die
verbraucht. Manchmal kommt es zusätzlich zu einer
photosynthetische Ausbeute einer Pflanze ver-
Minderung der photosynthetischen Produktion durch
mindert.
Lichtatmung (Photorespiration).
2. Das Vorhandensein von nur Photosystem I, Im strengen Sinn sind nur die grünen, Chloro-
nicht aber von Photosystem II, in den Bündel- plasten enthaltenden Zellen einer Pflanze autotroph.
scheidenzellen von C4-Pflanzen wirkt sich auf Der Rest des Pflanzenkörpers ist abhängig von organi-
den Sauerstoff-Partialdruck aus. Worin besteht schen Verbindungen, die über die Blattadern aus den
Teil 2
diese Wirkung, und wie profitiert die Pflanze Blättern herangeführt werden, also heterotroph. In
davon? den meisten Pflanzen wird im Phloem das gebildete
Kohlenhydrat als Assimilat in Form des Disaccharids
3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Beziehen Sie sich
Saccharose (Rohrzucker), das sich aus Glucose und
auf die Diskussion zur Ansäuerung der Meere Fructose zusammensetzt, aus den Blättern exportiert.
in Konzept 3.3. Die Ansäuerung der Meere In nichtgrünen, heterotrophen Geweben wird Saccha-
und die Verschiebung in der Verteilung von rose für die Zellatmung und eine Vielzahl anaboler
C3- und C4-Pflanzen mögen zunächst als zwei Stoffwechselwege benötigt, mit deren Hilfe Amino-
verschiedene Probleme erscheinen, aber was säuren, Lipide und alle anderen organischen Zellbe-
haben Sie gemein? Erläutern Sie dies. standteile gebildet werden. Ein beträchtlicher Anteil
4. WAS WÄRE, WENN? Was erwarten Sie hinsicht- des als Glucose vorliegenden Kohlenhydrates wird
lich der relativen Häufigkeit von C3- gegenüber zur Bildung von Cellulose verbraucht, vor allem bei
C4- und CAM-Pflanzenarten in einem gegebe- Pflanzen, die sich noch im Wachstumsprozess befin-
nen geografischen Areal, wenn sich das lokale den. Cellulose ist als Hauptbestandteil der Zellwände
Klima dort zu wärmeren und trockeneren die häufigste organische Verbindung einer Pflanze,
Bedingungen hin verändert, die CO2-Konzen- und damit wahrscheinlich sogar die häufigste organi-
trationen aber gleich bleiben? sche Verbindung auf der gesamten Erdoberfläche.
Die meisten Pflanzen erzeugen pro Tag mehr organi-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. sche Substanz, als sie als Vorstufen für Biosynthesen
und als Energieträger unmittelbar benötigen. Über-
schüssiger Zucker wird daher als Stärke gespeichert.
Ein Teil davon wird in den Chloroplasten selbst als
10.4.4 Die Bedeutung der Photosynthese: transitorische Stärke abgelagert, weitere Anteile in den
Zellen von Wurzeln, Knollen, Samen und Früchten als
Eine Rückschau Depotstärke. Als Langzeitspeicher eignen sich außer
In diesem Kapitel haben wir die Photosynthese vom Stärke auch Fette und Proteine. Die speichernden
auftreffenden Lichtquant bis zum Endprodukt ver- Pflanzenorgane überdauern für aktives Wachstum
folgt. In den Lichtreaktionen wird Lichtenergie ungünstige Perioden und stellen den neu austreibenden
verwendet, um ATP zu synthetisieren und NADP+ mit jungen Pflanzen oder Pflanzenteilen sowohl Energie als
Elektronen, die letztlich aus dem Wasser stammen, zu auch Baustoffe zur Verfügung, bis diese wiederum
NADPH zu reduzieren. Der Calvin-Zyklus benötigt selbst ergrünen und photosynthetisch aktiv sind. Dann
ATP und NADPH zur Synthese von Zuckermolekülen können diese neugebildeten Gewebe auch wieder posi-
aus Kohlendioxid. Die Energie, die in Form von Licht tiv zur Nettoproduktion beitragen.
in die Chloroplasten gelangt, wird als chemische Es ist naheliegend, dass diese als Speicher dienen-
Energie in Form von organischen Kohlenstoffverbin- den Pflanzenteile auch für die ausschließlich
dungen gespeichert. Abbildung 10.21 fasst den heterotroph lebenden Tiere einschließlich des Men-
Gesamtprozess zusammen und stellt die Photosyn- schen attraktiv und wertvoll sind. Fraßschäden sind
these in ihren natürlichen Bezug. daher ein nicht zu unterschätzender Faktor beim
Wie sieht nun das weitere Schicksal der Photosyn- Anbau und bei der Lagerung von Nahrungspflanzen.
theseprodukte aus? Der in den Chloroplasten gebildete Wildpflanzen sind in der Regel durch Einlagerung von
Zucker versorgt die gesamte Pflanze mit (chemischer) giftigen oder für den Pflanzenfresser unangenehmen,
Energie und Kohlenstoffskeletten für die Synthese der den Fraß vereitelnden Stoffen geschützt (siehe Kapitel
von der Pflanze selbst gebildeten Verbindungen. Unge- 39). Bei kultivierten Pflanzen sind diese Eigenschaften

264
10.4 In heißen, trockenen Klimazonen haben sich alternative Mechanismen der Kohlenstofffixierung herausgebildet

durch Züchtung beseitigt worden, was häufig den mäßigen Ausbeute mit der Photosynthese aufnehmen,
Einsatz von Pestiziden in Kulturen zur Folge hat, um und sie ist für das gesamte Leben auf der Erde von grö-
ausreichende Erträge zu gewährleisten. ßerer Bedeutung als jeder andere biologische Prozess.
Auf globaler Ebene ist die Photosynthese derjenige In den Kapiteln 5 bis 10 haben Sie sehr viel über die
Prozess, der für das Vorhandensein des Sauerstoffs in zellulären Aktivitäten erfahren. In Abbildung 10.22
der Atmosphäre der Erde verantwortlich ist. Neben der werden all diese Prozesse in den Zusammenhang
Sauerstoffproduktion ist die kollektive Produktivität einer arbeitenden Zelle gestellt. Schauen Sie sich die
der unzähligen winzigen Chloroplasten in Bezug auf Abbildung genau an und versuchen Sie sich vorzustel-
die Biomasseproduktion gewaltig: Die Photosynthese len, wie jeder dieser Prozesse in das Gesamtbild passt:
führt zur Bildung von geschätzten 150 Milliarden Ton- Als kleinste funktionierende Einheit eines lebenden
Teil 2
nen Kohlenhydrat pro Jahr. Kein anderer Vorgang auf Organismus ist die Zelle der Ort, wo alle Funktionen
unserem Planeten kann es hinsichtlich der mengen- ablaufen, die Leben umfassen.

O2 CO2
Mesophyllzelle

H 2O
Chloroplast
H 2O CO2
Saccharose
(Export) Licht

NADP +

ADP 3-Phosphoglycerat
LICHTRE- +
AKTIONEN: Pi
Photosystem II RuBP CALVIN-
Elektronentransportkette ZYKLUS
Photosystem I
Elektronentransportkette ATP
G3P
NADPH Stärke (Spei-
cherstoff)

O2 Saccharose (Export)

LICHTREAKTIONEN: REAKTIONEN DES CALVIN-ZYKLUS:

• werden durch Moleküle in den • laufen im Stroma ab


Thylakoiden bewerkstelligt • verbrauchen ATP und NADPH, um
• wandeln Lichtenergie in die chemischen CO2 in den Zucker G3P umzuwandeln
Energieformen, ATP und NADPH um • regenerieren ADP, anorganisches
• oxidieren Wassermoleküle und setzen Phosphat und NADP+ für die
H2O O2 in die Atmosphäre frei Lichtreaktionen

Abbildung 10.21: Eine Übersicht über die Photosynthese. Dieses Schema zeigt die Ausgangsstoffe und die Produkte der Lichtreaktionen und des
Calvin-Zyklus in den Chloroplasten von Pflanzenzellen (rechtes Bild) und ihren Transport durch einen Baum (linkes Bild). Der gesamte, geordnete Ablauf
ist abhängig von der strukturellen Unversehrtheit des Chloroplasten und seiner Membranen. Enzyme im Chloroplasten und im Cytosol wandeln Glycerin-
aldehyd-3-Phosphat (G3P), das unmittelbare Produkt des Calvin-Zyklus, in Stärke, Saccharose und unzählige andere organische Verbindungen um. Die
Saccharose aus den Blättern wird über das Phloem des Gefäßsystems in die nicht-grünen Gewebe wie die Wurzeln transportiert. Wasser und CO2 werden
aufgenommen und O2 wird abgegeben.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Können Pflanzen den Zucker, den sie in der Photosynthese herstellen, benutzen, um die Zelle direkt mit Energie zu
versorgen? Erläutern Sie Ihre Antwort (siehe auch Abbildungen 8.10, 8.11 und 9.6 ).

265
Abbildung 10.22

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN

Die Zelle bei der Arbeit


Diese Abbildung illustriert, wie eine verallgemeinerte Pflanzenzelle
funktioniert; alle Zellaktivitäten, von denen Sie in den Kapiteln 5 bis 10
gehört haben, wurden hier integriert.

DNA
1
Zellkern
mRNA

Kern-
pore

Protein raues endoplasma-


Protein in Vesikel tisches Reticulum
3

Ribosom mRNA

Fluss der genetischen Information in der 4


Zelle: DNA RNA Protein (Kapitel 5–7)
Vesikel wird
1 Im Zellkern dient die DNA als Vorlage für die Golgi- abgeschnürt
Synthese von mRNA, die ins Cytoplasma wandert. Apparat
Siehe Abbildung 5.23 und 6.9.
Protein
2 mRNA heftet sich an ein Ribosom, das entweder
frei im Cytoplasma bleibt oder an das ER bindet.
6
Proteine werden synthetisiert. Siehe Abbildung 5.23
und 6.10.
Plasma-
3 Proteine und durch das raue ER synthetisierte 5
membran
Membranen werden in Vesikel verpackt und zum
Golgi-Apparat transportiert, wo sie weiter bear-
beitet werden. Siehe Abbildung 6.15 und 7.9.
4 Transportvesikel, die mit Proteinen beladen
sind, werden vom Golgi-Apparat abgeschnürt.
Siehe Abbildung 6.15.
5 Einige Vesikel fusionieren mit der Zellmembran
und setzen die Proteine mittels Exocytose frei.
Siehe Abbildung 7.9.

6 An den freien Ribosomen synthetisierte Proteine


bleiben in der Zelle und haben verschiedene
Funktionen; zum Beispiel als Enzyme, die die
Reaktionen der Zellatmung und der Photosyn-
Zellwand
these katalysieren. Siehe Abbildung 9.7, 9.9 und 10.18.
Im MyLab|Deutsche Version für Campbell Biologie
finden Sie 3D-Animationen zu Zellen.

Transport über Biomembranen


(Kapitel 7)

Energietransformationen in der Zelle: 9 Wasser diffundiert direkt sowie über


Photosynthese und Zellatmung (Kapitel 8–10) erleichterte Diffusion durch Aquaporine
über die Zellmembran in die Zelle und aus
7 In den Chloroplasten wird die Lichtenergie in der Photosynthese ihr hinaus. Siehe Abbildung 7.1.
genutzt, um CO2 und H2O in organische Moleküle umzuwan-
10 Passiver Transport befördert CO2 und O2
deln; O2 entsteht als Nebenprodukt. Siehe Abbildung 10.21.
über die Biomembranen. Beide Moleküle
8 In den Mitochondrien werden organische Moleküle durch die folgen dabei ihrem Konzentrationsgefälle.
Zellatmung abgebaut, wobei die freiwerdende Energie in ATP Siehe Abbildung 7.10 und Abbildung 10.21.
umgewandelt wird, welches benutzt wird, um in der Zelle
Arbeit zu verrichten, zum Beispiel für Proteinsynthese und 11 Aktiver Transport verbraucht Energie
aktiven Transport. Siehe Abbildung 8.9–8.11, 9.2 und 9.16. (gewöhnlich ATP), um gelöste Substanzen
gegen ihr Konzentrationsgefälle zu transpor-
tieren. Siehe Abbildung 7.16.

Über Exocytose (gezeigt in Schritt 5) und


Vakuole Endocytose wandern größere Bestandteile
aus der Zelle hinaus und in sie hinein. Siehe
Abbildung 7.9 und 7.19.

7 Photosynthese CO2
im Chloroplast

H2O

ATP
organische
Moleküle
8 ATP Transport-
O2 pumpe
Zellatmung im
Mitochondrium ATP
11
ATP

10
9

O2

CO2 ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Das Eingangsenzym in die


Glykolyse ist die Hexokinase. Beschreiben Sie anhand der hier
H2O gezeigten Pflanzenzelle den gesamten Prozess, in dem das Enzym
produziert wird und wo es aktiv ist, indem Sie für jeden Schritt die
zelluläre Lokalisierung nennen. (Siehe Abbildungen 5.19, 5.23 und 9.9).
10 Photosynthese

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 1 0 

Konzept 10.1  Ein Photosystem besteht aus einem Reaktionszent-


Die Photosynthese wandelt Lichtenergie in chemische rum, das von Lichtsammelkomplexen umgeben ist,
Energie um die die aus dem Licht absorbierte Energie zum
Reaktionszentrum leiten. Wenn ein spezielles Paar
 In autotrophen Eukaryonten findet die Photosyn- von Chlorophyll a-Molekülen im Reaktionszent-
these in Chloroplasten statt, Organellen, die Thyla- rum ankommende Energie absorbiert, und eines
koide enthalten. Die Thylakoide bilden Grana seiner Elektronen in ein energetisch höherwertiges
Teil 2
genannte Membranstapel. Orbital überführt wird, kommt es zu einer Redox-
reaktion mit einem primären Elektronenakzeptor
Die Photosynthese lässt sich wie folgt zusammen- (Ladungstrennung). Dies erfolgt sowohl in Photo-
fassen: system I mit dem P700-Reaktionszentrum, als auch
in Photosystem II mit dem P680-Reaktionszentrum.
6 CO2 + 6 H2O + Lichtenergie → C6H12O6 + 6 O2  Der lineare Elektronenfluss durch die Lichtreaktio-
nen führt zur Bildung von NADPH, ATP und Sauer-
Chloroplasten oxidieren Wasser, wobei Wasser- stoff:
stoffionen, Elektronen und Sauerstoff entstehen.
Die Elektronen werden zur reduktiven Bildung von

El nsp
tr
ek o
Kohlenhydratmolekülen aus CO2 genutzt. Die Pho-

a
primärer

El nsp
tr

tr rtk
ek o
a

on e
tosynthese insgesamt ist ein Redoxprozess: H2O primärer Akzeptor

tr rtk

en tte
on e
Akzeptor Fd

-
wird oxidiert, CO2 wird reduziert. In den Licht-

en tte
NADP+

-
H2O PQ + H+
reaktionen, die in den Thylakoiden ablaufen, wird Ferredoxin-
Wasser oxidiert, dabei wird Sauerstoff (O2) freige- O2 Cytochrom- NADP+-
Komplex Reduktase
setzt und ATP und NADPH werden erzeugt. Der
NADPH
Calvin-Zyklus im Stroma bildet aus Kohlendioxid PC
Kohlenhydrate und verbraucht dabei ATP als Ener-
gielieferanten und NADPH als Reduktionsmittel.
ATP Photosystem I
? Vergleichen Sie die Rollen von CO2 und H2O bei der Atmung und bei Photosystem II
der Photosynthese.
 Der zyklische Elektronenfluss nutzt nur Photosys-
Konzept 10.2 tem I und es entsteht ATP, aber kein NADPH und
Die Lichtreaktionen wandeln Sonnenenergie in che- kein Sauerstoff.
mische Energie in Form von ATP und NADPH um  Sowohl in Mitochondrien als auch in Chloroplas-
ten wird über die sogenannte chemiosmotische
 Licht ist eine Erscheinungsform der elektromag- Kopplung beim Transport von Elektronen eine
netischen Strahlung. Die Farben des sichtbaren Quelle freier Energie in Form der protonenmotori-
Lichts umfassen diejenigen Wellenlängenbereiche, schen Kraft über der Membran aufgebaut, die durch
die auch die Photosynthese energetisch antreiben. die ATP-Synthase (Kopplungsfaktor) zur ATP-Syn-
 Photosynthesefarbstoffe: Die Lichtrezeptoren. Ein these genutzt wird.
Farbstoffmolekül absorbiert sichtbares Licht be-
stimmter Wellenlängen. Chlorophyll a ist der pho- ? Das Absorptionsspektrum von Chlorophyll unterscheidet sich vom
Wirkungsspektrum der Photosynthese. Warum?
tosynthetisch wichtigste Farbstoff in Pflanzen. Ak-
zessorische Farbstoffe wie Chlorophyll b und
Carotinoide absorbieren Licht anderer Wellenlän- Konzept 10.3
gen und leiten die Energie an Chlorophyll a-Mole- Der Calvin-Zyklus benutzt ATP und NADPH, um CO2
küle weiter. in Zucker umzuwandeln
 Ein Farbstoffmolekül geht aus seinem elektroni-
schen Grundzustand in einen angeregten Zustand  Der Calvin-Zyklus läuft im Stroma von Chloroplas-
über, wenn ein absorbiertes Photon ein Elektron ten ab. Er nutzt als Reduktionsmittel NADPH und
des Farbstoffmoleküls in ein Orbital höherer Ener- Energie in Form von ATP. Ein Molekül Glycerin-
gie überführt. Der angeregte Zustand ist instabil. aldehyd-3-Phosphat (G3P) verlässt den Zyklus pro
Die Elektronen fallen rasch in den Grundzustand drei Molekülen fixierten Kohlendioxids und wird
zurück. Dabei wird die Energiedifferenz als Licht nachfolgend in Kohlenhydrate und andere organi-
im längerwelligen Bereich (Fluoreszenzlicht) und/ sche Verbindungen umgewandelt (s. Zeichnung auf
oder als Wärme abgegeben. der nächsten Seite).

268
Übungsaufgaben

3 CO2 mit Kohlendioxidmolekülen (CO2) im aktiven Zen-


trum der RubisCO. Der Prozess der Photorespira-
Kohlenstoff- tion beseitigt die toxischen Produkte der Oxigenie-
fixierung rung, führt zur Synthese von Glycin und Serin und
resultiert schließlich in CO2-Freisetzung (Licht-
atmung). Es kommt dadurch zur Herabsetzung der
3 x 5C 6 x 3C Nettoproduktion an Kohlenhydraten während der
Photosynthese. Bei der Photorespiration könnte es
Calvin- sich um ein Relikt der Evolution oder um einen
Zyklus
Regeneration Schutzmechanismus handeln.
Teil 2
des CO2-  C4-Pflanzen minimieren die Verluste durch die
Akzeptors Lichtatmung durch Vorfixierung des Kohlendioxids
5 x 3C
als C4-Säuren in den Mesophyllzellen. Diese Ver-
Reduktion bindungen werden in die Bündelscheidenzellen
exportiert. Dort wird das Kohlendioxid freigesetzt,
um bei niedrigerem O2-Partialdruck im Calvin-Zyk-
lus assimiliert zu werden.
1 G3P (3C)  CAM-Pflanzen öffnen ihre Spaltöffnungen nachts
und fixieren das absorbierte Kohlendioxid in Form
ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie in das obige Diagramm von organischen Säuren (Carbonsäuren), die in den
ein, wo ATP und NADPH genutzt werden und wo großen Vakuolen der Mesophyllzellen zwischenge-
RubisCO ansetzt. Beschreiben Sie diese Schritte. lagert werden (Ansäuerung). Tagsüber bleiben die
Spaltöffnungen geschlossen und das Kohlendioxid
Konzept 10.4 wird zur Verwertung im Calvin-Zyklus aus den Car-
In heißen, trockenen Klimazonen haben sich ent- bonsäuren durch Decarboxylierung freigesetzt.
wicklungsgeschichtlich alternative Mechanismen der  Pflanzen erzeugen durch Photosynthese organische
Kohlenstofffixierung herausgebildet Verbindungen, die für sie selbst und für das gesamte
Ökosystem die Hauptquelle für Energie und Bau-
 An trockenen, heißen Tagen schließen C3-Pflanzen stoffe darstellen (Primärproduzenten).
ihre Spaltöffnungen, um Wasser zu sparen. Durch
die Lichtreaktionen erzeugter Sauerstoff reichert ? Warum ist die Photosynthese bei C4- und CAM-Pflanzen energetisch
sich im Gewebe an und der CO2-Gehalt im Blatt- aufwendiger als die Photosynthese bei C3-Pflanzen? Welche Klimabedin-
inneren sinkt. Sauerstoffmoleküle (O2) konkurrieren gungen würden C4- und CAM-Pflanzen begünstigen?

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜB UN GSA U FG AB E N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis c. In beiden Fällen wird für den Initialschritt der
Kohlenstofffixierung nicht die RubisCO ver-
1. Die Lichtreaktionen der Photosynthese versorgen wendet.
den Calvin-Zyklus mit d. Beide Pflanzentypen stellen den Großteil ihres
a. Lichtenergie Zuckers im Dunkeln her.
b. CO2 und ATP
c. H2O und NADPH 4. Welche der folgenden Aussagen stellt eine zu-
d. ATP und NADPH treffende Unterscheidung von autotrophen und
heterotrophen Organismen dar?
2. Welche der folgenden, stark verkürzten Sequen- a. Autotrophe, nicht aber Heterotrophe, können
zen gibt den Elektronenfluss im Verlauf der Pho- sich durch Kohlendioxid und andere anorga-
tosynthese korrekt wieder? nische Nährstoffe selbst ernähren.
a. NADPH → O2 → CO2 b. Nur Heterotrophe benötigen chemische Ver-
b. H2O → NADPH → Calvin-Zyklus bindungen aus der Umwelt.
c. H2O → Photosystem I → Photosystem II c. Nur Heterotrophe verfügen über die Zellatmung.
d. NADPH → Elektronentransportkette → O2 d. Nur Heterotrophe verfügen über Mitochondrien.

3. Auf welche Weise ähneln sich die Photosynthese 5. Welcher der folgenden Prozesse tritt während des
in C4-Pflanzen und die in CAM-Pflanzen? Calvin-Zyklus nicht auf?
a. In beiden Fällen kommt nur Photosystem I a. Kohlenstofffixierung
zum Einsatz. b. Oxidation von NADPH
b. Beide Pflanzentypen stellen Zucker ohne den c. Freisetzung von Sauerstoff
Calvin-Zyklus her. d. Regeneration des CO2-Akzeptors

269
10 Photosynthese

Ebene 2: Anwendung und Auswertung tung des Protonenflusses durch das Enzym an
und schreiben Sie die Reaktion nieder, durch die
6. Mechanistisch ist die Photophosphorylierung ATP erzeugt wird. Würde das ATP im Thylakoid-
a. der Substratkettenphosphorylierung der Gly- lumen oder im Stroma entstehen? Erläutern Sie,
kolyse warum die Chloroplasten in dem Experiment im
b. der oxidativen Phosphorylierung der Zellatmung Dunkeln ATP bilden können.
c. der Kohlenstofffixierung
d. der Reduktion von NADP+ am ähnlichsten.
pH=7 pH=4
7. Welcher Prozess wird direkt durch die Lichtener-
Teil 2
gie angetrieben?
a. Erzeugung einer protonenmotorischen Kraft pH=4 pH=8
über die Thylakoidmembran
ATP
b. Reduktion von NADP+
c. Abgabe eines Elektrons von einem Chlorophyll-
molekül an einen Akzeptor 11. Skizzieren Sie ein Thema: Energie und Mate-
d. ATP-Synthese rie Das Leben hängt von der Sonnenenergie ab.
Fast alle Produzenten in der Biosphäre benötigen
Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten Sonnenlicht, um die organische Materie zu produ-
zieren, die die Energie und die Kohlenstoffskelette
8. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft Die wis- zum Leben liefern. Beschreiben Sie in einem
senschaftliche Datenlage deutet darauf hin, dass kurzen Aufsatz (in 100–150 Worten), wie durch
das durch die Verbrennung von Holz und fossilen die Photosynthese in den Chloroplasten der Pflan-
Brennstoffen (Kohle, Öl, Erdgas) der Atmosphäre zen die Energie des Sonnenlichts in die chemische
zusätzlich zugeführte Kohlendioxid und andere Energie der Kohlenhydrate umgewandelt wird.
Treibhausgase zur globalen Erwärmung der Erd-
oberfläche beitragen. Tropische Regenwälder wer- 12. NUTZEN SIE IHR WISSEN Das Photo zeigt „Wasser-
den für mehr als 20 Prozent der weltweiten Photo- melonenschnee“ in der Antarktis, der durch eine
synthese verantwortlich gemacht, doch wird Art von Photosynthese betreibenden Grünalgen
angenommen, dass die damit verbundene Ent- (Chlamydomonas nivalis), die bei Temperaturen
nahme großer Mengen an Kohlendioxid aus der unter dem Gefrierpunkt wachsen, verursacht wird.
Luft keinen oder nur einen sehr kleinen Nettobei- Diese Algen findet man auch als „Blutschnee“ in
trag zur Abbremsung der Erderwärmung leistet. großen Höhen auf Schneefeldern, die das ganze
Warum könnte dies so sein? (Hinweis: Was pas- Jahr über nicht abschmelzen. An beiden Standor-
siert mit der von einem tropischen Gewächs des ten ist die Intensität der UV-Strahlung eher hoch.
Regenwaldes erzeugten Biomasse, wenn die Pflanze Ausgehend von dem, was Sie in diesem Kapitel
abstirbt oder gefressen wird?) gelernt haben, versuchen Sie eine Erklärung dafür
zu geben, warum diese Photosynthese betreiben-
9. Verbindung zur Evolution Die Photorespiration den Algen rötlich erscheinen.
kann die photosynthetische Ausbeute einer Soja-
bohnenpflanze um bis zu 50 Prozent vermindern.
Würden Sie erwarten, dass dieser Wert bei den
wilden Verwandten dieser Nutzpflanze gleich
groß, größer oder kleiner ist? Warum?

10. Wissenschaftliche Fragestellung


ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Die folgende Schema-
zeichnung (oben rechts) zeigt stark vereinfacht
ein Experiment mit isolierten Chloroplasten. Die
Chloroplasten werden zunächst in einer Lösung
von pH 4 gelagert. Nachdem sich das Thylakoid-
lumen auf diesen pH-Wert eingestellt hat, werden
die Organellen in eine basische Lösung mit pH 8
umgesetzt. Die Chloroplasten synthetisieren da-
raufhin in der Dunkelheit ATP.

Zeichnen Sie die vergrößerte Darstellung des


Ausschnitts einer Thylakoidmembran in einem Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
Becherglas mit der basischen Lösung (pH = 8). weitere Übungen und vertiefende Materia-
Zeichnen Sie die ATP-Synthase. Beschriften Sie lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
die Bereiche hoher beziehungsweise niedriger für Campbell Biologie sowie im Anhang A.
Protonenkonzentrationen. Geben Sie die Rich-

270
Zelluläre Kommunikation

11.1 Externe Signale werden in intrazelluläre Antworten 11


umgewandelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
11.2 Signalwahrnehmung: Ein Signalmolekül bindet an ein
Rezeptorprotein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
11.3 Signalübertragung: Wechselwirkungen auf molekularer
Ebene leiten stufenweise das Signal vom Rezeptor an
Zielmoleküle in der Zelle weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

KONZEPTE
11.4 Die zelluläre Antwort: Signalwege steuern die Transkription
oder Aktivitäten im Cytoplasma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
11.5 Die Verschaltung verschiedener Signaltransduktionswege
bei der Apoptose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

 Abbildung 11.1: Wie löst die zelluläre Signalweiterleitung


die verzweifelte Flucht dieser Schwarzfersenantilope aus?
11 Zelluläre Kommunikation

Botschaften von Zelle zu Zelle gene Botschaft? Wir wollen uns dieser Fragestellung
nähern, indem wir uns zunächst der Kommunikation
Die Schwarzfersenantilope (Impala) rennt um ihr Leben unter Mikroorganismen zuwenden.
(Abbildung 11.1), flüchtet, um dem räuberischen Ge-
parden zu entkommen, der ihr dicht auf den Fersen
folgt. Die Antilope atmet schnell, ihre Herzfrequenz 11.1.1 Evolution der zellulären
steigt und ihre Beine bewegen sich rasend. Diese physio- Signalverarbeitung
logischen Prozesse sind Teil der „Fliehen-oder-Kämp-
fen“-Antwort, bei der unter Stress – wie hier der Angst EVOLUTION Ein wichtiges Thema bei der zellulären
vor dem Geparden – Hormone aus der Nebenniere aus- Kommunikation mithilfe chemischer Signale ist Sex –
Teil 2
geschüttet werden. Welche Mechanismen ermöglichen zumindest bei der Bäckerhefe (Saccharomyces cerevi-
es den Abermilliarden von Zellen in der Antilope, mitei- siae), die der Mensch seit Jahrtausenden für die Wein-,
nander zu kommunizieren und ihre Aktivitäten aufein- Bier- und Brotbereitung für sich nutzt. Bei haploiden
ander abzustimmen? Laborstämmen dieser Hefeart kann man zwei Paarungs-
Zellen können miteinander kommunizieren und die typen unterscheiden, die den Geschlechtern höherer
Signale, die sie von anderen Zellen oder ihrer Umge- Organismen entsprechen und mit a und α bezeichnet
bung erhalten, richtig deuten. Obwohl dies auch Licht werden (Abbildung 11.2). Zellen des Paarungstyps a
oder Berührungen sein können, handelt es sich oft um scheiden ein Signalmolekül aus, das als a-Faktor
chemische Signale. Der hier beschriebene Fluchtreflex bezeichnet wird und an spezifische Rezeptorproteine
der Antilope wird beispielsweise von dem Botenstoff an der Oberfläche von α-Zellen binden kann. Gleich-
Adrenalin ausgelöst (auch bekannt als Epinephrin, zeitig sezernieren die α-Zellen ein anderes Signal-
siehe Abbildung). molekül, den α-Faktor, der an Rezeptorproteine von
a-Zellen binden kann. Wenn Hefezellen unterschied-
lichen Paarungstyps diesen Faktoren ausgesetzt wer-
den, verändern sie ihre Form, wachsen aufeinander zu
und verschmelzen schließlich miteinander. Die neue,
diploide a/α-Zelle enthält sämtliche Gene der beiden
Ursprungszellen. Diese vorteilhafte Kombination des
genetischen Materials wird in den nachfolgenden Tei-
lungen an alle Folgezellen weitergegeben.

Rezeptor α-Faktor
1 Austausch von
Paarungsfak-
toren. Jeder
Adrenalin (Epinephrin) Zelltyp schüttet a α
einen Paarungs-
faktor aus, der
Auch die Erforschung der zellulären Kommunikations- an Rezeptoren
mechanismen lieferte zahlreiche Hinweise auf die ver- auf dem ande- a-Faktor
wandtschaftlichen Beziehungen aller Lebewesen. Es ren Zelltyp Hefezelle vom Hefezelle vom
bindet. Paarungstyp a Paarungstyp α
sind immer wieder die gleichen Signaltransduktions-
mechanismen, die man in den unterschiedlichsten Pro-
zessen findet, von der Kommunikation zwischen Bak- 2 Paarung. Die
terienzellen über die Embryonalentwicklung bis hin Bindung der
Faktoren an die
zur Krebsentstehung. Im Mittelpunkt dieses Kapitels ste- Rezeptoren löst a α
hen grundlegende Mechanismen, mit deren Hilfe Zellen Veränderungen
chemische Signale von anderen Zellen erhalten, ver- in den Zellen aus,
arbeiten und entsprechend reagieren. Am Beispiel der die zu deren
Fusion führen.
Apoptose, einer Form des programmierten Zelltods,
werden wir zeigen, wie Zellen Reize aus verschiedenen
Signalwegen miteinander verrechnen. 3 Neue a/α α-Zelle.
Der Zellkern der
fusionierten Zelle α
a/α
enthält alle Gene
Externe Signale werden in der a- und der
α-Zelle.
intrazelluläre Antworten
umgewandelt
11.1 Abbildung 11.2: Kommunikation zwischen zur Paarung berei-
ten Hefezellen. Saccharomyces cerevisiae benutzt eine chemische Sig-
nalübertragung, um Zellen des entgegengesetzten Paarungstyps wahrzu-
nehmen und den Paarungsvorgang einzuleiten. Die beiden Paarungstypen
Was teilt eine „sprechende“ Zelle einer „zuhörenden“ und ihre zugehörigen Signalmoleküle (Paarungsfaktoren) werden mit a
Zelle mit, und wie reagiert Letztere auf die empfan- beziehungsweise α bezeichnet.

272
11.1 Externe Signale werden in intrazelluläre Antworten umgewandelt

Sobald ein Paarungsfaktor durch den Rezeptor an der Die Signalübermittlung mittels „Quorum sensing“ er-
Hefeoberfläche erkannt wird, wird das Signal in eine möglicht es einer Bakterienpopulation, die Aktivität(en)
Form umgewandelt, die letztlich die Paarung als zel- einzelner Zellen in einem Verbund zu koordinieren. Ein
luläre Antwort zur Folge hat. Dieser über eine Reihe Beispiel dafür ist die Bildung von sogenannten „Biofil-
von Zwischenschritten vermittelte Vorgang wird allge- men“, d.h. das Zusammenlagern vieler Zellen auf ei-
mein als Signaltransduktion bezeichnet. Tatsächlich ner Oberfläche, oft mit dem Ziel der Nährstoffgewin-
sind sich die solchen Signalketten zugrundeliegenden nung. Wahrscheinlich kennen Sie schon den einen
molekularen Mechanismen bei der Bäckerhefe und bei oder anderen Biofilm, ohne zu wissen, dass es sich um
den Zellen von Säugetieren erstaunlich ähnlich, einen solchen handelt. Typische Beispiele für Bio-
obgleich der letzte gemeinsame Vorfahre dieser beiden filme sind die schleimige Umhüllung von gefallenem
Teil 2
so unterschiedlichen Lebensformen vor mehr als einer Laub oder Ästen auf einem Waldweg, ebenso wie der
Milliarde Jahren gelebt haben muss. Die ersten Sig- morgendliche Belag auf Ihren Zähnen. Tatsächlich
naltransduktionssysteme müssen sich also bereits vor zerstören Sie durch das Zähneputzen den Biofilm, der
der Entstehung multizellulärer Organismen entwi- sonst Karies verursachen könnte. Die Bildung von Bio-
ckelt haben. filmen erfordert ein ausgefeiltes Kommunikations-
Entsprechend gehen Wissenschaftler heute davon netzwerk, das auf zellulären Signalübertragungen be-
aus, dass sich Signaltransduktionsmechanismen zu- ruht.
erst bei urtümlichen Prokaryonten und einzelligen
Eukaryonten herausgebildet haben und sich dann bei
ihren vielzelligen Nachkommen aufgrund neuer Be- 11.1.2 Signalwirkungen über kurze und
dürfnisse durch Mutation verändert und weiterentwi- lange Distanzen
ckelt haben. Die Signalübertragung von Zelle zu Zelle
ist bei Mikroorganismen von entscheidender Bedeu- Wie Bakterien oder Hefen verständigen sich auch die
tung (Abbildung 11.3). So scheiden die Zellen vieler Zellen vielzelliger Organismen mithilfe von Signalmo-
Bakterienarten niedermolekulare Substanzen aus, die lekülen, die von benachbarten oder weiter entfernt lie-
von anderen Bakterienzellen wahrgenommen werden genden Zielzellen erkannt werden. Wie bereits in Kapitel
können. Indem sie die Konzentration solcher Signal- 6 und 7 erwähnt, verständigen sich eukaryontische Zel-
moleküle bestimmen, können Bakterien die lokale Po- len lokal auch über direkten Kontakt (Abbildung 11.4).
pulationsdichte erfassen und sie regulieren entspre- So können die Cytoplasmata von tierischen und pflanz-
chend ihre Genexpression – ein Phänomen, das als lichen Zellen direkt über bestimmte Kanäle miteinan-
„Quorum sensing“ bezeichnet wird. der verbunden sein und im Cytosol gelöste Signalmo-
leküle können dann frei zwischen zwei Nachbarzellen
diffundieren. Tierische Zellen können auch über den
direkten Kontakt von membrangebundenen Oberflä-
chenmolekülen miteinander kommunizieren, ein Vor-
gang, der als Zellerkennung bezeichnet wird (Abbil-
dung 11.4b). Diese Art der lokalen Kommunikation
spielt beispielsweise bei der Immunabwehr und bei
der Embryonalentwicklung eine große Rolle.

1 individuelle, stäbchen-
förmige Zellen

0,5 mm

2 sich vollziehende
Aggregation

Abbildung 11.3: Kommunikation unter Bakterien. Die im Erdreich


lebenden Myxobakterien („Schleimbakterien“ aus der Gruppe der Proteo-
bakterien) verwenden Signalmoleküle, um Informationen über die Verfüg-
barkeit von Nährstoffen auszutauschen. Wenn die Nahrung knapp wird,
scheiden hungernde Zellen eine Substanz aus, die Zellen in der Umgebung
3 Stadium der Sporenbil-
dazu veranlasst, sich zusammenzulagern. Die aggregierenden Zellen bil-
dung (Fruchtkörperbildung)
den eine als Fruchtkörper bezeichnete Struktur aus, in der sich dickwan-
dige Sporen bilden, die das Überleben bis zur Besserung der Umweltbedin-
Fruchtkörper gungen sichern. Die hier gezeigten Bakterien gehören der Art Myxococcus
xanthus an. (Schritt 1 – 3 : rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen,
unteres Foto: lichtmikroskopische Aufnahme)

273
11 Zelluläre Kommunikation

Eine noch speziellere Form der lokalen Kommunika-


Plasmasmembranen Zellwand
tion finden wir bei der synaptischen Signalübertragung
des tierischen Nervensystems (Abbildung 11.5b).
Hierbei löst ein entlang der Nervenfaser weitergeleite-
ter elektrischer Impuls die Freisetzung von Neurotrans-
mittern aus. Diese agieren wieder als chemische Boten-
stoffe, indem sie durch den synaptischen Spalt (den
„Gap junctions“ Plasmodesmata schmalen Bereich zwischen dem synaptischen End-
zwischen tierischen Zellen zwischen Pflanzenzellen
knöpfchen und der Zielzelle) diffundieren und eine
(a) Direkte Zellverbindungen. Sowohl tierische als auch Reaktion der Zielzelle auslösen.
Teil 2 pflanzliche Zellen haben direkte Zell-Zell-Verbindungen, durch Bei Pflanzen ist, außer der Kommunikation über Plas-
die Moleküle zwischen Nachbarzellen ausgetauscht werden
können, ohne dass sie Membranen überwinden müssen. modesmen, wenig über die Mechanismen der lokalen
Signalübertragung bekannt. Aufgrund des Aufbaus der
pflanzlichen Zellwand geht man davon aus, dass hier
andere Mechanismen der lokalen Kommunikation ver-
wendet werden.
Für die Signalübertragung über weite Strecken nutzen
sowohl Tiere als auch Pflanzen chemische Botenstoffe,
die Hormone. Bei der Hormon-vermittelten Signaltrans-
duktion in Tieren, die als endokrine Signalübertragung
(b) Zellerkennung. Zwei benachbarte Zellen in einem Tier können bezeichnet wird, setzen hochspezialisierte Zellen Hor-
durch direkte Wechselwirkung zwischen ihren Oberflächen-
molekülen miteinander kommunizieren. mone frei, die über den Blutkreislauf verbreitet werden
und zu ihren Zielzellen gelangen, die das Hormon
Abbildung 11.4: Verständigung zwischen Zellen durch direkten erkennen und entsprechend reagieren (Abbildung
Kontakt. 11.5c). Pflanzliche Hormone (die oft als Wachstumshor-
mone bezeichnet werden) können ihre Zielzellen auch
Bei anderen Formen der lokalen Kommunikation wer- über das Gefäßsystem der Pflanze erreichen, werden oft
den Signalmoleküle von entsprechenden Zellen sezer- aber direkt durch Zellen transportiert oder diffundieren
niert und müssen nur kurze Wege zurücklegen, um ihre mit der Luft (siehe auch Konzept 39.2). Hormone treten
Nachbarzellen zu beeinflussen. Eine Gruppe solcher in allen Formen und Größen auf, ebenso wie die
lokalen Regulatoren sind die Wachstumsfaktoren in tie- beschriebenen lokalen Signalstoffe. So reguliert das gas-
rischen Zellen, die dafür sorgen, dass umliegende Ziel- förmige Pflanzenhormon Ethylen, das nur aus sechs
zellen wachsen und sich teilen. So können viele Zellen Atomen (C2H4) besteht, die Fruchtreifung und das
gleichzeitig auf Wachstumsfaktoren reagieren, die von Wachstum. Aufgrund seiner Größe ist es klein genug,
einer einzigen Zelle in ihrer Umgebung sezerniert wur- um sogar durch Zellwände zu diffundieren. Dagegen
den. Diese Art der lokalen Kommunikation wird als handelt es sich beim Insulin von Säugern um ein Pep-
parakrine Signalübertragung bezeichnet (Abbildung tidhormon, das die Zuckerkonzentration im Blut regu-
11.5a). liert und aus Tausenden von Atomen aufgebaut ist.

Signalübertragung über kurze Strecken (lokale Signalübertragung) Signalübertragung über lange Strecken

Zielzellen ein elektrisches Signal endokrine Zelle


führt zur Freisetzung des eine Zielzelle
Neurotransmitters bindet ein
bestimmtes
der Neurotransmitter Hormon
diffundiert durch den
sezer- synaptischen Spalt
nierende
Zelle

Verbreitung des
Hormons über
den Blutkreislauf
sekre-
torische
Vesikel Blutgefäß
lokaler Signalstoff Zielzelle

(a) Parakrine Signalübertragung. (b) Synaptische Signalübertra- (c) Endokrine (hormonelle) Signalübertragung. Spezialisierte
Eine Zelle sezerniert Signalmole- gung. Eine Nervenzelle setzt Neu- endokrine Zellen sezernieren Hormone in die Körperflüssigkeiten
küle, die die Nachbarzellen beein- rotransmitter in den synaptischen (oft in die Blutbahn). Die Hormone gelangen so praktisch zu allen
flussen (beispielsweise einen Spalt frei, die die Zielzelle stimu- Körperzellen, werden aber nur von bestimmten Zielzellen
Wachstumsfaktor). lieren (beispielsweise eine Muskel- gebunden.
oder eine andere Nervenzelle).

Abbildung 11.5: Signalwirkungen durch sezernierte Botenstoffe in Tieren über kurze und lange Distanzen. Sowohl bei der Signaltrans-
duktion über kurze als auch über lange Strecken können nur bestimmte Zielzellen reagieren, die den jeweiligen Botenstoff erkennen.

274
11.1 Externe Signale werden in intrazelluläre Antworten umgewandelt

Was geschieht, wenn ein sezerniertes Signalmolekül seines Substrats (Glykogen) das Adrenalin zu, konnte
auf eine Zielzelle trifft? Ob eine Zelle auf ein Signalmo- man keinen Abbau nachweisen. Tatsächlich konnte
lekül reagiert, hängt davon ab, ob sie einen spezifischen Adrenalin nur dann die Glykogenphosphorylase akti-
Rezeptor an der Zelloberfläche besitzt, der das Signal- vieren, wenn das Hormon einer Kultur intakter Zellen
molekül binden kann. Die durch eine solche Bindung zugesetzt wurde. Diese Beobachtungen verrieten Suther-
vermittelte Information, das Signal, muss dann im Zell- land und seinen Mitarbeitern zweierlei: Erstens wech-
inneren so „übersetzt“ (engl. transduced) werden, dass selwirkt Adrenalin nicht direkt mit dem für den Glyko-
die richtige Antwort ausgelöst wird. Im restlichen Teil genabbau verantwortlichen Enzym. Es musste also einen
dieses Kapitels werden wir auf diese Vorgänge, haupt- oder mehrere Schritte geben, die zwischen der Hormon-
sächlich am Beispiel von tierischen Zellen, näher ein- wirkung und der Enzymaktivierung lagen, und diese
Teil 2
gehen. mussten im Zellinneren stattfinden. Zweitens wurde
die Plasmamembran benötigt, um das Adrenalinsignal
zu übermitteln.
11.1.3 Die drei Stadien der zellulären Sutherlands frühe Arbeiten führten zu dem Schluss,
Signaltransduktion: Ein Überblick dass die Signaltransduktion auf Seiten der Zielzelle in
drei Stadien untergliedert werden kann: Erkennung,
Unser gegenwärtiges Verständnis der Wirkungsweise Übertragung und Antwort (Abbildung 11.6).
von Botenstoffen über Signaltransduktionswege gründet
sich auf die Arbeiten von Earl Sutherland (US-amerika- 1. Erkennung. Die Erkennung besteht in der Wahr-
nischer Pharmakologe, 1915–1974), dem im Jahr 1971 nehmung eines extrazellulären Signalmoleküls. Ein
der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für seine chemischer Botenstoff, das Signal, wird erkannt,
grundlegenden Forschungen verliehen wurde. Suther- wenn er an ein Rezeptorprotein an der Zelloberflä-
land und seine Mitarbeiter an der Vanderbilt-Universi- che (oder auch im Zellinneren, wie wir später noch
tät in Nashville (USA) untersuchten, wie der Abbau des sehen werden) bindet.
Speicherpolysaccharids Glykogen in Leber- und Skelett-
muskelzellen durch das Hormon Adrenalin stimuliert 2. Übertragung (Transduktion). Die Bindung des Sig-
wird. Beim Glykogenabbau wird zunächst Glucose-1- nalmoleküls führt zur Konformationsänderung des
phosphat gebildet, das dann zu Glucose-6-phosphat iso- Rezeptorproteins und leitet dadurch die Sig-
merisiert wird. Die Zelle kann diese Verbindung dann nalübertragung ein. Diese wandelt in den meisten
in die Glykolyse einschleusen, um Energie zu gewin- Fällen das Signal in eine andere Form um, die
nen. Alternativ kann durch hydrolytische Spaltung die letztlich eine Antwort in der Zelle hervorrufen
Phosphatgruppe entfernt und die so entstehende Glu- kann. In dem von Sutherland und Kollegen unter-
cose in die Blutbahn freigesetzt werden, so dass andere suchten System führt die Bindung von Adrenalin
Zellen im Körper diese aufnehmen und verwerten kön- an ein Rezeptorprotein in der Plasmamembran
nen. Eine Wirkung des von der Nebenniere unter Stress von Leberzellen letztlich zu einer Aktivierung der
ausgeschütteten Adrenalins besteht also in der Mobi- Glykogenphosphorylase. Die Übertragung umfasst
lisierung von Energiereserven, die entweder zur Selbst- manchmal nur einen Schritt (zum Beispiel bei Ste-
verteidigung („fight“) oder zur Flucht („flight“) genutzt roidhormonen), beinhaltet in der Regel aber eine
werden können. (Die Schwarzfersenantilope hat sich Folge von Veränderungen in einer ganzen Kette
offensichtlich für das Letztere entschieden; Abbildung verschiedener Moleküle, die zusammen den Sig-
11.1). Sutherlands Forschungsgruppe fand heraus, dass naltransduktionsweg bilden. Die verschiedenen
das Adrenalin den Glykogenabbau anstößt, indem es Glieder der Signalkette werden oft als „Vermittler“
letztlich die cytosolische Glykogenphosphorylase akti- bezeichnet.
viert. Setzte man aber einer Mischung des Enzyms und

extrazelluläre Cytoplasma Abbildung 11.6: Allgemeine Über-


Flüssigkeit Plasmamembran sicht zur Signalübertragung. Die Sig-
nalweiterleitung kann aus Sicht der Zielzelle
1 Erkennung 2 Übertragung 3 Antwort im Wesentlichen in drei Schritte unterglie-
dert werden: die Signalerkennung, die Über-
Rezeptor
tragung und die zelluläre Antwort. Wird,
Aktivierung wie hier dargestellt, ein Signal an der Plas-
der zellulären mamembran erkannt, so kann die weitere
Antwort
Signalübertragungskaskade Übertragung in zahlreiche Zwischenschritte
zerlegt werden. Dabei verändert jedes Glied
in dieser Signalkette das nächste Molekül
der Kette. Das letzte Molekül in der Signal-
Signal-
molekül kette löst dann eine entsprechende zelluläre
Antwort aus.
? Wie passt das von Sutherland et al. bearbeitete Hormon Adrenalin in dieses Diagramm der zellulä-
ren Signaltransduktion?

275
11 Zelluläre Kommunikation

3. Zelluläre Antwort. Im dritten Stadium der zellulä- dieser, das Signal wahrzunehmen und darauf zu reagie-
ren Signaltransduktion wird schließlich eine spezi- ren. Die dreidimensionale Struktur des Adrenalins ist
fische zelluläre Antwort ausgelöst. Dabei kann es komplementär zu einem bestimmten Bereich des Rezep-
sich um die verschiedensten zellulären Aktivitäten torproteins und passt dort wie der Schlüssel in ein
handeln, zum Beispiel um die Katalyse durch ein Schloss, ähnlich wie wir es bereits bei der Bindung eines
aktiviertes Enzym (wie im Fall der beschriebenen Substrats an das aktive Zentrum eines Enzyms kennen-
Glykogenphosphorylase), die Umstrukturierung gelernt haben. Signalmoleküle werden daher auch als
des Cytoskeletts oder die Aktivierung der Expres- Liganden ihrer Rezeptorproteine bezeichnet (lat. ligare,
sion bestimmter Gene im Zellkern. Der zelluläre binden, anbinden, zusammenbinden, verknüpfen).
Signalverarbeitungsprozess hilft dabei sicherzustel- Die Bindung eines Liganden führt in der Regel dazu,
Teil 2
len, dass wichtige zelluläre Aktivitäten nur in den dass das Rezeptorprotein (häufig auch kurz Rezeptor
richtigen Zellen und zur richtigen Zeit ablaufen genannt) seine Konformation ändert. Bei vielen Rezep-
und dass diese korrekt mit den anderen Zellen des toren führt diese Konformationsänderung unmittelbar
Körpers koordiniert werden. Wir werden nun die zu einer Aktivierung, die den Rezeptor in die Lage ver-
Mechanismen der zellulären Signaltransduktion im setzt, mit anderen Molekülen in der Zelle in Wechsel-
Einzelnen betrachten und dabei auf die Regulation wirkung zu treten. Bei anderen Rezeptortypen hat die
und das Abschalten von Signaltransduktionswegen Ligandenbindung erst das Zusammenlagern von Rezep-
eingehen. torproteinen zur Folge, bevor es zu weiteren Schritten
in der Signaltransduktion kommt.
Die meisten Rezeptoren sind Proteine in der Plasma-
 Wiederholungsfragen 11.1 membran. Ihre Liganden sind wasserlösliche Mole-
küle, die aufgrund ihrer Größe und/oder ihrer elektri-
1. Erläutern Sie, wie ein Signalprozess sicherstellt, schen Ladung nicht ungehindert durch die Membran
dass Hefezellen nur mit Zellen des entgegenge- gelangen können. Andere Rezeptorproteine befinden
setzten Paarungstyps fusionieren. sich jedoch im Inneren der Zelle. Wir stellen nachfol-
2. In welchem der drei Stadien der Signaltrans- gend beide Typen vor.
duktion wirkt in Leberzellen die Glykogen-
phosphorylase, die in den vom Adrenalin aus-
gelösten Signalweg eingebunden ist? 11.2.1 Rezeptorproteine in der
Plasmamembran
3. WAS WÄRE, WENN? Wird Glucose-1-phosphat
gebildet, wenn Glykogen, Adrenalin und Gly- Spezifische, in die Plasmamembran der Zielzellen
kogenphosphorylase in einem Reagenzglas ge- eingebettete Rezeptorproteine (integrale Membranpro-
mischt werden? Warum oder warum nicht? teine), spielen eine entscheidende Rolle in allen tieri-
schen Zellen. Die größte Familie der in der Plasma-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. membran menschlicher Zellen verankerten Rezeptoren
umfasst die sogenannten G-Protein-gekoppelten Rezep-
toren (kurz GPCR) mit fast 1.000 Mitgliedern. Ein Bei-
spiel ist in Abbildung 11.7 dargestellt.
Signalwahrnehmung:
β2-adrenerge ein dem natürlichen
Ein Signalmolekül bindet Rezeptoren Liganden ähnliches
an ein Rezeptorprotein
11.2 Molekül

Das Signal eines Radiosenders wird zwar wahllos über-


tragen, kann aber von jedem Radio empfangen werden, Plasma-
membran
das auf die richtige Frequenz eingestellt ist. Die Spezifi-
tät wird also durch den Empfänger sichergestellt. Ganz
ähnlich wird das von einer Hefezelle des Paarungstyps a
ausgesendete Signal nur von den Zellen prospektiver
Cholesterin
Paarungspartner des Paarungstyps α wahrgenommen. Im
Falle des im Blutkreislauf unserer Antilope zirkulieren- Abbildung 11.7: Die Struktur eines G-Protein-gekoppelten Rezep-
den Adrenalins kommen viele verschiedene Zelltypen tors (GPCR). Hier ist das Modell des humanen β2-adrenergen Rezeptors in
mit diesem in Kontakt. Das Hormon wird aber nur von Gegenwart von Cholesterol (orange) und Molekülen eines künstlichen Ligan-
bestimmten, als Zielzellen bezeichneten Zelltypen, den (grün) dargestellt, die dem natürlichen Liganden ähneln. Zwei Rezeptor-
wahrgenommen und nur diese reagieren darauf. Ein proteine (blau) sind in Seitenansicht, eingebettet in die Plasmamembran, zu
Rezeptorprotein auf oder in der Zielzelle ermöglicht es erkennen.

276
11.2 Signalwahrnehmung: Ein Signalmolekül bindet an ein Rezeptorprotein

 Abbildung 11.8: Näher betrachtet


Integrale Membranrezeptoren an der Zelloberfläche.

G-Protein-gekoppelter Rezeptor
Signalmolekül-Bindungsstelle Ein G-Protein-gekoppelter Rezeptor (GPCR) ist ein G-Protein-gekoppelte Rezeptorsysteme sind extrem Teil 2
integrales Rezeptorprotein der Plasmamembran, das weit verbreitet und spielen eine wichtige Rolle bei
im Verbund mit einem G-Protein arbeitet. Ein vielen unterschiedlichen Prozessen, wie beispielsweise
G-Protein kann die Guaninnucleotide GTP und GDP bei der Embryonalentwicklung und der Sinneswahrneh-
(daher der Name) binden. Viele verschiedene Boten- mung. So vermitteln sie beim Menschen sowohl das
stoffe, wie die Paarungsfaktoren von Hefen, Nor- Sehen, als auch das Riechen und das Schmecken. Die
adrenalin und viele andere Hormone, aber auch strukturellen Ähnlichkeiten verschiedener G-Proteine
Neurotransmitter, wirken über GPCRs. Diese Rezep- und ihrer GPCRs aus völlig unterschiedlichen Organis-
toren unterscheiden sich in den Bindestellen für das men legen den Schluss nahe, dass G-Proteine und die
Signalmolekül (d.h. in ihren Liganden) und den im mit ihnen assoziierten Rezeptoren schon sehr früh in
Zellinnern angesteuerten G-Proteinen. Trotzdem der Evolution der Eukaryonten entstanden sind. Fehl-
mit G-Proteinen findet man eine erstaunliche Ähnlichkeit in den funktionen der entsprechenden G-Proteine wurden bei
wechselwirkendes Strukturen aller G-Protein-gekoppelten Rezeptoren: vielen menschlichen Krankheiten entdeckt, so unter
Segment Alle enthalten sieben, die Membran durchspannende anderem bei manchen Bakterieninfektionen. Bakte-
α-Helices, die in unserem Schema aus Gründen der rien, die Cholera, Keuchhusten, Botulismus und
G-Protein-gekoppelter Rezeptor Übersichtlichkeit nebeneinander in einem Bänder- andere Krankheiten auslösen, bilden häufig Toxine,
modell dargestellt sind. Für das jeweilige Protein welche die Funktion von G-Proteinen beeinträchtigen.
spezifische Schlaufen zwischen den Helixbereichen Pharmakologen gehen davon aus, dass bis zu 60 %
bilden Bindungsstellen für die Liganden (auf der aller heute verwendeten Medikamente ihre Wirkung
Außenseite der Zelle) und G-Proteine (auf der über die Beeinflussung von G-Protein-vermittelten
cytoplasmatischen Seite) aus. Signalwegen entfalten.

G-Protein-gekoppelter Plasmamembran inaktiver Effektor


aktivierter Signalmolekül
Rezeptor Rezeptor

GTP
GDP
G-Protein GTP
Effektor GDP
G
CYTOPLASMA (inaktiv)

1 Locker an die cytoplasmatische Seite der Membran gebunden, fungiert 2 Wenn ein geeignetes Signalmolekül an seine extrazelluläre Seite
ein G-Protein als molekularer Schalter, der entweder ein- oder aus- bindet, wird der Rezeptor aktiviert und verändert seine Konformation.
geschaltet ist. Dies hängt von der Art des gebundenen Nukleotids ab, Auf der cytoplasmatischen Seite wird dann das inaktive, mit GDP
im oben gezeigten GDP-gebundenen Zustand ist es inaktiv, im beladene G-Protein gebunden. GDP wird gegen GTP ausgetauscht,
GTP-gebundenen dagegen aktiv. Der Rezeptor und das G-Protein wodurch das G-Protein aktiviert wird.
arbeiten mit einem weiteren Effektorprotein zusammen, bei dem es
sich oft um ein Enzym handelt.

aktiver
Effektor

GTP
GDP

Pi

zelluläre Antwort

3 Das aktive G-Protein löst sich vom Rezeptor, diffundiert an der 4 Die Aktivitätsänderungen des G-Proteins und des Effektorproteins sind
Membran entlang, bindet schließlich an ein Effektorprotein/Enzym und nur temporär, weil das G-Protein selbst eine GTPase-Aktivität besitzt –
verändert dessen Struktur und Aktivität. Dies führt zum nächsten es kann also das gebundene GTP wieder zum GDP hydrolysieren. So
Schritt in der Signalkette und letztlich zu einer zellulären Antwort. Die wieder inaktiv geworden, löst sich das G-Protein vom Effektorprotein,
Bindung des Liganden ist umkehrbar (reversibel): viele Liganden binden das wieder in seinen Ausgangszustand zurückkehrt. Das G-Protein
mehrfach und lösen sich wieder ab. Entscheidend ist hier die Liganden- seinerseits steht nun zur Wiederverwendung bereit. Durch die
konzentration außerhalb der Zelle. Diese bestimmt, wie oft ein Ligand GTPase-Aktivität des G-Proteins kann die Signalübertragung schnell
bindet und eine Signalweiterleitung auslöst. abgeschaltet werden, wenn keine Signalmoleküle mehr auf die
Rezeptoren einwirken.
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277
11 Zelluläre Kommunikation

 Abbildung 11.8 (Forts.): Näher betrachtet


Integrale Membranrezeptoren an der Zelloberfläche.

Rezeptor-Tyrosinkinasen
Teil 2 Rezeptor-Tyrosinkinasen (RTKs) gehören zu einer großen Klasse von auslösen. So kann durch ein Signalmolekül oft mehr als nur ein Signaltrans-
enzymatisch aktiven Plasmamembranrezeptoren. Eine Kinase ist ein Enzym, duktionsweg beeinflusst werden, was die Zelle in die Lage versetzt, viele
das die Übertragung einer Phosphatgruppe katalysiert. Der in das Cyto- Aspekte des Zellwachstums und der Zellteilung zu regulieren und mitein-
plasma ragende Teil des Rezeptors fungiert als Tyrosinkinase, katalysiert ander zu koordinieren. Die Fähigkeit der Rezeptor-Tyrosinkinasen nach
also die Übertragung eines vom ATP stammenden Phosphats auf die Bindung eines Liganden viele Stoffwechselwege gleichzeitig ansteuern zu
Aminosäure Tyrosin innerhalb eines Substratproteins. RTKs sind damit können, unterscheidet sie ganz wesentlich von den G-Protein-gekoppelten
Membranrezeptoren, die Phosphat auf Tyrosinreste in Proteinen Rezeptoren, die meist nur einen einzigen Signalweg aktivieren. Mutierte
übertragen. Rezeptor-Tyrosinkinasen, die auch ohne Signalmoleküle dauerhaft aktiviert
Eine bestimmte Rezeptor-Tyrosinkinase kann mehr als zehn verschiedene sind, sind an der Entstehung mancher Krebsarten beteiligt.
Signalwege aktivieren und entsprechend viele zelluläre Antworten

Signalmolekül
(Ligand) Liganden-Bindungsstelle

Signal-
α-Helix in der
moleküle
Membran

Tyr Tyr Tyr Tyr Tyr


Tyr
Tyrosinreste Tyr Tyr
Tyr Tyr Tyr Tyr
Tyr Tyr Tyr Tyr Tyr
Tyr

Rezeptortyrosinkinasen Dimer
(inaktive Monomere)
CYTOPLASMA

1 Viele Rezeptor-Tyrosinkinasen haben eine Struktur, wie sie hier sche- 2 Die Bindung eines Signalmoleküls, zum Beispiel eines Wachstumsfak-
matisch abgebildet ist. Vor der Bindung des Signalmoleküls liegen die tors, führt zur Dimerisierung zweier Polypeptide. (In einigen Fällen
Rezeptoren als Monomere (einzelne Polypeptide) vor. Jedes Polypeptid bilden sich auch höhermolekulare „Cluster“, wobei die Zusammen-
besitzt eine extrazelluläre Bindestelle für den Liganden, eine membran- lagerung der Monomere zur Zeit noch intensiv untersucht wird).
durchspannende α-Helix und einen intrazellulären Teil, der mehrere
Tyrosinreste enthält.

aktivierte
Übertragungsproteine

zelluläre
Tyr Tyr P Tyr Tyr P Tyr Tyr P
P Antwort 1
Tyr Tyr P Tyr Tyr P Tyr Tyr P
P
Tyr Tyr P Tyr Tyr P Tyr Tyr P
P zelluläre
6 ATP 6 ADP
Antwort 2
aktivierte vollständig aktivierte
Tyrosinkinasebereiche Rezeptortyrosinkinase
(unphosphoryliertes Dimer) (phosphoryliertes Dimer)
inaktive
Übertragungsproteine

3 Durch Dimerisierung der beiden Monomere werden deren Tyrosinki- 4 Das dimerisierte Rezeptorprotein ist jetzt vollständig aktiviert und kann
nase-Regionen aktiviert; jede Tyrosinkinase überträgt nun jeweils eine von bestimmten zellulären Vermittlerproteinen erkannt werden. Die
Phosphatgruppe vom ATP auf die Tyrosinreste im cytoplasmatischen Bindung dieser Vermittlerproteine an phosphorylierte Tyrosinreste des
Teil ihres Partners. Rezeptorproteins führt zu ihrer Aktivierung. Jedes der so aktivierten
Proteine kann nun einen Signaltransduktionsweg in Gang setzen, der
zu einer zellulären Antwort führt.

278
11.2 Signalwahrnehmung: Ein Signalmolekül bindet an ein Rezeptorprotein

Die meisten wasserlöslichen Signalmoleküle binden an


bestimmte Stellen der in der Plasmamembran eingebet-
teten Rezeptorproteine, die äußere Signale ins Zellin-
nere weiterleiten. Um die Arbeitsweise solcher integra-
len Membranrezeptoren zu verstehen, wollen wir uns
die drei wesentlichen Typen näher betrachten. Dies sind
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, Rezeptor-Tyrosinkina-
sen und Liganden-gesteuerte Ionenkanäle. Betrachten
Liganden-gesteuerte Ionenkanäle Sie bitte eingehend die in Abbildung 11.8 erklärten
Rezeptortypen, bevor Sie weiterlesen.
Ein Liganden-gesteuerter Ionenkanal ist ein Membranrezeptortyp, der Teil 2
Angesichts der vielen wichtigen Aufgaben von Mem-
einen als Ionenkanal fungierenden Transmembranbereich enthält. Dieser
Ionenkanal öffnet sich, wenn der Rezeptor seine Konformation aufgrund branrezeptoren ist es nicht verwunderlich, dass ihre
der Bindung eines Liganden ändert. Je nach Rezeptortyp können nun Fehlfunktion bei zahlreichen Krankheiten, wie bei-
bestimmte Ionen wie z.B. Na+ oder Ca2+ durch den Kanal strömen. Wie die spielsweise Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder
anderen gerade besprochenen Rezeptoren binden auch diese Proteine den
Liganden an einer spezifischen Stelle auf ihrer extrazellulären Seite. Asthma, auftritt. Um die Auswirkungen solcher Fehl-
funktionen auf den menschlichen Körper besser zu
verstehen, konzentriert sich sowohl die Forschung an
1 Ein Liganden-gesteuer-
ter Ionenkanal ist
Signal- Ionenkanal Universitäten als auch die der pharmazeutischen Indus-
molekül Ionen
geschlossen, solange (Ligand)
geschlossen trie darauf, die Struktur dieser Rezeptoren aufzuklä-
kein Ligand an ihn ren.
bindet.
Obwohl Rezeptorproteine der Zelloberfläche etwa 30
Prozent aller menschlichen Proteine ausmachen, ist die
Aufklärung ihrer Struktur immer noch eine Heraus-
forderung für die Forschung: Nur ein Prozent aller
Plasma-
Liganden-gesteuerter membran
Proteine, deren Aufbau durch Röntgenstrukturanalysen
Ionenkanal aufgeklärt werden konnte, stammt aus dieser Klasse
(Abbildung 5.22). Dies ist unter anderem auf die Flexi-
bilität und Instabilität dieser Proteine zurückzuführen,
was ihre Kristallisation deutlich erschwert. Es brauchte
2 Die Bindung eines
Ionenkanal Jahre unermüdlichen Einsatzes, um die ersten Struktu-
Liganden an den Ionen- geöffnet
kanal führt zu dessen ren weniger Rezeptoren, wie die des GPCR in Abbil-
Öffnung. Der Durch- dung 11.7, zu bestimmen. In diesem speziellen Fall
fluss bestimmter Ionen
führt nun zu einer konnte der β-adrenerge Rezeptor erst nach der Zugabe
schnellen Konzentra- von Membrankomponenten und seines Liganden kris-
tionsänderung des be- tallisiert werden.
treffenden Ions inner-
halb der Zelle. Dies zelluläre
Fehlfunktionen von Rezeptor-Tyrosinkinasen gehen
kann sich direkt auf die Antwort häufig mit verschiedenen Krebsformen einher. So sin-
intrazellulären Aktivi- ken die Heilungsaussichten von Brustkrebspatientin-
täten auswirken und so
eine Antwort der Zelle nen, die in ihren Tumorzellen erhöhte Konzentrationen
auslösen. der Rezeptor-Tyrosinkinase HER2 aufweisen (siehe
3 Wenn der Ligand sich Ionenkanal geschlossen
Konzept 12.3 und Abbildung 18.27). Mittels moleku-
vom Rezeptor löst, larbiologischer Methoden war es Forschern möglich,
schließt sich der Ionen- ein Protein namens Herceptin zu entwickeln, das an
kanal und der Ionen-
fluss über die Membran
HER2 bindet, die Teilung der Tumorzellen verhindert
ist unterbrochen. und so eine weitere Entwicklung des Tumors aufhält.
Tatsächlich erwies sich die Behandlung mit Herceptin
in klinischen Studien als erfolgversprechend, mit einer
Liganden-gesteuerte Ionenkanäle spielen eine zentrale Rolle im Nervensys- Steigerung der Überlebensrate um mehr als ein Drittel.
tem. Beispielsweise binden im synaptischen Spalt freigesetzte Neurotrans-
mitter an Ionenkanäle der Zielzellen, was zur Öffnung solcher Kanäle führt.
Die Entwicklung besserer Behandlungsmöglichkeiten
Ionen strömen in die Zielzelle ein oder heraus (jeweils abhängig von der Art ist eines der Hauptziele der Forschung an den Rezep-
des Kanals und den Ionenkonzentrationen), was ein elektrisches Signal in toren der Zelloberfläche und anderen Komponenten
der Zielzelle erzeugt. Einige Ionenkanäle werden statt durch Liganden
durch elektrische Signale gesteuert. Diese spannungsabhängigen Ionen- der zellulären Signalübertragung.
kanäle sind entscheidend für die Signalübertragung innerhalb des
Nervensystems (vgl. Kapitel 48). Einige Ionenkanäle sind auch in die
Membran von Organellen, wie die des endoplasmatischen Reticulums,
eingebettet. 11.2.2 Intrazelluläre Rezeptorproteine

Z U S A M M E N H Ä N G E E R K E N N E N Ist der Fluss von Ionen durch


Intrazelluläre Rezeptorproteine befinden sich entwe-
einen Liganden-gesteuerten Ionenkanal ein Beispiel für einen aktiven oder der im Cytoplasma oder im Zellkern der Zielzellen. Um
für einen passiven Transport? (Ziehen Sie die Konzepte 7.3 und 7.4 zu Rate) einen solchen Rezeptor zu erreichen, muss ein Signal-
molekül über die Plasmamembran in die Zielzelle gelan-
gen. Eine Reihe wichtiger Botenstoffe können dies, weil

279
11 Zelluläre Kommunikation

sie so hydrophob sind, dass sie die Phospholipid-Dop- Hormon EXTRAZELLULÄRE


pelschicht der Membran durchqueren können. Hierzu (Aldosteron) FLÜSSIGKEIT
1 Das Steroidhor-
gehören beispielsweise die Steroidhormone und die mon Aldosteron
Schilddrüsenhormone der Tiere. Ein weiteres Signal- durchquert die
molekül mit einem intrazellulären Rezeptor ist Stick- Plasma- Plasmamembran.
stoffmonoxid (NO), das so klein und wenig polar ist, membran
2 Aldosteron bin-
dass es problemlos durch die Phospholipid-Doppel- det an ein Rezep-
Rezeptor-
schicht diffundieren kann. protein torprotein im
Hat ein Hormon erst einmal das Innere der Zelle Hormon/ Cytoplasma und
erreicht, bindet es an einen spezifischen Rezeptor im Rezeptor- aktiviert dieses.
Teil 2 komplex 3 Der Hormon/Re-
Cytoplasma oder im Zellkern. Diese Bindung führt zur
Bildung eines Hormon-Rezeptor-Komplexes, der dann zeptorkomplex
tritt in den Zell-
in der Lage ist, eine Zellantwort auszulösen. In den kern über und
meisten Fällen handelt es sich bei dieser Zellantwort bindet an Regu-
um eine Aktivierung oder eine Repression der Gen- latorbereiche be-
expression bestimmter Gene und/oder Gengruppen. stimmter Gene.
Die Wirkung des Aldosterons soll hier stellvertre- DNA 4 Das gebundene
tend für die Gruppe der Steroidhormone stehen. Das Protein wirkt als
Hormon wird von den Nebennieren, einer Drüse, die mRNA Transkriptionsfak-
tor und stimuliert
sich oberhalb der Nieren befindet, produziert und aus- damit die Trans-
geschüttet und es gelangt dann über die Blutbahn in kription des be-
alle Bereiche des Körpers. Allerdings reagieren nur neues treffenden Gens
ZELLKERN Protein
Nierenzellen auf das Hormon, weil nur sie den ent- in mRNA.
sprechenden Rezeptor bilden. Nach Bindung des Aldos- 5 Die mRNA wird in
terons an seinen Rezeptor ist der Hormon-Rezeptor- ein spezifisches
Komplex aktiv und kann so in den Zellkern gelangen, Protein transla-
CYTOPLASMA
um die Expression der entsprechenden Zielgene zu tiert.
aktivieren. Hierunter fallen Gene, deren Genprodukte Abbildung 11.9: Steroidhormone binden an einen intrazellulä-
den Wasser- und Natriumionenhaushalt in Nierenzel- ren Rezeptor und verändern die Genexpression.
len steuern und letztlich auch das Blutvolumen regu-
lieren (Abbildung 11.9). ? Warum benötigt dieses Steroidhormon kein Rezeptorprotein auf der
Wie schaltet der aktive Hormon/Rezeptorkomplex Zelloberfläche, um in die Zelle zu gelangen?
Gene an? Sie wissen, dass die Gene in der DNA einer
Zelle zu Boten-RNA (mRNA) transkribiert (umgeschrie-
 Wiederholungsfragen 11.2
ben) werden können. Diese mRNA verlässt den Zell-
kern und wird durch die Ribosomen im Cytoplasma
1. Der Nervenwachstumsfaktor (NGF; nerve growth
der Zelle in spezifische Proteine übersetzt (trans-
factor) ist ein wasserlösliches Signalmolekül.
latiert; siehe Abbildung 5.23). Spezielle Proteine, die
Würden Sie erwarten, dass der NGF-Rezeptor
Transkriptionsfaktoren, steuern die Transkription von
ein intrazelluläres Protein oder ein Plasma-
Genen und legen fest, welche Gene zu welchem Zeit-
membranprotein ist? Warum?
punkt in welchem Zelltyp aktiv sind. Der aktive Aldo-
steron-Rezeptor wirkt wie alle Steroidrezeptoren als 2. WAS WÄRE, WENN? Welche Auswirkungen hätte
Transkriptionsfaktor, der an spezifische DNA-Sequen- es, wenn eine Zelle defekte Rezeptor-Tyrosin-
zen von Zielgenen bindet, wodurch die Transkription kinaseproteine herstellt, die nicht dimerisie-
dieser Gene reguliert wird. (Sie werden mehr über ren können?
Transkriptionsfaktoren in Kapitel 17 und 18 erfahren).
Dadurch, dass es sich beim Aldosteron-Rezeptor und 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Ist die Bindung des
anderen Steroidrezeptoren um Transkriptionsfaktoren Liganden an einen Rezeptor vergleichbar mit
handelt, sind sie selbst an der Übertragung des extrazel- der allosterischen Regulation von Enzymen?
lulären Signals (hier des Hormons) auf intrazelluläre Vergleichen sie dazu auch Abbildung 8.20.
Signalwege beteiligt. Die meisten anderen intrazellu-
lären Rezeptortypen funktionieren auf ähnliche Weise. 4. WAS WÄRE, WENN? Das Modell in Abbildung
Allerdings befinden sich viele davon bereits im Zell- 11.7 zeigt den Rezeptor in seinem inaktiven Zu-
kern, bevor das Signal sie erreicht (ein Beispiel hierfür stand, d.h. nicht gebunden an ein G-Protein.
sind die Rezeptoren für die Schilddrüsenhormone). Schlagen sie einen Versuchsansatz vor, wie Sie
Interessanterweise besitzen viele der intrazellulären das Rezeptorprotein im aktiven Zustand kristal-
Rezeptoren eine ähnliche Struktur, was auf eine ent- lisieren und seine Struktur aufklären könnten.
wicklungsgeschichtliche Verwandtschaft hinweist.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

280
11.3 Signalübertragung: Die stufenweise intrazelluläre Signalweiterleitung

Signalübertragung: weg wandert. In den meisten Fällen gelangt es noch


nicht einmal in die Zelle hinein. Wenn wir von Sig-
Wechselwirkungen auf nalübertragung reden, meinen wir damit, dass die von
molekularer Ebene leiten dem Signalmolekül ausgehende Information weiterge-
stufenweise das Signal vom geben wird. In erster Näherung gilt, dass das Signal auf
jeder Stufe der Übertragung eine neue Form annimmt.
Rezeptor an Zielmoleküle Häufig handelt es sich dabei um Konformationsände-
in der Zelle weiter
11.3 rungen von Proteinen. In vielen Fällen wird die Konfor-
mationsänderung durch eine selektive Phosphorylie-
rung hervorgerufen.
Teil 2
Sind Plasmamembran-Proteine die Signalrezeptor-Mole-
küle (der häufigste Fall), so besteht die Signalübertra-
gung in der Regel aus mehreren Schritten. Zu den int- 11.3.2 Proteinphosphorylierung und
razellulären Schritten gehört oft eine Aktivierung von Proteindephosphorylierung
Proteinen durch Phosphorylierung oder Dephospho-
rylierung oder die Freisetzung von sekundären Boten- Vorangegangene Kapitel haben das Konzept der Protein-
stoffen. Ein Vorzug der Mehrstufigkeit liegt in der aktivierung durch das Anhängen einer oder mehrerer
Möglichkeit, ein Signal erheblich zu verstärken. Wenn Phosphatgruppen an ein Zielprotein bereits vorgestellt
einzelne Moleküle der Kaskade das Signal an mehrere (siehe Abbildung 8.11a). In der Abbildung 11.8 haben
nachgeschaltete Moleküle weiterreichen, ergibt dies wir bereits gesehen, wie eine Phosphorylierung zur Akti-
eine große Zahl aktiver Moleküle am Ende des Sig- vierung von Rezeptor-Tyrosinkinasen führt. Tatsächlich
naltransduktionsweges. ist die Phosphorylierung und Dephosphorylierung von
Darüber hinaus bieten mehrstufige Wege im Gegen- Proteinen ein sehr weit verbreiteter Mechanismus zur
satz zu einfacheren Systemen mehr Möglichkeiten zur Steuerung von Proteinaktivitäten. Enzyme, die eine
Regulation und Koordination verschiedener Wege. Sie Phosphatgruppe vom ATP auf ein Protein übertragen,
erlauben eine Feinabstimmung der Antwort, und dies werden allgemein als Proteinkinasen bezeichnet. Wir
sowohl bei einzelligen als auch bei vielzelligen Orga- haben bereits gesehen, dass eine Rezeptor-Tyrosin-
nismen, wie Sie im weiteren Verlauf des Kapitels sehen kinase nach der Dimerisierung Tyrosinreste anderer
werden. komplexierter Rezeptor-Tyrosinkinasen phosphoryliert.
Die meisten cytoplasmatischen Proteinkinasen phos-
phorylieren jedoch andere Proteine als die des eige-
11.3.1 Signaltransduktionswege nen Typs. Außerdem phosphorylieren die meisten
cytoplasmatischen Proteinkinasen Serin- und Threo-
Die Bindung eines Signalmoleküls an einen Rezeptor ninreste von Proteinen, nicht aber Tyrosinreste. Sol-
in der Plasmamembran löst den ersten Schritt in der che Serin/Threoninkinasen sind bei Tieren, Pflanzen
Kette molekularer Wechselwirkungen aus, die in ihrer und Pilzen weit verbreitet und in zahlreiche Signal-
Gesamtheit den Signaltransduktionsweg ausmachen transduktionswege eingebunden.
und schließlich in der Zelle zu einer bestimmten Ant- Viele der Proteine in Signaltransduktionswegen sind
wort führen. Wie ein umfallender Dominostein akti- Proteinkinasen, die oft auf andere, nachgeschaltete Pro-
viert der durch das Signalmolekül aktivierte Rezeptor teinkinasen im Übertragungsweg wirken. Abbildung
ein weiteres Protein. Dieser Vorgang setzt sich fort, bis 11.10 zeigt eine hypothetische Signalkette mit drei ver-
schließlich diejenigen Proteine erreicht werden, die schiedenen Proteinkinasen, die zusammen eine Phos-
für die zelluläre Antwort sorgen. Auch kann, um im phorylierungskaskade bilden. Die dargestellte Abfolge
Bild zu bleiben, mehrfach ein einzelner Dominostein ähnelt vielen bekannten Signaltransduktionswegen in
mehrere andere zum Umfallen bringen und dadurch Eukaryonten. Dazu gehören beispielsweise auch der
eine Verstärkung der anfänglichen Reaktionsfolge durch Paarungspheromone ausgelöste Signalweg bei
bewirken. Anders als Dominosteine, die nacheinander Hefen (siehe oben) und durch Wachstumsfaktoren akti-
umstürzen, wenn sie einmal in Gang gesetzt wurden, vierte Signalwege in vielen tierischen Zellen. Das Sig-
kann eine Signalübertragungskaskade durch regulato- nal wird durch eine Kaskade aufeinander folgender
rische Wechselwirkungen aber noch moduliert wer- Proteinphosphorylierungen weitergeleitet, die jeweils
den. Wechselwirkungen zwischen Proteinen sind ein eine neuerliche Konformationsänderung bewirken.
zentraler Bestandteil der zellulären Signalübertra- Jede derartige Konformationsänderung ergibt sich aus
gung. Tatsächlich stellen Protein-Protein-Wechselwir- den Wechselwirkungen der Phosphatgruppen mit gela-
kungen (und Wechselwirkungen von Proteinen mit denen oder polaren Aminosäureresten der Polypeptid-
anderen Molekülen, wie zum Beispiel mit Nuclein- kette des phosphorylierten Proteins (siehe Abbildung
säuren oder Lipiden) ein gemeinsames Grundprinzip 5.14). Häufig überführt die Phosphorylierung das Pro-
aller Regulationsprozesse auf zellulärer Ebene dar. tein von einem inaktiven in einen aktiven Zustand,
Wir wollen nicht vergessen, dass das ursprüngliche kann umgekehrt aber auch eine Inaktivierung des Ziel-
Signalmolekül selbst nicht durch den Übertragungs- proteins bewirken.

281
11 Zelluläre Kommunikation

Signalmolekül

aktiviertes
Rezeptor Übertragungs-
protein
1 Das Übertragungsprotein
aktiviert die Proteinkinase 1.
Teil 2 inaktive
Proteinkinase 2 Die aktive Proteinkinase 1
1 aktive überträgt ein Phosphat

Ph
Protein-

os
vom ATP auf eine inaktive

p
kinase 1 Proteinkinase 2, die

ho
ry
hierdurch aktiviert wird.

lie
ru
inaktive

ng
Proteinkinase ATP

sk
2 ADP P

a
aktive 3 Die aktive Proteinkinase 2

sk
a
Protein- katalysiert nun die Phos-

de
PP kinase 2 phorylierung (und damit
P i die Aktivierung) der
Proteinkinase 3.
inaktive
Proteinkinase ATP
3 ADP P
aktive 4 Schließlich phosphoryliert
Protein- die aktivierte Proteinkinase 3
5 Als Proteinphosphatasen (PP)
PP kinase 3 ein Protein (rosa), das für die
bezeichnete Enzyme katalysieren P i
die Abspaltung der Phosphat- Antwort der Zelle auf das
gruppen von den aktiven inaktives Signal sorgt.
Proteinen, was diese inaktiviert Protein ATP
und sie damit für die Wiederver- ADP P
wendung in einem neuen aktives zelluläre
Übertragungszyklus bereitstellt. Protein Antwort
PP
Pi

Abbildung 11.10: Eine Phosphorylierungskaskade. In einer Phosphorylierungskaskade werden verschiedene Proteine in einem Stoffwechselweg
nacheinander phosphoryliert. In diesem schematischen Beispiel aktiviert die Phosphorylierung alle Proteine und eine nachfolgende Dephosphorylierung
versetzt ein jedes wieder in den inaktiven Zustand. Die aktive und die inaktive Form jedes Proteins werden durch verschiedene geometrische Formen dar-
gestellt, um zu betonen, dass die Änderung des Aktivitätszustandes normalerweise mit einer Änderung der Proteinkonformation einhergeht.

WAS WÄRE, WENN? Was würde passieren, wenn die Proteinkinase 3 aufgrund einer Mutation nicht mehr phosphoryliert werden könnte?

Die Bedeutung der Proteinkinasen kann nicht hoch ge- phosphatasen können Signaltransduktionswege also
nug eingeschätzt werden. Schätzungsweise codieren wieder abgeschaltet werden, wenn das auslösende Sig-
ungefähr zwei Prozent unserer Gene für Proteinkinasen. nal nicht länger vorhanden ist. Die Phosphatasen ermög-
Eine einzelne Zelle kann mehrere hundert verschiedene lichen eine Wiederverwendung der zuvor phospho-
Proteinkinasen enthalten, von denen jede eine be- rylierten Proteine, so dass die Zelle ohne hohen
stimmte Spezifität zu ihren Substratproteinen aufweist. Substanzverlust immer wieder auf eingehende extrazel-
Zusammengenommen regulieren die Proteinkinasen luläre Signale reagieren kann. Die Aktivität eines phos-
wahrscheinlich einen Großteil der vielen tausend Pro- phorylierbaren Proteins zu einem bestimmten Zeitpunkt
teine in einer Zelle. Darunter finden sich die meisten der hängt damit von den relativen Mengen aktiver Kinase-
Proteine, die an der Regulation der Zellteilung beteiligt und Phosphatasemoleküle ab.
sind. Eine veränderte Aktivität einer in diese Vorgänge
eingebundenen Proteinkinase kann zu einem abnorma-
len Wachstums- und Teilungsverhalten der Zelle führen 11.3.3 Kleine Moleküle und Ionen als
und so zur Entstehung von Krebs beitragen. sekundäre Botenstoffe
Von gleicher Bedeutung für die Phosphorylierungskas-
kaden sind die Proteinphosphatasen, die Phosphatgrup- Nicht alle Komponenten von Signaltransduktionswe-
pen wieder von phosphorylierten Proteinen abspalten gen sind notwendigerweise Proteine. Viele Signalwege
(Dephosphorylierung). Durch die Dephosphorylierung bedienen sich zusätzlich niedermolekularer Verbin-
hebt eine Proteinphosphatase die Wirkung der entspre- dungen, die in der Regel wasserlösliche Moleküle oder
chenden Proteinkinase wieder auf und inaktiviert so ein Ionen sind und als sekundäre Botenstoffe bezeichnet
vorher aktives Protein (oder umgekehrt). Durch Protein- werden. Das extrazelluläre Signalmolekül, das die Sig-

282
11.3 Signalübertragung: Die stufenweise intrazelluläre Signalweiterleitung

NH2 NH2 NH2


N N N N N N

O O O N N N N O N N
Adenylatcyclase Phosphodiesterase

O P O P O P O CH2 HO P O CH2
O CH2 O O
O– O– O– O O O–
Pyrophosphat P H2O
P Pi O– O
OH OH OH OH OH
ATP cAMP AMP
Teil 2

Abbildung 11.11: Zyklisches AMP. Der sekundäre Botenstoff zyklisches AMP (cAMP) wird von der Adenylatcyclase, einem integralen Membranpro-
tein, aus ATP gebildet. Beachten sie, dass die Phosphatgruppe innerhalb des cAMP-Moleküls sowohl mit dem 5′- als auch mit dem 3′-Kohlenstoffatom
innerhalb der Ribose verbunden ist. Daher leitet sich auch sein Name ab. Das zyklische AMP wird von einer Phosphodiesterase zu AMP hydrolysiert.

WAS WÄRE, WENN? Welche Auswirkungen hätte eine Substanz, die die Phosphodiesterase in der Zelle hemmt?

naltransduktion einleitet, ist der primäre Botenstoff. erhöht sich die cAMP-Konzentration der Zelle inner-
Da sekundäre Botenstoffe sowohl niedermolekularer halb von Sekunden um das Zwanzigfache. Fehlt das
Natur wie auch wasserlöslich sind, können sie sich stimulierende Hormon, so bleibt die hohe cAMP-Kon-
durch Diffusion leicht in der Zelle ausbreiten. Wie wir zentration nicht lange bestehen. Ein weiteres Protein,
in Kürze sehen werden, trägt ein sekundärer Boten- eine Phosphodiesterase, spaltet das zyklische AMP
stoff namens zyklisches AMP (cAMP) das vom Adre- rasch zu AMP. Für einen neuerlichen Anstieg der intra-
nalin übermittelte Signal von der Plasmamembran zellulären cAMP-Konzentration ist also ein erneuter
einer Leber- oder Muskelzelle in das Zellinnere, wo es Adrenalinschub notwendig.
den Glykogenabbau auslöst. Sekundäre Botenstoffe
finden sich sowohl bei Signaltransduktionswegen, die primärer Botenstoff
mit G-Protein-gekoppelten Rezeptoren beginnen, als
auch bei solchen mit Rezeptor-Tyrosinkinasen. Die
Adenylat-
beiden am weitesten verbreiteten sekundären Boten- cyclase
G-Protein
stoffe sind cAMP und Calciumionen (Ca2+). Eine große
Vielfalt von Signalübertragungsproteinen spricht auf
cytosolische Konzentrationsänderungen eines dieser
beiden sekundären Botenstoffe an. G-Protein-gekop- GTP
pelter Rezeptor
Zyklisches AMP ATP
sekundärer
Wie oben beschrieben hatte die Forschergruppe um cAMP Botenstoff
Earl Sutherland nachgewiesen, dass das Adrenalin
irgendwie den Abbau des Glykogens bewirkt, ohne Protein-
dafür selbst in die Zelle eindringen zu müssen. Dies kinase A
löste die Suche nach Komponenten aus, die wir heute
als sekundäre Botenstoffe (second messenger) kennen.
Sie übermitteln das Signal von der Plasmamembran zelluläre Antwort
zur metabolischen Maschinerie im Cytoplasma.
Sutherland und seine Mitarbeiter fanden heraus, dass Abbildung 11.12: cAMP als sekundärer Botenstoff eines G-Pro-
die Bindung des Adrenalins an die Plasmamembran zu tein-abhängigen Signalwegs. Der primäre Botenstoff aktiviert einen
einer Erhöhung der cytosolischen Konzentration des G-Protein-gekoppelten Rezeptor, der wiederum ein spezifisch wirkendes
zyklischen Adenosinmonophosphats (cAMP) führt G-Protein aktiviert. Dieses aktiviert hierauf die Adenylatcyclase, die die
(Abbildung 11.11). Die an der Plasmamembran lokali- Umwandlung von ATP in cAMP katalysiert. Das cAMP wirkt dann als
sierte Adenylatcyclase wandelt als Antwort auf ein sekundärer Botenstoff und aktiviert andere Proteine – in der Regel die
durch den Rezeptor vermitteltes extrazelluläres Signal Proteinkinase A – und ruft so eine zelluläre Antwort hervor.
ATP in cAMP um. Das Signal ist in diesem Fall das
Adrenalin. Dieses wirkt aber nicht direkt auf die Ade- Weitere Forschungen haben gezeigt, dass das Adrena-
nylatcyclase. Wenn Adrenalin auf der extrazellulären lin nur eines von vielen Hormonen und anderen Sig-
Seite der Membran an seinen Rezeptor bindet, wird nalmolekülen ist, die die Bildung von cAMP anregen.
dieser aktiv und ein entsprechendes G-Protein vermit- Auch die anderen Komponenten der cAMP-abhängi-
telt die Aktivierung der Adenylatcyclase, die dann die gen Signaltransduktionswege – wie G-Proteine, G-Pro-
Synthese vieler cAMP-Moleküle katalysiert. Das Signal tein-gekoppelte Rezeptoren und Proteinkinasen –
wird also bereits bei diesem ersten Schritt verstärkt. So wurden inzwischen untersucht (Abbildung 11.12).

283
11 Zelluläre Kommunikation

Die unmittelbare Wirkung des zyklischen AMP besteht Calciumionen und Inositoltrisphosphat (IP3)
normalerweise in der Aktivierung einer Serin/Threo- Bei Tieren lösen viele Signalmoleküle (wie beispiels-
ninkinase, der Proteinkinase A. Die aktive Protein- weise Neurotransmitter, Wachstumsfaktoren und einige
kinase A phosphoryliert verschiedene Zielproteine, die Hormone) entsprechende Antworten in ihren Zielzel-
je nach Zelltyp variieren können. Den vollständigen len über die Aktivierung von Signaltransduktionswe-
Signalweg der Adrenalin-abhängigen Stimulation des gen aus, die zur Erhöhung der cytosolischen Konzen-
Glykogenabbaus stellen wir weiter unten in Abbildung tration an Calciumionen (Ca2+) führen. Ca2+ ist als
11.16 vor. sekundärer Botenstoff noch weiter verbreitet als cAMP.
Der Zellstoffwechsel kann auch durch andere G-Pro- Ein Anstieg der cytosolischen Ca2+-Konzentration ruft
teine reguliert werden, die die Adenylatcyclase hem- in tierischen Zellen vielerlei Reaktionen hervor, so zum
Teil 2
men, statt sie zu aktivieren. In diesen Fällen aktiviert Beispiel die Muskelkontraktion, die Sekretion bestimm-
ein anderer Botenstoff einen anderen Rezeptor, der ein ter Substanzen und die Zellteilung. Bei Pflanzen kann
hemmendes (inhibitorisches) G-Protein aktiviert. ein breites Spektrum an hormonellen und aus der
Da wir nun um die Rolle des zyklischen AMP in den Umwelt stammenden Reizen einen Anstieg der cytoso-
G-Protein-abhängigen Signalwegen wissen, können wir lischen Ca2+-Konzentration bewirken und so diverse
auch die molekularen Mechanismen erklären, mit denen Signalwege aktivieren. Dazu gehört auch derjenige, der
bestimmte Mikroorganismen Krankheiten hervorrufen. im Licht zum Ergrünen der Pflanze führt (siehe Abbil-
Schauen wir uns dazu die Cholera an, eine Krankheit, dung 39.4). Zellen verwenden Ca2+-Ionen als sekun-
die epidemisch dort auftreten kann, wo durch Fäkalien dären Botenstoff sowohl in G-Protein-abhängigen wie
verunreinigtes Wasser in die Wasserversorgung gelangt. auch in Rezeptor-Tyrosinkinase-abhängigen Signalwe-
Die Kontamination des Wassers begünstigt die Vermeh- gen.
rung von Bakterien des Typs Vibrio cholerae. Men-
schen infizieren sich durch Wasser, das mit diesen
EXTRAZELLULÄRE Plasma-
Bakterien verunreinigt ist. Die Cholerabakterien besie- FLÜSSIGKEIT membran
deln den Dünndarm und bilden ein starkes Gift, das
Choleratoxin. Dieses ist ein Enzym, das ein G-Protein Ca2+-Pumpe
ATP
kovalent modifiziert, das an der Regulation der Salz-
Mitochondrium
und Wasserausscheidung beteiligt ist. Da das durch
die Modifikation veränderte G-Protein nicht mehr in
der Lage ist, GTP zu GDP zu hydrolysieren, verbleibt
es in seiner aktiven Konformation und aktiviert nun
Zellkern
permanent die Adenylatcyclase. Die dadurch bedingte
hohe Konzentration an cAMP veranlasst die Darmzellen
dazu, große Mengen an Ionen auszuscheiden, denen CYTOSOL
osmotisch Wasser folgt. Da auf diese Weise große Men-
gen der verdünnten Elektrolytlösung in das Darm-
lumen gelangen, bekommen infizierte Personen rasch Ca2+-
einen heftigen Durchfall und können – sofern keine Pumpe
endoplas-
Behandlung erfolgt – nach recht kurzer Zeit aufgrund matisches
des Flüssigkeits- und Elektrolytverlustes sterben. Ca2+- Reticulum
Nachdem die Signaltransduktionswege, an denen ATP Pumpe (ER)
zyklisches AMP und andere Botenstoffe beteiligt sind,
aufgeklärt waren, konnten mit diesem Wissen neue
Behandlungsmethoden für bestimmte Krankheiten ent- hohe Ca2+-Konzentration
wickelt werden. In einem dieser Signalwege wirkt zykli- niedrige Ca2+-Konzentration
sches GMP (cGMP) als sekundärer Botenstoff und führt
Abbildung 11.13: Die Aufrechterhaltung der Konzentration der
unter anderem zur Entspannung (Relaxation) der glatten
Calciumionen in einer tierischen Zelle. Die Ca2+-Konzentration im
Muskelzellen von Arterienwänden. Sildenafil, das die Cytosol ist in der Regel viel niedriger (hellblau) als die in der extrazellulären
Spaltung von cGMP zu GMP hemmt und dadurch die Flüssigkeit und im ER-Lumen (blau). Transportproteine in der Plasmamem-
Dauer des zugrundeliegenden Signals verlängert, wurde bran und in der ER-Membran befördern unter ATP-Verbrauch Calciumionen
ursprünglich zur Behandlung von Schmerzzuständen aus dem Cytosol in den Extrazellularraum und in das ER-Lumen. Transport-
im Brustraum (Angina pectoris) entwickelt. Es bewirkt proteine befördern Calciumionen auch in die Mitochondrien, wenn im Cyto-
einen erhöhten Durchfluss von Blut durch den Herz- sol die Ca2+-Konzentration stark ansteigt.
muskel und ist heute besser unter seinem Marktnamen
Viagra als Wirkstoff zur Behandlung der erektilen Dys- Obwohl Zellen immer eine gewisse Konzentration an
funktion bekannt. Da Viagra eine Dilatation der Blutge- Ca2+ enthalten, kann dieses nur deshalb als sekundä-
fäße auslöst, führt es auch zu einem verstärkten Blutein- rer Botenstoff wirken, weil seine intrazelluläre Kon-
strom in den Penis, was zu einer Verbesserung der zentration im Normalfall mit etwa 10–7 mol/l sehr
Erektionsfähigkeit beiträgt. gering gehalten wird (Abbildung 11.13). Die Konzen-

284
11.3 Signalübertragung: Die stufenweise intrazelluläre Signalweiterleitung

tration an freiem Ca2+ im Blut oder der extrazellulären verwendet man aber den Begriff sekundärer Botenstoff
Flüssigkeit von Tieren übersteigt damit jene im Cytosol für alle niedermolekularen Komponenten von Sig-
oft um mehr als das 10.000-fache. Zellen transportieren naltransduktionswegen, die keine Proteine sind.
Calciumionen einerseits aktiv aus der Zelle heraus,
andererseits aktiv in das Lumen des endoplasmati-
schen Reticulums (ER) hinein, wodurch dort ein intra-  Wiederholungsfragen 11.3
zellulärer Vorrat angelegt wird. Unter gewissen Bedin-
gungen wird Calcium auch in Mitochondrien und 1. Was versteht man unter einer Proteinkinase,
Chloroplasten transportiert. Für diese differenziellen und worin besteht ihre Rolle in einem Sig-
Transportvorgänge stehen der Zelle verschiedene Ca2+- naltransduktionsweg?
Teil 2
spezifische Ionentransportproteine zur Verfügung. Als 2. Wie wird die zelluläre Antwort auf einen Reiz
Folge davon ist die Ca2+-Konzentration im Innern des abgeschaltet oder aufgehoben, wenn der Sig-
ER für gewöhnlich viel höher als im Cytosol. Da die naltransduktionsweg über eine Phosphorylie-
cytosolische Ca2+-Konzentration so gering ist, stellt rungskaskade läuft?
schon eine kleine Erhöhung eine große Konzentra-
tionsänderung dar. 3. Worin besteht das eigentliche „Signal“, das in
Als Antwort auf ein Signal, das durch einen Sig- den Signaltransduktionswegen weitergeleitet
naltransduktionsweg weitergeleitet wird, kann die wird, die wir in Abbildung 11.6 und Abbildung
cytosolische Ca2+-Konzentration also ansteigen. Dies 11.10 vorgestellt haben? Anders gefragt: Auf
kommt normalerweise dadurch zustande, dass Calcium- welche Weise wird Information aus der Umge-
ionen aus dem ER freigesetzt werden. An den Über- bung in das Innere der Zelle weitergegeben?
tragungswegen, die zu einer solchen Ca2+-Freisetzung
führen, sind weitere sekundäre Botenstoffe, das Inosi- 4. WAS WÄRE, WENN? Wie wirken sich IP3-gesteu-
toltrisphosphat (IP3) und das Diacylglycerin (DAG) erte Calciumionenkanäle auf die Konzentra-
beteiligt. Beide entstehen durch die enzymatische Spal- tion der Ca2+-Ionen im Cytosol aus, nachdem
tung eines bestimmten Phospholipids in der Plasma- die Phospholipase C nach Ligandenbindung
membran der Zelle. Abbildung 11.14 zeigt, wie dieser an einen Rezeptor durch diesen indirekt akti-
Prozess abläuft und wie dann IP3 die Freisetzung von viert worden ist?
Calciumionen aus dem ER stimuliert. Da IP3 dabei vor
den Calciumionen auftritt, könnte man die Ca2+-Ionen Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
als tertiären Botenstoff bezeichnen. In der Fachsprache

1 Ein Signalmolekül bindet 2 Die Phospholipase C 3 DAG fungiert als


an einen Rezeptor, was spaltet das Membran- sekundärer Boten-
zur Aktivierung der phospholipid PIP2 in stoff in anderen
Phospholipase C führt. DAG und IP3. Signalwegen.

EXTRA- Signalmolekül
ZELLULÄRE (primärer Botenstoff)
FLÜSSIGKEIT
G-Protein

DAG
GTP
G-Protein-gekop- Phospholipase C PIP2
pelter Rezeptor
IP3
(sekundärer
Botenstoff)

IP3-gesteuerter
Calciumkanal Abbildung 11.14: Calcium und IP3 in Signal-
transduktionswegen. Calcium-Ionen (Ca2+) und
Inositoltrisphosphat (IP3) dienen in vielen Signal-
endoplasma- transduktionswegen als sekundäre Botenstoffe. In der
Aktivierung zelluläre
tisches
Ca2+ verschiedener Antwort
Abbildung wird der Prozess durch Bindung eines Signal-
Reticulum (ER)
Proteine moleküls an einen G-Protein-gekoppelten Rezeptor
angestoßen. Eine Rezeptor-Tyrosinkinase (hier nicht
Ca2+ (sekun- eingezeichnet) könnte diesen Weg ebenfalls durch die
CYTOSOL därer Botenstoff)
Aktivierung einer Phospholipase C anstoßen.
4 IP3 diffundiert rasch durch 5 Calciumionen diffun- 6 Die Calciumionen
das Cytosol und bindet an dieren entlang des aktivieren in einem
einen IP3-gesteuerten Konzentrationsgefälles oder mehreren Sig-
Calciumkanal in der aus dem ER ins Cytosol, naltransduktions-
ER-Membran, der sich wo die Ca2+-Konzen- wegen das jeweils
daraufhin öffnet. tration ansteigt. nächste Protein.

285
11 Zelluläre Kommunikation

Die zelluläre Antwort: Wachstumsfaktor


Erkennung
Signalwege steuern Rezeptor
die Transkription oder
Aktivitäten im Cytoplasma
11.4
Wir wollen uns nun die abschließenden Schritte eines Phosphory-
Signalübertragungswegs näher anschauen und heraus- lierungs-
kaskade Übertragung
finden, wie letztlich die richtige zelluläre Antwort auf
Teil 2
extrazelluläre Signale erfolgt.

CYTOPLASMA
11.4.1 Regulationen im Zellkern und
im Cytoplasma
aktiver
Letztlich führt ein Signaltransduktionsweg zur Regu- Transkrip-
inaktiver tionsfaktor
lation einer oder mehrerer Aktivitäten in der Zelle.
Transkrip-
Die Antwort am Ende eines zellulären Signalweges tionsfaktor Antwort
kann im Zellkern und/oder im Cytoplasma erfolgen. P
Viele zelluläre Signaltransduktionswege steuern letzt- DNA
lich die Proteinbiosynthese. In der Regel geschieht dies
durch die An- oder Abschaltung bestimmter Gene im Gen
Zellkern, wie dies für die aktivierten Steroidhormon-
Rezeptoren schon besprochen wurde (Abbildung 11.9). ZELLKERN mRNA
Auch bei den Zielproteinen am Ende der Kette anderer
Signaltransduktionswege handelt es sich oft um Tran-
skriptionsfaktoren. Die Abbildung 11.15 zeigt ein Bei- Abbildung 11.15: Die Antwort auf ein Signal im Zellkern: Die
Aktivierung der Genexpression durch einen Wachstumsfaktor.
spiel für einen Signalweg, der zur Aktivierung eines
Das einfache Schema zeigt einen typischen Signaltransduktionsweg, der
Transkriptionsfaktors führt und letztendlich ein Gen zur Regulation der Genexpression im Zellkern führt. Das auslösende Sig-
anschaltet. Die Antwort auf das Signal (hier ein Wachs- nalmolekül ist ein Wachstumsfaktor, ein Protein, das lokal sezerniert wird
tumsfaktor) besteht damit in der Neusynthese bestimm- und die Vermehrung und Differenzierung von Zellen anregt (siehe hierzu
ter mRNAs von einem oder mehreren Genen, die dann auch Abbildung 11.10 ). Der Wachstumsfaktor setzt eine Phosphorylie-
im Cytoplasma in das entsprechende Protein translatiert rungskaskade in Gang (die ATP-Moleküle, von denen die Phosphatgrup-
werden. Umgekehrt können andere Transkriptionsfakto- pen stammen, sind nicht eingezeichnet.) Nach ihrer Phosphorylierung
ren auch die Genexpression hemmen („abschalten“). gelangt die letzte Kinase in der Kette in den Zellkern und aktiviert dort
Häufig wirkt sich ein bestimmter Transkriptionsfaktor einen Transkriptionsfaktor durch dessen Phosphorylierung. Dieser schaltet
nicht nur auf die Expression von einem, sondern gleich die Expression eines bestimmten Gens an, das in mRNA transkribiert wird,
welche dann im Cytoplasma in ein spezifisches Protein translatiert wird.
von mehreren Genen aus.
Manchmal reguliert ein Signaltransduktionsweg auch
nur die Aktivität von Proteinen (oft von Enzymen) und Die bisher vorgestellten Signalmolekülrezeptoren,
nicht ihre Neusynthese. So kann ein Signal die Öffnung die Proteine der Übertragungskaskade und die sekun-
oder das Schließen von Ionenkanälen in der Plasma- dären Botenstoffe, findet man in vielen Signalwegen,
membran oder eine Veränderung des Zellstoffwechsels die zu Antworten sowohl im Cytoplasma als auch im
bewirken. Wie wir bereits gesehen haben, trägt die Ant- Zellkern führen können. Einige dieser Signalwege
wort von Leberzellen auf das Hormon Adrenalin zur lösen eine Zellteilung aus. Zu den Signalmolekülen,
Regulation des zellulären Energiehaushalts bei, indem die solche Signalwege zur Zellteilung in Gang setzen,
es die Aktivität von Stoffwechselenzymen beeinflusst. gehören Wachstumsfaktoren sowie bestimmte Hor-
Dabei wird letztlich das Enzym aktiviert, das den Gly- mone von Tieren und Pflanzen. Funktionsstörungen
kogenabbau katalysiert. Abbildung 11.16 zeigt den in von Wachstumsfaktoren gesteuerten Signaltrans-
Stoffwechselweg, der zur Freisetzung von Glucose-1- duktionswegen (siehe Abbildung 11.15) können bei
phosphat aus Glykogen führt. Beachten Sie, dass mit der Tieren zu Krebserkrankungen führen, wie wir in Kapi-
Aktivierung jeder einzelnen Komponente die Antwort tel 18 sehen werden.
verstärkt wird. Wir werden darauf noch zurückkom-
men.

286
11.4 Die zelluläre Antwort: Signalwege steuern die Transkription oder Aktivitäten im Cytoplasma

Erkennung 11.4.2 Feinabstimmung der Antwort


Bindung von Adrenalin an einen G-Protein-gekoppelten Rezeptor
auf Signale
(1 Molekül)
Ungeachtet der Frage, ob die Antwort im Zellkern oder
im Cytoplasma erfolgt, muss sie sehr genau abgestimmt
werden. Wie schon beschrieben, haben Signaltransduk-
tionswege mit mehreren Schritten zwischen dem Sig-
naleingang an der Zelloberfläche und der Antwort im
Übertragung Zellinneren vier wichtige Vorteile: Zum einen wird das
Signal verstärkt und ruft so eine stärkere Antwort her-
inaktives Teil 2
G-Protein vor. Das Ausmaß der Verstärkung hängt dabei von der
Funktion eines jeden spezifischen Moleküls innerhalb
aktives G-Protein (102 Moleküle) des Signalwegs ab. Zum zweiten kann bei einer stufen-
inaktive
weisen Signalweiterleitung an jedem der vielen Zwi-
Adenylatcyclase schenschritte noch reguliert werden. Eine unflexible
Alles-oder-Nichts-Antwort wird so vermieden. Drittens
aktive Adenylatcyclase (102 Moleküle) wird der Gesamtwirkungsgrad der Antwort zusätzlich
durch sogenannte Gerüstproteine, die am Signalweg
ATP beteiligte Proteine in räumlicher Nähe zueinander hal-
ten, unterstützt. Schließlich ist für die Feinabstimmung
zyklisches AMP (104 Moleküle)
der zellulären Antwort die Möglichkeit der Abschal-
inaktive tung des Signals von entscheidender Bedeutung.
Proteinkinase A
Signalverstärkung
aktive Proteinkinase A (104 Moleküle)
Ein Signal wird auf seinem Weg durch die Zelle oft
inaktive durch umfangreiche Enzymkaskaden verstärkt. Nach
Phosphorylasekinase jedem katalytischen Schritt der Kaskade vergrößert sich
die Zahl der aktivierten Produkte im Vergleich zur vor-
aktive Phosphorylasekinase (105 Moleküle)
herigen Stufe erheblich. So katalysiert beispielsweise
inaktive jede Adenylatcyclase in dem in Abbildung 11.16
Glykogenphosphorylase
gezeigten Adrenalin-abhängigen Signalweg die Bildung
von 100 cAMP-Molekülen. Jedes aktive Molekül der
aktive Glykogenphosphorylase (106 Moleküle) Proteinkinase A phosphoryliert dann zahlreiche Mole-
küle der nächsten Kinase im Übertragungsweg. Diese
Antwort Verstärkung setzt sich so fort. Die Verstärkung erfolgt
nur dann, wenn die Proteine lange genug aktiv bleiben,
Glykogen um eine große Zahl von Substratmolekülen umzuset-
zen, bevor sie wieder inaktiv werden. Durch die Signal-
Glucose-1-phosphat verstärkung genügen einige wenige Adrenalinmole-
(108 Moleküle)
küle, die an Rezeptoren auf der Oberfläche einer Leber-
oder Muskelzelle binden, um viele hundert Millionen
Abbildung 11.16: Die Antwort auf ein Signal im Cytoplasma: Die
Glucosemoleküle aus dem Glykogen freizusetzen.
Stimulation des Glykogenabbaus durch Adrenalin. Bei diesem über
einen G-Protein-gekoppelten Rezeptor angesteuerten Signaltransduktions-
weg bewirkt das Hormon Adrenalin die Aktivierung einer Reihe von Vermitt- Spezifität der zellulären Signalübertragung und
lermolekülen, einschließlich des cAMP und zweier Proteinkinasen (siehe Koordination der Antwort
hierzu auch Abbildung 11.12 ). Das zuletzt aktivierte Protein ist die Glyko- Stellen wir uns zwei verschiedene Zelltypen unseres
genphosphorylase, die die Bindung von freiem Phosphat am ersten C-Atom Körpers vor, beispielsweise eine Leberzelle und eine
der Glucose katalysiert, wobei die glykosidische Bindung zwischen den Glu- Herzmuskelzelle. Beide stehen in Kontakt mit dem
cose-Molekülen aufgespalten wird und Glucose-1-phosphat entsteht. Bei Blut und sind daher fortwährend vielen verschiede-
diesem Signalweg wird das Hormonsignal verstärkt, weil ein einziges nen Hormonen sowie lokalen Regulatoren ausgesetzt.
Rezeptorprotein bis zu hundert G-Proteine aktivieren kann. Jedes im Signal- Trotzdem reagiert eine Leberzelle auf manche Signale
weg aktivierte Enzym wirkt wiederum auf zahlreiche Substratmoleküle, die
und ignoriert gleichzeitig andere, ebenso wie die Herz-
die jeweils nächste Ebene der Kaskade darstellen. Die angegebenen Zahlen
muskelzelle. Manche Signalmoleküle können aber auch
aktiver Moleküle sind nur ungefähre Werte.
Antworten in beiden Zelltypen auslösen, wobei die
? Wieviele Glucose-Moleküle werden entsprechend der Darstellung in Antworten selbst wieder unterschiedlich sein können.
dieser Abbildung 11.16 als Antwort auf ein Signalmolekül freigesetzt? So regt beispielsweise das Adrenalin Leberzellen zum
Berechnen sie für jeden Schritt den Verstärkungsfaktor. Abbau von Glykogen an, während es in Herzmuskel-
zellen einerseits eine verstärke Kontraktion bewirkt
und andererseits – auf der Ebene des Organs – zu
einer Erhöhung der Herzschlagfrequenz führt. Wie las-
sen sich diese Unterschiede erklären?

287
11 Zelluläre Kommunikation

Die Erklärung für die Spezifität, die wir bei den zellu- Zwei Zellen, die unterschiedlich auf das gleiche Signal
lären Antworten auf Signale von außen beobachten, reagieren, unterscheiden sich in einem oder mehreren
ist die gleiche, die beinahe allen Unterschieden zwi- Proteinen, die an der Signalübertragung und der Umset-
schen Zellen zugrunde liegt: Unterschiedliche Zell- zung in eine Zellantwort beteiligt sind. Aus Abbildung
typen enthalten unterschiedliche Proteinausstattun- 11.17 ist ersichtlich, dass verschiedene Signaltransduk-
gen (Abbildung 11.17). Die Antwort eines bestimmten tionswege gemeinsame Komponenten aufweisen kön-
Zelltyps auf ein Signalmolekül hängt von der speziel- nen. So benutzen die Zellen A, B und C das gleiche
len Ausstattung mit Signalrezeptoren, Vermittler- und Rezeptorprotein für das rote Signal, allerdings läuft die
Zielproteinen ab, die die zelluläre Antwort umsetzen. weitere Signalkette dann über unterschiedliche Übertra-
Eine Leberzelle reagiert deswegen in der beschriebenen gungsproteine, die für die spezifischen Zellantworten
Teil 2
Art und Weise auf Adrenalin, weil sie die in Abbildung verantwortlich sind. Die Zelle D besitzt hingegen für das
11.16 gezeigten Proteine zum Abbau von Glykogen gleiche Signalmolekül ein anderes Rezeptorprotein, was
besitzt, aber auch diejenigen für die Glykogensynthese. wiederum eine andere Antwort hervorruft. In der Zelle
B verzweigt sich ein von demselben Signalmolekül akti-
vierter Signaltransduktionsweg in zwei Signalwege, die
Signal-
molekül verschiedene Antworten hervorrufen. Deartig ver-
zweigte Signalübertragungswege gehen oft von Rezep-
tor-Tyrosinkinasen aus, die unterschiedliche Übertra-
gungsproteine aktivieren können, oder es werden
Rezeptor mehrere sekundäre Botenstoffe gebildet, die zahlrei-
che Proteine regulieren können. In der Zelle C laufen
zwei Übertragungswege, die durch unterschiedliche
Signale ausgelöst werden, in einer einzigen Zellantwort
Übertra- zusammen. Die Verzweigung von Signalwegen und
gungs-
moleküle Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Signal-
wegen ist für die Steuerung und Koordination der zellu-
lären Antwort von großer Bedeutung und erlaubt die
Reaktion auf komplexe Signale, die von unterschied-
Antwort 1 Antwort 2 Antwort 3 lichsten Quellen innerhalb des menschlichen Körpers
Zelle A. Der Übertragungs- Zelle B. Der Übertragungs- kommen. (Sie werden dazu in Konzept 11.5 noch mehr
weg führt zu einer einzigen weg verzweigt sich und erfahren.) Die Verwendung gleicher Proteine in ver-
Antwort. führt zu zwei Antworten.
schiedenen Signaltransduktionswegen erlaubt es der
Zelle, sparsam mit der Zahl der Proteine umzugehen,
die dafür hergestellt werden müssen.
Der bereits beschriebene Signalweg, der die Paarung
von Hefezellen steuert, ist ein gutes Beispiel für eine
komplexe und koordinierte zelluläre Antwort auf ein
Paarungspheromon (Abbildung 11.2). In der Wissen-
schaftlichen Übung können sie anhand tatsächlicher
Versuchsergebnisse zum Paarungspheromon-induzier-
ten Weg deren Interpretation üben.
Aktivierung
oder
Hemmung Die Effizienz der Signalverarbeitung:
Gerüstproteine und Signalübertragungskomplexe

Antwort 4 Antwort 5 Der in Abbildung 11.17 dargestellte Signaltransduk-


tionsweg ist – wie die meisten anderen Abbildungen in
Zelle C. Es gibt eine Wech- Zelle D. Ein anderer Rezep-
selwirkung zwischen den tor ruft eine andere Ant- diesem Kapitel – stark vereinfacht. Nur einige der tat-
beiden Übertragungswegen. wort hervor. sächlich beteiligten Übertragungsmoleküle sind wieder-
gegeben, und aus Gründen der Übersichtlichkeit sind
Abbildung 11.17: Die Spezifität der zellulären Signalverarbei- sie so dargestellt, als seien sie über das gesamte Cytosol
tung. Die in einer Zelle vorhandenen Proteine legen fest, auf welche Signal- verteilt. In einer lebenden Zelle wären solche Sig-
moleküle sie reagiert und wie die Antwort ausfällt. Die vier Modellzellen naltransduktionsprozesse höchst ineffizient, weil die als
dieser schematischen Darstellung reagieren auf das gleiche Signalmolekül Übertragungsmoleküle fungierenden Proteine nur lang-
(rot) in verschiedener Weise, weil jede von ihnen einen anderen Satz von sam durch das zähflüssige Cytosol diffundieren könn-
Proteinen (lila und aquamarin) enthält. Beachten Sie, dass dieselben Mole- ten. Wie findet also eine bestimmte Proteinkinase ihr
küle in mehr als nur einem Signalweg eingebunden sein können.
zugehöriges Substrat?
ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Sehen Sie sich den Signalweg in Abbil-
dung 11.14 an und erklären sie, wie die Situation, die hier für die Zelle B
gezeigt wird, darauf zutrifft.

288
11.4 Die zelluläre Antwort: Signalwege steuern die Transkription oder Aktivitäten im Cytoplasma

 Wissenschaftliche Übung

Das Überprüfen eines Modells durch Experimente

1 Ein Paarungs-
pheromon
aktiviert Paarungsfaktor Ausbuchtung
den Rezep- G-Protein-gekop- (shmoo)
tor. pelter Rezeptor Formin
P
Teil 2
Fus3p
monomeres
GTP P
GDP Actin
Phosphory-
2 Ein G-Protein bindet lierungs- Formin Formin
GTP und wird dadurch kaskade P
aktiviert.
4 Fus3p phos-
phoryliert
Actinfilament
Fus3p Fus3p Bni1p (Formin)
und aktiviert
P es dadurch.
3 Die Phosphorylierungskaskade 5 Formin initiiert das
aktiviert Fus3p, das zur Plasma- Wachstum von Actinfila-
membran wandert. menten, um die shmoo-
Bildung voranzutreiben.

Benötigen Hefen die Fus3-Proteinkinase und ein Paarungsfaktor verursachte Zellwachstum unter-
Formin für das gerichtete Zellwachstum bei der suchen zu können, insbesondere die Auswirkung
Paarung? Bindet eine Hefezelle Moleküle des Paa- auf die Richtung des shmoo-Wachstums, wurden
rungsfaktors einer Zelle von entgegengesetztem die Zellwände mit einem grünen Fluoreszenz-
Paarungstyp, so wird über einen Signaltransduk- farbstoff markiert. Die grün angefärbten Zellen wur-
tionsweg eine Zellverformung (eine sogenannte den dann mit Paarungsfaktor inkubiert und mit
„shmoo-Bildung“) veranlasst und die Paarungspart- einem roten Fluoreszenzfarbstoff angefärbt, der nur
ner wachsen aufeinander zu. Dina Matheos und ihre die neu gebildete Zellwand anfärbte. Ein symmetri-
Kollegen im Laboratorium von Mark Rose an der sches Wachstum der Hefezellen, d.h. ein ungerich-
Universität von Princeton (USA) wollten heraus- tetes Wachstum in alle Richtungen, zeigt sich durch
finden, wie sich das Paarungsfaktorsignal (Phero- eine gelbe Färbung, die sich aus der Überlagerung
mon) auf dieses asymmetrische Wachstum aus- des roten und grünen Fluoreszenzsignals ergibt.
wirkt. Vorarbeiten hatten gezeigt, dass sich eine der (Eine Gelbfärbung zeigt sich auch in Wildtypzel-
Kinasen in diesem Signalweg (Fus3p) an die Plas- len, die nicht mit Paarungspheromon behandelt
mamembran anlagerte, wenn sie aktiviert wurde, wurden; eine wichtige Kontrolle, die hier aller-
und zwar nahe der Stelle, an der der Paarungsfak- dings nicht abgebildet ist.)
tor gebunden war. In ersten Experimenten wurde Experimentelle Daten Sowohl von Wildtypzellen,
zunächst ein Formin identifiziert, ein Protein, das als auch von fus3Δ- und forminΔ-Zellen wurden
die Bildung von Actinfilamenten in der Zelle steu- im Fluoreszenzmikroskop Bilder aufgenommen
ert, wenn es von der Proteinkinase Fus3p phospho- (siehe unten), nachdem diese zunächst grün gefärbt
ryliert wird. Mit diesen Informationen stellten die wurden, dann mit Paarungspheromon inkubiert
Forscher das oben gezeigte Modell für den Signal- wurden und abschließend noch mit dem roten Fluo-
weg auf, der die Bildung der Shmoos während der reszenzfarbstoff versehen wurden. Die Wildtypzel-
Paarung von Hefen auslöst. len bilden sowohl das Fus3- als auch das Formin-
Durchführung des Experiments Um die Rolle des Protein.
Fus3-Proteins und des Formins bei der shmoo-Bil-
dung zu untersuchen, stellten die Forscher zwei
Mutantenstämme der Bäckerhefe her, indem sie die
codierenden Gene aus dem Hefegenom entfernten
(sogenannte Deletionsmutanten): einen Stamm, der
die Kinase nicht mehr herstellen konnte (fus3Δ) und
einen anderen, dem das Formin fehlte (forminΔ). Um Wildtyp fus3 Δ bni1 Δ
die Wirkungen dieser Mutationen auf das durch den

289
11 Zelluläre Kommunikation

 Forts.
Datenauswertung 3. Beschreiben sie die Form der Zellen und die
Verteilung der verschiedenen Farben für alle
1. Ein Modell soll Forschern helfen, eine Arbeits- Fluoreszenzaufnahmen. Was können Sie dar-
hypothese aufzustellen, die durch Experimente aus ableiten? Welcher Hefestamm/welche He-
überprüft werden kann. Die Abbildung oben festämme zeigen eine shmoo-Bildung?
auf der vorangegangenen Seite zeigt eine solche
Arbeitshypothese zur shmoo-Bildung. (a) Wel- 4. (a) Bestätigen die Ergebnisse die vermutete
cher Teil der Arbeitshypothese wurde mit den Funktion der Fus3-Kinase bei der shmoo-Bil-
Teil 2 fus3Δ-Mutanten überprüft? (b) Welcher Teil der dung? (b) Bestätigen die Ergebnisse die Hypo-
Arbeitshypothese wurde mit den forminΔ- these zur Funktion des Formins bei der shmoo-
Mutanten überprüft? (c) Warum wurde auch Bildung? (c) Unterstützen die Ergebnisse die
ein Wildtypstamm in diesem Experiment ver- oben im Modell dargestellte Arbeitshypothese?
wendet?
5. Die Fus3-Kinase ist ebenso wie das Formin
2. Bei der Planung eines Versuches wird überlegt, normalerweise gleichmäßig innerhalb der Hefe-
welche Ergebnisse zu erwarten sind. (a) Wel- zellen verteilt. Erklären sie mithilfe des Mo-
ches Ergebnis sollte man bei den fus3Δ-Mutan- dells, warum die Ausstülpung an der gleichen
ten erwarten, wenn die Kinase die vermutete Stelle entsteht, an der auch das Signal wahr-
Rolle bei der shmoo-Bildung spielt? Was würde genommen wurde (also der Paarungsfaktor ge-
man erwarten, wenn das Modell nicht zutrifft? bunden wurde).
(b) Welches Ergebnis sollte man bei den for-
minΔ-Mutanten erwarten, wenn Formin die 6. Sagen Sie voraus, wie sich ein Stamm mit ei-
vermutete Rolle bei der shmoo-Bildung spielt? nem G-Protein verhalten würde, das kein GTP
Was würde man erwarten, wenn das Modell mehr binden kann.
nicht zutrifft?

Daten aus: D. Matheos et al., Pheromone-induced polarization is dependent on the Fus3p MAPK acting through the formin Bni1p, Journal of Cell
Biology 165:99–109 (2004).

Neueren Forschungsergebnissen zufolge wird die Effek- 11.17 verdeutlicht, die gleichen Proteine in mehr als
tivität der Signaltransduktion in vielen Fällen durch einem Signalweg eingebunden sein und das entweder
Gerüstproteine (engl.: scaffolding proteins) gesteigert. in verschiedenen Zelltypen oder in derselben Zelle zu
Das sind große Proteine, an die sich gleichzeitig meh- unterschiedlichen Zeiten oder unter verschiedenen
rere Übertragungsproteine anlagern können. Ein aus Bedingungen. Damit gewinnt auch die Bildung kurz-
dem Gehirn von Mäusen isoliertes Gerüstprotein kann lebiger (und/oder langlebiger) Proteinkomplexe immer
beispielsweise drei Proteinkinasen binden und bindet mehr an Bedeutung für die zelluläre Kommunikation.
dann mit ihnen zusammen an ein entsprechend akti-
viertes Rezeptorprotein in der Cytoplasmamembran.
Dies erleichtert erheblich die Signalweiterleitung über Signalmolekül
eine bestimmte Phosphorylierungskaskade (Abbildung Plasmamembran
11.18). Man hat sogar Gerüstproteine in Gehirnzellen
entdeckt, die an den Synapsen ganze Netzwerke von
Übertragungsproteinen permanent zusammenhalten. Rezeptor
Solche festen, dauerhaften Verbände steigern die
Geschwindigkeit und die Genauigkeit der Signalüber- drei ver-
tragung zwischen den Zellen, weil die Häufigkeit von schiedene
Protein/Protein-Wechselwirkungen nicht durch die Dif- Protein-
Gerüstprotein kinasen
fusion begrenzt wird. In einigen Fällen zeigte sich sogar,
dass Gerüstproteine auch direkt Übertragungsproteine
aktivieren können. Abbildung 11.18: Ein Gerüstprotein. Das hier dargestellte Gerüstpro-
tein (rosa) bindet gleichzeitig einen bestimmten aktivierten membranstän-
Als die ersten Signalketten beschrieben wurden,
digen Rezeptor und drei verschiedene Proteinkinasen. Diese Anordnung
ging man davon aus, dass es sich um lineare, vonein-
erleichtert die Signalübertragung durch diese Proteine.
ander unabhängige Wege handelt. Unsere Auffassun-
gen der zellulären Kommunikation haben sich inzwi-
schen erheblich mit der Erkenntnis gewandelt, dass Wie wichtig die als Verzweigungs- oder Kreuzungs-
die Komponenten von Signalwegen nicht nur unterei- punkte von Signalleitungswegen dienenden Übertra-
nander, sondern auch zwischen verschiedenen Wegen gungsproteine sind, wird klar, wenn sie entweder
wechselwirken. Tatsächlich können, wie Abbildung defekt sind oder vollständig fehlen. So führt beispiels-

290
11.5 Die Verschaltung verschiedener Signaltransduktionswege bei der Apoptose

weise der Verlust eines einzigen Übertragungsproteins In diesem Abschnitt haben wir die Komplexität der Sig-
beim erblichen Wiskott/Aldrich-Syndrom (WAS) zu ver- nalauslösung, -übertragung und -abschaltung bei Signal-
schiedenen Symptomen, zu denen eine erhöhte Anfäl- transduktionswegen betrachtet und gesehen, wie sich
ligkeit für Blutungen, Infektionen oder Leukämie zählen, Signalwege kreuzen können. Im nächsten Abschnitt
ebenso wie die Bildung von Ekzemen. Man geht davon werden wir ein Beispiel für ein wichtiges Netzwerk sich
aus, dass diese Symptome sich primär aus einem Fehlen gegenseitig beeinflussender Signalwege in der Zelle
des betreffenden Proteins in den Zellen des Immun- kennenlernen.
systems ableiten. Bei der Untersuchung gesunder Zellen
wurde herausgefunden, dass das WAS-Protein direkt
unterhalb der Zelloberfläche lokalisiert ist. Es wechsel-  Wiederholungsfragen 11.4
Teil 2
wirkt einerseits mit Actinfilamenten und andererseits
mit unterschiedlichen Komponenten von verschiede- 1. Wie wird ein hormonelles Signal in einer Ziel-
nen Signaltransduktionswegen, die unter anderem zelle millionenfach verstärkt?
auch die Vermehrung von Immunzellen steuern. Damit
2. WAS WÄRE, WENN? Erläutern Sie, wie zwei Zel-
übernimmt dieses Übertragungsprotein verschiedene
len, die unterschiedliche Gerüstproteine auf-
Aufgaben und dient sowohl als eine Verzweigungs-
weisen, auf den gleichen Botenstoff unter-
stelle für einen Signalweg, als auch als ein wichtiger
schiedlich reagieren können.
Kreuzungspunkt in einem komplex organisierten Sig-
nalübertragungsnetzwerk mit anderen Signalwegen, 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Einige Krankhei-
die das Verhalten von Immunzellen steuern. Wenn das ten des Menschen werden durch Defekte in
WAS-Protein ausfällt, kommt es also zu einer falschen Proteinphosphatasen verursacht. Welche Rolle
Organisation des Cytoskeletts und gleichzeitig zu spielen diese Proteine in Signaltransduktions-
einem Defekt in einer Signalweiterleitung, was letztlich wegen? (Vergleichen Sie hierzu die Diskussion
die WAS-Symptome auslöst. zum Konzept 11.3 und die Abbildung 11.10).

Das Abschalten von Signalen Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.


Um die Abbildung 11.17 übersichtlich zu halten, sind
darin die Mechanismen der Inaktivierung, die einen
wesentlichen Aspekt der zellulären Signalverarbeitung
darstellen, ausgelassen worden. Um eine Zelle in einem
für eintreffende Signale reaktionsfähigen Zustand zu Die Verschaltung verschiedener
halten, darf sich eine Veränderung auf ihre Signalüber- Signaltransduktionswege
tragungswege nur kurzfristig auswirken. Bleiben eine
oder mehrere der Komponenten der Signalkette dauer-
haft in einem der beiden möglichen Zustände (aktiv oder
bei der Apoptose
11.5
inaktiv), kann dies fatale Folgen für den Organismus Sein oder Nichtsein? Diese Frage aus Shakespeares Ham-
haben, wie wir am Beispiel der Cholera gesehen haben. let könnten sich auch eukaryontische Zellen stellen. Zel-
Eine Schlüsselfunktion für die Zelle besteht daher len, die beispielsweise von Krankheitserregern infiziert
darin, die von eingehenden Signalen hervorgerufenen wurden, beschädigt sind oder das Ende ihres natür-
Veränderungen in den Reaktionsmechanismen auch lichen Lebens erreicht haben, können eine bestimmte
wieder umkehren zu können. So ist schon die Bindung Form des programmierten (kontrollierten) Zelltods, die
von Signalmolekülen an ihre Rezeptoren reversibel. Apoptose, einleiten (Abbildung 11.19). Diese wird über
Sinkt die extrazelluläre Konzentration an Signalmole- ein komplexes Netzwerk aus verschiedenen Signaltrans-
külen, fällt auch die Anzahl an Rezeptoren, die ein Sig- duktionswegen ausgelöst. Der Begriff Apoptose (griech.
nalmolekül gebunden haben. Tatsächlich wird eine apo, weg und ptosis, Fall), wurde in der Antike von grie-
zelluläre Antwort in der Regel nur dann ausgelöst, chischen Dichtern verwendet, um zu beschreiben, wie
wenn die Anzahl von aktiven, mit einem Signalmole- im Herbst das Laub von den Bäumen fällt. Während der
kül besetzten Rezeptoren einen bestimmten Schwellen- Apoptose fragmentieren die Organellen einer Zelle, ein-
wert überschreitet. Wenn die Konzentration unter die- schließlich des Zellkerns, sowie dessen DNA und den
sen Schwellenwert sinkt, endet die Signalübertragung cytoplasmatischen Strukturen. Die Zelle schrumpft und
und damit auch die zelluläre Antwort. Auch die an der bildet als „blebs“ (Bläschen) bezeichnete Vesikel (Abbil-
Signalübertragung beteiligten Moleküle nehmen dann dung 11.19), die schließlich als sogenannte Apoptose-
wieder ihre inaktive Form an. Dabei können verschie- Körper von spezialisierten Makrophagen aufgenommen
dene Mechanismen greifen: Nach Bindung an das und vollständig entsorgt werden. Da von der Zelle nichts
Effektorprotein hydrolysiert das G-Protein mittels der zurückbleibt, werden benachbarte Zellen geschützt.
ihm eigenen GTPase-Aktivität das gebundene GTP zu Ohne Apoptose würde die absterbende Zelle leckschla-
GDP, Phosphodiesterasen wandeln cAMP in AMP um, gen und ihre Inhaltsstoffe an die Umgebung abgeben,
Proteinphosphatasen inaktivieren die phosphorylierten was beispielsweise zur Freisetzung von Verdauungsen-
Proteinkinasen und/oder andere phosphorylierte Ziel- zymen oder Viren führen könnte. Signale zur Auslösung
proteine. Dies alles führt dazu, dass Zellen sehr schnell der Apoptose, können sowohl von außerhalb der Zelle,
wieder auf neue Signale ansprechen können. als auch aus dem Inneren der Zelle selbst kommen. Bei

291
11 Zelluläre Kommunikation

äußeren Signalen werden entsprechende Moleküle von über eine Kontrolle der Genexpression. Bei C. elegans
anderen Zellen freigesetzt und lösen in der Zielzelle ist Ced-9 (das Produkt des ced-9-Gens) ein Protein der
einen Signaltansduktionsweg aus, der bestimmte Pro- äußeren Mitochondrienmembran und der Hauptregu-
teine und die Genexpression aktiviert, um den program- lator der Apoptose. Er wirkt als „molekulare Bremse“,
mierten Zelltod einzuleiten. Kommt das Signal aber aus solange die Apoptose nicht durch ein spezifisches Sig-
dem Inneren der Zelle selbst (beispielsweise bei einer nal ausgelöst wird (Abbildung 11.20). Wenn die Zelle
Zelle, die einen irreparablen DNA-Schaden erlitten hat), ein solches Apoptose-Signal erkennt, wird diese mole-
wird es über eine Reihe von Protein-Protein-Wechselwir- kulare Bremse gelöst und der entsprechende Signalweg
kungen weitergegeben, bis es schließlich die Apoptose durch bestimmte Proteasen und Nucleasen aktiviert.
auslöst. Betrachten wir einige Beispiele für Apoptose, Die wichtigsten an der Apoptose beteiligten Proteasen
Teil 2
um besser verstehen zu können, wie Signalübertragungs- sind die sogenannten Caspasen, wobei Ced-3 die zen-
wege in der Zelle miteinander verrechnet werden. trale Caspase von C. elegans ist.

11.5.2 Die verschiedenen Wege der Apop-


tose und ihre auslösenden Signale
Beim Menschen und anderen Säugetieren gibt es meh-
rere unterschiedliche Apoptose-Signalwege, an denen
insgesamt etwa 15 verschiedene Caspasen beteiligt
sind. Der jeweilige Signalweg ist spezifisch für den
Zelltyp und das Signal. Die Mitochondrien spielen bei
der Apoptose eine besondere Rolle. Bestimmte Apop-
2 μm tose-Proteine bilden Poren in der äußeren Membran
der Mitochondrien, wodurch diese für andere Pro-
Abbildung 11.19: Apoptose bei einem menschlichen Leukocyten. teine durchlässig wird. Proteine können nun aus den
Die nachträglich gefärbten rasterelektronenmikroskopischen Bilder zeigen
Mitochondrien in das Cytoplasma gelangen und die
den Vergleich zwischen der Morphologie eines normalen Leukocyten (links)
Apoptose vorantreiben. Überraschenderweise gehört
mit einem zweiten, in Apoptose befindlichen Leukocyten (rechts). Die apop-
totische Zelle ist geschrumpft und bildet Vesikel („blebs“), die schließlich als zu diesen Proteinen das Cytochrom c, das normaler-
von einer Membran umgebene Apoptose-Körper abgestoßen werden. weise in gesunden Zellen ein Teil der mitochondria-
len Elektronentransportkette zur ATP-Synthese ist
(siehe Abbildung 9.15). In apoptotischen Zellen ist es
11.5.1 Apoptose beim Fadenwurm eine Tod-bringende Komponente, sobald es im Cyto-
Caenorhabditis elegans plasma vorliegt. Das Cytochrom c wirkt dabei als pro-
apoptotischer Faktor, der über einen Zwischenschritt
Apoptotische Vorgänge sind während der Embryonal- zur Aktivierung einer Caspase führt. Am Prozess der
entwicklung weit verbreitet und spielen dabei eine ent- mitochondrialen Apoptose bei Säugetieren sind Pro-
scheidende Rolle. Die der Apoptose zugrundeliegenden teine beteiligt, die den oben erwähnten Ced-Proteinen
molekularen Mechanismen wurden unter anderem (Ced-3, Ced-4 und Ced-9) von C. elegans ähnlich sind.
durch die Erforschung der Embryonalentwicklung des Es handelt sich also um Vermittlerproteine, wie wir sie
kleinen bodenbewohnenden Fadenwurms Caenorhab- im Kapitel zur Signalübertragung kennengelernt haben.
ditis elegans aufgedeckt. Der adulte, 1 mm lange Wurm An wichtigen Punkten des apoptotischen Programms
besteht aus nur knapp 1000 Zellen, und die Zellzahl ist integrieren Proteine Signale aus mehreren unterschied-
bei allen Individuen gleich. Tatsächlich kennt man die lichen Quellen und können bei geeigneter Signalkon-
Abstammung jeder einzelnen Zelle des adulten Tieres, stellation eine Zelle in die Apoptose treiben. Oft hat das
das sich aus einer befruchteten Eizelle entwickelt hat. Signal seinen Ursprung außerhalb der Zelle, wie das in
Genau 131 der Zellen sterben in bestimmten Stadien Abbildung 11.20b dargestellte Apoptose-Signalmole-
während der Entwicklung von C. elegans ab. Die Apop- kül, das vermutlich von einer Nachbarzelle ausgeschie-
tose wird dabei zum richtigen Zeitpunkt durch Signale den wurde. Wenn ein Signalmolekül der Apoptose an
ausgelöst, die eine Kaskade von „Selbstmord-Pro- einen entsprechenden Oberflächenrezeptor bindet,
teinen“ in genau den Zellen aktivieren, die „dem Tode führt dies in der Zielzelle zur Aktivierung von Caspasen
geweiht“ sind. und anderen Apoptose-Enzymen, ohne dass der mito-
Genetische Untersuchungen an C. elegans führten chondriale Signalweg beteiligt sein muss. Dieser Mecha-
zur Entdeckung von zwei für die Apoptose wichtigen nismus von Signalerkennung, -weiterleitung und -verar-
Genen, die als ced-3 und ced-4 bezeichnet werden (ced beitung mit anschließender Antwort ähnelt den oben
steht für cell death abnormal). Die Produkte dieser beschriebenen Signalketten. Zwei andere Signale der
Gene (Ced-3 und Ced-4) und die meisten anderen der Apoptose kommen aus dem Zellinnern, nämlich aus
an der Apoptose beteiligten Proteine liegen in den Zel- dem Zellkern und dem endoplasmatischen Reticulum.
len ständig vor, sind aber inaktiv. Die Apoptose wird Ausgelöst wird das Signal vom Zellkern aus, wenn die
hier also über posttranslationale Modifikationen gesteu- genomische DNA so sehr geschädigt ist, dass sie nicht
ert, die zu einer Aktivitätsänderung führen und nicht mehr repariert werden kann. Das ER-Signal wird dage-

292
11.5 Die Verschaltung verschiedener Signaltransduktionswege bei der Apoptose

gen durch einen massiven Anstieg an fehlgefalteten Pro- Ein eingebauter Selbstmordmechanismus ist bei allen
teinen verursacht. Säugetierzellen treffen eine Entschei- Tieren essenziell für die Entwicklung und die Auf-
dung über „Leben-oder-Tod“ durch eine Verrechnung rechterhaltung physiologischer Funktionen. Die Ähn-
von externen und internen Signalen, die den Zelltod lichkeiten der Apoptose-Gene bei Fadenwürmern und
oder das Überleben der Zelle steuern. Säugetieren sowie die Beobachtung, dass Apoptose
sogar bei einzelligen Hefen vorkommt, deuten darauf-
Das Protein Ced-9 (aktiv)
hin, dass wir es hier mit einem grundlegenden Mecha-
hemmt die Aktivität von Ced-4. nismus zu tun haben, der früh in der Evolution der
Eukaryonten entstanden ist. Bei Wirbeltieren ist die
Apoptose entscheidend für eine normale Entwicklung
Mitochondrium Teil 2
des Nervensystems, für die Arbeit des Immunsystems,
sowie für die normale Morphogenese (beispielsweise
die Entwicklung von Händen und Füßen beim Men-
schen und Pfoten bei anderen Säugern; Abbildung
11.21). Bei der Entwicklung der Schwimmhäute von
Enten und anderen Wasservögeln findet man ein ge-
Ced-4 Ced-3
ringeres Maß an Apoptose, als dies bei den Füssen von
Landvögeln (z.B. Hühnern) der Fall ist. Beim Men-
inaktive Proteine schen kann ein Versagen der apoptotischen Gewebe-
Rezeptor für rückbildung im Verlauf der Embryogenese zu zusam-
Apoptosesignal
mengewachsenen Fingern und Zehen führen.
(a) Kein Apoptosesignal. Solange das in der äußeren Mito- Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass die Apoptose
chondrienmembran lokalisierte Ced-9 aktiv ist, wird an der Entstehung bestimmter degenerativer Krank-
die Apoptose gehemmt und die Zelle bleibt am Leben.
heiten des Nervensystems, wie der Parkinson’schen und
Ced-9 (inaktiv) Die Zelle der Alzheimer’schen Krankheit, beteiligt ist. Bei der
bildet Blasen. Alzheimer’schen Krankheit häufen sich Proteinaggre-
Apoptose- gate in Nervenzellen an. Diese Proteinaggregate akti-
signal- vieren ein Protein, das die Apoptose und den Tod von
moleküle Nervenzellen auslöst, wodurch es zum Verlust zahlrei-
cher Hirnfunktionen und den typischen Symptomen
bei Alzheimer-Patienten kommt. Krebs kann ebenfalls
aktives aktives andere die Folge einer Störung der Apoptose sein. Manche
Ced-4 Ced-3 Proteasen Fälle des malignen Melanoms (schwarzer Hautkrebs)
wurden auf den Defekt in einem Protein zurückge-
Nucleasen führt, das homolog zum Ced-4-Protein von C. elegans ist.
Aktivie-
rungskaskade

(b) Apoptosesignal. Wenn eine Zelle ein Apoptosesignal Abbildung 11.20: Die molekulare Grundlage der Apoptose bei
erkennt, wird Ced-9 inaktiviert. Dies hebt die Hem-
Caenorhabditis elegans. Im Fadenwurm C. elegans sind drei Proteine
mung von Ced-3 und Ced-4 auf. Das aktive Ced-3, eine
Protease, setzt eine Reaktionsabfolge in Gang, die zur (Ced-3, Ced-4 und Ced-9) für die Einleitung der Apoptose und deren wei-
Aktivierung von weiteren Proteasen und von Nuclea- tere Regulation entscheidend. Die Apoptose in Zellen von Säugetieren ist
sen führt. Diese Enzyme führen zu den beobachteten komplizierter reguliert. Proteine, die denen des Fadenwurms ähneln, sind
Veränderungen in apoptotischen Zellen und schließ- aber auch dort an der Apoptose beteiligt.
lich zum Zelltod.

Interdigitalgewebe Apoptotische Zellen Raum zwischen den Zehen 1 mm

Abbildung 11.21: Die Auswirkung der Apoptose auf die Pfotenentwicklung der Maus. Bei Menschen und anderen Säugetieren, sowie bei
landlebenden Vögeln, hat der anatomische Bereich, aus dem sich die Finger oder Zehen entwickeln, zu Beginn eine durchgehende, tellerförmige Struktur.
Die Apoptose eliminiert die Zellen der Interdigitalbereiche, wodurch die Finger oder Zehen entstehen. Bei der hier gezeigten embryonalen Pfote einer
Maus sind die apoptotischen Zellen so markiert, dass die entsprechenden Gewebebereiche gelb leuchten. Die Apoptose des Gewebes beginnt am Rand
einer jeden Interdigitalregion (links), erreicht ihren Höhepunkt, wenn das Gewebe in diesen Bereichen abgebaut wird (Mitte), und ist nach dem Ver-
schwinden des Interdigitalgewebes nicht länger nachweisbar (rechts; fluoreszenzmikroskopische Aufnahmen).

293
11 Zelluläre Kommunikation

Dieses Kapitel hat Ihnen eine Einführung in viele all-


 Wiederholungsfragen 11.5
gemeine Mechanismen der zellulären Kommunikation
gegeben, zu denen die Liganden-Bindung, Protein/
1. Geben Sie ein Beispiel für Apoptose in der Em-
Protein-Wechselwirkungen und Konformationsände-
bryonalentwicklung und erläutern Sie deren
rungen, Wechselwirkungskaskaden und Proteinphos-
Funktion für den sich entwickelnden Embryo.
phorylierungen gehören. Beim weiteren Studium des
Buches werden Sie auf viele weitere Beispiele für zel- 2. WAS WÄRE, WENN? Welcher Proteindefekt könn-
luläre Signalverarbeitung stoßen. te dazu führen, dass es zur „ungewollten“
Apoptose kommt? Was könnte dazu führen,
Teil 2 dass die Apoptose nicht eintritt, obwohl sie
eigentlich ablaufen sollte?

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T EL 1 1 

Konzept 11.1 Konzept 11.2


Externe Signale werden in intrazelluläre Antworten Signalwahrnehmung: Ein Signalmolekül bindet an
umgewandelt ein Rezeptorprotein

 Signaltransduktionswege spielen eine entschei-  Ein Signalmolekül (der Ligand) bindet sehr spezi-
dende Rolle in vielen biologischen Systemen. Die fisch an seinen Rezeptor. Der erste Schritt der Sig-
Signaltransduktion bei der Paarung von einzelligen nalübertragung wird häufig durch eine damit ver-
Hefen hat viel mit der bei vielzelligen Organismen bundene Konformationsänderung des Rezeptors in
gemeinsam, was auf ihren frühen entwicklungsge- Gang gesetzt.
schichtlichen Ursprung hindeutet. Bakterienzellen  Es gibt drei Haupttypen von Membranrezeptoren an
können durch die von anderen Zellen abgesonder- der Zelloberfläche: (1) Ein G-Protein-gekoppelter Re-
ten Stoffe die lokale Dichte ihrer Kolonie erfassen zeptor (GPCR) entfaltet seine Wirkung im Verbund
(„Quorum sensing“). mit einem cytoplasmatischen G-Protein. Die Ligan-
 Die lokale Signalweiterleitung erfolgt entweder denbindung aktiviert den Rezeptor, der daraufhin ein
über einen direkten Kontakt zwischen benachbar- bestimmtes G-Protein aktiviert, das seinerseits mit
ten Zellen oder durch die Bildung und Ausschei- einem weiteren Protein wechselwirkt und so die
dung eines Regulators mit begrenzter Reichweite. Signalkette fortsetzt. (2) Rezeptor-Tyrosinkinasen
Für die Signalgebung über längere Distanzen nut- (RTKs) lagern sich nach der Bindung eines Signalmo-
zen Tiere und Pflanzen Hormone. Bei Tieren kön- leküls zu Dimeren zusammen, die sich wechselseitig
nen Signale auch elektrisch weitergeleitet werden. an bestimmten Tyrosinresten ihrer cytoplasmatischen
 Adrenalin bindet, wie auch andere Hormone, an Domänen phosphorylieren. Intrazelluläre Übertra-
Rezeptoren in der Cytoplasmamembran und löst gungsproteine (Vermittlerproteine) können dann an
einen Signalweg aus, den man in drei Stufen unter- die verschiedenen phosphorylierten cytoplasmati-
teilen kann: schen Domänen binden und das Signal weiterleiten.
So kann ein bestimmter Rezeptor verschiedene Sig-
nalketten aktivieren. (3) Liganden-gesteuerte Ionen-
1 Erkennung 2 Übertragung 3 Antwort kanäle in einer Membran öffnen oder schließen sich,
wenn spezifische Signalmoleküle an diese binden.
Rezeptor
Aktivie- Dies reguliert den Durchtritt bestimmter Ionen durch
rung der die betreffende Membran.
zellulären
Übertragungsmoleküle Antwort  Jeder dieser drei Rezeptortypen ist von großer Bedeu-
tung. Fehlfunktionen in GPCRs oder RTKs sind häu-
Signalmolekül fig die Ursache von Krankheiten beim Menschen.
 Intrazelluläre Rezeptorproteine finden sich im Cyto-
plasma oder im Zellkern. Signalmoleküle, die ausrei-
? Was bestimmt, ob eine Zelle auf ein Hormon wie Adrenalin reagiert? chend hydrophob oder klein genug sind, können die
Wodurch wird die zelluläre Antwort auf ein solches Hormon bestimmt? Plasmamembran durchqueren und binden innerhalb
der Zelle an diese Rezeptoren.

? Worin ähneln sich Struktur und Aufbau eines G-Protein-gekoppelten


* Zur Beantwortung dieser Fragen lesen Sie bitte die entsprechenden Rezeptors und einer Rezeptor-Tyrosinkinase? Wie unterscheidet sich die
Abschnitte in diesem Kapitel nach. anfängliche Signalübertragung bei diesen beiden Rezeptortypen?

294
Zusammenfassung

Konzept 11.3 denen Stellen feinreguliert. Jedes Enzym in einem


Signalübertragung: Wechselwirkungen auf molekula- Signalübertragungsweg verstärkt das Signal durch
rer Ebene leiten stufenweise das Signal vom Rezeptor die Aktivierung vieler Kopien der nächsten Kom-
an Zielmoleküle in der Zelle weiter ponenten in der Übertragungskaskade. Bei Signal-
wegen mit vielen Übertragungsproteinen kann die
 Auf fast jeder Stufe eines Signaltransduktionswegs Verstärkung am Ende millionenfach sein. Die Kom-
(Signalübertragungswegs) nimmt das Signal eine bination verschiedener Proteine in einer Zelle ver-
andere Form an, was meist mit der Konformations- leiht dieser ein hohes Maß an Spezifität, sowohl für
änderung eines Proteins einhergeht. Viele Signal- die empfangenen Signale als auch für die ausge-
transduktionswege laufen über eine Phosphorylie- löste Zellantwort. Gerüstproteine erhöhen die Effi-
Teil 2
rungskaskade. Dabei sind zahlreiche Proteinkina- zienz der Signalübertragung. Sich verzweigende
sen hintereinander geschaltet, von denen jede eine und wechselseitig beeinflussende Signalwege hel-
Phosphatgruppe von ATP auf das in der Hierarchie fen der Zelle dabei, eingehende Signale zu integrie-
nachfolgende Protein überträgt, wodurch dieses ren und auf die zelluläre Antwort abzustimmen.
aktiviert wird. Proteinphosphatasen spalten die Die Antwort der Zelle wird rasch wieder beendet,
Phosphatgruppen bald danach wieder ab. Das Gleich- wenn kein Ligand mehr gebunden wird.
gewicht zwischen Phosphorylierung und Dephos-
phorylierung bestimmt letztendlich die Aktivität des ? Durch welche Mechanismen kann eine Zelle die Antwort auf ein Sig-
gesamten Signalübertragungswegs. nal beenden, und was ermöglicht es ihr, wieder auf ein neu ankommendes
 Sekundäre Botenstoffe wie das zyklische AMP Signal zu reagieren?
(cAMP) und Ca2+ diffundieren schnell im Cytosol
und sorgen so für die rasche Verbreitung von Sig-
nalen. Viele G-Proteine aktivieren die Adenylat- Konzept 11.5
cyclase, die aus ATP cAMP bildet. Zellen verwenden Die Verschaltung verschiedener Signaltransduktions-
Ca2+ sowohl in GPCR-, als auch in RTK-gekoppelten wege bei der Apoptose
Signalwegen, wobei zwei weitere sekundäre Boten-
stoffe, das Diacylglycerin (DAG) und das Inositol-  Die Apoptose ist eine Form des programmierten
trisphosphat (IP3), beteiligt sein können. IP3 kann Zelltods, bei der zelluläre Bestandteile in einer sys-
als Folgereaktion eine Freisetzung von Ca2+ aus int- tematischen Abfolge entsorgt werden, ohne dass
razellulären Speichern auslösen. benachbarte Zellen dadurch in Mitleidenschaft
gezogen werden.
? Worin besteht der Unterschied zwischen einer Proteinkinase und  Durch Untersuchungen am Fadenwurm Caenor-
einem sekundären Botenstoff? Können beide im gleichen Signaltransduk- habditis elegans wurden die grundlegenden mole-
tionsweg auftauchen? kularen Vorgänge bei den beteiligten Signalwegen
aufgeklärt. Ein Todessignal führt zur Aktivierung
von Caspasen und Nucleasen, den Schlüsselenzy-
Konzept 11.4 men der Apoptose.
Die zelluläre Antwort: Signalwege steuern die Tran-  Beim Menschen und anderen Säugetieren gibt es
skription oder Aktivitäten im Cytoplasma mehrere apoptotische Signaltransduktionswege, die
auf verschiedene Weise in Gang gesetzt werden kön-
 Einige Signalwege regulieren die Genexpression nen. Die Apoptosesignale können von außerhalb
durch die Aktivierung von Transkriptionsfaktoren. oder innerhalb der betroffenen Zelle kommen.
Im Cytoplasma regulieren Signaltransduktionswege
beispielsweise die Aktivität von Enzymen und die ? Wie kann man erklären, dass Hefen, Nematoden und Säugetiere
Dynamik des Cytoskeletts. Gene enthalten, die für ähnliche apoptotische Proteine codieren?
 Die zelluläre Antwort wird in der Regel nicht voll-
ständig an- oder abgeschaltet, sondern an verschie-

295
11 Zelluläre Kommunikation

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜBU NG S A UF G ABE N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis a. Die enzymatische Aktivität war proportional zu


der Ca2+-Konzentration, die man einem zell-
1. Welcher Rezeptortyp löst nach Bindung eines Sig- freien Extrakt zusetzte.
nalmoleküls sofort eine Konzentrationsänderung b. Rezeptorstudien deuteten daraufhin, dass
eines Ions auf der anderen Seite der Membran aus? Adrenalin ein Ligand ist.
a. ein intrazellulärer Rezeptor c. Ein Glykogenabbau wurde nur dann beobach-
b. ein G-Protein-gekoppelter Rezeptor tet, wenn das Adrenalin intakten Zellen zuge-
c. ein phosphoryliertes Rezeptor-Tyrosinkinase- setzt wurde.
Teil 2
Dimer d. Ein Glykogenabbau wurde beobachtet, wenn
d. ein Liganden-gesteuerter Ionenkanal Adrenalin und Glykogenphosphorylase kom-
biniert wurden.
2. Die Aktivierung von Rezeptor-Tyrosinkinasen ist
gekennzeichnet durch 7. Bei welchem der folgenden Vorgänge ist keine
a. Dimerisierung und Phosphorylierung Proteinphosphorylierung an der Signaltransduk-
b. Dimerisierung und IP3-Bindung tion beteiligt?
c. eine Phosphorylierungskaskade a. Aktivierung von Rezeptor-Tyrosinkinasen
d. GTP-Hydrolyse b. Aktivierung von Proteinkinasen
c. Aktivierung von G-Protein-gekoppelten Rezep-
3. Lipid-lösliche Signalmoleküle, wie beispiels- toren
weise Aldosteron, können die Membranen aller d. Regulation der Transkription durch Signalmo-
Zellen überwinden, rufen aber nur in bestimmten leküle
Zielzellen eine Antwort hervor, weil
a. sich nur in den Zielzellen entsprechende DNA- Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
Abschnitte finden.
b. nur die Zielzellen die intrazellulären Rezepto- 8. ZEICHENÜBUNG Fertigen Sie ein Schema des fol-
ren für Aldosteron exprimieren. genden apoptotischen Signalwegs an, wie er in
c. nur die Zielzellen Enzyme besitzen, die das menschlichen Immunzellen abläuft: Ein be-
Aldosteron abbauen können. stimmtes Apoptosesignal wird wahrgenommen,
d. Aldosteron nur in den richtigen Zielzellen eine wenn ein Protein namens Fas an seinen spezifi-
Phosphorylierungskaskade auslösen kann, die schen membranständigen Rezeptor bindet. Bin-
dann zur Aktivierung entsprechender Gene führt. den viele Fas-Moleküle an die Rezeptoren, führt
dies zur Zusammenlagerung vieler Rezeptormole-
4. Betrachten Sie folgende Signalübertragungskas- küle („Clustering“). Die intrazellulären Bereiche
kade: Adrenalin → G-Protein-gekoppelter Rezeptor der zusammengelagerten Rezeptoren liegen nun so
→ G-Protein → Adenylatcyclase → cAMP. Welcher nahe beieinander, dass sie intrazellulär lokali-
ist der sekundäre Botenstoff dieses Signalweges? sierte Adapterproteine binden können. Diese bin-
a. cAMP den dann wiederum zunächst inaktive Moleküle
b. das G-Protein der Caspase-8, die dadurch in ihre aktive Form
c. GTP überführt werden und dann die Caspase-3 akti-
d. Adenylatcyclase vieren. Die aktive Caspase-3 leitet dann die
Apoptose ein.
5. Welcher der folgenden Vorgänge tritt nicht bei
der Apoptose auf? 9. Verbindung zur Evolution Welche Evolutionsme-
a. Fragmentierung der DNA chanismen könnten für die Entstehung und den
b. Aktivierung eines Signaltransduktionswegs Erhalt der Signaltransduktionssysteme in Pro-
c. Lyse der Zelle karyonten verantwortlich sein?
d. Phagocytose von Zellbestandteilen durch Ma-
krophagen 10. Wissenschaftliche Fragestellung Adrenalin setzt
einen Signaltransduktionsweg in Gang, in dessen
Ebene 2: Anwendung und Auswertung Verlauf es zur Bildung von zyklischem AMP
(cAMP) und letztlich zum Abbau von Glykogen
6. Welche Beobachtungen haben Sutherland und zu Glucose als einer wesentlichen Energiequelle
seine Kollegen dazu geführt, die Beteiligung eines für die Zelle kommt. Der Glykogenabbau ist je-
sekundären Botenstoffs bei der Übertragung des doch nur ein Teilaspekt einer übergeordneten
Adrenalin-Signals in Leberzellen anzunehmen? „Fliehen-oder-Kämpfen“-Antwort des Tieres, die
vom Adrenalin hervorgerufen wird. Zu den syste-

296
Übungsaufgaben

mischen Effekten des Adrenalins gehört auch 13. NUTZEN SIE IHR WISSEN Es gibt fünf Geschmacksar-
eine Beschleunigung des Herzschlags sowie eine ten: sauer, salzig, süß, bitter und umami. Salz wird
erhöhte Wachsamkeit und die Freisetzung von wahrgenommen, wenn die Salzkonzentration au-
Energiereserven. Wir wissen, dass Coffein die Ak- ßerhalb einer Geschmacksknospe höher ist als in ih-
tivität der cAMP-spezifischen Phosphodiesterase rem Inneren. Dies führt zum passiven Einstrom von
hemmt. Schlagen Sie mit diesen Voraussetzungen Na+-Ionen in die Zelle und somit zu einer Ände-
einen Mechanismus vor, der die mit der Coffein- rung des Membranpotenzials, wodurch es zur Wei-
einnahme verbundene erhöhte Wachsamkeit und terleitung der Information „salzig“ an das Gehirn
die Schlaflosigkeit erklären könnte. kommt (siehe Konzept 7.4). Umami schmeckt nach
Fleisch und wird durch Glutamat hervorgerufen Teil 2
11. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft Man (Glutamat findet sich auch in Mononatriumgluta-
geht davon aus, dass der Alterungsprozess mit mat, kurz MSG). Dieses wird als Geschmacksver-
Vorgängen auf zellulärer Ebene verbunden ist. stärker in Lebensmitteln verwendet (beispielsweise
Neben den Veränderungen, die nach zahlreichen in bestimmten gewürzten Chips). Der Glutamatre-
Zellteilungen auftreten können, verlieren al- zeptor ist ein G-Protein-gekoppelter Rezeptor, der
ternde Zellen auch zunehmend ihre Fähigkeit, nach Bindung eines Liganden einen Signaltrans-
richtig auf Wachstumsfaktoren und andere Sig- duktionsweg anstößt, der bei uns in der Ge-
nale zu reagieren. Viele Untersuchungen zu Alte- schmackswahrnehmung mündet. Falls Sie her-
rungsprozessen haben das Ziel, diese Einbußen kömmliche Kartoffelchips essen und den Mund
soweit zu verstehen, dass die Lebensdauer von danach mit Wasser spülen, verschwindet der Salz-
Menschen verlängert werden könnte. Dieses Ziel geschmack umgehend. Wenn Sie dies tun, nach-
erscheint jedoch nicht jedem erstrebenswert. dem Sie mit Glutamat gewürzte Chips gegessen ha-
Welche sozialen und ökologischen Folgen wür- ben, werden Sie feststellen, dass der Geschmack
den Sie erwarten, falls die Lebenserwartung tat- bleibt. Probieren sie es aus! Wie können Sie diesen
sächlich wesentlich ansteigen würde? Unterschied erklären?

12. Skizzieren Sie ein Thema: Organisation Die ty-


pischen Eigenschaften des Lebens lassen sich
schon auf der biologischen Stufe einer Zelle be-
obachten. Der genau regulierte Prozess der Apop-
tose führt nicht nur zur Zerstörung und zum Tod
der Zelle, sondern ist auch für die Entwicklung
eines Organismus notwendig. Schreiben Sie ei-
nen kurzen Aufsatz (in 150–200 Worten), der auf
die Rolle der Apoptose in der Embryonalentwick-
lung eingeht. Beschreiben Sie dabei auch, wie die
Verrechnung verschiedener Signaltransduktions-
wege letztlich zu dieser Form des programmierten
Zelltods führt.

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie in Anhang A.

297
Der Zellzyklus

12.1 Aus der Zellteilung gehen genetisch identische Tochterzellen 12


hervor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

KONZEPTE
12.2 Der Wechsel von Mitose und Interphase im Zellzyklus . . . . . . . . . . 303
12.3 Der eukaryontische Zellzyklus wird durch ein molekulares
Kontrollsystem gesteuert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

 Abbildung 12.1: Wie werden die Chromosomen


während der Zellteilung auf die Tochterzellen verteilt?
12 Der Zellzyklus

Die Schlüsselrolle der Zellteilung


Im Unterschied zu unbelebter Materie zeichnen sich Die Zellteilung ist ein wesentlicher Teil des Zellzyklus.
Lebewesen durch die Fähigkeit aus, sich zu vermehren Dieser umfasst die Entwicklung einer Zelle vom Zeit-
und Nachkommen der gleichen Art zu erzeugen. Diese punkt ihrer Entstehung bis zu ihrer Teilung in zwei
Fähigkeit beruht letztlich, wie alle biologischen Funktio- Folgezellen, wobei die richtige Weitergabe der Erbsub-
nen, auf zellulären Prozessen. Rudolf Virchow (1821– stanz von entscheidender Bedeutung ist. In diesem
1902), einer der Begründer der Pathologie und ein Ver- Kapitel werden die Prozesse erläutert, die für die Ver-
fechter einer streng naturwissenschaftlich orientierten teilung identischer Mengen an Erbsubstanz auf zwei
Medizin, formulierte dies bereits 1855 so: „Wo eine Tochterzellen sorgen. Weiterhin wird auf die Mecha-
Teil 2
Zelle entsteht, da muss eine Zelle vorausgegangen sein, nismen der Zellteilung bei Eukaryonten und Bakterien
ebenso wie das Thier nur aus dem Thiere, die Pflanze eingegangen. Es folgt eine Darstellung der molekularen
nur aus der Pflanze entstehen kann.“ Er fasste dies noch Regulationsmechanismen im eukaryontischen Zell-
kürzer mit dem Motto „Omnis cellula e cellula“ („Jede zyklus, sowie eine Diskussion der Auswirkungen, wenn
Zelle von einer Zelle“) zusammen. Die Kontinuität des dieses System versagt. Die entsprechende Forschungs-
Lebens beruht also ausschließlich auf der Vermehrung richtung hat sich nicht zuletzt deshalb zu einem bedeu-
von Zellen durch Zellteilungen, die neue Zellen hervor- tenden Zweig der Zellbiologie entwickelt, weil sowohl
bringen. Die in Abbildung 12.1 dargestellte Abfolge eine fehlerhafte Regulation als auch ein kompletter Aus-
von konfokalen fluoreszenzmikroskopischen Aufnah- fall der Regulation häufig zur Krebsentstehung beitragen.
men zeigt die Ereignisse während der Zellteilung eines
Embryos vom Zwei-Zell-Stadium bis zur Bildung von 100 μm  (a) Reproduktion. Diese
vier Zellen, links oben beginnend und fortlaufend Amöbe ist ein einzelliger Eukaryont
und teilt sich gerade in zwei Zellen.
gegen den Uhrzeigersinn. Jede neue Zelle ist dann ein
Die Zellteilung ist in vielerlei Hinsicht bedeutsam eigenständiger Organismus.
für ein Lebewesen. Wenn sich eine prokaryontische
Zelle teilt, ist dies gleichbedeutend mit der Fortpflan-
zung, da ein neues Lebewesen entsteht. Dies gilt auch 50 μm
für einzellige eukaryontische Organismen, wie zum
 (b) Wachstum und Ent-
Beispiel Amöben. Auch bei diesen entsteht durch die wicklung. Diese mikrosko-
Teilung einer einzigen Zelle ein vollständig neues pische Aufnahme zeigt den
Lebewesen (Abbildung 12.2a). Durch Zellteilung kön- Embryo eines Sanddollars
(einer Unterordnung der See-
nen aber auch einige vielzellige Lebensformen Nach- igel) kurz nachdem sich das
kommen erzeugen (etwa Pflanzen, die sich aus Steck- befruchtete Ei in zwei Zellen
lingen entwickeln). Schließlich ermöglicht sie auch geteilt hat.
bei der geschlechtlichen Fortpflanzung die Entwick-
lung eines Lebewesens aus einer einzelnen Zelle – der
befruchteten Eizelle (Zygote; Abbildung 12.2b). Auch
nachdem ein Individuum ausgewachsen ist, werden
Teile des Körpers regelmäßig durch Zellteilung erneuert
und repariert, um abgestorbene und abgenutzte Zellen  (c) Erneuerung von Gewebe.
zu ersetzen. Beispielsweise produzieren die Zellen 20 μm Diese Knochenmarkzellen teilen
sich und bilden neue Blutzellen.
unseres Knochenmarks fortwährend neue Blutzellen
(Abbildung 12.2c). Abbildung 12.2: Die Funktionen der Zellteilung.

Aus der Zellteilung gehen


genetisch identische
Tochterzellen hervor
12.1
Eine derart komplexe biologische Struktur wie eine
Zelle kann sich nicht durch einfache Abschnürung in
zwei Hälften vermehren, so wie etwa eine Seifenblase.
Bei den meisten Zellteilungen wird das Erbgut, die DNA,
identisch an die beiden Tochterzellen weitergegeben.
(Bei der Bildung von Ei- und Samenzellen erfolgt durch
Während der Zellteilung werden Chromosomen (blau) durch den Spindel- die Meiose eine besondere Form der Zellteilung, aus
apparat (rot) auf die Tochterzellen verteilt (Beispiel: Zellteilung beim Rat- der genetisch unterschiedliche Zellen hervorgehen.)
ten-Känguru). Besonders bemerkenswert an der Zellteilung ist die
Genauigkeit, mit der die DNA von einer Zellgenera-

300
12.1 Aus der Zellteilung gehen genetisch identische Tochterzellen hervor

tion zur nächsten weitergegeben wird. Eine sich tei- Bei Eukaryonten ist jede Art durch eine bestimmte
lende Zelle verdoppelt ihre DNA und verteilt die bei- Anzahl von Chromosomen charakterisiert. Die somati-
den Kopien auf gegenüberliegende Seiten der Zelle. schen Zellen (alle Körperzellen mit Ausnahme der Fort-
Erst danach erfolgt die Trennung in Tochterzellen. pflanzungszellen) des Menschen enthalten 46 Chromo-
somen, von denen je 23 Chromosomen von einem der
beiden Elternteile stammen. Die Fortpflanzungszellen
12.1.1 Die Organisation des genetischen oder Gameten, bei Tieren also Ei- und Samenzellen,
Materials in der Zelle enthalten halb so viele Chromosomen wie die gewöhn-
lichen Körperzellen, also 23 beim Menschen. Die art-
Die Gesamtheit der DNA einer Zelle, die die genetische spezifische Chromosomenzahl in somatischen Zellen
Teil 2
Information trägt, wird als Genom bezeichnet. Die schwankt beträchtlich: Bei einigen Kohlsorten (Brassica
Genome von Prokaryonten bestehen oft aus einem ein- sp.) sind es zwölf, bei Elefanten 56, beim Igel 90 und
zelnen langen DNA-Molekül, das häufig ringförmig bei einer Algenart 148 Chromosomen.
ist. Eukaryontische Genome bestehen dagegen in der
Regel aus mehreren linearen DNA-Molekülen. Die
Gesamtlänge der DNA in einer eukaryontischen Zelle 12.1.2 Die Verteilung der Chromosomen bei
ist enorm. Eine einzige menschliche Zelle enthält bei- der eukaryontischen Zellteilung
spielsweise DNA mit einer Gesamtlänge von zwei
Metern, das ist ungefähr 100.000-mal länger als der Wenn sich eine Zelle gerade nicht teilt, und auch noch
Durchmesser der Zelle selbst. Bevor zwei identische während der DNA-Verdopplung vor einer anstehenden
Tochterzellen aus einer Zellteilung hervorgehen kön- Zellteilung, liegen alle Chromosomen in Form langer,
nen, wird diese DNA vollständig kopiert und die bei- dünner Chromatinfasern vor, die aus DNA-Molekülen
den Kopien müssen so verteilt werden, dass jede der mit anhaftenden Proteinen bestehen. Nach der Ver-
Zellen ein vollständiges Genom erhält. dopplung der DNA verdichten sich die Chromosomen.
Die Verteilung derartig großer DNA-Mengen ist nur Alle Chromatinstränge werden in sich aufgerollt und
aufgrund ihrer Verpackung in Chromosomen möglich, gefaltet, wodurch sie stark verkürzt und verdickt wer-
die ihren Namen durch den Nachweis im Mikroskop den, so dass die Chromosomen nach einer Färbung im
nach Reaktion mit bestimmten Farbstoffen erhielten Lichtmikroskop zu erkennen sind (Abbildung 12.3).
(griech. chroma, Farbe und soma, Körper; Abbildung
12.3). Eukaryontische Chromosomen bestehen aus
Chromatin, einem Komplex aus DNA und Proteinen.
Jedes einzelne Chromosom besteht aus einem sehr lan-
Schwester-
gen, unverzweigten DNA-Molekül, das einige hundert chromatiden
bis einige tausend Gene enthält, durch die die Erbmerk-
male jedes Lebewesens bestimmt werden (vgl. Kapitel
14). Die assoziierten Proteine (chromosomale Proteine)
Centromer 0,5 μm
bestimmen den Aufbau des Chromosoms und sind
maßgeblich an der Regulation der Genexpression betei- Abbildung 12.4: Ein stark kondensiertes, dupliziertes Menschen-
ligt. Wie wir später noch sehen, ist das Chromatin der chromosom (rasterelektronenmikroskopische Aufnahme).
Chromosomen während der verschiedenen Phasen der
Zellteilung unterschiedlich dicht gepackt. ZEICHENÜBUNG Umranden Sie ein Schwesterchromatid des Chromo-
soms in der obigen Abbildung.

Jedes verdoppelte Chromosom besteht jetzt aus zwei


Schwesterchromatiden (Abbildung 12.4). Die beiden
Chromatiden enthalten identische DNA-Moleküle und
sind zunächst über ihre gesamte Länge durch spezielle
Proteinkomplexe (Kohäsine) miteinander verbunden.
Man bezeichnet dies als „Schwesterchromatiden-
Kohäsion“. In der kondensierten Form weist das repli-
zierte Chromosom eine Einschnürung am Centromer
auf. In diesem Bereich sind die Chromatiden am engs-
ten miteinander verbunden und der Kontakt bleibt auch
auf dem Weg zur Zellteilung am längsten erhalten. Die
Bereiche der Chromatiden zu beiden Seiten des Centro-
20 μm mers werden als Chromatidenarme bezeichnet. Später
Abbildung 12.3: Eukaryontische Chromosomen. Die Chromosomen trennen sich die aus der Replikation hervorgegangenen
(lila) sind im Kern dieser Pflanzenzelle (Blutblume; Haemanthus multiflorus ) Schwesterchromatiden der Chromosomen vollständig
sichtbar. Bei der fadenartigen Struktur im Cytoplasma handelt es sich um voneinander und wandern in entgegengesetzte Richtun-
das Cytoskelett. Die lichtmikroskopische Aufnahme zeigt ein frühes Sta- gen. Um die so getrennten Chromosomensätze (mit dem
dium der Zellteilung. Genom der neuen Zellen) bilden sich dann zwei neue

301
12 Der Zellzyklus

Zellkerne. Die Schwesterchromatiden werden nach ihrer wird die Chromosomenzahl durch die Meiose neuerlich
Trennung als eigenständige Chromosomen betrachtet. von 46 auf 23 (vom doppelten auf den einfachen Satz)
Jeder der sich neu bildenden Zellkerne enthält also herabgesetzt. Es folgt die Befruchtung, bei der zwei
einen vollständigen Chromosomensatz, der mit dem der haploide Gameten zusammengeführt werden und die
Ausgangszelle übereinstimmt (Abbildung 12.5). Der Zygote bilden, so dass in den somatischen Zellen wieder
Kernteilung (Mitose, Karyokinese) schließt sich in der der diploide Satz mit 46 Chromosomen enthalten ist, der
Regel direkt die Teilung des Cytoplasmas an (Cytoki- in den folgenden Mitosen beibehalten wird. Auf die
nese), womit die Zellteilung abgeschlossen ist. Anstelle Bedeutung der Meiose bei der sexuellen Fortpflanzung
einer Zelle liegen also nun zwei Zellen vor, die gene- wird in Kapitel 13 näher eingegangen. Im Rest dieses
tisch der Ausgangszelle gleichen. Kapitels konzentrieren wir uns auf die Mitose und die
Teil 2
Wie verhält sich die Chromosomenzahl während der anderen Stadien des Zellzyklus bei Eukaryonten.
menschlichen Fortpflanzung? – Sie haben in Ihren Zel-
len 46 Chromosomen, je 23 von Vater und Mutter, die
nach dem Verschmelzen von Ei- und Samenzelle in
 Wiederholungsfragen 12.1
einem einzigen Zellkern vereinigt wurden. Bei der Bil-
dung der befruchteten Eizelle (Zygote) verschmelzen
1. Wie viele Chromosomen zeigt jeder Teil der
also die beiden (haploiden) Gametenzellkerne zum (dip-
Abbildung 12.5 (Lassen Sie dabei die Mikro-
loiden) Zygotenzellkern. Durch Mitosen und Zellteilun-
skopaufnahme in Teil 2 außer Acht)?
gen entwickeln sich daraus die etwa 40 Billionen Zellen,
aus denen unser Körper besteht. Außerdem werden 2. WAS WÄRE, WENN? Die somatischen Zellen ei-
durch die gleichen Prozesse immer neue Zellen gebildet, nes Huhns (Gallus gallus) enthalten jeweils
die geschädigte oder abgestorbene ersetzen. Eine neue 78 Chromosomen. Wie viele Chromosomen
Generation Gameten wird nach Eintritt der Geschlechts- hat das Huhn von jedem Elternvogel geerbt? –
reife durch eine spezielle Form der Zellteilung, die Wie viele Chromosomen finden sich in den
Meiose oder Reifeteilung (Reduktionsteilung) hervorge- Keimzellen (Gameten) des Huhns? – Wie viele
bracht. Hierbei entstehen genetisch verschiedene Zellen, Chromosomen werden die Nachfahren des
die nur einen einfachen (haploiden) Satz von 23 Chro- Huhns in ihren somatischen Zellen haben?
mosomen enthalten. Die Meiose findet nur in den Keim-
drüsen (Gonaden) statt; beim Mann in den Hoden, bei Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
der Frau in den Eierstöcken. Bei jeder neuen Generation

Chromosomen DNA-Moleküle

1 Eine eukaryontische Zelle enthält Centromer


mehrere Chromosomen, von
denen eines hier dargestellt ist. Vor
der Verdopplung besteht jedes
Chromosom aus einem einzelnen
DNA-Molekül. Arm des
Chromosoms

Chromosomenverdopplung
(einschließlich DNA-Synthese)

2 Nach der Replikation besteht ein


Chromosom aus zwei Schwester-
chromatiden, die über ihre
gesamte Länge miteinander
verbunden sind (Kohäsion). Jedes
Chromatid enthält eine Kopie des
DNA-Moleküls. Schwester-
chromatiden

Trennung der
Schwesterchromatiden

Abbildung 12.5: Verdopplung und


3 Die Schwesterchromatiden werden Verteilung der Chromosomen wäh-
mechanisch getrennt und bilden rend der Zellteilung.
zwei Chromosomen, die auf die
beiden Tochterzellen verteilt werden.
? Wie viele Arme hat das in Abbildung
12.5 unter 2 abgebildete Chromosom? –
Wie viele Chromatiden hat es?

302
12.2 Der Wechsel von Mitose und Interphase im Zellzyklus

Der Wechsel von Mitose und rischen Zelle dargestellt. Sehen Sie sich diese Abbil-
Interphase im Zellzyklus
12.2 dung gründlich an, bevor Sie im Text fortfahren und
greifen Sie bei Bedarf darauf zurück. In den folgenden
Abschnitten werden wir näher auf die Mitose und die
Cytokinese eingehen.
Im Jahr 1882 entwickelte der deutsche Anatom Walther
Flemming (1843–1905) Farbstoffe, mit deren Hilfe er Interphase
das Verhalten der Chromosomen während der Mitose
und der Zellteilung (Cytokinese) verfolgen konnte (er
prägte auch die Begriffe Chromatin und Mitose). Zwi- S
G1 Teil 2
schen zwei Zellteilungen beobachtete er nur ein einfa- (DNA-Synthese)
ches Größenwachstum der Zellen. Heute wissen wir,
Zellteilung
dass sich während dieser Phase viele entscheidende (Cytokinese)
Ereignisse im Leben einer Zelle abspielen.

se
G2

it o
M

M
(M itose
-Pha
12.2.1 Die Phasen des Zellzyklus se)

Die Mitose ist nur ein Teil des gesamten Zellzyklus


(Abbildung 12.6). Die sogenannte „M-Phase“ (Mitose-
phase) beinhaltet die eigentliche Mitose und die Abbildung 12.6: Der Zellzyklus. Im Zuge der Zellteilung wechseln sich
anschließende Cytokinese und ist in der Regel der kür- M-Phase (Mitosephase) und Interphase, in der das Zellwachstum stattfindet,
zeste Abschnitt im Zellzyklus. Die mitotische Zelltei- miteinander ab. Dem ersten Teil der Interphase (G1) folgt die S-Phase, in
lung steht im Wechsel mit längeren Abschnitten, die als deren Verlauf die DNA der Chromosomen repliziert wird. G2 ist der letzte
Interphasen bezeichnet werden. Zellen verbringen oft Abschnitt der Interphase vor dem Übergang in die M-Phase. In der M-Phase
bis zu 90 Prozent ihres Lebens in der Interphase, wobei kommt es zur Kernteilung (Mitose). Bei den meisten eukaryontischen Zellen
löst sich die Kernmembran während dieses Prozesses auf. Die Mitose umfasst
die Zelle wächst und die Chromosomen als Vorberei-
auch die Verteilung der replizierten Chromosomen als Voraussetzung zur Bil-
tung für eine nachfolgende Zellteilung verdoppelt wer- dung von genetisch identischen Tochterzellen. Die neuen Zellkerne werden
den. Die Interphase selbst untergliedert sich weiter in durch die neuen Kernmembranen gebildet, die sich um die getrennten Chro-
die folgenden Stadien: G1-Phase (1. Zwischenphase; mosomensätze herum aufbauen. Bei der anschließenden Teilung des Cyto-
engl. gap, Lücke, Kluft), S-Phase (Synthesephase) und plasmas (Cytokinese) bilden sich die Tochterzellen. Die Länge der Phasen G1,
G2-Phase (2. Zwischenphase). Während dieser drei S und G2 kann stark zwischen verschiedenen Zelltypen variieren.
Phasen wächst die Zelle weiter, indem sie neue Pro-
teine und neue cytoplasmatische Organellen, wie bei-
spielsweise Mitochondrien, erzeugt und das endoplas- 12.2.2 Der Spindelapparat
matische Reticulum erweitert. Die chromosomale DNA
wird nur während der S-Phase repliziert. (Die DNA- Der Spindelapparat, der sich während der Prophase
Synthese wird in Kapitel 16 ausführlich erörtert.) Eine im Cytoplasma bildet, spielt eine wichtige Rolle wäh-
Zelle wächst (G1), synthetisiert DNA während sie wei- rend der Mitose. Er besteht aus Mikrotubulifasern und
terwächst (S), wächst noch weiter, während sie Vorbe- weiteren damit assoziierten Proteinen. Beim Zusam-
reitungen zur Teilung trifft (G2), und teilt sich schließ- menbau der Mitosespindel werden andere Mikrotubuli
lich (M). Die Tochterzellen treten dann entweder in aus Teilen des Cytoskeletts teilweise abgebaut. Dies
einen neuen Zyklus ein oder teilen sich nicht weiter. geschieht vermutlich, um genügend Baumaterial für
Einige menschliche Zellen durchlaufen den Zell- die Konstruktion der Spindel bereitzustellen, ohne auf
zyklus in etwa 24 Stunden. Davon entfällt auf die M- die Neusynthese von Tubulin angewiesen zu sein. Die
Phase weniger als eine Stunde, während die S-Phase Mikrotubuli der Spindel können durch die Neuanlage-
sich über zehn bis zwölf Stunden erstrecken kann, rung von Tubulinuntereinheiten (Polymerisation) ver-
also rund die Hälfte der Zeit eines Zyklus einnimmt. längert und durch deren Ablösung (Depolymerisation)
Die verbleibende Zeit entfällt auf die Phasen G1 und verkürzt werden (siehe auch Tabelle 6.1).
G2. Die G2-Phase erfordert im Regelfall vier bis sechs In tierischen Zellen beginnt der Zusammenbau der
Stunden. Dann verblieben in unserem Beispiel für die Mikrotubuli am Centrosom. Dabei handelt es sich um
G1-Phase fünf bis sechs Stunden. Verschiedene Zell- eine subzelluläre Struktur, die während des gesamten
typen können sich erheblich in der Länge des Zellzyk- Zellzyklus die Organisation der Mikrotubuli steuert
lus und seiner einzelnen Phasen unterscheiden, wobei und deshalb im Englischen auch als „microtubule-
die Länge der G1-Phase am stärksten variiert. organizing center (MTOC)“ bezeichnet wird. Im Inne-
Auch die Mitose selbst wird noch in fünf Stadien ren des Centrosoms befindet sich ein Centriolenpaar,
unterteilt: Die Prophase, die Prometaphase, die Meta- das aber für die Zellteilung nicht gebraucht wird: Wer-
phase, die Anaphase und die Telophase. Überlappend den die Centriolen mithilfe eines Laserstrahls zerstört,
mit der Anaphase und der Telophase vollzieht sich die wird der Spindelapparat dennoch gebildet. Tatsäch-
Cytokinese, die die M-Phase abschließt. Die Stadien der lich besitzen Pflanzenzellen keine Centriolen, wohl
Mitose sind in Abbildung 12.7 am Beispiel einer tie- aber einen Spindelapparat.

303
12 Der Zellzyklus

 Abbildung 12.7: Näher betrachtet


Die mitotische Teilung einer Tierzelle

Teil 2

G2 der Interphase Prophase Prometaphase

Centrosomen Chromatin Spindelapparat Asteren Centromer Fragmente nicht mit dem Kinetochor
(mit Centriolenpaar) (verdoppelt) in einem frühen der Kernhülle assoziierte Mikrotubuli
Zustand

Nucleolus Kernhülle Plasmamembran Chromosom mit Kinetochor Mikrotubulus mit


Schwesterchromatiden Kinetochor-Bindung

G2 in der Interphase Prophase Prometaphase


 Die Kernhülle umschließt den Kern.  Die Chromatinfasern kondensieren  Die Kernhülle fragmentiert.
 Der Kern enthält einen oder meh- in aufgewundene, diskrete Chromo-  Die Mikrotubuli, die von den Cen-
rere Nucleoli. somen, die mit einem Lichtmikro- trosomen ausgehen, wandern jetzt
 Aus einem Centrosom haben sich skop beobachtet werden können. in die Kernregion ein.
zwei Centrosomen gebildet. Centro-  Die Nucleoli verschwinden.  Die Chromosomen kondensieren
somen sind Regionen in tierischen  Jedes duplizierte Chromosom noch stärker.
Zellen, die die Mikrotubuli des besitzt zwei identische Schwes-  Jedes der beiden Chromatiden eines
Spindelapparates organisieren. Jedes terchromatiden, die an den Cen- Chromosoms besitzt jetzt ein Kine-
Centrosom enthält zwei Centriolen. tromeren verbunden sind. In eini- tochor, eine spezielle Proteinstruk-
 Die Chromosomen, die während der gen Spezies sind zusätzlich die tur am Centromer.
S-Phase verdoppelt wurden, sind Arme durch Kohäsine miteinan-  Einige der Mikrotubuli, die an die
nicht einzeln sichtbar, da sie noch der verbunden. Kinetochore binden, werden zu
nicht kondensiert sind.  Die mitotische Spindel bildet sich „Kinetochor-Mikrotubuli“, die die
aus. Sie besteht aus den Centroso- Chromosomen hin und her bewe-
men und den von ihnen ausgehen- gen.
den Mikrotubuli. Die radialen Bün-  Polare Mikrotubuli wechselwirken
del kürzerer Mikrotubuli, die von mit den Mikrotubuli des gegenüber-
den Centrosomen ausgehen, werden liegenden Pols.
Die mikroskopischen Aufnahmen zeigen als Astralmikrotubuli bezeichnet.
eine in Teilung befindliche Zelle aus der  Die Centrosomen bewegen sich von-
Lunge eines Molches. Die somatischen
Zellen des Tieres enthalten 22 Chromo- einander fort, zum Teil angetrieben
somen (die Chromosomen sind blau ge- von den wachsenden Mikrotubuli. ? Wie viele DNA-Moleküle zeigt die
färbt, die Mikrotubuli grün und die In- Zeichnung der Prometaphase? Wie viele
termediärfilamente rot). Aus Gründen Moleküle gibt es pro Chromosom? Wie viele
der Übersichtlichkeit zeigen die Schema-
zeichnungen nur sechs der Chromoso- Doppelhelices findet man pro Chromosom
men. bzw. pro Chromatid?

304
12.2 Der Wechsel von Mitose und Interphase im Zellzyklus

Teil 2

Metaphase Anaphase Telophase und Cytokinese

Metaphasenplatte Teilungs- sich bildender


furche Nucleolus

Spindelapparat Centrosom an einem Tochter- sich bildende


der Spindelpole chromosomen Kernhülle

Metaphase Anaphase Telophase


 Die Centrosomen befinden sich jetzt  Die Anaphase ist die kürzeste Phase  Zwei Tochterkerne bilden sich in
an den gegenüberliegenden Enden der Mitose und dauert oft nur der Zelle. Die Kernhüllen bilden
der Zelle. wenige Minuten. sich aus Fragmenten der Eltern-
 Die Chromosomen sind alle an der  Die Anaphase beginnt mit der Spal- Kernhülle und anderen Teilen
Metaphasenplatte angekommen, tung der Kohäsin-Proteine. Dies des Endomembransystems.
der Ebene, die genau in der Mitte ermöglicht die schnelle Trennung  Die Nucleoli bilden sich.
zwischen den beiden Spindelpolen der zwei Schwesterchromatiden.  Der Grad der Kondensation der
liegt. Die Centromere der Chromo- Dadurch wird jedes Chromatid zu Chromosomen nimmt ab.
somen liegen auf der imaginären einem vollwertigen Chromosom.  Alle Spindel-Mikrotubuli depoly-
Metaphasenplatte.  Die beiden getrennten Schwester- merisieren.
 Die Kinetochore der Schwesterchro- Chromosomen bewegen sich zu den  Die Mitose, die Teilung eines Kerns
matiden eines jeden Chromosoms entgegengesetzten Enden der Zelle, in zwei identische Kerne, ist jetzt
sind mit den Kinetochor-Mikro- dabei werden sie von den sich ver- abgeschlossen.
tubuli der gegenüberliegenden Pole kürzenden Kinetochor-Mikrotubuli
verbunden. gezogen. Dabei bewegen sie sich mit
dem Centromer voran (mit ca. 1 μm/
min), weil dort die Mikrotubuli Cytokinese
ansetzen.  Die Teilung des Cytoplasmas
 Die Zelle wächst in die Länge, weil beginnt normalerweise schon in der
Im MyLab|Deutsche Version sich die polaren Mikrotubuli verlän- späten Telophase, so dass die bei-
für Campbell Biologie fin- gern. den Tochterzellen schon kurz nach
den Sie eine 3D-Animation  Gegen Ende der Anaphase besitzen dem Ende der Mitose erscheinen.
zur Mitose. die beiden Enden der Zelle gleich-  In tierischen Zellen ist die Bildung
wertige und vollständige Chromo- einer Teilungsfurche, die die beiden
somensätze. Tochterzellen voneinander
abschnürt, Teil der Cytokinese.

305
12 Der Zellzyklus

In Tierzellen wird während der Interphase das ein-


ren
zelne Centrosom repliziert und die zwei daraus ent- Aste
Centrosom
standenen Centrosomen bleiben in der Nähe des Zell-
kerns zusammen. In der Prophase und Prometaphase Schwester- Metaphasen-
der Mitose entfernen sich die beiden Centrosomen chroma- platte
tiden
voneinander, während aus ihnen die Mikrotubuli he-
rauswachsen. Am Ende der Prometaphase liegen sich
die beiden Centrosomen an den Polen der Spindel
gegenüber und bilden mit den Mikrotubuli eine durch
die Zelle verlaufende Linie. Kurze Mikrotubuli, soge-
Teil 2
nannte Astralmikrotubuli oder Asteren, weisen von
den Centrosomen sternförmig nach außen. Der Spin-
delapparat setzt sich also aus den Centrosomen, den
die eigentliche Spindel bildenden Spindelfasern und
Kineto-
den Astralmikrotubuli zusammen. chore
Jedes der beiden Schwesterchromatiden eines Chro-
mosoms verfügt über ein eigenes Kinetochor, das als
die Anheftungsstelle der Spindelfasern definiert wird.
Es wird aus verschiedenen Proteinen gebildet, die an
bestimmten DNA-Sequenzen im Bereich des Centromers Nicht-Kinetochor-
binden. Die beiden Kinetochore des replizierten Chro- mikrotubuli mit
mosoms weisen in entgegengesetzte Richtungen. Wäh- überlappenden Enden
rend der Prometaphase verankern sich einige Mikro-
Kinetochor-
tubuli der Spindel, die als Kinetochormikrotubuli mikrotubuli
bezeichnet werden, an den Kinetochoren. Die Kine-
Mikrotubuli
tochore enthalten also sowohl DNA-bindende, als auch
Mikrotubuli-bindende Proteine. Die Zahl der mit einem
Kinetochor verbundenen Mikrotubuli ist sehr unter-
schiedlich, von einem einzelnen Mikrotubulus in Hefe- 0,5 µm
zellen bis zu etwa vierzig in Säugetierzellen. Nach der
Verankerung der Mikrotubuli der mitotischen Spindel
am Kinetochor eines Chromosoms wird dieses in Rich-
tung des Spindelpols gezogen, von dem die Mikrotubuli Chromosomen
ausgehen. Am anderen Kinetochor des gleichen Chro-
mosoms binden Mikrotubuli, die vom entgegengesetzten
Spindelpol ausgehen. Es beginnt ein ständiges „Tauzie-
hen“, bis sich die Chromosomen in der Mitte zwischen
den beiden Spindelpolen aufreihen. Ist dieser Zustand
erreicht, befindet sich die Zelle in der Metaphase. Die Centrosom 1 µm
gedachte Ebene, in der die Chromosomen nun liegen
und die den Spindelapparat in zwei spiegelbildliche Abbildung 12.8: Die mitotische Spindel in der Metaphase. Die
Hälften teilt, ist die Metaphasenplatte (Abbildung Kinetochore der beiden Schwesterchromatiden der Chromosomen weisen
12.8). Währenddessen haben sich die nicht an den Kine- in entgegengesetzte Richtungen. In dieser Darstellung ist jedes der Kine-
tochoren verankerten Mikrotubuli verlängert und über- tochore an eine Gruppe von Kinetochor-Mikrotubuli gebunden, die sich bis
lappen in der Metaphase mit den ebenfalls nicht mit zum nähergelegenen Centrosom erstrecken. Die nicht an den Kinetochoren
Kinetochoren assoziierten Mikrotubuli des entgegenge- verankerten Mikrotubuli überlappen im Bereich der Metaphasenplatte
setzten Spindelpols. Die Astralmikrotubuli haben sich (transmissionselektronenmikroskopische Aufnahmen).
zu diesem Zeitpunkt ebenfalls verlängert und treten mit
der Plasmamembran in Kontakt. Der Spindelapparat ist ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie auf dem unteren Foto eine Linie durch
die Metaphasenplatte ein. Markieren Sie einen Astralmikrotubulus. Wäh-
nun vollständig ausgebildet.
len Sie einen Spindelpol aus und zeichnen Sie Pfeile ein, die die Richtung
Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Struk-
der Chromosomenwanderung in der Anaphase angeben.
tur des Spindelapparates und seiner Funktion in der
Anaphase der Mitose? Bis zu diesem Zeitpunkt werden
die Schwesterchromatiden durch die Kohäsine zusam- Welche Rolle spielen die Kinetochormikrotubuli bei
mengehalten. Die Anaphase setzt ein, wenn diese dieser Bewegung zu den Spindelpolen? Offenbar wir-
Kohäsine durch das Enzym Separase abgebaut werden ken hier zwei unterschiedliche Mechanismen, die mit
und sich die Schwesterchromatiden trennen. Einmal Motorproteinen zusammenhängen (wie Motorproteine
getrennt, werden sie zu selbständigen Chromosomen, Objekte entlang von Mikrotubuli bewegen, hatten wir
die mithilfe der Verankerung der Mikrotubuli an ihren bereits in Abbildung 6.21 beschrieben). In einem im Jahr
Kinetochoren zu den gegenüberliegenden Spindelpo- 1987 durchgeführten Experiment (Abbildung 12.9)
len gezogen werden. schien bereits bewiesen zu sein, dass Motorproteine

306
12.2 Der Wechsel von Mitose und Interphase im Zellzyklus

am Kinetochor die Chromosomen entlang der Mikro- dass sich die nicht mit Kinetochoren verankerten
tubuli zu den Spindelpolen transportieren, wobei sich Mikrotubuli in der Metaphase weiträumig überlappen
diejenigen Kinetochor-Enden der Mikrotubuli verkür- (Abbildung 12.8). Während der Anaphase schieben
zen, an denen die Chromosomen bereits vorbei gewan- sich diese Mikrotubuli mithilfe von Motorproteinen aus-
dert sind. Bei der Untersuchung anderer Zelltypen einander, wobei sie Energie (ATP) verbrauchen. Durch
und Zellen anderer Arten ergaben ähnliche Versuche diese Bewegung werden auch die Spindelpole in entge-
jedoch, dass Motorproteine an den Spindelpolen die gengesetzte Richtungen gedrückt, was zu einer Stre-
Mikrotubuli, ähnlich einer Angelschnur, einholen und ckung des gesamten Zellkörpers führt. Die überlappen-
damit die Chromosomen heranziehen. Nachdem die den Bereiche der Mikrotubuli verkürzen sich während
Mikrotubuli an den Motorproteinen vorbei sind, depo- dieser Vorgänge, werden aber durch Anlagerung neuer
Teil 2
lymerisieren sie an diesem Ende. Es wird heute allge- Tubulinuntereinheiten ergänzt.
mein angenommen, dass beide Mechanismen gleich- Am Ende der Anaphase sind die beiden Chromoso-
zeitig genutzt werden und ihr relativer Beitrag zur mensätze (2 × 46 in Zellen des Menschen) an gegen-
Wanderung der Chromosomen vom betrachteten Zell- überliegenden Enden der gestreckten Zelle angelangt.
typ abhängt. Während der Telophase werden die neuen Zellkerne
Wozu dienen dann aber diejenigen Mikrotubuli, die gebildet. Die Cytokinese mit der Abschnürung der
nicht an den Kinetochoren verankert sind? Wenn sich Cytoplasmata beginnt gewöhnlich in der Anaphase
eine tierische Zelle teilt, bewirken diese Mikrotubuli oder der Telophase und schließlich löst sich der Spin-
eine Streckung der gesamten Zelle. Dies beruht darauf, delapparat auf.

 Abbildung 12.9: Aus der Forschung

An welchem Ende verkürzen sich die dem ausgebleichten Bereich und dem Spindelpol
Mikrotubuli während der Anaphase? ihre Länge beibehielten.
Experiment Gary Borisy und seine Kollegen wollten
herausfinden, ob die Kinetochormikrotubuli sich am
Kinetochorende oder am Spindelpolende verkürzen,
wenn die Chromosomen im Verlauf der Mitose zu
den Spindelpolen wandern. Als Erstes markierten
sie die Mikrotubuli in Nierenzellen vom Schwein
zu Beginn der Anaphase mit einem gelben Fluores- Schlussfolgerung In diesem Zelltyp beruht die Chro-
zenzfarbstoff. mosomenwanderung während der Anaphase auf
einer Verkürzung der Mikrotubuli an deren Kineto-
Kinetochor chorenden, nicht aber an den Spindelpolenden.
Diese Ergebnisse stützen die Hypothese, dass im
Spindel-
pol
Verlauf der Anaphase die Chromosomen durch die
Mikrotubuli des Spindelapparates gezogen werden,
wenn diese an den zum Kinetochor weisenden
Enden depolymerisieren. Dabei werden die Tubulin-
Dann markierten sie einen Bereich der Kinetochor- Untereinheiten der Mikrotubuli freigesetzt.
mikrotubuli zwischen einem der Spindelpole und
den Chromosomen. Dazu wurden die Farbstoff- Bewegungsrichtung
des Chromosoms
moleküle mithilfe eines Lasers ausgebleicht, ohne die Kinetochor
Mikrotubuli selbst zu beschädigen. Im Verlauf der
Anaphase verfolgten die Forscher die Längenände- Mikro- Motor- Tubulin-
tubulus protein unter-
rung der Mikrotubuli zu beiden Seiten des markier- einheiten
Chromosom
ten (ausgeblichenen) Bereichs.
Quelle: G. Gorbsky et al., Chromosomes move poleward in anaphase
Markierungsbereich
along stationary microtubules that coordinately disassemble from
their kinetochor ends, Journal of Cell Biology 104:9–18 (1987).

WAS WÄRE, WENN? Wie hätte sich der durch Aus-


bleichen markierte Abschnitt relativ zu den Spindel-
polen verhalten, wenn dieses Experiment in einem
Ergebnis Bei der Bewegung der Chromosomen in Zelltyp durchgeführt worden wäre, in dem die
Richtung der Spindelpole verkürzten sich die Mi- Mikrotubuli von den Polen des Spindelapparates
krotubulusabschnitte auf der dem Kinetochor zuge- aus wie eine Angelschnur „eingeholt“ würden? Wie
wandten Seite, während die Abschnitte zwischen hätte sich die Länge der Mikrotubuli verändert?

307
12 Der Zellzyklus

12.2.3 Die Cytokinese mal so lang wie die Zelle selbst. Ein so großes Molekül
muss also mehrfach aufgewunden und gefaltet sein,
Bei tierischen Zellen erfolgt die Cytokinese durch eine um in die Zelle zu passen.
sogenannte Furchung. Als erstes Anzeichen erscheint
dabei eine Teilungsfurche – eine flache, rinnenförmige
Einbuchtung der Zelloberfläche, in der Ebene der vor-
herigen Metaphasenplatte (Abbildung 12.10a). Die
Teilungsfurche besitzt auf der cytoplasmatischen Seite
einen kontraktilen Ring, der aus Actinfilamenten (Mik-
rofilamenten) und damit assoziierten Myosinmolekülen
Teil 2
besteht. (Actin und Myosin sind auch für die Muskel-
kontraktion und zahlreiche andere zelluläre Bewegungs-
vorgänge verantwortlich.) Die Wechselwirkung der Mik-
rofilamente mit den Myosinmolekülen, den eigentlichen
Motorproteinen des Systems, bewirkt die Kontraktion
des Ringes. Durch dieses Zusammenziehen der Mikro-
filamente und der Plasmamembran wird die Teilungs-
furche vertieft und es kommt letztlich zur Abschnürung Teilungsfurche 100 µm
der beiden Zellen. Die Zellteilung ist abgeschlossen. Es
liegen zwei getrennte Zellen mit jeweils einem Zellkern
und einer kompletten Ausstattung mit Organellen und
subzellulären Strukturen vor.
Bei Pflanzenzellen verläuft die Cytokinese aufgrund
der festen Zellwand ganz anders. Eine Teilungsfurche
gibt es hier nicht. Stattdessen werden vom Golgi-Appa-
rat abgeleitete Vesikel während der Telophase entlang kontraktiler Ring
von Mikrotubuli in die Zellmitte (den Bereich der Meta- aus Mikrofilamenten Tochterzellen
phasenplatte) transportiert. Dort verschmelzen sie mit-
einander zu einer sogenannten Zellplatte (Abbildung (a) Teilung einer Tierzelle (rasterelektronen-
mikroskopische Aufnahme).
12.10b). Das von den Vesikeln herantransportierte Zell-
wandmaterial lagert sich im Bereich der Zellplatte ab
und führt zu deren Wachstum. Die Zellplatte vergrößert
sich, bis die sie umgebende, von den Vesikeln stam-
mende Membran an die Plasmamembran stößt und sich
mit dieser verbindet. Zwei Tochterzellen mit getrennten
Plasmamembranen sind entstanden, die durch eine
neue Zellwand voneinander getrennt sind.
Abbildung 12.11 zeigt eine Serie von mikroskopi-
schen Aufnahmen einer sich teilenden Pflanzenzelle.
Anhand dieser Abbildung können Sie die Vorgänge der
Mitose und Cytokinese rekapitulieren.

12.2.4 Zweiteilung bei Bakterien Vesikel mit Wand der


Ausgangszelle 1 µm
Zellwandmaterial
Auch einzellige Eukaryonten wie Amöben oder Hefe- Zellplatte neue Zellwand
zellen vermehren sich durch Mitose. Man spricht in
diesem Fall von einer Zweiteilung. Obwohl sich auch
Prokaryonten (Bakterien und Archaeen) durch Zwei-
teilung vermehren, findet bei ihnen keine Mitose statt.
Die meisten bakteriellen Gene liegen auf einem einzel-
nen Chromosom, das aus einem zumeist zirkulären
(ringförmig geschlossenen) DNA-Molekül und damit
assoziierten Proteinen besteht. Obgleich Bakterien
kleiner und einfacher gebaut sind als eukaryontische
Zellen, ist die Aufgabe, das gesamte Genom geordnet Tochterzellen
zu replizieren und danach auf die beiden Tochterzel- (b) Zellplattenbildung in einer Pflanzenzelle
len zu verteilen, noch beachtlich. Das Chromosom des (elektronenmikroskopische Aufnahme).
Bakteriums Escherichia coli wäre, wenn man es auf- Abbildung 12.10: Cytokinese bei tierischen und pflanzlichen
schneiden und vollständig strecken würde, etwa 500- Zellen.

308
12.2 Der Wechsel von Mitose und Interphase im Zellzyklus

Zellkern sich verdichtende 10 μm


Nucleolus Chromosomen Chromosomen Zellplatte

Teil 2

1 Prophase. Das Chroma- 2 Prometaphase. 3 Metaphase. Der Spindel- 4 Anaphase. Die Chroma- 5 Telophase. Neue Zell-
tin verdichtet sich und Einzelne Chromosomen apparat ist vollständig tiden aller Chromosomen kerne bilden sich aus.
die Nucleoli beginnen, werden erkennbar. Jedes ausgebildet. Die Chromo- haben sich voneinander Zwischenzeitlich hat die
sich aufzulösen. Obwohl besteht aus zwei iden- somen, deren Kineto- getrennt. Die neuen Zellteilung (Cytokinese)
hier noch nicht sichtbar, tischen, über ihre ganze chore mit den Mikrotubuli Chromosomen wandern eingesetzt. Die Zellplatte,
setzt die Bildung des Länge verbundenen verbunden sind, haben entlang der Kinetochor- die das Cytoplasma
Spindelapparates bereits Schwesterchromatiden. sich in der Metaphasen- mikrotubuli zu gegen- zweiteilt, wächst zu den
ein. In der späten Prometa- platte angeordnet. überliegenden Seiten der Rändern der Ausgangs-
phase zerfällt die Kern- Zelle. Dabei verkürzen sich zelle.
hülle. die Kinetochormikro-
tubuli.

Abbildung 12.11: Mitose bei einer Pflanzenzelle. Diese lichtmikroskopischen Aufnahmen zeigen den Ablauf der Mitose in den Wurzelzellen einer
Zwiebel (Allium cepa).

Die Zellteilung wird bei E. coli mit dem Beginn der mit dem Tubulin der Eukaryonten verwandt und hilft
DNA-Replikation an einer bestimmten Stelle des Chro- bei der Einschnürung der Cytoplasmamembran und der
mosoms, dem Replikationsursprung, eingeleitet. Mit der Trennung der beiden Tochterzellen.
Verdopplung der DNA entstehen zunächst zwei Replika-
tionsursprünge, von denen einer im Verlauf der Replika- Replikations- Zellwand
tion zum gegenüberliegenden Ende der Zelle wandert ursprung
Plasma-
(Abbildung 12.12). Während das Chromosom repliziert membran
wird, verlängert sich auch die Zelle, so dass sie nach Escherichia coli-Zelle Bakterien-
Abschluss der Replikation ungefähr ihre doppelte Größe chromosom
erreicht. Dann stülpt sich die Plasmamembran ein und 1 Die Replikation des Chro- zwei Kopien des
neues Zellwandmaterial wird aufgelagert. Nach der voll- mosoms setzt ein. Bald Replikationsursprungs
ständigen Abschnürung haben sich zwei neue E. coli- danach wandert einer
Zellen gebildet, von denen jede ein vollständiges Genom der Replikationsursprün-
ge rasch zum anderen
in Form eines zirkulären Chromosoms enthält. Ende der Zelle. Der Me-
Mithilfe moderner gentechnischer Methoden kann chanismus dieser Bewe-
man Replikationsursprünge indirekt mit einem grünen gung ist noch nicht voll-
Fluoreszenzfarbstoff sichtbar machen, so dass sich ihre ständig aufgeklärt.
Bewegungen lichtmikroskopisch verfolgen lassen Replikationsursprung
2 Die Replikation schreitet
(siehe Abbildung 6.3). Ihre Bewegung erinnert zunächst fort. Je ein Replikations-
an die Wanderung eukaryontischer Chromosomen, die ursprung befindet sich
an ihren Kinetochoren in der Anaphase der Mitose zu nun an jedem Ende der
Zelle. Währenddessen
den Spindelpolen gezogen werden. Bakterien haben verlängert sich die Zelle.
aber keinen Spindelapparat, und noch nicht einmal
Mikrotubuli (allerdings wurden auch in Bakterien 3 Die Replikation wird
Strukturen entdeckt, die dem Cytoskelett der Eukaryon- abgeschlossen. Die
Plasmamembran
ten ähneln). Bei den meisten untersuchten Bakterien- wächst nach innen
arten wandern die beiden Replikationsursprünge zu und neues Zell-
entgegengesetzten Enden der Zelle, wo sie wahrschein- wandmaterial
lich durch spezielle Proteine verankert werden. Wie wird angelagert.
genau sich die Bakterienchromosomen bewegen und 4 Das Ergebnis sind
wie festgelegt wird, wo sie sich verankern, wird noch zwei genetisch
intensiv untersucht. Mehrere Proteine scheinen dabei identische
aber eine wichtige Rolle zu spielen: Eines ähnelt dem (Tochter-)Zellen.
eukaryontischen Actin und seine Filamentbildung Abbildung 12.12: Die Zweiteilung bei Bakterien. Das hier gezeigte
könnte beim Transport der bakteriellen Chromosomen Beispiel gilt für das Darmbakterium Escherichia coli, das ein einzelnes,
während der Zellteilung wichtig sein. Das andere ist ringförmig geschlossenes Chromosom besitzt.

309
12 Der Zellzyklus

12.2.5 Die Evolution der Mitose auch bei der Zellteilung von Prokaryonten auftreten.
Diese Hypothese wird durch die Beobachtung erhärtet,
EVOLUTION Aufgrund der Tatsache, dass Prokaryonten dass bei Eukaryonten einige Proteine an der Mitose betei-
schon mehr als eine Milliarde Jahre vor dem ersten Auf- ligt sind, deren Homologe (also ähnliche Proteine) an der
treten von Eukaryonten auf der Erde existierten, hat sich Zweiteilung bei Bakterien mitwirken (wie die oben ange-
die Mitose vermutlich aus Prozessen entwickelt, die sprochenen Homologen von Actin und Tubulin).
Bei der Entwicklung der Eukaryonten, mit ihren grö-
ßeren Genomen und einer Kernhülle, muss also irgend-
Bakterien- wie aus der ursprünglichen Zweiteilung, wie wir sie
chromosom noch heute bei den Bakterien beobachten, die Mitose
Teil 2
hervorgegangen sein. Abbildung 12.13 beschreibt eine
Hypothese für die schrittweise Evolution der Mitose.
(a) Bakterien. Bei der Zweiteilung von Bakterien wan- Hinweise auf mögliche Zwischenstadien geben zwei
dern die Replikationsursprünge der beiden sich bil-
denden Chromosomen zu entgegengesetzten Enden ungewöhnliche Formen der Kernteilung, die noch heute
der Zelle. Der Mechanismus dieses Vorgangs ist noch bei bestimmten eukaryontischen Einzellern auftreten.
nicht vollständig aufgeklärt. Vermutlich werden die
beiden Chromosomen an bestimmte Bereiche der
Die beiden mittleren Abbildungen zeigen mögliche
Plasmamembran angeheftet. ursprüngliche Mechanismen der Zellteilung, von denen
man annimmt, dass sie sich in den gezeigten Beispielen
Chromosomen im Laufe der Evolution nur wenig verändert haben. In
beiden Fällen bleibt die Kernmembran während der
Mikrotubuli Zellteilung erhalten. Bei den Dinoflagellaten sind die
replizierten Chromosomen an der Kernhülle verankert
und werden getrennt, wenn sich der Zellkern während
Kernhülle der Zellteilung streckt und schließlich abschnürt. Bei
Diatomeen (Kieselalgen) und Hefen wird dagegen inner-
(b) Dinoflagellaten. Bei den einzelligen Algen aus der halb des Zellkerns bereits eine mitotische Spindel aus-
Gruppe der Dinoflagellaten (Panzergeißler) bleibt die
Kernhülle, an die sich die Chromosomen anheften,
gebildet, die die Chromosomensätze voneinander trennt.
während der gesamten Zellteilung erhalten. Die Die Mitose bei den meisten Eukaryonten folgt aber
Mikrotubuli verlaufen durch cytoplasmatische Tunnel, dem oben geschilderten Prozess, in dem sich die Kern-
die durch den Zellkern reichen. Dies festigt die Orien-
tierung des Zellkerns, der sich dann in einem an die hülle auflöst und der Spindelapparat die dann frei im
bakterielle Zweiteilung erinnernden Vorgang teilt. Cytoplasma liegenden Chromosomen trennt.

Kinetochormikrotubuli  Wiederholungsfragen 12.2


1. Wie viele Chromosomen sind in dem Diagramm
Kernhülle
der Abbildung 12.8 zu sehen? – Wie viele Chro-
matiden zählen Sie?

(c) Diatomeen (Kieselalgen) und Hefen. Bei diesen bei-


2. Vergleichen Sie die Cytokinese bei tierischen
den Gruppen von Einzellern bleibt die Kernhülle und bei pflanzlichen Zellen.
während der Zellteilung ebenfalls intakt. Die Mikro-
tubuli bei diesen Organismen bilden jedoch einen 3. Während welcher Stadien des Zellzyklus besteht
Spindelapparat innerhalb des Zellkerns aus. Sie zie- ein Chromosom aus zwei identischen Chroma-
hen die Chromosomen auseinander und es werden
zwei Tochterkerne gebildet. tiden?
4. Vergleichen Sie die Wirkung von Actin und
Kinetochormikrotubuli Tubulin im Verlauf der eukaryontischen Zell-
teilung mit der Rolle der tubulinähnlichen und
actinähnlichen Proteine bei der Zweiteilung
Centrosom von Bakterien.
Bruchstücke der Kernhülle 5. Ein Kinetochor wird auch mit einer Kopplung
zwischen einem Motorprotein und der Fracht,
(d) Die meisten Eukaryonten. Bei den meisten übrigen
die es transportiert, verglichen. Erklären Sie, wie
Eukaryonten einschließlich aller Pflanzen und Tiere man auf diesen Vergleich kommt.
bildet sich der Spindelapparat außerhalb des Zell-
kerns, und die Kernhülle zerfällt während der Mitose. 6. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Welche Funktionen,
Mikrotubuli ziehen die Chromosomen auseinander,
und die Kernhüllen bilden sich neu. außer den in diesem Kapitel genannten, haben
Actin und Tubulin? Nennen Sie die Proteine,
Abbildung 12.13: Eine Hypothese zur Evolution der Mitose.
mit denen sie dazu wechselwirken (Betrachten
Einige rezente eukaryontische Einzeller zeigen einen Mechanismus der Zell-
teilung, der zwischen der Zweiteilung der Bakterien (a) und der Mitose, wie
Sie hierzu die Abbildungen 6.21a und 6.26a).
sie bei den meisten Eukaryonten abläuft (d), liegt. Zur Vereinfachung ist nur Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
in (a) eine Zellwand eingezeichnet.

310
12.3 Der eukaryontische Zellzyklus wird durch ein molekulares Kontrollsystem gesteuert

Der eukaryontische Zellzyklus 12.3.1 Hinweise auf die Existenz


wird durch ein molekulares cytoplasmatischer Signale
Kontrollsystem gesteuert
12.3 Was steuert den Zellzyklus? In den frühen 1970er Jah-
ren führte eine Reihe von Versuchen zu einem Modell,
nach dem das Fortschreiten des Zellzyklus durch spe-
Bei der Zellteilung müssen sowohl der Zeitpunkt als zifische Signalmoleküle im Cytoplasma reguliert wird.
auch die Geschwindigkeit genau abgestimmt sein, um Einige der ersten handfesten Belege für dieses Modell
Wachstum, Entwicklung und das Überleben von Tie- wurden aus Versuchen mit Säugerzellkulturen gewon-
ren, Pflanzen und Pilzen zu sichern. Wie oft sich Zel- nen. Bei diesen Experimenten wurden Zellen aus zwei
Teil 2
len teilen, hängt von der Art der Zelle ab. So teilen verschiedenen Phasen des Zellzyklus miteinander ver-
sich etwa die Hautzellen eines Menschen ständig und schmolzen, so dass sie zwei Zellkerne enthielten. Wenn
lebenslang, während die Zellen der Leber zwar tei- eine der beteiligten Zellen sich in der S-Phase befand
lungsfähig bleiben, sich aber nur bei Bedarf vermehren und die andere in der G1-Phase, ging der G1-Zellkern
(zum Beispiel um abgestorbene Zellen zu ersetzen). unverzüglich in die S-Phase über – so als wäre er durch
Einige andere Zelltypen im Körper eines Erwachsenen Stoffe im Cytoplasma der anderen Zelle dazu veranlasst
teilen sich kaum noch, wie etwa Nerven- und einige worden, seine DNA zu replizieren. Bei der Verschmel-
Muskelzellen. Diese Unterschiede in den Zellzyklen zung einer Zelle in der M-Phase mit einer Zelle in
verschiedener Zelltypen werden durch molekulare einem beliebigen anderen Zyklusabschnitt, trat auch
Regulationsmechanismen bestimmt. Die Kenntnis die- der zweite Zellkern sofort in die Mitose ein – das Chro-
ser Mechanismen ist nicht nur außerordentlich wichtig, matin des Zellkerns verdichtete sich zu Chromosomen
um die Lebenszyklen normaler Zellen zu verstehen, und ein Spindelapparat wurde aufgebaut (Abbildung
sondern auch um zu begreifen, wie etwa Krebszellen 12.14). Dies konnte selbst dann beobachtet werden,
der Kontrolle entgehen. wenn sich die zweite Zelle in der G1-Phase befand (also
die DNA noch nicht repliziert war).

 Abbildung 12.14: Aus der Forschung

Steuern cytoplasmatische Faktoren den Ergebnis Wenn eine Zelle, die sich in der S-Phase
Zellzyklus? befand, mit einer Zelle in der G1-Phase verschmol-
Experiment Forscher der Universität von Colorado zen wurde, ging der G1-Zellkern unverzüglich in
(USA) fragten sich, ob das Fortschreiten des Zell- die S-Phase über und die Neusynthese von DNA
zyklus von cytoplasmatischen Faktoren gesteuert wurde eingeleitet.
wird. Um dies zu ergründen, verschmolzen sie in Wenn eine Zelle, die sich in der M-Phase befand,
Kultur gehaltene Säugetierzellen in verschiedenen mit einer Zelle in der G1-Phase verschmolzen wurde,
Zellzyklusphasen. Zwei dieser Experimente sind setzte im G1-Zellkern unverzüglich die Mitose ein:
im Folgenden schematisch wiedergegeben. Es bildete sich ein Spindelapparat aus und die Chro-
mosomen verdichteten sich, obwohl noch keine Ver-
dopplung stattgefunden hatte und keine Schwes-
terchromatiden existierten.
Experiment 1 Experiment 2 Schlussfolgerung Die Befunde aus der Fusion
einer Zelle im G1-Zustand mit einer Zelle in der S-
oder der M-Phase des Zellzyklus legen den Schluss
nahe, dass Moleküle im Cytoplasma während der
S G1 M G1 S- und der M-Phase deren Verlauf und den Über-
gang in die nächste Phase steuern.

Quelle: R. Johnson und P. Rao, Mammalian cell fusion: induction of


premature chromosome condensation in interphase nuclei, Nature
226:717–722 (1970).

S S M M
WAS WÄRE, WENN? Wenn das Fortschreiten der ein-
Die Verschmelzung Die Verschmelzung einer
einer Zelle mit einem Zelle mit einem Kern in
zelnen Phasen nicht von cytoplasmatischen Mole-
Kern in der S-Phase der M-Phase induziert külen abhängen würde, sondern jede Phase automa-
induziert die DNA-Syn- die Mitose im Kern einer tisch beginnen würde, sobald die vorherige beendet
these im Kern einer Zelle, die sich in der
Zelle, die sich in der G1-Phase befand. ist, wie hätten sich dann die erhaltenen Ergebnisse
G1-Phase befand. unterschieden.

311
12 Der Zellzyklus

12.3.2 Das Zellzyklus-Kontrollsystem Die Zellzyklus-Uhr: Cycline und cyclinabhängige


Kinasen
Sowohl das in Abbildung 12.14 dargestellte Experiment, Die Geschwindigkeit, mit der die aufeinanderfolgenden
als auch viele andere an Tier- und Hefezellen durchge- Ereignisse im Zellzyklus ablaufen, wird durch rhythmi-
führte Versuche legten die Existenz eines Kontrollsys- sche Schwankungen in der Konzentration und Akti-
tems nahe, das die aufeinanderfolgenden Ereignisse vität bestimmter Moleküle vorgegeben, die den Zell-
im Zellzyklus steuert. Es besteht aus einem zyklisch zyklus steuern. Diese Regulatoren sind hauptsächlich
wirkenden Satz von Molekülen, die die wichtigsten Proteine, die man in zwei Gruppen einteilen kann: Pro-
Ereignisse im Zellzyklus in Gang setzen und koor- teinkinasen und Cycline. Proteinkinasen phosphorylie-
dinieren. Man kann das Zellzyklus-Kontrollsystem ren andere Proteine und führen entweder zu deren
Teil 2
mit der Steuerung einer Waschmaschine vergleichen Aktivierung oder Hemmung (siehe Kapitel 11).
(Abbildung 12.15). Wie deren Zeitgeber läuft die Obwohl viele der an der Steuerung des Zellzyklus
Zellzyklussteuerung selbstständig ab und folgt ihrem beteiligten Proteinkinasen über den gesamten Zellzyk-
eigenen, von einem inneren Uhrwerk vorgegebenen lus in gleichen Mengen in der Zelle vorliegen, sind sie
Takt. Folgen wir weiter dieser Analogie, so folgt ein nicht aktiv. Für die Aktivierung muss sich ein solches
Waschzyklus aber sowohl einer inneren Steuerung Kinasemolekül mit einem zweiten Protein, einem Cyc-
(etwa durch einen Sensor, der den Wasserstand kon- lin, verbinden. Cycline verdanken ihren Namen der
trolliert) als auch einer äußeren (beispielsweise durch Beobachtung, dass ihre Konzentration im Verlauf des
das Drücken des Startknopfes). Ebenso wird auch der Zellzyklus zyklischen Schwankungen unterliegt. Da
Zellzyklus an bestimmten Kontrollpunkten durch die beschriebenen Proteinkinasen nur in Verbindung
interne und externe Signale reguliert. Ein Kontrollpunkt mit einem Cyclin ihre Aktivität entfalten, spricht man
des Zellzyklus (engl. checkpoint) ist ein Moment, an auch von cyclinabhängigen Kinasen (Cdk, engl. cyclin-
dem Signale darüber entscheiden können, ob der Zyk- dependent kinases). Die Aktivität der Cdk steigt und
lus weiter abläuft oder angehalten wird. Die drei Haupt- fällt mit der Konzentration ihres jeweiligen Partners
kontrollpunkte liegen in der G1-, der G2- und der M- unter den Cyclinen. Abbildung 12.16a zeigt die
Phase (durch die roten Tore in Abbildung 12.15 gekenn- Schwankungen in der Aktivität des MPF (mitoseför-
zeichnet). Diesen Kontrollpunkten kommt, je nach dernder Faktor, engl. mitosis-promoting factor) – des
Zelltyp, eine unterschiedliche Bedeutung zu. ersten beschriebenen Cyclin/Cdk-Komplexes, der
Um verstehen zu können, wie die Kontrollpunkte des ursprünglich in Froscheiern entdeckt wurde. Man
Zellzyklus funktionieren, müssen wir wissen, welche kann leicht erkennen, dass die höchste MPF-Aktivität
Arten von Molekülen an dieser Kontrolle beteiligt sind mit der höchsten Konzentration des zugehörigen
(sozusagen die molekulare Grundlage der „Zellzyklus- Cyclins übereinstimmt. Die Konzentration des abge-
Uhr“) und wie eine Zelle den Zyklus durchläuft. Danach bildeten Cyclins steigt während der S- und der G2-
werden wir auf die inneren und äußeren Signale ein- Phase an und fällt dann in der M-Phase abrupt ab.
gehen, die die Uhr an den Kontrollpunkten entweder Tatsächlich wurde MPF zunächst als Reifungsfaktor
zeitweise anhalten oder sie wieder zum Ticken brin- (maturation-promoting factor) bezeichnet, bevor man
gen können. seine Bedeutung für die Mitose erkannte. Die jetzt
gebräuchliche Verwendung als ein Faktor, der die M-
G1-Kontrollpunkt Phase fördert, spiegelt seine Funktion für den Über-
gang der Zelle von der G2-Phase in die M-Phase wider
(also die Überschreitung des G2-Kontrollpunktes;
Abbildung 12.16b): Die Cyclinmoleküle häufen sich
Kontroll- im Verlauf der G2-Phase immer weiter an und verbin-
system S
G1 den sich mit den Cdks. Die so entstandenen MPF-
Komplexe phosphorylieren eine Reihe von Zielprotei-
nen, die letztlich die Mitose einleiten.
M G2 Der MPF phosphoryliert einerseits unmittelbar an
der Mitose beteiligte Zielproteine, andererseits kann er
aber auch nachgeschaltete, andere Kinasen aktivieren.
So bewirkt der MPF bei Säugerzellen beispielsweise
M-Kontrollpunkt G2-Kontrollpunkt
die Phosphorylierung verschiedener Proteine der Zell-
kernlamina (siehe Abbildung 6.9). Dies fördert die Frag-
Abbildung 12.15: Ein mechanistisches Modell der Zellzyklus- mentierung der Kernhülle während der Prometaphase
steuerung. In dieser schematischen Darstellung sollen die flachen der Mitose. Außerdem steuert der MPF wahrscheinlich
„Pflastersteine“ des äußeren Rings die aufeinanderfolgenden Ereignisse die Kondensation der Chromosomen und veranlasst die
im Zellzyklus veranschaulichen. Wie das Steuergerät einer Waschmaschine Bildung des Spindelapparates in der Prophase.
fährt die Zellzyklussteuerung eigenständig fort – angetrieben von einer
Während der Anaphase leitet der MPF seine eigene
inneren „Uhr“. Das System wird jedoch sowohl von inneren als auch von
äußeren Signalen gesteuert, die an verschiedenen Kontrollpunkten angrei-
Inaktivierung ein, indem er letztlich den Abbau seines
fen. Drei der Kontrollpunkte sind hier in rot dargestellt. Cyclinpartners fördert. Der verbleibende Teil des MPF,
die Cdk, überdauert in der Zelle in inaktiver Form, bis
er sich erneut mit einem passenden Cyclinmolekül

312
12.3 Der eukaryontische Zellzyklus wird durch ein molekulares Kontrollsystem gesteuert

verbinden kann, das in der folgenden S- und der G2- Die Zu- und Abnahme der Aktivitäten verschiedener
Phase gebildet wird. Cyklin-Cdk-Komplexe sind von großer Bedeutung für
die Kontrolle aller Stadien des Zellzyklus. Sie geben
außerdem das Startsignal an einigen Kontrollpunkten.
M G1 S G2 M G1 S G2 M G1
Wie oben bereits erwähnt, kontrolliert der MPF das
MPF-Aktivität Fortschreiten der Zelle durch den G2-Kontrollpunkt.
Das Verhalten der Zelle am G1-Kontrollpunkt wird
Cyclin-Konzen-
tration ebenfalls von Cyklin-Cdk-Komplexen gesteuert.
In tierischen Zellen scheinen mindestens drei ver-
schiedene Cdk und mehrere Cycline auf diesen Kon-
Teil 2
trollpunkt zu wirken. Als Nächstes wollen wir uns die
Rolle der Kontrollpunkte im Zellzyklus näher ansehen.
Zeit
(a) Veränderungen in MPF-Aktivität und Cyclinkonzen- Zellzyklus-Regulation an den Kontrollpunkten
tration im Verlauf des Zellzyklus.
durch innere und äußere Signale
1 Die Cyclinsynthese Im Allgemeinen halten tierische Zellen den Zellzyk-
setzt in der späten lus durch eingebaute Stoppsignale an den Kontroll-
S-Phase ein und über-
dauert die G2-Phase. punkten an, bis ein „Weiter“-Signal das Stoppsignal
5 Während der G1-Phase be- Da das Cyclin während aufhebt und den Zyklus wieder anstößt. Diese Signale
günstigen die Verhältnisse dieses Stadiums vor werden innerhalb der Zelle durch Signalübertragungs-
in der Zelle einen Cyclinab- dem Abbau geschützt wege (Signaltransduktion) vermittelt, wie wir sie in
bau. Der Cdk-Anteil des ist, reichert es sich in
Kapitel 11 vorgestellt haben. Viele der an den Kon-
MPFs wird wiederverwertet. der Zelle an.
trollpunkten eingehenden Signale werden auch durch
interne zelluläre Überwachungsmechanismen erzeugt.
Diese Signale teilen der Zelle mit, ob für den nächsten
Schritt lebenswichtige Vorgänge bereits stattgefunden
haben und abgeschlossen sind, so dass der Zellzyklus
ungefährdet fortgeführt werden kann. An den Kon-
Cycli
1

S
G

trollpunkten werden letztlich auch Signale von außer-


n-Anreicher

Cdk halb der Zelle berücksichtigt (wir werden dies weiter


M unten diskutieren). Wie in Abbildung 12.15 gezeigt ist,
abgebautes G2 finden sich drei wichtige Kontrollpunkte in der G1-,
Cyclin G2- der G2- und der M-Phase.
Cdk
un

Kontrollpunkt Für viele Zellen erscheint der G1-Kontrollpunkt (der


Cyclin wird
g

abgebaut. bei Säugetierzellen als „Restriktionspunkt“ bezeichnet


Cyclin wird) als der wichtigste. Falls eine Zelle am G1-Kont-
MPF rollpunkt ein „Weiter“-Signal empfängt, durchläuft sie
üblicherweise im Anschluss die Phasen G1, S, G2 und
4 Im Verlauf der 3 MPF fördert die 2 Angehäufte Cy-
Anaphase wird Mitose durch clinmoleküle ver-
M und teilt sich. Bleibt das „Weiter“-Signal aus, schert
der Cyclinanteil Phosphorylie- binden sich mit sie aus dem Zyklus aus und geht in einen als G0 oder
des MPFs abge- rung verschie- wiederverwerte- G0-Phase bezeichneten Zustand über, in dem sie sich
baut und damit dener Proteine. ten Cdk-Molekü- nicht teilt (Abbildung 12.17a). Die meisten Zellen des
die M-Phase be- Die MPF-Aktivi- len und bilden menschlichen Körpers befinden sich im G0-Zustand.
endet. Die Zelle tät erreicht damit ausrei-
geht in den G1- während der chend MPF, um Darin verweilen Zellen, die sich nicht mehr teilen, wie
Zustand über. Metaphase die Zelle den G2- beispielsweise die bereits angesprochenen Nervenzel-
ihren Höchst- Kontrollpunkt len. Andere, wie die ebenfalls erwähnten Leberzellen,
wert. passieren und können aus dem G0-Zustand bei Bedarf wieder in die
die Mitose ein-
leiten zu lassen.
G1-Phase des Zellzyklus eintreten. Dies wird durch
äußere Signale, wie beispielsweise Wachstumsfakto-
(b) Molekulare Mechanismen der Zellzyklusregulation. ren, ausgelöst, die nach einer Gewebeschädigung von
noch gesunden Zellen freigesetzt werden.
Abbildung 12.16: Die molekulare Steuerung des Zellzyklusver- Viele Forschungsansätze befassen sich mit der Ent-
laufs am G2-Kontrollpunkt. Die verschiedenen Zellzyklusschritte wer- schlüsselung der Wege, die die Aktivität der cyclinab-
den durch rhythmische Veränderungen in der Aktivität cyclinabhängiger hängigen Kinase und anderer Proteine mit zelleigenen
Kinasen (Cdk) zeitlich aufeinander abgestimmt. Im vorliegenden Beispiel und äußeren Signalen verknüpfen. Wir möchten auf
konzentrieren wir uns auf einen Cyclin/Cdk-Komplex tierischer Zellen, der ein Beispiel eingehen, wie ein zelleigenes Signal auf den
als MPF bezeichnet wird und am G2-Kontrollpunkt als „Weiter“-Signal M-Phasen-Kontrollpunkt wirkt (Abbildung 12.17b). Die
wirkt, um die Mitose einzuleiten.
Anaphase, in der die Schwesterchromatiden getrennt
werden, setzt erst ein, wenn alle Chromosomen in der
? Erklären Sie, wie die Ereignisse in Diagramm (b) mit der Zeitachse
von Diagramm (a), beginnend am linken Ende, zusammenhängen. Metaphasenplatte aufgereiht und mit dem Spindel-
apparat verankert sind. Weiterhin bleiben die Schwes-

313
12 Der Zellzyklus

terchromatiden so lange miteinander verbunden, bis Die Bindung des Thrombocyten-Wachstumsfaktors an


alle Kinetochore ohne Ausnahme mit der mitotischen diese Rezeptoren aktiviert einen Signaltransduktions-
Spindel verbunden sind. Nicht verankerte Kineto- weg, der den Zellen die Überschreitung des G1-Kont-
chore führen zu einer Verzögerung des Eintritts in die rollpunkts und die Teilung erlaubt. So wird die Tei-
Anaphase. Erst wenn die Kinetochore aller Chromo- lung von Fibroblasten nicht nur in der künstlichen
somen mit der Spindel verbunden sind, wird das ent- Umgebung einer Zellkultur angeregt, sondern auch im
sprechende Regulatorprotein aktiviert. Dabei handelt es tierischen Körper. Bei einer Verletzung von Geweben
sich um ein Enzym, das keine cyclinabhängige Kinase setzen die am Wundverschluss beteiligten Blutplätt-
sondern eine Protease ist (allerdings wird dessen Akti- chen den Wachstumsfaktor frei, was die Vermehrung
vität letztlich wieder durch eine Cdk kontrolliert). der Fibroblasten veranlasst. Letztlich kommt es damit
Teil 2
Dies führt schließlich zur Spaltung der Kohäsine, die die zur Bildung neuen Gewebes und zur Heilung der
Schwesterchromatiden zusammenhalten. Dieser Mecha- Wunde.
nismus gewährleistet, dass jede Tochterzelle weder zu Die Wirkung eines äußeren physikalischen Faktors
viele, noch zu wenige Chromosomen bei der Zelltei- auf die Zellteilung zeigt sich bei der sogenannten
lung erhält. Kontakthemmung. Dabei wird die Zellteilung einge-
Auch äußere Signale, zu denen sowohl chemische stellt, wenn eine bestimmte Populationsdichte von
als auch physikalische Faktoren gehören, können die Zellen erreicht ist (Abbildung 12.19a). Wie man bereits
Zellteilung in tierischen Zellkulturen beeinflussen. früh beobachten konnte, vermehren sich in Kultur
Fehlt beispielsweise ein wichtiger Nährstoff im Kultur- gehaltene Zellen nur so lange, bis sich eine lücken-
medium, so stellen die Zellen ihre Teilung ein. (Tat- lose, einlagige Zellschicht auf der Unterlage der Kul-
sächlich wurde dieses Minimumsprinzip bereits im turschale gebildet hat. Danach wird die Zellteilung
19. Jahrhundert von dem Chemiker Justus
Liebig formuliert, der das Pflanzenwachs- G1-Kontrollpunkt
tum erforschte. In Analogie zu unserem
Beispiel mit der Waschmaschine wäre es
G0
in etwa so, als wollte man diese anschalten,
ohne das Wasser anzuschließen.)
Selbst bei ansonsten optimalen
Bedingungen teilen sich die
meisten Säugetierzellen in
Zellkulturen nur dann, G1 G1
wenn dem Medium
bestimmte Wachs- Ohne ein „Weiter“-Signal verlässt die Wenn die Zelle ein „Weiter“-Signal
tumsfaktoren zu- Zelle den Zellzyklus und geht in die erhält, schreitet sie im Zellzyklus fort.
gesetzt werden. Ruhephase G0 über.
G S
Wie wir in Kapitel
1
(a) G1-Kontrollpunkt
G
11 dargelegt ha- M 2

G1 G1
ben, sind Wachs-
tumsfaktoren Pro-
teine, die von bestimmten
Zellen ausgeschüttet wer- M G2 M G2
den und die Zellen zur Tei-
lung anregen. Verschiedene Zell-
typen reagieren nur auf bestimmte M-Kontrollpunkt
Wachstumsfaktoren oder bestimm-
te Kombinationen solcher Faktoren.
G2-Kontroll-
Wir wollen uns das Beispiel des Throm- Anaphase punkt
bocyten-Wachstumsfaktors (PDGF; platelet-
derived growth factor) näher ansehen, der Prometaphase Metaphase
von den Thrombocyten (Blutplättchen) Eine Zelle in der Mitose erhält ein Sobald alle Chromosomen mit den
hergestellt und freigesetzt wird. Der in „Stopp“-Signal, wenn eines ihrer Spindelfasern beider Pole verbunden
Abbildung 12.18 beschriebene Versuch Chromosomen keinen Kontakt mit sind, ermöglicht ein „Weiter“-Signal
den Spindelfasern hat. der Zelle den Übergang in die Ana-
zeigt, dass dieser Wachstumsfaktor für die
(b) M-Kontrollpunkt phase
Teilung von in Kultur gehaltenen Fibro-
blasten notwendig ist. Fibroblasten bilden
Abbildung 12.17: Zwei wichtige Kontrollpunkte. An verschiedenen Kontrollpunkten
eine Form des Bindegewebes und tragen im Zellzyklus (rote Tore), reagieren die Zellen unterschiedlich in Abhängigkeit von den Sig-
PDGF-Rezeptoren aus der Gruppe der nalen, die sie erhalten. Hier sind die Vorgänge an den (a) G - und (b) M-Kontrollpunkten
1
Rezeptor-Tyrosin-Kinasen (siehe hierzu gezeigt. In (b) wurde der G2-Kontrollpunkt von der Zelle bereits überschritten.
Kapitel 11) in ihrer Plasmamembran.
WAS WÄRE, WENN? Was würde geschehen, wenn die Zelle einen Kontrollpunkt igno-
riert und im Zellzyklus weiterläuft?

314
12.3 Der eukaryontische Zellzyklus wird durch ein molekulares Kontrollsystem gesteuert

eingestellt. Werden dann in einem Bereich Zellen ent- an einem Substrat (einer Unterlage) – wie der Oberflä-
fernt, beginnen sich die angrenzenden Zellen wieder che einer Kulturschale oder der extrazellulären Matrix
zu teilen, bis der Freiraum aufgefüllt ist. Untersuchun- eines Gewebes – verankert sein. Man nimmt an, dass
gen zeigten, dass die Zellen Proteine an ihrer Oberflä- die Signale der Verankerung, ähnlich wie die der Zell-
che tragen, die bei der Berührung mit einem entspre- dichte, durch Proteine der Plasmamembran erzeugt
chenden Protein der Nachbarzelle ein Signal auslösen, werden, die mit dem Cytoskelett verbunden sind und
um die Teilung einzustellen. Dieses Signal wird wech- letztlich an das Kontrollsystem des Zellzyklus weiter-
selseitig in beiden Zellen erzeugt und hemmt den geleitet werden.
Zellzyklus. Die Hemmung bleibt auch in Gegenwart Die dichteabhängige Teilungshemmung und die Ver-
von Wachstumsfaktoren bestehen. ankerungsabhängigkeit scheinen in den Geweben eines
Teil 2
intakten Körpers ebenso zu wirken wie in der Zellkul-
Skalpelle tur. Sie verhindern die Vermehrung von Zellen über
1 Eine menschliche eine optimale Populationsdichte hinaus oder wenn sie
Bindegewebsprobe ihre angestammten Gewebe verlassen. Krebszellen,
wird in kleine
Stücke zerteilt. die wir als Nächstes erörtern wollen, werden durch
keinen dieser beiden Kontrollmechanismen gehemmt
Petrischale (Abbildung 12.19b).

2 Enzyme werden zugesetzt,


um die extrazelluläre Zellen heften sich an der Ober-
Matrix in den Gewebe- fläche der Kulturschale an und
stücken abzubauen und vermehren sich (die Teilungstät-
freie Fibroblasten in igkeit ist von der Anheftung
Suspension zu bringen. abhängig; „Verankerungsab-
hängigkeit“).
3 Die Zellen werden in sterile
terile
Kulturgefäße überführt, die Sobald die Zellen eine zusammen-
ein leicht alkalisches Kultur- hängende einzellige Schicht
medium enthalten, das 4 PDGF wird einer Hälfte der
Glucose, Aminosäuren,
gebildet haben, stellen sie die
Zellkulturen zugesetzt. Die Teilung ein (dichteabhängige
Salze und Antibiotika (zur Kulturen werden bei 37 °C
Verhinderung von Bak- Teilungshemmung).
bebrütet.
terienwachstum) enthält.
Kratzt man einige Zellen ab, teilen
sich die angrenzenden Zellen und
füllen die Lücke aus. Sie hören auf,
sich zu teilen, wenn sie aneinan-
ohne PDGF mit PDGF derstoßen (dichteabhängige Tei-
lungshemmung; Kontakthemmung).
In dem alkalischen Wachs- In alkalischem Wachstumsmedium
tumsmedium ohne PDGF vermehren sich die Zellen. Die
(Kontrollansatz) vermögen rasterelektronenmikroskopische
sich die Zellen nicht zu teilen. Aufnahme zeigt wachsende
Fibroblasten.

20 μm

(a) Normale Säugetierzellen. Da Nährstoffe, Wachstumsfaktoren


10 μm

und ein Substrat zum Anheften gebraucht werden, bleibt das


Wachstum auf eine Einzelzellschicht beschränkt.

Abbildung 12.18: Die Wirkung eines Wachstumsfaktors auf die


Zellteilung. Wie dieses Experiment zeigt, führt der Zusatz von Throm-
bocyten-Wachstumsfaktor (PDGF, platelet-derived growth factor ) bei
Fibroblasten in einer Gewebekultur zur Vermehrung der Zellen.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN PDGF erzeugt ein Signal durch seine


20 μm
Bindung an einen Zelloberflächenrezeptor aus der Gruppe der Rezeptor-
Tyrosin-Kinasen. Welches Versuchsergebnis würden Sie erwarten, wenn
Sie der Zellkultur einen Stoff zusetzten, der die Phosphorylierung dieses (b) Krebszellen. Krebszellen vermehren sich meist auch nach Bildung
der Einzelzellschicht weiter und bilden Klumpen aufeinander
Rezeptors verhindert? (Siehe Abbildung 11.8 )
liegender Zellen. Sie zeigen weder eine Verankerungsabhängigkeit,
noch eine Kontakthemmung.

Die meisten tierischen Zellen sind für die Teilung Abbildung 12.19: Dichteabhängige Teilungshemmung und Ver-
außerdem von einer Verankerung abhängig (Abbil- ankerungsabhängigkeit der Zellteilung. (Zur einfacheren Darstel-
dung 12.19a). Um sich teilen zu können, müssen sie lung sind die Einzelzellen überproportional groß wiedergegeben.)

315
12 Der Zellzyklus

12.3.3 Der Verlust der Zellzyklus-Kontrolle seitdem ohne Unterbrechung weitergezüchtet wurde.
bei Krebszellen Es handelt sich dabei um die sogenannten HeLa-Zel-
len, die aus dem Tumor einer Frau namens Henrietta
Krebszellen ignorieren die normalen Signale, die den Lacks entnommen wurden. Tatsächlich entfachte die
Zellzyklus steuern. Sie teilen sich unkontrolliert und Sequenzierung des Genoms solcher HeLa-Zellen vor
dringen in andere Gewebe vor. Neben dem Verlust der einigen Jahren in den USA einen Rechtsstreit mit der
Teilungshemmung bei hoher Zelldichte und dem von Familie der inzwischen längst Verstorbenen um die
einer Verankerung unabhängigen Wachstum teilen Verwertung der Daten. Im Gegensatz zu HeLa-Zellen
sich Krebszellen auch dann weiter, wenn die Wachs- teilen sich normale Säugetierzellen in Kultur nur etwa
tumsfaktoren verbraucht sind. Entweder können sie zwanzig- bis fünfzigmal, bevor sie ihre Teilungen ein-
Teil 2
also selbst einen Wachstumsfaktor herstellen, oder stellen, altern und schließlich absterben.
eine fehlerhafte Signaltransduktion sorgt für die Über- Das anomale Verhalten von Krebszellen kann im Kör-
mittlung eines Wachstumssignals, ohne dass ein Wachs- per von Mensch oder Tier katastrophale Konsequen-
tumsfaktor vorhanden wäre. Weiterhin könnte auch das zen haben. Die Veränderung einer einzelnen Zelle zu
den Zellzyklus steuernde System selbst in diesen Zel- einer Krebszelle wird als Transformation (Umwand-
len versagen (zum Beispiel durch den Ausfall einer lung) bezeichnet. Meist bleibt eine solche Verände-
Hemmung). In allen Fällen gründet sich das anomale rung allerdings ohne Folgen für das Individuum, weil
Verhalten auf Mutationen in einem oder mehreren transformierte Zellen vom Immunsystem als „Fremd-
Genen, deren Produkte (meist Proteine) an der Kon- körper“ erkannt und normalerweise vernichtet werden.
trolle des Zellzyklus beteiligt sind und dann nicht Falls eine derartig entartete Zelle aber der Zerstörung
oder falsch arbeiten. entgeht, kann sie sich unter Umständen vermehren und
Auch andere Unterschiede zwischen normalen Zel- so einen Tumor (Geschwulst) bilden, das heißt eine
len und Krebszellen weisen auf eine fehlerhafte Zell- Ansammlung abnormer Zellen in einem normalen
zyklus-Steuerung hin. So stellen Krebszellen beispiels- Gewebe. Verbleiben die transformierten Zellen an ihrem
weise ihre Teilung an einem beliebigen Punkt im Ursprungsort entwickelt sich meist nur ein gutartiger
Zellzyklus ein und nicht, wenn sie einen der normalen Tumor. Die meisten gutartigen Tumoren können prob-
Kontrollpunkte erreichen. Außerdem können sich lemlos operativ entfernt werden. Im Gegensatz dazu
Krebszellen in Kultur unbegrenzt weiter teilen, solange verbreiten sich bösartige Tumoren (maligne Tumoren)
ausreichend Nährstoffe vorhanden sind, während sich so weit, dass sie die Funktion eines oder mehrerer
normale Zellen nach einer bestimmten Zahl von Tei- lebenswichtiger Organe beeinträchtigen. Liegt ein bös-
lungen nicht mehr vermehren. Krebszellen sind damit artiger Tumor vor, leidet das betroffene Individuum
potenziell unsterblich. Das bekannteste Beispiel für die unter Krebs. Als Beispiel stellen wir in Abbildung
unbegrenzte Lebensdauer von Tumorzellen ist eine 12.20 die Entwicklung von Brustkrebs und eine typi-
Zelllinie, die im Jahr 1951 in Kultur genommen und sche, aus einer solchen Krebsart isolierte Zelle dar.
5 μm

Lymph- Brustkrebszelle
gefäß
Tumor
Blut-
gefäß

Drüsengewebe Krebszelle
Metastase

1 Ein Tumor entsteht aus 2 Krebszellen wandern 3 Krebszellen breiten sich 4 Ein kleiner Prozentsatz der Krebszellen
einer einzelnen Krebszelle. in benachbartes über die Lymphbahnen überlebt und bildet in einem anderen
Gewebe ein. und die Blutgefäße in an- Teil des Körpers einen neuen Tumor
dere Teile des Körpers aus. (= Tochtergeschwulst, Metastase).

Abbildung 12.20: Wachstum und Metastasenbildung eines bösartigen Mammakarzinoms (Brustkrebs). Die Tumorbildung wird durch
eine Reihe genetischer und zellulärer Veränderungen ausgelöst. Die Zellen des malignen (bösartigen) Tumors vermehren sich unkontrolliert und können
in benachbartes Gewebe eindringen und sich über Lymph- und Blutgefäße verbreiten, um in anderen Teilen des Körpers Tumoren zu bilden. Die Ansied-
lung von Krebszellen über ihren Ursprungsort hinaus bezeichnet man als Metastasen.

316
12.3 Der eukaryontische Zellzyklus wird durch ein molekulares Kontrollsystem gesteuert

Die Zellen eines bösartigen Tumors vermehren sich Wirkung auf die Haarfollikel und die erhöhte Anfällig-
nicht nur unkontrolliert, sondern sind auch anderwei- keit für Infektionskrankheiten beruht auf einer Beein-
tig entartet. Die Zellen können zum Beispiel eine trächtigung der Zellen des Immunsystems. In der fol-
abweichende Chromosomenzahl aufweisen (ob dies genden wissenschaftlichen Übung werden Sie die
eine Ursache oder eine Folge der Transformation ist, Daten eines tatsächlichen Experiments mit einem
ist noch umstritten). Darüber hinaus kann ihr Stoff- potenziellen chemotherapeutischen Wirkstoff verwen-
wechsel beeinträchtigt sein, so dass sie ihre normale den.
Funktion im betroffenen Gewebe nicht mehr ausüben In den letzten Jahrzehnten haben Forscher viele wert-
können. Abnorme Veränderungen an der Zelloberflä- volle Informationen über Signaltransduktionswege in
che führen dazu, dass die bösartigen Zellen den Kon- Zellen erhalten und herausgefunden, wie deren Fehl-
Teil 2
takt zu ihren Nachbarzellen im gesunden Gewebe und funktion in der Zellzyklus-Steuerung zur Entstehung
zur extrazellulären Matrix verlieren. Dies erlaubt es von Krebs beiträgt. Durch den Einsatz modernster
ihnen, in umliegende Gewebe einzuwandern oder molekularer Techniken, wie der schnellen Sequenzie-
sich völlig aus dem Verband des Primärtumors zu rung der DNA aus bestimmten Tumorzellen, wird die
lösen und mit dem Blutstrom in ganz andere Bereiche Krebsbehandlung zunehmend personalisiert und auf
des Körpers vorzudringen (Metastasenbildung). Ein den Tumor eines Patienten abgestimmt (siehe Abbil-
Kennzeichen bösartiger Tumorzellen ist die Freiset- dung 18.27). Beispielsweise ist in etwa 20 Prozent aller
zung von Botenstoffen, die zur Bildung neuer Blutge- Brustkrebstumore die Konzentration der Rezeptor-Tyro-
fäße führen (Angiogenese), die in den Tumor hinein- sin-Kinase HER2 auf der Zelloberfläche stark erhöht,
wachsen und ihn mit Nährstoffen versorgen. Einige während viele andere Krebsarten eine Zunahme der
entartete Zellen können sich dann vom Tumor lösen Konzentration von Östrogenrezeptor-Molekülen (ER,
und in den Blutstrom und die Lymphbahnen gelan- engl. estrogen receptor) zeigen. Bei letzteren handelt es
gen, die sie im ganzen Körper verteilen. Finden sie sich um intrazelluläre Rezeptoren, die nach ihrer Akti-
geeignete neue Umgebungen, setzen sie sich fest und vierung eine Zellteilung auslösen. Aufgrund solcher
vermehren sich, begründen also einen neuen (sekun- Laborbefunde kann ein Arzt dann gezielt eine Chemo-
dären) Tumor – eine Metastase (Abbildung 12.20). therapie verschreiben, die ein bestimmtes Protein
Ein örtlich begrenzter Tumor kann häufig mit einer hemmt (z.B. Herceptin gegen HER2 und Tamoxifen ge-
Strahlenbehandlung bekämpft werden, die die DNA gen ER). Solche gezielten Therapien haben bereits die
der Zellen schädigt und so zum Zelltod führt. Da sie Überlebenschancen vieler Patienten verbessert und die
sich ständig teilen, sind Tumorzellen von der Strah- Rückfallrate gesenkt.
lenwirkung oft stärker betroffen als Zellen des gesun-
den Gewebes. Die Mehrzahl der Krebszellen scheint
darüber hinaus die Fähigkeit eingebüßt zu haben,  Wiederholungsfragen 12.3
Schäden am Erbgut zu reparieren. Für die Behandlung
metastatisierender Tumoren wird dagegen in der Regel 1. Warum findet man in den Zellkernen aus dem
eine Chemotherapie eingesetzt. Dabei werden Wirk- Experiment Nr. 2 von Abbildung 12.14 unter-
stoffe verwendet, die vornehmlich sich teilende Zel- schiedliche Mengen an DNA?
len abtöten. Diese cytotoxischen Chemotherapeutika
werden über den Blutstrom verteilt und erreichen so 2. Welches Signal erlaubt einer Zelle den Kon-
den gesamten Körper. Chemotherapeutika zur Krebs- trollpunkt in der G2-Phase zu überschreiten
behandlung greifen oft an bestimmten Stellen in den und in die Mitose einzutreten? (Siehe dazu Ab-
Zellzyklus ein. Beispielsweise wirkt das aus Eiben bildung 12.16)
gewonnene Taxol auf die Mikrotubuli, verhindert
deren Depolymerisation und bringt so die Mitose in 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Erklären Sie, wel-
sich teilenden Zellen während der Metaphase zum che Funktion Rezeptor-Tyrosin-Kinasen und
Stillstand. Die starken Nebenwirkungen einer chemo- intrazelluläre Rezeptoren bei der Steuerung der
therapeutischen Krebsbehandlung sind darauf zurück- Zellteilung haben könnten. (Siehe dazu Abbil-
zuführen, dass sie auch die Zellen der gesunden dung 11.8, 11.9 und Kapitel 11).
Gewebe angreifen. Beispielsweise beruht die oft auftre-
tende schwere Übelkeit auf den Wirkungen der Gifte Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
auf die Darmzellen, der Haarausfall ist eine Folge der

317
12 Der Zellzyklus

 Wissenschaftliche Übung

Die Auswertung von Histogrammen Zusammengefasst ermöglicht der Vergleich der bei-
den Histogramme, zu erkennen, wie sich der DNA-
In welcher Phase wird der Zellzyklus durch einen Gehalt dieser Zell-
Hemmstoff angehalten? Viele Behandlungsformen population durch
von Krebs versuchen, den Zellzyklus entarteter die Behandlung ver-
Tumorzellen zu blockieren. Ein Zellzyklus-Inhibitor, ändert.
der aus Stammzellen der menschlichen Nabelschnur
Teil 2 gewonnen wird, wäre ein möglicher Behandlungsan-
satz. In dieser Übung werden Sie zwei Histogramme
vergleichen, um zu bestimmen, wo im Zellzyklus
dieser Hemmstoff wirkt und die Teilung der Krebs-
zellen anhält.
Durchführung des Experiments In der behandelten
Probe wurden menschliche Glioblastom-Zellen (aus Datenauswertung
einem Hirntumor) in Zellkultur angezogen, die dem
Hemmstoff ausgesetzt waren. Eine Kontrolle wurde 1. Machen Sie sich mit den Daten in den Histo-
ohne den Inhibitor inkubiert. Nach 72 Stunden grammen vertraut. (a) Welche Achse gibt indi-
Inkubationszeit wurden beide Proben untersucht. rekt die relative Menge der DNA pro Zelle
Nach der Behandlung mit einer fluoreszierenden, wieder? Erklären Sie ihre Antwort. (b) Verglei-
DNA-bindenden Chemikalie wurde bestimmt, in chen Sie die erste Spitze im Histogramm (im
welcher Phase des Zellzyklus sich die Zellen zu die- Abschnitt A) mit der zweiten Spitze (in Ab-
sem Zeitpunkt befanden. Die Proben wurden dazu schnitt C). Welche Spitze zeigt die Population
in einem Durchflusscytometer untersucht, mit dem von Zellen mit dem höheren DNA-Gehalt pro
man die Intensität der Fluoreszenz in einzelnen Zel- Zelle? Erklären Sie Ihre Antwort.
len messen kann. Das Gerät kann dann die Anzahl
von Zellen im Vergleich zur jeweiligen Fluoreszen- 2. (a) Ordnen Sie die Phasen des Zellzyklus (G1,
zintensität anzeigen, wie unten dargestellt.
S, oder G2) im Histogramm der Kontrollprobe
den durch die vertikalen Linien unterteilten
Experimentelle Daten
Abschnitten zu. Markieren Sie die jeweiligen
unbehandelte Zellen behandelte Zellen Phasen im Histogramm und begründen Sie
200 A B C A B C Ihre Antwort. (b) Zeigt die S-Phasen-Popula-
tion eine deutliche Spitze im Histogramm?
160
Warum oder warum nicht?
120
Zellzahl

3. Das Histogramm der mit dem Wirkstoff behan-


80
delten Probe zeigt eine Wirkung, wenn man
40 Krebszellen direkt neben Stammzellen aus
Nabelschnüren kultiviert, die den möglichen
0
0 200 400 600 0 200 400 600
Inhibitor produzieren. (a) Beschriften Sie das
Fluoreszenzintensität pro Zelle (Fluoreszenzeinheiten) Histogramm mit den Phasen des Zellzyklus.
In welcher Phase des Zellzyklus befinden sich
die meisten Zellen in der behandelten Probe?
Die Messwerte des Experimentes sind in einer Gra- Bitte erklären Sie den Sachverhalt. (b) Verglei-
phik aufgetragen, die als Histogramm bezeichnet chen Sie die Verteilung der Zellen zwischen
wird (siehe oben). In einem Histogramm sind die G1-, S-, und G2-Phase in der Kontrolle mit de-
Werte für eine numerische Variable auf der x-Achse
nen der behandelten Probe. Was können Sie
in Intervallen zusammengefasst. Somit bildet das
über die Zellen in der behandelten Probe sa-
Histogramm eine Häufigkeitsverteilung ab: Man kann
gen? (c) Schlagen Sie, basierend auf dem, was
entnehmen, wie alle Subjekte eines Experiments (in
Sie in Abschnitt 12.3 gelernt haben, einen Me-
diesem Fall Zellen) entlang einer kontinuierlichen
chanismus vor, wie der aus den Stammzellen
Variable (in diesem Fall der Fluoreszenzintensität)
gewonnene Hemmstoff möglicherweise den
verteilt sind. In diesen Histogrammen sind die einzel-
Zellzyklus der Krebszellen anhält. (Hier gibt
nen Balken so schmal, dass die Daten scheinbar eine
es mehrere mögliche Antworten.)
Kurve ergeben, in der man lokale Maxima und Mi-
nima unterscheiden kann. Jeder schmale Balken spie-
gelt die Anzahl an Zellen mit der Fluoreszenzintensi- Daten aus: K. K. Velpula et al., Regulation of glioblastoma progres-
tät des jeweiligen Intervalls wider, was wiederum der sion by chord blood stem cells is mediated by downregulation of cyc-
relativen Menge an DNA in diesen Zellen entspricht. lin D1, PLoS ONE 6(3): e18017 (2011).

318
Zusammenfassung

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 1 2  

 Einzellige Organismen vermehren sich durch Zwei- Interphase


teilung. Vielzellige Organismen sind bei ihrer Ent-
G1 S
wicklung von der befruchteten Eizelle zum fertigen
Lebewesen, ebenso wie bei Reparatur- und Wachs- Cytokinese
tumsprozessen, ebenfalls auf Zellteilungen ange- Mitose G2

wiesen.
Mitose (M-Phase)
Teil 2
Konzept 12.1
Aus der Zellteilung gehen genetisch identische Toch-
terzellen hervor

 Zellen verdoppeln ihre Erbsubstanz, bevor sie sich Pro-


teilen. Dadurch stellen sie sicher, dass die Tochter- Telophase phase

zellen identische Kopien der Erbanlagen der Vor- und Cyto-


kinese
gängerzelle erhalten.
 Die zelluläre Organisation des genetischen Materi- Anaphase Prometaphase
als. Das genetische Material der Zelle ist die DNA, Metaphase
deren Gesamtheit auch als Genom bezeichnet wird.
Die DNA liegt in Form von Chromosomen vor.
Eukaryontische Chromosomen bestehen aus Chro-  Der Spindelapparat. Der Spindelapparat besteht aus
matin, einem Verbund aus linearen DNA-Molekü- einem Verbund von Mikrotubuli, mit deren Hilfe die
len und verschiedenen Proteinen, die sich während Chromosomen in der Mitose angeordnet und ge-
der Mitose verdichten (kondensieren). In der Regel trennt werden. In Tierzellen formt sich die mito-
haben die Keimzellen (Gameten) einen einfachen tische Spindel aus den Centrosomen und umfasst
(haploiden) Chromosomensatz, somatische Zellen die Spindel- und die Astralmikrotubuli. Einige der
einen doppelten (diploiden). Spindelmikrotubuli verankern sich an den Kine-
 Verteilung der Chromosomen während der euka- tochoren der Chromosomen und bewirken deren
ryontischen Zellteilung. Zur Vorbereitung auf eine Anordnung in der Ebene der Metaphasenplatte. In
Zellteilung wird die DNA der Chromosomen repli- der Anaphase trennen sich die Schwesterchroma-
ziert. Nach der Replikation besteht das Chromosom tiden, und Motorproteine ziehen die Chromosomen
aus zwei identischen Chromatiden, die über ihre mithilfe der Mikrotubuli zu den gegenüberliegenden
gesamte Länge durch spezielle Proteine, die Kohäs- Spindelpolen. Die nicht an Kinetochoren veranker-
ine, miteinander verbunden sind. Nach der Spal- ten Mikrotubuli schieben mithilfe von Motorprote-
tung der Kohäsine trennen sich die Chromatiden inen die Spindelpole auseinander. Dies führt zu einer
und werden zu eigenständigen Chromosomen der Streckung des Zellkörpers. In der Telophase bilden
neu entstehenden Zellen. Die eukaryontische Zell- sich neue Zellkerne aus und durch die Cytokinese
teilung unterteilt sich in die Mitose (Verteilung der entstehen genetisch identische Tochterzellen.
Chromosomen und des Zellkerns) und die Cytoki-  Die Cytokinese. Der Mitose folgt gewöhnlich eine
nese (Teilung des Cytoplasmas). Cytokinese. Tierzellen vollziehen die Cytokinese
durch Furchung, Pflanzenzellen durch Bildung einer
? Unterscheiden Sie die Begriffe Chromosom. Chromatin und Chromatid. Zellplatte, in der eine neue Zellwand gebildet wird.
 Zweiteilung. Bei der Zweiteilung von Bakterien
Konzept 12.2 wird das zirkuläre Chromosom repliziert. Die bei-
Der Wechsel von Mitose und Interphase im Zellzyk- den neuen Chromosomen, identische Kopien des
lus Genoms, wandern auseinander. Die an diesem Pro-
zess beteiligten Proteine und Regulationsmechanis-
 Zellzyklusphasen. Zwischen zwei Teilungen befin- men werden derzeit noch intensiv untersucht.
det sich die Zelle in der sogenannten Interphase.  Evolution der Mitose. Die nur bei Eukaryonten auf-
Diese wird in die G1-, die S- und die G2-Phase tretende Mitose hat sich im Laufe der Evolution
unterteilt. Während der Interphase findet das Zell- wahrscheinlich aus Prozessen entwickelt, die auch
wachstum statt. Die DNA wird in der S-Phase (Syn- bei Prokaryonten schon vorkamen. Bestimmte euka-
thesephase) repliziert. Mitose und Cytokinese bil- ryontische Einzeller zeigen Formen der Zellteilung,
den die M-Phase (Mitosephase). die Zwischenstadien der Zweiteilung der Bakte-
rien und der bei den meisten Eukaryonten übli-
chen Mitose darstellen.

? In welcher der drei Untergliederungen der Interphase und der Mitose


liegen Chromosomen als einzelne DNA-Moleküle vor?

319
12 Der Zellzyklus

Konzept 12.3 Die Zellen höherer Eukaryonten zeigen eine dich-


Der eukaryontische Zellzyklus wird durch ein mole- teabhängige Hemmung der Zellteilung und sind für
kulares Kontrollsystem gesteuert die Teilung von einer Verankerung abhängig.
 Verlust der Zellzyklussteuerung bei Krebszellen.
 Hinweise auf die Existenz cytoplasmatischer Sig- Krebszellen entziehen sich der normalen Regula-
nale. Im Cytoplasma der Zelle vorhandene Mole- tion und teilen sich unkontrolliert. Dabei bilden
küle regulieren das Fortschreiten des Zellzyklus. sich Tumoren. Maligne (bösartige) Tumoren dringen
 Das Zellzyklus-Kontrollsystem. Zyklische Verände- in umliegendes Gewebe ein und können Metastasen
rungen der Konzentration regulatorischer Proteine bilden, indem Krebszellen in andere Bereiche des
wirken als Zellzyklus-Uhr. Der Zellzyklus weist Körpers gelangen und dort neue Tumoren begrün-
Teil 2
eine Reihe von Kontrollpunkten in der G1-, G2- und den. Aktuelle Fortschritte auf dem Gebiet der Zell-
der M-Phase auf, an denen er anhält, bis ein „Weiter“- zyklus-Forschung und der Signaltransduktion, sowie
Signal eintrifft. Schlüsselmoleküle sind die Cycline neue Technologien der DNA-Sequenzierung haben
und die cyclinabhängigen Kinasen (Cdk). Die mole- zur besseren Behandlung von Krebserkrankungen
kulargenetische Forschung hat viele Details der beigetragen.
Zellteilung aufgeklärt. Sowohl zellinterne wie auch
äußere Signale beeinflussen den Zellzyklus und ? Erklären Sie die Bedeutung der G1-, G2- und M-Kontrollpunkte und
wirken über Signaltransduktionswege auf die an den der „Weiter“-Signale innerhalb des Zellzyklus-Kontrollsystems.
Kontrollpunkten getroffenen Entscheidungen mit.

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜBU NG S A UF G ABE N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis c. dem Abbau des Cyclins


d. der Anhäufung von Cyclinen
1. Im Mikroskop erkennen Sie, dass sich in der Mitte
einer Zelle eine Zellplatte auszubilden beginnt. Zu 5. In den Zellen mancher Lebewesen vollzieht sich die
beiden Seiten der Zellplatte ist eine Neubildung Mitose ohne nachfolgende Cytokinese. Dies führt zu
von Zellkernen beobachtbar. Bei der Zelle handelt a. Zellen mit mehr als einem Zellkern
es sich wahrscheinlich um b. Zellen mit ungewöhnlich kleinem Zellkern
a. eine Tierzelle während der Cytokinese c. Zellen ohne Zellkern
b. eine Pflanzenzelle während der Cytokinese d. Zellzyklen ohne S-Phase
c. eine sich teilende Bakterienzelle
d. eine Pflanzenzelle während der Metaphase 6. Welcher der folgenden Vorgänge tritt während ei-
ner Mitose nicht auf?
2. Vinblastin, ein pflanzliches Alkaloid, ist ein Stan- a. Kondensation der Chromosomen
dardchemotherapeutikum zur Krebsbehandlung. b. Replikation der DNA
Weil es die Zusammenlagerung der Mikrotubuli c. Trennung der Schwesterchromatiden
stört, beruht seine Wirkung bei der Tumorbekämp- d. Spindelbildung
fung auf
a. der Unterbrechung der Spindelbildung Ebene 2: Anwendung und Auswertung
b. der Unterdrückung der Cyclinproduktion
c. der Denaturierung des Myosins und der Hem- 7. Eine bestimmte Zelle weist halb so viel DNA auf
mung der Bildung der Teilungsfurche wie die anderen Zellen in einem mitotisch akti-
d. der Hemmung der DNA-Synthese ven Gewebe. Die infrage stehende Zelle befindet
sich wahrscheinlich in der
3. Ein Unterschied zwischen Tumorzellen und nor- a. G1-Phase
malen Zellen besteht darin, dass Krebszellen b. G2-Phase
a. unfähig sind, DNA zu synthetisieren c. Prophase
b. den Zellzyklus in der S-Phase anhalten d. Metaphase
c. fortfahren, sich zu teilen, wenn sie im Gewebe
bereits dicht gepackt sind 8. Der Wirkstoff Cytochalasin B (ein Pilzgift) hemmt
d. nicht ordnungsgemäß funktionieren können, die Funktion des Actins. Welcher der nachfol-
weil sie von der dichteabhängigen Hemmung gend genannten Aspekte des Zellzyklus wären
betroffen sind von der Wirkung des Cytochalasins B am stärks-
ten betroffen?
4. Die Abnahme der MPF-Aktivität am Ende der a. die Spindelbildung
Mitose beruht auf b. die Verankerung der Kinetochore an der Spindel
a. der Zerstörung der Proteinkinase (Cdk) c. die Zellstreckung während der Anaphase
b. einer abnehmenden Cyclinsynthese d. die Ausbildung der Teilungsfurche

320
Übungsaufgaben

9. Versuchen Sie, auf der nachfolgenden, lichtmik- tubuli befinden sich die Plusenden im Zentrum
roskopischen Aufnahme von Zellen aus Gewebe der Spindel (Bereich der Äquatorialebene in der
der Wurzelspitze einer Zwiebelpflanze (Allium Metaphase), die Minusenden an den Spindelpolen.
cepa) je eine Zelle herauszufinden, die sich in Motorproteine, die an mikrotubulusabhängigen Be-
den folgenden Stadien befindet: Interphase, Pro- wegungsvorgängen beteiligt sind, sind entweder da-
phase, Metaphase, Anaphase. Beschreiben Sie rauf spezialisiert, zum Plusende oder zum Minus-
die wichtigsten Vorgänge während der jeweiligen ende zu wandern. Die beiden Gruppen werden als
Phase. zum Plusende gerichtete beziehungsweise als zum
Minusende gerichtete Motorproteine bezeichnet.
Sagen Sie anhand Ihrer erworbenen Kenntnisse
Teil 2
über die Chromosomenbewegung und die Verän-
derungen des Spindelapparates während der Ana-
phase voraus, welcher Typ von Motorprotein (a) an
den Kinetochormikrotubuli und (b) an den nicht
an Kinetochoren verankerten Mikrotubuli zu fin-
den sein sollte.

13. Skizzieren Sie ein Thema: Information Der Fort-


bestand des Lebens basiert auf vererbbaren Infor-
mationen in Form von DNA. Erklären Sie in ei-
nem kurzen Aufsatz (in 100–150 Worten), wie
durch den Prozess der Mitose zuverlässig exakte
Kopien dieser Erbinformationen bei der Bildung
genetisch identischer Tochterzellen erstellt wer-
10. ZEICHENÜBUNG Erstellen Sie eine Zeichnung ei- den.
nes eukaryontischen Chromosoms, wie es in der
Interphase und in den verschiedenen Stadien der 14. NUTZEN SIE IHR WISSEN Hier unten sehen Sie zwei
Mitose und während der Cytokinese erscheint. HeLa-Krebszellen, die sich gerade in der End-
Zeichnen Sie außerdem die Kernhülle und die phase der Cytokinese befinden. Erklären Sie, in-
am Chromosom angreifenden Mikrotubuli ein. wiefern die Zellteilung von solchen Krebszellen
Beschriften Sie Ihre Zeichnung. fehlgesteuert ist. Welche genetischen und ande-
ren Änderungen könnten diesen Zellen dabei ge-
Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten holfen haben, der normalen Zellzykluskontrolle
zu entgehen.
11. Verbindung zur Evolution Das Endergebnis der
Mitose sind im Regelfall zwei Tochterzellen mit
der gleichen Anzahl von Chromosomen wie die
Ausgangszelle. Ein anderer Weg zur Aufrechter-
haltung der Chromosomenzahl wäre es, die Zelle
erst zu teilen und dann in den Folgezellen die
Chromosomen zu verdoppeln. Sind Sie der An-
sicht, dass dies ein gleich guter Weg zur Organi-
sation des Zellzyklus wäre? Warum, denken Sie,
hat sich dieser Mechanismus in der Evolution
nicht als „Alternative“ herausgebildet?

12. Wissenschaftliche Fragestellung Obgleich beide


Enden eines Mikrotubulus Tubulin-Untereinheiten
anlagern oder abdissoziieren können, läuft die Po-
lymerisation und die Depolymerisation an einem
Ende (dem Plusende) deutlich schneller ab als am
anderen Ende (Minusende). Bei den Spindelmikro-

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

321
Genetik Teil
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 III
14 Mendel und das Genkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung . . . . . . . . . 379
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
17 Vom Gen zum Protein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
18 Regulation der Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
19 Viren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
20 Gentechnik in der Biotechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
21 Genome und ihre Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
Meiose und geschlechtliche
Fortpflanzung

13.1 Gene werden auf Chromosomen von den Eltern an ihre 13


Nachkommen weitergegeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
13.2 Befruchtung und Meiose wechseln sich beim geschlechtlichen
Generationswechsel ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

KONZEPTE
13.3 In der Meiose wird der diploide auf einen haploiden
Chromosomensatz reduziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
13.4 Die geschlechtliche Fortpflanzung erhöht die genetische
Variabilität – ein wichtiger Motor der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . 339

 Abbildung 13.1: Was ver-


ursacht familiäre Ähnlichkeiten?
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

Variationen eines Themas tion wider. Viele Fragen sind aber noch offen. Tatsäch-
lich haben sich genetische – vor allem molekulargeneti-
Wir alle wissen, dass Kinder ihren Eltern oft sehr ähn- sche – Methoden in fast allen Bereichen der Biologie als
lich sehen. Bei der Familie in Abbildung 13.1 fallen entscheidend für die Erforschung vieler Aspekte des
sofort eine Reihe von ähnlichen Merkmalen auf. Die Lebens erwiesen. Dies gilt von der Zellbiologie über die
Weitergabe von Merkmalen von einer Generation an Physiologie, Entwicklungsbiologie und Verhaltensfor-
die nächste wird als Vererbung bezeichnet. Der zuge- schung bis hin zur Ökologie.
hörige Zweig der Biologie ist die Vererbungslehre
(= Genetik). Söhne und Töchter sind jedoch keine
identischen Kopien eines Elternteils und auch nicht Gene werden auf Chromosomen
ihrer Geschwister. Neben den vererbten Ähnlichkeiten
finden sich sehr viele Unterschiede, die wir als phäno- von den Eltern an ihre Nach-
typische Variabilität bezeichnen. Seit jeher haben
Landwirte bei Pflanzen und Tieren die Prinzipien der
Vererbung und der Variabilität bei der mehr oder weni-
kommen weitergegeben
13.1
ger gezielten Züchtung von Sorten oder Rassen mit Freunde der Familie haben Ihnen vielleicht schon ein-
wünschenswerten Eigenschaften ausgenutzt. Die biolo- mal gesagt, dass Sie die Augen Ihrer Mutter hätten oder
gischen Mechanismen, die solchen Übereinstimmun- die Nase Ihres Vaters. Da es sich natürlich nicht um
Teil 3 gen und Abweichungen zugrunde liegen, wurden aber eine direkte Weitergabe von Körperteilen handelt, wie
erst im 20. Jahrhundert mit der Entwicklung systema- werden diese Merkmale also vererbt und welche mole-
tischer genetischer Analyseverfahren aufgeklärt. kularen Mechanismen sind dafür verantwortlich?
Die Genetik (Vererbungslehre) im klassischen Sinn
untersucht also die Gesetze der Vererbung und der
genetischen Variabilität. In diesem Kapitel werden Sie 13.1.1 Die Vererbung von Genen
unterschiedliche Teilgebiete der Genetik kennenlernen,
die sich mit diesen Grundlagen auf verschiedenen bio- Eltern geben codierte Information an ihre Nachkom-
logischen Ebenen befassen – von vielzelligen Organis- men weiter. Die vereinfachte Definition von Genen
men über einzelne Zellen bis hin zu den beteiligten (griech. genos, Bildung, Bildner) bezeichnet also „Ver-
Molekülen. erbungseinheiten“, die sich in Merkmalen und Eigen-
Wir beginnen den Überblick über die Genetik der schaften äußern. Die Gesamtheit aller Gene, die wir von
geschlechtlichen Fortpflanzung mit einer Betrachtung unseren Müttern und Vätern erhalten, wird als Genom
der Übertragung von Chromosomen von den Eltern auf bezeichnet. Die Gene tragen dabei die Information für
ihre Nachkommen. Dabei wird die Zahl der Chromo- familiäre Ähnlichkeiten wie Augenfarbe, Nasenform
somen innerhalb einer Art während der Meiose (Reife- und Ähnliches. Sie legen die spezifischen Merkmale
teilung, Reduktionsteilung, eine spezielle Form der fest, die auftreten, während wir uns von der befruchte-
Zellteilung) und der Befruchtung (Fertilisation, d.h. der ten Eizelle (Zygote) zum Erwachsenen entwickeln.
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle) beibehalten. Das genetische Programm ist in der DNA (Desoxy-
ribonucleinsäure) gespeichert. Die Struktur und Funk-
tion dieser hochpolymeren Substanz mit ihren vier
verschiedenen Nucleotidbausteinen wurde bereits in
den Kapiteln 1–5 erläutert. Die Erbinformation wird in
den Nucleotidfolgen der Chromosomen weitergereicht,
die Gene und Strukturelemente bilden. Dies ist analog
einer Weitergabe gedruckter Informationen durch Buch-
stabenfolgen, die Sätze und größere Textabschnitte erge-
ben. In beiden Fällen ist die verwendete „Sprache“
eine Symbolsprache. So wie das Gehirn das Wort
„Apfel“ in ein Gedankenbild der entsprechenden Frucht
übersetzt, übersetzen Zellen die Information der Gene in
eine bestimmte Augenfarbe oder andere Merkmale. Die
Wir werden anschließend die zellulären Mechanismen meisten Gene veranlassen die ausführende Zelle dazu,
der Meiose beschreiben und dabei auf die Unterschiede ein bestimmtes Protein zu bilden. Die Gesamtheit der
zu der uns schon bekannten Mitose eingehen. Schließ- verschiedenen Proteine (wie etwa Enzyme, Struktur-
lich werden wir beleuchten, wie Meiose und Befruch- proteine oder Sensoren) sorgen dann für die Ausprä-
tung zur genetischen Vielfalt beitragen, die am Beispiel gung bestimmter vererbter Merkmale eines Individu-
der Familie in Abbildung 13.1 verdeutlicht wurde. ums. Diese abstrakte Codierung von Merkmalen in
Am Ende dieses Kapitels sollten Sie in der Lage sein, Form von DNA-Sequenzen bildet den „roten Faden“
die gesamte Erbmasse eines Individuums als Genom zu durch die gesamte Biologie, da sie bei allen Lebe-
verstehen. Die rasch zunehmende Anzahl von vollstän- wesen, vom einfachen Bakterium bis hin zu mensch-
digen Genomsequenzen zahlreicher Arten, einschließ- lichen Zellen, in gleicher Form erfolgt.
lich unserer eigenen, spiegelt deren molekulare Evolu-

326
13.1 Gene werden auf Chromosomen von den Eltern an ihre Nachkommen weitergegeben

Die molekulare Grundlage der Weitergabe der Erbinfor- Zellteilungen ungeschlechtlich vermehren. Dabei wird
mation liegt in der präzisen Replikation der DNA. Durch die vorher kopierte (verdoppelte) DNA der Chromoso-
diesen Vorgang werden identische Kopien aller Gene men gleichmäßig auf die Tochterzellen verteilt. Die
erzeugt, die von den Eltern auf die Nachkommen über- Genome der Nachkommen sind also exakte Kopien des
tragen werden. Bei Tieren und Pflanzen werden die Fort- „elterlichen“ Genoms. Auch einige vielzellige Organis-
pflanzungszellen als Keimzellen oder Gameten bezeich- men besitzen die Möglichkeit zur ungeschlechtlichen
net. Mit ihnen gelangt das Erbgut von einer Generation Vermehrung (Abbildung 13.2). Da die Zellen der
in die nächste. Während der Befruchtung vereinigen Nachkommen aus Mitosen hervorgehen, sind die
sich männliche und weibliche Gameten (Spermien, Abkömmlinge zu ihrem Erzeuger genetisch identisch
Spermazellen, Samenzellen) mit Eizellen. Damit ent- (klonale Vermehrung). Gelegentlich treten bei der unge-
steht eine Zygote, aus der sich ein Organismus der Folge- schlechtlichen Vermehrung auch Mutationen auf (Ver-
generation (Filialgeneration) entwickelt. änderungen an der DNA; siehe Kapitel 17), die dann oft
Der größte Anteil der Erbsubstanz bei Eukaryonten geringfügige Unterschiede zum ursprünglichen Indivi-
liegt in Form der Chromosomen im Zellkern vor. duum verursachen.
Außerdem findet sich noch etwas DNA in den Mito- Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung (sexuelle
chondrien (mtDNA) und den Plastiden (bei Pflanzen- Reproduktion), bringen zwei Elternorganismen gemein-
zellen). Jede Art enthält in ihren Zellkernen eine für schaftlich Nachkommen mit einzigartigen Allelkombi-
sie charakteristische Anzahl von Chromosomen. Dabei nationen an den homologen Genorten ihres diploiden
können natürlich auch sehr verschiedene Arten zufäl- Genoms hervor. Diese stammen aus den jeweiligen Teil 3
lig gleiche Chromosomenzahlen aufweisen. Mit Aus- Chromosomen der Eltern. Anders als bei Klonen unter-
nahme der Keimzellen, die wir gesondert betrachten scheiden sich die Nachfahren bei der geschlechtlichen
müssen, enthalten menschliche Zellen 46 Chromo- Vermehrung genetisch also sowohl von ihren Geschwis-
somen. Jedes Chromosom besteht, wie wir aus dem tern als auch von ihren Eltern (mit Ausnahme eineiiger
vorangegangenen Kapitel wissen, aus einem einzigen, Zwillinge). Sie sind gewissermaßen die Variationen
sehr langen doppelsträngigen DNA-Molekül, das mit eines gemeinsamen „Themas“ familiärer Ähnlichkeit
verschiedenen Proteinen assoziiert und mehrfach auf- und keine exakten Kopien. Eine wichtige Funktion
gerollt und verknäuelt ist. Jedes Chromosom enthält der geschlechtlichen Fortpflanzung besteht also in der
Hunderte von Genen, von denen jedes durch eine Erzeugung genetischer Varianten, wie den in Abbildung
bestimmte Abfolge von Nucleotiden entlang der DNA 13.1 gezeigten. Sie führt somit zur genetischen und bio-
charakterisiert ist. Erstaunlicherweise sind aber die logischen Vielfalt, die wir kennen. Welche Mechanis-
Grenzen eines Gens trotz der genauen Kenntnis, die men liegen dem zugrunde? Die Antwort liegt im Verhal-
wir heute von Genomen haben, schwierig zu bestim- ten der Chromosomen während der geschlechtlichen
men. Die Lage eines Gens auf dem Chromosom wird als Fortpflanzung.
sein Genort oder Locus (lat. locus, Ort; Plural: Loci)
bezeichnet. Unser Genom setzt sich aus der Summe
aller Gene auf den Chromosomen, die wir von unseren 0,5 mm
Eltern geerbt haben, und der mitochondrialen DNA
zusammen. Die mitochondriale DNA unserer Zellen
stammt dabei ausschließlich aus der Eizelle der Mutter.
Dieser Vorgang wird als maternale (mütterliche) Ver-
erbung bezeichnet. Das Spermium übermittelt keine
mitochondrialen Erbinformationen.

13.1.2 Ein Vergleich von geschlechtlicher und Elterntier


ungeschlechtlicher Fortpflanzung Knospe

Nur Organismen, die sich ungeschlechtlich (asexuell)


vermehren, bringen genetisch identische Nachkommen
hervor. Bei der ungeschlechtlichen Vermehrung (ase-
xuelle Reproduktion) ist ein einzelnes Individuum der (a) Hydra. (b) Mammutbäume.
(Sequoia sempervirens)
alleinige Elternteil und gibt Kopien aller seiner Gene
(sein Genom) möglichst fehlerfrei an seine Nachkom- Abbildung 13.2: Ungeschlechtliche Fortpflanzung bei zwei viel-
zelligen Lebensformen. (a) Dieses vergleichsweise einfach gebaute
men weiter. Eine Ansammlung genetisch identischer
Tier ist ein Süßwasserpolyp (Hydra sp.). Er vermehrt sich durch Knospung.
Lebewesen, die aus einem erbgleichen Ursprungsorga-
Eine Knospe ist ein abgrenzbares Gebilde aus sich mitotisch teilenden Zel-
nismus hervorgegangen sind, bezeichnet man als Klon. len. Sie entwickelt sich durch Differenzierung zu einem kleinen Polypen,
Einzellige Eukaryonten, wie zum Beispiel Pantoffel- der sich schließlich vom Elterntier ablöst (lichtmikroskopische Aufnahme).
tierchen (Paramecium), der Malariaerreger (Plasmo- (b) Jeder Baum dieser kreisförmigen Gruppe von Mammutbäumen (Fam.
dium) oder die Wein-, Bier- und Bäckerhefe (Saccha- Sequoioideae) wuchs als Ableger (Tochterindividuum) aus einem einzel-
romyces cerevisiae), können sich durch mitotische nen „Elternbaum“ aus, dessen Stamm in der Mitte des Kreises liegt.

327
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

sich also bestimmte, kondensierte Chromosomen bei


 Wiederholungsfragen 13.1 einer mikroskopischen (cytogenetischen) Untersuchung
klar erkennen.
1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Wie werden die Vergrößert man eine Mikrofotografie der 46 Chromo-
Merkmale von Eltern (wie etwa die Haarfarbe) somen einer einzelnen Zelle, die sich in der Mitose
auf die Nachkommen übertragen? befindet, so kann man zwei Gruppen von je 23 Chromo-
2. Erläutern Sie, wie bei der ungeschlechtlichen somen unterscheiden. Dies wird besonders augenfällig,
Vermehrung genetisch identische Nachkom- wenn die Chromosomen nach ihrer Größe paarweise
men aus einem Elternorganismus hervorgehen. angeordnet werden. Das sich so ergebende, geordnete
Bild nennt man ein Karyogramm (Abbildung 13.3).
3. WAS WÄRE, WENN? Eine Gartenbauingenieurin Man ermittelt daraus den Karyotyp (die chromosomale
züchtet Orchideen und versucht dabei, Pflan- Konstitution) des untersuchten Individuums. Bei der
zen zu erhalten, die eine bestimmte Kombina- Aufreihung der Chromosomen stellt man fest, dass sich
tion gewünschter, erblicher Merkmale zeigen. definierte Paare ergeben. Die beiden Chromosomen
Nach einigen Jahren hat sie damit Erfolg. Sollte eines Paares gleichen sich in Größe, Lage des Centro-
sie, um weitere Pflanzen wie die gewünschte mers und in ihrem Bandenmuster nach der Färbung.
Neuzüchtung zu erhalten, die selektierten In- Man sagt, dass solche Chromosomen homolog zueinan-
dividuen weiter züchten oder klonieren? Er- der sind und spricht deshalb von homologen Chromo-
Teil 3 läutern Sie ihre Antwort. somenpaaren. Beide Vertreter eines homologen Paares
enthalten die gleichen Gene (Erbanlagen, die das glei-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. che Merkmal beeinflussen) in der gleichen Abfolge.
Homologe Chromosomen erhalten die gleiche Nummer
in einem Karyogramm und sind also alternative Versio-
nen eines Chromosoms. Beeinflusst etwa ein bestimm-
ter Genort auf einem Chromosom die Augenfarbe, so ist
diese Information nochmals am entsprechenden Genort
Befruchtung und Meiose wechseln des homologen Chromosoms durch das dort liegende
sich beim geschlechtlichen Allel (eine alternative Version desselben Gens) codiert.
Generationswechsel ab
13.2 Zwei besondere Chromosomen werden nicht mit einer
Zahl, sondern mit den Buchstaben X und Y bezeichnet
und unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern.
In einem Lebenszyklus (= Entwicklungszyklus) wer- Die Zellen von Frauen (und fast allen weiblichen
den Nachkommen durch eine in jeder neuen Gene- Säugetieren) enthalten zwei X-Chromosomen, also ein
ration wieder auftretende Abfolge von Entwicklungs- homologes Paar (karyotypische Konstitution: XX). Im
stadien von der Befruchtung bis zur Fortpflanzung Gegensatz dazu findet man bei Männern und bei den
hervorgebracht. In diesem Abschnitt werden wir das meisten männlichen Säugetieren je ein X- und ein Y-
Verhalten der Chromosomen im Verlauf dieses repro- Chromosom (karyotypische Zusammensetzung: XY).
duktiven Entwicklungszyklus am Beispiel des Men- Nur kleine Bereiche der Chromosomen X und Y sind
schen nachzeichnen. Wir beginnen mit einer Bestands- homolog zueinander. Die meisten Genorte auf dem
aufnahme der Chromosomen in den somatischen viel größeren X-Chromosom haben kein Gegenstück
Zellen und den Keimzellen (Gameten) des Menschen. auf dem kleinen Y-Chromosom, dem kleinsten aller
Danach betrachten wir das Verhalten der Chromo- menschlichen Chromosomen. Das Y-Chromosom ent-
somen im menschlichen Lebenszyklus und gehen hält aber seinerseits Gene, für die es keine Gegenstücke
auch auf andere Beispiele geschlechtlicher Lebenszyk- (homologe Allele) auf dem X- oder irgendeinem ande-
len ein. ren Chromosom gibt. Da diese beiden Chromosomen
in den Geschlechtern verschieden sind, nennt man sie
Geschlechtschromosomen (= Gonosomen, Heteroso-
13.2.1 Die Chromosomensätze men). Die restlichen, paarweise vorhandenen Chromo-
menschlicher Zellen somen bezeichnet man als Autosomen. Das Geschlecht
bei Säugetieren wird durch das Y-Chromosom bestimmt.
Beim Menschen enthalten alle somatischen Zellen Es ist also streng genommen das eigentliche Geschlechts-
(alle Körperzellen mit Ausnahme der Keimbahnzel- chromosom.
len) 46 Chromosomen. Im Verlauf der Mitose verdich- Durch die geschlechtliche Fortpflanzung treten ent-
ten sich die Chromosomen so stark, dass sie einzeln sprechend in den Körperzellen des Menschen und der
im Lichtmikroskop erkennbar werden. Sie unterschei- meisten anderen Eukaryonten homologe Chromoso-
den sich in ihrer Größe, der Lage des Centromers, menpaare auf. Je ein Exemplar jedes Autosomenpaa-
sowie in den Farbmustern nach der Behandlung mit res stammt von einem unserer Eltern, also eines von
bestimmten Farbstoffen. Mit etwas Erfahrung lassen der Mutter und das andere vom Vater. Insgesamt set-

328
13.2 Befruchtung und Meiose wechseln sich beim geschlechtlichen Generationswechsel ab

zen sich die 46 Chromosomen in unseren somatischen


 Abbildung 13.3: Arbeitstechniken
Zellen damit aus zwei Sätzen zu je 23 Stück zusam-
men: Ein maternaler (mütterlicher) und ein paternaler
Erstellung eines Karyogramms
(väterlicher) Satz. Diese für jede Art typische Anzahl
nicht-homologer Chromosomen wird als haploider Anwendung In einem Karyogramm werden kon-
Satz bezeichnet und mit dem Buchstaben n symboli- densierte Chromosomen paarweise angeordnet.
siert. Liegt, wie in den Körperzellen, der doppelte Eine Karyotypisierung (= Chromosomenspreitung;
Chromosomensatz vor, spricht man vom diploiden Satz Erstellung eines Karyogramms) kann eingesetzt
und von diploiden Zellen. Sie enthalten 2n Chromo- werden, um chromosomale Veränderungen (Aber-
somen. Für den Menschen ist 2n = 46 und n = 23. rationen) nachzuweisen, wie etwa abweichende
Nach der vollständigen chromosomalen DNA-Synthese Chromosomenzahlen, z.B. bei bestimmten Erb-
liegen alle Chromosomen im replizierten Zustand als 2- krankheiten wie dem Down-Syndrom.
Chromatidenchromosomen vor. In diesem Zustand
beträgt die DNA-Menge also vorübergehend das Dop-
pelte des „normalen“ Wertes, wobei die Chromatiden
noch miteinander verbunden sind (siehe Kapitel 12).
Obwohl die Chromosomen nun verdoppelt vorliegen,
bezeichnen wir diese Zellen immer noch als diploid,
da sie nur zwei verschiedene Sätze an Informationen Teil 3
erhalten und zudem die Schwesterchromatiden mit-
einander verbunden bleiben. Durch die Trennung der
Schwesterchromatiden in der Mitose und ihre geord-
nete Verteilung in die gebildeten Tochterzellen wird Methode Zur Erstellung eines Karyogramms wer-
nach dem Abschluss der Zellteilung (Cytokinese) der den somatische Zellen mit einem Wirkstoff behan-
ursprüngliche Zustand wiederhergestellt. Die hier ver- delt, der die Mitose anregt. Die Zellen wachsen
wendeten Begriffe sind in Abbildung 13.4 nochmals danach einige Tage in Kultur. Der Teilungszyklus
erläutert. Sehen Sie sich diese Abbildung genau an, wird dann während der Metaphase unterbrochen
um sich die Unterschiede zwischen homologen Chro- („arretiert“) und die Chromosomen werden gefärbt,
mosomen, Schwesterchromatiden, Nichtschwesterchro- mikroskopisch untersucht und fotografiert. Aus
matiden, 1-Chromatid- und 2-Chromatidenchromoso- dem Foto werden dann die einzelnen Chromoso-
men und Chromosomensätzen klarzumachen. Es ist men zu homologen Paaren nach ihrer Größe und
wichtig, sich diese Grundbegriffe einzuprägen und sie Form angeordnet.
genau zu beachten, um im Folgenden nicht den Über- ein Paar homologer,
blick zu verlieren. replizierter
Chromosomen
Anders als die somatischen Zellen enthalten die
Keimzellen (Gameten, also Ei- und Spermien- bezie-
hungsweise Samenzellen) nur einen einfachen, haploi- Centromer
5 µm
den Chromosomensatz (n). Menschliche Keimzellen
enthalten daher jeweils 23 Chromosomen. Jeder Satz
aus 23 Chromosomen besteht aus 22 Autosomen und
einem Gonosom. Da weibliche Säugetiere im diploiden Schwester-
Satz zwei homologe X-Chromosomen enthalten (XX), chroma-
tiden
muss auch eine unbefruchtete Eizelle (Oocyte) immer
Metaphase-
ein X-Chromosom tragen. Samenzellen (Spermien) chromosom
können entsprechend neben den 22 Autosomen mit
gleicher Wahrscheinlichkeit entweder ein X- oder ein
Y-Chromosom enthalten.
Jede Art weist eine für sie typische Chromosomen-
zahl auf, wobei die diploide Anzahl natürlich das Dop-
pelte der haploiden beträgt und immer eine gerade Zahl
Ergebnis Dieses Karyogramm zeigt die Chromoso-
ergibt. Die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) hat
men eines genetisch „normalen“ Mannes. Einzelne
eine diploide Chromosomenzahl von acht (2n = 8; n = 4).
Chromosomen werden anhand ihrer Größe, der
Bei Hunden beträgt sie 2n = 78 (n = 39).
Lage der Centromere und dem Bänderungsmuster
Auf der Basis dieser Grundlagen über diploide und
nach der Färbung identifiziert. Auch wenn es im
haploide Chromosomensätze soll nun das Verhalten
Karyogramm kaum zu erkennen ist, besteht jedes
der Chromosomen während des geschlechtlichen Ent-
Metaphasenchromosom aus zwei eng aneinander
wicklungszyklus, wieder am Beispiel des Menschen,
liegenden Schwesterchromatiden (2-Chromatiden-
näher betrachtet werden.
chromosomen). Die Schemazeichnung links neben
dem Karyogramm zeigt ein homologes Paar der
replizierten Chromosomen.

329
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

mütterlicher lung. Der exponentielle Anstieg der Chromosomenzahl


2n = 6 Chromosomensatz (n = 3) wäre also nicht lange zu verkraften. Um dies zu verhin-
väterlicher dern, benutzen Organismen bei der geschlechtlichen
Chromosomensatz (n = 3)
Fortpflanzung eine spezielle Form der Teilung zur Bil-
die zwei Schwester- Centromer dung ihrer Keimzellen, die Meiose. Sie wird auch als
chromatiden Reifungsteilung beziehungsweise Reifeteilung oder
eines replizierten
Chromosoms Reduktionsteilung bezeichnet. Diese Form der Zelltei-
lung halbiert die Anzahl der Chromosomen (reduziert sie
Paare
zwei Nichtschwes- homologer
auf die Hälfte, daher der Name Reduktionsteilung). Die
terchromatiden Chromosomen Gameten erhalten aus dem diploiden Chromosomensatz
eines homo- (eines aus der Ausgangszelle jeweils nur noch genau einen haploi-
logen Paares jedem elter- den Satz. Die bei der Befruchtung aufgetretene Verdoppe-
von Chromosomen lichen Satz) lung der Chromosomenzahl wird hierdurch wieder auf-
Abbildung 13.4: Struktur und Verhalten der Chromosomen. Hier gehoben. Bei Tieren vollzieht sich die Meiose nur in den
ist beispielhaft eine Zelle mit einem diploiden Satz aus sechs Chromosomen primären Geschlechtsorganen, den Keimdrüsen (Hoden
(2n = 6) dargestellt, um die Vorgänge bei der Replikation und der anschlie- und Eierstöcke). Beim Menschen enthalten Eizellen und
ßenden Kondensation der Chromosomen zu verdeutlichen. Nach der Repli- Spermien jeweils einen haploiden Satz mit 23 Chromo-
kation besteht jedes der sechs gezeigten Chromosomen aus zwei Schwes- somen. Der Lebenszyklus wiederholt sich in jeder Gene-
terchromatiden (2-Chromatidenchromosomen), die über ihre gesamte
Teil 3 ration (Abbildung 13.5). Die Bildung von Samen- und
Länge eng miteinander verbunden sind. Die homologen Chromosomen-
paare stammen jeweils von der Mutter (maternal = rot) und vom Vater
Eizellen wird in Kapitel 46 näher beschrieben.
(paternal = blau). Damit liegen vier homologe Chromatiden vor, wobei je
zwei davon identische Gene tragen, die aus der Replikation eines Chromo-
soms hervorgingen. Jeder haploide Chromosomensatz besteht in diesem haploid (n)
Beispiel aus drei verschiedenen Chromosomen. Diejenigen Chromatiden, die
diploid (2n)
nicht durch Replikation auseinander hervorgegangen sind (also die des
jeweils anderen homologen Chromosoms), sind also genetisch nicht iden- haploide Gameten (n = 23)
tisch und werden entsprechend als Nicht-Schwesterchromatiden bezeichnet.
Eizelle (n)
? Wie viele Chromosomensätze finden sich in diesem Beispiel? Wie
viele Chromosomen enthält ein haploider Satz (n ) bei dieser Zelle?

13.2.2 Das Verhalten der Chromosomen-


Spermium (n)
sätze im menschlichen Lebenszyklus
Meiose Befruchtung
Der menschliche Lebenszyklus beginnt mit der Befruch-
tung (Fertilisation) einer haploiden, mütterlichen Eizelle
durch ein ebenfalls haploides Spermium des Vaters. Der
Vereinigung der Keimzellen (Syngamie) folgt die Ver- Ovar
(Eier- Testis
schmelzung der haploiden Gametenzellkerne zu einem (Hoden)
stock)
diploiden Kern. In der befruchteten Eizelle (Zygote) diploide
werden damit die beiden haploiden Chromosomensätze Zygote
der väterlichen und der mütterlichen Erblinie vereinigt. (2n = 46)
Durch mitotische Teilungen entwickelt sich daraus ein
geschlechtsreifer Erwachsener mit unzähligen Körper- Mitosen und Entwicklung
zellen. Dabei wird der diploide Chromosomensatz der (Differenzierung)
Zygote mit größtmöglicher Genauigkeit auf alle somati-
schen Tochterzellen weitergegeben.
Die einzige Ausnahme von dieser Regel bilden die vielzellige, diploide Erwachsene (2n = 46)
Keimzellen (Gameten), die nicht aus einer Mitose her- Abbildung 13.5: Der menschliche Lebenszyklus. In jeder neuen
vorgehen. Vielmehr entwickeln sie sich aus spezialisier- Generation verdoppelt sich die Chromosomenzahl bei der Befruchtung
ten Stammzellen in den Keimdrüsen (Gonaden), aus und wird nachfolgend durch die Meiose wieder halbiert. Beim Menschen
denen Eierstöcke (Ovarien) bei der Frau und Hoden (Tes- beträgt die Anzahl der haploiden Chromosomen 23 (n = 23). Im diploiden
tes) beim Mann entstehen (Abbildung 13.5). Was wäre, Zustand, also in der Zygote und allen daraus gebildeten Körperzellen, beträgt
wenn die Gameten aus einer mitotischen Teilung hervor- die Chromosomenzahl 46 (2n ).
gehen würden? – Sie wären dann, wie die somatischen
Zellen, diploid. Bei einem diploiden Satz von 46 Chro- Die in dieser Abbildung benutzten Farbzuweisungen werden wir bei der
mosomen würde sich die Anzahl bei der nächsten Darstellung anderer Lebenszyklen im weiteren Verlauf dieses Buches
Befruchtung also auf 92 verdoppeln. In jeder darauf fol- beibehalten. Die türkisblauen Pfeile kennzeichnen dabei die haploiden
genden Generation käme es zu einer weiteren Verdoppe- Stadien, die beigefarbigen die diploiden.

330
13.2 Befruchtung und Meiose wechseln sich beim geschlechtlichen Generationswechsel ab

Die beschriebenen Schritte im Lebenszyklus des Men- einer vielzelligen haploiden Phase. Der Sporophyt bil-
schen lassen sich prinzipiell auf die geschlechtliche det das vielzellige, diploide Stadium. Durch Meiose
Fortpflanzung bei vielen Tieren übertragen. Der Wech- entstehen am Sporophyten haploide Zellen, die Spo-
sel zwischen Befruchtung und Meiose ist hierbei das ren. Anders als ein Gamet beim bisher beschriebenen
entscheidende Merkmal, um die Chromosomenzahl Lebenszyklus fusioniert eine haploide Spore nicht mit
einer Art beim Übergang von einer Generation zur einer anderen haploiden Zelle. Vielmehr teilt sie sich
nächsten konstant zu halten. mitotisch und bildet damit einen vielzelligen, haploi-
den Organismus, den Gametophyten. Sporophyt und
Gametophyt sind also die beiden sich abwechselnden
13.2.3 Die Vielfalt der Lebenszyklen bei der Stadien dieses Generationswechsels. Die Gameten wer-
geschlechtlichen Fortpflanzung den durch Mitose aus den Zellen des Gametophyten
gebildet. Aus der Verschmelzung zweier haploider
Obwohl also Organismen mit geschlechtlicher Fortpflan- Gameten entsteht bei der Befruchtung eine diploide
zung immer zwischen der Meiose und der Befruchtung Zygote, aus der ein neuer, diploider Sporophyt hervor-
wechseln, unterscheiden sie sich deutlich darin, wie geht. Bei diesem Lebenszyklus bringt die Sporophyten-
diese Phasen zeitlich aufeinander folgen. So unterschei- generation also als Nachfahren eine Generation haploi-
den sich sowohl der Beginn als auch die Dauer der ein- der Gametophyten hervor, die als Nachfahren wieder
zelnen Phasen erheblich bei verschiedenen Arten. All- eine Generation diploider Sporophyten erzeugen
gemein lassen sich die Lebenszyklen aufgrund dieser (Abbildung 13.6b). Deshalb wurde hierfür der zutref- Teil 3
Unterschiede in drei Gruppen unterteilen. Beim Men- fende Begriff Generationswechsel geprägt.
schen und den meisten anderen Tieren sind die Game- Eine dritte Art von Lebenszyklus findet sich bei den
ten die einzigen haploiden Zellformen. Die Meiose meisten Pilzen und manchen Protisten, darunter auch
läuft in den Vorläuferzellen der Gameten ab, die sich in einigen Algen. Nachdem die Gameten zu einer diploi-
den Keimdrüsen (Gonaden) befinden. Vor der Befruch- den Zygote verschmolzen sind, kommt es unmittelbar
tung teilen sich die reifen Gameten nicht nochmals. wieder zur Meiose, ohne dass ein Stadium mit vielzel-
Dafür durchläuft die Zygote nach der Befruchtung sehr ligen, diploiden Nachkommen zu finden ist. Die Pro-
viele mitotische Teilungen und erzeugt so einen viel- dukte der Meiose sind also keine Gameten, die wieder
zelligen, diploiden Organismus (Abbildung 13.6a). miteinander verschmelzen, sondern vielmehr haploide
Bei Pflanzen und manchen heute zu den Protisten Zellen, die durch Mitosen entweder einzellige oder
zählenden Algen beobachtet man dagegen einen regel- vielzellige haploide Organismen bilden. Die haploide
rechten Generationswechsel, in dem sich vielzellige Phase vermehrt sich durch Mitosen und einige der so
haploide und diploide Generationen innerhalb einer gebildeten Zellen können sich zu Gameten entwi-
Art abwechseln. Der wesentliche Unterschied zum bis- ckeln. Das einzige diploide Stadium ist hier also die
her beschriebenen Lebenszyklus ist also das Auftreten einzellige Zygote (Abbildung 13.6c).

haploid (n)
diploid (2n) haploider vielzelliger haploider einzelliger
Organismus (Gametophyt) oder vielzelliger
Organismus
n Gameten n

n Mitose n Mitose Mitose n Mitose


n n
n n n
Meiose Befruchtung Sporen n n
Gameten n
Gameten
Meiose Befruchtung

Zygote Meiose Befruchtung


2n 2n
2n
2n
Zygote 2n
diploider
diploider Mitose vielzelliger Mitose
vielzelliger Zygote
Organismus
Organismus
(Sporophyt)

(a) Tiere. (b) Höhere Pflanzen und einige Algen. (c) Die meisten Pilze und manche
Protisten.

Abbildung 13.6: Drei mögliche Lebenszyklen bei der geschlechtlichen Fortpflanzung. Das gemeinsame Merkmal aller drei Zyklen ist der
Wechsel von Meiose (Reifungsteilung) und Befruchtung (Fertilisation). Dies sind die Schlüsselereignisse, die zur genetischen Variabilität unter den Nach-
kommen beitragen. Die Zyklen unterscheiden sich hauptsächlich im zeitlichen Verlauf dieser beiden Ereignisse.

331
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

Abhängig vom jeweiligen Lebenszyklus können sich 13.3.1 Die Meiosestadien


damit sowohl haploide als auch diploide Zellen mito-
tisch teilen. Andererseits sind aber nur diploide Zel- Die Vorgänge während der Meiose sind in der
len in der Lage, sich meiotisch zu teilen, da ja der ein- Abbildung 13.7 schematisch dargestellt. Sie zeigt die
fache Chromosomensatz haploider Zellen nicht weiter Replikation der beiden Exemplare eines homologen
reduziert werden kann, ohne lebenswichtige Gene zu Chromosomenpaares in einer diploiden Zelle. Aus die-
verlieren. Obgleich sich die drei grundlegenden For- sem gehen letztlich vier 1-Chromatidchromosomen her-
men der dargestellten sexuellen Lebenszyklen im zeit- vor, die auf die vier sich bildenden haploiden Zellen
lichen Ablauf von Meiose und Befruchtung unter- verteilt werden. (Auf die wichtigen genetischen Unter-
scheiden, bewirken sie letztlich alle das Gleiche: Die schiede zwischen den einzelnen Chromosomensätzen
genetische Vielfalt unter den Nachkommen. Eine ein- wollen wir erst weiter unten eingehen.)
gehendere Betrachtung der Meiose wird Aufschluss
über die Ursachen dieser Variabilität geben.
Interphase
 Wiederholungsfragen 13.2 homologe Chromosomenpaare
in einer diploiden Elternzelle

1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Wie viele DNA-


Teil 3 Moleküle (Doppelhelices) sind in den in Ab-
bildung 13.4 dargestellten Chromosomen ent-
halten? Nutzen Sie für Ihre Antwort auch die
Informationen aus Abbildung 12.5.
2. Wie viele Paare von Chromosomen zeigt das Die Chromosomen
Karyogramm in Abbildung 13.3? Wie viele werden repliziert.
Chromosomensätze sind zu sehen?
homologe Paare replizierter Chromosomen
3. WAS WÄRE, WENN? Wir betrachten einen Euka-
ryonten, der als Einzeller lebt. Unter Stress-
bedingungen (zum Beispiel bei Trockenheit)
bringt er Gameten hervor. Die Gameten ver- Schwester-
schmelzen und die entstandene Zygote durch- chromatiden diploide Zelle
mit replizierten
läuft eine Meiose. Es bilden sich neue Einzel- Chromosomen
ler. Welcher Gruppe von Lebewesen könnte
dieser Eukaryont angehören (siehe Abbildung Meiose I
13.6)?

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.


1 Die homo-
logen Chro-
mosomen
trennen sich.
In der Meiose wird der diploide haploide Zellen mit
replizierten Chromosomen
auf einen haploiden Chro- Meiose II
mosomensatz reduziert
13.3 2 Die Schwester-
chromatiden
trennen
Viele Teilschritte der Meiose (Reduktionsteilung, Reife- sich.
teilung) ähneln den Vorgängen bei der Mitose (siehe
Kapitel 12). Vor der Meiose wird, wie vor der Mitose,
zunächst die chromosomale DNA repliziert. Auf diese
Replikation folgen jedoch nicht nur eine, sondern haploide Zellen mit nichtreplizierten Chromosomen
zwei nachgeschaltete Zellteilungen, die als erste und
zweite meiotische Teilung bezeichnet werden. Die bei- Abbildung 13.7: Übersicht über die Reduktion der Chromo-
somenzahl während der Meiose. Nachdem die Chromosomen in der
den Teilungen führen in der Regel zu vier haploiden
Interphase dupliziert wurden, teilt sich die ursprünglich diploide Zelle
Zellen (statt zu zwei diploiden, wie das bei einer Mitose
zweimal, so dass vier haploide Tochterzellen entstehen. Diese Übersicht
der Fall wäre). Als weiterer entscheidender Unter- zeigt der Einfachheit halber nur ein homologes Chromosomenpaar, das
schied zwischen Mitose und Meiose verändern sich nur in der kondensierten Form dargestellt ist.
im Verlauf der Reduktionsteilung die Chromosomen
selbst. Die aus der Meiose entstehenden Keimzellen ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie die Zellen in dieser Abbildung nochmals
sind genetisch nicht mehr identisch! – Dies soll im neu und stellen Sie dabei die Doppelhelices der einzelnen DNA-Moleküle dar.
Folgenden erläutert werden.

332
13.3 In der Meiose wird der diploide auf einen haploiden Chromosomensatz reduziert

Die Schwesterchromatiden eines 2-Chromatidenchro- paarung wird auch als Synapsis (Ausbildung des
mosoms sind, wie Sie schon wissen, exakte Kopien synaptonemalen Komplexes) bezeichnet und tritt
eines Chromosoms, die über ihre gesamte Länge normalerweise nicht bei mitotischen Teilungen
zusammengehalten werden (Schwesterchromatiden- auf. Während der Synapsis kommt es zu einer ent-
Kohäsion). Die beiden zusammenhängenden Schwes- scheidenden Umlagerung zwischen den Chroma-
terchromatiden bilden so ein 2-Chromatidenchromo- tiden des synaptonemalen Komplexes: ein Rekom-
som (Abbildung 13.4). Im Gegensatz dazu handelt es binationsvorgang, der Crossing-over genannt wird
sich bei einem Homologenpaar um zwei voneinander (engl. to cross over, hinüberwechseln [nicht über-
unabhängige Chromosomen, die sich von den beiden kreuzen!]). Ein Crossing-over zwischen Schwes-
Eltern ableiten. Vor Beginn der Replikation (vor der S- terchromatiden (d.h. innerhalb eines Chromosoms)
Phase des Zellzyklus) liegen sie als 1-Chromatidchro- bleibt ohne sichtbare Auswirkungen. Der Endzu-
mosomen vor und gehen durch die Replikation der stand unterscheidet sich nicht vom Ausgangszu-
chromosomalen DNA und die Anlagerung von Pro- stand und ist genetisch nicht nachweisbar (keine
teinen in 2-Chromatidenchromosomen über. Danach Veränderung des Phänotyps), weil die Schwes-
besteht ein homologes Chromosomenpaar somit aus terchromatiden identische Kopien der Ausgangs-
vier Chromatiden mit je zwei 2-Chromatidenchromo- DNA sind. Ein Crossing-over zwischen den Nicht-
somen. Dies bildet die Grundlage für den weiteren Schwesterchromatiden eines Paares von homo-
Verlauf der Meiose und die Bildung der Keimzellen. logen Chromosomen führt dagegen zu einer Neu-
Die Homologen eines Chromosomenpaars sehen zwar kombination der Allele und als Folge davon zu Teil 3
im Mikroskop gleich aus, enthalten aber meistens unter- nicht-homologen Schwesterchromatiden in den
schiedliche Versionen von Genen (Allele) an den glei- beiden Ausgangschromosomen! – Nach der Auflö-
chen Genorten (Loci). So kann etwa auf dem einen sung des synaptonemalen Komplexes in der späten
Chromosom ein Allel für gelockte Haare liegen, wäh- Prophase I werden die beiden rekombinanten Ho-
rend am gleichen Genort des homologen Chromosoms mologen leicht auseinandergezogen, bleiben jedoch
ein Allel für glatte Haare liegt. Die Homologen stehen im Bereich einer X-förmigen Überkreuzungsstelle
nicht miteinander in Kontakt, mit Ausnahme einer verbunden, dem sogenannten Chiasma. Chias-
kurzen Phase während der Meiose. mata sind die sichtbaren Folgen eines Crossing-
Auf den Folgeseiten beschreibt Abbildung 13.8 overs. Dies vermittelt den Eindruck, dass die Chro-
detailliert die verschiedenen Stadien der beiden meio- matiden zweier Homologen sich überkreuzen und
tischen Teilungen am Beispiel einer Tierzelle mit einem die Bereiche der Schwesterchromatiden noch im-
diploiden Chromosomensatz von 2n = 6. Letztlich führt mer zusammenhängen. Durch die Rekombination
die Meiose zur Halbierung der Chromosomenzahl, so kommt es weiter zu einem Austausch (einer Neu-
dass jede der Keimzellen nur noch einen vollständigen kombination) der distalen Bereiche, die damit nicht
Chromosomensatz (n=3) enthält. Sehen Sie sich bitte die mehr als Schwesterchromatiden bezeichnet werden
Abbildung 13.8 gründlich an, bevor Sie weiterlesen. dürfen. Obwohl in Abbildung 13.10 zur Vereinfa-
chung jeweils nur ein Crossing-over pro homolo-
gem Chromosom dargestellt ist, tritt es in der Regel
13.3.2 Mitose und Meiose im Vergleich sehr viel häufiger auf. Tatsächlich muss mindestens
ein Crossing-over zwischen jedem Homologenpaar
Die entscheidenden Unterschiede zwischen der Meiose stattfinden, damit die Paare während der Meta-
und der Mitose diploider Zellen sind in Abbildung phase I verbunden bleiben.
13.10 zusammengefasst. Vereinfacht ausgedrückt führt
die Meiose zur Halbierung des Chromosomenbestandes 2. Homologe Chromosomenpaare ordnen sich in der
einer Zelle und damit zum Übergang vom diploiden in Metaphasenplatte an. In der Metaphase der ersten
den haploiden Zustand. Bei der Mitose wird dagegen meiotischen Teilung (Metaphase I) werden die
der Ploidiegrad aufrecht erhalten und es werden Toch- Chromosomen als homologe Paare in der Ebene der
terzellen gebildet, die genetisch mit der Ausgangszelle Metaphasenplatte angeordnet und nicht, wie in der
identisch sind. Die haploiden Zellen, die als Endpro- Mitose, als einzelne 2-Chromatidenchromosomen.
dukte aus der Meiose hervorgehen, sind dagegen gene- Aufgrund der gerade beschriebenen Ereignisse han-
tisch verschieden. delt es sich um rekombinante Homologe.
Im Verlauf der ersten meiotischen Teilung kommt es
zu drei Ereignissen, die nur bei dieser Art der Zelltei- 3. Trennung der Homologen. In der Anaphase der
lung auftreten: ersten meiotischen Teilung (Anaphase I) wandern
die rekombinanten 2-Chromatidenchromosomen
1. Synapsis und Crossing-over. Während der Pro- jedes Homologenpaares zu gegenüberliegenden
phase I paaren sich die replizierten homologen Zellpolen. Die beiden Chromatiden der jetzt re-
2-Chromatidenchromosomen und werden dabei kombinanten 2-Chromatidenchromosomen bleiben
durch spezifische Proteine (sogenannte Kohäsine) jedoch weiterhin miteinander verbunden. In der
im synaptonemalen Komplex zusammengehalten Anaphase einer Mitose kommt es dagegen zur Tren-
(Abbildung 13.9). Der Vorgang der Homologen- nung der Schwesterchromatiden.

333
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

 Abbildung 13.8: Näher betrachtet


Die Meiose am Beispiel einer tierischen Zelle.

MEIOSE I: Die Trennung homologer Chromosomen

Telophase I und
Prophase I Metaphase I Anaphase I
Cytokinese

Schwesterchromatiden
Centrosom bleiben verbunden
(mit einem Centriolenpaar)
Teil 3 Schwester- Chiasmata Centromer
chromatiden (mit Kinetochor)
Spindelapparat

Metaphasen-
platte

Teilungs-
furche
homologe Chromosomen
Fragmente trennen sich
homologe
Chromosomen der Zellkernhülle
Die homologen Es bilden sich zwei haploide
Die replizierten homologen an die Kinetochore Chromosomenpaare trennen Zellen; jedes Chromosom
Chromosomen (rot und blau) angeheftete Mikrotubuli sich voneinander. besteht weiterhin aus zwei
paaren sich und tauschen Schwesterchromatiden.
homologe Segmente aus; Die Chromosomen ordnen
in diesem Beispiel ist n = 6. sich zu homologen Paaren an.

Prophase I Metaphase I Anaphase I Telophase I und Cytokinese


 Die Chromosomen beginnen zu kondensie-  Die homologen Chromoso-  Der Abbau der für die  Zu Beginn der Telophase I weist
ren, die Homologen lagern sich der Länge menpaare sind nun an der Schwesterchromatidenpaa- jede Zellhälfte einen vollstän-
nach locker aneinander; dabei liegen die Metaphasenplatte aufgereiht. rung verantwortlichen Pro- digen haploiden Satz replizier-
Allele der homologen Gene aneinander. Dabei ist jedes Chromosom teine erlaubt die Trennung ter Chromosomen auf. Jedes
 Das Crossing-over (reziproker Austausch der eines jeden Paares jeweils der Homologen. Chromosom besteht aus zwei
distalen DNA-Bereiche von Nichtschwes- einem der Spindelpole zu-  Die homologen Chromoso- Schwesterchromatiden; ein oder
terchromatiden) ist abgeschlossen, während gewandt. men bewegen sich entlang beide Chromatiden enthalten
die Homologen noch im Zustand der Synap-  Die beiden Chromatiden eines des Spindelapparates zu den Bereiche von Nichtschwester-
sis sind, wobei sie über die gesamte Länge Chromosoms sind an den entgegengesetzten Polen. chromatiden-DNA (als Folge
von speziellen Proteinen eng zusammenge- Kinetochorenmikrotubuli von  Die Schwesterchromatiden des Crossing-over).
halten werden (vor dem hier abgebildeten einem der Spindelpole ver- sind an den Centromeren  Die Cytokinese (Zellteilung mit
Stadium). ankert; die des anderen ho- weiterhin verbunden. Dies der Teilung des Cytoplasmas)
 Die Synapsis endet in der mittleren Pro- mologen Chromosoms sind bewirkt, dass die Chroma- vollzieht sich für gewöhnlich
phase, die Chromosomen jedes Paares bewe- mit den Mikrotubuli des ent- tiden als eine Einheit zum gleichzeitig mit der Telophase I.
gen sich, wie oben dargestellt, leicht ausein- gegengesetzten Pols verbun- selben Spindelpol wandern. Es bilden sich zwei haploide
ander. den. Tochterzellen.
 Jedes Homologenpaar weist ein oder meh-  Bei Tierzellen bildet sich eine
rere Chiasmata auf – Punkte, an denen ein Teilungsfurche aus (bei Pflan-
Crossing-over stattgefunden hat und an zenzellen eine sogenannte Zell-
denen die Homologen infolge der Kohäsion platte).
der Schwesterchromatiden weiterhin mit-  Bei manchen Arten dekonden-
einander verbunden sind (Schwesterchro- sieren die Chromosomen und
matiden-Kohäsion). die Kernhülle bildet sich zu-
 Centromerbewegung, Bildung des Spindel- rück.
apparates und Zerfall der Zellkernhülle voll-  Zwischen der Meiose I und der
ziehen sich wie bei der Mitose. Meiose II kommt es zu keiner
 In der späten Prophase I (nach dem hier dar- Replikation.
gestellten Stadium) lagern sich die Mikro-
tubuli des einen oder anderen Spindelpols
an die beiden Kinetochore an (Protein-
komplexe an den Centromeren der beiden
Homologen). Die Homologenpaare wandern
anschließend zur Metaphasenplatte.

334
13.3 In der Meiose wird der diploide auf einen haploiden Chromosomensatz reduziert

MEIOSE II: Trennung der Schwesterchromatiden

Telophase II und
Prophase II Metaphase II Anaphase II
Cytokinese

Teil 3

Im Verlauf einer weiteren Zellteilungsrunde trennen sich schließlich die Schwesterchromatiden;


als Ergebnis bilden sich vier haploide Folgezellen, die nichtreplizierte Chromosomen enthalten.

getrennte Bildung haploider


Schwesterchromatiden Folgezellen

Prophase II Metaphase II Anaphase II Telophase II und Cytokinese


 Ein Spindelapparat bildet sich.  Die Chromosomen richten sich  Der Abbau der Proteine, die  Zellkerne bilden sich, die Chro-
 In der späten Prophase II (hier wie bei der Mitose an der die Schwesterchromatiden am mosomen beginnen zu
nicht dargestellt) assoziieren Metaphasenplatte aus. Centromer zusammenhalten, dekondensieren, und die
die noch immer aus zwei Chro-  Infolge des Crossing-over in erlaubt die Trennung der Chro- Cytokinese setzt ein.
matiden bestehenden, an ihren der Meiose I sind die beiden matiden. Die voneinander ge-  Die meiotische Teilung einer
Centromeren zusammenhän- Schwesterchromatiden jedes trennten Chromatiden wan- Ausgangszelle führt zu vier Fol-
genden Chromosomen und Chromosoms genetisch nicht dern als eigenständige gezellen, die jeweils einen ha-
wandern zur 2. Metaphasen- (mehr) identisch. Chromosomen zu entgegen- ploiden Satz (nichtreplizierter)
platte.  Die Kinetochore der Schwes- gesetzten Polen des Spindel- Chromosomen enthalten.
terchromatiden sind mit apparates.  Jedes der vier Meioseprodukte
Mikrotubuli verbunden, die unterscheidet sich genetisch
von entgegengesetzten Spin- von den drei anderen wie auch
delpolen ausgehen. von der Ausgangszelle.

Im MyLab|Deutsche Version für Campbell Biologie finden Sie eine


3D-Animation zur Meiose.

335
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

homologe Wie bleiben die rekombinanten Chromatiden


Chromoso- der 2-Chromatidenchromosomen während der
DNA-Brüche Centromer DNA-Brüche menpaare ersten meiotischen Teilung verbunden und wie
Kohäsine väterliche werden sie im Verlauf der zweiten meiotischen
Schwester- Teilung (ebenso wie in der Mitose) voneinan-
chromatiden der getrennt? – Die Chromatiden der 2-Chroma-
tidenchromosomen werden mithilfe von Protein-
mütterliche
Schwester- komplexen, die man als Kohäsine bezeichnet,
chromatiden über ihre gesamte Länge nicht-kovalent mitein-
1 Nach der Interphase wurden die Chromosomen dupliziert, ander verbunden. (Sie werden praktisch von
wobei die Schwesterchromatiden durch bestimmte Proteine, „Kohäsinringen“ umschlossen.) In der Mitose
die als Kohäsine bezeichnet werden (lilafarben), zusammen- bleibt diese Verbindung bis zum Ende der Meta-
gehalten werden. Jedes homologe Chromosomenpaar lagert
sich über die gesamte Länge aneinander an. Die homologen phase bestehen. Dann spalten Enzyme die Kohä-
DNA-Moleküle zweier Nicht-Schwesterchromatiden brechen sine und setzen die Schwesterchromatiden frei,
präzise an zwei sich entsprechenden Stellen. Gleichzeitig die zu gegenüberliegenden Polen der Zelle gezo-
beginnt das Chromatin sich zusammenzuziehen. gen werden. In der Meiose wird die Chroma-
tidenkohäsion in zwei Schritten aufgehoben.
Ausbildung eines synap-
tonemalen Komplexes Während der Metaphase I werden die Homo-
Teil 3 logen in Bereichen des DNA-Austausches zwi-
schen den Nicht-Schwesterchromatiden durch
Kohäsion zusammengehalten. In der Anaphase I
werden die Crossing-over aufgelöst und die
2 Ein reißverschlussartiger Komplex, der synaptonemale
Kohäsinkomplexe entlang der Chromosomen-
Komplex (grün), beginnt sich auszubilden, wobei sich arme zu beiden Seiten des Centromers (nicht
die homologen DNA-Stränge aneinander lagern. aber am Centromer selbst) gespalten, so
Das Chromatin fährt fort, sich zu verdichten. dass die Homologen sich in zwei 2-Chro-
matidenchromosomen trennen können.
Crossing-over Crossing-over
In der Anaphase II werden auch die
Kohäsine im Bereich der Centromere
gespalten, so dass die rekombinanten
Chromatiden sich trennen können.
Die erste meiotische Teilung ist also die
eigentliche Reduktionsteilung, da hier die Chro-
mosomenzahl vom diploiden (2n) auf den
haploiden Satz (n) reduziert wird. Im Verlauf
3 Der synaptonemale Komplex hat sich vollständig gebildet; der zweiten meiotischen Teilung trennen sich
die beiden homologen DNA-Stränge formen eine Synapsis. die Chromatiden der rekombinanten 2-Chroma-
Die DNA-Strangbrüche werden geschlossen, indem die tidenchromosomen unter Bildung der haploi-
Enden der jeweiligen Nicht-Schwesterchromatiden über den Produkte. Die molekularen Mechanismen
Kreuz verheilen. Damit sind Crossing-over entstanden.
der Chromatidentrennung in der zweiten meio-
tischen Teilung und in der Mitose sind prak-
tisch identisch. Das genetische Ergebnis ist aber
Chiasmata grundverschieden! – Wie genau die Rekombina-
tion im Verlauf der Chromosomenverteilung
der Meiose auf molekularer Ebene abläuft, ist
noch immer Gegenstand intensiver molekular-
biologischer Forschungen.

4 Nachdem der synaptonemale Komplex auseinander gefallen


ist, rücken die homologen Chromosomen etwas ausein-
 Abbildung 13.9: Crossing-over und Synapsis in der Pro-
ander, werden aber durch Kohäsine an den Schwester-
chromatiden zusammengehalten. Die Stellen, an denen phase I. Zur Vereinfachung wurden die homologen Chromoso-
die Crossing-over stattgefunden haben, zeigen sich menpaare in dieser Abbildung getrennt voneinander dargestellt. In
als Chiasmata. Auf dem Weg zur Metaphasenplatte Wirklichkeit liegt das in blau dargestellte Chromosom direkt auf
kondensieren die Chromosomen immer weiter. dem rot markierten Partnerchromosom (seinem Homologen).

336
13.3 In der Meiose wird der diploide auf einen haploiden Chromosomensatz reduziert

Mitose Meiose

Ausgangszelle Chiasma (Ort des


Meiose I
(vor der Replikation Crossing-over)
der Chromosomen)
Prophase I
Homologe Chromo-
Prophase somenpaare werden
Replikation Replikation durch Chiasmata
replizierte Chromo- der Chromo- der Chromo- und Schwester-
somen (zwei Schwester- somen somen chromatid-Kohäsion
2n = 6
chromatiden) zusammengehalten.

Die Chromo- Die homologen


Metaphase somen richten Chromosomen- Metaphase I
sich einzeln paare richten
entlang der sich entlang der
Metaphasen- Metaphasen-
platte aus. platte aus.
Teil 3

Anaphase Die Schwester- Die Homologen Anaphase I


Telophase chromatiden trennen sich Telophase I
trennen sich in im Verlauf der
der Anaphase. Anaphase I; haploid
die Schwester- (n = 3)
chromatiden
bleiben an den Tochterzellen
Centromeren der Meiose I
miteinander
verbunden.
2n 2n
Die Meiose II
Tochterzellen Schwes-
der Mitose terchro-
matiden n n n n
trennen sich Tochterzellen
im Verlauf der der Meiose II
Anaphase II.

Zusammenfassung

Merkmal Mitose Meiose

DNA- vollzieht sich während der Interphase vollzieht sich während der Interphase vor Einsetzen
Replikation vor Einsetzen der Mitose der Meiose I
Zahl der eine, umfasst Prophase, Metaphase, zwei, jeweils Prophase, Metaphase, Anaphase und
Teilungen Anaphase und Telophase Telophase umfassend
Anlagerung findet nicht statt vollzieht sich während der Prophase I, mit Crossing-
(Synapsis) over zwischen Nichtschwesterchromatiden; die
homologer resultierenden Chiasmata und die Schwester-
Chromosomen chromatidkohäsion halten die Paare zusammen
Zahl der zwei, jede ist diploid (2n) und vier, jede ist haploid (n) und enthält halb so viele
Tochterzellen genetisch mit der Ausgangszelle Chromosomen wie die Ausgangszelle; genetisch von
und genetische identisch der Ausgangszelle und den anderen drei Zellen
Ausstattung (den Meioseprodukten) verschieden
Rolle im Entwicklung vielzelliger Organismen Produktion der Gameten; Reduktion der Chromo-
Tierkörper aus einer diploiden Zygote; Produktion somenzahl auf die Hälfte und Erzeugung genetischer
von Zellen für das Wachstum, die Variabilität unter den Gameten
Reparatur sowie – bei manchen Arten –
für die ungeschlechtliche Vermehrung

Abbildung 13.10: Ein Vergleich von Mitose und Meiose in diploiden eukaryontischen Zellen.

ZEICHENÜBUNG Könnte eine andere Kombination von Chromosomen aus den für die Telophase I gezeigten spezifischen Zellen hervorgehen? Erläu-
tern Sie Ihre Antwort. (Hinweis: Zeichnen Sie die Zellen, wie sie in der Metaphase II erscheinen würden.)

337
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

 Wissenschaftliche Übung

Erstellung eines Liniendiagramms und Datenauswertung


Umwandlung von Einheiten
1. Erstellen Sie als Erstes ein Diagramm. (a) Be-
Wie ändert sich der schriften Sie die Achsen korrekt. Welche Achse
DNA-Gehalt einer Hefe- stellt die konstanten Werte dar, welche Achse
zelle während der Mei- zeigt die variablen Messwerte? Vergessen Sie
ose? Wenn in einer nicht, die Einheiten in Klammern anzugeben.
Hefekultur (Saccharo- Begründen Sie Ihre Wahl (zusätzliche Informa-
myces cerevisiae) be- tionen über wissenschaftlich korrekte Darstel-
stimmte Nährstoffe auf- lungen finden Sie im Anhang B).
gebraucht sind, teilen
2. Da die Werte der x-Achse sich kontinuierlich
sich die Zellen nicht mehr mitotisch, sondern kön-
verändern, ist es ratsam, die Werte mit einer Li-
nen dazu veranlasst werden, eine Meiose durchzu-
nie zu verbinden. (a) Zeichnen Sie jeden Wert
führen. In dieser Übung sollen Sie den DNA-Gehalt
der Tabelle in Ihre graphische Darstellung ein.
einer Hefekultur während der Meiose verfolgen.
(b) Verbinden Sie die Punkte durch gerade Li-
Teil 3 Durchführung des Experiments Zunächst ließen nien.
die Forscher die Hefekultur in einem nährstoffrei-
3. Die meisten Hefezellen befinden sich in der G1-
chen Medium wachsen. Anschließend wurden die
Phase ihres Zellzyklus, wenn Sie in das nähr-
Zellen auf ein nährstoffarmes Medium überimpft,
stoffarme Medium überführt werden. (a) Wie
um die Meiose einzuleiten. Zu verschiedenen Zeit-
viele Femtogramm DNA besitzt eine Zelle in der
punkten wurden dann Proben entnommen und der
G1-Phase? Schätzen Sie diesen Wert in Ihrem
DNA-Gehalt pro Zelle bestimmt. Der DNA-Gehalt
Diagramm ab. (b) Wie hoch wäre demnach der
wird dabei in Femtogramm gemessen (fg, 1 Femto-
DNA-Gehalt der Zellen in der G2-Phase (verglei-
gramm entspricht 10–15 Gramm)
chen Sie Konzept 12.2 und die Abbildung 12.6)?
Wie viele Femtogramm DNA besitzt eine Zelle
Experimentelle Daten
am Ende der Meiose I (MI), wie viele Femto-
gramm DNA am Ende der Meiose II (MII) (ver-
Zeit nach der Über- Durchschnittliche Menge gleichen Sie dazu die Abbildung 13.7)? (c) Wenn
impfung (Stunden) DNA pro Zelle (fg) Sie diese Werte als Richtlinie nehmen, können
0,0 24,0 Sie die verschiedenen Zellzyklusphasen in Ih-
rem Diagramm markieren, indem Sie vertikale
1,0 24,0
Linien einzeichnen und die einzelnen Phasen
2,0 40,0 benennen (G1, S, G2, MI, MII). Da Sie den DNA-
Gehalt in den verschiedenen Phasen (siehe Ab-
3,0 47,0
bildung 13.7) kennen, können Sie die exakte
4,0 47,5 Position dieser Trennlinien genau festlegen. (d)
5,0 48,0
Denken Sie darüber nach, wann ihr Graph am
höchsten Punkt ist und wann er wieder abfällt.
6,0 48,0 Welche spezifische Phase der Meiose wird
7,0 47,5 durch den höchsten Punkt in Ihrer Darstellung
repräsentiert? Welches Stadium steht für den ab-
7,5 25,0 fallenden Teil Ihres Graphen?
8,0 24,0
4. Mit der Angabe, dass 1 fg DNA im Durchschnitt
9,0 23,5 9,78 × 105 Basenpaaren entspricht, können Sie
9,5 14,0
nun auch den DNA-Gehalt in die Anzahl der
Basenpaare pro Zelle umrechnen. (a) Berechnen
10,0 13,0 Sie den DNA-Gehalt eines haploiden Hefe-Ge-
11,0 12,5 noms in Basenpaaren pro Zelle. Verwenden Sie
dazu die Einheit „Millionen Basenpaare (Mb)“,
12,0 12,0 die gängige Standardeinheit für Genomgrößen.
13,0 12,5 (b) Wie viele Basenpaare müssen während der
S-Phase pro Minute in einer Hefezelle syntheti-
14,0 12,0 siert werden?

Weiterführende Literatur: G. Simchen, Commitment to meiosis: what determines the mode of division in budding yeast? BioEssay 31:169–177 (2009).

338
13.4 Die geschlechtliche Fortpflanzung erhöht die genetische Variabilität – ein wichtiger Motor der Evolution

13.4.1 Ursprung der genetischen


 Wiederholungsfragen 13.3
Variabilität unter Nachkommen
1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Inwiefern ähneln Bei Arten, die sich geschlechtlich fortpflanzen, bestimmt
die Chromosomen in der mitotischen Meta- das Verhalten der Chromosomen während der Meiose
phase denen in der Metaphase II der Meiose und bei der Befruchtung den größten Teil der in jeder
und worin bestehen die Unterschiede? Generation auftretenden Variabilität. Dabei sind drei
Mechanismen zur Erzeugung genetischer Vielfalt unter
2. WAS WÄRE, WENN? Wie wären in Anbetracht
den Nachkommen entscheidend:
der Tatsache, dass der synaptonemale Kom-
plex am Ende der Prophase I verschwindet, 1. Die unabhängige Verteilung der Chromosomen.
die Homologen miteinander verbunden, wenn
kein Crossing-over stattfinden würde? Welche 2. Die Rekombination durch Crossing-over.
Wirkung hätte dies letztlich auf die Gameten-
bildung? 3. Die zufällige Gametenfusion bei der Befruchtung.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Unabhängige Verteilung der Chromosomen
Die genetische Variabilität wird unter anderem durch die
zufällige Anordnung rekombinanter homologer Chromo- Teil 3
somenpaare in der Metaphasenplatte und durch ihre
Die geschlechtliche Verteilung in der ersten meiotischen Teilung bewirkt. In
Fortpflanzung erhöht die der Metaphase I lagern sich die rekombinanten homo-
logen Chromosomenpaare von Vater und Mutter in der
genetische Variabilität – Metaphasenplatte an. Bei jedem der Chromosomenpaare
ein wichtiger Motor der kann sich das „maternale“ Chromosom auf der einen
Evolution
13.4 oder der anderen Seite einer imaginären Ebene befinden.
Das „paternale“ liegt dann jeweils gegenüber und weist
zum entgegengesetzten Zellpol. Die Anordnung scheint
Wie kommt es also zu der genetischen Variabilität, rein zufällig zu erfolgen. Es besteht somit eine 50-pro-
sowohl zwischen den Individuen einer Art, als auch zentige Wahrscheinlichkeit, dass eine Tochterzelle ein
zwischen den verschiedenen Arten? – Im Folgenden bestimmtes Chromosom eines Homologenpaares erhält.
gehen wir auf Mutationen als der eigentlichen Quelle Da jedes Paar homologer Chromosomen in der Meta-
dieser Variabilität ein. Mutationen, also bleibende Verän- phase I unabhängig von den anderen ausgerichtet wird,
derungen im Erbgut eines Lebewesens, führen zu leicht gelangen sie in der ersten meiotischen Teilung nach
voneinander abweichenden, alternativen Versionen der dem Zufallsprinzip in eine der Tochterzellen. Diese
Gene, die wir als Allele bezeichnen. Nachdem sich diese unabhängige Verteilung der Chromosomen wird auch
Unterschiede im Erbgut etabliert haben, wird durch ihre als Segregation (Trennung) bezeichnet. Jede Tochterzelle
Neukombination bei der geschlechtlichen Fortpflanzung erhält also eine für sie spezifische Kombination von
die Variabilität innerhalb einer Population erhöht. Hier- Chromosomen. In Abbildung 13.11 ist dies am Beispiel
durch erhält jedes Individuum einer Art seine einzigar- einer diploiden Zelle mit nur zwei homologen Chromo-
tige Kombination von Merkmalen (mit der erwähnten somenpaaren gezeigt. Hier ergeben sich bereits vier mög-
Ausnahme eineiiger Zwillinge, die Klone darstellen). liche Kombinationen. Die aus der meiotischen Teilung

Möglichkeit 1 Möglichkeit 2

zwei gleich wahrscheinliche


Anordnungen der Chromosomen
in der Metaphase I

Metaphase II

Tochterzellen
Abbildung 13.11: Die unabhängige Ver-
teilung homologer Chromosomen wäh-
Kombination 1 Kombination 2 Kombination 3 Kombination 4 rend der Meiose.

339
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

vieler diploider Zellen hervorgehenden haploiden rend sich der Spindelapparat für die erste meiotische
Folgezellen enthalten nach den statistischen Regeln Teilung ausbildet, werden die Homologen durch diese
alle vier möglichen Kombinationen mit einer Wahr- Chiasmata weiter zusammengehalten. In der Ana-
scheinlichkeit von je 25 Prozent. Für den Fall einer phase I wird dann die Kohäsion aufgehoben, d.h. die
Ausgangszelle mit drei Chromosomen im haploiden Crossing-over werden aufgelöst und die jetzt rekombi-
Satz (n = 3) ergeben sich schon acht (2 × 2 × 2) mögli- nanten Schwesterchromatiden wandern zu den entge-
che Kombinationen. Für eine Zelle mit n Chromoso- gengesetzten Zellpolen.
men gibt es also 2n mögliche Kombinationen aus ur- Chromosomen mit einem oder zwei rekombinanten
sprünglich maternalen oder paternalen Chromosomen. Chromatiden nehmen in der folgenden Metaphase II
Beim Menschen (n = 23) sind dies 223 (≈ 8,4 Millio- eine von zwei möglichen Orientierungen bezüglich der
nen) Möglichkeiten der Neukombination von Chro- Zellpole ein. Da die beiden noch zusammenhängenden
mosomen zur Bildung der haploiden Ei- beziehungs- Chromatiden aufgrund der Rekombination nicht mehr
weise Samenzellen. Jede im Laufe des Lebens gebildete identisch sind (streng genommen spricht man nun
Keimzelle enthält also eine dieser 8,4 Millionen denk- nicht mehr von Schwesterchromatiden), sind ihre mög-
baren Zusammenstellungen von 23 aus dem Vorrat der lichen Anordnungen ebenfalls nicht äquivalent. Durch
ursprünglich 46 Chromosomen eines Menschen. diese ebenfalls zufällige Verteilung der postrekombina-
tiven Chromatiden in der zweiten meiotischen Teilung
Rekombination durch Crossing-over erhöht sich die Anzahl der genetisch verschiedenen
Teil 3 Als Folge der eben beschriebenen zufälligen Verteilung meiotischen Teilungsprodukte noch einmal erheblich.
der Chromosomen während der Meiose unterscheiden In Kapitel 15 werden wir noch mehr über die Rekom-
sich unsere Keimzellen in ihrer chromosomalen Aus- bination durch Crossing-over erfahren. An dieser Stelle
stattung sowohl voneinander als auch von denen unse- ist festzuhalten, dass die hierdurch bewirkte Neukom-
rer Eltern. Die vereinfachte Darstellung in Abbildung bination väterlicher und mütterlicher Allele auf einem
13.11 ist aber insofern irreführend, als sie die Chromo- Chromosom eine wichtige Quelle zur Erhöhung der
somen der Keimzellen als exakte Kopien der mütter- genetischen Variabilität darstellt.
lichen beziehungsweise väterlichen Chromosomen
wiedergibt. Tatsächlich führt aber das bereits beschrie-
Prophase I Nichtschwesterchromatiden-
bene Crossing-over zu rekombinanten Chromosomen, der Meiose Paarung während der Synapsis
die genetische Mosaike darstellen. Sie enthalten also 1 In der Prophase I
DNA-Abschnitte, die sowohl vom einen als auch vom kommt es zur
anderen Elternteil stammen (Abbildung 13.12). Wäh- Synapsis und zum
rend der Meiose zur Bildung der Keimzellen beim Crossing-over;
danach weichen die
Menschen kommt es durchschnittlich zu ein bis drei Homologen etwas
Crossing-over-Ereignissen pro Chromosomenpaar, je auseinander.
Homologenpaar
nach der Größe der Chromosomen und der Lage ihres 2 Chiasmata und der
Centromers. Zusammenhalt
Chiasma zwischen den
Das Crossing-over beginnt bereits in der frühen Pro- Schwesterchroma-
(Ort des
phase I, wenn sich die homologen Chromosomen über Crossing- tiden halten die
ihre gesamte Länge aneinanderlagern. Jeder Genort des over) Homologen zusam-
men; sie wandern
einen Homologen paart sich präzise mit seinem Gegen- zur ersten Meta-
stück auf dem anderen Homologen. Bei jedem einzel- Centromer phasenplatte.
nen Crossing-over steuern spezielle Proteine den Aus- 3 Der Abbau der die
tausch einander entsprechender Abschnitte von Nicht- TEM Schwesterchroma-
Schwesterchromatiden (eines maternalen und eines Anaphase I tiden verbindenden
Proteine erlaubt
paternalen Chromatids). Auf diese Weise führt das Cros- die Trennung der
sing-over zu Chromosomen mit neuen Allelkombina- Homologen mit den
tionen (Abbildung 13.12). Bezüglich der betroffenen rekombinanten
Chromatiden.
DNA-Sequenzen geschieht das auf die Base genau, so
dass der Vorgang weder zu einem Gewinn noch zu
einem Verlust (sondern lediglich zu einem gegenseiti- Anaphase II
gen Austausch) genetischer Information auf den betei-
ligten Chromatiden führt.
Beim Menschen und anderen Organismen mit sexu-
eller Fortpflanzung spielt das Crossing-over außerdem
eine wichtige Rolle bei der Anordnung und Ausrich- Tochter-
tung homologer Chromosomen in der Metaphase I. zellen
Wie bereits besprochen und in Abbildung 13.9 gezeigt,
bildet sich beim Crossing-over vorübergehend ein rekombinante Chromosomen
Chiasma und die Schwesterchromatiden lagern sich Abbildung 13.12: Die Neukombination genetischer Information
entlang der Chromosomenarme aneinander an. Wäh- durch Crossing-over in der Meiose.

340
13.4 Die geschlechtliche Fortpflanzung erhöht die genetische Variabilität – ein wichtiger Motor der Evolution

Die zufällige Verschmelzung von Gameten hat die sexuelle Vermehrung den Nachteil, dass sie viel
(„Gametenfusion“) bei der Befruchtung energieaufwendiger ist. Trotz dieser Nachteile vermeh-
Durch die zufällige Verteilung der (rekombinanten) elter- ren sich die meisten Tiere sexuell. Wieso?
lichen Chromosomen bei der Meiose ergibt sich in der Die Eigenschaft der sexuellen Vermehrung, eine gene-
Befruchtung eine weitere Möglichkeit der Neukombi- tische Vielfalt zu erzeugen, wird als wichtigster Grund
nation genetischer Information und damit der Erhö- für ihre erfolgreiche Evolution angesehen. Betrachten
hung der genetischen Variabilität. Wie bereits erklärt, wir den äußerst seltenen Fall des Rädertierchens Bdel-
enthält jede einzelne Keimzelle des Menschen eine von loid rotifer (Abbildung 13.13). Offensichtlich hat sich
8,4 Millionen möglichen Kombinationen, die sich allein diese Organismengruppe über 40 Millionen Jahre erfolg-
aus der unabhängigen Verteilung der Chromosomen reich asexuell vermehrt. Bedeutet das, dass die Erzeu-
ergeben. Selbst wenn wir die Crossing-over vernachlässi- gung genetischer Vielfalt für diese Tierart nicht vorteil-
gen, ergeben sich für eine diploide Zelle 223 × 223 = 246, haft ist? Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass auch
also etwa 7 × 1013 (70 Billionen) mögliche Chromo- Bdelloid rotifer keine Ausnahme der Regel darstellt, da
somenkombinationen. Berücksichtigt man noch die die zugehörige Organismengruppe andere Mechanismen
zusätzliche Variabilität durch Crossing-over, erhöht sich zur Erhöhung der genetischen Diversität besitzt. Die
diese Zahl nochmals erheblich. Tatsächlich ist damit Rädertierchen leben in Umgebungen, die für längere
jeder Mensch in seiner genetischen Ausstattung abso- Zeiträume austrocknen können. Während dieser Zeit
lut einmalig (mit Ausnahme eineiiger Zwillinge). fallen die Organismen in einen latenten Ruhezustand.
Forschungsergebnisse legen nahe, dass in dieser Phase Teil 3
Fremd-DNA anderer Rotiferen aufgenommen und in
13.4.2 Die Bedeutung der genetischen das Genom eingebaut werden kann, um so die gene-
Variabilität von Populationen tische Vielfalt zu erhöhen. Auch dieses Beispiel belegt
für die Evolution also, wie wichtig die Entwicklung verschiedener Gen-
austauschmechanismen in der Evolution für unter-
Bis hierher haben Sie erfahren, wie durch die ge- schiedliche Organismengruppen war.
schlechtliche Fortpflanzung neue Allelkombinationen
in eine Population eingebracht werden. Wie wirkt sich
die genetische Variabilität einer Population auf die
Evolution aus? – Nach Darwin entwickelt sich eine
Population weiter, indem sich die besser angepassten
Individuen eher fortpflanzen („individuelle Fitness“).
Demnach haben diese besser angepassten Individuen
die meisten Nachkommen, die dann wiederum ihre
Erbanlagen weiter vererben können. Dies alles beruht
auf der natürlichen Selektion und führt zu einem
höheren Prozentsatz solcher Individuen („genetischen
Kombinationen“), deren Eltern am besten an die je-
weils vorherrschenden Umweltbedingungen ange- 200 μm
passt waren. Eine Population kann eine plötzliche
Veränderung der Umweltbedingungen nur dann über- Abbildung 13.13: Das Rädertierchen Bdelloid rotifer vermehrt
leben, wenn in jeder neuen Generation zumindest ein sich ausschließlich asexuell.
Teil ihrer Individuen unter den neuen Bedingungen
überlebensfähig ist und sich erfolgreich fortpflanzen
kann. Bestimmte neue Kombinationen der Allele im In diesem Kapitel haben wir gesehen, wie wichtig die
Genom vermitteln dabei einen Vorteil gegenüber den- sexuelle Reproduktion für die Erzeugung genetischer
jenigen, die vorher überwogen haben. Alle Allele in Vielfalt innerhalb einer Population ist. Obwohl Darwin
einer Population sind aus Mutationen (Veränderungen erkannte, dass erst die genetische Variabilität den Evo-
der DNA-Sequenz) hervorgegangen und werden im lutionsprozess ermöglicht, konnte er noch nicht erklä-
Verlauf der Meiose und der Befruchtung zu neuen Ge- ren, warum Nachkommen ihren Eltern nur ähneln, aber
nomen zusammengesetzt. In diesem Kapitel haben wir nicht mit ihnen identisch sind. Ironischerweise ver-
erfahren, wie die geschlechtliche Fortpflanzung die fügte Darwins Zeitgenosse Gregor Mendel über eine
genetische Vielfalt einer Population stark erhöht. Tat- Theorie der Vererbung, die geeignet war, genetische
sächlich ist die sexuelle Fortpflanzung mit der Bil- Variation und ihre Vererbung zu erklären. Diese wurde
dung genetischer Varianten eine der wichtigsten Trieb- zwar noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht, doch
kräfte der Evolution, indem sie immer neue Varianten nicht allgemein bekannt. Erst um das Jahr 1900 – mehr
zur Selektion anbietet. als fünfzehn Jahre nachdem Darwin (1809–1882) und
Sind die Umweltbedingungen allerdings relativ sta- Mendel (1822–1884) verstorben waren – erlangten
bil, so kann die sexuelle Vermehrung Nachteile gegen- Mendels Regeln der Vererbung die Anerkennung der
über der asexuellen haben, da die Letztere eher die Biologen. Im nächsten Kapitel werden Sie erfahren, wie
Aufrechterhaltung und Vervielfältigung einer erfolg- Mendel die grundlegenden Gesetze der Vererbung defi-
reichen Allelkombination ermöglicht. Darüber hinaus nierter Merkmale entdeckt hat und was sie aussagen.

341
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

 Wiederholungsfragen 13.4
1. Welche genetischen Mechanismen liegen den 3. WAS WÄRE, WENN? Unter welchen Umständen
verschiedenen Allelen zugrunde, in denen ein würde ein Crossing-over während der Meiose
bestimmtes Gen vorliegen kann? nicht zur Erhöhung der genetischen Variabilität
in den Tochterzellen beitragen?
2. Die Zahl der Chromosomen im diploiden Satz
bei der Fruchtfliege beträgt acht, bei bestimmten Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Schneckenarten dagegen 46. Bei welcher Art
würden Sie eine höhere genetische Variabilität
erwarten, wenn kein Crossing-over stattfände? –
Erläutern Sie Ihre Antwort.

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T EL 1 3  

Teil 3 Konzept 13.1 mitotisch zu einem vielzelligen Lebewesen entwi-


Gene werden auf Chromosomen von den Eltern an ihre ckeln.
Nachkommen weitergegeben  Die Vielfalt sexueller Lebenszyklen. Geschlechtliche
Lebenszyklen unterscheiden sich im zeitlichen
 Die Vererbung von Genen. Jedes Gen eines Lebe- Ablauf der Meiose relativ zum Befruchtungszeit-
wesens nimmt in dessen DNA-Molekülen einen punkt sowie in dem oder den Zeitpunkt/en, in denen
bestimmten Platz auf einem bestimmten Chromosom durch Mitose ein vielzelliger Organismus gebildet
ein. Dies ist sein Genort (genetischer Locus). Wir wird.
erben einen Satz Chromosomen von unserer Mutter
und einen weiteren von unserem Vater. ? Vergleichen Sie den Lebenszyklus von Tieren und Pflanzen. Nennen
Sie die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede.
 Ein Vergleich von ungeschlechtlicher und geschlecht-
licher Fortpflanzung. Bei der ungeschlechtlichen
Vermehrung bringt ein einzelner Elternorganismus Konzept 13.3
durch Mitosen genetisch identische Nachkommen In der Meiose wird der diploide auf einen haploiden
hervor, die als Klon bezeichnet werden. Bei der Chromosomensatz reduziert
geschlechtlichen Fortpflanzung werden unterschied-
liche Sätze von Allelen und/oder Genen der beiden  Die Meiosestadien. Die beiden aufeinanderfolgen-
Eltern zu neuen Genomen kombiniert. Dies führt den Zellteilungen einer Meiose (Reifeteilung, Reduk-
zur Bildung genetisch verschiedener Nachkommen. tionsteilung) führen zur Bildung von vier haploiden
Tochterzellen. Die Chromosomenzahl wird während
? Erklären Sie, warum Kinder ihren Eltern zwar ähnlich sehen, aber der ersten meiotischen Teilung vom diploiden (2n)
nicht mit ihnen identisch sind.
auf den haploiden (n) Satz reduziert.
 Ein Vergleich von Mitose und Meiose. Die Meiose
Konzept 13.2 unterscheidet sich von der Mitose durch die drei
Befruchtung und Meiose wechseln sich beim ge- folgenden Ereignisse, die während der ersten meio-
schlechtlichen Generationswechsel ab tischen Teilung stattfinden:

 Chromosomensätze menschlicher Zellen. Die soma-


tischen Zellen des Menschen sind diploid. Sie ent- Prophase I: Jedes Homologenpaar durchläuft
die Synapsis und Crossing-over zwischen
halten 46 Chromosomen, die aus zwei Sätzen zu Nicht-Schwesterchromatiden.
je 22 Autosomen und einem Paar Gonosomen (Ge-
schlechtschromosomen; XY oder XX) bestehen. Der
diploide Chromosomensatz wird je zur Hälfte aus Metaphase I: Die Chromosomen reihen sich als
Homologen an der Metaphasenplatte auf.
einem väterlichen und einem mütterlichen haploi-
den Chromosomensatz gebildet.
 Das Verhalten der Chromosomen im Lebenszyklus
Anaphase I: Die Homologen trennen sich voneinander;
des Menschen. Nach Einsetzen der Geschlechts- Schwesterchromatiden bleiben an den Centromeren
reife produzieren die Gonaden (Keimdrüsen) durch verbunden.

Meiose haploide Gameten (Keimzellen). Die Game-


ten des Menschen enthalten je 23 Chromosomen Die Kohäsion der Schwesterchromatiden und das
(n = 23). Bei der Befruchtung vereinigt sich eine Crossing-over ermöglichen die Chiasmatabildung ho-
Eizelle (Oocyte) mit einer Samenzelle (Spermium) mologer Chromosomen und die Zusammenlagerung
zu einer diploiden Zygote (2n = 46). Diese kann sich der homologen Chromosomenpaare bis zur Ana-

342
Übungsaufgaben

phase I. Während der Anaphase I werden die Kohä- einer Population bei: Die unabhängige Verteilung
sine entlang der Chromosomenarme abgebaut. In der der Chromosomen in der Meiose, das Crossing-over
ersten Reifeteilung kommt es zunächst zu einer Tren- (homologe Rekombination) während der ersten
nung der homologen Chromosomen. In der zweiten meiotischen Teilung und die zufällige Befruchtung
Reifeteilung werden dann die Kohäsine der Centro- von Eizellen durch Spermien (Samenzellen). Wäh-
mere abgebaut, so dass die Schwesterchromatiden rend der Schwesterchromatiden-Kohäsion führen
voneinander getrennt werden können. Crossing-over-Ereignisse zur Bildung von Chiasmata.
Die Chiasmata halten die homologen Chromoso-
? In der Prophase I lagern sich die homologen Chromosomen aneinan- men bis zur Anaphase I zusammen.
der an und tauschen über den Mechanismus des Crossing-over geneti-
 Die Bedeutung der genetischen Variabilität von
sches Material. Könnte dies auch in der Prophase II der zweiten meioti-
schen Teilung geschehen?
Populationen für die Evolution. Die genetische Viel-
falt ist eine Triebkraft der Evolution, die durch natür-
liche Selektion entsteht. Mutationen sind der Urquell
Konzept 13.4 dieses Reichtums an genetischen Varianten. Die Neu-
Die geschlechtliche Fortpflanzung erhöht die geneti- kombination von Allelen bei der geschlechtlichen
sche Variabilität – ein wichtiger Motor der Evolution Fortpflanzung erweitert ganz erheblich die geneti-
sche Vielfalt.
 Ursprung der genetischen Variabilität unter Nach-
kommen. Drei Ereignisse bei der geschlechtlichen ? Erläutern Sie, welche drei Prozesse, die ausschließlich in der Meiose Teil 3
Fortpflanzung tragen zur genetischen Vielfalt in vorkommen, die genetische Vielfalt erhöhen.

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜB UN GSA U FG AB E N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis 5. Falls wir die Zelllinie von Frage 4 weiter verfolg-
ten, dann würden wir finden, dass der DNA-Gehalt
1. Eine menschliche Zelle mit 22 Autosomen und einer Zelle in der Metaphase der zweiten meioti-
einem Y-Chromosom ist eine schen Teilung
a. Samenzelle (Spermazelle) a. 0,25x
b. Eizelle (Oocyte) b. 0,5x
c. befruchtete Eizelle (Zygote) c. x
d. somatische Zelle eines Mannes d. 2x
beträgt.
2. Homologe Chromosomen wandern in einer sich
teilenden Zelle zu gegenüberliegenden Polen wäh- 6. ZEICHENÜBUNG Das folgende Diagramm zeigt eine
rend der Zelle während der Meiose
a. Mitose
b. ersten meiotischen Teilung
c. zweiten meiotischen Teilung
d. Befruchtung
F
Ebene 2: Anwendung und Auswertung H

3. Die zweite meiotische Teilung ähnelt einer Mitose


darin, dass
a. Schwesterchromatiden sich in der Anaphase
trennen
b. sich die DNA vor der Teilung repliziert
c. die Tochterzellen diploid sind a. Beschriften Sie die entsprechenden Strukturen
d. homologe Chromosomen ein Crossing-over in der Zeichnung. Ordnen Sie durch Linien oder
durchführen durch Klammern folgende Begriffe zu: Chromo-
som (geben Sie an, ob repliziert oder nicht-repli-
4. Falls der DNA-Gehalt einer diploiden Zelle in der ziert), Centromer, Kinetochor, Schwesterchroma-
G1-Phase des Zellzyklus x beträgt, dann beläuft tide/n, Nicht-Schwesterchromatiden, homologes
sich der DNA-Gehalt derselben Zelle in der Meta- Chromosomenpaar, Chiasma, Schwesterchroma-
phase der ersten meiotischen Teilung auf tiden-Kohäsion, Allele der F- und H-Gene.
a. 0,25x b. Beschreiben Sie die Ausstattung einer haploi-
b. 0,5x den und einer diploiden Zelle.
c. x c. Identifizieren Sie die Phase, in der sich die ge-
d. 2x zeigte Zelle während der Meiose befindet.

343
13 Meiose und geschlechtliche Fortpflanzung

Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten 10. Skizzieren Sie ein Thema: Informationsweiter-
gabe Die Konstanz des Lebens basiert auf der Ver-
7. Anhand welches Kriteriums lässt sich ablesen, dass erbbarkeit genetischer Informationen in Form der
sich diese Zelle einer Meiose und nicht einer Mi- DNA. Beschreiben Sie in einem kurzen Aufsatz
tose unterzieht? (in 150–200 Worten), wie die Chromosomen sich
während der sexuellen Reproduktion von Tieren
8. Verbindung zur Evolution Zahlreiche Arten ver- verhalten, wie sie die Weitergabe von Merkmalen
mögen sich sowohl ungeschlechtlich zu vermeh- sichern und gleichzeitig eine genetische Vielfalt
ren wie auch geschlechtlich fortzupflanzen. Worin der Nachkommen ermöglichen.
könnte die evolutive Bedeutung des Übergangs
von der ungeschlechtlichen zur geschlechtlichen 11. NUTZEN SIE IHR WISSEN Die sogenannte „Cavendish
Fortpflanzung liegen, die bei manchen Lebensfor- Banane“ ist eine der populärsten Früchte der Welt.
men auftritt, wenn sich die Umweltbedingungen Allerdings ist sie aufgrund einer massiven Pilzin-
verschlechtern? fektion vom Aussterben bedroht (siehe Foto). Diese
Bananensorte ist triploid (3n, also ausgestattet mit
9. Wissenschaftliche Fragestellung Die in Aufgabe drei Chromosomensätzen). Aus diesem Grund
6 dargestellte Schemazeichnung stellt eine Zelle kann sie nur durch Klonierung reproduziert wer-
eines beliebigen Individuums dar, die sich in der den. Erklären Sie mit dem Wissen, das Sie sich
Teil 3 Meiose befindet. Eine in der Vergangenheit durch- über die Meiose in diesem Kapitel angeeignet ha-
geführte Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass ben, warum diese Pflanze sich nicht über Samen
sich ein Gen für „Sommersprossen“ an einem Gen- vermehren kann. Erläutern Sie unter Berücksichti-
ort F, ein weiteres Gen für die Haarfarbe an einem gung der Mechanismen, mit denen eine genetische
Genort H befindet. Beide Genorte befinden sich Vielfalt erzeugt werden kann, weshalb das Fehlen
auf dem gekennzeichneten Modellchromosom der der Möglichkeit einer sexuellen Reproduktion bei
Zeichnung. Das Individuum, aus dem die Zelle dieser Kulturpflanze zu ihrer Anfälligkeit gegen-
entnommen wurde, besitzt für jedes der fraglichen über einer Pilzinfektion beigetragen haben könnte.
Gene unterschiedliche Allele auf den sich entspre-
chenden Genorten der homologen Chromosomen.
Das Individuum ist bezüglich beider Merkmale
heterozygot („Sommersprossen“ und „schwarzhaa-
rig“ auf dem einen der Chromosomen, „keine Som-
mersprossen“ und „blond“ auf dem anderen). Sa-
gen Sie die möglichen Allelkombinationen in den
Gameten dieser Person voraus, die sich durch den
in der Zeichnung angegebenen Meioseverlauf er-
geben können. Zeichnen Sie gegebenenfalls den
weiteren Verlauf der meiotischen Ereignisse auf
und benennen Sie die Allele (F/f für die beiden
Allele am Genort F; H/h am Genort H). Listen Sie
andere denkbare Kombinationen dieser Allele in
den Gameten dieses Individuums auf.

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

344
Mendel und das Genkonzept

14.1 Das wissenschaftliche Vorgehen von Mendel führte zu 14


den Gesetzen der Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
14.2 Die Mendel’sche Vererbung von Merkmalen unterliegt
den Gesetzen der Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

KONZEPTE
14.3 Die Mendel’schen Regeln reichen nicht zur Erklärung aller
Erbgänge aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
14.4 Auch die Vererbung beim Menschen folgt den
Mendel‘schen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

 Abbildung 14.1: Welche Prinzipien der Vererbung entdeckte Gregor


Mendel (1822–1884) bei seinen Kreuzungsversuchen mit Gartenerbsen?
14 Mendel und das Genkonzept

Ein Besuch in Mendels Garten


Die Zuschauer eines Fußballspiels veranschaulichen
die bemerkenswerte Vielfalt und unterschiedlichen
Merkmale der Menschen. So kennen wir eine ganze
Reihe verschiedener vererbter Merkmale, die natürli-
cherweise auftreten. Augen können braun, blau, grün
oder grau sein, Haare kommen in allen Zwischenstufen
von schwarz, braun, blond oder rot vor. Dies sind nur
zwei Beispiele der zahllosen erblichen Unterschiede,
die wir bei Individuen unserer eigenen Art feststellen.
Was sind die genetischen Grundlagen für diese Merk-
male und ihre Weitergabe von Eltern an ihre Nach-
kommen? Gregor Mendel (der dritte von rechts in der hinteren Reihe mit einem
Die im 19. Jahrhundert vorherrschende Erklärung Fuchsienzweig in der Hand) mit den anderen Mönchen seines Klosters.
für Vererbung war die „Verschnitthypothese“. Danach
würde sich das von beiden Eltern beigesteuerte Erbgut
miteinander zu einem „mittleren Zustand“ vermischen, Das wissenschaftliche Vorgehen
Teil 3 ähnlich wie bei der Farbmischung, bei der aus der Über-
lagerung der Farben Blau und Gelb die Farbe Grün ent-
von Mendel führte zu den
steht. Demnach müssten bei einer zufälligen Mischung
der Merkmale in einer Population nach vielen Genera-
Gesetzen der Vererbung
14.1
tionen alle Individuen gleich aussehen. Unsere Erfah-
rung und die genannten Beispiele zeigen aber, dass Mendel klärte die grundlegenden Prinzipien der Ver-
sich die Individuen innerhalb einer Art unterscheiden. erbung bei sorgfältig geplanten Kreuzungen von Garten-
Zudem widersprechen Kreuzungsexperimente mit Tie- erbsen (Pisum sativum) auf. Wenn wir seine wissen-
ren und Pflanzen dieser Voraussage und widerlegen schaftlichen Arbeiten nachzeichnen, werden wir die
so diese Hypothese. Außerdem können andere Phäno- Schlüsselelemente des wissenschaftlichen Prozesses
mene der Vererbung, wie das Wiederauftreten von wiedererkennen, mit denen wir uns in Kapitel 1 bereits
Merkmalen nach Überspringen einer Generation, nicht vertraut gemacht haben.
durch die Verschnitthypothese erklärt werden.
Eine Alternative zum Verschnittmodell ist die Teil-
chenhypothese der Vererbung, die von diskreten Ein- 14.1.1 Mendels quantitativ-experimenteller
heiten der Vererbung – den Genen – ausgeht. Nach Ansatz
diesem Modell vererben Eltern Merkmale in kleinsten,
trennbaren Einheiten, die sich in den Nachkommen Mendel wuchs auf dem Bauernhof seiner Eltern im öst-
nicht verändern. Die Gesamtheit der Gene, über die lichen Teil des damaligen Österreichs auf, der heute zu
ein Lebewesen verfügt, ähnelt daher eher einem Päck- Tschechien gehört. In dieser ländlichen Umgebung
chen Spielkarten als einem Eimer Farbe. So wie Spiel- erhielt er eine grundlegende landwirtschaftliche Aus-
karten können die Gene gemischt und Generation für bildung. Trotz finanzieller und gesundheitlicher Pro-
Generation neu verteilt werden. bleme in seiner Jugend glänzte er am philosophischen
Die heutige Genetik, die diese Vorgänge erklärt, Kolleg in Olmütz durch hervorragende Leistungen.
begann in einem Klostergarten, in dem ein Mönch Da er bereits als kleiner Junge eine schwächliche Kon-
namens Gregor Mendel im 19. Jahrhundert den Gesetz- stitution hatte und für die Übernahme des elterlichen
mäßigkeiten der Vererbung nachspürte und eine Hypo- Bauernhofs ungeeignet schien, trat er im Jahr 1843 mit
these für deren Mechanismus aufstellte. Mendel ent- 21 Jahren in ein Augustinerkloster ein. Mendel wollte
wickelte seine Vererbungstheorie mehrere Jahrzehnte zunächst Lehrer werden, hatte jedoch nicht den dafür
bevor man Chromosomen unter dem Mikroskop sehen notwendigen Abschluss. Er war deshalb nur zeitweise
konnte und ihre Bedeutung erkannte. In diesem Kapi- als Hilfslehrer an einem Gymnasium tätig. Im Jahr
tel werden wir Mendels Garten besuchen und seine 1851 verließ er für zwei Jahre das Kloster, um an der
Experimente nachvollziehen. Dabei werden wir erklä- Universität von Wien Physik und Chemie zu studie-
ren, wie er zur Theorie der Vererbung gelangte. Wir wer- ren. Dort besuchte er auch Veranstaltungen in Biologie
den außerdem Vererbungsmuster untersuchen, die und Paläontologie. Diese Jahre waren für Mendels spä-
komplizierter sind als jene, die Mendel bei seinen Erb- tere Entwicklung zum Wissenschaftler äußerst wichtig.
sen untersuchte. Schließlich werden wir sehen, wie sich Vor allem zwei Personen prägten sein weiteres Den-
das Mendel’sche Modell am Beispiel der Sichelzellen- ken: Einer war der Physiker Christian Doppler (1803–
anämie auf die Vererbung von Merkmalen beim Men- 1853; bekannt geworden durch den „Doppler-Effekt“),
schen anwenden lässt. der ihm den experimentellen Ansatz bei der wissen-

346
14.1 Das wissenschaftliche Vorgehen von Mendel führte zu den Gesetzen der Vererbung

schaftlichen Arbeit vermittelte und auch Mendels stattdessen Merkmale ausgewählt, die verschiedene
mathematische Ausbildung vorantrieb. Der andere war Zwischenstufen zulassen, beispielsweise die Größe
der Botaniker Franz Unger (1800–1870), der Mendels der Samen – hätte er wahrscheinlich die Regeln der
Interesse für die Ursachen der Sortenvielfalt bei Pflan- Vererbung diskreter genetischer Einheiten niemals
zen weckte. Diese beiden Mentoren beeinflussten nach- entdeckt. Darüber hinaus setzte er für seine Versuche
haltig seine späteren Arbeiten mit Gartenerbsen. nur solche Sorten ein, die über viele Generationen
Nach Abschluss seiner Universitätsausbildung und hinweg durch Selbstbestäubung gezüchtet worden
der Rückkehr ins Kloster war Mendel als Hilfslehrer waren und dabei nur Pflanzen einer einzigen Sorte
an einer Schule tätig, an der sich auch mehrere Kolle- hervorgebracht hatten. Er verwendete damit reiner-
gen für die wissenschaftliche Forschung begeisterten. bige Pflanzen: Eine Pflanze mit violetten Blüten ist
Dazu kam, dass einige seiner Mönchsbrüder sich sehr reinerbig, wenn die durch Selbstbestäubung erzeugten
für die Pflanzenzucht interessierten. Mendels Kloster Pflanzen über mehrere Generationen hinweg immer
erwies sich so als fruchtbarer Nährboden für seine wis- nur Pflanzen mit violetten Blüten ergeben.
senschaftlichen Untersuchungen. Um das Jahr 1857 Bei einem typischen Experiment bestäubte Mendel
begann Mendel mit der Züchtung von Erbsen im Garten wechselseitig Pflanzen zweier reinerbiger Erbsen-
des Klosters, um gezielt nach Gesetzmäßigkeiten der sorten mit einem leicht unterscheidbaren Merkmal –
Vererbung von Merkmalen zu suchen. Obgleich die zum Beispiel violettblütige mit weißblütigen Pflanzen
Frage nach der Vererbung schon lange im Zentrum des (Abbildung 14.2). Eine solche Kreuzung von Sorten
Interesses stand, erlaubte ihm sein neuartiges Vorgehen, wird auch Hybridisierung genannt. Die reinerbigen Teil 3
Prinzipien abzuleiten, die anderen Züchtern bis dahin Elternpflanzen werden als Parentalgeneration (P; P-
entgangen waren. Generation) bezeichnet, die unmittelbaren Nachfah-
Ein Grund, warum Mendel vermutlich die Erbse ren einer Kreuzung als erste Filialgeneration (F1; F1-
(Pisum sativum) als Untersuchungsobjekt wählte, war Generation). Nach der Selbstbestäubung bilden die
die Verfügbarkeit zahlreicher Sorten (Varietäten) die- Nachfahren dieser ersten Folgegeneration entspre-
ser Pflanzenart. So kannte man etwa eine Sorte mit chend die F2-Generation (zweite Filialgeneration).
violetten, eine andere mit rein weißen Blüten. Ein erb- Mendel verfolgte die Vererbung von Merkmalen für
liches, über Generationen hinweg immer wieder auftre- gewöhnlich von der P- über die F1- bis mindestens in
tendes Kennzeichen, wie die Blütenfarbe, wird Merk- die F2-Generation. Wenn er seine Beobachtungen auf
mal genannt. Jede Variante eines Merkmals, wie die die F1-Generation beschränkt hätte, wären ihm eben-
violette oder die weiße Farbe der Blüten, ist ein Merk- falls die Grundmuster der Vererbung entgangen.
malszustand. Mendels quantitative Analyse der F2-Pflanzen aus
Andere Vorteile der Erbse sind ihre kurze Genera- Tausenden solcher Kreuzungen ermöglichte ihm die
tionszeit und die große Zahl von Nachkommen, die Ableitung zweier Grundprinzipien der Vererbung, die
aus jeder Befruchtung hervorgehen. Darüber hinaus er das Spaltungsgesetz und das Gesetz der unabhängi-
konnte Mendel die Pflanzen gezielt und kontrolliert gen Verteilung nannte. (Heute spricht man auch von
befruchten. Eine Erbsenblüte enthält sowohl die männ- der 2. und der 3. Mendel’schen Regel. Die 1. Men-
lichen Fortpflanzungsorgane (Staubblätter; Stamina), del’sche Regel besagt, dass die Individuen der F1-Gene-
die Pollenkörner produzieren, als auch einen weib- ration sich im beobachteten Merkmal nicht voneinan-
lichen Fruchtknoten (Stempel). Damit führen Erbsen- der unterscheiden.) Als sorgfältiger Wissenschaftler
pflanzen in der Regel eine Selbstbestäubung durch: überprüfte Mendel die von ihm abgeleiteten Regeln
Pollenkörner einer Pflanze landen auf dem Stempel immer wieder durch neue Kreuzungen und anschlie-
derselben Pflanze, die aus den Pollenkörnern hervor- ßende Selbstbefruchtungen von Pflanzen der zweiten
gehenden Samenzellen wandern in den Fruchtknoten Filial- und noch weiteren Folgegenerationen seiner
ein und befruchten die dort liegenden Eizellen. Um Erbsen.
ausschließlich eine Fremdbestäubung zu gewährleis-
ten, entfernte Mendel die Staubblätter aus den Blüten,
noch bevor diese anfingen, Pollen zu produzieren. 14.1.2 Die Spaltungsregel
Anschließend bestäubte er Blüten dieser Pflanzen mit (Zweite Mendel’sche Regel)
den Pollen einer anderen Sorte (Abbildung 14.2). Die
so bestäubten Pflanzen entwickelten dann die Erbsen- Nach der „Verschnitthypothese“ der biologischen Ver-
samen. Ob er nun eine Selbstbestäubung zuließ oder erbung sollte eine Kreuzung von Erbsenpflanzen mit
eine Fremdbestäubung durchführte – Mendel wusste weißen und solchen mit violetten Blüten in den F1-
damit immer genau, von welchen Eltern die neuen Hybriden blassviolette oder rosafarbene Blüten ergeben
Samen (Erbsen) stammten. – also einen Zwischenzustand der reinerbigen Vertreter
Mendel verfolgte nur die Vererbung von Merkmalen, der P-Generation. Abbildung 14.2 zeigt aber ein völlig
für die es klar unterscheidbare Merkmalszustände gab. anderes Ergebnis: Alle Nachkommen der F1-Genera-
So hatten seine Pflanzen entweder violette oder weiße tion hatten violette Blüten wie die ihrer Elternpflanze
Blüten, dazwischen gab es keine Übergänge. Hätte er (Uniformitätsregel; 1. Mendel’sche Regel). Was ist aber

347
14 Mendel und das Genkonzept

in diesen Hybriden aus dem von den weißblütigen


 Abbildung 14.2: Arbeitstechniken
Pflanzen stammenden Erbgut geworden? Wäre die
genetische Information verlorengegangen, so sollten
Die Kreuzung von Erbsen
aus der Selbstbestäubung der F1-Pflanzen in der F2-
Generation ausschließlich Nachkommen mit violetten Anwendung Durch Kreuzung von reinerbigen
Blüten hervorgehen, da ja nur noch diese Erbanlage Individuen einer Art kann man die Vererbung
vorhanden wäre. Als Mendel die F1-Hybriden mit aus- von Merkmalen untersuchen. In diesem Beispiel
schließlich violetten Blüten einer solchen Selbstbestäu- kreuzte Mendel Erbsen (Pisum sativum), die sich
bung aussetzte und ihre Samen auskeimen ließ, traten in der Blütenfarbe unterschieden.
aber in der F2-Generation plötzlich wieder Pflanzen
mit weißen Blüten auf. Diese Versuche führte er mit Methode
sehr vielen Pflanzen durch und hielt die Ergebnisse
1 Entnahme
genau fest: 705 Pflanzen der F2-Generation hatten vio- von Staub- 2 Übertragung des
lette Blüten, 224 hatten weiße Blüten. Damit betrug blättern aus Pollens von den
violetten Staubblättern
das Verhältnis von Pflanzen mit violetten Blüten zu Blüten weißblütiger
denen mit weißen Blüten etwa 3:1 (705:224 = 3,13; Pflanzen auf die
Abbildung 14.3). Mendel folgerte, dass der vererb- Narben violetter
Blüten
bare Faktor für die weißen Blüten bei den F1-Pflanzen
Teil 3 nicht verschwunden war, sondern nur durch den ent-
sprechenden Faktor für die violetten Blüten verdeckt
wurde. Nach Mendels Terminologie war die violette
Blütenfarbe der dominante Merkmalszustand, die weiße Eltern
(Parental- Staubblätter
Blütenfarbe der rezessive. Das Wiederauftreten weißblü- generation, P) Fruchtknoten
tiger Pflanzen in der F2-Generation bewies, dass der 3 Aus der befruchteten
Erbfaktor für die weißen Blüten durch den gleichzeitig Eizelle kommt es zur
vorliegenden Faktor für die violetten Blüten in den F1- Samenbildung und
zur Umwandlung der
Hybriden weder verdünnt noch zerstört, sondern nur Fruchtblätter zu
verdeckt worden war. einer Schote.
Mendel konnte das gleiche Vererbungsmuster noch 4 Auspflanzen der
bei sechs anderen Merkmalen beobachten, die ebenfalls Erbsen aus der Schote
in zwei verschiedenen Merkmalszuständen vorlagen
(Tabelle 14.1). Kreuzte Mendel zum Beispiel Pflan- Ergebnis Wenn Pollen einer weißblütigen Pflanze
zen mit glatten, runden Erbsensamen mit solchen, die auf eine purpurfarbene Blüte übertragen wird,
runzelige Samen erzeugten, so wiesen alle F1-Hybri- sind die Blüten aller Hybridpflanzen der ersten
den runde Samen auf. Rund mit glatter Oberfläche ist Tochtergeneration (Filialgeneration) purpurfarben.
also der dominante Merkmalszustand für die Form der Das Ergebnis für die reziproke Kreuzung (Pollen
Samenkörner. In der F2-Generation wiesen rund 75 Pro- von Pflanzen mit purpurfarbenen Blüten auf sol-
zent die runde, glatte Form auf, und 25 Prozent zeig- che mit weißen Blüten) war identisch.
ten das runzelige Aussehen. Wieder lag, wie in dem
Beispiel von Abbildung 14.3, ein 3:1-Verhältnis vor. Nachkom- 5 Nachkom-
Sehen wir uns nunmehr an, wie Mendel aus diesen men der men: alle
ersten violett-
Versuchsergebnissen die Spaltungsregel ableiten konnte. Tochter- blütig
Im Folgenden werden wir statt der Begriffe, die Men- generation
del selbst verwendet hat, die heute geläufigen verwen- (Filialgene-
ration, F1)
den (zum Beispiel das Wort „Gen“ statt „Erbfaktor“).

 Abbildung 14.3: Aus der Forschung

Welche Merkmalszustände erscheinen in Er verfolgte die Vererbung von Eigenschaften über


der F2-Generation, wenn sich F1-Hybriden zwei Generationen und kreuzte reinerbig-violett-
selbst bestäuben? blütige Pflanzen mit weißblütigen (Kreuzungen
werden durch das Symbol „ד angezeigt). Die resul-
Experiment Um das Jahr 1860 konzentrierte Gre- tierenden F1-Hybriden konnten sich entweder selbst
gor Mendel sich bei seinen Versuchen im Garten bestäuben oder wurden mit F1-Hybriden rückge-
des Klosters Brünn (das heutige Brno in der Tsche- kreuzt. Die Zahl von Pflanzen der F2-Generation mit
chischen Republik, damals zu Österreich gehörend) verschiedenen Blütenfarben wurde bestimmt.
auf das Merkmal der Blütenfarbe bei Erbsenpflanzen.

348
14.1 Das wissenschaftliche Vorgehen von Mendel führte zu den Gesetzen der Vererbung

Ergebnis In der F2-Generation traten sowohl Pflan-


P-Generation × zen mit violettfarbenen als auch solche mit weißen
(reinerbige Blüten in einem ungefähren Verhältnis von 3:1
Pflanzen) auf.
violette weiße
Blüte Blüte Schlussfolgerung Der „erbliche Faktor“ für das
rezessive Merkmal (weiße Blüte) blieb in der F1-
Generation erhalten. Er ging also nicht verloren,
sondern wurde lediglich durch die Anwesenheit des
F1-Generation
(Hybride) Faktors für die violettfarbenen Blüten (das dominante
Alle Pflanzen haben Merkmal) unterdrückt.
violette Blüten.

Quelle: G. Mendel, Versuche über Pflanzen-Hybriden, Verhandlungen


des naturforschenden Vereins in Brünn 4:3–47 (1866).
F2-Generation

WAS WÄRE, WENN? Welches Zahlenverhältnis wür-


den Sie unter den Nachkommen erwarten, falls Sie
705 Pflanzen 224 Pflanzen zwei violettfarbene Pflanzen der P-Generation mit- Teil 3
haben violette haben
Blüten. weiße Blüten. einander kreuzten? Geben Sie eine Erklärung.

Tabelle 14.1

Mendels Ergebnisse aus F1-Kreuzungen für sieben Merkmale der Erbsenpflanzen.


Merkmal Dominantes × Rezessives F2-Generation Verhältnis
Merkmal Merkmal dominant:rezessiv
Blütenfarbe Violett × Weiß 702:224 3,13:1

Stellung der Blüte an der Sprossachse Seitlich (axial) × Endständig (terminal) 651:207 3,14:1

Farbe der Samen Gelb × Grün 6.022:2.001 3,01:1

Form der Samen Rund × Runzelig 5.474:1.850 2,96:1

Form der Hülse Aufgebläht × Eingeschnürt 882:299 2,95:1

Farbe der Hülse Grün × Gelb 428:152 2,82:1

Wuchshöhe Hoch × Niedrig 787:277 2,84:1

349
14 Mendel und das Genkonzept

Das Mendel’sche Modell diploiden Organismus einen doppelten Chromosomen-


Mendel versuchte nun, das immer wieder beobachtete satz aufweist, wobei jeweils ein Satz von einem der
3:1-Verhältnis der Vererbung bei Nachkommen der Eltern stammt. Ein Genort ist also in einer diploiden
zweiten Filialgeneration (F2-Generation) zu erklären. Zelle zweimal vertreten. Die beiden Allele an einem
Dabei stellte er die drei heute als Mendel’sche Regeln bestimmten Locus können identisch sein, wie dies zum
bezeichneten Gesetze auf: 1. Die Uniformitätsregel, 2. Beispiel bei Mendels Versuchspflanzen der reinerbigen
die Spaltungsregel und 3. die Unabhängigkeitsregel. Wir P-Generation der Fall war. Oder die Allele sind ver-
beschreiben im Folgenden vier überlappende Konzepte, schieden, wie es bei den F1-Hybriden der Fall ist
die ihn schließlich zu seinem Modell der Vererbung (Abbildung 14.4).
führten. Drittens: Falls sich die Allele eines Genortes unter-
Erstens: Alternative Zustandsformen definierter Gene scheiden, bestimmt eines, das dominante Allel, das
sind für die Ausprägung erblicher Merkmale verant- Erscheinungsbild des Organismus. Das andere, rezes-
wortlich. Das Gen für die Blütenfarbe von Erbsenpflan- sive Allel hat keine sichtbaren Auswirkungen. Men-
zen kommt beispielsweise in zwei verschiedenen For- dels Erbsen der F1-Generation hatten violette Blüten,
men vor: Eine davon führt zu einer violetten, die andere weil das Allel für diesen Merkmalszustand dominant
zu einer weißen Blütenfarbe. Solche alternativen Vari- und das Allel für weiße Blüten rezessiv ist (Uniformi-
anten eines Gens heißen Allele (Abbildung 14.4). tätsregel).
Heute können wir dieses Konzept auf die Chromoso- Der vierte und letzte Teil des Mendel’schen Modells
Teil 3 men und die DNA, aus der sie bestehen, beziehen. Wie – die Spaltungsregel (2. Mendel’sche Regel) – besagt,
in Kapitel 13 erwähnt wurde, besteht jedes Gen aus dass die beiden Allele eines Erbmerkmals sich bei der
einer Abfolge von Nucleotiden an einem bestimmten Keimzellbildung (Gametogenese) aufteilen („spalten“)
Genort (Locus) auf einem bestimmten Chromosom. Die und einzeln in verschiedenen Gameten zu liegen kom-
Nucleotidsequenzen der DNA an einem solchen Locus men. Eine Ei- oder Samenzelle enthält daher stets nur
können aber leicht voneinander abweichen, was unter eines der Allele, die in den somatischen Zellen eines
Umständen den Informationsgehalt verändert. Bei diploiden Organismus vorhanden waren. Dieses Ver-
dem Allel für die violetten Blüten und demjenigen für halten spiegelt die Trennung der homologen Chromo-
die weißen Blüten handelt es sich also um zwei mögli- somenpaare während der Meiose wider (siehe Abbil-
che Varianten der Nucleotidfolge an dem Genort für dung 13.7). Daraus folgt, dass bei einem Organismus,
die Blütenfarbe, der sich auf einem der Chromosomen der für ein bestimmtes Merkmal reinerbig ist, in allen
bei Erbsenpflanzen befindet. von ihm gebildeten Keimzellen dasselbe Allel des ent-
Zweitens: Für jedes Merkmal besitzt ein Individuum sprechenden Gens vorhanden ist. Liegen hingegen ver-
zwei Allele, eines von jedem Elternteil. Zu diesem schiedene Allele vor, wie es bei Mendels F1-Hybrid-
Schluss kam Mendel bemerkenswerter Weise, ohne die pflanzen der Fall war, so enthält die Hälfte der Gameten
Bedeutung der Chromosomen zu kennen. Aus dem das dominante, die andere Hälfte dagegen das rezessive
Kapitel 13 wissen Sie, dass jede somatische Zelle eines Allel.

Enzym
C T A A A T C G G T

G A T T T A G C C A
Allel für violette Über verschiedene
DNA mit der Nucleotid- Zwischenschritte wird
Blütenfarbe
sequenz CTAAATCGGT diese DNA-Sequenz in ein
Enzym übersetzt, welches für
die Synthese des lilafarbenen
Paar homologer
Genort für die Blütenfarbe Blütenfarbstoffs verantwortlich
Chromosomen
ist.
Ein intaktes
Allel ist aus-
Allel für reichend für
weiße Von dieser DNA-Sequenz wird die Synthese
Blütenfarbe A T A A A T C G G T kein aktives Enzym gebildet. von genügend
T A T T T A G C C A
lilafarbenen
Blütenfarb-
DNA mit der Nucleotid- stoffen.
sequenz ATAAATCGGT

Abbildung 14.4: Allele sind alternative Formen eines Gens. Eine somatische Zelle enthält zwei Exemplare jedes Chromosoms, die jeweils ein
homologes Chromosomenpaar darstellen. Die Zellen besitzen somit zwei Allele jedes Gens, die gleich oder unterschiedlich sein können. Die Schema-
zeichnung in unserem Beispiel zeigt ein Paar homologer Chromosomen einer hypothetischen F1-Hybride einer Erbsenpflanze. Das Chromosom mit dem
Allel für die violette Blütenfarbe stammt von der einen Elternpflanze. Das dort lokalisierte Gen codiert ein Enzym, das für die Synthese des violetten Blü-
tenfarbstoffes gebraucht wird. Das andere Allel für die weißen Blüten, welches von der anderen Elternpflanze stammt, ist defekt und codiert daher nicht
für ein funktionsfähiges Enzym zur Synthese des Blütenfarbstoffes.

350
14.1 Das wissenschaftliche Vorgehen von Mendel führte zu den Gesetzen der Vererbung

Jede reinerbige Pflanze der Parentalgeneration


besitzt zwei identische Allele, PP oder pp. P-Generation
×

Phänotyp violette weiße


(sichtbares Merkmal): Blüten Blüten

Die Gameten (durch Kreise symbolisiert) enthalten Genotyp PP pp


jeweils nur ein Allel des Gens für die Blütenfarbe. (Allelkombination):
In diesem Fall enthalten alle Gameten einer Eltern- Gameten: P p
pflanze dasselbe Allel.

Die Vereinigung elterlicher Gameten führt zu


F1-Hybriden, die die Allelausstattung Pp aufweisen.
Da das Allel für die violette Blütenfarbe dominant F1-Generation
ist, weisen die Hybridpflanzen ausnahmslos violette
Blüten auf.
Phänotyp (sichtbares Merkmal): violette Blüten
Wenn die Hybridpflanzen Gameten erzeugen, Genotyp (Allelkombination): Pp
trennen sich die beiden Allele. Die Hälfte der
Keimzellen erhält das Allel P, die andere Hälfte Gameten: ½ P ½ p Teil 3
das Allel p.

Dieses Schema wird als Punnett-Quadrat bezeichnet. Samenzellen einer


Es zeigt alle möglichen Allelkombinationen der F1-(Pp)-Pflanze
Nachkommen einer F1 x F1-Kreuzung (Pp x Pp-Kreu-
zung). Jedes Quadrat stellt ein gleich wahrschein- F2-Generation P p
liches Produkt der Befruchtung dar. So zeigt etwa
das Kästchen unten links die genetische Kombina-
tion, die sich bei der Befruchtung einer p -Eizelle P
mit einer P -Samenzelle ergibt. PP Pp
Eizellen einer
F1-(Pp)-Pflanze
p
Pp pp
Die zufällige Kombination der Gameten führt
zu der 3:1-Verteilung, die Mendel in der
F2-Generation beobachten konnte. 3 :1

Abbildung 14.5: Mendels Spaltungsregel (2. Mendel’sche Regel). Die Abbildung zeigt die genetische Zusammensetzung der Generationen von
Abbildung 14.3. Sie illustriert Mendels Vererbungsmodell für Allele eines einzelnen Gens. Jede Pflanze verfügt über zwei Allele für die genetisch bedingte
Blütenfarbe, wobei jeweils ein Allel von jedem Elternteil stammt. Um ein Punnett-Quadrat zu erstellen, trägt man die möglichen Gameten eines Eltern-
teils (in diesem Fall der weiblichen Keimzellen) an der linken Seite des Quadrates auf, alle denkbaren Gameten des anderen Geschlechts (in diesem Fall
der männlichen) entlang der Querachse am oberen Rand. In die Kästchen werden die Nachkommen eingetragen, die aus den verschiedenen Kombinati-
onen weiblicher und männlicher Keimzellen hervorgehen können.

Tatsächlich bestätigt die Spaltungsregel das 3:1-Verhält- men aus einer Kreuzung lassen sich anschaulich mit-
nis, das Mendel bei seinen Kreuzungen unter den Pflan- hilfe eines Punnett-Quadrates darstellen (Abbildung
zen der F2-Generation beobachtet hat. Für das Merkmal 14.5). Dominante Allele werden normalerweise durch
der Blütenfarbe sagt das Modell voraus, dass die beiden Großbuchstaben wiedergegeben, rezessive durch Klein-
in den F1-Hybridpflanzen vorliegenden Allele sich bei buchstaben. P (lat. purpur(a)) bezeichnet also das Allel
der Bildung der Keimzellen aufteilen. Eine Hälfte der für violette, p das für weiße Blüten.
Keimzellen wird das Allel für violette Blüten, die Aus den Allelkombinationen lässt sich nun wieder
andere Hälfte jenes für weiße Blüten enthalten. Bei der das Aussehen der F2-Pflanzen voraussagen: Ein Viertel
Selbstbestäubung kommt es zur zufälligen Vereinigung der Pflanzen hat zwei Kopien des P-Allels geerbt; diese
von Gameten mit beiden Allelen. Eine Eizelle kann bei- Pflanzen werden also violette Blüten haben. Die Hälfte
spielsweise das Allel für violette Blüten enthalten. Für der Pflanzen der F2-Generation hat ein P- und ein p-
sie besteht die gleiche Chance, von einer Samenzelle Allel geerbt. Diese heterozygoten Pflanzen werden auf-
befruchtet zu werden, die ebenfalls das Allel für violette grund der Dominanz des P-Allels ebenfalls violette Blü-
Blüten trägt, wie von einer, die das Allel für weiße Blü- ten haben. Das letzte Viertel schließlich hat zwei Kopien
ten enthält. Gleiches gilt bei der Erbse für Eizellen, die des p-Allels und wird daher weiße Blüten hervorbrin-
das Allel für weiße Blüten tragen. Es gibt also vier gleich gen, also das rezessive Merkmal ausprägen. Mendels
wahrscheinliche Kombinationen von Ei- und Samenzel- Vererbungsmodell sagt damit richtig das in der F2-Gene-
len. Die möglichen Allelkombinationen von Nachkom- ration beobachtete Verhältnis von 3:1 voraus.

351
14 Mendel und das Genkonzept

Genetische Begriffe Da sowohl dominante als auch rezessive Allele exis-


Ein diploider Organismus, der zwei identische Allele tieren, kann man aus den sichtbaren Merkmalen nicht
für ein Merkmal besitzt, wird als homozygot oder rei- immer die Zusammensetzung der Allele ableiten, das
nerbig für das Gen bezeichnet, welches das entspre- heißt die Kombination der Gene eines Individuums.
chende Merkmal hervorruft. In der Parentalgeneration Wir unterscheiden daher in der Genetik zwischen
von Abbildung 14.5 ist die Erbsenpflanze mit den vio- dem äußerlichen Erscheinungsbild, dem Phänotyp,
letten Blüten homozygot bezüglich des dominanten und der zugrunde liegenden genetischen Konstitution,
Allels P (sie hat den Genotyp PP). Die Pflanze mit den dem Genotyp. Im Fall der Blütenfarbe unserer Erbsen-
weißen Blüten ist homozygot für das rezessive p-Allel pflanzen haben die Pflanzen der verschiedenen Geno-
(ihr Genotyp ist pp). Homozygote Pflanzen sind rein- typen PP und Pp denselben Phänotyp, nämlich vio-
erbig, weil ihre Gameten immer dasselbe Allel tragen lette Blüten. Die in diesem Abschnitt erläuterten
– in unserem Beispiel entweder P oder p. Kreuzt man Begriffe sind nochmals in Abbildung 14.6 zusammen-
homozygot dominante mit homozygot rezessiven Exem- gefasst. Der Begriff des Phänotyps wird auf nicht direkt
plaren, weisen alle Nachkommen der ersten Filialge- sichtbare physiologische Merkmale ebenso angewandt
neration ein Allelgemisch auf, in unserem Beispiel Pp wie auf die bisher beschriebenen Beispiele direkt sicht-
für die Blütenfarbe (Abbildung 14.5). Die Pflanzen sind barer, morphologischer Unterschiede. So kennt man
bezüglich dieses Gens oder Merkmals heterozygot etwa Erbsensorten, die sich nicht selbst bestäuben
(mischerbig). Heterozygote Organismen sind nicht rein- können. Auch diese physiologische Abweichung ist
Teil 3 erbig, weil sie unterschiedliche Allele eines Gens ent- ein phänotypisches Merkmal.
halten und somit Keimzellen mit dem einen oder
anderen Allel bilden können. Die F1-Hybridpflanzen Die Rückkreuzung
von Abbildung 14.5 können sowohl Gameten mit dem Aus dem bisher Gelernten könnten wir bei einer Pflanze
P- als auch solche mit dem p-Allel erzeugen. Folglich unbekannten Genotyps mit violetten Blüten nicht
entstehen aus der Selbstbestäubung solcher Pflanzen sagen, ob sie reinerbig (PP) oder mischerbig (Pp) für die
dann sowohl Nachkommen mit violetten, als auch sol- Blütenfarbe ist. Der Phänotyp äußert sich ja bei beiden
che mit weißen Blüten. in violetten Blüten. Um den Genotyp zu ermitteln,
kreuzen wir diese Pflanze mit einer Erbsenpflanze mit
weißen Blüten, von der wir wissen, dass sie reinerbig
Phänotyp Genotyp ist, also den Genotyp pp besitzen muss, da nur dieser
weiße Blüten hervorbringt. Diese Pflanze bildet daher
violett PP 1 ausschließlich Gameten, die das rezessive Allel p ent-
(homozygot) halten. Das von den Gameten der genetisch nicht cha-
rakterisierten Pflanze beigesteuerte Allel wird daher
über die Blütenfarbe der Nachkommen entscheiden
3 violett Pp (Abbildung 14.7). Falls die Blüten aller Nachkommen
(heterozygot) (F1-Pflanzen) dieser Rückkreuzung violett sind, muss
2 unsere Pflanze homozygot für das dominante Allel
P sein, also den Genotyp PP besitzen: Die Kreuzung
violett Pp
(heterozygot) PP × pp kann nur Nachkommen des Genotyps Pp her-
vorbringen (heterozygot mit violetten Blüten). Gibt es
bei den Nachkommen dagegen sowohl Pflanzen mit
weißen als auch solche mit violetten Blüten, dann muss
weiß pp
1
(homozygot) 1 unsere Pflanze selbst heterozygot (mischerbig) gewesen
sein. Die Nachkommen der Kreuzung Pp × pp werden
jeweils zur Hälfte weiße oder violette Blüten hervor-
Verhältnis 3:1 Verhältnis 1:2:1 bringen, also eine 1:1-Aufspaltung für den Phänotyp
Abbildung 14.6: Phänotyp und Genotyp. Eine Einteilung der Nach- zeigen. Die Kreuzung eines Individuums unbekannten
kommen aus einer Pflanzenkreuzung nach dem Phänotyp der Blütenfarbe Genotyps mit einem rezessiv-homozygoten Individuum
ergibt eine typische 3:1-Verteilung (Spaltung). Bei den Genotypen ergibt derselben Art wird als Rückkreuzung bezeichnet. Mit
sich dagegen ein Verhältnis von 1:2:1, wobei sich die Pflanzen mit violet- ihrer Hilfe kann der Genotyp des zu prüfenden Indi-
ten Blüten in zwei Gruppen unterteilen: homozygote Exemplare des Geno- viduums ermittelt werden. Die Rückkreuzung wurde
typs PP und heterozygote Exemplare des Genotyps Pp . Letztere stellen die bereits von Mendel entwickelt und ist bis heute eine
Hälfte der Nachkommen. wichtige Methode der Genetik.

352
14.1 Das wissenschaftliche Vorgehen von Mendel führte zu den Gesetzen der Vererbung

14.1.3 Die Unabhängigkeitsregel


 Abbildung 14.7: Arbeitstechniken
(Dritte Mendel’sche Regel)
Die Rückkreuzung
Mendel leitete seine Spaltungsregel aus Experimenten
Anwendung Ein Organismus, der ein phänoty- ab, bei denen er stets nur ein einziges Merkmal verfolgte,
pisch dominantes Merkmal wie die violette Farbe wie etwa die Blütenfarbe. Alle aus diesen Kreuzungen
der Blüten bei Erbsen zeigt, kann entweder homo- reinerbiger Elternpflanzen hervorgehenden Nachkom-
zygot oder heterozygot für das dominante Allel men der ersten Tochtergeneration (F1-Pflanzen) waren
sein. Um den Genotyp des betreffenden Individu- monohybrid. Das bedeutet, dass sie bezüglich eines
ums zu ermitteln, führt der Genetiker eine Rück- einzelnen Merkmals heterozygot waren. Man spricht
kreuzung durch. daher bei der Kreuzung derartiger Heterozygoter auch
Methode Bei einer Rückkreuzung wird ein Indivi- von einer Monohybrid-Kreuzung (Einfaktor-Kreuzung).
duum mit unbekanntem Genotyp mit einem Mendel gelangte zur Unabhängigkeitsregel, als er der
homozygoten Individuum gekreuzt, das das rezes- Frage der gleichzeitigen Vererbung von zwei Merkma-
sive Merkmal besitzt (in diesem Beispiel weiße len nachging – zum Beispiel Farbe und Form der Erb-
Blüten). Um die möglichen Verläufe darzustellen, sen. Die Samen der Erbsenpflanze können grün oder
werden Punnett-Quadrate erstellt. gelb sein. Sie können außerdem glattrandig oder run-
zelig sein. Aus seinen Einfaktor-Kreuzungen wusste
Mendel, dass das Allel für gelbe Erbsen (Y; von yellow) Teil 3
× dominant über das für grüne ist (y). Bezüglich der Form
dominanter Phänotyp, rezessiver Phänotyp, der Erbsen fand er, dass rund (R) dominant über runze-
unbekannter Genotyp: bekannter Genotyp: lig (r) ist.
PP oder Pp? pp Stellen wir uns nun eine Kreuzung von zwei reiner-
bigen Erbsensorten vor, die sich in diesen beiden
Vorhersage Merkmalen unterscheiden, beispielsweise die Kreu-
falls die violettblütige falls die violettblütige zung einer Pflanze mit gelben, runden Erbsen (YYRR)
Elternpflanze PP ist Elternpflanze Pp ist
mit einer Pflanze, die grüne, runzelige Erbsen hat (yyrr).
Samenzelle Samenzelle
Die F1-Pflanzen sind dann dihybrid, also heterozygot
p p p p
bezüglich beider Merkmale. Sie besitzen den Genotyp
YyRr. Werden nun diese beiden Merkmale von den
P P
Pp Pp Pp Pp Elternpflanzen zusammen weitergegeben oder erfolgt
Eizellen Eizellen
die Vererbung einzeln und unabhängig voneinander?
P p Anders ausgedrückt lässt sich fragen, ob die Allele R
Pp Pp pp pp
und Y über Generationen hinweg zusammenbleiben und
gemeinsam vererbt werden oder nicht. In Abbildung
Ergebnis Ein Vergleich der erzielten Ergebnisse 14.8 ist der mögliche Verlauf einer solchen Zweifaktor-
aus dem Experiment mit den theoretischen Vor- Kreuzung dargestellt. Mit ihrer Hilfe lässt sich überprü-
aussagen erlaubt die Bestimmung des unbekann- fen, welche der Hypothesen zutrifft.
ten Parentalgenotyps (in unserem Beispiel ent- Unabhängig davon, welche der genannten Hypothe-
weder PP oder Pp). Bei dieser Rückkreuzung wurde sen auf die Vererbung zutrifft, haben die Pflanzen der
Pollen einer weißblütigen Pflanze auf den Stempel F1-Generation den Genotyp YyRr. Sie bilden also ent-
einer violettblütigen Pflanze übertragen; die rezi- sprechend der Uniformitätsregel gelbe, runde Erbsen.
proke Kreuzung (mit vertauschten Phänotypen) Der entscheidende Schritt besteht in der Selbstbestäu-
hätte zum gleichen Ergebnis geführt. bung der F1-Pflanzen und der Analyse der Nachkom-
men der zweiten Filialgeneration. Würden die Hybrid-
pflanzen der F1-Generation ihre von den Eltern
oder erhaltenen Allele nur in der ursprünglichen Kombina-
tion weitergeben, so könnten sie nur zwei Sorten von
sämtliche Nachkommen 50% der Nachkommen
violett violett Gameten erzeugen: YR und yr. Bei einer solchen
und „abhängigen Verteilung“ ergäbe sich ein Verhältnis der
50% der Nachkommen weiß Phänotypen in der F2-Generation von 3:1 – also das
gleiche wie bei einer Einfaktor-Kreuzung (Abbildung
14.8, linke Seite).

353
14 Mendel und das Genkonzept

Die beiden Allelpaare (Yy und Rr)


 Abbildung 14.8: Aus der Forschung könnten in der Meiose aber auch
unabhängig voneinander verteilt
Werden die Allele für ein Merkmal unabhängig oder abhängig von werden. In den Gameten könnten
den Allelen eines anderen Merkmals auf die Gameten verteilt? die Erbanlagen dann in allen mög-
Experiment Gregor Mendel verfolgte die Merkmale der Farbe und Form lichen Allelkombinationen vorlie-
von Samenkörnern (Erbsen) bis in die F2-Generation. Dazu kreuzte er gen. Jede Keimzelle muss natür-
reinerbige Pflanzen mit gelben, runden Erbsen mit reinerbigen Pflanzen lich genau ein Allel des jeweiligen
mit grünen, runzeligen Erbsen. Er erhielt dihybride F1-Pflanzen. Gens am entsprechenden Locus
Selbstbestäubungen der F1-Dihybriden führten zur F2-Generation. Die erhalten. In unserem Beispiel wür-
beiden Hypothesen (abhängige beziehungsweise unabhängige Vertei- den die F1-Pflanzen dann vier
lung) sagen unterschiedliche Zahlen für das Verhältnis der Phänotypen Sorten von Gameten in gleichen
voraus (links bzw. rechts dargestellt). Mengen hervorbringen, und zwar
mit den Genotypen YR, Yr, yR
Ergebnis und yr. Aus der Selbstbestäubung
von Pflanzen mit solchen Game-
YYRR yyrr
ten ergeben sich 4 × 4 = 16 mög-
P-Generation
liche Kombinationen der Allele
Gameten YR × yr
Teil 3 in der F2-Generation, die alle mit
gleicher Wahrscheinlichkeit auf-
F1-Generation YyRr treten würden (Abbildung 14.8,
rechte Seite). Die daraus abgeleite-
Vorhersagen
Hypothese der ab- Hypothese der un-
ten Phänotypen lassen sich in vier
hängigen Verteilung abhängigen Verteilung Gruppen unterteilen, die im Ver-
vorausgesagte
hältnis 9:3:3:1 auftreten (9 gelb/
oder Samenzelle
Nachkommen der rund, 3 grün/rund, 3 gelb/runzelig,
F2-Generation 1 YR 1 Yr 1 yR 1 yr 1 grün/runzelig). Als Mendel das
Ei- 4 4 4 4
zellen Experiment durchführte und die
1 YR
4 Nachkommen der F2-Generation
YYRR YYRr YyRR YyRr
Samenzelle klassifizierte, lagen die von ihm
1
Ei- 1 2 YR 1
2 yr 4 Yr erhaltenen Zahlen nahe dieser ide-
YYRr YYrr YyRr Yyrr
zellen alen Werte, die eine unabhängige
1
1
2
YR 4 yR Verteilung der Allele bei der Bil-
YYRR YyRr YyRR YyRr yyRR yyRr
dung der Gameten vorhersagen.
1
1
2 yr 4 yr Die Gene für die Farbe und die
YyRr yyrr YyRr Yyrr yyRr yyrr
Form der Erbsen werden also un-
3 1 9 3 3 1
4 4 16 16 16 16 abhängig voneinander auf die
Verhältnis der Verhältnis der Keimzellen verteilt. Nach den in
Phänotypen: 3:1 Phänotypen: 9:3:3:1 Kapitel 13 ausgeführten Mechanis-
Ergebnis Verhältnis der men der Chromosomenverteilung
Phänotypen: bei der Bildung von Keimzellen,
315 108 101 32 ungefähr 9:3:3:1
könnten die Gene für die Erbsen-
farbe und die Erbsenform also auf
Schlussfolgerung Nur die Hypothese der unabhängigen Verteilung sagt verschiedenen Chromosomen lie-
das Auftreten der beiden im Experiment beobachteten Phänotypen rich- gen. (Diese einfache Erklärung gilt
tig voraus – beispielsweise die Zahl grüner, runder und gelber, runzeli- nur in erster Näherung. Sie wird
ger Erbsen – (siehe Punnett-Quadrat rechts). Die Allele für die Farbe und durch die Tatsache kompliziert,
die für die Form der Erbsen werden also unabhängig voneinander auf dass sehr weit voneinander ent-
die Gameten verteilt. fernte Gene auf einem Chromosom
durch „Crossing-over“ scheinbar
Quelle: G. Mendel, Versuche über Pflanzen-Hybriden, Verhandlungen des naturforschenden
unabhängig voneinander verteilt
Vereins in Brünn 4:3–47 (1866).
werden können. In unserer einfa-
chen Analyse würden wir dann
WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich vor, Mendel hätte Pollen einer F1-
fälschlicherweise von verschiede-
Pflanze auf die Narben einer Pflanze übertragen, die rezessiv für beide
nen Chromosomen sprechen.)
Merkmale ist. Zeigen Sie den Weg der Kreuzung auf und zeichnen Sie
Mendel untersuchte bei seinen
Punnett-Quadrate für die Nachkommenschaft, die für beide Hypothe-
Zweifaktor-Kreuzungen sieben
sen zu erwarten wäre. Würde auch diese Kreuzung die Hypothese der
Merkmale von Erbsen in verschie-
unabhängigen Allelverteilung überzeugend bestätigen, wenn die expe-
denen Kombinationen und gelangte
rimentellen Ergebnisse mit den von Ihnen gemachten Aussagen über-
bei den F2-Pflanzen immer wieder
einstimmen würden?
zu der 9:3:3:1-Aufspaltung der Phä-

354
14.2 Die Mendel’sche Vererbung von Merkmalen unterliegt den Gesetzen der Statistik

notypen. Aus Abbildung 14.8 geht hervor, dass jedes Die Mendel’sche Vererbung
der beiden Merkmale für sich betrachtet zu einer 3:1-
Aufspaltung führt: 3 gelb : 1 grün beziehungsweise
von Merkmalen unterliegt
3 rund : 1 runzelig. Soweit es die Einzelmerkmale be-
trifft, bestätigen sie also die Spaltungsregel (2. Men-
den Gesetzen der Statistik
14.2
del’sche Regel). Aus Mendels Ergebnissen seiner Zwei-
faktor-Kreuzungen ergibt sich die 3. Mendel’sche Regel Sowohl die von Mendel aufgestellte Spaltungs- als
oder Unabhängigkeitsregel. Sie besagt, dass bei der Ga- auch die Unabhängigkeitsregel beruhen auf den Geset-
metenbildung jedes Allelpaar unabhängig von anderen zen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die auch auf das
Allelpaaren verteilt wird. Werfen einer Münze zutreffen. Die Wahrscheinlichkeit
Diese Regel gilt für Gene, die auf unterschiedlichen kann zwischen Null (tritt sicher nicht ein) und Eins
Chromosomen liegen. Gene, die auf demselben Chro- (tritt ganz sicher ein) liegen. Ein Ereignis, dessen Ein-
mosom nebeneinander liegen, werden in der Regel tritt unvermeidlich ist, hat eine Wahrscheinlichkeit
auch zusammen vererbt. Man bezeichnet sie dann als von 1 (p = 1) oder – was dasselbe ist – 100 Prozent.
gekoppelt. Ihre Vererbung ist oft komplexer, als es von Eine Wahrscheinlichkeit von 0 (= 0 Prozent) bedeutet,
der Unabhängigkeitsregel vorhergesagt wurde (siehe dass das betreffende Ereignis mit absoluter Sicherheit
hierzu Kapitel 15). Tatsächlich verhielten sich alle nicht eintreten wird. Beim Werfen einer Münze treffen
Merkmale, die Mendel an seinen Erbsen untersucht Sie mit einer Wahrscheinlichkeit von nahezu 1 „Kopf“
hatte, wie ungekoppelte Gene (d.h. sie lagen entweder oder „Zahl“, da die Münze auf einer der Seiten zu lie- Teil 3
auf verschiedenen Chromosomen oder waren auf dem gen kommen wird. Dass sie zufällig auf dem Rand ste-
gleichen Chromosom sehr weit voneinander entfernt). hen bleibt oder gänzlich verschwindet, ist nicht anzu-
Nur so waren die Auswertung seiner multifaktoriellen nehmen, aber eben auch nicht völlig auszuschließen.
Kreuzungen und die Erstellung der Regeln für die Ver- Die Wahrscheinlichkeit für Kopf wie für Zahl beträgt
erbung erst möglich. Alle weiteren Beispiele, auf die praktisch also jeweils 50 Prozent (= 0,5). Die Summe
wir im Verlauf dieses Kapitels noch eingehen werden, der Wahrscheinlichkeiten aller möglichen Ausgänge
beziehen sich ebenfalls auf Gene, die auf unterschied- eines Ereignisses ist immer 1.
lichen Chromosomen liegen. Das Werfen einer Münze ist das Musterbeispiel für
einen Zufallsprozess und führt uns eine wesentliche
Eigenschaft statistischer Ereignisse vor Augen: Für jeden
 Wiederholungsfragen 14.1 einzelnen Wurf ist die Wahrscheinlichkeit für das Ereig-
nis „Zahl“ gleich 0,5. Das Ergebnis jedes einzelnen Wurfs
1. ZEICHENÜBUNG Eine für das Merkmal „breite wird nicht von den Ergebnissen aller vorhergegangenen
Hülsen“ heterozygote Erbsenpflanze (Ii) wird Ereignisse beeinflusst; es handelt sich also um unabhän-
mit einer anderen gekreuzt, die homozygot für gige Vorgänge. Jeder Wurf einer Münze – egal, ob man
„schmale Hülsen“ ist (ii). Zeichnen Sie ein dieselbe Münze mehrmals hintereinander oder mehrere
Punnett-Quadrat für diese Kreuzung. Nehmen Münzen gleichzeitig wirft – ist ein unabhängiges Ereig-
Sie dabei an, dass der Pollen von der Pflanze nis. In ähnlicher Weise werden die Chromosomen, die
mit dem Genotyp ii stammt. unterschiedliche Allele eines Gens tragen können, unab-
hängig von den Allelen anderer Chromosomen auf die
2. ZEICHENÜBUNG Erbsen, die heterozygot bezüg- Keimzellen verteilt (Mendels Unabhängigkeitsregel).
lich der Blütenstellung und der Sprosslänge
sind (AaTt), werden einer Selbstbestäubung
unterzogen. 400 der sich daraus ergebenden 14.2.1 Die Anwendung von Multiplikations-
Samen (Erbsen) werden ausgepflanzt. Zeich- und Additionsregel auf Einfaktor-
nen Sie ein Punnett-Quadrat für diese Kreu- Kreuzungen
zung. Wie viele der zu erwartenden Nachkom-
men sollten endständige Blüten aufweisen und Wie ermittelt man die Wahrscheinlichkeit dafür, dass
zwergwüchsig sein (siehe Tabelle 14.1)? zwei oder mehr voneinander unabhängige Ereignisse in
einem bestimmten Verhältnis zueinander eintreten?
3. WAS WÄRE, WENN? Erstellen Sie eine Liste der Wie groß ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit,
unterschiedlichen Gameten, die eine Pflanze dass zwei gleichzeitig hochgeworfene Münzen beide mit
bilden kann, die heterozygot für Farbe und der Kopfseite nach oben zu liegen kommen? Die Multi-
Form der Samenkörner sowie für die Form plikationsregel besagt, dass man die Gesamtwahrschein-
der Fruchthülsen ist (Genotyp: YyRrIi; Tabelle lichkeit erhält, wenn man die Einzelwahrscheinlichkei-
14.1). Wie groß wäre das Punnett-Quadrat, das ten multipliziert: p1 × p2 = pg. Unter Anwendung dieser
notwendig wäre, um die Nachkommen einer einfachen Regel erhalten wir als Gesamtwahrscheinlich-
Selbstbestäubung dieser Dreifachhybride dar- keit (pg), dass beide Münzen mit derselben Seite nach
zustellen? oben zeigen, das Produkt 0,5 × 0,5 = 0,25 (½ × ½ = ¼).

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

355
14 Mendel und das Genkonzept

Die gleiche Logik kann man auf eine F1-Einfaktor-Kreu- der Samenzelle vorliegen kann. Gleiches gilt für die
zung anwenden. Nehmen wir die Form der Erbsen als rezessiven Allele. Um den heterozygoten Genotyp Rr
Merkmal, so ist der Genotyp der F1-Hybridpflanzen Rr hervorzubringen, können die Gameten der F1-Genera-
(die Allelbezeichnungen sind weiter oben erklärt). Die tion also auf zwei unterschiedliche Weisen verschmel-
Verteilung der Allele eines heterozygot-diploiden zen: Das dominante sowie das rezessive Allel können
Genoms gleicht dem Werfen einer Münze: zwei Aus- jeweils von der Ei- oder von der Samenzelle beigesteu-
gänge sind möglich und einer davon muss zwangsläu- ert werden. Gemäß der Additionsregel ergibt sich die
fig eintreten. Jede Keimzelle hat somit eine 50-prozen- Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis ein-
tige Wahrscheinlichkeit, das Allel R oder das Allel r zu tritt, wenn sich die Einzelereignisse wechselseitig aus-
bekommen. Damit eine Pflanze der zweiten Filialgene- schließen, aus der Summe der Einzelwahrscheinlich-
ration (F2) runzelige Erbsen aufweist, muss sowohl in keiten. Die eben angewandte Multiplikationsregel gibt
der Ei- wie auch in der Samenzelle das rezessive Allel r uns die Einzelwahrscheinlichkeiten, die wir nun noch
vorliegen. Der Genotyp der Pflanze bezüglich dieses addieren müssen. Die Wahrscheinlichkeit für das Ent-
Genortes muss also rr sein. Die Wahrscheinlichkeit stehen einer heterozygoten F2-Pflanze beträgt, wie wir
dafür, dass sich zwei Kopien des r-Allels in einer Zygote selbst berechnet haben, 0,25 (¼ oder 25 Prozent). Dabei
wiederfinden, beträgt 0,5 × 0,5 = 0,25 (½ × ½ = ¼). kann das dominante Allel von der Eizelle stammen,
Diese einfache Anwendung der Multiplikationsregel sagt während das rezessive von der Samenzelle stammt.
also voraus, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Die Wahrscheinlichkeit für den umgekehrten Verlauf –
Teil 3 F2-Pflanze runzelige Samen hat, 0,25 (= 25 Prozent) dominantes Allel in der Samenzelle, rezessives Allel
beträgt. Jede vierte Erbsenpflanze sollte daher runzelige in der Eizelle – ist natürlich ebenso groß: ¼ oder 0,25
Erbsen produzieren (Abbildung 14.9). Entsprechend (Abbildung 14.9). Mithilfe der Additionsregel ist die
beträgt die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der heterozygo-
homozygot dominanten Genotyps (RR) in F2-Pflanzen ten Allele in Pflanzen der zweiten Filialgeneration
ebenfalls ¼ oder 25 Prozent. 0,25 + 0,25 = 0,5 (25 Prozent + 25 Prozent = 50 Pro-
zent).
Rr × Rr
Verteilung (Segregation) Verteilung von 14.2.2 Die Lösung komplexer genetischer
von Allelen in Eizellen Allelen in Samenzellen
Probleme mit den Regeln der
Wahrscheinlichkeitsrechnung
Samenzellen Wir können die Wahrscheinlichkeitsrechnung auch zur
Vorhersage von Mehrfaktorkreuzungen einsetzen. Die
½ R ½ r 2. Mendel’sche Regel (unabhängige Verteilung der Merk-
malsträger) hat uns gelehrt, dass bei der Bildung der
Keimzellen die Allele auf unterschiedlichen homologen
R R Chromosomenpaaren unabhängig voneinander verteilt
½ R R r werden. Eine dihybride (oder noch höhere) Mehrfaktor-
kreuzung entspricht also genetisch mehreren gleich-
¼ ¼ zeitig ablaufenden Einfaktor-Kreuzungen. Durch die
Eizellen
Anwendung dessen, was wir über solche Kreuzungen
r r gelernt haben, können wir die Wahrscheinlichkeiten für
½ r R r das Auftreten bestimmter Genotypen in der F2-Genera-
tion berechnen, ohne auf Punnett-Quadrate zurückgrei-
¼ ¼ fen zu müssen, die bei zahlreichen Faktoren schon recht
unübersichtlich werden.
Betrachten wir hierzu die Zweifaktor-Kreuzung der
Abbildung 14.9: Die Verteilung von Allelen und die Befruchtung YyRr-Heterozygoten von Abbildung 14.8 und dabei
als Zufallsereignisse. Wenn eine heterozygote Pflanze (Rr ) Gameten bil- zunächst die Farbe der Erbsen. Bei einer Einfaktor-
det, werden die Allele R und r bzw. die sie tragenden Chromosomen rein Kreuzung von Yy-Pflanzen sind die Wahrscheinlich-
zufällig verteilt. Die Wahrscheinlichkeit für das Zustandekommen eines
keiten der verschiedenen Genotypen unter den Nach-
bestimmten Genotyps unter den Nachkommen von Heterozygoten lässt sich
kommen 25 Prozent für YY, 50 Prozent für Yy und
durch Multiplikation der Einzelwahrscheinlichkeiten für das Vorliegen des
einen oder des anderen Allels (in diesem Beispiel R oder r ) in den Ei- und 25 Prozent für yy. Die gleichen Werte ergeben sich bei
Samenzellen berechnen. der Form der Erbsen: 25 Prozent RR, 50 Prozent Rr
und 25 Prozent rr. Mit der Multiplikationsregel lassen
sich nun einfach die Wahrscheinlichkeiten für die
Um die Wahrscheinlichkeit dafür zu berechnen, dass Genotypen in der F2-Generation berechnen. So beträgt
eine aus einer Einfaktor-Kreuzung hervorgehende F2- beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, dass eine
Pflanze heterozygot sein wird, bringen wir die zweite F2-Pflanze den Genotyp YYRR aufweist, 0,25 × 0,25 =
Regel zur Anwendung. Abbildung 14.9 hat uns gezeigt, 0,0625 (¼ × ¼ = 1/16). Dies entspricht dem Kästchen
dass das dominante Allel sowohl in der Ei- als auch in oben links im Punnett-Quadrat von Abbildung 14.8.

356
14.3 Die Mendel’schen Regeln reichen nicht zur Erklärung aller Erbgänge aus

Betrachten wir ein weiteres Beispiel: Der Genotyp aber die Möglichkeit, eine Aussage zu treffen über die
YyRR tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,5 (Yy) Häufigkeiten, mit denen verschiedene Kombinationen
× 0,25 (RR) = 0,125 (1/8) auf. Wenn Sie sich das Pun- zu erwarten sind. Je größer die Anzahl der tatsächlich
nett-Quadrat von Abbildung 14.8 genau ansehen, so betrachteten Individuen ist, umso mehr wird sich der
werden Sie bemerken, dass tatsächlich zwei der sech- gefundene Wert den statistischen Erwartungen annä-
zehn Kästchen den Genotyp YyRR enthalten. hern. Mendel war sich dieser Zusammenhänge bewusst
Im nächsten Schritt wollen wir uns ansehen, wie und führte deshalb seine Kreuzungsexperimente immer
sich die Multiplikations- und die Additionsregel mit- mit Hunderten von Pflanzen durch. Er begründete damit
einander verbinden lassen, um noch kompliziertere die quantitative Analyse und die Wahrscheinlichkeits-
Probleme der klassischen Kreuzungsgenetik zu lösen. rechnung als wichtige Methoden der Genetik.
Stellen wir uns dazu beispielsweise eine Kreuzung
von zwei Erbsensorten vor, bei denen wir die Verer-
bung von drei Merkmalen verfolgen wollen. Nehmen  Wiederholungsfragen 14.2
wir an, wir kreuzen einen Dreifachhybriden mit vio-
letten Blüten und gelben, runden Erbsen (also eine 1. Sagen Sie voraus, in welchem Verhältnis die
Pflanze, die heterozygot bezüglich der drei Merkmale Nachkommen aus einer Kreuzung AA × Aa
Blütenfarbe, Samenfarbe und Samenform ist) mit einer homozygot-dominant, homozygot-rezessiv und
Pflanze, deren Blüten ebenfalls violett, deren Erbsen heterozygot auftreten sollten, wenn Sie von ei-
aber grün und runzelig sind (heterozygot bezüglich der nem hypothetischen Gen mit dem dominanten
Teil 3
Blütenfarbe, aber homozygot-rezessiv bezüglich der Allel A und dem rezessiven Allel a ausgehen.
beiden anderen Merkmale). In der genetischen Schreib- 2. Ein Individuum des Genotyps BbDD wird mit
weise hätten wir also eine Kreuzung zwischen Pflan- einem des Genotyps BBDd gekreuzt. Schreiben
zen der Genotypen PpYyRr und Ppyyrr. Welcher Pro- Sie alle möglichen Genotypen der Nachkom-
zentsatz der Nachkommen aus dieser Kreuzung wäre men bei einer unabhängigen Verteilung der
für mindestens zwei der drei betrachteten Merkmale Allele auf. Geben Sie an, mit welcher Wahr-
homozygot rezessiv und würde den entsprechenden scheinlichkeit jeder dieser Genotypen auftreten
Phänotyp zeigen? wird, indem Sie die in diesem Abschnitt be-
Um diese Frage zu beantworten, listen wir zunächst schriebenen Rechenregeln einsetzen.
alle Genotypen auf, die diese Bedingung erfüllen: ppy-
yRr, ppYyrr, Ppyyrr, PPyyrr und ppyyrr. Nun berechnen 3. WAS WÄRE, WENN? Bei der Kreuzung von zwei
wir die Wahrscheinlichkeiten für jeden dieser Geno- Erbsensorten werden drei Merkmale (Blüten-
typen, die sich aus unserer PpYyRr × Ppyyrr-Kreuzung farbe, Samenfarbe und Hülsenform) mit den Ge-
ergeben, indem wir die Einzelwahrscheinlichkeiten für notypen PpYyIi × ppYyii berücksichtigt. Wel-
die Allelpaarungen multiplizieren – genauso, wie wir cher Anteil der Nachkommen sollte homozygot-
es bei unseren Beispielen für Zweifaktorkreuzungen rezessiv für genau zwei der drei Merkmale sein?
getan haben. Beachten Sie dabei, dass bei einer Hetero-
zygoten/Homozygoten-Kreuzung (zum Beispiel Yy × yy) Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
die Wahrscheinlichkeit für heterozygote wie für homo-
zygote Nachkommen jeweils 0,5 beträgt. Schließlich
addieren wir die Wahrscheinlichkeiten aller Genoty-
pen, die unsere Bedingungen erfüllen (mindestens zwei Die Mendel’schen Regeln
rezessive Merkmale):
reichen nicht zur Erklärung
ppyyRr ¼ (Wahrscheinlichkeit für pp) × ½ (yy ) × ½ (Rr ) = 1/16
ppYyrr ¼×½×½ = 1/16
aller Erbgänge aus
14.3
Ppyyrr ½×½×½ = 2/16 Im 20. Jahrhundert wurden Mendels Prinzipien auf die
verschiedensten Organismen übertragen. Außerdem
PPyyrr ¼×½×½ = 1/16 wurden auch Erbgänge verfolgt, die wesentlich komple-
ppyyrr ¼×½×½ = 1/16 xer waren als diejenigen, die Mendel untersuchte. Für
die Erstellung seiner Vererbungsregeln wählte Mendel
Wahrscheinlichkeit für die gleichzeitige Ausprägung von = 6/16 bei seinen Erbsen Merkmale, deren genetische Grund-
mindestens zwei rezessiven Merkmalen = 3/8 lage relativ einfach war. Jedes der Merkmale wurde nur
von einem einzelnen Gen bestimmt. Für jedes Merkmal
Mit einiger Übung werden Sie lernen, mit solchen einfa- wählte er zwei deutlich unterscheidbare Ausprägungen
chen Wahrscheinlichkeitsrechnungen genetische Frage- (phänotypische Zustände), die – wie wir heute wissen –
stellungen schneller als durch das Erstellen von Pun- verschiedenen Allelen der entsprechenden Gene zuzu-
nett-Quadraten zu lösen. ordnen sind.1 Darüber hinaus war jeweils noch eines
Die genaue Anzahl von Nachkommen mit einem
bestimmten Genotyp lässt sich nicht mit Sicherheit vor- 1 Eine Ausnahme ist die Gestalt der Hülsen. Man weiß heute,
hersagen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt uns dass sie von zwei Genorten beeinflusst wird.

357
14 Mendel und das Genkonzept

der Merkmale eindeutig dominant und das andere pen der reinen Blütenfarben aus den rosablütigen
rezessiv. Diese Idealbedingungen erfüllen aber längst Hybriden nicht wieder auskreuzen. Tatsächlich zeigt
nicht alle erblichen Merkmale und die Beziehung zwi- sich aber, dass die F1-Hybriden der rosablütigen Löwen-
schen Genotyp und Phänotyp ist nur selten so klar. mäulchen in der zweiten Filialgeneration Nachkommen
Mendel war sich bewusst, dass er kompliziertere Erb- erzeugen, die in einem Verhältnis der Phänotypen von
gänge, die er auch bei seinen Kreuzungen mit Erbsen 1 rot : 2 rosa : 1 weiß auftreten, also auch teilweise
oder anderen Pflanzenarten beobachtete, noch nicht wieder die Elternphänotypen zeigen. (Da die heterozy-
erklären konnte. Dies schränkt jedoch seinen Verdienst goten Pflanzen einen eigenen Phänotyp zeigen, treten
und die Bedeutung der Mendel’schen Genetik (klassi- die Genotypen im gleichen Verhältnis wie die Phäno-
sche Genetik, Kreuzungsgenetik) nicht ein. Die damit typen in der F2-Generation auf: 1:2:1.) Die Verteilung
aufgestellten Gesetzmäßigkeiten der Spaltung und unab- der Allele für rote und für weiße Blüten in den Keim-
hängigen Verteilung von Merkmalen liegen auch den zellen der rosablütigen Pflanzen beweist, dass die für
komplexeren Erbgängen zugrunde, selbst wenn sie dort die Blütenfarbe verantwortlichen Allele erbliche Fak-
nicht so augenfällig sind. Im folgenden Abschnitt wol- toren sind, die ihre Identität im Hybridzustand auf-
len wir auf Erbgänge eingehen, an denen Mendel noch rechterhalten. Die Vererbung ist also an bestimmte
nicht gearbeitet hat. Träger („Teilchen“, das heißt Gene) gebunden.

Teil 3 14.3.1 Die Erweiterung der Mendel’schen P-Generation


Regeln bei einzelnen Genen rot weiß
C RC R × C WC W
Merkmale, die von einem einzelnen Gen bestimmt wer-
den, weichen bei ihrer Vererbung vom einfachen Men-
del’schen Muster ab, wenn die beteiligten Allele nicht Gameten CR CW
vollständig dominant oder rezessiv sind, wenn das
betreffende Gen mehr als zwei unterschiedliche Allele
besitzt oder wenn ein einzelnes Gen mehr als einen
Phänotyp beeinflusst. Für jeden dieser Fälle sollen im rosa
F1-Generation
Folgenden Beispiele besprochen werden. C RC W

Abstufungen der Dominanz


Allele können unterschiedliche Abstufungen der Domi-
nanz beziehungsweise der Rezessivität untereinander Gameten CR CW
aufweisen. Bei Mendels klassischen Kreuzungen von
Erbsen sahen die F1-Nachkommen immer wie die eine
oder die andere Elternpflanze aus, weil jeweils ein Allel Samenzelle
des Paares vollständig dominant über das andere (rezes- ½ CR ½ CW
sive) war. In solchen Situationen gleichen sich hetero- F2-Generation
zygote und homozygote Individuen mit dem dominan- ½ CR
ten Allel in ihrem Phänotyp. C RC R C RC W
Eizelle
Bei manchen Genen ist jedoch keines der Allele voll-
ständig dominant, und die F1-Hybriden zeigen einen ½ CW
Phänotyp, der zwischen denen der reinerbigen Eltern C RC W C WC W
liegt. Dieses Phänomen wird als unvollständige Domi-
nanz bezeichnet. Es tritt zum Beispiel auf, wenn man Abbildung 14.10: Unvollständige Dominanz bei Löwenmäul-
weiß blühende Löwenmäulchen (Antirrhinum) mit rot chen (Antirrhinum). Wenn rot blühende Löwenmäulchen mit weiß blü-
blühenden kreuzt. Alle F1-Hybriden besitzen dann henden gekreuzt werden, bilden die F1-Hybriden rosafarbene Blüten. Die
rosafarbene Blüten (Abbildung 14.10). Dieser neue, Verteilung der Allele bei der Gametenbildung der F1-Pflanzen führt dazu,
dass in der F2-Generation eine 1:2:1-Spaltung der Geno- und Phänotypen
dritte Phänotyp ergibt sich aus der Tatsache, dass die
auftritt. Der indizierte Buchstabe bezeichnet das jeweilige Allel: C R, rote
Blüten der heterozygoten Pflanzen weniger roten Blü-
Blüten; C W, weiße Blüten.
tenfarbstoff bilden als die homozygot-rotblütigen. Dies
unterscheidet sie von Mendels Erbsen, wo die hete- ? Nehmen Sie an, dass ein anderer Kursteilnehmer die Behauptung auf-
rozygoten Pp-Pflanzen ausreichenden Blütenfarbstoff stellt, dass diese Ergebnisse die Verschnitthypothese der Vererbung stützen.
herstellen, so dass ihre violetten Blüten genauso ausse- Welche Argumente könnte er vorbringen und was würden Sie erwidern?
hen, wie die der PP-Pflanzen.
Auf den ersten Blick könnte das Auftreten einer
unvollständigen Dominanz zu der Hypothese verlei- Eine andere mögliche Beziehung zwischen verschie-
ten, dass wir es hier vielleicht doch mit einem Vermi- denen Allelen ist die Kodominanz. Bei dieser Form
schungseffekt nach der zu Beginn des Kapitels kurz wirken sich zwei Allele unabhängig voneinander auf
angerissenen Verschnitthypothese zu tun haben. Dann den Phänotyp aus. So wird zum Beispiel das Blut-
könnte man allerdings die ursprünglichen Phänoty- gruppensystem MN des Menschen von zwei kodomi-

358
14.3 Die Mendel’schen Regeln reichen nicht zur Erklärung aller Erbgänge aus

nanten Allelen bestimmt, die für die Bildung zweier wechseln, weil ein Enzym nicht richtig funktioniert.
spezifischer Proteine M und N verantwortlich sind. Die nicht abgebauten Lipide stauen sich dann im Hirn-
Diese befinden sich unter anderem an der Oberfläche gewebe an und es kommt zum Ausbruch der Krank-
von roten Blutkörperchen. Ein einzelner Genort kann heitssymptome (Nachlassen der Sehfähigkeit bis zur
eines der beiden Allele tragen, die den Phänotyp (die Blindheit, geistige und motorische Degeneration) und
Blutgruppe) festlegen. Die für das M-Allel homozygo- nach wenigen Jahren zum Tod.
ten Personen (Genotyp MM) haben nur das M-Molekül Nur Kinder mit zwei Kopien des defekten Tay-Sachs-
auf ihren Zellen, Individuen, die homozygot für das Allels (die also homozygot sind) erkranken. Auf dieser
N-Allel sind, nur das N-Molekül. Heterozygote (Geno- Ebene betrachtet, ist das pathologische Allel also ein-
typ MN) bilden beide Blutgruppenantigene (M und N). deutig rezessiv. Andererseits zeigt sich bei heterozy-
Der Phänotyp MN (Blutgruppe MN) ist nicht interme- goten Trägern des Allels, dass die spezifische Enzym-
diär, ist also keine Abstufung zwischen den Zustän- aktivität der betroffenen β-N-Acetylhexoseaminidase
den M und N. Dies unterscheidet die Kodominanz von zwischen derjenigen von Personen liegt, die homo-
der unvollständigen Dominanz. M und N sind also zygot für das normale Allel sind, und der von Personen,
zwei verschiedene, phänotypisch unabhängige Merk- die homozygot für das pathologische Allel sind und
male, die von Heterozygoten ausgeprägt werden. an dem Syndrom leiden. Betrachten wir also die bio-
chemischen Auswirkungen, so zeigen sie einen inter-
Das Verhältnis von Dominanz und Phänotyp mediären Phänotyp, der als unvollständige Dominanz
Wir haben gesehen, dass die zu beobachtenden Auswir- beider Allele bezeichnet würde. Der heterozygote Teil 3
kungen von zwei Allelen in einem Individuum von voll- Genotyp führt nicht zur Ausbildung des Krankheits-
ständiger Dominanz, über die unvollständige Dominanz, bildes, weil die restliche Enzymaktivität ausreicht, um
bis hin zu Kodominanz reichen können. Es ist wichtig, einen pathologischen Anstau nichtmetabolisierter
sich klar zu machen, dass ein Allel nicht deshalb domi- Lipide im Gehirn zu vermeiden. Als Träger des mutier-
nant heißt, weil es ein rezessives Allel irgendwie unter- ten Allels können entsprechende Personen dieses natür-
drückt. Bei verschiedenen Allelen handelt es sich ledig- lich weitervererben. Bei noch näherer molekularer
lich um leichte Sequenzabweichungen in der DNA ein Analyse der Tay-Sachs-Krankheit finden wir, dass
und desselben Gens am gleichen Locus. Wenn ein domi- Heterozygote etwa gleiche Mengen des normalen und
nantes und ein rezessives Allel in einem heterozygoten des nichtfunktionellen Enzyms β-N-Acetylhexoseami-
Individuum zusammenkommen, zeigen sie ja keine nidase bilden. Hier sind das normale Allel (das Wild-
direkte Wechselwirkung miteinander. Erst auf dem Weg typ-Allel) und das pathologische Allel (das Tay-Sachs-
vom Genotyp zum Phänotyp werden Dominanz und Allel) also kodominant. Es bleibt wichtig festzuhalten:
Rezessivität ausgeprägt. Ob Allele vollständige Dominanz, unvollständige Domi-
Um diese Beziehung zu verdeutlichen, können wir nanz oder Kodominanz zeigen, kann davon abhängen,
eines der von Mendel selbst untersuchten Merkmale auf welcher Ebene der jeweilige Phänotyp betrachtet
heranziehen – die Form der Erbsen (rund/runzelig). wird.
Das dominante Allel (runde Erbsen) codiert für ein
Enzym, das eine unverzweigte Form der Stärke in eine Die Häufigkeit dominanter Allele
stärker verzweigte Form umwandelt. Das rezessive Obwohl man zunächst annehmen könnte, dass die
Allel codiert für eine nicht funktionstüchtige Form des- dominanten Allele bestimmter Gene in einer Popula-
selben Enzyms. Im homozygoten Zustand kommt es tion überwiegen, muss dies nicht immer der Fall sein.
deshalb zu einem Anstau der unverzweigten Stärkemo- So wird beispielsweise in den USA eines von etwa
leküle, die ihrerseits einen übermäßigen osmotischen vierhundert Kindern mit zusätzlichen Fingern oder
Wassereinstrom in die Erbsen bewirken. Trocknen die Zehen geboren (Polydaktylie). Einige Fälle von Poly-
Erbsen später, werden sie durch den Wasserverlust run- daktylie werden durch ein dominantes Allel eines Gens
zelig. Ist mindestens eine Kopie des dominanten Allels verursacht. Es treten nur verhältnismäßig wenige Fälle
vorhanden, so wird ein aktives Enzym gebildet und die auf, was zeigt, dass das rezessive Allel, welches zur
Stärke wird modifiziert, so dass kein überschüssiges normalen Fünffingrigkeit (Pentadaktylie) der Extremi-
Wasser eingelagert wird. Bei einer späteren Trocknung täten führt, viel weiter verbreitet ist als das domi-
verschrumpeln die Erbsen dann nicht. Eine einzelne nante. In Kapitel 23 werden wir darauf eingehen, wie
Kopie des dominanten Allels reicht aus, um genügend sich die natürliche Selektion auf die relativen Allel-
Enzym für den Stärkeumbau herzustellen. Deshalb bil- häufigkeiten in Populationen auswirkt.
den sowohl homozygot-dominante als auch hetero-
zygote Erbsenpflanzen runde Erbsen und zeigen damit Multiple Allele
den gleichen Phänotyp. Für die von Mendel untersuchten Merkmale von Erb-
Wie sich die Abstufungen zwischen dominanten und senpflanzen gibt es nur jeweils zwei natürlich vor-
rezessiven Allelen eines Gens tatsächlich auswirken, kommende Allele. Die meisten Gene haben jedoch
hängt auch davon ab, auf welcher Ebene wir den Phä- mehr als zwei verschiedene Allele. Die Blutgruppen
notyp betrachten. Dies soll am Beispiel der Tay-Sachs- A, B und 0 des AB0-Systems des Menschen werden
Krankheit erläutert werden, einer Erbkrankheit beim zum Beispiel von drei Allelen eines Gens festgelegt.
Menschen: Die Gehirnzellen eines Kindes mit dieser Die Allele tragen die Bezeichnungen IA, IB und i. Diese
Krankheit können bestimmte Lipide nicht verstoff- ergeben vier mögliche Blutgruppen (Phänotypen) beim

359
14 Mendel und das Genkonzept

Menschen, nämlich A, B, AB und 0. Die Buchstaben A men, ist es verständlich, dass ein einzelnes Gen sich
und B bezeichnen zwei unterschiedliche Kohlenhy- auf mehr als ein Merkmal auswirken kann.
dratseitenketten an Proteinen der Zelloberfläche von
Blutzellen. Man findet also entweder die Kohlenhy-
dratstruktur A (Blutgruppe A), die Kohlenhydratstruk- 14.3.2 Die Erweiterung der Mendel’schen
tur B (Blutgruppe B), beide zusammen (Blutgruppe AB) Regeln auf die Wechselwirkungen
oder eine davon unterschiedliche Rumpfstruktur (Blut- von Genen
gruppe 0). Dies ist schematisch in Abbildung 14.11
dargestellt. Wie Sie wissen, ist die Kenntnis dieser Blut- Die Abstufungen der Dominanz, multiple Allele und
gruppen eine entscheidende Voraussetzung für sichere Pleiotropie sind Ausprägungen, die sich ausschließlich
Bluttransfusionen (siehe Kapitel 43). auf die Allele eines einzelnen Gens beziehen. Wir wer-
den nun zwei Situationen betrachten, in denen zwei
(a) Die drei Allele der Blutgruppen A, B und 0 und die ihnen oder mehr Gene an der Festlegung eines bestimmten
entsprechenden Kohlenhydratstrukturen. Jedes der Allele Phänotyps beteiligt sind.
codiert für ein Enzym, das einen bestimmten Kohlenhydratrest
(der durch den hochgestellten Indexbuchstaben in der Allel-
bezeichnung angezeigt beziehungsweise als Kreis oder Dreieck Epistasie
symbolisiert wird) an der Oberfläche roter Blutzellen anfügt. Eine Epistasie (griech. epi, auf [zu], hinüber, hin [zu],
bei; stasis, Stillstand, Stockung) bezeichnet die überge-
Allel IA IB i ordnete Wirkung eines Gens und liegt dann vor, wenn
Teil 3
ein Gen die phänotypische Expression eines anderen
Kohlenhydrat A B keines
Gens verändert (also eines beliebigen Allels an einem
anderen Genort). Dazu ein Beispiel: Bei Mäusen und
(b) Blutgruppengenotypen und -phänotypen. Es gibt sechs mög- vielen anderen Säugetieren ist die schwarze über die
liche Genotypen, die vier verschiedene Phänotypen hervorbringen.
braune Fellfarbe dominant. Wir wollen die für die Fell-
Genotyp I A I A oder I A i I B I B oder I B i I AI B ii farbe verantwortlichen Gene B und b nennen. Damit
eine Maus ein braunes Fell hat, muss ihr Genotyp an
Erscheinungs- diesem Genort bb sein. Allerdings ist hier noch etwas
bild der roten
Blutzellen
zu bedenken. Ein zweites Gen bestimmt nämlich, ob
das für die Fellfarbe verantwortliche Pigment über-
Phänotyp
haupt erst in den Haaren abgelagert wird oder nicht.
(Blutgruppe) A B AB O Das dominante Allel dieses Gens, das wir C nennen
wollen, führt zur Ablagerung des schwarzen oder brau-
Abbildung 14.11: Die multiplen Allele des AB0-Blutgruppensys- nen Pigments (die Farbe selbst hängt weiterhin vom
tems. Die vier Blutgruppen dieses Systems ergeben sich aus verschiede- ersten Gen B ab). Ist die Maus am zweiten Genort
nen Kombinationen der drei gezeigten Allele. homozygot-rezessiv, (cc), kann sich kein Pigment abla-
gern und die Maus ist ein Albino. Ihr Fell ist dann rein
? Welche Form der Dominanz würden Sie auf der Grundlage der unter weiß – egal, welches Allel am Genort B/b vorliegt. Das
(b) gezeigten Phänotypen (Zelloberflächenkohlenhydrate) diesen Allelen Gen für die Pigmenteinlagerung (C/c) verhält sich also
zuordnen?
epistatisch zu dem Gen für die Pigmentbildung (B/b).
Was passiert, wenn wir zwei schwarze Mäuse, die
Pleiotropie bezüglich beider Genorte heterozygot sind (BbCc), mit-
Bisher sind wir bei unseren Betrachtungen zur Men- einander kreuzen? Obwohl beide Genorte den gleichen
del’schen Vererbungslehre stets davon ausgegangen, Phänotyp (die Fellfarbe) beeinflussen, werden sie nach
dass jedes Gen nur ein bestimmtes Merkmal im Phäno- der Mendel’schen Unabhängigkeitsregel unabhängig
typ beeinflusst. Die meisten Gene können sich jedoch voneinander vererbt. Unser Kreuzungsexperiment stellt
auf mehr als einen Phänotyp auswirken – ein Phäno- also eine Zweifaktor-Kreuzung der ersten Filialgenera-
men, das als Pleiotropie bezeichnet wird (griech. tion (F1) dar und entspricht damit den Pflanzenkreu-
ple(i)os, voll, mehr; trope, Drehung, Wendung). So sind zungen Mendels, die zu der bekannten 9:3:3:1-Aufspal-
zum Beispiel beim Menschen pleiotrope Allele für die tung führen. Wir können ein Punnett-Quadrat zeichnen,
unterschiedlichen Symptome bestimmter Erbkrank- um die in der F2-Generation unter den Nachkommen
heiten wie der Mukoviszidose und der Sichelzellen- zu erwartenden Genotypen darzustellen (Abbildung
anämie verantwortlich. Auf die Sichelzellenanämie 14.12). Als Folge der beschriebenen Epistasie ergibt sich
werden wir später noch näher eingehen. Bei der Garten- ein Verhältnis der zu beobachtenden Phänotypen bei
erbse beeinflusst das Gen, das die Blütenfarbe festlegt, den Tieren der F2-Generation von 9 schwarzen zu 3
auch die Färbung der Erbsenhaut, die gräulich oder braunen und 4 weißen Mäusen. Andere Formen epista-
weißlich sein kann. Angesichts der stark vernetzten tischer Wechselwirkungen führen zu anderen Mengen-
molekularen und zellulären Wechselwirkungen, die die verhältnissen, die sich aber immer vom Grundmuster
Physiologie und Entwicklung eines Organismus bestim- 9:3:3:1 ableiten lassen.

360
14.3 Die Mendel’schen Regeln reichen nicht zur Erklärung aller Erbgänge aus

jeweiligen Allele in ihrer Wirkung addieren, hätten


Personen der Genotypen AaBbCc wahrscheinlich eine
× ähnliche Hautfarbe wie die des Genotyps AABbcc. Das
BbCc BbCc
Punnett-Quadrat der Abbildung 14.13 zeigt alle mög-
lichen Genotypen, die bei den Nachkommen von Indi-
Spermium viduen auftreten können, die an allen drei Genorten
¼ BC ¼ bC ¼ Bc ¼ bc heterozygot sind. Wie durch die Summenquadrate
Eizelle unterhalb des Punnett-Quadrats angezeigt wird, ergeben
sich aus diesen Paarungen sieben verschiedene Hautfar-
¼ BC
ben (also Phänotypen). Umweltfaktoren, wie etwa die in
BBCC BbCC BBCc BbCc der Sonne verbrachte Zeit, beeinflussen ebenfalls die
Ausprägung dieses Merkmals und verändern so die
¼ bC genetisch bedingten Phänotypen.
BbCC bbCC BbCc bbCc
×
¼ Bc
AaBbCc AaBbCc
BBCc BbCc BBcc Bbcc
Spermium
¼ bc Teil 3
1 1 1 1 1 1 1 1
8 8 8 8 8 8 8 8
BbCc bbCc Bbcc bbcc
1
8

1
9 : 3 : 4 8

1
8
Abbildung 14.12: Ein Beispiel für Epistasie. Das Punnett-Quadrat
1
stellt die Geno- und Phänotypen dar, die sich bei den Nachkommen einer 8

Kreuzung zweier schwarzer Mäuse des Genotyps BbCc ergeben können. Eizelle
1
8
Das C/c -Gen bestimmt, ob sich ein gebildetes Pigment einlagert und es ist
epistatisch zum Gen B/b, welches die Pigmentbildung steuert. 1
8

1
8
Polygene Vererbung
Mendel untersuchte Merkmale, die sich in entweder/ 1
8
oder unterscheiden ließen (zum Beispiel violette oder
weiße Blüten). Viele Merkmale, wie etwa die Hautfarbe
oder die Größe eines Menschen, lassen sich nicht so Phänotypen: 1
64
6
64
15
64
20
64
15
64
6
64
1
64
einfach klassifizieren. Diese Merkmale zeigen inner- Zahl der Allele
halb einer Population meist fließende Übergänge. Man für dunkle Haut: 0 1 2 3 4 5 6
bezeichnet solche Merkmale mit vielen möglichen Abbildung 14.13: Ein vereinfachtes Modell für die polygene
Zwischenstufen als quantitative Merkmale. Sie wei- Vererbung der Hautfarbe. Nach diesem Modell beeinflussen drei
sen in der Regel auf eine polygene Vererbung des ent- unterschiedliche Gene die Hautfarbe. Die beiden Kästchen oben symbo-
sprechenden Merkmals hin. Der tatsächlich beobach- lisieren heterozygote Individuen, die jeweils drei für dunkle Haut prädispo-
tete Phänotyp wird also durch zwei oder mehr Gene nierende Allele (A, B, C ) tragen und drei Allele für helle Haut (a, b, c ). Das
bestimmt, die sich auf ein einziges Merkmal auswir- Punnett-Quadrat zeigt alle möglichen Allelkombinationen in den Gameten
ken. Formell kann man dies als eine Umkehrung der und den Nachkommen, die sich aus einer Paarung ergeben können. Die
Pleiotropie betrachten, bei der ein einzelnes Gen Ein- abgesetzten Kästchen unten geben an, mit welcher Häufigkeit die ver-
fluss auf mehrere Merkmale hat. schiedenen Phänotypen zu erwarten sind.
So wird die Hautfarbe des Menschen von mindes-
tens drei unabhängig voneinander vererbten Genen (an
drei verschiedenen Loci) gesteuert (vermutlich sind es
14.3.3 Gene und Erziehung: Der Einfluss der
noch mehr, aber zur Vereinfachung betrachten wir hier Umwelt auf den Phänotyp
nur drei). In unserem Beispiel sollen die drei Gene A, B
und C jeweils ein Allel für eine dunklere Hautfärbung Wie wir gerade gesehen haben, weichen Merkmale
darstellen, die eine unvollständige Dominanz gegen- auch dann von einem einfachen Mendel’schen Erbgang
über einem zweiten Allel zeigen (a, b, c). Eine Person ab, wenn der Phänotyp nicht ausschließlich durch den
des Genotyps AABBCC hätte eine sehr dunkle Haut, Genotyp bestimmt wird, sondern auch noch von der
eine des Genotyps aabbcc dagegen eine sehr helle. Umwelt abhängt. Ein Baum mit seinem ererbten homo-
Eine dritte Person mit der Zusammensetzung AaBbCc genen Genotyp bildet Blätter aus, die sich in der Größe,
hätte eine dazwischenliegende Hautfarbe. Da sich die der Form und der Färbung unterscheiden können – je

361
14 Mendel und das Genkonzept

nach Windverhältnissen, Wasserversorgung und Licht- 14.3.4 Eine integrierte „Mendel’sche Sicht“
einfall. Beim Menschen beeinflusst die Ernährung die auf die Vererbung und die
Körpergröße, die Beanspruchung durch Arbeit und genetische Variabilität
Sport wirkt sich zumindest teilweise auf den Körper-
bau aus, die Sonne führt zu einer Bräunung der Haut Auf den letzten Seiten haben wir unsere Sicht der Men-
und durch Übungen können die Leistungen bei Intelli- del’schen Vererbung erweitert, indem wir uns Phäno-
genztests und Genetikklausuren verbessert werden. mene wie Abstufungen in der Dominanz, multiple
Auch eineiige Zwillinge, deren Genome ja identisch Allele, die Pleiotropie, die Epistasie, die polygenische
sind, unterscheiden sich als Folge individueller Erfah- Vererbung und den Einfluss der Umwelt auf den Phä-
rungen und Umwelteinflüsse. notyp angesehen haben. Wie lassen sich diese Verfeine-
Ob Eigenschaften wie Intelligenz und Sozialverhal- rungen in eine umfassende Theorie der klassischen
ten bei Mensch und Tier mehr von den Erbanlagen Genetik nach den Mendel’schen Regeln integrieren?
(Genen) oder der Umwelt bestimmt werden, ist eine Der Schlüssel hierzu liegt in einem Übergang von der
alte und noch immer hitzig geführte Debatte, die sich reduktionistischen Betrachtung des Einzelgens und des
nicht endgültig beantworten lässt. Man kann jedoch zugehörigen phänotypischen Merkmals hin zu einem
sagen, dass ein Genotyp im Allgemeinen nicht unaus- Gesamtbild des Organismus als funktioneller Einheit,
weichlich einen bestimmten Phänotyp hervorruft, bei der sich die Eigenschaften aus den Wechselwirkun-
sondern vielmehr das genetische Gerüst für die Eigen- gen der Teile ergeben.
Teil 3 schaften bildet, die durch die Umwelt angepasst wer- Der Begriff des Phänotyps wird zwar oft für einzelne,
den. Der Grad der Flexibilität bei dieser Anpassung herausgegriffene Merkmale verwendet, bedeutet sei-
unterscheidet sich je nach dem betrachteten Merkmal. nem Ursprung nach aber eigentlich das Erscheinungs-
Die dafür bestehende Bandbreite wird als Reaktions- bild eines Organismus, also alle morphologischen und
norm des Genotyps bezeichnet (Abbildung 14.14). Für physiologischen Merkmale, bis hin zum Verhalten. Ein
manche Merkmale, wie die Blutgruppen des beschrie- Organismus hat also nur einen Phänotyp, der sich aus
benen AB0-Systems, ist die Reaktionsnorm gleich null. vielen unterscheidbaren Einzelmerkmalen zusammen-
Ein gegebener Genotyp bedingt hier einen bestimmten setzt. Damit umfasst der Begriff Genotyp eigentlich die
Phänotyp, der sich leicht und eindeutig nachweisen Gesamtheit aller Erbinformationen, die ein Lebewesen
lässt. Andere Merkmale, wie etwa die Anzahl der wei- in sich trägt. Wir haben dies bisher aus Gründen der
ßen und roten Blutkörperchen im Blut, können dage- Praktikabilität eingeschränkt nur für einzelne Gene und
gen recht deutlich schwanken und sind von der Sauer- deren Allelzustände verwendet. In den meisten Fällen
stoffzufuhr, der körperlichen Beanspruchung oder von wird der Einfluss eines Gens auf den Phänotyp durch
eventuellen Infektionen abhängig. andere, im selben Genom vorliegende Gene und durch
Im Allgemeinen ist die Reaktionsnorm polygen beein- die Umwelt beeinflusst. Der Phänotyp eines Individu-
flusster Merkmale am größten. Die Umwelt beeinflusst ums spiegelt aus übergeordneter Sicht also die Summe
die quantitative Ausprägung solcher Merkmale. Wir aus seinem Genotyp und seiner individuellen Lebens-
haben dies am kontinuierlichen Verlauf der mensch- geschichte wider.
lichen Hautfarben gesehen. Man spricht hier von multi- Berücksichtigen wir nun den gesamten Weg vom
faktoriell beeinflussten Merkmalen, bei denen mehrere Genotyp zum Phänotyp, ist es in der Tat erstaunlich,
Einflussgrößen – genetische wie auch nichtgenetische – dass Mendel die Prinzipien der Vererbung einzelner
zusammen den Phänotyp bestimmen. Gene von Elternorganismen auf ihre Nachkommen in
nur drei Regeln (Uniformitätsregel, Spaltungsregel,
Unabhängigkeitsregel) zusammenfassen konnte. Mit
ihrer Hilfe konnte er erbliche Abweichungen durch
alternative Vererbungsfaktoren erklären (die wir heute
als Gene und Allele bezeichnen), die nach einfachen
Gesetzen der Wahrscheinlichkeit von Generation zu
Generation weitergegeben werden. Die Theorie der Ver-
erbung gilt gleichermaßen für Pilze, Erbsen, Fliegen,
Fische, Vögel und den Menschen und für jede Lebens-
form mit geschlechtlicher Fortpflanzung. Die Erweite-
rung von Mendels Grundsätzen um Phänomene wie die
Abbildung 14.14: Die Wirkung der Umwelt auf den Phänotyp. Epistasie und quantitative Merkmale, ermöglicht uns
Die Bandbreite, mit der sich ein Genotyp ausprägt, stellt seine Reaktions- eine breite Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse.
norm dar – der Phänotyp wird bestimmt durch den Grad, mit dem sich die Aus Mendels Garten hinter den Mauern eines Klosters
Umwelt auf die vom Genotyp vorgegebenen Merkmale auswirkt. So reicht entsprang eine Theorie der Vererbung diskreter Einhei-
etwa die Farbe der Blüten von Hortensien (Hydrangea) derselben Sorte ten, auf der die gesamte heutige Genetik aufbaut. Im
von blau-violett bis rosa. Der Farbton und die Farbintensität hängen vom letzten Abschnitt dieses Kapitels werden wir die klassi-
Säuregrad des Bodens und dem Gehalt an gelösten Aluminiumionen
sche Genetik auf die Vererbung beim Menschen anwen-
(Al3+) ab.
den. Dabei werden wir insbesondere auf die Weitergabe
von Erbkrankheiten eingehen.

362
14.3 Die Mendel’schen Regeln reichen nicht zur Erklärung aller Erbgänge aus

 Wissenschaftliche Übung

Die Erstellung eines Histogramms und die auf der x-Achse die Zahl der für die dunklere
Auswertung von Verteilungsmustern Hautfarbe stehenden Allele auf, auf der y-Achse
die jeweils erwartete Häufigkeit in der hypo-
Welche phänotypische Verteilung ergibt sich bei thetischen Nachkommen-Population. Lassen
den Kindern von Eltern, die beide heterozygot für Sie keine Zwischenräume zwischen den Säu-
drei additiv wirkende Gene sind? Die menschliche len des Diagramms.
Hautfarbe ist ein polygen vererbtes Merkmal, das
von mindestens drei verschiedenen Genen beein- 2. Sie werden feststellen, dass es keine gleichmä-
flusst wird. In dieser Übung arbeiten wir mit einem ßige Verteilung der einzelnen Phänotypen der
vereinfachten Modell der Genetik der Hautfarbe, in verschiedenen Hautfarben gibt. (a) Welcher
dem es jeweils nur zwei Allele gibt, die entweder Phänotyp kommt am häufigsten vor? Markieren
eine dunkle oder eine helle Hautfarbe verursachen Sie diese Säule mit einer vertikalen Linie. (b)
(siehe Abbildung 14.13). Jedes Allel, welches eine Verteilungen wie diese zeigen häufig ein typi-
dunkle Hautfarbe codiert, soll hierbei gleich stark an sches Muster. Zeichnen Sie eine Ausgleichs-
der Ausprägung beteiligt sein. Ferner sollen alle kurve, indem Sie die Säulen des Diagramms
Gene unabhängig voneinander vererbt werden. Mit- umranden. Was für eine Form der Kurve erhal-
hilfe eines Histogramms sollen Sie nun die statisti- ten Sie? Die Kurve ist symmetrisch um den Teil 3
sche Verteilung der verschiedenen Phänotypen der markierten Mittelwert angeordnet. Diese Art der
Nachkommen bestimmen. (Für zusätzliche Informa- Kurve wird auch als „Normalverteilung“ oder
tionen schauen Sie sich bitte die Übersicht über die als Glockenkurve bezeichnet. Ist die Kurve da-
wissenschaftlichen Übungen im Anhang B an). gegen zur einen oder anderen Seite verlagert, so
Wie wird dieses Modell analysiert? Um die ver- spricht man von einer asymmetrischen oder
schiedenen Phänotypen der Nachkommen vor- schiefen Verteilung. Es gibt auch den Fall, dass
herzusagen, können wir das Punnett-Quadrat aus zwei unterschiedliche Maxima auftreten kön-
Abbildung 14.13 verwenden. Die für alle Allele nen. In diesem Fall würde man von einer bimo-
heterozygoten Eltern werden durch die beiden Käst- dalen Verteilung sprechen. Erklären Sie die in
chen oben symbolisiert, die jeweils drei für dunkle unserem Beispiel auftretende Normalverteilung.
Haut prädisponierende Allele (dunkle Kreise: A, B, Eine Hilfe gibt die Legende von Abbildung
C) und drei Allele für helle Haut (helle Kreise: a, b, 14.13.
c) tragen. Das Punnett-Quadrat zeigt alle möglichen
Genkombinationen der Gameten und der nach einer 3. Wie würde sich die Verteilung der Phäno-
Paarung möglichen Nachkommen. typen ändern, wenn eines der drei Gene im
Vorhersagen aus dem Punnett-Quadrat Wenn jedes homozygot rezessiven Zustand tödlich (letal)
einzelne Kästchen innerhalb des Punnett-Quadrats wäre? Um diese Frage zu beantworten, defi-
einen möglichen Nachkommen der heterozygoten nieren Sie bitte die Allelkombination bb als
(Aa, Bb, Cc) Eltern repräsentiert, spiegeln diese tödlich. Nutzen Sie in Abbildung 14.13 die
Kombinationen alle möglichen Phänotypen der Gametenkombinantionen der Nachkommen,
Nachkommen wider. Jedes Individuum besitzt dabei in denen die mittleren Kreise weiß sind (ent-
eine bestimmte Anzahl von für die dunkle Haut- sprechend der Allelkombination bb). Da diese
farbe verantwortlichen Allelen. Allelkombinantion tödlich wäre, würden sich
diese Organismen nicht entwickeln. Streichen
1 6 15 20 15 6 1
Sie daher diese Kombinationen. Zählen Sie
Phänotypen: 64 64 64 64 64 64 64
die sich dann ergebenden Verteilungen der
Anzahl der Allele
für dunkle Haut: 0 1 2 3 4 5 6
verbleibenden Nachkommen und ordnen Sie
diese den entsprechenden Kategorien (0–6) zu.
Wie ändert sich die Form der Kurve im Ver-
Datenauswertung
gleich zur Ausgangskurve, die Sie in Frage 2
erhalten haben? Was bedeutet das für die Ver-
1. Ein Histogramm bzw. Säulendiagramm zeigt
teilung der Phänotypen?
die Häufigkeiten der möglichen Ergebnisse (in
diesem Falle die Anzahl der Allele, die eine Weiterführende Literatur: R. A. Sturm, A golden age of human
dunkle Hautfarbe verursachen). Tragen Sie dazu pigmentation genetics; Trends in Genetics 22:464–468 (2006).

363
14 Mendel und das Genkonzept

solchen Familien-Stammbäumen werden die Verwandt-


 Wiederholungsfragen 14.3 schaftsverhältnisse und die Merkmale von Eltern und
Kindern über Generationen hinweg aufgezeichnet.
1. Unvollständige Dominanz und Epistasie sind
Abbildung 14.15a zeigt einen Stammbaum über
Begriffe, die bestimmte genetische Wechselbe-
drei Generationen, in dem die Vererbung eines spitzen
ziehungen beschreiben. Wie könnte man mög-
Haaransatzes im Stirnbereich, der als „Witwenspitze“
lichst allgemein diese beiden Begriffe unter-
(engl. widow’s peak) bezeichnet wird, verfolgt wird. Er
scheiden?
beruht auf dem dominanten Allel (W) eines bestimmten
2. Welche AB0-Blutgruppen erwarten Sie für die Gens. Daher müssen alle Personen ohne den spitzen
Kinder eines Paares, wenn der Mann die Blut- Haaransatz homozygot-rezessiv sein (ww). Die Groß-
gruppe AB und die Frau die Blutgruppe 0 hat? eltern, die beide den spitzen Haaransatz hatten, müssen
heterozygot sein, da einige ihrer Kinder homozygot-
3. WAS WÄRE, WENN? Ein Hahn mit grauem Ge- rezessiv sind. Die Kinder der zweiten Generation, die
fieder paart sich mit einer Henne gleichen Phä- das Merkmal zeigen, müssen ebenfalls heterozygot
notyps. Unter den aus den Eiern schlüpfenden sein. Genetisch gesehen sind sie die Produkte einer Ww
Nachkommen finden sich 15 mit grauem, sechs × ww-Kreuzung. Die dritte Generation besteht aus zwei
mit schwarzem und acht mit weißem Gefieder. Schwestern. Diejenige mit der Witwenspitze kann ent-
Was ist die einfachste Erklärung für die Verer- weder homozygot für das dominante Allel (WW) oder
Teil 3 bung dieser Gefiederfarben bei den Hühnern? heterozygot (Ww) sein. Dies ergibt sich aus den bekann-
Welche Phänotypen würden Sie bei den Nach- ten Genotypen ihrer Eltern (beide Ww).
kommen einer Kreuzung eines grau gefiederten Abbildung 14.15b zeigt den Stammbaum der glei-
Hahns mit einer schwarzen Henne erwarten? chen Familie, aber dieses Mal für ein rezessives Merk-
mal, nämlich angewachsene Ohrläppchen. f soll das
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. rezessive, F das dominante Allel (nicht angewachsene
Ohrläppchen) bezeichnen. Wenn Sie sich den Familien-
stammbaum ansehen, können Sie die Mendel’schen
Regeln der Vererbung erneut anwenden, um die abge-
Auch die Vererbung beim leiteten Genotypen der einzelnen Familienmitglieder
zu verstehen.
Menschen folgt den Familienstammbäume können auch für die Berech-
Mendel’schen Regeln
14.4 nung der Wahrscheinlichkeit herangezogen werden,
mit der ein Kind einen bestimmten Genotyp oder Phäno-
typ haben wird. Nehmen wir an, dass das in der zwei-
Im Gegensatz zu den gut handhabbaren Erbsen ist die ten Generation von Abbildung 14.15 dargestellte Paar
Untersuchung der Vererbung beim Menschen deutlich sich entscheidet, noch ein Kind zu bekommen. Wie
schwieriger. Unsere Generationszeit beträgt ungefähr groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind einen
20 Jahre und die meisten Menschen haben vergleichs- spitzen Haaransatz haben wird? Es handelt sich hier
weise wenige Nachkommen. Außerdem verbieten sich um eine Mendel’sche Einfaktor-Kreuzung der F1-Gene-
aus ethischen Gründen gezielte Kreuzungsversuche ration (Ww × Ww). Daraus ergibt sich, dass die Wahr-
am Menschen, mit denen nur das Verhältnis von Geno- scheinlichkeit, dass das Kind ein dominantes Allel (W)
typen und Phänotypen untersucht werden soll. Unge- erben und das Merkmal zeigen wird, bei ¾ (75 Prozent)
achtet dieser massiven Einschränkungen macht die liegt (¼ WW + 2/4 Ww). Wie hoch ist die Wahrschein-
Humangenetik in dem Bestreben, unsere eigenen Erbvor- lichkeit, dass das Kind angewachsene Ohrläppchen
gänge zu begreifen, derzeit enorme Fortschritte. Die haben wird? Auch diesen Fall können wir wieder als
neuen Methoden der Biotechnologie führten hier zu vie- Einfaktor-Kreuzung betrachten (fF × Ff). Dieses Mal
len bahnbrechenden Entdeckungen. Wir kommen hier- wollen wir aber wissen, wie groß die Wahrscheinlich-
auf in Kapitel 20 zurück. Die neuen Möglichkeiten keit für den homozygot-rezessiven Fall (ff) ist, und es
schmälern aber nicht die Bedeutung der klassischen Ver- ergeben sich 25 Prozent. Schließlich wollen wir noch
erbungslehre und die Mendel’schen Prinzipien bilden berechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür ist,
noch immer eine wichtige Grundlage der Humangenetik. dass das Kind sowohl angewachsene Ohrläppchen als
auch eine Witwenspitze haben wird. Wenn wir davon
ausgehen, dass die infrage stehenden Genorte auf ver-
14.4.1 Die Analyse von Stammbäumen schiedenen Chromosomen liegen, werden die Gene
sich bei dieser Zweifaktor-Kreuzung unabhängig von-
Da man Menschen nicht gezielt paaren kann, sind einander vererben (WwFf × WwFf). Wir wenden also
Humangenetiker für ihre Analysen auf die bereits exis- die Multiplikationsregel an: 0,75 (Wahrscheinlichkeit
tierenden Nachkommen angewiesen. Die Analysen für die Witwenspitze) mal 0,25 (Wahrscheinlichkeit
basieren auf dem Sammeln von Informationen zur Fami- für angewachsene Ohrläppchen) = 0,1875 (= 3/16
liengeschichte bezüglich bestimmter Erbmerkmale und Gesamtwahrscheinlichkeit für das Zusammentreffen
der nachfolgenden Erstellung eines Stammbaums. In beider Merkmale).

364
14.4 Auch die Vererbung beim Menschen folgt den Mendel’schen Regeln

männlich Paarung
Solche Stammbäume haben eine viel größere Bedeu-
tung, wenn es sich bei den untersuchten Merkmalen
weiblich
(Genen) nicht um ein relativ unbedeutendes Erschei-
betroffener Nachkommen in der
Mann Reihenfolge ihrer Geburt nungsbild handelt, sondern um eine schwere Erb-
betroffene (Erstgeborene links) krankheit mit lebenslanger Behinderung oder einem
Frau frühzeitigen Tod. Auch hierbei wird in der klinischen
Humangenetik die gleiche Methode der Stammbaum-
1. Generation analyse eingesetzt, wenn die Vererbung den Men-
(Großeltern) Ww ww ww Ww del’schen Regeln unterliegt.

2. Generation
(Eltern, Tanten
und Onkel) 14.4.2 Rezessive Erbkrankheiten
Ww ww ww Ww Ww ww

3. Generation Man kennt heute Tausende von rezessiv vererbten


(zwei Krankheiten. Die Auswirkungen reichen von vergleichs-
Schwestern)
WW ww weise geringen Symptomen, wie im Fall von Albinis-
oder mus (einer Störung in der Pigmentbildung, die mit
Ww
einem erhöhten Risiko für Hautkrebs und Augenlei-
den einhergeht), bis zu lebensbedrohlich, wie bei der Teil 3
Witwenspitze keine Witwenspitze
Mukoviszidose.
(a) Ist die Witwenspitze ein dominantes oder ein rezessi-
ves Merkmal? Hinweise für die Stammbaumanalyse: Die Vererbung rezessiver Allele
Dieser Stammbaum verfolgt über drei Generationen
die Vererbung eines Merkmals, das als „Witwenspit- Wie können wir die Rolle von rezessiven Allelen bei
ze“ bezeichnet wird (ein dreieckiger Haaransatz). Erbkrankheiten erklären? Wir wissen, dass die meisten
Auffälligerweise besitzt in der dritten Generation die Gene für Proteine codieren, die bestimmte Funktionen
zweitgeborene Tochter keine Witwenspitze, obgleich
beide Eltern das Merkmal besaßen. Ein derartiger im Organismus erfüllen. Ein Allel, das eine Krankheit
Vererbungsverlauf stützt die Hypothese, nach der das bedingen kann (nennen wir es Allel a), codiert entwe-
Merkmal von einem dominanten Allel verursacht wird. der für ein fehlerhaftes Protein, oder das Protein wird
Ginge das Merkmal auf ein rezessives Allel zurück und
beide Eltern zeigten den rezessiven Phänotyp, dann überhaupt nicht gebildet. Im Fall einer rezessiven Erb-
würden alle ihre Nachkommen ebenfalls den rezessi- krankheit zeigen Heterozygote (Aa) den normalen
ven Phänotyp zeigen. Phänotyp („Wildtyp“), da das vorhandene normale Allel
(A) in der Regel eine ausreichende Menge des funk-
1. Generation tionstüchtigen Proteins herstellt, während das Mutan-
(Großeltern) tenallel (a) kein Genprodukt bildet, das die normale
Ff Ff ff Ff
Proteinfunktion stört. Eine rezessive Erbkrankheit tritt
2. Generation deshalb definitionsgemäß nur im homozygoten Erbfall
(Eltern, Tanten
und Onkel) in Erscheinung, wenn ein Individuum zwei Kopien des
FF ff ff Ff Ff ff Mutantenallels a geerbt hat (aa). Beide Eltern müssen
oder
Ff hier also eine Kopie dieses Allels beigesteuert haben.
Obwohl sie selbst gesund sind, können Heterozygote
3. Generation
(zwei das defekte Allel a an ihre Nachkommen weitergeben.
Schwestern) ff FF Man bezeichnet solche Individuen als Merkmalsträger.
oder Abbildung 14.16 erklärt diese Beziehungen am Bei-
Ff
spiel von Albinismus.
Meistens sind von solchen rezessiven Erbkrankhei-
ten Kinder betroffen, deren Eltern die entsprechenden
angewachsenes freies Allele tragen, die also gesund sind und den normalen
Ohrläppchen Ohrläppchen Phänotyp zeigen. Auch dies kann man in einem Pun-
nett-Quadrat wie in Abbildung 14.16 darstellen. Wenn
(b) Ist ein angewachsenes Ohrläppchen ein dominantes
oder ein rezessives Merkmal? Hinweise für die Stamm- beide Eltern Merkmalsträger sind, entsprechen die Kin-
baumanalyse: Die erstgeborene Tochter der dritten der der F1-Generation einer Einfaktor-Kreuzung nach
Generation besitzt ein angewachsenes Ohrläppchen, Mendel. Das erwartete Verhältnis der beiden Allele
obwohl beide Eltern dieses Merkmal nicht zeigen (sie
haben freie Ohrläppchen). Ein solches Vererbungsmus- beträgt somit 1 AA : 2 Aa : 1 aa. Jedes der Kinder hat
ter lässt sich leicht erklären, wenn der Phänotyp der also eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, diploid
verwachsenen Ohrläppchen auf ein rezessives Allel für das rezessive Mutantenallel zu sein. Nicht immer
zurückgeführt wird. Falls es von einem dominanten
Allel verursacht würde, müsste mindestens ein Eltern- weist auch ein Viertel aller Kinder tatsächlich den
teil ebenfalls das Merkmal zeigen. betreffenden Erbschaden auf. Oft sind die Symptome
Abbildung 14.15: Stammbaumanalyse. Jeder der abgebildeten Stamm- der Krankheit so gravierend, dass es zu einer Fehl-
bäume verfolgt ein Merkmal über drei Generationen in der gleichen Familie. geburt in einem frühen Stadium der Embryonalent-
Wie sich aus der Analyse der Stammbäume ergibt, zeigen die beiden Merk- wicklung kommt. Beim Albinismus ist das aber nicht
male unterschiedliche Erbgänge (a dominant und b rezessiv). der Fall und die Kinder werden geboren. Aus der Ver-

365
14 Mendel und das Genkonzept

teilung der Genotypen können wir weiter ablesen, dass sträger sich zufällig treffen und sich miteinander fort-
von den drei Kindern, die keine Albinos sind, statis- pflanzen. Falls jedoch ein Mann und eine Frau nah mit-
tisch zwei heterozygote Merkmalsträger sein werden einander verwandt sind (Geschwister, Cousins und
(also mit einer Wahrscheinlichkeit von 66,6 Prozent). Cousinen ersten Grades etc.), erhöht sich die Wahr-
Homozygot-rezessive Kombinationen können auch scheinlichkeit für die Ausprägung der rezessiven Merk-
aus Paarungen des Genotyps Aa × aa und aa × aa male stark. Man spricht hier von konsanguinischen
hervorgehen. Allerdings wird sich das homozygot- („blutsverwandten“) Paarungen und kennzeichnet dies
rezessive Individuum nicht fortpflanzen, wenn der in Stammbäumen durch Doppellinien. Individuen mit
Genotyp aa zur Sterilität oder zum Tod vor Erreichen gemeinsamen Vorfahren weisen dieselben rezessiven
des Fortpflanzungsalters führt. Selbst wenn homo- Allele mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auf als
zygot Rezessive mit einer Erbkrankheit und den nicht verwandte Personen. Deshalb gehen aus Paarun-
Krankheitssymptomen sich fortpflanzen können, stel- gen naher Verwandter auch öfter Kinder hervor, die
len sie in der Regel jedoch einen sehr kleinen Anteil homozygot für rezessive Merkmale sind. Das gilt sowohl
der Bevölkerung. Viel zahlreicher sind die phäno- für vorteilhafte, als auch für nachteilige Merkmale.
typisch unauffälligen, heterozygoten Merkmalsträger Diese Gesetzmäßigkeiten lassen sich bei vielen Haus-
(auf die Gründe dafür werden wir in Kapitel 23 noch und Nutztieren ebenso beobachten wie an Zootieren,
eingehen). die durch Inzucht entstanden sind.
Es gibt unter Genetikern eine Diskussion darüber, in
Teil 3 Eltern welchem Maß blutsverwandte Paarungen das Risiko
normal normal
Aa × Aa
für Erbkrankheiten beim Menschen erhöhen. Viele
Allele mit schwerwiegenden Nachteilen führen zu (oft
Spermium unbemerkten) Fehlgeburten. Möglicherweise haben sich
deshalb in vielen Kulturen soziale Regeln, Gesetze und
Eizelle

A a
Tabus bezüglich der Heirat naher Verwandter entwi-
Aa ckelt.
AA
A normal
normal
(Allelträger)
Mukoviszidose
Aa Die Mukoviszidose (zystische Fibrose) ist in den
aa
a normal
Albino
Industrieländern der Nordhalbkugel eine der häufigs-
(Allelträger) ten Erbkrankheiten mit einem in der Regel tödlichen
Verlauf. Die Häufigkeit wird für Mitteleuropa mit etwa
Abbildung 14.16: Albinismus: ein rezessiver Phänotyp. Die bei- einem Fall bei 2.500 Geburten beziffert. In anderen
den hier gezeigten Mädchen sind Geschwister, wobei eines eine normale
Regionen tritt die Mukoviszidose wesentlich seltener
Hautfarbe hat, während das andere ein Albino ist. Die meisten rezessiven
auf. So wird für Schwarzafrika eine Häufigkeit von
Homozygoten werden als Kinder von Eltern geboren, die zwar Merkmals-
träger sind, selbst aber einen „normalen“ (Wildtyp-)Phänotyp zeigen. Das etwa 1:17.000 angegeben, für Asiaten sogar eine von
Punnet-Quadrat verdeutlicht die Verteilung der Genotypen. nur 1:90.000. Unter Menschen europäischer Herkunft
sind etwa vier Prozent Merkmalsträger des Mukovis-
? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Schwester mit der nor- zidose-Allels (das entspricht 3,2 Millionen der rund
malen Hautpigmentierung ein Allel für Albinismus trägt? 80 Millionen Einwohner Deutschlands). Das „Wild-
typ-Allel“ des Gens codiert für ein Membranprotein,
das einen Ionenkanal für den Transport von Chloridio-
Im Allgemeinen sind Erbkrankheiten nicht gleichmäßig nen bildet. Bei Menschen mit zwei Kopien des rezes-
unter allen Bevölkerungsgruppen verteilt. So tritt bei- siven Mukoviszidose-Allels ist der Transport beein-
spielsweise das oben erwähnte Tay-Sachs-Syndrom trächtigt oder fällt ganz aus. Das entsprechende Gen
wesentlich häufiger bei aus Osteuropa stammenden liegt auf dem Chromosom 7 und das gebildete Protein
Juden, bei Frankokanadiern, bei Iren und den „Cajuns“ wird als CFTR (für cystic fibrosis transmembrane con-
im US-Staat Louisiana auf, als im allgemeinen Bevöl- ductance regulator) bezeichnet. Sein Ausfall führt zu
kerungsdurchschnitt. Unter den Juden mit familiären einer abnorm hohen Konzentration von Chloridionen
Wurzeln in Osteuropa ist die Tay-Sachs-Krankheit mit außerhalb der Zellen. Dies macht den Schleim sehr
1:3.600 rund hundertmal häufiger als unter vergleich- zähflüssig, der zum Beispiel die Oberfläche der Lun-
baren nichtjüdischen Bevölkerungsgruppen. Diese gen und der Luftröhre überzieht und normalerweise
ungleichmäßigen Verteilungen beobachtet man bei vie- durch Cilienschlag ständig weiterbefördert wird. Der
len Merkmalen. Sie sind eine Folge unterschiedlicher zähere Schleim staut sich in Organen wie der Bauch-
genetischer Entwicklungen von Teilen der Weltbevöl- speicheldrüse (Pankreas), den Lungen, im Verdau-
kerung, die sich in vorindustrieller Zeit herausgebildet ungstrakt und auch an anderen Stellen im Körper an.
haben. Die damals vergleichsweise geringe Bevölke- Dies wiederum hat verschiedene pleiotrope Auswir-
rungsdichte und die eingeschränkte Mobilität bedingte kungen, wie eine verschlechterte Absorption von
das Auftreten geografisch und genetisch isolierter Teil- Nährstoffen im Darm, chronische Bronchitis und wie-
populationen (auch dazu mehr in Kapitel 23). derholte bakterielle Infektionen, vor allem der Atem-
Ist ein rezessives Allel für eine Erbkrankheit selten, wege. Nach neueren Erkenntnissen bewirkt die hohe
so ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass zwei Merkmal- extrazelluläre Chloridkonzentration die häufigen Infek-

366
14.4 Auch die Vererbung beim Menschen folgt den Mendel’schen Regeln

tionen nicht nur durch den schlechteren Abtransport Sichelzellenanämie zeigen. Auf der molekularen Ebene
des Schleims mit den darin gefangenen Bakterien, verhalten sich die beiden Allele also kodominant.
sondern macht außerdem ein von bestimmten Körper- Etwa einer von zehn Afroamerikanern in den USA
zellen gebildetes, antibakteriell wirkendes Antibioti- trägt das Sichelzellenallel – eine ungewöhnlich hohe
kum unwirksam. Auch Immunzellen zur Bekämpfung Häufigkeit bei Heterozygoten für ein Allel das so schwer-
der Bakterien verfangen sich im Schleim und sterben wiegende Auswirkungen hat, wenn es homozygot vor-
schließlich ab, was das Problem noch verschlimmert. liegt. Warum ging dieses Allel im Laufe der Evolution in
Ohne Behandlung führt die Mukoviszidose inner- der Bevölkerung nicht verloren? Dies lässt sich damit
halb der ersten fünf Lebensjahre zum Tod. Durch tägli- erklären, dass vor allem bei Kleinkindern eine ein-
che Antibiotikagaben und eine vorsichtige Förderung zelne Kopie des Sichelzellenallels das Auftreten und
des Schleimabflusses aus den verstopften Luftwegen, die Stärke von Malariaanfällen vermindert. Ein Teil des
sowie durch vorbeugende Maßnahmen gegen Neu- Vermehrungszyklus von Malariaparasiten (Plasmodium
infektionen, gelingt heute eine deutliche Lebensverlän- falciparum) läuft in roten Blutzellen ab (siehe Abbildung
gerung. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt 28.10). Selbst vergleichsweise wenige Sichelzellen bei
trotzdem gegenwärtig nur bei etwa 25 Jahren. Erste Heterozygoten reduzieren deshalb die Populationsdichte
kleine Behandlungserfolge werden aus Ansätzen der der einzelligen Parasiten und mildern somit die Symp-
Gentherapie vermeldet, die darauf abzielt, Wildtyp- tome der Malaria. Im tropischen Afrika, wo Malaria-
Kopien des CFTR-Gens in die Zellen von Mukoviszi- infektionen häufig sind, erweist sich das Sichelzellen-
dose-Patienten einzubringen (siehe auch Kapitel 20). allel des β-Globin-Gens damit gleichzeitig als Vor- und Teil 3
als Nachteil. Der verhältnismäßig hohe Anteil von Afro-
Sichelzellenanämie amerikanern mit dem Sichelzellen-Allel ist ein Ver-
EVOLUTION Unter Schwarzafrikanern ist die Sichelzel- mächtnis ihrer afrikanischen Herkunft.
lenanämie wohl die bekannteste Erbkrankheit. Sie tritt
mit einer Häufigkeit von etwa 1:250 auf und liegt auch Sichelzellenallele
niedriger
bei den von Schwarzafrikanern abstammenden US- O2-Partial-
Amerikanern noch bei 1:400. Die Sichelzellenanämie druck Sichel-
wird durch den Austausch eines einzigen Aminosäu- zellen-
anämie
rerestes in einer der Untereinheiten des Blutproteins
Hämoglobin verursacht. Wenn ein Betroffener an Sauer-
Hämoglobin- Ausschnitt eines Sichelzellen
stoffmangel leidet (etwa bei körperlicher Anstrengung Proteine in Stapels von Hämo- (rote Blutkörperchen)
oder in großer Höhe), bilden die Hämoglobinmoleküle Sichelzellen globin-Proteinen
lange, stäbchenförmige Aggregate, die die roten Blutzel- in Sichelzellen
len (Erythrocyten) verformen. Diese nehmen dann die (a) Homozygote Person mit Sichelzellenanämie: körperliche
Schwäche, Blutarmut, Schmerzen und Fieber, Organschäden
für die Krankheit typische Form von Sicheln an (siehe
Sichelzellenallel
Abbildung 14.17). Die Sichelzellen können sich verha- sehr
normales Allel niedriger
ken und kleinste Blutgefäße (Kapillaren) verstopfen. Da einige
O2-Partial- Symp-
dies überall im Körper auftreten kann, treten allgemeine druck tome
Krankheitssymptome auf, wie körperliche Schwäche, der
diffuse Schmerzen, Organschäden und sogar Lähmungs- Sichel-
zellen-
erscheinungen. Die vielschichtigen Auswirkungen einer anämie
Homozygotie für das Sichelzellenallel des β-Globin- Sichelzell- Ausschnitt eines Sichelzellen
und normales Stapels von defekten und normale
Gens sind damit ein weiteres Beispiel für Pleiotropie. Hämoglobin- Hämoglobin-Proteinen rote Blutkörperchen
Regelmäßige Transfusionen können bei Kindern, die an Protein und normale Hämo-
einer schweren Form der Sichelzellenanämie leiden, globin-Proteine
Gehirnschäden verhindern. Neuere Medikamente kön- (b) Heterozygote Person als Träger der Sichelzellenanämie:
Abgeschwächte Symptome der Erkrankung bei sehr niedrigem
nen helfen, andere mit der Krankheit einhergehende O2-Partialdruck; Milderung der Malaria-Symptome
Probleme zu lindern. Eine Behandlung der eigentlichen
Ursache ist bisher noch nicht möglich, obwohl auch hier Abbildung 14.17: Die Sichelzellenanämie: Eine Krankheit und
gentherapeutische Ansätze erprobt werden. ihre Vererbung.
Obgleich zwei Kopien des betroffenen Allels vorliegen
müssen, um die Symptome der Sichelzellenanämie voll
auszuprägen, zeigt auch schon der heterozygote Zustand 14.4.3 Dominante Erbkrankheiten
mit nur einem Mutantenallel des β-Globin-Gens einen
Phänotyp: das Wildtyp-Allel ist also unvollständig Obwohl rezessive Allele bei menschlichen Erbkrank-
dominant gegenüber dem Sichelzellenallel. In heterozy- heiten häufiger auftreten, gibt es auch Krankheiten,
goten Trägern werden beide Formen des β-Globins gebil- die auf dominanten Allelen beruhen. Ein Beispiel
det und ins Hämoglobin der roten Blutzellen eingebaut. hierfür ist die Achondroplasie – eine Form des Zwerg-
Heterozygote, die das Merkmal der (partiellen) Sichel- wuchses, die bei einem von 25.000 bis 40.000 Men-
zelligkeit zeigen, sind für gewöhnlich gesund, können schen vorkommt. Heterozygote Individuen zeigen den
aber bei längerem Sauerstoffmangel Symptome der zwergwüchsigen Phänotyp (Abbildung 14.18). Alle
Menschen, die nicht kleinwüchsig sind – 99,99 Pro-

367
14 Mendel und das Genkonzept

zent der Bevölkerung – sind daher homozygot für das sie mit 1:100.000 viel seltener. In Europa sollen der-
rezessive Allel. Wie bei überzähligen Fingern oder zeit zwischen 10.000–20.000 Personen betroffen sein.
Zehen ist die Achondroplasie damit ein Merkmal, des- Bis vor Kurzem galt das Auftreten von klinischen
sen rezessives Allel weitaus häufiger vorkommt als Symptomen als einziger Nachweis, dass eine Person
das entsprechende dominante Allel. das pathologische Allel in seinem Erbgut hat. Durch
Dominante Allele, die eine tödliche (letale) Krank- die Analyse von DNA-Proben einer großen Familie
heit bedingen, sind aus offensichtlichen Gründen sehr mit sehr vielen Krankheitsfällen ist es Humangene-
viel seltener zu finden, als rezessive Allele, die nur im tikern gelungen, das Huntington-Allel an einem Gen-
homozygoten Zustand tödlich sind. Alle letalen Allele ort an der Spitze des kurzen Arms von Chromosom 4
müssen durch Mutationen in den Zellen der Keim- nachzuweisen. Das Gen wurde isoliert und 1993 voll-
bahn entstanden sein, aus denen die Keimzellen her- ständig sequenziert. Diese Information wurde zur Ent-
vorgehen, um vererbt zu werden. Ein dominant letales wicklung eines schnellen PCR-Tests genutzt (siehe
Allel wird in der Regel nicht an die nächste Genera- Kapitel 20), mit dem man das Huntington-Allel in der
tion weitergegeben, weil die Träger sterben, bevor sie Erbsubstanz nachweisen kann. Personen, in deren
sich fortpflanzen können. Im Gegensatz dazu kann ein Familie ein Fall von Chorea Huntington vorgekom-
rezessiv letales Allel durch heterozygote Merkmalsträ- men ist, können heute feststellen lassen, ob sie das
ger ohne Krankheitssymptome über Generationen hin- Allel tragen und so an ihre Kinder weitervererben
weg weiter vererbt werden. könnten. Mit dem Nachweis und dem Bewusstsein,
Teil 3 dass es kein Mittel gegen die Krankheit gibt, ergibt
sich ein Dilemma für die Menschen mit einem famili-
Eltern ären Hintergrund der Krankheit: Welchen Nutzen hat
Zwergwuchs normal jemand, der noch gesund ist, wenn er weiß, dass er
Dd × dd
eine tödliche und bislang nicht heilbare Krankheit
geerbt hat? Einige möchten sich vielleicht untersu-
Spermium
chen lassen, um sicherzustellen, dass ihre Kinder die
D d Krankheit nicht bekommen; andere entscheiden sich
Eizelle gegen eine Untersuchung, um dem dauerhaften Stress,
Dd
dd
d Zwerg-
normal
der aus einer Diagnose des Allels erwachsen würde,
wuchs zu entgehen. Die Entscheidung sollte, mit der Mög-
Dd
dd
lichkeit einer vorherigen ausführlichen Beratung, dem
d Zwerg- Einzelnen überlassen bleiben.
normal
wuchs

Abbildung 14.18: Achondroplasie: ein dominantes Merkmal. Dr.


Michael C. Ain ist ein Mensch mit Achondroplasie, einer von einem domi- 14.4.4 Multifaktorielle Krankheiten
nanten Allel (D) verursachten Form der Zwergwüchsigkeit. Das Allel kann
durch eine spontane Mutation in der Ei- oder der Samenzelle entstanden Die Erbkrankheiten, die wir bislang besprochen haben,
sein, aus der das betroffene Individuum hervorgegangen ist, oder es kann werden als „einfache Mendel’sche Krankheiten“ be-
von einem betroffenen Elternteil weiter vererbt worden sein, wie das dar- zeichnet, weil sie durch Veränderungen eines oder
gestellte Punnett-Quadrat zeigt. beider Allele eines Gens verursacht werden. Viele in
einer Bevölkerung auftretende Krankheiten haben
Huntington’sche Krankheit aber auch multifaktorielle Ursachen. Dies gilt häufig
Ein dominant letales Allel kann in einer Population für Krankheiten, bei denen erbliche Faktoren eine Ver-
erhalten bleiben, wenn der Tod betroffener Individuen anlagung (Prädisposition) bilden oder für die zumin-
erst in einem fortgeschrittenen Alter eintritt, nachdem dest eine genetische Komponente angenommen wird.
das Allel bereits an die Nachkommen weitergegeben Letzteres ist jedoch oft schwierig nachzuweisen. In
wurde. Wenn die Krankheit ausbricht, kann die nächste diesem Zusammenhang sind beispielsweise Herz-
Generation also schon existieren. So treten zum Bei- Kreislauf-Erkrankungen, die Zuckerkrankheit (Diabe-
spiel die Symptome der Huntington’schen Krankheit tes mellitus, insbesondere vom Typ II), einige Formen
(Chorea major, Chorea Huntington, erblicher Veitstanz), von Krebs, Alkoholismus und andere Formen der Dro-
die von einem dominant letalen Allel verursacht wird, gensucht, sowie Geistes- und Gemütskrankheiten wie
erst im Alter von etwa 35–45 Jahren auf. Es handelt Schizophrenie und manische Depression (bipolare Ge-
sich um eine schleichende, neurodegenerative Erkran- mütsstörung) zu nennen. Bei ihnen wird zumindest
kung. Hat der Verfall des Nervensystems erst einmal teilweise eine genetische Grundlage vermutet. Aller-
eingesetzt, ist er unaufhaltsam und führt unweigerlich dings war die Suche nach einzelnen Genen als Ursa-
zum Tod. Für jedes Kind eines Elternteils mit dem domi- chen derartiger Krankheiten bisher meist erfolglos
nanten Huntington-Allel besteht wie bei der Achondro- und sie werden deshalb oft als Krankheiten mit „poly-
plasie eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, das Allel genen“ Ursachen eingeordnet. So hat man zum Bei-
geerbt zu haben und ebenfalls zu erkranken (Punnett- spiel zahlreiche Gene entdeckt, die die kardiovasku-
Quadrat, Abbildung 14.18). Für Mitteleuropa wird die läre Gesundheit (also das Risiko für Herzinfarkt und
Häufigkeit mit etwa 1:20.000 angegeben, in den Verei- Bluthochdruck) beeinflussen und einige Menschen
nigten Staaten von Amerika mit 1:10.000, in Japan ist anfälliger für Schlaganfälle machen. Unabhängig von

368
14.4 Auch die Vererbung beim Menschen folgt den Mendel’schen Regeln

unserem Genotyp wird hier die Anfälligkeit aber auch des Genotyps Aa sind. In diesem Fall wäre die Wahr-
durch unsere Lebensweise und weitere multifaktorielle scheinlichkeit dafür, dass jedes weitere Kind die Krank-
Merkmale beeinflusst. Sport und andere körperliche heit ebenfalls haben wird, 25 Prozent (1/4).
Betätigungen, eine gesunde Ernährung, Nichtrauchen Wenn wir mithilfe der Mendel’schen Vererbungs-
und die Fähigkeit zur Stressbewältigung vermindern regeln die möglichen Ergebnisse von Kreuzungen vor-
das Risiko für akute Herzanfälle und gewisse Formen aussagen, stellt jedes Kind ein genetisch unabhängiges
von Krebs. Ereignis dar. Sein Genotyp bleibt deshalb von dem
etwaiger Geschwister unbeeinflusst. Nehmen wir an,
dass Klaus und Sabine drei weitere Kinder haben und
14.4.5 Genetische Untersuchungen und alle drei die hypothetische Erbkrankheit haben. Die
Beratung Wahrscheinlichkeit dafür ist 1/64 (0,25 × 0,25 × 0,25
= 0,015625). Ungeachtet eines derartigen Unglücks
Wenn eine Erbkrankheit nach den Mendel’schen Regeln würde die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein weiteres
weitergegeben wird, lässt sich ihre Weitergabe durch Kind wieder diese Krankheit hat, weiterhin 25 Prozent
vorbeugende Maßnahmen eindämmen oder man kann (1:4) betragen.
zumindest das Risiko ihres Auftretens abschätzen,
bevor ein Kind gezeugt wird. Moderne Krankenhäuser Genetische Untersuchung zum Aufspüren von
beschäftigen Fachärzte für Humangenetik, die werdende Merkmalsträgern
Eltern oder Paare beraten, in deren Familie eine Erb- Die meisten Kinder mit rezessiven Krankheiten werden Teil 3
krankheit bekannt ist. von scheinbar gesunden Eltern geboren. Der Schlüssel
zur genauen Abschätzung des genetischen Risikos für
Genetische Beratung auf der Grundlage der das Auftreten einer bestimmten Krankheit liegt also in
Mendel’schen Regeln der Voraussage, welche Allelkombination die zukünfti-
Betrachten wir den Fall eines hypothetischen Paares, gen Eltern aufweisen. Dazu muss man wissen, ob einer
das wir Klaus und Sabine nennen wollen. Beide hatten oder beide Elternteile heterozygote Träger des rezessiven
jeweils einen Bruder, der an der gleichen, rezessiv-leta- Allels sind, das im homozygoten Zustand krank macht.
len Erbkrankheit gestorben ist. Bevor sie planen, eigene Für eine wachsende Zahl von Erbkrankheiten sind heute
Kinder zu bekommen, lassen sich Klaus und Sabine entsprechende Testverfahren verfügbar, mit deren Hilfe
von einem Humangenetiker beraten, um das Risiko sich die Allele unterscheiden lassen. Damit lässt sich
abzuschätzen, dass sie selbst ein Kind mit der todbrin- feststellen, ob ein phänotypisch gesundes Individuum
genden Krankheit haben werden. Durch die Krankheit homozygot für das Wildtyp-Allel oder heterozygot am
der beiden Brüder wissen wir, dass sowohl die Eltern betreffenden Genort ist. Heute lassen sich damit bei-
von Klaus als auch die von Sabine jeweils beide Träger spielsweise Träger der Allele der Tay-Sachs-Krankheit,
des pathologischen, rezessiven Allels gewesen sein der Sichelzellenanämie und der meisten genetischen
müssen (alle vier „Großeltern“ des geplanten Kindes Varianten der Mukoviszidose erkennen.
von Sabine und Klaus haben also jeweils ein Mutanten- Mit diesen Untersuchungen können Menschen, in
allel). Klaus und Sabine sind daher beide als Produkte deren Familie Erbkrankheiten aufgetreten sind, wissen-
einer Aa × Aa-Kreuzung anzusehen (a bezeichnet das schaftlich fundiert beraten und über das Risiko aufge-
rezessive, für die Krankheit verantwortliche Allel). klärt werden, mit dem sie selbst kranke Kinder haben
Weiterhin wissen wir, dass weder Sabine noch Klaus werden. Doch die neuen Methoden führen auch zu
homozygot für das Krankheitsallel sind (aa), weil beide neuen Problemen: Werden Träger potenziell pathologi-
nicht an der Krankheit leiden. Daher lauten ihre Geno- scher Erbanlagen diskriminiert, wenn die Öffentlich-
typen entweder AA oder Aa. keit von ihrer genetischen Veranlagung erfährt? Wird
Mit dem bekannten Phänotypverhältnis von Ihnen der Abschluss einer Kranken- oder Lebensversi-
1 AA : 2 Aa : 1 aa für Nachkommen einer Aa × Aa- cherung verweigert, obwohl sie vollkommen gesund
Kreuzung ergibt sich für Klaus und Sabine jeweils sind? Werden schlecht informierte Arbeitgeber „Träger“
eine 2/3-Wahrscheinlichkeit (66,7 Prozent), dass sie mit „Krankheit“ gleichsetzen? Und werden schließlich
Träger des Mutantenallels sind (Genotyp Aa). Nach genügend Fachleute zur genetischen Beratung zur Ver-
der Multiplikationsregel ergibt sich damit eine Wahr- fügung stehen, um den Betroffenen die Bedeutung der
scheinlichkeit, dass ihr Kind homozygot sein und an Ergebnisse zu erklären? Zwar ermöglichen uns die Fort-
der tödlichen Erbkrankheit leiden wird, von 1/9 (2/3 schritte in der Biotechnologie, menschliches Leid zu
× 2/3 × ¼ = 0,67 × 0,67 × 0,25 = 0,11; die Wahr- mindern, jedoch müssen auch die ethischen Bedenken
scheinlichkeit, dass Klaus das Allel überträgt, mal der berücksichtigt werden.
Wahrscheinlichkeit, dass Sabine es überträgt, mal der
Wahrscheinlichkeit, dass zwei Merkmalsträger ein kran- Vorgeburtliche Untersuchungen
kes Kind haben werden). Für den Fall, dass Klaus und Wir wollen annehmen, dass bei einem Paar beide Part-
Sabine sich nun entscheiden, doch ein Kind miteinan- ner Träger des Tay-Sachs-Allels sind, sich aber dennoch
der zu haben, ergibt sich eine Chance von 8/9 (knapp entscheiden, ein Kind zu bekommen. Ab der 14. bis 16.
90 Prozent), dass das Kind gesund sein wird. Sollte Schwangerschaftswoche kann durch eine Fruchtwasser-
das Kind trotzdem an der Erbkrankheit leiden, wüss- untersuchung (Amniozentese) festgestellt werden, ob
ten wir, dass sowohl Klaus wie Sabine Merkmalsträger der sich entwickelnde Embryo die Tay-Sachs-Krankheit

369
14 Mendel und das Genkonzept

hat oder nicht (Abbildung 14.19a). Um diese Untersu- dem mütterlichen Kreislauf zum Embryo hin transpor-
chung durchzuführen, sticht der Gynäkologe eine Biop- tiert (Abbildung 14.19b). Die Chorionzotten, aus
sie-Nadel durch die Bauchdecke der Mutter in die denen das Probenmaterial entnommen wird, gehören
Fruchtblase und entnimmt daraus etwa zehn Milliliter zum fetalen Teil der Placenta und tragen daher das
Fruchtwasser (Amnionsflüssigkeit). Das Fruchtwasser Erbgut des Embryos. Diese Zellen vermehren sich so
füllt die Fruchtblase aus und umgibt den darin befind- schnell, dass an ihnen unmittelbar ein Karyogramm
lichen Embryo. Aus den im Fruchtwasser enthaltenen erstellt und der fetale Karyotyp ermittelt werden kann.
Substanzen lassen sich zum Beispiel Erbkrankheiten Im Gegensatz zur Amniozentese müssen die gewonne-
erkennen, die auf Stoffwechselstörungen beruhen. nen Zellen also nicht erst über einige Wochen in Kul-
Andere Krankheiten, zu denen auch das Tay-Sachs- tur vermehrt werden. Ein weiterer Vorteil der Chori-
Syndrom gehört, werden in der DNA von Zellen nach- onzottenbiopsie besteht darin, dass sie schon in der 8.
gewiesen, die zunächst in Zellkulturen gezüchtet wer- bis 10. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden
den müssen. Es handelt sich dabei um vereinzelte kann, also deutlich früher als die Fruchtwasserunter-
Fetuszellen, die sich vom Embryo abgelöst haben und suchung. Allerdings kann man im Fruchtwasser einige
aus dem Fruchtwasser isoliert werden können. Durch Untersuchungen durchführen, die an Chorionzotten
die Erstellung eines Karyogramms (siehe Abbildung nicht möglich sind. In jüngster Zeit wurden auch
13.3) können dann beispielsweise auch Chromosomen- Methoden zur Isolierung von fetalen Zellen entwickelt,
defekte nachgewiesen werden. die über die Nabelschnur und die Placenta in den
Teil 3 Eine alternative vorgeburtliche Untersuchungsme- Kreislauf der Mutter gelangen. Auch die sehr wenigen
thode ist die Chorionzottenbiopsie. Bei diesem Verfah- Zellen, die man damit erhält, müssen zunächst in Kul-
ren wird eine Biopsie-Nadel durch den Gebärmutter- tur vermehrt werden. Im Jahre 2012 gelang es For-
hals eingeführt und eine winzige Gewebeprobe aus schern, das gesamte fetale Genom aus DNA, die aus
dem Mutterkuchen (Placenta) entnommen. Die Pla- dem Blut der Mutter stammte, zu sequenzieren und es
centa wird zum Teil von der Mutter, zum Teil aber mit der Genomsequenz beider Eltern zu vergleichen. Es
auch vom Embryo gebildet und verbindet den Embryo ist anzunehmen, dass sich diese Nachweismethode aus
in der Fruchtblase mit dem Körper der Mutter. Über Blutproben in Zukunft durchsetzen wird.
die Placenta werden Abfallprodukte aus dem embryo- Bildgebende Verfahren erlauben heute auch die
nalen Stoffwechsel abtransportiert und Nährstoffe aus direkte Untersuchung des Fetus auf anatomische Miss-

(a) Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) (b) Chorionzottenbiopsie

1 Eine Fruchtwasserprobe Ultraschall 1 Eine Probe des Chorion-


kann ab der 14.–16. Ultraschall zottengewebes kann
Schwangerschaftswoche Frucht- bereits in der 8.–10.
entnommen werden. wasser- Schwangerschaftswoche
entnahme entnommen werden.
Fetus
Mutterkuchen
Fetus (Placenta) durch den
Gebärmutterhals
Mutterkuchen Chorionzotten eingeführte
(Placenta) Saugkanüle
Gebärmutterhals
Gebärmutterhals
Gebärmutter (Cervix)
(Cervix) Gebärmutter
(Uterus)
(Uterus)
Zentrifugation

Flüssigkeit mehrere Stunden


biochemische
Fetuszellen und mehrere Stunden
genetische Fetuszellen
2 Biochemische Unter- mehrere Untersuchungen
suchungen können Wochen
unmittelbar nach der
Fruchtwasserentnahme 2 Die Karyotypbestimmung und
oder später an den in die biochemischen Untersu-
Kultur genommenen Zellen chungen können unmittelbar
durchgeführt werden. an den Fetuszellen vorgenom-
men werden und liefern etwa
3 Die Fetuszellen müssen innerhalb eines Tages
zunächst für mehrere mehrere Wochen mehrere Stunden Ergebnisse.
Wochen in Kultur
genommen werden, um
ausreichende Mengen für
eine Karyotypbestimmung
zu erhalten. Karyotypbestimmung

Abbildung 14.19: Untersuchung eines menschlichen Embryos auf Erbkrankheiten. Mit biochemischen Untersuchungsmethoden können
Substanzen im Fruchtwasser nachgewiesen werden, die auf eine Stoffwechselstörung hinweisen. Molekulargenetische Untersuchungen können weitere
Abweichungen nachweisen. Die Karyotypisierung gibt Aufschluss darüber, ob der Embryo einen vollständigen und intakten Chromosomensatz aufweist.

370
14.4 Auch die Vererbung beim Menschen folgt den Mendel’schen Regeln

bildungen. Dabei ist die Ultraschalluntersuchung all- den Experimenten Gregor Mendels. Die Bedeutung sei-
gemein verbreitet, bei der nach der Art eines Echolots ner Entdeckungen wurde von den meisten seiner
Schallwellen in den Bauch der Schwangeren gesendet Zeitgenossen zunächst übersehen. Dies änderte sich
und die reflektierten Anteile analysiert und in ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts – mehrere Jahrzehnte,
Bild umgesetzt werden. Es handelt sich also um eine nachdem Mendel seine Untersuchungen veröffentlicht
einfache, nicht-invasive Untersuchungsmethode. Bei hatte. Es ist den damaligen Wissenschaftlern hoch
der Fetoskopie – einer Variante der Videoendoskopie anzurechnen, dass sie den Ruhm der Entdeckung der
– wird ein nadelfeines Glasfaserkabel mit einer minia- Vererbungsregeln nicht für sich beanspruchten, son-
turisierten Kamera in die Gebärmutter eingeführt und dern die Arbeiten von Gregor Mendel zitierten. Im
der Embryo wird direkt betrachtet. nächsten Kapitel werden Sie etwas über das Verhalten
Ultraschalluntersuchungen und die DNA-Isolierung der Chromosomen bei der geschlechtlichen Fortpflan-
aus Blutproben bergen keine bekannten Risiken für zung und die darin begründeten physikalischen Grund-
Mutter und Kind. Bei den anderen Methoden treten lagen der Mendel’schen Vererbungsregeln erfahren. Die
gelegentlich Komplikationen auf (im unteren Prozentbe- Vereinigung der Mendel’schen Erblehre mit der Chro-
reich). Da mit fortschreitendem Alter der Mutter das mosomentheorie der Vererbung beflügelte den Fort-
Risiko steigt, ein Kind mit Trisomie-21 (Down-Syn- schritt in der Genetik und in der gesamten Biologie.
drom) zu bekommen, wurden früher Fruchtwasser- oder
Chorionzotten-Untersuchungen nur Frauen über 35 Jah-
ren empfohlen. Eine Neubewertung der Risiken des Ein-  Wiederholungsfragen 14.4 Teil 3
griffs hat dazu geführt, dass seit dem Jahr 2007 diese
Untersuchungen auch routinemäßig allen Schwangeren 1. Bettina und Thomas haben jeweils einen Bru-
angeboten werden. In jedem Fall wird den Eltern die der mit Mukoviszidose, aber weder Bettina
Entscheidung über das weitere Vorgehen nicht leicht oder Thomas noch ihre Eltern leiden an der
fallen, wenn eine schwere Erbkrankheit diagnostiziert Erbkrankheit. Berechnen Sie die Wahrschein-
werden sollte. Tatsächlich ist seit der Einführung des lichkeit dafür, dass ein Kind der beiden an Mu-
Nachweises für die Tay-Sachs-Krankheit im Jahre 1980 koviszidose leiden wird. Wie groß wäre die
die Zahl der Kinder, die mit dieser unheilbaren Krank- Wahrscheinlichkeit, falls der Test ergäbe, dass
heit geboren werden, um 90 Prozent zurückgegangen. Thomas ein Träger des pathologischen Allels
ist, Bettina aber nicht?
Reihenuntersuchungen bei Neugeborenen
2. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Erklären Sie, wie
Einige Symptome von Erbkrankheiten können durch
der Austausch eines einzelnen Aminosäure-
entsprechende Behandlungen stark abgeschwächt wer-
restes im Hämoglobin zu einer Zusammen-
den, wenn man sie frühzeitig erkennt. Sie lassen sich
lagerung des Proteins und zur Ausbildung
nach der Geburt durch einfache Untersuchungen nach-
von langen Hämoglobinstapeln führt. (Nutzen
weisen, die heute routinemäßig durchgeführt werden
Sie die Abbildungen 5.14, 5.18 und 5.19.)
oder sogar vorgeschrieben sind. Eine solche obligate
Untersuchung weist die Phenylketonurie nach. Phenyl- 3. Claudia wurde mit sechs Zehen an beiden Fü-
ketonurie (PKU) ist eine rezessiv vererbte Krankheit, die ßen geboren (ein dominantes Merkmal). Zwei
mit einer Häufigkeit von 1:6.000 bis 1:7.000 auftritt. ihrer fünf Geschwister und ihre Mutter, aber
Individuen mit dieser Krankheit sind nicht in der Lage, nicht ihr Vater, zeigen ebenfalls eine Polydak-
die aromatische Aminosäure Phenylalanin abzubauen. tylie (überzählige Finger/Zehen). Welchen Ge-
Sie und ihr Abbauprodukt Phenylpyruvat reichern sich notyp hat Claudia für das Merkmal der „Finger-
an, wobei ihre Blutkonzentration toxisch werden kann. zahl“? Erläutern Sie Ihre Antwort. Benutzen
Bleibt diese Stoffwechselstörung in der frühkindlichen Sie dazu die Symbole D (dominantes Allel) und
Entwicklung unerkannt, so kommt es zu einer dauerhaft d (rezessives Allel) zur Kennzeichnung der Al-
verzögerten Gehirnentwicklung und bleibenden geisti- lele für dieses Merkmal.
gen Schäden. Wird die Krankheit jedoch schon beim
Neugeborenen entdeckt, dann verabreicht man eine spe- 4. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Schauen Sie sich
zielle Diät, die nur Spuren von Phenylalanin enthält. bitte in der Tabelle 14.1 das Verhältnis der
Dies erlaubt eine normale Entwicklung des Gehirns und Phänotypen in der F2-Generation bezüglich des
der höheren Hirnfunktionen. Leider sind bisher nur Merkmals der Blütenfarbe an. Dieses Merkmal
wenige Erbkrankheiten ähnlich leicht zu behandeln. wird bei einer monohybriden Kreuzung domi-
Die Reihenuntersuchung von Feten und Neugebore- nant (violette Erbsenblüte) bzw. rezessiv (weiße
nen auf schwere Erbkrankheiten, genetische Untersu- Blüte) vererbt. Bestimmen Sie die Verhältnisse
chungen zur Identifizierung von Merkmalsträgern und für die phänotypischen Merkmale, die Sie aus
die humangenetische Beratung beruhen alle auf Men- der Abbildung 14.15b ableiten würden und ver-
dels Untersuchungen der Vererbung. Das heute in der gleichen Sie die Zahlen. Erklären Sie den Un-
Genetik fest verankerte Konzept des Gens als Erban- terschied.
lage, das nach einfachen Regeln der Wahrscheinlichkeit
übertragen wird, verdankt die Biologie den wegweisen- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
den, quantitativen und zu Recht als „klassisch“ gelten-

371
14 Mendel und das Genkonzept

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 1 4  

Konzept 14.1 die Wahrscheinlichkeit für das gleichzeitige Auftre-


Das wissenschaftliche Vorgehen von Mendel führte ten zweier unabhängiger Ereignisse gleich dem Pro-
zu den Gesetzen der Vererbung dukt der Einzelwahrscheinlichkeiten ist. Nach der
Additionsregel ist die Wahrscheinlichkeit für ein
 Mendels experimentelle, quantitative Vorgehens- Ereignis, das auf zwei oder mehr verschiedene, sich
weise. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts for- gegenseitig ausschließende Weisen erhalten wer-
mulierte Gregor Mendel eine Theorie der Vererbung den kann, gleich der Summe der Einzelwahrschein-
auf der Grundlage seiner Experimente mit Garten- lichkeiten.
erbsen (Pisum sativum). Er postulierte, dass Eltern  Die Lösung komplexer genetischer Probleme mit
diskrete Vererbungseinheiten (Gene) an ihre Nach- den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Eine
kommen weitergeben, die ihre Identität über die Mehrfaktor-Kreuzung entspricht einer entsprechen-
Generationen beibehalten. den Zahl gleichzeitig erfolgender, unabhängiger
 Die Uniformitätsregel (1. Mendel’sche Regel). Die Einfaktor-Kreuzungen. Bei der Berechnung der Wahr-
Individuen der F1-Generation unterscheiden sich scheinlichkeitswerte für die zu erwartenden Geno-
nicht bezüglich des beobachteten Merkmals. typen der Nachkommen solcher Kreuzungen wird
Teil 3  Die Spaltungsregel (2. Mendel’sche Regel). Ein Gen zunächst jedes Merkmal getrennt betrachtet. An-
kann in verschiedenen, in der Sequenz der Nucleo- schließend werden die Einzelwahrscheinlichkeiten
tidbasen voneinander abweichenden Zuständen multipliziert.
vorkommen, die als Allele bezeichnet werden. In
einem Individuum mit diploidem Genom können ZEICHENÜBUNG Verändern Sie das Punnett-Quadrat in
die homologen Genorte von verschiedenen Allelen Abbildung 14.8, welches eine dihybride Kreuzung
oder von gleichen Allelen besetzt sein. Im Verlauf der zeigt, indem Sie daraus zwei kleine Quadrate erstel-
Keimzellbildung (Gametogenese) werden die homo- len, die die jeweilige monohybride Kreuzung darstel-
logen Chromosomenpaare getrennt (Segregation). len. Geben Sie unterhalb der Quadrate den jeweils
Jede gebildete Ei- oder Samenzelle trägt nur eine zugehörigen Phänotyp an. Nutzen Sie nun die Multi-
Kopie des betreffenden Genortes. Die Allele in den plikationsregel, um die prozentuale Verteilung der
Keimzellen können identisch oder unterschiedlich verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten zu berech-
sein. Diese Regel erklärt die 3:1-Aufspaltung der Phä- nen. Welche Häufigkeiten erhalten Sie?
notypen in der F2-Generation bei der Selbstbestäu-
bung von Monohybriden. Jedes Individuum erbt je Konzept 14.3
eine Kopie jedes (autosomalen) Gens von jedem Die Mendel’schen Regeln reichen nicht zur Erklärung
Elternteil. Bei Heterozygoten sind die homologen aller Erbgänge aus
Allele verschieden, bei Homozygoten dagegen iden-
tisch. Die Expression eines dominanten Allels führt  Die Erweiterung der Mendel’schen Regeln bei ein-
zu einem Phänotyp, der die Auswirkungen eines zelnen Genen.
rezessiven Allels überdeckt. Homozygote Lebewesen
werden auch als reinerbig oder reinrassig bezeichnet. Dominanzgrad Beschreibung Beispiel
 Die Unabhängigkeitsregel (3. Mendel’sche Regel).
Die Allele eines Gens werden bei der Gametenbil- Vollständige Dominanz Der heterozygote Phänotyp
eines Allels gleicht dem homozygot- PP Pp
dung unabhängig von anderen Allelen an anderen dominanten.
Genorten verteilt, sofern sie auf verschiedenen Chro-
mosomen liegen. Bei einer Zweifaktor-Kreuzung von Unvollständige Der heterozygote Phänotyp
Dominanz eines liegt zwischen den beiden
Individuen, die bezüglich zweier Gene heterozygot der Allele homozygoten Phänotypen.
sind, ergibt sich daraus ein Verhältnis der Phäno-
C RC R C RC W C WC W
typen von 9:3:3:1.
Kodominanz Bei Heterozygoten
? Als Mendel eine reinerbig violettfarbene mit einer weiß blühenden werden beide Phänotypen I AI B
ausgeprägt.
Erbse kreuzte, gab es in der F1-Generation keine Pflanzen mit weißen Blü-
ten. In der F2-Generation erschienen dann jedoch Nachkommen, die wie-
Multiple Allele In der Population kommen Die Allele des AB0-
der eine weiße Blütenfarbe besaßen. Erklären Sie diese Beobachtungen mehr als zwei Allele des Blutgruppensystems,
unter Verwendung der korrekten genetischen Bezeichnungen. betrachteten Gens vor. I A , I B und i

Pleiotropie Ein Gen beeinflusst Sichelzellenanämie


mehrere phänotypische
Konzept 14.2 Merkmale.

Die Mendel’sche Vererbung von Merkmalen unterliegt


den Gesetzen der Statistik

 Multiplikations- und Additionsregel für Einfaktor-


Kreuzungen. Die Multiplikationsregel besagt, dass

372
Zusammenfassung

 Die Erweiterung der Mendel’schen Regeln bei mehr  Stammbaumanalyse. Familienstammbäume können
als einem Gen. herangezogen werden, um die Genotypen von Indi-
viduen abzuleiten und Vorhersagen über deren Kin-
Beziehung der Gene Beschreibung Beispiel
der zu treffen. Die Vorhersagen beruhen auf statisti-
schen Wahrscheinlichkeiten.
Epistasie Ein Gen beeinflusst BbCc
×
BbCc
 Rezessive Erbkrankheiten. Viele Erbkrankheiten
die Expression
anderer Gene. Spermium
¼ BC ¼ bC ¼ Bc ¼ bc
werden als einfache, rezessive Merkmalszustände
Eizelle
¼ BC
vererbt. Die meisten betroffenen (homozygot-rezes-
¼ bC
BBCC BbCC BBCc BbCc
siven) Individuen sind Nachkommen phänotypisch
¼ Bc
BbCC bbCC BbCc bbCc
normaler, heterozygoter Eltern.
¼ bc
BBCc BbCc BBcc Bbcc
Das Allel, welches die Sichelzellenanämie auslöst,
BbCc bbCc Bbcc bbcc
ist möglicherweise aus evolutionären Gründen beim
9 : 3 : 4
Menschen erhalten geblieben, da es heterozygoten
Polygene Vererbung Ein einzelnes Merkmal Trägern einen gewissen Schutz vor der Malaria-Er-
wird von zwei oder AaBbCc × AaBbCc
mehr Genen beeinflusst. krankung bietet.

Sichelzellenallele
niedriger
O2-Partial-
druck Sichel- Teil 3
zellen-
anämie

Hämoglobin- Ausschnitt eines Sichelzellen


 Gene und Erziehung: Der Einfluss der Umwelt auf Proteine in Stapels von Hämo- (rote Blutkörperchen)
den Phänotyp. Die Ausprägung eines Genotyps kann Sichelzellen globin-Proteinen
durch die Umwelt beeinflusst werden. Die Bandbreite in Sichelzellen
der Phänotypen, die auf einem bestimmten Genotyp
beruht, wird als die Reaktionsnorm des Genotyps
bezeichnet. Polygene Merkmale, die zusätzlich von  Dominante Erbkrankheiten. Dominant letale Mutan-
der Umwelt beeinflusst werden, heißen multifaktori- tenallele verschwinden aus der Population, wenn
elle Merkmale. ihre Träger sterben, bevor sie sich fortpflanzen kön-
 Eine integrierte „Mendel’sche Sicht“ auf die Verer- nen. Dominante Allele mit nicht letaler Wirkung und
bung und die genetische Variabilität. Der Phäno- solche, deren (tödliche) Wirkung erst in einem späte-
typ eines Organismus umschließt alle erkennbaren ren Lebensabschnitt auftritt, werden in der üblichen
Merkmale (anatomische und physiologische Merk- Weise nach den Mendel’schen Regeln vererbt.
male sowie das Verhalten) und ergibt sich aus dem  Multifaktorielle Krankheiten. Viele Krankheiten
Genotyp des Individuums und seiner individuellen des Menschen weisen sowohl eine genetische, als
Entwicklung, die verschiedenen Umwelteinflüssen auch eine durch die Umwelt beeinflusste Kompo-
ausgesetzt sein kann. Auch bei komplexen Erbgän- nente auf und lassen sich nicht durch einen einfa-
gen gelten die Mendel’schen Regeln der Spaltung chen Mendel’schen Erbgang beschreiben.
und unabhängigen Verteilung.  Genetische Untersuchungen und genetische Bera-
tung. Fachärzte für Humangenetik ziehen geneti-
? Welche der folgenden Begriffe können den verschiedenen Allelen des sche Familienstammbäume heran, um Paare zu
AB0-Blutgruppensystems zugesprochen werden: Vollständige Dominanz, beraten und die Wahrscheinlichkeit zu errechnen,
unvollständige Dominanz, Kodominanz, multiple Allele, Pleiotropie, Epistasie dass deren Kinder familiäre Erbkrankheiten aufwei-
und/oder polygene Vererbung. Begründen Sie Ihre Antworten. sen werden. Die Amniozentese (Fruchtwasserunter-
suchung) und die Chorionzottenbiopsie sind cytoge-
netische Untersuchungsmethoden, die Aufschluss
Konzept 14.4 darüber geben, ob bei einem sich entwickelnden
Auch die Vererbung beim Menschen folgt den Men- Fetus (Embryo) ein genetischer Schaden vorliegt.
del’schen Regeln Erste Blutuntersuchungen werden erprobt. Andere
genetische Untersuchungen können nach der Geburt
Ww ww ww Ww
durchgeführt werden.

? Bei einem Paar sind beide bekanntermaßen Träger des Allels für
Mukoviszidose. Keines ihrer drei Kinder leidet an der Krankheit, aber jedes
Ww ww ww Ww Ww ww
könnte ebenfalls Träger des defekten Allels sein. Das Paar möchte noch
ein Kind haben, befürchtet aber, dass es die Krankheit haben wird, da die
ersten drei Kinder schon gesund waren. Was würden Sie diesem Paar
WW ww
oder sagen? Würde sich die Wahrscheinlichkeit, ein krankes Kind zu bekom-
Ww
men, ändern, wenn sie durch genetische Tests herausfinden könnten, ob
die drei bereits geborenen Kinder Träger des Mukoviszidose-Allels sind?
Witwenspitze keine Witwenspitze

373
14 Mendel und das Genkonzept

H I N W E I S E Z U D E N G E N E T IK Ü B U N G E N (HILFE STELLUNG ZUR LÖS UNG)

1. Verwenden Sie Symbole für die infrage stehen- 5. Sie können die dargelegten Wahrscheinlichkeits-
den Allele. (Diese sind manchmal bei den Aufga- regeln anwenden, wenn ein Punnett-Quadrat zu
ben vorgegeben.) Bei Einzelbuchstaben kennzeich- umfangreich wäre oder Sie sich bei der abstrakte-
net ein Großbuchstabe ein dominantes Allel, ein ren, rein mathematischen Behandlung sicher füh-
Kleinbuchstabe ein rezessives. len. Sie können jedes der Gene einzeln abhandeln.

2. Schreiben Sie die möglichen Genotypen auf, die 6. Falls die Übung Ihnen die Verhältnisse der Phäno-
sich aus den Phänotypen ableiten lassen. typen unter den Nachkommen angibt, nicht aber
a. Falls der Phänotyp ein dominantes Merkmal die Genotypen der Eltern einer Kreuzung, kön-
erkennen lässt (zum Beispiel violette Blüten- nen diese Ihnen dabei helfen, die unbekannten
farbe bei Erbsenpflanzen), folgt daraus, dass Genotypen der Eltern abzuleiten.
der zugrunde liegende Genotyp entweder ho- a. Weist beispielsweise die Hälfte der Nachkom-
mozygot-dominant oder heterozygot sein muss men den rezessiven Phänotyp und die andere
(PP oder Pp im Beispiel der Blütenfarbe). Hälfte den dominanten Phänotyp auf, so wissen
b. Falls der Phänotyp ein rezessives Merkmal er- Sie, dass die Kreuzung zwischen einem homo-
Teil 3 kennen lässt, folgt daraus, dass der zugrunde zygot-rezessiven und einem heterozygoten El-
liegende Genotyp immer homozygot-rezessiv ternteil erfolgt sein muss.
sein muss (pp). b. Ist das Verhältnis der Phänotypen 3:1, erfolgte
c. Wenn im Text von „reinerbig“ die Rede ist, han- die Kreuzung zwischen zwei Heterozygoten.
delt es sich um einen homozygoten Genotyp c. Falls zwei Gene beteiligt sind und wir eine
(bezüglich des betrachteten Gens). 9:3:3:1-Aufspaltung unter den Nachkommen der
Folgegeneration sehen, so wissen wir, dass jeder
3. Überlegen Sie, wonach bei der Übung genau ge- Elternteil heterozygot für beide Gene war. Vor-
fragt wird. Falls es sich um eine Kreuzung handelt, sicht: Erwarten Sie nicht, dass die tatsächlichen
beschreiben Sie diese in der Form [Genotyp 1] × experimentellen Zahlenwerte genau den Werten
[Genotyp 2]. Verwenden Sie dabei die vorher fest- der Vorhersage der Theorie entsprechen. Falls
gelegten Allelsymbole. etwa 13 Nachkommen den dominanten Merk-
malszustand zeigen und elf den rezessiven, er-
4. Legen Sie, um die Ergebnisse einer Kreuzung vor- gibt sich bei der Division ein Verhältnis nahe bei
herzusagen, ein Punnett-Quadrat an. eins, das auf den nächstliegenden ganzzahligen
a. Schreiben Sie die Gameten eines Elternteils an Wert auf- oder abgerundet wird.
den oberen Rand, die des anderen an den lin-
ken Rand. Gehen Sie bei der Auflistung der Al- 7. Bei Übungen mit Stammbäumen können Sie sich
lele in den einzelnen Gameten systematisch auf die Hinweise in der Abbildung 14.15 sowie
vor und stellen Sie sicher, dass Sie alle Mög- die nun folgenden beziehen, um zu ermitteln, um
lichkeiten berücksichtigt haben. (Denken Sie welche Art von Merkmal es sich handelt.
daran, dass jeder Gamet nur ein Allel pro Gen- a. Falls Elternorganismen, die das Merkmal nicht
ort enthält.) Beachten Sie, dass es 2n mögliche zeigen, Nachkommen gebären, die dies tun,
Gametenzustände gibt (n = Anzahl der hetero- muss das Merkmal rezessiv sein, und beide El-
zygoten Genorte). Ein Individuum des Geno- tern sind heterozygote Allelträger.
typs AaBbCc würde daher 23 = 8 Sorten von b. Falls das Merkmal in jeder Generation auftritt,
Keimzellen erzeugen. Schreiben Sie die Geno- ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit dominant
typen der Gameten in Kreise über die Spalten (vergleichen Sie hierzu aber auch die nachfol-
und links neben die Zeilen des Quadrats. gende Möglichkeit).
b. Füllen Sie das Punnett-Quadrat, indem Sie alle c. Falls beide Eltern das Merkmal zeigen, müssen
möglichen Kombinationen der seitlich und oben im rezessiven Fall alle Nachkommen ebenfalls
angegebenen Genotypen an den entsprechen- das Merkmal aufweisen.
den Stellen eintragen. Bei einer Kreuzung des d. Um den wahrscheinlichen Genotyp eines be-
allgemeinen Typs AaBbCc × AaBbCc hätte das stimmten Individuums in einem Stammbaum
Quadrat 8 × 8 = 64 Felder mit 64 möglichen, zu ermitteln, markiert man zunächst die Geno-
genetisch verschiedenen Nachkommen. Daraus typen aller Familienmitglieder, für die man
könnten Sie die Genotypen und die entspre- den Genotyp kennt. Selbst wenn manche der
chenden Phänotypen ablesen. Zählen Sie die Genotypen unvollständig sind, sollte man die
verschiedenen, sich ergebenden Genotypen und verfügbare Information niederlegen und heran-
Phänotypen aus und ermitteln Sie, mit welchen ziehen. Falls etwa ein Individuum einen domi-
Häufigkeiten sie vorkommen (z.B. Genetik- nanten Phänotyp zeigt, muss der zugrunde lie-
übung Nr. 5). gende Genotypus AA oder Aa sein; dies kann
man in der Form A__ schreiben. Probieren Sie

374
Übungsaufgaben

verschiedene Möglichkeiten aus, um zu sehen, lichkeitsregeln, um die Wahrscheinlichkeit da-


welche am besten zu den beobachteten Erb- für zu berechnen, dass jeder der möglich
gängen passt. Verwenden Sie die Wahrschein- erscheinenden Genotypen der richtige ist.

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜB UN GSA U FG AB E N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis Welcher Anteil der Nachkommen wird mutmaßlich
jeweils die folgenden Bedingungen erfüllen, falls
1. ZEICHENÜBUNG Zwei für die Merkmale der Hül- eine bezüglich aller drei Merkmale heterozygote
senfarbe und -form heterozygote Erbsenpflanzen Pflanze der Selbstbestäubung unterzogen wird?
(Pisum sativum) werden miteinander gekreuzt. a. homozygot für die drei dominanten Merkmals-
Zeichnen Sie ein Punnett-Quadrat, um die Men- zustände
genverhältnisse der Phänotypen unter den Nach- b. homozygot für die drei rezessiven Merkmals-
kommen zu ermitteln. zustände
c. heterozygot für alle drei Merkmale
d. homozygot für achselständige Blüten und Hoch-
2. Ein Mann mit der Blutgruppe A ist mit einer Frau
wüchsigkeit, aber heterozygot bezüglich der Teil 3
der Blutgruppe B verheiratet. Ihr Kind hat die
Form der Samenkörner
Blutgruppe 0. Welche Genotypen haben die bei-
den Elternindividuen? Welche anderen Geno-
(Anmerkung: Benutzen Sie zur Ermittlung der
typen könnten weitere Kinder dieses Paares noch
Werte die Wahrscheinlichkeitsregeln anstelle ei-
haben? Wie hoch sind die zu erwartenden Häu-
nes großen Punnett-Quadrats.)
figkeiten dieser Genotypen?
6. Phenylketonurie (PKU) ist eine Erbkrankheit, die
3. Ein Mann besitzt 6 Finger an jeder Hand und 6
von einem rezessiven Allel hervorgerufen wird.
Zehen an jedem Fuß. Seine Frau und seine Toch-
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit für die fol-
ter fünf Finger beziehungsweise fünf Zehen an
genden vier Szenarien, falls eine Frau und ihr
ihren Extremitäten. Überzählige Finger und Ze-
Partner, die beide gesunde Träger des betreffen-
hen sind ein dominanter Merkmalszustand. Wel-
den Allels sind, drei Kinder haben?
cher Anteil der Kinder dieses Paares sollte der Er-
a. Alle drei Kinder zeigen den normalen (gesun-
wartung nach überzählige Finger aufweisen?
den) Phänotyp.
b. Eines oder mehrere der drei Kinder haben die
4. ZEICHENÜBUNG Eine Erbsenpflanze, die heterozy- Krankheit.
got für das Merkmal „breite Hülsenform (Ii)“ ist, c. Alle drei Kinder haben die Krankheit.
wird mit einer Pflanze gekreuzt, die das rezessive d. Wenigstens eines der Kinder ist phänotypisch
Merkmal „eingeschnürte Hülsenform (ii)“ besitzt. gesund.
Zeichnen Sie ein Punnett-Quadrat für diese Kreu-
zung und geben Sie die Verteilungen der Geno- (Hinweis: Die Summe aller Teilwahrscheinlich-
typen und Phänotypen an. Nehmen Sie dabei an, keiten beträgt stets 1.)
dass der Pollen von der „ii“-Pflanze kommt.
7. ZEICHENÜBUNG Der Genotyp eines F1-Individu-
Ebene 2: Anwendung und Auswertung ums einer Vierfaktorkreuzung lautet AaBbCcDd.
Setzen Sie eine unabhängige Vererbung aller vier
5. Die Stellung der Blüten, die Länge der Sprossachse Genorte voraus. Wie groß sind die Wahrschein-
und die Form der Samenkörner sind drei der von lichkeiten dafür, dass ein Nachkomme der F2-Ge-
Mendel an Erbsen untersuchten Merkmale. Jedes neration den folgenden Genotyp hat?
wird von einem Gen gesteuert, das von den übrigen a. aabbccdd
unabhängig vererbt wird und besitzt einen domi- b. AaBbCcDd
nanten und einen rezessiven Merkmalszustand: c. AABBCCDD
d. AaBBccDd
e. AaBBCCdd
Merkmal Dominanter Rezessiver
Phänotyp Phänotyp
Stellung der Blüten Achselständig (A ) Endständig
(terminal) (a )
Länge der Sprossachse Hochwüchsig (T ) Zwergwüchsig (t )
(Wuchshöhe)
Form der Samenkörner Rund (R ) Runzelig (r )

375
14 Mendel und das Genkonzept

8. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die violette Färbung der Maiskörner verursacht; der
folgenden Elternpaare jeweils einen Nachkommen homozygot-rezessive Genotyp an diesem Locus
des bezeichneten Genotyps hervorbringen? (Set- führt zu roten Maiskörnern. Wie wird das Phäno-
zen Sie jeweils unabhängige Vererbung aller Allel- typverhältnis unter den Nachkommen aussehen,
paarungen voraus.) falls Pflanzen miteinander gekreuzt werden, die
a. AABBCC × aabbcc → AaBbCc bezüglich beider Genorte heterozygot sind?
b. AABbCc × AaBbCc → AAbbCC 13. Der nachfolgend dargestellte Stammbaum zeich-
c. AaBBCc × AaBbCc → AaBbCc net die Vererbung der Stoffwechselstörung Al-
d. aaBbCC × AABbcc → AaBbCc kaptonurie nach (eine Störung des Stoffwechsels
der Aminosäure Tyrosin). Betroffene Individuen
9. Karin und Stefan haben beide ein Geschwister, (hier durch farblich ausgefüllte Kreise und Quad-
das an Sichelzellenanämie leidet. Weder Karin rate symbolisiert) sind nicht in der Lage, ein
noch Stefan noch ihre Eltern leiden an der Krank- Stoffwechselprodukt namens Alkapton zu verar-
heit und keiner wurde auf das Vorliegen von beiten. Es sammelt sich im Harn und färbt diesen
Sichelzellen untersucht. Berechnen Sie auf der und andere Körperflüssigkeiten schwärzlich-
Grundlage dieser unvollständigen Informationen braun. Deutet der Stammbaum auf ein rezessives
die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieses Paar oder auf ein dominantes Allel als Ursache der Al-
(Karin und Stefan) ein Kind bekommen wird, das kaptonurie? Geben Sie die Genotypen der Perso-
Teil 3 an Sichelzellenanämie leidet. nen an, für die dies möglich ist. Welche Genoty-
pen sind für die verbleibenden Personen möglich
10. Im Jahr 1981 ist einer Familie in Kalifornien (USA) und denkbar?
eine streunende schwarze Katze mit ungewöhnlich
runden, nach hinten gedrehten Ohren zugelaufen.
Von dieser Katze sind in der Zwischenzeit Hun-
George Arlene
derte von Nachkommen auf die Welt gekommen
und es wird versucht, diese Mutante zu einer Rasse
für Zuchtschauen weiterzuentwickeln. Nehmen
Sie an, Sie seien der Besitzer der Ursprungskatze Sandra Tom Sam Wilma Ann Michael
und wollten eine reinerbige Rasse erzeugen. Wie
würden Sie ermitteln, ob das Allel für die verdreh- Carla
ten Ohren dominant oder rezessiv ist? Wie ließen
Daniel Alan Tina
sich reinrassige Katzen mit Drehohren züchten?
Wie ließe sich sicherstellen, dass sie tatsächlich
reinrassig sind? Christopher

14. Stellen Sie sich vor, Sie sollten das folgende Paar
in seiner Familienplanung beraten. Karl war vor-
her schon einmal verheiratet und hat mit seiner
ersten Frau ein Kind, das an Mukoviszidose lei-
det. Der Bruder seiner jetzigen Frau Ellie ist an
Mukoviszidose gestorben. Wie groß ist die Wahr-
scheinlichkeit dafür, dass Karl und Ellie ein Kind
bekommen werden, das ebenfalls an Mukoviszi-
dose leiden wird? (Weder Karl noch Ellie leiden
11. Bei Tigern (Panthera tigris) führt ein rezessives
selbst an der Krankheit.)
Allel eines Gens zum Ausfall der Fellpigmentie-
rung (es entsteht ein weißer Tiger) und gleichzei-
tig zum Schielen. Wie hoch ist der Anteil schie- Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
lender Nachkommen, falls zwei phänotypisch
normale Tiger, die bezüglich dieses Genortes he- 15. Verbindung zur Evolution Im Verlauf der letzten
terozygot sind, sich miteinander paaren und fort- fünfzig Jahre bestand in den Industriestaaten die
pflanzen? Welcher Anteil der schielenden Tiger Tendenz, eine Familie später zu gründen als es
wird ein weißes Fell besitzen? zur Zeit der Eltern und Großeltern der Fall war.
Welche Auswirkungen könnte dies auf die Häu-
12. Bei Maispflanzen (Zea mays) hemmt ein domi- figkeit des Auftretens dominant letaler Allele mit
nantes Allel I die Färbung der Maiskörner. Das re- spät einsetzender Wirkung in der Population ha-
zessive Allel i erlaubt im homozygoten Zustand ben?
die Einfärbung der Samenschale. An einem ande-
ren Genort sitzt ein dominantes Allel P, das eine

376
Übungsaufgaben

16. Wissenschaftliche Fragestellung Ihnen wird eine diese weitergegeben werden und dabei einerseits
geheimnisvolle Erbsenpflanze übergeben, die für den Erhalt bestimmter Merkmale verantwort-
hochwüchsig ist und achselständige Blüten auf- lich sind, andererseits dennoch eine genetische
weist. Sie werden gebeten, so schnell es geht, den Vielfalt erzeugt wird. Nutzen Sie die genetischen
Genotyp der Pflanze bezüglich dieser Merkmale Fachausdrücke.
zu ermitteln. Sie wissen, dass das Allel für Hoch-
wüchsigkeit (T) dominant über das für Zwerg- 18. NUTZEN SIE IHR WISSEN Stellen Sie sich nur zum
wüchsigkeit (t) ist, und dass das Allel für achsel- Spaß vor, dass die in dem Bild dargestellten T-
ständige Blüten (A) dominant gegenüber dem für Shirt-Muster von einem Genort beeinflusst wären.
endständige Blüten ist (a). Erklären Sie die verschiedenen Muster der Fami-
a. Wie sehen alle denkbaren Genotypen der Pflanze lie, indem Sie ein imaginäres Kreuzungsschema
aus? erstellen. Wie wären die Allelkombinationen jedes
b. Beschreiben Sie die eine Kreuzung, die Sie in Familienmitglieds? Wie könnte man den „Phäno-
Ihrem Versuchsgarten ausführen würden, um typ“ des Kindes erklären?
den genauen Genotyp der zu untersuchenden
Pflanze festzustellen.
c. Während Sie noch auf das Ergebnis Ihrer Kreu-
zung warten, sagen Sie die theoretischen Ergeb-
nisse für jeden der unter (a.) aufgelisteten Geno- Teil 3
typen voraus. Wie bewerkstelligen Sie dies?
Warum spricht man hier nicht von der „Durch-
führung einer Kreuzung“?
d. Erklären Sie, wie die Ergebnisse Ihrer Kreu-
zung und Ihrer Vorhersagen Ihnen dabei be-
hilflich sind, den Genotyp des Untersuchungs-
objektes zu bestimmen.

17. Skizzieren Sie ein Thema: Informationsweiter-


gabe Die Konstanz des Lebens basiert auf der
Vererbbarkeit genetischer Informationen in Form
der DNA. Beschreiben Sie in einem kurzen Auf-
satz (in 150–200 Worten), wie Gene von den El-
tern auf die Nachkommen weitervererbt werden.
Erklären Sie anhand von definierten Allelen, wie

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

377
Chromosomen bilden die Grundlage
der Vererbung

15.1 Die Chromosomen bilden die strukturelle Grundlage der 15


Mendel’schen Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
15.2 Die Eigenschaften der Geschlechtschromosomen . . . . . . . . . . . . . . 384

KONZEPTE
15.3 Die Vererbung gekoppelter Gene auf einem Chromosom . . . . . . . 387
15.4 Abweichungen in der Zahl oder Struktur von Chromosomen
verursachen einige bekannte Erbkrankheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
15.5 Erbgänge, die nicht den Mendel’schen Regeln folgen . . . . . . . . . . . 399

 Abbildung 15.1: Wo in der Zelle befin-


den sich die Mendel’schen Erbfaktoren?
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

Die Lokalisierung der Gene Die Chromosomen bilden die


Die von Mendel im Jahr 1860 postulierten „Erbfaktoren"
strukturelle Grundlage der
waren zunächst eine abstrakte Vorstellung. Damals
kannte man noch keine (sub)zellulären Strukturen, die
Mendel’schen Vererbung
15.1
solche Erbeinheiten hätten enthalten können. Auch
nach der Entdeckung der Chromosomen wurde von vie- Die Vorgänge bei Mitose und Meiose konnten gegen
len Biologen noch angezweifelt, dass es sich bei ihnen Ende des 19. Jahrhunderts durch verbesserte mikrosko-
um die physikalische Grundlage der Mendel’schen Ver- pische Techniken erstmals genauer untersucht werden
erbungsregeln handeln sollte. Erst später häuften sich (1875 für die Mitose, 1890 für die Meiose). Die Erkennt-
die experimentellen Beweise dafür, dass die Chromoso- nisse aus Zellbiologie (Cytologie) und Genetik führten
men und ihr Verhalten in den Zellen die strukturelle zu einem gemeinsamen Konzept, als die Parallelen zwi-
Grundlage für die abstrakten Vererbungseinheiten dar- schen dem Verhalten von Chromosomen und den von
stellen. Mendel postulierten Erbfaktoren bemerkt wurden: (1)
Heute wissen wir, dass die Gene – die Mendel’schen Chromosomen und Gene sind in diploiden Organismen
„Erbfaktoren“ – auf Chromosomen liegen. Wir können paarweise vorhanden, (2) homologe Chromosomen
den genauen Ort eines Gens auf dem Chromosom und allelische Erbfaktoren trennen sich während der
molekularbiologisch nachweisen und mithilfe von Flu- Meiose voneinander und (3) bei der Befruchtung erhal-
Teil 3 oreszenzfarbstoffen mikroskopisch sichtbar machen. ten die Zellen wieder Chromosomenpaare, ebenso wie
So zeigen etwa die gelben Punkte in Abbildung 15.1 Paare der Erbfaktoren. Diese Parallelen fielen im Jahr
die Genorte (Loci) eines bestimmten Gens auf einem 1902 sowohl Walter Sutton als auch Theodor Boveri
Paar homologer Chromosomen an. Da die auf dieser auf. In der Folge begann die Chromosomentheorie der
lichtmikroskopischen Aufnahme abgebildeten Chro- Vererbung Gestalt anzunehmen. Nach dieser Theorie
mosomen sich schon repliziert haben und somit als 2- liegen die Gene an spezifischen Orten (Genorte, Loci)
Chromatidenchromosomen vorliegen, erscheinen zwei entlang der Chromosomen, die als die Genträger unab-
leuchtende Punkte pro Chromosom – je einer für jedes hängig verteilt und weitergegeben werden.
Schwesterchromatid. In diesem Kapitel werden wir die Abbildung 15.2 veranschaulicht das Verhalten
Konzepte aus den beiden vorangegangenen Kapiteln homologer Chromosomen während der Meiose. Aus ihr
zusammenfassen und erweitern, indem wir die chro- wird deutlich, dass damit die Trennung von Allelen an
mosomale Grundlage für die Weitergabe von Genen von einander entsprechenden Genorten und die Verteilung
Elternorganismen auf ihre Nachkommen beschreiben. auf unterschiedliche Keimzellen (Gameten) erklärt wer-
Wir werden dabei auch auf einige Ausnahmen von den kann. Darüber hinaus wird klar, dass Gene, die auf
den normalen Erbgängen eingehen. unterschiedlichen Chromosomen (Kopplungsgruppen)
liegen, unabhängig voneinander verteilt werden (gemäß
der Mendel’schen Unabhängigkeitsregel). Die Abbil-
dung zeichnet eine Zweifaktorkreuzung von Erbsen
nach, wie wir sie in Abbildung 14.8 in anderer Form
kennengelernt hatten. Sehen Sie sich die Abbildung
15.2 genau an. Sie werden erkennen, wie das Verhalten
der Chromosomen im Verlauf der Meiose in der F1-
Generation und einer nachfolgenden Befruchtung die
von Mendel beobachteten Verhältnisse der Phänotypen
in der F2-Generation hervorbringt.

380
15.1 Die Chromosomen bilden die strukturelle Grundlage der Mendel’schen Vererbung

P-Generation gelb-runde grün-runzelige


Ausgehend von zwei reinerbigen Erbsen (YYRR) Erbsen (yyrr)
Erbsenpflanzen (Pisum sativum) Y y
folgen wir zwei Genen durch die × r
F1- und F2-Generation. Die beiden R R r
Y y
Gene legen die Farbe (Allel Y für
gelb und Allel y für grün) und das
Aussehen (Allel R für rund und Meiose
Allel r für runzelig) der Erbsen fest.
Die beiden Gene befinden sich auf
unterschiedlichen Chromosomen Befruchtung
R Y y r
(Erbsen besitzen sieben Chromo-
somenpaare, von denen hier nur
zwei dargestellt sind). Gameten

Alle F1-Pflanzen bringen gelb-runde Erbsen hervor (YyRr).

F1-Generation
R R
y y
r r
Verteilungsregel (Segregations- Y Y Unabhängigkeitsregel
regel)
Meiose Die Allele von Genen auf nicht-
Die beiden Allele jedes Gens homologen Chromosomen werden Teil 3
R r r R
werden bei der Gametenbildung zwei gleich während der Bildung der Keimzellen
voneinander getrennt. Verfolgen wahrschein- unabhängig voneinander verteilt.
Sie den Weg des längeren Chro- liche Anord- Verfolgen Sie den Weg der langen
mosoms, auf dem sich R bezie- Y y nungen der Y y und kurzen Chromosomen und lesen
hungsweise r befinden, und lesen Chromosomen in Sie die nummerierten Erläuterungen.
Sie die nummerierten Erläute- der Metaphase I
rungen.

1 Die Allele R und r 1 Die Allele an beiden Gen-


trennen sich in der R r r R orten trennen sich in der
Anaphase I, was be- Anaphase I, was abhängig
züglich dieses Genorts Anaphase I von der Anordnung der
zu zwei Typen von Y y Y y Chromosomen in der Meta-
Tochterzellen führt. phase I zu vier Typen von
Tochterzellen führt. Verglei-
chen Sie die Verteilung der
Allele R und r im Verhältnis
zu den Allelen Y und y in
der Anaphase I.

2 Jede Keim- r 2 Jede Keimzelle


R r R
zelle erhält erhält ein
ein langes Meta- langes und ein
Chromosom, phase II kurzes Chromo-
das entweder Y y Y y som mit einer
das Allel R der vier mög-
oder das lichen Allelkom-
Allel r binationen.
trägt.

Y y Y
Y y Y y y
Gameten
R R r r r r R R

14 YR 14 yr 14 Yr 14 yR

F2-Generation
Eine F1 x F1-Kreuzbefruchtung
3 Bei der Befruchtung 3 Die Befruchtung führt
rekombinieren die zu einer 9:3:3:1-Vertei-
Allele R und r zufällig. lung der Phänotypen in
9 :3 :3 :1 der F2-Generation.

Abbildung 15.2: Die chromosomale Grundlage für die Mendel’schen Regeln. Hier werden die Ergebnisse von einer der Mendel’schen Zwei-
faktorkreuzungen (siehe Abbildung 14.8 ) mit dem Verhalten von Chromosomen in der Meiose verbunden (Reifeteilung; siehe Abbildung 13.8 ). Die
Anordnung der Chromosomen in der Metaphase I (Metaphase der ersten meiotischen Teilung) und ihre Wanderung im Verlauf der Anaphase I erklären
die Trennung und die unabhängige Verteilung der Allele für Form und Farbe der Samenkörner. Jede Zelle, die in einer F1-Pflanze eine Meiose durchläuft,
produziert zwei Sorten von Gameten. Statistisch erzeugt jede F1-Pflanze gleiche Mengen aller vier Arten von Keimzellen, weil die beiden möglichen
Anordnungen der Chromosomen in der Metaphasenplatte während der Meiose I gleich wahrscheinlich sind und daher mit gleicher Häufigkeit auftreten.

? Wie würde sich das Verhältnis der Phänotypen bei den Nachkommen einer Kreuzung von einer F1-Pflanze mit einer für beide Gene homozygot-rezes-
siven (yyrr ) Pflanze, von der hier dargestellten 9:3:3:1-Verteilung unterscheiden?

381
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

15.1.1 Ein Beispiel für einen wissenschaft- Augen bei Drosophila; Abbildung 15.3). Abweichun-
lichen Ansatz: Thomas Hunt Morgan gen davon werden als Mutantenphänotypen, die ent-
und die Verknüpfung der Mendel’- sprechenden Individuen als Mutanten bezeichnet.
Weißäugigkeit ist also bei Drosophila melanogaster ein
schen Regeln mit dem Verhalten der
Mutantenphänotyp, die weißäugigen Fliegenindividuen
Chromosomen bei der Zellteilung sind Mutanten. Die erbliche Veränderung, die einen
Mutantenphänotyp hervorruft, nennt man Mutation.
Die ersten überzeugenden Beweise für den Zusam- Morgan führte für die Bezeichnung von Allelen bei
menhang zwischen einem Gen und einem bestimmten Drosophila eine Schreibweise ein, die noch heute ver-
Chromosom kamen aus Versuchen, die Thomas Hunt wendet wird. Dabei wird ein Gen für ein bestimmtes
Morgan (1866–1945) zu Beginn des 20. Jahrhunderts Merkmal nach der ersten entdeckten Mutante abge-
durchführte. Obwohl Morgan selbst die Ideen Mendels kürzt. Zum Beispiel wird das Allel der Mutanten mit
zunächst anzweifelte und der Chromosomentheorie den weißen Augen mit w bezeichnet. Um das entspre-
skeptisch gegenüberstand, lieferten gerade seine frühen chende Wildtypallel zu kennzeichnen, verwendet
Experimente den Beweis dafür, dass die Chromosomen man ein hochgestelltes Pluszeichen (w+; Allel für rote
tatsächlich die Mendel’schen Erbfaktoren tragen. Augen). Für viele Modellorganismen haben sich im
Laufe der Jahre andere Bezeichnungen etabliert. Bei
Morgans Wahl seines Versuchstiers Genen des Menschen benutzt man beispielsweise
Teil 3 Oft beruhen große biologische Entdeckungen auf der Großbuchstaben, wie etwa HD für das Allel der Hun-
Tatsache, dass Wissenschaftler entweder durch Glück tington-Krankheit. Bei der Bäckerhefe Saccharomyces
oder durch weise Voraussicht einen Versuchsorganis- cerevisiae wird dagegen eine Kombination aus jeweils
mus wählten, der für ihre Fragestellung besonders drei Buchstaben und einer Zahl, wie etwa PFK1 für
geeignet war. Mendel untersuchte die Gartenerbse ein Gen der Phosphofructokinase, verwendet.
(Pisum sativum), da eine ganze Reihe unterschiedlicher
Sorten verfügbar war. Morgan entschied sich zur Durch-
führung seiner Experimente für eine kleine Fliegenart,
die Taufliege (Drosophila melanogaster). Sie ernährt
sich unter anderem von den durch Pilze gebildeten
Gärungsprodukten faulender Früchte, weshalb man sie
häufig in Weinkellereien und Brennereien findet. Tau-
fliegen sind sehr vermehrungsfreudig: innerhalb der
kurzen Generationszeit von nur zwei Wochen kann eine
einzige Paarung, Hunderte von Nachkommen liefern. In
Morgans Labor wurden Taufliegen ab dem Jahr 1907
erstmals als bequeme und leicht handhabbare geneti-
sche Versuchsobjekte eingesetzt. Bald darauf war Mor-
gans Labor als „das Fliegenzimmer“ bekannt.
Ein weiterer Vorteil der Taufliege besteht darin, dass
sie nur vier Chromosomenpaare besitzt, die sich im Abbildung 15.3: Morgans erste Mutante. Wildtyp-Taufliegen der Gat-
Lichtmikroskop leicht unterscheiden lassen: drei Auto- tung Drosophila haben rote Augen (links im Bild). Unter seinen Fliegen ent-
deckte Morgan eine Mutante mit weißen Augen (rechts im Bild), ein Phäno-
somenpaare und ein Paar Gonosomen (Geschlechtschro-
typ, der nur bei Männchen auftrat. Diese Mutante ermöglichte es Morgan,
mosomen). Ähnlich dem Menschen besitzen weibliche ein Gen für die Augenfarbe einem bestimmten Chromosom zuzuordnen.
Taufliegen ein Paar homologer X-Chromosomen, Männ-
chen dagegen ein X-Chromosom und ein Y-Chromosom.
Während Mendel bei seinen Arbeiten auf bereits vor- Die Zuordnung eines Mutantenallels zu einem
handene Erbsensorten zugreifen konnte, begab sich Chromosom
Morgan vermutlich als erster Wissenschaftler auf die Morgan kreuzte das Männchen mit den weißen Augen
Suche nach sichtbaren Unterschieden bei Taufliegen- mit einer weiblichen Wildtyp-Fliege mit roten Augen.
Mutanten. Dazu führte er in mühevoller Kleinarbeit Alle Nachkommen in der F1-Generation hatten rote
zahlreiche Kreuzungen durch, um dann ihre Nach- Augen, was darauf schließen ließ, dass das Wildtypallel
kommen nach natürlich entstandenen Mutanten mit dominant ist. Als Morgan solche F1-Fliegen untereinan-
morphologischen Unterschieden zu prüfen. Morgan der kreuzte, fand er bei den Nachkommen das für die
beschrieb diese Phase folgendermaßen: „Zwei Jahre der F2-Generation typische Verhältnis von 3 (rote Augen)
Arbeit vergeudet. Die ganze Zeit über habe ich diese zu 1 (weiße Augen) bei den Phänotypen. Er machte
Fliegen gezüchtet und habe nichts herausbekommen!“ aber auch eine überraschende neue Beobachtung: Nur
Morgan verfolgte sein Ziel jedoch weiter und wurde die männlichen Fliegen hatten weiße Augen, während
schließlich mit der Entdeckung eines einzelnen Männ- alle F2-Weibchen rote Augen hatten. Bei den Männchen
chens belohnt, das weiße Augen statt der normalen hatten etwa die Hälfte rote und die andere Hälfte weiße
roten hatte. Das in einer natürlichen Population am Augen. Morgan schloss daraus, dass die Augenfarbe
häufigsten vorliegende Erscheinungsbild eines Merk- und das Geschlecht bei den Fliegen miteinander in Ver-
mals bezeichnet man als Wildtyp (zum Beispiel rote bindung stehen müssen. Wäre die Augenfarbe der Tiere

382
15.1 Die Chromosomen bilden die strukturelle Grundlage der Mendel’schen Vererbung

unabhängig vom Geschlecht vererbt worden, hätte man Eine solche Kombination konnte bei Morgans Experi-
Fliegen mit weißen Augen je zur Hälfte bei den Männ- ment aber nicht auftreten, weil alle männlichen Tiere
chen und bei den Weibchen erwartet. in der F1-Generation rote Augen hatten (Mendels Uni-
Auch bei den Fliegen enthalten die weiblichen Tiere formitätsregel), da sie ihr X-Chromosom von dem Wild-
zwei X-Chromosomen (XX), während ein Fliegenmänn- typ-Muttertier erhalten hatten.
chen je ein X- und ein Y-Chromosom (XY) besitzt. Die Morgans Entdeckung des Zusammenhangs zwi-
Beobachtung, dass weiße Augen nur bei den männli- schen der Ausprägung eines bestimmten Merkmals
chen Fliegen in der F2-Generation auftraten, veranlasste und dem Geschlecht unterstützten die Chromoso-
Morgan anzunehmen, dass das für den Mutantenphä- mentheorie der Vererbung. Er hatte gezeigt, dass ein
notyp verantwortliche Allel auf dem X-Chromosom bestimmtes Gen auf einem bestimmten Chromosom
liegt und es keine Entsprechung (keinen homologen (in diesem Fall das Gen für die Farbe der Augen auf
Genort) auf dem Y-Chromosom gibt. Diese Situation ist dem X-Chromosom der Fliegen) das Aussehen des
in Abbildung 15.4 schematisch dargestellt. Bei einem Individuums festlegt. Darüber hinaus zeigten Morgans
Männchen führt eine Kopie des Mutantenallels zu wei- Arbeiten, dass Gene, die auf den Geschlechtschromo-
ßen Augen. Da ein Männchen ja nur ein X-Chromosom somen liegen, einem Erbgang folgen, der von dem
hat, fehlt ein entsprechendes Wildtypallel (w+) auf anderer Gene abweicht. Wir kommen darauf im nach-
einem zweiten Chromosom, das den rezessiven Mutan- folgenden Abschnitt zurück. Einige Kollegen erkann-
tenphänotyp unterdrücken würde. Eine weibliche Fliege ten schnell die Bedeutung von Morgans Entdeckung,
hätte nur dann weiße Augen, wenn beide X-Chromoso- so dass sich sein „Fliegenzimmer“ schnell mit Wis- Teil 3
men das rezessive Mutantenallel (w) tragen würden. senschaftlern füllte.

 Abbildung 15.4: Aus der Forschung

Welche Augenfarbe haben die Nachkommen Augen“ (w+) rezessiv sein. Da das rezessive Merk-
der F1- und F2-Generationen aus der Kreuzung mal – weiße Augen – nur bei Männchen der F2-
einer weiblichen Wildtyp-Taufliege mit einer Generation auftrat, folgerte Morgan, dass das Gen
weißäugigen männlichen Mutantenfliege? für die Augenfarbe auf dem X-Chromosom liegen
müsse, und dass es auf dem Y-Chromosom keinen
Experiment Thomas Hunt Morgan analysierte die entsprechenden Genort gibt.
Vererbung von zwei Allelen eines Gens für die
Augenfarbe von Fruchtfliegen. Bei Kreuzungen ähn- P- w+ w
X X
lich denen von Mendel mit den Erbsenpflanzen, Generation X × Y
verpaarten Morgan und seine Kollegen den Wildtyp w+
eines rotäugigen Weibchens mit einer weißäugigen
Mutante eines Männchens. w
Spermium
Eizelle
P- × w+ w+
F1-
Generation w+
Generation
w
F1- alle Nachkommen
Generation mit roten Augen
w+
Spermium
Morgan verpaarte dann wieder ein rotäugiges Weib- Eizelle
chen aus der F1-Generation mit einem rotäugigen w+ w+
w+
Männchen der gleichen Generation, um die F2- F 2-
Generation zu erhalten. Generation w+
Ergebnis Die F2-Generation wies ein typisches w w
w
Phänotypenverhältnis nach Mendel von drei rotäu-
w+
gigen Fliegen zu einer weißäugigen Fliege auf. Kei-
nes der Weibchen zeigte das Merkmal der Weißäu-
gigkeit; alle weißäugigen Fliegen waren Männchen. Quelle: T. H. Morgan, Sex-limited inheritance in Drosophila, Science
32:120–122 (1910).

F2-
Generation WAS WÄRE, WENN? Nehmen Sie an, das Gen für die
Augenfarbe läge auf einem der Autosomen. Sagen
Sie die Phänotypen (mit Angabe des Geschlechts
Schlussfolgerung Alle F1-Nachkommen hatten rote der Tiere) für die Fliegen der F2-Generation dieser
Augen; das Mutantenmerkmal „weiße Augen“ (w) hypothetischen Kreuzung voraus. (Hinweis: Zeich-
musste also gegenüber dem Wildtypmerkmal „rote nen Sie ein Punnett-Quadrat.)

383
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

kurze Abschnitte an beiden Enden des Y-Chromosoms


 Wiederholungsfragen 15.1 weisen entsprechende Bereiche (sogenannte homologe
Regionen) auch auf dem X-Chromosom auf. Ansonsten
1. Welche der Mendel’schen Regeln bezieht sich
handelt es sich bei X und Y, im Gegensatz zu den Auto-
auf die Vererbung von Genen für ein einzelnes
somenpaaren, um deutlich unterschiedliche Chromo-
Merkmal? Welche der Mendel’schen Regeln
somen. Die kurzen Homologiebereiche zwischen X-
bezieht sich auf die Vererbung von Allelen für
und Y-Chromosom stellen beim Mann sicher, dass
zwei Merkmale bei einer Zweifaktorkreuzung?
diese Chromosomen sich während der Meiose in den
2. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Sehen Sie sich die Hoden zu einem Paar zusammenlagern können.
Beschreibungen der Meiose (Abbildung 13.8)
und der Mendel’schen Spaltungs- und Unab-
hängigkeitsregeln (Konzept 14.1) nochmal ge- X
nau an. Was ist die strukturelle Grundlage der
Mendel’schen Regeln?
Y
3. WAS WÄRE, WENN? Nennen Sie einen mögli-
chen Grund dafür, dass die erste Mutante, die
Morgan fand, ausgerechnet ein Gen betraf, das
Teil 3 auf einem Geschlechtschromosom liegt.
Abbildung 15.5: Geschlechtschromosomen des Menschen.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

Sowohl in den Hoden des Mannes als auch in den Eier-


stöcken der Frau werden die Gonosomen im Verlauf
der Meiose geordnet verteilt, so dass jede gebildete
Die Eigenschaften der Keimzelle schließlich ein Geschlechtschromosom ent-
Geschlechtschromosomen
15.2 hält. Jede Eizelle (Oocyte) enthält zwangsläufig ein X-
Chromosom. Die Spermien kann man jedoch in zwei
Gruppen unterteilen: Die Hälfte von ihnen enthält
Wie wir im letzten Abschnitt erfahren haben, bildete ein X-Chromosom, die andere ein Y-Chromosom. Das
Morgans Entdeckung einer weißäugigen Fliegenmutante Geschlecht eines Kindes lässt sich also bis zum
einen wichtigen Grundpfeiler für die Unterstützung der Moment der Befruchtung zurückverfolgen: Befruchtet
Chromosomentheorie der Vererbung. Da sich die Kombi- ein Spermium mit einem X-Chromosom die Eizelle, bil-
nation der Geschlechtschromosomen eines Individuums det sich eine Zygote des Genotyps XX und es wird ein
direkt aus seinem Geschlecht ablesen lässt, konnte Mädchen entstehen. Befruchtet eine Samenzelle mit
Morgan den Erbgang der beiden bekannten Allele des einem Y-Chromosom die Eizelle, trägt die Zygote die
Gens für die Augenfarbe verfolgen und den Zusammen- Geschlechtschromosomen X und Y und es entsteht ein
hang mit den Gonosomen erkennen. Im Folgenden Junge (Abbildung 15.6a). Die Geschlechtsbestimmung
möchten wir die Rolle der Geschlechtschromosomen ist also bei den Säugetieren ein Zufallsereignis mit
(Gonosomen) bei der Vererbung näher beleuchten. Wir jeweils einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent.
beginnen mit einer Übersicht über die Festlegung des Neben dem beschriebenen System bei den Säugetieren
Geschlechts beim Menschen und einigen Tieren. gibt es bei verschiedenen Tieren noch drei andere Sys-
teme der chromosomalen Geschlechtsbestimmung, die
in Abbildung 15.6b–d gezeigt sind.
15.2.1 Die Geschlechtschromosomen Die anatomischen Geschlechtsmerkmale beginnen
sich beim menschlichen Embryo etwa im Alter von
Das Geschlecht ist eines der offensichtlichen phäno- zwei Monaten auszubilden. Bis dahin sind die Anla-
typischen Merkmale des Menschen. Trotz der vielen gen der Geschlechtsorgane (Gonaden) noch bei beiden
anatomischen und physiologischen Unterschiede zwi- Geschlechtern gleich und können sich entweder zu
schen Mann und Frau ist dabei aber die chromosomale Eierstöcken oder zu Hoden entwickeln, je nachdem,
Grundlage verhältnismäßig einfach. Beim Menschen ob ein Y-Chromosom vorhanden ist oder nicht. Im Jahr
und anderen Säugetieren finden sich zwei verschie- 1990 veröffentlichte eine britische Forschergruppe eine
dene Geschlechtschromosomen oder Gonosomen, die Arbeit, in der sie das für die Hodenentwicklung haupt-
mit X und Y bezeichnet werden. Die beiden Chromo- verantwortliche Gen auf dem Y-Chromosom identifi-
somen lassen sich deutlich in Karyogrammen unter- zierten. Sie nannten es SRY (Sex-determining Region of
scheiden, wobei das Y-Chromosom deutlich kleiner ist the Y-Chromosome). Liegt ein Y-Chromosom vor, bei
(Abbildung 15.5). Ein Individuum, das von seinen dem nur dieses Gen fehlt oder mutiert ist, entwickeln
Eltern je ein X-Chromosom geerbt hat, entwickelt sich sich Eierstöcke aus den Gonaden. Die physiologischen
für gewöhnlich zu einer Frau. Ein männliches Exem- und anatomischen Unterschiede bei Mann und Frau
plar entsteht in der Regel aus einer Zygote, die ein X- sind natürlich so vielschichtig, dass noch viele andere
und ein Y-Chromosom enthält (Abbildung 15.6a). Nur Gene an deren Ausbildung beteiligt sind. Tatsächlich

384
15.2 Die Eigenschaften der Geschlechtschromosomen

codiert das Gen SRY für einen Transkriptionsfaktor, also Inzwischen wurde das Y-Chromosom sequenziert und
ein Protein, das die Expression anderer Gene steuert. es wurden bisher 78 Gene identifiziert, die für 25 ver-
schiedene Proteine codieren (einige der Gene wurden
im Laufe der Evolution verdoppelt). Etwa die Hälfte
44 + 44 +
XY
Eltern
XX
der identifizierten Gene wird nur in den Hoden expri-
miert und einige sind für deren normale Funktion not-
wendig. Fehlen diese Gene, so erscheint ein Indivi-
22 + 22 + 22 + duum mit der Chromosomenkonstitution XY zwar
oder + X männlich, produziert aber keine normalen Spermien.
X Y
Spermien Eizellen

44 + 44 + 15.2.2 Die Vererbung geschlechts-


XX oder XY
gebundener Gene
Zygoten
(Kinder)
Zusätzlich zu ihrer Rolle als Träger von Genen, die das
Geschlecht festlegen, enthalten die Geschlechtschro-
(a) Das X/Y-System. Bei Säugetieren hängt das Geschlecht
der Nachkommen davon ab, ob die Samenzelle (Sper- mosomen (vor allem X-Chromosomen) weitere Gene
mium) ein X- oder ein Y-Chromosom enthält. (insgesamt etwa 1100 proteincodierende Gene sind auf
dem X-Chromosom lokalisiert), die auch geschlechts- Teil 3
22 + 22 +
unabhängige Merkmale bestimmen. Ein Gen, das auf
XX X einem der Geschlechtschromosomen liegt, wird als
geschlechtsgebundenes Gen (engl. sex-linked gene)
bezeichnet. Die geschlechtsgebundenen Gene des
Menschen werden ähnlich wie der von Morgan unter-
(b) Das X/0-System. Bei Heuschrecken, Schaben und suchte Genort für die Augenfarbe bei Drosophila vererbt
einigen anderen Insektengruppen findet sich nur ein (Abbildung 15.4). Väter vererben geschlechtsgebundene
Typ von Geschlechtschromosom, das X-Chromosom.
Weibchen haben den Genotyp XX, Männchen haben Allele mit dem X-Chromosom in einer Samenzelle an
nur ein Geschlechtschromosom (Genotyp X0). Das alle ihre Töchter, aber an keinen ihrer Söhne. Im Gegen-
Geschlecht der Nachkommen wird also dadurch fest- satz dazu können Mütter geschlechtsgebundene Allele
gelegt, ob die Spermien ein X-Chromosom enthalten
oder nicht.
sowohl an Söhne als auch an Töchter weitergeben, wie
sich aus Abbildung 15.7 ergibt.
Beruht ein geschlechtsgebundenes Merkmal auf einem
rezessiven Allel, so wird es von weiblichen Individuen
76 + 76 +
ZW ZZ nur dann ausgeprägt, wenn das betreffende Allel homo-
zygot (also auf beiden X-Chromosomen) vorliegt. Da
männliche Individuen nur einen entsprechenden Genort
besitzen, lassen sich die Begriffe homozygot und hetero-
(c) Das Z/W-System. Bei Vögeln, sowie manchen Fisch- zygot für die Beschreibung geschlechtsgebundener Gene
und Insektenarten, legen in der Eizelle (nicht in den nicht anwenden. Man spricht hier von einem hemizygo-
Spermien) die dort vorliegenden Geschlechtschro- ten Zustand. Jedes männliche Individuum, das mit dem
mosomen das Geschlecht der Nachkommen fest. Die
Geschlechtschromosomen werden durch die Buch- X-Chromosom ein rezessives Allel von der Mutter erhält,
staben Z und W symbolisiert. Weibchen besitzen den wird den Phänotyp ausprägen. Aus diesem Grund treten
Genotyp ZW, Männchen den Genotyp ZZ. geschlechtsgebundene rezessive Erbkrankheiten wesent-
lich häufiger bei Männern als bei Frauen auf. Obwohl
für Frauen eine sehr viel geringere Wahrscheinlichkeit
32 16 besteht, dass sie zwei Kopien eines Mutantenallels
(diploid) (haploid)
erben, findet man natürlich auch bei ihnen geschlechts-
gebundene Erbkrankheiten. So wird zum Beispiel die
Farbenblindheit geschlechtsgebunden vererbt. Eine far-
benblinde Tochter kann als Kind eines farbenblinden
(d) Das haplo-diploide System. Bei den meisten Bienen- Mannes zur Welt kommen, wenn seine Partnerin Allel-
und Ameisenarten finden sich keine Geschlechts- träger ist (Abbildung 15.7c). Da das geschlechtsgebun-
chromosomen. Die Weibchen entwickeln sich aus
befruchteten Eiern und sind daher diploid. Männchen dene Allel für Farbenblindheit aber relativ selten auftritt,
entwickeln sich aus unbefruchteten Eiern und sind ist es unwahrscheinlich, dass ein farbenblinder Mann
deshalb haploid (sie haben demnach keine Väter!). auf eine solche heterozygote Frau trifft.
Viele geschlechtsgebundene Erbkrankheiten des Men-
Abbildung 15.6: Einige chromosomale Systeme der Geschlechts-
bestimmung. Die Zahlen geben die Anzahl der Autosomen der dargestell-
schen sind aber weitaus folgenreicher als Farbenblind-
ten Arten an. Bei Fliegen der Gattung Drosophila haben die Männchen die heit. Ein Beispiel dafür ist die Duchenne’sche Muskel-
genetische Ausstattung XY, doch wird das Geschlecht der Tiere durch das dystrophie (Muskelschwund), von der in Europa etwa
Verhältnis der Zahl der X-Chromosomen zu den Autosomen bestimmt und eines von 5000 männlichen Kindern betroffen ist.
nicht einfach von der An- oder Abwesenheit eines Y-Chromosoms. Die Krankheit bewirkt einen fortschreitenden Muskel-

385
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

XNXN × Xn Y XNXn × X NY XNXn × Xn Y

Xn Y Spermium XN Y Spermium Xn Y Spermium

Eizelle XN XNXn XNY Eizelle XN XNXN XNY Eizelle XN XNXn XNY

XN XNXn XNY Xn Xn XN Xn Y Xn Xn Xn Xn Y

(a) Ein farbenblinder Vater gibt das (b) Wenn eine heterozygote Frau (c) Wenn eine heterozygote Frau Nach-
Mutantenallel (n) an alle seine Töch- Nachwuchs mit einem Farben wuchs mit einem farbenblinden
ter weiter, jedoch an keinen seiner sehenden Mann hat, so besteht Mann hat, so besteht eine Wahr-
Söhne. Wenn die Mutter homozygot eine Wahrscheinlichkeit von 50%, scheinlichkeit von 50%, dass die
dominant ist, werden die Töchter dass die Töchter des Paares wie Kinder des Paares an Farbenblind-
den Normalphänotyp (Farbsehen) die Mutter heterozygot die Muta- heit leiden werden, ungeachtet
zeigen, aber Träger der Mutation tion tragen. Die Wahrscheinlich- des Geschlechts. Töchter mit nor-
sein. keit, dass ein Sohn des Paares an maler Fähigkeit des Farbensehens
Farbenblindheit leidet, beträgt sind Träger der Mutation, wohinge-
ebenfalls 50%. gen männliche Nachkommen mit
Teil 3 normaler Fähigkeit des Farbensehens
frei von dem rezessiven Allel sind.
Abbildung 15.7: Die Vererbung geschlechtsgebundener, rezessiver Merkmale. In dieser schematischen Darstellung dient die Farbenblindheit
als Beispiel. Das hochgestellte „N“ bezeichnet das dominante Allel für normale Farbsichtigkeit; es liegt auf dem X-Chromosom. Das hochgestellte kleine
„n“ bezeichnet das rezessive Allel, dessen Mutation die Farbenblindheit verursacht. Weiße Kästchen zeigen nicht betroffene Individuen an. Hell orange-
farbene Kästchen kennzeichnen (phänotypisch gesunde) Allelträger. Dunkel orangefarbene Kästchen geben die farbenblinden Personen an.

? Welche Phänotypen hätten die Kinder einer farbenblinden Frau mit einem Mann, der keine Symptome zeigt?

schwund, und Betroffene werden selten älter als 20 zu den Männchen die doppelte Menge der Proteine
Jahre. Die Ursache der Krankheit konnte auf einen Ver- herstellen, die von Genen des X-Chromosoms codiert
lust des Muskelproteins Dystrophin zurückgeführt wer- sind. Dies ist nicht der Fall, weil in den Zellen weib-
den, das von einem Gen auf dem X-Chromosom codiert licher Säugetiere eines der beiden X-Chromosomen
wird. schon frühzeitig in der Embryonalentwicklung prak-
Hämophilie (Bluterkrankheit) ist eine rezessive Erb- tisch vollständig stillgelegt wird. Als Folge davon
krankheit, die sich durch das Fehlen eines oder meh- haben Männchen wie Weibchen die gleiche wirksame
rerer Proteine zur Blutgerinnung auszeichnet. Deshalb Gendosis (nämlich jeweils ein Gen, das exprimiert
bluten Betroffene nach einer Verletzung sehr viel län- wird). Das inaktivierte X-Chromosom verdichtet sich
ger. Oberflächliche kleinere Schnitte oder Schürfwun- in den Zellen weiblicher Tiere zu den sogenannten
den stellen zwar in der Regel kein ernstes Problem Barr-Körperchen. Sie liegen an der Innenseite der
dar, tiefer gehende Verletzungen mit Einblutungen in Kernmembran. Die meisten Gene des Barr-Körper-
die Muskulatur oder die Gelenke können aber äußerst chens werden nicht exprimiert. Nur in den Keimbahn-
schmerzhaft sein und schwere Schäden verursachen. zellen der Eierstöcke bilden sich die Barr-Körperchen
Im 19. Jahrhundert war die Bluterkrankheit in europä- wieder zurück, so dass in den Eizellen wieder zwei
ischen Adelsfamilien weit verbreitet. Die englische aktive X-Chromosomen vorliegen.
Königin Victoria vererbte das defekte Allel an eine Die englische Genetikerin Mary Lyon konnte nach-
Reihe ihrer Kinder. Durch die „standesgemäße“ Heirat weisen, dass in der Embryonalentwicklung zufällig
mit Adligen aus Spanien und Russland wurde dieses ausgewählt wird, welches X-Chromosom inaktiviert
X-gekoppelte Allel weiter verbreitet und spiegelt sich wird. Entsprechend sind weibliche Säugetiere ein
in den Stammbäumen der Adelsfamilien wider. Vor Mosaik aus zwei Zelltypen: solche, in denen das inakti-
einigen Jahren konnten kleinste Gewebeproben aus den vierte X-Chromosom vom Vater stammt und solche, in
schon verstorbenen Familienmitgliedern zur DNA- denen es von der Mutter kam. Ist einmal ein X-Chromo-
Sequenzierung herangezogen werden, sodass wir die som inaktiviert, so wird dieser Zustand in den folgen-
molekularen Grundlagen der Bluterkrankheit kennen. den Mitosen beibehalten. Die Inaktivierung eines der
Heute können die fehlenden Blutgerinnungsfaktoren X-Chromosomen wird also auf die Tochterzellen ver-
bei Bedarf intravenös verabreicht werden. erbt. Bei einem Weibchen, das heterozygot für ein
geschlechtsgebundenes Merkmal ist, wird die Hälfte
der Zellen das mutante Allel exprimieren, die andere
15.2.3 Die Inaktivierung eines X-Chromo- Hälfte aber nicht. Abbildung 15.8 zeigt, wie dies bei
soms bei weiblichen Säugetieren einer Katze zur gesprenkelten Fellfärbung führen kann.
Auch beim Menschen kennt man Auswirkungen eines
Da weibliche Säugetiere zwei X-Chromosomen tragen, solchen Mosaiks. Beispielsweise bewirkt eine rezes-
fragen Sie sich vielleicht, ob Weibchen im Vergleich sive, X-chromosomal vererbte Mutation, dass sich die

386
15.3 Die Vererbung gekoppelter Gene auf einem Chromosom

Schweißdrüsen nicht richtig entwickeln. Eine für die-


 Wiederholungsfragen 15.2
ses Allel heterozygote Frau schwitzt nur in einigen
Hautpartien und in anderen nicht.
1. Eine weißäugige, weibliche Taufliege wird mit
Beim inaktiven X-Chromosom wurde eine Methylie-
einem rotäugigen Männchen (Wildtyp) gepaart.
rung von Cytosinen in der DNA als kovalente Modifika-
Diese Kreuzung ist also umgekehrt zu der in
tion nachgewiesen (die regulatorische Rolle der DNA-
Abbildung 15.4 gezeigten. Welche Phäno- und
Methylierung wird uns in Kapitel 18 abermals beschäf-
Genotypen sagen Sie für die Nachfahren dieser
tigen). Man hat außerdem auf dem X-Chromosom ein
Kreuzung voraus?
Gen mit dem Namen XIST (für „X-inactive specific
transcript“) entdeckt, das nur in den Barr-Körperchen 2. Weder Tim noch Regina leiden an der Du-
exprimiert wird. Zahlreiche Kopien der davon gebil- chenne’schen Muskeldystrophie, doch ihr erst-
deten, offenbar nicht für ein Protein codierenden RNA, geborener Sohn hat die Krankheit. Wie groß ist
lagern sich am inaktiven X-Chromosom an und bede- die Wahrscheinlichkeit, dass das zweite Kind
cken es schließlich vollständig. Es wird angenommen, des Paares auch die Krankheit haben wird?
dass diese Wechselwirkung die Inaktivierung des Chro- Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, falls das
mosoms einleitet, wobei weitere RNA-Produkte benach- zweite Kind ein Junge ist? Wie groß ist die
barter Gene auch an der Steuerung dieses Vorgangs Wahrscheinlichkeit bei einem Mädchen?
beteiligt sind.
3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Rufen Sie sich Teil 3
nochmals ins Gedächtnis, was sie in Konzept
14.1 über dominante und rezessive Allele ge-
X-Chromosom lernt haben. Wenn eine Erbkrankkeit durch
ein dominantes X-chromosomal codiertes Gen
Allel für orange-
farbenes Fell
verursacht würde, wie würde sich der Erbgang
früher Embryo im Vergleich zu einem rezessiven X-chromoso-
Allel für mal codierten Erbgang ändern?
schwarzes Fell
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

zwei Zell- Zellteilung und


populationen Inaktivierung des
einer adulten X-Chromosoms
Katze Die Vererbung gekoppelter

X aktiv
X inaktiv
X aktiv
Gene auf einem Chromosom
15.3
Da jeder Organismus wesentlich mehr Gene als Chro-
schwarzes Fell orangefarbenes Fell
mosomen hat, trägt jedes Chromosom Hunderte bis Tau-
sende von Genen (mit Ausnahme des Y-Chromosoms).
Gene, die auf demselben Chromosom nahe beieinander
liegen und gemeinsam vererbt werden, bezeichnet man
als gekoppelte Gene. Bei Kreuzungsexperimenten mit
gekoppelten Genen weichen die Ergebnisse von der
Mendel’schen Unabhängigkeitsregel ab (3. Mendel’sche
Regel).

Abbildung 15.8: Die Inaktivierung des X-Chromosoms bei der


Hauskatze. Das Gen für die Fellfarbe liegt auf dem X-Chromosom. Für 15.3.1 Der Einfluss der Genkopplung
den hier im Bild zu erkennenden Phänotyp müssen zwei unterschiedliche auf die Vererbung
Allele auf den beiden X-Chromosomen vorliegen: eines für schwarze und
eines für orange Fellfarbe. Dies ist nur bei Katzen möglich, nicht aber bei Um zu verstehen, wie die Kopplung von Genen die Ver-
Katern, die ja nur ein X-Chromosom haben. Wenn die Katze heterozygot erbung zweier verschiedener Merkmale beeinflusst,
für das betreffende Gen ist, ergibt sich das gesprenkelte Fell. Orangefar- wollen wir ein weiteres der von Morgan an Drosophila
bige Bereiche werden durch Zellpopulationen hervorgerufen, in denen das
durchgeführten Experimente heranziehen. Dabei be-
X-Chromosom mit dem entsprechenden Farballel aktiv ist, schwarze Fell-
bereiche werden durch Zellen gebildet, in denen das andere X-Chromo-
trachten wir die Merkmale der Körperfarbe und der
som mit dem Allel für schwarzes Fell aktiv ist. Bei den bekannten Calico- Flügelgröße. Jedes dieser Merkmale kann sich in zwei
Katzen treten auch noch weiße Fellbereiche auf, die von einem weiteren Phänotypen ausprägen. Wildtypfliegen haben graue
Gen abhängen. Körper und normal große Flügel. Die von Morgan iso-
lierten Mutanten hatten einen schwarzen Körper und
verkümmerte Flügel. Beide Mutantenallele sind rezes-
siv zu denen des Wildtyps und die Gene liegen nicht

387
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

auf den Geschlechtschromosomen. Die von Morgan Gameten von heterozygoter Eltern-
bezüglich dieser beiden Gene durchgeführten Kreu- pflanze mit gelb-runden Erbsen
zungen sind in Abbildung 15.9 dargestellt. (YyRr)
Bei den Nachkommen der F2-Generation trat ein
viel höherer Anteil elterlicher Phänotypen auf, als YR yr Yr yR
Gameten von
man für die unabhängige Vererbung von zwei Merk- homozygot
malen erwartet hätte. Aufgrund dieser Beobachtungen rezessiver
schloss Morgan, dass Körperfarbe und Flügelgröße oft Elternpflanze yr
gemeinsam vererbt werden, da die Gene für diese Merk- mit grün-
runzeligen YyRr yyrr Yyrr yyRr
male auf demselben Chromosom liegen:
Erbsen (yyrr)
Nachkommen mit rekombinante
parentalen Genotypen Nachfahren
b+ vg+ b vg
Eltern der ×
Nach diesem Schema sollte die Hälfte der Nachkommen
Rückkreuzung b vg b vg einen Phänotyp zeigen, der einem der Eltern entspricht.
Solche Nachkommen werden als Parentaltyp bezeich-
net. Man findet jedoch auch zwei nicht-parentale Phä-
Teil 3 notypen (je ein Viertel mit gelb-runzeligen und ein Vier-
tel mit grün-glatten Erbsen). Da es sich hierbei um neue
Kombinationen der Merkmale Farbe und Form der
b+ vg+ b vg
Samenkörner handelt, werden sie als Rekombinanten
die meisten oder
bezeichnet. Handelt es sich, wie in unserem Beispiel,
Nachkommen b vg b vg
(F2-Generation) bei der Hälfte aller Nachkommen um solche mit rekom-
binanten Phänotypen, so liegt eine Rekombinationshäu-
figkeit von 50 Prozent vor. Die vorhergesagten Phäno-
typverhältnisse entsprechen in etwa dem, was Mendel
Wie die Abbildung 15.9 zeigt, traten bei Morgans tatsächlich bei seinen YyRR × yyrr-Kreuzungen fand.
Kreuzungen auch die beiden nicht-elterlichen Phänoty- Eine 50-prozentige Rekombinationshäufigkeit wird
pen auf. Offensichtlich wurden also die beiden betrach- bei einer solchen Kreuzung beobachtet, wenn die bei-
teten Gene für die Körperfarbe und die Flügelgröße nicht den untersuchten Gene auf unterschiedlichen Chro-
immer miteinander vererbt, waren also nur teilweise mosomen liegen, also nicht gekoppelt sind. Die struk-
gekoppelt. Um diese Schlussfolgerung besser zu verste- turelle Grundlage für die Rekombination von nicht-
hen, müssen wir uns nochmals näher mit der geneti- gekoppelten Genen ist die zufällige Ausrichtung der
schen Rekombination beschäftigen. Rekombinanten homologen Chromosomenpaare in der Metaphase der
sind definiert als Nachkommen, die von den Elternorga- ersten meiotischen Teilung (Metaphase I) (siehe auch
nismen abweichende Merkmalskombinationen zeigen. Abbildung 13.11 und die Frage zu Abbildung 15.2).

Die Rekombination gekoppelter Gene: Crossing-over


15.3.2 Rekombination und Kopplung Versuchen wir jetzt, die Ergebnisse der in Abbildung
15.9 dargestellten Kreuzung von Drosophila zu erklären.
In Kapitel 13 haben Sie erfahren, wie bei der sexuellen Wir sehen, dass die meisten Nachkommen der Kreuzung
Fortpflanzung die Meiose und die zufällige Verschmel- bezüglich der Körperfarbe und der Flügelgröße einen der
zung von Samen- und Eizellen bei der Befruchtung die elterlichen Phänotypen zeigten. Dies führte zu dem
genetische Variabilität unter den Nachkommen sicher- Schluss, dass die beiden beteiligten Gene gekoppelt auf
stellen. Wir werden nun die Rekombination zwischen dem gleichen Chromosom liegen, da die Parentaltypen
Chromosomen mit den genetischen Befunden von Men- deutlich häufiger als nur zu 50 Prozent auftraten. Aller-
del und Morgan verknüpfen. dings handelte es sich auch bei etwa 17 Prozent (≈ 1/6)
der Nachkommen um Rekombinanten.
Die Rekombination ungekoppelter Gene: Angesichts dieser Ergebnisse postulierte Morgan, dass
Unabhängige Verteilung von Chromosomen gelegentlich die Verbindung zwischen den beiden
Schon Mendel beobachtete bei seinen Zweifaktoren- Genen auf dem gleichen Chromosom aufgebrochen wer-
kreuzungen, dass Merkmalskombinationen in einigen den muss. Die später durch verschiedene Forschergrup-
Nachkommen auftraten, die bei keinem der beiden pen durchgeführten Versuche zeigten, dass es sich bei
Eltern vorlagen. Das folgende Punnett-Quadrat zeigt diesem Vorgang um das uns schon bekannte Crossing-
eine Kreuzung zwischen einer Erbsenpflanze mit gelb- over handelt, durch das eine Rekombination zwischen
runden Samen, die bezüglich beider Merkmale hetero- gekoppelten Genen erfolgen kann. Bei einem Crossing-
zygot ist (YyRr) mit einer zweiten, die grün-runzelige over kommt es zwischen den in der Prophase der ersten
Erbsen produziert, und die homozygot für beide Merk- meiotischen Teilung aneinander angelagerten Chromo-
male ist (yyrr): somenpaaren zur Rekombination eines Chromatids des
mütterlichen mit einem des väterlichen Chromosoms

388
15.3 Die Vererbung gekoppelter Gene auf einem Chromosom

(siehe auch Abbildung 13.12). Dies wird durch ver- mente führt. Die meisten Eizellen des Fliegenweibchens
schiedene Proteine bewerkstelligt und führt schließlich enthalten Chromosomen mit den elterlichen Genotypen
zum Austausch der distalen Bereiche zwischen zwei b+ vg+ oder b vg (für Körperfarbe und Flügelform). Einige
Nichtschwesterchromatiden. der in der Meiose gebildeten Eizellen erhalten aber auch
Die sich aus einem Crossing-over ergebenden rekom- rekombinante Chromosomen (b+ vg oder b vg+). Die
binanten Chromosomen können zu neuen Allelkombi- Befruchtung der verschiedenen Eizellen durch homo-
nationen führen. In den folgenden Stadien der Meiose zygot rezessive Spermien des Genotyps b vg ergibt dann
werden dann solche rekombinanten Chromosomen auf Nachkommen, bei denen 17 Prozent der Tiere einen
die Keimzellen verteilt. Abbildung 15.10 zeigt, wie ein nicht-elterlichen, also rekombinanten, Phänotyp aufwei-
Crossing-over in einer dihybriden weiblichen Fliege zu sen. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, hängt
rekombinanten Eiern und damit zu den rekombinan- die Häufigkeit der Rekombination zwischen zwei Genor-
ten Nachkommen der Morgan’schen Kreuzungsexperi- ten von deren räumlichem Abstand zueinander ab.

 Abbildung 15.9: Aus der Forschung

Wie wirkt sich die Kopplung zweier Gene auf demselben Chromosom liegen, und – falls dies der
die Vererbung der Merkmale aus? Fall ist – wie sich dies auf ihre Vererbung auswirkt.
Die Allele für die Körperfärbung sind b+ (grau) und
Experiment Morgan wollte herausfinden, ob die b (schwarz), die für die Größe der Flügel vg+ (nor- Teil 3
Gene für die Körperfärbung und die Flügelgröße auf mal) und vg (verkümmert).

Ergebnis
Morgan paarte zunächst rein- P-Generation
erbige Wildtypfliegen mit schwarzen (homozygot)
Fliegen mit verkümmerten Flügeln,
Wildtyp (graue Doppelmutante
um F1-Dihybride zu erhalten. Diese
Körperfarbe, (schwarze
zeigen das Erscheinungsbild des
normale Flügel) × Körperfarbe,
Wildtyps.
verkümmerte
Flügel)
b+ b+ vg+ vg+ b b vg vg

Er paarte dihybride F1-Wild- F1-Dihybride


typweibchen mit schwarzen (graue Körperfarbe, Doppelmutante
Rückkreuzung
Männchen mit verkümmerten normale Flügel) (schwarze
Flügeln. × Körperfarbe,
verkümmerte
Flügel)
b+ b vg+ vg b b vg vg

Die Spermien des Männchens Nachkommen der Rückkreuzung


steuern nur rezessive Allele bei,
so dass die Phänotypen der Eizellen b+ vg+ b vg b+ vg b vg+
Nachkommen den Genotyp der
weiblichen Eier widerspiegeln.
Wildtyp schwarz- grau- schwarz-
(grau- ver- ver- normal
Anmerkung: Obwohl nur
b vg normal) kümmert kümmert
Weibchen dargestellt sind,
besteht die Hälfte der Nach-
kommen jeder Klasse aus Spermium
Männchen.

b+ b vg+ vg b b vg vg b+ b vg vg b b vg+ vg
VORAUSGESAGTE
MENGENVERHÄLTNISSE

falls die Gene auf unterschiedlichen 1 : 1 : 1 : 1


Chromosomen liegen:

falls die Gene auf demselben Chromosom


liegen und die elterlichen Allele immer 1 : 1 : 0 : 0
zusammen vererbt werden:

Experimentell gefundenes Ergebnis: 965 : 944 : 206 : 185

Schlussfolgerung Da die meisten Nachkommen Quelle: T. H. Morgan und C. J. Lynch, The linkage of two factors in Dro-
einen parentalen Phänotyp zeigten, kam Morgan zu sophila that are not sex-linked, Biological Bulletin 23:174–182 (1912).
dem Schluss, dass die Gene für die Körperfarbe
und die Flügelgröße auf demselben Chromosom WAS WÄRE, WENN? Welche Klassen von Phänotypen
liegen. Die relativ kleine Zahl von Nachkommen wären unter den Nachkommen der Rückkreuzung
mit nicht-elterlichem Phänotyp deutete jedoch dar- am häufigsten vertreten, falls die Elternfliegen für
auf hin, dass irgendein Mechanismus gelegentlich die Merkmalskombinationen graue Körperfarbe mit
die Kopplung zwischen Genen, die auf demselben verkümmerten Flügeln und schwarze Körperfarbe
Chromosom liegen, aufhebt. mit normalen Flügeln reinerbig gewesen wären?

389
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

Eltern der Rückkreuzung graue Körperfarbe, schwarze Körperfarbe,


normale Flügel verkümmerte Flügel
(F1-Dihybride) (Doppelmutante)
b+ vg+ b vg

b vg b vg
Replikation der Replikation der
Chromosomen Chromosomen
b+ vg+ b vg

b+ vg+ b vg
b vg b vg

Meiose I: Crossing- b vg b vg
over zwischen den
Genorten b und vg
erzeugt neue Allel-
kombinationen. b+ vg+
Meiose I und II:
Teil 3 b+ vg Es entstehen keine neuen
b vg+ Allelkombinationen.

Meiose II: Die Trennung b vg


der Chromatiden führt
rekombinante
zu rekombinanten
Chromosomen
Gameten mit neuen
Allelkombinationen.

b+ vg+ b vg b+ vg b vg+
Eier

Nach- 965 944 206 185


kommen Wildtyp schwarz- grau- schwarz-
der Rück- (grau- verkümmert verkümmert normal b vg
kreuzung normal)
b+ vg+ b vg b+ vg b vg+

Spermium
b vg b vg b vg b vg

Nachkommen mit rekombinante


parentalen Genotypen Nachkommen

Rekombinations- = 391 Rekombinanten


× 100 = 17 %
häufigkeit 2.300 Gesamtzahl Nachkommen
Abbildung 15.10: Die chromosomale Grundlage der Rekombination zwischen gekoppelten Genen. In diesem Schema der Rückkreuzung
aus Abbildung 15.9 sollen sowohl die Chromosomen als auch die Gene verfolgt werden. Die maternalen Chromosomen sind in rot und rosa wiedergege-
ben, um die beiden Homologen zu unterscheiden. Da in einigen (aber nicht in allen) Fällen bei der Bildung der Eizellen ein Crossing-over zwischen den
Genorten b und vg stattgefunden hat, entstehen mehr Eier mit Chromosomen vom parentalen Typ als solche mit rekombinanten Chromosomen. Die
Befruchtung der gezeigten Eizellen durch Spermien des Genotyps b /vg führt zu einigen rekombinanten Nachkommen. Die Rekombinationshäufigkeit ist
der Prozentsatz der rekombinanten Fliegen unter allen Nachkommen.

ZEICHENÜBUNG Nehmen Sie an – wie in der Frage zu Abbildung 15.9 –, dass die Elternfliegen reinerbig für graue Körperfarbe und verkümmerte
Flügel, sowie schwarze Körperfarbe und normale Flügel sind. Zeichnen Sie die Chromosomen für jede der vier möglichen Eizelltypen eines F1-Weibchens
und beschriften Sie jedes Chromosom mit „parental“ oder „rekombinant“.

Neue Allelkombinationen: von anderen Chromosomenpaaren aneinander an.


Variationen für die natürliche Selektion Durch den reziproken genetischen Austausch in der
davor liegenden Prophase I werden väterliche und müt-
EVOLUTION Das Verhalten der Chromosomen in der terliche Allele neu gemischt. Mendels elegante Experi-
Meiose führt zu einer genetischen Vielfalt in der Folge- mente zeigten darüber hinaus, dass väterliche und müt-
generation (vgl. Konzept 13.4). Homologe Chromoso- terliche Allele unabhängig voneinander auf die nächste
men lagern sich während der Metaphase I unabhängig Generation übertragen werden und so ebenfalls zu

390
15.3 Die Vererbung gekoppelter Gene auf einem Chromosom

einer erhöhten genetischen Vielfalt beitragen (vgl. Kapi- lungskarten für drei Gene: dem für die Körperfarbe (b),
tel 14). Betrachtet man beide Vorgänge zusammen, sieht dem für die Flügelform (vg; Abbildung 15.10) und einem
man, dass die durch das Crossing-over entstandenen dritten Gen namens Zinnober (cn). Wie viele andere Dro-
rekombinanten Chromosomen neue zufällige Allel- sophila-Gene wirkt sich Zinnober auf die Augenfarbe
kombinationen enthalten, die wiederum bei der der Fliegen aus, so dass die Augen bei Mutanten heller
Meiose zusammen mit anderen rekombinanten Chro- (zinnoberrot) sind als die des Wildtyps. Die Rekombina-
mosomen viele neue Varianten bilden können. Damit tionshäufigkeit zwischen den Genorten cn und b beträgt
wird die genetische Vielfalt nochmals um Größenord- neun Prozent, die zwischen vg und cn 9,5 Prozent,
nungen gesteigert (siehe Abbildung 15.9 und Abbil- und die zwischen b und vg 17 Prozent. Crossing-over
dung 15.10). Durch die zufällige Befruchtung entstehen zwischen cn und b und zwischen cn und vg finden
weitere neue Allelkombinationen. Diese Fülle von gene- also nur etwa halb so häufig statt wie zwischen b und
tischen Veränderungen und Neukombinationen bietet vg. Nur wenn man das Gen cn ungefähr in die Mitte
die Grundlage für die natürliche Selektion. Organismen, zwischen b und vg setzt, ergibt sich eine Genkarte, die
deren zufällig entstandene Allelkombinationen besser diese Beobachtungen erklärt (überprüfen Sie dies,
an bestimmte Umweltbedingungen angepasst sind, kön- indem Sie versuchen, andere Genkarten zu zeichnen).
nen besser überleben und haben mehr Nachkommen, Sturtevant benutzte abstrakte Karteneinheiten („map
was die Fortpflanzung dieses Individuums begünstigt. units“), um den Abstand zwischen zwei Genen anzuge-
Bei der Weitergabe dieser Allelkombination an die ben, wobei eine Einheit einer Rekombinationshäufigkeit
nächste Generation kommt es nun wieder zu einer zufäl- von einem Prozent entspricht. Heute wird zu Ehren von Teil 3
ligen Durchmischung und Neukombination der Erbanla- Thomas Hunt Morgan diese Einheit in der Regel als cM
gen. Letztlich wird die genetische Zusammensetzung (Zentimorgan) angegeben (1 cM = 1 Prozent Rekombi-
also immer durch das Wechselspiel zwischen Genotyp nation zwischen zwei Genen).
und Umweltbedingungen bestimmt. Tatsächlich ist die Auswertung der Rekombinations-
häufigkeiten oft schwieriger, als unser einfaches Bei-
spiel vermuten lässt. So können manche Gene auf
15.3.3 Die Kartierung von Genen anhand einem Chromosom so weit auseinanderliegen, dass
von Rekombinationshäufigkeiten: mit Sicherheit ein Crossing-over zwischen ihnen statt-
ein wissenschaftlicher Ansatz finden wird. Man kann zwischen einem solchen Gen-
paar eine maximale Rekombinationshäufigkeit von
Die Entdeckung der Genkopplung und der Rekombina- 50 Prozent feststellen, wie man sie auch für zwei Gene
tion durch Crossing-over ermöglichte es einem der For- auf unterschiedlichen Chromosomen findet. Mit ande-
scher in Morgans „Fliegenzimmer“, Alfred Sturtevant, ren Worten verhalten sich solche weit auseinanderlie-
ein Verfahren zur Erstellung von Genkarten zu entwi- genden Gene in Kreuzungsexperimenten so, als lägen
ckeln – einem Verzeichnis der Genorte auf einem Chro- sie auf zwei verschiedenen Chromosomen. Sie sind zwar
mosom. strukturell auf dem Chromosom verbunden, erscheinen
Sturtevant erkannte, dass man die Rekombinations- aber genetisch als ungekoppelt und folgen einer unab-
häufigkeiten aus Versuchen bestimmen kann, wie sie in hängigen Verteilung nach der 3. Mendel’schen Regel.
Abbildung 15.9 und Abbildung 15.10 dargestellt sind. Tatsächlich weiß man heute, dass einige der von Men-
Er stellte die Hypothese auf, dass die Rekombinations- del an den Erbsen untersuchten Gene auf demselben
häufigkeiten von den Abständen zwischen den betref- Chromosom liegen. Der Abstand zwischen den Genor-
fenden Genorten auf einem Chromosom abhängen und ten ist aber so groß, dass man bei Kreuzungen entspre-
diesen proportional sind. Schließlich musste er noch chender Sorten keine Kopplung beobachtet. Gene, die
voraussetzen, dass es sich beim Crossing-over um einen auf einem Chromosom weit entfernt voneinander lie-
Vorgang handelt, der zufällig auftritt und an allen Punk- gen, können trotzdem kartiert werden, indem man
ten entlang eines Chromosoms gleich wahrscheinlich durch entsprechende Kreuzungen die Rekombina-
ist. Sturtevant postulierte: Die Wahrscheinlichkeit für tionshäufigkeiten von Genen ermittelt, die näher bei-
ein Crossing-over zwischen zwei Genen ist umso höher, einander und zwischen den beiden zu kartierenden
je weiter sie auseinanderliegen und umso höher ist Genen liegen. Aus der Summe ihrer Rekombinations-
auch die Rekombinationshäufigkeit. Anders ausge- häufigkeiten kann dann der Abstand zwischen den
drückt kam er zu dem einfachen Schluss: Je größer der genetisch nicht gekoppelten Genen berechnet werden.
Abstand zwischen zwei Genorten ist, desto mehr Stel- Mithilfe ihrer Rekombinationsdaten konnten Sturte-
len liegen zwischen ihnen, an denen ein Crossing-over vant und seine Mitarbeiter zahlreiche Drosophila-Gene
stattfinden kann. Aufgrund der aus verschiedenen Tau- in linearen Karten anordnen. Dabei ließen sich die Gene
fliegenkreuzungen verfügbaren Daten ging Sturtevant genau vier Kopplungsgruppen zuordnen. Zusammen
daran, die relative Lage der Gene auf einem Chromosom mit der mikroskopischen Beobachtung, dass Zellen der
zu berechnen und grafisch darzustellen – ein Verfahren, Taufliege vier Chromosomenpaare enthalten, waren die
das als Genkartierung bezeichnet wird und seither bei Kopplungskarten also ein weiterer Hinweis auf deren
einer Vielzahl von Organismen angewandt wurde. Funktion als Träger der Erbanlagen. Jedes Chromosom
Eine aus Rekombinationsfrequenzen abgeleitete stellt eine eigene Kopplungsgruppe dar und besteht aus
Genkarte wird auch als Kopplungskarte bezeichnet. einer linearen Folge einzelner Gene an den entspre-
Abbildung 15.11 zeigt eine von Sturtevants Kopp- chenden Genorten (Abbildung 15.12).

391
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

Eine Kopplungskarte beruht also auf Rekombina-


Abbildung 15.11: Arbeitstechniken
tionshäufigkeiten und liefert damit nur ein ungefähres
Abbild des Chromosoms. Im Gegensatz zu einer von
Die Erstellung einer Gen- oder Kopplungskarte Sturtevants Annahmen ist ein Crossing-over nicht in
allen Bereichen eines Chromosoms gleich wahr-
Anwendung Eine Kopplungskarte zeigt die rela- scheinlich. Deshalb entsprechen die in cM angegebe-
tive Lage von Genen zueinander an, die auf einem nen genetischen Abstände nicht immer genau den tat-
Chromosom liegen. sächlichen, physikalischen Abständen (die heute
Methode Eine Kopplungsanalyse setzt voraus, meist in Kilobasenpaaren angegeben werden). Eine
dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten Kopplungskarte gibt die relative Anordnung der Gene
eines Crossing-over zwischen zwei Genorten mit zueinander auf einem Chromosom an, nicht aber
dem Abstand zwischen den Genorten proportio- deren genaue Position. Mit anderen Methoden können
nal ansteigt. Die Rekombinationshäufigkeiten, beispielsweise auch cytogenetische Karten von Chro-
die herangezogen werden, um eine Genkarte für mosomen erstellt werden. Dabei werden Genorte
ein bestimmtes Chromosom zu erstellen, erhält durch spezifisch markierte Gensonden auf den Chro-
man aus experimentellen Kreuzungen von unter- mosomen sichtbar gemacht. Die genauesten Genkarten
scheidbaren Individuen, wie in Abbildung 15.9 ergeben sich allerdings durch die Sequenzierung der
und Abbildung 15.10 dargestellt. Die Abstände chromosomalen DNA-Moleküle, die wir in Kapitel 21
Teil 3 zwischen Genorten werden in genetischen Einhei- vorstellen und erörtern werden. Vergleicht man eine
ten (Centimorgan) angegeben. Dabei entspricht ein Kopplungskarte mit einer cytogenetischen Karte oder
Centimorgan (cM) einer Rekombinationshäufig- einer DNA-Sequenzkarte, so zeigt sich, dass die Abfolge
keit von einem Prozent (= 1 : 100). Die Gene wer- der Gene bei allen Kartentypen gleich ist, während
den in der Reihenfolge auf dem Chromosom sich die relativen Abstände zwischen ihnen unter-
angeordnet, die sich aus der Kombination der scheiden können.
ermittelten Werte ergibt.
Ergebnis In diesem Beispiel entsprechen die
ermittelten Rekombinationshäufigkeiten dreier I
Genpaarungen bei Drosophila (b/cn = 9 %; cn/vg Y X IV
II III
= 9,5 %; b/vg = 17 %) einer linearen Abfolge, bei
der das Gen cn ungefähr in der Mitte zwischen
den beiden anderen Genen liegt:
kurze Mutantenphänotypen
Borste kastanien- schwarze zinn- verküm- gekrümm- braune
Rekombinationshäufigkeiten am 3. braune Körper- ober- merte te Flügel Augen
Anten-
9% 9,5% nenglied Augen farbe farbene Flügel
Chromosom (Arista) Augen
17%

0 16,5 48,5 57,5 67,0 75,5 104,5


b cn vg

Die b/vg-Rekombinationshäufigkeit von 17 % ist


etwas niedriger als die Summe der Häufigkeiten
von b/cn und cn/vg (9 % + 9,5 % = 18,5 %), weil lange
Borste rote graue rote normale normale rote
in wenigen Fällen, in denen es zu einem Cros- am 3. Augen Körper- Augen Flügel Flügel Augen
sing-over zwischen b und cn kommt, gleichzeitig Anten- farbe
auch ein zusätzliches Crossing-over zwischen cn nenglied
(Arista) Wildtyp-Phänotypen
und vg stattfindet. Das zweite Crossing-over neu-
tralisiert im Phänotyp das erste Ereignis, was Abbildung 15.12: Eine vereinfachte Kopplungskarte eines Dro-
zu einer Verminderung der beobachteten b/vg- sophila-Chromosoms. Die Karte zeigt nur sieben Gene, die auf Chro-
Rekombinationshäufigkeit führt, während die mosom II von Drosophila kartiert wurden. Die Sequenzierung ergab, dass
mindestens 9.000 Gene auf diesem Chromosom liegen. Die an jedem Gen-
Häufigkeit für die beiden enger beieinander lie-
ort angegebenen Zahlenwerte geben den Abstand (in cM) zwischen dem
genden Genpaare erhöht wird. Der Wert von betreffenden Locus und dem als Nullwert definierten Locus für die Bors-
18,5 % (18,5 cM) liegt näher an der tatsächlichen tenlänge am linken Rand an. Beachten Sie, dass ein bestimmtes phäno-
Distanz zwischen den Genorten. Ein Genetiker typisches Merkmal (zum Beispiel die Augenfarbe) von mehr als einem Gen
würde daher bei der Erstellung einer Karte die beeinflusst werden kann. Beachten Sie außerdem, dass sich im Gegensatz
kleineren Abstände addieren. zu den paarweise vorliegenden homologen Autosomen (II–IV), X- und Y-
Chromosom (I) voneinander unterscheiden.

392
15.3 Die Vererbung gekoppelter Gene auf einem Chromosom

 Wissenschaftliche Übung

Der Chi-Quadrat-Test (χ2-Test) chen Messwerte mit den aus einer hypothetischen
Voraussage erwarteten Verhältnissen (in unserem
Sind zwei Gene mitein- Fall, dass die beiden Gene nicht gekoppelt sind). Da-
ander gekoppelt oder mit kann der Grad der Übereinstimmung bestimmt
nicht? Bei Genen, die werden. Weichen die beiden Werte so stark vonein-
nahe beieinander auf dem ander ab, dass dies nicht auf zufällige Schwankungen
gleichen Chromosom lie- zurückgeführt werden kann, so spricht man von einer
gen, werden die gekop- statistischen Signifikanz dafür, dass die Hypothese
pelten Allele häufiger zu- („nicht gekoppelt“) nicht zutrifft. Ist die Abweichung
sammen als unabhängig dagegen gering, so können die Messergebnisse durch
voneinander vererbt. Wie eine zufällige Verteilung erklärt werden. Die Versuchs-
kann man aber feststellen, Schmuckkörbchen ergebnisse stimmen in diesem Fall mit unserer Vor-
ob zwei Allele tatsächlich aussage überein oder weichen statistisch nicht signi-
zusammen vererbt werden oder nur zufällig ge- fikant von dieser ab. Bedenken Sie aber, dass eine
meinsam auftreten? – In dieser Übung wird der solche Übereinstimmung nicht beweist, dass unsere
einfache Chi-Quadrat-Test (χ2-Test) verwendet, um Hypothese richtig ist. Auch die Zahl der beobachte-
die Phänotypen zu verfolgen, die in den Nachkom- ten Ereignisse ist sehr wichtig: mit relativ wenigen Teil 3
men einer F1-Kreuzung auftreten; damit soll festge- Werten (wie in unserem Beispiel) können die Abwei-
stellt werden, ob sie gekoppelt oder ungekoppelt chungen von einer zufälligen Verteilung selbst dann
sind. gering sein, wenn die Gene zwar gekoppelt, aber wei-
Durchführung des Experiments Wenn Gene nicht ter voneinander entfernt auf dem gleichen Chromo-
gekoppelt sind und unabhängig voneinander vererbt som liegen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wol-
werden, erwartet man für die Merkmale in den len wir hier die geringe Probenzahl vernachlässigen.
Nachkommen einer F1-Kreuzung ein Verhältnis von Ergebnisse eines hypothetischen Experiments Bei
1:1:1:1 (vgl. Abbildung 15.9). Sind die beiden Gene den Kosmeen („Schmuckkörbchen“) ist die violette
dagegen gekoppelt, so treten Abweichungen von Stilfarbe (A) dominant gegenüber einer grünen (a),
diesem Verhältnis auf. Aufgrund der natürlichen und kurze Kronblätter (B) sind dominant über lange
Schwankungen gilt es nun herauszufinden, wie weit (b). In einer hypothetischen Kreuzung wurden
die tatsächlich beobachteten von den zufällig erwar- AABB- und aabb-Pflanzen miteinander verpaart,
teten Werten abweichen müssen, um daraus zu um die F1-Hybriden zu erhalten (AaBb), die dann
schließen, dass die Gene zusammen vererbt und für eine Rückkreuzung eingesetzt wurden (AaBb ×
nicht zufällig verteilt werden. Hierzu verwenden aabb). Von 900 daraus hervorgegangenen Pflanzen
Wissenschaftler eine statistische Absicherung. Der wurden sowohl die Stilfarbe, als auch die Länge
Chi-Quadrat-Test (χ2-Test) vergleicht die tatsächli- der Kronblätter bestimmt.

Nachkommen einer violetter Stiel / grüner Stiel / violetter Stiel / grüner Stiel /
F1-Kreuzung aus kurze Kronblätter kurze Kronblätter lange Kronblätter lange Kronblätter
AaBb (F1) × aabb (A–B–) (aaB–) (A–bb) (aabb)
erwartetes Verhältnis, wenn die Gene 1 1 1 1
nicht miteinander gekoppelt sind
erwartetete Anzahl an Nachkommen
(bei 900 Pflanzen)
beobachtete Anzahl an Nachkommen 220 210 231 239
(bei 900 Pflanzen)

Datenauswertung 2. Der Grad der Übereinstimmung wird mithilfe


des Chi-Quadrat-Tests berechnet. Damit wird
1. Die Werte in der Tabelle stammen aus einer bestimmt, wie gut die vorausgesagten Werte
hypothetischen Rückkreuzung der F1-Hybri- mit den tatsächlich beobachteten Zahlen über-
den. Wenn die beiden Gene nicht gekoppelt einstimmen. Für diese Berechnung wird die
wären, würde man ein Verhältnis von 1:1:1:1 folgende Formel eingesetzt:
bei den beobachteten Phänotypen erwarten.
Nutzen Sie diese Voraussage, um die erwarte- (o − e )2
χ2 = ∑
ten Zahlen für jeden Phänotyp zu berechnen, e
wenn 900 Nachkommen untersucht wurden.
Schreiben Sie diese Zahlen in die Tabelle.

393
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

 Forts.
Wobei o die tatsächlich erhaltenen Werte an- Liegt der χ2-Wert bei 0,05 oder darunter, werden
gibt und e die erwarteten Werte darstellt. Be- die Unterschiede als statistisch signifikant be-
rechnen Sie den χ2-Wert für die Werte aus der zeichnet und die Hypothese, dass die beiden
unten abgebildeten Tabelle. Vervollständigen Gene nicht gekoppelt sind, sollte verworfen wer-
Sie die Tabelle, indem Sie die in der oberen den. Liegt der Wert über 0,05, so sind die Ab-
Zeile angegebenen Berechnungen durchfüh- weichungen statistisch nicht signifikant und
ren. Addieren Sie die Zahlen aus der letzten die Werte stimmen mit der Hypothese überein.
Spalte, um den χ2-Wert zu erhalten. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhalten, finden
Sie ihren oben berechneten χ2-Wert in der χ2-
Nach- Erwar- Beobach- Abwei- (o–e)2 (o–e)2/e Tabelle im Anhang B. Die „Freiheitsgrade“ (df =
kommen tungs- tungs- chung degree of freedom) ihrer Werte werden von der
aus der wert wert (o–e) Zahl der beobachteten Ereignisse bestimmt (hier
Kreuzung (e) (o) 4 Phänotypen), von denen man 1 abzieht, also
(A–B–) 220 in unserem Beispiel 3 Freiheitsgrade.
(aaB–) 210
a. Bestimmen Sie, zwischen welchen Werten
(A–bb) 231 in der Reihe mit 3 Freiheitsgraden der von
Teil 3
Ihnen ermittelte χ2-Wert liegt.
(aabb) 239
b. Die Kopfzeilen dieser Werte geben Ihnen
χ2 = Summe: die Wahrscheinlichkeiten für den χ2-Wert
an. Wenn Sie sich ansehen, ob diese Unter-
3. Für sich betrachtet, sagt der χ2-Wert noch nichts schiede zwischen den gemessenen und den
aus, sondern wird nur verwendet, um die Wahr- erwarteten Werten nicht signifikant (p >
scheinlichkeit zu bestimmen, mit der die Mess- 0,05) oder signifikant (p ≤ 0,05) sind, wür-
werte aus einer zufälligen Verteilung erhalten den Sie dann sagen, dass die beiden Gene
wurden. Je niedriger diese Wahrscheinlichkeit ungekoppelt und zufällig miteinander ver-
ist, desto eher sollte die Hypothese verworfen erbt werden, oder können Sie diese Hypo-
werden. Ein gängiger Schwellenwert für Biolo- these ausschließen?
gen ist eine Wahrscheinlichkeit von 0,05 (5 %).

 Wiederholungsfragen 15.3
1. Wie können rekombinante Nachkommen aus 3. WAS WÄRE, WENN? Die Gene A, B und C liegen
einer Rückkreuzung eines dihybriden Eltern- auf demselben Chromosom. Rückkreuzungen er-
teils mit einer zweifach rezessiven Doppel- geben eine Rekombinationsfrequenz zwischen
mutante hervorgehen, wenn die beiden betrach- A und B von 28 % und zwischen A und C von
teten Gene auf demselben Chromosom liegen? 12 %. Können Sie daraus die Abfolge dieser Gene
ableiten? Erläutern Sie ihre Antwort!
2. Erläutern Sie für jeden Typ von Nachkommen
der Rückkreuzung von Abbildung 15.9 die Bezie-
hung zwischen seinem Phänotyp und den Alle- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
len, die vom weiblichen Elternteil stammen.

394
15.4 Abweichungen in der Zahl oder Struktur von Chromosomen verursachen einige bekannte Erbkrankheiten

Abweichungen in der Zahl oder Trennung kann entweder bei den homologen 2-Chro-
matidenchromosomen in der ersten meiotischen Tei-
Struktur von Chromosomen lung oder in der zweiten meiotischen Teilung bei den
verursachen einige rekombinanten Chromatiden unter Bildung der 1-Chro-
bekannte Erbkrankheiten
15.4 matidchromosomen ausbleiben (Abbildung 15.13).
Wenn dies geschieht, erhält eine der entstehenden
Tochterzellen ein überschüssiges Chromosom und eine
Wir haben in diesem Kapitel bereits erfahren, dass klei- andere eines zu wenig. Die restlichen Chromosomen
nere Veränderungen an einzelnen Genen den Phänotyp werden in der Regel richtig verteilt.
eines Organismus beeinflussen und sogar drastisch ver- Falls eine so gebildete aberrante Keimzelle von einer
ändern können. Neue Allele entstehen in der Regel aus normalen Keimzelle befruchtet wird, entsteht eine
zufälligen Mutationen, die dann zum Auftreten der Zygote mit einer abweichenden Chromosomenzahl,
neuen Phänotypen führen können. was als Aneuploidie bezeichnet wird. (Der Begriff wird
Umfangreichere Veränderungen an den Chromoso- auch dann verwendet, wenn mehr als ein Chromosom
men können ebenfalls den Phänotyp eines Individu- fehlverteilt wird.) Fehlt einem Gameten ein bestimmtes
ums entscheidend beeinflussen. So können physikali- Chromosom, ergibt sich eine Chromosomenzahl in der
sche und chemische Parameter sich auf den Verlauf der diploiden Zelle von 2n–1. Die Zygote ist aneuploid und
Meiose auswirken und ganze Chromosomen schädigen man spricht von einer Monosomie für dieses Chromo-
oder ihre Zahl in der Zelle verändern. Größere chromo- som. Enthält die Zygote dagegen ein überschüssiges Teil 3
somale Veränderungen (Aberrationen) führen häufig zu Chromosom (Chromosomenzahl 2n+1), so liegt eine
Fehlgeburten und zur Abstoßung eines Embryos. Indi- Trisomie vor. Bei den folgenden Mitosen der aberranten
viduen, die trotz solcher Veränderungen geboren wer- Zygote bleibt dieser Zustand in allen Zellen des
den, zeigen oft verschiedene Entwicklungsstörungen, Embryos erhalten. Kommt es zur Geburt des betroffe-
die unterschiedlich ausgeprägt sein können. Bei Pflan- nen Individuums, verursacht ein solches Chromoso-
zen wirken sich vergleichbare Veränderungen meist men-Ungleichgewicht durch das Fehlen oder den Über-
weniger schwerwiegend aus als bei Tieren. schuss der entsprechenden Gene und Genprodukte
meist schwere Schäden. Das bekannteste Beispiel hier-
für ist das Down-Syndrom (Trisomie-21) mit einem
15.4.1 Abweichende Chromosomenzahlen zusätzlichen Chromosom 21; darauf werden wir später
noch zurückkommen. Auch in der Mitose kann es zur
In der Regel werden die Chromosomen durch den Fehlverteilung von Chromosomen kommen. Je früher
Spindelapparat in der Meiose gleichmäßig und fehler- ein solches Ereignis in der Embryonalentwicklung auf-
frei auf die Tochterzellen verteilt. Gelegentlich kann tritt, umso mehr Körperzellen werden von der Störung
jedoch ein Fehler auftreten, so dass die gepaarten Chro- betroffen sein und entsprechende Schäden im betroffe-
mosomen nicht getrennt werden (Nondisjunction). Die nen Individuum verursachen.

Meiose I

keine Trennung
(Nondisjunction)

Meiose II

Non-
disjunction

Gameten

n+1 n+1 n–1 n–1 n+1 n–1 n n Abbildung 15.13: Chromosomen-


fehlsegregation (Nondisjunction) in
Chromosomenzahl
der Meiose. Gameten mit einer abwei-
chenden Chromosomenzahl können ent-
(a) Keine Trennung homologer (b) Keine Trennung von Schwester-
stehen, wenn sich die Chromosomen
Chromosomen in der ersten chromatiden in der zweiten
meiotischen Teilung. meiotischen Teilung. während der ersten oder zweiten meioti-
schen Teilung nicht trennen.

395
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

Manche Organismen tragen mehr als den doppelten Deletion ist der Verlust eines ganzen DNA-Fragments
(diploiden) Chromosomensatz in allen somatischen aus dem Chromosom. Dem betroffenen Chromosom feh-
Zellen. Eine Vervielfachung des Chromosomensatzes len dann bestimmte Gene. Ein solches „deletiertes“ Frag-
bezeichnet man als Polyploidie. Die Begriffe Haploi- ment kann an ein Schwesterchromatid angefügt werden,
die (n) und Diploidie (2n) sind uns schon vertraut. Bei das dann eine Duplikation der entsprechenden Sequen-
drei Chromosomensätzen spricht man von Triploidie zen aufweist. Das Fragment kann auch auf ein Nicht-
(3n), bei vier von Tetraploidie (4n), bei sechs von schwesterchromatid des homologen Chromosoms über-
Hexaploidie (6n). Eine Möglichkeit zur Bildung einer tragen werden. In diesem Fall kann der „duplizierte“
triploiden Zelle ist die Befruchtung einer abnormen, Bereich unter Umständen auch andere Allele enthalten
diploiden Eizelle (bei der die Chromosomen in der als der entsprechende Locus auf dem Empfängerchromo-
Meiose nicht verteilt wurden) durch ein normales som. Ein Fragment kann sich auch in umgekehrter Ori-
haploides Spermium. Ein tetraploider Zustand kann entierung in sein Ursprungschromosom integrieren; in
beispielsweise zustande kommen, wenn sich die Zygote diesem Fall spricht man von einer Inversion. Wird
(2n) nach der Replikation ihrer Chromosomen in der schließlich das Fragment auf ein nicht-homologes Chro-
ersten Mitose nicht geteilt hat. Die nachfolgenden Mito- mosom übertragen, liegt eine Translokation vor.
sen und Zellteilungen ergeben dann einen Embryo mit
tetraploiden Zellen. (a) Deletion
Die Polyploidie ist unter Pflanzen weit verbreitet.
Teil 3 Wie wir in Kapitel 24 sehen werden, spielte die spon- A B C D E F G H
tane Entstehung polyploider Individuen eine wichtige
Eine Deletion führt zum Verlust eines
Rolle in der Evolution der Pflanzen. So sind auch Chromosomenabschnitts.
viele unserer Nahrungspflanzen polyploid. Beispiels-
A B C E F G H
weise ist die Banane (Musa) triploid, der Weizen (Tri-
ticum) hexaploid, und Erdbeeren sind sogar octaploid
(8n). Im Tierreich ist die Polyploidie weit weniger (b) Duplikation
häufig anzutreffen, obwohl sie etwa bei Fischen und
A B C D E F G H
Amphibien auftreten kann. Unter den Säugetieren
beschrieben Wissenschaftler in Chile als Erste ein poly- Eine Duplikation führt zu einer Verdoppelung
ploides Nagetier, die Viscacha-Ratte (Tympanoctomys eines Abschnitts.
barrerae), mit tetraploiden Zellen (Abbildung 15.14). A B C B C D E F G H
Im Allgemeinen sind die Auswirkungen einer Polyploi-
die wesentlich unauffälliger als die einer Aneuploidie.
(c) Inversion
Ein überzähliges oder fehlendes Chromosom stört das
genetische Gleichgewicht offensichtlich in viel stärke- A B C D E F G H
rem Maße als ein zusätzlicher kompletter Chromoso-
mensatz. Eine Inversion dreht einen Abschnitt innerhalb
eines Chromosoms um.

A D C B E F G H

(d) Translokation

A B C D E F G H M N O P Q R

Eine Translokation verlagert einen Abschnitt


von einem Chromosom auf ein anderes, nicht
Abbildung 15.14: Ein tetraploides Säugetier. Die somatischen Zel- homologes Chromosom. Bei einer reziproken
len dieser Viscacha-Ratte (Tympanoctomys barrerae) enthalten doppelt so (wechselseitigen) Translokation kommt es
zwischen den beteiligten Chromosomen zum
viele Chromosomen wie die von eng verwandten Arten. Die Spermien- Austausch von Fragmenten.
köpfe dieser Tiere sind ungewöhnlich groß – vermutlich, um das zusätz-
M N O C D E F G H A B P Q R
liche genetische Material unterbringen zu können. Die tetraploide Art ist
wahrscheinlich aus der Verdoppelung der Chromosomenzahl (Duplikation Bei der selteneren nicht-reziproken Translokation überträgt ein Chro-
des Genoms) eines Vorfahren hervorgegangen, bei dem es in der Keim- mosom ein Fragment, ohne im Austausch selbst eines zu erhalten.
bahn zu einem Fehler in der Mitose oder Meiose gekommen ist.
Abbildung 15.15: Mögliche Veränderungen der Chromosomen-
struktur. Die roten Pfeile zeigen Bruchstellen an. Die von Umlagerungen
15.4.2 Abweichende Chromosomen- betroffenen Teile der Chromosomen sind dunkelviolett eingezeichnet.
strukturen
Deletionen und Duplikationen können besonders wäh-
Durch gelegentliche Fehler in der Meiose oder unter Ein- rend der Meiose auftreten. Beim Crossing-over tauschen
wirkung hochenergetischer Strahlung können Chromo- Nichtschwesterchromatiden manchmal DNA-Segmente
somenbrüche auftreten, die zu vier grundsätzlichen Ver- von ungleicher Größe untereinander aus, so dass einer
änderungen führen können (Abbildung 15.15): Eine der an der Rekombination beteiligten Partner mehr Erb-

396
15.4 Abweichungen in der Zahl oder Struktur von Chromosomen verursachen einige bekannte Erbkrankheiten

substanz erhält, als er abgegeben hat. Aus einer der- verbunden, an einer Leukämie und an Alzheimer zu
artigen, nichtreziproken Rekombination ergeben sich erkranken. Obwohl die Lebenserwartung von Betroffe-
ein Chromosom mit einer Deletion und ein anderes nen verkürzt ist, erreichen heute viele ein mittleres bis
mit einer Duplikation. höheres Alter. Fast alle männlichen und die Hälfte der
Einem diploiden Embryo, der homozygot für eine grö- weiblichen Personen mit dem Syndrom sind sexuell
ßere Deletion ist (oder einem männlichen Säugetier mit unterentwickelt und steril.
einer entsprechenden Deletion auf dem X-Chromosom), Die Häufigkeit, mit der Trisomie-21 auftritt, nimmt
fehlen in der Regel eines oder mehrere unverzichtbare mit dem Alter der Mutter zu. Bei Frauen unter 30 sind
(essenzielle) Gene und das betroffene Individuum ist nur 0,04 Prozent der geborenen Kinder betroffen, bei
nicht lebensfähig. Duplikationen und Translokationen Vierzigjährigen sind es schon 0,92 Prozent und das
erweisen sich ebenfalls oft als schädlich. Bei reziproken Risiko nimmt dann noch weiter zu. Dieser Zusammen-
Translokationen, bei denen Stücke zwischen nicht- hang zwischen dem Alter der Mutter und dem Auftre-
homologen Chromosomen ausgetauscht werden, sowie ten der Trisomie ist noch nicht richtig geklärt. Die meis-
bei Inversionen, bleibt das Gleichgewicht bezüglich der ten Fälle sind auf eine Fehlverteilung von Chromosom
Anzahl der Gene erhalten, das heißt alle Gene sind vor- 21 in der ersten meiotischen Teilung zurückzuführen.
handen. Trotzdem kann ein solches Ereignis zur Verän- Auf molekularer Ebene gibt es Hinweise darauf, dass
derung des Phänotyps führen, weil die Expression eines dies letztlich durch eine altersabhängige Fehlfunktion
oder mehrerer Gene durch die Umlagerung zu neuen eines Kontrollpunkts in der Meiose verursacht wird,
Sequenzen in der Nachbarschaft führt, die eine regulato- der das Voranschreiten der Anaphase verhindert, Teil 3
rische Funktion ausüben können (beispielsweise indem solange nicht alle Kinetochoren mit dem Spindelappa-
ein starker Promotor eine verstärkte Transkription und rat verbunden sind (vergleichbar dem M-Phasenkon-
letztlich eine hohe Konzentration des codierten Proteins trollpunkt im mitotischen Zellzyklus; siehe Kapitel 12).
verursacht). Derartige Veränderungen können verhee- Natürlich ist nicht nur das Chromosom 21 davon betrof-
rende Auswirkungen haben. fen. Trisomien anderer Chromosomen treten ebenfalls
mit zunehmendem Alter der Mutter häufiger auf, aber
Individuen mit anderen autosomalen Trisomien überle-
15.4.3 Menschliche Erbkrankheiten, ben nur selten das Säuglingsalter. Eine vorgeburtliche
die auf Veränderungen in der (pränatale) Untersuchung auf Trisomie des Embryos
Chromosomenzahl oder -struktur wird heute allen Schwangeren angeboten, da der Nut-
zurückzuführen sind zen das damit verbundene Risiko überwiegt.

Veränderungen in der Anzahl oder im Aufbau der Chro-


mosomen gehen mit einer Reihe sehr schwerer Erb-
krankheiten des Menschen einher. Wie bereits beschrie-
ben, führt eine Fehlverteilung der Chromosomen in der
Meiose zu einer Aneuploidie in den Gameten und den
aus einer Befruchtung hervorgehenden Zygoten. Obwohl
aneuploide Zygoten beim Menschen recht häufig vor-
kommen, wirken sich die chromosomalen Aberrationen
in der Embryonalentwicklung in der Regel so verhee-
rend aus, dass es zu einer Fehlgeburt kommt. Offenbar
stören aber einige Formen der Aneuploidie das geneti-
sche Gleichgewicht weniger als andere, so dass Kinder
mit bestimmten aneuploiden Chromosomensätzen gebo-
ren werden und heranwachsen können. Sie weisen dann
eine Reihe von Merkmalen auf (Merkmalssyndrom), die
charakteristisch für die entsprechende Form der Aneu-
ploidie sind. Aneuploidien lassen sich durch vorgeburt-
liche Untersuchungen erkennen (vgl. Abbildung 14.19).

Down-Syndrom (Trisomie-21)
Eine Aneuploidie, das Down-Syndrom (Trisomie-21),
tritt mit einer Häufigkeit von etwa 1 : 700 auf
(Abbildung 15.16). Dem Krankheitsbild liegt ein über-
zähliges Chromosom 21 zugrunde. Die Körperzellen
enthalten also 47 anstelle der normalen 46 Chromoso-
men. Das Syndrom äußert sich in einer veränderten
Abbildung 15.16: Down-Syndrom (Trisomie-21). Das abgebildete
Gesichtsform, einer gedrungenen Statur, in Herzfeh-
Kind zeigt die typischen Gesichtsmerkmale der Trisomie-21. In der unteren
lern, einer erhöhten Anfälligkeit für Atemwegsinfektio-
Zeile des Karyogramms erkennt man deutlich das dreifach vorhandene
nen und in geistiger Zurückgebliebenheit. Darüber hin- einundzwanzigste Chromosom, das die Krankheit verursacht.
aus ist das Down-Syndrom mit einem erhöhten Risiko

397
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

Aneuploidien der Geschlechtschromosomen getauscht. Da somit von Chromosom 9 nur ein kleiner,
Eine Fehlverteilung der Geschlechtschromosomen endständiger Bereich auf Chromosom 22 übergeht,
kann verschiedene aneuploide Zustände verursachen. dagegen aber ein größerer Bereich des Chromosoms 22
Die meisten davon scheinen das genetische Gleich- reziprok auf das Chromosom 9 übertragen wird, ent-
gewicht weniger zu stören als die Aneuploidien von steht ein deutlich verkürztes Chromosom 22, das als Phi-
Autosomen. Dies beruht vermutlich darauf, dass das ladelphia-Chromosom bezeichnet wird (Abbildung
Y-Chromosom nur wenige aktive Gene enthält und 15.17). Wie dieser Austausch zur Krebsentstehung führt,
zusätzliche X-Chromosomen in somatischen Zellen erfahren Sie in Kapitel 18.
als Barr-Körperchen inaktiviert werden.
Ein zusätzliches X-Chromosom bei einem „Mann“
(XXY) tritt durchschnittlich bei einer von 1.000 Gebur- normales Chromosom 9
ten auf. Die zugehörige Krankheit wird als Klinefelter-
Syndrom bezeichnet. Die Betroffenen bilden zwar die
männlichen Geschlechtsorgane aus, sind aber aufgrund normales Chromosom 22
unterentwickelter Hoden steril. Obwohl das überschüs-
sige X-Chromosom weitgehend stillgelegt ist, kommt es reziproke Translokation
zu einer Vergrößerung der Brüste sowie zur Ausbildung
anderer typisch weiblicher Körpermerkmale. Auch tre-
Teil 3 ten Schwierigkeiten auf, sich zu artikulieren. Trotz eini- transloziertes Chromosom 9
ger Schwankungen in den Symptomen zwischen betrof-
fenen Individuen, wird die Intelligenz heute meist als transloziertes Chromosom 22
durchschnittlich angegeben. Männer mit einem über- (Philadelphia-Chromosom)
zähligen Y-Chromosom (XYY) treten mit ähnlicher Häu-
Abbildung 15.17: Eine Translokation verursacht die chronische
figkeit auf. Sie lassen sich kaum von solchen mit einer myeloische Leukämie (CML). Die Krebszellen beinahe aller CML-Patien-
XY-Ausstattung unterscheiden, sind aber oft größer als ten weisen ein abnorm verkürztes Chromosom 22 auf (das sogenannte Phi-
der Durchschnitt. ladelphia-Chromosom). Gleichzeitig ist das Chromosom 9 verlängert. Die
Frauen mit einer Trisomie-X (Genotyp XXX; Häufig- aberranten Chromosomen sind das Ergebnis der hier schematisch wiederge-
keit 1 : 1.000) sind gesund und unterscheiden sich von gebenen reziproken Translokation, die vermutlich in einer Stammzelle des
normalen XX-Frauen nur anhand ihres Karyotyps. Die Knochenmarks stattfand. Bei den anschließenden Teilungen werden die ver-
Monosomie für das X-Chromosom (Genotyp X0) führt änderten Chromosomen an alle Tochterzellen weitergegeben.
dagegen zu einem definierten Krankheitsbild, dem Tur-
ner-Syndrom. Diese Monosomie tritt mit einer Häufig-
 Wiederholungsfragen 15.4
keit von 1 : 2.500 auf und ist die einzige beim Men-
schen bekannte Monosomie, die lebensfähig ist. Die 1. Etwa fünf Prozent der Individuen mit Down-
Betroffenen bilden die weiblichen Geschlechtsmerk- Syndrom weisen eine Translokation auf, bei der
male aus, sind aber steril, weil sich ihre Eierstöcke das dritte Chromosom 21 an das Chromosom 14
nicht vollständig entwickeln. Wenn Mädchen mit Tur- geknüpft ist. Nehmen Sie an, dass die Translo-
ner-Syndrom mit Östrogenen behandelt werden, entwi- kation in einer der elterlichen Keimzellen auf-
ckeln sie die sekundären weiblichen Geschlechtsmerk- getreten ist und erklären Sie, wie es zur Ausbil-
male. Die meisten sind durchschnittlich intelligent. dung des Down-Syndroms kommen kann.
Krankheiten aufgrund veränderter 2. WAS WÄRE, WENN? Der Genort für das AB0-
Chromosomenstrukturen Blutgruppensystem liegt auf Chromosom 9. Ein
Viele Deletionen bei menschlichen Chromosomen verur- Vater mit Blutgruppe AB und eine Mutter mit
sachen selbst im heterozygoten Zustand schon schwere der Blutgruppe 0 haben ein Kind mit einer Triso-
Probleme. Ein solches Krankheitsbild ist das Katzen- mie-9 und der Blutgruppe A. Können Sie an-
schrei-Syndrom (Lejeune-Syndrom), dem eine Deletion hand dieser Informationen angeben, in welchem
auf dem kurzen Arm des Chromosoms 5 zugrunde liegt. Elternteil es zur Fehlverteilung des Chromo-
Kinder mit diesem Syndrom sind geistig zurückgeblie- soms gekommen ist? Erläutern Sie Ihre Antwort.
ben, haben einen kleinen Kopf mit ungewöhnlichen
Gesichtszügen und ihr Schreien erinnert an das Miauen 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Ein bestimmtes
einer leidenden Katze. Sie sterben in der Regel schon als Gen, welches auf dem sogenannten „Philadel-
Säugling oder im Kleinkindalter. phia-Chromosom“ liegt, codiert für eine intra-
Chromosomale Translokationen wurden auch bei ver- zelluläre Tyrosinkinase. Schauen Sie sich
schiedenen Krebsarten beschrieben. Eine solche Trans- nochmals die Zusammenfassung über die Zell-
lokation verursacht die chronische myeloische Leukä- zykluskontrolle in Konzept 12.3 an und erklä-
mie (chronische Myelose). Ursache dieser Krebsform ist ren Sie, wie die Aktivierung dieses Gens zu
eine reziproke Translokation während der Mitose in einer Krebserkrankung führen kann.
Vorläuferzellen der weißen Blutzellen (Leukocyten) im
Knochenmark. Dabei werden die distalen Bereiche der Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Chromosomen 22 und 9 gegeneinander (reziprok) aus-

398
15.5 Erbgänge, die nicht den Mendel’schen Regeln folgen

Erbgänge, die nicht den Individuums abhängt. Bei einer gegebenen Art werden
Mendel’schen Regeln folgen
15.5 bestimmte Gene immer auf die gleiche Weise geprägt.
Ein Gen, bei dem zum Beispiel das mütterliche Allel
nicht exprimiert wird, wird in jeder Generation bereits
bei der Bildung der Eizellen stillgelegt.
Im vorangegangenen Abschnitt haben wir Mechanis- Betrachten wir im Folgenden das Gen für den insulin-
men kennengelernt, die zu Abweichungen von der Ver- abhängigen Wachstumsfaktor 2 (Igf2) bei der Maus, für
erbung nach den Mendel’schen Regeln führen können das schon früh eine Prägung beschrieben wurde. Dieser
und sich auf Fehler in der Meiose oder Mitose zurück- Faktor ist für das normale embryonale Wachstum erfor-
führen lassen. Wir beschließen dieses Kapitel mit der derlich und nur das vom Vater stammende Allel wird
Beschreibung zweier natürlich und häufig auftretender exprimiert (Abbildung 15.18a). Erste Hinweise auf
Erbgänge, die ebenfalls nicht den Mendel’schen Regeln eine Prägung des Igf2-Gens wurden bei Kreuzungen
gehorchen. Einer davon betrifft Gene im Zellkern, der zwischen Mäusen gefunden, von denen eine das Wild-
andere solche, die außerhalb des Zellkerns lokalisiert typ-Allel trug und die andere (eine Zwergrasse) homo-
sind. In beiden Fällen spielt das Geschlecht des Eltern- zygot für eine rezessive Mutation des Igf2-Gens war.
teils, der ein bestimmtes Allel beisteuert, eine wichtige Stammte das Mutantenallel von der Mutter (also aus der
Rolle für dessen Ausprägung. Kreuzung eines Wildtyp-Männchens mit einem Weib-
chen der Zwergrasse), so zeigten alle Nachkommen ein
normales Wachstum. Im Gegensatz dazu zeigten alle Teil 3
15.5.1 Genomische Prägung Mäuse, die das Mutantenallel vom Vater geerbt hatten
(Wildtyp-Weibchen × Männchen aus der Zwergrasse),
Im gesamten Verlauf unserer Diskussion der Men- ein eingeschränktes Wachstum (Abbildung 15.18b).
del’schen Regeln der Vererbung und ihrer chromoso- Wie genau vollzieht sich die genomische Prägung?
malen Grundlagen haben wir vorausgesetzt, dass ein Häufig findet man eine erhöhte Konzentration von
Allel nach seiner Weitergabe immer die gleiche Wir- Methylgruppen an den Cytosinresten der DNA des
kung entfalten wird, gleichgültig, ob es vom Vater oder betreffenden Allels. Eine derartige kovalente Methy-
von der Mutter geerbt wurde. Meistens trifft diese lierung kann ein Allel unmittelbar stilllegen (dies stimmt
Annahme auch zu. Als Mendel beispielsweise seine mit der Beobachtung überein, dass stark methylierte
Erbsenpflanzen mit den violetten Blüten mit den Gene meist nicht transkribiert werden; siehe hierzu
weißblütigen kreuzte, erhielt er immer die gleichen auch Kapitel 18). Bei einigen Genen konnte aber auch
Ergebnisse – egal, ob die Eizellen oder die Pollen von gezeigt werden, dass eine Methylierung die Expres-
der violett blühenden Pflanze stammten. Mittlerweile sion des betroffenen Allels aktiviert. Dies trifft auch
kennt man jedoch mindestens 30 Merkmale, deren Aus- auf das Igf2-Gen zu: Die Methylierung bestimmter Cyto-
prägungen davon abhängen, ob das betreffende Allel sinreste des väterlichen Chromosoms erlaubt die Expres-
von der Mutter oder vom Vater kommt. Wenn die ent- sion des paternalen Igf2-Allels.
sprechenden Allele im Kerngenom enthalten sind und Offenbar sind nur wenige Gene in den Genomen von
ihre Ausprägung davon abhängt, welcher Elternteil Säugetieren von einer genomischen Prägung betroffen,
ein bestimmtes Allel beigesteuert hat, spricht man von wobei den meisten bisher entdeckten Prägungen eine
einer genomischen Prägung. Beachten Sie, dass dieser wichtige Rolle in der Embryonalentwicklung zukommt.
Begriff für Gene aller Chromosomen (Autosomen und Beispielsweise sterben bei transgenen Mäusen, bei
Gonosomen) gilt und nichts mit der geschlechtsgebun- denen die beiden homologen Chromosomen entweder
denen Vererbung zu tun hat, die wir oben besprochen nur vom Vater oder nur von der Mutter stammen, die
haben. Embryonen für gewöhnlich vor der Geburt. Im Jahr
Die genomische Prägung erfolgt während der Bildung 2004 veröffentlichten japanische Wissenschaftler eine
der Keimzellen (Gametogenese) und führt bei bestimm- Arbeit, in der zwei Eizellen zur Herstellung einer
ten Genen zur Stilllegung des einen oder anderen Zygote eingesetzt wurden, wobei spezifisch das Igf2-
Allels. Damit werden die entsprechenden Gene in Sper- Gen aus nur einem der Eizellkerne exprimiert wurde.
mien und Eizellen unterschiedlich geprägt, so dass in Aus der Zygote entwickelte sich eine offenbar gesunde
der Zygote nur eines der Allele eines geprägten Gens Maus. Für eine normale Entwicklung in embryonalen
exprimiert wird. Das Prägungsmuster wird während der Zellen muss also genau eine Kopie (nicht zwei oder
weiteren Entwicklung auf alle Zellen des Körpers über- keine) von bestimmten Genen aktiv sein. Der Zusam-
tragen, so dass immer nur das eine Allel, und nie das menhang einer abweichenden genomischen Prägung
andere, das entsprechende Genprodukt bildet, also aktiv mit einer gestörten Entwicklung und bestimmten For-
ist. Diese Stilllegung eines Allels gilt jedoch nicht für men von Krebs hat eine Flut von Untersuchungen nach
die Bildung der Keimzellen. In jeder Generation wird sich gezogen, um herauszufinden, wie und warum ver-
vor der Keimzellbildung die vorhandene genomische schiedene Gene geprägt werden.
Prägung zunächst vollständig aufgehoben. Die sich neu Da in den beschriebenen Beispielen die Ausprägung
bildenden Keimzellen erhalten dann ein neues Prä- eines Merkmals nicht vom Vorliegen eines bestimm-
gungsmuster, das vom Geschlecht des sie erzeugenden ten Allels abhängt, sondern von Prozessen, die dessen

399
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

genetischer Information übergeordnet sind (seine Die ersten Hinweise auf die Existenz extranucleärer
Expression steuern), spricht man hier auch von epige- Gene stammen von dem deutschen Botaniker Carl
netischen Phänomenen. Correns (1864–1902), der das Vererbungsmuster heller
(weißer oder gelber) Flecken an grünen Blättern unter-
Ein normales Igf2-Allel suchte (panaschierte Blätter). Correns beobachtete
wird exprimiert. bereits im Jahr 1909, dass die Blattfarbe bei den Nach-
väterliches
Chromosom kommen nur vom Aussehen der Mutterpflanze abhing,
aber unabhängig davon war, von welcher Pflanze der
mütterliches
Chromosom Pollen stammte. In der Folge zeigte sich, dass die
Maus von normaler
Das normale Igf2-Allel Körpergröße (Wildtyp) Panaschierung der Blätter auf Mutationen im Plas-
wird nicht exprimiert.
tidengenom zurückgeht, dessen Gene für die Bildung
(a) Homozygotes Tier. Eine für das Wildtypallel des Gens Igf2 der Blattfarbstoffe notwendig sind (Abbildung 15.19).
homozygote Maus hat eine normale Körpergröße. Nur das Bei den meisten Pflanzen erhält die Zygote sämtliche
väterliche Allel dieses Gens wird exprimiert.
Plastiden ausschließlich aus dem Cytoplasma der
von der Mutter geerbtes vom Vater geerbtes Eizelle und nicht durch das Pollenkorn, das nur das
Mutantenallel von Igf2 Mutantenallel von Igf2 väterliche Kerngenom beisteuert. Die Plastiden der
mütterlichen Zelle liegen als ein Gemisch von solchen
mit einem Wildtyp-Genom und solchen mit der Muta-
Teil 3 Maus von normaler zwergwüchsige Maus
tion vor. Während der Entwicklung der Zygote wer-
Körpergröße (Wildtyp) (Mutante) den entsprechend Plastiden mit den Wildtyp- und den
Mutantenallelen für die Bildung der Blattfarbstoffe
Das normale Igf2-Allel Das Igf2-Mutantenallel
wird exprimiert. wird exprimiert.
zufällig auf die Tochterzellen verteilt. Das Muster der
Blattfärbung einer Pflanze hängt davon ab, wie viele
Wildtyp-Plastiden im Vergleich zu den Mutanten-Plas-
tiden in den verschiedenen Blattteilen vorliegen.
Das Igf2-Mutantenallel Das normale Igf2-Allel Eine ganz ähnliche, ausschließlich maternale Verer-
wird nicht exprimiert. wird nicht exprimiert.
bung erfolgt auch bei den Mitochondrien der meisten
(b) Heterozygote Tiere. Paarungen zwischen einer Wildtypmaus Tiere und Pflanzen, wo die Eizelle in der Regel mit der
und einer homozygot-rezessiven Igf2-Mutantenmaus führen zu Hauptmenge des Cytoplasmas auch die Mitochondrien
heterozygoten Nachkommen. Der Mutantenphänotyp kommt nur einbringt (die wenigen vom Spermium eingebrachten
dann zum Tragen, wenn das Mutantenallel vom Vater stammt,
weil dann das mütterliche (Wildtyp-)Allel nicht exprimiert wird. Mitochondrien werden offenbar durch eine Form der
Autophagie abgebaut; vgl. Abbildung 6.13). Viele der
Abbildung 15.18: Genomische Prägung des Igf2-Gens der Maus. im Mitochondriengenom codierten Proteine bilden
Untereinheiten der Atmungskettenkomplexe und der
ATP-Synthase (vgl. Kapitel 9). Mutationen führen ent-
15.5.2 Genome von Organellen und ihre sprechend häufig zur Verringerung der ATP-Ausbeute.
Vererbung Sind betroffene Individuen lebensfähig, so können
solche Mutationen seltene Erbkrankheiten hervorru-
Obwohl wir in diesem Kapitel hauptsächlich auf die fen. Da das Nervensystem (vor allem das Gehirn) und
Chromosomentheorie der Vererbung eingegangen sind, die Muskulatur im menschlichen Körper am empfind-
wollen wir zum Schluss noch eine wichtige Ergänzung lichsten auf Energiemangel reagieren, werden sie in
einbringen: Nicht die gesamte Erbinformation einer erster Linie von mitochondrialen Krankheiten beein-
eukaryotischen Zelle befindet sich auf den Chromoso- trächtigt. So führt beispielsweise die mitochondriale
men des Zellkerns. Ein geringer Teil der Erbinformation Myopathie zu allgemeiner Schwäche, vor allem bei
ist auch in anderen Organellen, also in den Mito- körperlicher Belastung, und zu Muskelschwund. Eine
chondrien und bei Pflanzen auch in den Chloroplasten, weitere mitochondriale Krankheit ist die Leber’sche
vorhanden. Da diese Erbinformation außerhalb des Zell- Optikusatrophie, die zur plötzlichen Erblindung im
kerns liegt, spricht man auch von extranucleärer oder Alter zwischen 20 und 30 Jahren führen kann. Bisher
cytoplasmatischer Erbinformation und entsprechend wurden bei diesem Krankheitsbild vier Mutationen
von cytoplasmatischer Vererbung. Mitochondrien und beschrieben, die Komponenten der Atmungskette
die Plastiden von Pflanzenzellen enthalten verhältnis- betreffen.
mäßig kleine, meist zirkuläre DNA-Moleküle mit nur Außerdem tragen von der Mutter vererbte mitochon-
wenigen Genen. Die Organellen vermehren sich selbst- driale Defekte auch zu Formen der Zuckerkrankheit
ständig, wobei sie ihre DNA replizieren müssen. Aller- (Diabetes), sowie zu einigen Herzerkrankungen bei und
dings wird die Erbinformation bei der sexuellen Fort- sie stehen im Verdacht, bei altersbedingten Problemen
pflanzung nicht nach den Mendel’schen Regeln an die wie der Alzheimer’schen Krankheit eine Rolle zu spie-
Nachkommen vererbt. In den Organellen findet keine len. Da sich im Laufe unseres Lebens Mutationen in der
Meiose, keine Rekombination durch Crossing-over und mitochondrialen DNA ansammeln, wird auch ein
keine Trennung homologer Chromosomen statt.

400
Zusammenfassung

Zusammenhang zum normalen biologischen Alterungs-


 Wiederholungsfragen 15.5
prozess vermutet.
Wo auch immer wir Gene in der Zelle finden – ob
1. Die Gendosis (die Anzahl aktiver Kopien ei-
im Zellkern oder in Organellen – ihre Vererbung
nes Gens in einer Zelle) ist für die Entwick-
beruht immer auf einer genauen Replikation des Erb-
lung eines Organismus von entscheidender
materials DNA. Im folgenden Kapitel werden wir auf
Bedeutung. Nennen und beschreiben Sie zwei
die dabei zugrundeliegenden molekularen Mechanis-
Prozesse, durch die bei bestimmten Genen die
men eingehen.
richtige Dosierung für eine normale Entwick-
lung erreicht wird.
2. Aus reziproken Kreuzungen von zwei Primel-
sorten, A und B, wurden die folgenden Ergeb-
nisse erhalten: A (weiblich) × B (männlich)
→ Nachkommen mit ausschließlich grünen
(unpanaschierten) Blättern. B (weiblich) × A
(männlich) → Nachkommen mit gefleckten
(panaschierten) Blättern. Versuchen Sie, diese
Beobachtung zu erklären.
Teil 3
3. WAS WÄRE, WENN? Mitochondriale Gene sind
von entscheidender Bedeutung für den Ener-
giehaushalt der Zelle. Allerdings sind mito-
Abbildung 15.19: Panaschierte Blätter bei Croton dioicus (Eupho-
chondriale Krankheiten, die durch Mutationen
rbiaceae, Wolfsmilchgewächse). Die panaschierten (gestreiften oder
gefleckten) Blätter werden durch Mutationen in Genen verursacht, deren
dieser Gene verursacht werden, meist nicht le-
Produkte für die Bildung von Blattfarbstoffen in den Plastiden notwendig tal. Warum sind sie es nicht?
sind. Sie werden in der Regel von der Mutterpflanze vererbt.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 1 5 

Konzept 15.1 Mensch und andere Säugetiere haben ein X/Y-Sys-


Die Chromosomen bilden die strukturelle Grundlage tem der Geschlechtsbestimmung, bei welchem das
der Mendel’schen Vererbung Geschlecht davon abhängt, ob ein Y-Chromosom
zugegen ist oder nicht. Andere, davon abweichende
 Das Verhalten der Chromosomen während der Meiose Systeme der genetischen Geschlechtsfestlegung fin-
erklärt die 2. und die 3. Mendel’sche Regel. den sich bei Vögeln, Fischen und Insekten.
 Morgans Entdeckung, dass die Weitergabe des X-  Die Geschlechtschromosomen enthalten die ge-
Chromosoms bei Taufliegen (Drosophila) mit der schlechtsgebundenen Gene, die meist an das X-
Vererbung der Augenfarbe einhergeht, gilt als erster Chromosom gekoppelt sind. Es existiert ein rezessi-
Beweis dafür, dass ein bestimmtes Gen und ein ves Allel, das Farbenblindheit bedingt. Väter über-
bestimmtes Chromosom miteinander verbunden tragen dieses und andere geschlechtsgebundene
sind und führte so zur Chromosomentheorie der Allele auf alle ihre Töchter, nicht jedoch auf ihre
Vererbung. Söhne. Jeder Mann, der ein derartiges Allel von der
Mutter geerbt hat, wird den Merkmalszustand aus-
? Welche charakteristische Eigenschaft des Geschlechtschromosoms prägen.
ermöglichte Morgan, das Verhalten der Chromosomen und der Vererbung  Bei weiblichen Säugetieren wird eines der in jeder
eines Allels für die Augenfarbe miteinander zu verbinden? Zelle vorhandenen X-Chromosomen nach dem
Zufallsprinzip inaktiviert. Die Inaktivierung erfolgt
zu einem frühen Zeitpunkt in der Embryonalent-
Konzept 15.2 wicklung und äußert sich in der Verdichtung zum
Die Vererbung geschlechtsgebundener Gene Barr-Körperchen.

 Das Geschlecht ist ein erbliches phänotypisches Merk- ? Warum sind Männer viel häufiger von X-chromosomalen Defekten
mal, das meist von den vorhandenen Geschlechts- betroffen als Frauen?
chromosomen (Gonosomen) festgelegt wird. Der

401
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

Konzept 15.3 Konzept 15.4


Die Vererbung gekoppelter Gene auf einem Chromosom Abweichungen in der Zahl oder Struktur von Chromo-
somen verursachen einige bekannte Erbkrankheiten
Spermium Eizelle
C c  Aneuploidie (Abweichungen in der Zahl der Chromo-
Gameten der B b somen) kann durch eine Fehlverteilung der Chromo-
D A E d a e
P-Generation +
somen während der Meiose verursacht werden. Aus
F f der Befruchtung eines normalen, haploiden Gameten
mit einem Gameten mit abweichender Chromoso-
Die Allele der ungekop- menzahl, der also ein Chromosom doppelt hat oder
Diese F1-Zelle besitzt
pelten Gene befinden dem eines fehlt, ergibt sich eine Zygote mit einem
2n = 6 Chromosomen
sich entweder auf ge-
und ist heterozygot überzähligen (2n+1; eine Trisomie) oder einem feh-
trennten Chromosomen
für alle sechs dar- lenden Chromosom (2n–1; Monosomie). Polyploidie
(wie d und e) oder sind
gestellten Gene
auf demselben Chro- (mehr als zwei vollständige Chromosomensätze) kann
(AaBbCcDdEeFf).
D mosom so weit von- auf einer fehlenden Trennung aller Chromosomen bei
e voneinander ent-
C fernt (wie c und f),
der Bildung der Keimzellen beruhen.
rot = maternal, B  Ein Bruch von Chromosomen mit anschließender
A dass sie unabhän-
blau = paternal d Neuverknüpfung kann zu Deletion, Inversion, Trans-
F E gig voneinander
Teil 3 weitergegeben lokation oder Duplikation führen. Translokationen
f werden. können sowohl reziprok als auch nicht-reziprok sein.
Jedes Chromosom cba  Veränderungen in der Zahl oder dem Aufbau der
enthält hunderte
oder sogar tausende Chromosomen in einer Zelle können phänotypische
von Genen. Vier Gene auf demselben Chromo-
Auswirkungen nach sich ziehen. Solche Verände-
davon (A, B, C und F) som, deren Allele so eng bei-
sind hier dargestellt. einander liegen, dass sie nicht rungen verursachen beispielsweise das Down-Syn-
unabhängig voneinander wei- drom (Trisomie-21), bestimmte Formen von Krebs,
tergegeben werden (wie a, b an denen chromosomale Translokationen beteiligt
und c), bezeichnet man als ge- sind, sowie verschiedene andere Krankheitsbilder
koppelte Gene.
des Menschen.

 Bei einer gekoppelten Vererbung von Genen zeigen ? Warum ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie tödlich enden, bei Inver-
die F1-Nachkommen aus einer dihybriden Kreu- sionen und reziproken Translokationen geringer als bei Aneuploidien, Dupli-
zung die gleichen Kombinationen an Phänotypen kationen, Deletionen oder nicht-reziproken Translokationen?
wie die Eltern. Rekombinante Nachkommen zeigen
neue Kombinationen der Merkmale, wie sie bei kei-
nem ihrer Eltern vorliegen. Aufgrund der unabhän- Konzept 15.5
gigen Verteilung der Chromosomen (3. Mendel’sche Erbgänge, die nicht den Mendel’schen Regeln folgen
Regel), zeigen ungekoppelte Gene in den Gameten
eine Rekombinationshäufigkeit von 50 Prozent. Bei  Bei Säugetieren sind die phänotypischen Auswir-
gekoppelten Genen verursacht das im Verlauf der kungen bestimmter Gene davon abhängig, welches
ersten meiotischen Teilung zwischen homologen Allel von welchem Elternteil geerbt wurde. Prägun-
Chromosomen stattfindende Crossing-over das Auf- gen werden bei der Keimzellbildung festgelegt und
treten von Rekombinanten mit einer Häufigkeit von führen dazu, dass eines der Allele (maternales oder
weniger als 50 Prozent. paternales) in den unmittelbaren Nachkommen
 Die Anordnung von Genen entlang eines Chromo- nicht exprimiert wird.
soms und die relativen Abstände zwischen Gen-  Die Vererbung von Merkmalen, die auf Genen des
orten können aus den bei Kreuzungen auftretenden mitochondrialen oder plastidären Genoms beru-
Rekombinationshäufigkeiten berechnet und zur hen, ist allein vom mütterlichen Genotyp abhängig,
Erstellung einer Genkarte verwendet werden. Je da die Organellen mit dem Cytoplasma der Eizelle
weiter zwei Genorte auseinanderliegen, desto vererbt werden. Defekte mitochondrialer Gene ver-
wahrscheinlicher kommt es durch Crossing-over zu ursachen einige Krankheiten des Nervensystems
rekombinanten Allelkombinationen. Der genetische und der Muskulatur und bedingen, dass die betrof-
Abstand in cM (Zentimorgan) ist definiert als das fenen Zellen unzureichende Mengen an ATP bil-
Auftreten von einem Prozent rekombinanter Phäno- den.
typen zwischen zwei Genen.
? Erklären Sie, warum die genomische Prägung und die Vererbung von
? Warum kommt es zwischen weit entfernt auf einem Chromosom lie- mitochondrialer bzw. plastidärer DNA nicht den Mendel’schen Regeln bei
genden Genorten häufiger zu einem Rekombinationsereignis als bei der Merkmalsweitergabe folgen.
Genen, die näher beieinander liegen?

402
Übungsaufgaben

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜB UN GSA U FG AB E N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis nach unten gebogene Nase, 48; keine Antennen
und nach oben gebogene Nase, 3. Berechnen Sie
1. Ein Mann mit Hämophilie (Bluterkrankheit), ei- die Rekombinationsfrequenzen für beide Experi-
ner rezessiven, geschlechtsgebundenen Erbkrank- mente.
heit, hat eine gesunde Tochter. Diese hat Kinder
mit einem Mann, der ebenfalls gesund ist. Wie Ebene 2: Anwendung und Auswertung
groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine aus der
Verbindung hervorgehende Tochter an Hämophi- 5. Unter Verwendung der Daten, die aus dem Expe-
lie leiden würde? Mit welcher Wahrscheinlich- riment hervorgingen, das in der vorhergehenden
keit würde ein Sohn an Hämophilie erkranken? Aufgabe 4 beschrieben wurde, führen die Wissen-
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass schaftler eine weitere Kreuzung durch und ver-
alle Kinder an Hämophilie leiden würden, falls wenden dabei einen für die Wuchshöhe und die
das Paar vier Söhne bekäme? Nasenform Heterozygoten. Die Nachfahren sind
wie folgt: hochgewachsen mit nach oben geboge-
2. Pseudohypertrophe Muskeldystrophie ist eine ner Nase, 40; zwergwüchsig mit nach oben gebo-
Erbkrankheit, die zu einem langsamen Muskel- gener Nase, 9; zwergwüchsig mit nach unten ge-
schwund führt. Man findet sie fast ausschließlich bogener Nase, 42; hochgewachsen mit nach unten Teil 3
bei Jungen, die als Söhne offenbar normaler (phä- gebogener Nase, 9. Berechnen Sie die Rekombi-
notypisch gesunder) Eltern geboren werden. Der nationshäufigkeit. Verwenden Sie dann die Ant-
Tod tritt meist im frühen Jugendalter ein. Wird worten der Aufgabe 4, um die Reihenfolge der drei
diese Krankheit durch ein dominantes oder ein gekoppelten Gene zu ermitteln.
rezessives Allel verursacht? Erfolgt die Vererbung
geschlechtsgebunden oder autosomal? Woher wis- 6. Eine Wildtyp-Taufliege (heterozygot für graue Kör-
sen Sie das? Versuchen Sie zu erklären, warum perfarbe und rote Augen) wird mit einer schwarzen
diese Krankheit praktisch nie bei Mädchen auf- Taufliege verpaart, die violette Augen hat. Die
tritt. Nachkommen stellen sich wie folgt dar: Wildtyp,
721; schwarz/violett, 751; grau/violett, 49; schwarz/
3. Eine Wildtyp-Taufliege (heterozygot für graue Kör- rot, 45. Wie hoch ist die Rekombinationsfrequenz
perfarbe und normale Flügel) wird mit einer zwischen den Genen für die Körperfarbe und für
schwarzen Fliege mit verkümmerten Flügeln ge- die Augenfarbe? Welche Taufliegen (nennen Sie
kreuzt. Die Nachkommen zeigen die folgende phä- Geno- und Phänotypen) würden Sie kreuzen, um
notypische Aufspaltung: Wildtyp, 778; schwarz/ die Abfolge der Gene für die Körperfärbung, die
verkümmert, 785; schwarz/normal, 158; grau/ver- Flügelform und die Augenfarbe auf dem Chromo-
kümmert, 162. Wie groß ist die Rekombinations- som zu ermitteln?
häufigkeit zwischen den Genen für die Körper-
farbe und für die Flügelgröße? – Stimmt dies mit 7. Nehmen Sie an, die Gene A und B seien gekop-
den Ergebnissen aus Abbildung 15.9 überein? pelt und 50 cM voneinander entfernt. Ein Tier,
das bezüglich beider Genorte heterozygot ist,
4. Eine Weltraumsonde entdeckt einen Planeten, wird mit einem gekreuzt, dass bezüglich beider
der von Lebewesen bewohnt wird, deren Erb- Genorte homozygot rezessiv ist. Welcher prozen-
gänge denen des Menschen gleichen. Drei phäno- tuale Anteil der Nachkommen wird einen Phäno-
typische Merkmale sind die Körpergröße (T = typ zeigen, der auf Crossing-over-Ereignisse zu-
hochwüchsig, t = zwergwüchsig), Antenne am rückzuführen ist? Wie würden Sie die Ergebnisse
Kopf (A = Antennen vorhanden, a = keine Anten- dieser Kreuzung interpretieren, falls Sie nicht
nen) und die Nasenform (S = nach oben gebogen, wüssten, dass die Gene A und B gekoppelt sind?
s = nach unten gebogen). Da die Lebewesen nicht
intelligent sind, können die von der Erde stam- 8. Zwei Gene einer Blütenpflanze sind gekoppelt
menden Wissenschaftler kontrollierte Kreuzun- und liegen 10 cM voneinander entfernt. Eines
gen durchführen und dabei verschiedene Hetero- steuert die Farbe der Petalen (Blütenkronblätter)
zygote für weitere Kreuzungen heranziehen. Für und hat die Allele B für blaue Kronblätter und b
hochgewachsene Heterozygote mit Antennen zei- für weiße. Das andere Gen legt fest, ob runde (R)
gen die Nachkommen folgende Häufigkeiten: oder ovale (r) Staubblätter (Stamina) gebildet
hochgewachsen mit Antennen, 46; zwergwüchsig werden. Sie kreuzen eine homozygot blau/ovale
mit Antennen, 7; zwergwüchsig ohne Antennen, Pflanze mit einer homozygot weiß/runden. Die
42; hochgewachsen ohne Antennen, 5. Für Hetero- F1-Nachkommen werden mit weiß/ovalen Pflan-
zygote mit Antennen und nach oben gebogener zen gekreuzt und es werden 1000 F2-Nachkom-
Nase ergeben sich folgende Werte: Antennen und men untersucht. Wie viele Pflanzen der F2-Gene-
nach oben gebogene Nase, 47; Antennen und nach ration erwarten Sie mit jedem der vier möglichen
unten gebogene Nase, 2; keine Antennen und Phänotypen zu finden?

403
15 Chromosomen bilden die Grundlage der Vererbung

9. Sie kreuzen Drosophila-Fliegen, um Rekombina- 13. Skizzieren Sie ein Thema: Informationsweiter-
tionshäufigkeiten für das Gen a zu erhalten, das gabe Die Konstanz des Lebens basiert auf der
sich auf dem in Abbildung 15.12 dargestellten Vererbbarkeit genetischer Informationen in Form
Chromosom befindet. Das Gen a zeigt eine Re- der DNA. Beschreiben Sie in einem kurzen Auf-
kombinationsfrequenz von 14 Prozent mit dem satz (in 150–200 Worten), wie sich die Struktur
Gen für verkümmerte Flügel (vestigial, vg), und und das Verhalten der Chromosomen auf die Ver-
eine von 26 Prozent mit dem für braune Augen. erbung bei sich sexuell beziehungsweise asexuell
Wo befindet sich das Gen a auf dem Chromosom? fortpflanzenden Organismen auswirken.

Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten 14. NUTZEN SIE IHR WISSEN Schmetterlinge besitzen ein
X/Y-System zur Festlegung des Geschlechts, das
10. Als Nutzpflanzen dienende Sorten von Bananen sich von dem der Fliegen und der Säugetiere un-
(Musa), die triploid sind, enthalten keine Samen terscheidet. Weibliche Schmetterlinge können
und sind daher steril. Geben Sie eine mögliche die Kombination XY oder X0 haben; Schmetter-
Erklärung. linge mit zwei oder mehr X-Chromosomen sind
Männchen. Das Foto zeigt einen gynandromor-
11. Verbindung zur Evolution Sie haben gelernt, dass phen Schwalbenschwanz (Papilio) (griech. gyne,
das Crossing-over (Rekombination) für die Evolu- Frau; andros, Mann; morphos, Gestalt). Das unge-
Teil 3 tion von Vorteil ist, weil es zu einer beständigen wöhnliche Individuum ist zur einen Hälfte
Durchmischung des Allelbestands unter Bildung männlich (linke Körperseite) und zur anderen
immer neuer Allelkombinationen führt und damit Hälfte weiblich (rechte Körperseite). Versuchen
den Evolutionsprozess vorantreibt. Bis vor Kur- Sie eine Hypothese aufzustellen, wie eine Fehl-
zem hatte man angenommen, dass die Gene des Y- verteilung der Chromosomen diesen ungewöhnli-
Chromosoms einem genetischen Verfall unterlie- chen Schmetterling (Halbseitenzwitter) hervorge-
gen, weil Homologe auf dem X-Chromosom fehlen bracht haben könnte. Berücksichtigen Sie dabei,
und so eine Rekombination ausgeschlossen ist. dass die erste Zellteilung (Furchung) der Zygote
Als man im Rahmen des Humangenomprojekts die Längenachse und damit die Körperhälften des
das Y-Chromosom sequenzierte, fanden sich je- Embryos festlegt.
doch acht große Bereiche innerhalb des Y-Chro-
mosoms mit Homologie zueinander, außerdem er-
wiesen sich eine ganze Reihe der 78 identifizierten
Gene als Duplikate. Der Genetiker David Page hat
dieses Chromosom deshalb ein „Spiegelkabinett“
genannt. Welchen positiven Effekt könnten Sie
sich für diese Bereiche vorstellen?

12. Wissenschaftliche Fragestellung


ZEICHENÜBUNG Stellen Sie sich vor, Sie müssten
die Gene A, B, C und D in Drosophila kartieren. Sie
wissen, dass die Gene gekoppelt auf einem Chro-
mosom liegen und Sie erhalten für die Genpaare
die folgenden Rekombinationshäufigkeiten: A–B,
8 %; A–C, 28 %; A–D, 25 %; B–C, 20 %; B–D, 33 %.
a. Beschreiben Sie, wie Sie die Rekombinations-
häufigkeiten für jedes Genpaar ermitteln wür-
den.
b. Zeichnen Sie eine Genkarte des Chromosoms
anhand Ihrer Werte.

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

404
Die molekularen Grundlagen der
Vererbung

16.1 Die DNA ist die Erbsubstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 16


16.2 Bei der DNA-Replikation und -Reparatur arbeiten viele

KONZEPTE
Proteine zusammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
16.3 Ein Chromosom besteht aus einem mit Proteinen verpackten
DNA-Molekül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

 Abbildung 16.1: Wie


ist die DNA aufgebaut?
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

Der Bauplan des Lebens


Im April 1953 stellten Francis Crick und James Watson
Die DNA ist die Erbsubstanz
16.1
der Welt ein Molekülmodell der Doppelhelixstruktur Heutzutage haben schon Schulkinder etwas über DNA
der Desoxyribonucleinsäure (DNA; engl. desoxyribo- gelernt und Wissenschaftler verändern täglich DNA-
nucleic acid) vor. Die Abbildung links unten zeigt den Sequenzen, um die Mechanismen der Vererbung be-
jungen Watson (links im Bild) und seinen Kollegen stimmter Merkmale experimentell zu untersuchen. In
Crick (rechts) vor ihrem Modell eines DNA-Moleküls. der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war jedoch noch
Dieses Modell hat sich während der letzten fünfzig lange nicht klar, welches Makromolekül überhaupt die
Jahre von einem neuartigen Erklärungsversuch zum Erbinformation trägt. Diese Frage stellte zunächst eine
Sinnbild der modernen Biologie gewandelt. Die DNA- zentrale Herausforderung für die Biologen dar.
Doppelhelix – der Stoff, aus dem das Erbgut besteht –
ist zum wohl bekanntesten chemischen Molekül unse-
rer Zeit geworden (Abbildung 16.1). Sowohl Mendels 16.1.1 Die Suche nach der Erbsubstanz:
Erbfaktoren als auch die Chromosomen von Morgan Wissenschaftliche Forschung
mit den darauf liegenden Genen sind aus DNA aufge-
baut. Aus chemischer Sicht besteht also unser mensch- Aufgrund von Morgans Beobachtung, dass Gene mit
liches genetisches Erbe aus den DNA-Molekülen der 46 den Chromosomen vererbt werden (siehe Kapitel 15),
Teil 3 Chromosomen und der mitochondrialen DNA von der galten DNA und Proteine als die vielversprechendsten
Mutter. Träger der genetischen Information. Bis in die 40er
Die Nucleinsäuren sind in der Tat einzigartig unter Jahre des 20. Jahrhunderts hinein wurden Proteine
den natürlich auftretenden Molekülen, weil sie ihre wegen ihres heterogenen Aufbaus und ihrer sehr spe-
eigene Synthese aus monomeren Bausteinen veranlas- zifischen Funktionen als mögliches Erbmaterial ange-
sen können. Tatsächlich beruht die Ähnlichkeit von sehen. Mit diesen Eigenschaften konnte man das Auf-
Nachkommen mit ihren Eltern auf der präzisen Verviel- treten sehr vielgestaltiger Erbmerkmale scheinbar am
fältigung (Replikation) der DNA und ihrer Weitergabe besten in Einklang bringen.
von einer Generation zur nächsten. Die Erbinformation Über die Nucleinsäuren wusste man hingegen noch
ist in der chemischen Sprache der DNA niedergelegt wenig. Die physikalischen und die chemischen Eigen-
und findet sich in (fast) allen Zellen unseres Körpers. schaften dieser Verbindungen schienen zu gleichförmig
Das in der DNA gespeicherte Programm bestimmt die zu sein, um für die Vielzahl spezifischer Erbmerkmale
Entwicklung unserer biochemischen, physiologischen der verschiedenen Organismen codieren zu können.
sowie anatomischen Merkmale und beeinflusst zumin- Diese Ansicht änderte sich durch Experimente an Mikro-
dest teilweise auch unser Verhalten. In diesem Kapitel organismen, die ganz neue Erkenntnisse erbrachten.
werden Sie erfahren, wie Biologen herausgefunden Wie im Fall der Arbeiten Mendels und Morgans erwies
haben, dass es sich bei der DNA um das genetische sich auch bei der Identifizierung der Erbsubstanz die
Material handelt, und wie Watson und Crick ihre Struk- Wahl eines geeigneten Versuchsobjekts als ausschlag-
tur entschlüsselten. Sie werden lernen, wie die DNA gebend. Die Bedeutung der DNA für die Vererbung
repliziert wird (als eigentliche molekulare Grundlage wurde erstmals durch Untersuchungen an Bakterien und
der biologischen Vererbung) und wie die Zelle ihre den sie infizierenden Viren aufgedeckt, die sehr viel
DNA repariert, wenn sie beschädigt ist. Schließlich einfacher aufgebaut sind als Erbsen, Taufliegen oder der
werden wir sehen, wie ein DNA-Molekül mithilfe von Mensch. Im folgenden Abschnitt werden wir die Suche
Proteinen zu einem Chromosom verpackt wird. nach der eigentlichen Erbsubstanz als Paradebeispiel
für einen wissenschaftlichen Forschungsansatz nach-
zeichnen.

Beweise dafür, dass die DNA Bakterien zu


transformieren vermag
Bereits im Jahr 1928 versuchte Frederick Griffith einen
Impfstoff gegen die bakterielle Lungenentzündung
(bakterielle Pneumonie) zu entwickeln, die von dem
grampositiven Bakterium Streptococcus pneumoniae
ausgelöst wird. Griffith konnte zwei Stämme dieses
Bakteriums isolieren, von denen einer pathogen
(krankheitserregend) und der andere nicht pathogen
(also harmlos) war. Durch Hitze konnten die pathoge-
nen Streptokokken abgetötet werden, so dass sie eben-
falls keine Lungenentzündung mehr auslösten. In einem
seiner Versuche mischte Griffith solche durch Hitze
zerstörte Bakterien mit lebenden Zellen des nicht
pathogenen Stammes und erhielt einige Zellen, die nun
James Watson (links) und Francis Crick mit ihrem DNA-Modell wieder pathogen waren (Abbildung 16.2).

406
16.1 Die DNA ist die Erbsubstanz

Er folgerte, dass die Bakterien des nicht pathogenen


 Abbildung 16.2: Aus der Forschung Stammes die neue Eigenschaft erworben hatten. Die
Pathogenität erwies sich als erblich und trat in allen
Kann ein Erbmerkmal von einem Bakterien-
Folgezellen der Bakterien auf. Ein Bestandteil der abge-
stamm auf einen anderen übertragen werden? töteten Zellen, der die vererbbare Eigenschaft der Patho-
Experiment Frederick Griffith untersuchte zwei genität codierte, musste also in die nicht pathogenen
Stämme des Bakteriums Streptococcus pneumo- Vertreter des Stammes aufgenommen worden sein,
niae. Der „S“-Stamm (engl. smooth) verursachte wobei die chemische Natur dieses Stoffes noch nicht
bei Mäusen eine Lungenentzündung. Seine Patho- bekannt war. Griffith prägte für diese übertragbare Ver-
genität ist von einer den Zellkörper umgebenden änderung der bakteriellen Eigenschaften den Begriff
Schleimkapsel abhängig, die das Bakterium vor Transformation. Heute versteht man in der Molekular-
dem Zugriff durch unser Immunsystem schützt. biologie unter Transformation eine Veränderung des
Zellen des „R“-Stammes (engl. rough) bilden diese Genotyps und des Phänotyps einer Zelle durch die Auf-
Schleimkapsel nicht und sind auch nicht patho- nahme von extrazellulärer DNA. (Beachten Sie, dass in
gen, d.h. sie lösen keine Lungenentzündung aus. der medizinischen Forschung der Begriff Transforma-
Um herauszufinden, wie das Merkmal der Patho- tion anders verwendet wird und dort die Umwand-
genität entsteht, impfte Griffith die Mäuse mit den lung einer normalen Körperzelle in eine Krebszelle
beiden Stämmen, die er unterschiedlich vorbehan- kennzeichnet; siehe Kapitel 12.)
delt hatte: Mit Griffiths Beobachtungen begann eine 14-jährige Teil 3
Suche nach der chemischen Beschaffenheit des transfor-
Ergebnis mierenden Stoffes durch den kanadischen Bakteriologen
lebende lebende durch Hitze Mischung aus Oswald Avery. Er beschränkte seine Untersuchungen auf
S-Zellen R-Zellen abgetötete durch Hitze drei vielversprechende Strukturen: Die beiden Nuclein-
(Kontroll- (Kontroll- S-Zellen abgetöteten säuren DNA und RNA sowie Proteine. In Anlehnung an
ansatz) ansatz) (Kontroll- S-Zellen und
ansatz) lebenden die beschriebenen Versuche von Griffith zerstörte Avery
R-Zellen die pathogenen Bakterien durch Hitze und trennte dann
den Zellinhalt in verschiedene Fraktionen. Die Fraktio-
nen behandelte er anschließend so, dass jeweils eine der
drei Molekülarten (DNA, RNA, Proteine) spezifisch
abgebaut wurde. Die so behandelten Ansätze mischte er
wieder mit Zellen des nicht pathogenen Stammes und
beobachtete, ob sich pathogene Abkömmlinge isolieren
ließen. Tatsächlich gelang eine Transformation der nicht
pathogenen Bakterien zum pathogenen Phänotyp repro-
duzierbar nur mit denjenigen Ansätzen, die intakte
DNA enthielten. Avery und seine Kollegen McCarty
Maus stirbt Maus bleibt Maus bleibt Maus stirbt
und MacLeod veröffentlichten daher im Jahr 1944,
gesund gesund dass es sich bei dem transformierenden Prinzip um
DNA handelt. Ihre Entdeckung wurde mit Interesse, aber
gleichzeitig auch mit großer Skepsis aufgenommen, weil
man noch immer die Proteine für die besseren Struktur-
träger des Erbmaterials hielt. Darüber hinaus bezwei-
In Blutproben lassen sich lebende
Zellen vom S-Typ nachweisen, die felten viele Biologen damals, dass die Gene komplexer
sich vermehren und weitere vielzelliger Lebewesen ähnlich aufgebaut seien wie die
S-Zellen hervorbringen. der viel einfacheren Bakterien. Der Hauptgrund für die
anhaltende Skepsis war wahrscheinlich aber, dass man
Schlussfolgerung Griffith kam zu dem Schluss, noch zu wenig über die DNA wusste.
dass die lebenden R-Bakterien durch eine unbe-
kannte, vererbbare Substanz, die sie von den toten Beweise für die Umprogrammierung von Zellen
S-Zellen erhielten und die zur Kapselbildung befä- durch virale DNA
higte, in pathogene S-Zellen umgewandelt (trans- Auch Versuche mit Bakterien, die durch Viren infiziert
formiert) wurden. werden können, welche als Bakteriophagen („Bakte-
rien-Fresser“) oder einfach Phagen bezeichnet werden,
Quelle: F. Griffith, The significance of pneumococcal types, Journal
unterstützten die Annahme, dass es sich bei der DNA
of Hygiene 27:113–159 (1928).
um die Erbsubstanz handeln muss (Abbildung 16.3).
Viren, die wir in Kapitel 19 noch ausführlich besprechen
WAS WÄRE, WENN? Wie konnte mit diesen Versu-
werden, sind viel einfacher aufgebaut als pro- oder
chen ausgeschlossen werden, dass die R-Zellen
eukaryontische Zellen. Ein Virus ist wenig mehr als
nicht einfach die Kapseln der toten S-Zellen über-
ein Stück DNA oder RNA, die von einer schützenden
nommen haben, um sich der Abtötung im Tierkör-
Hülle umschlossen wird. Die Hülle besteht oft nur aus
per zu entziehen?
Protein. Viren vermehren sich nur in lebenden Zellen

407
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

(müssen diese also infizieren) und benutzen dafür deren Infektion eine E. coli-Zelle rasch dazu veranlasst, eine
Stoffwechselleistungen. große Menge weiterer T2-Phagen zu produzieren und
diese schließlich freizusetzen. Mit anderen Worten pro-
grammiert der Phage T2 seine Wirtszelle so um, dass
Phagen- sie zu ihrem eigenen Schaden neue Viren herstellt. Die
kopf Frage war, ob es das Phagenprotein oder seine DNA ist,
die dafür verantwortlich zeichnet.
DNA
Um dies zu beantworten, führten Hershey und Chase
Schwanz ein Experiment durch, mit dem sie nachweisen konn-
(kontraktile ten, dass nur einer der beiden Grundbausteine der T2-
Scheide) Phagen bei der Infektion tatsächlich in die E. coli-Zel-
Schwanz- len eindringt (Abbildung 16.4). Dazu verwendeten sie
faser einerseits ein radioaktives Isotop des Schwefels, mit
Erbgut dem spezifisch das Phagenprotein markiert wurde, und

100 nm
markierten andererseits in einem parallelen Ansatz die
Bakterien- Nucleinsäure von Phagen mit radioaktivem Phosphor.
Zelle Die Idee dabei war, dass nur Proteine schwefelhaltige
Aminosäuren enthalten, während Phosphatgruppen
Teil 3 Abbildung 16.3: Viren infizieren eine Bakterienzelle. Der Bakte- beim Bakteriophagen ausschließlich in der DNA auftre-
riophage T2 und verwandte Phagen (Bakterienviren) heften sich an die ten. In zwei getrennten Ansätzen wurden nun (nicht
Oberfläche der Wirtszelle und injizieren ihr Erbgut durch die Zellwand und radioaktive) E. coli-Zellen mit den so präparierten T2-
die Plasmamembran ins Cytoplasma der Wirtszelle. Die aus dem Kopf und Phagen infiziert und es wurde untersucht, welches der
dem Schwanzbereich bestehende Virushülle verbleibt außerhalb der Zelle
beiden Makromoleküle tatsächlich in die Zellen ein-
an der Oberfläche des Bakteriums (nachträglich gefärbte elektronenmikro-
skopische Aufnahme).
drang.
Für uns nicht mehr überraschend, war es die Phagen-
DNA, die in die Wirtszellen eingedrungen war, nicht
Phagen erwiesen sich schon früh als außerordentlich aber das Phagenprotein. Bei der weiteren Anzucht im
nützliche Werkzeuge in der Molekulargenetik. So ver- Kulturmedium setzten die so infizierten Bakterien neue
öffentlichten Alfred Hershey und Martha Chase im Phagen frei, die ebenfalls einige radioaktive Phosphora-
Jahr 1952 ihre Versuchsergebnisse, in denen sie DNA tome enthielten – ein weiterer Beleg dafür, dass die in
als das genetische Material des sogenannten Bakterio- die Zelle gelangte DNA eine feste Rolle im Infektions-
phagen T2 identifizieren konnten. Phagen der T-Serie, zyklus spielt.
zu denen auch T2 gehört, befallen Escherichia coli, Hershey und Chase schlossen aus diesen Beobach-
ein Darmbakterium, das normalerweise im unteren tungen, dass die durch die Phagen in die Zellen inji-
Verdauungstrakt von Säugetieren lebt. Für Bakterien- zierte DNA die genetische Information enthält, die die
genetiker hat E. coli eine Modellfunktion, ähnlich wie Zelle dazu veranlasst, neue Virus-DNA und neues Virus-
die Erbsen für Mendel und Drosophila für Morgan protein herzustellen. Diese Versuche nehmen eine
(siehe Kapitel 15). Als Hershey und Chase ihre Experi- Schlüsselstellung in der modernen molekulargene-
mente durchführten, war bereits bekannt, dass der tischen Forschung ein, weil sie überzeugend nachwei-
Phage T2 praktisch ausschließlich aus DNA und Pro- sen konnten, dass Nucleinsäuren die Erbsubstanz sind
teinen besteht. Man wusste auch, dass er nach einer und nicht die Proteine – zumindest bei Viren.

 Abbildung 16.4: Aus der Forschung

Besteht das Erbmaterial des Phagen T2 aus der Folge neue Phagen frei, die etwas radioaktiven
Protein oder aus DNA? Phosphor enthalten.
Experiment Alfred Hershey und Martha Chase Schlussfolgerung Phagen-DNA tritt in die Bakterien-
setzten radioaktiven Schwefel und radioaktiven zelle ein, die Phagenproteine tun dies aber nicht.
Phosphor ein, um zu verfolgen, wo die Proteine Hershey und Chase kamen zu dem Schluss, dass
beziehungsweise die DNA des T2-Phagen bei einer die DNA und nicht die Proteine als Erbmaterial des
Infektion bakterieller Zellen verbleiben. Sie woll- Phagen T2 fungiert.
ten herausfinden, welches dieser Makromoleküle
in die Zelle gelangt und sie zur Herstellung weite- Quelle: A. Hershey and M. Chase, Independent functions of viral pro-
rer Phagen veranlasst. tein and nucleic acid in growth of bacteriophage, Journal of General
Ergebnis Wenn man die Proteine markiert (Kultur Physiology 36:39–56 (1952).
1), bleibt die Radioaktivität außerhalb der Zellen.
Wird aber die DNA markiert (Kultur 2), so findet WAS WÄRE, WENN? Wie würde das Ergebnis des Ver-
sich die Radioaktivität innerhalb der Zellen. Bakte- suchs aussehen, wenn die Proteine die Erbinforma-
rienzellen mit radioaktiver Phagen-DNA setzen in tion in sich trügen?

408
16.1 Die DNA ist die Erbsubstanz

1 Radioaktiv markierte 2 Starkes Rühren der 3 Zentrifugieren der 4 Messung der


Phagen werden mit Mischung, um außen Mischung, so dass die Radioaktivität
Bakterien vermischt. haftende Phagen- Bakterien am Boden im Sediment
Die Phagen infizieren partikel von den des Zentrifugenröhr- und im Über-
Bakterienzellen. Bakterien abzulösen. chens sedimentieren; stand.
freie Phagen und Teile
von Phagen, die leich-
ter sind als die Zellen,
bleiben im Überstand
leere Protein- suspendiert.
hülle Radioaktivität
radioaktives
Phage (Phagenproteine)
Protein
im Überstand
Bakterienzelle

Kultur 1: Phagen- DNA


vermehrung in
Gegenwart radio- Phagen-DNA
aktiven Schwefels
(35S), der (in Form
von Aminosäuren) Zentrifugation
in das Phagen- Teil 3
protein eingebaut Sediment
wird (rosa) (Bakterienzellen
radioaktive mit Zellinhalt)
DNA

Kultur 2: Phagen-
vermehrung in
Gegenwart von
radioaktivem
Phosphor (32P),
der (in Form von Zentrifugation
Nucleotiden) in Radioaktivität
die Phagen-DNA Sediment (Phagen-DNA)
eingebaut wird (blau) im Sediment

Weitere Beweise für die Funktion der DNA als Noch eine weitere Besonderheit fiel Chargaff bei den
Erbsubstanz Mengenverhältnissen der Basenbausteine der verschie-
Weitere Belege für die Rolle der DNA als Erbsubstanz denen Arten auf. In den DNA-Proben, die er untersuchte,
kamen aus dem Labor des Biochemikers Erwin Char- entsprach der molare Anteil der Adenin-Nucleotide
gaff. Man wusste bereits, dass die DNA ein Polymer immer ungefähr dem der Thymin-Nucleotide und der
aus Nucleotiden ist, die jeweils wiederum aus einer Anteil der Guanin-Nucleotide entsprach immer dem der
stickstoffhaltigen Base (Nucleobase), einem Zucker Cytosin-Nucleotide. Es lagen also immer äquimolare
aus der Gruppe der Pentosen (Desoxyribose) und einer Mengen von C und G sowie von A und T vor. Chargaff
Phosphatgruppe bestehen (Abbildung 16.5). Bei den erhielt folgende Werte: A = 32,8 Prozent, T = 32,1 Pro-
Nucleobasen handelt es sich entweder um Adenin, zent, G = 17,7 Prozent, C = 17,3 Prozent (aufgrund der
Thymin, Guanin oder Cytosin. Chargaff war Chemiker verwendeten Messmethode stimmen die Werte nicht
und untersuchte die Zusammensetzung der Basen- exakt überein).
anteile in der DNA verschiedener Lebewesen. In einer Die Tatsache, dass (1) die Zusammensetzung der
im Jahr 1950 veröffentlichten Arbeit konnte er zeigen, Nucleotide zwischen verschiedenen Arten variiert und
dass sich die Basenzusammensetzung bei verschiede- (2) immer gleiche Mengen von A und T beziehungs-
nen Arten unterscheidet. So enthalten beispielsweise weise C und G zu finden sind, wurde als Chargaff’sche
30,3 Prozent der Nucleotide der menschlichen DNA Regeln bekannt. In der Wissenschaftlichen Übung kön-
Adenin. Beim Bakterium E. coli beträgt der Anteil dage- nen Sie diese Regeln anwenden, um den noch unbe-
gen nur 26,0 Prozent. Das Auftreten einer so hohen kannten prozentualen Anteil eines bestimmten Nucleo-
molekularen Variabilität der DNA zwischen verschie- tids zu errechnen. Die Gründe für diese Verhältnisse
denen Arten hatte man nicht erwartet und es bestärkte der Nucleotide zueinander blieben allerdings bis zur
daher die Ansicht, dass es sich bei der DNA doch um Entdeckung der doppelhelikalen Struktur der DNA
die Erbsubstanz handeln könnte. ungeklärt.

409
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

 Wissenschaftliche Übung

Auswertung tabellarischer Daten


Prozentuale Basenanteile
Kann man den prozentualen Anteil aller Nucleo- Herkunft Adenin Guanin Cytosin Thymin
tide in einem Genom ableiten, wenn man nur den der DNA
Anteil eines Nucleotides kennt? Schon bevor man
die DNA-Struktur kannte, stellten Erwin Chargaff Seeigel 32,8 17,7 17,3 32,1
und seine Mitarbeiter fest, dass jeder Organismus Lachs 29,7 20,0 20,4 29,1
eine für ihn typische prozentuale Verteilung der
vier verschiedenen Nucleotide aufweist. Er konnte Weizen 28,1 21,8 22,7
darüber hinaus zeigen, dass die Anzahl der Adenin- E. coli 24,7 26,0
Nucleotide ziemlich genau der Anzahl der Thymin-
Nucleotide und die Anzahl der Guanin-Nucleotide Mensch 30,4 30,1
der Anzahl der Cytosin-Nucleotide entspricht. Jeder Rind 29,0
Organismus hat dabei eine entsprechende prozen-
tuale Verteilung der beiden Paare (A/T oder G/C),
die zwischen den verschiedenen Arten stark variie- Datenauswertung
Teil 3 ren kann. Heute wissen wir, dass die 1:1-Verteilung
von A/T und G/C in der jeweils spezifischen Basen- 1. Erklären Sie, weshalb die Ergebnisse für die See-
paarung zwischen A und T sowie G und C in der igel- und die Lachs-DNA die Chargaff’schen Re-
DNA-Doppelhelix begründet ist. Die Unterschiede geln bestätigen.
zwischen verschiedenen Arten gehen daher auf die
unterschiedlichen Basenfolgen in ihrer DNA zurück. 2. Nutzen Sie diese Chargaff’schen Regeln, um
In dieser Übung sollen Sie die Chargaff’schen Regeln die Tabelle zu vervollständigen. Beginnen Sie
verwenden, um die prozentualen Basenverteilun- dabei mit dem Weizen und berechnen Sie dann
gen in den verschiedenen Organismen vorauszusa- die Basenverteilungen für E. coli, Mensch und
gen. Rind. Erklären Sie Ihre Vorgehensweise.
Durchführung der Experimente In seinen Experi-
menten extrahierte Chargaff die DNA von verschie- 3. Wenn die Chargaff’schen Regeln – die Menge an
denen Organismen, hydrolysierte sie und bestimmte A entspricht der Menge an T, die Menge an G
chemisch die Basenanteile. (Die damaligen Mess- entspricht der Menge an C – universelle Gültig-
methoden erlaubten nur eine ungefähre Bestimmung keit besitzen, könnte man hypothetisch durch
der Nucleotidmengen. Heutzutage kann man durch die Ergebnisse dieser Tabelle auf das komplette,
die kompletten Genomsequenzierungen die jewei- kombinierte Genom aller Arten auf der Erde
ligen Basenverteilungen genau ermitteln.) (sozusagen auf das „Erdgenom“) zurückschlie-
Experimentelle Daten Tabellen sind sehr hilfreich, ßen. Um zu überprüfen, ob die Ergebnisse der
um sich einen Überblick über zusammenhängende Tabelle diese Voraussage unterstützen, berech-
Datensätze (hier: die prozentualen Verteilungen von nen Sie bitte die durchschnittliche prozentuale
A, G, C und T) aus einer größeren Anzahl von Pro- Verteilung von jedem der vier Nucleotide in je-
ben (hier: die DNA-Analyse unterschiedlicher Arten) der Spalte. Stimmt die Chargaff’sche Regel für
zu verschaffen. Aus den sich ergebenden Mustern die prozentualen Verhältnisse immer noch?
der bekannten Ergebnisse lassen sich die nicht
bestimmten Werte vorhersagen. In der Tabelle oben Daten aus: Die Ergebnisse stammen aus verschiedenen Veröffentli-
rechts sind prozentualen Anteile aller Basen für chungen von Erwin Chargaff; zum Beispiel aus: E. Chargaff et al.,
Seeigel- und für Lachs-DNA angegeben. Nutzen Sie Composition of the desoxypentose nucleic acids of four genera of sea-
nun die Chargaff’schen Regeln, um die Werte für die urchin, Journal of Biological Chemistry 195:155–160 (1952).
anderen Organismen vorherzusagen.

410
16.1 Die DNA ist die Erbsubstanz

Zucker-Phosphatgerüst stickstoffhaltige in London. Auf die richtige Lösung kamen aber zwei
Basen Wissenschaftler, die damals noch ziemlich unbekannt
waren: der US-Amerikaner James Watson und der

5’-Ende Engländer Francis Crick.
O CH3
5' Ihre kurze – aber fruchtbare – Zusammenarbeit
O P O CH2 H O
O begann kurz nachdem Watson an der Universität von
– 1'
O 4' H H N N Cambridge eingetroffen war, wo Crick versuchte, die
H H H
2' Röntgenstruktur von Proteinen aufzuklären (bei die-
3' O
H Thymin (T) sem Verfahren wird die Beugung von Röntgenstrahlen
durch Proteinkristalle genutzt, um Aussagen über
O deren Raumstruktur zu treffen; siehe Abbildung 5.25).
H H Im Labor von Maurice Wilkins sah Watson ein Beu-
O P O CH2 N
– O N gungsdiagramm der DNA, das von Wilkins’ Mitarbei-
O H H N H
terin Rosalind Franklin aufgenommen worden war
H H N (Abbildung 16.6a). Röntgenbeugungsdiagramme sind
H N
keine direkten Abbilder der untersuchten chemischen
H
Adenin (A) Verbindungen und daher nicht mit medizinischen
Röntgenaufnahmen vergleichbar, bei denen etwa
O H H
unser Skelett naturgetreu abgebildet wird. Die in der Teil 3
O P O CH2 H N
O H Abbildung 16.6b erkennbaren regelmäßigen Muster

O H H N N werden hervorgerufen, wenn Röntgenstrahlen von
H H den gereinigten DNA-Strängen in einem Kristall abge-
O
H Cytosin (C) lenkt werden und einen Film schwarz färben. Kristal-
lographen können daraus durch mathematische Ana-
O lysen den regelmäßigen Aufbau eines Kristalls errechnen
5'
O P O CH2 H und Rückschlüsse auf die räumliche Anordnung der
N
– O 1' O Atome in seinem Inneren ziehen. Watson hatte sich
O 4' H H N nach seiner Ankunft in England mit der Grundlage der
Phosphor- H 3' H
2' N H DNA- Röntgenkristallographie befasst und erkannte deshalb
säurerest OH H N Nucleotid die Beugungsmuster wieder, die für helikale Moleküle
Zuckerrest N H zu erwarten waren. Eine gründliche Analyse der Auf-
(Desoxyribose) H
Guanin (G) nahmen von Franklin verriet ihm nicht nur, dass das
3’-Ende
DNA-Molekül helikal (wie eine Wendeltreppe) gewun-
den sein musste, sondern gab ihm auch den ungefäh-
Abbildung 16.5: Der Aufbau eines DNA-Einzelstrangs. Jeder ren Durchmesser der Helix und den Abstand zwischen
Nucleotidrest besteht aus einer stickstoffhaltigen Base (A, T, C oder G), den einzelnen Basen in ihr an. Aus dem Helixdurch-
einer Desoxyribose als Zuckeranteil (blau) und einer Phosphatgruppe messer ergab sich, dass sie aus zwei Strängen bestand
(gelb). Die Phosphatgruppe eines Nucleotids ist mit dem Zuckerrest des und nicht aus dreien, wie ein Modell Paulings kurz
nächsten kovalent verknüpft. Dies führt zu einem Gerüst aus sich abwech- zuvor postuliert hatte. Aus diesen Überlegungen ent-
selnden Phosphoryl- und Desoxyribosylresten, von dem seitlich die hetero-
stand schließlich das uns heute so vertraute Modell der
zyklischen Basen abzweigen. Der Polynucleotidstrang hat eine festgelegte
DNA-Doppelhelix (Abbildung 16.7).
Richtung, mit einem 5′-Ende (freie Phosphatgruppe) und einem 3′-Ende
(freie OH-Gruppe). Die Nummerierung 5′ und 3′ bezieht sich auf die Koh-
lenstoffatome der Desoxyribose.

16.1.2 Ein Strukturmodell der DNA:


Wissenschaftliche Forschung
Nachdem sich die Vorstellung durchgesetzt hatte, dass
es sich bei der DNA um die eigentliche Erbsubstanz
handelt, musste als Nächstes geklärt werden, wie sich
die Prinzipien der Vererbung mit der Struktur des Mak-
romoleküls vereinbaren lassen. Der in Abbildung 16.5
vorgestellte prinzipielle Aufbau einzelner DNA-Stränge
(a) Rosalind Franklin (b) Franklins Röntgenbeugungs-
war Anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts bekannt diagramm der DNA
und Fragen nach der dreidimensionalen Struktur des
DNA-Moleküls standen im Mittelpunkt des Interesses. Abbildung 16.6: Rosalind Franklin und ihr Röntgenbeugungs-
Mit diesem Problem beschäftigten sich bekannte Wis- bild der DNA. Rosalind Franklin führte entscheidende Experimente
durch, um die Beugungsbilder zu erhalten, anhand derer Watson und Crick
senschaftler wie der Chemiker Linus Pauling in Kali-
die doppelhelikale Struktur des DNA-Moleküls ableiteten.
fornien sowie Maurice Wilkins und Rosalind Franklin

411
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

5‘-Ende
C G O
O-
C G P Wasserstoffbrückenbindung
-O 3‘-Ende
O
G C OH
H2C O
G C T A
O O CH2
O
3,4 nm P O
-O O-
T A O P
H2C O
O
G C G C O

C G O O CH2
O
P O
A T -O
O
O-
P
H2C O
O
1 nm C G O

T A O O CH2
O
C G -O
P O
O-
O P
G C O
H2C O O
C G A T
O CH2
OH
O
A T 3‘-Ende O-
-O P
Teil 3 A T
0,34 nm
O

T A 5‘-Ende

(a) Die Grundstruktur der DNA. Die (b) Ausschnitt der chemischen Struktur. Aus Gründen (c) Raumfüllendes Kalotten-
Bänder in dieser Schemazeichnung der Übersichtlichkeit sind hier die beiden DNA-Stränge in modell der DNA. Die dichte
repräsentieren das Zucker-Phosphat- entwundener Form dargestellt. Starke kovalente Bindungen Packung der Basenpaare wird
Gerüst der beiden umeinander gewun- verknüpfen die Bausteine (Nucleotide) in jedem der beiden aus dieser Computergrafik er-
denen DNA-Stränge. Die Helix als Einzelstränge miteinander, während wesentlich schwächere sichtlich. Van der Waals’sche
Ganzes ist rechtsgängig (hat also einen Wasserstoffbrückenbindungen die Stränge untereinander der Wechselwirkungen (Stapel-
nach rechts weisenden Umlaufsinn). Länge nach zusammenhalten. Man beachte, dass die beiden wechselwirkungen) zwischen
Die beiden Molekülstränge werden Stränge antiparallel zueinander verlaufen, was bedeutet, den übereinander liegenden
durch Wasserstoffbrückenbindungen dass sie in entgegengesetzte Richtungen zeigen, wie die Basenpaaren spielen eine
(H-Brücken; gestrichelte Linien) gegenläufigen Spuren einer Autobahn. wichtige Rolle für die Struktur
zusammengehalten, die zwischen den des Gesamtmoleküls (siehe
im Inneren paarweise angeordneten hierzu auch Kapitel 2).
Nucleobasen bestehen.

Abbildung 16.7: Die DNA-Doppelhelix.

Mit den aus den Röntgenstrukturdaten und den che- einmal vollständig dreht. Bei einem Abstand der einzel-
mischen Analysen gewonnenen Erkenntnissen began- nen Basen von 0,34 nm lässt sich leicht errechnen, dass
nen Watson und Crick, Modelle von Doppelhelices zu ein Umlauf der Helix zehn Basenpaare beansprucht.
bauen. Aus einem noch unveröffentlichten Manuskript Die Basen der Doppelhelix paaren sich nur in
von Rosalind Franklin wussten sie außerdem, dass das bestimmten Kombinationen: ein Adenin (A) mit einem
hydrophile Zucker-Phosphat-Gerüst an der Außen- Thymin (T) und ein Guanin (G) mit einem Cytosin (C).
seite des Moleküls liegen musste. Mit dieser Annahme Watson und Crick kamen im Wesentlichen durch Probie-
konnten die relativ hydrophoben Nucleobasen in das ren auf diese wichtige Eigenschaft der DNA. Zunächst
Innere des Moleküls gerückt werden und waren damit versuchten sie nach einer Vorstellung Watsons, Basen-
von der wässrigen Umgebung abgeschirmt, die die paarungen der Art A-A oder C-C in ihr Modell einzu-
DNA in einer Zelle umgibt. In einem mit allen Daten bauen. Doch die sich daraus ergebende Struktur stimmte
im Einklang stehenden Modell liegen die beiden nicht mit den Röntgendaten überein, weil das Molekül
Molekülketten antiparallel zueinander – das Ende des keinen gleichförmigen Durchmesser hatte, und wurde
einen Strangs liegt am Anfang des anderen und es deshalb verworfen. Warum kann sich bei gleichsinniger
besteht eine gegenläufige Abfolge der Bausteine (man Basenpaarung kein konstanter Helixdurchmesser erge-
liest heute Nucleinsäuresequenzen immer in 5′→3′- ben? Adenin und Guanin sind beides Purinderivate mit
Richtung; Abbildung 16.7b). Stark vereinfacht ähnelt bizyklischen Strukturen (Abbildung 16.8), wohinge-
das Modell einer Strickleiter mit festen Sprossen. Die gen die Pyrimidinderivate Cytosin und Thymin kleinere,
seitlich verlaufenden Seile entsprechen dem Zucker- monozyklische Verbindungen sind. Ein Purin bean-
Phosphat-Gerüst, die Basen den Leitersprossen. Wenn sprucht damit in seiner Längsachse beinahe doppelt so
man nun ein Ende der Strickleiter festhält, während viel Platz wie ein Pyrimidin. Paarungen zweier Purine
man das andere Ende dreht, bildet sich eine Spirale würden damit zu einem größeren, solche zweier Pyrimi-
(Helix). Franklins Röntgendaten gaben an, dass die Helix dine dagegen zu einem kleineren Helixdurchmesser als
sich alle 3,4 nm (Nanometer, 10–9 m) in Längsrichtung die beobachteten 2 nm führen. Wenn sich dagegen

412
16.1 Die DNA ist die Erbsubstanz

immer ein Purin mit einem Pyrimidin paart, ergibt sich Damit erklärt das Modell von Watson und Crick nicht
ein konstanter Durchmesser der Doppelhelix: nur die Röntgenstrukturdaten, sondern auch die Char-
gaff’schen Regeln gleicher Mengen von A und T bezie-
hungsweise C und G. Dort, wo an dem einen Strang ein
Purin + Purin: zu breit A sitzt, findet man im antiparallel verlaufenden Gegen-
strang (dem komplementären Strang) ein T, und ein G
liegt immer einem C gegenüber. Alle Lebewesen müs-
Pyrimidin + Pyrimidin: zu schmal sen also immer das gleiche Mengenverhältnis von
Adenin zu Thymin und von Guanin zu Cytosin haben,
und die Gesamtmenge aller Pyrimidinderivate in der
Purin + Pyrimidin: Breite stimmt DNA wird immer gleich der Gesamtmenge aller Purin-
mit den Röntgendaten überein. derivate sein. Trotz dieser Einschränkung der erlaub-
ten Paarungen in einer „DNA-Leiter“ bleibt die genaue
Abfolge der Basenpaare entlang der Doppelhelix (die
Watson und Crick vermuteten, dass die Basenstruktur Sequenz) nach diesem Modell aber freigestellt. Die
selbst zusätzlich die Spezifität der Basenpaarungen Abfolge der vier zur Verfügung stehenden Basen (A, C,
bestimmt. Jeder der Basentypen weist funktionelle G, T) kann beliebig und in unzähligen Kombinationen
Gruppen auf, mit deren Hilfe sie Wasserstoffbrücken variiert werden. Jedes Gen und jedes DNA-Molekül
mit dem geeigneten Partner eingehen können. So kann besitzt eine eigene, charakteristische Basensequenz. Teil 3
ein Adenin zwei Wasserstoffbrücken mit einem Thy- Hierin begründet sich die am Anfang dieses Kapitels
min ausbilden, ein Guanin bildet drei mit einem Cyto- angesprochene notwendige Variabilität, die der Ver-
sin. In Kurzschreibweise heißt das: A paart sich mit T erbung zugrunde liegen muss.
und G paart sich mit C (Abbildung 16.8). Im April des Jahres 1953 überraschten Watson und
Crick die akademische Welt mit einer einseitigen Ver-
öffentlichung in der Zeitschrift „Nature“.1 Der Artikel
H beschreibt ihren Vorschlag für die DNA-Struktur, die
Doppelhelix, die heute zum Sinnbild der molekularen
N H O CH3 Biologie und zu einem Symbol der modernen Wissen-
N
schaft schlechthin geworden ist. 1962 erhielten Watson
und Crick zusammen mit Maurice Wilkins den Nobel-
N preis (Rosalind Franklin verstarb 1958 im Alter von 38
N H N Jahren an Krebs und konnte deshalb den Preis, der
Zuckerrest nicht posthum verliehen wird, nicht mehr erhalten).
N N
Ein wichtiger und faszinierender Bestandteil dieses
O Zuckerrest Modells ist, dass aus dem Aufbau des DNA-Moleküls
Adenin (A) Thymin (T) der grundlegende Mechanismus zu seiner Vervielfälti-
gung abgeleitet werden kann.
H
 Wiederholungsfragen 16.1
N O H N

1. Wenn Sie eine Polynucleotidsequenz wie bei-


spielsweise GAATTC hätten, könnten Sie da-
N
N H N raus ableiten, wo das 5′-Ende wäre? Falls nicht,
Zuckerrest
welche zusätzliche Information würden Sie be-
N N nötigen, um das Ende zu identifizieren? (Be-
achten Sie die Abbildung 16.5.)
N H O Zuckerrest
2. WAS WÄRE, WENN? Welche Schlussfolgerung
H
hätte Griffith gezogen, wenn es nicht zu einer
Guanin (G) Cytosin (C)
Transformation der Zellen gekommen wäre?
Abbildung 16.8: Basenpaarungen in der DNA. Die Basen in einer
DNA-Doppelhelix werden über Wasserstoffbrückenbindungen (H-Brücken) Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
miteinander verbunden, die hier als gestrichelte Linien dargestellt sind.

1 J. D. Watson and F. H. C. Crick, Molecular structure of


nucleic acids: a structure for deoxyribose nucleic acids,
Nature 171:737–738 (1953).

413
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

Bei der DNA-Replikation und „Nun besteht unser Modell der Desoxyribo-
nucleinsäure letztlich aus einem Paar von Mat-
-Reparatur arbeiten viele rizen, von denen sich jede komplementär zur
Proteine zusammen
16.2 anderen verhält. Wir vermuten, dass vor deren
Verdopplung die Wasserstoffbrückenbindungen
gelöst werden, die beiden Ketten sich entwin-
Die Aufgabe der DNA leitet sich bereits aus ihrer Struk- den und voneinander trennen. Jede der Ketten
tur in Form der Doppelhelix ab. Eine wichtige Erkennt- dient dann als Matrize für die an ihr selbst
nis von Watson und Crick, die sie zum richtigen Modell erfolgende Bildung eines neuen Partnerstrangs,
der Doppelhelix führte, war die Paarung bestimmter so dass wir schließlich zwei Paare von Ketten
Basen in der DNA. Gleichzeitig erkannten sie die ent- haben, wo vorher nur eine war. Darüber hinaus
scheidende Bedeutung dieser Basenpaarung und been- wird die Abfolge der Basenpaare sich getreu
deten ihre Veröffentlichung mit dem berühmten Satz: verdoppelt haben.“2
„It has not escaped our notice that the specific pairing
we postulated immediately suggests a possible copying Abbildung 16.9 vermittelt die grundlegende Idee von
mechanism for the genetic material.“ („Es ist unserer Watson und Crick. Zur Vereinfachung stellen wir das
Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die von uns Prinzip nur anhand eines kurzen DNA-Abschnitts in
postulierte spezifische Paarung unmittelbar einen mög- der nicht helikalen Form dar. Wenn Sie einen der bei-
Teil 3 lichen Vervielfältigungsmechanismus der Erbsubstanz den DNA-Stränge der Abbildung 16.9a verdecken,
nahelegt.) Im folgenden Abschnitt werden Sie etwas können Sie mithilfe der oben beschriebenen Regel zur
über die Grundlagen der DNA-Replikation erfahren Basenpaarung die Sequenz auf dem Gegenstrang mühe-
sowie einige wichtige Feinheiten des Prozesses kennen- los angeben. Die beiden Stränge sind komplementär;
lernen. jeder enthält die Information zur Konstruktion des
anderen. Wenn eine Zelle ein DNA-Molekül kopiert,
dient jeder der beiden Stränge des Ausgangsmoleküls
16.2.1 Das Grundprinzip: Basenpaarung mit als Vorlage (Matrize) für die Anordnung von Nucleo-
einem Matrizenstrang tiden zu einem neuen Komplementärstrang. Die Nucleo-
tide werden entlang des Matrizenstrangs nach der ein-
In einer zweiten Veröffentlichung formulierten Wat- fachen Basenpaarungsregel eines nach dem anderen
son und Crick ihre Hypothese zum Mechanismus der eingebaut und kovalent miteinander verknüpft. Dort,
DNA-Replikation:

A T A T A T A T

C G C G C G C G

T A T A T A T A

A T A T A T A T

G C G C G C G C

(a) Das Ausgangsmolekül besteht aus (b) Der erste Schritt der Replikation (c) Die komplementären Nucleotide
zwei komplementären DNA- besteht in der Trennung der lagern sich an, werden kovalent
Strängen. Jede Base paart sich beiden DNA-Stränge. Jeder Aus- miteinander verknüpft und bilden
über Wasserstoffbrücken- gangsstrang kann nunmehr als das Zucker-Phosphatgerüst des
bindungen mit ihrem speziellen Matrize dienen, die die Reihen- neuen Molekülstranges. Jedes
Partner: A mit T und G mit C. folge der Nucleotide entlang „Tochter“-DNA-Molekül besteht
eines neuen, zur Matrize komple- aus einem Ausgangsstrang
mentären Stranges bestimmt. (dunkelblau) und einem neu
gebildeten Strang (hellblau).

Abbildung 16.9: Ein Modell der DNA-Replikation: das Prinzip. In dieser vereinfachenden Darstellung ist ein kurzes Stück eines DNA-Moleküls
entwunden und als eine Leiter dargestellt. Die Seitenteile der Leiter symbolisieren das Zucker-Phosphat-Gerüst der DNA-Stränge. Die Sprossen sind die
Basenpaare. Einfache, abstrahierte geometrische Formen stellen die mit den entsprechenden Buchstaben bezeichneten verschiedenen Basen dar. Die
dunkelblaue Farbe kennzeichnet die Stränge des Ausgangsmoleküls, die hellblaue Farbe diejenigen der neu synthetisierten DNA.

2 J. D. Watson and F. H. C. Crick, Genetical implications of


the structure of deoxyribonucleic acid, Nature 171:964–
967 (1953).

414
16.2 Bei der DNA-Replikation und -Reparatur arbeiten viele Proteine zusammen

wo zu Beginn ein doppelsträngiges DNA-Molekül vor- einem alten Strang des Ursprungsmoleküls und einem
handen war, entstehen damit zwei, wobei jedes eine neu gebildeten Strang bestehen werden. Man spricht
genaue Kopie des Ausgangsmoleküls darstellt. Der daher auch vom Modell der semikonservativen Replika-
Kopiermechanismus ist ähnlich der Herstellung eines tion. Daneben gäbe es aber auch noch andere Möglich-
Fotos anhand eines Negativs. Das Foto könnte dann wie- keiten, die DNA-Doppelhelix zu replizieren. So könnte
der verwendet werden, um ein neues Negativ zu schaf- eine sogenannte konservative Replikation ablaufen, bei
fen, und so weiter. der sich die beiden Ursprungsstränge nach der Replika-
tion wieder zusammenlagern würden, ebenso wie die
Ausgangszelle erste zweite beiden neu synthetisierten Stränge. Bei einem dritten
Replikations- Replikations- hypothetischen Verlauf – dem dispersiven Modell –
runde runde
bestehen nach erfolgter Replikation alle vier vorliegen-
den Molekülstränge aus einer Mischung aus alten und
neu gebildeten DNA-Abschnitten (Abbildung 16.10).
Obwohl ein Mechanismus insbesondere für den disper-
siven Verlauf nicht leicht nachzuvollziehen wäre, muss-
ten diese Modelle experimentell überprüft werden. Nach
zwei Jahren vorbereitender Arbeiten führten Matthew
Meselson und Franklin Stahl in den späten 50er Jahren
des 20. Jahrhunderts ein Schlüsselexperiment durch, um Teil 3
zwischen den drei Modellen unterscheiden zu können.
(a) Konservative Replikation. Die beiden Ausgangs-
stränge lagern sich wieder zusammen, nachdem sie Sie konnten damit den semikonservativen Replikations-
als Matrizen für die Synthese neuer Stränge gedient verlauf bestätigen, den Watson und Crick vorhergesagt
haben; die ursprüngliche Doppelhelix wird wieder- hatten. Die von Meselson und Stahl durchgeführten Ver-
hergestellt. suche gelten bis heute unter Biologen und Biochemikern
als Lehrbuchbeispiel für einen eleganten Versuchsansatz
(Abbildung 16.11).
Obwohl die Grundlagen der DNA-Replikation rela-
tiv einfach erscheinen, ist der tatsächlich in den Zel-
len ablaufende Prozess biochemisch sehr komplex,
wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden.

16.2.2 Die molekularen Mechanismen der


(b) Semikonservative Replikation. Die beiden Stränge DNA-Replikation
des Ausgangsmoleküls trennen sich, und jeder ein-
zelne dient als Matrize für die Synthese eines neuen,
komplementären Stranges. Der Matrizenstrang und E. coli-Bakterien besitzen ein einzelnes Chromosom
der neu gebildete Strang bilden eine Doppelhelix aus. mit etwa 4,6 Millionen Basenpaaren. Unter günstigen
Wachstumsbedingungen in einer Laborkultur kann
eine E. coli-Zelle ihre DNA in nur 20 Minuten voll-
ständig kopieren und sich in zwei genetisch identi-
sche Tochterzellen teilen (das Bakterium hat also eine
Generationszeit von 20 Minuten). Menschliche Zellen
enthalten 46 lineare DNA-Moleküle im Zellkern – je
eine lange, durchgehende DNA-Doppelhelix pro Chro-
mosom. Der diploide Chromosomensatz einer soma-
tischen Zelle setzt sich aus mehr als sechs Milliarden
(c) Dispersives Modell. Jeder Strang der beiden „Tochter“- Basenpaaren zusammen, also mehr als 1.000-mal so
moleküle enthält ein Gemisch aus alter und neusyn- viel wie das bakterielle Genom. Wollte man den Ein-
thetisierter DNA. buchstabencode für die Basen (A, C, G, T) in der glei-
Abbildung 16.10: Drei denkbare Möglichkeiten der DNA-Repli- chen Textgröße drucken, wie die, die Sie gerade lesen,
kation. Die kurzen Doppelhelices symbolisieren die DNA in einer Zelle. Mit würde unser Genom 1.200 Bände füllen, die so dick
einem Ausgangsmolekül beginnend folgen wir der DNA über zwei Genera- sind wie das vorliegende Buch. Eine Zelle benötigt
tionen (zwei Replikationsrunden). Neu gebildete DNA ist hellblau dargestellt. aber nur wenige Stunden, um diese DNA-Menge zu
kopieren. Die Replikation (Verdoppelung) einer so
Diese Modellvorstellung zur DNA-Replikation wurde enormen Menge an genetischer Information ist darü-
erst mehrere Jahre nach der Veröffentlichung des Struk- ber hinaus noch so gut wie fehlerfrei (die Fehlerrate
turvorschlags auch experimentell bestätigt. Die dazu der Replikation der menschlichen Chromosomen liegt
erforderlichen Experimente waren zwar von der Idee her bei etwa einem von zehn Milliarden Basenpaaren).
einfach, die tatsächliche Durchführung war aber sehr Sowohl die Geschwindigkeit als auch die Genauigkeit
schwierig. Das Watson-Crick-Modell sagt voraus, dass der DNA-Replikation sind also erstaunliche zelluläre
nach der Replikation die beiden neuen Moleküle aus je Leistungen.

415
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

 Abbildung 16.11: Aus der Forschung

Wird DNA nach dem konservativen, dem Schlussfolgerung Meselson und Stahl verglichen
semikonservativen oder dem dispersiven ihre Ergebnisse mit den drei verschiedenen Model-
Modus repliziert? len, wie unten dargestellt. Die erste Replikations-
runde im 14N-haltigen Medium führte zu einer ein-
Experiment Am California Institute of Technology zigen Bande von Hybrid-DNA (14N/15N-DNA). Dieses
vermehrten die Forscher Matthew Meselson und Versuchsergebnis widerlegte das konservative Mo-
Franklin Stahl Escherichia coli-Zellen über mehrere dell. Die zweite Replikationsrunde lieferte sowohl
Generationen in einem Medium, das Nucleotid- „leichte“ (nur 14N) als auch hybride DNA. Dieser Be-
vorstufen enthielt, die mit dem schweren Stickstoff- fund widerlegte das dispersive Modell und stützte
isotop Stickstoff-15 (15N) markiert waren. Die Wis- das Modell der semikonservativen Replikation, das
senschaftler überführten die Bakterien dann in ein von den Forschern als richtig angenommen wurde.
Medium, in dem nur Stoffe mit leichteren Stickstoff-
14-Atomen (14N) vorhanden waren. Aus diesem Kul- erste zweite
Replikationsrunde Replikationsrunde
turgefäß wurden nach 20 und nach 40 Minuten Pro-
ben gezogen (was einer beziehungsweise zwei Repli- konservative
kationsrunden der Bakterien unter optimalen Replikation
Teil 3 Wachstumsbedingungen entspricht). Meselson und
Stahl konnten DNA verschiedener Dichte aus den
Bakterien extrahieren und mithilfe einer speziellen
Zentrifugation trennen und nachweisen.
Ergebnis semikonservative
Replikation

1 in einem 2 in 14N-halti-
15
N-haltigen ges Medium
Medium überführte
vermehrte Bakterien dispersives
Bakterien Modell

niedrigere
Dichte Quelle: M. Meselson und F. Stahl. The replication of DNA in Escheri-
chia coli. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA
höhere (PNAS) 44:671–682 (1958).
Dichte
3 Zentrifugation 4 Zentrifugation
der DNA der der DNA der WAS WÄRE, WENN? Wie sähe das Ergebnis aus, wenn
nach 20 Minuten nach 40 Minuten Meselson und Stahl, bevor sie mit der Probennahme
entnommenen entnommenen begannen, die Zellen zunächst in 14N-haltigem
Probe (nach der Probe (nach der
ersten Replika- zweiten Replika- Medium angezüchtet und sie dann in 15N-haltiges
tionsrunde) tionsrunde) Medium umgesetzt hätten?

Mehr als ein Dutzend Enzyme und andere Proteine Der Beginn der DNA-Replikation
sind an der DNA-Replikation beteiligt. Die Arbeits- Die Replikation eines DNA-Moleküls beginnt an be-
weise dieser Replikationsmaschinerie ist bei Bakterien stimmten Stellen, den Replikationsursprüngen. Dabei
wie E. coli wesentlich besser untersucht und verstan- handelt es sich um kurze DNA-Abschnitte mit einer
den als bei Eukaryonten. Wir werden daher haupt- für jedes Lebewesen spezifischen Sequenz. Das Chro-
sächlich die Grundlagen der DNA-Replikation bei die- mosom von E. coli ist, wie die meisten untersuchten
sem Modellorganismus beschreiben und ausdrücklich bakteriellen Chromosomen, ringförmig geschlossen
auf Abweichungen bei anderen Lebewesen hinweisen. (zirkulär) und besitzt einen einzigen Replikationsur-
Die bisher vorliegenden Untersuchungen an anderen sprung. Proteine, die die Replikation einleiten, erken-
Prokaryonten und an Eukaryonten lassen aber vermu- nen diese Basensequenz und lagern sich an die DNA
ten, dass bei deren DNA-Replikation sehr ähnliche an. Sie entwinden und trennen die beiden Stränge des
Prozesse zugrunde liegen. Moleküls und erzeugen so zunächst eine blasenförmige

416
16.2 Bei der DNA-Replikation und -Reparatur arbeiten viele Proteine zusammen

Replikations- Replikationsursprung doppelsträngiges DNA-Molekül


ursprung Ausgangs-(Matrizen)strang
„Tochter“strang
Ausgangs-(Matrizen)strang
(neu)
Replikations- „Tochter“strang (neu)
gabel
doppelsträngiges
DNA-Molekül Replikationsblase
Replikationsblase Replikationsgabel

zwei „Tochter“-
DNA-Moleküle

zwei „Tochter“-DNA-Moleküle

0,25 µm Teil 3
0,5 µm

(a) Im zirkulären Chromosom von Escherichia coli und (b) Bei den linearen Chromosomen von Eukaryonten setzt
vielen anderen Bakterien gibt es nur einen einzigen die DNA-Replikation gleichzeitig an vielen Stellen ent-
Replikationsursprung. Die Ausgangsstränge trennen lang des sehr langen DNA-Moleküls ein; es bilden sich
sich im Bereich des Replikationsursprungs und bilden zahlreiche Replikationsblasen. Diese verbreitern sich in
eine „Blase“ mit zwei Replikationsgabeln. Die Repli- dem Maße, in dem die Replikation in beide Richtun-
kation schreitet in beiden Richtungen fort, bis sich die gen voranschreitet. Am Ende verbinden sich die Repli-
Replikationsgabeln auf der gegenüberliegenden Seite kationsblasen und die Synthese der neuen Stränge ist
treffen. Es bilden sich zwei „Tochter“-DNA-Moleküle. abgeschlossen. Auf der elektronenmikroskopischen
Die elektronenmikroskopische Aufnahme zeigt ein Aufnahme ist ein DNA-Molekül aus einer Hamsterzelle
Bakterienchromosom mit einer Replikationsblase. abgebildet, die aus einer Zellkultur stammt und drei
Replikationsblasen aufweist.

Abbildung 16.12: Replikationsursprünge bei Escherichia coli und bei Eukaryonten. Die roten Pfeile zeigen die Richtung an, in die sich die
Replikationsgabel bewegt und mit ihr die gesamte Replikation in jeder „Blase“.

Öffnung des Doppelstrangs. Die Replikation schreitet reichen) Ursprünge aus in beide Richtungen („bidirek-
dann in beide Richtungen fort, bis sich die beiden tional“) fort.
Replikationskomplexe wieder treffen und das gesamte An jedem Ende einer sich öffnenden Replikations-
Molekül verdoppelt ist (Abbildung 16.12a). Im Ge- blase befindet sich eine Replikationsgabel – ein Y-för-
gensatz zu einem Bakterienchromosom kann ein euka- miger Bereich, in dem die Stränge des Ausgangsmole-
ryontisches Chromosom je nach seiner Größe Hun- küls entwunden werden und die Neusynthese der
derte von Replikationsursprüngen besitzen. Es bilden komplementären DNA-Stränge erfolgt. Die Replika-
sich daher gleichzeitig an zahlreichen Stellen Replika- tionsgabel ist also der eigentliche Ort, an dem die
tionsblasen, die später zusammenfließen. Dieser gleich- Replikation stattfindet. An der Entwindung der beiden
zeitige Beginn des Replikationsvorgangs an mehreren DNA-Stränge ist eine Vielzahl verschiedener Proteine
Stellen gewährleistet, dass auch sehr lange DNA-Mole- beteiligt (Abbildung 16.13). Dazu gehören zunächst
küle schnell verdoppelt werden können (Abbildung die Helicasen – Enzyme, die die beiden Stränge der
16.12b). Wie bei den Bakterien schreitet auch bei den Doppelhelix im Bereich der Replikationsgabeln ent-
Eukaryonten die Replikation von jedem der (dort zahl- winden und voneinander trennen, so dass sie als Mat-

417
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

Proteine, die an DNA-Einzel-


stränge binden, stabilisieren
die entwundenen Ausgangs-
stränge und verhindern ein
erneutes Verdrillen. Die Primase katalysiert die
Synthese von RNA-Primern;
Die Topoisomerase schneidet dabei verwendet sie die
die Ursprungs-DNA, dreht die Ursprungs-DNA als Matrize.
Stränge umeinander und ver-
knüpft sie wieder kovalent
oberhalb der Replikationsgabel.
Dadurch wird die durch die
Entwindung der DNA-Stränge 3’ Abbildung 16.13: Einige der am
im Molekül erzeugte 5’ Beginn der DNA-Replikation (Initia-
Spannung abgebaut. 3’
RNA-Primer tion) beteiligten Proteine. Die glei-
(Startermolekül) chen Proteine finden sich an beiden Gabeln
der Replikationsblase. In dieser Vergrö-
ßerung ist nur die linke Seite dargestellt
und die Basen der DNA sind im Verhält-
5’
Die Helicase entwindet und trennt 5’
nis zu den Proteinen überproportional
3’ die Stränge der Ausgangs-DNA. groß wiedergegeben.
Teil 3

rizen für die Neusynthese zur Verfügung stehen. Nach von Thymin wird hier aber komplementär zu den Ade-
der Trennung lagern sich einzelstrangbindende Pro- ninen der DNA in der RNA Uracil eingesetzt). Der Pri-
teine an die beiden ungepaarten DNA-Stränge an, um mer erreicht eine Länge zwischen fünf und zehn
sie zu stabilisieren. Das Entwinden der Doppelhelix Nucleotiden. Der neue DNA-Strang beginnt mit dem
führt in dem stromabwärts von der Replikationsgabel Anknüpfen eines Desoxyribonucleotids am 3′-Ende des
liegenden Abschnitt zu einer noch stärkeren Verdre- RNA-Primers.
hung des Moleküls. Spezielle Enzyme, die Topoisome-
rasen, vermindern die dadurch auftretende Spannung,
indem sie die DNA-Stränge gezielt aufbrechen, die Die Synthese eines neuen DNA-Strangs
Stränge in Richtung abnehmender Spannung umein- Die Synthese neuer DNA-Stränge wird durch DNA-
ander drehen und die Enden dann wieder miteinander Polymerasen katalysiert, die Desoxynucleotide an vor-
verbinden. handene Nucleinsäureketten anknüpfen. Bei E. coli
Die entwundenen Abschnitte der Ausgangs-DNA ste- gibt es verschiedene Arten von DNA-Polymerasen,
hen nun als Matrizen für die Synthese neuer, komple- wovon hauptsächlich zwei an der Replikation der
mentärer Stränge zur Verfügung. Die für die Neusyn- chromosomalen DNA beteiligt sind, die als DNA-Poly-
these der DNA verantwortlichen Enzyme können merase III beziehungsweise DNA-Polymerase I bezeich-
allerdings nicht selbstständig mit der Synthese begin- net werden. In eukaryontischen Zellen scheint die DNA-
nen, sondern lediglich Nucleotide an das Ende einer Replikation komplizierter zu sein und man kennt bis
bereits mit dem Matrizenstrang gepaarten Nucleinsäure heute mindestens elf verschiedene Typen von DNA-
anhängen. Tatsächlich beginnt die DNA-Neusynthese Polymerasen. Die grundlegenden Mechanismen der
ursprünglich mit einer kurzen, zum Matrizenstrang Replikation sind aber vergleichbar.
komplementären Ribonucleinsäure (RNA), an die die Die meisten DNA-Polymerasen sind sowohl auf
DNA-Nucleotide angeknüpft werden. Die komplemen- einen Primer als auch auf einen DNA-Matrizenstrang
täre RNA wird als Initiator-RNA, Primer-RNA oder angewiesen, der als Vorlage für die Abfolge der neu zu
kurz als Primer bezeichnet. Sie werden durch ein spe- verknüpfenden Nucleotide dient. In E. coli-Zellen fügt
zielles Enzym, die Primase, synthetisiert (Abbildung die DNA-Polymerase III (DNA-Pol III) Desoxyribo-
16.13). Diese ist nicht auf einen Anknüpfungspunkt für nucleotide an das Ende des RNA-Primers an und ver-
die RNA-Synthese angewiesen, sondern beginnt mit längert den sich bildenden DNA-Strang durch die
einem einzelnen Ribonucleotid, an das weitere ange- Anknüpfung immer neuer Nucleotide an das 3′-Ende.
hängt werden. Der DNA-Strang dient als Vorlage, und Die Elongationsrate (die Geschwindigkeit, mit der die
die entstehende RNA ist dazu komplementär (anstelle neuen Nucleotide angehängt werden) beträgt etwa 500

418
16.2 Bei der DNA-Replikation und -Reparatur arbeiten viele Proteine zusammen

Nucleotide pro Sekunde bei Bakterien und nur etwa Antiparallele Kettenverlängerung
50 Nucleotide pro Sekunde in menschlichen Zellen. Wie bereits beschrieben, unterscheiden sich die bei-
Jeder an den wachsenden DNA-Strang angeknüpfte den Enden eines DNA-Moleküls und geben ihm so
Baustein tritt als Nucleosidtriphosphat in die Reak- eine Richtung (Abbildung 16.5). Außerdem sind die
tion ein. Einem Vertreter dieses Verbindungstyps sind beiden Stränge einer Doppelhelix antiparallel, das heißt
wir schon wiederholt in Form des ATP (Adenosintri- sie verlaufen in entgegengesetzten Richtungen (Abbil-
phosphat; siehe Abbildung 8.8) begegnet. Der einzige dung 16.14). Daraus ergibt sich, dass auch die beiden
Unterschied zwischen einem ATP-Molekül und einem bei der Replikation neu synthetisierten Stränge anti-
für die Synthese von DNA verwendeten dATP-Mole- parallel zu ihrem jeweiligen Matrizenstrang gebildet
kül besteht darin, dass Letzteres anstelle einer OH- werden müssen.
Gruppe nur einen Wasserstoffrest am 2′-Kohlenstoff- Welche Bedeutung hat diese Gegenläufigkeit der
atom der Ribose enthält. Die Desoxyribonucleosidtri- DNA-Stränge für die Replikation einer Doppelhelix?
phosphate sind ebenso reaktionsfreudig wie die Ribo- Aufgrund ihrer Struktur können DNA-Polymerasen
nucleosidtriphosphate, was zumindest teilweise auf neue Nucleotide nur an das 3′-OH-Ende eines Primers
die Häufung der negativen Ladungen an den Phos- oder der wachsenden DNA-Kette anhängen, aber nie an
phatgruppen zurückzuführen ist. Beim Eintritt eines das 5′-Ende (Abbildung 16.14). Ein sich neu bildender
neuen Monomers in den DNA-Strang werden zwei der Strang kann also nur am 3′-Ende verlängert werden,
Phosphorylreste als Pyrophosphat (–i) abgespal- und das Kettenwachstum erfolgt immer nur in 5′→3′-
ten, das anschließend zu Phosphat hydrolysiert wird. Richtung. Vor diesem Hintergrund wollen wir uns die Teil 3
Die Kopplung der beiden Schritte ergibt eine exergoni- Abbildung 16.15 ansehen. An einem der beiden Mat-
sche Reaktion, die die Energie für die DNA-Synthese rizenstränge kann die DNA-Polymerase III einen neuen
liefert (Abbildung 16.14). komplementären Strang fortlaufend in der vorgeschrie-
benen 5′→3′-Richtung synthetisieren. Die DNA-Poly-
merase besetzt einfach die entsprechende Replikations-
Neuer Strang Matrizenstrang gabel und fügt fortwährend neue Nucleotide an das
5‘ 3‘ 5‘ 3‘ Ende des sich neu bildenden Strangs an, während die
Replikationsgabel selbst weiterwandert. Der auf diese
Zuckerrest A T A T Weise entstehende neue DNA-Strang wird als der füh-
Phosphat Base rende Strang (Leitstrang; engl. leading strand) bezeich-
C G C G net. Es ist nur ein einziger RNA-Primer erforderlich,
damit die DNA-Polymerase III den führenden Strang
G C DNA- G C
synthetisieren kann (Abbildung 16.15).
Poly- Um die neue DNA an dem anderen Matrizenstrang in
OH merase
3‘ der vorgeschriebenen 5′→3′-Richtung synthetisieren zu
A T A
T können, muss sich das Polymerasemolekül eigentlich
P OH
P P Pi
3‘
entgegengesetzt zur Replikationsrichtung, also von der
P C C
Pyro- Replikationsgabel wegbewegen. Der so entstehende
OH phosphat Strang heißt der Folgestrang (engl. lagging strand). Hier
Nucleosidtriphosphat
5‘ 5‘ besteht aber ein entscheidender Unterschied: Im Gegen-
2 Pi satz zum führenden Strang, der fortlaufend verlängert
wird, wird der Folgestrang diskontinuierlich syntheti-
Abbildung 16.14: Einbau eines Nucleotids in einen DNA-Strang. siert, das heißt schrittweise und mit Unterbrechungen.
Die DNA-Polymerase knüpft ein Nucleosidmonophosphat, das in Form Er entsteht in einer Abfolge von zunächst nicht ver-
eines Nucleosidtriphosphats bereitgestellt wird, an die OH-Gruppe am 3′- knüpften, kurzen Nucleinsäureketten, die nach ihrem
Ende eines sich verlängernden DNA-Strangs. Pyrophosphat wird freige- Entdecker Okazaki-Fragmente genannt werden (Reiji
setzt und anschließend hydrolysiert.
Okazaki, japanischer Biologe, 1930–1975). Die Oka-
zaki-Fragmente sind in E. coli-Bakterien jeweils etwa
? Erklären Sie anhand dieses Diagramms, was mit der „Richtung eines 1.000–2.000 Nucleotide lang, in eukaryontischen Zel-
DNA-Strangs“ gemeint ist. len aber nur 100–200 Nucleotide.

419
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

Übersicht Übersicht
Replikationsursprung Replikationsursprung
Leitstrang Leitstrang Folgestrang
(„leading strand”) Folgestrang
Folgestrang
Primer 2
1
Leitstrang
Leit- Replikations-
Folgestrang richtungen
strang
(„lagging strand”)
1 Die Primase verknüpft Nucleotide
Replikationsrichtungen zu einem RNA-Primer.
3‘ 5‘
1 Nachdem der RNA-Primer 5‘ 3‘
hergestellt ist, beginnt die Matrizenstrang
DNA-Polymerase III mit der Replikationsursprung
Synthese des Leitstranges.
2 Die DNA-Polymerase III
3’ fügt Desoxynucleotide an
das 3’-Ende des Primers an
5’ und bildet dadurch das
Teil 3 5’ RNA-Primer Okazaki-Fragment Nr. 1.
„sliding clamp“
3’
3‘ RNA-Primer 3‘ 5‘
5’ DNA- 1
ursprüngliche DNA Polymerase III 5‘

3’ 3 Mit dem Erreichen des


5’ nächsten RNA-Primers
zur Rechten löst sich die
DNA-Polymerase III ab. Okazaki- 3‘
Fragment 5‘
5’ 2 Der Leitstrang wird durch 3‘
das Vorrücken der Replika- 1
3’
tionsgabel kontinuierlich in 5‘
5’ 5’3’-Richtung verlängert.
4 Nach der Fertigstellung
des Primers für das Frag-
Abbildung 16.15: Synthese des führenden Strangs während der ment Nr. 2 fügt die DNA-
DNA-Replikation. In der unteren Hälfte der Abbildung ist nur die linke der Polymerase III Nucleotide
beiden Replikationsgabeln aus dem obigen Schema dargestellt. Die DNA- 5‘ an, bis der Primer des
Polymerase III (DNA-Pol III) erinnert an die Form einer leicht gekrümmten 3‘ Fragments Nr. 1 erreicht
Hand und ist eng mit einem Protein verbunden, das die sich neu bildende ist. Dort löst sie sich ab.
DNA-Doppelhelix wie eine Schlauchklemme umschließt (engl. sliding clamp ). 3‘
2 1 5‘
Die Klemme zieht die DNA-Polymerase III am Matrizenstrang in Replikations-
richtung entlang.

5 Die DNA-Polymerase I er-


Abbildung 16.16 zeigt die schrittweise Synthese des setzt die durch die RNA-
Primer entstandene Lücke
Folgestrangs. Während für den führenden Strang nur durch DNA-Stränge, die an
ein RNA-Primer erforderlich war, benötigt jedes Oka- das 3’-Ende des Fragments
5‘
zaki-Fragment seinen eigenen. Zur Bildung jedes Oka- 3‘ Nr. 2 angefügt werden.
zaki-Fragments muss zu Beginn (zur Initiation) jedes 3‘
Mal wieder ein neues RNA-Startermolekül bereitge- 5‘
2 1
stellt werden (Schritte 1 und 4 ). Nachdem die DNA-
Polymerase III ein Okazaki-Fragment synthetisiert hat
(Schritte 2 und 3 ), ersetzt die DNA-Polymerase I die 6 Die DNA-Ligase katalysiert
RNA-Nucleotide des folgenden Primers durch DNA- die kovalente Verknüp-
Nucleotide (Schritt 5 ). Diese DNA-Polymerase kann fung zwischen dem neuen
5‘ DNA-Abschnitt und dem
aber die so entstandenen benachbarten DNA-Fragmente 3‘
Fragment Nr. 1.
nicht miteinander verknüpfen. Ein weiteres Enzym, die 3‘
1 5‘
DNA-Ligase, katalysiert den abschließenden Schritt der 2
kovalenten Verbindung und verknüpft die Zucker-
Phosphat-Gerüste aller Okazaki-Fragmente zu einem 7 Der Folgestrang
wird damit in
durchgehenden DNA-Molekülstrang (Schritt 6 ). diesem Bereich
Abbildung 16.17 und Tabelle 16.1 fassen die be- vervollständigt.
schriebenen Schritte der DNA-Replikation kurz zu- Replikationsrichtung
sammen. Sehen Sie sich beide genau an, bevor Sie im Abbildung 16.16: Synthese des Folgestrangs. Wieder ist nur die
Text weiterlesen. linke der beiden Replikationsgabeln aus dem oberen Schema dargestellt.

420
16.2 Bei der DNA-Replikation und -Reparatur arbeiten viele Proteine zusammen

Übersicht
3 Der Leitstrang wird von der Replikationsursprung
2 Proteine, die an DNA- DNA-Polymerase III kontinu- Leitstrang Folgestrang
Einzelstränge binden, ierlich in 5’3’-Richtung
stabilisieren die ent- synthetisiert.
wundenen Matrizen-
stränge.
1 Die Helicase Leit-
entwindet die Folgestrang strang
ursprüngliche Replikations-
Doppelhelix. richtungen

Leitstrang

5‘ 3‘ DNA-Polymerase III
3‘
Primer Primase
5‘
ursprüngliche 3‘
DNA DNA-Polymerase III Folgestrang
5‘ DNA-Polymerase I DNA-Ligase
4 3‘ 5‘
3
4 Die Primase beginnt mit der 2 1 3‘ Teil 3
Synthese des RNA-Primers für 5‘
das fünfte Okazaki-Fragment.

5 Die DNA-Polymerase III vervollständigt 6 Die DNA-Polymerase I entfernt den Primer 7 Die DNA-Ligase ver-
die Synthese des vierten Fragments. vom 5’-Ende des zweiten Fragments und bindet das 3’-Ende
Wenn der RNA-Primer des dritten Frag- ersetzt ihn durch eine Folge von DNA- des zweiten Frag-
ments erreicht ist, löst sich das Enzym Nucleotiden, die nacheinander an das mentes mit dem 5’-
ab, wandert zur Replikationsgabel und 3’-Ende des dritten Fragments angefügt Ende des ersten.
fügt Desoxynucleotide an das 3’-Ende werden. Der Austausch des letzten RNA-
des Primers für das fünfte Fragment an. Nucleotids durch ein DNA-Nucleotid belässt
ein freies 3’-Ende (freie OH-Gruppe) am
Zucker-Phosphatgerüst des Stranges.

Abbildung 16.17: Zusammenfassung der bakteriellen DNA-Replikation. Obwohl hier in der höheren Auflösung wieder nur die linke Replika-
tionsgabel abgebildet ist, zeigt die Übersicht oben rechts, dass normalerweise gleichzeitig an zwei Gabeln repliziert wird, die sich an den beiden Enden
einer Replikationsblase befinden. Die Übersicht zeigt ein längeres Stück von jedem Tochterstrang und man kann erkennen, dass die eine Hälfte kontinu-
ierlich gebildet wird (Leitstrang, oben), während die andere Hälfte in Fragmenten synthetisiert den Folgestrang bildet (unten).

ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie ein ähnliches Schema der rechten Replikationsgabel in dieser Blase. Nummerieren Sie die Okazaki-Fragmente und
bezeichnen Sie die 5′- und 3′-Enden.

Tabelle 16.1

Die Rolle der an der bakteriellen DNA-Replikation beteiligten Proteine.


Protein Funktion
Helicase 3’ Entwindung der zu replizierenden Doppelhelix im Bereich der Replikationsgabel.
5’
3’
5’

Einzelstrang- 3’
Bindet und stabilisiert die getrennten Einzelstränge der DNA, bis diese als Matrizen ver-
5’
bindendes Protein wendet werden.

Topoisomerase Katalysiert die Entspannung der übermäßig verwundenen Stränge vor (stromabwärts) einer
5’ 3’ Replikationsgabel durch Lösen kovalenter Bindungen des Zucker-Phosphat-Gerüsts, Ent-
3’ 5’
windung der Stränge und erneute Verknüpfung des Zucker-Phosphat-Gerüsts.

Primase 3’
Synthese eines RNA-Primers am 5′-Ende des Leitstrangs und der RNA-Primer aller Okazaki-
5’
3’ 5’ Fragmente des Folgestrangs.

DNA-Polymerase III Synthetisiert anhand eines Matrizenstrangs einen komplementären neuen Strang durch
5’ 3’
(DNA-Pol III) 5’ kovalente Anknüpfung von Nucleotiden an das aktuelle 3′-Ende des Strangs. Die Synthese
3’ beginnt ursprünglich an einem RNA-Primer.

DNA-Polymerase I 5′ 3′ Entfernung der RNA-Oligonucleotide, die als Primer gedient haben, und Auffüllen der
(DNA-Pol I) 3′ 5′ Lücken durch kovalent verknüpfte Desoxyribonucleotide.

DNA-Ligase Kovalente Verknüpfung der 3′- und 5′-Enden von DNA-Fragmenten, bei der Replikation
hauptsächlich der Okazaki-Fragmente.

421
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

Der DNA-Replikationskomplex ten Fehler mit falsch gepaarten Basen beim Einbau der
Man stellt sich ein Molekül der DNA-Polymerase zwar Nucleotide in einen sich bildenden DNA-Strang etwa
oft als eine Lokomotive vor, die auf einer von der DNA Hunderttausendmal häufiger auf, also mit einer Fehler-
gebildeten Schiene entlangfährt, aber dieses Modell rate von einem bei 100.000 Nucleotiden. Um die Genau-
erzeugt ein falsches Bild. Erstens bilden die an der igkeit zu erhöhen, wird sofort nach dem Einbau eines
Replikation beteiligten Proteine einen einzigen großen neuen Nucleotids bei der Replikation durch die DNA-
Komplex, sozusagen eine „Replikationsmaschine“, bei Polymerasen anhand des Matrizenstrangs „Korrektur
der viele der Protein-Protein-Wechselwirkungen die gelesen“ (engl. proofreading). Findet ein Polymerase-
Leistungsfähigkeit verbessern. Beispielsweise wirkt die molekül ein falsches, nicht passendes Basenpaar, so
Primase im Komplex als eine molekulare Bremse, die schneidet es das zuletzt angeknüpfte Nucleotid wieder
das Voranschreiten der Replikationsgabel verlangsamt ab und nimmt die Synthese erneut auf. (Dieser Vorgang
und damit eine gleichbleibende Replikationsgeschwin- entspricht dem Beheben eines Tippfehlers bei einem
digkeit für den Leit- und Folgestrang ermöglicht. Zwei- Computertext, indem man den falschen Buchstaben ent-
tens bewegt sich der Replikationskomplex nicht entlang fernt und den richtigen an seine Stelle schreibt.)
der DNA, sondern vielmehr wird die DNA durch den Einige wenige falsch gepaarte Nucleotide entgehen
Komplex gezogen. Tatsächlich scheinen in eukaryonti- aber auch diesem Korrekturlesen der DNA-Polyme-
schen Zellen mehrere Replikationskomplexe als „Fabri- rase. Bei der Fehlpaarungsreparatur (engl. mismatch
ken“ an der Kernmatrix verankert zu sein, einem Netz- repair) schneiden dann nach der eigentlichen Neu-
Teil 3 werk von Fäden, das den Kern durchzieht. Nach synthese spezielle Reparaturenzyme falsch eingebaute
neueren Untersuchungen spulen dabei je zwei Mole- Nucleotide wieder aus dem fehlerhaften Strang heraus
küle der DNA-Polymerase – eines auf jedem der Matri- und setzen mithilfe der Basenpaarung die richtigen
zenstränge – die DNA auf und entlassen die neu gebil- Nucleotide ein. Die physiologische Bedeutung solcher
deten Doppelstränge am anderen Ende. In diesem DNA-Reparaturenzyme zeigt sich beispielsweise daran,
sogenannten „Posaunen-Modell“ kommt es zu einer dass eine Erbkrankheit mit einer bestimmten Form von
Schlaufenbildung, in der der Folgestrang in den Kom- Darmkrebs dann auftritt, wenn eines der Reparatur-
plex zurückgeführt wird (Abbildung 16.18). systeme ausfällt. Offenbar verursacht das Fehlen dieser
Reparatur das gehäufte Auftreten von Mutationen in
der DNA und erhöht damit die Krebsgefahr.
16.2.3 Korrekturlesen und DNA-Reparatur Falsche Paarungen oder der Austausch von Nucleo-
tiden können auch nach der DNA-Replikation auftreten.
Die Genauigkeit der DNA-Replikation kann nicht allein Tatsächlich müssen in der DNA auftretende Schäden
durch die Spezifität der Basenpaarung erklärt werden. ständig repariert werden, um die dort niedergelegten
Obwohl die tatsächlich beobachtete Fehlerrate voll- genetischen Informationen zu erhalten. Wie wir in Kapi-
ständig replizierter DNA in der Regel nur etwa 1:1010 tel 17 noch sehen werden, sind die DNA-Moleküle einer
beträgt (also eine falsche Base in zehn Milliarden), tre- Zelle unablässig möglichen Schädigungen durch chemi-

Matrize für den Leitstrang

DNA-Polymerase III
Ausgangs-DNA Leitstrang
5′
5′ 3′ 3′

3′
3′ 5′
5′
Abbildung 16.18: Ein neueres Modell des
Verbindungsprotein DNA-Replikationskomplexes. Zwei Mole-
Helicase küle der DNA-Polymerase III arbeiten in einem
DNA-Poly-
merase III Komplex mit der Helicase und weiteren Prote-
inen. Eine DNA-Polymerase ist dabei jeweils für
3′ 5′ einen Matrizenstrang zuständig. Die DNA der
Matrize
für den Folgestrang Matrize des Folgestrangs bildet eine Schlaufe im
5′ 3′ Komplex, die an die Taste einer Posaune erinnert
Folgestrang
(„Posaunenmodell“).

ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie den Folge-


strang über die gesamte Länge der hier abgebil-
deten DNA nach.

Im MyLab|Deutsche Version für Campbell Biologie finden Sie eine 3D-Animationen zur DNA-Replikation.

422
16.2 Bei der DNA-Replikation und -Reparatur arbeiten viele Proteine zusammen

sche und physikalische Einflüsse ausgesetzt: Reaktive


1 Ein Thymindimer verformt
chemische Stoffe (sowohl aus der Umwelt als auch sol- das DNA-Molekül.
che, die in Zellen selbst gebildet werden), Röntgenstrah-
len und radioaktive Strahlung, UV-Licht und beispiels-
weise auch einige Bestandteile des Zigarettenrauchs 2 Eine Nuclease schneidet
können auf Nucleotide einwirken und damit die geneti- den beschädigten DNA-
sche Information verändern. Darüber hinaus unterliegen Strang an zwei Stellen.
Der beschädigte
die Basen der DNA auch unter normalen zellulären Abschnitt wird entfernt.
Bedingungen spontanen chemischen Veränderungen.
Nuclease
All diese Veränderungen der DNA werden aber norma-
lerweise korrigiert, bevor sie dauerhafte Mutationen aus-
lösen und bei der Replikation an nachfolgende Zellgene-
rationen weitergegeben werden können. Jede Zelle 3 Die Reparatursynthese
überwacht und repariert ständig ihr Erbmaterial. Da die DNA- durch eine DNA-Poly-
Reparatur beschädigter DNA offensichtlich so wichtig Polymerase merase füllt die Lücke.
ist, haben sich im Laufe der Evolution viele verschie-
dene DNA-Reparaturenzyme entwickelt. Schon aus
E. coli kennt man über 100 an der DNA-Reparatur betei-
ligte Proteine und etwa 130 wurden bislang beim Men- Teil 3
schen gefunden. DNA-
Unabhängig davon, ob eine Fehlpaarung während der Ligase 4 Die DNA-Ligase verknüpft
DNA-Replikation oder erst später auftritt, nutzen die die freien Enden des neuen
meisten zellulären Reparatursysteme Mechanismen, die Abschnitts mit den alten
DNA-Stücken, wodurch der
sich auf die Basenpaarungen in der DNA-Struktur Strang seine Integrität
stützen. Oft wird einfach ein DNA-Abschnitt (eine zurückerhält.
Nucleotidfolge) des beschädigten oder fehlerhaften
Abbildung 16.19: Exzisionsreparatur eines DNA-Schadens. Eine
Strangs durch eine Nuclease (ein Nucleinsäure spal-
Gruppe von Enzymen spürt Schäden der DNA auf und repariert sie. Die
tendes Enzym) herausgeschnitten (Exzision). Die ent- Abbildung zeigt einen DNA-Abschnitt, in dem sich ein Thymindimer gebil-
stehende Lücke im Strang wird dann von einer DNA- det hat, was oft von ultraviolettem Licht hervorgerufen wird.
Polymerase anhand des unbeschädigten Matrizenstrangs
wieder aufgefüllt, wobei sie das durch das Heraus-
schneiden entstandene freie 3′-OH-Ende als Primer 16.2.4 Die evolutionäre Bedeutung
verwendet. Die DNA-Ligase verbindet danach die neu veränderter DNA-Nucleotide
synthetisierte DNA wieder kovalent mit dem rest-
lichen Strang. Man spricht hier von einer Exzisions- EVOLUTION Eine genaue Replikation des Genoms und
reparatur (Abbildung 16.19). die Reparatur von DNA-Schäden sind für die Funktion
Eine wichtige Funktion der DNA-Reparaturenzyme eines Organismus und für die Vererbung eines komplet-
in den Zellen unserer Haut besteht darin, die Schäden ten, intakten Genoms an die nächste Generation sehr
am Erbmaterial zu reparieren, die vom ultravioletten wichtig. Die Fehlerrate bei der Replikation ist nach
Anteil des Sonnenlichts verursacht werden. Bei sol- dem Korrekturlesen extrem niedrig. Dennoch kommt es
chen Schäden handelt es sich meist um eine kovalente manchmal zu Fehlern. Wenn ein falsch eingebautes
Verknüpfung zweier benachbart liegender Thymidyl- Nucleotid repliziert wird, so ist die Veränderung von
reste. Es bilden sich Thymindimere, die zu einem Dauer, d.h. alle DNA-Moleküle in allen Tochterzellen
Abknicken der DNA führen, was wiederum die Repli- werden diese Veränderung in der Basensequenz auf-
kation stören würde. Die Bedeutung dieses Reparatur- weisen. Solche Veränderungen in der DNA werden als
vorgangs tritt beim Krankheitsbild von Xeroderma pig- Mutationen bezeichnet und können sich auf den Phä-
mentosum auf. Die Krankheit beruht meist auf einem notyp eines Organismus auswirken (wie das geschieht,
erblichen Defekt eines an der Exzisionsreparatur betei- wird in Kapitel 17 erklärt). Wenn die Mutation in einer
ligten Enzyms, wobei betroffene Individuen überemp- Keimbahnzelle auftritt, so könnte diese Veränderung an
findlich auf Sonnenlicht reagieren. Durch UV-Licht die nächsten Generationen weitervererbt werden. Die
hervorgerufene Mutationen in ihren Hautzellen werden überwiegende Mehrheit solcher Mutationen hätte ent-
nicht repariert und erhöhen das Risiko, an Hautkrebs weder keinen Effekt oder wäre für den Träger schäd-
zu erkranken. lich. Nur ein sehr kleiner Anteil führt zur Verbesserung

423
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

einer Eigenschaft. Mutationen sind aber immer die sen Schutz gegen Verkürzungen der Chromosomen in
wichtigste Ursache für genetische Variationen, die einem Bereich mit proteincodierenden Genen bietet.
dann der natürlichen Selektion unterliegen. Deshalb Man kann sich dies analog den Plastikschutzkappen an
sind Mutationen und Selektion die wichtigsten Trieb- den Enden von Schnürsenkeln vorstellen, die ein Zer-
federn bei der Entstehung neuer Arten, wie wir ab dem fransen verhindern. Allerdings können Telomere das
Kapitel 22 noch ausführlich erläutern werden. Ein Fortschreiten der Verkürzungen in Bereichen mit Genen
empfindliches Gleichgewicht zwischen der möglichst nicht vollständig aufhalten, sondern es nur verzögern.
fehlerfreien DNA-Replikation mit einer effizienten DNA-
Reparatur auf der einen Seite und einer sehr geringen 5‘
Mutationsrate auf der anderen Seite ermöglichte es der Strangenden Leitstrang
der Ausgangs-
Evolution, die Artenvielfalt hervorzubringen, wie wir Folgestrang
DNA
3‘
sie heute auf unserer Erde erleben.

neues Fragment vorhergehendes


16.2.5 Die Replikation an den Enden Fragment

linearer DNA-Moleküle Folgestrang RNA-Primer


5‘
Ungeachtet ihrer eindrucksvollen Fähigkeiten gibt es 3‘
Teil 3 einen kleinen Anteil der zellulären DNA, die nicht von ursprünglicher
DNA-Polymerasen repliziert oder repariert werden Strang
kann. So liegen die DNA-Moleküle in eukaryontischen Der Primer ist entfernt, kann Entfernen der Primer und
Chromosomen linear als ein fortlaufender Doppelstrang aber nicht durch DNA ersetzt Ersatz durch DNA dort,
werden, weil kein 3’-Ende als wo ein 3’-Ende zur Verfü-
vor. Wie wir erfahren haben, können DNA-Polymerasen Ansatzpunkt für die DNA- fügung steht
aber Nucleotide nur an das freie 3′-OH-Ende eines Pri- Polymerase vorhanden ist.
mers anknüpfen, was hier zum Problem wird. Die nor-
male Replikationsmaschinerie bietet keine Möglichkeit, 5‘
die 5′-Enden der neu gebildeten DNA-Stränge zu ver- 3‘
vollständigen, die ja zunächst mit einem RNA-Primer zweite Replikationsrunde
beginnen. Weder das am äußersten Ende des Matri-
zenstrangs gebildete Okazaki-Fragment noch der RNA- 5‘
Primer des Leitstrangs können durch DNA ersetzt wer- neuer Leitstrang 3‘
den, weil es kein freies 3′-OH-Ende zum Anknüpfen neuer Folgestrang 5‘
der Nucleotide gibt (Abbildung 16.20). Folglich müss-
3‘
ten sich die DNA-Moleküle bei jeder Replikationsrunde
weitere Replikations-
immer mehr verkürzen und sollten an überhängenden
runden
Enden einzelsträngige Bereiche aufweisen.
Das Problem der Verkürzung der DNA stellt sich bei immer kürzer werdende
den meisten Prokaryonten nicht, weil deren chromoso- „Tochter“moleküle
male DNA ringförmig ist, also keine Enden besitzt. Was Abbildung 16.20: Verkürzungen der Enden linearer DNA-Mole-
aber verhindert bei Eukaryonten den Verlust genetischer küle. Wir zeichnen hier das Schicksal des Endes eines DNA-Strangs im
Information während immer neuer Replikationsrunden? Verlauf von zwei Replikationsrunden nach. Nach der ersten Runde ist der
Eukaryontische Chromosomen tragen an ihren Enden neu gebildete Folgestrang kürzer als der zugehörige Matrizenstrang. Nach
spezialisierte Bereiche mit einer für jede Art typischen der zweiten Runde haben sich sowohl der Leitstrang als auch der Folge-
Sequenz, die Telomere genannt werden (Abbildung strang gegenüber der Ausgangs-DNA verkürzt. Das andere Ende des DNA-
16.21). Dort befinden sich keine für Proteine codieren- Moleküls verkürzt sich in gleicher Weise.
den Gene. Stattdessen findet man zahlreiche Wieder-
holungen einfacher Nucleotidfolgen (repetitive Se-
quenzen). In jedem Telomer eines menschlichen
Chromosoms findet man 100–1.000 Wiederholungen der
hexameren Nucleotidfolge TTAGGG. Telomere erfüllen
zwei verschiedene Schutzfunktionen:
Einerseits wird durch die Anlagerung bestimmter Pro-
teine verhindert, dass das DNA-Reparatursystem durch
die Telomere aktiviert wird. (Einzelsträngige DNA tritt
an den Überhängen der Telomere auf oder kann sich
auch durch häufig auftretende Doppelstrangbrüche
1 µm
ergeben. Im letzteren Fall weisen sie auf Chromosomen-
schäden hin und setzen eine Signalübertragung in Gang, Abbildung 16.21: Telomere. Eukaryonten besitzen an den Enden ihrer
die das Fortschreiten des Zellzyklus verhindert oder chromosomalen DNA repetitive, nicht codierende Sequenzbereiche, die
zum programmierten Zelltod führt.) Andererseits wirkt Telomere. Hier sind die Telomere der Chromosomen aus der Zelle einer
die DNA der Telomere als Pufferzone, die einen gewis- Maus orange angefärbt (fluoreszenzmikroskopische Aufnahme).

424
16.3 Ein Chromosom besteht aus einem mit Proteinen verpackten DNA-Molekül

Wie Abbildung 16.20 zeigt, verkürzen sich die Telo-


 Wiederholungsfragen 16.2
mere bei jeder Replikation, so dass sie in sich häufig
teilenden somatischen Zellen älterer Individuen oder
1. Welche Rolle spielt die komplementäre Basen-
in Zellkulturen, die sich schon oft geteilt haben, kür-
paarung bei der Replikation der DNA?
zer sind als in jungen Zellen. Die Telomerverkürzung
gilt daher auch als ein Zeichen der biologischen Alte- 2. Nennen Sie die beiden Hauptfunktionen der
rung von Zellen und ganzen Organismen. DNA-Polymerase III bei der DNA-Replikation
Nun stellt sich aber die Frage, wie Genome dann in Bakterien.
über viele Generationen ohne Verlust von Erbinforma-
tion an die Nachkommen weitergegeben werden kön- 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Welche Beziehung
nen. Falls sich die Chromosomen der Keimzellen besteht zwischen der DNA-Replikation und der
(Gameten) mit jedem Durchlauf des Zellzyklus immer S-Phase im eukaryontischen Zellzyklus? (Be-
weiter verkürzen würden, müssten schnell auch einige achten Sie die Abbildung 12.6.)
lebenswichtige (essenzielle) Gene verloren gehen, was
aber nicht der Fall ist. Das Enzym Telomerase findet 4. WAS WÄRE, WENN? Wie würde es die Synthese
sich in den Zellen der eukaryontischen Keimbahn und des führenden DNA-Stranges beeinflussen,
bewirkt eine Verlängerung der Telomere. Damit stellt wenn die DNA-Polymerase I in einer Bakterien-
es deren ursprüngliche Länge wieder her und gleicht zelle nicht arbeiten würde? Zeigen Sie im Über-
die während der Replikation eintretenden Verkürzun- sichtskasten der Abbildung 16.17 an, wo die Teil 3
gen wieder aus. Die Telomerase ist aber in den meis- DNA-Polymerase I auf dem oberen Leitstrang
ten Körperzellen nicht aktiv und bei den restlichen normalerweise ihre Funktion ausüben würde.
Zellen findet man in verschiedenen Geweben Unter-
schiede in ihrer Aktivität. In den Vorläuferzellen der Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Keimbahn sorgt sie jedoch dafür, dass die Telomere in
einer Zygote ihre maximale Länge haben.
Die Inaktivität der Telomerase in unseren Körperzel-
len mit der damit einhergehenden ständigen Verkür- Ein Chromosom besteht
zung der Chromosomenenden bei jeder Teilung schützt aus einem mit Proteinen
uns auch vor Krebs. Die Chromosomen in Zellen großer
Tumore haben oft ungewöhnlich kurze Telomere, wie
man es von Zellen erwarten würde, die viele Teilun-
verpackten DNA-Molekül
16.3
gen durchlaufen haben. Eine weitere Verkürzung führt
vermutlich zum Absterben der betreffenden Tumor- Das Genom der meisten Bakterien besteht hauptsäch-
zellen. Allerdings konnte man in vielen Krebszellen lich aus einem doppelsträngigen, ringförmig geschlos-
überraschend auch eine Telomeraseaktivität nachwei- senen DNA-Molekül, an das einige Proteine angelagert
sen. Offensichtlich können diese entarteten Zellen die werden. Ein solches bakterielles Chromosom unter-
Länge ihrer Telomere und damit ihre Teilungsfähigkeit scheidet sich aber stark von einem eukaryontischen
aufrechterhalten. Damit scheinen viele Krebszellen zu Chromosom, das aus einem linearen, nicht geschlosse-
einer unbegrenzten Teilung und Vermehrung befähigt nen DNA-Molekül besteht und eine Vielzahl von Pro-
zu sein (beispielsweise die quasi unsterblichen Zellkul- teinen enthält. Bei E. coli umfasst die chromosomale
turlinien, die wir in Kapitel 12 erwähnt haben). Falls DNA rund 4,6 Millionen Basenpaare und enthält etwa
sich die Telomerase tatsächlich als bedeutender Patho- 4.400 Gene. Das ist zwar etwa einhundertmal mehr als
genitätsfaktor im Krebsgeschehen erweist, könnte sie die DNA eines Virus, aber auch mehr als tausendmal
ein lohnendes Ziel für die Krebsdiagnose und für die weniger als das Genom in einer menschlichen Zelle.
gezielte Suche nach Hemmstoffen (also eine selektive Trotzdem handelt es sich um eine vergleichsweise
Chemotherapie) darstellen. Allerdings zeigten Versuche große Menge an DNA, die in einer winzigen E. coli-
mit solchen Hemmstoffen bei Mäusen mit Tumoren, Zelle verstaut werden muss.
dass zwar zunächst die Krebszellen abstarben, nach Ausgestreckt wäre die DNA einer E. coli-Zelle etwa
einer gewissen Zeit aber ihre ursprüngliche Telomer- einen Millimeter (1 mm) lang – also 500-mal länger als
länge durch einen anderen Mechanismus wiederher- die Zelle. Innerhalb der Bakterienzelle bewirken jedoch
stellen konnten. Auf diesem Gebiet wird deshalb inten- bestimmte Proteine ein Aufdrehen und eine Überspira-
siv an der Entwicklung neuer Krebstherapien geforscht. lisierung (engl. supercoil) des Chromosoms, so dass es
Bis hierher haben Sie etwas über die Struktur und die nur einen Teil der Zelle einnimmt. Der Bereich in der
Replikation von DNA-Molekülen erfahren. Im nächsten Bakterienzelle, der die DNA enthält, wird als Nucleoid
Abschnitt werden wir sehen, wie die DNA als Erbin- bezeichnet und ist im Gegensatz zu den Eukaryonten
formation in Chromosomen verpackt wird. nicht von einer Kernmembran eingeschlossen (siehe
Abbildung 6.5).

425
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

 Abbildung 16.22: Näher betrachtet


Aufbau des Chromatins eukaryontischer Chromosomen

Diese Folge von Schemazeichnungen und elektronenmikroskopischen Aufnahmen gibt


unsere gegenwärtigen Vorstellungen der DNA-Verdrillung und -Faltung in Chromosomen
wieder. Die Bebilderung schreitet von der Doppelhelix der chromosomalen DNA (ganz links)
bis zu dem im Lichtmikroskop erkennbaren Metaphasenchromosom (rechte Seite) fort.

Nucleosom (Durchmesser: 10 nm)


ein Heterooctamer aus je zweimal
H2A, H2B, H3 und H4

DNA-Doppelhelix
(Durchmesser: 2 nm)
Teil 3

H1

Histonfortsatz
Histonmoleküle

Nucleosomen, oder: „Perlen


DNA – die Doppelhelix Histone einer Kette“ (10 nm-Fasern)
Vereinfachtes Bändermodell der DNA, Histone sind Proteine, die für die erste Stufe Auf elektronenmikroskopischen Abbildun-
in der jedes der Bänder das Zucker- der DNA-Kondensation im Chromatin ver- gen hat das locker gepackte Chromatin
Phosphatgerüst eines Stranges antwortlich sind. Obgleich jedes Histon- einen Durchmesser von 10 nm. Diese Struk-
repräsentiert. Wie Sie aus Abbildung molekül klein ist (es besteht aus ca. 100 tur wird als 10 nm-Faser bezeichnet, in der
16.7 wissen, sind die Phosphatgrup- Aminosäureresten), entspricht die Gesamt- das Chromatin an eine Perlenkette erinnert
pen an der Außenseite des Gerüstes masse aller Histonmoleküle des Chromatins (EM-Aufnahme oben). Jede „Perle“ wird
negativ geladen. Die elektronenmikro- etwa der Masse der darin enthaltenen DNA. durch ein Nucleosom gebildet, das die
skopische Aufnahme zeigt ein metall- Mehr als ein Fünftel aller Aminosäurereste Grundeinheit zur DNA-Verdichtung dar-
bedampftes Einzelmolekül einer pro- eines Histonmoleküls sind unter physiologi- stellt. Die Abschnitte zwischen den Nucleo-
teinfreien, doppelsträngigen DNA. schen Bedingungen positiv geladen (Lysin- somen werden als Linker-DNA (engl. to
Die Doppelhelix hat einen Durch- beziehungsweise Argininreste) und stehen link, verbinden, verknüpfen) bezeichnet.
messer von etwa zwei Nanometern deshalb in starken Ionenwechselwirkungen Ein Nucleosom besteht aus einem DNA-
(2 nm). mit der negativ geladenen DNA. Es gibt vier Abschnitt, der etwa zweimal um einen
Haupttypen von Histonproteinen: H2A, H2B, Proteinkern gewickelt ist. Dieser besteht
H3 und H4. Histone sind stark konservierte aus acht Histonmolekülen, je zwei Moleküle
Proteine. So sind zwischen den Sequenzen der vier Haupttypen. Der Aminoterminus
des Histons H4 des Rinds und dem der Erbse jedes Histonmoleküls (Histonfortsätze;
nur zwei Aminosäuren ausgetauscht. Die „Schwänze“) ragt nach außen.
starke Konservierung der Histonsequenzen Im Verlauf des Zellzyklus lösen sich die
weist auf ihre zentrale Rolle in der Verpa- Histone nur während der Replikation kurz
ckung von DNA eukaryontischer Zellen hin. von der DNA ab. Dies geschieht auch
Die vier genannten Histone sind wichtig für während der Genexpression – einem
den nächsten Grad der DNA-Kondensation. weiteren Vorgang, der es erforderlich
(Ein weiteres Histon, H1, ist an der weiteren macht, dass die DNA der molekularen
Verdichtung beteiligt.) Maschinerie der Zelle zugänglich gemacht
wird. Nucleosomen, insbesondere ihre
Histonfortsätze, sind ganz wesentlich an
der Regulation der Genexpression beteiligt.

Eukaryontische Chromosomen enthalten jeweils eine Zellkerns entspricht. Bei dieser Rechnung haben wir
einzelne, lineare DNA-Doppelhelix mit einer durch- noch nicht einmal die DNA der restlichen 45 Chromo-
schnittlichen Länge von etwa 1,5 × 108 (150 Millio- somen in einem diploiden Zellkern berücksichtigt!
nen) Basenpaaren beim Menschen. Dies ist verglichen In der Zelle ist die eukaryontische DNA regelmäßig
mit der Länge eines kondensierten (dicht gepackten) mit einer Reihe von Proteinen verbunden. In seiner
Chromosoms eine enorm lange DNA. Vollständig ge- Gesamtheit wird dieser Verbund aus DNA und Protein
streckt wäre ein solches DNA-Molekül etwa 4 cm lang, als Chromatin bezeichnet. Durch ein System mit meh-
was mehr als dem tausendfachen Durchmesser eines reren Ebenen der DNA-Packung (Kondensation) findet

426
16.3 Ein Chromosom besteht aus einem mit Proteinen verpackten DNA-Molekül

Chromatide
(700 nm)

30 nm-Faser

Teil 3

Schlaufen Gerüst

300 nm-Faser

Die 30 nm-Faser repliziertes


Chromosom
Die nächste Ebene der Verdichtung wird (1400 nm = 1,4 μm)
durch Wechselwirkungen zwischen den
Histonfortsätzen eines Nucleosoms mit Schlaufendomänen
der Linker-DNA und benachbarten (300 nm-Fasern) Das Metaphasenchromosom
Nucleosomen bewirkt. Ein fünfter
Histontyp, das Histon H1, ist hieran Die 30 nm-Faser bildet ihrerseits Während der Mitose falten sich die
beteiligt. Die Wechselwirkungen führen Schlaufenstrukturen aus, die auch als Schlaufendomänen der Chromosomen
dazu, dass sich die gestreckte 10 nm- Schlaufendomänen bezeichnet werden weiter, wobei auch hier die genaue
Faser aufrollt und sich eine Chromatin- und an einem aus Proteinen bestehenden Struktur noch nicht geklärt ist. Dabei wird
faser mit einem Durchmesser von etwa Kerngerüst verankert sind. Zusammen das Chromatin bis hin zur Stufe der
30 nm bildet – die 30 nm-Faser. Obwohl ergibt dies die 300 nm-Faser. Das Gerüst charakteristischen Metaphasenchromoso-
die 30 nm-Faser in Interphasekernen enthält eine bestimmte Topoisomerase. men weiter komprimiert, von denen eines
überwiegt, ist die genaue Anordnung der Histon H1-Moleküle sind ebenfalls oben im elektronenmikroskopischen Bild
Nucleosomen darin noch nicht geklärt. nachweisbar. zu sehen ist. Die Breite einer Chromatide
beträgt 700 nm (0,7 μm). Bestimmte Gene
finden sich in einem Metaphasenchromo-
som immer an der gleichen Stelle, was
darauf hindeutet, dass die Kondensierung
sehr spezifisch und präzise abläuft.

das Chromatin Platz im Zellkern. Unser gegenwärtiges tin als wenig dichte Masse im Zellkern angefärbt
Bild von den aufeinanderfolgenden Ebenen der DNA- werden und erscheint aufgelockert. Als Vorbereitung
Kondensation in einem Chromosom ist in Abbildung für den Eintritt in die Mitose wickelt sich das Chroma-
16.22 dargestellt. Sehen Sie sich diese Abbildung in tin auf und verdichtet sich. Schließlich lassen sich die
Ruhe an, bevor Sie weiterlesen. kurzen, verdickten Chromosomen in der Metaphase
Im Verlauf des Zellzyklus verändert sich die Verpa- deutlich erkennen, mit ihrer für jede Art charakteristi-
ckungsdichte des Chromatins erheblich (siehe Abbil- schen Zahl, Form und Größe. In diesem Zustand lassen
dung 12.7). Während der Interphase kann das Chroma-

427
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

sich die einzelnen Chromosomen im Lichtmikroskop


unterscheiden (Abbildung 16.23a).
Trotz seiner geringeren Dichte ist auch das Chromatin
in der Interphase mehrstufig mit Proteinen verpackt.
Dies geschieht in einer Weise, die bis in die höheren
Ebenen der Kondensation erhalten bleibt. Obwohl ein
Teil des Chromatins eines Chromosoms in Form von
10-nm-Fasern vorzuliegen scheint, ist ein Großteil noch
weiter zu den höher geordneten 30-nm-Fasern verdich-
tet. Diese wiederum bilden in einigen Bereichen Schlau-
fen, die man auch als Domänen bezeichnet. In dieser (a) Diese Chromosomen aus
der Metaphase wurden so
Phase lässt sich zwar kein Gerüst für die Schlaufen gefärbt, dass die beiden
erkennen, sie scheinen aber an der Kernlamina anzuhaf- homologen Chromosomen
ten und sind eventuell auch mit den Fasern der Kern- eines Paares die gleiche Farbe
haben. Oben im Bild sind die
matrix verbunden. Die Verankerungen könnten bei der Chromosomen zufällig verteilt,
Festlegung derjenigen Chromatinbereiche eine Rolle im rechten Bild dagegen
spielen, in denen Gene exprimiert werden. Das Chro- wurden sie nach ihrem
Karyotyp angeordnet.
matin jedes einzelnen Chromosoms befindet sich in
Teil 3 einem bestimmten Bereich des Interphasezellkerns, so
dass sich die verschiedenen Chromatinfasern nicht
miteinander verstricken (Abbildung 16.23b).
Selbst in der Interphase liegen aber die Centromere,
die Telomere und einige andere Abschnitte der Chromo-
somen in einem stark kondensierten Zustand vor, der
dem in den Metaphasechromosomen ähnelt. Die ver-
schiedenen Verpackungsdichten des Chromatins lassen
sich schon im Lichtmikroskop unterscheiden. Die ver-
dichteten Chromatinbereiche erscheinen dort nach
5 μm
einer Färbung als unregelmäßige Flecken im Zellkern
und werden als Heterochromatin bezeichnet. Das weni-
(b) Mithilfe der spezifischen Chromosomenfärbungen können diese
ger dichte, diffuser und schwächer gefärbte Chromatin auch im Interphasekern sichtbar gemacht werden. Jedes Chromosom
nennt man Euchromatin. Wegen der stärkeren Kompak- nimmt dabei einen bestimmten Bereich des Zellkerns in der Interphase
tierung ist das Heterochromatin für die Transkriptions- ein. Normalerweise liegen in dieser Phase die beiden Homologen eines
Paares nicht benachbart.
maschinerie der Zelle unzugänglich und die darin ent-
Abbildung 16.23: „Farbige“ Chromosomen. Mithilfe molekularer
haltenen Gene werden nicht exprimiert. Der lockerere
Sonden lassen sich Chromosomen so behandeln, dass jedes Chromosomen-
Packungszustand des Euchromatins lässt dagegen den
paar eine bestimmte Farbe hat.
Zugriff auf die in der DNA gespeicherte Erbinformation
zu, so dass die dort liegenden Gene exprimiert werden ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Was würden Sie sehen, wenn Sie die
können. Ein Chromosom erweist sich damit als ein Meiose einer menschlichen Zelle in der Metaphase I anhalten und diese
dynamisches Gebilde, das sich verschiedenen zellulären Technik zur Chromosomenfärbung verwenden würden? Wie würde sich die-
Bedürfnissen wie denen der Mitose, Meiose und not- ses Bild von dem in der Metaphase während einer Mitose unterscheiden?
wendigen Veränderungen in der Genexpression anpasst, (Sehen Sie sich dazu nochmals die Abbildungen 13.8 und 12.7 an.)
indem es verdichtet, aufgelockert, modifiziert und umge-
bildet werden kann. Phosphorylierungen und andere
chemische Modifikationen von Histonen beeinflussen  Wiederholungsfragen 16.3
die Packungsdichte des Chromatins und wirken sich
damit auf die Expression von Genen aus, worauf wir in 1. Beschreiben Sie die Struktur eines Nucleosoms
Kapitel 18 näher eingehen werden. als die grundlegende Einheit der DNA-Verpa-
In diesem Kapitel haben wir erfahren, wie DNA- ckung in eukaryontischen Zellen.
Moleküle in Chromosomen angeordnet sind und wie 2. Welche beiden Eigenschaften – eine bezüglich
sie durch Replikation vervielfältigt werden, so dass der Struktur, die andere bezüglich der Funk-
Kopien der Gene von den Eltern an ihre Nachkommen tion – unterscheiden das Heterochromatin vom
weitergegeben werden können. Es reicht jedoch nicht Euchromatin?
aus, dass Gene kopiert und weitervererbt werden. Die
in ihnen enthaltene Information muss von den Zellen 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Interphase-Chro-
auch abgerufen werden. Anders ausgedrückt müssen mosomen scheinen an die Lamina und auch an
die Gene exprimiert werden. Im nachfolgenden Kapi- eine Matrix des Zellkerns angeheftet zu sein.
tel werden wir erfahren, wie die Zelle die in Form der Beschreiben Sie diese beiden Strukturen. Be-
DNA vorliegende Erbinformation in eine andere bio- achten Sie hierzu die Abbildung 6.9 und den
chemische Sprache übersetzt. zugehörigen Text.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

428
Zusammenfassung

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 1 6  
Konzept 16.1  DNA-Polymerasen können Korrektur lesen und
Die DNA ist die Erbsubstanz ersetzen im Verlauf der Replikation falsch einge-
baute Nucleotide. Bei der Fehlpaarungsreparatur
 Experimente mit Bakterien und Bakteriophagen tauschen andere Enzyme noch verbliebene, fehler-
lieferten die ersten Beweise dafür, dass es sich bei haft eingebaute Nucleotide aus. Durch die Exzisions-
der Erbsubstanz um DNA handeln muss. reparatur werden auch nach der Replikation auftre-
 Watson und Crick postulierten die Doppelhelix- tende DNA-Schäden und Fehlpaarungen erkannt,
struktur der DNA: Zwei antiparallel verlaufende durch Nucleasen herausgeschnitten und anhand des
Zucker-Phosphat-Ketten winden sich als äußere unbeschädigten DNA-Strangs neu eingesetzt.
Stränge umeinander. Die Nucleobasen weisen nach  Die Enden eukaryontischer Chromosomen verkür-
innen, wo sie sich über Wasserstoffbrücken zu fest- zen sich mit jeder neuen Replikation. Telomere tra-
gelegten Paaren zusammenlagern: A=T (2 H-Brü- gen an den Chromosomenenden repetitive Sequen-
cken), G≡C (3 H-Brücken). zen, die die Verkürzung in funktionell wichtige
Chromosomenbereiche hinein verzögern. Durch die
G
A
C
T
Telomerase werden Telomere in den Zellen der
T A
stickstoffhaltige
Keimbahn verlängert.
Basen Teil 3
Zucker-Phosphat- C
G
G
C
? Vergleichen Sie den Verlauf der Replikation bei der kontinuierlichen
rückgrat A T und der diskontinuierlichen Synthese der beiden DNA-Stränge und gehen
C G
Sie dabei auf die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten ein.
Wasserstoffbrücken-
T A bindung
Konzept 16.3
? Was bedeutet es, wenn man sagt, dass die beiden Stränge in einer Ein Chromosom besteht aus einem mit Proteinen ver-
DNA-Doppelhelix antiparallel zueinander angeordnet sind? Wie würde packten DNA-Molekül
das Ende einer DNA-Doppelhelix aussehen, wenn die Stränge parallel ver-
laufen würden?
 Das bakterielle Chromosom ist in der Regel ein zir-
kuläres DNA-Molekül mit einigen assoziierten Pro-
Konzept 16.2 teinen. Eukaryontisches Chromatin besteht zum
Bei der DNA-Replikation und -Reparatur arbeiten größten Teil aus DNA, Histonen und anderen Pro-
viele Proteine zusammen teinen. Die Histone bilden heterooctamere Kom-
plexe und binden DNA in Nucleosomen. Nucleoso-
 Die Versuche von Meselson und Stahl zeigten, dass men sind die Grundbausteine der DNA-Verpackung
die DNA-Replikation semikonservativ verläuft: in Chromosomen. Aus den perlenartig aufgereihten
Das Ausgangsmolekül entwindet sich und jeder der nucleosomalen Histonkernen ragen Bereiche der
beiden Molekülstränge dient als Matrize für die Polypeptidketten heraus. Eine stufenweise Verpa-
Neusynthese eines komplementären Strangs gemäß ckung zu übergeordneten Strukturen führt schließlich
den Vorgaben der Basenpaarungsregel. zu den hoch verdichteten Metaphasechromosomen.
 Die Vorgänge an einer Replikationsgabel bei der Während der Interphase belegen die Chromosomen
DNA-Replikation lassen sich in einem Schema bestimmte Bereiche im Zellkern. In dieser Phase
zusammenfassen: liegt das meiste Chromatin weniger kompakt als
Euchromatin vor. Ein Teil verbleibt aber als Hetero-
DNA-Polymerase III synthetisiert chromatin in einem dichter gepackten Zustand.
den Leitstrang kontinuierlich. Posttranslationale Modifikationen der Histone beein-
3’ flussen den Grad der Chromatinkondensation, und
5’
nur Bereiche des Euchromatins (nicht die des Hetero-
Die DNA-Polymerase III beginnt die chromatins) sind normalerweise für die Transkrip-
DNA-Synthese am 3’-Ende des Primers
5’ und setzt sie in 5’3’-Richtung fort. tionsmaschinerie zur Genexpression zugänglich.
3’ 5’
? Beschreiben Sie die verschiedenen Stufen der Chromatinverdichtung,
ursprüng- die man bei Interphase-Chromosomen erwarten würde.
liche DNA 3’
5’
Die Primase synthetisiert
einen kurzen RNA-Primer.

Die DNA-Polymerase I baut die


RNA-Primer ab und füllt die
Lücke durch DNA-Synthese auf.

Der Folgestrang wird in kürzeren Ab-


schnitten, den Okazaki-Fragmenten,
synthetisiert, die später von der DNA-
Ligase verknüpft werden.

429
16 Die molekularen Grundlagen der Vererbung

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜBU NG S A UF G ABE N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis Ebene 2: Anwendung und Auswertung

1. Bei seinen Arbeiten mit Streptokokken und Mäu- 6. Escherichia coli-Zellen, die in einem 15N-haltigen
sen fand der Forscher Griffith, dass Medium angezüchtet wurden, werden in ein 14N-
a. die Proteinhülle pathogener Bakterienzellen in haltiges Medium umgesetzt und für zwei Genera-
der Lage war, nicht pathogene Stämme zu trans- tionszeiten weiter bebrütet (zwei Replikationsrun-
formieren. den der DNA). Aus diesen Zellen extrahierte DNA
b. durch Hitzebehandlung abgetötete Zellen eines wird einer Dichtezentrifugation unterzogen. Wel-
pathogenen Stammes eine Lungenentzündung che Dichteverteilung(en) würden Sie für die DNA
auslösten. bei einem solchen Experiment erwarten?
c. eine Substanz der pathogenen Zellen auf die a. eine Bande mit hoher und eine mit niedrigerer
nicht pathogenen Zellen überging und diese Dichte
pathogen werden ließ. b. eine Bande mittlerer Dichte
d. die Polysaccharidhülle der Bakterien die Lun- c. eine Bande hoher und eine mittlerer Dichte
genentzündung hervorrief. d. eine Bande niederer und eine mittlerer Dichte

Teil 3 2. Was verursacht den Unterschied zwischen der 7. Ein Biochemiker isoliert für die DNA-Replikation
Bildung des führenden Strangs und der Synthese notwendige Moleküle und reinigt sie. Nach Zusatz
des Folgestrangs eines DNA-Moleküls? von DNA kommt es zu einer DNA-Neusynthese,
a. Die Replikationsursprünge liegen immer am aber jedes DNA-Molekül besteht aus einem norma-
5′-Ende. len Strang und zahlreichen kurzen DNA-Molekü-
b. Helicasen und einzelstrangbindende Proteine len von wenigen Hundert Nucleotiden Länge. Was
wirken am 5′-Ende. fehlte vermutlich in der Reaktionsmischung?
c. Die DNA-Polymerase kann neue Nucleotide nur a. DNA-Polymerase
am 3′-Ende eines sich bildenden Strangs anfü- b. DNA-Ligase
gen. c. Okazaki-Fragmente
d. Die DNA-Ligase arbeitet nur in 3′→5′-Rich- d. Primase
tung.
8. Der spontane Verlust der Aminogruppe an einem
3. Welches Ergebnis würden Sie bei der Analyse der Adeninrest führt zu einem Hypoxanthinrest, einer
Anzahl verschiedener Basen in einer DNA-Probe außergewöhnlichen Nucleobase. Sie liegt in einem
nach der Basenpaarungsregel erwarten? doppelsträngigen DNA-Molekül einem Thymin-
a. A = G rest gegenüber. Welche Kombination von Molekü-
b. A + G = C + T len könnte einen solchen Schaden reparieren?
c. A + T = G + T a. Nuclease, DNA-Polymerase, DNA-Ligase
d. A = C b. Telomerase, Primase, DNA-Polymerase
c. Telomerase, Helicase, einzelstrangbindendes
4. Die Verlängerung (Elongation) des führenden Protein
Strangs während der DNA-Synthese d. DNA-Ligase, Replikationsgabelprotein, Adeny-
a. setzt sich entgegen der Richtung der Replika- latcyclase
tionsgabel fort.
b. verläuft in 3′→5′-Richtung. 9. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Obwohl die Proteine,
c. erfordert keinen Matrizenstrang. die in E. coli an der DNA-Verpackung beteiligt
d. ist abhängig von der Wirkung einer DNA-Poly- sind, keine Histone sind, müssen sie dennoch his-
merase. tonähnliche Eigenschaften aufweisen. Welche Ei-
genschaften würden Sie erwarten?
5. In einem Nucleosom wickelt sich die DNA um
a. Histone. Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
b. Ribosomen.
c. Polymerasemoleküle. 10. Verbindung zur Evolution Einige Bakterien sind
d. ein Thymindimer. nach einer umstrittenen Hypothese in der Lage,
als Reaktion auf Umweltstress die Mutationsrate
bei der Replikation zu erhöhen. Wie könnte die-
ser Effekt zustande kommen? Könnte es einen
Vorteil für die Entwicklung einer solchen Eigen-
schaft geben? Begründen Sie Ihre Antwort.

430
Übungsaufgaben

11. Wissenschaftliche Fragestellung Gattung Xanthomonas zu finden ist. Das Bakte-


rium nutzt solche Proteine, um in den von ihm in-
fizierten Wirtszellen bestimmte DNA-Sequenzen
zu finden. Zu diesen bevorzugten Wirtsorganismen
gehören Tomatenpflanzen, Reis und Zitrusfrüchte.
Die Arbeit mit dieser Proteinfamilie begeistert die
Forscher. Ihr Ziel ist es, Varianten des Proteins her-
zustellen, die ganz bestimmte DNA-Sequenzen er-
kennen, die man selbst auswählen kann. Solche
Proteine könnte man für die Gentherapie nutzen,
um die defekten Gene bei Erbkrankheiten gezielt
zu reparieren. Erörtern Sie mit Ihrem Wissen über
die DNA-Struktur und unter Einbeziehung der Ab-
bildung von oben, wie man aus der TAL-Protein-
struktur seine Funktion ableiten könnte.

ZEICHENÜBUNG Das Erstellen von Modellen ist ein


wichtiger Teil wissenschaftlicher Ansätze. Die
obige Abbildung zeigt die Computergrafik eines Teil 3
DNA-Replikationskomplexes. Die Ausgangsstränge
der DNA und die neu gebildeten Stränge sind in
unterschiedlichen Farben dargestellt. Gleiches gilt
für die folgenden Proteine: DNA-Polymerase III
(DNA-Pol III), die „Schlauchklemme“ und das ein-
zelstrangbindende Protein. Wenden Sie an, was Sie
in diesem Kapitel gelernt haben, und beschriften
Sie die einzelnen DNA-Stränge, die eingezeichne-
ten Proteine und geben Sie die Gesamtrichtung der
Replikation an.

12. Skizzieren Sie ein Thema: Information Die Kon-


stanz des Lebens basiert auf der Vererbbarkeit ge-
netischer Informationen in Form der DNA. Struk-
tur und Funktion stehen auf allen Ebenen der
biologischen Organisationsstruktur in einem en-
gen Zusammenhang. Beschreiben Sie in einem
kurzen Aufsatz (in 150–200 Worten), wie sich die
Struktur der DNA auf die Art der Informations-
vererbung auswirkt.

13. NUTZEN SIE IHR WISSEN Die Abbildung rechts zeigt


die Wechselwirkung der DNA mit einem Compu-
termodell eines sogenannten TAL-Proteins, das zu
einer Proteinfamilie gehört, die nur in Bakterien der

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

431
Vom Gen zum Protein

17.1 Die Verbindung von Genen und Proteinen über Transkription 17


und Translation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
17.2 Transkription – die DNA-abhängige RNA-Synthese:
Eine nähere Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
17.3 mRNA-Moleküle werden in eukaryontischen Zellen nach
der Transkription modifiziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

KONZEPTE
17.4 Translation – die RNA-abhängige Polypeptidsynthese:
Eine nähere Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
17.5 Punktmutationen können Struktur und Funktion eines
Proteins beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

 Abbildung 17.1: Wie führt ein einzelnes fehlerhaftes Gen


zu dem auffälligen Erscheinungsbild eines Albinowaschbären?
17 Vom Gen zum Protein

Der Informationsfluss der Gene Konzept des Gens am Ende des Kapitels erneut genauer
zu betrachten.
In den USA gibt es immer wieder Berichte, Fotos oder
kurze Videosequenzen, die die Sichtung eines Albino-
waschbären in freier Wildbahn beschreiben (Abbildung Die Verbindung von Genen
17.1). Albinowaschbären sind extrem selten. Nur etwa
ein Exemplar unter 500.000 Tieren weist diese Besonder- und Proteinen über Tran-
heit auf. Was verursacht den auffallenden Phänotyp die-
ses Waschbären? Wie Sie in Kapitel 14 gelernt haben,
wird Albinismus von dem rezessiven Allel eines Gens für
skription und Translation
17.1
die Fellfarbe verursacht. Die Information eines Gens ist Bevor wir im Einzelnen auf die Frage eingehen, wie
in der spezifischen Sequenz (Abfolge) von Nucleotiden ein Gen die Synthese eines Proteins veranlasst, wollen
entlang beider Stränge des Erbmoleküls DNA festgelegt. wir zunächst ausführen, wie der Zusammenhang zwi-
Doch wie bestimmt diese codierte Information die Merk- schen Genen und Proteinen entdeckt wurde.
male und damit das Erscheinungsbild eines Lebewe-
sens? Anders gefragt: Wie wird ein Gen von den Zellen in
ein bestimmtes Merkmal wie braune Haare, Blutgruppe 17.1.1 Die Untersuchung von
A oder eine weiße Fellfarbe übersetzt? Der Albinowasch- Stoffwechselstörungen
Teil 3 bär hat ein fehlerhaftes Protein, das als Enzym für die
Synthese des Haarpigments wichtig ist. Dieses Enzym Im Jahr 1902 formulierte der britische Mediziner
funktioniert nicht wie es soll, weil das zugrunde liegende Archibald Garrod als Erster die Idee, dass Gene den
Gen in seiner Bauanleitung eine Mutation trägt. Phänotyp einer Person beeinflussen, indem die durch
Dieses Beispiel unterstreicht den wesentlichen Punkt, sie codierten Enzyme ganz bestimmte chemische Reak-
um den es in diesem Kapitel geht: Die von einem Indi- tionen im Körper katalysieren. Garrod postulierte, dass
viduum vererbte DNA bestimmt die Merkmale des die Symptome einer Erbkrankheit darauf beruhen,
Individuums über die Synthese von Proteinen anhand dass die betreffende Person ein bestimmtes Enzym
der an der Proteinbildung beteiligten Ribonucleinsäu- nicht herstellen kann. Er nannte derartige Krankheiten
ren (RNA). Mit anderen Worten sind die Proteine das angeborene Stoffwechselstörungen. Garrod selbst wählte
Verbindungsglied zwischen dem Geno- und dem Phä- die Alkaptonurie als Beispiel. Dabei handelt es sich
notyp. Der Vorgang, durch den die DNA die Synthese um eine Erbkrankheit, bei der unter anderem der Urin
von Proteinen (oder manchmal auch nur die einer schwarz verfärbt ist. Die Färbung wird durch das
RNA mit einer spezifischen Funktion) steuert, wird als Alkapton (Homogentisinsäure, 2-(2,5-Dihydroxyphe-
Genexpression bezeichnet. Diese Expression eines nyl)essigsäure) hervorgerufen, das beim Abbau der
proteincodierenden Gens umfasst zwei Schritte: die Aminosäure Tyrosin entsteht und sich bei Kontakt mit
Transkription und die Translation. Dieses Kapitel Luftsauerstoff rasch dunkel färbt. Garrod folgerte, dass
beschreibt den Informationsfluss vom Gen zum Pro- die meisten Menschen über ein Enzym verfügen, wel-
tein und erläutert, wie Mutationen den Phänotyp eines ches das Alkapton weiter verstoffwechselt, wohin-
Lebewesens beeinflussen. Die Genexpression folgt bei gegen an Alkaptonurie leidende Menschen das Enzym
allen Lebensformen einem ganz ähnlichen Muster. Das aufgrund eines angeborenen Fehlers nicht bilden kön-
Verständnis dieser Vorgänge wird es uns erlauben, das nen.

434
17.1 Die Verbindung von Genen und Proteinen über Transkription und Translation

Garrod war vielleicht der Erste, der die Bedeutung der Aminosäuren und viele weitere Nährstoffe enthält. Das
Mendel’schen Regeln der Vererbung für alle höheren Vollmedium ermöglicht damit auch solchen Mutanten,
Lebewesen erkannte – das heißt, dass sie von der die ein notwendiges Stoffwechselprodukt nicht mehr
Erbse bis zum Menschen gelten. Garrods Schlussfol- selbst herstellen können, das Überleben. Sie können die
gerungen waren seiner Zeit voraus, doch viele For- entsprechende Substanz aus dem Medium aufnehmen.
schungsergebnisse der folgenden Jahrzehnte bestätig- Um die Stoffwechseldefekte der einzelnen Mutanten
ten seine Hypothese, dass ein Gen die Produktion eines chemisch zu charakterisieren, zogen die beiden Mikro-
Enzyms, oder allgemeiner eines Proteins, anleitet. Ver- biologen Proben aus den Vollmediumskulturen einzel-
schiedene Biochemiker hatten inzwischen Ergebnisse ner Mutantenstämme in einer Reihe von Kulturröhr-
zusammengetragen, aus denen zweifelsfrei hervorging, chen an, die definierte Minimalmedien enthielten. In
dass die meisten organischen Verbindungen in Zellen den verschiedenen Kulturen war den Minimalmedien
über Stoffwechselwege hergestellt oder abgebaut wer- jeweils ein einzelnes Stoffwechselprodukt zugesetzt
den und dass die einzelnen Reaktionen in solchen worden (SD+-Medium). Wenn die betreffende Mutante
Stoffwechselwegen fast immer von einem spezifischen durch den Zusatz einer Substanz wieder wachsen
Enzym katalysiert werden (siehe Konzept 8.1). Derar- konnte, so ließ sich daraus auf den vorliegenden Stoff-
tige Stoffwechselwege führen beispielsweise auch zur wechseldefekt rückschließen. War beispielsweise der
Bildung des Farbstoffs in den Augen der Taufliegen Zusatz der Aminosäure Arginin zum Wachstum nötig,
(Drosophila sp.; siehe Abbildung 15.3). In den Jahren so lag der Stoffwechseldefekt der Mutante im Biosyn-
nach 1930 erörterten George Beadle und Boris Ephrussi theseweg des Arginins. Teil 3
die Möglichkeit, dass bei Drosophila jede der verschie- Beadle und Tatum gingen anschließend daran, die
denen Augenfarben durch Mutationen in den Genen Defekte der einzelnen Mutanten näher einzugrenzen.
der Enzyme für die Farbstoffsynthese hervorgerufen Abbildung 17.2 erklärt, wie sie weiter vorgingen, um
wird. Die Reaktionskette wird dann jeweils an einem unter den argininabhängigen Mutanten noch einmal
bestimmten Punkt entlang des Biosynthesewegs unter- drei verschiedene Klassen zu unterscheiden. Die drei
brochen, da durch die zugrundeliegende Mutation das Subtypen der Argininmangelmutanten waren jeweils
Enzym, das den nächsten Schritt katalysieren würde, von unterschiedlichen Verbindungen abhängig, die im
nicht gebildet wird. Doch weder die genauen chemi- Argininbiosyntheseweg auftreten. Die Forscher kamen
schen Reaktionen noch die sie katalysierenden Enzyme zu dem Schluss, dass die Argininbiosynthese in jeder
waren zu jener Zeit bekannt. der drei Mutantenklassen an einem anderen Punkt
blockiert ist. Jeder der verschiedenen Mutanten fehlt
Stoffwechselmutanten bei Neurospora: also möglicherweise ein anderes Enzym des Biosyn-
Wissenschaftliche Forschung thesewegs und zwar jenes, das den Schritt katalysiert,
Der Durchbruch beim Nachweis des Zusammenhangs an dem die Blockade erfolgt und die Synthese damit
zwischen Genen und Enzymen kam einige Jahre danach, zum Erliegen kommt.
als Beadle und sein Kollege Edward Tatum begannen, Da jede ihrer Mutanten einen Defekt in einem ein-
mit dem Brotschimmel Neurospora crassa zu arbeiten. zelnen Gen aufwies, unterstützten die Versuchsergeb-
Seit den 1920er Jahren wusste man, dass Röntgen- nisse von Beadle und Tatum die „Ein Gen = Ein Enzym-
strahlen Mutationen auslösen und deshalb beschossen Hypothese“, unter der das wesentliche Ergebnis ihrer
die beiden Forscher Schimmelpilzkulturen damit. Versuchsreihe bekannt wurde. Danach besteht die Funk-
Anschließend suchten sie unter den Überlebenden tion eines Gens darin, die Produktion eines bestimmten
nach solchen Pilzen, die sich in ihren Nährstoffansprü- Enzyms sicherzustellen. Weitere Unterstützung für
chen vom Wildtypstamm unterschieden. Wie die diese Hypothese kam aus Experimenten, die nachwei-
meisten Mikroorganismen ist der Wildtyp von Neu- sen konnten, dass in den Mutanten tatsächlich die spe-
rospora crassa bezüglich seiner Ernährung sehr genüg- zifischen Enzymaktivitäten fehlten. Beadle und Tatum
sam. Er überlebt und vermehrt sich im Labor auf Agar- teilten sich im Jahr 1958 einen Nobelpreis für ihre Ent-
platten, die ein Minimalmedium aus bestimmten deckung, „dass Gene durch die Steuerung definierter
Ionen, Glucose als Energie- und Kohlenstoffquelle, chemischer Ereignisse wirken“ (Zitat des Nobelpreis-
Ammoniumsulfat als Stickstoffquelle, sowie das Vita- Komitees).
min Biotin enthalten. Diese Substanzen reichen dem Heute kennen wir zahllose Beispiele für Gendefekte,
Pilz aus, um mithilfe seiner Stoffwechselwege alle erfor- die einen vom Wildtyp abweichenden Phänotyp verur-
derlichen organischen Verbindungen selbst herzustel- sachen. Dem Albinowaschbär in Abbildung 17.1 fehlt
len. Beadle und Tatum fanden unter ihren bestrahlten beispielsweise ein Schlüsselenzym, welches als Tyro-
Pilzen Mutanten, die auf dem Minimalmedium nicht sinase bezeichnet wird. Dieses Enzym ist Bestandteil
wachsen konnten oder sogar abstarben. Offensichtlich eines Stoffwechselwegs für die Synthese von Melanin
waren diese Stämme nicht fähig, bestimmte lebenswich- (ein dunkles Farbpigment). Das Fehlen von Melanin
tige Verbindungen aus den Bestandteilen des Minimal- führt unter anderem zu einer weißen Fellfarbe. Auch
mediums selbst herzustellen. Um diese Mutanten- erscheinen die Augen, die Ohren und die Nase dieser
stämme zu vermehren, ließen die Forscher sie auf Tiere rötlich, da aufgrund des fehlenden Melanins die
einem Vollmedium wachsen. Ein Vollmedium besteht in der Haut befindlichen Blutgefäße durchschimmern.
aus einer Nährlösung, die alle 20 lebenswichtigen

435
17 Vom Gen zum Protein

 Abbildung 17.2: Aus der Forschung

Codieren einzelne Gene die Enzyme eines In ihrem bekanntesten, hier gezeigten Experiment
Stoffwechselwegs? überprüften sie sowohl die von ihnen aufgestellte
„Ein Gen = Ein Enzym-Hypothese“, als auch den
Experiment Bei der Arbeit mit dem Schimmelpilz postulierten Weg der Argininsynthese. Dazu ließen
Neurospora crassa isolierten Adrian Srb und Nor- sie Mutanten aus den drei isolierten Klassen unter
man Horowitz, die damals an der Stanford-Univer- den unten dargestellten vier verschiedenen Bedin-
sität in Kalifornien tätig waren, zeitgleich mit gungen wachsen (Ergebnisse siehe Tabelle). Als
George Beadle und Edward Tatum eine Reihe von Kontrolle verwendeten sie ein Minimalmedium
Mutanten, welche für ihre Vermehrung auf den (MM) ohne Zusätze, auf dem zwar die nicht-mutier-
Zusatz von Arginin zum Kulturmedium angewie- ten Wildtypzellen wachsen konnten, nicht aber die
sen waren. Die Forscher konnten die betreffenden Mutantenzellen, wie in den hier unten gezeigten
Mutanten in drei Klassen einteilen, die Mutationen Kulturröhrchen.
in verschiedenen Genen aufwiesen. Aus anderen
Versuchen war bekannt, dass der Stoffwechselweg
Wachstum: Kein Wachstum:
zur Argininsynthese von einer Vorläufersubstanz
Wildtypzellen Mutantenzellen
Teil 3 ausgeht und als Zwischenprodukte die Aminosäu- wachsen und können sich
ren Ornithin und Citrullin gebildet werden. teilen sich. weder teilen
noch wachsen.
Vorstufe Minimalmedium

Enzym A
Ergebnis Der Wildtypstamm konnte unter allen
Ornithin experimentellen Bedingungen wachsen. Dafür war
lediglich ein Minimalmedium erforderlich. Mutanten
Enzym B aus den drei Klassen benötigten jeweils bestimmte
Zusätze zum Wachstumsmedium. So konnten sich
Citrullin zum Beispiel Mutanten der Klasse II nicht vermeh-
Enzym C ren, wenn dem Medium nur Ornithin zugesetzt
wurde, wohl aber, wenn dem Medium Citrullin oder
Arginin Arginin zugefügt wurde.

Ergebnistabelle Stämme von Neurospora crassa


Klasse I- Klasse II- Klasse III-
Wildtyp
Mutanten Mutanten Mutanten
Minimal-
medium
(MM;
Kontrolle)

MM +
Ornithin
Medium

MM +
Citrullin

MM +
Arginin
(Kontrolle)

Zusammen- vermag sich mit kann sich bei Zu- kann sich nur bei benötigt zur
fassung der und ohne Zusätze satz von Ornithin, Zusatz von Citrullin Vermehrung
Ergebnisse zu vermehren Citrullin oder oder Arginin unbedingt Arginin
Arginin vermehren vermehren

436
17.1 Die Verbindung von Genen und Proteinen über Transkription und Translation

Schlussfolgerung Aus dem Nährstoffbedarf der funde untermauerten die von Beadle und Tatum auf-
Mutanten leiteten Srb und Horowitz ab, dass die ver- gestellte „Ein Gen = Ein Enzym-Hypothese“ und
schiedenen Mutanten jeweils einen anderen Schritt zeigten auch, dass die Argininbiosynthese in Neu-
in der Argininsynthese nicht durchführen können – rospora dem aus Leberzellen bekannten Stoffwech-
vermutlich deshalb, weil ein dazu notwendiges selweg gleicht. Beachten Sie, dass eine Mutante sich
Enzym fehlt. Da in jeder Klasse jeweils nur ein Gen nur dann vermehren kann, wenn dem Medium ein
von der Mutation betroffen war, kamen sie zu dem Zwischenprodukt des Biosyntheseweges zugesetzt
Schluss, dass jedes der Gene normalerweise die Pro- wird, welches im Stoffwechselweg nach dem jewei-
duktion eines bestimmten Enzyms anleitet. Die Be- ligen Enzymdefekt gebildet wird.

Klasse I- Klasse II- Klasse III-


Mutanten Mutanten Mutanten
Gene Wildtyp (Mutation im Gen A) (Mutation im Gen B) (Mutation im Gen C)

Vorstufe Vorstufe Vorstufe Vorstufe


Gen A Enzym A Enzym A Enzym A Enzym A

Ornithin Ornithin Ornithin Ornithin Teil 3


Gen B Enzym B Enzym B Enzym B Enzym B

Citrullin Citrullin Citrullin Citrullin


Gen C Enzym C Enzym C Enzym C Enzym C

Arginin Arginin Arginin Arginin

Quellen: A. M. Srb and N. H. Horowitz, The ornithine cycle in Neuro- WAS WÄRE, WENN? Nehmen Sie an, das Experiment
spora and its genetic control, Journal of Biological Chemistry 154:129– hätte gezeigt, dass Klasse I-Mutanten nur im Mini-
139 (1944). malmedium mit Ornithin- oder Argininzusatz ver-
mehrungsfähig sind, und Klasse II-Mutanten nur in
G. Beadle und E. Tatum, Genetic control of biochemical reactions in Neu-
einem Medium, das Citrullin, Ornithin oder Arginin
rospora, Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS)
27:499–506 (1941).
enthält. Zu welchen Schlüssen wären die Forscher
dann in Bezug auf den Biosyntheseweg und die in
den Klassen I und II vorliegenden Defekte gelangt?

Die Produkte der Genexpression: aus denen durch einen aufwendigen Vorgang, der als
Eine Geschichte im Umbruch alternatives Spleißen bezeichnet wird, mehrere unter-
Als die Forscher immer mehr über die Eigenschaften schiedliche Polypeptide hervorgehen können. Hier hat
von Proteinen lernten, musste die „Ein Gen = Ein also ein Gen mehrere Genprodukte (Polypeptidketten).
Enzym-Hypothese“ angepasst werden. Zunächst sind ja Andererseits gibt es in jeder Zelle eine ganze Anzahl von
nicht alle Proteine Enzyme. Keratin, das Strukturprotein Genen, die für RNAs als Endprodukte der Expression
der Haare, und das Hormon Insulin sind zwei Beispiele dieser Gene codieren, die nicht weiter in Polypeptide
für Proteine ohne Enzymwirkung (das heißt ohne eine übersetzt werden. Als Beispiel sind die am Aufbau der
katalytische Aktivität). Da Proteine ohne Enzymfunktion Ribosomen beteiligten ribosomalen Ribonucleinsäuren
aber ebenso wie Enzyme Genprodukte sind, sprach man (rRNAs) zu nennen. Im Folgenden werden wir uns
deshalb von der „Ein Gen = Ein Protein-Hypothese“. auf solche Gene konzentrieren, die Proteine codieren
Viele Proteine bestehen aber im funktionellen Zustand (obwohl man genauer von Polypeptiden sprechen
aus mehr als einer Polypeptidkette, und jede Polypeptid- müsste, hat sich die Bezeichnung Proteine eingebürgert
kette wird wiederum durch ihr eigenes Gen codiert. und wird auch im Folgenden beibehalten).
Hämoglobin, der rote Blutfarbstoff, besteht beispiels-
weise aus zwei Arten von Polypeptiden und wird des-
halb von mehreren Genen codiert (siehe Abbildung 17.1.2 Die Grundlagen der Transkription
5.18). Die ursprüngliche Hypothese von Beadle und und der Translation
Tatum wurde daher abermals abgewandelt zur „Ein Gen
= Ein Polypeptid-Hypothese“. Aber selbst diese Fassung Gene stellen die Anweisungen zur Herstellung bestimm-
erwies sich später als nicht ganz zutreffend. Einerseits ter Proteine bereit. Ein Gen kann ein Protein aber nicht
gibt es, insbesondere bei Eukaryonten, zahlreiche Gene, unmittelbar selbst erzeugen. Die Verbindung zwischen

437
17 Vom Gen zum Protein

der DNA als Informationsspeicher und der Proteinbio- mRNA-Vorlage. Hier kommt es, wie der Begriff sehr
synthese bildet der zweite Nucleinsäuretyp, die Ribo- anschaulich widerspiegelt, tatsächlich zu einer Über-
nucleinsäure oder RNA. Wie wir in Kapitel 5 gelernt setzung der „Sprache“ der Nucleinsäuren in die
haben, ist die RNA in ihren chemischen Eigenschaften „Sprache“ der Proteine. Die Basensequenz einer
der DNA sehr ähnlich. Sie unterscheidet sich in der Ver- mRNA wird in eine Aminosäuresequenz eines Poly-
wendung von Ribose zum Aufbau von Ribosylnucleo- peptids übersetzt. Der Ort der Proteinbiosynthese sind
tiden und dem Ersatz von Thymin in der DNA durch die Ribosomen – komplex gebaute, supramolekulare
sein Derivat Uracil in der RNA (siehe Abbildung 5.27). Komplexe aus Ribonucleinsäuren und vielen ver-
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die meisten schiedenen Proteinen. Die Ribosomen katalysieren die
RNA-Arten aus einzelsträngigen Molekülen bestehen, geordnete Verknüpfung von Aminosäureresten zu
während die DNA in der Regel als Doppelhelix vorliegt. Polypeptidketten.
Bei der Beschreibung des Informationsflusses von Transkription und Translation sind Grundprozesse
einem bestimmten Gen zu dem entsprechenden Pro- des Lebens und man findet sie ohne Ausnahme in allen
tein finden Begriffe aus der Sprachwissenschaft Ver- Lebewesen, egal ob es sich um Prokaryonten oder
wendung, da sowohl Nucleinsäuren als auch Proteine Eukaryonten handelt. Die meisten Untersuchungen zur
informationsspeichernde Polymere sind, deren spe- Transkription und Translation wurden an Bakterien
zifische Sequenzen in biologischen Systemen eine und in eukaryontischen Zellen durchgeführt. Diese ste-
inhaltliche Bedeutung haben können. In dieser Hin- hen daher in diesem Kapitel im Mittelpunkt. Obwohl
Teil 3 sicht gleichen sie Wörtern oder Sätzen einer Sprache. unser Verständnis dieser Vorgänge in den Archaeen
Bei den Nucleinsäuren (RNA und DNA) sind Nucleo- noch lückenhaft ist, scheinen viele Prozesse der Tran-
tide die monomeren Bausteine, die den Buchstaben skription und Translation dort ähnlich abzulaufen.
entsprechen. Sie unterscheiden sich, wie wir wieder- Die grundlegenden Abläufe bei der Transkription
holt ausgeführt haben, in der chemischen Natur des und der Translation sind bei Bakterien und Eukaryon-
als Nucleobase oder kurz Base bezeichneten Molekül- ten ähnlich, obwohl ein wichtiger Unterschied hin-
teils. Gene bestehen im Regelfall aus Hunderten bis sichtlich des Flusses der genetischen Information
vielen Tausenden von Nucleotiden, wobei jedes Gen innerhalb der Zelle besteht. Da Bakterien keinen Zell-
seine eigene spezifische Basenfolge (Basensequenz) kern besitzen, liegt ihre DNA nicht getrennt von den
hat. Auch jede Polypeptidkette eines Proteins setzt Ribosomen und den anderen an der Proteinbiosynthese
sich aus einer unverzweigten Abfolge der monomeren beteiligten Komponenten vor (Abbildung 17.3a). Wie
Bausteine, der Aminosäuren, zusammen. Nucleinsäu- wir später noch sehen werden, kann durch diese feh-
ren und Proteine enthalten damit Informationen, die lende räumliche Trennung die Translation schon ein-
in zwei unterschiedlichen chemischen Sprachen ver- setzen, während die Transkription (mRNA-Synthese)
fasst sind. Um von der DNA zu einem Protein zu noch im Gange ist. In eukaryontischen Zellen trennt
gelangen, sind zwei Schritte zu bewältigen, die als dagegen die Kernhülle die Vorgänge der Transkription
Transkription und Translation bezeichnet werden. und Translation. Sie sind daher räumlich und zeitlich
Unter Transkription versteht man die Synthese einer getrennte Prozesse, die in verschiedenen Komparti-
RNA anhand einer DNA als Bauanleitung. Die geneti- menten ablaufen (Abbildung 17.3b). Die Transkription
sche Information wird bei diesem ersten Schritt der läuft bei Eukaryonten im Zellkern ab, anschließend
Genexpression also lediglich von einer Nucleinsäure wird die mRNA ins Cytoplasma transportiert, wo die
in eine andere umgeschrieben. In seinem grundsätzli- Translation stattfindet. Bevor sie den Zellkern verlassen,
chen Ablauf erinnert dieser Vorgang an die Herstellung werden eukaryontische Transkripte proteincodierender
eines neuen DNA-Stranges während der schon bespro- Gene (prä-mRNAs) noch verschiedenen posttranskripti-
chenen Replikation. Auch hier ist die an einem Matri- onellen Modifikationen unterzogen, bis schließlich eine
zenstrang gebildete RNA in ihrer Basensequenz kom- reife, export- und translationsfähige mRNA entstanden
plementär zur Vorlage. Im Fall eines für ein Protein ist. Die Transkription eines proteincodierenden Gens
codierenden Gens ist das RNA-Transkript eine genaue führt also zunächst zu einer prä-mRNA als primärem
Abschrift der Bauanleitung für das zugehörige Protein. Transkriptionsprodukt, aus dem durch Prozessierung
Dieser Typ von RNA, der sich von anderen RNAs unter- (Weiterverarbeitung) die reife mRNA hervorgeht. Jedes
scheidet, wird als Boten-Ribonucleinsäure (Boten- unmittelbare Transkriptionsprodukt wird als Primär-
RNA; Abk. mRNA; engl. messenger RNA) bezeichnet, transkript bezeichnet, ungeachtet der Frage, ob es sich
da diese wie ein Bote die Anleitung für den Bau eines dabei um eine zur Translation in Proteine bestimmte
Proteins an den Proteinsyntheseapparat der Zelle über- RNA handelt oder nicht.
bringt. Der Begriff Transkription gilt jedoch allgemein Fassen wir zusammen: Gene veranlassen die Syn-
für die Bildung einer RNA an einer DNA-Matrize, these von Proteinen über sogenannte Boten-RNAs
egal ob es sich um eine proteincodierende Sequenz (mRNA). In Zellen läuft demnach eine molekulare
oder eine andere Basenfolge handelt. Entscheidend ist Befehlskette ab, die einen gerichteten Fluss der geneti-
die Umschreibung einer in DNA-Form vorliegenden schen Information darstellt:
Information in die RNA-Form. (Andere RNA-Typen
werden uns später noch begegnen.)
Die Translation (lat. translatio, Übersetzung, Über- DNA RNA Protein
tragung) ist die Synthese eines Proteins anhand einer

438
17.1 Die Verbindung von Genen und Proteinen über Transkription und Translation

eines DNA-Moleküls dient. Über diesen Vorgang der


reversen Transkription und seine Bedeutung werden
wir in Kapitel 19 berichten. Diese seltenen Ausnahmen
DNA stehen nicht im Gegensatz dazu, dass der genetische
Transkription Informationsfluss im Allgemeinen von der DNA über
die RNA zum Protein geht. Im nächsten Abschnitt erör-
mRNA tern wir, wie die Nucleinsäuren die Verknüpfung von
Ribosom
Aminosäuren zu Peptidketten in einer bestimmten Rei-
Translation
henfolge codieren.

Polypeptid
17.1.3 Der genetische Code

Als die Biologen feststellten, dass die Anweisungen


(a) Bakterienzelle. In einer Bakterienzelle (das heißt ohne für die Synthese von Proteinen in der DNA niederge-
Zellkern) wird die transkribierte mRNA ohne zusätz- legt sind, fiel ihnen ein Problem auf: Es gibt nur vier
liche Prozessierungsschritte unmittelbar translatiert. verschiedene Nucleotide für die Festlegung der 20
verschiedenen Aminosäuren, die in Proteinen auftre-
ten. Der genetische Code (der Übersetzungsschlüssel Teil 3
Kernhülle
zwischen der Sprache der Nucleinsäuren und der der
Proteine) kann daher keine Sprache wie das Chinesi-
sche oder Japanische sein, in der jedes Symbol ein
ganzes Wort (einen Begriff) darstellt. Wie viele Basen
entsprechen dann einer Aminosäure?
DNA
Transkription
Das Codon-Konzept: Basentripletts
Falls die Base jedes einzelnen Nucleotids in eine Amino-
prä-mRNA säure übersetzt würde, könnten nur vier der 20 protein-
RNA-Prozessierung
bildenden Aminosäuren festgelegt werden. Würde ein
Zweibuchstabencode (Zweibasencode) ausreichen? Die
mRNA Basenfolge AG könnte eine Aminosäure spezifizieren,
die Basenfolge GT eine andere. Da es für jede der beiden
Positionen die Möglichkeit der Besetzung mit vier unter-
schiedlichen Basen gibt, wären 4 × 4 = 16 Kombinatio-
Translation nen möglich. Das reicht immer noch nicht für 20 Amino-
Ribosom säuren aus.
Dreifachfolgen (Tripletts) von Nucleotiden bezie-
hungsweise Basen sind die kleinsten Einheiten, die alle
Polypeptid
in Proteinen auftretenden Aminosäuren codieren könn-
ten. Eine Abfolge von drei aufeinanderfolgenden Basen
erlaubt 4 × 4 × 4 = 64 verschiedene Kombinationsmög-
(b) Eukaryotische Zelle. Der Zellkern stellt ein abgeschlos- lichkeiten – mehr als genug zur Festlegung von 20 Ami-
senes Kompartiment dar, in welchem die Transkription nosäuren. Verschiedene Experimente haben gezeigt,
stattfindet. Das ursprüngliche RNA-Transkript wird dass bei der Übersetzung der genetischen Information
prä-mRNA genannt und wird mehrfach verändert (pro-
zessiert), bevor es den Zellkern als (reife) mRNA verlässt. in Proteine tatsächlich ein Triplettcode (Dreibasen-
code) verwendet wird. Die genetischen Anweisungen
Abbildung 17.3: Die Rolle der Transkription und der Translation für den Bau einer Polypeptidkette sind in der DNA als
im Fluss der genetischen Information. In einer Zelle fließt die Erbin-
Folge sich nicht überlappender Tripletts niedergelegt.
formation von der DNA über die RNA zu den Proteinen. Die beiden Haupt-
stadien des Informationsflusses sind die Transkription und die Translation.
So bestimmt etwa das Basentriplett AGT an einer ent-
Eine verkleinerte Fassung der Abbildungsteile (a) oder (b) finden Sie in sprechenden Stelle in der proteincodierenden Region
mehreren, später in diesem Kapitel folgenden Abbildungen. Sie dienen als eines Gens den Einbau eines Serinrestes in der zugehö-
Orientierungshilfe, um Ihnen anzuzeigen, an welcher Stelle des obigen rigen Polypeptidkette (Abbildung 17.4).
Schemas Sie sich gerade befinden. Im Verlauf der Transkription bestimmt die Basen-
sequenz des Gens die Basensequenz der synthetisier-
ten mRNA. Bei jedem Gen wird nur einer der Stränge
Diese Folge von Ereignissen wurde im Jahr 1956 von der DNA (der codogene Strang) transkribiert. Dieser
Francis Crick als das „Zentrale Dogma der Molekular- Strang wird als Matrizenstrang bezeichnet, da er die
biologie“ bezeichnet. Wie hat sich dieses Konzept über Vorlage für die Bildung der mRNA abgibt. (Im Gegen-
die Jahre bewährt? In den 1970er Jahren wurde über- satz zum codogenen Strang werden die Begriffe codie-
raschenderweise entdeckt, dass es seltene Fälle gibt, in render Strang, Sinnstrang oder Plusstrang für denjeni-
denen ein RNA-Molekül als Vorlage für die Herstellung gen DNA-Strang gebraucht, der in seiner Sequenz der

439
17 Vom Gen zum Protein

gebildeten RNA entspricht, also nicht zu dieser kom- oder eines offenen Leserasters der DNA werden Codons
plementär ist.) Allerdings wird nicht für alle auf (codierende Einheiten) genannt. Entsprechend der Kon-
einem DNA-Molekül liegenden Gene derselbe Strang vention für alle Nucleinsäuresequenzen werden RNA-
als Matrizenstrang genutzt. In dieser Beziehung sind Sequenzen in 5′→3′-Richtung geschrieben und gelesen.
die einzelnen Gene unabhängig voneinander und kön- Das UGG-Codon unseres Beispiels legt einen Trypto-
nen auf dem einen oder anderen Strang einer DNA- phanrest im Protein fest (Abk. Trp beziehungsweise W).
Doppelhelix codiert sein. Bei einem gegebenen Gen ist Der Begriff Codon wird auch für die Basentripletts auf
aber immer derselbe Strang der Matrizenstrang, da dem codierenden Strang der DNA verwendet. Diese
sich für den anderen, den komplementären Strang, Codons sind komplementär zu denen auf dem Matri-
bei seiner Transkription eine abweichende Basen- zenstrang und entsprechen damit denen der mRNA (mit
folge für die mRNA und damit letztlich ein anderes der Vorgabe, dass ein T durch ein U ersetzt wird).
Translationsprodukt ergäbe. Während der Translation wird die Codonfolge im
codierenden Abschnitt einer mRNA in eine Abfolge
von Aminosäureresten der sich bildenden Polypeptid-
Gen 2 kette übersetzt. Die Codons werden von der Transla-
DNA-
tionsmaschinerie ebenfalls in 5′→3′-Richtung abge-
Molekül
Gen 1 lesen und übersetzt. Jedes Codon legt eine von zwanzig
möglichen Aminosäuren fest, die an der entsprechen-
Teil 3 Gen 3 den Stelle in die wachsende Peptidkette eingebaut
werden soll. Da Basentripletts die Aminosäuren fest-
legen, ist die Zahl der Nucleotide im codierenden
Bereich einer genetischen Botschaft dreimal so groß
DNA- wie die Zahl der Aminosäuren im gebildeten Protein.
Matrizen- 3’ 5’ Man braucht also 300 Nucleotide (100 Tripletts) in
A C C A A A C C G A G T
strang einer mRNA, um eine Polypeptidkette von 100 Amino-
T G G T T T G G C T C A
säuren zu codieren.
5’ 3’
Die Aufklärung des genetischen Codes
Transkription
Der genetische Code wurde in den frühen 1960er Jah-
ren mithilfe einer Reihe eleganter Versuche entschlüs-
U G G U U U G G C U C A
mRNA 5’ 3’ selt, die aufklärten, welche Aminosäurereste zu wel-
chem Codon einer mRNA gehören. Das erste Codon
Codon konnten Marshall Nirenberg und seine Kollegen zuord-
Translation nen. Dazu synthetisierten die Forscher eine künstliche
mRNA, die nur aus Uracilnucleotiden bestand (Poly-U).
Protein Trp Phe Gly Ser Diese Information ergab in jedem Leseraster nur die
einzige mögliche Dreierfolge UUU. Eine solche Poly-
Aminosäure U-RNA wurde im Reagenzglas Ribosomen, aktivierten
Abbildung 17.4: Der Triplettcode. Bei jedem Gen dient ein Strang der Aminosäuren und anderen für die Translation benö-
DNA als Matrize für die Transkription. Dabei gilt die Basenpaarungsregel, tigten Substanzen zugesetzt. Dieses in vitro-Transla-
nur dass in der RNA das Uracil (U) das Thymin (T) der DNA ersetzt (che- tionssystem erzeugte auf der Grundlage des Poly-U-
misch ist Thymin ein 5-Methyluracil). Während der Translation wird das Polymers ein gleichförmiges Polypeptid, das nur aus
offene Leseraster einer mRNA als Folge von Dreiergruppen von Basen Phenylalaninen bestand (Poly-Phe). Damit war nachge-
(Basentripletts, Codons) abgelesen. Jedes Codon bestimmt indirekt darü- wiesen, dass das Codon UUU (TTT in der DNA) Phenyl-
ber, welche Aminosäure an die wachsende Polypeptidkette angefügt wird. alaninreste in einer Peptidkette festlegt. Bald danach
Die mRNA wird in 5′→3′-Richtung abgelesen.
konnte man mit ähnlichen Ansätzen den Basenfolgen
AAA, GGG und CCC ihre entsprechenden Aminosäu-
Das mRNA-Molekül ist also komplementär zur Sequenz ren zuordnen (Abbildung 17.5).
des Matrizenstrangs. Seine Sequenz ergibt sich eindeu- Obwohl dieser Versuchsansatz für gemischte Basen-
tig aus der bekannten Komplementarität der sich wech- folgen wie AUA oder CGA etwas aufwendiger war, hatte
selseitig bedingenden Basen eines Basenpaares. Die Paa- man bis zur Mitte der 1960er Jahre alle 64 möglichen
rungen sind denen bei der Replikation der DNA Basentripletts funktionell zugeordnet. Aus Abbildung
vergleichbar, nur dass in der RNA das Thymin durch 17.5 geht hervor, dass 61 der 64 Codons Aminosäuren
das Uracil und die Desoxyribosereste durch Ribosereste festlegen. Die drei verbleibenden sind sogenannte Stop-
ersetzt sind. Wie auch ein vergleichbarer DNA-Molekül- codons, die den Translationsvorgang beenden (= Termi-
strang ist die RNA antiparallel zum Matrizenstrang nation der Translation). Dem Codon AUG kommt
(siehe Abbildung 16.7, um das Konzept antiparalleler gewissermaßen eine Doppelrolle zu: Es codiert für ein
Stränge aufzufrischen). Das Basentriplett ACC in der Methionin und dient darüber hinaus bei den meisten
DNA (geschrieben als 3′-ACC-5′) stellt die Matrize für Translationsvorgängen als universelles Startcodon (Ini-
die Synthese der Basenfolge 5′-UGG-3′ einer mRNA dar. tiationscodon). Die meisten codierenden Bereiche der
Die Basentripletts im codierenden Bereich einer mRNA mRNA-Moleküle beginnen also mit AUG. Ein solches

440
17.1 Die Verbindung von Genen und Proteinen über Transkription und Translation

AUG steht am Anfang des zu translatierenden mRNA- zweite mRNA-Base


Abschnitts und gibt dem Translationsapparat das Zei- U C A G
chen, mit der Proteinsynthese zu beginnen. Andere UUU UCU UAU UGU U
Sequenzsignale legen fest, wie die mRNA am Ribosom Phe Tyr Cys
UUC UCC UAC UGC C
positioniert wird, so dass die Maschinerie erkennt, wel- U Ser
ches der für gewöhnlich mehrfach vorhandenen Methi- UUA UCA UAA Stop UGA Stop A
Leu
onincodons das richtige Startcodon ist. Von vielen Pro- UUG UCG UAG Stop UGG Trp G
teinen wird der so immer vorhandene Methioninrest
CUU CCU CAU CGU U
am aminoterminalen Ende der Polypeptidkette nach His
Beendigung der Synthese enzymatisch abgespalten. CUC CCC CAC CGC C
C Leu Pro Arg
Aus Abbildung 17.5 lässt sich weiterhin ablesen, CUA CCA CAA CGA A
Gln
dass zwar jedes Triplett genau eine Aminosäure fest- CUG CCG CAG CGG G
legt, dass der genetische Code aber redundant, also
mehrfach belegt, ist. So stehen etwa die Basenfolgen AUU ACU AAU AGU U
Asn Ser
GAA und GAG beide für den Einbau eines Glutamins, A
AUC Ile ACC AAC AGC C
Thr
keines dieser Tripletts codiert aber eine andere Amino- AUA ACA AAA AGA A
säure. Die Redundanz im Code ist nicht gänzlich Lys Arg
AUG Met ACG AAG AGG G
zufällig. In vielen Fällen unterscheiden sich die ver- (Start)
schiedenen Codons, die eine bestimmte Aminosäure GUU GCU GAU GGU U Teil 3
Asp
festlegen, nur in der dritten Base des Tripletts. Auf die GUC GCC GAC GGC C
möglichen Vorteile, die diese Redundanz mit sich G Val Ala Gly
GUA GCA GAA GGA A
bringt, gehen wir weiter unten ein. Glu
GUG GCG GAG GGG G
Unsere Fähigkeit, einen Text zu lesen und dessen
Aussage zu verstehen, hängt zum Teil von der Gruppie-
Abbildung 17.5: „Wörterbuch“ des genetischen Codes. Die drei
rung der einzelnen Symbole zu Wörtern mit einem Basen eines mRNA-Codons sind hier als erste, zweite und dritte Base der
bekannten Sinngehalt ab. Das Leseraster ergibt sich bei mRNA bezeichnet. Die Ableserichtung der mRNA ist wie üblich 5′→3′.
der menschlichen Schrift durch die zwischen den Wör- (Üben Sie mit diesem Schema und versuchen Sie die Codons von Abbildung
tern liegenden Leerstellen. Das Leseraster ist auch für 17.4 zu finden.) Das Codon AUG (ATG in der DNA), das einen Methioninrest
die Zelle zum Verständnis der molekularen Texte in spezifiziert, ist gleichzeitig auch das universelle Startcodon. Ein AUG-Codon
ihrer Erbsubstanz von großer Bedeutung. Die kurze dient bei jeder mRNA als Anfangspunkt der Translation. Alle Proteine begin-
Peptidkette von Abbildung 17.4 ergibt sich nur dann, nen daher – zumindest unmittelbar nach ihrer Synthese – mit einem Methio-
wenn die dargestellten Basen der mRNA in 5′→3′-Rich- ninrest. Drei der 64 Codons fungieren als Stoppsignale (Stopcodons), die das
Ende des codierenden Bereichs anzeigen und zum Abbruch der Translation
tung (von links nach rechts in der Abbildung) und in
führen. In Abbildung 5.14 finden Sie die vollständigen Namen und gebräuch-
Dreierpäckchen abgelesen und übersetzt werden: UGG lichen Abkürzungen aller Aminosäuren.
UUU GGC UCA. Die genetischen Texte der Nucleinsäu-
ren sind ohne Leerstellen, also fortlaufend geschrieben.
Als Satzzeichen gibt es nur das Start- und die drei Stop- Die Evolution des genetischen Codes
codons. Der Proteinsyntheseapparat der Zelle liest den EVOLUTION Der genetische Code ist bei allen Lebe-
Text vom Startcodon an fortlaufend in Dreierfolgen, wesen fast universell gültig. Er findet sich in gleicher
egal ob dies für die Zelle am Ende einen biochemischen Form bei den einfachsten Bakterien bis hin zu den
Sinn ergibt oder sich sogar nachteilig auswirkt. Anders kompliziertesten Tieren und Pflanzen. Das RNA-Codon
als bei literarischen Texten, bei denen Tippfehler nur CCG steht beispielsweise in allen bis heute untersuch-
einzelne Wörter in Mitleidenschaft ziehen, können sich ten Organismen für ein Prolin und wird entsprechend
fehlende oder zusätzliche Buchstaben (Basen) im Text bei der Translation übersetzt. Gene lassen sich deshalb
eines Gens infolge des fortlaufenden Leserasters durch oft problemlos transkribieren und translatieren, wenn
den ganzen verbleibenden Text fortpflanzen und den sie von einer Art in eine andere verpflanzt werden, mit
Sinn völlig entstellen. Betrachten wir hierzu die Basen- teilweise erheblichen Auswirkungen (Abbildung 17.6).
folge ...AGAAGAAGAAGA. Sie ergibt im ersten Lese- Mithilfe der Gentechnik können zum Beispiel Bakte-
raster der Translation AGA AGA AGA AGA und codiert rien durch das Einbringen von codierender Information
für Polyarginin. Fällt eine Base weg, ergibt sich (als eine für menschliche Genprodukte dazu veranlasst werden,
von vielen Möglichkeiten) zum Beispiel: ...AGAA- Humanproteine für medizinische Zwecke zu bilden (bei-
GAAAAGA... . Bei der Translation ergibt das AGA AGA spielsweise Insulin). Derartige Anwendungen der Gen-
AAA GA..., was sich zu Arg-Arg-Lys... übersetzt. technik erlaubten viele wichtige Entwicklungen in der
Kommt ein nicht geplanter Buchstabe hinzu (Basenin- Biotechnologie (siehe Kapitel 20).
sertion), entsteht vielleicht AGA AGA AGU AAG A...; Ausnahmen von der Universalität des genetischen
translatiert: Arg-Arg-Ser-Lys... – ein vollkommen verän- Codes finden sich in der Translation bei wenigen Lebe-
derter Text. Wir erkennen daran, wie nachteilig sich wesen, bei denen einige der Codonzuweisungen ver-
einzelne Basen auswirken können. Noch verheerender ändert sind. Derartige leichte Abwandlungen des
wäre folgende Mutation: ...AGA UGA AGA AGA... . genetischen Codes findet man bei bestimmten euka-
UGA ist eines der Stopcodons. Hier würde die Transla- ryontischen Einzellern, sowie bei den Organellen-
tion nach dem ersten Argininrest abbrechen. genomen einiger Arten (die DNA-enthaltenden Orga-

441
17 Vom Gen zum Protein

nellen wie Mitochondrien und Plastiden haben einen


eigenen Translationsapparat mit Ribosomen und allen 2. Welche Art von Polypeptid würden Sie als
anderen notwendigen Komponenten). Ungeachtet sol- Translationsprodukt einer Poly-G-mRNA mit ei-
cher Ausnahmen ist die evolutionäre Bedeutung der nem codierenden Bereich von 30 Nucleotiden
fast vollständigen Allgemeingültigkeit des genetischen Länge erwarten?
Codes klar: Eine wirklich allen Lebensformen gemein- ZEICHENÜBUNG Der Matrizenstrang eines Gens
3.
same, molekulare Sprache muss sehr früh in der
trägt die Sequenz 3′-TTCAGTCGT-5′. Zeich-
Geschichte des Lebens entstanden und seitdem in
nen Sie den Nichtmatrizenstrang und die ent-
Gebrauch sein – früh genug, dass sie bereits im gemein-
sprechende mRNA-Sequenz. Geben Sie jeweils
samen Urahn aller heutigen Lebewesen existierte. Ein
das 5′- und das 3′-Ende an. Vergleichen Sie die
gemeinsames genetisches Vokabular hält uns einmal
beiden Sequenzen.
mehr die Verwandtschaft vor Augen, die alles Leben
auf der Erde verbindet. 4. ZEICHENÜBUNG Stellen Sie sich vor, dass an-
stelle des Matrizenstrangs der Nichtmatrizen-
strang von Übung 3 transkribiert würde. Zeich-
nen Sie die zugehörige mRNA-Sequenz und
übersetzen Sie diese mithilfe von Abbildung
17.5 in eine Peptidsequenz. Stellen Sie sicher,
Teil 3 dass Sie das 5′- und das 3′-Ende richtig nut-
zen. Beschreiben Sie auch das Translationspro-
dukt, das sich aus dem Nichtmatrizenstrang er-
geben würde.

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

(a) Tabakpflanze, die ein (b) Schwein, das ein Gen


Gen des Glühwürmchens einer Qualle exprimiert. Transkription – die DNA-
(Lampyris noctiluca) ex- Das Gen für ein fluores-
primiert. Das gelbe zierendes Protein aus abhängige RNA-Synthese:
Leuchten kommt durch
eine chemische Reaktion
zustande, die von dem
Enzym, das durch das
einer Qualle (Aequorea
victoria) wurde in ein
befruchtetes Ei eines
Schweins injiziert. Ein
Eine nähere Betrachtung
17.2
Glühwürmchengen co- solches Ei hat sich zu
diert ist, katalysiert wird. dem hier abgebildeten, Nun, da wir die Gesetzmäßigkeiten und die evolutio-
fluoreszierenden näre Bedeutung des genetischen Codes kennen, sind
Schwein entwickelt.
wir bereit, uns erneut mit der Transkription – der ers-
Abbildung 17.6: Die Expression von Genen anderer Arten. Da ten Stufe der Genexpression – zu befassen und sie uns
alle Lebensformen denselben (universellen) genetischen Code benutzen, noch etwas genauer anzusehen.
können beliebige Arten dazu veranlasst werden, Proteine anderer Arten
zu synthetisieren. Dazu wird die entsprechende genetische Information in
Form eines im Empfängerorganismus exprimierbaren DNA-Konstrukts in
dessen Zellen eingeschleust (Transgentechnik). 17.2.1 Die molekularen Komponenten des
Transkriptionsapparats
 Wiederholungsfragen 17.1 Die Boten-RNA (mRNA) überbringt die in der DNA
gespeicherte Information zu den proteinsynthetisie-
1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN In einer 1902 er- renden Ribosomen der Zelle und wird selbst durch
schienenen wissenschaftlichen Abhandlung Transkription des Matrizenstranges eines Gens gebil-
über Alkaptonurie schlug Garrod vor, dass je- det. Das Enzym RNA-Polymerase trennt die beiden
der Mensch zwei Allele, die für die Ausbil- Stränge der DNA voneinander und verknüpft die durch
dung eines bestimmten Enzyms codieren, be- komplementäre Basenpaarung mit dem Matrizenstrang
sitzt und vererben kann. Wenn Kinder nun festgelegten RNA-Nucleotide zu einer mRNA-Kette
eine Krankheit wie Alkaptonurie haben, die (Abbildung 17.7). Wie die DNA-Polymerasen bei der
durch das Fehlen dieses Enzyms ausgelöst Replikation, können auch die RNA-Polymerasen Poly-
wird, so muss jeder Elternteil eine defekte Ko- nucleotide nur in 5′→3′-Richtung synthetisieren.
pie dieses Allels an das Kind weitervererbt Anders als die DNA-Polymerasen sind RNA-Polyme-
haben. Wie würde man heute diese Erbkrank- rasen dabei aber nicht auf einen Primer angewiesen
heit bezeichnen, als dominant oder rezessiv? (die Primase der Replikation ist ja selbst eine speziali-
sierte RNA-Polymerase).

442
17.2 Transkription – die DNA-abhängige RNA-Synthese: Eine nähere Betrachtung

später zurückkommen werden. In Nucleinsäuren wer-


Promotor Transkriptionseinheit den die Richtungen mit zwei gängigen Begriffen bezeich-
net: 5′-wärts = „stromaufwärts“ (engl. upstream) und 3′-
5′ 3′ wärts = „stromabwärts“ (engl. downstream). Die Pro-
3′ 5′
DNA motoren liegen also stromaufwärts vom Terminator, der
Startpunkt
stromabwärts des codierenden Bereichs liegt. Der DNA-
RNA-Polymerase
Bereich, der zu einer RNA transkribiert wird, heißt Tran-
1 Initiation. Nachdem sich die
RNA-Polymerase an den Promotor skriptionseinheit.
angelagert hat, entwinden sich die Bakterien enthalten nur einen einzigen Typ von RNA-
DNA-Stränge und die Polymerase Polymerase, der nicht nur die mRNAs herstellt, sondern
beginnt mit der RNA-Synthese am
Startpunkt des Matrizenstranges. auch andere RNA-Formen wie die ribosomalen RNAs
und die Transfer-RNAs. Beide Formen spielen bei der
Nichtmatrizenstrang der DNA Proteinbiosynthese eine Rolle. Im Gegensatz dazu fin-
5′ 3′ den sich in eukaryontischen Zellen wenigstens drei ver-
3′ 5′
schiedene Typen von RNA-Polymerasen im Zellkern.
Matrizenstrang der DNA
RNA- Die Variante, die mRNAs herstellt, ist die RNA-Polyme-
entwundene Transkript
DNA rase II. Die anderen RNA-Polymerasetypen (I und III)
2 Elongation. Die Polymerase stellen RNA-Moleküle her, die nicht translatiert werden.
bewegt sich stromabwärts, ent- In der nachfolgenden Erörterung der Transkription Teil 3
windet die DNA und verlängert
das RNA-Transkript in 5′ → 3′-
beginnen wir mit den Eigenheiten der mRNA-Syn-
Richtung. Hinter der Transkriptions- these, die sowohl bei Bakterien als auch bei Eukaryon-
maschinerie bilden die DNA- ten anzutreffen sind und beschreiben danach die wich-
Stränge wieder eine Doppelhelix. tigsten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.
neu verdrillte
DNA
5′ 3′ 3′
3′ 5′ 17.2.2 Die Synthese eines RNA-Transkripts
5′
Die drei Teilschritte der Transkription sind in Abbildung
RNA- 17.7 dargestellt und sollen als Nächstes beschrieben wer-
Transkript
3 Termination. Schließlich den: die Initiation (Einleitung), die Elongation (Verlänge-
wird das RNA-Transkript rung) und die Termination (Beendigung) der RNA-Syn-
freigesetzt und die Polymerase these. Schauen Sie sich die Abbildung genau an, um
löst sich von der DNA ab.
sich mit den Schritten und den zu ihrer Beschreibung
verwendeten Begriffen vertraut zu machen.

5′ 3′ Die Bindung der RNA-Polymerase und die Initiation


3′ 5′
der Transkription
5′ 3′
vollständiges RNA-Transkript Zum Promotorbereich eines Gens gehört der Start-
punkt der Transkription (dem Nucleotid, an dem
Transkriptionsrichtung („stromabwärts”) die RNA-Synthese tatsächlich einsetzt). Der Pro-
motor als Ganzes erstreckt sich über Dutzende bis
Abbildung 17.7: Diese verallgemeinerte schematische Darstellung trifft Hunderte von Nucleotiden stromaufwärts vom Start-
sowohl auf Bakterien als auch auf Eukaryonten zu, wobei sich die Einzel- codon. Neben seiner Funktion als Bindungsstelle für
heiten des Terminationsvorgangs unterscheiden (siehe Text). In einer Bak- die RNA-Polymerase und die Festlegung des Transkrip-
terienzelle ist das wachsende RNA-Transkript unmittelbar als mRNA ver-
tionsstarts, bestimmt der Promotor auch, welcher der
wendbar; in einer Eukaryontenzelle muss das Primärtranskript nach der
beiden Stränge des DNA-Moleküls als Matrize dient.
Transkription dagegen erst weiter modifiziert werden.
Bestimmte Abschnitte der Promotorregion sind beson-
ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Vergleichen Sie die Rolle des Matri- ders wichtig für die Bindung der RNA-Polymerase. Bei
zenstrangs bei der Transkription mit derjenigen bei der Replikation. Ziehen Bakterien wird ein Promotor durch einen Teil der RNA-
Sie dazu die Abbildung 16.17 zu Rate. Polymerase selbst erkannt, die spezifisch an ihn bindet.
Bei Eukaryonten vermitteln Transkriptionsfaktoren,
Bestimmte Nucleotidfolgen entlang der DNA legen fest, von denen es spezifische und allgemeine gibt, die Bin-
wo die Transkription des Gens beginnt und wo sie dung der RNA-Polymerase und damit die Initiation
endet (nicht zu verwechseln mit den oben beschriebe- der Transkription. Erst nachdem bestimmte Transkrip-
nen Tripletts für Beginn und Ende der Translation!). tionsfaktoren an einen eukaryontischen Promotor ange-
Der Teil des Gens, an den die RNA-Polymerase anfäng- lagert wurden, kann auch die RNA-Polymerase II dort
lich bindet und der den Initiationsort der Transkrip- binden. Der Gesamtkomplex aus den Transkriptions-
tion darstellt, heißt Promotor (lat. promotio, Beförde- faktoren und der RNA-Polymerase II (die ihrerseits
rung, Emporhebung). Die Basenfolge, die das Ende der aus vielen Untereinheiten besteht) wird als Transkrip-
Transkription signalisiert, wird als Terminator bezeich- tionsinitiationskomplex bezeichnet. Abbildung 17.8
net. Der Terminationsmechanismus in Eukaryonten verdeutlicht die Rolle der Transkriptionsfaktoren sowie
unterscheidet sich von dem in Prokaryonten, worauf wir eines wichtigen Sequenzbereichs des Promotors, der

443
17 Vom Gen zum Protein

TATA-Box, bei der Ausbildung des Initiationskomple- Die Elongation der RNA
xes an einem eukaryontischen Promotor. Wenn sich die RNA-Polymerase an der DNA entlang-
Die Wechselwirkungen zwischen der eukaryontischen bewegt, entwindet sie fortlaufend die Doppelhelix.
RNA-Polymerase II und verschiedenen Transkriptions- Dabei wird jeweils ein nur kurzes Stück von 10 bis 20
faktoren sind ein Beispiel für die Bedeutung von Pro- Basenpaaren Länge freigelegt, an dem auf dem Matrizen-
tein/Protein-Wechselwirkungen bei der Steuerung der strang die Paarung der Ribonucleotide vor ihrem Ein-
Transkription. Nachdem die Polymerase fest am Promo- bau in die wachsende RNA erfolgt (Abbildung 17.9).
torbereich verankert ist, werden die beiden DNA-Stränge Das Enzym fügt ein neues Nucleotid nach dem ande-
in diesem Bereich entwunden, und das Enzym beginnt ren an das 3′-Ende der wachsenden RNA-Molekül-
mit der Transkription des Matrizenstranges. kette an, während es an der DNA entlangläuft. Hinter
der fortlaufenden RNA-Synthese löst sich die neu
gebildete RNA von der DNA-Matrize ab und die Dop-
pelhelix der DNA bildet sich erneut aus. In eukaryon-
DNA
1 Ein eukaryotischer Promo- tischen Zellen schreitet die Transkription mit einer
TRANSKRIPTION tor enthält in aller Regel eine
TATA-Box. Diese liegt etwa 25 Rate von etwa 40 Nucleotiden pro Sekunde fort.
RNA-PROZESSIERUNG prä-mRNA Ein einzelnes Gen kann gleichzeitig von mehreren,
Basenpaare stromaufwärts (in
mRNA
5’-Richtung) vom Transkrip- aufeinanderfolgenden RNA-Polymerasen transkribiert
tionsstart. (Nach einer allge-
meinen Übereinkunft werden werden. Die Polymerasemoleküle bilden dabei eine Art
Teil 3 TRANSLATION Ribosom
Nucleotidsequenzen so ange- von Konvoi. Der wachsende RNA-Molekülstrang hängt
geben, wie sie auf dem Nicht- hinter jedem Polymerasemolekül herab und seine Länge
Polypeptid
matrizenstrang erscheinen;
dies entspricht dann der zeigt an, wie weit die Transkription bereits fortgeschrit-
Nucleotidfolge der mRNA.) ten ist (Abbildung 17.23). Die gleichzeitige Transkription
Promotor eines Gens durch mehrere Polymerasemoleküle erhöht
Nichtmatrizenstrang
DNA
die pro Zeiteinheit gebildete RNA-Menge, so dass letzt-
5′ T A T AAAA 3′
3′ ATAT TTT 5′ lich in den meisten Fällen auch mehr Protein hergestellt
TATA-Box wird.
Startpunkt Matrizenstrang
2 der DNA
2 Mehrere Transkriptionsfak- nicht als Matrize dienender
toren, von denen einer an die Strang der DNA
TATA-Box bindet, müssen sich RNA-Nucleotide
an der DNA zusammenlagern, (Ribonucleotide)
RNA-
Transkriptions- bevor die RNA-Polymerase
Polymerase
faktoren hinzutreten kann.

T C C A A T
A
3′ C T U 5′
5′ 3′ 3′-Ende
T

G
3′ 5′ U
A A

G
3 Zusätzliche Transkriptions- A U C C A C
C C
faktoren (lila) binden zusam-
men mit der RNA-Polymerase 5′ A 3′
an die DNA und bilden im T A
A G G T T
Verbund mit dieser den Tran-
skriptionsinitiationskomplex.
Die DNA wird entwunden und 5′ Transkriptionsrichtung
die RNA-Polymerase beginnt Matrizenstrang
mit der Synthese am Transkrip- der DNA
tionsstartpunkt auf dem
Matrizenstrang. neu
RNA-Polymerase II entstandene RNA
Transkriptions-
faktoren Abbildung 17.9: Elongation des Transkripts. Die RNA-Polymerase
bewegt sich entlang des codogenen Strangs der DNA und fügt komplemen-
5′
3′
3′ täre RNA-Nucleotide an das 3′-Ende der wachsenden mRNA-Kette. Hinter
3′ 5′ 5′ der RNA-Polymerase löst sich das neu gebildete Transkript vom DNA-Einzel-
RNA-Transkript
strang und die Doppelhelixstruktur der DNA wird wiederhergestellt.

Transkriptionsinitiationskomplex Termination der Transkription


Der Terminationsmechanismus unterscheidet sich zwi-
Abbildung 17.8: Die Initiation der Transkription an einem euka-
schen Bakterien und Eukaryonten. Bei Bakterien ver-
ryontischen Promotor. In eukaryontischen Zellen vermitteln Transkrip-
tionsfaktoren – eine umfangreiche und heterogene Gruppe von Proteinen läuft die Transkription bis zu einem Terminatorbereich
– die Initiation der Transkription durch die RNA-Polymerase II. (Terminationssequenz). Der Terminator ist ein Teil der
RNA und fungiert als Terminationssignal, das die Ablö-
? Erläutern Sie, wie die Wechselwirkung der RNA-Polymerase mit dem sung der RNA-Polymerase von der DNA bewirkt und
Promotor sich von dem hier gezeigten Schema unterscheiden würde, damit das Transkript freisetzt. Dies steht unmittelbar
wenn es sich um die Initiation an einem bakteriellen Gen handeln würde. als mRNA zur Verfügung und wird, wie wir gesehen

444
17.3 mRNA-Moleküle werden in eukaryontischen Zellen nach der Transkription modifiziert

haben, häufig noch während seiner Transkiption auch mRNA-Moleküle werden


schon translatiert. In eukaryontischen Zellen transkri-
biert die RNA-Polymerase II eine weitere Sequenz hinter
in eukaryontischen Zellen
dem codierenden Bereich, das Polyadenylierungssignal, nach der Transkription
das als AAUAAA-Sequenz in der mRNA auftaucht.
Zehn bis 35 Nucleotide stromabwärts dieses Poly-A-Sig-
nals wird das wachsende Transkript durch mit ihm asso-
modifiziert
17.3
ziierte Proteine von der Polymerase abgeschnitten. Dies Prä-mRNA-Moleküle werden durch Enzyme im Zell-
führt zur Freisetzung der noch nicht prozessierten kern noch verschiedentlich weiter verändert, bevor sie
prä-mRNA. Die Polymerase setzt die Transkription ins Cytoplasma transportiert werden. Im Verlauf der
auch nach der Abspaltung der prä-mRNA noch für RNA-Prozessierung werden beide Enden des Primär-
einige hundert Nucleotide fort. Neuere Forschungen transkripts verändert. In den meisten Fällen werden
an Hefezellen haben gezeigt, dass die durch die fortge- auch aus dem Inneren des Moleküls definierte Stücke
setzte Transkription gebildete RNA, deren 5′-Ende gezielt herausgeschnitten und die benachbarten Enden
nicht geschützt ist, von einem Enzym (einer Exo- der Spaltstücke wieder miteinander verknüpft. Zusam-
nuclease) abgebaut wird, die an der RNA entlangläuft. men ergeben diese Modifikationen ein reifes, transla-
Die vorliegenden molekularbiologischen Daten deuten tionsbereites mRNA-Molekül.
darauf hin, dass die Polymerase sich schließlich von
der DNA ablöst, wenn sie von der Nuclease eingeholt Teil 3
wird. In der Zwischenzeit wird die gebildete prä- 17.3.1 Veränderung der Enden einer
mRNA weiter verarbeitet (prozessiert; siehe nachfol- eukaryontischen mRNA
gender Abschnitt).
Jedes Ende eines prä-mRNA-Moleküls wird in bestimm-
ter Weise modifiziert (Abbildung 17.10). Das zuerst
 Wiederholungsfragen 17.2 synthetisierte 5′-Ende erhält eine sogenannte 5′-Cap-
Struktur, ein umgebildetes Guanin-Nucleotid. Die 5′-
1. Was ist ein Promotor? Befindet er sich strom- Cap-Struktur wird, kurz nachdem die ersten 20 bis 40
aufwärts oder stromabwärts von einer Tran- Nucleotide verknüpft wurden, angebracht. Das 3′-Ende
skriptionseinheit? der prä-mRNA wird ebenfalls modifiziert, bevor die
2. Was bewirkt, dass in einer Bakterienzelle eine mRNA den Zellkern verlässt. Die prä-mRNA wird aus
RNA-Polymerase an der richtigen Stelle an dem Transkriptionskomplex freigesetzt, nachdem die
der DNA mit der Transkription eines Gens be- Polymerase das Polyadenylierungssignal passiert hat.
ginnt? Wie geht dies in einer Eukaryonten- Am 3′-Ende des Moleküls fügt dann ein Enzym 50 bis
zelle? 200 Adeninnucleotide (A) an und es bildet sich ein
sogenannter Poly-A-Schwanz. Die 5′-Cap-Struktur und
3. WAS WÄRE, WENN? Nehmen Sie an, dass eine der Poly-A-Schwanz üben mehrere wichtige Funktio-
Röntgenbestrahlung zu einer Mutation der nen aus. Zunächst sind sie Reifungssignale, die anzei-
TATA-Box-Sequenz eines bestimmten Promo- gen, dass die mRNA zum Export ins Cytoplasma bereit
tors geführt hat. Wie würde sich dies vermutlich ist. Zweitens schützen sie die mRNA vor einem vorzei-
auf die Transkription des betreffenden Gens tigen Abbau durch Ribonucleasen. Drittens sind diese
auswirken (vgl. Abbildung 17.8)? Modifikationen notwendig, um die Bindung eines Ribo-
soms an das 5′-Ende der reifen mRNA im Cytoplasma
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. zu vermitteln. Abbildung 17.10 zeigt schematisch die
nicht-translatierten Bereiche (UTRs; engl. Un-Trans-
lated Regions) am 5′- und am 3′-Ende einer mRNA (5′-
UTR und 3′-UTR). Die UTRs sind Bereiche der mRNA,

Ein modifiziertes Guaninnucleotid An das 3′-Ende werden 50–200


DNA wird an das 5′-Ende angefügt. Adeninnucleotide angehängt.
TRANSKRIPTION
für Protein
RNA- prä-mRNA codierender Abschnitt Polyadenylierungssignal
PROZESSIERUNG 5′ 3′
mRNA G P P P AAUAAA AAA...AAA
Startcodon Stopcodon
TRANSLATION Ribosom 5′′-Cap 5′- 3′- Poly-A-Schwanz
untranslatierter untranslatierter
Polypeptid Bereich Bereich

Abbildung 17.10: RNA-Prozessierung: Anfügen der 5′-Cap-Struktur und des Poly-A-Schwanzes. Enzyme modifizieren die beiden Enden
einer eukaryontischen prä-mRNA. Die Modifikationen sind für den Export aus dem Zellkern notwendig und sie schützen die mRNA vor einem vorzeitigen
Abbau durch Ribonucleasen. Nach dem Export in das Cytoplasma vermitteln die modifizierten Enden in Verbindung mit bestimmten Proteinen die Bin-
dung an Ribosomen. Die 5′-Cap-Struktur und der Poly-A-Schwanz am 3′-Ende werden nicht translatiert, ebenso wie andere Bereiche an beiden Enden
(5′-UTR und 3′-UTR), die vor dem Start- und hinter dem Stopcodon liegen. Die hellroten Bereiche im codierenden Abschnitt symbolisieren Introns, auf
deren Prozessierung wir im folgenden Abschnitt noch eingehen.

445
17 Vom Gen zum Protein

die nicht in eine Peptidsequenz übersetzt werden und Bei der Transkription schreibt die RNA-Polymerase II
stattdessen andere Funktionen ausüben, wie zum Bei- Exons, Introns und andere nicht-translatierte Bereiche in
spiel die Vermittlung des Ribosomenkontaktes. ein Primärtranskript um. Das schließlich ins Cytoplasma
übertretende reife mRNA-Molekül ist in aller Regel ein
verkürztes Derivat dieses Primärtranskripts. Die Introns
17.3.2 Mosaikgene und RNA-Spleißen werden aus dem Primärtranskript entfernt und die
Exons genau an den richtigen Nucleotiden wieder mit-
Ein weiterer wichtiger Schritt bei der RNA-Prozessie- einander verknüpft. Dabei bildet sich ein reifes (matu-
rung im Zellkern von Eukaryonten ist die gezielte riertes) mRNA-Molekül mit einem durchgehenden
Entfernung mehr oder weniger großer Teile aus dem codierenden Bereich, der von einem Start- und einem
Primärtranskript. Dieser Vorgang des Zusammenschnei- Stopcodon begrenzt und durch diese festgelegt wird. Das
dens der genetischen Botschaft wird als Spleißen der Heraustrennen der Introns und die Bildung der intron-
RNA bezeichnet (Abbildung 17.11). Die durchschnitt- losen mRNA werden als Spleißen bezeichnet.
liche Länge einer Transkriptionseinheit in einem chro- Wie verläuft das Spleißen der prä-mRNA im Einzel-
mosomalen DNA-Molekül des Menschen beträgt 27.000 nen? Man hat herausgefunden, dass das Spleißsignal
Basenpaare. Man braucht aber nur etwa 1.200 codie- kurze Nucleotidfolgen an beiden Enden (5′-Ende und 3′-
rende Nucleotide, um die 400 Aminosäurereste eines Ende) des Introns beinhaltet, sowie eine TACTAACA-
durchschnittlichen Proteins zu codieren. Daraus folgt, Sequenz in seinem Inneren. Kleine, als Zellkern-Ribo-
Teil 3 dass die meisten Gene und ihre primären RNA-Tran- nucleoproteine (Abk. snRNPs; engl. small nuclear ribo-
skripte große Bereiche nicht-codierender (nicht-trans- nucleoproteins) bezeichnete Molekülaggregate, erkennen
latierter) Nucleotidfolgen enthalten müssen. Noch über- solche Spleißstellen. Diese snRNPs finden sich im Zell-
raschender war aber die Erkenntnis, dass diese nicht- kern und bestehen aus RNA und Proteinen. Der RNA-
codierenden Basenfolgen sich zwischen codierenden Anteil eines snRNPs ist eine kleine Kern-RNA von etwa
Segmenten befinden! – Die für ein Polypeptid codie- 150 Nucleotiden Länge. Mehrere unterschiedliche
rende Sequenz eines offenen Leserasters in der DNA snRNPs lagern sich mit weiteren Proteinen zu einem
ist daher bei Eukaryonten für gewöhnlich keine durch- größeren Verbund, dem Spleißosom, zusammen. Das
gehende Basenfolge. Die zwischen den für Amino- Spleißosom ist fast ebenso groß und so komplex aufge-
säuren codierenden Sequenzen eines offenen Leserah- baut wie ein Ribosom. Es wechselwirkt mit den Spleiß-
mens liegenden nicht-codierenden Abschnitte heißen stellen an den Enden des Introns und katalysiert deren
Introns. Der Besitz von Introns ist bei Eukaryonten die Heraustrennung, während gleichzeitig die Exons wieder
Regel, nicht die Ausnahme. Die für Aminosäurefolgen kovalent miteinander verknüpft werden (Abbildung
codierenden Abschnitte eines offenen Leserasters hei- 17.12). Die kleinen RNAs in den snRNPs dienen nicht
ßen Exons. Man verwendet die Begriffe Intron und nur der Zusammenlagerung des Spleißosoms und der
Exon sowohl bei der DNA als auch bei der RNA, weil Erkennung der Spleißstellen, sondern sind auch an der
sie gleiche Funktionseinheiten beschreiben. Katalyse des Spleißvorgangs beteiligt.

5′ Exon Intron Exon Intron Exon 3′


prä-mRNA 5′ Cap Poly-A-Schwanz
DNA
TRANSKRIPTION
Codon-Nummern: 1–30 31–104 105–146
RNA- prä-mRNA Introns werden herausgeschnitten
PROZESSIERUNG
codierender und die Exons zusammengespleißt.
mRNA

TRANSLATION Ribosom mRNA 5′ Cap Poly-A-Schwanz


1–146
Polypeptid 5′- codierender 3′-
© Pearson Education, Inc.
untranslatierter Bereich untranslatierter
Bereich Bereich

Abbildung 17.11: RNA-Prozessierung: Spleißen der RNA. Das hier dargestellte RNA-Molekül codiert für das β-Globin – eine der Untereinheiten
des Hämoglobins. Die Ziffern unterhalb der RNA bezeichnen die Nummern der Codons. Das Translationsprodukt β-Globin ist 146 Aminosäuren lang. Das
β-Globin-Gen und die prä-mRNA enthalten je drei Exons, die sich in der reifen mRNA, die den Zellkern verlässt, wiederfinden. (Die UTRs im 5′- und im 3′-
Bereich sind Teile der mRNA, werden aber nicht translatiert.) Im Verlauf der RNA-Prozessierung werden die Introns herausgetrennt und die Exons zusam-
mengespleißt. In vielen Genen sind die Intronbereiche länger als die der Exons. Die Intronabschnitte nehmen dann viel mehr Raum ein als hier skizziert
ist. (Die Zeichnungen sind nicht maßstabsgerecht.)

446
17.3 mRNA-Moleküle werden in eukaryontischen Zellen nach der Transkription modifiziert

Spleißosom snRNA mRNA legen den genauen Bereich fest, in dem die
katalytisch wirkende RNA das Spleißen durchführt.
5′
Später in diesem Kapitel werden Sie erfahren, wie
diese Eigenschaften von RNAs ihnen außerdem erlau-
prä-mRNA
ben, wichtige nicht-katalytische Aufgaben in der Zelle
Exon 1 Exon 2 zu übernehmen (zum Beispiel die Erkennung der
Basentripletts (Codons) einer mRNA).
Intron

Die Funktion der Introns und ihre Bedeutung


für die Evolution
Spleißosom- EVOLUTION Worin könnte die biologische Funktion
komponenten
mRNA von Introns und des RNA-Spleißens bestehen und wie
herausgetrenntes
5′ könnte dieser Vorgang einen selektiven Vorteil brin-
Intron
Exon 1 Exon 2
gen? Diese Frage hat die Forscher schon lange beschäf-
Abbildung 17.12: Die Rolle der snRNPs und der Spleißosomen tigt und ist noch nicht vollständig geklärt. Einige
beim Spleißen der prä-mRNA. Die Schemazeichnung zeigt einen Teil Introns enthalten Sequenzen, die sich auf die Regula-
eines Primärtranskripts (prä-mRNA), mit einem Intron (beige), das von zwei tion der Genexpression oder auf bestimmte Genpro-
Exons (orange) eingeschlossen wird. Weitere Introns und Exons liegen strom-
dukte auswirken. So ist beispielsweise das Spleißen
abwärts (3′) von den hier dargestellten. Die RNAs in kleinen Zellkern-
intronhaltiger Gene eine Voraussetzung für den Export Teil 3
Ribonucleoproteinen (snRNPs; engl. small nuclear ribonucleoproteins ) des
Spleißosoms („Spleißkörperchen“) gehen Basenpaarungen mit bestimmten der mRNA aus dem Zellkern und damit die Bildung
Intronsequenzen ein. Das Spleißosom zerschneidet dann die prä-mRNA, setzt des Proteins im Cytoplasma.
ein Intron frei, das schnell abgebaut wird, und spleißt die angrenzenden Exons Eine Folge des Auftretens von Introns ist, dass ein
zusammen. (Die „Lassostruktur“ des herausgetrennten Introns entsteht durch einzelnes Gen für mehr als eine Polypeptidkette codie-
eine kovalente Verknüpfung eines Endes mit der internen TACTAACA-Box.) ren kann. Von vielen Genen hat man schon experimen-
tell nachgewiesen, dass sie zwei oder mehr unterschied-
Ribozyme liche Proteine hervorbringen können, je nachdem,
Der Hinweis auf eine aktiv-katalytische Rolle der snRNA welche Exons nach dem Spleißen in der reifen mRNA
ergab sich aus den bereits vorher entdeckten Ribozymen. auftauchen. Man spricht in diesem Zusammenhang von
Hierbei handelt es sich um RNA-Moleküle, die be- alternativem Spleißen der prä-mRNA (Abbildung
stimmte chemische Reaktionen katalysieren können, 18.13). So lassen sich beispielsweise die Geschlechts-
also selbst wie Enzyme wirken. Bei einigen Organis- unterschiede bei Taufliegen ganz wesentlich auf die
men kann RNA gespleißt werden, ohne dass Proteine Unterschiede in der Prozessierung von Primärtranskrip-
oder andere RNA-Moleküle zugegen sein müssen. Das ten bestimmter Gene bei Männchen und Weibchen
Intron selbst wirkt hier als Ribozym, das sein eigenes zurückführen. Die Analysen des menschlichen Genoms
Herausschneiden (Exzision) aus dem Primärtranskript (die in Konzept 21.1 besprochen werden) deuten eben-
katalysiert. Bei den Protozoen der Gattung Tetrahy- falls darauf hin, dass durch alternatives Spleißen der
mena (aus der Gruppe der Wimperntierchen) kommt Mensch mit einer verhältnismäßig geringen Zahl von
es bei der Bildung der ribosomalen RNA (rRNA) zu ei- Genen auskommen kann, obwohl die Genzahl in etwa
ner solchen autokatalytischen Selbstspleißung. Die Ent- der des einfachen Fadenwurms entspricht. Aufgrund
deckung der Ribozyme war eine große Überraschung, der Möglichkeit des alternativen Spleißens von Genen
da man bis zu diesem Zeitpunkt angenommen hatte, kann die Anzahl der Proteine, die ein Organismus
dass alle biologischen Katalysatoren Enzyme, also Pro- erzeugt, wesentlich höher sein als die Zahl seiner Gene.
teine, wären. Wie man heute weiß, sind Proteine oft modular aus
Drei Eigenschaften der RNA tragen zu ihren katalyti- einzelnen Bau- und Funktionsbereichen aufgebaut,
schen Aktivitäten bei: Als Erstes ist da die Tatsache, die Domänen genannt werden (strukturelle Domänen,
dass RNA-Moleküle im Regelfall einzelsträngig sind funktionelle Domänen, Faltungsdomänen usw.). So
und so Basenpaarungen mit sich selbst ausbilden kön- kann beispielsweise das aktive Zentrum eines Enzyms
nen, wenn sie entsprechende Sequenzbereiche ent- in einer katalytischen Domäne liegen, während eine
halten. Dies führt zur Ausbildung einer definierten andere Domäne seine Bindung an eine Membran ver-
Raumstruktur (Konformation). Diese ganz bestimmte mittelt. Durch alternatives Spleißen desselben Primär-
Konformation ist ausschlaggebend für die katalyti- transkripts kann dann eine Isoform des Enzyms im
sche Funktion eines Ribozyms – genauso, wie wir es Cytoplasma vorkommen, weil die für die Membranver-
von den Enzymen kennen. Zweitens besitzen die ankerung verantwortliche Domäne fehlt. Relativ häufig
Basen eines RNA-Moleküls funktionelle Gruppen, so codieren unterschiedliche Exons für verschiedene
wie viele der Aminosäurereste eines Enzyms, die Domänen eines Proteins (Abbildung 17.13).
unmittelbar an der katalytischen Reaktion beteiligt Wenn Gene Introns enthalten, können im Laufe der
sein können. Drittens trägt die komplementäre Basen- Evolution ein oder mehrere Exons ausgetauscht werden
paarung mit anderen Nucleinsäuren über Wasserstoff- (exon shuffling) und so werden Proteine mit neuen
brückenbindungen zur Spezifität des katalytischen oder besseren Eigenschaften erzeugt. Introns erhöhen
Gesamtprozesses bei. Komplementäre Basenpaarun- die Wahrscheinlichkeit für das Zustandekommen eines
gen zwischen der RNA des Spleißosoms und der prä- Crossing-over-Ereignisses, ohne dass es dadurch bei

447
17 Vom Gen zum Protein

einer fehlerhaften Rekombination zu einem Funktions- Translation – die RNA-abhängige


verlust der von den Exons codierten Domänen kommt.
Für die homologe Rekombination steht damit einfach
Polypeptidsynthese:
mehr Raum zur Verfügung, ohne dass codierende
Sequenzen davon betroffen sind. Wir können uns also
Eine nähere Betrachtung
17.4
auch ein gelegentliches Vermischen und eine Neukom-
bination von Exons unter verschiedenen (nicht alleli- Wir werden uns nun näher damit beschäftigen, wie die
schen) Genen vorstellen. Durch das Mischen verschie- genetische Information von der RNA zur Ebene der Pro-
dener Exons, gleich welcher Art, könnte es zu neuen teine umgesetzt wird. Dieser Vorgang wird als Transla-
Proteinen mit neuartigen funktionellen Kombinationen tion bezeichnet. Wie im Fall der Transkription konzen-
kommen. Auf diese Weise können neue Varianten ent- trieren wir uns hierbei auf die grundlegenden Vorgänge
stehen, die sich während der natürlichen Selektion als des Prozesses, die sowohl bei den Bakterien als auch bei
nutzbringend für ein Lebewesen erweisen. Entschei- den Eukaryonten auftreten. Dabei weisen wir an ver-
dend ist das Verhältnis zwischen dem Nutzen und dem schiedenen Stellen auf die wichtigen Unterschiede hin.
Schaden solcher Rekombinationsereignisse, welches
ausgewogen bleiben muss.
17.4.1 Die molekularen Komponenten
Gen des Translationsapparats
DNA
Teil 3 Exon 1 Intron Exon 2 Intron Exon 3
Beim Vorgang der Translation übersetzt eine Zelle die
genetische Information und baut entsprechend der
Transkription
Anweisung ein Polypeptidmolekül auf. Die Anweisung
kommt aus der Codonfolge des offenen Leserasters
RNA-Prozessierung einer mRNA. Die Vermittler dieser genetischen Nach-
richten sind andere RNA-Arten, die Transfer-Ribo-
Translation nucleinsäuren (Abk. tRNA). Die Funktion der Transfer-
Ribonucleinsäuren besteht darin, Aminosäuren aus dem
cytoplasmatischen Vorrat zum Ribosom als dem Ort der
Domäne 3
Translation zu befördern und zwar die richtige Amino-
säure zum richtigen Zeitpunkt. Im Cytoplasma liegen
alle 20 im Organismus vorkommenden Aminosäuren in
Domäne 2 freier Form vor, weil sie entweder von der Zelle selbst
synthetisiert oder aus dem sie umgebenden Medium auf-
Domäne 1
genommen wurden. Die passenden Aminosäuren wer-
den von mit ihnen beladenen tRNAs an das Ribosom
Polypeptid angeliefert und dort mit dem wachsenden Ende der
© Pearson Education, Inc.
Polypeptidkette verknüpft (Abbildung 17.14).
Abbildung 17.13: Der Zusammenhang zwischen Exons und Pro- Die Translation ist zwar einfach nachzuvollziehen,
teindomänen. Die Exons auf Ebene der DNA-Doppelhelix sind mit der
in ihrem biochemischen Ablauf jedoch ein höchst
gleichen Farbe gekennzeichnet, wie die aus ihnen hervorgehenden Pro-
komplexer Vorgang, insbesondere in eukaryontischen
teindomänen.
Zellen. Bei der folgenden Besprechung der Translation
in der Proteinbiosynthese konzentrieren wir uns deshalb
 Wiederholungsfragen 17.3 auf den etwas einfacheren Vorgang, wie er in Bakterien
abläuft. Zunächst betrachten wir die wesentlichen Kom-
1. Der Mensch besitzt vermutlich weniger als ponenten dieses universell verbreiteten Prozesses.
21.000 Gene. Wie schafft es eine menschliche Anschließend werden wir uns ansehen, wie die ein-
Zelle, daraus 75.000 bis 100.000 verschiedene zelnen Teilschritte zusammenwirken, um ein Poly-
Proteine herzustellen? peptid zu erzeugen.
2. Inwiefern ähnelt das Spleißen der RNA dem
Betrachten einer Fernsehserie, die Sie auf ei- Struktur und Funktion der Transfer-RNA
ner DVD aufgezeichnet haben? Was wären in Der Schlüssel zur Übersetzung einer genetischen
diesem Beispiel die Introns? Information in eine Proteinsequenz besteht darin, dass
jedes tRNA-Molekül ein bestimmtes Codon der mRNA
3. WAS WÄRE, WENN? Was würde geschehen, in eine bestimmte Aminosäure übersetzt. Dies wird
wenn man eukaryontische Zellen mit einer dadurch gewährleistet, dass eine tRNA an einem Ende
Chemikalie behandeln würde, die die 5′-Cap- mit einer bestimmten Aminosäure beladen (kovalent
Struktur der mRNA-Moleküle entfernt. verknüpft) ist, während sich auf seiner anderen Seite
ein Nucleotidtriplett befindet, das Basenpaarungen
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. mit dem komplementären Codon auf der mRNA ein-
gehen kann.

448
17.4 Translation – die RNA-abhängige Polypeptidsynthese: Eine nähere Betrachtung

3‘
A
DNA Anknüpfungsstelle C
TRANSKRIPTION
für die Aminosäure C
mRNA A 5‘
Ribosom
TRANSLATION C G
G C
Polypeptid
C G
Aminosäuren U G
U A
Polypeptid A U
U C A U
* C A C A G U A G *
A* C U C
tRNA mit G *
G U G U G
gebundener C * C G A G
* * C A G G
Aminosäure U *
*GA
G C Wasserstoffbrücken-
Ribosom G C
bindungen
Trp U A
* G
* A
Phe Gly A C
* U
A G
A
tRNA
C Anticodon Teil 3
C C
C G
A Anticodon
A A A
U G G U U U G G C
(a) Zweidimensionale Struktur. Die vier Bereiche, in
denen Basenpaarung auftritt und die drei Schlaufen-
Codons bereiche sind charakteristisch für alle tRNA-Moleküle.
5′
3′ Dies gilt auch für die Basensequenz an der Anknüp-
fungsstelle für die Aminosäure am 3’-Ende. Das
mRNA
Anticodon ist für jeden tRNA-Typ charakteristisch,
ebenso die Sequenzen in den beiden anderen Schlau-
fenbereichen. (Die Sternchen symbolisieren chemisch
Im MyLab|Deutsche Version für Campbell Biologie finden Sie modifizierte Basen, die in tRNAs vorkommen.)
eine 3D-Animationen zur Protein-Synthese.

Abbildung 17.14: Translation – das grundlegende Konzept. Wäh- Anknüpfungsstelle


5‘
rend ein mRNA-Molekül durch ein Ribosom gleitet, werden die Codons in für die Aminosäure
Aminosäuren translatiert. Die „Übersetzer“ sind tRNA-Moleküle, von denen 3‘
jeder Typ an einer Seite mit einem spezifischen Anticodon und am anderen
Ende mit einer bestimmten Aminosäure versehen ist. Eine solche, mit
einem Aminosäurerest beladene Transfer-Ribonucleinsäure heißt Aminoacyl- Wasserstoff-
Transfer-Ribonucleinsäure (kurz AA-tRNA). Sie überträgt den Aminosäure- brückenbindungen
rest auf die wachsende Polypeptidkette, wenn das Anticodon an das kom-
plementäre Codon der mRNA bindet. Die nachfolgenden Abbildungen zei-
gen weitere Einzelheiten der Translation in einer Bakterienzelle.

tRNA-Moleküle bestehen aus einem einzelnen RNA- A A G


Strang von nur etwa 80 Nucleotiden Länge (im Ver- 3‘ 5‘
gleich zu Hunderten bis Tausenden von Nucleotiden Anticodon Anticodon
bei den mRNAs). Aufgrund des Vorliegens kom-
plementärer Basenfolgen innerhalb des Moleküls, die
(b) Dreidimensionale (c) In diesem Buch
Wasserstoffbrückenbindungen untereinander ausbil- Struktur verwendetes Symbol
den können, faltet sich der Molekülstrang einer tRNA
zu einem für diese Molekülklasse charakteristischen Abbildung 17.15: Die Struktur von Transfer-Ribonucleinsäuren
räumlichen Gebilde, seiner 3D-Struktur. In einer zwei- (tRNAs). Die Basensequenzen von Anticodons werden, im Gegensatz zu
denen anderer Nucleinsäuren, in 3′→5′-Richtung geschrieben, um die
dimensionalen Darstellung geben die gepaarten und
Komplementarität mit den in der üblichen 5′→3′-Richtung geschriebenen
die ungepaarten Bereiche dem Molekül die Gestalt Codons leichter zu erkennen (Abbildung 17.14 ). Für eine korrekte Basen-
eines Kleeblatts (Abbildung 17.15a). Die dreidimen- paarung müssen die RNA-Stränge antiparallel zueinander liegen (wie die
sionale Konformation einer nativen tRNA ähnelt dage- DNA-Stränge in einer Doppelhelix). Das Anticodon 3′-AAG-5′ paart sich
gen eher dem Großbuchstaben „L“. Eine sich zu einer zum Beispiel mit dem Codon 5′-UUC-3′.
Seite erstreckende Schlaufe des Moleküls (ein „Blätt-
chen“ des Kleeblatts) enthält das Anticodon – also
das spezielle Basentriplett, das den Kontakt zum Stellen Sie sich beispielsweise das mRNA-Codon 5′-
Codon der mRNA herstellt. Am gegenüberliegenden GGC-3′ vor, das in die Aminosäure Glycin übersetzt
Ende des L-förmigen Moleküls ragt das 3′-Ende her- wird. Die tRNA, die damit über Wasserstoffbrückenbin-
vor, an dem die entsprechende Aminosäure angeheftet dungen paart, hat die Sequenz 3′-CCG-5′ in ihrem Anti-
wird (Abbildung 17.15b). codon und ist an ihrem 3′-Ende mit Glycin beladen

449
17 Vom Gen zum Protein

(wie die in das Ribosom eintretende tRNA in der Abbil- erklärt, wieso sich für dieselbe Aminosäure codierende
dung 17.4). Während eine mRNA durch das Ribosom Codons in der dritten Base, aber für gewöhnlich nicht
gleitet, wird Glycin immer dann an die wachsende in den ersten beiden unterscheiden. So vermag sich
Polypeptidkette angehängt, wenn das Codon GGC für etwa die tRNA mit dem Anticodon 3′-UCU-5′ mit den
die Translation auftaucht. Die genetische Information Codons 5′-AGA-3′ und 5′-AGG-3′ zu paaren. Beide
wird so Codon für Codon am Ribosom übersetzt, wäh- codieren jedoch einen Argininrest (Aminoacylrest des
rend die tRNAs die Aminosäuren in der richtigen Rei- Arginins; Abbildung 17.5), so dass in jedem Fall die
henfolge bereitstellen. Die tRNA arbeitet dabei insofern richtige Aminosäure eingebaut wird.
als „Übersetzer“, als sie das „Wort in einer Nuclein-
säure“ (das Codon der mRNA) erkennt und als das 1 Die Aminosäure
und die zugehörige
„Wort eines Proteins“ (eine Aminosäure) ausliest. tRNA treten ins aktive Tyrosin (Tyr)
Wie mRNAs und andere Formen zellulärer Ribo- Zentrum einer bestimm- (eine Aminosäure)
nucleinsäuren werden auch tRNAs durch Transkription ten Synthetase ein.
anhand einer DNA-Matrize (tRNA-Gene) gebildet. In Tyrosyl-tRNA-Synthe-
eukaryontischen Zellen findet die tRNA-Synthese im tase (ein Enzym);
Zellkern statt. Genauso wie die mRNA müssen auch die kann ausschließlich
Tyrosin und Tyr-tRNA
fertigen tRNA-Moleküle aus dem Zellkern in das Cyto- binden
plasma gelangen, weil dort die Translation stattfindet.
Tyr-tRNA
Teil 3 Sowohl in eukaryontischen als auch in prokaryonti-
schen Zellen werden tRNA-Moleküle mehrfach verwen-
det. Sie werden im Cytosol immer wieder neu mit einer
passenden Aminosäure (Aminoacylrest) beladen, gelan- A U A
ATP Aminoacyl-tRNA-
gen im beladenen Zustand als AA-tRNA zum Ribosom Synthetase
und liefern dort ihre Fracht ab. Danach dissoziieren sie das Anticodon der tRNA AMP + 2 P i
vom Ribosom ab und der Zyklus beginnt von Neuem. ist komplementär zu einem
Für die richtige Übersetzung einer genetischen Bot- Tyrosin-Codon der mRNA
schaft sind zwei molekulare Erkennungsvorgänge not- 2 Die Syn-
tRNA
thetase kata-
wendig. Erstens müssen die tRNAs den richtigen, dem lysiert spezifisch
Anticodon entsprechenden Aminosäurerest tragen (und die kovalente
keinen anderen), den sie zu den Ribosomen bringen. Verknüpfung der Amino-
Aminosäure mit säure
Die richtige Verknüpfung einer spezifischen tRNA mit ihrer zugehörigen
der entsprechenden Aminosäure vermittelt eine Gruppe tRNA. Dabei wird
ATP verbraucht.
von Enzymen mit der allgemeinen Bezeichnung
Aminoacyl-tRNA-Synthetase (AA-tRNA-Synthetase; 3 Die mit
Abbildung 17.16). Für jede Aminosäure gibt es eine ihrer Amino-
säure beladene Strukturmodell
eigene, spezifische AA-tRNA-Synthetase. Für die 20 tRNA wird aus (Computergrafik)
proteinbildenden Aminosäuren verfügt die Zelle also der Synthetase
über 20 AA-tRNA-Synthetasen, die sich in der Substrat- entlassen.
spezifität unterscheiden und neben ihrer spezifischen Abbildung 17.16: Eine Aminoacyl-tRNA-Synthetase verknüpft
Aminosäure auch die zugehörigen tRNAs mit den pas- eine bestimmte Aminosäure mit der zugehörigen tRNA. Die kova-
senden Anticodons erkennen. Die AA-tRNA-Synthetase lente Verknüpfung des tRNA-Moleküls mit einem Aminosäuremolekül ist ein
katalysiert die kovalente Verknüpfung eines Aminoacyl- endergonischer Prozess, dessen Energie durch ATP-Hydrolyse geliefert wird.
restes mit der freien 3′-OH-Gruppe des tRNA-Moleküls; Vom ATP werden die beiden endständigen Phosphatgruppen (Pyrophosphat)
eine Kondensationsreaktion, die ATP verbraucht. Das abgespalten, so dass Adenosinmonophosphat (AMP) entsteht.
Reaktionsprodukt, die Aminoacyl-tRNA, löst sich vom
Enzym ab und ist ab jetzt bereit, den Aminosäurerest Die Ribosomen
zur Translation am Ribosom zu geleiten. An den Ribosomen lagern sich während der Protein-
Der zweite Erkennungsvorgang ist die Bindung von biosynthese spezifisch die tRNA-Anticodons mit den
Codon und Anticodon zwischen der mRNA und den zugehörigen mRNA-Codons zusammen. Ein Ribosom
AA-tRNAs. Hierzu gibt es nicht 61 verschiedene tRNA- besteht aus zwei Teilen, einer sogenannten großen
Sorten für die 61 möglichen Codons, sondern nur rund und einer kleinen Untereinheit (Abbildung 17.17). Die
45, so dass manche tRNA-Klassen mehr als ein Codon ribosomalen Untereinheiten setzen sich aus Proteinen
erkennen. Diese Vielseitigkeit unter den tRNAs exis- und ribosomalen Ribonucleinsäuren (rRNAs) zusam-
tiert, da die Paarung der dritten Basen zwischen Codon men. In eukaryontischen Zellen werden die Unterein-
und Anticodon weniger bedeutend ist, als die der ers- heiten der Ribosomen im Bereich des Nucleolus im
ten beiden Triplettpositionen. So kann sich die Base U Zellkern zusammengebaut. Die Gene für die ribosoma-
in der 5′-Position des Anticodons mit A oder G in der len RNAs werden an ihren Genorten auf der chro-
letzten (3′-)Position eines Codons paaren. Diese Flexi- mosomalen DNA transkribiert. Die prozessierten
bilität bei der Basenpaarung wird als Wobbling (engl. to Transkripte werden dann mit aus dem Cytoplasma
wobble, wackeln, wanken, taumeln) bezeichnet. Die importierten ribosomalen Proteinen zu einem geord-
von Francis Crick formulierte Wobble-Hypothese neten Komplex zusammengefügt. Die fertigen riboso-

450
17.4 Translation – die RNA-abhängige Polypeptidsynthese: Eine nähere Betrachtung

malen Untereinheiten werden als Ganzes, aber unab-


hängig voneinander, durch die Kernporen in das TRANSKRIPTION
DNA

Cytoplasma exportiert. Sowohl bei Pro- wie auch bei


mRNA
Eukaryonten lagert sich eine große ribosomale Unter- Ribosom
TRANSLATION
einheit nur in Gegenwart einer mRNA für die Trans-
Polypeptid wachsendes
lation mit einer kleinen Untereinheit zu einem voll- Polypeptid Austrittstunnel
ständigen Ribosom zusammen. Etwa zwei Drittel der
tRNA-Moleküle
Masse eines Ribosoms werden von seinen rRNA-Mole-
külen gestellt (drei verschiedene Moleküle pro Ribo-
som bei Bakterien, vier bei Eukaryonten). Da die meis- große
ten Zellen Tausende von Ribosomen enthalten, stellen Untereinheit
die ribosomalen RNAs den weitaus größten Anteil E P
A
aller Ribonucleinsäuren in einer Zelle.
Obwohl die Ribosomen von Bakterien und Eukaryon- kleine
Untereinheit
ten sehr ähnlich gebaut sind und die gleiche Funktion
erfüllen, sind die von Eukaryonten größer und unter-
scheiden sich auch sonst in ihrer molekularen Zusam- 5′
mRNA 3′
mensetzung etwas von bakteriellen Ribosomen. Diese (a) Computergrafik eines funktionellen Ribosoms. Modell eines
Unterschiede sind besonders in der medizinischen bakteriellen Ribosoms (eukaryontische Ribosomen haben eine Teil 3
Anwendung von Interesse, weil bestimmte Antibiotika ähnliche Struktur). Eine ribosomale Untereinheit wird aus RNA-
und Proteinmolekülen gebildet.
ausschließlich bakterielle Ribosomen hemmen, ohne
die Funktion eukaryontischer Ribosomen zu beeinträch- P-Stelle (Peptidyl- Austrittstunnel
tRNA-Bindungsstelle)
tigen. Diese Antibiotika, zu denen beispielsweise die
Tetracycline und das Streptomycin gehören, werden zur A-Stelle (Aminoacyl-
tRNA-Bindungsstelle)
Bekämpfung bakterieller Infektionen eingesetzt. E-Stelle
Im Aufbau eines Ribosoms spiegelt sich seine Aufgabe (Exit-Stelle)
wider, mRNA mit den mit Aminosäuren beladenen E P A große
tRNAs in Kontakt zu bringen. Zusätzlich zu einer Bin- Untereinheit
dungsstelle für eine mRNA verfügt jedes Ribosom über mRNA-
drei Bindungsstellen für tRNA-Moleküle (Abbildung Bindungsstelle kleine
Untereinheit
17.17). Die P-Stelle (Peptidyl-tRNA-Stelle) hält die tRNA
gebunden, an der die wachsende Polypeptidkette über
(b) Schematische Darstellung der Bindungsstellen. Ein Ribosom
den letzten angefügten Aminosäurerest befestigt ist. Die besitzt eine mRNA-Bindungsstelle und drei tRNA-Bindungsstellen,
A-Stelle (Aminoacyl-tRNA-Stelle) bindet die beladene die als A-, P- und E-Stelle bezeichnet werden. Dieses schemati-
tRNA, die zu dem gerade translatierenden Codon der sierte Ribosom wird in späteren Abbildungen weiterverwendet.
mRNA gehört. Entladene (von ihrem Aminoacylrest wachsendes Polypeptid
Aminoterminus
befreite) tRNA-Moleküle verlassen das Ribosom über die
E-Stelle (Exit- oder Export-Stelle). Das Ribosom bringt nächste an das
die AA-tRNA und die mRNA in enge Nachbarschaft Polypeptid
anzufügende
zueinander und richtet den neu eingetroffenen Amino- Aminosäure
säurerest so aus, dass er auf die wachsende Peptidkette
übertragen werden kann. Es katalysiert die Umlagerung E tRNA
des Aminoacylrests und die Bildung der neuen Peptid- mRNA 3′
bindung. Während sich die Peptidkette durch die
Anknüpfung immer neuer Reste verlängert, verlässt sie
5′ Codons
die große Untereinheit des Ribosoms durch einen Aus-
trittstunnel. Wenn die Biosynthese abgeschlossen und
das Polypeptid fertiggestellt ist, wird es durch den Aus- (c) Schematische Darstellung mit mRNA und tRNAs. Ein tRNA-
trittstunnel vollständig vom Ribosom freigesetzt. Molekül passt genau in die Bindungsstelle, wenn das Anticodon
erfolgreich mit einem Codon der mRNA hybridisiert. Die P-Stelle
Nach neueren Erkenntnissen sind die RNA-Anteile hält die tRNA gebunden, welche mit der wachsenden Polypeptid-
der Ribosomen für deren Struktur und Funktion von kette verbunden ist. Die A-Stelle enthält ein tRNA-Molekül, das
größerer Bedeutung als die Proteine. Letztere befinden den nächsten Aminosäurerest trägt, der in die Polypeptidkette
eingebaut wird. Entladene tRNAs verlassen über die E-Stelle das
sich größtenteils an der Oberfläche und unterstützen Ribosom. Die mRNA verschiebt sich relativ zum Ribosom um ein
die Strukturänderungen in den RNA-Molekülen wäh- Codon nach links und die nächste beladene tRNA kann in die
rend der Katalyse. An der Grenzfläche der beiden A-Stelle eintreten (vgl. auch Abbildung 17.19).
ribosomalen Untereinheiten, sowie an der P- und der
Abbildung 17.17: Der Aufbau eines funktionstüchtigen Ribosoms.
A-Stelle des Ribosoms, wirken im Wesentlichen ribo-
somale RNA-Moleküle. Sie sind die eigentlichen Kata-
lysatoren bei der Ausbildung der Peptidbindungen.
Ein Ribosom kann deshalb als ein riesengroßes Ribo-
zym angesehen werden.

451
17 Vom Gen zum Protein

17.4.2 Die Biosynthese von Polypeptiden tor-tRNAMet komplementäre AUG-Startcodon erreicht


ist. Die Initiator-tRNAMet bildet mit diesem wie üblich
Der Translationsvorgang – also die Synthese einer Basenpaare über Wasserstoffbrücken. In beiden Fällen
Polypeptidkette – kann in Analogie zur Transkription ist die Assoziation des Startcodons mit dem Anticodon
in drei nahtlos ineinandergreifende Stadien unterteilt der Initiator-tRNAMet das Startsignal für die Transla-
werden: die Initiation, die Elongation und die Termi- tion. Der Abgleich von Startcodon und Startanticodon
nation. Alle drei Stadien sind von Proteinfaktoren ist auch deshalb wichtig, weil damit das Leseraster für
abhängig, die für den Fortschritt der Translation benö- die folgende mRNA-Sequenz festgelegt wird. In der
tigt werden. Für bestimmte Teilschritte der Initiation Wissenschaftlichen Übung lernen Sie mit DNA-Se-
und der Elongation muss Energie aufgewandt werden, quenzen umzugehen, die für die Ribosomenbindestel-
die in diesem Fall aus der Hydrolyse von Guanosintri- len der mRNAs einer Gruppe von E. coli-Genen codie-
phosphat (GTP) stammt. GTP ist ein eng mit dem ATP ren.
verwandtes Molekül. Der Vereinigung von mRNA, Initiator-tRNAMet und
der kleinen ribosomalen Untereinheit folgt die Anla-
Zusammenbau der ribosomalen Untereinheiten gerung der großen Untereinheit des Ribosoms. Damit
und Initiation der Translation ist der Translations-Initiations-Komplex vollständig.
Während des Initiationsschritts treten ein mRNA-Mole- Für die richtige Zusammenlagerung all dieser Kompo-
kül, eine tRNA, die den ersten Aminosäurerest anliefert nenten sind spezielle Proteine, die Initiationsfaktoren,
Teil 3 (einen Methioninrest), sowie die beiden Untereinheiten verantwortlich. Die Zelle verbraucht außerdem Ener-
eines Ribosoms zusammen (Abbildung 17.18). Zu- gie in Form von GTP, um den Initiationskomplex aus-
nächst binden die mRNA und eine spezielle, methi- zubilden. Nach Abschluss des Initiationsvorgangs
oninspezifische Initiator-tRNAMet an eine kleine ribo- liegt die Initiator-tRNAMet in der P-Stelle des fertigen
somale Untereinheit. Bei Bakterien kann die kleine Ribosoms. Die A-Stelle ist noch unbesetzt und bereit
Untereinheit die beiden Moleküle in beliebiger Rei- für die Aufnahme ihrer ersten Aminoacyl-tRNA. Poly-
henfolge binden. Das mRNA-Molekül wird im Bereich peptide besitzen, ebenso wie Nucleinsäuremoleküle,
einer speziellen Basenfolge (Shine/Dalgarno-Sequenz) eine Orientierung und werden von Zellen immer in
5′ des Startcodons (AUG) gebunden. Bei Eukaryonten derselben Richtung synthetisiert. Der erste Methionin-
lagert die kleine ribosomale Untereinheit zunächst die rest bildet immer das Aminoende (Aminoterminus,
Initiator-tRNAMet an und erkennt dann die 5′-Cap- N-Terminus) der Peptidkette. Die Synthese schreitet
Struktur der mRNA als Eintrittsstelle. Sie bewegt sich danach bis zum Carboxylende fort (Carboxyterminus,
dann stromabwärts, bis das zum Anticodon der Initia- C-Terminus; siehe Abbildung 5.15).

3′ U A C 5′ große
gr
Stelle
P-Stelle rib
ribosomale
Met 5′ A U G 3′
Met U
Unter-
ei
einheit
Pi
+
Initiator-tRNA GTP GDP
E A
mRNA
5′ 5′ 3′
3′
Startcodon
kleine
ribosomale
mRNA-Bindungsstelle Untereinheit Translationsinitiationskomplex
1 Die freie kleine Untereinheit eines Ribosoms 2 Das Hinzutreten einer großen riboso-
verbindet sich mit einem mRNA-Molekül. In malen Untereinheit vervollständigt den
Bakterienzellen (Prokaryontenzellen) erken- Initiationskomplex. Als Initiationsfaktoren
nt die mRNA-Bindungsstelle dieser Unter- bezeichnete Proteine (hier nicht gezeigt)
einheit eine bestimmte Nucleotidsequenz sind notwendig, um alle benötigten Kom-
auf der mRNA, die unmittelbar stromauf- ponenten für die Translation zusammen-
wärts vom Startcodon liegt. Eine Initiator- zubringen. GTP liefert die Energie für den
tRNA mit dem Anticodon UAC paart sich Zusammenbau. Die Initiator-tRNA sitzt an
mit dem Startcodon AUG. Diese tRNA trägt der P-Stelle; die A-Stelle ist für die nächste
einen Methioninrest (Methionyl-tRNA). passende Aminoacyl-tRNA frei. Abbildung 17.18: Die Ini-
tiation der Translation.

452
17.4 Translation – die RNA-abhängige Polypeptidsynthese: Eine nähere Betrachtung

 Wissenschaftliche Übung

Wie liest man ein Sequenzlogo? Anschließend wurde ein Sequenzlogo mit der Kon-
sensussequenz erstellt. Beachten Sie bitte, dass hier –

TG
In der Bioinformatik bezeichnet man eine besondere wie allgemein üblich – die Sequenz des Sinnstrangs,
graphische Darstellung einer Konsensus-Sequenz also des nicht-codierenden +-Strangs der DNA darge-
einer Nucleotidfolge (eines DNA- oder RNA-Einzel- stellt ist.
strangs) oder einer Abfolge von Aminosäureresten
in einem Protein als „Sequenzlogo“ (engl. Sequence
Logo). Ein Sequenzlogo entsteht aus dem Vergleich
einer Sammlung von verschiedenen Sequenzen und
beschreibt die Übereinstimmungen und Abwei-
chungen von einer daraus ermittelten „Konsensus-

A
sequenz“. Diese Art der Darstellung wird häufig ver-
wendet, um funktionell wichtige Bereiche eines
DNA-Abschnittes oder eines Proteins zu charakteri-

GA
sieren.
Wie kann ein Sequenzlogo verwendet werden, um
Teil 3
G GA C
eine Ribosomenbindestelle zu charakterisieren?

CA
Während der Initiation der Translation bindet das
Ribosom an die Boten-RNA stromaufwärts des
AUG-Startcodons. Da dies bei allen mRNAs aller 5′
G
A
AT
C
CG G C
T
A AG
CT T A CT
G
TG
A
A
G
A
G
T
A
C
3′
translatierten Gene geschehen muss, sollte es eine
–18
–17
–16
–15
–14
–13
–12
–11
–10
–9
–8
–7
–6
–5
–4
–3
–2
–1
0
1
2
3
4
5
6
7
8
Erkennungssequenz geben, die das Ribosom erkennt
und daran bindet. Durch einen multiplen Sequenz- Sequenzlogo
vergleich zwischen vielen mRNAs verschiedener
Gene aus unterschiedlichen Organismen sollte es Datenauswertung
daher möglich sein, eine solche gemeinsame („kon-
servierte“) Ribosomenbindestelle zu identifizieren. 1. In dem hier oben darstellten Sequenzlogo
In dieser Übung lernen Sie, wie ein solcher Sequenz- zeigt die horizontale Achse die primäre DNA-
vergleich verschiedener Gene erstellt und eine kon- Sequenz und die entsprechende Position in-
servierte Sequenz in einem Sequenzlogo graphisch nerhalb des Konsensusmotivs (das „A“ des
dargestellt wird. Startcodons erhält dabei die Position 0, strom-
Durchführung des Experiments Die DNA-Sequen- aufwärts wird negativ gezählt, stromabwärts
zen von 149 E. coli-Genen wurden mithilfe einer positiv). Die an der jeweiligen Position vor-
dafür entwickelten Computer-Software miteinander kommenden Basen werden übereinander dar-
verglichen. Das Ziel war es, konservierte Basenpaare gestellt, wobei die am häufigsten vorkommende
stromaufwärts der entsprechenden Gene zu identifi- Base oben steht. Die Größe der Buchstaben re-
zieren, die in der davon transkribierten mRNA an präsentiert dabei die Häufigkeit, mit der diese
der Ribosomenbindung beteiligt sind. Zur besseren Base an dieser Stelle erscheint. (a) Zählen Sie
Übersichtlichkeit wurde von den Forschern anstelle nun in dem links unten dargestellten multi-
des direkten DNA-Sequenzvergleichs von 149 ver- plen Sequenzvergleich, wie häufig jede Base
schiedenen Basenabfolgen ein Sequenzlogo erstellt. an Position –9 zu finden ist, und ordnen Sie
Experimentelle Daten Um zu zeigen, wie ein die Basen nach Häufigkeiten. Vergleichen Sie
Sequenzlogo entsteht, sind hier die potenziellen ihr Ergebnis mit der Darstellung des Sequenz-
Ribosomenbindestellen von nur 10 E. coli-Genen logos an der Position –9. Überprüfen Sie die
miteinander verglichen. Reihenfolge und die Größen der Buchstaben/
Basen. (b) Wiederholen Sie dieses Verfahren
thrA G G T A A C G A G G T A A C A A C C A T G C G A G T G
für die Positionen 0 und –1.
lacA C A T A A C G G A G T G A T C G C A T T G A A C A T G
lacY C G C G T A A G G A A A T C C A T T A T G T A C T A T
2. Die Höhe der einzelnen Buchstaben bzw. die
lacZ T T C A C A C A G G A A A C A G C T A T G A C C A T G
Höhe des Stapels aus verschiedenen Buchsta-
lacI C A A T T C A G G G T G G T G A A T G T G A A A C C A
ben im Sequenzlogo gibt Auskunft über die
recA G G C A T G A C A G G A G T A A A A A T G G C T A T C
galR A C C C A C T A A G G T A T T T T C A T G G C G A C C
Verlässlichkeit der Vorhersagen und zeigt an,
met J A A G A G G A T T A A G T A T C T C A T G G C T G A A
ob diese Base eine wichtige Funktion in die-
lexA A T A C A C C C A G G G G G C G G A A T G A A A G C G
sem Motiv besitzt oder nicht. Wenn der Stapel
trpR T A A C A A T G G C G A C A T A T T A T G G C C C A A hoch ist, kann man besser vorhersagen, wel-
5′ 3′ che Base an dieser Position in einer noch
–18
–17
–16
–15
–14
–13
–12
–11
–10
–9
–8
–7
–6
–5
–4
–3
–2
–1
0
1
2
3
4
5
6
7
8

nicht bekannten Sequenz zu finden sein wird.


Sequenzvergleich

453
17 Vom Gen zum Protein

A TG
Beispielsweise findet sich an Position 2 inner-
halb der 10 verschiedenen Sequenzen immer
ein G. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein G
auch an dieser Position in einer weiteren Se-
quenz zu finden sein wird, ist daher sehr
hoch. Im Gegensatz dazu zeigen kleine Buch-
staben bzw. Buchstabenstapel an, dass mehrere
Basen an der entsprechenden Position vorkom-
men können. Entsprechend lassen sich für
nicht bekannte Sequenzen keine sicheren Vor-
hersagen treffen. (a) Welche beiden Positionen A
T A
AA
A GGT
G
GAGA GA AT
A
AA
TCTT A
ACG
A TA
G C CA
AA
CT TG
ermöglichen die besten Vorhersagen? Welche 5′
G
T

C
G
C
AC
G
T
A CT
T

G
C
GC
T T
CC TCC CG
T
C GG
A
T
C
C TC
GGG T T CG
G
T
CA
C T GT GG
T
C

3′

–18
–17
–16
–15
–14
–13
–12
–11
–10
–9
–8
–7
–6
–5
–4
–3
–2
–1
0
1
2
3
4
5
6
7
8
Basen würden Sie in einer neu gefundenen
Sequenz an diesen Positionen erwarten? (b)
Welche 12 Positionen lassen keine genauen
Vorhersagen zu? Wieso? Wie spiegelt sich das 4. Eine Konsensussequenz zeigt diejenigen Basen,
in der Verteilung dieser Basen in dem multip- die bei einem multiplen Sequenzvergleich an
len Sequenzvergleich der 10 Sequenzen wi- der entsprechenden Position am häufigsten zu
Teil 3
der? Verwenden Sie für Ihre Antwort vor al- finden sind. (a) Formulieren Sie eine solche
lem die Basenverteilungen an den Positionen Konsensussequenz dieses Sinnstrangs. An jeder
–17 und –18. Position, an der es keine überdurchschnittlich
häufig vorkommende Base gibt, machen Sie ei-
3. In dem tatsächlich durchgeführten Experi- nen Strich. (b) Vergleichen Sie die Konsensus-
ment nutzten die Forscher 149 Sequenzen für sequenz und das Sequenzlogo. Welche Darstel-
die Erstellung eines Sequenzlogos, welches lung ist informativer, welche Information geht in
hier rechts oben dargestellt ist. Hier findet sich der alternativen Darstellungsweise verloren?
an jeder Position ein Buchstabenstapel. Der
Grund dafür ist die große Anzahl der vergli- 5. (a) Wenn Sie sich das Sequenzlogo noch ein-
chenen Sequenzen. (a) Welche drei Positionen mal anschauen, welche weiteren stromauf-
ermöglichen die besten Vorhersagen? Nennen wärts gelegenen Basen sind vermutlich eben-
Sie die drei am häufigsten vorkommenden falls für die Bindung der Ribosomen wichtig?
Basen. (b) Welche Positionen lassen keine ge- Erläutern Sie Ihre Antwort. (b) Welche Aufgabe
nauen Vorhersagen zu? Wieso? erfüllen die Basen an den Positionen 0 bis 2?

Weiterführende Literatur: T. D. Schneider und R. M. Stephens, Sequence logos: A new way to display consensus sequences, Nucleic Acid Research
18:6097–6100 (1990).

Die Verlängerung der Polypeptidkette nen tRNAs gelangen aus der E-Stelle wieder ins Cyto-
Während der Elongationsphase (Verlängerungsphase) plasma und können dort erneut mit der richtigen Ami-
werden entsprechend der Information der mRNA neue nosäure beladen werden (vgl. Abbildung 17.16).
Aminosäurereste an die Peptidkette angeknüpft. An
jeder neuen Verknüpfung sind mehrere Proteine, die Die Termination der Translation
sogenannten Elongationsfaktoren, beteiligt. Der Prozess Der abschließende Schritt der Translation ist die Ter-
folgt dem in Abbildung 17.19 dargestellten dreiglied- mination (Beendigung; Abbildung 17.20). Die Ver-
rigen Ablauf. Energie wird dabei im ersten und dritten längerung der Peptidkette setzt sich fort, bis ein Stop-
Schritt verbraucht. Zur Erkennung des Codons wird codon der mRNA in der A-Stelle des Ribosoms zu
GTP hydrolysiert, um die Effizienz und Genauigkeit liegen kommt. Die Basentripletts UAG, UAA und UGA
dieses Schrittes zu gewährleisten. Die Hydrolyse eines wirken als Stoppsignale der Translation („Stopcodons“),
weiteren GTPs liefert dann die Energie für den Translo- da sie nicht für Aminosäuren codieren. Ein wie eine
kationsschritt. tRNA geformtes Protein, der Freisetzungsfaktor (Abk.
Die mRNA wird mit ihrem 5′-Ende voran durch das RF; engl. release factor), bindet an das in der A-Stelle
Ribosom gezogen, was bedeutet, dass das Ribosom die liegende Stopcodon. Anstelle einer Aminosäure setzt
mRNA in 5′→3′-Richtung abliest. Hierbei ist wichtig, er ein Wassermolekül ein, so dass die Bindung zwi-
dass die Bewegung nur in eine Richtung, und zwar schen dem Peptidylrest und der ihn tragenden Pep-
Codon für Codon, erfolgt. Jeder Elongationsschritt läuft tidyl-tRNA hydrolysiert wird. Damit wird die Poly-
in weniger als einer Zehntelsekunde in Bakterien ab und peptidkette an der P-Stelle freigesetzt und gelangt
wiederholt sich für die Anheftung jeder Aminosäure, bis durch den Austrittstunnel in der großen Untereinheit
das Polypeptid fertiggestellt ist. Die nicht mehr belade- des Ribosoms ins Cytoplasma. Der Rest des Transla-

454
17.4 Translation – die RNA-abhängige Polypeptidsynthese: Eine nähere Betrachtung

tionsapparates zerfällt dann in einem mehrstufigen Diese Dissoziation des Ribosoms erfordert die Energie
Prozess, an dem weitere Proteinfaktoren beteiligt sind. aus der Hydrolyse von zwei weiteren GTP-Molekülen.

Aminoterminus
DNA des Polypeptids
1 Codonerkennung. Das Anticodon
TRANSKRIPTION

mRNA einer eintretenden Aminoacyl-tRNA


TRANSLATION
Ribosom bindet an ein komplementäres Codon
in der A-Stelle. Die Genauigkeit des
Polypeptid
Prozesses wird durch eine
E 3′ GTP-Hydrolyse verbessert.

mRNA

A lle
lle
Das Ribosom ist

e
te
St
bereit für die nächste 5′

-S
P-
Aminoacyl-tRNA GTP

GDP + P i

Teil 3
E E

P A
P A

GDP + P i
3 Translokation. Die 2 Bildung der Peptidbindung. Ein
beladene tRNA wird zusam- GTP rRNA-Molekül der großen Unterein-
men mit der gepaarten mRNA heit des Ribosoms katalysiert die
von der A- zur P-Stelle verlagert. Bildung einer Peptidbindung zwi-
Inzwischen wird die entladene schen dem neu hinzugetretenen
tRNA aus der P-Stelle zur E-Stelle Aminosäurerest in der A-Stelle und
verschoben, wo sie freigesetzt E dem Carboxyterminus der wachsen-
wird. Die mRNA bewegt sich mit den Polypeptidkette an der P-Stelle.
den gebundenen tRNAs weiter Dieser Schritt führt zur Abspaltung
(man könnte auch sagen, dass sich des Polypeptidylrestes von der tRNA
P A an der P-Stelle und zur kovalenten
das Ribosom an der mRNA entlang
bewegt); dabei gelangt das nächste Bindung an die Aminoacyl-tRNA in
zu translatierende Codon an die der A-Stelle.
A-Stelle.

Abbildung 17.19: Der Elongationszyklus der Translation. Bei der Elongation (Kettenverlängerung) spielt die Hydrolyse von GTP eine wichtige
Rolle. Die Elongationsfaktoren – eine Gruppe von an diesem Prozess beteiligten Proteinen – sind hier nicht eingezeichnet.

„Release factor”
(Freisetzungsfaktor) freies
Polypeptid

5′
3′ 3′

3′
5′ 5′ 2 GTP

2 GDP + 2 P i
Stopcodon
(UAG, UGA oder UAA)
1 Wenn ein Ribosom das Stopcodon einer mRNA 2 Der „Release factor” hydrolysiert die Bindung 3 Die beiden ribosomalen Unterein-
erreicht, tritt der „Release factor” in die A- zwischen der tRNA an der P-Stelle und dem heiten und die anderen Kompo-
Stelle des Ribosoms ein. Das ist ein Protein, letzten Aminosäurerest der Polypeptidkette. nenten des Verbandes dissoziieren.
dessen Struktur einem tRNA-Molekül ähnelt. Auf diese Weise wird das neue Polypeptid
vom Ribosom abgelöst.

Abbildung 17.20: Die Termination der Translation. Wie die Elongation benötigt auch die Termination Energie aus der Hydrolyse von GTP, sowie
weitere, hier nicht dargestellte, Proteinfaktoren.

455
17 Vom Gen zum Protein

17.4.3 Vom Polypeptid zum hormon) synthetisiert und erst danach durch eine
funktionsfähigen Protein enzymatische Spaltung als aktives Hormon freigesetzt.
Dabei wird in der Mitte der Polypeptidkette gezielt ein
Der Translationsprozess allein reicht oft nicht zur Bil- Stück herausgetrennt. Es entstehen zwei Polypeptide,
dung eines funktionsfähigen Proteins aus. Im folgen- die dann durch einen weiteren Typ posttranslationaler
den Abschnitt werden Sie erfahren, wie eine Polypep- Modifikation, nämlich über Disulfidbrücken (–S–S–)
tidkette nach der Translation noch verändert werden kovalent miteinander verbunden werden. In anderen
kann. Außerdem werden wir einige der Mechanismen Fällen treten zwei oder mehr Polypeptidketten, die
ansprechen, die den Transport bestimmter Proteine an unabhängig voneinander synthetisiert worden sind,
ihre jeweiligen Zielorte in der Zelle festlegen. zusammen und werden so zu Untereinheiten eines
multimeren Proteins mit einer Quartärstruktur. Ein
Proteinfaltung und posttranslationale bekanntes Beispiel hierfür ist das Hämoglobin (siehe
Modifikationen Abbildung 5.18).
Noch während ihrer Synthese beginnt eine Polypep-
tidkette bereits mit ihrer räumlichen Faltung, die in Der Transport von Polypeptiden an bestimmte
ihrer Primärstruktur (Abfolge der Aminosäurereste) Zielorte
festgelegt ist. Es bildet sich ein Protein mit einer spe- Im elektronenmikroskopischen Bild lassen sich bei
zifischen Struktur (Konformation), die weiter durch eukaryontischen Zellen während der Proteinbiosyn-
Teil 3 seine Sekundär- und Tertiärstruktur charakterisiert these zwei Populationen von Ribosomen unterschei-
wird (siehe Abbildung 5.18). Ein Gen legt also die Pri- den: freie Ribosomen und solche, die an Membranen
märstruktur eines Polypeptids fest, aus der sich je gebunden sind (siehe Abbildung 6.10). Freie Riboso-
nach den Umgebungsbedingungen eine bestimmte men befinden sich im Cytosol und synthetisieren
Proteinstruktur ergibt. Oft sind auch noch Chaperone hauptsächlich Proteine, die im Cytoplasma verbleiben
(Faltungshelferproteine) in der Zelle an der Ausbil- und dort ihre Funktion erfüllen. Im Gegensatz dazu
dung der richtigen Konformation beteiligt (siehe Abbil- finden sich die gebundenen Ribosomen an der Außen-
dung 5.21). seite (der cytosolischen Seite) der Membran des endo-
Weitere Schritte in Form posttranslationaler Modifi- plasmatischen Reticulums (ER). Diese Ribosomen des
kationen können nötig sein, bevor ein Protein seine rauen ERs stellen die Proteine des Endomembransys-
Aufgabe in der Zelle erfüllen kann. Bestimmte Amino- tems (Kernhülle, endoplasmatisches Reticulum, Golgi-
säurereste können durch die kovalente Bindung von Apparat, Lysosomen/Vakuolen, Endosomen, Plasma-
Glykosylresten („Zuckern“), Lipiden, Phosphatgruppen membran) und von der Zelle sezernierte Proteine her
oder anderen chemischen Modifikationen verändert (darunter auch die meisten Membranproteine oder das
werden. Enzyme können auch einen oder mehrere schon erwähnte Insulin). Die Ribosomen beider Sys-
Aminosäurereste vom Aminoende der Polypeptidkette teme sind identisch und austauschbar.
abspalten oder das Protein in kleinere Peptide zerle- Was legt fest, ob ein Ribosom frei im Cytosol vorliegt,
gen (partielle Proteolyse). Beispielsweise wird Insulin oder ob es sich am rauen ER an der Membran veran-
zunächst als Teil einer größeren Polypeptidkette (Pro- kert? Die Polypeptidsynthese beginnt in jedem Fall im

1 Die Polypep- 2 Ein SRP (signal 3 Das SRP bindet an 4 Das SRP fällt ab und 5 Die Signal- 6 Der Rest des
tidsynthese recognition ein Rezeptorprotein die Proteinbiosyn- peptidase fertigen Poly-
beginnt an particle) bindet in der ER-Membran. these kommt wieder spaltet das peptids ver-
einem freien an das Signal- Dieser Rezeptor ist in Gang. Gleichzeitig Signalpeptid lässt das Ribo-
Ribosom im peptid und hält Teil eines Proteinkom- wird die Polypeptid- ab. som und faltet
Cytosol. die Synthese vor- plexes (Translokator- kette durch die sich im Innern
übergehend an. komplex), der eine Membran geschleust. des ER in seine
Membranpore bildet (Das Signalpeptid endgültige
und eine Signalpepti- bleibt währenddessen Konformation.
dase (ein das Signal- mit dem Translokator-
peptid abspaltendes komplex verbunden.)
Enzym) enthält.

Ribosom

mRNA
Signal
peptid ER-Membran
Signal- abgespal-
erkennungs- tenes Signal-
partikel peptid Protein
(SRP)
SRP-
Rezeptor-
CYTOSOL protein Abbildung 17.21:
Der Signalmecha-
Translokator- nismus für den
ER-LUMEN
komplex Transport von
Proteinen zum ER.

456
17.4 Translation – die RNA-abhängige Polypeptidsynthese: Eine nähere Betrachtung

Cytosol, wo ein freies Ribosom mit der Translation ist, kann sich ein zweites Ribosom stromaufwärts (5′) an
einer mRNA beginnt. Der Vorgang setzt sich bis zum die mRNA anlagern und ebenfalls mit der Translation
Ende fort, sofern nicht die entstehende Polypeptidkette beginnen. Es können also mehrere Ribosomen an einer
selbst die Verankerung am ER veranlasst. Die Proteine mRNA sitzen, aus denen verschieden lange Polypeptid-
des sekretorischen Wegs sind durch ein aminotermina- ketten herausragen. Derartige Aufreihungen von Riboso-
les Signalpeptid gekennzeichnet, das die Verankerung men heißen Polyribosomen (kurz Polysomen). Solche
am ER vermittelt (Abbildung 17.21). Das Signalpeptid supramolekularen Aggregate lassen sich im Elektronen-
ist eine Folge von etwa 20 Aminosäuren unmittelbar mikroskop sichtbar machen (Abbildung 17.22). Sie
am Beginn der Peptidkette oder in seiner Nähe. Sie ermöglichen der Zelle, sehr schnell viele Kopien eines
wird von einem als Signalerkennungspartikel (SRP; Polypeptids herzustellen.
engl. signal recognition particle) bezeichneten RNA/
Proteinkomplex erkannt und gebunden. Das SRP wirkt fertiges
Polypeptid
als Adapter, der das translatierende Ribosom zum ER wachsende
bringt und die Verankerung an der Membran über einen Polypeptide

in die ER-Membran eingelassenen SRP-Rezeptor ver-


ribosomale
mittelt. Der SRP-Rezeptor ist Teil eines multimeren Unterein-
Translokationskomplexes in der Membran. Die wach- heiten
sende Polypeptidkette wird durch eine vom Transloka-
Polyribosom
tionskomplex gebildete Membranpore in das Innere des Teil 3
ERs (ER-Lumen) transportiert. Der Transport des Poly- 5’-Ende
(„Anfang“) 3’-Ende
peptids in das Organell erfolgt im noch ungefalteten der mRNA
der mRNA
Zustand. Das Signalpeptid wird für gewöhnlich von
einer Signalpeptidase (einer Endopeptidase) gezielt (a) Ein mRNA-Molekül wird im Allgemeinen gleichzeitig
von mehreren Ribosomen translatiert. Diese Anord-
abgespalten. Der Rest der Polypeptidkette wird, je nach nung wird als Polysom oder Polyribosom bezeichnet.
seinem Bestimmungsort, vollständig in das ER-Lumen
freigesetzt oder – falls es sich um ein integrales Mem-
branprotein handelt – in die ER-Membran eingebettet.
Das Protein wird dann mithilfe von Transportvesikeln
an seinen eigentlichen Zielort in der Zelle gebracht. Ribosomen
Andere Signalpeptide bestimmen den Transport von mRNA
Polypeptiden zu den Mitochondrien, den Plastiden, in
den Zellkern oder zu anderen Organellen. Der entschei-
dende Unterschied besteht hier darin, dass die Transla-
tion vollständig im Cytosol abläuft und das fertige, kom-
plett oder teilweise gefaltete Protein in das Organell
importiert wird. Obwohl sich die Translokationsmecha- 0,1 µm
(b) Diese elektronenmikroskopische Auf-
nismen voneinander unterscheiden, wurde in allen bis- nahme zeigt ein großes Polysom aus
einer Bakterienzelle.
her untersuchten Fällen eine „Etikettierung“ der betref-
fenden Proteinsorte in Form eines Signalpeptids für den Abbildung 17.22: Polyribosomen.
Transport zu spezifischen Zielorten gefunden. Auch
Bakterien benutzen Signalpeptide, um Proteine zu kenn- Die Geschwindigkeit der Proteinproduktion kann so-
zeichnen, die in die Plasmamembran eingebaut oder aus wohl von Bakterien als auch von Eukaryonten da-
der Zelle ausgeschleust werden sollen. durch erhöht werden, dass sie viele Kopien der ent-
sprechenden mRNA herstellen. Allerdings gibt es
Unterschiede in der Koordination der Prozesse von
17.4.4 Die gleichzeitige Synthese vieler Transkription und Translation in diesen beiden Orga-
Polypeptide in Bakterien und nismengruppen. Der wichtigste Unterschied zwischen
Eukaryonten Bakterien und Eukaryonten besteht in der Kompar-
timentierung höherer Zellen. Durch das Fehlen eines
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir gesehen, Zellkerns laufen Transkription und Translation in
wie ein einzelnes Polypeptid anhand der in der mRNA Bakterien wie in einer Großraumfabrik häufig gekop-
codierten Information hergestellt wird. Normalerweise pelt ab und das entstehende Protein kann sofort an
wird aber nicht nur ein Molekül gebraucht, sondern seinen Wirkort gelangen (Abbildung 17.23).
viele Kopien. Ein einzelnes Ribosom kann ein durch- Im Gegensatz dazu trennt die Kernmembran in den
schnittlich großes Protein in weniger als einer Minute eukaryontischen Zellen die Transkription von der Trans-
herstellen. Im Regelfall übersetzen jedoch mehrere Ribo- lation. Außerdem werden im Zellkern viele RNA-Prozes-
somen gleichzeitig dasselbe mRNA-Molekül. An einem sierungen durchgeführt. Wie wir bereits beschrieben
einzelnen mRNA-Molekül werden also gleichzeitig viele haben, kann durch diese räumliche Trennung die Pro-
Translationsprodukte hergestellt. Nachdem das erste teinbiosynthese auch noch an verschiedenen Stellen
Ribosom am Startcodon die Translation eingeleitet hat reguliert werden. Abbildung 17.24 zeigt den Weg vom
und ein Stück in den codierenden Bereich eingewandert Gen zum Polypeptid in einer eukaryontischen Zelle.

457
17 Vom Gen zum Protein

RNA-Polymerase  Abbildung 17.23: Die Kopplung von Transkription und Translation in


Bakterien. In Bakterienzellen beginnt die Translation der mRNA, sobald das 5′-Ende
des mRNA-Moleküls sich von der DNA-Matrize ablöst. Die elektronenmikroskopische
DNA Aufnahme zeigt einen (kaum sichtbaren) DNA-Strang einer E. coli -Zelle, der von RNA-
mRNA Polymerasemolekülen transkribiert wird. Mit jedem RNA-Polymerasemolekül ist eine
Polyribosom wachsende mRNA verbunden, die bereits von anhaftenden Ribosomen translatiert
wird. Die in der Entstehung befindlichen neuen Polypeptidmoleküle sind auf der EM-
Transkriptions- 0,25 µm Aufnahme nicht zu sehen, aber im Schema darunter eingezeichnet.
RNA-Polymerase richtung DNA
 Abbildung 17.24: Übersicht über die Transkription und Translation in
einer eukaryontischen Zelle. Dieses Schema zeigt den Weg von einem Gen zu einem
Poly-
ribosom Polypeptid. Bedenken Sie, dass jedes Gen von der DNA wiederholt transkribiert werden
Polypeptid
kann und so viele Kopien einer mRNA hervorbringt. Auch kann jede mRNA mehrfach zur
(Amino- Translation in viele Polypeptidketten dienen. Die Gene können für Proteine codieren, oder
terminus) für verschiedene RNA-Moleküle (z.B. tRNA oder rRNA). Im Allgemeinen sind die Schritte
Ribosom
der Transkription und Translation in Bakterien, Archaeen und Eukaryonten ähnlich. Aller-
mRNA (5’-Ende)
dings ist die RNA-Prozessierung im eukaryontischen Zellkern ein wichtiges Unterschei-
dungsmerkmal. Außerdem unterscheiden sich die Initiationsphasen von Transkription und
Translation zwischen den verschiedenen Gruppen, ebenso wie die Mechanismen der Tran-
skriptionstermination.
Teil 3
DNA
TRANSKRIPTION
1 Eine DNA-Matrize wird
in eine RNA transkribiert.
3′
A
ly-
Po

RNA- RNA-
5′
Transkript Polymerase

RNA-PROZESSIERUNG
Exon
2 In eukaryontischen Zellen Primärtranskript
wird das Primärtranskript (prä-mRNA)
(prä-mRNA) in aller Regel
gespleißt und an beiden Intron
Enden modifiziert, um eine
für die Translation bereite Aminoacyl-tRNA-
mRNA zu erhalten, die aus -A Synthetase
dem Zellkern in das Cyto- Poly
plasma exportiert wird. ZELLKERN

Amino-
säure AMINOSÄUREAKTIVIERUNG
CYTOPLASMA
tRNA 4 Jede Aminosäure wird
3 Die mRNA verlässt mithilfe eines spezifischen
den Zellkern und lagert Enzyms unter ATP-Verbrauch
sich an ein Ribosom an. an die zugehörige tRNA
angeknüpft.
mRNA
wachsende
Polypeptidkette
p
Ca 3′
5′
A A
P
Aminoacyl- ly-
E tRNA-Synthetase Po
ribosomale
Unterein-
heiten

ap
5′ C

TRANSLATION
U
C C A 5 Eine Reihe von beladenen
A
C tRNAs knüpft ihre Amino-
E A
Anticodon säuren an die Polypeptid-
A A A
kette, während die mRNA
U G G U U U A U G Codon für Codon durch das
Ribosom wandert. (Wenn sie
Codon vollständig ist, löst sich die
Polypeptidkette vom
Ribosom ab.)
Ribosom

458
17.5 Punktmutationen können Struktur und Funktion eines Proteins beeinflussen

an Genen der verschiedensten Lebewesen verantwort-


 Wiederholungsfragen 17.4 lich, weil sie als Quelle neuer Allele und neuer Gene
dienen. In Abbildung 15.14 haben wir großräumige
1. Welche beiden Prozesse stellen sicher, dass der
Mutationen betrachtet – chromosomale Umlagerungen,
richtige Aminosäurerest in eine wachsende Po-
die lange Abschnitte der DNA betreffen. Im Weiteren
lypeptidkette eingebaut wird?
möchten wir uns näher mit Punktmutationen beschäf-
2. Erörtern Sie, wie die Struktur von rRNAs zur tigen – chemischen Veränderungen der DNA, die nur
Ribosomenfunktion beiträgt. einzelne Basen beziehungsweise Basenpaare betreffen.
Falls eine Punktmutation in einer Keimzelle oder
3. Beschreiben Sie, wie ein zur Sekretion be- einer ihrer Vorläuferzellen auftritt, kann sie auf die
stimmtes Polypeptid in das Endomembransys- Nachkommen übergehen und so auch auf folgende
tem des sekretorischen Weges gelangt. Generationen (sofern sie sich nicht auf die Lebens-
ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie eine tRNA mit
und Fortpflanzungsfähigkeit auswirkt). Bewirkt eine
4.
Mutation in der Keimbahn schwerwiegende Verände-
dem Anticodon 3′-CGU-5′. Welche beiden
rungen des Phänotyps, so liegt eine Erbkrankheit vor.
Codons könnten hier binden? Zeichnen Sie je-
Beispielsweise lässt sich das Krankheitsbild der
des dieser Codons getrennt mit seiner mRNA
Sichelzellenanämie auf die Mutation eines einzelnen
und der tRNA mit der anhängenden Amino-
Basenpaares im β-Globin-Gen (das die β-Untereinheit
säure. Welche ist das? Beschriften Sie alle 5'-
des Hämoglobins codiert) zurückführen. Die Verände- Teil 3
und 3'-Enden.
rung eines einzigen Nucleotids im Matrizenstrang der
5. WAS WÄRE, WENN? Man hat beobachtet, dass DNA führt also zur Bildung eines strukturell veränder-
sich einzelne mRNA-Moleküle in eukaryonti- ten Proteins (Abbildung 17.25; siehe außerdem Abbil-
schen Zellen zu einem Ring schließen, da es dung 5.19). Bei Individuen, die homozygot für das
Proteine gibt, die die jeweilige 5′-Cap-Struktur Mutantenallel sind, führt die durch das defekte Hämo-
und den Poly-A-Schwanz in eine räumliche globin hervorgerufene sichelförmige Verformung der
Nähe zueinander bringen. Wie könnte durch roten Blutkörperchen (Sichelzellen) zu den typischen
diesen Mechanismus die Translationseffizienz Symptomen der Sichelzellenanämie (siehe auch Kapi-
erhöht werden? tel 14 und Abbildung 23.17). Ein weiteres Beispiel ist
ein Herzfunktionsfehler, der für den plötzlichen Herz-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. tod bei jungen Sportlern verantwortlich ist, die soge-
nannte familiäre Kardiomyopathie. Es wurden ver-
schiedene Punktmutationen in einer Reihe von für
Muskelproteine codierenden Genen gefunden, von
denen jede einzelne zu dieser Krankheit führen kann.
Punktmutationen können
Struktur und Funktion
eines Proteins beeinflussen
17.5 17.5.1 Verschiedene Formen der
Punktmutation
Nachdem wir nun die Grundlagen gelegt haben, kön- Punktmutationen lassen sich in drei Gruppen unter-
nen wir verstehen, welche Auswirkungen Veränderun- teilen: (1) Basenpaar-Austausche, (2) Basenpaar-Inser-
gen der genetischen Information (Mutationen) einer tionen und (3) Basenpaar-Deletionen. Schauen wir
Zelle haben. Mutationen sind für die gewaltige Vielfalt uns an, wie diese Mutationsformen sich auf ein zu bil-

β-Globin des Wildtyps Sichelzellen-β-Globin


Der Matrizenstrang
β-Globin-DNA des Wildtyps β-Globin-DNA der Mutanten des Mutantenallels
3′ C T C 5′ 3′ C A C 5′ (oben) enhält ein
A, wo im Wildtyp-
5′ G A G 3′ 5′ G T G 3′
gen ein T steht.

Die mRNA der


mRNA mRNA Mutanten weist in Abbildung 17.25: Die molekulare Grund-
5′ G A G 3′ 5′ G U G 3′ einem Codon ein lage der Sichelzellenanämie ist eine
U anstelle eines A Punktmutation. Das die Sichelzellenanämie
auf. hervorrufende Allel unterscheidet sich vom Wild-
Das Hämoglobin typallel in einem einzigen Basenpaar der DNA.
normales Hämoglobin Sichelzellenhämoglobin
der Mutanten (Si- Die nachträglich gefärbten rasterelektronenmik-
Glu Val chelzellenhämoglo-
bin) enthält ein roskopischen Aufnahmen zeigen ein normales
Valin (Val) anstelle rotes Blutkörperchen (links) und eines aus einem
einer Glutamin- Patienten, der homozygot für das mutante Allel
säure (Glu). ist (rechts).

459
17 Vom Gen zum Protein

dendes Protein auswirken, wenn sie im codierenden tung eines Codons, so dass eine andere Aminosäure im
Bereich eines Gens auftreten. Protein eingebaut wird, dann spricht man von einer Mis-
sense-Mutation (engl. missense, „Fehlsinn“). Ein solcher
Substitutionen (Basenpaar-Austausche) Austausch muss keine dramatischen Auswirkungen auf
Eine Basenpaar-Substitution (ein Basenpaar-Austausch) die Proteinfunktion haben. Die neue Aminosäure kann
ist der Ersatz eines Nucleotids und seines Gegenübers ähnliche Eigenschaften aufweisen wie die ursprüng-
auf dem komplementären DNA-Strang durch ein ande- liche, so dass sich die Funktion des Proteins nicht
res Nucleotidpaar (Abbildung 17.26a). Man spricht von ändert (beispielsweise der Austausch eines Leucins
einer stummen Mutation, wenn aufgrund der Redun- gegen ein Isoleucin) oder in einem für die Protein-
danz des genetischen Codes ein solcher Austausch keine funktion unwichtigen Bereich auftreten.
Auswirkung auf die Aminosäuresequenz hat. Bei einer Besonders interessant sind aber Basenpaarsubstitutio-
stummen Mutation wird also ein Codon in ein anderes nen, die zu drastischen Veränderungen des Proteins füh-
überführt, das die gleiche Aminosäure festlegt. Mutiert ren. Die Veränderung eines Aminosäurerests in einem
ein Codon der Basenfolge 3′-CCG-5′ des Matrizenstrangs für die Funktion entscheidenden Bereich des Proteins,
zu 3′-CCA-5′, so verändert sich das entsprechende wie in Abbildung 17.25 am Hämoglobinmolekül darge-
Codon der mRNA von GGC zu GGU. Im Protein würde stellt, oder dem aktiven Zentrum eines Enzyms, wirkt
an dieser Stelle in beiden Fällen ein Glycin eingebaut sich drastisch auf die Aktivität des betroffenen Proteins
(Abbildung 17.5). Verändert eine Substitution die Bedeu- aus. Gelegentlich kann eine solche Mutation zwar auch
Teil 3
Wildyp
DNA-Matrizenstrang 3’ T A C T T C A A A C C G A T T 5’
5’ A T G A A G T T T G G C T A A 3’

mRNA 5’ A U G A A G U U U G G C U A A 3’
Protein Met Lys Phe Gly
Stop
Aminoterminus Carboxyterminus

A anstelle von G zusätzliches A


3’ T A C T T C A A A C C A A T T 5’ 3’ T A C A T T C A A A C C G A T T 5’
5’ A T G A A G T T T G G T T A A 3’ 5’ A T G T A A G T T T G G C T A A 3’
U anstelle von C zusätzliches U
5’ A U G A A G U U U G G U U A A 3’ 5’ A U G U A A G U U U G G C U A A 3’
Met Lys Phe Gly Met
Stop Stop
stille Mutation (keine Veränderung der Aminosäure- Rasterschub, der zu einer unmittelbaren Nonsense-
sequenz) Mutation führt (Insertion eines Basenpaares)

T anstelle von C Verlust eines A


3’ T A C T T C A A A T C G A T T 5’ 3’ T A C T T C A A C C G A T T 5’
5’ A T G A A G T T T A G C T A A 3’ 5’ A T G A A G T T G G C T A A 3’
A anstelle von G Verlust eines U
5’ A U G A A G U U U A G C U A A 3’ 5’ A U G A A G U U G G C U A A 3’
Met Lys Phe Ser Met Lys Leu Ala
Stop
Missense-Mutation Rastermutation führt zu einem fortgesetzten Einbau
„falscher” Aminosäuren (Deletion eines Basenpaares).

A anstelle von T Verlust eines T T C

3’ T A C A T C A A A C C G A T T 5’ 3’ T A C A A A C C G A T T 5’
5’ A T G T A G T T T G G C T A A 3’ 5’ A T G T T T G G C T A A 3’

U anstelle von A Verlust eines A A G


5’ A U G U A G U U U G G U U A A 3’ 5’ A U G U U U G G C U A A 3’

Met Met Phe Gly


Stop Stop
Nonsense-Mutation Keine Leserasterverschiebung, aber ein Codon (ein Amino-
säurerest) geht verloren (Deletion von drei Basenpaaren).

(a) Basenpaarsubstitution. (b) Basenpaarinsertion oder -deletion.

Abbildung 17.26: Die verschiedenen Arten von Punktmutationen. Mutationen sind Veränderungen der DNA, die zu Veränderungen der mRNAs
und der von diesen gebildeten Proteine führen können, wenn sie im codierenden Bereich von Genen auftreten.

460
17.5 Punktmutationen können Struktur und Funktion eines Proteins beeinflussen

zu einem verbesserten Protein mit neuen Eigenschaften Mutationen in der DNA können durch viele physikali-
führen, in der Regel erweist sie sich aber als nachteilig, sche Einflüsse und chemische Substanzen, die allge-
weil sie ein funktionsloses und damit unbrauchbares mein als Mutagene bezeichnet werden, hervorgerufen
Protein hervorbringt. werden. Im Jahr 1927 beobachtete der amerikanische
Mutationen durch Substitution sind für gewöhnlich Genetiker Hermann Joseph Muller, dass die zu Beginn
Missense-Mutationen, das heißt, dass das veränderte des Jahrhunderts entdeckten Röntgenstrahlen bei Tau-
Codon noch immer für eine Aminosäure codiert, aber fliegen Mutationen auslösen und setzte sie gezielt ein,
nicht für die gewünschte. Eine Punktmutation kann um Drosophila-Mutanten für seine genetischen Stu-
aber auch ein Codon in ein Stopcodon umwandeln. dien zu erhalten. Außerdem machte er auf eine besorg-
Dann spricht man von einer Nonsense-Mutation (engl. niserregende Beobachtung aufmerksam: Röntgenstrah-
nonsense, „Unsinn“), die zu einem vorzeitigen Abbruch len und andere Formen hochenergetischer Strahlung
der Translation führt. Das gebildete Protein ist dann ver- beschädigen die Erbsubstanz von Menschen ebenso
kürzt und in der Regel funktionslos (Abbildung 17.26a). wie die von Versuchstieren im Labor. Solche Strahlun-
gen gelten als physikalische Mutagene und schließen
Insertionen und Deletionen auch die UV-Strahlung des Sonnenlichts mit ein, die
Insertionen (Baseneinschübe) und Deletionen (Basen- zur Bildung von Thymindimeren in der DNA führt
ausfälle) sind Mutationen durch überzählige oder weg- (siehe Abbildung 16.19).
fallende Basenpaare (Abbildung 17.26b). Diese Muta- Die mutagenen Substanzen (chemische Mutagene)
tionsformen haben normalerweise schwerwiegende lassen sich verschiedenen Gruppen zuordnen. So han- Teil 3
Folgen für das gebildete Protein. Die Insertion bezie- delt es sich bei Basenanaloga um Stoffe, die anstelle der
hungsweise die Deletion von Nucleotiden führt oft zu normalen Nucleobasen in die Nucleinsäuren eingebaut
einer Verschiebung des Leserasters des genetischen werden. Andere mutagene Stoffe stören die Replikation
Textes. Solche Mutationen werden Rasterschubmuta- der DNA, indem sie sich zwischen den Basenpaaren
tionen (Frameshift-Mutationen) genannt. Sie kommen der DNA einlagern (interkalieren) und so die Doppel-
immer dann zustande, wenn die Anzahl der eingefüg- helixstruktur stören. Noch andere Mutagene sind reak-
ten oder entfernten Nucleotidpaare keine Vielfachen tive Substanzen, die Basen chemisch modifizieren und
von drei sind. Alle Nucleotide, die 3′ (stromabwärts) so die Basenpaarungen verändern.
von der mutierten Stelle in der mRNA liegen, werden Man hat verschiedene Methoden entwickelt, um die
dann zu falschen Codons gruppiert und führen zu mutagene Wirkung von Chemikalien quantitativ zu
einem vollkommen anderen Polypeptid. Meistens füh- bestimmen. Diese Verfahren werden hauptsächlich ein-
ren sie auch früher oder später zu einer vorzeitigen Ter- gesetzt, um bereits verbreitete oder neu synthetisierte
mination der Translation, weil ein Stopcodon im neuen Substanzen auf ihre mutagene Wirkung zu untersuchen.
Leseraster auftaucht. Falls die Rasterverschiebung nicht Dies ist deshalb sinnvoll, weil die meisten Karzinogene
ganz am Ende des codierenden Bereichs auftritt, ist das (krebserzeugende Stoffe) auch Mutagene sind und
gebildete Protein fast immer funktionslos. umgekehrt die meisten Mutagene auch Krebs auslösen.

17.5.2 Neue Mutationen und Mutagene 17.5.3 Was ist ein Gen?
Eine neue Betrachtung
Mutationen können verschiedene Ursachen haben:
Fehler während der Replikation der DNA oder der Unsere Definition eines Gens hat sich in den letzten
Rekombination können zu Substitutionen, Deletionen, Kapiteln ebenso gewandelt wie im Laufe der
Insertionen oder anderen größeren Veränderungen der Geschichte der Genetik selbst. Wir gingen von Men-
DNA führen. Wenn während der Replikation ein fal- dels Konzept des Gens als eigenständiger Vererbungs-
sches Nucleotid in die Molekülkette eingefügt wird, einheit, die ein phänotypisches Merkmal festlegt, aus
kommt es zur Fehlpaarung mit der gegenüberliegenden (siehe Kapitel 14). Wir haben dann gesehen, dass
Base des komplementären Stranges. Meist wird ein sol- Morgan und seine Kollegen Gene bestimmten Genor-
cher Fehler durch die Reparatursysteme, mit denen wir ten (Loci) auf Chromosomen zugeordnet haben (Kapi-
uns in Kapitel 16 vertraut gemacht haben, behoben. tel 15), und in Kapitel 16 haben wir dann ein Gen als
Wenn dies nicht geschieht, wird die fehlerhaft einge- eine Folge von Nucleotiden in einem DNA-Molekül
baute Base bei der nächsten Replikationsrunde zusam- mit einem verschlüsselten Informationsgehalt kennen-
men mit dem Rest des Molekülstrangs als Matrize ver- gelernt. Schließlich haben wir in diesem Kapitel (Kapi-
wendet und die Mutation bleibt auf diese Weise tel 17) eine funktionelle Definition entwickelt, die ein
erhalten. In diesem Fall spricht man von spontanen Gen als eine Basen- oder Nucleotidfolge ansieht, die für
Mutationen. Es ist schwierig, die Häufigkeit solcher eine bestimmte Polypeptidkette codiert (Abbildung
spontanen Mutationen zu bestimmen. Sowohl bei 17.24). Alle diese Definitionen können im jeweiligen
E. coli als auch bei einigen untersuchten Eukaryonten Zusammenhang, in dem Gene betrachtet werden sol-
findet man spontane Mutationen in einem bestimmten len, nützlich sein.
Gen während der DNA-Replikation mit einer Häufig- Die Aussage, dass ein Gen ein Polypeptid codiert, ist
keit zwischen 10–7 und 10–10 (also eine Mutante unter offensichtlich zu stark vereinfacht. Die meisten euka-
10 Millionen bis 10 Milliarden Nachkommen). ryontischen Gene enthalten in ihren offenen Leserastern

461
17 Vom Gen zum Protein

(ORFs; engl. open reading frames) nicht-codierende für die Bildung von Haaren zu exprimieren! Die Gen-
Abschnitte, die Introns, die so umfangreich sein kön- expression unterliegt einer genauen Regulation. Wir
nen, dass große Anteile der Gene sich nicht im Transla- werden die Genregulation im nächsten Kapitel
tionsprodukt wiederfinden. Zu einem Gen gehören auf beleuchten, in dem wir mit dem einfacheren Fall einer
der molekularen Ebene neben dem offenen Leseraster, Bakterienzelle beginnen und uns danach den Eukaryon-
das die codierenden Sequenzen enthält, auch der Pro- ten zuwenden.
motor und andere regulatorische Bereiche der DNA.
Diese auf der DNA liegenden Sequenzen werden nicht
transkribiert, sind aber zweifelsfrei doch Teil eines Gens
als Funktionseinheit, weil ohne sie die Transkription  Wiederholungsfragen 17.5
nicht stattfinden kann. Unsere molekulare Definition
eines Gens muss außerdem breit genug angelegt sein, 1. Was passiert, wenn ein Nucleotidpaar in der
um auch codierende DNA einzuschließen, die zu nicht- Mitte des codierenden Bereichs eines Gens
translatierten RNAs wie rRNA, tRNA und anderen Ribo- fehlt, also deletiert ist?
nucleinsäuren umgeschrieben wird. Diese Gene spie-
2. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Personen, die he-
len, obgleich sie nicht zu Translationsprodukten füh-
terozygot für das Allel der Erbkrankheit Sichel-
ren, eine entscheidende Rolle in der Zelle. Dies führt
zellenanämie sind, zeigen normalerweise keine
uns zu der folgenden Definition: Ein Gen ist ein DNA-
Krankheitssymptome. Es gibt jedoch Umstände,
Teil 3 Bereich, der exprimiert werden kann und dabei ent-
unter denen die Symptome dennoch auftreten.
weder ein Polypeptid oder ein RNA-Molekül als End-
Erklären Sie diesen Befund mithilfe dessen, was
produkt mit einer Funktion herstellt.
Sie über die Genexpression gelernt haben.
Wenn wir Phänotypen betrachten, erweist es sich oft
als nützlich, mit Genen zu beginnen, die Polypeptide 3. ZEICHENÜBUNG Ein Gen, dessen Matrizenstrang
codieren. In diesem Kapitel haben wir gelernt, wie auf die Basensequenz 3′-TACTTGTCCGATATC-5′
der molekularen Ebene ein typisches Gen exprimiert enthält, mutiert zu 3′-TACTTGTCCAATATC-5′.
wird: durch Transkription in eine RNA, die dann in Zeichnen Sie für den Ausgangsstrang und für
ein Polypeptid translatiert wird, aus der ein Protein den mutierten Strang jeweils den Gegenstrang,
mit einer bestimmten Struktur und Funktion hervor- die sich bei einer Transkription ergebende RNA-
geht. Proteine bestimmen ihrerseits dann den sicht- Sequenz sowie die Aminosäuresequenz nach
baren Phänotyp des Lebewesens. der Translation. Beginnen Sie den Triplettcode
Eine gegebene Zelle exprimiert in aller Regel nur hierfür bei der ersten Base. Wie wirkt sich die
einen Teil der in ihr enthaltenen Gene. Dies ist ein Mutation auf die Aminosäuresequenz aus?
wesentliches Merkmal aller Organismen. Sie können
sich die Folgen vorstellen, wenn beispielsweise die Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Zellen des Augapfels plötzlich damit anfingen, Gene

462
Zusammenfassung

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 1 7 

Konzept 17.1 ? Welche Unterschiede und welche Übereinstimmungen gibt es bei der
Die Verbindung von Genen und Proteinen über Tran- Initiation der Transkription bei Bakterien und Eukaryonten?
skription und Translation

 Die DNA steuert den Stoffwechsel, indem sie die Konzept 17.3
Herstellung bestimmter Enzyme und anderer Pro- mRNA-Moleküle werden in eukaryontischen Zellen
teine anweist. Die Beadle/Tatum-Experimente mit nach der Transkription modifiziert
Mutantenstämmen des Pilzes Neurospora führten
zur „Ein Gen = Ein Enzym-Hypothese“. Gene codie-  Eukaryontische mRNA-Moleküle werden noch ver-
ren Polypeptidketten (Enzyme oder andere Proteine) ändert (prozessiert), bevor sie den Zellkern verlas-
oder RNA-Moleküle. sen. Diese Prozessierung beinhaltet das Spleißen
 Die Transkription (Umschreibung) ist die nucleo- der prä-mRNA. Eine Modifizierung erfolgt außer-
tidgenaue Herstellung einer zum Matrizenstrang dem an beiden Enden des Moleküls: Das 5′-Ende
der DNA komplementären RNA. Die Translation wird mit einer 5′-Cap-Struktur versehen, das 3′-
(Übersetzung) ist die Informationsübertragung von Ende mit einem Poly-A-Schwanz.
der Ebene der mRNA (Nucleotidsequenzen) auf die  Die meisten eukaryontischen Gene weisen offene Teil 3
der Proteine (Aminosäuresequenzen). Leseraster auf, deren codierende Bereiche (Exons)
 Die genetische Information zur Herstellung von von nicht-codierenden Introns unterbrochen sind.
Proteinen ist in Form nicht-überlappender Basen- Die Größe und Zahl der Introns variiert bei ver-
tripletts (Codons) gespeichert. Ein Codon der schiedenen Genen und Arten. Beim Spleißen der
Boten-RNA (mRNA) wird entweder in eine Amino- prä-mRNA werden die Introns basengenau heraus-
säure übersetzt (61 der 64 möglichen Codons) oder getrennt und die Exonbereiche kovalent miteinan-
es dient als Stoppsignal (drei Codons). Die Codons der verknüpft. Der Spleißvorgang wird normaler-
müssen im richtigen Leseraster abgelesen werden. weise von Spleißosomen durchgeführt, kann in
einigen Fällen aber auch ohne äußere Hilfe autoka-
? Beschreiben Sie den Prozess der Genexpression und erklären Sie, wie talytisch erfolgen. Die katalytische Befähigung der
ein Gen den Phänotyp eines Organismus beeinflusst. als Ribozyme bezeichneten Ribonucleinsäuren ist
eine immanente Eigenschaft dieser RNAs. Die Exis-
tenz von Introns ermöglicht das alternative Splei-
Konzept 17.2 ßen von RNA-Molekülen.
Transkription – die DNA-abhängige RNA-Synthese
5′ Cap Poly-A-Schwanz
5′ Exon Intron Exon Intron Exon 3′
 Die RNA-Synthese wird von RNA-Polymerasen kata- prä-mRNA
lysiert. Der Vorgang unterliegt der gleichen Basenpaa-
rungsregel wie die DNA-Replikation, nur dass in der mRNA
RNA Uracil durch Thymin und die Desoxyribose
5′- codierender 3′-
durch Ribose ersetzt werden. untranslatierter Bereich untranslatierter
Bereich Bereich

Transkriptionseinheit
? Welche Aufgaben erfüllen die 5′-Cap-Struktur und der Poly-A-Schwanz
Promotor am 3′-Ende der eukaryontischen mRNAs?
5’ 3’ 3’
3’ 5’
5’ Matrizenstrang Konzept 17.4
RNA-Transkript RNA-Polymerase der DNA Translation – die RNA-abhängige Polypeptidsynthese

 Eine Zelle translatiert (übersetzt) eine in Form einer


 Die Transkription unterteilt sich in die drei Stadien mRNA vorliegende Anweisung in ein Protein. Dazu
der Initiation, der Elongation und der Termination. bedient sie sich der Hilfe von tRNA-Molekülen
Promotoren sind die Initiationsorte der RNA-Syn- (Transfer-Ribonucleinsäuren). Nach der kovalenten
these und enthalten bei eukaryontischen Genen oft Anknüpfung bestimmter Aminosäurereste durch
eine TATA-Box. Transkriptionsfaktoren helfen euka- Aminoacyl-tRNA-Synthetasen, wechselwirken Ami-
ryontischen RNA-Polymerasen bei der Erkennung noacyl-tRNAs (AA-tRNAs) mit zu translatierenden
des Promotorbereichs und bei der Ausbildung des mRNAs. Die Paarung erfolgt zwischen dem Anti-
Transkriptions-Initiationskomplexes. Der Termina- codon der AA-tRNA und einem Codon der mRNA.
tionsmechanismus unterscheidet sich zwischen Bak- Ribosomen vermitteln die Wechselwirkung dieser
terien und Eukaryonten. Moleküle und helfen bei der Ausbildung der Pep-
tidbindungen bei der Übertragung der Aminoacyl-

463
17 Vom Gen zum Protein

reste von der AA-tRNA auf eine wachsende Peptid-  Ein Gen kann gleichzeitig von mehreren RNA-Poly-
kette. merasen transkribiert werden. Auch kann ein einzel-
 Ribosomen koordinieren die drei Schritte der Trans- nes mRNA-Molekül gleichzeitig von einer Reihe von
lation: Initiation, Elongation und Termination. Die Ribosomen translatiert werden. Dabei bildet sich ein
Bildung von Peptidbindungen zwischen Aminosäu- Polyribosom. In Bakterien laufen Transkription und
ren wird von der rRNA katalysiert, indem die tRNA- Translation häufig gekoppelt ab, in Eukaryonten
Moleküle nacheinander durch die A- und P-Stellen werden diese beiden Prozesse durch die Kernmem-
des Ribosoms wandern und nach erfolgter Peptidver- bran räumlich und zeitlich voneinander getrennt.
knüpfung das Ribosom durch die E-Stelle verlassen.
? Welche Aufgabe haben die tRNAs bei der Translation?

Polypeptid
Konzept 17.5
Aminosäure Punktmutationen können Struktur und Funktion eines
tRNA
Proteins beeinflussen

 Eine Punktmutation ist die Veränderung eines ein-


Anti- zelnen Basenpaars eines DNA-Moleküls und kann
E A
codon zur Bildung eines fehlerhaften Proteins führen, das
Teil 3 seine normale Funktion nicht mehr ausüben kann.
Codon
Basenpaarsubstitutionen können folgenlos sein
mRNA
oder zu Missense- oder Nonsense-Mutationen füh-
Ribosom
ren. Die Insertion oder Deletion von Basenpaaren
kann zur Verschiebung des Leserasters (Frame-
 Nach Abschluss der Translation erfolgen gegebe- shift-Mutation) führen.
nenfalls posttranslationale Modifikationen, die den  Spontane Mutationen können im Verlauf der Repli-
funktionalen Zustand und/oder die Konformation kation, der Rekombination oder der Reparatur der
des Proteins beeinflussen. Die Initiation der Pro- DNA eintreten. Chemische und physikalische Muta-
teinbiosynthese erfolgt in jedem Fall an freien Ribo- gene verursachen DNA-Schäden, die zur Verände-
somen im Cytosol. Signalpeptidsequenzen an den rung von Genen führen.
Proteinen des sekretorischen Wegs führen zu einem  Ein Gen ist ein DNA-Bereich, dessen abschließen-
Transport des Translationskomplexes zur ER-Mem- des funktionelles Produkt entweder ein Polypeptid
bran. Das Signalpeptid wird vom Signalerken- oder ein RNA-Molekül ist.
nungsteilchen (SRP) erkannt und gebunden. Das SRP
vermittelt die Anbindung an die ER-Membran. ? Was passiert, wenn eine einzelne Base chemisch modifiziert wird?
Welche Rolle spielen die DNA-Reparatursysteme in der Zelle?

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜBU NG S A UF G ABE N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis 3. Das Anticodon einer bestimmten tRNA ist
a. komplementär zum entsprechenden Codon ei-
1. In eukaryontischen Zellen beginnt die Transkrip- ner mRNA
tion nicht, bevor b. komplementär zum entsprechenden Codon ei-
a. die beiden DNA-Stränge sich vollständig ge- ner rRNA
trennt und den Promotor freigegeben haben c. der Teil einer tRNA, der einen bestimmten Ami-
b. mehrere Transkriptionsfaktoren an den Promo- nosäurerest bindet
tor gebunden haben d. katalytisch aktiv und macht die tRNA zu ei-
c. die 5′-Cap-Struktur von der mRNA abgelöst nem Ribozym
worden ist
d. die Introns aus der DNA-Matrize entfernt wor- 4. Welche der folgenden Aussagen über die mRNA-
den sind Prozessierung trifft nicht zu?
a. Exons werden herausgetrennt, bevor die mRNA
2. Welche der folgenden Aussagen über ein Codon den Zellkern verlässt.
trifft nicht zu? b. Nucleotide können an beide Enden der RNA
a. Es kann für den gleichen Aminosäurerest co- angefügt werden.
dieren wie ein anderes Codon. c. Ribozyme können im Rahmen der RNA-Pro-
b. Es codiert nie für mehr als eine Aminosäure. zessierung ihre Wirkung entfalten.
c. Es liegt an einem Ende eines tRNA-Moleküls. d. Das Spleißen der RNA kann von Spleißosomen
d. Es ist die grundlegende Einheit des genetischen katalysiert werden.
Codes.

464
Übungsaufgaben

5. Welche der folgenden molekularen Komponen- Codons bestimmt. Geben Sie einen möglichen
ten einer Zelle ist nicht unmittelbar an der Trans- Grund, warum sich dies in der Evolution so entwi-
lation beteiligt? ckelt hat. (Hinweis: Es gibt einen Erklärungsansatz,
a. GTP der auf den historischen Ursprung des Codes ab-
b. DNA zielt, und weitere – weniger offensichtliche –, de-
c. tRNA nen eine „Die Form folgt der Funktion“-Überle-
d. Ribosomen gung zugrunde liegt.)

Ebene 2: Anwendung und Auswertung 11. Wissenschaftliche Fragestellung Mit dem Wissen,
dass der genetische Code praktisch von universel-
6. Welche der folgenden Basenfolgen codiert in einer ler Gültigkeit ist, bringt ein Gentechniker das β-
mRNA in der gewohnten 5′→3′-Richtung für das Globin-Gen des Menschen (Abbildung 17.11) in
Tripeptid Phe-Pro-Lys? (Ziehen Sie Abbildung 17.5 Bakterienzellen ein. Er tut dies in der Hoffnung,
zu Rate.) dass die Bakterien das β-Globin bilden werden.
a. 5′-UUUGGGAAA-3′ Das produzierte Protein ist jedoch funktionsun-
b. 5′-GAACCCCTT-3′ tüchtig und enthält viel weniger Aminosäurereste
c. 5′-CTTCGGGAA-3′ als das von eukaryontischen Zellen hergestellte β-
d. 5′-AAACCCUUU-3′ Globin. Geben Sie verschiedene mögliche Erklä-
rungen für den experimentellen Fehlschlag. Teil 3
7. Welche der folgenden Mutationen hätte am ehes-
ten eine nachteilige Wirkung auf den sie tragen- 12. Skizzieren Sie ein Thema: Informationsweiter-
den Organismus? gabe Die Evolution ist sowohl für die Überein-
a. eine Deletion von drei Nucleotiden in der Mitte stimmungen als auch für die Vielfalt des Lebens
des offenen Leserasters eines Gens (ORFs) verantwortlich. Die Konstanz der Arten basiert
b. eine Einzelnucleotid-Deletion in der Mitte ei- auf der Möglichkeit, die in der DNA gespeicherte
nes Introns genetische Information an die nächste Generation
c. eine Einzelnucleotid-Deletion am Ende einer vererben zu können. Erläutern Sie in einem kur-
codierenden Sequenz zen Aufsatz (in 150–200 Worten), wie die Genau-
d. eine Einzelnucleotid-Insertion am Beginn ei- igkeit der DNA-Weitergabe den Prozess der Evo-
ner codierenden Sequenz lution unterstützt. (Schauen Sie sich dazu nochmal
das Konzept 16.2 zum Thema Korrekturlesen und
8. Könnte der in Abbildung 17.23 gezeigte Vorgang DNA-Reparatur an.)
der Kopplung von Transkription und Translation
auch in eukaryontischen Zellen stattfinden? Er- 13. NUTZEN SIE IHR WISSEN Einige Mutationen haben
klären Sie, warum oder warum nicht? zur Folge, dass ein Protein bei einer bestimmten
Temperatur seine Funktion ausüben kann, bei ei-
9. ZEICHENÜBUNG Vervollständigen Sie folgende ner anderen (meist höheren) Temperatur dagegen
Tabelle: nicht. Siamkatzen besitzen eine solche tempera-
tursensitive Mutation in einem Gen, das für die
dunklen Pigmente im Fell verantwortlich ist. Die
RNA-Typ Funktion/en
Mutation bewirkt die individuelle Musterung des
Boten-RNA (mRNA) Fells und die helleren Stellen (siehe Foto). Nut-
zen Sie diese Information und was Sie in diesem
Transfer-RNA (tRNA)
Kapitel gelernt haben, um die Fellmusterung die-
spielt eine katalytische (Ribo- ser Katze zu erklären.
zym) und eine strukturelle
Rolle im Ribosom
Primärtranskript
kleine RNA im Zellkern (snRNA)

Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten

10. Verbindung zur Evolution Aus dem genetischen


Code (Abbildung 17.5) lassen sich viele Rück- Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
schlüsse auf die Evolution ziehen. Beachten Sie weitere Übungen und vertiefende Materia-
beispielsweise, dass die 20 proteinbildenden Ami- lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
nosäuren nicht zufällig verteilt sind. Die meisten für Campbell Biologie sowie im Anhang A.
Aminosäuren werden von einer Reihe ähnlicher

465
Regulation der Genexpression

18.1 Bakterien passen ihr Transkriptionsmuster den wechselnden 18


Umweltbedingungen an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
18.2 Die Expression eukaryontischer Gene kann auf verschiedenen
Stufen reguliert werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
18.3 Die Regulation der Genexpression durch nicht-codierende RNAs . . 483

KONZEPTE
18.4 Die verschiedenen Zelltypen in einem Lebewesen entstehen
nach einem Programm zur differenziellen Genexpression . . . . . . 485
18.5 Krebs entsteht durch genetische Veränderungen, die den
Zellzyklus deregulieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

 Abbildung 18.1: Wie entwickelt sich ein Fischauge,


das genauso gut über wie unter Wasser sehen kann?
18 Regulation der Genexpression

Differenzielle Expression von Genen


Bei dem in Abbildung 18.1 gezeigten Vierauge (Anab- die dazu nicht in der Lage sind. Die natürliche Selek-
lebs anablebs; siehe auch die kleine Abbildung links tion hat daher Bakterien begünstigt, die nur die Gene
unten) ist ein Auge, oder genauer gesagt ein halbes exprimieren, deren Produkte von der Zelle tatsächlich
Auge, auf Jäger aus der Luft gerichtet, indem die obere benötigt werden.
Augenhälfte aus dem Wasser ragt. Man findet diesen Stellen wir uns zum Beispiel eine einzelne Zelle von
Fisch in Süßwasserseen und Teichen in Mittel- und Escherichia coli in der wechselnden Umgebung unseres
Südamerika. Die obere Augenhälfte ist dabei speziell Dickdarms vor. Ihr Wachstum ist von der Nährstoffauf-
an eine gute Sicht in Luft angepasst, die untere dage- nahme ihres Wirts, in diesem Fall des Menschen, abhän-
gen an die Orientierung im Wasser. Die molekularen gig. Fehlt hier beispielsweise die für das Bakterium
Ursachen für diese spezielle Anpassung wurden kürz- lebenswichtige Aminosäure Tryptophan, wird es die
lich aufgeklärt: Die Zellen der beiden Augenhälften Tryptophanbiosynthese aus anderen Vorstufen anschal-
exprimieren zwei verwandte Gruppen unterschiedlicher ten (Tryptophanbiosyntheseweg). Wenn der Mensch
Gene, die das Sehvermögen beeinflussen. Beide Zell- zu einem späteren Zeitpunkt proteinreiche Nahrung
gruppen unterscheiden sich nur geringfügig in ihrer Mor- zu sich nimmt, stellt die Bakterienzelle die Produk-
phologie und ihre Genome sind natürlich identisch. tion von Tryptophan wieder ein. Die Synthese würde
Welche biologischen Mechanismen steuern also die unnötig Rohstoffe und Energie verschwenden, wenn
Teil 3 Bildung dieses erstaunlichen Organs auf der Grundlage die Aminosäure direkt aus der Umgebung aufgenom-
einer unterschiedlichen Genexpression in den beteilig- men werden kann. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie
ten Zellen? Bakterien ihren Stoffwechsel sich ändernden Umwelt-
bedingungen anpassen.
Das Beispiel der Tryptophanbiosynthese ist auch in
Abbildung 18.2 gewählt, um zwei Ebenen der Stoff-
wechselkontrolle zu verdeutlichen. Zunächst reguliert
die Zelle die Aktivität der bereits vorhandenen Enzyme.
Dies geht sehr schnell und beruht auf der allosterischen
Regulation der Enzymaktivität mithilfe kleiner Mole-
küle (zur Erklärung der Allosterie siehe auch Kapitel
8). Oft wird das erste Enzym eines Stoffwechselwegs
durch sein Endprodukt gehemmt. So hemmt beispiels-
Ein Markenzeichen sowohl pro- als auch eukaryonti- weise Tryptophan die Aktivität des ersten Enzyms in
scher Zellen – von einem einfachen Bakterium bis hin der Tryptophanbiosynthese (Abbildung 18.2a). Wenn
zu den Zellen des Fischauges – ist ihre Fähigkeit, die sich also Tryptophan in der Zelle anstaut, wird seine
Expression von Genen und Gengruppen sehr genau zu weitere Synthese eingestellt. Solche Endprodukthem-
regulieren. In diesem Kapitel werden wir zunächst dar- mungen sind typisch für anabole (aufbauende) Stoff-
auf eingehen, wie Bakterien ihre Genexpression in wechselwege. Sie erlauben es der Zelle, sich schnell
Abhängigkeit von verschiedenen Umweltbedingungen auf kurzfristige Schwankungen in der Verfügbarkeit
(z.B. dem Nährstoffangebot) regulieren. Wir wenden uns einer benötigten Substanz einzustellen.
dann der Regulation der Genexpression in Eukaryonten In einer zweiten Stufe kann die Zelle auch die Mengen
zu, die es ihnen erlaubt, die unterschiedlichen Zelltypen bestimmter Enzyme schon bei deren Herstellung kont-
in den verschiedenen Geweben zu bilden. Dabei soll rollieren, indem sie die Expression der für sie codie-
auch die regulatorische Rolle von RNA-Molekülen zur renden Gene steuert. Finden wir in unserem Beispiel
Sprache kommen. Die letzten beiden Abschnitte dieses also Tryptophan in großen Mengen im „Nährmedium“
Kapitels sind dann der Regulation der Embryonalent- des Darms, dann stellt die Zelle die Produktion der
wicklung (als ein Paradebeispiel einer hochgeordneten Enzyme zur Tryptophanbiosynthese ein (Abbildung
Steuerungskontrolle) und der Krebsentstehung gewid- 18.2b). In diesem Fall wird die Enzymherstellung
met, die zeigt, welche fatalen Folgen eine fehlgesteuerte bereits auf der ersten Stufe – der Transkription – regu-
Genexpression haben kann. Die koordinierte und genau liert. Die mRNAs für die betreffenden Enzyme werden
abgestimmte Regulation der Genexpression ist also eine nicht oder nur noch wenig gebildet. Im Allgemeinen
zentrale Voraussetzung des Lebens. unterliegen viele bakterielle Gene einer solchen Kon-
trolle und werden je nach Stoffwechsellage der Zelle
an- oder abgeschaltet. Die Steuerungsmechanismen
Bakterien passen ihr Transkriptions- der Genexpression bei Bakterien wurden als Erstes im
sogenannten Operonmodell zusammengefasst, das im
muster den wechselnden Jahr 1961 von Francois Jacob und Jacques Monod vom
Umweltbedingungen an
18.1 Pasteur-Institut in Paris vorgestellt wurde. Schauen
wir uns an, was ein Operon ist und wie es funktio-
niert. Dabei soll uns zunächst wieder die Tryptophan-
Bakterienzellen, die Nährstoffe und Energie sparsam ver- biosynthese als Beispiel dienen.
werten, haben einen Selektionsvorteil gegenüber Zellen,

468
18.1 Bakterien passen ihr Transkriptionsmuster den wechselnden Umweltbedingungen an

Vorstufe
notwendigen Enzyme gleichzeitig bereitgestellt. Bei
dem Schalter handelt es sich um eine DNA-Sequenz,
die als Operator bezeichnet wird (engl. operator(s),
Endprodukt- trpE-Gen
hemmung
Maschinist, Bedienpersonal). Seine Funktion spiegelt
Enzym 1 sich nicht nur in der Namensgebung wider, sondern
trpD-Gen
auch in seiner Anordnung: Er liegt entweder im Pro-
motor oder zwischen diesem und dem Beginn des
Regulation
der Gen- offenen Leserasters und kontrolliert den Zugang der
expression RNA-Polymerase zu den codierenden Genbereichen.
Enzym 2 trpC-Gen Eine Transkriptionseinheit mit offenen Leserastern und
– den zugehörigen Steuerelementen (Promotor und Ope-
rator) wird als ein Operon bezeichnet. Das in Abbil-
dung 18.3 gezeigte Tryptophan-Operon (trp-Operon)
trpB-Gen –
ist nur eines von vielen Operons des E. coli-Genoms.
Enzym 3 Wie kann der Operator als Schalter für die Transkrip-
trpA-Gen tionskontrolle bedient werden? Im Grundzustand ist
das trp-Operon aktiv („angeschaltet“): die RNA-Poly-
merase kann ungehindert an den Promotor binden und
Tryptophan die Gene des Operons transkribieren. Das Operon kann Teil 3
(a) Regulation der (b) Regulation der aber auch durch den sogenannten trp-Repressor abge-
Enzymaktivität. Enzymproduktion.
schaltet (reprimiert) werden. Der Repressor bindet an
Abbildung 18.2: Die Regulation eines Stoffwechselwegs. Ein die DNA-Sequenz des Operators, verhindert so den
Tryptophan-Überschuss kann sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen auf Zugang der RNA-Polymerase zum Promotor und damit
die Synthese der Aminosäure auswirken: (a) Die Aktivität des ersten die Transkription der Gene (Abbildung 18.3b). Allge-
Enzyms des Stoffwechselwegs kann relativ schnell gehemmt werden (End- mein binden Repressorproteine jeweils spezifisch an
produkthemmung). (b) Die Expression aller Gene, die für Enzyme dieses den Operator eines bestimmten Operons. Beispiels-
Biosynthesewegs codieren, kann reprimiert werden (Repression). Dies ist weise beeinflusst der trp-Repressor ausschließlich das
eine langsamere und länger anhaltende Reaktion. Die Gene trpE und trpD
trp-Operon und wirkt nicht auf andere Operons im
codieren zwei Untereinheiten des Enzyms 1, die Gene trpB und trpA zwei
Untereinheiten des Enzyms 3. (Die Gene erhielten ihre Bezeichnungen,
E. coli-Genom.
bevor die Abfolge der enzymatischen Schritte im Stoffwechselweg bekannt Der trp-Repressor ist selbst durch ein Regulatorgen
war.) Das Symbol – steht für Hemmung. namens trpR codiert, das weiter entfernt auf dem Bak-
terienchromosom liegt und von einem eigenen Promo-
tor kontrolliert wird. Regulatorgene wie das trpR wer-
18.1.1 Das Operon-Konzept den in der Regel ständig (konstitutiv), aber nur schwach
exprimiert, so dass das Repressorprotein nur in weni-
Die Aminosäure Tryptophan (Trp) wird von Escherichia gen Molekülen in der Zelle vorhanden ist. Wenn der
coli ausgehend von einer einfacheren Verbindung in Repressor also immer zugegen ist, stellt sich die Frage,
mehreren Schritten synthetisiert (Abbildung 18.2). Jede warum das trp-Operon nicht ständig abgeschaltet
Reaktion dieses Stoffwechselwegs wird von einem bleibt? Erstens ist die Bindung des Repressors (Protein)
bestimmten Enzym katalysiert, wobei die fünf dafür an den Operator (DNA) reversibel. Der Operator pen-
codierenden Gene hintereinander auf dem Bakterien- delt also zwischen seinem freien Zustand und dem
chromosom angeordnet sind. Die Gengruppe besitzt nur mit einem Repressor besetzten Zustand hin und her.
einen einzigen, gemeinsamen Promotor und bildet eine Wie lange sich der Repressor in einem der beiden
Transkriptionseinheit. (Wie in Kapitel 17 beschrieben Zustände befindet, hängt also von der Konzentration
wurde, ist der Promotor die Bindestelle der RNA-Poly- aktiver Repressormoleküle in der Zelle ab. Und damit
merase auf der DNA, an der die Transkription beginnt.) sind wir beim zweiten Punkt: die Aktivität des trp-
Durch die Transkription wird also in diesem Fall ein ein- Repressors (wie die der meisten regulatorischen Pro-
zelnes, langes mRNA-Molekül mit der Information für teine) unterliegt einer allosterischen Regulation, das
die fünf Enzyme gebildet, die die Tryptophanbiosyn- heißt, er kann entweder in einer aktiven oder in einer
these katalysieren (Abbildung 18.3a). Bei der Trans- inaktiven Konformation vorliegen (siehe Abbildung
lation stellt die Zelle dann fünf einzelne Polypeptide 8.20). Tatsächlich liegt der trp-Repressor gleich nach
anhand dieser mRNA her. Die mRNA enthält entspre- seiner Synthese zunächst in einer inaktiven Konfor-
chend fünf getrennte offene Leseraster mit jeweils ihren mation vor, die sich in einer geringen Bindungsaffini-
eigenen Start- und Stopcodons für die Translation. tät für den trp-Operator widerspiegelt. Wird aber die
Ein wichtiger Vorteil der Anordnung mehrerer Gene allosterische Bindestelle des trp-Repressors durch
in einer Transkriptionseinheit ist, dass die gesamte Tryptophan besetzt, nimmt das Protein seine aktive
Gengruppe für einen gemeinsamen Stoffwechselweg Konformation ein und lagert sich an den Operator des
durch einen einzigen Schalter ein- oder ausgeschaltet Operons an, um es abzuschalten. An dieser Stelle ist
werden kann. Dies erlaubt eine koordinierte Kontrolle. es wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich bei den
Wenn also eine E. coli-Zelle aufgrund von Trypto- Steuerungsmechanismen der Genexpression nicht wirk-
phanmangel den Biosyntheseweg benötigt, werden die lich um ein „An- oder Abschalten“ handelt, obwohl wir

469
18 Regulation der Genexpression

zum besseren Verständnis bei diesem Bild bleiben 18.1.2 Reprimierbare und induzierbare
werden. Wie Sie gesehen haben, handelt es sich bei Operone: Zwei Formen der negativen
der Bindung des trp-Repressors um einen dynami- Regulation der Genexpression
schen Prozess. In einer lebenden E. coli-Zelle ergibt
sich die tatsächliche Menge des gebildeten Transkripts Das trp-Operon wird auch als ein reprimierbares Ope-
aus der Verweilzeit des Repressors an seinem Opera- ron bezeichnet, weil es normalerweise transkribiert
tor: Weder die theoretisch möglichen 100 Prozent, und erst durch die Bindung eines aktiven Repressors
noch ein vollkommenes Abschalten auf 0 Prozent stillgelegt wird. Wie wir gesehen haben, erfolgt dies
Transkription werden also jemals in einem biologi- durch allosterische Bindung des Co-Repressors Trypto-
schen System erreicht. Außerdem greift am trp-Ope- phan an den trp-Repressor. Im Gegensatz dazu wird ein
ron noch eine weitere Regulation, die auf der Kopp- induzierbares Operon im Grundzustand nicht transkri-
lung von Transkription und Translation bei Bakterien biert, kann aber angeschaltet werden, wenn ein klei-
beruht und als „Attenuation“ bezeichnet wird. Auf nes Molekül an sein entsprechendes Regulatorprotein
dieses Phänomen möchten wir hier nicht näher einge- bindet. Man bezeichnet diese Art der Kontrolle als
hen und verweisen auf spezielle Genetik-Lehrbücher. Induktion und das kleine Molekül als Induktor (lat.
Das Tryptophan selbst wirkt im hier beschriebenen inducere, veranlassen, herbeiführen). Als Paradebei-
System als Co-Repressor, das heißt als kleines Molekül, spiel für ein induzierbares Operon gilt das lac-Operon
das einen Repressor durch seine Bindung aktiviert, um von E. coli, das die Enzyme für die Aufnahme und den
Teil 3 ein Operon abzuschalten. Wenn sich Tryptophan in der Abbau der Lactose (Milchzucker) codiert und dessen
Zelle anreichert, steht also immer mehr Co-Repressor Regulation durch die Pionierarbeiten von Jacob und
für die Bindung an die trp-Repressormoleküle zur Ver- Monod aufgeklärt wurde.
fügung, die dann an den trp-Operator binden und die Lactose ist ein Disaccharid, das von E. coli-Zellen im
weitere Bildung der Enzyme für die Tryptophanbiosyn- menschlichen Dickdarm als Nahrungsquelle genutzt
these unterbinden. Wenn die Tryptophanmenge in der werden kann, etwa wenn wir Milch getrunken haben.
Zelle wieder absinkt, beginnt die Transkription des trp- Der Lactoseabbau beginnt mit der Hydrolyse des Di-
Operons erneut. Dies ist ein Beispiel dafür, wie die saccharids zu Glucose und Galactose mithilfe des
Genexpression in einer Zelle auf intra- und extrazellu- Enzyms β-Galactosidase. Wächst eine E. coli-Zelle in ei-
läre Veränderungen reagieren kann. ner Umgebung ohne Lactose, so sind nur wenige Mole-

trp-Operon
DNA Promotor
Promotor Regulatorgen
Gene des Operons
trpR trpE trpD trpC trpB trpA
RNA- Operator
Polymerase Startcodon Stopcodon
3′
mRNA mRNA 5′
5′

Proteinuntereinheiten
Protein
inaktiver E D C B A (Polypeptide), die die
Repressor Enzyme für die Trypto-
phanbiosynthese bilden
(a) Tryptophan fehlt, Repressor inaktiv, Operon angeschaltet. Die RNA-Polymerase
lagert sich am Promotorbereich der DNA an und transkribiert die Gene des Operons.

DNA
trpR trpE
Es Abbildung 18.3: Das trp-Operon in Escherichia coli: ein Beispiel für
wird die Steuerung der Genexpression durch Repression. Tryptophan ist eine
3′ keine Aminosäure, deren Synthese in Bakterien durch einen Stoffwechselweg mit meh-
mRNA RNA reren enzymatischen Schritten erfolgt. Die Transkription der für die Enzyme
5′ gebil-
det.
codierenden Gene kann reprimiert werden. (a) Die fünf für die Polypeptidunter-
einheiten der Enzyme des Stoffwechselwegs codierenden Gene (Abbildung 18.2 )
liegen nebeneinander und stehen unter der Kontrolle eines einzigen Promotors.
Protein aktiver
Repressor Zusammen bilden sie das trp -Operon. Der trp -Operator (die Bindungsstelle des
trp -Repressors) liegt im Bereich des trp -Promotors (Bindungsstelle der RNA-
Polymerase). (b) Eine Anhäufung von Tryptophan in der Zelle, dem Endprodukt
Tryptophan
(Corepressor) der Biosynthese, reprimiert die Transkription des trp -Operons und hemmt damit
(b) Tryptophan vorhanden, Repressor aktiv, Operon abgeschal- die Enzymsynthese.
tet. In dem Maß, in dem Tryptophan sich anhäuft, hemmt es
seine eigene Neubildung, indem es das Repressorprotein aktiviert,
das an den Operator bindet und so die Transkription blockiert.
? Beschreiben Sie, was am trp -Operon geschieht, wenn die Zelle ihren Vor-
rat an Tryptophan verbraucht hat.

470
18.1 Bakterien passen ihr Transkriptionsmuster den wechselnden Umweltbedingungen an

küle dieses Enzyms vorhanden. Wird dem Medium aber Konformation vor, so dass das lac-Operon nicht tran-
Lactose als einziger Zucker zugesetzt, steigt die Konzen- skribiert wird (Abbildung 18.4a). Bei Lactosezugabe
tration der β-Galactosidasemoleküle in der Zelle inner- wandelt die Zelle etwas davon in Allolactose um. Diese
halb von 15 Minuten auf das Tausendfache an. bindet an den lac-Repressor und verändert damit seine
Das lac-Operon umfasst neben dem Gen für die β- Konformation so, dass er nicht mehr an den Operator
Galactosidase noch zwei weitere Gene, lacY und lacA binden kann. Ohne den gebundenen Repressor wird
(Abbildung 18.4b). lacY codiert dabei für ein Trans- das Operon nun transkribiert und die Enzyme für den
portprotein, welches Lactose in die Zelle bringt. Das Lactoseabbau werden gebildet (Abbildung 18.4b).
gesamte Operon wird durch einen Promotor und einen Die am Lactoseabbau beteiligten Enzyme werden als
Operator gesteuert. Das Regulatorgen lacI liegt außer- induzierbare Enzyme bezeichnet, weil ihre Synthese
halb des lac-Operons und codiert wieder einen allos- durch ein chemisches Signal (in unserem Beispiel die
terisch regulierbaren Repressor: bei seiner Bindung an Allolactose) angeschoben (induziert) wird. Entspre-
den lac-Operator wird das nachgeschaltete Operon still- chend werden die Enzyme der Tryptophanbiosynthese
gelegt. Dies entspricht der Regulation am trp-Operon, als reprimierbare Enzyme bezeichnet. (In beiden Fäl-
aber mit einem wesentlichen Unterschied: Der trp- len ist es natürlich die Genexpression auf der Stufe
Repressor ist für sich inaktiv und wird erst mit Trypto- der Transkription, die tatsächlich induziert oder repri-
phan als Co-Repressor aktiv. Dagegen ist der lac- miert wird, und nicht die Enzyme selbst.) Die von repri-
Repressor für sich bereits aktiv und schaltet die Tran- mierbaren Genen codierten Enzyme wirken im Allge-
skription des lac-Operons ab. Hier wird erst durch die meinen in anabolen Stoffwechselwegen, durch die Teil 3
Bindung eines Induktors der Repressor inaktiviert und komplexere essenzielle Zellbausteine aus einfachen Vor-
das Operon kann transkribiert werden. stufen aufgebaut werden. Die Hemmung der weiteren
Der Induktor beim lac-Operon ist nicht die Lactose Enzymsynthese, wenn genügend Endprodukt vorliegt,
selbst, sondern die Allolactose, ein Isomer, das in gerin- stellt sicher, dass die Zelle die vorhandenen Rohstoffe
gen Mengen in der Zelle aus Lactose gebildet wird. und ihre Energie sinnvoll einsetzt. Ähnlich sind die
Ohne Lactose kann die Zelle also keine Allolactose von induzierbaren Genen codierten Enzyme meist in
bilden und der lac-Repressor liegt in seiner aktiven katabolen Stoffwechselwegen tätig, die komplexe Nähr-

Abbildung 18.4: Das lac-Operon von Escherichia coli: ein Beispiel


Promotor
Regulatorgen für die Steuerung der Genexpression durch Induktion. Für die
DNA Operator Verwertung von Lactose (Milchzucker) durch E. coli werden zwei Enzyme
lac I lacZ benötigt, die im lac -Operon codiert sind. Das lacZ-Gen codiert die β-Galac-
tosidase – das Enzym, das die Lactose in Glucose und Galactose spaltet.
Es wird
keine RNA Das lacY -Gen codiert eine Permease, die die Lactosemoleküle in die Zelle
3′ gebildet. transportiert. Das lacA -Gen codiert eine Transacetylase, die nicht an der
mRNA Lactoseverwertung beteiligt ist. Das Gen für den lac -Repressor, lac I, liegt
5′ RNA- als Sonderfall unmittelbar vor dem lac -Operon. In der Regel sind Regula-
Polymerase torgene im Genom nicht mit dem Operon gekoppelt, das von ihrem Gen-
produkt reguliert wird. Die Bedeutung des türkis unterlegten Bereichs
Protein aktiver (links) vor dem Promotor wird später in Abbildung 18.5 näher erläutert.
Repressor
(a) Lactose fehlt, Repressor aktiv, Operon abgeschaltet. Der
lac-Repressor ist in sich aktiv und schaltet das Operon in Ab-
wesenheit von Lactose durch seine Bindung an den Operator ab.

lac-Operon
DNA
lac I lacZ lacY lacA

RNA polymerase
Startcodon Stopcodon
3′
mRNA
5′ mRNA 5′

Protein β-Galactosidase Permease Transacetylase

inaktiver
Repressor
Allolactose
(Induktor)

(b) Lactose vorhanden, Repressor inaktiv, Operon angeschaltet. Allolactose, ein Isomer
der Lactose, dereprimiert das Operon, indem sie den Repressor inaktiviert. Auf diese Weise
wird die Bildung der Enzyme für die Lactoseverwertung induziert.

471
18 Regulation der Genexpression

stoffe in einfachere Bausteine zerlegen. Damit stellt die


Promotor
Zelle sicher, dass die Enzyme zum Abbau eines Nähr-
stoffs erst dann gebildet werden, wenn dieser Nährstoff DNA Operator
tatsächlich auch zur Verfügung steht, und sie spart damit
lac I lacZ
die Energie für deren Synthese.
Sowohl das trp- als auch das lac-Operon werden CAP-Bindestelle RNA-Polymerase
negativ reguliert, das heißt die Expression ihrer Gene bindet und
wird durch einen Repressor in seiner aktiven Konfor- aktives transkribiert.
cAMP CAP
mation unterdrückt. Dies ist im Fall des trp-Operons
vielleicht eingängiger, gilt aber genauso für das lac- inaktiver
Operon. Die Allolactose induziert die Enzymsynthese inaktives lac-Repressor
nicht durch eine unmittelbare Wirkung auf das Genom, CAP
Allolactose
sondern durch die Aufhebung der hemmenden Wir-
(a) Lactose vorhanden, Glucosemangel (cAMP-Konzentration
kung des Repressors auf das lac-Operon. Tritt ein Regu- hoch): Große Mengen lac-mRNA werden synthetisiert. Falls
latorprotein dagegen direkt mit der DNA in Wechsel- ein Glucosemangel vorliegt, aktivieren die großen Mengen an
wirkung, um die Transkription anzuschalten, so spricht cAMP das Protein CAP und das lac-Operon liefert daraufhin
große Mengen an mRNA, die für die Enzyme des Lactose-Stoff-
man von einer positiven Regulation. Auch diese Art wechselweges codieren.
der Regulation möchten wir wieder am Beispiel des
Teil 3 lac-Operons erläutern.
Promotor
DNA Operator

lac I lacZ
18.1.3 Positive Regulation der CAP-Bindestelle
Genexpression RNA-Polymerase
bindet mit geringerer
Wahrscheinlichkeit.
Wenn sowohl Glucose als auch Lactose zur Verfügung
stehen, verwertet eine E. coli-Zelle zunächst nur die inaktives
inaktiver
CAP
Glucose. Die für die Glykolyse benötigten Enzyme (Gly- lac-Repressor
kolyseenzyme; siehe Abbildung 9.9) werden von der
Zelle ständig gebildet. Nur wenn keine Glucose vorhan- (b) Lactose vorhanden, Glucose vorhanden (cAMP-Konzen-
den ist, verwendet E. coli die im Medium angebotene tration niedrig): Es wird wenig lac-mRNA synthetisiert.
Lactose als Kohlenstoff- und Energiequelle, und nur Wenn Glucose vorhanden ist, ist die cAMP-Menge sehr gering
und das CAP-Protein ist nicht in der Lage, die Transkription zu
dann werden auch nennenswerte Mengen der Enzyme stimulieren.
für die Lactoseverwertung hergestellt.
Wie aber misst eine E. coli-Zelle den Glucosegehalt Abbildung 18.5: Positive Regulation des lac-Operons durch das
im Medium und übermittelt diese Information an das Kataboliten-Aktivator-Protein (CAP). Die RNA-Polymerase bindet
Genom? Auch diesem Mechanismus liegt die allosteri- nur dann mit hoher Affinität an den lac -Promotor, wenn eine Stelle vor (5')
sche Wechselwirkung eines kleinen Moleküls mit sei- dem Promotor durch CAP (engl. catabolite activator protein ) gebunden
nem Regulatorprotein zugrunde; in diesem Fall handelt ist. Das CAP kann sich nur dann an die DNA anlagern, wenn es cAMP (zykli-
sches Adenosinmonophosphat) gebunden hat. Dessen Konzentration in der
es sich bei dem Molekül um das zyklische Adenosin-
Zelle steigt an, wenn die extrazelluläre Glucosekonzentration abnimmt.
monophosphat (cAMP; siehe Abbildung 11.10). cAMP Wenn reichlich Glucose vorhanden ist, wird sie von der Zelle bevorzugt
reichert sich in der Zelle an, wenn die Glucose im verstoffwechselt. Die Zelle bildet nur wenige Enzyme zur Lactoseverwer-
Medium knapp wird. Das von ihm beeinflusste Regu- tung, selbst wenn gleichzeitig Lactose vorhanden ist.
latorprotein ist das Kataboliten-Aktivator-Protein (Abk.
CAP; engl. catabolite activator protein), das auch als
Crp (cAMP response protein) bezeichnet wird. Dabei Wenn die Glucosekonzentration im Medium ansteigt,
handelt es sich um einen Aktivator, der an die DNA sinkt die intrazelluläre cAMP-Konzentration. Damit
bindet und die Transkription nachgeschalteter Gene steht nicht mehr genügend cAMP für die Bindung von
fördert. Wenn cAMP an das CAP bindet, nimmt das CAP zur Verfügung und das Protein nimmt seine inak-
Protein seine aktive Konformation ein und bindet 5' tive Konformation ein, in der es sich vom Promotor/
(„stromaufwärts“) des lac-Promotors (Abbildung 18.5a). Operator-Bereich des lac-Operons löst. Damit bindet
Diese Anlagerung erhöht die Affinität der RNA-Poly- die RNA-Polymerase nur noch schwach an den lac-Pro-
merase zum Promotor, die normalerweise auch dann motor und bewirkt nur noch eine verringerte Transkrip-
sehr gering ist, wenn der lac-Repressor nicht gebun- tion, selbst wenn Lactose vorhanden ist (Abbildung
den hat (man spricht hier von einem „schwachen Pro- 18.5b). Das lac-Operon unterliegt also einer zweifachen
motor“). Die Bindung von cAMP/CAP verbessert die Kontrolle: der negativen Regulation durch den lac-Re-
Anlagerung der RNA-Polymerase an den Promotor pressor und der positiven Kontrolle durch cAMP/CAP.
und erhöht dadurch die Transkriptionsrate, das heißt, Die Konformation des lac-Repressors (mit oder ohne
es kommt zu einer Aktivierung der Genexpression. Bindung der Allolactose) legt also fest, ob das Operon
Daher spricht man in diesem Fall von einer positiven überhaupt transkribiert werden kann. Der Zustand des
Regulation. CAPs (mit oder ohne Bindung von cAMP) bestimmt die

472
18.2 Die Expression eukaryontischer Gene kann auf verschiedenen Stufen reguliert werden

Transkriptionsrate, wenn der Repressor nicht gebunden Ebenso müssen sowohl einzellige als auch vielzellige
ist. Das Operon hat also nicht nur einen An/Aus-Schal- Organismen auf äußere und innere Signale mit dem
ter, sondern gewissermaßen auch einen Lautstärkeregler. An- und Abschalten der Transkription bestimmter
Außer seiner Funktion im lac-Operon reguliert das Gene reagieren können. Die Regulation der Genexpres-
cAMP/CAP-System auch eine Reihe anderer Operone, sion ist außerdem eine Voraussetzung für die Speziali-
die Proteine verschiedener kataboler Stoffwechselwege sierung von Zellen in vielzelligen Organismen, die sich
codieren. Alles in allem beeinflusst es die Expression aus vielen unterschiedlichen Zelltypen mit verschiede-
von mehr als einhundert Genen in einer E. coli-Zelle. nen Aufgaben zusammensetzen. Um seine Aufgaben zu
Man spricht bei dieser Kontrolle auch vom cAMP/CAP- erfüllen, muss jeder spezialisierte Zelltyp ein bestimm-
Modulon. Wie die cAMP-Konzentration auf molekula- tes Programm zur Genexpression einhalten, das fest-
rer Ebene in Abhängigkeit von der zur Verfügung ste- legt, welche Gene exprimiert werden und welche nicht.
henden Glucose reguliert wird, ist inzwischen sehr
genau erforscht und in einschlägigen Genetiklehr-
büchern nachzulesen. Wenn Glucose reichlich vorhan- 18.2.1 Differenzielle Genexpression
den und das CAP inaktiv ist, so werden Enzyme für
den Abbau anderer Kohlenstoffquellen nur sehr lang- In einer typischen menschlichen Zelle werden nur etwa
sam gebildet. Die Fähigkeit, andere Quellen als Glucose 20 Prozent der in ihrem Genom vorhandenen proteinco-
(wie etwa die Lactose) zu nutzen, sichert den Zellen dierenden Gene exprimiert. In ausdifferenzierten Zellen,
das Überleben bei Glucosemangel. Die momentanen wie wir sie beispielsweise in Nerven- oder Muskelge- Teil 3
Konzentrationen verschiedener Stoffe in der Zelle weben finden, werden sogar noch weniger Gene expri-
bestimmen, welche Operone an- oder abgeschaltet wer- miert, obwohl fast alle unsere Körperzellen dasselbe
den. Das Ganze wird von einfachen Wechselwirkungen Genom haben. (Zellen des Immunsystems bilden hier-
zwischen Aktivator- und Repressorproteinen mit den von eine Ausnahme, weil es während ihrer Differen-
Promotoren der entsprechenden Operone gesteuert. zierung zu einer Umlagerung in den für Immunglobu-
line codierenden Genen kommt. Auf diese molekulare
Umgestaltung des Genoms gehen wir in Kapitel 43 näher
 Wiederholungsfragen 18.1 ein). In einem bestimmten Zelltyp werden immer auch
bestimmte Gene und Gengruppen exprimiert, die diesen
1. Wie verändert die Bindung von Tryptophan als Zellen ihre spezifische Funktion verleihen. Die Unter-
Co-Repressor und der Allolactose als Induktor schiede zwischen den verschiedenen Zellen eines Lebe-
die Wirkung der betreffenden Repressoren und wesens sind also nicht die Folge einer unterschiedli-
wirkt sich auf die Transkription aus? chen genetischen Ausstattung, sondern beruhen auf
2. Beschreiben Sie die Bindung der RNA-Polyme- einer unterschiedlichen, aber typischen (differenziel-
rase, des Repressors und des Aktivators, wenn len) Expression der im Genom vorhandenen Gene.
sowohl Lactose- als auch Glucosemangel Die Genome von Eukaryonten können Zehntausende
herrschen. Wie wirkt sich dies auf die Tran- von Genen enthalten, wobei bei den meisten Arten nur
skription des lac-Operons aus? Wie könnte die ein sehr kleiner Teil der genomischen DNA tatsächlich
Transkription anderer Gene außerhalb des lac- für Proteine codiert (beim Menschen sind es nur etwa
Operons reguliert werden, falls ein anderer Zu- 1,5 Prozent). Der Rest der DNA codiert entweder für
cker verfügbar wäre? nicht-translatierte RNA-Formen, oder er wird über-
haupt nicht transkribiert. Die Transkriptionsfaktoren
3. WAS WÄRE, WENN? Durch eine bestimmte Mu- einer Zelle müssen also die richtigen Gene zur richti-
tation im lac-Operator in E. coli wird dieser so gen Zeit finden, was der berühmten Suche nach der
verändert, dass der Repressor nicht mehr bin- Nadel im Heuhaufen entspricht. Wenn dies misslingt
den kann. Wie sollte sich das auf die Produk- und die Steuerung der Genexpression fehlschlägt, kann
tion der β-Galactosidase in den betroffenen es schwere Folgen bis hin zur Krebsentstehung haben.
Zellen auswirken? Abbildung 18.6 fasst die wesentlichen Vorgänge
während der Genexpression in einer eukaryontischen
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Zelle zusammen und hebt dabei die wichtigsten Schritte
bei der Steuerung eines proteincodierenden Gens her-
vor. Jeder der dargestellten Schritte kann dabei als mög-
licher Kontrollpunkt verwendet werden, an dem die
Die Expression eukaryontischer Genexpression an- oder abgeschaltet, beschleunigt oder
verlangsamt werden kann.
Gene kann auf verschiedenen Vor gerade einmal 50 Jahren schien ein umfassendes
Stufen reguliert werden
18.2 Verständnis der Mechanismen, die die Genexpression in
Eukaryonten steuern, noch unerreichbar. Seitdem haben
Molekularbiologen mit neu entwickelten Methoden,
Alle Lebewesen – Prokaryonten wie Eukaryonten – insbesondere mithilfe der Gentechnik (siehe Kapitel
müssen in der Lage sein zu bestimmen, welche Gene 20), viele Einzelheiten der eukaryontischen Genregu-
unter bestimmten Bedingungen exprimiert werden. lation aufgeklärt.

473
18 Regulation der Genexpression

Signal Obwohl dies bei Bakterien weitgehend zutrifft, bietet


die größere bauliche und funktionale Komplexität der
Zellkern eukaryontischen Zelle viele weitere Möglichkeiten, die
Chromatin Genexpression zu steuern (Abbildung 18.6). Im Folgen-
Chromatinumbau: Das den werden wir einige wichtige Kontrollpunkte der
Entpacken der DNA be- eukaryontischen Genexpression näher betrachten.
inhaltet die Acetylierung
von Histonen und die
Demethylierung der DNA
DNA 18.2.2 Regulation der Chromatinstruktur
für die Transkrip-
tion zur Verfü-
gung stehendes Wie wir bereits erläutert hatten, liegt die genomische
Gen Gen DNA in eukaryontischen Zellen hochgradig geordnet im
Transkription Chromatin vor, mit dem Nucleosom als der kleinsten
RNA Exon „Verpackungseinheit“ (siehe Abbildung 16.22). Durch
Primärtranskript das Chromatin wird die DNA nicht nur soweit verpackt,
Intron dass sie im Zellkern Platz findet, sondern es trägt auch
RNA-Prozessierung vielfältig zur Regulation der Genexpression bei. Sowohl
Poly-A-Schwanz
die Lage eines Promotors auf oder zwischen den Nucleo-
Teil 3 somen, als auch seine Entfernung zu den Anheftungs-
5 -Cap mRNA im Zellkern
stellen der DNA an das Kerngerüst oder die Kernlamina,
Transport ins Cytoplasma können sich auf die Transkription des betreffenden Gens
auswirken. Beispielsweise werden Gene im Bereich des
Cytoplasma Heterochromatins in der Regel nicht transkribiert, weil
mRNA im Cytoplasma die DNA dort sehr dicht gepackt vorliegt. Dieser hem-
Abbau der Translation mende Effekt des Heterochromatins auf die Genexpres-
mRNA sion wurde bei Hefezellen nachgewiesen, indem man
die Sequenz eines aktiven, gut transkribierten Gens in
den Bereich des Heterochromatins einsetzte, wo es nicht
Polypeptid mehr transkribiert wurde. Außerdem belegen zahlreiche
Proteinprozessierung wie neuere Forschungsarbeiten, dass bestimmte chemische
partielle Proteolyse und Modifikationen an den Histonen oder an der DNA
posttranslationale
Modifikation sowohl die Chromatinstruktur als auch die Genexpres-
sion beeinflussen. Wir werden uns nun mit den Auswir-
aktives Protein
kungen solcher durch bestimmte Enzyme vorgenomme-
ner Modifikationen beschäftigen.
Protein-
abbau
Transport zum Zielort
in der Zelle
Modifikation von Histonen und DNA-Methylierung
Zahlreiche Untersuchungen führten zu dem Schluss,
zelluläre Funktion (enzy- dass posttranslationale Modifikationen der Histone –
matische Aktivität, Aufbau
von Zellstrukturen usw.) also der positiv geladenen Proteine, um die sich die
DNA in den Nucleosomen windet – direkt die Transkrip-
Abbildung 18.6: Die verschiedenen Stufen der Regulation der tion von Genen beeinflussen. Das aminoterminale Ende
Genexpression in eukaryontischen Zellen. In diesem Schema aller acht Histonmoleküle in einem Nucleosom ragt aus
bezeichnen die farblich unterlegten Kästchen diejenigen Prozesse, die am diesem heraus (Abbildung 18.7a). Diese Histonfortsätze
häufigsten reguliert werden. Die Farbe gibt die Molekülsorte an, welche der sind somit für verschiedene Enzyme zugänglich, die
Regulation unterliegt (blau = DNA, rot/orange = RNA, violett = Protein). sie durch das Anheften oder Abspalten funktioneller
Durch die Kernmembran wird die Transkription räumlich von der Translation Gruppen modifizieren können. Dazu gehören Acetyl-,
getrennt, was im Gegensatz zu den Prokaryonten die Möglichkeit bietet,
Methyl- und Phosphatgruppen. Im Allgemeinen wird
nach der Transkription noch die RNA-Prozessierung zu beeinflussen. Darü-
durch Histonacetylierung das Chromatin gelockert,
ber hinaus verfügen Eukaryonten auch noch über eine größere Vielfalt an
Steuerungsmechanismen, die vor der Transkription oder nach der Transla- was zu einer verstärkten Transkription führen kann
tion greifen. Die Expression eines bestimmten Gens muss nicht immer auf (Abbildung 18.7b). Das Anhängen von Methylgrup-
allen dargestellten Ebenen reguliert sein. So unterliegt beispielsweise nicht pen führt dagegen zu einer Verdichtung des Chroma-
jedes Protein einer gezielten proteolytischen Spaltung. tins und damit zu einer verringerten Transkription.
Neben den Enzymen, die Histone methylieren, gibt
Bei allen Lebewesen ist die Regulation der Transkrip- es andere, die Methylgruppen an bestimmte Basen in
tion die erste Stufe, auf der die Genexpression gesteuert der DNA anheften (DNA-Methylasen). Tatsächlich fin-
wird. Oft erfolgt diese Art der Regulation als Reaktion den sich in der DNA der meisten Eukaryonten (Pflan-
auf äußere Signale, wie beispielsweise Hormone und zen, Tiere, Pilze) methylierte Basen – meist handelt es
andere Signalmoleküle. Entsprechend wird der Begriff sich um methylierte Cytosinreste. Nicht transkribierte
der Genexpression sowohl bei Prokaryonten als auch („inaktive“) DNA, wie die eines stillgelegten X-Chromo-
bei Eukaryonten oft mit der Transkription gleichgesetzt. soms (siehe Abbildung 15.8), ist in der Regel stärker

474
18.2 Die Expression eukaryontischer Gene kann auf verschiedenen Stufen reguliert werden

Histon- DNA-Doppel-
fortsätze helix Acetylgruppen
CHROMATINMODIFIZIERUNG DNA

TRANSKRIPTION
für chemische
Modifikationen
RNA-PROZESSIERUNG zur Verfügung
stehende Amino-
säurereste
Nucleosom nicht acetylierte Histone acetylierte Histone
mRNA- TRANSLATION
ABBAU (Aufsicht) (Seitenansicht)

PROTEINPROZESSIERUNG (a) Histonfortsätze strecken sich von (b) Die Acetylierung der Histonfortsätze lockert die Chromatin-
UND –ABBAU Nucleosomen nach außen. Dies ist struktur und erlaubt die Transkription der betreffenden
eine Aufsicht auf ein Nucleosom. Die Bereiche. Ein Chromatinbereich, in dem die Nucleosomen nicht
Aminosäuren in den aminoterminalen acetyliert sind, bildet eine kompakte Struktur aus (links), in der die
Fortsätzen der Histone stehen für DNA nicht transkribiert wird. Wenn Nucleosomen dagegen vielfach
chemische (posttranslationale) acetyliert sind (rechts), ist das Chromatin weniger stark verdichtet
Modifikationen zur Verfügung. und die DNA ist für den Transkriptionsapparat zugänglich.

Abbildung 18.7: Ein vereinfachtes Modell zur Acetylierung von Histonfortsätzen. Außer der Acetylierung unterliegen Histone einer Reihe
anderer posttranslationaler Modifikationen, die sich ebenfalls auf die Chromatinstruktur in bestimmten Bereichen auswirken.
Teil 3
methyliert als die transkribierten Bereiche. Vergleicht DNA, das mit einer fehlgesteuerten Genexpression ver-
man die gleichen Gene in verschiedenen Geweben, so bunden ist. Offenbar sind die Modifikationsenzyme des
sind die Gene meist in den Zellen stärker methyliert, in Chromatins ein wichtiger Bestandteil der Maschinerie
denen sie nicht exprimiert werden. Die Entfernung der für die Transkription eukaryontischer Gene.
zusätzlichen Methylgruppen (Demethylierung) vermag
einige dieser Gene zu aktivieren.
Das einmal festgelegte Muster der DNA-Methylierung 18.2.3 Regulation der Transkriptionsinitiation
bleibt in der Regel auch in allen folgenden Zellteilun-
gen in einem Individuum erhalten. Ist der Matrizen- Die Enzyme zur Chromatinmodifikation stellen eine
strang einer DNA methyliert, so methylieren die zustän- erste Schwelle für die Regulation der Genexpression
digen Enzyme nach jeder Replikationsrunde auch dar, indem sie die Zugänglichkeit bestimmter DNA-
entsprechend den neu gebildeten Molekülstrang. Die Bereiche für die Wechselwirkung mit den für die Tran-
Methylierungsmuster werden also weitergegeben und skription notwendigen Proteinen verändern. Ist das
die differenzierten Zelltypen enthalten ein chemisches Chromatin erst soweit modifiziert, dass es eine Genex-
Protokoll der Vorgänge während der Embryonalent- pression begünstigt, dann stellt die Initiation der Tran-
wicklung. Ein auf diese Weise weitergegebenes Methy- skription den nächsten wichtigen Regulationsschritt
lierungsmuster des Erbgutes ist für die genomische dar. Wie bei den Bakterien sind auch bei den Euka-
Prägung bei Säugetieren verantwortlich, bei der die ryonten zu Beginn der Transkription DNA-bindende
Methylierung festlegt, ob ein bestimmtes Allel des Vaters Proteine (sogenannte Transkriptionsfaktoren) beteiligt,
oder der Mutter in der Entwicklung eines Individu- die eine Bindung der RNA-Polymerase entweder för-
ums ausgeprägt wird (siehe Abbildung 15.18). dern oder behindern. Allerdings ist der Vorgang bei
Eukaryonten komplizierter als bei Prokaryonten. Bevor
Epigenetische Vererbung wir uns ansehen, wie eukaryontische Zellen ihre Tran-
Obwohl die oben besprochenen Modifikationen die skription steuern, wollen wir uns kurz den Aufbau
Basensequenzen der DNA nicht verändern, werden sie eines typischen eukaryontischen Gens und seines pri-
doch an die nächsten Zellgenerationen weitergegeben. mären Transkripts ins Gedächtnis rufen.
Die Weitergabe von Merkmalen durch nicht direkt an
die DNA-Sequenz gebundene Mechanismen bezeichnet Der Aufbau eines typischen eukaryontischen Gens
man als epigenetische Vererbung. Im Gegensatz zu den Die typische Organisation eines eukaryontischen Gens,
dauerhaften Veränderungen durch Mutationen in der einschließlich der flankierenden genetischen Elemente
DNA können die Modifikationen des Chromatins rück- für die Expressionssteuerung, ist in Abbildung 18.8
gängig gemacht werden. Beispielsweise werden wäh- dargestellt. Das Schema erweitert unser in Kapitel 17
rend der Bildung der Gameten die DNA-Methylierungs- gewonnenes Bild. Wir wissen, dass ein Transkriptions-
muster weitgehend gelöscht und wieder neu gesetzt. Initiationskomplex am Promotor stromaufwärts (also
Viele Forschungsergebnisse belegen die große Bedeu- 5') des offenen Leserasters bindet und zusammengela-
tung epigenetischer Mechanismen für die Regulation der gert wird. Ein Proteinkomplex, die RNA-Polymerase II,
Genexpression. Mit epigenetischen Unterschieden ließe transkribiert dann das Gen und bildet eine RNA, die
sich beispielsweise erklären, warum bei eineiigen Zwil- zunächst als prä-mRNA (das Primärtranskript) erscheint.
lingen mit identischen Genomen nur einer die Symp- Bei der RNA-Prozessierung werden danach enzymatisch
tome einer Erbkrankheit wie Schizophrenie entwickelt, sowohl die Introns herausgeschnitten, als auch eine 5'-
der andere aber nicht. Bei einigen Krebserkrankungen Cap-Struktur und 3' eine Poly-A-Kette angefügt, um
findet man ein verändertes Methylierungsmuster in der eine fertige mRNA herzustellen. Zu den meisten euka-

475
18 Regulation der Genexpression

Enhancer („Verstärker”; proximales Transkriptions- Signalsequenz für die Terminations-


distales Kontrollelement) Kontrollelement Startpunkt Polyadenylierung bereich

Exon Intron Exon Intron Exon


DNA
stromaufwärts stromabwärts
Promotor Transkription
Poly-A-Signal
primäres RNA- Exon Intron Exon Intron Exon beschnittenes 3'-
CHROMATINMODIFIZIERUNG Transkript 5' Ende des Primär-
(prä-mRNA) transkripts
RNA-Prozessierung:
TRANSKRIPTION Cap und Poly-A-Schwanz
werden angefügt; Introns
Introns (RNA) werden herausgeschnitten und
RNA-PROZESSIERUNG
die Exons zusammengespleißt.

codierender Abschnitt
mRNA- TRANSLATION
ABBAU mRNA G P P P AAA...AAA 3'
PROTEINPROZESSIERUNG
Start- Stop-
UND –ABBAU 5' Cap 5'-UTR codon codon 3'-UTR Poly-A-
(untranslatierter (untrans- Schwanz
Bereich) latierter Bereich)
Teil 3
Abbildung 18.8: Ein eukaryontisches Gen und sein Transkript. Jedes eukaryontische Gen besitzt einen Promotor – das ist ein Abschnitt auf der
DNA, an den die RNA-Polymerase bindet und mit der Transkription beginnt; dabei bewegt die RNA-Polymerase sich stromabwärts (in 5'→3'-Richtung).
Eine Reihe von Kontrollelementen (goldfarben) steuert den Beginn der Transkription, die Transkriptions-Initiation. Die entsprechenden DNA-Sequenzen
können in der Nähe (proximal) des Promotors oder weiter entfernt (distal) liegen. Die distalen Kontrollelemente werden als Enhancer (engl. to enhance,
verstärken) bezeichnet, von denen einer hier dargestellt ist. Ein Polyadenylierungssignal im letzten Exon des Gens wird in eine RNA-Basenfolge umge-
schrieben, die ein Signal für die Spaltung des Transkripts und das Anknüpfen der Poly-A-Kette enthält. Die Transkription kann über das Poly-A-Signal hin-
aus über Hunderte von Nucleotiden fortschreiten, bevor es zur Termination (Abbruch) kommt. Das Primärtranskript wird in drei Schritten prozessiert und
in eine translationsfähige mRNA umgewandelt: i) Anknüpfung einer 5'-Cap-Struktur, ii) Anhängen der Poly-A-Kette am 3'-Ende und iii) Spleißen der
Introns. In der Zelle wird die 5'-Cap-Struktur gleich zu Beginn der Transkription angehängt und das Spleißen erfolgt schon während der Transkription.

ryontischen Genen gehört eine Reihe von Kontrollele- wird bei Eukaryonten erst durch die Wechselwirkung
menten – das sind DNA-Abschnitte, die durch die Bin- der Kontrollelemente mit weiteren Proteinen, den spe-
dung bestimmter Proteine die Transkription steuern. zifischen Transkriptionsfaktoren, erreicht.
Diese Kontrollelemente und die an sie bindenden Pro- Enhancer und spezifische Transkriptionsfaktoren.
teine sind äußerst wichtig, um eine genau abgestimmte In Abbildung 18.8 sehen Sie, dass sich einige Kontroll-
Regulation der Genexpression in den unterschiedli- elemente in unmittelbarer Nähe des Promotors befinden.
chen Zelltypen zu gewährleisten. Oft werden diese proximalen Kontrollelemente auch
schon als Teil des Promotors angesehen, was wir hier
Die Rolle der Transkriptionsfaktoren nicht tun möchten. Die vom Promotor weiter entfernten,
Für die Einleitung der Transkription muss die euka- distalen Kontrollelemente heißen Enhancer und können
ryontische RNA-Polymerase mit Kontrollproteinen Tausende von Nucleotiden vor („stromaufwärts“) oder
wechselwirken, die wir als Transkriptionsfaktoren be- hinter („stromabwärts“) einem Gen oder sogar innerhalb
zeichnen. Einige Transkriptionsfaktoren (wie die in eines Introns liegen. Die Expression eines einzelnen
Abbildung 17.8 dargestellten) werden für die Tran- Gens kann durch mehrere Enhancer gesteuert werden,
skription aller proteincodierenden Gene benötigt und die zeit- oder gewebeabhängig aktiv sind. Jeder Enhancer
deshalb als allgemeine Transkriptionsfaktoren bezeich- wirkt in der Regel jedoch nur auf ein bestimmtes Gen.
net. Nur wenige von ihnen binden an eigene Erken- Die Expressionsrate eines eukaryontischen Gens wird
nungssequenzen auf der DNA, wie etwa an die TATA- durch die Bindung von Proteinen mit aktivierender
Box innerhalb der Promotorregion. Die anderen wech- oder reprimierender Funktion an die Enhancer-Kon-
selwirken untereinander und mit anderen Proteinen, trollelemente gesteuert. In Eukaryonten wurden bereits
einschließlich der RNA-Polymerase II. Solche Protein/ Hunderte von Transkriptionsaktivatoren entdeckt und
Proteinwechselwirkungen sind äußerst wichtig für die ihre Proteinstruktur untersucht. Einer davon ist bei-
Initiation der Transkription bei Eukaryonten. Erst nach spielhaft während seiner Bindung an ein DNA-Kontroll-
dem Aufbau des vollständigen Initiationskomplexes element in Abbildung 18.9 dargestellt. Bei der Unter-
kann die RNA-Polymerase mit dem Ablesen des Mat- suchung vieler solcher Aktivatorproteine hat man zwei
rizenstranges der DNA beginnen, bewegt sich an die- gemeinsame Strukturelemente gefunden: eine DNA-
sem entlang und bildet dabei einen komplementären Bindungsdomäne, die den Kontakt zur DNA herstellt,
RNA-Strang. sowie eine davon unabhängige Aktivierungsdomäne, die
Die beschriebenen Wechselwirkungen der RNA-Poly- mit anderen regulatorischen Proteinen oder direkt mit
merase mit den allgemeinen Transkriptionsfaktoren am Komponenten des Transkriptionsapparates wechselwir-
Promotor eines Gens erlauben in der Regel nur wenig ken, um schließlich die Transkription eines Gens zu för-
Transkriptions-Initiation und es werden nur wenige dern. Ein Transkriptionsfaktor kann jeweils eine oder
Transkripte hergestellt. Ein hohes Transkriptionsniveau auch mehrere dieser beiden Domänen besitzen.

476
18.2 Die Expression eukaryontischer Gene kann auf verschiedenen Stufen reguliert werden

Abbildung 18.9: Die Struktur des Transkriptionsaktivators


MyoD. Der MyoD-Aktivator besteht aus zwei Untereinheiten (lila und
orange ), mit langgestreckten Bereichen von alpha-Helices. Jede der Unter-
einheiten hat eine DNA-Bindedomäne und eine Aktivierungsdomäne. In
Aktivierungs- letzterer finden sich die Bindestellen für die Wechselwirkung mit der zweiten
domäne Untereinheit, sowie Bindestellen für weitere Proteine. MyoD beeinflusst die
Muskelentwicklung in Embryonen von Vertebraten (siehe Konzept 18.4 ).
DNA-
Bindedomäne
DNA Abbildung 18.10 veranschaulicht, wie sich die Bin-
dung eines Aktivators an einen weit vom Promotor ent-
fernten Enhancer auf die Transkription auswirken kann.
Man nimmt heute an, dass die Bindung von Proteinen
zu einer Schleifenbildung (Biegung) in der DNA beiträgt.
Die am Enhancer gebundenen Aktivatoren können so

1 Aktivatorproteine binden an
distale Kontrollelemente der
DNA, die zu einem Enhancer Teil 3
zusammengruppiert sind. Der
CHROMATINMODIFIZIERUNG hier gezeigte Enhancer besitzt
drei Bindungsstellen.
TRANSKRIPTION
Aktivatoren Promotor
DNA
RNA-PROZESSIERUNG
codierender Teil des Gens

distales TATA-Box
„Enhancer”
mRNA- TRANSLATION
Kontrollelement
ABBAU

PROTEINPROZESSIERUNG
UND –ABBAU

allgemeine
Transkriptionsfaktoren
2 Ein die DNA biegendes
Protein bringt die gebun-
denen Aktivatoren näher an die DNA
den Promotor. Allgemeine biegendes
Transkriptionsfaktoren, Protein
Vermittlerproteine und die
RNA-Polymerase befinden Gruppe von Vermittlerproteinen
sich in der Nähe. („Mediator proteins”)

R
RNA-Polymerase II

3 Die Aktivatoren binden an


bestimmte Vermittlerproteine
sowie allgemeine Transkrip-
tionsfaktoren und helfen
diesen, einen aktiven
Transkriptions-Initiations-
komplex am Promotorbereich
zu bilden. RNA-Polymerase II

Transkriptions- RNA-Synthese
Initiationskomplex

Abbildung 18.10: Ein Modell für die Wirkung von Enhancerelementen und Transkriptionsaktivatoren. Durch eine Schleifenbildung in
der DNA können an einem Enhancer gebundene Proteine mit einem Promotor wechselwirken, der Hunderte oder sogar Tausende von Nucleotiden ent-
fernt liegt. Spezifische, als Aktivatorproteine bezeichnete Transkriptionsfaktoren binden an die Enhancersequenzen und binden dann Vermittlerproteine,
die ihrerseits zu allgemeinen Transkriptionsfaktoren und der RNA-Polymerase II Kontakt aufnehmen, um den Transkriptions-Initiationskomplex aufzu-
bauen. Die Protein/Protein-Wechselwirkungen bringen den Komplex in die richtige Lage zum Promotor und ermöglichen damit die Initiation der RNA-
Synthese. Hier ist nur ein Enhancer (mit goldfarbenen Kontrollelementen) dargestellt. Ein Gen kann aber auch mehrere Enhancer besitzen, die zu unter-
schiedlichen Zeitpunkten oder in verschiedenen Geweben genutzt werden.

477
18 Regulation der Genexpression

über weitere Vermittlerproteine mit denjenigen Protei- ken. Untersuchungen an Hefe und an Säugetierzellen
nen in Kontakt treten, die am Promotor gebunden sind. haben gezeigt, dass einige Aktivatoren Histonacetylasen
Diese Protein/Protein-Wechselwirkungen fördern die an das Chromatin holen, die Histonfortsätze an den
Zusammenlagerung und Ausrichtung des Initiations- Nucleosomen im Bereich von Promotoren modifizieren
komplexes am Promotor. Tatsächlich wird dieses Modell und so die Transkription fördern (siehe Abbildung 18.7).
durch zahlreiche Untersuchungen gestützt. Beispiels- Andererseits können Repressoren mit Deacetylasen
weise wird die Expression eines Globingens in Mäusen wechselwirken, was zu einer verringerten Transkription
gesteuert, indem einige der beteiligten Proteine sowohl führt. Dieses Phänomen wird als „Silencing“ („Stumm-
an den Promotor unmittelbar vor dem offenen Leseraster schaltung“) bezeichnet. Tatsächlich scheint die Chroma-
binden als auch an einen Enhancer, der rund 50.000 tinmodifikation durch die dafür rekrutierten Enzyme
Nucleotide weiter stromaufwärts auf dem Chromosom bei Eukaryonten ein weit verbreiteter Mechanismus zu
liegt. Durch spezifische Proteinwechselwirkungen kön- sein, um die Genexpression zu unterdrücken.
nen also die beiden so weit entfernten chromosomalen Die kombinierte Steuerung der Genaktivierung.
DNA-Bereiche gezielt in eine räumliche Nähe zueinan- Bei Eukaryonten wird die Transkription wesentlich
der gebracht werden. In den Wissenschaftlichen Übun- durch die Bindung von Aktivatorproteinen an ihre ent-
gen werden sie mit Versuchsergebnissen arbeiten, die sprechenden Kontrollelemente auf der DNA gesteuert.
sich auf die Identifikation der Kontrollelemente im Betrachtet man die Menge der in einer Eukaryonten-
Enhancer eines menschlichen Gens beziehen. zelle zu regulierenden Gene, so ist die Zahl der ver-
Teil 3 Bestimmte Transkriptionsfaktoren, die die Genex- schiedenen zur Verfügung stehenden Kontrollsequen-
pression reprimieren, können auf verschiedene Wei- zen überraschend klein. Kaum mehr als ein Dutzend
sen ihre hemmende Funktion ausüben. So binden kurzer DNA-Sequenzen finden sich in den Kontroll-
einige Repressoren direkt an die Kontrollelemente der elementen verschiedener Gene immer wieder. Durch-
DNA (am Enhancer oder an anderen Stellen) und blo- schnittlich enthält jeder Enhancer nur etwa zehn
ckieren damit eine Bindungsstelle für einen Aktivator. Kontrollelemente, von denen jedes einen oder zwei
Andere Repressoren wechselwirken direkt mit Aktiva- spezifische Faktoren binden kann. Daher wird die
toren und verhindern so ihre Bindung an die DNA. Transkription eines Gens wohl eher durch die spezi-
Außer durch eine direkte Beeinflussung der Tran- elle Kombination von Kontrollelementen in einem
skription können einige Regulatorproteine auch indi- Enhancer gesteuert als durch die Anwesenheit eines
rekt über die Veränderung der Chromatinstruktur wir- bestimmten Elements. Schon aus nur einem Dutzend

Enhancer für Abbildung 18.11: Gewebespezifi-


Die DNA in beiden Promotor
das Albumingen Albumingen sche Transkription. Sowohl Leberzellen
Zellen enthält das
Albumingen und als auch Zellen der Augenlinse enthalten
das Kristallingen: die Gene zur Herstellung von Albumin
Kontroll- Enhancer für und von Kristallin. Allerdings stellen nur
elemente das Kristallingen Promotor Leberzellen Albumin (ein Blutplasmapro-
Kristallingen
tein) her, und nur im Auge wird Kristallin
als das Hauptprotein des Linsenkörpers
gebildet. In den verschiedenen Zellen wer-
den bestimmte Transkriptionsfaktoren
gebildet, die festlegen, welche Gene ex-
primiert werden. Die oben dargestellten
Gene für das Albumin und für das Kristallin
LEBERZELLKERN AUGENLINSENZELLKERN
besitzen jeweils einen Enhancer mit drei
Aktivatoren Aktivatoren verschiedenen Kontrollelementen. Obgleich
beiden Enhancern ein Kontrollelement
(grau) gemeinsam ist, enthält jeder der En-
hancer eine eigene Kombination von Ele-
menten. Alle für eine starke Expression
des Albumingens notwendigen Aktivato-
ren liegen nur in Leberzellen vor (a). Die
Aktivatoren für die Expression des Kris-
Albumingen wird
Albumingen nicht exprimiert tallingens sind dagegen nur in Linsenzel-
wird exprimiert len vorhanden (b). Zur Vereinfachung
sind hier nur die Aktivatoren dargestellt,
obwohl auch noch Repressoren in beiden
Geweben die Transkription beeinflussen.

? Beschreiben Sie den Enhancer des


Kristallingen wird Albumingens in den beiden Zelltypen.
nicht exprimiert Kristallingen
Unterscheidet sich die Nucleotidsequenz
wird exprimiert
dieses Enhancers in einer Leberzelle von
(a) Leberzelle. Das Albumingen wird (b) Augenlinsenzelle. Das Kristallingen wird der in einer Zelle der Augenlinse?
exprimiert, das Kristallingen nicht. exprimiert, das Albumingen nicht.

478
18.2 Die Expression eukaryontischer Gene kann auf verschiedenen Stufen reguliert werden

zur Verfügung stehenden Kontrollelementen ergibt lungsstadium eines Individuums oder auch in einem
sich aber eine große Zahl möglicher Kombinationen. bestimmten Gewebe der Fall sein. Aus Abbildung
Eine bestimmte Kombination von Kontrollelementen 18.11 geht hervor, wie mit nur wenigen Kontrollele-
wird nur dann zur Transkription eines Gens führen, menten die Transkription von Genen in zwei verschie-
wenn die entsprechenden Aktivatorproteine gebun- denen Zelltypen unterschiedlich gesteuert werden
den sind. Dies kann in einem bestimmten Entwick- kann.

 Wissenschaftliche Übung

Die Auswertung von DNA-Deletionsversuchen auf die Expression des mPGES-1-Gens hätte. (Das
mPGES-1-Gen selbst konnte für diesen Versuch
Welche Kontrollelemente nicht benutzt werden, weil die Wirtszellen auch
steuern die Expression ihr eigenes mPGES-1-Gen exprimieren und so die
des mPGES-1-Gens? Die mRNA-Messungen verfälscht hätten.)
DNA-Sequenzen, die un- Experimentelle Daten Die linke Seite der Abbil-
mittelbar vor dem Trans- dung zeigt die ursprüngliche DNA-Sequenz (oben)
kriptionsstart liegen, wer- und die drei Deletionskonstrukte (darunter). Ein Teil 3
den oft zum Promotorbe- rotes X zeigt an, welches der drei vermuteten Kon-
reich gezählt. Allerdings trollelemente nicht vorhanden (deletiert) war. Der
können sich auch Grup- offene Bereich zwischen den Schrägstrichen deutet
pen von Kontrollelemen- die Distanz von 8.000–9.000 Basenpaaren an, die
ten (Enhancer) auf die zwischen der Kontrollregion und dem Promotor
Transkription auswirken, die Tausende von Basen- liegt. Das horizontale Balkendiagramm auf der rech-
paaren vor dem Promotor liegen. Die Identifizie- ten Seite der Abbildung gibt die Menge der mRNA
rung solcher Kontrollelemente ist schwierig, weil wieder, die nach 48 Stunden in jeder der Zellkultu-
der Abstand zum Promotor nicht genau festgelegt ren vom Reportergen gebildet wurde. Die Menge der
ist. Deshalb beginnen Forscher mit ihrer Analyse, vom unveränderten Konstrukt gebildeten mRNA
indem sie mögliche Kontrollelemente aus der DNA- wurde dabei auf 100 Prozent gesetzt (oberer Balken).
Sequenz entfernen (deletieren) und die Auswirkun-
gen auf die Transkription des betreffenden Gens Enhancer mit möglichen
Kontrollelementen Reportergen
messen. In dieser Übung werten Sie die Ergebnisse Promotor
1 2 3
eines solchen Deletionsversuches aus, der am
menschlichen mPGES-1-Gen durchgeführt wurde.
Dieses Gen codiert ein Enzym, das für die Synthese
eines Prostaglandins benötigt wird, das bei Entzün-
dungsreaktionen gebildet wird.
Durchführung des Experiments Die Forscher ver-
muteten drei mögliche Kontrollelemente in einem
Enhancerbereich, der sich 8.000–9.000 Basenpaare © 2012 The Biochemical Society
0 50 100 150 200
vor dem mPGES-1-Gen befindet. Die Kontrollele- Relative Menge der
mente steuern die Expression jedes beliebigen Gens, Reportergen-mRNA
das sich an der richtigen Stelle stromabwärts befin-
det (das heißt an der Stelle des ursprünglichen
mPGES-1-Gens). Tatsächlich stellten die Forscher
zunächst DNA-Moleküle („Konstrukte“) her, die den Datenauswertung
normalen Enhancerbereich vor einem sogenannten
„Reportergen“ trugen. Ein solches Gen hat den Vor- 1. (a) Welche ist die unabhängige Variable in
teil, dass die Menge der von ihm gebildeten mRNA dieser Abbildung (das heißt, welche Variable
einfach gemessen werden kann. Danach wurden wurde von den Forschern verändert)? (b) Wel-
noch drei weitere DNA-Konstrukte hergestellt, denen che ist die abhängige Variable (das heißt, wel-
aber jeweils eines der vermuteten Kontrollelemente che Variable veränderte sich mit der Verände-
fehlte (siehe Abbildung rechts). Die vier Kon- rung der unabhängigen Variablen)? (c) Welches
strukte wurden getrennt in menschliche Zellkul- war das Kontrollexperiment? Beschriften Sie
turen eingebracht. Nach 48 Stunden wurde dann die Abbildung entsprechend.
die Menge der vom Reportergen gebildeten mRNA
bestimmt. Ein Vergleich dieser Mengen erlaubte den 2. Sprechen die Ergebnisse dafür, dass es sich
Forschern einen Rückschluss auf den Effekt, den tatsächlich um Kontrollelemente handelt? Be-
die entsprechende Deletion des Kontrollelementes gründen Sie Ihre Antwort.

479
18 Regulation der Genexpression

 Forts.

3. (a) Führte die Deletion eines der Kontrollele- 4. (a) Führte die Deletion eines der Kontrollele-
mente zu einer verringerten Expression des mente zu einer erhöhten Expression des Repor-
Reportergens? Wenn ja, welches Konstrukt war tergens? Wenn ja, welches Konstrukt war das?
das und begründen Sie Ihre Aussage. (b) Wenn Begründen Sie Ihre Aussage. (b) Wenn der Ver-
der Verlust eines Kontrollelements zu einer ver- lust eines Kontrollelements zu einer erhöhten
ringerten Expression des Reportergens führt, Expression des Reportergens führt, welche
welche Funktion hat dann dieses Kontrollele- Funktion hat dann dieses Kontrollelement im
ment im normalen Kontext? Geben Sie eine normalen Kontext? Geben Sie eine biologische
biologische Erklärung dafür, warum der Ver- Erklärung dafür, warum der Verlust eines Kon-
lust eines Kontrollelements zu einer verringer- trollelements zu einer erhöhten Genexpres-
ten Genexpression führen könnte. sion führen könnte.

Daten aus: J. N. Walters et al., Regulation of human microsomal prostaglandin E synthase-1 by IL-1b requires a distal enhancer element with a unique
role for C/EBPb, Biochemical Journal 443:561–571 (2012).

Teil 3

Die Koordination der Genexpression bei Viele Signalstoffe wie Nichtsteroidhormone und Wachs-
Eukaryonten tumsfaktoren gelangen nicht ohne weiteres in die Zelle,
Wie geht eine eukaryontische Zelle mit der Expression sondern binden an Rezeptoren an der Zelloberfläche.
verschiedener Gene mit verwandter Funktion um, die Solche Moleküle steuern die Expression von Genen
gleichzeitig an- oder abgeschaltet werden müssen? Wie indirekt über Signaltransduktionswege, die spezifische
wir im ersten Teil dieses Kapitels gelernt haben, sind Transkriptionsaktivatoren oder -repressoren regulieren
solche gleichsinnig zu regulierenden Gene in Bakterien (siehe Abbildung 11.15). Auch hier greift grundsätzlich
zu Operons zusammengefasst, die von einem einzelnen eine ähnliche Regulation wie im Fall der Steroidhor-
Promotor gesteuert und zu einem einzigen mRNA- mone: Gene mit den gleichen Kontrollelementen wer-
Molekül transkribiert werden. Die Gene werden also den exprimiert, wenn die entsprechenden Transkrip-
zusammen exprimiert und die codierten Proteine wer- tionsfaktoren durch dasselbe chemische Signal aktiviert
den gleichzeitig hergestellt. Bei Eukaryonten findet man werden. Systeme für die koordinierte Genregulation
bis auf sehr wenige Ausnahmen keine solche Organisa- entwickelten sich wahrscheinlich schon früh im Laufe
tion in Operonen. der Evolution und konnten sich durch Duplikationen
Meistens liegen die gleichsinnig zu regulierenden der Kontrollelemente im Genom verbreiten.
Gene – die beispielsweise für die Enzyme eines Stoff-
wechselwegs codieren – weit verstreut auf den Chromo- Auswirkungen von Strukturen im Zellkern auf die
somen des eukaryontischen Genoms. In diesen Fällen Genexpression
scheint die koordinierte Expression durch bestimmte In Abbildung 16.23b haben wir gesehen, dass die Chro-
Kombinationen aus Kontrollelementen sichergestellt zu mosomen des Interphasekerns nicht ungeordnet verteilt
werden, die den im Genom verteilten Genen einer vorliegen, sondern bestimmte Areale besetzen. Forscher
Gruppe gemeinsam sind. Solche Kombinationen erlau- haben nun Methoden entwickelt, um diejenigen Berei-
ben die Bindung von Aktivatoren an ihre Zielsequen- che verschiedener Chromosomen miteinander zu ver-
zen im Zellkern, die gleichzeitig die Transkription der netzen, die in der Interphase miteinander wechselwir-
verschiedenen Gene steuern, unabhängig davon, wo ken (die Methode wird im Englischen als „crosslinking“
sich diese im Genom befinden. bezeichnet). Durch solche Untersuchungen wurden
Die koordinierte Kontrolle verstreut liegender Gene Chromatinschleifen entdeckt, die in bestimmte Berei-
in eukaryontischen Zellen erfolgt oft als Reaktion auf che des Zellkerns hineinragen (Abbildung 18.12).
extrazelluläre chemische Signale. So gelangen etwa Verschiedene Schleifen des gleichen Chromosoms
Steroidhormone in die Zelle und binden dort an spezi- sowie solche von anderen Chromosomen können sich
fische Rezeptorproteine. Der Hormon/Rezeptor-Kom- in diesen Bereichen zusammenlagern, die oft mit RNA-
plex bindet dann an ein spezifisches Kontrollelement Polymerase und anderen an der Transkription beteilig-
auf der DNA und wirkt als Transkriptionsaktivator (siehe ten Proteinen angereichert sind. Wie bei einem Freizeit-
Abbildung 11.9). Jedes Gen, dessen Expression durch park, der die unterschiedlichsten Besucher anlockt, hält
ein bestimmtes Steroidhormon aktiviert wird, enthält man diese sogenannten „Transkriptionsfabriken“ für all-
ein entsprechendes Kontrollelement in seinem regu- gemein zugängliche Kernbereiche, die eine bestimmte
latorischen Bereich, das von dem Hormon/Rezeptor- Funktion erfüllen.
Komplex erkannt wird. Beispielsweise wird so durch Damit ist die alte Ansicht einer ungeordneten chro-
Östrogen die Expression einer Gruppe von Genen akti- mosomalen Masse im Zellkern einem Modell gewi-
viert, die letztlich die Teilung von Gebärmutterzellen chen, in dem eine ausgeklügelte Architektur und genau
anregen und die Einnistung des Embryos vorbereiten. geregelte Chromatinbewegungen vorherrschen. Die

480
18.2 Die Expression eukaryontischer Gene kann auf verschiedenen Stufen reguliert werden

Verlagerung von Genen aus ihren chromosomalen sogenannte alternative Spleißen, bei dem aus einem
Arealen in die Transkriptionsfabriken könnten somit RNA-Molekül verschiedene mRNAs gebildet werden
ein Teil der Vorbereitungen für ihre Expression sein. können, je nachdem, welche Segmente als Intron oder
Hier handelt es sich um ein noch junges Forschungs- Exon erkannt werden. Bei der Translation entstehen
gebiet mit faszinierenden Möglichkeiten. damit unterschiedliche Proteine. Das Spleißmuster eines
gegebenen Primärtranskripts wird durch gewebespezifi-
Chromosomen im Interphasekern
sche regulatorische Proteine festgelegt, die an die RNA
(fluoreszenzmikroskopische binden und deren Prozessierung bestimmen.
Aufnahme) Ein einfaches Beispiel für alternatives Spleißen ist in
Abbildung 18.13 anhand des Troponin-T-Gens darge-
stellt, das für zwei unterschiedliche (aber ähnliche)
Proteine codiert. Bei anderen Genen können noch viel
mehr verschiedene Produkte durch alternatives Splei-
ßen entstehen. Beispielsweise hat man bei Taufliegen
ein Gen mit so vielen Exonbereichen entdeckt, dass
theoretisch etwa 19.000 verschiedene Membranpro-
Chromosomen-Areal
teine mit unterschiedlichen extrazellulären Domänen
5 μm gebildet werden könnten. Mindestens 17.500 dieser
alternativen mRNAs, d.h. 94 Prozent der möglichen Teil 3
Produkte, werden auch tatsächlich gebildet. Jede Ner-
venzelle der sich entwickelnden Fliege scheint eine
eigene Form des Proteins herzustellen, das als Erken-
nungssignal an der Zelloberfläche erscheint.

CHROMATINMODIFIZIERUNG

Chromatin-
schleife TRANSKRIPTION
Transkriptionsfabrik
RNA-PROZESSIERUNG
Abbildung 18.12: Wechselwirkungen der Chromosomen im
Interphase-Zellkern. Obwohl jedes Chromosom im Interphasekern ein
bestimmtes Areal besetzt (siehe Abbildung 16.23b ), bildet das Chromatin
mRNA- TRANSLATION
Schleifen aus, die in andere Kernbereiche hineinragen können. Zumindest ABBAU
bei einigen dieser Bereiche handelt es sich um Transkriptionsfabriken mit
PROTEINPROZESSIERUNG
verschiedenen Schleifen aus einem Chromosom (blau) oder auch von UND –ABBAU
Exons
anderen Chromosomen (rote und grüne Schleifen).

DNA 1 2 3 4 5
18.2.4 Mechanismen der posttranskriptio-
nalen Regulation Troponin T-Gen

Primär-
Die Transkriptionsregulation umfasst noch nicht das transkript 1 2 3 4 5
vollständige Spektrum zur Kontrolle der Genexpres- (prä-mRNA)
sion, die bei proteincodierenden Genen letztlich durch
RNA-Spleißen
die Menge des gebildeten Proteins bestimmt wird. Zwi-
schen der Synthese des Primärtranskripts in Form von mRNA 1 2 3 5 ODER 1 2 4 5
RNA und der Herstellung eines aktiven Proteins greifen
noch viele Regulationsmechanismen (Abbildung 18.6). Abbildung 18.13: Alternatives RNA-Spleißen des Troponin-T-
Diese erlauben die schnelle Anpassung der Zelle an Gens. Das Primärtranskript dieses Gens (prä-mRNA) kann unterschiedlich
wechselnde Umweltbedingungen, ohne dass sie ihr prozessiert werden. Dabei entstehen verschiedene reife mRNA-Moleküle.
gesamtes Transkriptionsmuster verändern müsste. Im Beachten Sie, dass eine mRNA-Sorte das Exon 3 (grün), aber nicht Exon 4,
Folgenden wollen wir erörtern, wie Zellen die Gen- eine andere Variante Exon 4 (lila), aber nicht Exon 3 enthält. Die beiden
reifen mRNAs codieren für unterschiedliche, aber ähnliche Muskelpro-
expression noch steuern können, nachdem die Tran-
teine.
skription abgeschlossen ist.

RNA-Prozessierung Durch alternatives Spleißen wird das Repertoire euka-


Die Prozessierung der eukaryontischen RNA im Zellkern ryontischer Genome erheblich erweitert. So bot es auch
und der Export der gereiften mRNAs in das Cytoplasma eine Erklärung für die geringe Zahl proteincodierender
bieten verschiedene Ansatzpunkte zur Regulation der Gene, die man erhielt, als das menschliche Genom
Genexpression, die es bei Prokaryonten nicht gibt. Bei- sequenziert wurde. Mit etwa 25.000 Genen sind dies
spielsweise findet man bei der RNA-Prozessierung das kaum mehr als beim Regenwurm, der Senfpflanze

481
18 Regulation der Genexpression

oder den Seeanemonen. Das warf natürlich die Frage Auch weitere Mechanismen können die Translation
auf, was die höhere Komplexität in der Morphologie einer mRNA verhindern oder zu ihrem Abbau beitragen.
des Menschen ausmacht, wenn es nicht die Zahl der Dazu gehört die wichtige Gruppe regulatorischer RNA-
Gene ist. Man nimmt an, dass zwischen 75 und 100 Moleküle, welche die Genexpression auf verschiede-
Prozent aller menschlichen Gene mit mehreren Exo- nen Stufen regulieren können und auf die wir später in
nen alternativ gespleißt werden. Damit multipliziert diesem Kapitel noch zurückkommen werden.
sich die Zahl der menschlichen Proteine, die tatsäch-
lich gebildet werden können, was sich besser mit der Umbau und Abbau von Proteinen
offensichtlich höheren Komplexität vereinbaren lässt. Eine letzte Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Gen-
expression ergibt sich nach der Translation, da viele
Initiation der Translation und mRNA-Abbau eukaryontische Polypeptide noch verändert werden
Die Translation bietet eine weitere Möglichkeit zur Regu- müssen, bevor ein Protein seine Funktion ausüben
lation der Genexpression, die meist auf der Stufe der kann. So wird Insulin erst nach einer bestimmten pro-
Initiation ansetzt (siehe Abbildung 17.18). Die Transla- teolytischen Spaltung des Pro-Insulin-Vorläufermole-
tion einiger mRNAs kann beispielsweise durch regula- küls als Hormon wirksam. Außerdem erhalten viele Pro-
torische Proteine verhindert werden, die an bestimmte teine erst durch chemische Modifikationen ihre aktive
Sequenzen oder Sekundärstrukturen im nicht-transla- Konformation. Beispielsweise werden Regulatorpro-
tierten 5'-Bereich der mRNA binden und das Anlagern teine häufig durch das Anheften oder die Abspaltung
Teil 3 des Ribosoms verhindern. (In Kapitel 17 haben wir von Phosphatgruppen aktiviert oder inaktiviert, und an
gelernt, dass sowohl die 5'-Cap-Struktur als auch der sekretierte Proteine werden auf dem Weg aus der Zelle
Poly-A-Schwanz der mRNA an der Bindung des Ribo- in der Regel Zuckerreste gebunden (Glykosylierung).
soms beteiligt sind.) Andere Proteine müssen an die Zelloberfläche oder zu
Eine andere Möglichkeit ist die gleichzeitige globale bestimmten intrazellulären Zielorten transportiert wer-
Regulation der Translation aller mRNA-Moleküle in den, um ihre Funktion auszuüben. Auf all diesen Stufen
einer Zelle. Dies wird in eukaryontischen Zellen in der Modifikation oder des Transports eines Proteins
der Regel durch die Aktivierung oder Inaktivierung von kann seine Aktivität noch reguliert werden.
Proteinen vermittelt, die an der Initiation der Trans- Schließlich können Proteine auch noch selektiv
lation mitwirken. Ein solcher Mechanismus wird zu abgebaut werden, was sich darauf auswirkt, wie lange
Beginn der Translation von in Eizellen (Oocyten) ein- sie in der Zelle oder in einem Organismus ihre Funk-
gelagerten (maternalen) mRNAs eingesetzt. Unmittel- tion ausüben. Einige Proteine, wie beispielsweise die
bar nach der Befruchtung wird die Translation durch an der Regulation des Zellzyklus beteiligten Cycline,
die plötzliche Aktivierung von Faktoren zur Trans- werden sehr schnell abgebaut und sichern so den ord-
lationsinitiation in Gang gesetzt, womit schlagartig die nungsgemäßen Ablauf des Prozesses (siehe Abbildung
Synthese der von den eingelagerten mRNAs codierten 12.16). Um ein bestimmtes Protein dem schnellen
Proteine einsetzt. Einige Pflanzen lagern in Dunkel- Abbau zuzuführen, wird oft zunächst ein weiteres klei-
phasen ebenfalls mRNAs ein, wobei im Licht der nes Protein angehängt, das Ubiquitin (lat. ubiquitas,
Translationsapparat wieder aktiviert wird. Allgegenwart). Große Multiproteinkomplexe, die Pro-
Die Lebensdauer (gemessen als Halbwertszeit) eines teasomen, erkennen solche ubiquitinierten Proteine
mRNA-Moleküls im Cytoplasma einer Zelle bestimmt und bauen sie ab.
ebenfalls die Menge des entsprechenden Proteins. Bak-
terielle mRNA-Moleküle werden in der Regel schon
wenige Minuten nach ihrer Entstehung enzymatisch  Wiederholungsfragen 18.2
abgebaut. Diese kurzen Halbwertszeiten der mRNAs
sind mit dafür verantwortlich, dass Bakterien ihre Pro- 1. Wie wirkt sich die Histonacetylierung auf die
teinbiosynthese sehr rasch an sich ändernde Umwelt- Genexpression aus, wie die DNA-Methylierung?
bedingungen anpassen können. Im Gegensatz dazu 2. Vergleichen Sie die Wirkung der allgemeinen
haben viele mRNAs in vielzelligen Eukaryonten Halb- und der spezifischen Transkriptionsfaktoren
wertszeiten von mehreren Stunden, Tagen oder sogar bei der Regulation der Genexpression.
Wochen. So sind die mRNA-Moleküle für die Unterein-
heiten des Hämoglobins (α- und β-Globin) in sich ent- 3. WAS WÄRE, WENN? Was würden Sie bei einem
wickelnden roten Blutkörperchen außergewöhnlich Vergleich der Sequenzen der distalen Kontroll-
stabil und werden immer wieder translatiert. elemente (Enhancer) von drei verschiedenen,
Die Nucleotidsequenzen, die die Lebensdauer einer nur im Muskelgewebe exprimierten Genen er-
mRNA bestimmen, liegen oft im nicht-translatierten warten? Begründen Sie Ihre Antwort.
3'-Bereich des Moleküls (Abbildung 18.8). Dies ließ 4. Nennen Sie vier Kontrollmechanismen, die die
sich experimentell zeigen, indem eine entsprechende Menge eines aktiven Proteins in einer Zelle be-
Sequenz aus einer kurzlebigen mRNA eines Wachs- einflussen können, wenn die mRNA das Zyto-
tumsfaktors auf eine viel stabilere Globin-mRNA über- plasma bereits erreicht hat.
tragen wurde. Die an ihrem 3'-Ende veränderte Glo-
bin-mRNA wurde daraufhin rasch abgebaut. Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

482
18.3 Die Regulation der Genexpression durch nicht-codierende RNAs

Die Regulation der mRNA binden, die mindestens 7 oder 8 Nucleotide


einer komplementären Sequenz enthält. Der miRNA/
Genexpression durch Proteinkomplex baut entweder die so erkannte mRNA
nicht-codierende RNAs
18.3 ab oder hemmt deren Translation (Abbildung 18.14).
Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens die
Hälfte aller menschlichen Gene durch miRNAs regu-
Aus Genomsequenzierungen wissen wir, dass nur etwa liert werden, von deren Existenz wir vor nicht einmal
1,5 Prozent des menschlichen Genoms (und ähnlich zwei Jahrzehnten noch nichts ahnten.
niedrige Prozentsätze der Genome anderer multizellu-
lärer Organismen) für Proteine codieren. Der Rest des
Genoms codiert zu einem geringen Teil noch für ver- CHROMATINMODIFIZIERUNG

schiedene andere RNAs, wie ribosomale RNAs und


Transfer-RNAs. Noch um die Jahrtausendwende ging TRANSKRIPTION

man davon aus, dass das restliche Genom nicht tran-


skribiert wird. Man dachte stattdessen, dass der über- RNA-PROZESSIERUNG
wiegende Teil eukaryontischer Genome weder für Pro-
teine noch für RNAs codiert und deshalb funktionslos
miRNA
sein müsse. Dem widersprechen viele neuere For- mRNA- TRANSLATION
ABBAU
schungsergebnisse. So hat beispielsweise eine Studie miRNA/ Teil 3
des menschlichen Genoms 2012 ergeben, dass etwa PROTEINPROZESSIERUNG Protein-
UND -ABBAU komplex
75 Prozent des Genoms einer jeden Zelle zu irgendei-
nem Zeitpunkt transkribiert wird. Nur ein kleiner Teil
der nichttranslatierten RNAs konnte auf Introns 1 Die miRNA bindet an die Ziel-
zurückgeführt werden. Diese und andere Beobachtun- mRNA mit mindestens sieben
gen führten zu dem Schluss, dass ein Großteil des komplementären Basen.
Genoms in RNAs transkribiert wird, die nicht für Pro-
teine codieren und kurz als nicht-codierende RNAs,
ncRNAs, bezeichnet werden. Obwohl wir noch weit
davon entfernt sind, die Funktion dieser RNAs voll-
ständig zu verstehen, mehren sich die Hinweise darauf,
dass ihnen eine wichtige Rolle in biologischen Syste-
men zukommt. Unsere bisherigen Vorstellungen, dass
ODER
mRNAs die wichtigsten Ribonucleinsäuren darstellen,
weil sie für Proteine codieren, werden wir entspre-
chend anpassen müssen. Tatsächlich befinden wir uns abgebaute mRNA Translation wird verhindert
diesbezüglich in einer akuten Phase des Umdenkens 2 Falls die miRNA- und die mRNA-Basen weitgehend komple-
in der Biologie, die Sie als Studierende hautnah miter- mentär zueinander sind, bindet die miRNA an den entspre-
leben. chenden Bereich und die mRNA wird abgebaut (links); sind
weniger Basen komplementär, wird die Translation gehemmt.
Abbildung 18.14: Regulation der Genexpression durch miRNAs.
18.3.1 Die Wirkung von Mikro-RNAs und Eine einzelsträngige miRNA mit einer Länge von 22 Nucleotiden wird
letztlich aus längeren Transkripten mit doppelsträngigen RNA-Bereichen
kleinen interferierenden RNAs auf
gebildet. Die miRNA verbindet sich mit Proteinen zu einem Komplex, der
die mRNA entweder zum Abbau entsprechender Ziel-mRNAs führt, oder deren Trans-
lation hemmt.
Nicht-codierende RNAs können die Genexpression an
verschiedenen Punkten beeinflussen, zu denen die
Translation der mRNA und die Konformation des Chro- Eine andere Klasse von kleinen RNAs wird als siRNAs
matins gehören. Wir werden uns im Folgenden auf bezeichnet (für „small interfering RNAs“). Diese ähneln
zwei Wirkungsweisen der ncRNAs konzentrieren, die in ihrer Länge und Funktion den miRNAs, und beide
in den vergangenen Jahren intensiv untersucht wurden. Molekülsorten binden an die gleichen Proteine und
Ihre Entdecker erhielten im Jahr 2006 den Nobelpreis haben dieselben Auswirkungen. Injiziert man die län-
für Arbeiten, die sie acht Jahre zuvor begonnen hatten. geren Vorläufermoleküle der siRNAs in eine Zelle, so
Seit 1993 wurden eine Reihe kleiner, einzelsträngiger können sie in der Tat von den entsprechenden Pro-
RNA-Moleküle beschrieben, die Mikro-RNAs (miRNAs) teinen erkannt und prozessiert werden. Die so gebildeten
genannt werden und an komplementäre Sequenzen siRNAs hemmen die Genexpression, indem sie die
von mRNAs binden. Die miRNAs werden durch zellu- komplementären Ziel-mRNAs erkennen und dann wie
läre Enzyme aus längeren Vorläufer-RNAs hergestellt miRNAs wirken. Man unterscheidet zwischen miRNA
und zu einzelsträngigen RNA-Fragmenten mit einer und siRNA aufgrund feiner Unterschiede in ihren Vor-
Länge von etwa 22 Nucleotiden verarbeitet. Diese bil- läufermolekülen, bei denen es sich aber immer um
den einen Komplex mit einem oder mehreren Prote- RNAs mit doppelsträngigen Bereichen handelt. Die
inen. Über die miRNA kann dieser Komplex an jede Hemmung der Genexpression durch siRNAs wird als

483
18 Regulation der Genexpression

RNA-Interferenz (RNAi) bezeichnet und wird im Labor Centromer-DNA


zur gezielten Inaktivierung von Genen eingesetzt, um
deren Funktion zu erforschen.
Wie hat sich das RNAi-System im Laufe der Evolu-
RNA- Schwester-
tion entwickelt? In Kapitel 19 werden wir auf Viren 1 Die DNA am
Polymerase chromatiden
mit doppelsträngigen RNA-Genomen eingehen. Der Centromer bildet (zwei DNA-
RNA-Transkripte (rot). Moleküle)
zelluläre Weg der RNA-Interferenz führt letztlich zum
Abbau doppelsträngiger RNA mit komplementären RNA-
Transkript
Sequenzen. Dieser Mechanismus könnte sich also
ursprünglich aus einer Abwehrreaktion gegen virale 2 Jedes der RNA-Transkripte dient
Infektionen entwickelt haben. Die Beobachtung, dass Hefeenzymen als Matrize, die
auch viele nicht-virale, zelluläre Gene durch die RNA- durch Synthese des komple-
mentären Stranges eine
Interferenz kontrolliert werden, lässt aber auch andere doppelsträngige RNA
Deutungen zu. Außerdem scheinen viele Arten, ein- herstellen.
schließlich der Säugetiere, ihre eigenen, doppelsträn-
gigen RNA-Vorläufermoleküle herzustellen, aus denen
kleine siRNAs hervorgehen. Die so gebildeten RNAs
regulieren die Genexpression auch noch auf anderen 3 Die doppelsträngige RNA wird in
kleine, einzelsträngige siRNAs siRNA-Protein-
Teil 3 Ebenen als der Translation, wie wir gleich sehen wer-
zerlegt, die mit Proteinen einen komplex
den. Komplex bilden.

18.3.2 Chromatinumbau und Stilllegung


4 Die siRNA-Proteinkomplexe binden an
der Transkription durch nicht- die von der Centromer-DNA abgelesenen
codierene RNAs Transkripte und werden so an den
Centromerregionen verankert.
Die umfassende Regulation der Genexpression durch
nicht-codierende RNAs wird immer offensichtlicher
und wir möchten hier noch auf eine weitere Auswir-
kung eingehen. Außer über die Wechselwirkung mit 5 Durch Proteine im siRNA-
mRNAs können ncRNAs auch die Chromatinstruktur Proteinkomplex werden
Enzyme herangeholt (grün),
verändern. Zum Beispiel benutzt die Spalthefe (Schizo- die Histone modifizieren
saccharomyces pombe) solche Moleküle, um die Bil- und so zur Chromatinver-
dung des Heterochromatins im Bereich der Centro- dichtung führen.
mere auf den Chromosomen zu steuern.
Während der S-Phase des Zellzyklus muss die DNA Centromer-DNA
im Bereich der Centromere aufgelockert werden, damit
die Replikation fortschreiten kann. Danach werden die
neu gebildeten Stränge wieder zu Heterochromatin
kondensiert, um die Mitose einzuleiten. Einige Hefear- Chromatin-
ten stellen siRNAs her, die für den erneuten Aufbau des Modifikations-
enzyme
Heterochromatins an den Centromeren benötigt werden.
Ein Modell für deren Wirkung ist in der Abbildung 6 Diese Vorgänge führen
18.15 gezeigt. Wie genau der Prozess beginnt und in wel- schließlich zur Bildung
von Heterochromatin
cher Folge die einzelnen Schritte ablaufen, wird derzeit am Centromer.
zwar noch diskutiert, eine Grundidee scheint aber all-
Heterochromatin der
gemein akzeptiert zu sein: Das siRNA-System wechsel- Centromerregion
wirkt in Hefen sowohl mit anderen nicht-codierenden
RNAs als auch mit den Enzymen, die das Chromatin am
Centromer modifizieren und neu strukturieren. Auch in
den meisten Säugetierzellen hat man siRNAs gefun- Abbildung 18.15: Verdichtung des Chromatins am Centromer. In
den. Der genaue Mechanismus der DNA-Verdichtung der Spalthefe (Schizosaccharomyces pombe) bewirken siRNAs zusammen
am Centromer wurde allerdings noch nicht aufgeklärt. mit anderen nicht-codierenden RNAs die Neubildung des stark verdichte-
Es ist anzunehmen, dass auch dabei andere nicht- ten Heterochromatins an den Centromeren der nach der DNA-Replikation
codierende RNAs eine Rolle spielen. gebildeten Schwesterchromatiden.

484
18.4 Die verschiedenen Zelltypen in einem Lebewesen entstehen nach einem Programm zur differenziellen Genexpression

Eine neue Klasse kleiner ncRNAs wird aufgrund ihrer die Embryonalentwicklung ein Paradebeispiel für die
Wechselwirkung als piRNAs bezeichnet (aus dem Eng- Notwendigkeit einer genau abgestimmten Regulation
lischen für piwi-interacting RNAs). Diese RNAs füh- der Genexpression.
ren ebenfalls zur Bildung von Heterochromatin und
hemmen die Genexpression einiger Transposons im
Genom, die gelegentlich als „parasitische DNA-Ele-  Wiederholungsfragen 18.3
mente“ bezeichnet werden (siehe Kapitel 21). piRNAs
sind in der Regel 24–31 Nucleotide lang und entste- 1. Vergleichen Sie die Funktion von miRNAs in
hen aus längeren, einzelsträngigen RNA-Vorläufern. der Regulation der Genexpression mit der von
Sie sind unverzichtbar in den Keimzellen einiger Tier- anderen nicht-codierenden RNAs bei der Mo-
arten, in denen sie während der Bildung der Gameten difikation des Chromatins am Centromer.
den Wiederaufbau der richtigen Methylierungsmuster
2. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich vor, dass
sicherstellen.
die in Abbildung 18.14 zum Abbau bestimmte
Schließlich ist eine längere, nicht-codierende RNA
mRNA für ein Protein codiert, das die Zelltei-
auch für die Inaktivierung eines der X-Chromosomen bei
lung eines vielzelligen Lebewesens fördert.
weiblichen Säugetieren verantwortlich (siehe Abbildung
Was würde geschehen, wenn eine Mutation
15.8). In diesem Fall bindet die vom X-Chromosom
im Gen für die miRNA deren Wirkung auf den
selbst gebildete XIST-RNA an das eigene Chromosom,
Abbau der mRNA verhindert?
was zu dessen Verdichtung in Heterochromatin, genannt Teil 3
Barr-Körperchen, führt.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Die genannten Beispiele zeigen, dass die Modifika-
tion des Chromatins größere Bereiche von Chromoso-
men betrifft und zu deren Verdichtung führt. Da die
Chromatinverpackung sich auf die Transkription aus-
wirkt, spielt diese RNA-vermittelte Verdichtung wahr- Die verschiedenen Zelltypen in einem
scheinlich eine wichtige Rolle bei der Regulation der Lebewesen entstehen nach einem
Genexpression.
Programm zur differenziellen

18.3.3 Die Bedeutung kleiner nicht-


Genexpression
18.4
codierender RNAs für die Evolution
Während der Embryonalentwicklung eines vielzelli-
EVOLUTION Kleine nicht-codierende RNAs können die gen Lebewesens gehen aus einer befruchteten Eizelle
Genexpression auf unterschiedlichen Ebenen und durch (Zygote) eine Vielzahl verschiedener Zelltypen hervor,
verschiedene Mechanismen steuern. Im Allgemeinen die unterschiedlich aufgebaut sind und verschiedene
erlauben zusätzliche Regulationsmechanismen die Ent- Aufgaben erfüllen. Normalerweise bilden Zellen die
wicklung komplexerer morphologischer Merkmale. Die Gewebe, Gewebe die Organe und Organe gruppieren
Vielfalt der Regulation durch miRNAs führte daher zu sich zu Organsystemen, die den Gesamtorganismus
der Hypothese, dass die Zunahme der Zahl der in ausmachen. Jedes Entwicklungsprogramm muss daher
einem Genom codierten miRNAs die morphologische sicherstellen, dass sich die Zellen und ihre übergeord-
Entwicklung der betreffenden Art im Laufe der Evolu- neten Strukturen in einer dreidimensionalen Umge-
tion gefördert hat. Obwohl diese Hypothese noch über- bung zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Platz
prüft wird, sollten logischerweise alle nicht-codieren- entwickeln. Die Vorgänge, die während der Individu-
den RNAs in diese Überlegungen miteinbezogen alentwicklung bei Pflanzen und Tieren ablaufen, wer-
werden. Durch die neuen Sequenziermethoden, die wir den in den Kapiteln 35 und 47 näher beschrieben. Im
in Kapitel 20 erläutern, kann abgeschätzt werden, wie Folgenden wollen wir uns auf das Programm zur
viele Gene für nicht-codierende RNAs im Genom einer Regulation der Genexpression konzentrieren, das die
bestimmten Art vorhanden sind. Die Auswertung sol- Embryonalentwicklung steuert. Dies soll beispielhaft
cher Ergebnisse aus verschiedenen Arten unterstützt an einigen Tiermodellen erläutert werden.
die Vermutung, dass sich zunächst siRNAs entwickelt
haben, gefolgt von miRNAs und später von piRNAs, die
man nur in Tieren findet. Man kennt zwar Hunderte 18.4.1 Ein genetisches Programm für die
verschiedener Arten von miRNAs, schätzt die Zahl der Embryonalentwicklung
piRNAs aber auf etwa 60.000, sodass diesen wahr-
scheinlich eine stark verfeinerte Rolle bei der Regula- In Abbildung 18.16 erkennen wir den enormen Unter-
tion der Genexpression zukommt. schied zwischen einer Zygote und dem sich daraus
Angesichts der genannten Funktionen von nicht- entwickelnden Tier. Diese bemerkenswerte Verwand-
codierenden RNAs ist es nicht weiter verwunderlich, lung wird durch drei miteinander verknüpfte Vorgänge
dass für viele davon eine wichtige Bedeutung in der bewirkt: Zellteilung, Zelldifferenzierung und Morpho-
Embryonalentwicklung gefunden wurde, ein Thema, genese. Durch aufeinander folgende mitotische Teilun-
dem wir uns nun zuwenden wollen. Tatsächlich bietet gen bringt die Zygote eine riesige Zahl von Zellen her-

485
18 Regulation der Genexpression

vor. Einfache Zellteilungen würden allerdings nur zu mit unterschiedlichen Proteinen. Um diesen Prozess zu
einem großen Haufen gleichartiger Zellen führen, aber verstehen, werden wir zwei grundlegende Entwick-
nicht zu einer Kaulquappe. Im Verlauf der Embryonal- lungsvorgänge näher betrachten: Zunächst werden wir
entwicklung beobachten wir also nicht nur eine Ver- uns mit der frühen Embryogenese beschäftigen und
mehrung der Zellen, sondern auch eine Zelldifferenzie- erfahren, wie während der ersten Mitosen der Eizelle die
rung, bei der sich ihre Strukturen und Funktionen unterschiedlichen Zelltypen auf ihren weiteren Ent-
verändern und spezialisieren. Außerdem verteilen sich wicklungsweg gebracht werden. Als Nächstes veran-
die neu gebildeten Zellen nicht zufällig, sondern lagern schaulichen wir am Beispiel der Muskelentwicklung,
sich in einem dreidimensionalen Netzwerk zu Gewe- wie die zelluläre Differenzierung einen bestimmten Zell-
ben und Organen zusammen. Der gesamte Prozess, der typ hervorbringt.
einem Lebewesen schließlich sein Aussehen verleiht,
wird als Morphogenese (Gestaltbildung) bezeichnet.
18.4.2 Cytoplasmatische Determinanten
und Induktionssignale
Wie entstehen die ersten Unterschiede zwischen den
Zellen in einem frühen Embryonalstadium, und wie
wird im weiteren Verlauf der Entwicklung die Differen-
Teil 3 zierung in die verschiedenartigen Zelltypen gesteuert?
Wahrscheinlich vermuten Sie bereits richtig, dass in
jeder einzelnen Zelle des sich entwickelnden Lebewe-
sens ganz bestimmte Gene exprimiert werden, die den
1 mm 2 mm weiteren Entwicklungsweg festlegen. Welche Gene zu
(a) Befruchtete Eier eines (b) Frisch geschlüpfte einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung expri-
Frosches Kaulquappe miert werden sollen, entnimmt die Zelle einer von
zwei Informationsquellen, deren Bedeutung sich in
Abbildung 18.16: Von der befruchteten Eizelle zum fertigen
verschiedenen Arten unterscheiden kann.
Tier in vier Tagen. Es dauert nur vier Tage, bis durch Zellteilung, Zelldif-
Eine dieser für die frühe Entwicklung wichtigen
ferenzierung und Morphogenese aus einem befruchteten Froschei (a) eine
Kaulquappe (b) wird. Informationsquellen ist das Cytoplasma der Eizelle,
das von der Mutter sowohl RNA-Moleküle als auch
Proteine eingelagert hat. Das Cytoplasma befruchteter
Die drei beschriebenen Stufen beruhen letztlich alle und unbefruchteter Eizellen ist keineswegs homogen.
auf dem Verhalten von Zellen. Selbst die Morpho- mRNA-Moleküle, Proteine und andere Stoffe, wie auch
genese zur Gestaltung des Lebewesens kann auf Ver- die Organellen, sind in der Eizelle nicht gleichmäßig
änderungen der Form, der Beweglichkeit und andere verteilt. Dies ist bei vielen Lebewesen für die Entwick-
Merkmale der Zelle zurückgeführt werden, die die lung des sich bildenden Embryos von entscheidender
verschiedenen Teile des Embryos hervorbringen. Wie Bedeutung. Solche von der Mutter in die Eizelle einge-
Sie bereits erfahren haben, werden zelluläre Aktivitä- lagerten Substanzen, die die frühe Entwicklung beein-
ten hauptsächlich durch die Expression von Genen flussen, bezeichnet man als cytoplasmatische Determi-
und die Wirkung der gebildeten Proteine bestimmt. nanten (Abbildung 18.17a). Nach der Befruchtung
Fast alle Zellen eines vielzelligen Lebewesens tragen wird das Cytoplasma der Zygote während der ersten
dasselbe Genom, so dass die differenzielle Genexpres- mitotischen Teilungen auf verschiedene Zellen verteilt.
sion letztlich darauf beruhen muss, dass die Tran- Die in den Zellkernen enthaltene genetische Informa-
skription bestimmter Gene in den verschiedenen Zell- tion steht dann unter dem Einfluss unterschiedlicher
typen unterschiedlich reguliert wird. cytoplasmatischer Determinanten, die von dem Teil
In Abbildung 18.11 hatten wir anhand eines einfachen des Cytoplasmas abhängt, den jede Zelle erhalten hat.
Modells erläutert, wie in zwei verschiedenen Zelltypen Die entsprechenden Kombinationen cytoplasmatischer
(Leberzelle und Augenlinsenzelle) Gene differenziell Determinanten in einer Zelle bestimmen dann die wei-
exprimiert werden können. Jede dieser ausdifferenzier- tere Entwicklung, indem sie sich auf die Genexpression
ten Zellen verfügt über einen bestimmten Satz von Akti- während der Zelldifferenzierung auswirken.
vatormolekülen, die die Expression der für den jeweili- Die zweite wichtige Informationsquelle für die Embry-
gen Zelltyp benötigten Gene anschalten. Da beide aus onalentwicklung ist die Umgebung der Zelle, deren
der gleichen befruchteten Eizelle hervorgingen, stellt Bedeutung mit der steigenden Zellzahl des Embryos
sich die Frage, wie die unterschiedliche Ausstattung mit zunimmt. Dazu gehören vor allem Signale, die von den
den spezifischen Aktivatoren zustande kommt? in nächster Nachbarschaft liegenden Zellen gesendet
Wir wissen heute, dass Stoffe von der Mutter in die werden. Dies können beispielsweise von den Nachbar-
Eizelle eingelagert werden (maternale Faktoren), die ein zellen ausgeschüttete Wachstumsfaktoren sein (siehe
genau festgelegtes Programm der Genexpression in Gang Kapitel 11), aber auch direkte Zell-Zell-Kontakte über
setzen, während die Zellen sich teilen. Dieses Programm Oberflächenproteine. Solche Signale rufen Verände-
sorgt letztendlich für die richtige Ausstattung der Zellen rungen in der Empfängerzelle hervor, ein Vorgang der

486
18.4 Die verschiedenen Zelltypen in einem Lebewesen entstehen nach einem Programm zur differenziellen Genexpression

als Induktion bezeichnet wird (Abbildung 18.17b). 18.4.3 Die schrittweise Regulation der
Die Empfängerzelle nimmt die Signale mithilfe von Genexpression während der
Oberflächenrezeptoren und anderen Komponenten von Zelldifferenzierung
Signalketten wahr. Im Allgemeinen verändern die Sig-
nalmoleküle letztlich das Muster der Genexpression in Die ersten in einer Zelle auftretenden Veränderungen
den Empfängerzellen und legen sie damit auf einen auf dem Weg zu einer funktionalen Spezialisierung sind
bestimmten Entwicklungsweg fest, der sich oft in sicht- morphologisch kaum wahrnehmbar und zeigen sich
baren Veränderungen der Zellmorphologie äußert. Damit zuerst nur auf der molekularen Ebene. Vor der Aufklä-
tragen die Wechselwirkungen zwischen embryonalen rung dieser molekularen Vorgänge wurde der Begriff
Zellen zur Differenzierung in die vielen verschiede- Determination (lat. determinare, festsetzen, festlegen,
nen Zelltypen bei, aus denen schließlich ein neues bestimmen) geprägt, um die Vorgänge zu beschreiben,
Lebewesen entsteht. die zur sichtbaren Differenzierung von Zellen führen.
Nach der Determination ist eine embryonale Zelle
(a) Cytoplasmatische Determinanten in einem Ei unwiderruflich auf eine bestimmte Entwicklung fest-
gelegt. Verpflanzt man eine bereits determinierte Zelle
Moleküle zweier unterschiedlicher
cytoplasmatischer Determinanten von einer Stelle eines Embryos an eine andere, so
wird sie sich so weiterentwickeln, wie es dem Gewebe
Zellkern an ihrem Ursprungsort entspricht. Während sich die
Gewebe und Organe in einem Embryo weiterentwi- Teil 3
Befruchtung
unbefruchtete ckeln, lassen sich auch zunehmend die Strukturen und
mitotische
Eizelle Aufgaben der einzelnen Zellen voneinander unterschei-
Zell-
teilung den.
Heute verstehen wir die Determination auch auf der
molekularen Ebene. Die sichtbare Differenzierung einer
Spermium
Zygote Zelle als Ergebnis ihrer Determination wird durch die
(befruchtete Eizelle)
Bildung gewebespezifischer Proteine veranlasst. Diese
Embryo im
Zweizellen- Proteine finden sich nur in bestimmten Zelltypen und
stadium verleihen der Zelle ihre charakteristische Form und
Die unbefruchtete Eizelle (Oocyte) enthält in ihrem Cytoplasma Mole- Funktion. Als erster Hinweis auf eine beginnende Dif-
küle, die von Genen des Muttertiers codiert werden und die Entwick- ferenzierung kann die Synthese der mRNAs für die
lung beeinflussen. Viele dieser cytoplasmatischen Determinanten sind
– wie die beiden hier schematisch dargestellten – nicht gleichmäßig
entsprechenden Proteine gewertet werden. Sie mün-
in der Eizelle verteilt. Nach der Befruchtung und einer nachfolgenden det schließlich in der mikroskopisch sichtbaren Ver-
mitotischen Teilung sind die beiden entstandenen Zellkerne von änderung der Zelle. Auf der molekularen Ebene wer-
unterschiedlichen Konzentrationen cytoplasmatischer Determinanten
umgeben und exprimieren als Folge davon unterschiedliche Gene.
den dabei verschiedene Gengruppen nacheinander
und genau kontrolliert exprimiert, während die Zellen
durch Teilung aus ihren Vorläuferzellen hervorgehen.
(b) Induktion durch nahe gelegene Zellen
Bei dieser Regulation können alle in diesem Kapitel
früher Embryo beschriebenen Stufen der Genexpression beeinflusst
(32 Zellen) werden, wobei die Transkriptionskontrolle eine der
wichtigsten darstellt. Auch in einer vollständig diffe-
renzierten Zelle wird im Wesentlichen die Transkrip-
ZELLKERN
tion reguliert, um eine geordnete Genexpression auf-
recht zu erhalten.
Wie wir gesehen haben, werden in differenzierten Zel-
Signal- len gewebespezifische Proteine hergestellt. Beispiels-
transduktions- weise können hauptsächlich Leberzellen das Albumin
weg
herstellen, während sich die Zellen der Augenlinse auf
Signal-
rezeptor
die Herstellung von Kristallin spezialisiert haben
(Abbildung 18.11). Auch Skelettmuskelzellen von Wir-
Signal- beltieren sind ein gutes Beispiel. Jede der langgestreck-
moleküle ten Muskelfasern enthält zahlreiche Zellkerne und wird
(Induktor) von einer einzigen Plasmamembran umschlossen. Man
spricht hier von einem Syncytium. Skelettmuskelfa-
Die hier schematisch dargestellten, im frühen Embryo unten
sern enthalten große Mengen kontraktiler Proteine wie
liegenden Zellen setzen Stoffe frei, die als chemische Signale Myosin und Actin, ebenso wie spezifische membran-
(Botenstoffe) auf in der Nähe gelegene Zellen einwirken und deren ständige Rezeptorproteine, die Signale von Nervenzel-
Genexpression verändern.
len empfangen können.
Abbildung 18.17: Die Anlage entwicklungsgenetischer Infor-
mationen im frühen Embryo.

487
18 Regulation der Genexpression

Die Muskelzellen bilden sich aus embryonalen Vorläu- entwickeln. Die molekulare Ursache dieser Determina-
ferzellen. Solche Stammzellen haben noch die Fähigkeit, tion ist also letztlich die Expression eines oder mehre-
verschiedene Zelltypen zu bilden, einschließlich Knor- rer dieser Hauptregulatorgene.
pel- oder Fettzellen. Erst Signale aus der Umgebung Um die Determination bei der Muskelzelldifferenzie-
legen sie auf die Bildung von Muskelzellen fest. Obwohl rung näher zu erläutern, betrachten wir eines dieser
so determinierte Zellen im Mikroskop unverändert Regulatorgene, das myoD (Abbildung 18.18). Es codiert
erscheinen, bezeichnet man sie nun als Myoblasten. für das Protein MyoD, einen Transkriptionsfaktor, der
Diese stellen dann später große Mengen muskelspezi- an bestimmte Kontrollelemente in Enhancern von ver-
fischer Proteine her und verschmelzen miteinander zu schiedenen Zielgenen bindet und deren Expression
den beschriebenen langgestreckten und vielkernigen anregt (siehe Abbildung 18.9). Einige der Zielgene des
Muskelfasern. MyoD-Proteins codieren selbst wieder für andere mus-
In Zellkulturen von Myoblasten wurden die moleku- kelspezifische Transkriptionsfaktoren. MyoD fördert
laren Vorgänge während der Determination zur Muskel- außerdem die Expression seines eigenen myoD-Gens.
differenzierung aufgeklärt (die dabei eingesetzten mole- Durch diese positive Rückkopplung verstärkt es seine
kularbiologischen Methoden werden in Kapitel 20 noch eigene Wirkung und hält so den differenzierten Status
näher beschrieben). In einer Reihe von Experimenten der Muskelzellen aufrecht. Man geht davon aus, dass
wurden verschiedene Gene isoliert, jeweils einzeln in alle durch MyoD aktivierten Gene eine MyoD-Binde-
embryonalen Vorläuferzellen exprimiert und nach stelle in den Enhancern ihrer Kontrollelemente tragen,
Teil 3 Anzeichen einer Differenzierung zu Myoblasten und so dass sie koordiniert exprimiert werden können.
Muskelfasern gesucht. Damit konnten einige Hauptre- Schließlich aktivieren die genannten sekundären Tran-
gulatorgene (engl. master regulatory genes) identifiziert skriptionsfaktoren die Genexpression für Proteine wie
werden, die für Proteine codieren, die die Myoblasten Myosin und Actin, die den Skelettmuskelfasern ihre
dazu veranlassen, sich zu einer Skelettmuskelfaser zu charakteristischen Eigenschaften verleihen.

1 Determination. Von ande- Zellkern


ren Zellen ausgehende Sig-
nale führen zur Aktivierung Hauptregulatorgen myoD andere muskelspezifische Gene
eines Hauptregulatorgens
namens myoD. Die Zelle DNA
stellt das MyoD-Protein her, embryonale abgeschaltet abgeschaltet
das spezifisch als ein Tran- Vorläuferzelle
skriptionsaktivator wirkt.
Die Zelle, die nunmehr
Myoblast genannt wird, ist
unwiderrufbar festgelegt, abgeschaltet
eine Skelettmuskelzelle zu mRNA
werden.
das MyoD-Protein
2 Differenzierung. Das MyoD- (ein Transkriptionsfaktor)
Protein stimuliert die Ab- Myoblast
lesung des myoD-Gens und (determiniert)
aktiviert weitere Gene, die
für muskelspezifische Tran-
skriptionsfaktoren codieren,
welche ihrerseits zur Expres-
sion von für Muskelproteine
codierenden Genen führen.
MyoD schaltet außerdem
Gene an, die den Zellzyklus mRNA mRNA mRNA mRNA
anhalten. Damit wird die
Zellteilung unterbunden.
Die sich nicht teilenden Myosin, weitere
Myoblasten fusionieren Teil einer Muskelproteine und
miteinander und werden Muskelfaser weitere Proteine, die den
zu ausgewachsenen, mehr- (vollständig MyoD
Transkriptions- Zellzyklus hemmen
kernigen Muskelzellen differenzierte faktoren
(Muskelfasern). Zelle)

Abbildung 18.18: Determination und Differenzierung von Muskelzellen. Skelettmuskelfasern entstehen aus embryonalen Stammzellen
infolge von Veränderungen in der Genexpression. (Der Mechanismus der Genaktivierung ist hier stark vereinfacht wiedergegeben.)

WAS WÄRE, WENN? Welche Auswirkungen hätte eine Mutation im myoD -Gen, durch die das MyoD-Protein nicht mehr in der Lage wäre, seine
eigene Genexpression zu aktivieren?

488
18.4 Die verschiedenen Zelltypen in einem Lebewesen entstehen nach einem Programm zur differenziellen Genexpression

Das myoD-Gen wird zu Recht als ein Hauptregulator- In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigten
gen bezeichnet. So kann es vollständig differenzierte sich viele Embryologen sehr detailliert mit anatomi-
Zellen wie Fett- oder Leberzellen, die sich aus den schen Einzelheiten der Embryonalentwicklung vieler
gleichen Stammzellen wie Muskelzellen entwickeln, Arten und manipulierten gezielt die sich entwickelnden
dazu veranlassen, wieder Muskelzellen zu bilden. embryonalen Gewebe. Obwohl diese Forschungen den
Warum ist diese Neudifferenzierung nur bei Fett- und Grundstein für ein Verständnis der Entwicklungspro-
Leberzellen möglich? Eine Erklärung wäre, dass die zesse legten, blieb die Rolle einzelner Moleküle für
Aktivierung muskelspezifischer Gene nicht allein von die Steuerung der Musterbildung noch im Dunkeln.
MyoD abhängt, sondern eine spezielle Kombination Erst etwa um 1940 begann man, genetische Verfahren
regulatorischer Faktoren erfordert, die in anderen Zel- bei der Isolierung und Charakterisierung von Mutanten
len nicht vorhanden sind. Die Determination und die in der Entwicklungsforschung bei Drosophila einzuset-
Differenzierung anderer Gewebearten könnten mit zen. Diese Vorgehensweise brachte den Durchbruch,
entsprechenden Regulatoren ähnlich ablaufen. weil man erstmals nachwies, dass die Entwicklung
Wir haben nunmehr gesehen, wie unterschiedliche durch Gene gesteuert wird und man erklären konnte,
Programme der Genexpression im Zuge der Embryo- wie bestimmte Moleküle festlegen, wo und wie
nalentwicklung ablaufen und zur Bildung differenzier- bestimmte Differenzierungsprozesse ablaufen. Erst
ter Zellen und Gewebe führen. Damit ein derartiges durch die Verbindung anatomischer, genetischer und
Gewebe aber richtig im Gesamtorganismus funktioniert, biochemischer Methoden bei der Forschung an Tau-
muss auch sein Bauplan (also die richtige dreidimen- fliegen und anderen Modelltieren konnten die Embry- Teil 3
sionale Anordnung) eingehalten und den einzelnen ologen die Grundlagen der Entwicklung verstehen,
Differenzierungsvorgängen übergeordnet werden. Als wie sie für viele andere Tierarten und für den Men-
Nächstes wollen wir die molekularen Grundlagen für schen gelten.
die Festlegung eines solchen Bauplans am Beispiel
von Drosophila melanogaster erläutern. Der Lebenszyklus von Drosophila
Die Körper von Taufliegen und anderen Gliederfüßlern
(Arthropoden) sind modular aus einer geordneten
18.4.4 Musterbildung zur Festlegung des Abfolge von Körpersegmenten aufgebaut. Diese Seg-
Körperbaus mente bilden die drei Hauptabschnitte des Körpers: den
Kopf, den Thorax (der Rumpf, an dem Beine und Flügel
Wie wir gesehen haben, tragen cytoplasmatische Deter- ansetzen) und das Abdomen (Hinterleib; Abbildung
minanten und Signale für die Induktion zur räumli- 18.19a). Wie andere Tiere mit einer bilateralen Sym-
chen Organisation des Körpers bei, in dem die Gewebe metrie besitzt Drosophila drei Achsen: eine Kopf-
und Organe eines Lebewesens alle ihren vorbestimm- Schwanz-Achse (anterioposteriore Achse), eine Rücken-
ten Platz einnehmen. Dies wird unter dem Begriff Bauch-Achse (dorsoventrale Achse) und eine Rechts-
Musterbildung zusammengefasst. Links-Achse. Bei Drosophila sind die anterioposteriore
Die Musterbildung setzt bei Tieren im frühen embryo- und die dorsoventrale Achse bereits in der unbefruch-
nalen Stadium ein, wenn die Körperachsen festgelegt teten Eizelle durch cytoplasmatische Determinanten
werden. Bevor die Bauarbeiten an einem Gebäude vorbestimmt. Dies möchten wir beispielhaft nur für
beginnen, steht bereits fest, wo die Vorder- und wo die die anterioposteriore Achse erläutern.
Rückseite sein sollen. Ähnlich werden bei einem Tier Das Drosophila-Ei entwickelt sich im Ovar (Eier-
mit bilateraler Symmetrie (dazu gehören beispielsweise stock) der weiblichen Fliege. Es enthält außerdem Nähr-
alle Wirbeltiere, Insekten und die sonstigen Gliederfüß- zellen und ist zusammen mit diesen von Follikelzellen
ler) die drei Hauptachsen des Körpers festgelegt (das umschlossen (Abbildung 18.19b). Diese unterstützen-
heißt die Positionen von Kopf- und Schwanzende, den Zelltypen versorgen das Ei mit Nährstoffen, mRNAs
links und rechts, sowie oben und unten), bevor sich die und anderen für die Entwicklung notwendigen Stof-
Organe entwickeln. Die molekularen Signale zur Steue- fen und bilden die Eischale. Nach der Befruchtung
rung der Musterbildung werden unter dem Oberbegriff beginnt die Embryonalentwicklung und führt nach
der Positionsinformation zusammengefasst und wer- der Eiablage zur Ausbildung segmentierter Larven. Bei
den von cytoplasmatischen Faktoren und durch äußere Drosophila lassen sich drei Larvenstadien unterschei-
Induktion bereitgestellt (Abbildung 18.17). Diese Sig- den. Danach folgt eine Verpuppung und während der
nale teilen einer Zelle mit, wo sie sich im Verhältnis zu sich anschließenden Metamorphose (Gestaltwechsel)
den Körperachsen und zu den Nachbarzellen befindet entsteht der adulte Fliegenkörper (Abbildung 18.19a),
und bestimmen außerdem, wie die Zelle und ihre Nach- ähnlich wie bei der Entstehung eines Schmetterlings
kommen auf zukünftige molekulare Signale reagieren aus einer Raupe.
werden.

489
18 Regulation der Genexpression

Genetische Analyse der frühen Embryonalentwick-


Kopf Thorax Abdomen lung: Ein wissenschaftlicher Exkurs
Edward Lewis erkannte als einer der Ersten in den
1940er Jahren das enorme Potenzial genetischer Ansätze
0,5 mm
zur Untersuchung der Embryonalentwicklung in Droso-
phila. Er untersuchte Fliegenmutanten mit ungewöhn-
lichen Entwicklungsstörungen, darunter solche mit
Körperachsen dorsal
rechts zusätzlichen Flügelpaaren oder mit Beinen an den fal-
schen Körpersegmenten (Abbildung 18.20). Die Muta-
anterior posterior
tionen lieferten den ersten Hinweis für eine genetische
links
ventral Steuerung von Entwicklungsvorgängen und konnten
verschiedenen Loci auf der Genkarte der Fliege zugeord-
net werden. Die von Lewis beschriebenen, sogenannten
(a) Adultes Tier. Die adulte Fliege ist segmentiert und homöotischen Gene steuern die Musterbildung im spä-
jeder der drei Hauptkörperteile (Kopf, Thorax und
ten Embryo, den Larven und ausgewachsenen Fliegen.
Abdomen) setzt sich aus mehreren Segmenten
zusammen. Die Körperachsen sind durch Pfeile Es sollte noch weitere 30 Jahre dauern, bis die frühe
dargestellt, die ein Koordinatensystem ergeben. Embryonalentwicklung von Drosophila besser verstan-
den wurde. Die beiden deutschen Forscher Christiane
Teil 3 Nüsslein-Volhard und Eric Wieschaus hatten sich das
Follikelzelle ehrgeizige Ziel gesetzt, alle für die Segmentbildung
1 Eizelle verantwortlichen Gene von Drosophila zu identifizie-
Zellkern
(entwickelt sich ren. Dieses Projekt schien aus dreierlei Gründen fast
in einem Eizelle undurchführbar: Erstens enthält das Drosophila-Genom
Ovarialfollikel) etwa 13.700 proteincodierende Gene. Die gesuchten
Nährzelle Entwicklungsgene konnten entweder einige wenige
Nadeln im Heuhaufen sein, oder andererseits so zahl-
reich und miteinander vernetzt, dass einzelne Muta-
2 unbefruchtetes Ei Eihülle tionen schwer zu finden wären. Zweitens war zu
erwarten, dass Mutationen mit Störungen in der
entleerte Embryonalentwicklung auch letal sind und in einem
Nährzellen Befruchtung
Eiablage
frühen Embryonal- oder Larvenstadium sterben. Da
Individuen mit solchen Störungen das Fortpflanzungs-
3 befruchtetes Ei
alter nicht erreichen, können sie nicht gekreuzt und
genetisch untersucht werden. Da Drosophila ein diplo-
ides Genom besitzt, konnten die Forscher dieses Pro-
Embryonal- blem umgehen, indem sie gezielt nach rezessiven
entwicklung Mutationen suchten, die in heterozygoten Trägern ohne
phänotypische Auswirkungen vermehrt werden kön-
4 segmentierter nen. Drittens war bereits bekannt, dass die cytoplasma-
Embryo tischen Determinanten in der Eizelle die Körperachsen
0,1 mm festlegen, so dass die Forscher nicht nur nach Mutatio-
Körper- Schlupf nen in den Genen der Embryonen, sondern auch in
segmente
denen des Muttertieres suchten. Mit solchen Genen der
Mutter werden wir uns im Folgenden beschäftigen, wo
5 Larvenstadien es um die Frage geht, wie die anterioposteriore Körper-
achse im sich entwickelnden Ei festgelegt wird.
Nüsslein-Volhard und Wieschaus begannen ihre
Suche nach Mutationen in Segmentierungsgenen, indem
(b) Entwicklung vom Ei zur Larve. 1 Die gelbe Eizelle
ist von anderen Zellen umgeben, die innerhalb des sie mutagene Substanzen einsetzten, die auch Mutatio-
mütterlichen Ovariums ein Follikel bilden. 2 Die nen in den Gameten der Fliege verursachten. Sie paar-
Nährzellen schrumpfen in dem Maße, in dem sie ten die so mutagenisierten Fliegen miteinander und
Nährstoffe und mRNAs an das sich entwickelnde,
suchten unter den Nachkommen nach abgestorbenen
heranwachsende Ei abgeben. Schließlich füllt die aus-
gereifte Eizelle die von den Follikelzellen abgeschie- Embryonen und Larven mit abnormer Segmentierung
dene Eihülle vollständig aus. 3 Die Eizelle wird im oder anderen morphologischen Defekten. Um Gene
Körper des Muttertiers befruchtet und dann abgelegt. mit Einfluss auf die anterioposteriore Achse aufzuspü-
4 Die Embryonalentwicklung führt zu einer Larve 5 ,
ren, suchte man nach Larven mit Fehlbildungen am
die drei Stadien durchläuft. Das dritte Larvenstadium
bildet eine Puppe, innerhalb derer sich die Metamor- vorderen oder hinteren Ende – zum Beispiel solche
phose zur unter (a) gezeigten adulten Form vollzieht. mit zwei Köpfen oder zwei Hinterenden. Solche Muta-
tionen sollten in Genen des Muttertiers auftreten, die
Abbildung 18.19: Die wichtigsten Entwicklungsschritte im normalerweise die anterior-posteriore Ausrichtung
Lebenszyklus von Drosophila. bestimmen.

490
18.4 Die verschiedenen Zelltypen in einem Lebewesen entstehen nach einem Programm zur differenziellen Genexpression

Mit diesem sehr aufwendigen Ansatz wurde schließ- Achse fest, eine andere die Dorsoventralachse. Mutati-
lich eine Liste von 1.200 Genen erstellt, die bei Tauflie- onen in Eipolaritätsgenen sind, wie die von Segmen-
gen die Musterbildung während der Embryogenese tierungsgenen, in der Regel embryonal letal.
beeinflussen. Von diesen erwiesen sich etwa 120 als Bicoid: Ein Morphogen bestimmt die Kopfstruktu-
absolut notwendig für die normale segmentale Unter- ren. Wir möchten am Beispiel des bicoid-Gens („zwei-
gliederung des sich bildenden Fliegenkörpers. Im Ver- schwänzig“) verdeutlichen, wie genau solche maternalen
lauf der folgenden Jahre konnten die gefundenen Seg- Wirkungsgene die Körperachsen bei den Nachkommen
mentierungsgene nach allgemeinen Funktionskriterien festlegen. Wenn beide Allele des bicoid-Gens der Mut-
eingeteilt, kartiert und viele davon auch isoliert wer- ter eine Mutation tragen, die Fliege also homozygot
den, um sie in weiteren Experimenten gezielt zu unter- ist, dann entwickelt sich aus dem befruchteten Ei ein
suchen. Letztlich ergab sich daraus ein umfassendes Embryo, dem die vordere Körperhälfte fehlt. Stattdes-
Verständnis der molekularen Vorgänge bei der morpho- sen entwickelt er spiegelverkehrt eine weitere hintere
genetischen Musterbildung in der frühen Embryonal- Körperhälfte (Abbildung 18.21). Aus diesem Phäno-
entwicklung von Drosophila. Zusammen mit Lewis typ der Mutanten schlossen Nüsslein-Volhard und ihre
erhielten Nüsslein-Volhard und Wieschaus 1995 den Kollegen, dass das Produkt des mütterlichen bicoid-
Nobelpreis für Physiologie und Medizin. Gens gebraucht wird, um das Kopfende der Fliege fest-
Im Folgenden möchten wir beispielhaft auf eines der zulegen, und dass es möglicherweise im Bereich des
Gene näher eingehen, die Nüsslein-Volhard, Wieschaus vorderen Endes der Eizelle in höherer Konzentration
und ihre Mitarbeiter entdeckt haben. zu finden ist als am hinteren Ende. Dies entspricht der Teil 3
sogenannten Morphogen-Gradienten-Hypothese, die
Auge
von Embryologen bereits vor einem Jahrhundert auf-
gestellt wurde. Sie besagt, dass die Konzentrationsgra-
dienten bestimmter Substanzen, der Morphogene, die
Körperachsen und andere formgebende Merkmale eines
Embryos vorgeben.

Kopf
Antenne Bein
Schwanz
A8
Wildtyp Mutante T1 T2 A7
T3
A6
A1 A2 A4 A5
Abbildung 18.20: Abnorme Musterbildung bei Drosophila. Muta- A3
tionen bestimmter Regulatorgene aus der Gruppe der homöotischen Gene Wildtyplarve 250 μm
führen zu anatomischen Fehlbildungen. Diese nachträglich gefärbten ras-
terelektronenmikroskopischen Aufnahmen zeigen die Köpfe von Tauflie- Schwanz Schwanz
gen. Links sehen wir einen normalen Fliegenkopf (Wildtyp) mit einem
Antennenpaar, rechts den Kopf einer Mutante. Die homöotische Mutation
in einem einzelnen Gen führt zum Wachstum von Beinen anstelle der
Antennen am Kopf der Fliege.
A8
A8 A7
A7 A6
Mutantenlarve (bicoid )
Die Festlegung der Körperachsen
Wie wir bereits ausgeführt haben, werden die Körper- Abbildung 18.21: Die Funktion des bicoid-Gens bei der Entwick-
achsen in Drosophila zunächst durch cytoplasmatische lung von Drosophila. Eine Wildtyp-Taufliegenlarve besitzt einen Kopf,
Determinanten in der Eizelle festgelegt. Dabei handelt es drei Thoraxsegmente (T), acht Abdominalsegmente (A) und einen
sich um RNA oder Proteine, die von Genen des mütterli- Schwanz. Einer Larve, deren Mutter zwei Mutanten-Allele des bicoid -Gens
chen Körpers codiert und deshalb auch als maternale trägt, fehlen alle vorderen Strukturen und sie besitzt zwei Schwänze.
Wirkungsgene bezeichnet werden. Mutationen in sol-
chen Genen äußern sich in mutanten Phänotypen bei Mithilfe der Gentechnik und moderner molekularbiolo-
den Nachkommen, unabhängig von deren eigenem gischer Verfahren konnte die Hypothese experimentell
Genom. Die Produkte der maternalen Wirkungsgene überprüft werden, dass es sich bei Bicoid um ein Mor-
werden als RNA oder Proteine noch in der mütterlichen phogen als Determinante der anterioposterioren Achse
Gebärmutter im Ei deponiert. Trägt das Muttertier eine handelt. Als Erstes musste die Frage geklärt werden, ob
homozygote Mutation in einem dieser Gene, so kann das die entsprechende mRNA oder das Protein tatsächlich
im Ei abgelegte Genprodukt entweder defekt oder gar- in verschiedenen Bereichen der Eizelle in unterschied-
nicht vorhanden sein. Nach einer Befruchtung können licher Konzentration auftritt? Tatsächlich fand man
sich solche Eier nicht normal entwickeln. höhere Konzentrationen der bicoid-mRNA weit am vor-
Da sie die Orientierung im Ei und in der sich daraus deren Ende der reifen Eizelle, was die ursprüngliche
entwickelnden Fliege festlegen, werden die maternalen Hypothese bestätigte (Abbildung 18.22). Die bicoid-
Wirkungsgene auch als Eipolaritätsgene bezeichnet. mRNA wird von den benachbarten Nährzellen gebildet,
Eine Gruppe dieser Gene legt die anterioposteriore über Cytoplasmabrücken in die Eizelle überführt und

491
18 Regulation der Genexpression

dort am vorderen Ende am Cytoskelett verankert. Nach lung. Schließlich gehört die Festlegung von Polarität
der Befruchtung der Eizelle wird die bicoid-mRNA und von Körperpositionen durch einen morphogenen
zum Bicoid-Protein translatiert. Das Bicoid-Protein dif- Gradienten zu den grundlegenden entwicklungsbiolo-
fundiert dann langsam vom anterioren Ende der Zelle, gischen Konzepten und findet sich bei vielen unter-
wo es gebildet wurde, zum posterioren Ende. Dies führt suchten Arten wieder. Damit wurden auch die Voraus-
zu einem Konzentrationsgefälle des Proteins innerhalb sagen der ersten klassischen Embryologen bestätigt.
des frühen Embryos und legt nahe, dass das Bicoid-Pro- Die von der Mutter gebildeten mRNAs sind für die
tein für die Festlegung des anterioren Körperendes der Embryonalentwicklung vieler Arten wichtig. Bei Dro-
Fliege verantwortlich ist. Um dies weiter zu untermau- sophila legen Gradienten bestimmter Proteine nicht
ern, wurde gereinigte bicoid-mRNA in verschiedene nur die Richtung der anterioposterioren Achse fest,
Bereiche früher Fliegenembryonen injiziert. Tatsäch- sondern sind auch für die Orientierung der Dorsovent-
lich führte die Translation des Proteins jeweils zur Aus- ralachse (Rücken- und Bauchseite) verantwortlich.
bildung anteriorer Körperstrukturen in der Nähe der Während der Embryo wächst, werden die maternalen
Injektionsstelle. mRNAs abgebaut und embryonal codierte Genpro-
Die Forschungen am bicoid-System waren in vieler- dukte übernehmen die weitere Steuerung. Dabei spie-
lei Hinsicht bahnbrechend. Als Erstes führten sie zu len miRNAs bei Drosophila und anderen Tieren eine
der Beschreibung eines einzelnen Proteins, das einen wichtige Rolle. Später bestimmen Positionsinforma-
frühen Schritt in der Musterbildung bestimmt. Damit tionen des Embryos in immer feineren Auflösungen die
Teil 3 war geklärt, wie aus verschiedenen Bereichen im Ei genaue Zahl und Ausrichtung der Körpersegmente.
Zellen entstehen können, die unterschiedliche Entwick- Wenn die auf dieser abschließenden Ebene wirkenden
lungswege einschlagen. Zweitens unterstrichen die For- Gene mutiert sind, zeigen sich Fehlbildungen an der
schungsergebnisse die entscheidende Rolle des Mut- erwachsenen Fliege, wie wir es beispielsweise in
tertiers in der Anfangsphase der embryonalen Entwick- Abbildung 18.20 gesehen haben.

 Abbildung 18.22: Aus der Forschung

Ist Bicoid ein Morphogen, welches das anteriore nungen) häuft sich nur am vorderen (anterioren)
Ende einer Taufliege festlegt? Ende unbefruchteter Eier an. In späteren Entwick-
Experiment In einem genetischen Ansatz zur Unter- lungsphasen konzentriert sich auch das Bicoid-Pro-
suchung der Embryonalentwicklung bei Drosophila tein (orange-braun) in Zellen am anterioren Ende des
gewannen C. Nüsslein-Volhard und ihre Kollegen Embryos.
(seinerzeit am Europäischen Molekularbiologie-
100 μm
Laboratorium EMBL in Heidelberg) viele Embry- vorderes (anteriores) Ende
onen und Larven mit Defekten im Körperbau, von
denen einige auf Mutationen in Genen des Mutter-
tieres zurückzuführen waren. Eines dieser materna- Befruchtung
len Gene wurde bicoid (zweischwänzig) genannt, und Trans-
lation der
weil die Mutation dieses Gens zu Larven führte, bicoid mRNA
Bicoid-mRNA im reifen, Bicoid-Protein im
die zwei Schwänze, aber keinen Kopf besaßen. Die noch unbefruchteten Ei frühen Embryo
Forscher vermuteten, dass bicoid ein Morphogen
codiert, das für die Festlegung des Kopfendes ver-
antwortlich ist. Nachfolgende Untersuchungen dien-
ten dann der Analyse der Expression des bicoid-
Gens, indem zunächst untersucht wurde, ob sich die
mRNA und/oder das Bicoid-Protein am Kopfende Schlussfolgerung Die Ablagerung der bicoid-mRNA
der befruchteten Eizelle und des frühen Embryos und der später auftretende diffusere Gradient des
anhäufen. Bicoid-Proteins stützen die Hypothese, dass das
Ergebnis Die bicoid-mRNA (dunkelblaue Färbung in Bicoid-Protein ein Morphogen ist, welches die Bil-
den mikroskopischen Aufnahmen und Schemazeich- dung von Kopfstrukturen veranlasst.

Quellen: C. Nüsslein-Volhard et al., Determination of anterioposterior polarity in Drosophila, Science 238:1675–1681 (1987). W. Driever und C.
Nüsslein-Volhard, A gradient of bicoid protein in Drosophila embryos, Cell 54:83–93 (1988). T. Berleth et al., The role of localization of bicoid RNA
in organizing the anterior pattern of the Drosophila embryo. EMBO Journal 7:1749–1756 (1988).

WAS WÄRE, WENN? Nehmen Sie an, dass die ursprüngliche Hypothese korrekt ist, und sagen Sie voraus, was
mutmaßlich passieren würde, wenn man bicoid-mRNA in das anteriore Ende einer Eizelle injizieren
würde, die aus einer weiblichen Fliege gewonnen wurde, die homozygot eine Mutation im bicoid-Gen trägt.

492
18.5 Krebs entsteht durch genetische Veränderungen, die den Zellzyklus deregulieren

Der Zusammenhang zwischen Evolution und


Entwicklungsbiologie („Evo-Devo“) 4. WAS WÄRE, WENN? In der Vergrößerung von
Abbildung 18.17b synthetisiert die untere
EVOLUTION Die Mutation in einem einzigen Gen Zelle einen Signalstoff, wohingegen die obere
brachte die in Abbildung 18.20 gezeigte Fliege mit den Zelle einen Signalrezeptor exprimiert. Erläu-
Beinen am Kopfende hervor. Das Gen codiert aber tern Sie, wie es in diesen Zellen durch Regu-
kein Antennenprotein, sondern einen Transkriptions- lation der Genexpression zu diesen Unter-
faktor, der wiederum die Expression anderer Gene schieden gekommen ist.
reguliert. Seine Fehlfunktion führt letztlich zur fal-
schen Bildung von Körperanhängen, wie den Beinen Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
anstelle der Antennen. Die Einsicht, dass Störungen
der Genexpression während der Individualentwick-
lung zu solch erstaunlichen Veränderungen von Extre-
mitäten führen, brachte die Forscher auf den Gedan-
ken, dass ähnliche Mutationen während der Evolution Krebs entsteht durch genetische
zur Ausbildung neuer Körperformen beigetragen haben
könnten. Letztlich brachte diese Art der Fragestellung
Veränderungen, die den
eine neue Forschungsrichtung hervor, die als „Evo-
Devo“ (für „Evolution and Development“) bezeichnet
Zellzyklus deregulieren
18.5 Teil 3
wird und sich mit dem Zusammenhang zwischen Evo-
lution und Entwicklungsbiologie befasst. Wir werden Im 12. Kapitel haben wir Krebs (bösartige Wucherun-
in Kapitel 21 noch näher darauf eingehen. gen) als eine Gruppe von Krankheiten kennengelernt,
In diesem Abschnitt haben wir erfahren, wie ein sorg- bei der Zellen sich den normalen Steuerungsmecha-
fältig ausgeführtes Programm der sequenziellen Genre- nismen ihrer Vermehrung entziehen. Mit unserem nun
gulation die Umwandlung einer befruchteten Eizelle in erworbenen Verständnis der molekularen Grundlagen
ein vielzelliges Lebewesen steuert. Das Programm sorgt zur Steuerung der Genexpression können wir uns der
für das genau abgestimmte An- und Abschalten von für Frage zuwenden, wie Krebs eigentlich entsteht. Die
die Differenzierung notwendigen Genen an der richti- Regulationssysteme, deren Versagen zur Krebsentste-
gen Stelle und zur rechten Zeit. Auch in einem voll- hung beitragen, sind letztlich dieselben, die die embry-
ständig entwickelten Organismus wird die Genexpres- onale Entwicklung, die Immunabwehr und andere bio-
sion in ähnlicher Weise weiterhin feinreguliert. Im logische Vorgänge steuern. Die Krebsforschung hat
abschließenden Abschnitt werden wir erörtern, wie also von den Fortschritten in anderen Bereichen der
fein diese Abstimmung tatsächlich ist, wenn Verände- Biologie profitiert, aber auch selbst zu deren Weiter-
rungen in der Expression eines oder weniger Gene zur entwicklung beigetragen.
Krebsentstehung führen können.

18.5.1 Gene und Krebs


 Wiederholungsfragen 18.4
In Kapitel 12 haben wir ausführlich den Ablauf des
1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Wie Sie in Kapi- Zellzyklus in eukaryontischen Zellen beschrieben. Die
tel 12 gelernt haben, gehen aus einer Mitose Regulation von Wachstum und Zellteilung während des
zwei Tochterzellen hervor, die genetisch mit Zellzyklus erfolgt durch Wachstumsfaktoren, Rezepto-
der Ausgangszelle identisch sind. Dennoch ren und Komponenten intrazellulärer Signalketten,
setzt sich Ihr eigener Körper, wie der aller also Proteine, die von Genen codiert werden. Wenn in
vielzelligen Lebewesen, nicht ausschließlich somatischen Zellen Mutationen in solchen Genen auf-
aus identisch aussehenden Zellen zusammen. treten, kann unter Umständen Krebs entstehen. Ent-
Wie können Sie dies erklären? sprechende Veränderungen im Erbgut können durch
spontane Mutation auftreten. Allerdings sind soma-
2. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Die von embryo- tische Mutationen, die Krebs auslösen, häufig auf
nalen Zellen freigesetzten Signalstoffe indu- Umwelteinflüsse wie karzinogene Substanzen, Röntgen-
zieren in den Nachbarzellen Veränderungen, strahlen, UV-Strahlen oder die Infektion mit bestimm-
ohne in diese einzudringen. Wie ist das mög- ten Viren zurückzuführen.
lich? (Sehen Sie sich dazu nochmal die Abbil-
dungen 11.15 und 11.16 an.) Onkogene und Proto-Onkogene
Die Forschungen an Tumorviren haben zur Entdeckung
3. Warum werden die maternalen Wirkungsgene von krebsverursachenden Genen (Onkogene; griech.
von Taufliegen auch als Eipolaritätsgene be- onkos, Wucherung; genos, Bildung, Hervorbringung) bei
zeichnet? bestimmten Retroviren geführt (siehe Kapitel 19). Spä-
ter wurden Homologe solcher Gene mit sehr ähnlichen

493
18 Regulation der Genexpression

Protoonkogen Protoonkogen Protoonkogen

Translokation oder Transposi- Genamplifikation: Punktmutation:


tion: Das Gen wird an einen viele Kopien eines Gens
anderen Genort verlagert und
kommt unter den Einfluss
eines neuen Kontrollelements innerhalb eines innerhalb der
(Promotors). Kontrollelements codierenden Abschnitte

neuer Onkogen Onkogen Onkogen


Promotor

Ein das normale Wachstum Ein das normale Wachstum stimulierendes Ein das normale Wachstum hyperaktives oder
stimulierendes Protein liegt Protein liegt im Überschuss vor. stimulierendes Protein liegt gegen Abbau
im Überschuss vor. im Überschuss vor. resistentes Protein

Teil 3 Abbildung 18.23: Genetische Veränderungen, die Proto-Onkogene in Onkogene umwandeln können.

Sequenzen auch im Genom des Menschen und vieler der normalen Kontrolle (beispielsweise durch alloste-
Tiere gefunden. Die zellulären Versionen dieser Gene, rische Regulation) entzieht, oder weil es deutlich lang-
die in ihrem normalen genomischen Umfeld keinen samer abgebaut wird als das normale Protein. Jede dieser
Krebs auslösen, werden als Proto-Onkogene bezeichnet. Veränderungen kann dazu führen, dass der Zellzyklus
Die von ihnen codierten Proteine regen häufig das nor- unkontrolliert abläuft. Die Zelle teilt sich dann auch,
male Zellwachstum und die Zellteilung an. wenn sie es normalerweise nicht tun würde und
Wie kann ein Proto-Onkogen, das eine wichtige schlägt den Weg in die Tumorbildung ein.
Funktion in normalen Zellen hat, zur Entstehung von
Krebs beitragen? Oft führt eine Mutation in einem Proto- Tumorsuppressor-Gene
Onkogen zu einem Onkogen, weil entweder wesentlich Außer den Genen, deren Produkte normalerweise die
mehr des vom Gen codierten Proteins gebildet oder die Zellteilung fördern, codieren andere Gene auch für
Aktivität des Proteins selbst gesteigert wird. Die mit Proteine, welche die Zellteilung hemmen. Diese wer-
der Umwandlung eines Proto-Onkogens in ein Onko- den als Tumorsuppressor-Gene bezeichnet, weil sie
gen verbundenen genetischen Veränderungen lassen die Zellen an einer unkontrollierten Vermehrung hin-
sich in drei Klassen unterteilen: die Verschiebung von dern. Folglich wird jede Mutation, die die Aktivität
DNA-Abschnitten innerhalb des Genoms, die Verviel- eines Tumorsuppressor-Proteins vermindert, die Zelle
fältigung des Proto-Onkogens (Amplifikation) und das durch den Wegfall der Hemmung zum Wachstum
Auftreten von Punktmutationen in Kontrollelementen anregen und kann so zur Krebsentstehung beitragen.
oder im codierenden Bereich des Proto-Onkogens Die von Tumorsuppressor-Genen codierten Proteine
(Abbildung 18.23). können verschiedene Aufgaben erfüllen. Einige dieser
Krebszellen enthalten oft veränderte Chromosomen, Proteine sind normalerweise an der Reparatur der DNA
die nach einem Bruch offensichtlich falsch zusammen- beteiligt und verhindern damit die Anhäufung von
gesetzt wurden und damit Stücke von einem anderen Mutationen im Genom, die unter Umständen auch
Chromosom erhielten (Translokation; siehe Abbildung Krebs auslösen könnten. Andere Tumorsuppressoren
15.14). Die möglichen Auswirkungen einer solchen vermitteln die Anheftung von Zellen untereinander
Translokation auf die Regulation der Genexpression oder an der extrazellulären Matrix. Eine solche Veran-
können wir uns mit dem, was wir in diesem Kapitel kerung ist für Zellen in normalen Geweben sehr wich-
gelernt haben, leicht vorstellen: Falls ein so versetztes tig und oft bei Krebszellen aufgehoben. Wieder andere
Proto-Onkogen unter die Kontrolle eines besonders Tumorsuppressor-Gene codieren für Komponenten von
starken Promotors oder eines anderen Kontrollelements Signalketten, die letztlich den Zellzyklus hemmen.
kommt, wird es durch die verstärkte Transkription
zum Onkogen. Die zweite mögliche Klasse von Muta-
tionen, die Amplifikation, erhöht die Kopienzahl des 18.5.2 Die Störung zellulärer Signalketten
Proto-Onkogens im Genom, was ebenfalls die Menge
des gebildeten Proteins steigert. Schließlich kann eine Viele Proto-Onkogene und Tumorsuppressorgene codie-
Punktmutation entweder (1) im Promotor oder einem ren für Komponenten von Signalketten. Schauen wir
Enhancer eines Proto-Onkogens liegen und so eine uns nun näher an, wie solche Proteine in normalen
verstärkte Genexpression bewirken, oder (2) sie liegt Zellen arbeiten und welche ihrer Funktionen in Krebs-
im codierenden Bereich (einem der Exons) und führt zellen gestört sind. Wir werden uns hierbei auf zwei
nach der Translation zu einem Protein, das aktiver ist wichtige Gene, das ras-Proto-Onkogen und das p53-
als das normale Protein, etwa weil sich seine Aktivität Tumorsuppressor-Gen, beschränken. ras-Mutationen fin-

494
18.5 Krebs entsteht durch genetische Veränderungen, die den Zellzyklus deregulieren

den sich bei etwa einem Drittel aller menschlichen den Tumorsuppressor-Gen nicht richtig arbeitet oder
Tumore, solche von p53 sogar in mehr als der Hälfte. vollständig fehlt), können sich geschädigte Zellen
Das vom ras-Gen codierte Ras-Protein (Ras: Ratten- weiter teilen und Mutationen anhäufen, was letztlich
Sarkoma-Protein, p21Ras) leitet als monomeres G-Pro- eine Krebserkrankung auslösen kann. Die Vielzahl der
tein das Signal von dem Rezeptor eines Wachstums- Funktionen von p53 legt nahe, dass normale Zellen
faktors in der Plasmamembran an eine Kaskade von ein komplexes Regulationsnetzwerk besitzen, das wir
Proteinkinasen weiter (siehe Abbildung 11.8). Die so noch nicht vollständig verstehen.
aktivierte Signalkette löst als zelluläre Antwort die In den Abbildungen 18.24 und 18.25 sind die der-
Synthese eines Proteins aus, das den Zellzyklus anregt zeit gültigen Modelle dargestellt, nach denen Mutatio-
(Abbildung 18.24a). Normalerweise ist ein solcher nen zur Krebsentstehung beitragen können. Allerdings
Signalweg nur dann aktiv, wenn er durch den geeig- haben wir noch keine genaue Vorstellung davon, wie
neten Wachstumsfaktor ausgelöst wird. Bestimmte eine bestimmte Zelle tatsächlich zur Krebszelle wird.
Mutationen im ras-Gen führen jedoch zur Bildung Es wird wichtig sein, die neu entdeckten Mechanis-
eines hyperaktiven Ras-Proteins, das die nachgeschal- men der Regulation der Genexpression in unsere
tete Kinasekaskade auch ohne den Wachstumsfaktor Modelle zur Krebsentstehung mit einzubeziehen. Bei-
aktiviert. Dies führt zu einer vermehrten Zellteilung spielsweise wurden Unterschiede zwischen normalen
(Abbildung 18.24b). Hyperaktive Versionen oder zu und Krebszellen in der DNA-Methylierung und den
hohe Konzentrationen auch anderer Komponenten Modifikationsmustern der Histone entdeckt, und es
der Signalkette führen zu demselben Ergebnis: einer liegt nahe, dass auch miRNAs bei der Krebsentstehung Teil 3
unkontrollierten Zellteilung im betroffenen Gewebe. eine Rolle spielen. Obwohl wir schon einiges über die
Abbildung 18.25a zeigt schematisch eine Signal- Bedeutung von Signalketten bei Krebserkrankungen
kette, in der ein Signal zur Synthese eines Proteins gelernt haben, gibt es noch viel zu tun.
führt, das den Zellzyklus hemmt. In diesem Fall ist das
Signal ein DNA-Schaden, wie er beispielsweise bei
einer Bestrahlung mit UV-Licht auftreten könnte. Die 18.5.3 Das Mehrstufenmodell der
Signalkette hält den Zellzyklus an, bis der Schaden Krebsentstehung
repariert ist. Ohne die Reparatur würden solche Schä-
den zur Tumorbildung beitragen, weil sie Mutationen Um die Transformation von einer normalen Körper-
oder chromosomale Umlagerungen verursachen könn- zelle in eine bösartige Krebszelle zu verursachen, ist
ten. Die Komponenten der Signalkette wirken daher meist mehr als nur eine somatische Mutation erforder-
als Tumorsuppressoren. Beim p53-Gen (bezeichnet lich. Dies erklärt auch, warum die Krebshäufigkeit mit
nach der Masse des codierten Proteins mit 53.000 Dal- dem Alter der Individuen zunimmt: Wenn Krebs eine
ton) handelt es sich um ein typisches Tumorsuppres- Folge von sich anhäufenden Mutationen ist und Muta-
sor-Gen. Es codiert einen spezifischen Transkriptions- tionen im Verlauf des Lebens immer wieder auftreten,
faktor, der die Expression von Genen anregt, die für werden wir umso wahrscheinlicher an Krebs erkran-
hemmende Proteine des Zellzyklus codieren. Eine ken, je älter wir werden.
Mutation im p53-Gen, die zum Ausfall der Proteinfunk- Ein solches mehrstufiges Modell der Krebsentstehung
tion führt (engl. loss-of-function), bewirkt deshalb, genau wird durch die Beobachtungen an einer der bestunter-
wie das hyperaktive Ras-Protein, eine häufigere Zell- suchten Krebsformen, dem Dickdarmkrebs (colorekta-
teilung als ersten Schritt auf dem Weg zur Krebsentste- les Karzinom), untermauert. Nach neueren Erhebun-
hung (Abbildung 18.25b). gen erkranken in den Industrieländern etwa 30 von
Das p53-Gen wurde schon als der „Schutzengel des 100.000 Einwohnern an dieser Krebsart. Im Jahr 2008
Genoms“ bezeichnet. Nach seiner Aktivierung – bei- lag die Zahl der Neuerkrankungen allein in Deutsch-
spielsweise durch einen DNA-Schaden – fungiert das land bei mehr als 65.000 Menschen, weltweit wird die
p53-Protein als Aktivator verschiedener anderer Gene. Zahl jährlich auf eine Million geschätzt. Wie die meis-
Oft wird dabei das sogenannte p21-Gen exprimiert, ten Krebsformen, entwickelt sich auch Dickdarmkrebs
dessen Produkt den Zellzyklus durch die Bindung an langsam und schrittweise (Abbildung 18.26). Die ers-
cyclinabhängige Kinasen anhält. Dies verschafft der ten Anzeichen sind vielfach Polypen. Dies sind kleine,
Zelle die notwendige Zeit, um eingetretene Schäden zunächst gutartige Wucherungen in der Darmschleim-
zu reparieren. Das p53-Protein kann außerdem auch haut, die endoskopisch entfernt werden können. Die
die Expression von Genen aktivieren, deren Produkte Zellen, aus denen die Polypen bestehen, sehen normal
unmittelbar an der Reparatur der DNA mitwirken. aus, teilen sich aber ungewöhnlich häufig. Der Tumor
Wenn ein DNA-Schaden nicht repariert werden kann, wächst heran, kann dann bösartig werden und schließ-
aktiviert p53 schließlich auch Gene für „Selbstmord- lich in andere Gewebe einwachsen (invasive Wuche-
Proteine“, die den induzierten Zelltod (Apoptose) aus- rung). Während der Entwicklung eines bösartigen
lösen (siehe Abbildung 11.20). Das p53-Protein ver- Tumors häufen sich langsam Mutationen an, durch
hindert also auf unterschiedliche Weisen, dass eine die Proto-Onkogene in Onkogene umgewandelt und
Zelle einen DNA-Schaden in Form einer Mutation an Tumorsuppressor-Gene funktionslos werden. Wie wir
die nächste Generation weitergibt. Häufen sich solche gesehen haben, sind dabei in vielen Fällen das ras-
Mutationen im Genom an (was häufiger auftritt, wenn Onkogen und ein mutiertes p53-Tumorsuppressor-
das p53-Protein aufgrund einer Mutation im codieren- Gen beteiligt.

495
18 Regulation der Genexpression

1 Wachs-
tums- 3 G-Protein
faktor

P P 6 ein Protein,
P P Ras ZELLKERN das den
P P
GTP 5 Transkriptions- Zellzyklus
faktor (Aktivator) stimuliert

2 Rezeptor 4 Proteinkinasen
normale
Zellteilung
(a) Aktivierung des Zellzyklus über die normale Signalkette.

MUTATION
Das Protein
Ras wird immer
GTP
gebildet bzw.
ZELLKERN überproduziert.
Transkriptions-
Teil 3 faktor (Aktivator)
Hyperaktives Ras-Protein (das Produkt
eines Onkogens) aktiviert eine Signalkas-
vermehrte
kade unabhängig davon, ob ein Wachstums-
Zellteilung
faktor an den Rezeptor gebunden hat.

(b) Aktivierung des Zellzyklus in einer Mutante.


Abbildung 18.24: Signalketten zur Aktivierung des Zellzyklus im Wildtyp und einer Mutante. (a) Die normale Signalkette wird durch einen
Wachstumsfaktor 1 aktiviert, der an seinen Rezeptor 2 in der Cytoplasmamembran bindet. Das Signal wird an ein G-Protein 3 weitergegeben, in die-
sem Fall an das Ras-Protein. Ras ist, wie alle G-Proteine, nur im GTP-gebundenen Zustand aktiv. Es leitet dann das Signal an eine Kaskade von Protein-
kinasen 4 weiter. Die Kinase am unteren Ende der Kaskade aktiviert einen Transkriptionsfaktor 5 (hier ein Transkriptionsaktivator) der die Expression
von einem oder mehreren Genen 6 anschaltet, deren Produkte den Zellzyklus aktivieren. (b) Wenn eine Mutation dazu führt, dass Ras oder eine andere
Komponente der Signalkette hyperaktiv wird, kann das zur unkontrollierten Zellteilung und zur Krebsentstehung führen.

2 Proteinkinasen

5 Protein, das beschädigte


den Zellzyklus DNA, wird
hemmt nicht repliziert
ZELLKERN
UV-
Strah-
lung
1 DNA-Schaden 3 aktive Form 4 Transkription
im Genom von p53 keine
Zellteilung

(a) Hemmung des Zellzyklus über die normale Signalkette

das den Zell-


zyklus hem- Zellzyklus
mende Protein wird nicht
Defekter oder aus- fehlt repliziert
UV- gefallener Transkrip-
Strah- MUTATION
tionsfaktor (zum
lung Beispiel p53) kann
DNA-Schaden die Transkription
im Genom nicht aktivieren. vermehrte
Zellteilung

(b) Deregulation des Zellzyklus in einer Mutante


Abbildung 18.25: Signalketten zur Hemmung des Zellzyklus im Wildtyp und einer Mutante. (a) Die normale Signalkette wird durch das int-
razelluläre Signal eines DNA-Schadens 1 aktiviert. Das Signal wird an Proteinkinasen 2 weitergeleitet, die letztlich p53 3 aktivieren. Aktives p53 stei-
gert die Expression eines Gens 4 , dessen Produkt 5 den Zellzyklus hemmt. Die Hemmung des Zellzyklus stellt sicher, dass die geschädigte DNA nicht
repliziert wird. Kann der Schaden nicht behoben werden, löst p53 auch den programmierten Zelltod (Apoptose) aus. (b) Mutationen, die zum Verlust einer
der Komponenten der Signalkette führen, können zur Krebsentstehung beitragen.

? Versuchen Sie herauszufinden, ob eine Mutation im Tumorsuppressor-Gen p53, die zur Tumorbildung führt, eher rezessiv oder eher dominant sein wird.

496
18.5 Krebs entsteht durch genetische Veränderungen, die den Zellzyklus deregulieren

Colon (Dickdarm)

1 Verlust des 2 Aktivierung 4 Verlust des


Tumorsup- des ras- Tumorsup-
pressorgens Onkogens pressorgens
APC (oder p53
anderer)

3 Verlust des 5 zusätzliche


Dickdarmwand Tumorsup- Mutationen
pressorgens
normale Epithel- kleine, gutartige SMAD4 größere, gutartige bösartiger Tumor
zellen des Dick- Polypen Wucherung (Karzinom)
darms (Adenom)
Abbildung 18.26: Ein Mehrstufenmodell für die Entstehung von Dickdarmkrebs (colorektales Karzinom). Hierbei handelt es sich um die
bestuntersuchte Krebsart. Die Veränderungen im Tumor erfolgen gleichzeitig mit genetischen Veränderungen, die Mutationen in verschiedenen Tumor-
suppressor-Genen (beispielsweise p53 ) und dem ras -Proto-Onkogen einschließen. Mutationen in Tumorsuppressor-Genen führen oft zum Verlust (zur
Deletion) des entsprechenden Gens. Zwei solcher Gene sind hier gezeigt: APC („Adenomatöse Polyposis Coli“) und SMAD4, dessen Produkt in einer Sig- Teil 3
nalkette wirkt, die Apoptose auslöst. Auch andere als die hier gezeigten Abfolgen von Mutationen können zur Entstehung von Dickdarmkrebs führen.

Etwa fünf bis sechs Veränderungen der DNA müssen für Jahr (mehr als die Hälfte davon in den Industrieländern).
die Transformation einer normalen Körperzelle in eine In Deutschland liegt die Zahl der jährlichen Neuerkran-
echte Krebszelle auftreten. Dazu gehört in aller Regel das kungen bei über 72.000, mit mehr als 17.000 Todesfäl-
Auftauchen wenigstens eines aktiven Onkogens sowie len. Das größte Problem bei der Untersuchung von Brust-
der Funktionsverlust und die Mutation mehrerer Tumor- krebs sind seine unterschiedlichen Ausprägungen, da
suppressor-Gene. Außerdem sind Mutationen in letz- sich die Tumoren erheblich voneinander unterscheiden
teren in der Regel rezessiv, so dass beide Allele in der können. Ein genaueres Verständnis der Unterschiede
diploiden Zelle ausfallen müssen, bevor sich die Ver- zwischen diesen Tumoren könnte zur Verbesserung der
änderung auswirkt. Im Gegensatz dazu sind die meisten Behandlungsmöglichkeiten und zur Senkung der Morta-
Mutationen in Onkogenen dominant. Darüber hinaus ist litätsrate beitragen. Deshalb wurde im November 2012
in bösartigen Tumoren oft auch die Expression des Telo- vom NIH („National Institute of Health“, amerikanische
merase-Gens erhöht. Das gebildete Enzym verhindert die Gesundheitsbehörde) eine Studie gefördert („Cancer
schrittweise Verkürzung der Telomerbereiche an den Genome Atlas Network“), in der verschiedene Arbeits-
Chromosomenenden bei der DNA-Replikation vor einer gruppen Ergebnisse aus genomweiten Untersuchungen
Zellteilung. Mithilfe der Telomerase können Krebszellen zu den verschiedenen Unterarten von Brustkrebs zusam-
die natürliche Begrenzung der Zahl von möglichen Zell- mentrugen. So konnten vier Hauptunterarten identifi-
teilungen umgehen, die durch den Ausfall lebenswichti- ziert werden (Abbildung 18.27).
ger genetischer Information im Zuge der chromosomalen
Verkürzungen hervorgerufen wird.
Sowohl die Bedeutung der genauen Reihenfolge, in 18.5.4 Genetische Veranlagung und
der diese Veränderungen auftreten müssen, als auch krebsfördernde Umweltbedingungen
des Beitrags der einzelnen Mutationen zur Krebsentste-
hung, sind noch Gegenstand intensiver Forschungen. Wir haben gesehen, dass in der Regel eine Reihe von
Das Verständnis dieser Abläufe hat dazu geführt, dass genetischen Veränderungen auftreten muss, damit sich
heute Vorsorgeuntersuchungen empfohlen werden, mit ein Tumor bildet. Das erklärt auch, warum Krebs in
denen verdächtige Polypen erkannt und entfernt wer- einigen Familien gehäuft auftritt. Jemand, der bereits
den können. Tatsächlich ist die Mortalitätsrate bei ein Onkogen (mutiertes Proto-Onkogen) oder ein Mutan-
Dickdarmkrebs in den letzten 20 Jahren gesunken, was ten-Allel eines Tumorsuppressor-Gens geerbt hat, besitzt
sowohl auf die Vorsorgeuntersuchungen, als auch auf ein höheres Risiko, an Krebs zu erkranken, als eine
verbesserte Behandlungsmethoden zurückgeführt wird. Person ohne diese Mutationen.
Ähnliches gilt für andere Krebsarten. Die enormen Genetiker versuchen die entsprechenden Mutanten-
Fortschritte in der DNA- und mRNA-Sequenzierung Allele zu identifizieren, um eine genetische Veranla-
(siehe Kapitel 20) ermöglichten der medizinischen For- gung (Prädisposition) frühzeitig zu erkennen. Etwa
schung, die Expression verschiedener Gene in verschie- 15 Prozent der Darmkrebserkrankungen sind auf solche
denen Krebsarten und die der gleichen Krebsart in ver- vererbbaren Mutationen zurückzuführen. Viele davon
schiedenen Patienten miteinander zu vergleichen. betreffen ein Tumorsuppressor-Gen namens APC (Ade-
Solche Vergleiche tragen zunehmend zu einer „perso- nomatöse Polyposis Coli; Abbildung 18.26). Das von
nalisierten“ Krebstherapie bei, die genau auf den Pati- ihm codierte Protein hat in der Zelle mehrere Funktio-
enten abgestimmt werden kann. nen. Dazu gehört die Regulation der Zellwanderung
Brustkrebs ist die häufigste Krebsform bei Frauen, mit und der Zelladhäsion. Auch ein Signalweg zur Steue-
weltweit mehr als einer Million Neuerkrankungen pro rung des Zellzyklus und der Zellteilung wird vom

497
Abbildung 18.27

Eine normale Brustzelle


ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN der Milchdrüse

Genomanalysen, • ERα+
• PR+
Milch-
kanal
Signalketten und Krebs • HER2+ Östrogen-
Rezeptor
alpha (ERα)
Die moderne Medizin schafft eine Verbindung
zwischen genomweiten molekulargenetischen
Untersuchungen und der Erforschung von Signalketten Progesteron-
und führt zu einem Umdenken in der Behandlung Rezeptor (PR)
vieler Krankheiten, zu denen auch der Brustkrebs
gehört. Mithilfe von Microarray-Analysen (siehe
Abbildung 20.13) und anderen Methoden konnten
Wissenschaftler die relativen Mengen von mRNA-Tran-
skripten aller Gene in Proben aus vielen Brustkrebs-Patien-
tinnen bestimmen. Damit konnten vier vorherrschende
Untergruppen von Brustkrebs unterschieden werden, die hier HER2-Rezeptor
aufgeführt sind. Sie unterscheiden sich in der Expression von (eine Tyrosin-
drei Genen, die Rezeptoren in Signalketten für Zellwachstum kinase)
und Zellteilung codieren (siehe Abbildungen 11.8 und 11.9).
Die normalen Konzentrationen dieser Rezeptoren (durch ein +
gekennzeichnet) sind in einer normalen Brustzelle hier rechts im Bild
dargestellt. Der Verlust (–) oder die Überexpression (++ oder +++) Stützzelle
dieser Rezeptoren kann zu einer Störung der zellulären Signalketten extrazelluläre
führen, was in einer unkontrollierten Zellteilung münden kann, die zur Matrix
Krebsentstehung beiträgt (siehe Abbildung 18.24). Die Behandlung von
Brustkrebs wird durch solche Untersuchungen zunehmend effizienter,
weil sie auf die jeweilige Untergruppe besser abgestimmt werden kann.

Brustkrebs-Untergruppen

Luminal A Luminal B HER2 Basal-ähnlich

• ERα+++ • ERα++ • ERα – • ERα –


• PR++ • PR++ • PR– • PR –
• HER2 – • HER2 – (gezeigt); teilweise HER2++ • HER2++ • HER2 –
• 40 % aller Brustkrebs-Fälle • 15–20 % aller Brustkrebs-Fälle • 10–15 % aller Brustkrebs-Fälle • 15–20 % aller Brustkrebs-Fälle
• Sehr gute Prognose • Schlechtere Prognose als bei • schlechtere Prognose als bei • aggressiv, schlechtere Prog-
der Luminal-A-Untergruppe der Luminal-A-Untergruppe nose als bei den anderen
Untergruppen

Beide Luminal-Untergruppen (Lumen = Hohlraum; bezogen Die HER2-Untergruppe zeigt Die Basal-ähnliche Untergruppe
auf die Milchkanäle) zeigen eine erhöhte Expression von ERα eine erhöhte Expression von (ähnlich normalen Zellen bezüglich
(das stärker in Luminal A als in Luminal B auftritt) und PR, HER2. Da weder ERα, noch PR der Rezeptoren) ist „dreifach-nega-
während sie in der Regel HER2 nicht exprimieren. Beide normal exprimiert werden, tiv“. Sie exprimiert weder ERα, noch
Untergruppen können mit Medikamenten behandelt werden, reagiert diese Untergruppe PR oder HER2. Oft findet man eine
die ERα hemmen (meistens wird hier Tamoxifen eingesetzt). nicht auf Medikamente, die Mutation im Tumorsuppressor-Gen
Diese Untergruppen reagieren auch auf die Behandlung mit gegen diese beiden Rezeptoren BRCA1 (vgl. Konzept 18.5).
Medikamenten, die die Östrogensynthese hemmen. gerichtet sind. Allerdings Behandlungen, die auf die Hem-
können die Patientinnen mit mung der drei genannten Rezep-
Z U S A M M E N H Ä N G E E R K E N N E N Beim Vergleich der Genexpression Herceptin behandelt werden, toren abzielen sind hier wirkungslos
in normalen Brustzellen mit derjenigen in Zellen aus Brustkrebs-Biopsien einem spezifischen Antikörper, und neue Behandlungsmethoden
wurden die größten Unterschiede bei den Genen gefunden, die für die der die Tyrosinkinase-Aktivität werden derzeit entwickelt. Bisher
hier gezeigten Rezeptoren codieren. Warum überrascht Sie dieses
von HER2 hemmt (vgl. Konzept werden Patientinnen mit Chemo-
Ergebnis nicht, wenn Sie bedenken, was sie in diesem Kapitel und den
Kapiteln 11 und 12 gelernt haben? 12.3). therapeutika behandelt, die selektiv
sich schnell vermehrende Zellen
abtöten.
18.5 Krebs entsteht durch genetische Veränderungen, die den Zellzyklus deregulieren

APC-Protein beeinflusst. In 60 Prozent aller Formen schen Pathologen Peyton Rous im Jahr 1911 mit der
von Dickdarmkrebs ist das APC-Gen mutiert. Wie für Entdeckung eines Virus, das bei Hühnern Krebs hervor-
die Tumorsuppressor-Gene bereits beschrieben, müs- ruft (Rous-Sarkoma-Virus, RSV). Auch das Epstein/
sen Mutationen in beiden Allelen auftreten, bevor sie Barr-Virus (EBV), der Erreger des Pfeiffer’schen Drüsen-
sich phänotypisch auswirken. Da bisher in nur etwa fiebers (infektiöse Mononucleose), wird mit verschie-
15 Prozent aller Fälle von Dickdarmkrebs erbliche denen Krebsformen in Verbindung gebracht, insbeson-
Mutationen gefunden wurden, wird momentan ver- dere dem sogenannten Burkitt-Lymphom. Bestimmte
stärkt nach weiteren Genen gesucht, die als Marker für Vertreter aus der Gruppe der Warzenviren (Papilloma-
diese Krebsform infrage kommen. viren) besiedeln den Gebärmutterhals von Frauen und
Auch für den Brustkrebs (Mammakarzinom) gibt es können eine Form des Gebärmutterhalskrebses (Zer-
Hinweise, dass in fünf bis zehn Prozent der Fälle eine vikalkarzinom) auslösen. Für die Aufklärung dieses
starke erbliche Prädisposition vorliegt. In etwa der Hälfte Zusammenhangs erhielt im Jahr 2008 der deutsche For-
der Fälle, bei denen eine erbliche Veranlagung festzustel- scher Harald zur Hausen den Nobelpreis für Medizin.
len ist, finden sich Mutationen in den Genen BRCA1 Als letztes Beispiel soll HTLV-1 genannt werden (ein
oder BRCA2 (die Abkürzung steht für BReast CAncer), Vertreter der Retroviren, zu denen auch HIV gehört),
die sich leicht mit den heute gängigen DNA-Sequenzier- das eine Form von Leukämie bei Erwachsenen hervor-
methoden nachweisen lassen. Eine Frau, die ein mutier- rufen kann. Man schätzt heute, dass Viren bei etwa 15
tes BRCA1-Allel geerbt hat, erkrankt mit einer 60-pro- Prozent aller weltweiten Krebsfälle eine Rolle spielen.
zentigen Wahrscheinlichkeit vor ihrem 50. Lebensjahr Auf den ersten Blick erkennt man wenig Gemeinsa- Teil 3
an Brustkrebs. Die Wahrscheinlichkeit für eine Frau, bei mes zwischen Viren und Mutationen, die Krebs verur-
der beide Allele normal (also homozygot für das Wild- sachen. Wir wissen heute aber, dass Viren die Gen-
typ-Allel) sind, liegt dagegen nur bei zwei Prozent. expression auf verschiedenste Weisen beeinflussen
Auch bei den miteinander verwandten Genen BRCA1 können, wenn sie ihr genetisches Material in die DNA
und BRCA2 handelt es sich um Tumorsuppressor-Gene; der Wirtszelle einbauen. So können Viren selbst Onko-
die Wildtyp-Allele schützen vor Brustkrebs, da die gene mitbringen, in ein Tumorsuppressor-Gen integ-
Mutanten-Allele rezessiv sind (Mutationen im BRCA1- rieren und es damit inaktivieren, oder ein Proto-Onko-
Gen finden sich häufig in der Untergruppe des basal- gen zu einem Onkogen werden lassen (beispielsweise
ähnlichen Brustkrebs; Abbildung 18.27). Beide codier- indem sie dessen Expression durch eine Integration in
ten Proteine scheinen an der DNA-Reparatur beteiligt Kontrollbereiche steigern). Außerdem stellen einige
zu sein. Das BRCA2-Protein ist bisher besser erforscht Viren nach der Infektion der Wirtszelle Proteine her, die
und hilft zusammen mit einem weiteren Protein bei der p53 und andere Tumorsuppressoren hemmen. So wird
Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen, einer wich- die Zelle anfälliger für die Tumorbildung. Obgleich
tigen Aufgabe für die Aufrechterhaltung eines intak- Viren wenig mehr sind als eine von einer schützenden
ten Genoms im Zellkern. Hülle umgebene Nucleinsäure, sind sie höchst wir-
Auch DNA-Brüche können zur Krebsentstehung bei- kungsvolle biologische Einheiten, wie wir im nächs-
tragen, sodass das Krebsrisiko deutlich gesenkt werden ten Kapitel erfahren werden.
kann, wenn wir weniger DNA-schädigenden Einflüssen
ausgesetzt sind, zu denen der UV-Anteil des Sonnen-
lichts und auch einige Bestandteile des Tabakrauchs  Wiederholungsfragen 18.5
zählen. Neue Methoden der genomweiten Untersuchung
bestimmter Krebsarten, wie der in Abbildung 18.27 1. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Das p53-Protein
beschriebene Ansatz, tragen sowohl zur Früherkennung kann Gene aktivieren, deren Produkte die
als auch zu der Entwicklung neuer Behandlungsstrate- Apoptose oder den programmierten Zelltod
gien bei, die auf die Expression von Schlüsselgenen der auslösen. Erklären Sie, wie Mutationen in sol-
jeweiligen Krebsart einwirken. Darin bestehen die chen Genen zur Krebsentstehung beitragen
berechtigten Hoffnungen, in Zukunft die Mortalitätsra- könnten. (Sehen Sie sich dazu nochmals Kon-
ten bei vielen Krebsarten senken zu können. zept 11.5 an.)
2. Wann geht man davon aus, dass eine Krebs-
form teilweise auf einer erblichen Veranlagung
18.5.5 Die Rolle von Viren bei einigen
beruht?
Krebsarten
3. WAS WÄRE, WENN? Erläutern Sie den wesent-
Die Erforschung von Genen, die mit Krebs in Zusam- lichen Unterschied in der Art der Mutationen,
menhang stehen – ob diese nun vererbt werden oder die bei Proto-Onkogenen zur Krebsentstehung
nicht –, erweitert unser Verständnis davon, wie Störun- führen, zu denen bei Tumorsuppressor-Ge-
gen der normalen Genregulation zu diesen schreckli- nen. Gehen Sie dabei vor allem auf den Effekt
chen Krankheiten beitragen. Zusätzlich zu den oben der Mutationen ein, den sie auf die Aktivität
beschriebenen genetischen Veränderungen und Muta- der codierten Proteine haben.
tionen können auch eine Reihe sogenannter Tumor-
viren Krebs bei Tier und Mensch verursachen. Ein erster Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Durchbruch in dieser Hinsicht gelang dem amerikani-

499
18 Regulation der Genexpression

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 1 8  

Induzierbares Operon
Konzept 18.1
Gene werden nicht exprimiert Gene werden exprimiert
Bakterien passen ihr Transkriptionsmuster den wech- Promotor
selnden Umweltbedingungen an Operator
Gene

 Zellen steuern ihren Stoffwechsel durch die Regu-


lation der Aktivität von Enzymen oder der Expres- Repressor aktiv: kein inaktiver Repressor:
Induktor anwesend Induktor gebunden
sion der sie codierenden Gene. Bei Bakterien sind Induktor

Gene häufig zu Operons zusammengefasst. Ein Pro-


motor ist dabei für mehrere nebeneinander liegende
Cistrons (offene Leseraster) zuständig. Ein als Opera-  Manche Operons werden auch positiv über ein
tor bezeichneter DNA-Abschnitt ist an der An- und Aktivator-Protein reguliert, wie zum Beispiel das
Abschaltung des Operons beteiligt. Dies führt zu Kataboliten-Aktivator-Protein (CAP). Es fördert die
einer koordinierten Regulation der Gene eines Ope- Transkription, wenn es durch cyclisches AMP akti-
rons. viert wird und an eine Erkennungssequenz im Pro-
motorbereich gebunden ist.
Teil 3 Operator
? Vergleichen Sie die Rolle eines Co-Repressors mit der eines Induktors
Promotor
Gene bei der negativen Regulation eines Operons.
A B C
Operator
RNA- Konzept 18.2
Polymerase Die Expression eukaryontischer Gene kann auf ver-
A B C
schiedenen Stufen reguliert werden

Polypeptide
PPolypeptid
tid
de
Chromatinmodifizierung Transkription
• Gene in stark kondensiertem • Regulation der Transkriptionsinitiation:
Chromatin werden im Allge- DNA-Kontroll-
meinen nicht transkribiert. elemente
 Sowohl reprimierbare als auch induzierbare Ope- • Histonacetylierung binden spezi-
fisch wirkende
scheint die Chromatin-
rons sind Beispiele für eine negative Regulation der struktur aufzulockern Transkriptionsfak-
und die Transkription zu toren.
Genexpression. Bei beiden Operontypen führt die verstärken. Die Biegung der DNA versetzt Aktivatoren in
Bindung eines spezifisch wirkenden Repressorpro- die Lage, mit Proteinen am Promotor Kontakt
• DNA-Methylierung setzt im
aufzunehmen, was die Transkription einleitet.
teins an den Operator zur Abschaltung der Transkrip- Allgemeinen die Transkription
herab.
• Koordinierung der Regulation:
tion. (Der Repressor wird von einem nicht-gekoppel-
„Enhancer“ für „Enhancer“ für
ten Regulatorgen codiert.) Bei einem reprimierbaren leberspezifische Gene linsenspezifische Gene
CHROMATINMODIFIZIERUNG
Operon ist der Repressor aktiv, wenn er einen Co-
Repressor gebunden hat. Dieser ist in der Regel das TRANSKRIPTION

Endprodukt eines anabolen Stoffwechselwegs. RNA-Prozessierung


RNA-PROZESSIERUNG • alternatives Spleißen der RNA:

Reprimierbares Operon primäres RNA-Transkript


mRNA- TRANSLATION
Gene werden exprimiert Gene werden nicht exprimiert ABBAU
mRNA ODER
Promotor PROTEINPROZESSIERUNG
UND –ABBAU
Gene
Translation
Operator • Die Initiation der Translation kann über die
Repressor aktiv: mRNA-Abbau Regulation von Initiationsfaktoren gesteuert
Co-Repressor gebunden • Jede mRNA besitzt eine werden.
Repressor inaktiv: charakteristische Halbwerts-
kein Co-Repressor vorhanden Co-Repressor
zeit, die zum Teil durch die
Sequenzen der untranslatier- Proteinprozessierung und –abbau
ten Bereiche (5’-UTR und • Proteinprozessierung und -abbau durch
3’-UTR) bestimmt wird. Proteasomen sind regulierte Vorgänge.
Bei einem induzierbaren Operon führt die Bindung
eines Induktors an einen ursprünglich aktiven, an
den Operator gebundenen Repressor zu dessen In- ? Beschreiben Sie, welche Vorgänge ablaufen müssen, damit ein für
aktivierung und zum Anschalten der Transkription. diesen Zelltyp spezifisches Gen exprimiert wird.
Die von induzierbaren Operons codierten Enzyme
werden gewöhnlich in katabolen Stoffwechselwe-
gen eingesetzt.

500
Zusammenfassung

Konzept 18.3 ? Beschreiben Sie die zwei wichtigsten Mechanismen, mit denen embry-
Die Regulation der Genexpression durch nicht-codie- onale Zellen auf ihre spätere Bestimmung festgelegt werden.
rende RNAs

Konzept 18.5
Chromatinmodifizierung
CHROMATINMODIFIZIERUNG • Kleine RNAs können die Bildung von
Krebs entsteht durch genetische Veränderungen, die
Heterochromatin in bestimmten Bereichen den Zellzyklus deregulieren
TRANSKRIPTION fördern und so die Transkription blockieren.

RNA-PROZESSIERUNG Translation  Die Produkte von Proto-Onkogenen und Tumorsup-


• miRNA oder siRNA können die Translation pressor-Genen steuern die Zellteilung. Eine Verän-
bestimmter mRNAs blockieren.
mRNA- TRANSLATION
derung der DNA, die ein Proto-Onkogen aktiviert,
ABBAU
lässt es zum Onkogen werden. Dies kann eine
PROTEINPROZESSIERUNG
UND –ABBAU
erhöhte Zellteilungsaktivität bewirken und die Ent-
stehung von Krebs begünstigen. Ein Tumorsuppres-
mRNA-Abbau sor-Gen codiert ein Protein, das im Normalfall den
• miRNA oder siRNA können bestimmte mRNAs dem Abbau zuführen.
Zellzyklus hemmt. Eine Mutation in einem derarti-
gen Gen, welches die Aktivität des codierten Pro-
teins vermindert, kann ebenfalls zu einer unkontrol-
? Warum bezeichnet man miRNAs als nicht-codierende RNAs? Erklären lierten Zellteilung und zur Krebsentstehung führen. Teil 3
Sie, wie sie sich auf die Regulation der Genexpression auswirken.  Viele Proto-Onkogene und Tumorsuppressor-Gene
codieren Komponenten von Signalketten, die das
Wachstum entweder anregen oder hemmen. Muta-
Konzept 18.4 tionen in diesen Genen führen zu Störungen des
Die verschiedenen Zelltypen in einem Lebewesen ent- Signalwegs. Eine übermäßig aktive Form eines Pro-
stehen nach einem Programm zur differenziellen Gen- teins in einem stimulatorischen Signalweg, wie
expression etwa das Ras-Protein, wirkt als onkogenes Protein.
Die inaktive Form eines Proteins in einem das
 Embryonale Zellen werden früh auf ihre Entwick- Wachstum hemmenden Signalweg, wie etwa p53
lung festgelegt (Determination) und differenzieren (ein Transkriptionsaktivator), kann seine Funktion
sich bezüglich ihrer Form und Funktion. Die Zellen als Tumorsuppressor nicht mehr ausüben.
unterscheiden sich nicht in der Ausstattung ihres
Genoms, sondern in der Expression bestimmter AUSWIRKUNGEN VON MUTATIONEN
Gene und Gengruppen. erhöhte
fehlendes Protein
Die Morphogenese (Gestaltbildung) umfasst alle Proteinproduktion

Prozesse, die letztlich das Aussehen eines Lebewe-


sens bestimmen.
 Cytoplasmatische Determinanten im unbefruchte- erhöhte Aktivität
des Zellzyklus
gesteigerte
Zellteilung
fehlende Hemmung
des Zellzyklus
ten Ei steuern die Expression von Genen in der
Zygote, die das weitere Entwicklungsschicksal der
embryonalen Zellen nach der Befruchtung beein-  Im Mehrstufenmodell der Krebsentstehung werden
flussen. Bei der Induktion wirken sich von den normale Zellen durch sich anhäufende Mutationen
embryonalen Zellen gebildete Signalstoffe auf die in Proto-Onkogenen oder Tumorsuppressor-Genen
Transkriptionsmuster in ihren Nachbarzellen aus. in Krebszellen umgewandelt. Fortschritte in der
 Die Differenzierung wird von dem Erscheinen gewe- Gentechnik und der Biotechnologie erlauben die
bespezifischer Proteine angekündigt. Diese versetzen bessere Anpassung der Behandlungsmethoden an
die differenzierten Zellen in die Lage, spezialisierte die jeweilige Krebsart („personalisierte Medizin“).
Funktionen zu erfüllen.  Genomweite Untersuchungsmethoden führten zur
 Bei Tieren beginnt die Musterbildung – die Ent- Klassifizierung von vier Untergruppen bei Brust-
wicklung der räumlichen Organisation der Gewebe krebs, die sich auf die unterschiedliche Genexpres-
und Organe – im frühen embryonalen Stadium. sion in den Tumorzellen gründet.
Positionsinformation in Form molekularer Signale,  Mutationen in Onkogenen oder in Tumorsuppressor-
welche die Musterbildung steuern, teilen einer Genen können vererbt werden und erhöhen dann
Zelle ihre Lage relativ zu den Körperachsen und das Risiko des Trägers, an Krebs zu erkranken.
anderen Zellen des gleichen oder eines anderen Bestimmte Viren fördern die Krebsentstehung durch
Typs mit. Bei Fliegen der Gattung Drosophila legen die Integration ihrer Gene in das zelluläre Genom.
Gradienten von Morphogenen, die von maternalen
Wirkungsgenen codiert werden, die Körperachsen ? Vergleichen Sie die normalen Aufgaben der von Proto-Onkogenen
fest. So legt etwa der Gradient des Proteins Bicoid codierten Proteine mit denen der Produkte von Tumorsuppressor-Genen.
die anterioposteriore Achse fest.

501
18 Regulation der Genexpression

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜBU NG S A UF G ABE N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis a. irreversible Bindung des Repressors an den


Promotor
1. Falls ein bestimmtes Operon Enzyme für die Her- b. verminderte Transkription des Operons
stellung einer Aminosäure codiert und in gleicher c. Anstau eines Substrats des von dem Operon
Weise wie das trp-Operon reguliert wird, dann gesteuerten Stoffwechselwegs
a. inaktiviert die Aminosäure den Repressor d. konstitutive Transkription des Operons
b. ist der Repressor in Abwesenheit der Amino-
säure aktiv 7. Das Fehlen der bicoid-mRNA in einem Drosophila-
c. wirkt die Aminosäure als Co-Repressor Ei führt zu einem Verlust der anterioren Anteile
d. schaltet die Aminosäure die Transkription des des Larvenkörpers und einer spiegelbildlichen Ver-
Operons an dopplung der posterioren Teile. Dies ist ein Beleg
dafür, dass das Produkt des Gens bicoid
2. Muskelzellen unterscheiden sich von Nervenzel- a. normalerweise zur Bildung von Kopfstruktu-
len hauptsächlich darin, dass ren führt
a. sie verschiedene Gene exprimieren b. normalerweise zur Bildung von Schwanzstruk-
b. sie unterschiedliche Gene enthalten turen führt
Teil 3 c. sie verschiedene genetische Codes benutzen c. im frühen Embryo translatiert wird
d. sie unterschiedliche Ribosomen enthalten d. ein Protein ist, das in allen Kopfstrukturen vor-
handen ist
3. Die Funktion eines Enhancers ist ein Beispiel für
a. ein eukaryontisches Äquivalent der Promotor- 8. Welche der folgenden Aussagen über die DNA in
funktion bei Prokaryonten Ihren Gehirnzellen trifft zu?
b. die transkriptionelle Kontrolle der Genexpres- a. Der Großteil der DNA codiert Proteine.
sion b. Die Mehrzahl der Gene werden wahrschein-
c. die Förderung der Translation durch Initia- lich transkribiert.
tionsfaktoren c. Sie enthalten die gleiche DNA-Ausstattung
d. einen posttranskriptionalen Mechanismus, der wie Ihre Leberzellen.
bestimmte Proteine aktiviert d. Die Gene liegen in unmittelbarer Nachbarschaft
zu einem Enhancer.
4. Die Zelldifferenzierung beinhaltet immer
a. die Transkription des myoD-Gens 9. In einer Zelle hängt die von einer vorgegebenen
b. die Wanderung von Zellen mRNA-Menge gebildete Proteinmenge teilweise ab
c. die Produktion gewebespezifischer Proteine von
d. den selektiven Verlust bestimmter Gene aus dem a. dem Ausmaß der DNA-Methylierung
Genom b. der Abbaurate der mRNA
c. der Anzahl der in der mRNA enthaltenen In-
5. Welche der folgenden Aussagen stellt ein Bei- trons
spiel für posttranskriptionale Steuerung der Gen- d. dem im Cytoplasma vorhandenen Ribosomen-
expression dar? typ
a. die Anheftung von Methylgruppen an Cytosin-
reste der DNA 10. Proto-Onkogene können zu Onkogenen werden,
b. die Bindung von Transkriptionsfaktoren an ei- welche an der Krebsentstehung beteiligt sind.
nen Promtor Welche der folgenden Aussagen ist am besten ge-
c. die Entfernung von Introns und das Spleißen eignet, die Anwesenheit dieser potenziellen Zeit-
der Exons bomben in eukaryontischen Zellen zu erklären?
d. die Genamplifikation während eines Entwick- a. Proto-Onkogene sind ursprünglich durch virale
lungsstadiums Infektionen entstanden.
b. Proto-Onkogene sind mutierte Versionen nor-
Ebene 2: Anwendung und Auswertung maler Gene.
c. Proto-Onkogene sind genetischer „Müll“.
6. Was wäre die Folge, wenn der Repressor eines in- d. Proto-Onkogene sind normalerweise an der
duzierbaren Operons so mutiert wäre, dass er Zellzyklusregulation beteiligt.
nicht mehr an seinen entsprechenden Operator
binden könnte?

502
Übungsaufgaben

Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten sen) nicht für Proteine codieren. Versuchen Sie,
diese Beobachtung zu erklären.
11. ZEICHENÜBUNG Die nachfolgend wiedergegebene
Schemazeichnung zeigt fünf Gene mit ihren zuge- 13. Wissenschaftliche Fragestellung Prostatazellen
hörigen Enhancern aus dem Genom eines fiktiven (Zellen der männlichen Vorsteherdrüse) sind auf
Lebewesens. Stellen Sie sich vor, dass ein orange- Testosteron und andere Androgene angewiesen,
farbenes, ein blaues, ein grünes, ein schwarzes, um zu überleben. Manche Prostatakarzinomzellen
ein rotes und ein violettes Aktivatorprotein exis- teilen sich aber selbst dann, wenn die Androgene
tieren, die an die entsprechend farblich markier- entfernt werden. Eine Hypothese besagt, dass
ten Kontrollelemente in den Enhancerbereichen Östrogene, die gemeinhin als „weibliche“ Sexual-
dieser Gene binden. hormone angesehen werden (aber auch im männ-
lichen Körper vorkommen), in diesen Krebszellen
Gene aktivieren, die normalerweise von Androge-
Enhancer Promotor
nen aktiviert werden. Beschreiben Sie eines oder
Gen 1 mehrere Experimente, um diese Hypothese zu
überprüfen. (Sehen Sie sich gegebenenfalls Abbil-
Gen 2 dung 11.9 nochmals an, um sich die Wirkung der
Steroidhormone ins Gedächtnis zu rufen.)
Gen 3 Teil 3
14. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft In dem
Gen 4 im Vietnamkrieg (1965–1975) eingesetzten, von
Flugzeugen aus versprühten Entlaubungsmittel
Gen 5 „Agent Orange“ waren Spuren von Dibenzodioxi-
nen enthalten. Tierversuche deuten darauf hin,
dass solche Dioxine zu Missbildungen, Krebs, Le-
a. Markieren Sie die Enhancerelemente aller Gene ber- und Thymusschädigungen, zur Unterdrü-
mit einem „X“, die Aktivatoren gebunden hät- ckung des Immunsystems und manchmal zum
ten, wenn nur Gen 5 exprimiert würde. Wel- Tod führen. Einige dieser Tests lieferten jedoch
che farblich dargestellten Aktivatoren wären keine eindeutigen Ergebnisse: So zeigten Hamster
vorhanden? bei Dosierungen, die ein Meerschweinchen töte-
b. Zeichnen Sie einen Punkt (·) über alle Enhan- ten, kaum eine Reaktion auf das Gift. Dioxine
cerelemente, die in einer Zelle mit Aktivatoren wirken ähnlich wie ein Steroidhormon. Sie drin-
besetzt wären, wenn der grüne, der blaue und gen in Zellen ein und binden an ein Rezeptorpro-
der orangefarbene Aktivator vorhanden wären. tein, das dann an die DNA bindet. Wie vermag
Welche Gene würden unter diesen Bedingun- dieser Mechanismus die verschiedenartigen Wir-
gen transkribiert? kungen der Dioxine auf verschiedene Organsys-
c. Stellen Sie sich vor, dass die Gene 1, 2 und 4 teme des Körpers und auf verschiedene Tierarten
nervenspezifische Proteine codieren; die Gene zu erklären? Wie ließe sich ermitteln, ob eine be-
3 und 5 hingegen hautspezifische. Welche Ak- stimmte Erkrankung auf eine Exposition mit Dio-
tivatoren wären in jedem der Zelltypen vor- xinen zurückzuführen ist? Wie könnten Sie fest-
handen, um sicherzustellen, dass die richtigen stellen, ob ein bestimmtes Individuum als Folge
Gene transkribiert werden? einer Dioxinexposition erkrankt ist? Was wäre
schwieriger nachzuweisen? Warum?
12. Verbindung zur Evolution DNA-Sequenzen kön-
nen als Maßeinheit der Evolution dienen (siehe 15. Skizzieren Sie ein Thema: Wechselwirkungen
Kapitel 5). Die das Humangenom analysierenden Schreiben Sie einen kurzen Aufsatz (in 150–200
Wissenschaftler waren überrascht, als sie heraus- Worten), in dem Sie diskutieren, wie die in Abbil-
fanden, dass einige der am höchsten konservier- dung 18.2 gezeigten Mechanismen der Rückkopp-
ten Bereiche des menschlichen Genoms (das lungs-Hemmung biologische Vorgänge in Bakte-
heißt solche, die hohe Sequenzähnlichkeiten mit rienzellen steuern können.
den Genomen vieler anderer Lebewesen aufwei-

503
18 Regulation der Genexpression

16. NUTZEN SIE IHR WISSEN Der abgebildete Laternen-


fisch trägt ein Leuchtorgan unter seinem Auge,
mit dem er Licht erzeugen kann. Es dient dazu,
Jäger zu verwirren und Beute anzulocken, ebenso
wie zur Verständigung mit anderen Fischen. Ei-
nige Arten können dieses Organ von innen nach
außen drehen, so dass es zu blinken scheint. Das
Licht wird allerdings nicht vom Fisch selbst er-
zeugt, sondern von Bakterien, die in Symbiose in
diesem Organ leben. Im Austausch für das Licht
erhalten sie ihre Nahrung vom Fisch und können
in der Tat nicht außerhalb überleben. Die Bakte-
rien beginnen auch erst zu leuchten, wenn sie
durch wiederholte Teilungen eine bestimmte Zell-
dichte erreicht haben (siehe dazu das „Quorum“
in Konzept 11.1). Für die Leuchtfunktion werden
die von etwa sechs sogenannten lux-Genen co-
dierten Proteine benötigt. Da diese Gene koordi-
Teil 3 niert exprimiert werden müssen, schlagen Sie
eine Hypothese vor, wie die Gene angeordnet
sein könnten und wie ihre Expression gesteuert
werden könnte.

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

504
Viren

19.1 Ein Virus besteht aus einer von einer Proteinhülle 19


eingeschlossenen Nucleinsäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506

KONZEPTE
19.2 Viren vermehren sich nur in Wirtszellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
19.3 Viren, Viroide und Prionen als Pathogene von Tieren
und Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

 Abbildung 19.1: Sind diese winzigen (roten),


von einer Zelle knospenden Viren bereits Lebewesen?
19 Viren

Ein geborgtes Leben


In der Abbildung 19.1 ist etwas Bemerkenswertes zu heiten sowie zur Entwicklung entsprechender Thera-
sehen: Eine menschliche Immunzelle (auf der linken peutika bei. Die Virologie gibt uns darüber hinaus die
Seite) wird von Viren belagert und setzt viele neue Viren Werkzeuge zur gezielten Genmanipulation und -über-
frei, die dann wieder weitere Zellen infizieren. Das Bei- tragung in die Hand, die sowohl in der modernen
spiel zeigt Humane Immundefizi- Grundlagenforschung als auch
enz-Viren (HIV). (Der Befall einer in der Biotechnologie und in der
Immunzelle ist auch im Bild Medizin angewandt werden. So
rechts in der mikroskopischen werden Viren beispielsweise als
Aufnahme zu sehen.) Ein einzel- Vehikel (sogenannte Vektoren)
nes Virus kapert eine Zelle, indem zur Übertragung von Genen in
es seine Erbinformation in die der Gentherapie eingesetzt (siehe
Zelle injiziert. Daraufhin wird die Kapitel 20).
zelluläre Maschinerie so umpro- In diesem Kapitel beschäftigen
grammiert, dass sie viele neue wir uns mit der Biologie der Viren.
Viren produziert und damit die Wir beschreiben zunächst den
Ausbreitung der Infektion fördert. Aufbau dieser einfachsten geneti-
Teil 3 Unbehandelt führt HIV bekannt- schen Systeme und danach deren
lich zum „Erworbenen Immunde- Vermehrungszyklen. Es folgt eine
fizienz-Syndrom“ (AIDS, engl. acquired immunodefi- Besprechung der Rolle der Viren als Krankheitserreger
ciency syndrome), das letztlich auf die Zerstörung der (Pathogene) und am Ende des Kapitels werden wir kurz
befallenen Immunzellen zurückzuführen ist. auf noch einfachere Krankheitserreger, die Viroide und
Die am einfachsten aufgebauten Zellen, die wir bis- die Prionen, eingehen.
her kennengelernt haben, sind die der Prokaryonten.
Sie sind kleiner und weniger strukturiert als die Zellen
von Eukaryonten wie Pflanzen und Tieren. Viren sind
noch kleiner und einfacher gebaut. Sie besitzen weder Ein Virus besteht aus einer von
zelluläre Strukturen, noch verfügen sie über einen
eigenen Stoffwechsel. Viele sind letztlich nur in Pro- einer Proteinhülle einge-
teinhüllen verpackte Gene.
Ob Viren schon Lebewesen sind, ist eine Frage, die
Biologen seit jeher beschäftigt. Ursprünglich wurden
schlossenen Nucleinsäure
19.1
Viren als „biologische Chemikalien“ betrachtet (lat. Die Existenz von Viren war schon lange bekannt,
Virus = Gift; deutsch: das Virus in der Biologie, der bevor man sie überhaupt sichtbar machen konnte. Die
Virus bei Computerviren). Als gegen Ende des 19. Geschichte, wie man den Viren auf die Spur kam,
Jahrhunderts Bakterien als Überträger von Krankhei- beginnt Ende des 19. Jahrhunderts.
ten erkannt wurden, nahm man an, dass es sich mit
Viren ähnlich verhält und sie die einfachsten Lebens-
formen wären. Viren können sich jedoch außerhalb 19.1.1 Die Entdeckung der Viren:
von Wirtszellen nicht vermehren und sie können auch Ein wissenschaftlicher Exkurs
keine Stoffwechselleistungen vollbringen. Die meisten
Biologen zählen deshalb heute die Viren streng Tabakpflanzen (Nicotiana tabacum), die an der Tabak-
genommen nicht zu den Lebewesen, siedeln sie aber mosaikkrankheit leiden, zeigen ein verkümmertes
an der Grenze zwischen belebter Materie und unbeleb- Wachstum und ihre Blätter erscheinen fleckig (das
ten chemischen Verbindungen an. Vereinfacht aus- namensgebende „Mosaik“). Im Jahr 1883 entdeckte
gedrückt führen Viren also ein Schattendasein mit Adolf Meyer (ein deutscher Bakteriologe, der in den
einem „geborgten Leben“. Niederlanden arbeitete), dass er die Krankheit durch
Die Untersuchung von Viren, die Bakterien infizieren, das Verreiben eines Extraktes aus befallenen Blättern
hat ganz wesentlich zur Entwicklung der Molekular- auf andere Pflanzen übertragen konnte. Trotz zahlrei-
biologie beigetragen. So lieferten Experimente mit Viren cher erfolgloser Versuche konnte er keine infektiösen
wichtige Anhaltspunkte dafür, dass Nucleinsäuren die Bakterien in dem Extrakt nachweisen. Deshalb schloss
Träger der Gene sind. Außerdem wurden viele moleku- er, dass es sich bei dem Krankheitserreger um ein
lare Mechanismen bei der DNA-Replikation, der Tran- ungewöhnlich kleines Bakterium handeln müsse, das
skription und der Translation mithilfe von Viren unter- sich im Mikroskop nicht erkennen lässt. Ein Jahrzehnt
sucht und aufgeklärt. später nahm sich der russische Forscher Dimitri
Viren haben aber auch einzigartige genetische Ivanowsky (1864–1920) des Themas an. Er ließ den
Mechanismen entwickelt, um die jeweiligen Wirtszel- Saft infizierter Tabakpflanzen durch Filter mit Poren-
len für ihre eigene Vermehrung einzusetzen. Die Unter- größen laufen, die Bakterien zurückhalten würden
suchung dieser Vorgänge ist an sich schon spannend (Sterilfiltration). Danach war der Saft immer noch in
und trägt zur Aufklärung der Ursachen viraler Krank- der Lage, die Mosaikkrankheit hervorzurufen.

506
19.1 Ein Virus besteht aus einer von einer Proteinhülle eingeschlossenen Nucleinsäure

Doch auch Ivanowsky hielt weiterhin Bakterien für die


 Abbildung 19.2: Aus der Forschung Erreger der Tabakmosaikkrankheit. Die neuartigen Bak-
terien müssten so klein sein, dass sie selbst Sterilfilter
Was verursacht die Tabakmosaikkrankheit?
zu durchdringen vermochten. Als weitere Möglichkeit
Experiment Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erwog er die Bildung eines filtrierbaren Toxins, das die
untersuchte Martinus Beijerinck von der Techni- Krankheit verursachte. Dies wurde jedoch durch den
schen Hochschule in Delft (NL) die Eigenschaften niederländischen Botaniker Martinus Beijerinck (1851–
des Erregers der Mosaikkrankheit von Tabakpflan- 1931) mit einer Reihe klassischer Experimente wider-
zen (damals als „Fleckenkrankheit“ bezeichnet). legt. Er zeigte, dass sich die in dem gefilterten Pflanzen-
saft enthaltenen Krankheitserreger nach einer Neuinfek-
tion vermehren konnten (Abbildung 19.2).
Tatsächlich vermehrte sich das Pathogen nur in dem
befallenen Wirt, nicht aber außerhalb von diesem. In
seinen folgenden Untersuchungen fand Beijerinck,
dass die mysteriösen Erreger der Tabakmosaikkrank-
heit nicht auf Nährmedien außerhalb der Tabakpflanze
gezüchtet werden konnten. Dies widersprach dem
1 Gewinnung 2 Filtration des 3 Einreiben der Verhalten von bakteriellen Krankheitserregern, die
eines Extraktes Extraktes Blätter ge- damals bekannt waren. Er vermutete deshalb als Erre- Teil 3
aus Tabak- durch einen sunder Pflan-
pflanzen, die Porzellanfilter, zen mit dem
ger ein vermehrungsfähiges Teilchen, das viel kleiner
an der Mosaik- der Bakterien gefilterten und viel einfacher war als ein Bakterium. Damit ent-
krankheit zurückhält Extrakt wickelte Beijerinck als erster Wissenschaftler das Kon-
leiden
zept der Viren. Seine Vermutung wurde 1935 bestätigt,
als es Wendell Stanley (US-amerikanischer Chemiker,
1904–1971) gelang, den Erreger der Tabakmosaik-
krankheit – das Tabakmosaikvirus (TMV) – zu kristalli-
sieren. Schließlich konnte man mithilfe der Elektro-
nenmikroskopie das Tabakmosaikvirus und auch viele
andere Viren sichtbar machen.

4 Gesunde Pflanzen Der Aufbau von Viren


entwickeln die Die kleinsten bekannten Viren haben einen Durch-
Symptome einer
Infektion
messer von nur 20 nm – das ist kleiner als ein Ribosom.
Anders ausgedrückt würden Millionen von Viren auf
eine Nadelspitze passen. Selbst die größten bekannten
Ergebnis Wenn die Blätter gesunder Pflanzen
Viren mit wenigen hundert Nanometern Durchmesser
mit dem gefilterten Saft infizierter Pflanzen ein-
(wie beispielsweise die Pockenviren), sind im Licht-
gerieben wurden, entwickelte sich das Krank-
mikroskop kaum erkennbar. Stanley machte die überra-
heitsbild. Der extrahierte und gefilterte Pflanzen-
schende Entdeckung, dass manche Viren sogar Kristalle
saft enthielt also den Krankheitserreger. Jede
bilden können. Nicht einmal die allereinfachsten Zel-
Folgegruppe neuer Pflanzen entwickelte die
len können sich zu regelmäßigen Kristallen zusammen-
Krankheit genauso wie alle vorhergegangenen.
lagern. Wenn aber Viren keine Zellen sind, was sind sie
dann? Genauere Untersuchungen zeigten, dass es sich
Schlussfolgerung Der Krankheitserreger war offen-
bei Viren um von Proteinen umschlossene Nuclein-
bar kein Bakterium, weil er einen bakteriendichten
säuren handelt („Nucleocapsid“). Oft findet man auch
Filter durchlief. Das Pathogen musste sich in der
noch eine sie umgebende äußere Membranhülle.
Pflanze vermehrt haben, weil seine Fähigkeit, die
Krankheit hervorzurufen, auch nach mehreren
Virengenome
Übertragungen von Pflanze zu Pflanze ungebro-
Obwohl man bei Genen zunächst an DNA-Moleküle in
chen war.
Form der normalen Doppelhelix denkt, ist dies bei Viren
Quelle: M. Beijerinck, Über ein Contagium vivum fluidum als Ursache meist anders. Je nach der Art des Virus können ihre
der Fleckenkrankheit der Tabaksblätter. Verhandelingen der Koninkyke Genome aus doppelsträngiger DNA, einzelsträngiger
akademie Wettenschappen te Amsterdam 65:3–21 (1898). DNA, doppelsträngiger RNA oder einzelsträngiger RNA
bestehen. Die Art der Nucleinsäure wird zur Klassifi-
WAS WÄRE, WENN? Zu welchem Schluss wäre zierung nach dem sogenannten „Baltimore-Schema“ in
Beijerinck gekommen, wenn jede sukzessive DNA-Viren beziehungsweise RNA-Viren herangezogen.
Behandlung einer neuen Gruppe von Pflanzen zu In der Regel besteht ein Virengenom aus einem einzel-
schwächeren Symptomen geführt hätte, bis der nen, linearen oder zirkulären Nucleinsäuremolekül. In
immer wieder extrahierte Saft schließlich keine Ausnahmefällen, zum Beispiel bei Grippeviren (= Influ-
Krankheitssymptome mehr hervorgerufen hätte? enzaviren), setzt sich das Genom auch aus mehreren
getrennten Nucleinsäuremolekülen zusammen. Bei den

507
19 Viren

kleinsten heute bekannten Viren sind nur wenige Pro- Tieren befallen, bildet sich das Capsid aus 252 identi-
teine im Genom codiert, während die größten Virenge- schen Proteinmolekülen, die zu einem Ikosaeder – (also
nome mehrere hundert solcher Gene enthalten können. einem Körper aus 20 gleichschenkligen Dreiecken)
Bakterielle Genome enthalten dagegen um die 200 bis zusammengefügt sind. Man spricht daher auch von
hin zu einigen tausend proteincodierenden Genen. Viren mit einer kubischen Symmetrie oder Ikosaeder-
viren (Abbildung 19.3b).
Capside und Membranhüllen Proteine an der Virusoberfläche sind wesentlich an
Die Proteine, die das Virengenom umschließen, werden der Erkennung und Infektion der Wirtszelle beteiligt.
zusammen als Capsid bezeichnet. Je nach Virusart kann Dies gilt auch für solche mit Membranhüllen, wie
das Capsid stäbchenförmig, polyedrisch („kubisch“) beispielsweise Influenzaviren (Grippeviren) und
oder komplexer aufgebaut sein. Capside bilden sich aus zahlreiche andere Viren, die tierische Zellen befallen
der Zusammenlagerung eines einzigen oder sehr (Abbildung 19.3c). Diese auch als Virushüllen be-
weniger verschiedener Proteine. Die einzelnen Unter- zeichneten Membranen stammen aus den Wirtszellen
einheiten der Capsid-bildenden Proteine nennt man und enthalten entsprechend zelluläre Phospholipide
Capsomere. Das Tabakmosaikvirus besitzt ein starres, und Membranproteine. Darüber hinaus werden spezi-
stabförmiges Capsid, das aus über eintausend Molekü- elle virale Proteine und Glykoproteine eingelagert. Wei-
len eines einzigen Proteins zu einer Helix zusammen- terhin können viele Viren auch noch einige Enzym-
gelagert wird. Stäbchenförmige Viren werden deshalb moleküle in ihr Nucleocapsid einschließen, die sie
Teil 3 auch als helikale Viren bezeichnet (Abbildung 19.3a). nach der Neuinfektion einer Wirtszelle benötigen (bei-
Bei Adenoviren, die unter anderem die Atemwege von spielsweise die Reverse Transkriptase bei HIV).

RNA
Capsomer DNA RNA
Membranhülle Kopf DNA
Capsid
Capsomere Schwanz-
des Capsids hülle

Schwanz-
faser
Glyko- Glyko-
protein proteine
18 nm × 250 nm 70–90 nm Durchmesser 80–200 nm Durchmesser 18 nm × 225 nm

20 nm 50 nm 50 nm 50 nm

(a) Das Tabakmosaikvirus (b) Adenoviren besitzen ein (c) Influenzaviren (= Grippe- (d) Der Bakteriophage T4 und
besitzt ein helikales ikosaedrisches Capsid mit viren) haben eine Außen- andere geradzahlige
Capsid in Form eines einem aus Glykopro- hülle, die mit Glykopro- T-Phagen besitzen ein
starren Rohres. teinen gebildeten Fort- teinen („Spikes”) besetzt komplex aufgebautes
satz an jeder Ecke. ist. Das Genom besteht Capsid, das aus einem
aus acht verschiedenen ikosaedrischen Kopf
RNA-Molekülen, von besteht, der mit einem
denen jedes in ein Schwanzapparat
eigenes helikales Capsid verbunden ist.
verpackt ist.

Abbildung 19.3: Die Morphologie verschiedener Viren. Viren bestehen aus Nucleinsäuren (DNA oder RNA), die von Proteinen umschlossen wer-
den (Capsid). Das Capsid kann auch noch von einer Membran umhüllt sein. Die einzelnen Proteinuntereinheiten, die das Capsid bilden, heißen Capsomere.
Obwohl sie in Größe und Form sehr unterschiedlich sein können, lassen sich Viren aufgrund gemeinsamer Strukturmerkmale in wenige Gruppen untertei-
len. Die meisten gebildeten Strukturen sind in den hier gezeigten Beispielen wiedergegeben. (Die mikroskopischen Bilder sind durchweg transmissionselek-
tronenmikroskopische Aufnahmen, die nachträglich gefärbt wurden.)

508
19.2 Viren vermehren sich nur in Wirtszellen

Sehr komplex gebaute Capside finden sich oft bei erfüllen andere Zwecke für die Zelle (beispielsweise
Viren, die Bakterien befallen. Solche Viren werden als handelt es sich beim Rezeptor für den Bakteriophagen
Bakteriophagen oder kurz Phagen (griech. phagein, Lambda um ein Protein für den Maltosetransport).
„ich esse“) bezeichnet. Die ersten Vertreter solcher Einige Viren besitzen ein breites Wirtsspektrum. Das
Phagen wurden am Modellbakterium Escherichia coli West-Nil-Virus und das Enzephalomyelitis-Virus von
entdeckt und in der Reihenfolge ihrer Entdeckung mit Pferden sind Beispiele für deutlich unterschiedliche
T1 bis T7 (Typ 1 usw.) bezeichnet. Die drei geradzahli- Viren, die aber beide Stechmücken, Vögel, Pferde und
gen T-Phagen (T2, T4, T6) sind dabei sehr ähnlich auf- Menschen infizieren können. Andere Viren haben so
gebaut. Ihre Capside bestehen aus gestreckt-ikosaedri- eng gefasste Wirtsspektren, dass sie nur eine einzige Art
schen Köpfen, in denen die doppelsträngige DNA des befallen. Zum Beispiel findet man das Masernvirus nur
Virus enthalten ist. An den Kopf schließt sich ein stäb- beim Menschen. Außerdem sind Virusinfektionen bei
chenförmiger Proteinschwanz an, der sich mit den am vielzelligen Eukaryonten oft auf bestimmte Gewebe
unteren Ende befestigten Fasern an Bakterienzellen oder Organe beschränkt. Erkältungen beim Menschen
anheften kann (Abbildung 19.3d). Im folgenden werden durch Rhinoviren ausgelöst (die man nicht mit
Abschnitt werden wir die Mechanismen beschreiben, den gefährlicheren Grippe- oder Influenzaviren ver-
die diesen wenigen Viruskomponenten erlauben, die wechseln sollte) und befallen nur die Zellen der oberen
Wirtszelle zur Bildung einer großen Anzahl viraler Atemwege. Das bereits erwähnte AIDS-Virus (Humanes
Nachkommen zu veranlassen. Immundefizienz-Virus, HIV) bindet nur an Rezeptoren
auf Zellen unseres Immunsystems (hauptsächlich T- Teil 3
Lymphozyten), die durch ihre Wechselwirkung mit
 Wiederholungsfragen 19.1 anderen Zellen sowohl die humorale als auch die zellu-
läre Immunantwort steuern.
1. Vergleichen Sie den Aufbau des Tabakmosaik-
virus (TMV) mit dem von Influenzaviren (Ab-
bildung 19.3). 19.2.1 Grundlagen der Virenvermehrung
2. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Ein Beweis dafür,
Eine Virusinfektion beginnt grundsätzlich mit der
dass DNA der Träger der genetischen Informa-
Anheftung des Virus an die Wirtszelle und der anschlie-
tion ist, wurde mithilfe von Bakteriophagen er-
ßenden Einschleusung des Virusgenoms (Abbildung
bracht (siehe Abbildung 16.4). Beschreiben Sie
19.4). Der Mechanismus, mit dem das Virengenom in
kurz das Experiment von Hershey und Chase.
die Zelle gelangt, hängt sowohl vom Virustyp als auch
Erläutern Sie dabei, warum die Wissenschaft-
von der Art der Wirtszelle ab. Beispielsweise injizieren
ler für die Durchführung ihres Experiments die
geradzahlige T-Phagen ihre DNA in das Bakterium,
Phagen gewählt haben.
indem sie ihren komplexen molekularen Apparat im
Schwanzbereich des Phagenpartikels einsetzen (Abbil-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
dung 19.3d). Andere Viren werden durch Endocytose in
die Zelle aufgenommen. Bei Viren mit einer Membran-
hülle kann das Virusteilchen (das sogenannte Virion)
auch direkt mit der Plasmamembran der Zelle ver-
Viren vermehren sich nur schmelzen und so aufgenommen werden. Nach der Auf-
in Wirtszellen
19.2 nahme werden die viruscodierten Proteine gebildet und
die Wirtszelle dazu veranlasst, sowohl das Virusgenom
vielfach zu kopieren, als auch die für die Hülle not-
Viren besitzen weder Stoffwechselenzyme noch die wendigen Proteine herzustellen. Der Wirt liefert dazu
Maschinerie zur Proteinsynthese (zum Beispiel haben alle notwendigen Bestandteile wie die Nucleotide für
sie keine Ribosomen). Sie können sich nur innerhalb die viralen Nucleinsäuren, die Enzyme, die Ribosomen,
einer Wirtszelle vermehren und sind daher obligat intra- die tRNAs, die Aminosäuren und das ATP zur Bereit-
zelluläre Parasiten. Außerhalb des zellulären Umfelds stellung von Energie. Die meisten DNA-Viren bedienen
sind Viren also lediglich einige „verpackte Gene auf sich der wirtseigenen DNA-Polymerasen, um neue
dem Weg zur nächsten Wirtszelle“. Virusgenome zu erzeugen. Dabei dient die virale DNA
Ein bestimmtes Virus kann nur eine begrenzte Aus- als Matrize für die Replikation. Im Gegensatz dazu
wahl von Wirtszellen befallen. Diese Arten stellen das benutzen RNA-Viren für die Replikation ihrer Genome
Wirtsspektrum des betreffenden Virus dar. Die Wirts- RNA-Polymerasen, die sie bei der Infektion oft selbst
spezifität ergibt sich aus der Evolution von Erkennungs- mitbringen. Diese sind im Virusgenom codiert und wer-
systemen auf Seite der Viren. Die Wirtszellen werden den später von der Wirtszelle neu gebildet und in die
durch eine Art „Schlüssel/Schloss“-System erkannt: neuen Virionen verpackt. Natürlich dient auch hier die
Bestimmte Oberflächenproteine der Viren „passen“ auf Virus-RNA (oder von ihr gebildete komplementäre
die entsprechenden Oberflächenproteine der Wirts- RNA) als Matrize. Nicht-infizierte Zellen können die für
zelle, die als Rezeptoren bezeichnet werden. Natürlich die Replikation viraler RNA erforderlichen Enzyme
dienen diese Rezeptorproteine ursprünglich nicht als meist nicht bilden.
Anheftungsstellen für krank machende Viren, sondern

509
19 Viren

1 Ein Virus dringt in die Die hier beschriebenen Grundlagen der Virusvermeh-
Zelle ein und wird entpackt. rung wurden stark verallgemeinert und unterliegen im
Dabei werden die Virus-
DNA und die Capsid- VIRUS Einzelfall zahlreichen Abwandlungen. Wir werden
proteine freigesetzt. 3 In der Zwischenzeit
transkribieren Enzyme
uns nun mit einigen dieser Variationen bei der Infek-
der Wirtszelle das Virus- tion durch Bakteriophagen und beim Befall tierischer
Capsid genom in virale mRNAs, Zellen mit Viren näher befassen. Gegen Ende des
2 Enzyme der die die Wirtsribosomen
Wirtszelle replizieren DNA nutzen, um neue Capsid- Kapitels werden wir auch auf pflanzenspezifische
das Virusgenom. proteine herzustellen. Viren eingehen.

WIRTSZELLE 19.2.2 Die Phagenvermehrung


Virus-DNA Trotz ihres komplexen Aufbaus gehören Bakteriopha-
gen zu den am besten untersuchten Viren. Phagen-
genetiker gelangten zu der grundlegenden Erkenntnis,
mRNA
dass sich einige doppelsträngige DNA-Viren über zwei
alternative Mechanismen vermehren können: einen
Virus-DNA Capsid- lytischen oder einen lysogenen Zyklus.
Proteine
Teil 3
Der lytische Zyklus
Der lytische Vermehrungszyklus eines Phagen führt
letztlich zum Tod der infizierten Wirtszelle. Tatsächlich
ist dieser Zyklus nach einem späten Stadium der Infek-
tion benannt, in dem die Bakterienzelle lysiert (auf-
bricht und ausläuft) und die neugebildeten Phagen-
partikel freisetzt. Diese können dann weitere Zellen
befallen, so dass eine Folge lytischer Zyklen innerhalb
weniger Stunden eine gesamte Bakterienpopulation
4 Die viralen Genome vernichten kann. Ein sich ausschließlich durch solche
und die Capsidproteine lytischen Zyklen vermehrender Phage wird als virulen-
lagern sich selbstständig
zu neuen Virusteilchen
ter Phage bezeichnet. Abbildung 19.5 illustriert die
(Virionen) zusammen, Hauptschritte im lytischen Zyklus von T4 als einem
die die Zelle verlassen. typischen Vertreter der virulenten Phagen. Sehen Sie
Abbildung 19.4: Eine vereinfachte Darstellung der Virusver- sich die Abbildung genau an, bevor Sie weiterlesen.
mehrung. Ein Virus ist ein obligat intrazellulärer Parasit, der die zelluläre Nachdem Sie nun den lytischen Zyklus kennen,
Maschinerie und die Inhaltsstoffe einer Wirtszelle benutzt, um sich zu ver- fragen Sie sich vielleicht, warum die Phagen nicht
mehren. Hier ist die Vermehrung eines DNA-Virus mit einem aus identi- längst sämtliche Bakterien ausgerottet haben. Vereinzelt
schen Untereinheiten bestehenden Capsid gezeigt. wurde tatsächlich die Phagentherapie eingesetzt, um
Patienten zu behandeln. Auch das Versprühen von
ZEICHENÜBUNG Beschriften Sie jeden der schwarzen Pfeile mit einem Phagensuspensionen wurde bereits verwendet, um die
Wort/Begriff, der den entsprechenden Vorgang beschreibt. Bakterienbelastung bei Schlachtgeflügel während des
Transports zu reduzieren. Umgekehrt können Phagen in
Nach der Synthese der viralen Nucleinsäuren und der Biotechnologie bei der Produktion von Proteinen in
Capsomere (Proteinuntereinheiten der Virushülle) Bakterien ein Problem darstellen, wenn sie in den
lagern sich diese spontan zu neuen Virusteilchen Fermenter gelangen. Andererseits haben Bakterien aber
(Virionen) zusammen. Dies kann ohne weitere Hilfe auch Abwehrmechanismen gegen die Phagen entwi-
von Seiten der Wirtszelle erfolgen. So lassen sich die ckelt. So begünstigt die natürliche Selektion Bakterien-
RNA und die Capsomere des Tabakmosaikvirus (TMV) stämme mit Oberflächenstrukturen, die nicht länger von
voneinander trennen und dann unter geeigneten Phagen erkannt werden. Auch wird die Phagen-DNA
Bedingungen so mischen, dass neue, infektiöse Virio- nach ihrem Eindringen in die Bakterienzelle oft von
nen gebildet werden („self assembly“). Die virale Restriktionsendonucleasen (einer speziellen Gruppe
Vermehrung endet im einfachsten Fall mit der Frei- DNA-spaltender Enzyme, die verkürzt auch als Restrik-
setzung von Hunderten bis Tausenden neuer Viren aus tionsenzyme bezeichnet werden) abgebaut (siehe auch
einer infizierten Wirtszelle. Dabei wird die Wirtszelle Kapitel 20 zum Einsatz solcher Enzyme in der Gen-
vielfach stark beschädigt oder stirbt ganz. Solche Zell- klonierung). Tatsächlich bezieht sich der Name dieser
schädigungen oder Zellverluste führen zu den mit Enzyme darauf, die Fähigkeit für eine Phageninfektion
einem Virusbefall einhergehenden Krankheitssympto- zu beschränken (lat. restrictus, straff angezogen, einge-
men, oft auch in Wechselwirkung mit der gegen die schränkt). Verschiedene Bakterienarten bilden unter-
Viren gerichteten Immunabwehr des Körpers. Die neu schiedliche Restriktionsenzyme, die jeweils bestimmte
gebildeten Viren befallen weitere Zellen und auf diese Nucleotidfolgen in der DNA erkennen und spalten. Um
Weise kann sich die Infektion ausbreiten. ihr eigenes Genom vor dem Abbau zu schützen, bilden

510
19.2 Viren vermehren sich nur in Wirtszellen

1 Anlagerung. Der Phage T4 bindet


mithilfe seiner Schwanzfasern an
bestimmte Rezeptoren an der Ober-
fläche einer Escherichia coli-Zelle. 2 Eindringen der Phagen-
DNA und Abbau der Wirts-
5 Freisetzung. Der Phage regt die DNA. Die Schwanzhülle kon-
Produktion eines Enzyms an, das trahiert und injiziert so die
die Bakterienzellwand schädigt. Phagen-DNA in die Zelle. Das
Durch den Flüssigkeitseintritt leere Capsid bleibt außerhalb
schwillt die Zelle an und platzt. der Zelle zurück. Die wirts-
Dabei werden 100–200 neue eigene DNA wird durch
Phagenpartikel freigesetzt. Enzyme abgebaut.

Zusammenlagerung
(„Assemblierung“)
der Phagenkomponenten

Teil 3

DNA
4 Zusammenlagerung. Drei verschiedene Sätze 3 Synthese viraler Genome und
von Proteinen lagern sich selbstständig zu Phagen- Proteine. Die Phagen-DNA steuert
Schwanz- köpfen, Phagenschwänzen und Schwanzfasern die Herstellung sowohl von Phagen-
Kopf Schwanz fasern zusammen („Selbstassemblierung”). Das Phagen- proteinen als auch von Kopien des
genom wird während der Zusammenlagerung Phagengenoms mithilfe von Enzymen
der Kopfproteine im Inneren der Capside verstaut. der Wirtszelle. Dafür wird die zell-
eigene Maschinerie eingesetzt.

Abbildung 19.5: Der lytische Zyklus des virulenten Phagen T4. Der Phage T4 besitzt fast 300 für Proteine codierende Gene, die mithilfe der
Transkriptions- und Translationsmaschinerie der Wirtszelle gebildet werden. Eines der ersten („frühen“) Phagengene, das nach dem Eindringen der vira-
len DNA in die Wirtszelle translatiert wird, codiert für ein Enzym, das die DNA der Wirtszelle abbaut (eine DNase, Schritt 2 ). Die Phagen-DNA ist vor
dem enzymatischen Abbau geschützt, weil sie modifizierte Cytosinreste enthält, die von dem Enzym nicht erkannt werden. Der gesamte lytische Zyklus
– vom ersten Kontakt des Phagen mit der Zelloberfläche bis zur Lyse der Zelle – läuft bei 37 °C in nur 20–30 Minuten ab.

die Bakterien gleichzeitig artspezifische Enzyme, die mehrung befähigt sind, nennt man temperente Phagen
Basen in den Erkennungsstellen methylieren (Methyla- (lat. temperare, Maß halten; temperatus, mild, gemä-
sen). Die natürliche Selektion sorgt nun auch auf Seiten ßigt). Der zu dieser Gruppe gehörende temperente Phage
der Phagen dafür, dass sich ihre DNA so verändert Lambda (= Phage λ) ist in der Mikro- und Molekularbio-
(mutiert), dass sie von den Restriktionsenzymen nicht logie ein häufig verwendetes Modellsystem. Er ähnelt in
erkannt werden und damit gegen den Abbau resistent seinem Aufbau dem Phagen T4, besitzt in seinem
werden. Ebenso entwickeln sich Phagen, die an die ver- Schwanzbereich aber nur eine einzelne kurze Faser.
änderten Oberflächenstrukturen resistenter Bakterien- Die Infektion einer Escherichia coli-Zelle durch
stämme anheften können. Die Wechselbeziehungen einen λ-Phagen beginnt wie gewohnt mit der Bindung
zwischen Bakterien und Phagen unterliegen also in der des Phagen an die Oberfläche der Zelle (am bereits
Evolution einer ständigen Anpassung. genannten Maltosetransport-Protein) und der Injektion
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Phagen- seines linearen DNA-Genoms (Abbildung 19.6). In
befall nicht zur Ausrottung von Bakterien führt: Statt der Wirtszelle wird dieses zu einem ringförmigen
ihre Wirtszellen durch Lyse zu zerstören, können viele DNA-Molekül geschlossen. Danach entscheidet sich,
Phagen ihren Wirt befallen, ohne ihn zu zerstören. Auf ob der Phage λ in den lytischen oder den lysogenen
diesen als Lysogenie bezeichneten Zustand der Zyklus eintritt. Bei einem lytischen Zyklus sorgt die
Koexistenz werden wir im Folgenden näher eingehen. Expression der viralen Gene sehr schnell für die
Umstellung der Wirtszelle in eine Fabrik zur Pro-
Der lysogene Zyklus duktion von λ-Phagen. Wie für die lytischen Phagen
Im Gegensatz zum lytischen Zyklus, bei dem die Wirts- bereits besprochen, lysiert die Zelle bald darauf und
zelle letztlich stirbt, ermöglicht der lysogene Zyklus setzt die neu gebildeten Viren frei. Beim lysogenen
eine Replikation des Phagengenoms ohne die Zer- Zyklus wird jedoch das λ-Genom an einer bestimmten
störung des Wirts. Phagen, die zu beiden Arten der Ver- Stelle in das E. coli-Chromosom eingebaut. Die Integra-

511
19 Viren

Tochterzelle mit integrierter


Phagen-DNA Der Phage lagert sich an die Wirts- viraler DNA, auch Prophage
zelle an und injiziert seine DNA. genannt
Durch zahlreiche Zell-
teilungen bildet sich
Phage Die Phagen-DNA
schließt sich zu eine große, mit dem
einem Kreis. Prophagen infizierte
Schwanzfaser Bakterienpopulation.
bakterielles Gelegentlich verlässt ein
Chromosom Prophage das bakterielle
Genom und löst einen
lytischen Zyklus aus.

lytischer Zyklus lysogener Zyklus


Abhängig von Umweltfaktoren erfolgen Das Bakterium ver-
Die Zelle lysiert und setzt dabei mehrt sich normal
Phagen frei. Induktion des Eintritt in den und kopiert dabei die
lytischen Zyklus oder lysogenen Zyklus Prophage DNA des Prophagen,
der an alle Nachkom-
Teil 3 men weitergegeben
wird.

Neue Phagen-DNA und neue Phagen- Die Phagen-DNA integriert in das


Proteine werden synthetisiert und zu bakterielle Chromosom und wird
Phagen zusammengebaut. so zum Prophagen.

Abbildung 19.6: Der lytische und der lysogene Zyklus des temperenten Phagen λ. Nach dem Eindringen in die Bakterienzelle und der Ringbil-
dung des Genoms kann die λ-DNA unmittelbar transkribiert werden und mit der Bildung großer Mengen von Phagenpartikeln beginnen (lytischer Zyklus)
oder sich in das Bakterienchromosom integrieren (lysogener Zyklus). In den meisten Fällen folgt der Phage λ dem lytischen Zyklus, der dem in Abbildung
19.5 dargestellten sehr ähnlich ist. Im lysogenen Zyklus kann der Prophage dagegen für viele Generationen „still“ im Chromosom der Wirtszelle verbleiben.
Der Phage λ besitzt nur eine einzelne, kurze Schwanzfaser.

tion der Virus-DNA wird unter anderem durch virale Außer dem Gen, dessen Produkt die Transkription der
Proteine gesteuert, die beide zirkulären Moleküle (das Phagengene verhindert, können während der Lyso-
Bakterienchromosom und das Virusgenom) spalten genie bei anderen Phagen auch weitere virale Gene
(linearisieren) und dann kovalent miteinander ver- exprimiert werden. Dies kann sich sehr stark auf die
knüpfen. Die so in das Bakterienchromosom einge- Wirtszelle auswirken und hat im Einzelfall eine weit-
baute virale DNA wird als Prophage bezeichnet. In reichende medizinische Bedeutung. Als Beispiel sol-
diesem Zustand bildet der Prophage ein viruscodiertes len drei Bakterienarten dienen, die beim Menschen
Protein, das die Transkription der anderen Prophagen- Diphtherie (Corynebacterium diphteriae), Botulismus
gene verhindert. Das Phagengenom verhält sich sozu- (Clostridium botulinum) und Scharlach (Streptococ-
sagen „still“ im Bakterium und wird bei jeder Teilung cus pyogenes) hervorrufen. In den Genen ihrer Pro-
der E. coli-Zelle zusammen mit ihrer eigenen DNA phagen sind Toxine (Zellgifte) codiert, die von Wirts-
repliziert und an die Nachkommen weitergegeben. So bakterien erzeugt und in unseren Körper abgegeben
kann eine einzige infizierte Zelle rasch eine große werden. Auch ob ein E. coli-Stamm sich wie meistens
Population von Bakterien hervorbringen, deren Mit- als harmloser Darmbewohner verhält oder Lebensmit-
glieder alle das Virus als Prophagen enthalten. Die telvergiftungen hervorrufen kann (wie bei dem Stamm
Viren vermehren sich also in den Wirtszellen, auf die 0157:H7), scheint vom Auftreten eines Prophagen in
sie ja angewiesen sind, ohne diese abzutöten. diesem Stamm abzuhängen.
Der Begriff lysogen beinhaltet außerdem die Fähigkeit
der Prophagen sich wieder in aktive Phagen zu verwan-
deln und eine Lyse der Wirtszelle einzuleiten. Dazu 19.2.3 Vermehrungszyklen von Tierviren
muss das λ-Genom dazu veranlasst werden, die viralen
Gene wieder zu transkribieren, das Bakterienchromo- Jeder hat schon einmal unter einer Virusinfektion zu lei-
som zu verlassen und einen lytischen Zyklus einzulei- den gehabt – egal ob in Form einer einfachen Erkältung
ten. Ein solcher Vorgang wird durch Umwelteinflüsse – oder einer echten Grippe (Influenza). Wie alle Viren,
zum Beispiel durch bestimmte Chemikalien oder durch können sich auch die Krankheitserreger des Menschen
UV-Strahlung – ausgelöst und schaltet das Programm und anderer Tierarten nur innerhalb ihrer Wirtszellen
vom lysogenen auf den lytischen Zyklus um. vermehren. Unter den tierspezifischen Viren findet man
zahlreiche Abwandlungen des allgemeinen Schemas

512
19.2 Viren vermehren sich nur in Wirtszellen

Tabelle 19.1

Einteilung der tierspezifischen Viren nach Klassen.


Klasse/Familie Hülle Beispiel(e)/Krankheit(en)

I. Doppelsträngige DNA (dsDNA)


Adenoviren (siehe Abbildung 19.3b ) Nein Atemwegserkrankungen; Tumore
Papovaviren Nein Papillomaviren, SV40 (Warzen, Gebärmutterhalskrebs); Polyomavirus (Tumore)
Herpesviren Ja Herpes simplex I und III (Hitzebläschen, Genitalerkrankungen); Varicella zoster
(Gürtelrose, Windpocken); Epstein/Barr-Virus (infektiöse Mononucleose, Burkitt-
Lymphom)
Poxviren Ja Orthopoxvirus (echte Pocken; Kuhpocken)

II. Einzelsträngige DNA (ssDNA)


Parvoviren Nein B19-Parvovirus (leichter Ausschlag)
Teil 3
III. Doppelsträngige RNA (dsRNA)
Reoviren Nein Rotavirus (Durchfall)

IV. Einzelsträngige RNA („+“-ssRNA); dient als mRNA


Picornaviren Nein Rhinovirus (Schnupfen); Poliovirus, Hepatitis-A-Virus und andere Enteroviren
(Darmviren)
Coronaviren Ja schweres, akutes Atemwegssyndrom (SARS, MERS)
Flaviviren Ja Gelbfiebervirus; West-Nil-Virus; Hepatitis-C-Virus (HCV)
Togaviren Ja Rubellavirus (Röteln); Pferdeenzephalomyelitisvirus

V. Einzelsträngige RNA („–“-ssRNA); Matrize für die mRNA-Synthese


Filoviren Ja Ebolavirus (hämorrhagisches Fieber); Marburgvirus
Orthomyxoviren (Abbildung 19.3c Ja Influenzavirus (echte Grippe)
und Abbildung 19.9b )
Paramyxoviren Ja Masernvirus; Mumpsvirus
Rhabdoviren Ja Tollwutvirus

VI. Einzelsträngige RNA (ssRNA); Matrize für die DNA-Synthese


Retroviren (Abbildung 19.8 ) Ja HIV (AIDS-Virus); RNA-Tumorviren (Leukämie)

der viralen Infektion und Vermehrung. Dies beginnt mit wir uns auf die Rolle der Virushüllen und auf die
der Natur des viralen Genoms: Besteht es aus DNA oder Funktionsweise der RNA als genetischem Material bei
RNA? – Ist es doppelsträngig oder einzelsträngig? – Die vielen Tierviren beschränken.
Viren werden entsprechend auf der Grundlage ihres
Genoms klassifiziert („Baltimore-Klassifizierung“; siehe Virushüllen
Tabelle 19.1). Einzelsträngige RNA-Viren werden nach Tierspezifische Viren mit einer äußeren Hüllmembran
der genauen Funktion des RNA-Genoms in der Wirts- dringen mit deren Hilfe in die Wirtszelle ein. Aus der
zelle noch einmal in drei Klassen (IV, V, VI) unterteilt. Virushülle ragen Glykoproteine heraus, die an Rezepto-
Während nur wenige Bakteriophagen eine Mem- ren (das heißt spezifische Proteine an der Oberfläche
branhülle oder ein RNA-Genom besitzen, findet man infektionsempfindlicher Zellen) binden. In Abbildung
beides bei vielen Tierviren. Fast alle tierspezifischen 19.7 ist der Vermehrungszyklus eines Virus mit RNA-
Viren mit RNA-Genomen sind umhüllt, ebenso wie Genom und Hülle beispielhaft dargestellt. Die Glyko-
manche mit DNA-Genomen (Tabelle 19.1). An dieser proteine der Hülle werden von Ribosomen am rauen ER
Stelle können wir nicht alle Mechanismen der viralen der Wirtszelle synthetisiert und durch zelleigene
Infektion und Vermehrung erörtern. Vielmehr werden Enzyme im endoplasmatischen Reticulum (ER) und im

513
19 Viren

1 Glykoproteine auf der Oberfläche der Virushülle binden an spezifische Rezeptormoleküle


Capsid der Wirtszellen (hier nicht gezeigt) und vermitteln so den Viruseintritt in die Zelle.

RNA
2 Das Capsid und das Virus-
genom gelangen in die Zelle.
Hülle Der Abbau des Capsids durch
Wirtszelle zelluläre Enzyme setzt das
(mit Glykoproteinen)
Virusgenom frei.
virales Genom
(RNA) 3 Das Virusgenom (rot) dient
Matrize als Matrize für die Synthese
5 Komplementäre RNA- komplementärer RNA-
mRNA Stränge (rosa) durch ein
Stränge dienen auch als
Capsid- virales Enzym.
mRNAs, die im Cytosol
in Capsidproteine und ER proteine
in Glykoproteine für die Glyko- Kopie des
Genoms (RNA) 4 Neue Kopien der RNA des
Virusaußenhülle (über proteine Virusgenoms werden an-
ER und Golgi-Apparat) hand der als Matrizen ge-
translatiert werden. nutzten komplementären
RNA-Stränge hergestellt.
Teil 3
6 Vesikel transportieren die
Glykoproteine der späteren 8 Jedes neue Virus schnürt sich
Hülle zur Plasmamembran. von der Zelle ab. Seine mit
viralen Glykoproteinen be-
setzte Hülle wird von einer
7 Je ein Capsid bildet sich um die Membran gebildet, die von
genomischen RNA-Moleküle. der Wirtszelle stammt.

Abbildung 19.7: Der Vermehrungszyklus eines RNA-Virus mit Membranhülle. Die Einzelstrang-RNA eines Virus dient als Matrize für die Syn-
these von mRNA. Einige Vertreter dieser Viren gelangen durch direkte Fusion der Hülle mit der Plasmamembran in ihre Wirtszellen. Andere werden durch
die normale Endocytose in die Zelle aufgenommen. Die Oberflächen aller behüllten RNA-Viren leiten sich im Wesentlichen nach dem hier schematisch
dargestellten Mechanismus von Membranen der Wirtszellen ab.

? Kennen Sie ein Virus, mit dem Sie sich bereits einmal infiziert haben und das sich nach dem hier abgebildeten Zyklus vermehrt? (Hinweis: Sehen Sie
gegebenenfalls in Tabelle 19.1 nach.)

Golgi-Apparat mit kurzen Zuckerketten verknüpft. Die verbleiben. Dort verharren sie in einem latenten
sich ergebenden viralen Glykoproteine sind zunächst in Zustand, bis durch körperlichen oder emotionalen
vesikuläre Membranen der Wirtszelle eingebettet, in Stress eine neuerliche Runde der aktiven Virusproduk-
denen sie über den sekretorischen Weg zur Zellober- tion ausgelöst wird. Die Infektion anderer Zellen durch
fläche gelangen und durch einen der Exocytose ähn- diese neu entstandenen Viren ruft die für Herpes cha-
lichen Vorgang in die Plasmamembran eingesetzt wer- rakteristischen Bläschen hervor, die typischerweise im
den. Die neu gebildeten Viren aus genomischer RNA Bereich der Lippen und der Genitalien auftreten. Nach-
und Capsiden werden dann von der Plasmamembran dem eine Person sich einmal eine Herpesinfektion
umhüllt und abgeknospt. Die Hüllen solcher Viren lei- zugezogen hat, können die Symptome im Verlauf des
ten sich also von der Wirtszellmembran ab, enthalten Lebens immer wieder auftreten. Man schätzt, dass über
aber auch einige viruscodierte Proteine. Die umhüllten 90 Prozent der Bevölkerung mit Herpesviren infiziert
Viren werden freigesetzt und können weitere Zellen sind, die meisten leben erfreulicherweise allerdings
befallen. Dieser Vermehrungszyklus muss, im Gegensatz ohne dass die typischen Krankheitssymptome auftre-
zum lytischen Zyklus von Phagen, nicht unbedingt zur ten.
Abtötung der Wirtszelle führen.
Bei einigen Viren leiten sich die Hüllen nicht von der RNA als genetisches Material bei Viren
Plasmamembran ab. Beispielsweise nutzen Herpesviren Obwohl auch einige Phagen und die meisten Pflanzen-
übergangsweise Fragmente der Kernmembran als Hülle. viren zu den RNA-Viren gehören, findet man das brei-
Diese wird im weiteren Verlauf ins Cytoplasma abgege- teste Spektrum von RNA-Genomen unter den tier-
ben und durch vom Golgi-Apparat abgeleitete Membra- spezifischen Viren. Bei den Viren, deren Genom aus
nen ersetzt. Herpesviren besitzen ein doppelsträngiges codierender Einzelstrang-RNA besteht, kann dieses
DNA-Genom und vermehren sich im Zellkern. Dabei direkt nach einer Infektion als mRNA dienen und in
verwenden sie sowohl für die Replikation als auch für Proteine translatiert werden. Aufgrund dieser Eigen-
die Transkription des viralen Genoms eine Kombi- schaft werden die entsprechenden Tierviren der
nation aus viralen und zellulären Enzymen. Kopien der Klasse IV zugeordnet (siehe auch Tabelle 19.1), und
viralen DNA dieser Viren können als Minichromo- man spricht von sogenannten „+“-Strang-RNA-Viren.
somen in den Zellkernen bestimmter Nervenzelltypen Abbildung 19.7 zeigt dagegen ein Virus der Klasse V, bei

514
19.2 Viren vermehren sich nur in Wirtszellen

dem das RNA-Genom als Matrize für die Synthese von Viren auf ein spezielles Enzym (eine RNA-abhängige
mRNA dient und entsprechend wird ein solches Virus RNA-Polymerase) angewiesen. Dieses ist in der Regel in
als „–“-Strang-RNA-Virus bezeichnet. Das RNA-Genom der Wirtszelle nicht vorhanden und muss vom Virus
wird zunächst in einen komplementären RNA-Strang mitgebracht und in die Zelle eingeschleust werden. Das
übersetzt, der dann sowohl als mRNA für die Herstel- viruscodierte Enzym wird dann während der Ver-
lung von Proteinen, als auch als Matrize für die Erzeu- mehrung, ebenso wie die anderen viralen Proteine, neu
gung neuer genomischer RNA-Stränge dienen kann. Für gebildet und mit dem Genom in die neuen Capside ver-
die RNA-Synthese aus RNA (RNA→RNA) sind die packt.

Capsid 1 Die in die Hülle eingelagerten Glykoproteine befähigen das


RNA (zwei Virusteilchen, an die Rezeptorproteine auf der Oberfläche
identische Virushülle bestimmter weißer Blutzellen (Leukocyten) zu binden.
Stränge) Glykoprotein
2 Das Virus fusioniert mit der Plasmamembran
Reverse der Zelle. Die Capsidproteine werden entfernt;
Transkriptase dabei werden andere Virusproteine und die
HIV RNA freigesetzt.
Membran
einer weißen 3 Die Reverse Transkriptase katalysiert die
HIV Blutzelle Synthese eines DNA-Stranges (cDNA),
der komplementär zur Virus-RNA ist. Teil 3
4 Die Reverse Transkriptase
katalysiert die Synthese eines
zweiten DNA-Stranges, der
komplementär zum ersten ist.
Reverse
Transkriptase 5 Die doppel-
strängige DNA
virale RNA wird als Provirus
Wirtszelle in die DNA des
RNA/DNA- Wirtszellkerns
Hybridmolekül eingebaut.
6 Provirale Gene
0,25 µm werden in
DNA RNA-Moleküle
HIV dringt in transkribiert,
eine Zelle ein. die sowohl als
Zellkern
Genome für die
Provirus nächste Genera-
chromosomale tion von Viren
DNA dienen, als auch
als mRNAs für
die Translation
RNA-Genom viraler Proteine.
für die nächste
Virusgeneration mRNA
7 Die viralen Pro-
teine umfassen die
Capsidproteine
und die Reverse
Transkriptase (im
Cytosol herge-
stellt), sowie die
Glykoproteine
der Hülle (im ER
mit den Zucker-
resten versehen).
8 Vesikel transportieren die
9 Die Virusgenome und zwei Glykoproteine zur Plasma-
Neue HI-Virusteilchen Moleküle der Reversen membran der Zelle.
werden aus einer Zelle 10 Neu entstandene Viren verlassen Transkriptase werden von
freigesetzt. die Wirtszelle durch Knospung. Capsiden umschlossen.
Abbildung 19.8: Der Vermehrungszyklus von HIV, dem Retrovirus, das AIDS verursacht. Beachten Sie, wie in Schritt 5 die anhand des
RNA-Genoms synthetisierte DNA in das Wirtsgenom (die chromosomale DNA im Zellkern) integriert wird – ein für Retroviren typisches Verhalten. Die Bil-
der am linken Rand (nachträglich gefärbte transmissionselektronenmikroskopische Aufnahmen) zeigen HIV beim Eintritt und beim Verlassen eines weißen
Blutkörperchens (Leukocyt) des Menschen.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Beschreiben Sie, was über die Bindung von HIV an die Zellen des Immunsystems bekannt ist (Vergleichen Sie dazu
Abbildung 7.8.) Wie wurde dies entdeckt?

515
19 Viren

Den komplexesten Vermehrungsmodus zeigen die RNA- Weiterverbreitung von Zellen abhängig sind. Wahr-
Tierviren aus der Gruppe der Retroviren (Klasse VI). Sie scheinlich haben sie sich daher erst im Laufe der Evolu-
enthalten das Enzym Reverse Transkriptase, das eine tion entwickelt, nachdem die ersten Zellen entstanden
RNA-Matrize in DNA umschreibt und so den üblichen waren. Viren haben ihren Ursprung also wahrschein-
Informationsfluss in Richtung RNA→DNA umkehrt. lich nicht in einer primitiven Form präzellulären
Daraus leitet sich auch der Name Retroviren (lat. retro, Lebens, sondern entwickelten sich nachträglich (und
zurück, rückwärts) ab. Der bekannteste Vertreter dieser möglicherweise auch unabhängig) in verschiedenen
Gruppe ist sicher das bereits angesprochene HI-Virus Zellen. Die Molekularbiologen vertreten heute mehr-
(Humanes Immundefizienz-Virus), der Erreger der heitlich die Hypothese, dass sich Viren aus freige-
Immunschwächekrankheit AIDS (Acquired Immunode- setzten zellulären Nucleinsäuren entwickelten, die
ficiency Syndrome). HIV und andere Retroviren besit- zwischen Zellen übertragen wurden, beispielsweise
zen eine Membranhülle und ihr Genom besteht aus könnten sie nach Schädigungen der Zelloberflächen
zwei identischen, einzelsträngigen RNA-Molekülen. von Wirtszellen aufgenommen worden sein. Im Laufe
Außerdem sind auch noch zwei Moleküle der Reversen der Evolution tauchten dann für Capsidproteine codie-
Transkriptase (RT) und zwei Moleküle einer spezifi- rende Gene auf, die auch die Infektion unbeschädigter
schen tRNA in ihrem Capsid verpackt. Letztere dient als Zellen erlaubten. Zu den Kandidaten für einen mög-
Ansatzpunkt („Primer“) bei der RNA-abhängigen Syn- lichen Ursprung viraler Genome gehören auch die
these der DNA durch die Reverse Transkriptase. Plasmide und Transposons. Plasmide sind kleine, meist
Teil 3 Abbildung 19.8 zeigt den Vermehrungszyklus von ringförmige DNA-Moleküle (Minichromosomen), die
HIV. Nachdem das Virus in die Zelle eingedrungen ist, sich in Bakterien und einzelligen Eukaryonten finden
werden die Moleküle der Reversen Transkriptase ins (beispielsweise in Hefen). Sie liegen als eigenständige
Cytoplasma freigesetzt, wo mit ihrer Hilfe eine komple- Einheiten („extrachromosomal“) in der Zelle vor und
mentäre, virale, doppelsträngige DNA (= cDNA) gebil- können sich, genau wie die Viren, unabhängig vom rest-
det wird. Diese gelangt in den Zellkern und integriert lichen Genom replizieren. Außerdem können sie auch
zufällig (das heißt nicht an einem bestimmten Ort) in durch komplexe Mechanismen von Zelle zu Zelle über-
eines der Chromosomen. Analog zu den bereits bespro- tragen werden. Transposons dagegen sind integrierte
chenen temperenten Phagen wird die integrierte virale DNA-Elemente, die ihre Position innerhalb des Genoms
DNA als Provirus bezeichnet. Im Gegensatz zu den bis- einer Zelle verändern können (lat. trans, über ... hinaus
her besprochenen Prophagen verbleibt das Provirus + positus, Lage, Stellung). Plasmide, Transposons und
aber dauerhaft im Genom der infizierten Wirtszelle und Viren teilen daher ein wichtiges Merkmal: Es handelt
kann dieses im Verlauf eines lytischen Zyklus nicht sich bei ihnen um mobile genetische Elemente. Näheres
wieder verlassen. Die RNA-Polymerasen des Wirts tran- zu Plasmiden erfahren Sie in den Kapiteln 20 und 27,
skribieren die auf der proviralen DNA codierten Gene, die Transposons werden in Kapitel 21 besprochen.
und die so gebildete mRNA dient zur Synthese viraler Zur Vorstellung von zwischen Zellen hin- und her-
Proteine sowie als Genom für neue Virionen. Diese pendelnden DNA-Stücken passt auch, dass ein virales
werden in der Zelle zusammengefügt und schließlich Genom in der Regel mehr mit dem Genom seines
freigesetzt. In Kapitel 44 werden wir beschreiben, wie bestimmten Wirts gemeinsam hat, als mit den Geno-
HIV unser Immunsystem schwächt und die Immun- men vergleichbarer Viren, die andere Wirte befallen.
schwächekrankheit AIDS auslöst. Tatsächlich sind einige virale Gene mit bestimmten
Wirtsgenen identisch. Andererseits finden sich oft
große Ähnlichkeiten in den Genomsequenzen mancher
19.2.4 Die Evolution von Viren Viren mit denen scheinbar nur weitläufig verwandter
Viren, die ein völlig anderes Wirtsspektrum besitzen.
EVOLUTION Wir haben dieses Kapitel mit der Frage ein- So findet man Sequenzähnlichkeiten zwischen einigen
geleitet, ob Viren zu den Lebewesen zählen. Nach den Tier- und Pflanzenviren. Dies weist darauf hin, dass
bisher in diesem Buch gegebenen Definitionen ist dies sich einige virale Gene schon früh im Verlauf der Evo-
nicht der Fall. Ein isoliertes Virusteilchen (Virion) ist lution eukaryontischer Zellen entwickelt haben.
biologisch inaktiv und nicht in der Lage, seine Gene zu Die Diskussion über den Ursprung der Viren hat
replizieren oder ATP herzustellen. Dennoch verfügt es durch die Entdeckung der Mimiviren im Jahre 2003 –
über ein genetisches Programm, das in der universellen der größten bislang entdeckten Viren – neuen Auf-
Sprache des Lebens (genetischer Code) niedergelegt ist. schwung erhalten. Mimiviren sind DNA-Doppelstrang-
Viren könnten also entweder als die komplexesten viren mit einem ikosaedrischen Capsid von 400 nm
natürlichen Verbindungen oder als einfachste Lebens- (= 0,4 Mikrometer!) Durchmesser. Ihren Namen erhiel-
formen betrachtet werden. Sie stehen somit im Grenz- ten sie, weil sie so groß sind wie kleine Bakterienzellen
bereich zwischen belebter und unbelebter Materie. (Mikroben-Mimese). Das Mimivirusgenom umfasst
Woher kommen die Viren? – Viren finden sich in 1,2 Millionen Basenpaare mit schätzungsweise 1.000
allen Lebewesen: bei Bakterien, Tieren und Pflanzen für Proteine codierenden Genen (also rund 100 Mal so
ebenso wie bei Archaeen, Pilzen, Algen und anderen vielen wie im Grippevirus). Einige davon galten bisher
Protisten. Man geht davon aus, dass Viren keine als typische Merkmale zellulärer Genome. Dazu gehö-
Abkömmlinge irgendeiner präzellulären Form von ren Proteine, die an der Translation beteiligt sind, und
„Protoleben“ sind, weil sie für ihre Vermehrung und solche, die in der DNA-Reparatur, der Proteinfaltung

516
19.3 Viren, Viroide und Prionen als Pathogene von Tieren und Pflanzen

und der Polysaccharidsynthese eine Rolle spielen. Ob auch noch kleinere und einfacher aufgebaute Krank-
die Mimiviren sich bereits vor den primitiven Zellen heitserreger (Pathogene) bei Pflanzen und Tieren, die
entwickelt haben und später das parasitische Verhalten Viroide und die Prionen.
erwarben, oder ob sie sich erst später entwickelten und
einfach Gene von ihren Wirtszellen vereinnahmten, ist
noch nicht geklärt. Im Jahr 2013 wurde ein noch größe- 19.3.1 Viruserkrankungen von Tieren
res Virus entdeckt, das sich in keine Klasse bisher
bekannter Viren einsortieren lässt. Dieses Virus hat Eine Virusinfektion kann auf unterschiedliche Weisen
einen Durchmesser von 1 μm (1.000 nm) und ist mit verschiedene Symptome auslösen. So können Viren
einem doppelsträngigen DNA-Genom von etwa 2– hydrolytische Enzyme aus den Lysosomen freisetzen,
2,5 Mbp ausgestattet, das also größer ist als das Genom die die Zellen soweit schädigen, dass die Virusnach-
einiger sehr kleiner Eukaryonten. Zudem sind etwa kommen freigesetzt werden. Andere Viren können
90 Prozent seiner ungefähr 2.000 Gene nicht mit zellu- ihre Wirtszellen zur Bildung von Toxinen veranlassen,
lären Genen verwandt, wodurch der Name „Pandora- die dann entsprechende Krankheitssymptome hervor-
virus“ inspiriert wurde. Wie diese und alle anderen rufen. Schließlich können Komponenten der Viren
Viren in den Stammbaum des Lebens eingeordnet wer- selbst als Toxine wirken, wie dies zum Beispiel bei
den sollen, ist eine faszinierende, bisher ungelöste Frage. einigen Hüllproteinen der Fall ist. Wieviel Schaden
Die Wechselwirkungen zwischen Viren und den ein Virus anrichtet, hängt zumindest teilweise von der
Genomen ihrer Wirtszellen im Laufe der Evolution, Fähigkeit des infizierten Gewebes ab, sich durch Teil 3
die noch immer im Gange ist, macht sie zu sehr nütz- Zellteilung zu regenerieren: Wir erholen uns in aller
lichen experimentellen Werkzeugen in der Molekular- Regel vollständig von einem Schnupfen oder einem
biologie. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse haben Erkältungshusten, weil sich die von den Viren befalle-
auch viele praktische Konsequenzen und Anwendun- nen Epithelien der Atemwege erneuern. Bei den Polio-
gen, da Viren durch ihre krankheitserregende Wirkung viren und der von ihnen verursachten Kinderlähmung
(von Kulturpflanzen über Nutztiere bis zum Men- ist dies anders. Sie verursachen dauerhafte Schäden,
schen) unser tägliches Leben mitbestimmen. weil sich ihre spezifischen Wirtszellen, die Nerven-
zellen, im ausgereiften Zustand meist nicht mehr
teilen und daher nicht ersetzt werden können. Viele
 Wiederholungsfragen 19.2 der vorübergehenden Symptome viraler Infektionen
werden auch indirekt durch die körpereigenen
1. Vergleichen Sie die Wirkung eines lytischen Abwehrmechanismen verursacht. So sind etwa Fieber
(virulenten) mit der eines lysogenen (tempe- und auf bestimmte Organe begrenzte Schmerzen oft
renten) Phagen auf die Wirtszelle. eher auf die eigene Abwehrreaktion zurückzuführen
als auf die durch Viren abgetöteten Zellen.
2. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Das RNA-Virus in
Das Immunsystem ist ein lebenswichtiger und kom-
Abbildung 19.7 nutzt in Schritt 3 des Ver-
plexer Teil der natürlichen Körperabwehr (siehe hierzu
mehrungszyklus eine virale RNA-Polymerase.
Kapitel 44). Auf ihm beruht auch ein wesentliches
Vergleichen Sie diese mit der zellulären RNA-
Werkzeug der modernen Medizin zur Vorbeugung
Polymerase in Bezug auf die Matrize und die
gegen Virusinfektionen – die Impfung. Ein Impfstoff
allgemeine Funktion (vergleichen Sie dazu
(= Vakzin) ist in der Regel entweder ein abgetöteter
auch die Abbildung 17.9).
Krankheitserreger (Pathogen), ein harmloser Verwand-
3. Warum zählt HIV zu den Retroviren? ter desselben oder ein isolierter Bestandteil des Virus.
Keines dieser genannten Partikel kann sich noch ver-
4. WAS WÄRE, WENN? Was wäre, wenn? Welche mehren. Sie regen das Immunsystem dazu an, eine
molekularen Prozesse könnte man hemmen, aktive Abwehrreaktion gegen das gefährliche Pathogen
um eine HIV-Infektion zu bekämpfen? (Abbil- einzuleiten und in der Folge aufrechtzuerhalten. Bei-
dung 19.8). spielsweise verursachten die Pocken noch bis ins letzte
Jahrhundert weltweit verheerende Seuchen. Erst durch
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. ein umfangreiches weltweites Impfprogramm der Welt-
gesundheitsorganisation (WHO) gelten sie heute als
ausgerottet. Ein verändertes Kuhpocken-Virus (Vacci-
nia-Virus) diente hier als Impfstoff, da es beim Men-
Viren, Viroide und Prionen schen kaum Symptome auslöst, aber gegen einen Befall
durch die echten Pockenviren (= Variolaviren) schützt.
als Pathogene von Tieren Das sehr enge Wirtsspektrum der Pockenviren, die nur
und Pflanzen
19.3 Menschen infizieren, war hierbei entscheidend für den
Erfolg des Impfprogramms. Ähnliche weltweite Impf-
programme werden heute eingesetzt, um die Kinderläh-
Virale Infektionskrankheiten bedrohen weltweit Men- mung (Poliomyelitis) und die Masern zu bekämpfen.
schen, Nutztiere und landwirtschaftliche Nutzpflan- Wirksame Impfstoffe sind außerdem gegen Rötelnviren,
zen. Neben den bisher besprochenen Viren kennt man Mumpsviren, Hepatitis-B-Viren (HBV), die gefährliche

517
19 Viren

Tollwut (Rabiesvirus) sowie eine Reihe anderer viraler das sogenannte hämorrhagische Fieber (griech. haema,
Krankheiten verfügbar. Blut + ragenai, zerreißen, zerbrechen) verursachen, mit
Obwohl Impfstoffe einen wirkungsvollen Schutz vor einem extrem schnellen und oftmals tödlichen Verlauf.
einigen Erkrankungen bieten, muss die Medizin bei der Außerdem sind diese Viren hochgradig ansteckend. Zu
Heilung nach einer bereits erfolgten Virusinfektion oft den Symptomen dieser gefährlichen Viruserkrankun-
kapitulieren. Die Antibiotika (griech. anti, gegen + bios, gen gehören starkes Fieber, Erbrechen, Delirium, mas-
Leben), die zur Bekämpfung bakterieller Infektionen sive innere Blutungen und ein dadurch verursachter
eingesetzt werden, sind gegen Viren und Pilzerkrankun- Kreislaufkollaps. Eine Reihe anderer gefährlicher
gen wirkungslos. Antibiotika wirken in der Regel auf neuer Viren können Encephalitis (Gehirnentzündung)
spezifische Syntheseleistungen der Bakterien (zum Bei- hervorrufen. Ein Beispiel dafür ist das West-Nil-Virus
spiel Penicillin auf ein Enzym der Zellwandbiosynthese (ein Flavivirus), das 1999 erstmals in Nordamerika auf-
oder Tetracyclin auf die Proteinbiosynthese an bakteri- tauchte und sich bereits über den ganzen nordamerika-
ellen Ribosomen), die sie von Eukaryonten (oder der nischen Kontinent ausgebreitet hat. Im Jahr 2012 ver-
Proteinsynthese bei Viren) unterscheiden. Einige zeichnete man bereits 5.000 Fälle mit fast 300
wenige von Viren codierte Enzyme haben sich jedoch Todesfällen. Auch in Europa ist mit seiner Ausbreitung
als gute Angriffspunkte für die Entwicklung von Medi- zu rechnen. Es wird angenommen, dass die Tiger-
kamenten erwiesen. Die meisten antiviralen Wirkstoffe Stechmücke (Aedes albopictus), die sich im Zuge der
ähneln in ihrer chemischen Struktur Nucleosiden und Klimaerwärmung hier ausbreitet, ein Überträger des
Teil 3 stören deshalb auch die virale Nucleinsäuresynthese. Virus ist. Bisher trat das West-Nil-Virus 1996 in Rumä-
Ein solcher Wirkstoff ist das Acyclovir [9-(2-Hydroxy- nien, 1997 in Tschechien, und 2010 in Österreich und
ethoxymethyl)-guanin], ein Derivat des Guanins. Es in Griechenland auf (in letzterem Fall forderte es 33
verhindert die Vermehrung von Herpesviren, indem es Todesopfer unter 197 Erkrankten).
die virale DNA-Polymerase hemmt. In ähnlicher Weise Im Jahr 2009 gab es einen weitverbreiteten Aus-
greift Azidothymidin (Abkürzung AZT; chemisch: 3'- bruch, auch Epidemie genannt, einer grippe-ähnlichen
Azido-3'-desoxythymidin) in die HIV-Vermehrung ein, Erkrankung in Mexiko und den USA („Schweine-
weil es bevorzugt durch die Reverse Transkriptase wäh- grippe“). Als infektiöses Agens wurde sehr schnell ein
rend der DNA-Synthese eingebaut wird und dann die Grippevirus (Influenza-Virus) identifiziert, das eng mit
weitere Synthese verhindert („RT-Hemmer“; durch das der saisonal auftretenden Grippe verwandt ist (siehe
Fehlen der für die weitere Synthese notwendigen Abbildung 19.9a). Dieser spezielle Virenstamm
3'-OH-Gruppe). In den letzten drei Jahrzehnten wurden wurde mit H1N1 bezeichnet (die dem HN-System
sehr viele Anstrengungen unternommen, Wirkstoffe zugrunde liegende Nomenklatur werden wir weiter
gegen HIV (AIDS) zu entwickeln. Ein Problem stellt hinten näher erläutern). Die Krankheit breitete sich so
dabei die hohe Mutationsrate des viralen Genoms und schnell aus, dass die WHO eine globale Epidemie (eine
das damit verbundene schnelle Auftreten von Resisten- sogenannte Pandemie) ausrief. Ein halbes Jahr später
zen dar. Um dieses Risiko zu verringern, werden AIDS- hatte die Krankheit bereits 207 Länder erreicht, wobei
Patienten zurzeit mit Kombinationen von mehreren 600.000 Menschen infiziert wurden, von denen fast
Wirkstoffen mit verschiedenen Angriffspunkten behan- 8.000 starben. Sehr schnell wurden von den staatli-
delt, die gleichzeitig verabreicht werden. Zu einer der- chen Gesundheitsbehörden Schulen und andere
artigen Kombinationsbehandlung gehören gemeinhin öffentliche Einrichtungen geschlossen, um einer weite-
zwei Nucleosidanaloga und ein Hemmstoff einer HIV- ren Ausbreitung vorzubeugen. Zusätzlich wurden die
spezifischen Protease („Protease-Hemmer“). Sie verhin- Anstrengungen für Entwicklung und Screening von
dern letztlich die Reifung neuer, infektiöser Viren. Impfstoffen intensiviert (Abbildung 19.9b).
Wie können Viren, die vorher selten oder völlig
unbekannt waren, urplötzlich auftauchen und Krank-
19.3.2 Das Auftreten neuer Viren heiten verursachen? Dies hat hauptsächlich drei
Gründe: Als wichtigster Grund ist sicher die Mutation
Viren, die plötzlich auftauchen oder sich erstmals als bereits vorhandener Viren zu nennen. Besonders RNA-
medizinische Herausforderung darstellen, werden als Viren weisen eine ungewöhnlich hohe Mutationsrate
neu in Erscheinung tretende oder kurz als „neue auf, weil die zur Replikation ihrer Genome einge-
Viren“ bezeichnet. HIV – das AIDS-Virus – ist ein klas- setzten RNA-abhängigen RNA-Polymerasen keinen
sisch gewordenes Beispiel. Das Virus tauchte plötzlich, Korrekturlesemechanismus („proof reading“) besitzen.
scheinbar aus dem Nichts, in den frühen 1980er Jahren So können durch Mutationen neue Virusstämme ent-
in San Francisco (Kalifornien, USA) auf. Spätere stehen, deren Oberflächenstrukturen soweit verändert
epidemiologische Untersuchungen belegten seinen sind, dass sie vom Immunsystem nicht mehr erkannt
Ursprung im Gebiet der Republik Kongo in Äquatorial- werden. Diese sind dann in der Lage, ansonsten
Westafrika, wo es anhand medizinischer Unterlagen immune Personen neu zu infizieren. Als bekanntestes
bis in das Jahr 1959 zurückdatiert werden konnte. Das Beispiel gelten die beinahe alljährlich wiederkehren-
hochvirulente Ebolavirus (ein Filovirus) trat nachweis- den Grippe-Epidemien (epidemische Influenza). Sie
lich erstmals 1976 in Zentralafrika auf und verursachte werden von neuen Stämmen des Influenzavirus her-
in einer Epidemie im Jahre 2014 weltweites Aufsehen. vorgerufen, die sich genetisch so weit von früheren
Es ist eines von mehreren heute bekannten Viren, die Stämmen unterscheiden, dass die im Vorjahr erwor-

518
19.3 Viren, Viroide und Prionen als Pathogene von Tieren und Pflanzen

bene Immunität unterlaufen wird. In der Wissenschaft- 1918/Anfang 1919), die zwar unter diesem Namen
lichen Übung werden Sie ein Beispiel für diesen Pro- bekannt wurde, ihren Ursprung aber eigentlich in den
zess näher betrachten, bei dem Sie genetische Varianten USA hatte (was aus taktischen Erwägungen geheim
des 2009 aufgetretenen H1N1-Grippevirus kennenler- gehalten wurde). Sie entwickelte sich zu einer welt-
nen und diese mit seiner Ausbreitung in Verbindung umspannenden Pandemie (= globale Epidemie). Die
setzen werden. Seuche kostete nach verschiedenen Schätzungen zwi-
schen 25 und 40 Millionen Menschen das Leben und
forderte damit mehr Todesopfer als der seinem Ende
zugehende Erste Weltkrieg. Es wird angenommen, dass
der Erreger ursprünglich von Vögeln stammte.
Die verschiedenen Influenza-A-Stämme werden in
bestimmte Untergruppen unterteilt. Der Stamm, der die
Pandemien von 1918 und 2009 auslöste, trägt beispiels-
weise die Bezeichnung H1N1. Die Kürzel beziehen sich
auf zwei Oberflächenproteine des Virus, das Hämagglu-
tinin (H) und die Neuraminidase (N). Man kennt 16
verschiedene Typen des Hämagglutinins, das für die
Anheftung der Virionen an die Wirtszellen zuständig
1 μm
ist. Weiterhin sind bis heute neun verschiedene Neura- Teil 3
(a) Influenza A H1N1-Virus (b) Screening während der minidasetypen bekannt. Hierbei handelt es sich um ein
der Grippepandemie von Pandemie 2009. An einem süd- Enzym für die Freisetzung der Virennachkommen aus
2009. Diese nachträglich koreanischen Flughafen wird zur infizierten Zellen. Molekular-epidemiologische Unter-
eingefärbte transmissions- Erkennung von Fiebererkran-
elektronenmikroskopische kungen, wie sie bei der H1N1- suchungen ergaben, dass Wasservögel wie Enten, Gänse
Aufnahme zeigt die Viren Grippe auftreten, die Körper- und Schwäne Viren mit allen möglichen Kombinatio-
(blau) auf einer infizierten temperatur von Passagieren mit
Zelle (grün). Hilfe von Wärmebildkameras
nen (16 × 9 = 144) der H- und N-Antigene beherbergen.
gemessen. Eine sehr wahrscheinliche Ursache für das Auftreten
der Pandemie von 1918 und anderer Pandemien ist
die Mutation eines Virus, wenn es von einer Art auf
Abbildung 19.9: Influenza (echte Grippe) beim Menschen.
eine andere übertragen wird. Neben den vergleichs-
weise langsamen Veränderungen durch Mutationen
Eine zweite Möglichkeit für das Auftreten neuer Viren („genetic drift“) birgt insbesondere das Grippevirus
ist ihre Ausbreitung ausgehend von kleinen, isoliert hier eine weitere Gefahr: Durch die Verteilung seines
lebenden Populationen, in denen das Virus endemisch Genoms auf acht RNA-Moleküle können diese bei der
vorkommt. So war beispielsweise das HI-Virus der gleichzeitigen Infektion einer Wirtszelle in der Nach-
Medizin jahrzehntelang unbekannt, bevor es sich aus- kommenschaft neu kombiniert werden („genetic
zubreiten begann. Hier haben ökonomische, medizin- shift“). Die so veränderten neuen Viren sind ein ständi-
technische und soziale Faktoren (billige Fernreisen, ges Gefahrenpotenzial, das noch dadurch vergrößert
Bluttransfusionen, sexuelle Freizügigkeit und Drogen- wird, dass auch Nutztiere wie Vögel und Schweine als
konsum) zur weltweiten Ausbreitung beigetragen. Zwischenwirte dienen. So waren Schweine wahr-
Eine dritte Quelle für neue virale Erkrankungen ist scheinlich der Hauptwirt für die Rekombination der
die Verbreitung bereits existierender Viren durch Pandemie von 2009, bei der man Sequenzen aus Vogel-,
andere Tierarten (Zoonosen). Schätzungsweise drei Schweine- und menschlichen Grippeviren nachweisen
Viertel aller neuen Infektionskrankheiten des Men- konnte. Dadurch kann ein neuer Virusstamm auftreten,
schen haben hierin ihren Ursprung. Tiere, die ein der auch Menschen infiziert, die nie zuvor mit diesem
bestimmtes Virus übertragen, sind von der Infektion oft Stamm in Kontakt kamen und daher auch nicht
selbst nicht betroffen und zeigen keine Symptome. Man immun gegen den speziellen Erregertyp sind. Rekom-
spricht von dem „natürlichen Reservoir“ des Erregers. binante Viren können somit eine besonders hohe
So wurde das oben erwähnte H1N1-Virus, das die Grip- Pathogenität und/oder Virulenz aufweisen. Falls es zur
pepandemie im Jahr 2009 auslöste, sehr wahrschein- Rekombination mit dem Genom eines in der Bevölke-
lich vom Schwein auf den Menschen übertragen und rung weit verbreiteten Grippevirus kommt, erhöht sich
deshalb auch zunächst als „Schweinegrippe“ bezeich- die Gefahr der schnellen Ausbreitung von Mensch zu
net. Grippeepidemien (Influenzaepidemien) sind also Mensch.
ein gutes Beispiel für Viren, die Artgrenzen übersprin- Eine solche Gefährdung geht schon seit langem von
gen. In der Virologie kennt man drei Typen des Influen- dem H5N1-Virus aus, das sich unter wilden und
zavirus. Die Typen B und C, die ausschließlich den domestizierten Vögeln ausbreitet. Die erste dokumen-
Menschen befallen, haben noch nie zu einer bedeuten- tierte Übertragung von Vögeln auf Menschen ist im Jahr
den Epidemie geführt. Typ A kann den Menschen und 1997 belegt. Seitdem stieg die Mortalitätsrate von mit
eine Reihe von Tierarten infizieren (Vögel, Schweine, H5N1 infizierten Personen auf über 50 Prozent an –
Pferde) und hat allein in den letzten 100 Jahren drei eine alarmierende Zahl. Außerdem erweitert sich das
große Grippeepidemien verursacht. Die schlimmste Wirtsspektrum stetig, was wiederum die Wahrschein-
davon war die sogenannte „Spanische Grippe“ (Ende lichkeit für Rekombinationen zwischen verschiedenen

519
19 Viren

Stämmen erhöht. Wenn sich das Vogelgrippe-Virus der Wissenschaftler und staatliche Stellen, dass das
H5N1 so weiter entwickelt, dass es einfach von Mensch Wissen darüber, wie man möglicherweise einer sol-
zu Mensch übertragen werden kann, könnte es sich für chen Pandemie vorbeugen kann, das Risiko seiner
die globale Gesundheit zu einer ähnlichen Bedrohung missbräuchlichen Verwendung aufwiegt, und so wur-
ausweiten, wie das Virus der Pandemie von 1918. den 2012 die Ergebnisse veröffentlicht.
Wie wahrscheinlich ist eine solche Entwicklung? Wie wir gesehen haben, sind „neue“ Viren in der
An der menschlichen Grippe forschende Wissen- Regel nicht wirklich neu. Es handelt sich vielmehr um
schaftler haben an Frettchen, die als Tiermodelle für bereits vorhandene Viren, die mutiert sind, sich in
kleine Säugetiere gelten, gezeigt, dass schon einige einem bereits befallenen Wirt weiter ausgebreitet
wenige Mutationen im Genom des Vogelgrippe-Virus haben, oder einen neuen Wirt erobert haben. Verände-
zu einer Infektion von Zellen in der Nasenhöhle und rungen im Verhalten des Wirts oder der Umweltbedin-
der Luftröhre führen könnten. Nachdem man dann gungen können zu einer erhöhten Virusverbreitung
zunächst die Viren mithilfe von Tupfern von Frett- beitragen, die für neu auftretende Infektionskrankhei-
chen zu Frettchen übertrug, konnten die Viren nach ten verantwortlich ist. Zum Beispiel können sich
einiger Zeit auch durch die Luft übertragen werden. Viren besser zwischen zuvor isolierten menschlichen
Die Bekanntgabe dieser überraschenden Befunde auf Populationen ausbreiten, wenn neue Straßen durch
einer wissenschaftlichen Tagung im Jahre 2011 löste entlegene Gebiete angelegt werden. Zusätzlich kann
weltweite Diskussionen darüber aus, ob man solche die Zerstörung von Wäldern, um landwirtschaftliche
Teil 3 Ergebnisse (aus Angst vor einem Missbrauch in der Flächen zu erweitern, zum Kontakt mit Tieren führen,
Forschung an biologischen Kampfstoffen) veröffent- die möglicherweise für den Menschen infektiöse Viren
lichen sollte. Letztlich entschieden die Gemeinschaft übertragen.

 Wissenschaftliche Übung

Analyse der Evolution von Viren mithilfe eines


auf Sequenzdaten basierenden phylogenetischen
Stammbaums
Wie kann mithilfe von Sequenzdaten die Evolution
von Grippeviren während des Ausbruchs einer
Pandemie verfolgt werden? 2009 brach eine Pan-
demie des Influenza-A-Virus aus, die durch den Typ
H1N1 verursacht wurde. Seitdem gab es weltweit
immer wieder vereinzelte Ausbrüche von Infektio-
nen mit diesem Virus. Forscher in Taiwan wollten
aufklären, warum das Virus immer wieder auftrat,
obwohl es umfassende Impfungen gegeben hatte. Sie
stellten die Hypothese auf, dass neu entstandene
Varianten des H1N1-Virusstammes in der Lage seien, H1N1-Grippeimpfung
den Abwehrreaktionen des menschlichen Immun-
systems zu entgehen. Um diese Hypothese zu testen, Experimentelle Daten Die Abbildung auf der nächs-
mussten Sie feststellen, ob die verschiedenen Wellen ten Seite zeigt einen phylogenetischen Stammbaum;
des Grippeausbruchs jeweils von einer anderen Vari- jede Spitze eines Zweiges entspricht einem unter-
ante des H1N1-Stammes verursacht wurden. schiedlichen Stamm des H1N1-Virus mit einer ein-
zigartigen HA-Gensequenz. Der Stammbaum bietet
Durchführung des Experiments Die Forscher se- eine Möglichkeit zur graphischen Darstellung einer
quenzierten das Genom von 4.703 Virusisolaten, die Arbeitshypothese bezüglich der evolutionären Ver-
von Patienten mit der H1N1-Grippe in Taiwan wandtschaft zwischen verschiedenen H1N1-Varian-
stammten. Sie verglichen die Sequenzen der viralen ten.
Hämagglutinin-Gene der verschiedenen Stämme. An-
hand der aufgetretenen Sequenzunterschiede (Muta- Datenauswertung
tionen) erstellten sie dann einen phylogenetischen
Stammbaum der Isolate (siehe Abbildung 26.5 für 1. Der phylogenetische Stammbaum zeigt die
Informationen über die Auswertung phylogeneti- hypothetische evolutionäre Verwandtschaft zwi-
scher Stammbäume). schen den verschiedenen Stämmen des H1N1-
Virus. Je näher zwei Varianten miteinander ver-

520
19.3 Viren, Viroide und Prionen als Pathogene von Tieren und Pflanzen

bunden sind, desto ähnlicher sind A/California/07/2009 Group 1


A/Taiwan/1164/2010 Group 3
sie sich in Bezug auf die HA-Se- A/Taiwan/T1773/2009 Group 6
quenz. Jede Gabel eines Zweiges, A/Taiwan/T1338/2009
A/Taiwan/T0724/2009
die als Knoten bezeichnet wird, A/Taiwan/T1821/2009
zeigt, wo sich zwei Linien durch A/Taiwan/937/2009
A/Taiwan/T1339/2009 Group 7
das gehäufte Auftreten von Muta- A/Taiwan/940/2009
tionen voneinander getrennt ha- A/Taiwan/7418/2009
A/Taiwan/8575/2009
ben. Die Länge der einzelnen A/Taiwan/4909/2009
A/Taiwan/8542/2009
Zweige ist ein Maß für die An- A/Taiwan/1018/2011
Group 9
zahl der Sequenzunterschiede A/Taiwan/552/2011
A/Taiwan/2826/2009
zwischen den verschiedenen Va- A/Taiwan/T0826/2009
rianten und zeigt also den Grad A/Taiwan/1017/2009
A/Taiwan/7873/2009
der Verwandtschaft an. Welche A/Taiwan/11706/2009
Group 8
Varianten sind enger miteinander A/Taiwan/6078/2009
A/Taiwan/6341/2009
verwandt, wenn Sie den Stamm- A/Taiwan/6200/2009
A/Taiwan/5270/2010
baum betrachten: A/Taiwan/3994/2010
Group 8-1
A/Taiwan/2649/2011
Group 10
A/Taiwan/1102/2011
A/Taiwan1018/2011 und A/Taiwan/4501/2011
A/Taiwan552/2011 oder A/Taiwan/67/2011 Teil 3
A/Taiwan/1749/2011
A/Taiwan/4611/2011
A/Taiwan1018/2011 und A/Taiwan/5506/2011 Group 11
A/Taiwan8542/2009? A/Taiwan/1150/2011
A/Taiwan/2883/2011
A/Taiwan/842/2010
Begründen Sie Ihre Antwort. A/Taiwan/3697/2011

2. Die Wissenschaftler ordneten die Zweige in diese Impfung wirksam, wenn Sie die hier ab-
Gruppen mit jeweils einer Vorläufervariante gebildeten Messwerte zugrunde legen?
und all ihren mutierten Nachkommen. Diese
sind in der Abbildung durch verschiedene 800
1. Welle 2. Welle Zwischenwelle 3. Welle
Anzahl der Virus-Isolate

Farben markiert. Betrachten Sie zum Beispiel 700


Gruppe 11 und verfolgen Sie die Linien der Legende:
600 Gruppen 1, 3, 6
einzelnen Varianten. (a) Haben alle Knoten die 500 Gruppe 7
gleiche Anzahl an Verzweigungen oder Zweig- 400 Gruppe 8
spitzen? (b) Haben alle Verzweigungen der Gruppe 8–1
300 Gruppe 9
einzelnen Gruppen die gleiche Länge? (c) Was 200 Gruppe 10
zeigen diese Ergebnisse? 100
Gruppe 11

0
3. Das Diagramm rechts zeigt das Jahr und den M J J A S O N D J F MAM J J A S O N D J F MA
Monat, in dem die Isolate gesammelt wurden, 2009 2010 2011
auf der x-Achse und die Anzahl der Isolate (je- In der Grafik haben Wissenschaftler die Anzahl der Isolate nach
des aus einem erkrankten Patienten) auf der Monat und Jahr der Probennahme aufgetragen. Damit soll der Zeit-
y-Achse. Jede Gruppe von Varianten wurde mit raum verdeutlicht werden, in dem die entsprechende Virus-Variante
der gleichen Linienfarbe aufgetragen, die im aktiv Erkrankungen verursacht hat.
Stammbaum verwendet wurde. (a) Welche
Gruppe von Varianten ist zuerst aufgetreten
4. Die Gruppen 9, 10 und 11 wiesen alle die
und hat die erste Grippewelle mit über 100 Pa-
H1N1-Varianten auf, die für eine große Anzahl
tienten in Taiwan verursacht? (b) Zu einem frü-
an gleichzeitig auftretenden Infektionen in
hen Zeitpunkt zeigt eine Gruppe von Varianten
Taiwan verantwortlich waren. Ist deshalb die
eine Häufung (Spitze) der Zahl an Infektionen.
Hypothese der Forscher, dass neue Varianten
Haben Varianten aus dieser Gruppe zu einem
neue Infektionswellen verursachen, falsch?
späteren Zeitpunkt eine weitere Infektions-
Begründen Sie Ihre Antwort.
welle ausgelöst? (c) Eine Variante in Gruppe 1
(grün, oberster Zweig) wurde verwendet, um Daten aus: J.-R. Yang et al., New variants and age shift to high fata-
einen Impfstoff herzustellen, der sehr früh lity groups contribute to severe sucessive waves in the 2009 influenza
während der Pandemie verabreicht wurde. War pandemic in Taiwan, PLoS ONE 6(11): e28288 (2011).

521
19 Viren

19.3.3 Viruserkrankungen bei Pflanzen tung der Plasmodesmen bewirken. Die Mehrzahl der
pflanzlichen Viruskrankheiten kann bisher noch nicht
Bisher kennt man mehr als 2.000 Viren, die Pflanzen- behandelt werden. Eine Impfung ist bei Pflanzen in
krankheiten hervorrufen. Sie verursachen jährlich Ermangelung eines Immunsystems ebenfalls nicht mög-
Verluste von mehr als 10 Milliarden Euro in der Land- lich. Folglich konzentrieren sich die Bemühungen der
wirtschaft und bei Zierpflanzen. Virusinfektionen bei Forscher darauf, die Übertragungswege derartiger Krank-
Pflanzen lassen sich oft an Ausbleichungen oder heiten zu blockieren oder neue, resistente Nutzpflan-
braunen Flecken an Blättern oder Früchten (wie zensorten zu züchten.
beispielsweise auf dem unten gezeigten Kürbis), ver-
kümmertem Pflanzenwachstum und beschädigten
Blüten oder Wurzeln erkennen. 19.3.4 Viroide und Prionen: Die einfachsten
Pflanzenspezifische Viren gleichen in ihrem Aufbau Krankheitserreger
und der Art ihrer Vermehrung den tierischen Viren.
Die meisten bis heute entdeckten Pflanzenviren, ein- So winzig und einfach Viren auch sein mögen – sie
schließlich des schon erwähnten Tabakmosaikvirus werden von einer weiteren Gruppe pathogener Erreger
(TMV), besitzen ein RNA-Genom. Viele bilden heli- – den Viroiden – in den Schatten gestellt. Viroide sind
kale Capside, andere haben eine kubische Symmetrie zirkuläre RNA-Moleküle von nur wenigen hundert
(Abbildung 19.3). Nucleotiden Länge, die Pflanzen infizieren. Ihr Genom
Teil 3 Man unterscheidet zwei Hauptwege der Übertra- enthält keine für Proteine codierenden Sequenzen.
gung und Verbreitung von viralen Pflanzenkrankhei- Trotzdem können sie sich in der Pflanzenzelle replizie-
ten: Bei der horizontalen Weitergabe (Transmission) ren, wobei sie offensichtlich Wirtsenzyme heranziehen.
wird eine Pflanze von außen mit dem Virus infiziert. Diese kleinen RNA-Spezies scheinen Fehler in Regu-
Die äußere Zellschicht der Pflanze, ihre Epidermis, lationssystemen hervorzurufen, die für
bietet natürlicherweise einen mechanischen Schutz das Wachstum der Pflanze verant-
gegen das eindringende Virus. Daher werden in der wortlich sind. So sind die typischen
Regel Pflanzen an Stellen infiziert, wo diese Anzeichen einer Viroidinfektion eine
äußere Schicht mechanisch beschädigt wurde abnorme Entwicklung und verküm-
(zum Beispiel durch starken Wind, pflanzen- mertes Wachstum. Eine Viroidkrankheit
fressende Tiere usw.), wodurch Sie anfälliger namens Cadang-Cadang vernichtete auf den
für Virusinfektionen werden. Pflanzenfres- Philippinen mehr als zehn Millionen Kokos-
ser – insbesondere Insekten – stellen somit nusspalmen.
eine doppelte Bedrohung dar. Sie ernähren Ein wichtiges Ergebnis aus der Viroid-For-
sich beim Fressen nicht nur von der Subs- schung ist die Erkenntnis, dass einzelne
tanz der Pflanze, sondern können auch Moleküle Krankheiten auslösen und als
Infektionserreger wie Viren, Bakterien Erreger wirken können. Immerhin beste-
oder Pilze übertragen oder ihnen zumin- hen Viroide aus Nucleinsäuren, deren
dest das Eindringen in die Pflanze Fähigkeit zur Selbstreplikation eine
erleichtern. Dies gilt nicht nur für die Grundlage der Biologie darstellt. Noch
Pflanzenschädlinge, sondern auch für verblüffender als die Viroide sind
die Werkzeuge von Bauern und Gärt- daher die Belege dafür, dass es sogar
nern (zum Beispiel Pflüge, Astscheren infektiöse Proteine gibt. Sie werden
etc.). Der zweite Weg der Virenübertra- Prionen genannt und sind offensicht-
gung ist die vertikale Transmission, bei lich in der Lage, eine Reihe degenera-
der eine Pflanze den Erreger von der Eltern- tiver Erkrankungen des Zentralnerven-
pflanze erbt (kongenitale Virusinfektion). systems bei höheren Tieren hervorzurufen.
Eine vertikale Transmission kann durch unge- Zu den Prionenkrankheiten gehören Scrapie
schlechtliche Vermehrung (zum Beispiel Steck- bei Schafen, BSE (Bovine Spongiforme
linge) oder bei der geschlechtlichen Fortpflanzung Encephalopathie) bei Rindern und Hirschen sowie
über infizierte Samen erfolgen. die Creutzfeld/Jacob-Krankheit (CJD) des Menschen.
Nachdem ein Virus in eine Pflanzenzelle eingedrun- Letztere wird für etwa 150 Todesfälle in Großbritannien
gen ist und mit der Vermehrung begonnen hat, können verantwortlich gemacht. Es wird vermutet, dass dies
sich die Virusgenome und ihre assoziierten Proteine mit dem Verzehr des Fleisches von mit BSE (dem „Rin-
über die Plasmodesmen im Pflanzenkörper ausbreiten. derwahnsinn“) infizierten Rindern in Zusammenhang
Plasmodesmen sind Cytoplasmastränge, die die Zell- steht. Wie in diesem Fall werden Prionen wahrschein-
wände durchqueren, damit den direkten Kontakt zur lich mit der Nahrung aufgenommen und übertragen.
Nachbarzelle gewährleisten und so die Zellen eines Kuru, eine andere durch Prionen verursachte Krankheit
vielzelligen Pflanzenkörpers untereinander „kurzschlie- des Menschen, wurde bereits um das Jahr 1900 bei
ßen“. Viren verbreiten sich innerhalb der Pflanze also bestimmten Eingeborenen in Papua-Neuguinea ent-
durch symplastischen Transport. Der Transport viraler deckt und beschrieben. Eine Kuru-Epidemie erreichte
Makromoleküle durch die Plasmodesmen wird von in den 1960er Jahren ihren Höhepunkt und gab den
viruscodierten Proteinen erleichtert, die eine Aufwei- damit befassten Wissenschaftlern Rätsel auf. Zuerst

522
19.3 Viren, Viroide und Prionen als Pathogene von Tieren und Pflanzen

Abbildung 19.10: Modell zur Funk-


Prion ursprüng- tionsweise der Prionen. Prionen sind
liches Prion fehlgefaltete Versionen normaler Pro-
teine des Gehirns. Der Kontakt eines
Prions mit Molekülen des gleichen, aber
Aggregate normal gefalteten Proteins, bewirkt
aus Prionen
dessen Konformationsänderung in die
neues Prion-Form. Dies löst eine Kettenreaktion
normales Prion
aus, bis eine übermäßige Aggregation
Protein die normalen Zellfunktionen hemmt.
Letztlich führt dies zur Degeneration von
Neuronen im Gehirn.

dachte man, dass die Krankheit eine genetische Ursa- dann zu Komplexen zusammen, die in einer Art Kata-
che hätte. Anthropologische Forschungen deckten lyse die Umfaltung weiterer Proteine bewirken, die
schließlich ihren bizarren Verbreitungsweg auf: ritu- sich wieder zu Molekülverbänden zusammenlagern
eller Kannibalismus, der bei den Ureinwohnern Papua- (Abbildung 19.10). Diese Aggregate stören normale
Neuguineas verbreitet war. zelluläre Funktionen und rufen die Symptome der
Zwei Eigenschaften der Prionen sind besonders Krankheit hervor. Als Stanley Prusiner dieses Modell
alarmierend: Erstens entfaltet sich ihre pathogene Wir- in den frühen 1980er Jahren vorstellte, stand man ihm Teil 3
kung nur sehr langsam. Durch die lange Inkubations- zunächst sehr skeptisch gegenüber. Heute ist es jedoch
zeit (oft mehr als zehn Jahre) lässt sich beim ersten weitgehend akzeptiert und Prusiner erhielt 1997 den
Auftreten der Symptome die Infektionsquelle nur Nobelpreis für seine Pionierarbeiten über Prionen. Erst
schwer bestimmen und ausschalten. Bis die ersten kürzlich hat er postuliert, dass Prionen auch an neuro-
Fälle auftreten, besteht die Gelegenheit für viele wei- degenerativen Erkrankungen wie der Alzheimerschen
tere Infektionen. Außerdem sind Prionen für biologi- und der Parkinsonschen Krankheit beteiligt sind. Vie-
sche Verhältnisse sehr widerstandsfähig. Sie werden les in Bezug auf diese kleinen infektiösen Proteine
bei der normalen Zubereitungstemperatur von Nah- bedarf allerdings noch der Klärung.
rungsmitteln nicht inaktiviert und überstehen auch
Braten, Backen oder Kochen. Bis heute kennt man
yp

keine Heilmethode für durch Prionen verursachte  Wiederholungsfragen 19.3


Krankheiten. Die einzige Aussicht auf die Entwicklung
wirksamer Behandlungsmethoden besteht in einem 1. Beschreiben Sie zwei Wege, auf denen bereits
verbesserten Verständnis des Infektionsprozesses und vorhandene Viren zu „neuen Viren“ werden
der Pathogenese dieser ungewöhnlichen Krankheiten. können.
Wie kann ein Protein, das sich nicht selbst replizie- 2. Vergleichen Sie die horizontale mit der verti-
ren kann, ein übertragbares Pathogen sein? Nach der kalen Transmission von Pflanzenviren.
gängigen Hypothese ist ein Prion die stabile, aber
falsch gefaltete Form eines normalen Proteins (das in 3. WAS WÄRE, WENN? TMV kann aus fast allen
gesunden Hirnzellen in seiner nicht pathologisch ver- kommerziell erhältlichen Tabakprodukten iso-
änderten, normalen Konformation vorliegt). Wenn ein liert werden. Warum stellt eine TMV-Infek-
Prion in eine Zelle mit der normalen Form des tion kein zusätzliches Risiko für Raucher dar?
Proteins gelangt, bewirkt es in diesen Proteinen eine
Konformationsänderung in die pathologisch fehlgefal- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
tete Form. Zahlreiche Prionenmoleküle lagern sich

523
19 Viren

Z USA MM E NF AS S UNG KAP IT E L 1 9 

Konzept 19.1 ein, um ihr RNA-Genom in eine DNA umzuschrei-


Ein Virus besteht aus einer von einer Proteinhülle ben, die dann als Provirus in das Genom des Wirts
eingeschlossenen Nucleinsäure integriert werden kann.
 Da sich Viren nur innerhalb von Zellen vermehren
 Viren wurden erstmals gegen Ende des 19. Jahrhun- können, haben sie sich wahrscheinlich erst nach
derts entdeckt, als die durch das Tabakmosaikvirus deren Entstehung entwickelt. Der Ursprung der
verursachte Pflanzenkrankheit erforscht wurde. Viren in der Evolution wird unter den Fachleuten
 Ein Virus ist ein kleines Nucleinsäuregenom, das in noch immer diskutiert.
ein Protein-Capsid eingeschlossen ist. Oft findet
sich noch eine äußere Membranhülle mit eingelager- ? Beschreiben Sie Enzyme, die Sie normalerweise nicht in Zellen finden,
ten viralen Proteinen, die der Erkennung und Infek- die aber essenziell für die Replikation bestimmter Typen von Viren sind.
tion der Wirtszelle dienen. Das Genom kann eine
einzel- oder doppelsträngige DNA oder RNA sein.
Konzept 19.3
? Werden Viren generell als lebendig oder nicht lebendig angesehen? Viren, Viroide und Prionen als Pathogene von Tieren
Begründen Sie Ihre Antwort.
Teil 3 und Pflanzen

Konzept 19.2  Symptome einer Virusinfektion können durch virale


Viren vermehren sich nur in Wirtszellen Schädigung der Körperzellen oder durch die Immun-
abwehr des Wirts ausgelöst werden. Impfstoffe (Vak-
 Viren benutzen Enzyme, Ribosomen und andere zine) stimulieren das Immunsystem und verteidigen
Inhaltsstoffe der Wirtszelle, um neue Viruspartikel den Wirt gezielt gegen bestimmte Viren, mit denen er
von der Zelle synthetisieren zu lassen. Jeder Virus- in Kontakt gekommen ist.
typ weist ein für ihn typisches Wirtsspektrum auf.  Eine Epidemie, ein weitverbreiteter Ausbruch einer
 Phagen (Bakterienviren) können sich über den lyti- Krankheit, kann zu einer Pandemie, einem welt-
schen oder den lysogenen Zyklus vermehren – zwei weiten Ausbruch der Krankheit werden.
Wege, die sich durch die Art der Replikation und  „Neue“ Viruskrankheiten des Menschen werden in
die Möglichkeit der Vermehrung ohne Zerstörung der Regel durch bereits vorher existierende Viren
der Wirtszelle unterscheiden. verursacht, die ihr Wirtsspektrum und/oder ihre
geografische Verbreitung ausdehnen. Der H1N1-Aus-
Der Phage lagert sich
an die Wirtszelle an
bruch des Grippevirus von 2009 war eine Neukom-
und injiziert seine DNA. bination von Genen aus Schweine-, Menschen- und
Phagen-DNA Vogelgrippe-Viren, der zur Pandemie wurde.
Prophage  Viren dringen durch Beschädigungen der Epider-
Bakterien-
chromosom
mis in Pflanzen ein (horizontale Transmission) oder
werden von Elternpflanzen vererbt (vertikale Trans-
mission).
Lytischer Zyklus Lysogener Zyklus  Viroide sind nackte RNA-Moleküle, die Pflanzen
• Virulenter oder temperenter Phage • Nur temperente Phagen
• Zerstörung der Wirts-DNA • Genom integriert sich als Prophage, infizieren und deren Wachstum stören. Prionen
• Produktion neuer Phagenpartikel in das bakterielle Wirtsgenom und sind falsch gefaltete, sehr stabile, infektiöse Pro-
• Lyse der Wirtszelle führt zur Freisetzung wird (1) im Rahmen der normalen
der neuen Phagenpartikel. Replikation kopiert und an die teine, die bei Säugetieren chronische Erkrankungen
Tochterzellen weitergegeben und
kann (2) durch äußere Einflüsse
des Gehirns verursachen.
veranlasst werden, das Chromosom
zu verlassen und den lytischen
Vermehrungszyklus einzuleiten. ? Durch welche Eigenschaft eines RNA-Virus erhöht sich die Wahr-
scheinlichkeit gegenüber einem DNA-Virus, dass ein hochansteckender
 Viele Tierviren besitzen eine Membranhülle. Retrovi- Stamm entsteht?
ren wie HIV setzen das Enzym Reverse Transkriptase

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜBU NG S A UF G ABE N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis a. Metabolismus (Stoffwechsel)


b. Ribosomen
1. Welche der folgenden Merkmale, Strukturen oder c. genetisches Material in Form von Nucleinsäuren
Prozesse kommt sowohl bei Bakterien wie auch d. Zellteilung
bei Viren vor?

524
Übungsaufgaben

2. „Neue Viren“ entstehen durch 8. Wissenschaftliche Fragestellung Wenn Bakterien


a. Mutation existierender Viren ein Tier infizieren, steigt die Bakterienzahl zu-
b. Verbreitung existierender Viren unter neuen nächst exponentiell an, wenn eine Immunabwehr
Wirtsarten ausbleibt und die Wachsstumsressourcen begrenzt
c. stärkere Verbreitung existierender Viren in der sind (Bild A). Nach der Infektion mit einem viru-
bisherigen Wirtsart lenten Tiervirus und einem lytischen Vermeh-
d. alle vorgenannten Mechanismen rungszyklus treten die Symptome einer Infektion
erst verzögert auf. Dann schnellt die Zahl der Viren
3. Um eine weltweite Pandemie unter Menschen plötzlich hoch und nimmt in der Folge schritt-
auszulösen, muss das H5N1-Vogelgrippe-Virus weise zu (Bild B). Versuchen Sie, den Unterschied
a. sich auf Primaten wie Schimpansen ausbreiten zwischen den beiden Kurven zu erklären.
b. sich zu einem Virus mit neuem Wirtsspektrum
entwickeln
c. die Fähigkeit der Übertragung von Mensch zu A B

Anzahl der Bakterien

Anzahl der Viren


Mensch erwerben
d. viel pathogener werden

Ebene 2: Anwendung und Auswertung Teil 3


Zeit Zeit
4. Ein Bakterium wird mit einem experimentell
erzeugten Bakteriophagen infiziert, der aus der Pro- 9. Skizzieren Sie ein Thema: Organisation Obwohl
teinhülle von T2 und der DNA von T4 besteht. Die Viren von den meisten Wissenschaftlern als nicht
in der Zelle neu gebildeten Phagen enthalten lebendig angesehen werden, zeigen sie doch einige
a. T2-Protein und T4-DNA Merkmale von Leben, einschließlich des Zusam-
b. T2-Protein und T2-DNA menhangs zwischen Morphologie und Funktion.
c. T4-Protein und T4-DNA Diskutieren Sie in einem kurzen Aufsatz (in 150–
d. T4-Protein und T2-DNA 200 Worten), wie die Funktion eines Virus mit sei-
ner Struktur korreliert.
5. RNA-Viren sind auf eigene Enzyme angewiesen,
weil 10. NUTZEN SIE IHR WISSEN Oseltamivir (Tamiflu) – ein
a. die Wirtszellen die Viren rasch zerstören wirksames antivirales Medikament bei Grippe-
b. den Wirtszellen die Enzyme für die Replikation erkrankungen – hemmt das Enzym Neuramini-
des Virusgenoms fehlen dase. Erklären Sie, wie dieses Medikament bei
c. diese Enzyme virale mRNA in Proteine über- einer Person, die sich mit Grippeviren infiziert
setzen hat, die Ansteckung verhindern könnte, oder wie
d. diese Enzyme die Membran der Wirtszelle der Krankheitsverlauf einer bereits erkrankten
durchdringen Person verkürzt werden könnte (dies sind genau
die beiden Indikationen, bei denen das Medika-
6. ZEICHENÜBUNG Zeichnen Sie eine neue Fassung ment verschrieben wird).
von Abbildung 19.7, um den Vermehrungszyklus
eines Virus mit einem Einzelstranggenom der
Klasse IV (Funktion als mRNA) darzustellen.

Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten

7. Verbindung zur Evolution Der Erfolg mancher


Viren beruht auf ihrer Fähigkeit, sich schnell in
den Wirtszellen zu verändern. Ein derartiges
Virus entgeht häufig der Immunabwehr des Wirts
durch fortwährende Mutation und die dabei ent-
stehenden Veränderungen, gegen die das Immun-
system erst eine neue spezifische Abwehr (Immu-
nität) ausbilden muss. Die im späten Verlauf einer
längeren Infektionszeit auftauchenden Viren un-
terscheiden sich von denen, die ursprünglich den Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
Befall verursachten. Erörtern Sie dies als Beispiel weitere Übungen und vertiefende Materia-
von Evolution in einem Mikrokosmos. Welche lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
Viruslinien werden sich durchsetzen? für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

525
Gentechnik in der Biotechnologie

20.1 DNA-Sequenzierung und Klonierung sind wichtige 20


Werkzeuge der Gentechnik und der biologischen Forschung . . . 528
20.2 Die Verwendung der Gentechnik zur Untersuchung der

KONZEPTE
Expression und Funktion von Genen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538
20.3 Die Klonierung von Organismen zur Bereitstellung von
Stammzellen für die Forschung und andere Anwendungen. . . . . 545
20.4 Die Gentechnik beeinflusst unser Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

 Abbildung 20.1: Wie erklärt das hier gezeigte Modell den


rasanten technischen Fortschritt in der DNA-Sequenzierung?
20 Gentechnik in der Biotechnologie

Methoden zur Analyse und Manipulation von DNA


In den letzten fünf bis zehn Jahren wurden erstaunliche Stunden für nur 800 Euro bestimmt werden könnte und
Fortschritte in der Biologie erzielt. Dazu gehörten die zwar in einem Gerät von der Größe eines USB-Sticks
Entschlüsselung der DNA-Sequenzen ganzer Genome (bisher – Stand 2015 – reicht die Leistung allerdings
ausgestorbener Arten, wie beispielsweise die des Mam- eher nur für ein bakterielles Genom).
muts (siehe kleines Bild unten), des Neandertalers und In diesem Kapitel werden wir zunächst auf die grund-
eines 700.000 Jahre alten Pferdes. Inspiriert wurden legenden Methoden zur Sequenzierung und Manipula-
diese Fortschritte durch die Sequenzierung des mensch- tion von DNA (Gentechnologie) eingehen und beschrei-
lichen Genoms mit 3,2 Milliarden Basenpaaren, die ben, wie man diese Methoden zur Untersuchung der
2003 im Wesentlichen abgeschlossen war. Das Human- Genexpression nutzen kann. Danach werden wir die
genom-Projekt war ein Wendepunkt in der Biologie, Fortschritte in der Klonierung von Organismen und in
nicht zuletzt wegen der bemerkenswerten technischen der Produktion von Stammzellen darstellen. All diese
Fortschritte, die es für die DNA-Sequenzierung insge- Methoden haben unser Verständnis der Biologie ver-
samt brachte. bessert und geben uns damit die Möglichkeit, sie zur
Die Sequenzierung des ersten menschlichen Genoms Lösung globaler Probleme einzusetzen. Gegen Ende
dauerte mehrere Jahre und verschlang fast eine Milli- dieses Kapitels werden die praktischen Auswirkungen
arde Euro. Seitdem sind sowohl der Zeitaufwand, der der Gentechnologie beschrieben, die einen wichtigen
Teil 3 für eine Genomsequenzierung benötigt wird, als auch Teil der Biotechnologie ausmachen. Hier wird es um
die damit verbundenen Kosten, stetig gesunken. die gezielte Manipulation von Organismen und Stoff-
Abbildung 20.1 zeigt das Modell einer der neuen wechselwegen gehen, die zur Herstellung bestimmter
Sequenziermethoden, bei der die Nucleotide eines ein- Produkte genutzt werden. Tatsächlich wird die Gentech-
zelnen DNA-Stranges durch eine winzige Pore in einer nologie bereits heute vielfach angewandt, von der Land-
Membran geschleust werden. Die dabei auftretenden wirtschaft, über die Gerichtsmedizin, bis hin zur medi-
sehr kleinen Änderungen im elektrischen Feld kann zinischen Forschung. Den Abschluss wird eine kurze
man dazu nutzen, die DNA-Sequenz abzuleiten. Die Diskussion der ethischen und sozialen Auswirkungen
Erfinder dieser Methode, auf die wir später im Kapitel bilden, die die Gen- und Biotechnologie auf unser Leben
näher eingehen, schätzen, dass damit letztlich die haben.
Sequenz eines menschlichen Genoms in etwa sechs

DNA-Sequenzierung und Klonie- wichtige Methoden der Gentechnik eingehen, die zur
rung sind wichtige Werkzeuge direkten Veränderung von Genen für die praktische
Anwendung eingesetzt werden.
der Gentechnik und der
biologischen Forschung
20.1 20.1.1 DNA-Sequenzierung

Die Aufklärung der DNA-Struktur, mit den zwei Bei der DNA-Sequenzierung können Wissenschaftler
komplementären Strängen, war eine wichtige Voraus- die komplementäre Basenpaarung der DNA nutzen, um
setzung zur DNA-Sequenzierung und für die Ent- die vollständige Nucleotidsequenz eines DNA-Mole-
wicklung vieler weiterer Methoden der modernen küls zu bestimmen. Dazu wird die DNA zunächst in
biologischen Forschung. Die Grundlage vieler dieser kleinere Fragmente zerlegt, die dann einzeln sequen-
Methoden ist die Hybridisierung von Nucleinsäuren, ziert werden. Heutzutage erfolgt die Sequenzierung
d.h. die Basenpaarung eines Stranges einer Nuclein- und Datenerfassung automatisch an Sequenziermaschi-
säure mit der komplementären Sequenz des Stranges nen. Das erste automatisierte Verfahren stützte sich auf
eines anderen Nucleinsäure-Moleküls. In diesem Ab- die sogenannte Kettenabbruch-Methode, die auf dem
schnitt werden wir zunächst die Methoden der DNA- Einbau von Didesoxyribonucleotiden beruht. Dabei
Sequenzierung beschreiben. Danach werden wir auf dient ein Einzelstrang eines DNA-Fragmentes als Mat-

528
20.1 DNA-Sequenzierung und Klonierung sind wichtige Werkzeuge der Gentechnik und der biologischen Forschung

rize für die Synthese neuer DNA-Fragmente mit zuneh- Die verbesserten Sequenziermethoden haben unser
mender Länge. Diese werden dann nach ihrer Größe Vorgehen zur Untersuchung biologischer Fragestellun-
getrennt und zur Sequenzanalyse herangezogen gen zur Evolution und zur Funktionsweise von Zellen
(Abbildung 20.3). Der Biochemiker Frederick Sanger, und des Lebens selbst grundlegend verändert. Über
nach dem diese von ihm entwickelte Technik auch als zehn Jahre nach der Veröffentlichung des mensch-
Sanger-Methode bezeichnet wird, erhielt dafür 1980 lichen Genoms liegen uns heute die Genome von 4.000
den Nobelpreis für Chemie. Dies war bereits sein zwei- verschiedenen Eubakterien, 190 Archaeen und 180
ter Nobelpreis, nachdem er schon im Jahr 1975 für Eukaryonten vor, mit mehr als 17.000 weiteren Arten
seine Methode zur Proteinsequenzierung (durchgeführt in Arbeit. Vollständige Genomsequenzen von Zellen
am Beispiel des Insulins) ausgezeichnet wurde. Die verschiedener Krebsarten wurden ebenso bestimmt,
Kettenabbruchmethode wird noch immer zur üblichen wie die menschlicher Vorfahren und die von Bakte-
Sequenzierung kleinerer DNA-Fragmente in Maschinen rienarten, die den menschlichen Darm besiedeln. In
benutzt, wie sie in Abbildung 20.2a dargestellt sind. Kapitel 21 werden wir mehr darüber lernen, wie diese
In den letzten zehn Jahren wurden die Sequenzier- neuen Sequenziermethoden unser Verständnis der
methoden der „nächsten Generation“ (Next Generation Evolution der Arten und der Evolution der Genome
Sequencing) entwickelt, die nicht mehr auf der Ket- selbst erweitert haben. Im Folgenden wollen wir uns
tenabbruch-Methode beruhen. Stattdessen werden zunächst mit der Untersuchung einzelner Gene befas-
DNA-Fragmente vervielfältigt (kopiert, amplifiziert), sen.
um eine enorme Zahl gleicher Fragmente zu erhalten Teil 3
(Abbildung 20.4). Ein bestimmter Einzelstrang jedes
dieser Fragmente wird an ein Trägermaterial gebunden
(„immobilisiert“) und der komplementäre Strang wird
Nucleotid für Nucleotid synthetisiert. Die Kopplung an
chemische Reaktionen erlaubt die genaue elektroni-
sche Bestimmung in Echtzeit, welches der vier Nucleo-
tide jeweils eingebaut wird. Diese Methode wird des-
halb auch Sequenzierung durch Synthese genannt.
Tausende, ja sogar hunderttausende Fragmente mit
einer Länge zwischen 400–1.000 Nucleotiden können
so parallel an Maschinen sequenziert werden, wie sie
in Abbildung 20.2b dargestellt sind. Dies erklärt die
enormen Mengen an Sequenzinformationen (Nucleo-
tidsequenzen), die innerhalb einer Stunde erhalten
(a) Traditionelle Sequenziermaschine
werden können. Es handelt sich hier um ein Beispiel
für eine DNA-Technologie mit hohem Durchsatz (high-
throughput) und es ist derzeit die Methode der Wahl
für die Sequenzierung großer Mengen von DNA-Pro-
ben, die etwa ganze Genome repräsentieren.
Weitere technische Fortschritte haben zur Entwick-
lung von Sequenziermethoden der „dritten Generation“
geführt, wobei jede Neuentwicklung schneller und
billiger arbeitet als ihr Vorgänger. Dabei wird die DNA
weder in Fragmente zerlegt, noch vervielfältigt, son-
dern als einzelnes, sehr langes Molekül direkt sequen-
ziert. Verschiedene Forschergruppen arbeiteten an der
Idee, einen einzelnen Strang des DNA-Moleküls durch
eine winzige Pore (eine „Nanopore“) in einer Membran
zu schleusen und dabei die einzelnen Basen durch die
dabei auftretende Unterbrechung eines Stromflusses zu (b) Moderne Sequenziermaschine
bestimmen. Das Modell dieses Ansatzes ist in Abbil-
Abbildung 20.2: Maschinen zur DNA-Sequenzierung. (a) Traditio-
dung 20.1 dargestellt, in dem die Pore durch einen
nelle Geräte zur DNA-Sequenzierung nutzen die Kettenabbruch-Methode
Proteinkanal gebildet wird, der in eine Lipidmembran (siehe auch Abbildung 20.3 ). Mit ihnen können bis zu 120.000 Nucleo-
eingelagert ist. Andere Forscher experimentieren auch tide in 10 Stunden sequenziert werden. Diese Methode wird noch immer
mit künstlichen Membranen und Nanoporen. Die für die Sequenzierung kurzer DNA-Stücke in begrenzter Anzahl genutzt. (b)
Grundidee hinter diesem Ansatz ist, dass jede der vier Die Sequenziermaschinen der nächsten Generation (Next Generation
Basen beim Durchtritt durch die Pore den Stromfluss Sequencing) beruhen auf der „Sequenzierung durch Synthese“ (siehe auch
für einen geringfügig unterschiedlichen Zeitraum Abbildung 20.4 ). Die heutigen Geräte erreichen einen Durchsatz von
unterbricht. Dies ist nur ein Beispiel für viele unter- 700–900 Millionen Nucleotiden in 10 Stunden und werden für die Sequen-
schiedliche Ansätze die darauf abzielen, die Geschwin- zierung größerer DNA-Mengen eingesetzt.
digkeit für die DNA-Sequenzierung zu erhöhen und
gleichzeitig die Kosten zu senken.

529
20 Gentechnik in der Biotechnologie

 Abbildung 20.3: Arbeitstechniken

Die Didesoxy-Kettenabbruch-Methode zur oxyribonucleotid (dNTP). Der Einbau eines ddNTP


DNA-Sequenzierung verhindert die weitere Verlängerung des syntheti-
Anwendung Die Nucleotidsequenz eines DNA- sierten DNA-Stranges, weil die 3'-OH-Gruppe fehlt,
Fragments mit einer Länge bis zu 800–1.000 Basen- an die das nächste Nucleotid angeknüpft werden
paaren kann schnell durch Sequenziermaschinen könnte (vgl. Abbildung 16.14). Im Gemisch der
ermittelt werden, die sowohl die Sequenzierungs- neuen DNA-Stränge entspricht das eingebaute
reaktionen durchführen, als auch die erhaltenen ddNTP jeweils dem komplementären Nucleotid im
Produkte nach ihrer Länge trennen. Matrizenstrang, so dass jedes Nucleotid durch ein
Methode Die Methode beruht auf der Synthese von DNA-Fragment bestimmter Länge vertreten ist. Da
DNA-Fragmenten mit zunehmender Länge, die kom- jedes der ddNTP mit einem anderen Fluoreszenz-
plementär zu einem DNA-Strang hergestellt werden. farbstoff markiert ist, kann das letzte Nucleotid eines
Jeder neue Strang beginnt mit dem eingesetzten Oli- jeden Stranges nach der Trennung des Gemischs
gonucleotid (Primer) und endet mit einem Didesoxy- automatisch nachgewiesen und damit letztendlich
ribonucleotid (ddNTP), einem leicht veränderten Des- die gesamte Sequenz ermittelt werden.

1 Das zu sequenzierende DNA-Fragment


Teil 3 wird durch Erhitzen in seine Einzelstränge
DNA Primer Desoxyribonucleotide Fluoreszenzmarkierte
(Matrizenstrang) T 3′ Didesoxyribonucleotide
aufgetrennt (denaturiert) und mit den für
die DNA-Synthese notwendigen Kompo- 5′ C G
dATP ddATP
nenten gemischt: Einem Primer, der am T T
3'-Ende mit dem Matrizenstrang basen- G T 5′ dCTP ddCTP
paart, von dem die Sequenz bekannt ist; A
einer DNA-Polymerase; den vier dNTP und C dTTP ddTTP
T DNA-
den vier mit unterschiedlichen fluoreszieren- T Polymerase dGTP ddGTP
den Molekülen markierten ddNTP. C
G
A P P P P P P
C G G
A
3′ A OH H

2 Die Synthese jedes neuen DNA- DNA (Matrizen- Markierte DNA-Stränge


Stranges beginnt mit dem Primer 5′ C strang) dd G 3′
am 3'-Ende und läuft so lange, bis ein T dd A A
ddNTP anstelle eines dNTP eingebaut G dd C C C
wird. Dieses verhindert die weitere Strang- A dd T T T T
synthese. Letztlich entsteht damit ein C dd G G G G G
Gemisch aus markierten DNA-Molekülen T dd A A A A A A
mit allen möglichen Längen. Dabei zeigt T dd A A A A A A A
C G G G G G G G G
der Farbstoff jeweils an, mit welchem G 3′ dd C C C
Nucleotid das Fragment endet. dd C C C C C C
A T T T T T T T T T
C G G G G G G G G G
A T T T T T T T T T
3′ A T 5′ T T T T T T T T 5′
kürzester Strang längster Strang

3 Das Gemisch der markierten DNA-Stränge Wanderungs-


wird in einem Gel getrennt, in dem kurze richtung der längster markierter Strang
Stränge schneller wandern als lange. Heute Stränge
werden für die DNA-Sequenzierung meist
Kapillargele verwendet, da bei der geringen
Dicke die einzelnen Fluoreszenzfarbstoffe Detektor
automatisch gemessen werden können,
während sie durchwandern. So können
DNA-Stränge getrennt nachgewiesen werden,
die sich in ihrer Länge nur um ein Nucleotid Laser
unterscheiden. kürzester markierter Strang

Letztes Nucleotid
des längsten
G
markierten
A
Stranges
C
T
G
Letztes Nucleotid A
des kürzesten A
markierten G
Stranges C

Ergebnis Der Fluoreszenzfarbstoff, mit dem jeder komplementär ist), wird von unten (kürzester
Strang markiert ist, zeigt an, welches Nucleotid am DNA-Strang) nach oben (längster DNA-Strang) ge-
3'-Ende steht. Die Ergebnisse können in einem soge- lesen. Die hier dargestellte Sequenz beginnt direkt
nannten Spektrogramm ausgedruckt werden und die nach dem Primer.
Sequenz (die der ursprünglichen Matrizensequenz

530
20.1 DNA-Sequenzierung und Klonierung sind wichtige Werkzeuge der Gentechnik und der biologischen Forschung

 Abbildung 20.4: Arbeitstechniken

DNA-Sequenzierung der nächsten Generation

Anwendung Bei den gängigen Sequenziermethoden


der nächsten Generation ist jedes sequenzierte Frag-
ment zwischen 400–1.000 Nucleotide lang. Da paral-
1 Genomische DNA wird zerkleinert und
Fragmente mit einer Länge von 400–1000 lel viele Fragmente sequenziert werden, erhält man so
Basenpaaren werden ausgewählt. 700–900 Millionen Nucleotide in nur zehn Stunden.
Methode Siehe die angegebenen Schritte.
2 Jedes Fragment wird mit einem Kügelchen Ergebnis Jede der 2.000.000 Bohrungen in einem vor-
in einem Tropfen wässriger Lösung isoliert.
gefertigten Träger („Multiwell“-Platte), enthält ein
anderes DNA-Fragment und ergibt so eine unter-
schiedliche Sequenz. Die Ergebnisse für ein solches
3 Das Fragment wird mit Hilfe der PCR-Technik (die Fragment sind hier unten gezeigt. Die Sequenzen aller
später im Kapitel beschrieben wird) immer wieder Fragmente werden mit Computerprogrammen analy-
kopiert. Alle 5'-Enden der so erhaltenen DNA-
Fragmente werden auf dem Kügelchen fixiert. siert und zur Gesamtsequenz zusammengesetzt, die in Teil 3
Letztlich erhält man 106 Kopien des gleichen
DNA-Einzelstrangs an die Kügelchen gebunden,
diesem Beispiel ein ganzes Genom umfasst.
die als Matrizen für die Sequenzierung dienen.

4-mer A
T
4 Die Kügelchen werden in kleine Bohrungen eines G
Trägermaterials gefüllt und mit DNA-Polymerasen 3-mer TTCTGCGAA
und Primern versetzt, die an die 3'-Enden der C
synthetisierten Einzelstränge der Matrizen-DNA
2-mer
hybridisieren können.
DNA-
Polymerase DNA-Einzelstrang 1-mer
3′
5′ 3′ 5′
Primer A T GC

5 Die hier gezeigte Bohrung ist eine von zwei Millionen im Trägermaterial, von denen
jede eine andere zu sequenzierende DNA enthält. Die Bohrungen werden mit einer
Lösung mit einem der vier Nucleotide gefüllt und danach gewaschen. Dies wird
immer abwechselnd für alle vier Nucleotide wiederholt (dATP, dCTP, dGTP, dTTP).

A T GC A T GC A T GC A T GC

DNA-
C Einzel- C C C
C strang C C C
A A dTTP A dGTP A dCTP
A dATP A A A
T T T T
G G G GC PPi
TA PPi TA TA TA
DNA- GC GC GC GC
Polymerase GC GC GC GC
AG Primer AG AG AG
TA TA TA TA

6 Ist die nächste Base in der Matrizen-DNA in 7 Das Nucleotid wird ausgewaschen 8 Die Zugabe und das Auswaschen der vier Nucleotide
einer Bohrung komplementär zum gerade und ein anderes Nucleotid wird wird wiederholt, bis alle Matrizenstränge mit einem
zugesetzten Nucleotid (hier im Beispiel ein T zugesetzt (hier dTTP). Ist dieses komplementären, neu synthetisierten DNA-Strang
in der Matrizen-DNA und ein A im neu nicht komplementär zum Matrizen- versehen sind. Die Abfolge und Intensität der Licht-
synthetisierten Strang), wird das Nucleotid strang (hier ein G), dann kann es blitze spiegelt die ursprüngliche DNA-Sequenz wider.
eingebaut und Pyrophosphat (PPi) wird nicht eingebaut werden und es
dabei freigesetzt. Letzteres erzeugt durch folgt kein Lichtblitz.
eine angekoppelte Enzymreaktion einen
Lichtblitz, der gemessen werden kann.

DATENAUSWERTUNG Wenn ein Matrizenstrang zwei- gramm? – Beachten Sie dazu die kurze Beispiel-
mal oder mehrfach das gleiche Nucleotid hinterein- sequenz im Kasten oben rechts. Schreiben Sie die
ander trägt, werden die komplementären Nucleotide Sequenz der ersten 25 Nucleotide des dort gezeigten
eins nach dem anderen im gleichen Reaktionsschritt Flussdiagramms von links nach rechts auf (ignorie-
eingebaut. Wie erkennt man zwei oder mehrere sol- ren Sie dabei die sehr kurzen Linien).
cher fortfolgenden gleichen Nucleotide im Flussdia-

531
20 Gentechnik in der Biotechnologie

20.1.2 Die Vervielfältigung von Genen und fäßen („im Reagenzglas“, daher in vitro, lat. „im Glas“)
anderen DNA-Fragmenten einfach in Bakterienzellen eingebracht („transformiert“)
werden. Die rekombinanten Plasmide, inklusive der
Molekularbiologen, die ein bestimmtes Gen oder eine Fremd-DNA, werden dann aufgrund der hohen Wachs-
Gengruppe untersuchen möchten, haben ein Problem: tumsrate der Bakterien mit ihren Wirtszellen schnell ver-
Natürlicherweise sind DNA-Moleküle sehr lang und vielfältigt. Bei der Fremd-DNA in Abbildung 20.5 han-
ein einzelnes Molekül kann bis zu viele tausend Gene delt es sich um ein Gen aus einer eukaryontischen Zelle.
enthalten (z.B. in einem eukaryontischen Chromo- Wir werden später noch darauf eingehen, wie man an
som). Außerdem codiert nur ein kleiner Bruchteil der ein solches Fragment fremder DNA herankommen kann.
chromosomalen DNA in den meisten eukaryontischen
Genomen für Proteine, während der Rest oft aus nicht- Bakterium Zelle mit dem
gesuchten Gen
codierenden Nucleotidsequenzen besteht. Beispiels-
weise macht ein einzelnes menschliches Gen oft nur 1 Gen wird in das
1/100.000 eines chromosomalen DNA-Moleküls aus. Plasmid inseriert
Zudem unterscheiden sich die Sequenzen von Genen bakterielles Plasmid
meistens nicht von den sie umgebenden, nicht-codie- Chromosom
renden Bereichen. Um gezielt mit einem bestimmten gesuchtes
Gen arbeiten zu können, haben Wissenschaftler des- Gen
rekombinante DNA des
Teil 3 halb Methoden für die Isolierung und Vervielfältigung DNA (Plasmid) Chromosoms
(„fremde“ DNA)
genau definierter DNA-Abschnitte entwickelt. Wir
sprechen hier von DNA-Klonierung. 2 Plasmid wird in
die Bakterienzelle
Die meisten Methoden zur Klonierung von DNA-Frag- eingeschleust
menten beruhen auf ähnlichen Prinzipien. Häufig wer-
den dabei Bakterien eingesetzt, insbesondere das Darm-
rekombinantes
bakterium Escherichia coli. Aus Kapitel 16 wissen wir, Bakterium
dass das E. coli-Chromosom aus einem einzelnen, gro-
ßen, zirkulären DNA-Molekül besteht. Daneben können 3 Die Wirtszelle vermehrt sich
im Kulturmedium und bildet
E. coli und viele andere Bakterien zusätzliche, zumeist einen Klon (identische Nach-
ebenfalls zirkuläre, kleinere DNA-Moleküle – Plasmide kommen einer Zelle), der das
– enthalten. Sie replizieren sich unabhängig vom bakte- „klonierte“ Zielgen enthält

riellen Chromosom und sind meist für die Grundfunk-


tionen der Zelle entbehrlich. Ein Plasmid enthält nur gesuchtes
Gen
eine begrenzte Anzahl von Genen. Diese Gene können
vom Zielgen
sich unter bestimmten Umweltbedingungen für das exprimiertes Protein
Bakterium als nützlich erweisen, sind aber unter norma-
len Wachstumsbedingungen oft überflüssig. Kopien Proteingewinnung
Um DNA-Fragmente zu klonieren, isoliert man des Gens
zunächst ein Plasmid aus Bakterien, das ursprünglich
aus der Bakterienzelle stammt und gentechnisch in
einen effizienten Klonierungsvektor umgebaut wurde. In 4 Grundlagen-
eine bestimmte Stelle des Plasmids wird dann DNA aus forschung und
einer anderen Quelle („Fremd-DNA“) eingebaut („integ- Anwendungen

riert“; Abbildung 20.5). Das so erhaltene Plasmid ist


jetzt ein rekombinantes DNA-Molekül mit DNA-Ab-
schnitten aus mindestens zwei verschiedenen Quellen, in Pflanzenzellen menschliches Wachstums-
eingebrachte Gene für hormon zur Behandlung
häufig sogar aus verschiedenen Arten. Das rekombinante Schädlingsresistenz von Kleinwüchsigkeit
Plasmid wird in eine neue Bakterienzelle eingeschleust,
die sich vermehrt und einen Klon (eine Population gene-
tisch identischer Zellen; „rekombinante Bakterien“)
bildet. Während der Vermehrung dieser Bakterien wer-
den die Plasmide und die darin enthaltene Fremd-DNA
ebenfalls repliziert und an die Nachkommen vererbt.
Die Herstellung sehr vieler Kopien eines einzelnen Gens Einsatz klonierter Gene in Protein löst Blutgerinnsel
wird als Genklonierung bezeichnet. rekombinanten Bakterien auf (Herzinfarkt-Therapie)
zur Abfallbeseitigung (zum
In unserem Beispiel der Abbildung 20.5 dient das Beispiel giftige Abfälle)
Plasmid als Klonierungsvektor (ein DNA-Molekül, das
Abbildung 20.5: Genklonierung und einige Anwendungsbei-
fremde DNA in eine Wirtszelle einbringen und sich dort
spiele. In dieser vereinfachten Übersicht über eine Genklonierung begin-
replizieren kann). Bakterielle Plasmide werden aus ver- nen wir mit einem ursprünglich aus einer Bakterienzelle isolierten Plasmid
schiedenen Gründen häufig als Klonierungsvektoren und einem Zielgen aus einem anderen Organismus. Nur jeweils eine Kopie
benutzt: Sie sind im Laborhandel erhältlich und können des Plasmids und des Zielgens sind hier oben dargestellt, obwohl das Aus-
nach dem Einbau fremder DNA in kleinen Reaktionsge- gangsmaterial tatsächlich viele Kopien von beiden enthalten würde.

532
20.1 DNA-Sequenzierung und Klonierung sind wichtige Werkzeuge der Gentechnik und der biologischen Forschung

Die Genklonierung ist aus zweierlei Gründen nützlich:


Einerseits werden viele Kopien eines bestimmten Gens bakterielles
erzeugt („amplifiziert“), die das codierte Protein Plasmid
gezielt herstellen können. Man kann das klonierte Gen
aus den Bakterien isolieren, um es in der Grundlagen-
forschung einzusetzen, oder man kann Zellen und
Restriktionsschnittstelle
Organismen mit neuen metabolischen Eigenschaften –
5′ 3′
zum Beispiel einer Schädlingsresistenz – ausstatten. GA AT T C
DNA
Beispielsweise wird ein Gen aus einer Nutzpflanze C T T AAG
3′ 5′
kloniert, dessen Produkt (meist ein Protein) ihr eine
bestimmte Resistenz verleiht. Dieses Gen kann dann in 1 Ein Restriktionsenzym
Pflanzen anderer Sorten oder anderer Arten einge- zerschneidet das Zucker/
Phosphat-Gerüst an den
bracht werden. Aus Kulturen von Bakterien oder durch Pfeile bezeichneten
eukaryontischen Zellen können aber auch Proteine mit Stellen
5′
medizinischer oder einer anderen wichtigen biologi- 5′
3′ A AT T C 3′
schen Bedeutung in großen Mengen gewonnen werden G
G
C T TA A 3′
(rekombinante Proteine), beispielsweise ein Wachs- 5′
5′
3′ Einzelstrangüberhänge
tumshormon. Die Methoden zur Expression solcher („kohäsive Enden“)
klonierter Gene werden später noch genauer beschrie- 5′ Teil 3
ben. Die meisten proteincodierenden Gene liegen in A AT T C 3′
G
einem haploiden Genom nur in einer Kopie vor. Die G
2 Zugabe eines DNA-Fragments 3′ C T TA A
Möglichkeit, solche seltenen DNA-Fragmente stark zu aus einer anderen Quelle; 5′
Fragment eines anderen
vervielfältigen, durch Klonierung oder auch in Verbin- Basenpaarungen der Einzel-
DNA-Moleküls, das mit dem
dung mit anderen Methoden, ist von entscheidender strangüberhänge können in
verschiedenen Kombinationen gleichen Restriktionsenzym
Bedeutung für viele praktische Anwendungen. auftreten geschnitten wurde

5′ 3′ 5′ 3′ 5′ 3′
G AAT T C G AAT T C
20.1.3 Die Verwendung von Restriktions- C T TA A G C T TA A G
3′ 5′ 3′ 5′ 3′ 5′
enzymen zur Herstellung rekombi- eine mögliche Kombination
nanter Plasmide 3 DNA-Ligase verknüpft
die Stränge kovalent
Die Klonierung und gezielte Neukombination von 5′ 3′
Genen wird durch Enzyme ermöglicht, die DNA-Mole-
küle an bestimmten, nur begrenzt vorkommenden Stel-
3′ rekombinantes DNA-Molekül 5′
len schneiden. Diese Enzyme werden als Restriktions-
endonucleasen (= Restriktionsenzyme) bezeichnet. Sie
wurden in den späten 1960er Jahren durch die Arbeits-
gruppen von Arber, Nathans und Smith bei der Grund-
lagenforschung in Bakterien entdeckt. Wie wir aus
Kapitel 19 wissen, schützen sich Bakterien mit Restrik- rekombinantes
tionsenzymen vor Fremd-DNA von Phagen oder ande- Plasmid
ren Organismen, indem sie diese zerschneiden.
Hunderte unterschiedlicher Restriktionsenzyme wur- Abbildung 20.6: Der Einsatz eines Restriktionsenzyms und der
den bisher entdeckt und gereinigt. Jede Restriktions- DNA-Ligase bei der Herstellung eines rekombinanten Plasmides.
endonuclease zeigt die für Enzyme hohe Spezifität und Das Restriktionsenzym in unserem Beispiel (EcoRI) erkennt eine Sequenz mit
erkennt eine für sie typische Basenfolge in der DNA, sechs bestimmten Basenpaaren, die sogenannte Restriktionsschnittstelle,
die als Restriktionsschnittstelle bezeichnet wird. Beide die nur einmal im ganzen Plasmid vorkommt. Das Enzym erzeugt versetzte
DNA-Stränge werden (in der Regel an dieser Erken- Enden mit Einzelstrangüberhängen im Zucker/Phosphat-Rückgrat dieser
nungsstelle) geschnitten. Die eigene DNA der Bakteri- Sequenz. Andere DNA-Fragmente, die durch Restriktion mit dem gleichen
enzelle ist vor der von ihr produzierten Restriktions- Enzym erhalten wurden, haben die gleichen überhängenden Enden und
endonuclease durch Methylierung von Basen an können Basenpaarungen mit der Plasmid-DNA eingehen. Nach der Ligation
erhält man ein rekombinantes Plasmid. (Die überhängenden Enden der
Adenin- oder Cytosinresten der Erkennungssequenz
Plasmid-DNA können natürlich auch wieder miteinander Basenpaarungen
geschützt. Solche methylierten Basenfolgen erkennt das eingehen, sodass man nach der Ligation wieder das ursprüngliche, nicht-
Restriktionsenzym nicht oder kann sie zumindest nicht rekombinante Plasmid erhalten würde.)
schneiden (hydrolysieren).
In Abbildung 20.6 ist dargestellt, wie Restriktions- ZEICHENÜBUNG Das Restriktionsenzym HindIII erkennt die Sequenz 5'-
enzyme bei der Klonierung eingesetzt werden, um AAGCTT-3' und schneidet zwischen den beiden A’s. Zeichnen Sie die doppel-
DNA-Fragmente miteinander zu verbinden. Oben sehen strängige DNA-Sequenz bevor und nachdem das Enzym geschnitten hat.

533
20 Gentechnik in der Biotechnologie

wir ein bakterielles Plasmid, (ähnlich dem aus Abbil- trennen kann (Abbildung 20.7). Die Gelelektrophorese
dung 20.5), mit einer einzelnen Restriktionsschnittstelle, wird in Verbindung mit vielen anderen Methoden in
die von einem Restriktionsenzym aus E. coli erkannt der Molekularbiologie eingesetzt, wozu auch die DNA-
wird. Wie hier sind die meisten Restriktionsschnitt- Sequenzierung nach der Kettenabbruch-Methode ge-
stellen symmetrisch, d.h. die Sequenz des oberen Stran- hört.
ges ist mit der des unteren Stranges identisch, wenn
man jeweils in 5'→3'-Richtung liest (ein sogenanntes Gemisch aus Strom-
Palindrom). Die meisten Restriktionsenzyme erkennen DNA-Molekülen quelle
verschiedener – Kathode Anode +
Sequenzen von vier bis acht Basenpaaren. Da praktisch Größen
jede Sequenz dieser Länge in einem sehr langen DNA-
Molekül statistisch mit hoher Wahrscheinlichkeit öfter
Zulauf
vorkommt, zerschneidet eine Restriktionsendonuclease
ein großes DNA-Molekül in zahlreiche Bruchstücke, die Gel
als Restriktionsfragmente bezeichnet werden. Identi-
sche DNA-Moleküle liefern beim Schneiden mit dem (a) Jede Probe, die aus einem Gemisch verschiedener DNA-Mole-
gleichen Restriktionsenzym immer die gleichen Restrik- küle besteht, wird in eine Tasche an einem Ende des dünnen
Agarosegels gefüllt. Das Gel befindet sich in einer Gelkammer
tionsfragmente, die damit vorhersagbare Restriktions- aus Plastik mit einer Elektrode an jedem Ende und ist mit einer
muster ergeben. Pufferlösung überschichtet. Legt man nun ein elektrisches Feld
Teil 3 Die am häufigsten verwendeten Restriktionsenzyme an, so wandern die negativ geladenen DNA-Moleküle zur
zerschneiden die Zucker/Phosphat-Stränge einer DNA- positiven Elektrode (Anode).
Doppelhelix jeweils um einige Nucleotide versetzt
(Abbildung 20.6). Die so entstehenden Restriktionsfrag-
mente besitzen daher an ihren Enden einen Einzel-
strangüberhang, der auch als kohäsives Ende (sticky
end) bezeichnet wird. Diese kurzen, wenige Nucleotide
umfassenden Überhänge können über Wasserstoff-
brückenbindungen Basenpaarungen mit komplementä-
ren Einzelsträngen eingehen – zum Beispiel mit einem
anderen DNA-Molekül, das mit dem gleichen Enzym
geschnitten wurde. Solche Verbindungen sind nur sehr
kurzfristig stabil, da sie lediglich durch wenige Wasser-
stoffbrücken zusammengehalten werden. MitHilfe einer
DNA-Ligase können die DNA-Stränge aber dauerhaft
miteinander verknüpft werden. Wie wir aus Kapitel 16 Restriktionsfragmente
wissen, katalysiert dieses Enzym die kovalente (Längenstandard)
Verknüpfung des Zucker/Phosphat-Gerüsts von DNA-
(b) Kleinere DNA-Moleküle erfahren weniger Widerstand und
Molekülen (zum Beispiel bei den Okazaki-Fragmenten wandern schneller durch das Gel als die längeren Moleküle.
im Rahmen der DNA-Replikation). Unten in der Abbil- Nachdem der Strom abgeschaltet wurde, wird das Gel in eine
dung 20.6 ist zu sehen, wie durch die DNA-Ligase zwei Färbelösung gelegt, die an DNA bindet und im UV-Licht rot
aus verschiedenen Quellen stammende DNA-Fragmente fluoresziert. Jeder roter Strich („Bande”) entspricht mehreren
tausend DNA-Molekülen gleicher Länge. Die horizontale Leiter
zu einem stabilen, rekombinanten DNA-Molekül zusam- am unteren Ende des Gels enthält eine Reihe von Restriktions-
mengefügt werden, als ein Beispiel für die Herstellung fragmenten bekannter Größe und dient als Standard, um die
eines rekombinanten Plasmids. Länge der getrennten DNA-Moleküle in den einzelnen Proben
Um ein rekombinantes Plasmid zu überprüfen, das in zu bestimmen.
E. coli vervielfältigt wurde (Abbildung 20.5), kann man Abbildung 20.7: Gelelektrophorese. Ein Gel aus Polymeren dient als
es wieder mit den gleichen Restriktionsenzymen be- molekulares Sieb, um Nucleinsäuren oder Proteine zu trennen, die sich in
handeln. Damit sollten zwei DNA-Fragmente entste- ihrer Größe, elektrischen Ladung oder anderen physikalischen Eigenschaf-
hen, nämlich eines mit der Größe des ursprünglichen ten voneinander unterscheiden, wenn sie im elektrischen Feld wandern.
Plasmids und ein anderes, das der eingebauten Fremd- Im gezeigten Beispiel wurden DNA-Moleküle nach ihrer Länge in einem
DNA (der „Insertion“) entspricht. Um DNA-Fragmente Agarosegel getrennt, das aus Polysacchariden besteht.
aufgrund ihrer Länge zu trennen und sichtbar zu ma-
chen, benutzen Forscher die Methode der Gelelektro- Nachdem wir nun die Klonierungsvektoren bespro-
phorese. Hierbei wird ein Gel aus einem Polymer chen haben, möchten wir uns der DNA zuwenden, die
(meist Agarose oder Polyacrylamid) als Molekularsieb in das Plasmid eingebaut werden soll. Die heute gän-
benutzt, mit dem man Nucleinsäuren oder Proteine auf- gigste Methode, um viele Kopien eines Gens für eine
grund ihrer unterschiedlichen Größe, elektrischen Klonierung zu erhalten, ist die PCR, die im nächsten
Ladung oder anderen physikalischen Eigenschaften Abschnitt beschrieben wird.

534
20.1 DNA-Sequenzierung und Klonierung sind wichtige Werkzeuge der Gentechnik und der biologischen Forschung

20.1.4 Die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) viele Kopien des einen gewünschten Gens mithilfe der
und ihre Verwendung bei der Polymerase-Kettenreaktion, kurz PCR (Polymerase
DNA-Klonierung Chain Reaction), herstellen. In Abbildung 20.8 sind die
einzelnen Schritte der PCR schematisch dargestellt. Mit-
Aus Datenbanken und durch die zu Beginn des Kapitels hilfe der vollständig automatisierten PCR lassen sich so
beschriebenen Methoden verfügen Wissenschaftler in wenigen Stunden Milliarden von Kopien eines
heute oft über Sequenzinformationen zu einem Gen oder gewünschten DNA-Abschnitts erzeugen, selbst wenn die
einem anderen DNA-Abschnitt von Interesse, den sie ursprüngliche Sequenz weniger als 0,001 Prozent der
klonieren möchten. Mit diesem Wissen können sie aus gesamten Proben-DNA ausmacht.
der genomischen DNA der zu untersuchenden Arten

 Abbildung 20.8: Arbeitstechniken

Die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) 5′ 3′


Anwendung Mithilfe der PCR kann man
jeden gewünschten Bereich aus einer kom- Zielsequenz
plexen DNA-Probe (die sogenannte Ziel-
sequenz) vielfach in vitro kopieren (ampli- genomische DNA 3′ 5′ Teil 3
fizieren).
1 Denaturierung: 5′ 3′
Methode Für die PCR benötigt man eine Die DNA wird kurz
erhitzt, um die
doppelsträngige DNA mit der Zielsequenz, beiden Stränge
eine hitzeresistente DNA-Polymerase, alle zu trennen.
vier Desoxyribonucleotide, sowie zwei Oli- 3′ 5′
gonucleotide mit einer Länge von 15–25 2 Anlagerung
Nucleotiden, die als Primer für die DNA- („annealing”):
Es wird auf eine Tem-
Synthese dienen. Einer der beiden Primer Zyklus 1 peratur gekühlt, die
ist komplementär zur Zielsequenz des ergibt 2 die Hybridisierung (An-
doppel- lagerung) der Primer Primer
einen DNA-Stranges, der andere Primer strängige über komplementäre
ist komplementär zur Zielsequenz des an- DNA-Moleküle Basenpaarungen
deren DNA-Strangs am entgegengesetzten erlaubt.

Ende. 3 Verlängerung:
Durch die DNA-Poly-
merase werden
Ergebnis Nach drei Zyklen entsprechen Nucleotide am 3'-Ende neu
der Primer angehängt einge-
zwei der doppelsträngigen DNA-Moleküle und der komplementäre baute
genau der Zielsequenz. Nach 30 weiteren DNA-Strang wird Nucleo-
Zyklen existieren bereits 109 Moleküle der synthetisiert. tide

Zielsequenz in der Lösung.

Zyklus 2
ergibt 4
doppel-
strängige
DNA-Moleküle

Zyklus 3
ergibt 8 doppel-
strängige
DNA-Moleküle,
wobei zwei der
Moleküle (hier
weiß unterlegt)
genau der
Zielsequenz
entsprechen.

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535
20 Gentechnik in der Biotechnologie

Um identische DNA-Moleküle exponentiell zu ver- fischen Restriktionserkennungsstellen synthetisiert, die


vielfältigen, werden beim PCR-Verfahren drei Schritte dann an den Enden des PCR-Fragments zur Klonierung
immer wieder in zyklischer Folge durchlaufen. In benutzt werden können. Das PCR-Fragment und der
jedem Zyklus wird dabei die Reaktionsmischung Klonierungsvektor werden dazu mit den entsprechen-
zunächst erhitzt, um die DNA-Doppelstränge voneinan- den Restriktionsenzymen behandelt, können sich über
der zu trennen (Denaturierungsschritt). Im anschließen- ihre komplementären kohäsiven Enden aneinander
den Hybridisierungsschritt wird dann rasch abgekühlt, anlagern und ligiert werden (Abbildung 20.9). Die so
damit kurze, einzelsträngige und zur Ziel-DNA kom- erzeugten Klone werden in der Regel zur Plasmidprä-
plementäre Oligonucleotide über Wasserstoffbrücken paration verwendet und die eingebaute DNA sequen-
an entgegengesetzten Enden des zu vervielfältigenden ziert, um nur mit fehlerfreien Genen weiterzuarbeiten.
DNA-Bereichs Basenpaarungen eingehen können (diese
sogenannten „Primer“ werden von verschiedenen
Firmen nach Kundenwunsch synthetisiert). Im dritten
Zyklusschritt (Amplifikation) werden die neuen DNA- Die Primer für die PCR werden
synthetisiert, so dass die
Stränge durch eine hitzestabile DNA-Polymerase syn- erhaltenen DNA-Fragmente
thetisiert, indem sie neue Nucleotide an das 3'-Ende der Restriktions-Erkennungs-
stellen enthalten, die denen
Primer anhängt. In den ersten Entwicklungsphasen der im Klonierungsvektor
Behandlung mit
Methode wurde eine DNA-Polymerase aus E. coli ver- entsprechen.
den gleichen
Teil 3 wendet, die nach jedem Zyklus denaturierte und immer Restriktions-
enzymen, die für
wieder zugesetzt werden musste. Der entscheidende den Klonierungs-
Durchbruch zur Automatisierung der PCR war die Ent- Das Plasmid vektor verwendet
trägt ein wurden.
deckung hitzestabiler DNA-Polymerasen, sogenannter Resistenzgen
Taq-Polymerasen, die bei der hohen Temperatur der gegen ein
DNA-Denaturierung aktiv bleiben. Diese Polymerasen Antibiotikum.
Klonierungsvektor
wurden zunächst aus dem thermophilen Bakterium (ein bakterielles Plasmid)
Thermus aquaticus gewonnen, das in heißen Quellen Mischen und Ligation
lebt und mit seiner hitzeresistenten DNA-Polymerase
an ein Überleben und eine Vermehrung bei Temperatu-
ren bis zu 95 °C angepasst ist. So lassen sich in wenigen rekombinantes
Stunden viele Kopien der Ziel-DNA herstellen. Die rekombinanten Plasmide Plasmid
werden in die bakteriellen
Genauso eindrucksvoll wie die Geschwindigkeit der Wirtszellen eingebracht, die
PCR ist die Spezifität des Verfahrens. Winzige DNA- dann dem Antibiotikum
ausgesetzt werden. Nur
Konzentrationen im Ausgangsmaterial reichen aus, um Zellen die ein Plasmid mit
die Amplifikation durchzuführen, selbst wenn die DNA dem Resistenzgen
teilweise abgebaut ist. Einige wenige intakte Moleküle aufgenommen haben,
überleben diese Behandlung.
mit der vollständigen Zielsequenz genügen für eine
PCR-Reaktion. Entscheidend für die hohe Spezifität sind
die zur Vervielfältigung verwendeten Primer, die durch
Wasserstoffbrückenbindungen Basenpaarungen mit der
Proben-DNA nur an den genau komplementären
Abbildung 20.9: Der Einsatz von Restriktionsenzymen und der
Sequenzen eingehen und auf diese Weise die Enden des
PCR in der Genklonierung. Diese Abbildung beschreibt die Vorgänge
Amplifikationsprodukts festlegen. Um eine hohe Spezi-
etwas näher, die im oberen Teil der Abbildung 20.5 angedeutet sind. Mithilfe
fität sicherzustellen, müssen die Primer mindestens 15 der PCR werden viele Kopien des Ziel-DNA-Fragments hergestellt. An den
bis 20 Nucleotide lang sein. Am Ende des dritten PCR- Enden des Fragments wurden Restriktionserkennungsstellen eingefügt, die
Zyklus besteht bereits ein Viertel der DNA-Doppelhe- auch im Klonierungsvektor vorhanden sind. Das Plasmid und das PCR-Frag-
lices aus dem Zielfragment (beide Molekülstränge haben ment werden mit dem gleichen Restriktionsenzym geschnitten, gemischt
dabei die angestrebte Länge). Nach jedem weiteren Zyk- (damit die kohäsiven Enden miteinander hybridisieren können), ligiert und
lus verdoppelt sich die Anzahl der synthetisierten Mole- dann in die bakterielle Wirtszelle eingebracht. Das Plasmid enthält auch ein
küle der gewünschten Länge, so dass sie letztlich die der Resistenzgen gegen ein Antibiotikum, das nur denjenigen Bakterien ein
anderen in der Reaktionsmischung vorhandenen DNA- Wachstum auf entsprechendem Medium erlaubt, die auch ein Plasmid auf-
genommen haben. Weitere gentechnische Methoden stehen zur Verfügung,
Fragmente weit übersteigt. Tatsächlich beträgt die Zahl
um die Bakterienzellen auszuschließen, von denen nur das ursprüngliche
der erhaltenen DNA-Moleküle 2n, wobei n die Zahl der
Plasmid ohne das eingebaute PCR-Fragment aufgenommen wurde.
Zyklen angibt. Nach 30 weiteren Zyklen sind etwa acht
Milliarden neue Kopien des Zielfragmentes hergestellt!
Ungeachtet ihrer Schnelligkeit und Spezifität kann Die 1985 entwickelte PCR-Methode hatte einen großen
die PCR-Amplifikation die Genklonierung in Zellen Einfluss auf die (molekular)biologische Forschung, die
nicht ersetzen, wenn große Mengen eines Gens benötigt Biotechnologie und die Medizin. Die PCR wird zur
werden. Gelegentlich auftretende Replikationsfehler Vervielfältigung von DNA aus den verschiedensten
führen darüber hinaus zu Mutationen und begrenzen Quellen eingesetzt. Dazu gehören einzelne embryonale
die Zahl brauchbarer Kopien, die mit der PCR-Methode Zellen, die der pränatalen Diagnostik von Erbkrank-
erhalten werden. Oft werden die Primer auch mit spezi- heiten dienen, ebenso wie Fragmente uralter DNA von

536
20.1 DNA-Sequenzierung und Klonierung sind wichtige Werkzeuge der Gentechnik und der biologischen Forschung

40.000 Jahre alten, gefrorenen Mammuts oder kleinste ces cerevisiae) geeignet. Die einzelligen Hefen bieten
DNA-Mengen in Fingerabdrücken, kaum sichtbaren zwei Vorteile: Sie lassen sich so einfach kultivieren und
Blutspuren oder Geweberesten, die sich beispielsweise vermehren wie Bakterien und enthalten Plasmide –
am Tatort eines Verbrechens finden. Auch viele Virus- was bei Eukaryonten selten vorkommt. In der For-
infektionen, die sonst nur schwer zu diagnostizieren schung werden rekombinante Plasmide eingesetzt, die
wären – wie etwa HIV – sind mit der PCR leicht nach- sowohl in Bakterien als auch in Hefen vermehrt wer-
zuweisen, indem HIV-spezifische virale Gene verviel- den können (sogenannte „Shuttle“-Vektoren). Sie kön-
fältigt werden. Auf die zahlreichen Anwendungen der nen von Bakterien isoliert und in Hefen übertragen
PCR werden wir später nochmals zurückkommen. werden, oder auch umgekehrt. Ein weiteres nützliches
Werkzeug für die Klonierung eukaryontischer Gene
sind künstliche Hefechromosomen (YAC; yeast arti-
20.1.5 Die Klonierung und Expression ficial chromosomes). Sie enthalten die wichtigen Funk-
eukaryontischer Gene tionselemente eukaryontischer Chromosomen wie
einen Replikationsursprung, ein Centromer und zwei
Nachdem ein bestimmtes Gen in Wirtszellen kloniert Telomere und zusätzlich eingebaute Fremd-DNA. Diese
(= vervielfältigt) wurde, kann das davon codierte Pro- Vektoren verhalten sich bei der Mitose wie natürliche
tein in größeren Mengen für Forschungszwecke oder Chromosomen, wobei die Fremd-DNA bei der Vermeh-
zur Vermarktung (vgl. Abschnitt 20.4) hergestellt wer- rung der Hefezellen mitrepliziert und damit kloniert
den. Klonierte Gene können in Bakterienzellen oder in wird. Solche Vektoren wurden beispielsweise bei der Teil 3
eukaryontischen Zellen exprimiert werden, wobei ersten künstlichen Synthese eines vollständigen Bakte-
jedes System seine Vor- und Nachteile hat. riengenoms eingesetzt.
Ein weiterer Grund dafür, eukaryontische Wirtszellen
Bakterielle Expressionssysteme zur Expression klonierter Gene aus anderen Eukaryon-
Die Expression eines klonierten Eukaryontengens kann ten einzusetzen, ist die spezifische Modifikation der
sich in Bakterienzellen als schwierig erweisen, weil sich Proteine nach der Translation, die für ihre Funktion
einige Mechanismen der Genexpression bei Pro- und entscheidend sein kann. Dabei kann es sich um die
Eukaryonten unterscheiden. Selbst wenn die Transkrip- kovalente Verknüpfung von Phosphat- oder Methyl-
tion und Translation im Bakterium gelingt, verliert das gruppen handeln, oder auch um das Anhängen von
Genprodukt (Protein) oft seine normale Aktivität. Um Lipid- oder Zuckerresten (bei Letzterem spricht man
die molekulargenetischen Schwierigkeiten hinsichtlich von Glykosylierung). Bakterienzellen können diese
der Funktionalität von Promotoren und anderen Steue- Modifikationen oft nicht durchführen, da ihnen hierzu
rungssequenzen zu umgehen, werden normalerweise die enzymatische Ausstattung fehlt. Selbst die euka-
spezielle Vektoren eingesetzt, die an den Produktions- ryontischen Hefezellen können nicht jedes Protein aus
organismus angepasst sind. Ein solcher Expressions- anderen Eukaryonten in funktionstüchtiger Form her-
vektor ist oft ein Plasmid, das einen starken wirtseige- stellen. So unterscheidet sich etwa die posttrans-
nen Promotor (hier für Bakterien) enthält. Dieser liegt lationale Glykosylierung bei Zellen von Säugetieren
normalerweise knapp oberhalb („stromaufwärts“) der wie dem Menschen in der Art der Zuckerreste drastisch
Restriktionsschnittstellen, in die der codierende Bereich von der in den einzelligen Hefen. Dieses Problem wird
des eukaryontischen Gens, im richtigen Leseraster, ein- heute mit gentechnisch hergestellten Hefestämmen
gesetzt werden kann. Die bakterielle Wirtszelle erkennt umgangen, die menschliche Glykosylasen exprimieren
dann ihren Promotor und transkribiert das unter seiner („humanisierte Hefen“). In anderen Fällen lässt sich die
Kontrolle stehende Gen. Entsprechende Expressions- Expression rekombinanter DNA in tierischen Zellkultu-
vektoren erlauben so die Synthese vieler eukaryonti- ren nicht vermeiden, zu denen verschiedene Säuger-
scher Proteine in Bakterienzellen. zelllinien, aber auch einige Insektenzellen (infiziert mit
Ein weiteres Problem bei der Expression eukaryonti- modifizierten Baculoviren) gehören. Diese verursachen
scher Gene in Bakterien ist das Auftreten von nicht- allerdings meist höhere Kosten, bei deutlich geringeren
codierenden Abschnitten (Introns, siehe Konzept 17.3). Proteinausbeuten.
Introns führen zu sehr großen und schwer zu klonieren- Rekombinante DNA kann außer über die beschriebe-
den Gensequenzen und verhindern deren richtige nen Klonierungsvektoren noch mit einigen anderen
Expression, da Bakterien keinen Spleißapparat zur Methoden in eukaryontische Zielzellen eingebracht
Prozessierung von prä-mRNAs besitzen. Dieses Problem werden. Eine davon ist die Elektroporation, bei der mit
lässt sich durch die Verwendung von sogenannter cDNA einem kurzen Stromstoß bei hoher Voltzahl kurzzeitig
(complementary DNA; siehe Abbildung 20.11) umge- Löcher in der Plasmamembran erzeugt werden, durch
hen, die nur Exon-Sequenzen enthält. die die DNA eindringen kann. Diese Technik ist zum
Beispiel für Hefe- und für Bakterienzellen mit geringen
Eukaryontische Klonierungs- und technischen Modifikationen gleichermaßen einsetzbar.
Expressionssysteme Alternativ können Forscher auch gezielt winzige
Die beschriebenen Probleme der Expression eukaryon- Mengen DNA oder mRNA mit einer sehr feinen Nadel
tischer Gene in Bakterien lassen sich durch die Ver- direkt in eine eukaryontische Zelle injizieren. Um DNA
wendung eukaryontischer Wirtszellen vermeiden. Dazu in Pflanzenzellen einzubringen, bedient man sich bei
sind insbesondere Hefezellen (meistens Saccharomy- zweikeimblättrigen Pflanzen gern des phytopathogenen

537
20 Gentechnik in der Biotechnologie

Bodenbakteriums Agrobacterium tumefaciens, das wir Einfachere Beispiele sind in Abbildung 17.6 gezeigt,
später noch näher besprechen werden, ebenso wie die wo ein Gen der Taufliege in einer Tabakpflanze expri-
Alternativen, die für einkeimblättrige Pflanzen, zum miert wurde und das einer Qualle in einem Schwein.
Beispiel verschiedene Getreidearten mit landwirtschaft- Aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung verwen-
licher Bedeutung, entwickelt wurden. Letztlich beruhen den also alle Organismen sehr ähnliche Mechanismen
die meisten dieser Methoden darauf, dass die Fremd- zur Steuerung der Genexpression. Diese Gemeinsam-
DNA in das Genom der Wirtszelle integriert und von keit ist die Grundlage vieler gentechnischer Metho-
dort aus exprimiert wird. den, die in diesem Kapitel beschrieben sind.
Um die Funktionsweise eines bestimmten Proteins zu
untersuchen, können Forscher verschiedene mutierte
Formen (Allele) des für dieses Protein codierenden  Wiederholungsfragen 20.1
Gens in eukaryontische Zellen einbringen. Die Zellen
produzieren dann die verschiedenen Versionen des Pro- 1. Die Erkennungssequenz für das Restriktions-
teins und lassen so über die auftretenden Phänotypen enzym PvuI lautet
Rückschlüsse auf die ursprüngliche Proteinfunktion zu. 5'-CGATCG-3'
Für solche Experimente können auch Vektoren mit vira- 3'-GCTAGC-5'
len Sequenzen eingesetzt werden, die die Integration Das Enzym schneidet zwischen T und C in je-
der eingebrachten DNA in ein Chromosom und damit dem Strang und erzeugt so kohäsive Enden.
Teil 3 die stabile Expression des codierten Gens erlauben. Mit Welche Art kovalenter Bindungen wird hier
dieser Methode können auch Gene für nicht-codierende gespalten?
RNAs (Konzept 18.3) exprimiert werden, um deren
Rolle bei der Genexpression zu untersuchen. 2. ZEICHENÜBUNG Ein Strang eines DNA-Mole-
küls hat die folgende Sequenz:
Genexpression jenseits von Artgrenzen und
5'-CCTTGACGATCGTTACCG-3'. Zeichnen Sie den ande-
evolutionärer Verwandtschaft
ren Strang. Wird diese DNA von PvuI geschnit-
EVOLUTION Dass eukaryontische Proteine überhaupt in ten? – Wenn ja, zeichnen Sie die Produkte.
Bakterien hergestellt werden können (auch wenn sie
vielleicht nicht richtig modifiziert werden), ist schon 3. Welche Schwierigkeiten könnten auftreten,
erstaunlich, wenn man die fundamentalen Unterschiede wenn ein Plasmidvektor und eine bakterielle
zwischen prokaryontischen und eukaryontischen Zellen Wirtszelle für die Großproduktion eines von
bedenkt. Tatsächlich gibt es zahlreiche Gene, die ihre einem eukaryontischen Gen codierten Pro-
Funktion perfekt ausüben können, wenn sie aus einer teins eingesetzt werden sollen?
Art isoliert und in eine andere, sehr verschiedene Art,
4. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Vergleichen sie
eingebracht werden. Diese Beobachtungen stützen die
Hypothese eines gemeinsamen Ursprungs aller heute Abbildung 20.8 mit Abbildung 16.20. Wie
lebenden Arten. kann DNA in der PCR repliziert werden, ohne
Ein Beispiel dafür bietet das sogenannte Pax-6-Gen, dass sich die Fragmente bei jedem Durchlauf
das in so unterschiedlichen Tiergruppen wie Verteb- eines Zyklus verkürzen?
raten und Taufliegen gefunden wurde. Das Produkt des
Pax-6-Gens in Vertebraten (das PAX-6-Protein) steuert Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
ein komplexes Programm der Genexpression, das zur
Entwicklung von Augen mit einer Linse führt. Unter
dem Einfluss des arteigenen Pax-6-Gens entwickelt
sich dagegen ein deutlich unterschiedliches Kom- Die Verwendung der Gen-
plexauge in der Taufliege. Als Forscher das Pax-6-Gen technik zur Untersuchung der
der Maus isolierten und es anstelle des entsprechen-
den Gens in der Taufliege exprimierten, waren sie Expression und Funktion
überrascht, dass auch das Mausgen die Bildung eines
Komplexauges steuern konnte (vgl. auch Abbildung
50.16). Umgekehrt steuerte das Pax-6-Gen der Tau-
von Genen
20.2
fliege die Entwicklung eines normalen Froschauges, Ein wissenschaftlicher Ansatz, um ein biologisches
wenn es in den Embryo eines Frosches eingebracht System zu verstehen, ist der Versuch, es in seine
wurde. Obwohl also die Programme der Genexpres- Bestandteile zu zerlegen und deren Bedeutung zu
sion in Vertebraten und der Taufliege letztlich zur Ent- untersuchen. Die Analyse wann und wo einzelne Gene
wicklung sehr verschiedener Augentypen führen, kön- oder Gengruppen exprimiert (= transkribiert) werden,
nen sich die Pax-6-Gene in ihrer Funktion gegenseitig kann so zur Aufklärung ihrer Funktion beitragen.
ersetzen (komplementieren). Dies deutet darauf hin,
dass die Gene in der Evolution einen sehr alten
gemeinsamen Vorläufer haben.

538
20.2 Die Verwendung der Gentechnik zur Untersuchung der Expression und Funktion von Genen

20.2.1 Genexpressionsanalyse Die gelbe Sonde hybridisiert Die blaue Sonde hybridisiert
mit mRNA von Zellen, die das mit mRNA von Zellen, die
wingless-Gen (wg) exprimieren, das engrailed-Gen (en)
Biologen, die bestimmte Zelltypen in einem multizellu- das für ein sezerniertes Signal- exprimieren, das für einen
lären Organismus untersuchen, wie etwa Krebszellen protein codiert. Transkriptionsfaktor codiert.
oder die Gewebe eines sich entwickelnden Embryos, 3′ 5′ 3′ 5′
versuchen als Erstes bestimmte Gene zu finden, die TAACGGTTCCAGC CTCAAGTTGCTCT
in diesen Zellen exprimiert werden. Die schnellste AUUGCCAAGGUCG GAGUUCAACGAGA
Methode dies zu untersuchen ist normalerweise der 5′ 3′ 5′ 3′
Nachweis der von den Genen transkribierten mRNAs. wg mRNA en mRNA
Wir werden zunächst Methoden kennenlernen, die sich Zellen Zellen
auf die Suche nach bestimmten Mustern in der Expres- exprimieren exprimieren
sion bestimmter Einzelgene konzentrieren. Danach wer- das wg-Gen das en-Gen

den wir Möglichkeiten aufzeigen, wie ganze Gengrup-


pen charakterisiert werden können, die nur in den Kopf Thorax Abdomen
Zellen oder Geweben exprimiert werden, die untersucht
werden sollen. Letztlich beruhen alle diese Ansätze auf
der Basenpaarung zwischen komplementären Nucleo-
tidsequenzen, der Hybridisierung.
Teil 3
Untersuchung der Expression einzelner Gene
Nehmen wir an, wir haben ein Gen kloniert, das eine
wichtige Rolle in der Embryonalentwicklung von Droso- 50 μm T1 T2 T3 A1 A2 A3 A4 A5
phila melanogaster (Taufliege) spielt. Als Erstes möch- Segment-
ten wir vielleicht wissen, in welchen der Zellen des grenzen
Embryos das Gen exprimiert wird, oder anders gesagt:
Wo im Embryo findet sich die entsprechende mRNA?
Der Nachweis der mRNA beruht auf der Hybridisierung
von Nucleinsäuren mit komplementären Sequenzen, die
sichtbar gemacht werden können. Das komplementäre
Molekül ist eine kurze, einzelsträngige Nucleinsäure
(RNA oder DNA), die als Sonde bezeichnet wird. Wenn Kopf Thorax Abdomen
wir unser kloniertes Gen als Matrize benutzen, können Abbildung 20.10: Die In situ-Hybridisierung zur Bestimmung der
wir eine Sonde synthetisieren, die zur mRNA komple- Gewebe, in denen bestimmte Gene exprimiert werden. Ein Droso-
mentär ist. Wenn beispielsweise ein Teil der mRNA- phila-Embryo wurde mit einer Lösung behandelt, die Sonden für fünf ver-
Sequenz wie folgt wäre: schiedene mRNAs enthält, wobei jede Sonde mit einem anderen Fluoreszenz-
farbstoff markiert wurde. Der Embryo wurde dann von der Bauchseite aus
… CUCAUCACCGGC … (ventral) in einem Fluoreszenzmikroskop aufgenommen, wie im mittleren
5′ 3′ Bild zu sehen ist. Jede Farbe zeigt die Expression des jeweiligen Gens anhand
der nachgewiesenen mRNA an. Die Pfeile der gelb und blau markierten Zell-
Dann müsste die synthetisierte, einzelsträngige DNA-
gruppen, die oberhalb des Fotos eingezeichnet sind, geben eine vergrößerte
Sonde die folgende Sequenz haben: Ansicht der Hybridisierungen der Sonden-Nucleinsäuren zu ihren entspre-
chenden mRNAs wieder. Gelbe Zellen, die das wg -Gen exprimieren, wechsel-
wirken mit den blauen Zellen, die das en -Gen exprimieren. Diese Wechselwir-
3′ GAGTAGTGGCCG 5′ kung hilft letztlich bei der Ausbildung der Muster in den Körpersegmenten.
Unterhalb des Fotos sind die acht Körpersegmente schematisch dargestellt,
Jede Sonde wird während ihrer Synthese mit einem die hier sichtbar gemacht wurden.
fluoreszierenden Farbstoff markiert, so dass wir sie
später nachweisen können. Mit einer Lösung, die diese Andere Methoden zum Nachweis von mRNA eignen
Sonde enthält, wird dann ein Drosophila-Embryo sich besser, wenn es darum geht, die Menge der gebil-
behandelt, so dass die Sonde mit ihren komplementä- deten mRNA in verschiedenen Proben miteinander zu
ren Sequenzen nur in denjenigen embryonalen Zellen vergleichen, beispielsweise in verschiedenen Zell-
hybridisiert, die unser Gen exprimieren. Da uns diese typen oder zwischen den gleichen Zellen eines
Methode erlaubt, die mRNAs am Ort ihrer Bildung Embryos in verschiedenen Entwicklungsstadien. Eine
in einem intakten Organismus nachzuweisen, wird sie solche Methode, die darüber hinaus auch noch
als In situ-Hybridisierung (lat. am Platz) bezeichnet. schneller und empfindlicher ist, ist die Reverse-Trans-
Unterschiedliche Sonden können mit verschiedenen kriptase-Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR).
Farbstoffen markiert werden, so dass ein gleichzeitiger Zu Beginn der RT-PCR werden zunächst die mRNAs
Nachweis verschiedener mRNAs möglich ist. Dies in den zu untersuchenden Proben in doppelsträngige
kann auch ästhetisch zu wertvollen Ergebnissen füh- DNA mit den entsprechenden Sequenzen umgeschrie-
ren (Abbildung 20.10). ben. Dazu wird als Erstes das Enzym Reverse Trans-

539
20 Gentechnik in der Biotechnologie

kriptase zugesetzt (aus einem Retrovirus, vgl. Abbil- 1 Zugabe von


Reverser Transkriptase DNA im
dung 19.8) und in vitro eine einzelsträngige DNA als Zellkern
zu einer aus einer Zelle
reverses Transkript jedes der mRNA-Moleküle herge- isolierten mRNA-Probe.
mRNAs im
stellt (Abbildung 20.11). Zur Erinnerung: eukaryon- Cytoplasma
tische mRNAs enden mit einer Reihe von Adenin-
nucleotiden („Poly-A-Schwanz“). Dies erlaubt die 2 Die Reverse
Transkriptase stellt den
Hybridisierung mit einem kurzen Einzelstrang von ersten DNA-Strang an- Reverse Poly-A-
Thymidin-Desoxynucleotiden (Poly-dT), die als Primer hand der mRNA-Matrize Transkriptase Schwanz
mRNA
her, wobei ein kurzes 5′ A A A A A A 3′
für die Synthese des DNA-Stranges dienen. Nachdem Oligo-dT-Nucleotid 3′ T T T T T 5′
die mRNA enzymatisch abgebaut wurde, wird der als Primer dient.
DNA- Oligo-dT-
zweite DNA-Strang komplementär zum ersten syntheti- 3 Die mRNA wird Strang Nucleotid
siert. Die so erhaltene doppelsträngige DNA wird, weil durch die RNase-H- (Primer)
Aktivität der Reversen
sie zur mRNA komplementär ist, als cDNA bezeichnet. Transkriptase abgebaut. 5′ A A A A A A 3′
3′ T T T T T 5′
Da sie aus bereits prozessierter mRNA hergestellt
wurde, enthält diese cDNA keine Introns und kann, 4 Da die DNA-Poly-
merase-Aktivität der
wie bereits beschrieben, zur Genexpression in Bakte- Reversen Transkriptase
rien eingesetzt werden. Um am Beispiel eines unserer eine hohe Fehlerrate
5′ 3′
besitzt, wird nun durch 3′ 5′
Drosophila-Gene die genaue zeitliche Abfolge seiner eine zusätzliche DNA-
Teil 3 Expression zu bestimmen, würden wir zunächst alle Polymerase der zweite DNA-
mRNAs aus verschiedenen Entwicklungsstadien des DNA-Strang an einem Polymerase
Primer synthetisiert, der
Drosophila-Embryos isolieren und aus jedem Stadium der Lösung zugesetzt
cDNAs herstellen (Abbildung 20.12). Mithilfe einer wird. 5′ 3′
3′ 5′
normalen PCR könnten wir dann von jedem uns inter- 5 Man erhält so eine cDNA
cDNA, die die gesamte
essierenden Gen die cDNA in den Proben nachweisen. codierende Sequenz
Wie wir in Abbildung 20.8 gezeigt haben, kann mit- eines Gens umfasst, aber
hilfe der PCR sehr schnell ein große Zahl von Kopien keine Introns enthält.

eines bestimmten DNA-Abschnittes erzeugt werden, Abbildung 20.11: Die Herstellung komplementärer DNA (cDNA)
indem Primer an beiden Enden des entsprechenden eines eukaryontischen Gens. Komplementäre DNA wird in vitro mit
Bereichs hybridisiert und zur Synthese verwendet wer- mRNA als Matrize für die Synthese des ersten DNA-Strangs hergestellt. Da
den. Im vorliegenden Beispiel würden wir die Primer mRNA nur Exonsequenzen enthält, trägt die davon synthetisierte cDNA
nur die proteincodierenden Bereiche des Gens. Obwohl hier zur Verein-
so wählen, dass sie einem Fragment unseres Droso-
fachung nur eine mRNA gezeigt ist, würde tatsächlich ein Gemisch aus
phila-Gens entsprechen. Die aus den verschiedenen
cDNAs gebildet, das alle mRNAs in der verwendeten Probe repräsentiert.
Entwicklungsstadien des Embryos erhaltenen cDNAs In Abbildung 20.12 ist gezeigt, wie man darin eine bestimmte mRNA
würden dann jeweils als Matrize für die PCR-Verviel- identifizieren kann.
fältigung eingesetzt. Nach einer Gelelektrophorese wür-
den dann nur solche Proben ein PCR-Fragment zeigen,
die ursprünglich auch mRNA unseres Gens enthielten, Untersuchung der Expression von miteinander
also das Gen exprimierten. Eine Verbesserung dieser wechselwirkenden Gengruppen
Methode nutzt Farbstoffe, die nur dann fluoreszieren, Ein Ziel der Biologie ist es, zu verstehen, wie das kom-
wenn sie an das doppelsträngige PCR-Produkt binden. plexe Zusammenspiel von Genen und ihren Produkten
Moderne PCR-Geräte (sogenannte „Thermocycler“) zu einem funktions- und lebensfähigen Gesamtorganis-
können diese Fluoreszenz messen, womit sich die mus führt. Da die Genome vieler Arten bereits vollstän-
Menge des PCR-Produkts auch ohne eine anschlie- dig sequenziert sind, kann man die Expression großer
ßende Gelelektrophorese genau bestimmen lässt. Dies Gruppen von Genen verfolgen – ein Ansatz, der zur
ist ein deutlicher Vorteil gegenüber den klassischen Systembiologie führt. Dabei werden zunächst große
Methoden zur Bestimmung von mRNA-Mengen. Die Datenmengen gesammelt, um zu bestimmen, welche
RT-PCR kann auch verwendet werden, um verschie- Gene in verschiedenen Geweben oder in verschiedenen
dene Gewebe eines Tieres zu einem bestimmten Zeit- Entwicklungsstadien exprimiert werden. Bei Mikro-
punkt zu untersuchen, etwa um Unterschiede in der organismen werden solche Untersuchungen beispiels-
gewebespezifischen Genexpression, d.h. der Menge weise auch unter verschiedenen Wachstumsbedingun-
bestimmter mRNAs, zu finden. In den wissenschaft- gen durchgeführt. Bei den anfallenden Datenmengen
lichen Übungen können Sie die Daten analysieren, die spricht man hier auch von „omics-Ansätzen“ („Geno-
bezüglich der Expression eines Genes erhalten wurden, mics, Transcriptomics, Metabolomics“ etc.). Dabei sol-
das an der Entwicklung der Pfoten bei Mäusen beteiligt len beispielsweise Wechselwirkungen in Netzwerken
ist. In dieser Untersuchung wurden zwei verschiedene von Gengruppen identifiziert werden, die sich auf die
Methoden zum Nachweis der mRNA herangezogen. Genexpression über das gesamte Genom hinweg auswir-
Eine dieser Methoden war eher qualitativ (In situ- ken.
Hybridisierung), während die andere einen quantitati-
ven Ansatz wählte (RT-PCR).

540
20.2 Die Verwendung der Gentechnik zur Untersuchung der Expression und Funktion von Genen

strängiger DNA-Fragmente, die in einem geordneten,


 Abbildung 20.12: Arbeitstechniken engmaschigen Muster auf einem Glasträger aufgetra-
gen und fixiert sind. Die fixierten DNA-Fragmente
Die RT-PCR zur Analyse der Expression eines
repräsentieren eine Vielzahl unterschiedlicher Gene,
bestimmten Gens die im Idealfall alle proteincodierenden Gene eines
Anwendung Bei der RT-PCR wird das Enzym Lebewesens umfassen.
Reverse Transkriptase zusammen mit der PCR- Die Grundstrategie solcher Analysen ist die Isolierung
Methode und einer Gelelektrophorese verwendet. der mRNAs, die von einer zu untersuchenden Zelle
RT-PCR kann eingesetzt werden, um die Expres- hergestellt werden. Diese werden dann als Matrizen für
sion von Genen in verschiedenen Proben mitein- die Synthese von cDNAs mithilfe der Reversen Trans-
ander zu vergleichen. Beispielsweise können Gene kriptase verwendet. Für Microarray-Analysen werden
aus verschiedenen Embryonalstadien eines Tieres, die cDNAs während der Synthese mit fluoreszierenden
Proben aus verschiedenen Geweben, oder auch die Farbstoffen markiert und dann mit dem DNA-Chip hyb-
gleichen Zellen unter verschiedenen Umwelt- ridisiert. Meistens werden die cDNAs von zwei ver-
bedingungen miteinander verglichen werden. schiedenen Proben (etwa aus zwei Geweben) mit zwei
Methode Im hier gezeigten Beispiel wurden Pro- unterschiedlichen Farbstoffen markiert und gleichzeitig
ben aus sechs verschiedenen Embryonalstadien mit einem DNA-Chip hybridisiert. Abbildung 20.13
von Drosophila verwendet, um eine bestimmte zeigt das Ergebnis eines solchen Experiments, durch
mRNA zu untersuchen. (In den Schritten 1 und welches beispielsweise Gruppen von Genen identi- Teil 3
2 ist nur die mRNA aus einem einzigen Stadium fiziert werden können, die nur in einem der beiden
abgebildet.) Gewebe exprimiert werden. Mithilfe der Gentechnik
und durch die Automatisierung können solche Untersu-
1 Die cDNA-Synthese erfolgt mRNAs chungen einfach und in großem Maßstab durchgeführt
durch die Inkubation der mRNA werden. Damit lässt sich die Expression von Tausenden
mit Reverser Transkriptase und
den anderen notwendigen von Genen in einem einzigen Ansatz bestimmen.
Komponenten. Der anfangs beschriebene Fortschritt in der schnel-
cDNAs len und kostengünstigen Sequenzierung großer DNA-
2 Die PCR-Vervielfältigung Primer Mengen hat eine weitere Alternative zur genomweiten
(Amplifikation) wird mit Untersuchung der Genexpression eröffnet. Hier wer-
Hilfe von Primern durch- den einfach cDNA-Proben aus verschiedenen Geweben
geführt, die für das Droso-
phila-Zielgen spezifisch oder unterschiedlichen embryonalen Entwicklungs-
spezifisches
sind. stadien gewonnen und sequenziert, um herauszufin-
Gen
3 Nach einer Gelektrophorese den, welche Gene exprimiert werden. Je häufiger eine
werden die amplifizierten Sequenz auftaucht, umso höher war die ursprüngliche
DNA-Produkte sichtbar gemacht,
die nur in solchen Proben gebildet
mRNA-Konzentration und umso stärker wurde das
werden, in denen das fragliche Gen transkribiert. Dieser einfache Ansatz wird als
Drosophila-Gen auch transkribiert RNA-Sequenzierung, oder kurz RNA-Seq, bezeichnet,
(exprimiert) wurde. Embryonic stages
1 2 3 4 5 6 obwohl eigentlich die von der mRNA abgeleitete
cDNA sequenziert wird. Diese Methode wird immer
häufiger eingesetzt, je billiger die DNA-Sequenzierung
wird. In der Regel wird aber die Expression einzelner
Gene meist trotzdem noch durch eine RT-PCR oder
andere Methoden überprüft.
Über die Grundlagenforschung mit der Untersuchung
Ergebnis Die mRNA des hier gezeigten Gens von Expressionsnetzwerken hinaus können Micro-
wird erst ab dem zweiten Embryonalstadium array- und RNA-Seq-Analysen auch viel zu einem
gebildet, dann aber bis zum sechsten Stadium besseren Verständnis von Krankheitsprozessen und zu
exprimiert. Die Länge des amplifizierten Frag- Diagnoseverfahren beitragen, die häufig zu verbesser-
ments (die der Position im Gel entspricht), hängt ten Therapieansätzen führen. So hat beispielsweise der
vom Abstand der Primer zueinander ab, die hier Vergleich der Genexpression von Tumorgewebe aus
verwendet wurden (nicht von der Länge der Brustkrebs-Patientinnen mit der von gesundem Brust-
mRNA selbst). gewebe bereits zu besseren und wirksameren Behand-
lungsmöglichkeiten geführt (siehe Abbildung 18.27).
Letztlich sollten die mit den beschriebenen Methoden
Genomweite Untersuchungen zur Transkription von gewonnenen Erkenntnisse uns auch einen Überblick
Genen basieren auf sogenannten DNA-Microarrays. über die Rolle der genetischen Wechselwirkungen in
Ein DNA-Microarray – oder auch „DNA-Chip“ – ent- der Entwicklung eines Organismus und in der Auf-
hält winzige Mengen einer großen Anzahl einzel- rechterhaltung seiner Lebensfunktionen verschaffen.

541
20 Gentechnik in der Biotechnologie

 Wissenschaftliche Übung

Die Analyse der Genexpression nach Menge Durchführung des Experiments Zur Untersuchung
und Expressionsort der Regulation der Hoxd13-Transkription wurden
zunächst genetisch veränderte Mäuse (transgene
Wie wird ein bestimmtes Hox-Gen während der Mäuse) hergestellt, in denen verschiedene DNA-
Pfotenentwicklung bei Mäusen reguliert? Hox-Gene Bereiche im 5'-Bereich („stromaufwärts“) des Gens
codieren für Transkriptionsfaktoren, d.h. Proteine, deletiert waren. Dann wurden die Menge und das
die beispielsweise die Expression ganzer Gengrup- Muster der Expression der Hoxd13-mRNA in den
pen während der Entwicklung zum ausgewachsenen sich entwickelnden Pfoten von zwölfeinhalb Tage
Tier steuern (siehe Konzept 21.6 für weitere Infor- alten, transgenen Mausembryonen mit denen von
mationen zu Hox-Genen). Eine Gruppe der Hox- gleichaltrigen Embryonen normaler Mäuse vergli-
Gene, die Hoxd-Gene, spielt eine Rolle für die rich- chen.
tige Anordnung bei der Entwicklung von Fingern Die Forscher wählten zwei verschiedene Metho-
und Zehen an den Enden von Gliedmaßen. Anders den: Aus einigen Mäusen präparierten sie mRNA
als das mPGES-1-Gen, das in der Übung in Kapitel aus den Pfoten der Embryonen und bestimmten die
18 verwendet wurde, besitzen Hox-Gene sehr große Gesamtmenge der Hoxd13-mRNA mit quantitativer
regulatorische Bereiche, so dass einige Kontrollregio- RT-PCR. In einem zweiten Ansatz mit den gleichen
Teil 3 nen Hunderte von Kilobasenpaaren (kBp = 1.000 transgenen Mäusen führten sie eine In situ-Hybri-
Basenpaare) vom Gen entfernt liegen können. disierung durch, um herauszufinden, wo genau in
Wie finden in solchen Fällen Forscher die wich- den Pfoten die mRNA des Hoxd13-Gens gebildet
tigen Kontrollelemente in der DNA? – Zunächst neh- wurde. Bei dieser speziellen Technik erscheint die
men sie schrittweise große Bereiche der DNA heraus Hoxd13-mRNA blau, oder bei höheren Mengen auch
(d.h. sie stellen Deletionen her) und untersuchen die schwarz gefärbt.
Auswirkungen auf die Genexpression. In dieser Experimentelle Daten Die Zeichnung unten links
Übung sollen sie Ergebnisse aus zwei verschiedenen, gibt im oberen Teil den sehr großen, regulatorischen
sich gegenseitig ergänzenden, Versuchsansätzen ver- DNA-Bereich stromaufwärts des Hoxd13-Gens wie-
gleichen, die die Expression eines bestimmten Hoxd- der. Die unterbrochene Linie deutet die große Lücke
Gens (Hoxd13) beinhalten. In einem Ansatz kann zwischen dem Gen und seinen Kontrollelementen
man die Genexpression quantifizieren, während sich an.
der andere Ansatz eher auf die Lokalisierung der Der untere Teil der Zeichnung auf der linken Seite
Zellen bezieht, in denen das Gen exprimiert wird und das Balkendiagramm zeigen als Erstes das voll-
(ortsspezifische Genexpression) und nur bedingt ständige Gen (830 kBp) und darunter drei in den
eine Quantifizierung zulässt. transgenen Tieren veränderte DNA-Bereiche. Jedem
dieser drei Gene fehlt ein bestimmter regulatorischer
Bereich. Dies wird auch als „Dele-
regulatorischer Bereich Promotor
tion” eines regulatorischen Ele-
Gen mentes bezeichnet. Ein rotes
A B C Hoxd13 Hoxd13 mRNA kennzeichnet diese experimentell
entfernten Bereiche (Fragment A,
B oder C).
Veränderungen Das Balkendiagramm zeigt die
A B C relative Menge der Hoxd13-mRNA
untersuchte Segmente an, die in den Pfoten der entspre-
chenden Mutanten von zwölfein-
A B C halb Tage alten Embryonen nach-
gewiesen wurde. Die Expression
in der „Wildtyp“-Maus mit dem
A B C
intakten Kontrollbereich des Gens
(oberer Balken) wurde dabei auf
100 Prozent gesetzt.
Die Bilder rechts sind fluores-
A B C
zenzmikroskopische Aufnahmen
von Pfoten der Embryonen, in
0 20 40 60 80 100 blau = Hoxd13- denen die Hoxd13-mRNA blau
mRNA; weiße
relative Menge der Hoxd13-mRNA (%) Dreiecke = Position oder schwarz gefärbt erscheint und
des späteren so anzeigt, wo das Gen exprimiert
Daumens
wird. Die weißen Pfeile zeigen an,
wo sich später der „Daumen“ ent-
wickeln würde.

542
20.2 Die Verwendung der Gentechnik zur Untersuchung der Expression und Funktion von Genen

Datenauswertung B und C fehlen? Dazu sollten Sie sich die ver-


schiedenen Pfoten sehr genau ansehen und
1. Die Forscher nahmen an, dass alle drei Kontroll- feststellen, worin sie sich unterscheiden.
elemente (A, B und C) für eine maximale Ex-
pression des Hoxd13-Gens gebraucht werden. 3. (a) Welchen Einfluss hat nur das Fehlen des
Durch die Bestimmung der Hoxd13-mRNA- Fragments C auf die Menge der Hoxd13-mRNA
Menge in den Pfoten, dort wo sich die Klauen im Vergleich zur Kontrolle? (b) Kann man die-
entwickeln würden, konnten sie den Einfluss sen Effekt auch in den In situ-Hybridisierungen
der einzelnen Elemente auf diese Expression erkennen? (c) Wie würden Sie das Muster der
ermitteln, bzw. von verschiedenen Kombinatio- Genexpression beschreiben, das in den Pfoten
nen der Deletionen. Beantworten Sie die folgen- von Mutanten zu sehen ist, denen nur das Frag-
den Fragen anhand des Balkendiagramms: (a) ment C fehlt? Vergleichen Sie dies mit der Kon-
Welche der vier Messungen diente als Kontrolle trolle und den Pfoten der Tiere, denen B und C
im Experiment? (b) Die ursprüngliche Hypo- gleichzeitig fehlen.
these war, dass alle drei Elemente für eine hohe
Expression des Hoxd13-Gens gebraucht wer- 4. (a) Wenn die Forscher nur die Menge der
den. Wird dies durch die Ergebnisse bestätigt? Hoxd13-mRNA bestimmt und auf die In situ-
Begründen Sie Ihre Antwort. Hybridisierung verzichtet hätten, welche Be-
Teil 3
deutung der regulatorischen Elemente für die
2. (a) Welchen Einfluss hat die gleichzeitige Ent- Hoxd13-Genexpression in der Pfotenentwick-
fernung der Elemente B und C auf die Menge lung hätten sie übersehen? (b) Welche Informa-
der gebildeten Hoxd13-mRNA im Vergleich tion hätten sie umgekehrt niemals erhalten,
zur Kontrolle? (b) Kann man diesen Einfluss wenn sie nur die In situ-Hybridisierung durch-
auch in den blau gefärbten Bereichen bei den geführt hätten?
In situ-Hybridisierungen sehen? (c) Wie wür-
den Sie das ortsspezifische Muster der Gen-
expression in den Pfoten derjenigen Embryo- Daten aus: T. Montavon et al., A regulatory archipelago controls Hox
nen beschreiben, denen die Kontrollbereiche genes transcription in digits, Cell 147:1132–1145 (2011).

20.2.2 Die Aufklärung der Funktion gleichgesetzt. Um Genaueres über seine Funktion zu
eines Gens erfahren, wird zunächst die DNA-Sequenz eines
bestimmten Gens mit denjenigen aus anderen Arten
Wie gehen Wissenschaftler vor, um die Funktion eines verglichen. Wenn die Funktion eines ähnlichen Gens
neu entdeckten Gens aufzuklären? – Obwohl Gene aus einer anderen Art bereits bekannt ist, besteht die
lediglich die Funktion haben, Information zu codieren, Vermutung, dass das vom fraglichen Gen codierte Pro-
wird in der neueren Literatur die Funktion eines Gens tein eine ähnliche Aufgabe erfüllt. Die aus den Expres-
oft mit der Funktion des von ihm codierten Proteins sionsanalysen gewonnenen Erkenntnisse darüber, wann

Jeder Punkt auf diesem Träger enthält identische


Kopien eines DNA-Fragments mit jeweils einem Die Gene mit den roten Abbildung 20.13: DNA-Microarray-
bestimmten Gen. Punkten werden in einem Analysen zur Bestimmung der Genex-
Gewebe transkribiert und pression. Im Labor werden cDNAs aus zwei
binden die rot markierte
cDNA-Sonde. verschiedenen menschlichen Geweben syn-
thetisiert und dabei mit fluoreszierenden
Die Gene mit den grünen roten oder grünen Farbstoffen markiert.
Punkten werden in einem Diese cDNAs werden mit einem DNA-Chip
anderen Gewebe expri- hybridisiert, der 5.760 menschliche Gene
miert und binden die grün
markierte cDNA-Sonde. (etwa ein Viertel aller proteincodierenden
Gene) trägt. Die Fluoreszenz jedes einzelnen
Die Gene mit den gelben Gens ergibt das hier gezeigte Muster. Die
Punkten werden in beiden
Geweben exprimiert und Stärke der Fluoreszenz an jedem Punkt dient
binden sowohl die rote, als als Maß für die relative Genexpression jedes
auch die grüne cDNA- Gens in den beiden ursprünglichen Gewe-
Sonde, so dass sich beide ben: rote Punkte zeigen die Expression in
Farben überlagern.
einem der Gewebe an, grüne Punkte die im
Die Gene in den Bohrun- anderen Gewebe. Gene mit gelben Punkten
gen, die nicht fluoreszieren,
werden in keinem der werden in beiden Geweben exprimiert, sol-
 DNA-Microarray che ohne Fluoreszenz (schwarze Punkte) in
(tatsächliche Größe) beiden Gewebe transkri-
biert, so dass sie auch keine keinem der beiden Gewebe.
der cDNA-Sonden binden.

543
20 Gentechnik in der Biotechnologie

und wo im Organismus das Gen exprimiert wird, kön- Sequenzen an einem bestimmten chromosomalen Locus
nen diese Annahme unterstützen. Um dies weiter zu kleinere Abweichungen in der Nucleotidsequenz zwi-
untermauern, kann darüber hinaus das Gen inaktiviert schen einzelnen Individuen auf. Solche DNA-Sequenz-
und die Auswirkungen auf den Organismus (Phänotyp) varianten bezeichnet man als Polymorphismen (griech.
untersucht werden. Oft wird dazu das Wildtyp-Gen teil- poly, viel, viele + morphos, Gestalt, Form).
weise oder vollständig aus dem Genom der Zielzelle Zu den nützlichsten dieser genetischen Marker, die
entfernt (sogenannte Deletionen oder „knock outs“). zur Identifikation von Erbkrankheiten eingesetzt wer-
Eine andere Möglichkeit besteht in der In-vitro-Mutage- den, gehören Variationen einzelner Basenpaare in den
nese, mit der man gezielt Mutationen (häufig den Aus- Genomen der menschlichen Bevölkerung. Ein einzelnes
tausch einzelner Basen) in einem klonierten Gen erzeu- Basenpaar, das bei mehr als einem Prozent der Bevölke-
gen kann. Dieses mutierte Gen wird dann anstelle des rung variiert, wird als Einzelnucleotidpolymorphismus
normalen Gens in die Zielzelle zurückgebracht, um die (SNP; single nucleotide polymorphism) bezeichnet.
Funktion des codierten Proteins zu verändern. Wenn SNPs treten im menschlichen Genom etwa alle 300–400
das Protein inaktiviert oder in seinen Eigenschaften ver- Basenpaare, also millionenfach, auf und zwar sowohl in
ändert ist, kann die Untersuchung der damit verbunde- codierenden wie in nichtcodierenden Abschnitten (mit
nen Phänotypen zur Aufklärung seiner normalen Funk- starken, vom Locus abhängigen Schwankungen in der
tion beitragen. Mit der gezielten Deletion von Genen, Zahl der Basenaustausche). Um eine Reihe solcher
die in den 1980er Jahren auch bei Mäusen gelungen ist, SNPs im Genom verschiedener Individuen zu entde-
Teil 3 können Forscher Mauslinien züchten, in denen ein cken, muss dieses heute nicht mehr vollständig sequen-
beliebiges Gen ausgeschaltet wurde, um seine normale ziert werden. Vielmehr lassen sich SNPs auch mit der
Rolle zu untersuchen, beispielsweise in der Entwick- sehr empfindlichen Microarraytechnik oder mithilfe der
lung zum erwachsenen Tier. Mario Capecchi, Martin PCR nachweisen.
Evans und Oliver Smithies erhielten 2007 den Nobel-
preis für die Entwicklung dieser Methode. A
Eine neuere Möglichkeit die Expression bestimmter DNA
T
Gene gezielt zu unterbinden, nutzt die sogenannte normales Allel
RNA-Interferenz (RNAi), die in Kapitel 18 beschrieben SNP

wurde. Bei diesem experimentellen Ansatz werden


C
synthetische, doppelsträngige RNA-Moleküle erzeugt,
die der Sequenz des Zielgens entsprechen. Damit kann G
Krankheiten
die vom Gen transkribierte mRNA entweder abgebaut verursachendes Allel
oder ihre Translation verhindert werden. In beiden
Fällen wird das codierte Protein nicht gebildet. Die Abbildung 20.14: Einzelnucleotidpolymorphismen (SNPs) als
genetische Marker für Krankheiten verursachende Allele. Das
RNAi-Methode war bereits überaus hilfreich für die
Schema zeigt homologe DNA-Abschnitte von zwei verschiedenen Personen-
groß angelegte Analyse der Funktionen vieler Gene
gruppen, von denen eine an einer bestimmten Erbkrankheit leidet. Perso-
sowohl im Fadenwurm (Caenorhabditis elegans), als nen, die nicht von der Krankheit betroffen sind, tragen an einem bestimm-
auch in der Taufliege (Drosophila melanogaster). ten SNP-Locus ein A/T-Basenpaar. Personen mit der Krankheit haben
Beim Menschen können aus ethischen Gründen dagegen an dieser Stelle ein C/G-Basenpaar. Ein solcher SNP ist eng mit
natürlich keine Gene ausgeschaltet werden, um ihre einem oder mehreren Allelen von Genen gekoppelt, die mit der Krankheit in
Funktion zu untersuchen. Stattdessen kann man die Verbindung gebracht werden können, aber meist nicht mit ihnen identisch.
Genome einer großen Zahl von Menschen mit einer
bestimmten Eigenschaft oder Krankheit sequenzieren, ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Was bedeutet, dass ein SNP mit
beispielsweise von Patienten mit Herzschwäche oder einem Krankheitsallel „eng gekoppelt“ ist und warum kann man deshalb
Diabetes. Weisen alle Patienten die gleichen Unter- einen SNP als genetischen Marker für die Krankheit verwenden? (Siehe
auch Konzept 15.3.)
schiede im Vergleich zu gesunden Vergleichspersonen
auf, so besteht die Möglichkeit, dass diese mit der
Fehlfunktion eines oder mehrerer Gene in Verbindung Ist ein SNP erst in allen Patienten mit einer bestimm-
stehen. Es handelt sich also gewissermaßen um natür- ten Krankheit nachgewiesen, konzentrieren sich die
liche Defektmutanten, die in der englischen Literatur Forscher auf diesen Bereich des Genoms und ermit-
tatsächlich auch als „knock outs“ bezeichnet werden. teln die DNA-Sequenz. In den meisten Fällen ist der
Für solche groß angelegten Untersuchungen, die als SNP nicht direkt für die Krankheit verantwortlich,
genomweite Kopplungsanalysen bezeichnet werden, indem er beispielsweise die Sequenz des codierten
müssen die Genome der beiden Personengruppen Proteins verändert. Tatsächlich finden sich die SNPs
nicht vollständig sequenziert werden. Vielmehr nut- fast immer in den nicht-codierenden Bereichen. Wenn
zen die Forscher dafür genetische Marker, also DNA- der genetische Marker aber nahe genug bei dem krank-
Sequenzen, die innerhalb der Bevölkerung variieren. heitsbestimmenden defekten Gen liegt, ist ein Cros-
Entsprechende Variationen innerhalb eines Gens bil- sing-over zwischen beiden bei der Bildung der Keim-
den die Grundlage für die verschiedenen Allele, wie bahnzellen in der Meiose sehr unwahrscheinlich. Der
wir am Beispiel der Sichelzellenanämie gesehen haben genetische Marker und das defekte Allel werden dann
(siehe Abbildung 17.25). Genau wie in diesen codieren- praktisch immer zusammen weitervererbt, obwohl der
den Sequenzen, treten auch in den nicht-codierenden SNP-Marker selbst keinen Einfluss auf die Krankheit

544
20.3 Die Klonierung von Organismen zur Bereitstellung von Stammzellen für die Forschung und andere Anwendungen

hat (Abbildung 20.14). Bisher wurden SNPs in Verbin- um die Gewinnung von Stammzellen, die noch nicht
dung mit Diabetes, Herzkrankheiten und verschiede- differenziert sind und sich zu verschiedenen Geweben
nen Krebsarten beschrieben und die Forscher arbeiten entwickeln können. Sie bieten damit das Potenzial,
an der Identifizierung der damit verbundenen Gene. geschädigte Gewebe oder Organe zu ersetzen.
Die bisher beschriebenen experimentellen Ansätze Das Klonieren (die klonale Vermehrung) von Pflan-
konzentrierten sich auf die Untersuchung von einzelnen zen und Tieren wurde erstmals vor über einhundert
Molekülen, in der Regel DNA und Proteine. In paralle- Jahren in der Grundlagenforschung versucht. Eine zent-
len Forschungsansätzen wurden auch effektive Metho- rale Frage war zum Beispiel, ob alle Zellen in einem
den für die Klonierung ganzer vielzelliger Organismen vielzelligen Organismus über dieselben Gene verfügen
entwickelt. Ein Ziel dieser Experimente ist, bestimmte (genomische Äquivalenz), oder ob sie im Laufe ihrer Dif-
Zelltypen zu erhalten, die sogenannten Stammzellen, ferenzierung auch Gene verlieren (siehe Konzept 18.4).
aus denen sich alle möglichen Gewebearten entwickeln Einen Ansatz dazu bildet die Frage, ob sich aus einer dif-
können. Die gezielte Veränderung solcher Stammzellen ferenzierten Zelle wieder ein ganzes, vollständiges Lebe-
durch die hier beschriebenen Methoden könnte zur wesen entwickeln kann. Anders gesagt: Ist es möglich,
Behandlung vieler Krankheiten beitragen. Die Klonie- aus einer einzelnen Zelle einen vielzelligen Organismus
rung ganzer Organismen und die Herstellung von zu klonieren? – Bevor wir auf die jüngsten Fortschritte
Stammzellen werden im nächsten Kapitel behandelt. bei der organismischen Klonierung eingehen, wollen
wir zunächst diese frühen Experimente vorstellen.
Teil 3
 Wiederholungsfragen 20.2
20.3.1 Die Klonierung von Pflanzen aus
1. Beschreiben Sie die Bedeutung der komple-
Einzelzellkulturen
mentären Basenpaarung für die RT-PCR und
die Microarray-Analyse. Ganze Pflanzen wurden bereits in den 1950er Jahren aus
einzelnen, differenzierten Zellen kloniert und am Bei-
2. WAS WÄRE, WENN? Sehen Sie sich die Micro-
spiel von Karotten (Möhren; Daucus carota; Abbildung
array-Analyse in Abbildung 20.13 an. Wenn
20.15) beschrieben. In Kultur gezüchtete, differenzierte
eine Sonde aus einem normalen Gewebe mit
Wurzelzellen entwickelten sich in diesen Experimenten
einem grünen Fluoreszenzfarbstoff markiert
zu normalen adulten Pflanzen, die genetisch mit der
würde, und die aus einem Tumor mit rot, wel-
Ausgangspflanze identisch waren. Daraus lässt sich klar
che Farbe hätten dann die Punkte von Genen,
ableiten, dass für eine Differenzierung in einzelne Pflan-
die für die Untersuchung der Krebsart heran-
zenorgane, wie hier in Wurzelzellen, nicht unbedingt
gezogen werden sollten? Begründen Sie Ihre
irreversible Veränderungen am Erbgut stattfinden müs-
Antwort.
sen. Zumindest hier können sich also spezialisierte
Zellen wieder entdifferenzieren und alle Zelltypen her-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
vorbringen, aus denen die fertige Pflanze besteht. Man
spricht deshalb von totipotenten Zellen.

Querschnitt durch
Die Klonierung von Organismen zur die Karottenwurzel
Bereitstellung von Stammzellen für
die Forschung und andere
Anwendungen
20.3 Gewebestücke

Neben den Fortschritten in der Gentechnik wurden


auch die Methoden zur Klonierung ganzer, vielzelliger
Organismen aus Einzelzellen weiterentwickelt. Der
Die Gewebestücke Frei in der Ein Pflanzenembryo Die Pflänzchen
Begriff Klonierung ist hier als Erzeugung eines oder wurden in einem Suspension entwickelte sich wurden auf
mehrerer genetisch identischer Lebewesen aus einer Nährmedium treibende aus den Zellen. Agarnährböden
gerührt. Durch Einzelzellen umgesetzt und
einzelnen Ausgangszelle zu definieren. Diese Methode Scherkräfte lösten begannen später in Blumen-
wird oft auch als organismische Klonierung bezeichnet, sich Einzelzellen sich zu teilen. erde eingepflanzt.
um sie von der Klonierung (Isolierung) eines Gens aus dem Verband
adulte
und gingen in
beziehungsweise der Zellklonierung zu unterscheiden Pflanze
Suspension.
(der Teilung sich ungeschlechtlich fortpflanzender
Zellen, um eine Ansammlung genetisch gleicher Zellen
zu bilden). Alle Klonierungen beruhen letztlich auf der
Produktion genetisch identischer Nachkommen, in der Abbildung 20.15: Die Klonierung
Regel aus einer Zelle (griech. klonos, Zweig). Bei der einer ganzen Karottenpflanze aus
organismischen Klonierung geht es im Wesentlichen einer einzelnen Wurzelzelle.

545
20 Gentechnik in der Biotechnologie

Die Klonierung von Pflanzen ist gängige Praxis in der gesamte genetische Information enthält, sollte er die
Landwirtschaft. Einige Pflanzen, wie die Orchideen, Entwicklung eines neuen Tieres mit allen nötigen
lassen sich kostengünstig tatsächlich nur durch Klo- Geweben und Organen steuern können.
nierung vermehren. In anderen Fällen wurde die Derartige Experimente wurden von Robert Briggs
Klonierung eingesetzt, um Pflanzen mit gewünschten und Thomas King in den 1950er Jahren und von John
Merkmalen, wie etwa einer Schädlingsresistenz, zu Gurdon und seinen Mitarbeitern in den 1970er Jahren
vermehren. Vielleicht sind Sie selbst sogar schon ein- an verschiedenen Froscharten (Rana pipiens bzw.
mal als „Pflanzenklonierer“ aktiv gewesen, indem Sie Xenopus laevis) durchgeführt (Abbildung 20.16). Sie
einen Steckling ausgepflanzt und großgezogen haben! ersetzten den Kern der Eizelle einer Kaulquappe
durch den einer Körperzelle aus einer Larve derselben
Art. Tatsächlich war der verpflanzte Zellkern oft in
20.3.2 Die Klonierung von Tieren: der Lage, die normale Entwicklung vom Ei zur Kaul-
Zellkerntransplantation quappe zu steuern. Allerdings nahm die Zahl sich
vollständig entwickelnder Tiere mit zunehmendem
Differenzierte Zellen von Tieren teilen sich in Kultur in Alter des Spenderkerns ab (Abbildung 20.16). Daraus
der Regel nur begrenzt und können sich nicht entdiffe- lässt sich ableiten, dass sich bei der Differenzierung
renzieren, um die Gewebe für ein ganzes Tier neu zu tierischer Zellen doch etwas im Zellkern verändern
bilden. Um die Frage zu beantworten, ob differenzierte muss. Das Entwicklungspotenzial der Zellkerne bei
Teil 3 Tierzellen von der genetischen Ausstattung her totipo- Fröschen und den meisten Tieren wird also im Verlauf
tent sind, wurde daher ein anderes Vorgehen gewählt. der embryonalen Entwicklung und Differenzierung
Aus einer Eizelle (befruchtet oder unbefruchtet) wurde der Zellen zunehmend eingeschränkt. Diese grundle-
der Zellkern entfernt und durch den Zellkern aus einer genden Experimente führten letztlich zur Entwicklung
differenzierten Zelle ersetzt (Kerntransplantation). Falls der Stammzelltechnologie und Gurdon erhielt dafür
der Kern der differenzierten Spenderzelle noch die schließlich 2012 den Nobelpreis.

 Abbildung 20.16: Aus der Forschung

Kann der Zellkern einer differenzierten Tierzelle Experiment John Gurdon und seine Kollegen von
die Entwicklung eines gesamten Lebewesens der Universität Oxford in England zerstörten die
steuern? Zellkerne in Froscheiern durch Bestrahlung mit
ultraviolettem Licht. Danach wurden die Zellkerne
Eizelle eines aus Zellen von Froschembryonen und Kaulquap-
Frosches pen in die entkernten Eier transplantiert.
Froschembryo Kaulquappe
Ergebnis Wenn die verpflanzten Zellkerne aus dem
UV frühen embryonalen Stadium stammten, also aus
verhältnismäßig undifferenzierten Zellen, entwickel-
ten sich die meisten Transplantateier zu Kaulquap-
pen. Kamen aber die Zellkerne aus den vollständig
vollständig differenzierten Darmzellen einer Kaulquappe, entwi-
weniger differenzierte
differen- Darmzelle ckelten sich weniger als zwei Prozent der Transplan-
zierte Zelle tateier zu normalen Kaulquappen und die meisten
transplan- transplan- Embryonen stellten ihre Entwicklung schon zu
tierter entkernte tierter einem wesentlich früheren Zeitpunkt ein.
Spender- Eizelle Spender-
zellkern zellkern
Schlussfolgerung Der Zellkern einer differenzierten
Froschzelle kann die Entwicklung einer Kaulquappe
Eizelle mit Spender- steuern. Allerdings nimmt seine Fähigkeit dazu mit
Zellkern wird zur dem Differenzierungsgrad der Spenderzelle ab. Dies
Entwicklung angeregt beruht wahrscheinlich auf genetischen Veränderun-
gen innerhalb des Zellkerns.

Quelle: J. Gurdon et al., The developmental capacity of nuclei trans-


planted from keratinized cells of adult frogs, Journal of Embryology
and Experimental Morphology 34:93–112 (1975).

WAS WÄRE, WENN? Welches Ergebnis würden Sie


für das Experiment im linken Teil der Abbildung
Die meisten Eier Die meisten Eier
entwickeln sich stagnieren in der erwarten, wenn jede der vier Zellen in dem darge-
zu Kaulquappen Entwicklung vor dem stellten frühen Embryo bereits derartig spezialisiert
Kaulquappenstadium wäre, dass keine Totipotenz mehr vorläge?

546
20.3 Die Klonierung von Organismen zur Bereitstellung von Stammzellen für die Forschung und andere Anwendungen

Reproduktive Klonierung von Säugetieren


 Abbildung 20.17: Arbeitstechniken
Neben Fröschen werden schon seit geraumer Zeit auch
Säugetiere mithilfe der Kerntransplantation aus einer
Die reproduktive Klonierung eines Säuge-
Vielzahl früher embryonaler Zellen kloniert. Es wurde
jedoch allgemein bezweifelt, dass sich ein Zellkern aus tieres durch Transplantation von Zellkernen
einer vollständig differenzierten Körperzelle dafür Anwendung Diese Methode kommt zum Einsatz,
eignet. Im Jahr 1997 machte eine Forschergruppe in um klonierte Tiere zu erzeugen, deren Kernge-
Schottland aber Schlagzeilen, mit der Bekanntgabe der nom mit dem des Zellkernspenders identisch ist.
Geburt von „Dolly, dem Schaf“. Dieses Schaf war durch Methode Hier ist das prinzipielle Verfahren
Klonierung mit einem Zellkern aus einer differenzier- gezeigt, mit dem „Dolly“ hergestellt wurde – das
ten Körperzelle eines erwachsenen Tieres hervorge- erste klonierte Säugetier, das unter Verwendung
gangen (Abbildung 20.17). Die Entdifferenzierung der des Zellkerns einer differenzierten Zelle erzeugt
Spenderkerne wurde dabei durch die Kultivierung von wurde.
Zellen der Milchdrüse in einem nährstoffarmen
Medium erreicht. Die entsprechend behandelten Zellen
wurden dann mit entkernten Eizellen fusioniert. Die Milch- Eizell-
drüse spender
daraus erhaltenen diploiden Zellen teilten sich bis zur des Zell-
Bildung früher Embryonen, die dann in Leihmutter- kern-
schafe eingepflanzt wurden. Von mehreren hundert spenders Teil 3
implantierten Embryonen entwickelte sich einer nor- 1 2
mal weiter und „Dolly“ wurde geboren.
Eizelle aus dem
Die folgenden Analysen bewiesen, dass Dollys chro- Eierstock (Ovar)
mosomale DNA tatsächlich mit der des Spenderkerns Entfer-
3 Zellver- nung des
identisch war (ihre mitochondriale DNA stammt, wie zu schmelzung Zellkerns
erwarten, von dem Schaf, das als Eizellspender diente). in Kultur („Fusion“)
Im Jahr 2003 litt Dolly frühzeitig schon mit sechs Jahren genommene
an einer Lungenkrankheit, die normalerweise erst bei Milchdrüsenzel-
len; gehungert, um
sehr viel älteren Schafen auftritt. Außerdem hatte das den Zellzyklus anzu-
Tier auch Arthritis (Gelenkrheuma) und wurde schließ- halten und eine Ent-
differenzierung zu
lich eingeschläfert. Die schweren Krankheitsbilder bewirken
lassen vermuten, dass die Zellen des Tieres nicht so Zellkern aus einer
gesund waren wie die normaler Schafe, was auf einer Milchdrüsenzelle
unvollständigen „Reprogrammierung“ des ursprünglich 4 Vermehrung
verpflanzten Spenderzellkerns beruhen könnte. in der Zellkultur
Seit 1997 sind zahlreiche andere Säugetiere wie
Mäuse, Katzen, Kühe, Pferde, Maultiere, Schweine, früher Embryo
Hunde und Affen kloniert worden. In den meisten Fäl-
len bestand das Ziel darin, neue Individuen zu erzeugen 5 Implantation in
die Gebärmutter
(reproduktives Klonieren). Aus solchen Experimenten eines dritten
hat man bereits eine Menge gelernt. Beispielsweise Schafs
sehen klonierte Tiere nicht immer gleich aus oder ver-
halten sich gleichartig. In einer Kuhherde, deren Kühe „Leihmutter“
alle einer Klonierung aus der gleichen Zellkulturlinie
entspringen, zeigen bestimmte Kühe ein dominantes
Verhalten, andere sind dagegen unterwürfig. Ein ande- 6 Embryonal-
res Beispiel für die Unterschiede zwischen klonierten entwicklung
Tieren ist die erste Klonkatze mit dem Namen „CC“ (aus
dem Englischen für „Carbon Copy“; Abbildung 20.18). ein Lamm („Dolly“
Ihr Fell ähnelt dem der weiblichen Spenderin, einer genannt), das gene-
Calico-Katze, unterscheidet sich aber in Farbe und Mus- tisch mit dem Spen-
dertier der Milchdrü-
ter aufgrund der zufälligen Inaktivierung des X-Chromo- senzelle identisch ist
soms, wie sie in der normalen Embryonalentwicklung
auftritt (vgl. Abbildung 15.8). Auch eineiige Zwillinge, Ergebnis Die genetische Ausstattung des klonier-
also „natürliche Klone“, unterscheiden sich voneinan- ten Tieres ist weitgehend mit der des Tieres iden-
der. Äußere Einflüsse spielen also neben der geneti- tisch, das den Zellkern beigesteuert hat (mit Aus-
schen Ausstattung eine wichtige Rolle bei der Entwick- nahme der mitochondrialen DNA), unterscheidet
lung von Tieren und Menschen. sich hingegen von der des Eizellspendertieres und
der der Leihmutter. (Die beiden letzteren Tiere
entstammen der Rasse „Scottish Blackface“, die an
einer dunklen Gesichtsfarbe zu erkennen ist.)

547
20 Gentechnik in der Biotechnologie

20.3.3 Tierische Stammzellen

Die Klonierung von Säugetieren bis hin zu Primaten hat


die Spekulationen über eine Klonierung von Menschen
angefacht. Die Erzeugung menschlicher Embryonen
durch Klonierung zielt allerdings nicht auf die Klo-
nierung von Menschen ab. Vielmehr sieht man hier
eine Möglichkeit der Gewinnung von Stammzellen zur
Behandlung von Krankheiten. Eine Stammzelle ist
noch relativ unspezialisiert, kann sich unter geeigneten
Bedingungen unbegrenzt vermehren und sich zu einem
oder mehreren spezialisierten Zelltypen differenzieren
(Abbildung 20.19). Stammzellen können also sowohl
ihre eigene Population aufrechterhalten, als auch ver-
schiedene differenzierte Zellen hervorbringen.
Abbildung 20.18: Die erste klonierte Katze und das dazugehö-
rige Ausgangstier. Rainbow, die Katze links im Bild, diente als Zellkern- 1 Eine Stammzelle kann durch Teilung
spender für eine Klonierung, aus der CC, das Tier rechts im Bild, hervor- zwei Stammzellen hervorbringen,
gegangen ist. Die beiden Katzen sind jedoch nicht völlig identisch. Die oder eine Stammzelle und eine
Teil 3 Fellfarben sind ein klassisches Beispiel für Calico-Katzen. Während die Vorläuferzelle (oder auch zwei
Stammzelle Vorläuferzellen).
linke Katze orangefarbene Flecken aufweist und ein eher „zurückhalten-
des Wesen“ hat, ist die rechte Katze grau-weiß gemustert und verspielter. 2 Eine Vorläuferzelle kann
sich, abhängig von
Zellteilung äußeren Bedingungen,
zu verschiedenen
Fehlerhafte Genexpression bei klonierten Tieren Zelltypen entwickeln
Bei den meisten bisher durchgeführten Zellkerntrans- (differenzieren). Das
Stammzelle und Vorläuferzelle Beispiel zeigt eine
plantationen entwickelte sich nur ein kleiner Teil der Stammzelle, die aus
klonierten Embryonen normal bis zur Geburt. Wie das Knochenmark ge-
oben erwähnte Schaf „Dolly“ leiden viele klonierte wonnen wurde.
Tiere an Krankheiten. Klonierte Mäuse neigen bei-
spielsweise zu Fettsucht (Adipositas), Leberversagen
oder Lungenentzündungen und sie sterben früher als
ihre normalen Artgenossen. Es ist anzunehmen, dass
auch äußerlich normal erscheinende, klonierte Tiere
verborgene Defekte aufweisen. Fettzellen oder Knochenzellen oder weiße
Blutkörperchen
Einige Gründe für den geringen Klonierungserfolg
und das häufige Auftreten von Schäden sind bereits Abbildung 20.19: Wie sich Stammzellen selbst vermehren und
bekannt. So wird in den Zellkernen vollständig diffe- differenzierte Zellen bilden können.
renzierter Zellen nur ein kleiner Teil aller Gene expri-
miert, während die meisten Gene stillgelegt werden. Embryonale und adulte Stammzellen
Diese Regulation ist oft auch eine Folge epigenetischer Viele frühe Embryonalstadien von Tieren enthalten
Veränderungen am Chromatin, wie einer Acetylierung Stammzellen, die differenzierte Zellen jeden Typs bil-
von Histonen oder einer Methylierung der DNA (siehe den können. Stammzellen können aus dem frühen
Abbildung 18.7). Während der Kerntransplantation Embryonalstadium der Blastula, beim Menschen ent-
müssen viele dieser Veränderungen im Kern des Spen- sprechend aus der Blastocyste (Keimbläschen), isoliert
dertieres, der sich in einem späteren Entwicklungs- und in Kultur praktisch unbegrenzt vermehrt werden
stadium befindet, rückgängig gemacht werden, damit (embryonale Stammzellen, ES-Zellen). Durch gezielte
Gene der frühen Entwicklungsstadien richtig reguliert, Änderungen der Kulturbedingungen können sie zu
also exprimiert oder reprimiert, werden können. Mole- einer Differenzierung in verschiedene spezialisierte
kulare Analysen ergaben, dass die DNA aus klonierten Zelltypen, einschließlich Ei- und Samenzellen, veran-
Embryonen häufig stärker methyliert ist als die aus ver- lasst werden (Abbildung 20.20).
gleichbaren echten embryonalen Zellen der gleichen Der Körper von Erwachsenen enthält ebenfalls
Art. Die Reprogrammierung des Spenderzellkerns erfor- Stammzellen, die differenzierte Zellen ersetzen können,
dert also eine Umstrukturierung des Chromatins, die wenn diese sich nicht mehr teilen. Im Gegensatz zu den
während des Klonierens offenbar nur unvollständig ES-Zellen können aus adulten Stammzellen aber nicht
gelingt. Da die DNA-Methylierung an der Regulation der alle Zelltypen des Körpers gebildet werden. Trotzdem
Genexpression beteiligt ist, können damit einige wich- ist eine gewisse Differenzierung in einige spezialisierte
tige Steuerungsmechanismen für die Embryonalent- Zelltypen möglich. So gehen beispielsweise aus einem
wicklung ausfallen. Der Klonierungserfolg hängt also bestimmten Typ verschiedener Stammzellen des Kno-
wesentlich davon ab, inwiefern die Chromatinstruktur chenmarks alle Arten von Blutzellen hervor (hämatopo-
im Spenderzellkern derjenigen in einer frisch befruchte- etische Stammzellen; Abbildung 20.20). Ein anderer
ten Eizelle angeglichen („zurückversetzt“) werden kann. Zelltyp kann sich zu Knochen-, Knorpel-, Fett-, Muskel-

548
20.3 Die Klonierung von Organismen zur Bereitstellung von Stammzellen für die Forschung und andere Anwendungen

und Endothelzellen differenzieren. Sogar im Gehirn Mit der Forschung an embryonalen und adulten Stamm-
wurden überraschenderweise Stammzellen entdeckt, zellen können wertvolle Erkenntnisse zur Zelldifferen-
aus denen sich bestimmte Nervenzellen entwickeln zierung gewonnen werden. Darüber hinaus bieten sie ein
können. (Bis zur Entdeckung dieser neuronalen Stamm- großes Potenzial für die medizinische Anwendung.
zellen galt das ausgereifte Zentralnervensystem als voll- Letztlich sollen daraus Zellen für die Reparatur beschä-
ständig teilungsinaktiv.) Weiterhin wurden Stammzel- digter oder erkrankter Organe bereitgestellt werden, wie
len der Haut, der Haare, der Augen und des Zahnmarks beispielsweise insulinproduzierende Bauchspeicheldrü-
gefunden. Obwohl erwachsene Tiere nur noch wenige senzellen für Menschen mit Diabetes mellitus (Zucker-
Stammzellen besitzen, kann man sie in verschiedenen krankheit), oder bestimmte Typen von Gehirnzellen für
Geweben finden und isolieren. In einigen Fällen gelingt Patienten mit der Parkinson‘schen oder der Hunting-
ihre Vermehrung in der Zellkultur. Unter den richtigen ton‘schen Krankheit. Adulte Stammzellen aus dem Kno-
Bedingungen (zum Beispiel durch Zusatz geeigneter chenmark werden schon lange für den Wiederaufbau des
Wachstumsfaktoren) können kultivierte Stammzellen Immunsystems bei Menschen eingesetzt, deren eigenes
von ausgewachsenen Tieren dazu veranlasst werden, infolge einer Erbkrankheit oder einer Strahlentherapie
sich in mehrere spezialisierte Zelltypen zu differenzie- zur Krebsbehandlung nicht mehr arbeitet.
ren, obwohl sie nicht so vielseitig sind wie ES-Zellen. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist das Entwick-
lungspotenzial adulter Stammzellen auf bestimmte
embryonale adulte Stammzellen Gewebe beschränkt. ES-Zellen sind bezüglich ihrer
Stammzellen medizinischen Anwendungen hier vielversprechen- Teil 3
früher mensch- in diesem Beispiel der, weil sie pluripotent sind, also sich in viele diffe-
licher Embryo im aus dem renzierte Zellarten entwickeln können. Der einzige
Blastozystenstadium Knochenmark Weg, an ES-Zellen zu gelangen, besteht bislang darin,
(Säugetier-
äquivalent sie unmittelbar aus frühen Embryonen zu gewinnen.
einer Blastula) Für den Menschen werden diese Ansätze aufgrund
ethischer Bedenken heftig diskutiert.
Die Embryonen zur Gewinnung von ES-Zellen werden
gegenwärtig in vielen Ländern von Frauen zur Verfü-
gung gestellt, die sich einer künstlichen Befruchtung
unterziehen, oder sie stammen aus Zellkulturen ur-
Zellen, die sich Zellen, die sprünglich gespendeter Embryonen. Es wird ferner da-
in alle embryo- nur eine ran gearbeitet, menschliche Embryonen im Reagenzglas
nalen Zell- begrenzte bis zum Blastocystenstadium zu züchten, so dass der-
typen Anzahl von
entwickeln Zelltypen artige Klone in Zukunft ebenfalls zur Gewinnung von
können hervor- ES-Zellen herangezogen werden könnten. Darüber hi-
bringen naus könnten ES-Zellen eines Menschen mit einer
können
bestimmten Krankheit (z.B. einer Lebererkrankung)
„repariert“ und zur Behandlung genutzt werden. Diese
in Kultur würden beim nachfolgenden therapeutischen Einsatz
genommene vom Immunsystem nicht als fremd eingestuft und da-
Stammzellen her nicht angegriffen werden (Transplantatabstoßung).
Ist das wesentliche Ziel die Gewinnung embryonaler
Stammzellen für die Behandlung von Krankheiten, so
verschie-
dene spricht man von therapeutischer Klonierung. Ebenso
Kultur- wie die Gewinnung natürlicher Stammzellen aus frü-
bedingungen hen Embryonen wird die therapeutische Klonierung aus
ethischer und moralischer Sicht kontrovers diskutiert.

Induzierte pluripotente Stammzellen (iPS)


Leberzellen Nervenzellen Blutzellen
Eine Lösung für das Problem der ES-Zellen scheint
unterschied- bereits in Sicht, da es Wissenschaftlern zunehmend
liche Typen gelingt, die Uhr in differenzierten adulten Zellen
differenzierter
Zellen zurückzudrehen und sie wieder in den undifferen-
zierten Zustand zu versetzen. Sie verhalten sich dann
wie ES-Zellen. Im Jahr 2007 berichteten verschiedene
Forschergruppen zunächst von der Umwandlung der
Abbildung 20.20: Die Arbeit mit Stammzellen. Tierische Stamm- Hautzellen einer Maus in ES-Zellen. Später konnten
zellen, die aus frühen Embryonalstadien oder aus Gewebe gewonnen werden
auch Zellen der menschlichen Haut und aus anderen
können, werden kultiviert. Es handelt sich um sich selbsttätig vermehrende,
Organen und Geweben so „neu programmiert“ wer-
verhältnismäßig undifferenzierte Zellen. Embryonale Stammzellen lassen sich
leichter züchten als adulte Stammzellen. Aus ihnen können alle Zelltypen den. In allen Fällen exprimierten die Forscher vier
eines vielzelligen Lebewesens entstehen. Welche Zelltypen aus adulten klonierte Hauptregulatorgene von Stammzellen, die
Stammzellen gewonnen werden können, ist noch nicht vollständig geklärt. mithilfe von Retroviren in die differenzierten Zielzel-

549
20 Gentechnik in der Biotechnologie

 Abbildung 20.21: Aus der Forschung

Kann eine vollständig differenzierte menschliche


Zelle wieder „deprogrammiert“ und zu einer Stammzelle
Stammzelle werden?
Experiment Shinya Yamanaka und seine Kollegen an
der Kyoto-Universität in Japan nutzten einen retro-
viralen Vektor um vier Gene in voll ausgereifte (diffe-
renzierte) Fibroblastenzellen der menschlichen Haut
einzubringen. Die Zellen wurden dann in einem
Medium inkubiert, das die Entwicklung von Stamm- Vorläuferzelle
zellen unterstützt.
Ergebnis Zwei Wochen später ähnelte die Morphologie
der Zellen der von embryonalen Stammzellen und sie
konnten sich durch Teilung vermehren. Das Muster ihrer
Genexpression, der Methylierungsstellen in der DNA,
sowie andere Merkmale entsprachen ebenfalls denen
Teil 3 embryonaler Stammzellen. Die iPS-Zellen konnten sich Oct3/4
Sox2 Fibroblasten-
danach wieder zu Herzmuskelzellen und anderen Zell- zelle der
typen entwickeln. Haut
Schlussfolgerung Die vier Gene lösten in differenzierten einführen von vier Genen
für „Masterregulatoren“
Hautzellen die Entwicklung zu pluripotenten Stamm- mithilfe eines retroviralen
zellen aus, die in ihren Eigenschaften embryonalen Klonierungsvektors
Stammzellen ähnelten.
c-Myc
Quelle: K. Takahashi et al., Induction of pluripotent stem cells from adult
human fibroblasts by defined factors, Cell 131:861–872 (2007). Klf4

WAS WÄRE, WENN? Patienten, die an Herzerkrankun-


gen, Diabetes oder Alzheimer leiden, könnten ihre
induzierte pluripotente
Hautzellen in iPS-Zellen umprogrammieren lassen. Stammzelle (iPS)
Sind erst einmal Methoden etabliert, mit denen man
iPS-Zellen in Herz-, Bauchspeicheldrüsen- oder Ner-
venzellen umwandeln kann, dann könnten die iPS-Zellen des Patienten selbst zur Behandlung der Krank-
heit dienen. Bei der Organtransplantation wird oft das Organ eines Spenders durch das Immunsystem des
Empfängers abgestoßen, häufig mit tödlichem Ausgang. Würde man mit iPS-Zellen das gleiche Risiko ein-
gehen? Begründen Sie Ihre Antwort. Welche Gefahren könnte die Tatsache mit sich bringen, dass es sich
hier um sich schnell teilende, undifferenzierte Zellen handelt?

len eingeschleust wurden. Solche „deprogrammierten“ die Arbeiten an experimentell hergestellten iPS-Zellen
Zellen werden als induzierte pluripotente Stammzel- fortgeführt werden.
len (iPS-Zellen) bezeichnet, weil sie sich wie normale, Menschliche iPS-Zellen haben zwei wichtige An-
nicht-differenzierte embryonale Stammzellen verhal- wendungsmöglichkeiten. Erstens können Zellen von
ten. Die Experimente, die zur ersten Umwandlung Patienten mit verschiedenen Krankheiten zu iPS-Zellen
von menschlichen Zellen in iPS-Zellen führten, sind reprogrammiert werden, die dann zur Untersuchung
in Abbildung 20.21 dargestellt. Shinya Yamanaka der Krankheit und möglicher Behandlungen eingesetzt
erhielt 2012 den Nobelpreis für diese Arbeiten, den er werden können. So wurden bereits menschliche iPS-
mit John Gurdon teilte, dessen Arbeiten wir in Abbil- Zelllinien aus Patienten mit Typ-I-Diabetes, der Parkin-
dung 20.16 bereits kennengelernt hatten. son‘schen Krankheit und einem Dutzend anderer
Tatsächlich können iPS-Zellen viele der Funktionen Krankheiten erzeugt. Zweitens könnten in der regenera-
von ES-Zellen ausüben. Allerdings finden sich auch tiven Medizin die Zellen eines Patienten in iPS-Zellen
einige Unterschiede in der Genexpression und anderen umgewandelt werden, die dann eingesetzt werden
zellulären Eigenschaften, beispielsweise bei der Zelltei- könnten, um defektes Gewebe zu ersetzen (wie etwa
lung. Wenigstens bis die Natur dieser Unterschiede die Insulin-bildenden Zellen der Bauchspeicheldrüse).
vollständig geklärt ist, wird die therapeutische Klonie- Kürzlich wurden überraschend auch Gene gefunden,
rung auch weiterhin auf die Ergebnisse aus ES-Zellen mit deren Hilfe differenzierte Zellen eines bestimmten
angewiesen sein. Auch in der Grundlagenforschung Typs direkt in eine andere differenzierte Zelle umge-
werden solche Untersuchungen voraussichtlich weiter wandelt werden können, ohne über den pluripotenten
eine große Rolle spielen, während in der Zwischenzeit Zwischenschritt zu gehen. Im ersten Experiment

550
20.4 Die Gentechnik beeinflusst unser Leben

wurden so differenzierte Zellen der Bauchspeichel- Verständnis anderer, nicht vererbbarer Krankheiten, wie
drüse in andere differenzierte Zellen des gleichen Rheuma und AIDS, da die genetischen Vorbedingungen
Organs umgewandelt. Tatsächlich mussten dafür aber oft die Wahrscheinlichkeit beeinflussen, ob und wie
die beiden Zelltypen sehr ähnlich sein. Einer anderen stark jemand tatsächlich erkrankt. Außerdem ist bei
Arbeitsgruppe ist es aber bereits gelungen, eine Fibro- vielen Krankheiten die Expression vieler Gene in den
blastenzelle der Haut direkt in eine Nervenzelle umzu- betroffenen Zellen und/oder dem Immunsystem der Pati-
programmieren. Die Entwicklung von Methoden, um enten verändert. DNA-Microarrays (Abbildung 20.13)
iPS-Zellen oder vollständig differenzierte Zellen in oder andere Methoden zum Vergleich der Genexpression
bestimmte andere Zelltypen für die regenerative Medi- in gesundem und erkranktem Gewebe können so dazu
zin umzuwandeln, steht im Mittelpunkt intensiver verwendet werden, Gene ausfindig zu machen, die bei
aktueller Forschungen und hat bereits zu einigen Erfol- einer bestimmten Krankheit an- oder abgeschaltet wer-
gen geführt. Die so hergestellten iPS-Zellen könnten den. Diese Gene und ihre Produkte sind potenzielle the-
also als maßgeschneiderte Ersatzzellen für Patienten rapeutische Ziele für eine Prävention oder Behandlung.
dienen, ohne dass menschliche Eizellen oder Embryo-
nen herangezogen werden müssen, so dass die meisten Diagnose und Behandlung von Krankheiten
ethischen Probleme umgangen werden könnten. Bei der Diagnose von Infektionskrankheiten ist durch
die DNA-Analyse ein neues Zeitalter angebrochen. Hier
sind vor allem die PCR und der Einsatz markierter
 Wiederholungsfragen 20.3 Nucleinsäuren als Sonden zum Nachweis von Krank- Teil 3
heitserregern zu nennen. Da man beispielsweise die
1. Wie würden Sie den Unterschied in der Pro- Sequenz des RNA-Genoms von HIV (Humanes Immun-
zentzahl der Kaulquappen erklären, die sich defizienz-Virus) kennt, kann man mithilfe einer RT-
aus den beiden Typen von Donorzellkernen in PCR die HIV-RNA in Blut- oder Gewebeproben nach-
Abbildung 20.16 entwickelt haben? weisen (siehe Abbildung 20.12). PCR oder RT-PCR sind
2. Wenn Sie eine Karotte mit der in Abbildung oft die beste Methode, um einen ansonsten schwer nach-
20.15 dargestellten Methode klonieren würden, weisbaren Krankheitserreger zu entdecken.
würden dann alle folgenden Pflanzen („Klone“) Heutzutage können Mediziner auch Hunderte von
gleich aussehen? Erklären Sie warum. Erbkrankheiten mithilfe einer PCR mit spezifischen
Primern für die entsprechenden Gene nachweisen. Die
3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Vergleichen Sie amplifizierte DNA – das PCR-Produkt – wird dann
eine einzelne Karottenzelle in Abbildung 20.15 sequenziert, so dass auch rezessive Mutationen zwei-
mit einer vollständig differenzierten Muskel- felsfrei entdeckt werden. Zu den menschlichen Erb-
zelle in Abbildung 18.18 bezüglich ihrer Fähig- krankheiten mit bekannten Gendefekten gehören unter
keiten, sich zu verschiedenen Zelltypen zu ent- anderen die Sichelzellenanämie, verschiedene Bluter-
wickeln. krankheiten, Mukoviszidose, die Huntington‘sche
Krankheit und die Duchenne‘sche Muskeldystrophie.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Solche Krankheiten können vielfach schon vor dem
Auftreten von Symptomen, ja sogar schon vor der
Geburt, diagnostiziert werden. Die PCR kann auch zum
Aufspüren von ansonsten gesunden, heterozygoten
Die Gentechnik beeinflusst Trägern potenziell schädlicher rezessiver Allele dienen.

20.4
Wie wir bereits gesehen haben, können in genom-
unser Leben weiten Kopplungsanalysen SNPs (Einzelnucleotid-
polymorphismen) mit Allelen von Genen assoziiert
werden, die Krankheiten auslösen (siehe Abbildung
Die Gentechnik und DNA-Diagnoseverfahren sind stän- 20.13). So kann mithilfe der PCR und der DNA-
dig in den Schlagzeilen. Die Berichte über neue und Sequenzierung bestimmt werden, ob jemand einen
vielversprechende Anwendungen in der Medizin sind SNP trägt, der mit einem Krankheitsallel gekoppelt ist.
jedoch nur ein kleiner Ausschnitt der Gebiete, die von Ist ein bestimmter SNP vorhanden, so erhöht sich die
der DNA-Analyse und der Gentechnik profitieren. Wahrscheinlichkeit, dass jemand an Herzschwäche,
Alzheimer, oder verschiedenen Krebsarten erkrankt.
Mittlerweile gibt es Firmen, die auf Wunsch gezielt
20.4.1 Medizinische Anwendungen das Genom einzelner Personen nach solchen mit
bestimmten Krankheiten gekoppelten SNPs durchsu-
Eine wichtige Sparte für den Einsatz der oben beschrie- chen. Auch wenn es im Einzelfall hilfreich sein kann,
benen Methoden zur DNA-Analyse ist die Beschreibung wenn man über die Veranlagung für eine Krankheit
von Mutationen in menschlichen Genen, die Erbkrank- informiert ist, sollte nicht vergessen werden, dass es
heiten verursachen. Ergebnisse dieser Untersuchungen sich hierbei immer nur um statistische Verfahren han-
können zur Diagnose, Behandlung oder sogar zur vor- delt und nicht um zweifelsfreie Voraussagen.
beugenden Behandlung solcher Krankheiten beitragen. Die in diesem Kapitel beschriebenen Methoden haben
Die verwendeten Methoden verbessern außerdem unser auch zur verbesserten Behandlung verschiedener Krank-

551
20 Gentechnik in der Biotechnologie

heiten geführt. Durch die Analyse der Expression vieler kloniertes


Gene in Patientinnen mit Brustkrebs konnten Forscher Gen
(normales
ihr Verständnis der verschiedenen Subtypen dieser 11 Einbau einer RNA-Kopie des
Allel, fehlt normalen Allels in ein Retrovirus
Krebsart deutlich erweitern (siehe Abbildung 18.27). in den
Untersuchungen, die anzeigen, wie stark bestimmte Zellen des
Gene exprimiert werden, erlauben Ärzten die Rückfall- Patienten)
quote eines Subtyps zu berechnen und ihre Behand- virale RNA
lung entsprechend anzupassen. Da Patientinnen in
der Gruppe der weniger Gefährdeten Subtypen ohne 2 Infektion entnommener und
weitere Behandlung eine Überlebensrate von 96 Prozent in vitro kultivierter Knochen-
Retrovirus- markszellen des Patienten mit
über einen Zeitraum von zehn Jahren haben, können capsid dem rekombinanten Retrovirus
Arzt und Patientin anhand der Genexpressions-Analy-
sen die weitere Vorgehensweise genau abstimmen.
Für viele ergibt sich daraus das Bild einer „persönli-
chen Medizin“, in der das individuelle genetische Profil
Aufschluss darüber gibt, für welche Krankheiten jemand 3 virale DNA mit dem
besonders anfällig ist und eine entsprechende Behand- normalen Allel wird
lung erlaubt. Wie wir später in diesem Kapitel noch in ein Chromosom
eingebaut
Teil 3 näher beschreiben werden, bedeutet ein genetisches Pro-
fil im Moment die Kenntnis einer Reihe von genetischen
Knochen-
Markern wie den SNPs. Letztlich ist abzusehen, dass für markszelle
solche Ansätze die gesamte Genomsequenz einer Person des Betroffenen
herangezogen werden wird, sobald die Sequenzierme-
thoden billig genug geworden sind. Auch wenn indivi-
duelle Genome immer schneller und kostengünstiger
sequenziert werden können, so hinkt die Entwicklung
angemessener therapeutischer Ansätze für die Behand-
lung der entdeckten Krankheiten hinterher. Trotzdem Knochen-
wird uns die Beschreibung der ursächlichen Gene letzt- 4 Injektion veränderter mark
Zellen in den Patienten
lich gute Angriffsziele für die Behandlung liefern.
Abbildung 20.22: Gentherapie mit einem Retrovirus als Vektor.
Gentherapie beim Menschen Ein „entschärftes“ Retrovirus ohne gefährliche Eigenschaften dient bei
Bei der Gentherapie versucht man Gene zur Behand- diesem Verfahren als Vektor. Dabei nutzt man die Fähigkeit von Retro-
viren, ihr RNA-Genom in DNA umzuschreiben und diese in die chromo-
lung einer (Erb-)Krankheit in betroffene Personen ein-
somale DNA der Wirtszelle einzubauen (siehe Abbildung 19.8 ). Falls das
zubringen. Letztlich könnte so ein normales Allel in im retroviralen Vektor eingebaute Fremdgen exprimiert wird, werden die
die entsprechenden Körperzellen der betroffenen infizierte Empfängerzelle und alle durch Teilungen hervorgehenden Folge-
Gewebe eingebracht und damit der Defekt behoben wer- zellen das Protein herstellen, was zur Heilung führt. Ideale Zielzellen für
den (zum Beispiel der Aktivitätsverlust eines Enzyms die Gentherapie sind also Zellen, die sich lebenslang vermehren, wie bei-
ausgeglichen werden). Solche Ansätze konzentrieren spielsweise Knochenmarkszellen.
sich momentan auf die Behandlung von Krankheiten,
die nur durch ein bestimmtes Gen (monogenetische Der in Abbildung 20.22 beschriebene Ansatz wurde
Krankheiten) verursacht werden. tatsächlich zur Gentherapie bei SCID eingesetzt. So
Der dauerhafte Erfolg einer solchen auf die Körper- wurden im Jahr 2000 in Frankreich zehn an der SCID
zellen beschränkten, somatischen Gentherapie ist leidende Kleinkinder behandelt. Neun der Probanden
davon abhängig, dass das normale Allel des defekten zeigten nach zwei Jahren eine deutliche Verbesserung,
Gens einerseits stabil in das Genom eingebaut wird als erster belegter Erfolg einer Gentherapie. Drei der
und dass andererseits die Zellen lebenslang teilungs- Behandelten erkrankten jedoch an Leukämie (Blut-
fähig bleiben. Erfolgversprechende Kandidaten sind krebs), woran eines der Kinder starb. Bei genauerer
hier die Zellen des Knochenmarks und die darin ent- Analyse zeigte sich, dass in zwei Fällen das als Vektor
haltenen Stammzellen des blutbildenden und des benutzte Retrovirus in der Nähe eines Gens eingebaut
Immunsystems. In Abbildung 20.22 ist schematisch wurde, das die Vermehrung und Entwicklung von
das Vorgehen bei einer Gentherapie an einer Person Blutzellen im Knochenmark kontrolliert. Dies kann,
dargestellt, deren Knochenmarkszellen aufgrund eines nach den in Kapitel 19 beschriebenen Mechanismen
defekten Gens nicht in der Lage sind, ein lebenswich- zum onkogenen Potenzial von Retroviren, als wahr-
tiges Enzym zu bilden. Ein Beispiel eines solchen scheinliche Ursache der Leukämien angenommen wer-
Krankheitsbildes ist die schwere, kombinierte Immun- den. Mit viralen Vektoren die sich nicht von Retroviren
defizienz (severe combined immunodeficiency, SCID). ableiten, wurden in den letzten Jahren in klinischen
Nach erfolgreicher Behandlung sollten die Knochen- Studien noch mindestens drei weitere Erbkrankheiten
markszellen des Patienten wieder in der Lage sein, das erfolgreich behandelt: eine Form der fortschreitenden
fehlende Enzym herzustellen. Das Ergebnis wäre eine Blindheit (siehe Abbildung 50.3), eine Degeneration
vollständige Heilung. des Nervensystems und eine auf dem β-Globin-Gen

552
20.4 Die Gentechnik beeinflusst unser Leben

beruhende Bluterkrankung. Obwohl in allen Fällen nur sogenannte chronische myeloische Leukämie (CML;
wenige Patienten behandelt wurden, geben diese siehe Abbildung 15.16) auslöst. Bei einer Früherken-
Erfolge Grund zum Optimismus. Darüber hinaus wer- nung der CML konnten durch die Behandlung mit
den derzeit Verfahren entwickelt, die es uns in naher Imatinib fast vollständige Heilungen, einschließlich
Zukunft erlauben sollten, solche viralen Vektoren der Rückbildung des Tumors, erzielt werden. Ähn-
gezielt an bestimmten Stellen im menschlichen Genom liche Wirkstoffe wurden bereits für die Behandlung
zu integrieren, so dass die oben beschriebenen Gefah- einiger Formen von Lungen- und Brustkrebs erprobt.
ren einer zufälligen Integration mit dem Risiko, Leukä- Entsprechende Ansätze sind allerdings bisher auf
mien auszulösen, deutlich gesenkt werden könnten. Krebsformen beschränkt, deren molekulare Ursachen
Die Gentherapie steht auch noch vor einer Reihe recht gut verstanden sind.
anderer technischer Probleme. Wie lässt sich bei- Oft entwickeln sich bei solchen Behandlungen jedoch
spielsweise die Aktivität des übertragenen Gens steu- später Tumorzellen, die gegen den Wirkstoff resistent
ern, so dass die Zellen zum richtigen Zeitpunkt und sind. In einem Fall wurden die Genome der Tumorzel-
am richtigen Ort die richtige Menge des Genproduktes len sowohl vor, als auch nach dem Auftreten der Resis-
herstellen? Wie lässt sich sicherstellen, dass die Ein- tenz sequenziert. Ein Sequenzvergleich zeigte, wie die
schleusung des „therapeutischen Gens“ keine ande- Tumorzellen das durch den Wirkstoff gehemmte Pro-
ren wichtigen Zellfunktionen beeinträchtigt? Unser tein „umgehen“ konnten. Tatsächlich zeigt sich an sol-
zunehmendes Verständnis der Mechanismen der Gen- chen Krebszellen ein wichtiges Prinzip der Evolution:
expression und der Wechselwirkungen der Genpro- In einigen Zellen tritt eine Mutation auf, die ihnen Teil 3
dukte könnte zu einer Lösung dieser Probleme beitra- erlaubt, die Wirkung des Hemmstoffs zu überleben.
gen.1 Als Konsequenz dieser natürlichen Selektion können
Eine weitere Möglichkeit der Gentherapie bestünde die entsprechenden Zellen wachsen und sich im
theoretisch in der Behandlung von Zellen der Keim- Gegensatz zu den nicht-resistenten Zellen weiter ver-
bahn. Die Reparatur eines Gendefekts in Keimbahn- mehren.
zellen würde eine vollständige Heilung in den folgen- Produktion von Proteinen in Zellkulturen. Wenn
den Generationen bedeuten. Derartige gentechnische es sich bei pharmazeutischen Wirkstoffen um Proteine
Eingriffe werden an Versuchstieren wie Mäusen heute handelt, werden diese oft großtechnisch aus Zell-
routinemäßig durchgeführt, sind aber aus ethischen kulturen gewonnen. Heute werden bevorzugt pro- und
Gründen nicht Ziel der Forschung in der Humangene- eukaryontische Mikroorganismen (meist Escherichia
tik, unter anderem weil letztlich nicht nur Erbkrank- coli bei Bakterien, sowie verschiedene Hefen bei
heiten geheilt, sondern auch gezielt Gene für andere eukaryontischen Einzellern, oft Saccharomyces cere-
Merkmale (z.B. Haar- oder Augenfarbe) verändert wer- visiae) und einige tierische Zellkulturen zur Produk-
den könnten. tion eingesetzt. In den ersten Abschnitten dieses Kapi-
tels haben wir die Methoden zur DNA-Klonierung und
Pharmazeutische Produkte verschiedene Genexpressionssysteme vorgestellt, die
Gentechnische und genetische Ansätze zur Entwick- dabei genutzt werden. Damit können größere Mengen
lung von Wirkstoffen und Medikamenten brachten von Proteinen produziert werden, die normalerweise
auch enorme Fortschritte in der pharmazeutischen von der Zelle nur in geringer Konzentration gebildet
Industrie. Je nach Bedarf werden die meisten pharma- werden. Die Wirtszellen solcher Expressionssysteme
zeutischen Wirkstoffe heute entweder mit Methoden können darüber hinaus oft auch das Fremdprotein aus
der organischen Chemie oder zunehmend auch mit- der Zelle ausschleusen (Sekretion), was seine Reini-
hilfe der Biotechnologie hergestellt. gung durch biochemische Verfahren deutlich erleich-
Synthese niedermolekularer Wirkstoffe. Die Auf- tert.
klärung der Sequenz und Struktur verschiedener Zu den ersten pharmazeutischen Wirkstoffen, die
Tumorproteine hat zur Entwicklung niedermolekula- auf diese Art hergestellt wurden, gehörten menschli-
rer Verbindungen geführt, die für die Behandlung ver- ches Insulin und das menschliche Wachstumshormon
schiedener Krebsarten eingesetzt werden. Ein Beispiel (Somatropin, auch HGH für human growth hormon).
für einen solchen neuartigen Wirkstoff ist Imatinib, In Deutschland gibt es rund sieben Millionen Diabeti-
das unter dem Handelsnamen „Gleevec“ vertrieben ker, von denen die Mehrzahl auf regelmäßige Insulin-
wird (chemische Bezeichnung: 4-[(4-Methylpiperazin- gaben angewiesen ist, um ihre Stoffwechselstörung zu
1-yl)methyl]-N-[4-methyl-3-[(4-pyridin-3-ylpyrimidin- behandeln (davon 5–10 Prozent mit Diabetes Typ I, bei
2-yl)amino]phenyl]benzamid) und eine bestimmte denen es keine Alternative zu Insulingaben gibt). Das
Rezeptor-Tyrosinkinase hemmt (siehe Abbildung 11.8). HGH wird zur Behandlung von Kindern mit einer
Ursache für die Überexpression des dafür codierenden angeborenen Form des Kleinwuchses eingesetzt, die
Gens ist eine chromosomale Translokation, die die durch eine Unterfunktion der das Wachstumshormon
bildenden Hirnanhangsdrüse verursacht wird. Auch
1 In den letzten Jahren wurde eine Methode entwickelt, die der Gewebeplasminogen-Aktivator (TPA für tissue
als CRISPR/Cas9-System bezeichnet wird und es erlaubt, plasminogen activator) wird mithilfe gentechnischer
Manipulationen gezielt an gewünschten Loci in eukaryon- Verfahren hergestellt. Bei einer Verabreichung kurz
tischen Genomen vorzunehmen. Diese Methode hat ein
enormes Potenzial auch für die Gentherapie und ist in den
nach einem Herzinfarkt fördert er die Auflösung des
Arbeitstechniken (Abbildung 20.25) weiter unten erläutert.

553
20 Gentechnik in der Biotechnologie

Gerinnsels, welches den Infarkt verursachte und kann Antithrombin in das Genom von Ziegen eingesetzt.
das Risiko weiterer Anfälle verringern. Das Transgen wurde dabei so konstruiert, dass das
In den letzten 25 Jahren wurde auch an der Protein- heterologe Protein in die Milch abgegeben und durch
produktion in Pflanzenzellen geforscht. Kürzlich Melken gewonnen werden konnte (Abbildung 20.23).
konnte in Zellkulturen von Karotten ein Protein herge- Aus der Milch lässt sich dann das Antithrombin deut-
stellt werden, das den Fettabbau fördert und bei einer lich einfacher als aus einer Zellkultur reinigen.
seltenen menschlichen Krankheit eingesetzt wird. Obwohl transgene Nutztiere zur Herstellung mensch-
Pflanzenzellen haben den Vorteil, dass sie einfach in licher Proteine herangezogen werden, können sich die
Kultur gezüchtet werden können (Abbildung 20.15) Proteine von denen der vom Menschen selbst her-
und weniger kontrollierte Bedingungen als tierische gestellten Varianten unterscheiden. Ein Grund dafür
Zellkulturen benötigen. Zudem sind sie weniger anfäl- können unterschiedliche posttranslationale Verände-
lig für die Infektion mit Viren, die einen Produktions- rungen der gebildeten Proteine sein, die sich zwischen
prozess erheblich stören können. Versuchstier und Mensch, oder zwischen den zur
Proteinproduktion in „Pharmtieren“. Statt auf mi- Produktion genutzten Zellen/Geweben, unterscheiden.
krobielle oder andere Zellkulturen zurückzugreifen, Gentechnisch erzeugte Proteine müssen daher, wie alle
dienen gelegentlich auch ganze Tiere zur Herstellung pharmazeutischen Produkte, zunächst auf ihre Wirk-
größerer Mengen interessanter Proteine. Dazu wird ein samkeit und Verträglichkeit geprüft werden. Außerdem
bestimmtes Gen eines Tieres in das Genom eines wird sichergestellt, dass weder die Proteine selbst noch
Teil 3 anderen Tieres der gleichen oder oft auch einer ande- eventuell vom Produktionstier stammende Verunreini-
ren Art eingebracht. Auf diese Art erzeugte Individuen gungen unerwünschte Nebenwirkungen bei den Behan-
bezeichnet man als transgene Tiere. Für diesen Zweck delten hervorrufen, wie etwa allergische Reaktionen.
werden einem weiblichen Tier Eizellen entnommen
und eine „Reagenzglasbefruchtung“ (In vitro-Fertilisa-
tion) durchgeführt. Das Gen, das eingebracht werden 20.4.2 Genetische Profile in der
soll, muss vorher aus dem Spenderorganismus isoliert Gerichtsmedizin
und kloniert werden. Die klonierte DNA wird direkt
in den Zellkern einer der befruchteten Eizellen inji- Bei Gewaltverbrechen bleiben am Tatort oft Spuren von
ziert. In seltenen Fällen integriert die Fremd-DNA – Körperflüssigkeiten oder Geweberesten zurück, die vom
das Transgen – ins Genom und wird exprimiert. Die Opfer oder vom Täter stammen können. Umgekehrt
von so veränderten Zygoten abgeleiteten frühen können sich solche Spuren auch an den Kleidungs-
Embryonen werden in ein Leihmuttertier implantiert. stücken der Beteiligten finden. Falls genügend Blut,
Wenn die weitere Entwicklung normal verläuft, erhält Sperma oder Gewebereste vorhanden sind, können
man letztlich ein transgenes Tier (gentechnisch ge- gerichtsmedizinische Laboratorien mit speziellen Anti-
züchtetes Tier), das ein oder mehrere zusätzliche, neue seren beispielsweise eine Blutgruppenbestimmung oder
Fremdproteine herstellt. eine Identifizierung bestimmter Oberflächenproteine
auf Geweben vornehmen. Für diese Art von Analyse
benötigt man jedoch relativ frisches Probenmaterial in
größeren Mengen. Sowohl Blutgruppen als auch
bestimmte Gewebeantigene sind aber vielen Menschen
gemeinsam und reichen in der Regel nicht für eine ein-
deutige Zuordnung aus.
Im Gegensatz dazu wird beim „genetischen Finger-
abdruck“ die DNA zur eindeutigen Identifizierung he-
rangezogen. Mit Ausnahme von eineiigen Zwillingen
unterscheiden sich alle Menschen in ihrer DNA-Se-
quenz voneinander. So variieren verschiedene geneti-
sche Marker innerhalb einer Population und können
Abbildung 20.23: Ziegen als Pharmaka-Produzenten. Diese trans- bei Verdächtigen analysiert werden, um ein genetisches
gene Ziege trägt ein für ein menschliches Blutprotein (Antithrombin) codie- Profil zu erstellen (den „genetischen Fingerabdruck“ zu
rendes Gen. Das Protein wird in die Milch abgegeben. Patienten mit einer nehmen). Dieses kann mit der sichergestellten Probe
seltenen Erbkrankheit, denen dieses Protein fehlt, leiden unter der Bildung verglichen werden und wird als Hinweis dafür heran-
von Thrombosen (Koagulation) in ihren Blutgefäßen. Das Protein kann leicht gezogen, dass ein Verdächtiger am Tatort war. Gerichts-
aus der Ziegenmilch gereinigt werden und wird bei solchen Patienten wäh- mediziner ziehen den Begriff des genetischen Profils
rend Operationen oder während der Geburt eines Kindes eingesetzt. dem des „genetischen Fingerabdrucks“ vor. Dieses
Nachweisverfahren ist inzwischen eine Standard-
Wird das vom Transgen codierte Protein in größeren methode, für die viel kleinere Blut- oder Gewebemen-
Mengen gebildet, so dient das transgene Tier gewisser- gen (nur ca. 1.000 Zellen) erforderlich sind als für die
maßen als lebende Proteinfabrik. So wurde beispiels- früher gebräuchlichen Verfahren.
weise das Gen für das im menschlichen Blut gebildete

554
20.4 Die Gentechnik beeinflusst unser Leben

Heute stehen der Gerichtsmedizin noch weitaus emp- (a) Im Jahr 1984 wurde der
findlichere Methoden zur Verfügung. Dabei nutzt man US-Amerikaner Earl
Variationen in der Länge bestimmter genetischer Marker Washington wegen Ver-
gewaltigung und Mordes
aus, der kurzen Tandemwiederholungen (STR; short an Rebecca Williams
tandem repeats). Bei diesen handelt es sich um kurze, für schuldig befunden
nur zwei bis fünf Basenpaare umfassende Nucleotidfol- und zum Tode verurteilt.
gen, die an verschiedenen Stellen unseres Genoms auf- Sein Urteil wurde 1993
aufgrund neuer Zweifel
treten. Die Anzahl der Wiederholungen in solchen STR- an der Beweisführung in
Bereichen unterliegt starken Schwankungen zwischen eine lebenslängliche Haft
verschiedenen Personen, ja sogar innerhalb eines Men- umgewandelt. Im Jahr
schen (Polymorphie). So kann bei einem Menschen in 2000 konnten Gerichts-
einem der elterlichen Chromosomen beispielsweise die mediziner durch STR-
Analysen schlüssig seine
Sequenz ACAT in 30 Wiederholungen vorliegen, wäh- Unschuld beweisen.
rend eine andere Person (oder das entsprechende andere Dieses Foto zeigt Earl Washington kurz vor seiner
elterliche Chromosom) am gleichen Locus nur 18 Wie- Freilassung im Jahr 2001 – nach 17 Jahren im Gefängnis.
derholungen aufweist. Die STRs werden mithilfe der
PCR amplifiziert, wobei für jeden Bereich mit unter- Quelle des STR-Marker STR-Marker STR-Marker
schiedlichen Fluoreszenzfarbstoffen markierte Oligo- Probenmaterials Nr. 1 Nr. 2 Nr. 3
nucleotidpaare als Primer verwendet werden. Anschlie- Sperma vom Teil 3
ßend kann die Länge der jeweiligen PCR-Produkte und Körper des 17, 19 13, 16 12, 12
damit die Zahl der Sequenzwiederholungen anhand Opfers
eines Längenstandards in einer Gelelektrophorese ermit-
Earl
telt werden. Mithilfe der PCR können so kleinste DNA- Washington
16, 18 14, 15 11, 12
Mengen untersucht werden, die sich auch aus schlecht
erhaltenen Proben amplifizieren lassen, wofür schon 20 Kenneth
17, 19 13, 16 12, 12
Zellen als Ausgangsmaterial ausreichen. Tinsley
In Gerichtsverfahren können mit dieser Methode
DNA-Proben von Verdächtigen und am Tatort sicher- (b) Bei der STR-Analyse (small tandem repeats) werden
ausgewählte STR-Marker einer DNA-Probe mithilfe der
gestellte Spuren verglichen werden. Dabei werden
PCR amplifiziert und die erhaltenen Produkte gel-
normalerweise 13 verschiedene STR-Marker unter- elektrophoretisch aufgetrennt. Die Prozedur enthüllt,
sucht. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen wie viele Wiederholungen an jedem STR-Locus im
bei der Untersuchung selbst dieser kleinen Auswahl Probenmaterial vorhanden sind. Ein diploides Indivi-
von Markern das gleiche Profil aufweisen, ist äußerst duum (wie der Mensch) trägt für jeden STR-Locus zwei
Allele, jeder davon mit einer bestimmten Zahl von
gering. Nur eineiige Zwillinge unterscheiden sich hier Wiederholungen. Die Tabelle gibt die Anzahl der
nicht. Genauso kann man mit solchen Methoden auch Wiederholungen für bestimmte STR-Marker in drei
unschuldige Personen entlasten. So wurden in den untersuchten Proben an. Das Probenmaterial entstammt
USA bis zum Jahr 2013 viele alte Strafverfahren nach Spermaresten, die am Opfer gefunden wurden, dem
Verurteilten E. Washington sowie einem weiteren
STR-Analysen archivierten Probenmaterials wieder
Mann namens K. Tinsley, der aufgrund einer Verurtei-
aufgerollt und führten zur Freilassung von über 300 lung in einem anderen Strafverfahren ebenfalls einsaß.
unschuldig Inhaftierten (Abbildung 20.24). Diese und weitere STR-Daten (hier nicht aufgeführt)
Genetische Profile werden auch für andere Zwecke führten dazu, dass Washington entlastet wurde und
erstellt. So kann durch einen Vergleich der DNA von Tinsley den Mord schließlich gestand.
Mutter und Kind mit der eines mutmaßlichen Vaters ein- Abbildung 20.24: STR-Analysen führten zur Entlastung und
deutig die Vaterschaft geklärt werden. In der Geschichts- Freilassung eines unschuldig Verurteilten.
forschung konnte mithilfe genetischer Profile belegt wer-
den, dass der ehemalige US-Präsident Thomas Jefferson Wie zuverlässig ist ein genetisches Profil? – Je größer
(1743–1826), oder zumindest ein sehr naher männlicher die Zahl der genetischen Marker, die bei einer DNA-
Verwandter, mindestens ein Kind mit seiner Sklavin Probe analysiert werden, desto höher ist natürlich die
Sally Hemings gezeugt hatte. Genetische Profile können Wahrscheinlichkeit, das Profil genau einer Person
auch zur Identifizierung von Opfern von Massenmorden zuzuordnen. So liegt die Wahrscheinlichkeit für eine
beitragen. Der größte bisher durchgeführte Test dieser zufällige Übereinstimmung des genetischen Profils
Art wurde nach dem Terroranschlag auf die beiden zweier Menschen bei einer STR-Analyse mit 13 Mar-
Türme des World Trade Centers im Jahr 2001 in New kern zwischen eins in zehn Milliarden und eins in
York City durchgeführt. Mehr als 10.000 Gewebeproben mehreren Billionen. (Die Weltbevölkerung beläuft sich
von Opfern wurden mit DNA-Proben von persönlichen zurzeit auf ungefähr 7,3 Milliarden Menschen.) Diese
Gegenständen Vermisster wie Zahnbürsten oder Ähn- Schwankungen sind in der unterschiedlichen Häufig-
lichem abgeglichen. So konnte letztlich die Identität von keit begründet, mit der die verschiedenen genetischen
fast 3.000 Opfern mit dieser Methode bestimmt werden. Marker und ihre Varianten in verschiedenen Bevölke-

555
20 Gentechnik in der Biotechnologie

rungsgruppen auftreten. Eine häufig auftretende Vari- landwirtschaftlichen Anwendungsmöglichkeiten der


ante wird mit geringerer Sicherheit zuzuordnen sein als Gentechnologie befassen. Das Ziel ist dabei die Ver-
eine seltener auftretende Sequenz. Die zunehmende besserung der landwirtschaftlichen Produktivität, unter
Datenmenge bezüglich der Häufigkeitsverteilungen der anderem unter Verwendung gentechnischer Methoden.
verschiedenen Varianten führt zu immer besseren sta-
tistischen Absicherungen. Obwohl auch hier noch Feh- Gentechnik bei Tieren
ler durch unzureichende Analysen, menschliche Irr- Schon seit Jahrtausenden macht sich der Mensch natür-
tümer und schlechte Beweisführung auftreten können, lich auftretende Mutationen und die Mechanismen der
sind genetische Profile heute von Juristen und Wissen- Rekombination bei der Tier- und Pflanzenzucht zunutze,
schaftlern gleichermaßen als Beweismittel anerkannt. um gezielt die Eigenschaften bestimmter Arten zu ver-
bessern. Wie wir in den vorangegangenen Abschnitten
bereits beschrieben haben, können mit den heutigen
20.4.3 Umweltsanierung Techniken beispielsweise transgene Tiere erzeugt
werden, die diese langwierigen Züchtungsprozesse
Die erstaunlichen Fähigkeiten vieler Mikroorganis- beschleunigen können. Letztendlich stehen bei den
men zur Stoffumwandlung werden immer häufiger im modernen Methoden die gleichen Ziele im Vordergrund
Bereich der Umweltsanierung eingesetzt. Allerdings wie bei der herkömmlichen Züchtung. Dazu gehören,
sind die betreffenden Mikroben oft nicht an die An- um nur wenige Beispiele zu nennen, die Verbesserung
Teil 3 forderungen der jeweiligen Umgebung angepasst. In der Wollqualität bei Schafen, die Verminderung des Fett-
diesem Fall können die benötigten Stoffwechselei- gehalts im Fleisch von Schweinen oder auch die
genschaften auf andere, besser angepasste Mikroorga- Beschleunigung der Entwicklung zur Geschlechtsreife
nismen übertragen und diese für die Lösung eines bei Kühen. Ein einmal identifiziertes und kloniertes
Umweltproblems eingesetzt werden. So reichern zahl- Gen, das etwa die Muskelentwicklung in einer bestimm-
reiche Bakterien Schwermetalle wie Kupfer, Blei oder ten Rinderrasse beschleunigt (wenn wir Fleisch essen,
Nickel aus ihrer Umgebung an und bilden daraus besteht es in der Hauptsache aus Muskelgewebe), kann
Sulfatverbindungen, aus denen die Metalle leicht so auf andere Rinderrassen – oder beispielsweise auch
wiedergewonnen werden können. Gentechnisch ver- auf Schafe – übertragen werden. Nicht selten treten bei
änderte Mikroben könnten somit einerseits zur Ge- transgenen Nutztieren, die Fremdgene aus dem Men-
winnung von Mineralien aus Erzen mit niedrigem schen oder anderen Arten exprimieren, allerdings auch
Gehalt angepasst werden und andererseits auch zur Probleme wie eine verringerte Fruchtbarkeit oder eine
effizienten Abwasserentgiftung im Bergbau dienen. erhöhte Krankheitsanfälligkeit auf. Die Vermeidung sol-
Ein weiteres Ziel der Biotechnologen ist die gezielte cher Probleme bezüglich der Gesundheit und des
Veränderung ausgewählter Mikroorganismen für den Wohlergehens entsprechender Tiere ist ein wichtiger
Abbau von chlorierten Kohlenwasserstoffen und Gesichtspunkt bei der Erzeugung transgener Tiere. Die
anderen schädlichen Substanzen. Diese Mikroben neue CRISPR/Cas9-Technologie zur gezielten Manipula-
könnten dann in Anlagen zur Abwasseraufbereitung, tion von eukaryontischen Genomen hat das Potenzial,
beispielsweise auch von Industrieabwässern vor der die bisher üblichen Methoden zur Herstellung trans-
Rückführung in die Umwelt, eingesetzt werden. gener Tiere abzulösen (Abbildung 20.25).
Eine „klassische“ Anwendung der Biotechnologie ist
auch die Gewinnung von Energie aus nachwachsenden Gentechnik bei Pflanzen
Rohstoffen. So sollen Biokraftstoffe aus Nutzpflanzen Agrarwissenschaftler haben bereits eine Reihe nütz-
wie Mais, Sojabohnen oder Ölpalmen zur Ergänzung fos- licher Veränderungen an Nutzpflanzen vorgenommen,
siler Brennstoffe dienen. Dies ist bereits ohne den Ein- die beispielsweise zu einer verzögerten Fruchtreife
satz gentechnischer Methoden möglich. Ein Beispiel ist führen oder Resistenzen gegen Krankheiten, schnelle
die großtechnische Produktion von „Bioethanol“ aus Fäulnis oder Austrocknung vermitteln. Am häufigsten
stärkehaltigen Pflanzen. Die Stärke wird dabei zunächst werden neue Gene mithilfe des Ti-Plasmids als Vektor
enzymatisch in Di- und Monosaccharide abgebaut, die in Pflanzenzellen eingebracht. Das Plasmid stammt
dann von der Hefe Saccharomyces cerevisiae zu Alkohol aus dem phytopathogenen Bakterium Agrobacterium
und Kohlendioxid vergoren werden. Ob durch die Nut- tumefaciens und kann einen Teil seiner DNA – die
zung nachwachsender Rohstoffe so tatsächlich eine Ver- sogenannte T-DNA – in die chromosomale DNA infi-
besserung der Kohlendioxidbilanz („Treibhausgase“) zierter Wirtszellen übertragen und integrieren (siehe
erreicht werden kann, oder ob der großflächige Anbau Abbildung 35.25). Zur Herstellung transgener Pflanzen
der Nutzpflanzen eher weiteren Schaden anrichtet, ist setzen Forscher das gewünschte Gen in die T-DNA ein
Gegenstand heftiger Kontroversen. und bringen diese in die Zielzellen. Bei vielen Pflan-
zenarten kann sich eine komplette Pflanze aus kultivier-
ten Einzelzellen einer Suspensionskultur entwickeln
20.4.4 Landwirtschaftliche Anwendungen (vgl. Abbildung 20.15). Damit lassen sich gentechnische
Veränderungen an normalen somatischen Zellen vor-
Mehr und mehr rückt die Untersuchung ganzer Genome nehmen, aus denen sich danach ganze Pflanzen mit
von Nutztieren und Nutzpflanzen in den Mittelpunkt neuen Eigenschaften entwickeln.
des Interesses von Wissenschaftlern, die sich mit den

556
20.4 Die Gentechnik beeinflusst unser Leben

 Abbildung 20.25: Arbeitstechniken

Das CRISPR/Cas9-System zur gezielten Ergebnis (a) Im ursprünglichen bakteriellen System


Veränderung von Genomen schützt Cas9 das Bakterium vor dem erneuten Ein-
dringen von Fremd-DNA, indem es diese „schnei-
Anwendung Eukaryontische Genome sind oft sehr det“ und so dem Angriff von Nucleasen aussetzt
groß und entziehen sich dem gezielten Eingriff (man spricht von einer „erworbenen Immunität“).
durch herkömmliche gentechnische Methoden. Mit- (b) Der durch Cas9 gezielt erzeugte Doppelstrang-
hilfe des CRISPR/Cas9-Systems ist es möglich, bruch in der DNA kann unter Ausnutzung der zel-
Punktmutationen, kleinere Insertionen und Deletio- lulären Reparatursysteme zu verschiedenen Ergeb-
nen zielgenau an gewünschten Zielsequenzen in nissen führen: Durch nichthomologe Verknüpfung
Genomen von Bakterien bis zu menschlichen Zellen der beiden DNA-Enden (engl.: non-homologous
zu erzeugen, sowie gezielte Veränderungen (Aktivie- end joining = NHEJ) können entweder einige
rung oder Hemmung) der Genexpression zu errei- Basenpaare verloren gehen (Deletionen) oder wer-
chen. Dies erlaubt die Funktionsanalyse bestimmter den zusätzlich eingebaut (Insertionen). So entste-
Gene in Tieren und Pflanzen, wie sie bisher nur in hen Mutationen im Zielgen die zu Aminosäureaus-
wenigen Bakterien und einzelligen Eukaryonten tauschen im codierten Protein oder zur Verschiebung
möglich war. Die Methode wird auch die biotechno- des Leserahmens führen. Alternativ kann gleich-
Teil 3
logische Anpassung von Zellen und ganzen Orga- zeitig doppelsträngige DNA zugesetzt werden, die
nismen, von Pflanzen und Tieren bis hin zur an ihren beiden Enden mit der Ziel-DNA überein-
Gentherapie beim Menschen erheblich erleichtern. stimmende Sequenzen trägt. Über homologe Rekom-
Methode Das CRISPR/Cas9-System beruht ur- bination kann die Zelle diese DNA gezielt einbauen
sprünglich auf einem bakteriellen Verteidigungs- (engl.: homology-directed repair = HDR). So kann
mechanismus, einem „Immunsystem“, gegen die beispielsweise die für das grün-fluoreszierende
Infektion durch Viren oder Plasmid-DNA. Kurze Protein (GFP) codierende DNA-Sequenz direkt im
Bruchstücke aus der eingedrungenen Fremd-DNA richtigen Leserahmen eingesetzt werden. Nach der
werden dabei in das bakterielle Wirtsgenom am Transkription und Translation erhält man so ein
CRISPR-Locus eingesetzt und dann in eine RNA Fusionsprotein, dessen intrazelluläre Verteilung man
transkribiert, die vom Cas9-Protein erkannt wird. im Fluoreszenzmikroskop verfolgen kann und so
Die zum Fremd-Genom homologen RNA-Sequenzen etwas über den Wirkungsort des ursprünglichen
(mit einer Länge von etwa 20 Nucleotiden) werden Proteins in der Zelle erfährt. Enthält die zugesetzte
als Teil einer sogenannten einzelnen Leit-RNA DNA nur die Wildtyp-Sequenz eines in der Ziel-
(engl.: single guide RNA; kurz sgRNA) hergestellt, DNA mutierten Gens, so wird durch die homologe
die das Cas9-Protein zum Zielort dirigiert. Bei der Rekombination die Mutation repariert, was bei-
sgRNA handelt es sich um eine Fusion der codie- spielsweise Anwendungen in der Gentherapie
renden Sequenz für die kurze Ziel-RNA, einer „Er- eröffnet. (c) Durch gentechnische Methoden wur-
kennungs-RNA“ für das Cas9 Protein und derjeni- den Varianten von Cas9 erzeugt, denen die Nuclea-
gen für die sogenannte tracrRNA (engl.: trans- seaktivitäten fehlen, so dass nach seiner Bindung
encoded CRISPR-RNA; die tracrRNA verbindet sich an die Ziel-DNA keine Doppelstrangbrüche mehr
im natürlichen System mit dem Cas9-Protein und auftreten. Darüber hinaus wurden die codierenden
assoziiert dort mit der „Erkennungs-RNA“-Sequenz). Sequenzen für diese Variante des Cas9*-Proteins mit
Die Hybridisierung der tracrRNA mit der kleinen den Sequenzen für bestimmte Transkriptionsdomä-
Ziel-RNA im Cas9-RNA/Proteinkomplex verleiht nen anderer Proteine verknüpft. Die aus solchen
der Cas9-Nuclease ihre Spezifität für die Ziel- Hybridgenen gebildeten Fusionsproteine wirken
sequenz. In der Ziel-DNA wird dann durch Cas9 ein entweder hemmend oder aktivierend auf die Genex-
Doppelstrangbruch gesetzt, der stromaufwärts (5') pression. Dirigiert man solche veränderten Cas9*-
einer sogenannten PAM-Sequenz (engl.: protospa- Fusionsproteine nun mithilfe der sgRNA an den Pro-
cer-adjacent motif) liegt. Bei Cas9 aus dem Bakte- motor bestimmter Zielgene, so kann deren Expres-
rium Streptococcus pyogenes sind dies beispiels- sion gezielt an- bzw. abgeschaltet werden.
weise nur drei Nucleotide [NGG], wobei das erste
noch jede beliebige Base enthalten kann). Entspre- Empfohlene weiterführende Literatur:
chend läßt sich eine solche PAM-Sequenz also rela- W. Jiang und L.A. Marraffini, CRISPR-Cas: New tools
tiv häufig in der Nähe jedes beliebigen Zielortes fin- for genetic manipulations from bacterial immunity
den. Durch entsprechende Vektoren können die systems, Annual Reviews in Microbiology 69:209–
codierenden Sequenzen für Cas9 und für die Fusion 228 (2015).
der tracrRNA mit der gewünschten Zielsequenz im de Bruin et al., Novel genome-editing tools to
zu verändernden Genom (sgRNA) in die entsprechen- model and correct primary immunodeficiencies,
den Wirtzellen (Bakterien-, Pilz-, Pflanzen- oder Tier- Frontiers in Immunology 6, Article 250:1–11 (2015).
zellen) eingebracht und exprimiert werden.

557
20 Gentechnik in der Biotechnologie

 (Forts.)

a)BakteriellesCRISPR/Cas9Ͳ b)CRISPR/Cas9 zurHerstellungvon c)CRISPR/Cas9 zurKontrolle


“Immunsystem“ MutantenundGenfusionen derGenexpression
FremdͲDNA(z.B.BakteriophagenͲDNA) genomischeDNAderWirtszelle genomischeDNAderWirtszelle
ersteInfektion (z.B.proteincodierendesGen) (PromotoreinesproteincodierendenGens)

Klonierungsvektor
mitsgRNA
FragmentierungundEinbauam Klonierungsvektor sgRNA
und
CRISPRͲLocus mitSequenzen
sgRNA Cas9Ͳ
fürsgRNA
Derivat Cas9*
(Fusionaus TKD
Cas9 CRISPR
Zielsequenz,crRNA Cas9Ͳ
undtracrRNA)undCas9 Protein Fusionsprotein(Cas9*+
Bakterienchromosom
TranskriptionsͲDomäne)
PAM RNAͲPolyͲ
Cas9Ͳ Promotor
crRNA merase
tracrRNA Protein PAM
Gen

Teil 3 Cas9Ͳ
Komplex
diedoppelsträngigeZielͲDNAwirdgeschnitten Ͳ
erneuteInfektion
+
mitFremdͲDNA PAM dieTranskriptiondes
NHEJ DNAmitFusionsgen
Zielgenswirdentweder
(z.B.GFP)und
aktiviertodergehemmt
Homologiezur
Zielgen
HDR Zielsequenz
Cas9*=Cas9ͲProtein
ohneNucleaseͲAktivität
dieZielsequenzenthält
Punktmutationen,
zusätzlicheoder
einneuesGenwurdeandieZielsequenz
diedoppelsträngigeZielͲDNAwird fehlendeBasenpaare
fusioniert(bzw.eineMutationsstellewurde
geschnittenundabgebaut
durchdieWildtypͲSequenzrepariert)

Die Gentechnik ersetzt häufig bereits viele traditio- dient, könnte dieser „Goldreis“ einem durch die her-
nelle Pflanzenzüchtungen, bei denen auf klassische kömmliche Ernährung verursachten Vitamin A-Mangel
Kreuzungen gesetzt wird. Dies gilt besonders für nütz- (Avitaminose A) vorbeugen. Zurzeit leiden noch viele
liche Merkmale wie Herbizid- und Schädlingsresis- Kleinkinder in Südostasien an Vitamin A-Mangel, der
tenz, die von einem oder wenigen Genen vermittelt zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens und einer
werden. Entsprechend gentechnisch veränderte Nutz- erhöhten Krankheitsanfälligkeit führt.
pflanzen, beispielsweise mit einer durch ein bakteriel-
les Gen vermittelten Herbizidresistenz, können also Sicherheitsbedenken und Fragen der Ethik in
weiterwachsen, während das Herbizid die Unkräuter Verbindung mit der Gentechnologie in der
abtötet. Darüber hinaus kann beispielsweise bei Mais öffentlichen Diskussion
durch solche gentechnischen Veränderungen der Bei der Einführung gentechnischer Methoden wurde
Einsatz von Insektiziden deutlich verringert werden. zunächst die Befürchtung geäußert, dass unabsichtlich
Die Einführung eines Gens für Salzresistenz aus einer gefährliche Krankheitserreger mit hohem pathogenem
Mangrovenart in Reispflanzen (Oryza sativa) ermög- Potenzial entstehen könnten. Was würde beispielsweise
licht heute in Indien die Bewässerung von Reisfeldern passieren, wenn Krebsgene (Onkogene) in Bakterien
mit Wasser, dessen Salzgehalt dreimal höher ist als oder Viren eingeschleust würden? – Um solchen Beden-
der von Meerwasser. Nach einer Schätzung weist ein ken Rechnung zu tragen, wurden schon frühzeitig – zum
Drittel aller bewässerten Ackerflächen einen erhöhten Beispiel bei der Konferenz von Asilomar im Jahr 1975 –
Salzgehalt auf, was auf eine übermäßige Bewässerung von Wissenschaftlern Sicherheitsrichtlinien erarbeitet,
und intensive Düngung zurückgeführt wird. Damit ist die in vielen Ländern, Deutschland eingeschlossen, Ein-
die weltweite Nahrungsmittelversorgung ernsthaft gang in die nationale Gesetzgebung fanden. Diese Vor-
gefährdet. Salzresistente Nutzpflanzen wären also von sichtsmaßnahmen sollten beispielsweise eine Infektion
enormem Wert für die Landwirtschaft. des Forschers mit gentechnisch gezüchteten Mikroben
Mithilfe der „grünen“ Gentechnik könnte darüber verhindern und einer unabsichtlichen Freisetzung in die
hinaus der Nährwert von Nutzpflanzen erheblich gestei- Umwelt vorbeugen. Außerdem werden in der Forschung
gert werden. So wurde beispielsweise eine Reissorte mit mit Mikroorganismen meist „verkrüppelte“ Labor-
gelben Reiskörnern gezüchtet, die β-Carotin anreichern stämme verwendet, die in der freien Natur nicht überle-
– eine Vorstufe des Vitamins A. Da für etwa die Hälfte ben können. Schließlich wurden auch einige offenkun-
der Weltbevölkerung Reis als Grundnahrungsmittel dig gefährliche Experimente verboten.

558
20.4 Die Gentechnik beeinflusst unser Leben

Da sich auch nach jahrzehntelanger Forschung bisher Toxin auch andere Insekten, wie etwa wilde Schmet-
keine der ursprünglichen Befürchtungen bewahrheitet terlinge, im Ökosystem beeinflusst werden, konnten
hat, verlagerte sich das öffentliche Interesse eher auf in Felduntersuchungen nicht bestätigt werden.
die Verwendung gentechnisch modifizierter Organis- Schließlich bestehen in der Bevölkerung Bedenken,
men (GMO) zur Herstellung von Lebensmitteln. Im dass neu gebildete Proteine in einem Nahrungsmittel
allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff ein erhöhtes Allergierisiko darstellen könnten. Hierzu
„rekombinanter Organismus“ einen Organismus, bei ist anzumerken, dass die durch gentechnische Verfah-
dem eines oder mehrere Gene aus einer anderen Art ren erzeugten Proteine bekannt und die erzeugten Nah-
(oder auch entsprechende Gene aus genetischen Vari- rungsmittel auf ihre allergene Wirkung untersucht sind.
anten der gleichen Art) eingebracht wurden. So hat Aufgrund dieser Bedenken und um Rechtssicherheit
man etwa Lachse gezüchtet, bei denen das Gen für ihr zu schaffen, sind Regierungen und Aufsichtsbehörden
Wachstumshormon stärker exprimiert wird. Die über- weltweit bemüht, den enormen Nutzen bio- und gen-
wiegende Zahl transgener Organismen bei Lebensmit- technologischer Verfahrensweisen in Landwirtschaft
teln findet man allerdings eher unter den Nutzpflanzen und Medizin gegen mögliche Gefahren abzuwägen und
als bei den Tieren. gesetzlich zu regeln. In Deutschland sind Behörden wie
Transgene Nutzpflanzen sind in den USA, in Brasilien das Robert-Koch-Institut, das Umweltbundesamt, das
und Argentinien bereits weit verbreitet. Zusammen- Bundessortenamt und das Bundesministerium für Land-
genommen stellen diese Länder über 80 Prozent der wirtschaft und Verbraucherschutz an der Begutachtung
Anbaufläche für derartige moderne Nutzpflanzen- und Zulassung solcher Erzeugnisse und Verfahren betei- Teil 3
sorten. In den USA werden bei Mais (Zea mays), Soja- ligt.
bohnen (Glycine max) und Raps (Brassica napus) Ein weiterer Aspekt sind die in diesem Kapitel darge-
bereits überwiegend transgene Pflanzen angebaut und stellten Fortschritte in den DNA-Sequenziermethoden,
Produkte, die aus diesen gewonnen werden, müssen die eine vollständige Sequenzierung des menschlichen
bisher nicht gekennzeichnet werden. In Europa stoßen Genoms und der Genome vieler anderer Lebensformen
solche Lebensmittel noch auf erheblichen Widerstand ermöglichten. Neben grundsätzlichen Untersuchungen
und die „transgene Revolution“ wird kontrovers dis- zur Evolution von Genen und Genomen – also welches
kutiert. Hier bestehen Befürchtungen bezüglich der Gen hat sich wie entwickelt (siehe hierzu auch Kapitel
ökologischen Auswirkungen beim Anbau transgener 21) – treten zunehmend auch ethische Fragen in den
Pflanzen und der Lebensmittelsicherheit der aus Vordergrund. Die Möglichkeit, das Genom einzelner
ihnen gewonnenen Produkte. Eine gemeinsame Erklä- Personen schnell und kostengünstig zu sequenzieren,
rung von 130 Ländern (die allerdings von den USA führt zu der Frage, wer die Rechte an dieser Erbinfor-
nicht unterzeichnet wurde) schreibt seit dem Jahr mation hat und wer diese Informationen verwenden
2000 ein Biosicherheitsprotokoll vor, das eine Kenn- darf. – Dürfen die Genomsequenz und die daraus abge-
zeichnung von in Massenproduktion hergestellten leiteten Daten beispielsweise ein Faktor für eine beruf-
und exportierten transgenen Organismen beinhaltet. liche Anstellung oder den Abschluss einer Versiche-
Seit diese Regelung in Kraft ist, wurde in einigen euro- rung sein? – Hierzu trat in Deutschland am 1. Februar
päischen Ländern gelegentlich die Annahme gen- 2010 das Gendiagnostik-Gesetz in Kraft, das den Um-
technisch veränderter Nutzpflanzen aus den USA ver- gang mit solchen Daten regelt.
weigert, mit entsprechenden Auswirkungen auf die
Handelsbeziehungen. Obwohl transgene Nutzpflanzen
auch in Europa gelegentlich angepflanzt wurden, kön-  Wiederholungsfragen 20.4
nen sie in der Regel aufgrund der Haltung der Konsu-
menten nicht vermarktet werden. 1. Worin läge der Vorteil der Verwendung von
Eine Befürchtung ist auch, dass durch horizontalen Stammzellen für eine Gentherapie?
Gentransfer bei Pflanzen die neuen Gene, beispielsweise 2. Geben Sie wenigstens drei verschiedene Eigen-
für eine Herbizidresistenz, durch Pollen verbreitet und schaften an, die durch Gentechnik in Nutz-
auf benachbarte Pflanzen anderer Arten übertragen wer- pflanzen eingebracht wurden.
den könnten. Die Wildpflanzen könnten sich in einem
solchen Szenario zu schwer zu bekämpfenden „Super- 3. WAS WÄRE, WENN? Bei einem Patienten besteht
unkräutern“ entwickeln. Auf wissenschaftlichen Daten der Verdacht auf eine Infektion mit dem
begründete Anhaltspunkte für ein derart erhöhtes Gefah- Hepatitis A-Virus. Die Symptome kommen und
renpotenzial liegen bisher nicht vor. Es gilt auch, dies gehen, ohne dass Virusproteine im Blut des
vor dem Hintergrund des ständigen horizontalen Gen- Patienten nachzuweisen sind. Sie wissen, dass
transfers im Laufe der Evolutionsgeschichte zu sehen. Hepatitis A durch ein RNA-Virus hervorge-
Ein Beispiel für eine Resistenz gegen Insektenfraß rufen wird. Mit welchen Methoden würden sie
bietet der sogenannte Bt-Mais. Er exprimiert ein Gen versuchen, den Verdacht auf eine Hepatitis A-
des Bakteriums Bacillus thuringiensis, das für ein Infektion zu bestätigen oder zu widerlegen? In-
Toxin codiert, das giftig für die Raupen des Maiszünz- terpretieren Sie mögliche Testergebnisse.
lers (Ostrinia nubilalis, eine Schmetterlingsart) ist.
Diese fressen von der Maispflanze und werden durch Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
das Toxin abgetötet. Befürchtungen, dass von dem

559
20 Gentechnik in der Biotechnologie

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 2 0 

Klonierungs- Mithilfe einer PCR erhaltene


Konzept 20.1 vektor DNA-Fragmente aus anderer
(oft ein Quelle (mit den gleichen
DNA-Sequenzierung und Klonierung sind wichtige bakterielles Restriktionsenzymen behandelt
Werkzeuge der Gentechnik und der biologischen For- Plasmid) wie der Klonierungsvektor)
schung

 Die Hybridisierung von Nucleinsäuren, d.h. die


Basenpaarung eines Stranges einer Nucleinsäure Mischen und Ligation
mit der komplementären Sequenz eines zweiten
Nucleinsäuremoleküls, ist eine weit verbreitete Me-
thode in der Gentechnik.
 Die DNA-Sequenzierung kann mithilfe der Dides-
oxy-Kettenabbruch-Methode vollautomatisiert durch-
geführt werden.
 Sequenziermethoden der nächsten Generation Rekombinante DNA-Plasmide
haben einen hohen Durchsatz, nutzen zunächst die
Teil 3 Synthese von DNA-Fragmenten anhand einer ein-  Die Expression klonierter Eukaryontengene in Bakte-
zelsträngigen Matrize, und bestimmen dann die rien kann durch verschiedene technische Schwierig-
Anheftung einzelner Nucleotide während der Syn- keiten misslingen. In diesem Fall kommen eukaryon-
these in Verbindung mit Computer-gestützten Aus- tische Zellen oder Zellkulturen in Verbindung mit
wertungen, um die Sequenz zu ermitteln. entsprechenden Expressionsvektoren zum Einsatz.
 Durch die Klonierung von Genen und andere
Methoden, die zusammenfassend als Gentechnik ? Beschreiben Sie, wie durch die Genklonierung gleiche Zellen mit
einem rekombinanten Plasmid (ein Klon) erzeugt werden.
bezeichnet werden, kann DNA analysiert und gezielt
mit hoher Genauigkeit verändert werden, um neue
Produkte und Organismen mit neuen Eigenschaften Konzept 20.2
zu erzeugen. Die Verwendung der Gentechnik zur Untersuchung
 Die Gentechnik nutzt bakterielle Restriktionsenzy- der Expression und Funktion von Genen
me, um DNA-Moleküle an kurzen, spezifischen Se-
quenzen (Restriktionserkennungsstellen) zu schnei-  Verschiedene Methoden nutzen die Hybridisierung
den, und erzeugt so doppelsträngige Restriktions- von Nucleinsäure-Sonden, um eine bestimmte mRNA
fragmente mit kurzen, einzelsträngigen Überhängen, nachzuweisen.
den kohäsiven Enden.  In situ-Hybridisierungen und RT-PCR können fest-
 Die kohäsiven Enden des Restriktionsfragments stellen, ob in einem Gewebe oder einer anderen
einer DNA können mit den komplementären kohä- RNA-Probe eine bestimmte mRNA vorkommt.
siven Enden eines anderen DNA-Moleküls Basen-  Mithilfe von DNA-Microarrays können Gengruppen
paarungen eingehen. Die so gepaarten DNA-Frag- identifiziert werden, die in bestimmten Zellen
mente können mithilfe der DNA-Ligase kovalent gleichzeitig exprimiert werden. Eine moderne Alter-
miteinander verknüpft werden und ergeben rekom- native stellt die Sequenzierung der von einem
binante DNA-Moleküle. mRNA-Gemisch abgeleiteten cDNA dar (RNA-Seq).
 Bei einem Gen noch unbekannter Funktion kann
5′ 3′ 5′ 3′
G A AT T C die experimentelle Inaktivierung (Deletion, „knock-
C T TA A G out“) mit nachfolgender Analyse des Phänotyps Auf-
3′ 5′ 3′ 5′ schluss über seine Funktion geben. Beim Menschen
kohäsive Enden werden genomweite Kopplungsanalysen eingesetzt,
 Verschiedene Restriktionsfragmente eines DNA- in denen Einzelnucleotid-Polymorphismen (SNP)
Moleküls können durch Gelelektrophorese vonein- als genetische Marker für Krankheiten dienen.
ander getrennt werden.
 Durch die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) werden ? Welche sinnvollen Informationen können aus der Analyse der Expres-
sion bestimmter Gene abgeleitet werden?
in vitro viele Kopien einer bestimmten Zielsequenz in
der DNA erzeugt (amplifiziert). Dafür eingesetzte Pri-
mer (Oligonucleotide mit komplementären Basen zur Konzept 20.3
Zielsequenz) definieren die Enden der Zielsequenz Die Klonierung von Organismen zur Bereitstellung von
und damit die Länge des Produkts. Bei der PCR wer- Stammzellen für die Forschung und andere Anwen-
den hitzestabile DNA-Polymerasen verwendet. dungen
 Die Klonierung eines eukaryontischen Gens in
einem bakteriellen Plasmid. Rekombinante Plas-  Die Frage, ob alle Zellen eines Lebewesens das glei-
mide werden wieder in die bakterielle Wirtszelle che Genom tragen, führte letztlich zur Klonierung
eingebracht, die sich teilt und so einen Klon bildet. von Organismen.

560
Übungsaufgaben

 Einzelne differenzierte Zellen voll entwickelter der Diagnose von Krankheiten und Erbkrankheiten
Pflanzen sind oft zur Bildung vollständiger neuer eingesetzt, mit dem Potenzial, diese zu behandeln
Pflanzen befähigt (totipotent). (z.B. bei verschiedenen Krebsarten) oder sogar voll-
 Die Transplantation des Zellkerns aus der differen- ständig zu heilen (Gentherapie bei monogenetischen
zierten Zelle eines Tieres in die entkernte Eizelle Erbkrankheiten). Die Gentechnologie wird auch für
eines anderen führt gelegentlich zur Entwicklung die Großproduktion von Peptidhormonen und ande-
eines vollständigen neuen Tieres (Klon). ren pharmazeutisch wichtigen Proteinen in Zellkul-
 Bestimmte embryonale Stammzellen (ES-Zellen) turen genutzt. Einige dieser Proteine können auch
aus tierischen Embryonen, oder auch aus bestimm- von ganzen, transgenen Tieren produziert werden.
ten differenzierten Geweben des erwachsenen Tieres  Ein genetisches Profil (genetischer Fingerabdruck)
gewonnene Stammzellen, können sich teilen und kann durch die Untersuchung genetischer Marker in
im Labor zu verschiedenen anderen differenzierten DNA-Proben erstellt werden, die aus Gewebe oder
Zelltypen entwickeln. Beim Menschen birgt dies die Körperflüssigkeiten gewonnen wurden. Solche Mar-
Möglichkeit der medizinischen Anwendung. ES-Zel- ker, die auch aus Proben eines Tatorts abgeleitet wer-
len sind pluripotent, aber sowohl technisch schwer den können, sind beispielsweise die kurzen Sequenz-
zu erhalten, als auch ethisch umstritten. Induzierte wiederholungen („short tandem repeats“ = STR).
pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen), die durch Solche Analysen dienen in Gerichtsverfahren oft als
Umprogrammierung differenzierter Körperzellen starke Hinweise auf die Schuld oder Unschuld eines
erhalten werden können, ähneln ES-Zellen in ihrem Angeklagten. Darüber hinaus werden sie für Vater- Teil 3
Entwicklungspotenzial. Bei einigen differenzierten schaftsanalysen und zur zweifelsfreien Identifizie-
Zellen ist auch schon die direkte Umwandlung in rung von Leichen eingesetzt.
andere Zelltypen gelungen. Diese und iPS-Zellen  Mikroorganismen und ihre gentechnisch veränder-
versprechen wichtige Anwendungen in der Medi- ten Klone können zur Erzlaugung herangezogen
zin, vor allem in der Regenerationsmedizin. werden oder zur Entsorgung giftiger Abfälle (Klär-
anlagen, Abwasseraufbereitung etc.).
? Beschreiben Sie, wie Forscher bei den folgenden drei Ansätzen vor-  Transgene Pflanzen oder Tiere werden entwickelt,
gegangen sind: (1) Klonierung von Tieren und Pflanzen, (2) Herstellung
um die landwirtschaftliche Produktivität und/oder
von ES-Zellen, (3) Herstellung von iPS-Zellen. Gehen Sie am Beispiel von
Mäusen besonders darauf ein, wie die Zellen umprogrammiert wurden.
die Nahrungsmittelqualität zu steigern.
(Das prinzipielle Vorgehen wäre bei Mäusen und Menschen ähnlich.)  Der potenzielle Nutzen gentechnischer Verände-
rungen wird in der öffentlichen Diskussion und in
der Gesetzgebung vieler Länder gegen die mögli-
Konzept 20.4 chen Gefahren der Erzeugung von Produkten abge-
Die Gentechnik beeinflusst unser Leben wogen, die schädlich für den Menschen und/oder
die Umwelt sein könnten.
 Die Gentechnologie, einschließlich der Untersuchung
von Einzelnucleotid-Polymorphismen (SNP) als Mar- ? Welche Eigenschaften machen eine bestimmte Erbkrankheit zu
ker für defekte Allele, wird in zunehmendem Maß in einem guten Kandidaten für eine erfolgreiche Gentherapie?

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜB UN GSA U FG AB E N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis c. DNA-Polymerase – Einsatz bei der Polymerase-


Kettenreaktion zur Amplifizierung von DNA-
1. In der Molekularbiologie bezeichnet der Begriff Abschnitten
„Vektor“ d. Reverse Transkriptase – Herstellung von cDNA
a. ein Enzym, das DNA in Restriktionsfragmente aus (m)RNA
zerlegt
b. die überhängenden Enden eines DNA-Fragments 3. Pflanzen lassen sich gentechnisch leichter verän-
c. einen SNP-Marker dern als Tiere, weil
d. ein Plasmid, um DNA in eine Zelle einzubringen a. Pflanzengene keine Introns enthalten
b. mehr Vektoren für die Überführung rekombi-
2. Welches der folgenden „Werkzeuge“ der Gen- nanter DNA in Pflanzenzellen existieren
technologie gehört nicht zum entsprechenden c. sich aus einer einzelnen Pflanzenzelle oft eine
Vorgang? vollständige Pflanze bilden kann
a. Elektrophorese – Trennung von DNA-Fragmen- d. Pflanzenzellen größere Zellkerne besitzen
ten
b. DNA-Ligase – Enzym, das DNA unter Bildung 4. Ein Paläontologe hat ein Stück Gewebe aus einer
überhängender Einzelstrang-Enden schneidet 400 Jahre alten Gewebeprobe des ausgestorbenen
Dodos (ein Vogel; Raphus cucullatus) entnom-
men. Der Forscher möchte eine bestimmte Region

561
20 Gentechnik in der Biotechnologie

der DNA aus der Dodo-Probe mit DNA-Proben Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
heute lebender Vogelarten vergleichen. Welche
der folgenden Methoden wäre am besten geeig- 9. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Stellen Sie sich vor,
net, um die Menge der für die Analyse zur Ver- Sie wollen die Kristalline der menschlichen Au-
fügung stehenden Dodo-DNA zu vergrößern? genlinse untersuchen (siehe Abbildung 1.8). Um
a. SNP-Analyse ausreichende Mengen des Proteins zu erhalten,
b. Polymerase-Kettenreaktion (PCR) entscheiden Sie sich für eine Klonierung des
c. Elektroporation Kristallingens. Wenn Ihnen die DNA-Sequenz des
d. Gelelektrophorese Gens bekannt ist, wie würden Sie dann vorgehen?

5. Die Gentechnologie hat viele medizinische An- 10. ZEICHENÜBUNG Sie möchten ein bestimmtes Gen
wendungsmöglichkeiten. Welche der folgenden aus dem Mausgenom in einem bakteriellen Plas-
ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Routine- mid als Vektor klonieren. Die grüne Schemazeich-
anwendung? nung zeigt das Plasmid, das eine Restriktions-
a. die Herstellung von Hormonen zur Behand- schnittstelle für das in Abbildung 20.6 verwendete
lung von Diabetes oder Zwergwuchs Enzym enthält. Über dem Plasmid ist ein kleiner
b. die Herstellung von Mikroorganismen, die Bereich aus der genomischen DNA der Maus dar-
Giftstoffe abbauen können gestellt, die mit der PCR-Methode erhalten wurde.
Teil 3 c. die Einschleusung gentechnisch veränderter Legen Sie im Abriss Ihre Klonierungsstrategie dar.
Gene in menschliche Keimbahnzellen Zeigen Sie auf, was mit den beiden DNA-Molekü-
d. die vorgeburtliche Identifizierung von Allelen, len bei jedem Schritt geschehen würde. Verwen-
die Erbkrankheiten verursachen den Sie eine Farbe für die Sequenz der Maus-DNA
und eine zweite für die Plasmid-DNA. Beschriften
Ebene 2: Anwendung und Auswertung Sie jeden der Schritte Ihrer Prozedur, ebenso wie
alle 5'- und 3'-Enden der DNA.
6. Welche der folgenden Aussagen trifft für eine
cDNA, die aus menschlichem Hirngewebe als 5’ T C C A T GAA T T C T AAAG C G C T T A T GAA T T C A C GG C 3’
Ausgangsmaterial hergestellt wurde, nicht zu? 3’ AGG T A C T T AAGA T T T C G C G AA T A C T T AAG T G C C G 5’
a. Sie könnte durch die Polymerase-Kettenreak- Erdferkel-DNA
tion vervielfältigt werden
b. Sie wird aus prä-mRNA durch Einsatz der Re- GAATT
C T TA A

C
versen Transkriptase erzeugt

G
c. Sie könnte als Sonde markiert und eingesetzt
werden, um die Expression von Genen im
Gehirn nachzuweisen
d. Ihr fehlen die Introns des Ausgangsgens
Plasmid
7. Die Expression eines klonierten eukaryontischen
Gens in Bakterienzellen ist oft schwierig. Die
Verwendung von mRNA und der Reversen Trans- 11. Verbindung zur Evolution Vergleichen Sie die
kriptase sind Teile einer Strategie zur Lösung des klassischen Mechanismen der Evolution, wie sie
Problems der während der letzten vier Milliarden Jahre auf der
a. posttranskriptionalen Prozessierung Erde abgelaufen ist, mit dem möglichen Einfluss
b. posttranslationalen Prozessierung einer weiten Verbreitung gentechnischer Anwen-
c. Nucleinsäure-Hybridisierung dungen. Gehen Sie dabei auf die biologischen Aus-
d. Ligation von Restriktionsfragmenten wirkungen ein, nicht auf die ethischen Aspekte.

12. Wissenschaftliche Fragestellung Sie möchten das


8. Welche der folgenden, doppelsträngigen DNA-
Sequenzen könnte am wahrscheinlichsten Teil Gen isolieren, das für ein bestimmtes Peptid in
einer Restriktionsschnittstelle einer Typ II-Res- unserem Gehirn mit Neurotransmitter-Funktion
triktionsendonuclease sein? codiert. Sie kennen die Aminosäuresequenz des
Peptids. Erläutern Sie, wie Sie (a) die in bestimm-
a. AAGG
ten Hirnzellen exprimierten Gene nachweisen
TTCC
würden, wie Sie (b) das für das gesuchte Neuro-
b. GGCC
peptid codierende Gen isolieren würden, wie Sie
CCGG
(c) zur weiteren Untersuchung viele Kopien des
c. ACCA
Gens erhalten, und wie Sie (d) eine ausreichende
TGGT
Menge des Peptids zur Untersuchung seiner bio-
d. AAAA
chemischen Eigenschaften und zur Abschätzung
TTTT
seiner möglichen medizinischen Wirkung herstel-
len würden.

562
Übungsaufgaben

13. Skizzieren Sie ein Thema: Information Schrei-


ben Sie einen kurzen Aufsatz (in 150–200 Wor-
ten), in dem Sie die genetischen Grundlagen bio-
logischer Systeme darlegen, die eine Hauptrolle
in der Biotechnologie spielen.

14. NUTZEN SIE IHR WISSEN Das Wasser der heißen


Quellen des Yellowstone-Nationalparks (unten
abgebildet) ist etwa 70 °C heiß. Biologen haben
lange angenommen, dass Leben bei Temperaturen
über 55 °C nicht existieren könnte. Überraschen-
derweise wurden dann aber in solchen Quellen
eine ganze Reihe von Bakterienarten entdeckt,
die als Thermophile („hitzeliebend“) bezeichnet
werden. In diesem Kapitel haben Sie gelernt, wie
ein Enzym aus einem solchen Bakterium, Ther-
mus aquaticus, eine wichtige Methode der mo-
dernen Gentechnologie erst ermöglicht hat. Um
welches Enzym handelt es sich, und warum war Teil 3
es so wichtig, dass es aus einem thermophilen
Bakterium stammt? Könnten Sie sich vorstellen,
dass auch andere Enzyme dieses Bakteriums,
oder Enzyme aus anderen Thermophilen, nütz-
lich sein könnten?

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

563
Genome und ihre Evolution

21.1 Die Entwicklung von schnelleren und billigeren Techniken 21


zur Genomsequenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
21.2 Genomanalyse mithilfe der Bioinformatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568
21.3 Genome unterscheiden sich in der Größe und der Zahl der
Gene sowie in der Gendichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
21.4 Das Genom eukaryontischer Vielzeller enthält viel nicht-
codierende DNA und viele Multigenfamilien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575

KONZEPTE
21.5 Genomevolution durch Duplikation, Umlagerung und
Mutation der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
21.6 Der Vergleich von Genomsequenzen liefert Hinweise auf
evolutionäre und entwicklungsbiologische Mechanismen . . . . . . 586

 Abbildung 21.1: Welche genomischen Informationen machen einen


Menschen zum Menschen oder einen Schimpansen zum Schimpansen?
21 Genome und ihre Evolution

Lesen in den Blättern vom hat einen neuen Zweig der Biologie hervorgebracht,
der an der Grenze zur Computer- und Informations-
Baum des Lebens wissenschaft steht und deshalb als Bioinformatik
Der Schimpanse (Pan troglodytes) ist unser engster bezeichnet wird. Kurz gesagt befassen sich Bioinfor-
Verwandter im Stammbaum des Lebens. Der in der matiker mit der Entwicklung und Verwendung von
Abbildung 21.1 abgebildete Junge und sein Schim- Computerprogrammen und Datenbanken zur Speiche-
panse betrachten aufmerksam das gleiche Blatt, aber rung und Analyse biologischer Daten.
nur einer der beiden kann darüber sprechen. Wodurch Wir beginnen dieses Kapitel mit der Beschreibung
wird dieser Unterschied zwischen den beiden Primaten zweier Ansätze zur Genomsequenzierung und den dar-
verursacht, die so viel ihrer Evolutionsgeschichte teilen? aus resultierenden Fortschritten in der angewandten
Mithilfe der neu entwickelten schnellen Sequenzierme- Bioinformatik. Danach fassen wir kurz die Erkenntnisse
thoden für ganze Genome haben wir damit begonnen, aus den bisher durchgeführten Genomprojekten zusam-
die genetischen Grundlagen solcher faszinierenden Fra- men und beschreiben, stellvertretend für die Genome
gen zu erforschen. komplexer vielzelliger Eukaryonten, den Aufbau des
Die Sequenzierung des Schimpansengenoms wurde menschlichen Genoms. Abschließend werden wir auf
im Jahr 2005 fertiggestellt – etwa zwei Jahre nach der die derzeit akzeptierten Hypothesen zur Evolution von
des menschlichen Genoms. Da wir nun die Basenfol- Genomen und der Mechanismen der Individualentwick-
gen in unserem Genom mit denen des Schimpansen lung eingehen. Diese Mechanismen bilden die Grund-
Teil 3 vergleichen können, können wir uns der Frage zuwen- lage der großen Vielfalt des Lebens, die sich heute auf
den, welche Unterschiede in der Erbinformation der der Erde findet.
beiden Primaten für ihre charakteristischen Merkmale
verantwortlich sind.
Außer der Erbinformation von Menschen und Schim-
pansen kennen wir auch die vollständigen Genomse-
quenzen von Escherichia coli und vieler anderer Pro-
karyonten, sowie die einer zunehmenden Zahl von
Eukaryonten. So sind die Genome von wichtigen
eukaryontischen Modellorganismen sequenziert, wie das
der Bäckerhefe (Saccharomyces cerevisiae), von Mais-
pflanzen (Zea mays), von Caenorhabditis elegans
(einem Fadenwurm), der Taufliege (Drosophila melano-
gaster), der Hausmaus Mus musculus, des Rhesusaffen Hausmaus (Mus musculus)
(Macaca mulatta) und des Orang-Utan (Pongo pyg-
maeus). Im Jahr 2010 wurde ein erster Arbeitsentwurf
des Neandertaler-Genoms (Homo neanderthalensis) Die Entwicklung von schnelleren
vorgelegt, das 2013 von Forschern des Max-Planck-Ins-
und billigeren Techniken zur
tituts in Leipzig vervollständigt wurde. Damit kennen
wir die Genomsequenz einer ausgestorbenen Art, die
nahe mit dem modernen Menschen verwandt ist.
Genomsequenzierung
21.1
Neben den an sich schon interessanten Sequenzinfor-
mationen erlauben uns solche Untersuchungen wich- Die Sequenzierung des menschlichen Genoms begann
tige Rückschlüsse auf die Evolution vieler Arten und im Jahr 1990 – ein zum damaligen Zeitpunkt sehr
auf andere biologische Mechanismen. Die Ausweitung ambitioniertes Unterfangen. Das Humangenomprojekt
des Mensch/Schimpansen-Vergleichs auf die Genome wurde von einem internationalen Konsortium von
anderer Primaten und weitläufiger verwandter Tiere Wissenschaftlern an Universitäten und anderen For-
sollte die Identifizierung von Gengruppen ermöglichen, schungseinrichtungen organisiert und durchgeführt.
die für artspezifische Merkmale verantwortlich sind. Im Wesentlichen waren zwanzig große Sequenzierzen-
Darüber hinaus liefern uns Vergleiche der Genome von tren in sechs Ländern sowie viele andere Laborato-
Bakterien, Archaeen, Pilzen, Protisten und Pflanzen rien, die an kleineren Teil- oder Nebenprojekten arbei-
Einsichten in die lange Evolutionsgeschichte ehemals teten, an dem Projekt beteiligt.
gemeinsamer Gene und ihrer Produkte. Nachdem die fast vollständige Sequenz des mensch-
Mit den vollständig sequenzierten Genomen so vie- lichen Genoms im Jahr 2003 vorlag, wurden die
ler Arten können Biologen also damit beginnen, ganze Sequenzen der einzelnen Chromosomen analysiert und
Gengruppen und deren Wechselwirkungen zu untersu- die Ergebnisse in einer Reihe von wissenschaftlichen
chen. Dieses Teilgebiet der Genetik wird als Genomik Artikeln veröffentlicht. Als Letztes wurde die Analyse
bezeichnet. Die Sequenzierprojekte, auf die dieser For- von Chromosom 1 im Jahr 2006 veröffentlicht, womit
schungsansatz zurückgreift, haben bereits gewaltige die Sequenzierung des menschlichen Erbguts als „prak-
Datenmengen erzeugt, die ständig anwachsen. Die tisch abgeschlossen“ galt.
Notwendigkeit, diese Datenmengen zu verarbeiten,

566
21.1 Die Entwicklung von schnelleren und billigeren Techniken zur Genomsequenzierung

schnellerer und möglichst vollständig automatisierter


1 Die DNA aus vielen
Kopien eines
Sequenzierverfahren. Die damit verbundenen methodi-
Chromosoms wird schen Fortschritte führten zu einer deutlichen Verkür-
in kleine Bruchstücke zung bei allen zeitaufwendigen Schritten, so dass sich
zerlegt (zum Beispiel die durchschnittliche Sequenzierrate enorm verbesserte:
durch Restriktions- Während in den 1980er Jahren, als noch „von Hand“
enzyme), die voll-
ständig sequenziert sequenziert wurde, ein produktiver Sequenzierer pro
werden können. Tag etwa 1.000 Basen ermitteln konnte, kamen die spezi-
alisierten Sequenzierlaboratorien beim Humangenom-
2 Klonierung der Frag- projekt auf etwa 10.000 Basen pro Sekunde. Durch die
mente in Plasmid-
oder Phagenvektoren
Automatisierung konnte dieser Durchsatz 24 Stunden
(siehe Abbildungen pro Tag an sieben Tagen der Woche beibehalten werden.
20.5 und 20.6) Bei solchen Verfahren, mit denen sich sehr schnell große
Mengen ähnlicher Daten gewinnen lassen, spricht man
von Hochdurchsatzverfahren (engl. high-throughput
approaches), für die Sequenziermaschinen nur ein Bei-
3 Sequenzierung CGCCATCAGT AGTCCGCTATACGA ACGATACTGGT
jedes einzelnen spiel sind.
Fragments Bei dem Versuch die vollständige menschliche
(siehe Abbil- Genomsequenz zu erhalten, ergänzten sich zwei Strate- Teil 3
dung 20.3) gien. Der ursprüngliche methodische Ansatz baute auf
4 Anordnung der CGCCATCAGT ACGATACTGGT
bereits vorhandenen Informationen über das mensch-
erhaltenen liche Genom auf. Im Jahr 1998 gründete dann der Mole-
Sequenzen zur AGTCCGCTATACGA kularbiologe J. Craig Venter eine Firma (Celera Geno-
vollständigen mics) und verkündete seine Absicht das vollständige
Sequenz des
Chromosoms …CGCCATCAGTCCGCTATACGATACTGGT…
menschliche Genom mit einer alternativen Strategie zu
(mit speziellen sequenzieren. Dieser „Schrotschussansatz“ (engl. shot-
Computer- gun approach) beginnt unmittelbar mit der Klonierung
programmen) und Sequenzierung von wahllos erzeugten DNA-Frag-
menten. Um die dabei erhaltene große Zahl von kurzen,
Abbildung 21.2: Schrotschussstrategie zur Sequenzierung gan- sich überlappenden Sequenzen zu vergleichen und zu
zer Genome. Bei dieser Vorgehensweise, die von Forschern um den einer fortlaufenden DNA-Sequenz zusammenzusetzen,
Unternehmensgründer Craig Venter entwickelt wurde, werden Zufallsfrag- ist man auf leistungsfähige Computer angewiesen (Abbil-
mente der genomischen DNA kloniert (siehe Abbildung 20.5 ), sequenziert dung 21.2).
(siehe Abbildung 20.3 ) und dann durch Computer in der richtigen Reihen- Heutzutage ist der beschriebene „Schrotschussansatz“
folge zusammengesetzt. Tatsächlich sind für den Zusammenbau zweier
weit verbreitet, obwohl einige schwer zu sequenzie-
Fragmente deutlich längere überlappende Sequenzbereiche erforderlich,
rende Bereiche des Genoms, beispielsweise solche mit
als die hier gezeigten drei bis vier Nucleotide.
hochrepetitiven Sequenzen, mit anderen Methoden ver-
? Die Fragmente in Schritt 2 der Abbildung sind nicht geordnet, son- vollständigt werden müssen. Zusätzlich wurden neue,
dern zufällig verteilt. Inwiefern spiegelt das den verwendeten Ansatz wider? auf der DNA-Synthese beruhende, Sequenziermethoden
entwickelt (siehe Abbildung 20.4), mit deren Hilfe die
Geschwindigkeit der Genomsequenzierung nochmals
Das gesamte Projekt basierte auf der Kartierung des erhöht und gleichzeitig die damit verbundenen Kosten
menschlichen Genoms. Das Ziel einer solchen Genom- drastisch gesenkt werden konnten. Bei diesen neuen
kartierung besteht letztlich in der Ermittlung der voll- Methoden werden sehr viele kleine DNA-Fragmente
ständigen Nucleotidsequenz aller Chromosomen, aus direkt sequenziert (von denen jedes nur 400–1.000
denen sich das Kerngenom zusammensetzt (Abbildung Basenpaare lang ist), wodurch ihre vorherige Klonie-
21.2, Schritt 3 ). Im Fall des Humangenoms wurde dies rung in Sequenziervektoren (siehe Schritt 2 in Abbil-
durch den massiven Einsatz von Sequenzierautomaten dung 21.2) überflüssig wird. Während die Sequenzie-
erreicht, die die in Abbildung 20.3 beschriebene Ket- rung des ersten menschlichen Genoms 13 Jahre dauerte
tenabbruchmethode nach Sanger nutzten. Zur Markie- und insgesamt rund 100 Millionen US-Dollar verschlun-
rung wurden Fluoreszenzfarbstoffe eingesetzt, die von gen hat, wurde im Jahr 2007 das Genom von James Wat-
einem Laserdetektionssystem automatisch ausgelesen son in nur vier Monaten für etwa 1 Million Dollar
werden können. Trotz dieses hohen Grads der Automa- sequenziert. Voraussichtlich wird man demnächst das
tisierung war die Sequenzierung der rund 3,2 Milliarden Genom eines Individuums in wenigen Stunden für
Basen(paare) des haploiden menschlichen Genoms und weniger als 100 Euro sequenzieren können.
die anschließende Zusammensetzung der zahllosen kur- Aufgrund dieses technologischen Fortschritts wurde
zen Einzelsequenzen zu den durchlaufenden DNA-Dop- auch ein Verfahren entwickelt, das als Metagenomik
pelsträngen ganzer Chromosomen noch immer ein (griech. meta – hier im Sinne von „über“) bezeichnet
schwieriges Unterfangen. Tatsächlich ging es beim wird. Dabei wird die DNA einer ganzen Population ver-
Humangenomprojekt nicht zuletzt um die Entwicklung schiedener Arten aus einer Probe möglichst vollständig

567
21 Genome und ihre Evolution

sequenziert (man erhält also ein „Mischgenom“). Auch 21.2.1 Zentralisierte Ressourcen zur
dabei übernimmt wieder eine Computer-Software die Analyse von Genomsequenzen
Sortierung einzelner Sequenzen und setzt sie zu spezi-
fischen Genomen einzelner Individuen zusammen. Datenbanken wurden mithilfe staatlich geförderter Ein-
Dies wurde bereits bei mikrobiologischen Proben ange- richtungen angelegt und mit Computerprogrammen
wandt, die aus so verschiedenen Quellen wie z.B. der ausgestattet, die es den Wissenschaftlern erlauben, die
Saragossa-See oder dem menschlichen Verdauungstrakt enormen Mengen an Sequenzdaten zu analysieren. In
stammten. Eine Arbeit aus dem Jahr 2012 befasste sich den USA wurde hierzu in einer Zusammenarbeit der
mit der bemerkenswerten Vielfalt des sogenannten nationalen Medizinbibliothek, der nationalen Gesund-
menschlichen „Mikrobioms“, das heißt der Gesamtheit heitsbehörde (NIH) und dem nationalen Zentrum für
aller Mikrobenspezies, die in und auf unserem Körper biotechnologische Information (NCBI) eine gemeinsam
leben und für unsere Gesundheit, ja sogar unser Überle- verwaltete Internetseite mit umfangreichen bioinforma-
ben, wichtig sind. Die DNA gemischter Populationen tischen Quellen erstellt (www.ncbi.nlm.nih.gov). Ver-
kann also sequenziert werden, ohne dass jede einzelne gleichbare Internetseiten wurden vom „European Mole-
Spezies zunächst getrennt und in Reinkultur gezüchtet cular Biology Laboratory“ (EMBL), der japanischen
werden muss, ein Problem, das bis dato die Unter- DNA-Datenbank und dem chinesischen BGI („Bejing
suchung vieler mikrobiologischer Arten stark ein- Genome Institute“) in Shenzhen eingerichtet, die alle
schränkte. miteinander kooperieren und Daten austauschen.
Teil 3 Auf den ersten Blick bestehen die Genomsequenzen Ergänzt werden diese umfangreichen Webseiten durch
des Menschen und anderer Organismen lediglich aus von einzelnen Forschern oder von kleineren Gruppen
der stupiden Aneinanderreihung von Nucleotidbasen – betriebene Seiten, die sich häufig auf bestimmte Pro-
Millionen von A, T, G und C. Um diese riesigen Daten- teingruppen, Zellen oder Organismen beziehen.
mengen mit sinnvoller Information zu verbinden, wur- Die Sequenzdatenbank der US-amerikanischen NCBI
den neue analytische Ansätze entwickelt, auf die wir ist auch unter dem Namen „GenBank“ bekannt. Ihr
im Folgenden näher eingehen wollen. Datenbestand belief sich bis zum Juli 2013 auf rund 165
Milliarden Basen(paare), die aus etwa 165 Millionen
Fragmenten genomischer DNA stammten. Diese Daten-
 Wiederholungsfragen 21.1 menge steigt stetig durch Neueinträge und wird, ebenso
wie die anderen genannten Datenbanken für mole-
1. Beschreiben Sie den „Schrotschussansatz“, der kularbiologische Informationen, fortwährend gewartet.
zur Sequenzierung ganzer Genome eingesetzt Man kann momentan davon ausgehen, dass sich die
wird. Datenmenge jährlich mindestens verdoppelt. Alle in
der Datenbank hinterlegten Sequenzen können aufgeru-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. fen und mit der vom NCBI oder anderen Quellen zur
Verfügung gestellten Software analysiert werden.
Eines der am häufigsten genutzten Programme zur
Analyse von DNA-Sequenzen ist das sogenannte
Genomanalyse mithilfe BLAST („Basic Local Alignment Search Tool“). Es
der Bioinformatik
21.2 erlaubt den raschen Vergleich einer Sequenz mit
denen der gesamten Datenbank. Ganz ähnliche Pro-
gramme existieren für den Vergleich von Proteinse-
Jedes der beinahe zwei Dutzend am Humangenompro- quenzen. Andere Programme erlauben Vorhersagen
jekt beteiligten Sequenzierzentren produzierte täglich über bestimmte Proteinbereiche (sogenannte Domä-
enorme Mengen an DNA-Sequenzen. Noch während nen), die für die dreidimensionale Faltung oder für
sich diese Informationen anhäuften, wurde klar, dass bestimmte Funktionen von Bedeutung sind und kön-
die Sequenzen miteinander abgeglichen und die nen Stellen vorhersagen, an denen vermutlich Modifi-
Datenfluten koordiniert verwaltet werden mussten. kationen auftreten (potenzielle Phosphorylierungsstel-
Deshalb wurde schon zu Beginn des Humangenom- len, Glykosylierungsstellen usw.). Weiterhin gibt es
projekts damit begonnen, Datenbanken zu erstellen Strukturdatenbanken, aus denen sich Konformationen
und die zur Analyse notwendigen Computerpro- bekannter Proteindomänen abrufen und auf ähnliche
gramme weiterzuentwickeln. Die Datenbanken mit Sequenzen übertragen lassen (Abbildung 21.3). Neu-
den begleitenden Computerprogrammen wurden nach ere Programme für phylogenetische Analysen erstel-
und nach zentralisiert und den Forschern weltweit len anhand eines automatisierten Sequenzvergleichs
über das Internet zugänglich gemacht. Damit wurde Evolutionsstammbäume, die sich aus dem Grad der
sowohl die DNA-Sequenzanalyse selbst gefördert, aber Sequenzverwandtschaften ableiten, auf die wir in
auch die schnelle Verbreitung der Informationen Kapitel 26 noch näher eingehen (ein solcher Stamm-
sichergestellt. baum ist in Abbildung 21.17 gezeigt).

568
21.2 Genomanalyse mithilfe der Bioinformatik

In diesem Fenster wird ein Teil einer Aminosäuresequenz eines Honig-


melonenproteins (Cucumis melo) unbekannter Funktion als Abfrage
(„query“) mit Sequenzen anderer Proteine verglichen („aligniert“), die
der Algorithmus des Datenbanksuchprogramms als ähnlich eingestuft
hat. Die gezeigten Sequenzen gehören zu einer als WD40 bezeichneten
Proteindomäne. Vier typische Sequenzen solcher Domänen sind gelb
hervorgehoben. (Die Sequenzähnlichkeit beruht auf den chemischen
Eigenschaften der Aminosäuren, so dass die gekennzeichneten Bereiche
Das Programm Cn3D zeigt
nicht unbedingt identische Aminosäuren enthalten müssen, sondern
die Raumstruktur des Trans-
auch solche mit ähnlichen Eigenschaften, zum Beispiel Asparaginsäure
ducin-Proteins des Rindes
und Glutaminsäure.)
(im Fenster mit dem Sequenz-
vergleich grau unterlegt) als
WD40 - Sequence Alignment Viewer
Bändermodell. Nur für dieses
Protein aus dem Vergleich
Query ~~~ktGGIRL~RHfksVSAVEWHRk~~gDYLSTlvLreSRAVLIHQlsk
wurde bisher die Raumstruk-
Cow [transducin] ~nvrvSRELA~GHtgyLSCCRFLDd~~nQIVTs~~Sg~DTTCALWDie~ tur bestimmt. Die Sequenz-
Mustard weed [transducin]
Corn [GNB protein]
gtvpvSRMLT~GHrgyVSCCQYVPnedaHLITs~~Sg~DQTCILWDvtt
gnmpvSRILT~GHkgyVSSCQYVPdgetRLITS~~Sg~DQTCVLWDvt~
ähnlichkeit der anderen
Human [PAFA protein] ~~~ecIRTMH~GHdhnVSSVAIMPng~dHIVSA~~Sr~DKTIKMWEvg~ Proteine mit dem Rinder-
Nematode [unknown protein #1]
Nematode [unknown protein #2]
~~~rcVKTLK~GHtnyVFCCCFNPs~~gTLIAS~~GsfDETIRIWCar~
~~~rmTKTLK~GHnnyVFCCNFNPq~~sSLVVS~~GsfDESVRIWDvk~
transducin legt nahe, dass
Fission yeast [FWDR protein] ~~~seCISILhGHtdsVLCLTFDS~~~~TLLVS~~GsaDCTVKLWHfs~ ihre Raumstruktur zumindest
in den Bereichen hoher
WD40 - Cn3D 4.1 Sequenzähnlichkeit ebenfalls
ähnlich sein könnte. Teil 3
Dieses Fenster CDD Descriptive Items

gibt Informa- Name: WD40

tionen über die WD40 domain, found in a number


WD40-Domäne of eukaryotic proteins that cover Das Rindertransducin weist
a wide variety of functions
aus einer Da- including adaptor/regulatory
sieben WD40-Domänen auf,
tenbank mit modules in signal transduction, von denen hier eine grau
pre-mRNA processing and
konservierten cytoskeleton assembly; typically unterlegt ist.
contains a GH dipeptide 11-24
Domänen. residues from its N-terminus and
the WD dipeptide at its Die gelben Bereiche ent-
C-terminus and is 40 residues
long, hence the name WD40; sprechen den für WD40
typischen Sequenzen,
die in dem Fenster oben
gelb unterlegt sind.

Abbildung 21.3: Im Internet zur Verfügung stehende Hilfsmittel der Bioinformatik. Als Beispiel dient die öffentlich zugängliche Internetseite
des US-amerikanischen NCBI. Aus ihr können DNA- und Proteinsequenzen sowie andere gespeicherte Daten abgerufen werden. Auf der Seite findet sich eine
Verknüpfung zu einer Datenbank für Proteinstrukturen („Conserved Domain Database“, CDD), in der nach Beschreibungen ähnlicher Proteindomänen
gesucht werden kann. Ein ebenfalls enthaltenes Programm (Cn3D) erzeugt dreidimensionale Modelle entsprechender Domänen. Beispielhaft sind hier die
Suchergebnisse dargestellt, die sich bei einer Aminosäuresequenz aus einem Protein der Honigmelone (Cucumis melo) ergaben. Die WD40-Domäne ist eines
der am häufigsten vorkommenden Motive in eukaryontischen Proteinen und ist oft an Proteinwechselwirkungen in intrazellulären Signalketten beteiligt.

Zwei Forschungseinrichtungen, die Rutgers-Universi- nen Gene heute dagegen direkt untersucht und gezielt
tät und die Universität von Kalifornien in San Diego, verändert werden. Damit muss nun, anders als in der
unterhalten eine weltweite Proteindatenbank mit klassischen Genetik, für einen bestimmten Genotyp
allen bisher bekannten dreidimensionalen Protein- ein entsprechender Phänotyp gefunden werden. Die-
strukturen (www.wwpdb.org). Solche Strukturmodelle ser neuartige Ansatz wird vielfach als reverse Genetik
lassen sich auf dem Bildschirm beliebig drehen, so bezeichnet. Wie lassen sich in den DNA-Sequenzen
dass unterschiedliche Ansichten des Moleküls mög- der oben beschriebenen Datenbanken also noch unbe-
lich sind. Einige der Bilder in diesem Buch stammen kannte für Proteine codierende Gene finden und deren
von Proteinstrukturen, die aus dieser Proteindaten- mögliche Funktionen ableiten?
bank entnommen wurden. Dieser Prozess wird auch Gen-Annotation genannt. In
Es gibt also eine Reihe von Internetquellen, die For- der Vergangenheit waren solche Annotationen sehr
schern heute weltweit zur Verfügung stehen. Im Fol- arbeitsintensiv und wurden von einzelnen Forschern
genden möchten wir darauf eingehen, welche Fragen durchgeführt, die an der Funktion bestimmter Gene inte-
die Wissenschaftler mithilfe dieser Quellen zu beant- ressiert waren. Inzwischen wurde die Annotation von
worten suchen. Genen aber weitgehend automatisiert. Dabei werden
normalerweise zunächst durch ein Computerprogramm
die bekannten Codons für den Beginn und das Ende der
21.2.2 Das Aufspüren proteincodierender Translation ermittelt (in der Regel ATG als Startcodon
Gene in DNA-Sequenzen und TAA, TAG oder TGA als Stopcodon). Darüber hin-
aus können auch Signale für den Beginn und die Termi-
In der klassischen Genetik erzeugt man Mutanten, um nation der Transkription und die Stellen für das RNA-
aus einem Phänotyp Rückschlüsse auf den Genotyp zu Splicing bestimmt werden, sofern im ersten Schritt hin-
ziehen. Mit den vorliegenden DNA-Sequenzen kön- reichend lange offene Leserahmen (ORF; engl. open rea-

569
21 Genome und ihre Evolution

ding frames) identifiziert wurden. Auch andere, in Genomik brachte damit sowohl wesentliche Einsichten
mRNAs häufig auftretende Sequenzmotive, lassen sich in den Aufbau von Genomen und die Regulation der
mit solchen Programmen finden. Tausende Sequenzen Genexpression, als auch viele Fortschritte in der Ent-
aus der cDNA sogenannter exprimierter Sequenzan- wicklungs- und der Evolutionsbiologie.
hänge (ESTs; engl. expressed sequence tags) sind in den Ein informativer Ansatz wurde im Rahmen eines
Datenbanken gesammelt, mit deren Hilfe oft vorher nicht noch laufenden Forschungsprojekts mit dem Namen
bekannte, proteincodierende Gene gefunden wurden. ENCODE („Encyclopedia of DNA Elements“) gewählt,
Vor Beginn des Humangenomprojekts war etwa die das im Jahr 2003 initiiert wurde. Mit diesem Ansatz sol-
Hälfte der proteincodierenden Gene des Menschen len alle funktionell wichtigen Elemente im menschli-
bekannt. Welche Information hat nun aber die Genom- chen Genom mithilfe einer breiten Palette experimentel-
sequenz bezüglich der anderen, bis dahin noch unbe- ler Techniken entschlüsselt werden. Dabei versucht
kannten Gene geliefert? – Hinweise zur Funktion der man sowohl die proteincodierenden Gene und Gene für
von ihnen codierten Proteine ergaben sich beispiels- nicht-codierende RNAs als auch regulatorische Sequen-
weise aus dem Vergleich solcher „Kandidatengene“ mit zen, wie Enhancer und Promotoren, zu identifizieren.
bekannten Genen anderer Organismen. Aufgrund der Zusätzlich hat man ausführlich die DNA- und Histon-
Redundanz des genetischen Codes unterscheiden sich modifikationen und die Chromatinstruktur charakteri-
DNA- und RNA-Sequenzen stärker voneinander, als die siert. Die zweite Phase des Projektes, an der mehr als
sich daraus ergebenden Proteinsequenzen bei der 400 Wissenschaftler in 32 Forschungsgruppen beteiligt
Teil 3 Translation. Deshalb vergleicht man in der Regel die waren, gipfelte in der gleichzeitigen Veröffentlichung
aus den Nucleinsäuresequenzen vorhergesagten Ami- von 30 Artikeln im Jahr 2012, in denen über 1.600 große
nosäuresequenzen von Proteinen miteinander. Datensätze beschrieben sind. In diesem Projekt konnten
In vielen Fällen stimmt eine neu gefundene Sequenz die Ergebnisse der verschiedenen Einzelprojekte mitein-
ganz oder teilweise mit der Sequenz eines Gens oder ander abgeglichen werden, wodurch ein wesentlich
Proteins mit bereits bekannter Funktion überein. Zum detaillierteres Bild des gesamten Genoms entstand.
Beispiel wäre eine Pflanzenphysiologin, die an Signal- Die vielleicht überraschendste Erkenntnis war dabei,
wegen in der Honigmelone arbeitet, erfreut zu sehen, dass ungefähr 75 Prozent des menschlichen Genoms
dass eine bestimmte, aus einem von ihr entdeckten irgendwann wenigstens in einem der untersuchten
Gen abgeleitete, Aminosäuresequenz in anderen Spe- Zelltypen transkribiert werden, obwohl weniger als
zies eine sogenannte WD40-Domäne bildet (siehe zwei Prozent der DNA für Proteine codieren. Ferner
Abbildung 21.3). Solche WD40-Domänen findet man konnten biochemische Funktionen DNA-Elementen
bei vielen Eukaryonten üblicherweise in Proteinen, zugeordnet werden, die mindestens 80 Prozent des
die an Signalketten beteiligt sind. Die neue Sequenz Genoms ausmachen. Zum besseren Verständnis der ver-
könnte auch ähnlich zu einer anderen Sequenz in der schiedenen funktionellen Elemente, wurden in paralle-
Datenbank sein, bei der die Proteinfunktion ebenfalls len Projekten die Genome zweier Modellorganismen,
noch unbekannt ist. Schließlich könnte die Sequenz des Nematoden Caenorhabditis elegans und der Frucht-
wirklich neuartig sein und keine Ähnlichkeit mit fliege Drosophila melanogaster untersucht. Weil diese
anderen Sequenzen besitzen. Dies war zum Beispiel beiden Organismen sowohl genetischen als auch bioche-
für rund ein Drittel der Gene von Escherichia coli der mischen Experimenten – unter Verwendung moderner
Fall, die sich aus der Genomsequenz dieses Bakteri- DNA-Technologien – zugänglich sind, verspricht man
ums ableiten ließen. In jedem Fall muss die Funktion sich von der Untersuchung funktioneller DNA-Elemente
eines Proteins schließlich durch Experimente bestätigt in ihren Genomen auch ein besseres Verständnis von der
werden. Dies geschieht mit einer Kombination aus Arbeitsweise des menschlichen Genoms.
biochemischen, genetischen und zellbiologischen Der Erfolg bei der Genomsequenzierung und bei der
Ansätzen. Zu den Funktionsstudien gehört auch das Untersuchung ganzer Gengruppen hat Molekularbio-
Ausschalten des Gens, um die phänotypischen Aus- logen dazu veranlasst, ähnliche systematische Studien
wirkungen des Gendefekts zu beobachten. Die in auch bezüglich der Proteinausstattung (dem Proteom)
Kapitel 20 beschriebene RNA-Interferenz bietet hier von Lebewesen durchzuführen. In Analogie zur Geno-
neue Möglichkeiten, die Rolle eines Gens zu untersu- mik spricht man dabei von Proteomik. Es sind ja die
chen, wenn die Zielzellen genetischen Manipulatio- Proteine und nicht die codierenden Gene, die die
nen nicht so einfach zugänglich sind, wie etwa E. coli- Funktionen in der Zelle wahrnehmen. Daher ist es
Zellen oder Hefezellen. wichtig zu wissen, wann und wo in einem Organis-
mus Proteine hergestellt werden und wie sie mitein-
ander wechselwirken, um letztlich die Funktion ein-
21.2.3 Untersuchungen von Genen und zelner Zellen und ganzer Lebewesen zu verstehen.
ihren Produkten in komplexen
Systemen Die Untersuchung von biologischen Systemen:
Ein Beispiel
Durch die Rechenleistungen moderner Computer ist es Mithilfe der Genomik und der Proteomik können Bio-
heutzutage möglich, die Wechselwirkungen zwischen logen das Leben auf der molekularen Ebene aus einem
ganzen Gengruppen zu analysieren und die Genome sich ständig erweiternden Blickwinkel untersuchen.
verschiedener Arten miteinander zu vergleichen. Die Mit den oben beschriebenen Ansätzen wurden in den

570
21.2 Genomanalyse mithilfe der Bioinformatik

Translation und Mitochondriale


ribosomale Funktion Funktionen

RNA-Prozessierung Peroxisomale Glutamat-


Funktionen Biosynthese
Transkription und
Chromatin-abhän-
Metabolismus
gige Funktionen
und Aminosäure-
biosynthese
Kern-
transport
Serin-
Biosynthese
Bewegung des Vesikel-
Sekretion
Zellkerns und fusion
und Vesikel-
Proteinabbau transport Aminosäure-
Transport
Mitose Proteinfaltung und
Glykosylierung;
Zellwandbiosynthese
DNA-Replikation Zellpolarität und
und Reparatur Morphogenese
Teil 3
Abbildung 21.4: Ein systembiologischer Ansatz zur Darstellung von Proteinwechselwirkungen. Diese genomweite Karte (auf der linken
Seite) zeigt die wahrscheinlichen Wechselwirkungen (dargestellt als graue Linien) zwischen ungefähr 4500 Genen aus der Bäckerhefe Saccharomyces
cerevisiae. Gene, deren Produkte an den am Rand bezeichneten Prozessen (farbige Kästen) beteiligt sind, sind jeweils in der gleichen Farbe dargestellt.
Den weißen Punkten konnte keine entsprechende Funktion zugeordnet werden. Die Ausschnittsvergrößerung (rechts) zeigt zusätzliche Details aus dem
markierten Bereich (gestrichelte Linien), in dem die Genprodukte (blaue Punkte) an der Aufnahme und Biosynthese von Aminosäuren beteiligt sind.

vergangenen Jahren immer mehr Gene und Proteine den Genprodukte in ähnlichen funktionellen Gruppen
katalogisiert und in elektronischen Datenbanken zusam- zusammenwirken. Mithilfe von Computerprogrammen
mengefasst. Es handelt sich hierbei sozusagen um (noch kann dann ein grafisches Modell erstellt werden, in dem
unvollständige) Bestandslisten der Einzelteile der mole- die Gene anhand der Ähnlichkeit ihrer Wechselwirkun-
kularen Ausstattung von Zellen, Organen und ganzen gen bestimmten Orten im Modell zugeordnet sind. Dar-
Lebewesen. Diese Informationen führten zu einer Ver- aus erhält man eine netzwerkähnliche, funktionelle
schiebung der biologischen Fragestellungen von der Karte von Wechselwirkungen, wie sie in Abbildung
Funktion einzelner Moleküle hin zu ihren komplexen 21.4 zu sehen ist. Die Verarbeitung der großen Zahl an
Verschaltungen in lebenden Systemen. In Kapitel 1 hat- Protein/Protein-Wechselwirkungen aus solchen Experi-
ten wir bereits die Systembiologie kurz angesprochen, menten und ihre Umsetzung in ein grafisches Modell
deren Ziel es ist, das dynamische Verhalten ganzer bio- erfordern den Einsatz leistungsfähiger Computer, spezi-
logischer Systeme basierend auf den Wechselwirkungen eller mathematischer Algorithmen und die Entwicklung
zwischen den einzelnen Komponenten eines Systems entsprechender Computerprogramme.
zu modellieren. Wegen der großen Datenmengen, die
bei solchen Untersuchungen anfallen, ermöglichten erst Systembiologische Ansätze in der Medizin
die Fortschritte in der Computertechnologie und der Ein weiteres Beispiel für einen systembiologischen
Bioinformatik den Aufbau einer Systembiologie. Ansatz ist der Atlas des Krebsgenoms (CGA, engl. Can-
Ein wesentliches Ziel der Systembiologie ist die cer Genome Atlas), bei dem eine große Gruppe wechsel-
Erstellung von genetischen „Schaltkreisen“ und von wirkender Gene und Genprodukte analysiert wurde.
Netzwerken der Proteinwechselwirkungen. So wurde Dieses Projekt soll zu einem besseren Verständnis davon
z.B. das Netzwerk der Wechselwirkungen von Prote- führen, wie Änderungen in biologischen Systemen
inen der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae erstellt, schließlich Krebs entstehen lassen. In einem 2010 aus-
indem man alle Gene nicht nur einzeln, sondern auch gelaufenen dreijährigen Pilotprojekt wurde versucht,
paarweise aus dem haploiden Genom entfernte (es ent- alle Mutationen in drei verbreiteten Krebsarten zu ana-
stehen sogenannte Deletionsmutanten) und so auch lysieren (Lungenkrebs, Gebärmutterhalskrebs und Glio-
Doppelmutanten erzeugte. Anschließend wurde auf blastom, eine Form von Hirntumoren). Dazu wurden
Grundlage der Größe der gebildeten Kolonien auf festen Gensequenzen und Genexpressionsmuster von Krebs-
Nährmedien die „Fitness“ der Doppelmutanten mit der zellen mit denen normaler Zellen verglichen. Bei der
der beiden Einzelmutanten verglichen. Wenn sich der Untersuchung des Glioblastoms konnte die Rolle eini-
beobachtete Phänotyp der Doppelmutanten nicht von ger Kandidatengene bestätigt werden. Zusätzlich wurde
dem zu erwartenden Phänotyp aus den einzelnen Dele- eine Handvoll bisher unbekannter Gene als mögliche
tionsmutanten unterschied, schloss man daraus, dass neue Ziele für Therapien identifiziert. Die gewählte
die Genprodukte nicht funktionell miteinander in Ver- Strategie war so erfolgreich, dass sie nun auf zehn wei-
bindung stehen. Wenn die beobachtete Fitness bei den tere Krebsarten ausgedehnt wurde, die besonders häufig
Doppelmutanten aber größer oder kleiner war, als von beim Menschen sind und oft tödlich verlaufen. Je
den Einzelmutanten zu erwarten, dann sollten die bei- schneller und kostengünstiger solche Hochdurchsatz-

571
21 Genome und ihre Evolution

verfahren werden, desto häufiger werden sie auch für


 Wiederholungsfragen 21.2
die Untersuchung von Krebserkrankungen eingesetzt.
Anstelle der Sequenzierung einzelner proteincodieren-
1. Welche Rolle spielt das Internet in der heuti-
der Gene werden mittlerweile ganze Genome verschie-
gen Genom- und Proteomforschung?
denster Tumore eines Typs sequenziert. Dies ermöglicht
sowohl die Aufklärung chromosomaler Abnormalitäten, 2. Erläutern Sie die Vorzüge des systembiologi-
als auch die Entdeckung anderer Gemeinsamkeiten in schen Ansatzes bei der Untersuchung von
diesen entarteten Genomen. Krebs im Vergleich zu einem Ansatz, bei dem
Zusätzlich zur Sequenzierung ganzer Genome wurden jeweils einzelne Gene untersucht werden?
bereits Träger aus Silizium und aus Glas entwickelt, auf Nennen Sie gegebenenfalls auch Nachteile.
denen die meisten der bekannten menschlichen Gene in
mikroskopisch kleinen Punkten geordnet aufgebracht 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Das ENCODE-Pilot-
sind (Abbildung 21.5). Mit derartigen „Chips“ wird bei- projekt ergab, dass wenigstens 75 Prozent des
spielsweise die globale Genexpression bei Krebspatien- menschlichen Genoms in RNA umgeschrieben
ten oder solchen mit anderen Krankheiten untersucht. werden. Dies ist viel mehr, als die Transkrip-
Damit sollte es letztendlich bald möglich sein, „maßge- tion aller proteincodierenden Gene ergäbe. Dis-
schneiderte“ Behandlungen zu entwickeln, die an die kutieren Sie mögliche Funktionen für die nicht-
individuelle genetische Konstitution und das genaue proteincodierende RNA. Berücksichtigen Sie
Teil 3 Krankheitsbild eines Patienten angepasst sind. Bisher dabei Konzept 17.3 und 18.3.
waren allerdings nur bescheidene Erfolge in der Unter-
scheidung verschiedener Krebsarten zu vermelden. 4. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN In Konzept 20.2
In Zukunft könnte für jeden Menschen ein Kranken- haben Sie genomweite Assoziationsstudien
blatt mit einem Verzeichnis seiner persönlichen DNA- kennengelernt. Erläutern Sie, welche Rolle die
Sequenzen erstellt werden, aus dem genetische Veran- Systembiologie bei diesen Untersuchungen
lagungen ersichtlich sind. Damit könnte krankhaften spielt.
Entwicklungen vorgebeugt und bestimmte Krankhei-
ten könnten gezielter behandelt werden. Die Risiken Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
eines möglichen Missbrauchs solcher Daten haben wir
bereits in Kapitel 20 angesprochen.
Die Systembiologie eignet sich auch sehr gut zur
Untersuchung des Auftretens neuer Eigenschaften auf
molekularer Ebene. Im ersten Kapitel des Buches haben Genome unterscheiden sich
wir dargelegt, wie auf jeder neuen Komplexitätsebene in der Größe und der Zahl
der biologischen Organisation neuartige, nicht vorher-
sagbare (emergente) Eigenschaften auftreten, die sich aus der Gene sowie in der
der speziellen Zusammensetzung und den Wechselwir-
kungen der Komponenten aus der darunter liegenden
Ebene ergeben. Je mehr wir über die Zusammensetzung
Gendichte
21.3
und die Wechselwirkungen der Komponenten geneti- Bis zum April 2013 waren die Sequenzierungen von
scher Systeme lernen, umso besser wird unser biologi- über 4.300 Genomen abgeschlossen und über 9.600
sches Verständnis werden. Der Rest des Kapitels wird weitere Genomprojekte sowie 370 Metagenomprojekte
sich damit befassen, was wir bislang aus den genomi- waren in Arbeit. Zu den vollständig sequenzierten
schen Analysen gelernt haben. Genomen gehörten etwa 4.000 Genome von Bakterien
sowie 186 Archaeengenome. Unter den 183 sequen-
zierten Genomen von Eukaryonten waren solche von
Wirbeltieren, Wirbellosen, Protisten, Pilzen und Pflan-
zen. Die gesammelten Genomsequenzen enthalten
eine Fülle an Informationen, mit deren Nutzung wir
gerade erst beginnen. Was konnten wir bislang aus
dem Vergleich dieser sequenzierten Genome lernen? –
Im Folgenden werden wir Merkmale von Genomen
wie ihre Größe, die Zahl der Gene sowie die Gen-
dichte behandeln. Da dies sehr allgemeine Merkmale
sind, wollen wir nur auf einige Regeln eingehen, zu
denen es zahlreiche Ausnahmen gibt.

Abbildung 21.5: Microarray-Chip für menschliche Gene. Winzige


Punkte aufgetropfter und an den Träger gebundener DNA, die in einem
geordneten, zweidimensionalen Gitter auf einer dünnen Siliziumscheibe
fixiert sind, repräsentieren fast alle Gene des Humangenoms. Mithilfe
eines solchen Chips kann die Expression aller hier vertretenen Gene
gleichzeitig untersucht werden.

572
21.3 Genome unterscheiden sich in der Größe und der Zahl der Gene sowie in der Gendichte

21.3.1 Genomgröße Archaeen (Prokaryonten) haben im Allgemeinen weni-


ger Gene als Eukaryonten. Frei lebende Bakterien und
Bei einem Vergleich von Vertretern aus den drei Domä- Archaeen besitzen in der Regel 1.500–7.500 Gene. Die
nen des Lebens (Eukaryonten, Bakterien, Archaeen) Genzahl von Eukaryonten reicht von etwa 5.000 bei
finden wir, dass ein allgemeingültiger Unterschied in einzelligen Pilzen bis zu mindestens 40.000 bei man-
der Genomgröße zwischen Eu- und Prokaryonten chen Vielzellern (Tabelle 21.1).
besteht (Tabelle 21.1). Obgleich es auch hier verein- Innerhalb der Gruppe der Eukaryonten ist die Gen-
zelte Ausnahmen gibt, bewegen sich die Größen der zahl oft deutlich geringer als man nach der Genom-
meisten Bakteriengenome zwischen einer und sechs größe vielleicht annehmen sollte. Ein Blick auf Tabelle
Millionen Basenpaaren (Megabasenpaare, Mbp). So 21.1 zeigt uns, dass das Genom des winzigen Faden-
besteht beispielsweise das Genom von Escherichia coli wurms Caenorhabditis elegans 100 Mbp groß ist und
aus 4,6 Mbp. Die Genome der Archaeen entsprechen etwa 20.100 Gene enthält. Das Genom einer Droso-
in ihrer Größe meist denen gewöhnlicher Bakterien. phila ist viel größer (165 Mbp), weist aber nach gegen-
Eukaryontengenome sind im Allgemeinen deutlich wärtigem Kenntnisstand nur zwei Drittel der Zahl an
größer. Das Genom der einzelligen Bäckerhefe (Sac- Genen auf, nämlich etwa 14.000.
charomyces cerevisiae) umfasst ca. 12 Mbp und war Das Genom des Menschen (Homo sapiens) hat eine
im Jahr 1996 das erste vollständig sequenzierte Euka- Größe von rund 3.200 Mbp, also etwa das Zwanzig-
ryontengenom (übrigens noch vor der 1997 fertig- fache der Genomgröße der Taufliege und das Zweiun-
gestellten Sequenzierung des E. coli-Genoms). Die dreißigfache des Fadenwurms. Zu Beginn des Human- Teil 3
meisten vielzelligen Tiere und Pflanzen besitzen im genomprojekts schätzte man die Anzahl der Gene im
Vergleich dazu riesige Genome von wenigstens 100 Mbp menschlichen Erbgut zwischen fünfzig- und einhun-
Größe. Das Genom der Taufliegen (Drosophila sp.) derttausend. Im Verlauf des Projekts wurden diese
umfasst etwa 165 Mbp, das des Menschen (Homo sapi- Schätzungen mehrfach nach unten korrigiert. Das
ens) 3.200 Mbp (= 3,2 Gbp) – das heißt, diese Genome oben erwähnte ENCODE-Projekt geht zurzeit noch von
sind 500–3.000 Mal größer als ein typisches Bakte- einer Genzahl von weniger als 21.000 aus. Diese ver-
riumgenom. hältnismäßig niedrig erscheinende Zahl, die schon
Abgesehen von diesem allgemeinen Unterschied fast der Genzahl des Fadenwurms Caenorhabditis ele-
zwischen Pro- und Eukaryonten zeigt ein Vergleich gans entspricht, hat viele Biologen überrascht, die für
der Genomgrößen innerhalb der Eukaryonten keinen den Menschen einen deutlich höheren Wert erwartet
offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Genom- hatten.
größe und dem Erscheinungsbild der verglichenen Welche genetischen Mechanismen ermöglichen es
Arten. So umfasst etwa das Genom von Paris japonica, dem Menschen (und anderen Wirbeltieren), mit einer
der japanischen Lavendelheide – aus der Familie der so geringen Zahl von Genen auszukommen, die kaum
Heidekrautgewächse (Ericaceae) – 149 Milliarden über der eines einfachen Fadenwurms liegt? – Ein
Basenpaare (149 Gbp = 149.000 Mbp) – also das Fünf- bedeutender Faktor ist das alternative Spleißen von
zigfache des Humangenoms. Noch verblüffender ist Primärtranskripten, durch das Wirbeltiergenome „mehr
das Genom von Polychaos dubium, einem einzelligen aus ihren Genen herausholen können“. Wie Sie wis-
Wechseltierchen (Amöbe) mit 670.000 Mbp (670 Gbp), sen, können damit aus einem einzelnen Gen mehrere
das allerdings noch nicht sequenziert wurde. Auch funktionelle Proteine erzeugt werden (siehe Abbil-
wenn man nur die Genome verschiedener Insekten- dung 18.13). Fast alle Gene des Menschen enthalten
arten vergleicht, zeigen sich große Unterschiede. So hat mehrere Exons und es wird angenommen, dass etwa
das Genom der Mormonengrille (Anabrus simplex) elf- 75 Prozent der davon gebildeten Primärtranskripte auf
mal so viele Basenpaare wie das der uns als Modellor- wenigstens zwei verschiedene Weisen gespleißt wer-
ganismus vertrauten Fliegenart Drosophila melano- den. Einige Gene werden sogar in Hunderten alter-
gaster. Auch innerhalb anderer Gruppen, wie der nativ gespleißter Formen exprimiert. Obwohl längst
einzelligen Eukaryonten, der Insekten (Kerbtiere), der nicht alle dieser unterschiedlichen Formen katalogi-
Amphibien und der Pflanzen unterscheiden sich die siert wurden, gilt es als gesichert, dass die Zahl der
Genomgrößen erheblich. Bei den Reptilien und den unterschiedlichen im menschlichen Genom codierten
Säugetieren findet man dagegen geringere Schwan- Proteine die Zahl der vorhergesagten Gene bei weitem
kungsbreiten. übertrifft. Weitere funktionelle Unterschiede können
durch posttranslationale Modifikationen in Polypep-
tiden entstehen, beispielsweise durch eine partielle
21.3.2 Genzahl Proteolyse oder die unterschiedliche Glykosylierung
in verschiedenen Zelltypen oder in unterschiedlichen
Ähnliche Unterschiede finden sich hinsichtlich der Entwicklungsstadien.
Zahl von proteincodierenden Genen: Bakterien und

573
21 Genome und ihre Evolution

Tabelle 21.1

Genomgrößen und angenäherte Genzahlen*


Organismus Größe des haploiden Genzahl Gene pro Mbp
Genoms (Mbp)
Bakterien
Haemophilus influenzae 1,8 1.700 940
Escherichia coli 4,6 4.400 950
Archaeen
Archaeoglobus fulgidus 2,2 2.500 1.130
Methanosarcina barkeri 4,8 3.600 750
Eukaryonten
Saccharomyces cerevisiae (Bäckerhefe) 12 5.800 483
Caenorhabditis elegans (ein Fadenwurm) 100 20.100 200
Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand; 120 27.000 225
eine Blütenpflanze)
Teil 3 Daphnia pulex (Wasserfloh) 200 31.000 155
Drosophila melanogaster (eine Taufliege) 165 14.000 85
Oryza sativa (Reis; eine Blütenpflanze) 430 42.000 98
Zea mays (Mais) 2.300 32.000 14
Ailuropoda melanoleuca (Großer Panda) 2.400 21.000 9
Homo sapiens (Mensch) 3.200 < 21.000 7
Paris japonica (Japanische Lavendelheide) 149.000 Noch nicht bekannt Noch nicht bekannt
*Einige der hier aufgelisteten Werte werden sich wahrscheinlich nach der vollständigen Fertigstellung der Genomanalysen noch verän-
dern. Mbp = Millionen Basenpaare.

21.3.3 Gendichte und nicht-codierende DNA ser nicht-codierenden Bereiche machen die Introns
innerhalb der offenen Leserahmen der Gene aus. Die
Über die Genomgröße und die Genzahl hinaus können Introns sind auch hauptsächlich für die Unterschiede in
wir auch die Gendichte in den Genomen verschiedener der durchschnittlichen Länge eines Gens des Menschen
Arten miteinander vergleichen – also wie viele Gene in (27.000 Basenpaare) gegenüber der eines Bakteriengens
einem DNA-Abschnitt gegebener Länge vorhanden sind. (1.000 Basenpaare) verantwortlich.
Wenn wir so die Genome von Bakterien und Archaeen Neben diesen Introns enthalten Eukaryontengenome
(Prokaryonten) mit denen von Eukaryonten vergleichen, große Mengen nicht für Proteine codierender DNA
ergeben sich im Allgemeinen für Eukaryonten größere zwischen den einzelnen Genen. Im Folgenden werden
Genome, die aber eine geringere Gendichte aufweisen. wir auf die Zusammensetzung und die Anordnung
So hat das menschliche Genom die hundert- bis tau- dieser langen DNA-Regionen im menschlichen Genom
sendfache Anzahl von Basenpaaren eines Bakteriums, eingehen.
enthält aber nur 5 bis 15 Mal so viele Gene (Tabelle 21.1).
Selbst einzellige Eukaryonten wie Hefen besitzen pro
Million Basenpaare weniger Gene als Prokaryonten.
 Wiederholungsfragen 21.3
Unter den bislang sequenzierten Genomen weisen die
der Säugetiere die geringste Gendichte auf.
1. Nach den aktuellen Schätzungen enthält das
In allen untersuchten Bakteriengenomen codiert der
Genom des Menschen weniger als 21.000
größte Teil der DNA für Proteine, tRNAs oder rRNAs.
Gene. Es gibt jedoch ebenso Belege dafür, dass
Der kleine Anteil nicht-transkribierter DNA besteht zum
die Zellen des menschlichen Körpers in ihrer
überwiegenden Teil aus regulatorischen Sequenzen wie
Gesamtheit deutlich mehr als 21.000 ver-
Promotoren und Terminatoren. Die Nucleotidfolgen der
schiedene Polypeptide bilden. Wie lässt sich
codierenden Bereiche von Bakteriengenen werden nicht
dieser scheinbare Widerspruch erklären?
von Introns unterbrochen. Im Gegensatz dazu codiert
der Großteil der DNA eines Eukaryontengenoms weder 2. Die Zahl der vollständig sequenzierten Genome
für Proteine, noch wird er in eine der genannten RNAs wächst ständig an. Gehen Sie zur Internetseite
umgeschrieben. Außerdem sind die regulatorischen http://www.genomesonline.org, um die aktuelle
Bereiche von eukaryontischen Genen in der Regel kom- Zahl abgeschlossener Genomprojekte zu erfah-
plexer aufgebaut. Das Genom des Menschen enthält ren. Versuchen Sie auch die Zahl der in Bearbei-
etwa die 10.000-fache Menge an nicht-codierender DNA tung befindlichen Genomprojekte zu finden.
im Vergleich zu einem Bakteriengenom. Einen Teil die-

574
21.4 Das Genom eukaryontischer Vielzeller enthält viel nicht-codierende DNA und viele Multigenfamilien

ern die Schlüsselfunktion dieser nicht-codierenden


3. WAS WÄRE, WENN? Welcher evolutionäre Pro- DNA für die Zellen. Wir werden uns nun – wieder
zess könnte dafür verantwortlich sein, dass hauptsächlich am Beispiel des Menschen – mit der
Prokaryonten kleinere Genome als Eukaryon- Frage befassen, wie Gene und nicht-codierende DNA-
ten besitzen? Bereiche innerhalb der Genome eukaryontischer Viel-
zeller angeordnet sind. Die Genomorganisation verrät
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. uns viel darüber, wie sich die Genome während der
Evolution entwickelt haben und sich vermutlich noch
immer weiter entwickeln. Dies soll auch in Konzept
21.5 noch näher besprochen werden.

Das Genom eukaryontischer Exons (Bereiche eines Gens, die für eine Folge
von Aminosäuren eines Proteins (mRNA), regulatorische
Vielzeller enthält viel nicht- eine rRNA oder eine tRNA codieren; 1,5%) Sequenzen (5%)

codierende DNA und viele


Multigenfamilien
21.4
In diesem Kapitel haben wir uns bisher hauptsächlich Introns Teil 3
(~20%)
mit proteincodierenden Genen beschäftigt. Allerdings
repetitive DNA,
stellen die Gene für Proteine und die codierenden einschließlich
Bereiche für einige Ribonucleinsäuren wie rRNAs, transponierbarer
tRNAs und miRNAs nur einen kleinen Teil des Genoms Elemente und
damit verwandter
dar. Nachdem die Sequenzierung des Humangenoms singuläre, nicht-
Sequenzen
codierende DNA-
abgeschlossen war, wurde in der Analyse rasch klar, (44%)
Abschnitte (15%)
L1-
dass nur ein kleiner Anteil von etwa 1,5 Prozent Pro- Sequenzen repetitive
teine, rRNAs oder tRNAs codiert. Abbildung 21.6 zeigt, (17%) DNA, nicht
mit transpo-
was wir gegenwärtig über die Zusammensetzung der nierbaren
verbleibenden 98,5 Prozent wissen. Regulationssequen- Elementen
zen und Introns von Genen machen jeweils etwa 5 Pro- verwandt
Alu-Elemente (14%)
zent bzw. 20 Prozent des Humangenoms aus. Ein weite- (10%)
rer Teil liegt zwischen den funktionalen Genorten einfache DNA- Duplikationen großer
verstreut und umfasst einzigartige, nicht-codierende Sequenzen (3%) Bereiche (5–6%)
Abschnitte wie Genfragmente und Pseudogene (also
Abbildung 21.6: Die Verteilung von DNA-Sequenzen im mensch-
ehemalige Gene, die im Laufe der Evolution so viele lichen Genom. Sequenzen, die für Proteine, rRNA oder tRNA codieren,
Mutationen angesammelt haben, dass sie funktionslos machen nur etwa 1,5 Prozent des menschlichen Genoms aus (dunkellila in
wurden). Der größte Anteil intergenischer DNA besteht diesem Tortendiagramm). Introns und regulatorische Sequenzen (helllila)
jedoch aus repetitiver DNA, das heißt Sequenzen, die bilden etwa 25 Prozent. Die Hauptmasse des menschlichen Genoms codiert
im Genom vielfach wiederholt vorkommen. Es war weder für Proteine noch für bekannte RNAs, und ein großer Teil besteht aus
etwas überraschend, dass etwa drei Viertel dieser repe- repetitiven Sequenzen (hell- und dunkelgrün). Da repetitive Sequenzen
titiven DNA-Sequenzen (44 Prozent des gesamten schwierig zu sequenzieren sind, ist die Klassifizierung eines Teils dieser
Genoms) aus transponierbaren Elementen und mit die- Genomabschnitte noch vorläufig. Die hier angegebenen Prozentzahlen wer-
sen verwandten Sequenzen bestehen. den sich daher im Laufe der weiteren Genomanalyse noch etwas verändern.
Die meisten Eukaryontengenome bestehen also haupt-
sächlich aus DNA-Sequenzen, die weder für Proteine
codieren noch in bekannte RNAs transkribiert werden.
21.4.1 Transponierbare Elemente und
Diese nicht-codierenden DNA-Bereiche wurden in der verwandte Sequenzen
Vergangenheit oft als „Schrott-DNA“ (engl. junk DNA)
bezeichnet. Mittlerweile mehren sich allerdings die Sowohl bei Pro- als auch bei Eukaryonten finden sich
Hinweise, dass diese große Menge DNA tatsächlich eine DNA-Abschnitte, die die erstaunliche Fähigkeit haben,
wichtige Rolle für die Zelle spielt. Dafür spricht auch, innerhalb des Genoms ihren Platz zu wechseln. Diese
dass diese Genombereiche über Hunderte von Genera- DNA-Bereiche heißen transponierbare Elemente (engl.
tionen und Artenschranken hinweg erhalten blieben. So transposable elements) oder mobile genetische Ele-
ergab ein Vergleich der Genome von Mensch, Ratte und mente. Während einer Transposition (zusammengesetzt
Maus fast 500 Bereiche nicht-codierender DNA-Sequen- aus lat. trans, über, darüber hinaus, jenseits von und
zen, die bei den drei Säugern praktisch identisch waren. positio, Lage, Stellung) wandert ein solches DNA-Stück
Dies ist ein höherer Grad an Sequenzerhaltung (Kon- von seinem Ursprungsort in der DNA der Zelle zu einem
servierung) als bei den meisten proteincodierenden neuen Ort, an dem es durch Rekombination integriert
Abschnitten dieser Arten und weist auf eine wichtige wird. Daher werden transponierbare genetische Ele-
biologische Funktion dieser Abschnitte hin. Die zuvor mente oft auch als „springende Gene“ bezeichnet. Dieser
erwähnten Ergebnisse des ENCODE-Projekts untermau- bildliche Ausdruck ist jedoch etwas irreführend, da die

575
21 Genome und ihre Evolution

Elemente die DNA nicht wirklich verlassen. Vielmehr paste“), bei dem ein Element am Ursprungsort zurück-
kommt es während der Transposition zu einer durch bleibt (Abbildung 21.8). Beide Mechanismen benöti-
Proteine verursachten DNA-Biegung, die den ursprüngli- gen ein Enzym namens Transposase, das normaler-
chen und den neuen Integrationsort für die Rekombina- weise vom Transposon selbst codiert ist.
tion in engen räumlichen Kontakt zueinander bringt. Die meisten transponierbaren Elemente eukaryonti-
Die ersten Hinweise auf solche „umherwandernden“ scher Genome gehören der zweiten Klasse an. Hierbei
DNA-Segmente stammen aus Experimenten von Barbara handelt es sich um sogenannte Retrotransposons, die
McClintock (US-amerikanische Genetikerin, 1902–1992) über ein RNA-Zwischenprodukt, also ein Transkript
an Maispflanzen (Zea mays), die schon in den 1940er der DNA des Retrotransposons, den Ortswechsel voll-
und 1950er Jahren durchgeführt wurden (Abbildung ziehen. Durch die Transkription in eine intermediäre
21.7). Bei der Untersuchung von Maispflanzen über RNA verbleibt bei einem Retrotransposon also immer
mehrere Generationen entdeckte sie Veränderungen in das ursprüngliche Element an seinem Ursprungsort
den Farbmustern der Maiskörner, die sich durch die (Abbildung 21.9). Um an einem anderen Ort im
klassische Genetik schwer erklären ließen. Die Befunde Genom eingesetzt zu werden, wird die RNA-Zwischen-
ergaben nur dann einen Sinn, wenn sie die Hypothese stufe zunächst durch die im Retrotransposon selbst
zugrunde legte, dass es genetische Elemente gab, die von codierte Reverse Transkriptase in eine DNA zurückver-
einem Ort im Genom zu anderen Orten „springen“ wandelt. Man findet die Reverse Transkriptase also
könnten – zum Beispiel in Gene, die die Farbe der auch in Zellen, die nicht von Retroviren infiziert sind.
Teil 3 Samen beeinflussten. Geschah dies, so fiel die Funktion Tatsächlich könnten sich die Retroviren, die wir in
dieser Gene aus, was eine Farbänderung in den Maiskör- Kapitel 19 beschrieben haben, aus Retrotransposons
nern bewirkt. McClintocks Entdeckung wurde mit viel entwickelt haben. Ein anderes zelluläres Enzym kataly-
Skepsis aufgenommen und ihre Erklärungen zunächst siert dann in einem Folgeschritt den Einbau der revers
verworfen. Ihre Befunde und innovativen Ideen wurden transkribierten DNA am neuen Integrationsort.
aber Jahrzehnte später bestätigt, als transponierbare Ele-
mente in Bakterien gefunden und die molekularen neue Kopie
Transposon des Transposons
Grundlagen der Transposition enträtselt wurden. Im Jahr
1983, im Alter von 81 Jahren, erhielt McClintock
genomische
schließlich den Nobelpreis für ihre Pionierarbeit. DNA Transposon
wird kopiert
Insertion

bewegliche Kopie eines Transposon


© Pearson Education, Inc.

Abbildung 21.8: Ortswechsel eines eukaryontischen transpo-


nierbaren Elements. Die Wanderung eines Transposons durch einen
„Ausschneide/Einfüge-Mechanismus“ oder durch einen „Kopier/Einfüge-
Mechanismus“ (hier dargestellt) erfolgt über ein doppelsträngiges DNA-
Zwischenprodukt, das in das Genom integriert wird.

? Wie müsste man die oben gezeigte Abbildung verändern, wenn der
„Ausschneide/Einfüge-Mechanismus“ dargestellt werden sollte?

Mit transponierbaren Elementen verwandte


Sequenzen
Abbildung 21.7: Die Wirkung transponierbarer genetischer Ele-
Viele Kopien transponierbarer Elemente und verwand-
mente auf die Farbe von Maiskörnern. Barbara McClintock (1902–
1992) postulierte als Erste die Existenz mobiler genetischer Elemente auf-
ter Sequenzen sind über das Genom fast aller bislang
grund ihrer Untersuchungen der Färbungen von Maiskörnern (rechts). untersuchten Eukaryonten verstreut. Eine einzelne sol-
che Einheit umfasst für gewöhnlich Hunderte bis einige
tausend Basenpaare. Die verstreuten „Kopien“ lassen
Der Ortswechsel von Transposons und sich zwar deutlich als ähnlich erkennen, sind aber im
Retrotransposons Regelfall nicht völlig identisch. Einige dieser Elemente
Die transponierbaren Elemente der Eukaryonten kön- sind beweglich, wobei die für einen Ortswechsel not-
nen in zwei Klassen unterteilt werden. Die erste wendigen Enzyme von ihnen selbst oder von anderen
Klasse bilden die Transposons, die sich innerhalb des transponierbaren Elementen codiert sein können. Bei
Genoms mithilfe eines DNA-Zwischenprodukts bewe- anderen Kopien handelt es sich um verwandte Sequen-
gen. Transposons wandern entweder über einen „Aus- zen, die die Fähigkeit zur Transposition verloren haben.
schneide/Einfüge-Mechanismus“ („cut and paste“), der Transponierbare genetische Elemente und mit ihnen
das mobile Element aus seinem Ursprungsort entfernt, verwandte Sequenzen bilden 25–50 Prozent der meisten
oder einen „Kopier/Einfüge-Mechanismus“ („copy and Säugetiergenome (Abbildung 21.6). Bei Amphibien und

576
21.4 Das Genom eukaryontischer Vielzeller enthält viel nicht-codierende DNA und viele Multigenfamilien

vielen Pflanzen ist der Anteil noch höher. Tatsächlich 21.4.2 Andere repetitive DNA-Sequenzen
beruht die enorme Größe einiger pflanzlicher Genome
nicht auf zusätzlichen Genen, sondern auf weiteren Andere, nicht mit transponierbaren Elementen ver-
transponierbaren Elementen. Beispielsweise besteht das wandte repetitive Sequenzen sind wahrscheinlich auf-
Maisgenom zu 85 Prozent aus solchen Sequenzen. grund von Fehlern während der DNA-Replikation oder
der Rekombination entstanden. Solche Sequenzen bil-
neue Kopie des den ungefähr 14 Prozent des Humangenoms (Abbil-
Retrotransposon Retrotransposons
dung 21.6). Etwa ein Drittel davon (etwa fünf Prozent
des gesamten Genoms) besteht aus Duplikationen langer
Synthese eines DNA-Bereiche mit jeweils 10.000 bis 300.000 Basenpaa-
einzelsträngigen
RNA-Zwischenprodukts ren. Diese großen Abschnitte wurden anscheinend von
einem Ort an andere Stellen des gleichen Chromosoms
RNA
oder anderer Chromosomen kopiert und enthalten
Insertion wahrscheinlich auch einige Gene.
Reverse Im Gegensatz zu solchen verstreuten Exemplaren lan-
Transkriptase ger Sequenzen, werden sogenannte einfache Sequenz-
wiederholungen (engl. simple sequence DNA) durch
DNA- viele Kopien tandemartig wiederholter kurzer Sequen-
Strang
zen gebildet, wie etwa im folgenden Beispiel (nur ein Teil 3
DNA-Strang ist dargestellt):
bewegliche Kopie eines Retrotransposons
© Pearson Education, Inc. ...GTTACGTTACGTTACGTTACGTTACGTTAC....
Abbildung 21.9: Ortswechsel eines Retrotransposons. Die Wan-
derung eines Retrotransposons beginnt mit der Bildung eines einzelsträn- In diesem Beispiel besteht die sich wiederholende
gigen RNA-Zwischenproduktes. Die übrigen Schritte stimmen im Wesent- Sequenz aus nur fünf Nucleotiden: GTTAC. Abschnitte
lichen mit denen im Reproduktionszyklus von Retroviren überein (siehe mit solchen Sequenzwiederholungen können bis zu
Abbildung 19.8 ). 500 Nucleotide umfassen, bestehen meist aber aus
weniger als 15 wiederholten Nucleotiden. Wenn eine
Beim Menschen und anderen Primaten besteht ein Einheit nur zwei bis fünf Nucleotide umfasst, wird eine
großer Teil der mit transponierbaren Elementen ver- derartige Abfolge als kurze Tandemwiederholung (STR;
wandten DNA aus einer Familie ähnlicher Sequenzen, engl. short tandem repeat) bezeichnet, deren prakti-
die Alu-Sequenzen genannt werden (nach einer in scher Nutzen bei der molekulargenetischen Analyse
diesen enthaltenen Erkennungssequenz des Restrik- bereits in Konzept 20.4 besprochen wurde. Die Anzahl
tionsenzyms AluI). Fast zehn Prozent des menschlichen der Wiederholungen kann an verschiedenen Genorten
Genoms bestehen aus solchen Alu-Sequenzen. Ein (Loci) variieren. Es kann also mehrere tausend Wieder-
einzelnes dieser Elemente besteht aus etwa 300 Basen- holungen der genannten GTTAC-Nucleotidfolge an
paaren und ist damit viel kürzer als ein funktionelles einem Locus geben, während an einem anderen nur
transponierbares Element. Obwohl Alu-Sequenzen einige hundert vorliegen. STR-Analysen haben sich auf
keine Proteine codieren, werden viele von ihnen tran- bestimmte Loci beschränkt, die nur wenige Wiederho-
skribiert und zumindest einige scheinen eine Rolle bei lungen aufweisen. Die Zahl der Wiederholungen kann
der Regulation der Genexpression zu spielen. sich auch von Mensch zu Mensch und zwischen den
Ein noch größerer Anteil von fast 17 Prozent des beiden Allelen des diploiden Genoms einer Person
menschlichen Genoms entfällt auf einen Typ von Retro- unterscheiden, was die Grundlage der STR-Analyse bei
transposons, der als LINE-1 (abgekürzt L1; engl.: long der Erstellung unterschiedlicher genetischer Profile
interspersed nuclear elements) bezeichnet wird. Diese („genetische Fingerabdrücke“) bildet. Insgesamt finden
Sequenzen sind deutlich länger als die Alu-Sequenzen, sich einfache Sequenzwiederholungen in ungefähr drei
umfassen etwa 6.500 Basenpaare und transponieren Prozent des menschlichen Genoms.
sehr selten. Versuche mit Ratten ergaben jedoch, dass Viele der einfachen Sequenzwiederholungen eines
die L1-Retrotransposons in Zellen während der Gehirn- Eukaryontengenoms liegen im Bereich der Telomere
entwicklung eine höhere Transpositionsaktivität besit- und der Centromere, was die Vermutung nahelegt,
zen. Eine Theorie geht davon aus, dass die große Viel- dass diese DNA-Bereiche eine strukturelle Funktion
falt neuronaler Zelltypen auf L1-Retrotranspositionen haben. Die DNA der Centromere ist hauptsächlich für
zurückzuführen ist, die sich auf die Expression ver- die Trennung der Chromatiden bei der Zellteilung
schiedener Gene ausgewirkt haben (siehe Kapitel 48). zuständig (siehe Konzept 12.2). Sie könnte außerdem
Obwohl viele transponierbare Elemente auch Pro- auch zusammen mit weiteren DNA-Abschnitten für
teine codieren, erfüllen diese keine normalen zellulä- die Organisation des Chromatins im Interphasezell-
ren Funktionen sondern sind nur für die eigene Ver- kern mitverantwortlich sein. Die einfachen DNA-Wie-
breitung zuständig. Die transponierbaren Elemente derholungen im Bereich der Telomere an den Chromo-
werden daher zusammen mit anderen repetitiven somenenden verhindern dagegen, dass Gene bei der
Sequenzen in der Regel zu den „nicht-codierenden" Replikation durch eine Verkürzung der Chromosomen
Bereichen des Genoms gezählt. verloren gehen (siehe Konzept 16.2). So bindet die

577
21 Genome und ihre Evolution

Telomer-DNA Proteine, die die Chromosomenenden Transkriptionsrichtung


vor einem enzymatischen Abbau durch Nucleasen und DNA
einer Rekombination mit anderen Chromosomen schüt- RNA-Transkripte
zen.
Kurze, repetitive Sequenzen, wie sie oben beschrie- nicht transkribierter
ben sind, stellen eine besondere Herausforderung bei Zwischenbereich
der „Schrotschuss-Sequenzierung“ ganzer Genome dar, („spacer“) Transkriptionseinheit

weil die Wiederholung vieler kurzer Sequenzen den


korrekten Zusammenbau der Fragmente durch Com-
puterprogramme erschwert oder sogar ganz verhindert. DNA
Bereiche mit einer solch einfachen Sequenzzusammen-
18S 5.8S 28S
setzung bilden den größten Unsicherheitsfaktor bei der rRNA
Abschätzung der Gesamtgröße von Genomen.
5.8S
28S

18S
21.4.3 Gene und Multigenfamilien
(a) Ein Teil der ribosomalen Genfamilie. Die TEM-Aufnahme
Wir beenden unsere Beschreibung der verschiedenen oben zeigt drei von hunderten Kopien von RNA-Transkriptions-
Teil 3 einheiten der rRNA-Genfamilie im Salamandergenom. Jede dieser
Arten von DNA-Sequenzen eukaryontischer Genome „Federn“ entspricht einer solchen Einheit, die von etwa 100
mit einem eingehenderen Blick auf die Gene. Wie Molekülen der RNA-Polymerase (die dunklen Punkte auf der DNA)
bereits erwähnt, machen DNA-Sequenzen, die für Pro- transkribiert wird. Dabei bewegen sie sich von links nach rechts
(roter Pfeil). Die wachsenden RNA Transkripte wachsen ausgehend
teine, rRNA oder tRNA codieren, nur etwa 1,5 Prozent vom zentralen DNA-Doppelstrang. In der Zeichnung der Tran-
des menschlichen Genoms aus (siehe Abbildung 21.6). skriptionseinheit unter der TEM-Aufnahme, befinden sich die Gene
für drei Typen der rRNA (dunkelblau) zwischen Bereichen, die zwar
Bezieht man noch die Introns und regulatorischen transkribiert aber später wieder entfernt werden (hellblau). Ein
Bereiche mit ein, so bildet die „genverwandte“ DNA einzelnes Transkript wird prozessiert und ergibt so die drei rRNAs
(codierend und nicht-codierend) rund ein Viertel des (rot), die Schlüsselkomponenten des Ribosoms sind.
menschlichen Genoms. Anders ausgedrückt finden sich
im Durchschnitt nur sechs Prozent (1,5 von 25 Prozent) β-Globin
der Länge eines Gens in den Genprodukten wieder.
Wie bei den Bakterien liegen die meisten eukaryon- α-Globin
tischen Gene als einmalig vorhandene Sequenzen im
Genom vor (das heißt einmal pro haploidem Chromo- α-Globin
somensatz). Im Genom des Menschen und vieler ande-
β-Globin Häm
rer Tier- und Pflanzenarten machen solche singulären
Gene weniger als die Hälfte der transkribierten DNA
α-Globin-Genfamilie β-Globin-Genfamilie
aus. Der Rest entfällt auf Multigenfamilien, die aus zwei
oder mehr identischen oder sehr ähnlichen sequenzver- Chromosom 16 Chromosom 11
wandten Genen bestehen.
ζ ψζ ψα ψα α2 α1 ψθ Gγ A γ ψβ δ β
Bei aus identischen DNA-Sequenzen zusammenge- 2 1

setzten Multigenfamilien sind die Gene in der Regel


Fetus und
tandemartig angeordnet und bilden – mit der wichti- Embryo Erwachsene Embryo Fetus Erwachsene
gen Ausnahme der Histongene – ausschließlich RNAs
(und keine Proteine) als Endprodukte. Ein Beispiel für (b) Die menschlichen α-Globin- und β-Globin-Genfamilien. Das
Hämoglobin besteht aus je zwei α-Globin- und β-Globin-Poly-
eine solche Familie identischer Gene sind die Genorte peptid-Untereinheiten, wie in dem Molekülmodell oben zu sehen
für die größeren rRNA-Arten (Abbildung 21.10a). Die ist. Die Gene (dunkelblau), die für α- und β-Globin codieren sind
rRNA-Moleküle werden aus einzelnen Transkriptions- in zwei Familien organisiert. Die nicht-codierende DNA (hellblau),
die die funktionellen Gene voneinander trennt, beinhaltet
einheiten gebildet, die an einer oder mehreren Stellen in Pseudogene (ψ; goldfarben). Dies sind Versionen der funk-
eukaryontischen Genomen in Hunderten von Sequenz- tionellen Gene, die nicht mehr für funktionierende Polypep-
wiederholungen vorliegen können. Die zahlreichen tide codieren. Wie sie oben bereits gesehen haben, werden
Gene und Pseudogene mit griechischen Buchstaben benannt.
Kopien dieser rRNA-Transkriptionseinheiten erleich- Einige Gene werden nur im Embryo oder nur im Fetus exprimiert.
tern es der Zelle, rasch die rRNAs für Millionen von
Ribosomen zu erzeugen, die für die ständige Protein- Abbildung 21.10: Genfamilien.
biosynthese benötigt werden. Ein Primärtranskript
wird jeweils gezielt in die drei großen, am Aufbau des ? Wie ließe sich im Beispiel (a) die Transkriptionsrichtung ermitteln, falls
Ribosoms beteiligten ribosomalen Ribonucleinsäuren diese nicht durch den roten Pfeil angegeben wäre?
gespalten. Diese verbinden sich dann mit den riboso-
malen Proteinen und einer weiteren rRNA (der 5S-
rRNA) zu den ribosomalen Untereinheiten.

578
21.5 Genomevolution durch Duplikation, Umlagerung und Mutation der DNA

Ein klassisches Beispiel für eine Multigenfamilie Genomevolution durch


nicht-identischer proteincodierender Gene sind die
beiden miteinander verwandten Familien der Globin-
Duplikation, Umlagerung
gene. Aus ihren Translationsprodukten, dem α- und
dem β-Globin, wird das Hämoglobin gebildet. Eine
und Mutation der DNA
21.5
dieser Familien, die beim Menschen auf Chromosom
16 lokalisiert ist, codiert verschiedene Isoformen des EVOLUTION Nachdem wir beispielhaft die Zusammen-
α-Globins; die andere, auf Chromosom 11, codiert Iso- setzung des menschlichen Genoms betrachtet haben,
formen des β-Globins (Abbildung 21.10b). Die unter- wollen wir uns in der Folge anschauen, was wir von
schiedlichen Isoformen werden zu verschiedenen der Zusammensetzung des Genoms über seine Entwick-
Zeitpunkten in der Individualentwicklung exprimiert lung lernen können. Mutationen sind Veränderungen
und passen so die biochemischen Eigenschaften des des Genoms, die die Grundlage für dessen Evolution bil-
Hämoglobins an die jeweiligen physiologischen Bedin- den. Wahrscheinlich waren die ersten Lebensformen
gungen des sich entwickelnden Tieres an. So haben mit einer sehr kleinen Zahl von Genen ausgestattet,
beispielsweise die embryonale und die fetale Form die für das Überleben und die Fortpflanzung notwen-
des Hämoglobins eine höhere Affinität zum Sauerstoff dig waren. Unter dieser Annahme hätte die Vergröße-
als das Hämoglobin des Erwachsenen. Damit wird eine rung des Genoms zusätzliches Erbgut für eine Erhö-
effiziente Sauerstoffübertragung vom mütterlichen auf hung der genetischen Vielfalt bereitgestellt. In diesem
den embryonalen Kreislauf sichergestellt. In der Multi- Abschnitt werden wir zunächst beschreiben, wie zusätz- Teil 3
genfamilie der Globine finden sich außerdem diverse liche Kopien des Genoms oder von dessen Teilsequen-
Pseudogene. Die Anordnung der Gene innerhalb der zen entstehen können, und dann darlegen, wie dies in
Genfamilien hat auch zu Einsichten in die Evolution der Folge die Evolution von Proteinen oder RNAs mit
von Genomen geführt. Wir werden einige der Pro- leicht abweichenden oder gänzlich neuen Funktionen
zesse, die die Genome verschiedener Arten über die bewirken kann.
evolutionsgeschichtlichen Zeiträume geformt haben,
im nächsten Abschnitt des Kapitels erörtern.
21.5.1 Duplikation ganzer
Chromosomensätze
Eine fehlerhafte Meiose kann zum Auftreten von
 Wiederholungsfragen 21.4 einem oder mehreren zusätzlichen Chromosomensät-
zen in einer Zelle führen (Polyploidie). Obgleich die
1. Diskutieren Sie, welche Merkmale von Säuge- Nachkommen solcher „Unfälle“ meistens nicht lebens-
tiergenomen sie umfangreicher machen als Pro- fähig sind, können sie in seltenen Fällen zur Evolu-
karyontengenome. tion von Genen beitragen. Bei einem polyploiden
Organismus genügt ein Gensatz, um die unverzichtba-
2. Welche/r der drei Mechanismen, die in Abbil- ren, lebenserhaltenden Funktionen bereitzustellen. In
dung 21.8 und Abbildung 21.9 dargestellt sind, den Genen der überzähligen Chromosomensätze kön-
führen bzw. führt sowohl zu einer Kopie eines nen sich dann Mutationen ansammeln, die sich nicht
transponierbaren Elements, die an der Ur- auf die Lebensfähigkeit des Organismus auswirken
sprungstelle liegt, als auch zu einer Kopie an sollten. So können sich Gene mit neuartigen Funktio-
einem neuen Ort? nen entwickeln, wenn das sie tragende Individuum
3. Erörtern Sie die Unterschiede in der Organisa- überlebt und sich fortpflanzt. Wenn eine Kopie eines
tion der rRNA-Gene und der Globingene. Er- essenziellen Gens weiter exprimiert wird, kann sich
läutern Sie für beide Fälle, welche Vorteile die andere Kopie so lange verändern, bis das codierte
die Existenz einer ganzen Genfamilie für den Protein eine neue Aufgabe übernehmen kann, was
Organismus hat. sich dann im Phänotyp des Individuums widerspiegelt.
Letztlich kann sich so durch die Anhäufung von Muta-
4. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Weisen Sie jedes tionen über viele Generationen eine neue Art entwi-
DNA-Segment aus dem oberen Teil der Abbil- ckeln. Während Polyploidie bei Tieren eher selten ist,
dung 18.8 einem Sektor in der Tortengrafik in tritt sie bei Pflanzen häufiger auf. Man schätzt, dass bis
Abbildung 21.6 zu. zu 80 Prozent aller Pflanzenarten, die man heutzutage
kennt, einen polyploiden Vorläufer haben. Wie diese
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Polyploidie zur Entstehung neuer Arten bei Pflanzen
beiträgt, werden wir in Kapitel 24 näher betrachten.

579
21 Genome und ihre Evolution

21.5.2 Veränderungen der schiedene Bereiche mit ganzen „Genblöcken“ dieses


Chromosomenstruktur Chromosoms finden sich Homologien auf vier verschie-
denen Chromosomen der Maus. Man nimmt deshalb an,
Durch die enorme Informationsflut an verfügbaren dass diese Chromosomenstücke während der Evolution
Genomsequenzen kann man mittlerweile die chromoso- der Säugetierlinien von Primaten und Nagetieren zusam-
male Organisation vieler verschiedener Spezies sehr menhängend weitergegeben wurden. Ein ähnlicher Ver-
genau miteinander vergleichen. Damit können Rück- gleich der Chromosomen des Menschen mit sechs weite-
schlüsse auf den evolutionären Prozess gezogen wer- ren Säugetierarten ermöglichte die Rekonstruktion der
den, der die Chromosomen formt und für die Bildung Evolutionsgeschichte chromosomaler Umlagerungen der
neuer Arten verantwortlich ist. So ist beispielsweise insgesamt acht Arten. Dabei fand man zahlreiche Dupli-
schon länger bekannt, dass bei der Trennung der Vorfah- kationen und Inversionen großer Chromosomenteile, die
ren von Mensch (Hominiden; n = 23) und Schimpanse auf fehlerhafte Rekombinationsereignisse beim Crossing-
(Simiden; n = 24) zwei Chromosomen in der Homini- over während der Meiose zurückgeführt werden, bei
denlinie miteinander verschmolzen sind. Das Banden- denen die DNA der beteiligten Chromosomen geschnit-
muster in gefärbten Chromosomen deutete darauf hin, ten und falsch zusammengefügt wurde. Derartige Ereig-
dass die Vorläufer der heutigen Schimpansenchromoso- nisse scheinen vor etwa 100 Millionen Jahren gehäuft
men 12 und 13 an zwei ihrer Enden fusionierten und so aufgetreten zu sein. Dies geschah etwa 35 Millionen
das Chromosom 2 in einem Vorläufer der Hominiden- Jahre vor dem Aussterben der Dinosaurier und dem
Teil 3 linie bildeten. Die Sequenzierung und die Analyse des damit einhergehenden starken Anwachsen der Arten-
Chromosoms 2 des Menschen im Humangenomprojekt zahl der Säugetiere. Obwohl zwei Individuen mit unter-
bestätigte diese Hypothese (Abbildung 21.11). schiedlich zusammengesetzten Chromosomen sich zwar
immer noch paaren und Nachkommen erzeugen könn-
menschliches Schimpansen- ten, hätten diese Nachfahren dann zwei unterschied-
Chromosom Chromosomen liche Chromosomensätze, was eine anschließende
Telomer- Meiose behindern oder sogar verhindern würde. Chro-
sequenzen mosomale Umlagerungen führen also zu zwei verschie-
denen Populationen, die sich nicht mehr erfolgreich mit-
einander paaren können – eine gebräuchliche Definition
für verschiedene Arten (siehe Kapitel 24).
Centromer-
sequenzen
menschliches
Chromosom Maus-Chromosomen
Telomer-ähnliche
Sequenzen 12

Centromer-ähnliche
Sequenzen

16 7 8 16 17
Abbildung 21.12: Blöcke homologer Sequenzen bei Chromoso-
2 13 men von Mensch und Maus. DNA-Sequenzen, die großen Abschnitten
des menschlichen Chromosoms 16 sehr ähnlich (homolog) sind, finden
Abbildung 21.11: Chromosomenentwicklung bei Mensch und sich auf den Chromosomen 7, 8, 16 und 17 von Mäusen. Dies belegt, dass
Schimpanse. Die Positionen der Telomer-ähnlichen und der Centromer- diese Chromosomenstücke während der Evolution auch nach der Abspal-
ähnlichen Sequenzen auf dem menschlichen Chromosom 2 (links) stim- tung von einem gemeinsamen Vorfahren zusammengeblieben sind.
men mit den Telomeren der Schimpansenchromosomen 12 und 13 und
dem Centromer auf dem Schimpansenchromosom 13 überein (rechts).
Daraus lässt sich ableiten, dass die Chromosomen 12 und 13 eines Etwas unerwartet brachte dieselbe Untersuchung auch
menschlichen Vorfahren an zwei ihrer Enden fusionierten und so das heu-
ein Ergebnis von medizinischer Relevanz: Die Analyse
tige Chromosom 2 des Menschen bildeten. Das Centromer des Vorläu-
der mit den Umlagerungen zusammenhängenden chro-
ferchromosoms 12 behielt dabei seine Funktion bei, während das Centro-
mer von Chromosom 13 mutierte und funktionslos wurde. mosomalen Bruchstellen ergab, dass diese nicht zufällig
verteilt waren, sondern dass bestimmte Stellen immer
wieder bevorzugt wurden. Einige dieser „Rekombi-
In einer breiter angelegten Analyse wurden alle Chromo- nationsschwerpunkte“ („Hotspots“ der Rekombination)
somen des Menschen mit denen der Maus verglichen. entsprechen Stellen im Humangenom, die mit bestimm-
Abbildung 21.12 zeigt beispielhaft, was daraus für das ten Erbkrankheiten in Zusammenhang gebracht werden
Chromosom 16 des Menschen abgeleitet wurde: Für ver- (siehe Kapitel 15).

580
21.5 Genomevolution durch Duplikation, Umlagerung und Mutation der DNA

21.5.3 Duplikation und Divergenz einzelner nicht oder doppelt repliziert, was zu einer Deletion
Genbereiche oder einer Duplikation des betroffenen Abschnitts
führt. Man kann sich leicht vorstellen, dass solche Feh-
Auch deutlich kleinere als die bisher besprochenen ler gehäuft in den beschriebenen genomischen Sequenz-
großen chromosomalen Bereiche können bei einer feh- wiederholungen auftreten. Die Variationen in der Zahl
lerhaften Meiose zu Duplikationen beitragen, die etwa von Wiederholungen einfacher Sequenzmotive, wie sie
der Länge einzelner Gene entsprechen. Ein Crossing- für die STR-Analyse genutzt werden, entstanden wahr-
over-Ereignis zwischen nicht-homologen Chromoso- scheinlich aus derartigen Fehlern. Die Existenz von
men in der Prophase der ersten meiotischen Teilung Multigenfamilien, wie zum Beispiel der Globin-Fami-
kann beispielsweise zu einem Chromosom mit einer lie, wird als Beleg dafür angesehen, dass illegitimes
Deletion führen, während der zweite Partner dieser ille- Crossing-over und ein Verrutschen des Matrizenstrangs
gitimen Rekombination eine Duplikation des entspre- bei der Replikation zur Duplikation von Genen führen
chenden Bereichs, der ein Gen enthalten kann, auf- können.
weist. Wie in Abbildung 21.13 schematisch dargestellt
ist, können transponierbare Elemente im Genom homo- Die Evolution von Genen mit verwandten
loge Sequenzen bereitstellen, an denen Nichtschwes- Funktionen: Die menschlichen Globingene
terchromatiden rekombinieren können – selbst dann, Duplikationsereignisse können zur Evolution von Genen
wenn die flankierenden Chromatidbereiche nicht kor- mit verwandten Funktionen beziehungsweise ähnli-
rekt aneinandergelagert sind. chen Genprodukten führen. Ein Beispiel hierfür ist die Teil 3
Globingenfamilie mit den Untergruppen der α- und der
Nichtschwester- Gen transponier- β-Globine (Abbildung 21.10b). Durch einen Vergleich
chromatiden bares Element
der Gensequenzen innerhalb einer Multigenfamilie
kann unter Umständen die Reihenfolge, in der die Gene
entstanden sind, ermittelt werden. Rekonstruiert man
die Evolutionsgeschichte der Globingene auf dieser
Grundlage, so ergibt sich, dass alle Mitglieder der Gen-
Crossing-
familie aus einem ursprünglichen Globingen entstan-
fehlerhafte Paarung den sind, welches mehrfach dupliziert wurde und vor
zweier Homologer over
während der Meiose etwa 450–500 Millionen Jahren die verschiedenen Mit-
glieder der Untergruppen der α- und der β-Globine her-
vorbrachte (Abbildung 21.14). Jedes dieser aus der
ursprünglichen Duplikation entstandenen Gene wurde
in der Folge selbst noch mehrfach dupliziert, und die
verschiedenen Kopien veränderten sich durch weitere
Mutationen. Wahrscheinlich entwickelten sich aus dem
Urglobin außerdem auch noch das Sauerstoff-bindende
Muskelprotein Myoglobin sowie das Pflanzenprotein
und
Leghämoglobin (Leguminosen-Hämoglobin). Im Gegen-
satz zum tetrameren Hämoglobin handelt es sich beim
Myoglobin und beim Leghämoglobin um monomere
Abbildung 21.13: Genduplikation infolge illegitimen Crossing- Proteine. Diese und noch weitere Gene bilden die Super-
overs. Ein Mechanismus, durch den ein Gen oder ein beliebiges DNA-Seg- familie der Globingene.
ment dupliziert werden können, ist die meiotische Rekombination zwischen In den duplizierten Genen der Globingenfamilie
transponierbaren Elementen, die ein Gen einschließen. Eine solche Rekombi- und anderer Genfamilien traten in den vielen folgen-
nation zwischen fehlerhaft gepaarten Nichtschwesterchromatiden homolo- den Generationen Mutationen auf, die weitervererbt
ger Chromosomen erzeugt ein Chromatid mit einer Verdoppelung des betref- wurden. Aus heutiger Sicht konnte so die lebenswich-
fenden Genortes und ein Chromatid mit einer Deletion dieses Genortes.
tige Funktion beispielsweise durch das von einer
Kopie gebildete α-Globin bereitgestellt werden, wäh-
ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Sehen Sie in Abbildung 13.9 nach,
rend sich die anderen Kopien durch Mutationen ver-
wie Crossing-over entstehen. Zeichnen Sie im mittleren Teil der obigen Abbil-
dung eine Linie durch die Bereiche, die das obere Chromatid im unteren Teil änderten. Viele dieser Mutationen hatten zweifellos
der Abbildung ergeben. Verwenden Sie eine andere Farbe und zeichnen Sie nachteilige Auswirkungen auf die Proteinfunktion,
dasselbe bei dem anderen Chromatid in der mittleren Abbildung ein. andere verhielten sich neutral, während einige wenige
die Funktion des Proteins so beeinflussten, dass ein
Vorteil für den Organismus in bestimmten Entwick-
Weiterhin kann es während der Replikation zu einem lungsstadien erwuchs. Die Fähigkeit des Proteins,
„Verrutschen“ kommen, also einer Verschiebung des Sauerstoff zu binden, blieb dabei grundsätzlich erhal-
Matrizenstrangs relativ zum neu entstehenden Komple- ten. Es ist anzunehmen, dass solche veränderten Gene
mentärstrang. Ein Teil des Matrizenstrangs wird dann, der natürlichen Selektion unterlagen und so in der
abhängig von der Replikationsrichtung, entweder gar Population erhalten blieben.

581
21 Genome und ihre Evolution

„ursprüngliches“ Globingen

Verdopplung des
ursprünglichen Gens
Zeitskala der Evolution

Mutation beider
Kopien a b

Transposition auf
andere Chromo-
somen a b

weitere Verdop-
plungen und z a e g b Abbildung 21.14: Ein Modell für die
Mutationen Evolution der Familie der menschlichen
 - und  -Globingene, das von einem
gemeinsamen Vorläufer ausgeht.
z Yz Ya2Ya1 a2 a1 Yq e Gg Ag Yb d b
a-Globin-Genfamilie b-Globin-Genfamilie
? Die grünen Elemente sind Pseudogene.
auf Chromosom 16 auf Chromosom 11 Erklären Sie, wie diese nach einer Gendupli-
kation entstanden sein könnten.
Teil 3
In der Wissenschaftlichen Übung können Sie Aminosäu- den funktionellen Globingenen unterstützt diese Vorstel-
resequenzen der Globinfamilie vergleichen und lernen lung. Man nimmt an, dass nachteilige Mutationen in die-
wie solche Vergleiche dazu beitragen, das in Abbildung sen ehemaligen Genen im Laufe der Evolution zunächst
21.14 gezeigte Modell der Evolution von Globingenen zum Verlust der Funktion und schließlich zur Bildung
aufzustellen. Das Auftreten mehrerer Pseudogene unter des Pseudogens geführt haben.

 Wissenschaftliche Übung

Wie liest man eine Identitätstabelle für Experimentelle Daten Im Folgenden ist beispielhaft
Aminosäuren? ein paarweiser Sequenzvergleich unter Verwendung
des Einbuchstaben-Aminosäurencodes zwischen
Wie veränderten sich die dem α1-(alpha-1)-Globin und dem ζ-(zeta)-Globin
Aminosäuresequenzen der β dargestellt. Links neben jeder Zeile ist die Position
menschlichen Globingene im der ersten Aminosäure innerhalb der Sequenz ange-
Laufe der Evolution? Das α geben. Der Prozentsatz der Identität für die beiden
Modell zur Entwicklungs- α gezeigten Sequenzen wird berechnet, indem man
geschichte der Globingene die Zahl der identischen Aminosäuren (87, gelb her-
wurde erstellt, indem man β vorgehoben) durch die Gesamtzahl der Aminosäu-
die Aminosäuresequenzen ren (143) teilt und dann mit 100 multipliziert. Dies
der von ihnen codierten Po- ergibt in dem hier gezeigten Fall 61 Prozent Identi-
lypeptide miteinander ver- Hämoglobin tät, was man aus der am Ende der Übung gezeigten
glichen hat. In dieser Übung Tabelle ablesen kann (Zeile α1, Spalte ζ). Die Pro-
werden Sie die Sequenzen der Aminosäuren von zentzahlen der anderen Identitäten wurden ebenso
Globin-Polypeptiden vergleichen, um ein besseres ermittelt.
Verständnis für die evolutionären Zusammenhänge
zu entwickeln. Globin Alignierung* der Aminosäuresequenzen zweier Globine
Durchführung des Experiments Die DNA-Sequen-
zen der acht Globingene wurden zuerst in die ent- α1 1 MVLSPADKTNVKAAWGKVGAHAGEYGAEAL
sprechenden Aminosäuresequenzen übersetzt. Mit- 1 MSLTKTERTIIVSMWAKISTQADTIGTETL
hilfe eines Computerprogrammes wurden dann die
α1 31 ERMFLSFPTTKTYFPHFDLSH–GSAQVKGH
identischen und die ähnlichen Aminosäuren unter-
31 ERLFLSHPQTKTYFPHFDL–HPGSAQLRAH
einander angeordnet und, falls notwendig, kleinere
Lücken eingefügt („Alignierung“, engl.: Alignment). α1 61 GKKVADALTNAVAHVDDMPNALSALSDLHA
Anschließend wurde der prozentuale Anteil identi- 61 GSKVVAAVGDAVKSIDDIGGALSKLSELHA
scher Aminosäurereste für jedes Paar von Globinen
α1 91 HKLRVDPVNFKLLSHCLLVTLAAHLPAEFT
in Bezug auf die jeweilige Gesamtlänge des Globins
91 YILRVDPVNFKLLSHCLLVTLAARFPADFT
bestimmt. Die paarweisen Vergleichszahlen wur-
den dann in einer Tabelle angeordnet. α1 121 PAVHASLDKFLASVSTVLTSKYR
121 AEAHAAWDKFLSVVSSVLTEKYR

* abgeleitet aus dem Englischen Alignment

582
21.5 Genomevolution durch Duplikation, Umlagerung und Mutation der DNA

Datenauswertung 3. Nach dem in Abbildung 21.14 gezeigten Mo-


dell der Entwicklung der Globingene wurde
1. Beachten Sie, dass in der Vergleichstabelle ein Globingen dupliziert, das in der Folge mu-
alle Daten so angeordnet sind, dass jedes Glo- tierte und so die α- und β-Globingene hervor-
binpolypeptid mit jedem anderen verglichen brachte. Diese wurden später ebenfalls dupli-
werden kann. (a) Einige der Zellen in der Ta- ziert und konnten mutieren. Welche der unten
belle enthalten gestrichelte Linien. Wenn Sie gezeigten Ergebnisse unterstützen dieses Mo-
sich anschauen, welchen Vergleichen diese dell?
Zellen entsprechen, wieviel Prozent Identität
würden Sie für die gestrichelten Linien erwar- 4. Erstellen Sie eine absteigende Liste aller pro-
ten? (b) Die Zellen in der unteren, linken zentualen Identitätswerte die in der Tabelle
Hälfte der Tabelle sind leer. Füllen Sie diese enthalten sind. Beginnen Sie oben mit 100 %.
Zellen mithilfe der vorliegenden Informatio- Schreiben Sie neben jede Nummer das Glo-
nen aus. Warum ist es sinnvoll, dass diese Zel- binpaar, mit dem entsprechenden Identitäts-
len leer bleiben? wert. Benutzen Sie dabei jeweils eine eigene
Farbe für die α- und β-Globingene. (a) Verglei-
2. Je früher zwei Gene aus einer Duplikation ent- chen Sie die Reihenfolge der Paare auf Ihrer
standen sind, desto weiter können sich die Se- Liste mit der Position in dem in Abbildung
Teil 3
quenzen in der Evolution voneinander weg 21.14 gezeigten Modell. Beschreibt die Anord-
entwickelt haben, was sich in Änderungen der nung der Paare die gleiche relative Verwandt-
Aminosäuresequenz widerspiegelt. (a) Ent- schaft der Mitglieder der Globinfamilie wie in
scheiden Sie auf dieser Grundlage, welche dem Modell? (b) Vergleichen Sie die prozentu-
beiden Gene verwandtschaftlich am weitesten ale Identität der Paare innerhalb der α- oder β-
voneinander entfernt sind. Wie groß ist die Gruppe mit den Werten der prozentualen
Identität zwischen den beiden entsprechen- Identität zwischen den beiden Gruppen.
den Polypeptiden? (b) Welche zwei Globin-
gene wurden erst vor Kurzem dupliziert? Wie Daten aus: NCBI-Datenbank. Weiterführende Literatur: R.C. Har-
groß ist die Identität zwischen diesen beiden? dison, Globin genes on the move, Journal of Biology 7:35.1–35.5 (2008).

Aminosäureidentitäten

 -Familie  -Familie

1 2     Aγ Gγ
(alpha 1) (alpha 2) (zeta) (beta) (delta) (epsilon) (gamma A) (gamma G)
α1 ----- 100 61 45 44 39 42 42
 -Familie

α2 ----- 61 45 44 39 42 42

ζ ----- 38 40 41 41 41

β ----- 93 76 73 73

δ ----- 73 71 72
 -Familie

ε ----- 80 80

Aγ ----- 99

Gγ -----

Die Evolution von Genen mit neuartigen Funktionen Lysozym ist ein Enzym, das von Tieren erzeugt wird und
In der Evolution der Globingenfamilie führten Gendupli- der Abwehr von Bakterien dient, in deren Zellwand es
kationen und die nachfolgende divergente Entwicklung bestimmte Bindungen hydrolysiert (siehe auch Abbil-
zur Bildung der verschiedenen „Familienmitglieder“ der dung 5.16). Das α-Lactalbumin ist ein Protein ohne enzy-
Proteine mit ähnlicher Funktion (Sauerstofftransport matische Aktivität, das bei Säugetieren an der Milchpro-
oder -speicherung). Alternativ kann sich ein dupliziertes duktion beteiligt ist. Die beiden Proteine ähneln sich
Gen aber auch so weit verändern, dass das codierte Pro- sowohl in ihrer Aminosäuresequenz als auch in ihrer
tein eine vollkommen neue Funktion ausübt. Die Gene dreidimensionalen Struktur (Abbildung 21.15). Wäh-
des Lysozyms und des α-Lactalbumins sind hierfür gute rend Säugetiere beide codierenden Gene besitzen, findet
Beispiele. sich bei Vögeln nur das Lysozymgen. Daraus schließt

583
21 Genome und ihre Evolution

(a) Lysozym (b) α–Lactalbumin

Lysozym 1 KV F E RCE L AR T L K R L GMDG Y R G I S L ANWMC L AKWE S G Y N T R A T N Y N AGD R


α–Lactalbumin 1 KQ F T KC E L S Q L L K – – D I DG Y GG I A L P E L I C TM F H T S G Y D T QA I V E N N – – E

Lysozym 51 S T D Y G I F Q I N S R Y W C N DG K T P GA V N A C H L S C S A L L QD N I A DAVACAK R V V
Teil 3
α–Lactalbumin 51 S T E Y G L F Q I S NK L W CK S S QV P Q S R N I CD I S CDK F L DDD I T D D I MC A K K I L

Lysozym 101 R D P QG I R A W V AWR N R CQN R D V R Q Y V QGCG V


α–Lactalbumin 101 D – I K G I D Y W L AHKA L C T – E K L E QW L C E K L –

(c) Alignierung der Aminosäuresequenzen von Lysozym und α-Lactalbumin

Abbildung 21.15: Ein Vergleich von Lysozym und  -Lactalbumin. Der obere Teil der Abbildung zeigt Computermodelle der ähnlichen Struktu-
ren von (a) Lysozym und (b) α-Lactalbumin, der untere Teil einen Vergleich der Aminosäuresequenzen der beiden Proteine. Die Aminosäuren sind unter
Verwendung des Einbuchstaben-Codes aus Gründen der Lesbarkeit in Zehnergruppen angeordnet (siehe Abbildung 5.14 ). Identische Aminosäuren sind
gelb hervorgehoben und Bindestriche markieren Lücken in einer der Sequenzen, die von der Software gesetzt wurden, um die beste Übereinstimmung zu
erhalten.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Auch wenn zwei Aminosäuren nicht identisch sind, können sie strukturell und chemisch ähnliche Eigenschaften
besitzen. Verwenden Sie Abbildung 5.14 als Referenz und betrachten Sie die nicht-identischen Aminosäuren an den Positionen 1–30. Markieren Sie, an
welchen Stellen ähnliche Aminosäuren in beiden Sequenzen auftreten.

man auf eine Duplikation des Lysozymgens in den Vor- 21.5.4 Umlagerungen innerhalb von Genen:
fahren der Säugetiere, die nach der Trennung der Evolu- Exonduplikation und Exonaustausch
tionslinien der Säugetiere (Mammalia) und der Vögel („exon shuffling“)
(Aves) stattfand. Eine entsprechende Duplikation trat in
der Abstammungslinie der Vögel entweder nicht auf, In Konzept 17.3 haben Sie bereits gelernt, dass ein
oder das duplizierte Gen ging wieder verloren, ohne Exon häufig für eine Proteindomäne und somit einen
deutliche Spuren zu hinterlassen. In der Folge entwi- spezifischen strukturellen und funktionellen Bereich
ckelte sich dann eine Kopie bei den Säugetieren zum α- eines Proteinmoleküls codiert. Außerdem wissen wir
Lactalbumingen weiter, dessen Produkt heute eine völlig nun, dass ein illegitimes Crossing-over zur Duplika-
andere Aufgabe erfüllt. In einer aktuellen Studie haben tion eines Gens auf einem der beteiligten Chromoso-
Evolutionsbiologen Wirbeltiergenome nach Genen mit men und zu dessen Verlust auf dem anderen Chromo-
ähnlichen Sequenzen abgesucht. Danach gibt es anschei- som führen kann (Abbildung 21.13). Ein ähnlicher, in
nend mindestens acht Mitglieder der Lysozym-Genfami- einem kleineren Rahmen ablaufender Mechanismus
lie mit verwandten Genen in mehreren Säugetierarten. kann zu einer Exonverdoppelung innerhalb eines Gens
Die Funktion der zugehörigen Genprodukte ist noch führen. Das Gen mit dem duplizierten Exon könnte
nicht bekannt und wirft die spannende Frage auf, ob sie dann ein verlängertes Protein codieren, in dem die
ähnlich unterschiedliche Funktionen ausüben wie das von dem verdoppelten Exon codierten Aminosäuren
Lysozym und das α-Lactalbumin. zweimal vorlägen. Dies würde natürlich die Protein-
Neben der Duplikation und der divergenten Ent- struktur verändern und eventuell dessen Funktion
wicklung ganzer Gene hat auch die Umlagerung exis- (zum Beispiel die Bindung eines Liganden oder eine
tierender DNA-Sequenzen innerhalb von Genen zur ähnliche Eigenschaft) beeinträchtigen oder sogar ver-
Entwicklung von Genomen beigetragen. Wie wir in bessern. Tatsächlich besitzen einige proteincodierende
der Folge sehen werden, könnte das Auftreten von Gene mehrere Exemplare sequenzverwandter Exons,
Introns dabei die Entwicklung neuer Gene durch die die wahrscheinlich durch Duplikation entstanden
Duplikation oder die Reorganisation von Exons voran- sind und sich dann durch Mutationen veränderten.
getrieben haben. Das Collagengen ist hierfür ein schönes Beispiel. Col-

584
21.5 Genomevolution durch Duplikation, Umlagerung und Mutation der DNA

lagen ist, wie wir wissen, ein Strukturprotein der ex- Erbgutes ausmachen, lässt vermuten, dass sie eine wich-
trazellulären Matrix mit einer stark repetitiven Ami- tige Rolle beim Genomaufbau über evolutionäre Zeit-
nosäuresequenz, die sich in einem entsprechenden räume spielen könnten. Die mobilen Elemente können
Exonmuster des Collagengens widerspiegelt. auf unterschiedliche Weise zur Evolution eines Genoms
Man kann sich auch vorstellen, dass durch Fehler beitragen. Sie können die Rekombinationshäufigkeit
während der meiotischen Rekombination verschie- erhöhen, Gene oder deren Steuerungselemente unter-
dene Exons innerhalb eines Gens oder zwischen zwei brechen oder ganze Gene sowie einzelne Exons an neue
nichtallelischen Genen vermischt werden. Dieser, als Orte im Genom versetzen.
„exon shuffling“ bezeichnete Vorgang kann zu neuen Transponierbare Elemente mit ähnlicher Sequenz, die
Proteinfunktionen oder zur Kombinationen bestimm- über ein Genom verstreut liegen, können die Rekombi-
ter Eigenschaften führen. Als Beispiel wollen wir hier nation zwischen verschiedenen Chromosomen vermit-
das Gen für den Gewebeplasminogenaktivator (TPA; teln, indem sie homologe Bereiche für ein Crossing-over
engl. tissue plasminogen activator) betrachten. Hier- bereitstellen. Meist werden solche Veränderungen in
bei handelt es sich um ein extrazelluläres Protein, das der Genomstruktur nachteilig für den Träger sein, weil
an der Regulation der Blutgerinnung beteiligt ist. Es sie Translokationen bewirken, die zu einem genetischen
setzt sich aus vier Domänen zusammen, die drei ver- Ungleichgewicht mit möglicherweise tödlicher Wirkung
schiedenen Typen angehören und die jeweils von führen. Im Laufe der Evolution kann ein so verursachtes
einem bestimmten Exon codiert werden. Eines der selten auftretendes Rekombinationsereignis über sehr
Exons ist doppelt vorhanden. Da sich jeder dieser viele Generationen hinweg aber auch vorteilhaft für den Teil 3
Exontypen auch bei anderen Genen findet, wird ange- betroffenen Organismus sein. Damit diese Veränderung
nommen, dass das heutige TPA-Gen durch wiederholt auch weitervererbt werden kann, muss sie in einer Zelle
aufgetretene Duplikationen und durch „exon shuff- erfolgen, die einen Gameten hervorbringt.
ling“ entstanden ist (Abbildung 21.16). Das Springen transponierbarer Elemente kann vielfäl-
tige Auswirkungen haben. Falls ein transponierbares
Element etwa mitten in ein proteincodierendes Gen
EGF EGF EGF EGF „hineinspringt“, kann dies zur Bildung eines veränder-
Gen des epidermalen
ten Proteins führen. Falls es dagegen in eine regulatori-
Wachstumsfaktors (EGF) sche Sequenz inseriert, kann dies zu einer verminder-
mit mehreren EGF-Exons ten oder einer vermehrten Bildung des entsprechenden
(grün) Exon- Exon- Proteins führen. Beide Wirkungen konnten bei den
verlagerung verdopplung
(„shuffling“)
Transpositionen in den Genen für die Farbstoffsynthese
F F F F
beobachtet werden, die Barbara McClintock bei ihren
Fibronectingen mit meh- Analysen von Maispflanzen verfolgte. Obwohl solche
reren „Finger“-Exons F EGF K K
(orange) Veränderungen häufig für das einzelne Individuum
nachteilig sind, können sie sich auf lange Sicht für das
K Überleben der Art als nutzbringend erweisen.
Exonverlagerung Während der Transposition kann ein transponierba-
Plasminogen-Gen mit
einem „Kringle“-Exon res Element ein Gen oder eine ganze Gruppe von
(blau) Genen an eine neue Position im Genom verschieben.
Dieser Mechanismus ist wahrscheinlich im menschli-
Teile der Vorläufer-Gene das jetzige TPA-Gen
chen Genom für die Lokalisation der α- und der β-Glo-
bingene auf unterschiedlichen Chromosomen und
Abbildung 21.16: Evolution eines neuen Gens durch „exon shuff- auch für die verstreute Lage von Genen verschiedener
ling“. Durch „exon shuffling “ könnten sich Exons aus den ursprünglichen anderer Genfamilien verantwortlich. Durch einen ver-
Genen für den Epidermiswachstumsfaktor, das Fibronectin und das Plasmino-
gleichbaren Vorgang kann ein Exon eines Gens, ähn-
gen (links) zum Gen für den Gewebeplasminogenaktivator (TPA) verbunden
lich wie beim „exon shuffling“ in der meiotischen
haben (rechts). Die Reihenfolge dieser hypothetischen Ereignisse ist nicht
bekannt. Das „Kringel“-Exon wurde wahrscheinlich nach seinem Wechsel an Rekombination, in ein anderes Gen gelangen. Bei-
den TPA-Locus nochmals dupliziert, was sein doppeltes Auftreten an diesem spielsweise „springt“ so ein mitgeführtes Exon zufäl-
Genort erklärt. Jeder Exontyp codiert für eine bestimmte Domäne des Gewe- lig in ein Intron eines anderen Gens. Wenn das neu
beplasminogenaktivators. eingebaute Exon während des RNA-Spleißens im
Transkript des mutierten Gens verbleibt, kann das in
? Wie könnte das Auftreten transponierbarer genetischer Elemente in der Folge gebildete Protein eine zusätzliche Domäne
Introns den hier dargestellten Exontausch erleichtert haben? mit einer neuen Funktion enthalten.
Eine neuere molekulargenetische Analyse ergab
noch eine weitere Möglichkeit, wie mobile genetische
21.5.5 Wie transponierbare genetische Elemente neue codierende Sequenzen hervorbringen
Elemente zur Genomevolution können. Eines der oben beschriebenen Alu-Elemente
beitragen wurde so in ein Intron inseriert, dass eine neue, selten
genutzte alternative Spleißstelle entstand. Während
Die Tatsache, dass transponierbare Elemente in man- der Prozessierung des Primärtranskripts eines derart
chen Eukaryontengenomen einen erheblichen Teil des mutierten Gens werden die gewöhnlichen Spleißstel-

585
21 Genome und ihre Evolution

len öfter benutzt, so dass das ursprünglich von diesem Der Vergleich von
Gen codierte Protein weiter gebildet wird. Gelegent-
lich betrifft der Spleißvorgang aber auch die neu inse-
Genomsequenzen liefert
rierte Sequenz, so dass ein Teil des integrierten Alu- Hinweise auf evolutionäre und
Elements im prozessierten Transkript verbleibt und entwicklungsbiologische
einen neuen Proteinteil codiert. Damit können Verän-
derungen von Genen sozusagen „ausprobiert“ werden,
während die Funktion des ursprünglichen Genpro-
Mechanismen
21.6
dukts erhalten bleibt.
Die meisten Vorgänge, die wir in diesem Unterkapitel EVOLUTION Nach Meinung einiger Forscher ist die
vorgestellt haben, wirken sich in der Mehrzahl der Fälle gegenwärtige Situation in der Biologie mit der Zeit der
wohl eher negativ auf den Organismus aus und können großen Forschungs- und Entdeckungsreisen im 15.
sogar letal sein. Andererseits werden phänotypische und 16. Jahrhundert vergleichbar, zu der wesentliche
Auswirkungen ausbleiben, wenn keine essenziellen Fortschritte in der Navigation und im Schiffsbau
Proteinfunktionen betroffen sind. Sehr selten können erzielt wurden. In den letzten beiden Jahrzehnten
die hier beschriebenen molekularen Veränderungen am wurden erhebliche Fortschritte in der Molekulargene-
Erbgut aber auch nützliche Folgen für das Lebewesen tik gemacht, die sich nicht zuletzt in der Sequenzie-
haben. Im Laufe vieler Generationen bietet die durch rung von ganzen Genomen widerspiegeln. Parallel
Teil 3 diese Mechanismen entstandene genetische Vielfalt dazu entwickelten sich die Informationstechnik und
eine wertvolle Angriffsfläche für die natürliche Selek- die Datenverarbeitung ebenso rasant weiter. Heute ste-
tion, wodurch die Veränderung von Genen und ihren hen uns damit neue Methoden zur Verfügung, mit
Produkten zu einem wichtigen Faktor in der Evolution denen die Expression aller Gene in kompletten Geno-
neuer Arten wird. Die Anhäufung der molekularen Ver- men abgeschätzt werden kann. Dies erlaubt wiederum
änderungen in den Genomen verschiedener Organis- verfeinerte theoretische Ansätze zur Analyse der
men dokumentiert damit ihre Evolutionsgeschichte. Wechselwirkung von Genen und ihren Produkten in
Um diese nachzuvollziehen, müssen wir also die geno- komplexen Systemen. Wir stehen also tatsächlich am
mischen Veränderungen identifizieren können, was uns Beginn eines neuen Zeitalters in der Biologie.
der Vergleich von Genomsequenzen unterschiedlicher Der Vergleich der Genomsequenzen verschiedener
Arten von Lebewesen ermöglicht. Damit hat sich unser Arten enthüllt vieles über die Evolutionsgeschichte
Verständnis der Evolution von Genomen deutlich ver- des Lebens – von den Anfängen bis zur Gegenwart.
bessert, worüber Sie im letzten Teil des Kapitels mehr Ebenso tragen vergleichende Untersuchungen der
erfahren werden. genetischen Steuerung der embryonalen (ontogeneti-
schen) Entwicklung von Tieren dazu bei, die Mecha-
nismen aufzuklären, die zu der heute vorliegenden
Biodiversität geführt haben. Im abschließenden Teil
 Wiederholungsfragen 21.5 dieses Kapitels wollen wir daher erörtern, was wir mit
den neuen methodischen Ansätzen über diese Grund-
1. Beschreiben Sie drei mögliche Fehler bei zel- fragen der Biologie lernen können.
lulären Vorgängen, die zu einer DNA-Dupli-
kation führen können.
21.6.1 Die Bedeutung von
2. Erläutern Sie, wie multiple Exons im Ur-EGF- Genomvergleichen
und Urfibronectingen entstanden sein kön-
nen. (Die Gene sind in Abbildung 21.16 sche- Je mehr sich die Sequenzen von einzelnen Genen oder
matisch dargestellt.) ganzen Genomen ähneln, desto näher sind die betrachte-
ten Arten in ihrer Entstehungsgeschichte miteinander
3. Auf welchen drei Wegen können Transposons verwandt. Während der Vergleich von Genomen eng ver-
zur Evolution von Genomen beitragen? wandter Arten somit Einsichten in jüngere evolutive
Ereignisse gewährt, kann uns ein Vergleich weitläufig
4. WAS WÄRE, WENN? Im Jahr 2005 wurde eine miteinander verwandter Organismen helfen, die weiter
größere chromosomale Inversion entdeckt, die zurückliegende Evolutionsgeschichte zu verstehen. Auf
bei etwa 20 Prozent der nordeuropäischen Be- jeden Fall trägt ein Verständnis gemeinsamer und unter-
völkerung vorkommt. Diese Inversion war bei schiedlicher Merkmale zwischen verschiedenen Lebe-
isländischen Frauen mit einer signifikant er- wesen dazu bei, die biologischen Vorgänge besser zu ver-
höhten Kinderzahl korreliert. Wie wird sich stehen, die zur Evolution der heutigen Lebensformen
die Häufigkeit dieser Inversion in der isländi- geführt haben. Wie Sie bereits in Kapitel 1 erfahren
schen Bevölkerung in zukünftigen Generatio- haben, lassen sich die entstehungsgeschichtlichen Bezie-
nen wahrscheinlich verändern? hungen zwischen Arten durch Stammbäume darstellen,
in denen die Verzweigungspunkte die getrennte Weiter-
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. entwicklung zweier Linien anzeigen. In Abbildung
21.17 sind die evolutiven Beziehungen einiger Organis-

586
21.6 Der Vergleich von Genomsequenzen liefert Hinweise auf evolutionäre und entwicklungsbiologische Mechanismen

Bacteria
jüngster gemein- (Bakterien)
samer Vorfahre
aller Eukarya
heutigen Lebe- (Eukaryonten)
wesen
Archaea
(Archaeen)
4 3 2 1 0
vor Milliarden Jahren

Schim-
panse
Abbildung 21.17: Die Entwicklungsgeschichte
Mensch der drei Domänen des Lebens. Der im oberen Teil
abgebildete Stammbaum gibt die ursprüngliche Verzwei-
Maus gung der Abstammungslinien von Bakterien, Archaeen
und Eukaryonten wieder. Darunter ist ein kleiner Aus-
70 60 50 40 30 20 10 0 schnitt aus der eukaryontischen Entwicklungslinie abge-
vor Milliarden Jahren bildet, der in diesem Kapitel behandelte Verzweigungen
im Stammbaum der Säugetiere darstellt.
Teil 3

mengruppen wiedergegeben, auf die wir im Folgenden anderen Art heranzuziehen, was die schnellere Kartie-
eingehen wollen. Wir beginnen zunächst mit einem Ver- rung des zweiten Genoms erlaubt. Mit dem Human-
gleich entfernt miteinander verwandter Arten. genom als Vergleich war man zum Beispiel schneller in
der Lage, die Sequenz des Schimpansengenoms zu
Der Vergleich entfernt verwandter Arten ermitteln. Mit dem Aufkommen von neueren und
Die Analyse von ähnlichen Genen (man spricht auch schnelleren Sequenzierungstechnologien werden die
von stark konservierten Sequenzen) zwischen zwei meisten Genome mittlerweile allerdings direkt zusam-
weitläufig miteinander verwandten Arten kann zur mengesetzt, wie es erst kürzlich für die Genome des
Klärung der stammesgeschichtlichen Beziehungen von Bonobos und des Gorillas geschah. Es stellte sich her-
Arten beitragen, die sich bereits sehr lange getrennt ent- aus, dass Bonobos und Schimpansen die mit dem Men-
wickelt haben. Beispielsweise deutet ein Vergleich der schen am engsten verwandeten Affenarten sind.
heute verfügbaren Genomsequenzen von Bakterien, Die relativ neuzeitliche Trennung zweier Arten in der
Archaeen und Eukaryonten darauf hin, dass diese drei Stammesgeschichte spiegelt sich auch in der geringen
Gruppen sich vor etwa zwei bis vier Milliarden Jahren Zahl genetischer Unterschiede wider, die man beim Ver-
voneinander trennten und stützt so die Hypothese des gleich ihrer Genome findet. Die phänotypischen Unter-
Dreidomänenmodells (Abbildung 21.17). schiede zwischen den beiden betrachteten Arten lassen
Über ihren Wert für die Evolutionsbiologie hinaus sich dann umso leichter auf die genetischen Abweichun-
bestätigen vergleichende genomische Untersuchungen gen in den Genomen zurückführen. Ein spannendes Bei-
die Bedeutung der Forschung an Modellorganismen für spiel für eine derartige Analyse war der Vergleich des
unser Verständnis grundlegender biologischer Zusam- Genoms des Menschen mit denen von Schimpansen,
menhänge, einschließlich der Humanbiologie. Gene, Mäusen, Ratten und anderen Säugetieren. Gene, die not-
die in den langen Zeiträumen der Evolution entstanden wendig sind, „um ein Säugetier zu werden“, sollten also
sind, können in stammesgeschichtlich weit voneinan- diesen Arten gemeinsam sein, bei Nichtsäugetieren aber
der entfernten Arten noch immer sehr ähnlich zueinan- nicht vorkommen. Die Gene, die nur bei Menschen und
der sein. Beispielsweise besitzt bereits die Bäckerhefe Schimpansen vorkommen, nicht aber bei Nagetieren,
einige Gene mit einer großen Ähnlichkeit zu Genen des bringen uns auf die Spur der molekularen Grundlagen
Menschen, deren Fehlfunktionen Krankheiten aus- der Primatenentwicklung. Der Vergleich des Humange-
lösen. Tatsächlich konnte vielfach durch die Unter- noms mit dem Affengenom schließlich gibt Aufschluss
suchung dieser Gene und ihrer Produkte an Hefezellen darüber, was Menschen zu Menschen und Affen zu
die genaue Funktion der von ihnen codierten Proteine Affen macht, womit wir wieder bei der Frage angelangt
aufgeklärt werden. Diese Beobachtungen unterstreichen wären, mit der wir das Kapitel eröffnet haben.
den gemeinsamen Ursprung dieser beiden sehr unter- Ein Vergleich von Menschen- und Schimpansenge-
schiedlichen Eukaryonten. nom, die sich vor etwa sechs Millionen Jahren getrennt
haben (Abbildung 21.17), liefert bereits einige allge-
Der Vergleich eng verwandter Arten meine Unterschiede. Betrachtet man einzelne Basenaus-
Die Genome zweier eng verwandter Arten ähneln sich tausche, so unterscheiden sich die Genome nur um
wahrscheinlich stärker, weil sich die Abstammungs- 1,2 Prozent. Bei größeren DNA-Bereichen findet man
linien erst vor relativ kurzer Zeit getrennt haben. So dagegen weitere 2,7 Prozent Unterschiede aufgrund von
ermöglicht das Vorliegen der vollständigen Genom- Insertionen oder Deletionen im Genom der einen oder
sequenz einer Art, es quasi als „Grundgerüst“ für den der anderen Art. Bei vielen der Insertionen handelt es
schnelleren Zusammenbau der Genomsequenz einer sich um duplizierte oder andere repetitive Sequenzen.

587
21 Genome und ihre Evolution

Etwa ein Drittel der beim Menschen vorhandenen Gens andere Gene anschaltet, deren Expression für
Duplikationen treten bei Schimpansen nicht auf, wobei eine Stimmentwicklung notwendig ist.
einige der duplizierten Abschnitte beim Menschen mit In einer neueren Untersuchung ersetzte eine For-
Erbkrankheiten in Verbindung gebracht werden. Im schungsgruppe das FOXP2-Gen in Mäusen durch eine
Humangenom finden sich außerdem mehr Alu-Sequen- „vermenschlichte Version“: zwei Aminosäuren, die
zen als im Genom von Schimpansen, in dem sich dafür sich bei Mensch und Schimpanse voneinander unter-
zahlreiche Kopien eines retroviralen Provirus finden, scheiden und die man für die Fähigkeit zu sprechen
die beim Menschen nicht vorkommen. Aus all diesen verantwortlich macht, wurden im Mausprotein gegen
Beobachtungen ließen sich Hinweise auf die Mechanis- die menschlichen Aminosäuren ausgetauscht. Solche
men ableiten, die zur unterschiedlichen Entwicklung Mäuse sind grundsätzlich gesund, zeigen jedoch klei-
der beiden Genome beigetragen haben. Wie sich die nere Änderungen in der Lautbildung und Veränderun-
Arten allerdings genau entwickelt haben und welche gen in den Zellen von Hirnarealen, die beim Men-
Bedeutung diese Unterschiede für die charakteristi- schen an der Sprachentwicklung beteiligt sind.
schen Artmerkmale haben, ist noch nicht geklärt. Im Jahr 2010 wurde das Genom des Neandertalers aus-
Die im Jahr 2012 abgeschlossene Sequenzierung des gehend von einer sehr kleinen Probe noch erhaltener
Bonobogenoms ergab, dass in einigen Bereichen die DNA sequenziert. Die Neandertaler (Homo neandertha-
DNA-Sequenz des Menschen ähnlicher entweder zur lensis) gehören zu derselben Gattung wie der Mensch
Bonobo- oder zur Schimpansen-DNA war als die (Homo sapiens; siehe Kapitel 34). Basierend auf Genom-
Teil 3 Sequenzen von Bonobo und Schimpanse zueinander. vergleichen wurde die Evolution der beiden Spezies
Eine solch detaillierte Analyse dreier nah verwandter rekonstruiert und ergab Hinweise darauf, dass einige
Spezies erlaubt eine noch genauere Rekonstruktion Gruppen von Menschen und Neandertalern zusammen
ihrer Evolutionsgeschichte. lebten und sich über eine begrenzte Zeitspanne auch
Um die Grundlage für die phänotypischen Unter- miteinander vermischten, bevor die Neandertaler vor
schiede zwischen den beiden Arten zu entschlüsseln, etwa 30.000 Jahren ausgestorben sind. Obwohl die Nean-
vergleicht man bestimmte Gene und Gengruppen, die dertaler früher häufig lediglich als primitive, grunzende
sich bei Mensch und Affe unterscheiden, mit den ent- Wesen dargestellt wurden, ist das von ihrem FOXP2-Gen
sprechenden Sequenzen in den Genomen anderer codierte Protein identisch mit dem menschlichen Pro-
Säugetiere. Mit diesem Ansatz konnte eine Reihe von tein. Es ist also anzunehmen, dass auch Neandertaler
Genen identifiziert werden, die sich beim Menschen sprechen konnten. Aufgrund dieser und anderer gene-
schneller zu verändern scheinen als beim Schimpan- tischer Übereinstimmungen müssen wir die Vorstellun-
sen oder bei der Maus. Zu diesen Genen gehören sol- gen über unsere, in der evolutionären Zeitrechnung
che für die Abwehr der Malaria oder der Tuberkulose erst kürzlich ausgestorbenen Verwandten revidieren.
und wenigstens ein Gen, das die Gehirngröße mitbe- Die FOXP2-Geschichte ist ein ausgezeichnetes Bei-
stimmt. Wenn man die Gene nach ihrer Funktion ein- spiel dafür, wie sich unterschiedliche Herangehenswei-
teilt, codieren viele der sich am schnellsten verän- sen bei der Enträtselung biologischer Geheimnisse
dernden Gene für Transkriptionsfaktoren. Dies war zu ergänzen können. Das in Abbildung 21.18 beschriebene
erwarten, weil Transkriptionsfaktoren ja das Expres- Experiment verwendet Mäuse als Versuchstiere, die
sionsverhalten von ganzen Gengruppen steuern und stellvertretend für den Menschen stehen (weil es ebenso
damit eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung unethisch wie unpraktisch wäre, ein derartiges Experi-
des genetischen Programms spielen. ment an Menschen durchzuführen). Mäuse haben sich
Ein Transkriptionsfaktor, dessen Gen sich in der von der zu den Menschen führenden Abstammungsli-
Abstammungslinie der Hominiden sehr rasch verän- nie der Säugetiere vor ca. 65 Millionen Jahren getrennt
dert hat, ist FOXP2. Verschiedene Befunde weisen auf (Abbildung 21.17) und ihr Genom weist etwa 85 Prozent
einen Zusammenhang des FOXP2-Proteins mit der ähnliche Gene bei einem Vergleich mit dem Genom des
Entwicklung von Lautäußerungen bei Wirbeltieren Menschen auf. Diese genetische Ähnlichkeit erlaubt es
hin. So können Mutationen des Gens beim Menschen uns, auch andere Erbkrankheiten des Menschen experi-
die Sprachfähigkeit stark beeinträchtigen. Weiterhin mentell zu untersuchen. Treten bei einer Erbkrankheit
wird das FOXP2-Gen bei Kanarienvögeln und Zebra- Defekte in bestimmten Organen oder Geweben auf, so
finken genau dann exprimiert, wenn diese Singvögel kann man gezielt nach den Genen suchen, die in den
ihre arttypischen Gesänge erlernen. Ein überzeugen- entsprechenden Organen der Maus exprimiert werden.
des Experiment wurde von Joseph Buxbaum und sei- Danach lassen sich in entsprechenden „Knock out-Mäu-
nen Mitarbeitern durchgeführt, die durch ein „Knock- sen“ die phänotypischen Auswirkungen untersuchen,
out“-Experiment das FOXP2-Gen bei Mäusen ausge- wenn das Gen inaktiviert wurde. Neben diesen auf den
schaltet und den sich dadurch ergebenden Phänotyp Menschen bezogenen Untersuchungen werden derzeit
untersucht haben (Abbildung 21.18). Für die Muta- die Analysen ganzer Genome auf weitere Mikrobenar-
tion homozygote Mäuse zeigten eine Fehlbildung des ten, andere Primaten und bisher wenig beachtete Grup-
Gehirns und konnten nicht die normalen Ultraschall- pen aus verschiedenen Zweigen des Stammbaums des
laute erzeugen. Auch heterozygote Mäuse mit nur einer Lebens ausgedehnt. Damit wird sich unser Verständnis
defekten Kopie des Gens waren in ihrer Lautgebung aller Bereiche der Biologie wesentlich erweitern, ein-
erheblich beeinträchtigt. Diese Versuchsergebnisse schließlich so verschiedener Disziplinen wie Medizin,
stützen die Hypothese, dass das Produkt des FOXP2- Ökologie und Evolutionsbiologie.

588
21.6 Der Vergleich von Genomsequenzen liefert Hinweise auf evolutionäre und entwicklungsbiologische Mechanismen

 Abbildung 21.18: Aus der Forschung

Welche Funktion hat das sich in der Abstammungslinie des Menschen rasch verändernde FOXP2-Gen?

Experiment Verschiedene Versuchsergebnisse belegen eine mögliche Rolle des FOXP2-Gens in der Entwick-
lung der Sprachfähigkeit des Menschen beziehungsweise von Lautäußerungen bei anderen Wirbeltieren. Im
Jahr 2005 begannen Joseph Buxbaum und seine Mitarbeiter am Mount Sinai-Krankenhaus von New York City
(USA) und viele andere Wissenschaftler mit der Erforschung der Funktion des
FOXP2-Gens. Sie verwendeten Mäuse als ein beliebtes Modellsystem, weil hier
ein Verfahren zur gezielten Ausschaltung von Genen zur Verfügung steht. Außer-
dem diente die Maus als repräsentatives Wirbeltier, das Lautäußerungen hervor-
bringt (Mäuse erzeugen für den Menschen unhörbare Ultraschalllaute, um Stress
anzuzeigen.) Mithilfe gentechnischer Methoden wurden Mäuse hergestellt, bei
denen eine oder beide Kopien des FOXP2-Gens zerstört wurden.

Wildtyp: heterozygote Maus: homozygote Maus:


zwei normale mit einer zerstörten mit zwei zerstörten
FOXP2-Kopien FOXP2-Kopie FOXP2-Kopien
Teil 3

Dann verglichen die Forscher die Phänotypen der Mäuse miteinander. Zwei der von ihnen untersuchten
Merkmale sind hier berücksichtigt: Die Hirnanatomie und die Lautäußerungen.

Experiment 1: Dünnschnitte des Gehirns wurden mit histochemischen Experiment 2: Die Forscher trenn-
Farbstoffen angefärbt, um den histologischen Aufbau des Gehirns in ten alle neugeborenen Mäuse von
einem Fluoreszenzmikroskop abzubilden. ihren Müttern und zeichneten die
Zahl der Ultraschallpfeiflaute auf,
die die Jungen hervorbrachten.

Ergebnis

Experiment 1: Die Zerstörung beider Kopien des FOXP2-Gens führte Experiment 2: Die Zerstörung bei-
zu einer gestörten Organisation der Hirnzellen. Bei heterozygoten der Kopien des FOXP2-Gens führte
Tieren mit nur einer defekten Kopie des Gens war dieser Phänotyp zu einem Ausbleiben von Ultra-
weniger ausgeprägt. schalllautäußerungen bei Stress.
Die Lautäußerungen bei heterozy-
goten Tieren waren ebenfalls stark
beeinträchtigt.

400
Zahl der Pfeiflaute

300
Wildtyp heterozygote Maus homozygote Maus
200
Schlussfolgerung FOXP2 spielt eine wichtige Rolle in der Entwick-
100
lung eines funktionierenden Kommunikationssystems bei Mäusen. (keine
Die Versuchsergebnisse stützen die Beobachtungen an Vögeln und Pfeiflaute)
0
Menschen sowie die Hypothese, dass FOXP2 ähnliche Funktionen
in verschiedenen Organismen erfüllt. Wildtyp heterozygote Maus
homozygote Maus
Quelle: W. Shu et al., Altered ultrasonic vocalization in mice with a disruption in the FOXP2
gene, Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 102:9643–9648 (2005).

WAS WÄRE, WENN? Da die Versuchsergebnisse eine Rolle des Mausgens FOXP2 zur Entwicklung von Laut-
äußerungen nahelegten, fragen Sie sich jetzt vielleicht, ob auch das FOXP2-Protein des Menschen entschei-
dend an der Ausbildung der Sprachfähigkeit beteiligt ist? – Wie würden Sie diese Frage zu beantworten ver-
suchen, wenn Sie die Aminosäuresequenzen des normalen und eines mutanten FOXP2-Proteins des
Menschen, sowie die des normalen FOXP2-Proteins von Schimpansen kennen würden? Welche weiteren
Hinweise könnten Sie aus dem Vergleich dieser Sequenzen mit denen des Mausgens/-proteins ableiten?

589
21 Genome und ihre Evolution

Der Vergleich von Genomen innerhalb einer Art stärker voneinander als das eines Europäers von dem
Mit der Möglichkeit der Genomanalyse beginnen wir eines Asiaten. Diese Ergebnisse unterstreichen die
auch das Spektrum der genetischen Variabilität beim große Variabilität bereits innerhalb der Genome von
Menschen besser zu verstehen. Da die Geschichte des Afrikanern. Der breitere Einsatz solcher Untersuchungs-
Menschen als biologische Art vergleichsweise kurz ist methoden wird uns Antworten auf wichtige Fragen zu
(Anthropologen schätzen die Art Homo sapiens auf den Unterschieden zwischen verschiedenen Bevölke-
ein Alter von nur etwa 200.000 Jahren, mit ihrem rungsgruppen liefern und uns helfen, die Verbreitungs-
Ursprung in Ostafrika), finden sich verhältnismäßig wege menschlicher Populationen in der Geschichte
wenige Sequenzänderungen im Vergleich zu anderen nachzuvollziehen.
Arten. Ein großer Teil unserer genetischen Unter-
schiede ist auf Einzelnucleotidpolymorphismen (SNPs;
siehe Kapitel 20) zurückzuführen, die für gewöhnlich 21.6.2 Sequenzvergleiche geben Aufschluss
durch Sequenzierung der DNA aufgedeckt werden. Im über Entwicklungsprozesse
menschlichen Genom treten solche SNPs durchschnitt-
lich alle einhundert bis dreihundert Basenpaare auf. Es In der evolutionären Entwicklungsbiologie (auch als
wurden bereits mehrere Millionen SNPs im Genom „Evo-Devo“-Forschung, engl. evolution and develop-
des Menschen entdeckt, wobei noch immer weitere ment, bezeichnet) vergleicht man die Entwicklungs-
gefunden werden. gänge verschiedener vielzelliger Organismen miteinan-
Teil 3 Bei diesen Untersuchungen wurden auch noch andere der. Damit versucht man herauszufinden, auf welchen
Abweichungen wie Inversionen, Deletionen und Dupli- biologischen Mechanismen die Individualentwicklung
kationen entdeckt, die sich offenbar nicht nachteilig auf beruht, wie sie die charakteristischen Merkmale eines
ihre Träger auswirken. Die überraschendste Entdeckung Lebewesens bestimmen und wie Veränderungen zur
war wohl das weitverbreitete Auftreten von Variationen Ausprägung neuer Merkmale führen. Mit der Verwen-
in der Kopienzahl bestimmter Gene (CNVs, engl. copy- dung gentechnischer Methoden und der Flut an
number variants). An solchen Genorten besitzen einige Sequenzdaten aus zahlreichen Genomen beginnen wir
Personen mehr als die zwei Kopien eines Gens oder zu erkennen, dass kleine Unterschiede in der Sequenz
einer genetischen Region, die sich üblicherweise auf von Genen oder ihrer Regulation ausreichen, um die
den homologen Chromosomen befinden. Die CNVs deutlich verschiedenen morphologischen Merkmale
stammen von Deletionen oder Duplikationen, die nicht nahe verwandter Arten zu erklären. Umgekehrt hilft
einheitlich in einer Population vertreten sind. Bei einer uns die Aufklärung der zugrunde liegenden molekula-
kürzlichen Untersuchung von 40 Personen fand man ren Mechanismen zu verstehen, wie die enorme Zahl
mehr als 8.000 CNVs, an denen 13 Prozent der Gene des unterschiedlicher Lebensformen auf unserem Plane-
menschlichen Genoms beteiligt waren. Es ist anzuneh- ten entstehen konnte und trägt damit wesentlich zum
men, dass diese CNVs nur einen Bruchteil der tatsäch- Verständnis der Evolution bei.
lich vorhandenen Unterschiede ausmachen. Weil diese
Varianten viel größere DNA-Bereiche als die Einzel- Gene zur Entwicklungssteuerung blieben in der
nucleotidpolymorphismen umfassen, spielen sie mit Evolution von Tieren erhalten
großer Wahrscheinlichkeit auch eine Rolle bei komple- In Kapitel 18 haben wir die homöotischen Gene bei
xen Erkrankungen. Auf jeden Fall lassen diese drasti- Drosophila-Taufliegen beschrieben, die die Ausbil-
schen Veränderungen in der Kopienzahl von Genen dung der Körpersegmente steuern (siehe Abbildung
Zweifel daran aufkommen, was unter dem Begriff „ein 18.20). Diese homöotischen Gene enthalten alle einen
normales menschliches Genom“ zu verstehen ist. Sequenzabschnitt aus 180 Nucleotiden (Homöobox),
CNVS, SNPs und Unterschiede in der repetitiven der für eine Proteindomäne mit 60 Aminosäuren
DNA wie short tandem repeats (STRs) sind nützliche codiert, die sogenannte Homöodomäne. Gleiche oder
genetische Marker für die Untersuchung der mensch- sehr ähnliche Nucleotidfolgen finden sich auch in den
lichen Entwicklungsgeschichte. So wurden die homöotischen Genen vieler anderer Wirbelloser und
Genome von zwei Afrikanern unterschiedlicher Her- in denen der Wirbeltiere. Darüber hinaus findet man
kunft sequenziert: Erzbischof Desmond Tutu, ein süd- eine erstaunliche Übereinstimmung in der chromoso-
afrikanischer Bürgerrechtler und Mitglied des Stam- malen Anordnung der betreffenden Gene: Auch die zu
mes der Bantu, die die Mehrheit der Bevölkerung in den Taufliegengenen homologen Gene der Wirbeltiere
Südafrika repräsentieren, und !Gubi, ein Jäger und liegen als Gruppe in der gleichen Abfolge nebeneinan-
Sammler aus Namibia vom Stamm der Khoisan, der der auf bestimmten Chromosomen (Abbildung 21.19).
wahrscheinlich direkt von der ältesten menschlichen Sequenzen mit Homöoboxen wurden auch in regulato-
Linie abstammt. Wie erwartet zeigten sich viele rischen Genen nicht nahe verwandter Eukaryonten wie
Sequenzunterschiede. Die Untersuchungen wurden Pflanzen und Hefen gefunden. Aus diesen Ähnlichkei-
dann auf Vergleiche der proteincodierenden Gene von ten lässt sich ableiten, dass sich die Homöobox sehr früh
!Gubis Genom mit denen von drei anderen Mitglie- während der Entwicklung der Eukaryonten herausgebil-
dern seiner Volksgruppe ausgedehnt, die in seiner det und als nützlich erwiesen hat, so dass sie bei Tie-
direkten Nachbarschaft lebten. Erstaunlicherweise ren, Pflanzen und Pilzen über Hunderte von Jahrmilli-
unterschieden sich diese vier afrikanschen Genome onen erhalten geblieben ist.

590
21.6 Der Vergleich von Genomsequenzen liefert Hinweise auf evolutionäre und entwicklungsbiologische Mechanismen

18.21 und 18.22), bei Segmentierungsgenen und einem


Hauptregulatorgen für die Augenentwicklung (Pax6).
adulte Die von der Homöobox codierte Domäne der Pro-
Taufliege
teine vermittelt bei Transkriptionsfaktoren deren Bin-
dung an die DNA der Zielgene. Da die Struktur der
Domäne aber die Bindung an jede beliebige DNA
erlaubt, kann sie selbst nicht zur spezifischen Sequenz-
erkennung dienen. Dafür sorgen andere, variablere
Taufliegenembryo
(10 Stunden alt)
Domänen in den Homöobox-Proteinen, die mit ande-
ren Transkriptionsfaktoren wechselwirken und damit
sicherstellen, dass nur bestimmte Enhancer erkannt
Fliegen- und gebunden werden. Proteine mit Homöodomänen
chromosom regulieren vermutlich die Entwicklung eines Tieres,
indem sie die Transkription ganzer Gruppen von Ent-
wicklungsgenen an- oder abschalten. Bei Drosophila
Mäuse- und anderen Tieren sind verschiedene Kombinationen
chromosom der Homöoboxgene in unterschiedlichen Bereichen
des Embryos aktiv. Die Expression dieser regulatori-
schen Gene wird also sowohl bezüglich des Orts als Teil 3
auch zeitlich genau gesteuert und ist von zentraler
Bedeutung für die anatomische Musterbildung.
Mäuseembryo Neben den homöotischen Genen haben Entwicklungs-
(12 Tage alt) biologen noch zahlreiche andere Gene identifiziert, die
an der Entwicklungssteuerung beteiligt sind und sich im
Laufe der Evolution nur wenig verändert haben (also
konserviert sind). Dazu gehören zahlreiche für Kom-
ponenten von Signalketten codierende Gene. Angesichts
der großen Ähnlichkeiten zwischen bestimmten ent-
adulte Maus wicklungssteuernden Genen verschiedener Tierarten
drängt sich eine Frage auf: Wie können die gleichen
Gene die Entwicklung von Tieren steuern, die sich
morphologisch so grundlegend unterscheiden?
Abbildung 21.19: Homöotische Gene sind in der Evolution Erste Antworten beginnen sich abzuzeichnen. In
erhalten geblieben und steuern die Entwicklung bei Taufliegen manchen Fällen führen schon kleinere Abwandlungen
und Mäusen. Homöotische Gene steuern die Ausbildung anteriorer und
in den regulatorischen Sequenzen bestimmter Gene zu
posteriorer Körperteile und weisen sowohl bei Taufliegen (Drosophila sp.)
als auch bei Mäusen (Mus sp.) die gleiche Reihenfolge im Chromosom auf.
veränderten zeitlichen oder örtlichen Expressions-
Jeder farbige Streifen an den schematisch dargestellten Chromosomen mustern, die die Körperform maßgebend beeinflussen.
stellt ein homöotisches Gen dar. Bei Drosophila liegen alle homöotischen Unterschiedliche Expressionsmuster der Hox-Gene
Gene auf demselben Chromosom. Mäuse und andere Säugetiere besitzen entlang der Längsachse des Körpers von Insekten und
mehrere solcher Gengruppen, die bei der Labormaus auf vier verschiede- Crustaceen können beispielsweise die unterschiedli-
nen Chromosomen liegen. Die Farben sind den Körperteilen des Embryos che Zahl der Körpersegmente dieser Tiere erklären, an
und des ausgewachsenen Tieres zugeordnet, die von dem entsprechenden denen sich Beine entwickeln (Abbildung 21.20). In
Gen beeinflusst werden. Alle diese Gene sind bei Fliegen und Mäusen anderen Fällen wurde gezeigt, dass sich das gleiche
praktisch identisch. Schwarze Kästchen entsprechen Genen mit weniger Hox-Genprodukt in verschiedenen Arten leicht unter-
ähnlichen Homöoboxen.
schiedlich auswirkt. Dies äußert sich zum Beispiel
darin, dass in der einen Art andere Gene aktiviert wer-
Die homöotischen Gene von Tieren werden abgekürzt den oder dass die gleichen Zielgene dort stärker oder
auch als Hox-Gene bezeichnet, weil sie die weiter schwächer transkribiert werden. In anderen Fällen
oben erwähnte Homöoboxsequenz enthalten. Nicht steuern die Produkte ähnlicher (homologer) Gene in
alle Gene mit einer Homöobox sind auch homöotische verschiedenen Organismen unterschiedliche Entwick-
Gene, das heißt sie sind nicht immer an der Kontrolle lungsschritte, was zu verschiedenen Körperformen
der Körperentwicklung beteiligt. Zumindest bei Tieren führt. So werden beispielsweise auch in den Embryo-
haben aber die meisten solcher Gene noch etwas mit nen von Seeigeln – also unsegmentierten Tieren mit
Entwicklungsvorgängen zu tun, was auf ihre ursprüngli- einem Körperbau, der sich deutlich von dem eines
che Beteiligung an diesem grundlegenden Prozess hin- Insekts oder eines Säugetiers unterscheidet – einige
weist. Beispielsweise finden sich bei Drosophila Homöo- der typischen Hox-Gene exprimiert. Seeigel gehören
boxen nicht nur bei homöotischen Genen, sondern zu den klassischen Modellorganismen der Embryolo-
auch beim Eipolaritätsgen bicoid (siehe Abbildungen gie (siehe Kapitel 47).

591
21 Genome und ihre Evolution

Genital-
Thorax segmente Abdomen Thorax Abdomen

Abbildung 21.20: Unterschiede in der Expression von Hox-Genen wirken sich unterschiedlich bei Krustentieren (Crustaceen) und
Kerbtieren (Insekten) aus. Bei vier Hox-Genen haben sich im Laufe der Evolution der Gliederfüßer (Arthropoden) unterschiedliche Expressionsmuster
entwickelt. Diese Veränderungen sind zum Teil für die verschiedenartigen Baupläne dieser Tiere verantwortlich, die hier repräsentativ am Beispiel eines
Salinenkrebses als Vertreter der Crustaceen (links) und einer Heuschrecke als Vertreter der Insekten (rechts) dargestellt sind. Die verschiedenen Farben im
ausgewachsenen Tier entsprechen den Bereichen, in denen die jeweiligen Hox-Gene während der Embryonalentwicklung exprimiert werden.

Teil 3 In diesem abschließenden Kapitel zur Genetik haben


Sie gelernt, wie die Untersuchung des Aufbaus von  Wiederholungsfragen 21.6
Genomen und der Vergleich von Genomsequenzen
unterschiedlicher Arten etwas über deren Entwicklung 1. Würden Sie erwarten, dass das Genom eines
aussagen können. Durch den Vergleich von Entwick- Makaken (Vertreter einer Gruppe von Affen)
lungsprogrammen erkennen wir, dass sich die gemein- mehr Ähnlichkeit mit dem einer Maus oder
same Herkunft der Lebewesen in der Ähnlichkeit der dem des Menschen hat? Begründen Sie Ihre
molekularen und zellulären Mechanismen widerspie- Antwort.
gelt, die den Bauplänen zugrundeliegen, obwohl sich 2. Die als Homöobox bezeichnete DNA-Sequenz,
die entwicklungssteuernden Gene unterscheiden kön- die bei den an der Entwicklungssteuerung be-
nen. Die Ähnlichkeiten unter den Genomen belegen teiligten homöotischen Genen zu finden ist,
auch den gemeinsamen Ursprung des Lebens auf der taucht bei allen möglichen Tieren auf. Versu-
Erde. Die beobachteten Unterschiede sind insofern chen Sie zu erklären, warum Tiere ungeachtet
wichtig, als sie die riesige Vielfalt der Lebensformen dieser Ähnlichkeit so verschieden sind.
hervorgebracht haben. Im Rest des Buchs werden wir
unseren Blickwinkel über Moleküle, Gene und Zellen 3. WAS WÄRE, WENN? Im Genom des Menschen
hinaus erweitern und die Vielfalt des Lebens auf der gibt es dreimal so viele Alu-Sequenzen wie in
organismischen Ebene erforschen. dem von Schimpansen. Wie könnten nach Ih-
rer Meinung diese vielen zusätzlichen Alu-
Elemente im Humangenom entstanden sein?
– Schlagen Sie eine hypothetische Rolle vor,
die diese Sequenzen bei der divergenten Ent-
wicklung dieser Primatengattungen gespielt
haben könnten.

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

592
Zusammenfassung

Z U S A M M E N F A S S U N G K A P I T E L 2 1 

Konzept 21.1 Konzept 21.3


Die Entwicklung von schnelleren und billigeren Tech- Genome unterscheiden sich in der Größe und der Zahl
niken zur Genomsequenzierung der Gene sowie in der Gendichte

 Das Humangenom-Projekt wurde, unterstützt durch


enorme Fortschritte in der Entwicklung von Sequen- Bakte- Archaeen Eukaryonten
zierungstechnologien, im Jahre 2003 weitestgehend rien
fertiggestellt. Genom- Die meisten im Bereich Die meisten im
 Mit der „Schrotschussmethode“ zur Genomsequen- größe von 1–6 Mbp Bereich von
zierung wird das ganze Genom in eine Vielzahl klei- 10–4.000 Mbp; einige
ner, überlappender Fragmente zerlegt, die alle wesentlich mehr
sequenziert werden. Mithilfe von Computerprogram- Genzahl 1.500–7.500 5.000–40.000
men wird dann die Abfolge der Fragmente rekonstru-
iert und die Gesamtsequenz zusammengesetzt. Gendichte Höher als bei Eukaryonten Niedriger als bei
und nicht- Prokaryonten (Bei
codierende Eukaryonten ist die
? Wie trug das Humangenom-Projekt zur Entwicklung schnellerer und DNA Gendichte umso nied- Teil 3
billigerer Sequenziermethoden bei? riger, je höher die
Genomgröße ist.)
Introns Keine in In einigen Bei vielzelligen
Konzept 21.2
protein- Genen vor- Eukaryonten in den
Genomanalyse mithilfe der Bioinformatik
codierenden handen meisten Genen zu fin-
Genen den; bei einzelligen
 Die computergestützte Analyse von Genomsequen- Eukaryonten vorhan-
zen ist ein entscheidendes Hilfsmittel, um mögli- den, aber nur bei
che proteincodierende Sequenzen (offene Leserah- bestimmten Gruppen
men) aufzuspüren und ermöglicht die Annotation häufig
von Genomen. Ein Sequenzvergleich so identifi- Andere Sehr wenig Kann mengenmäßig
zierter Gene mit schon bekannten Genen anderer nicht- stark vertreten sein;
Arten kann bei der Zuweisung einer Funktion hilf- codierende im Allgemeinen bei
reich sein. Darüber hinaus kann dieses Vorgehen DNA Vielzellern mehr repe-
durch das experimentelle Ausschalten von Genen titive Sequenzen
und die Untersuchung des Mutantenphänotyps
unterstützt werden. Tabelle 21.2: Genome unterscheiden sich in der Größe, der Zahl
 Durch Einsatz der Bioinformatik („Computerbiolo- der Gene und der Gendichte.
gie“) lassen sich ganze Genome oder Teile davon
vergleichen und Gen- oder Proteinsätze als integ- ? Vergleichen Sie die Genomgrößen und die Anzahl der Gene (a) zwi-
rierte Systeme untersuchen (Genomik beziehungs- schen den drei Domänen und (b) innerhalb der Eukaryonten.
weise Proteomik). Hierunter fallen auch Ansätze
zur Analyse von Proteinwechselwirkungen, Funk-
tionselementen von Genen und die Untersuchungen
ihrer medizinischen Bedeutung in großem Maßstab.

? Was war die wichtigste Erkenntnis des ENCODE-Projekts? Warum


wurde das Projekt auf Genome von nicht-menschlichen Spezies ausgewei-
tet?

593
21 Genome und ihre Evolution

Konzept 21.4  Die chromosomale Organisation von Genomen ver-


Das Genom eukaryontischer Vielzeller enthält viel schiedener Arten kann miteinander verglichen wer-
nicht-codierende DNA und viele Multigenfamilien den. Dies kann Aufschluss über den Verlauf der
Evolution geben. Innerhalb einer gegebenen Art tra-
 Nur 1,5 Prozent des menschlichen Genoms codiert gen einer Hypothese zufolge Chromosomenumlage-
für Proteine, rRNAs oder tRNAs. Der Rest ist haupt- rungen zur Bildung neuer Arten bei, weil sie gene-
sächlich nicht-codierende DNA, darunter viel repe- tische Inkompatibilität vermitteln.
titive DNA und Pseudogene.  Die Gene der Globinfamilie stammen von einem Ur-
 Die häufigste Form repetitiver DNA-Elemente bei globingen ab. Aus der ursprünglichen (ersten) Dup-
eukaryontischen Vielzellern stellen transponierbare likation dieses Gens entstanden die Gruppen der α-
genetische Elemente und damit verwandte Sequen- und β-Globingene. Nachfolgende weitere Duplikatio-
zen dar. Bei den transponierbaren (mobilen) Ele- nen und Mutationen in diesen Kopien führten zu den
menten unterscheidet man zwei Klassen: Transpo- heutigen Globingenen, deren Produkte alle Sauerstoff
sons, die über ein DNA-Intermediat springen, und transportieren. Die Kopien einiger duplizierter Gene
die häufiger vorkommenden Retrotransposons, die haben sich so divergent entwickelt, dass die Funktio-
dies über eine RNA-Zwischenstufe tun. Jedes die- nen der codierten Proteine heute ganz verschieden
ser mobilen Elemente ist Hunderte bis Tausende sind.
von Basenpaaren lang. Ähnliche, aber für gewöhn-  Die Umlagerung von Exons innerhalb und zwischen
Teil 3 lich nicht identische Kopien beider Elemente sind Genorten im Verlauf der Evolution hat zu Genen
über das ganze Genom verstreut. geführt, die mehrere ähnliche Exons oder mehrere,
 Kurze, nicht-codierende Tandemwiederholungen, die von verschiedenen Ausgangsgenen stammende Exons
mehr als tausendfach wiederholt sein können, (einfa- enthalten.
che Sequenzwiederholungen, STRs) treten gehäuft im  Das Springen transponierbarer Elemente oder eine
Centromer- und Telomerbereich von Chromosomen Rekombination zwischen gleichartigen Kopien sol-
auf, wo sie wahrscheinlich eine strukturelle Aufgabe cher genetischen Elemente bringt in seltenen Fällen
erfüllen. neue Sequenzkombinationen hervor, die sich als
 Obgleich viele Eukaryontengene im haploiden Chro- nutzbringend für den Trägerorganismus erweisen.
mosomensatz nur einmal vertreten sind, gehören Derartige Mechanismen können die Funktionen
einige andere einer Genfamilie an. So bilden die drei von Genprodukten oder die Genregulation verändern.
größten ribosomalen Ribonucleinsäuren (rRNAs) eine
Transkriptionseinheit, die im Genom vielfach (in ? Wie könnte der Umbau von Chromosomen zur Entstehung neuer
mehreren hundert bis mehreren tausend Kopien) tan- Arten beitragen?
demartig an einem oder wenigen chromosomalen
Orten wiederholt vorliegt. Die multiplen, sich gering-
fügig unterscheidenden Gene der Globinfamilie Konzept 21.6
codieren Polypeptide, die zu unterschiedlichen Zeit- Der Vergleich von Genomsequenzen liefert Hinweise
punkten der Individualentwicklung gebildet werden: auf evolutionäre und entwicklungsbiologische Mecha-
nismen
α-Globin-Genfamilie β-Globin-Genfamilie
 Vergleichende Genomuntersuchungen mit eng ver-
Chromosom 16 Chromosom 11
wandten und stammesgeschichtlich weit auseinan-
ζ ψζ ψα ψα α2 α1 ψθ Gγ A γ ψβ δ β
derliegenden Arten liefern uns wertvolle Informa-
2 1
tionen über weit zurückliegende und jüngere evo-
lutionsgeschichtliche Ereignisse. Die Untersuchung
? Erklären Sie, warum die Funktion transponierbarer Elemente ihr häu- von Einzelnucleotid-Austauschen (SNPs) und Ver-
figes Vorkommen in der nicht-codierenden DNA erklärt. änderungen in der Kopienzahl von Genen (CNVs)
bei verschiedenen Individuen gibt damit Aufschluss
über die Entwicklungsgeschichte einer Art.
Konzept 21.5  Biologen, die sich mit der Evolution und der Entwick-
Genomevolution durch Duplikation, Umlagerung und lungsbiologie („Evo-Devo“) von Arten befassen, konn-
Mutation der DNA ten zeigen, dass homöotische und andere an Entwick-
lungsvorgängen bei Tieren beteiligte Gene eine als
 Fehler bei der Mitose und Zellteilung können dazu Homöobox bezeichnete Teilsequenz enthalten, die bei
führen, dass in den Folgezellen überzählige Kopien verschiedenen Arten in identischer oder ähnlicher
des ganzen Genoms oder von Teilen davon vorlie- Form zu finden ist. Homologe Sequenzen finden sich
gen. Falls das betroffene Individuum lebensfähig auch in Genen von Pflanzen und Pilzen.
ist, können sich diese mehrfachen Chromosomen-
sätze divergent weiterentwickeln und so neue ? Welche Informationen lassen sich aus dem Vergleich der Genomse-
Allele oder Gene mit neuen Funktionen erzeugen. quenzen nahe verwandter Arten ableiten? Welche aus dem Vergleich weit
Polyploidie tritt öfter bei Pflanzen als bei Tieren auf entfernt verwandter Arten?
und trägt zur Artenbildung bei.

594
Übungsaufgaben

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜB UN GSA U FG AB E N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis Schreiben Sie die Sequenzen ab und bestimmen
Sie die Aminosäurereste, die variieren. Markieren
1. Welcher der folgenden Vorgänge wird nicht durch Sie die entsprechende/n Position/en in allen Se-
die Bioinformatik abgedeckt? quenzen. Beantworten Sie danach folgende Fragen:
a. der Einsatz von Computerprogrammen zum a. Die Sequenzen von Schimpanse, Gorilla und
Abgleich von DNA-Sequenzen Rhesusaffe sind gleich. Welche Zeilen gehören
b. das Verknüpfen von DNA-Fragmenten aus ver- zu diesen Arten?
schiedenen Quellen in einem Reagenzglas oder b. Die menschliche Sequenz unterscheidet sich
Probengefäß von den drei vorgenannten Affensequenzen in
c. die Entwicklung computergestützter Methoden zwei Positionen. Welche Zeile entspricht der
zur Genomanalyse Sequenz des Humanproteins? Unterstreichen
d. der Einsatz mathematischer Methoden zur Ana- Sie die beiden Abweichungen.
lyse biologischer Systeme oder Teilen davon c. Die Orang-Utan-Sequenz unterscheidet sich
von den Sequenzen des Schimpansen, des Go-
2. Homöotische Gene rillas und des Rhesusaffen in einer Position
a. codieren für Transkriptionsfaktoren, welche (Valin anstelle von Alanin) und von der Hum-
die Expression von Genen steuern, die für die ansequenz in drei Positionen. Welche Zeile Teil 3
Bildung bestimmter anatomischer Strukturen zeigt die Sequenz des Orang-Utan-Proteins?
verantwortlich sind d. Wie viele Abweichungen bestehen zwischen
b. finden sich nur bei Drosophila und anderen der Sequenz des Mausproteins und denen von
Arthropoden Gorilla, Schimpanse und Rhesusaffe? Markie-
c. sind die einzigen Gene, die eine Homöobox- ren Sie die Aminosäuren, in denen sich das
sequenz enthalten Mausprotein unterscheidet. In wie vielen Posi-
d. codieren ausschließlich für Proteine, die bei tionen unterscheiden sich die homologen Pro-
Fliegen die morphologische Entwicklung steu- teine von Maus und Mensch? Markieren Sie
ern diese Aminosäuren.
e. Primaten und Nagetiere – zwei Säugetierord-
Ebene 2: Anwendung und Auswertung nungen – haben sich irgendwann vor 60 bis
100 Millionen Jahren stammesgeschichtlich
3. Zwei Eukaryontenproteine haben eine Domäne ge- getrennt. Die Trennung der Menschenaffen-
meinsam, sind aber sonst sehr verschieden. Wel- linie, zu der der Schimpanse gehört, und der
cher der folgenden molekularen Prozesse ist am Hominidenlinie, die zum Menschen führte,
wahrscheinlichsten für die partielle Ähnlichkeit hat vor etwa sechs Millionen Jahren stattgefun-
verantwortlich? den. Was können Sie mithilfe dieser Informa-
a. Genduplikation tion aus dem Vergleich der Abweichungen der
b. RNA-Spleißen Aminosäurereste des FOXP2-Proteins zwi-
c. „exon shuffling“ schen Mäusen und den Affen (Gorilla, Schim-
d. Punktmutationen panse, Rhesusaffe) auf der einen und zwischen
dem Menschen und den drei Affenarten auf
4. ZEICHENÜBUNG Nachfolgend sehen Sie Aminosäu- der anderen Seite ableiten?
resequenzen (in Einbuchstabenabkürzung; siehe
Abbildung 5.17) von jeweils vier kurzen Aus- Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
schnitten des FOXP2-Proteins von sechs verschie-
denen Tierarten: Schimpanse, Orang-Utan, Gorilla, 5. Verbindung zur Evolution Für die Embryonal-
Rhesusaffe, Maus und Mensch. Die gezeigten entwicklung von Tieren wichtige Gene, wie die
Ausschnitte beinhalten alle Unterschiede in den Homöoboxgene, wurden im Rahmen der Evolu-
Aminosäuresequenzen, die man bei diesem Pro- tion vergleichsweise wenig verändert, weisen
tein in diesen Arten gefunden hat. also bei verschiedenen Arten stärkere Sequenz-
übereinstimmungen auf als viele andere Gene.
1. ATETI … PKSSD… TSSTT … NARRD Warum ist das so?
2. ATETI … PKSSE … TSSTT … NARRD
6. Wissenschaftliche Fragestellung Die Wissenschaft-
3. ATETI … PKSSD… TSSTT … NARRD
ler, die die Einzelnucleotidpolymorphismen (SNPs)
4. ATETI … PKSSD… TSSNT … S A R RD des Humangenoms kartierten, bemerkten bei der
5. ATETI … PKSSD… TSSTT … NARRD Auswertung ihrer Daten, dass SNPs oft gruppen-
weise vererbt werden. Solche SNP-„Blöcke“ wer-
6. VTETI… PKSSD… TSSTT … NARRD den als Haplotypen bezeichnet. Ihre Länge reicht

595
21 Genome und ihre Evolution

von 5.000 bis zu 200.000 Basenpaaren. Pro Ha- geln am zweiten Segment besitzt sie auf dem ers-
plotyp gibt es nur etwa vier oder fünf verbreitet ten Segment einen „Schmuckhelm“, der wie die
vorkommende SNP-Kombinationen. Versuchen Dornen einer Pflanze aussieht und den Insekten in
Sie, eine Erklärung für diese Beobachtung zu ge- den Zweigen als Tarnung dient. Neuere Unter-
ben. Greifen Sie dabei auf das zurück, was Sie in suchungen ergaben, dass dieser „Schmuckhelm“
diesem Kapitel und in den anderen Kapiteln zur eigentlich ein verschmolzenes Flügelpaar ist. Er-
Genetik gelernt haben. klären Sie, wie Änderungen in der Genregulation
zur Entwicklung einer solchen Struktur beigetra-
7. Skizzieren Sie ein Thema: Information Der Fort- gen haben könnten.
bestand des Lebens basiert auf vererbbarer Infor-
mation in der Form von DNA. Beschreiben Sie in
einem kurzen Aufsatz (in 150–200 Worten), wie
Mutationen in proteincodierenden Genen und in
regulatorischen DNA-Bereichen zur Evolution
beitragen.

8. NUTZEN SIE IHR WISSEN Insekten haben drei Tho-


raxsegmente. Man kennt fossile Insekten, mit je-
Teil 3 weils einem Flügelpaar an allen drei Segmenten.
Moderne Insekten besitzen Flügel und flügelähnli-
che Strukturen nur am zweiten und dritten Seg-
ment. Die Bildung von Flügeln beim ersten Seg-
ment wird bei ihnen von dem Hox-Genprodukt
unterdrückt. Eine Ausnahme bildet die hier rechts
abgebildete Buckelzirpe. Zusätzlich zu den Flü-

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

596
Evolutionsmechanismen Teil
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie –
Abstammung mit Modifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
IV
23 Die Evolution von Populationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
24 Die Entstehung der Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
Die darwinistische Sicht des Lebens:
Evolutionstheorie – Abstammung mit
Modifikation

22.1 Die Darwin’sche Theorie widersprach der traditionellen Ansicht, 22


die Erde sei jung und von unveränderlichen Arten bewohnt. . . . 601
22.2 Die gemeinsame Abstammung und die Variationen zwischen

KONZEPTE
Individuen, auf die die natürliche Selektion wirkt, erklären
die vielfältigen Anpassungen von Organismen . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
22.3 Die Evolutionstheorie wird durch eine Vielzahl
wissenschaftlicher Befunde gestützt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609

 Abbildung 22.1: Wie schützt


sich diese Raupe vor Fressfeinden?
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

Die Vielfalt erstaunlicher Anpassungen – „Endless Forms Most Beautiful“


Ein hungriger Vogel müsste sehr genau hinsehen, um Ob man den Begriff „Evolution“ nun enger oder brei-
diese Raupe der Motte Synchlora aerata zu erkennen ter definiert, hängt von der Fragestellung und dem
(Bild rechts unten auf dieser Seite), denn sie ist perfekt jeweiligen Blickwinkel ab: einerseits werden die Phä-
getarnt in den Blüten, von denen sie sich ernährt. Für nomene (Ergebnisse) evolutiven Geschehens, anderer-
diese Tarnung heftet sie sich sogar Teile von Blütenblät- seits die Prozesse, die zu einem Evolutionsgeschehen
tern an den Körper, welche sie noch besser mit dem Hin- geführt haben, in den Vordergrund gerückt. Die Phä-
tergrund verschmelzen lassen (Abbildung 22.1). Diese nomene bzw. Ergebnisse der evolutionären Verän-
unverwechselbare Raupe gehört zu einer vielfältigen derungen lassen sich anhand zahlreicher Daten aus
Gruppe von über 120.000 Lepidoptera-Arten (Motten einem breiten Spektrum wissenschaftlicher Diszipli-
und Schmetterlinge). Alle diese Arten durchlaufen eine nen belegen, darunter die der Biologie, Geologie, Phy-
juvenile Phase, in der sie einen gut entwickelten Kopf sik und Chemie. Die Prozesse der Evolution hingegen
mit zahlreichen Mundwerkzeugen ausbilden, der diesen müssen über die jeweiligen Mechanismen nachge-
gefräßigen Raupen eine effiziente Nahrungsaufnahme zeichnet werden, die die nachweislichen evolutiven
ermöglicht. Als adulte Tiere bilden alle Lepidoptera Veränderungen bewirkt haben. Diese Mechanismen
andere charakteristische Merkmale aus, wie drei Bein- stellen die kausale Ursache für die natürlichen Phäno-
paare und zwei Flügelpaare, die mit kleinen Schuppen mene dar, die wir beobachten können. Tatsächlich ist
bedeckt sind. Aber die vielen Lepidoptera-Arten unter- es die Stärke der Evolutionstheorie, dass sie als eine
scheiden sich auch voneinander. Wie konnten sich so vereinigende Theorie eine große Anzahl von Beobach-
viele unterschiedliche Motten und Schmetterlinge ent- tungen aus der Natur erklären und miteinander ver-
wickeln und was verursacht ihre Gemeinsamkeiten und binden kann.
ihre Unterschiede? Am Beispiel der sich selbst tarnen- Wie bei allen naturwissenschaftlichen Theorien
den Raupe und vieler ihrer nahen Verwandten werden muss auch bei der Evolutionstheorie immer weiter
drei Schlüsselbeobachtungen deutlich: überprüft und getestet werden, ob sie den neuesten
Beobachtungen und experimentellen Ergebnissen
 die wirkungsvollen Anpassungsmechanismen der standhält. In diesem und in den folgenden Kapiteln
Teil 4 Organismen an ihre Umwelt1 wollen wir untersuchen, wie aktuelle Forschungsergeb-
nisse unser gegenwärtiges Verständnis des Evolutions-
 die vielen gemeinsamen und ähnlichen Merkmale prozesses formen. Um dafür die Voraussetzung zu
der Lebewesen schaffen, möchten wir zunächst Darwins Suche nach
Erklärungen für Anpassungen, Gemeinsamkeiten und
 die große Vielfalt der Lebensformen. die Vielfalt dessen, was er die „unendliche Zahl der
schönsten und wunderbarsten Variationen“
Vor über 150 Jahren war Charles Darwin getrieben von (endless forms most beauti-
dem Ziel, eine wissenschaftliche Erklärung für ful) des Lebens nannte,
diese drei umfassenden Beobachtungen zu ent- nachvollziehen.
wickeln. Die Veröffentlichung seiner Hypo-
these in dem Buch »The Origin of Species«
leitete eine wissenschaftliche Revolution
ein, die Epoche der Evolutionsbiologie.
Zunächst wollen wir Evolution als
Abstammungstheorie („descent with
modification“, daher auch Deszen-
denztheorie) definieren. Sie wurde
von Darwin zur Erläuterung sei-
ner Hypothese formuliert, nach
der die vielen Organismenarten
auf der Erde von phylogenetisch
älteren Taxa abstammen, die sich
von den heutigen (rezenten) Arten
mehr oder weniger deutlich unter-
scheiden. Unter Evolution versteht
man im engeren Sinne auch die
Veränderung der genetischen Zusam-
mensetzung einer Population von einer
Generation zur nächsten (siehe Kapitel 23).

1 Hier und im weiteren Textverlauf umfasst der Begriff „Um-


welt“ sowohl andere Organismen als auch physikalische
Eigenschaften der Umgebung des Organismus.

600
22.1 Die Darwin’sche Theorie widersprach der traditionellen Ansicht, die Erde sei jung und von unveränderlichen Arten bewohnt

Die Darwin’sche Theorie wider- lassen, die später als Scala naturae („Stufenleiter der
Natur“) bezeichnet wurde. Auf dieser Leiter fanden
sprach der traditionellen Ansicht, sämtliche Lebensformen, die er als perfekt und unwan-
die Erde sei jung und von delbar ansah, den ihnen zustehenden Platz.
unveränderlichen Diese Vorstellungen passten gut zum Schöpfungs-
Arten bewohnt
22.1 bericht im Alten Testament, in dem es heißt, die Arten
seien jede für sich von Gott geschaffen worden und
daher perfekt und unwandelbar. Im 18. Jahrhundert
sahen viele Naturforscher die oft bemerkenswerte
Was trieb Darwin dazu, die zu seiner Zeit herrschen- Anpassung der Organismenarten an ihre Umwelt als
den Ansichten über die Entwicklung der Erde und Beweis dafür an, dass der Schöpfer jede Art zu einem
ihrer Bewohner infrage zu stellen? Darwin entwickelte bestimmten Zweck geschaffen habe.
seine Evolutionstheorie allmählich und wurde dabei Einer dieser Naturforscher war Carl Linnaeus (1707–
stark von seinen eigenen Reisebeobachtungen und 1778, später Carl von Linné), ein schwedischer Arzt und
von Arbeiten anderer Wissenschaftler, die in einem Botaniker, der die Vielfalt der Natur nach eigenen Wor-
größeren historischen Kontext stehen, beeinflusst ten „zum höheren Ruhm Gottes“ zu ordnen suchte.
(Abbildung 22.2). Linné entwickelte die binäre Nomenklatur zur Benen-
nung von Organismen mit Gattungs- und Artnamen
(beispielsweise Homo sapiens für den Menschen), die
22.1.1 Scala naturae und die Klassifikation wir heute noch immer verwenden. Im Gegensatz zur
der Arten linearen Hierarchie der Scala naturae entwickelte er ein
ineinander geschachteltes Klassifikationssystem, bei
Bereits lange vor Darwin vermuteten einige griechi- dem ähnliche Lebewesen in immer allgemeinere Kate-
sche Philosophen, das Leben könne sich im Lauf der gorien eingeordnet wurden. Beispielsweise werden ähn-
Zeit allmählich verändern. Allerdings haben die liche Arten (Spezies) in dieselbe Gattung (Genus, Plural
Ansichten von Aristoteles (384–322 v. Chr.) die frühe Genera) gestellt, ähnliche Gattungen in dieselbe Familie
westliche Kultur besonders nachhaltig beeinflusst: Er und so weiter (siehe Abbildung 1.12).
sah die Arten als unveränderlich an. Im Rahmen sei- Die Beobachtung von besonderen, spektakulären Teil 4
ner Naturbeobachtungen entdeckte Aristoteles gewisse Blumenzüchtungen, bestimmten Kulturpflanzenzüch-
„Ähnlichkeiten“ zwischen verschiedenen Organismen- tungen, Haustierrassen (Tauben, Hunde, Pferde) und
arten. Er kam zu dem Schluss, dass sich Lebensformen anderen Züchtungen bewogen Linné später zu der
auf einer Leiter zunehmender Komplexität anordnen Ansicht, dass Veränderungen von Arten möglich sein

1809
Lamarck veröffentlicht sein
Konzept des Artenwandels,
die erste Evolutionstheorie

1798
Malthus veröffentlicht
„Eine Abhandlung über Wallaces
das Bevölkerungsgesetz” Zeichnung
eines Flug-
frosches
1812
1858
1795 Cuvier veröffentlicht seine
umfangreichen Arbeiten Während seines Aufenthaltes im
Hutton stellt seine über Wirbeltierfossilien 1830 Malayischen Archipel schickt Wallace (hier
Theorie des Lyell veröffentlicht die ein Bild aus dem Jahr 1848) Darwin seine
Gradualismus auf „Principles of Geology” Theorie zur natürlichen Selektion

1790 1870
1809 1831–1836 1859
Darwin wird Darwins Weltreise „Die Entstehung der
geboren mit der HMS Beagle 1844 Arten” wird veröffentlicht
Darwin schreibt seine
Abhandlung über die
Abstammung mit
Modifikation
Eine Meerechse
auf den
Galapagos
Inseln

Abbildung 22.2: Darwins Ideen im historischen Kontext.

601
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

müssten. Diese Möglichkeit schloss er für höhere taxo- Katastrophentheorie, der zufolge bestimmte Ereignisse
nomische Ebenen jedoch strikt aus. Ein Jahrhundert in der Vergangenheit (zum Beispiel großflächige Über-
später war sein Klassifikationsschema eine wichtige schwemmungen) sehr plötzlich aufgetreten sind. Cuvier
Grundlage für Darwins Argumentation in seiner Evolu- vertrat die Auffassung, dass jede Grenze zwischen zwei
tionstheorie. Gesteinsschichten durch ein solches Katastrophenereig-
nis verursacht wurde und ein großer Teil der damals
lebenden Arten dadurch ausgelöscht wurde. Seiner
22.1.2 Vorstellungen über die Veränderungen Ansicht nach wurden diese Bereiche dann von einwan-
von Organismen im Lauf der Zeit dernden Arten aus benachbarten, von der Katastrophe
verschont gebliebenen Gebieten wieder besiedelt.
Darwin verdankte viele seiner Ideen den Arbeiten von Im Gegensatz dazu vermuteten andere Wissenschaft-
Paläontologen, die fossile Organismenreste oder fossile ler, tiefgreifende Veränderungen könnten durch die
Spuren von Organismenarten aus vergangenen Erdepo- kumulative Wirkung langsamer, aber kontinuierlich
chen untersuchten. Fossilien finden sich unter ande- wirkender Prozesse hervorgerufen werden. Im Jahr 1795
rem in Sedimentgesteinen, die sich am Boden von Mee- stellte der schottische Geologe James Hutton (1726–
ren, Seen und Sümpfen ablagern (Abbildung 22.3). 1797) die These auf, dass sich die geologischen Merk-
Dabei werden ältere Sedimentschichten von jüngeren male der Erde durch graduelle Prozesse erklären ließen,
bedeckt und zu übereinanderliegenden Gesteinsschich- wie beispielsweise die Bildung von Tälern, die durch
ten zusammengepresst, sogenannten Strata (Singular Flüsse ins Gestein gegraben werden. Der führende Geo-
Stratum). Fossilien einer bestimmten Gesteinsschicht loge zu Darwins Zeiten, Charles Lyell (1797–1875), inte-
zeigen einen kleinen Ausschnitt aus der Flora und grierte Huttons Vorstellungen in seine Theorie, nach der
Fauna früherer Erdzeitalter. Durch Erosion können die dieselben geologischen Prozesse, die heute wirken,
oberen (jüngeren) Strata abgetragen und tiefere (ältere) auch schon in der Vergangenheit gewirkt haben, und
Strata freigelegt werden, die zuvor verborgen waren. nach der auch die Geschwindigkeit dieser Prozesse
unverändert geblieben ist.
1 Flüsse transportieren Sediment Huttons und Lyells Vorstellungen hatten großen
in Meere und Seen. Im Lauf der Einfluss auf Darwins Denken. Wenn sich geologische
Teil 4 Zeit bilden sich unter Wasser
Schichten von Sedimentgestein. Veränderungen durch langsame, kontinuierliche Pro-
Einige dieser Schichten zesse und nicht durch plötzliche Ereignisse erklären
enthalten Fossilien. ließen, dann musste die Erde weitaus älter sein als die
allgemein akzeptierten wenigen Tausend Jahre. Darin
2 Wenn der Wasser- stimmte Darwin mit den beiden Geologen überein. So
spiegel sinkt und
der Meeresboden
würde es zum Beispiel sehr lange dauern, bis ein Fluss
sich hebt, werden durch Erosion eine Schlucht ins Gestein gegraben
jüngere Schicht die fossilführenden hätte. Wäre es nicht möglich, überlegte er später, dass
mit jüngeren Schichten freigelegt. ähnliche langsame und graduelle Prozesse wesentliche
Fossilien, zum biologische Veränderungen bei der Entstehung von
Beispiel
Arten hervorrufen könnten? Darwin war jedoch nicht
Ammoniten
der Erste, der die Vorstellung einer allmählichen Ver-
ältere Schicht änderung von Organismen im Laufe der Erdepochen
mit älteren äußerte.
Fossilien, zum
Beispiel
Trilobiten
22.1.3 Lamarcks Evolutionstheorie
Abbildung 22.3: Bildung von Sedimentgestein mit eingelagerten
Fossilien.
Im 18. Jahrhundert vertraten mehrere Naturforscher
(darunter auch Darwins Großvater, Erasmus Darwin)
Einer der Begründer der Paläontologie, der Wissenschaft die Ansicht, das Leben auf der Erde habe sich parallel
der Fossilien, war der französische Naturforscher Geor- zu verschiedenen größeren Umweltveränderungen
ges Cuvier (1769–1832). Als Cuvier Schichten aus Sedi- entwickelt. Doch nur einer von Charles Darwins Vor-
mentgestein in der Nähe von Paris untersuchte, stellte gängern schlug einen Mechanismus vor, auf welche
er fest, dass die Fossilien den heutigen Lebensformen Weise sich die Organismen im Lauf der Zeit verändert
immer unähnlicher wurden, je älter die Gesteinsschicht haben könnten: der französische Botaniker und Zoo-
war. Darüber hinaus stellte er fest, dass beim Übergang loge Jean-Baptiste Lamarck (1744–1829). Leider bringt
von einer Gesteinsschicht zur nächsten auch einige neue man heute Lamarck weniger mit seiner visionären
Arten auftraten, während andere verschwanden. Daraus Entdeckung in Verbindung, dass evolutionäre Verän-
zog er den Schluss, dass ein Aussterben von Arten und derung der Grund für die Unterschiede von Fossilien
Artengruppen ein in der Geschichte der Lebewesen häu- ist und diese in Zusammenhang mit bestimmten
figes Ereignis gewesen sein muss. Die Vorstellung von Umweltbedingungen erklärt werden können. Viel-
einem Evolutionsgeschehen lehnte Cuvier jedoch kate- mehr wird er heute mit der nicht mehr akzeptierten
gorisch ab und erklärte seine Beobachtungen mit einer Ansicht in Verbindung gebracht, nach der umweltbe-

602
22.2 Abstammung, Variation und Selektion erklären Anpassungen von Organismen

dingte Merkmalsänderungen direkt vererbt werden im Lamark’schen Sinne weitervererben (Abbildung


könnten. 22.4). Leider hatten Darwin und auch die meisten
Lamarck veröffentlichte seine Theorie im Jahr 1809, Wissenschaftler seiner Zeit von Mendels Experimen-
dem Geburtsjahr Darwins. Durch den Vergleich damals ten und den Schlussfolgerungen keine Kenntnis oder
lebender Arten mit fossilen Formen hatte Lamarck meh- ignorierten sie (siehe Kapitel 14). Dies ist besonders
rere Abstammungsreihen entdeckt – jede eine eigene bedauerlich, denn dieses Wissen hätte Darwin hervor-
chronologische Reihe von älteren zu jüngeren Fossilien, ragende Argumente zur Erklärung der Evolutions-
die schließlich zu einer heute rezenten Art führt. Er mechanismen liefern können! Umso erstaunlicher ist,
erklärte seine Beobachtungen mithilfe zweier Prinzi- dass Darwin trotz der damaligen unklaren Vorstellun-
pien, die damals weit akzeptiert waren. Das erste Prin- gen über die Vererbungsmechanismen, die nicht mit
zip war dasjenige von Gebrauch und Nichtgebrauch, die seinen Theorien harmonierten, dennoch richtige
Vorstellung, dass intensiv genutzte Teile des Körpers Schlussfolgerungen gezogen hat.
größer und stärker werden, während andere, die nicht Von seinen Zeitgenossen, allen voran Cuvier, der
gebraucht werden, verkümmern. Als Beispiel führte er jede Vorstellung einer Evolution von Arten kategorisch
die Giraffe an, die ihren Hals immer weiter streckt, um ablehnte, wurde Lamarck verleumdet und verspottet.
die Blätter in den höchsten Baumkronen zu erreichen. Im Rückblick gebührt Lamarck jedoch große Anerken-
Das zweite Prinzip, die Vererbung erworbener Eigen- nung für seine erstmalige Erkenntnis, dass sich die
schaften, besagte, dass ein Organismus diese Anpassung Anpassung von Organismen an ihre Umwelt durch
an seine Nachkommen weitergeben könne. Der lange, allmähliche evolutionäre Veränderungen erklären lässt
muskulöse Hals heutiger Giraffen, argumentierte Lam- sowie für die Formulierung einer überprüfbaren Erklä-
arck, habe sich über viele Generationen hinweg entwi- rung dieser Veränderung.
ckelt, weil die Giraffen ihren Hals immer höher reckten.

 Wiederholungsfragen 22.1
1. Wie beeinflussten Huttons und Lyells Vorstel-
lungen Darwins Gedanken zur Entwicklung
der Organismen über lange Zeiträume? Teil 4

2. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN In Konzept 1.3 ha-


ben Sie gelesen, dass wissenschaftliche Hypo-
thesen überprüfbar und widerlegbar (falsifi-
zierbar) sein müssen. Wenn Sie diese Kriterien
anwenden, können dann Cuviers Erklärung
der Fossilbefunde und Lamarcks Evolutions-
hypothese wissenschaftlichen Kriterien stand-
halten? Begründen Sie Ihre Antworten.

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

Die gemeinsame Abstammung


und die Variationen zwischen
Individuen, auf die die natürliche
Selektion wirkt, erklären die
Abbildung 22.4: Erworbene Eigenschaften sind nicht vererbbar. vielfältigen Anpassungen
Dieser Bonsaibaum wurde durch Formschnitte zum Zwergwuchs gezwungen.
Samen dieses Baums wachsen jedoch zu Bäumen normaler Größe heran.
von Organismen
22.2
Lamarck nahm zudem an, Evolution finde statt, da Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahm man allgemein
Organismen einen inneren Drang nach höherer Kom- an, sämtliche Arten seien seit ihrer „Erschaffung“
plexität und Vervollkommnung besäßen. Bereits Dar- unverändert geblieben. Zwar kamen bei manchen
win wies diese Vorstellung zurück, aber auch er nahm Wissenschaftlern einige Zweifel an dieser Unver-
an, dass Variationen teilweise durch die Vererbung änderlichkeit der Arten auf, doch niemand konnte die
von erworbenen Merkmalen in evolutive Prozesse ein- Entwicklung vorausahnen, die bald eintreten sollte.
fließen. Dieser Mechanismus widerspricht unserem Wie wurde Charles Darwin zum Begründer eines
heutigen Verständnis der Genetik, und Experimente völlig neuen, revolutionären Weltbildes, das die vikto-
belegen, dass Individuen erworbene Merkmale nicht rianische Gesellschaft wie ein Blitz traf?

603
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

22.2.1 Darwins Feldforschung und Tierarten. Besonders interessierte er sich für die
Anpassungen, die es den Pflanzen- und Tierarten
Charles Darwin (1809–1882) wurde in Shrewsbury im ermöglichten, in so unterschiedlichen Lebensräumen
Westen Englands geboren. Schon als Junge interes- wie den feuchten Regenwäldern Brasiliens, den ausge-
sierte er sich brennend für die Natur. Wenn er keine dehnten Grassteppen Argentiniens und den hohen
Naturkundebücher las, fischte und jagte er oder sam- Gipfeln der Anden zu überleben.
melte Insekten, dabei vorzugsweise Käfer. Darwins Darwin stellte fest, dass die Pflanzen- und Tierarten
Vater, ein Arzt, konnte sich für seinen Sohn keine in den gemäßigten Regionen von Südamerika Arten
Zukunft als Naturforscher vorstellen und schickte ihn aus den südamerikanischen Tropen mehr ähneln, als
zum Medizinstudium nach Edinburgh. Charles inter- Arten, die in den gemäßigten Regionen von Europa
essierte sich jedoch nicht für Medizin und vor allem vorkommen. Und auch die Fossilien, die er fand,
die chirurgischen Eingriffe fand er abschreckend (man ähnelten, selbst wenn sie sich deutlich von heute
kannte damals noch keine Narkosemittel!). Er brach lebenden Arten unterschieden, den heutigen Lebens-
sein Medizinstudium ab und schrieb sich an der Uni- formen des südamerikanischen Kontinents.
versität von Cambridge ein, um Pfarrer zu werden. (Zu Auf seiner Reise beschäftigte Darwin sich auch inten-
seiner Zeit gehörten in England viele Naturforscher siv mit der Geologie. Trotz wiederholter Anfälle von
dem Klerus an.) Seekrankheit las er während der Reise mit großem Inte-
In Cambridge lernte Darwin John Henslow kennen, resse Lyells Principles of Geology. Zudem erlebte er
einen Professor für Botanik. Bald nach Darwins erfolg- geologische Veränderungen aus erster Hand, als ein
reichem Studienabschluss am Christ College der heftiges Erdbeben die chilenische Küste bei Valdivia
Universität Cambridge empfahl ihn Henslow einem erschütterte. Danach beobachtete er, dass sich dabei die
Kapitän namens Robert Fitzroy, der gerade das For- Gesteinsformation längs der Küste um mehrere Zenti-
schungsschiff Beagle der Royal Navy auf eine fünf- meter gehoben hatte. Als Darwin schließlich hoch oben
jährige Expedition vorbereitete. Darwin musste seine in den Anden auf Fossilien von Meeresorganismen
Reise selbst finanzieren und dem jungen Kapitän als stieß, kam er zu dem Schluss, dass sich das fossilien-
Gesprächspartner dienen. Fitzroy, ebenfalls wissen- haltige Gestein durch eine ganze Reihe ähnlicher geolo-
schaftlich versiert, akzeptierte Darwin nicht nur wegen gischer Prozesse bis in diese Höhe gehoben haben
Teil 4 seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse, sondern müsse. Seine Beobachtungen bestätigten das, was er in
auch, da sie beide im gleichen Alter waren und aus Lyells Buch gelernt hatte: Die geophysikalischen Belege
derselben sozialen Schicht stammten. widersprechen der traditionellen Sicht von einer stati-
schen, nur wenige Tausend Jahre alten Erde.
Die Reise mit der Beagle Darwins Interesse an der geografischen Verbreitung
Im Dezember 1831 begann Darwins Reise an Bord der von Pflanzen- und Tierarten wurde durch einen
Beagle. Die wichtigste Mission der Reise war es, kaum Besuch auf den Galapagos-Inseln, einer vulkanischen
bekannte Abschnitte der südamerikanischen Küste Inselgruppe in der Nähe des Äquators rund 900 km vor
(Patagonien und Feuerland) zu kartieren (Abbildung der südamerikanischen Küste (Abbildung 22.5), weiter
22.5). Während die Schiffsbesatzung die Küste ver- angeregt. Darwin war von den hier vorkommenden
maß, verbrachte Darwin die meiste Zeit an Land und ungewöhnlichen Arten fasziniert. Zu den Vögeln, die
beobachtete und sammelte Tausende von Pflanzen- er auf den Galapagos-Inseln sammelte, gehörten ver-

Darwin im
Jahr 1840
nach der
Rückkehr
Großbri-
von seiner tannien Europa
Weltreise Nord-
amerika
Atlantik

Die Galapa- Pazifik Afrika


gosinseln Pinta HMS Beagle im Hafen
Genovesa
Marchena Äquator
Äquator Süd-
Santiago
Daphne
amerika Pazifik
Islands
Australien
Fernandina Pinzón Pazifik
Anden

Isabela SantaSanta Kap


Cruz Fe San der
Cristóbal Guten Hoffnung
Floreana Española Tasmanien
0 40 km Kap Hoorn Neu-
Feuerland seeland

Abbildung 22.5: Die Reise der HMS Beagle (Dezember 1831 – Oktober 1836).

604
22.2 Abstammung, Variation und Selektion erklären Anpassungen von Organismen

(a) Kaktusfresser. Der lange, scharfe Schnabel (b) Insektenfresser. Der Waldsängerfink (c) Samenfresser. Der Großgrundfink (Geospiza
dieses Kaktusgrundfinks (Geospiza scandens) (Certhidea olivacea) setzt seinen schmalen, magnirostris) hat einen kräftigen Schnabel, mit
ist bestens dazu geeignet, Kaktusblüten spitzen Schnabel zum Fang von Insekten ein. dem er auf den Boden gefallene Samen
abzuzupfen und die Blüten sowie das knacken kann.
Kaktusfleisch zu fressen.

Abbildung 22.6: Drei Beispiele von Schnabelformen bei Galapagos-Finken. Die Galapagos-Inseln beherbergen mehr als ein Dutzend eng mit-
einander verwandter Finken, von denen man einige Arten nur auf einer einzigen Insel findet. Auffällig sind die unterschiedlichen Schnabelformen, die an
ihre jeweils unterschiedlichen Futterresourcen angepasst sind.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Betrachten Sie erneut Abbildung 1.20. Mit welcher der beiden anderen gezeigten Arten ist der Kaktusfresser näher
verwandt (und teilt mit ihm daher einen jüngeren gemeinsamen Vorfahren als mit der anderen Art)?

schiedene finkenähnliche Vogelarten, von denen er auf die natürliche Auslese oder natürliche Selektion.
annahm, dass sie trotz großer Ähnlichkeit zu unter- Bei diesem Prozess überleben Individuen mit bestimm-
schiedlichen Arten gehörten. Einige Arten kamen nur ten erblichen Merkmalen besser und bringen mehr
auf bestimmten Inseln vor, während andere auf zwei Nachkommen hervor als Individuen mit anderen, nicht
oder mehr benachbarten Inseln lebten. Obwohl diese so vorteilhaften Merkmalen.
Vogelarten der Galapagos-Inseln jenen auf dem süd- Anfang der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hatte Dar- Teil 4
amerikanischen Festland ähnelten, kamen die meisten win die Hauptzüge seiner Evolutionstheorie herausgear-
Arten nur hier und nirgendwo sonst vor. Darwin nahm beitet. Im Jahr 1844 schrieb Darwin seine Vorstellungen
daher an, die Galapagos-Inseln müssten von Arten in einem langen Artikel über die Abstammungstheorie
kolonisiert worden sein, die ursprünglich aus Südame- und den zugrunde liegenden Mechanismen der natür-
rika stammten und sich dann weiterentwickelt und in lichen Selektion nieder. Doch er zögerte noch immer,
verschiedene neue Arten auf den einzelnen Inseln auf- seine Ideen zu veröffentlichen, auch weil er die Empö-
gespalten hatten. rung fürchtete, die sie auslösen könnten. So fuhr
Darwin fort, weiter Belege zu sammeln, um seine Hypo-
Darwins Fokussierung auf das Phänomen these zu unterstützen. Mitte der 50er Jahre des 19. Jahr-
der Anpassung hunderts legte er dann Lyell und einigen anderen seine
Auf seiner Reise mit der Beagle beobachtete Darwin Vorstellungen dar. Lyell war zwar noch nicht von der
viele Beispiele für Anpassungen (Adaptationen), ver- Gültigkeit der Evolutionstheorie überzeugt, drängte Dar-
erbte Merkmale und Eigenschaften von Organismen, win aber dennoch, seine Ideen umgehend zu veröffent-
die deren Überlebens- und Fortpflanzungschancen in lichen, bevor jemand anders zu denselben Schlussfolge-
einem bestimmten Lebensraum verbessern. Später, als rungen gelangen und ihm zuvorkommen würde.
er seine Beobachtungen analysierte, wurde ihm klar, Im Juni 1858 bewahrheitete sich Lyells Befürchtung.
dass es sich bei den Anpassungen an bestimmte Darwin erhielt ein Manuskript von Alfred Russel
Umweltfaktoren und dem Entstehen neuer Arten um Wallace (1823–1913), einem britischen Naturforscher,
zwei eng miteinander verknüpfte Prozesse handeln der auf dem Malaiischen Archipel arbeitete und eine
musste. Konnte sich aus einer Art durch allmähliche eigenständige Theorie der natürlichen Selektion ent-
Anhäufung von Anpassungen an eine andere Umwelt- wickelt hatte, die derjenigen Darwins sehr nahe kam
situation eine neue Art entwickeln? Aus Untersuchun- (Abbildung 22.2). Wallace bat Darwin, seinen Artikel
gen, die Jahre nach Darwins Reise durchgeführt wur- kritisch zu beurteilen und ihn an Lyell weiterzuleiten,
den, ging hervor, dass genau dies bei den verschiedenen falls er verdiene, veröffentlicht zu werden. Darwin kam
Galapagos-Finken der Fall ist (siehe Abbildung 1.20). dieser Bitte nach und schrieb an Lyell: „Ihre Worte
Bei den unterschiedlichen Schnabelformen und Ver- haben sich mit allem Nachdruck bewahrheitet ... ich
haltensweisen der Galapagos-Finken handelt es sich habe noch nie eine solch’ verblüffende Übereinstim-
um eine Anpassung an die verschiedenen Nahrungs- mung gesehen ... all meine Originalität, wie groß sie
quellen, die sie auf den Inseln, die sie besiedeln, vorfin- auch sein mag, wird hierdurch zerstört.“ Am 1. Juli
den (Abbildung 22.6). Darwin erkannte, dass es für 1858 legten Lyell und ein Kollege der Linnean Society
das Verständnis von Evolutionsvorgängen entscheidend of London Wallaces Artikel zusammen mit einem Aus-
war, solche Adaptationen zu verstehen. Seine Erklärung zug aus Darwins unveröffentlichter Abhandlung aus
für die Entstehung von Anpassungen konzentrierte sich dem Jahr 1844 vor. Daraufhin vollendete Darwin sein

605
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

Buch mit dem Titel On the Origin of Species by Means jüngsten gemeinsamen Vorfahren aller Evolutionslinien
of Natural Selection (Die Entstehung der Arten durch dar, die sich daraus bildeten. Darwin argumentierte,
natürliche Zuchtwahl) und veröffentlichte es im darauf- dass dieser Verzweigungsprozess, zusammen mit den
folgenden Jahr. Obgleich Wallace seine Vorstellungen zahlreichen Aussterbeereignissen, die großen morpho-
als Erster veröffentlicht hatte, bewunderte er Darwin logischen Unterschiede, die manchmal zwischen ver-
und war der Ansicht, Darwin habe die Vorstellung von wandten Gruppen existieren, erklären kann. Dies wird
einer natürlichen Selektion so ausführlich belegt, dass deutlich, wenn man die Evolutionslinie der Elefanten
er als ihr Hauptbegründer angesehen werden sollte. betrachtet. Der Asiatische Elefant (Elephas maximus)
Innerhalb eines Jahrzehnts gelang es Darwins Buch und die zwei Afrikanischen Elefanten (Loxodonta afri-
und dessen Befürwortern, die meisten damaligen Wis- cana und L. cyclotis) ähneln sich stark und sind nahe
senschaftler davon zu überzeugen, dass die Vielfalt der miteinander verwandt, da sie sich nur einen gemeinsa-
Arten ein Produkt der Evolution ist. Während andere men, relativ jungen Vorfahren teilen, wie in Abbildung
Vertreter einer Evolutionstheorie vor ihm gescheitert 22.8 dargestellt ist. Beachten Sie, dass im Lauf der letz-
waren, hatte Darwin vor allem deshalb Erfolg, weil er ten 32 Millionen Jahre insgesamt sieben verschiedene
einen plausiblen wissenschaftlichen Mechanismus mit Säugetierlinien, die mit den Elefanten verwandt waren,
einer bemerkenswerten Logik und einer Fülle von ausgestorben sind. Infolgedessen gibt es keine rezenten
Belegen für seine Theorie vorlegen konnte. Arten, die die Lücke zwischen den Elefanten und ihren
heutigen nächsten Verwandten, den Seekühen (Sirenia)
und Schliefern (Hyracoidea), füllen. Tatsächlich sind
22.2.2 Die Entstehung der Arten viele – darunter einige bedeutende – Zweige in der
Evolution Sackgassen: Wissenschaftler nehmen an, dass
In seinem Buch trägt Darwin umfangreiche Belege mehr als 99 Prozent aller Arten, die jemals gelebt haben,
dafür zusammen, dass die drei generellen Schlüssel- heute ausgestorben sind. Wie Abbildung 22.8 zeigt,
beobachtungen – die einheitlichen Merkmale der können Fossilien ausgestorbener Arten diese Lücken
Lebewesen, die Vielfalt ihrer Lebensformen und die „auffüllen“ und so die Aufspaltungen in die heutigen
effektiven Anpassungen an die Umwelt – durch eine Gruppen dokumentieren.
gemeinsame Abstammung mit Modifikation mittels
Teil 4 der natürlichen Selektion entstanden sind.

Abstammung mit Modifikation


In der ersten Ausgabe von Die Entstehung der Arten
verwendet Darwin den Begriff Evolution überhaupt
nicht (wenngleich auch das letzte Wort in diesem Buch
„evolved“ lautet). Vielmehr spricht er von descent with
modification (Abstammung mit Modifikation), eine
Umschreibung, die seine Sichtweise der Entwicklung
der Arten zusammenfasst. Darwin erkannte die Ähn-
lichkeiten einzelner Arten, die er auf deren Abstam-
mung von einem gemeinsamen Vorfahren zurück-
führte, der in ferner Vergangenheit gelebt hatte. Da die
Nachkommen eines solchen Vorfahren über viele
Millionen Jahre in verschiedenen Lebensräumen unter
ganz unterschiedlichen Selektionsdrücken der Umwelt
Abbildung 22.7: „Ich denke ...“. In dieser Skizze aus dem Jahr 1837
lebten, mussten sie sich nach seiner Argumentation stellt Darwin erstmalig einen verzweigten Evolutionsstammbaum dar, der
den dortigen Umweltgegebenheiten über spezifische aufzeigt, wie eine Aufspaltung in verschiedene Taxa möglich ist. Verzwei-
Modifikationen anpassen. Nur diejenigen, die an ihre gungen der mit A–D markierten Äste repräsentieren Gruppen von lebenden
Umgebung angepasst waren, könnten überleben und Organismen, wohingegen die anderen Äste ausgestorbene Gruppen dar-
für eine Nachkommenschaft sorgen. Im Verlauf langer stellen.
Zeitperioden, so Darwin, konnte sich durch diese
Abstammung mit Modifikation unsere heutige enorme
biologische Vielfalt entwickeln. Natürliche Selektion, künstliche Selektion und
Darwin verglich die Geschichte der Artbildung mit Anpassung
einem Baum, bei dem von einem gemeinsamen Stamm Darwin schlug den Mechanismus der natürlichen
zahlreiche Äste abgehen, die sich immer weiter bis in Selektion vor, um das allgemein erkennbare Muster der
die jüngsten Zweigspitzen verzweigen (Abbildung Evolution zu erklären. Er formulierte seine Argumente
22.7). In seiner Skizze repräsentieren die mit A–D sorgfältig, um selbst skeptische Leser zu überzeugen.
markierten Äste Gruppen noch heute lebender Organis- Zunächst diskutierte er bekannte Beispiele selektiver
men, und nicht-markierte Äste ausgestorbene Gruppen. Züchtungen bei Pflanzen und Tieren. Menschen haben
Jede Gabelung in dem Baum stellt den letzten, also Tiere und Pflanzen im Verlauf vieler Generationen

606
22.2 Abstammung, Variation und Selektion erklären Anpassungen von Organismen

Abbildung 22.8: Abstammung und


Hyracoidea Veränderungen. Dieser Stammbaum der
(Schliefer) Elefanten und ihrer nächsten Verwandten
basiert vorwiegend auf Fossilfunden, wobei
Sirenia ihre Anatomie, die Reihenfolge ihres Auf-
(Seekühe)
tretens in den Gesteinsschichten und ihre
geografische Verbreitung berücksichtigt
Moeritherium
wurden. Beachten Sie, dass die meisten
Stammlinien mit dem Aussterben der
Barytherium betreffenden Gruppe endeten (Markierung
mit Kreuz-Symbol ). (Die Zeitskala ist nicht
maßstabsgerecht wiedergegeben.)
Deinotherium

Mammut

Platybelodon

Stegodon

Mammuthus

Elephas maximus
(Asien)

Loxodonta Teil 4
africana
(Afrika)
Loxodonta cyclotis
(Afrika) ? Wann ungefähr lebte nach diesem
Stammbaum der letzte gemeinsame Vor-
34 24 5,5 2 104 0 fahr von Mammuthus primigenius (Woll-
mammut) und Asiatischen und Afrikani-
vor Millionen Jahren vor Jahren schen Elefanten?

modifiziert, indem sie einzelne Individuen mit günsti- liche Selektion (Abbildung 22.9). Infolge dieser künst-
gen Eigenschaften ausgewählt, weiter vermehrt oder lichen Selektion weisen Feldfrüchte und Nutztiere oft
sogar gekreuzt haben – dies bezeichnet man als künst- nur noch wenig Ähnlichkeit mit ihren Wildtaxa auf.

Abbildung 22.9: Künstliche Selektion.


Diese verschiedenen Kohlsorten sind alle aus
einem Wildkohl (Brassica oleracea oleracea)
hervorgegangen. Durch die gezielte
Selektion von Individuen, die
besondere Eigenschaften in
Weißkohl
bestimmten Bereichen der
Pflanze aufweisen, haben
Förderung der Züchter diese unterschied-
Hauptknospe
lichen Ergebnisse erzielt.

Brokkoli
Rosenkohl Förderung der Förderung der
Seitenknospen Blütenstandsmeristeme
und Blütenmeristeme

Förderung der
Förderung Stängelbasis
der Blätter

Grünkohl Wildkohl Kohlrabi

607
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

Darwin argumentierte, dass in der Natur ähnliche Pro- Diese Schlussfolgerungen zeigen, dass Darwin eine
zesse wie bei diesen Züchtungen ablaufen und baute wichtige Verbindung zwischen dem Faktor „natür-
die Argumentation auf zwei Beobachtungen auf, aus liche Selektion“ und der Fähigkeit von Organismen,
denen er zwei Schlussfolgerungen zog: viel mehr Nachkommen als nötig hervorzubringen,
herstellte. Er entwickelte diesen Gedanken, nachdem
Beobachtung 1: Die Individuen einer Population er eine Abhandlung des Ökonomen Thomas Malthus
unterscheiden sich oft in ihren erblichen Merk- (1766–1834) gelesen hatte, der die Hypothese vertrat,
malen voneinander (Abbildung 22.10). ein großer Teil des menschlichen Leids – Krankheiten,
Hungersnöte und Kriege – sei die Folge des Potenzials
Beobachtung 2: Alle Arten können mehr Nach- der menschlichen Gesellschaft, rascher zu wachsen
kommen produzieren (Abbildung 22.11), als als Nahrungsmittel und andere Ressourcen. Darwin
letztlich unter natürlichen Bedingungen überle- erkannte, dass so gut wie alle Organismenarten mehr
ben können. Daher überleben viele Nachkommen Nachkommen erzeugen als letztlich überleben kön-
nicht und pflanzen sich somit auch nicht fort. nen. Von den vielen gelegten Eiern, geborenen Jung-
tieren und ausgebreiteten Samen beendet nur ein
winziger Bruchteil seine Entwicklung und kann selbst
wieder für eine eigene Nachkommenschaft sorgen. Die
übrigen werden gefressen, verhungern, erkranken, fin-
den keinen Geschlechtspartner oder sind nicht in der
Lage, die abiotischen Bedingungen ihres Lebensraums
wie Temperatur oder Trockenheit zu tolerieren.
Die vererbbaren Eigenschaften eines Organismus
haben nicht nur Einfluss auf seine eigene Leistungs-
fähigkeit, sondern auch darauf, wie die Nachkommen
mit den Herausforderungen ihrer Umwelt besser fertig
werden können. Zum Beispiel kann ein Individuum
ein vorteilhaftes erbliches Merkmal tragen, das seinen
Teil 4 Abbildung 22.10: Variabilität in einer Population. Individuen die- Nachkommen dazu verhilft, schneller Raubfeinden zu
ser Asiatischen Marienkäferpopulation variieren in ihrer Farbe und dem entkommen, an mehr Nahrung zu gelangen oder
Muster der Punkte. Natürliche Selektionsprozesse werden dann wirksam, bestimmte abiotische Umweltbedingungen besser
wenn diese Variabilität 1. genetisch vererbbar ist und sich 2. auf die Ver-
tolerieren zu können. Wenn solche vorteilhaften
mehrungsrate der Käfer auswirkt.
Anpassungen zu einer größeren Anzahl von Nach-
kommen führen, die überleben und sich ihrerseits
Schlussfolgerung 1: Individuen, die durch ver- fortpflanzen können, dann werden diese günstigen
erbbare Merkmale eine erhöhte Überlebens- und Eigenschaften von Generation zu Generation vermehrt
Fortpflanzungsrate in ihrer Umwelt aufzeigen, auftreten. Auf diese Weise kann die natürliche Selek-
produzieren mehr Nachkommen als Individuen, tion, die durch Faktoren wie Feinddruck, Nahrungs-
denen diese Merkmale fehlen. mangel oder ungünstige abiotische Bedingungen
wirkt, den Anteil günstiger Merkmale und Eigenschaf-
Schlussfolgerung 2: Dieser ungleiche Fortpflan- ten in dieser Population erhöhen.
zungserfolg der Individuen führt im Lauf von Wie rasch erfolgen solche Veränderungen? Wenn
Generationen zur Anhäufung von vorteilhaften künstliche Selektion in relativ kurzer Zeit zu erheb-
Merkmalen in Populationen. lichen Veränderungen in der Morphologie einzelner
Arten führen kann, argumentierte Darwin, dann sollte
Abbildung 22.11: Über- die natürliche Selektion ebenso in der Lage sein, Arten
produktion von Nachkom- im Verlauf von vielen Hundert Generationen wesent-
men. Ein einziger Bovist (ein lich zu verändern. Selbst wenn die Vorteile einiger
kugelförmiger Pilz) kann Milli- Sporenwolke erblicher Merkmale gegenüber anderen nur gering
arden von Nachkommen (Spo- sind, werden sich vorteilhafte Anpassungen allmäh-
ren) produzieren, die größten- lich in der Population ansammeln und weniger güns-
teils nicht zu Pilzen auswach- tige Eigenschaften seltener werden. Im Lauf der Zeit
sen. Wenn all diese Nachkom-
erhöht dieser Prozess in einer Population den Anteil
men und die der nächsten
von Individuen mit günstigen Eigenschaften und ver-
Generationen bis zu ihrer je-
weiligen Vermehrungsphase bessert dadurch die Anpassung zwischen Organismen
überlebten, würden sie riesige und ihrer Umwelt.
Landflächen teppichartig über-
ziehen. Die natürliche Selektion: Eine Zusammenfassung
Lassen Sie uns die Hauptideen der natürlichen Selek-
tion rekapitulieren:

608
22.3 Die Evolutionstheorie wird durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde gestützt

 Natürliche Selektion ist ein Prozess, in dem Indivi- lation erhöhen oder vermindern. Wenn alle Indivi-
duen mit bestimmten erblichen Merkmalen aufgrund duen in Bezug auf ein Merkmal genetisch identisch
dieser Merkmale besser überleben und sich häufiger sind, kann keine Evolution durch natürliche Selektion
fortpflanzen als andere Individuen. stattfinden.
Drittens sollten Sie sich daran erinnern, dass sich
 Im Lauf der Zeit kann die natürliche Selektion zu Umweltfaktoren von Ort zu Ort und im Laufe der
immer besseren Anpassungen zwischen Organis- Zeit verändern können. Ein Merkmal, das an einem
men und ihrer Umwelt führen (Abbildung 22.12). bestimmten Ort oder zu einem bestimmten Zeitpunkt
vorteilhaft ist, kann an anderen Orten oder zu anderen
 Wenn sich die Umweltbedingungen verändern oder Zeitpunkten nutzlos oder gar nachteilig sein. Die
Individuen einen neuen Lebensraum besiedeln, kann natürliche Selektion wirkt ständig, doch welche Merk-
die natürliche Selektion zu neuen Anpassungen an male und Eigenschaften begünstigt werden, hängt von
diese veränderten oder neuen Lebensbedingungen der jeweiligen Konstellation der Umweltfaktoren ab,
führen – und manchmal auch zur Entstehung neuer in denen eine Art lebt und sich fortpflanzt.
Arten. Als Nächstes wollen wir uns das breite Spektrum der
Beobachtungen ansehen, die eine darwinistische Sicht
der Evolution durch natürliche Selektion stützen.

 Eine Orchideen-
imitierende  Wiederholungsfragen 22.2
Gottesanbeterin
aus Malaysia
1. Wie erklärt die Evolutionstheorie (das Kon-
zept der Abstammung mit Modifikationen)
sowohl die Ähnlichkeit von Merkmalen und
Eigenschaften als auch ihre Vielfalt?

2. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich vor, Sie


 Eine blütenähnliche Gottes-
anbeterin aus Südafrika entdeckten die Fossilien einer ausgestorbenen Teil 4
Säugetierart, die einst hoch in den Anden
lebte. Würden Sie erwarten, dass sie eher den
heute lebenden südamerikanischen Säugetier-
arten ähnelt, die im Regenwald vorkommen,
oder den heute lebenden afrikanischen Säuge-
tierarten, die im Gebirge vorkommen? Begrün-
 Eine blatt- den Sie Ihre Antwort.
ähnliche
Gottes-
anbeterin 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Beschreiben Sie die
aus Borneo Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp
(siehe Abbildung 14.4 und 14.6). Angenom-
men, in einer Erbsenpopulation haben weiße
Abbildung 22.12: Tarnung als Beispiel für eine evolutionäre Erbsenblüten durch natürliche Selektion einen
Anpassung. Verwandte Arten dieser Insekten (Gottesanbeterinnen, Man- Vorteil. Welche Vorhersage treffen Sie bezüg-
tiden) weisen ganz unterschiedliche Farben und Formen auf, die sich in ver- lich der Häufigkeit des Vorkommens des p-
schiedenen Habitaten entwickelt haben. Allels nach mehreren Generationen? Begrün-
den Sie Ihre Annahme.
? Erklären Sie, wie diese Mantiden die drei Schlüsselbeobachtungen, die
zu Beginn des Kapitels besprochen wurden (Anpassung an die Umwelt, Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Ähnlichkeit und Diversität), demonstrieren.

Ein erster wichtiger Gesichtspunkt ist, dass die natür-


liche Selektion zwar über Umweltfaktoren auf die Die Evolutionstheorie wird durch eine
verschiedenen Individuen wirkt, dass aber Individuen
selbst keine Evolution durchlaufen können. Vielmehr
Vielzahl wissenschaftlicher
ist es die Population, die sich im Lauf der Zeit gene-
tisch verändert und sich weiterentwickeln kann.
Befunde gestützt
22.3
Zweitens kann die natürliche Selektion immer nur
auf vererbbare Merkmale von Individuen wirken, die In seinem Werk Die Entstehung der Arten führt Dar-
innerhalb der Population unterschiedlich sind, und win ein breites Spektrum von Befunden an, um sein
dadurch das Vorkommen dieser Merkmale in der Popu- Konzept von der gemeinsamen Abstammung und der

609
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

ständigen Veränderung der Arten zu belegen. Dennoch zung des Rüssels gekommen ist, im Vergleich zu den
gab es Fälle, wie er auch selbst eingestand, wo solche Populationen, die sich von Ballonrebensamen ernäh-
Schlüsselbefunde fehlten. Zum Beispiel bezeichnete ren. Genau das konnte dann auch tatsächlich nachge-
Darwin die Entstehung der Blütenpflanzen als ein wiesen werden (Abbildung 22.13).
„abscheuliches Rätsel“, und er beklagte das Fehlen Weiterhin haben Wissenschaftler auch die Evolu-
von Fossilien, die eine kontinuierliche Evolution von tion von Rüssellängen in Wanzenpopulation unter-
Bauplänen mit Übergangsstadien hätten nachzeichnen sucht, die sich von Pflanzen ernähren, die in Louisi-
können. ana, Oklahoma und Australien eingeführt wurden und
In den 150 Jahren, die seitdem vergangen sind, alle größere Früchte produzieren als die einheimi-
haben neue Entdeckungen viele der Lücken geschlos- schen Nahrungspflanzen. Hier wurde angenommen,
sen, die Darwin beklagte. So verstehen wir heute zum dass dies zur Ausbildung von längeren Rüsseln geführt
Beispiel die Entstehungsgeschichte der Blütenpflan- hat. Auch hier bestätigen durchgeführte Feldstudien
zen wesentlich besser (siehe Kapitel 30) und es sind die Vorhersagen.
auch zahlreiche weitere Fossilien entdeckt worden, Die beobachteten Veränderungen in den Rüssellängen
mit deren Hilfe wir die Entstehung ganzer Organis- hatten wichtige Konsequenzen. Beispielsweise konnten
mengruppen besser einschätzen können (siehe Kapitel die Wanzen mit verlängertem Rüssel in Australien die
25). In diesem Abschnitt wollen wir uns mit vier ver- Samen der eingeführten Pflanzenarten mit fast ver-
schiedenen Ansätzen befassen, die uns helfen zu ver- doppelter Effizienz fressen. Da die Blasenesche erst 35
stehen, wie Evolutionsprozesse ablaufen: direkte Beob- Jahre vor Beginn dieser Studien nach Florida eingeführt
achtungen des Evolutionsgeschehens, Homologien, worden war, belegen diese Daten, dass die natürliche
Fossilbelege und biogeografische Hinweise. Selektion in Populationen rasche evolutive Prozesse
auslösen kann.

22.3.1 Direkte Beobachtungen evolutio- Die Evolution von medikamentenresistenten


närer Veränderungen Bakterien
Ein Beispiel für eine gegenwärtig stattfindende natür-
Biologen haben evolutive Veränderung verschiedens- liche Selektion, die unser eigenes Leben stark beein-
Teil 4 ter Organismengruppen in vielen Tausenden wissen- flussen kann, ist die Entwicklung von medikamenten-
schaftlicher Untersuchungen dokumentiert. Wir wol- resistenten Krankheitserregern (Pathogenen). Dieses
len uns in diesem Abschnitt des Buches mit solchen Problem tritt besonders bei Bakterien und Viren auf,
wissenschaftlichen Untersuchungen beschäftigen und die sich rasch vermehren, da sich gegen ein bestimm-
konzentrieren uns zunächst auf zwei Beispiele. tes Medikament resistente Individuen schnell vermeh-
ren und ihre Zahl entsprechend zunimmt.
Auswirkungen der natürlichen Selektion auf Die Evolution einer Medikamentenresistenz betrach-
neue Arten ten wir am Beispiel des Bakteriums Staphylococcus
Tiere, die sich von Pflanzen ernähren, werden Herbi- aureus. Einer von drei Menschen trägt diese Bakterien
voren genannt und zeigen häufig Anpassungen zur effi- auf seiner Haut oder in der Nase, ohne dadurch Scha-
zienten Aufnahme ihrer Hauptnahrungsquelle. Was den zu nehmen. Einige genetische Varianten dieser Art,
passiert, wenn Herbivoren eine neue Nahrungsquelle bekannt als Methicillin-resistente S. aureus (MRSA),
erschließen? sind allerdings sehr potente Krankheitserreger. Im letz-
Glasflügelwanzen bieten ein gutes Studienobjekt, um ten Jahrzehnt wurde ein alarmierender Anstieg des
diese Frage zu beantworten. Sie verwenden ein spezia- virulenten Klons USA300 beobachtet, der die „flesh-
lisiertes Mundwerkzeug, eine Art „Rüssel“, um sich eating disease“ und andere potenziell tödliche Infektio-
von den Samen in den Früchten verschiedener Pflan- nen auslöst (Abbildung 22.14). Wie kam es dazu, dass
zen zu ernähren. In Südflorida frisst die Art Jadera hae- Klon USA300 und auch andere MRSA-Stämme so
matoloma Samen der dort heimischen Ballonrebe (Car- gefährlich wurden? Die Geschichte beginnt 1943, als
diospermum corindum). Weiter nördlich kommt die Penicillin als das erste Antibiotikum häufig verwendet
Ballonrebe nur selten vor, und hier ernähren sich diese wurde. Seitdem haben Penicillin und andere Antibiotika
Glasflügelwanzen dann von Samen der Blasenesche Millionen von Menschenleben retten können. Jedoch
(Koelreuteria elegans), die aus Asien eingeführt wurde. waren bereits 1945 mehr als 20 Prozent der S. aureus-
Für eine optimale Nahrungsaufnahme ist es wichtig, Stämme in den Krankenhäusern resistent gegen Peni-
dass die Länge des Rüssels in etwa der Tiefe entspricht, cillin. Diese Bakterien verfügten über ein Enzym, die
in der die Samen in den Früchten liegen. Da die Samen Betalactamase, welches Penicillin abbauen konnte. Da-
der Blasenesche näher unter der Fruchtoberfläche lie- rauf reagierten die Wissenschaftler mit der Entwicklung
gen als die Samen der heimischen Ballonrebe, vermu- von neuen Antibiotika, die nicht von dem Enzym abge-
teten die Wissenschaftler, dass es – angetrieben durch baut wurden. Einige S. aureus-Populationen entwickel-
die natürliche Selektion – bei den Populationen, die ten daraufhin in nur wenigen Jahren gegen jedes dieser
sich von der Blasenesche ernähren, zu einer Verkür- neuen Medikamente erneut Resistenzen.

610
22.3 Die Evolutionstheorie wird durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde gestützt

 Abbildung 22.13: Aus der Forschung

Kann ein Wechsel der Futterressourcen


mittels natürlicher Selektion
Evolutionsprozesse auslösen?
Feldstudie Glasflügelwanzen der Art Jadera haema-
toloma können sich optimal von Samen ernähren,
wenn die Länge ihres „Rüssels“ ungefähr dem
Abstand der Samen von der Fruchtschale entspricht.
Scott Carroll und seine Kollegen haben die Rüssel-
längen in Populationen ermittelt, die sich von heimi-
schen Ballonrebensamen ernähren und von Popu-
lationen, die von der eingeführten Blasenesche
fressen. Die Wissenschaftler verglichen dann diese
Messwerte mit den Rüssellängen von Wanzen, die
im Museum ausgestellt waren und aus beiden
Regionen gesammelt worden waren, bevor dort die
Blasenesche eingeführt wurde. Eine Glasflügelwanze (Jadera
haematoloma) ernährt sich von
Ergebnis In den Populationen, die sich von der Samen der Frucht der Ballonrebe.
eingeführten Blasenesche ernährten, waren die
Rüssellängen kürzer als in Populationen, die sich Schlussfolgerung Die Messwerte der Museumswan-
von der heimischen Pflanze ernährten, bei der die zen und der heutigen Wanzenpopulationen belegen,
Samen tiefer in den Früchten sitzen. Die durch- dass eine Veränderung der Nahrungsquelle Evolution
schnittliche Rüssellänge der beiden Museumswan- mittels natürlicher Selektion auslösen kann, die zu
zen-Populationen (markiert mit einem roten Pfeil) einer Anpassung der Rüssellängen an die vorhande-
war ähnlich der Rüssellänge von Populationen, die nen Futterquellen führt. Teil 4
sich von der heimischen Art ernährten.
Quelle: S. P. Carroll and C. Boyd, Host race radiation in the soapberry
bug: natural history with the history, Evolution 46:1052–1069 (1992).

10 Rüssel
Individuen, die sich von Samen WAS WÄRE, WENN? Daten von weiteren Studien, bei
8 der heimischen Ballonrebe
6 ernähren (südliches Florida) denen Eier einer Wanzenpopulation, die sich von
4
Ballonrebenfrüchten ernähren, auf Blaseneschen-
früchte übertragen wurden (und umgekehrt), zeigen,
Anzahl der Individuen

2
dass die Rüssellängen der adulten Insekten immer
0
Durchschnittliche Rüssellänge der jeweils der Länge der Ursprungspopulation entspra-
Museumwanzen-Populationen chen. Interpretieren sie diese Ergebnisse.
10
8 Individuen, die sich von
Samen der eingeführten
6 Blasenesche ernähren
4 (zentrales Florida)

2
0
6 7 8 9 10 11
Rüssellänge (mm)

Beispielsweise wurde ab 1959 von den Ärzten das sehr überlebten die Methicillin-Behandlungen und vermehr-
wirkungsvolle Methicillin verwendet, und innerhalb ten sich dann stärker als die anderen Bakterienzellen. Im
von zwei Jahren traten Methicillin-resistente Stämme Lauf der Zeit kam es so zu einer starken Verbreitung von
auf. Wie entstanden diese Resistenzen? Methicillin führt MRSA. In der Anfangsphase konnte MSRA durch Anti-
zur Inaktivierung eines Proteins, das von den Bakterien biotika bekämpft werden, die einen anderen Wirkungs-
zur Zellwandsynthese verwendet wird. Verschiedene mechanismus besaßen als Methicillin. Diese Antibiotika
S. aureus-Populationen wurden jedoch unterschiedlich wurden jedoch immer weniger wirksam, da sich rasch
stark durch das Medikament beeinflusst. Insbesondere multiple Resistenzen entwickelten, wahrscheinlich weil
konnten einige Bakterienzellen (Individuen) ihre Zell- Bakterien Gene sowohl innerhalb einer Art als auch mit
wand mithilfe eines anderen Proteins synthetisieren, das anderen Arten austauschen können.
nicht von Methicillin gehemmt wurde. Diese Individuen

611
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

duen, die bereits in der Population vorhanden waren.


Das zirkuläre Chromosom Farbig markierte Bereiche
von Klon USA300 wurde auf dem blauen Chromosom Zweitens hängt die natürliche Selektion von den vor-
komplett sequenziert und kennzeichnen Gene, die die herrschenden Umweltfaktoren ab, die je nach Lokali-
besteht aus 2.872.769 Virulenz des Stammes tät und Zeitpunkt variieren können. Sie begünstigt
Basenpaaren. erhöhen (siehe Legende).
solche Eigenschaften in einer genetisch variablen
2.750.000 1 Population, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt an die-
250.000 Basenpaare ser Stelle vorteilhaft für seine Träger sind. Merkmale,
die ihrem Träger in einer Situation Vorteile bringen,
2.500.000
können in einem anderen Fall für ihn nutzlos oder
Chromosomenkarte sogar nachteilig sein. Am Beispiel der Anpassung der
des S. aureus-Klon USA300 500.000
Rüssellängen an ihre Futterressource wird deutlich,
2.250.000 Legende: Art der Anpassungen dass dieser vorteilhafte Prozess durch natürliche
Methicillin-Resistenz Selektion vermittelt wird. Eine bestimmte Rüssel-
Fähigkeit, den Wirt zu besiedeln 750.000 länge, die für die eine Fruchtgröße vorteilhaft ist, kann
erschwerter Krankheitsverlauf
aber auch einen Nachteil darstellen, wenn das Insekt
2.000.000 erhöhter Genaustausch
einmal auf eine andere Frucht mit veränderter Größe
(innerhalb der Art) und angewiesen ist.
Toxinproduktion 1.000.000

1.750.000
22.3.2 Homologie
1.250.000
1.500.000
(a) Die meisten MRSA-Infektionen werden durch erst kürzlich Die Evolutionstheorie wird ferner durch die Analyse
entstandene Stämme wie den Klon USA300 ausgelöst. Da er von morphologischen, aber auch physiologischen,
resistent gegen viele Antibiotika und hoch ansteckend ist, kann verhaltensbiologischen und molekularen Ähnlich-
dieser Stamm (und ähnliche Stämme) letale Haut-, Lungen- und
Blutinfektionen auslösen. Hier sind die Bereiche im Genom von keiten gestützt, die bei einer vergleichenden Analyse
USA300 hervorgehoben, die für verschiedene Anpassungen innerhalb bestimmter Artengruppen erkennbar wer-
codieren und die erhöhte Virulenz erklären. den. Evolution ist ein Prozess, bei dem sich einzelne
Teil 4 Merkmale, die bei einem in der Stammesgeschichte
Anzahl der Krankenhausaufnahme von

400 ursprünglichen Taxon vorhanden sind, im Laufe


MRSA-Patienten (in tausend) pro Jahr

350 größerer Zeiträume durch die natürliche Selektion ver-


ändern können. Infolgedessen können nahe verwandte
300
Arten ähnliche zugrundeliegende Merkmale aufwei-
250 sen, auch wenn diese inzwischen ganz andere Auf-
200 gaben erfüllen und zum Teil auch völlig anders aus-
150
sehen können. Grundsätzliche Übereinstimmungen
von Merkmalen wie einzelnen Molekülen bis hin zu
100
ganzen Organen und physiologischen Prozessen oder
50 Verhaltensweisen, die aufgrund eines gemeinsamen
0 evolutionären Ursprungs bei unterschiedlichen syste-
‘93 ‘94 ‘95 ‘96 ‘97 ‘98 ‘99 ‘00 ‘01 ‘02 ‘03 ‘04 ‘05 matischen Taxa auftreten, bezeichnet man als Homo-
Jahr
logien. Im Folgenden wird beschrieben, wie das
(b) Schwere MRSA-Infektionen, die eine stationäre Aufnahme in
Verständnis von Homologien genutzt werden kann, um
einem Krankenhaus erfordern, haben in den letzten überprüfbare Vorhersagen zu machen und rätselhafte
Jahrzehnten in den USA zugenommen. Beobachtungen zu erklären.
Abbildung 22.14: Zunahme von Methicillin-resistenten Staphy-
Anatomische und molekulare Homologien
lococcus aureus-Bakterien (MRSA).
Das Verständnis der Evolution als einen Prozess der
WAS WÄRE, WENN? Einige MRSA-Medikamente wurden entwickelt,
Veränderung morphologischer, physiologischer und
um speziell S. aureus abtöten. Andere dagegen verlangsamen das Wachs- verhaltensbiologischer Merkmale im Laufe der Stam-
tum von S. aureus, führen aber nicht zum Absterben. Erklären Sie, unter mesgeschichte führt zu der Hypothese, dass nahe
Berücksichtigung natürlicher Selektionsprozesse und der Tatsache, dass verwandte Arten mehr homologe Merkmale aufweisen
Bakterien untereinander auch Gene austauschen können, warum jede der sollten als weiter entfernt verwandte Arten – und dies
beiden Strategien effektiv zur Bekämpfung von MRSA beitragen könnte. ist auch der Fall. Natürlich teilen sich nahe verwandte
Arten die Merkmale, die zur Feststellung ihrer Ver-
wandtschaft herangezogen wurden, doch sie teilen sich
Die Beispiele von S. aureus und Glasflügelwanzen darüber hinaus noch viele andere Merkmale. Einige
beleuchten zwei Schlüsselmerkmale der natürlichen dieser gemeinsamen Merkmale sind schwer zu erklä-
Selektion. Erstens ist die natürliche Selektion ein rei- ren, wenn sie nicht in einem evolutiven Kontext inter-
ner Ausleseprozess und kein kreativer Mechanismus. pretiert werden. Zum Beispiel zeigen die Vorderextre-
Ein Medikament schafft keine resistenten Pathogene, mitäten sämtlicher Säugetiere, darunter Mensch, Katze,
sondern es führt zur Selektion von resistenten Indivi- Wal und Fledermaus, von der Schulter bis zu den

612
22.3 Die Evolutionstheorie wird durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde gestützt

Oberarmknochen

Speiche
Elle

Handwurzelknochen
Mittelhandknochen
Finger

Mensch Katze Wal Fledermaus


Abbildung 22.15: Säugetier-Vorderextremitäten: homologe Strukturen. Die Vorderextremitäten sämtlicher Säugetiere sind aus denselben
miteinander verbundenen Grundelementen aufgebaut, obwohl sie an verschiedene Funktionen angepasst sind: ein großer Oberarmknochen (Humerus,
lila) ist über zwei kleineren Knochen (Elle, Ulna, beige und Speiche, Radius, orange) mit zahlreichen kleineren Handwurzelknochen (gelb) verbunden;
diese wiederum sind über Mittelhandknochen (grün) mit den Fingergliedern (Phalangen, blau) verbunden.

Fingerspitzen den gleichen Bauplan in der Anordnung Beispiel sind die rudimentären Augenanlagen, die sich
bestimmter Knochen, obgleich diese Extremitäten bei noch unter den Schuppen blinder Höhlenfische entwi-
verschiedenen Taxa ganz unterschiedliche Funktionen ckeln. Wir würden nicht erwarten, dass solche Struk-
haben können: Heben, Laufen, Schwimmen und Flie- turen ausgeprägt werden, wenn Schlangen und blinde Teil 4
gen (Abbildung 22.15). Ein Auftreten solch auffälliger Höhlenfische sich unabhängig von den anderen Wir-
anatomischer Ähnlichkeiten wäre höchst unwahr- beltieren entwickelt hätten.
scheinlich, wenn sich diese Strukturen bei allen Arten
unabhängig voneinander entwickelt hätten. Stattdessen
sind die zugrunde liegenden Skelettelemente von Arm,
Vorderbein, Flosse und Flügel verschiedener Säuge-
tiere homologe Strukturen, die Variationen eines Kiemen-
Grundbauplans darstellen, der bereits bei ihrem taschen
gemeinsamen Vorfahren vorhanden war.
Wenn man frühe Entwicklungsstadien bei verschie-
denen Tieren vergleicht, stößt man auf weitere anato-
mische Homologien, die beim adulten Organismus oft postanaler
Schwanz
nicht sichtbar sind. Zum Beispiel weisen sämtliche
Wirbeltierembryonen in einem bestimmten Stadium
der Entwicklung hinter dem After einen Schwanz auf, Hühnerembryo menschlicher Embryo
sowie Gebilde am Kopfende, die als Kiementaschen (lichtmikrosko-
bezeichnet werden (Abbildung 22.16). Diese homolo- pische Aufnahme)
gen Kiementaschen entwickeln sich schließlich zu Abbildung 22.16: Anatomische Ähnlichkeiten von Wirbeltier-
Strukturen mit sehr unterschiedlichen Funktionen, wie embryonen. In einem bestimmten Stadium ihrer Embryonalentwicklung
beispielsweise zu den Kiemen bei Fischen und zur tragen sämtliche Wirbeltiere einen Schwanz hinter dem After (postanaler
eustachischen Röhre (Verbindung zwischen Mittelohr Schwanz) wie auch Kiementaschen. Solche Ähnlichkeiten lassen sich durch
und Rachen) beim Menschen und anderen Säugetieren. die phylogenetische Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren
Einige der interessantesten Homologien betreffen erklären.
„übriggebliebene“ Strukturen (Rudimente), die für den
Organismus, wenn überhaupt, nur noch eine geringe Biologen beobachten auch auf molekularer Ebene Ähn-
Bedeutung haben. Diese rudimentären Organe sind lichkeiten zwischen unterschiedlichen Organismen.
verkümmerte Reste von Strukturen, die bei den Vor- Sämtliche Lebensformen nutzen denselben universel-
fahren des betreffenden Organismus wichtige Aufga- len genetischen Code. Daher ist es sehr wahrscheinlich,
ben erfüllten. So findet man beispielsweise im Skelett dass alle Arten aus einem gemeinsamen Vorfahren her-
mancher Schlangen Reste des Beckens und der Hinter- vorgegangen sind, der diesen Code verwendete. Doch
extremität ihrer vierbeinigen Vorfahren. Die Hinter- molekulare Homologien gehen über diesen gemein-
extremitäten von Walen sind ebenfalls bis auf ein samen genetischen Code weit hinaus. Beispielsweise
Rudiment des Beckens zurückgebildet. Ein weiteres tragen so unterschiedliche Organismen wie Menschen

613
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

und Bakterien Gene, die sie von einem sehr weit ent- für alle Wirbeltiere. Daher bilden homologe Merkmale
fernten gemeinsamen Vorfahren geerbt haben. Einige ein ineinander geschachteltes System: Allen Lebensfor-
der von diesen homologen Genen codierten Proteine men ist die unterste Basis gemeinsam, und jede darauf
haben im Verlauf der Evolution neue Funktionen über- folgende kleinere Gruppe trägt mit neuen eigenen
nommen, wohingegen andere, die beispielsweise für Homologien dazu bei, sie von anderen Gruppen abzu-
die ribosomalen Untereinheiten codieren und somit an grenzen. Dieser hierarchische Aufbau ist genau das, was
sehr stark konservierten Prozessen wie der Proteinsyn- zu erwarten ist, wenn man annimmt, dass sämtliche
these beteiligt sind (siehe Abbildung 17.17), ihre Arten durch Abstammung von gemeinsamen Vorfahren
ursprünglichen Funktionen beibehalten haben. Weiter- mit verschiedenen Modifikationen entstanden sind.
hin kommt es auch vor, dass Genprodukte ihre Funk- Biologen stellen die Abstammung von einem ge-
tion in Organismen verlieren können, obwohl diejeni- meinsamen Vorfahren und die sich daraus ergebenden
gen der homologen Gene in nahe verwandten Arten Homologien häufig durch einen Stammbaum dar, ein
weiter voll funktionsfähig bleiben. Wie auch bei den Diagramm, das die phylogenetischen Beziehungen
rudimentären Strukturen, treten solche funktionslosen zwischen Organismengruppen beschreibt. In Kapitel 26
„Pseudogene“ wahrscheinlich nur auf, weil sie bei werden wir uns näher damit beschäftigen, wie Stamm-
einem gemeinsamen Vorfahren vorkamen. bäume erstellt werden; an dieser Stelle geht es uns da-
rum, wie man solche Stammbäume interpretiert.
Homologien und das „Denken in Stammbäumen“ Abbildung 22.17 zeigt einen Stammbaum der Tetra-
Einige homologe Merkmale wie der genetische Code poden und ihrer nächsten lebenden Verwandten, der
finden sich in allen Lebewesen, da sie bis in die Anfänge Lungenfische. In diesem Diagramm stellt jeder Ver-
des Lebens zurückgehen. Im Gegensatz dazu kommen zweigungspunkt einen gemeinsamen Vorfahren sämt-
homologe Merkmale, die sich erst in jüngerer Zeit entwi- licher Arten dar, die daraus hervorgehen. Beispiels-
ckelt haben, nur in kleineren, nahe verwandten Organis- weise gehen Lungenfische und sämtliche Tetrapoden
mengruppen vor. Nehmen wir ein Beispiel aus der aus Vorfahr 1 hervor, während Säugetiere, Eidech-
Gruppe der Landwirbeltiere oder Tetrapoden (griech. sen, Schlangen, Krokodile und Vögel alle von Vorfahr
tetra, vier, und podos, Fuß), der Wirbeltiergruppe, die 3 abstammen. Wie erwartet, bilden die drei Homolo-
Amphibien, Säuger und Sauropsiden (ein Taxon, das gien, die der Stammbaum zeigt – Tetrapoden-Extremitä-
Teil 4 die Vögel und die Gruppe der Reptilien einschließt; ten, Amnion (eine schützende Eihaut und die Frucht-
siehe Abbildung 22.17) umfasst. Alle Tetrapoden wei- blase der Amniota) und Federn – ein hierarchisches
sen denselben grundlegenden Extremitätenbau auf, wie Muster. Der gemeinsame Vorfahr 2 wies Tetrapoden-
er in Abbildung 22.15 dargestellt ist, doch das gilt nicht Extremitäten auf, daher finden sie sich bei allen Nach-

Jeder Verzweigungspunkt repräsentiert


einen gemeinsamen Vorfahr der Stamm-
linien, die dort oder rechts davon beginnen.
Lungenfische

1 Amphibien

Tetrapoden
2 Säugetiere
Amnioten

vier Extremitäten

3 Eidechsen und
Amnion Schlangen

4 Krokodile
Ein Balken stellt ein homologes
Merkmal dar, das von allen
Gruppen rechts der Markierung 5
Straußenvögel
Vögel

geteilt wird.
6
Federn
Habichte und
andere Vögel
Abbildung 22.17: Denken in Stammbäumen: Welche Informationen können aus einem Stammbaum abgelesen werden? Dieser Stamm-
baum der Tetrapoden und ihrer engsten rezenten Verwandten, der Lungenfische, basiert auf anatomischen Daten und auf DNA-Sequenzanalysen. Die violet-
ten Balken zeigen den Ursprung dreier wichtiger Homologien an, die sich nur jeweils einmal entwickelt haben. Die Organismengruppe, die früher als „Rep-
tilien“ bezeichnet wurde, umfasst, stammesgeschichtlich gesehen, auch die Vögel und wird meist unter dem neuen Namen Sauropsida geführt.

? Sind Krokodile enger mit Eidechsen verwandt oder mit Vögeln? Begründen Sie Ihre Antwort.

614
22.3 Die Evolutionstheorie wird durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde gestützt

kommen dieses Vorfahren, den Tetrapoden. Ein Amnion Konvergente Evolution führt auch zur Ausprägung
fand sich nur bei Vorfahr 3 und ist daher nur bei ähnlicher Merkmale
einem Teil der Tetrapoden, den Amnioten, zu finden. Während nahe verwandte Organismen bestimmte
Federn hatte nur der gemeinsame Vorfahr 6 , daher tre- Merkmale aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung
ten sie nur bei Vögeln auf. teilen, können Arten unabhängig von ihrer systemati-
Um das „Denken in Stammbäumen“ weiter zu ver- schen Zugehörigkeit und phylogenetischen Verwandt-
tiefen, beachten Sie, dass die Säugetiere in Abbildung schaft einander aus einem anderen Grund ähnlich
22.17 näher bei den Amphibien als bei den Vögeln sehen und durch konvergente Evolution ähnliche
stehen. Das könnte Sie zu dem Schluss verleiten, dass Strukturen ausbilden. Man spricht von konvergenter
Säugetiere enger mit Amphibien als mit Vögeln ver- Evolution, wenn ursprünglich unterschiedlich gestal-
wandt sind. Tatsächlich sind Säugetiere jedoch enger tete Strukturen und Organe verschiedener Organis-
mit Vögeln als mit Amphibien verwandt, da Säuge- menarten im Laufe der Evolution durch Anpassung an
tiere und Vögel einen jüngeren gemeinsamen Vorfah- die gleiche Funktion einander immer ähnlicher wer-
ren haben (Vorfahr 3 ) als Säugetiere und Amphibien den (Ausbildung von Konvergenzen). Denken Sie zum
(Vorfahr 2 ). Vorfahr 2 ist auch der jüngste gemein- Beispiel an Beuteltiere (Marsupialia), die überwiegend
same Vorfahr von Amphibien und Vögeln, was Säuger in Australien leben. Beuteltiere unterscheiden sich
und Vögel in das gleiche Verwandtschaftsverhältnis deutlich von einer anderen Säugetiergruppe – den Pla-
zu den Amphibien stellt. Schließlich gilt es zu beach- centatieren oder Eutheria –, die kaum in Australien
ten, dass Abbildung 22.17 zwar die relative Abfolge vertreten ist: Placentatiere vollenden ihre Embryo-
der Evolution der einzelnen Homologien in den nalentwicklung im Uterus, während Beuteltiere als
verschiedenen Gruppen zeigt, dass aber daraus keine Embryonen geboren werden und ihre Entwicklung in
Rückschlüsse über die absoluten Zeitpunkte der einer äußeren Hauttasche, dem Beutel der Mutter,
Merkmalsentstehung gezogen werden können. Wir vollenden. Einige australische Beuteltiere haben unter
erkennen, dass Vorfahr 2 vor Vorfahr 3 lebte, jedoch den Placentatieren „funktionelle Doppelgänger“ mit
nicht, wann dies der Fall war. ähnlichen Anpassungen. Der Kurzkopf-Gleitbeutler
Stammbäume stellen Hypothesen dar, die unsere zum Beispiel, ein waldbewohnendes australisches
gegenwärtigen phylogenetischen Kenntnisse über Beuteltier, sieht einem nordamerikanischen Gleit-
bestimmte Artengruppen widerspiegeln. Ob ein hörnchen, das zu den Placentatieren gehört, auf den Teil 4
solcher phylogenetischer Stammbaum den wahren ersten Blick sehr ähnlich (Abbildung 22.18). Der
Gegebenheiten entspricht oder nicht, ist wie bei jeder Gleitbeutler verfügt jedoch über viele andere Merk-
Hypothese von den zugrunde liegenden Daten und male, die ihn als Beuteltier ausweisen, und ist näher
ihrer Qualität abhängig. Im Fall von Abbildung 22.17 mit Kängurus und anderen australischen Beuteltieren
wird der Stammbaum durch eine Vielzahl unabhängi- verwandt als mit Gleithörnchen und anderen Placen-
ger Datensätze gestützt, darunter anatomische Daten tatieren. Mithilfe der erworbenen Evolutionskennt-
und auch DNA-Sequenzanalysen. Infolgedessen sind nisse kann auch diese Beobachtung erklärt werden.
sich Biologen ziemlich sicher, dass dieser Stammbaum Obgleich sich diese beiden Arten phylogenetisch
die phylogenetischen Zusammen-
hänge tatsächlich richtig wiedergibt.
Wie Sie in Kapitel 26 erfahren
werden, können Evolutionsbiologen
solche gut abgesicherten Stamm-
bäume nutzen, um bestimmte und
manchmal auch unerwartete Vor-
hersagen zur Biologie bestimmter
Organismengruppen zu machen.
Kurzkopf-
Gleitbeutler NORDAMERIKA

AUSTRALIEN

Abbildung 22.18: Konvergente Evolution. Der


australische Kurzkopf-Gleitbeutler, ein Beuteltier (Marsu-
pialia) und das amerikanische Gleithörnchen, das zu den Placentatieren gehört, haben beide als entfernt ver-
wandte Säugetiergruppen unabhängig voneinander die Fähigkeit entwickelt, durch die Luft zu gleiten. Gleithörnchen

615
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

Abbildung 22.19: Knöchelkno-


Mehrheit Wale (Cetacea) und andere Paarhufer
chen: ein wichtiges Teil in einem
der Säuger
Puzzle. Der Vergleich zwischen einem
fossilen Knöchelknochen von Pakice-
tus und denen heute lebender Arten
belegt, dass die Wale (Cetacea) mit
den Paarhufern verwandt sind. (a)
Bei den meisten Säugetieren ist der
Sprungbeinknochen, ein Knöchelkno-
chen, der den Fuß mit dem Bein ver-
bindet, wie bei den Hunden geformt.
Er besitzt an einer Seite eine doppelte
Auswölbung (rote Pfeile), während an
der anderen Knochenseite nur eine (a) Canis (Hund) (b) Pakicetus (c) Sus (Schwein) (d) Odocoileus (Hirsch)
ausgeprägt wird (blauer Pfeil). (b) Fos-
silfunde belegen, dass die frühe Walgattung Pakicetus bereits einen Sprungbeinknochen mit zwei Auswölbungen an jeweils beiden Seiten ausbildete, ein
Merkmal, welches sonst nur bei rezenten Schweinen (c), Hirschen (d) und allen anderen Paarhufern vorkommt.

unabhängig voneinander aus verschiedenen Vorfahren den vor 50–60 Millionen Jahren. Die Fossilfunde spre-
entwickelten, haben sie sich in ähnlicher Weise unter chen dafür, dass die meisten Säugetiere vor dieser Zeit
vergleichbaren Selektionsdrücken der Umwelt funk- an Land lebten. Zwar hatten Wissenschaftler schon
tionell an ähnliche Lebensbedingungen angepasst. In lange erkannt, dass Wale von Landtieren abstammen
solchen Fällen, in denen Arten Merkmale aufweisen, mussten, doch gab es nur wenige Fossilien die beleg-
die durch eine konvergente Evolution entstanden ten, wie sich der Bau der Extremitäten bei Walen im
sind, bezeichnet man diese nicht als homologe, son- Lauf der Zeit verändert hatte, so dass die Hinterbeine
dern als analoge Merkmale. Analoge Merkmale üben schließlich bis auf einen winzigen Rest des Beckens
ähnliche Funktionen aus, sind jedoch nicht auf einen verloren gingen und die Vorderbeine zu Flossen um-
gemeinsamen Vorfahren zurückzuführen, während gewandelt wurden. In den letzten Jahrzehnten sind in
Teil 4 homologe Merkmale durch gemeinsame Abstammung Pakistan, Ägypten und Nordamerika jedoch einige be-
entstanden sind. merkenswerte Fossilien entdeckt worden. Diese doku-
mentieren den stufenweisen Übergang vom Land- zum
Wasserleben und schließen so einige der Lücken in der
22.3.3 Fossilbelege Entstehungsgeschichte der heutigen Wale (Abbildung
22.20).
Ein dritter Beleg für die Evolutionstheorie stammt aus Zusammengefasst belegen diese neueren Fossilfunde
Fossilfunden. Fossilbelege zeigen, dass sich einzelne den Ursprung einer großen neuen Säugetiergruppe, den
Organismenarten vergangener Erdepochen von den Cetacea. Sie zeigen auch, dass die heute lebenden Ceta-
heute lebenden Arten morphologisch-anatomisch cea mehr Ähnlichkeit zu ausgestorbenen Gruppen wie
unterscheiden und dass viele Arten bereits ausgestor- Pakicetus oder Diacodexis (ein früher Paarhufer) auf-
ben sind. Fossilien dokumentieren auch die evolutio- weisen, als zu ihren rezenten Verwandten wie den
nären Veränderungen, die in unterschiedlichen Orga- Flusspferden, Schweinen und anderen Paarhufern.
nismengruppen im Lauf verschiedener Erdepochen Ähnliche Evolutionsprozesse werden bei der Analyse
stattgefunden haben. So haben Wissenschaftler bei von Fossilien deutlich, die den Ursprung anderer neuer
vergleichenden Analysen fossiler Stichlinge aus ver- großer Organismengruppen, wie Säugetieren (Kapitel
schiedenen Seen herausgefunden, dass sich bei Stich- 25), Blütenpflanzen (Kapitel 30) und Landwirbeltieren
lingen aus den meisten dieser Seen im Laufe der Zeit (Kapitel 34) belegen. In all diesen Fällen zeigen Fossil-
die Beckenknochen zurückgebildet haben. Da es sich funde, dass sich im Lauf der Zeit durch Abstammung
dabei um eine einheitliche, weit verbreitete morpho- mit Modifikation immer größer werdende Unterschiede
logische Veränderung handelt, nimmt man an, dass bei verwandten Organismengruppen entwickelten und
diese Knochenreduktion wahrscheinlich durch natür- so schließlich die enorme Vielfalt der heutigen Lebens-
liche Selektion verursacht wurde. formen hervorbrachte.
Fossilien können zudem helfen, den Ursprung neuer
Organismengruppen zu verstehen. Dies wird am Bei-
spiel der Säugetierordnung der Wale (Cetacea) deutlich.
Einige dieser Fossilien (Abbildung 22.19) unterstützen
überraschenderweise die auf DNA-Sequenzvergleichen
beruhende Hypothese, dass die Gruppe der Wale in die
nähere Verwandtschaft von Paarhufern (also Hirschen,
Schweinen, Kamelen und Kühen) einzuordnen ist. 20 cm
Was können wir aus Fossilfunden noch über die Evo- Diacodexis, ein früher Paarhufer
lution der Wale ableiten? Die ersten Walarten entstan-

616
22.3 Die Evolutionstheorie wird durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde gestützt

Abbildung 22.20: Übergang vom


Landleben zum Wasserleben. Die
andere Abstammungslinien der Cetacea sind in
Paarhufer dem evolutionären Stammbaum gelblich
unterlegt. Zahlreiche Beobachtungen un-
terstützen die Hypothese, dass Wale von
Flusspferde landbewohnenden Säugetieren abstam-
men. Fossilfunde belegen eine allmähli-
che Reduktion der Beckenknochen und
hinteren Gliedmaßen bei den ausgestor-
†Pakicetus benen Vorfahren der Cetacea, zu denen
Pakicetus, Rodhocetus und Dorudon gehö-
ren. DNA-Sequenzdaten unterstützen die
Hypothese, dass Flusspferde die nächsten
†Rodhocetus Verwandten der Wale sind.

? Was ereignete sich zuerst in der


Evolution der Wale: die Veränderung der
†Dorudon Hinterextremitäten oder die Entstehung
der Schwanzflosse (Fluke)? Begründen
gemein- Sie ihre Antwort.
samer
Vorfahre
der Wale rezente
Wale

60 50 40 30 0 Legende: Becken Fuß


Die Knochen des
vor Millionen Jahren Beckens und der Ober- Schien-
Hinterextremitäten schenkel bein Teil 4
der Wale (Femur) (Tibia)

22.3.4 Biogeografie nahe an ihrer heutigen Position, beide Kontinente stan-


den jedoch noch nicht miteinander in Verbindung und
Ein vierter Beleg für die Evolution stammt aus der Bio- die Pferde konnten somit nicht nach Südamerika
geografie, den wissenschaftlichen Untersuchungen zu gelangen. Daraus können wir schließen, dass die ältes-
geografischen Verbreitungsmustern von Arten. Die geo- ten Pferdefossilien nur auf ihrem Entstehungskonti-
grafische Verbreitung der Organismen wird von vielen nent gefunden werden sollten – in Nordamerika. Diese
verschiedenen Faktoren beeinflusst. Eine große Bedeu- Voraussage – und auch weitere über andere Organis-
tung hat die Kontinentaldrift, die langsame Bewegung men – konnten bestätigt werden und liefern damit
der Kontinente über Millionen von Jahren. Vor rund 250 zusätzliche Belege für die Evolutionstheorie.
Millionen Jahren führten diese Bewegungen dazu, dass Mit der Kenntnis von Evolutionsprozessen lassen
sich alle Landmassen der Erde zu einem einzigen Konti- sich auch biogeografische Daten erklären. So zeichnen
nent, Pangaea, vereinigten (siehe Abbildung 25.16). Vor sich Inseln zum Beispiel dadurch aus, dass sie von
etwa 200 Millionen Jahren begann Pangaea auseinander- vielen Pflanzen- und Tierarten bewohnt werden, die
zubrechen, und vor rund 20 Millionen Jahren hatten die dort endemisch sind, das heißt sie kommen nur dort
Kontinente – bis auf wenige 100 Kilometer Abweichung vor. Dennoch sind die meisten dieser Arten, wie es
– dann ihre heutigen Positionen eingenommen. Darwin auch in seiner Entstehung der Arten beschrieb,
Mithilfe dessen, was wir über die Evolution der Orga- eng mit Arten vom nächsten Festland oder einer
nismen und die Kontinentaldrift wissen, können wir Nachbarinsel verwandt. Darwin erklärte diese Beob-
Hypothesen formulieren, wo Fossilien bestimmter achtung mit einem Kolonisationsvorgang durch Arten
Organismengruppen gefunden werden könnten. So des nächstgelegenen Festlands. Als Folge der Anpas-
haben Evolutionsbiologen zum Beispiel auf der Basis sung an ihren neuen Lebensraum entwickelten sich
von anatomischen Daten einen Stammbaum der Pferde aus diesen Arten schließlich neue Taxa. Dies erklärt
rekonstruiert. Mittels dieser Stammbäume und dem auch, warum zwei Inseln mit ähnlichen Umwelt-
Alter von Fossilien ausgestorbener Pferdetaxa kamen bedingungen in unterschiedlichen Regionen der Welt
die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass der Ursprung in der Regel nicht von denselben Arten besiedelt wer-
der heute lebenden Pferdearten, die vor rund 5 Millio- den. Deshalb ähneln die Arten von Inseln zumeist
nen Jahren entstanden sind, in Nordamerika lag. denjenigen auf dem nächstgelegenen Festland, obwohl
Damals befanden sich Nord- und Südamerika bereits dort oft ganz andere Umweltbedingungen herrschen.

617
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

22.3.5 Die Evolutionstheorie – Kapitel zeigen werden, ist dies bei der Theorie der Evo-
Begriffsanalyse lution durch natürliche Selektion sicherlich der Fall.
Der einer Wissenschaft innewohnende Zweifel an
Darwins Vorstellungen werden von manchen Personen der Richtigkeit von Hypothesen und das stete „Infrage-
als „reine Theorie“ abgelehnt. Wie wir jedoch gerade stellen“ von Erkenntnissen sorgt dafür, dass Theorien
gesehen haben, lassen sich Evolutionsphänomene – immer wieder aufs Neue getestet und keine Dogmen
Beobachtungen und Daten über die Veränderungen der aufgestellt werden. So nahm Darwin beispielsweise an,
Organismenarten in geologischen Zeiträumen – direkt Evolution sei ein sehr langsamer Prozess, doch inzwi-
dokumentieren. Darüber hinaus werden sie von um- schen wissen wir, dass dies nicht immer so ist. Neue
fangreichen weiteren Befunden gestützt. Zudem liefert Arten können auch innerhalb relativ kurzer Zeiträume
Darwins Erklärung des Evolutionsprozesses – nach der entstehen (innerhalb von einigen Tausend Jahren oder
die natürliche Selektion der Hauptgrund evolutionärer weniger, siehe Kapitel 24). Wie wir in den nächsten
Veränderungen ist – auch eine Erklärung für eine Fülle drei Kapiteln ebenfalls noch sehen werden, haben Evo-
von Beobachtungen und Phänomenen, die sonst nicht lutionsbiologen überdies inzwischen erkannt, dass zahl-
so einfach nachzuvollziehen wären. Die Auswirkungen reiche Mechanismen gemeinsam mit der natürlichen
der natürlichen Selektion lassen sich zudem in Einzel- Selektion die Evolution vorantreiben. Die heutigen
fällen auch in der Natur beobachten und über Experi- Untersuchungen der Phänomene der Evolution sind
mente nachweisen. Ein solches Experiment ist in der vielfältiger als jemals zuvor. Wissenschaftler können
Wissenschaftlichen Übung beschrieben. jetzt neue experimentelle Ansätze und genetische
Was ist dann theoretisch an der Evolution? Hierzu Analysen anwenden, um Evolutionsmechanismen zu
muss man beachten, dass sich die wissenschaftliche untersuchen und damit auch die Evolutionstheorie
Bedeutung des Begriffs Theorie deutlich von dessen weiter auf ihre Gültigkeit zu prüfen.
umgangssprachlicher Bedeutung unterscheidet. In der Darwins Evolutionstheorie führt die Vielfalt des
Umgangssprache verwendet man den Begriff Theorie Lebens und die Diversität der Organismenarten auf
eher im Sinne einer „Hypothese“. In der Wissenschaft natürliche Selektionsprozesse zurück. Dennoch hat die
ist eine Theorie wesentlich umfassender und viel bes- Klärung der Mechanismen der Evolution nicht dazu
ser mit Daten untermauert als eine Hypothese. Eine geführt, dass der Mensch die unermessliche Vielfalt
Teil 4 Theorie, wie die der Evolution durch natürliche Selek- und Einmaligkeit der Lebewesen als weniger beeindru-
tion, berücksichtigt viele Beobachtungen, Analysen, ckend und erhaltenswert wahrnimmt. So schrieb Dar-
Experimente und umfasst und erklärt in sich schlüssig win im letzten Absatz seiner Entstehung der Arten: „Es
ein breites Spektrum von Phänomenen. Eine solche ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung ...
Theorie wird nur dann allgemein akzeptiert, wenn ihre [dass] aus einem so schlichten Anfang eine unendliche
Voraussagen durch ständig neue Experimente bestätigt Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen ent-
und durch zusätzliche Beobachtungen und Analysen stand und noch weiter entsteht.“
gestützt werden (siehe Kapitel 1). Wie die nächsten drei

 Wissenschaftliche Übung
Vorhersagen treffen und überprüfen chen besonders angezogen und wählen sie häufiger
zum Geschlechtspartner als weniger bunte Männ-
Können Räuber einen Selektionsdruck auf die Aus- chen. Doch die kräftigen Farben, die die Weibchen
bildung der Körperfärbung von Guppy-Männchen anziehen, machen die Männchen gleichzeitig auch
ausüben? Unser Wissen über Evolution wird durch wesentlich auffälliger für Prädatoren. Wissen-
neue Beobachtungen kontinuierlich erweitert, da schaftler haben beobachtet, dass die Vorteile der
dadurch neue Hypothesen formuliert werden kön- bunten Farbmuster in Seen mit einer geringen Prä-
nen. Die Überprüfung alter und neuer Hypothesen datorendichte überwiegen, da Guppys dort intensi-
führt zu einem immer tieferen Verständnis der Evolu- ver gefärbt sind als in Seen mit vielen Fraßfeinden.
tionsprozesse. Betrachten wir die Wildpopulationen Ein Guppy-Räuber, der Zahnkärpfling, jagt juve-
von Guppys (Poecilia reticulata), die in den durch nile Guppys, die noch nicht ihre adulte Färbung
Bäche miteinander verbundenen Seen Trinidads vor- aufweisen. Wissenschaftler haben vorausgesagt,
kommen. Die Farbmusterung der Guppy-Männchen dass Umsetzungsexperimente mit schlicht gefärb-
ist in diesen Wildpopulationen sehr variabel und ten Guppys in Seen, in denen Zahnkärpflinge die
wird von einer Reihe von Genen kontrolliert, die nur einzigen Prädatoren darstellten, dazu führen wür-
bei adulten Männchen ausgeprägt werden. Guppy- den, dass deren Nachkommen bunter gefärbt sind –
Weibchen fühlen sich von kräftig gefärbten Männ- weil die Weibchen bunte Männchen bevorzugen.

618
22.3 Die Evolutionstheorie wird durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde gestützt

Durchführung des Experiments 200 Guppys aus Datenauswertung


Gewässern mit Hechtbuntbarschen, bei denen es
sich um sehr effektive Guppy-Jäger handelt, wur- 1. Beschreiben Sie das auf Hypothesen beru-
den in Gewässer mit Zahnkärpflingen umgesetzt, hende Experiment in diesem Beispiel bezüg-
die ältere Guppys weniger stark bejagen und sich lich der folgenden Aspekte, was war: (a) die
überwiegend von jüngeren Individuen ernähren. Frage, (b) die Hypothese, (c) die Vorhersage,
Anschließend wurde in jeder Generation die (d) die Kontrollgruppe und (e) die Testgruppe.
Anzahl der bunten Flecken und die Gesamtfläche (Zusätzliche Informationen zu Hypothesen-ge-
dieser Flecken auf Guppy-Männchen erfasst. triebener Wissenschaft finden Sie in Kapitel 1.

2. Erklären Sie, wie die gewählte Art der Daten-


umgesetzte
Guppys sammlung es den Wissenschaftlern ermög-
lichte, ihre Vorhersage zu testen.

3. (a) Welche Schlussfolgerungen können aus


den hier dargestellten Ergebnissen gezogen
werden? (b) Mit welchen zusätzlichen Frage-
stellungen könnte die Richtigkeit dieser
Gewässer mit
Hechtbuntbarsch Gewässer, in denen zu Schlussfolgerungen weiter untermauert wer-
und Guppys Beginn des Experimentes den?
Zahnkärpflinge, aber
keine Guppys, leben
4. Sagen Sie voraus, was geschehen würde,
wenn nach 22 Monaten Guppys der umgesetz-
Experimentelle Daten Nach 22 Monaten (15 Gene- ten Population wieder in den ursprünglichen
rationen) verglichen die Wissenschaftler die Farb- See zurückgebracht würden. Beschreiben Sie,
musterdaten der ursprünglichen und der umgesetz- wie Sie ihre Vorhersage experimentell über-
ten Populationen miteinander. prüfen könnten. Teil 4
Daten aus: J. A. Endler, Natural selection on colour patterns in Poeci-
12 12
lia reticulata, Evolution 34:76–91 (1980).
farbiger Flecken

Fläche farbiger

10 10
Flecken (mm2)

8 8
Anzahl

6 6
4 4
2 2
0 0
Ursprungs- umgesetzte Ursprungs- umgesetzte
population Population population Population

 Wiederholungsfragen 22.3 3. WAS WÄRE, WENN? Wie die Fossilbefunde zei-


gen, entstanden die Dinosaurier vor 200–250
1. Begründen Sie, warum die folgende Aussage Millionen Jahren. Würden Sie erwarten, dass
nicht korrekt ist: „Antibiotika haben bei MRSA die frühen Dinosaurierfossilien geografisch
zu einer Medikamentenresistenz geführt.“ weit verbreitet und auf mehreren Kontinenten
2. Wie kommt es, dass die Evolution (a) auf der ei- zu finden waren oder dass ihre geografische
nen Seite phänotypisch und funktionell unter- Verbreitung sich eher auf ein kleines Verbrei-
schiedliche Vorderextremitäten eng verwandter tungsgebiet (einen Kontinent oder wenige Kon-
Säugetierarten hervorbringt (Abbildung 22.15), tinente) beschränkte? Begründen Sie Ihre Ant-
und (b) auf der anderen Seite zu phänotypisch wort.
und funktionell großen Ähnlichkeiten entfernt
verwandter Säugetierarten (Abbildung 22.18)
führt? Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

619
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

  ZU S AM M E NF AS S UNG KAP I T E L 2 2  
Beobachtungen
Konzept 22.1 Individuen in einer Population
Organismen produzieren
Die Darwin’sche Theorie widersprach der traditionel- unterscheiden sich in ihren
mehr Nachkommen, als
len Ansicht, die Erde sei jung und von unveränder- phänotypischen Merkmalen
überleben können.
mit erblichem Hintergrund.
lichen Arten bewohnt

 Darwin erklärte, dass sich die Vielfalt der Organis-


men durch natürliche Selektion aus phylogenetisch Schlussfolgerungen
älteren Taxa entwickelt hat. Diese Annahme war Individuen, die besser an ihre spezifischen Umweltbe-
eine radikale Abkehr von den damals vorherrschen- dingungen angepasst sind, haben in der Regel mehr
Nachkommen als andere Individuen.
den Auffassungen.
 Cuvier untersuchte Fossilfunde, stimmte dem Evolu- und
tionsgedanken jedoch nicht zu. Er schlug vor, dass Im Lauf der Zeit kommt es zur Anhäufung
Aussterbeereignisse durch plötzliche, abrupte Katas- adaptiver Merkmale in einer Population.
trophen in bestimmten Regionen auftraten.
 Die beiden Geologen Hutton und Lyell erkannten, ? Diskutieren Sie die Überproduktion an Nachkommen und die Verer-
dass geologische Veränderungen der Erde über lang- bung von variablen Merkmalen vor dem Hintergrund des Evolutionsmecha-
sam und kontinuierlich wirkende Prozesse stattfin- nismus durch natürliche Selektion.
den, die in der Vergangenheit genauso wirkten, wie
sie es heute noch tun.
 Lamarck nahm an, dass Arten sich im Laufe der Konzept 22.3
Stammesgeschichte verändern, doch die Evolutions- Die Evolutionstheorie wird durch eine Vielzahl wissen-
mechanismen, die er vorschlug, konnten nicht schaftlicher Befunde gestützt
belegt werden.
 Wissenschaftler haben Prozesse der natürlichen
Teil 4 ? Warum war das Alter der Erde für Darwins Ideen zur Evolution wichtig? Selektion, die zur adaptiven Merkmalsevolution
führten, direkt beobachtet, wie die in diesem Kapi-
Konzept 22.2 tel besprochenen Beispiele der Wanzen und MRSA
Die gemeinsame Abstammung und die Variationen belegen.
zwischen Individuen, auf die die natürliche Selektion  Grundsätzliche Übereinstimmungen von Merkma-
wirkt, erklären die vielfältigen Anpassungen von len, die aufgrund eines gemeinsamen evolutionären
Organismen Ursprungs auftreten, bezeichnet man als Homolo-
gien. Aufgrund gleicher Selektionsdrücke können
 Darwins Erfahrungen auf seiner Reise mit der Beagle sich Arten unabhängig voneinander entwickeln
führten zu der Hypothese, dass sich neue Arten im und dann ähnliche Strukturen aufweisen (konver-
Laufe größerer Zeiträume durch die Anhäufung spe- gente Evolution).
zifischer Anpassungen über den Prozess der natürli-  Fossilien dokumentieren, dass sich Taxa früherer
chen Selektion entwickeln könnten. Er arbeitete Erdepochen von heute lebenden Organismen zum
jahrelang an seiner Theorie und veröffentlichte sie Teil deutlich unterscheiden. Viele Arten sind ausge-
schließlich im Jahr 1859, nachdem er erfahren hatte, storben, andere haben sich über lange Zeiträume
dass Wallace zu demselben Schluss gekommen war. hinweg zu anderen Arten entwickelt. Fossilien bele-
 In seinem Buch The Origin of Species legte Darwin gen auch die Entstehung neuer Organismengruppen.
seine Vorstellungen dar, dass eine gemeinsame  Die geografischen Verbreitungsmuster von Organis-
Abstammung mit Modifikationen dazu führte, dass men können durch die Evolutionstheorie erklärt
sich über lange Zeiträume durch die Mechanismen werden.
der natürlichen Selektion die große Vielfalt der
Organismen entwickelte. ? Fassen Sie die unterschiedlichen Befunde zusammen, die die Hypo-
these unterstützen, dass Wale (Cetacea) von landlebenden Säugetieren
abstammen und dass sie mit Paarhufern nahe verwandt sind.

Zur Beantwortung der Fragen zu den Schlüsselkonzepten in diesem


ÜBU NG S A UF G ABE N Kapitel lesen Sie bitte die entsprechenden Abschnitte nochmals nach.

Ebene 1: Wissen und Verständnis b. Schlecht angepasste Individuen produzieren


niemals Nachkommen.
1. Welche der folgenden Aussagen ist keine Beob- c. Arten produzieren mehr Nachkommen, als es
achtung oder Schlussfolgerung, auf der die natür- die Tragfähigkeit ihres Lebensraums erlaubt.
liche Selektion basiert? d. Meist überlebt nur ein Bruchteil der Nachkom-
a. Unter Individuen einer Population gibt es eine menschaft eines Individuums.
genetische Variabilität.

620
Übungsaufgaben

2. Welche der folgenden Beobachtungen half Darwin, 5. Die DNA-Sequenzen vieler menschlicher Gene
sein Konzept zur Abstammungstheorie zu formu- sind den entsprechenden Sequenzen von Schim-
lieren? pansen sehr ähnlich. Die beste Erklärung dafür
a. Die Artenvielfalt nimmt mit zunehmendem ist, dass
Abstand vom Äquator ab. a. Menschen und Schimpansen einen relativ jun-
b. Auf Inseln leben weniger Arten als auf dem gen gemeinsamen Vorfahren haben.
nächstgelegenen Festland. b. Menschen sich aus Schimpansen entwickelten.
c. Man kann Vogelarten auf Inseln finden, die c. Schimpansen sich aus Menschen entwickelten.
weiter vom Festland entfernt liegen, als es der d. DNA-Ähnlichkeiten durch konvergente Evolu-
maximale Flugradius eines Vogels zulässt. tion entstanden.
d. Rezente Pflanzenarten der gemäßigten Zonen
Südamerikas weisen eine größere Ähnlichkeit Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
zu den tropischen Pflanzen Südamerikas auf, als
zu den europäischen Arten gemäßigter Zonen. 6. Verbindung zur Evolution Begründen Sie, wa-
rum anatomische und molekulare Homologien in
Ebene 2: Anwendung und Auswertung der Regel demselben hierarchischen Prinzip fol-
gen. Beschreiben Sie außerdem einen Prozess, bei
3. Innerhalb von sechs Monaten, nachdem Methicil- dem dies auch anders sein kann.
lin in einer Gemeinde effektiv zur Behandlung
von S. aureus-Infektionen eingesetzt wurde, wa- 7. Wissenschaftliche Fragestellung
ren alle Neuinfektionen durch MRSA verursacht.
Wie kann dies am besten erklärt werden? ZEICHENÜBUNG Stechmücken, die gegen das Pesti-
a. Ein Patient hat sich woanders mit MRSA infi- zid DDT resistent sind, traten erstmals 1959 in In-
ziert. dien auf, sind aber inzwischen auf der ganzen
b. Verursacht durch die Medikamentengabe, ent- Welt verbreitet. (a) Stellen Sie die Daten in der
wickelte S. aureus resistente Versionen des Tabelle unten grafisch dar. (b) Stellen Sie anhand
Proteins, gegen das das Medikament wirkte. der Kurve eine Hypothese auf, die erklärt, warum
c. Am Anfang der Behandlung gab es einige Medi- der Prozentsatz der DDT-resistenten Stechmücken Teil 4
kamenten-resistente Bakterien, die sich in Folge so rasch ansteigt. (c) Schlagen Sie eine Erklärung
der Selektion durch den Medikamenteneinsatz für die weltweite Ausbreitung der DDT-Resistenz
dann rasch vermehren konnten. vor.
d. S. aureus entwickelte eine Medikamentenresis-
tenz. Monate Prozentsatz DDT-resistenter Mücken*
4. Die Vorderextremitäten von Mensch und Fleder- 0 4%
maus sind sich in ihrer Skelettform und Struktur 8 45 %
recht ähnlich, während die entsprechenden Kno-
chen bei Walen morphologisch ganz anders ausge- 12 77 %
bildet und proportioniert sind. Genetische Daten * Stechmücken gelten als resistent, wenn sie eine Stunde nach Verab-
sprechen jedoch dafür, dass sich alle drei Organis- reichung einer vierprozentigen Dosis DDT noch nicht tot waren.
mengruppen etwa zur gleichen Zeit von einem
gemeinsamen Vorfahren abgespalten haben. Wel- Quelle: C. F. Curtis et al., Selection for and against insecticide resistance
che der folgenden Aussagen erklärt die Datenlage and possible methods of inhibiting the evolution of resistance in mosqui-
am ehesten? toes. Ecological Entomology 3:273–287 (1978).
a. Die Evolution der Vorderextremitäten war bei
Menschen und Fledermäusen adaptiv, bei Walen 8. Skizzieren Sie ein Thema: Wechselwirkungen (In-
hingegen nicht. teraktionen) Diskutieren Sie in einem kurzen
b. Der natürliche Selektionsdruck, der in einem Aufsatz (in 100–150 Worten), ob Veränderungen
aquatischen Milieu wirksam ist, führte zu einer im Habitat eines Organismus wahrscheinlich zu
signifikanten Änderung der Anatomie der Wal- evolutiven Veränderungen führen. Untermauern
vorderextremitäten. Sie Ihre Argumentation mithilfe eines Beispiels.
c. Gene mutieren bei Walen schneller als bei
Menschen und Fledermäusen.
d. Wale gehören nicht zu den Säugetieren.

621
22 Die darwinistische Sicht des Lebens: Evolutionstheorie – Abstammung mit Modifikation

9. NUTZEN SIE IHR WISSEN Honigameisen (z.B. der Gat-


tung Myrmecocystus) können flüssige Nahrung in
ihrem dehnbaren Abdomen speichern. Erklären
Sie unter Berücksichtigung anderer Ameisenarten,
die Sie kennen, warum die Honigameise die drei
Schlüsselmerkmale des Lebens (Anpassung, Ge-
meinsamkeit und Diversität) veranschaulicht.

Teil 4

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

622
Die Evolution von Populationen

23.1 Genetische Variabilität ermöglicht Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 23


23.2 Mithilfe der Hardy-Weinberg-Gleichung lässt sich herausfinden,
ob in einer Population Evolution stattfindet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628

KONZEPTE
23.3 Natürliche Selektion, genetische Drift und Genfluss können
die Allelfrequenzen in einer Population verändern . . . . . . . . . . . . . 633
23.4 Die natürliche Selektion ist der einzige Mechanismus,
der beständig für eine adaptive Evolution sorgt . . . . . . . . . . . . . . . . 637

 Abbildung 23.1: Verändert sich dieser


Grundfink durch natürliche Selektion?
23 Die Evolution von Populationen

Die kleinste Einheit der Evolution Verlauf von Generationen definieren. Wie wir in die-
sem Kapitel sehen werden, ist die natürliche Selektion
Ein häufiges Missverständnis bei evolutiven Vorgängen nicht die einzige Triebkraft für eine Mikroevolution.
ist die Annahme, die einzelnen Individuen einer Art Tatsächlich gibt es drei wesentliche Mechanismen, die
machten eine Evolution durch. Es ist zwar richtig, dass zu einer Verschiebung der Allelfrequenz führen kön-
die natürliche Selektion auf einzelne Individuen einwirkt: nen: natürliche Selektion, genetische Drift (Zufallser-
Die Eigenschaften jedes einzelnen Organismus beeinflus- eignisse, die die Allelfrequenz durch den Verlust oder
sen dessen Überlebenschancen und Fortpflanzungser- Gewinn von Allelen beeinflussen) und Genfluss (Allel-
folge im Vergleich zu denen anderer Individuen. Doch austausch zwischen verschiedenen Populationen). Je-
ihre eigentliche Wirkung entfaltet die natürliche Selek- der dieser Mechanismen wirkt sich in bestimmter
tion auf der Ebene von Populationen, das heißt durch die Weise auf die Zusammensetzung des Genpools, die
Veränderung der Allelfrequenzen in der Zeitachse. Gesamtheit aller Allele einer Population, aus. Doch
Nehmen wir den Mittleren Grundfink (Geospiza nur die natürliche Selektion führt
fortis), eine samenfressende Vogelart, die nur auf den zu evolutiven Fortschritten der
Galapagos-Inseln vorkommt (Abbildung 23.1). Im Anpassung von Organismen
Jahr 1977 wurde die G. fortis-Population auf der Insel an ihre Umwelt, ein Vor-
Daphne Major durch eine lange Dürreperiode erheblich gang, den wir als ad-
dezimiert: Von rund 1.200 Individuen überlebten nur aptive Evolution
180. Die beiden Wissenschaftler Peter und Rosemary bezeichnen. Be-
Grant beobachteten, dass kleine und weiche Samen vor wir uns nä-
während der Dürreperiode den Vögeln nur in geringem her mit natürli-
Umfang zur Verfügung standen. Die Grundfinken muss- cher Selektion
ten sich deshalb hauptsächlich von großen und härte- und Adaptation beschäftigen,
ren Samen ernähren, auf die sie sonst nicht zurück- wollen wir rekapitulieren, wie
greifen. Individuen mit einem größeren und breiteren genetische Variabilität, die Vor-
Schnabel konnten diese größeren und härteren Samen aussetzung für evolutive Verän-
leichter knacken, was ihre Überlebens- und Fortpflan- derung, entsteht.
Teil 4 zungsrate im Vergleich zu ihren Artgenossen mit klei-
nerem Schnabel wesentlich erhöhte. Da die Schnabel-
größe eine vererbbare Eigenschaft ist, nahm die Genetische Variabilität
23.1
durchschnittliche Schnabelgröße in der nächsten
G. fortis-Generation im Vergleich zur mittleren Schna- ermöglicht Evolution
belgröße der Population vor der Dürreperiode zu
(Abbildung 23.2). Die Zusammensetzung der Grund-
finken-Population hatte sich durch natürliche Selektion In seinem Werk Die Entstehung der Arten liefert Charles
mit der Zeit verändert, die einzelnen Grundfinken-Indi- Darwin eine Fülle von Belegen dafür, dass sich die
viduen jedoch nicht. Jeder Vogel hatte einen Schnabel Organismen auf der Erde im Lauf der Zeit weiterent-
einer ganz bestimmten Größe, der während der Dürre- wickelt haben. Er hielt die natürliche Selektion für die
periode nicht größer wurde. Vielmehr vergrößerte sich wichtigste Antriebskraft der Evolution. Darwin betonte
der Anteil großschnäbliger Vögel in der Population im aber auch die Bedeutung erblicher Unterschiede zwi-
Lauf der Generationen: Die Population machte eine schen den Individuen. Ihm war klar, dass die natürliche
Evolution durch, nicht ihre einzelnen Mitglieder. Selektion keinen evolutiven Wandel bewirken konnte,
wenn sich die Individuen in ihren erblichen Merkmalen
Abbildung 23.2: Selektion durch nicht unterscheiden würden. Darwin konnte jedoch
10
ein verändertes Nahrungsange- nicht genau erklären, wie Organismen erbliche Merk-
Schnabellänge (mm)
Durchschnittliche

bot. Die Daten zeigen die durch-


male an ihre Nachkommen weitergeben.
schnittliche Schnabelgröße erwachse- 9
ner Grundfinken, die aus Populationen
Nur ein paar Jahre nachdem Darwin Die Entstehung
vor (orange) und nach der Dürreperi- der Arten veröffentlicht hatte, verfasste Gregor Mendel
ode von 1977 (grün) stammen. Natür- 8 einen bahnbrechenden Artikel über die Vererbungsvor-
liche Selektion führte zu einer größe- gänge bei Erbsen (siehe Kapitel 14). In diesem Artikel
ren durchschnittlichen Schnabelgröße stellt Mendel ein Modell der Vererbung vor, nach
0
in nur einer Generation. 1976 1978 welchem einzelne Individuen bestimmte Erbeinheiten
(ähnlich (nach der (heute sprechen wir von Genen) an ihre Nachkommen
wie in den Dürre)
vorherigen weitergeben. Damit schärfte Mendel den Blick für die
p
drei Jahren) genetischen Unterschiede der Individuen innerhalb
einer Population, auf denen die Evolution letztlich
Wenn wir uns auf evolutive Veränderungen in Popula- beruht, und er formulierte darüber hinaus bestimmte
tionen konzentrieren, können wir die Evolution in ih- Gesetzmäßigkeiten (die Mendel’schen Regeln), nach
rer kleinsten Dimension, der Mikroevolution, als Ver- denen phänotypische Veränderungen in der Generatio-
änderung der Allelfrequenzen in einer Population im nenfolge auftreten. Im Folgenden wollen wir uns mit

624
23.1 Genetische Variabilität ermöglicht Evolution

solchen genetischen Unterschieden beschäftigen und Wie groß sind die Unterschiede in codierenden und
untersuchen, wie sie entstehen. anderen, nicht-codierenden DNA-Abschnitten zwischen
verschiedenen Individuen? Die genetische Variabilität
einzelner Gene lässt sich als durchschnittlicher Hetero-
23.1.1 Genetische Variabilität zygotiegrad quantifizieren. Man versteht darunter den
durchschnittlichen Prozentsatz der Genloci, die hetero-
Es fällt Ihnen sicher leicht, Ihre Freunde in einer Gruppe zygot sind. (Erinnern Sie sich, dass ein heterozygotes
von Menschen zu identifizieren. Jedes Individuum (von Individuum für einen bestimmten Genort zwei unter-
eineiigen Zwillingen abgesehen) hat einen einzigartigen schiedliche Allele aufweist, ein homozygotes Indivi-
und nur bei ihm auftretenden Genotyp, der als Phäno- duum hingegen zwei identische Allele besitzt.) Nehmen
typ in Erscheinung tritt und sich durch bestimmte Merk- wir die Taufliege Drosophila melanogaster als Beispiel,
male und Eigenschaften präsentiert wie charakteris- deren Genom rund 13.700 Gene enthält. Im Durch-
tische Gesichtszüge, eine bestimmte Körpergröße und schnitt ist eine Taufliege an etwa 1.920 ihrer Genorte (14
eine individuelle Stimme. Eine solche individuelle Vari- Prozent) heterozygot und an allen übrigen homozygot.
abilität tritt bei allen Pflanzen- und Tierarten auf. Über Wir können daher sagen, dass eine D. melanogaster-
diese leicht erkennbaren Unterschiede hinaus verfügen Population einen durchschnittlichen Heterozygotiegrad
Pflanzen- und Tierpopulationen auch über eine erheb- von 14 Prozent aufweist.
liche molekulare Variabilität. So kann man zum Beispiel
einem Menschen seine individuelle Blutgruppe (A, B,
AB oder 0) nicht ansehen, doch auf molekularer Ebene
unterscheiden sich Individuen einer Population durch
eine Vielzahl ererbter Merkmale und Eigenschaften.
Phänotypische Variabilität beruht oft auf genetischer
Variabilität, der unterschiedlichen Zusammensetzung
von Genen oder anderer DNA-Sequenzen zwischen
Individuen. Einige vererbbare phänotypische Unter-
schiede lassen sich auf einer genetischen „entweder/
oder“-Basis klassifizieren, so wie die Blütenfarbe von Teil 4
Mendels Erbsen: Jede Pflanze hatte Blüten, die entwe-
der violett oder weiß waren (siehe Abbildung 14.3).
Solche qualitativen oder diskreten Merkmale werden
Abbildung 23.3: Phänotypische Variabilität der Fellfarbe von
oft von einem einzigen Genort (Locus) mit unter-
Pferden. Die Fellfarbe von Pferden variiert entlang eines Gradienten und
schiedlichen Allelen bestimmt, die zu verschiedenen wird durch mehrere Gene gesteuert.
Phänotypen führen können. Im Gegensatz dazu gibt es
quantitative Merkmale, die innerhalb einer Population
kontinuierlich variierende Formen und Muster ausbil- Genetische Variabilität kann auch auf molekularer
den können. Eine solche Variabilität ergibt sich dann Ebene als Variabilität von Nucleotiden in der DNA-
aus den Wechselwirkungen von zwei oder mehreren Sequenz betrachtet werden. Allerdings führt diese
Genen, die sich auf ein phänotypisches Merkmal aus- Variabilität häufig nur zu geringen phänotypischen
wirken (polygene Steuerung). Tatsächlich wird ein gro- Unterschieden. Das liegt daran, dass viele dieser
ßer Teil phänotypischer Merkmale durch eine Vielzahl Nucleotidunterschiede in Introns vorkommen, d.h. in
von Genen gesteuert, beispielsweise die Fellfarbe von nicht-codierenden DNA-Abschnitten, die zwischen den
Pferden (Abbildung 23.3), die Samenanzahl beim Exons liegen, welche letzlich nach der RNA-Prozessie-
Mais oder die Körpergröße beim Menschen. rung in der mRNA verbleiben (siehe Abbildung 17.11).

Basenpaar-Aus- Rote Pfeile Der Basenpaar-Austausch an Hier kam es zu


tausche sind weisen auf eine dieser Stelle führt zur Translation einer Deletion von
orange markiert. Insertion hin. eines veränderten Proteins. 26 Basenpaaren.

1 500 1.000 1.500 2.000 2.500

Exon Intron

Abbildung 23.4: Genetische Variabilität auf molekularer Ebene. Schematische Darstellung eines DNA-Sequenzvergleichs des Alkohol-Dehydro-
genase-Gens (ADH ) aus verschiedenen Fruchtfliegen (Drosophila melanogaster ). Das ADH-Gen hat vier Exons (dunkelblau), die von Introns (hellblau)
unterbrochen werden. Die Exons beinhalten untranslatierte Bereiche und die codierende Sequenz, die letztendlich in die Aminosäuresequenz des ADH-
Enzyms translatiert wird (siehe Abbildung 5.1 ). Nur ein Nucleotidaustausch hat eine Auswirkung auf den Phänotyp und führt zur Bildung einer veränder-
ten Form des ADH-Enzyms.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Betrachten Sie die Abbildungen 17.5 und 17.10 und erklären Sie, wie es möglich ist, dass ein Basenpaaraustausch,
der die codierende Sequenz des ADH -Gens verändert, keinen Einfluss auf dessen Aminosäuresequenz haben kann. Dann überlegen Sie, wie es sein kann,
dass eine Insertion in einem Intron keine Auswirkung auf das gebildete Protein hat.

625
23 Die Evolution von Populationen

Von den Nucleotidunterschieden, die in Exons vor- rationszeiten können daher genetische Varianten, d.h.
kommen, führen die meisten nicht zu einer Änderung Individuen, die sich genetisch unterscheiden, schneller
der Aminosäure-Sequenz des jeweiligen Proteins. auftreten, als in solchen mit langen Generationszeiten.
Abbildung 23.4 zeigt einen schematischen Sequenz- Die sexuelle Rekombination ist ebenfalls ein Mecha-
vergleich des Gens, das für das ADH-Enzym codiert, nismus, durch den genetische Variabilität hervorge-
mit 43 Nucleotidpositionen, an denen unterschiedliche bracht wird, da schon bestehende Gene neu miteinan-
Basenpaare vorkommen, und mit verschiedenen Posi- der vermischt werden.
tionen, an denen es zu Insertionen oder Deletionen
gekommen ist. Nur eine der 18 variablen Nucleotidpo- Die Entstehung neuer Allele
sitionen, die in den vier Exons des ADH-Gens vorkom- Letztlich gehen sämtliche neuen Allele auf Mutationen
men (an Position 1.490), führt tatsächlich zu einer Ver- zurück, eine Veränderung in der Nucleotidsequenz
änderung der Aminosäuresequenz. Beachten Sie bitte, der DNA eines Organismus. Eine Mutation ist wie ein
dass schon dieser eine Nucleotidunterschied eine Vari- „Schuss ins Blaue“ – es lässt sich nicht genau vorher-
ation auf genetischer Ebene darstellt und zu zwei unter- sagen, welche DNA-Abschnitte verändert werden oder
schiedlichen Formen des ADH-Enzyms führt. in welcher Weise dies geschieht. Bei vielzelligen
Einige phänotypische Variationen beruhen aller- Organismen können nur Mutationen in Zelllinien, die
dings nicht auf genetischen Unterschieden zwischen Gameten (d.h. in der Keimbahn), an die Nachkommen
Individuen (Abbildung 23.5 gibt ein eindrucksvolles weitergegeben werden. Bei Pflanzen und Pilzen gilt
Beispiel dafür, wie sich eine Veränderung der Nah- diese Einschränkung so nicht, da viele verschiedene
rungsqualität auf das Aussehen einer Nachtfalterraupe Zelllinien Gameten produzieren können. Allerdings tre-
aus dem Südwesten der USA auswirkt). Der Phänotyp ten Mutationen bei den meisten Tieren überwiegend in
spiegelt somit einerseits den vererbbaren Genotyp, somatischen Zellen auf und gehen daher verloren, wenn
andererseits aber auch eine Vielzahl von Umweltein- ihr Träger stirbt. Eine Veränderung einer einzigen Base in
flüssen wider (siehe Konzept 14.3). Beispielsweise einem Gen – eine Punktmutation – kann auf den Phäno-
verändern Bodybuilder zwar dramatisch ihren Körper, typ einen beträchtlichen Einfluss haben, wie man am
ohne dass sie ihre Muskelpakete aber an die nächste Beispiel der Sichelzellenanämie sieht (siehe Abbildung
Generation vererben würden. Generell können nur 17.25). Organismen spiegeln mit ihrem Genpool die
Teil 4 phänotypische Merkmale und Eigenschaften, die Geschichte der natürlichen Selektion oftmals vieler Tau-
genetisch fixiert sind, innerhalb der Evolution wirk- send Generationen wider, daher ist ihr Phänotyp in der
sam werden. Genetische Variabilität stellt also das Regel gut an seine spezifische Umwelt angepasst. Des-
„Rohmaterial“ für evolutionäre Veränderungen zur halb sind die meisten neuen Mutationen, die den Phäno-
Verfügung und ohne genetische Variabilität kann es typ verändern, häufig eher nachteilig für den Organis-
keine Evolution geben. mus. Solche nachteiligen Allele werden in einigen
Fällen dann schnell wieder durch die natürliche Selek-
tion beseitigt. In diploiden Organismen können aller-
23.1.2 Wie wird genetische Variabilität dings nachteilige Allele, wenn sie rezessiv sind, von der
erzeugt? natürlichen Selektion verschont bleiben. Sie werden so
über mehrere Generationen hinweg in heterozygoten
Genetische Variabilität, die Voraussetzung für Evolu- Individuen weitergetragen, in denen sie sich nicht
tion, wird erzeugt, wenn durch Mutationen, Gen- oder nur teilweise ausprägen. Ein solcher „heterozy-
duplikationen oder andere Prozesse neue Allele oder goter Schutz“ erhält einen großen Pool von Allelen, die
Gene entstehen. In Organismen mit sehr kurzen Gene- unter den gegebenen Bedingungen keinen Vorteil bieten,
die aber von Nutzen sein könn-
ten, wenn sich die Umwelt-
bedingungen einmal ändern.
(a) (b)
Viele Mutationen allerdings
haben gar keine schädlichen
Auswirkungen auf den Orga-
nismus. Erinnern Sie sich,
dass ein großer Teil der DNA
eukaryontischer Genome nicht
für ein Protein codiert (siehe
Abbildung 21.6). Punktmuta-
tionen in solchen nicht-codie-
renden Bereichen führen im
Allgemeinen zu einer neutra-
Abbildung 23.5: Nichterbliche Merkmale. Diese Raupen des Nachtfalters Nemoria arizonaria (Span-
ner, Geometridae) können sich entsprechend des jeweiligen Nahrungsangebots je nach Jahreszeit morpho-
logisch völlig unterschiedlich entwickeln: Raupen, die mit Eichenblüten (Quercus) aufgezogen wurden,
ähnelten den staminaten Blütenständen (Kätzchen) (a), während Raupen, die mit Eichenblättern ernährt
wurden, Eichenzweige imitieren, auf denen sie bevorzugt sitzen (b).

626
23.1 Genetische Variabilität ermöglicht Evolution

len Variabilität, d.h. zu Unterschieden in der DNA- Schnelle Reproduktion


Sequenz, die weder einen Vorteil noch einen Nachteil Mutationsraten sind bei Pflanzen und Tieren im Allge-
bringen. Die Redundanz des genetischen Codes erhöht meinen sehr niedrig, mit durchschnittlich etwa einer
ebenfalls die neutrale Variabilität, da es dadurch mög- Mutation pro 100.000 Genen und Generation. Bei Pro-
lich ist, dass zwar eine Punktmutation in einem Gen karyonten sind die Raten häufig noch niedriger. Pro-
auftritt, die sich aber nicht auf die Funktion des Pro- karyonten haben jedoch in der Regel eine kürzere
teins auswirkt, weil es dort zu keinem Aminosäure- Generationszeit, daher können Mutationen bei die-
austausch kommt. Und selbst wenn es zu einer Verän- sen Organismen die genetische Variabilität in kurzer
derung in einer Aminosäuresequenz kommt, kann es Zeit erheblich vergrößern. Dasselbe gilt für Viren. Bei-
sein, dass Form und Funktion des Proteins davon spielsweise hat HIV eine Generationszeit von rund
unbeeinflusst bleiben. In seltenen Fällen kann ein zwei Tagen. Das Virus hat zudem ein RNA-Genom, das
mutiertes Allel jedoch zu einer besseren Umwelt- wegen des Fehlens von RNA-Reparaturmechanismen
anpassung seines Trägers führen, so dass sich dessen in Wirtszellen eine viel höhere Mutationsrate aufweist
Fortpflanzungserfolg erhöht. als ein typisches DNA-Genom (siehe Kapitel 19). Daher
ist die Behandlung von HIV-Infektionen mit einem ein-
Veränderungen von Genzahl und Genposition zigen Medikament auch meist erfolglos, weil sich
Chromosomenveränderungen, die viele Genorte auf mutierte, resistente Formen des Virus sehr schnell bil-
einen Schlag eliminieren, voneinander trennen oder den und vermehren. Die wirksamsten AIDS-Behand-
neu anordnen, sind fast immer schädlich für ihren lungen verwenden heutzutage deshalb „Medikamenten-
Träger. Wenn derart umfangreiche Mutationen die cocktails“, in denen mehrere Medikamente kombiniert
Funktion der Gene allerdings nicht beeinträchtigen, vorliegen. Die Wahrscheinlichkeit des gleichzeitigen
hat dies für den Organismus unter Umständen keine Auftretens mehrerer Resistenzmutationen ergibt sich
nachteiligen Wirkungen. In seltenen Fällen kann es aus dem Produkt der Einzelwahrscheinlichkeiten für
sogar sein, dass eine Neuanordnung von Chromoso- jede Mutation. Ein multiresistenter Stamm (mit einer
men vorteilhaft für einen Träger ist. Zum Beispiel Resistenz gegen alle Medikamente im Cocktail) kann
könnte es sein, dass durch Translokation eines Chro- also praktisch nicht auftreten.
mosomenfragments DNA-Abschnitte so miteinander
verbunden werden, dass daraus eine positive Wirkung Sexuelle Fortpflanzung und Rekombination Teil 4
erwächst. Bei Arten mit einer geschlechtlichen Fortpflanzung
Eine wichtige Quelle für die Vergrößerung der geneti- ergibt sich der größte Teil der genetischen Variabilität
schen Variabilität sind Genverdopplungen aufgrund einer Population aus der einzigartigen Neukombination
von Fehlern in der Meiose (zum Beispiel bei einem von Allelen, die jedes Individuum von seinen Eltern
ungleichen Crossing-over), durch Fehler bei der DNA- erhält. Natürlich sind alle Sequenzunterschiede zwi-
Replikation oder durch Aktivitäten von transponierba- schen diesen Allelen ursprünglich auf Mutationen
ren Elementen (siehe Konzept 21.5). Duplikationen gro- zurückzuführen. Durch den Mechanismus der sexuel-
ßer Chromosomenabschnitte sind wie andere Chromo- len Fortpflanzung, der die vorhandenen Allele durch
somenaberrationen auch häufig nachteilig, doch das Rekombination neu mischt und sie nach dem Zufalls-
gilt nicht unbedingt für die Duplikation kleinerer DNA- prinzip verteilt, hat jeder der Nachkommen einen neuen
Abschnitte. Genduplikationen, die keine deutlich nach- Genotyp.
teiligen Effekte haben, können über Generationen hin- Drei Mechanismen tragen zu diesem Vorgang bei:
weg erhalten bleiben, so dass sich Mutationen anrei- Crossing-over, die unabhängige Anordnung von Chro-
chern. Das Ergebnis ist ein expandiertes Genom mit mosomen bei der Entstehung der Gameten und
neuen Genorten, die unter Umständen neue Funktio- anschließend die Kombination der Gameten bei der
nen übernehmen können. Befruchtung (siehe Kapitel 13). Während der Meiose
Eine solche vorteilhafte Zunahme der Loci hat in der „tauschen“ die beiden homologen Chromosomen, die
Evolution offenbar eine entscheidende Rolle gespielt. von unterschiedlichen Eltern stammen, einige ihrer
Zum Beispiel trugen die frühen Vorfahren der Säuge- Allele durch Crossing-over. Die daraus resultierenden
tiere ein einziges Gen zur Geruchswahrnehmung, das homologen Chromosomen werden dann samt der
seitdem häufig dupliziert wurde. Infolgedessen ver- Allele, die sie tragen, zufällig auf die sich bildenden
fügen heutzutage Menschen über rund 350 und Mäuse Gameten verteilt. Durch die enorm große Anzahl an
über 1.000 Gene für olfaktorische Rezeptoren. Wahr- Kreuzungsmöglichkeiten, die es in einer Population
scheinlich hat es diese dramatische Zunahme der gibt, werden bei einer Befruchtung praktisch immer
Anzahl von olfaktorischen Loci den frühen Säugetieren zwei Gameten mit unterschiedlichen Genotypen ver-
ermöglicht, auch sehr schwache Gerüche wahrzuneh- schmelzen. Diese drei Mechanismen stellen in ihrer
men und zwischen vielen verschiedenen Duftstoffen zu Gesamtheit sicher, dass die sexuelle Fortpflanzung
unterscheiden. vorhandene Allele in jeder Generation neu kombiniert
und damit einen großen Teil der genetischen Variabili-
tät liefert, die Evolution erst möglich macht.

627
23 Die Evolution von Populationen

einander öfter und sind daher miteinander enger ver-


 Wiederholungsfragen 23.1 wandt als mit den Mitgliedern anderer Populationen.
Wir können die genetische Zusammensetzung einer
1. Begründen Sie, warum genetische Variabilität Population anhand ihres Genpools charakterisieren,
in einer Population die Voraussetzung für Evo- der aus sämtlichen Allelen für sämtliche Genorte
lution darstellt. (Loci, Singular Locus) aller Individuen der Population
besteht. Wenn für einen bestimmten Locus in der
2. Warum erlangt von allen Mutationen, die in Population nur ein einziges Allel existiert, sagt man,
einer Population auftreten, nur ein kleiner dieses Allel ist im Genpool fixiert, und alle Mitglieder
Bruchteil unter den Individuen einer Popula- der Population sind homozygot für dieses Allel. Wenn
tion eine größere Verbreitung? es jedoch in einer Population zwei oder mehrere
ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Wenn eine Popula-
Allele für einen bestimmten Locus gibt, können Indi-
3.
viduen entweder homozygot oder heterozygot sein.
tion aufhören würde, sich sexuell zu reprodu-
zieren (sich aber weiter asexuell beziehungs- Porcupine-Karibu-Herde
weise vegetativ reproduziert), wie würde sich

Kanada
Karten-

Alaska
ihre genetische Variabilität im Lauf der Zeit ausschnitt
verändern? Begründen Sie Ihre Antwort.
(Siehe Konzept 13.4) Beaufortsee

No rrit
Te
rth ori
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Verbreitungs-

we es
gebiet der

st
Porcupine-Herde

Mithilfe der Hardy-Weinberg-


Gleichung lässt sich herausfinden,
Teil 4 ob in einer Population Verbreitungs-
Evolution stattfindet
23.2 gebiet der
Fortymile-
Herde

Alaska
Yukon
Wie wir gesehen haben, müssen sich die Individuen
einer Population genetisch unterscheiden, damit es zu
einer Evolution kommen kann. Diese genetische Varia-
bilität ist jedoch keine Garantie dafür, dass eine Popu- Fortymile-Karibu-Herde
lation tatsächlich eine Evolution durchläuft. Damit
Abbildung 23.6: Eine Art, zwei Populationen. Diese beiden Karibu-
dies geschieht, muss mindestens einer der Evolutions- Populationen (Rangifer tarandus granti) im Yukon-Gebiet sind räumlich
faktoren wirksam sein. In diesem Abschnitt wollen wir nicht völlig voneinander getrennt; ihre Weidegebiete überlappen sich zeit-
herausfinden, auf welche Weise nachgewiesen werden weise. Dennoch paaren sich die Mitglieder einer jeden Population in der
kann, ob in einer Population ein Evolutionsprozess Regel nur mit den Mitgliedern der eigenen Population.
stattfindet. Voraussetzung hierfür ist ein allgemein gül-
tiges Konzept für den Begriff einer Population.
Stellen Sie sich zum Beispiel eine Popu-
lation von 500 Wildpflanzen mit zwei C RC R
23.2.1 Genpool und Allelfrequenzen R W
Allelen, C und C , für einen bestimmten
Locus vor, der für einen Blütenfarbstoff
Eine Population ist die Gesamtheit der Individuen codiert. Diese Allele zeigen beim inter-
einer Art, die einen bestimmten, zusammenhängenden mediären Erbgang eine unvollständige C WC W
Lebensraum besiedeln, sich untereinander fortpflanzen Dominanz. Daher weist jeder Genotyp
und fertilen Nachwuchs hervorbringen. Verschiedene einen bestimmten Phänotyp auf. Pflan-
Populationen ein und derselben Art können geogra- zen, die für das C R-Allel homozygot sind C RC W
fisch voneinander getrennt sein und daher nur selten (C RC R), produzieren einen roten Blüten-
genetisches Material austauschen. Eine geografische farbstoff und haben rote Blüten; Pflanzen,
und genetische Isolation ist bei solchen Arten häufig, die für das C W-Allel homozygot sind (C WC W), produ-
die zum Beispiel auf weit auseinanderliegenden Inseln zieren keinen roten Blütenfarbstoff und haben weiße
oder in verschiedenen Seen leben. Doch nicht alle Blüten, und heterozygote Pflanzen (C RC W) produzieren
Populationen sind voneinander isoliert, und die weniger roten Blütenfarbstoff und haben rosafarbene
Gebiete, die die Populationen besiedeln, müssen auch Blüten. Jedes Allel tritt mit einer bestimmten Häufigkeit
keine scharfen Grenzen aufweisen, sondern können oder Frequenz in der Population auf. Nehmen wir an,
sich überlappen (Abbildung 23.6). Dennoch paaren dass in unserer Population 320 Pflanzen rote Blüten
sich die Mitglieder einer Population in der Regel unter- haben, 160 haben rosafarbenen Blüten und 20 haben

628
23.2 Mithilfe der Hardy-Weinberg-Gleichung lässt sich herausfinden, ob in einer Population Evolution stattfindet

weiße Blüten. Da es sich um diploide Organismen han- men, betrachten wir nun die Allelkombination sämt-
delt, gibt es in dieser Population von 500 Individuen licher genetischer Kreuzungen in einer Population.
insgesamt 1.000 Kopien von Allelen für die Blütenfarbe. Stellen Sie sich vor, man könnte die Allele aller Indi-
Das CR-Allel macht dabei 800 dieser Allele aus (320 × 2 viduen einer Population für einen bestimmten Locus in
= 640 für C RC R-Pflanzen plus 160 × 1 = 160 für C RC W- einem großen Behälter mischen, der dann den Genpool
Pflanzen). der Population für diesen Locus enthält (Abbildung
Wenn man einen Locus mit zwei Allelen untersucht, 23.7). Zur „Fortpflanzung“ werden Allele nach dem
ist es üblich, die Frequenz des einen Allels mit p und Zufallsprinzip aus dem Genpool ausgewählt; etwas
die des anderen mit q zu bezeichnen. Daher beträgt p, Ähnliches geschieht in der Natur, wenn Fische Sperma
die Frequenz des C R-Allels im Genpool dieser Popula- und Eizellen ins Wasser abgeben oder wenn Pollen
tion, p = 800/1.000 = 0,8 (80 Prozent). Und da es für vom Wind auf die Narben einer anderen Blüte trans-
diesen Locus nur zwei Allele gibt, ist die Frequenz des portiert wird. Eine Voraussetzung für die Anwendung
C W-Allels, repräsentiert durch q, q = 1 – p = 0,2 (20 Pro- der Hardy-Weinberg-Gleichung ist, dass sämtliche
zent). Bei Loci, die mehr als zwei Allele haben, muss Paarungen gleich wahrscheinlich sind, also zufällig
die Summe aller Allelfrequenzen dennoch immer erfolgen. In der Hardy-Weinberg-Population erfolgt die
gleich 1 sein (100 Prozent). Fortpflanzung über die zufällige Mischung von Allelen
Als Nächstes wollen wir sehen, wie die Allel- und aus dem gesamten Genpool.
Genotypenfrequenz eingesetzt werden können, um
herauszufinden, ob in einer Population Evolution
1 Die Allelfre- Allelfrequenzen
stattfindet.
quenzen der p = Frequenz des C R-Allels = 0,8
Population be-
tragen 0,8 (80 %) W
q = Frequenz des C -Allels = 0,2
23.2.2 Das Hardy-Weinberg-Gesetz und 0,2 (20 %).

Eine Möglichkeit, um herauszufinden, ob die natürliche 2 Wenn alle


Selektion oder andere Faktoren an einem bestimmten Allele in der Population
diese Allele in
Locus eine Evolution bewirkt haben, besteht darin, die einen großen
genetische Zusammensetzung einer Population an die- Kasten gege- Teil 4
sem Locus zu bestimmen, unter der Annahme, dass dort ben werden
könnten, wären
keine Evolution stattfindet (Erwartungswert). Anschlie- 80 % C R und
ßend wird dieses Szenario mit den Daten aus der realen 20 % C W.
Population verglichen (beobachteter Wert). Findet sich
kein Unterschied, können wir daraus schließen, dass 3 Geht man von
sich die reale Population evolutiv nicht weiterent- zufälligen Kreu-
wickelt, da keine Selektion auf sie wirkt (gleiche Allel- zungen aus, be-
und Genotypenfrequenz wie beim Erwartungswert). steht jedes Mal,
erzeugte Gameten
Finden sich hingegen Unterschiede, dann können wir wenn zwei
Gameten zu- jede Eizelle jede Spermazelle
folgern, dass die reale Population sich verändert und sammenkom-
somit eine Evolution durchläuft. Danach kann man men, eine 80 %-
nach dem Grund dieses Evolutionsprozesses suchen. Wahrschein- 80% 20% 80% 20%
lichkeit, dass Wahrschein- Wahrschein-
die Eizelle ein lichkeit lichkeit
Die Hardy-Weinberg-Gleichung
C R-Allel trägt,
Der Genpool einer nicht evolvierten Population lässt und eine 20 %- 4 Ebenso trägt jede Spermazelle
sich durch das Hardy-Weinberg-Gesetz beschreiben, Wahrscheinlich- mit 80 % Wahrscheinlichkeit ein
das 1908 von einem britischen Mathematiker und keit, dass sie ein C R-Allel und mit 20 % Wahrschein-
einem deutschen Arzt unabhängig voneinander ent- C W-Allel trägt. lichkeit ein C W-Allel.
wickelt wurde. Dieses Gesetz besagt, dass die Allel- Abbildung 23.7: Zufällige Auswahl von Allelen aus einem Gen-
und Genotypenfrequenz in einer Population über pool.
Generationen hinweg konstant bleiben, solange es nur
zu Mendel’scher Segregation und Rekombination von Wir wollen nun unser Beispiel mit den Kugeln und
Allelen innerhalb des Genpools kommt. Von einem dem Behälter auf die bereits diskutierte hypothetische
solchen Genpool heißt es, er befinde sich im Hardy- Wildpflanzen-Population anwenden. In dieser Popula-
Weinberg-Gleichgewicht. tion ist die Frequenz für das Allel für rote Blüten (C R)
Um das Hardy-Weinberg-Gesetz zu verstehen und p = 0,8, diejenige für weiße Blüten (C W) q = 0,2. Daher
anzuwenden, ist es hilfreich, sich Allele und geneti- sind in einem Behälter, der alle 1.000 Blütenfarben-
sche Kreuzungen folgendermaßen vorzustellen: Zuvor Allele der 500 Wildpflanzen enthält, 800 C R-Allele
haben wir Punnett-Quadrate verwendet, um die Häu- und 200 C W-Allele. Wenn man annimmt, dass die
figkeit der Genotypen der Nachkommen zu bestimmen Gameten (Eizelle oder Spermazelle) durch zufällige
(siehe Abbildung 14.5). Wir können hier ähnlich vor- Auswahl von Allelen aus dem Behälter gebildet wer-
gehen, doch statt die möglichen Allelkombinationen den, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Eizelle oder
aus einer einzigen genetischen Kreuzung zu bestim- eine Spermazelle ein C R-Allel oder ein C W-Allel ent-

629
23 Die Evolution von Populationen

Eine C RC W-Heterozygotie kann auf zweierlei Wegen


Wie in Abbildung 23.6 werden die Gameten für jede
Generation nach dem Zufallsprinzip aus dem Genpool
entstehen. Wenn die Spermazelle das C R-Allel und die
der vorangegangenen Generation entnommen: Eizelle das C W-Allel liefert, beträgt der Prozentsatz der
daraus resultierenden heterozygoten Pflanzenindi-
80% C R (p = 0,8) 20% C W (q = 0,2)
viduen p × q = 0,8 × 0,2 = 0,16 oder 16 Prozent. Wenn
die Eizelle das C R-Allel und die Spermazelle das C W-
Allel liefert, beträgt der Prozentsatz der daraus resul-
tierenden heterozygoten Pflanzenindividuen ebenfalls
Spermien
CR CW p × q = 0,8 × 0,2 = 0,16 oder 16 Prozent. Die Frequenz
(80%) (20%) der heterozygoten Pflanzenindividuen ist daher gleich
der Summe dieser Möglichkeiten: pq + qp = 0,16 +
0,16 = 0,32 oder 32 Prozent.
Wie aus Abbildung 23.8 zu erkennen ist, addiert
(80%)
CR

sich die Genotypenfrequenz in der nächsten Genera-


Eizellen

tion zu 1 (100 Prozent). Daher besagt die Gleichung


64% (p2) 16% (pq) für das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht, dass die drei
C RC R C RC W
möglichen Genotypen bei einem Locus mit zwei Alle-
len im folgenden Verhältnis auftreten:
(20%)

16% (qp) 4% (q2)


CW

C RC W C WC W
p2 + 2 pq + q2 = 1
  
erwartete erwartete erwartete
Wenn die Gameten zufällig zusammenkommen, Frequenz Frequenz Frequenz
des Genotyps des Genotyps des Genotyps
sind die Genotypfrequenzen dieser Generation C RC R C RC W CW CW
im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht:
64% C RC R, 32% C RC W und 4% C WC W
Beachten Sie, dass bei einem Locus mit zwei Allelen
nur drei Genotypen möglich sind (in diesem Fall
Gameten dieser Generation C RC R, C RC W und C WC W). So müssen sich die drei
Teil 4 Genotypen in jeder beliebigen Population zu 1 (100
64% C R
+ 16% CR = 80% C R = 0,8 = p
(von C RC R-Pflanzen) (von CRC W-Pflanzen) Prozent) addieren – ganz gleich, ob sich die Popula-
4% C W + 16% CW
tion im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht befindet oder
= 20% C W = 0,2 = q
(von C WC W-Pflanzen) (von C RC W-Pflanzen) nicht. Eine reale Population befindet sich nur dann im
Bei zufälliger Paarung führen diese Gameten in der Hardy-Weinberg-Gleichgewicht, wenn für die Genoty-
nächsten Generation zur selben Genotypfrequenz. penfrequenz gilt, dass die aktuelle Frequenz des einen
homozygoten Genotyps p2, die des anderen homozy-
goten Genotyps q2 und die des heterozygoten Geno-
64% C RC R-, 32% C RC W- und 4% C WC W-Pflanzen typs 2 pq beträgt. Und schließlich gilt, wie in Abbil-
dung 23.8, auch folgender Zusammenhang: Wenn sich
Abbildung 23.8: Das Hardy-Weinberg-Gesetz. In unserer Wild- eine Population wie unsere Wildpflanzen-Population
pflanzen-Population bleibt der Genpool von einer Generation zur nächs- im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht befindet und sich
ten konstant. Die Mendel’schen Regeln erklären die auftretenden Fre- ihre Mitglieder von Generation zu Generation weiter-
quenzen von Allelen oder Genotypen. hin zufällig kreuzen, bleibt die Allel- und Genotypen-
frequenz konstant. Das System funktioniert ähnlich
? Angenommen, die Frequenz des CR-Allels beträgt 60 Prozent, wie wie ein Kartenspiel: Ganz gleich, wie oft die Karten
hoch sind dann die Frequenzen der CRCR-, CRCW- und CWCW-Geno-
gemischt werden, um neue Blätter auszugeben, bleibt
typen?
das Kartenspiel doch immer dasselbe. Es gibt nicht auf
einmal mehr Asse als Buben. Und das wiederholte
hält, gleich der Häufigkeit der Allele im Behälter. Wie Durchmischen des Genpools einer Population über
in Abbildung 23.7 zu erkennen ist, besteht für jede Generationen hinweg kann nicht aus sich heraus die
Eizelle eine 80-prozentige Wahrscheinlichkeit, ein C R- Häufigkeit eines Allels gegenüber einem anderen ver-
Allel zu enthalten, und eine 20-prozentige Wahr- ändern.
scheinlichkeit, ein C W-Allel zu enthalten; Gleiches gilt
für jede Spermazelle. Mithilfe der Multiplikationsregel Bedingungen für ein Hardy-Weinberg-Gleichgewicht
(siehe Abbildung 14.9) können wir nun die Frequen- Das Hardy-Weinberg-Gesetz beschreibt die Verhältnisse
zen der drei möglichen Genotypen berechnen, wenn bei einer hypothetischen Population, in der keine Evo-
wir von einer zufälligen Vereinigung von Eizellen und lutionsprozesse stattfinden. In realen Populationen
Spermazellen ausgehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass hingegen verändern sich die Allel- und Genotypen-
zwei C R-Allele zusammenkommen, ist p × p = 0,8 × frequenzen gewöhnlich im Lauf der Zeit über mehrere
0,8 = 0,64. Das heißt, dass rund 64 Prozent aller Pflan- Generationen. Als Voraussetzungen für die Gültigkeit
zenindividuen in der nächsten Generation den Geno- des Hardy-Weinberg-Gleichgewichts gelten folgende
typ C RC R haben. Die Frequenz der C WC W-Individuen Kriterien:
sollte q × q = 0,2 × 0,2 = 0,04 oder 4 Prozent betragen.

630
23.2 Mithilfe der Hardy-Weinberg-Gleichung lässt sich herausfinden, ob in einer Population Evolution stattfindet

1. Keine Mutationen. Durch Veränderung der Nu- borene. PKU führt zu geistigen Behinderungen und
cleotidsequenzen oder (bei umfangreichen Verän- anderen Problemen. (Wie auch in Konzept 14.4 beschrie-
derungen) durch Deletion oder Duplikation ganzer ben, werden heutzutage Neugeborene auf PKU getestet,
Gene modifizieren Mutationen den Genpool. und die Symptome lassen sich durch eine phenylalanin-
freie Diät lindern.)
2. Zufällige Paarungen. Wenn sich Individuen be- Um die Hardy-Weinberg-Gleichung anzuwenden,
vorzugt mit einer bestimmten Gruppe von Indivi- müssen wir annehmen, dass keine neuen PKU-Muta-
duen der Population paaren, beispielsweise engen tionen in die Bevölkerung eingebracht werden (Bedin-
Verwandten (Inzucht) oder mit den näheren Nach- gung 1) und dass die Menschen ihre Partner nicht
barn, kommt es nicht zu einer zufälligen Durch- danach aussuchen, ob sie dieses Gen tragen oder
mischung der Gameten und die Genotypenfre- nicht, und im Allgemeinen auch keine engen Ver-
quenz verändert sich. wandten heiraten (Bedingung 2). Zudem müssen wir
sämtliche Auswirkungen eines abweichenden Überle-
3. Keine natürliche Selektion. Unterschiedliche bens- und Fortpflanzungserfolgs bei PKU-Genotypen
Überlebens- und Fortpflanzungserfolge von Indi- unberücksichtigt lassen (Bedingung 3) und weiterhin
viduen mit verschiedenen Genotypen können die annehmen, dass es keinen Einfluss einer genetischen
Allelfrequenzen verändern. Drift (Bedingung 4) oder eines Genflusses aus anderen
Populationen gibt (Bedingung 5). Diese Annahmen
4. Eine sehr große Population. Je kleiner die Popu- sind vernünftig: Die Mutationsrate des PKU-Gens ist
lation, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Al- gering, Inzucht ist in Deutschland nicht verbreitet,
lelfrequenzen zufällig im Lauf der Generationen eine Selektion findet nur gegenüber den seltenen
schwanken (genetische Drift). Homozygoten statt (und nur dann, wenn die Diät-
regeln nicht eingehalten wurden). Die Bevölkerung
5. Kein Genfluss. Wenn Allele durch Zuwanderung Deutschlands ist sehr groß, und Populationen außer-
oder Abwanderung in die Population hinein- oder halb Deutschlands weisen ähnliche PKU-Allel-
aus der Population hinausgetragen werden, kann frequenzen wie in Deutschland auf. Wenn alle diese
der Genfluss die Allelfrequenzen verändern. Annahmen zutreffen, dann entspricht die Frequenz
von Individuen in der Population, die mit PKU gebo- Teil 4
Jede Abweichung von diesen Voraussetzungen führt ren werden, dem q2 in der Hardy-Weinberg-Gleichung
in der Regel zu evolutiven Veränderungen, die in (q2 = Frequenz des homozygoten Genotyps). Da das
natürlichen Populationen häufig auftreten. Oft befin- Allel rezessiv ist, sind heterozygote Träger phänoty-
den sich natürliche Populationen für bestimmte Loci pisch unauffällig und können nicht direkt gezählt
jedoch im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht. Zu diesem werden, wie wir es bei den rosafarbenen Blüten getan
scheinbaren Widerspruch kommt es, wenn Evolu- haben. Mittels der Hardy-Weinberg-Gleichung kann
tionsfaktoren nur auf bestimmte Loci in einer Popula- man sie aber errechnen. Da wir wissen, dass auf
tion einwirken und andere Loci nicht davon betroffen 10.000 Geburten ein PKU-Fall kommt (q2 = 0,0001),
sind. Zudem durchlaufen einige Populationen eine ergibt sich die Frequenz des rezessiven Allels für PKU
Evolution nur sehr langsam. Die Veränderungen ihrer folgendermaßen:
Allel- und Genotypfrequenz lassen sich dann nur
schwer von solchen Populationen unterscheiden, bei q = 0,0001 = 0,01
denen das Hardy-Weinberg-Gesetz nach der vorge-
stellten Berechnungsmethode keine evolutiven Verän- Daher beträgt die Frequenz des dominanten Allels
derungen anzeigt. p = 1 – q = 1 – 0,01 = 0,99

Anwendung des Hardy-Weinberg-Gesetzes Die Frequenz heterozygoter Menschen, die das PKU-
Die Hardy-Weinberg-Gleichung wird oft dazu eingesetzt, Allel aber an ihre Nachkommen weitergeben, beträgt
um zu prüfen, ob in einer Population Evolution stattfin- demnach
det (ein Beispiel finden Sie bei den Wiederholungsfragen 2 pq = 2 × 0,99 × 0,01 = 0,0198
23.2, Frage 3). Die Gleichung ist auch in der Medizin (rund zwei Prozent der Bevölkerung).
von Bedeutung: zum Beispiel lässt sich mit ihrer Hilfe
abschätzen, wie hoch der Prozentsatz eines Allels für Erinnern Sie sich daran, dass die Annahme des Hardy-
eine bestimmte Erbkrankheit in einer Population ist. Weinberg-Gleichgewichts eine Annäherung darstellt;
Phenylketonurie (PKU) ist eine Stoffwechselstörung, die die wahre Anzahl der Träger kann davon abweichen.
aus der Homozygotie eines rezessiven Allels resultiert. Dennoch zeigen unsere Berechnungen, dass schäd-
In Deutschland besitzt jeder Fünfzigste dieses defekte liche rezessive Allele an diesem und anderen Loci in
Gen. Demnach liegt die Wahrscheinlichkeit, dass zwei einer Bevölkerung unentdeckt bleiben können, da sie
solcher Genträger aufeinandertreffen, bei 1:2.500. Aber von gesunden Heterozygoten getragen werden.
selbst in dieser Konstellation beträgt die Wahrschein- Die wissenschaftlichen Übungen geben Ihnen Gele-
lichkeit einer PKU-Erkrankung nur 25 Prozent. Deshalb genheit, die Hardy-Weinberg-Gleichung auf Allel-Daten
kommt eine PKU-Erkrankung auf etwa 10.000 Neuge- anzuwenden.

631
23 Die Evolution von Populationen

 Wissenschaftliche Übung

Daten interpretieren und Vorhersagen treffen


mithilfe der Hardy-Weinberg-Gleichung

Findet in der Sojapflanzen-Population Evolution


statt? Eine Möglichkeit, zu testen, ob in einer Popu-
lation Evolution stattfindet, ist, die beobachtete
Genotypenfrequenz eines Locus mit der Genotypen-
frequenz, die man bei einer nicht-evolvierenden
Population erwarten würde, mithilfe der Hardy-
Weinberg-Gleichung zu vergleichen. In dieser Übung
werden Sie testen, ob eine Sojapflanzen-Population
an dem Locus (mit den zwei Allelen C G und C Y), der 3. Errechnen Sie aus den Daten, die an Tag 7
für die Chlorophyllsynthese und damit die Grünfär- nach Aussaat erhoben wurden, die beobachte-
bung der Blätter zuständig ist, evolviert. ten Genotypenfrequenzen (C GC G, C YC Y und
C GC Y) und vergleichen Sie diese Werte mit
Durchführung des Experiments Studenten haben den erwarteten Genotypenfrequenzen, die Sie
Sojasamen ausgebracht und dann die Anzahl der in Schritt 2 ausgerechnet haben. Befand sich
verschiedenen Genotypen der Keimlinge am 7. und Ihre Sojakeimlings-Population von Tag 7 in ei-
am 21. Tag nach der Aussaat bestimmt. Die unter- nem Hardy-Weinberg-Gleichgewicht oder hat
schiedlichen Genotypen der Keimlinge waren leicht Evolution stattgefunden? Begründen Sie Ihre
zu ermitteln, da die C G- und C Y-Allele einem inter- Überlegungen und benennen Sie die Geno-
mediären Erbgang folgen: C GC G-Keimlinge haben typen, die sich als vorteilhaft und als nach-
grüne Blätter, C GC Y-Keimlinge haben grün-gelbe teilig herausstellen – wenn es welche gibt.
Blätter und C YC Y-Keimlinge haben gelbe Blätter.
Teil 4 4. Berechnen Sie die beobachteten Genotypenfre-
Experimentelle Daten quenzen (C GC G, C YC Y und C GC Y) von Tag 21
und vergleichen Sie diese mit den erwarteten
Frequenzen, die Sie in Schritt 2 errechnet
Anzahl Keimlinge haben, und mit den beobachteten Genotypen-
frequenzen von Tag 7 (Schritt 3). Ist die Keim-
Zeit grün grün-gelb gelb
lingspopulation an Tag 21 im Hardy-Weinberg-
(Tage) (C GC G) (C G C Y) (C YC Y) Gesamt
Gleichgewicht oder hat Evolution stattgefun-
7 49 111 56 216 den? Begründen Sie Ihre Überlegungen und
benennen Sie gegebenenfalls die Genotypen,
21 47 106 20 173
die sich als vorteilhaft und als nachteilig her-
ausstellen.
Datenauswertung
5. Homozygote C YC Y-Keimlinge können kein
1. Berechnen Sie aus der beobachteten Häufig- Chlorophyll produzieren. Die Notwendigkeit,
keit der Genotypen von Tag 7 die Frequenzen selbst Photosynthese zu betreiben, steigt nach
der beiden Allele C G (p) und C Y (q). der Keimung, da die Keimlinge mit der Zeit den
Nährstoffvorrat aufbrauchen, der im Samen an-
2. Nun errechnen Sie mithilfe der Hardy-Wein- gelegt war. Stellen Sie eine Hypothese auf, mit
berg-Gleichung (p2 + 2 pq + q2 = 1) die erwar- der Sie die Frequenzdaten von Tag 7 und Tag 21
teten Genotypen-Frequenzen von C GC G, C YC Y erklären. Versuchen Sie, basierend auf dieser
und C GC Y unter der Annahme, dass sich die Hypothese, vorherzusagen, wie die Allelfre-
Population in einem Hardy-Weinberg-Gleich- quenzen für C G und C Y sich nach Tag 21 wahr-
gewicht befindet. scheinlich weiter verändern werden.

632
23.3 Natürliche Selektion, genetische Drift und Genfluss können die Allelfrequenzen in einer Population verändern

23.3.1 Natürliche Selektion


 Wiederholungsfragen 23.2
Wie Sie in Kapitel 22 gelesen haben, gründet sich Dar-
1. Eine Population hat 700 Individuen; von die-
wins Konzept der natürlichen Selektion auf einem
sen haben 85 Individuen den Genotyp AA,
unterschiedlichen Überlebens- und Fortpflanzungser-
320 den Genotyp Aa und 295 den Genotyp aa.
folg: Individuen in einer Population unterscheiden
Berechnen Sie bitte die Frequenzen der bei-
sich in ihren erblichen Merkmalen, und die Indivi-
den Allele A und a.
duen, die besser an ihre jeweiligen Umweltbedingun-
2. In einer Population, die sich im Hardy-Wein- gen angepasst sind, haben in der Regel mehr Nach-
berg-Gleichgewicht befindet, ist die Frequenz kommen als diejenigen mit weniger vorteilhaften
für das Allel a 0,45. Mit welchen Frequenzen Merkmalen und Eigenschaften.
kommen die drei Genotypen AA, Aa und aa Die natürliche Selektion führt dazu, dass Allele in
in der Population vor? einer anderen Häufigkeit an die nächste Generation wei-
tergegeben werden, als sie in der gegenwärtigen Genera-
3. WAS WÄRE, WENN? Ein Locus, der ein Risiko tion auftreten. Zum Beispiel besitzt die Taufliege Droso-
für eine neurodegenerative Erkrankung vermit- phila melanogaster ein Allel, das seinem Träger eine
telt, hat zwei Allele (V und v). In einer Popula- Resistenz gegen mehrere Insektizide verleiht, darunter
tion haben 16 Menschen den Genotyp VV, 92 auch DDT (Dichlor-Diphenyl-Trichlorethan). In Labor-
den Genotyp Vv und zwölf den Genotyp vv. stämmen von D. melanogaster, die von Taufliegen
Verwenden Sie die Hardy-Weinberg-Gleichung, abstammen, welche Anfang der 30er Jahre des 20. Jahr-
um herauszufinden, ob diese Population evol- hunderts, also vor Einsatz von DDT, im Freiland gefan-
viert oder nicht und begründen Sie Ihre Ant- gen wurden, hatte dieses Allel eine Frequenz von Null.
wort. Bei Stämmen, die sich von nach 1960 (nach rund 20-jäh-
rigem DDT-Einsatz) gefangenen Taufliegen ableiten,
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. beträgt die Allelfrequenz bereits 0,37. Wir können dar-
aus den Schluss ziehen, dass dieses Allel entweder zwi-
schen 1930 und 1960 durch Mutation entstanden ist
oder dass es schon 1930 in der Ausgangspopulation vor- Teil 4
Natürliche Selektion, genetische handen, aber sehr selten war. Unabhängig davon kam es
Drift und Genfluss können die zu dem rasanten Anstieg in der Frequenz dieses Allels,
Allelfrequenzen in einer da DDT ein starkes Gift ist und auf die Population, die

23.3
ihm ausgesetzt ist, einen starken Selektionsdruck ausübt.
Population verändern Wie das Beispiel mit den Taufliegen zeigt, steigt die
Frequenz eines Allels, das Insektizidresistenz verleiht,
in einer Population an, die diesem Insektizid ausge-
Erinnern Sie sich nochmals an die fünf Bedingungen, setzt wird. Solche Veränderungen erfolgen nicht zufäl-
die erforderlich sind, damit eine Population im Hardy- lig. Da durch die natürliche Selektion beständig einige
Weinberg-Gleichgewicht ist. Ist auch nur eine dieser Allele bevorzugt werden, kann sie so in einer Popula-
Bedingungen nicht erfüllt, so kann dies ein potenzielles tion eine adaptive Evolution bewirken, d.h., es kommt
Evolutionsereignis anzeigen. Neue Mutationen (Nicht- zu Veränderungen, die zu einer besseren Anpassung
erfüllung der Bedingung 1) können die Allelfrequenz der Organismen an ihre Umwelt führen. Wir werden
verändern, doch da Mutationen selten sind, sind die später in diesem Kapitel noch genauer auf diesen Pro-
mutationsbedingten Veränderungen von einer zur zess zurückkommen.
nächsten Generation wahrscheinlich sehr gering. Nicht
zufällige Paarungen (Nichterfüllung der Bedingung 2)
können die Allelfrequenz von homozygoten und hetero- 23.3.2 Genetische Drift
zygoten Genotypen beeinflussen, haben aber, für sich
allein betrachtet, in der Regel keine Auswirkungen auf Wenn Sie 1.000-mal eine Münze werfen, werden Sie
die Allelfrequenz im Genpool einer Population. (Allel- vielleicht misstrauisch, wenn Sie 700-mal Kopf und
frequenzen können sich ändern, wenn Individuen mit 300-mal Zahl erhalten, und vermuten, dass mit der
bestimmten, vererbbaren Merkmalen wahrscheinlicher Münze etwas nicht stimmt. Wenn Sie Ihre Münze
einen Partner finden als andere. Allerdings würde eine jedoch nur zehnmal werfen, würde Sie ein Ergebnis von
solche Situation nicht nur die Nichterfüllung der zufäl- sieben zu drei kaum überraschen. Je seltener Sie die
ligen Paarung, sondern auch die von Bedingung 3, der Münze werfen, desto wahrscheinlicher ist es, dass das
natürlichen Selektion, bedeuten.) Ergebnis zufällig von dem statistisch zu erwartenden
Die drei Mechanismen, die die Allelfrequenz direkt Wert abweicht – in diesem Fall von einer gleichen
verändern und den größten evolutiven Einfluss haben, Anzahl von Kopf- und Zahlwürfen. Solche Zufälle kön-
sind natürliche Selektion, genetische Drift und Gen- nen vor allem in kleinen Populationen auch dazu füh-
fluss (Nichterfüllung von Bedingung 3–5) und auf ren, dass sich die Allelfrequenz von einer Generation
diese wird im Folgenden näher eingegangen. zur nächsten unvorhersehbar verändert. Diesen Prozess
bezeichnet man als genetische Drift.

633
23 Die Evolution von Populationen

Abbildung 23.9 zeigt, wie die genetische Drift eine Fall kommt es zu einer genetischen Drift, bei der
kleine Population unserer Wildpflanzen beeinflussen Zufallsereignisse die Allelfrequenzen verändern, da der
könnte. In diesem Beispiel geht ein Allel aus dem Gen- Sturm zufällig einige Individuen (und ihre Allele) aus
pool verloren, doch es ist reiner Zufall, dass das C W-Allel der Ursprungspopulation gerissen hat.
verloren geht und nicht das C R-Allel. Solche unvorher- Der Gründereffekt bietet wahrscheinlich auch eine
sehbaren Veränderungen in der Allelfrequenz können Erklärung für die relativ hohe Frequenz bestimmter
durch Zufallsereignisse im Zusammenhang mit der Erbkrankheiten in geografisch getrennten mensch-
Überlebenschance eines Individuums und seiner poten- lichen Populationen. Beispielsweise besiedelten im
ziellen Fortpflanzung bedingt sein. Vielleicht frisst ein Jahr 1814 fünfzehn Briten Tristan da Cunha, eine kleine
großer Herbivor wie ein Elch die drei C WC W-Individuen Vulkaninselgruppe im Atlantik zwischen Afrika und
in Generation 2 und erhöht dadurch die Wahrscheinlich- Südamerika. Offensichtlich trug einer der Kolonisato-
keit, dass nur das C R-Allel an die nächste Generation ren ein rezessives Allel für Retinitis pigmentosa, eine
weitergegeben wird. Allelfrequenzen können auch zur Erblindung führende Netzhauterkrankung, von der
durch bestimmte Zufallsereignisse bei der Bestäubung nur homozygote Individuen betroffen sind. Von den
und der darauffolgenden Befruchtung beeinflusst wer- 240 Nachkommen der Gründerpopulation, die gegen
den. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, zwei Individuen Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts auf der Insel
des Genotyps C RC W haben nur wenige Nachkommen. lebten, litten vier unter dieser Erbkrankheit. Auf Tristan
Dann könnten rein zufällig all die Eizellen-/Spermazel- da Cunha ist damit die Frequenz des Allels, das diese
len-Paare, aus denen Nachkommen hervorgehen, aus- Krankheit hervorruft, zehnmal so hoch wie in der Popu-
schließlich das C R-Allel und nicht das C W-Allel tragen. lation, aus der die Siedler kamen.
Bestimmte Situationen können also zu einer geneti-
schen Drift führen, die die genetische Populationsstruk- Der Flaschenhals
tur erheblich beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist der Eine plötzliche Veränderung der Umweltsituation,
Gründereffekt, ein anderes der genetische Flaschenhals. wie ein großflächiger Brand oder eine weitreichende
Überschwemmung, kann die Größe einer Population
Der Gründereffekt drastisch verringern. Ein solcher starker Rückgang der
Wenn einige wenige Individuen aus einer größeren Populationsgröße führt oft zu einem genetischen Fla-
Teil 4 Population von dieser getrennt werden, kann diese schenhals (Abbildung 23.10). Durch Zufall können
kleine Gruppe eine neue Population aufbauen, deren dadurch einige Allele bei den Überlebenden überre-
Genpool sich in seiner Genotypenverteilung von der präsentiert, andere hingegen unterrepräsentiert sein
Ursprungspopulation unterscheidet. Diese Situation oder völlig fehlen. Die kontinuierlich erfolgende
wird als Gründereffekt bezeichnet. Ein Gründereffekt Gendrift kann große Auswirkungen auf den Genpool
kann zum Beispiel auftreten, wenn einige Samen oder haben, bis die Population wieder so groß ist, dass
Früchte einer Pflanzenpopulation (siehe Abbildung dann der Einfluss von Zufallsereignissen wieder abge-
38.12) oder einige Insekten von einem starken Sturm schwächt ist. Selbst wenn eine Population, die „durch
auf eine neue Insel getragen werden. In einem solchen einen Flaschenhals gegangen ist“, schließlich wieder

gelb hinterlegte
Pflanzen hinterlassen
Nachkommen
C RC R C RC W C RC R
Nur 5 von Nur 2 von
10 Pflanzen C WC W 10 Pflanzen
C RC R C RC W C RC R
hinterlassen hinterlassen C RC R
Nachkommen. Nachkommen. C RC R
C RC R C RC R
C RC W
C RC R C RC R
C WC W
C WC W C RC R C RC R
C RC W C WC W C RC R
C RC R
C RC W C RC W C RC R
C RC R C RC R
C RC W C RC W C RC R

1. Generation 2. Generation 3. Generation


p (Frequenz von C R ) = 0,7 p = 0,5 p = 1,0
q (Frequenz von C W ) = 0,3 q = 0,5 q = 0,0

Abbildung 23.9: Genetische Drift. Die kleine Wildpflanzen-Population hat eine stabile Größe von zehn Individuen. Stellen Sie sich vor, rein zufällig
würden nur fünf Individuen (gelb markiert) aus Generation 1 fertile Nachkommen produzieren. Das könnte zum Beispiel passieren, wenn nur diese Indivi-
duen zufällig nicht von einem herbivoren Tier gefressen werden. Wiederum zufällig hinterlassen nur zwei Individuen aus Generation 2 fertile Nachkommen.
Infolgedessen steigt die Frequenz des CW-Allels in Generation 2 zunächst rein zufällig und sinkt dann in Generation 3 ebenso zufällig wieder auf null.

Im MyLab|Deutsche Version für Campbell Biologie finden Sie


eine 3D-Animation zu den Mechanismen der Evolution.

634
23.3 Natürliche Selektion, genetische Drift und Genfluss können die Allelfrequenzen in einer Population verändern

eine höhere Populationsdichte erreicht hat, kann die


vor dem nach dem
genetische Variabilität für einen längeren Zeitraum
Flaschenhals Flachenhals
noch gering bleiben – ein Erbe der Gendrift durch den (Illinois, 1820) (Illinois, 1993)
genetischen Flaschenhals.

Präriehuhn
(Tympanuchus cupido)
Verbreitungs-
gebiet des
Präriehuhns

Im Jahr 1993 war das


offene Grasland auf 1 %
Früher bedeckte offenes seiner ursprünglichen
Grasland, das den Lebens- Ausdehnung geschrumpft
ursprüngliche Flaschenhals- überlebende raum des Präriehuhns und Präriehühner kamen
Population ereignis Population darstellt, einen Großteil nur noch an zwei Stellen
des Gebietes. vor.
Abbildung 23.10: Der genetische Flaschenhals. Nur ein paar Mur-
meln lassen sich durch den engen Flaschenhals herausschütteln. Ähnlich ist (a) Die Illinois-Population des Präriehuhns verringerte sich
von mehreren Millionen Vögeln im 19. Jahrhundert
es bei einer plötzlichen durch eine extreme Umweltsituation hervorgerufenen
auf weniger als 50 Vögel im Jahr 1993.
drastischen Verringerung der Populationsgröße. Zufällig haben fast nur blaue
Murmeln den Flaschenhals passiert und gelbe Murmeln nicht.

Durch menschliche Eingriffe werden häufig solche Vorkommen Populations- Allelzahl Prozent-
größe pro satz der ge-
genetischen Flaschenhälse erzeugt (siehe Abbildung Genort schlüpften
56.13), wie in dem nächsten Beispiel deutlich wird. Jungen
Teil 4
Fallstudie: Einfluss der Gendrift auf das Präriehuhn Illinois, 1930 bis
in die 1960er 1.000–25.000 5,2 93
Früher lebten in den Prärien von Illinois Millionen von 3,7 <50
1993 <50
Präriehühnern (Tympanuchus cupido). Als diese Prä-
rien im 19. und 20. Jahrhundert in landwirtschaftlich Kansas, 1998
intensiv genutzte Flächen umgewandelt wurden, ging (kein Flaschen- 750.000 5,8 99
hals)
die Anzahl der Präriehühner stark zurück (Abbildung
23.11a). Im Jahr 1993 gab es in Illinois nur noch weni- Nebraska, 1998
75.000–
(kein Flaschen- 5,8 96
ger als 50 Individuen. Entsprechend dieser geringen hals)
200.000
Anzahl war deren genetische Variabilität außerordent-
lich gering. Dies hatte erhebliche Konsequenzen auf die (b) Infolge des drastischen Rückgangs der lllinois-Population
individuelle Fitness: Nur aus weniger als der Hälfte der führte die Gendrift zu einem Absinken der Allelzahl pro
Eier schlüpften Küken; in den größeren Populationen Genort (gemittelt über sechs untersuchte Genorte) und
in Kansas und Nebraska waren die Schlupfraten hinge- zu einer Abnahme des Prozentsatzes der geschlüpften
Jungen.
gen deutlich höher (Abbildung 23.11b).
Diese Daten sprechen dafür, dass die genetische Drift Abbildung 23.11: Genetischer Flaschenhals und Verringerung der
während der Phase eines genetischen Flaschenhalses genetischen Variabilität.
zu einem Verlust an genetischer Variabilität und zu
einer Zunahme nicht vorteilhafter Allele geführt hat.
Um diese Hypothese zu prüfen, analysierten Forscher Die Wissenschaftler überprüften sechs Genloci und
DNA von 15 Museumsexemplaren des Illinois-Prärie- fanden heraus, dass die Präriehuhn-Population von
huhns. Von den 15 Individuen waren zehn zwischen Illinois aus dem Jahr 1993 weniger Allele pro Genort
1930 und 1940 gesammelt worden, als in Illinois noch aufwies als die älteren Museumsexemplare, die vor
25.000 Präriehühner lebten, fünf Individuen dagegen dem Flaschenhalsereignis gesammelt worden waren.
zwischen 1960 und 1970, als der Bestand auf bereits Die 1993er Population besaß auch weniger Allele pro
etwa 1.000 Individuen zurückgegangen war. Durch die Genlocus als die gegenwärtigen Populationen in Kansas
DNA-Analyse dieser Individuen konnten die Wissen- und Nebraska (Abbildung 23.11b). Wie angenommen,
schaftler die Höhe der genetischen Variabilität abschät- hatte die genetische Drift die genetische Variabilität der
zen, die die Illinois-Population mindestens aufwies, kleinen Population von 1993 drastisch verringert. Mög-
bevor sich die Populationsdichte derart drastisch auf licherweise hat die genetische Drift auch die Häufigkeit
wenige Tiere verringerte. nachteiliger Allele erhöht, was zu niedrigen Schlupf-

635
23 Die Evolution von Populationen

raten geführt hat. Um diesen negativen Auswirkungen 23.3.3 Genfluss


der genetischen Drift entgegenzuwirken, wurden über
einen Zeitraum von vier Jahren insgesamt 271 weitere Natürliche Selektion und genetische Drift sind nicht
Individuen aus anderen Populationen in die Illinois- die einzigen Faktoren, die Allelfrequenzen beeinflus-
Population eingebracht. Diese Strategie hatte Erfolg: sen. Allelfrequenzen können auch durch Genfluss
Neue Allele gelangten dadurch in die Population, und verändert werden, den Austausch von Allelen zwi-
die Schlupfrate erhöhte sich auf über 90 Prozent. Insge- schen Populationen aufgrund der Migration fertiler
samt belegen die Untersuchungen an den Illinois-Prä- Individuen oder ihrer Gameten. Stellen Sie sich zum
riehühnern den großen Einfluss, den die genetische Beispiel vor, dicht neben unserer ursprünglichen
Drift auf kleine Populationen ausüben kann, und lassen hypothetischen Wildpflanzen-Population gäbe es eine
gleichzeitig hoffen, dass sich die negativen Effekte weitere Population, die vorwiegend aus weißblühen-
durch solche und andere Maßnahmen zumindest in den Individuen besteht (CWCW). Insekten, an denen
einigen Fällen rückgängig machen lassen. Pollen von diesen Individuen haften, könnten Indivi-
duen unserer ursprünglichen Population bestäuben
Auswirkungen der genetischen Drift: und dadurch eine Befruchtung einleiten. Die in unsere
Eine Zusammenfassung ursprüngliche Population eingeführten CW-Allele wür-
Die Beispiele, die wir vorgestellt haben, zeigen vier den die Allelfrequenzen in der nächsten Generation
Schlüsselaspekte auf: verändern. Da Allele zwischen Populationen ausge-
tauscht werden, führt der Genfluss dazu, die Unter-
1. Genetische Drift spielt in kleinen Populationen schiede in den Allelfrequenzen zwischen den Popula-
eine große Rolle. Zufallsereignisse können dazu tionen zu verringern. Ist der Genfluss intensiv genug,
führen, dass ein Allel in der nächsten Generation kann es dazu kommen, dass sich benachbarte Popu-
stark über- oder unterrepräsentiert ist. Obgleich lationen zu einer einzigen Population mit einem
Zufallsereignisse in Populationen jeder Größe gemeinsamen Genpool vereinen.
auftreten können, üben sie auf die Allelfrequenz Allele, die durch Genfluss eingetragen werden, kön-
kleiner Populationen einen wesentlich größeren nen auch die Anpassung einer Population an ihre
Einfluss aus. Umwelt beeinflussen. Wissenschaftler haben bemerkt,
Teil 4 dass es Unterschiede in der Überlebensrate zwischen
2. Genetische Drift kann dazu führen, dass sich
Allelfrequenzen nach dem Zufallsprinzip än- zwei Kohlmeisen-Populationen (Parus major) gibt, die
dern. Aufgrund des Ereignisses einer genetischen auf der niederländischen Insel Vlieland leben. Die
Drift kann es geschehen, dass die Häufigkeit eines Überlebensrate von Weibchen, die aus der östlichen
Allels in einem Jahr zunimmt und im nächsten Population stammen, ist doppelt so hoch wie die der
wieder sinkt; die Art der Veränderung der Allel- Weibchen, die in der zentralen Population geschlüpft
frequenz von einem zum nächsten Jahr ist nicht sind, und zwar unabhängig davon, wo sich die Weib-
vorhersehbar. Anders als die natürliche Selektion, chen letztlich niederlassen und brüten (Abbildung
die unter bestimmten Umweltbedingungen bestän- 23.12). Dieser Befund legt nahe, dass die Weibchen
dig bestimmte Allele gegenüber anderen begüns- aus der östlichen Population besser an das Leben auf
tigt, führt die genetische Drift dazu, dass Allel- der Insel angepasst sind als die Weibchen aus der zen-
frequenzen im Lauf der Zeit zufällig variieren. tralen Population. Allerdings haben Freilandunter-
suchungen ebenfalls gezeigt, dass die beiden Popu-
3. Genetische Drift kann zum Verlust von genetischer lationen durch einen starken Genfluss (Paarung)
Variabilität in einer Population führen. Durch miteinander verbunden sind, der eigentlich genetische
eine zufällige Veränderung der Allelfrequenz im Unterschiede angleichen sollte. Wieso ist dann die öst-
Lauf der Zeit können aufgrund der genetischen liche Population besser an das Leben auf Vlieland
Drift Allele aus der Population eliminiert werden. adaptiert als die zentrale Population?
(Da Evolutionsprozesse eine genetische Variabilität Die Antwort ist ein Unterschied im Genfluss vom
benötigen, können Verluste von bestimmten Alle- niederländischen Festland in die beiden Vlieland-
len eine effiziente Anpassung der Population an Populationen: In jedem Jahr sind 43 Prozent der ersten
ständig wechselnde Umweltbedingungen stark Weibchen, die in der zentralen Population brüten,
negativ beeinflussen.) Immigranten vom Festland – im Gegensatz zu nur 13
4. Genetische Drift kann dazu führen, dass nach- Prozent Immigranten unter Erstbrütern in der östli-
teilige Allele im Genpool fixiert werden. Allele chen Population. Vögel mit Festland-Genotypen über-
ohne eine positive oder negative Auswirkung für leben schlechter und pflanzen sich auf Vlieland weni-
den Organismus können durch genetische Drift ger gut fort. Die Frequenz der Festland-Genotypen
zufällig verloren gehen oder in einer Population wird in der östlichen Population durch Selektion
fixiert werden. In sehr kleinen Populationen kön- niedrig gehalten. In der zentralen Population jedoch
nen durch genetische Drift auch nachteilige Al- ist der Genfluss vom Festland so stark, dass er dem nega-
lele fixiert werden, was dann – wie im Falle der tiven Selektionseffekt entgegenwirkt. Dementsprechend
Illinois-Präriehuhn-Population – den Fortbestand tragen viele Weibchen, die in der zentralen Population
der Population bedroht. geboren werden, Gene des Festland-Genotyps, welche

636
23.4 Die natürliche Selektion ist der einzige Mechanismus, der beständig für eine adaptive Evolution sorgt

den Grad der Anpassung an das Inselleben verringern. den dann in neue Populationen eingetragen, wo sich
Derzeit wird untersucht, warum der Genfluss in die ihre Frequenz aufgrund natürlicher Selektionsprozesse
zentrale Population so viel stärker ist und warum ebenfalls erhöhte.
Vögel, die einen Festland-Genotyp haben, schlechter Schließlich ist Genfluss auch ein zunehmend wich-
an das Leben auf Vlieland angepasst sind. tiger Faktor, der zu einer evolutionären Veränderung
in menschlichen Populationen beiträgt. Heutzutage
sind Menschen viel mobiler als früher. Infolgedessen
kommt es häufiger zur Vermischung unterschiedlicher
Kulturkreise, die zuvor stärker voneinander getrennt
zentrale waren. Das führt zu einem Austausch von Allelen und
Population zu einer Verminderung von genetischen Unterschie-
NORDSEE östliche
den in den Populationen.
Population

N Vlieland (NL)
 Wiederholungsfragen 23.3
Parus major 2 km

1. Warum ist die natürliche Selektion besser


50
Population, in der die „vorhersagbar“ als die genetische Drift?
überlebenden Weibchen
Überlebensrate (%)

dann brüteten 2. Wie unterscheiden sich genetische Drift und


40
zentral Genfluss (a) hinsichtlich ihrer Mechanismen,
östlich und (b) hinsichtlich der daraus resultierenden
30
Konsequenzen für die zukünftige genetische
Variabilität in einer Population?
20
3. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich vor, zwei
10 Pflanzenpopulationen haben einen Pollen- und
Samenaustausch. In der einen Population sind Teil 4
0 die Individuen mit dem Genotyp AA am häu-
Weibchen, geschlüpft in Weibchen, geschlüpft in figsten (9.000 AA, 900 Aa, 100 aa), in der ande-
der zentralen Population der östlichen Population
ren Population ist es genau umgekehrt (100 AA,
© 2005 Macmillan Publishers Ltd. 900 Aa, 9.000 aa). Wenn keines der Allele zu
einem Selektionsvorteil führt, was wird dann
Abbildung 23.12: Genfluss und lokale Anpassung. In Parus major- im Lauf der Zeit mit den Allel- und Genotyp-
Populationen auf der Insel Vlieland ist die jährliche Überlebensrate von frequenzen dieser Populationen geschehen?
Weibchen, die aus der zentralen Population stammen, niedriger als die von
Weibchen, die in der östlichen Population geschlüpft sind. Der Genfluss von Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
Festland-Populationen in die zentrale Population ist höher als der Genfluss
in die östliche Population und Vögel mit einem Festland-Genotyp haben in
beiden Populationen eine geringere Überlebens- und Reproduktionsrate.
Diese Daten lassen vermuten, dass ein starker Genfluss vom Festland in die
zentrale Population eine optimale Anpassung an das Leben auf Vlieland Die natürliche Selektion ist
verhindert hat.
der einzige Mechanismus, der
Manchmal erfahren auch vorteilhafte Allele durch
beständig für eine adaptive
Genfluss eine sehr weite Verbreitung. Die Stechmücke
Culex pipiens gilt als Überträger des West-Nil-Virus und
Evolution sorgt
23.4
Verursacher anderer Krankheiten. Genfluss hat zu einer
weltweiten Verbreitung von mehreren Allelen geführt, Adaptive Evolution beruht auf Zufall und „Auslese“ –
die eine Insektizidresistenz dieser Stechmücke gewähr- Zufall bei der Schaffung neuer genetischer Variabilität
leisten. Jedes dieser Allele weist eine bestimmte, nur (durch Mutation und sexuelle Rekombination) und
einmal auftretende genetische Signatur auf. Anhand „Auslese“, wenn die natürliche Selektion für das Über-
dieser Signatur konnte nachgewiesen werden, dass leben und die Fortpflanzung unter den vorgegebenen
jedes Allel auf einer jeweils spezifischen Mutation Umweltbedingungen vorteilhafte Allele gegenüber ande-
beruht, die an einem einzigen oder wenigen Orten in- ren bevorzugt auswählt. Durch diese bevorzugte Aus-
nerhalb des Verbreitungsgebiets dieser Stechmücke ent- wahl ist die natürliche Selektion kein zufälliger Pro-
standen ist. Da sie eine Insektizidresistenz vermitteln, zess. Stattdessen vergrößert die natürliche Selektion
nahm die Frequenz dieser Allele in ihrer Ursprungs- fortwährend die Häufigkeit adaptiver Genotypen und
population entsprechend zu. Die Resistenz-Allele wur- führt so zu einer adaptiven Evolution.

637
23 Die Evolution von Populationen

23.4.1 Eine genauere Betrachtung der Eine gerichtete (dynamische) Selektion führt in einer
natürlichen Selektion sich verändernden Umwelt zu einer Förderung solcher
Merkmalsträger, die zuvor innerhalb des phäno-
Um zu untersuchen, wie die natürliche Selektion zu typischen Reaktionstypenspektrums an eine extreme
einer adaptiven Evolution führt, wollen wir uns Umweltsituation angepasst waren, nun aber bei einer
zunächst mit dem Konzept der individuellen Fitness neuen Umweltsituation besser adaptiert sind. Dadurch
beschäftigen und den verschiedenen Möglichkeiten verschiebt sich die Verteilung der phänotypischen
nachgehen, wie die natürliche Selektion auf den Phä- Merkmale der Population in die Richtung des einen
notyp eines Organismus einwirken kann. oder des anderen Extrems (Abbildung 23.13a).
Gerichtete Selektion tritt dann häufig auf, wenn sich
Individuelle Fitness die abiotische Umwelt einer Population stark verän-
Häufig werden Phrasen wie „Kampf ums Dasein“ (strug- dert oder wenn Individuen einer Population einen
gle for existence) und „Überleben des Tüchtigsten“ (sur- neuen und oft auch anderen Lebensraum besiedeln. So
vival of the fittest) benutzt, um die natürliche Selektion hatte, als durch eine Dürreperiode auf der Galapagos-
zu beschreiben. Doch diese Wendungen sind irre- Insel Daphne Major die Zahl an kleinen Samen
führend, wenn damit ein direkter Konkurrenzkampf abnahm, die relative Zunahme an großen Samen dazu
zwischen Individuen gemeint ist. Zwar gibt es Tierarten, geführt, dass auch die Schnabelgröße der samenfres-
bei denen einzelne Individuen, gewöhnlich die Männ- senden Finken in der nächsten Generation zunahm
chen, mit Hörnern, Geweihen oder auf andere Weise um (Abbildung 23.2).
die Paarungsrechte kämpfen. Aber häufig wird der Fort- Zu einer disruptiven Selektion (Abbildung 23.13b)
pflanzungserfolg neben der direkten körperlichen Aus- kommt es, wenn die Umweltbedingungen Individuen
einandersetzung durch weitere, subtilere, nicht so leicht beider Extreme eines phänotypischen Spektrums gleich-
erkennbare Merkmale und Faktoren beeinflusst. Ein zeitig gegenüber Individuen eines durchschnittlichen
Beispiel bieten die zu den Crustaceen gehörenden Phänotyps begünstigen. Ein Beispiel bietet eine Popu-
Entenmuscheln (Lepas). Sie filtrieren als sessile Rank- lation von Purpurastrilden, einer Prachtfinkenart aus
füßer (Cirripedia) Plankton aus dem Meerwasser. Ein Kamerun, deren Mitglieder zwei deutlich unterschiedli-
Individuum, das dabei effektiv arbeitet und damit mehr che Schnabelgrößen aufweisen. Prachtfinken mit klei-
Teil 4 Energie gewinnt, wird wahrscheinlich mehr Eier produ- nen Schnäbeln ernähren sich vorwiegend von kleinen
zieren, als ein anderes, das weniger Nahrung aufnimmt. und weichen Samen, während die großschnäbligen Indi-
Ebenso wird ein Nachtfalter mit einer besseren Tarnfär- viduen auf das Knacken großer und harter Samen spezi-
bung mehr Nachkommen als andere Individuen seiner alisiert sind. Individuen, deren Schnabel eine Zwi-
Art produzieren, weil er nicht so leicht einem Räuber schengröße haben, sind beim Öffnen beider Samentypen
zum Opfer fällt wie weniger gut getarnte Individuen. relativ ineffizient und haben daher eine geringere indivi-
Eine bessere Anpassung an die jeweiligen Umwelt- duelle Fitness. Solche Beispiele einer disruptiven Situa-
bedingungen erhöht also die Überlebenschancen und tion findet man allerdings eher selten.
vergrößert die Wahrscheinlichkeit einer großen Nach- Eine stabilisierende (optimierende) Selektion (Abbil-
kommenschaft. Diese Beispiele illustrieren, wie ein dung 23.13c) wirkt gegen beide extremen Phänotypen
adaptiver Vorteil zu einer größeren individuellen Fit- und bevorzugt die durchschnittlichen Phänotypen.
ness führen kann. Darunter versteht man den Beitrag, Diese Form der Selektion verringert die genetische
den ein Individuum zum Genpool der nächsten Genera- Variabilität und führt dazu, die vorhandene Ausprä-
tion leisten kann und zwar relativ zum Beitrag der ande- gung eines bestimmten durchschnittlichen phänotypi-
ren Individuen in der Population. schen Merkmals zu manifestieren. Zum Beispiel liegt
Obwohl wir häufig von der individuellen Fitness das Geburtsgewicht der meisten menschlichen Neu-
eines Genotyps sprechen, sollte nicht vergessen wer- geborenen bei 3–4 kg; Babys, die deutlich leichter oder
den, dass die Einheit, die der natürlichen Selektion schwerer sind, weisen ein höheres Sterblichkeitsrisiko
unterworfen ist, der gesamte Organismus ist und nicht auf.
der zugrunde liegende Genotyp. Daher wirkt die natür- Ganz unabhängig von der jeweiligen Selektionsweise
liche Selektion direkt auf den Phänotyp. Die Wirkung bleibt der Grundmechanismus jedoch stets derselbe.
auf den Genotyp ist insofern nur indirekt, weil sie Die natürliche Selektion fördert in derselben Popu-
davon abhängt, wie der Genotyp die Ausprägung des lation diejenigen Individuen, deren erbliche phäno-
Phänotyps beeinflusst. typische Merkmale aufgrund ihres höheren adaptiven
Werts einen höheren Reproduktionserfolg garantieren.
Gerichtete, disruptive und stabilisierende Selektion
Die natürliche Selektion kann die Verteilung der Fre-
quenzen bestimmter erblicher Merkmale und Eigen- 23.4.2 Die Schlüsselrolle der natürlichen
schaften auf dreierlei Weise beeinflussen, je nachdem, Selektion bei der adaptiven Evolution
welcher Phänotyp in einer Population begünstigt wird.
Nach der Wirkung der natürlichen Selektion werden Die Vielfalt der Adaptationen von Organismen lässt sich
gerichtete, disruptive und stabilisierende Selektion an bemerkenswerten Beispielen dokumentieren. Den-
unterschieden. ken Sie nur an die Fähigkeit von Echten Tintenfischen

638
23.4 Die natürliche Selektion ist der einzige Mechanismus, der beständig für eine adaptive Evolution sorgt

Anzahl von Individuen


ursprüngliche Population

ursprüngliche evolvierte Phänotypen (Fellfarbe)


Population Population

(a) Eine gerichtete Selektion ver- (b) Eine disruptive Selektion be- (c) Eine stabilisierende Selektion
schiebt das gesamte Erschei- günstigt Varianten entgegenge- sondert extreme Varianten aus
nungsbild der Population, in- setzter Extreme. Diese Mäuse einer Population aus und be-
dem sie Varianten des einen haben ein Lebensraummosaik günstigt intermediäre Typen.
Extrems fördert. In diesem Fall aus hellen und dunklen Felsen Wenn der Lebensraum aus
sind dunklere Mäuse begünstigt, besiedelt, was dazu führt, mittelbraunen Felsen besteht,
weil sie zwischen dunklen Felsen dass Mäuse mit einer mittleren sind helle wie dunkle Mäuse im Teil 4
leben und eine dunkle Fellfärbung Fellfarbe im Nachteil sind. Nachteil.
besser vor Raubfeinden schützt.

Abbildung 23.13: Wie kann die natürliche Selektion wirken? Hier sind drei Möglichkeiten beschrieben, wie eine hypothetische Hirschmaus-
Population mit einer erblichen Variabilität in der Fellfärbung von hellbraun bis dunkelbraun eine Evolution durchlaufen könnte. Die Verteilungskurven
zeigen, wie sich die Häufigkeit von Individuen mit verschiedenen Fellfärbungen (bestimmte Reaktionstypen) im Lauf der Zeit verändert. Die großen wei-
ßen Pfeile symbolisieren den Selektionsdruck gegen bestimmte Phänotypen.

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Betrachten Sie Abbildung 22.13 und überlegen Sie, welcher Selektionsmechanismus auf die Population von Glas-
flügelwanzen eingewirkt hat, die sich von der eingeführten Blasenesche ernährt.

(Sepiida), rasch ihre Körperfärbung zu wechseln, so


Die Knochen des Oberkiefers
dass sie optisch mit dem Untergrund verschmelzen kön- (grün) sind beweglich
nen. Ein anderes Beispiel ist die erstaunliche Kiefer-
konstruktion von Schlangen (Abbildung 23.14), die es
ihnen erlaubt, sogar Beute zu verschlingen, deren
Durchmesser viel größer ist als der ihres Kopfes (eine
Leistung vergleichbar mit derjenigen eines Menschen,
der eine ganze Wassermelone unzerteilt verschlucken
wollte). Andere Anpassungen, wie ein Enzymtyp, der Ligament
eine verbesserte Funktion unter kalten Umweltbedin-
gungen zeigt, sind optisch vielleicht weniger auffällig,
für das Überleben und die Fortpflanzung der betroffe- Die Schädelknochen der
nen Individuen aber nicht weniger wichtig. meisten landlebenden
Wirbeltiere sind relativ fest
Solche Anpassungen können sich allmählich im miteinander verbunden und
Lauf der Zeit entwickeln, wenn die natürliche Selek- schränken so die Kiefer-
tion die Frequenz von solchen Allelen erhöht, die das bewegung ein. Im Gegen-
satz dazu verfügen die
Überleben und die Fortpflanzung begünstigen. Wenn meisten Schlangen im
sich der Anteil der Individuen mit vorteilhaften Merk- Oberkiefer über beweg-
malen erhöht, verbessert sich die Anpassung einer Art liche Knochen, was ihnen
ermöglicht, Beuteobjekte
an ihre Umwelt, das heißt es kommt zu einer adapti- zu verschlingen, die viel
ven Evolution. größer als ihr Kopf sind.

Abbildung 23.14: Bewegliche Kieferknochen der Schlangen.

639
23 Die Evolution von Populationen

Die abiotischen und biotischen Bedingungen im die Population wichtig sein kann. Intrasexuelle Selek-
Lebensraum eines Individuums können sich jedoch tion kommt bei einigen Arten auch bei den Weibchen
im Lauf der Zeit verändern. Infolgedessen ist die Ant- vor, zum Beispiel bei Kattas (Lemur catta) oder bei Gras-
wort auf die Frage, was eine „günstige Anpassung“ nadeln (Syngnathus typhle).
eines Individuums an seine Umwelt darstellt, von Zeit
zu Zeit unterschiedlich, so dass die adaptive Evolu-
tion ein fortwährender dynamischer Prozess ist.
Und was ist mit den anderen wichtigen Mechanis-
men, die zu evolutionären Veränderungen in Popula-
tionen führen, zum Beispiel mit der genetischen Drift
und dem Genfluss? Tatsächlich können beide die
Frequenz von solchen Allelen zufällig erhöhen, die die
Anpassung zwischen Individuen und ihrer Umwelt
verbessern. Genetische Drift kann dazu führen, dass
sich die Frequenz eines vorteilhaften Allels erhöht,
aber es kann genauso geschehen, dass die Frequenz die-
ses Allels auch sinkt, da dieser Vorgang ja vom Zufall
abhängig ist. Ebenso können Allele durch Genfluss in
eine Population gelangen, die vorteilhaft sind, aber
auch solche, die sich als nachteilig erweisen. Dass die Abbildung 23.15: Sexualdimorphismus und sexuelle Selektion.
Population letztlich einen höheren Grad der Anpas- Pfauenhähne (links) und Pfauenhennen (rechts) zeigen einen ausgeprägten
sung erreicht, ist erst durch den Prozess der natür- Sexualdimorphismus. Zwischen den konkurrierenden Männchen kommt es
lichen Selektion möglich. zu einer intrasexuellen Selektion um die Weibchen; wenn dagegen Weib-
chen zwischen den „bestaussehenden“ Männchen ihre Wahl treffen, so
spricht man von einer intersexuellen Selektion.
23.4.3 Sexuelle Selektion
Bei der intersexuellen Selektion, die auch als Partner-
Teil 4 Charles Darwin war der Erste, der sich mit dem Phäno- wahl bezeichnet wird, wählen die Vertreter eines
men der sexuellen Selektion beschäftigt hat, einer Geschlechts (gewöhnlich die Weibchen) den Ge-
besonderen Form der natürlichen Selektion, bei der schlechtspartner gezielt aus. In vielen Fällen werden
Individuen mit bestimmten vererbbaren Merkmalen solche Männchen bevorzugt gewählt, die bei dem
und Eigenschaften eher Geschlechtspartner finden und Weibchen den besten Eindruck hinterlassen, das präch-
damit einen größeren Fortpflanzungserfolg haben als tigste Körperkleid tragen oder das eindrucksvollste
andere Individuen. Die sexuelle Selektion kann zu Werbeverhalten an den Tag legen, da sich damit auch
einem Geschlechts- oder Sexualdimorphismus führen, für das Weibchen die größte individuelle Fitness ver-
auffälligen Unterschieden zwischen beiden Geschlech- bindet (Abbildung 23.15). Darwin faszinierte an der
tern durch sekundäre Geschlechtsmerkmale, die nicht Partnerwahl, dass das auffällige Aussehen eines Männ-
in direktem, sondern nur in indirektem Zusammen- chens auf Weibchen so attraktiv wirkt, obwohl in vielen
hang mit der Paarung stehen (Abbildung 23.15). Sexu- Fällen damit keine anderen adaptiven Vorteile ver-
aldimorphismen können sich zum Beispiel in Unter- knüpft zu sein schienen. Vielmehr ist im Gegenteil ein
schieden in Körpergröße, Körperstruktur, Färbung, solch auffälliges Aussehen für den Träger auch mit
Farbmustern und auch im Verhalten äußern. Nachteilen verbunden. Viele Vogelmännchen sind zum
Auf welche Weise findet eine sexuelle Selektion statt? Beispiel durch ihr leuchtendes Gefieder für Prädatoren
Hierfür gibt es mehrere Möglichkeiten. Bei der intra- leicht zu entdecken. Doch wenn solche Merkmale
sexuellen Selektion konkurrieren die Individuen des- eines Männchens dazu führen, dass es aus einer
selben Geschlechts direkt um den anderen Geschlechts- Gruppe zahlreicher anderer Männchen von einem
partner. Bei vielen Arten findet die sexuelle Selektion Weibchen ausgewählt wird und sich damit sein Fort-
unter den Männchen statt. Zum Beispiel bewacht ein pflanzungserfolg erheblich vergrößert, dann hebt dieser
einzelnes Männchen eine Gruppe von Weibchen und Vorteil das Risiko auf. Dies führt dann dazu, dass sich
hindert andere Männchen an der Paarung. Dieses beide Merkmale, die Ausbildung des prächtigen männ-
Männchen verteidigt seinen Status etwa dadurch, dass lichen Körperkleids und dessen Bevorzugung durch
es kleinere, schwächere oder weniger aggressive Männ- die Weibchen, weiter verstärken, weil sie zu einem grö-
chen im Zweikampf besiegt. Anstelle eines direkten ßeren Fortpflanzungserfolg beitragen.
Kampfes jedoch verteidigt das Männchen seinen Status Doch wie sind weibliche Präferenzen für bestimmte
oft durch einen Schaukampf (Kommentkampf) oder männliche Merkmale überhaupt entstanden? Einer
eine ritualisierte Zurschaustellung bestimmter Merk- Hypothese zufolge bevorzugen Weibchen immer dieje-
male, ohne zu riskieren, dabei verletzt oder gar getötet nigen männlichen Merkmale, die einen Hinweis auf
zu werden (siehe Abbildung 51.16). Dadurch wird ihre individuelle Fitness geben. Wenn das von einem
dessen individuelle Fitness nicht beeinträchtigt, was für Weibchen bevorzugte Merkmal Rückschlüsse auf die

640
23.4 Die natürliche Selektion ist der einzige Mechanismus, der beständig für eine adaptive Evolution sorgt

„genetische Qualität“ des Männchens zulässt, dann 23.4.4 Erhaltung der genetischen Variabilität:
sollte dieses spezifische männliche Merkmal durch die Balancierter Polymorphismus
Präferenz des Weibchens dafür in der Generationen-
folge an Häufigkeit zunehmen beziehungsweise eine Wie wir gelernt haben, tritt genetische Variabilität häu-
verstärkte Merkmalsausprägung erfahren. Abbildung fig an Genloci auf, die von der natürlichen Selektion
23.16 beschreibt ein Experiment, das diese Hypothese betroffen sind. Welche Mechanismen erhalten diese
an Grauen Laubfröschen untersuchte. genetische Variabilität aufrecht, obwohl die Selektion
Andere Wissenschaftler konnten zeigen, dass die doch ungünstige Phänotypen benachteiligt? In diploi-
von Vogelweibchen bevorzugten Merkmale mit dem den Organismen wird ein beträchtlicher Teil der gene-
allgemeinen Gesundheitszustand der Männchen und tischen Variabilität in Form von rezessiven Allelen vor
somit ihrer potenziellen individuellen Fitness in der Selektion geschützt. Ein rezessives Allel, das homo-
Beziehung stehen. Auch hier basiert die Präferenz der zygot unter den gegenwärtigen Umweltbedingungen
Weibchen bei der Auswahl eines Männchens offenbar einen geringeren adaptiven Wert hat als sein dominan-
auf Merkmalen, die dessen „genetische Qualität“ tes „Gegenstück“ oder gar Nachteile mit sich bringt,
widerspiegeln, in diesem Fall Allele, die ein robustes kann in heterozygoten Individuen überdauern. Diese
Immunsystem anzeigen. Heterozygotie erhält einen riesigen Allelpool, in dem

 Abbildung 23.16: Aus der Forschung

Wählen Weibchen ihre Geschlechtspartner auf Ergebnis


der Basis von Merkmalen aus, die für eine
bessere individuelle Fitness sprechen? Fitness 1995 1996
Experiment Weibchen des Grauen Laubfroschs
Überleben der LR besser KSU
(Hyla versicolor) paaren sich bevorzugt mit Männ-
Kaulquappen
chen, die lange Paarungsrufe ausstoßen. Allison Teil 4
Welch und ihre Kollegen von der University of Wachstum der KSU LR besser
Missouri haben getestet, ob die genetische Ausstat- Kaulquappen
tung der Männchen mit langen Paarungsrufen (LR- Zeit bis zur LR besser (kürzer) LR besser (kürzer)
Männchen) derjenigen von Männchen mit kurzen Metamorphose
Paarungsrufen (KR-Männchen) überlegen ist. Die
Wissenschaftler befruchteten die eine Hälfte der KSU = kein signifikanter Unterschied; LR besser = Nachkommen
Eier eines jeden Weibchens mit Sperma von einem von LR-Männchen sind den Nachkommen von KR-Männchen
LR-Männchen, die andere Hälfte mit Sperma von überlegen
KR-Männchen. In zwei unabhängigen Experimen-
ten in den Jahren 1995 und 1996 wurden die Halb- Schlussfolgerung Da die Nachkommen, die von
geschwister, die aus den Eiern schlüpften, unter einem LR-Männchen abstammen, eine höhere indi-
identischen Bedingungen aufgezogen und ihr viduelle Fitness aufwiesen als ihre Halbgeschwis-
Schicksal über zwei Jahre verfolgt. ter, deren Väter KR-Männchen waren, zogen die
Wissenschaftler den Schluss, dass die Länge der
Aufnahme eines Aufnahme eines Paarungsrufe eines Männchens ein Indikator für die
KR-Männchens LR-Männchens
bessere „genetische Qualität“ eines Männchens ist.
Dieses Ergebnis stützt die Hypothese, dass weib-
liche Partnerwahl auf einem Merkmal basieren
KR = kurzrufend LR = langrufend kann, das anzeigt, ob das betreffende Männchen
eine bessere individuelle Fitness als seine Konkur-
renten hat oder nicht.
Weibchen des Grauen
Laubfroschs
KR-Männchen LR-Männchen Quelle: A. M. Welch et al., Call duration as an indicator of genetic
des Grauen des Grauen quality in male gray tree frogs, Science 280:1928–1930 (1998).
Laub- Laubfroschs
froschs
KR-Sperma × Eizellen × LR-Sperma WAS WÄRE, WENN? Warum haben die Wissenschaft-
ler die Eier eines jeden Froschweibchens in zwei
Gruppen geteilt, um sie mit dem Sperma unter-
Nachkommen Nachkommen schiedlicher Männchen zu befruchten? Warum
des KR-Vaters des LR-Vaters haben sie nicht jedes Weibchen mit einem einzigen
Männchen gepaart?
Die Fitness dieser Halbgeschwister wurde verglichen.

641
23 Die Evolution von Populationen

rezessive Allele geschützt bleiben, die unter den Haupttodesursachen ist, von großer Bedeutung. In sol-
gegenwärtigen Umweltbedingungen zwar nicht adap- chen Regionen ist die individuelle Fitness heterozygo-
tiv sind, von denen sich jedoch einige als vorteilhaft ter Individuen homozygot dominanten Individuen
erweisen könnten, wenn sich die Umweltbedingungen überlegen, die anfälliger für Malaria sind. Die individu-
verändern. elle Fitness homozygot rezessiver Individuen, die eine
Die natürliche Selektion kann auch selbst genetische Sichelzellenanämie entwickeln, ist außerordentlich
Variabilität bewahren. Von einem balancierten Polymor- gering. Die Frequenz des Sichelzellen-Allels ist in
phismus spricht man, wenn die natürliche Selektion Afrika generell dort besonders hoch, wo der Malariaer-
zwei oder zwei oder mehr Allele in einer Population reger sehr häufig auftritt (Abbildung 23.18). In einigen
erhält. Diese Art der Selektion beinhaltet den Heterozy- Populationen macht das Sichelzellen-Allel 20 Prozent
gotenvorteil und die frequenzabhängige Selektion. der Hämoglobin-Allele im Genpool aus, eine extrem
hohe Frequenz für ein homozygot derart schädliches
Heterozygotenvorteil (Heterosiseffekt) Allel.
Wenn Individuen, die an einem bestimmten Genort
heterozygot sind, eine größere individuelle Fitness auf- Frequenzabhängige Selektion
weisen als die beiden Homozygotentypen, zeigen sie Bei der häufigkeits- oder frequenzabhängigen Selektion
einen sogenannten Heterozygotenvorteil. In einem nimmt die individuelle Fitness eines Phänotyps ab,
solchen Fall führt die natürliche Selektion dazu, zwei wenn er in der Population zu häufig auftritt. Nehmen
oder mehrere Allele an diesem Genort zu erhalten. wir den ostafrikanischen Buntbarsch (Perissodus micro-
Beachten Sie, dass sich die Definition des Heterozygo- lepis) als Beispiel, der im Tanganjika-See vorkommt.
tenvorteils auf den Genotyp, nicht auf den Phänotyp Dieser Buntbarsch greift andere Fische von hinten an
bezieht. Ob der Heterozygotenvorteil daher mit einer und versucht, blitzschnell ein paar Schuppen aus der
stabilisierenden oder einer gerichteten Selektion in Ver- Flanke des attackierten Fisches zu reißen. Dabei ist ein
bindung gebracht werden kann, hängt von der Bezie- seltsames Merkmal dieser Buntbarsche von Interesse:
hung zwischen Genotyp und Phänotyp ab. Wenn der Einige Fische sind „Linksmünder“, andere „Rechts-
Phänotyp eines heterozygoten Individuums im Hinblick münder“ und bei einigen ist keine eindeutige Ausprä-
auf die Phänotypen der beiden homozygoten Typen gung festzustellen.
Teil 4 zum Beispiel intermediär ist, stellt der Heterozygoten- Da ihr Maul nach links gedreht ist, attackieren Links-
vorteil eine Form der stabilisierenden Selektion dar. münder stets die rechte Flanke ihrer Opfer. Ebenso
Es gibt relativ wenige gut dokumentierte Beispiele für greifen Rechtsmünder vorzugsweise von links an
einen Heterozygotenvorteil. Eines liefert der Locus beim (Abbildung 23.17). Beutearten hüten sich vor allem vor
Menschen, der für die β-Polypeptiduntereinheit des Attacken desjenigen P. microlepis-Phänotyps, der gerade
Hämoglobins codiert, des sauerstoffbindenden Proteins im See besonders häufig ist. Infolgedessen wird der
in den roten Blutkörperchen. Bei homozygoten Indivi- jeweils weniger häufige Phänotyp bei der Jagd begünstigt
duen ruft ein bestimmtes rezessives Allel an diesem und die Frequenz von Rechtsmündern und Linksmün-
Locus die Sichelzellen-Anämie hervor. Die roten Blut- dern wird durch einen balancierten Polymorphismus zu
körperchen von Menschen mit Sichelzellen-Anämie ver- etwa gleichen Teilen in der Population erhalten.
formen sich bei Sauerstoffmangel sichelförmig (siehe
Abbildung 5.19), verklumpen und behindern die Blut-
versorgung, was zu ernsten Komplikationen führen
kann, darunter zu Schädigungen von Nieren, Herz und
Gehirn. Obwohl sich auch bei heterozygoten Indi-
viduen einige rote Blutkörperchen verformen, sind dies
nicht genug, um eine Sichelzellen-Anämie zu entwi-
ckeln. Heterozygote Individuen sind zudem vor den
schlimmsten Auswirkungen der Malaria geschützt
(wenn sie auch gegen Malaria nicht resistent sind).
Malaria wird durch einen parasitären Einzeller ausge-
löst, der die roten Blutkörperchen befällt. Ein Grund für
den teilweisen Schutz vor den Auswirkungen von Abbildung 23.17: Frequenzabhängige Selektion bei dem Bunt-
Malaria ist der, dass die befallenen sichelförmigen Zel- barsch P. microlepis. Rechtsmündige und linksmündige P. microlepis -
len im Körper abgebaut werden und so die Ausbreitung Individuen. In der Buntbarschpopulation, die sich von Schuppen ernährt,
des Parasiten vermindert wird. Dieser Schutz ist in den wird die Frequenz des jeweiligen Phänotyps etwa zu gleichen Anteilen
tropischen Regionen von Afrika, wo Malaria eine der erhalten.

642
23.4 Die natürliche Selektion ist der einzige Mechanismus, der beständig für eine adaptive Evolution sorgt

23.4.5 Warum die natürliche Selektion lig für Verstauchungen, Zerrungen und Gelenkpro-
keine „perfekten“ Organismen bleme: Auf eine weitere strukturelle Verstärkung
hervorbringen kann ist zugunsten einer erhöhten Beweglichkeit „ver-
zichtet worden“.
Obgleich die natürliche Selektion zu einer Vielzahl von
wertvollen Anpassungen führt, finden sich viele Bei- 4. Zufall, natürliche Selektion und Umweltfaktoren
spiele von Anpassungen einzelner Organismenarten, interagieren miteinander. Zufallsereignisse kön-
die im Hinblick auf ihre morphologische, physiologi- nen den evolutiven Prozess von Populationen
sche oder verhaltensbiologische Ausstattung keinesfalls beeinflussen. Wenn ein Sturm beispielsweise In-
als „perfekt“ angesehen werden können. Die folgenden sekten oder Vögel viele hundert Kilometer übers
vier Gründe tragen dazu bei: Meer auf eine Insel verdriftet, transportiert er nicht
unbedingt diejenigen Individuen, die für die neuen
1. Die Selektion kann nur auf die existierende ge- Umweltbedingungen am besten geeignet sind. Da-
netische Variabilität einwirken. Die natürliche her sind nicht sämtliche Allele im Genpool einer
Selektion begünstigt nur die vorteilhaftesten Gründerpopulation im Vergleich zu den Allelen
Phänotypen, die zur gegebenen Zeit in der Popu- der zurückgelassenen Ausgangspopulation besser
lation vorhanden sind. Diese müssen dennoch für die neuen Umweltbedingungen geeignet. Zu-
nicht diejenigen Phänotypen sein, die eine opti- dem können sich die Umweltbedingungen an ei-
male Anpassung an die gegebenen Umwelt- nem bestimmten Ort von einem zum nächsten Jahr
bedingungen darstellen. Neue vorteilhafte Allele unvorhersehbar ändern, was die Möglichkeiten
entstehen eben nicht nach Bedarf. einschränkt, wie sich durch adaptive Evolution op-
timale Anpassungen zwischen Organismen und ih-
2. Die Evolution wird durch historische Gegeben- rer Umwelt entwickeln können.
heiten beeinflusst. Jede Art stammt von einer
langen Reihe von Vorfahren ab. In der Evolution Diese vier Gründe stellen damit Zwänge dar, denen die
werden viele phylogenetisch alte Anpassungen evolutiven Prozesse unterworfen sind. Die Evolution
nicht einfach eliminiert und komplexe Strukturen kann den „perfekten“ und am besten an die Umwelt
und Eigenschaften nicht immer wieder vollständig adaptierten Organismus nicht schaffen! Die natürliche Teil 4
neu aufgebaut und entwickelt. Vielmehr sorgt sie Selektion operiert mit der Strategie: „so gut wie nur
über die natürliche Selektion dafür, dass bereits möglich“ unter Berücksichtigung der jeweiligen Rah-
existierende Strukturen und Funktionen an die menbedingungen. So spiegelt sich in der „Unvollkom-
neuen Situationen angepasst werden. Angenom- menheit“ der einzelnen Organismenarten auch der
men, eine Tertrapodenart erobert einen neuen ständige Evolutionsprozess wider.
Lebensraum, in dem Flugfähigkeit einen großen
Selektionsvorteil darstellt und ein zusätzliches
Paar Vorderextremitäten als Flügel nun sehr nütz-  Wiederholungsfragen 23.4
lich wären. Da aufgrund des vorgegebenen Bau-
plans im Laufe der Stammesgeschichte jedoch 1. Wie groß ist die relative Fitness eines sterilen
nicht einfach neue Extremitäten entwickelt wer- Maultiers? Begründen Sie Ihre Antwort.
den können, wird auf vorhandene Strukturen 2. Erklären Sie, warum die natürliche Selektion
zurückgegriffen. Im Laufe der Evolution der Vögel der einzige Evolutionsmechanismus ist, der
und Fledermäuse wurden die Vorderextremitäten fortwährend für eine adaptive Evolution sorgt.
der flugunfähigen Vorfahren für die Funktion des
Fliegens umstrukturiert. 3. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich eine Popu-
lation vor, in der Individuen, die an einem
3. Anpassungen sind häufig Kompromisse („trade- bestimmten Locus heterozygot sind, einen
offs“). Jedes Individuum hat eine Vielzahl von extremen Phänotyp darstellen (zum Beispiel
Aufgaben zu lösen. Eine Robbe verbringt einen Teil könnten sie viel größer sein als homozygote
ihres Lebens an Land; dort könnte sie sich wahr- Individuen), der zudem einen bestimmten
scheinlich besser fortbewegen, wenn sie dafür ad- Selektionsvorteil mit sich bringt. Ist eine sol-
aptierte Extremitäten und nicht Flossen ausgebil- che Situation das Ergebnis einer gerichteten,
det hätte, aber dann könnte sie nicht annähernd so einer disruptiven oder einer stabilisierenden
gut schwimmen. Wir Menschen verdanken einen Selektion? Begründen Sie Ihre Antwort.
großen Teil unserer Geschicklichkeit unseren zum
Greifen geeigneten Händen mit flexibel einsetz- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
baren Fingern, doch diese machen uns auch anfäl-

643
Abbildung 23.18

ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN

Das Sichelzellen-Allel
Dieses Kind hat Sichelzellen-Anämie, eine genetische Erkrankung, die
in Individuen zur Ausprägung kommt, die zwei Kopien des Sichel-
zellen-Allels tragen. Dieses Allel verändert die Struktur und Funktion
des Hämoglobins, des Sauerstoff-transportierenden Proteins der roten
Blutkörperchen. Obwohl die Sichelzellen-Anämie unbehandelt tödlich
verläuft, beträgt die Frequenz des Sichelzellen-Allels in einigen
Regionen 15–20 Prozent. Wie kann sich ein solch schädliches Allel
so stark verbreiten?

Was passiert auf molekularer Ebene?


• Aufgrund einer Punktmutation unterscheidet sich das Sichelzellen-Allel vom
gesunden Allel in nur einem Nucleotid (siehe Abbildung 17.25).
• Der daraus resultierende Unterschied in der Aminosäurestruktur führt unter
niedrigem Sauerstoffpartialdruck zu einer hydrophoben Interaktion der
Sichelzell-Hämoglobine untereinander.
• Dies führt zu einer faserförmigen Zusammenlagerung der Sichelzell-Proteine.

Konsequenzen für die Zelle


• Die abnormen Hämoglobin-Fasern führen unter Sauerstoffmangel zu
Matrizen-Strang einer sichelförmigen Verformung der roten Blutkörperchen. Dies findet
Sichelzellen-Allel auf unter anderem in den Blutgefäßen statt, die zum Herz führen.
dem Chromosom
T C
C T
C T A G
A
C A C G A G
faserförmige Zusammenlagerung
G
A T G des Sichelzellen-Hämoglobins
G C T G
A
G T C
T C
C
A G A
G T
C

Ein Adenin anstelle eines Thymins im Matrizen-


DNA-Strang des Sichelzellen-Allels verändert ein
Codon in der transkribierten mRNA. Dies wiederum Sauerstoff-
führt zu einer veränderten Aminosäuresequenz im Sichelzellen- mangel
Sichelzellen-Hämoglobin, so dass an einer Stelle die Hämoglobin
Aminosäure Valin durch eine Glutaminsäure ersetzt
wird (siehe auch Abbildung 5.19).

sichelförmige Verformung
Wildtyp- eines betroffenen roten
Allel Blutkörperchens
T C
C T
C T A G
G A
C T C G A
G
A A G
A
G
C
T G
T
G
T C
C A C
A
G T G
C

normales Hämoglobin
(das sich nicht zu faserförmigen
Strukturen zusammenlagert)
normales rotes Blutkörperchen
23 Die Evolution von Populationen

  ZU S AM M E NF AS S UNG KAP I T E L 2 3  

Konzept 23.1 Konzept 23.3


Genetische Variabilität ermöglicht Evolution Natürliche Selektion, genetische Drift und Genfluss
können die Allelfrequenzen in einer Population ver-
 Genetische Variabilität bezieht sich auf genetische ändern
Unterschiede zwischen Individuen einer Population.
Nur die phänotypische Variabilität, die auf einer  Die natürliche Selektion führt dazu, dass Individuen
genetischen Basis beruht, spielt für Selektionspro- einer Population mit bestimmten vererbbaren Merk-
zesse eine Rolle. malen aufgrund dieser Merkmale größere Überlebens-
 Nucleotidunterschiede, die die Basis genetischer und Fortpflanzungsraten haben als andere Indivi-
Variabilität darstellen, kommen zustande, wenn duen. Dieser unterschiedliche Fortpflanzungserfolg
durch Mutation und Genduplikation neue Allele führt dazu, dass bestimmte Allele in größerer Zahl
und Gene entstehen. Neue genetische Varianten an die nächste Generation weitergegeben werden als
entstehen schnell in Organismen mit einer kurzen andere.
Generationszeit. In sich sexuell reproduzierenden  Bei der genetischen Drift führt die zufällige Verän-
Organismen ist der Großteil der genetischen Unter- derung der Allelfrequenzen von einer Generation
schiede zwischen Individuen auf Crossing-over- zur anderen häufig zu einer Verringerung der gene-
Ereignisse zurückzuführen, sowie der Neukombi- tischen Variabilität.
nation der Chromosomen während der Gametenbil-  Genfluss, der Austausch von Allelen zwischen Popu-
dung und der Befruchtung. lationen, verringert im Lauf der Zeit die Unterschiede
zwischen verschiedenen Populationen.
? Der größte Teil der Nucleotidveränderungen an einem Genlocus hat
typischerweise keine Auswirkungen auf den Phänotyp. Bitte begründen ? Würden Sie erwarten, dass sich zwei kleine und geografisch isolierte
Sie, warum dies so ist. Populationen, die in sehr unterschiedlichen Habitaten vorkommen, in glei-
cher Weise entwickeln? Begründen Sie Ihre Antwort.
Teil 4 Konzept 23.2
Mithilfe der Hardy-Weinberg-Gleichung lässt sich her- Konzept 23.4
ausfinden, ob in einer Population Evolution stattfindet Die natürliche Selektion ist der einzige Mechanismus,
der beständig für eine adaptive Evolution sorgt
 Eine Population ist eine in einer bestimmten Region
vorkommende Gruppe von Individuen derselben  Ein Individuum verfügt dann über eine höhere rela-
Art, die eine Fortpflanzungsgemeinschaft bildet und tive Fitness, wenn es im Vergleich zu anderen Indi-
deshalb einen gemeinsamen Genpool besitzt, der viduen der Population mehr fertile Nachkommen
sämtliche Allele in der Population umfasst. hinterlässt. Dabei kann die natürliche Selektion auf
 Das Hardy-Weinberg-Gesetz besagt, dass die Allel- unterschiedliche Arten auf den Phänotyp einwirken:
und Genotypfrequenz in einer Population konstant
bleibt, wenn die Population groß genug ist, Paarun- ursprüngliche evolvierte
Population Population
gen nach dem Zufallsprinzip erfolgen (Panmixie),
Mutationen als Einflussgrößen vernachlässigt wer-
den können und es keine natürliche Selektion
sowie keinen Genfluss gibt. Für eine solche Popula-
tion gilt folgender Zusammenhang: Wenn p und q
die Frequenzen der beiden möglichen Allele eines
bestimmten Locus repräsentieren, dann ist p2 die
Frequenz des einen homozygoten Genotyps, q2 die gerichtete disruptive stabilisierende
Frequenz des anderen homozygoten Genotyps und Selektion Selektion Selektion
2 pq die Frequenz des heterozygoten Genotyps.
 Anders als genetische Drift und Genfluss erhöht die
? Ist es ein Zirkelschluss, p und q aus beobachteten Genotypenfrequen- natürliche Selektion die Allelfrequenz derjenigen
zen einer Population zu errechnen und dann diese Frequenzen heranzuzie-
Allele, die die Überlebenswahrscheinlichkeit und
hen, um zu testen, ob sich die Population im Hardy-Weinberg-Gleichge-
wicht befindet? Begründen Sie Ihre Antwort.
den Fortpflanzungserfolg steigern. Sie verbessert
dadurch beständig die Anpassung der Individuen
einer Population an ihre Umwelt.

646
Übungsaufgaben

 Die sexuelle Selektion führt zur Evolution von die vorhandene Variabilität einwirken. In der Evolu-
sekundären Geschlechtsmerkmalen, die den Indivi- tion entwickeln sich neue Strukturen und Eigen-
duen erhebliche Paarungsvorteile bringen. schaften durch Modifikationen von bereits existie-
 Über Diploidie wird ein großer Teil der genetischen renden Strukturen und Eigenschaften. Anpassungen
Variabilität in Form von rezessiven Allelen vor der stellen häufig Kompromisse dar. Zufallsereignisse,
Selektion geschützt. Man spricht von balanciertem natürliche Selektion und Umwelt wirken gemein-
Polymorphismus, wenn durch natürliche Selektion sam auf die Evolution ein.
zwei oder mehr Allele in einer Population erhalten
bleiben. ? Wie könnten sich sekundäre Geschlechtsmerkmale zwischen männ-
lichen und weiblichen Individuen einer Art unterscheiden, in der die Weib-
 Evolution führt nicht zur Entwicklung von perfekten
chen untereinander um Männchen konkurrieren?
Organismen. Die natürliche Selektion kann nur auf

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜB UN GSA U FG AB E N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.

Ebene 1: Wissen und Verständnis 5. Eine Taufliegenpopulation hat ein Gen mit zwei
Allelen, A1 und A2. Tests zeigen, dass 70 Prozent
1. Die natürliche Selektion verändert die Allel- der in der Population produzierten Gameten das
frequenz, da einige ______ überleben und sich er- A1-Allel enthalten. Wenn sich die Population im
folgreicher fortpflanzen als andere. Hardy-Weinberg-Gleichgewicht befindet, welcher
a. Allele Anteil der Fliegen trägt dann beide Allele, A1
b. Genorte und A2?
c. Arten a. 0,7
d. Individuen b. 0,49
c. 0,42
2. Keine zwei Menschen sind genetisch identisch, mit d. 0,21
Ausnahme von eineiigen Zwillingen. Der Haupt-
grund für genetische Variabilität der Menschen ist/ Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten Teil 4
sind
a. neue Mutationen, die in der vorangegangenen 6. Verbindung zur Evolution Erklären Sie unter
Generation aufgetreten sind. Verwendung von mindestens zwei Beispielen, in-
b. eine Gendrift aufgrund geringer Populations- wiefern die Unvollkommenheit der Organismen
größe. Evolutionsprozesse widerspiegelt.
c. die Neumischung von Allelen bei der sexuel-
len Fortpflanzung. 7. Wissenschaftliche Fragestellung
d. Umwelteinflüsse. DATENAUSWERTUNG Wissenschaftler untersuchten
die genetische Variabilität bei der marinen Mies-
Ebene 2: Anwendung und Auswertung muschel Mytilus edulis vor Long Island, New York.
Sie bestimmten die Häufigkeit eines bestimmten
3. Wenn die Nucleotidvariabilität eines Locus 0 Allels (lap94), das für ein Enzym codiert, welches
Prozent beträgt, wie hoch sind die Gen-Variabili- an der Regulation des internen Wasser- und Salz-
tät und die Allelanzahl an diesem Locus? haushalts der Muschel beteiligt ist. Die Wissen-
a. Gen-Variabilität = 0 %; Allelanzahl = 0 schaftler stellten ihre Ergebnisse in einer Serie von
b. Gen-Variabilität = 0 %; Allelanzahl = 1 Kreisdiagrammen dar, die den jeweiligen Proben-
c. Gen-Variabilität = 0 %; Allelanzahl = 2 entnahmestellen im Long Island Sund zugeordnet
d. Gen-Variabilität > 0 %; Allelanzahl = 2 waren, wo die Salinität stark schwankt, und Pro-
benentnahmestellen auf der dem Meer zugewand-
4. Population 1 enthält 40 Individuen, die alle den ten Seite, wo die Salinität konstant ist.
Genotyp A1A1 aufweisen, und Population 2 ver-
fügt über 25 Individuen, die alle den Genotyp Erstellen Sie eine Tabelle, in der Sie die ge-
A2A2 besitzen. Nehmen Sie an, dass diese Popu- schätzte Häufigkeit des lap94-Allels aus den
lationen weit voneinander entfernt vorkommen, Kreisdiagrammen für die elf Probenentnahme-
ihre Lebensräume jedoch sehr ähnlich sind. Die stellen eintragen. (Tipp: Stellen Sie sich jedes
beobachtete genetische Variabilität ist, wenn man Kreisdiagramm als Ziffernblatt einer Uhr vor, um
von dieser Datenlage ausgeht, wahrscheinlich die anteilige Größe der violetten Fläche abzu-
eine Folge von schätzen.) Stellen Sie dann die Frequenzen für
a. genetischer Drift. die Stellen 1–8 grafisch dar, und zeigen Sie, wie
b. Genfluss. sich die Frequenzen dieses Allels mit zunehmen-
c. nicht-zufälliger Partnerwahl.
d. gerichteter Selektion.

647
23 Die Evolution von Populationen

der Salinität im Long Island Sund (von Südwes- zygot sind, bilden normales und Sichelzell-Hämo-
ten nach Nordosten) verändern. Wie sehen die globin aus (siehe Konzept 14.4). Wenn in diesen
Daten von den Stellen 9–11 im Vergleich zu den Individuen Hämoglobin-Moleküle in rote Blutkör-
Daten von den Stellen im Long Island Sund aus? perchen „verpackt“ werden, kann es sein, dass ei-
nige rote Blutkörperchen eine relativ große Menge
von Sichelzellhämoglobin erhalten und dadurch
Orte der Stichpro- eher zu einer sichelförmigen Verformung neigen
bennahme (1–8:
Probenentnahme als andere. Bitte stellen Sie in einem kurzen Auf-
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
an gegenüberlie- satz (in 100–150 Worten) dar, welche (biologischen)
genden Küsten- Auswirkungen diese molekularen und zellulären
abschnitten)
Ereignisse auf die betroffenen Individuen und auf
Allelfrequenzen der Ebene der Population haben.

lap94-Allele andere lap-Allele


9. NUTZEN SIE IHR WISSEN Dieser Toteis-See entstand
Daten aus: R. K. Koehn and T. J. Hilbish, The adaptive importance of genetic variation,
American Scientist 75:34–141 (1987).
vor etwa 14.000 Jahren durch das Abschmelzen
eines Gletschers, der das gesamte Gebiet bedeckt
Zum offenen Meer hin nimmt der Salzgehalt zu. hatte. Mit der Zeit wurde der See von Invertebra-
ten und anderen Tieren besiedelt. Spekulieren
8 Sie, wie Mutationen, natürliche Selektion, geneti-
6 7
4 5 sche Drift und Genfluss die Populationen ver-
Long Island 2 3
Sund ändert haben könnten, die diesen See besiedelt
1 9 haben.

N 10 Atlantik
11

Teil 4
Formulieren Sie eine Hypothese, die das Muster
erklärt, das Sie nach der Datenauswertung erken-
nen können. Berücksichtigen Sie dabei die fol-
genden beiden Beobachtungen: (1) Das lap94-
Allel hilft den Muscheln, in Wasser mit einer ho-
hen Salzkonzentration ihr osmotisches Potenzial
aufrechtzuerhalten; in Wasser mit einem niedri-
geren Salzgehalt ist der Gebrauch des lap94-Allels
aufwendig. (2) Die Muscheln produzieren Lar-
ven, die sich über weite Strecken hin ausbreiten
können, bevor sie sich an einem Felsen festsetzen
und zu adulten Muscheln heranwachsen.

8. Skizzieren Sie ein Thema: Organisation Indivi-


duen, die bezüglich des Sichelzellen-Locus hetero-

Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie


weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
für Campbell Biologie sowie im Anhang A.

648
Die Entstehung der Arten

24.1 Das biologische Artkonzept betont die reproduktiven 24


Isolationsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650
24.2 Artbildung mit und ohne geografische Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . 655

KONZEPTE
24.3 Hybridzonen ermöglichen die Analyse von Faktoren,
die zur reproduktiven Isolation führen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662
24.4 Artbildung kann schnell oder langsam erfolgen und aus
Veränderungen weniger oder vieler Gene resultieren . . . . . . . . . . 666

 Abbildung 24.1: Wie kam es zur Existenz dieser flugunfä-


higen Vogelart auf den weit abgelegenen Galapagos-Inseln?
24 Die Entstehung der Arten

Das „Rätsel aller Rätsel“ Mikro- und Makroevolution hergestellt und die Frage
behandelt werden, durch welche Mechanismen neue
Als die Beagle im Galapagos-Archipel vor Anker ging, Arten aus bereits existierenden Arten entstehen kön-
stellte Darwin fest, dass auf diesen relativ jungen Inseln nen. Zunächst müssen wir jedoch klären, was wir ei-
vulkanischen Ursprungs trotz ihres geringen geologi- gentlich meinen, wenn wir von „Arten“ reden.
schen Alters zahlreiche Pflanzen- und Tierarten zu fin-
den waren, die man sonst bisher nirgendwo auf der Welt
gefunden hatte (Abbildung 24.1). Später erkannte er, Das biologische Artkonzept
dass diese Artenvielfalt erst nach der Entstehung der
Inseln aufgetreten sein konnte. Er schrieb in sein Tage- betont die reproduktiven
buch: „Both in space and time, we seem to be brought
somewhat near to the great fact – that mystery of myste-
ries – the first appearance of new beings on this earth“.
Isolationsmechanismen
24.1
Das „Rätsel aller Rätsel“ (engl. mystery of all myste- Der Begriff „Spezies“ (Art) leitet sich vom Lateinischen
ries), das Darwin nicht mehr losließ, ist die Frage der ab und bedeutet so viel wie „Aussehen“ oder „Erschei-
Artbildung (Speziation), durch die zwei oder mehrere nung“. Im Alltag unterscheiden wir zwischen Hunden
Arten (Spezies) aus einem gemeinsamen Vorfahren und Katzen anhand ihres unterschiedlichen Aussehens.
entstehen. Die Artbildung faszinierte Darwin (und seit Aber lassen sich solche Organismen tatsächlich in trenn-
ihm viele andere Biologen), da sie für die unglaublich bare Einheiten unterteilen, die wir als „Arten“ bezeich-
mannigfaltige und formenreiche Artenvielfalt verant- nen können, oder ist diese Klassifikation ein eher will-
wortlich ist und immer wieder neue Arten schafft, die kürlicher Versuch, die Natur zu ordnen? Um diese Frage
sich von den bereits existierenden Arten unterschei- beantworten zu können, haben Biologen nicht nur die
den. Artbildung erklärt nicht nur die Unterschiede, morphologischen Unterschiede verschiedener Organis-
sondern auch die Ähnlichkeiten zwischen verschiede- mengruppen miteinander verglichen, sondern auch
nen Arten (ihre gemeinsame Abstammung). Nahe ver- nicht so offensichtliche physiologische, biochemische
wandte Arten teilen viele gemeinsame Merkmale unter- und molekulare Unterschiede. Die Ergebnisse bestätigen
einander und mit ihren gemeinsamen Vorfahren. So im Allgemeinen, dass nach morphologischen Kriterien
Teil 4 zeigen DNA-Analysen, dass zum Beispiel die Galapa- gruppierte Arten tatsächlich eigenständige Taxa sind,
gosscharbe (Phalacrocorax harrisi) in Abbildung 24.1 die sich neben ihrer Morphologie noch in vielen weite-
eng mit flugfähigen Kormoranarten verwandt ist, die ren Merkmalen deutlich unterscheiden.
an der Westküste von Süd- und Nordamerika vorkom-
men. Das spricht dafür, dass die Galapagosscharbe von
einer phylogenetisch älteren Kormoranart abstammt, 24.1.1 Das biologische Artkonzept
die die Galapagos-Inseln vom Festland aus besiedelt
hat. Die wichtigste Artdefinition, die wir in diesem Lehrbuch
Artbildung verkörpert außerdem die konzeptionelle verwenden, wird als biologisches Artkonzept bezeich-
Brücke zwischen der Mikroevolution, das heißt der Ver- net. Diesem Konzept zufolge, das 1942 von den großen
änderung der Allelfrequenz in einer Population im Laufe Evolutionsbiologen Ernst Mayr, Theodor Dobzhansky
der Zeit, und der Makroevolution. Letztere beschreibt und Julian Huxley formuliert wurde, stellt eine Art (Spe-
die großen evolutiven Entwicklungsschritte oberhalb zies) eine Gruppe von Populationen dar, deren Angehö-
der Art-Ebene, die durch aufeinanderfolgende Artbil- rige sich unter natürlichen Bedingungen miteinander
dungsprozesse schließlich völlig neue und auch sehr fortpflanzen und lebensfähige, fertile Nachkommen bil-
erfolgreiche Organismengruppen hervorgebracht haben, den können (Abbildung 24.2) sowie reproduktiv von
wie zum Beispiel die Säugetiere oder die Angiospermen. anderen Arten isoliert sind. Deshalb sind die Ange-
In Kapitel 23 haben wir uns mit den Mechanis- hörigen einer biologischen Art dadurch vereint, dass sie
men der Mikroevolution beschäftigt (Mutation, zumindest potenziell eine Fortpflanzungsgemeinschaft
Rekombination, natürliche Selektion, geneti- bilden können. So gehören zum Beispiel alle Men-
sche Drift und Genfluss), und schen ein und derselben Art (Homo sapiens) an. Es
in Kapitel 25 werden wir mag zwar unwahrscheinlich sein, dass eine Geschäfts-
uns dann der Makro- frau aus Osnabrück einen Milchbauern aus der Mongo-
evolution zuwenden. lei trifft, aber wenn sich die beiden tatsächlich treffen
In diesem Kapi- würden, dann könnten sie lebensfähige Kinder zeugen,
tel soll der Zu- die sich zu fortpflanzungsfähigen Erwachsenen entwi-
sammenhang ckeln. Im Gegensatz dazu gehören Mensch und Schim-
zwischen panse unterschiedlichen biologischen Arten an. Selbst
wenn sie im gleichen Gebiet leben, halten viele
Faktoren sie davon ab, sich zu paa-
ren, und sie können keine
fruchtbaren Nachkom-
men zeugen.
Diese Riesenschildkröte kommt nur auf den Galapagos-Inseln vor.

650
24.1 Das biologische Artkonzept betont die reproduktiven Isolationsmechanismen

wenn eine einzelne Barriere möglicherweise den Gen-


fluss nicht völlig unterbinden kann, so können doch
mehrere unterschiedliche Mechanismen gemeinsam
eine Kreuzung zwischen zwei Arten verhindern.
Klar ist, dass sich eine Fliege nicht mit einem Frosch
oder einer Farnpflanze kreuzen kann; doch die Fort-
pflanzungsbarrieren zwischen näher verwandten Arten
sind nicht so offensichtlich. Grundsätzlich lassen sie
sich danach einteilen, ob sie zur reproduktiven Isolation
(a) Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Arten. Der Lerchen- vor oder nach der Befruchtung der Eizelle (Bildung einer
stärling (Sturnella magna, links) und der Wiesenstärling (Sturnella Zygote) beitragen. Präzygotische Barrieren („vor der
neglecta, rechts) sind sich in Körperbau und Färbung sehr ähnlich.
Dennoch handelt es sich biologisch um zwei eigenständige Arten,
Zygote“) verhindern, dass es zu einer Befruchtung der
denn ihr Gesang und andere Verhaltensmerkmale sind so verschie- Eizelle (Fertilisation) kommt. Sie wirken in der Regel auf
den, dass es unter natürlichen Bedingungen nicht zu Kreuzungen einer der drei folgenden Ebenen: Entweder wird bereits
kommt.
vorab verhindert, dass es zu einer Paarung zwischen den
Individuen der beiden Arten kommt, oder es kommt nur
zu einem Paarungsversuch, bei dem die Paarung unter-
bleibt, oder eine Paarung erfolgt, aber es kommt nicht zu
einer Befruchtung der Eizelle. Wenn eine Spermazelle
der einen Art die präzygotischen Barrieren überwindet
und die Eizelle einer anderen Art befruchtet, kann eine
Vielzahl postzygotischer Barrieren („nach der Zygote“)
nach der Bildung der Hybridzygote die reproduktive Iso-
lation aufrechterhalten. Zum Beispiel können Störungen
in der Embryonalentwicklung die Überlebensrate der
Hybridembryonen erheblich senken. Außerdem errei-
chen die Hybriden, wenn sie dennoch geboren werden,
in der Regel nicht das fortpflanzungsfähige Alter. Gele- Teil 4
gentlich können sich Hybriden auch normal entwickeln
und das adulte Stadium erreichen, bleiben dann jedoch
(b) Biologische Vielfalt innerhalb einer Art. So unterschiedlich wir
steril. Selbst wenn die erste Hybridgeneration (F1) fertil
auch aussehen mögen, gehören alle Menschen doch zu ein und sein sollte, kann es noch in der zweiten oder dritten Fol-
derselben biologischen Art (Homo sapiens), denn wir alle können gegeneration zu einem Zusammenbruch der Hybrid-
miteinander fruchtbare Nachkommen haben.
population kommen. Abbildung 24.3 beschreibt präzy-
Abbildung 24.2: Das biologische Artkonzept basiert weniger auf gotische und postzygotische Barrieren ausführlicher.
physiognomischer Ähnlichkeit als vielmehr auf dem Potenzial,
sich fortpflanzen und fertile Nachkommen bekommen zu können. Grenzen des biologischen Artkonzepts
Eine Stärke des biologischen Artkonzepts liegt darin,
Was hält den Genpool einer Art zusammen und was dass es die Bedeutung der Bildung reproduktiver Isola-
führt dazu, dass die Individuen einer Art einander tionsmechanismen für einen Artbildungsprozess her-
stärker ähneln als den Vertretern anderer Arten? Um ausstellt. Die Anzahl von Arten, auf die sich dieses
diese Frage beantworten zu können, müssen wir auf Konzept anwenden lässt, ist jedoch begrenzt. So gibt es
einen Mechanismus zurückgreifen, den wir in Kapitel zum Beispiel keine Möglichkeit, den Umfang einer
23 bereits erörtert haben: Genfluss, also dem Transfer reproduktiven Isolation bei Fossilien einzuschätzen.
von Allelen zwischen Populationen. Die Angehörigen Der biologische Artbegriff lässt sich zudem nicht auf
einer Art ähneln einander häufig deshalb, weil ihre Organismen anwenden, die sich stets oder überwie-
Populationen genetisch durch Genfluss miteinander gend asexuell (vegetativ) vermehren, so wie Prokaryon-
verbunden sind. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen ten. (Viele Prokaryonten tauschen tatsächlich unterein-
werden, spielt die Abwesenheit von Genfluss bei der ander Gene aus, wie wir in Kapitel 27 noch erfahren
Artbildung eine wichtige Rolle. werden, doch dies geschieht nicht im Rahmen eines
Fortpflanzungsprozesses.) Zudem sind Arten, die über
Reproduktive Isolation den biologischen Artbegriff definiert werden, durch das
Da biologische Arten Fortpflanzungsgemeinschaften Fehlen eines Genflusses charakterisiert. Es gibt jedoch
darstellen, muss über reproduktive Isolationsmecha- zahlreiche nahe verwandte, jedoch in der Regel räum-
nismen verhindert werden, dass die Angehörigen von lich voneinander getrennte Artenpaare, die morpholo-
zwei unterschiedlichen Arten lebensfähige, fruchtbare gisch und auch ökologisch eigene Arten darstellen, und
Nachkommen hervorbringen. Solche reproduktiven dennoch kann es zwischen ihnen zu einer Hybridisie-
Barrieren blockieren den Genfluss zwischen verschie- rung und einem Genfluss kommen. Ein Beispiel dafür
denen Arten und verhindern weitgehend die Bildung sind Grizzlybär (Ursus arctos) und Eisbär (Ursus mariti-
von Hybriden, Nachkommen, die aus einer Kreuzung mus), deren Nachwuchs deutliche Merkmale beider
von zwei unterschiedlichen Arten hervorgehen. Auch Elternarten zeigt (Abbildung 24.4).

651
24 Die Entstehung der Arten

 Abbildung 24.3: Näher betrachtet


Reproduktive Barrieren

Präzygotische Barrieren verhindern eine Paarung oder, wenn es doch zur Paarung kommt, eine Befruchtung.

Habitatisolation Zeitliche Isolation Verhaltensbiologische Mechanische Isolation


Isolation

Individuen
verschie- PAARUNGS-
dener VERSUCH
Arten

Zwei Arten, die im selben Arten, die sich zu jeweils Balzrituale, die Geschlechts- Paarungsversuche kommen vor,
Gebiet verschiedene Lebens- anderen Tageszeiten, Jahres- partner anlocken, und andere doch morphologische Unter-
räume bewohnen, treffen unter zeiten oder in anderen Jahren arttypische Verhaltensweisen schiede verhindern einen erfolg-
Umständen nur selten, wenn fortpflanzen, können ihre stellen wirksame Fortpflanzungs- reichen Vollzug der Paarung.
überhaupt, aufeinander, auch Gameten nicht mischen. barrieren zwischen nah ver-
wenn sie nicht durch offen- wandten Arten dar. Solche
sichtliche abiotische oder Verhaltensrituale ermöglichen es,
geografische Barrieren, wie potenzielle Geschlechtspartner
beispielsweise Bergzüge, von- der eigenen Art zu identifizieren.
Teil 4 einander getrennt sind. Beispiel: Die Gehäuse zweier
Strauchschneckenarten der Gattung
Beispiel: Zwei Arten von Strumpf- Beispiel: In Nordamerika über- Beispiel: Blaufußtölpel (Sula Bradybaena sind in entgegenge-
bandnattern der Gattung lappen sich die geografischen nebouxii) leben auf den Galapagos- setzten Richtungen gewunden: von
Thamnophis leben im selben Verbreitungsgebiete des Östlichen inseln und paaren sich erst nach außen nach innen gehend betrach-
geografischen Gebiet, doch die Fleckenskunks (Spilogale putorius) einer artspezifischen Balz. Dabei tet ist das eine gegen (links) und
eine Art hält sich hauptsächlich (c) und des Westlichen Flecken- verlangt das „Ritual“ vom Männchen, das andere im Uhrzeigersinn (rechts)
im Wasser auf (a), während die skunks (Spilogale gracilis) (d), doch die Füße anzuheben und vorzuzeigen gedreht. Daher lassen sich die
andere vorwiegend landlebend S. putorius paart sich im Spätwinter, (e), ein Verhalten, das die Aufmerk- Genitalöffnungen (Pfeile) der
ist (b). S. gracilis hingegen im Spätsommer. samkeit des Weibchens auf die Schnecken nicht zur Deckung
leuchtend blauen Füße des balzenden bringen, so dass die Paarung nicht
Männchens lenkt. vollzogen werden kann.

(a) (c) (e) (f)

(d)

(b)

652
24.1 Das biologische Artkonzept betont die reproduktiven Isolationsmechanismen

Postzygotische Barrieren verhindern, dass sich eine Hybridzygote zu einem fortpflan-


zungsfähigen Lebewesen entwickelt.

Gametische Isolation Geringere Vitalität Geringere Fruchtbar- Hybridenzusammen-


der Hybriden keit der Hybriden bruch

LEBENSFÄHIGE,
BEFRUCHTUNG FERTILE
Selbst wenn Hybriden lebensfähig NACHKOMMEN
und kräftig sind, sind sie unter
Umständen steril. Wenn sich die
Chromosomen der beiden Eltern-
Die Spermien einer Art können Die Gene unterschiedlicher arten in ihrer Zahl oder ihrem Einige F1-Hybriden sind lebens-
die Eizellen einer anderen Elternarten können so mitein- Bau unterscheiden, kann es sein, fähig und fruchtbar, doch wenn
Art unter Umständen nicht ander interagieren, dass die dass die Meiose bei den Hybriden sie untereinander oder mit einer
befruchten. Beispielsweise sind Entwicklung oder die Über- keine normalen Gameten hervor- der Elternarten gekreuzt wer-
die Spermien vielleicht nicht lebensfähigkeit eines Hybriden bringt. Da die sterilen Hybriden den, sind die Nachkommen der
in der Lage, im Fortpflanzungs- in seiner Umwelt beeinträchtigt keine Nachkommen zeugen nächsten Generation (F2-Gene-
trakt von Weibchen der wird. können, wenn sie sich mit einer ration) schwächlich oder steril.
anderen Arten zu überleben, der beiden Elternarten paaren,
oder biochemische Mechanis- kann sich zwischen den Arten
men verhindern, dass Spermien kein freier Genfluss entwickeln. Teil 4
die Membran um die Eizelle der Beispiel: Der Bastard zwischen ein-
anderen Art durchdringen. em Eselhengst (i) und einer Pferde-
Beispiel: Manche eng verwandte Beispiel: Einige Unterarten der stute (j) ist ein Maultier (k), der zwi- Beispiel: Im Lauf ihrer Entwicklung
Arten wasserlebender Tiere wie Salamandergattung Ensatia leben in schen einer Eselstute und einem aus einem gemeinsamen Vorfahren
Seeigel (g) sind durch gametische denselben Gebieten und Habitaten, Pferdehengst ein Maulesel. Maultiere haben Kulturreissorten an zwei
Isolation getrennt. Seeigel entlas- wo es gelegentlich zu Hybridisie- und Maulesel sind zäh und genügsam, Genorten verschiedene mutierte
sen ihre Spermien und Eizellen ins rung kommt. Die meisten Hybriden werden gern als Zug- oder Tragtiere rezessive Allele angesammelt.
umgebende Wasser, wo sie mitein- schließen ihre Entwicklung jedoch verwendet, sind aber steril. Hybriden zwischen ihnen sind
ander verschmelzen und Zygoten nicht ab, und diejenigen, die es tun, (i) kräftig und fertil (l, links und rechts),
bilden. Gameten unterschiedlicher sind schwächlich (h). doch die Pflanzen der nächsten
Arten, wie diejenigen des Roten Generation, die zu viele dieser
Seeigels (Strongylocentrotus rezessiven Allele angehäuft haben,
franciscanus) und des Purpur-See- sind klein und steril (l, Mitte). Ob-
igels (S. purpuratus), können nicht gleich diese Reissorten noch nicht
miteinander verschmelzen, weil als unterschiedliche Arten ange-
Proteine auf der Oberfläche von sehen werden, haben sie begonnen,
Eizelle und Spermien nicht anein- sich durch postzygogische Barrieren
ander binden können. voneinander zu trennen.

(g) (h) (j) (l)

(k)

653
24 Die Entstehung der Arten

 Grizzlybär (U. arctos) Der ökologische Artbegriff definiert eine Art über die
„ökologische Nische“ und ihre Realisierung aller im
 Eis- oder Polarbär (U. maritimus)
Laufe ihrer Stammesgeschichte erworbenen Eigen-
schaften in einem bestimmten, durch die jeweiligen
biotischen und abiotischen Faktoren charakterisierten
Lebensraum (siehe Konzept 54.1). Zum Beispiel kön-
nen sich zwei Eichenarten in ihrer Größe oder ihrer
Trockentoleranz deutlich unterscheiden und doch
gelegentlich hybridisieren. Da sie unterschiedliche
Nischen besetzen, werden sie als eigenständige Arten
angesehen, obwohl sie durch Genfluss miteinander in
Verbindung stehen. Im Gegensatz zum biologischen
Artbegriff kann der ökologische Artbegriff sowohl auf
Arten mit sexueller Fortpflanzung als auch mit asexu-
eller (vegetativer) Fortpflanzung angewendet werden.
Er betont zudem auch die Bedeutung einer disrupti-
ven natürlichen Selektion, wenn sich Arten an unter-
schiedliche Umweltbedingungen angepasst haben.
 Hybride Der phylogenetische Artbegriff definiert eine Art als
(„Grolar-Bär“)
die kleinste Individuengruppe mit einem gemeinsamen
Abbildung 24.4: Zusammenbruch der Fortpflanzungsbarriere zwi- Vorfahren, die eine einzelne Zweigspitze am phyloge-
schen den zwei Bärenarten (Gattung Ursus): Grizzlybär und Eisbär. netischen Stammbaum bildet. Biologen verfolgen die
Stammesgeschichte einer Art zurück, indem sie ihre
Wie wir noch sehen werden, kann die natürliche Selek- morphologischen und molekularbiologischen Merk-
tion dafür sorgen, dass solche Arten trotz Genfluss ihre male mit denjenigen anderer Organismen vergleichen.
Eigenständigkeit bewahren. Aufgrund dieser Beobach- Diese Art Analyse kann Gruppen von Individuen als
tungen und Erkenntnisse betonten einige Wissenschaft- eigene Arten klassifizieren, wenn die Unterschiede zwi-
Teil 4 ler, dass beim biologischen Artbegriff dem Genfluss ein schen ihnen groß genug sind. Dabei bleibt die schwierige
höherer Stellenwert eingeräumt wird als der Bedeu- Frage, wie groß diese Unterschiede sein müssen, um von
tung der natürlichen Selektion. Heute wissen wir, dass separaten Arten zu sprechen. Neben den hier angespro-
die Entstehung zahlreicher Arten nicht nur auf einer chenen Artkonzepten sind noch mehr als 20 weitere Art-
Divergenz (Aufspaltung) im Stammbaum beruht, son- definitionen vorgeschlagen worden. Die Brauchbarkeit
dern in der Tat auch auf Hybridisierungsereignissen einer jeden Definition hängt von den Rahmenbedingun-
(siehe Konzept 24.3). Aufgrund dieser Phänomene gen (zum Beispiel den jeweils berücksichtigten Taxa)
muss der biologische Artbegriff durch weitere Artkon- und der wissenschaftlichen Fragestellung ab. Uns geht
zepte ergänzt werden. es in diesem Kapitel um die Entstehung der Arten, und
in diesem Zusammenhang ist der biologische Artbegriff,
der sich auf die reproduktiven Isolationsmechanismen
24.1.2 Weitere alternative Artkonzepte konzentriert, besonders hilfreich.

Während der biologische Artbegriff das betont, was  Wiederholungsfragen 24.1


Arten trennt und sie aufgrund von Fortpflanzungsbarri-
eren zu eigenständigen Arten macht, unterstreichen 1. (a) Welche Artbegriffe sind sowohl auf sich
einige andere Artkonzepte die Gemeinsamkeiten inner- asexuell (vegetativ) als auch auf sich sexuell
halb einer Art. So charakterisiert der morphologische reproduzierende Arten anwendbar? (b) Wel-
Artbegriff eine Art anhand ihres Bauplans und wichti- ches Artkonzept eignet sich am besten, um
ger morphologisch-anatomischer Eigenschaften. Der Arten im Freiland zu identifizieren? Begrün-
morphologische Artbegriff lässt sich sowohl auf Orga- den Sie Ihre Antwort.
nismen mit asexueller (vegetativer) als auch mit sexuel-
2. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich vor, Sie un-
ler Fortpflanzung anwenden und ist auch dann nütz-
tersuchen zwei Vogelarten, die im Wald leben
lich, wenn man das Ausmaß des Genflusses nicht
und sich nicht kreuzen. Eine Art lebt in den
kennt. In der Praxis, zum Beispiel auf Exkursionen im
Baumwipfeln, sucht dort nach Nahrung und
Freiland, werden auf morphologischen Unterschieden
paart sich auch dort, die andere lebt am Boden.
beruhende Bestimmungsschlüssel in Floren- und Fau-
Im Experiment können sich diese beiden Vo-
nenwerken verwendet, die einen Zugang zur Ermitt- gelarten jedoch paaren und lebensfähige, fer-
lung der Artenvielfalt ermöglichen. Ein Nachteil ist tile Nachkommen hervorbringen. Welcher Iso-
jedoch, dass bei einer solchen Artunterscheidung häu- lationsmechanismus hält diese Vogelarten unter
fig oft subjektive Kriterien Verwendung finden und natürlichen Bedingungen wahrscheinlich ge-
dass nicht von allen Wissenschaftlern dieselben Unter- trennt? Begründen Sie Ihre Antwort.
scheidungsmerkmale einheitlich verwendet werden.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

654
24.2 Artbildung mit und ohne geografische Isolation

Artbildung mit und ohne Der Prozess der allopatrischen Artbildung


geografische Isolation
24.2 Wie ausgeprägt muss eine geografische Barriere sein, so
dass eine allopatrische Artbildung stattfinden kann?
Die Beantwortung dieser Frage hängt von der Mobilität
der betrachteten Organismengruppe ab. Vögel, Pumas
Da wir inzwischen eine bessere Vorstellung davon und Kojoten können Gebirgszüge, Flüsse und Schluch-
haben, was eine biologische Art definitionsgemäß ist, ten überwinden. Auch der vom Wind ausgebreitete
wollen wir uns nun den Prozessen widmen, die zur Pollen von Kiefern oder die Samen vieler Blütenpflan-
Entstehung neuer Arten auf der Basis bereits existie- zen lassen sich von solchen Hindernissen kaum auf-
render Arten führen. Entsprechend den jeweils wir- halten. Im Gegensatz dazu kann es sein, dass ein brei-
kenden Isolationsmechanismen werden zwei Typen ter Fluss oder ein tiefer Canyon für kleine Nagetiere
voneinander unterschieden, durch die der Genfluss eine kaum zu überwindende Barriere darstellen.
zwischen den Populationen unterbrochen und eine Sobald es zu einer geografischen Isolation gekommen
Artbildung initiiert werden kann (Abbildung 24.5). ist, können sich die getrennten Genpools durch die in
Kapitel 23 beschriebenen Mechanismen auseinanderent-
wickeln. Es treten unterschiedliche Mutationen auf, die
Rekombination führt zur Bildung verschiedener Geno-
typen, die natürliche Selektion wirkt auf die getrennten
Organismen ein und die genetische Drift verändert die
Allelfrequenz auf zufällige Art und Weise. Im Lauf der
Zeit kann dann eine reproduktive Isolation auftreten,
die die genetische Trennung der Populationen festigt.

Teil 4

(a) Allopatrische Artbildung. (b) Sympatrische Artbildung. (a) Raubfischreiche Weiher. (b) Weiher ohne Raubfische.
Eine Population bildet eine Ein Teil der Population entwickelt Wenn Gambusia hubbsi-Populationen In Populationen, die in Habitaten
neue Art, nachdem sie von sich ohne geografische Trennung in Weihern zusammen mit Raubfischen ohne Raubfische leben, haben
ihrer Elternpopulation zu einer neuen Art. vorkommen, haben ihre Individuen Individuen eine andere Körper-
geografisch getrennt wurde. einen stromlinienförmigen Kopf und form, die an ein ausdauerndes
eine kräftige Schwanzflosse, die eine Schwimmen angepasst ist.
Abbildung 24.5: Die beiden wichtigsten Wege zur Artbildung. schnelle Beschleunigung erlauben.

Abbildung 24.6: Reproduktive Isolation als Nebenprodukt der


Selektion. Wenn zwei voneinander getrennte Gambusia hubbsi -Popula-
tionen, die in verschiedenen Weihern gelebt haben, wieder zusammenge-
24.2.1 Allopatrische Artbildung
bracht werden, zeigt sich, dass die Selektion auf ein Überleben in den
unterschiedlichen Habitaten (mit oder ohne Raubfische) zugleich zu einer
Bei der allopatrischen Artbildung (griech. allos, fremd, reproduktiven Isolation geführt hat.
und patra, Heimatland) wird ein Genfluss unterbro-
chen, wenn eine Population in geografisch voneinan-
der getrennte Subpopulationen unterteilt wird. Zum Ein Beispiel dafür ist in Abbildung 24.6 dargestellt.
Beispiel kann es passieren, dass der Wasserspiegel in Auf Andros, einer Bahamas-Insel, hatten Populatio-
einem See so stark sinkt, dass zwei oder mehr kleinere nen einer Gambusenart (Gambusia hubbsi) mehrere
Seen entstehen, in denen nun getrennte Populationen Weiher kolonisiert, die später voneinander getrennt
vorkommen (Abbildung 24.5a). Oder ein Fluss kann wurden. Genetische Analysen belegen, dass derzeit
seinen Lauf ändern und eine einst zusammenhän- zwischen den Populationen der verschiedenen Weiher
gende Population einer Tierart in zwei Populationen nur ein geringer bis gar kein Genfluss mehr stattfindet.
trennen, wobei der Fluss nun eine nicht mehr zu über- Die Habitate in den Weihern sind sich sehr ähnlich,
querende Barriere für die Individuen dieser Art dar- bis auf den Unterschied, dass einige eine Vielzahl an
stellt. Zu einer allopatrischen Artbildung kann es Raubfischen beherbergen, andere hingegen nicht. In
auch ohne solche physiogeografisch bedingten Vor- den raubfischreichen Weihern hat die natürliche Selek-
gänge kommen, zum Beispiel wenn Individuen ein tion unter den Gambusia hubbsi-Individuen eine Kör-
weiter entlegenes Gebiet kolonisieren und ihre Nach- perform hervorgebracht, die eine schnelle Beschleuni-
kommen von der Elternpopulation nun geografisch gung erlaubt (Abbildung 24.6a). In den Weihern, in
getrennt leben. Die flugunfähige Galapagosscharbe in denen kein Raubfisch vorkommt, hat diese Fischart eine
Abbildung 24.1 stammt mit großer Sicherheit von andere Körperform herausgebildet, die besser an ein
einer älteren, flugfähigen Art ab, die es einst auf die ausdauerndes Schwimmen angepasst ist (Abbildung
Galapagos-Inseln verschlagen hat. 24.6b). Hat dieser unterschiedliche selektive Druck zur

655
24 Die Entstehung der Arten

Bildung von genetischen Fortpflanzungsbarrieren ge- die auf den gegenüberliegenden Seiten der Landenge
führt, und wenn ja, wie? Forscher haben versucht, die- leben, durch allopatrische Speziation entstanden? Mor-
ser Frage auf den Grund zu gehen, und haben männli- phologische und molekulare Daten gruppieren diese
che und weibliche Individuen der beiden voneinander Krustentiere in 15 Pärchen von Schwester-Arten, d.h.
getrennten Populationen wieder zusammengebracht. Pärchen, deren Mitglieder am nächsten miteinander
Dabei wurde beobachtet, dass sich Weibchen bevor- verwandt sind. Bei jedem dieser Pärchen lebt eine
zugt mit Männchen paaren, die die gleiche Körperform Schwester-Art auf der pazifischen und die andere auf
haben wie sie selbst. Durch diese Präferenz wird eine der atlantischen Seite der Landenge. Dies ist ein starker
verhaltensbiologische Barriere aufgebaut, die dazu Hinweis darauf, dass beide Arten durch eine geografi-
führt, dass sich nur noch Gambusia hubbsi-Individuen sche Separation – die Landenge – entstanden sind.
aus demselben Habitat miteinander paaren. Sozusagen Zudem zeigen die genetischen Analysen, dass sich die
als „Nebenprodukt“ des selektiven Drucks, Raubfischen Alpheus-Arten vor etwa neun bis drei Millionen Jahren
zu entfliehen, bildet sich in den beiden allopatrischen gebildet haben, wobei jeweils die Schwester-Art, die im
Populationen eine reproduktive Barriere aus. tieferen Wasser lebt, die ältere ist. Diese Altersangaben
entsprechen auch geologischen Hinweisen auf die Ent-
Belege für eine allopatrische Artbildung stehung der Landenge, die sich vor etwa zehn Millio-
Viele Untersuchungen belegen, dass es in geografisch nen Jahren auszubilden begann und sich vor etwa drei
weit voneinander separierten Populationen leicht zu Millionen Jahren komplett geschlossen hat.
einer allopatrischen Artbildung kommen kann. Zum Die Bedeutung der allopatrischen Artbildung wird
Beispiel zeigen Laboruntersuchungen, dass sich repro- auch durch die Beobachtung unterstrichen, dass iso-
duktive Barrieren herausbilden können, wenn Popula- lierte oder stark untergliederte Regionen typischer-
tionen isoliert und unter unterschiedlichen experimen- weise artenreicher sind als ähnliche Habitate ohne diese
tellen Bedingungen herangezogen werden (Abbildung Eigenschaften. Beispielsweise gibt es auf den Inseln des
24.8). geografisch isolierten hawaiianischen Archipels viele
Feldstudien belegen, dass allopatrische Artbildung endemische Tier- und Pflanzenarten (in Kapitel 25 wer-
auch in der Natur vorkommt. Betrachten wir die 30 den wir noch einmal auf den Ursprung der hawaii-
Knallkrebs-Arten der Gattung Alpheus, die vor der anischen Arten zurückkommen). Zudem zeigen Unter-
Teil 4 Landenge von Panama, einer Landbrücke, die Süd- und suchungen, dass der Grad der reproduktiven Isolation
Nordamerika miteinander verbindet (Abbildung 24.7), zwischen zwei Populationen generell mit ihrer geogra-
leben. Von diesen Arten leben 15 auf der atlantischen fischen Distanz zueinander zunimmt. In den wissen-
Seite und die anderen 15 auf der pazifischen Seite der schaftlichen Übungen können Sie Daten analysieren,
Landenge. Bevor sich die Landenge geformt hat, fand die erhoben worden sind, um die reproduktive Isolation
ein Genfluss zwischen den atlantischen und den pazifi- von zwei geografisch isolierten Salamander-Populatio-
schen Knallkrebs-Populationen statt. Sind die Arten, nen zu untersuchen.

A. formosus A. nuttingi

ATLANTIK

Landenge von Panama

PAZIFIK

Abbildung 24.7: Allopatrische Speziation der Knallkrebse


(Alpheus). Es sind nur zwei der 15 Schwesternart-Pärchen der Gat-
tung Alpheus dargestellt, die entstanden sind, als sich die Landenge
von Panama gebildet hat. Schwestern-Arten sind farbig markiert. A. panamensis A. millsae

656
24.2 Artbildung mit und ohne geografische Isolation

Eine geografische Isolation kann zwar wirkungsvoll wie vor miteinander paaren und Nachkommen haben.
Kreuzungen zwischen Individuen verschiedener Popu- Die Ausbildung eines Isolationsmechanismus (Abbil-
lationen verhindern, aber eine physikalische Trennung dung 24.3) über eine allopatrische Artbildung garan-
ist noch keine biologische Reproduktionsbarriere. tiert jedoch, dass nach Auflösung geografischer Barrie-
Wenn sich noch keine Isolationsmechanismen zwi- ren die Individuen der einst getrennten Populationen
schen Mitgliedern der allopatrischen Populationen nun keine Gene mehr austauschen können und dass
entwickelt haben, können sich ihre Individuen nach sie sich wie verschiedene Arten verhalten.

 Abbildung 24.8: Aus der Forschung

Kann eine divergierende Entwicklung Weibchen


getrennter Populationen zu einer Weibchen Stärkepo- Stärkepo-
Stärke Maltose pulation 1 pulation 2
reproduktiven Isolation führen?

pulation 2 pulation 1
Stärkepo- Stärkepo-
Experiment Eine Wissenschaftlerin teilte eine Tau-

Maltose Stärke
22 9 18 15

Männchen

Männchen
fliegenpopulation (Drosophila pseudoobscura) und
zog eine Gruppe der Taufliegen auf einem Stärke-
medium, eine andere Gruppe auf einem Maltoseme-
dium auf. Nach einem Jahr (rund 40 Generationen) 8 20 12 15
führte dies zur Bildung zweier sich ernährungsphy-
siologisch unterschiedlich verhaltender Populatio- Paarungshäufigkeit Paarungshäufigkeit
nen. Populationen, die mit Stärke ernährt worden in der Versuchsgruppe in der Kontrollgruppe
waren, verdauten Stärke effizienter. Diejenigen, die
Maltose als Nahrung erhielten, waren hingegen an
Maltose besser adaptiert. Anschließend setzte die Schlussfolgerung Durch das Experiment wird belegt,
Forscherin einmal Taufliegen desselben Typs und dass Taufliegen, die sich über mehrere Generatio-
einmal Taufliegen der zwei verschiedenen Typen nen entweder nur von Stärke oder nur von Maltose Teil 4
zusammen und ermittelte die jeweiligen Paarungs- ernähren und in der Generationenfolge daran adap-
frequenzen. Alle Fliegen wurden vor dem Paarungs- tiert wurden, sich in der überwiegenden Mehrzahl
test für eine Generation auf einem Standard-Medium der Fälle nur mit gleich adaptierten Partnern paar-
aufgezogen. ten. Dies spricht dafür, dass sich zwischen den bei-
den Ernährungstypen ein Isolationsmechanismus
herausgebildet hatte. Auch wenn die Barriere noch
nicht vollständig funktioniert (schließlich kam es zu
einigen Paarungen zwischen den Individuen der
„Stärke-“ und der „Maltose-Population“), begann sie
Ausgangsgeneration sich offensichtlich im Laufe von nur 40 Generatio-
von Taufliegen nen aufzubauen. Als ein Resultat unterschiedlicher
(Drosophila pseudoobscura)
Selektionsdrücke passten sich die allopatrischen
Ein Teil der Ein anderer Teil
Populationen an verschiedene ernährungsphysiolo-
Fliegen wird der Fliegen gische Umweltbedingungen an, und ein Nebenpro-
auf einem Paarungsexperimente wird auf einem dukt dieser Anpassung könnte ein Unterschied im
Stärkemedium nach 40 Generationen Maltosemedium Paarungsverhalten gewesen sein, das so letztlich
gezüchtet. gezüchtet.
zu einer reproduktiven Isolation führt.

Ergebnis Wenn die Individuen von „Stärke-Popu-


lationen“ mit Individuen von „Maltose-Populatio- Quelle: D. M. B. Dodd, Reproductive isolation as a consequence of
nen“ zusammen gehalten wurden, verpaarten sich adaptive divergence in Drosophila pseudoobscura, Evolution 43:1308–
in den meisten Fällen immer nur die Individuen 1311 (1989).
desselben Typs. In einem Kontrollexperiment paarten
sich Individuen aus verschiedenen „Stärke-Popula- WAS WÄRE, WENN? Warum wurden alle Fliegen für
tionen“ annähernd gleich häufig wie Individuen, den Paarungstest auf einem Standardmedium auf-
die aus derselben Population stammen; ein ähnli- gezogen – und nicht auf einem Stärke- oder Maltose-
ches Ergebnis erbrachte auch das Experiment mit medium?
den „Maltose-Populationen“.

657
24 Die Entstehung der Arten

 Wissenschaftliche Übung

Identifikation von abhängigen und Datenauswertung


unabhängigen Variablen, Anfertigen eines
Streudiagramms und Interpretation von Daten 1. Formulieren Sie die Hypo-
these, die die Wissenschaftler
Steigt mit der Distanz zwischen Salamander-Popu- vor dem Experiment postulier-
lationen auch deren reproduktive Isolation? Allo- ten und identifizieren Sie die
patrische Artbildung beginnt, wenn Populationen abhängigen und/oder un-
geografisch voneinander getrennt werden, was eine abhängigen Variab-
Kreuzung zwischen den Individuen der beiden Popu- len dieser Studie. Er-
lationen verhindert und den Genfluss unterbindet. klären Sie, warum die
Es erscheint logisch, dass mit steigender Distanz Forscher vier Paarungskom-
zwischen den Populationen auch deren Maß an binationen für jedes Populationspärchen getes-
reproduktiver Isolation steigt. Um diese Hypothese tet haben.
zu testen, untersuchten Forscher Populationen des
Allegheny-Bachsalamanders (Desmognathus ochro- 2. Berechnen Sie jeweils den reproduktiven Iso-
phaeus), die in unterschiedlichen Gebirgszügen der lations-Index, wenn (a) alle Paarungen inner-
Appalachen leben. halb der Populationen, aber keine Paarungen
Durchführung des Experiments Biologen hielten zwischen den Population erfolgreich sind;
jeweils ein Männchen und ein Weibchen aus unter- und (b) wenn sich Salamander gleich erfolg-
schiedlichen Populationen zusammen im Labor und reich innerhalb wie auch zwischen den Popu-
untersuchten später die Weibchen auf Spuren von lationen paaren können.
Sperma. Für jedes dieser Populationspärchen (aus
Population A und Population B) wurden jeweils vier 3. Stellen Sie die Daten in Form eines Streudia-
Paarungskombinationen getestet: zweimal eine Paa- gramms dar, um Muster zu erkennen, die auf
Teil 4 rung innerhalb einer Population (Weibchen A mit einen möglichen Zusammenhang zwischen
Männchen A und Weibchen B mit Männchen B) und den Variablen hindeuten. Zeichnen Sie die un-
zweimal eine Paarung von Individuen unterschied- abhängigen Variablen entlang der x-Achse und
licher Populationen (Weibchen A mit Männchen B die eventuell abhängigen Variablen entlang der
und Weibchen B mit Männchen A). y-Achse ein.
Experimentelle Daten Die Forscher maßen die beob-
achtete reproduktive Isolation zwischen jedem 4. Interpretieren Sie Ihr Diagramm, indem Sie (a)
Populationspärchen mithilfe eines Index, der von 0 ein mögliches Muster beschreiben, das auf ei-
(keine Isolation) bis 2 (komplette Isolation) reichte. nen Zusammenhang zwischen den Variablen
Das Ergebnis jeder der vier Paarungskombinationen hindeuten könnte, und (b) überlegen Sie sich
eines Populationspärchens wurde entweder mit 1 eine denkbare Erklärung für einen solchen Zu-
(100 Prozent Erfolg) oder 0 (kein Erfolg) bewertet. sammenhang.
Das Maß der reproduktiven Isolation eines Populati-
onspärchens errechnete sich dann aus der Summe
der erfolgreichen Paarungen innerhalb einer Popula-
tion (AA + BB) minus der Summe der erfolgreichen
Paarungen zwischen den beiden Populationen (AB + Daten aus: S. G. Tilley, A. Verrell, and S. J. Arnold, Correspondence
BA). Die Tabelle gibt für 27 verschiedene Popula- between sexual isolation and allozyme differentiation: a test in the
tionspärchen jeweils deren reproduktiven Isolations- salamander Desmognathus ochrophaeus, Proceedings of the National
Index an (bei den hier dargestellten Werten handelt Academy of Sciences USA 87:2715–2719 (1990).
es sich um Durchschnittswerte, die aus mehreren
Paarungstests pro Populationspärchen stammen),
sowie die Distanz, die die beiden Populationen von-
einander trennt.

Distanz
15 32 40 47 42 62 63 81 86 107 107 115 137 147
(km)
Index reproduk-
0,32 0,54 0,50 0,50 0,82 0,37 0,67 0,53 1,15 0,73 0,82 0,81 0,87 0,87
tive Isolation
Distanz
137 150 165 189 219 239 247 53 55 62 105 179 169
(fortgeführt)
Isolation
0,50 0,57 0,91 0,93 1,5 1,22 0,82 0,99 0,21 0,56 0,41 0,72 1,15
(fortgeführt)

658
24.2 Artbildung mit und ohne geografische Isolation

24.2.2 Sympatrische Artbildung sind jedoch steril, da sich der haploide Chromoso-
mensatz der einen Art während der Meiose mit dem
Bei der sympatrischen Artbildung (griech. syn, zusam- haploiden Chromosomensatz der anderen Art nicht zu
men) kommt es innerhalb von Populationen zur Artbil- Tetraden vereinigen kann. Eine solche sterile Hybride
dung, ohne dass es zu einer geografischen Isolation ist unter bestimmten Bedingungen jedoch in der Lage,
gekommen ist (siehe Abbildung 24.5b). Wie können sich asexuell (vegetativ) zu vermehren (wie es bei vie-
sich unter solchen Rahmenbedingungen Isolationsme- len Pflanzen geschieht). In darauffolgenden Generatio-
chanismen ausbilden, wo doch die Individuen poten- nen können verschiedene Mechanismen dazu führen,
ziell miteinander in einen Genaustausch treten könn- dass aus einer sterilen Hybride ein fertiler polyploider
ten? Wenngleich allopatrische Artbildung der häufigere Organismus wird. Man bezeichnet diesen Vorgang als
Fall ist, so kann es doch zu einer sympatrischen Artbil- Allopolyploidie (Abbildung 24.9). Solche über Allo-
dung kommen, wenn der Genfluss durch Faktoren wie polyploidie entstandenen polyploiden Hybriden sind
Polyploidie, Habitataufteilung und durch sexuelle Selek- fertil; sie können sich untereinander paaren, aber sie
tion verringert beziehungsweise letztlich ganz unterbun- können sich mit keiner der beiden Elternarten mehr
den wird. (Beachten Sie, dass diese Faktoren eine allo- kreuzen; sie sind zu einer eigenen, neuen Art gewor-
patrische Artbildung ebenfalls begünstigen.) den.

Polyploidie
Eine Art kann durch zufälli- Zellteilungsfehler
ge, untypische Zellteilungs- (in der Meiose oder Mitose) Spezies A Spezies B
prozesse entstehen, bei denen 2n = 6 2n = 4
zusätzliche Chromosomen-
sätze gebildet werden, eine
Mutationsform, die man als
2n = 6 tetraploide Zelle
Polyploidie bezeichnet. Poly- 4n
ploide Artbildung kommt in Meiose
Einzelfällen bei Tierarten
vor; so nimmt man zum Bei- 2n normaler Gamet normaler Gamet Teil 4
spiel an, dass der Graue Laub- n=3 n=2
frosch (Hyla versicolor, siehe
Abbildung 23.16) auf diese 2n
Neue Spezies
Weise entstanden ist. Bei
Gameten, die von einer (4n)
Pflanzenarten ist Polyploidie tetraploiden Zelle gebildet werden
jedoch weitaus häufiger ver-
Autopolyploide Artbildung
breitet. Botaniker schätzen, sterile Hybride
dass mehr als 80 Prozent aller heute lebenden Pflanzen-
arten von Vorfahren abstammen, die sich durch poly-
ploide Speziation gebildet haben.
Es gibt zwei verschiedene Formen der Polyploidie
bei Pflanzen. Autopolyploide (griech. autos, selbst) Fehler in der Meiose oder
Individuen weisen mehr als zwei Chromosomensätze Mitose führen zu einer
auf, wenngleich sie alle von einer einzigen Art abge- Verdopplung der Chromo-
somen.
leitet werden können. Zum Beispiel kann in einer
Pflanze ein Fehler bei der Zellteilung die Chromoso- neue (allopoly-
menzahl einer Zelle von einem diploiden Satz (2n) auf ploide) Spezies:
einen tetraploiden Satz (4n) verdoppeln. Diese Muta- eine lebensfähige,
tion führt dazu, dass die tetraploide Pflanze von den fertile Hybride
2n = 10
diploiden Pflanzen der Ausgangspopulation reproduk-
tiv isoliert wird, weil die triploiden (3n) Nachkommen
solcher Kreuzungen eine verringerte Fertilität aufwei-
sen. Die tetraploiden Pflanzen können jedoch frucht-
bare Nachkommen hervorbringen, indem sie sich selbst Abbildung 24.9: Einer der Mechanismen der allopolyploiden
Artbildung bei Pflanzen. Die meisten Hybriden sind steril, da ihre
befruchten oder sich mit anderen tetraploiden Pflan-
Chromosomen nicht homolog sind und sich während der Meiose nicht zu
zen kreuzen. Daher kann Autopolyploidie in nur einer Tetraden anordnen können. Eine solche Hybride kann sich jedoch unter
einzigen Generation auch ohne geografische Isolation Umständen vegetativ vermehren. In dieser Abbildung ist ein Mechanismus
zu einer reproduktiven Isolation führen. dargestellt, durch den über Allopolyploidie fertile Hybriden entstehen kön-
Bei einer zweiten Form der Polyploidie kreuzen sich nen, die eine neue polyploide Art darstellen. Individuen der neuen Art
zwei verschiedene Arten und bilden dadurch Hybrid- haben eine diploide Chromosomenzahl, die der Summe der diploiden
Nachkommen. Die meisten interspezifischen Hybriden Chromosomenzahlen der beiden Eltern entspricht.

659
24 Die Entstehung der Arten

Obwohl es sehr schwierig ist, Speziation im Freiland mosomensätze, zwei Sätze von drei verschiedenen
zu beobachten, haben Biologen mindestens fünf neue Arten). Zu dem ersten Polyploidieereignis kam es ver-
Pflanzenarten beschrieben, die seit 1850 durch Poly- mutlich vor rund 8.000 Jahren in Kleinasien durch
ploidisierung entstanden sind. Bei einem gut doku- spontane Hybridisierung von einer frühen kultivierten
mentierten Beispiel geht es um zwei neue Bocksbart- Weizenart mit einem heute nicht mehr bekannten,
Arten (Gattung Tragopogon), die Mitte des 20. Jahr- ebenfalls diploiden Wildgras. Heutzutage schaffen
hunderts im pazifischen Nordwesten der USA ent- Pflanzengenetiker mithilfe von bestimmten chemischen
standen sind. Drei europäische Arten der Gattung Tra- Verbindungen, die zu Meiose- und Mitosefehlern füh-
gopogon wurden durch den Menschen Anfang des 20. ren, neue polyploide Formen im Labor. Dadurch, dass
Jahrhunderts eingeführt. Diese Arten, Großer Bocksbart sich Wissenschaftler solche Evolutionsmechanismen
(T. dubius), Wiesenbocksbart (T. pratensis) und Hafer- zunutze machen, können sie neue Hybridarten mit
wurz (T. porrifolius), sind inzwischen weit verbreitete erwünschten Qualitäten produzieren, zum Beispiel
Ruderalarten, die beispielsweise an ehemaligen Park- auch die Hybridart Triticale, eine Kreuzung aus Wei-
plätzen und städtischen Ödflächen vorkommen. In zen (Triticum aestivum) als weiblichem und Roggen
den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts identifizier- (Secale cereale) als männlichem Elter, die den hohen
ten Botaniker in einigen Regionen von Idaho und Was- Ertrag von Weizen mit der Widerstandsfähigkeit von
hington, wo auch alle drei europäischen Tragopogon- Roggen kombiniert.
Arten vorkommen, zwei neue Tragopogon-Arten. Gene-
tische Analysen haben gezeigt, dass eine der beiden Sexuelle Selektion
neuen Arten, T. miscellus, eine tetraploide Hybride von Es gibt Befunde, die dafür sprechen, dass auch die
T. dubius und T. pratensis ist (Abbildung 24.10). sexuelle Selektion zu einer sympatrischen Artbildung
Obgleich die T. miscellus-Population sich eigenständig führen kann. Hinweise auf einen solchen Prozess sind
reproduktiv weiter vermehrt, finden nach wie vor Hybri- bei Buntbarsch-Arten (aus der Familie der Cichlidae)
disierungen zwischen den Elternarten statt, die zu neuen im ostafrikanischen Victoria-See gefunden worden,
T. miscellus-Individuen führen. Später wurde eine einem der „Brennpunkte“ (Hotspots) der Artbildung
zweite neue Art, T. mirus, beschrieben, eine Hybride aus dieser Fischgruppe. In diesem See kamen etwa 600
T. dubius und T. porrifolius (Abbildung 24.10). Die Tra- Buntbarsch-Arten vor. Genetische Daten zeigen, dass
Teil 4 gopogon-Alloploidisierungs-Prozesse sind ein Beispiel sich all diese Arten in den letzten 100.000 Jahren
für neue Artbildungen, die vor unseren Augen ablaufen. wahrscheinlich aus nur einer geringen Anzahl von
Arten gebildet haben, die aus anderen Flüssen und
Seen eingewandert sind. Wie kommt es, dass sich in
T. dubius einem einzelnen See so viele Fischarten – mehr als
(12) doppelt so viele Fischarten, wie es Süßwasserarten
unter den Fischen in ganz Europa gibt – in einem rela-
tiv kurzen Zeitraum entwickeln konnten?
Einer Hypothese zufolge haben sich die Nachkommen
der ursprünglich eingewanderten Cichliden-Populatio-
Hybride: Hybride: nen an verschiedene Nahrungsressourcen angepasst. Die
T. miscellus T. mirus sich daraus ergebenden genetischen Unterschiede sind
(24) (24)
vermutlich einer der Faktoren, die zu einer Artbildung
dieser Buntbarsche im Victoria-See geführt haben. Sexu-
elle Selektion, bei der in der Regel Weibchen die Männ-
chen aufgrund ihres Aussehens auswählen (siehe Kon-
zept 23.4), kann ebenfalls eine Rolle gespielt haben.
T. pratensis T. porrifolius
(12) (12) Wissenschaftler haben zwei nahe verwandte, sympat-
risch vorkommende Cichliden-Arten untersucht, die
sich hauptsächlich in der Färbung der Männchen unter-
Abbildung 24.10: Allopolyploide Artbildung in der Gattung Tra- scheiden: Pundamilia pundamilia-Männchen haben
gopogon. Die drei Elternarten der Hybriden sind grau markiert, die einen bläulichen Rücken, während Pundamilia nyererei-
diploiden Chromosomenzahlen der Arten sind in Klammern angegeben.
Männchen einen roten Rücken haben (Abbildung
24.11). Die Befunde der Wissenschaftler sprechen dafür,
Viele wichtige Kulturpflanzen-Arten – zum Beispiel dass die Partnerwahl, die auf der Färbung der Männchen
Hafer, Baumwolle, Kartoffel, Tabak und Weizen – sind beruht, der entscheidende Isolationsmechanismus ist,
polyploid. Der Saatweizen, der zum Brotbacken ver- der die Genpools der beiden Arten normalerweise
wendet wird, ist eine durch Allopolyploidie entstan- getrennt hält.
dene hexaploide Form, ein Allohexaploid (sechs Chro-

660
24.2 Artbildung mit und ohne geografische Isolation

Habitataufteilung
 Abbildung 24.11: Aus der Forschung
Zu einer sympatrischen Artbil-
dung kann es auch dann kom-
Führt sexuelle Selektion bei den Buntbarschen
men, wenn eine Teilpopu-
zur Entwicklung eines reproduktiven Isolations-
lation einen Lebensraum
mechanismus? oder bestimmte Ressour-
Experiment Forscher setzten Männchen und Weib- cen und Requisiten in An-
chen der beiden Buntbarsch-Arten Pundamilia spruch nimmt, die von der
pundamilia und P. nyererei in zwei Aquarien, von Elternpopulation nicht ge-
denen eines mit normalem Licht, das andere hin- nutzt werden. Die Vorfahren
gegen mit monochromatischem orangefarbenem der Apfelfruchtfliege (Rhago-
Kunstlicht beleuchtet wurde. Bei normalem Licht letis pomonella), eine in
unterscheiden sich die Männchen der beiden Arten Nordamerika heimische Art, R. pomonella auf einer Weißdorn-
deutlich in ihrer Färbung, bei monochromatischem beere
lebten ursprünglich auf
orangefarbenem Kunstlicht hingegen werden die Weißdornbüschen. Doch vor rund 200 Jahren wech-
Farbunterschiede aufgelöst und die Männchen bei- selten einige Populationen die Nahrungspflanze und
der Arten sehen sehr ähnlich aus. Die Wissen- nutzen nun Apfelbäume, die von europäischen Sied-
schaftler beobachteten nun die Partnerwahl der lern eingeführt worden waren. Apfelfruchtfliegen paa-
Weibchen in beiden Aquarien. ren sich typischerweise auf oder in der Nähe ihrer
Wirtspflanzen. So hat der Wechsel zu einer präzygoti-
monochromatisches
normales Licht orangefarbenes Licht schen Barriere (Habitatisolation) zwischen den beiden
Teilpopulationen, die auf Weißdornbüschen und auf
P. Apfelbäumen leben, geführt. Da Äpfel schneller he-
pundamilia ranreifen als Weißdornfrüchte, hat die natürliche
Selektion die Individuen der auf Apfelbäume überge-
wechselten Apfelfliegen-Populationen zudem an eine
P. nyererei schnellere Larvalentwicklung adaptiert. Die auf dem
Apfelbaum lebenden Populationen haben inzwischen Teil 4
einen zeitlichen Isolationsmechanismus gegenüber
den an den Weißdornfrüchten lebenden R. pomonella-
Ergebnis Bei normalen Beleuchtungsbedingungen Populationen entwickelt, womit durch die unter-
bevorzugten die Weibchen beider Arten eindeutig schiedlichen, sich nun zeitlich ausschließenden Akti-
die Männchen der eigenen Art. Unter orangefarbe- vitätszeiten der geschlechtsreifen Fliegen ein zweiter
nem Kunstlicht paarten sich die Weibchen jedoch präzygotischer Isolationsmechanismus entstanden ist.
wahllos mit Männchen beider Arten. Die so gezeug- Die Wissenschaftler haben zudem spezifische Allele
ten Hybriden waren lebensfähig und fertil. identifiziert, die nur für Apfelfruchtfliegen mit einer
Schlussfolgerung Die Wissenschaftler zogen aus Wirtspflanzenpräferenz von Vorteil sind und sich
diesem Experiment den Schluss, dass die auf der nachteilig auswirken, wenn die andere Wirtspflanze
Färbung der Männchen beruhende Partnerwahl genutzt wird. Infolgedessen förderte die natürliche
der Weibchen den entscheidenden Isolations- Selektion, die auf diese Allele einwirkt, gleichzeitig
mechanismus darstellt, der die Genpools der bei- auch den Aufbau einer postzygotischen Fortpflan-
den Arten normalerweise getrennt hält. Da die zungsbarriere, die den Genfluss weiter einschränkt.
beiden Arten sich noch immer erfolgreich kreuzen Zwar werden beide Populationen noch als Unterarten
können, wenn diese verhaltensbedingte präzygo- und nicht als eigenständige Arten angesehen, der Pro-
tische Fortpflanzungsbarriere unter Versuchs- zess der sympatrischen Artbildung ist allerdings in
bedingungen außer Kraft gesetzt wird, ist der gene- vollem Gange.
tische Unterschied zwischen den beiden Arten
wahrscheinlich gering. Das spricht dafür, dass
die Artbildung unter Freilandbedingungen erst 24.2.3 Allopatrische und sympatrische
vor relativ kurzer Zeit stattgefunden hat. Artbildung: Eine Zusammenfassung
Quelle: O. Seehausen und J. J. M. van Alphen, The effect of male An dieser Stelle wollen wir die beiden Möglichkeiten
coloration on female mate choice in closely related Lake Victoria
für die Bildung neuer Arten rekapitulieren. Bei der allo-
cichlids (Haplochromis nyererei complex), Behavioral Ecology and
Sociobiology 42:1–8 (1998).
patrischen Artbildung bildet sich eine neue Art über
eine geografische Isolation von der Elternpopulation.
Geografische Isolation schränkt den Genfluss zwi-
WAS WÄRE, WENN? Angenommen, weibliche Bunt-
schen den Populationen stark ein. Infolgedessen können
barsche, die im trüben Wasser eines verschmutzen
in den getrennten Populationen genetische Veränderun-
Sees leben, könnten Farben schlecht unterschei-
gen auftreten, aus denen sich Isolationsmechanismen
den: Wie würde sich der Genpool solcher Arten im
entwickeln können. Viele verschiedene Prozesse können
trüben Wasser verändern?
eine solche genetische Veränderung bewirken, darunter

661
24 Die Entstehung der Arten

die natürliche Selektion bei unterschiedlichen Umwelt- Hybridzonen ermöglichen


bedingungen, die genetische Drift und die sexuelle
Selektion. Einmal gebildet, können solche unter allo-
die Analyse von Faktoren,
patrischen Bedingungen entstandenen Isolationsme- die zur reproduktiven
chanismen Kreuzungen mit der Ursprungspopulation
selbst dann verhindern, wenn beide Populationen
wieder Kontakt zueinander finden.
Isolation führen
24.3
Bei der sympatrischen Artbildung müssen andere Was passiert, wenn allopatrische Populationen wieder
Isolationsmechanismen greifen, die den Genfluss zwi- in Kontakt miteinander kommen? Ein mögliches Ergeb-
schen Teilen einer Population, die dasselbe Gebiet nis ist die Bildung einer Hybridzone, ein Gebiet, in dem
besiedeln, verhindern. Das kann zum Beispiel wie bei sich Angehörige nah verwandter Arten treffen, sich
der Entstehung vieler Pflanzenarten durch Polyploidie kreuzen und Hybridnachkommen haben. In diesem
geschehen, der Vervielfachung der Chromosomensätze Abschnitt wollen wir uns mit Hybridzonen beschäfti-
eines Individuums. Die so entstandenen polyploiden gen und damit, was wir von ihnen über die Faktoren
Hybriden sind nur untereinander fertil. Zu einer sym- lernen können, die zur Evolution reproduktiver Isola-
patrischen Artbildung kann es auch infolge einer sexu- tionsmechanismen führen.
ellen Selektion kommen. Weiterhin kann eine sympa-
trische Speziation auch stattfinden, wenn ein Teil einer
Population den Lebensraum oder die Nahrungsquelle 24.3.1 Evolutionsprozesse in Hybridzonen
wechselt und so durch natürliche Selektion von der
Ursprungspopulation reproduktiv isoliert wird. Im Hybridzonen sind häufig sehr unterschiedlich ausge-
Folgenden wollen wir uns nun ausführlicher damit prägt. Einige Hybridzonen bilden ein schmales Band,
beschäftigen, was passieren kann, wenn geografisch wie in Abbildung 24.12 für zwei Unkenarten der Gat-
voneinander getrennte Populationen, die Wege einer tung Bombina dargestellt, die Gelbbauchunke (B. varie-
Artbildung durchlaufen haben, wieder miteinander in gata) und die Rotbauchunke (B. bombina). Diese Hyb-
Kontakt kommen. ridzone, die durch eine dicke rote Linie auf der Karte
gekennzeichnet ist, hat eine Länge von 4.000 km, an
Teil 4 den meisten Stellen ist sie jedoch kaum 10 km breit.
Die Hybridzone kommt dort zustande, wo das höher
 Wiederholungsfragen 24.2 gelegene Habitat der Gelbbauchunke auf das niedriger
gelegene Habitat der Rotbauchunke trifft. Die Allelfre-
1. Fassen Sie die wichtigsten Unterschiede zwi- quenz, die für die Gelbbauchunke typisch ist, nimmt
schen allopatrischer und sympatrischer Art- in der Hybridzone normalerweise von annähernd 100
bildung zusammen. Welche Form der Spezia- Prozent am Rand des Verbreitungsareals der Gelbbauch-
tion ist häufiger und warum? unke über dann 50 Prozent im Zentrum der Hybrid-
2. Beschreiben Sie zwei Mechanismen, die den zone auf null Prozent am Rand des Verbreitungsareals
Genfluss in sympatrisch vorkommenden Po- der Rotbauchunke ab.
pulationen verringern können, so dass sich Was führt zu den Veränderungen der Allelfrequenz im
die Wahrscheinlichkeit für eine sympatrische Querverlauf einer Hybridzone? Wir können den Schluss
Artbildung erhöht. ziehen, dass es eine Einschränkung des Genflusses
gibt – sonst würden sich Allele von der einen Art in
3. WAS WÄRE, WENN? Tritt eine allopatrische Art- gleichem Umfang auch im Genpool der anderen Art
bildung mit größerer Wahrscheinlichkeit auf nachweisen lassen. Reduzieren geografische Barrieren
einer Insel nahe dem Festland oder auf einer den Genfluss? In diesem Fall nicht, denn die Unken
weiter abgelegenen Insel gleicher Größe auf? bewegen sich frei durch die Hybridzone hindurch. Ein
Begründen Sie Ihre Antwort. wichtigerer Faktor ist, dass die Hybriden eine erhöhte
Embryonensterblichkeit sowie eine ganze Reihe mor-
4. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Sehen Sie sich die phologischer Anomalien aufweisen, darunter Rippen,
in Abbildung 13.8 beschriebenen Abläufe wäh- die mit der Wirbelsäule verschmolzen sind, und Kaul-
rend der Meiose nochmals an.. Erklären Sie, wie quappen mit einer missgebildeten Mundregion. Da die
ein Fehler in der Meiose zu Polyploidie führen Hybriden schlechtere Überlebens- und Fortpflanzungs-
kann. chancen besitzen, haben sie mit den Angehörigen der
Ausgangsarten nur wenige lebensfähige Nachkommen.
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A. Infolgedessen können über Hybriden nur selten Allele
von einer Art zur anderen übertragen werden.

662
24.3 Hybridzonen ermöglichen die Analyse von Faktoren, die zur reproduktiven Isolation führen

Hybridzone (rote Linie),


in der die Habitate beider
Arten aufeinandertreffen

Verbreitungsgebiet
der Rotbauchunke Rotbauchunke, Bombina bombina:
lebt in geringeren Höhen
Hybridzone

Verbreitungsgebiet
der Gelbbauchunke
0,99

Allelfrequenz (logarithmische Skala)


Hybrid-
zone
0,9

0,5 Verbreitungsgebiet Verbreitungsgebiet


der Gelbbauchunke der Rotbauchunke
Gelbbauchunke,
Bombina variegata:
lebt in größeren Höhen 0,1
© 1993 Oxford University Press, Inc.

0,01
40 30 20 10 0 10 20
Entfernung vom Zentrum der Hybridzone (km) Teil 4
Abbildung 24.12: Die enge Hybridzone für B. variegata und B. bombina in Europa. Das Diagramm zeigt das Muster der speziesspezifischen
Veränderung der Allelfrequenz durch die Hybridzone in der Nähe von Krakau, Polen. Individuen mit Allelfrequenzen nahe bei 1 sind Gelbbauchunken
(gelb), Individuen mit Allelfrequenzen nahe bei 0 sind Rotbauchunken (hellrot). Individuen mit dazwischen liegenden, mittleren Allelfrequenzen (rot) wer-
den als Hybriden angesehen.

? Zeigt die Grafik, dass Allele der Rotbauchunke in die Gelbbauchunken-Population eingetragen werden? Begründen Sie Ihre Antwort.

Hybridzonen bilden sich typischerweise dort, wo die drei mögliche Mechanismen, wie sich die Hybriden im
Habitate der hybridisierenden Arten aufeinandertref- Lauf der Zeit verändern können (Abbildung 24.13):
fen. Diese Zonen gleichen aber eher einer Gruppe iso- Es können sich Isolationsmechanismen entwickeln,
lierter Flecken, die über die Landschaft verteilt sind – wodurch die weitere Hybridbildung eingeschränkt
wie die komplex verteilten Punkte im Fell eines Dal- wird. Der Aufbau eines Isolationsmechanismus miss-
matiners – als einem kontinuierlich verlaufenden Strei- lingt, was dazu führt, dass die beiden Arten zu einer
fen, wie er in Abbildung 24.12 dargestellt ist. Aber Art verschmelzen. Oder aber es werden auch weiter-
ungeachtet dessen, ob sie ein einfaches oder komple- hin kontinuierlich Hybriden produziert, und es ent-
xes räumliches Muster aufweisen, formen sich Hybrid- steht langfristig eine stabile Hybridzone. Wir wollen
zonen, wenn zwei Arten aufeinandertreffen, denen untersuchen, welche Befunde der Freilandforschung
reproduktive Isolationsmechanismen fehlen. Die Frage zu diesen drei Möglichkeiten vorliegen.
drängt sich nun auf, wie sich Hybridzonen weiterent-
wickeln, nachdem sie einmal entstanden sind. Reinforcement: Verstärkung von
Fortpflanzungsbarrieren
Hybriden verfügen häufig über eine geringere individu-
24.3.2 Zeitliche Entwicklung von elle Fitness als die Individuen der Ausgangsarten. In
Hybridzonen diesen Fällen würde die natürliche Selektion die prä-
zygotischen Isolationsmechanismen wahrscheinlich
Die Vorgänge, die in einer Hybridzone stattfinden, kön- verstärken und so die Bildung wenig überlebensfähiger
nen mit einem Experiment einer natürlichen Artbil- Hybriden unterbinden. Man bezeichnet diesen Vorgang
dung gleichgesetzt werden. Kommt es zu einer raschen als „Reinforcement“. Ein solcher Prozess sollte daher
Bildung einer neuen Art, wie sie durch Polyploidie zwischen sympatrisch vorkommenden Arten deutlicher
beim Bocksbart (Tragopogon) im pazifischen Nord- ausgeprägt sein als zwischen allopatrisch verbreiteten
amerika zu beobachten war? Wenn nicht, dann gibt es Arten.

663
24 Die Entstehung der Arten

3 Eine Population 4 In einer Hybridzone


2 Eine Barriere beginnt sich von den wird der Genfluss
1 Drei Popu- unterbindet anderen drei Popula- wiederhergestellt.
lationen einer den Genfluss. tionen abzutrennen
Art sind durch (Divergenz).
5 Bei den Hybriden sind mehrere
Genfluss
Entwicklungen möglich:
verbunden.
Verstärkung
der Fortpflanzungs-
barrieren (mit der
Hybrid- Zeit kommt es
zone nicht mehr zur
Hybridbildung)
ODER

Fusion
(die Fortpflanzungs-
barrieren werden
schwächer – beide
Arten verschmelzen)
Genfluss
ODER
Population
Hybride
Barriere, die den Stabilität
Genfluss verhindert (es werden
weiterhin
Hybriden produziert)

Abbildung 24.13: Ausbildung einer Hybridzone und der mögliche Verlauf ihrer weiteren Entwicklung. Die Pfeile symbolisieren den zeit-
lichen Ablauf.

WAS WÄRE, WENN? Was würde geschehen, wenn der Genfluss bei Schritt 3 wiederhergestellt würde?

einem sympatrischen Verbreitungsmuster der Popula-


Teil 4 Weibchen paaren sich mit: Weibchen paaren sich mit:
tionen sehen die Männchen der beiden Arten hingegen
sympatrischen allopatrischen
sehr unterschiedlich aus: Männliche Trauerschnäpper
Trauerschnäp- Trauerschnäp-
permännchen permännchen sind durchgängig braun, während männliche Halsband-
sympatrischen allopatrischen schnäpper größere weiße Flecken aufweisen. Wenn
Halsband- Halsband- Trauerschnäpper- und Halsbandschnäpperweibchen bei
schnäpper schnäpper einem sympatrischen Vorkommen zwischen Männ-
Wenn sie sich mit sympat- Wenn sie sich aber mit allo- chen beider Arten die Wahl haben, entscheiden sie
rischen Männchen paaren, patrischen Männchen paaren,
wählen alle Weibchen ein wählen die Weibchen häufig sich nicht für artfremde Männchen. Wenn sie jedoch
Männchen der eigenen Art ein Männchen der anderen Art zwischen Männchen, die aus allopatrisch verbreiteten
Populationen stammen, wählen können, machen sie
20 häufig Fehler, was zur Ausbildung von Hybriden führt
(Abbildung 24.14). Daher sind die Fortpflanzungs-
Anzahl der Weibchen

16 barrieren bei Vogelarten innerhalb sympatrischer Popu-


lationen stärker ausgebildet als bei allopatrischen
12 Populationen, wie von der Reinforcement-Hypothese
vorhergesagt. Ähnliche Phänomene sind bei einer Reihe
8 von Organismen, darunter Fischen, Insekten, zahlrei-
chen Vogel- und auch Pflanzenarten, beschrieben wor-
4
(keine) den.
0
der der der der Fusion: Schwächung von Fortpflanzungsbarrieren
eigenen anderen eigenen anderen
Art Art Art Art
Als Nächstes wollen wir den Fall betrachten, wenn
Paarung der Weibchen Paarung der Weibchen zwei Arten in einer Hybridzone aufeinandertreffen,
mit Männchen mit Männchen deren Isolationsmechanismen nicht deutlich ausge-
prägt sind. Dann kann der Genfluss so intensiv sein,
Abbildung 24.14: Verstärkung von Fortpflanzungsbarrieren bei dass die Wirkung von Fortpflanzungsbarrieren abge-
nahe verwandten europäischen Fliegenschnäpperarten. schwächt wird und sich die Genpools der beiden
Arten zunehmend angleichen. Dies kann dazu führen,
Als Beispiel wollen wir die Befunde für eine Verstär- dass die beiden hybridisierenden Arten zu einer einzi-
kung von Fortpflanzungsbarrieren zwischen zwei eng gen Art verschmelzen.
verwandten Fliegenschnäpper-Arten prüfen, dem Trau- Eine derartige Situation ist wahrscheinlich bei eini-
erschnäpper und dem Halsbandschnäpper. Bei allopat- gen der Buntbarsch-Arten im Viktoria-See aufgetreten.
rischer Verbreitung der Populationen der beiden Vogel- Viele nahe verwandte Cichliden-Arten sind durch die
arten ähneln sich die Männchen beider Arten sehr. Bei selektive Partnerwahl, die von den Weibchen ausgeht,

664
24.3 Hybridzonen ermöglichen die Analyse von Faktoren, die zur reproduktiven Isolation führen

reproduktiv isoliert – die Weibchen der einen Art paa- Grund, weil Hybriden besser überleben oder sich stär-
ren sich bevorzugt mit Männchen einer ganz bestimm- ker fortpflanzen als die Mitglieder der beiden Aus-
ten Farbe, während sich die Weibchen der anderen gangsarten. Aber stabile Hybridzonen kommen auch
Art bevorzugt mit Männchen der anderen Farbe paa- vor, wenn Hybriden nicht im Vorteil sind – ein viel-
ren (Abbildung 24.11). leicht unerwartetes Ergebnis. Erinnern Sie sich zum
In den vergangenen 30 Jahren sind rund 200 der Beispiel daran, dass Hybriden der Gelb- und Rotbauch-
vormaligen 600 Buntbarsch-Arten im Viktoria-See ver- unke kontinuierlich gebildet werden, obwohl sie stark
schwunden. Einige dieser Arten sind von dem künst- benachteiligt sind. Aus diesem Grund wären die ver-
lich eingesetzten Nilbarsch ausgerottet worden. Aber stärkte Ausbildung von Isolationsmechanismen und
viele Arten sind nicht durch den Nilbarsch verschwun- damit eine Verringerung der Anzahl von Hybriden zu
den. Wissenschaftler vermuten, dass es das durch den erwarten. Aber in den mehr als 20 Untersuchungsjah-
Menschen über Verschmutzungen verursachte zuneh- ren hat man keine Hinweise auf eine Verstärkung der
mend getrübte Wasser den Weibchen immer schwerer Fortpflanzungsbarrieren gefunden. Eine Erklärungs-
gemacht hat, Männchen ihrer eigenen Art von Männ- möglichkeit steht mit der geringen räumlichen Aus-
chen nahe verwandter Arten zu unterscheiden. Da die dehnung der Hybridzone in Beziehung (Abbildung
Wasserverschmutzung den Weibchen das Erkennen von 24.12). Vielleicht führt ein zu starker Genfluss von
arteigenen Männchen erschwert hat, kam es so mögli- außen zu einer kontinuierlichen Hybridbildung und
cherweise zu einer erhöhten Paarungshäufigkeit zwi- verhindert dadurch, dass die natürliche Selektion für
schen Angehörigen von Arten, die zuvor reproduktiv eine reproduktive Isolation in der Hybridzone sorgen
voneinander isoliert waren. Ein Resultat dieser Paarun- kann. Wäre die Hybridzone breiter, wäre der ständige
gen wären dann viele Hybriden, die Fusion der Genpools Genfluss von weiter entfernten Populationen der bei-
der verschiedenen Ausgangsarten (Abbildung 24.15) den Ausgangsarten ins Zentrum der Zone geringer.
und letztlich das Verschwinden der Ausgangsarten. Manchmal entwickeln sich die Verhältnisse in Hybrid-
zonen so, wie wir vermuten (Fliegenschnäpper und
Buntbarsche), manchmal aber auch nicht (Bombina).
Aber ob unsere Voraussagen sich bestätigen oder nicht,
die Ereignisse in Hybridzonen zeigen, wie sich die
Isolationsmechanismen zwischen nahe verwandten Teil 4
Arten im Lauf der Zeit verändern können. Im nächs-
ten Abschnitt wollen wir untersuchen, wie die Wech-
selwirkungen zwischen hybridisierenden Arten auch
Pundamilia nyererei Pundamilia pundamilia einen Einblick in die Geschwindigkeit und die geneti-
sche Kontrolle der Speziation erlauben.

 Wiederholungsfragen 24.3
1. Was sind Hybridzonen und warum kann man
sie als „natürliche Experimente“ ansehen, in
denen man die Artbildung untersuchen kann?

2. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich zwei Arten


vor, die sich auseinander entwickelt haben,
während sie geografisch voneinander getrennt
waren, aber nachträglich wieder in Kontakt
miteinander kamen, bevor die reproduktive
Isolation abgeschlossen war. Was würde Ihrer
Pundamilia „trübes Wasser“, Meinung nach im Lauf der Zeit geschehen,
eine Hybride aus einem Gebiet wenn sich beide Arten wahllos kreuzten und
mit trübem Wasser
(a) die Hybridnachkommen weniger Überle-
Abbildung 24.15: Fusion: Zusammenbruch von Fortpflanzungs- bens- und Fortpflanzungserfolg hätten als die
barrieren. Zunehmend trüberes Wasser im Viktoria-See hat im Lauf der Nachkommen aus den Kreuzungen innerhalb
letzten 30 Jahre möglicherweise die Fortpflanzungsbarrieren zwischen P.
ihrer Ursprungsarten oder (b) die Hybridnach-
nyererei und P. pundamilia geschwächt. In Gebieten mit trübem Wasser
kommen ebenso große Überlebens- und Fort-
ist es zu einer hohen Hybridisierungsrate und zu einer Verschmelzung der
Genpools der beiden Ausgangsarten gekommen.
pflanzungschancen hätten wie die Nachkom-
men aus den Kreuzungen ihrer Ursprungsarten?

Stabilität: Fortlaufende Hybridisierungsereignisse Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.


In vielen Hybridzonen werden ständig neue Hybriden
produziert. In einigen Fällen wahrscheinlich aus dem

665
24 Die Entstehung der Arten

Artbildung kann schnell oder den. Beispielsweise gibt es Dutzende von Arten mari-
ner Invertebraten, die als Fossilfunde mit morphologi-
langsam erfolgen und aus schen Neuerungen auftreten, sich dann über Millionen
Veränderungen weniger von Jahren aber kaum verändern bevor sie wieder aus-
oder vieler Gene resultieren
24.4 sterben. Die Paläontologen Niles Eldredge und Stephen
Jay Gould prägten den Begriff des Punktualismus, (engl.:
punctuated equilibria). Dieser besagt, dass wichtige
Darwin war mit vielen zu seiner Zeit noch unbeant- Ereignisse in der Evolution in sehr kurzen Phasen mit
worteten Fragen konfrontiert, als er begann, sich mit ausgeprägter Artbildung einhergingen und dass „erfolg-
dem „Rätsel aller Rätsel“ zu beschäftigen: der Artbil- reiche“ Arten dann oft über sehr lange Zeiträume keine
dung. Wie Sie in Konzept 22.2 gelesen haben, fand er oder nur geringe Veränderungen erfahren, was man als
auf einige dieser Fragen eine Antwort; er erkannte, „Stase“ bezeichnet (Abbildung 24.16a). Andere Arten
dass Evolution durch natürliche Selektion eine mög- zeigen kein derart unterbrochenes Muster; vielmehr
liche Erklärung für die Vielfalt der Organismen und scheinen sie sich allmählich (graduell) über lange Zeit-
ihre Anpassungen sein könnte. Doch seit Darwin stel- räume hin verändert zu haben (Abbildung 24.16b).
len Biologen weiterhin grundlegende Fragen zur Art- Was sagen punktuelle (unterbrochene) und gradu-
bildung, zum Beispiel „Wie lange dauert es, bis sich elle Evolutionsmuster über die Zeiträume aus, die bis
eine neue Art bildet?“ oder „Wie viele Gene verändern zur Bildung einer neuen Art vergangen sind? Stellen
sich, wenn sich eine Art in zwei Arten aufspaltet?“. Sie sich vor, eine Art existiert fünf Millionen Jahre
Inzwischen beginnen sich auch Antworten auf diese lang, aber der größte Teil der morphologischen Verän-
Fragen abzuzeichnen. derungen, die dann zu einer neuen Artbildung geführt
haben, geschah in den ersten 50.000 Jahren ihrer Exis-
tenz – gerade einmal ein Prozent ihrer gesamten
24.4.1 Der zeitliche Verlauf der Artbildung „Lebenszeit“ als Art. Solche (geologisch betrachtet)
kurzen Zeitperioden lassen sich in den Fossilstrata oft
Wir können Informationen über die Dauer der Artbil- nicht ablesen. Häufig ist die Rate der Sedimentablage-
dung aus Fossilfunden ableiten, aus vergleichenden rung viel zu gering, um so eng aufeinanderfolgende
Teil 4 Untersuchungen, die morphologische Daten rezenter Schichten zeitlich trennen zu können. Aufgrund sol-
und fossiler Organismen verwenden oder molekulare cher Fossilienfunde scheint eine Art plötzlich aufzu-
Analysen durchführen, um das Zeitintervall zwischen tauchen und hat dann eine ganze Weile ohne oder mit
einzelnen Artbildungsereignissen bestimmter Organis- nur geringfügigen Veränderungen existiert, bis sie
mengruppen abzuschätzen. schließlich ausstarb. Selbst wenn sich eine solche Art
möglicherweise langsamer entwickelte, als die Fossil-
Muster in den Fossilfunden funde vermuten lassen (in diesem Fall über 50.000
Die dokumentierten Fossilbelege umfassen viele Erd- Jahre), spricht ein solches punktuelles (unterbroche-
epochen, in denen neue Arten plötzlich in einer geolo- nes) Muster für eine relativ schnelle Artbildung. Bei
gischen Schicht (Stratum) auftauchen, im Wesentlichen Arten, deren Fossilien sich morphologisch ganz all-
dann unverändert durch mehrere Schichten hindurch mählich verändern, können wir ebenfalls nicht genau
vertreten sind, und dann plötzlich wieder verschwin- sagen, zu welchem Zeitpunkt sich eine neue Art gebil-

(a) Nach der Theorie des Punktualimus


(punctuated equilibrium) wechseln
sich Abschnitte, in denen Arten nur
ein geringes Ausmaß an morpho-
logisch auffälliger Veränderung er-
kennen lassen, mit solchen, in denen
ein schneller Wandel stattfindet, ab.
Anschließend kommt es hingegen
kaum noch zu Veränderungen. Diese
Theorie dient hauptsächlich zur Zeit
Erklärung von diskontinuierlichen
Änderungsraten bei Fossilien.

(b) Im Gradualismus entwickeln sich


von einem gemeinsamen Vorfahr
abstammende Arten in ihrem
Phänotyp allmählich immer weiter
auseinander, weil sie sich schritt-
weise anpassen.

Abbildung 24.16: Zwei Modelle zur Geschwindigkeit von Artbildungsprozessen.

666
24.4 Artbildung kann schnell oder langsam erfolgen und aus Veränderungen weniger oder vieler Gene resultieren

det hat. Die Information über den Zeitpunkt der repro- fliege spricht das Beispiel der Sonnenblumen dafür,
duktiven Isolation ist nicht aus den Gesteinsschichten dass sich neue Arten auch sehr schnell bilden können,
ablesbar. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Artbil- sobald es zu einer genetischen Abweichung gekom-
dung bei solchen Gruppen relativ langsam erfolgte men ist. Doch wie groß ist die gesamte Zeitspanne ein-
und sich über Millionen Jahre hinzog. zelner Artbildungsereignisse? Der Zeitraum beginnt
bei einer Population einer potenziell neuen Art mit
Artbildungsraten den ersten Differenzierungsprozessen und er endet
Das unterbrochene Gleichgewicht, die Vorstellung, dass erst, wenn die Artbildung abgeschlossen ist. Wie sich
Perioden einer Stase punktuell von Zeiträumen der herausgestellt hat, schwankt die Zeitspanne verschie-
Artbildung unterbrochen wurden, spricht dafür, dass dener Artbildungsereignisse beträchtlich. Bei einer
ein Artbildungsprozess, sobald er einmal begonnen hat, Übersicht über Daten aus 84 Tier- und Pflanzentaxa
relativ rasch zum Abschluss gebracht werden kann. reichte das Intervall von 4.000 Jahren (bei Cichliden
Diese Hypothese wird durch eine wachsende Anzahl im Nabugabo-See in Uganda) bis zu 40 Millionen Jah-
von Forschungsergebnissen untermauert. ren (bei manchen Käfern). Im Durchschnitt betrug die
So gibt es beispielsweise Untersuchungen, die eine Zeit einer Artbildung 6,5 Millionen Jahre; selten waren
rasche Speziation der Sonnenblumenart Helianthus es weniger als 50.000 Jahre.
anomalus (Art) nahelegen. Man nimmt an, dass diese Was können wir aus solchen Daten ablesen? Erstens
Art ursprünglich durch Hybridisierung zweier anderer legen die Daten nahe, dass in der Regel Millionen
Sonnenblumenarten, H. annuus und H. petiolaris, ent- Jahre vergehen müssen, bis sich aus einer Art eine
standen ist. Die Hybridart H. anomalus ist eine Art der neue Art entwickelt hat. Wie wir in Kapitel 25 sehen
Sanddünen, ökologisch eigenständig und reproduktiv werden, wirkt sich dies auch darauf aus, wie lange
von den beiden Elternarten isoliert (Abbildung einzelne Organismengruppen brauchen, um sich von
24.17). Im Gegensatz zur allopolyploiden Artbildung, einem Massenaussterben zu erholen. Zweitens zeigen
bei der es nach der Hybridisierung zu einer Verände- die großen Unterschiede in den für die Bildung einer
rung der Chromosomenzahl kommt, haben bei diesen neuen Art in den verschiedenen Taxa benötigten Zeit-
Sonnenblumen die beiden Elternarten und die Hybrid- spannen, dass Organismen über keine „Speziationsuhr“
art alle dieselbe Chromosomenzahl (2n = 34). Wie kam verfügen, die in ihrem Inneren tickt und sie veranlasst,
es dann zur Artbildung? Um dieser Frage nachzugehen, in regelmäßigen Zeitabständen neue Arten hervorzu- Teil 4
haben Forscher ein Laborexperiment durchgeführt, bei bringen. Vielmehr setzt ein Artbildungsprozess erst
dem sie die natürlichen Prozesse der Artbildung nach- dann ein, wenn der Genfluss zwischen Populationen
gestellt haben (Abbildung 24.18). Ihre Ergebnisse zei- unterbrochen wird, beispielsweise durch veränderte
gen, dass die natürliche Selektion in den Hybrid- Umweltbedingungen oder durch ein unvorhersehba-
Populationen in relativ kurzer Zeit zu erheblichen res Ereignis wie einen Sturm, der ein paar Individuen
genetischen Unterschieden führen kann. Diese geneti- auf eine Insel verschlägt. Erst wenn die Population
schen Veränderungen scheinen dazu geführt zu haben, sich nach der Unterbrechung des Genflusses soweit
dass sich die Hybrid-Populationen reproduktiv von eigenständig genetisch von den Ausgangspopulationen
ihren Elternarten isolierten und sich so die neue Art H. weiterentwickelt hat, dass es zu einer reproduktiven
anomalus bildete. Isolation gekommen ist, kann ein Artbildungsprozess
Zusammen mit den bereits diskutierten Beispielen bei späterem Kontakt nicht mehr rückgängig gemacht
der Apfelfruchtfliegen, der Buntbarsche und der Tau- werden.

Abbildung 24.17: Die hyb-


ride Sonnenblumenart H.
anomalus. Helianthus ano-
malus wächst auf trockenen
Sanddünen und entstand durch
die Kreuzung zwischen H. an-
nuus und H. petiolaris, die auf
nahegelegenen, aber feuchte-
ren Standorten gedeihen.

667
24 Die Entstehung der Arten

 Abbildung 24.18: Aus der Forschung

Wie hat die Hybridisierung bei H. anomalus


Sonnenblumenarten zur Speziation geführt?
Experiment Loren Rieseberg und seine Kollegen Chromosom 1
haben als Elternarten H. annuus und H. petiolaris
experimentelle Hybride
miteinander gekreuzt, um experimentell Hybriden
im Labor zu erzeugen (es sind in jedem Gameten H. anomalus
nur zwei der insgesamt n = 17 Chromosomen
gezeigt). Chromosom 2

experimentelle Hybride
Gamet von Gamet von
H. annuus H. petiolarus Vergleichsregion enthält H. annuus-spezifischen Marker
Vergleichsregion enthält H. petiolarus-spezifischen Marker

Schlussfolgerung In relativ kurzer Zeit haben sich


die Chromosomen der Population experimentell
F1-Generation des
experimentell erzeugten
erzeugter Hybriden verändert und ähnelten denen
Hybriden (4 der 2n = 34 aus der natürlichen H. anomalus-Population. Diese
Chromosomen sind gezeigt) Beobachtung lässt vermuten, dass die Chromosomen
der experimentell gezüchteten Hybriden zunächst
DNA-Blöcke von den Elternarten enthielten, die
Bitte beachten Sie, dass in der ersten Generation nicht kompatibel miteinander waren und deren Fer-
(F1) jedes Chromosom der experimentell erzeugten tilität einschränkten. Durch die natürliche Selektion
Hybriden die komplette DNA einer der beiden Eltern- wurden nicht kompatible Regionen eliminiert, und
arten trägt. Im weiteren Verlauf des Experiments infolgedessen stieg die Fertilität der Hybriden in nur
Teil 4 haben die Wissenschaftler geprüft, ob die F1-Gene- wenigen Generationen wieder an. Insgesamt scheint
ration und die daraus folgenden Generationen der es so, dass die anfänglichen Schritte der Artbildung
Hybriden fertil waren. Zudem haben sie mithilfe sehr schnell erfolgt sind und unter Laborbedingun-
von artspezifischen Markern die Zusammenset- gen nachgeahmt werden konnten.
zung der experimentell erzeugten Hybrid-Chromo-
somen mit der in natürlich vorkommenden H. ano- Quelle: L. H. Rieseberg et al., Role of gene interactions in hybrid specia-
malus-Arten verglichen. tion: evidence from ancient and experimental hybrids, Science 272:741–
Ergebnis Obwohl nur fünf Prozent der F1-Hybri- 745 (1996). Nachdruck mit frdl. Genehmigung des AAAS.
den fertil waren, stieg die Fertilität nach nur vier
weiteren Generationen auf mehr als 90 Prozent. WAS WÄRE, WENN? Die Zunahme der Fertilität der
Zudem unterschieden sich die Chromosomen der experimentell erzeugten Sonnenblumen-Hybriden
experimentell gezüchteten Hybriden der fünften könnte auch durch Selektionsprozesse, die auf die
Generation von denen der F1-Hybriden und zeigten Laborbedingungen zurückzuführen sind, erzeugt
eine große Ähnlichkeit zu den Chromosomen der worden sein. Bewerten Sie bitte diese alternative
H. anomalus-Individuen aus natürlichen Popula- Erklärung der Ergebnisse.
tionen.

24.4.2 Die Genetik der Artbildung tung Euhadra können die Allele eines einzigen Locus
eine mechanische Fortpflanzungsbarriere induzieren.
Untersuchungen zu derzeit ablaufenden Artbildungs- Dieser Locus kontrolliert die Richtung der Gehäusewin-
prozessen (zum Beispiel in einer Hybridzone) können dung. Bei einem entgegengesetzt gewundenen Gehäuse
Informationen über die Prozesse liefern, die eine sind die Geschlechtsorgane so orientiert, dass eine Paa-
reproduktive Isolation bewirken. Durch die Identifizie- rung unmöglich wird (Abbildung 24.3f zeigt ein ähn-
rung der Gene, die diese Prozesse kontrollieren, kön- liches Beispiel). Jüngere genetische Analysen beschrei-
nen Wissenschaftler fundamentale Fragen der Evolu- ben weitere Fälle, bei denen eine Veränderung an einem
tionsbiologie bearbeiten: Wie viele Gene müssen sich einzelnen Locus zur reproduktiven Isolation bei Tau-
verändern, damit sich eine neue Art bilden kann? fliegen oder Mäusen führt.
In einigen wenigen Fällen geht die Entstehung einer Ein wichtiger Isolationsmechanismus zwischen zwei
reproduktiven Isolation auf die Veränderung an einem nahe verwandten Arten der Gauklerblumen, der Rosa
einzigen Locus zurück. Bei Strauchschnecken der Gat- Gauklerblume (Mimulus lewisii) und der Roten Gauk-

668
24.4 Artbildung kann schnell oder langsam erfolgen und aus Veränderungen weniger oder vieler Gene resultieren

lerblume (M. cardinalis), wird ebenfalls von einer rela- den Gauklerblumen von mindestens zwei Genorten
tiv kleinen Zahl an Genen gesteuert. Diese beiden Arten beeinflusst, von denen einer, der „yellow upper“- oder
sind durch einige präzygotische Fortpflanzungsbarrie- yup-Locus, auf die Blütenfarbe einwirkt (Abbildung
ren (Bestäuberwahl und partielle gametische Isolation) 24.19). Durch die Bildung von F1-Hybriden und durch
und postzygotische Barrieren (zwischenartliche Kreu- anschließende wiederholte Rückkreuzungen mit bei-
zungen produzieren weniger Nachkommen als inner- den Elternarten gelang es Forschern, sowohl das M.-
artliche Kreuzungen, und F1-Hybriden haben geringere lewisii-Allel an diesem Locus auf M. cardinalis zu über-
Überlebens- und Fortpflanzungschancen) voneinander tragen, als auch umgekehrt. In einem Freilandexperi-
isoliert. Von diesen Barrieren ist die Wahl des Bestäu- ment wurden M. lewisii-Pflanzen mit dem yup-Allel
bers für den größten Teil der Isolation verantwortlich: von M. cardinalis 68-mal häufiger von Kolibris besucht
In einer Hybridzone zwischen M. lewisii und M. car- als die des Wildtyps von M. lewisii. Ebenso erhielten
dinalis waren fast 98 Prozent aller Besuche von M.-cardinalis-Pflanzen mit dem yup-Allel von M. lewi-
Bestäubern auf entweder die eine oder die andere Art sii 74-mal mehr Besuche von Hummeln als Wildtyp-M.-
beschränkt. cardinalis. Daher kann eine Mutation an einem einzi-
gen Locus die Bestäuberpräferenz beeinflussen und
damit zur reproduktiven Isolation bei Gauklerblumen
beitragen.
Bei anderen Organismen wird der Artbildungsprozess
von zahlreichen Genen und Gen-Wechselwirkungen
beeinflusst. Zum Beispiel resultiert die Hybridsterilität
zwischen zwei Unterarten von Drosophila pseudo-
obscura aus Gen-Wechselwirkungen zwischen mindes-
tens vier Loci, und die postzygotische Isolation in der
Sonnenblumen-Hybridzone, die wir bereits besprochen
(a) Typische Mimulus (b) M. lewisii-Blüte mit
lewisii-Blüte. einem M. cardinalis-Allel haben, wird von mindestens 26 Chromosomenabschnit-
für die Blütenfarbe. ten (mit einer unbekannten Anzahl von Genen) beein-
flusst. Zusammenfassend belegen die vorliegenden For-
schungsergebnisse, dass die Entstehung einer neuen Art Teil 4
durch einige wenige aber auch durch sehr viele Gene
beeinflusst werden kann.

24.4.3 Von der Artbildung zur


Makroevolution
Wie Sie an den Beispielen in diesem Kapitel gesehen
haben, kann eine Artbildung mit individuellen Unter-
schieden beginnen, die scheinbar so geringfügig sind
wie die leicht veränderte Färbung eines Buntbarschrü-
ckens. Wenn es jedoch immer wieder zu derartigen
Veränderungen und Speziationsereignissen kommt,
können sich solche Unterschiede anhäufen und aus-
(c) Typische Mimulus cardi- (d) M. cardinalis-Blüte mit
nalis-Blüte. einem M. lewisii-Allel geprägter werden, was schließlich zur Entstehung grö-
für die Blütenfarbe. ßerer Organismengruppen führt, deren Mitglieder sich
von ihren Vorfahren sehr stark unterscheiden (wie bei
Abbildung 24.19: Ein Genort, der die Bestäuberwahl beeinflusst. der Entwicklung der Wale aus landlebenden Vorfahren
Präferenzen von Blütenbestäubern sorgen für einen starken Isolationsme-
mit ausgeprägten Extremitäten; siehe Abbildung 22.20).
chanismus zwischen M. lewisii und M. cardinalis. Nach Übertragung des M.
lewisii -Allels für einen Blütenfarben-Locus (des yup-Allels) auf M. cardinalis
Und während eine Organismengruppe durch Spezia-
und umgekehrt beobachteten die Wissenschaftler bei einigen Bestäubern tion ihre Artenzahl erheblich vergrößern kann, kann in
eine Veränderung der Präferenz. einer anderen die Artenzahl durch Aussterbeprozesse
reduziert werden. Die kumulativen Wirkungen vieler
WAS WÄRE, WENN? Wenn M. cardinalis -Individuen, die das yup -Allel solcher Artbildungs- und Aussterbeereignisse haben
von M. lewisii tragen, in einem Gebiet ausgepflanzt würden, in dem es letztlich dazu beigetragen, dass die Evolution eine so
beide Arten dieser Gauklerblumen gibt, wie könnte das die Produktion große Vielfalt unterschiedlichster Lebensformen im
von Hybridnachkommen beeinflussen? Laufe vieler Erdepochen hervorbringen konnte, die
sich uns in den vielen Fossilfunden zeigt. Im nächsten
Die beiden Gauklerblumenarten werden von unter- Kapitel wollen wir uns mit solchen evolutionären Ver-
schiedlichen Bestäubern besucht: Hummeln ziehen änderungen im großen Maßstab beschäftigen: mit der
die rosafarbenen M.-lewisii-Blüten vor und Kolibris die Makroevolution.
roten M. cardinalis-Blüten. Die Bestäuberwahl wird bei

669
24 Die Entstehung der Arten

 Wiederholungsfragen 24.4 yup-Locus allein die Fortpflanzungsbarrieren


zwischen diesen nahe verwandten Gaukler-
1. Artbildung kann bei sich genetisch auseinander- blumenarten kontrolliert? Begründen Sie Ihre
entwickelnden Populationen rasch erfolgen. Die Antwort.
Zeitspanne zwischen Artbildungsprozessen be-
trägt jedoch häufig mehr als eine Million 3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Vergleichen Sie Ab-
Jahre. Erklären Sie diesen scheinbaren Wider- bildung 13.12 mit Abbildung 24.18. Welcher
spruch. zelluläre Mechanismus führt dazu, dass die Hy-
2. Fassen Sie die experimentellen Belege zusam- brid-Chromosomen in Abbildung 24.18 DNA
men, die dafür sprechen, dass der yup-Locus der beiden Elternarten tragen? Begründen Sie
als präzygotische Fortpflanzungsbarriere bei Ihre Antwort.
zwei Gauklerblumenarten die entscheidende
Rolle spielt. Zeigen diese Ergebnisse, dass der Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

  ZUSAMMENFASSUNG KAPITEL 24  

Konzept 24.1 art entstehen. Eine sympatrische Artbildung erfolgt


Das biologische Artkonzept betont die reproduktiven bei zahlreichen Pflanzenarten (und in selteneren
Isolationsmechanismen Fällen auch Tierarten) über Polyploidisierung. Zu
einer sympatrischen Artbildung kann es auch durch
 Eine biologische Art umfasst eine Gruppe von Popu- einen Habitatwechsel oder durch sexuelle Selek-
Teil 4 lationen, deren Individuen sich alle potenziell mit- tion kommen.
einander kreuzen und lebensfähige, fertile Nach-
kommen bilden können, nicht jedoch mit Individuen Ausgangspopulation
anderer Arten. Das biologische Artkonzept betont
den Aufbau reproduktiver Isolationsmechanismen
durch präzygotische und postzygotische Fortpflan-
zungsbarrieren, die die Genpools verschiedener
Arten getrennt halten.
 Obwohl der biologische Artbegriff in Bezug auf die
Entstehung von Arten sehr hilfreich ist, stößt er in
manchen Fällen an seine Grenzen und lässt sich
nicht auf Fossilien anwenden oder auf Arten, die
sich nur asexuell (vegetativ) fortpflanzen. Daher
greifen Wissenschaftler situationsabhängig auch auf
andere, alternative Artkonzepte zurück, wie bei- Allopatrische Artbildung Sympatrische Artbildung
spielsweise den morphologischen Artbegriff.
? Können Faktoren, die eine sympatrische Artbildung hervorrufen, eben-
? Erklären Sie die Rolle, die der Genfluss beim biologischen Artkonzept falls zu einer allopatrischen Artbildung führen? Begründen Sie Ihre Antwort.
spielt.

Konzept 24.3
Konzept 24.2 Hybridzonen ermöglichen die Analyse von Faktoren,
Artbildung mit und ohne geografische Isolation die zur reproduktiven Isolation führen

 Zu allopatrischer Artbildung kommt es, wenn Popu-  Viele Arten bilden Hybridzonen aus, in denen Indi-
lationen einer Art geografisch voneinander getrennt viduen verschiedener Arten aufeinandertreffen, sich
werden und so der Genfluss zwischen ihnen redu- kreuzen und Hybriden bilden.
ziert oder unterbunden wird. Eine oder beide Popu-  Viele Hybridzonen sind stabil, was bedeutet, dass
lationen können während dieser Zeitspanne evo- sie im Lauf der Zeit ständig eine begrenzte Anzahl
lutive Veränderungen durchmachen, die zu prä- oder von Hybriden produzieren. In anderen Hybridzonen
postzygotischen Reproduktionsbarrieren führen kön- werden präzygotische Fortpflanzungsbarrieren ver-
nen. stärkt, so dass die Anzahl der Hybriden abnimmt.
 Eine neue Art kann auch ohne geografische Tren- In noch anderen Hybridzonen kann es sein, dass
nung in ein und demselben Gebiet der Ursprungs- sich die Fortpflanzungsbarrieren im Lauf der Zeit ab-

670
Übungsaufgaben

schwächen, was zu einer Verschmelzung der Gen- den – aber es kann Millionen Jahre dauern, bis die-
pools der Ursprungsarten führt (Umkehrung des ser Prozess einsetzt. Der Zeitraum einer Artbildung
Speziations-Prozesses). variiert zwischen einzelnen Organismengruppen
zum Teil erheblich, von ein paar Tausend bis zu
? Welche Faktoren unterstützen die langfristige Stabilität in einer vielen Millionen Jahren.
Hybridzone, wenn die beiden Elternarten in unterschiedlichen Habitaten  Neue Erkenntnisse in der Genetik haben Wissen-
leben? schaftler in die Lage versetzt, bestimmte Gene zu
identifizieren, die in einigen Fällen an der Artbil-
dung beteiligt sind. Wie die Ergebnisse zeigen, kann
Konzept 24.4 die Artbildung sowohl von wenigen als auch von
Artbildung kann schnell oder langsam erfolgen und vielen Genen gesteuert werden.
aus Veränderungen weniger oder vieler Gene resul-
tieren ? Ist Artbildung ein Prozess, der nur in der entfernten Vergangenheit
stattgefunden hat, oder befinden sich Arten heute immer noch im Prozess
 Wenn eine genetische Differenzierung einmal begon- der Speziation? Bitte begründen Sie Ihre Antwort.
nen hat, können sich neue Arten relativ schnell bil-

Die Antworten zu den Fragen der Schlüsselkon-


ÜB UN GSA U FG AB E N zepte in diesem Kapitel finden Sie in Anhang A.

Ebene 1: Wissen und Verständnis einzigen Art zugeordnet. Welche der folgenden
Beobachtungen wäre, falls sie zuträfe, ein Grund
1. Die größte Einheit, bei der es leicht zu einem Gen- für diese systematische Einordnung?
fluss kommen kann, ist eine a. Die beiden Unterarten kreuzen sich in der Na-
a. Population. tur häufig, und ihre Nachkommen haben gute
b. Art. Überlebens- und Fortpflanzungschancen.
c. Gattung. b. Die beiden Unterarten leben im selben Habitat
d. Hybride. und ernähren sich ähnlich. Teil 4
c. Die beiden Unterarten haben viele Gene ge-
2. Männchen verschiedener Taufliegenarten (Droso- meinsam.
phila), die im selben Gebiet von Hawaii leben, ha- d. Die beiden Unterarten sind sich sehr ähnlich.
ben unterschiedliche Balzrituale ausgebildet, bei
denen sie mit anderen Männchen derselben Art 5. Welcher der folgenden Faktoren trägt nicht zur al-
kämpfen und Weibchen durch bestimmte Bewe- lopatrischen Artbildung bei?
gungsmuster anzulocken versuchen. Welchen Typ a. Die abgetrennte Population ist klein und es
eines Isolationsmechanismus stellt dies dar? kommt zur genetischen Drift.
a. Habitatisolation b. Die separierte Population ist anderen Selekti-
b. zeitliche Isolation onsdrücken ausgesetzt als die Elternpopulation.
c. Verhaltensisolation c. Unterschiedliche Mutationen beginnen die Gen-
d. gametische Isolation pools der beiden Populationen zu verändern.
d. Der Genfluss zwischen den beiden Populatio-
3. Dem Modell des unterbrochenen Gleichgewichts nen ist groß.
zufolge
a. werden sich die meisten existierenden Arten 6. Pflanzenart A hat eine Chromosomenzahl von 2n =
im Lauf der Zeit allmählich in neue Arten auf- 12, Pflanzenart B von 2n = 16. Durch Allopolyploi-
spalten. disierung von A und B entsteht die neue Art C. Die
b. akkumulieren die meisten Arten ihre spezifi- Chromosomenzahl dieser Art C ist wahrscheinlich
schen Merkmale relativ rasch nach ihrem Ent- a. 2n = 14.
stehen und verändern sich dann für den Rest b. 2n = 16.
ihrer Existenz als Art nur noch wenig. c. 2n = 28.
c. tritt der größte Teil der Evolution bei sympatri- d. 2n = 56.
schen Arten auf.
d. geht Speziation gewöhnlich auf eine einzelne Ebene 3: Neues Wissen aufbauen und bewerten
Mutation zurück.
7. Nehmen Sie an, eine Gruppe von männlichen Trau-
Ebene 2: Anwendung und Auswertung erschnäppern wanderte aus einer Region, in der
keine Halsbandschnäpper auftreten, in ein Gebiet
4. In Vogelbestimmungsbüchern wurden der Kronen- ein, in dem beide Arten vorkommen (siehe Abbil-
laubsänger und der Audubon-Laubsänger früher dung 24.14). Nehmen Sie weiter an, ein solches
als eigenständige Arten geführt. Heutzutage wer- Ereignis sei sehr selten; welches der folgenden
den sie jedoch als Unterarten betrachtet und einer Szenarios ist dann am wenigsten wahrscheinlich?

671
24 Die Entstehung der Arten

a. Die Frequenz der gebildeten Hybriden würde Kojoten (Canis latrans). Obgleich sich Rotwölfe
ansteigen. und Kojoten in Morphologie, DNA und Verhalten
b. Die eingewanderten männlichen Trauerschnäp- unterscheiden, sprechen genetische Analysen da-
per würden weniger Nachwuchs hervorbringen für, dass die heute lebenden Rotwölfe tatsächlich
als die schon im Gebiet lebenden männlichen alle Hybriden sind. Rotwölfe gelten als bedrohte
Trauerschnäpper. Art und sind daher durch das Washingtoner Ar-
c. Die eingewanderten Männchen würden sich tenschutzabkommen geschützt. Einige Personen
mit Halsbandschnäpper-Weibchen öfter paaren sind der Ansicht, man sollte Rotwölfen ihren
als mit Trauerschnäpper-Weibchen. Schutzstatus entziehen, weil sie Hybriden sind
d. Die Frequenz der gebildeten Hybriden würde und nicht Angehörige einer „reinen“ Art. Stim-
abnehmen. men Sie dem zu? Warum oder warum nicht?

8. Wissenschaftliche Fragestellung 11. Skizzieren Sie ein Thema: Information Bei sich
ZEICHENÜBUNG In diesem Kapitel haben Sie gele- sexuell vermehrenden Arten erhält jedes Indivi-
sen, dass Saatweizen (Triticum aestivum) ein Allo- duum zu Beginn seines Lebens DNA von seinen
hexaploid ist und zwei Chromosomensätze von je- beiden Eltern. Beschreiben Sie in einem kurzen
der seiner drei verschiedenen Elternarten aufweist. Aufsatz (in 100–150 Worten) was passieren würde,
Genetische Analysen sprechen dafür, dass die drei wenn sich Organismen verschiedener Arten mit
unten abgebildeten Arten Chromosomensätze zur homologen Chromosomen paaren und hybriden
Bildung von T. aestivum geliefert haben. (Die Groß- Nachwuchs (F1) hervorbrächten. Welcher Prozent-
buchstaben stellen hier ganze Chromosomensätze satz der DNA in den Chromosomen der F1-Hybri-
statt einzelner Gene dar.) Die Befunde sprechen den stammt von jeder Elternart? Diese Hybriden
auch dafür, dass das erste Polyploidieereignis eine kreuzen sich und produzieren F2-Nachkommen
spontane Hybridisierung zwischen dem Wilden und weitere Generationen. Beschreiben Sie, wie
Einkorn (Triticum monococcum) und einer wilden Rekombination und natürliche Selektion beein-
Triticum-Grasart war. Zeichnen Sie auf Basis dieser flussen könnten, ob der DNA-Anteil in den Chro-
Informationen ein Diagramm, das eine mögliche mosomen der Nachkommen von der einen oder
Teil 4 Kette von Ereignissen wiedergibt, die zum allo- der anderen Elternart stammt.
hexaploiden T. aestivum führten.
12. NUTZEN SIE IHR WISSEN Angenommen, Weibchen
Phylogenetisch ursprüngliche Arten einer Population von Erdbeerfröschchen (Dendro-
bates pumilio) paaren sich bevorzugt mit Männ-
chen, die auffällig rot-schwarz gefärbt sind. In ei-
ner anderen Population bevorzugen die Weibchen
Männchen mit einer gelben Hautfarbe. Überlegen
AA BB DD Sie, wie sich solche Unterschiede in einer allopa-
Triticum Triticum, T. tauschii,
trischen gegenüber einer sympatrischen Popula-
monococcum Wildart Wildart tion hätten entwickeln können.
(2n = 14) (2n = 14) (2n = 14)

Ergebnis

AA BB DD

T. aestivum
(Saatweizen)
(2n = 42)

9. Verbindung zur Evolution Auf welcher biologi-


schen Grundlage beruht die Annahme, dass sämt-
liche menschlichen Populationen einer einzigen
Art angehören? Können Sie sich ein Szenario vor-
stellen, durch das in Zukunft eine zweite mensch- Lösungen zu ausgewählten Aufgaben sowie
liche Art entstehen könnte? weitere Übungen und vertiefende Materia-
lien finden Sie im MyLab|Deutsche Version
10. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft In den für Campbell Biologie sowie im Anhang A.
Vereinigten Staaten paart sich der seltene Rotwolf
(Canis rufus) mit dem viel häufiger auftretenden

672
Die Geschichte des Lebens auf der Erde

25.1 Die Umweltbedingungen auf der jungen Erde ermöglichten 25


die Entstehung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674
25.2 Fossilfunde dokumentieren die Geschichte des Lebens . . . . . . . . . 677
25.3 Zu den Schlüsselereignissen in der Evolution gehören die
Entstehung einzelliger und vielzelliger Organismen sowie
die Besiedlung des Festlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682
25.4 Aufstieg und Niedergang dominanter Gruppen in
Zusammenhang mit Kontinentaldrift, Massenaussterben und

KONZEPTE
adaptiver Radiation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
25.5 Veränderungen im Körperbau können durch Änderungen in der
Sequenz und Regulation von Entwicklungsgenen entstehen . . . 696
25.6 Evolution ist nicht zielorientiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700

 Abbildung 25.1: Was sagen Fossilbelege


über den Lebensraum dieser Dinosaurier aus?
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

Vergangene Welten
Wer heute die Antarktis besucht, trifft auf einen der entscheidend zum Aufkommen und Niedergang ver-
vom Klima her extremsten Lebensräume der Erde. Auf schiedener Organismengruppen im Lauf der geologi-
diesem Kontinent, in dem besonders niedrige Tempera- schen Zeiträume beigetragen haben.
turen herrschen und es so gut wie kein flüssiges Wasser
gibt, sind Organismen selten, und sind verhältnismäßig
klein, wenn sie überhaupt vorkommen – die größte ter- Die Umweltbedingungen auf der
restrische Tierart ist eine nur 5 mm große Fliegenart.
Doch selbst während frühe Antarktisforscher im ewigen jungen Erde ermöglichten
Eis ums Überleben kämpften, machten einige von ih-
nen eine überraschende Entdeckung: Fossilfunde zeig-
ten, dass früher dort, wo es heute kaum Leben gibt, eine
die Entstehung des Lebens
25.1
üppige Fauna und Flora gedieh. Die Meeresgewässer Die frühesten Belege für ein Leben auf der Erde stam-
rund um die Antarktis waren vor 500 Millionen Jahren men von fossilen Prokaryonten, die rund 3,5 Milliarden
warm, und es wimmelte darin von wirbellosen Tier- Jahre alt sind. Aber wann und wie entstanden die ersten
arten. Später war der Kontinent viele hundert Millionen lebenden Zellen? Aufgrund von Beobachtungen und
Jahre lang mit einer dichten Waldvegetation bedeckt. Experimenten aus der Chemie, Geologie und Physik
Zu verschiedenen Zeiten durchstreifte ein breites Spek- haben Wissenschaftler ein Szenario entwickelt, das wir
trum von Tieren diese Wälder, darunter auch drei Meter hier diskutieren wollen. Nach ihrer Hypothese könnten
hohe räuberische „Terrorvögel“ (Phorusrhacidae) und chemische und physikalische Prozesse auf der noch
riesige Dinosaurier wie der gefräßige Cryolophosaurus jungen Erde, unterstützt von der natürlichen Selektion,
(Abbildung 25.1), ein sieben Meter großer Verwandter sehr einfache Zellen produziert haben. Sie nehmen
von Tyrannosaurus rex. dafür eine Folge von vier Hauptschritten an:
Fossilfunde aus anderen Teilen der Erde erzählen
eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so überraschende 1. Die abiotische Synthese von kleinen organischen
Geschichte: Arten, die in der Vergangenheit lebten, Molekülen wie Aminosäuren und Nucleotiden.
Teil 4 unterscheiden sich deutlich von den heute lebenden
Arten. Die tiefgreifenden Veränderungen in der Arten- 2. Die Verknüpfung dieser kleinen Moleküle zu Ma-
zusammensetzung verschiedener Erdepochen belegt kromolekülen, darunter Proteine und Nuclein-
die Makroevolution, die Evolution über lange Zeit- säuren.
räume, welche zu veränderten Bauplänen und zur
Diversifizierung der Organismengruppen oberhalb 3. Das Verpacken solcher Moleküle in „Protobion-
der Artebene führte. Zu den spezifischen Beispielen ten“, membranumhüllten Tröpfchen, die intern
makroevolutiver Veränderungen gehören das Auftre- einen chemischen Zustand höheren Ordnungs-
ten der ersten landlebenden Wirbeltiere durch eine grads aufrechterhalten, der sich von dem ihrer
Reihe von Speziationsereignissen, die Langzeitwirkung Umgebung deutlich unterscheidet.
des Massenaussterbens von großen Artengruppen auf
die Biodiversität und das Auftreten von Schlüsseladap- 4. Die Entstehung selbstreplizierender Moleküle,
tionen wie beispielsweise der Flugfähigkeit. die schließlich eine Vererbung ermöglichten.
Insgesamt liefern solche makroevolutiven Verände-
rungen einen bemerkenswerten Einblick Obgleich spekulativ, führt dieses Szenario zu Vorher-
in die Evolutionsgeschichte sagen, die sich unter Laborbedingungen testen lassen.
irdischen Lebens. Mit die- In diesem Abschnitt wollen wir einige Belege für
ser Geschichte wollen jeden der Schritte besprechen.
wir uns in diesem
Kapitel beschäftigen
und dabei zunächst 25.1.1 Synthese organischer Verbindungen
mit Hypothesen begin- zu Beginn der Erdentwicklung
nen, die sich mit dem
Ursprung des Lebens Es gibt wissenschaftliche Befunde, die dafür sprechen,
auf der Erde befassen. dass sich die Erde vor rund 4,6 Milliarden Jahren aus
Cryolophosaurus-Schädel Die Entstehung des Le- einer riesigen Wolke von Staub und Gestein gebildet
bens ist das spekulativste hat, die um die junge Sonne kreiste. Zu Beginn, wäh-
Thema im ganzen Abschnitt über Evolution, denn aus rend einiger hundert Millionen Jahre, konnte auf der
dieser frühen Epoche gibt es keinerlei Fossilbelege. Erde wahrscheinlich kein Leben entstehen, da der Pla-
Anschließend wenden wir uns den Fossilfunden zu, net ständig von riesigen Fels- und Eisbrocken, Überres-
sowie den Schlussfolgerungen über die wichtigsten ten aus der Entstehungsphase des Sonnensystems,
Ereignisse der Entstehung des Lebens; dabei konzen- bombardiert wurde und darüber hinaus extreme Tem-
trieren wir uns besonders auf diejenigen Faktoren, die peraturen herrschten. Die Zusammenstöße erzeugten so

674
25.1 Die Umweltbedingungen auf der jungen Erde ermöglichten die Entstehung des Lebens

viel Wärme, dass das verfügbare Wasser verdampfte stoffe aus dem Erdinneren in die Ozeane ausgestoßen
und sich keine Meere bilden konnten. Diese Phase werden (Abbildung 25.3). Allerdings ist das Wasser,
endete wahrscheinlich vor rund 4 Milliarden Jahren. das einige dieser auch als „Schwarze Raucher“ bezeich-
Als sich das Bombardement im frühen Erdstadium neten Schlote in ihre Umgebung abgeben, so heiß
legte, herrschten auf der Erde deutlich andere Bedingun- (300–400 °C), dass dort gebildete organische Verbin-
gen als heute. Die frühe Atmosphäre war wahrscheinlich dungen wahrscheinlich instabil wären. Es gibt aber
sauerstoffarm, stark wasserdampfgesättigt und enthielt auch andere Tiefseeschlote (alkalische Tiefsee-
verschiedene Verbindungen, die aus Vulkanausbrüchen schlote), die weniger heißes Wasser (40–90 °C) mit
stammten, zum Beispiel Stickstoff und Stickoxide, Koh- einem hohen pH-Wert (9–11) ausstoßen und so Bedin-
lendioxid, Methan, Ammoniak und Wasserstoff. Als sich gungen schaffen, die für die Entstehung des Lebens
die Erde langsam abkühlte, kondensierte der Wasser- wesentlich besser geeignet wären (Abbildung 25.3).
dampf und bildete so die ersten Ozeane; gleichzeitig
entwich ein großer Teil des Wasserstoffs rasch in den
Weltraum.

Masse der Aminosäuren


Anzahl Aminosäuren
In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts stellten der 20 200
russische Chemiker A. I. Oparin und der britische Wis-
senschaftler J. B. S. Haldane unabhängig voneinander

(mg)
die Hypothese auf, dass in der Atmosphäre der jungen 10 100
Erde reduzierende (Elektronen abgebende) Bedingun-
gen herrschten, die die Bildung organischer Verbindun- 0 0
gen aus einfachen Molekülen ermöglicht haben könnten. 1953 2008 1953 2008
Die Aktivierungsenergie für solche Synthesen lieferten
dieser Hypothese zufolge Blitze und eine intensive UV- Abbildung 25.2: Aminosäuresynthese in einem simulierten Vul-
kanausbruch. Zusätzlich zu seinem klassischen Experiment von 1953 hatte
Strahlung. Haldane schlug vor, die Urmeere als eine
Miller auch ein ähnliches Experiment durchgeführt, bei dem er die Synthese
Lösung organischer Moleküle anzusehen, als eine Art
von organischen Molekülen unter den Bedingungen eines Vulkanausbruchs
„Ursuppe“, aus der sich Leben entwickelte. testete. Eine 2008 durchgeführte Auswertung der damals von Miller erzeug-
Im Jahr 1953 testeten Stanley Miller und Harold ten Verbindungen zeigt, dass unter Bedingungen, die einem Vulkanausbruch
Urey von der Universität Chicago die Oparin-Haldane- Teil 4
ähneln, weit mehr Aminosäuren produziert wurden, als unter solchen, die er
Hypothese und schufen im Labor ähnliche Bedingun- in seinem Experiment von 1953 verwendete und die die angenommenen
gen, wie sie nach Auffassung der damaligen Wissen- Verhältnisse auf der jungen Erde simulierten.
schaftler auf der jungen Erde geherrscht hatten (siehe
Abbildung 4.2). Ihr experimenteller Aufbau erbrachte ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Wie kann es sein, dass mehr als 20
neben anderen organischen Verbindungen eine Reihe Aminosäuren in der Analyse von Oparin und Haldane aus dem Jahr 2008
von Aminosäuren, wie man sie in heutigen Organis- gefunden wurden (siehe Konzept 5.4 )?
men findet. Viele Labore haben seitdem Millers klassi-
sches Experiment unter unterschiedlichen Bedingungen
wiederholt und in einigen Fällen ebenfalls Aminosäu-
ren produziert.
Immer mehr Befunde sprechen dafür, dass die frühe
Atmosphäre jedoch vorwiegend aus Stickstoff und
Kohlendioxid bestand und weder reduzierend noch oxi-
dierend (Elektronen aufnehmend) war. Jüngere Experi-
mente, ähnlich denen, die Miller und Urey durchgeführt
1 mm

haben, und denen solche „neutralen“ atmosphärischen


Bedingungen zugrunde gelegt wurden, haben ebenfalls
Abbildung 25.3: Entstand das
organische Moleküle produziert. Zudem könnte es in der Leben am Grunde der Tiefsee in der
frühen Atmosphäre auch kleine, begrenzte Bereiche Umgebung alkalischer Quellen? Die
gegeben haben – zum Beispiel in der Nähe von Vulkanen ersten organischen Verbindungen – und
– in denen reduzierende Bedingungen vorherrschten. die ersten Zellen – könnten in der Umge-
Möglicherweise haben sich die ersten organischen Mole- bung von warmen, alkalischen Tiefsee-
küle also in der Nähe von Vulkanen gebildet. Im Jahr schloten entstanden sein. Dieser Tiefsee-
2008 wurde diese Hypothese genauer untersucht. Dabei schlot gehört zu dem etwa 40.000 Jahre
werteten Wissenschaftler die von Miller in einem seiner alten Hydrothermalfeld namens „Lost
Experimente erzeugten Verbindungen nochmals mit City“, das am Grunde des atlantischen
Ozeans liegt. Die Schlote enthalten
moderneren Geräten aus und fanden heraus, dass sich
Kohlenwasserstoff und sind voller kleiner
zahlreiche Aminosäuren unter Bedingungen gebildet Poren (kleines Bild), die mit Eisen und
hatten, die denen eines Vulkanausbruchs ähnelten anderen katalytisch wirkende Mineralien
(Abbildung 25.2). ausgekleidet sind. Frühe Ozeane waren sauer, wodurch zwischen dem Inne-
Einer anderen Theorie zufolge bildeten sich die ersten ren der alkalischen Tiefseeschlote und dem sie umgebenden Meereswasser
organischen Verbindungen in der Nähe von hydrother- ein pH-Wert-Gefälle bestanden hat. Aus diesem Gefälle hätte Energie für die
malen Tiefseeschloten, wo heißes Wasser und Mineral- Synthese von organischen Molekülen genutzt werden können.

675
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

Experimente nach dem Vorbild von Miller/Urey und stoffwechsel geliefert werden müssen (siehe Kapitel 16).
Untersuchungen zur Synthese von organischen Mole- Dies legt nahe, dass selbstreplizierende Moleküle und
külen unter Bedingungen, wie wir sie bei alkalischen eine metabolismusartige Quelle von Nucleotiden zusam-
Tiefseeschloten vorfinden, zeigen, dass eine abiotische men aufgetreten sind. Wie ist das vorstellbar?
Synthese von organischen Molekülen unter unter- Die notwendigen Voraussetzungen könnten Proto-
schiedlichen Bedingungen möglich ist. Eine andere bionten geschaffen haben, Ansammlungen abiotisch
Quelle organischen Materials könnten auch Meteoriten produzierter Moleküle in einem flüssigkeitsgefüllten
gewesen sein. Bruchstücke eines 4,5 Milliarden Jahre Raum, umgeben von einer membranartigen Struktur.
alten Chondriten, des Murchison-Meteoriten, der 1969 Möglicherweise wiesen solche Protobionten einige
in Australien gefunden wurde, enthielten mehr als 80 Eigenschaften des Lebens auf, zum Beispiel eine ein-
Aminosäuren, einige davon in großen Mengen. Die in fache Reproduktion und einen einfachen Stoffwech-
diesem Chondriten gefundenen Aminosäuren können sel; zudem hielten sie ein inneres chemisches Milieu
keine irdischen Kontaminationen sein, da sie zu glei- aufrecht, das sich vom Außenmilieu unterschied
chen Teilen aus D- und L-Isomeren bestehen (siehe (Abbildung 25.4).
Kapitel 4). Von seltenen Ausnahmen abgesehen, pro-
duzieren und nutzen irdische Organismen nur die

relative Trübung des Wassers, als Maß


für die Menge gebildeter Liposomen
0.4
L-Isomere. Jüngere Studien haben gezeigt, dass der
Murchison-Meteorit auch andere wichtige organische
Verbindungen wie Fette, einfache Zucker und stick- Vorläufer-Moleküle zusammen mit
Montmorillonit in wässriger Lösung
stoffhaltige Basen wie Uracil enthielt. 0.2
Vorläufer-Moleküle in
wässriger Lösung
25.1.2 Abiotische Synthese von
Makromolekülen 0
0 20 40 60
Zeit (Minuten)
Das Vorkommen von kleinen organischen Molekülen © 2003 AAAS
wie Aminosäuren und stickstoffhaltigen Basen reicht (a) Zusammenlagerung. Das Vorhandensein von Montmorillonit
Teil 4 aber nicht für die Entstehung von Leben, wie wir es erhöht die Rate der Zusammenlagerung zu Liposomen.
kennen, aus. Jede Zelle weist eine breite Palette von
Makromolekülen auf, darunter Enzyme und andere 10 μm Liposom 1 μm
Proteine sowie Nucleinsäuren, die für eine Selbstrepli-
kation notwendig sind. Könnten sich solche Makromo-
leküle auf der frühen Erde gebildet haben? Eine 2009
durchgeführte Studie hat gezeigt, dass ein wichtiger
Schritt zur Entstehung des Lebens, die abiotische Syn-
these von RNA-Monomeren, spontan aus einfachen
Vorläufermolekülen ablaufen kann. Zudem haben Wis-
senschaftler Aminosäurelösungen (oder Lösungen von (b) Reproduktion. Liposomen (c) Aufnahme von RNA. Dieses
RNA-Nucleotiden) auf heißen Sand, Lehm oder Fels können sich teilen und so Liposom hat Montmorillonit-
kleinere Liposomen „gebä- Partikel aufgenommen, die mit
getröpfelt und konnten auf diese Weise Aminosäure- ren“. RNA (orange) beschichtet waren.
polymere (oder RNA-Polymere) herstellen. Diese Poly-
mere bildeten sich spontan, ohne Hilfe von Enzymen Abbildung 25.4: Eigenschaften von abiotisch entstandenen Lipo-
somen.
oder Ribosomen. Doch im Gegensatz zu Proteinen sind
diese Polymere eine komplexe Mischung von miteinan-
der verbundenen und vernetzten Aminosäuren. Den- Wie Laborexperimente zeigen, können sich Protobion-
noch ist es möglich, dass solche Polymere für eine ten spontan aus abiotisch erzeugten organischen Ver-
Reihe von Reaktionen auf der frühen Erde als schwache bindungen bilden. Wenn zum Beispiel Phospholipide
Katalysatoren gedient haben. oder andere organische Moleküle ins Wasser gegeben
werden, können kleine membrangebundene Tröpf-
chen, sogenannte Liposomen, entstehen. Die amphi-
25.1.3 Protobionten philen Moleküle (siehe Kapitel 7) in der Mischung
organisieren sich an der Oberfläche des Tröpfchens zu
Die beiden Schlüsseleigenschaften des Lebens sind die einer Doppelschicht, ganz ähnlich der Lipiddoppel-
präzise Replikation von DNA und der Stoffwechsel schicht einer Plasmamembran. Wenn zudem Substan-
(Metabolismus). Keine dieser beiden Eigenschaften zen wie Montmorillonit (ein Tonmineral, das durch
kann ohne die andere existieren. DNA-Moleküle tragen die Verwitterung von Vulkanasche entsteht) zuge-
genetische Information, darunter auch die Instruktio- geben werden, erhöht sich die Rate der spontanen
nen, die sie brauchen, um sich selbst präzise zu repli- Zusammenlagerung (Abbildung 25.4a). Dieses Ton-
zieren. Doch die Replikation von DNA erfordert eine mineral, von dem man annimmt, dass es auf der
komplexe enzymatische Ausstattung sowie einen gro- frühen Erde häufig vorkam, bildet eine Oberfläche, auf
ßen Vorrat von Nucleotiden als Bausteine, die vom Zell- der die organischen Moleküle konzentriert werden.

676
25.2 Fossilfunde dokumentieren die Geschichte des Lebens

Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für eine ten der ursprünglichen Protobionten aufweisen. Auch
Wechselwirkung zwischen den Molekülen, sowie für wenn die ersten derartigen Protobionten wohl nur eine
deren Zusammenlagerung. Abiotisch entstandene Lipo- begrenzte Menge an genetischer Information speichern
somen können sich auch „reproduzieren“ (Abbildung und damit nur wenige Eigenschaften festlegen konnten,
25.4b) oder an Größe zunehmen, ohne ihren Inhalt zu so unterlagen diese erblichen Merkmale doch der natür-
verdünnen. Liposomen können Montmorillonit-Partikel lichen Selektion. Die erfolgreichsten frühen Protobion-
aufnehmen, auch solche, auf denen RNA oder andere ten hätten dann an Zahl zugenommen, da sie ihre Res-
organische Moleküle angeheftet sind (Abbildung sourcen effizient nutzen und ihre Fähigkeiten an ihre
25.4c). Zudem haben Experimente gezeigt, dass einige Nachfahren weitergeben konnten.
dieser Liposomen eine selektiv permeable Doppel- Sobald bei Protobionten RNA-Sequenzen vorkamen,
schicht haben und (unter Zugabe von geeigneten Sub- die genetische Information trugen, wurden viele weitere
straten und Enzymen) sogar einfache Stoffwechselreak- Veränderungen möglich. Zum Beispiel könnte RNA die
tionen durchführen können, ein weiterer wichtiger Schablone für die DNA-Synthese geliefert haben. Die
Schritt für die Entstehung des Lebens. doppelsträngige DNA ist ein viel stabilerer Speicher
für genetische Information als die fragile einzelsträn-
gige RNA. DNA kann sich auch präziser replizieren.
25.1.4 Selbstreplizierende RNA und die Die Zunahme der Genomgrößen von Protobionten (das
Frühzeit der natürlichen Selektion heißt ihrer genetisch codierten Eigenschaften) durch
Genduplikationen und andere Mechanismen machte
Das erste genetische Material war wahrscheinlich RNA, eine solche verbesserte, weniger fehlerbehaftete Repli-
nicht DNA. RNA, die eine zentrale Rolle bei der Protein- kation notwendig. Nach der Entstehung der DNA und
biosynthese spielt, kann auch eine Reihe enzymartiger der Ausbildung ihrer Funktion als Träger der Erbinfor-
katalytischer Reaktionen durchführen (siehe Kapitel 17). mation übernahmen die RNA-Moleküle möglicher-
Solche RNA-Katalysatoren werden Ribozyme genannt. weise ihre heutige Rolle als Vermittler bei der Transla-
Einige Ribozyme können komplementäre Kopien kurzer tion des genetischen Programms, und die „RNA-Welt“
RNA-Stücke herstellen, wenn ihnen die nötigen Nucleo- wurde von der „DNA-Welt“ abgelöst. Nun waren die
tide als Bausteine zur Verfügung stehen. Voraussetzungen für die Entwicklung verschiedener
In Laborversuchen konnten durch natürliche Selek- Lebensformen geschaffen – Veränderungen, die durch Teil 4
tion auf der molekularen Ebene Ribozyme hergestellt Fossilfunde belegt sind.
werden, die sich selbst replizieren konnten. Wie geht
das? Im Gegensatz zu der doppelsträngigen DNA, die
die Form einer einheitlichen Doppelhelix hat, nehmen  Wiederholungsfragen 25.1
die einzelsträngigen RNA-Moleküle eine Reihe unter-
schiedlicher dreidimensionaler Formen an, die von 1. Welche Hypothese testeten Miller und Urey
ihrer jeweiligen Nucleotidsequenz bestimmt werden. in ihrem berühmten Experiment?
Unter bestimmten Bedingungen sind RNA-Moleküle
mit einer gewissen Basensequenz stabiler als andere 2. Inwiefern könnte das Auftreten von Proto-
und replizieren sich rascher und mit einer geringeren bionten ein Schlüsselereignis für die Entste-
Fehlerquote. Das RNA-Molekül, dessen Basensequenz hung des Lebens auf der Erde gewesen sein?
am besten an die Rahmenbedingungen angepasst ist
3. ZUSAMMENHÄNGE ERKENNEN Bei dem Wechsel
und das sich am besten repliziert, hinterlässt dement-
von der „RNA-Welt“ zur „DNA-Welt“ muss
sprechend die meisten „Tochtermoleküle“. Seine
genetische Information von RNA zu DNA ver-
Abkömmlinge bilden keinen einheitlichen RNA-Typ,
mittelt worden sein. Schauen Sie sich die
sondern vielmehr eine Familie von Basensequenzen,
Abbildungen 17.3 und 19.8 nochmals an und
die sich aufgrund von Kopierfehlern geringfügig unter-
überlegen Sie, wie dies möglicherweise ablief.
scheiden. Gelegentlich kann ein Kopierfehler zu einem
Ist ein Informationsfluss in diese „Richtung“
Molekül führen, das sich in eine Form faltet, die noch
heute noch zu beobachten?
stabiler ist oder sich noch besser selbst repliziert als die
ursprüngliche RNA. Ähnliche Selektionsereignisse
Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
könnten sich auf der jungen Erde abgespielt haben.
Daher könnte der heutigen molekularen Biologie eine
„RNA-Welt“ mit kleinen RNA-Molekülen vorausgegan-
gen sein, die genetische Information trugen, sich repli-
zieren konnten und Information über den Protobionten Fossilfunde dokumentieren
speicherten, zu dem sie gehörten.
Ein Protobiont mit einer selbstreplizierenden katalyti-
schen RNA hätte sich von seinen vielen Nachbarn ohne
die Geschichte des Lebens
25.2
RNA mit solchen Fähigkeiten unterschieden. Wenn sol- Fossilfunde, die mit den ersten Spuren des Lebens
che Protobionten wachsen, sich teilen und ihre RNA- beginnen, öffnen uns ein Fenster zu einer lange vergan-
Moleküle an die neuen Protobionten weitergeben konn- genen Welt und gewähren uns Einblicke in die Milli-
ten, würden die neuen Protobionten einige Eigenschaf- arden Jahre währende Evolution des Lebens. In diesem

677
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

Abschnitt werden wir Fossilien als eine Art wissen- schichten (Strata) abgelagert haben (siehe Abbildung
schaftlichen Beleg betrachten, die zur Klärung folgender 22.3). Aber auch andere Fossilien liefern nützliche
Fragen beitragen: Wie sind Fossilien entstanden? Wie Informationen, zum Beispiel Insekten, die in Bernstein
interpretieren und datieren Wissenschaftler Fossilien? (fossilem Baumharz) überdauern oder im Eis eingefro-
Was können Fossilien uns über die großen Veränderun- rene, mumifizierte Säugetiere.
gen in der Geschichte des Lebens sagen – und was nicht? Wie die Fossilfunde zeigen, hat es bei den verschie-
denen Organismengruppen, die das Leben auf der Erde
zu verschiedenen Zeitpunkten dominierten, starke Ver-
25.2.1 Die Fossilfunde änderungen gegeben (Abbildung 25.5). Viele Organis-
men der Vergangenheit sahen ganz anders aus als heutige
Erinnern Sie sich aus Kapitel 22 daran, dass Sediment- Formen, und viele Organismen, die damals häufig waren,
gesteine die reichsten Fossilquellen sind. Daher werden sind heute ausgestorben. Wie wir später noch sehen wer-
die beschriebenen Fossilien hauptsächlich aufgrund der den, dokumentieren Fossilien auch, wie neue Organis-
Schichtfolge datiert, in der sich Fossilien in Sediment- mengruppen aus bereits existierenden entstanden sind.

Abbildung 25.5: Eine Dokumentation der Geschichte des Neuzeit  Rhomaleosaurus victor, ein Plesiosaurier. Diese
Lebens auf der Erde. Diese Fossilien repräsentieren Organismentaxa großen Meeresechsen waren vor 200 bis

100 Millionen Jahre vor heute


aus verschiedenen Zeitabschnitten. Obwohl Prokaryonten und einzel- 65,5 Millionen Jahren wichtige Prädatoren.
lige Eukaryonten nur an der Basis der Abbildung dargestellt sind, sind
sie doch heute noch sehr erfolgreich und bilden in der Tat die größten
Organismengruppen, die auf der Erde leben.

 Dimetrodon, der größte bekannte Carnivor seiner Zeit, war näher mit
den Säugetieren als mit Sauropsiden verwandt und gehört in die
Stammline der Mammalia. Das auffällige „Segel“ auf seinem Rücken  Tiktaalik, ein ausgestor-
diente wahrscheinlich zur Temperaturregulation. bener Wasserbewoh-
ner, ist der nächste
bekannte Verwandte
1m jener vierbeinigen
Teil 4
175

Wirbeltiere, die sich


aufmachten, das Land
zu besiedeln.
200
300 270

0,5 m

 Hallucigenia, ein
Vertreter einer
375

anatomisch vielfäl-
tigen Tiergruppe,
die im Burgess-
400

4,5 cm
Schiefer in den
 Coccosteus cuspidatus, ein Vertreter der Placodermi mit kanadischen
einem Knochenpanzer, der Kopf und Vorderende bedeckte. Rocky Mountains
1 cm
entdeckt wurde.

 Dickinsonia cos-
tata, ein Vertreter
der Ediacara-
510 500

Fauna, einer
ausgestorbenen
Gruppe weich-
2,5 cm

körperiger
Organismen.
560

 Ein einzelliger
600

 Manche Prokaryonten „ver- Eukaryont, die


backen“ dünne Sediment- Alge Tappania,
filme und erzeugen so ge- aus Nordaus-
1.500

schichtete Gesteine, die als tralien.


Stromatolithen bezeichnet
werden, wie diese in Shark
Bay, Australien.
3.500

 Schnitt durch einen fossili-


sierten Stromatolithen

678
25.2 Fossilfunde dokumentieren die Geschichte des Lebens

So wichtig und aussagekräftig Fossilfunde auch sind,


darf man trotzdem nicht vergessen, dass sie uns nur eine
unvollständige Chronik der evolutionären Veränderun-
gen liefern. Die weitaus meisten Organismen, die einst
auf der Erde lebten, starben vielleicht zum falschen

Anteil der überdauernden


Zeitpunkt, am falschen Ort, wurden gefressen oder
abgebaut, und konnten daher nicht fossilisiert werden.

„Mutterisotope“
Von den Fossilien, die sich bildeten, wurden viele im sich anreichernde
„Tochterisotope“
Laufe der Zeit durch spätere geologische Prozesse wie- 12
der zerstört, und nur ein kleiner Bruchteil der übrig
gebliebenen Fossilien ist bisher entdeckt worden. überdauernde 14
Infolgedessen sind die dokumentierten Fossilfunde „Mutter- 18
isotope“ 1 16
zugunsten von Arten verzerrt, die lange Zeit existier-
ten, sehr häufig vorkamen, in bestimmten Lebensräumen
1 2 3 4
weit verbreitet waren und vor allem harte Schalen,
Panzer, Skelette oder andere Hartsubstanzen aufwie- Halbwertszeiten
sen, die eine Fossilisierung erleichterten. Doch selbst
mit diesen Einschränkungen liefern die Fossilfunde Abbildung 25.6: Radiometrische Datierung. In diesem Diagramm
eine bemerkenswert detaillierte Übersicht über die evo- stellt jede Einheit des zwölfteiligen Ziffernblatts eine Halbwertszeit dar.
lutionären Veränderungen innerhalb riesiger geologi-
scher Zeiträume. Wie sich bei den kürzlich ausgegrabe- ZEICHENÜBUNG Beschriften Sie die x -Achse dieses Diagramms neu,
nen Fossilien von Walvorfahren mit Hinterextremitäten um den radioaktiven Zerfall von Uran-238 (Halbwertszeit = 4,5 Milliarden
gezeigt hat (siehe Abbildung 22.19 und Abbildung Jahre) darzustellen.
22.20), werden Lücken in der Fossilgeschichte durch
neue Funde ständig weiter geschlossen. Fossilien enthalten Isotope von Elementen, die sich
im Laufe ihres Lebens im Körper angesammelt haben.
Zum Beispiel enthält der Kohlenstoff in einem Orga-
25.2.2 Datierung von Gesteinen und nismus am häufigsten das Isotop Kohlenstoff-12 und Teil 4
Fossilien ferner das radioaktive Isotop Kohlenstoff-14. Wenn
der Organismus stirbt, hört er auf, weiter Kohlenstoff
Fossilien liefern wertvolle Daten für die Rekonstruktion anzureichern, und die Menge an Kohlenstoff-12 in
der Evolutionsgeschichte. Dies gilt jedoch nur, wenn seinen Geweben verändert sich im Lauf der Zeit nicht.
wir herausfinden, wo sie zeitlich einzuordnen sind. Die Menge des Isotops Kohlenstoff-14 aber, die er zum
Auch wenn die Aufeinanderfolge von Fossilien in Zeitpunkt seines Todes enthält, nimmt langsam ab, da
Gesteinsschichten uns darüber informiert, in welcher sich Kohlenstoff-14 in ein anderes Element, Stickstoff-
Reihenfolge sie zu Fossilien wurden – ihr relatives 14, umwandelt. Daher lässt sich durch Bestimmung des
Alter –, sagt sie uns nichts über deren tatsächliches Verhältnisses von Kohlenstoff-12 zu Kohlenstoff-14 in
(absolutes) Alter. Die relative Lage der Fossilien in ein- einem Fossil dessen Alter errechnen. Diese Methode
zelnen Strata zu untersuchen ist so, als löse man in funktioniert für Fossilien bis zu einem Alter von rund
einem alten Haus Schicht um Schicht Tapeten von der 75.000 Jahren; ältere Fossilien enthalten zu wenig Koh-
Wand: Man kann sagen, in welcher Reihenfolge die lenstoff-14, der sich mit den heute verfügbaren Metho-
Tapeten aufgeklebt wurden, aber nicht, in welchem Jahr den nicht mehr bestimmen lässt. Um ältere Fossilien
dies geschah. zu datieren, muss man deshalb radioaktive Isotope mit
Wie kann man das absolute Alter von Fossilien längeren Halbwertszeiten verwenden.
bestimmen? (Beachten Sie, dass eine „absolute“ Datie- Das Alter von solchen älteren Fossilien in Sediment-
rung nicht eine fehlerlose Datierung meint, sondern nur, gestein lässt sich nur schwer bestimmen. Ein Grund ist,
dass die Altersangabe in Jahren erfolgt und nicht in rela- dass Organismen keine Radioisotope mit einer langen
tiven Begriffen wie früher und später.) Eine der häu- Halbwertszeit wie Uran-238 in ihre Knochen oder Scha-
figsten Techniken ist die radiometrische Datierung, die len einbauen. Zudem sind Sedimentgesteine selbst häu-
auf dem Zerfall radioaktiver Isotope beruht (siehe Kapi- fig aus verschiedenen Ablagerungsschichten unter-
tel 2). Ein radioaktives „Mutter“-Isotop zerfällt mit einer schiedlichen Alters zusammengesetzt. Daher lassen sich
konstanten Rate in ein „Tochter“-Isotop. Die Zerfallsrate ältere Fossilien gewöhnlich nicht direkt datieren. Geo-
wird als Halbwertszeit bezeichnet, die Zeit, in der logen können jedoch eine indirekte Methode anwen-
50 Prozent der Mutterisotope zerfallen (Abbildung den, um das absolute Alter von Fossilien abzuleiten, die
25.6). Jede radioaktive Isotopen-Form hat eine typische zwischen zwei Schichten von Vulkangestein eingebettet
Halbwertszeit, die unbeeinflusst von Temperatur, Druck sind. Wenn Lava abkühlt, werden umgebende Gesteins-
oder anderen umweltbedingten Variablen ist. Zum Bei- schichten und die darin enthaltenen Radioisotope in
spiel zerfällt Kohlenstoff mit der Masse 14 (Kohlenstoff- dem sich neu bildenden Vulkangestein mit eingeschlos-
14) relativ rasch; er hat eine Halbwertszeit von 5.730 sen. Einige dieser Isotope haben längere Halbwertszei-
Jahren. Uran-238 zerfällt hingegen langsam; seine Halb- ten, die eine Datierung dieses Vulkangesteins erlauben.
wertszeit beträgt 4,5 Milliarden Jahre. Wenn also die beiden umgebenden Gesteinsschichten

679
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

525 bzw. 535 Millionen Jahre alt sind, so kann man zum Abbeißen), Eckzähne (Canini, zum Durchbohren)
annehmen, dass die darin als Fossilien eingeschlosse- und mehrhöckerige Vorbacken- sowie Backenzähne
nen Organismen ebenfalls vor etwa 530 Millionen Jah- (Prämolaren und Molaren, zum Zermahlen) unterschei-
ren lebten. den. Auch ihr Kiefer erlaubt vielfältige Bewegungen, so
Auch der Magnetismus des Gesteins kann Informa- dass die Zähne nicht nur zum Festhalten der Beute son-
tionen liefern, die sich zur Datierung einsetzen lassen. dern auch für deren Zerkleinerung im Mund verwendet
Während der Bildung von Vulkan- und Sediment- werden können. Im Gegensatz dazu bestehen die Zähne
gestein richten sich Eisenpartikel im Gestein nach anderer Tetrapoden in der Regel aus einer Reihe undiffe-
dem Erdmagnetfeld aus. Wenn das Gestein aushärtet, renzierter, einhöckeriger Zähne und ihr Kiefer erlaubt
ist die Orientierung der Partikel auf Dauer eingefroren. nur eine scharnierartige Schnappbewegung.
Messungen des Magnetismus verschiedener Gesteins- Wie in Abbildung 25.7 dargestellt, zeigen Fossil-
schichten zeigen, dass der magnetische Nordpol und funde, dass sich die typischen Merkmale der Kiefer und
der magnetische Südpol der Erde in der Vergangenheit Zähne von Säugetieren durch eine Reihe allmählicher
mehrfach die Plätze getauscht haben. Da diese magne- Abwandlungen entwickelt haben.
tischen Umpolungen den gesamten Planeten auf ein- Wenn Sie sich Abbildung 25.7 anschauen, sollten
mal beeinflussen, kann man die Umpolung an einem Sie nicht vergessen, dass Sie darin nur einige wenige
Ort mit dem entsprechenden Muster an einem ande- Beispiele fossiler Schädel sehen, die die Entstehungs-
ren Ort vergleichen. Mit dieser Methode lässt sich geschichte der Säugetiere dokumentieren. Wenn alle
auch Gestein datieren, das sich den anderen Bestim- bekannten Fossilien entsprechend ihrer Form aneinan-
mungsmethoden entzieht. Man kann sie auch dazu dergereiht würden, ergäbe sich eine schrittweise Ent-
einsetzen, Altersbestimmungen zu erhärten, die auf wicklung der Merkmale von einer Gruppe zur nächs-
andere Weise gewonnen wurden. Da wir nun wissen, ten. Einige dieser Fossilien würden zeigen, wie die
wie man das Alter von Fossilien bestimmen kann, heute dominierende Gruppe der Säugetiere allmählich
wollen wir uns der Frage zuwenden, was man von aus der früher existierenden Gruppe der Cynodonten
ihnen lernen kann. hervorgegangen ist. Andere Fossilien beleuchten Sei-
tenzweige vom Stammbaum des Lebens – Organismen-
gruppen, die über Jahrmillionen gediehen, von denen
Teil 4 25.2.3 Die Entstehung neuer es heute aber keine lebenden Nachkommen mehr gibt.
Organismengruppen
Einige Fossilien ermöglichen einen ausführlichen
Blick auf die Entstehung neuer Organismengruppen.
Solche Fossilien spielen für unser Verständnis der  Wiederholungsfragen 25.2
Evolution eine zentrale Rolle; sie dokumentieren, wie
neue Merkmale bei Organismen entstanden sind und 1. Ihre Messungen zeigen, dass ein versteinerter
wie viel Zeit derartige Veränderungen in Anspruch Schädel, den Sie ausgegraben haben, ein Koh-
genommen haben. Wir wollen auf ein solches Beispiel, lenstoff-14/Kohlenstoff-12-Verhältnis aufweist,
die Entstehung der Säugetiere, näher eingehen. das rund 1/16 desjenigen Verhältnisses beträgt,
Zusammen mit Amphibien und Sauropsiden gehören das man bei den Schädeln heute lebender Tiere
Säugetiere zu einer Tiergruppe, die man als Vierbeiner findet. Wie alt ist der versteinerte Schädel un-
oder Tetrapoda (griech. tetra, vier und podos, Fuß) gefähr?
bezeichnet. Säugetiere weisen eine Reihe für sie spezifi- 2. Beschreiben Sie ein Beispiel aus den dokumen-
sche, morphologisch-anatomische Merkmale auf, die gut tierten Fossilfunden, das zeigt, wie sich die
fossilisieren, so dass Wissenschaftler zurückverfolgen Organismengruppen im Laufe der Zeit verän-
können, woher diese Merkmale stammen. Zum Beispiel dert haben.
besteht der Unterkiefer von rezenten Säugetieren nur aus
einem einzigen Knochen, dem Dentale, bei anderen 3. WAS WÄRE, WENN? Stellen Sie sich vor, Wis-
Tetrapoden hingegen aus mehreren Knochen. Zudem senschaftler entdeckten ein Fossil eines Orga-
wird das Gelenk zwischen Ober- und Unterkiefer bei nismus, der vor etwa 300 Millionen Jahren
Säugetieren aus anderen Knochen gebildet als bei den lebte, jedoch Säugetierzähne und ein säuge-
übrigen Tetrapoden. Wie wir in Kapitel 34 noch sehen tiertypisches Kiefergelenk hatte. Welche Rück-
werden, verfügen Säugetiere darüber hinaus über einen schlüsse könnte man aus diesem Fossil hin-
Satz von drei Knöchelchen (Hammer = Malleus, Amboss sichtlich der Entstehung der Säugetiere und im
= Incus und Steigbügel = Stapes), die im Mittelohr den Hinblick auf die Evolution neuartiger Skelett-
Schall weiterleiten, während andere Tetrapoden nur ein strukturen ziehen? Begründen Sie Ihre Antwort.
solches Knöchelchen haben (als Columella oder auch
Steigbügel bezeichnet). Und schließlich lassen sich bei Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.
den Zähnen von Säugetieren Schneidezähne (Incisivi,

680
25.2 Fossilfunde dokumentieren die Geschichte des Lebens

 Abbildung 25.7: Näher betrachtet


Die Entstehung der Säugetiere.

Im Verlauf von 120 Millionen Jahren haben sich die Säugetiere allmählich
aus einer Gruppe von Tetrapoden entwickelt, die als Synapsiden bezeichnet Sauropsiden
werden. Hier sind einige der vielen fossilen Organismen abgebildet, deren (einschließlich
Dinosaurier und Vögel)
anatomische Merkmale Zwischenschritte zwischen heute lebenden
Säugetieren und ihren Synapsidenvorfahren darstellen. Der evolu- FRÜHE †Dimetrodon
tionäre Kontext des Säugetierursprungs ist im Stammbaum rechts TETRAPODEN

Synapsiden
abgebildet. Das Kreuz symbolisiert bereits ausgestorbene Taxa.

frühe Cynodontier
Legende zu den Schädelknochen in †sehr späte

Therapsiden
den folgenden Abbildungen: (nicht Säugetier-)
Articulare Dentale Cynodontier
Quadratum Squamosum

Säugetiere
Frühe Synapsiden (vor 300 Millionen Jahren)
Synapsiden wiesen im Unterkiefer zahlreiche Knochen auf und besaßen
Zähne mit jeweils einer einzigen Spitze. Das Kiefergelenk wurde von Arti-
culare und Quadratum gebildet. Darüber hinaus hatte der Schädel der
Synapsiden hinter der Augenhöhle nur eine Öffnung (Schläfenfenster).
Wahrscheinlich zog die kräftige Kaumuskulatur zum Schließen der Kiefer Schläfen-
durch das Schläfenfenster. Mit der Zeit vergrößerte sich die Öffnung und fenster
verlagerte sich vor das Gelenk zwischen Ober- und Unterkiefer; dadurch
erhöhten sich die Kraft und die Präzision, mit der die Kiefer geschlossen
werden konnten (ebenso wie es leichter ist, die Tür zu schließen, wenn die Gelenk Teil 4
Türklinke weiter weg von der Türangel liegt).

Therapsiden (vor 280 Millionen Jahren)


Später tauchte eine Synapsidengruppe auf, die als Therapsiden bezeichnet
wird. Therapsiden verfügten über ein großes Dentale, einen langen
Gesichtsschädel und als erstes Zeichen spezialisierter Zähne über mächtige
Eckzähne (Canini). Dieser Trend setzte sich in einer Gruppe der Therapsiden, Schläfen-
den Cynodontiern, fort. fenster

Gelenk
Frühe Cynodontier (vor 260 Millionen Jahren)
Bei frühen cynodonten Therapsiden war das Dentale der größte Knochen im
Unterkiefer, das Schläfenfenster war groß und lag vor dem Kiefergelenk, Schläfen-
und zum ersten Mal tauchten Zähne mit mehreren Höckern auf (in der fenster
Abbildung nicht zu erkennen). Wie bei den frühen Synapsiden wurde das (Teil-Ansicht)
Kiefergelenk von Articulare und Quadratum gebildet.
Gelenk

Spätere Cynodontier (vor 220 Millionen Jahren)


Späte Cynodontier besaßen Zähne mit komplexen Höckermustern, und Unter-
und Oberkiefer waren an zwei Stellen gelenkig verbunden: Die Tiere behielten
das ursprüngliche, primäre Kiefergelenk zwischen Articulare und Quadratum und
bildeten zusätzlich ein neues, sekundäres Kiefergelenk zwischen Dentale und
Squamosum aus. Dieses Gelenk erlaubte nicht nur einfache Schnappbewegun- Ursprüngliches
gen, sondern die komplexen Kau- und Mahlbewegungen moderner Säugetiere. Gelenk
Neues Gelenk

Sehr späte Cynodontier (vor 195 Millionen Jahren)


Bei dem gemeinsamen Vorfahr dieser sehr späten Cynodontier und der Säugetiere
war das ursprüngliche primäre Kiefergelenk zwischen Articulare und Quadratum
bereits verloren gegangen, so dass das sekundäre Kiefergelenk zwischen Dentale und
Squamosum das einzige Gelenk zwischen Ober- und Unterkiefer war (wie auch bei
heutigen Säugetieren). Articulare und Quadratum wanderten in die Ohrregion (nicht
Gelenk
abgebildet), wo sie eine neue Aufgabe bei der Schallweiterleitung übernahmen. In
© 2001 AAAS
der Säugetierlinie entwickelten sich diese beiden Knochen später zu den Gehörknö-
chelchen Hammer und Amboss (siehe Abbildung 34.37).

681
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

Zu den Schlüsselereignissen in der Das Studium von Fossilien hat Geologen geholfen, eine
geologische Zeitskala der Erdgeschichte zu erstellen,
Evolution gehören die Entstehung die in vier Äonen (griech. aion, Ewigkeit) unterteilt ist
einzelliger und vielzelliger (Tabelle 25.1). Die ersten drei Äonen – das Hadaikum,
Organismen sowie die das Archaikum und das Proterozoikum – dauerten
Besiedlung des Festlands
25.3 zusammen etwa vier Milliarden Jahre. Das Phanero-
zoikum, das nur rund eine halbe Milliarde Jahre in

Relative Alter (in Einige wichtige


Dauer der Millionen Ereignisse in der
Äonen Zeitalter Periode Epoche Jahren) Geschichte des Lebens

Holozän Historische Zeit


Quartär 0,01
Pleistozän Eiszeitalter, Entstehung der Gattung Homo und
Phanero- Entwicklung des (modernen) Menschen
2,6
zoikum Pliozän Auftreten menschlicher Vorfahren mit bipedem Gang
5,3
Neogen* Fortlaufende Radiation von Säugetieren und
Milozän Angiospermen; menschenaffenähnliche Vorfahren
des Menschen treten auf
23
Känozoikum
Oligozän Entstehung vieler Primatengruppen,
einschließlich der Menschenaffen
33,9
Die Vorherrschaft der Angiospermen nimmt zu;
Paläogen* Eozän fortlaufende Radiation der meisten modernen
Säugetiergruppen
55,8
Starke Radiation von Säugetieren, Vögeln
Paläozän und blütenbestäubenden Insekten
65,5
Erste Blütenpflanzen (Angiospermen) erscheinen und
Protero- Kreide diversifizieren sich; viele Organismengruppen,
zoikum darunter die meisten Dinosaurier, sterben am Ende
Teil 4 dieser Periode aus
145,5
Mesozoikum Gymnospermen sind weiterhin die
Jura dominanten Pflanzen; Dinosaurier sind
häufig und mit zahlreichen Arten vertreten
199,6
Nacktsamer (Gymnospermen) dominieren die
Trias Landschaft; Dinosaurier entwickeln und diversi-
fizieren sich; Entstehung der Säugetiere
251
Radiation der Amnioten; Entstehung der
meisten modernen Insektengruppen; am
Perm Ende der Periode Aussterben vieler mariner
und terrestrischer Organismen
299
Ausgedehnte Wälder aus Gefäßpflanzen;
Karbon erste Samenpflanzen treten auf; Entstehung
der Amnioten; Amphibien dominant
359
Diversifizierung der Knochen-
fische; erste Tetrapoden
Paläozoikum Devon
und Insekten erscheinen
416
Silur Diversifizierung der ersten Gefäßpflanzen
444
Marine Algen sind häufig; Kolonisierung
Ordovizium des Festlands durch verschiedene Pilze,
Pflanzen und Tiere
488
Plötzliche Zunahme in der Vielfalt vieler
Archaikum Kambrium
Tierstämme („kambrische Explosion“)
542
Diverse Algen und Wirbellose mit
Ediacarium (=Vendium) weichen Körpern tauchen auf;
635 Ediacara-Fauna

1.800 Älteste Fossilien von eukaryontischen Zellen


2.500
Die Konzentration von atmosphärischem Sauerstoff
2.700 beginnt zu steigen
3.500 Älteste Fossilien von Zellen (Prokaryonten)
Hadaikum
3.850 Älteste bekannte Gesteine auf der Erde
etwa 4.600 Entstehung der Erde

Tabelle 25.1: Geologische Zeitskala. Proterozoikum, Archaikum und Hadaikum werden zusammen auch als Präkambrium bezeichnet.
*Das Känozoikum wurde früher, basierend auf einer nicht mehr gebräuchlichen Einteilung der Erdgeschichte, in Quartär und Tertiär unterteilt.
Heute allerdings wird das Tertiär unterteilt in Neogen und Paläogen.

682
25.3 Schlüsselereignisse in der Evolution

Anspruch nimmt, umfasst den größten Teil des Zeit- 25.3.1 Die ersten einzelligen Organismen
raums, seit dem vielzelliges eukaryontisches Leben auf
der Erde existiert. Es ist in drei Zeitalter (Ären, Singular Die frühesten Hinweise auf
Ära) unterteilt: Paläozoikum (Erdaltertum), Mesozoikum Leben reichen 3,5 Milliarden
(Erdmittelalter) und Känozoikum (Erdneuzeit). Jedes Jahre zurück; es handelt sich
Zeitalter repräsentiert ein bestimmtes Alter in der dabei um versteinerte Stroma-
Geschichte der Erde und des Lebens. Zum Beispiel wird tolithen (Abbildung 25.5). Stro-

v or
1 4

Millia

n
das Mesozoikum wegen seiner Fülle von Sauropsiden- matolithen sind geschichtete

hre
de Ja

r
n
2 vo n 3
fossilien, darunter viele Dinosaurierfossilien, manchmal Gesteinsstrukturen, die sich bil-
als „Zeitalter der Dinosaurier“ bezeichnet. Die Gren- Prokaryonten den, wenn bestimmte Proka-
zen zwischen den Zeitaltern stimmen mit den durch ryonten dünne Sedimentfilme
Fossilfunde belegten großen Massenaussterben über- binden. Heutzutage findet man sich bildende Stromato-
ein: damals starben viele Lebensformen aus, während lithen nur noch in wenigen warmen, flachen und salzi-
sich andere aus den Überlebenden neu entwickelten. gen Meeresbuchten. Stromatolithen und andere frühe
Wie wir gesehen haben, liefern die dokumentierten Prokaryonten haben die Erde für etwa 1,5 Milliarden
Fossilfunde einen umfassenden Überblick über die Jahre alleine bewohnt.
Evolution in großen geologischen Zeiträumen. Hier Wie wir noch sehen werden, verursachten diese
wollen wir uns auf einige wichtige Ereignisse konzen- Prokaryonten einen radikalen Wandel des Lebens auf
trieren und zu den Details in Teil 5 zurückkehren. Um der Erde.
diese Ereignisse in den Kontext der Erdgeschichte zu
stellen, sind sie in Abbildung 25.8 analog auf dem Photosynthese und die Sauerstoffrevolution
Zifferblatt einer Uhr dargestellt. Diese „geologische Der größte Teil des gasförmigen
Uhr“ taucht in diesem Abschnitt mehrfach als leicht atmosphärischen Sauerstoffs
lesbare optische Erinnerung auf, die verdeutlicht, (O2) ist biologischen Ursprungs
wann die gerade erörterten Ereignisse stattfanden. und wurde damals wie heute
beim wasserspaltenden Schritt
v or

1 4
Millia

der Photosynthese produziert.


hre

de
n von Ja
r

2 3
Als sich die sauerstoffprodu- Teil 4
Känozo-
ozo- ikum
Mes m atmosphärischer zierende (oxygene) Photosyn-
iku Sauerstoff
these entwickelte, löste sich
um Menschen
oik das freigesetzte O2 wahrscheinlich im umgebenden Was-
läoz
Pa ser, bis seine Konzentration so hoch wurde, dass es mit
erste Land- dem gelösten Eisen reagierte. Daraufhin fiel das Eisen als
pflanzen Eisenoxid aus, das sich als Sediment ansammelte.
Diese Sedimente wurden zu gebänderten Eisenformatio-
Diversifizierung
der Tiere Entstehung des nen verdichtet, roten, eisenoxidhaltigen Gesteinsschich-
Sonnensystems ten, die für den Menschen eine Eisenerzquelle darstel-
und der Erde
len. Nachdem das gesamte gelöste Eisen ausgefällt
worden war, löste sich zusätzliches O2 im Wasser, bis
Meere und Seen sauerstoffgesättigt waren. Daraufhin
begann O2 schließlich „auszugasen“ und in die Atmo-
sphäre einzutreten. Diese Sauerstoffanreicherung in der
1 Hadaikum4 Atmosphäre lässt sich noch heute an der Rotfärbung von
eisenreichem terrestrischem Gestein ablesen, ein Pro-
Protero-
zoikum
Archaikum zess, der vor 2,7 Milliarden Jahren begann. Diese Chro-
nologie impliziert, dass Bakterien, die den heutigen
n
vo

re

M h Cyanobakterien (sauerstofffreisetzenden, photosynthe-


r

illi a Ja
2 rd e n v o n 3 tisch aktiven Bakterien) ähnelten, deutlich früher als vor
vielzellige 2,7 Milliarden Jahren entstanden sein müssen.
Eukaryonten Im Zeitraum bis vor 2,7 bis 2,4 Milliarden Jahren
nahm die Menge an atmosphärischem O2 erst lang-
einzellige Prokaryonten sam zu, stieg dann aber relativ rasch auf zwischen
Eukaryonten ein bis zehn Prozent seines gegenwärtigen Werts
atmosphärischer an (Abbildung 25.9). Diese „Sauerstoffrevolution“
Sauerstoff hatte einen enormen Einfluss auf die Evolution der
Organismen. In einigen seiner chemischen Formen
Abbildung 25.8: Diese Analogie mit dem Zifferblatt einer Uhr greift Sauerstoff chemische Bindungen an und kann
veranschaulicht einige Schlüsselereignisse in der Erdgeschichte. Enzyme hemmen sowie Zellen schädigen. Die stei-
Eine Umrundung des Zeigers bis 12 Uhr entspricht dem Zeitraum vom gende Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre
Beginn der Erdgeschichte vor 4,6 Milliarden Jahren bis heute. führte wahrscheinlich zum Aussterben vieler Proka-
ryontengruppen. Einige Arten überlebten in Habita-

683
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

ten, die sauerstofffrei (anaerob) blieben und wo ihre größere Zellen endocytiert wurden und begannen, in
Abkömmlinge noch heute zu finden sind (siehe Kapi- den größeren Zellen weiterzuleben. Als Endosymbiont
tel 27). Unter den anderen Überlebenden entwickelten bezeichnet man eine Zelle, die in einer anderen Zelle,
sich zahlreiche Anpassungen an die sich verändernde der sogenannten Wirtszelle, (über)lebt. Die prokaryon-
Atmosphäre, darunter die Zellatmung, die O2 einsetzt, tischen Vorfahren von Mitochondrien und Plastiden
um die in organischen Molekülen gespeicherte Ener- gelangten wahrscheinlich als unverdaute Beuteorganis-
gie zu nutzen, und Enzyme, die die giftigen Reaktions- men oder Endoparasiten in die Wirtszelle. Auch wenn
produkte des Sauerstoffs entfernen. ein solcher Prozess unwahrscheinlich erscheinen mag,
haben Wissenschaftler schon direkt Fälle beobachtet, in
denen Endosymbionten, die ihr Leben als Beute oder
atmosphärischer Sauerstoff (in Prozent relativ
zum heutigen Niveau; logarithmische Skala)

1.000
Parasiten begannen, in nur fünf Jahren eine symbionti-
100 sche Beziehung zu ihrem Wirt aufgebaut haben.
Wie diese Beziehung auch immer begonnen hat, wir
10
können nur Vermutungen darüber anstellen, auf welche
1 Weise sie sich zu einer Partnerschaft zum gegenseitigen
Nutzen (Symbiose) entwickelte. Zum Beispiel konnte
0,1 ein heterotropher Wirt Nährstoffe (Assimilate, Koh-
„Sauerstoff-
0,01 Revolution“ lenhydrate) nutzen, die von photosynthetisch aktiven
Endosymbionten freigesetzt wurden. In einer Erdat-
0,001 mosphäre, die zunehmend aerober wurde, würde so
selbst ein anaerober Wirt von Endosymbionten profitiert
0,0001
haben, die Sauerstoff nutzen konnten. Im Lauf der Zeit
4 3 2 1 0
Zeit (vor Milliarden Jahren)
verschmolzen Wirt und Endosymbionten dann zu einem
einzigen Organismus, einer untrennbaren Einheit.
Abbildung 25.9: Der Anstieg an atmosphärischem Sauerstoff. Obgleich sämtliche Eukaryonten über Mitochondrien
Durch chemische Analysen von altem Gestein konnten Veränderungen des oder Rudimente dieser Organellen verfügen, haben
Sauerstoffgehalts in der Atmosphäre im Laufe der Erdgeschichte rekonstru- nicht alle Plastiden. Daher nimmt das Modell der seri-
Teil 4 iert werden. ellen Endosymbiose an, dass sich die Mitochondrien
durch eine Reihe von endosymbiontischen Ereignissen
Der Anstieg des atmosphärischen Sauerstoffs hat die vor den Plastiden entwickelten (Abbildung 25.10).
Geschichte des Lebens stark beeinflusst. Ein paar Zahlreiche Befunde stützen die endosymbiontische
Hundert Millionen Jahre später kam es zu einer weite- Entstehung von Mitochondrien und Plastiden:
ren fundamentalen Veränderung: der Entstehung der
eukaryontischen Zelle.  Die Innenmembranen beider Organellen weisen
Enzyme und Transportsysteme auf, die mit denjeni-
Die ersten Eukaryonten gen homolog sind, welche man in den Plasmamem-
Die ältesten, allgemein als Fossi- branen heute lebender Prokaryonten findet.
lien von eukaryontischen Orga-
nismen akzeptierten Überliefe-  Mitochondrien und Plastiden replizieren sich durch
rungen sind rund 1,8 Milliarden einen Teilungsprozess, der demjenigen gewisser Pro-
Jahre alt. Erinnern Sie sich dar- karyonten ähnelt. Darüber hinaus verfügt jedes die-
v or

1 4
Millia

an, dass eukaryontische Zellen ser Organellen über ein einzelnes ringförmiges DNA-
n
hre

de J a
r

n
2 vo n 3
deutlich komplexer aufgebaut Molekül, das wie die Chromosomen von Bakterien
einzellige sind als prokaryontische Zellen: nicht mit Histonen oder großen Mengen anderer Pro-
Eukaryonten Eukaryonten haben eine Kern- teine assoziiert ist.
hülle (Kernmembran), Mitochon-
drien, ein endoplasmatisches Reticulum und andere  Wie bei von freilebenden Organismen abgeleiteten
Organellen, die Prokaryonten fehlen. Außerdem ver- Organellen zu erwarten ist, weisen Mitochondrien
fügen Eukaryonten über ein komplexeres Cytoskelett, und Plastiden auch die zellulären Voraussetzungen
dank dessen sie ihre Form verändern können, so dass auf, um DNA in Proteine umzuschreiben (z.B. eigene
sie andere Zellen einhüllen und aufnehmen (endocy- Ribosomen).
tieren) können.
Wie haben sich die eukaryontischen Merkmale aus  Schließlich sind diese Ribosomen von Mitochon-
prokaryontischen Zellen entwickelt? Eine Reihe von drien und Plastiden denjenigen von Prokaryonten
Befunden stützt die Endosymbiontentheorie. Sie nimmt ähnlicher, als denen im Cytoplasma der eukaryonti-
an, dass Mitochondrien und Plastiden (die übergeord- schen Zellen (beispielsweise bezüglich der Sequenz
nete Bezeichnung für Chloroplasten und verwandte ihrer RNAs und der Empfindlichkeit gegenüber
Organellen) früher Prokaryonten waren, die durch gewissen Antibiotika).

684
25.3 Schlüsselereignisse in der Evolution

In Kapitel 28 werden wir nochmals auf die Entstehung 25.3.2 Der Ursprung der Vielzelligkeit
der Eukaryonten zurückkommen und uns näher mit
genomischen Daten beschäftigen, die uns etwas über Ein Orchester kann eine breitere Palette musikalischer
die prokaryontischen Vorläufer der Wirts- und Endo- Kompositionen spielen als ein einzelner Violinenso-
symbiontenzellen verraten. list; die zunehmende Vielschichtigkeit des Orchesters
ermöglicht eine viel größere Variationsbreite. Ebenso
Cytoplasma ermöglichte das Auftreten von komplex gebauten
DNA
eukaryontischen Zellen die Evolution einer größeren
morphologischen Vielfalt, als sie mit prokaryontischen
Plasma-
membran Zellen möglich war. Nachdem die ersten Eukaryonten
entstanden waren, entwickelte sich ein großes Spek-
ursprünglicher trum einzelliger Formen und fächerte sich in all die
Prokaryont
einzelligen Eukaryonten auf, deren Nachkommen auch
heute noch auf der Erde vorkommen. Zudem kam es zu
einer weiteren Diversifikationswelle: Aus verschiede-
Einfaltung der nen einzelligen Eukaryontengruppen entwickelten sich
Plasmamembran
Vielzeller, deren Nachfahren die heutige Vielfalt von
Algen, Pflanzen, Pilzen und Tieren umfassen.
endoplasmatisches
Reticulum
Zellkern
Die frühesten vielzelligen Eukaryonten
Die ältesten bekannten Fossilien
Kernhülle von vielzelligen Eukaryonten
stammen von relativ kleinen
Algen, die vor 1,2 Milliarden Jah-
Aufnahme eines
ren lebten. Auch bei älteren Fos-
v or
1 4
aeroben, heterotrophen
Millia

n
Prokaryonten de
hre
Ja silien, die auf etwa 1,8 Milliar-
r

2 n v o n 3
den Jahre geschätzt werden, han-
Zelle mit Zell- vielzellige
delt es sich wahrscheinlich um Teil 4
kern und Eukaryonten
endogenem kleine, vielzellige Eukaryonten.
Membran- Größere und unterschiedlichere vielzellige Eukaryon-
system
ten traten in der Fossilgeschichte erst vor rund 600
Millionen Jahren auf (Abbildung 25.5). Diese Fossi-
lien, die man als Ediacara-Fauna bezeichnet, hatten
einen weichen Körper – manche waren über 1 m lang
– und lebten vor 600 bis 535 Millionen Jahren. Die
Ediacara-Fauna beinhaltet Algen und Tiere und noch
Mitochondrien einige taxonomisch nicht näher eingeordnete Organis-
men.
Die Zunahme größerer Eukaryonten in der Edia-
Mitochondrien Aufnahme
eines zur Photo- cara-Fauna bedeutete eine enorme Veränderung in der
synthese befä- Geschichte des Lebens. Zuvor war die Erde eine mik-
higten Pro-
karyonten
robielle Welt und ihre einzigen Bewohner waren ein-
ursprünglicher zellige Eukaryonten und Prokaryonten, zusammen mit
heterotropher einer Mischung mikroskopisch kleiner vielzelliger
Eukaryont
Plastid Eukaryonten.
Als diese Diversifikation der Ediacara-Fauna vor
rund 535 Millionen Jahren zu Ende ging, war die
Bühne bereit für einen weiteren, noch spektakuläreren
Schub evolutionärer Veränderung.
ursprünglicher, Photo-
synthese betreibender
Eukaryont Die kambrische Artenexplosion
Wie Fossilfunde belegen,
traten fast alle Großgruppen
Abbildung 25.10: Ein Modell der Entstehung von Eukaryonten
durch serielle Symbiose. Die vermutlichen Vorfahren der Mitochondrien
der heute noch lebenden
Diversifizierung
waren aerobe, heterotrophe Prokaryonten (das heißt sie benutzten Sauer- der Tiere Tiertaxa (Metazoa) relativ
stoff, um von anderen Organismen stammende organische Moleküle zur plötzlich und scheinbar zeit-
v or

1 4
Energiegewinnung abzubauen). Die vermutlichen Vorfahren von Plastiden gleich im frühen Kambrium
Millia

n
hre

de Ja
(vor 535–525 Millionen Jah-
r

waren photosynthetisch aktive Prokaryonten. Die Pfeile kennzeichnen wich- 2 n vo n 3

tige Veränderungen im Lauf der Evolution. ren) auf, ein Phänomen, das
man deshalb als kambrische
Artenexplosion bezeichnet.

685
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

Fossilien aus mindestens drei rezenten Tiergruppen – DNA-Analysen sprechen dafür, dass Schwämme bereits
Nesseltiere (Cnidaria; Seeanemonen und ihre Verwand- vor 700 Millionen Jahren entstanden sind. Ähnliche
ten), Schwämme (Porifera) und Weichtiere (Mollusca) – Analysen deuten an, dass der gemeinsame Vorfahre der
tauchen sogar in noch älteren Gesteinen auf, die bis Bilateria-Taxa Arthropoda (Gliederfüßer), Chordata,
ins späte Proterozoikum zurückdatieren (Abbildung Mollusca (Weichtiere) und einiger anderer Taxa, die
25.11). sich während der kambrischen Artenexplosion diversi-
fizierten, vor 670 Millionen Jahren lebte. Zudem haben
Wissenschaftler kürzlich 710 Millionen Jahre alte Fossi-
Porifera lien entdeckt, die aufgrund bestimmter Steroide einer
Gruppe von Schwämmen zugeordnet werden konnten
Cnidaria – ein Befund, der die molekularen Daten unterstützt. Im
Gegensatz dazu stammt das älteste Fossil, das einer
Echinodermata noch vorhandenen Tiergruppe der Bilateria zugeordnet
werden kann, von dem Weichtier Kimberella und wird
Chordata
auf etwa 560 Millionen Jahre datiert. Im Ganzen legen
also die molekularen und fossilen Daten nahe, dass die
Brachiopoda kambrische Artenexplosion eine „lange Zündschnur“
hatte, wenigstens 25 Millionen Jahre lang, wenn das
Annelida Alter der Kimberella-Fossilien in Betracht gezogen
wird, und über 100 Millionen Jahre, wenn einige DNA-
Mollusca Analysen berücksichtigt werden. In Kapitel 32 werden
wir uns mit Faktoren beschäftigen, die die kambrische
Arthropoda Artenexplosion ausgelöst haben könnten.

PROTEROZOIKUM PALÄOZOIKUM
Ediacarium Kambrium 25.3.3 Die Besiedlung des Festlands
635 605 575 545 515 485 0
Teil 4 Zeit (vor Millionen Jahren) erste Landpflanzen Die Besiedlung des Festlands war
ein weiterer Meilenstein in der
Abbildung 25.11: Auftreten ausgewählter Tiergruppen. Die wei- Evolutionsgeschichte der Orga-
ßen Balken zeigen das früheste Auftreten dieser Tiergruppen in der Fossil- nismen. Es gibt fossile Belege, die
geschichte an. dokumentieren, dass Cyanobakte-
rien und andere photosynthetisch
v or

1 4
ZEICHENÜBUNG Markieren Sie die Gabelung im Stammbaum, die den
Millia

aktive Prokaryonten bereits vor


n
hre

de J a
r

nächsten gemeinsamen Vorfahren der Chordaten und der Anneliden (Rin- 2 n vo n 3


mehr als einer Milliarde Jahren
gelwürmer) repräsentiert. Schätzen Sie ab, wie alt dieser Vorfahre mindes-
feuchte terrestrische Lebensräume
tens ist.
überzogen. Größere Lebensformen
wie Pilze, Pflanzen und Tiere begannen erst vor rund
Vor der kambrischen Artenexplosion hatten alle gro- 500 Millionen Jahren das Land zu erobern. Dieses lang-
ßen Tiergruppen einen weichen Körper. Die Fossilien same und allmähliche Vordringen aus dem Wasser-
großer präkambrischer Taxa zeigen wenig Hinweise milieu auf das Festland ging mit zahlreichen Anpas-
auf eine räuberische Lebensweise. Vielmehr sieht es sungen einher, die einerseits eine Fortpflanzung an
so aus, als seien diese Tiere Pflanzenfresser (Herbi- Land ermöglichten und andererseits eine Austrock-
voren), die sich von Algen ernährten, Filtrierer oder nung verhinderten. Zum Beispiel haben viele Pflan-
Aasfresser gewesen, aber keine Jäger (Prädatoren). Die zen ein Gefäßsystem, das es ihnen erlaubt, Stoffe in
kambrische Artenexplosion änderte all das. Innerhalb ihrem Inneren zu transportieren, und sie haben einen
einer relativ kurzen Zeitspanne (ca. zehn Millionen wasserfesten Wachsüberzug auf ihren Blättern (Cuti-
Jahre) entwickelten sich Prädatoren von mehr als 1 m cula), der die Wasserverdunstung verlangsamt. Frühe
Länge, die Krallen und andere Merkmale aufwiesen, Anzeichen dieser Anpassungen finden sich schon vor
welche dem Beutefang dienten; gleichzeitig tauchten 420 Millionen Jahren; damals gab es bereits kleine, ca.
bei ihrer Beute neue Adaptationen zur Abwehr von 10 cm hohe Pflanzenarten, die ein Gefäßsystem besa-
Angriffen auf, wie scharfe Stacheln oder eine starke ßen, aber noch keine echten Wurzeln oder Blätter.
Körperpanzerung (Abbildung 25.5). Rund 40 Millionen Jahre später hatten sich Pflanzen-
Obgleich die kambrische Artenexplosion einen enor- taxa stark aufgespalten und umfassten kleine kraut-
men Einfluss auf die Organismen untereinander und artige Pflanzen mit Blättern, sowie baumartige Pflanzen
ihren Lebensraum hatte, ist es möglich, dass viele Tier- mit echten Wurzeln und Blättern (siehe Kapitel 29).
gruppen schon lange vorher entstanden sind. Einige

686
25.4 Aufstieg und Niedergang dominanter Gruppen

Pflanzen eroberten das Land gemeinsam mit den


 Wiederholungsfragen 25.3
Pilzen. Noch heute sind die Wurzeln der meisten
Pflanzen mit Pilzen assoziiert, die sie bei der Absorp-
1. Das erste Auftreten von freiem Sauerstoff in der
tion von Wasser und Mineralien aus dem Boden
Atmosphäre löste unter den damals lebenden
unterstützen (siehe Kapitel 31). Diese Pilze wiederum
Prokaryonten wahrscheinlich ein Massenster-
werden von den Pflanzen mit organischen Nährstoffen
ben aus. Warum?
versorgt. Solche symbiontischen Gemeinschaften von
Pflanzen und Pilzen (Mykorrhizen) lassen sich auch 2. Welche Befunde sprechen für die Hypothese,
an einigen der ältesten fossilisierten Wurzeln nach- dass Mitochondrien den Plastiden in der Evo-
weisen (Abbildung 25.12); diese Beziehung bestand lution eukaryontischer Zellen vorausgingen?
also schon, als sich das Leben an Land auszubreiten
begann. 3. WAS WÄRE, WENN? Wie würde eine Fossilge-
schichte des heutigen Lebens aussehen?

Zone der Arbuskel- Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.


enthaltenden Zellen

Aufstieg und Niedergang


dominanter Gruppen in Zusammen-
hang mit Kontinentaldrift,
Massenaussterben und
adaptiver Radiation
25.4
100 nm

Von Beginn an waren Aufstieg und Niedergang ein- Teil 4


Abbildung 25.12: Eine sehr alte Symbiose. Dieser 405 Millionen zelner Organismengruppen ein typischer Bestandteil
Jahre alte fossilisierte Stammquerschnitt dokumentiert eine Mykorrhiza in der biologischen Evolution. Anaerobe Prokaryonten ent-
der frühen Landpflanze Aglaophyton major. Die Vergrößerung zeigt eine
standen, ihr Artenreichtum nahm zu und ging dann
Zelle mit verzweigten, pilzartigen Strukturen, genannt Arbuskeln, die
auch wieder zurück, als der Sauerstoffgehalt der Atmo-
denen in heutigen Pflanzenzellen ähneln.
sphäre stieg. Milliarden Jahre später krochen die ersten
Tetrapoden aus dem Meer an Land und wurden zu den
Obgleich viele Tiergruppen heute an Land leben, sind Vorfahren neuer, größerer Organismengruppen. Eine
die am weitesten verbreiteten, vielfältigsten und arten- davon, die der Amphibien, beherrschte das Leben an
reichsten Landtiere die Gliederfüßer oder Arthropoden Land etwa 100 Millionen Jahre lang – bis die Amnioten
(vor allem Insekten und Spinnen) und die Landwirbel- (darunter die Dinosaurier und später die Säugetiere) sie
tiere (Tetrapoden). Einige der ersten Tiere, die vor etwa als dominierende terrestrische Wirbeltiere ablösten. Der
450 Millionen Jahren begannen, das Land zu besiedeln, Aufstieg und Niedergang dieser und anderer großer
waren Arthropoden. Die ältesten Tetrapoden, die wir Gruppen von Organismen haben die Geschichte des
aus Fossilfunden kennen, lebten vor rund 365 Millio- Lebens auf der Erde geformt. Wenn wir genauer hin-
nen Jahren und haben sich offensichtlich aus einer schauen, dann erkennen wir auch, dass Aufstieg oder
Gruppe fleischflossiger Fische entwickelt (siehe Kapi- Niedergang einer jeden Gruppe mit der Häufigkeit der
tel 34). Wir Menschen gehören ebenfalls zu den neuen Artenbildung und des Aussterbens ihrer Mitglie-
Tetrapoden, wenn wir die Bühne des Lebens auf der der verknüpft ist (Abbildung 25.13). Genauso, wie eine
Erde auch erst recht spät betreten haben. Die Stamm- Population an Größe zunimmt, wenn es mehr Geburten
linie des Menschen trennte sich vor rund sechs Millio- als Sterbefälle gibt, erlebt auch eine Organismengruppe
nen Jahren von derjenigen des Schimpansen, mit dem einen Aufstieg, wenn mehr Arten entstehen, als durch
wir einen gemeinsamen Vorfahren teilen. Der rezente Aussterben verloren gehen. In der folgenden Wissen-
Mensch, Homo sapiens, spaltete sich erst vor rund schaftlichen Übung werten Sie die Daten von Fossilfun-
195.000 Jahren von einer anderen, heute ausgestor- den aus, die sich auf die Veränderungen in einer Gruppe
benen Linie ab. Wenn die Uhr der Erdgeschichte eine von Schneckenarten aus dem frühen Paläogen beziehen.
Stunde darstellen würde, hätte der Mensch also erst Solche umfangreichen Veränderungen in der Zusam-
vor nicht einmal 0,2 Sekunden die Bühne betreten. mensetzung der Organismenwelt sind insbesondere mit
globalen Phänomenen wie Kontinentaldrift, Massenaus-
sterben und adaptiver Radiation verknüpft.

687
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

 Wissenschaftliche Übung

Abschätzung quantitativer Daten anhand eines nen Jahren auf der x-Achse) 6,0 cm. Dadurch
Diagramms und Entwicklung von Hypothesen ergibt sich ein Umwandlungsfaktor (ein Ver-
Beeinflussen ökologische Faktoren Evolutions- hältnis) von 25 Mio./6,0 cm = 4,2 Mio./cm.
raten? Wissenschaftler haben Fossildaten unter- Um nun die Zeitspanne abzuschätzen, die je-
sucht, um herauszufinden, ob unterschiedliche der Balken im Diagramm darstellt, messen Sie
Formen der Larvenverbreitung die Lebensdauer die Länge des Balkens in Zentimetern und
von marinen Schneckenarten der Familie der Volu- multiplizieren den Wert mit dem Umwand-
tidae beeinflussen. Einige der Schneckenarten pro- lungsfaktor, 4,2 Mio./cm. Hat zum Beispiel ein
duzierten keine planktonischen Larven, entwickel- Balken im Diagramm eine Länge von 1,1 cm,
ten sich also ohne ein frei schwimmendes Stadium dann repräsentiert er eine Dauer (Persistenz)
zu adulten Individuen. Andere Arten brachten von 1,1 cm × 4,2 Mio./cm = 4,6 Mio. Jahre.
planktonische (im Wasser schwebende) Larven her-
vor. Diese durchlebten während ihrer Entwicklung
Arten mit plankto-
ein Stadium, in dem sie im Wasser schwammen nischen Larven
und so über weite Distanzen passiv verbreitet wer-
den konnten. Die erwachsenen Individuen der
planktonischen Arten hatten in der Regel ausge-
dehntere Verbreitungsgebiete, während die nicht-
planktonischen Arten eher isoliert auftraten.

Arten ohne plankto-


nische Larven

Teil 4
Paläozän Eozän
65 60 55 50 45 40 35
Zeit (vor Millionen Jahren)
© 1978 AAAS

Durchführung des Experiments Die Wissenschaftler


studierten die stratigraphische Verteilung der Schne- 2. Berechnen Sie die durchschnittliche Lebens-
cken in durch Erosion freigelegtem Sedimentgestein spanne für alle Arten ohne planktonische Lar-
entlang der Golfküste Nordamerikas. Diese Felsen, ven und für alle Arten mit planktonischen
die sich im frühen Paläogen (zwischen 65 und 37 Larven.
Millionen Jahren) gebildet haben, sind eine hervor-
ragende Quelle für gut erhaltene Schneckenfossi- 3. Berücksichtigen Sie dabei nur die neuen Ar-
lien. Aufgrund von Merkmalen der zuerst geformten ten, die in jeder Gruppe seit 60 Millionen Jah-
Schneckenhauswindungen konnte jede Schnecken- ren vor heute entstanden sind. (Die ersten drei
art entweder der planktonischen oder der nicht- Arten in jeder Gruppe gab es schon vor 64
planktonischen Gruppe zugeordnet werden. Im Dia- Millionen Jahren, der Zeitperiode, von der die
gramm veranschaulicht jeder Balken, wie lange jede ältesten Proben stammen. Wir wissen also
Schneckenart in den Fossilfunden zu finden war nicht, wie lange diese Arten zu diesem Zeit-
(d.h. in welchen Strata der Sedimentfelsen sich ihre punkt schon existierten und können demnach
Fossilien fanden). auch nicht ihre Lebensspanne messen.)

Datenauswertung 4. Erstellen Sie eine Hypothese, um die Unter-


schiede in den Lebensspannen der Schne-
1. Sie können quantitative Daten (relativ präzise) ckenarten mit nicht-planktonischen und mit
von einem Diagramm abschätzen. In einem ers- planktonischen Larven zu erklären.
ten Schritt müssen Sie einen Umwandlungsfak-
tor errechnen, indem Sie die Länge der skalier- Daten aus: T. A. Hansen, Larval dispersal and species longevity in
ten Achse messen. In diesem Fall entsprechen Lower Tertiary gastropods, Science 199:885–887 (1978). Nachdruck
25 Millionen Jahre (Mio.; von 65 bis 40 Millio- mit Genehmigung der AAAS.

688
25.4 Aufstieg und Niedergang dominanter Gruppen

scheinbar so „felsenfesten“ Kontinente, auf denen wir


leben, verschieben sich im Laufe der Zeit. In den letz-
† ten 1,5 Milliarden Jahren etwa kam es dreimal (vor 1,1
† Milliarden, 600 Millionen und 250 Millionen Jahren)
vor, dass alle Landmassen der Erde gemeinsam einen
Linie A † Superkontinent bildeten, der später wieder auseinan-
derdriftete. Jedes Mal kam es zu einer anderen Konfi-

guration der Kontinente. Geologen gehen davon aus,
† dass die Kontinente in rund 250 Millionen Jahren
erneut zusammenkommen und einen neuen Super-
kontinent bilden werden.
Nach der Theorie der Plattentektonik sind die Kon-
Stammart
(gemeinsamer tinente Teil der großen Platten der Erdkruste, die auf
Vorfahr) der dem darunter liegenden heißen und flüssigen Erd-
Linien A und B mantel schwimmen (Abbildung 25.14). Diese Platten
Linie B

verschieben sich im Laufe der Zeit, ein Vorgang, den


† man als Kontinentaldrift bezeichnet. Geologen kön-
nen die Geschwindigkeit messen, mit der sich die Kon-
tinente heute bewegen – gewöhnlich sind es immerhin
einige Zentimeter pro Jahr. Geologen können auch
Rückschlüsse über die Lage der Kontinente in der Ver-
gangenheit ziehen, indem sie die magnetische Infor-
mation im Gestein nutzen, die zum Zeitpunkt der Ge-
4 3 2 1 0 steinsbildung im Gestein „fixiert“ wurde. Denn wenn
Zeit (vor Millionen Jahren) ein Kontinent seine Position
im Lauf der Zeit verlagert,
Abbildung 25.13: Wie Speziation und Aussterben die Diversität verändert sich auch die La- Erdkruste
beeinflussen. Die Artenvielfalt einer evolutionären Abstammungslinie ge des magnetischen Nord- Teil 4
wird zunehmen, wenn mehr Arten entstehen, als durch Aussterben ver- pols in seinem neu gebil-
loren gehen. In diesem hypothetischen Beispiel haben sich aus beiden deten Gestein.
Abstammungslinien, A und B, nach zwei Millionen Jahren jeweils vier
Erdmantel
Arten gebildet (die zu dem Zeitpunkt alle noch existierten). Zum Zeitpunkt
0 (heute) allerdings gibt es aus Abstammungslinie A nur noch eine Art,
wohingegen sich Abstammungslinie B in acht Arten aufgespaltet hat. (Das äußerer
Kreuz symbolisiert jeweils eine ausgestorbene Art.) Abbildung 25.14: Sche- Erdkern
matischer Anschnitt der
DATENAUSWERTUNG Betrachten Sie die Zeitspanne von vor zwei Erde. Die Erdkruste ist im innerer
Millionen Jahren bis heute: wie viele Speziations- und Aussterbeereignisse Erdkern
Maßstab dicker dargestellt.
haben in dieser Periode stattgefunden?
In Abbildung 25.15 sind die wichtigsten Kontinental-
platten der Erde dargestellt. Viele bedeutende geologi-
25.4.1 Kontinentaldrift sche Prozesse, zum Beispiel die Bildung von Gebirgs-
zügen und Inselketten, finden an den Plattengrenzen
Wenn man die Erde aus dem Weltraum alle 10.000 statt. In einigen Fällen bewegen sich zwei Platten aus-
Jahre fotografieren und die Aufnahmen zu einem Film einander, wie die Nordamerikanische und die Eura-
zusammenfügen würde, könnte man etwas sehen, was sische Platte, die gegenwärtig mit einer Geschwindig-
viele von uns vielleicht schwer vorstellbar finden: Die keit von 2 cm pro Jahr auseinanderdriften. In anderen
Fällen gleiten zwei Platten aneinander vor-
bei, wobei es in diesen Regionen häufig
zu Erdbeben kommt. Die berühmte San-
Andreas-Verwerfung in Kalifornien liegt
genau dort, wo zwei Platten aneinander
vorbeigleiten. Kollidieren zwei Platten
miteinander, kommt es zu einer besonders
heftigen Anhebung, und längs der Platten-
grenzen bilden sich verbunden mit Vulka-
nismus und Erdbeben große Gebirgsketten.

Abbildung 25.15: Die Erde und ihre Kontinental-


platten. Die Pfeile zeigen die Richtung der Plattenbewe-
gung an. Rote Punkte repräsentieren starke tektonische
Aktivität.

689
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

Ein spektakuläres und bis heute andauerndes Beispiel wodurch viele Arten ausstarben und denjenigen Orga-
begann vor 45 Millionen Jahren, als die Indische Platte nismengruppen, die diese Bedingungen überlebten,
mit der Eurasischen Platte zusammenstieß und der neue evolutive Entwicklungsmöglichkeiten boten.
Himalaja gebildet wurde. Weitere Effekte der Kontinentaldrift sind die Klima-
veränderungen, die sich ergeben, wenn ein Kontinent
Folgen der Kontinentaldrift nach Norden oder nach Süden driftet. Die Südspitze von
Obwohl einzelne Plattenbewegungen die geografischen Labrador, Kanada, lag zum Beispiel einst in der Nähe
Strukturen nur langsam verändern, haben sie zusammen des Äquators, hat sich in den letzten 200 Millionen Jah-
genommen doch dramatische Auswirkungen. Die Konti- ren aber um 40 Breitengrade nach Norden bewegt. Um
nentaldrift formt nicht nur das Oberflächenrelief unseres die Auswirkung einer solchen Verlagerung einzuschät-
Planeten neu, sondern sie hat auch einen außerordent- zen, vergleichen Sie das Klima von Wilmington, Dela-
lich großen Einfluss auf die Organismen. Ein Grund ware, USA (ca. 40° nördlicher Breite) mit dem von
dafür liegt darin, dass die Kontinentaldrift die Großle- Belem, Brasilien (in der Nähe des Äquators): Im Winter
bensräume der Organismen verändert. Betrachten Sie fallen die Temperaturen in Wilmington unter Umstän-
die Veränderungen, die in Abbildung 25.16 dargestellt den bis auf –26 °C, während sie in Belem nie unter 18 °C
sind. Vor rund 250 Millionen Jahren führten Plattenbe- sinken. Angesichts solcher Klimaveränderungen waren
wegungen alle zuvor getrennten Landmassen zu einem Organismen dazu gezwungen, sich entweder anzupas-
einzigen Superkontinent, Pangaea, zusammen (griech. sen oder in Bereiche günstigeren Klimas auszuwandern,
pan, alles, allumfassend; gaia, Erde, Land; alles Land). oder sie starben aus, wenn das nicht möglich war (letzte-
Die Meeresbecken wurden tiefer, wodurch der Meeres- res Schicksal traf die meisten Organismen der Antarktis,
spiegel sank und die flachen Küstenbereiche der Meere wie Cryolophosaurus, Abbildung 25.1).
trockenlegte. Damals wie heute lebten die meisten mari- Die Kontinentaldrift fördert auch die allopatrische
nen Arten in Flachwasserregionen, und die Bildung von Artbildung (das heißt die Artbildung aufgrund einer
Pangaea zerstörte einen großen Teil dieses spezifischen räumlichen Trennung) im großen Maßstab. Wenn
marinen Lebensraums. Das Innere des riesigen Konti- Superkontinente auseinanderbrechen, werden Regio-
nents war kalt und trocken (ausgeprägtes kontinentales nen, die einst zusammenhingen, geografisch isoliert.
Klima), wahrscheinlich ein noch extremerer Lebens- Als die Kontinente im Lauf der letzten 200 Millionen
Teil 4 raum als das heutige Zentralasien. Insgesamt hatte die Jahre auseinanderdrifteten, wurde jeder zu einer
Bildung von Pangaea gewaltige Auswirkungen auf die eigenständigen Arena der Evolution, in der sich vonei-
abiotischen Umweltbedingungen und das Makroklima, nander isolierte Pflanzen- und Tierlinien entwickelten,
so dass sich ihr Genpool von den-
Vor 45 Millionen Jahren kollidierte Indien mit jenigen auf anderen Kontinenten
der Eurasischen Platte; das führte zur Bildung zu unterscheiden begann.
Gegenwart des jüngsten großen Gebirgszugs, des Himalaja.
Die Kontinentaldrift hält bis heute an.
Und schließlich kann die Konti-
nentaldrift zur Lösung noch offe-
Känozoikum

ner Fragen beitragen, wenn es um


die geografische Verbreitung von
ika
er
r d am
Eurasien
Am Ende des Mesozoikums spalteten sich ausgestorbenen Organismen geht,
No Afrika
65,5
Süd- Indien
Laurasia und Gondwana weiter auf und zum Beispiel, warum Fossilien
amerika Madagaskarralien bildeten die heutigen Kontinente.
ust
derselben Art von Süßwasserrepti-
Antarktis A
lien aus dem Perm im südameri-
kanischen Brasilien, aber auch im
vor Millionen von Jahren

afrikanischen Ghana entdeckt wur-


Laurasia
Mitte des Mesozoikums teilte sich Pangaea in den. Diese beiden Kontinente, die
135 eine nördliche (Laurasia) und eine südliche
(Gondwana) Landmasse.
heute durch einen 3.000 km brei-
Mesozoikum

Gon
dwa
na ten Ozean getrennt sind, waren zu
Lebzeiten dieser Tiere nahtlos mit-
einander verbunden. Die Konti-
nentaldrift erklärt auch einen gro-
ßen Teil der rezenten Verbreitung
zahlreicher Organismenarten, zum
Beispiel, warum sich die austra-
a e a Am Ende des Paläozoikums waren sämtliche lische Fauna und Flora so stark
251 ng Landmassen der Erde zu einem einzigen
Pa
von den Pflanzen- und Tierarten
Paläozoi-

Superkontinent, Pangaea, vereint.


anderer Kontinente unterscheiden.
kum

Die Beuteltiere (Marsupialia) über-


nehmen in Australien ökologische
Abbildung 25.16: Die Geschichte der Kontinentaldrift während des Phanerozoikums. Funktionen, die auf anderen Konti-
nenten von Placentatieren (Placen-
? Ist die Richtung, in die sich die australische Platte heute bewegt, die gleiche, in die sie sich in den talia) übernommen werden (siehe
letzten 65 Millionen Jahren bewegt hat (vergleiche auch Abbildung 25.15 )? Abbildung 22.18). Die Beuteltiere

690
25.4 Aufstieg und Niedergang dominanter Gruppen

entstanden wahrscheinlich in einer Region, die das heu- besonders gut belegt für Tiere, die einen harten Körper
tige Asien und Nordamerika umfasst, und gelangten hatten und in Flachmeeren lebten – Organismen,
über Südamerika und die Antarktis nach Australien, als deren Vorkommen am besten durch Fossilbelege
diese beiden Kontinente noch miteinander verbunden repräsentiert wird. Bei jedem Massenaussterben
waren. Das anschließende Auseinanderbrechen der wurde mindestens die Hälfte aller marinen Arten auf
Südkontinente ließ Australien wie eine große „Arche der Erde ausgelöscht.
der Beuteltiere“ davontreiben. In Australien bildeten Zwei Massenaussterben – die im Perm und in der
die Beuteltiere viele neue Arten, und die Placentalia, Kreide – waren von besonderer Bedeutung. Das Mas-
die dort lebten, starben aus; auf den anderen Kontinen- senaussterben im Perm (vor 251 Millionen Jahren), das
ten hingegen starben fast alle Beuteltiere aus, und die die Grenze vom Paläozoikum zum Mesozoikum mar-
Placentalia brachten eine Fülle neuer Arten hervor. kiert, löschte rund 96 Prozent aller marinen Tierarten
aus und führte zu drastischen Veränderungen im mari-
nen Lebensraum. Auch das Leben an Land erfuhr
25.4.2 Massenaussterben einen starken Einschnitt; zum Beispiel starben acht der
27 bekannten Insektenordnungen aus. Dieses Massen-
Wie die Fossilgeschichte zeigt, ist der allergrößte Teil aussterben dauerte weniger als 500.000 Jahre, mög-
aller Arten, die jemals gelebt haben, heute ausgestor- licherweise waren es auch nur wenige Jahrtausende –
ben. Eine Art kann aus vielen Gründen aussterben. in geologischen Zeiträumen betrachtet, nur ein kurzer
Möglicherweise wurde ihr Lebensraum zerstört, oder Augenblick.
die Umweltbedingungen haben sich in einer für die Art Das Massenaussterben im Perm geschah zu einer Zeit,
ungünstigen Weise verändert. Wenn die Meerestempe- als es im Gebiet des heutigen Sibiriens zu gewaltigen
ratur auch nur um wenige Grad sinkt, kann es passie- Vulkanausbrüchen kam. Unser Planet erlebte damals die
ren, dass ansonsten gut adaptierte Arten zugrunde intensivste Vulkanaktivität der gesamten vorhergehen-
gehen. Selbst wenn die abiotischen Umweltfaktoren den 500 Millionen Jahre. Wie geologische Daten zeigen,
stabil bleiben, können sich die biotischen Faktoren ver- war damals eine Fläche von 1,6 Millionen km2 (dies ent-
ändern – so kann die Entstehung oder Ausbreitung spricht ungefähr der Hälfte Westeuropas) mit einer meh-
einer Art gleichzeitig den Untergang einer anderen Art rere hundert Meter dicken Lavaschicht bedeckt. Die
bewirken. Vulkane sprengten nicht nur gewaltige Lava- und Asche- Teil 4
Obgleich es regelmäßig zum Aussterben von Arten mengen in die Luft, sondern produzierten möglicher-
kommt, haben globale Umweltveränderungen zu weise auch so viel Kohlendioxid, dass dies zu einer
bestimmten Zeiten dazu geführt, dass die Aussterbe- weltweiten Klimaerwärmung um 6 °C führte und viele
rate dramatisch anstieg. Man spricht in solchen Fällen temperaturempfindliche Arten vernichtete. Der Kohlen-
vom weltweiten Massenaussterben zahlreicher Arten. dioxid-Anstieg könnte auch zu einer Ansäuerung der
Meere und damit zu einer erhöhten Löslichkeit von Kalk
Fünf große Massenaussterben (Calciumcarbonat) geführt haben. Calciumcarbonat wird
Fossilfunden zufolge haben im Verlauf der letzten 500 von Riff-bildenden Korallen und vielen Schalentieren
Millionen Jahre fünf große Ereignisse von Massenaus- benötigt (siehe Abbildung 3.11). Die Vulkanausbrüche
sterben stattgefunden (Abbildung 25.17). Sie sind haben wahrscheinlich auch Nährstoffe in die Ökosys-

1.100 Abbildung 25.17: Massenaussterben


und organismische Diversität. Die fünf
25 1.000 Perioden des Massenaussterbens, die durch
rote Pfeile markiert sind, stellen Spitzenwerte
Aussterberate (Anzahl ausgestorbener

900
in der Aussterberate mariner Tierfamilien dar
Familien pro Millionen Jahren):

20 800 (rote Linie und linke Ordinate). Diese Ereig-


nisse unterbrachen die allgemeine Diversi-
700
Zahl der Familien:

fizierung von marinen Tierfamilien im Laufe


15 600 der Zeit (blaue Linie und rechte Ordinate).
Kam = Kambrium, O = Ordovizium, S = Silur,
500 D = Devon, Kar = Karbon, P = Perm, Tr =
10 400 Trias, J = Jura, Kr = Kreide, P = Paläogen, N =
Neogen, Q = Quartär.
300

5 200
DATENAUSWERTUNG 96 Prozent aller
marinen Tierarten sind bei dem Massenaus-
100 sterben im Perm ausgelöscht worden. Erklä-
0 ren Sie, warum die blaue Linie in diesem Zeit-
0
Zeitalter Paläozoikum Mesozoikum Känozoikum raum nur um etwa die Hälfte absinkt.
Periode Kam O S D Kar P Tr J Kr P N
Q
542 488 444 416 359 299 251 200 145 65,5 0

Zeit (vor Millionen Jahren)

691
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

teme eingebracht, die ein vermehrtes Wachstum von


Mikroorganismen erlaubten (wie beispielsweise Phos-
phor). Nach ihrem Tod dienten diese Mikroorganismen
dann als Nahrung für bakterielle Zersetzer, die im Zuge
Nord-
des Abbaus von Körpern toter Organismen Sauerstoff amerika
verbrauchen und dadurch zu einem Abfall der Sauer- Chicxulub-
Halbinsel Krater
stoffkonzentration führen. Dies wiederum hätte aeroben
von Yucatán
Organismen geschadet und das Wachstum von anaero-
ben Bakterien begünstigt, die als giftige Nebenprodukte
ihres Metabolismus beispielsweise das Gas Schwefel-
wasserstoff (H2S) abgeben. Im Großen und Ganzen schei-
nen Vulkanausbrüche eine ganze Reihe von katastropha-
len Ereignissen ausgelöst zu haben, die zusammen dann
das Massenaussterben im Perm zur Folge hatten.
Zu dem Massenaussterben in der Kreide kam es vor
rund 65,5 Millionen Jahren; der Zeitpunkt markiert die
Grenze zwischen dem Mesozoikum und dem Känozoi-
kum. Dieses Ereignis löschte mehr als die Hälfte aller
marinen Arten aus und eliminierte viele terrestrische
Pflanzen- und Tiergruppen, darunter alle Dinosaurier
(außer den Vögeln, die zur gleichen Gruppe gehören;
siehe Kapitel 34). Ein Hinweis auf eine mögliche Ursa-
che des Massenaussterbens in der Kreide ist eine dünne,
mit Iridium angereicherte Tonschicht, die die mesozoi-
schen von den känozoischen Sedimentlagen trennt und
so in die Zeit des Massenaussterbens (vor etwa 65 Milli-
onen Jahren) fällt. Iridium ist ein Element, das auf der
Teil 4 Erde sehr selten ist, in vielen Meteoriten und anderen
extraterrestrischen Objekten, die gelegentlich auf die
Abbildung 25.18: Eine Katastrophe für die Erde und für ihre
Erde fallen, hingegen häufig vorkommt. Wissenschaftler
kreidezeitlichen Organismen. Der 65 Millionen Jahre alte Chicxulub-
haben die Hypothese aufgestellt, diese Tonablagerung
Einschlagskrater liegt in der Karibik in der Nähe der mexikanischen Halb-
entstamme dem „Fallout“ einer riesigen Staubwolke, die insel Yucatán. Die Hufeisenform des Kraters und die Verteilung der
in die Atmosphäre entlassen wurde, als ein Asteroid Gesteinstrümmer im Sediment sprechen dafür, dass ein Asteroid oder
oder ein großer Komet auf der Erde einschlug. Diese Komet, von Südosten kommend, in einem flachen Winkel auf der Erde ein-
Wolke könnte die Sonne mehrere Monate lang verdun- schlug. Diese künstlerische Darstellung stellt den Einschlag und seine
kelt und dadurch zu einem großen Temperatursturz unmittelbare Folge dar – eine Wolke aus heißem Wasserdampf und
geführt haben. Gesteinstrümmern, die innerhalb von Stunden einen großen Teil der Pflan-
Gibt es Hinweise auf einen solchen Asteroiden oder zen und Tiere Nordamerikas getötet haben könnte.
Kometen? Viele Beobachtungen deuten darauf hin, dass
es sich bei dem Chicxulub-Krater um den Absturzort Diese Frage ist nur schwer zu beantworten, teilweise
handeln könnte, einen 65 Millionen Jahre alten Bereich deshalb, weil es schwierig ist, sich einen Überblick
unterhalb von Sedimenten vor der Küste der mexikani- über die Gesamtzahl der gegenwärtig aussterbenden
schen Halbinsel Yucatán (Abbildung 25.18). Dieser Arten zu verschaffen. Die tropischen Regenwälder
Krater hat einen Durchmesser von rund 180 km und beherbergen zum Beispiel viele noch unentdeckte
damit die richtige Größe, um von einem Objekt von Arten. Infolgedessen kann eine Zerstörung tropischer
10 km Durchmesser gebildet worden zu sein. Diese und Regenwälder das Aussterben zahlreicher Arten verur-
andere Hypothesen zur Erklärung von Massenausster- sachen, bevor wir überhaupt von ihrer Existenz erfah-
ben stehen weiterhin in der Diskussion. ren. Solche Ungewissheiten machen es schwierig, das
volle Ausmaß des gegenwärtigen Artensterbens einzu-
Steht ein sechstes Massenaussterben bevor? schätzen. Aber selbst unter diesen Umständen ist klar,
Wie wir in Kapitel 56 erfahren werden, beeinflussen dass die Verluste bisher noch lange nicht diejenigen
menschliche Aktivitäten wie Habitatzerstörung und der fünf großen Massenaussterben früherer Erdepo-
Erderwärmung die globale Umwelt derart, dass auch chen erreicht haben. Das heißt allerdings nicht, dass
heute viele Arten vom Aussterben bedroht sind. Mit man die heutige Situation verharmlosen sollte. Wie
zunehmender Geschwindigkeit sind in den letzten Monitoring-Programme zeigen, verläuft der Arten-
400 Jahren mehr als tausend Arten verschwunden. schwund durch Habitatsverlust, Einführung fremder
Wissenschaftler schätzen, dass diese Aussterberate Arten, Überfischung und extensive Landwirtschaft
100- bis 1.000-mal größer ist, als die durchschnittliche oder andere Faktoren mit alarmierender Geschwindig-
Aussterberate, wie sie sich aus der Fossilgeschichte keit. Jüngste Studien an einer Reihe von Arten, darun-
ablesen lässt. Befinden wir uns mitten in der sechsten ter Eidechsen, Kiefern und Eisbären, legen nahe, dass
Periode des Massenaussterbens? der Klimawandel einen Rückgang dieser Arten noch

692
25.4 Aufstieg und Niedergang dominanter Gruppen

beschleunigt. Auch Fossilfunde unterstreichen einen gelöscht worden wären. Es gäbe keine Menschen, und
möglichen Einfluss des Klimawandels: In den letzten das Leben auf der Erde würde ganz anders aussehen,
500 Millionen Jahren sind die Aussterberaten immer als wir es heute kennen.
dann angestiegen, wenn auch die globalen Temperatu- Die Fossilgeschichte zeigt, dass es in der Regel min-
ren erhöht waren (Abbildung 25.19). destens fünf bis zehn Millionen Jahre dauert, bis die
Diese Daten sprechen dafür, dass es in den nächsten organismische Vielfalt zahlenmäßig wieder das Niveau
paar Jahrhunderten oder Jahrtausenden zu einem vor dem Massenaussterben erreicht hat. In einigen
sechsten (durch den Menschen verursachten) Massen- Fällen kann es auch deutlich länger dauern. Nach dem
aussterben kommen könnte, wenn nicht rasch drasti- Massenaussterben im Perm dauerte es rund 100 Millio-
sche Maßnahmen ergriffen werden. nen Jahre, bis sich die Zahl der marinen Familien
erholt hatte (siehe Abbildung 25.17). Diese Daten füh-
3 Massenaussterben ren zu einem ernüchternden Schluss: Wenn der gegen-
relative Aussterberate mariner Tiergattungen

wärtige Trend anhält und es zu einem sechsten Massen-


aussterben kommt, wird das Leben auf der Erde
2 Millionen Jahre brauchen, um sich zu erholen.
Massenaussterben können sich auch auf die Art der
1 Lebewesen auswirken, die man in Biozönosen und
Ökosystemen findet. Nach dem Massenaussterben im
Perm und dem in der Kreide nahm zum Beispiel der
0
Prozentsatz der marinen Prädatorenarten deutlich zu
(Abbildung 25.20). Ein derartiger Anstieg kann
–1 sowohl den Selektionsdruck, der auf die Beute wirkt,
als auch den Wettbewerb unter Prädatoren um Beute
erheblich steigern. Zudem können Massenaussterben
–2
–3 –2 –1 0 1 2 3 4 auch Stammlinien mit günstigen und adaptiven Merk-
kälter wärmer malen und Eigenschaften auslöschen. Zum Beispiel ent-
relative Temperatur wickelte sich in der späten Trias eine Gruppe von Gast-
ropoden (Schnecken), die die Schale von Muscheln Teil 4
© 2008 The Royal Society
(Bivalvia) durchbohrten und so an das innen liegende
Abbildung 25.19: Aussterberaten und globale Temperatur. Aus-
Muschelfleisch gelangen konnten. Obgleich diese Tech-
sterberaten stiegen an, wenn die globalen Temperaturen hoch waren.
Temperaturen wurden anhand der Verhältnisse von Sauerstoffisotopen nik den Schnecken Zugang zu einer neuen und reich-
geschätzt und in ein Nummernsystem übertragen, bei dem 0 die globale haltigen Nahrungsquelle eröffnete, wurde diese neu
Durchschnittstemperatur ist. entstandene Gruppe während des Massenaussterbens
gegen Ende der Trias (vor rund 200 Millionen Jahren)
ausgelöscht. Weitere 120 Millionen Jahre vergingen, bis
Konsequenzen von Massenaussterben eine andere Gastropodengruppe, die Austernbohrer
Dadurch, dass ein Massenaussterben eine große Anzahl (zum Beispiel Urosalpinx cinerea), erneut die Fähigkeit
von Arten auslöscht, kann sich eine einst funktio- entwickelte, Muschelschalen zu durchbohren. Wie ihre
nierende, vielschichtige und artenreiche Biosphäre auf Vorgänger es wohl getan hätten, wären sie nicht dem
einen Bruchteil ihres früheren Komplexitätsgrades triassischen Massenaussterben zum Opfer gefallen, hat
reduzieren. Wenn eine Art verschwindet, ist sie ein für sich diese jüngere Gastropodengruppe seitdem in viele
alle Mal ausgelöscht und verändert damit den Verlauf neue Arten aufgespaltet. Schließlich kann ein Massen-
der Evolution. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, aussterben zahlreicher Arten aber auch den Weg für
wenn die frühen Primaten, die vor 66 Millionen Jahren adaptive Radiationen freimachen, in deren Verlauf sich
lebten, vom kreidezeitlichen Massenaussterben aus- rasch neue Organismengruppen entwickeln.

Der Prozentsatz mariner Nach dem Massenaussterben im Perm


50
Gattungen, die räuberisch stieg der Prozentsatz von Prädatoren
Prädatorengattungen

steil an, blieb 150 Millionen Jahre


marinen Gattungen)

lebten, lag 200 Millionen


40 lang stabil bei 22% – bis das Massen-
(in Prozent aller

Jahre lang relativ


konstant bei 15%. aussterben in der Kreide erneut
30 zu einer Störung führte.

20

10

0
Zeitalter Paläozoikum Mesozoikum Abbildung 25.20: Massenaussterben und ökologi-
Periode Kam O S D Kar P Tr J Kr P N sche Konsequenzen. Die Massenaussterben im Perm
542 488 444 416 359 299 251 200 145 65,5 Q 0 und in der Kreide (rote Pfeile) veränderten das Ökosystem
der Meere von Grund auf, denn beide führten zu einem
Zeit (vor Millionen Jahren) Känozoikum
erhöhten Prozentsatz mariner prädatorischer Gattungen.

693
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

25.4.3 Adaptive Radiationen schwinden der Dinosaurier (außer den derselben Gruppe
zugehörigen Vögeln) nahmen die Säugetiere stark an
Wie die Fossilgeschichte zeigt, ist die Artenvielfalt im Körpergröße und Artenvielfalt zu und eroberten ökolo-
Lauf der letzten 250 Millionen Jahre gestiegen (Abbil- gische Nischen, die einst von den terrestrischen Dino-
dung 25.17, blaue Linie). Dieser Anstieg wurde von sauriern besetzt wurden.
adaptiven Radiationen angetrieben. Dies sind Perioden Die Geschichte der Evolution ist auch stark von
evolutiver Veränderungen, in denen Organismengrup- adaptiven Radiationen geprägt, in deren Verlauf sich
pen viele neue Arten bildeten, deren Adaptationen es Organismengruppen diversifizierten, die dabei ganz
ihnen erlauben, in ihren Zönosen unterschiedliche öko- neue ökologische Funktionen innerhalb ihrer Zönosen
logische Funktionen wahrzunehmen beziehungsweise übernahmen. Beispiele sind der Aufstieg der oxyge-
unterschiedliche ökologische Nischen zu besetzen. nen photosynthetisch aktiven Prokaryonten, die Evo-
Nach jedem der fünf großen Massenaussterben kam es lution großer Prädatoren im Rahmen der kambrischen
zu adaptiven Radiationen in großem Maßstab, bei denen Artenexplosion und die adaptiven Radiationen im
sich die überlebenden Taxa die ökologischen Nischen Anschluss an die Besiedlung des Festlands durch
aufteilten und sich entsprechend anpassten. Zu adapti- Pflanzen, Insekten und Tetrapoden. Jede der Radiatio-
ven Radiationen kam es auch in Organismengruppen, nen dieser drei letztgenannten Taxa ging mit großen
die wichtige evolutionäre Neuerungen besaßen, zum evolutionären Neuerungen einher, die zu immer bes-
Beispiel Samen oder einen gepanzerten Körper, oder die seren Anpassungen an das Landleben führten. Die
Gebiete und Lebensräume besiedelten, in denen sie Radiation der Landpflanzen ging zum Beispiel mit der
wenig Konkurrenz von anderen Arten zu fürchten hat- bedeutenden Entwicklung eines Stängels einher, der
ten und sich dort besser entwickeln konnten. es den Pflanzen ermöglicht, aufrecht entgegen der
Schwerkraft zu wachsen, oder der Wachsschicht (Cuti-
Weltweit verlaufende adaptive Radiationen cula), die die Blätter vor Wasserverlust schützt. Und
Anhand von Fossilien lässt sich ableiten, dass vor schließlich können Organismen, die im Rahmen einer
allem die Säugetiere eine umfangreiche adaptive Radi- adaptiven Radiation entstehen, wiederum auch anderen
ation durchlebten, nachdem vor 65,5 Millionen Jahren Organismen als neue Nahrungsquelle dienen, wodurch
die landlebenden Dinosaurier ausgestorben waren sich ein neues vielschichtiges Abhängigkeitsnetz ent-
Teil 4 (Abbildung 25.21). Obwohl der letzte gemeinsame wickeln kann. Zur Diversifizierung der Landpflanzen
Vorfahre der rezenten Säugetiere bereits vor rund 180 trug insbesondere die Blütenbildung der Angiospermen
Millionen Jahren gelebt hat, zeigen Säugetierfossilien, (Blütenpflanzen) bei. Dies geschah parallel zu einer
die älter als 65,5 Millionen Jahre sind, in der Regel Reihe adaptiver Radiationen bei Insekten, die sich von
kleine Körpergrößen und haben morphologisch-anato- Pflanzen ernährten, aus den Blüten Nektar und Pollen
misch nur eine geringe Vielfalt. Viele Arten waren aufnahmen und die Pflanzen auch bestäubten. Die von-
offenbar nachtaktiv; das lässt sich aus ihren großen einander abhängige Evolution dieser beiden Taxa trug
Augenhöhlen schließen, die denjenigen heute lebender sehr wahrscheinlich dazu bei, dass sich die Insekten
nachtaktiver Säugetiere gleichen. Einige frühe Säuge- zur artenreichsten Tiergruppe und die Angiospermen
tiere waren mittelgroß, zum Beispiel Repenomamus zur artenreichsten Pflanzengruppe auf der Erde entwi-
giganticus, eine räuberische Art von 1 m Körperlänge, ckelten.
die vor 130 Millionen Jahren im Mesozoikum lebte.
Aber keine Säugetierart erreichte auch nur annähernd Regionale adaptive Radiationen
solche Größen wie viele Dinosaurier. Wahrscheinlich Auch in kleineren geografischen Regionen ist es zu
waren die frühen Säugetiere deshalb relativ kleinwüch- bemerkenswerten adaptiven Radiationen gekommen.
sig und weitgehend artenarm, weil sie von Dinosauriern Solche Radiationen können in Gang gesetzt werden,
gejagt wurden, die ihnen in Größe, Artenreichtum und wenn ein paar Organismen an einen neuen, oft weit
Anpassungsrepertoire überlegen waren. Mit dem Ver- entfernten Ort gelangen, an dem sie relativ wenige Kon-
kurrenten haben und wo ihnen
eine Vielzahl neuer Standorte für
Stammart der Kloakentiere eine Besiedlung und ökologische
rezenten (Monotremata;
5 Arten)
Einnischung zur Verfügung steht.
Säugetiere
Der Hawaii-Archipel ist eines der
ancestraler Beuteltiere Beispiele für regionale adaptive
Cynodontier (Marsupialia; Radiationen (Abbildung 25.22).
324 Arten)
Diese Kette von Vulkaninseln, die
placentale
rund 3.500 km vom nächsten Kon-
Säugetiere tinent entfernt liegt, wird in Rich-
(Eutheria; tung Nordwesten zunehmend äl-
5.010 Arten)
ter. Die jüngste Insel, Hawaii („Big
250 200 150 100 50 0 Island“), ist weniger als eine Mil-
Zeit (vor Millionen Jahren) lion Jahre alt und weist noch im-

Abbildung 25.21: Adaptive Radiation der Säugetiere.

694
25.4 Aufstieg und Niedergang dominanter Gruppen

eine nahe Verwandte aus


Nordamerika, Carlquistia muirii

Kauai Molokai
Dubautia laxa vor 5,1 Millionen Maui vor 1,3 Millionen
Jahren Jahren
Oahu Argyroxiphium sandwicense
vor 3,7 Lanai
Millionen
Jahren
N Hawaii
vor 0,4 Millionen
Jahren

Dubautia waialealae

Teil 4

Dubautia scabra Dubautia linearis

Abbildung 25.22: Adaptive Radiation im Hawaii-Archipel. Wie Molekularanalysen zeigen, stammen diese verschiedenen hawaiianischen
Pflanzenarten von einem phylogenetisch alten Vorfahren ab, der vor rund fünf Millionen Jahren aus Nordamerika auf die Inselgruppe gelangte. Angehörige
dieser „silversword alliance“ haben seitdem verschiedene Lebensräume besiedelt, woraus sich neue Arten mit unterschiedlichsten Anpassungen entwi-
ckelten. Es handelt sich um die sogenannten „tarweeds“ (engl. tar, Teer und weeds, Kraut), die mit mehreren Arten aus drei eng verwandten Gattungen
(Argyroxiphium, Dubautia und Wilkesia ) den Asteraceen angehören.

mer aktive Vulkane auf. Jede Insel wurde nach Erkalten


 Wiederholungsfragen 25.4
des Magmas nach und nach von Organismen koloni-
siert, die von der Strömung angeschwemmt oder vom
1. Erläutern Sie die Konsequenzen der Konti-
Wind herangeweht wurden, sei es vom entfernten Fest-
nentaldrift für die Verbreitung verschiedener
land oder von näher gelegenen älteren Inseln des
Taxa auf der Erde.
Archipels. Die geophysikalische und örtliche Vielfalt
einer jeden Insel, zu denen erhebliche Höhenunter- 2. Welche Faktoren fördern eine adaptive Radia-
schiede ebenso gehören, wie durch den Nordostpassat tion?
bedingte unterschiedliche Niederschlagsmengen, führ-
ten zu einer Vielfalt von durch den natürlichen Selek- 3. WAS WÄRE, WENN? Nehmen Sie an, eine Art
tionsdruck erzeugten Anpassungen mit adaptiven Radi- der Wirbellosen wurde in einem durch eine Ka-
ationen in verschiedenen Pflanzen- und Tiertaxa. Die tastrophe ausgelösten Massenaussterben ausge-
meisten der vielen Tausend Arten, die diese Inseln löscht. Würde das letzte Auftreten dieser Art
bewohnen, sind endemisch, das heißt sie kommen nir- als Fossilfund dann automatisch im zeitlichen
gendwo sonst auf der Erde vor. Ein anderes, berühmte- Bereich des Massenaussterbens liegen? Und
res Beispiel ist der in Kapitel 22 erwähnte Galapagos- würde die Antwort auf diese Frage unter-
Archipel, auf dem Darwin seinerzeit entscheidende schiedlich ausfallen, je nachdem ob diese Art
Beobachtungen gemacht hat, die zur Entwicklung der häufig (individuenreich, weit verbreitet) oder
Evolutionstheorie geführt haben. selten war? Bitte begründen Sie Ihre Antwort.

Lösungshinweise finden Sie in Anhang A.

695
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

Veränderungen im Körperbau der Bein- und Beckenknochen, die letztlich zum Verlust
der Hinterbeine bei Walen geführt hat (siehe Abbildung
können durch Änderungen in 22.20).
der Sequenz und Regulation
von Entwicklungsgenen
entstehen
25.5
Am Beispiel der Fossilgeschichte kann man nach-
zeichnen, welche großen Veränderungen im Laufe der
Evolution der Organismen stattgefunden haben und
wann sie stattfanden. Darüber hinaus vermitteln uns
die Vorgänge der Kontinentaldrift, des Massenausster-
bens und der adaptiven Radiation einen Eindruck Schimpansen-Kind erwachsener Schimpanse
davon, wie es zu diesen Veränderungen gekommen ist.
Um zu verstehen, wie diese Veränderungen auf mole-
kularbiologischer Ebene realisiert werden, wollen wir
uns im Folgenden vor allem auf Gene konzentrieren,
die die Entwicklung der Organismen steuern.

25.5.1 Evolutionäre Effekte von Schimpansenfötus erwachsener Schimpanse


Entwicklungsgenen
Die Evo-Devo-Forschung, die sich mit der Schnittstelle
zwischen Evolutions- und Entwicklungsbiologie befasst
Teil 4 (Kapitel 21), untersucht die molekularen Mechanismen,
die für die großen morphologisch-anatomischen Unter-
schiede zwischen Arten und Organismengruppen ver-
antwortlich sind. Gene, die die Entwicklung eines
Organismus kontrollieren, sind für die Entstehung der menschlicher Fötus erwachsener Mensch
morphologischen Vielfalt besonders interessant. Sie Abbildung 25.23: Relative Wachstumsraten des Schädels. Die
beeinflussen die Geschwindigkeit, die zeitliche Koor- Schädel der Föten von Schimpanse und Mensch haben sehr ähnliche Formen.
dination und das räumliche Muster der morphologi- Beim Schimpansen ist jedoch das Wachstum der Kiefer im Verhältnis zu den
schen Veränderungen eines Lebewesens im Laufe seiner äußeren Schädelteilen stärker, was zu dem typischen langgestreckten
Individualentwicklung (Ontogenese) von der Zygote bis Gesichtsschädel und der fliehenden Stirn eines erwachsenen Schimpansen
zum Fortpflanzungsstadium. führt. Beim Menschen wird der Kiefer deutlich weniger gestreckt.

Veränderungen der zeitlichen Koordination von Heterochronie kann auch die relative zeitliche Ent-
Entwicklungsprozessen wicklung der Reproduktionsorgane in Bezug zur Ent-
Viele bemerkenswerte evolutionäre Veränderungen wicklung der anderen Organe verändern. Wenn die
beruhen auf Heterochronie (griech. hetero, anders und Entwicklung der Fortpflanzungsorgane einer Art sich
chronos, Zeit). Man versteht darunter eine evolutionäre im Vergleich zu der der nicht reproduktiven Organe
Veränderung der zeitlichen Koordination von Entwick- beschleunigt, kann bereits in einem Stadium mit noch
lungsschritten. Zum Beispiel hängt die Gestalt eines juvenilen Merkmalen (zum Beispiel als Larve) die
Organismus zum Teil von den relativen Wachstums- Geschlechtsreife erreicht werden. Man bezeichnet die-
raten verschiedener Körperteile während seiner eigenen sen Zustand als Pädomorphose (griech. paedos, von
Entwicklung ab. Selbst geringfügige Veränderungen in einem Kind und morphosis, Bildung). Diese kann auf
den relativen Wachstumsraten können das Aussehen verschiedene Ursachen zurückzuführen sein: Bei der
und die Funktion des ausgewachsenen Lebewesens Neotenie führt eine verlangsamte somatische Entwick-
wesentlich beeinflussen, wie man bei der Gegenüber- lung dazu, dass beim Eintritt in die Geschlechtsreife
stellung des Menschen- und Schimpansenschädels noch juvenile Merkmale vorhanden sind. Zum
deutlich erkennt (Abbildung 25.23). Beispiel haben die meisten Schwanzlurcharten im
Andere Beispiele für solche dramatischen evolutionä- Wasser lebende Larven, die eine Metamorphose zum
ren Effekte der Heterochronie sind das verstärkte Län- erwachsenen Landtier durchmachen. Einige Arten
genwachstum der Fingerknochen, aus dem sich die wachsen jedoch auf Adultgröße heran und werden
Skelettstruktur der Fledermausflügel (siehe Abbildung geschlechtsreif, während sie die Kiemen und andere
22.15) entwickelt hat, oder die Wachstumsminderung larvale Strukturen behalten (Abbildung 25.24). Über

696
25.5 Änderungen in der Sequenz und Regulation von Entwicklungsgenen

eine solche evolutionäre Veränderung in der zeit- das bei bestimmten Crustaceen zur Umwandlung eines
lichen Abfolge von entwicklungsbiologischen Pro- Körperanhangs, welcher ursprünglich zum Schwim-
zessen können Tiertaxa entstehen, die ganz anders als men diente, in einen für die Nahrungsaufnahme. Auch
ihre Vorfahren aussehen, obgleich die genetische bei Pflanzen führen Expressionsänderungen von homeo-
Änderung nur geringfügig sein kann. Neuere Befunde tischen Genen, den sogenannten MADS-Box-Genen, zu
sprechen dafür, dass eine Veränderung an einem ein- einer veränderten Anordnung ihrer Blütenorgane (siehe
zigen Genort wahrscheinlich ausgereicht hat, um beim Abbildung 35.34 und 35.35).
Axolotl eine neotene Entwicklung zu bewirken. Bei
der Progenese hingegen ist die sexuelle Entwicklung
beschleunigt. Man spricht von Progenese vor allem 25.5.2 Evolution von Entwicklungs-
dann, wenn die Tiere vollständig auf einem larvalen prozessen
Stadium verbleiben und es wird heute vielfach ange-
nommen, dass die Vielfalt der Metazoa vor allem bei Die 560 Millionen Jahre alten Fossilien der Ediacara-
den Taxa mit kleinen Arten auf progenetischem Wege Fauna in Abbildung 25.5 sprechen dafür, dass der
entstanden sein könnte. Satz der Gene, die zur phylogenetischen Entwicklung
dieser komplexen Tiergruppe notwendig war, schon
mindestens 25 Millionen Jahre vor der kambrischen
Artenexplosion existiert haben muss. Wenn es diese
Entwicklungsgene aber bereits schon so lange vorher
gab, wie können wir dann die plötzliche Diversifika-
tion erklären, die erst in der kambrischen Explosion
auftrat?
Adaptive Entwicklungen aufgrund der natürlichen
Kiemen Selektion liefern eine Antwort auf diese Frage. Wie
wir in Teil IV gesehen haben, kann die natürliche
Selektion relativ schnell zu Anpassungen an veränderte
Umweltbedingungen führen, indem sie auf Sequenzun-
terschiede in proteincodierenden Genen (und die damit Teil 4
verbundenen phänotypischen Merkmale) einwirkt.
Zusätzlich können neue Gene, die durch Genduplika-
Abbildung 25.24: Neotenie. Die geschlechtsreifen Adulttiere einiger tionen entstanden sind, zur Erweiterung und Vergrö-
Arten bewahren Merkmale, die bei ihren Vorfahren typische Juvenil- bezie- ßerung funktioneller und struktureller Eigenschaften
hungsweise Larvalmerkmale waren. Dieser Schwanzlurch ist ein Axolotl beitragen, ähnlich wie dies für die veränderte räumli-
(Ambystoma mexicanum), der zu voller Größe heranwächst, geschlechtsreif che und/oder zeitliche Expression bereits vorhande-
wird und sich fortpflanzt, während er Merkmale des Larvenstadiums beibe- ner Gene gilt.
hält, so zum Beispiel die Kiemen. Die Beispiele im vorigen Abschnitt sprechen dafür,
dass bestimmte Entwicklungsgene eine entscheidende
Veränderungen der räumlichen Koordination von Bedeutung für evolutionäre Prozesse haben. Im restli-
Entwicklungsprozessen chen Teil dieses Abschnitts wollen wir uns damit befas-
Wesentliche evolutionäre Veränderungen können auch sen, wie neue morphologisch-anatomische Strukturen
aus einer Veränderung von Genen resultieren, die die entstehen, wenn sich die Nucleotidsequenzen oder die
räumliche Organisation bestimmter Körperteile kon- Regulation von Entwicklungsgenen verändern.
trollieren. Zum Beispiel bestimmen wenige Hauptregu-
latorgene („Masterregulatoren“), die als homeotische Veränderungen in Genen
Gene bezeichnet werden (siehe Kapitel 18 und 21), so Neue Entwicklungsgene, die nach einer Genduplikation
grundlegende Merkmale und Eigenschaften wie etwa entstehen, erleichtern wahrscheinlich die Entwicklung
die Stelle, an der sich ein Paar Flügel oder ein Paar neuer morphologischer Strukturen. Da aber andere
Beine entwickelt, oder wie die Teile einer Blüte bei genetische Veränderungen ebenfalls zur gleichen Zeit
einer Pflanze angeordnet sind. stattgefunden haben können, kann es schwierig sein,
Die Produkte einer bestimmten Klasse homeotischer eine Kausalbeziehung zwischen genetischen und mor-
Gene, der sogenannten Hox-Gene, bestimmen letztlich phologisch-strukturellen Veränderungen herzustellen,
die Lage einzelner Elemente innerhalb eines Tier- die in der Vergangenheit aufgetreten sind.
embryos. Sie veranlassen Zellen dazu, Strukturen und Diese Schwierigkeit wurde in einer neueren Unter-
Muster an einer bestimmten Position zu bilden. Verän- suchung über entwicklungsbiologische Veränderun-
derungen in den Hox-Genen selbst oder in ihren gen, die im Zusammenhang mit der Abspaltung der
Expressionsmustern können einen tiefgreifenden Ein- sechsbeinigen Insekten von ihren crustaceenartigen
fluss auf die Morphologie eines Organismus haben. Vorfahren mit mehr als sechs Extremitäten stehen,
Werden zum Beispiel nur zwei Hox-Gene (Ubx und Scr) experimentell überprüft. Bei Insekten wie Drosophila
an einer anderen Stelle im Körper exprimiert, so führt wird das Ubx-Gen im Abdomen exprimiert, während

697
25 Die Geschichte des Lebens auf der Erde

es bei Crustaceen wie dem Salinenkrebschen Artemia bestimmten Sequenz eines Entwicklungsgens und
im ganzen vorderen Rumpfbereich exprimiert wird einer bedeutenden evolutionären Neuerung – die Ent-
(Abbildung 25.25). Wenn das Ubx-Gen exprimiert stehung des sechsbeinigen Bauplans von Insekten.
wird, unterdrückt es bei Insekten die Ausbildung von
Extremitäten, jedoch nicht bei Crustaceen. Um die Wir- Veränderungen in der Genregulation
kung dieses Gens zu untersuchen, isolierten Wissen- Eine Veränderung der Nucleotidsequenz eines Gens
schaftler die Ubx-Gene von Drosophila und Artemia. kann dessen Funktion beeinflussen, wo auch immer das
Anschließend manipulierten sie Taufliegenembryonen Gen exprimiert wird. Im Gegensatz dazu können Verän-
gentechnisch so, dass diese im ganzen Körper entweder derungen in der Regulation der Genexpression auf einen
das Drosophila-Ubx-Gen oder das Artemia-Ubx-Gen einzigen Zelltyp beschränkt sein (siehe Kapitel 18).
exprimierten. Das Drosophila-Gen unterdrückte die Bil- Daher hat eine Veränderung in der Regulation eines Ent-
dung von Extremitäten wie erwartet zu 100 Prozent, das wicklungsgens unter Umständen weniger schädliche
Artemia-Gen hingegen nur zu 15 Prozent. Nebenwirkungen als eine Veränderung in seiner protein-
codierenden Sequenz. Diese Überlegungen haben Wis-
Hox-Gen 6 Hox-Gen 7 Hox-Gen 8 senschaftler zu der Hypothese veranlasst, dass struk-
turelle (morphologisch-anatomische) Veränderungen
Ubx
von Organismen häufig durch Mutationen verursacht
werden, die die Regulation von Entwicklungsgenen
vor rund betreffen und nicht deren Nucleotidsequenz.
400 Millionen Jahren Diese Vorstellung wird von Untersuchungen an einer
Reihe von Arten gestützt, darunter dem Dreistachligen
Stichling (Gasterosteus aculeatus). Diese Fische kom-
men im offenen Meer und in flachen Küstenregionen
vor. Im Westen Kanadas bewohnen sie auch Süßwasser-
seen, die sich gebildet haben, als sich die Küstenlinie
innerhalb der letzten 12.000 Jahre immer weiter zurück-
zog. Marine Stichlinge tragen ein Paar Stacheln auf ihrer
Teil 4 Bauchseite, die ihnen bei der Feindabwehr nützlich
Drosophila Artemia sind. Bei den Fischen, die in Süßwasserseen leben, in
denen keine Räuber vorkommen und in denen der Cal-
Abbildung 25.25: Die Entstehung des Insektenbauplans. Die
ciumgehalt sehr niedrig ist, sind diese Stacheln hinge-
Expression des Hox-Gens Ubx unterdrückt bei Taufliegen (Drosophila) die
Extremitätenbildung, nicht jedoch beim Salinenkrebschen (Artemia), und
gen zurückgebildet oder fehlen ganz. Der Verlust der
trägt somit erheblich zum Körperbauplan von Insekten bei. Die Hox-Gene Stacheln mag dadurch bedingt sein, dass sie bei Abwe-
von Taufliegen und Salinenkrebschen haben sich seit 400 Millionen Jahren senheit von Raubfischen keinen Vorteil mehr darstellen
unabhängig voneinander entwickelt und unterschiedliche Nucleotidverän- und die geringen Calciummengen zu anderen Zwecken
derungen akkumuliert, die zu Funktionsunterschieden führten. Die grünen benötigt werden als zur Entwicklung von Stacheln. Auf
Dreiecke kennzeichnen die Stärke der Expression der Ubx -Gene in den Kör- molekularer Seite war bekannt, dass das Entwicklungs-
perregionen von Drosophila und Artemia gen Pitx1 für die Bildung der Bauchstacheln verantwort-
lich ist.
Dann versuchten die Wissenschaftler, die entscheiden- War die Rückbildung der Bauchstacheln in den Süß-
den Schritte aufzudecken, die an dem evolutionären wasserpopulationen eine Folge von Veränderungen im
Übergang von einem Crustaceen-Ubx-Gen zu einem Pitx1-Gen selbst oder das Ergebnis einer veränderten
Insekten-Ubx-Gen beteiligt sind. Ihr Ansatz bestand Genexpression (Abbildung 25.26)? Die Befunde der
darin, Mutationen zu identifizieren, die dazu führen, Wissenschaftler sprechen dafür, dass sich die Regula-
dass das Artemia-Ubx-Gen die Extremitätenbildung tion der Genexpression verändert hat und nicht die
unterdrückt und das Crustaceen-Gen daher mehr wie Nucleotidsequenz des Gens. Überdies exprimieren
ein Insekten-Ubx-Gen arbeitet. Zu diesem Zweck sowohl die Stichlinge in den Seen, als auch ihre mari-
schufen sie eine Reihe von „Hybrid“-Ubx-Genen, von nen Verwandten das Pitx1-Gen in Geweben, die mit
denen jedes bestimmte Abschnitte des Drosophila- der Stachelbildung nichts zu tun haben (zum Beispiel
Ubx-Gens und bestimmte Abschnitte des Artemia-Ubx- in der Mundregion). Dies zeigt, wie morphologisch-
Gens enthielt. Diese Hybrid-Gene setzten die Wissen- anatomische Veränderungen im Bauplan von Organis-
schaftler in Taufliegenembryonen (ein Hybrid-Gen pro men durch eine veränderte Expression eines Entwick-
Embryo) ein und beobachteten die Auswirkungen auf lungsgens hervorgerufen werden können. In einer wei-
die Extremitätenentwicklung. So fanden sie heraus, teren Studie aus dem Jahr 2010 konnten die Forscher
welche Aminosäureveränderungen für die Unterdrü- zeigen, dass Veränderungen im Verstärker Pel – einer
ckung zusätzlicher Extremitäten bei Insekten verant- nicht-codierenden DNA-Region, die die Pitx1-Expres-
wortlich sind. Diese Untersuchungen lieferten experi- sion beeinflusst – zur Reduktion der Stacheln in den
mentelle Belege für eine Verknüpfung zwischen einer Süßwasserpopulationen geführt hat.

698
25.5 Änderungen in der Sequenz und Regulation von Entwicklungsgenen

 Abbildung 25.26: Aus der Forschung

Was führt zum Verlust der Bauchstacheln bei im und Süßwasserpopulationen und verglich die erhal-
Süßwasser lebenden Stichlingen? tenen Sequenzen.
Experiment Die Individuen der marinen Popula-
tionen des Dreistachligen Stichlings (Gasterosteus
aculeatus) weisen in der Bauchregion einen Satz
schützender Stacheln auf; bei denen der süß-
wasserbewohnenden Populationen sind diese
Bauchstacheln zurückgebildet oder fehlen ganz.
Michael Shapiro und David M. Kingsley von der
Stanford Universität (Kalifornien) und ihre Kolle-
Bauchstacheln
gen haben mithilfe von genetischen Kreuzungen
herausgefunden, dass die Reduktion der Stachel- 䉱 Dreistachliger Stichling
größe hauptsächlich auf die Wirkung eines einzi- (Gasterosteus aculeatus)
gen Entwicklungsgens zurückzuführen ist, Pitx1.
Die Wissenschaftler haben daraufhin zwei Hypo- Hypothese B: Eine Veränderung in der Regulation
thesen überprüft, die eine Ursache für diese mor- der Expression des Pitx1-Gens führte zum Stachel-
phologische Veränderung anbieten. verlust. Um diese Hypothese zu testen, überprüften
Hypothese A: Eine oder mehrere Mutationen in der die Wissenschaftler, wo im sich entwickelnden
proteincodierenden Sequenz eines wichtigen Ent- Embryo das Pitx1-Gen exprimiert wird. Sie führten
wicklungsgens, Pitx1, ist für den Verlust der in situ-Hybridisierungsexperimente durch (siehe
Bauchstacheln in der marinen Population verant- Kapitel 20), wobei sie Pitx1-DNA als Sonde benutz-
wortlich. Um diese Hypothese zu testen, sequen- ten, um Pitx1-mRNA im Fisch zu nachzuweisen.
zierte die Forschergruppe die Pitx1-Gene bei Meeres-

Ergebnis Teil 4

Test von Hypothese A: Gibt es Unterschiede in der Ergebnis: Die 283 Aminosäuren des Ptx1-Proteins sind
proteincodierenden Sequenz nein bei Meeres- und Süßwasser-Populationen des
des Pitx1-Gens bei Stichlingen Stichlings identisch.
aus dem Meer und aus
dem Süßwasser?

Test von Hypothese B: Gibt es Unterschiede bei der Ergebnis: Die roten Pfeile in der Abbildung unten zeigen
Regulation der Expression ja die Gewebe an, in denen das Pitx1-Gen exprimiert
des Pitx1-Gens? wird. Bei sich entwickelnden marinen Stichlingen
wird Pitx1 in der Bauchstachel- und in der Mund-
region exprimiert, bei sich entwickelnden süßwasser-

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