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1C
Dr.-Ing. Steffen Wiese
Fraunhofer-Center für
Silizium-Photovoltaik CSP
Walter-Hülse-Str. 1
06120 Halle
Deutschland
stw.post@googlemail.com
Vorwort
Dieses Buch ist aus den Bedürfnissen universitärer Forschung und Lehre ent-
standen. Der Autor beschäftigt sich seit ca. 15 Jahren mit den Fragen des werk-
stoff- und bruchmechanischen Verhaltens von Weichloten in kleinstvolumigen
Kontakten der Mikroverbindungstechnik in der Elektronik. In dieser Zeit erreichte
ihn eine große Anzahl von Anfragen - vor allem von Doktoranden, aber auch von
Ingenieuren aus der Industrie - aus welchen die grundsätzlichen Verständnispro-
bleme bei der Behandlung von Schadensfällen bzw. der Beurteilung der Zuverläs-
sigkeit (mikro-)elektronischer Aufbauten offensichtlich wurden. Ausgehend von
diesem konkreten Beratungsbedarf entstand die Idee, wesentliche Grundlagen die-
ses interdiziplinären Gebietes in einem Buch zusammenzufassen.
Im Mittelpunkt des Buches stehen Zuverlässigkeits- und Lebensdauerfragen in
Zusammenhang mit mikroskopisch kleinen Bauteilstrukturen, wie sie für die
Mikroelektronik und Mikrosystemtechnik typisch sind. Diesem zentralen Thema
nähert sich das Buch über eine systematische und detaillierte Darstellung des
mikrostrukturellen Aufbaus von Werkstoffen, der Werkstoffverformung sowie des
Verlaufes von Materialschädigungen, die letztlich den Ausfall von Bauteilstruktu-
ren herbeiführen. Hierbei werden besonders die Beziehungen zwischen diesen drei
Säulen der thermomechanischen Zuverlässigkeit aufgezeigt, um so zu einer ver-
ständlichen und übersichtlichen Darstellung von Ursache-Wirkung-Beziehungen
zu gelangen, welche Voraussetzung für ein rationales Verständnis der Auswirkung
der Miniaturisierung von Bauteilstrukturen ist. Eine konkrete Vorstellung des
abstrakten Begriffes der miniaturisierten Bauteilstrukturen als auch das Verständ-
nis für die Besonderheiten einer technologisch bedingten Zuverlässigkeitsproble-
matik werden dabei zunächst in einem vorangestellten Kapitel durch eine
Beschreibung des Gebietes der Aufbau- und Verbindungstechnik der Mikroelek-
tronik vermittelt. Abschließend widmet sich das Buch in mehreren Kapiteln kon-
kreten auf die Werkstoffforschung im Mikrobereich bezogenen Themen, in denen
spezielle experimentelle Untersuchungsmethoden, konkrete Versuchsergebnisse
als auch sich daraus ergebende Schlussfolgerungen bezüglich der Werkstoffmodel-
lierung und der entwicklungsbegleitenden Werkstoffuntersuchung dargestellt wer-
den. Dabei wird besonders der Werkstoffuntersuchung im Mikrobereich viel Platz
eingeräumt und an vielen konkreten Beispielen werden ihre methodischen Beson-
derheiten gegenüber der klassischen Werkstoffprüfung erläutert.
Das Buch hat das Ziel, einer breiten Gruppe von Nichtexperten (Studenten,
Doktoranden, Entwicklungsingenieure, Quereinsteiger) den Einstieg in die Proble-
matik der Schadensfälle und Zuverlässigkeit elektronischer Aufbauten zu ermögli-
chen und so viel Hintergrundwissen an Grundlagen- und Spezialkenntnissen zu
vermitteln, dass der Leser in die Lage versetzt wird, Projekte zu planen und zu lei-
ten, Fachartikel zu verstehen und ihre Ergebnisse in Bezug auf die eigenen Zuver-
lässigkeitsprobleme richtig einzuordnen.
Ein großer Teil des Buches widmet sich der Thematik der Prüfmaschinen (klas-
sisch und im Mikrobereich). Zu diesem Thema existiert kaum (klassische Werk-
VI Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1 Problematik ........................................................................................................ 1
1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten ....................................................... 1
1.2 Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus ........................ 4
1.3 Werkstoffverhalten und Miniaturisierung .................................................. 8
1.4 Verformungsverhalten von Metallen ....................................................... 10
1.4.1 Bedeutung .......................................................................................... 10
1.4.2 Verformungsverhalten ....................................................................... 12
1.5 Untersuchungsmethoden .......................................................................... 15
1.6 Ziel der Arbeit .......................................................................................... 17
2 Untersuchungsgegenstand ................................................................................ 19
2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung 19
2.2 Wesen und Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes ...................... 22
2.2.1 Begriff der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik .......... 22
2.2.2 Inhalt der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik ............ 23
2.2.3 Entwicklung der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik .. 24
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten ...................................................... 27
2.3.1 Grundkonzept und Aufbauhierarchie................................................. 27
2.3.2 Erste Verbindungsebene .................................................................... 29
2.3.3 Zweite Verbindungsebene ................................................................. 41
2.3.4 Architekturentwicklung .................................................................... 55
2.3.5 Strukturabmessungen in elektronischen Aufbauten .......................... 59
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten ............. 61
2.4.1 Ursachenherkunft .............................................................................. 61
2.4.2 Grundlegende physikalische Ursachen .............................................. 63
2.4.3 Aspekte der Architektur- und Entwicklungskonzeption .................... 65
2.4.4 Werkstoffphysikalische Seiteneffekte ............................................... 68
2.4.5 Belastungsszenarien ........................................................................... 68
Literaturverzeichnis ..............................................................................................475
Sachverzeichnis ....................................................................................................511
1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten 1
1 Problematik
Ausfälle sind ein Phänomen, welches eng mit der technischen Entwicklung ver-
bunden ist. Besonders bei der Einführung neuer Konstruktions- und Funktionsprin-
zipien oder bei Werkstoffsubstitutionen zur Gewichtseinsparung und Kostensen-
kung kommt es gehäuft zum Versagen bestimmter technischer Strukturen. In der
Geschichte der Technik wurden diese Ausfallprobleme sehr oft durch eine iterative
Weiterentwicklung überwunden, welche zum einen die Anwendung neuer Prinzi-
pien oder Werkstoffe erlaubte, auf der anderen Seite jedoch einen hohen Grad der
Zuverlässigkeit einer technischen Konstruktion gewährleistete. Die Zuverlässig-
keit, d. h. die Aufrecherhaltung einer bestimmten technischen Funktion über einen
definierten Zeitraum, war und ist ein die technische Entwicklung begrenzender
Faktor. Aus diesem Grund ist die Beschäftigung mit Ausfällen und Versagen in
technischen Strukturen ein wichtiger Baustein für die Konstruktion neuartiger
technischer Anordnungen.
Auch bei der Entwicklung der modernen Elektronik, welche nach der Erfindung
des Transistors Ende der vierziger und mit der Entwicklung des Konzeptes der
integrierten Schaltkreise während der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts mitt-
lerweile in allen Bereichen der Technik und Gesellschaft Einzug gehalten hat,
spielt das Auftreten von Ausfällen eine bedeutende Rolle. Die geradezu explosi-
onsartige Entwicklung der Elektronikanwendungen wurde nur durch die ständige
Veränderung des Aufbaus mikroelektronischer Bauelemente sowie der für ihre
Herstellung notwendigen Technologien möglich. Diese Veränderungen waren ver-
bunden mit einer exponentiellen Verkleinerung der Transistorabmessungen zur
Erhöhung der Integrationsdichte, d. h. Transistoren pro Fläche, bei gleichzeitiger
Vergrößerung der Chipflächen mit dem Ziel der Erhöhung des Gesamtintegrations-
grades, d. h. Transistoren pro integriertem Schaltkreis.
Diese dynamische Entwicklung führte nicht nur im Gebiet der Halbleitertechnik
zu einem erheblichen Bedarf an der systematischen Untersuchung von Ausfällen in
den sich permanent verändernden Strukturelementen integrierter Schaltkreise, son-
dern erzeugte - wenngleich mit etwas Verzögerung - auch bei dem angrenzenden
Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik ein vergleichbares
wissenschaftlich-technisches Betätigungsfeld. Zwar war die Aufbau- und Verbin-
dungstechnik, welche sich vorrangig mit der physischen Systemintegration, d. h.
der Verbindung verschiedener spezialisierter Bauelemente (z. B. Sensoren, Spei-
cher- und Logikschaltkreise, Leistungstreiber) zu kompletten Geräten (elektroni-
schen Systemen), befasst, zunächst in der Lage, mit den von ihr entwickelten Tech-
niken zum Aufbau elektronischer Geräte integrierte Schaltkreise weiterverarbeiten
zu können, jedoch zog die dynamische Entwicklung in der Halbleitertechnik bald
eine drastische Erhöhung des Entwicklungstempos in der Aufbau- und Verbin-
2 1 Problematik
Abb. 1.1 Bilder vergleichbarer Schadensfälle in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elek-
tronik und im Anlagenbau: Metallografischer Querschliff vom Bruch in einer Flip-Chip-Lotver-
bindung (links); Bruchfläche einer zerborstenen Turbinenschaufel aus [1] (rechts)
1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten 3
Zur Durchführung von Simulationen hat sich die den verschiedenen Software-
paketen, wie ANSYS, ABAQUS oder MARC, zugrunde liegende Methode der
Finiten Elemente (FEM) als die effektivste herausgestellt (Abb. 1.2). Dadurch ist
es methodisch möglich, zielgerichtet und mit einem gut kalkulierbaren Zeitauf-
wand die zum Teil komplexen geometrischen Verhältnisse der verschiedenen Ein-
zelstrukturen in elektronischen Aufbauten nachzubilden. Weiterhin erlauben die
genannten Softwarepakete die Berücksichtigung nichtlinearer Materialeigenschaf-
ten, welche bei den in elektronischen Aufbauten verwendeten Werkstoffen elemen-
tar sind. Zur Erzielung aussagekräftiger Ergebnisse mit FEM-Simulationen sind
jedoch eine Reihe von Vorbereitungen notwendig. Diese umfassen mindestens die
Kenntnis der folgenden drei die Simulationsergebnisse bestimmenden Faktoren
[7, 8]:
• Geometrie: Die konkrete Anordnung der Einzelstrukturen mit ihren spezifi-
schen Abmaßen müssen dem Simulationsprogramm vorgegeben werden. Dabei
ist zu entscheiden, welche Details, z. B. komplizierte Geometrien von Phasen-
übergängen, entsprechend vereinfacht werden, um den Simulationsaufwand in
vernünftigen Grenzen zu halten.
• Belastung: Der Verlauf der Temperatur- bzw. der mechanischen Belastungen
(z. B. bei Biegung oder Vibration) müssen vorgegeben werden.
• Werkstoffeigenschaften: Bestimmte Materialeigenschaften müssen den darge-
stellten Einzelstrukturen zugewiesen werden. Diese umfassen in der Regel
mechanische, d. h. E-Modul, Querkontraktionszahl, Fließgrenze etc., gegebe-
nenfalls auch thermische Größen, d. h. Wärmeleitfähigkeit etc., und Koppelgrö-
ßen, wie den thermischen Ausdehnungskoeffizienten.
6 1 Problematik
Problemstellung
Design of Experiment
Materialdaten-
bestimmung
Vorverlegung
Simulationsrechnung
Verkürzung
Materialdaten-
bestimmung
Zuverlässigkeits-
kriterien erfüllt?
1.4.1 Bedeutung
1.4.2 Verformungsverhalten
e s
a) b)
t t
s e
c) d)
t t
rate bei gleicher Spannung angenommen [33]. Ursache dieser Unsicherheiten ist
neben Messabweichungen vor allem die Schwierigkeit, die vielfältigen strukturel-
len Merkmale metallischer Stoffe zu erfassen und zu beschreiben, um zwischen
verschiedenen Experimenten vergleichbare Verhältnisse zu schaffen.
Zur Beschreibung des Spannungs-Dehnungs-Zusammenhangs wird das Werk-
stoffverhalten im Zugversuch betrachtet, bei dem die Probe eine homogene einach-
sige Beanspruchung erfährt. Im Versuch soll die Probe entweder einer Dehnungs-
beanspruchung (Abb. 1.4a) oder einer Spannungsbeanspruchung (Abb. 1.4b)
ausgesetzt und die Verformungsreaktion in Form der Spannungsantwort
(Abb. 1.4c) bzw. der Dehnungsantwort (Abb. 1.4d) aufgezeichnet werden. Da die
Zeit bei niedrigen homologen Temperaturen ( T ≤ 0, 3 ⋅ Ts ) für die meisten Metalle
und Legierungen zumeist eine untergeordnete Rolle spielt, können die aus den bei-
den Versuchen für bestimmte Zeitpunkte existierenden Dehnungs-Spannungspaare
bzw. Spannungs-Dehnungswerte in einem Spannungs-Dehnungs-Diagramm auf-
getragen werden. Die sich aus den beiden Versuchen ergebenden Kurven liegen
möglicherweise wegen ihres unterschiedlichen Zeitbezuges der Dehnung bzw.
Spannung nicht ganz genau übereinander, jedoch ergibt sich in erster Näherung
eine Kurve, welche das grundsätzliche Verformungsverhalten eines Metalls oder
einer Legierung beschreibt.
14 1 Problematik
s elastisch plastisch
sF
e
Abb. 1.5 Charakteristisches Spannungs-Dehnungs-Diagramm metallischer Werkstoffe
Das Grundproblem bei der Beschreibung der Verformung von Metallen ist, dass
es eine Vielzahl von funktionalen Zusammenhängen zwischen verschiedenen die
Verformung bestimmenden Parametern gibt. Aus werkstoffphysikalischer Sicht
existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Mechanismen, welche das Verformungs-
verhalten von Metallen dominieren können, was eine einheitliche Betrachtung
1.5 Untersuchungsmethoden 15
1.5 Untersuchungsmethoden
Durch das Vorhandensein des Größeneffekts gehen die mit der Beschreibung
des Verformungs- und Schädigungsverhaltens von metallischen Werkstoffen ver-
bundenen Ziele weit über Aufgaben einer klassischen Werkstoffdatenermittlung
hinaus. Für die erfolgreiche Umsetzung einer neuen Methodik zur genauen Berech-
nung und Bewertung von Schädigungsprozessen ist daher eine umfangreichere
Betrachtung des mechanischen Werkstoffverhaltens notwendig, welche sich nicht
nur auf eine einfache Messung und Modellierung des mechanischen Verhaltens
beschränkt, sondern darüber hinaus auch die Zusammenhänge zwischen diesem
Verhalten und der Werkstoffstruktur hinterfragt und auch die Zusammenhänge
zwischen den strukturellen Werkstoffeigenschaften und den spezifischen technolo-
gischen und topografischen Besonderheiten elektronischer Aufbauten aufdeckt.
Aus dem dargestellten Bestreben eines umfassenden Verständnisses über die
Verformung und Schädigung metallischer Strukturen in elektronischen Aufbauten
als Vorausetzung wissenschaftlich begründeter Modelle und theoretischer Betrach-
tungen zur Verwirklichung neuartiger Methoden der Zuverlässigkeitsbewertung
während des Entwicklungszyklus elektronischer Baugruppen und Geräte macht
sich unter der aus materialwissenschaftlicher Sicht bedeutenden Problematik des
Größeneffektes im mechanischen Verhalten metallischer Werkstoffe eine Klärung
verschiedener Sachverhalte notwendig:
• Welche Belastungen sind für elektronische Aufbauten typisch und wie kommen
diese zustande?
• Welche geometrischen Abmessungen besitzen metallische Strukturen in elek-
tronischen Aufbauten? Werden sich diese Abmessungen in Zukunft verändern,
sodass es zu einer deutlichen Verkleinerung kommt?
• Wie wirkt sich der Herstellungsprozess und die geometrische Größe der metalli-
schen Strukturen auf ihr Werkstoffgefüge aus?
• Welche Zusammenhänge bestehen zwischen bestimmten mechanischen Eigen-
schaften und dem Gefüge metallischer Werkstoffe?
• Wirkt sich Verformung und Schädigung auf das Werkstoffgefüge aus und hat
diese Änderung des Gefüges wiederum eine Rückwirkung auf die Verfor-
mungs- und Schädigungseigenschaften eines metallischen Werkstoffs?
• Wie lässt sich das mechanische Verhalten metallischer Werkstoffe allgemein
erfassen?
• Welche Besonderheiten bestehen, wenn das mechanische Verhalten in kleinvo-
lumigen Strukturen erfasst werden soll?
Die Klärung dieser verschiedenen Sachverhalte im Sinne einer ganzheitlichen
Betrachtung soll über eine systematische Betrachtung erfolgen, welche sich aus
Einzelbetrachtungen zum Untersuchungsgegenstand, zum Aufbau der Werkstoffe,
zur Physik der Verformung, zur Phänomenologie der Verformung und Schädigung
sowie zur experimentellen Untersuchung zusammensetzt.
2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung 19
2 Untersuchungsgegenstand
Bei Beschäftigung mit der Schädigung und der Verformung von Werkstoffen
besteht das Bemühen, alle dazu notwendigen Betrachtungen nur auf einen
bestimmten Werkstoff oder eine Werkstoffklasse zu richten, ohne dabei Bezug auf
ein konkretes technisches Artefakt zu nehmen. Eine solche Methode der Betrach-
tung geht davon aus, dass die der Verformung und Schädigung zugrunde liegende
Physik für eine bestimmte Werkstoffklasse, z. B. Metalle, gleich ist und sich folg-
lich die für ein bestimmtes technisches Problem erarbeiteten Untersuchungsmetho-
den und Bewertungsverfahren auf ein anderes technisches Problem übertragen las-
sen, sofern bei diesem Werkstoffe der gleichen Klasse, d. h. Werkstoffe mit
vergleichbarem qualitativen Verhalten, eingesetzt werden.
Bei der Übertragung der an verschiedenen Problemfällen des Fahrzeug-, Anla-
gen- und Maschinenbaus entwickelten Untersuchungsmethoden und Bewertungs-
verfahren der Materialprüfung auf scheinbar vergleichbare Problemfälle der Auf-
bau- und Verbindungstechnik der Elektronik zeigten sich die Grenzen einer vom
konkreten technischen Artefakt unabhängigen Betrachtungsweise. Besonders deut-
lich wurde dies beim Versuch, das Kriechverhalten von eutektischem Zinn-Blei-
1,0
125 °C
0,8
1050 °C 125 °C
0,6
650 °C 650 °C
-55 °C
0,4
-55 °C
25 °C
0,2 25 °C
25 °C
elektrischen Schaltung nichts zu tun. Für den Lotkontakt ergeben sich im Gegen-
satz zur Turbine sehr undefinierte Belastungsbedingungen, durch die der Ausfall
hervorgerufen wird. Gleichzeitig muss die Lebensdauer der Strukturen anders
bewertet werden. Während beim Lotkontakt ein nahezu komplettes Zerreißen des
Kontaktes nicht zum Verlust der elektrischen Funktion führt (Abb. 2.2) und damit
Risslängen von bis zu 95% der Bauteilabmessungen akzeptabel sind, muss eine
Turbinenschaufel aufgrund der mit den hohen Beschleunigungen verbundenen
Kräfte schon bei geringen Schädigungsgraden ausgetauscht werden. Ein Versagen
der Struktur muss bei der Turbinenschaufel aufgrund der gewaltigen Folgeschäden
unbedingt vermieden werden, ein Versagen eines Lotkontaktes ist hingegen unkri-
tisch und führt nicht notwendigerweise auch zum elektrischen Ausfall, da sich auch
zwischen zwei aufeinanderliegenden Bruchflächen ein ausreichender Strompfad
ergeben kann.
a)
b)
Abb. 2.2 Zusammenhang zwischen elektrischem und mechanischem Ausfall. In [60] wurde die
Zuverlässigkeit verschiedener bleifreier Lote untersucht. Dabei wurden sowohl elektrische
Messungen zum Kontaktwiderstand als auch metallografische Querschliffe zur Bewertung der
mechanischen Degradation der Lotkontakte angefertigt. Die dargestellten Querschliffe dokumen-
tieren den Zustand von Lotverbindungen an Chipwiderständen (Typ 0805) auf FR4-Leiterplatten
mit NiAu-Oberflächenmetallisierung, die einer Anzahl von 2000 Temperaturwechseln von -40 °C
bis +125 °C ausgesetzt wurden. Während der mechanisch vollkommen geschädigte Lotkontakt in
Bild a) gleichzeitig auch einen elektrischen Ausfall aufweist, wurde beim äquivalent mechanisch
geschädigten Kontakt in Bild b) lediglich eine Erhöhung des Kontaktwiderstandes von
ΔR = 164 mΩ festgestellt, was in der Regel nicht zu einer Einschränkung der elektrischen
Funktion führt.
22 2 Untersuchungsgegenstand
a) b) c)
d) e) f)
SiN
Al
SiO2
TiW
TiSi2
Poly-Si
LOCOS
n+ n+ p+ p+
p-Wanne n-Wanne
p-Epitaxie
p-Substrat
möglich ist. Obwohl die kapazitiven Fähigkeiten der Verdrahtung auf dem Schalt-
kreis ausreichen würden, die Schaltungsverdrahtung vorzunehmen, muss für
bestimmte Aufgaben eine Weiterverdrahtung auf einem Verdrahtungsträger, wie
einer Leiterplatte, erfolgen. Zu diesen Aufgaben zählt z. B. die Einbindung passi-
ver Bauelemente bzw. von Bauelementen mit großen Abmessungen (Elektrolyt-
kondensatoren, Quarze, Stecker). Hierdurch ergibt sich eine Auffächerung der Ver-
drahtung auf mindestens zwei Ebenen - einer ersten (der Chipebene), welche einen
hohen Integrationsgrad zulässt, und einer zweiten (der Verdrahtungsträgerebene),
welche eine große Flexibilität bezüglich der Art der zu verdrahtenden Bauelemen-
tetypen ermöglicht.
Chip (Ebene 0)
stoffschlüssige Verbindungen
Wafer
2. Verbindungsebene
formschlüssige Verbindungen
3. Verbindungsebene
Passivierung Anschlussfläche
Dielektrika
Globale Lage
Verbindung 6
5
Semi-globale
Verbindung 4
3
Lokale
Verbindung 2
1
Kontakte
Bauelemente
Halbleiterchip
Abb. 2.6 Schematische Darstellung einer Mehrebenenverdrahtung auf der Oberfläche eines inte-
grierten Schaltkreises. Die Mehrebenenverdrahtung besteht aus übereinandergelagerten durch
Isolationsschichten getrennten Verdrahtungsebenen, welche die Verbindung der einzelnen Schalt-
elemente auf der Halbleiteroberfläche übernehmen. Höher gelegene Verdrahtungsleitungen haben
größere Abmaße als tiefer gelegene, damit sie eine höhere Stromtragfähigkeit aufweisen. Die
Mehrebenenverdrahtung wird durch eine Schicht mit Anschlussflächen zur Weiterverdrahtung
des Halbleiterbauelements in einer elektronischen Schaltung abgeschlossen.
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten 31
2.3.2.2 Drahtbondtechnik
prozess durch die Verwendung eines Lichtbogens besser beherrscht wurde, gelang
es, reproduzierbare Kugeldurchmesser herzustellen, welche Voraussetzung für die
Erzielung eines reproduzierbaren Verbindungsdruckes sind. Das zweite Problem
waren die hohen Verfahrenstemperaturen des Thermokompressionsprozesses
sowie der nachfolgenden Gehäuseverschlussprozesse. Hierdurch wurden sowohl
die Bildung der AuAl2-Phase sowie die Bildung von Kirkendalllöchern begünstigt,
welche die Verbindungsfestigkeit stark verminderten. Erst durch die Einführung
einer Ultraschallübertragung an das Bondwerkzeug und damit dem Einbringen von
senkrecht zur Kompressionsrichtung wirkenden mechanischen Schwingungsener-
gien konnten die Verfahrenstemperaturen erheblich gesenkt werden, sodass sich
die Drahtbondtechnik seit Anfang der siebziger Jahre zu einer zuverlässigen Ver-
bindungstechnik mit hohen Prozessausbeuten entwickelte [86].
Der Einsatz von Ultraschallenergie führte zu zwei Verfahrensvarianten, dem
sogenannten Ultrasonic-Verfahren (Abb. 2.7), hinter dem sich ein ultraschallunter-
stütztes Thermokompressionsverfahren verbirgt, und dem Ultraschallbonden
(Abb. 2.8), bei dem ein Keilbondwerkzeug anstelle der Bondkapillare
(vgl. Abb. 2.9) verwendet wird und das ohne thermische Unterstützung auskommt.
Als Drahtmaterialien kommen zz. Gold-, Kupfer- und Aluminiumdrähte zum
Einsatz, welche zur Eigenschaftsverbesserung auch mit Fremdstoffen dotiert sein
können. Drahtdurchmesser liegen im Bereich von 17μm ... 75μm für normale
Anschlusskontaktierung bzw. 100μm ... 625μm für Hochstromanschlüsse.
Das Thermosonic-Bonden wird üblicherweise mit Au- oder Cu-Drähten durch-
geführt, während für das Ultraschallboden in der Regel Aluminiumdrähte verwen-
det werden. Grund für diese Materialabhängigkeit der Bondverfahren ist die Tatsa-
che, dass Aluminium auf seiner Oberfläche ein dünnes, stabiles und sehr hartes
1 2
Au-Draht
Drahtzange
Bondkapillare
Elektrode
Chip Leitbahn
Substrat
3 4
1 2
Drahtzange
Bondkeil
Al-Draht
Chip Leitbahn
Substrat
3 4
Oxid bildet, welches eine zwingende Voraussetzung für den sehr komplizierten
Verbindungsvorgang beim Ultraschallschweißen zu sein scheint. Es wird dabei
davon ausgegangen [87], dass es im Randbereich des während des Bondvorgangs
stark deformierten Aluminiumdrahtes zu einer Schwingungsfortpflanzung kommt,
da die eingebrachte vertikale Kraft zum Rand hin stark abnimmt. Durch diese im
Randbereich auftretenden Schwingungen kommt es zu einer vollständigen Reini-
gung der Kontaktfläche von Oxiden und Adsorbaten, in deren Folge sich oxid- und
adsorbatfreie Metallflächen gegenüberliegen. Durch die horizontal wirkende Kraft
nähern sich beide gleichzeitig soweit an, dass es zum Verschweißen einer ringför-
migen Randfläche des Wedgebondes kommt. Bei Gold und Kupferdrähten, welche
kein stabiles und hartes Oxid auf ihrer Oberfläche ausbilden, wird durch kombi-
nierten Ultraschall und Temperatureintrag ein Verschweißen erreicht. Um den-
noch solche Drähte für den Ultraschallprozess nutzbar zu machen, besteht die
Möglichkeit, diese mit einem nm-dicken Aluminiummantel zu beschichten [88].
Für die Verbindungsbildung beim Thermosonic-Bonden wird davon ausgegan-
gen, dass es durch die plastische Verformung während des Andrückens des Drahtes
auf dessen Oberfläche zur Ausbildung von Gleitstufen kommt, welche bei Einlei-
tung einer horizontalen Ultraschallschwingung zur partiellen Aufbrechung der
Oberflächenoxid- und Adsorbatschichten führt, sodass thermisch aktivierte Inter-
diffusionsvorgänge zur Verbindungsbildung führen. Infolge dieser sehr unter-
schiedlichen thermisch-mechanischen Belastungen kommt es zu spezifischen
Gefügeänderungen im Draht (vgl. Abb. 2.10).
Im zz. üblichen Verfahrensablauf wird der zentrisch in einer Kapillare geführte
Draht beim Thermosonic-Bonden zuerst durch einen Lichtbogen aufgeschmolzen,
sodass am Drahtende eine Kugel mit dem 1,5-2,5 fachen Drahtdurchmesser ent-
steht. Diese Kugel wird dann durch einen kombinierten thermisch-mechanischen
34 2 Untersuchungsgegenstand
a) b)
c) d)
e) f)
Verformungstextur
durch
Drahtformung
Rekristallisation
während des
Kugelan-
schmelzens Verformungs-
textur durch
Wedgebonden
Verformungs-
textur durch
Ballbonden stark gestörtes
Gebiet am Heel
2.3.2.3 Flip-Chip-Technik
Anders als beim Drahtbonden erfolgt bei der Flip-Chip-Technik keine Chip-
montage vor der Anschlusskontaktierung. Stattdessen wird das Halbleiterbauele-
ment mit der aktiven Seite gegen den Verdrahtungsträger gedreht (daher die
Bezeichnung "Flip") und über Bumps - welche sich auf mindestens einem der bei-
den Fügepartner befinden - mit diesem verbunden. Über diese Anschlusskontaktie-
36 2 Untersuchungsgegenstand
rung erfolgt auch eine räumliche Fixierung des Halbleiterbauelementes, sodass der
Schritt Chipmontage entfällt.
Neben dem Fügeprozess besteht ein sehr wesentlicher Unterschied zum Draht-
bonden auch in der Notwendigkeit, die Anschlüsse des Halbleiterchips vor dem
eigentlichen Fügeprozess als lötfähige Flächen, sogenannte Bumps (Lothügel), zu
gestalten. Da die Drahtbondtechnik das für die erste Verbindungsebene derzeit
dominierende Verfahren ist, ist das Anschlussflächenlayout für Halbleiterbauele-
mente jedoch oft auf einen Drahtbondprozess ausgerichtet. Um ein Halbleiterbau-
element Flip-Chip-fähig zu machen, reicht es jedoch nicht, auf die vorhandenen
Anschlussflächen Bumps aufzubringen. Klassische Drahtbondlayouts können für
den späteren Flip-Chip-Montageprozess eine Reihe erheblicher Nachteile mit sich
bringen. Aus diesem Grund wird in einigen Fällen auf dem schon vorhandenen
Drahtbondlayout eine weitere Umverdrahtung (z.B. mit BCB) aufgebracht, um das
Halbleiterbauelement Flip-Chip-fähig zu gestalten. Ein gutes laterales Flip-Chip-
Layout ist dadurch gekennzeichnet, dass es eine regelmäßige Anordnung der
Anschlussflächen über der Chipfläche gibt, da unregelmäßige Anordnungen zu
ungleichmäßigen Druckbildern bzw. Potenzialverteilungen bei galvanischer
Abscheidung führen. Bei der Gestaltung der Öffnungen müssen ausreichende Zwi-
schenabstände gewährleistet sein, um entweder ein Überdrucken der Anschlussflä-
chen oder ein galvanisches Anwachsen von Pilzstrukturen beim Waferbumping zu
ermöglichen. Aufgrund dieser Besonderheiten beim Layout weist die Verbin-
dungsanordnung eines Flip-Chip-montierten Halbleiterbauelements keine beliebig
eng nebeneinanderstehenden Kontakte auf. In der Regel ist das Verhältnis von
Zwischenraum und Kontaktdicke in etwa gleich. Andere geometrische Einschrän-
kungen ergeben sich durch die verwendbaren Leitbahndicken sowie durch die
Gestaltung des Lotstoplackes auf organischen Verdrahtungsträgern. Leitbahndi-
cken müssen erheblich kleiner sein als die Höhe der Lotbumps, da sich ansonsten
ein zu geringer Lotspalt ergibt. Für die Gestaltung der Lotstopmaske zur Definition
der Landeplätze von Flip-Chip-Bauelementen hat sich auf organischen Verdrah-
tungsträgern ein sogenanntes Steglayout bewährt. Dadurch bekommt das Unterfül-
lungsmaterial mehr Platz zum Fließen und erhält eine gute Kopplung zum Basis-
material. Die Summe der verschiedenen geometrischen Einschränkungen führt zu
der in Abb. 2.11 dargestellten Topologie von Flip-Chip-Verbindungen.
Gegenüber der Drahtbondtechnik weist die Flip-Chip-Technik wesentliche
technische Vorteile auf, welche ihr für die zukünftige Entwicklung elektronischer
Aufbauten einen Vorzug einräumen. Zu diesen Vorteilen zählen die Möglichkeit,
höhere Anschlusszahlen realisieren zu können (wie es für den Prozessorbereich
bereits notwendig ist), ihre besseren elektrischen Eigenschaften zur Erzielung guter
HF-Eigenschaften und niedrigere erreichbare Bauhöhen sowie geringere laterale
Abmessungen, was vor allem bei kleinen tragbaren Geräten, aber auch bei Spei-
cherriegeln und Smart-Cards von Bedeutung ist.
Anders als aus den derzeit die technologische Ausrichtung bestimmenden Vor-
zügen ersichtlich, waren die Gründe, die zur Entwicklung der Flip-Chip-Technik
führten, zunächst andere. Die erste großtechnische Anwendung der Flip-Chip-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten 37
Chip Raster
DO
RM
Spalt HSpalt
Lotkontakt
Lotstop HLotstop
Leitbahn HLeitbahn
Substrat
Technik begann im Jahr 1964. Damals wurden Logikbausteine für den IBM Sys-
tem/360 gefertigt. Dafür wurden Halbleiterbauelemente in Flip-Chip-Technik auf
Al2O3-Keramik gefügt. Zu diesem Zeitpunkt erwies sich die eingeführte Flip-
Chip-Technik als wesentlich zuverlässiger als die damals bestehende manuelle
Drahtbondtechnik, welche vor allem mit Problemen wie Whiskerbildung und Pur-
purpest zu kämpfen hatte. Auch unter ökonomischen Aspekten hatte die Flip-Chip-
Technik keinen Nachteil gegenüber der Drahtbondtechnik, da der Lotbump auf-
grund seiner rein vakuumtechnischen Herstellung ein integraler Bestandteil der
hermetischen Versiegelung der Waferoberfläche durch die Glaspassivierung war
(vgl. Abb. 2.12). Die meisten über Drahtbondtechnik montierten Halbleiterbauele-
mente hatten demgegenüber sehr aufwendige hermetische Metallkappengehäuse
mit Glasdurchführungen. Zu dieser Zeit wurden selbst diskrete Transistoren und
Dioden auf keramischen Hybridträgern in Flip-Chip-Technik montiert, da hier-
durch Überschläge und Kurzschlüsse zwischen den ungeschützten Chipkanten und
freiliegenden Dickfilmanschlussflächen vermieden werden konnten. Mit den Fort-
schritten in der Drahtbondtechnik und der Einführung kostengünstiger nichtherme-
tischer organischer Gehäuse für Halbleiterbauelemente trat die Flip-Chip-Technik
immer weiter in den Hintergrund. Anwendung fand sie vor allem in Nischenpro-
dukten, wie den TC-Modulen (Thermal Conduction Module) von IBM, welche für
die Realisierung leistungsstarker Prozessoren über eine Multichiptechnik verwen-
det wurden.
Ihre Renaissance erlebte die Flip-Chip-Technik Anfang der 90er Jahre. Hierfür
waren zwei Schlüsselentwicklungen ausschlaggebend - kostengünstige Prozesse
zur Bumperzeugung und die Einführung des Unterfüllungsprozesses. Nasschemi-
sche Prozesse oder gar Siebdruck wurden für die Fertigung von Wafern lange Zeit
nicht in Betracht gezogen, da der grundsätzliche Einwand bestand, dass diese Pro-
zesse zu viele Verschmutzungen auf die Waferoberfläche bringen würden, welche
38 2 Untersuchungsgegenstand
Kurzschluss
Ni (stromlos 1,25µm)
Au (stromlos 0,25µm) Si
Cu
Lot
Lot Cu
Ni
Ni-Sn (intermetallisch)
Pb-Sn-Lot Cu
Cu-Sn (intermetallisch)
Cr+Cu
Glas Cr
Lot Glas Lot
Al-Si
Lot Lot
Cu 7µm Passivierung
WTi 50nm Ni
AlSi1
Oxid Passivierung Oxid AlSi1
Si Si
a) b)
Abb. 2.13 Vergleich: Aufbau galvanisch abgeschiedener Flip-Chip-Bumps auf a) Cu-UBM und
b) gedruckter FC-Bumps auf Ni-Au UBM
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten 39
a) b)
2.3.2.4 Trägerfilmtechnik
frei, sodass diese mit dem Halbleiterchip sowie mit einem Verdrahtungsträger ver-
bunden werden können. Zur Verbindung auf dem Halbleiterchip sind auf diesem
die Anschlusskontakte über metallische Festdepots (Au, Cu) deutlich über der Pas-
sivierungsoberfläche erhaben. Auf der Oberfläche der metallischen Festdepots
kann eine lötbare Schicht aus einer Sn-Legierung vorhanden sein. Die Kontaktie-
rung erfolgt in der Regel simultan durch Feinschweißen oder Löten. Nach der Kon-
taktierung der Halbleiterchips, welche in einem Rolle-zu-Rolle-Verfahren durch-
geführt wird, erfolgt die Herstellung der Außenverbindungen. Dazu wird der
Einzelträger aus der Trägerfolie ausgeschnitten und es werden gegebenenfalls die
äußeren Anschlussbahnen abgewinkelt. Die Außenkontakte der Leitbahnen kön-
nen über Löten oder Feinschweißen auf dem Verdrahtungsträger aufgebracht wer-
den (Abb. 2.15).
Die Entwicklung der Trägerfilmtechnik kam - wie die der Flip-Chip-Technik -
aufgrund der vielfältigen Probleme, welche mit der frühen Drahtbondtechnik ver-
bunden waren, zustande. Ziel war es, ein hochgradig automatisierbares Rolle-zu-
Rolle-Simultanbondverfahren zu entwickeln, welches aufgrund seiner Mechanisie-
rung bei in hohen Stückzahlen hergestellten Halbleiterbauelementen geringer
Anschlusszahlen zu geringeren Kosten als Drahtbonden führen würde [91]. Dieses
Ziel wurde durch die Trägerfilmtechnik bis etwa Ende der achtziger Jahre erreicht,
bis sich auch für die Montage einfacher TTL-Schaltkreise Drahtbonden als die
kostengünstigere Technik herausstellte. Der Trägerfilmtechnik kam zunächst große
Bedeutung bei der Realisierung von Workstations und Supercomputern zu, da sich
auf dem Folienmaterial sehr enge Rastermaße realisieren ließen [92]. Allerdings
einlagiger Trägerstreifen
Bump Anschlussbeinchen
Kunststoffrahmen
Chip
Außenkontakt
Innenkontakt
zweilagiger Trägerstreifen
Anschlussbeinchen
Bump Chip
Kunststoffrahmen
Bump
Anschlussbeinchen
Chip
b)
zweilagiger Trägerstreifen
Klebstoffschicht
Bump Kunststoffrahmen
Anschlussbeinchen
Chip
a)
war die Anwendung der Technik auf Anschlusszahlen von weniger als 1000
Anschlüsse beschränkt [93]. Auch bei der Einführung flächenkontaktierbarer Bau-
elemente, wie BGA und CSP, kam die Trägerfilmtechnik zur Realisierung der
ersten Verbindungsebene sehr stark zum Einsatz [94]. Allerdings weist die Flip-
Chip-Technik auf lange Sicht in diesen Anwendungen die besseren elektrischen
Eigenschaften sowie die Realisierung höchster Anschlusszahlen auf. Ihre Vorteile
wird die Trägerfilmtechnik überall dort behalten, wo ohnehin flexible Leiterplatten
als Verdrahtungsträger zum Einsatz kommen, wie z. B. bei Uhren, Druckköpfen,
Taschenrechnern, Kameras, Hörgeräten, Smart-Cards usw.usf.
Die zweite Verbindungsebene war bezüglich ihres Aussehens und der durch sie
zu übernehmenden Funktionen verschiedenen Wandlungen unterzogen. Bis in die
sechziger Jahre hinein wurden Schaltelemente über Röhren und Relais realisiert,
welche zunächst durch Drähte untereinander verbunden wurden. Diese Verdrah-
tung wurde in verschiedenen Varianten, z. B. als Mattenverdrahtung, geschriebene
Blankverdrahtung oder Wirewrapverdrahtung, ausgeführt und in einem Gestell
(bzw. Rahmen) aufgebaut, durch das die geometrische Anordnung und mechani-
sche Befestigung von Bauelementen und Drähten erfolgte [93].
Durch die Einführung der Leiterplatte Anfang der fünfziger Jahre wurde dann
eine Verdrahtungstechnik realisiert, welche die mechanische Befestigung und geo-
metrische Anordnung der Bauelemente sowie die Herstellung der elektrischen Ver-
bindungen zwischen ihnen in einer konstruktiven Einheit verband. Sie ermöglichte
die Herstellung von Schaltungsverdrahtungen mit reproduzierbaren Eigenschaften
und schuf die Grundlage für eine wirtschaftliche automatisierte Fertigung [67, 93].
Zur Bauelementemontage wurde eine Durchstecktechnik verwendet, welche den
Vorteil einer Lagesicherung des Bauelementes vor dem Anlöten hatte. Dazu waren
Löcher in die Leiterplatte eingebracht, welche später metallisiert wurden, um
Durchkontaktierungen in Zwei- und Mehrebenenleiterplatten zu realisieren. Durch
Mehrebenenleiterplatten konnten komplexere Verdrahtungen ermöglicht werden,
um den mit der Einführung integrierter Schaltkreise gestiegenen Anforderungen
nach höheren Packungsdichten gerecht zu werden. Die in den siebziger Jahren ein-
setzende zunehmende Verwendung integrierter Schaltkreise führte zur Verdrän-
gung schwerer, voluminöser Bauelemente, z. B. Relais, aus der Schaltungstechnik.
Bedingt durch die gleichzeitige Notwendigkeit, immer höhere Packungsdichten auf
einem Verdrahtungsträger zu erreichen, wurde die bisherige Durchstecktechnik in
den achtziger Jahren durch eine Oberflächenmontage- bzw. Aufsetztechnik (engl.
Surface Mount Technology = SMT) ersetzt. Die Funktion der mechanischen Fixie-
rung der Bauelemente wurde nun vollständig durch den Lotkontakt übernommen.
42 2 Untersuchungsgegenstand
a) b)
c) d)
Abb. 2.16 Evolution der zweiten Verbindungsebene:a) Durchstecktechnik (THT) auf einseitig
metallisierten Verdrahtungsträgern, b) Durchstecktechnik auf Mehrlagenverdrahtungsträgern
(Multilayer), c) Oberflächenmontagetechnik (SMT) auf Mehrlagenverdrahtungsträgern, d)
flächenhafte Anschlussmontage (Area Array) auf hochdichten Mehrlagenverdrahtungsträgern
(HDI)
Dies setzte nicht nur leichte Bauelemente voraus, sondern auch eine entsprechende
Gestaltung ihrer Anschlussflächen. Diese mussten - vor allem bei mehrpoligen
Bauelementen - über eine ausreichende Planarität und Kontaktfläche verfügen. Die
Größe der Kontaktfläche war aus zwei Gründen entscheidend. Zum einen sorgte
sie für eine ausreichende Haltekraft für das Bauelement nach dem Löten, zum
anderen erhöhten größere Flächen die Benetzungskraft während des Lötvorganges,
wodurch es zu einer nachträglichen Ausrichtung lageabweichend aufgesetzter Bau-
elemente während des Lötvorgangs kommt. Vor allem bei der Bewältigung sehr
enger Anschlussraster hatte dies sehr positive Auswirkungen bezüglich der Auf-
setzgenauigkeit von Bestückautomaten. Die vollständige Automatisierung der
Bestückung war ein weiterer wichtiger Aspekt, welcher mit der Herausbildung der
Oberflächenmontagetechnik einherging. Die automatische Bestückung war zwar
mit der Durchstecktechnik möglich, allerdings war der Prozessablauf komplizierter
und weniger produktiv.
Die weitere technische Entwicklung der integrierten Schaltkreise führte zu einer
Erhöhung der Anschlusszahlen und Schaltfrequenzen, welche durch die bisherigen
Konzepte für Bauelementeformen nicht mehr zu bewältigen waren. Aus diesem
Grund kam es Ende der achtziger und Anfang der neunziger zu zwei wichtigen
Entwicklungen bei den Bauelementeformen - den Multichipmodulen (engl. Multi-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten 43
Drahtbondverbindung
Leistungshalbleiter
Lotverbindung
Kupfer (DBC)
Keramiksubstrat (DBC)
Kupfer (DBC)
Klebstoffverbindung
Kühlkörper
Abb. 2.17 Realisierung der zweiten Verbindungsebene durch keramische Verdrahtungsträger zur
Fertigung von Baugruppen für höhere Betriebstemperaturen: Leistungshalbleiter auf DBC-
Substrat (direct bonded copper), welches auf einen Kühlkörper montiert ist
Abb. 2.18 Nischenvarianten der zweiten Verbindungsebene: Flexible Leiterplatten zur Reali-
sierung gebogener vieladriger Verbindungen auf einer Druckerpatrone und an einem Verbindungs-
stecker einer Festplatte
2.3.3.2 Verdrahtungsträger
Einebenenleiterplatte
Kupferleitbahn
Basismaterial
undurchkontaktierte Zweiebenenleiterplatte
nicht durchkontaktierte
Bohrung
durchkontaktierte Zweiebenenleiterplatte
durchkontaktierte
Bohrung
Mehrlagenleiterplatte
gefüllte Polyimidkern
Mikrovias
Hochtemperaturklebstoff
Polyimidkern
Polyimidkern
plasmageätztes Mikrovia
Standard FR-4
Leiterplattenaufbau
Standard FR-4
Leiterplattenaufbau
Umverdrahtungslagen (PERL )
über leitfähige Polymere oder Viafüllen. Einige Beispiele für Aufbauvarianten von
HDI-Leiterplatten sind in Abb. 2.20 gezeigt.
Flexible organische Verdrahtungsträger sind aus Polymerfolien aufgebaut, auf
denen sich analog zu starren organischen Verdrahtungsträgern Leiterzüge aus Kup-
fer mit entsprechenden Oberflächenbeschichtungen befinden. Typische Folienma-
terialien sind Polyester und Polyimid. Der Aufbau eines flexiblen organischen Trä-
gers ist in Abb. 2.21 gezeigt.
Organische Materialien besitzen den Nachteil, ihre mechanischen Trägereigen-
schaften bei hohen Betriebstemperaturen signifikant zu verändern. Aus diesem
Grund erweist sich für Anwendungen mit höheren Betriebstemperaturen der Ein-
satz keramischer Träger als vorteilhaft. Neben der Konstanz der mechanischen
Eigenschaften über den gesamten Temperaturbereich kommt bei diesen Trägerma-
terialien auch die Möglichkeit der Herstellung von Hybridschaltkreisen durch
Dickschichttechnik zum Tragen. Dies ermöglicht die integrierte Herstellung aller
passiven Bauelemente auf dem Trägermaterial, ohne dass störungsanfällige Löt-
oder Klebeverbindungen notwendig sind. Deshalb werden keramische Träger für
bestimmte Anwendungen, z. B. zur Realisierung hochstabiler analoger Sensoraus-
werteelektroniken, trotz ihres höheren Preises bevorzugt. Noch höheren Anforde-
rungen genügen keramische Trägermaterialien, wie bestimmte Gläser oder Sili-
zium. Auf ihnen lassen sich Dünnschichtstrukturen abscheiden, welche z. B. zur
Erzeugung von Verdrahtungsstrukturen für Hochfrequenzanwendungen geeignet
sind. Die Aufwendungen für solche Dünnschichtverdrahtungen sind jedoch so
hoch, dass sie nur als Nischenanwendungen zum Einsatz kommen. Klassische
keramische Trägermaterialien für den Bereich der Dickschichttechnik sind Alumi-
48 2 Untersuchungsgegenstand
a)
Chip Leitbahn
Lage 1
Lage 2 Durchkontaktierung
Lage 3
b) R, C, L
Abb. 2.21 Aufbaustruktur flexibler organischer Träger: a) klassischer ein- oder zweilagiger
Aufbau; b) zukünftiger funktioneller mehrlagiger Aufbau
a)
b) c)
a) b) c) d)
fenmaterial eingesetzt werden konnte, welches später zum Teil durch Alloy42
(FeNi-Legierung) ersetzt wurde. Für die Ausformung der Anschlussbeine wurden
drei verschiedene Varianten verwendet - gerade Stifte für die Durchsteckmontage
und J-Leads sowie Gull-Wings für die Oberflächenmontage. Beispiele für wichtige
Aufbauvarianten von Trägerstreifenbauformen sind in Abb. 2.23 gezeigt
Trägerstreifenbauelemente erlauben nur eine periphere Anordnung der
Anschlüsse entlang der Kanten des Bauelementes. Dieses führte durch die ständige
Erhöhung der Integrationsdichten in Halbleiterbauelementen zu Problemen bei der
Beherrschbarkeit der Anschlusszahlen. Eine Methode, die Zahl der Ein- und Aus-
gänge N p auf einem Chip abzuschätzen, welcher eine bestimmte Anzahl Gatter
N g besitzt, besteht in der folgenden als Rent’sche Regel bekannten Beziehung:
n
N p = K ⋅ Ng , (2.1)
Baustein n K
Hochleistungsrechner
Chip und Modul 0,63 1,4
Board und System 0,25 82
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten 51
wobei K und n empirische Konstanten sind, welche von der Art der Schalt-
kreise abhängen und für die Beispiele in Tabelle 2.1 gegeben sind. Dieser 1969 von
E. Rent empirisch gefundene Zusammenhang stellt eine wichtige Grundlage für
das Verständnis der Entwicklung von Ein- und Ausgangsleitungen bei Logik-
schaltkreisen dar. Da durch höhere Integration und höhere Taktfrequenzen auch die
Verlustleistung der Schaltkreise zunimmt, steigen auch die Anschlusszahlen für die
Versorgungsleitungen. Unter der Annahme, dass aus verschiedenen Gründen, wie
z. B. der Elektromigrationsfestigkeit, die Lastgrenze pro Anschluss bei 200 mA
liegt, ergibt sich folgende Beziehung für die Abschätzung der notwendigen Versor-
gungsanschlüsse N s pro Schaltkreis [97]:
Ps [ W ]
N s = 10 ⋅ --------------- , (2.2)
Vs [ V ]
X
M p = 4 §© --- – 1·¹ , (2.3)
p
2
Ma = § X
--- – 1· , (2.4)
©p ¹
CPGA PBGA
Gehäusedeckel Chip Drahtbondverbindung organische Chip Drahtbondverbindung
(Metall) (erste Verbindungsebene) Spritzgusskappe (erste Verbindungsebene)
a) b)
Chip
Passivierungsschicht
Trägerstreifen
Chip
Ring
Elastomer Anschlussbeinchen
Flex Anschlussbumps
Chip
Lotbumps
Leiterplatte
Schutzschicht
(Glas)
Widerstands-
Keramik Innere Elektrode element
(BaTiO3) (z.B. Ag/Pd; Ni/Cu)
Keramik
(Al2O3)
Anschlusselektrode
Substratelektrode Anschlusselektrode
(z.B. Ag; Cu) Substratelektrode
Nickelbarriere (Ag/Pd - min. 10µm)
Nickelbarriere
Äußere Elektrode (min. 2µm)
(z.B. Sn) Äußere Elektrode
(z.B. Sn - min. 2µm)
2.3.4 Architekturentwicklung
Material εr tan δ α
–6
[ 10 ⁄ K]
Tabelle 2.4 Prognose der minimalen Strukturabmessungen (Rastermaße) der ersten Verbin-
dungsebene [117, 118]
Drahtbonden Ball/Wedge 35 30 25 20 20
Drahtbonden Wedge/Wedge 30 25 20 20 20
TAB 35 30 20 20 20
Flip-Chip (peripher) 60 30 20 20 20
Während diese Anschlussraster für den Bereich der Drahtbondtechnik außer der
Verringerung der Drahtdurchmesser keine grundsätzlichen Änderungen nach sich
ziehen, sind für den Bereich der Flip-Chip-Technik Änderungen jenseits des Pro-
portionenschrumpfens zu erwarten. Bei Rastermaßen von 20 μm kann durch das
60 2 Untersuchungsgegenstand
starke Phasenwachstum nicht mehr von der Ausbildung eines klassischen Lotkon-
taktes ausgegangen werden. Dementsprechend werden sich auch Änderungen in
materialtechnischen Aspekten ergeben, unter denen die Verwendung von Cu-Säu-
len bzw. Federelementen [119] aus heutiger Sicht am wahrscheinlichsten erscheint.
Die zweite Gruppe bilden die Strukturbreiten in der zweiten Verbindungsebene.
Diese werden sehr stark von den auf einer Leiterplatte erreichbaren Strukturbreiten
bestimmt. Mit der Erhöhung der Anschlusszahlen werden zunehmend auch hoch-
dichte Träger zum Einsatz kommen, da dann die veränderten Kosten pro Anschluss
den Einsatz solcher teureren Verdrahtungsträger rechtfertigen. Dadurch werden
auch im Bereich Leiterplatte Rastermaße unterhalb der heute üblichen 300 μm
möglich. Die Prognosen für die Entwicklung der Rastermaße im Bereich der zwei-
ten Verbindungsebene sind in Tabelle 2.5 dargestellt. Aufgrund der sehr unter-
schiedlichen Anwendungen mit ihren verschiedenen Anforderungen an Kosten und
Leistungsfähigkeit der Bauelemente ist eine weite Spanne für die minimal zu reali-
sierenden Rastermaße bis zum Jahr 2020 vorauszusehen. Diese wird etwa von 150
μm für CSP/FBGA Bauelemente bis zu den heute bereits üblichen 500 μm für
BGA-Bauelemente reichen. Für passive Bauelementebauformen wird eine Verklei-
nerung bis auf Abmessungen von 400 μm X 200 μm vorausgesagt. Für Leitbahnen
auf Verdrahtungsträgern sind Dicken bis < 10 μm und Breiten zwischen 3 ... 5 μm
zu erwarten [120].
Tabelle 2.5 Prognose der minimalen Strukturabmessungen (Rastermaße) der zweiten Verbin-
dungsebene [117, 118]
Gehäustes Nacktchip
Halbleiter-Bauelement
Matrix
Peripher
>1,27
1,0
0,8
0,5
0,3
Raster (mm)
0,2
0,15
>2
1...2
Abb. 2.27 Momentane Rastermaße und Bauhöhen von Bauelementen in der AVT
Diagonale eines rechteckigen Querschnitts bzw. auf den Durchmesser eines runden
Querschnitts). Die maximalen Strukturabmessungen werden durch die Raster der
heute existierenden Bauelemente beschrieben, welche in Abb. 2.27 schematisch
dargestellt sind.
2.4.1 Ursachenherkunft
Al - Strangpresskörper a = 23 (ppm/K)
Abb. 2.28 Struktur eines BGA-Bauelementes auf einem Verdrahtungsträger mit Kühlungstruk-
turen unter thermisch-mechanischen Gesichtspunkten
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten 63
Neben der elektrischen Funktionalität beeinflusst der Bindungstyp und die dar-
aus resultierende Gitter- bzw. Kettenstruktur jedoch auch andere fundamentale
Werkstoffeigenschaften, wie z. B. den thermischen Ausdehnungskoeffizienten, die
thermische Leitfähigkeit oder den Elastizitätsmodul. Werden Vertreter der entspre-
chenden Materialklassen miteinander verglichen, so lässt sich erkennen, dass bei-
spielsweise viele keramische Werkstoffe einen sehr geringen, metallische Werk-
stoffe einen mittleren und polymere Werkstoffe einen sehr hohen thermischen
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten 65
a1 > a2
a1 a1 a1
a2
a2 a2
DT
Dx
M M M
x x x
Abb. 2.29 Ausbildung von Biegemomenten in Abhängigkeit von der Aufbaustruktur eines Bima-
terialverbundes
2.4.5 Belastungsszenarien
für Biegebelastungen sind Smart-Cards, welche aufgrund ihrer geringen Dicke für
die in ihnen aufgebaute Elektronik keinen steifen Rahmen bilden, sodass diese sich
jeder von außen aufgebrachten Biegung anpassen muss. Neben diesen rein mecha-
nischen Belastungen sind thermisch induzierte mechanische Verspannungen, wel-
che durch die in 2.4.1 angesprochenen Unterschiede der thermischen Ausdeh-
nungskoeffizienten zustande kommen, die vielleicht wichtigste Art der
Belastungen für elektronische Aufbauten. Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist
jeder elektronische Aufbau ständigen Temperaturänderungen ausgesetzt. Diese rei-
chen von einfachen Tag-Nacht-Schwankungen mit einem Temperaturhub von
ΔT = 20 °C bis zu komplizierten Temperaturprofilen, wie sie vor allem in Kfz-
und Avionikanwendungen vorkommen. Als Beispiel für komplexere Temperatur-
belastungen sind in Abb. 2.31 Temperaturkurven gezeigt, welche an verschiedenen
Bauelementen einer Motorsteuereinheit im Betrieb aufgenommen wurden 140. Die
Auswahl der Bauteile erfolgte anhand eines Thermografiebildes der Baugruppe,
welche zuvor an einem Motorsimulator aufgenommen wurde. Die Temperaturver-
läufe während verschiedener Fahrsituationen, von denen die Startphase, Stadtver-
kehr und Autobahn exemplarisch in Abb. 2.31 dargestellt sind, zeigen die sehr
unterschiedlichen Temperaturverläufe individueller Komponenten einer Bau-
gruppe. Wie anhand der in Abb. 2.31 gezeigten Diagramme abzulesen ist, werden
die Temperaturverläufe der einzelnen Komponenten zum einen von der Außentem-
peratur (in diesem Fall der Temperatur des Motorraums) und zum anderen durch
die Verlustleistungen der Bauelemente selbst bestimmt. Letzterer Beitrag hängt
von der konkreten Funktion des Bauelementes in der Schaltung ab, wodurch sich
keine generellen Aussagen zur Größe von Temperaturbelastungen treffen lassen.
Intensität
Schock
hohe G-Last
Millisekunden
1x ... 6x
Biegung
hohe Auslenkung
0,5 ... 3 s
2...20*103 Zyklen
Thermische Wechsel
Vibration hohes DT, a
niedrige G-Last 5 s ... 24 h, 500 ... 10000 Zyklen
0,005 ... 0,05 s
1...20*106 Zyklen
Dauer
a) b)
c) d)
Die Komplexität und Vielfalt von Erscheinungen bei der Verformung von
Werkstoffen wirft für deren Beschreibung folgendes grundsätzliche Problem auf.
Geht man über die Beschreibung grundsätzlicher Verhaltensformen, wie elasti-
sches Verhalten, Materialfließen oder Bruch, hinaus und kommt in den Bereich
sehr spezieller Verhaltensformen, so treffen diese in einigen Fällen nur für die
Beschreibung einer bestimmten Untergruppe von Werkstoffen zu, während sie für
einen Großteil industriell eingesetzter Werkstoffe entweder keine bzw. nur eine
geringe Bedeutung besitzen. Um zu verstehen, welche Gruppen von Werkstoffen
welche Formen des Verformungsverhaltens aufweisen, ist es wichtig, sie in ihrem
strukturellen Aufbau, d. h. ihrem Werkstoffgefüge, zu vergleichen. Der Schlüssel
zu einem umfassenden und vertieften Verständnis des Verformungsverhaltens der
Werkstoffe liegt in deren mikroskopischem Aufbau, d. h. dem Gefüge. Auf den
Begriff des „Gefüges“, der in der unter dem Begriff „Microstructure“ in der eng-
lischsprachigen etwas abweichend von der deutschsprachigen Literatur behandelt
wird und dem für das Verständnis des Verformungsverhaltens von Metallen beson-
dere Bedeutung zukommt, soll später detaillierter eingegangen werden. Um den
Begriff des Gefüges zunächst grob zu illustrieren, befindet sich in Abb. 3.1 und in
Abb. 3.2 eine Zusammenstellung von rasterelektronenmikroskopischen Aufnah-
men, welche das Gefüge der zweiphasigen Legierung des eutektischen SnPb-Lotes
in verschiedenen Zustandsformen zeigen.
Um den Zusammenhang zwischen der makroskopisch beobachtbaren Verfor-
mungsreaktion eines Werkstoffes und seinem Gefüge herstellen zu können, muss
eine Beschreibung der Werkstoffcharakteristik aus zwei Betrachtungswinkeln
erfolgen. Zum einen ist es notwendig, eine qualitative und quantitative Beschrei-
bung der Gefügebestandteile eines metallischen Werkstoffes vorzunehmen, wozu
die verschiedenen in der Metallografie genutzten Untersuchungsmethoden Aussa-
gen liefern. Die andere Betrachtungsrichtung besteht in den qualitativen Vorstel-
lungen sowie in den quantitativen Modellansätzen, welche den Einfluss bestimmter
Gefügemerkmale auf das mechanische Verhalten beschreiben. Diese auf wirksa-
men Elementarmechanismen der Verformung, d. h. mikrophysikalischen Einzel-
vorgängen, basierende Beschreibung des Deformationsverhaltens ergänzt und ver-
tieft die klassische phänomenologisch-werkstoffmechanische Beschreibung der
Verformungseigenschaften [141,142].
Neben der Beschreibung physikalischer Hintergründe zum besseren Verständ-
nis des phänomenologisch beobachteten Verformungsverhaltens ermöglicht die
strukturelle Beschreibung metallischer Werkstoffe auch die Zuordnung zu
bestimmten Untergruppen. Dies kann zum einen nützlich sein, da sich dadurch
72 3 Struktur metallischer Werkstoffe
Abb. 3.1 Darstellung des Gefüges der zweiphasigen Legierung des eutektischen SnPb-Lotes
durch rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen: a, b) Unterschied zwischen äußerer Gestalt
eines Werkstoffs in einer Struktur und dem Gefüge des Werkstoffs in dieser Struktur. Im Bild a)
ist ein SnPb-Flip-Chip-Lotkontakt im Sekundärelektronenkontrast aufgenommen worden,
wodurch seine Topografie deutlich zu erkennen ist (dunklere Muster auf der Oberfläche
entsprechen dabei Flussmittelrückständen). Im Abbildung b) ist der gleiche SnPb-Flip-Chip-
Lotkontakt im Rückstreuelektronenkontrast aufgenommen worden, wodurch sein zweiphasiges
Gefüge gut zu erkennen ist und gleichzeitig die im Sekundärelektronenkontrast hervorgehobenen
Unebenheiten der Oberfläche, welche durch die Flussmittelrückstände hervorgerufen wurden,
verschwinden. Die dunklen Gebiete im Rückstreuelektronenkontrast entsprechen der zinnreichen
Phase, während die hellen Gebiete der bleireichen Phase zugeordnet werden müssen. c, d) Unter-
schiede in der Gefügemorphologie eines Werkstoffes, dargestellt an Querschliffen von SnPb-Flip-
Chip-Lotkontakten nach der Erstarrung im Fügeprozess, welche im Rückstreuelektronenkontrast
aufgenommen wurden. Abbildung c) zeigt sehr bleireiche Phasen mit tendenziell globularem
Aussehen, welche sich fein verteilt in der zinnreichen Phase befinden. Im Gegensatz dazu sind in
Abbildung d) laminare Gefügestrukturen zu erkennen, welche durch bleireiche und zinnreiche
Phasen gebildet wurden.
Abb. 3.2 Darstellung des Gefüges der zweiphasigen Legierung des eutektischen SnPb-Lotes
durch rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen: Abbildung a) zeigt das Gefüge der SnPb-
Legierung im Querschliff eines SnPb-Flip-Chip-Kontaktes nach thermischer Auslagerung.
Gegenüber Abb. 3.1 c, d) sind die Gebiete der zinnreichen und bleichreichen Phase größer und in
geringerer Anzahl vorhanden (Gefügevergröberung). Gleichzeitig ist eine stärkere Zuordnung der
Phasen zu einzelnen Körnern zu beobachten, sodass die Phasengrenze oft einer Korngrenze
entspricht. Abbildung b) zeigt das feine Erstarrungsgefüge aus Abb. 3.1 c) mit herausgeätzter blei-
reicher Phase. Dadurch ist ein Eindruck zu gewinnen, wie die bleireiche in die zinnreiche Phase
eingebettet ist.
Behandlung des Verformungsverhaltens auf das begrenzen, was für die in der Auf-
bau- und Verbindungstechnik eingesetzten Werkstoffe zutreffend ist. Hierbei ist zu
beachten, dass die Auswahl der für diesen Anwendungsbereich geeigneten Werk-
stoffe nach bestimmten physikalischen Eigenschaften, wie Leitfähigkeit, Schmelz-
punkt und Verarbeitbarkeit, getroffen wurde, welche wiederum mit bestimmten
strukturellen Merkmalen korrelieren, wodurch von vornherein die Anzahl
bestimmter Klassen metallischer Werkstoffe einschränkt wird. Durch diese einge-
schränkte Auswahl an eingesetzten Materialien ergibt sich wiederum die Möglich-
keit, für diese die vielfältigen Formen der Verformung bei den zum Teil sehr kom-
plexen Beanspruchungszuständen der Werkstoffe detaillierter betrachten zu
können.
3.2.1 Strukturebenen
Werkstoffe besitzen, ausgenommen von einigen Sonderfällen wie dem für die
Herstellung von Halbleiterbauelementen verwendeten einkristallinen Silizium, in
der Regel einen mehrschichtigen Strukturaufbau. Dabei herrschen auf unterschied-
74 3 Struktur metallischer Werkstoffe
0,1 mm Korngefüge
10 µm einzelnes Korn
0,2 µm Versetzungszelle
10 nm individuelle Versetzung
0,5 nm Kristallgitter
Leerstelle Substituiertes
Fremdatom
Zwischengitter-
atom
Stufenversetzung
Kleinwinkelkorngrenzen
Großwinkelkorngrenze
Korngrenzentripel
Versetzungsquelle
Elementarzelle,
z.B. kubisch
Schraubenversetzung hoch-
Versetzungsaufstauung schmelzende
an Korngrenzen Fremdphase
inkohärente
Ausscheidungen Korngrenzen-
ausscheidungen
kohärente
Ausscheidungen
schalenförmige
Korngrenzen-
ausscheidungen
Abb. 3.4 Schematische Darstellung der Strukturebenen einer metallischen Legierung - die
Darstellung erfolgt verzerrt, um die einzelnen Strukturelemente trotz ihrer stark unterschiedlichen
Größenniveaus in einem Schema gemeinsam zu zeigen (adaptiert aus [150])
Werkstoffes ist schematisch in Abb. 3.3 und Abb. 3.4 dargestellt. Die niedrigste
strukturelle Hierarchieebene ist die Einheitszelle des Kristallgitters, in welchem
sich Metallatome aufgrund ihrer Bindungsart anordnen. Die Dimension einfacher
Elementarzellen, wie sie für Gitter reiner Metalle üblich sind, liegt bei knapp 1 nm.
Ordnen sich hingegen Atome verschiedener metallischer Elemente in einer soge-
nannten intermetallischen Phase an, so können sich kompliziertere Elementarzellen
bilden, deren Größe bis zu einigen nm betragen kann.
Innerhalb eines Gitters befinden sich Baufehler, wie Leerstellen oder Versetzun-
gen, welche den regulären Gitteraufbau abändern. Während punktförmige Baufeh-
ler, wie Leerstellen, Zwischengitter- oder Fremdatome, den Gitteraufbau nur lokal
stören, führen linienhafte Baufehler, wie Versetzungen, zu weitreichenden Abän-
derungen des Gitteraufbaus und stellen daher die nächste Ebene der strukturellen
Hierarchie dar. Versetzungen können als einzelne linienhafte Störungen oder als
eine Verknäulung ineinander verhakter Versetzungslinien, d. h. als Versetzungs-
76 3 Struktur metallischer Werkstoffe
Abb. 3.5 Morphologie mehrhphasiger Gefüge, linke Spalte (Bilder a, c, e): zinnreiche (hell) und
bleireiche Phase (dunkel) in naheutektischen SnPb-Loten; rechte Spalte (Bilder b, d, f): β-Sn-
Matrix (hell), Ag3Sn-Phasen (dunkel), Cu6Sn5-Phasen (mitteldunkel) in naheutektischen
SnAgCu-Loten
78 3 Struktur metallischer Werkstoffe
3.2.2.1 Atombindungen
Atomkern
Cl Na
vollbesetzte
Schale
Valenz-
elektronen Abgabe eines
Elekrtons
Ionenbindung
Si Me+ Me+
Si
Elektronen- Elektronengas
paar
Si
Si Me+
Me+
Atombindung Metallbindung
Die Bindung zwischen Atomen gibt zunächst keine genaue Auskunft darüber,
wie die Atome räumlich untereinander angeordnet sind. Für diese Anordnung exis-
tiert die Möglichkeit, amorphe und kristalline Strukturen auszubilden. Im Gegen-
satz zur amorphen Struktur ist ein kristalliner Aufbau durch eine bestimmte regel-
mäßige Ordnung gekennzeichnet. Metalle verfügen mit Ausnahme stark
unterkühlter Schmelzen über einen kristallinen Aufbau.
Diese regelmäßige Anordnung der Metallatome kann mit den Punkten eines
Raumgitters verglichen werden. Die Struktur der Metallgitter wird aufgrund des
richtungsunabhängigen Charakters der Metallbindung vor allem durch das Prinzip
der dichtesten Packung bestimmt. Der Hauptteil der Metalle kristallisiert dabei in
drei Gittertypen - dem kubisch-flächenzentrierten Gitter (kfz), dem kubisch-raum-
zentrierten Gitter (krz) und dem hexagonal dicht gepacktesten Gitter (hdp).
Betrachtet man die in der Aufbau- und Verbindungstechnik vorrangig verwendeten
Metalle - Cu, Al, Ni, Pb, Au, Ag, Pt - so fällt auf, dass diese im kfz-Gitter kristalli-
80 3 Struktur metallischer Werkstoffe
1/2 1/4
1/2 1/4
Sn
Abb. 3.8 Elementargitter der γ-Phase [153] und der ε-Sn3Cu-Phase des SnCu-Systems [154, 155].
Beide Phasen kommen im gleichen Konzentrationsbereich jedoch bei unterschiedlichen Tempera-
turen vor.
82 3 Struktur metallischer Werkstoffe
h-Cu6Sn5 - Phase Sn
Cu
3.2.3 Werkstoffgefüge
der Metalle höhere Strukturebenen ein, durch die unter anderem die mechanischen
Eigenschaften metallischer Werkstoffe beeinflusst werden. Frenkel [144] führte als
Erster aus, dass bei einer vom absoluten Nullpunkt verschiedenen Temperatur die
Anordnung der Atome im Kristall nicht der eines natürlichen Gitters entspricht.
Die Entropie der Mischung, welche durch die große Anzahl der möglichen Konfi-
gurationen in den Gitterstörungen, die im Kristall auftreten können, entsteht, wird
immer zu einer Verringerung in der Freien Energie führen, egal wie hoch die Bil-
dungsenergie für die Störung auch sein mag. Gitterstörungen können dabei ver-
schiedene geometrische Ausmaße annehmen. Die geringste geometrische Störung
des Idealgitters besteht in punktförmigen Defekten, wie Leerstellen, Zwischengit-
teratomen und Substitutionsatomen. Versetzungen stellen linienhafte Defekte dar.
Flächenhafte Gitterstörungen kommen durch Korngrenzen und Phasengrenzflä-
chen zustande. Der Entropiegewinn durch eine Störung verhält sich umgekehrt zur
geometrischen Ausdehnung und ist für punktförmige Defekte am größten [145].
3.2.3.2 Punktdefekte
Leerstellen: Gitterplätze, die nicht von einem Atom besetzt sind, heißen Leer-
stellen. Leerstellen sind Bestandteile der Realstruktur von Metallen im thermody-
namischen Gleichgewicht. Ihre Konzentration ist temperaturabhängig und wird als
Leerstellendichte ( c v ) bezeichnet. Für die meisten Metalle beträgt sie bei Raum-
temperatur etwa 10-12 und nimmt mit der Temperatur exponentiell zu, sodass sie
kurz vor dem Schmelzpunkt einen Wert von etwa 10-4 erreicht. Diese exponenti-
elle Zunahme der Leerstellendichte mit der Temperatur ist die wesentliche Ursache
für die Dominanz sogenannter diffusionskontrollierter Mechanismen bei hohen
3.2 Struktureller Aufbau 85
Leerstelle Zwischengitteratom
Abb. 3.10 Überblick über die verschiedenen Typen von Punktdefekten in Kristallgittern (Sche-
matische Darstellung)
ln ( c v ) ∼ – --1- (3.1)
T
-3 Au
-4
log cv
Cu
-5
Abb. 3.11 Zusammenhang zwischen Leerstellendichte und Temperatur bei Gold (Abwärtspfeil)
und Kupfer (Aufwärtspfeil), ermittelt durch Positronenannihilation bzw. Differenzielle Dilato-
metrie (in einer 1/T Darstellung), adaptiert aus [145]
bezeichnet. Die Anzahl der Fremdatome, die sich im Wirtsgitter lösen lassen, hängt
von der Temperatur und vom Größenunterschied zwischen Fremd- und Wirts-
gitteratomen ab. Unterscheiden sich die beiden Atomsorten in ihrer Größe um
weniger als 15%, so kann sich eine vollständige Mischbarkeit zwischen den Metal-
len ergeben. Grundlegend erreichen die verschiedenen Elemente des Periodensy-
stems trotz ihrer sehr unterschiedlichen Anzahl von Elementarladungen recht ähn-
liche Atomradien, da mit der steigenden Anzahl von Elektronen in der Hülle auch
die Gesamtladung steigt, wodurch es zu einer stärkeren Kontraktion kommt. Die
präzise Ableitung der Größe aus der Ordnungszahl ist schwierig, da die Elektro-
nenhülle im engeren Sinne keine scharfen Grenzen aufweist. Zwar ließe sich auf-
grund der Wellengleichung für die äußere besetzte Schale ein Radius ableiten, da
sich die Betrachtung der Lösung von Fremdatomen jedoch nicht auf ein Gas, son-
dern auf ein Gitter bezieht, ist die Entfernung zwischen zwei benachbarten Atomen
ausschlaggebend, welche wiederum sehr stark von der interatomaren Bindungs-
kraft abhängt. Tabelle 3.2 gibt einen Überblick über verschiedene Atomradien in
Bezug zum jeweiligen Bindungstyp.
Die für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik wichtigsten
Systeme mit vollständiger Mischbarkeit sind Cu-Ni, Au-Ag und Au-Cu. Systeme
mit vollständiger Mischbarkeit sind aber eher die Ausnahme. In der Regel ist die
Löslichkeit der Fremdatome im Wirtsgitter beschränkt. Im Falle begrenzter Lös-
lichkeit von Fremdatomen in einem Wirtsgitter nimmt diese in der Regel mit der
Temperatur ab. Im Sn-Pb System betragen die Löslichkeiten der Sn-Atome im Pb-
Gitter bzw. der Pb-Atome im Sn-Gitter jeweils 19,1% und 2,5% am eutektischen
3.2 Struktureller Aufbau 87
Punkt und fallen bei Raumtemperatur auf Werte von 3,8% bzw. auf eine nahezu
Unlöslichkeit von Pb-Atomen im Sn-Gitter.
Tabelle 3.2 Berechnete Radien von Atomen und Ionen ausgewählter Elemente in Abhängigkeit
vom Bindungstyp in Ångström [184]
Element Bindungstyp
Sb 2,2 1,41 1,61 (12) 2,08 (-3); 0,90 (+3); 0,62 (+5)
Versetzungen ziehen sich als linienförmiger Baufehler durch den Kristall. Tat-
sächlich sollte man jedoch von röhrenförmigen Defekten mit einem Radius von
einigen Atomabständen sprechen, welche sich durch den Kristall ziehen. Innerhalb
dieser Röhre sind die Atome zueinander verschoben, sodass sich ihre Koordinaten
von dem des perfekten Gitters deutlich unterscheiden. Außerhalb der Röhre liegt
jedoch eine perfekte Gitteranordnung vor. In der Realität gibt es jedoch keine
88 3 Struktur metallischer Werkstoffe
Versetzungskern
scharfe Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Versetzungsröhre,
sondern vielmehr einen allmählichen Übergang. Überdies muss der Querschnitt der
Röhre, welche etwas irreführend als Versetzungskern bezeichnet wird, keinen
kreisförmigen Querschnitt besitzen [161].
Versetzungen können in zwei verschiedenen Formen auftreten - als Stufenver-
setzung und als Schraubenversetzung. In Abb. 3.12 ist eine Stufenversetzung sche-
matisch dargestellt. Sie teilt den Kristall in zwei Ebenen, wobei die obere Ebene
eine Atomreihe mehr enthält als die untere. Bei Schraubenversetzungen
(Abb. 3.13)werden die Gitterebenen des Kristalls um die senkrecht zu ihnen ste-
hende Versetzungslinie wendelförmig verzerrt. Reale Versetzungen treten in der
Regel als gemischte Versetzung auf, d. h., verschiedene Abschnitte der Verset-
zungslinie treten als Stufen- und Schraubenversetzung auf. Im Allgemeinen enden
oder beginnen Versetzungen an der Oberfläche des Kristalls. Innerhalb des Kris-
talls bilden sie geschlossene Linienzüge. Versetzungen sind eine wichtige Voraus-
setzung für die leichte plastische Verformbarkeit von Metallen. Ihre Häufigkeit im
Versetzungskern
b
θ = --- , (3.2)
h
γ s = γ 0 ⋅ θ ⋅ ( A – ln ( θ ) ) , (3.3)
90 3 Struktur metallischer Werkstoffe
Drehkorngrenze Kleinwinkelkorngrenze
Grenze
Korngrenze Drehachse
Q
Symmetrie-
ebene
Korn-
grenze
Kippachse und
Achse der
Korngrenzenrotation
a) b)
Wenn ein metallischer Werkstoff aus mehreren Atomarten aufgebaut ist, kann
er mehrere Phasen aufweisen. Als Phasen werden alle gleichartigen einheitlichen
Bestandteile bezeichnet. Ausschlaggebend ist neben der Zusammensetzung auch
die Kristallstruktur. In der Regel treten in metallischen Werkstoffen verschiedene
Phasen in Form der reinen Metalle, in Form von Mischkristallen und als interme-
tallische Phasen auf. Verschiedene Phasen werden durch Phasengrenzflächen von-
einander abgegrenzt. Der Aufbau von Phasengrenzen ist komplizierter als der von
Korngrenzen, da neben Missorientierungen in der Regel auch unterschiedliche Git-
92 3 Struktur metallischer Werkstoffe
a1 semikohärente Phasengrenze
b)
a2
inkohärente Phasengrenze
a) c)
3.2.3.6 Kristallgemische
Die Mischung zwischen zwei Metallsorten durch Einbau einer Atomsorte in das
Gitter der anderen (Mischkristallbildung) ist, wie in 3.2.3.2 dargelegt, nur inner-
halb eines begrenzten Verhältnisses der Atomradien der beiden Metallsorten mög-
lich. Sind die Atomradien hingegen sehr unterschiedlich, kommt es zur Ausbildung
eines Kristallgemisches. Dieses kann entweder aus den Kristalliten der reinen
Komponenten bzw. aus Mischkristallen bestehen, wenn zwischen den beiden
3.2 Struktureller Aufbau 93
A-Kristalle
B-Kristalle
3.2.3.7 Ausscheidungen
Unter einer Ausscheidung versteht man einen Bereich, in dem die chemische
Zusammensetzung gegenüber der sie umgebenden Metallmatrix geändert ist, ohne
dass sich dabei die Kristallstruktur dieser Matrix geändert hat. Ausscheidungen
entstehen durch eine Phasenumwandlung im festen Zustand. Grund für eine Aus-
scheidungsreaktion ist zum Beispiel die Übersättigung der Metallmatrix mit
Fremdatomen, da deren Löslichkeit mit sinkender Temperatur abgenommen hat.
Die Bildung einer Ausscheidung erfolgt oft über eine Sequenz metastabiler Zwi-
schenphasen. Bei Ausscheidungsreaktionen wird in zwei Mechanismen kontinuier-
licher Entmischung unterschieden - in Keimbildung und Wachstum oder in spin-
odale Entmischung. Im ersten Prozess bilden sich durch thermische Schwankungen
an einzelnen Stellen Keime der 2. Phase, die bereits die Zusammensetzung der im
Zustandsdiagramm (vgl. 3.3.1) auftretenden Gleichgewichtsphase haben. Diese
Keime wachsen durch normale Diffusion im Konzentrationsgradienten der Verar-
mungszone. Im Fall der spinodalen Entmischung kommt es hingegen zur Zunahme
ursprünglich kleiner Konzentrationsschwankungen durch eine sogenannte „Berg-
94 3 Struktur metallischer Werkstoffe
a) b) c)
3.3 Legierungen
gehend durch die Gleichgewichte bestimmt werden, in denen die Elemente, aus
denen die Legierung aufgebaut ist, nebeneinander vorliegen, ist die Bestimmung
und Darstellung dieser Gleichgewichtsverhältnisse zur Herstellung und Nutzung
metallischer Legierungen notwendig. Diese Darstellung erfolgt in der Regel über
Zustandsschaubilder, in denen die im Gleichgewicht befindlichen Phasen in
Abhängigkeit von ihrer Konzentration und der Temperatur dargestellt sind. Aus
der Gibbs’schen Phasenregel folgt, dass in einem Zweiphasengebiet, in der z. B.
eine feste Phase mit einer Schmelze im Gleichgewicht steht, entweder die Konzen-
tration oder die Temperatur dieses Gleichgewichtes frei wählbar ist. Daraus folgt,
dass bei einer vorgegebenen Temperatur die Zusammensetzung der im Gleichge-
wicht befindlichen Phasen eindeutig gegeben ist [146]. In Abhängigkeit von der
Art der metallischen Elemente gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie sich diese
miteinander mischen können. Wird davon ausgegangen, dass alle Bestandteile der
Zweistofflegierung in der Schmelze in beliebigen Verhältnissen mischbar sind, so
ergeben sich folgende Grundtypen für die Entstehung der festen Phase: a) die
Bestandteile kristallisieren aus der Schmelze im reinen Zustand aus, b) die
Bestandsteile bilden eine kongruent schmelzende Verbindung mit einem Schmelz-
punktmaximum, c) die Bestandteile bilden eine Verbindung mit einem verdeckten
Maximum, die unter Zersetzung inkongruent schmilzt, d) die Bestandteile bilden
miteinander eine lückenlose Reihe von Mischkristallen, e) die Bestandteile bilden
begrenzte Mischkristallreihen mit einem Eutektikum, f) die Bestandteile bilden im
flüssigen Zustand Mischkristallreihen mit einem Peritektikum [147].
Für die in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik verwendeten
Lote sind vor allem die Varianten a), e) von Bedeutung, da Lote, die nicht an einem
bestimmten Punkt sofort erstarren oder aufschmelzen und einen großen Schmelz-
bereich aufweisen, eine Reihe verfahrenstechnischer Nachteile mit sich bringen
würden. Der Fall a) ist als Grenzfall zu betrachten, da in der Praxis üblicherweise
zumindest eine geringe Löslichkeit zur Bildung von Mischkristallen immer vor-
handen ist. In Zusammenhang mit der Bildung intermediärer Kristallarten, z. B.
intermetallischer Phasen, ist oft Variante c) von Interesse. Allerdings reduziert sich
das Problem in der Praxis durch den gewählten Zusammensetzungs- und Tempera-
turbereich auf eine den Varianten a), e) vergleichbare Betrachtung. Eine Ausnahme
bildet das System SnSb, welches in Variante f) erstarrt. Auch für Stoffgemische,
die nicht aufgeschmolzen werden, stellt sich die durch das Zustandsdiagramm dar-
gestellte Phasenverteilung ein. Der Zeitraum, in dem dies passiert, hängt aber von
der konkreten Aktivierung der Transportprozesse der Festkörperdiffusion ab [148].
Gewichtsprozent Silizium
2 4 6 8 10 15 20 25 30 40 50 6070 80 90
1600
1404°
1400
1200
1063°
Temperatur C°
1000
800
600
400
~31 370°
(~6)
200
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Atomprozent Silizium
tieren zwei Möglichkeiten: ein System mit völliger Mischbarkeit im flüssigen und
Unmischbarkeit im festen Zustand (= Variante a) in 3.3.1) und ein System mit völ-
liger Mischbarkeit im flüssigen und begrenzter Mischbarkeit im festen Zustand
(= Variante e) in 3.3.1). Wie schon angeführt, ist das erste ein Grenzfall des zwei-
ten. Jedoch gibt es eine Reihe von Legierungen, in welchen die Löslichkeit der
Bestandteile ineinander an der Nachweisgrenze liegt. Das System Au-Si
(Zustandsdiagramm in Abb. 3.19) ist ein typisches Beispiel für ein solches System.
Es wird zum Diebonden von Halbleiterchips auf Trägerstreifen genutzt. In diesem
Prozess wird die Rückseite des Siliziumchips auf den mit einer dünnen Gold-
schicht versehenen und auf die eutektische Temperatur von T E = 370°C aufge-
heizten Trägerstreifen gedrückt, sodass sich zwischen Si und Au eine eutektische
Legierung ausbildet. Das Gefüge dieser Legierung ist durch fein verteilte Au- und
Si-Kristallite gekennzeichnet, welche in einem Verhältnis vorliegen, aus dem sich
die eutektische Zusammensetzung aus 31 at% Au und 69 at% Si ergibt.
Das typische Beispiel für ein eutektisches System mit einer begrenzten Misch-
barkeit in der festen Phase ist SnPb (siehe Zustandsdiagramm in Abb. 3.20). Das
eutektische SnPb-Lot wurde früher als universeller Lotwerkstoff in elektronischen
Aufbauten eingesetzt. Mit dem im Jahre 2006 einsetzenden Bleiverbot kommt es
nur noch in Bereichen, wie der Kfz-Elektronik, zum Einsatz, für die bisher kein
3.3 Legierungen 97
Gewichtsprozent Blei
10 20 30 40 50 60 70 80 85 90 95
350
327°
1 2
6 5
300
250
232° 4
3
Temperatur C°
200
183° (Pb)
1,45 26,1 71
150
(Sn)
100
7 93
50
96,8
0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Sn Pb
Atomprozent Blei
diese bei Erreichen der eutektischen Temperatur T E = 183°C sofort in die beiden
Mischkristalle (Linie 1).
Hatte die Schmelze eine nichteutektische Zusammensetzung, welche allerdings
oberhalb der Zusammensetzung der Mischkristalle bei T E liegt, z. B. 42%Sn-
58%Pb (Linie 2), so fällt bei Erreichen der Liquiduslinie zunächst der entspre-
chende Mischkristall (bleireicher β -Mischkristall ), welcher die Zusammenset-
zung (Punkt 4) bei der entsprechenden Temperatur ( T ≈ 240°C ) besitzt, aus,
sodass die Schmelze bei sinkender Temperatur immer weiter an Pb verarmt, bis sie
bei der eutektischen Temperatur die eutektische Zusammensetzung erreicht. An
dieser Stelle erstarrt die Restschmelze wie die eutektischer Zusammensetzung,
d. h. wie bei Linie 1. Die Anzahl der im Gefüge der entstehenden zinnreichen α -
und β -Mischkristalle richtet sich nach der Zusammensetzung der Schmelze.
Hatte die Schmelze eine nichteutektische Zusammensetzung, welche allerdings
unterhalb der Zusammensetzung eines Mischkristalles bei T E liegt (Linie 3), z. B.
5%Sn-95%Pb, so fällt bei Erreichen der Liquiduslinie ( T ≈ 320°C ) der bleireiche
β -Mischkristall mit Zusammensetzung (Punkt 5) bei der entsprechenden Tempe-
ratur aus, sodass die Schmelze bei sinkender Temperatur immer weiter an Pb ver-
armt, bis sie bei der Solidustemperatur ( T ≈ 310°C ) für die Zusammensetzung
5%Sn-95%Pb erreicht und endgültig mit einem bleireichen β -Mischkristall bei
dieser Zusammensetzung (Punkt 6) erstarrt. Das Gefüge besteht nur aus diesem
Mischkristall, wobei sich die leichten Zusammensetzungsunterschiede bei hohen
Temperaturen sofort wieder auszugleichen beginnen, bis eine homogene
5%Sn-95%Pb-Zusammensetzung erreicht ist. Da dieser Mischkristall aufgrund der
mit der Temperatur absinkenden Löslichkeit ab einer Temperatur ( T ≈ 115°C )
übersättigt ist (Punkt 7), beginnt Sn unterhalb dieser Temperatur durch eine Aus-
scheidungsreaktion auszusegregieren. In realen Kontakten können daraufhin zwei
Dinge passieren, entweder das aussegregierende Sn wird durch der Reaktion mit
Leitbahnmetall (z. B. mit Cu oder Ni) gebunden, sodass keine Segregation zu
beobachten ist, oder es tritt im Betrieb durch Temperaturwechsel1 ein zyklisches
Lösen und Ausscheiden des Sn in bzw. aus dem Pb-reichen Mischkristall auf
[166-171].
Die dargestellten, aus dem Zustandsdiagramm entnommenen Erstarrungsreak-
tionen gelten jedoch nur für den Fall des thermodynamischen Gleichgewichts, d. h.
bei unendlich langsamer Abkühlung. Bei den schnellen Abkühlungsbedingungen,
wie sie für Lötprozesse in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik
typisch sind, wird die Entstehung jedoch von weiteren Faktoren bestimmt (vgl.
3.4.1, 3.4.2) und kann nicht direkt aus dem Zustandsdiagramm entnommen wer-
den. Der durch das Zustandsdiagramm beschriebene Fall des thermodynamischen
Gewichtsprozent Zinn
10 20 30 40 50 60 70 80 90
1600
950,6°
1400
1200
724°
11,5 19,5
1000
800
Temperatur C°
600
22,85 49,6
25 480°
400
300
200
9,35 18
100
11,8 23,7
18°
0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Ag Sn
Atomprozent Zinn
1500
1452°
Schmelze
1400
Temperatur C°
1300
Schmelze und
Mischkristalle
1200
1100
1083° Mischkristalle
1000
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Cu Ni
Atomprozent Nickel
gramm dargestellte Legierung aus Cu und Ni. Zur Verwendung als Lotwerkstoffe
eignet sich ein solches System nicht nur wegen seiner hohen Schmelztemperatur
nicht. Ein wesentlicher Nachteil besteht vor allem darin, dass anstelle eines defi-
nierten Schmelzpunkts ein großer Schmelzbereich vorhanden ist und dass das bei
der Erstarrung entstehende Gefüge Mischkristalle sehr unterschiedlicher Zusam-
mensetzung aufweist. Allerdings hat das Zustandsdiagramm Bedeutung für das
Verständnis von Diffusionsvorgängen in mehrschichtigen Leitbahnmetallisierun-
gen, in denen das System Cu-Ni häufig vorkommt.
Ein anderes Beispiel für eine beschränkte Mischbarkeit von metallischen Ele-
menten sind peritektische Systeme, wie das mit seinem Zustandsdiagramm in
Abb. 3.23 dargestellte System Sn-Sb [174]. Das System verfügt über drei peritekti-
sche Punkte. Am untersten dieser drei Punkte ( T P = 250 °C ) beträgt die Löslich-
keit von Sb im Sn-Gitter etwa 10,2 % und die von Sn im Sb-Gitter etwa 10 %. Bei
Gewichtsprozent Antimon
10 20 30 40 50 60 70 80 90
650
630,75°C
600
550
500
450
Temperatur C°
425°C
51,0 65,8 87,7
400
350
324°C 48,3
21,4
300
Sn3Sb2
6,7
10,2 250°C
250
43,6
231,96°C 9,6 242°C
(Sn) b (Sb)
200
150
100
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Sn Sb
Atomprozent Antimon
Werden mehr als zwei Komponenten miteinander vermischt, ergeben sich Pro-
bleme in der Darstellung in ebenen Diagrammen. Bei Dreistoffsystemen (Kompo-
nenten A, B, C), wie z. B. dem SnAgCu-System, kann dieser Problematik noch
über eine Hilfsdarstellung in einem gleichseitigen Dreieck entgangen werden, wel-
ches allerdings nicht gleichwertig zu den Zustandsschaubildern von Zweistoffsys-
temen ist und sich oft auch nur über das Verständnis der diesem Dreieck zugrunde
liegenden drei binären Zustandsdiagramme (A - B, B - C, A - C) vollständig
erschließen lässt. Das Dreieck ABC (Abb. 3.24) entspricht dabei einer Projektion
der gewölbten Schmelzflächen der ternären Legierung. Um die Wölbung sichtbar
zu machen, werden oft auch Temperaturisolinien in das Diagramm eingezeichnet.
Um den Weg der Erstarrung im ternären Dreieck verfolgen zu können, werden in
der Regel die sich zwischen den eutektischen Punkten (eutektische Ausgangszwei-
stofflegierungen vorausgesetzt) ergebenden Rinnen bis zum eutektischen Punkt des
Dreistoffsystems weitergeführt. Aus den ternären Zustandsdiagrammen lassen sich
die Phasenreaktionen sowie die Lage intermediärer Phasen ablesen. Qualitativ
ergeben sich in Mehrstoffsystemen bezüglich der Phasenreaktionen gegenüber
Zweistoffsystemen keine Besonderheiten, nur ihre grafische Darstellung ist kom-
plizierter.
104 3 Struktur metallischer Werkstoffe
C B
Abb. 3.24 Schematische Darstellung eines Dreistoffsystems in einem gleichseitigen Dreieck. Die
Schmelzflächen der Phasendiagramme aus Zweistoffsystemen werden auf das Dreieck projiziert.
3.4.1.1 Faktoren
den, sodass es nicht zur Einstellung eines Gleichgewichtes kommen kann. Aus die-
sem Grund wird das Aussehen des Erstarrungsgefüges - neben der Zusammenset-
zung der Legierung - vor allem von der Erstarrungsgeschwindigkeit, dem
Temperaturgradienten an der Erstarrungsfront bzw. der damit verknüpften Größe
der Abkühlungsgeschwindigkeit bestimmt. In Abhängigkeit von diesen Größen
stellen sich für eine gegebene Schmelze folgende ein Erstarrungsgefüge charakteri-
sierende Merkmale ein [185]:
a) b)
c) d)
e) f)
Abb. 3.25 Rasterelekronenmikroskopische Aufnahmen von Gefügen benachbarter Flip-Chip-
Kontakte aus SnPb37-Lot (d. h. zinnreiche (dunkel), bleireiche Phase (hell)). Gegenübergestellt
sind Querschliffe von Kontakten aus zwei verschiedenen Flip-Chip-Aufbauten (FC), welche mit
unterschiedlichen Prozessparametern hergestellt wurden. In der linke Spalte (Bilder a, c, e) sind
aus dem ersten FC-Verbund die Kontakte mit den Nummern #1, #2, #3 dargestellt. In der rechten
Spalte (Bilder b, d, f) sind aus dem zweiten FC-Verbund die Kontakte mit den Nummern #1, #3,
#7 dargestellt. Aus dem Vergleich der Gefügebilder der beiden Spalten untereinander geht hervor,
dass es entsprechend dem verwendeten Lotprofil, d.h. den Erstarrungsbedingungen, zuordenbare
Unterschiede in der Gefügeausbildung gibt. Im Gegensatz dazu geht aus dem Vergleich der Gefü-
gebilder einer Spalte hervor, dass es offensichtlich auch stochastisch wirkende und damit nicht
deterministisch an die Erstarrungsbedingungen gebundene Faktoren gibt.
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen 107
3.4.1.2 Keimbildung
Die Erstarrung einer Schmelze beginnt mit der Bildung von festen Keimen.
Durch das anschließende Wachstum dieser Keime wird die schmelzflüssige Phase
nach und nach in eine feste Phase überführt. Voraussetzung für die Bildung von
stabilen Keimen ist eine Unterkühlung ΔT u = T s – T der Schmelze, d. h., die
Schmelze muss auf eine Temperatur T unterhalb der Schmelztemperatur T s abge-
kühlt werden, bevor eine stabile Keimbildung einsetzen kann. Diese Unterkühlung
ΔT u ist notwendig, da sich die Freie-Energie-Bilanz der Keimbildung aus zwei
konkurrierenden Termen ergibt. Auf der einen Seite kommt es durch die Ausbil-
dung einer Phasengrenzfläche zur Erhöhung der Freien Energie
2
ΔF O = σ SL ⋅ 4πr , (3.4)
2 4 3
ΔF ges = σ SL ⋅ 4πr – Δf v ⋅ --- πr (3.5)
3
2σ SL 2σ SL
r * = -----------
- = -----------------
- (3.6)
Δf v α ⋅ ΔT u
3
* 16π ⋅ σ SL
ΔF ges = -----------------------------
- (3.7)
2 2
3 ⋅ α ⋅ ΔT u
durchläuft, erhält sie einen negativen Anstieg, wodurch die Bildung stabiler
Keime ermöglicht wird, da Keime nun unter Energiegewinn wachsen können. Bei
der beschriebenen homogenen Keimbildung wird davon ausgegangen, dass nur
Keim und Schmelze beteiligt sind, wodurch die Keimbildung allein von den intrin-
sischen Eigenschaften der Legierung abhängt.
In realen Schmelzen liegen in der Regel Fremdphasen vor, die am Keimbil-
dungsprozess beteiligt sind. In einem Lotkontakt sind solche Fremdphasen zum
Beispiel die Kontaktflächen, die vom schmelzflüssigen Lot benetzt werden. Aber
auch innerhalb des Lotkontaktes können beispielsweise Reste von Oxidhäuten,
welche in die Lotschmelze geraten, solche Fremdphasen bilden. Die zur Keimbil-
dung aufzuwendende Energie entspricht der der homogenen Keimbildung
(vgl. Gleichung (3.7)) zuzüglich eines Faktors, der sich aus dem
Benetzungswinkel Θ ergibt [187, 188]:
3
* * 16π ⋅ σ LS ⋅ f ( Θ )
ΔF het = ΔF hom ⋅ f ( Θ ) = ----------------------------------------
- (3.8)
2 2
3 ⋅ α ⋅ ΔT u
1 3
f ( Θ ) = --- ( 2 – 3 cos ( Θ ) + cos ( Θ ) ) , (3.9)
4
wobei sich der Benetzungswinkel Θ gemäß der in Abb. 3.26 gegebenen Defini-
tionen an einem Flüssigkeitstropfen auf einer Festkörperoberfläche aus
σ LF – σ SF
cos ( Θ ) = -----------------------
- (3.10)
σ LS
1,0
0,6
Keim (S) sLS
Q 0,4
sSF sLF
0,2
Fremdphase (F)
cos Q
*
0 § ΔF hom ·
I het = I het ⋅ exp ¨ – ---------------- ⋅ f ( Θ )¸ (3.11)
© k⋅T ¹
0
ermitteln, wobei k der Boltzmann-Konstante entspricht und I het einen vorex-
ponentiellen Faktor darstellt, der sich aus
ns ⋅ k ⋅ T ΔF
I het = ------------------- ⋅ exp § – ---------A-·
0
(3.12)
h © k ⋅ T¹
Die Art und Weise, wie die gebildeten stabilen Keime wachsen, eine gemein-
same Erstarrungsfront ausbilden, wie sich diese ausformt und somit die Morpholo-
gie des während der Erstarrung entstehenden Gefüges ausbildet, hängt wesentlich
davon ab, wie die bei der Kristallisation entstehende Wärme abgeführt wird. Für
die Abführung der Kristallisationswärme wird grundsätzlich zwischen zwei Fällen
unterschieden - dem freien (unterkühlten bzw. richtungsunabhängigen) Wachstum
und dem gezwungenen (stabförmigen oder gerichteten) Wachstum.
Im ersten Fall liegt eine unterkühlte Schmelze vor, durch welche eine Keimbil-
dung ausgelöst wird. Hierzu ist es notwendig, dass die heterogene Keimbildung an
einer Tiegelwand energetisch ungünstiger ist als eine heterogene Keimbildung mit
110 3 Struktur metallischer Werkstoffe
Wärmestrom
Erstarrungsrichtung
T
Kristall Schmelze
Ts
dT dT
dx > 0 dx > 0
z
a)
Zeit
Wärmestrom
T Erstarrungsrichtung
Kristall Schmelze
Ts
dT dT
dx = 0 dx < 0
b) z
Abb. 3.27 Morphologie der Erstarrungsfront in Abhängigkeit von der Richtung der Wärmeabfuhr
aus der Schmelze: a) gerichtete Erstarrung mit facettierter (glatter) Erstarrungsfront, b) freie
Erstarrung mit diffuser (ausgebeulter) Erstarrungsfront (adaptiert aus [190])
Partikeln innerhalb der Schmelze. Kristalle wachsen daraufhin mit einer Grenzflä-
chentemperatur oberhalb der Temperatur der sie umgebenden Schmelze. Die ent-
stehende Kristallisationswärme wird in die unterkühlte Schmelze abgeführt, was
einen negativen Temperaturgradienten an der Fest-Flüssig-Grenzfläche voraus-
setzt. Es findet kein Wärmetransport in den gebildeten Kristall statt (Abb. 3.27).
Im Fall des gezwungenen Wachstums ist der Temperaturgradient an der Fest-
Flüssig-Grenzfläche positiv. Keime bilden sich durch Kontakt mit der kälteren Tie-
gelwand oder sind bereits vorhanden. Die beim Wachstum entstehende Kristallisa-
tionswärme wird in den gebildeten Kristall abgeführt. Beim freien Wachstum
bestimmt die Unterkühlung der Schmelze die Wachstumsgeschwindigkeit und
somit die geometrischen Verhältnisse des sich ergebenden Erstarrungsgefüges. Bei
gezwungenem Wachstum bestimmt der Wärmefluss durch den sich gebildeten
Kristall die Wachstumsgeschwindigkeit, da hierdurch die Grenzflächentemperatur
(d. h. die Unterkühlung) bestimmt wird, woraus sich wiederum die geometrischen
Verhältnisse des Erstarrungsgefüges ergeben [189].
Mit den unterschiedlichen Wegen der Abführung der Kristallisationswärme sind
auch unterschiedliche Morphologien der sich ausbildenden Erstarrungsfront ver-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen 111
bunden. Wird die Wärme durch den Kristall abgeführt, besteht für ein individuelles
Atom aus der Schmelze der energetisch günstigste Ort für seine Anlagerung an die
Oberfläche des Kristalls dort, wo es möglichst viele Bindungen mit Nachbarato-
men eingehen kann. Daraus folgt, dass das Füllen von Grübchen oder offenen Kan-
ten gegenüber dem Anlagern auf einer ebenen Atomlage bevorzugt wird, sodass
beim Kristallwachstum zunächst immer eine Ebene aufgefüllt wird, bevor mit der
nächsten begonnen wird. Dadurch bleibt die Erstarrungsfront auf atomarer Ebene
immer glatt und der entstehende Kristall ist facettiert [190].
Dieses facettierte Wachstum tritt jedoch nicht mehr auf, wenn die Wärme statt
über den Kristall in die unterkühlte Schmelze abgeführt wird. Für die sich aus der
Schmelze an den Kristall anlagernden Atome ist es dann energetisch vorteilhaft,
sich in Richtung der unterkühlten Schmelze anzuordnen, weil dort die entstehende
Kristallisationswärme am besten abgeführt wird. Dadurch wird das Wachstum von
sich aus der ebenen Kristalloberfläche herauslösenden Ausbeulungen (Dendriten)
unterstützt.
Die dadurch entstehende wellige Erstarrungsfront weist jedoch verschiedene
Krümmungen auf, wodurch ihre Grenzflächenenergie nicht mehr der einer ebenen
Phasengrenzfläche entspricht. Die auf ein Mol der Schmelze bezogene freie Enth-
alpie ergibt sich aus g L = h L – T ⋅ s L , wobei h L dem Anteil der Enthalpie und
T ⋅ s L dem Anteil der Entropie entspricht. Für den Kristall ergibt sich analog mit
g S = h S – T ⋅ s S + σ ⋅ Ω m ⋅ K eine von der Krümmung1 K abhängige, auf das Mol
bezogene freie Entropie, wobei σ der spezifischen Grenzflächenenergie und Ω m
dem mittleren Molvolumen entspricht. Im thermodynamischen Gleichgewicht sind
die partiellen freien molaren Enthalpien von Kristall und Schmelze gleich
g L ( T∗ ) = g S ( T∗ ) , wobei T∗ der lokalen Schmelztemperatur an der gekrümmten
Phasengrenzfläche entspricht. Durch Einsetzen der einzelnen Beziehungen inein-
ander ergibt sich:
Δh σ ⋅ Ωm ⋅ K
T∗ = ---------m- – -----------------------
- , (3.13)
Δs m Δs m
σ ⋅ Ωm
T∗ = T s – ---------------- ⋅ K (3.14)
Δs m
1. Da sich Krümmung auf eine Fläche im Raum bezieht, wird sie im allgemeineren Fall über die
beiden Hauptkrümmungsradien R 1, R 2 ausgedrückt: K = 1 ⁄ R 1 + 1 ⁄ R 2 , wobei beide Radien
ortsabhängig sein können [191].
112 3 Struktur metallischer Werkstoffe
ΔT T∗ – T
------- = -----------------s = – Γ ⋅ K (3.15)
Ts Ts
ausdrücken. Aus Gleichung (3.15) geht hervor, dass die lokale Schmelztempera-
tur umso stärker abgesenkt wird, je größer die Krümmung1 der Phasengrenzfläche
ist [191]. Durch diese Erniedrigung des Schmelzpunktes an den Spitzen der aus der
ebenen Phasengrenzfläche heraustretenden Dendriten wird deren weiteres Wachs-
tum verzögert. Hierdurch entsteht eine sogenannte diffuse Morphologie der Erstar-
rungsfront, welche regelmäßige Ausbuchtungen besitzt, die eine von dem Grad der
Unterkühlung abhängige Geometrie besitzen.
In Abb. 3.28 ist schematisch das Temperatur-Zeit-Profil für die Erstarrung einer
unterkühlten Schmelze dargestellt. Diese Darstellung nimmt insofern eine Verein-
fachung des Sachverhaltes vor, als dass in der Schmelze ein sich zeitlich verän-
derndes Temperaturfeld vorliegt, dessen Verlauf sehr stark von den Randbedingun-
gen, z. B. dem Volumen, d. h. der räumlichen Ausdehnung der Schmelze, abhängig
ist. Wird jedoch angenommen, dass an einem bestimmten Punkt der Schmelze ein
idealer Temperaturaufnehmer eingelassen wird, der dadurch gekennzeichnet ist,
dass er weder eine räumliche Ausdehnung besitzt und auch das Temperaturfeld der
Schmelze nicht beeinflusst, so ließe sich an diesem Temperatursensor der in
Abb. 3.28 schematisch dargestellte Temperatur-Zeit-Verlauf aufnehmen.
Aus diesem Verlauf lässt sich erkennen, dass der Prozess der Erstarrung mit
Wärmeabführung in die unterkühlte Schmelze in der Regel zweistufig erfolgt. In
der ersten Phase (Wiedererwärmungsphase bzw. Rekaleszenz, engl. recalescence)
erstarrt die Probe zunächst dendritisch. Infolge dieses schnellen Erstarrungsprozes-
ses wird jedoch ein nicht unbeträchtlicher Betrag an Kristallisationswärme in die
Schmelze freigesetzt. Hierdurch kommt es zu einer Wiedererwärmung der
Schmelze, bis die Schmelztemperatur T s erreicht wird, wodurch weiterer dendriti-
scher Erstarrung die Triebkraft genommen wird. Die verbliebene Restschmelze
erstarrt deshalb erst allmählich in der nun folgenden zweiten Phase (Plateauphase).
Die so unter Gleichgewichtsbedingungen erstarrende Restschmelze umgibt dabei
die primär erstarrten Dendriten. Der dendritisch erstarrte Anteil nimmt mit dem
Grad der Unterkühlung ΔT u zu, wobei sich die Plateauphase verkürzt. Überschrei-
tet die Unterkühlung ΔT u die sogenannte Hypercooling-Grenze ΔT hyp , erstarrt
die Probe vollständig während der ersten Phase [190].
1. Der Begriff der Krümmung wird hierbei als absolute Krümmung und nicht als der Betrag der
Krümmung verstanden. Eine positive Krümmung erhält man dabei, wenn der Mittelpunkt eines
Kreises, der die Phasengrenzfläche nur an dem Punkt berührt, an dem die Krümmung ermittelt
werden soll, in der festen Phase liegt. Liegt der Mittelpunkt dieses Kreises hingegen im Gebiet
der Schmelze, handelt es sich um eine negative Krümmung.
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen 113
T
Wiederer-
wärmung
Plateauphase
Ts
DT DThyp
Abb. 3.28 Temperatur-Zeit-Profil für die Erstarrung einer unterkühlten Schmelze. Durch das
schnelle Dendritenwachstum wird in kurzer Zeit ein erheblicher Betrag an Kristallisationswärme
frei, welcher die Restschmelze bis zur Schmelztemperatur erwärmt. Die Restschmelze erstarrt
unter Gleichgewichtsbedingungen zwischen den Dendriten in der sich anschließenden Plateau-
phase. Der dendritisch erstarrte Anteil nimmt mit dem Grad der Unterkühlung ΔT zu. Erreicht die
Unterkühlung die sogenannte Hypercooling-Grenze ΔThyp, erstarrt die Probe vollständig dendri-
tisch [190].
rimente sehr gut die Wirkung verschiedener Abkühlbedingungen auf die Gefüge-
ausbildung zeigen, lassen sich aufgrund der nicht genau einstellbaren
Abkühlbedingungen keine genauen Schlüsse über den Zusammenhang zwischen
den für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik relevanten Abkühlge-
schwindigkeiten und Gefügeausbildung ziehen. Aus diesem Grund wurde in der
Arbeitsgruppe des Autors ein neuer experimenteller Ansatz zur Untersuchung des
Erstarrungsverhaltens von Lotwerkstoffen erarbeitet. Dieser umfasst unterschiedli-
che Aufbauten, mit welchen sich verschiedene Erstarrungsbedingungen einstellen
lassen [197].
Ein erster Versuchsaufbau wurde entwickelt, um den generellen Zusammen-
hang zwischen Abkühlgradient ∂T ⁄ ∂t , Unterkühlung ΔT u und Gefügeausbil-
dung untersuchen zu können. Hierfür wurde ein 80 mm X 80 mm X 84 mm großer
Aluminiumblock mit Bohrungen versehen, sodass in 8 mm Standard-Reagenzglä-
sern befindliches Lot aufgeschmolzen und erstarrt werden kann (Abb. 3.30). Das
–6 3
dabei untersuchte Lotvolumen ist mit 1 ⋅ 10 m um etwa zehntausendfach größer
als durchschnittliche Lotkontakte. Dieses bewusst gewählte große Volumen dient
zum einen dazu, Keimbildungseffekte, welche durch Wechselwirkung mit der Rea-
genzglaswand entstehen, von der Erstarrung des reinen Lotwerkstoffes trennen zu
können. Wesentlich wichtiger ist es jedoch, die entstehenden Gefügemuster in
allen Größenniveaus beobachten zu können. Durch zu klein gewählte Probenvolu-
mina besteht immer die Gefahr, nur einen Teil der sich wiederholenden Muster
erkennen zu können und dadurch die mit der Erstarrung zusammenhängenden Pro-
zesse nicht vollständig verstehen zu können.
Ein wichtiges Anliegen bei der Konzeption des Experimentieraufbaus war die
Realisierung einer Abkühlvorrichtung, welche eine simultane Abkühlung mehrerer
Proben mit genau definierten Abkühlraten erlaubt. Hierdurch sollte ein Versuchs-
DT
Thermopaar 1 Thermopaar 2
Mess- Referenz-
substanz substanz
Heizer
a)
b) c)
Abb. 3.30 Vorrichtung zur gezielten Erstarrung von Lot mit verschiedenen Abkühlgradienten: a)
Gesamtansicht des Versuchsaufbaus, b) Heiz- und Kühlblock (Aluminium) für 8 in Reagenz-
gläsern befindliche Lotproben, c) Steuergerät zum gezielten Abkühlen mit konstanten Abkühlgra-
dienten [207]
programm ermöglicht werden, welches sowohl die Gefügeanalyse direkt nach der
Erstarrung als auch nach mehreren Auslagerungsschritten ermöglicht. Durch die
simultane Abkühlung mehrerer Proben wird gewährleistet, dass alle Proben den
gleichen Abkühlprozess durchlaufen haben. Die Verwendung von Reagenzgläsern
bot eine einfache Realisierung einer inerten Form zur Herstellung von Gussstücken
(Proben) mit den gewünschten Abmaßen ( ∅ = 7 mm / l = 23 mm ) .
Die Heizung des Aluminiumblockes erfolgte über Leistungswiderstände, die
Kühlung über vier 92 mm große Lüfter. Widerstände und Lüfter wurden über einen
OMRON EC5CJK Prozessregler angesteuert. Eine hochlineare Abkühlung konnte
im Temperaturbereich von 250°C bis 150°C mit Abkühlraten von 0,35 K/min bis
zu 35 K/min erreicht werden. Pro Versuch wurden jeweils 7 identische Proben
umgeschmolzen. Die Messung der Temperatur erfolgte durch ein K-Thermopaar
im Zentrum der Probe. Die Vergleichstemperatur wurde über ein Thermopaar
durch eine gleich große Referenzprobe aus Blei aufgenommen.
Um einheitliche Probenvolumina zu erhalten, wurde Stangenlot zunächst in
einem Messbecher umgeschmolzen und danach in die erhitzten Reagenzgläser
gefüllt. Die auf diese Weise erhaltenen Gussstücke wurden entnommen und so
lange abgedreht, bis alle ein einheitliches Gewicht aufwiesen. Diese bearbeiteten
Gussstücke wurden dann zur Durchführung des Versuches wieder in die Reagenz-
gläser eingeführt. Um eine vollständige Durchmischung des Lotes in den
Gussstücken, d. h. die Auflösung aller während der Vorpräparation entstandenen
Phasenbestandteile, sicherzustellen, wurde dieses zu Beginn des Experiments
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen 117
a) b)
c)
Abb. 3.31 Vorrichtung zur gerichteten Erstarrung von Lot: a) Segementheizvorrichtung (Seiten-
perspektive), b) Segementheizvorrichtung mit Reagenzglas (Draufsicht), c) Zerteilung des aus
dem Versuch erhaltenen Lotingots in 5 einzelne Segmente zur Anfertigung von Querschliffen
[207]
zunächst für 15 min auf einer Temperatur von T = 250 °C gehalten. Während
dieses Zeitraums wurden die Thermopaare in die Proben eingetaucht. Danach
erfolgte die Erstarrung gemäß dem für das Experiment angestrebten Abkühlre-
gime.
Eine zweite Versuchseinrichtung wurde aufgebaut, um die Gefügeausbildung
entlang einer sich gerichtet bewegenden Erstarrungsfront untersuchen zu können.
Sie besteht aus einem Aluminiumblock der Größe 40 mm X 40 mm X 115 mm,
welcher in 5 gleich große Segmente unterteilt ist (Abb. 3.31). Diese sind mit einem
Abstand von 0,3 mm Abstand aufeinander gesetzt und können separat beheizt wer-
den. Die Realisierung der Heizregelung erfolgte analog zum ersten Aufbau. In
allen Segmenten befindet sich eine Zentralbohrung für ein 12 mm Standard-Rea-
genzglas, welches im untersten Segment als Sackloch ausgeführt ist. Für das Expe-
riment wird das Reagenzglas bis zu einer Höhe von 95 mm mit Lot gefüllt, sodass
das letzte Segment um 5 mm über das Lot hinausragt. Zur Durchführung der Expe-
rimente wird schmelzflüssiges Lot in die ca. 250 °C heiße Apparatur gegossen.
Danach erfolgt die Abkühlung, indem zunächst das mittlere Segment, dann die bei-
den inneren und zuletzt die äußeren Segmente abgekühlt werden
In einem dritten Versuchsaufbau wurde eine Messstruktur entwickelt, um den
Erstarrungsvorgang von realen Lötstellen auf Leiterplatten untersuchen zu können
(Abb. 3.32). Die Grundidee dieses Aufbaus besteht darin, die Temperatur der Löt-
118 3 Struktur metallischer Werkstoffe
-5V
Leiterplatte
a) b)
Abb. 3.32 Messstruktur zur Untersuchung des Erstarrungsvorgangs von realen Lötstellen auf
Leiterplatten: a) Prinzip des Messaufbaus, b) Aufbau auf Leiterplatte mit Mess- und Vergleichs-
stelle [207]
Thermopaare (K-Typ)
Al2O3-Keramik
mit Vertiefungen
für Lotkugeln Datenlogger
Heizplatte
a) b)
Abb. 3.33 Messstruktur zur Untersuchung des Erstarrungsvorgangs von realen Lötstellen auf
Leiterplatten: a) Prinzip des Messaufbaus, b) Aufbau auf Leiterplatte mit Mess- und Vergleichs-
stelle aus [208]
a) b)
ab, wobei sich gleichzeitig die Größe der Ag3Sn, Cu6Sn5-Partikel in den die β-Sn-
Dendriten umgebenden Gebieten verkleinert, d. h., es entstehen eher sub-μm-große
Sphären als μm-große Nadeln (vgl. Abb. 3.35, Abb. 3.36).
Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt auch Swenson [203], welcher - ausge-
hend von dem von Moon et al. [199] im Jahr 2000 veröffentlichten Phasendia-
gramm unter Berücksichtigung weiterer in der Zwischenzeit veröffentlichter
Erkenntnisse zum Erstarrungsverhalten von SnAgCu-Loten - zu einer Interpreta-
tion des Erstarrungsvorgangs gelangt, welche die Reihenfolge der ausfallenden
Phasen gegenüber [199] dahingehend erweitert, dass auch monovariante (z.B. β-Sn
+ Ag3Sn) oder quasieutektische Phasen direkt aus der Schmelze ausfallen können.
Als weiterer wichtiger Gesichtspunkt wird in [203] eine unterdrückte β-Sn-Keim-
bildung als entscheidende Ursache für die sehr hohen Flächenanteile von β-Sn-
Dendriten gesehen, welche den Hauptanteil des Gefüges in SnAgCu-Loten ausma-
chen.
Diesen Überlegungen liegen die verhältnismäßig hohen Werte der Unterküh-
lung, welche für die homogene Keimbildung von β-Sn (ΔT = 0,37 Ts [205]) bzw.
die heterogene Keimbildung von β-Sn (ΔT = 0,05 ... 0,08 Ts [199], [201] ) ermittelt
wurden, zugrunde (durchschnittliche Werte für Unterkühlung bei heterogener
Keimbildung in Metallen liegen bei ΔT = 0,02 Ts ). Ausgehend von der Annahme
einer unterdrückten β-Sn-Keimbildung wird in [203] aus einer virtuellen Projek-
tion der im Sn-Ag-Cu-Phasendiagramm aus [199] errechneten Ag3Sn-Cu6Sn5-
Liquiduslinie die Zusammensetzung der Restschmelze unter Annahme einer spezi-
fischen Unterkühlung für die β-Sn-Keimbildung ermittelt (z. B. Sn-1,5wt%Ag-
0,25wt%Cu für ΔT = 30 K). Für die Erstarrung dieser Restschmelze wird in [203]
davon ausgegangen, dass nach einsetzender Keimbildung aufgrund der hohen
Unterkühlung die Bedingungen für ein rasches Wachstum von β-Sn-Dendriten
gegeben sind, an deren Phasengrenzfläche zur Schmelze es zu einer erheblichen
Anreicherung von Ag und Cu kommt, sodass die Ausscheidung monovarianter (β-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen 123
Sn + Ag3Sn bzw. β-Sn + Cu6Sn5) Phasen bzw. ternärer Phasen (β-Sn + Ag3Sn +
Cu6Sn5) zwischen den Dendritenarmen aufgrund konstitutioneller Unterkühlung
sehr wahrscheinlich erscheint. Aus den Experimenten an Bulk-Probekörpern geht
jedoch hervor, dass sich in diesen größeren Volumen im Gegensatz zum Erstar-
rungsgefüge kleiner Lotbälle durchaus große zusammenhängende Gebiete einer
monovarianten (β-Sn + Ag3Sn bzw. β-Sn + Cu6Sn5) bzw. ternären Phase (β-Sn +
Ag3Sn + Cu6Sn5) ergeben, welche nicht von β-Sn-Dendriten durchzogen sind.
Für die Experimente, in denen die Gefügeausbildung entlang einer vorgegebe-
nen Erstarrungsrichtung untersucht werden sollte, wurde SnAg3Cu0,5-Lot umge-
schmolzen. Zusätzlich wurden zwei weitere Proben dieser Legierung mit Zusätzen
von 0,14 % Au und 1 % Cu untersucht. In Abb. 3.37 sind die Gefüge des mittleren
Segments (Beginn der Erstarrung) und die eines äußeren Segments (Ende der
Erstarrung) gegenübergestellt. Hierbei ist zu erkennen, dass sich an der Stelle des
zuerst erstarrten Lotes ein ungeordnetes Gefügebild ergibt, während im später
erstarrtem Lot eine sehr regelmäßige Anordnung der Gefügebestandteile zu beob-
achten ist. Eine Zulegierung von 0,14 % Au bewirkte keine signifikante Änderung
des Gefügebildes. Eine Zulegierung von 1 % Cu führte zur Ausscheidung großer
plattenförmiger Cu6Sn5-Phasen sowohl im zuerst als auch im später erstarrten Lot.
Diese waren stets von β-Sn-Dendriten umgeben.
Für das vollständige Verständnis des Erstarrungsverhaltens des SnAgCu-
Systems war eine vergleichende Betrachtung des Erstarrungsvorgangs in räumlich
begrenzten Schmelzen notwendig. Aus den Untersuchungen zum Erstarrungsge-
füge an kleinstvolumigen Lotkugeln (d = 1100 μm, 590 μm, 270 μm, 130 μm)
ergeben sich Anhaltspunkte, welche Schlüsse über den Verlauf von Keimbildung
und Keimwachstum in diesen volumetrisch stark begrenzten Schmelzen zulassen.
Wie aus den lichtmikroskopischen Aufnahmen im Phasen- und Interferenzkontrast
(Abb. 3.38 - Abb. 3.40) hervorgeht, ist das Gefüge der Lotkugeln mit einem
Durchmesser von 1100 μm durch einen Kernbereich gekennzeichnet (siehe
Abb. 3.38), in welchem sich eine hohe Anzahl kleiner Körner mit einer zueinander
möglicherweise in einem Winkel von ca. 60° verteilten Orientierung (vgl. [203])
befindet. Dieser Kern ist von einem Bereich umschlossen, welcher durch wenige
große Körner einer ebenfalls um ca. 60° verschobenen Orientierung gekennzeich-
net ist. Bezogen auf die metallografische Schliffebene entspricht die Form dieser
Körner der von Tortenstücken. Wie aus den summarisch in Abb. 3.40 dargestellten
Polarisationsaufnahmen hervorgeht, ergibt sich nicht notwendigerweise die in
Abb. 3.38 gezeigte tortenähnliche Erscheinungsform des Gefüges. Sehr oft ergeben
sich kompliziertere Erscheinungsformen, die keine einheitliche Beschreibung
zulassen. Generell lassen sich jedoch zwei Phänomene erkennen. Zum einen
scheint die Größe der Kernzone mit zunehmender Abkühlgeschwindigkeit zuzu-
nehmen, zum anderen nimmt der relative Anteil der Kernzone am Gesamtgefüge
mit kleiner werdenden Kugeldurchmessern zu, sodass die Kernzone mit ihren vie-
len kleinen, definiert zueinander orientierten Körnern in Lotkugeln mit einem
Durchmesser von d = 130 μm das gesamte Gefüge ausmacht, wenngleich es auch
hier Ausnahmen gibt. Werden die Polarisationsaufnahmen zusammen mit den Auf-
124 3 Struktur metallischer Werkstoffe
Abb. 3.37 Gefügebilder von SnAg3Cu0,5 Lot mit 0,14% Au Zusatz bei gezielter gerichteter
Erstarrung vom mittleren Segment (links) zum äußeren Segment (rechts) [207].
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen 125
c)
b)
a) b) c)
d) e) f)
keit in einer genügend großen Schmelze allein aus der Unterkühlung dieser
Schmelze, da die Abmessungen der unterkühlten Schmelze gegenüber der charak-
teristischen Länge dieses Temperaturfeldes einen nahezu unendlichen Raum dar-
stellen. Werden die Abmessungen der Schmelze jedoch verkleinert, so ist der
Effekt der Erwärmung der unterkühlten Schmelze vor der Erstarrungsfront durch
die abgeführte Kristallisationswärme entsprechend größer. Infolgedessen verklei-
nert sich der Gradient des Temperaturfeldes so stark, dass kein stabiles Keim-
wachstum mehr stattfinden kann. D. h., um ein stabiles Keimwachstum zu ermögli-
chen, ist in sehr kleinen Schmelzen eine höhere Unterkühlung notwendig. Da
gleichzeitig die Keimbildungsrate mit der Unterkühlung exponentiell zunimmt,
ergibt sich ein Punkt, an dem ein Umschlag zwischen einem Erstarrungsprozess,
der durch das Wachstum weniger Keime gekennzeichnet ist, und einem Erstar-
rungsprozess, bei dem es durch eine größenbedingte hohe Unterkühlung zu einer
massiven Zunahme der Keimbildungsrate kommt, stattfindet. Ist diese Vermutung
zutreffend, so hängt die Ausbildung des Erstarrungsgefüges bei großen Schmelzen
von der Abkühlgeschwindigkeit ab, während es bei kleinen Schmelzen vor allem
durch die Abmessungen der Schmelze bestimmt wird. Folgt man den Ergebnissen
der Untersuchungen, so liegt der Umschlagpunkt zwischen großen und kleinen
Schmelzen für untereutektische SnAgCu-Legierungen sowie für SnAg-Legierun-
gen bei etwa V = 10-11 m3, was einem Kugeldurchmesser zwischen 300 ... 500 μm
entspricht. Eine Ausnahme bildet jedoch die SnAgCu-Legierung mit eutektischer
a) b)
c) d)
e) f)
Abb. 3.40 Polarisationsaufnahmen von Lotkugeln aus SnAg3,5 Lot (linke Spalte, Bilder a, c, e)
und von Lotkugeln aus SnAg3,7Cu0,8 Lot (rechte Spalte, Bilder b, d, f). Die Kugelgrößen betragen
130 μm (Bild a,b); 270 μm (Bild c,d) und 1100 μm (Bild e,f) [209].
Abb. 3.42 Mikrostruktur (SE-Kontrast) erstarrten SnPb37-Lotes (V > 10-9m3), linke Seite:
schnelle Erstarrung in Wasser; rechte Seite: normale Erstarrung an Luft [12]
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen 131
Tabelle 3.3 Unterkühlung ΔT für die Keimbildung der Komponente α bei gleichzeitiger Anwe-
senheit der Komponente β aus [211]
Pb - Sn 72 K 0,5 K
Sn - Pb 52 K > 55 K
Ag3Sn - Sn - > 50 K
Sn - Ag3Sn 35 K >42 K
Sn - Cu6Sn5 50 K > 45 K
e) Flip-Chip-Kontakt (Si auf Si) SET 950 f) Flip-Chip-Kontakt (Si auf Si)
mit N2-Kühlung gelötet (280 X) SET 950 ohne Kühlung gelötet (280 X)
ausscheidungen) aber einen ganz anderen Charakter trägt. Die im Gefüge der CSP-
und μBGA-Kontakte zu beobachtenden Bleiausscheidungen besitzen eine Kreuz-
form (bzw. eine Dendritenform), sind aber wesentlich größer als die der in Wasser
erstarrten Schmelze des Lotdrahtes. Kreuzförmige Bleiausscheidungen wurden
auch in den mit dem SET 950-Bonder gelöteten Flip-Chip-Kontakten beobachtet,
wenn diese durch das Einleiten eines kalten Gasstroms beschleunigt abgekühlt
wurden. Beim normalen Abkühlen in stehender Luft waren die Gefüge der im Flip-
Chip-Bonder SET 950 mit denen der im Reflow-Ofen gelöteten Flip-Chip-Kon-
takte vergleichbar. Aus den durchgeführten Experimenten zur Erstarrung des Zinn-
Blei-Lotes in Flip-Chip-Kontakten können keine weitreichenden Schlüsse gezogen
werden, da die Möglichkeit einer lokalen Temperaturmessung (unterhalb eines
Bondpads) auf dem verfügbaren Testchip TC1 [214] fehlte. Aus dem Vergleich
zwischen dem Gefüge eines Flip-Chip-Kontaktes mit dem von CSP-, μBGA-Kon-
takten kann abgeleitet werden, dass im Zinn-Blei-Lot der Bumps bereits hetero-
gene Keimbildner für Blei vorhanden sind. Ansonsten würden Flip-Chip-Kontakte,
welche das kleinste Volumen besitzen und damit voraussichtlich die höchste
Abkühlrate im Lot hervorrufen, nicht genauso große und genauso geformte Blei-
ausscheidungen besitzen wie die sehr viel voluminösere LSn62- Schmelze, welche
ein um den Faktor 104 größeres Volumen besitzt und dadurch wahrscheinlich sehr
viel langsamer erstarrt.
dungsverhalten des SnPb-Systems bestimmt. Der einzige Weg, die Dominanz des
nichtreziproken Keimbildungsverhaltens auf die Gefügeherausbildung zu unter-
drücken, besteht in der Erzeugung sehr hoher Unterkühlungswerte. Im betrachteten
Größenbereich sind die aufgrund geometrischer Begrenzungen erreichten unge-
zwungenen Unterkühlungen offensichtlich nicht so groß, dass eine signifikante
Veränderung der Erstarrungsreaktion auftritt, woraus sich die relative Unabhängig-
keit der Gefügeausbildung vom Schmelzvolumen erklären ließe. Ein anderer
Unterschied zwischen dem Sn-Ag-Cu-System und dem Sn-Pb-System ergibt sich
aufgrund der mit dem nichtreziproken Keimbildungsverhalten des Sn-Pb-Systems
verbundenen Entmischung der Restschmelze während des Erstarrungsprozesses.
Diese bewirkt eine relative Unabhängigkeit der Erstarrungsreaktion von der Aus-
gangszusammensetzung. Im Gegensatz dazu gibt es beim Sn-Ag-Cu-System eine
starke Abhängigkeit der Erstarrungsreaktion von der Ausgangszusammensetzung,
sodass das Erstarrungsgefüge sich qualitativ sehr stark ändern kann, wenn eine
Komponente eine gegenüber dem Eutektikum höheren Anteil an der Legierung hat.
3.5 Gefügeveränderung
3.5.1.1 Kornwachstum
R = α⋅ t (3.16)
1⁄n
R = α⋅t (3.17)
3.5.1.2 Ostwaldreifung
1 – ---- Δc β
1 · = kT ⋅ --------
Δμ p = 2 ⋅ E αβ ⋅ Ω ⋅ § ---- - (3.18)
©r r ¹ cβ
1 2
einem größeren Radius wachsen. Infolge dieses Prozesses nimmt aber gleichzeitig
auch r c zu. Die Beschreibung dieses sehr komplexen Umlösungs- und Wachs-
tumsprozesses gelang erstmalig durch die Arbeiten von Lifshitz, Slyozov [217]
und Wagner [218] (LSW-Theorie). Hierbei wurde vereinfacht angenommen, dass
die Matrix eine stark verdünnte Lösung der β -Phase in der α -Phase ist, d. h., dass
das Volumen der Ausscheidungen sehr klein ist und dass die Teilchen nur mit einer
unendlichen Matrix wechselwirken. Weiterhin wird von der Annahme ausgegan-
gen, dass die Entmischung fast beendet ist und die Übersättigung der Lösung daher
annähernd null ist. Diese Annahme beschränkt die LSW-Theorie auf die späten
Stadien der Entmischung, welche kurz nach der Erstarrung von mehrphasigen
Schmelzen nicht notwendigerweise erreicht sind. Vereinfachend wird außerdem
eine linearisierte Gibbs-Thomson-Gleichung verwendet, die die Konzentration in
der Nähe der Ausscheidungen beschreibt. Unter Verwendung dieser Näherungen
ergibt die LSW-Theorie eine Proportionalität zwischen dem mittleren Radius der
Ausscheidungen und der Zeit
2
3 3 8 ⋅ γ αβ ⋅ D ⋅ Ω ⋅ c ∞
r – r0 = ---------------------------------------------- ⋅ t = C LSW ⋅ t , (3.19)
9⋅k⋅T
r < rc
Konzentration c(r)
c(rc)
r > rc
Q
d = k ⋅ t mit k = k 0 ⋅ exp § – ----------· , (3.20)
© k ⋅ T¹
wobei d die Schichtdicke der entsprechenden Phase ist. Bei einem Mehrpha-
sensystem, wie es in der Cu / Sn-Grenzfläche vorkommt, kann es in Abhängigkeit
von der Temperatur jedoch dazu kommen, dass eine Phase unter Verbrauch der
angrenzenden Phase wächst, wodurch kompliziertere Formulierungen für das
3.5 Gefügeveränderung 139
3.5.2.1 Rekristallisation
Der Umstand, dass die während des Betriebs in elektronischen Geräten auftre-
tenden Beanspruchungen einen kombinierten thermisch-mechanischen Charakter
besitzen, führt zu spezifischen Prozessen bei der Gefügeentwicklung von Werk-
stoffen, welche zum Aufbau der entsprechenden Strukturen verarbeitet wurden.
Während durch eine reine thermische Beanspruchung vor allem Prozesse des
Wachstums intermetallischer Phasen an Grenzflächen, der Vergröberung interme-
tallischer Ausscheidungen durch Ostwaldreifung und des Kornwachstums ausge-
löst werden, kommt es bei einer kombinierten thermisch-mechanischen Beanspru-
chung zum komplexen Prozess der Rekristallisation, d. h. der Neubildung des
Gefüges im festen Zustand (ähnlich der Gefügeausbildung durch Kristallisations-
vorgänge bei Erstarrung einer Schmelze, vgl. 3.4). Obwohl Rekristallisationspro-
zesse in allen kristallinen Materialien auftreten, d. h. z. B. in natürlichen (geologi-
140 3 Struktur metallischer Werkstoffe
a) b)
c) d)
e) f)
Abb. 3.49 Schematische Darstellung des Kornwachstums infolge der Verringerung der Verset-
zungsdichte über Erholungsprozesse nach erfolgter Verformung
4 Elastische Verformung
s s
C C
sF sF
B B
A D E E
t A, D eF e
1. Belastungsprofil
A-B-D elastische Verformung
2. Belastungsprofil
A-C-E elastisch-plastische Verformung
2 3
U ( r ) = U0 + A1 ( r – r0 ) + A2 ( r – r0 ) + A3 ( r – r0 ) + … , (4.1)
Fi ( r ) = – d U(r)
-------------- (4.2)
dr
2
Fi ( r ) = –( A1 + 2 ⋅ A2 ( r – r0 ) + 3 ⋅ A3 ( r – r0 ) + … ) (4.3)
Ausgehend davon, dass die Ruhelage dadurch gekennzeichnet ist, dass die
Wechselwirkungskraft zwischen den Atomen F i ( r 0 ) = 0 ist, ergibt sich, dass für
die Beschreibung der Potenzialkurve kein lineares Glied notwendig ist: A 1 = 0 .
Vernachlässigt man bei den für die elastische Verformung üblichen kleinen Deh-
nungen, d. h. kleinen Atomverschiebungen, alle Polynomglieder höherer Ordnung,
so lässt sich das Potenzial in der Nähe der Ruhelage sehr einfach über:
4.2 Physikalischer Hintergrund der elastischen Verformung 145
2
U ( r ) = U0 + A2 ( r – r0 ) (4.4)
Fi ( r ) = –2 ⋅ A2 ( r – r0 ) (4.5)
Wird eine äußere Kraft F a auf einen Körper aufgebracht, so wirkt die bei der
dadurch hervorgerufenen Verschiebung der Atome aus ihrer Ruhelage erzeugte
innere Kraft F i dieser entgegen, sodass bei Gleichheit dieser Kräfte die Atome in
dieser Lage gehalten werden. Unter Hinzuziehung der Definitionen für die mecha-
nische Spannung und Dehnung
Fa
σ = -----
- (4.6)
A
U Abstoßung
Anziehung
Überlagerung
0
r
Fi
0
r
Fmin
0
0 r0 rD r
Abb. 4.2 Schematische Darstellung der Wechselwirkung zwischen zwei Atomen (Potenzial U,
innere Wechselwirkungskraft Fi=-dU/dr, Steifigkeit C=d2U/dr; Ruhelage: r0, Destabilisierung der
Bindung: rD) [225]
146 4 Elastische Verformung
r–r
ε el = ------------0- (4.7)
r0
erhält man in Analogie zu Gleichung (4.5) den Zusammenhang für die linear-
elastische Verformung:
σ = E 0 ⋅ ε el , (4.8)
2
σ = E 0 ⋅ ε el + E 1 ⋅ ε el , (4.9)
s
7 -2
10 Nm
Fe [111]
1000
900
800
zunehmende Dehnung
700
abnehmende Dehnung
600
500
400 Fe [100]
300
200
Cu [100]
100
Abb. 4.3 Spannungs-Dehnungs-Kurven im elastischen Bereich, adaptiert aus den in [227] veröf-
fentlichten Untersuchungen an Fe und Cu
4.3.1 Elastizitätsmodul
d. h., dass in Abhängigkeit von der Größe des E-Moduls sich der Anteil der plasti-
schen Dehnung sehr deutlich verändert.
Für die Schwierigkeiten bei der exakten Bestimmung des E-Moduls existieren
werkstoffphysikalische (vgl. 4.2.2) als auch messtechnische Gründe.
Letztere liegen vor allem darin begründet, dass eine rein elastische Verformung
nur bei einer Temperatur von T = 0 K möglich wäre. Bei von 0 K verschiedenen
Temperaturen - besonders bei Werten von T > 0, 3 ⋅ T s - kommt es im Werkstoff zu
Mechanismen der Festkörperdiffusion, welche wiederum zu Versetzungsbewegun-
gen (vgl. 5.2.1) führen, die in Kombination mit Versetzungsgleiten von der Gitter-
verformung unabhängige Beiträge zur makroskopischen Verformung leisten. Da
der Elastizitätsmodul temperaturabhängig ist (vgl. 4.3.6), macht sich grundsätzlich
eine Bestimmung bei Einsatztemperatur erforderlich.
Die messtechnischen Schwierigkeiten bei der exakten Bestimmung des E-
Moduls hängen bei den nicht auf die Bestimmung des E-Moduls spezialisierten
Versuchen, z. B. Zugversuch, Biegeversuch, Scherversuch, mit technischen
Beschränkungen bei der Probeneinspannung, der Versuchsgeschwindigkeit und
der Auflösung der Längen- oder Verschiebungsmessung zusammen. Da die Mes-
sung des elastischen Verhaltens entweder aus Stillstand oder nach einem Last-
wechsel erfolgt, kann es durch Einspanneffekte, d. h., das effektive Greifen der
Probe erfolgt erst nach einem bestimmten Lastauftrag, oder durch Probenausrich-
ten, z. B. bei folienartigen Proben, zur Messung von Verformungen kommen, wel-
che nicht durch eine Werkstoffreaktion hervorgerufen werden. Beide Effekte füh-
ren zu einer Krümmung im Nullpunkt, sodass der E-Modul erst ab einer
bestimmten Spannung ausgewertet werden kann. Die Notwendigkeit, das elasti-
sche Verhalten aus einem Nullpunkt bzw. abrupten Lastwechsel zu bestimmen,
wirft auch für die Einhaltung einer definierten Verformungsgeschwindigkeit erheb-
liche Probleme auf. Besonders bei hohen Versuchsgeschwindigkeiten, wie sie zur
Unterdrückung zeitabhängiger plastischer Verformungsanteile zu bevorzugen sind,
ist es schwierig, eine genau definierte als auch konstante Verformungsgeschwin-
digkeit, z. B. aus dem Ruhezustand, zu erreichen, sodass gut definierte Versuchs-
bedingungen erst nach einer bestimmten Anfangsdehnung erreicht werden. Daraus
folgt für die Bestimmung des E-Moduls, dass dieser in der Regel erst ab einem
geringen Verformungszustand der Probe bestimmbar ist (Abb. 4.4). Hinzu kommt,
dass das elastische Verhalten in der Regel auf einen sehr kleinen Verformungsbe-
reich beschränkt ist, sodass die Genauigkeit von Dehnungs- oder Längenmesssys-
temen nicht ausreicht, um beispielsweise leichte Krümmungen im Bereich des
elastischen Verhaltens darzustellen.
Aus den genannten Gründen werden für die E-Modul-Bestimmung speziali-
sierte Verfahren, wie die Ultraschallausbreitung, verwendet, um eine genaue
Bestimmung des Elastizitätsmoduls vornehmen zu können. Wird ein homogener,
isotroper Festkörper angenommen, so besitzt die Wellengleichung zwei Lösungen
- eine für die longitudinale Welle und eine für die transversale Welle, die den rota-
tionsfreien bzw. divergenzfreien Teil des Verschiebungsfeldes u darstellen:
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung 149
s s
Krümmung:
D(Ds/De) Obere Grenze:
De 0,5 Rm
Ds
Limit +
0
Limit -
Untere Grenze:
0,05 Rm
e e
a) b)
Abb. 4.4 Messtechnische Probleme bei Bestimmung des E-Moduls: a) Bestimmung der Grenzen
des elastischen Teils aus der Krümmung des Spannungs-Dehnungs-Astes, b) starre Festlegung der
unteren und oberen Grenze des elastischen Bereiches als Funktion der Festigkeit (Rm) [228]
2
d u E(1 – ν) E
-------- = ----------------------------------------- grad div u – ------------------------ rot rot u , (4.10)
dt
2 ρ ( 1 + ν ) ( 1 – 2ν ) 2ρ ( 1 + ν )
E(1 – ν )
cL = ----------------------------------------- (4.11)
ρ ( 1 + ν ) ( 1 – 2ν )
E -
cT = ----------------------- (4.12)
2ρ ( 1 + ν )
2l (4.13)
c = -----
Δt
2 1
ρ ⋅ c L = --- ⋅ ( C 11 + C 12 + 2C 44 ) = C L (4.14)
2
2 1
ρ ⋅ c T = --- ⋅ ( C 11 – C 12 ) = C T (4.15)
1 2
2
ρ ⋅ c T = C 44 = C T , (4.16)
2
wobei sich die Indizes T 1 und T 2 auf die Polarisationsrichtung [ 110 ] und
[ 001 ] der transversalen Schallwellen beziehen [230-232]. Wenn, wie im Fall von
polykristallinen Festkörpern, die Richtungsabhängigkeit der elastischen Konstan-
ten nicht gegeben ist, so ergibt sich der Zusammenhang zwischen der Ausbrei-
tungsgeschwindigkeit und den das elastische Verhalten eines Festkörpers beschrei-
benden Parametern Elastizitätsmodul E , Schubmodul G (vgl. 4.3.3) und
Bulkmodul K (vgl. 4.3.4) aus
2 4 4G – E
ρ ⋅ c L = K + --- ⋅ G = G ⋅ ----------------- (4.17)
3 3G – E
2
ρ ⋅ cT = G (4.18)
Abb. 4.5 Temperaturabhängigkeit des E-Moduls von SnPb37, SnAg3.5 und SnAg3,8Cu0,7 aus
[240]. Die Werte entstammen verschiedenen Messungen, die unter (1) = [237], (2, 4) = [236], (3)
= [235], (5) = [239]; 6 = [238], (7) = [237] aufgenommen wurden.
ausbreitung, vertrauen sollte. Die Beantwortung dieses Problems hängt mit der ter-
minologischen Frage nach der Bedeutung des Begriffes elastisches Verhalten bzw.
E-Modul zusammen. Aus einem streng physikalischen Blickwinkel, welcher die
elastische Verformung mit Gitterverzerrungen assoziiert, sollten für den E-Modul
nur Werte aus den spezialisierten Versuchen verwendet werden. Aus einem inge-
nieurtechnischen Blickwinkel spielt jedoch der Zusammenhang mit mikrophysika-
lischen Mechanismen eine untergeordnete Rolle, hier liegt das Augenmerk auf dem
makroskopisch beobachteten Phänomen der Verformung einer bestimmten Struk-
tur. Aus diesem Grund sind für ingenieurtechnische Betrachtungen in der Regel die
Werkstoffparameter aus den nicht spezialisierten Versuchen, wie dem Zugversuch,
maßgebend, da die elastische Verformung in der Regel als die Verformung unter-
halb eines Fließpunktes angesehen wird, auch wenn die dabei makroskopisch
beobachtete Verformung nicht ausschließlich auf Gitterverzerrungen zurückzufüh-
ren ist.
Wenn, wie in 4.2 beschrieben, Atome durch Wirken einer äußeren Spannung
aus ihrer Ruhelage im Gitter gebracht werden, hat dies auch eine Änderung des
zwischenatomaren Potenzialfeldes zur Folge. Durch diese Feldveränderung kommt
es neben dem Auseinanderziehen der Atome in Spannungsrichtung gleichzeitig zu
einem Zusammenziehen der Atome in den normal zur Spannungsrichtung verlau-
fenden Kristallrichtungen (Abb. 4.6). Dieser Effekt wird durch die Querkontrakti-
onszahl (Poisson-Zahl) ν beschrieben, welche den Zusammenhang zwischen der
152 4 Elastische Verformung
y y y
B B B
B`
A C
F A` A C C`
F F A` C`
F
x x x
D`
D D D
Dehnung in Richtung der Beanspruchung und der Kontraktion quer zur Beanspru-
chungsrichtung ausdrückt:
d0 – d l0
ν = – §© -------------- ⋅ -----·¹ (4.19)
l0 – l d0
Der Wert der Poisson-Zahl hängt stark von der Kristallstruktur und den dort
wirkenden zwischenatomaren Kräften ab. Für die meisten polykristallinen Metalle
entspricht ν ≈ 0,3 .
τ = G ⋅ γ el (4.20)
Der Schubmodul wird in der Regel aus dem Torsionsversuch bestimmt. Für
seine exakte Bestimmung treten in etwa die gleichen Probleme auf wie für die
Bestimmung des E-Moduls. E-Modul und Schubmodul hängen über die Querkon-
traktion miteinander zusammen:
E
G = ------------------ (4.21)
2 ( 1+ν )
Um die elastische Verformung für den Fall des hydrostatischen Druckes (bzw.
Zuges) zu beschreiben, wird der Bulkmodul K verwendet. Dieser Beanspruchungs-
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung 153
fall liegt dann vor, wenn alle drei Hauptspannungen gleich sind
( σ 1 = σ 2 = σ 3 = p ) und dadurch eine Kontraktion (bzw. Expansion) des Materi-
als in alle 3 Raumrichtungen erfolgt. Dann wird das elastische Materialverhalten
über
p = K ⋅ εv (4.22)
v = a0 ⋅ b0 ⋅ c0 (4.23)
v = ( a0 + Δ a ) ⋅ ( b0 + Δ b ) ⋅ ( c0 + Δ c ) = a ⋅ b ⋅ c , (4.24)
Δa Δb Δc
ergibt. Aufgrund der geringen Dehnungen ------, ------, ------ können die Glieder
a0 b0 c0
höherer Ordnung vernachlässigt werden, sodass sich ε v aus
εv = εx + εy + εz (4.26)
E
K = ------------------------ (4.27)
3 ( 1 + 2ν )
dicht gepackte Richtungen (z. B. ¢ 100 ² Ebenen). In Tabelle 4.1 sind die richtungs-
abhängigen E-Moduli verschiedener kubisch-flächenzentrierter Metalle aufgeführt.
Tabelle 4.1 Elastische Moduln bei Raumtemperatur für verschiedene Raumrichtungen, E ist der
Elastizitätsmodul eines polykristallinen Materials [241, 242]
Al 70 64 76
Au 78 43 117
Cu 121 67 192
σ xx τ xy τ xz
σ ij = τ yx σ yy τ yz (4.28)
τ zx τ zy σ zz
und dem Dehnungstensor ε ij mit den Normalanteilen ε xx, ε yy, ε zz und den Tan-
gentialanteilen γ xy = γ yx, γ xz = γ zx, γ yz = γ zy
ε xx γ xy γ xz
ε ij = γ yx ε yy γ yz (4.29)
γ zx γ zy ε zz
σ ij = c illm ⋅ ε lm (4.30)
Da σ ij und ε ij symmetrische Tensoren sind, reduziert sich die Zahl der elasti-
schen Konstanten von 81 auf 36, mit denen der Zusammenhang zwischen Span-
nungs- und Dehnungstensor über 6 lineare Gleichungen ausgedrückt werden kann:
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung 155
σ xx = C 11 ε xx + C 12 ε yy + C 13 ε zz + C 14 γ yz + C 15 γ xz + C 16 γ xy (4.31)
σ yy = C 21 ε xx + C 22 ε yy + C 23 ε zz + C 24 γ yz + C 25 γ xz + C 26 γ xy (4.32)
σ zz = C 31 ε xx + C 32 ε yy + C 33 ε zz + C 34 γ yz + C 35 γ xz + C 36 γ xy (4.33)
τ yz = C 41 ε xx + C 42 ε yy + C 43 ε zz + C 44 γ yz + C 45 γ xz + C 46 γ xy (4.34)
τ xz = C 51 ε xx + C 52 ε yy + C 53 ε zz + C 54 γ yz + C 55 γ xz + C 56 γ xy (4.35)
τ xy = C 61 ε xx + C 62 ε yy + C 63 ε zz + C 64 γ yz + C 65 γ xz + C 66 γ xy (4.36)
σ i = C ij ⋅ ε j (4.37)
Tabelle 4.2 Anzahl der elastischen Konstanten in Abhängigkeit von der Symmetrie der Elemen-
tarzelle [234]
triklinisch 1 21
monoklinisch 2/m 13
rhombisch mmm 9
rhombohedral 6/m 6
tetragonal 4 7
tetragonal 4/m 6
hexagonal 6/mmm 5
kubisch m3m 3
sphärisch (isotrop) 2
156 4 Elastische Verformung
T
E ( T ) = E ( 0K ) ⋅ § 1 - 0,5 ⋅ -----· (4.38)
© T s¹
Bei höheren Temperaturen ergibt sich jedoch oft eine nichtlineare Abhängigkeit
des E-Moduls von der Temperatur. In der Regel reicht jedoch ein quadratischer
Ansatz aus, um die Temperaturabhängigkeit des E-Moduls auch für höhere Tempe-
raturen ( T < 0,8 ⋅ T s ) zu beschreiben. Die Temperaturabhängigkeit des E-Moduls
für verschiedene Lotwerkstoffe ist in Abb. 4.5 dargestellt.
mittlerer Aufenthaltsort
0
r
T2 > 0 K
U th 0K
r 0 (0K) r 0 (T2 )
5 Plastische Verformung
5.1.1 Erscheinungsformen
oberhalb der Grenze εF liegt (C), und danach wieder auf null abgesenkt (E), so
ergibt sich in diesem für den Belastungsteilabschnitt A-C eine im Ursprung begin-
nende Gerade mit dem Anstieg E0, welche beim Erreichen des Punktes σF bzw.
εF ihren Anstieg (= Werkstoffwiderstand) verringert. Für den Belastungsteilab-
schnitt C-E ergibt sich eine in Punkt C beginnende Gerade mit dem Anstieg E0, die
rechts vom Ursprung (in Punkt E) die Abszisse schneidet. Plastische Verformung
verläuft bei Belastungssteigerungen und -absenkungen nicht auf der gleichen
Linie, d. h., sie ist irreversibel. Der Abstand zwischen Ausgangspunkt A und End-
punkt E entspricht dem Betrag der plastischen Gesamtverformung des Werk-
stoffes. An Punkten, die nicht auf der Abszisse liegen, setzt sich die Gesamtverfor-
mung des Werkstoffes sowohl aus Anteilen plastischer als auch elastischer
Verformung zusammen, wodurch es nicht möglich ist, den Betrag der reinen plasti-
schen Verformung in einem beliebigen Spannungszustand direkt zu bestimmen.
Der Verlauf der plastischen Verformung kann jedoch auch abweichend von dem in
Abb. 4.1 dargestellten Regelfall erfolgen, weshalb das Bemühen bestand, andere
Formen der Darstellung zu finden, welche geeignet sind, die Gesamtphänomenolo-
gie der plastischen Verformung adäquat wiederzugeben.
5.1.2 Verformungsmechanismenkarten
-1
10
-2
10 A
Normierte Scherspannung t/G
-3
10 10-1s -1
B
-4
10 C
-5 D
10
10-10s -1 E
-6
10
0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
Homologe Temperatur T/Ts
5.2.1 Versetzungsbewegung
t t t
A D A D
B C B C
t t t
t t
t t
steht und die Scherkräfte entlang der Ober- und Unterseite des Kristalls aufge-
bracht werden. Im spannungsfreien Zustand hat Atom A den gleichen Abstand zu
Atom B wie zu Atom C. Beim Aufbringen einer Scherspannung nähert sich Atom
A jedoch immer mehr Atom C und entfernt sich von Atom B. Im Ergebnis dieser
Bewegung findet einer Umordnung der Atome in der Nähe des Versetzungskerns
statt, sodass dieser sich nicht mehr zwischen den Atomen A, B, C befindet, son-
dern zwischen die Atome C, D, E bewegt wurde. Diese Bewegung des Verset-
zungskerns führt zunächst nicht zu einer äußerlich feststellbaren plastischen Ver-
formung des Materials. Erst wenn nach und nach weitere Umordnungen der Atome
in der Nähe des Versetzungskerns erfolgen, sodass dieser eine Materialoberfläche
erreicht, wird auch makroskopisch eine plastische Verformung sichtbar. Die Bewe-
gung von Versetzungen unter Wirkung einer Scherspannung wird als Versetzungs-
gleiten bezeichnet. Die Ebene, auf der sich der Versetzungskern bewegt, ist die
Gleitebene und die Richtung, in der die Gleitung erfolgt, entspricht der Gleitrich-
tung.
Die Bewegung einer Schraubenversetzung ist in Abb. 5.3 schematisch darge-
stellt. Der durch die Wendel einer Schraubenversetzung (vgl. 3.2.3.3) gestörte
Kristallbereich entspricht dem Mantel eines Zylinders, dessen Achse vertikal von
A nach B verläuft. Wird eine Scherkraft entlang der Ober- und Unterseite des Kris-
162 5 Plastische Verformung
A
B C
t t
D D
A
A'
B A
B
C C
t t
b
b
b
b b
Abb. 5.4 Bewegung eines Versetzungsrings unter Wirkung einer Schubspannung, gleichmäßig
(links) und ungleichmäßig
dass eine Stufenversetzung bzw. eine gemischte Versetzung diese fest vorge-
ben, da b und v nicht parallel sind. D. h., die Lage der Gleitebene ergibt sich für
die Stufenversetzung aus
b×v
n = -------------- (5.2)
b×v
164 5 Plastische Verformung
Nur für den Fall einer reinen Schraubenversetzung, bei der b und v parallel
sind, ergibt sich keine zwingende Festlegung für die Bewegungsrichtung der Ver-
setzung. Daher kann diese durch sogenanntes Quergleiten auch Hindernisse umge-
hen.
5.2.2 Versetzungskinetik
5.2.2.1 Verformungsrategleichungen
·
γ = f ( τ, T ) (5.3)
s
γ = --- , (5.4)
h
wobei h der Höhe des Kristallquaders entspricht und s die Verschiebung der
oberen parallel zur Scherkraft τ verlaufenden Deckfläche gegenüber der Grundflä-
che des Quaders ist. Geht man für diese Betrachtung davon aus, dass alle Verset-
zungen nach der plastischen Deformation die Oberfläche des Kristalls erreichen, so
ergibt sich ihre individuelle Gleitbewegung aus b ⋅ x i ⁄ L , wobei b dem Burger-
vektor entspricht, x i der Abstand der Versetzung von der linken Kristallfläche ist
und L der Länge des Kristalls in Gleitrichtung entspricht. Da sich die makroskopi-
sche Verschiebung der Deck- zur Grundfläche s aus der Summe der individuellen
Gleitbewegungen der Versetzungen ergibt, erhält man für die Scherung des Kris-
talls:
5.2 Kinetik der plastischen Verformung 165
b b
γ = ---------- ⋅ ¦ x i = ---------- ⋅ N ⋅ x tot , (5.5)
L⋅h L⋅h
wobei N der Gesamtmenge der Versetzungen entspricht und x tot die durch-
schnittliche Versetzungsbewegung auf den einzelnen Gleitebenen darstellt. Ersetzt
man den Term N ⁄ Lh durch die Versetzungsdichte ρ (eigentlich ρ = Nz ⁄ L hz ,
wobei z die Dicke des betrachteten Kristallquaders ist), so erhält man:
γ = ρ ⋅ b ⋅ x tot (5.6)
Aus Gleichung (5.6) geht hervor, dass die makroskopisch erfassbare plastische
Scherung mit den mikroskopischen Größen Versetzungsdichte ρ und durch-
schnittliche Gleitlänge bx tot einer Versetzung zusammenhängt [241]. Wird Glei-
chung (5.6) nach der Zeit abgeleitet, so ergibt sich eine Beziehung zwischen Scher-
·
dehnungsrate ( γ ) und der durchschnittlichen Versetzungsgeschwindigkeit
( v tot = dx tot ⁄ dt ) aller Versetzungen:
·
γ = ρ ⋅ b ⋅ v tot (5.7)
D
L
Di
h
xi
t
Abb. 5.5 Beziehung zwichen einer makroskopisch beobachtbaren Scherung und der mikroskopi-
schen Versetzungsbewegung
166 5 Plastische Verformung
·
γ = ρm ⋅ b ⋅ v (5.8)
σ 2
ρ m = α ⋅ § -----------· (5.9)
© G ⋅ b¹
v = F⋅M (5.10)
Das Problem der Beschreibung der Versetzungskinetik wird damit auf die
Beschreibung bzw. Berechnung der Mobilität M einer Versetzung zurückgeführt.
Diese ist davon abhängig, wie schnell das Segment einer Versetzungslinie
bestimmte Hindernisse (z. B. das periodische Potenzial des Gitters, Versetzungs-
wälder, Ausscheidungen) überwinden kann. Damit hängt die Mobilität neben der
mechanischen Spannung und Temperatur vor allem von Form und Natur der Hin-
dernisse ab. Auf den ersten Blick behindert die Vielfalt von Hindernissen die Ent-
wicklung einheitlicher Verformungsrategleichungen. Bei genauerer Betrachtung
lassen sich Hindernisse jedoch in zwei große Gruppen einteilen, solche, die indivi-
duell umgangen bzw. durchschnitten werden (z. B. harte Ausscheidungen), und
solche, die kollektiv überwunden werden (z. B. das periodische Potenzial des Git-
ters). Im Folgenden sollen die Verformungsrategleichungen in Abhängigkeit von
den für die Mobilität wichtigen Größen Spannung, Temperatur und Natur des Hin-
dernisses beschrieben werden.
5.2.2.2 Niedertemperaturplastizität
Im Bereich niedriger Temperaturen, d. h. T < 0,3 ⋅ T s , finden vor allem die unter
5.3.1.1 und 5.3.1.2 beschriebenen Prozesse der instantanplastischen Verformung
statt. Obwohl diese Verformungsprozesse zunächst nicht als zeitabhängig einge-
stuft wurden, ist die Kinetik der Versetzungsbewegung nahezu immer hindernis-
kontrolliert, d. h., die Wechselwirkung mit anderen sich bewegenden Versetzun-
gen, mit Korngrenzen, mit dem periodischen Potenzial des Gitters oder mit
Ausscheidungen bestimmt die Verformungsgeschwindigkeit bzw. bei einer gege-
benen Verformungsgeschwindigkeit (so ist in der Regel das Vorgehen zur Aufstel-
5.2 Kinetik der plastischen Verformung 167
ΔF τ
v = β ⋅ b ⋅ φ ⋅ exp – ------- ⋅ § 1 – -----· (5.11)
kT © τ 0¹
· τ 2 ΔF τ
γ = α ⋅ β ⋅ φ ⋅ § ----· ⋅ exp – ------- ⋅ § 1 – -----· (5.12)
© G¹ kT © τ 0¹
· ΔF p τ p q ½
v = γ p ⋅ b ⋅ exp ® – ---------- ⋅ § 1 – § -----· · ¾ , (5.13)
© © τ p¹ ¹
¯ k⋅T ¿
168 5 Plastische Verformung
4
---
3
--- 3½
· · § ---τ· ° ΔF p § τ · 4 °
γ = γ p ⋅ - ⋅ exp ® – ---------- ⋅ 1 – ----- ¾ (5.14)
© G¹ © ¹
° k⋅T τp °
¯ ¿
Wird ein polykristallines Metall einer Temperatur von über 0,5 Ts ausgesetzt,
das entspricht bei SnPb37 einer Temperatur von -45 °C, so gelangt es in den
Bereich der Hochtemperaturplastizität. In diesem Bereich ist die plastische Verfor-
mung sehr stark von Temperatur und Zeit (bzw. Dehnungsrate) abhängig. Das liegt
daran, dass bei hohen Temperaturen Versetzungen die Fähigkeit des Kletterns
gewinnen. Der Prozess des Kletterns ist schematisch in Abb. 5.6 dargestellt. Dabei
wird die Lage einer Stufenversetzung im Kristallgitter durch die Adsorption einer
Leerstelle um eine Ebene verschoben. Klettern, d. h. die Verschiebung der Stufen-
versetzung in die entgegengesetzte Richtung, kann durch den Einbau einer zusätz-
lichen Leerstelle in das Atomgitter erfolgen. Für das Überwinden von Hindernissen
ist die Kletterbewegung von Bedeutung, da die in ihrer Gleitbewegung durch ein
Hindernis festgehaltenen Versetzungen hierdurch die Möglichkeit erhalten, sich
durch eine Kletterbewegung von diesem Hindernis zu befreien, um dann frei weiter
gleiten zu können.
Weertman [257, 270, 272] unternahm einen der ersten Ansätze, Kriechverfor-
mung über den Mechanismus des Versetzungskletterns zu beschreiben. Er ging
dabei davon aus, dass der Kriechprozess aus einem Gleitprozess besteht, durch den
Versetzungen relativ große Wege x g zurücklegen, welcher von einem Kletterpro-
zess gefolgt wird, bei dem zwar nur eine geringe Distanz x c zurückgelegt wird, der
aber aufgrund seiner geringen Geschwindigkeit der Versetzungsbewegung v c der
die Gesamtverformungsrate bestimmende Prozess ist. Die Geschwindigkeit, mit
der Versetzungen klettern und annihilieren, wird durch den Konzentrationsgradien-
ten zwischen der Leerstellenkonzentration im thermodynamischen Gleichgewicht
und der Leerstellenkonzentration nahe der kletternden Versetzung bestimmt.
Erstere ergibt sich aus
Q
c v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· , (5.15)
© KT¹
5.2 Kinetik der plastischen Verformung 169
wobei Q v der Energie zur Bildung einer Versetzung entspricht, wenn sich das
Material im spannungsfreien Zustand befindet. Wirkt jedoch eine Spannung auf
das Kristallgitter, so kommt es in der Umgebung einer Versetzung aufgrund der
durch den Kletterprozess geleisteten Arbeit zu einer Änderung der Leerstellenkon-
zentration. Entsteht infolge des Kletterprozesses eine Leerstelle, so entspricht die
veränderte Leerstellenkonzentration an diesem Ort
Q – σΩ
= c 0 ⋅ exp §© – ------v-·¹ ⋅ exp §© -----------·¹ .
d+
cv (5.16)
KT kT
Analog ergibt sich die Leerstellenkonzentration für den Fall, dass durch den
Kletterprozess eine Leerstelle absorbiert wird
Q +σ n ⋅ Ω
c v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ exp § ------------------· ,
d-
(5.17)
© KT¹ © kT ¹
wobei σ n die Spannung ist, unter deren Wirkung sich das Metall verformt und
Ω dem Atomvolumen entspricht. Der Gradient der Leerstellenkonzentration Δc v
zwischen Orten, an denen das Klettern von Versetzungen mit der Abgabe von
Leerstellen verbunden ist, und solchen, an denen es zur Absorption von Leerstellen
kommt, ergibt sich aus
Q –σn ⋅ Ω
Δc v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ sinh § ------------------· , (5.18)
© KT¹ © kT ¹
170 5 Plastische Verformung
wobei sich unter der Annahme kleiner Spannungen der Ausdruck in (5.18) zu
Q σn ⋅ Ω
Δc v = c 0 ⋅ exp §© – ------v-·¹ ⋅ exp §© ---------------·¹ (5.19)
KT kT
Dv σn ⋅ Ω R0
v c = 2π ⋅ § ------· ⋅ § ---------------· ⋅ ln § ------· , (5.20)
© b ¹ © kT ¹ © b¹
xg
v ≅ ----- ⋅ v c (5.21)
xc
angenähert wird, so ergibt sich aus (5.8), (5.9) die quasistatische Kriechrate mit
· D V EΩ xg τ 3
γ = A 1 ⋅ ------2- ⋅ § --------· ⋅ § -----· ⋅ § ---· , (5.22)
© kT ¹ © x c¹ © E¹
b
eher eine Ausnahme ist und sich stattdessen folgende Formulierung zur Beschrei-
bung der Dehnungsrate für diesen Mechanismus eignet:
· DV ⋅ G ⋅ b τ n
γ = A 2 ⋅ ----------------------- ⋅ § ----· , (5.23)
k⋅T © G¹
10 ⋅ a c § σ · 2
D eff = D V + D C ⋅ --------------
- ⋅ ---- , (5.24)
2 © G¹
b
· D eff ⋅ G ⋅ b τ n
γ = A 3 ⋅ -------------------------- ⋅ sinh § α ⋅ ----· , (5.25)
k⋅T © G¹
Ist das Material sehr geringen Spannungen ausgesetzt, wird die plastische Ver-
formung durch Diffusionsprozesse dominiert. Hierunter fällt z. B. die Deformation
eines Korns aufgrund der Bewegung von Leerstellen, welche einem Potenzialfeld
172 5 Plastische Verformung
folgen, das durch ein äußeres Spannungsfeld hervorgerufen wurde. Die Dehnungs-
geschwindigkeit bei Diffusion ergibt sich nach [33]
· 42 D σ ⋅ Ω-
γ = ------ ⋅ ---------- ⋅ ----------- (5.26)
π k ⋅ T d2
g
π ⋅ δ ⋅ D GB
D = D V + -------------------------
- , (5.27)
dg
Q
D = D 0 ⋅ exp § – ----------· , (5.28)
© k ⋅ T¹
Wie den Darstellungen in 5.2.1 bis 5.2.2.4 entnommen werden kann, existieren
in Abhängigkeit von den äußeren Parametern Spannung, Temperatur und Verfor-
mungsgeschwindigkeit unterschiedliche Mechanismen, welche der plastischen
Verformung von Metallen zugrunde liegen. Diese bewirken auch ein qualitativ
unterschiedliches phänomenologisches Verformungsverhalten. Aus diesem Grund
ist es für die Beschreibung des plastischen Verformungsverhaltens nicht möglich,
eine einfache zusammenhängende Darstellung zu verwenden wie für das elastische
5.2 Kinetik der plastischen Verformung 173
-1
10
-2
10
Normierte Scherspannung t/G
Instantanplastische
-3 Verformung
10
(siehe 5.3)
-4
10
Zeitabhängigkeit und
Temperaturabhängigkeit
10
-5 der plastischen Verformung
(siehe 5.4)
-6
10
0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
Homologe Temperatur T/Ts
5.3 Niedertemperaturplastizität
5.3.1 Merkmale
s
E Einschnürung
R
m
R
Zugfestigkeit
p0,2
sF Bruch
0,1% Fließgrenze
Fließgrenze
0,1 % Dehnung e
Bruchdehnung A
Energie
A D
Spannung
tf
0
A D
Position des Versetzungskerns
Abb. 5.9 Potenzialverlauf und daraus abgeleiteter Kraftverlauf für die Bewegung einer
Versetzung von A nach D (vgl. Abb. 5.2)
den Betrachtungen zur Kinetik der Versetzungsbewegung (vgl. 5.2.2) wird bei der
phänomenologischen Betrachtung der plastischen Verformung bei niedrigen Tem-
peraturen ein Zusammenhang zwischen Spannung und Verformung anstatt zwi-
schen Spannung und Verformungsrate bevorzugt. Diese Betrachtungsweise wird
plausibel, wenn man die der Niedertemperaturverformung zugeordneten Ratenglei-
chungen (5.12) und (5.14) genauer analysiert. Der funktionale Zusammenhang
zwischen Verformungsrate und Spannung ist in beiden Gleichungen durch einen
quadratischen und einen exponentiellen Term gekennzeichnet. Wenn die Aktivie-
rungsenergie hoch ist, was vor allem beim Überwinden von Einzelhindernissen der
Fall ist, bestimmt der exponentielle Term die Spannungsabhängigkeit der Verfor-
mungsrate. Für den umgekehrten Fall bedeutet dies, dass die Abhängigkeit der
Fließspannung von der Verformungsrate gering ist. Gleichzeitig existiert eine hohe
Abhängigkeit des plastischen Fließens von der Werkstoffstruktur, sodass die vor-
handene geringe Abhängigkeit von der Verformungsrate für eine Beschreibung des
plastischen Verhaltens bei niedrigen Temperaturen unbedeutend ist. Diese starke
Abhängigkeit von der Werkstoffstruktur wird plausibel, wenn der Unterschied zwi-
schen der Niedertemperaturplastizität von ein- und polykristallinem Material
betrachtet wird.
2πa
τ f = G ⋅ sin § – --------------------· (5.29)
© ( 1 – ν )b¹
wobei der Term cos λ ⋅ cos θ dem Schmidfaktor entspricht. Nimmt man das
Spannungs-Dehnungs-Diagramm eines kubisch-flächenzentrierten Einkristalls,
q
n
A0
wie z. B. Cu, auf, so ergeben sich die in Abb. 5.11 dargestellten Verläufe, wobei
Abb. 5.11a die tatsächlich in [318] ermittelten Verläufe darstellt und Abb. 5.11b
eine schematische Darstellung des Verlaufes für den Fall vornimmt, bei welchem
der Kristall gegenüber der Belastungsachse so ausgerichtet ist, dass die resultie-
rende Schubspannung in einem bestimmten Gleitsystem deutlich größer als die
resultierenden Schubspannungen in allen anderen Systemen ist. In diesem Fall ist
der Verlauf plastischer Verformung im Spannungs-Dehnungs-Diagramm in 3
Bereiche unterteilt. Bereich I beginnt nach elastischer Verformung des Kristalls bei
Erreichen der notwendigen resultierenden Schubspannung im dominierenden
Gleitsystem. In diesem Bereich können die Versetzungen lange Wege zurücklegen,
bis sie miteinander wechselwirken. Er wird daher auch als Bereich der Einfachglei-
tung bezeichnet und besitzt nur eine geringe Verfestigung (d. h. einen geringen
Verformungswiderstand). Ihm schließt sich Bereich II mit einer stark ansteigenden
Verfestigung an, die auf Reaktionen zwischen Versetzungen primärer und sekun-
därer Gleitsysteme sowie auf Versetzungsvervielfachung - und damit Zunahme der
Versetzungsdichte - durch Frank-Read-Quellen zurückzuführen ist. Im sich daran
anschließenden Bereich III nimmt der Anstieg der Verfestigung durch Prozesse der
dynamische Erholung, wie z. B. dem Quergleiten von Schraubenversetzungen,
wieder ab.
III 50
I II
Effektive Scherspannung [MPa]
t III
40
3
C2
29
Scherspannung t
C23 7
30
C2
20 6
C29 C2
C26 C27
t II
10
tI
0 0
0 0 0,05 0,1 0,15 0,2 0,25 0,3 0,35
Scherdehnung Scherdehnung
s in MPa
300
Cu-Polykristall
200
100 Cu-Einkristall
5.4 Hochtemperaturplastizität
5.4.1 Merkmale
Wie in 5.2.2 ausgeführt, wird bei der plastischen Verformung bei hohen Materi-
altemperaturen das Versetzungsgleiten durch einen Kletterprozess ergänzt, welcher
mit einer Leerstellendiffusion zusammenhängt und wesentlich die Geschwindig-
keit der Versetzungsbewegung beeinflusst. Aus diesem Grund weist die plastische
Verformung bei hohen Materialtemperaturen sowohl starke Zeitabhängigkeit, d. h.
eine Abhängigkeit der Fließspannung von der Verformungsgeschwindigkeit, als
auch eine hohe Temperaturabhängigkeit auf. Zunächst sollen die durch die Zeitab-
hängigkeit entstehenden vielfältigen Erscheinungsformen der plastischen Verfor-
mung von Metallen bei hohen Materialtemperaturen dargestellt werden, indem die
· ·
mehrseitigen Beziehungen zwischen den Verformungsvariablen ( σ, σ, ε, ε, t )
durch eine Reihe verschiedener spezialisierter Experimente charakterisiert werden.
Zu den grundlegenden und etablierten Versuchen, mit denen das zeitabhängige
plastische Verformungsverhalten untersucht wird, zählen der Versuch mit konstan-
ter Dehnungsrate, der Kriechversuch und der Relaxationsversuch.
Beim Versuch mit konstanter Dehnungsrate wird die Probe einer Dehnungsbe-
·
anspruchung ausgesetzt, welche die Bedingung ε = const. erfüllt. Aus dieser
·
Lastbedingung ergibt sich mit ε = ε ⋅ ( t – t 0 ) ein von der Verformungsreaktion
·
unabhängiger Zusammenhang zwischen Verformungsvariablen ε, ε, t , sodass
·
sich die Verformungsreaktion über die Variablen σ, σ als Funktion von ε oder t
ergibt. Für das Darstellung des zeitabhängigen Verhaltens hat sich wegen seiner
s
e1, T 1
e1, T 2
e2, T 1
e1, T 3
e3, T 1
e1 > e2 > e3
T1 < T2 < T3
e
Abb. 5.13 Spannungs-Dehnungs-Diagramm des gleichen Werkstoffs bei unterschiedlichen
Verformungsgeschwindigkeiten und Materialtemperaturen
180 5 Plastische Verformung
e
I II III
e
I II III
t
e I II III
e
Abb. 5.14 Kriechversuch, I: primäres Kriechen, II: sekundäres Kriechen, III: tertiäres Kriechen
5.4 Hochtemperaturplastizität 181
Probe verformt wird (Gleiches gilt auch andersherum). Wird das Material nach
Auftrag einer Beanspruchung in einem bestimmten Verformungszustand eingefro-
ren, so findet ein Abbau der Spannung im Material statt. In der Anwendung findet
die zeitabhängige Verformung jedoch nicht nur als Folge der bisher dargestellten
Beanspruchungsarten statt, bei welchen eine oder mehrere Variablen als konstant
bzw. null angenommen werden. In solchen Fällen kann es z. B. gleichzeitig zur
plastischen Verformung und zum Spannungsabbau im Material kommen. Aus die-
sem Grund gibt es für die Charakterisierung und Beschreibung des zeitabhängigen
Verhaltens über Werkstoffparameter verschiedene Ansätze, von denen die wich-
tigsten nachfolgend besprochen werden sollen.
·
ε ss = f ( σ, T ) (5.31)
· –ni
ε = ¦i ai ⋅ ti , (5.32)
· 1 3 –2
ε = --- ⋅ β ⋅ t ⋅ ( ε – ε 0 ) , (5.33)
3
reicht jedoch das erste Glied aus. Die Formulierung in Gleichung (5.33) geht
aus der Lösung einer Differenzialgleichung hervor, welche sich wiederum auf die
Gleichung für das sogenannte Andrade-Kriechen zurückführen lässt [252, 320]
1⁄3
ε = β⋅t + ε0 , (5.34)
wobei β ein konstanter Vorfaktor ist und ε 0 die instantane Dehnung bei Last-
auftrag charakterisiert. Um den Zustand des quasistatischen Kriechens (Bereich II
in Kriechkurve, Abb. 5.14) isoliert zu beschreiben, muss in der Potenzreihe in
Gleichung (5.32) n = 0 gesetzt werden, sodass sich folgender Ausdruck für ε
ergibt
·
ε = ε ss ⋅ t + ε 0 , (5.35)
·
wobei ε ss der quasistatischen Kriechrate entspricht. Durch Kombination von
Gleichung (5.35) mit der Formulierung für das Andrade-Kriechen ergibt sich
1⁄3 ·
ε = β⋅t + ε ss ⋅ t + ε 0 (5.36)
184 5 Plastische Verformung
Diese Formulierung lässt sich um einen weiteren Term zur Beschreibung des
tertiären Kriechens (Bereich III in Kriechkurve, Abb. 5.14) erweitern, welche von
Graham und Walles vorgeschlagen wurde [319]
1⁄3 · 3
ε = ε0 + β ⋅ t + ε ss ⋅ t + γ ⋅ t (5.37)
t ·
ε = ε 0 + ε p ⋅ 1 – exp § – ----- · + ε ss ⋅ t + ε t ⋅ exp [ p ⋅ ( t – t t ) ] , (5.38)
© τp ¹
wobei ε p die Dehnung ist, die der primären Kriechphase zugerechnet werden
kann, t t der Zeitpunkt ist, an dem die tertiäre Kriechphase beginnt und τ p , ε t und
p weitere Materialkonstanten sind. Für die Beschreibung des tertiären Kriechens
mit dem Term ε t ⋅ exp [ p ⋅ ( t – t t ) ] ergibt sich das praktische Problem, den Zeit-
punkt t t zu bestimmen. Aus diesem Grund wurde die Formulierung aus Gleichung
(5.38) wie folgt modifiziert [252, 323]
t · t – tf
ε = ε 0 + ε p ⋅ 1 – exp § – ----- · + ε ss ⋅ t + ε t ⋅ exp § ---------- · , (5.39)
© τp ¹ © τt ¹
wobei t f die experimentell leicht bestimmbare Zeit bis zum Bruch ist, ε t die
Dehnung ist, die der tertiären Kriechphase zugerechnet werden muss und τ t eine
weitere Materialkonstante darstellt. Da der Term für das quasistatische Kriechen
·
aufgrund des geringen Wertes von ε ss ebenso wie der Term für die instantane
Dehnung ε 0 nur einen unbedeutenden Beitrag an der Gesamtdehnung leisten,
wurde von Evans und Wilshire eine vereinfachte Beschreibung der Kriechkurve
über das sogenannte Theta-Konzept vorgeschlagen [324, 325]
5.4.3 Grundmechanismen
10-2
4,31 MPa
10-3
Kriechrate [1/s]
10-4
2,84 MPa
10-5
0 0,08 0,16 0,24
Kriechdehnung
formung die Verformungsrate wieder und läuft gegen den Wert der Verformungs-
geschwindigkeit bei konstanter Beanspruchung mit σ2 . Wird daraufhin die Bean-
spruchung wieder von σ2 auf σ1 gesteigert, so ergibt sich aus der nun
vorhandenen „weicheren“ Struktur eine gegenüber dem Fall mit konstanter Bean-
spruchung ( σ1 ) höhere Verformungsrate, welche sich im Verlauf einer weiteren
Verformung wieder auf den Wert der Verformungsrate bei konstanter Beanspru-
chung σ1 absenkt.
5.4.3.2 Versetzungsstruktur
Wenn, wie in 5.4.1 dargestellt, die plastische Verformung eines Werkstoffs bei
höheren Materialtemperaturen unter Wirkung einer konstanter Last hervorgerufen
wird, so lässt sich experimentell in der Regel eine Verformungsreaktion beobach-
ten, welche sich in drei Bereiche unterteilen lässt (vgl. Abb. 5.14). Nachdem der
erste Bereich bzw. das primäre Kriechen, in welchem sich das Material durch
Änderungen in der Versetzungsstruktur verfestigt, durchlaufen wurde, beginnt der
zweite Bereich bzw. das sekundäre Kriechen bzw. das quasistatische Kriechen. In
diesem Bereich kommt es zu keiner weiteren Materialverfestigung. Aufgrund der
komplexen Vorgänge während der Strukturentwicklung im ersten Bereich ist es
zweckmäßig, anstelle einer Gesamtbeschreibung eingeschränkte Beschreibungen
bestimmter Verformungszustände anzufertigen. Anfang der 1950er Jahre wurde
erkannt, dass die Charakterisierung des Kriechverhaltens über den Zusammenhang
zwischen der quasistatischen Verformungskinetik und bestimmten Beanspru-
chungsparametern, wie Scherspannung τ und der Temperatur T , sehr nützlich ist.
Auf der Basis dieser Zusammenhänge war es möglich, verschiedene Arten der
plastischen Hochtemperaturverformung zu klassifizieren und diese über experi-
mentell gestützte theoretische Betrachtungen zu werkstoffphysikalischen Grund-
mechanismen identifizieren zu können.
188 5 Plastische Verformung
· A⋅D⋅G⋅b b p σ n
εss = ---------------------------- ⋅ § -----· ⋅ § ----· , (5.41)
k⋅T © d g¹ © G¹
Diffusionskriechen
Nabarro-Heering-Kriechen QV 2 1 ja ja [262],
[263]
Coble-Kriechen Q KG 3 1 ja ja [264]
kann der Leerstellendiffusion eine dominante Rolle zukommen, wenn die homolo-
gen Materialtemperaturen zwar hoch, jedoch die mechanischen Beanspruchungen
sehr niedrig sind. Tabelle 5.1 gibt einen kurzen Überblick über verschiedene
Mechanismen mit den dazugehörigen charakteristischen Werten für Q , p und n
sowie ihre Zuordnung zu intergranularen Versetzungsbewegungsmechanismen,
Korngrenzengleiten und Diffusionskriechen.
Temperaturen von der bei niedrigen Temperaturen unterscheidet [333], bestand das
Bemühen, diese auch theoretisch nachvollziehen zu können. Die Aufgabenstellung
einer solchen theoretischen Modellbetrachtung bestand grundlegend darin, zu
erklären, wodurch es ohne Spannungssteigerung zu einem kontinuierlichen Abglei-
ten von Kristallebenen kam und weshalb die Geschwindigkeit dieses Abgleitvor-
ganges mit einem Mechanismus zusammenhing, der selbst durch Prozesse der
Festkörperdiffusion bestimmt war.
In einem ersten theoretischen Modell ging Weertman [270] davon aus, dass sich
Vesetzungsaufstauungen (pile-ups) an unbeweglichen Versetzungskonfigurationen
(Lomer-Cottrell-Versetzungen) bilden, welche gleichmäßig im Kristall verteilt
sind. Da die Existenz von Lomer-Cottrell-Versetzungen jedoch experimentell nicht
bewiesen werden konnte, entwickelte Weertman [271, 272] eine modifizierte Vari-
ante dieses Modells, welche davon ausgeht, dass Versetzungsringe auf verschiede-
nen Gleitebenen von gleichmäßig verteilten Quellen (z. B. Frank-Read-Quellen)
emittiert werden (siehe Abb. 5.17). Durch die Spannungsfelder um die Verset-
zungsringe entstehen verschiedene Wechselwirkungen, wenn zwei Ringe auf
benachbarten Ebenen einander passieren wollen. Durch ihre Fähigkeit zum Quer-
gleiten annihilieren sich passierende Schraubenversetzungssegmente, wenn diese
ein unterschiedliches Vorzeichen aufweisen. Dieses Annihilieren der Schrauben-
versetzungssegmente blockiert wiederum die Bewegung der verbleibenden Stufen-
versetzungssegmente, welche sich infolgedessen aufstauen und dadurch eine Rück-
spannung erzeugen, die die Emission neuer Versetzungsringe zum Erliegen bringt.
Im Modell wird nun angenommen, dass die äußersten Stufenversetzungssegmente
der Versetzungsringaufstauung durch Kletterprozesse annihilieren, wodurch wie-
derum ein neuer Versetzungsring durch die Quelle emittiert werden kann. Unter
der in 5.2.2.3 ausgeführten Annahme, dass kletternde Versetzungen je nach Rich-
tung Leerstellen absorbieren bzw. generieren, entsteht eine vom Kletterprozess und
damit von der Leerstellendiffusion abhängige Verformungskinetik mit einem
Spannungsexponenten von n = 4,5 und einer Aktivierungsenergie, die der Volu-
mendiffusion entspricht (Q = Qv).
In späteren Versionen seines Modells modifiziert Weertman wiederum seine
Vorstellungen über die Versetzungsanordnung, da experimentelle Beobachtungen
keine Hinweise auf Versetzungsaufstauungen geben [252, 265]. Dies ändert jedoch
nichts an der ermittelten Spannungsabhängigkeit der Verformungsrate mit n = 4,5.
Diese kommt allerdings durch die Annahme einer konstanten und von der wirken-
den Spannung unabhängigen Dichte von Versetzungsquellen zustande. Verwirft
man diese experimentell nicht zu belegende Idee, so gelangt man zu den bereits in
5.2.2.3 ausführlich dargestellten Modellvorstellungen über einen kletterprozes-
skontrollierten quasistatischen Kriechprozess mit einem Spannungsexponenten
von n = 3 und einer Aktivierungsenergie, die der Volumendiffusion Q V entspricht.
Aufgrund der intragranularen Betrachtungsweise dieses Modells existiert keine
Korngrößenabhängigkeit, d. h. der Korngrößenexponent p = 0.
Ein anderer theoretischer Ansatz für intragranulare Versetzungsbewegungsme-
chanismen stützt sich auf die Bewegung von Schraubenversetzungen mit Sprün-
5.4 Hochtemperaturplastizität 191
Abb. 5.17 Modellvorstellung eines intergranularen Kletter- und Gleitprozesses nach Weertman
[271]
gen. Die bekanntesten Arbeiten stammen dabei von Barett und Nix [273]. Ausge-
hend von der Annahme, dass Sprünge in Schraubenversetzungen, welche sich nicht
innerhalb einer selben Gleitebene befinden, nur bewegt werden können, wenn
Leerstellen emittiert werden, ergibt sich eine Erhöhung der Leerstellenkonzentra-
tion gegenüber der Gleichgewichtskonzentration in der Umgebung der Sprünge. Es
wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Rückstellkraft auf den Sprung gleich
der wirkenden äußeren Kraft ist, woraus sich analog zu den Betrachtungen von
Weertman (vgl. 5.2.2.3, Gleichung (5.15) - (5.22)) eine entsprechende Rate für das
Klettern von Schraubenversetzungen berechnen lässt. Dadurch, dass die Abhängig-
keit der Versetzungsdichte von Schraubenversetzungen mit der dritten Potenz
angenommen wird, gelangt der Ansatz zu einem Spannungsexponenten von n = 4.
Neuere Ansätze beruhen auf komplexeren Gleichungssystemen, welche die par-
allele Wirkung mehrerer Mechanismen unter Ausbildung spezifischer infolge plas-
tischer Verformung entstehender werkstoffstruktureller Elemente, z. B. Verset-
zungsdipole, berücksichtigt. Für diese komplexen Ansätze ergeben sich jedoch nur
nummerische Lösungen. Diese sagen Spannungsexponenten im Bereich von
n = 3 ... 4 voraus [274, 275].
In einer Betrachtung einer großen Anzahl vorliegender Kriechdaten kommen
Frost und Ashby in [33] zu dem Schluss, dass das theoretisch beschriebene Verfor-
mungsverhalten eher eine Ausnahme ist, da experimentell für die meisten Metalle
und Legierungen ein charakteristischer Spannungsexponent zwischen n = 4…10
bestimmt wurde. In einer neueren Analyse jüngerer Kriechdaten von Al, Cu und
Cr0,5Mo0,5V0,25-Stahl gelangt Wilshire [246] zu der Aussage, dass der Span-
nungsexponent bei mittleren Spannungen bei n ≥ 4 liegt. Blum [245] widerspricht
jedoch der Anschauung, dass tatsächlich eine Diskrepanz zwischen der theoreti-
schen Beschreibung und der experimentellen Charakterisierung des Kriechverhal-
tens vorliegt, indem eine nichtadäquate Versuchsführung als Ursache für die ermit-
telten Unterschiede verantwortlich gemacht wird. Dabei argumentiert er, dass der
192 5 Plastische Verformung
dl n
----- ⋅ 1
--- = C ⋅ § F
---· , (5.42)
dt l © A¹
dl
----- ⋅ 1
1
--- = – dA
------- ⋅ --- , (5.43)
dt l dt A
5.4 Hochtemperaturplastizität 193
dA n (1 – n)
– ------- = C ⋅ F ⋅ A (5.44)
dt
Aus Gleichung (5.44) kann abgeleitet werden, dass die auf Versetzungsgleiten
und -klettern basierenden Verformungsmechanismen n ≥ 3 zu einer Beschleuni-
gung der Verjüngungsrate bei abnehmendem Probenquerschnitt führen (d. h.
selbstbeschleunigende Einschnürung), die um so stärker wird je höher n ist. Infol-
gedessen werden bei monotoner plastischer Verformung nur geringe Bruchdehnun-
gen erreicht. Bei auf Diffusionsprozessen ( n = 1 , Coble- oder Nabarro-Herring-
Kriechen) basierenden Verformungsmechanismen ist die Verjüngungsrate unab-
hängig vom Probenquerschnitt (d. h. stabile Einschnürung), wodurch sehr große
Verformungen erzielt werden könnten. Allerdings sind die geringen Verformungs-
geschwindigkeiten dieser Mechanismen irrelevant für die meisten technischen
Belange. Bei Korngrenzgleitprozessen beträgt n = 2…3 . Hierdurch schreitet die
Einschnürung zwar konstant fort, allerdings beschleunigt sich dieser Prozess kaum
selbst. Dadurch sind größere Verformungen als bei auf Versetzungsgleiten und -
klettern basierenden Verformungsmechanismen möglich. Pearson [276] war einer
der Ersten, der superplastische Verformung an speziell präparierten SnPb- und
SnBi-Legierungen nachwies. Voraussetzung für das Zustandekommen superplasti-
scher Verformung sind jedoch bestimmte Gefügemerkmale und Verformungsbe-
dingungen [277], wie geringe Korngröße (d < 10 μm) und globulare Kornform,
hohe Verformungstemperaturen T > 0,5 Ts und moderate Verformungsraten ε/
dt = 10-2 ... 10-6.
Die der superplastischen Verformung zugrunde liegenden physikalischen
Mechanismen sind zum Teil umstritten [278]. Viele Autoren gehen allerdings von
Korngrenzengleiten und Korngrenzenmigration als den grundlegenden Mechanis-
men aus [45, 277, 279, 280], welche sich aufgrund der Größe von Körnern gut
experimentell beobachten lassen.
Das Prinzip des Korngrenzengleitens ist schematisch in Abb. 5.18 dargestellt.
Die Verschiebung findet in allen drei Raumrichtungen (x, y, z) gleichzeitig statt.
Der Spannungsvektor zeigt dabei entweder schräg zur Abgleitfläche (entspre-
chende Korngrenze) oder liegt in der Ebene dieser Fläche. In der Regel sind der
Abgleitvektor a und der Spannungsvektor und die Raumwinkel θ, ϕ gegeneinan-
der verdreht. Diese Verdrehung, welche für gleichzeitig ablaufende Einzelabgleit-
prozesse jeweils unterschiedlich ist, macht eine Modellbetrachtung des Korngren-
zengleitens sehr schwierig. Die offensichtliche Komplexität von
Korngrenzenabgleitmechanismen führt jedoch zu der These, dass dieser Prozess
nur in Verbindung mit anderen Verformungsmechanismen stattfinden kann. Da
reale polykristalline Materialien mannigfaltige Individualformen von Körnern auf-
weisen, ist der Abgleitprozess nur in Zusammenhang mit Prozessen der Korngren-
zenmigration vorstellbar, welche wiederum Versetzungs- oder Leerstellenbewe-
194 5 Plastische Verformung
Korn 1 q
w Korn 2
s
a
v
y s
u
A A
w
s
B B
Abb. 5.18 Schematische Darstellung eines Abgleitprozesses zwischen zwei Körnern, wobei a der
Abgleitvektor zwischen Korn 1 und Korn 2 ist und u, v und w die Verschiebungen in x-, y- und z-
Richtung charakterisieren (aus [247]).
d >l d<l
(a) (b)
D
B
A C
Abb. 5.19 Schematische Darstellung von Rachinger-Korngrenzengleiten für große Körner (a), in
denen eine Subkornbildung stattfindet, und Korngrenzengleiten für kleine Körner ohne Subkorn-
bildung (b-e) [247]
(a) (b)
Leerstellenfluss entleerte
Zone
Einlagerungs-
zone
Q +σd ⋅ Ω
c v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ exp § -----------------·
d-
(5.45)
© KT¹ © kT ¹
Q – σz ⋅ Ω
= c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ exp § ----------------·
d+
cv (5.46)
© KT¹ © kT ¹
dernis zu überwinden, hängt von der Steifheit der Versetzung und der Hindernis-
stärke, genauer vom Verhältnis zwischen der Hinderniskraft F und der Verset-
zungslinienspannung T , ab. Wenn die maximale Hinderniskraft ( F max = 2 ⋅ T )
infolge der Wechselwirkung zwischen Versetzungen mit einem Hindernis entste-
hen kann, so wird dieses als hart (bzw. nicht schneidbar) betrachtet und muss durch
die Versetzungslinie umgangen werden. Bei dieser als Orowan-Mechanismus
bezeichneten Hindernisumgehung biegt sich die Versetzungslinie durch, sodass
hinter einem Hindernis zwei Liniensegmente entgegengesetzten Vorzeichens in
eine antiparallele Position kommen und annihilieren. Dadurch wird die Verset-
zungslinie vom Hindernis abgetrennt, um das sie einen konzentrischen Verset-
zungsring hinterlässt. Die zur Durchbiegung des freien Versetzungsliniensegments
der Länge l erforderliche Schubspannung ergibt sich nach der Peach-Köhler-Glei-
chung [141, 288] aus
F = τ⋅b⋅l, (5.47)
2
G⋅b
T = -------------- (5.48)
l
F G⋅b
τ min = --------- = ----------- , (5.49)
b⋅l l
G⋅b
Δτ OR = § -----------· , (5.50)
© lH ¹
l 2 ⋅ T·
§ ----------
----- = , (5.51)
lH © F ¹
was plausibel erscheint, wenn davon ausgegangen wird, dass die Versetzungsli-
nie mit zunehmender Krümmung gleichzeitig immer mehr Hindernisse berührt,
sodass sich die mittlere freie Versetzungslinienlänge l immer mehr dem Hinder-
nisabstand l H nähert. Durch Kombination der Gleichungen (5.48) und (5.51) folgt
für die Schneidspannung
F · 3 § G ⋅ b·
§ -----------
Δτ S = ⋅ ----------- (5.52)
© G ⋅ b¹ © l H ¹
G⋅b
Δτ OR = 0,8 ⋅ § -----------· , (5.53)
© lH ¹
4⁄3 2⁄3
Δτ MKH = k ⋅ G ⋅ β ⋅c , (5.54)
2
wobei für die Konzentration gelöster Substitutionsatome c = ( b ⁄ l H ) ange-
nommen wird, β einem Wechselwirkungskoeffizienten entspricht, der verschie-
dene Effekte, wie z. B. die paraelastische Wechselwirkung durch Atomradienun-
200 5 Plastische Verformung
terschiede (vgl. 3.2.3.2; Tabelle 3.2) oder die dielastische Wechselwirkung durch
die Veränderung des Schubmoduls beinhaltet, und k ein Vorfaktor ist.
Die in einem Mischkristallgitter gelösten Substitutionsatome wirken auf atoma-
rem Niveau und stellen gegenüber der Versetzungsbewegung weiche Hindernisse
dar. Neben den bereits aufgeführten Wechselwirkungen mit sich bewegenden Ver-
setzungslinien ergeben sich durch die gelösten Substitutionsatome auch Änderun-
gen bezüglich der Festkörperdiffusion, welche unter Beteiligung verschiedener
Atomsorten stattfindet, wodurch sich in Abhängigkeit der Anordnung der Substitu-
tionsatome verschiedene Diffusionsgeschwindigkeiten einstellen können. Da die
gelösten Substitutionsatome bei höheren homologen Materialtemperaturen an
Beweglichkeit zunehmen, können sie zu Kristallpositionen mit großer Wechselwir-
kungsenergie in der Nähe von Versetzungen diffundieren. Dadurch bilden sich
sogenannte Wolken von Substitutionsatomen um die Versetzung, welche die
Bewegung der Versetzungen behindern. Die Bewegung der Versetzungen mit Sub-
stitutionsatomwolken erfolgt als viskoses Gleiten, d. h. ν ∼ σ , und die Wolken
werden mit den sich bewegenden Versetzungen mitgeführt. Beim Überschreiten
einer kritischen Spannung reißen sich die Versetzungen allerdings von den Wolken
los und verfügen dadurch schlagartig über eine höhere Geschwindigkeit, wodurch
es zu Instabilitäten in der plastischen Gesamtverformung kommen kann. Aufgrund
des viskosen Charakters der Versetzungsbewegung mit Substitutionsatomwolken
ergeben sich für die Mischkristallhärtung Spannungsexponenten von n = 3…5
[252, 259]. Demgegenüber kann der Spannungsexponent in teilchengehärteten
Legierungen sehr hohe Werte bis zu n = 40 annehmen [252, 287, 290]. Derart
hohe Werte von n, welche durch die klassische Theorie der Kriechdeformation
nicht abgedeckt werden, wurden unter anderem auch in bleifreien Lotwerkstoffen,
wie z. B. eutektischem SnAgCu [289] ( n = 13…19 ) , festgestellt.
Aus diesem Grund wurde in [290-292] für die werkstoffmechanische Modellie-
rung von Kriechprozessen in ausscheidungs- und teilchengehärteten Legierungen
ein Modell vorgeschlagen, welches die Behinderung der Versetzungsbewegung
durch harte Teilchen über ein Kriechfestigkeitsinkrement σ th = σ – σ m ( σ :
äußere Spannung; σ m Kriechfestigkeit der entsprechenden teilchenfreien Metall-
matrix) berücksichtigt. Mit dem empirischen Wert von σ th kann die Spannungsab-
hängigkeit der quasistatischen Kriechrate teilchengehärteter Legierungen mit
· σ – σ th Q
ε = A 2 ⋅ § -----------------· ⋅ exp § – ----------· (5.55)
© E ¹ © k ⋅ T¹
σ' th = k ⋅ σ σ ≤ σth
(5.56)
der angelegten äußeren Spannung σ wird. In diesem Fall erfolgt die Beschrei-
bung des Kriechverhaltens teilchengehärteter Materialien für den Spannungsbe-
reich σ ≤ σ th mit einer aus den Gleichungen (5.55) und (5.56) abgeleiteten Formu-
lierung:
σ n Q ·
ε = A 3 ⋅ ( 1 – k ) ⋅ § ---· ⋅ exp § – ---------
n
- , (5.57)
© E¹ © k ⋅ T¹
wobei n wiederum einen Wert von ca. 4 annimmt und Q der Aktivierungsener-
gie für Selbstdiffusion der partikelfreien Metallmatrix entspricht. Auch für teil-
chengehärtete Lotwerkstoffe, wie z. B. SnAg4Cu0,5 [293], konnten bei Raumtem-
peratur unterhalb einer Spannung von σ = 6,5 MPa konstante Werte von n = 4,4
und Q = 88,4 KJ/mol (Q = 96.7 KJ/mol für Kriechen von β-Sn [294]) ermittelt
werden, während oberhalb dieser Spannung (bei Anwendung von Gleichung
(5.23)) sich der Wert des Spannungsexponenten bis auf n = 20 (bei σ = 25 MPa )
steigerte.
Der Zweck der Einführung eines teilweise variablen (vgl. Gleichung (5.56))
Kriechfestigkeitsinkrements σ th besteht darin, die Wirkung der Mikrostruktur auf
das Kriechverhalten über σ th = f ( Mikrostruktur ) darstellen zu können. Experi-
mente haben gezeigt, dass der Wert von σ th sowohl mit dem Volumenanteil als
auch mit der Größe und Form der harten Ausscheidungen korreliert [295-297].
Dabei besteht bei ausscheidungs- und teilchengehärteten Werkstoffen die Beson-
derheit, dass aufgrund von verformungsbedingten mikrostrukturellen Veränderun-
gen des Werkstoffes unterschiedliche Werte von σ th bei verschiedenen Verfor-
mungsgraden zu beobachten sind [287, 298].
5.5 Wechselverformung
5.5.1 Merkmale
wurde von allen bisherigen Betrachtungen nicht berührt. Aufgrund ihrer vielfälti-
gen Erscheinungsformen bei einsinniger Verformung ist die Phänomenologie einer
plastischen Rückverformung bei weitem komplexer als die einer elastischen Rück-
verformung, welche sich sehr einfach als Übergang einer Federstreckung in eine
Federstauchung vorstellen lässt. Hierbei steht vor allem die Frage im Vordergrund,
wie die sich bei einsinniger Beanspruchung entstandene Versetzungsstruktur bei
Gegenbeanspruchung weiterentwickelt.
Analog zu dem in Abb. 4.1 dargestellten Versuch sollen die wesentlichen Merk-
male der Werkstoffreaktion bei Wechselverformung anhand eines klassischen
Wechselbeanspruchungsexperimentes mit einem einfachen Beanspruchungsprofil
dargestellt werden. Die Beanspruchung, d. h. die Dehnungsänderung über der Zeit,
wird dabei beginnend bei null (A) nur bis einem Wert gesteigert, welcher oberhalb
der Fließgrenze εF , σF liegt (B), danach wird die Beanspruchung mit dem inver-
sen Anstieg der bisherigen Dehnungs-Zeit-Gerade (zwischen A-B) wieder abge-
senkt, sodass diese, nachdem sie die Abszisse geschnitten hat, bis zu Punkt C läuft.
Der Ordinatenwert von C hat dabei den negativen Betrag von B. Von C aus wird
die Beanspruchung mit dem Anstieg der ersten Dehnungs-Zeit-Geraden (zwischen
A-B) bis zum Punkt D gesteigert, wobei wiederum die Abszisse geschnitten wird.
Der Ordinatenwert von D entspricht dem von B (vgl. Abb. 5.21).
Werden die in diesem Experiment ermittelten Spannungs- und Dehnungsver-
läufe in ein Spannungs-Dehnungs-Diagramm übereinander aufgetragen, so ergibt
sich zunächst der in 5.1.1 besprochene und in Abb. 4.1 dargestellte Verlauf. Nach
der Lastumkehr in Punkt B ergibt sich eine von dort beginnende Gerade mit dem
Anstieg E0 (elastische Verformungsreaktion), die rechts vom Ursprung die
Abszisse schneidet. Nachdem in Ordinatenrichtung ein charakteristischer Wert
(beispielsweise 2 ⋅ σF ) durchlaufen wurde, beginnt sich der Anstieg, d. h. der
s s
B D B, D
sF
A A e
t
-sF
C C
Abb. 5.21 Versuch mit zyklischer Dehnungsbeanspruchung in Form einer symmetrischen Drei-
ecksfunktion über der Zeit
5.5 Wechselverformung 203
ε s
Neukurve
Ds
t Depl
e
De
a) Zyklische Verfestigung
ε σ σ
t t ε
b) Zyklische Entfestigung
ε σ σ
t t ε
c) Zyklische Relaxation
ε σ σ
t t ε
d) Zyklisches Kriechen
ε σ σ
t t ε
t e
σ
ε
t t3 ε
t2
t1
tRELAX tRELAX tRELAX
2.t1 2.t2 2.t3
s s s s
s Ds
2 e e e e
1 2 3 4
3 2 1 1
Bruch
2
m3 m2 m1
3
4
4
m4 m4 > m3 > m2 > m1
e 4 5 6 7 8
10 10 10 10 10 NB
a) b)
Abb. 5.26 Zusammenhang von Versagen und Beanspruchung bei a) einsinniger und b) sich
zyklisch wiederholender Beanspruchung. Bild a) zeigt eine Spannungs-Dehnungs-Kurve. Bild b)
zeigt den Verlauf der Spannungsamplitude der Spannungs-Dehnungs-Hysterese über der
Zyklenzahl.
5.5 Wechselverformung 209
oder Ni, beobachtet und waren dort in der Regel parallel zur Ebene dichtester
Packung ausgerichtet [305-307]. Sie bilden sich jedoch nur dann aus, wenn eine
zyklische plastische Wechselverformung mit sehr geringen Amplituden auftritt.
Eine andere Art der Mikrostrukturänderung, welche ebenfalls aus einer stabilen
Versetzungsanordnung resultiert, besteht in der Bildung von Versetzungszellstruk-
turen, die im fortschreitenden Stadium zu Subkorngrenzen führen können, wie sie
auch für die Kristallerholung typisch sind [308-310]. Versetzungszellen sind drei-
dimensionale Gebilde. Sie bilden sich dann aus, wenn eine zyklische plastische
Wechselverformung mit sehr großen Amplituden auftritt.
Die Ausbildung von Versetzungszellen bzw. Subkörnern wurde vor allem bei
erhöhten Temperaturen bzw. bei Werkstoffen mit großer Stapelfehlerenergie in
Zusammenhang mit sogenannter welliger Gleitung beobachtet. Form und Größe
der Versetzungszellen bzw. Subkörner sind vor allem von der Amplitude der plas-
tischen Wechselverformung, der Temperatur, der Anzahl der Wechselverfor-
mungszyklen als auch von den Wechelwirkungen mit Korngrenzen und Fremdpha-
sen abhängig [311]. So geht aus [312] beispielsweise hervor, dass die Zellgröße
mit zunehmender Dehnungsamplitude sinkt.
Die Folge der Bildung von Versetzungszellen ist, dass sich - vergleichbar zur
Kristallerholung vor dem Einsetzen von Rekristallisationsprozessen (vgl. 3.5.2.1) -
Versetzungen annihilieren als auch sich innerhalb von Versetzungszellgrenzen
bzw. Subkorngrenzen energetisch günstig anordnen [305, 306]. Wenn die Verset-
zungsdichte innerhalb der Versetzungszellen sinkt, ergeben sich für die noch vor-
wellige Gleitung
Versetzungs-
Stapelfehlerenergie
zellen
Aderstrukturen, Dipole,
persistente Gleitbänder
planare Gleitung
Gemischte Strukturen
5 6 7
10 10 10
Bruchlastspielzahl N B
plastische Dehnungsamplitude Δεpl
5.5.4 Materialgedächtniseffekte
s s
B
E
D B, D
C C
A A
t e
5.5.4.2 Lastwechseleffekte
Alle bisherigen Betrachtungen bezogen sich vor allem auf stetige Beanspru-
chungsänderungen und ließen den Fall einer sprunghaften Beanspruchungsände-
212 5 Plastische Verformung
6 Schädigung
Tabelle 6.1 Ziele und Methoden in den Bereichen Qualität und Zuverlässigkeit zur Vermeidung
von Ausfällen in technischen Erzeugnissen während einer von der Anwendung geforderten Min-
destlebensdauer
Qualität Zuverlässigkeit
-Eingangskontrolle -Design
-Prozesskontrolle -Werkstoffauswahl
-Prozessverifikation -Last- und Feldbedingungen
-Technologieoptimierung -Ausfallmechanismen
-Konformitätsprüfung -Transformationsgleichungen
-Akzeptanzkriterien -Lebensdauerprognosen
Zwischen diesen beiden Arten von Ursachen ist bei der angestrebten Vermei-
dung von Ausfällen grundsätzlich zu unterscheiden. Beide enthalten sowohl zuver-
lässigkeitsrelevante als auch qualitätsrelevante Aspekte. Die im ersten Fall zusam-
mengefassten Fehler kommen, wenn sie nicht durch eine mangelnde Qualifikation
bzw. Nachlässigkeit der Nutzer (Qualitätsproblem) bzw. durch eine Fehleinschät-
zung von potenziellen Umweltbelastungen hervorgerufen werden (kein den Werk-
stoff betreffendes Problem), vor allem durch eine unsachgemäße Anwendung von
Rechenmethoden und Bewertungskriterien zustande. Letzteres hängt in der Regel
6.2 Materialphysik der Schädigung 215
nuklear a-Strahlung
elektrisch Dielektrikumsdurchschlag
chemisch Korrosion
thermisch-chemisch Feuchtigkeitsmigration
thermisch Gefügevergröberung
thermisch-mechanisch Schichtspannungen
Abb. 6.1 Natur der verschiedenen Triebkräfte von Schädigungsmechanismen mit ihren bevor-
zugten Wirkungsorten in elektronischen Aufbauten
Die Mechanismen der Schädigung von Werkstoffen hängen mit den in Kapitel 4
und Kapitel 5 dargestellten Mechanismen der Verformung zusammen. Um diesen
Zusammenhang grob einzuordnen, soll auf das zur Erläuterung der Grundbegriffe
von Verformungsreaktionen in Abb. 1.5 dargestellte Spannungs-Dehnungs-Dia-
gramm zurückgegriffen werden. Der in diesem Diagramm eingezeichnete Zusam-
menhang zwischen Spannungsbeanspruchung und Gestaltänderung wurde dort
zunächst idealisiert dargestellt. Eine in einem realen Experiment aufgenommene
Kraft-Verlängerungs-Kurve würde, wie in Abb. 6.2 dargestellt, nicht dem in
Abb. 1.5 angedeuteten idealisierten Verlauf folgen, sondern ab einer bestimmten
Dehnung unter ihm wegknicken. Ursache für die Diskrepanz zwischen der ideali-
sierten und der real in einem Experiment aufgenommenen Verformungskurve ist
das Auftreten von Schädigungsprozessen, welche in Begleitung der ablaufenden
Verformungsmechanismen auftreten. Im Unterschied zur idealisierten Verfor-
mungskurve durchläuft die reale Kurve ein Maximum und fällt von dort kontinu-
ierlich wieder ab, bis es zum Versagen, d. h. zum letalen Bruch, kommt. Dieser
nichtmonotone Verlauf der Kurve kommt durch Überlagern der durch Verfor-
mungsmechanismen hervorgerufenen Materialverfestigung gegenüber der durch
Schädigungsmechanismen hervorgerufenen lokalen plastischen Einschnürung
zustande. Während durch den ersten Mechanismus der Werkstoffwiderstand mit
fortschreitender Verformung ansteigt, wird durch den zweiten Prozess der effek-
tive Querschnitt der Probe kontinuierlich verringert. Bei Erreichen von Punkt B
s
elastisch plastisch idealisierte Verformungskurve
B
reale in einem Experiment
C aufgenommene Verformungskurve
sF
A
e
Abb. 6.2 Idealisierte und reale experimentell aufgenommeneVerformungskurve für metallische
Werkstoffe im Spannungs-Dehnungs-Diagramm
220 6 Schädigung
halten sich beide Prozesse die Waage, wodurch der Strukturkörper (in diesem Fall
die Probe) instabil wird, da sein Widerstand gegen Verformung bei weiterer Ver-
formung sinkt. Anhand dieses sehr einfachen Beispiels für das Zusammenwirken
von Verformungs- und Schädigungsprozessen wird unter Berücksichtigung der in
Kapitel 4 und Kapitel 5 dargestellten Vielfalt der Verformung deutlich, wie
schwierig es ist, für Werkstoffe Beanspruchungsgrenzen festzulegen, in denen ihre
strukturelle Integrität gewahrt bleibt, d. h., es nicht zum Versagen des Werkstoffs
kommt.
Exemplarisch sollen dazu die im Spannungs-Dehnungs-Diagramm in Abb. 6.3
dargestellten realen Deformationskurven für unterschiedliche Arten der Verfor-
mung betrachtet werden. Kurve A zeigt das Verhalten eines Werkstoffes, dessen
plastische Fließfähigkeit mit dem Ziel, eine höhere Festigkeit zu erreichen, durch
das Zusetzen bestimmter Legierungselemente drastisch herabgesetzt wurde. Im
Spannungs-Dehnungs-Diagramm weist das Material ein für spröde Werkstoffe
charakteristisches Verhalten auf und verformt sich weitestgehend linear-elastisch,
bis bei Erreichen seiner Festigkeit σ A abrupt zerbricht. Die Kurven B und C zeigen
das übliche duktile Verhalten eines metallischen Werkstoffs bei unterschiedlichen
Verformungsbedingungen, wobei sich die Kurve B auf instantanplastische Verfor-
mung, d. h. eine Verformung bei hohen Geschwindigkeiten und niedriger homolo-
sA A
W Bruch A
W Bruch B
sB
B
W Bruch C
sC
C
eA eB eC e
Mechanismus gekoppelt sein müssen. Üblicherweise geht man für die Berechnung
der Gesamtschädigung von einer Superposition der Schädigungswirkung verschie-
dener Einzelmechanismen aus, wie sie schematisch in Abb. 6.4 dargestellt ist [14].
Voraussetzung für solche zusammenfassende Betrachtungen ist jedoch das Vor-
handensein einzelner Schädigungskriterien, mit denen es gelingt, die Wirkung spe-
zifischer Beanspruchungen unter Berücksichtigung der struktureller Gegebenhei-
ten gut nachzubilden. Hierzu haben sich im Zusammenhang mit bestimmten im
Laufe der technischen Entwicklung aufgetretenen Schadensfällen verschiedene
Konzepte herausgebildet, welche es ermöglichen, Aussagen über Schädigungsver-
halten in technischen Strukturen zu treffen.
Da die Mechanismen der mechanischen Schädigung für den Entwurf funktio-
nell-struktureller Verbunde in elektronischen Aufbauten eine wichtige begren-
zende Randbedingung dahin gehend darstellen, dass sichergestellt werden muss,
dass die in diesem Verbund auftretenden Beanspruchungen nicht zum Werkstoff-
versagen in einzelnen Bereichen dieses Verbundes führen, gab es in den letzten
Jahren vielfältige Bemühungen, die in der Regel aus dem Maschinen-, Flugzeug-
und Anlagenbau stammenden Konzepte für diesen Bereich nutzbar zu machen.
Die ersten Ansätze bestanden dabei in der Nutzung einfacher Beziehungen, wie
sie zur Absicherung der Betriebsfestigkeit im Anlagen-, Kraftwerks- und Fahr-
zeugbau verwendet wurden. Im Gegensatz zu den typischen Problemfällen in die-
sen Anwendungsgebieten sind Schadensfälle im Bereich elektronischer Aufbauten
durch verschiedene, mit den Merkmalen dieser Aufbauten verbundene Besonder-
Sa e S Rm Eij
ò ( ( )) ( ) ( )
t j-1
Fr ( t ) = 1 - 1 - Fa s(t)ij *j* n d n
0 X(t)ij N(t) N(t)
Abb. 6.4 Berechnung der Lebensdauer aus verschiedenen Komponenten der Materialschädigung
- entnommen aus [14]. Dargestellt wird die Berechnung einer normalisierten verbleibenden
Festigkeit Fr in Abhängigkeit von einem generalisierten Fehlerkriterium Fa, einer Anzahl von Last-
wechseln n und dem Schädigungszustand eines kritischen Elementes N.
6.2 Materialphysik der Schädigung 223
Technischer Anriss
(0,5 mm ... 1 mm)
6.2.3.3 Bruchmechanismenkarten
Da die Art und Weise, wie die Schädigung eines Werkstoff abläuft, nicht einem
bestimmten Beanspruchungsparameter zugeordnet werden kann, sondern von
einem komplexen Zusammenhang zwischen verschiedenen Parametern abhängt,
unter denen die Spannung, die Verformungsgeschwindigkeit, die Temperatur
sowie die Werkstoffstruktur die wichtigsten sind, ist es für die Beschreibung der
Schädigung wichtig, die verschiedenen Formen der Schädigungsmechanismen
richtig zuzuordnen.
Mit dem Ziel, eine übersichtliche Darstellung der verschiedenen Erscheinungs-
formen von Schädigungsprozessen zu erstellen, wurde analog zu den Bemühungen
bei der Darstellung des Verformungsverhaltens in den sogenannten Verformungs-
mechanismenkarten (vgl. 5.1.2) von verschiedenen Autoren [350-356] mit der
Erarbeitung sogenannter Bruchmechanismenkarten begonnen. Die heute verbrei-
tetesten Arbeiten stammen dabei von Ghandi und Ashby [353, 354], welche für
eine große Anzahl von metallischen Werkstoffen Bruchmechanismenkarten ent-
wickelt haben. In Abb. 6.6 ist eine Bruchmechanismenkarte vereinfacht schema-
tisch dargestellt. Einer solchen Karte liegt die Idee zugrunde, verschiedene phäno-
menologische Erscheinungsformen von Brüchen, die in der Regel mit bestimmten
Schädigungsmechanismen zusammenhängen, in einen allgemeinen Zusammen-
hang mit den Beanspruchungsgrößen Spannung und Temperatur (zum Teil auch
mit Verformungsgeschwindigkeit und Werkstoffstruktur) zu bringen.
In den Karten wird angezeigt, welche phänomenologische Erscheinungsform
eines Bruches in welchem Spannungs-Temperatur-Bereich zu erwarten ist. Um
Karten verschiedener Werkstoffe untereinander vergleichen zu können, sind die
Achsen des Diagramms auf die Werkstoffparameter Schmelztemperatur T s und
Elastizitätsmodul E normiert worden. In den Bruchmechanismenkarten wird der
( T ⁄ T s ; ( σ ⁄ E ) ) -Parameterbereich in einzelne Sektionen unterteilt, in denen
jeweils eine bestimmte Bruchform vorherrschend ist. Im Bereich niedriger Tempe-
raturen tritt in der Regel Spaltbruch ein, wenn eine kritische Spannung überschrit-
ten wird. Oberhalb einer bestimmten Spröd-zu-Duktilbruch-Übergangstemperatur
6.2 Materialphysik der Schädigung 227
ändert sich die Bruchform in einen intragranularen Duktilbruch, dem in der Regel
Mechanismen des Porenwachstums an Einschlüssen und Lunkern zugrunde liegen.
Der Bereich des intragranularen Duktilbruchs verbreitert sich zu höheren Tempera-
turen hin, da die Prozesse des plastischen Fließens zunehmend von der Verfor-
mungsrate abhängig werden. Dies bedeutet, dass die Prozesse des Porenwachstums
auch unterhalb der kritischen Spannung für einen Bruch bei instantaner plastischer
Verformung stattfinden. Sinken die Spannungen im Bereich höherer homologer
Temperaturen noch weiter ab, kommt es zu einem Übergang von intragranularen
zu intergranularen Porenwachstumsprozessen. Letztere finden an Korngrenzen
statt und basieren auf diffusiven Prozessen, wie spannungsgerichteten Leerstellen-
bewegungen, während den zuerst genannten eher Versetzungsbewegungen
zugrunde liegen [342].
Zum Verständnis der Schwierigkeiten, welche sich bei der Modellierung der
Materialschädigung ergeben, sollen in den folgenden Abschnitten wichtige, den
verschiedenen Formen von Brucherscheinungen zugrunde liegende werkstoffphy-
sikalische Mechanismen kurz umrissen werden. In Abschnitt 6.2.3.4 werden die
grundlegenden physikalischen Betrachtungen zum Spaltbruch dargelegt. Um die
verschiedenen Formen von Schädigungsverläufen bei Duktil- und Kriechbruch
darstellen zu können, ist es notwendig, die Mechanismen, welche zum Entstehen
von Rissen führen, getrennt von Mechanismen zu betrachten, mit denen diese ent-
standenen und sehr kleinen Risse im Laufe einer fortgeführten Beanspruchung zu
wachsen beginnen. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, da in Abhängigkeit
davon, wie ein Bauteil beschaffen ist und welcher Beanspruchung es ausgesetzt
10 -1
transgranularer
Duktilbruch
Zerreißen
10 -2 infolge
Spaltbruch
dynamischer
Normierte Normalspannung s/E
Rekristallisation
10 -3
10 -4 intergranularer
Kriechbruch
10 -5
kein Bruch
10 -6
0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
wird, entweder die Phase der Rissentstehung oder die des Risswachstums den
Schädigungsverlauf dominieren kann. Aus diesem Grund werden in den Abschnit-
ten 6.2.3.5 und 6.2.3.6 die verschiedenen dem intragranularen oder dem intergra-
nularen Porenwachstum zugehörigen Mechanismen getrennt nach den Phasen der
Rissbildung und des Risswachstums dargelegt.
Rissvorgänge in einem Material treten dann ein, wenn zum einen ein ausrei-
chend hoher Betrag an mechanischer Spannung vorhanden ist und gleichzeitig
genügend mechanische Arbeit verrichtet wird, um auf dem untersten Strukturni-
veau (vgl. 3.2.1 und 3.2.2.1) Atombindungen entweder im Kristallgitter oder zwi-
schen einzelnen Kristalliten aufzubrechen. Für das grundsätzliche Verständnis die-
ses Vorgangs auf atomaren Niveau soll zwischen diesen beiden Varianten der
Einfachheit halber nicht unterschieden werden, da sich bezüglich der nun folgen-
den allgemeinen Abschätzung für die erforderliche Spannung und Arbeit keine
Unterschiede ergeben. Aufbauend auf den in 4.2.1 gemachten Betrachtungen zur
Verzerrung des Kristallgitters beziehen sich alle folgenden Überlegungen auf den
hinteren Teil der in Abb. 4.2 dargestellten Wechselwirkungskraft-Atomabstands-
Kurve, welcher in Abb. 6.7 noch einmal mit den für die Bruchproblematik relevan-
ten Details dargestellt ist.
Um die Bindung zwischen zwei Atomen zu lösen, muss eine Kraft der darge-
stellten Anziehungskraft entgegenwirken, damit die Atome aus der Ruhelage r0
über dem Punkt der Destabilisierung der Bindung rD auseinandergezogen werden.
Zur Abschätzung der Anziehungskraft auf Atomniveau wird deren Verlauf als die
erste Hälfte der vollen Periode einer Sinusfunktion idealisiert angenommen:
π⋅r
F = F min ⋅ sin § ----------------· , (6.1)
© r D – r 0¹
wobei F min die interatomare Bindungskraft ist und alle anderen Variablen den
in Abb. 4.2 bzw. Abb. 6.7 dargestellten Funktionen entsprechen. Im Sinne einer
weiteren Vereinfachung für die hier vorgenommene Abschätzung wird die Sinus-
funktion in Gleichung (6.1) durch ihr Argument ersetzt
π⋅r
F = F min ⋅ ---------------- (6.2)
rD – r0
0
r
Bindungsenergie
Fi
Bindungsenergie
k
F = Fmin sin (pr/(rD-r0))
0
r
Bindungskraft
Fmin
r0 rD
Abb. 6.7 Schematische Darstellung der Anziehung zwischen zwei Atomen (Potenzial U, innere
Wechselwirkungskraft Fi=-dU/dr, Steifigkeit in der Ruhelage k=d2U/dr). Um die Bindung
zwischen zwei Atomen aufzubrechen, müssen die Atome aus der Ruhelage r0 bis zum Punkt der
Destabilisierung der Bindung rD auseinander gezogen werden [334].
π
k = F min ⋅ ---------------- (6.3)
rD – r0
Werden beide Seiten dieser Gleichung mit der Anzahl von Bindungen pro Flä-
cheneinheit und der Distanz der Ruhelage multipliziert, lässt sich sehr leicht eine
Formulierung ableiten, in der der Elastizitätsmodul E an die Stelle von k rückt
und F min durch eine Kohäsivspannung σ K ersetzt wird. Aufgelöst nach σ K ergibt
sich dann:
E ⋅ ( rD – r0 )
σ K = ----------------------------
- (6.4)
π ⋅ r0
230 6 Schädigung
Wird weiterhin davon ausgegangen, dass der Abstand zwischen dem Punkt der
Ruhelage und dem Punkt der Destabilisierung, ( r D – r 0 ) , etwa dem Atomabstand
in der Ruhelage r 0 entspricht, so ergibt sich folgende einfache Abschätzung für die
Beziehung zwischen σ K und E :
E
σ K ≈ --- (6.5)
π
Da sich nach Aufbrechen der Atombindungen zwei neue Oberflächen mit der
jeweiligen Oberflächenenergie γ s bilden, lässt sich folgende Energiebilanz für den
Bruch auf atomarer Ebene formulieren:
EB = ³ F dx = 2 ⋅ γs , (6.6)
r0
rD – r0
1 π⋅r rD – r0
γ s = --- ³ σ K ⋅ sin §© ----------------·¹ dx = σ K ⋅ ---------------- (6.7)
2 rD – r0 π
0
Aus der Substitution von Gleichung (6.4) in Gleichung (6.7) und Auflösung
nach σ K ergibt [334]:
E ⋅ γs
σK = ------------ (6.8)
r0
Wie aus der oben durchgeführten Abschätzung hervorgeht, liegt der theoreti-
sche Wert für die Festigkeit eines Materials im Bereich von E ⁄ π . Tatsächlich lie-
gen experimentell bestimmte Festigkeiten jedoch viel niedriger. Bei spröden Werk-
stoffen beträgt der Unterschied zwischen theoretischer und experimentell
bestimmter Festigkeit sogar drei bis vier Größenordnungen [334]. Aus diesen deut-
lichen Diskrepanzen zwischen makroskopisch beobachteter Festigkeit und korre-
spondierender atomarer Kohäsivspannung lässt sich schlussfolgern, dass Inhomo-
genitäten der Werkstoffstruktur zu einer drastischen Erhöhung des Betrages des
Spannungszustandes an einzelnen Atombindungen führen. Diese festigkeitsmin-
dernden Inhomogenitäten können entweder Poren, Oberflächenrisse oder Mikro-
risse im Werkstoffgefüge sein. Aber auch durch plastische Verformung erzeugte
Versetzungsstrukturen können zu lokalisierten Spannungserhöhungen auf atomarer
Ebene führen, wodurch Rissinitiierungen entstehen, aus denen sich bei weiterer
6.2 Materialphysik der Schädigung 231
mechanischer Belastung große Makrorisse bilden können. Hieraus ergibt sich eine
bestimmte Komplexität bei der theoretischen Beschreibung von Rissentstehung
und -wachstum, da sich in Abhängigkeit von Material und Beanspruchung sehr
unterschiedliche Möglichkeiten für die Erzeugung lokal erhöhter Spannungszu-
stände ergeben, welche Auslöser von Rissen sind.
6.2.3.5 Rissentstehung
Wie zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, sind die Prozesse der Rissentste-
hung vielschichtig und lassen daher keine einheitliche werkstoffunabhängige
Beschreibung zu. Eines der elementaren Probleme besteht darin, dass viele der bei
der Rissentstehung ablaufenden Prozesse auf atomaren Niveau stattfinden, sodass
sie sich nur an sehr speziellen Laborproben untersuchen lassen. Einer Rissbildung
gehen in der Regel Prozesse der Lokalisierung der plastischen Verformung voraus,
d. h., spezifische, der plastischen Verformung zugrunde liegende Mechanismen
treten örtlich gebündelt auf, sodass an dieser Stelle eine für die Schädigung auf ato-
maren Niveau notwendige Beanspruchung auftritt. Beim Prozess der Lokalisierung
kommt es analog zu den Verformungsmechanismen (vgl. 5.3.1, 5.4.3, 5.5.3) zu
einer Wechselwirkung zwischen den Versetzungen und Leerstellen mit bestimmten
Elementen der Werkstoffstruktur (z. B. Gitter, Korngrenzen, Ausscheidungen). In
Abhängigkeit von der Art dieser Wechselwirkung treten unterschiedliche Mecha-
nismen der Rissentstehung auf. Sie unterteilen sich grob in intragranularen Rissbil-
dungsmechanismen, dazu zählen alle Mechanismen, die auf einer Wechselwirkung
mit Elementen der Strukturhierarchie (vgl. 3.2.1) unterhalb von Körnern basieren,
und intergranulare Mechanismen, d. h. Mechanismen, die an Korngrenzen bzw.
Phasengrenzen wirken.
Eine typische Form von intragranularen Rissbildungsmechanismen sind Verfor-
mungslokalisierungen aufgrund der Ausbildung persistenter Gleitbänder bei zykli-
scher Verformung (vgl. 5.5.3.2). In diesen werden bei zyklischer Verformung Ver-
setzungen ständig erzeugt und annihiliert. Infolge der Annihilation von
Versetzungsdipolen des Leerstellentyps kommt es zur Bildung von Leerstellen,
wodurch der Werkstoff in Form einer Protrusion an der Oberfläche austritt [341].
Die im Gitter einzelner Körner auftretenden persistenten Gleitbänder können
jedoch auch intergranulare Mechanismen der Rissbildung auslösen, indem ein Ver-
setzungsaufstau im persistenten Gleitband an der Korngrenze eine Spannungskon-
zentration hervorruft. In Abhängigkeit von der Beschaffenheit der Korngrenze
können die so induzierten Zugspannungen ausreichen, um die Korngrenze aufzu-
reißen [341]. Allerdings ist bei diesem eher bei niedrigen homologen Materialtem-
peraturen auftretenden Mechanismus der Rissbildung eher von intragranularen
Rissbildungen auszugehen. Der Übergang zu intergranularen Mechanismen findet
vor allem bei hohen homologen Materialtemperaturen in Zusammenhang mit den
mit der Kriechverformung zusammenhängenden Elementarmechanismen statt
[357, 358]. Einer der wichtigsten Mechanismen besteht dabei in der Bildung von
232 6 Schädigung
ΔF
P ∼ exp § – -------· ,
*
(6.9)
© kT ¹
wobei
3
16 ⋅ π ⋅ γ
ΔF = ----------------------s- (6.10)
2
3⋅σ
der aufzubringende Betrag an Freier Energie für die Bildung einer stabilen Pore
ist. Die für die Bildung stabiler Poren erforderlichen Spannungen sind zwar niedri-
ger als beim einfachen Zerreißen von Atombindungen, liegen jedoch mit einer
Größenordnung von etwa E ⁄ 100 deutlich über den für Kriechverformungen übli-
chen Spannungsbeanspruchungen [358]. Daraus folgt, dass Porenbildung durch
Leerstellenkondensation an Korngrenzen nur dann erfolgen kann, wenn gleichzei-
tig durch andere Mechanismen hohe lokale Spannungskonzentrationen erzeugt
werden. Hierfür werden in der Literatur drei Mechanismen vermutet. Zum einen
können an Korngrenzentripeln hohe lokale Spannungskonzentrationen auftreten,
wenn dort gleichzeitig Prozesse der Korngrenzengleitung ablaufen. Eine andere
n s
K
ite
or
le
ng
s ng
re
e
nz
nz Gleitband
en
re
s
gl
ng
ei
or
te
K Korngrenze
n
Teilchen
s
s s
6.2.3.6 Risswachstum
2b
Oberflächendiffusion
Korngrenzendiffusion
2a
Abb. 6.9 Schematische Darstellung des Porenwachstums durch Leerstellendiffusion aus [358].
234 6 Schädigung
da d KG ⋅ D KG ⋅ Ω ⋅ σ
-,
------ = ----------------------------------------- (6.11)
dt 2
a ⋅k⋅T
3
da- ds ⋅ Ds ⋅ Ω ⋅ σ
----- = ----------------------------------
-, (6.12)
dt 2 ⋅ k ⋅ T ⋅ γs
2
2b
L L
Oberflächendiffusion
Potenzgesetz- Korngrenzen- Korngrenzen- Potenzgesetz-
kriechen diffusion diffusion kriechen
2a
Wie aus den Ausführungen zur Rissbildung (vgl. 6.2.3.5) und zur Rissfortpflan-
zung (vgl. 6.2.3.6) hervorgeht, handelt es sich bei Schädigungsprozessen in der
Regel um lokalisiert im Werkstoff ablaufende physikalische Mechanismen. Im
Gegensatz zur Verformung, bei der angenommen wird, dass sie bei homogener
äußerer Belastung gleich verteilt über dem Querschnitt des Werkstoffs stattfindet,
muss bei Schädigungsprozessen davon ausgegangen werden, dass trotz homogener
äußerer Belastung sich an einer bestimmten Stelle im Querschnitt des Werkstoffs
ein Anriss bildet, der sich von dort aus über den Querschnitt auszubreiten beginnt.
Der Ort der Rissentstehung hängt dabei nicht unmittelbar mit der Belastung zusam-
men.
Für die Nachbildung von Schädigungsprozessen in einem Modell wirft dies ein
Problem auf, wenn - wie bei den werkstoffmechanischen Modellen - ein funktiona-
ler Zusammenhang zwischen vorgegebener Belastung und im Werkstoff erfolgen-
der Schädigungsreaktion angestrebt wird. Grundsätzlich wäre es zwar möglich, die
konkreten werkstoffstrukturellen Spezifika, d. h. Korngrenzen, Ausscheidungen,
harte Phasenteilchen usw., einem Modell vorzugeben, um so lokale Spannungs-
überhöhungen zu ermitteln und Orte der Rissentstehung abzuschätzen. Für prakti-
sche ingenieurtechnische Belange ist ein solches Vorgehen sehr aufwendig, da der-
selbe Werkstoff in verschiedenen in einer Serienproduktion gefertigten Bauteilen
gleichen Typs immer ein anderes strukturelles Aussehen haben wird und somit
viele Varianten möglicher Werkstoffgefüge in die Berechnungen einbezogen wer-
den müssen. Auch die Nachbildung der Rissbildung ist für ingenieurtechnische
Anwendungen schwierig. Zwar liegen für die verschiedenen möglichen Mechanis-
men physikalische Modelle vor, allerdings ist die experimentelle Verifizierung die-
ser Prozesse sehr aufwendig, sodass nur für wenige ausgesuchte “Modellwerk-
stoffe“, wie Cu oder Ni, entsprechende Modellparameter vorliegen. Eine
Ausweitung dieser Experimente auf alle technisch verfügbaren Legierungen
erscheint unrealistisch. Überdies ist die Modellierung mechanischer Prozesse über
viele Größenordnungen hinweg, d. h. von der Makroebene bis auf das atomare
Niveau, sehr schwierig, da hierzu viele Zwischenmodelle notwendig sind, welche
die Zusammenhänge zwischen den Mechanismen in den einzelnen Strukturebenen
herstellen.
Aus den genannten Gründen haben sich für ingenieurtechnische Belange For-
men der Modellierung durchgesetzt, bei denen durch die Vorgabe bestimmter
Randbedingungen bzw. durch bestimmte Vereinfachungen die eingangs für die
236 6 Schädigung
Der Zweck bruchmechanischer Konzepte besteht darin, die Analyse und Vor-
aussage des Risswachstums ohne explizite Kenntnis der werkstoffphysikalischen
Schädigungsmechanismen durchführen zu können. Das methodische Vorgehen
besteht dabei in der Verwendung verschiedener Konzepte, welche die Verteilung
von Spannung und Dehnung in der Nähe der Rissspitze charakterisieren. In Versu-
chen an speziellen Modellproben wird der Zusammenhang zwischen einem
bestimmten bruchmechanischen Parameter und der Rissausbreitung bestimmt. Mit
Hilfe der so erhaltenen Kennwerte lassen sich durch Anwendung der bruchmecha-
nischen Konzepte auf Rissvorgänge in realen Strukturen Aussagen zum Rissfort-
schritt ableiten [357].
Die heute bekannten bruchmechanischen Konzepte gehen auf Arbeiten von Ing-
lis [367] aus dem Jahr 1913 zurück, in denen er das Konzept von Spannungskon-
zentrationen an geometrischen Diskontinuitäten vorschlug, um so eine Erklärung
dafür zu geben, weshalb Brüche in der Regel von Rissen, Löchern oder anderen
1. Das Zitat stammt aus einem Übersichtsaufsatz über die historische Entwicklung des Bruchver-
ständnisses [374] (übersetzt durch den Autor).
6.3 Modellierung der Materialschädigung 237
Defekten ausgehen. Diese Überlegungen wurden wenige Jahre später von Griffith
[368] weitergeführt, indem er diese mit Hypothesen zur Energiebilanz während der
Rissbildung kombinierte und daraus das Konzept einer kritischen Risslänge ablei-
tete, ab der es in spröden Werkstoffen zur instabilen Rissausbreitung kommt. In
theoretischen Analysen leitete er eine inverse Beziehung zwischen der Bruchspan-
nung und der Wurzel der Risslänge ab. Experimentell konnte dieser Ansatz jedoch
nur an sehr spröden Glasproben bestätigt werden. Alle Versuche, das Griffith-Kon-
zept auch auf Metalle anzuwenden, scheiterten, wodurch keine praktische Nutzbar-
keit des Konzeptes gegeben war.
Erst im Jahr 1956 wurde durch Irwin ein für ingenieurtechnische Belange geeig-
netes Energiefreisetzungsrate-Konzept vorgestellt, welches auf den theoretischen
Ansätzen von Griffith aufbaute und vorhergegangene Überlegungen [372, 370]
zum lokalen plastischen Fließen an der Rissspitze berücksichtigte. Kurze Zeit spä-
ter veröffentlichte Irwin seinen wichtigsten Aufsatz [372] zur Bruchmechanik, in
welchem er durch Nutzung der Westergaard-Näherung [373] zeigte, dass die
Amplitude der Spannungen oder Verformungen vor der Rissspitze in sich elastisch
verformenden Medien durch einen einzigen Parameter charakterisiert werden
kann. Die Einführung dieses heute allgemein als Spannungsintensitätsfaktor K
bezeichneten Parameters war einer der wichtigsten Meilensteine für das sich ent-
wickelnde Gebiet der Bruchmechanik. Die Größe von K hängt von der äußeren
Belastung sowie der Größe und Form von Riss und Bauteil ab. Es konnte weiter
gezeigt werden, dass K eindeutig zur Energiefreisetzungsrate ins Verhältnis
gesetzt werden kann, was zeigt, dass eine Korrelation zwischen den Spannungs-
und Energieansätzen besteht [375, 334].
In Abhängigkeit vom Verformungsverhalten der Werkstoffe werden verschie-
dene bruchmechanische Konzepte zur Bewertung rissbehafteter Bauteile verwen-
det. Grundsätzlich wird zwischen der linear-elastischen Bruchmechanik (LEBM)
und der elastisch-plastischen Bruchmechanik (EPBM), welche auch als Fließ-
bruchmechanik (FBM) oder Zähbruchmechanik bezeichnet wird, sowie der zeitab-
hängigen Bruchmechanik (ZBM) unterschieden. Ausschlaggebend ist, in welchem
Ausmaß plastische Verformungen vor der Rissspitze den Bruchvorgang begleiten
und ob diese sich zeitlich verändern. Sind die Fließbereiche vor der Rissspitze groß
und ist damit der Radius der plastischen Zone nicht mehr klein gegenüber der Riss-
länge, verlieren die einfacheren Konzepte der LEBM ihre Gültigkeit und es muss
die EPBM zur Anwendung kommen. Sollen darüber Zeitabhängigkeiten betrachtet
werden, kommt in Abhängigkeit von der Rissgeschwindigkeit und vom Material-
verhalten eines von mehreren Konzepten innerhalb der ZBM zum Tragen - die
dynamische Bruchmechanik für schnelle Risse in der Größenordnung der Schall-
geschwindigkeit im jeweiligen Werkstoff, die viskoelastische Bruchmechanik für
zeitabhängige Rissvorgänge in Polymeren sowie die Kriechbruchmechanik für
langsame Rissausbreitung in Keramiken und Metallen.
238 6 Schädigung
Energiebilanz-Ansatz
d H- = d Π- + d W
---------s = 0
------ ------ (6.13)
dA dA dA
bzw.
dΠ dW
– ------- = ---------s , (6.14)
dA dA
wobei Π die potenzielle Energie ist, welche durch die elastische Streckung der
Platte zustande kommt. Zur ihrer Berechnung nutzt Griffith die Spannungsanalyse
von Inglis [367], um für den in Abb. 6.11 abgebildeten Riss zu zeigen, dass
2 2
π⋅σ ⋅a ⋅d
Π = Π 0 – ------------------------------- , (6.15)
E
wobei Π 0 die potenzielle Energie der ungerissenen Platte ist und d der Platten-
dicke entspricht. W s entspricht der Arbeit, welche zur Bildung der zwei neuen
Oberflächen notwendig ist und sich aus
6.3 Modellierung der Materialschädigung 239
2a
Abb. 6.11 Riss durch die Dicke einer dünnen Platte, welche unter Zugbeanspruchung steht.
Ws = 4 ⋅ a ⋅ d ⋅ γs (6.16)
2
dΠ π⋅σ ⋅a
– ------- = --------------------- (6.17)
dA E
und
dW s
--------- = 2 ⋅ γ s (6.18)
dA
Aus den Gleichungen (6.17) und (6.18) ergibt sich eine Bruchspannung von
2 ⋅ E ⋅ γs
σB = -------------------- . (6.19)
π⋅a
Gleichung (6.19) gilt jedoch nur für sehr spröde Werkstoffe. Bei der Anwen-
dung auf Metalle zeigte sich, dass es zu einer deutlichen Unterbewertung der
240 6 Schädigung
Bruchfestigkeit kommt. Irwin und Orowan modifizierten daher die Lösung von
Griffith, indem sie einen zusätzlichen Energiebetrag für plastische Verformung vor
der Rissspitze in die Bilanz mit aufnahmen, sodass sich die Bruchspannung aus
2 ⋅ E ⋅ ( γs + γp )
σB = -----------------------------------
- (6.20)
π⋅a
ergibt, wobei γ p die plastische Verformungsarbeit ist, die im Material vor der
Rissspitze geleistet wird, welche in Metallen üblicherweise deutlich größer als γ s
ist [334]. Im Gegensatz zu Bruchvorgängen in spröden Werkstoffen, in denen
Risse hauptsächlich durch das Aufreißen von Atombindungen gebildet werden,
kommt es in Metallen zu einer erheblichen Versetzungsbewegung in der Nähe der
Rissspitze, aus welcher ein zusätzlicher Betrag von Verformungsarbeit resultiert.
Obwohl Irwin und Orowan die Formulierung in Gleichung (6.20) ursprünglich für
Metalle gemacht haben, lässt sich durch die Einführung einer spezifischen Bruch-
energie w B folgende Generalisierung dieser Formulierung erreichen
2 ⋅ E ⋅ wB
σB = ---------------------- , (6.21)
π⋅a
Spannungsintensitätsfaktoren-Ansatz
F
y x F
z
F
F F
tiert für Risse in den Moden II und III bzw. für sich überlagernde Bruchmoden
(engl. mixed-mode) keine vollständig etablierte Theorie [375].
Das Konzept der Spannungsintensitat ermöglicht die quantitative Erfassung der
das Risswachstum vorantreibenden Kräfte unter Annahme eines überwiegend
linear-elastischen Verformungsverhaltens des Werkstoffes. Ausgangspunkt für den
Spannungsintensitätsfaktor-Ansatz waren geschlossene mathematische Ausdrücke
zur Spannungsberechnung in einem sich als isotrop linear-elastisch verformenden
rissbehafteten Körper, welche durch verschiedene Autoren [372, 373, 376] vorge-
legt wurden. Eine generalisiertere Lösung zur Spannungsberechnung im Raum vor
der Rissspitze, welche nicht auf die unmittelbare Rissspitzenumgebung begrenzt
ist, wurde von Williams [377] formuliert:
m
----
k ∞
= § ------· ⋅ f ij ( θ ) + ¦
2 (m)
σ ij A m ⋅ r ⋅ g ij ( θ ) , (6.22)
© r¹ m=0
syy
txy sxx
tyx
q
Rissspitze
x
(I) KI (I)
lim σ ij = ------------- ⋅ f ij ( θ ) (6.23)
r→0 2πr
( II ) K II ( II )
lim σ ij = ------------- ⋅ f ij ( θ ) (6.24)
r→0 2πr
KI
σ xx = σ yy = ------------
- (6.26)
2πr
Für θ = 0 ergibt sich keine Schubkomponente, was bedeutet, dass in der Ris-
sebene eine reine Mode I-Belastung vorliegt.
Das Diagramm in Abb. 6.14 zeigt schematisch den Verlauf von σ yy , d. h. die
normal zur Rissebene stehende Spannungskomponente über der Entfernung von
der Rissspitze. Die Gültigkeit des über Gleichung (6.26) berechneten Verlaufes
beschränkt sich auf die unmittelbare Umgebung vor der Rissspitze, welche durch
die 1 ⁄ r Singularität beherrscht wird. Die weit von der Rissspitze im Bauteil vor-
liegende Spannungsverteilung wird von den äußeren Randbedingungen bestimmt.
Wird ein rissbehaftetes Bauteil beispielsweise durch eine homogen angreifende
Zugkraft belastet, so nähert sich σ yy mit zunehmender Entfernung vom Riss einem
konstanten Wert σ ∞ an. Innerhalb der singulären Zone gelten die unter 6.2.3.4 for-
mulierten Ableitungen zum Bruch auf atomarer Ebene.
Der Spannungsintensitätsfaktor K gibt über die Amplitude der Singularität an
der Rissspitze Auskunft, d. h., Spannungen in der Nähe der Rissspitze verhalten
sich proportional zu K . Über K lässt sich auch die Spannungs- und Dehnungsver-
teilung in der Nähe der Rissspitze als Funktion von den Koordinatenparametern r
und θ bestimmen. Der Spannungsintensitätsfaktor K ist damit eine einparametrige
Beschreibung der Rissspitzenbeanspruchung, da er die Einflussgrößen äußere
Kräfte und vorhandene Risslänge miteinander kombiniert, d. h., ein rissbehaftetes
Bauteil ist der gleichen wirksamen Rissspitzenbeanspruchung ausgesetzt, wenn
entweder eine hohe äußere Kraft auf einen kurzen Riss wirkt oder eine niedrige
äußere Kraft auf einen langen Riss. Der quantitative Betrag der Rissspitzenbean-
spruchung, welcher darüber entscheidet, ob der Riss wächst, lässt sich einfach an
K ablesen, wodurch der Rissspitzen-Spannungsintensitäts-Ansatz das effektivste
und damit bedeutungsvollste Konzept der Bruchmechanik ist [334].
syy
sµ
KI
2pr
Rissspitze
r
durch Singularität
beherrschte Zone
Der J-Integral-Ansatz
du j
J = ³ §© W ⋅ dy – σ ij ⋅ n i ⋅ ------
dx
- ⋅ ds·
¹ (6.27)
Γ
mit
6.3 Modellierung der Materialschädigung 245
Ti
uj
q
Rissspitze
0 x
ds
ni
ε ij
∂ F
∂a ³ b
J = – ⋅ --- ⋅ dx , (6.29)
wobei F der Kraft, welche auf den Probekörper der Dicke b aufgebracht
wurde, entspricht und dx die inkrementellen Verschiebungen des Lastangriffs-
246 6 Schädigung
punktes während des Experimentes sind [342]. Die nummerische Bestimmung des
J-Integrals ist hingegen sehr viel komplizierter [378]. Im Spezialfall einer linear-
elastischen Verformung ergibt sich für den Fall des ebenen Spannungszustandes
folgende Beziehung zwischen J und K
2
K
J = -----I- (6.30)
E
bzw.
2 2
KI ( 1 – ν )
J = -------------------------
- (6.31)
E
Der C*-Integral-Ansatz
Nachdem sich das J-Integral als Konzept zur Bewertung von Brüchen bei elas-
tisch-plastischen Verformungsverhalten etabliert hatte, entwickelten sich Ansätze
zur Beschreibung des Kriechrissverhaltens bei Hochtemperaturanwendungen. Das
C*-Integral, mit dem sich das Risswachstumsverhalten bei quasistatischer Kriech-
verformung beschreiben lässt, wurde unter anderem von Landes und Begley vorge-
schlagen [383]. Hierbei wird auf die Hoff’sche Analogie [384] zurückgegriffen,
dass, wenn ein nichtlinearer elastischer Körper, welcher der Beziehung
ε ij = f ( σ ij ) folgt, und ein viskoser Körper, welcher durch die Beziehung
·
ε ij = f ( σ ij ) gekennzeichnet ist, demselben zeitlichen Spannungsverlauf ausge-
setzt sind, dann entwickelt sich in beiden die gleiche Spannungsverteilung für die-
selbe Belastung [334]. Das C*-Integral zeichnet sich dadurch aus, dass gegenüber
dem J-Integral Spannungen gegen Spannungsraten und Verschiebungen gegen
Verschiebungsraten ausgetauscht werden
du· j
C* = ³ §© w· ⋅ dy – σij ⋅ ni ⋅ ------
dx
- ⋅ ds· ,
¹ (6.32)
Γ
·
ε kl
·
w· = ³ σij ⋅ dεij (6.33)
0
6.3 Modellierung der Materialschädigung 247
ry
K
³ -------------
2πx
dx – σ F ⋅ r F = σF ⋅ ( rp – rF ) (6.34)
0
1 K 2
r p = 2 ⋅ r F = --- § ------· (6.35)
π © σ F¹
Ist die Größe der plastischen Zone klein gegenüber der Risslänge, bleibt die
Lösung für Spannungsverteilung um die Rissspitze erhalten und wird nur durch
248 6 Schädigung
syy
sF
Rissspitze
r
rF
rp
eine kleine Fließzone vor der Rissspitze ergänzt, welche den bisherigen Verlauf
dort abschneidet.
Wenn sich das Problem der Rissspitzenplastizität aufgrund der Größe der plasti-
schen Zone nicht mehr durch den Fall des Kleinbereichfließens abdecken lässt, las-
sen sich Form und Größe der plastischen Zone nur mit nummerischen Verfahren
ermitteln, da beide dann stark von der Form des Bauteils abhängig sind. Bei stei-
gender Belastung kann sich die plastische Zone über den gesamten Querschnitt des
Bauteils ausbreiten. Die Berechnung der Spannungsverläufe in der Nähe der
Rissspitze wurde von Hutchinson [381] und von Rice und Rosengreen [382] vorge-
nommen. Dabei gingen sie davon aus, dass das Verfestigungsverhalten des Werk-
stoffes bei einsetzender plastischer Verformung einer Potenzfunktion folgt, wie sie
von der Ramberg-Osgood-Beziehung [386] vorhergesagt wird. Unter Berücksichti-
gung der gleichzeitig stattfindenden elastischen Verformung ergibt sich folgende
Beziehung für den einachsigen Beanspruchungsfall:
ε σ σ N
----- = ------ + α ⋅ § ------· , (6.36)
εF σF © σ F¹
1 -
------------
§ E⋅J ·N+1
σ ij ( r, θ ) = σ F ⋅ ¨ -----------------------------
2
-¸ ⋅ σ ij ( N, θ ) (6.37)
© α ⋅ σ F ⋅ I n ⋅ r¹
N -
------------
α ⋅ σF § E⋅J ·N+1
ε ij ( r, θ ) = -------------- ⋅ ¨ -----------------------------
-¸ ⋅ ε ij ( N, θ ) , (6.38)
E © α ⋅ σ 2 ⋅ I ⋅ r¹
F n
· n
ε ij = A ⋅ σ ij , (6.39)
1 -
-----------
C* n+1
σ ij ( r, θ ) = § -------------------· ⋅ σ ij ( n, θ ) (6.40)
© A ⋅ I n ⋅ r¹
250 6 Schädigung
n -
-----------
C* n+1
ε ij ( r, θ ) = § -------------------· ⋅ ε ij ( n, θ ) , (6.41)
© A ⋅ I n ⋅ r¹
1 -
----------- n -
-----------
n+1 n+1
( A ⋅ Δa ) ⋅ ( C* )
a· = -------------------------------------------------------- (6.42)
εB
smax3
smax2
smin3
0
t
smax1
smin2
smin1
Druckschwellbeanspruchung Wechselbeanspruchung Zugschwellbeanspruchung
1<R<µ -µ < R < 0 0<R<1
den daher vor allem die Spannungen in den Lastumkehrpunkten benutzt und daraus
die Kennwerte Spannungsverhältnis R
σ min K min
R = ----------- -,
- = ----------- (6.43)
σ max K max
Bereich III
log (da/dN)
Bereich II
da n
dN = A(DK)
Bereich I
DK th K IC
log (DK)
da m
------- = A ⋅ ( ΔK ) (6.46)
dN
6.3 Modellierung der Materialschädigung 253
da- = A′ ⋅ ( ΔJ ) m′
------ , (6.47)
dN
wobei A′ und m' vom Werkstoff abhängige Parameter sind. Für die Berech-
nung des ΔJ -Integrals muss die Spannungs-Dehnungs-Hysterese in Abb. 6.19
betrachtet werden, in welcher die Spannungen und Dehnungen am unteren Wende-
(1) (1) (2) (2)
punkt die Werte σ ij , ε ij und am oberen Wendepunkt die Werte σ ij , ε ij
haben. Unter Verwendung dieser Definition für die elastisch-plastische Wechsel-
beanspruchung vor der Rissspitze ergibt sich das ΔJ -Integral als Linienintegral
mit geschlossenem Integrationsweg um die Rissspitze [334]
dΔu j
ΔJ = ³ §© ΔW ( Δεij ) ⋅ dy – ΔTi ⋅ ----------
dx
- ⋅ ds·
¹
(6.48)
Γ
mit
(2)
ε kl ε kl
(1)
ΔW ( ε kl ) = ³ Δσ ij ⋅ d( Δε ij ) = ³ ( σ ij – σ ij ) ⋅ dε ij , (6.49)
0 (1)
ε kl
254 6 Schädigung
s (sij(2); eij(2))
Neukurve
(sij(1); eij(1))
Bruchzähigkeit, Spannungsintensität K
elastisch-plastisches Wekstoffverhalten
Lastmaximum
J-Integral Formulierung
nicht gültig
Zeit
elastisches Werkstoffverhalten
Temperatur
ΔJ 1 = lim
ε→0
³ [ ΔW ⋅ m1 – ( ti + Δti ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δti ⋅ Δui, 1 ) ] ds , (6.50)
Γ
= ³ [ ΔW ⋅ m 1 – ( t i + Δt i ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δt i ⋅ Δu i, 1 ) ] ds
C2 + C3 + C4
wobei die mit Δ beschriebene Differenz dem Inkrement der jeweiligen Größe
von Lastschritt n auf Lastschritt n + 1 entspricht. Werden die die Verformung vor
der Rissspitze charakterisierenden Spannungs-Dehnungs-Hysteresen in Abb. 6.22
betrachtet, so wird klar, dass bei elastisch-plastischem Verformungsverhalten vor
der Rissspitze die Formänderungsarbeit ΔW von der Belastungsgeschichte
abhängt. Hierdurch entsteht eine Wegabhängigkeit von ΔJ 1 , sodass das Integral
entlang des Pfades Γ nicht mehr dem Integral entlang des Pfades C 2 + C 3 + C 4
entspricht. Beim T*-Integral von Atluri wird nun zum äußeren Pfad ein Integral mit
der Eigenschaft addiert, dass die Summe von ΔJ 1 entlang des äußeren Pfades
C 2 + C 3 + C 4 und einem hinzugefügten Integral ΔI 1 gleich dem ΔJ 1 -Integral ent-
*
lang des inneren Pfades Γ ist. Der resultierende Integralwert von ΔT 1 wird
dadurch definiert, dass der Abstand des Γ -Pfades von der Rissspitze gegen null
läuft.
6.3 Modellierung der Materialschädigung 257
C=C2+C3-G+C4
C3
Rissspitze
0 x
ni
C4
G
mi
V ds
Va
C2
ni, mi
*
ΔT 1 = lim
ε→0
³ [ ΔW ⋅ m 1 – ( ti + Δti ) ⋅ Δui, 1 – ( Δti ⋅ Δui, 1 ) ] ds (6.51)
Γ
= lim
ε→0
³ [ ΔW ⋅ m 1 – ( t i + Δt i ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δt i ⋅ Δu i, 1 ) ] ds + ΔI 1
C2 + C3 + C4
Demzufolge ergibt sich ΔI 1 aus der Differenz der Integrale entlang der unter-
schiedlichen Pfade
ΔI 1 = – lim
ε→0
³ [ ΔW ⋅ m 1 – ( t i + Δt i ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δt i ⋅ Δu i, 1 ) ] ds (6.52)
C2 + C3 + C4 – Γ
Im nächsten Schritt lässt sich das Linienintegral durch Anwendung des Satzes
von Gauß in ein Volumenintegral überführen [394]:
ΔI 1 = – lim
ε→0
³ [ ΔW ,1 – ( σ ij + Δσ ij ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δσ ij ⋅ Δu i, 1 ) ] dV (6.53)
V – Vε
258 6 Schädigung
Rissspitze 1 2 3 4
x
zyklische elastisch-plastische
Verformung
rpc
rpm
monotone elastisch-plastische
Verformung
s s
sF sF
1 2
e e
s s
sF sF
3 4
e e
ΔI 1 = – lim
ε→0
³ [ ( σ ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ σ ij, 1 )ε ij – ( ε ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ ε ij, 1 )σ ij ] dV (6.54)
V – Vε
Durch Wiedereinsetzen in Gleichung (6.51) ergibt sich das weg- und gebietsun-
*
abhängige, inkrementell formulierte ΔT -Integral von Atluri:
*
ΔT 1 = ³ [ ΔW ⋅ m 1 – ( t i + Δt i ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δt i ⋅ Δu i, 1 ) ] ds (6.55)
C2 + C3 + C4
+ lim
ε→0
³ [ ( σ ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ σ ij, 1 )ε ij – ( ε ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ ε ij, 1 )σ ij ] dV
V – Vε
*
ΔT 1 = ΔJ 1 + (6.56)
lim
ε→0
³ [ ( σ ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ σ ij, 1 )ε ij – σ ij ( ε ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ ε ij, 1 ) ] dV
V – Vε
Zur Interpretation von Gleichung (6.56) wird in [394] ausgeführt, dass sich das
Volumenintegral über das gesamte Gebiet zwischen Rissspitze und dem Weg der
*
ΔJ -Integralauswertung erstreckt. Der Wert des ΔT -Integrals entspricht der
Summe der Inkremente aller Lastschritte, welche so zu wählen sind, dass die Span-
nungs-Dehnungs-Hysterese im ausgewerteten Gebiet um die Rissspitze vollständig
abgefahren wird.
Aus Abb. 6.21 wird weiterhin ersichtlich, dass das Integral dem Grenzwert des
Wegintegrals für einen auf die Rissspitze schrumpfenden Integrationspfad ent-
*
spricht, d. h. dass das ΔT -Integral und das ΔJ -Integral an der Rissspitze gleich
*
sind. Durch das ΔT -Integral eröffnet sich die Möglichkeit, eine Berechnung
durch ein Wegintegral über einen beliebigen äußeren Pfad und ein Gebietsintegral
über das von diesem Pfad und dem Rissspitzenpfad eingeschlossene Volumen aus-
*
zuführen. Die Anwendbarkeit des ΔT -Integrals für zyklisches Risswachstum mit
Entlastungs- und Wiederbelastungsphasen wurde in [398-400] gezeigt. Auersperg
260 6 Schädigung
*
et al. [403] demonstrierten die Anwendung des ΔT -Integrals für zyklisches Riss-
wachstum in Lotkontakten in elektronischen Aufbauten, welche Temperaturwech-
seln unterzogen worden sind.
Allen bisherigen Betrachtungen zur Bewertung rissbehafteter Bauteile bei
Wechselbeanspruchung betrafen vor allem die Analyse rein mechanischer Bean-
spruchungen. Was in diesem Zusammenhang bisher nicht diskutiert wurde, ist die
Möglichkeit, rissbehaftete Bauteile einer thermisch-induzierten Wechselbeanspru-
chung auszusetzen, wodurch sich eine Betrachtung der Schädigungswirkung
sowohl durch mechanische Beanspruchung als auch durch Temperaturbeanspru-
chung erforderlich macht. Wie in 2.1 bereits ausführlich diskutiert, sind solche
Belastungen für den Bereich der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik
typisch. Sie gehören allerdings auch zu den oft zitierten klassischen Problemfällen
im Kraftwerksbau [58, 59, 378, 404-406]. In beiden Fällen sind Temperaturände-
rungen die vorherrschende Ursache des Entstehens mechanischer Wechselbean-
spruchungen, welche außerdem im Zusammenhang mit den für die relevanten
Werkstoffe hohen Einsatztemperaturen stehen, bei denen diffusionskontrollierte
Verformungsmechanismen wie das Kriechen dominieren (vgl. 2.1, Abb. 2.1). Aus
diesem Grund ist es angebracht, auf die speziellen Erfahrungen bei der Bewertung
von Kriech-Ermüdungs-Rissen aus der Kraftwerkstechnik einzugehen, welche
einen dominierenden Schadensfall für Kraftwerke im Mittel- und Spitzenlastbe-
reich darstellen, da das komplexe Zusammenwirken von Kriech- und Ermüdungs-
mechanismen eine drastische Wirkung auf die zulässige Betriebsdauer der jeweili-
gen Kraftwerkskomponenten haben kann [378, 404].
Die beobachtete beschleunigte Schädigung bei Kriech-Ermüdungs-Rissausbrei-
tung hat keine leicht durchschaubaren Ursachen. Es wird vermutet, dass zeitabhän-
gige Vorgänge der Verformung und die zyklisch induzierten Ermüdungsvorgänge
aufgrund ihrer verschiedenen Grundmechanismen gleichzeitig additiv zur Schädi-
gung beitragen können. Die Effektivität ihres Zusammenwirkens hängt von der
Bildungsgeschwindigkeit der Kriechporen im Vergleich zur Ermüdungsrisswachs-
tumsgeschwindigkeit ab.
Wenn die Kriechporenbildungsrate deutlich höher ist als die Ermüdungsriss-
wachstumsgeschwindigkeit, d. h., wenn es zu einem überwiegend intergranularen
Verlauf des Hauptrisses kommt, wird die Schädigung vorwiegend durch den Anteil
der Kriechrissausbreitung bestimmt sein (Abb. 6.23 a).
Wenn die Kriechporenbildungsrate hingegen erheblich langsamer ist als die
Ermüdungsrisswachstumsgeschwindigkeit, d. h., es kommt überwiegend zu einem
transgranularen Verlauf des Hauptrisses, wird die Schädigung vorwiegend durch
die Ermüdungsrissausbreitung (Abb. 6.23 b) bestimmt sein.
Bei einer Parität des eingebrachten Schädigungsbetrages durch beide Prozesse
kommt es zu einer sehr effektiven Schwächung der Werkstoffintegrität durch
Überlagerung beider Schadensmechanismen (Abb. 6.23 c). Eine schematische
Darstellung aller drei möglichen Arten der Kriech-Ermüdungs-Rissausbreitung ist
in Abb. 6.23 gezeigt [378].
6.3 Modellierung der Materialschädigung 261
Weil keines der etablierten Konzepte der Bruchmechanik den Fall der Kriech-
Ermüdungs-Rissausbreitung behandelt, werden die damit verbundenen Betrachtun-
gen in der Regel mithilfe einer Kombination aus LEBM- und FBM-Konzepten
behandelt. In dem Fall, dass das Risswachstum vorwiegend zeitunabhängig ist,
wird das Risswachstum durch den Spannungsintensitätsfaktor ΔK beschrieben.
Wenn die Kriechprozesse dominieren, sind Konzepte der Fließbruchmechanik, wie
das C*-Integral, gefordert [406]. Ein wichtiger Transformationsparameter für die
Berechnung des Kriech-Ermüdungs-Rissfortschritts bei zyklischer, thermisch
induzierter mechanischer Wechselbeanspruchung sind die Haltezeit und die Fre-
quenz des Temperaturzyklus. Dabei errechnet sich die Frequenz aus der Zyklus-
zeit. Abnehmende Frequenz bzw. zunehmende Haltezeit bewirken hierbei eine
Zunahme der Rissfortschrittsrate da ⁄ dN über einen weiten Bereich der Rissfort-
schrittskurve [378, 405].
s s s
s s s
a) b) c)
6.3.3.2 Spannungsamplitude-Lebendauer-Ansätze
Dauerfestigkeitsgrenze
Dauerfestigkeitsgrenze
a) b)
Abb. 6.24 Qualitative Verläufe von charakteristischen Wöhler-Kurven für (a) Werkstoffe mit
echtem Dauerfestigkeitsverhalten und (b) Werkstoffe mit Grenzschwingzahl
S a –k
N = N D ⋅ § ------· für S a ≥ S D , (6.57)
© S D¹
Formfestigkeit
Kurzzeit-
Spannungsamplitude log (Sa)
festigkeit Formdehngrenze
Zeitfestigkeitsgerade
Zeit-
festigkeit
k
Dauerfestigkeitsgrenze
Dauer-
festigkeit
Abb. 6.25 Kennwerte einer Wöhler-Linie und Abgrenzung der Bereiche Dauerfestigkeit, Zeitfe-
stigkeit und Kurzzeitfestigkeit
S a –k
N = N A ⋅ § -----· für S a ≥ S D , (6.59)
© S A¹
6.3.3.3 Dehnungsamplitude-Lebensdauer-Ansätze
Wie aus dem Diagramm in Abb. 6.25 und den Gleichungen (6.57) - (6.59) her-
vorgeht, liefert der Spannungsamplitude-Lebendauer-Ansatz keine Aussagen für
den Kurzzeitfestigkeitsbereich, in dem es aufgrund der hohen Beanspruchungen
zum Auftreten plastischer Verformungen kommt. Mit steigender plastischer Deh-
nungsamplitude nimmt die Abhängigkeit der Ausfallschwingspielzahl von der
Spannungsamplitude ab, bis diese im Bereich der niederzyklischen Ermüdung vor
allem von der Dehnungsamplitude abhängt.
Die grundlegenden Zusammenhänge zum Versagensverhalten im Kurzzeitfe-
stigkeitsbereich, d. h. zum Versagen bei den mit hohen Beanspruchungen verbun-
denen zyklischen plastischen Wechselverformungen, wurden unabhängig vonein-
266 6 Schädigung
ander durch Arbeiten von Coffin [413] und Manson [414] erbracht. Aus
umfangreichen experimentellen Untersuchungen konnte der folgende empirische
Zusammenhang zwischen der aufgebrachten plastischen Dehnungsamplitude
Δε pl ⁄ 2 und der Bruchlastspielzahl N B gefunden werden
1
---
Δε pl c
NB = A 1 ⋅ § ----------· , (6.60)
© 2 ¹
wobei A 1 ein Vorfaktor ist und c der Anstieg der Fitgeraden in der sogenann-
ten Coffin-Manson-Auftragung in der doppellogarithmischen Darstellung von
Δε pl ⁄ 2 über N B ist. Die Verwendung von Δε pl ⁄ 2 anstelle von Δε pl ergibt sich
aus der Tatsache, dass bei zyklischer Wechselbeanspruchung der Werkstoff inner-
halb einer Spannungs-Dehnungs-Hysterese die doppelte Gesamtdehnungsampli-
tude Δε = Δε el + Δε pl erfährt (vgl. 5.5.2, Abb. 5.22).
Bei sehr kleinen plastischen Dehnungsamplituden ergibt sich das Problem, dass
sich diese vor allem bei großen Zyklenzahlen nur sehr schwierig experimentell
bestimmen lassen [412]. Aufgrund der zu erwartenden Fehler bei der Bestimmung
von kleinen Δε pl wurde von Landgraf [415] vorgeschlagen, die Gesamtdehnungs-
amplitude Δε ⁄ 2 doppellogarithmisch über der Bruchlastspielzahl N B aufzutra-
gen. Im Diagramm in Abb. 6.26 ist diese Auftragung schematisch dargestellt.
Diese Darstellung widerspiegelt den Zusammenhang zwischen dem in 6.3.3.2 dar-
gestellen Spannungsamplitude-Lebendauer-Ansatz und dem in diesem Abschnitt
erläuterten Dehnungsamplitude-Lebensdauer-Ansatz. Wie sich sehr leicht erken-
nen lässt, ergibt sich aus der in Abb. 6.26 vorgenommenen Darstellung der
Gesamtdehnungsamplitude über der Bruchlastspielzahl eine bessere Möglichkeit,
das Versagensverhalten über den gesamten Belastungsbereich darzustellen als mit
der in Abb. 6.25 vorgenommenen Auftragung der Spannungsamplitude über der
Bruchlastspielzahl, da durch die Verwendung der Gesamtdehnungsamplitude
Δε Δε el Δε pl Δσ Δε pl
------ = ---------
- + ---------- = ----------- + ---------
- (6.61)
2 2 2 2⋅E 2
eB
Gesamtdehnungsamplitude log (e/2)
sB
E
NB ~ 103...104
b
Δε σB b
c
------ = ------ ⋅ ( N B ) + ε B ⋅ ( N B ) , (6.62)
2 E
die Temperatur bzw. die Frequenz, mit der die entsprechenden Dehnungsamplitu-
den aufgebracht wurden, zu berücksichtigen.
Wie unter anderem in Versuchen an Kupfer [416] bei niedrigen homologen
Temperaturen ( T = 77 K … 295 K ) nachgewiesen werden konnte, ergibt sich für
den durch die Coffin-Manson-Beziehung dargestellten Zusammenhang zwischen
der Bruchlastspielzahl N B und der plastischen Dehnungsamplitude Δε pl keine
Abhängigkeit von der Temperatur T . Wie jedoch andere Versuche [417-421]
gezeigt haben, lassen sich diese Aussagen nicht ohne weiteres auf den Bereich
höherer homologer Materialtemperaturen übertragen, da die dann im Material auf-
tretenden Spannungen mit der entsprechenden Dehnrate zusammenhängen. Infol-
gedessen hängt das Ermüdungsverhalten dann nicht nur vom Betrag der Beanspru-
chung ab, sondern wird auch vom Beanspruchungsprofil beeinflusst. Um diesen
Effekt zu berücksichtigen, wurde von Coffin [422] folgende Modifikation der
Beziehung in Gleichung (6.60) vorgenommen
k–1 β
Δε pl = A 2 ⋅ ( ν ⋅ NB ) , (6.63)
k
ν ⋅ t B = const. (6.64)
k–1
ist, wobei t B die Zeit bis zum Versagen ist. Der Term ν ⋅ N B wird daher oft
als frequenzmodifizierte Ermüdungslastspielwechselzahl bezeichnet [10]. In ver-
schiedenen Fällen erwies sich diese Formulierung jedoch nicht als adäquate
Beschreibung der Frequenz- und Zeitabhängigkeit bei erhöhten homologen Materi-
altemperaturen [423].
Alternativ zu den Versuchen von Coffin, die Abhängigkeit der Ermüdung von
der Belastungsfrequenz in eine empirische Formulierung einzubringen, entwickelte
die Gruppe um Manson [424, 425] das sogenannte Strain-Rate-Partitioning-Kon-
zept (SRP), um den Einflüssen der Belastungsfrequenz auf die Werkstoffermüdung
gerecht zu werden. Dabei wurde angenommen, dass die Schädigung während der
Kriechverformung verschieden von der bei instantanplastischer Verformung ist.
Außerdem bringen Zugbeanspruchungen einen anderen Schädigungsgrad als
Druckbeanspruchungen ein. Die plastische Gesamtdehnungsamplitude Δε pl wird
folglich in vier Komponenten Δε pp , Δε pc , Δε cc , Δε cp zerlegt, wobei die Indizes
c für Kriechverformung und p für instantanplastische Verformung stehen. Der
jeweils erste Index steht für Zug- und der zweite für Druckbeanspruchung während
eines Ermüdungswechselbeanspruchungszyklus. Zu den vier Komponenten der
Gesamtdehnungsamplitude gehören entsprechend vier Teilermüdungsparameter
n pp , n pc , n cc , n cp , sodass die Gesamtermüdungslastspielwechselzahl sich aus
6.3 Modellierung der Materialschädigung 269
1 n pp n pc n cc n cp
------ = -----------
- + ----------- + ----------
- + ----------- (6.65)
NB N Bpp N Bpc N Bcc N Bcp
6.3.3.4 Dehnungsenergie-Lebensdauer-Ansätze
1 + 5η
– ----------------
1+η
ΔW pl = W B ⋅ NB , (6.66)
6.3.4 Kontinuums-Schadensmechanik
Schadensmechanik Bruchmechanik
Oberfläche Oberfläche
Körner
Makros-
kopische Bruchmechanische
Anrisse Idealisierung
Makroskopischer
Hauptriss
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Die mit der Entwicklung der Werkstoffprüfung verbundene Schaffung von Nor-
men und die Etablierung bestimmter Verfahren und Methoden auf diesem Gebiet
lassen die experimentelle Ermittlung des mechanischen Verhaltens von Werkstof-
fen sehr oft als eher unproblematische Aufgabe erscheinen. Tatsächlich existieren
jedoch in Abhängigkeit vom Werkstoff und den zu ermittelnden mechanischen
Verhaltensformen nach wie vor eine Reihe offener Fragen. Hierbei ist es von
außerordentlicher Bedeutung, zwischen den unterschiedlichen Zielen einer Werk-
stoffprüfung zu unterscheiden. Zu Beginn der Entwicklung der klassischen Werk-
stoffprüfung im 18. und 19. Jahrhundert stand zunächst die Ermittlung der Festig-
keit eines Werkstoffs im Vordergrund. Untersuchungen dienten beispielweise
dazu, die Sicherheit neuartiger Brückenkonstruktionen experimentell zu überprü-
fen [432]. Ganz anders war die Situation als Anfang der achtziger Jahre des 20.
Jahrhunderts verstärkt versucht wurde, die thermisch-mechanischen Beanspru-
chungen in elektronischen Aufbauten durch theoretische Überlegungen zu bewer-
ten. Dafür war die genaue Kenntnis des werkstoffmechanischen Verhaltens sowie
der Schädigungsfunktion des zur Montage der Anschlusskontakte eingesetzten
1. Das Zitat stammt aus einem Beitrag von G. Wangermann in den im Akademie Verlag, Berlin
erschienenen Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR [431]
274 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Proben. Daher ist es wichtig, zunächst die Entwicklung der klassischen Werkstoff-
prüfung zu betrachten und die Grundgedanken ihrer wichtigsten Untersuchungs-
techniken nachzuvollziehen. Ausgehend von diesen Betrachtungen können die
Vor- und Nachteile verschiedener technischer Umsetzungen beim apparativen Auf-
bau für die Untersuchung von Bulkproben und miniaturisierten Proben diskutiert
werden. Die Diskussion konkreter technischer Umsetzungen beim apparativen
Aufbau ist für die Bewertung verschiedener Versuchsergebnisse von entscheiden-
der Bedeutung, da im Gegensatz zur klassischen Werkstoffprüfung im Mikrobe-
reich keine etablierten Ansätze und Methoden beim experimentellen Vorgehen
existieren, die wiederum Einfluss auf das ermittelte Werkstoffverhalten haben. Ein
möglicher Fehler bei der wissenschaftlichen Interpretation von Versuchsergebnis-
sen aus dem Mikrobereich besteht in der unzureichenden kritischen Betrachtung
verschiedener Unzulänglichkeiten bei der experimentellen Erfassung des Verfor-
mungs- und Schädigungsverhaltens an kleinstvolumigen Proben. Für die tiefgrün-
dige Beantwortung der mit dem Größeneffekt in Verbindung stehenden Fragen ist
daher eine Betrachtung notwendig, welche Versuchsergebnisse nicht als absolut
gültige Erkenntnisse einstuft, sondern diese stets in Verbindung mit der Art und
Weise der Erzielung dieser Ergebnisse betrachtet.
einbarung einheitlicher Prüfmethoden“ statt [432]. Die Art und Weise, wie Werk-
stoffe am zweckmäßigsten zu untersuchen sind, wurde zunächst sehr stark durch
die begrenzten apparativen Möglichkeiten bestimmt. Dabei muss beachtet werden,
dass es in der frühen Phase der Werkstoffprüfung durch fehlende Regel- und Steu-
ertechnik kaum möglich war, komplexe Belastungsverläufe an Proben zu erzeu-
gen. Selbst das Einstellen einer konstanten Traversengeschwindigkeit war noch bis
in die 1960er Jahre ein bedeutendes Problem [434]. Erst durch die Verfügbarkeit
elektronischer und später computergesteuerter Maschinenregelungen ergaben sich
vielfältige Möglichkeiten der freien Versuchsgestaltung. In der Zwischenzeit hat-
ten sich jedoch bestimmte Arten der Versuchsdurchführung etabliert, welche bis in
die heutige Zeit die Methodik der Werkstoffuntersuchung nicht unwesentlich
bestimmen.
Ds De
2 2
-3
10
-4
Legierung 1 10
s0 T1
T2
s0 Legierung 2
-5
10
4 5 6 7 8 4 5 6
10 10 10 10 10 NB 10 10 10 NB
a) b)
Abb. 7.1 Verschiedene grafische Darstellungen zur Beurteilung der Festigkeit eines aus einem
bestimmten Werkstoff bestehenden Bauteils: a) Wöhler-Kurve und b) Ermüdungsrissausbrei-
tungskurve (Δσ/2 = Spannungsamplitude und Δε/2 = Dehnungssamplitude der Wechselbeanspru-
chung, NB = Lastspielzahl bis zum Bruch (d. h. zum Versagen des Werkstoffs), adaptiert aus [309]
entdeckten später, dass die maximal mögliche Lastwechselzahl mit der Amplitude
der plastischen Dehnung verknüpft ist (vgl. 6.3.3).
Ein anderer, auf die Arbeiten von Griffith [368] und Inglis [367] zurückgehen-
der Ansatz zur Bewertung der Festigkeit entwickelte sich rasch als Reaktion auf
die zahlreichen Schäden an den während des zweiten Weltkrieges hergestellen
„Liberty Schiffen“. Aus den Forschungsaktivitäten einer am Naval Research Labo-
ratory in Washington arbeitenden Gruppe entwickelten sich sogenannte bruchme-
chanische Konzepte (vgl. 6.3.2). Im Unterschied zu den bisherigen Versagenskon-
zepten wird die für das Versagen verantwortliche Ausbreitung von Rissen mit
einem lokalen Spannungs- und Dehnungsfeld in der Rissspitze in Verbindung
gebracht und gezeigt, dass sich dieses durch einen einzigen Parameter, den Span-
nungsintensitätsfaktor, beschreiben lässt [372].
Die verschiedene Konzepte, welche sich im Laufe der Zeit zur Bewertung der
Festigkeit herausbildeten, führten zu einer Reihe spezieller Versuchstechniken,
welche oft auch mit einer eigenen Terminologie verbunden sind. Welche Ver-
suchstechnik zur Bewertung der Festigkeit herangezogen wird, hängt in entschei-
dender Weise von der favorisierten Auslegung eines Bauteils ab [309]. So wird
z. B. zur Auslegung eines Bauteils gegen Ermüdungsbeanspruchung die Zahl der
Belastungszyklen bis zum Bruch an einer glatten Probe ermittelt. Die aus diesem
Versuch gewonnenen Werte - Beanspruchungsamplitude gegen Bruchzyklenzahl -
werden dann in ein Wöhler-Diagramm (Abb. 6.24) eingetragen, aus dem später die
zur Auslegung eines Bauteils aus einem bestimmten Werkstoff zulässigen Belas-
tungen entnehmbar sind. Die Wöhler-Kurve liefert jedoch keine Angaben über den
Verlauf der Schädigung, d. h. Rissentstehung und -ausbreitung, sondern erfasst nur
den Zeitpunkt des Versagens. Aus diesem Grund existieren andere Verfahren, wel-
che z. B. ausschließlich die Rissausbreitung in einem Material betrachten und
278 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
LCF-Probe
(Ermüdungsprobe)
ausgedehnte plastische Zone
über gesamte Probe
CT-Probe
Risspfad (Bruchmechanikprobe)
Bauteil kleine plastische Zone um
Rissspitze
Abb. 7.2 Schematische Darstellungen verschiedener Arten von Versuchen sowie ihrer Probe-
körper zur Auslegung eines Bauteils (adaptiert aus [412]).
davon ausgehen, dass das Bauteil schon rissbehaftet sei. Die Auslegung des Bau-
teils richtet sich dann nach der Anzahl der Belastungszyklen, innerhalb derer der
Anfangsriss bis auf eine kritische Risslänge gewachsen ist. Für die Länge des
Anfangsrisses, sofern diese nicht durch zerstörungsfreie Verfahren detektierbar ist,
wird die Auflösungsgrenze der eingesetzten zerstörungsfreien Verfahren angenom-
men. Die Abschätzung der Risswachstumszahl erfolgt auf der Basis bruchmechani-
scher Ansätze, deren Parameter aus Werkstoffversuchen an Proben mit einem defi-
nierten Anriss gewonnen werden [309].
Die beiden dargestellten Konzepte, welche zur Auslegung eines Bauteils dienen
sollen, stützen sich auf völlig unterschiedliche Versuchstechniken. Diese Ver-
suchstechniken sind durch eine bestimmte Spezifik in Probengestaltung, Lastein-
leitung, Versuchsverlauf, Messgrößenaufnahme und Ergebnisdarstellung gekenn-
zeichnet. Hierbei wird das Ziel verfolgt, bestimmte Sachverhalte der
Werkstoffverformung und -schädigung an verschiedenen Bauteilen über einen spe-
ziell gestalteten Probeköper so nachzubilden, dass allgemeine, für beliebige Bau-
teilgeometrien verwendbare Werkstoffkennwerte gewonnen werden. Abb. 7.2
zeigt, wie durch die beiden dargestellten Konzepte eine Nachbildung der tatsächli-
chen Verhältnisse am Probekörper erfolgt. Durch die glatte Probe, in welcher beim
Versuch eine homogene Beanspruchung herrscht, wird sehr gut der Fall einer gro-
ßen plastischen Zone nachgebildet, wie er in einem intakten Bauteil in der Regel
vorhanden ist. Die Probe mit Anriss, in welcher beim Versuch ein heterogener
Beanspruchungszustand vorherrscht, widerspiegelt den Fall eines geschädigten
Bauteiles mit einer kleinen plastischen Zone, welche sich an der Spitze eines
Anrisses ausbildet.
7.2 Entwicklung, Ziele und Verfahren der klassischen Werkstoffprüfung 279
Mit der Entwicklung immer höher integrierter Schaltkreise während der siebzi-
ger Jahre wurde klar, dass die konventionelle Aufbautechnik mit DIP-Bauformen
auf Leiterplatten nicht mehr den Anforderungen, die durch komplexe Systemarchi-
tekturen gestellt wurden, genügte. Da die Verwendung von Multichipmodulen
jedoch mit einem erheblichen Ausbeute- und Kostenproblem verbunden war,
erschien die Verwendung von sogenannten Ceramic-Chip-Carriern (CCC) als
geeigneter Ausweg [131-135]. Ceramic-Chip-Carrier bestanden aus einem zumeist
quadratischen Keramikträger, in dessen Zentrum der Schaltkreis befestigt war und
dessen Anschlusskontakte durch umlaufende Metallisierungen realisiert wurden
(Abb. 7.3) Gegenüber den klassischen DIP-Bauformen besaßen sie den Vorteil
eines deutlich verminderten Flächenbedarfs (1/5...1/3), wesentlich kleinerer
Anschlussinduktivitäten, geringerer Kosten, eines geringeren Gewichts, einer
höheren Bauelementezuverlässigkeit und höherer Anschlusszahlen [134]. Ihr Ein-
satzbereich war jedoch zunächst auf den sogenannten High-Perfomance-Bereich
beschränkt, in dem keramische Substrate zum Einsatz kamen [132].
Anders als bei den DIP-Bauformen wurden die durch die unterschiedlichen
thermischen Ausdehnungskoeffizienten des für den Bauelementekörper verwende-
ten Al2O3- (α = 6 ppm/K) und des für kostengünstige Anwendungen als Substrat
eingesetzten FR4-Trägermaterials (α = 17 ... 20 ppm/K) erzeugten thermischen
Fehldehnungen nicht mehr durch Federwirkung der Anschlussbeine aufgenom-
men. Dadurch führten thermische Wechselbelastungen sehr schnell zum Versagen
der Lotverbindungen, da diese bei CCC-Bauformen durch starke Verformungen
der Lotkontakte ausgeglichen werden mussten [449]. Die Bewältigung dieses Pro-
blems wurde auf zwei verschiedenen Wegen versucht. Zum einen unternahm man
Anstrengungen, den Ausdehnungskoeffizienten der Trägermaterialien, z. B. durch
Kupfer-Invar-Einlagen [135], deutlich zu senken, zum anderen führte man oberflä-
Drahtbondverbindungen
Halbleiterbauelement
Gehäusedeckel (Keramik)
Anschlusskontakte
Chipbondmetallisierung
Umverdrahtungsmetallisierung
Gehäusegrundkörper (Keramik)
7.3.1 Grundproblematik
Die verhältnismäßig starke Trennung von Bauteil und Werkstoff, die in der
klassischen Werkstoffprüfung zur Entwicklung spezifischer Probekörper und Prüf-
verfahren führte, welche auf einen weiten Bereich zu untersuchender Werkstoffe
angewendet wird, ist so in den Mikrotechniken nicht vorhanden. Aufgrund der
vielschichtigen Funktionsanforderungen (z. B. elektrische, thermische, technologi-
sche und mechanische Eigenschaften) beschränkt sich zum einen die Auswahl auf
eine kleine Gruppe von bevorzugten metallischen Werkstoffen, wie z. B. Au, Ag,
Cu, Fe, Ni, Sn (bzw. ihre Legierungen), und es ergeben sich zum anderen enge
Fenster bei der Herstellung verschiedener Legierungen. Zudem ergeben sich durch
die besonderen Fertigungstechnologien auch Einschränkungen bezüglich der
erreichbaren Geometrien von Bauteilen. Beide Faktoren haben einen nicht uner-
heblichen Einfluss auf die Konzeption von Prüfapparaturen und -methodiken für
miniaturisierte Proben.
Die Entwicklung der Werkstoffprüfung wurde zum einen durch die im Laufe
der Zeit gewonnenen Erkenntnisse zu den Schädigungsmechanismen bestimmt,
aus welchen bestimmte Versuchsabläufe und Bewertungsverfahren abgeleitet wur-
den. Zum anderen bestimmte jedoch auch die Entwicklung der Prüftechnik selbst,
auf welche Art und Weise das Verhalten der Werkstoffe charakterisiert werden
konnte. Um das Verformungsverhalten eines Werkstoffes zu ermitteln, wurden
bevorzugt Versuche mit einer sogenannten zügigen Beanspruchung eingesetzt
[432]. Dabei wurde auf die Probe in einem Zug (daher zügig) eine zwangsläufige
Verformung aufgebracht. Diese konnte auch stufenweise steigend oder mit zwi-
schengeschalteten Entlastungen erfolgen. Da zu Beginn der Prüfmaschinenent-
wicklung die Möglichkeiten einer effektiven Steuerung der Versuche sehr begrenzt
waren, wurde als vorgegebene Probenbelastung eine zwangsweise Reckung (bzw.
Biegung) der Probe eingesetzt und deren Widerstand gegen diese Zwangsverfor-
mung, z. B. über ein Pendelmanometer, gemessen. Ausschlaggebend für diese Art
der Versuchsführung war die gute technische Realisierbarkeit einer konstanten
Reckgeschwindigkeit, welche wiederum zur Darstellung des Verformungsverhal-
tens in einem Spannungs-Dehnungs-Diagramm führte. In diesem Diagramm, aus
dem auch viele wichtige mechanische Werkstoffkennwerte abgeleitet werden, wird
die Verformung, d. h. die mechanische Dehnung, als unabhängige Variable und der
Widerstand gegen die Verformung, d. h. die mechanische Spannung, als abhängige
Variable dargestellt, obwohl werkstoffphysikalisch eine gegenseitige Abhängigkeit
beider Variablen besteht. Diese Art der Versuchsführung und Darstellung des Ver-
formungsverhaltens hat sich trotz der inzwischen entwickelten Möglichkeiten zur
effektiven Versuchssteuerung erhalten. Hierdurch hat sich Laufe der Entwicklung
284 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Um eine Probe zu verformen, müssen an wenigstens zwei Stellen Kräfte auf die
Probe übertragen werden. Ziel der Krafteinleitung ist die Herstellung eines defi-
nierten Beanspruchungszustandes in der Probe. In Abhängigkeit von der Art der zu
erzielenden Beanspruchung und der Form der Probe kann sich die Notwendigkeit
der Einspannung einer Probe ergeben. Eine solche Einspannung muss die ange-
strebte Krafteinleitung auf die Probe gewährleisten, ohne dass beim Einspannvor-
gang die Probe vorverformt wird [437].
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben 285
5
4
7
3
Abb. 7.4 Schematischer Grundaufbau einer Zugprüfmaschine: Querhaupt (1), Spindeln (2),
Einspannvorrichtung (3), Maschinenrahmen (4), Kraftmessdose (5), Spindelantrieb mit Riemen-
getriebe und verschiedenen Übersetzungen (6), Muttern zur Bewegung des Querhauptes (7) (adap-
tiert aus [433])
286 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
F F
F 2 2
F F F F
2 2 2 2
a) b)
F F
F F F F
2 2 2 2
c) d)
a)
b)
Zugkraft (Abb. 7.7). Die rein mechanische Funktion der Keilbacken wurde später
durch eine Spannhydraulik unterstützt. Dadurch sind auch Lastwechselreaktionen
möglich, ohne dass die Gefahr besteht, dass sich die Probe ausspannt [437]. Neben
der Keilbackenspannung existieren auch andere Arten hydraulisch, pneumatisch
oder mechanisch betriebener Spannfutter. Schwierig ist die reibungsschlüssige
Einspannung an Proben, welche nicht über Einspannflächen verfügen (z. B.
Drähte, Folien, Seile). Für solche Proben existieren besondere, an die Probe ange-
passte Einspannvorrichtungen, z. B. Rollenaufnahmen.
Bei anderen Belastungsarten, wie z. B. Scher- oder Torsionsbeanspruchung,
ergibt sich in der Regel eine wesentlich komplexere Einspannproblematik als beim
Druck- , Biege- oder Zugversuch, sodass sich die gewünschte Beanspruchungs-
form oft nur näherungsweise im Probekörper erreichen lässt.
Ein typisches Beispiel für solche Einspannungen ist der Isiopescu-Probekörper
(vgl. 7.4.3) für Scherbeanspruchungen, bei welchem prinzipbedingt keine klare
Aufteilung in Probe und Einspannung vorgenommen werden kann. Die Güte der
erreichten Scherspannung ist bei diesem Probekörper vom zu untersuchenden
Materialverhalten abhängig, wodurch er - verglichen mit den bisher besprochenen
Einspannungen - eine weniger generische Lösung darstellt, sodass in der Regel
eine theoretische Analyse zur richtigen Interpretation der experimentell erzielten
Ergebnisse notwendig wird. Noch komplizierter wird der Sachverhalt, wenn eine
kombinierte Belastung, z. B. Zug- und Torsionsbeanspruchung, auf die Probe auf-
getragen werden soll. Für solche Fälle sind angepasste Lösungen erforderlich, wel-
che unter anderem die werkstoffmechanischen Besonderheiten des zu untersuchen-
den Materials berücksichtigen, welche sich allerdings dann für eine Gruppe sich
ähnlich verhaltender Werkstoffe einsetzen lassen.
Wird die Problematik der Einspannung in Bezug auf Untersuchungen im Mikro-
bereich betrachtet, so besteht einer der entscheidenden und grundlegenden Unter-
schiede im Aufbau von Prüfmaschinen der klassischen Werkstoffprüfung und
Apparaturen zur Untersuchung kleinvolumige Proben in der Art und Weise, wie
Einspannungen zur gezielten Krafteinleitung an den Probeköpern realisiert werden.
Für die Genauigkeit, mit der mechanische Kennwerte eines kleinvolumigen Probe-
körpers aufgenommen werden können, ist das mit dem Konzept der Einspannung
verbundene Prinzip der gezielten Krafteinleitung von ausschlaggebender Bedeu-
tung. Wie in 7.1 bereits erläutert, wird bei Versuchen an kleinvolumigen Proben
eine bauteilorientierte und betriebsfallnahe Untersuchung des Verformungs- und
Schädigungsverhaltens angestrebt. Im Gegensatz dazu bestand die Absicht bei den
dargestellten Einspannungen für Druck-, Biege- und Zugversuch darin, einen idea-
lisierten Versuch mit einem klar definierten Beanspruchungszustand zu schaffen,
welcher eine hohe Vergleichbarkeit erlaubt. Eine Vergleichbarkeit bestünde eher
mit Einspannungen für Versuche an großen Bauteilen, jedoch wird an solchen in
der Regel kein werkstoffmechanisches Verhalten aufgenommen.
Die konkrete Gestaltung der Einspannungen für Versuche an kleinvolumigen
Proben muss immer in Verbindung mit der Probekörpergestaltung gesehen werden.
Unabhängig von dieser existieren jedoch bestimmte Gesichtspunkte, die zu
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben 289
Hydraulikstempel
Schnitt
Keilbacke Probe
a) b)
wichtig, dass diese entweder Einrichtungen zur Lagejustage der Probe gegen-
über der Belastungsrichtung besitzt oder dass das Eintragen unerwünschter
Belastungen durch das Konstruktionsprinzip verhindert wird.
• Überprüfen der Einspannung: Die ordnungsgemäße Einspannung kleinvolumi-
ger Proben lässt sich nur in Ausnahmefällen visuell überprüfen. Hiermit ist
immer das Risiko von Fehlmessungen durch falsche Einspannung gegeben. Bei
der Gestaltung der Einspannung müssen deshalb potenzielle Einspannfehler
berücksichtigt und durch konstruktive Maßnahmen weitestgehend ausgeschlos-
sen werden.
• Belastungsarme Probenentnahme: Für die Auswertung von Versuchen an klein-
volumigen Proben ist es sehr wichtig, diese nach dem Versuch, z. B. durch
metallografische Analysen, weiter bewerten zu können. Hierdurch kann festge-
stellt werden, ob eine Probe beim Versuch beschädigt wurde, oder es kann eine
absichtlich eingetragene Schädigung bewertet werden. Zur aussagekräftigen
Durchführung solcher Analysen ist es notwendig, die Probe so entnehmen zu
können, dass keine zusätzlichen, nicht vom eigentlichen Experiment stammen-
den Schäden in sie eingetragen werden. Aus diesem Grund sollte bei der Gestal-
tung der Einspannung auf die Möglichkeit einer belastungsarmen Probenent-
nahme geachtet werden.
• Zeitdauer des Ein- und Ausspannvorgangs: Für das Ein- und Ausspannen klein-
volumiger Proben gibt es eine Reihe von Möglichkeiten. Anders als bei der
klassischen Werkstoffprüfung erfolgt diese nicht notwendigerweise durch eine
instantane mechanische Probenfixierung, sondern auch durch langwierige Ver-
fahren, wie das Einkleben. Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile sollte
beachtet werden, dass die Zeitdauer des Einspannvorgangs in einem ausgewo-
genen Verhältnis zur Versuchsdauer steht (z. B. sollte der Einspannvorgang für
Schlagversuche im Minutenbereich liegen, während für Kriech- oder Ermü-
dungsversuche auch Einspanndauern im Bereich mehrere Tage akzeptabel
sind). Die Gestaltung der Einspannung muss deshalb auch effektive kombinierte
Verfahren einbeziehen (z. B. das Einkleben auf Zwischenträger), um Einspann-
zeiten gering zu halten.
Um den verschiedenen Forderungen an die Einspannung von miniaturisierten
Proben gerecht zu werden, haben sich für verschiedene Arten von Versuchen ver-
schiedene Lösungen durchgesetzt. Die einfachste unter ihnen besteht in der einsei-
tigen Einspannung. Dazu wird die Probe direkt oder über einen Träger auf einem
Einspanntisch gehalten, mit dem sie gegenüber einem Verformungswerkzeug aus-
gerichtet werden kann (Abb. 7.8). Zur Realisierung der zweiten Einspannung wird
ein entsprechendes Verformungswerkzeug gegen die Probe gefahren. Typische
Verformungswerkzeuge sind Haken (z. B. für den Ziehtest an Drahtbondbrücken),
Schermeißel und Greifer. Der Vorzug einseitiger Einspannungen liegt in der kur-
zen Einspanndauer. Bezüglich der Genauigkeit der Krafteinleitung weisen sie
allerdings den prinzipiellen Nachteil auf, dass die Lage von Verformungswerkzeug
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben 291
zur Probe nur in bestimmten Grenzen genau einstellbar ist. Kritisch ist weiterhin
der Kompromiss zwischen Steifigkeit und Stellfeinheit des Einspanntisches. Hohe
Steifigkeiten über den gesamten Lastbereich lassen sich durch die Verwendung
von Schwalbenschwanzführungen in Kombination mit Arretierungsschrauben
erreichen. Kugel- und Wälzlagerführungen besitzen zwar eine wesentlich höhere
Stellfeinheit, weisen jedoch eine Verkippungsproblematik am Lastumkehrpunkt
auf, was sich besonders bei geringen Versuchskräften sehr negativ auf eine defi-
nierte Krafteinleitung auswirken kann.
Bei der Realisierung zweiseitiger Einspannungen, welche neben einer besser
definierten Krafteinleitung vor allem auch Versuche mit Lastumkehr erlauben,
besteht das Problem, die Probe zum einen beanspruchungsfrei einzuspannen zu
können und zum anderen gegenüber der Lastrichtung der Prüfmaschine ausrichten
zu können. Als zweckmäßige Variante hat sich hier das Einkleben der Probe mit
einem Epoxidharzkleber herausgestellt [440, 441]. Hierbei wird die Tatsache aus-
genutzt, dass ein Zweikomponenten-Epoxidharzklebstoff während seiner Vernet-
zungsreaktion zunächst seine Viskosität absenkt und dann nach und nach aushärtet.
Durch das Absenken der Viskosität fließt der Epoxidharzkleber sehr gut an die
Einspannflächen der Probe und ist auch in der Lage, einen sehr engen Spalt voll-
ständig auszufüllen, sodass großflächige Verklebungen entstehen können. Bei der
Einspannung mit Epoxidharzklebstoffen muss beachtet werden, dass diese bei
Erhöhung der Versuchstemperatur wieder in einen Gel-Zustand gelangen können,
sodass nach solchen Temperaturerhöhungen zunächst das Nachhärten des Epoxid-
harzklebstoffes abzuwarten ist. Die Aushärtezeit von Epoxidharzklebstoffen ist
sehr stark abhängig von der Genauigkeit, mit der die entsprechenden Masseverhält-
nisse von Härter- und Binderkomponente zusammengemischt wurden. Durch die
geringen Mengen an Klebstoff, die für die Einspannung von miniaturisierten Pro-
ben verwendet werden, ist es schwierig, das richtige Verhältnis immer zu treffen.
Aus diesem Grund sollte für die Kontrolle der Aushärtung immer Vergleichsmasse
des angerührten Klebers abgezweigt und aufgehoben werden. Da in Abhängigkeit
von Versuchstemperatur und verwendetem Kleber Aushärtezeiten von mehreren
292 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Tagen auftreten können, ist die Klebstoffeinspannung nur für Maschinen geeignet,
welche die Einspannköpfe über diesen Zeitraum in absoluter Ruhe halten können.
Die Ausrichtung der Probe gegenüber der Belastungsrichtung erfolgt über ent-
sprechende Positioniertische, für deren Steifigkeits-Feinstell-Kompromiss das
Gleiche gilt wie für einseitige Einspannungen. Zur Ausrichtung wird die Probe
zunächst (falls notwendig mit einer entsprechenden Vorrichtung) auf einer Seite
eingespannt und dann vor dem Verkleben auf der zweiten Seite gegenüber dieser
ausgerichtet.
Alternativ existieren mechanische oder magnetische Fixierungen als zweiseitige
Einspannkonzepte. Beide bieten den Vorteil einer schnellen Einspannung, lassen
sich aber nur auf bestimmte Probenformen anwenden. Bei mechanischen Einspan-
nungen sind in der Regel Stützstrukturen notwendig, welche vor dem Test entfernt
werden.
7.3.2.3 Antrieb
Zur Übertragung der zur Verformung erforderlichen Energie muss eine Relativ-
bewegung zwischen den Krafteinleitungsstrukturen erzeugt werden. Die hierfür
eingesetzten Antriebe müssen bestimmte Bedingungen bezüglich der Feinheit die-
ser Relativbewegung und den dabei zu übertragenden Kräften erfüllen.
Für Universalprüfmaschinen, d. h. Maschinen, die je nach Einspannung Druck-,
Biege- und Zugversuche durchführen können, werden üblicherweise hydraulische
oder mechanische Antriebe eingesetzt. Hydraulische Antriebe bestehen aus einem
mit einer Kolbenstange verbundenen Zylinder. Der Kolben wird durch elektrische
Servoventile gesteuert, welche das von einem Hydraulikaggregat auf hohen Druck
gebrachte Hydrauliköl präzise auf die beiden Druckkammern des Zylinders vertei-
len (Abb. 7.9). Mechanische Antriebe bestehen aus einer Kugelumlaufspindel,
durch welche die durch eine von einem Motor über ein Getriebe bewegte Mutter
gehoben und gesenkt werden kann [446].
Der entscheidende Unterschied in der Auswahl von Antriebssystemen zwischen
klassischer Prüftechnik und Prüfmaschinen für kleinvolumige Proben ergibt sich
aus einer Verschiebung von Lastanforderungen zu Genauigkeitsanforderungen.
Antriebe für klassische Prüfmaschinen müssen in der Lage sein, unter hoher Last
definierte Bewegung erzeugen zu können. Aus diesem Grund werden Antriebssys-
teme bevorzugt, die sich auch bei starken Laständerungen sehr gut steuern lassen,
sodass beispielsweise die Vorschubgeschwindigkeit einer Traverse konstant bleibt.
Durch die verringerten Abmessungen sind die durch miniaturisierte Proben her-
vorgerufenen Kraftreaktionen in der Regel gegenüber den von Antriebssystemen
erzeugten Stellkräften nicht in gleichem Maße kritisch. Vielmehr rückt die Not-
wendigkeit, sehr kleine Weginkremente stellen zu können, um in den verringerten
Abmessungen der Proben die gewünschten Beanspruchungen zu erzeugen, in den
Vordergrund. Es ist deshalb sehr naheliegend, sich bei der Konzeption von
Antriebssystemen für Prüfmaschinen zur Untersuchung kleinvolumiger Proben an
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben 293
Kolbenstange
Gewindemutter
Regelventil
Gewindespindel
Motor Umsteuerventil
Kolben
Regelgetriebe
a) b)
Abb. 7.9 Schematische Darstellung eines a) mechanischen und b) hydraulischen Antriebs einer
Zugprüfmaschine
Lösungen zu orientieren, die bereits für den Bereich der Feinpositionierung erar-
beitet wurden. Von den verschiedenen Lösungen, die zur translatorischen Feinpo-
sitionierung eingesetzt werden können, eignen sich vor allem mikromotorische
Verschiebetische und piezoelektrische Aktoren zur Verwirklichung geeigneter
Antriebe. Während sich beide Lösungen in Bezug auf die Feinpositionierung vor
allem durch Stellauflösung und Verfahrweg unterscheiden, treten in Bezug auf ihre
Verwendung als Antriebseinheiten weitere Unterschiede in den Vordergrund.
Aufgrund ihres Funktionsprinzipes als Festkörperantrieb arbeiten Piezoaktoren
reibungsfrei. Das ermöglicht ihnen eine nahezu unbegrenzte Stellauflösung.
Wegen des mit dem Übergang von Haft- zu Gleitreibung veränderten Reibwider-
standes existiert für mikromotorische Antriebe immer eine definierte kleinste Stell-
bewegung, in der sie mit Sicherheit eine Bewegung vollführt haben. Wird eine
Vor- und Rückbewegung betrachtet, so werden die Unterschiede noch größer.
Während ein Piezoaktor diese präzise (wenn auch hystereseartig) ausführt, ist es
aufgrund der möglichen Führungsfehler der Lineareinheiten mikromotorischer
Verschiebetische bei Auslenkungsamplituden unterhalb von 1 μm nicht klar defi-
niert, welche Bewegung ausgeführt wird, da der Tisch innerhalb dieser Bewe-
gungsamplitude sowohl gieren, neigen oder rollen kann, sodass die Rotationsbewe-
gung des Motors nicht vollständig in eine entsprechende Linearbewegung des
Tisches umgesetzt werden muss.
Eine andere wichtige Eigenschaft, die aus dem Funktionsprinzip des Piezoak-
tors folgt, ist die hohe Krafterzeugung und das schnelle Ansprechverhalten. Mikro-
motorische Systeme sind aufgrund ihres Aufbaus eher träge und erzeugen je nach
Motorgröße nur kleine bis mittlere Kräfte. Allerdings können sie diese in beide
Richtungen gleichermaßen erzeugen. Piezoaktoren können dagegen nur in Druck-
richtung hohe Kräfte erzeugen, in Zugrichtung ist die Krafterzeugung begrenzt, da
die spröde Piezokeramik unter Wirkung von Zugkräften sehr leicht reißen kann.
Noch empfindlicher als auf Zugkräfte sind Piezoaktoren auf Querkräfte. Dies ist
294 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
einer der wesentlichen Vorzüge von mikromotorischen Antrieben, die sich sehr
robust gegenüber komplexen Belastungssituationen als auch verschiedenen
Umweltbedingungen, wie der Temperatur, verhalten. Piezoaktoren besitzen hinge-
gen sowohl eine temperaturabhängige Auslenkfunktion als auch eine nach oben
begrenzte Betriebstemperatur, welche z. B. für Niedervoltpiezotranslatoren nur
T c = 80°C beträgt.
Aus diesem Grund bestimmt die Wahl des Antriebselements auch den weiteren
Aufbau der Prüfmaschine. Zum einen besteht hierbei die Möglichkeit, unter Ver-
wendung eines Piezoaktors eine sehr steife Prüfmaschine zu erzielen, die in der
Lage ist, sehr kleine Deformationen mit sehr hoher Genauigkeit auszuführen,
jedoch auf der anderen Seite durch die eingeschränkte Robustheit des Piezoaktors
bestimmte Anforderungen an die Gestaltung der Probe setzt. Als Gegenkonzeption
zu diesem Aufbaukonzept existiert die Möglichkeit des Aufbaus einer vergleichs-
weise nachgiebigen Prüfapparatur unter Verwendung eines mikromotorischen
Antriebs. Durch die Nachgiebigkeit der Apparatur, die z. B. durch eine geeignete
Gestaltung des Kraftsensors erreicht werden kann, werden die Unzulänglichkeiten
des mikromotorischen Antriebs bei der Erzeugung sehr kleiner Verschiebungen
heruntergesetzt und somit wird eine geeignete Belastung der Probe erreicht. Durch
die Robustheit des Antriebes entstehen kaum Einschränkungen für die Gestaltung
der Apparatur und der Proben, sodass sich sehr vielfältige Möglichkeiten der Prü-
fung mit einem solchen Aufbau ergeben.
Um nach der Entscheidung für ein bestimmtes Antriebskonzept die Eignung
eines konkreten Antriebes zur Durchführung bestimmter Versuche einschätzen zu
können, ist eine genaue Betrachtung der technischen Spezifika der verschiedenen
Antriebsprinzipien notwendig.
7.3.2.4 Messaufnehmer
Δl
ε = ----- (7.1)
l0
Zur Bestimmung der mechanischen Spannung σ wird die Kraft F , die erzeugt
werden muss, um die Probe zu verformen, messtechnisch erfasst. Um die Span-
nung zu ermitteln, wird diese dann z. B. beim Zugversuch zur Querschnittfläche
A 0 ins Verhältnis gesetzt:
F
σ = ------ (7.2)
A0
tronik und der Messstruktur erfolgen, wenngleich beide Elemente des Messaufneh-
mers nicht immer vollständig getrennt betrachtet werden können.
Versorgungs-
spannung
RA
+ RC
OV2
+
-
OV1 verstärktes
Ausgangssignal
-
RB RD
RA
RC
R1
Bückenausgangs-
Versorgungs- spannung
spannung
RB RD R2
a) b)
Abb. 7.10 a) Prinzip der elementaren Wheatstone-Brücke, b) praktische Realisierung mit Opera-
tionsverstärkern zur Gleichtaktunterdrückung und Verstärkungsfaktorabstimmung
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben 301
Optische Verfahren bieten die attraktivste Lösung zur Messung von Verschie-
bungen, da sie als Feldmessverfahren in der Lage sind, Auskunft über lokale Ver-
schiebungen in x- und y-Richtung zu geben. Traditionelle optische Verfahren, wie
Moiré-Interferometrie [460, 461], Holografie [462] und Speckle-Interferometrie
[463], sind etablierte Methoden für Verschiebungsmessungen im Makrobereich.
Allerdings haben interferometrische Verfahren sehr stringente Anforderungen
bezüglich der Stabilität des gesamten Messaufbaus. Darüber hinaus ist das Auszäh-
len von Interferenzstreifen zeitaufwendig. Diese technischen Schwierigkeiten von
traditionellen optischen Feldmessverfahren beförderten die Entwicklung computer-
gestützter Bildverarbeitungsverfahren zur Verschiebungsmessung. Dabei hat sich
vor allem eine unter dem englischen Terminus „Digital Image Correlation“ (DIC)
bekannte Methode entwickelt, bei welcher zwei oder mehr nacheinander gemachte
Digitalaufnahmen einer Probe untereinander verglichen werden, um die Unter-
schiede zwischen diesen Aufnahmen (z. B. die Verschiebungen in unterschiedli-
chen Belastungszuständen) zu analysieren. Die schnelle Verbreitung und hohe
Akzeptanz der DIC-Methode in der experimentellen Werkstoffforschung lässt sich
auf die deutlichen Leistungsverbesserungen im Bereich der Computer, CCD-
Kameras und Frame-Grabber-Karten zurückführen [464]. Das DIC-Verfahren geht
auf Peters und Ranson [465] sowie auf Sutton [466, 467] zurück, welcher das DIC-
Verfahren zunächst für Speckle-Bilder einsetzte. Anfangs wurde eine Grob-Fein-
Suche verwendet, um Pixelverschiebungen zu finden, welche sehr zeitaufwendig
war. Ein deutlicher Geschwindigkeitsgewinn konnte durch die Verwendung der
Newton-Raphson-Methode erzielt werden [468]. Später wurde durch Vendroux
und Knaus [469] eine Korrelation über die Methode der kleinsten Quadrate anstelle
der bisher verwendeten Kreuzkorrelation eingesetzt, um die Berechnungen weiter
zu vereinfachen und eine bessere Robustheit in der Konvergenz des Algorithmus
zu erzielen. Für den Bereich der experimentellen Forschung sind eine Reihe von
Anwendungen der DIC-Methodik in verschiedenen Arten von Werkstoffuntersu-
chungen publiziert [470-473].
Auf dem Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik wurde von
Vogel und Michel [474-477] das sogenannte microDAC-Verfahren (micro Defor-
mation Analysis by means of Correlation Algorithms) vorgestellt. Die Qualität die-
ser Arbeiten unterschied sich von vergleichbaren Anwendungen optischer Feld-
messverfahren im Bereich elektronischer Aufbauten darin, dass es gelang, die
Verformungen innerhalb kleinstvolumiger Flip-Chip-Kontakte während eines
Temperaturwechseltests (-40°C/+125°C) aufzunehmen. Dazu wurde mit einer
Grauwertkorrelation das Verschiebungsfeld im Flip-Chip-Kontakt experimentell
bestimmt. Das Verfahren nutzt dabei Werkstofftexturen aus, z. B. die stark unter-
schiedlichen Kontraste, die sich entweder bei licht- oder bei elektronenoptischer
Abbildung durch die bleireiche und zinnreiche Phase des SnPb-Lotes bilden. Bei
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben 303
7.3.2.5 Rahmen
Die Erzielung einer hohen Steifigkeit und einer hohen Flexibilität durch Ver-
stellbarkeit sind oft entgegengesetzte Ziele, sodass durch geeignete konstruktive
Maßnahmen ein guter Kompromiss gefunden werden muss. Bei diesen konstrukti-
ven Überlegungen müssen darüber hinaus Aspekte, wie unerwünschte Längenän-
derung bei Temperaturschwankungen, Schwingungsanfälligkeit, Gewicht oder
Montierbarkeit mit anderen Geräten (z. B. speziellen optischen Systemen zur Deh-
nungsmessung), einbezogen werden.
Wie in Abschnitt 7.2.1 bereits angeführt, kam es im Laufe der historischen Ent-
wicklung von Prüfmethoden und Prüfmaschinen zu einem Übergang von der rei-
nen Bauteilprüfung zu einer werkstofforientierten Prüfung auf der Basis speziell
gestalteter Probekörper. Dieser Übergang war eine wesentliche Konsequenz aus
der Erfahrung, dass die Überprüfung der Festigkeit eines bestimmten Bauteils
durch das Aufbringen einer rein statischen Belastung für praktische Belange unzu-
reichend war, da sich die mechanische Integrität eines Werkstoffes gegenüber den
sehr vielfältigen Beanspruchungen im Feld nicht über einen einfachen Werkstoff-
kennwert absichern ließ. Die Prüfung speziell gestalteter Werkstoffproben ermög-
lichte gegenüber der Bauteilprüfung ein gezieltes Aufbringen gewünschter Bean-
spruchungsformen und damit eine differenzierte Bewertung des
Werkstoffversagens. Besonders die Entwicklung schädigungsphysikalisch moti-
vierter Konzepte, wie z. B. die der Bruchmechanik, wäre ohne die Prüfung spezi-
fisch gestalteter Probekörper undenkbar gewesen [334, 375, 412, 432]. Grundvor-
aussetzung für diese mittelbare Form der Bewertung der Eignung von Werkstoffen
für bestimmte Anwendungsfälle ist jedoch die Widerspiegelung eines dimensions-
unabhängigen Werkstoffverhaltens in dem in der Regel begrenzten Volumen eines
Probekörpers. Deshalb folgt die Probengestaltung in der klassischen Werkstoffprü-
fung in der Regel dem Prinzip des repräsentativen Volumens, d. h., die Abmessun-
gen eines Probekörpers übersteigen die eines werkstoffspezifischen Volumenele-
mentes, welches so groß ist, dass die Einzelverformungsreaktionen bestimmter
Gefügeelemente, wie z. B. einzelner Körner, nicht mehr nach außen sichtbar wer-
den, sondern sich ein Gesamtverhalten aus der Mittelung einer bestimmten Min-
destanzahl kritischer Gefügeelemente (in der Regel Körner oder Phasen) ergibt.
Neben dieser grundsätzlichen Berücksichtigung eines repräsentativen Werk-
stoffvolumens richtet sich die Gestaltung von Probekörpern nach einer Reihe von
Anforderungen, welche durch die Prüfmaschine bzw. durch die Prüfmethodik vor-
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche 307
Proben mittlerer Größe (d. h. üblicher Größe) oft sehr unkompliziert manuell
einspannen.
Zu den wichtigsten aus der Prüfmethodik gestellten Anforderungen gehören:
• Herstellbarkeit eines adäquaten Probenwerkstoffes: Aus der Repräsentation
typischer werkstoffphysikalischer Merkmale eines Bauteils ergibt sich eine
besondere Problematik für die Probenherstellung, sofern diese nicht durch Ent-
nahme aus dem Bauteil erfolgt. Besonders dann, wenn Bauteil und Probe in sehr
unterschiedlichen Dimensionen vorliegen, ist es schwierig, vergleichbare struk-
turelle Merkmale aus dem schmelzflüssigen Zustand zu erzeugen. Bei der
Gesamtprobengestaltung müssen deshalb die Möglichkeiten einer sehr weit
gefassten Beeinflussbarkeit bei der Ausbildung gefügespezifischer Merkmale
bezüglich der Herstellungsprozedur bedacht werden. Hierbei ist in besonderer
Weise zu berücksichtigen, dass es in kleinen Schmelzvolumina, wie sie für typi-
sche Probenformen genutzt werden, zu inhomogenen Verteilungen bestimmter
Gefügemerkmale kommen kann, welche bestimmten konzeptionellen Gesichts-
punkten einer Probengestaltung entgegenwirken. So ist z. B. die Schaffung rota-
tionssymmetrischer Formen mit der Absicht, dadurch einen homogenen Bean-
spruchungszustand über einem großen, messtechnisch leicht erfassbaren
Verformungsvolumen zu erzeugen, nur dann tragbar, wenn es gelingt, innerhalb
dieses Volumens ein homogenes Gefüge einzustellen. Ein anderer, damit eng in
Zusammenhang stehender Aspekt ist der der Volumenkontraktion beim Flüssig-
Fest-Übergang metallischer Schmelzen. Hierdurch kann es besonders bei hohen
Abkühlgeschwindigkeiten sehr leicht zur Ausbildung von kleinen Hohlräumen
(Lunkern bzw. Poren) im Probenvolumen kommen, welche letztlich zu Fehlbe-
wertungen der Verformungsreaktionen führen.
• Analysefähigkeit: Um einen Nachweis bestimmter werkstoffphysikalischer
Vorgänge während der Verformung zu ermöglichen, muss bei der Probengestal-
tung die Möglichkeit einer postexperimentalen Analyse der verformten Probe
berücksichtigt werden. Dazu muss die Probe in der Regel so aus der Versuchs-
apparatur entnehmbar sein, dass sie entweder während der Entnahme keine wei-
tere Verformung erfährt bzw. dass sie vor Entnahme so getrennt wurde, dass die
während des Experiments entstandenen Bruchflächen unbeschädigt bleiben.
Weitere Erfordernisse sind von den jeweiligen Analyseverfahren abhängig, wel-
che zum Einsatz kommen sollen. So ist es z. B. für spätere metallografische
Analysen von Vorteil, wenn der Probenaufbau aus Strukturen ähnlicher Härte
besteht.
Die Gestaltung eines Probekörpers unter Berücksichtigung dieser vielfältigen
Aspekte ist ein oftmals in seiner Komplexität unterschätzter Prozess, welcher
jedoch die wesentliche Grundlage für die Aussagekraft der durchgeführten Verfor-
mungsexperimente bildet. Durch die Schaffung verschiedener Standards für Pro-
benformen ist die besondere Problematik der Probekörpergestaltung möglicher-
weise aus dem zentralen Blickfeld geraten. Hierbei muss jedoch beachtet werden,
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche 309
dass es bedeutende Unterschiede im Anliegen und den Zielen zwischen einer übli-
chen Werkstoffprüfung (z. B. zur Wareneingangskontrolle) und einem werkstoff-
physikalischen Grundlagenexperiment gibt. Für Letzteres hängt der tatsächlich
erzielbare Erkenntnisgewinn wesentlich davon ab, in welchem Maße eine speziell
gestaltete Probe an die zu untersuchende wissenschaftliche Problemstellung ange-
passt werden konnte. Aus diesem Grund ist die Probekörpergestaltung die erste
fundamentale Aufgabenstellung bei der Durchführung wissenschaftlich ausgerich-
teter Verformungsexperimente. Besonders bei der Frage nach der Größenabhän-
gigkeit der mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen kommt der Probekörper-
gestaltung eine besondere Rolle zu, da diese direkt die Ergebnisse der
Untersuchung und damit die gewonnenen Aussagen beeinflusst.
12,5 + 0,1
20
3
R
6
20
50
75 50
d = 16 200
d = 13
20
36 10
0
R2
8
63
,1
14
6,0
R
25
R
25
,2
25
33
80
200
K IC 2
B ≥ 2,5 ⋅ § ---------· (7.3)
© σF ¹
F a0 BN
W B
Klemmbacke Klemmbacke
Scherprobe Scherprobe
Abstandhalter Abstandhalter
Klemmbacke Klemmbacke
a) b)
Abb. 7.13 a)Singel-shear-lap-Probekörper, b) Double-shear-lap-Probekörper
316 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Aus diesem Grund erschien die Anwendung des vor allem im Bereich der Lami-
nate eingesetzten Isoipescu-Scher-Versuches als sehr lohnend für den Aufbau
miniaturisierter Probekörper für Verbindungswerkstoffe. Die grundlegende Idee
dieser 1967 vorgestellten Messmethode [492] besteht in der Verwendung eines
zweiseitig eingekerbten Probekörpers, welcher über einer speziellen Prüfvorrich-
tung belastet wird (Abb. 7.14). Durch diese Probenform soll in dem Gebiet zwi-
schen den beiden Kerben eine reine Scherbeanspruchung erzielt werden, wenn die
beiden Einspannstellen der Probe parallel zueinander verschoben werden, da die
angreifenden Scherkräfte aufgrund des niedrigen Biegemoments eine sehr gleich-
mäßige Scherbeanspruchung erzeugen. Dies gilt allerdings nur so lange, wie es
durch die über die durch die Kerben erzeugten Spannungskonzentrationen nicht zu
einer Materialschädigung kommt [493]. Aus diesem Grund ist die Fertigung einer
sehr präzisen Probengeometrie eine wichtige Vorrausetzung für die Anwendung
dieser Experimentalmethodik. Bei der Übertragung der Methodik auf die Untersu-
chung dünner Spalten von Verbindungswerkstoffen ergab sich daher das Problem,
einen Weg zu finden, mit dem es möglich ist, nach einem Fügevorgang einen geo-
metrisch genau bestimmten Probeköper zu erhalten. Zur Lösung dieser Aufgabe
schlug Reinikainen [495, 496] ein Konzept vor, bei welchem zunächst zwei V-Ker-
ben in einen Cu-Balken eingelassen werden, wobei der Abschnitt zwischen den
Kerben die spätere Verbindungsfläche zum Aufbringen des Verbindungswerk-
stoffs bildet. Zum Einstellen einer definierten Spalthöhe werden zwei dieser Bal-
ken unter Zuhilfenahme zweier Abstandhalter diametral miteinander verbunden.
Dieser Probekörper wurde in späteren Arbeiten von Deplanque [497, 498] weiter-
entwickelt, indem die beiden Seitenkanten der auf den Balken erzeugten Verbin-
dungsflächen ebenfalls abgewinkelt wurden, wodurch eine bessere Analysefähig-
keit des Lotspaltes über Ultraschallmikroskopie ermöglicht wird. Für beide
Probekörpergeometrien konnte auf der Basis von linear elastischen und nichtlinear
elastisch-plastischen FE-Analysen eine gute Homogenität der Scherbeanspruchung
im Lotspalt nachgewiesen werden [497]. Trotz der hervorragenden theoretischen
F F
a) b)
F F Verbindungswerkstoff
Messing
Heizplatte
Aluminiumform Einspritzwerkzeug
abdrehen
Lot
Stempel
Lot
flüssiges Lot
Messing
Messing
Schmelzform, um das Lot bei der Erstarrung in die gewünschte Form zu zwingen.
Durch die Reaktionen mit der Schmelzformwand wird der Erstarrungsvorgang des
Lotes jedoch verändert, sodass die Einstellung adäquater Gefügemerkmale gegen-
über den bei der Erstarrung von Luft umgebenen Lotkontakten fraglich ist. Weiter-
hin ist es aufgrund der Benetzungsreaktionen mit der Schmelzformwand nicht
möglich, sehr dünne Proben von weniger als 0,1 mm Durchmesser herzustellen.
Dies gelingt nur, indem das Lot während des Erstarrens durch einen dünnen Kanal
gepresst wird [501], was wiederum eine starke Veränderung gegenüber der übli-
chen Erstarrung von Lotkontakten ist.
Werden die Möglichkeiten der Fertigung idealisierter Mikroproben zusammen-
fassend betrachtet, so ist festzustellen, dass es auf der einen Seite zwar eine Viel-
zahl von Verfahren gibt, auf der anderen Seite diese jedoch in ihrer Anwendungs-
breite auf bestimmte konkrete Werkstoffe begrenzt sind. Aus diesem Grund
erscheint es unzweckmäßig, eine vollständig systematisierte Darstellung dieses
Themas anzustreben. Vielmehr sollte die Erörterung dieser Problematik werkstoff-
als auch fertigungsbezogen geführt werden. Bezogen auf wesentliche Werkstoffe
der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik zeigt sich, dass vor allem im
Bereich der Verbindungswerkstoffe erhebliche methodische Probleme existieren,
idealisierte Mikroproben für aussagekräftige Deformationsexperimente herzustel-
len.
7.4.4.1 Hintergrund
Werkstoffs haben. Für das geringe Volumen (V = 1 10-12 m3) von Lotkontakten,
wie sie in der Flip-Chip-Technik verwendet wurden, gingen einige Publikationen,
z. B. [55], von einer sehr geringen Anzahl von Körnern aus. Diese Annahme ist
Ausgangspunkt für eine in [54] veröffentlichte Studie, welche sich mit dem Kon-
zept eines Vergleichsvolumens für den Werkstoff SnPb37 befasst. Die grundle-
gende Idee des Vergleichsvolumenkonzeptes besteht in der Bestimmung einer
minimalen Anzahl von Körnern, bei denen noch keine signifikanten Auswirkungen
von Individualeigenschaften der Körner auf das Verhalten des Volumenmaterials
gegeben sind. Die in [54] an Bulk-Proben ermittelte absolute Vergleichslänge von
6 mm und die relative Vergleichslänge von 8 Körnern erhärteten die These von
einem im Standard-Bulkprobekörper nicht adäquat nachzubildenden Gefüge im
Vergleich zum realen Lotkontakt. Da die Herstellung idealisierter Mikroproben zu
diesem Zeitpunkt aufgrund der unzureichenden mikrotechnologischen Expertise
schwierig schien, war es naheliegend, Lotkontakte, welche sehr leicht hergestellt
werden konnten, direkt als Proben zu verwenden. So wurde in einem der ersten
Mikroverformungsexperimente von Shine, Fox und Sophia [28] einfach ein auf
einer Leiterplatte aufgelöteter PLCC als Probekörper verwendet. Durch eine sehr
umfangreiche Studie von Darveaux [36] zu verschiedenen Lotmaterialien wurde
die Methodik der Verwendung realer Mikroproben für den Bereich der Verbin-
dungswerkstoffe in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik weitestge-
hend etabliert.
rohdaten ist in Abb. 7.16 dargestellt. Da es sich bei der FEM um ein nummerisches
Verfahren handelt, müssen zunächst Startwerte für ein erstes Werkstoffmodell vor-
gegeben werden, welche auf der Grundlage der experimentellen Ergebnisse über
eine einfache analytische Beziehung abgeschätzt werden (A). Danach wird mit die-
sem Startmodell eine Finite-Elemente-Analyse des Versuches durchgeführt, die
eine zu diesen Werkstoffparametern passende Kraft-Weg-Kurve errechnet, welche
mit der aus dem Experiment bestimmten verglichen wird. Entsprechend den
Abweichungen zwischen diesen beiden Kurven werden dann die Eingangsparame-
ter in einer ersten Iteration korrigiert (B) und die FEA des Versuches erneut durch-
geführt. Wenn nach n weiteren Iterationen eine Übereinstimmung zwischen dem
Kraft-Weg-Diagramm des Versuches und der FEA festgestellt werden kann, so
gelten die Parameter des Werkstoffmodells über die Simulation nach der FEM als
bestimmt [12, 504, 505].
Obwohl es über iterative FEM-Simulationen des Experiments möglich ist,
Werkstoffmodelle aus Experimenten mit komplexen Probekörpergeometrien exakt
zu extrahieren, zeigte sich bei der praktischen Durchführung, dass die Anzahl der
benötigten Iterationen in Abhängigkeit vom tatsächlichen Werkstoffverhalten sehr
groß werden kann. Aus diesem Grund wurde die Methodik von Röllig [506] durch
Einführung eines Formparameters verbessert. Die Idee des Formparameters besteht
darin, dass die Geometrie des Probekörpers - im konkreten Fall Lotkontakte von
flächenkontaktierten Bauelementeformen - durch eine bzw. mehrere Variablen
charakterisiert werden kann, aus denen ein Korrekturfaktor für die Ableitung der
Startwerte des Modells aus den Experimentalrohdaten bestimmt werden kann. Es
zeigte sich, dass es bei Verwendung der Korrekturformel für die Bestimmung des
Startmodells oft eine Iteration für die Werkstoffmodellbestimmung ausreicht, da
diese Abschätzung in der Regel bereits sehr nah am finalen Modell liegt.
7.4.4.3 Probekörpergestaltung
Deformationsverhalten
Experiment Modellierung
Fs h Fs m3
m2
Abschätzung m1
a
s
ε = --------------
s
h⋅ 3
(A)
Fs ⋅ 3
σ = ----------------
-
2
a
Eingangsparameter
(B) m1,m2,m3
FEA
F
= F
s = s
Werkstoffparameter
m1 = E, m3 = h 0
E: E-Modul
Abb. 7.16 Nutzung von FEM-Simulationen zur Ermittlung von Werkstoffmodellen bei
Verwendung von Probekörpern mit komplexen Geometrien und nicht einfach auswertbaren Bean-
spruchungszuständen aus [12]
Kontakten zusammengefügt werden. Bezüglich der Frage, mit wie vielen Kontak-
ten die beiden Substrate miteinander verbunden werden sollen, finden sich in den
verschiedenen publizierten Untersuchungen sehr unterschiedliche Ansätze, begin-
nend bei 9 Kontakten in [27] über 16 bzw. 390 Kontakte in [9] und 68 Kontakte in
[505] bis zu 1089 Kontakte in [11]. Grundsätzlich führt eine hohe Anzahl von Kon-
takten zu einer höheren Verformungskraft am gesamten Probekörperverbund und
damit zur Vereinfachung der Kraftmessung, vor allem wenn Standardprüfmaschi-
nen zum Einsatz kommen. Dies funktioniert aber nur theoretisch. Da es bei der
Herstellung von mehreren Kontakten aus technologischen Gründen unmöglich ist,
zwei identische Kontakte zu erzeugen [12, 507], wird sich die Gesamtkraft unter-
schiedlich auf die einzelnen Kontakte aufteilen, was zu einem verschiedenen Ver-
formungszustand der einzelnen Kontakte führt, wobei das Mittel dieser Zustände
nicht die Charakteristik eines einzelnen Kontaktes widerspiegelt. Daher besteht der
ideale Probekörper aus nur einem Kontakt – eine praktisch jedoch nicht realisier-
bare Variante, da wenigstens 3 Kontakte benötigt werden, um 2 Substrate in defi-
niert paralleler Anordnung miteinander zu verbinden. In [29] wird daher grundsätz-
lich ein Probekörperaufbau mit der minimalen Anzahl von 4 Kontakten
vorgeschlagen. Diese minimale Kontaktanzahl verlangt zwar in der Regel eine
besondere Präparation des Probekörpers, hat allerdings neben den aufgeführten
Vorteilen den Vorzug, dass die durch die Kontakte in der Summe auf das Substrat
aufgebrachte Reaktionskraft niedrig bleibt, wodurch die messtechnisch sehr
schwer von den Kontaktdeformationen zu trennenden Deformationen des Substra-
tes gering gehalten werden. Dies führt zu der Frage, aus welchem Material die Sub-
strate bestehen sollen, um eine genaue Messung zu ermöglichen. Für den Bereich
der Mikroverbindungstechnik stehen dabei folgende Standardsubstratwerkstoffe
(vgl. 2.3.3.2) zu Verfügung, für die vielfältige Erfahrungen in der Strukturierung
bestehen: organische Leiterplattenmaterialien, d. h. ein mit einem Harz umgosse-
nes Glasfaservlies, Al2O3-Keramik und Silizium. Während die beiden letzten im
angestrebten Versuchstemperaturbereich ein verhältnismäßig konstantes mechani-
sches Verhalten ausweisen, besteht für Leiterplattenmaterialien eine starke Tempe-
raturabhängigkeit, bei der sie von einem steifen Verhalten bei niedrigen Versuchs-
temperaturen zu einem weit weniger steifen und darüber hinaus zeitabhängigen
Verformungsverhalten bei hohen Versuchstemperaturen übergehen. Aus diesem
Aspekt heraus musste von der Verwendung von Leiterplattenmaterialien als Probe-
körpersubstrat abgesehen werden. Diesem Argument steht jedoch gegenüber, dass
der Hauptteil der in elektronischen Aufbauten vorkommenden Lotkontakte zumin-
dest auf einer Seite mit einem organischen Leiterplattenmaterial verbunden sind.
Gleichzeitig lassen die Standardtechnologien für die Prozessierung von Al2O3-
Keramik und Silizium nicht die Erzeugung vergleichbarer Verbindungsflächen zu.
Ein Ausweg aus dieser Problematik wird in [508] dadurch erreicht, indem die
Bearbeitungstechnologien für die Leiterplatte auf das Al2O3-Keramiksubstrat
übertragen werden (vgl. 8.4.4.3).
Der dritte wesentliche Aspekt der Probekörpergestaltung ist die Wahl der Kon-
taktform, die durch zwei gegensätzliche Argumente bestimmt ist. Auf der einen
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben 323
MX
MX
MN MN
MX
MN
7.5.1 Prüfmaschinenkonzepte
Analog zur Gestaltung von Probekörpern existieren auch beim Entwurf geeig-
neter Prüfmaschinen für den Mikrobereich sehr vielfältige Lösungen. Im Gegen-
satz zu den Probekörpern werden die Konzepte für viele Prüfmaschinen jedoch
weniger aus der konkreten physikalisch-technischen Problematik bestimmt, son-
dern ergeben sich in der Regel aus allgemeinen Aspekten in der Forschung. Hierbei
muss in Betracht gezogen werden, dass es sich bei Prüfmaschinen nicht wie bei
Proben um einen auf einen speziell auf ein Experiment zugeschnittenen Gegen-
stand handelt, welcher bei der Durchführung eines Deformationsexperimentes zer-
324 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
stört wird und aus diesem Grund nach Beendigung des Experimentes in der Regel
für eine weitere Verwendung unbrauchbar ist. Prüfmaschinen müssen mit einem
vergleichsweise sehr hohen Aufwand errichtet werden, welcher durch die aus
einem einzelnen Experiment erreichbaren Aussagen in der Regel nicht zu rechtfer-
tigen ist. Aus diesem Grund wird die Konzeption von Prüfmaschinen sehr oft von
der Forderung nach einer breiten Einsetzbarkeit bestimmt. Aus diesem ökonomi-
schen Aspekt der Materialforschung hat sich eine Spezialisierung in Prüfmaschi-
nenkonstrukteure bzw. -hersteller und Materialforscher, d. h. Prüfmaschinenan-
wender, ergeben, welche zusätzliche - von konkreten physikalisch-technischen
Problemstellungen losgelöste Aspekte - in den Entwurfsprozess einbringt. Herstel-
ler sind grundsätzlich bemüht, eine Prüfmaschine so auszulegen, dass bereits ent-
wickelte Lösungen für Einzelkomponenten dafür eingesetzt werden und dass sie
von einem breiten Anwenderspektrum verwendet werden kann. Auf der gegen-
überliegenden Seite wollen Anwender eine kostengünstige Lösung erwerben, die
gut auf ihre Forschungsaufgaben angepasst ist. Selbst wenn dieser Interessenkon-
flikt ausgeräumt ist - so räumen Erismann [437] und Kammrath [509] ein - entsteht
beim Entwurf einer neuen Prüfmaschine auf der Grundlage von Pflichtenheften
nicht notwendigerweise eine hervorragend an den Versuchzweck angepasste
Lösung, da es durch die geistige Trennung von Konstruktion und Anwendung oft
nicht gelingt, dass alle relevanten Details im Konstruktionsprozess berücksichtigt
wurden. Gerade beim Entwurf von Prüfmaschinen für den Mikrobereich von tradi-
tionellen Herstellern stellten sich die aus der beschriebenen Problematik entstande-
nen Konzeptionsansätze oft als unglücklich heraus, da sich aus dem klassischen
Vorgehen über die Aufstellung von Anforderungskatalogen eine unzureichende
Ausrichtung auf die spezifischen Besonderheiten konkreter kleinvolumiger Unter-
suchungsgegenstände ergab [510-515].
In vielen Fällen wurde den aufgrund verschiedener Probenformen und -dimen-
sionen bei Experimenten im Mikrobereich spezifischen Problemen, wie hohe Auf-
lösung der Messapparaturen, Besonderheiten der Probenhandhabung, unzurei-
chende Beobachtbarkeit des Experiments, gezielte Einstellung gewünschter
Beanspruchungen etc., gegenüber den klassischen Anforderungen, wie Kraft- oder
Temperaturbereich, zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Der Mangel an brauch-
baren marktüblichen Lösungen führte wiederum zur Entwicklung spezieller Labor-
aufbauten, welche von den direkt beteiligten Forschergruppen errichtet wurden.
Aufgrund der Vielzahl der zu erwartenden Schwierigkeiten wurde von vielen für
die Konzeption der Prüfeinrichtung eine Strategie gewählt, welche nicht versucht,
alle Probleme gleichzeitig zu berücksichtigen. Stattdessen wurden sehr oft wich-
tige Partikulärprobleme herausgegriffen und sehr tiefgründig überdacht, wodurch
eine Reihe neuartiger Konzeptionen entstanden, welche später auch auf andere
Probleme übertragbar waren. Für das Verständnis der Vor- und Nachteile bestimm-
ter erarbeiteter Lösungen ist es wichtig, die entsprechenden Konzeptionsansätze zu
berücksichtigen.
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben 325
7.5.2 Kleinlastprüfmaschinen
Die Entwicklung von Kleinlastprüfmaschinen setzte schon lange vor dem Auf-
kommen von Fragestellungen zum veränderten Materialverhalten bei kleinstvolu-
migen Proben ein. Häufigster Ausgangspunkt für die Anfertigung solcher Appara-
turen war die Notwendigkeit, Deformationsexperimente auf engstem Raum
durchführen zu müssen, wie dies zum Beispiel erforderlich wurde, wenn die Defor-
mation eines Festkörpers mit sehr hoher Auflösung über ein Elektronenmikroskop
beobachtet werden sollte. In den verhältnismäßig engen Probenkammern früherer
Elektronenmikroskope bestand lange Zeit die einzige Möglichkeit für einen Einbau
im Austausch einer Spezialversuchseinrichtung gegen den Standardtisch. Die unter
diesen Randbedingungen entwickelten Versuchseinrichtungen orientierten sich in
ihrem Aufbaukonzept an dem von typischen Zugprüfmaschinen, wobei alle Ele-
mente der Apparatur auf einen erheblich kleineren Maßstab herunterskaliert wur-
den, was wiederum zu einem begrenzten Lastbereich dieser Maschinen führte
[437, 509, 516-518].
Bei der Erarbeitung von Prüfmaschinenkonzepten für den Mikrobereich griffen
viele traditionelle Hersteller offensichtlich auf die Erfahrungen, welche zuvor mit
den aus anderen Gesichtspunkten entwickelten Kleinlastprüfmaschinen gewonnen
wurden, zurück, sodass im Großteil der marktüblichen Mikroprüfmaschinen die
sehr traditionellen Kleinlastprüfmaschinenkonzepte umgesetzt wurden. Es gibt
aber auch eine Reihe von speziellen Laboraufbauten, die im Prinzip dem Kleinlast-
prüfmaschinenkonzept folgen.
Im Unterschied zu Universalprüfmaschinen im Normallastbereich sind Klein-
lastprüfmaschinen sehr oft nicht vertikal, sondern horizontal ausgelegt. Dies ist
möglich, da durch die kleinere Dimensionierung schwerkraftbedingte Querkräfte,
welche wiederum zu Biegemomenten an Kraftsensoren und Probenhalterungen
führen, sehr gering ausfallen und sich sehr einfach durch Lager abfangen lassen.
Die horizontale Anordnung ermöglicht eine bessere Zugänglichkeit zur Probenein-
spannzone, welche von Bedeutung ist, wenn z. B. sehr leicht deformierbare Proben
eingespannt werden sollen. Gleichzeitig ergeben sich bessere Möglichkeiten der
Abtastung durch optische Dehnungsmessverfahren. Die horizontale Anordnung ist
allerdings nicht nur eine optionale Möglichkeit zur Verbesserung bestimmter ver-
suchsmethodischer Belange. Sie macht sich sehr oft auch erforderlich, um bei klei-
neren Probenquerschnitten bzw. einem sehr nachgiebigen Deformationsverhalten
verhältnismäßig kleine Reaktionskräfte genau zu erfassen. Hierzu muss beachtet
werden, dass sich im Gegensatz zur Probe die Einspannköpfe nicht beliebig ver-
kleinern lassen, da diese manuell bedienbar sein müssen. Dadurch könnte in einer
vertikalen Anordnung die schwerkraftbedingte Grundbelastung des Kraftsensors
höher sein als die zu ermittelnde maximale Verformungskraft der Probe. Bei einer
horizontalen Anordnung wird durch das Gewicht der Einspannungen jedoch nur
326 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
eine Reibkraft in den Lagern verursacht, welche insgesamt in der Regel eine klei-
nere Messunsicherheit bezüglich der Kraftmessung verursacht.
LVDT
Rahmen
Probekörper
Verschiebungsmessbereich LVDT
a) b)
gekoppelt ist. Aus dieser Transformation der Dreh- in eine Linearbewegung ergibt
sich ein Verschiebeinkrement von 12,5 μm im Vollschritt. Feinere Verschiebein-
kremente ließen sich zwar durch Verwendung eines anderen Motors bzw. eines fei-
neren Gewindes erzielen, allerdings nimmt dann auch die maximale Geschwindig-
keit der Traverse ab, da Schrittmotoren gegenüber Gleichstrommotoren sehr viel
niedrigere Maximaldrehzahlen aufweisen. Zur Erzielung feinerer Verschiebungs-
inkremente wurde deshalb eine Mikroschrittsteuerung verwendet, welche den
Vollschritt in Abhängigkeit von der Slip-Stick-Problematik durch den Haftrei-
bungs-Gleitreibungs-Übergang auf ein Verschiebungsinkrement von 50 nm (= 256
Mikroschritte) herunterteilen kann.
Die Belastungsachse wurde horizontal gewählt, um damit einen einfachen Pro-
benzugang sowie eine einfache Adaption optischer Messverfahren zur Dehnungs-
messung zu ermöglichen. Die Kraftmessdose ist auf der gegenüberliegenden Seite
des Verschiebetisches am Rahmen angebracht. Hierdurch konnte auf die bauform-
bedingte Verwendung eines Winkels verzichtet werden, wodurch eine größere
Steifigkeit der Reaktionsstruktur, d. h. des Rahmens, erreicht werden konnte. Vom
Verschiebetisch und vom Kraftsensor führen zwei Stangen aus V2A-Stahl
(d =12 mm, l = 300 mm) zu den Probeneinspannungen. Beide Wellen sind in
Belastungsrichtung kugelgelagert geführt, wodurch sie das hohe Gewicht der Ein-
spannblöcke aufnehmen können. Durch die schlechte Wärmeleitfähigkeit des
V2A-Stahls sowie die relativ große Länge der Wellen soll eine Isolation zwischen
den beheizbaren Probeneinspannungen und der Kraftmessdose erreicht werden, um
unabhängig von der Versuchstemperatur eine genaue Kraftmessung durchführen
zu können.
Die Thermokammer besteht aus einer zweiwandigen Konstruktion, welche zur
mechanischen Befestigung eine Außenwandung aus Aluminium und zur thermi-
schen Isolation eine Innenwandung aus Teflon besitzt. Die Wellen führen über eine
Bohrung durch die Doppelwandung zur Einspannvorrichtung. Für diese kommen
330 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Die Streckung der Probe wird durch einen außerhalb der Temperaturkammer
angebrachten LVDT-Wegsensor aufgenommen, welcher zwischen der Oberseite
des Lastkorbes und dem Maschinenrahmen befestigt ist. Prinzipiell lässt sich die
Probendehnung auch innerhalb der Temperaturkammer mit dem unter 7.5.2.3
beschriebenen, auf der Probe montierbaren Führungsschlitten-LVDT-Wegsensor
bestimmen. Zur Dehnungsmessung wurden zwei verschiedene LVDT-Sensoren
–6
mit Messbereichen und Auflösungen von 1 mm/140 nm ( = 2,8 ⋅ 10 Dehnungs-
–6
auflösung an 50 mm langer Probe) sowie 5 mm/1,14μm ( = 9,7 ⋅ 10 Dehnungs-
auflösung an 117 mm langer Probe) verwendet.
Aufgrund des außerhalb der Probe angebrachten LVDT-Wegsensors wurde ein
Lastkorb mit hoher Verformungsstabilität bis zu einem Zuladungsgewicht von 17
kg konzipiert, um Fehlmessungen durch Lastkorbverformungen auszuschließen.
Hierdurch ergab sich ein Grundgewicht von 5,5 kg (erste Version mit 2 Linearla-
gern) bzw. 7 kg (zweite Version mit 4 Linearlagern), wobei in letzterer Version ein
Versuchsspannungsbereich für die beschriebene Probengeometrie von 5,7 MPa ...
19,6 MPa erreicht wurde. Aufgrund dieser Einschränkungen im Versuchsspan-
nungsbereich lassen sich keine Messungen mit beliebig niedrigen Versuchsspan-
nungen durchführen.
Dieser versuchsmethodische Nachteil der Apparatur entsteht durch das einfache
horizontale Aufbaukonzept. Bei einer horizontalen Ausrichtung der Probenbelas-
tungsachse unter Verwendung von Umlenkrollen zur Kopplung mit den weiterhin
in Richtung der Gravitationsachse ausgerichteten Lastgewichten ließe sich diese
Problematik weitestgehend umgehen. Eine derartige Anordnung der Belastungs-
achse, wie sie auch beim Aufbau der in 7.5.2.3 beschriebenen Kleinlastzugma-
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben 333
schine verwendet wird, würde darüber hinaus auch die Probleme mit der unglei-
chen Temperaturverteilung in der vertikal angeordneten Temperaturkammer lösen.
Insgesamt zeigt sich, dass durch die werkstoffphysikalischen Besonderheiten von
Weichloten gegenüber anderen Legierungen eine horizontale Ausrichtung der
Belastungsachse wesentliche versuchsmethodische Vorteile gegenüber der in der
Regel verwendeten vertikalen Ausrichtung bezüglich der Wahl der Versuchsbedin-
gungen und der Genauigkeit der Messung aufweist.
von Mei et al. [44], Subrahmanyan [10] und Nir et al. [9] Ende der 80er bzw.
Anfang der 90er Jahre durchgeführt. Alle drei bevorzugten einen Scherversuch, da
dieser zum einen die Belastungsverhältnisse am Lotkontakt am besten nachbildete
und zum anderen dadurch die Möglichkeit für zyklische Versuche gegeben war.
Während die Untersuchungen von Mei et al. [44] an einer im Vergleich zum Unter-
suchungsobjekt relativ großen Versuchseinrichtung durchgeführt wurden, machte
Subrahmanyan [10] erste Anstrengungen, die Größe der Versuchseinrichtung deut-
lich zu verkleinern. Kleine Versuchseinrichtungen sind unanfälliger gegen Vibra-
tionen und tragen durch die kleineren Ausdehnungen bei Temperaturschwankun-
gen geringere Fehler in die Messungen ein. Der Versuchsaufbau von Nir et. al. [9]
wies als erster ein Aktuatorsystem (antiparalleler Spulenantrieb) ohne Umkehrspiel
auf. Die Probe wurde dabei über ein Epoxidharz in den Versuchsaufbau eingeklebt,
um eine geringe Belastung während des Einspannens zu gewährleisten.
Ausgehend von diesen vorhandenen Ideen [9, 10, 44] zur Realisierung von
mechanischen Versuchen an Mikrolotkontakten, wurden ein neuer Probekörper-
aufbau und eine Versuchseinrichtung (Abb. 7.21) entworfen [12, 29, 441], welche
die noch vorhandenen Schwächen der bestehenden Aufbauten beseitigen sollten.
Ziel war dabei die Messung des E-Moduls an Mikrolotkontakten, da er ein Schlüs-
selparameter für den Nachweis der Vergleichbarkeit zu Messungen am Bulkwerk-
stoff ist. Da der E-Modul nur vom Atomgitter und von den Atombindungskräften
abhängig ist, existieren für die weit über atomaren Größenverhältnissen liegenden
Mikrolotkontakte keine Größeneffekte, d. h., für Bulkwerkstoff und Mikrolotkon-
takt muss sich derselbe E-Modul ergeben, sonst liefert die Versuchseinrichtung
keine vergleichbaren Ergebnisse.
Im Bereich mikroskopisch kleiner Probekörper ergeben sich aus diesem
Anspruch hohe Anforderungen an die Verschiebungsmessung sowie an die Repro-
duzierbarkeit der Geometrie der Probekörper. Die letztere Forderung ergibt sich
aus der Problematik der Einspannung der Probekörper. Diese erfolgt aus Gründen
der Fertigbarkeit am besten über einen Zwischenträger, welcher für die Elektronik
typische Strukturen besitzt. Für die geplanten Untersuchungen wurden zwei identi-
sche Siliziumchips (3,3mm X 3,3mm ... 4 mm X 4 mm) gewählt, welche durch 4
Flip-Chip-Kontakte miteinander verbunden wurden (Abb. 8.2). Die Flip-Chip-
Kontakte besitzen eine Grundfläche von 100μm X 100μm bzw. 200μm X 200μm
und eine Höhe von ca. 125μm bzw. 175μm. Die Form der Kontakte wurde hyper-
bolisch gewählt, damit sich der Hauptteil der Verformung im Zentrum des Kontak-
tes und nicht an der Grenzfläche zum Silizium konzentriert [12], wodurch es mög-
lich ist, das Verformungsverhalten des Lotmaterials anstelle des der Grenzfläche
aufzunehmen.
Das Ziel bei der Konzeption des Versuchsaufbaus (Abb. 7.21) bestand darin,
eine präzise steuerbare Scherung des beschriebenen Flip-Chip-Probekörpers zu
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben 335
FC-Probe 1 FC-Probe 2
Laser-
strahl
Kraft-
sensor Justiereinheit
Justiereinheit
Einspannrahmen Verschiebe-
Rahmen tisch
Lichtleitkabel Lichtleitkabel
Fuß
a) Piezotranslator
b)
F F
Abb. 7.22 Probekörperhalterungen für symmetrische und zentrale Einspannung der Flip-Chip-
Proben in die Deformationsprüfvorrichtung [12]
Das größte Problem für den konzipierten Versuchsaufbau stellte jedoch die Rea-
lisierung einer hochauflösenden Verschiebungsmessung dar. Um den Anforderun-
gen an die Auflösung zu genügen, wurde eine optische Lösung über ein Laserinter-
ferometer favorisiert. Ob die grundlegend sehr hohen Auflösungen, welche mit
einem Laserinterferometer erreicht werden können, tatsächlich in einem prakti-
schen Versuchsaufbau umgesetzt werden können, hängt im Wesentlichen davon
ab, inwiefern es gelingt, Fehler der Wegmessung, welche durch Wärmedehnungen
im Strahlengang des Interferometers entstehen, effektiv zu unterdrücken. Dazu
wurde im Versuchsaufbau eine symmetrische Anordnung eines Zweistrahlinterfer-
meters genutzt, welche alle thermischen Ausdehnungen kompensieren soll
(Abb. 7.23, Abb. 7.24). Der Hintergrund dieses Konzeptionsansatzes resultiert aus
90°
Laserkopf 1 Laserkopf 2
Messstrahl Referenzstrahl
Probekörper
Int
Si-Chip
Si-Chip
erf r
ero ete
me fe rom
ter
a a Inter
Abb. 7.23 Symmetrische Anordnung des Laserinterferometers zur Kompensation von thermi-
schen Fehldehnungen des Rahmens [12]
überschreitet, wird klar, dass das Konzept der Thermostatierung unzureichend für
den geplanten Versuchsaufbau ist. Daher wurde zur Lösung dieser Problematik ein
Konzept gewählt, welches auf der Konstanz eines Temperaturfeldes basiert. Diese
scheint wesentlich einfacher realisierbar zu sein, da für den Fall günstiger Umge-
bungsbedingungen (d.h. geringe Unterschiede zwischen Kammer- und Umge-
bungstemperatur) das durch die thermostatierte Flüssigkeit aufgebaute Tempera-
turfeld einen geringen Gradienten aufweist (z.B. Tmin = 29,995°C,
Tmax = 30,005°C) und dadurch auch eine starke Oszillation des Feldes zu nur
geringen Temperaturdehnungen führt. Im Fall ungünstiger Umgebungsbedingun-
gen (d. h. große Unterschiede zwischen Kammer- und Umgebungstemperatur) hat
der höhere Temperaturgradient des sich aufbauenden Feldes (z.B. Tmin = 99,95 K,
Tmax = 100,05°C) insofern geringe Auswirkungen auf den Verlauf der Abkühlung,
da auch der Unterschied zwischen Innen- und Umgebungstemperatur hoch ist und
es damit nur zu einer geringen Oszillation des Feldes kommt.
Im praktischen Versuchsaufbau kam ein Laserinterferometer der Fa. Polytec mit
der Typenbezeichnung OVF 502 zum Einsatz. In ihm wird ein HeNe-Gaslaser mit
einer Wellenlänge von 633 nm verwandt. Die beiden miteinander interferierenden
Strahlen werden über ein Glasfaserkabel aus dem Lasermodul zu einem Strahlteiler
geleitet und dort auf zwei Glasfaserkabel aufgeteilt, an deren Enden sich Linsen
befinden, um den Strahl auf das Objekt zu fokussieren. In dem in einer symmetri-
schen Form erfolgten Aufbau (Abb. 7.23, Abb. 7.24) sind die beiden Enden, an
denen die Laserstrahlen aus den Glasfaserkabeln austreten, in gleichem Abstand
von einem Prisma auf Positionierungsmanipulatoren montiert, welche über jeweils
2 Freiheitsgrade der Translation und Rotation verfügen. Das Prisma dient dazu, die
beiden Laserstrahlen in einem Abstand von ca. 500mm parallel auszurichten,
sodass sie die Seitenkantenflächen der beiden Siliziumchips des Probekörpers mit-
tig abtasten. Das Prisma ist in einer Rotations- und einer Transversionsachse mani-
pulierbar. Hierdurch können Fehlwinkel der Seitenkanten der Siliziumchips, wel-
che beim Sägen entstehen, ausgeglichen und der Abstand der beiden Strahlen
zueinander eingestellt werden. Die Probe ist in einer Transversionsachse ver-
schiebbar, sodass der Abstand zwischen Probe und Prisma so klein wie möglich
gehalten werden kann, da durch die Fokussierung der Laserstrahlen die Lichtfleck-
größe an den Prismenkatheten mit größerem Abstand wächst, wodurch nicht mehr
der gesamte Strahl reflektiert werden würde. Durch die Abtastung der Seitenkanten
der Siliziumchips des Probekörpers wird zwar die Frage nach der Steifigkeit der
Einspannung für die Genauigkeit der Wegmessung unerheblich, auf der anderen
Seite gibt jedoch diese Realisierungsvariante der Wegmessung eine wichtige
Randbedingung für die Einspannung vor. Diese darf die oberen Seitenkanten der
Siliziumchips des Probekörpers nicht verdecken.
Zur Temperierung ist der gesamte Versuchsaufbau in eine doppelwandige Kam-
mer, welche von einer thermostatierten Flüssigkeit durchströmt wird, eingelassen,
wodurch ein konstantes Temperaturfeld um die Apparatur aufgebaut werden kann.
Diese mittelbare Temperierung der Apparatur über eine bewegte Flüssigkeit soll
Temperaturfeldverschiebungen innerhalb der Kammer gering halten. Bei direkten
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben 339
a)
b)
Abb. 7.24 Versuchsaufbau in der Ansicht von a) oben und b) von der Seite
340 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Mit der in 7.5.3.2 beschriebenen Vorrichtung ist es gelungen, mit einer zu Ver-
formungsversuchen an Bulk-Probekörpern in Standardprüfmaschinen vergleichba-
ren Genauigkeit Deformationsexperimente an kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontak-
ten durchzuführen, um somit exakte Konstitutivmodelle für das Lotmaterial in
– 12 3
diesen Volumina ( V ≈ 1 ⋅ 10 m ) bestimmen zu können. Der hohen Genauigkeit
dieser Versuchseinrichtung steht jedoch prinzipbedingt der Nachteil eines begrenz-
ten Temperaturbereiches (5 °C ... 50 °C) gegenüber, welcher zu gewissen Ein-
schränkungen bei der wissenschaftlichen Interpretation von Versuchsergebnissen
führte. Deshalb bestand ein Ziel der Weiterentwicklung des in 7.5.3.2 vorgestellten
Prüfmaschinenkonzeptes in der Erweiterung des Temperaturbereichs der vorhan-
denen Versuchseinrichtung. Zunächst wurden zwei Versuche unternommen, eine
Temperaturkammer in den vorhandenen Versuchsaufbau einzupassen. Dabei
zeigte sich, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, auf sehr begrenztem Raum eine
entsprechende thermische Isolierung mit einer mechanisch sehr steifen Kopplung
zu realisieren. Aus diesen beiden Versuchen wurde jedoch auch deutlich, dass es
einen konzeptionellen Fehler für diesen Aufbau gibt. Die hohe Steifigkeit der bis-
herigen Apparatur führt bei Inhomogenitäten der Temperaturverteilung, die beim
Aufheizvorgang in der Apparatur entstehen, zu Dehnungen, die eine Zerstörung
der Proben vor Versuchsbeginn bewirken. Aus diesem Grund wurde eine grundle-
gende Neukonzeption des Aufbaus vorgesehen, welche einen sehr weichen Kraft-
sensor verwendet, um das Problem der temporären Dehnungen während der Auf-
heizphase zu umgehen. Der Sensorbereich des Kraftsensors besteht aus vier
Festkörpergelenken, deren Biegesteifigkeit durch ihre geometrische Auslegung
bestimmt wird. Eine gezielte Einstellung einer bestimmten Sensorsteifigkeit fand
durch eine Dimensionierung der Sensorgeometrie über FEM-Rechnungen statt, bei
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben 341
A: Dickschichtkeramik-Probenhalter mit
Heizelementen
B: x-y-Probenpositioniertisch
C: LVDT-Verschiebungsmessung
D: Kraftmesssensor
F: Schrittmotorantrieb
H: Rahmen
a) b)
Abb. 7.26 Al2O3-Keramikplättchen zur Probeneinspannung - durch auf den Keramiken befind-
liche Dickschichtheizer kann die Versuchstemperatur an der Probe eingestellt werden: a) Keramik-
plättchenverbund mit eingespannter Probe und Einzelkeramikplättchen, b) durch Thermografie
ermittelte Temperaturverteilung entlang des Dickschichtheizers für T = 30 °C, 75 °C [508]
schen Masse der Keramikplättchen ist eine gute Kopplung des Temperatursensors
an den Dickschichtheizer sowie eine schnelle Analogregelung erforderlich. Im
praktischen Aufbau zeigte sich, dass das Oszillieren des Heizers auf eine Ampli-
tude von ± 0,2 K für T ≤ 125°C beschränkt bleibt, wodurch sich durch die Kera-
mikplättcheneinspannung eine sehr brauchbare Miniaturtemperaturkammer für die
angestrebten Versuche realisieren lässt.
Zur Verschiebungsmessung kommen LVDT-Sensoren mit einem Messbereich
von 1 mm zum Einsatz, welche über eine Auswertelektronik auf der Basis eines
AD596-Schaltkreises und einer Analog/Digital-Wandlerkarte (12 bit) bei einem
Abtastintervall von 1 ms eine Auflösung von 70 nm sowie eine Genauigkeit von
340 nm erreichen. Gegenüber der in 7.5.3.2 vorgestellten Vorrichtung ergeben
sich durch die Begrenzungen des Wegmesssystems auch unter Berücksichtigung
der etwas größeren Probenvolumina signifikant schlechtere Möglichkeiten, hoch-
genaue Messungen durchzuführen [508].
Gehäuse
a) b)
c) d)
Abb. 7.27 a, b) Konzept für kompakte Deformationseinrichtung zur Benutzung in der Vakuum-
kammer eines Rasterelektronenmikroskopes, c) Prüfeinrichtung auf dem Positioniertisch eines
Tesla BS 301, d) Prüfeinrichtung in vergrößerter Darstellung
Als Stellantrieb findet ein P-780 System der Fa. Physik Instrumente Verwen-
dung. Hierbei handelt es sich um einen wegübersetzten Piezotranslator, der in ein
Führungssystem aus Festkörpergelenken integriert ist. Diese drahterodierten
Gelenke ermöglichen eine hohe Führungsgenauigkeit, ohne dass Reibungskräfte
auftreten. Die Notwendigkeit zur Führung ergibt sich aus dem kompakten Aufbau
der Apparatur, bei dem nicht mehr alle Apparaturkomponenten in einer Verschie-
bungsachse angeordnet werden können. Die Verschiebungsmessung erfolgt durch
mechanische Ankopplung eines LVDT-Sensors an das Einspannwerkzeug. Die
Kraftmessung erfolgt über einen piezoresistiven Siliziumbiegebalkensensor, der
jedoch vakuumtauglich ist. In der Apparatur findet auch eine symmetrische Anord-
nung zweier Probekörper Anwendung, um Querkräfte zu minimieren. Die Verän-
derungen beim Verschiebungsmesssystem und die Anordnung der einzelnen Appa-
raturkomponenten in verschiedenen Achsen der Verschiebungsrichtung
verschlechtern die Auflösung der Verschiebungs- und Kraftmessung um den Fak-
tor 10. Hinzu kommt die fehlende Thermostatierung der Apparatur. Insgesamt
kann für die Absicht der begleitenden Beobachtung jedoch von einer ausreichen-
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben 345
den Genauigkeit der Apparatur gesprochen werden. In Abb. 7.27 ist das Prinzip der
Versuchseinrichtung grob skizziert [12].
Justiereinheit kapazitiver
Sensor
FC-Probe 2 FC-Probe 1
Kraft-
sensor
Rahmen
Fuß
Einspannrahmen
Piezotranslator
a) b)
zu messen, jedoch muss der kapazitive Wegmesssensor vor jeder Messung neu
kalibriert werden. Dazu wird vor dem Experiment eine Referenzmessung mit dem
im Piezotranslator enthaltenen Dehnmessstreifen durchgeführt. Hierdurch sinkt die
minimale Auflösung auf Δs = 40nm. Die in der Praxis erreichten Auflösungen lie-
gen bei Δs = 100nm und ΔF = 24 mN. Für die Charakterisierung des Ermüdungs-
verhaltens sind diese Auflösungen allerdings ausreichend [12]. Das Gesamtkon-
zept der Ermüdungseinrichtung ist in Abb. 7.28 skizziert.
besteht darin, die Verformungsreaktion eines dünnen Lotspalts, der sich zwischen
einem Metallpin und der Metallisierung einer Durchkontaktierung in der Leiter-
platte bildet, zu untersuchen. Im Gegensatz zu den auf der Oberfläche befindlichen
Kontaktflächen sind die Durchkontaktierungshülsen sehr stark mit dem Glasfaser-
vlies im Kern der Leiterplatte verankert. Hierdurch kann es nicht zu starken vis-
koelastischen Verformungen des Harzes kommen, die unterhalb der auf der Leiter-
plattenoberseite befindlichen Kontaktflächen sehr leicht zustande kommen [508].
Aufgrund ihres einfachen Prinzips werden Ring-Pin-Probekörper in Durchkontak-
tierungen von Leiterplatten sehr häufig zur Bestimmung der Kriechfestigkeit über
die Larson-Miller-Zeitkonstante, d. h. die Zeit bis zum letalen Kriechbruch, einge-
setzt [522]. Gegenüber diesen Versuchen ist für die Bestimmung des zeitabhängi-
gen Verformungsverhaltens des Lotes im Spalt zwischen Anschlusspin und Durch-
kontaktierungshülse jedoch die Realisierung einer genauen Verschiebungsmessung
erforderlich.
1,0 mm
2 mm
0,8 mm
1,5 mm
FR4-Träger
Kupfer
Nickel
35 mm
Gold
Lot
Kupferdraht
a) b)
c) d)
Abb. 7.29 a), b) Schema des Probekörpers und Querschliff des Probekörpers für Leiterplatten-
Kontakt, c) Versuchseinrichtung in Draufsicht mit Abtastung des oberen Drahtendes über einen
inkrementellen optischen Wegaufnehmer, d) Seitenansicht der Versuchsanordnung
8.1 Bewertung des Datenmaterials 349
8 Experimentelle Ergebnisse
Eine der Schwierigkeiten bei der Interpretation von Ergebnissen aus Verfor-
mungs- und Schädigungsversuchen besteht in der allgemeinen Neigung, experi-
mentell gewonnenen Erkenntnissen einen hohen Grad an Objektivität zuzuschrei-
ben. Hierbei wird sehr oft übersehen, dass diese Objektivität - bezogen auf ein
einzelnes Experiment - vollkommen gerechtfertigt wäre, dass es jedoch für die
Erfassung einer komplexen physikalischen Erscheinungsform, wie dem Verfor-
mungsverhalten von Werkstoffen, notwendig ist, ein aus vielen Einzelversuchen
bestehendes System von Experimenten durchzuführen. Hierbei besteht aufgrund
der großen Vielfalt möglicher Untersuchungsansätze das Bestreben, die Anzahl der
Versuche auf wesentliche Experimente zu beschränken. Die Auswahl der durchzu-
führenden Experimente - dabei kann es sich z. B. um die Festlegung von Versuchs-
temperaturen oder bestimmten Lastkräften handeln - wird von einer bestimmten
Erwartungshaltung beeinflusst, welche sich im günstigen Fall auf bestimmte theo-
retische Annahmen stützt, sich aber in vielen Fällen einfach aus willkürlichen Ent-
scheidungen ergibt oder aber durch Grenzen der Prüftechnik bestimmt wird.
Aus diesem Grund ist es wichtig, Experimentaldaten nie losgelöst vom System
der Einzelversuchsdurchführungen, von den Besonderheiten der Prüfkörper und
Versuchseinrichtungen sowie von den den Versuchen zugrunde liegenden Intentio-
nen der Materialcharakterisierung zu betrachten. Die Tatsache, dass die Bestim-
mung und die mit ihr verbundene Modellierung des Deformations- und Schädi-
gungsverhaltens von Werkstoffen der Aufbau- und Verbindungstechnik der
Elektronik eine stark interdisziplinäre Problematik und damit eine mehrere Berei-
che der Ingenieur- und Naturwissenschaften berührende Aufgabenstellung ist,
führt zwangsweise zu sehr unterschiedlichen Ansätzen bei der Planung von Versu-
chen. So kann die Untersuchung ein und desselben Werkstoffes in einer Untersu-
chung dadurch geleitet sein, einen bestimmten metallphysikalischen Effekt [24-26,
523] herauszuarbeiten, während eine andere Untersuchung darauf abzielt, anwen-
dungsrelevante Aspekte des Werkstoffes herauszuarbeiten [22, 23, 27, 28, 524].
Einfache Vergleiche des reinen Datenmaterials geben für die Betrachtung des
Werkstoffverhaltens - bezogen auf einen konkreten Anwendungsfall - kaum Auf-
schluss über die Spezifika der mit dieser Anwendung möglicherweise verbundenen
Besonderheiten - auch wenn das von einigen Autoren behauptet wird [524-526].
Ein wichtiges Anliegen des nachfolgenden Vergleiches eigener Experimental-
daten mit den in der Literatur beschriebenen ist es deshalb herauszufinden, weshalb
Unterschiede zu anderen Untersuchungen bestehen und welche Schlussfolgerun-
gen für die Beantwortung der gestellten Frage nach dem Größeneffekt daraus gezo-
gen werden können.
350 8 Experimentelle Ergebnisse
Reines Zinn lässt sich technologisch sehr schwer verarbeiten, wodurch es nicht
möglich ist, Probekörper mit kleinstvolumigen Lotkontakten herzustellen. Selbst
wenn es gelingen würde, solche Probekörper zu fertigen, würde durch die Reaktion
mit den entsprechenden Substratmetallisierungen kein Rein-Zinn-Lotkontakt, son-
dern immer ein Lotkontakt mit einer zinnbasierten Legierung entstehen. Aus die-
sem Grund erfolgt die Darstellung der werkstoffmechanischen Eigenschaften von
Zinn anhand von verschiedenen, in der Literatur beschriebenen Grundlagenunter-
suchungen, bei denen in der Regel makroskopische, idealisierte Probekörper ver-
wendet wurden. Ein Großteil dieser Untersuchungen ist älteren Datums, da Zinn
wegen der Besonderheiten seiner Gitterstruktur in jüngerer Zeit kaum untersucht
wurde. Es gibt jedoch eine Reihe neuerer Artikel, die das ältere Datenmaterial in
Zusammenhang mit jüngeren Untersuchungen neu verarbeitet haben [527-529].
Zinn existiert in zwei allotropischen Modifikationen - α -Zinn bzw. graues
Zinn, welches ein kubisches Diamantgitter ausbildet, β -Zinn bzw. weißes Zinn,
welches ein raumzentriertes tetragonales Gitter aufweist. Einige Publikationen
[530] gehen von einer dritten allotropischen Modifikation, einem γ -Zinn mit
einem rhombischen Gitter, aus. Letzteres hat wegen des in der Nähe des Schmelz-
punktes bei 202,8 °C stattfindenden β - γ -Übergangs für technische Anwendungen
keine Relevanz. Für die Temperatur des β - α -Übergangs existieren in der Litera-
tur Angaben zwischen 13,2 °C ... 18 °C [530-533]. Aufgrund der erheblichen
Dichteunterschiede zwischen den beiden Modifikationen führt diese als Zinnpest
bezeichnete Umwandlung in der Regel zum Auseinanderfallen des Materials.
Allerdings tritt diese Umwandlung in einer für technische Anwendungen relevan-
ten Geschwindigkeit nur bei sehr tiefen Temperaturen (-40°C [532]) und auch bloß
in hochreinem Zinn auf. Bereits kleine metallische Verunreinigungen, z. B. von
Bi, Cu, Pb oder Sb, unterdrücken die Transformation weitestgehend, sodass β -
Zinn die in den meisten technischen Anwendungen von Lotwerkstoffen vorherr-
schende Modifikation ist. Deshalb beziehen sich alle in den folgenden Abschnitten
dargestellten Daten für reines Zinn immer auf seine Erscheinungsform als β -Zinn.
Die Darstellung des werkstoffmechanischen Verhaltens von Zinn macht sich trotz
der fehlenden Anwendung erforderlich, da die in den Abschnitten 8.4 und 8.5
beschriebenen Legierungen aus einer β -Zinn-Matrix mit darin verteilten harten
intermetallischen Phasenteilchen bestehen, sodass ihre grundlegenden Eigenschaf-
ten der des β -Zinns entsprechen.
Die in ihrer grundsätzlichen Form bereits in Abb. 3.7 dargestellte und ausführ-
lich in Abb. 8.1 illustrierte raumzentrierte tetragonale Elementarzelle des β -Zinns
[555] besitzt zusätzlich zu seinen 8 Eckatomen vier weitere auf den Quaderflächen
befindliche Atome in den Positionen [0, 1/2, 3/4] und [1/2, 0, 1/4]. Durch ihre sehr
unterschiedlichen Kantenlängen a = 0, 582 nm und c = 0, 318 nm , d. h.
8.2 Einstoffsystem - Zinn 351
[001]
[101]
(101) [111]
(121)
(010)
[010]
[100]
Abb. 8.1 Elementarzelle von β -Zinn aus [555] mit üblichen Gleitsystemen
bei 40 GPa liegen. In Tabelle 8.2 sind neben dem Elastizitätsmodul ( E ) weitere
elastische Parameter, wie Schermodul ( G ) und Querkontraktionszahl ( ν ) , für
polykristallines Sn aufgeführt.
352 8 Experimentelle Ergebnisse
Wird reines Sn jedoch nicht als polykristalliner Körper, sondern als Einkristall
betrachtet, so ergeben sich entlang der verschiedenen kristallografischen Richtun-
gen (vgl. Abb. 8.1) die in Tabelle 8.3 aufgeführten Werte für den thermischen Aus-
dehnungskoeffizienten α und den Elastizitätsmodul E .
–6 –1
α [ 10 ⋅K ] 15,4 18,9 26,4 30,5 24,2 21,1 20,5 15,4
σ xx = C 11 ε xx + C 12 ε yy + C 13 ε zz (8.1)
σ yy = C 12 ε xx + C 11 ε yy + C 13 ε zz (8.2)
σ zz = C 13 ε xx + C 13 ε yy + C 33 ε zz (8.3)
τ yz = C 44 γ yz (8.4)
τ xz = C 44 γ xz (8.5)
τ xy = C 66 γ xy (8.6)
Für die entsprechenden elastischen Konstanten sind nur wenige ältere experi-
mentelle Untersuchungen [538] vorhanden, welche in Tabelle 8.4 einer neueren
theoretischen Berechnung dieser Werte gegenübergestellt sind.
Tabelle 8.4 Elastische Konstanten zweiter Ordnung für β -Sn in [GPa] aus theoretischen Berech-
nungen [539] und experimentellen Untersuchungen [538]
c 11 c 12 c 13 c 33 c 44 c 66 Quelle
Für die Beschreibung der Gleitung in β -Zinn existieren vor allem die in durch
Barett in den 50er Jahren in [540] aus verschiedenen noch älteren Veröffentlichun-
gen zusammengetragenen Werte für die notwendige resultierende Schubspannung
(engl. critical resolved shear stress, τ CRSS ) in einzelnen Gleitebenen, welche von
verschiedenen neueren Untersuchungen benutzt werden und in Tabelle 8.5 zusam-
mengefasst sind.
Die Schwierigkeit einer für den Gesamtzusammenhang der werkstoffmechani-
schen Reaktionen nützlichen Beschreibung der Niedertemperaturplastizität von rei-
nem Zinn besteht darin, dass dieses für den für die Niedertemperaturplastizität rele-
vanten Temperaturbereich ( T hom < 0,5 ⋅ T s ) als α -Zinn vorliegt, für die meisten
technischen Anwendungen jedoch seine Zustandsform als β -Zinn von Interesse
ist. Um die mit der Niedertemperaturplastizität verbundenen Mechanismen der
Gleitung (vgl. 5.2, 5.3) isoliert untersuchen zu können, wurden daher von verschie-
denen Autoren [550-552] Untersuchungen an einkristallinem β -Zinn vorgenom-
354 8 Experimentelle Ergebnisse
Tabelle 8.5 Notwendige resultierende Schubspannung, τ CRSS für verschiedene Gleitebenen und
Gleitrichtungen in β -Sn aus [540]
men. Für β -Zinn wurde von verschiedenen Autoren eine nicht unbeträchtliche
Zahl verschiedener Gleitsysteme ausgemacht [541-550].
Trotz dieser hohen Anzahl von möglichen Gleitsystemen lässt sich die plasti-
sche Verformung des tetragonal raumzentrierten β -Zinns nicht mit der kubisch-
flächenzentrierter Metalle, z. B. Cu, Ag, und Pb, vergleichen, da die verschiedenen
aktiven Gleitsysteme kristallografisch nicht äquivalent sind. Hierdurch variiert die
plastische Verformungsreaktion in Abhängigkeit vom aktiven Gleitsystem und ist
gleichzeitig sehr stark von der Materialtemperatur, der initialen Versetzungsdichte
als auch dem Vorhandensein von Subkörnern abhängig [550, 551]. Verläuft die
Belastungsachse in [ 110 ] -Richtung, findet Gleitung in beiden ( 100 ) [ 010 ] -Syste-
men statt. Verläuft die Belastungsachse hingegen in [ 100 ] -Richtung, findet Glei-
tung auf den beiden ( 110 ) -Ebenen entlang der vier [ 111 ] -Richtungen statt. Glei-
che Beträge der Abgleitung in zwei [ 111 ] -Richtungen auf einer Ebene erzeugen
eine scheinbare Abgleitung in [ 110 ] -Richtung [552].
In den in [550] durchgeführten Untersuchungen wurde das Spannungs-Deh-
nungs-Verhalten von β -Zinn-Einkristallen entlang 3 verschiedener Belastungs-
richtungen zwischen 77 K und 435 K aufgenommen. Damit konnte die starke Tem-
peraturabhängigkeit der notwendigen Abgleitspannung des ( 110 ) 1--2- [ 111 ] -Systems
(ca. 11 MPa bei 160 K und ca. 50 kPa bei 435 K) gegenüber dem ( 110 ) [ 010 ] -
System gezeigt werden, welches im Temperaturbereich zwischen 320 K ... 380 K
eine konstante Abgleitspannung von ca. 210 kPa aufweist. In späteren Untersu-
chungen [551] wurde das Abgleitverhalten des ( 110 ) 1--2- [ 111 ] -Systems bei Dehnra-
–5 –1 –3 –1
ten zwischen 4 ⋅ 10 s ... 4 ⋅ 10 s und Temperaturen zwischen 200 K ...
500 K untersucht. Dabei wurden zwei Fließpunkte gefunden, wobei durch Korrela-
tion mit metallografischen Untersuchungen (Ätzgrübchen in der ( 001 ) -Ebene) der
erste Fließpunkt einer plötzlich einsetzenden Multiplikation von Versetzungen
zugeschrieben werden konnte (d. h. sein Auftreten ist von der initialen Verset-
zungsdichte abhängig), während der zweite offensichtlich aus der Ausbildung einer
Versetzungszellstruktur resultiert, welche allerdings im Verlauf weiterer Verfor-
mung wieder zerfällt. Unterhalb von 300 K liegt der erste Fließpunkt höher als der
zweite - oberhalb 300 K tritt eine Umkehrung dieses Verhaltens auf. Um einen
8.2 Einstoffsystem - Zinn 355
·
Zusammenhang zwischen den Fließpunkten τ , der Dehnrate γ und der Tempera-
tur T darzustellen, wurde in [551] der obere und untere Wert des zweiten Fließ-
punktes über Gleichung (8.7) mit den in Tabelle 8.6 aufgeführten Werten charakte-
risiert.
· A τ n Q
γ = --- ⋅ § ----· ⋅ exp § – -------· (8.7)
T © G¹ © RT¹
Tabelle 8.6 Werte für n und Q für den ersten und zweiten Fließpunkt aus [551]
8.2.4 Kriechverhalten
Für die Beschreibung des Kriechverhaltens von reinem β -Zinn liegen Ergeb-
nisse aus verschiedenen Versuchen vor, welche ein weites Spektrum von Probekör-
perbeschaffenheiten und Versuchsmethodiken beinhalten. Hierbei wurden sowohl
polykristalline als auch einkristalline Proben aus reinem β -Zinn untersucht. Die
Korngrößen für die Untersuchungen an polykristallinem Zinn lagen in einem wei-
356 8 Experimentelle Ergebnisse
ten Spektrum, beginnend bei ca. 25 μm [559] bis hin zu 2 mm [562]. Für die Unter-
suchungen an einkristallinem Zinn wurden die Proben in verschiedenen kristallo-
grafischen Ebenen ([001], [100], [110]) gegenüber der Belastungsachse
ausgerichtet. Sowohl polykristalline als auch einkristalline Proben wurden über
verschiedene Versuchsmethoden - Zugversuch, Druckversuch und Eindruckver-
such - untersucht.
Im Ergebnis all dieser verschiedenen Variationen bei der Versuchsdurchführung
ergibt sich für das Kriechverhalten von reinem β -Zinn kein konsistentes Bild
bezüglich wichtiger, die Verformungsreaktion charakterisierender Parameter, wie
z. B. des Spannungsexponenten n oder der Aktivierungsenergie Q . Die aus ver-
schiedenen Publikationen entnommenen Ergebnisse zum Kriechverhalten von rei-
nem β -Zinn sind in Tabelle 8.7 und Tabelle 8.8 aufgelistet. Dazu wurden die cha-
rakteristischen Modellparameter der Gleichung (8.7), wie der Spannungsexponent
n und die Aktivierungsenergie Q , zusammen mit wichtigen Versuchsbedingun-
gen aufgeführt. Um die Werte untereinander vergleichbar zu machen, wurden die
Versuchsergebnisse gemäß der verwendeten Versuchstemperatur in eine der bei-
den Tabellen eingegliedert. Diese Unterteilung bezieht sich auf die in [563] gewon-
nenen Erkenntnisse, dass bei einer Temperatur von T ≈ 423 K ein Wechsel im
dominierenden Elementarmechanismus der Kriechverformung stattfindet, welcher
sich in verschiedenen Aktivierungsenergien oberhalb und unterhalb dieser Tempe-
ratur widerspiegelt.
Tabelle 8.7 In der Literatur angegebene Werte der Spannungsexponenten n und Aktivierungsen-
ergien Q (für den Bereich mittlerer Spannungen) zwischen Experimenten an erstarrten Lotprobe-
körpern für β -Zinn bei T < 423
Tabelle 8.8 In der Literatur angegebene Werte der Spannungsexponenten n und Aktivierungsen-
ergien Q (für den Bereich mittlerer Spannungen) zwischen Experimenten an erstarrten Lotprobe-
körpern für β -Zinn bei T > 423
Anders als bei einem Einstoffsystem ist für ein Zweistoffsystem nicht von einer
Anisotropie der elastischen Konstanten auszugehen, da es unwahrscheinlich ist,
dass kein polykristalliner Festkörper nach der Erstarrung entsteht. Wenn, wie beim
System Sn-Pb, in diesem Körper zwei Phasen mit stark unterschiedlichen E-
Moduli auftreten (ESn = 49,9 GPa1 [567], EPb =14 GPa2 [568]), besteht vielmehr
die Frage, welcher gemischte E-Modul sich durch die Anordnung der beiden Pha-
sen ergibt. Hierbei gibt es zwei Extremfälle. Auf der einen Seite kann sich der
Misch-E-Modul aus einer Parallelschaltung der elastischen Federn der beiden Pha-
sen ergeben, wobei cSn und cPb die Volumenanteile der reinen Metalle im Lot sind:
E SnPb = c Sn ⋅ E Sn + c Pb ⋅ E Pb , (8.8)
1 c Sn c Pb
- + --------- ,
-------------- = ------- (8.9)
E SnPb E Sn E Pb
wodurch sich für die eutektische Zusammensetzung der Wert des experimentell
bestimmten E-Modules zwischen einem Wert von 40,2 GPa und 29,4 GPa einstel-
len sollte [12, 47]. In Tabelle 8.9 befindet sich eine Auflistung verschiedener publi-
zierter Werte experimentell bestimmter E-Moduli für eutektisches SnPb-Lot unter
Angabe der wesentlichen Versuchsbedingungen. Es ist zu erkennen, dass für
Raumtemperatur nicht alle experimentell ermittelten Werte in dem Intervall liegen,
welches aus den theoretischen Modellen zur Einstellung eines Misch-E-Moduls
errechnet wurde. Hinzu kommt, dass sehr unterschiedliche Ergebnisse bezüglich
der Temperaturabhängigkeit des E-Moduls existieren. Während in [569] keine
Temperaturabhängigkeit des elastischen Verhaltens festgestellt werden konnte,
wird in [571] der Temperaturkoeffizient des E-Moduls mit -110,6 MPa/K angege-
ben, wodurch sich für den in [569] untersuchten Temperaturbereich von
ΔT = 160 K eine Änderung des E-Moduls von ΔE = 17,7 GPa ergeben müsste.
Diese sehr drastischen Unterschiede in den experimentellen Ergebnissen hängen
mit den in 4.3.1 beschriebenen Schwierigkeiten bei der E-Modul-Bestimmung im
Zugversuch zusammen.
Bei den später in 8.3.3.2 genauer beschriebenen Scherversuchen an Flip-Chip-
Proben wurde für den E-Modul von eutektischem SnPb-Lot ein Wert von E = 29,5
1. Anstelle des Sn-reichen Mischkristalls wurde der Wert von reinem Sn bei T = 293 K verwen-
det.
2. Anstelle des Pb-reichen Mischkristalls wurde der Wert von reinem Pb bei T = 293 K verwen-
det.
360 8 Experimentelle Ergebnisse
GPa ermittelt, welcher konform zu den an Bulkproben ermittelten Werten ist, aller-
dings genau auf der unteren Grenze der theoretisch ermittelten Werte für einen
Misch-E-Modul liegt. Letzteres kann allerdings auch mit der inhomogenen Vertei-
lung der Phasen im Flip-Chip-Kontakt zu tun haben [12].
Alternativ zur E-Modul-Bestimmung über Verformungsversuche wurde dieser
auch durch Ultraschallmikroskopie untersucht. Als Probekörper dienten dabei
zylindrische Lotplättchen mit einer Dicke von 300 μm und einem Durchmesser
von 3 mm. Aus der Bestimmung der Signallaufzeit der Longitudinal- und Trans-
versalwellen konnten die elastischen Parameter Elastizitätsmodul ( E ) , Schermo-
dul ( G ) und Querkontraktionszahl ( ν ) bestimmt werden, welche in Tabelle 8.10
den Ergebnissen aus den Verformungsversuchen in [38] gegenübergestellt sind. Es
zeigt sich, dass der Wert für die rein elastische Verformung bei Ultraschallanre-
gung, d. h. der physikalische E-Modul, wesentlich höher ist als der technische E-
Modul aus den Verformungsmessungen (vgl. 4.3.1), welche offensichtlich durch
ein geringes Maß an Versetzungsbewegungen begleitet werden. Die Werte für die
Querkontraktion bleiben davon überraschenderweise unbeeinflusst.
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei 361
Tabelle 8.11 Fließspannung (σF) und Verfestigung (h) für SnPb37 bei erhöhten homologen Tem-
peraturen
Zugversuchs zu entnehmen. Bemerkenswert ist jedoch, dass auch die für die
Bestimmung der Fließspannung grundsätzlich geeigneteren alternativen Untersu-
chungsformen, wie Torsions- und Druckversuch, nicht zu übereinstimmenden
Ergebnissen gelangen. Eine der großen Schwierigkeiten bei der Auswertung aller
Versuchstypen besteht im allmählichen Abknicken zwischen dem elastischen und
plastischen Bereich der Spannungs-Dehnungs-Kurve. Unter diesem Gesichtspunkt
sind besonders die Ergebnisse aus [572] zu berücksichtigen. In dieser Untersu-
chung wurden die plastischen Eigenschaften eines eutektischen Lots (63,33%-Sn/
36,34%-Pb) mit denen eines naheutektischen (67,03%-Sn/32,66%-Pb) bei einer
–1
Dehnungsgeschwindigkeit von dε ⁄ dt = 0,02 s verglichen. Dabei wurde festge-
stellt, dass das Fließen des naheutektischen Lotes bei einer niedrigeren Spannung
(σF = 34 MPa) als beim eutektischen Lot (σF = 41 MPa) einsetzt. Darüber hinaus
zeigten sich auch Unterschiede im Verlauf der Spannungs-Dehnungs-Kurven bei-
der Lote. Während die Spannungs-Dehnungs-Kurve des eutektischen Lotes sehr
scharf am Fließpunkt abknickte, wies die Spannungs-Dehnungs-Kurve des naheu-
tektischen einen allmählichen Übergang zum plastischen Bereich auf, wobei das
zinnreichere Lot eine höhere Verfestigung als das eutektische aufweist. Diese
Ergebnisse geben zu der Vermutung Anlass, dass - bedingt durch die sehr unter-
schiedlichen Fließspannungen der beiden Phasen, d. h. die des zinnreichen α -
Mischkristalls (Zusammensetzung bei Raumtemperatur etwa 99,7%Sn-0,3%Pb)
mit σ F ≈ 20 MPa 1 und die des bleireichen β -Mischkristalls (Zusammensetzung
bei Raumtemperatur etwa 98,1%Pb-1,9%Sn) mit σ F ≈ 10 MPa 2 - es zu einem
inhomogenen Materialfließen kommt, wodurch die Morphologie des untersuchten
Probenbereiches sehr großen Einfluss auf den Verlauf der Verformungsreaktion
hat, denn wie aus [572] weiter hervorgeht, ergab sich bei den geringfügig unter-
schiedlich zusammengesetzten SnPb-Legierungen kein Unterschied in der Zugfes-
tigkeit.
1. Für den zinnreichen α -Mischkristall wurde der Wert der Fließspannung für polykristallines Sn
aus [558] bei einer Temperatur von 296 K angenommen.
2. Für den bleireichen β -Mischkristall wurde der Wert der Fließspannung für polykristallines Pb-
2wt% Sn aus [166] bei einer Temperatur von 298 K angenommen.
364 8 Experimentelle Ergebnisse
Siliziumchip
Größe = 3,3 mm X 3,3 mm
Flip-Chip-Bump
Grundfläche
100 mm X 100 mm
a)
Siliziumchip 1
b) Siliziumchip 2 c)
Flip-Chip-Kontakt
gelnden Stabilität des Probekörpers nicht möglich und eine Lösung mit 3 Kontak-
ten verletzt die Symmetriebedingungen quadratischer Grundflächen, wie sie in der
Mikroelektronik üblich sind. In der konkreten Realisierung wurden Siliziumchips
mit dem TU Dresden-Testchiplayout TC1 [576] verwendet, welche eine Kanten-
länge von 3,3 mm x 3,3 mm hatten (Abb. 8.2).
Voraussetzung für den Flip-Chip-Fügeprozess ist das Vorhandensein von Lot-
bumps (Lothügeln), die miteinander zu einem Kontakt verschmolzen werden.
Diese Bumps werden über vakuumtechnische, galvanische und/oder drucktechni-
sche Prozesse auf einen Siliziumwafer aufgebracht. Der in Abb. 8.3 dargestellte
prinzipielle Aufbau solcher Bumps besteht aus einer Unterbumpmetallisierung und
dem eigentlichen Lothügel. Die Unterbumpmetallisierung (UBM) setzt sich in der
Regel aus einer Barriereschicht (z. B. WTi) und einem Metallisierungsmaterial -
hierfür kommen alternativ Cu oder Ni zum Einsatz - zusammen. Die Herstellung
der UBM erfolgt durch vakuumtechnische Abscheidung des Barriere- und Metalli-
sierungsmaterials, welcher eine chemisch stromlose bzw. galvanische Verstärkung
der Metallisierung folgt. Die anschließende Abscheidung des Lotmaterials kann
entweder galvanisch oder drucktechnisch erfolgen.
Für die verwendeten Probekörper erfolgte die Herstellung der SnPb-Bumps
durch galvanische Abscheidung aus einem vorgefertigten Elektrolyten eutektischer
Zusammensetzung auf die in Abb. 8.3 skizzierte Unterbumpmetallisierung (TU
Dresden, Standardprozess). Zur Herstellung lötfähiger SnPb-Bumps wurde das
elektrolytisch abgeschiedene Lot in einem Glyzerinbad bei 220°C umgeschmolzen
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei 365
Lothügel
65...125µm
Metallisierung
Padlänge Cu, 7µm
100...200µm Barriere,
WTi, 100nm
Passivierung
Leitbahn, AlSi1
a) Oxid b)
Kontakt-
durchmesser Kontakthöhe
c) d)
Abb. 8.3 Beispiel für den Aufbau von Lotkontakten: a) Schematische Darstellung der Schicht-
folgen im Lotbump nach (galvanischem) Standard-Bumping-Prozess der TU Dresden, b) Raster-
elektronenmikroskopaufnahme (Rückstreukontrast; hell = Pb, dunkel = Sn) von umgeschmolzenen
SnPb-Lotbumps auf einem Siliziumchip, c) schematische Darstellung der Schichtfolgen im
Lotkontakt eines Flip-Chip-Probekörpers, d) Rasterelektronenmikroskopaufnahme (Rückstreu-
kontrast) eines SnPb-Lotkontaktes im Flip-Chip-Probekörper mit hyperboloider Form
[507]. Die Montage des aus zwei identischen Siliziumchips bestehenden Probekör-
pers erfolgte am Flip-Chip-Bonder SET 950, wobei durch eine spezielle z-Bewe-
gung des oberen Siliziumchips eine hyperboloide Kontaktform eingestellt wurde
(vgl. 7.4.4.3).
Zur Untersuchung der instantanplastischen Eigenschaften an den beschriebenen
Flip-Chip-Probekörpern wurde die unter 7.5.3.2 beschriebene Versuchseinrichtung
eingesetzt. Ziel der Versuche war die Charakterisierung des elastisch-plastischen
Verhaltens bei höheren Temperaturen (T = 5 °C ... 50 °C, d. h. T hom > 0,6 ) und
· –2 0 –1
mittleren Verformungsgeschwindigkeiten ( ε = 10 …10 s ) , bei denen nur eine
geringe Abhängigkeit der Fließspannung von der Verformungsgeschwindigkeit
besteht.
Da die Natur der zu erwartenden Beanspruchungen von Lotkontakten dadurch
gekennzeichnet ist, dass diese zyklisch mit einer bestimmten Dehnungsamplitude
verformt werden, wurde im ersten Schritt der Untersuchung das zyklische Verfesti-
gungsverhalten der SnPb37-Legierung charakterisiert. Dabei wird untersucht, ob
eine zyklisch wiederkehrende Beanspruchung des Werkstoffs zu Veränderungen
der Werkstoffeigenschaften aufgrund von Ver- und Entfestigungsprozessen führt
(vgl. 5.5.2). Zu diesem Zweck wurde ein Versuch mit sich zyklisch wiederholender
symmetrischer Dreiecksdehnung einer konstanten Amplitude und einer konstanten
Periodendauer durchgeführt. Das Belastungsprofil und das Ergebnis dieses Versu-
ches sind in Abb. 8.4 dargestellt. Im Kraft-Verschiebungs-Diagramm sind die Ver-
366 8 Experimentelle Ergebnisse
s
sA 0,4 T = 300 K
Zyklus 2...100
0,3
0,2
0,1
Kraft [N]
0,0
t
-0,1
-0,2
-0,3
-sA tp
-0,4
-1 0 1
Verschiebung [µm]
a) b)
Abb. 8.4 Versuch zur Ermittlung des zyklischen Ver- und Entfestigungsverhaltens an Flip-Chip-
Kontakten aus SnPb37-Lot aus [12]: a) Belastungsprofil zur Aufnahme des zyklischen Verfor-
mungsverhaltens, b) Daten für Verformungshysteresen der ersten 100 aufeinanderfolgenden
Zyklen, welche deutlich zeigen, dass der Werkstoff kein zyklisches Ver- oder Entfestigungsver-
halten aufweist.
A1 = 0,25 µm T = 278 K
0,4 0,4 T = 323 K
A2 = 0,5 µm
A3 = 1,0 µm Periodendauer T3
A4 = 2,25 µm
0,2 0,2
Kraft [mN]
Kraft [mN]
0,0 0,0
-0,2 -0,2
-0,4 -0,4
-2,5 -2,0 -1,5 -1,0 -0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 -2,0 -1,5 -1,0 -0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0
a) b)
bung von s F = 0,3 μm liegt. Wird die größte Hysterese ( s A = 2,25 μm ) auf die
Hälfte ihrer Größe herunterprojiziert und diese Projektion so verschoben, dass der
negative Wendepunkt im Ursprung des Diagramms liegt (graue Hysterese in
Abb. 8.5 a), so ist zu beobachten, dass der oberste Ast dieser Hysteresenprojektion
(im ersten Quadranten) durch die Umkehrpunkte aller vier Hysteresen läuft. Dies
bedeutet, dass die Hysteresenform unabhängig von der Amplitude der Dreiecksver-
schiebung ist. Es ist daher möglich, das Hystereseverhalten des SnPb37-Lotes über
eine zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve darzustellen, aus der sich eine Hyste-
rese beliebiger Amplitude erzeugen lässt [12].
Das Diagramm in Abb. 8.5 b zeigt zwei Kraft-Verschiebungs-Hysteresen, die
aus einem Versuch bei zwei unterschiedlichen Temperaturen (T1 = 278 K,
T2 = 323K) bestimmt wurden. Beide Versuche wurden nacheinander an der glei-
chen Probe mit derselben Amplitude und einer Periodendauer
( s A = 1,5 μm, t p = 1 s ) der Dreiecksverschiebung durchgeführt. Aufgrund der
apparativen Begrenzungen bei der Wahl des Versuchstemperaturbereiches (vgl.
7.5.3.2) war bei der Charakterisierung des quasistatischen Verformungsverhaltens
nur eine Abdeckung des Bereiches der homologen Materialtemperatur von 0,6 Ts
auf 0,7 Ts möglich [12].
Aufgrund der sich während der durchgeführten Versuche permanent ändernden
Spannungsverteilung im Lotkontakt war es zur Ermittlung des Spannungs-Deh-
nungs-Verhaltens des Lotmaterials notwendig, eine FE-Analyse der Versuche vor-
zunehmen, wie sie in 7.4.4.3 beschrieben ist. Dazu wurde in der FEM-Simulations-
software ANSYS™ das instantanplastische Verhalten des Lotwerkstoffes unter
Nutzung eines multilinearen Modells mit kinematischer Verfestigung implemen-
368 8 Experimentelle Ergebnisse
Messdaten
0,4 bilinear
σ3 trilinear
quadlinear
σ2 0,2
σ1
Kraft [N]
0,0
-0,2
-0,4
-2 -1 0 1 2
ε1 ε2 ε3=100% Verschiebung [µm]
a) b)
c)
tiert. Hierbei zeigte sich, dass für die Nachbildung des elastisch-instantanplasti-
schen Verhaltens von SnPb37 ein trilineares Modell gegenüber einem bilinearen
besser geeignet war [12, 29].Wie aus dem Vergleich der Messdaten mit den aus der
Simulation errechneten Kraft-Verschiebungs-Werten in Abb. 8.6 b hervorgeht,
gelingt es, durch den Einschub eines Zwischenbereiches (Abschnitt II) im multili-
nearen Modell sich besser an das experimentell bestimmte Verformungsverhalten
anzunähern. Die physikalisch-werkstoffwissenschaftliche Interpretation dieses
zweiten eingeschobenen Abschnitts zwischen dem elastischen (Abschnitt I) und
dem plastischem Materialverhalten (Abschnitt III) ist vage. Obwohl die Vermu-
tungen, dass bei steigender Spannung eine zunehmende Anzahl von Gleitsystemen
aktiviert wird, bevor ein eingeschwungener Zustand der plastischen Verformung
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei 369
erreicht wird, oder dass sich durch die unterschiedlichen E-Module und Fließgren-
zen der beiden Phasen des Materials ein transienter Bereich ergeben muss, nahelie-
gend sind, gibt es keine zwingende Begründung für diese Hypothesen [29]. Letzt-
endlich eignete sich das trilineare linear-instantanplastische Modell mit
kinematischer Verfestigung besser als das entsprechende bilineare Modell, um das
elastisch-plastische Materialverhalten des SnPb37-Lotes zufriedenstellend wieder-
zugeben. Obwohl die Verwendung eines quadlinearen Modells eine noch bessere
Annäherung an die Messdaten ermöglichte (Abb. 8.6 b), ergab sich aufgrund der
zugrunde liegenden Genauigkeit der Messdaten keine höhere Genauigkeit dieses
Modells gegenüber dem trilinearen [12]. Aus dem Vergleich der unausgelagerten
mit den thermisch ausgelagerten Proben (500h bei 125 °C) ist ersichtlich, dass es
infolge der durch die thermische Auslagerung einsetzenden Kornvergröberung zu
einem Absinken der Fließspannung kommt, wie dies aus der Hall-Petch-Beziehung
zu erwarten ist.
8.3.4 Kriechverhalten
Der Hauptteil der bis in die 80er Jahre unternommenen Anstrengungen der
experimentellen Charakterisierung des Zinn-Blei-Eutektikums geht auf eine Ent-
deckung Pearsons [276] zur superplastischen Verformbarkeit dieser Legierung
zurück. An extrudierten Stäben hatte er nachgewiesen, dass sich die eutektische
SnPb-Legierung bis auf das 20-fache ihrer Ausgangslänge dehnen lässt. Später
konnte gezeigt werden, dass die eutektische Zusammensetzung des Zinn-Blei-
Lotes keine notwendige Voraussetzung für superplastische Verformung ist [35].
Durch die eutektische Zusammensetzung kann allerdings die bei der Extrusion ent-
standene feine Kornstruktur am besten aufrechterhalten werden. Zur Untersuchung
des Phänomens der superplastischen Verformung von Metallen wurden eine Reihe
von Untersuchungen an der eutektischen SnPb-Legierung durchgeführt, wobei
festgestellt wurde, dass sich das zeitabhängige Verformungsverhalten in zwei bis
drei Bereiche einteilen lässt. Während für den untersten Spannungsbereich
(Bereich I) verschiedene experimentelle Befunde sowie metallphysikalische Inter-
pretationen bestehen, existieren übereinstimmende Erkenntnisse für den mittleren
(Bereich II; superplastische Verformung) und den oberen Spannungsbereich
(Bereich III, Kriechverformung durch Versetzungsklettern), sodass die Verfor-
mungskinetik für die letzten beiden Bereiche über folgende Gleichung modelliert
werden kann
n
· σ
II
Q II· n III Q III·
ε = A II ⋅ -------p- ⋅ exp §© – -------¹
+ A III ⋅ σ ⋅ exp § – --------
© RT ¹ ,
- (8.10)
d RT
370 8 Experimentelle Ergebnisse
· Q·
ε = A ⋅ σ ⋅ exp § – ------
n
- (8.11)
© RT¹
Eine andere Gruppe von Untersuchungen [41, 579, 581] gelangt zu dem
Schluss, dass das quasistatische Kriechverhalten - ähnlich dem der Ergebnisse an
extrudierten Proben (vgl. Tabelle 8.12) - durch eine bilineare Funktion (ähnlich
Gleichung (8.11)) im doppeltlogarithmischen Spannungs-Dehnungsrate-Dia-
gramm, d. h. mit einem Exponenten für den unteren und einem Exponenten für den
n Q dε/dt σ T d V Quelle
[kJ/mol] [s-1] [MPa] [K] [μm] [m3]
·
∂ log ( ε ss )
n = -----------------------
- (8.12)
∂ log ( σ ) ·
ε, σ, T = const.
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei 373
Lastbedingung
s F
F = const.
s = const.
t t
Materialantwort
F s
F = const.
s = const.
t t
Abb. 8.7 Prinzipien von Versuchsverläufen zur Bestimmung des quasistatischen Kriechverhaltens
s
sA 0,4 t1
t2
t3
t4
0,2
t5
t6
Kraft [mN]
0,0
t
-0,2
-0,4
-sA
tRELAX tRELAX
-1,5 -1,0 -0,5 0,0 0,5 1,0 1,5
2.t1 2.t2 2.t3 Verschiebung [µm]
a) b)
Abb. 8.8 a) Belastungsprofil und b) Versuchsergebnis für einen zyklischen Versuch mit symme-
trischer Dreiecksauslenkung und veränderlicher Periodendauer aus [12]
Diese haben für den gesamten Versuch eine konstante Amplitude (sA). Zwischen
den Doppeldreiecken befindet sich eine Ruhephase zur Materialrelaxation (tRelax).
Der in Abbildung Abb. 8.7 (rechts) angedeutete Versuch mit konstanter Kraft
als Belastungsbedingung zur Untersuchung der Kriecheigenschaften wird für
wechselnde Belastungen durch einen zyklischen Kriech- und Relaxationsversuch
(Abb. 8.9) repräsentiert. Die Grundidee dieses Versuchs besteht darin, dass das
Aufbringen einer konstanten Belastungskraft nur so lange erfolgt, bis der Probe-
körper sich bis zum vorgegebenen maximalen Scherwinkel +γ u verformt hat. An
diesem Punkt wird nach Durchlaufen einer Relaxationsphase eine entgegengesetzte
Kraft aufgebracht, sodass sich der Probekörper bis zum vorgegebenen negativen
Scherwinkel – γ u zurückverformt. In der konkreten Versuchsdurchführung werden
die Kräfte treppenartig mit unterschiedlicher Stufung bis zum Kraftwert F7/F8
gesteigert. Danach beginnt eine stufenartige Senkung der Versuchskräfte. Dabei
wird von Kraftwert F7/F8 in gleicher Weise zu Kraftwert F13/F14 herabgeklettert,
wie von Kraftwert F1/F2 zu Kraftwert F7/F8 hinaufgestiegen wurde. Insgesamt
ergeben sich dadurch 7 Zyklen mit einer jeweiligen Amplitude von (su) für den
gesamten zyklischen Kriech- und Relaxationsversuch [12].
Die mit dem zyklischen Kriech- und Relaxationsversuch an SnPb37-Flip-Chip-
Kontakten für das quasistatische Kriechverhalten ermittelten Daten sind im Kraft-
Verschiebungsrate-Diagramm in Abb. 8.10 dargestellt. Insgesamt wurden Versu-
che an 10 verschiedenen Proben bei zwei Temperaturen (T1 = 278 K, T2 = 323 K)
ausgewertet. Alle ungeraden Probennummern (V1, V3, V5 ...) entsprechen unaus-
gelagerten Proben (feines Gefüge, vgl. Abb. 8.10 b) und alle geraden Probennum-
mern (V2, V4, V6 ...) entsprechen thermisch ausgelagerten Proben (T = 150° C/
168 h, grobes Gefüge, vgl. Abb. 8.10 c). Aus den Ergebnissen der Kriechversuche
ist daher kein Einfluss der Gefügeentwicklung auf die Kriecheigenschaften abzule-
sen [12].
Auf Grundlage der Ergebnisse aus dem zyklischen Versuch mit symmetrischer
Dreiecksauslenkung (Abb. 8.8) und dem zyklischen Kriechversuch (Abb. 8.10)
376 8 Experimentelle Ergebnisse
0,4
0,3
F 0,2
F3 0,1 F26
F27
Kraft [mN]
F1 0,0
-0,1
2 X F = 0,672 N
-0,2
t
-0,3
-F2 -0,4
0 2 4 6 8 10 12 14 16
Verschiebung [µm] 2
t F21
F23
1
-su F25
F27
F29
0
a) c) 0 10 20 30 40 50 60
Zeit [s]
-su F2 [N] F4 [N] F6 [N] F8 [N] F10 [N] F12 [N] F14 [N]
Abb. 8.9 Belastungsprofil und Versuchsparameter für zyklischen Kriech- und Relaxations-
versuch: a) prinzipieller Verlauf von Last und Verschiebung während eines Zyklus im Kriech- und
Relaxationsversuch, b) Lastverlauf eines Verschiebungskurvenpaares, welches den gleichen
Betrag der Verschiebungsgeschwindigkeit aufweist, c) Verschiebungskurven bei Aufwärts- und
Abwärtsbewegung des Betrages der Lastfolge [12]
wurde mit dem in 7.4.4.2 beschriebenen Verfahren ein Kriechmodell für das
SnPb37-Lot erarbeitet. Zur Nachbildung des experimentell bestimmten Kriechver-
haltens wurden zwei verschiedene Modellgleichungen angesetzt. Die erste orien-
tiert sich an dem bei der theoretischen Beschreibung der Versetzungskinetik (vgl.
5.2.2.3) hergeleiteten Ausdruck in Gleichung (5.25) und wurde in vergleichbarer
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei 377
1 T = 278K T =323 K
quasistatische Kriechrate [µm/s]
V1 V1
V2 V2
0,1 V3 V3
V4 V4
V5 V5
0,01 V6 V6
V7 V7 b)
V8 V8
1E-3 V9 V9
V10 V10
1E-4
1E-5
1 10 100
Kraft [mN]
a)
c)
Abb. 8.10 a) Ergebnisse der Untersuchungen zum quasistatischen Kriechen von SnPb37-Flip-
Chip-Lotkontakten in einem Verschiebungsrate-Kraft-Diagramm (10 Proben bei 2 Temperaturen
T1 =278 K und T2 =323 K), b) Rasterelektronenaufnahme eines unausgelagerten SnPb37-Flip-
Chip-Kontakts, c) Rasterelektronenaufnahme eines thermisch ausgelagerten (500h bei 125 °C)
SnPb37-Flip-Chip-Kontakts [12]
· σ C2 C
ε = C 1 ⋅ sinh §© ------·¹ ⋅ exp §© – -----4-·¹ . (8.13)
C3 T
Tabelle 8.14 Parameter der Modellgleichung (8.13) für SnPb37 in Flip-Chip-Kontakten aus [12]
10 2 5 44,8
Die zweite Modellgleichung orientiert sich an der mit den unter 8.3.4.1
beschriebenen Untersuchungen zur Superplastizität [24, 25, 43, 577] ermittelten
Beschreibung, welche zwei Exponententerme verwendet, um jeweils eine
Beschreibung des quasistatischen Kriechverhaltens für den Bereich mittlerer und
eine Beschreibung für den Bereich hoher Spannungen vorzunehmen:
· σ C2 C σ C5 C
ε = C 1 ⋅ § ------· ⋅ exp § – ------3-· + C 4 ⋅ § ------· ⋅ exp § – ------6-· . (8.14)
© σN ¹ © RT¹ © σN ¹ © RT¹
Tabelle 8.15 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnPb37 in Flip-Chip-Kontakten aus [12]a
a. σ N = 1 MPa
Verglichen mit der Modellierung nach Gleichung (8.13) hebt die Modellglei-
chung (8.14) besser den Wechsel in der Vorherrschaft zwischen Korngrenzen- und
Matrixdiffusion für die Kriechdeformation hervor, welches den metallphysikali-
schen Vorstellungen über intragranulares Versetzungskriechen (vgl. 5.4.3.4) und
über Korngrenzengleiten (vgl. 5.4.3.5) entspricht. Dementsprechend kennzeichnen
C 2, C 5 den Typ der vorherrschenden Diffusionsart und C 3, C 6 entsprechen den
für die verschiedenen Arten der Diffusion notwendigen Aktivierungsenergien. Aus
den experimentellen Untersuchungen geht wegen des begrenzten Versuchstempe-
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei 379
raturbereiches (278 K ... 323 K) jedoch nicht eindeutig hervor, ob ein solcher
Mechanismenwechsel tatsächlich stattfindet. In den in [581] veröffentlichten, an
normal erstarrten Bulkproben durchgeführten Untersuchungen über einen größeren
Temperaturbereich (233 K ... 423 K) wurden jedoch unterschiedliche Aktivie-
rungsenergien für unterschiedliche Versuchsbedingungen ermittelt. Allerdings ist
in dieser Untersuchung die Korrelation zwischen Aktivierungsenergie und Tempe-
ratur größer als die zur Versuchsspannung, sodass sich kein konsistentes Bild mit
den Untersuchungen zur Superplastizität [24, 25, 43, 577] ergibt.
8.3.5 Rissausbreitungsverhalten
Das Problem bei der Analyse der in der Literatur veröffentlichten Untersuchun-
gen zur Rissausbreitung besteht darin, dass in vielen Veröffentlichungen [503,
585-591], welche sich mit Fragen der Rissausbreitung, entsprechender Rissausbrei-
tungsmodelle bzw. bruchmechanischer Schädigungsformulierungen befassen,
Ansätze und Methoden genutzt werden, die einen Vergleich zu den an kleinen Lot-
kontakten durchgeführten Experimenten erschweren. So wird beispielsweise in
den sehr häufig zitierten Untersuchungen von Salomon [590], in welchen das
Ermüdungsverhalten des SnPb40-Lotes an dünnen, zwischen Messing- bzw. Kup-
ferquadern befindlichen Lotplättchen mit einer Dicke von 0,152 mm ... 0,229 mm
und einer Grundfläche 2,54 mm X 12,7 mm bestimmt wurde, das Schädigungsver-
halten des Lotes über das in 6.3.3.3 beschriebene Strain-Range-Partioning-Konzept
beschrieben. Wie jedoch durch Satoh, Arakawa und Harada [592] später gezeigt
wird, lassen sich aus einem materialabhägigen Dehnungsamplitude-Lebensdauer-
Ansatz keine praktischen Abschätzungen für Lotkontakte in elektronischen Auf-
bauten machen. Wie der Vergleich von Ermüdungsdaten an Lotkontakten von Flip-
Chip-Aufbauten, Small-Outline-Package-Bauelementen und Quad-Plastic-
Package-Bauelementen zeigt, existieren bei Verwendung von Coffin-Manson-ähn-
lichen Beschreibungen starke Abhängigkeiten von der Kontaktgeometrie. Um die-
ses Problem zu umgehen, wird später von Guo und Conrad [502, 593] vorgeschla-
gen, eine Rissausbreitungsgleichung auf der Basis eines Schädigungsparameters zu
verwenden, bei der die plastische Verformungsenergiedichte (ΔWpl) gegenüber
den klassischen bruchmechanischen Parametern ΔK und ΔJ als die beste Variante
der Schädigungsmodellierung ermittelt wird. In der Untersuchung von Guo [502]
wird ein scheibenförmiger (Lot zwischen zwei Cu-Scheiben) und angekerbter Lot-
probekörper mit einem Durchmesser von 4 mm verwendet. Dabei wird das Ris-
sausbreitungsverhalten in einem Bereich der Rissausbreitungsgeschwindigkeiten
von 10-7...10-4 m/Zyklus bestimmt und mit einer dem Paris-Erdogan-Gesetz
(vgl. 6.3.2.5) verwandten Fitgleichung (Gleichung (8.15)) gegenüber der plasti-
schen Verformungsenergiedichte (ΔWpl) dargestellt:
380 8 Experimentelle Ergebnisse
da β
------- = α ⋅ ( ΔW pl ) (8.15)
dN
Tabelle 8.16 Parameter für ein Rissausbreitungsmodell (Gleichung (8.15)) für SnPb63-Lot
a) Ausgangszustand e) Ausgangszustand
Dehnungsamplitude Δε = 5 μm
unteren Drittel (bezüglich der Höhe des Kontaktes) ausbreitete, sogar dann, wenn
an anderen Stellen des Kontaktes (z. B. im Zentrum) deutlich Inhomogenitäten in
Form von Oberflächenporen zu beobachten waren. Wurde der Lotkontakt mit klei-
nen Dehnungsamplituden belastet (Δε = 0,8 μm, siehe Abb. 8.11), konnte über eine
verhältnismäßig lange Phase eine gleichmäßige Schädigung des Lotkontaktes über
einen breiten Bereich beobachtet werden, welcher eine relativ kurze Phase einer
äußerlich wahrnehmbaren Rissausbreitung folgte. Wenn davon ausgegangen wird,
dass sich in der ersten Phase viele kleine Einzelrisse bilden, welche dann zu einem
Hauptriss zusammenwachsen, erfolgt die Berechnung der mittleren Rissausbrei-
tungsgeschwindigkeit da/dN über
da 2 dΔF 1
------- = n ⋅ dr ⋅ – ----------- ⋅ ---------- , (8.16)
dN dN ΔF 0
Kraft [N]
Verschiebung [μm] Verschiebung [μm]
Abb. 8.13 Parameter aus den aufgezeichneten Hysteresen des 1. Zyklus und des 1500. Zyklus des
Rissausbreitungsexperiments, ΔWpl = durch plastische Dehnung verrichtete Arbeit, ΔWoc = durch
das Aufeinanderdrücken von Rissoberflächen scheinbar verrichtete Arbeit aus [12]
1,0
0,8
0,5
0,4
0,3
Kraftamplitude der
0,2 Hysterese
0,1
0,0
0 2000 4000 6000 8000 10000 12000 14000
Zyklenanzahl
Abb. 8.14 Verringerung der Kraftamplitude und des Anstieges nach dem Umkehrpunkt über der
Zyklenanzahl bei einer Dehnungsamplitude von Δs = 1,3 μm
gen oder in Wärme umgesetzt werden. Zur korrekten Auswertung der Rissausbrei-
tungsexperimente ist es daher wichtig, den Anteil der Energie zu ermitteln, welcher
ausschließlich zur Rissausbreitung führt. Dazu wurde der Anstieg der Kraft-Ver-
schiebungs-Hysterese nach dem Umkehrpunkt bestimmt. Da dieser Anstieg mit
dem E-Modul korrespondiert, lässt sich die intakte Restfläche an der Stelle des sich
ausbreitenden Risses wie folgt abschätzen [12]:
2⋅E
A intakt = ----------- (8.17)
ΔF
Während des ersten Zyklus lassen sich die Kraftamplitude (ΔF), die durch plas-
tische Dehnung verrichtete Arbeit (ΔWpl) und der Anstieg nach dem Umkehrpunkt
(E) sehr einfach bestimmen. Bei einer etwas fortgeschritteneren Zykluszahl ändert
sich jedoch die Form der Hysterese an den Umkehrpunkten und es bilden sich
kleine Spitzen heraus. Die Ursache dieser Spitzen liegt in der Vergrößerung der
effektiven Fläche an der Rissstelle. An den Umkehrpunkten werden die bereits
geöffneten Rissflächen wieder aufeinander gedrückt werden. Deshalb muss der
Anstieg am Umkehrpunkt aus der Differenz der Anstiege nach (m1) und vor (m2)
dem Umkehrpunkt bestimmt werden. Aufgrund der Übereinstimmung im Abfall
des Anstieges nach dem Umkehrpunkt und der Kraftamplitude bei fortschreitender
Zyklenzahl (Abb. 8.14) wurde abgeleitet, dass bei großen Dehnungsamplituden ein
konstanter Anteil der durch das Material dissipierten Energie in Rissausbreitung
umgesetzt wird. Wird zur Berechnung der mittleren Rissausbreitungsgeschwindig-
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei 385
1,0
Ds = 1,3 mm
0,9
T=1s
0,8
DF/DFo
T=100s
0,7
T=1000s
0,6
0,5
Zyklen
Abb. 8.15 Verringerung der Kraftamplitude über der Zyklenanzahl bei einer Dehnungsamplitude
von Δs = 1,3 μm und Periodendauern von 1 s, 100 s, 1000 s
keit da/dN von einem kreisförmig wachsenden Riss ausgegangen, so lässt sich
diese aus dem Kraftabfall in der experimentell ermittelten Kraft-Verschiebungs-
Hysterese über
da ( ΔF ) ---------
§ – d--------------- 1 -· 2
------- = ⋅ ⋅d (8.18)
dN © dN ΔF 0¹ r
bestimmen [595]. Wie die durchgeführten Experimente zeigten, hängt die Riss-
wachstumsrate dabei neben der Amplitude auch sehr stark von der Wechselfre-
quenz ab (vgl. Abb. 8.15). Bei geringen Wechselfrequenzen, bei denen wahr-
scheinlich Prozesse der Kriechrissbildung eine größere Rolle spielen, kommt es zu
einer höheren Rissausbreitungsgeschwindigkeit als bei hohen Wechselfrequenzen,
für die angenommen wird, dass eine instantanplastische Verformung an der
Rissspitze dominiert.
Um die experimentell ermittelte Rissausbreitungsgeschwindigkeit einem Bean-
spruchungsparameter gegenüberzustellen, wurde eine 3D-FEM-Simulation des
Experiments durchgeführt. In Abb. 8.16 sind exemplarisch das von einer raster-
elektronenmikroskopischen Aufnahme des Flip-Chip-Kontaktes abgeleitete FEM-
Geometriemodell sowie ein Beispiel für eine Berechnung einer Spannungs-Deh-
nungs-Hysterese für einen Wechselbelastungszyklus gezeigt. Für diese Berech-
nung wurde ein kritisches Element ausgewählt, welches sich im Kontaktvolumen
befindet. Die errechnete Spannungs-Dehnungs-Hysterese wurde in den elastischen,
instantanplastischen und kriechplastischen Verformungsanteil zerlegt. Aus den
386 8 Experimentelle Ergebnisse
da ΔW pl β [ Hz ] γ T δ
------- = α ⋅ § -----------------· ⋅ § -----------· ⋅ § --------· (8.19)
dN © [ MPa ]¹ © f ¹ © [ K ]¹
da [ Hz ] γ T δ
------- = α ⋅ ( ε acc ) ⋅ § -----------· ⋅ § --------· ,
β
(8.20)
dN © f ¹ © [ K ]¹
Tabelle 8.17 Parameter für Rissausbreitungsgleichungen (8.19) und (8.20) für SnPb37-Flip-
Chip-Lotkontakte aus[595]
α β γ δ
40 FEM Results
30 Deformation
elast.
plast.
20
creep
total
Stress [Mpa]
10
0
a) -10
1 ANSYS 5.3
Y MAY 19 1999
X Z
20:58:26
PLOT NO. 1
-20
ELEMENT SOLUTION
STEP=50
SUB =16
TIME=3125 -30
EPTOEQV (NOAVG)
DMX =.650E-03
SMN =.926E-03
SMX =.012994
.926E-03 -40 -1
Wplast.= 0,176 Mpa m
-1
Wcreep= 1,522 MPa m
-1
Wtotal = 1,698 MPa m
.002267
.003608
.004949
.00629
.00763 -0,015 -0,010 -0,005 0,000 0,005 0,010 0,015
.008971
.010312
.011653
.012994
Strain
MN
c)
MX
System, da der weitaus größte Teil der für diese Untersuchungen zu Verfügung
gestellten Forschungsmittel direkt von Industrieunternehmen gezahlt wurde und
gleichzeitig die Materialzulieferer (z. B. Lotpastenhersteller) nur wenig Interesse
zeigten, metallurgische Systeme weiterzuentwickeln, die ein geringes Marktpoten-
zial hatten. Besonders für die Durchführung von Experimenten an kleinvolumigen
Probekörpern bestand eine vollkommene Abhängigkeit von den Materialzuliefe-
rern, da es nicht gelang, die Stoffsysteme Sn-Ag bzw. Sn-Ag-Cu in ausreichender
Qualität galvanisch abzuscheiden. Aus diesem Grund konnte die Herstellung ent-
sprechender Proben nur über Siebdruck von Lotpaste erfolgen, wobei sehr oft auf
Entwicklungsversionen entsprechender Lotpasten zurückgegriffen werden musste,
welche den Anforderungen an Pastendruck in sehr kleinen Rastern nicht immer
genügten.
Durch diese komplizierten Randbedingungen entstand ein Untersuchungspro-
gramm, was sich eher an pragmatischen Gesichtspunkten als an einer rein werk-
stoffphysikalisch geprägten Systematik orientierte, dessen Ergebnisse jedoch
gegenüber den formulierten wissenschaftlichen Fragestellungen (vgl. 1.6) weitrei-
chende Schlussfolgerungen zulässt.
Die Untersuchungen am Sn-Ag-System setzten sich im Einzelnen aus Experi-
menten an großvolumigen Bulkproben, an Leiterplattendurchsteckkontakten,
kleinvolumigen Mikrolotbällen und kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontakten zusam-
men. Innerhalb der Experimente an Bulkproben wurde in monotonen Zugversu-
chen das Kriechverhalten von Doppelschulterproben (Durchmesser 3 mm, Länge
388 8 Experimentelle Ergebnisse
Zwar ist Sn-Ag ebenso wie Sn-Pb ein Zweistoffsystem, allerdings wird wegen
des geringen Anteils der Ag3Sn-Phase (EAg3Sn = 79 GPa1 [596]) der E-Modul der
Legierung vor allem durch die elastischen Eigenschaften der β-Sn-Phase
(ESn = 49,9 GPa2 [567]) bestimmt. Wie in Zugtests an SnAg3-Proben und dazu
korrespondierenden FE-Analysen ermittelt wurde, hat die Gefügemorphologie,
d. h. die Größe und Verteilung der Ag3Sn-Phasen in der β-Sn-Matrix (vgl. 3.2.1,
Abb. 3.5), einen unbedeutenden Einfluss auf den Wert des E-Moduls [597]. In
Tabelle 8.18 befindet sich eine Auflistung verschiedener publizierter Werte experi-
mentell bestimmter E-Moduli für eutektisches SnAg-Lot unter Angabe der wesent-
lichen Versuchsbedingungen. Es ist zu erkennen, dass die experimentell ermittel-
ten Werte stark streuen, sich jedoch für Raumtemperatur ein Wert ähnlich dem
Elastizitätsmodul von reinem β-Sn ergibt. Wie bei der SnPb-Legierung wurde der
E-Modul auch durch Ultraschallmikroskopie bestimmt. Als Probekörper dienten
dabei zylindrische Lotplättchen mit einer Dicke von 300 μm und einem Durchmes-
ser von 3 mm. Aus der Bestimmung der Signallaufzeit der Longitudinal- und
Transversalwellen konnten die elastischen Parameter Elastizitätsmodul ( E ) ,
Schermodul ( G ) und Querkontraktionszahl ( ν ) bestimmt werden, welche in
Tabelle 8.19 den Ergebnissen aus den Verformungsversuchen in [598] gegenüber-
253 -
96,5Sn-3,5Ag - 35 Identationsversuch [600]
398
gestellt sind. Wie bei der SnPb-Legierung zeigt sich auch bei der SnAg-Legierung,
dass die Werte für die rein elastische Verformung bei Ultraschallanregung, d. h.
der physikalische E-Modul (vgl. 4.3.1), wesentlich höher sind als die bei Verfor-
mungsmessungen, d. h. der technische E-Modul, welche offensichtlich durch ein
geringes Maß an Versetzungsbewegungen begleitet werden. Erstaunlich ist, dass
die Unterschiede zwischen dem im Zugversuch und dem in der Ultraschallmessung
bestimmten E-Modul relativ hoch sind, obwohl gegenüber dem SnPb-Lot bei
einem SnAg-Lot mit fein verteilten Ag3Sn-Phasen von einer starken Behinderung
der Versetzungsbewegung ausgegangen werden müsste und dadurch bei Raumtem-
Tabelle 8.19 Elastische Parameter von eutektischem SnAg-Lot und seiner Legierungsbestand-
teile bei Raumtemperatur
Tabelle 8.20 Fließspannung (σF) und Verfestigung (h) für SnAg bei erhöhten homologen Tem-
peraturen
17,5 1.10-2
16,0 1.10-3
12,5 1.10-4
1.10-5
48 93 296
31 31 348
17 0 398
(σF) und Verfestigung (h) beschränkt, welche zusammen mit der beim Versuch
verwandten Dehnungsgeschwindigkeit (dε/dt) übersichtsartig wiedergeben wer-
den. Aus diesen der Literatur entnommenen Werten ist ersichtlich, dass nicht uner-
hebliche Schwankungen für die Angabe der Fließspannung in den verschiedenen
publizierten Untersuchungen bestehen. Für Raumtemperatur liegt die Schwan-
kungsbreite zwischen σF = 32 MPa ... 48 MPa, wobei der höhere Wert bei der
Legierung mit dem höheren Ag-Anteil aufgenommen wurde. Gegenüber der SnPb-
Legierung ergibt sich im Mittel ein etwas höherer Wert sowohl für die Fließspan-
nung als auch für die Verfestigung, wenngleich die Unterschiede nicht drastisch
sind.
a) b)
c
b
Lotkontakt
Lot-Bump
a
Si-Chip
c) d)
Abb. 8.17 Maskenlayout für Herstellung von Testchips: a) Waferlayout mit sich wiederholenden
Strukturen, b) Layout der entsprechenden Grundzelle dieser sich wiederholenden Strukturen, c)
Gesamtaufbau des Probekörpers, d) rasterelektronmikroskopische Aufnahme eines Flip-Chip-
Kontaktes
gewählt, die eine gute Homogenität der Bumphöhen aufwiesen. Das Umschmel-
zen der drucktechnisch abgeschiedenen Lotdepots erfolgte in einem Dampfphasen-
ofen bei einer Temperatur von ca. 240 °C (Siedepunkt des Dampfphasenmediums).
Die Umschmelzdauer betrug 20 Sekunden. Zur Fertigung der Probekörper wurden
jeweils zwei identische Siliziumchips diametral miteinander verlötet, sodass ein
Flip-Chip-Verbund mit 4 Eckkontakten entsteht (Abb. 8.17 c,d), wobei durch eine
spezielle z-Bewegung des oberen Siliziumchips eine hyperboloide Kontaktform
eingestellt wurde (vgl. 7.4.4.3). Während des Fügevorgangs wurden Abkühlraten
von 120 K/min (schnell) sowie von 40 K/min (langsam) erreicht, welche allerdings
nicht zur Einstellung signifikant unterschiedlicher Gefüge im Lotkontakt führten.
Da bei den Versuchen an SnAg-Lot auch keine Unterschiede im mechanischen
Verhalten gefunden wurden, wurde bei weiteren Experimenten auf eine weitere
Variation der Abkühlraten verzichtet.
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber 393
Cu-UBM NiAu-UBM
Chipgrundmaterial Si
Diffusionsbarriere WTi, 50 nm
Ni, 3μm
T ε1 ε2 σ1 σ2 σ3
rung erwies sich anlog zu SnPb die trilineare Formulierung des in Abb. 8.6 sche-
matisch dargestellten Modells als die zweckmäßigste [605].
394 8 Experimentelle Ergebnisse
8.4.4 Kriechverhalten
welcher jedoch nicht repräsentativ sein muss. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine
eingeschränkte Interpretationsfähigkeit publizierter Untersuchungsergebnisse.
Ein zweiter Faktor, der neben der Verwendung verschiedener Methoden zur
Probenherstellung zu verschiedenen Missinterpretationen führen kann, besteht in
einer nicht werkstoffphysikalisch gestützten Modellierung von Experimentaldaten.
In einer der ersten sehr umfangreichen Untersuchungen zum Kriechverhalten von
Sn-basiserten Legierungen [27] wurden - im Sinne einer einheitlichen Darstellung
der Versuchsergebnisse - die an verschiedenen Loten (Sn62Pb36Ag2; SnPb40;
Pb97,5Sn2,5; Pb95Sn5; SnAg3,5) erzielten Resultate über denselben Modellansatz
ausgewertet, ohne zu berücksichtigen, dass es sich bei diesen um verschiedene
Arten von Legierungen handelt (vgl. 3.3.2, 3.3.3). Der aus [33] entnommene
Sinushyperbolikusansatz (Gleichung (5.25)), welcher in seiner ursprünglichen
Form nur für den Bereich von reinen Metallen erarbeitet wurde, lässt sich zwar
ohne größere Einschränkungen auf ein eutektisches System mit Mischkristallhär-
tung, wie SnPb37, anwenden, seine Verwendung im Bereich teilchengehärteter
Eutektika, wie SnAg3,5, entspricht jedoch nicht mehr dem Ursprungsgedanken der
in 5.2.2.3 formulierten kinetischen Gleichungen für die Hochtemperaturplastizität.
Im Gegensatz zu eutektischem SnPb-Lot, dessen Gefüge in der Regel aus einem
Kristallgemisch zweier Mischkristalle mit einem sehr ähnlichen Verformungswi-
derstand besteht, bilden sich bei der Erstarrung des SnAg3,5-Lotes viele harte
intermetallische Ag3Sn-Phasenteilchen, welche in eine sehr viel weichere β-Sn-
Matrix eingebettet sind. Obwohl die in 5.2.2 dargestellte Verformung durch Ver-
setzungsbewegung vor allem in der strukturell einfacher aufgebauten β-Sn-Matrix
auftritt, wird die durchschnittliche Geschwindigkeit frei beweglicher Versetzungen
dadurch bestimmt, inwiefern diese an den harten intermetallische Ag3Sn-Partikeln
festgehalten bzw. durch sie in ihrer Bewegung behindert werden. Eine nach außen
hin phänomenologisch erfassbare Kriechverformung der SnAg3,5-Legierung kann
daher erst auftreten, wenn Versetzungen die sie in ihrer Bewegung behindernden
Ag3Sn-Phasenteilchen über einen der folgenden Mechanismen überwinden:
• Scheren von Partikeln
• Orowan-Mechanismus
• Kletterbewegungen um Partikel herum.
Der Scher- und der Orowan-Mechanismus hängen nur geringfügig von der
Temperatur ab, währenddessen Klettermechanismen immer eine diffusionsgesteu-
erte Leerstellenbewegung benötigen und daher grundlegend langsamer ablaufen,
d. h., solange die Vorausetzungen für einen der ersten beiden Mechanismen gege-
ben sind, sind diese gegenüber dem dritten dominant [610]. Unterhalb einer kriti-
schen Spannung - der sogenannten Orowan-Spannung - bleiben die Versetzungen
an den Ag3Sn-Partikeln hängen, so lange wie durch thermische Aktivierung die
Möglichkeit einer Kletterbewegung und somit das Umgehen der harten intermetal-
lischen Phasenteilchen ermöglicht wird. Die Kombination dieser drei Mechanis-
396 8 Experimentelle Ergebnisse
· σ n1 Q σ n2 Q
ε = A 1 ⋅ § ------· ⋅ exp § – ------1-· + A 2 ⋅ § ------· ⋅ exp § – ------2-· , (8.21)
© σN ¹ © RT¹ © σN ¹ © RT¹
wobei A1, A2 Vorfaktoren sind. Der erste Term in Gleichung (8.21) beschreibt
die Verformungskinetik für den Klettermechanismus und der zweite Term die für
den Scher- oder Orowan-Mechanismus. Die für beide Bereiche aus verschiedenen
Publikationen entnommenen, experimentell ermittelten charakteristischen Modell-
parameter Spannungsexponent n 1, n 2 und Aktivierungsenergie Q 1, Q 2 sind in
Tabelle 8.22 zusammen mit wichtigen Versuchsbedingungen aufgeführt. Obwohl
die Modellgleichung (8.21) in ihrer Grundstruktur der Modellgleichung (8.10)
gleicht, muss beachtet werden, dass sich beide Gleichungen auf unterschiedliche
Formen von Mechanismen beziehen.
Anders als beim SnPb-Lot ist bei den verschiedenen publizierten Ergebnissen
zum SnAg-Lot auch eine klare Zuordnung von charakteristischen Werten für die
Parameter n 1, n 2 bzw. Q 1, Q 2 zu bestimmten Mechanismen nicht ohne weiteres
möglich. Dies liegt zum einen daran, dass in der Mehrzahl der Untersuchungen ein
einfaches Potenzverhalten ermittelt wurde, während ein zweigeteilter Verlauf mit
unterschiedlichen Exponenten nur in wenigen Studien gefunden werden konnte. In
diesem Fall ergab sich für den Bereich kleiner Spannungen ein theoretisch plausi-
bler Wert für den Spannungsexponenten von n 1 = 3 , welcher auf einen Kletter-
mechanismus hinweist. Für den Bereich großer Spannungen schwanken die Werte
für den Spannungsexponenten im Bereich von n 2 = 5…18 . Zwar sind diese
Werte plausibel, wenn von einem Orowan-Mechanismus1 ausgegangen wird, aller-
dings ergeben sich keine Korrelationen zu mikrostrukturellen Eigenschaften. So
werden beispielsweise in [606] zwei Proben mit sehr unterschiedlichen Größen
intermetallischer Ag3Sn-Phasenteilchen in ihrem Kriechverhalten miteinander ver-
glichen. Dabei zeigt sich, dass die Proben mit den deutlich kleineren und feiner
verteilten intermetallischen Ag3Sn-Partikeln zwar eine höhere Kriechfestigkeit
aufweisen, an beiden Proben jedoch der gleiche Spannungsexponent von n 2 = 11
ermittelt wurde.
Um zu einem genaueren Bild des SnAg-Bulkverhaltens zu gelangen und um
festzustellen, ob das Kriechverhalten dieser Legierung grundsätzlich einem einfa-
chen Potenzgesetz oder einem zweigeteilten Verlauf folgt, wurden eigene Versu-
che an SnAg-Bulkmaterial durchgeführt, bei welchen neben dem grundsätzlichen
Kriechverhalten auch der Einfluss des Ag-Anteils auf die Kriecheigenschaften
untersucht wurde.
1. Aufgrund der Größe der Ag3Sn-Partikel wird nicht von einem Scher-Mechanismus ausgegan-
gen.
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber 397
n1 Q1 n2 Q2 dε/dt T V Quelle/
[kJ/mol] [kJ/mol] [s-1] [K] [m3] Bemerkung
a) b)
c) d)
e) f)
Abb. 8.19 Herstellung von Bulkproben: a) Probenform mit Heizwiderständen zur Realisierung
verschiedener Heizzonen, b) Innenprofil der Probenform, c) Gussprobe mit rundem Querschnitt,
d) Gussprobe mit rechteckigem Querschnitt, e, f) Erstarrungsprofil für Bulkproben. Die Tempera-
turmessstellen T1, T2, T3 entsprechen den Sektoren 1, 3, 5 der fünfteiligen Heizung an der
Gussform.
den. Das Verhalten im Bereich höherer Spannungen lässt sich ebenfalls gut über
eine Potenzfunktion mit einem Spannungsexponenten von n 2 = 11 nachbilden,
wobei hier die Werte kaum streuen und ein verhältnismäßig eindeutiges Ergebnis
vorliegt. Als Aktivierungsenergie für diesen Bereich ergab sich ein Wert von
Q 2 = 93,1 kJ/mol , während sich für den Bereich kleiner Spannungen ein Wert
von Q 1 = 46,8 kJ/mol ergab. In Tabelle 8.23 sind die aus den experimentellen
Untersuchungen ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.21) aufgeführt
[204].
a) b)
c) d)
1E-3
Bulk-specimen-SnAg
1E-4
T=293K
Sample#1
1E-5
Sample#3
Creep Rate [1/s]
Sample#5
1E-6
T=343K
Sample#2
1E-7 Smaple#4
1E-8
1E-9
1E-10
1 10 100
Stress [MPa]
e) f)
Tabelle 8.23 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnAg3,5 in Bulk-Proben aus [204]a
a. σ N = 1 MPa
Eine weitere, für das Verständnis der Kriechverhaltens der Sn-Ag- und Sn-Ag-
Cu-Legierungen wichtige Frage, zu deren Beantwortung Untersuchungen an Bulk-
proben wichtige Hinweise geben sollten, war die nach dem Einfluss des Volumen-
anteils, der Größe und der Formen der intermetallischen Ag3Sn- und Cu6Sn5-Parti-
kel. Zur Beantwortung dieser Frage wurde eine zweite Serie von Experimenten an
Bulk-Proben geplant, für welche im Vorfeld verschiedene Modifikationen am
Lastrahmen und der Probengeometrie vorgenommen wurden, um bestimmte
Schwachpunkte, welche sich bei der Durchführung der ersten Serie von Experi-
menten herausgestellt hatten, zu verbessern. Zu den wesentlichen Veränderungen
zählte dabei die Neugestaltung von beheizten Probenklemmen. Dies war notwen-
dig, da die bisherigen Klemmen, welche mit TO-220-Leistungswiderständen
beheizt wurden, eine Begrenzung des Temperaturbereichs bis zu einer Maximal-
temperatur von 70 °C aufwiesen. Durch die Verwendung selbst gefertigter Dick-
schichtheizer konnte der Temperaturbereich auf eine Maximaltemperatur 200 °C
erweitert werden. Allerdings hatte dies eine Neugestaltung der Probenklemmen zur
Folge, aus der sich wiederum die Notwendigkeit der Verkürzung der Probenlänge
auf L = 50 mm ergab. Bei der Neugestaltung der Gussform wurde auch der runde
Querschnitt der Proben auf einen recheckigen (3 mm x 4 mm) geändert, da sich
dadurch die Proben leichter aus der Form entnehmen ließen. Verbessert wurde
außerdem die Wegmessung, indem der bisherige vorkonfektionierte LVDT-Bau-
stein (Sensor mit integriertem Verstärker) durch eine Lösung mit einem selbst ent-
worfenen Sensorverstärker ersetzt wurde, welcher mit einer automatischen compu-
terbasierten Messdatenerfassung verbunden wurde. Durch diese Maßnahmen
wurde die Auflösung der Verschiebungsmessung auf ein Inkrement von 0,074 μm
verbessert, was - bezogen auf die neue Probengeometrie - einem Dehnungsinkre-
ment von 1,5 10-6 entspricht.
Da das wesentliche Ziel der zweiten Versuchsserie im Vergleich des Kriechver-
haltens zwischen verschiedenen naheutektischen Sn-Ag- und Sn-Ag-Cu-Legierun-
gen bestand und dadurch die Untersuchung eines großen Probenumfangs zu bewäl-
tigen war, wurde eine Abänderung des in der ersten Versuchsserie verwendeten
Stufenversuches vorgenommen. Für die Durchführung der Kriechexperimente in
der zweiten Versuchsreihe wurde stets mit der höchsten Last begonnen, bis der
Zustand des quasistatischen Kriechens erreicht wurde und anschließend die Ver-
suchslast sukzessive abgesenkt wird Hierbei wurden die Versuche für alle vier
Versuchstemperaturen (T = 30 °C, 60 °C, 100 °C, 150 °C) nacheinander an einer
Probe durchgeführt (Abb. 8.21).
402 8 Experimentelle Ergebnisse
a) b)
Abb. 8.21 Typisches Lastprofil des modifizierten Stufenversuches für Kriechversuche der
zweiten Versuchsreihe. Exemplarisch wurde der aufgezeichnete Versuchsverlauf für die Probe
SnAg3 ausgewählt: a) Weg-Zeit-Diagramm des Versuches bei einer Versuchstemperatur von
·
T = 100 °C, b) daraus resultierendes ε - ε -Diagramm [618].
Beim Vergleich der Ergebnisse zwischen der ersten und zweiten Versuchsserie
zeigte sich, dass es Unterschiede bezüglich der ermittelten quasistatischen Kriech-
geschwindigkeit gab. Die Ermittlung dieser weniger als eine Größenordnung betra-
genden Unterschiede ist sehr schwierig, da sie aufgrund der vielen Veränderungen,
die gleichzeitig vorgenommen wurden, schwer einem bestimmten Faktor zuzuwei-
sen sind. Auf die Werte für die Spannungsexponenten hatte das veränderte Vorge-
hen jedoch keine Auswirkungen. Aus den Ergebnissen der in der zweiten Ver-
suchsreihe untersuchten naheutektischen Legierungen SnAg2, SnAg3 und SnAg4
geht hervor, dass mit steigendem Ag-Anteil die Kriechfestigkeit der Legierung
deutlich zunimmt und es gleichzeitig zu einer leichten Erhöhung des Spannungsex-
ponenten von n = 10 auf n = 13 kommt (Abb. 8.22). Bezogen auf den gesamten
Versuchstemperaturbereich zeigt sich, dass der Ag-Anteil in der SnAg-Legierung
einen sehr wesentlichen Einfluss auf die Kriechfestigkeit hat.
a) b)
Abb. 8.22 Ergebnisse der zweiten Versuchsreihe für SnAg2, SnAg3, SnAg4: a) Darstellung aller
aufgenommenen Kriechdaten der drei Legierungen, b) Vergleich der Ergebnisse für die Versuchs-
temperatur von T = 30 °C, d. h., die entsprechenden Proben wurden im Anfangsbereich gedehnt
[636].
z-Richtung sind diese Lötstellen sehr oft wegen eines lokalen Fehlanpassungspro-
blems, welches durch die stark unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffi-
zienten von Anschlussstift und Leiterplattenmaterial hervorgerufen wird, kritisch
für die Zuverlässigkeit der Baugruppe. Aus diesem Grund sollten die Kriecheigen-
schaften einer solchen Lotverbindung gesondert untersucht werden. Um eine exakt
zentrische Position des Drahtes in der zylinderförmigen Durchkontaktierung zu
erreichen, wurde der Kupferdraht mithilfe einer Mikropositioniereinrichtung
gegenüber der Leiterplatte ausgerichtet und anschließend in dieser Position einge-
lötet. Dies hatte zur Folge, dass die Löttemperaturen gegenüber den vom Lotpas-
tenhersteller empfohlenen erheblich angehoben werden mussten, da die Mikroposi-
tioniereinrichtung eine erhebliche Wärmesenke darstellte. Auf die Übertragbarkeit
der Ergebnisse hat dies kaum Einfluss, da auch große Bauelemente, wie z. B.
Steckverbinder, eine erhebliche Wärmesenke darstellen.
Die Bestimmung des Kriechverhaltens durch Messung der Relativbewegung
des mit einem Gewicht belasteten Kupferdrahtes gegenüber der Leiterplatte
erfolgte über die in 7.5.4.2 beschriebene Vorrichtung. Für die Erfassung der Mess-
werte des für die Verschiebungsmessung eingesetzten inkrementellen optischen
Wegaufnehmers (IKF 10, Fa. Feinmeß Suhl, Auflösung 100 nm) stand zum Zeit-
punkt der Versuchsdurchführung kein computergestütztes System zur Verfügung.
Die Messwerte wurden daher abgelesen, aufgeschrieben und von Hand in eine
Tabelle übertragen, aus der die Diagramme erzeugt wurden. Es ist davon auszuge-
hen, dass bei hohen Messkräften und damit einer hohen zeitlichen Dichte von
Messwerten Ablesefehler beim manuellen Erfassen der Messwerte entstanden.
Weiterhin ist zu beachten, dass die Probenheizung über einen Zweipunktregler
gesteuert wurde, wodurch es zu thermischen Oszillationen im Bereich von
ΔT = ± 0,2 K kam, welche sich über thermische Dehnungen auf Oszillationen in
404 8 Experimentelle Ergebnisse
der Wegmessung auswirkten. Dies hatte zwar geringen Einfluss auf den gemittel-
ten Gesamtratewert, wirkte sich jedoch stärker auf lokale Ratewerte aus. Die Auf-
lösung der Wegmessung betrug 0,1 μm, was einem Dehnungsinkrement von
5,8 10-4 entspricht. Die Umrechnung von Kraft- und Wegdaten auf Spannungs-
und Dehnungswerte erfolgte über:
2⋅F⋅ 3 -, 2⋅s
σ = -------------------------------------- ε = ----------------------------------- (8.22)
π ⋅ h ⋅ ( dB + dD ) ( dB – dD ) ⋅ 3
dB
F ... Kraftwert dD
s ... Wegwert
dB ... Durchmesser der Leiterplattenbohrung
Leiterplatte
h
dD ... Durchmesser der Drahtes
h ... Leiterplattendicke Metallisierung
Lot
Draht
- - - 4E-5 7 70,3
a. σ N = 1 MPa
a) b)
c) d)
1E-3
PCB-spec.-SnAg
1E-4
T = 303 K
Sample#1
1E-5
Sample#2
Creep Rate [1/s]
T = 343 K
1E-6
Sample#1
Sample#3
1E-7
1E-8
1E-9
1E-10
1 10 100
e) Stress [MPa]
a) b)
c) d)
Walzprozess kann die Dicke der Lotfolie eingestellt werden. Durch die Wahl eines
Stanzwerkzeuges wird der Durchmesser des zylindrischen Lotformteils festgelegt.
Um Keramikgrundkörper mit kreisförmigen Anschlussflächen von d = 400 μm
miteinander zu verlöten, wurden Lotformteile mit einer Höhe h = 140 μm und
einem Durchmesser d = 300 μm verwendet. Diese Lotformteile wurden mit
Flussmittel auf den entsprechenden Kontaktflächen fixiert. Anschließend wurden
die beiden Keramikgrundkörper durch einen Umschmelzprozess in einem Dampf-
phasenofen simultan miteinander verlötet, sodass die in Abb. 8.24 dargestellte Pro-
bekörperform entstand. Die Umschmelztemperatur betrug T = 240 °C und die
Umschmelzdauer wurde zwischen t = 45 s ... 180 s variiert. Kürzere Umschmelz-
dauern kamen nicht in Frage, da dann eine erhöhte Bildung von Hohlräumen
(Voids) in den Lotkontakten beobachtet wurde. Aufgrund dieser verhältnismäßig
langen Umschmelzzeiten kam es bei Verwendung von Cu/Sn-Metallisierungen zu
einer erheblichen Ablegierung von Cu in das SnAg3,5-Lot, sodass dieses offen-
sichtlich zu einem SnAgCu-Lot beim Umschmelzprozess transformiert wurde.
Dieser Effekt konnte umgangen werden, indem SnAg3,5-Lotformteile entweder
auf eine Ni/Au-Metallisierung oder eine Ag-Metallisierung (mit Dickschichtpaste
hergestellt) gelötet wurden.
Zur Ermittlung der Kriecheigenschaften an diesen kleinvolumigen SnAg-Lot-
kontakten wurde die in 7.5.3.3 beschriebene Apparatur verwendet. Die Charakteri-
408 8 Experimentelle Ergebnisse
sierung erfolgte in einem zyklischen Kriechversuch, welcher mit dem unter 8.3.4.2
beschriebenen vergleichbar ist. Alle Experimente wurden nacheinander an einer
Probe bei den Versuchstemperaturen1 T = 75°C, 20 °C, 125 °C durchgeführt. In
Abb. 8.25 sind die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an kleinvolumigen Lot-
kontakten, welche durch das Auflöten von SnAg3,5-Formteilen auf eine Ag-
Anschlussmetallisierung erzeugt wurden, in einer zusammenfassenden Beschrei-
·
bung des quasistatischen Kriechverhaltens in Form eines ε - σ -Diagramms darge-
stellt. Aus diesem Diagramm geht hervor, dass das charakterisierte Kriechverhal-
ten einem zweigeteilten Verlauf folgt. Nur im Fall der niedrigsten
Versuchstemperatur folgt der Verlauf einem einfachen Potenzgesetz. Das Fehlen
eines zweiteiligen Verlaufes bei dieser Temperatur kann jedoch auch mit den höhe-
ren Dehnraten zusammenhängen, bei denen das Kriechverhalten bestimmt wurde.
Bei der niedrigsten Temperatur (T = 293 K) weist das auf eine Ag-Metallisierung
gelötete SnAg3,5-Lot für den Bereich hoher Spannungen einen Spannungsexpo-
nenten von n 2 = 14 auf, welcher sich bei den höheren Versuchstemperaturen
(T = 348 K, 398 K) auf Werte von n 2 = 10 bzw. n 2 = 8 verringert. Für den
Bereich niedriger Spannungen ergab sich bei den beiden höheren Temperaturen ein
Spannungsexponent von n 1 = 4 .
In einer weiteren Versuchsreihe wurden die Kriecheigenschaften der kleinvolu-
migen SnAg-Lotkontakte in Verbindung mit einer Ni/Au-Metallisierung bestimmt.
Dazu wurde - wie bei den Experimenten unter Verwendung der Ag-Metallisierung
1. Die Reihenfolge der Temperaturen entspricht der Reihenfolge der Versuche, die an einer Probe
durchgeführt wurden.
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber 409
- die in 7.5.3.3 beschriebene Apparatur verwendet sowie der unter 8.3.4.2 beschrie-
bene zyklische Kriechversuch durchgeführt. Anstelle der beschriebenen Keramik-
grundkörper zur Probeköperfertigung kamen strukturierte Leiterplatten mit Alumi-
niuminnenlage zum Einsatz, welche gegenüber herkömmlichen organischen
Substraten den Vorzug boten, auch bei hohen Versuchstemperaturen eine steife,
die Verformungsmessung des Kontaktes nicht verfälschende Unterlage zu Verfü-
gung zu stellen [508]. Wiederum wurden alle Experimente nacheinander an einer
Probe bei den Versuchstemperaturen1 T = 75°C, 20 °C, 125 °C durchgeführt. In
1. Die Reihenfolge der Temperaturen entspricht der Reihenfolge der Versuche, die an einer Probe
durchgeführt wurden.
410 8 Experimentelle Ergebnisse
σ = F ⋅ 3- ,
--------------
s -
ε = ------------- (8.23)
2
π⋅d h⋅ 3
Aus den Ergebnissen für SnAg3,5-Lot (Abb. 8.35) geht hervor, dass das charak-
terisierte Kriechverhalten einem einfachen Potenzgesetz folgt. Das Fehlen eines
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber 411
zweiteiligen Verlaufes, wie er bei den Bulk-Proben ermittelt wurde, kann jedoch
auch mit den höheren Dehnraten zusammenhängen, bei denen das SnAg-Lot an
den Flip-Chip-Probekörpern bestimmt wurde. Die mit unterschiedlichen Abkühl-
geschwindigkeiten erzeugten Proben wiesen keine signifikanten Unterschiede im
Kriechverhalten auf. Deutliche Unterschiede sind hingegen in Abhängigkeit von
der gewählten UBM festzustellen. Das auf eine Cu-UBM aufgebrachte SnAg-Lot
a)
b) c)
d) e)
a) b)
c) d)
Tabelle 8.25 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnAg3,5 in Flip-Chip-Kontakten mit ver-
schiedenen Unterbumpmetallisierungen (UBM) aus [204]a
Cu - - - 2E-6 11 73,2
a. σ N = 1 MPa
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber 413
a)
b) c)
d) e)
a) b)
c) d)
e)
a) b)
c) d)
e) f)
a) b)
c) d)
e) f)
Ag3Sn 79 - - - [596]
Tabelle 8.28 Fließspannung (σF) und Verfestigung (h) für verschiedene naheutektische SnAgCu-
Legierungen bei erhöhten homologen Temperaturena
T ε1 ε2 σ1 σ2 σ3
8.5.4 Kriechverhalten
Auch für das SnAgCu-Eutektikum lag im Vergleich mit der SnPb-Legierung ein
begrenztes Datenmaterial vor, welches darüber hinaus kein konsistentes Bild
bezüglich wichtiger, die Verformungsreaktion charakterisierender Parameter, wie
z. B. des Spannungsexponenten oder der Aktivierungsenergie, gibt. Aus diesem
Grund wurden ähnlich wie bei der SnAg-Legierung eigene Untersuchungen an
Bulk-Proben geplant, um für die Bewertung des Größeneffektes ein Referenzver-
halten definieren zu können. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, wie
auch schon beim SnAg-Lot, dass es mikrostrukturelle und untersuchungsmethodi-
sche Faktoren gibt, welche die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen beeinflussen
können. Dadurch dass es sich beim SnAgCu-System um eine Dreistofflegierung
handelt, trifft die in 8.4.4.1 bereits ausführlich diskutierte Problematik der Gefü-
geinhomogenitäten und Versuchsabläufe in besonderem Maße zu. Die aus ausge-
426 8 Experimentelle Ergebnisse
n1 Q1 n2 Q2 dε/dt T V Quelle/
[kJ/mol] [kJ/mol] -1
[s ] [K] [m ]3 Bemerkung
1. Aufgrund der Größe der Ag3Sn-Ausscheidungen wird nicht von einem Scher-Mechanismus
ausgegangen.
428 8 Experimentelle Ergebnisse
a) b)
c) d)
e) f)
1E-3
Bulk-SnAgCu
1E-4
T=293 K
Sample#1
1E-5
Sample#3
Creep Rate [1/s]
Sample#5
1E-6
T=343 K
Sample#2
1E-7 Sample#4
Sample#6
1E-8
1E-9
1E-10
1 10 100
g) Stress [MPa]
Bereich kleiner Spannungen lässt sich gut über eine Potenzfunktion mit einem
Spannungsexponenten von n 1 = 3 nachbilden, wobei zu beachten ist, dass für
diesen Bereich nur wenige Werte vorliegen und diese aufgrund der geringen und
damit messtechnisch schwer erfassbaren Dehnungsgeschwindigkeiten sehr stark
streuen, sodass für diesen Bereich Werte von n 1 = 2…5 als mit den Messergeb-
nissen in Einklang befindlich aufgefasst werden müssen. Das Verhalten im Bereich
höherer Spannungen lässt sich ebenfalls gut über eine Potenzfunktion mit einem
Spannungsexponenten von n 2 = 12 nachbilden, wobei hier die Werte kaum
streuen und ein verhältnismäßig eindeutiges Ergebnis vorliegt. Als Aktivierungs-
energie für diesen Bereich ergab sich ein Wert von Q 2 = 61,1 kJ/mol , während
sich für den Bereich kleiner Spannungen ein Wert von Q 1 = 34,6 kJ/mol ergab.
Der letzte Wert ist wegen der großen Streuung der Messwerte jedoch eher als
Richtwert aufzufassen. In Tabelle 8.31 sind die aus den experimentellen Untersu-
chungen ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.21) aufgeführt [619].
Tabelle 8.31 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnAg3,8Cu0,7 in Bulk-Proben aus
[619]a
a. σ N = 1 MPa
a) b)
c) d)
Abb. 8.37 Ergebnisse der zweiten Versuchsreihe für SnAg2CuX%: a) Darstellung aller aufge-
nommenen Kriechdaten für SnAg2Cu0,5-Lot bei Versuchstemperaturen von T = 30 °C, 60 °C,
100 °C, b) Darstellung aller aufgenommenen Kriechdaten für SnAg2Cu0,9-Lot bei Versuchstem-
peraturen von T = 30 °C, 60 °C, 100 °C, 160 °C, c) Vergleich der Ergebnisse aller SnAg2CuX%-
Legierungen bei T = 30 °C, d) Vergleich der Ergebnisse aller SnAg2CuX%-Legierungen bei allen
Versuchstemperaturen [636]
a) b)
c) d)
Abb. 8.38 Ergebnisse der zweiten Versuchsreihe für SnAg3CuX%: a) Darstellung aller aufge-
nommenen Kriechdaten für SnAg3Cu0,5-Lot bei Versuchstemperaturen von T = 30 °C, 60 °C,
100 °C, 150 °C, b) Vergleich der Ergebnisse der Legierungen SnAg3, SnAg3Cu0,5 und
SnAg3Cu1 bei T = 30 °C, c) Vergleich der Ergebnisse aller SnAg3CuX%-Legierungen bei allen
Versuchstemperaturen, d) Vergleich der Ergebnisse der SnAg3CuX%-Legierungen mit der
SnAg3Au0,1-Legierung bei allen Versuchstemperaturen [636]
a) b)
a) b)
c) d)
e) f)
1E-3
PCB-spec.-SnAgCu
1E-4
Sample #3
T=303K
1E-5 T=343K
Creep Rate [1/s]
Sample #4
1E-6 T=303K
T=343K
1E-7 Sample #5
(aged 150°C/500h)
1E-8 T=303K
T=343K
1E-9
1E-10
1 10 100
g) Stress [MPa]
a. σ N = 1 MPa
a) b)
durch kam es zum erheblichen Ablegieren der Cu-Metallisierung in das Lot, sodass
sich infolge der Probekörperherstellung auf Cu/Sn-Metallisierungen immer eine
SnAgCu-Legierung ergab. In Abb. 8.41 sind die Ergebnisse der Kriechuntersu-
chungen an kleinvolumigen Lotkontakten, welche durch das Auflöten von
SnAg3,5-Lotkugeln (d = 450 μm) auf eine Cu/Sn-Anschlussmetallisierung erzeugt
436 8 Experimentelle Ergebnisse
Abb. 8.42 Gefügebilder der SnAg3,5 Lotkugel vor und des SnAg3,5 Lotkontaktes nach dem
Umschmelzprozess [508]
Tabelle 8.33 Zusammensetzung der Lotlegierung vor und nach dem Umschmelzvorgang bei der
Herstellung von Probekörpern unter Verwendung von SnAg3,5-Lotkugeln, welche auf eine Cu/
Sn-Metallisierung aufgelötet wurden (Umschmelzzeit > 45 s, T = 240°C)
sehen. Aus den Diagrammen in Abb. 8.41 geht hervor, dass das charakterisierte
Kriechverhalten einem einfachen Potenzgesetz folgt. Bei der niedrigsten Tempera-
tur (T = 293 K) weist das auf eine Cu/Sn-Metallisierung gelötete SnAg3,5-Lot
einen Spannungsexponenten von n 2 = 18 auf, welcher sich bei den höheren Ver-
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer 437
a) b)
c) d)
e) f)
g) h)
(vgl. 7.4.4.3) bestimmt werden können, erfolgte eine einfache Abschätzung über
Gleichung (8.23).
Das Diagramm in Abb. 8.52 zeigt zusammenfassend die Ergebnisse der Kriech-
untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten aus SnAgCu-Lot auf Cu-UBM. Es ist zu
a)
b)
c)
d)
Abb. 8.47 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAgCu, ausgelagert bei
125°C/24h, T= 50°C: linke Seite (c) = Hindeformation, rechte Seite (a, b, d) = Rückdeformation
im zyklischen Kriech-Scher-Versuch.
442 8 Experimentelle Ergebnisse
a)
b)
c)
erkennen, dass sich eine starke Änderung der Kriecheigenschaften durch thermi-
sche Auslagerung der Proben ergab. Hierdurch sank der Kriechwiderstand des
SnAgCu-Lotes als auch der Spannungsexponent von n 2 = 19 (für unausgela-
gerte Proben) auf einen Wert von n 2 = 13 (für die bei einer Temperatur von
T = 125°C ausgelagerten Proben). Unterschiede im Kriechverhalten zwischen
kurzzeitig ausgelagerten (t = 24 h) und langzeitig ausgelagerten Proben
(t = 1176 h) ergaben sich nicht. Als Aktivierungsenergie für die unausgelagerten
Proben ergab sich ein Wert von Q 2 = 84,2 kJ/mol , während sich für den Bereich
kleiner Spannungen ein Wert von Q 2 = 75,2 kJ/mol ergab. In Tabelle 8.34 sind
die aus den experimentellen Untersuchungen ermittelten Parameter der Modellglei-
chung (8.21) aufgeführt [619].
a. σ N = 1 MPa
b. nicht ausgelagert
c. ausgelagert 24h ... 1176h/125°C
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer 445
Tabelle 8.35 Parameter für Rissausbreitungsgleichungen (8.19) und (8.20) für SnAg4Cu0,5-
Flip-Chip-Lotkontakte aus [595]
α β γ δ
εacc 5 10-7 2 - -
9.1 Mechanik und Werkstoffphysik für die Elektronik 447
Wie Alan Howard Cottrell 1966 im Prolog zu seinem ein Jahr später erstmals
herausgegebenen Grundlagenwerk „An Introduction to Metallurgy“ feststellte,
weilt über der Metallurgie nach wie vor der Geist des Mystischen, sodass kein
respektables Raumschiff in einem Science-Fiction-Roman ohne eine geheime
Wunderlegierung auszukommen scheint [184]. Eine vergleichbare Situation
bestand, als - ausgelöst durch Bestrebungen, das gesundheitsschädliche Element
Blei nicht mehr in der industriellen Warenproduktion einzusetzen - um die Jahrtau-
sendwende eine Ersatzlegierung für das in der Elektronikproduktion standardmä-
ßig verwendete Zinn-Blei-Lot gefunden werden musste. Viele der frühzeitigen
Forschungsbestrebungen resultierten aus empirischen Überlegungen, anstatt durch
Nutzung metallphysikalischer Erkenntnisse bestimmte Lösungsansätze systema-
tisch weiterzuverfolgen.
Während der allmähliche Übergang von einer rein empirischen Werkstofffor-
schung zu einer auf festkörperphysikalischen und -chemischen Betrachtungswei-
sen beruhenden Werkstoffwissenschaft sich in den meisten Anwendungsgebieten
nach Ende des zweiten Weltkriegs vollzog [650, 651], umfasste die Betrachtung
werkstoffphysikalischer Aspekte in der bisherigen Entwicklung der Elektronik vor
allem solche, welche unmittelbar auf die Konzeption technologischer Prozesse
gerichtet waren. Bei der wissenschaftlich-akademischen Auseinandersetzung mit
methodischen Fragestellungen zum Entwurfs- und Fertigungsprozess elektroni-
scher Bauelemente und Geräte existierte zunächst nur ein geringes allgemeines
Verständnis dafür, dass die aus vielen einzelnen Bauelementen und Funktions-
strukturen zusammengesetzten elektronischen Aufbauten gleichzeitig auch mecha-
nische Verbunde sind und daher bei konzeptionellen Fragen auch der Aspekt der
Mechanik eines elektronischen Aufbaus in sehr grundlegender Weise bedacht wer-
den muss. Zwar wurde die Schlüsselproblematik mechanischer Beanspruchungen
in Strukturen elektronischer Aufbauten früh erkannt, jedoch wurde daraus in der
Regel keine allgemeine Notwendigkeit für eine grundlegende vertiefende Beschäf-
tigung mit werkstoffmechanischen Fragestellungen abgeleitet [639], da die auftre-
tenden Probleme zunächst auf eine bestimmte Technologievariante beschränkt zu
bleiben schienen. Anders als in anderen ingenieurwissenschaftlichen Bereichen,
wie z. B. dem Maschinen-, Anlagen- oder Fahrzeugbau, entwickelte sich die
Untersuchung relevanter mechanischer Eigenschaften der üblicherweise verwende-
ten Werkstoffe nicht als eigenständiges wissenschaftliches Gebiet.
Wie unvollkommen der Grad des Verständnisses für das mechanische Verhalten
der in elektronischen Aufbauten eingesetzten Werkstoffe sich in der jüngeren Ver-
gangenheit darstellt, wird sehr deutlich, wenn das 1991 in seiner zweiten Auflage
erschienene Buch „Weichlöten in der Elektronik“ von Klein Wassink [640]
448 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
9.2.1 Ausgangspunkt
Abschnitten 8.2 - 8.5 eine Vielzahl aus der Literatur entnommene Daten so aufge-
führt, dass die wichtigsten experimentellen Randbedingungen im Zusammenhang
mit den aufgelisteten Materialkennwerten zu entnehmen sind. Hierdurch ergibt
sich ein sehr umfassendes und detailliert beschriebenes Bild zum derzeitigen
Erkenntnisstand, wenngleich es wahrscheinlich nicht gelungen ist, alle derzeit ver-
fügbaren Daten aufzunehmen.
Eine weitere wesentliche Charakteristik der in Kapitel 8 aufgeführten Zusam-
menstellung von Materialdaten zu den Sn-basierten Lotwerkstoffen besteht in
deren Aufgliederung in Daten zum Einstoffsystem β -Sn, zu den Zweistoffeutek-
tika SnPb und SnAg sowie zum Dreistoffeutektikum SnAgCu. Dadurch stehen
Aussagen zu vier verschiedenen Materialsystemen zur Verfügung, welche auf der
einen Seite stark miteinander zusammenhängen, gleichzeitig sich jedoch durch
spezifische Unterschiede deutlich gegeneinander abgrenzen, wie dies in ihrer
strukturellen Beschreibung in 3.3 - 3.5 bereits aufgeführt wurde. Demgegenüber
besteht aufgrund des großen Umfangs der zusammengetragenen Daten die Gefahr,
dass aufgrund der vielfältigen Widersprüche zwischen einzelnen Ergebnissen keine
klaren Schlussfolgerungen gezogen werden können. Eine wesentliche Aufgabe bei
der Auswertung der Daten bestand daher darin, nachzuvollziehen, wie bestimmte
Daten zustande gekommen sein könnten, um auf dieser Grundlage Kriterien zu
erarbeiten, aus denen abgeleitet werden kann, welche Ergebnisse untereinander in
welcher Art verglichen werden sollten.
1. Die Werte aus [608] wurden wegen der erheblichen Abweichungen nicht berücksichtigt.
9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten 455
Lotkugeln (400 μm): Sehr aufschlussreich bezüglich der Frage des Größenef-
fektes sind die Untersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten mit ca. 400 μm
Durchmesser (vgl. 8.4.4.3 und 8.5.4.3). Hier ergeben sich deutliche Unterschiede
zu den Ergebnissen am Bulkmaterial in Abhängigkeit von der gewählten
Anschlussmetallisierung. Das auf eine Ag-Metallisierung gelötete SnAg3,5-Lot
weist für den Bereich hoher Spannungen bei der niedrigsten Temperatur
(T = 293 K) einen Spannungsexponenten von n = 14 auf, welcher sich bei den
höheren Versuchstemperaturen (T = 348 K, 398 K) auf Werte von n = 10 bzw.
n = 8 verringert. Gleichzeitig ergibt sich ein zweigeteilter Verlauf der exponenti-
ellen Abhängigkeit der quasistatischen Kriechrate von der Spannung. Wird der
Lotball hingegen auf eine Ni/Au-Metallisierung gelötet, ergibt sich kein Ansatz-
punkt für einen zweiteiligen Verlauf. Für alle drei Versuchstemperaturen ergibt
sich dann ein Spannungsexponent von n = 16 . Für die eutektische SnAg-Legie-
rung auf einer Cu-Metallsierung ergeben sich Exponenten von n = 14…18
456 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
Bezieht man das Verhalten der verschiedenen Legierungstypen auf das Kriech-
verhalten des β -Sn (vgl. 8.2.4), so zeigt sich für den Bereich großvolumiger Bulk-
proben, dass weder das SnPb-System noch das Sn-Ag-Cu-System wesentlich von
dem Verhalten abweicht, welches an polykristallinen β -Sn Proben aufgenommen
wurde ( n ≈ 5…9 ). Erst wenn durch spezielle Herstellungsbedingungen der Proben
bestimmte mikrostrukturelle Eigenschaften erzeugt werden, z. B. kleine Körner mit
homogener Größenverteilung durch Extrudieren von SnPb-Lot oder fein verteilte
intermetallische Teilchen in der β -Sn-Matrix durch schnelle Abkühlung von
SnAg- oder SnAgCu-Lot, ergeben sich größere Abweichungen vom Verhalten des
Grundmaterials. Diese bestehen bei der SnPb-Legierung im superplastischen Ver-
halten ( n ≈ 2 ) und bei der SnAg- und SnAgCu-Legierung im teilchengehärteten
Kriechverhalten ( n ≥ 10 ). Kleinvolumige Lotkontakte besitzen offensichtlich
immer diese besonderen mikrostrukturellen Eigenschaften, ohne dass besondere
Herstellungsbedingungen aufgewendet werden müssen.
Um die in 9.2.2 vollzogenen Ableitungen, welche sich aus dem unter 8.2 - 8.5
aufgeführten Datenmaterial zu verschiedenen Legierungsvarianten Sn-basierter
Lotwerkstoffe ergeben, bezüglich ihres Zusammenhangs zu den aus den Besonder-
heiten des Untersuchungsgegenstandes resultierenden Formen und Abmessungen
einzelner Strukturelemente (d. h. Bauteile) sowie deren Fertigungstechnologien
(vgl. 2.3) verstehen und einordnen zu können, ist es notwendig, diese gegenüber
den mit diesen Besonderheiten zusammenhängenden Erscheinungsformen der spe-
zifischen Ausbildung der Werkstoffgefüge in den verschiedenen einander gegen-
übergestellten Legierungen zu betrachten. Werden hierzu die Ergebnisse zum
Erstarrungsverhalten der Sn-Ag-Cu-Legierung und der Sn-Pb-Legierung vergli-
chen, welche sowohl an großvolumigen Bulkproben als auch an kleinvolumigen
Kontakten bzw. Lotkugeln gewonnen wurden (vgl. 3.4.2.2 und 3.4.2.3), so zeigt
sich, dass es in beiden Legierungen offensichtlich zu Veränderungen in der Gefü-
geausbildung kommt, welche sich allerdings in ihrer Art und Weise in Abhängig-
keit von der Legierungszusammensetzung unterschiedlich ausbilden. Es wird ange-
nommen, dass die Ursache dieser beobachteten Veränderungen auf eine
Beeinflussung der Keimbildungs- und Keimwachstumsprozesse während der
Erstarrung durch die begrenzten Abmaße der kleinvolumigen Lotkontakte zurück-
zuführen ist.
Geht man davon aus, dass die beim Wachstum von stabilen Keimen entstehende
Kristallisationswärme über ein Temperaturfeld an der Erstarrungsfront in die
unterkühlte Schmelze abgegeben wird, so ergibt sich die Wachstumsgeschwindig-
keit in einer genügend großen Schmelze allein aus der Unterkühlung dieser
Schmelze, da die Abmessungen der unterkühlten Schmelze gegenüber der charak-
teristischen Länge dieses Temperaturfeldes einen nahezu unendlichen Raum dar-
stellen. Werden die Abmessungen der Schmelze jedoch verkleinert, so ist der
9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten 459
Effekt der Erwärmung der unterkühlten Schmelze vor der Erstarrungsfront durch
die abgeführte Kristallisationswärme entsprechend größer. Infolgedessen verklei-
nert sich der Gradient des Temperaturfeldes so stark, dass kein stabiles Keim-
wachstum mehr stattfinden kann. D. h., um ein stabiles Keimwachstum zu ermögli-
chen, ist in sehr kleinen Schmelzen eine höhere Unterkühlung notwendig. Da
gleichzeitig die Keimbildungsrate mit der Unterkühlung exponentiell zunimmt,
ergibt sich ein Punkt, an dem ein Umschlag zwischen einem Erstarrungsprozess,
der durch das Wachstum weniger Keime gekennzeichnet ist, und einem Erstar-
rungsprozess, bei dem es durch eine größenbedingte hohe Unterkühlung zu einer
massiven Zunahme der Keimbildungsrate kommt, stattfindet. Ist diese Vermutung
zutreffend, so hängt die Ausbildung des Erstarrungsgefüges bei großen Schmelzen
von der Abkühlgeschwindigkeit ab, während es bei kleinen Schmelzen vor allem
durch die Abmessungen der Schmelze bestimmt wird.
Folgt man den Ergebnissen der Untersuchungen, so liegt der Umschlagpunkt
zwischen großen und kleinen Schmelzen für die untereutektischen SnAgCu-Legie-
rungen sowie für SnAg-Legierungen bei etwa V = 10-11 m3, was einem Kugel-
durchmesser zwischen 300 ... 500 μm entspricht. Die Auswirkungen dieses von der
Geometrie der Schmelze und nicht von der Abkühlgeschwindigkeit beeinflussten
Erstarrungsprozesses sind in Abhängigkeit von der Legierung sehr unterschiedlich.
In der eutektischen SnAg-Legierung kommt es zur Ausbildung vieler kleiner Kör-
ner und damit zu einer feinen Verteilung der intermetallischen Phasenpartikel über
den gesamten Querschnitt. Sehr gegensätzlich dazu verhält sich die SnAgCu-
Legierung mit eutektischer Zusammensetzung (SnAg3,8Cu0,7), welche aus-
schließlich aus wenigen dendritisch erstarrten Körnern zu bestehen scheint,
wodurch die intermetallischen Phasenpartikel sehr eng am Rand dieser β -Sn-Den-
driten verteilt liegen. Wie der abrupte Umschlag zwischen der sehr feinkörnigen
Gefügeausbildung bei der eutektischen SnAg-Legierung und der sehr grobkörnigen
Gefügeausbildung bei der eutektischen SnAgCu-Legierung zustande kommt, ist
nicht vollständig geklärt. Jedoch liefern diese Ergebnisse eine gute Erklärung
dafür, weshalb beim mechanischen Verhalten der eutektischen SnAg-Legierung
kein Größeneffekt zu beobachten ist, während die SnAgCu-Legierung diesen sehr
deutlich zeigt. Offensichtlich kommt es durch die Wechselwirkung der beiden
Legierungselemente Cu und Ag zu einer veränderten Erstarrungsreaktion innerhalb
der bereits durch die drastische Verringerung des Volumens hervorgerufenen Ver-
änderungen der Erstarrungsreaktion. In dieser Folge kommt es zu einer sehr dich-
ten Verteilung der härtenden intermetallischen Phasenteilchen, aus der - gemäß der
in 5.4.3.7 dargestellten Mechanismen - wiederum eine höhere Kriechfestigkeit
sowie ein höherer Spannungsexponent resultieren.
Liegt jedoch - wie bei der SnPb-Legierung - ein anderes Legierungssystem vor,
welches nicht durch eine Erstarrungsreaktion in Form der Bildung fein verteilter
intermetallischer Phasenpartikel in einer Sn-Matrix, sondern durch die Bildung von
zwei Mischkristallen (in etwa gleichen Anteilen) gekennzeichnet ist, so führen die
mit der Volumenverkleinerung beschriebenen Besonderheiten bei der Erstarrung
offensichtlich ebenfalls zu einer Bildung vieler und damit auch kleiner Körner.
460 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
Für die Weiterentwicklung von Mikrofügetechnologien, wie sie für die Kontak-
tierung von nanoelektronischen Schaltkreisen notwendig sind, haben diese Ergeb-
nisse zum Größeneffekt im mechanischen Verhalten von Werkstoffen in stark ver-
kleinerten Strukturen weitreichende Auswirkungen. Sie zeigen deutlich, dass der
klassische Weg der Übertragung eines technologischen Know-hows, wie er bisher
für die Miniaturisierungsbestrebungen in der Aufbau- und Verbindungstechnik der
Elektronik ausreichend war, für die Fortführung dieser Miniaturisierungsbestre-
bungen auf eine physikalisch begründbare Grenze stößt, welche ein anderes Vorge-
hen erfordert. Dieses muss im Vergleich zur bisherigen Technologieentwicklung
eine auf einem tiefen wissenschaftlichen Verständnis beruhende Systematik zur
Werkstoffentwicklung aufweisen. Die spezifische methodische Ausrichtung der in
der Arbeit dargestellten Untersuchungen ermöglichte den experimentellen Nach-
weis eines Größeneffektes im mechanischen Verhalten sowie eine gute Charakteri-
sierung seiner typischen Erscheinungen. Die zugrunde liegenden Ursachen konn-
ten größtenteils aufgedeckt und über die Darstellung des relevanten
werkstoffphysikalischen Erkenntnisstandes vollständig verstanden werden. Wich-
tig hierfür ist ein ganzheitliches Verständnis zwischen Legierungszusammenset-
zung, Werkstoffstruktur und mechanischem Verhalten, aus dem wiederum eine
gezielte Legierungsentwicklung erfolgen kann. Momentan steht für die zukünfti-
gen Aufgaben in der Aufbau- und Verbindungstechnik jedoch kein geeigneter
Fügewerkstoff zu Verfügung. Dies zeigt sich darin, dass für viele derzeitige Aufga-
ben (z. B. Mikroprozessoren, Kfz-Elektronik) die gesetzlichen Regelungen zum
Bleiverbot außer Kraft gesetzt wurden, da kein bleifreier Substitutionswerkstoff
mit befriedigenden mechanischen Eigenschaften zu Verfügung steht. Aufgrund der
Bedeutung der Fügetechnik für die Nutzbarmachung nanoelektronisch erzeugter
Schaltkreise (Mikro-Makro-Integration) besteht aus materialwissenschaftlicher
Sicht ein großer Bedarf, die mit der Erstarrung schmelzflüssiger Mikroschmelzen
verbundenen Besonderheiten in der Gefügeausbildung grundlegend zu untersu-
chen. Im Gegensatz zu den Problemen mit bleifreien Ersatzlegierungen in heutigen
Anwendungen, welche wahrscheinlich noch durch die derzeit bevorzugten Trail-
and-Error-Methoden bei der Legierungsentwicklung bewältigt werden können,
wird es ohne ein fundiertes Verständnis zwischen den Faktoren Volumenreduzie-
rung, Gefügeausbildung und mechanische Eigenschaften nicht möglich sein, eine
9.3 Modelle - Schnittstelle zwischen Experiment und Simulation 461
Der Begriff des Modells stammt aus Kunst und Architektur und ist dem italieni-
schen Wort modello = “Muster“ entlehnt, welches sich wiederum auf das lateini-
sche modulus = “Maß“ bezieht, dem Deminutivum zum lateinischen modus =
“Maß, Ziel, Vorschrift, Art und Weise“. In ihrer ursprünglichen Bedeutung sind
Modelle ein gegenständliches, körperliches Abbild eines herzustellenden Teiles
[643, 644]. In der späteren Verwendung des Modellbegriffs in der Physik wandelt
sich seine Bedeutung. Das Modell ist dort eher abstrakter Natur und dient dem Ver-
ständnis eines Sachverhaltes und besitzt damit nicht mehr seine ursprüngliche
Funktion als Zielvorstellung für die Herstellung einer Sache. Wird der Begriff des
Modells in den Ingenieurwissenschaften betrachtet, so stellt sich die Frage, wie
462 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
dieser in seiner Bedeutung zwischen dem des Architekturmodells und des physika-
lischen Modells einzuordnen ist. Viele der im Zusammenhang mit den in dieser
Arbeit dargestellten Sachverhalten verwendeten Modelle unterscheiden sich in
ihrer Art nicht von physikalischen Modellen und widerspiegeln wie diese eine
abstrakte Vorstellung, z. B. über werkstoffphysikalische Elementarmechanismen.
Anders als bei physikalischen Modellen ist ihre Funktion jedoch nicht in erster
Linie auf das Verständnis eines bestimmten Sachverhaltes gerichtet, sondern zielt
vielmehr darauf ab, bestimmte, für eine technische Anwendung interessierende
physikalische Vorgänge über Simulationen vorausberechnen zu können, um damit
wichtige Informationen für konkrete technische Entwicklungsprozesse bereitzu-
stellen. Bei der Auswahl von Modellen für ingenieurwissenschaftliche Bedürfnisse
spielt daher die Frage des Zweckes keine unerhebliche Rolle.
Wird unter diesem Gesichtspunkt die unter 1.2 beschriebene Rolle von Werk-
stoffuntersuchungen im Entwicklungszyklus von elektronischen Aufbauten
betrachtet, so wird klar, dass Werkstoffmodelle in diesem Gesamtprozess verschie-
dene Funktionen an der Schnittstelle zwischen der von der konkreten Entwurfspro-
zedur eher unabhängigen Aufgabe der Charakterisierung mechanischer Werkstoff-
eigenschaften und der direkt zum Enwurfszyklus gehörenden
Simulationsuntersuchungen übernehmen.
Auf der Seite der Werkstoffcharakterisierung dient das Modell vor allem einer
zweckmäßigen Zusammenfassung einer großen Menge experimentell ermittelter
Werkstoffdaten. Hierbei wird angestrebt, dass die Darstellung des Materialverhal-
tens auf der Grundlage physikalisch begründeter Deformationsgleichungen (vgl.
5.2.2) erfolgt. Ein solches Vorgehen bietet zum einen den Vorteil, schwierig zu
untersuchende Parameterbereiche über Extrapolationen des aufgenommenen
Datenmaterials zu erschließen, zum anderen hilft es innerhalb der Versuchspla-
nung, z. B. bei der Wahl effektiver Versuchsbedingungen bzw. -parameter.
Auf der Seite der Simulationsuntersuchungen müssen die Modelle vor allem
bestimmte Forderungen bezüglich der Durchführung der entsprechenden Berech-
nungen erfüllen. So ist es günstig, wenn die mathematische Formulierung des
Modells so beschaffen ist, dass sich eindeutige Lösungen ergeben. Werden bei-
spielsweise Funktionen höherer Ordnungen im Modell verwendet, so führt dies
nicht selten zu Instabilitäten bei nummerischen Näherungsverfahren, welche wie-
derum kleinere Schrittweiten bei der Berechnung und damit einen höheren Zeitauf-
wand für die Simulationsuntersuchung nach sich ziehen. Unabhängig von dieser
allgemeinen Problematik ergeben sich weitere Einschränkungen, wenn - wie in der
industriellen Praxis üblich - kommerziell vertriebene Simulationsprogramme (z. B.
ANSYSTM) verwendet werden, da die Auswahl geeigneter Werkstoffmodelle sich
dann sehr oft auf die in der Software bereits implementierten Modelle beschränkt,
sofern nicht spezifische Implementierungen von nicht im Softwareumfang enthal-
tenen Modellen vorgenommen werden.
Diese unterschiedlichen Anforderungen und Intentionen von Seiten der Charak-
terisierung (= Modellerstellung bzw. -kalibrierung) und Simulation (= Modellver-
wendung) verlangen, dass das Modell zusätzlich zu seiner ursprünglichen Funktion
9.3 Modelle - Schnittstelle zwischen Experiment und Simulation 463
· –Q
ε = A ⋅ σ ⋅ exp § -------·
n
(9.1)
© RT¹
kcal
· § – 11500 ------------·
γ⋅k⋅T § d· – 1,8 § τ · 1,96 mol
----------------------- = 900 ⋅ --- ⋅ ---- ⋅ exp ---------------------------------¸
¨ (9.2)
D0 ⋅ G ⋅ b © b¹ © G¹ ¨ RT ¸
© ¹
kcal
§ – 19400 ------------·
τ 7,1 mol
+ 1,3 ⋅ 10 ⋅ § ----· ⋅ exp ¨ ---------------------------------¸
15
© G¹ ¨ RT ¸
© ¹
toren in der Gleichung (9.2) lassen sich, bezogen auf die korrekte Berechnung der
Kriechgeschwindigkeit, nicht unabhängig von den Parametern Schubmodul G und
Diffusionskoeffizient D 0 bestimmen. Es ist anzunehmen, dass die Einführung die-
ser Parameter, die sich in dieser Anzahl nicht aus dem experimentellen Datenmate-
rial ableiten lassen, aus der Intention erwuchs, einen bestimmten werkstoffphysika-
lischen Zusammenhang darzustellen. Grundsätzlich entsteht daraus zwar kein
Problem, solange alle Parameter in Zusammenhang mit der Modellgleichung gege-
ben sind. Allerdings wird dadurch beim Nutzer der Modellgleichung, welcher nicht
notwendigerweise mit allen Details der Kriechverformung bzw. der experimentel-
len Bestimmung der Parameter vertraut ist, der Eindruck erweckt, die genannten
Parameter seien voneinander unabhängig. Vor allem, wenn der Nutzer die Modell-
gleichung aus einer Drittquelle bezogen hat, welche diese - ohne den ursprüngli-
chen Kontext der Entstehung der Modellgleichung klarzumachen - nur als reine
Gleichung aus der Originalquelle zitiert, sodass der Bezug zu den ursprünglichen
Intentionen bei der Erstellung dieser Gleichung nicht sichtbar wird. Unabhängig
von dieser Problematik ist auch die Verwendung des Strukturparameters Korn-
größe d für die spätere Anwendung nicht unproblematisch. Zwar eröffnet sich
durch die Einführung eines solchen Parameters die Möglickeit, das Kriechverhal-
ten in Abhängigkeit von strukturellen Veränderungen des Materials im Betrieb dar-
zustellen. Allerdings ergeben sich in Bezug auf einen realen Lotkontakt zwei
wesentliche Probleme. Im Gegensatz zur Bulkprobe mit ihrer sehr homogenen
Verteilung von Korngrößen zeichnet sich das Gefüge von Lotkontakten häufig
durch ein aus vielen sehr kleinen und wenigen sehr großen Körnern bestehendes
Gefüge aus, sodass es schwer ist, eine mittlere Korngröße festzulegen. Auch die
Beschreibung der Veränderung des Parameters Körngröße d aufgrund von Korn-
wachstum und Rekristallisation ist aufgrund dieser bei stark inhomogenen Bean-
spruchungen ebenfalls sehr inhomogen im Volumen des Lotkontaktes ablaufenden
Prozesse schwierig.
Eine einfachere Möglichkeit als die in Gleichung (9.2) verwendete Form, unter-
schiedliches Kriechverhalten in verschiedenen Spannungsbereichen nachzubilden,
besteht über eine zur Modellgleichung (5.25) vergleichbare Form, wie sie in [27]
zu finden ist:
G τ 3,0 0,55 [ eV ]
·
γ = 37,5 ⋅ ---- ⋅ sinh § 1300 ⋅ ----· ⋅ exp § -----------------------· (9.3)
T © G¹ © k⋅T ¹
Durch die Formulierung über die sinh-Funktion halbiert sich die Zahl der Para-
meter gegenüber Gleichung (9.2). Die Einführung des Parameters Schubmodul G
ist hier genauso kritisch zu hinterfragen wie in Gleichung (9.2). Neben den beiden
am weitesten verbreiteten Formen existieren in der Literatur andere, wie z. B. die
in [42] verwendete Form mit temperaturabhängigem Spannungsexponenten:
900
0,512 ⋅ exp § ---------·
© T ¹
· σ
ε = -------------------------------------------- (9.4)
§ 2,42 ⋅ exp § 356 ---------· ·
© © T ¹¹
9.4.1 Erfordernisse
1. Das Zitat stammt aus einem Vorwort von R. Goldstein (Institut für Probleme der Mechanik an
der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau) für eine Sonderausgabe der Zeitschrift
„International Journal of Fracture“ zu Bruchvorgängen in der Mikroelektronik [655] (übersetzt
durch den Autor).
468 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
Da die konkrete Gestaltung von Versuchen immer als Folge bestimmter Pro-
blemstellungen vorgenommen wird, erscheint es zweckmäßig, zunächst über die
bisher vorliegenden Erfahrungen bei der entwicklungsbegleitenden Werkstoffda-
tenermittlung zu reflektieren, um auf dieser Basis Ableitungen für ihre zukünftige
Gestaltung treffen zu können.
Der Autor beschäftigt sich seit ca. 15 Jahren mit den Fragen des werkstoff- und
bruchmechanischen Verhaltens von Weichloten in kleinstvolumigen Kontakten der
Mikroverbindungstechnik in der Elektronik. Zu Beginn dieser Arbeiten stand
zunächst die Aufgabe, eine bauteilorientierte und betriebsfallnahe Untersuchung
des mechanischen Verhaltens von Flip-Chip-Lotkontakten zu entwickeln und unter
Einbeziehung theoretischer Kenntnisse über das Deformationsverhalten und eta-
blierter Verfahren zur Werkstoffuntersuchung zu einer Aussage über die Unter-
schiede zwischen dem werkstoffmechanischen Verhalten des eutektischen SnPb-
Lotes in makroskopischen Probekörpern und kleinstvolumigen Lotkontakten zu
gelangen. Ausgangspunkt für die Arbeiten waren die Unterschiede, die bei der
Untersuchung des Kriechverhaltens von eutektischem SnPb-Lot von verschiedenen
Autoren publiziert wurden. Beim Vergleich der damals häufig zitierten Arbeiten
von Hacke [23] und Darveaux [27] ergeben sich bei einer mittleren Spannung, z.B.
σ = 5 MPa bei T = 300 K, Unterschiede in der absoluten Kriechgeschwindigkeit
von 2 Größenordnungen. Hieraus resultieren sehr große Unsicherheiten bei Simu-
lationsrechnungen zur Analyse thermisch induzierter mechanischer Spannungen in
elektronischen Aufbauten. Deshalb war für die Erzielung aussagekräftiger, praxis-
relevanter Simulationsergebnisse eine dem Aufbau- und der Belastungssituation
von kleinstvolumigen Lotkontakten entsprechende Kenntnis der mechanischen
Eigenschaften der eingesetzten Weichlote erforderlich. Der Lösung dieser Aufgabe
erfolgte über einen Ansatz [12], welcher sich nicht auf die Verwendung von in der
klassischen Werkstoffprüfung etablierten Untersuchungseinrichtungen und Metho-
den, wie z. B. den Zugversuch, stützt. Wie sich bereits in vorausgegangenen Unter-
suchungen gezeigt hatte [210], wurden Standardprüfeinrichtungen aus verschiede-
nen Gründen den besonderen Erfordernisse miniaturisierter Proben nicht gerecht.
Deshalb bestand einer der Schwerpunkte in den Forschungsarbeiten zunächst in
der Entwicklung eines geeigneten Versuchsaufbaus zur Untersuchung der werk-
470 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
·
dn = [ ( ∂n ⁄ ∂ε ) ⋅ ε – ∂n ⁄ ∂t ]dt
Anhand des Beispiels der über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren gewonne-
nen Ergebnisse zum werkstoff- und schädigungsmechanischen Verhalten von Sn-
basierten Weichloten konnte die Notwendigkeit bauteilorientierter Untersuchungs-
methoden zur Gewinnung von Werkstoffparametern für Strukturen im Bereich
1. Das Zitat stammt aus einem Beitrag von Jürgen Mittelstraß in den von der Leibniz-Sozietät zu
Berlin im Trafo-Verlag herausgegebenen Sitzungsberichten [656].
2. Das Zitat stammt aus der Diskussion zwischen Hans-Jürgen Engell und Bernhard Ilschner zu
einem von Ilschner gehaltenen Vortrag an der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissen-
schaften [657]. Ilschner bezieht sich in seiner Aussage auf den dreigeteilten Verlauf einer Kriech-
kurve (vgl. 5.4.1).
472 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
Da der Entwicklungsprozess für neue Produkte mit klaren Zeitplanungen für die
Einführung dieser zu entwickelnden Produkte in den Markt verbunden ist, entsteht
ein daraus abgeleitetes Bestreben, auch die entwicklungsbegleitende Werkstoffda-
tenermittlung diesen Zeitplanungen zu unterwerfen. Indem der Werkstoffcharakte-
risierung der Charakter einer einfachen Messung unterstellt wird, deren zeitliche
Erfordernisse sich klar bemessen und in einem detaillierten Zeitplan aufstellen las-
sen, wird eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, wie es gelingt, wesent-
liche für den Anwendungsfall ausschlaggebende Merkmale des Werkstoffverhal-
tens experimentell zu ermitteln und diese in einem Modell geeignet darzustellen,
unterbunden und stattdessen eine allein auf Zeiteffizienz ausgerichtete Optimie-
rung bei der Gestaltung des experimentellen Vorgehens vorgenommen. Hierbei
besteht die direkte Folge der falschen Vorstellung, dass eine Werkstoffuntersu-
chung in allen Aspekten festlegbar wäre, zunächst in möglicherweise ungenauen
Beschreibungen des experimentell ermittelten Werkstoffverhaltens. Für die ange-
strebte Effektivierung des Entwicklungsprozesses durch Anwendung von Berech-
nungs- und Bewertungsmethoden, wie der FEM-Simulation, zur Erfassung und
Umgehung von mechanischen Problemen in elektronischen Aufbauten sind diese
Ungenauigkeiten in der Beschreibung des Werkstoffverhaltens wahrscheinlich von
geringerem Ausmaß. Die indirekte Wirkung auf die langfristige Weiterentwick-
lung von Versuchstechniken kann jedoch sehr schwerwiegend sein.
Die Aufdeckung bisher unbekannter Phänomene des Verformungs- und Schädi-
gungsverhaltens in kleinvolumigen Bauteilen mit mikroskopischen Abmessungen
ist wesentlich an die Leistungsfähigkeit geeigneter experimenteller Untersuchungs-
methoden gebunden. Ohne dass die Weiterentwicklung der bisher erarbeiteten
Methoden als wichtige Forschungsaufgabe innerhalb der entwicklungsbegleiten-
den Werkstoffdatenermittlung begriffen wird, kann sich sehr leicht eine Situation
einstellen, in der die vielversprechende Einführung von Berechnungs- und Bewer-
tungsmethoden aufgrund mangelnder experimenteller Untersuchungsmethoden in
ihrer Nutzbarkeit im Entwicklungsprozess beschränkt wird. Um Aussagen über die
strukturelle Integrität immer kleiner werdender Strukturen in elektronischen Auf-
bauten treffen zu können, ist eine genaue Kenntnis der bereits jetzt festgestellten
Größenabhängigkeit bestimmter mechanischer Verhaltensfunktionen eine wich-
tige Voraussetzung. Um diese Kenntnisse auch bezüglich des Werkstoffverhaltens
in den für die nächsten Jahre angestrebten Bauteilabmessungen im Mikrometerbe-
reich (vgl. ITRS-Roadmap) erhalten zu können, werden neue, zum jetzigen Zeit-
punkt nicht verfügbare experimentelle Methoden notwendig sein.
Der entscheidende Unterschied zwischen der klassischen Werkstoffdatenermitt-
lung und der Werkstoffdatenermittlung im Mikrobereich liegt nicht allein in den
unterschiedlichen Größen begründet, sondern in der Tatsache, dass die Größenver-
hältnisse im Mikrobereich einer ständigen Verkleinerung unterzogen sind. Dieser
Umstand führt zu einem grundsätzlich anderen Verhältnis zwischen Prüfmaschi-
nen- und Versuchsmethodikentwicklung auf der einen und der Durchführung von
Werkstoffcharakterisierungsversuchen auf der anderen Seite. Während die Ver-
suchsdurchführung in der klassischen Werkstoffdatenermittlung den größeren
474 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
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• Rosenthal, D.: Resistance and Deformation of Solid Media. New York - Toronto - Oxford -
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• Physical Metallurgy, Cahn, R. W.; Haasen, P. (Hrsg.), Amsterdam: Elsevier 1993
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• Ermüdungsverhalten metallischer Werkstoffe. Christ, H. J. (Hrsg.), Frankfurt: Werkstoff-
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• Haibach, E.: Betriebsfestigkeit: Verfahren und Daten zur Bauteilberechnung. Berlin: Springer
2002, 2. Aufl.
• Materials Science and Technology - A Comprehensive Treatment. Cahn R. W.; Haasen P.;
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• Riedel, H.: Fracture at High Temperatures. Berlin: Springer 1987
• Saxena, A.: Nonlinear Fracture Mechanics for Engineers. Boca Raton: CRC Press 1998
Kap. 7:
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• Erismann, T. H.: Prüfmaschinen und Prüfanlagen: Hilfsmittel der zerstörenden Materialprü-
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Kap. 8, 9:
• Mechanics of Microelectronics; Zhang, G. Q.; van Driel, W. D.; Fan, X. J. C (Hrsg.), Dor-
drecht: Springer 2006
Sachverzeichnis 511
Sachverzeichnis
A BGA 43
Abgleiten 194 Biegung 68
Abgleitung 163, 178 Bindung 78
Abkühlungsgeschwindigkeit 105 Bindungskraft 78
Ag-Sn-Zustandsdiagramm 99 Bindungstypen 78
Aktivierungsenergie 172, 188 Bondverfahren 32
Alloy42 50 Bruch auf atomarem Niveau 228
Andrade-Kriechen 183 Bruchdehnung 221
Anfangskriechrate 184 Bruchlastspielzahl 263
Annihilierung von Versetzungen 190 Bruchmechanik 236
Anschlussanordnung 51 elastisch-plastisch 237
Anschlussbeinchen 49 Energiebilanz-Betrachtung 238
Anschlussraster 59 linear-elastisch 237, 238
Anschlusszahl 51, 59 nichtlinear 244
Anschlusszahlentwicklung 58 Spannungsintensitätsfaktoren-Ansatz
Antrieb 292 240
Architektur elektronischer Aufbauten 27 viskoelastisch 237
Architekturentwicklung 55 zeitabhängig 237
Architekturkonzept 27, 67 Bruchmechanische Konzepte 236
Area Array Component 43 Bruchmechanismenkarten 226
Arrhenius-Ansatz 172 Bruchmodus 240
Atom 78 Brückenschaltung 299
Atomabstands-Potenzialkurve 144 Bulkdiffusion 172
Atombindung 78 Bulkmodul 152
Atomradius 86 Bump 35
Aufbau- und Verbindungstechnik Bumperzeugung 37
Aufgaben 23 Burgersvektor 170, 188
Begriff 22 C
Entwicklung 24 C*-Integral 246
Inhalt 23 CBGA 52
Triebkräfte 26 CCC 66, 280
Aufbauhierarchie 27 CCGA 52
Ausdehnungskoeffizient 66, 280 Ceramic-Chip-Carrier 66, 280
Ausfall 1, 21, 213, 215, 223, 263, 357 Chipkondensator 54
Au-Si-Zustandsdiagramm 96 Chipmontage 49
Ausscheidung 76, 93, 135, 166 Chip-Scale-Package 43, 53, 55
inkohärent 94 Chipwiderstand 54
kohärent 94 Coble-Kriechen 172, 193, 195
semikohärent 94 Coffin-Manson-Beziehung 262, 266, 267
Ausscheidungsreaktion 93 CPGA 52
B CSP 43
Bailey-Norton-Ansatz 464 CTE-matching 65
Ball-Grid-Array 43, 53 CTOD 244
Basquin-Gleichung 266 CT-Probeköper 309
Bauelementeformen 48 Cu-Ni-Zustandsdiagramm 100
Bauschinger-Effekt 211 D
BCB 36 Datenerfassung 305
Beanspruchungssituation 221 Dauerfestigkeit 262
Begrenzte Mischbarkeit 93, 96 Dauerfestigkeitslinie 264
Benetzungswinkel 108 Dauerfestigkeitswert 264
512 Sachverzeichnis