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Von Tratscbke
31. Januar 1975, 8:00 Uhr
Von Tratschke
"Sehr geehrter Herr! In Ryans 4th Ward polls ist ein Herr in einem fürchterlichen
Zustand. Er heißt Edgar A. Poe, scheint sich in größer Not zu befinden und
behauptet, er kenne Sie. Ich betone: Er braucht Ihre unverzügliche Hilfe. In
höchster Eile, Ihr sehr ergebener ..."
Der Freund begab sich sofort in jene Kneipe. Und dort saß wirklich des damaligen
Amerika größter Dichter: "Das Gesicht war verstört, aufgedunsen und
ungewaschen, die Haare ungekämmt, das ganze Aussehen abstoßend. Die hohe
Stirn, die weiten beseelten Augen, die für ihn so charakteristisch waren, als er
noch er selbst war – jetzt waren sie ohne Glanz, überschattet von einem zerfetzten
Hut, der fast keine Krempe mehr hatte. Er trug einen Rock aus dünnem,
glänzendem Stoff, an mehreren Stellen aufgerissen und schmutzig, und eine ganz
abgewetzte und bös zugerichtete Hose, soweit sich das überhaupt sagen läßt. Er
hatte weder eine Weste noch ein Halstuch. Das Hemd war zerknittert und
schmutzig..."
Poe wurde sofort in ein Krankenhaus gebracht. Zwei Tage lag er im Delirium. Am
dritten kam er noch einmal zu sich und sagte dem behandelnden Arzt, der ihm
Hoffnungen machen wollte, er werde bald wieder bei seinen Freunden sein: das
Beste, was sein bester Freund für ihn tun könne, sei, ihm eine Kugel durch den
Kopf zu jagen. Am nächsten Tag, dem 7. Oktober 1849, ist Edgar Allan Poe
[https://www.zeit.de/thema/edgar-allan-poe] im Alter von vierzig Jahren
gestorben.
Aber versucht hat man das schon immer und nicht erst im Amerika der zwanziger
Jahre mit der Prohibition. Die vermutlich älteste Liga gegen den Alkohol gründete,
Pharao Ramses II. (1292 bis 1225 v. Chr.), schreibt Kurt Kusenberg in seinem
Buch "Der ehrbare Trinker". Streng verpönt war das Trinken lange Zeit in Sparta.
Und im westlichen Abendland hatte Karl der Große [https://www.zeit.de/thema
/karl-der-grosse] sich zum Ziel gesetzt, die Trunksucht, "die er aufs äußerste
verabscheute" – so sein Hofbiograph Einhard – gänzlich auszurotten: "Wer im
Heerlager trunken befunden wird", heißt es in den Kapitularien, "soll so lange nur
Wasser zum Trinken bekommen, bis er bekennt, er habe übel getan."
Andererseits gibt es jedoch allzuviele Stimmen für den (freilich mit Maßen
genossenen) Alkohol. Georg Christoph Lichtenberg zum Beispiel meinte: "Wenn
man manchen großen Taten und Gedanken bis zu ihrer Quelle nachspüren könnte,
so würde man finden, daß sie öfters gar nicht in der Welt sein würden, wenn die
Bouteille verkorkt geblieben wäre, aus der sie geholt wurden. Man glaubt nicht,
wieviel aus jener Öffnung herauskommt." Und Goethe sagte zu Eckermann: "Es
liegen im Wein allerdings produktivmachende Kräfte sehr bedeutender Art",
wobei er jedoch einschränkte: "Aber es kommt dabei alles auf Zustände und Zeit
und Stunde an, und was dem Einen nützt, schadet dem Anderen."
Mit dem Einen meinte Goethe nicht nur, aber doch auch sich selbst. Denn er war
sein Leben lang ein kräftiger Zecher und soll täglich drei Flaschen Wein
konsumiert haben. Mit dem Anderen meinte er zum Beispiel auch Schiller, über
dessen Trinkgewohnheiten er Eckermann folgendermaßen aufklärte: "Schiller hat
nie viel getrunken, er war mäßig, aber im Augenblick körperlicher Schwäche
suchte er seine Kräfte durch etwas Likör oder ähnliche Spirituosen zu steigern.
Dies aber zehrte an seiner Gesundheit und war auch den Produktionen selbst
schädlich. Denn was gescheite Köpfe an seinen Sachen aussetzen, leite ich aus
dieser Quelle her."
Und sicherlich dachte Goethe bei jenen, denen der Alkohol nicht bekommt, an
seinen Sohn August, der schon früh zum Trinker wurde. Ebenso an seine Frau
Christiane, die Tochter eines Säufers, die selbst sehr viel trank. Möglicherweise
auch an Lichtenberg, über dessen, "recht wüstes Leben" ein Hausgenosse, der mit
Kant und Goethe im Briefwechsel stand, zu berichten wußte: "Des morgens stand
er spät auf, gleich darauf trank er Kaffee, Spanischbitter und Wein. Zu Mittag
wurde auch wieder Wein getrunken. Nachmittag wieder Wein und Liqueur, um
sich immer munter zum Schreiben zu halten..."
Daß Lichtenberg gern trank, war allgemein bekannt. Wieviel es war und daß er auf
Alkoholika bald nicht mehr verzichten konnte, das haben erst seine Tage- und
Sudelbücher offenbart. Von Zeit zu Zeit versuchte er, vom Alkohol loszukommen,
weil er sah, daß er ihm schädlich war, aber er hat immer wieder kapituliert. "Ohne
das ist nichts in der Welt", schrieb er einmal, "für mich wenigstens."
Falls es einen Himmel für Trinker (und Süchtige) gibt, dann befindet sich
Lichtenberg dort in bester Gesellschaft. Gottfried Benn hat sie einmal skizziert,
diese Gesellschaft, in einem Aufsatz "Genie und Gesundheit" aus dem Jahre 1930,
wobei er sich auf die berühmte Studie von Lange-Eichbaum "Genie, Irrsinn,
Ruhm" berief. "Leider soffen sie", sagt er da von folgenden Genies: "Opium: De
Quincey, Coleridge, Poe. Absinth: Musset, Wilde. Äther: Maupassant (außer Alkohol
und Opium), Jean Lorrain. Haschisch: Baudelaire, Gautier. Alkohol: Alexander (der
im Rausch seinen besten Freund und Mentor tötete und der an den Folgen
schwerster Exzesse starb), Sokrates, Seneca, Alcibiades, Cato, Septimus Severus
(starb im Rausch), Cäsar, Muhamed II., der Große (starb im Delirium tremens),
Steen, Rembrandt, Carracci, Barbatelli Pocetti, Li-Tai-Po (der große Dichter,
welcher trinkt, starb durch Alkohol), Burns, Gluck (Wein, Branntwein, starb an
Alkoholvergiftung), der Dichter Schubart, Schubert (trank seit dem 15. Jahr),
Nerval, Tasso, Händel, Dussek, G. Keller, Hoffmann, Poe, Musset, Verlaine, Lamb,
Murger, Grabbe, Lenz, Jean Paul, Reuter: (Dipsomane, Quartalssäufer), Scheffel,
Liliencron, Reger, Hartleben, Löns, Beethoven (starb bekanntlich an alkoholischer
Lebercirrhose)."
und ja auch nur beispielhaft gemeint. So fehlen bei den Süchtigen Voltaire, der
sich an eine tägliche Opiumdosis von 30 Gramm gewöhnt haben soll, und Georg
Trakl [https://www.zeit.de/thema/georg-trakl], der sich schon als Schüler mit
Chloroform und Äther berauschte, um seine Bewußtseinslage zu verändern, um zu
vergessen, was ihn quälte. Später nahm er Kokain, Opium und Morphium – am
Ende mit dem Ziel bewußter Selbstzerstörung.
Nachdem Trakl Apotheker geworden war, stieg nicht nur sein Konsum an Drogen
enorm an, sondern auch der an Alkohol. Schon nachmittags saß er in
irgendwelchen Weinstuben, meist mit Freunden, die ebenfalls gern tranken und
konsumierte mindestens einen Liter Wein, Manchmal brachte er es auf zehn.
Viertel. "Ich sehne den Tag herbei, an dem diese Seele in diesem armseligen, von
Schwermut verpesteten Körper nicht mehr wird wohnen wollen und können",
schrieb er anderthalb Jahre vor seinem Tod. Er starb, erst 26 Jahre alt, an
Herzlähmung infolge einer Überdosis von Kokain [https://www.zeit.de/thema
/kokain].
Manchmal aber kamen schreckliche Gestalten. Nachts, wenn er beim Schein einer
Kerze noch arbeitete, krochen sie hinter Möbeln und Vorhängen auf ihn zu. Dann
befiel ihn das Entsetzen und er schrie, bis seine Frau kam und ihn beruhigte.
Während sich Hoffmann durch den Alkohol in eine Traumwelt versetzte, wurde
Gottfried Keller nach Alkoholgenuß streitsüchtig. Aber Abend für Abend ging er
ins Wirtshaus und trank. Von Zeit zu Zeit trank er unmäßig, dann, wenn er sich
sehr geärgert hatte oder wenn ihn wieder einmal eine Frau abgewiesen hatte. Bei
Frauen hatte der kleine Keller kein Glück. Nach dem ersten Nein, das er sich
einhandelte, trieb er sich einen ganzen Sommer lang in Gasthäusern herum, trank
und war froh, wenn er jemanden verprügeln konnte, um sich noch Jahre später
darüber zu freuen: "Ich hatte doch einen guten Instinkt damals, und ich segne den
Wein, der mich veranlaßte, dem widerlichen Ohrfeigengesicht sein Recht
angedeihen zu lassen. Feig war er auch, denn er ist stärker als ich und ließ sich
doch prügeln."
Es ist unmöglich, hier auch nur annähernd die berühmten Trinker aufzuzählen.
Joseph Roth sollte noch genannt werden, über dessen Tod im Delirium tremens
kürzlich das ZEITmagazin berichtete. Dann Hemingway, der sehr viel trank, und
Henry Miller. Auch William Faulkner hat sein Leben lang getrunken. "Bei der
Nachricht, der Nobelpreis sei ihm zugedacht, war er. gerade in sein Quartalssaufen
vertieft", schreibt Kusenberg; "als er am 8. Juli 1962 starb, mit 65 Jahren, wurde
der Totenschein auf den Ort Oxford, Mississippi..., ausgestellt. Die Wahrheit ist,
daß Faulkner in der Trinkerheilanstalt Byhaliz bei Memphis... gestorben ist und
der Leichnam nach Oxford gebracht wurde. Seine Werke haben unter seiner
Trunksucht nicht gelitten – sie verdanken ihr eher Einiges. Also: was macht es aus,
daß er trank?"
Und Gottfried Benn fragte: "Wo immer also man hinsieht: das Produktive einer
Masse durchsetzt"; von Psychopathien, Stigmatisierungen, Rausch, Halbschlaf,
Paroxysmen; ein Hin und Her von Triebvarianten, Anomalien, Fetischismen,
Impotenzen – gibt es überhaupt ein gesundes Genie?"
Tolstoj, der in jungen Jahren unmäßig getrunken hatte, später aber Abstinenzler
wurde, war überzeugt: "Man trinkt... nicht aus Langeweile, nicht zur Erheiterung,
nicht, weil es Vergnügen macht, sondern um in seinem Innern die Stimme des
Gewissens zu unterdrücken." Er leitete alles Übel dieser Welt, den Eiffelturm und
die Wehrpflicht, vom Alkohol her. Und ein Leben lang unsägliche Angst vor dem
Alkohol und seinen Folgen hatte der Märchenerzähler Hans Christian Andersen,
weil seine Mutter im Suff verkommen war.