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,,Man muß immer trunken sein"


Zum Beispiel Goethe: Täglich drei Flaschen Wein

Von Tratscbke
31. Januar 1975, 8:00 Uhr

AUS DER ZEIT NR. 06/1975

Von Tratschke

Auf dem Heimweg nach New York [https://www.zeit.de/thema/new-york] war er


in Baltimore hängengeblieben oder genauer: Sogenannte Wahlhelfer hatten ihn
zusammen mit Landstreichern aufgegriffen und in eine Kneipe gesetzt, wo auf
Kosten des Kandidaten fleißig Schnaps ausgeschenkt wurde, als Stimmenfang.
Irgendwer hatte dann hastig einen Zettel beschrieben und ihn einem seiner
Freunde zustellen lassen:

"Sehr geehrter Herr! In Ryans 4th Ward polls ist ein Herr in einem fürchterlichen
Zustand. Er heißt Edgar A. Poe, scheint sich in größer Not zu befinden und
behauptet, er kenne Sie. Ich betone: Er braucht Ihre unverzügliche Hilfe. In
höchster Eile, Ihr sehr ergebener ..."

Der Freund begab sich sofort in jene Kneipe. Und dort saß wirklich des damaligen
Amerika größter Dichter: "Das Gesicht war verstört, aufgedunsen und
ungewaschen, die Haare ungekämmt, das ganze Aussehen abstoßend. Die hohe
Stirn, die weiten beseelten Augen, die für ihn so charakteristisch waren, als er
noch er selbst war – jetzt waren sie ohne Glanz, überschattet von einem zerfetzten
Hut, der fast keine Krempe mehr hatte. Er trug einen Rock aus dünnem,
glänzendem Stoff, an mehreren Stellen aufgerissen und schmutzig, und eine ganz
abgewetzte und bös zugerichtete Hose, soweit sich das überhaupt sagen läßt. Er
hatte weder eine Weste noch ein Halstuch. Das Hemd war zerknittert und
schmutzig..."

Poe wurde sofort in ein Krankenhaus gebracht. Zwei Tage lag er im Delirium. Am
dritten kam er noch einmal zu sich und sagte dem behandelnden Arzt, der ihm
Hoffnungen machen wollte, er werde bald wieder bei seinen Freunden sein: das

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Beste, was sein bester Freund für ihn tun könne, sei, ihm eine Kugel durch den
Kopf zu jagen. Am nächsten Tag, dem 7. Oktober 1849, ist Edgar Allan Poe
[https://www.zeit.de/thema/edgar-allan-poe] im Alter von vierzig Jahren
gestorben.

Immer mehr Schüler


Wie Poe haben sich zahllose Menschen in aller Welt und zu allen Zeiten zu Tode
getrunken. Heute jedoch, heißt es, ist die Zahl der Trunksüchtigen in
alarmierender Weise im Ansteigen. In der Bundesrepublik liegt der jährliche Pro-
Kopf-Verbrauch an Alkohol bei 12,22 Litern, was man als "Jahrhundertrekord"
bezeichnet hat. Vor allem immer mehr junge Menschen, Schüler und
Schülerinnen, werden zu Trinkern. Und es sei höchste Zeit, die Alkoholwelle
einzudämmen.

Aber versucht hat man das schon immer und nicht erst im Amerika der zwanziger
Jahre mit der Prohibition. Die vermutlich älteste Liga gegen den Alkohol gründete,
Pharao Ramses II. (1292 bis 1225 v. Chr.), schreibt Kurt Kusenberg in seinem
Buch "Der ehrbare Trinker". Streng verpönt war das Trinken lange Zeit in Sparta.
Und im westlichen Abendland hatte Karl der Große [https://www.zeit.de/thema
/karl-der-grosse] sich zum Ziel gesetzt, die Trunksucht, "die er aufs äußerste
verabscheute" – so sein Hofbiograph Einhard – gänzlich auszurotten: "Wer im
Heerlager trunken befunden wird", heißt es in den Kapitularien, "soll so lange nur
Wasser zum Trinken bekommen, bis er bekennt, er habe übel getan."

Andererseits gibt es jedoch allzuviele Stimmen für den (freilich mit Maßen
genossenen) Alkohol. Georg Christoph Lichtenberg zum Beispiel meinte: "Wenn
man manchen großen Taten und Gedanken bis zu ihrer Quelle nachspüren könnte,
so würde man finden, daß sie öfters gar nicht in der Welt sein würden, wenn die
Bouteille verkorkt geblieben wäre, aus der sie geholt wurden. Man glaubt nicht,
wieviel aus jener Öffnung herauskommt." Und Goethe sagte zu Eckermann: "Es
liegen im Wein allerdings produktivmachende Kräfte sehr bedeutender Art",
wobei er jedoch einschränkte: "Aber es kommt dabei alles auf Zustände und Zeit
und Stunde an, und was dem Einen nützt, schadet dem Anderen."

Mit dem Einen meinte Goethe nicht nur, aber doch auch sich selbst. Denn er war
sein Leben lang ein kräftiger Zecher und soll täglich drei Flaschen Wein
konsumiert haben. Mit dem Anderen meinte er zum Beispiel auch Schiller, über
dessen Trinkgewohnheiten er Eckermann folgendermaßen aufklärte: "Schiller hat
nie viel getrunken, er war mäßig, aber im Augenblick körperlicher Schwäche

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suchte er seine Kräfte durch etwas Likör oder ähnliche Spirituosen zu steigern.
Dies aber zehrte an seiner Gesundheit und war auch den Produktionen selbst
schädlich. Denn was gescheite Köpfe an seinen Sachen aussetzen, leite ich aus
dieser Quelle her."

Und sicherlich dachte Goethe bei jenen, denen der Alkohol nicht bekommt, an
seinen Sohn August, der schon früh zum Trinker wurde. Ebenso an seine Frau
Christiane, die Tochter eines Säufers, die selbst sehr viel trank. Möglicherweise
auch an Lichtenberg, über dessen, "recht wüstes Leben" ein Hausgenosse, der mit
Kant und Goethe im Briefwechsel stand, zu berichten wußte: "Des morgens stand
er spät auf, gleich darauf trank er Kaffee, Spanischbitter und Wein. Zu Mittag
wurde auch wieder Wein getrunken. Nachmittag wieder Wein und Liqueur, um
sich immer munter zum Schreiben zu halten..."

Daß Lichtenberg gern trank, war allgemein bekannt. Wieviel es war und daß er auf
Alkoholika bald nicht mehr verzichten konnte, das haben erst seine Tage- und
Sudelbücher offenbart. Von Zeit zu Zeit versuchte er, vom Alkohol loszukommen,
weil er sah, daß er ihm schädlich war, aber er hat immer wieder kapituliert. "Ohne
das ist nichts in der Welt", schrieb er einmal, "für mich wenigstens."

Falls es einen Himmel für Trinker (und Süchtige) gibt, dann befindet sich
Lichtenberg dort in bester Gesellschaft. Gottfried Benn hat sie einmal skizziert,
diese Gesellschaft, in einem Aufsatz "Genie und Gesundheit" aus dem Jahre 1930,
wobei er sich auf die berühmte Studie von Lange-Eichbaum "Genie, Irrsinn,
Ruhm" berief. "Leider soffen sie", sagt er da von folgenden Genies: "Opium: De
Quincey, Coleridge, Poe. Absinth: Musset, Wilde. Äther: Maupassant (außer Alkohol
und Opium), Jean Lorrain. Haschisch: Baudelaire, Gautier. Alkohol: Alexander (der
im Rausch seinen besten Freund und Mentor tötete und der an den Folgen
schwerster Exzesse starb), Sokrates, Seneca, Alcibiades, Cato, Septimus Severus
(starb im Rausch), Cäsar, Muhamed II., der Große (starb im Delirium tremens),
Steen, Rembrandt, Carracci, Barbatelli Pocetti, Li-Tai-Po (der große Dichter,
welcher trinkt, starb durch Alkohol), Burns, Gluck (Wein, Branntwein, starb an
Alkoholvergiftung), der Dichter Schubart, Schubert (trank seit dem 15. Jahr),
Nerval, Tasso, Händel, Dussek, G. Keller, Hoffmann, Poe, Musset, Verlaine, Lamb,
Murger, Grabbe, Lenz, Jean Paul, Reuter: (Dipsomane, Quartalssäufer), Scheffel,
Liliencron, Reger, Hartleben, Löns, Beethoven (starb bekanntlich an alkoholischer
Lebercirrhose)."

Im Hinblick auf Alexander den Großen muß berichtigt werden, daß er


wahrscheinlich nicht an den Folgen seines starken Trinkens, sondern an der
Malaria gestorben ist. Im übrigen ist Benns Aufstellung keineswegs-vollständig

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und ja auch nur beispielhaft gemeint. So fehlen bei den Süchtigen Voltaire, der
sich an eine tägliche Opiumdosis von 30 Gramm gewöhnt haben soll, und Georg
Trakl [https://www.zeit.de/thema/georg-trakl], der sich schon als Schüler mit
Chloroform und Äther berauschte, um seine Bewußtseinslage zu verändern, um zu
vergessen, was ihn quälte. Später nahm er Kokain, Opium und Morphium – am
Ende mit dem Ziel bewußter Selbstzerstörung.

Nachdem Trakl Apotheker geworden war, stieg nicht nur sein Konsum an Drogen
enorm an, sondern auch der an Alkohol. Schon nachmittags saß er in
irgendwelchen Weinstuben, meist mit Freunden, die ebenfalls gern tranken und
konsumierte mindestens einen Liter Wein, Manchmal brachte er es auf zehn.
Viertel. "Ich sehne den Tag herbei, an dem diese Seele in diesem armseligen, von
Schwermut verpesteten Körper nicht mehr wird wohnen wollen und können",
schrieb er anderthalb Jahre vor seinem Tod. Er starb, erst 26 Jahre alt, an
Herzlähmung infolge einer Überdosis von Kokain [https://www.zeit.de/thema
/kokain].

Bis zum Delirieren ...


"Um die gräßliche Last der Zeit nicht zu spüren, die euch die Schultern zerbricht,
müßt ihr euch unaufhörlich berauschen", schrieb Charles Baudelaire
[https://www.zeit.de/thema/charles-baudelaire], der Dichter der "Blumen des
Bösen", der sich an Wein und Haschisch berauschte; "man muß immer trunken
sein". Das klingt nach jenem dionysischen Lebensgefühl, in das Freunde des
genialen E. T. A. Hoffmann auch dessen Trunksucht umzudeuten versuchten. Der
Dichter der "Elixiere des Teufels" habe immer nur Champagner und erlesene
Weine getrunken, sagten sie Aber in Wirklichkeit trank er, was er krieger. konnte
(häufig auf Kredit), billigsten Wein und auch nicht selten irgendeinen Fusel. Nur
Biet trank er nie, Bier verachtete er als geist- und seelenloses Gebräu, das
beschwert und einschläfert.

Auch Hoffmann trank, um dem Alltag zu entfliehen. Der Dreißigjährige schrieb in


sein Tagebuch: "Das Alltagsleben ekelt mich an!" Wenn er trank, vergaß er. es.
Dann stiegen Bilder in ihm auf, die ihn begeisterten; er trank – so schrieb er einmal
–, bis zum "Zustand des Delirierens", und dann empfand er "eine Übereinkunft der
Farben, Töne und Düfte": "Nun zogen die Töne wie Lichtstrahlen aus meinem
Haupte zu den Blumen, die begierig sie einsogen. Größer und größer wurden der
Sonnenblume Blätter – Gluten strömten aus ihnen hervor – sie umflossen mich –,
das Auge war verschwunden und ich im Kelche."

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Manchmal aber kamen schreckliche Gestalten. Nachts, wenn er beim Schein einer
Kerze noch arbeitete, krochen sie hinter Möbeln und Vorhängen auf ihn zu. Dann
befiel ihn das Entsetzen und er schrie, bis seine Frau kam und ihn beruhigte.

Als E. T. A. Hoffmann starb, mit 46 Jahren, hinterließ er so viel Schulden, daß


seine Frau sich gezwungen sah, seinen Nachlaß abzulehnen. Hauptgläubiger war
der Inhaber jener Berliner Weinstube, in der Hoffmann so viel getrunken hatte. In
einem Kreditverfahren hat er dann jedoch auf seine Forderung von 1116
Reichstalern und 21 Groschen verzichtet, mit der Begründung, der Dichter habe
durch die vielen Gäste, die er ihm zugezogen, den Schaden mehr als gutgemacht.

Während sich Hoffmann durch den Alkohol in eine Traumwelt versetzte, wurde
Gottfried Keller nach Alkoholgenuß streitsüchtig. Aber Abend für Abend ging er
ins Wirtshaus und trank. Von Zeit zu Zeit trank er unmäßig, dann, wenn er sich
sehr geärgert hatte oder wenn ihn wieder einmal eine Frau abgewiesen hatte. Bei
Frauen hatte der kleine Keller kein Glück. Nach dem ersten Nein, das er sich
einhandelte, trieb er sich einen ganzen Sommer lang in Gasthäusern herum, trank
und war froh, wenn er jemanden verprügeln konnte, um sich noch Jahre später
darüber zu freuen: "Ich hatte doch einen guten Instinkt damals, und ich segne den
Wein, der mich veranlaßte, dem widerlichen Ohrfeigengesicht sein Recht
angedeihen zu lassen. Feig war er auch, denn er ist stärker als ich und ließ sich
doch prügeln."

In Prügeleien hat er sich allzugern eingelassen, nicht nur nach abgelehnten


Heiratsanträgen. Ein Zeitgenosse berichtete: "Am schwierigsten gestaltete sich die
Sachlage, wenn er sich unverhofft von einer größeren Gesellschaft umgeben sah.
Es konnte leicht einer darunter sein, der ihm aus irgendwelchen Gründen
unbequem war ... Dann ließ er sich zur Gewalttätigkeit ... hinreißen ... Der kleine
Mann fuhr mit verblüffender Behendigkeit auf, stieß Gläser um, wies einen
Harmlosen vom Tische weg oder wurde gern handgemein."

Über solche Saufereien und Wirtshausprügeleien des Zürcher Stadtschreibers


berichteten manchmal auch die Zeitungen. Und das hatte für ihn verhängnisvolle
Folgen. Denn nachdem er endlich eine Frau gefunden hatte, die zu einer Heirat mit
ihm bereit war, nahm sie sich wenige Monate nach, der Verlobung das Leben – aus
Scham, nachdem sie zufällig einen solchen Zeitungsartikel über ihn gelesen hatte.

Gibt es ein gesundes Genie?


Keller trank, weil es ihm schmeckte. Edgar Allan Poe, Jack London und der

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russische Komponist Mussorgski gehörten zu jenen Trinkern, die alkoholische


Getränke gar nicht mochten. "Kandiszucker schmeckt mir viel besser", sagte Jack
London einmal, aber: "sobald ich nichts zu tun hatte, verfiel ich den sogenannten
Vergnügungen meiner Kameraden." Auch Mussorgski wurde von seinen
Kameraden zum Trinken verleitet, und zwar als dreizehnjähriger Kadett. Der junge
Offizier war bereits trunksüchtig.

Es ist unmöglich, hier auch nur annähernd die berühmten Trinker aufzuzählen.
Joseph Roth sollte noch genannt werden, über dessen Tod im Delirium tremens
kürzlich das ZEITmagazin berichtete. Dann Hemingway, der sehr viel trank, und
Henry Miller. Auch William Faulkner hat sein Leben lang getrunken. "Bei der
Nachricht, der Nobelpreis sei ihm zugedacht, war er. gerade in sein Quartalssaufen
vertieft", schreibt Kusenberg; "als er am 8. Juli 1962 starb, mit 65 Jahren, wurde
der Totenschein auf den Ort Oxford, Mississippi..., ausgestellt. Die Wahrheit ist,
daß Faulkner in der Trinkerheilanstalt Byhaliz bei Memphis... gestorben ist und
der Leichnam nach Oxford gebracht wurde. Seine Werke haben unter seiner
Trunksucht nicht gelitten – sie verdanken ihr eher Einiges. Also: was macht es aus,
daß er trank?"

Und Gottfried Benn fragte: "Wo immer also man hinsieht: das Produktive einer
Masse durchsetzt"; von Psychopathien, Stigmatisierungen, Rausch, Halbschlaf,
Paroxysmen; ein Hin und Her von Triebvarianten, Anomalien, Fetischismen,
Impotenzen – gibt es überhaupt ein gesundes Genie?"

Tolstoj, der in jungen Jahren unmäßig getrunken hatte, später aber Abstinenzler
wurde, war überzeugt: "Man trinkt... nicht aus Langeweile, nicht zur Erheiterung,
nicht, weil es Vergnügen macht, sondern um in seinem Innern die Stimme des
Gewissens zu unterdrücken." Er leitete alles Übel dieser Welt, den Eiffelturm und
die Wehrpflicht, vom Alkohol her. Und ein Leben lang unsägliche Angst vor dem
Alkohol und seinen Folgen hatte der Märchenerzähler Hans Christian Andersen,
weil seine Mutter im Suff verkommen war.

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