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Heidegger,
die Juden, die Shoah
Forum
Heidegger
https://doi.org/10.5771/9783465142539
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Di Cesare · Heidegger, die Juden, die Shoah
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HeideggerForum
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Donatella Di Cesare
Heidegger,
die Juden, die Shoah
VittorioKlostermann
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Inhalt
VORWORT 7
SIGLEN-VERZEICHNIS 11
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6 Inhalt
13. Die Entrassung der Völker 165 – 14. Rasse oder Rang? 170
– 15. Metaphysik des Blutes 175 – 16. Mein „Angriff auf
Husserl“ 182 – 17. Heidegger, Jünger und die Topologie des
Juden 194 – 18. Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 204 – 19.
Pólemos und totaler Krieg 225 – 20. Weltjudentum. Über die
Verschwörung 233 – 21. Der Judeo-Bolschewismus 241 – 22.
Weltlos. Der Jude und der Stein 252 – 23. Metaphysischer Anti-
semitismus 256 – 24. Der Jude und die „Reinigung des Seins“
262 – 25. „Wie steht es um das Nichts?“ 266
BIBLIOGRAPHIE 375
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VORWORT
Ich hoffe, dass die deutschen Leser, an die ich mich mit diesem
Buch wende, erst nach der Lektüre all seiner Kapitel zu einem
Urteil gelangen werden. In diesen Zeiten wird die Komplexität des
Denkens kaum geduldet. Man bevorzugt die Kategorien des Für
und Wider, der klaren Front zwischen Gut und Böse. Wer aber
philosophieren möchte, muss die Komplexität ertragen. Er wohnt
im Helldunkel des Denkens. Das gilt umso mehr für die überaus
heikle Frage, die in diesem Buch behandelt wird.
Die Schwarzen Hefte sind kein Grabstein für Heideggers Philo-
sophie. Einige Interpreten und Interpretinnen haben das in einer
Art von Orakel, das sich selbst dementiert, gewünscht und prog-
nostiziert. Dagegen ist ein ungewöhnliches Phänomen aufgetre-
ten, das weit über das sonst vom Nachlass eines Philosophen
geweckte Interesse hinausgeht. Es begann eine intensive Debatte,
die, wenn sie auch zuweilen in heftigeren Amplituden dem „guten
Ton“ der Akademie nicht zu entsprechen vermochte, ein immer
breiteres Publikum einbezogen hat. Der Protagonist der Debatte
war und ist Heidegger. Ihre Lebhaftigkeit zeigt die Relevanz seines
Denkens im aktuellen Horizont der Philosophie an.
Der „Skandal“ der Schwarzen Hefte ist, genauer betrachtet, kein
Skandal. Wenn sie beunruhigen, wenn sie buchstäblich einen Stein
des Anstoßes darstellen, dann weil sie das Schema implodieren
lassen, durch das Heidegger bisher interpretiert worden ist. In der
diesem Denken gewidmeten Auslegungstradition wurde etwa sein
politisches Denken meist verkleinert und auf eine nur kurze Zeit-
spanne begrenzt. Die Schwarzen Hefte lassen hingegen einen Philo-
sophen erscheinen, der die geschichtlichen Ereignisse aufmerksam
registriert und sich seiner politischen Entscheidungen sehr be-
wusst ist. Darum hat der „Skandal“ nicht nur die Welt der „Heid-
eggerianer“, sondern darüber hinaus die Welt der kontinentalen
Philosophie getroffen.
Die zwei extremen Positionen, die sich dabei profilierten, sind
der Abschied von Heidegger und die „Rückkehr nach Meßkirch“:
einerseits wird moralische Empörung signalisiert, wobei der An-
spruch erhoben wird, Heideggers Werk beliebig benutzen zu
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8 Vorwort
können; andererseits will man, dass alles so bleibt wie früher,
wobei das Gebot ausgesprochen wird, von den problematischen
Inhalten der Schwarzen Hefte am besten abzusehen. Beide Positio-
nen haben rhetorische Züge, die zutiefst antiphilosophisch sind.
Eine der ersten Aufgaben der Philosophie ist die kritische Aus-
einandersetzung mit sich selbst. Das lehrt eine Tradition, die
Heidegger mitbegründet hat: die philosophische Hermeneutik. Es
ist unmöglich, zu wissen, welche Wirkung die Veröffentlichung
der Schwarzen Hefte zuletzt haben wird. Wie aber Hans-Georg
Gadamer bemerkte, lebt ein Autor von und in seiner Wirkungsge-
schichte. Es steht fest, dass die Schwarzen Hefte inzwischen ein
bedeutender Bestandteil von Heideggers Denken und seiner Wir-
kungsgeschichte sind.
Dieses Buch widmet sich den zwischen 1931 und 1948 ent-
standenen Aufzeichnungen der Schwarzen Hefte, in denen sich
Heidegger zu den Juden und zum Judentum äußert. Heideggers
Antisemitismus ist zweifellos die größte Neuheit, die die Schwarzen
Hefte enthalten. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass es das
einzige Thema ist. Im Gegenteil, es gibt in ihnen viele andere. Die
Entscheidung, die in Heideggers Aufzeichnungen auftauchende
„jüdische Frage“ zu behandeln, impliziert daher nicht die oft unter-
stellte Behauptung, es ginge dabei um das einzige und ausschließ-
liche Thema der Hefte.
Heideggers Antisemitismus darf nicht geleugnet oder bagatelli-
siert werden. Die sterile und in gewisser Hinsicht makabre Auf-
zählung der Aufzeichnungen, in denen von „Juden“, vom „Juden-
tum“, vom „Jüdischen“, von der „Judenschaft“ und vom „Welt-
judentum“ die Rede ist, kommt zu dem Resultat, dass es sich im
Vergleich zum Umfang der bisher veröffentlichten Schwarzen Hefte
um sehr wenige Äußerungen handelt. Doch abgesehen davon,
dass Heidegger dieses Thema nicht nur dort erörtert, wo das Wort
„Jude“ ausgesprochen wird, ändert die Quantitätsfrage nichts am
Belang des Antisemitismus. Daher sind auch die beiden bisher
verfolgten Verteidigungsstrategien dazu bestimmt, sich als hohl
und haltlos zu erweisen. Die eine verweist auf Heideggers persön-
liche Freundschaften mit Juden, die andere will das Problem mit-
hilfe der aus der Luft gegriffenen Behauptung liquidieren, dass der
Antisemitismus den Kern von Heideggers Denken nicht berühre.
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Vorwort 9
Ich qualifiziere Heideggers Antisemitismus mit dem Adjektiv
„metaphysisch“. Von der Kontinuität eines solchen metaphysischen
Antisemitismus war ich schon vor der Veröffentlichung des Bandes
97 der Gesamtausgabe, des Bandes also, der die in den letzten
Kriegsjahren wie in der Nachkriegszeit entstandenen Schwarzen
Hefte enthält, überzeugt. Er bestätigt in der Tat eine solche Konti-
nuität. Sie dokumentiert, dass der Antisemitismus bei Heidegger
kein bloßes Gefühl, kein aufbrausender Hass ist, der sich als eine
mehr oder weniger flüchtige Zeiterscheinung abtun ließe. Der
Antisemitismus hat eine theologische Herkunft und eine politische
Absicht. Er beansprucht in Heideggers Denken einen philosophi-
schen Rang.
Das Adjektiv „metaphysisch“ mildert den Antisemitismus nicht
ab. Es deutet vielmehr auf seine Tiefe hin. Es handelt sich um
einen Antisemitismus, der sowohl abstrakter als auch gefährlicher
als ein bloßes Ressentiment ist. Doch die Bezeichnung „metaphy-
sisch“ verweist auch auf die Tradition der abendländischen Meta-
physik. In seinem metaphysischen Antisemitismus ist nämlich
Heidegger nicht isoliert: Er bewegt sich in einer Reihe vieler Phi-
losophen von Kant über Hegel bis zu Nietzsche. Ich habe die
Umrisse einer Geschichte dieses Antisemitismus in der deutschen
Philosophie rekonstruiert. Sie kann helfen, einige Stereotype und
Begriffe zu verstehen, die Heidegger aus dieser Geschichte über-
nimmt.
Der Name der „Metaphysik“ ist die kritische Bezeichnung, die
Heidegger vor allem seit den dreißiger Jahren für die abendländi-
sche Tradition der Philosophie insgesamt verwendet. Ich spreche
vom „metaphysischen Antisemitismus“, weil ich glaube, dass
Heidegger in seiner Absicht, den Juden und das Judentum zu
definieren, in eine Metaphysik, die er zu „verwinden“ meint, zu-
rückfällt. In den Jahren der Abfassung und Geltung der Nürnber-
ger Gesetze ist die Definition des Juden eine notwendige Aufgabe
des Nationalsozialismus. Heidegger begegnet dem Juden in der
Seynsgeschichte; er ahnt, dass er nicht der Feind, sondern der
Andere ist, der in seinem Anderssein den Übergang von der Me-
taphysik zur Seynsgeschichte bilden könnte. Ich möchte zeigen,
dass es zwischen Heideggers Denken und dem Judentum nicht
wenige Konvergenzpunkte gibt. Sie betreffen z.B. den Begriff des
Nichts oder auch der Zeit. Aber Heidegger weicht zurück. Wich-
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10 Vorwort
tiger als der Andere bleibt das Sein. Darum lässt er den Juden
fallen.
Der Jude ist im Herzen von Heideggers Denken angesiedelt. Er
taucht im Mittelpunkt der Frage der Philosophie überhaupt auf.
Die wurzellosen Agenten der Moderne werden der „Machenschaft
der Macht“, der „Verwüstung der Erde“ und der „Entrassung der
Völker“ bezichtigt. Daher werden sie verurteilt, „weltlos“ zu sein.
Heidegger lastet ihnen die die verheerende Schuld der Seinsver-
gessenheit an. Als Figur des Endes verhindert der Jude so den
„anderen Anfang“.
Heidegger teilt eine damals verbreitete Auffassung der Juden,
die zum bellum judaicum führt. Das heißt nicht, dass er ein Vorden-
ker der Vernichtung ist. Die Schwarzen Hefte räumen mit einem
bedeutsamen Topos der Philosophie des 20. Jahrhunderts auf, mit
dem Topos von Heideggers Schweigen über die Shoah. Dieses
Aufräumen erinnert an die bisher vernachlässigte Frage der Ver-
antwortung der Philosophen gegenüber der Shoah. In diesem
Sinne spreche ich von einem „ontologischen Massaker“. Heid-
eggers Formulierung von der „Selbstvernichtung des ‚Jüdischen‘“
gibt zu denken. Auch die Umdrehung, durch die Heidegger den
Juden die Opferrolle aus der Hand schlägt, um sie den Deutschen
zu überreichen, gibt Anlass zur Diskussion. Die Schwarzen Hefte
fordern auf, darüber philosophisch nachzudenken, was nach 1945
geschah.
Dieses Buch wäre nicht ohne die Unterstützung von Peter
Trawny entstanden, der mit Stil und Wissen den deutschen Text
lektoriert hat. Über Unterschiede hinaus, die einen intellektuellen
Dialog erst fruchtbar machen, teilen wir die Überzeugung, dass
eine kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Werk mehr
denn je notwendig ist.
Meine Dankbarkeit gilt Vittorio Klostermann, der dieses Buch
in die Reihe „Heidegger Forum“ aufgenommen hat. Ich möchte
mich auch bei Anastasia Urban für ihre Hilfsbereitschaft in den
Vorarbeiten zur Publikation dieses Buches bedanken.
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SIGLEN-VERZEICHNIS
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12 Siglen-Verzeichnis
Martin Heidegger: Seminare. Hrsg. von Curd Ochwadt. Frankfurt
am Main 2/2005 = GA 15
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Siglen-Verzeichnis 13
Martin Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Spra-
che. (Sommersemester 1934). Hrsg. von Günter Seubold. Frank-
furt am Main 1998 = GA 38
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14 Siglen-Verzeichnis
Martin Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie. Hrsg. von
Bernd Heimbüchel. Frankfurt am Main 2/1999 = GA 56/57
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Siglen-Verzeichnis 15
Martin Heidegger: Seminare: Hegel – Schelling. Hrsg. von Peter
Trawny. Frankfurt am Main 2011 = GA 86
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I . ZWISCHEN POLITIK UND PHILOSOPHIE
1. Eine Medien-Affäre
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18 Zwischen Politik und Philosophie
bilden eine erschreckende Antinomie, ein inakzeptables Paradox:
Heideggers Denken als janusköpfiges Phänomen, tief und platt
zugleich. Um sich dieser schizophrenen und quälenden Vision zu
entziehen, scheint die auch von den Medien nahegelegte Alterna-
tive die zu sein: Ist er ein großer Philosoph, dann ist er kein Nazi
gewesen; ist er Nazi gewesen ist, dann ist er kein großer Philo-
soph.
Während sie eine bündige und endgültige Antwort, einen Ab-
schluss verlangen, sind es aber gerade die Medien selbst, die den
Fall immer wieder aufrollen und beflissen kommentieren. Im
Laufe der Jahre ist der philosophische Fall zu einer Medien-Affäre
geworden. Aufmerksam auf das komplexe Thema des Journalis-
mus, hat Heidegger über den „Anklang“ nachgedacht. Je mehr die
Information sich hinter der scheinbaren Objektivität versteckt, je
mehr sie komplexe Probleme vereinfacht, Fragen überflüssig und
harmlos macht, desto größer wird das Bedürfnis des Erlebnisses
und der Wunsch, einen Zugang zu dem zu erlangen, was erregt,
erschüttert, berauscht, Sensation macht. So wie dieser Wunsch
weder Scham noch Schande kennt, so kennt auch das „Gestell“,
das alles wie im Rausch veröffentlicht, keine Grenze. Heidegger
spürte, dass sein Denken von jener Unfähigkeit, das philosophi-
sche Fragen zu verstehen, bedroht war.5 In einem Brief an Han-
nah Arendt vom 12. April 1950 schreibt er:
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Nazi aus Zufall … 19
Für Heidegger stellte der Journalismus gewiss keine Bedrohung
dar. Er hat häufiger eine Presse gelobt, die auf das hören kann,
was über das bloß Aktuelle hinausgeht.7 Hat er nicht dem „Spie-
gel“ sein letztes Interview, fast ein philosophisches Testament,
anvertraut? Er ahnte vielmehr, dass sein Fall zu einer Affäre des
„planetarischen Journalismus“ geworden war und befürchtete,
dass die Eile der Medien alles überstürzte, indem sie die „Not“
des Denkens und Fragens auslöschte.
Volpi. Laterza: Roma – Bari 1997, 35 ff. Volpi hat später eine immer
kritischere Stellung genommen, wie insbesondere der letzte Aufsatz
Contributi alla filosofia. Dall’evento, von seinem Sammelband bezeugt: F.
VOLPI: La selvaggia chiarezza. Scritti su Heidegger. Adelphi: Milano 2011,
267-299.
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20 Zwischen Politik und Philosophie
der präzisen Absicht bei, die akademische Freiheit vor politischen
Einmischungen zu bewahren. Sein Einsatz blieb wirkungslos
sowohl wegen immer heftigerer Unstimmigkeiten mit den Partei-
spitzen als auch aufgrund einer Naivität, in der der Philosoph
phantasierte, die „Bewegung“ zu lenken, den „Führer“ selbst zu
führen.10 Die Niederlage war groß. Das „Mißlingen des Rektorats“
– wie Heidegger in einem Brief an Jaspers aus dem Jahr 1935
bemerkt – lastete lange und schwer auf ihm.11 Es blieb ihm nichts
anderes übrig, als sich den politischen Irrtum einzugestehen; sein
Rücktritt wurde am 27. April 1934 angenommen. Insgesamt ginge
es also nur um ein Jahr – eine beschränkte Zeit, eine heikle Paren-
these seines Lebens, ein Missgeschick, einen Nazismus aus Zufall.
Und danach? Das Bild von Heidegger, das die offizielle Versi-
on verbreitet hat, ist das des Philosophen im Exil, isoliert in
Todtnauberg, in der Hütte im Schwarzwald, gebeugt über Hand-
schriften seiner Vorlesungen, versunken in die suggestive Stille des
Waldes, fern von der politischen Szene und mit Hölderlin auf der
Suche, den Strömen entlang, nach einem anderen Schicksal für
Deutschland. Die Zeit der Kehre sei mit einem zunehmenden
Abstand vom Nationalsozialismus und dessen tragischen Ereig-
nissen zusammengefallen. Man ist so weit gegangen, von intellek-
tueller Opposition oder innerem Widerstand zu reden.
Zunächst den Nazis verdächtig, dann den Besatzungstruppen,
hatte Heidegger Feindschaft und Demütigungen zu ertragen. Für
seinen fatalen Irrtum bezahlte er einen hohen Preis. Gemäß einer
1945 gefällten Entscheidung einer Entnazifizierungskommission
wurde er im Jahr 1946 mit einem Lehrverbot belegt. Ausschlag
gab ein Gutachten von Jaspers.12 Im Winter 1945/46 fiel Heideg-
ger in eine tiefe Krise und besuchte eine Klinik in Badenweiler; er
In: Ders.: Neue Wege mit Heidegger. Alber: Freiburg – München 1992,
203-254. Diese These wurde schon von Jaspers eingeführt, der aber sagt:
„den Führer erziehen“. Vgl. K. JASPERS: Notizen zu Martin Heidegger.
Hrsg. von H. Saner. Piper: München – Zürich 1978, 183.
11 M. HEIDEGGER – K. JASPERS: Briefwechsel 1920 – 1963. Hrsg. von
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Biographisches Detail oder philosophischer Knoten 21
erholte sich dank der Arbeit und neuer Projekte. Einige Jahre
später, am 26. September 1951, wurde er von der Universität
rehabilitiert, ohne seinen Lehrstuhl zurückzubekommen. Mit
diesem Akt sollte das Kapitel „Heidegger und der Nationalsozia-
lismus“ formal abgeschlossen werden.
Doch diese Version lässt viele Fragen offen. Warum blieb
Heidegger Mitglied der NSDAP bis 1945? Warum setzte er sich
nie wirklich mit seinem Irrtum auseinander, wenn es denn über-
haupt ein solcher war? Warum nahm er nie Abstand von der
Vergangenheit? Und was soll man von seinem Schweigen halten,
einem scheinbar undurchdringlichen Schweigen, an dem Fragen
und Vermutungen von Dichtern und Philosophen wie Paul Celan
und Jacques Derrida abprallten?
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22 Zwischen Politik und Philosophie
keiten der Person – warum sollte er auch? Das Elend des Philoso-
phen ist nicht das Elend der Philosophie.
Man ist versucht, zu sagen, dass die Heidegger-Forscher Recht
haben, wenn sie, nicht ohne Mühe, Leben und Philosophie tren-
nen und getrennt halten. Das Problem hat sich ähnlich vor kur-
zem anlässlich der Veröffentlichung von Briefen, Tagebüchern
und anderen Materialien aus Ludwig Wittgensteins Nachlass ge-
stellt. Darf man von diesem Material Gebrauch machen? Auf
welche Weise kann die Biographie eines Philosophen für sein
Denken relevant sein? Auf keine Weise – antworten die For-
scher. 13 Doch Wittgenstein selbst schreibt: „Die Arbeit an der
Philosophie ist […] die Arbeit an Einem selbst. An der eignen
Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht“.14
Diese für die kontinentalen Philosophen schon sehr alte Frage
nach dem Zusammenhang von Biographie und Philosophie ist
auch im heiklen Fall von Gottlob Frege, dem Begründer der ana-
lytischen Philosophie, offenkundig geworden. Sympathisant der
extremen politischen Rechten, erstrebte Frege ein „Drittes Reich“
der Logik.15 Am 30. April 1924 notierte er in seinem Tagebuch:
„Man kann anerkennen, daß es höchst achtbare Juden gibt und es
doch für ein Unglück halten, daß es so viele Juden in Deutschland
gibt und dass diese volle politische Gleichberechtigung mit den
Bürgern arischer Abkunft haben.“ 16 Einige Tage vorher, am 22.
tar hrsg. von G. Gabriel und W. Kienzler. In: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie 42/1994, 1057-1066, hier insb. 1092.
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War Heidegger Antisemit? 23
April, gestand er: „Ich habe den Antisemitismus eigentlich erst in
den letzten Jahren so recht begreifen gelernt“; indem er die Mög-
lichkeit von „Gesetzen gegen die Juden“ befürwortete, erinnerte
er daran, dass die Applikation eines „Kennzeichens“, an welchem
man „einen Juden erkennen“ konnte, sinnvoll sei. Er sah sogar
hierin eine tatsächliche „Schwierigkeit“.17 Die Herausgeber seiner
Werke haben dafür gesorgt, sein Tagebuch von der Herausgabe
seiner Werke auszuschließen, wenn nicht mit der Absicht, es zu
verheimlichen, dann doch wenigstens seine Tragweite herabzuset-
zen. Gewiss, um einen logischen Traktat zu lesen, braucht man
sich nicht mit dem Antisemitismus des Autors zu befassen, ob-
wohl bei Frege mehr als nur ein Zusammenhang zwischen dem
logischen, dem theologischen und dem politischen Reich besteht.
Die Philosophie reduziert sich aber nicht auf die Logik und
fällt nicht mit der Wissenschaft zusammen; deshalb ist eine Tren-
nung zwischen Leben und Denken abstrakt und künstlich. Dies
gilt umso mehr für Heidegger, der bekanntlich, nach Nietzsches
Vorbild, die Philosophie auch als Ausdruck seiner Individualität
verstand. Bei der Hervorhebung des Unterschieds zwischen Phi-
losophie und Wissenschaft bemerkt er: „Der Ausgangspunkt des
Weges zur Philosophie ist die faktische Lebenserfahrung“; doch die
Philosophie führt ihrerseits dadurch weiter, dass sie in das Leben
„zurückspring[t].“18
Wenn es so ist, dass eine im Leben getroffene Wahl zugleich
auch ein philosophischer Akt ist, lässt sich das politische Engage-
ment keineswegs auf eine zufällige historische Erfahrung reduzie-
ren. Hinter dem scheinbaren Detail steckt wohl ein philosophi-
scher Knoten.
17 Ebd., 1087.
18 GA 60, 9, 8.
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24 Zwischen Politik und Philosophie
zu lesen. 19 Der Mangel an Beweisen hat dazu beigetragen, die
offizielle Version zu verstärken. Wenn er kein Antisemit gewesen
ist, dann wird Heidegger wohl kaum ein Nazi gewesen sein. Der
politische Irrtum wird herabgesetzt, das NS-Engagement gerät in
den Hintergrund.
War Heidegger Antisemit? Nein, er war es nicht. Das war lange
die vorherrschende Antwort. Es stimme zwar, dass ihn der Juden-
hass, den die Nationalsozialisten offen zelebrierten, nicht dazu
brachte, sich von der „Bewegung“ zu distanzieren; trotzdem lasse
sich seine Position mit derjenigen der Rassenideologen nicht ver-
gleichen. Davon sind einflussreiche Interpreten wie Bernd Martin
und Rüdiger Safranski überzeugt.20 Diese Überzeugung war aber
sogar auch unter seinen jüdischen Schülern, „Heideggers Kin-
dern“, wie sie von Richard Wolin mit einem gewissen Sarkasmus
genannt wurden, verbreitet. 21 Karl Löwith, Hans Jonas, Hannah
Arendt, Herbert Marcuse: Sie, die ihm sonst nichts an Kritiken
und Vorwürfen erspart haben, sahen in ihm keinen Antisemiten.
Dabei hätte ihr Zeugnis entscheidend sein können.
Im Hinblick auf den schwersten Vorwurf, denjenigen des Anti-
semitismus, der einerseits seine Begeisterung für die NS-
Bewegung mit größter Nachhaltigkeit betonen, andererseits sein
Werk aber aufs Spiel setzen würde, lässt man zwei Argumente
gelten.
Das erste Argument ist biographischer Art und stützt sich auf
persönliche Verhältnisse, Freundschaften, Liebesbeziehungen.
Wie soll man die magnetische Anziehungskraft erklären, die Heid-
egger zunächst in Marburg und dann in Freiburg auf so viele junge
Juden ausübte? Und die Hilfe, die er seinen Kollegen leistete?
Gewöhnlich wird der Name von Werner Brock in Erinnerung
Martin Heidegger und das „Dritte Reich“. Ein Kompendium. Hrsg. von
B. Martin. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1989, 14-50,
insb. 27 ff.
21 R. WOLIN: Heidegger’s Children. Princeton University Press:
Princeton 2001.
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War Heidegger Antisemit? 25
gerufen, der mit Heideggers Unterstützung ein Stipendium für
Cambridge erhielt. Ganz zu schweigen von den Liebesbeziehun-
gen: mit Hannah Arendt, Elisabeth Blochmann, Mascha Kaléko.
Wie passen Hass und Liebe zusammen? Und Jonas bestätigt:
„Nein – Heidegger war kein persönlicher Antisemit“.22
Mit dem zweiten Argument wird Heideggers Abstand von dem
„ideologischen Wahnsystem“ der Rassisten betont. Sein National-
sozialismus war „dezisionistisch“ – schreibt Safranski. „Nicht die
Abstammung, sondern die Entscheidung ist für ihn maßgebend.
In seiner Terminologie heißt das: Der Mensch ist nicht von seiner
Geworfenheit, sondern von seinem Entwurf her zu beurteilen“.23 Im
Zuge der Bildung einer „neuen geistigen Welt“ seien die Anderen
nicht auszuschließen. Es bestehe also keine Nähe zum grob-
schlächtigen und platten Antisemitismus des Nationalsozialismus.
Und umso weniger bestehe eine Nähe zum „geistigen“ Antisemi-
tismus, demgemäß man sich vor dem „jüdischen Geist“ hüten
müsse.24 Höchstens könne man bei ihm eine gewisse akademische
Neigung feststellen, den „Konkurrenzantisemitismus“ derer zu
teilen, die mit Sorge auf das Gewicht der Juden an den Universitä-
ten blickten und von der Gefahr einer „Verjudung“ sprachen.25
Diese beiden Abwehrstrategien werden von Holger
Zaborowski in einem Essay verfolgt, der die ganze Debatte rekon-
struiert. In seiner historischen Untersuchung, die sich auf Doku-
mente, Briefe und Zeugnisse konzentriert, zielt Zaborowski da-
rauf, sowohl Heideggers Verhalten gegenüber Juden zu rehabilitie-
ren, als auch vor allem sein Denken vor jeder Anschuldigung zu
schützen. Er konstatiert zwar eine gewisse Ambivalenz. Doch er
fügt dann gleich hinzu, dass es in Heideggers philosophischen
Werken keine Spur von „systematischem Antisemitismus“ gebe.26
22 H. JONAS: Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander.
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26 Zwischen Politik und Philosophie
Man dürfe auch nicht von „Momenten“ oder Phasen reden. Nicht
ohne eine umständliche Äquilibristik werden die wenigen Beweise
demontiert, die Gerüchte zum Schweigen gebracht, die Verdächti-
gungen und Zweifel ausgeräumt. Kein Antisemitismus also, weder
offen noch latent, weder persönlich noch philosophisch. Nur ein
paar Bemerkungen, die in dem Briefwechsel mit seiner Frau Elfri-
de enthalten sind, und die sich auf jenen „universitätspolitisch
orientierten Antijudaismus“ zurückführen ließen, der zum Geist
der Zeit gehörte.27 In Ermangelung weiterer Texte schließt Zabo-
rowoski mit der These, dass es zwischen dem Antisemitismus und
Heideggers Denken keine engere Verbindung gebe.
Kein Wunder, dass diese These bis jetzt die Oberhand behalten
hat. Denn es ist schwierig, das Bild des Philosophen, der auf die
Seinsfrage hinblickend nach der „Eigentlichkeit“ sucht, mit dem
Bild des gemeinen Antisemiten zu verknüpfen, der mit seiner
politischen Geste in die Mittelmäßigkeit des anonymen, in Sein und
Zeit so verabscheuten, „Man“ zurückfällt, an welches Millionen
sich in der NS-Zeit allmählich anpassten.28
Unter den dissonanten Stimmen zeichnet sich diejenige von
Jeanne Hersch aus, die in einem Aufsatz von 1988, auf ihre Stu-
dienzeit in Freiburg rückblickend, schreibt: „Heidegger war nicht
antisemitisch, so wie viele Nicht-Juden nicht antisemitisch zu sein
pflegen, die dabei auch nicht anti-antisemitisch sind“. 29 Und in
Bezug auf die Unmöglichkeit, den Philosophen auf das kollektive
„Man“ des Nationalsozialismus zu reduzieren, fragt sie sich, ob es
„in der Philosophie von Heidegger oder, wenn man diese Wen-
dung bevorzugt, bei dem Philosophen Heidegger Anhaltspunkte
gibt, die seine Entscheidung für den Nationalsozialismus ver-
ständlich werden lassen; Punkte, die in seinen Augen ein solches
lismus. Interpretationen, 242-267 (Nachdruck in H. ZABOROWSKI: „Eine
Frage von Irre und Schuld?“ Martin Heidegger und der Nationalsozialis-
mus. Fischer: Frankfurt 2010, 602-645).
27 Ebd., 261. Für den Briefwechsel siehe: „Mein liebes Seelchen!“ Brie-
Ders.: Quer zur Zeit. Essays. Benzinger: Zürich 2/1990, 51-69, 55.
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Das Ungesagte der Judenfrage 27
Gewicht besaßen, dass sie manche Widerstände, manchen Wider-
willen aufwiegen konnten, und vor allem: die ihn eine propheti-
sche Zukunft erhoffen ließen“.30
Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern
die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die
schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein
als „weltgeschichtliche“ Aufgabe übernahmen kann.31
30 Ebd., 57.
31 GA 96, 243.
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28 Zwischen Politik und Philosophie
Hier liegt also das Neue an den Schwarzen Heften. Der Antisemi-
tismus hat eine philosophische Relevanz und fällt in die Seinsge-
schichte. Er ist kein biographisches Detail, das beiseitegelegt,
übersehen, vergessen werden kann; denn es geht um die Seinsver-
gessenheit. Die Archivarbeit macht dem philosophischen Zeugnis
Platz, die genaue Ermittlung der kleinen oder größeren Nachweise
eines Engagements, die Rekonstruktion der Epoche, die Untersu-
chung über die deutsche Universitätsgeschichte treten in den
Hintergrund und verlieren dabei einen großen Teil ihrer Bedeu-
tung gegenüber den Überlegungen des Philosophen, der in der
ersten Person spricht. Der „Fall Heidegger“ darf nicht mehr als
eine alte Diatribe betrachtet werden. Er setzt sich vielmehr als
philosophische Frage durch, die als solche die Philosophen und
die Philosophie unmittelbar in Anspruch nimmt.
Heideggers NS-Engagement nimmt deutlichere Konturen an,
da es sich auf einen metaphysischen Antisemitismus stützt. Die Radika-
lität dieses Antisemitismus wirft neues Licht auf das NS-
Engagement, das weder ein Unfall noch ein Irrtum gewesen ist.
Vielmehr ist es das Ergebnis einer mit seinem Denken kohärenten
politischen Wahl gewesen. Der Antisemitismus ist nämlich kein
ideologisches Mehr, sondern ein wesentlicher Angelpunkt des
Nationalsozialismus. So fällt auch jener Unterschied aus, der für
viele noch Heideggers Abstand etwa von Carl Schmitt oder von
Ernst Jünger markierte.
Damit öffnet sich ein neues Kapitel, in welchem Fragen erho-
ben werden sollen, denen bis jetzt zum großen Teil ausgewichen
wurde. Die erste, die dringendste, ist die Frage nach der Shoah in
der Geschichte der abendländischen Metaphysik.
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Die Schwarzen Hefte 29
dahin sollten sie „doppelt sekretiert“ bleiben.32 Niemand sollte sie
lesen, die Öffentlichkeit sollte von ihrer Existenz nichts wissen.
Dieser Wunsch ist nur teilweise erfüllt worden. Die Verzögerung
der Herausgabe noch nicht veröffentlichter Bände hat den dama-
ligen Nachlassverwalter, Hermann Heidegger, dazu gedrängt, das
Erscheinen der Schwarzen Hefte anzuordnen.
Die Hefte umfassen einen Zeitraum von fast vierzig Jahren, der
ungefähr von 1930 bis 1970 reicht. Sie sind folgendermaßen ge-
gliedert: vierzehn Hefte haben den Titel Überlegungen, neun Anmer-
kungen, zwei Vier Hefte, zwei Vigiliae, eines Notturno, zwei Winke,
vier Vorläufiges. Daneben sind zwei weitere Hefte, Megiston und
Grundworte, gefunden worden, deren mögliche Zugehörigkeit zu
den Schwarzen Heften noch geklärt werden muss. Alle Hefte tragen
römische Ziffern. Der Bestand scheint sich nicht vollständig er-
halten zu haben. Es fehlt nach wie vor das erste Heft der Überle-
gungen I, das 1930 entstanden sein soll. Es ist nicht gesagt, dass
nicht noch andere Hefte verloren gegangen sind. Die um 1941
geschriebenen Überlegungen XV brechen plötzlich ab und sind mit
keinem Stichwortverzeichnis versehen, das Heidegger sonst jedem
Heft hinzugefügt hat.
In den nächsten Jahren ist also die Veröffentlichung aller
Schwarzen Hefte vorgesehen, die in den Bänden 94 bis 102 der
Gesamtausgabe enthalten sein werden. Im Frühjahr 2014 erschie-
nen die drei Bände 94-96, auf welche im März 2015 der Band 97
folgte.
Auf der ersten Seite der Überlegungen II erscheint das Datum
„Oktober 1931“. In Vorläufiges III hat Heidegger „Le Thor 1969“
notiert. Dies bedeutet, dass Vorläufiges IV Anfang der siebziger
Jahre entstanden sein muss. Die Reihenfolge der römischen Zäh-
lung weist nicht unbedingt auf eine Linearität hin. Es ist zu ver-
muten, dass Heidegger in einigen Perioden gleichzeitig an mehre-
ren Heften gearbeitet hat. Da die umfangreichen Notizen nur
wenige Verschreibungen enthalten, existierten vielleicht Vorarbei-
ten, die sich aber nicht erhalten haben. Die Schwarzen Hefte sind
weder private Aufzeichnungen und noch weniger Tagebücher;
sowohl nach Stil und Inhalt, als auch nach Absicht des Autors
handelt es sich um philosophische Schriften.
32 P. TRAWNY: Nachwort des Herausgebers. In: GA 96, 279.
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30 Zwischen Politik und Philosophie
Warum aber hat Heidegger sie erst am Ende seiner Gesamt-
ausgabe veröffentlichen wollen? Sind die Schwarzen Hefte sein
philosophisches Vermächtnis? Welche Rolle spielen sie in seinem
Werk? Warum hatte er ihr Erscheinen erst nach der Veröffentli-
chung der an sich schon esoterischen Abhandlungen über die
„Geschichte des Seyns“ vorgesehen?
Eine geheimnisvolle Aura umhüllt die Schwarzen Hefte. Sie hät-
ten das Wort des éschaton, nicht das letzte, sondern das äußerste
Wort, und zwar das am Rand des Abgrunds, ja über dem Abgrund
des Schweigens hervorgebrachte Wort sein sollen. Daher die
Sonderstellung dieser Texte, auf welche zwar die unveröffentlich-
ten Abhandlungen verweisen, die aber nicht zentral sein können
und sein müssen. Ihre eigentümliche Ekzentrizität offenbart sich
an dem persönlichen Stil, der das Gepräge des Autors zeigt. Hei-
degger spricht in der ersten Person, ohne viele Vorbehalte, mit
kruder Offenheit, den Blick in die Zukunft gerichtet, als ob er sich
an spätere Leser wendete, die durch den historischen Abstand
jene finstere Epoche Europas vielleicht anders verstehen könnten
als ihre Zeitgenossen. Was ihn selbst betrifft, so beschränkt sich
Heidegger nicht darauf, Zeugnis abzulegen, sondern er ergründet
und entziffert von seinem „Vorposten“ aus, der gleichzeitig auch
eine „Nachhutstellung“ sei, das Zeitgeschehen. 33 Wie kann man
hier nicht an Nietzsche denken? Doch Heidegger selbst betont,
dass seine Überlegungen keine Aphorismen oder Weisheitssprü-
che sind. Vielmehr seien sie „Versuche“ – das ist das Wort, das in
einer Notiz aus den siebziger Jahren erscheint und das vom Her-
ausgeber als Exergo ausgewählt worden ist. Es seien „Versuche
des einfachen Nennens“, weder Aussagen noch Notizen für ein
geplantes System.34 Sie entfalten sich am Leitfaden jenes Fragens,
das zugleich Inhalt und Form, Thema und Stil der Hefte ist. In
dieser Hinsicht finden sie in Heideggers Werk nichts Vergleichba-
res und stellen daher einen Einzelfall in der philosophischen Lite-
ratur des 20. Jahrhunderts dar.
Die Schwarzen Hefte ähneln dem Logbuch eines Schiffbrüchigen,
der die Nacht der Welt durchwandert. Ihn leitet das ferne Licht
eines neuen Anfangs. Die dunkle und tragische Landschaft wird
33 GA 95, 274.
34 GA 94, 1.
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Reductio ad Hitlerum 31
von tiefen philosophischen Einblicken und mächtigen eschatolo-
gischen Visionen erleuchtet.
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32 Zwischen Politik und Philosophie
Nicht bei den Philosophen, so doch in den Medien und in der
breiten Öffentlichkeit feierte das umfangreiche Werk von Faye
einen durchschlagenden Erfolg. Ein nochmaliger und endgültiger
Sieg des Lichts über die Finsternis wurde errungen. Der Refrain
„Heidegger war ein Nazi“ wird mit emsiger Beharrlichkeit auf fast
jeder Seite wiederholt. Beweise, Zeugnisse, Dokumente werden in
einer mehr erstickenden als zwingenden Verflechtung vorgelegt,
um Anklage und zwingenden Schuldspruch zu untermauern; das
Dossier scheint vollständig zu sein und der vom Nazismus „kon-
taminierte“ Philosoph kann der verdienten Verurteilung nicht
mehr entgehen. Welche Verurteilung? Die ewige Verbannung:
„Ein solches Werk darf nicht weiter in den Regalen der philoso-
phischen Bibliotheken stehen“. 37 Mehr noch: Heidegger ist für
Faye nicht einmal ein „Philosoph“, und er gesteht, von der Über-
zeugung geleitet worden zu sein, „die Philosophie endlich vom
Werk Heideggers“ befreien zu müssen.38 Der improvisierte Inqui-
sitor schlägt daher vor, dass die Philosophie zu einer Exkommu-
nikation schreitet – existiert aber eine philosophische Exkommu-
nikation? – und ihr ultimatives Debakel konzediert.
Fayes Vereinfachungen, die zuweilen ans Absurde grenzen –
zum Beispiel, wenn er glaubt, ein Hakenkreuz in der Heidegger-
schen Figur des Gevierts erkennen zu können – könnten auf den
ersten Blick überzeugend erscheinen. Doch problematisch ist
gerade die Argumentation, die mit einer bekannten Formel, die
Leo Strauss in den frühen fünfziger Jahren eingeführt hatte, eine
„reductio ad Hitlerum“, eine Rückführung auf Hitler, genannt wer-
den kann. Es handelt sich um ein falsches Vorgehen, eine fallacy,
das heißt eine Variante der reductio ad absurdum: man führt die
These des Gegners auf den Namen, ja das Zeichen Hitler als der
Metonymie des Bösen zurück.39 Strauss warnt in Bezug auf Hei-
degger und auf sein Denken vor der Verwendung einer ethisch
verwerflichen Taktik, die, um unmittelbar zur Verurteilung zu
kommen, von Argumenten absieht. Auch aufgrund der jüngsten
1956, 44 f.
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Reductio ad Hitlerum 33
Entwicklungen bekommt man in der Tat den Eindruck, dass Faye
in seinem hypersensiblen Gerechtigkeitstrieb die philosophischen
Themen aus dem Blick verliert.40 Ihm scheint es viel wichtiger zu
sein, seine Anklage erneut zu lancieren, die diesmal noch schlim-
mer klingt als seine alte. Sie lautet: Heideggers Denken ist die
„Einführung des Antisemitismus in die Philosophie“.41
Die Frage ist eine hermeneutische: Faye deutet die großen phi-
losophischen Texte als das verschlüsselte Dokument des NS-
Engagements. In seinem exegetischen Eifer liefert er eine Inter-
pretation zweiten Grades, die ebenso listig wie unhaltbar ist; dabei
gelangt er zu einem angeblich verborgenen Sinn, der, einmal auf-
gedeckt, der einzige, wahre und objektive Sinn sein soll. Eben
deshalb ähnelt sein Buch dem Faszikel eines Staatsanwalts. Als
überzeugter Cartesianer, als Anhänger des „Subjekts“ und der
Objektivität, legt Faye seine Pfeile gegen Jacques Derrida auf, der
von Heidegger sich habe betrügen lassen und der durch die „De-
konstruktion“ sogar dazu beigetragen habe, dessen Gift zu ver-
breiten.42
Beide Extrempositionen, die von Fédier und die von Faye, ha-
ben Vieles gemeinsam, denn sie verlangen, ein komplexes Prob-
lem in eine Alternative von Pro und Contra zu übertragen. Einer-
seits scheint der von seinen Apologeten vergötterte Philosoph
durch die wenigen Monate des Rektorats unbeschädigt hindurch-
gegangen und aus den Zufällen der Geschichte unversehrt her-
vorgekommen zu sein; andererseits wird nicht nur sein Bild, son-
dern auch seine Philosophie in ihrem Kern des Nazismus bezich-
tigt und deshalb ante litteram kriminalisiert.
40 So hat Faye einen Aufsatz von zwanzig Seiten nur aufgrund bloßer
Indiskretionen schreiben können, ohne die Schwarzen Hefte gelesen zu
haben und ohne sie deshalb je zu zitieren. E. FAYE: La vision du monde
antisémite de Heidegger à l’ombre de ses Cahiers noirs. In: Heidegger, le
sol, la communauté, la race. Hrsg. von E. Faye. Beauchesne: Paris 2014,
307-327.
41 Das Paradox an dieser Anklage wird später deutlicher hervortreten.
in die Philosophie. A.a.O., 132, 233, 428; auf den Index gelangt auch J.
DERRIDA: Politiques de l’amitié. Galilée: Paris 1994, 417.
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34 Zwischen Politik und Philosophie
Das Schema des Prozesses, das inzwischen auch außerhalb des
französischen Kontextes aufzutauchen scheint, ist trivial und
inakzeptabel. Welchen Sinn hat es, Heidegger vor Gericht zu
ziehen? Wozu soll das dienen? Und wem? Oder ist diese Inszenie-
rung, die seit Jahren wiederholt wird, nur eine Eskamotage der
Philosophie, um sich der Verantwortung zu entziehen, die Frage
zu durchdenken, die Heidegger stellt?
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Zwischen Derrida und Schürmann 35
jenes Kapitel der Philosophie zu diskreditieren und unterminieren,
das, alles andere als abgeschlossen, sich ausgehend von dem inten-
siven Zusammenhang zwischen begrifflicher Arbeit und revoluti-
onärer Politik entfaltet hat.
Aber sich von Heidegger zu befreien hieße nicht nur, von den
schwierigen Fragen loszukommen, die er gestellt hat, sondern
auch zu jener Moderne zurückzukehren, in der die aufklärende
Vernunft, der Glaube an den Fortschritt, das unbeschränkte Ver-
trauen in die Wissenschaft dominiert haben. Als ob nichts gesche-
hen wäre. Und als ob es noch möglich wäre, jene späte Moderne
mit der heutigen globalisierten Welt zu harmonisieren.
43 Für eine Diskussion über die Kriterien und die verschiedenen Posi-
tionen vgl. D. THOMÄ: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur
Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910 – 1976. Suhrkamp:
Frankfurt am Main 1990, 474 f.; T. ROCKMORE: On Heidegger’s Nazism
and Philosophy. University of California Press: Berkeley 1997, 282 f.
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36 Zwischen Politik und Philosophie
in die Welt der menschlichen Angelegenheiten ‚einzuschalten‘“.44
In diesem Sinn ist er der letzte einer großen Reihenfolge: „Platon
wie Heidegger“. Andererseits lässt sich eine „Neigung zum Ty-
rannischen [...] theoretisch bei fast allen großen Denkern nachwei-
sen“.45 Nicht ohne Nachsicht spricht Arendt von einer „Eskapa-
de“ und plädiert für eine strikte Trennung zwischen dem Men-
schen und dem Werk.46
Zurück von Syrakus? heißt der Titel eines 1988 veröffentlichen
Artikels von Hans-Georg Gadamer, der seinerseits seinen Lehrer
verteidigt hatte und auch später auf die Inkompetenz der Philoso-
phen, sich mit der Politik zu beschäftigen, eingegangen ist.47 Als
„exemplarische, höchst eindrucksvolle, unvergessliche“ Figur
gehört Heidegger nach Rorty zu jenen Philosophen, die „besten-
falls nichtssagend und im schlimmsten Fall sadistisch“ erscheinen,
wenn sie über Politik ihre Ansichten äußern.48
Als vielschichtiger erscheint dagegen diejenige Position, die ge-
genüber den Befürwortern einer Trennung zwischen Politik und
Philosophie jedweden Zusammenhang zwischen Heideggers Phi-
losophie und dem Nationalsozialismus bestreiten. Sein auf das
Rektorat beschränktes Engagement sei aus einem Missverständnis
entstanden, das bald beseitigt worden sei. Im Grunde ist es die
These, die Heidegger selbst heranzieht, wenn er, gleich nach der
deutschen Niederlage von 1945, in seiner erst vor kurzem veröf-
fentlichten Selbstverteidigung auf einen „Privatnationalsozialis-
mus“ verweist.49 Diese These zählt mehr Anhänger, als man er-
warten würde, und findet einen jeweils verschieden nuancierten
44 H. ARENDT: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt. In: Dies.: Men-
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Zwischen Derrida und Schürmann 37
Nachklang auch in anderen Positionen. 50 Im Sinne Heideggers
kann man also den Gegensatz sogar zuspitzen und in seiner Philo-
sophie eine Opposition, einen inneren Widerstand zur NS-
Ideologie sehen. Dies ist die Auslegungslinie, an die sich Otto
Pöggeler in zahlreichen Aufsätzen hält.51
Am entgegengesetzten Pol befindet sich Theodor W. Adorno,
für den Heideggers Philosophie „bis in ihre innersten Zellen fa-
schistisch“ ist.52 Jeder Versuch, den Philosophen aus jener fatalen
Verstrickung zu befreien, sei daher vergeblich. Es sei vielmehr
notwendig, anzuerkennen, dass in der Stimme des Philosophen
auch immer der Nazi Heidegger spreche. Es ist das, was zuerst
Farías und später Faye zu zeigen versuchten. Seltsamerweise ist
diese Gleichsetzung aus diametral entgegengesetzten Gründen
auch von Ernst Nolte beansprucht worden, demzufolge Heid-
egger einen Verteidigungskampf Europas gegen die zwei giganti-
schen Potenzen des Bolschewismus und Amerikanismus für un-
entbehrlich gehalten habe.53
Schwieriger scheint die Stellung derjenigen zu sein, die weder
eine Übereinstimmung noch eine Unvereinbarkeit zwischen Heid-
eggers Philosophie und dem Nationalsozialismus einräumen wol-
len. Da vermehren sich die Deutungsprobleme, die nicht nur die
Zustimmung von 1933, sondern auch ihre Nachwirkungen auf
sein Werk betreffen. Gerade in diesem Zusammenhang treten die
Positionen der einzelnen Philosophen in den Strömungen des
zeitgenössischen Denkens deutlich hervor.
In Deutschland hat lange die Position derjenigen vorge-
herrscht, die in Heideggers Verstrickung und in den Ereignissen
der dreißiger Jahre das verhängnisvolle Ergebnis des „Abschieds
vom Subjekt“ erblickt haben. Wenn das „verantwortliche Selbst“
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38 Zwischen Politik und Philosophie
noch in Sein und Zeit die Spuren der Subjektivität behält, geschieht
die „Kehre“ später als die „radikale Abkehr von der Philosophie
der ‚Subjektivität‘“ – bemerkt Tugendhat – „auf Kosten des
Wahrheitsbezuges und der Verantwortlichkeit“. 54 Eine ähnliche
Kritik wird von Habermas entwickelt, der schon in dem Aufsatz
von 1953 Mit Heidegger gegen Heidegger denken den Finger auf jene
geniale, jedoch zweideutige Umkehrung der Moderne legt, die die
Kehre kennzeichnet. 55 Das Frühwerk wird von den Texten der
NS-Zeit unterschieden, die hingegen näher an seine späten Texte
heranrücken. „Heidegger konstruiert in Sein und Zeit Intersubjekti-
vität nicht anders als Husserl in den Cartesianischen Meditationen“;
sein Irrtum tritt später auf, als er „der subjektzentrierten Vernunft
den Prozeß macht“. 56 So war man bemüht, wenigstens Sein und
Zeit, das Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, vor den Vorwürfen zu
retten, die Heidegger betreffen und spätestens seit den achtziger
Jahren einen dunklen Schatten auf die ganze deutsche Philosophie
zu werfen drohen.
Auf diese Weise hat sich die Legitimität einer selektiven Lektü-
re auch jenseits des Ozeans durchgesetzt, welche ohne viele
Kautelen erlaubt, irritierende Texte zu ignorieren. Dies hat dazu
noch den Vorteil, den „Irrweg“ der politischen Verstrickung bei-
seite lassen zu können. Diese Position bleibt oft implizit; nur
zuweilen wird sie offen ausgesprochen. So hebt George Steiner
hervor, dass „im Kern von Heideggers Unternehmung etwas
grundsätzlich Unbeständiges, ja Widersprüchliches“ besteht, und
plädiert daher für eine freie Lektüre.57
Umgekehrt fordern manche, die innere Kontinuität von Heid-
eggers Werk als unumgänglich zu betrachten. Demnach stehe Sein
und Zeit in einem engen Zusammenhang mit den folgenden Schrif-
fentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935. In: Frankfurter Allge-
meine Zeitung vom 25. Juli 1953.
56 J. HABERMAS: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf
1989, 24.
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Zwischen Derrida und Schürmann 39
ten und dürfe nicht unabhängig von seinem politischen Engage-
ment betrachtet werden. Tom Rockmore hat bemerkt: „Heid-
egger, der Philosoph des Seins, ist nicht zufällig Heidegger der
Nazi geworden.“58 Dieser integralere Zugriff stößt aber auf viele
Schwierigkeiten, nicht zuletzt auf die eines fehlenden Kriteriums,
das eine einheitliche Lektüre gestattete. Luc Ferry und Alain
Renaut identifizieren es beispielsweise in Heideggers „Hass auf die
Moderne.“59
Eine andere Position ist jene, um die sich zu einem großen Teil
die kontinentale Philosophie in ihren verschiedenen Strömungen
sammelt. Ohne die Kehren und Umwege Heideggers einzuebnen,
versucht man, den Faden einer Kontinuität zwischen Sein und Zeit,
den Schriften der dreißiger Jahre und der letzten Periode zu be-
wahren. Das politische Engagement darf nicht in Klammern ge-
setzt werden, da es eng mit seiner Philosophie verbunden ist.
Mehr noch: Erst dank Heidegger ist der Nationalsozialismus zu
verstehen. Das ist die 1987 von Lacoue-Labarthe vertretene The-
se.60 Diese Philosophen lesen auf’s Neue den Brief über den „Huma-
nismus“ und blicken mit wachsendem Interesse auf die Frage der
Technik.61 Nun ist Zeit, über das, was geschehen ist, nachzuden-
ken. So schreibt Lyotard 1988 den weitsichtigen Essay Heidegger
und die „Juden“. 62 Derrida eröffnet seinerseits einen neuen Deu-
tungsweg und dekonstruiert in seinem 1987 erschienenen Buch
Vom Geist Heideggers Philosophie, indem er ihre metaphysischen
Reste ans Licht bringt.63 Im Gegensatz zu Habermas und zu je-
nen, die in der Überwindung des Subjekts die Ursache für Heid-
eggers politische Abdrift sehen, erblickt Derrida in den Resten des
58 T. ROCKMORE: On Heidegger’s Nazism and Philosophy. A.a.O.,72.
59 L. FERRY – A. RENAUT: Heidegger et les modernes. Grasset: Paris
1988, 172.
60 P. LACOUE-LABARTHE: Dichtung als Erfahrung / Die Fiktion des
1988.
63 J. DERRIDA: Vom Geist. Heidegger und die Frage. Suhrkamp:
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40 Zwischen Politik und Philosophie
metaphysischen Subjekts eine Grenze, eine nicht bis zum Grund
geführte Destruktion.
Für die letzten Exponenten der kontinentalen Philosophie ist
Heidegger nicht radikal genug gewesen. Mit einer Umkehrung
bietet sich die Möglichkeit, ihn rückwärts zu lesen, d.h. vom Ende
her, von den späten Schriften her, um die arché, das Prinzip bzw.
die Illusion des Prinzips zu zerstören. Das ist die anarchische
Lektüre von Reiner Schürmann. Geht man von Sein und Zeit aus,
so macht man aus Heideggers ersten Schriften einen „bloßen
Rahmen“, der mit seinen politischen Reden gefüllt werden muss.
Rückwärts gelesen, erscheint Heidegger in einem neuen Licht. 64
„Das hermeneutische Dilemma“ – stellt Schürmann fest – „ist
hier relevant“. 65 Wer vom Prinzip aus vorgeht, konstruiert eine
idealisierte Einheit. Demjenigen, der den Weg rückwärts folgt,
zeigt sich Heideggers Topologie als Bereich des Pluralen.
Anstelle eines einheitlichen Begriffs des Grundes hat man dann das
Geviert; anstelle des Lobs vom „harten Willen“, den Abstand; anstelle der
Integration der Universität in den Zivildienst, den Protest gegen die
Technik und die Kybernetik; anstelle einer reinen Identifizierung des
Führers mit dem Recht, die Anarchie.66
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Wer Heidegger zähmt 41
ker und Aristoteles zurückzukehren. Während zu den bisher an-
genommenen drei Phasen seines kehrigen Denkwegs womöglich
eine vierte hinzutritt, stellt man dessen Kontinuität in Frage.67
Der Versuch, sein Werk zu zerlegen und einen selektiven Ge-
brauch davon zu legitimieren, ist die heute beliebteste Weise, um
Heidegger zu zähmen und aus ihm einen harmlosen Phänomeno-
logen zu machen. Auf dem Spiel steht nicht mehr nur Sein und
Zeit. Da der politische Irrtum nicht auf einen kurzen Text über die
Autonomie der Universität beschränkt werden kann, sondern vom
Autor selbst auf mehr als tausend Seiten entfaltet wird, bliebe
nichts anderes übrig, als Heidegger gegen Heidegger zu retten,
indem man nicht nur die Schwarzen Hefte, sondern die ganze Pro-
duktion jener Zeit schmälert und herabsetzt. Denn am beunruhi-
gendsten ist gerade der Heidegger der dreißiger Jahre.
Diese Zähmung ist vielleicht nichts anderes als eine subtile Al-
ternative zur Exkommunikation, die dem Philosophen seit Jahren
droht. Hierfür genügt es, die schon vollführte Geste der Zensur
zu wiederholen, die aber an diesem Punkt einen endgültigen An-
spruch erheben muss. Gelingt es nicht, Heidegger zu exkommuni-
zieren, ihn aus der Philosophie zu verbannen, so kann man we-
nigstens versuchen, die Schwarzen Hefte auf den imaginären Index
zu setzen, sie als ein marginales Werk am Rande der Philosophie
zu stigmatisieren oder geradezu als „Anti-Philosophie“ abzuwer-
ten.
Gerade diese Zensorenhaltung ist jedoch wenig philosophisch.
Zunächst weil sie nicht erklärt, nach welchem Kriterium die
Schwarzen Hefte – und nicht etwa die aus derselben Zeit stammen-
de Einführung in die Metaphysik – von der Interpretation seines
Denkens ausgeschlossen sein sollten. Hat nicht gerade Heidegger
gezeigt, dass man die Wahrheit der Philosophie auch auf Umwe-
gen suchen muss und dass man dabei auch auf Holzwege geraten
könnte? Noch fragwürdiger an dieser Haltung aber ist der moralis-
tische Akzent, der im häufigen Gebrauch von Adjektiven wie
„anstößig“, „lächerlich“ oder „pathologisch“ hervortritt. Doch
67 Schon Hans-Georg Gadamer aber, der diese Gefahr genau sah, hat-
te mit Recht von dem „einen“ Weg Martin Heideggers gesprochen. Vgl.
H.-G. GADAMER: Der eine Weg Martin Heideggers. In: Ders.: Gesammel-
te Werke 3. Mohr Siebeck: Tübingen 1999, 417-430.
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42 Zwischen Politik und Philosophie
Heidegger zähmen heißt, jenseits eines kleinlichen Moralismus die
Auseinandersetzung mit seinem Denken zu vermeiden. Um einen
Spruch von Paul Valéry zu zitieren, auf den sich Heidegger nicht
selten berief: „Wer das Denken nicht angreifen kann, greift den
Denkenden an“.68
68P. VALÉRY: Autre Rhumbs. In: Ders.: Tel Quel. Oeuvres II. Gal-
limard: Paris 1960, 685.
69 E. LÉVINAS: Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus.
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Die Verdrängung des Nazismus in der Philosophie 43
Vor allem in Deutschland ist die Verdrängung im Kontext der
Philosophie eklatant. Gewiss darf man weder Adornos Kritik
außer Acht lassen, die allerdings von marxistischen bzw. paramar-
xistischen Voraussetzungen ausgehend den Nazismus auf Fa-
schismus reduziert, noch die Analyse von Habermas übersehen,
der seinerseits mehr den Hinweis auf die Verbrechen als die Aus-
einandersetzung mit der onto-geschichtlichen Dimension des
Nationalsozialismus im Auge hatte. Wer denkt also heute philoso-
phisch, „was geschehen ist“ – was übrigens nicht nur das Dritte
Reich, auch nicht nur Auschwitz, sondern eben auch die „Juden-
frage“ in der abendländischen Philosophie bedeutet?
Die Verdrängung dieser Themen, die deshalb ausgeklammert
werden, weil sie nicht philosophisch seien, scheint vor allem ein
deutsches Phänomen zu sein. 70 Vor einigen Jahren noch eher
verständlich, ist diese Verdrängung heute kaum nachvollziehbar;
sie findet Bestätigung und Unterstützung im akademischen Be-
reich, einerseits durch den Mainstream der analytischen Philoso-
phie und der Wissenschaftstheorie, die bekanntlich wenig an der
Geschichte interessiert sind, andererseits durch eine Philosophie,
die ihre problematische Vergangenheit nicht anerkennen will, um
entweder als solide philologisch-philosophische Untersuchung
oder als Phänomenologie akzeptiert zu werden.
All dies wirkt sich negativ auf die kritische Auseinandersetzung
mit Heidegger aus, die sich eben deshalb schon seit langem in
einer Aporie befindet. Ist Heidegger nicht der „Meister aus
Deutschland“, der „Wächter des Seins“? Personifiziert er nicht
den bösartigen Geist des Nazismus? Warum sollten sich die Philo-
sophen des 21. Jahrhunderts noch weiter mit diesem Gespenst
befassen?
Die Frage könnte aber eine andere sein und die gewöhnliche
Optik umkehren. Versucht man nicht die Auseinandersetzung zu
vermeiden, indem man Heideggers Überlegungen der dreißiger
und vierziger Jahre als irrsinnig verurteilt, um der Medusa nicht
ins Gesicht schauen zu müssen? Der Versuch, die Schwarzen Hefte
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44 Zwischen Politik und Philosophie
als philosophisch irrelevant abzustempeln, ist Ausdruck einer
solchen Haltung.
Diese Veröffentlichung, die Heidegger geplant und gewollt hat-
te, müsste dagegen mit dem ihr gebührenden Ernst aufgenommen
werden. Sie würde dann eine große Gelegenheit bieten, aus einer
Sackgasse hinauszugelangen, um zugleich auf das philosophisch-
politische Projekt des Nationalsozialismus und auf die Version zu
blicken, die ihm Heidegger innerhalb der „Seinsgeschichte“ gege-
ben hat.
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Philosophisches Engagement und politische Entscheidung 45
die andere kleinlich und kompromissbereit. In dieser Hinsicht
erweist sich das Syntagma „politische Philosophie“ als ein explo-
sives Oxymoron.72
In Heideggers Fall hat dies besonders verderbliche Auswirkun-
gen gehabt. Die Diskussion ist nämlich auf das schmale Gleis der
Beziehung zwischen Philosophie und Politik abgedrängt worden,
und dabei wurde sie letzten Endes irregeleitet. Auf die politische
Praxis beschränkt, wird Heideggers „Irrtum“ mit dem anderer
Philosophen gleichgesetzt. Denn was sollte man von Aristoteles’
Einstellung gegenüber Sklaven sagen, die er nicht einmal für
menschliche Wesen hielt? Und was von Rousseau, der seine Kin-
der ins Waisenhaus schickte? Ihre Irrtümer infizieren ihr Werk
nicht und hindern heute nicht daran, den Politikos oder den Emile
zu lesen. Philosophen können irren, genau wie alle anderen Men-
schen auch.
Die Schwierigkeit, die Schwelle zu übertreten, Heideggers poli-
tischem Denken bei seiner Entfaltung, bei seinem Irren, zu folgen,
liegt jedoch nicht in seinen Schriften, sondern in jener verbreiteten
Gewissheit, die auch in der Philosophie geteilt wird, dass der
Liberalismus der letzte Horizont sei. 73 Erkennt man diesen Ge-
sichtspunkt an, dann erscheinen Heideggers Überlegungen in den
Schwarzen Heften als bloße Irrreden. Auf diese Weise wird aber
Heideggers revolutionäres Potenzial verkannt.
Die Schwarzen Hefte eröffnen ein neues Kapitel, indem sie vor
allem deutlich zeigen, dass der „Irrtum“ eigentlich kein Irrtum
gewesen ist, sondern ein Engagement, das als solches eine politi-
sche und eine philosophische Dimension gehabt hat. Aktive Politik
muss von der begrifflichen Philosophie unterschieden werden.
Und der Philosoph kann sich irren, wenn er das Reale seiner Zeit
in Begriffe zu fassen sucht. Dennoch kann der „Fall Heidegger“
nicht innerhalb der Abweichung zwischen Politik und Philosophie
erklärt werden, so wie man es für eine lange Zeit verlangt hat. Sein
philosophisches Engagement geht jeder politischen Entscheidung
voraus. Der Fall muss also im philosophischen Bereich diskutiert
2009, 116 f.
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46 Zwischen Politik und Philosophie
werden. Die Philosophie wird unmittelbar in Anspruch genom-
men.
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II. DIE PHILOSOPHIE UND DER HASS GEGEN
DIE JUDEN
fünf Bänden. Bd. III. Hrsg. von B. Allemann und S. Reichert. Suhrkamp:
Frankfurt am Main 1986, 169-173, 169.
2 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationa-
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48 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
einig in der Vollendung ihres Schicksals, das auf die Herstellung
eines totalen, „rassereinen“ Staates zielte und deshalb die drasti-
sche und endgültige Lösung der „Judenfrage“ forderte.
Wie bringt aber Luther die alten christlichen Verdikte gegen die
Juden in Anschlag? Welche Wende kündigt sich in seiner Theolo-
gie an? Luther hatte keine direkten Beziehungen zu Juden. Bezich-
tigt, die Brunnen der Christen vergiftet zu haben, waren sie da-
mals, nach der Zeit des „Schwarzen Tods“, bereits aus ganz Thü-
ringen vertrieben worden. Von ihnen blieb nur die Spur einiger
Namen und eine wirre Erinnerung. Aus der Menschheit ausge-
schlossen, wurde der Jude auf die tierische Ikone der „Judensau“
erniedrigt, wie es das bekannte Relief an der Wittenberger Stadt-
kirche noch heute zeigt. Luther beschrieb sie in einer seiner hef-
tigsten Schmähschriften gegen die Juden Vom Schem Hamphoras
aus dem Jahr 1543 und empfing dabei nach eigener Auskunft
sogar eine Eingebung.3
Indessen hatte die biblische Exegese ihn zu einem intensiven
Verhältnis mit dem Judentum und, nicht zuletzt, mit der hebräi-
schen Sprache gebracht. Deutlich und mächtig klang sein Aufruf
zur Schrift, der bekanntlich zum dramatischen Bruch mit der
römischen Kirche beitrug. Für Luther aber, so wie für andere
Reformatoren, konnte die Interpretation nicht auf die hebräische
Grammatik begrenzt werden; der Buchstabe musste in der Ausei-
nandersetzung mit der prophetischen Ankündigung vergeistigt
werden. In den Psalmen und den Büchern des Alten Testaments
musste die christliche Botschaft im hebräischen Buchstaben ent-
ziffert werden. Die Antithese zwischen Fleisch und Geist, die die
Polarisierung zwischen Juden und Christen geprägt hatte, tauchte
noch einmal auf. In der Reformation verschärfte sich diese Anti-
these noch aufgrund des Vorrangs der Innerlichkeit und der Ver-
achtung für all das, was als Äußerlichkeit galt, d.h. für Riten, Ze-
remonien, und den Legalismus. Waren die Katholiken die unmit-
telbare Zielscheibe des Reformgeistes, so waren die Juden die
3 Zur Debatte in Deutschland vgl. Die Juden und Martin Luther. Mar-
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Luther, Augustin und die Lügen der Juden 49
mittelbare, sie, die auf die Position der bloßen fleischlichen Äu-
ßerlichkeit reduziert wurden.
Dies ist der Hintergrund, vor dem die theologische Wende Lu-
thers geschieht. Was sich dabei verändert, ist die Art, in der man
auf die Juden in der Eschatologie schaut. Obwohl Augustinus sich
in zahlreichen antijüdischen Stereotypen verfing, hatte er Israel
eine Rettungsmöglichkeit angeboten, indem er zugleich eine Ant-
wort auf sein Geheimnis, d.h. auf das Fortbestehen der Synagoge
nach der Kirche, fand. Befleckt mit dem schlimmsten Verbrechen,
dem Gottesmord, hatten die Juden für Augustinus die Aufgabe,
die geschichtliche Wahrheit des Christentums an Häretikern und
Heiden zu bezeugen. Blind für die Wahrheit, würden sie am jüngs-
ten Tag bekehrt werden. Sie mussten für ihre Bekehrung „in finis
mundi“ erhalten werden.4
Für Luther lässt sich die Schuld der Juden nicht auf die Kreuzi-
gung beschränken, da sie ewig und unauslöschlich ist. Als lebende
Zeugnisse des historischen Jesus, in dem sie jedoch den Christus
der Christen nicht erkennen wollen, wiederholen sie hartnäckig
ihren paradoxen Fehler. Ihre Frevelhaftigkeit lässt keine Hoffnung
für die finale Bekehrung. Daher löscht Luther ihre Anwesenheit
am Ende der Tage aus. Als Volk Gottes nach dem Fleisch sollen
die Juden durch das Volk Gottes nach dem Geist ersetzt werden.
Dabei darf keine Nachsicht walten. Denn sie sind die echten
Feinde der „geistigen Kirche“, die Luther aufbauen will. An ihnen
erprobt sich Gottes Rache.
In den Jahren unmittelbar nach der Entdeckung des neuen
Kontinents wurde Europa von einer chiliastischen Krise erschüt-
tert; es hatte sich die Überzeugung verbreitet, man lebe schon in
der Endzeit. Die religiöse Vereinigung der Völker schien kurz
bevorzustehen. Die Völker des Orients nahmen, eines nach dem
anderen, das Evangelium an. Eine neue Ungeduld traf die Juden.
rum Series Latina. Bd. 39. Hrsg. von E. Dekkers und J. Fraipont. Brepols
Publishers: Turnhout 1956, 751, 8, 2 ff. Vgl. auch ders.: De Civitate Dei.
Libri I – X. In: Corpus Christianorum Series Latina. Bd. 47. Hrsg. von B.
Dombart und A. Kalb. Brepols Publishers: Turnhout 1955, V, 12. Über
den christlichen Antijudaismus vgl. P. STEFANI: L’antigiudaismo. Storia di
un’idea. Laterza: Roma – Bari 2004, 3 ff.
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50 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Ihre Eigensinnigkeit erschien zwar als ein Skandal, doch ihre
Bekehrung wäre das unzweifelhafte Zeichen der Endzeit gewesen.
War es notwendig, ihre Bücher zu zerstören? Den Talmud zu
verbrennen? Galt es, dem spanischen Vorbild der harten Alterna-
tive zwischen Zwangstaufe und Exil zu folgen?
Luthers Einstellung war ambivalent. Er teilte die gewalttätige
Methode des Konfessionswechsels nicht. Er hatte 1523 die Schrift
Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei veröffentlicht, die vom Streben
nach einer Rückkehr zum Evangelium durchdrungen war. Er
hoffte, dass die Juden ihrerseits diesem Weg folgten und sich
denjenigen Christen anschlossen, die die echte Lehre der Schrift
zurückgewinnen wollten. Um so bitterer war seine Enttäuschung.
Und die Verbitterung prägte in den letzten Jahren seine „Theolo-
gie des Kreuzes“.
Die Reformation hatte überraschende Wirkungen ausgeübt.
Nicht nur hatten die Juden sich nicht bekehrt; der Riss in der
christlichen Welt und die Wiederentdeckung der hebräischen
Wurzeln des Christentums sprachen vielmehr für einen Erfolg des
Judentums. Das ging so weit, dass das jüdische Warten auf den
Messias die christliche Apokalypse auszuhebeln drohte, indem es
irdische Projekte einer politischen Emanzipation hervorzurufen
schien. In Mähren entschied die Sekte der Sabbatarier, die kalen-
dermäßige Bedeutung des Sonntags zu tilgen und den jüdischen
Samstag wiederherzustellen.
Luthers Zorn bricht vor allem im Pamphlet Von den Juden und
ihren Lügen aus dem Jahr 1543 durch. Eine extreme Gewalttätigkeit
drückt sich in Anklagen und Schmähreden aus, streut Abneigung
und Verdächtigungen, diktiert Beleidigungen und Schimpfworte,
legt sogar konkrete Maßnahmen nahe, um sich ein für allemal von
jenem „verfluchten“ Volk zu befreien. Die Juden sind innere
Feinde, die von einem unstillbaren Hass animiert sind. Sie sind
„voll Hoffart, Neid, Wuchers, Geitzes und aller Bosheit“.5 Blind
und hartnäckig, sind sie „die rechten Lügener und Bluthunde“.6
Diese „falsche Bastarten und frembde Jueden“ erwarten von
5 M. LUTHER: Von den Juden und ihren Lügen. In: Ders.: Werke –
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Luther, Augustin und die Lügen der Juden 51
ihrem „Messia“, „Er solle die gantze Welt durch ir Schwert er-
morden und umbringen“. 7 Obwohl sie „vertrieben, verstoeret,
und zu grund verworffen sind“, „hoffen sie noch imer, Gott solle
sie noch wider heim bringen und alles wider geben“.8 Trotzdem
leben sie „bei uns zu Hause unter unsrem Schutz und Schirm,
brauchen Land und Strassen, Marckt und Gassen“. 9 Doch „die
Juden als im Elende, solten ja gewislich nichts haben. Und was sie
haben, das mus gewislich unser sein“. 10 Der Jude ist nicht „ein
Deudscher, sondern ein Teuscher, nicht ein Welscher, sondern ein
felscher […], nicht ein Bürger, sondern ein Würger“.11
Die Anklage der Lüge, die viele Folgen haben wird, ist jedoch
nicht unmittelbar klar. In welchem Sinn lügen die Juden? Und
warum? Die Antwort soll in der Hermeneutik und in dem luther-
schen Prinzip der sola Scriptura gesucht werden. Nichts anderes
wird bei der Lektüre der Bibel verlangt als die Bibel selbst. Dage-
gen haben die Juden mit ihren „erlogenen glossen“ die Schrift
„verkeret und verfelscht“.12 Jede Stelle wird von ihnen „zu geis-
selt, zu rissen, zu kreutzigt, zu martert“ für sich genommen.13 Ihre
Exegese sei also eine Kreuzigung, die, jeweils erneuert, verschie-
dene Bedeutungen entstehen lässt, so dass sie „keinen gewissen
verstand“ erlangen.14 Die jüdische Lüge ist nach Luther die Lektü-
re der Thora, die durch die talmudische Frage unendlich offen
gehalten wird. Dieser Hermeneutik, die sich der Abschließung
entzieht, setzt er seine Wahrheit entgegen, die sich auf einen ein-
zigen, unanfechtbaren, endgültigen Sinn stützt, der in einem
Kampf mit dem Buchstaben gewonnen wird.
So glaubt er, die Hochstapeleien der Juden, ihre umso frevleri-
schere und schamhaftere „Lügen“, da sie von der Schrift selbst
dementiert werden, zu enttarnen. Die schwerste ist die Auserwäh-
7 Ebd., 455, 433.
8 Ebd., 447, 446. Er schreibt auch: Die Juden haben den „grossen ho-
hen Rhum und Hoffart, das sie das Land Canaan, die stad Jerusalem und
Tempel von Gott haben gehabt“. Ebd., 446.
9 Ebd., 482.
10 Ebd., 483.
11 Ebd., 497.
12 Ebd., 433.
13 Ebd., 498.
14 Ebd.
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52 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
lung, der „Ruhm“ nämlich, „von den höhesten Leuten auff erde
geboren“ zu sein.15 Aus der Exegese, aus der Auslegungsart der
Texte, erweitert sich die Anklage auf die Inhalte. Der „Ruhm“ der
Juden soll zurückgewiesen werden, denn es sei im Buch „Genesis“
geschrieben, dass es „kein unterscheid“ sei, „der Geburt oder
Fleisch und Blut halben“.16 In solchem absichtlichen oder unge-
wollten Missverständnis der Auserwählung Israels ist in nuce die
Schuld enthalten, die dem jüdischen Volk einige Jahrhunderte
später vorgeworfen werden wird, und zwar die, das Rassenprinzip
eingeführt zu haben. In der Kritik an der jüdischen Besonderheit
verbirgt sich der Sachverhalt, dass sich fast unbeachtet der Über-
gang vom Antijudaismus, eher theologischer Art, zum Antisemi-
tismus vollzieht.17
Luther öffnet somit eine Kluft zwischen „Jehudim“ und „Go-
jim”, zwischen Juden und Heiden, die in der deutschen Tradition
nie mehr geschlossen werden wird.18 Die Unmöglichkeit, die Juden
zu bekehren, löst bei ihm einen radikalen Pessimismus aus, der in
der göttlichen Weltregierung Raum für die Gewalttätigkeit der
Macht lässt. Da kommen die konkreten Maßnahmen: „das man ire
Synagoga oder Schule mit feur anstecke und, was nicht verbren-
nen will, mit erden über heuffe und beschütte“;„das man auch ire
Heuser desgleichen zerbreche und zerstöre. […]; das man inen
neme alle ire Betbuecheln und talmudisten […]; das man den
Jueden das Geleid und Strasse gantzt und gar aufhebe“.19 Es ver-
wundert nicht, dass diese „Ratschläge“ in der NS-Zeit buchstäb-
lich übernommen wurden, und der Judenstern den Juden gerade
unter Berufung auf Luther auferlegt wurde.20
Ebd., 419.
15
Ebd., 426.
16
17 Zu diesem Übergang vgl. jetzt T. KAUFMANN: Luthers Juden. Rec-
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Die „Judenfrage“ in der Philosophie 53
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54 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
das Vorurteil der „Lüge“ als Schlüssel zur Entzifferung des Ar-
canums des Judentums. Besonders dieser auf den Juden gerichtete
Vorwurf, dass er das sein will, was er nicht ist, dass er sein Nicht-
Sein, d.h. das Nichts, auf dem er sich gründet, verbirgt und tarnt,
besonders diese metaphysische Anschuldigung hat verhängnisvol-
le Auswirkungen gehabt.
Feindlichkeit und Hass gegen die Juden sind keine exklusiven
Merkmale des deutschen Denkens; Spuren davon sind in der
ganzen abendländischen Denktradition, einschließlich der franzö-
sischen und italienischen, aufzufinden. Ausnahmen sind selten;
darunter ist der Name von Giambattista Vico zu erwähnen.
In Deutschland laufen aber zahlreiche Motive zusammen, um
eine sich anderswo nicht abzeichnende Konstellation auftreten zu
lassen: der starke Einfluss Luthers bis in die Sprache hinein, der
eigentümliche Geist des Luthertums mit seinem Primat der Inner-
lichkeit, seinem Imperativ des bedingungslosen Gehorsams und
schließlich das Entstehen einer heroischen Moral, die in der abso-
luten Pflicht ihre Vollendung findet und die sogar die Unterwer-
fung unter die Tyrannei rechtfertigt. Geographisch zentral, wenn
auch ohne führende Rolle im europäischen Kontext, hilflos geteilt
und rückständig, beinahe schlaff, ist Deutschland auf der verzwei-
felten Suche nach einer Identität, die es in der Gegenwart nicht
besitzt und die es in der Vergangenheit höchstens im dunklen
„Mythus“ des „germanischen Bluts“ aufspürt, der seit dem Mittel-
alter die unerschöpfliche Quelle von apokalyptischen Phantasien,
manichäischen Häresien, Weltherrschaftsbestrebungen und wilden
Gewalttätigkeiten war.22
Dieser „Mythus“, der noch die hintergründigsten Tiefen des
germanischen Gemüts besetzt, verfliegt allmählich und scheint
sich in der deutschen, moderaten und kosmopolitischen Aufklä-
rung beinahe aufzulösen. Es ist die Zeit von Lessing, der in sei-
nem berühmten Schauspiel Nathan der Weise den Juden zum Sym-
bol des Kampfes gegen Vorurteile schlechthin erhöht; viele glau-
ben, in dem Protagonisten das Porträt seines Freundes, des Philo-
sophen Moses Mendelssohn, wiederzuerkennen. Die starke jüdi-
22 Eine ausgezeichnete Rekonstruktion bietet N. COHN: Die Erwar-
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Die „Judenfrage“ in der Philosophie 55
sche Präsenz in Deutschland, wo in den Großstädten, vor allem in
Berlin, die Juden die Spitzen des intellektuellen Lebens erreichen
und einen entscheidenden Beitrag zur Kultur der Aufklärung
liefern, ermöglicht die zugleich fruchtbare und gequälte deutsch-
jüdische Symbiose.
Doch die Lage verschlechtert sich bald. Schon in Frankreich
hatte es an unmissverständlichen Zeichen nicht gefehlt. Die Tole-
ranz zeigte all ihre intoleranten Züge an Voltaire, der in seinem
Pamphlet Juifs eine subtile Irritation lancierte.23 Für die Vernunft,
die sich anmaßt, universal zu sein, stellen die Juden, die des Parti-
kularismus bezichtigt werden, einen Affront dar; für die Laienmo-
ral, welche die Autonomie des Subjekts lobpreist, erweist sich das
Judentum als ein Skandal der Sklaverei unter dem Gesetz. Für alle
Formen der innerlichen Religiosität, vom Deismus bis zum Pie-
tismus, sind die Juden das Volk des Legalismus und der Äußer-
lichkeit. Alte antijüdische Stereotype verbinden sich mit neuen
Formen des Antisemitismus.
Was ist also die „Judenfrage“, was besagt diese Formulierung,
die viel zu oft unkritisch übernommen wird? Hannah Arendt hat
mit Recht bemerkt: „Die moderne Judenfrage datiert aus der
Aufklärung; die Aufklärung, d.h. die nicht-jüdische Welt hat sie
gestellt“. 24 Die „Judenfrage“ wird erhoben, weil das Judentum
zum einen jeglicher Definition zu entgehen scheint und zum an-
deren als ein zu lösendes Problem betrachtet wird. Die ersten
Aufklärer wie Lessing oder Dohm scheinen nur insofern die
Emanzipation der Juden zu fordern, als sie im Juden den Men-
schen sehen, der durch die Aufhebung des Judentums ein gleich-
berechtigter Mitbürger werden kann. 25 Wenn man also von der
„Judenfrage“ spricht, meint man allgemein jenen Vorgang, durch
den den europäischen Juden Gleichheit gewährt wird; doch hinter
dieser Formel steckt paradoxerweise das Problem der irreduziblen
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56 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Fremdheit der Juden, das die europäischen Nationen auf ver-
schiedene Weisen und mit disparaten Ergebnissen bewältigen und
das in Deutschland zur „Endlösung der Judenfrage“ führen
wird.26
In Deutschland erlangt die „Judenfrage“ philosophische Wür-
de. Zum ersten Mal fragen sich die Philosophen auf systematische
Art und Weise und mit einer spezifischen Terminologie nach den
Juden und nach dem Judentum. Wie lässt sich dieses Phänomen
erklären? Warum wird ein solches Nachdenken, das im 20. Jahr-
hundert fortdauern wird, gerade von Kant und vom deutschen
Idealismus initiiert?
Im Laufe der Jahrhunderte hatte das Judentum die Aufmerk-
samkeit der katholischen Theologen auf sich gezogen. Bei den
nicht spärlichen und berühmten Disputen waren Rabbiner, Philo-
sophen und jüdische Gelehrte auf der Szene des europäischen
intellektuellen Lebens aufgetreten. In der theologischen Perspekti-
ve erschien das Judentum als eine dem Christentum gefährlich
ähnliche und dennoch entgegensetzte Religion. Im starren Aufklä-
rungsschema war das Judentum, so wie andere Religionen, ein
nutzloser Aberglaube, von dem sich die Vernunft hätte emanzi-
pieren müssen.
Das Szenario wechselt, als die Philosophie der Geschichte in
Erscheinung tritt. Die Philosophen entfernen sich sowohl von
jener theologischen Vision, nach der die Geschichte sich als eine
Entfaltung gottgewollter Ereignisse erweist, als auch von jenem
unaufhaltsamen Fortschritt, an den die Aufklärungszeit blind
geglaubt hatte; dabei fragen sie nach den Weltepochen als solchen,
nach ihren Bedeutungen, schauen in die weit zurückliegende Ver-
gangenheit, um den Blick auf die Zukunft zu lenken, und versu-
chen, eine Interpretationslinie in den wirren menschlichen Ge-
schehnissen zu finden. Sie sind überzeugt, dass es möglich ist,
dank einer Affinität auch die entferntesten Epochen zu verstehen,
die die gegenwärtige mit der vergangenen Vernunft verbindet.
Mehr noch: Die Vernunft entdeckt, eine Geschichte zu haben. Sie
erkennt sich in den historischen Formen wieder, in denen sie sich
26 Vgl. P. L. ROSE: German Question / Jewish Question. Revolutiona-
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Die „Judenfrage“ in der Philosophie 57
verwirklicht hat und durch welche sie zu einer immer größeren
Klarheit, ja zu ihrem Selbstbewusstsein gelangen kann.
Indem sie die verschiedenen Zeitalter der menschlichen Ge-
schichte, die Rolle der Religionen, die Eigentümlichkeiten der
Völker, den von jedem Volk gelieferten Beitrag zum Weltgeist
betrachten, schweift der Blick der Philosophen bis in die Vergan-
genheit anderer Kontinente, von Indien bis zu Persien, hinein, um
dann durch Athen und Rom den Rückweg anzutreten. Sie begeg-
nen jedoch einem Volk, das, wie auch immer es angesehen wird,
Verwirrung in die unerschütterliche Philosophiesystematik zu
bringen scheint: den Juden. Sie sind das einzige Volk, das die
Antike überlebt hat. Von den alten Griechen bleiben nur Überres-
te ihrer Kultur; dasselbe gilt für die Römer. Warum haben sich
just die überall in der Welt zerstreuten Juden erhalten? Wie soll die
Beharrlichkeit dieses Überbleibsels der Antike erklärt werden?
Und was für ein Volk sind die Juden überhaupt; sie, die weder
eine Nation noch eine Erde außer der haben, von der sie vertrie-
ben worden sind, und die weder einen Staat noch eine Verfassung
besitzen? Kann man in Bezug auf Individuen, die überall, nicht
nur unter den europäischen Nationen, sondern auch in Übersee
verstreut existieren, von einem „Volk“ reden? Wäre das Judentum
nicht eigentlich eine Religion? Und dazu noch eine Religion, die,
weil sie vom Christentum schon überwunden wurde, keinen Exis-
tenzgrund mehr hat? Die Juden seien in der Tat diejenigen, die das
schwerste Verbrechen in der Weltgeschichte begangen haben: sie
töteten „Gott“, da sie in Jesus von Nazareth nicht den Messias
erkannten, auf den sie doch warteten. Unbelehrbar und hartnäckig
warten sie auf ihren Messias.
Die Juden scheinen deshalb eine Herausforderung für die Phi-
losophen darzustellen, die sie in ihre begrifflichen Schemata nicht
einfügen können. Obwohl die deutsche Philosophie danach strebt,
konfessionslos und weltlich zu sein, behält sie eine enge Verbin-
dung mit der Lutherischen Theologie, von der sie eine zähe Ju-
denphobie erbt.
Die Rückkehr zur Schrift, die zwar in jenen Jahren ein tiefes
Interesse für das Hebräische erregt, provoziert paradoxerweise
einen neuen antijüdischen Hass. Als moderne Religion der Inner-
lichkeit sieht das Christentum der Reformer im Judentum die
bloße Äußerlichkeit des Gesetzes. Es ist deshalb kein Wunder,
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58 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
dass die heftigsten Feinde der Juden – wie etwa Johann David
Michaelis – aus den Reihen der Hebraisten kommen.27 In diesem
Zusammenhang entsteht jene Idee, dass die Juden lügen, da das
Judentum kein echter Glaube sei.28 Die Juden werden einer Fikti-
on beschuldigt.
Die Philosophen möchten dagegen das Arcanum des Juden-
tums enthüllen. Die „Judenfrage“ müsste sich, als philosophische
Frage genommen, in der Alternative entscheiden lassen, ob die
Juden als Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, einer Art Kir-
che, betrachtet werden könnten – dann würde sich das Problem
durch ihre Bekehrung und ihre eventuelle Tolerierung als Bürger
eines anderen Glaubens lösen lassen – oder ob sie zu einem Volk
gehören. Angesichts der zweiten Möglichkeit wird die Frage kom-
plizierter, denn dann ginge es darum, ein fremdes, unerwünschtes
Volk innerhalb der deutschen Nation als Gast aufzunehmen. Die
Philosophen stellen diese Frage im Blick auf die Zukunft Europas;
einige denken schon an eine mögliche deutsche Herrschaft. Wenn
die Juden so tun, als ob das Judentum keine Religion sei, indem
sie sich als Mitglieder einer „jüdischen Nation“ im Exil betrach-
ten, dann ist es leicht vorstellbar, dass sie, ein Komplott anzet-
telnd, darauf zielen, den Deutschen zuvorzukommen und die
Oberhand in Europa zu gewinnen.
Infolge einer bitteren, in der jüdischen Geschichte nicht selte-
nen Ironie machen die Werke von Spinoza und Mendelssohn die
Frage noch verwickelter. Eigentlich wünschten sich beide die
Beförderung der Emanzipation. In diesem Sinn ging Mendelssohn
sogar so weit, einen säkularisierten Staat zu beanspruchen, in dem
die Juden als Mitbürger hätten aufgenommen werden können,
auch wenn sie weiterhin das jüdische Gesetz und den jüdischen
Ritus eingehalten hätten. Auf diese Weise gab er aber den Anlass
zur Verdächtigung, dass die Religion, die er selbst „enthüllte Reli-
27Es ist kein Zufall, dass der Theologe und Orientalist Johann Gott-
fried Eichhorn 1787 im Studium der Sprachen zum ersten Mal den Ter-
minus „Semite“ einführte, aus dem dann das Wort „Antisemitismus“
geprägt wurde.
28 Diese von Kant geäußerte Anklage kehrt bei Hitler wieder.
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Die „Judenfrage“ in der Philosophie 59
gion“ nannte, eine gefährliche theologisch-politische Verbindung
bilden konnte.29
Noch zweideutiger war Spinozas Interpretation des Judentums.
In ihm erkannte er die politische Verfassung der alten Juden, die
einen Bund mit Gott als ihrem König eingegangen waren. Diese
einzigartige „Theokratie“ war aber nicht mehr in Kraft, seitdem
die Juden im Exil unter der Domäne fremder Nationen lebten. Da
aber die Religion für die Juden einen politischen Wert hatte und
da ihre Verfassung nicht mehr galt, war es nicht mehr nötig, Riten
und Zeremonien zu beachten. Dennoch blieb das „Gesetz“ in
seiner Sicht in Geltung. Spinoza interpretierte die „Auserwählung“
als eine politische Aufgabe; er war davon überzeugt, dass Gott in
der Zukunft die Juden zur Wiederherstellung ihrer politischen
Verfassung noch einmal erwählen würde.30
Die Idee einer „jüdischen Nation“ wird von den deutschen
Philosophen insofern für eine Bedrohung gehalten, als sie sowohl
von ihrem theologischen Selbstverständnis, das auch auf die welt-
lichsten unter ihnen Eindruck machte, als auch von einem durch
Spinoza und Mendelssohn vermittelten Bild des Judentums beein-
flusst waren. So wurde die Emanzipation allmählich in Zweifel
gezogen. Das Judentum, jene sonderbare, fremde Religion, wird –
von Herder bis zu Fichte – zur Religion einer fremden Nation.
Dem theologischen folgt unmittelbar das politische Stigma. Die
Juden werden als ein Volk angesehen, das einem anderen Konti-
nent entstammt.31
In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit bemerkt
Herder, dass die Hebräer „mehr als irgendeine asiatische Nation
auf andre Völker gewirket“ haben.32 Die jüdische Diaspora wird
29 Vgl. M. MENDELSSOHN: Jerusalem oder über religiöse Macht und
Judentum. Maurer: Berlin 1783, 123 ff.
30 Vgl. B. SPINOZA: Theologisch-politischer Traktat. Hrsg. von W.
Bartuschat. Meiner Verlag: Hamburg 2012, XVII, § 17, 269. Vgl. auch D.
DI CESARE: „De Republica Hebraeorum“. Spinoza e la teocrazia. In:
Teoria 2/2012, 213-228.
31 D. NIRENBERG: Anti-Judaism. The Western Tradition. Norton &
heit. Herders Sämmtliche Werke. Bd. 14. Hrsg. von B. Suphan. Weid-
mann: Berlin 1909, 58.
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60 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
von ihm als ein Ereignis ausgelegt, das einem Nomadenvolk, das
„nirgend nach einem Vaterlande sehnet“, die Macht gegeben hat,
die hebräischen Schriften mithilfe des Christentums unter den
Völkern zu verbreiten.33
Die kompromisslose Durchsetzung des deutschen Nationalis-
mus, die vor allem in Fichtes Werk zum Ausdruck kommt, hat
zwei entscheidende Wirkungen: zum einen wird die „jüdische
Nation“ politisch als ein „Staat im Staat“ betrachtet, mit allen
Konsequenzen, die daraus folgen; zum anderen trifft die Verurtei-
lung des Judentums nun auch das Christentum. 34 In Fichtes
Schrift über die französische Revolution (1793) wird zum ersten
Mal die Idee einer jüdischen Weltverschwörung angedeutet:
Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindse-
lig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Krieg steht, und
der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das
Judenthum. Ich glaube nicht, und ich hoffe es in der Folge darzuthun,
daß dasselbe dadurch, daß es einen abgesonderten und so fest verketteten
Staat bildet, sondern dadurch, daß dieser Staat auf den Haß des ganzen
menschlichen Geschlechts aufgebaut ist, so fürchterlich werde.35
Ebd., 67.
33
über die französische Revolution. In: Ders.: Werke. Bd. 6. Zur Politik und
Moral. Hrsg. von I. H. Fichte. De Gruyter: Berlin 1971, 149 f. Vgl. J.
KATZ: A State within a State. The History of an Anti-Semitic Slogan. In:
Ders.: Emancipation and Assimilation: Studies in Modern Jewish History.
Gregg: Farborough 1972, 47-76. Den ersten Gebrauch dieses Topos
findet Katz in der anonymen Abhandlung von F. HELL: Observation d’un
Alsacien sur l’affaire présente des Juifs d’Alsace, die in Frankfurt 1779
veröffentlicht wurde. Dazu auch M. BRUMLIK: Deutscher Geist und
Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Juden-
tum. Luchterhand: München 2000, 77 ff.
35 J. G. FICHTE: Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums
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Die „Judenfrage“ in der Philosophie 61
Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel,
als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere
aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor
ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr
gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.36
36 Ebd.,150.
37 Vgl. J. G. FICHTE: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. In:
Ders.: Werke. Bd. 7. Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte.
Hrsg. von I. H. Fichte. De Gruyter: Berlin 1971, 99.
38 J. G. FICHTE: Reden an die deutsche Nation. In: Ders.: Werke. Bd.
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62 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
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Kant und die „Euthanasie des Judentums“ 63
nunftreligion inspiriert wird. Obwohl es einen kontinuierlichen
Aufstieg der Religionen gibt, kommt es zwischen der Vernunftre-
ligion und den anderen Glauben beinahe zu einem Bruch.
Was sind aber die Kriterien für ein solches Urteil? Handelt es
sich nicht vielmehr um ein Vorurteil, das hinter einer sich stolz als
vorurteilslos ausgebenden Vernunft hervorlugt?
In Kants Auffassung von der Vernunft prägt sich ein säkulari-
sierter Begriff von Christentum ein. Dieses ist daher weder selbst-
ständig noch rein. Während er einen Sprung zu vollziehen scheint,
der den Abstand zwischen der Vernunftreligion und den histori-
schen Religionen markieren soll, säkularisiert Kant – bewusst oder
nicht – die lutherische Theologie, indem er einen pseudotheologi-
schen Diskurs über Religion, Moral, Politik und sogar Metaphysik
eröffnet. Damit nimmt die Philosophie ein Paradigma auf, das
sich wiederholen wird. Sie wird scheinbar zu einem Laizismus
(zuweilen auch zu einem manifesten Atheismus), der auf okkulte
und verheimlichte Weise theologische Argumente gelten lässt.
Von hier aus sind im Laufe der Moderne die heftigsten Angriffe
gegen das Judentum ausgegangen.
So gibt es metaphysische Dichotomien im kantischen „Geist“,
die theologische Anklänge haben: rein / unrein, innerlich / äußer-
lich, allgemein / besonders, vernünftig / empirisch, moralisch /
gesetzlich, autonom / heteronom. In jeder Dichotomie verkörpert
das Judentum den negativen Pol, das auszuscheidende Extreme.42
Kant vollzieht zwei Bewegungen: zunächst schließt er das Ju-
dentum aus der Theologie aus; dann trennt er die Juden vom
politischen Körper des Staates ab. Diese sowohl theologische als
auch politische Entfernung, die auf ein gleichsam apriorisches
Vorurteil hin erfolgt, hatte verheerende Auswirkungen. Sie hat
den umso glaubwürdigeren, weil philosophisch motivierten, Über-
der Themen zurückgeführt, die für ihn hätten die wichtigsten sein sollen.
B. STANGNETH: Antisemitische und Antijudaische Motive bei Kant?
Tatsachen, Meinungen, Ursachen. In: Antisemitismus bei Kant und
anderen Denkern der Aufklärung. Hrsg. von H. Gronke, T. Meyer und B.
Neisser. Königshausen & Neumann: Würzburg 2001, 11-124, insb. 69 f.
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64 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
gang vom religiösen Hass gegen die Juden zum modernen Anti-
semitismus markiert.43
In einem wichtigen Abschnitt des Essays Die Religion innerhalb
der Grenzen der bloßen Vernunft wird die Stelle des Judentums genau
angegeben. Es befindet sich eigentlich nicht auf der niedrigsten
Stufe historischer Religionen, sondern außerhalb der Hierarchie.
Das Judentum sei „gar keine Religion“; es sei allenfalls eine Form
politischer Herrschaft. So schreibt Kant:
43Umso paradoxer ist, dass der Pflichtenkodex kantisch war, auf den
sich die Nazis beriefen. Vgl. J. HALBERSTAM: From Kant to Auschwitz.
In: Social Theory and Practice 14/1988, 41-54.
44 I. KANT: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.
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Kant und die „Euthanasie des Judentums“ 65
sche Verfassung in der Welt wiederherstellen zu können. 46 Eine
solche politische Form – Kant schreibt Spinoza fort – sei die
„Theokratie“, das Reich Gottes. 47 Obwohl der Name Gottes
verehrt werde, bleibe die Verfassung ausschließlich politisch, da
Gott, der „über und an das Gewissen“ nicht zu regieren verlange,
„bloß als weltlicher Regent“ betrachtet werde.48
Doch wenn Kant an Spinoza anknüpft, missversteht er ihn. Er
missversteht ihn nicht nur, weil er die jüdische „Theokratie“ für
eine „Aristokratie der Priester“ hält, sondern vor allem, weil er das
theologisch-politische Gleichgewicht zerstört, das sowohl für
Spinoza als auch für Mendelssohn das jüdische Volk auszeichnet.
Kant projiziert hingegen auf das Judentum eine dem Christentum
eigentümliche Trennung, nämlich die zwischen dem theologischen
und dem politischen Bereich – eine Geste übrigens, die wiederholt
werden wird. Auf solche Weise bestreitet er schließlich dem Ju-
dentum jeden sowohl religiösen als auch politischen Inhalt. Mehr
noch: Er vertreibt es aus den Gebieten des Geistes.
Das Judentum bestehe nur aus „statutarischen Gesetzen“, Auf-
erlegungen, Geboten, die durch keine „moralische Gesinnung“
getragen werden und daher „nur auf die äußere Beobachtung“
zielen. 49 Der alte Vorwurf der Äußerlichkeit bereichert sich um
weitere Themen, um die Vorwürfe der Amoralität und des Lega-
lismus’, der die Juden dazu antreibe, nicht aus Respekt für das
Gesetz, sondern nur in Konformität damit zu handeln. Moralisch
ist ein Akt für Kant nur, wenn er mit der reinen Gesinnung der
Pflicht vollzogen wird, während er sich als amoralisch erweist,
wenn er von äußeren Gründen, von Egoismus, Umsicht, Vorteil,
Eigennutz diktiert wird. Denn hier gibt es dann keine Zustim-
mung des Herzens, weil es kein Herz gibt, keine authentische
Innerlichkeit.
46 Kants Vorwurf ist ausdrücklich: Das jüdische Volk hat sich hartnä-
ckigerweise von dem Messias „einen politischen, nicht einen moralischen
Begriff machen“ wollen. I. KANT: Die Religion innerhalb der Grenzen
der bloßen Vernunft. A.a.O., 804 – B 208.
47 I. KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.
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66 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Wie verträgt sich diese Verurteilung mit der historischen Ver-
bindung zwischen Judentum und Christentum? Der Substitutions-
theologie folgend führt Kant die „allgemeine Kirche“ auf das
Christentum zurück.50 Diese letzte Kirche, die zwar einmal dem
Judentum entsprungen sei, billige jedoch dessen „völlige Verlas-
sung“. 51 Anstelle des „Afterdiensts“ tritt die „reine moralische
Religion“ ein.52 Die Abschaffung des „körperlichen Abzeichens“,
das heißt die Beschneidung, stellt den Übergang vom jüdischen
Partikularismus zur Allgemeinheit des neuen Glaubens dar.53 Man
solle jeden Christen für einen Juden halten, „dessen Messia ge-
kommen ist“. Die Kontinuität wurde zunächst von denjenigen
hervorgehoben, die den Weg zur neuen Lehre eröffnen wollten.54
Die Diskontinuität sei aber von Jesus bezeichnet worden, in dem
Kant den „Lehrer des Evangeliums“ sieht. Er kündige sich als ein
„vom Himmel Gesandter“ an und kehre zum Himmel durch den
„unverschuldeten und zugleich verdienstlichen Tode“ zurück, mit
dem er die Jenseitswelt zeuge, an die die Juden bei ihrer hartnäcki-
gen Verleugnung der Seelenunsterblichkeit nicht glaubten. 55 Die
„Revolution“ des Kreuzes lässt sich in der Ablehnung der weltli-
chen Existenz zusammenfassen. „Durch den säkularisierten Be-
griff dieses Jesusbildes wird die Autonomie der Vernunft einge-
prägt“.56 Was ist von diesem weiter entfernt als der Jude, der die
Heteronomie verkörpert?
Die Bestätigung kommt aus Kants zweiter Denkbewegung, die
vier Jahre später in der Anthropologie vollzogen wird. Durch sie
werden die Juden aus dem politischen Körper vertrieben.
Die unter uns lebenden Palästiner sind durch ihren Wuchergeist seit
ihrem Exil, auch was die größte Menge betrifft, in den nicht ungegründe-
ten Ruf des Betruges gekommen. Es scheint nun zwar befremdlich, sich
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Kant und die „Euthanasie des Judentums“ 67
eine Nation von Betrügern zu denken; aber ebenso befremdlich ist es
doch auch, eine Nation von lauter Kaufleuten zu denken, deren bei
weitem größter Teil, durch einen alten, von dem Staat, darin sie leben,
anerkannten Aberglauben verbunden, keine bürgerliche Ehre sucht,
sondern dieser ihren Verlust durch die Vorteile der Überlistung des
Volks, unter dem sie Schutz finden, und selbst ihrer untereinander, erset-
zen wollen.57
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68 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Eigentums gegründet ist. 60 Jedem das Seine: Die selbstständige
Vernunft unterstützt und preist den Kapitalismus. Aber das Ge-
setz, das, sofern es einem ursprünglichen vereinigten Willen ent-
stammt, und das ein „Mein und Dein“ hervorgebracht hat, wird
von den Juden bedroht, deren Recht auf eine natürliche Gemein-
samkeit der Erde verweist und deren wucherisches Handeln die
Reichtümer des Kapitalismus verzehrt.61
Es bleiben dann nicht viele Alternativen. Im Streit der Fakultä-
ten, einem Text, den er 1798, sechs Jahre vor seinem Tod schrieb,
schlägt Kant eine „Euthanasie des Judentums“ vor, eine Lösung,
die heute eine makabre Resonanz hat.62 Er gibt unter anderem zu
verstehen, dass der Gedanke Lazarus Bendavid, „ein[em] sehr
gute[n] Kopf dieser Nation“, unterstellt werden könne.63 Der gute,
schmerzlose Tod wäre für das Judentum die „Verlassung aller
alten Satzungslehren“. Dafür solle es der „Religion Jesu“ folgen,
nicht allerdings, um zum Christentum überzugehen, da dieser
„Sektenunterschied endlich doch auch verschwinden“ müsse,
sondern um in der Vereinigung mit dem christlichen Glauben zur
„reine[n] moralische[n] Religion“ zu gelangen, mit der das „Dra-
ma“ des Religionswechsels auf der Erde beschlossen und die
„Wiederbringung aller Dinge“ herbeigeführt werde. In Anknüp-
fung an das Johannes-Evangelium (10, 16) nimmt Kant die escha-
tologische Vision von Paul und Augustinus wieder auf: „da nur
ein Hirt und eine Herde Statt findet.“64
Die Rolle des Judentums in der Kantischen Philosophie darf
nicht marginalisiert werden. Durch eine Systematisierung der
60 Zu den Anklängen der Kantischen Moral an den Kapitalismus s. W.
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Hegel und der Jude ohne Eigenschaften 69
bereinigten und auf ihren Höhepunkt geführten Vernunft, strebt
Kant danach, die Metaphysik im Zeichen der menschlichen Frei-
heit und Autonomie zu refundieren. Diese Metaphysik der reinen
Vernunft ist nicht ohne Nachwirkungen auf seine auf die Juden
bezogenen Phantasien. Kant begnügt sich nicht damit, die jüdi-
sche Existenz in Metaphern darzustellen; er tut einen Schritt dar-
über hinaus, indem er versucht, das ewige, unveränderliche Wesen
des Judentums in Begriffe zu fassen. Bei diesem unmöglichen
Unternehmen, in dem das zu Definierende sich der Definition
entzieht und die Grenzen zwischen Theologie und Politik als
fließend erscheinen, wird das Judentum auf eine Heteronomie
festgenagelt, das heißt auf all das, was die Vernunft nicht sein
kann und nicht sein muss. Der Jude, der einem äußeren und
fremden Gesetz folgt, dem nómos des Anderen, wird an die Alteri-
tät verwiesen. So wird er außerhalb der Metaphysik situiert, die,
um triumphieren zu können, seine Euthanasie verfolgt.
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70 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
den des Geistes, in dem sich der christliche Begriff der Inkarnati-
on verwirklicht. Trotz des theologischen Hintergrunds, in dem die
gesamte Prozession der Religionen und Kulturen erörtert wird,
vergisst Hegel das Judentum, oder besser, geht er stillschweigend
über es hinweg. Allein in Bezug auf die „beobachtende Vernunft“,
eine Gestalt des „Geistes“, die, so wie „das ganz Schlechte“, die
unmittelbare Notwendigkeit hat, „sich zu verkehren“, führt er
eine Analogie mit dem jüdischen Volk ein.
Wie von dem jüdischen Volke gesagt werden kann, daß es gerade darum,
weil es unmittelbar vor der Pforte des Heils stehe, das verworfenste sei
und gewesen sei; was es an und für sich sein sollte, diese Selbstwesenheit
ist es sich nicht, sondern verlegt sie jenseits seiner; es macht sich durch
diese Entäußerung ein höheres Dasein möglich, wenn es seinen Gegen-
stand wieder in sich zurücknehmen könnte, als wenn es innerhalb der
Unmittelbarkeit des Seins stehengeblieben wäre.65
Diese entsetzliche Szene ruft eine Erzählung von Franz Kafka ins
Gedächtnis. Dem Mann vom Lande, der darauf wartet, in das
Gesetz einzutreten, wird von dem Türhüter erwidert: „Es ist mög-
lich“, „jetzt aber nicht“. 66 Die Tür des Gesetzes – das wird am
Ende enthüllt – war nur für ihn geschlossen. Erblickt Kafka aber
im jüdischen Warten das Musterbeispiel des menschlichen Zu-
stands überhaupt, so sieht Hegel in jener Verhinderung das son-
derbare und enigmatische Schicksal des jüdischen Volkes.
Von den Juden kommt das Heil, doch den Juden wird das Heil
abgesprochen. Obwohl sie den Weg bis zu jener Pforte gegangen
sind, über welche die anderen treten werden, stehen die Juden still
und unbeweglich auf der Schwelle. Sie verwerfen und werden
verworfen. Das deutsche Verb „verwerfen“ bedeutet zweierlei:
ablehnen, zurückdrängen, aber auch tadeln, verurteilen. 67 Das
Absolute manifestiert sich also nicht in dem verworfenen, erbärm-
lichen Volk, das, außerhalb des Heils bleibend, aus der Geschichte
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Hegel und der Jude ohne Eigenschaften 71
ausgeschlossen wird. Hierin liegt also das Rätsel des jüdischen
Volkes, das hartnäckig an den Rändern der Geschichte überlebt
hat, für das es kein Heil gibt.68 Kant hatte die Bekehrung als die
einzige Möglichkeit für die Juden betrachtet, zu Europa gehören
zu können. Indessen ist diese Zugehörigkeit nach Hegel gerade
wegen des paradoxen Zustands des jüdischen Volks unmöglich:
Es hat sich Jahrhunderte lang dadurch bewährt, dass es jener
Verwerfung treu geblieben ist.
Während der Jude als der Vorläufer (des Christentums) aner-
kannt wird, der die erste messianische Botschaft bringt, wird er
gleichzeitig als blind verdammt. Er bringt zwar die Verheißung,
versteht sie aber nicht. Er verrät sie sogar, indem er auf seinem
Unglauben gegenüber dem Glauben beharrt, den er nicht aner-
kennen kann. Deshalb die Anschuldigung der Perfidie: Mehr als
untreu, erscheint der Jude in den Augen der Christen als perfide,
indem er den gegebenen Glauben verrät, weil er ihn in demselben
Augenblick zerbricht, in dem er ihn ankündigt.
Das Judentum hat sich der christlichen Aufhebung entzogen
und entzieht sich noch weiter. Es lässt sich weder überwinden
noch erheben – was doch möglich sein sollte. Auch für Hegel,
dessen Denken der spekulativen Auslegung des Christentums
folgt, sollte der Jude negiert und in einer höheren Existenz wieder
aufgenommen werden. Da er aber Widerstand leistet und dem
Geist nicht erlaubt, die Entfremdung aufzuheben, um zu sich
selbst zurückzukehren, bleibt er aus der Dialektik der Weltge-
schichte ausgeschlossen. Er bleibt dem Versöhnungsgang des
Geistes, der durch die Regeneration des Getrennten, durch das
Wiederaufleben des Toten, zum absoluten Wissen, dieser Gewiss-
heit seines Throns, gelangt, äußerlich.
Das Judentum erweist sich dann als ein abgestorbener Überrest
der eigenen Vergangenheit, der ohne Rolle und Hoffnung für die
Zukunft weiter existiert. In seiner geistlosen, erstarrten und ver-
steinerten, in der Unmittelbarkeit des Seins unbeweglichen Exis-
tenz, stürzt das Judentum in eine „unselige Leere“. 69 Deshalb
68 Rosenkranz zufolge hat das Judentum als ein dunkles Rätsel Hegel
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72 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
steigt es zum Paradigma des „unglücklichen Bewusstseins“, der
emblematischen Figur der Trennung empor. Zur Aufhebung
bestimmt, stellt das Judentum das Negative in einer nicht aufzu-
hebenden Nacktheit dar. Hier tritt schon der figurale Jude hervor,
die Figur, die dem Abendland und dessen Anspruch auf eine
absolute Einheit entgegengesetzt wird.
Obwohl Hegel mehrmals seine eigene Position verändert oder
revidiert hat, lässt er die Aporie der jüdischen Existenz ungelöst,
die darum aus seinem System herausfällt.70 Entscheidend ist seine
„christozentrische“ Perspektive.71 Doch die säkularisierte Fassung
der Philosophie ändert das drastische Urteil über das Judentum
nicht. Zumal Gott in seiner Unendlichkeit sich, nach Hegel, im
christlichen Europa offenbart hat.
Seit den ersten Schriften scheint das Rätsel des Judentums für
Hegel unausweichlich zu sein. Jedes Volk der Antike ist, nachdem
es seinen Beitrag lieferte, von der Geschichtsbühne verschwun-
den, bzw. unter eine weitere Form des Geistes subsumiert wor-
den. Von den Ägyptern bis zu den Phöniziern, von den Griechen
bis zu den Römern, hat sich kein Volk dieser Regel entzogen. Die
Juden aber bilden die Ausnahme: Sie haben weiter existiert und
sind durch das Mittelalter, das eigentlich christliche Zeitalter,
hindurch zur Moderne gelangt. Warum haben sie ihre raison d’être,
ihren Seinsgrund, überlebt? Die Antwort des Augustinus, der die
Juden als eschatologische Zeugen für die Wahrheit des Christen-
tums betrachtet, ist für Hegel zu mythologisch. Wie ist dann aber
das Fortbestehen des obsoleten Relikts zu erklären?
Ähnlich wie Kant, der im Judentum alle Übel der positiven Re-
ligion versammelt sah, zielt der junge Hegel darauf, aus der starren
Schale der Vorschriften die selbstständige Vernunft herauszuzie-
70 Fackenheim hat von einem „Defekt“ des Hegelschen Systems ge-
98 ff.
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Hegel und der Jude ohne Eigenschaften 73
hen. Doch es gibt einen nicht zu unterschätzenden Unterschied:
Die Religion ist nach Hegel eine dem Geist unentbehrliche Form.
Die Religion überhaupt ist für ihn das Christentum in seiner lu-
therischen Variante; von diesem Standpunkt her wird das Juden-
tum beurteilt.72 Von Anfang an treten die Klischees einer antijüdi-
schen Rhetorik hervor. Schon in einem Fragment aus dem Jahr
1794 notiert Hegel: „Nicht zu leugnen sind die verkehrten und
unmoralischen Begriffe der Juden von dem Zorn, der Parteilich-
keit, dem Hasse gegen andere Völker, der Intoleranz ihres Jeho-
vas“.73 Diese Begriffe seien in die christliche Religion „übergegan-
gen“ und haben darin Schaden angerichtet.74 Der Ton ändert sich
auch in anderen Schriften nicht, vom Leben Jesu, aus dem Jahr
1795, bis zu denjenigen, die in der Positivität der christlichen Religion,
einem mehrmals zwischen 1795 und 1800 wieder aufgenommenen
Projekt, zusammengefasst wurden. Hegel beschreibt die Juden in
der Zeit Jesu mit Empörung und Verachtung.
Der traurige Zustand der jüdischen Nation – einer Nation, die ihre Ge-
setzgebung von der höchsten Weisheit selbst ableitete und deren Geist
nun unter einer Last statutarischer Gebote zu Boden gedrückt war, die
pedantisch jeder gleichgültigen Handlung des täglichen Lebens eine Regel
vorschrieben und der ganzen Nation das Ansehen eines Mönchsordens
gaben, so wie sie das Heiligste, den Dienst Gottes und der Tugend in
toten Formularen geordnet und eingezwängt hatten und dem Geist nichts
als noch den Stolz auf diesen Gehorsam der Sklaven gegen sich nicht
selbst gegebene Gesetze übrigließen, der auch durch die Unterwerfung
des Staates unter eine fremde Gewalt tief gekränkt und erbittert wurde.75
In: Ders.: Frühe Schriften. Werke. Bd. 1. Hrsg. von E. Moldenhauer und
K. M. Michel. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1986, 45.
74 Ebd., 45.
75 G. W. F. HEGEL: Die Positivität der christlichen Religion. In: Ders.:
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74 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Unter den „Menschen von besserem Kopf und Herzen“, den
anders gesinnten Juden, die sich dem „geist- und wesenlosen
Mechanismus“ nicht mehr beugen konnten, entsteht wunderbar-
erweise im Gegensatz zum „Gesetz“ die Figur Jesu, der „frei von
der ansteckenden Krankheit seines Zeitalters und seiner Nation“
gewesen sei.76 Die Substitutionstheologie wird von Hegel bekräf-
tigt. Er verschärft die Zäsur zwischen jüdischer und christlicher
Religion.
Doch wenn das Judentum ein Rätsel darstellt, ist es deswegen,
weil es nicht nur um ein theologisches, sondern auch um ein poli-
tisches Problem geht. Nicht zufällig spricht Hegel von einer „jüdi-
sche[n] Nation.“77 Dabei versäumt er nicht, die Besonderheit eines
Gottes zu betonen, der ein „politische[r] Gesetzgeber“ ist. 78 In
dieser Hinsicht sind einige Überlegungen Hegels zu lesen, in de-
nen zum ersten Mal eine Frage erhoben wird, die – Hegel zum
Trotz – verhängnisvolle Auswirkungen gehabt hat.
Jedes Volk habe die „ihm eigenen Gegenstände der Phantasie“,
die in seiner Tradition leben; auch „die alten Germanen“ hatten
„ihr Walhalla, wo ihre Götter wohnten, ihre Helden“ lebten.79 Das
Christentum habe „Walhalla entvölkert, die heiligen Haine umge-
hauen und die Phantasie des Volks als schändlichen Aberglauben,
als teuflisches Gift ausgerottet“; dafür habe es Gestalten wie Da-
vid und Salomon eingeführt, die vollkommen „fremd“ seien.80 Die
heidnische Landschaft des alten Deutschland wurde durch die
jüdische ersetzt. Dessen wird das Christentum beschuldigt, das als
Antithese zum autochthonen Heidentum betrachtet wird. Das
Ergebnis sei, dass die Deutschen „ohne religiöse Phantasie, die
auf unserem Boden gewachsen wäre und mit unserer Geschichte
zusammenhinge, schlechterdings ohne alle politische Phantasie“
seien.81 Nur „Gespenster“ bevölkern das Land eines Volkes, das
Ebd., 106; Ders.: Das Lebens Jesus. In: Hegels Theologische Ju-
76
106.
78 Ebd., 107.
79 Ebd., [Zusätze], 197.
80 Ebd.
81 Ebd., [Zusätze], 198.
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Hegel und der Jude ohne Eigenschaften 75
„nie eine Nation“ geworden sei. 82 Ob es an dieser ominösen
Usurpation liegt, dass die Nation sich nie bilden konnte? „Ist denn
Judäa der Tuiskonen Vaterland?“ 83 Selbst wenn für Hegel die
Wiederherstellung der heidnischen Mythologie unmöglich war,
fand die Frage ein bedrohliches Echo.
Noch beunruhigender aber sind die im zwischen dem Winter
1798 und dem Sommer 1799 geschriebenen Werk Der Geist des
Christentums und sein Schicksal enthaltenen Seiten über das Juden-
tum. Der erste Teil besteht aus seiner historischen Phänomenolo-
gie, in der wichtige Stereotype der vulgären Verleumdung philo-
sophische Legitimität gewinnen.84
Das Judentum sei ein Partikularismus, der in die Allgemeinheit
des Christentums aufgehoben werden solle. Seit Abraham, mit
dem die Geschichte des jüdischen Volkes beginne, werde die
Trennung eingeführt. Der Geist, der immer Einheit sei, könne
zuweilen eine entfremdete Form annehmen, die der junge Hegel
„Schicksal“ nennt und das er auf eine noch undialektische Weise
versteht.85 Der Geist des Judentums sei das unerbittliche „Schick-
sal“ seiner Negativität.
Zerreißung und Feindseligkeit markieren die Bildung der jüdi-
schen Welt, die sich, wie die Geschichte Noahs lehre, durch einen
nie aufgelösten Konflikt mit der Natur durchsetze. 86 Erst mit
Abraham werde die Trennung deutlich. Denn sein erster Akt sei
eben eine „Trennung“.87 Ohne jeden Grund, ohne jeden Affekt,
zerreiße er „die Bande des Zusammenlebens und der Liebe“ und
stoße „die schönen Beziehungen seiner Jugend“ von sich. Er füge
82 Ebd., [Zusätze], 197.
83 Ebd., [Zusätze], 200. Die Frage war schon von Friedrich Gottlob
Klopstock gestellt worden: „Ist Achäa der Thuiskonen Vaterland?“.
84 Dass Hegel sich einer Veröffentlichung dieser Frühschrift wider-
setzt habe, kann an dem Urteil über diese Seiten nichts ändern.
85 G. W. F. HEGEL: Der Geist des Christentums und sein Schicksal. In:
Wesen“ ist „das große Trauerspiel des jüdischen Volks […] kein griechi-
sches Trauerspiel, es kann nicht Furcht oder Mitleiden erwecken“, son-
dern nur Abscheu. Ebd., 297.
87 Ebd., 277.
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76 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
seiner Geschichte ohne Bedauern einen Schnitt zu, den Schnitt
der Beschneidung, aus dem das jüdische Volk entstehe. Auch um
den Verlust der Schönheit sei es ihm nicht leid. Abraham ist kein
Grieche. Und der Jude liebt die Schönheit nicht; er liebt eigentlich
gar nicht. „Abraham wollte nicht lieben und darum frei sein“.88
Seine Existenz vollzieht sich im Zeichen des Wanderns. Als
„Fremdling auf Erden“ bleibe er für immer „ein Fremder“. No-
made, wie seine Herden, schweife er „auf einem grenzenlosen
Boden“ umher, mit dem er sich nicht identifizieren könne.89 Kein
Ort sei sein eigener. Nachdem er auf das Heim, den Herd, die
Wohnstätte verzichtet habe, schlage er nirgendwo Wurzeln. Er
bleibe auf die Wanderschaft, die seine Absonderung verstärke,
ausgerichtet. Er sei stets im Krieg mit den Nationen, die alle ihm
gegenüber feindlich eingestellt seien. Da er kein „stillstehendes
Zusammenleben mit anderen“ habe, betreibe er Handel, um sich
das Nützliche zu besorgen; wenn er schwächer sei, behelfe er sich
„durch List und Zweideutigkeiten“, wenn er stärker sei, schlage er
„mit dem Schwert.“90 Durch die eifersüchtige Abschließung seiner
Identität, die Grausamkeit seiner Endogamie, habe er auch seine
Familie abgesondert. Sein Sohn sei seine einzige Liebe, die einzige
Art der Unsterblichkeit, die er kenne, die einzige Art, „sein Sein
auszudehnen.“91 Er beruhige sich nur, wenn er sehe, dass er mit
eigener Hand den eigenen Sohn schlachten und damit seine Liebe
zerstören könne. In seiner Entgegensetzung zur Welt bewahre
Gott Abraham davor, sie auf „ein Nichts“ zu reduzieren. „Darum
ist Abrahams Gott wesentlich von den Laren und National-
Göttern verschieden.“ 92 Durch die unendliche Entgegensetzung
gewinne Abraham den Zugang zum Denken des Unendlichen.
Und er unterwerfe sich ihm. Während er die Welt nur dadurch
beherrschen könne, dass er sich mit der unendlichen Macht seines
allmächtigen Gottes verbinde, werde er seinerseits von diesem
beherrscht.
88 Ebd.
89 Ebd., 278.
90 Ebd.
91 Ebd., 279.
92 Ebd.
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Hegel und der Jude ohne Eigenschaften 77
Die Juden sind für Hegel so sehr ein Sklavenvolk, dass er sich
weigert, im Exodus eine Befreiung anzuerkennen. Wenn sie Ägyp-
ten verlassen haben, dann nur dank „einiger Künste, die Moses
ihnen vorwunderte“, nicht aber aus eigenem Freiheitswunsch. 93
Keine Heldentat begleite sie, sondern nur die mannigfaltigsten
Plagen, die den Ägyptern auferlegt worden seien. Und bei dem
„unsichtbaren Angriff“ auf ihren Feind sehen sie „wie die berüch-
tigten Diebe während der Pest zu Marseille“ aus, die nicht gezö-
gert hatten, die erbeuteten Güter zu verteilen und so das Bakteri-
um weiterzugeben.94 In diesem Vergleich hallt die mittelalterliche
Bezichtigung der Kontamination nach. Hegel nimmt sie in hinter-
listiger Form auf. „Die Juden siegen, aber sie haben nicht ge-
kämpft.“95 Impotenz und Passivität charakterisieren ihren Messia-
nismus. Für ein Volk, das auch in dem Moment, in dem es frei
wird, sich weiter als Sklave bestimmt, kann es keine Hoffnung
geben.
Der Philosoph, der in der Phänomenologie des Geistes das Knecht-
Herr Verhältnis expliziert, in dem der Knecht aus einer notwendi-
gen dialektischen Umkehrung zum Herrn des Herren wird, nagelt
das jüdische Volk auf einen Zustand der immerwährenden
Knechtschaft fest. Auf den drei Stufen, auf denen es sich allmäh-
lich bildet, Abrahams Schnitt, dem Exodus aus Ägypten, der Auf-
erlegung des Gesetzes durch Moses, stellt sich seine Freiheit
dreimal als Sklaverei heraus. „Der Befreier seines Volkes wurde
auch sein Gesetzgeber.“96 Umkehr ist für ein Volk unmöglich, das
von Anfang an jede Dialektik zu gefährden scheint.
Mit der Missbilligung der passiven Knechtschaft tritt auch das
Thema der Heteronomie auf. Hegel entwickelt es anders als Kant,
dem er eine dürre und abstrakte, an den jüdischen Legalismus
nahezu angrenzende Pflichtmoral zuschreibt. Die Heteronomie,
die die Existenz der Juden entkräftet, hat nach Hegel nicht nur
einen theologischen, sondern auch und vor allem einen politi-
schen Wert.
93 Ebd., 281.
94 Ebd., 282.
95 Ebd.
96 Ebd.
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78 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Das Volk ist mit dem „absoluten Subjekt“ durch eine Macht-
beziehung fest verbunden. In ihr werde jeder Jude sowohl dazu
gezwungen, sich seiner Nichtigkeit zu erinnern, als auch eine
Enteignung – zum Beispiel durch die terumà, das Angebot der
Dezime – zu praktizieren, aufgrund der das „Eigentumsrecht“ nur
Gott zuerkannt werde. 97 Der Jude ist schon immer enteignet.
Hegel entgeht die Besonderheit des jüdischen Rechtes und des
Yowels, der Jubiläumseinrichtung, nicht. Die Ähnlichkeit zwischen
der Gesetzgebung des Moses und des Solon und Lykurgus, die
versucht hatten, den Raub der sich anhäufenden Reichtümer zu
verhindern, ist auffällig. In beiden Fällen neutralisieren sozialisti-
sche Gesetze die Ungleichheit, die die politische Freiheit bedroht.
Doch die Analogie zwischen den Juden und den Griechen sei nur
eine scheinbare. In den griechischen Republiken sei zuweilen ein
Ausgleich unter den Bürgern, die „alle frei, selbstständig“ waren,
eingeführt worden. 98 Bei den Juden wird das Eigentumsrecht
schlicht verneint. Das Jubiläumsjahr, das nach sieben Sabbatjahren
wiederkehrt, stellt eine radikale Enteignung wieder her, nach der
das Eigentum nur vorläufig in Pacht gegeben und der Besitz nur
als Ausleihe betrachtet wird. Der Jude müsse anerkennen, dass
jede Aneignung nichts anderes als Anmaßung und Unrecht sei
und dass „ihm überhaupt kein Eigentum zukommt,“99 nicht ein-
mal das der Erde. Gerade die Negierung eines Rechts auf die Erde
ist für Hegel bedenklich. Der Jude darf den „Boden“ nicht als
seinen eigenen bezeichnen. Und Hegel weist auf den berühmten
Bibelvers hin: „das Land gehört mir, und ihr seid nur Fremde und
vorübergehende Gäste bei mir.“100
So richtet Hegel eine politische Anklage an die Juden: Wenn sie
kein Eigentumsrecht haben, dann können sie keine Staatsbürger
sein und eigentlich nicht einmal einen Staat haben. Er wird diese
Überzeugung in der Philosophie des Rechts bestätigen. Im Geist des
Christentums aber erklärt er die Fremdheit der Juden gegenüber
dem Staat und dem Zivilrecht in einem theologisch-politischen
Zusammenhang, der auch ontologische Bedeutung hat.
97 Ebd., 283-284.
98 Ebd., 290.
99 Ebd., 284.
100 3 Moses 25,23.
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Hegel und der Jude ohne Eigenschaften 79
Bei den Juden [war die Quelle dieser Gesetze, dass] diese keine Freiheit
und keine Rechte hatten, da sie alles nur als geliehen, nicht als Eigentum
besaßen, weil sie als Staatsbürger alle Nichts waren.101
Das klingt wie ein Todesurteil ante litteram, das durch den Welt-
geist ausgesprochen wird. Derrida kommentiert: „Es gibt also kein
jüdisches ‚für sich‘, kein jüdisches Beisich(selbst)sein“. 102 Anders
gesagt: Es kann kein Jüdisch-Sein im philosophisch-hegelschen
Sinn geben.
Dass die Juden „politisch ein Nichts“ sind, hängt mit ihrer
„Theokratie“, d.h. mit der „Gleichheit der Abhängigkeit aller von
ihrem unsichtbaren Regenten“ 103 zusammen. Die anscheinend
unvermeidliche Empörung drängt Hegel dazu, auf die Erzählung
des Flavius Josephus über die Ankunft des Pompeius in Jerusalem
zurückzugreifen. Der römische General wartete darauf, in das
Kodesch Hakodaschim, in „das Allerheiligste“ hineinzugehen. Er mag
sich sehr gewundert haben, als er sich endlich nach vielen rituellen
Umwegen im secretum, im „Geheimnis“, befand; er fühlte sich
betrogen, als er entdeckte, dass es um „einen leeren Raum“
ging.104 Hegel erkennt hier nicht den Geist des Monotheismus, die
abwesende Präsenz des Gottes Israels, der in seiner Abgeschie-
denheit eine leere Spur hinter sich lässt. Vielmehr tadelt er: im
Innersten, im Mittelpunkt, fehle die „Wurzel des Nationalgeistes“,
die Seele, die dieses „ausgezeichnete Volk“ beleben sollte.105 Es ist
ein Volk ohne Seele, dessen Sein in die Leere stürze. „Kein Mit-
telpunkt, kein Herz, ein leerer Raum, nichts“. 106 Der Herd der
Juden beherbergt nur ihre verinnerlichte Wüste. Ihr secretum hat
nichts zu zeigen. Weil ihnen das Sein entfremdet ist, bleibt das
Geheimnis geheim, d.h. es ist ihnen „etwas durchaus Fremdes.“107
A.a.O., 290.
102 J. DERRIDA: Glas. W. Fink: München 2006, 62.
103 G. W. F. HEGEL: Der Geist des Christentums und sein Schicksal.
A.a.O., 285.
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80 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Die Juden haben nichts, das ihnen gehörte, und ihre Existenz
steht unter dem Siegel der Enteignung.
In den Spätschriften, besonders in denen aus der Berliner Zeit,
korrigiert Hegel seinen Ansatz, ohne jedoch sein krudes Urteil
über das Judentum und die Juden zu ändern.108 Die Ästhetik zieht
zwar die hebräische Dichtung in Betracht, aber nur als Bespiel des
negativen Erhabenen, als Ergebnis einer getrennten, „bewußtlo-
sen Begeisterung“, als ohnmächtigen Versuch, das Unendliche
darzustellen.109 Das Judentum, das in den systematischen Werken
beinahe abwesend ist, taucht in den historischen auf. Zunächst in
den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in denen Hegel im
Kapitel Judäa dazu zu neigen scheint, dem Judentum eine aus-
schlaggebende Rolle zuzuweisen. Obwohl es nämlich zum Orient
gehört, hebt das Judentum ihn auf, kehrt sogar dessen Prinzip um,
indem es den Vorrang des Geistigen durchsetzt. Dank des Juden-
tums geschieht „der Bruch zwischen dem Osten und dem Wes-
ten“.110 Durch ein Schema, das sich wiederholt, lässt das unglück-
liche Bewusstsein das von sich unterschiedene Andere hervortre-
ten, in dem es sich nicht wieder erkennen kann. Hegel kann sogar
sagen, dass im Judentum „der Geist noch als geistlos gesetzt“111
erscheine. Während sich die Vorwürfe – Knechtschaft, Passivität,
Grausamkeit, Immoralität – vermehren, hallt die schwere Anklage
wider: „Der Staat ist das dem jüdischen Prinzip Unangemessene
und der Gesetzgebung Mosis fremd“.112
te. Werke. Bd. 12. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Suhr-
kamp: Frankfurt am Main 2012, 241.
111 Ebd., 243.
112 Ebd.
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Hegel und der Jude ohne Eigenschaften 81
Hegels Urteil ändert sich auch in den Vorlesungen über die Philoso-
phie der Religion nicht, die er zwischen 1821 und 1831 hielt. Trotz
einiger Konzessionen wird die „Religion der Erhabenheit“, die
nur wegen der Kluft zwischen dem göttlichen Unendlichen und
dem menschlichen Endlichen eine solche ist, insgesamt vom
„metaphysischen Begriff“ unter Anklage gestellt. Wenn das Juden-
tum dem Christentum theologisch unterlegen ist, so zeigen sich
seine politischen Grenzen, wenn es mit Griechentum verglichen
wird. Hegels Strategie, der nur ungenaue und grobe Kenntnisse
der jüdischen Welt besaß, besteht darin, als innere Defekte er-
scheinen zu lassen, was seine christliche Auffassung von außen
projiziert. Ein einziges Verdienst schreibt er dem jüdischen Volk
zu: dass es Gott als „Einen“ erkannt hat. Denn der Eine ist „die
Wurzel der Subjektivität“, der Grund der absoluten Geistigkeit.113
Aber der ausschließende Eine der Juden ist noch abstrakt, „reine
Macht“, gestaltlos, nicht dialektisch verstanden, darum „als nega-
tiv gesetzt“. 114 Das Volk, das sich anmaßt, auserwählt zu sein,
weiß im Angesicht dieser Macht nicht, was Freiheit ist und entwi-
ckelt deshalb nur ein knechtisches Bewusstsein. Das logische
Paradox irritiert Hegel: Die Allgemeinheit Gottes wäre auf eine
nationale Besonderheit reduziert. Darüber hinaus bewirke sie das
„odium generi humani“, jenen Hass der anderen Völker, von dem
schon Tacitus sprach.115
Da die Gebote zugleich Gesetze sind, könnte jeder politische
Wechsel als eine Häresie erscheinen. Ohne Spinoza ausdrücklich
zu erwähnen, weist Hegel auf seine Worte hin. In jener Verbin-
dung von Theologie und Politik hatte Spinoza die Eigentümlich-
keit der jüdischen Theokratie gesehen.116 Weil sie ihm unverständ-
lich bleibt, löst er sie auf und unterzieht die ganze jüdische Politik
273.
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82 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
einer vernichtenden Kritik. So wie der Geist kein Geist sei, so sei
die Politik keine Politik. Die Juden wissen nicht, was ein Staat sei.
Und für Hegel gibt es keine Politik, wo es keinen Staatsgeist gibt.
Das nomadische, anarchische Judentum, wäre dann apolitisch.
Zur Bestätigung dieser sehr schweren Anklage – der schwersten?
– werden die Jubiläumseinsetzung und die Ablehnung des Eigen-
tums erneut in Erinnerung gebracht. Das jüdische Gesetz sei nicht
einmal ein Recht, da es kein privates Eigentum gestatte. Bürger ist
für Hegel nur derjenige, der sich auf eigenen Boden berufen kann.
Die Juden seien keine Bürger. „Gottes Volk besitzt Kanaan.“117
Der Besitz hat einen göttlichen Grund – Gott gibt ihnen die Erde
als exklusiven Besitz. Und wie sie das Völkerrecht, das auf der
Aufteilung der Erde und des Privateigentums gründet, nicht ken-
nen, so anerkennen sie auch ihr eigenes Recht nicht. Sie besitzen
die Erde nur als Verwalter oder Pächter, da Gott für sie der ei-
gentliche Eigentümer ist.
Der politische Zustand des Juden, der unter seiner Gesetzge-
bung enteignet, als Bürger ein Nichts ist, hat für Hegel eine onto-
logische Bedeutung. Daher die Schwierigkeit, den Juden in sein
System einzufügen.118 Bis zum Ende bleibt er außerhalb – außer-
halb der Geschichte, außerhalb der Dialektik. Vom Logos des
Johannes-Evangeliums her betrachtet, der Hegels Dialektik prägt
und ihre spekulative Bewegung regiert, erweist sich der Jude als
ein weder abhebbarer noch aufhebbarer Rest. „Der Jude ist ein
Herz aus Stein“.119 Der Stein ist die Metonymie der philosophi-
schen Figur des Juden. Versteinert in seinem pharisäischen Buch-
staben, droht er, auch die anderen zu versteinern – und zwar nicht
nur das Seiende, sondern auch das Sein selbst. Denn das Sein
kann nicht in der Unmittelbarkeit bleiben, sondern muss sich,
anfangend mit dem ist der Verbindung, der „heiligen Kopula“,
entfalten.120 Und das ist, als ob man sagen würde – pointiert Der-
A.a.O., 87.
118 Über die Unmöglichkeit, den Juden in das trinitarische System ein-
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„Anti-Antisemit“? 83
rida –, „dass für Hegel zumindest vor dem Evangelium oder au-
ßerhalb von ihm keine Ontologie möglich ist“.121
Wenn das Sein die Aufhebung ist, dann setzt sich ihm der Jude
in seiner Schwere entgegen, er lässt sich weder erheben noch
aufheben. Er verweist nicht auf ein Ereignis der Vergangenheit,
sondern er begleitet das System in die Zukunft: Er ist sein „Ge-
spenst“, das es einerseits hemmt, andererseits sichert, indem er es
je und je unmöglich macht.122 Dem Sein Jahrhunderte lang unter-
worfen, unterminiert der Jude seine Logik von innen. Er droht, es
implodieren zu lassen. Schon durch die Unmöglichkeit eines Jü-
disch-Seins für sich, wird er zu einer Herausforderung für das
nach seiner absoluten Einheit strebende Abendland. Soll man den
Überrest bekehren, assimilieren oder abtrennen? Das Problem
liegt in der semantischen Vieldeutigkeit der dialektischen Aufhe-
bung. Ein Opfer scheint unvermeidlich zu sein, da das Abendland
eine innere Ausschließung nicht vertragen kann. Für Hegel ist die
Frage beantwortet: Der Antisemitismus erobert die Höhe des
philosophischen Diskurses: „Und daraus folgen virulente Formu-
lierungen, deren zweideutige Termini die Feinde der Juden weder
begreifen noch vor allem begreiflich machen werden. Ein im
System – ebenso kann man sagen: im Absoluten – begründeter
Antisemitismus“.123
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84 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Dem Freund Overbeck und Frau
1887. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 8., Bd. 1. Hrsg. von G. Colli und M.
Montinari. De Gruyter: Berlin – New York 1974, 85-86, 2[57].
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„Anti-Antisemit“? 85
War Nietzsche schon im Ersten Weltkrieges, als der Zarathustra
Teil der Ausrüstung eines jeden deutschen Soldaten war, zum
Propheten des Vaterlands aufgestiegen, so wurde er später zu
einem Denker, von dem sich der Nationalsozialismus anregen
ließ. 127 Die Verbindung schien untrennbar: Es war schwierig,
nationalsozialistisch zu sein, ohne sich zugleich in Nietzsches
Denken wiederzuerkennen.
Ab der Mitte der fünfziger Jahre begann die Verbindung locke-
rer zu werden. Nun wurde die Art, in welcher Georg Lukács in
seinem Werk von 1954 Die Zerstörung der Vernunft von marxisti-
schen Voraussetzungen ausgehend her Nietzsche soweit stigmati-
sierte hatte, dass er Hitler zu seinem „Testamentsvollstrecker“
erklärte, zunehmend als einseitig empfunden. 128 Ein neues, do-
mestiziertes und daher der angelsächsisch-amerikanischen Welt
akzeptableres Bild von Nietzsche wurde von Walter Kaufmann
angeboten, der Ende der dreißiger Jahre von Freiburg nach
Princeton emigrieren musste. Seine 1950 erschienene Monogra-
phie leitete Nietzsches Entnazifizierung in die Wege. Sie bestimm-
te das Nietzsche-Bild des Westens und fand in den siebziger Jah-
ren ihren Gipfel. 129 Entscheidend war dafür das Unternehmen
von Colli und Montinari, die lange in den Weimarer Archiven
gearbeitet hatten und ab 1967 die historisch-kritische Ausgabe der
Werke veröffentlichten. Nietzsche erschien nun unter einem ganz
ungewöhnlichen und bis dahin unbekannten Aspekt als der Philo-
soph des Perspektivismus, der Metapher und der Differenz. Diese
Neuedition der Werke lieferte den Rahmen für eine komplexe
Kritik der Linken an Politik und Kultur. Die deutsche Debatte um
Nietzsche entzog sich teilweise dieser Tendenz: Wenn es auch
diffizil erschien, sein Denken aus dem geschichtlichen Zusam-
menhang herauszulösen, wurde das entnazifizierte Bild des Philo-
127 In seiner Vorlesung über Schelling aus dem Jahr 1936 sagt Heid-
egger, dass Hitlers „Gegenbewegung“ der radikalste Versuch war, den
Nihilismus im Anschluss an Nietzsche zu überwinden. GA 42, 40 ff.
128 G. LUKÁCS: Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationa-
lismus von Schelling bis Hitler. Aufbau-Verlag: Berlin 1954, 598 (Nach-
druck: Werke. Bd. 9. Luchterhand: Neuwied – Berlin 1962, 658).
129 Vgl. W. KAUFMANN: Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Anti-
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86 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
sophen doch durch den Mangel einer Revision des Nazismus und
der Vernichtung befördert.
In einer solchen Auffassung, die in den neunziger Jahren zu
wanken begann, blieben viele beunruhigende Fragen offen, die
neben der Auslegung der Thesen Nietzsches über die Juden und
das Judentum gerade auch die Rezeption seiner Ideen in der NS-
Zeit betrafen. Angesichts der Tatsache, dass die Ideologen des
„Dritten Reichs“ an seine Ideen angeknüpft und der Philosoph
Alfred Baeumler, der seine Texte sehr gut kannte, seine radikale
Judenfeindschaft besonders hervorgehoben hatte, musste das Bild
des „Anti-Antisemiten“ bzw. des Philosemiten revidiert werden.130
Ein neues Kapitel im Fall Nietzsche ist von Steven Aschheim
geöffnet worden, der sich nicht nur mit der Rolle des Philosophen
im „Dritten Reich“, sondern auch mit möglichen unmittelbaren
oder mittelbaren Wirkungen seines Denkens auf die Vernichtung
beschäftigt hat. 131 Schon Georg Lichtheim, der Nietzsche als
Anreger heranzog, und Conor Cruise O’Brien waren diesen Spu-
ren nachgegangen. Dieser bemerkte dazu: „Sobald die Werte, die
die Juden umgekehrt hatten, wieder hergestellt waren, würde es
kein Limit und keine Juden mehr geben.“132
Gerade die Art, in der Nietzsche mit seinen Anti-Christentum
die ‚Judenfrage‘ radikalisierte, wurde in der jüngeren Debatte
thematisiert. In einer sorgfältigen Studie, in der Nietzsches Rezep-
tion in Deutschland zurückverfolgt wird, hat Thomas Mittmann
die Verantwortung des Philosophen angesprochen. Nietzsches
Antisemitismus ginge über die früheren Formen der Judenfeind-
schaft hinaus und habe selbst die Idee der Eugenik in den Blick
genommen. „Dabei hat Nietzsche sicher nicht an eine gewaltsame
Lösung der ‚Judenfrage‘ gedacht, aber die eliminatorischen Di-
nismus und des Staates Israel. Dtv: München 1991, 47. Vgl. auch G.
LICHTHEIM: Europa im zwanzigsten Jahrhundert. Eine Geistesgeschichte
der Gegenwart. Kindler: München 1973, 271.
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„Anti-Antisemit“? 87
mensionen seiner Philosophie haben die Verschärfung der ‚Juden-
frage‘ zweifelsohne begünstigt“.133
Zwei Fronten haben sich von Anfang an in dieser nie beruhig-
ten Debatte abgezeichnet: Einerseits gibt es diejenigen Stimmen,
selbst auf jüdischer Seite, die Nietzsches „Anti-Antisemitismus“
als einen Philosemitismus betrachten; andererseits diejenigen, die
gerade darin eine extreme Radikalisierung des Hasses erkennen.
Eine begründete Stellungnahme kann es nur geben, wenn Nietz-
sches Äußerungen über die Juden berücksichtigt werden, um sie
im Lichte seines gesamten philosophischen Projekts zu lesen.134
Jenseits von Gut und Böse wird in Nietzsches Werk den Juden
und dem Judentum eine zentrale Rolle zugewiesen. Ebenso sicher
ist aber, dass seine Schriften durch ihren aphoristischen Stil, ihre
psychologische Tiefe, die ihnen zugrundeliegende Ironie und
durch den sie bestimmenden Geschmack für das Paradoxe, stets
zu abweichenden, wenn nicht antagonistischen Interpretationen
Anlass gegeben und deshalb für zahlreiche Kulturkämpfe gesorgt
haben. Schon häufiger hat man Nietzsches Fähigkeit betont, so-
wohl durch Masken sprechen, als auch sich in Einklang mit den
Stimmen versetzen zu können, die sich in seinen Aphorismen
bemerkbar machen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Herme-
neutik in der Nietzsche-Interpretation das Kohärenzkriterium
umgehen könnte. Es ist falsch zu meinen, dass Nietzsche nicht
präzise philosophische Thesen vertrete. In Bezug darauf hat Der-
rida in einer komplizierten Komplizenschaft bemerkt, es sei nötig
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88 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
geschwenkt hat, die Nazi-Politik war. Damit sage ich nicht, diese ‚nietz-
schesche‘ Politik sei die einzige je mögliche, auch nicht, daß, daß sie der
besten Lektüre des Erbes entspricht, und nicht einmal, daß die, die sich
nicht darauf bezogen, ihn besser gelesen haben. Nein. Die Zukunft des
Textes Nietzsche ist nicht abgeschlossen. Aber wenn in den noch offenen
Umrissen einer Epoche die einzige nietzscheanisch genannte (sogenann-
te) Politik eine Nazi-Politik gewesen ist, ist das notwendig signifikant und
muss in seiner ganzen Tragweite befragt werden.135
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„Anti-Antisemit“? 89
Nietzsche ist ein Genealoge und hat daher keine Schwierigkeit,
hinter Gottes Schatten den Juden zu erkennen. Das Christentum,
das Europa zutiefst korrumpiert und beschädigt habe, sei eine
Erfindung der Juden. Ihnen komme also die Aufgabe der Wieder-
gutmachung zu. Darum geht es um das Schicksal Europas, aber
auch um das Schicksal der europäischen Juden. Die höchste Auf-
gabe für die höchste Beschädigung: In der engen Spanne dieses
dramatischen Paradoxes spielen die Juden die Rolle der Christus-
Ahnen, die im Dienst des modernen Anti-Christen, des Nietz-
sche-Dionysius, ihre ursprüngliche Schuld zu sühnen haben. Im
Gewand eines neuen „Gekreuzigten“ unter dionysischem Aspekt,
der nach der Ersetzung des alten „Gekreuzigten“ strebt, setzt
Nietzsche die Maske eines Gegen-Jesus auf, der die Zerstörung
des Christentums im Auge hat und darum eine neue mächtige
Anklage gegen die Juden richtet. Wenn die Juden Jahrhunderte
lang beschuldigt worden sind, Jesus getötet zu haben, so werden
sie von Nietzsche bezichtigt, ihn hervorgebracht zu haben. Ist dies
eine weniger schwere Schuld? Oder ist sie nur dem Schein nach
eine leichtere, genauer betrachtet jedoch ominösere Schuld? Auf
jeden Fall sind die Juden schuldig.
Nietzsche führt den Juden nicht auf ein unveränderliches We-
sen und das Judentum auf keinen fixierten Begriff zurück. Seine
Vision ist perspektivisch und entfaltet sich in drei Perioden, in die
er die Geschichte Israels einteilt.138
Die erste Periode ist jene des „alten Testaments“, d.h. des Bu-
ches „von der göttlichen Gerechtigkeit“, das Nietzsche beinahe
als das Zeugnis einer primitiven Epoche erscheint, in welcher er
neben „ungeheuren Überbleibseln dessen, was der Mensch einst-
mals war“, eine heroische Landschaft und ein Leben sieht, das
sich in einem dionysischen Einklang mit der Natur befindet. 139
138 Vgl. Y. YOVEL: Dark Riddle. Hegel, Nietzsche and the Jews.
A.a.O., 152 ff.
139 F. NIETZSCHE: Jenseits von Gut und Böse. In: Ders.: Kritische Ge-
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90 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Für diese Zeit empfindet er, seine Ideale auf sie projizierend,
Bewunderung, weil ihr Ursprung im Mythos aufzugehen scheint.
Indem er das Alte Testament der jüdischen Geschichte entzieht,
die ihm als eine Dekadenzgeschichte gilt, kann er bemerken: „Ur-
sprünglich, vor allem in der Zeit des Königthums, stand auch
Israel zu allen Dingen in der richtigen, das heisst der natürlichen
Beziehung“.140
Eine unüberwindliche Kluft trennt diese erste von der zweiten
Periode. Dem alten, biblischen, erhabenen und unwiederbringli-
chen Zeitalter folgt die geschichtliche und wirkliche Epoche des
zweiten Tempels, in der das „priesterliche“ Judentum das Neue
Testament hervorbringt, das Nietzsche als einen in jeder Hinsicht
jüdischen Text betrachtet. Die Substitutionstheologie wird nur
scheinbar nicht wiederholt. Durch die Kluft zwischen dem bibli-
schen und dem priesterlichen Judentum wird einerseits die Idee
einer verlorenen Natürlichkeit nahegelegt, andererseits die „Ent-
natürlichung“ angeprangert, die das jüdische Gesetz verordne und
aufgrund der sich der Mensch vor dem transzendenten Gott an-
nulliere. 141 Dies ist die Periode der Umwertung aller Werte, des
Ressentiments und vor allem des Sklavenaufstands.
In der Genealogie der Moral wird von einer Umkehrung und ei-
nem Aufstand erzählt, die das „priesterliche Volk“ vollzogen
habe. Es sei seinen Feinden und Beherrschern mit dem Akt „der
‚geistigsten Rache‘“ begegnet.142 Während die natürlichen aristokrati-
schen Werte geschwächt wurden, stehe nun der Weg – der Weg
zur Macht – den Armen, den Ohnmächtigen, den Dürftigen, den
Niedrigen, den Kranken, den Leidenden offen.
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„Anti-Antisemit“? 91
einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘: und dies Nein ist ihre schöpferi-
sche That.143
freie Geister. Erster Teil. In: Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 4, Bd.
2. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari. De Gruyter: Berlin – New York
1967, § 475, 320.
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92 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
[ist] ein Volk der zähesten Lebenskraft, welches, unter unmögliche
Bedingungen versetzt, freiwillig, aus der tiefsten Klugheit der
Selbsterhaltung, die Partei aller décadence-Instinkte nimmt“.146 Der
Widerstand hat sich geschichtlich in die Opposition zum Chris-
tentum übertragen. Deshalb kann Nietzsche auf derselben Seite
von Menschliches, Allzumenschliches schreiben, dass das Christentum
den Okzident „orientalisiert“ habe. Das Judentum habe es immer
wieder okzidentalisiert.147
Im Gegensatz zu Hegel, der für die Juden in der Geschichte
keine raison d’être mehr erkennen kann, fragt Nietzsche nach dem
Platz der Juden im zukünftigen Europa. Was wird aus den „euro-
päischen Juden“, die keine Nation sind, die keinen Staat besitzen
und ein nomadisches Leben führen, in einem zwischen Nationen
aufgeteilten Kontinent? Nietzsche begreift sich selbst als einen
Denker, der zwar „die Zukunft Europas auf seinem Gewissen
hat“, nicht aber die Zukunft der Juden, die er nicht als Mitbürger,
sondern als Fremde betrachtet.148 So wie andere Philosophen vor
ihm konstatiert er das schon Geschehene. Es sei in Europa ein
„asiatischer“ Bestandteil zugelassen worden, „diese fremdartige
kleine jüdische Welt“ sei aufgenommen worden, ein Vorgang,
dem scheinbar keine Abhilfe mehr geschaffen werden könne:
„Europa hat einen Exceß von orientalischer Moralität in sich
wuchern lassen, wie die Juden ihn ausgedacht und ausempfunden
haben“.149 Das Problem erweist sich als umso drängender in Be-
zug auf Deutschland. Nietzsche drückt sich sehr deutlich aus:
Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewe-
sen wäre; und so unbedingt auch die Ablehnung der eigentlichen Antise-
miterei von Seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet
Für eine kritische Diskussion s. Nietzsche and the Jewish Culture. Hrsg.
von J. COLOMB. Routledge: London 1997.
149 F. NIETZSCHE: Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 – Frühjahr
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„Anti-Antisemit“? 93
sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung
des Gefühls selber, sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit,
insbesondere gegen den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck
dieses unmässigen Gefühls, – darüber darf man sich nicht täuschen. Dass
Deutschland reichlich genug Juden hat, dass der deutsche Magen, das
deutsche Blut Noth hat (und noch auf lange Noth haben wird), um auch
nur mit diesem Quantum ‚Jude‘ fertig zu werden […]: das ist die deutliche
Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man
hören, nach welchem man handeln muss. „Keine neuen Juden mehr
hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Östreich) zu
die Thore zusperren!“.150
150 F. NIETZSCHE: Jenseits von Gut und Böse. A.a.O., § 251, 201. Der
Hinweis ist auf die orientalischen Juden, für die Nietzsche auch anderswo
Abscheu ausdrückt, bezogen: „Wir werden uns ‚erste Christen‘ so wenig
wie polnische Juden zum Umgang wählen“. F. NIETZSCHE: Der Anti-
christ. A.a.O., § 46, 221.
151 F. NIETZSCHE: Die fröhliche Wissenschaft. A.a.O., § 135, 164.
152 F. NIETZSCHE: Der Antichrist. A.a.O., § 44, 219.
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94 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
schehen, jener „jüdischen Erfindung“, die sich dank der christli-
chen Moralität durchgesetzt hat.153 Nicht zufällig geht Nietzsche
auf den Konflikt zwischen Rom und Israel zurück. Es sei nämlich
in jener Zeitspanne gewesen, dass Alles – oder fast Alles – ent-
schieden worden sei. Und in Bezug auf das, was in Europa noch
zu entscheiden bleibt, ist es für ihn nötig, auf jenes Szenario zu-
rückzublicken.
Alles sei im Zeichen einer großen Lüge zustande gekommen,
die von der „jüdischen Priesterschaft“ geschmiedet worden sei.
Nachdem sie ein Gesetz ausgedacht habe, um „Israel zu erhalten,
seine Existenz“ zu ermöglichen, habe sie durch den Aufstand des
Volkes und seine theologische Verwandlung dekretiert, dass das
Christentum kein jüdisches Ereignis war. So konnte sie das Juden-
tum nach außen projizieren. Wie die Priesterschaft „die ganze
Geschichte Israels verfälscht“ habe, so habe sie versucht, über-
haupt „die Geschichte der Menschheit“ umzufälschen. 154 Auf
diese Weise tritt Israel, ohne zu kämpfen, lügend und täuschend,
Rom entgegen.155
Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle
Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heisst „Rom gegen
Judäa, Judäa gegen Rom“: – es gab bisher kein grösseres Ereigniss als
diesen Kampf, diese Fragestellung, diesen todfeindlichen Widerspruch.156
dieses Thema vgl. A. R .E. AGUS: „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom“.
Friedrich Nietzsches Religionskritik und die Auslegung rabbinischer
Quellen. In: Jüdischer Nietzscheanismus. A.a.O., 345-362.
157 F. NIETZSCHE: Zur Genealogie der Moral. A.a.O., § 16, 300. Vgl. P.
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„Anti-Antisemit“? 95
kratischen, edlen, römischen Werten und den jüdischen, bzw.
christlichen Werten oder, besser gesagt, der Umwertung der Wer-
te, die mit dem Sklavenaufstand durchgesetzt worden sei. Sie ist in
Nietzsches Augen die schwerste Schuld Israels, eine Schuld, die in
der Umwertung und in dem Aufstand zu fassen sei. Die Juden, ein
Volk, das sich anmaßt, „auserwählt“ zu sein, das aber „zur Sklave-
rei geboren“ sei, hat das Wunder der Umwertung aller Werte
zustande gebracht, dank dem das Leben auf der Erde einen neuen
und gefährlichen Reiz erhalten habe.158 Hierin liegt die Bedeutung
Israels innerhalb der Geschichte, hierin liegt auch die von ihm
ausgehende Bedrohung. Denn ohne Umwertung wäre der Skla-
venaufstand nicht möglich gewesen. „Das Heil kommt von den
Juden“ – nicht ohne Ironie zitiert Nietzsche das Johannes-
Evangelium (4, 22) mit einer seiner gewalttätigsten Stellen.
Wer von ihnen einstweilen gesiegt hat, Rom oder Judäa? Aber es ist gar
kein Zweifel: man erwäge doch, vor wem man sich heute in Rom selber
als vor dem Inbegriff aller höchsten Werthe beugt – und nicht nur in
Rom, sondern fast auf der halben Erde, überall wo nur der Mensch zahm
geworden oder zahm werden will –, vor drei Juden, wie man weiss, und
Einer Jüdin (vor Jesus von Nazareth, dem Fischer Petrus, dem Teppich-
158 F. NIETZSCHE: Jenseits von Gut und Böse. A.a.O., § 195, 118.
159 F. NIETZSCHE: Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 – Frühjahr
1881. A.a.O., 382 (3 [20]).
160 F. NIETZSCHE: Zur Genealogie der Moral. A.a.O., § 7, 281.
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96 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
wirker Paulus und der Mutter des anfangs genannten Jesus, genannt
Maria). Dies ist sehr merkwürdig: Rom ist ohne allen Zweifel unterle-
gen.161
Wenn das „Volk“, der „Pöbel“, gesiegt hat, und die „Herren“
abgetan wurden, ist das durch die Juden geschehen: „so hatte nie
ein Volk eine welthistorischere Mission“. 162 Deshalb sind die
Juden „das verhängnissvollste Volk der Weltgeschichte“. 163 Wie das
Christentum nicht ohne den jüdischen Hintergrund verständlich
wäre, so sind Jesus und Paulus, wenn auch auf verschiedene Wei-
se, Israels Gestalten. „Ein Jesus Christus war nur in einer jüdi-
schen Landschaft möglich“. 164 Dank dem „heilige[n] Anarchist“,
dem „politische[n] Verbrecher“, jenem „Erlöser“ erreicht Israel
das letzte Ziel seiner „Rache“. Es schlägt ihn ans Kreuz nur, um
glauben zu lassen, dass er ein „Widersacher und Auflöser“ sei.165
Wer könnte sich „einen gefährlicheren Köder“ ausdenken?166 Nietz-
sche interpretiert auch den Gottesmord im Zusammenhang der
Politik Israels, das durch seine Lügen die Welt „judaisiert“ bzw.
„christianisiert“ habe.167 So wird Paulus folgendermaßen betrach-
tet:
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„Anti-Antisemit“? 97
In der Götzendämmerung wird das Christentum, das aus einer „jüdi-
schen Wurzel“ entstanden sei, als die „Gegenbewegung gegen jede
Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums“ dargestellt;
Nietzsche definiert es als „die antiarische Religion“.169 Während er
an der Verbindung zwischen Judentum und Christentum festhält,
projiziert er sie in die Moderne und unterliegt, zweitausend Jahre
schnell überblickend sowie von theologischen zu politischen Mo-
tiven des Geschehens übergehend, einem Kurzschluss: „Die tiefe
Verachtung, mit der der Christ in der vornehm-gebliebenen anti-
ken Welt behandelt wurde, gehört eben dahin, wohin heute noch
die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört“.170 Das Masken-
spiel ist am Ende dieses: Hinter jedem Christen stecke, wenn auch
unbewusst, ein Jude, da jeder Christ auch zum Judentum bekehrt
sei; hinter jedem Juden verberge sich die nie abnehmende Bedro-
hung der Christianisierung bzw. der „Judaisierung“ der Welt.
Im Vergleich mit seiner tiefen Feindseligkeit gegen das Juden-
und Christentum ist Nietzsches „Anti-Antisemitismus“ ein ober-
flächliches Phänomen. Er beurteilt den Antisemitismus, sei es den
von Wagner, von seiner Schwester Elisabeth, oder von seinem
Schwager Förster als eine moralisch falsche und politisch unzu-
reichende Antwort. Der Anti-Semit hat sich vor dem „Semiten“
verbeugt. Seine Antwort is reaktiv. Sie macht ihn von demjenigen
abhängig, den er zurückweisen möchte. Ein „Antisemit ist ein
‚neidischer‘ d.h. stupidester Jude“.171 Er teilt sogar dessen Ressen-
timent. „An den eigentlichen Misojuden (wie W<agner>) ist mir
eher die Verwandtschaft mit dem Jüdischen als die Unähnlichkeit
169 F. NIETZSCHE: Die „Verbesserer“ der Menschheit, in: Götzen-
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98 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
aufgefallen – es ist eine ungeheure Eifersucht“.172 Deshalb ist der
Antisemitismus für Nietzsche verächtlich. Er ist ein Ausdruck des
„Pöbels“.173 Darüber hinaus bietet er keine politischen Ansichten,
da er das Judentum in seiner Komplexität nicht versteht und seine
wirkliche Bedrohung nicht erfasst.
Wenn Israel nie aufgehört habe, zu gewinnen, wenn die Juden
sich sogar unter den schlimmsten Bedingungen, „vermöge ir-
gendwelcher Tugenden, die man heute gerne zu Lastern stempeln
möchte“, behaupten können, wenn sie in Europa „die stärkste,
zähste und reinste Rasse“ seien, dann stellen sie eine Gefahr und
eine Hinterlist dar. 174 In Übereinstimmung mit Philosophen vor
ihm betrachtet Nietzsche die Juden als einen Fremdkörper im
europäischen Wirrwarr. Die Fremdheit der Juden in jeder Hin-
sicht, bezeugt eine fehlende Assimilation. Die Juden ähneln den
anderen europäischen Völkern nicht; daher stelle sich die Frage
nach ihrer Zukunft. Nietzsche räumt die Dringlichkeit der Frage
ein, hält aber eine Lösung noch nicht für möglich. In einem lan-
gen Aphorismus der Morgenröthe mit dem Titel Vom Volke Israel
zeichnet er die Frage mit beunruhigenden Tönen:
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„Anti-Antisemit“? 99
nur leicht entgegengestreckt“. 176 Einerseits wird die Bedrohung
eines von Juden beherrschten Europas angedeutet, andererseits
wird der Verlust dieses von Juden seit Jahrhunderten bewohnten
Ortes auf krude Weise vor Augen geführt.
Europa wie Ägypten: Ein folgenschwerer, inkongruenter Ver-
gleich, der voller Warnungen steckt. Der Exodus, den Nietzsche
nicht als beispielhafte Befreiung eines Volkes, sondern als eine
Vertreibung, eine den Juden auferlegte Entfernung ansieht, könn-
te sich wiederholen und wäre die Antwort auf ihre Herrschaftsbe-
strebungen. Der Wille zur Macht, die Ursache der „heiligen Lü-
ge“, der die Juden in der Weltgeschichte motiviert hat, würde die
drastische Alternative erklären, die andere Wege auszuschließen
scheint. Sei es die Eroberung oder der Verlust Europas, Absicht
und Verantwortung werden den Juden unterschoben. Auch später
kommt Nietzsche auf dieses Thema zurück, indem er den Alarm
der radikalsten Antisemiten wie Wilhelm Marr wahrnimmt. Nun
werden die Juden beschuldigt, einen heimtückischen Krieg gegen
die Deutschen zu führen. Schon sprachen die Antisemiten unge-
niert von einem „Sieg des Judentums“.177
Dass die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie
es die Antisemiten zu wollen scheinen –, jetzt schon das Übergewicht, ja
ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; dass
sie nicht darauf hinarbeiten und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen
wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in
Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden.178
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100 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
schen Juden eine Tür öffne. So spricht zum Beispiel Yovel von
einer „kreativen Assimilation“.179 Vorauszusetzen aber sei eine Art
von Säkularisation. Indem sie den vom Christentum angerichteten
Schaden wiedergutmachten und ihre „ewige Rache“ zu einer
„ewigen Segnung“ machten, könnten die Juden schließlich Teil
jenes dionysischen Europas werden, das Nietzsche vorschwebt.180
Was wären aber dann diese ihres Judentums entblößten nicht-
mehr-jüdischen Juden? Handelt es sich hier vielleicht um eine
zugleich ambivalentere und grausamere Fassung der von Kant
vorgeschlagenen Euthanasie? Eine Euthanasie, die dieses Mal
nicht nur das Judentum, sondern auch das Christentum treffen
würde?
Nietzsche brauchte nicht die Ratschläge der Antisemiten der
letzten Stunde. Der Krieg begann für ihn schon vor vielen Jahr-
hunderten in der Umwertung der Werte und dem Sklavenauf-
stand. Er ahnte bereits den bevorstehenden letzten, und entschei-
denden Konflikt. Was konnte aber der „Züchtung“ einer „neuen
Kaste“ zur Regierung Europas entgegengesetzter sein als die
„Tschandalas“, die schon obenauf waren – „voran die Juden“?181
Luthers Anklage der Lüge wird von Nietzsche auf die Weltge-
schichte übertragen, indem er sie zu einer Fälschung ausweitet, die
nicht mehr nur auf die Heilige Schrift begrenzt wird, sondern die
Natur selbst betrifft. Sie sei verzerrt, entstellt und verkehrt wor-
den. Die Fälschung wird zum Schlüssel für die Entzifferung der
jüdischen Existenz. In einer Stelle aus Antichrist, die wirkungsge-
schichtlich zu Nietzsches wichtigsten Äußerungen über das Juden-
tum gehört, schreibt er:
Die Juden sind das merkwürdigste Volk der Weltgeschichte, weil sie, vor
die Frage von Sein und Nichtsein gestellt, mit einer vollkommen unheim-
lichen Bewusstheit das Sein um jeden Preis vorgezogen haben: dieser
Preis war die radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Reali-
tät, der ganzen inneren Welt so gut als der äußeren.182
179 Y. YOVEL: Dark Riddle. Hegel, Nietzsche and the Jews. A.a.O., 175
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„Anti-Antisemit“? 101
Das jüdische Volk, das sich selbst als ewig denkt, und durch seine
intensive Verbindung mit dem Leben stets noch jede Katastrophe
überlebte, hat sich über Jahrhunderte hinweg zu einer widernatür-
lichen Existenzform entwickelt. An sich eine Fälschung trägt der
Jude die schwerste Schuld, in Form der Umwertung der Werte,
des Imperativs, nicht zu töten als des Kerns der Sklavenmoral, die
Fälschung in die Weltgeschichte eingeführt zu haben.
Der Nationalsozialismus hat sich berufen gefühlt, die uralte
Wertordnung wieder herzustellen: Hatte das Judentum, auch in
seiner letzten Version, und zwar im Christentum, die Natur ge-
fälscht und so eine extreme Entartung verursacht, so sei es nun
nötig, zur Natur zurückzukehren, die Umwertung rückgängig zu
machen und die Verantwortlichen, die Fälscher, auszulöschen.183
Der Schritt zum Nationalsozialismus aber ist alles andere als
unmittelbar; auch kann der Ursache-Wirkungsnexus in diesem
Bereich nicht gelten. Dennoch ist Nietzsches Angriff auf das
Judentum verhängnisvoll, so wie sein Diskurs der Entartung, der
Euthanasie, der Beseitigung von Verdorbenen und Überflüssigen
verheerend ist.184 Davon konnten die biopolitischen Programme
der Nazis sich anregen lassen. In einer Welt der Krise als einer
Krise der Welt diagnostiziert Nietzsche die Krankheit und emp-
fiehlt die hart durchgreifende Kur.
Angesichts der fatalen Wirkungsgeschichte seines entschiede-
nen Antihumanismus und seiner Diskreditierung der Moral wurde
Nietzsche nach der Katastrophe der Shoah von den Überleben-
den angeklagt. Jean Améry lädt Nietzsche vor Gericht:
Nietzsche träumte „von der Synthese des Un- mit dem Übermenschen
[…]. Ihm ist zu antworten von jenen, die Zeugen waren der Vereinigung
des Unmenschen mit dem Untermenschen; sie waren in Opfergestalt
präsent, als eine gewisse Menschheit die Grausamkeit in Festfreude reali-
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102 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
sierte, wie Nietzsche selbst es in der Vorahnung von ein paar modernen
Anthropologien ausgesprochen hatte“.185
Was von Nietzsche in Hitlers Projekt Eingang fand, war ein direk-
ter und brutaler, von Ironie und anderen Feinheiten gereinigter
Jargon. Was blieb, war der radikal experimentelle Impuls und der
wilde Instinkt, intakte Tabus zu zerstören; innerhalb dieses apoka-
lyptischen Szenarios wird die Vernichtung denkbar.
Obwohl sein Ruhm weniger mit dem Lesen als mit dem Verbren-
nen der Bücher zusammenhängt, besaß Hitler eine beträchtliche
Bibliothek, in der sich unter anderem Werke von Historikern,
Schriftstellern, Dichtern und, nicht zuletzt, von Philosophen
befanden. Vorhanden waren die Vertreter des Idealismus, insbe-
sondere Fichte; eine herausragende Stellung nahmen Nietzsche
und Schopenhauer ein – letzter wohl sein, wie auch Wagners,
Lieblingsphilosoph. Hitler las in den Nachtstunden und folgte
einer „Mosaiktechnik“, indem er sich das aneignete, was er in den
Texten fand, um die fehlenden Steine einzusetzen.186
Als halb propagandistische und halb autobiographische Schrift
ist Mein Kampf lange für eine Ansammlung von leeren Banalitäten
und unsinnigen Halluzinationen genommen worden. Das hat eine
ernste Auseinandersetzung mit dem „verbotenen Buch“ verhin-
dert und dazu beigetragen, aus Hitler die Personifizierung des
absoluten Bösen zu machen, das außerhalb der Vernunft und
außerhalb der Geschichte steht.187 Wenn es aber so wäre, könnte
man nur schwer den mächtigen Einfluss nachvollziehen, den der
obwohl es nicht schwierig war und ist, sich das Buch antiquarisch, dank
illegaler Nachdrucke oder auf ausländischen Websites zu besorgen.
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Lüge und Fiktion 103
Hitlerismus auf Intellektuelle, Juristen und Philosophen jener
Jahre ausübte, sogar auf „einen so großen Geist wie Martin Hei-
degger“.188 Wenn man sich auf Mein Kampf bezieht, zitiert man das
Buch höchstens auf ungefähre Weise, ohne dessen Inhalt genauer
zu erläutern.
Die Frage ist eine hermeneutische: Ist es sinnvoll, Hitler zu
verstehen? Ist es an sich nicht schon zweideutig, in diesem Zu-
sammenhang von „Verstehen“ zu reden? Ist ein derartiger Ver-
weis auf das Verstehen und auf seine Semantik nicht riskant?
Doch Verstehen bedeutet weder rechtfertigen und noch weniger
übernehmen. Viel gefährlicher ist die immer noch verbreitete
Überzeugung, Taten und Untaten des „Dritten Reiches“ wurden
von allem, nur von keinem Denken geleitet – mindestens von
keinem Denken, das ernst zu nehmen sei. Man bildet sich ein,
seine Ideologie im Großen und Ganzen zu kennen; man verurteilt
den „Rassismus“, ohne aber zu wissen, was Hitler unter „Rasse“
verstand.189 So wird es schwierig, wenn nicht unmöglich, folgende
Fragen zu beantworten: Warum hielt Hitler die totale Exterminie-
rung des jüdischen Volkes für notwendig? Warum hat er den
Juden mit dem absoluten Feind identifiziert? Wer ist der Jude für
Hitler?
Nietzsches „Wille zur Macht“, Herbert Spencers „Evolutions-
theorie“, sowie biologische Erklärungsmodelle, nach denen sich
die Menschengattung als ein Ganzes aus verschiedenen Arten
erweist, fließen in eine Idee der Natur zusammen, in der der Le-
bensinstinkt ausschlaggebend ist. Dieser Instinkt setzt sich nicht
nur mittelst Selbsterhaltung durch; er zielt auch auf die „Höher-
188 B. ZEHNPFENNIG: Adolf Hitler: Mein Kampf. Studienkommentar.
W. Fink und UTB: München und Stuttgart 2011, 9. Für eine Rekonstruk-
tion von Hitlers Bild in einem historischen Zusammenhang s. Y. SHER-
RATT: Hitler’s Philosophers. Yale University Press: New Haven 2013, 3 ff.
Auf eine Schilderung seines Denkens und seines politischen Projekts zielt
das umstrittene Buch von J. C. FEST: Hitler: Eine Biographie. Propyläen
Verlag: Berlin 1973.
189 Das Risiko des Nichtkennens ist das Nichtwiedererkennen – zum
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104 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
züchtung des Lebens“ und auf das fortwährende Voranschreiten
aller seiner Hervorbringungen.190 Deshalb folgt er der Natur, die
in Hitlers Auffassung nahezu ein Hypersubjekt darstellt, das im-
stande ist, die durch Kampf und Auslese fortschreitende Steige-
rung zu überwachen und vorauszuplanen. So wie es die Tierarten
tun, so sollten sich auch die Menschenrassen verhalten: in dieser
Übertragung, in der Zumutung nämlich, dass die Menschen sich
in Arten einteilen lassen, liegt Hitlers biologischer Rassismus.
Nach ihm muss jede Art in sich abgeschlossen sein, sich sowohl
die innere Homogenität als auch die Differenz gegenüber anderen
Arten bewahren; vor allem muss sie jede Vermischung und jede
Kreuzung vermeiden. Denn die Vermischung der Menschenras-
sen, so wie die der Tierarten, sei Ursache für Verderb und Nieder-
gang. Nur derjenige, der naturgemäß überlegen sei, solle die
Oberhand gewinnen – folglich auch die überlegenen „Rassen“.
Wer gegen diese „eiserne Logik der Natur“ zu rebellieren versu-
che, beeinträchtige die Grundlagen des Daseins. Dass der Mensch
die Natur überwinden könne und müsse, ist für Hitler „der echt
judenhaft freche, aber ebenso dumme Einwand der modernen
Pazifisten“.191
Man sollte jedoch nicht glauben, Hitler vertrete einen determi-
nistischen Biologismus; denn einerseits bleibt der menschliche
Wille entscheidend, andererseits erweist sich sein Rassenbegriff
insofern als komplexer, als er zunächst die „Art des Denkens“
betrifft. Das tritt in dem Kapitel Volk und Rasse deutlich zutage. In
ihm werden die beiden antagonistischen Haupt-Rassen, die Arier
und die Juden, geschildert. Der Feind sei „die eigene Frage als
Gestalt“: Diese berühmte Formulierung von Theodor Däubler, an
die Carl Schmitt anknüpfte, veranschaulicht sowohl den Gegen-
satz als auch die Komplementarität der beiden Gestalten.192 Der
Arier hebt sich zwar vor dem dunklen Hintergrund des Juden ab,
190 A. HITLER: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Erster Band:
nungen der Jahre 1947 – 1951. Hrsg. von E. Frhr. Von Medem. Duncker
und Humblot: Berlin 1991, 213. Vgl. zu diesem Thema Kap. III, § 18.
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Lüge und Fiktion 105
wäre aber letzten Endes ohne den Juden nicht vorstellbar. All
seine Eigenschaften werden spiegelbildlich auf den Arier proji-
ziert.193
Die phylogenetische Frage, welche Rasse zur Begründung der
menschlichen Kultur beigetragen habe, wird von Hitler für müßig
gehalten; viel wichtiger sei die ontogenetische Frage, welche Rasse
nämlich die Eigentümlichkeiten zeige, die sie als den Stamm der
„Begründer“ von Kultur, Kunst, Wissenschaft sowie der allge-
meinen Werte erweise. Der Arier sei der „Prometheus der
Menschheit“, derjenige, der im Aufstand gegen die Götter die
göttlichen Attribute erobert habe, durch die er zum Prototyp des
Genius und der Schöpferkraft geworden sei. Die Charakteristik
des Ariers sei die Originalität der arché, die Begründungsfähigkeit.
Von ihm stammen „die Fundamente und Mauern aller menschli-
chen Schöpfung“. 194 Ihm ist die Basis des Abendlandes zu ver-
danken: „Hellenischer Geist und germanische Technik“, die sich
überall rasch verbreitet haben.195 So zeichnet sich eine Hierarchie
ab: von den „Kulturbegründern“ werden die „Kulturträger“ und
schließlich die „Kulturzerstörer“ unterschieden. Träger seien etwa
die Japaner, die Repräsentanten eines asiatischen, scheinbar leicht
kontrollierbaren Orients, dessen entfernte Andersheit im Unter-
schied zur näheren Andersheit des Juden nicht beunruhigend ist.
Die Vorherrschaft des Ariers hängt nicht von einer „stärkeren
Veranlagung des Selbsterhaltungstriebes an sich“ ab, sondern von
der Art, in der er seinen „Willen“ ausdrückt. Seine Größe liege in
einem „Idealismus“, der ihn dazu dränge, alle seine Fähigkeiten
bis zum „Opfer“ in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen.196 Im
unentrinnbaren Zyklus der Geschichte, der jeweils vom Aufstieg
zum Untergang führt, kann das „Herrenvolk“ die Herrschaft
dadurch bewahren, dass es sein „Blut“ – Metapher seiner Identität
– rein erhält.197
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106 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
Der Jude, der im Laufe der Jahrhunderte sein Wesen niemals
verändert habe, wird von Hitler durch das Fehlen der arché charak-
terisiert: Er hat weder Originalität, weder Schöpferkraft noch
Genialität. Er kann nichts begründen; vielmehr kann er nur zer-
stören. Er ist der Prototyp der Zerstörer. Genauer betrachtet habe
der Jude nichts, was sein Eigenes wäre, was er hat, sei nur ausge-
liehen. In diesem Sinn entbehre er jeder wahren Kultur. Juden
können nur „nachahmen“ und reproduzieren; ihr „Intellekt“
wirke nur „zerstörend“.198
Im Gegensatz zur gängigen Überzeugung will Hitler die Juden
nicht einmal als Nomaden begreifen, da der Nomade „einen be-
stimmt umgrenzten Lebensraum“ einhalte, in dem er seine Kultur
aufbauen konnte. Umgekehrt habe der Jude keine Erde und keine
Eigenschaften; er sei daher „kein Nomade, sondern immer nur
Parasit im Körper anderer Völker“. Er emigriere zeitweise nur,
weil der Autochthone ihn austreibe und verbanne, sobald er ihm
den Schleier entreiße, hinter dem er sich verberge.199
Indem aber der Jude ohne Eigentum und ohne Eigenschaft sei,
indem er alles nur ausgeliehen, in einem fiktiven Besitz habe und
nur nachahmen könne, entzieht er sich einer Definition.200 Worin
könnte denn sein Wesen bestehen, wenn von ihm jedes Mal ge-
sagt wird, was er nicht sei bzw. was er nur zu sein fingiere?
Dieses Problem erahnend beruft sich Hitler auf Schopenhauers
Ausspruch: „Der Jude sei ‚der große Meister im Lügen‘“.201 Mehr
noch: Die Lüge kennzeichne seine „Existenz“ selbst.202 Denn der
Jude fingiere, zu sein, was er nicht ist – er verheimlicht, betrügt,
betreibt Mimikry. In diesem Nicht-Sein, dessen der Jude beschul-
digt wird, ist die Verurteilung enthalten, die zur Vernichtung füh-
ren wird.
Dabei taucht nicht nur die Schwierigkeit auf, den Juden zu de-
finieren, sondern auch das Judentum in seiner Komplexität zu
schen Bereich, einige Jahre später, in der Zeit der Nürnberger Rassenge-
setze wieder auftauchen.
201 Ebd., 335.
202 Ebd.
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Lüge und Fiktion 107
durchschauen. Der Jude gebe dem Gastvolk zu glauben, das Ju-
dentum sei eine Religion und solle demzufolge als eine „Religi-
onsgemeinschaft“ toleriert werden. Wie kann es aber eine Religion
sein, wenn die Juden nicht an ein „Jenseits“ glauben? „Tatsächlich
ist auch der Talmud kein Buch der Vorbereitung für das Jenseits,
sondern nur für ein praktisches und erträgliches Leben im Dies-
seits“.203 Hitler spricht erneut die Anklage aus, die mindestens bis
auf Kant zurückgeht: Das Judentum sei keine Religion. Es habe
mit dem „wahren Christentum“ nichts gemeinsam – wie der
„große Gründer der neuen Lehre“ schon gezeigt habe.204
In Wirklichkeit sei das Judentum keine Religionsgemeinschaft,
sondern ein „Volk“; und zwar nicht irgendein Volk, sondern
dasjenige, das die Jahrhunderte auf rätselhafte Weise überlebt
habe, obwohl es den entsetzlichsten Geschehnissen ausgesetzt
gewesen sei. Hitler sieht einen „hartnäckigen Lebenswille[n]“ am
Werk, der ihm zugleich Bewunderung, Neid und Furcht abzufor-
dern scheint. Werden die „Arier“, das „Herrenvolk“, sich in der
Geschichte so wie jenes „Sklavenvolk“ durchsetzen?
Um diese Frage zu beantworten gilt es, das Rätsel dieses irritie-
renden Überlebens, das Arcanum des Judentums, zu entdecken.
In Hitlers Augen ist es das „Blut“: die vom jüdischen Volk bean-
spruchte Auserwählung sei nichts anderes als eine Strategie zur
Erhaltung der inneren Homogenität und zur Unterminierung der
gegnerischen Identität; durch den Betrug sabotieren die Juden die
Natur und zerfressen die ganze Kultur. Die hier vollzogene Ver-
schiebung des Themas ist entscheidend: Wurden die Juden vorher
als Brunnenvergifter, so werden sie jetzt als Blutvergifter stigmati-
siert. „Der Jude vergiftet das Blut der andern, wahrt aber sein
eigenes“.205 Der Rassismus, den Hitler den Juden vorwirft, recht-
fertige daher alle Mittel, mit denen die Arier zum Schutz ihres
Blutes gegen seine Vergiftung vorzugehen gezwungen seien.
Die Mimikry, die z.B. in der Assimilation geübt wurde, hat sich
in der Sprache vollzogen. Die Juden haben sich für das ausgege-
ben, was sie nicht waren: Franzosen, Italiener, Engländer usw.
Zuletzt seien sie sogar dazu gekommen, sich für Deutsche auszu-
203 Ebd., 336.
204 Ebd.
205 Ebd., 346.
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108 Die Philosophie und der Hass gegen die Juden
geben. Aber der Jude, der Deutsch spreche, bleibe Jude: hinter der
Sprache verbergen sich jüdische Gedanken. Der Jude ist also für
Hitler polyglott; er gehe von einer Sprache in die andere über.
Sobald er jedoch sein Ziel erreicht habe, werde er eine „Universal-
sprache“, z.B. das „Esperanto“, reden.206 Was ist dann sein Ziel?
Wie sein Wesen unter einem theologischen Aspekt nicht defi-
nierbar ist, so ist es auch unter einem politischen schwer zu fas-
sen. Den Juden sei unbekannt, was der Idealismus sei; sie seien
vom Egoismus dominiert. Sie kennen keine Ordnung, haben
keine arché und vereinigten sich nur gelegentlich. Sie kämpften
nicht, entzögen sich einer fairen Konfrontation. Durch die Verwi-
schung der Grenzen beeinträchtigten sie das Freund-Feind-
Schema. Der Jude sei ein sich versteckender, ja unsichtbarer Feind
– der gefährlichste. Wegen ihres Egoismus und vor allem ihrem
Mangel an Erde seien sie keine Anhänger der Staatsform. Das
bedeute aber nicht, dass sie keine politischen Absichten hätten.
Am Zyklus der Geschichtsphasen vorbei laufen die Juden ei-
nen geradlinigen und aufsteigenden Weg, dessen Ziel Hitler schon
in seinen Wiener Studienjahren kannte. „Sollte diesem Volke, das
ewig nur dieser Erde lebt, die Erde als Belohnung zugesprochen
sein?“.207 Die zwei Mittel, derer sich die Juden zur Erlangung der
Weltherrschaft bedienten, seien Zionismus und Marxismus. Da sie
ein Volk von „Fremden“ seien, die „quer“ zu den anderen Völ-
kern leben, versuchten sie durch den Zionismus den Anschein zu
erwecken, dass „die Selbstbestimmung der Juden in der Schaffung
eines palästinensischen Staates seine Befriedigung fände“; damit
„betölpeln die Juden abermals die dummen Gojim“, denn „sie
denken gar nicht daran, in Palästina einen jüdischen Staat aufzu-
bauen, um ihn etwa zu bewohnen“.208 Aufgrund der Anarchie, die
die Israelstämme im Umgang miteinander kennzeichne, seien sie
nicht imstande, einen territorial begrenzten Staat zu bewahren.
Was sie wünschten, sei nur „eine mit eigenen Hoheitsrechten
ausgestattete, dem Zugriff anderer Staaten entzogene Organisati-
onszentrale ihrer internationalen Weltbegaunerei“. 209 Der immer
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Lüge und Fiktion 109
widerrechtlich, d.h. immer schon gegen den Willen der Autoch-
thonen, angeeignete „Zufluchtsort“ sei ein grenzenloser Raum,
der das Gleichgewicht der Welt destabilisiere und auf die ange-
strebte planetarische Herrschaft der Juden hindeute.210
Viel mehr als der Zionismus sei aber der Marxismus zu fürch-
ten, den Hitler als die jüdische Ideologie par excellence betrachtet.
Während die Juden sich des Kapitals bemächtigt hätten, das die
nationalen Schranken allmählich beseitige, hetzten sie andererseits
das Proletariat auf, indem sie es zum antikapitalistischen Kampf
aufriefen. Der Internationalismus öffne den Weg zur Revolution,
die – so wie in Russland, wo die jüdische Intelligenzija Millionen
von Sklaven angeführt habe – nichts anderes sei als der letzte
Schritt zur jüdischen Weltherrschaft.211
Am Ende des Kapitels Volk und Rasse zeichnet sich der plane-
tarische Konflikt ab, der die geopolitischen Grenzen überschreitet
und die Konturen eines metahistorischen und metaphysischen
Zusammenstoßes annimmt. Den Ariern wird die Aufgabe zuge-
teilt, den jüdischen Aufstieg zum Weltkönigtum aufzuhalten.
Doch der Untergang droht. Und wenn das arische, zur Herrschaft
berufene Volk versagen sollte, würde es das Recht auf sein „irdi-
sches Dasein“ verlieren. 212 Damit wird der sogenannte Nero-
Befehl, den Hitler am 19. März 1945, kurz vor seinem Selbstmord,
in seinem Berliner Bunker erließ, bereits angekündigt. Er befahl,
jegliche Infrastruktur im Reich zu zerstören, weil kein Arier, oder
besser, weil kein Deutscher die Niederlage überleben durfte.
210 Ebd.
211 Vgl. ebd., 357-358.
212 Ebd., 359.
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III. DIE SEINSFRAGE UND DIE JUDENFRAGE
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112 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Kehre ist weit mehr die Art, in der sich das Sein gibt. Das Sein
selbst ist „kehrig“.3
Auf Deutsch meint „Kehre“ eine enge Kurve auf einem Berg-
weg, die zugleich einen Richtungswechsel und eine Höhenände-
rung bedeutet, jenes Zurückkommen, das aber ein Vorgehen zum
Gipfel ist. In der Gebirgslandschaft, auf kühnen Pfaden, abrupt
verschwindenden Holzwegen, noch verborgenen Routen, nimmt
Heideggers spekulatives Universum Konturen an. So markiert die
„Kehre“ mehr als ein Vorher und ein Nachher. Sie ist die Falte, in
der sich Heideggers Meditation vertieft, in der der Ort seiner
Philosophie ruht.
Sein und Zeit geht aus von der Existenz, oder besser: vom
menschlichen Dasein in seiner Faktizität. Unter allen Seienden ist
das Dasein das einzige, das imstande ist, sich die Frage nach dem
Sein zu stellen. Heideggers Weg folgt dem sich entwerfenden
Dasein in seine Möglichkeiten, bis zu seiner äußersten Möglich-
keit, nicht mehr zu sein, d.h. bis zu seinem jemeinigen Tod. Doch
das Ende des Daseins ist keineswegs gleichbedeutend mit der
Vollendung der philosophischen Forschung und insofern auch
nicht mit dem Abschluss des Werkes, das nur vorläufig beendet
wurde und daher unabgeschlossen blieb. Heidegger selbst fragt
sich, ob seine Orientierung nicht einseitig gewesen sei, ob sein
Interesse für die Eigentlichkeit des Seins-zum-Ende die Aufmerk-
samkeit nur auf „das eine Ende“ gezogen habe, während das ande-
re, der Anfang, die „Geburt“, im Schatten gelassen worden sei.4
Was ist der Anfang? Die Herkunft des Daseins? Handelt es
sich um die unvordenkliche Quelle, der die Faktizität entspringt,
in welche das Dasein geworfen ist? Es ist die Endlichkeit des
Daseins, die das Denken drängt, sich dem Ursprung zu öffnen, es
ist seine Geschichtlichkeit, die den Übergang zur Seinsgeschichte
fordert.
Was bedeutet jedoch Seinsgeschichte? Sie ist weder eine An-
sicht der Geschichte und noch weniger das Objekt einer Historio-
graphie. Geschichte verweist auf Geschehen. Die Seinsgeschichte
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Die Nacht des Seins 113
ist das Geschehen des Seins, das sich in seinem Zerbrechen als ein
epochales Zeichen erweist.
Das große Problem der Philosophie, das Sein, wird im Lichte
seiner Geschichte gelesen, damit dieses so schwer zu fassende und
rätselhafte Verb sich von der metaphysischen Kristallisation be-
freien kann, in der der grammatische Infinitiv „Sein“ zu einem
Seienden unter anderen geworden ist.5 Die Seinsgeschichte ist also
keine Ontologie. Das Wort „Ontologie“ – bemerkt Derrida in
seiner Vorlesung von 1964 – müsse sich sogar als „das unadäqua-
teste erweisen“, da „Heideggers Unternehmen nicht die Grün-
dung einer Ontologie, sondern die Destruktion der Ontologie“ sei.6
In den Schwarzen Heften, am Anfang der Überlegungen IV, die
1934/35 datiert sind, bedient sich Heidegger eines orthographi-
schen Hilfsmittels, auf das er auch anderswo zurückgreift, um von
der Sprache der Metaphysik Abstand zu nehmen. Mit einer neuen
Schreibweise führt er die neue Art, das Sein zu denken, ein: es
geht nicht mehr um das Sein, sondern um das Seyn. Er bezeichnet
die Aufgabe, die vor ihm steht: „Dem Seyn im Begriff eine Bahn
brechen“.7 Das bedeutet, seiner Entfaltung bzw. seiner „Wesung“
zu folgen.8
Der letzte Horizont der Schwarzen Hefte ist also die Seinsfrage,
die nicht als ein überzeitliches Problem, sondern als eine ge-
schichtliche Frage eine Antwort von ihren Adressaten fordert.
Soweit das Denken am Beginn der dreißiger Jahre sich vertieft
und festigt, radikalisiert es die Seynsgeschichte in einem politi-
schen Sinn. Je mehr die Situation zu scheitern droht, desto mehr
scheint sich Heidegger paradoxerweise von allem Zögern und
allen Fesseln frei zu machen. Viel später, in einem Brief an Han-
nah Arendt vom 6. Mai 1950, wird er sich so an diese Zeit erin-
nern: „Dann kam noch einmal ein Ruck 1937/38, wo mir die
Katastrophe Deutschlands klar war und aus dieser Last einen
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114 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Druck ausstrahlte, der mich noch zäher und freier aus der Sache
denken ließ“.9
Die zu Ende gehende Epoche der Metaphysik, die lange Zeit-
spanne zwischen dem ersten griechischen Anfang und dem „ande-
ren Anfang“, auf den man wartet, ist nicht nur durch die Verges-
senheit des Seyns, sondern auch von seiner Verlassenheit gekenn-
zeichnet. Mit beinahe obsessivem Nachdruck prangert Heidegger
die Seinsverlassenheit an, die er in einem zweifachen Sinn ver-
steht: sowohl als Verlassenheit des Seins als auch als Verlassenheit
vom Sein. Beim Näherrücken des Endes, während der Übergang
zum anderen Anfang sich öffnet, entzieht sich das Seyn. Man
kann sogar sagen, dass das Sichentziehen des Seyns, das vergessen,
verschleiert, verborgen bleibt, das Indiz des vollendeten Nihilis-
mus, des unausweichlichen Endes der Modernität, die letzte Phase
der Metaphysik ist. Es ist die Nacht des Seyns.
In den Überlegungen VIII von 1938/39 schreibt Heidegger: „Die
Nacht aber gehört zum Seyn und ist nicht etwa nur ein ‚Bild‘
desselben“, eine Versinnlichung des Unsinnlichen; denn die Nacht
ist „nichts Gegenständliches und Vorstellbares – nichts Seiendes –
sondern eine Wesung des Seyns“.10 Die Nacht ist nichts Negati-
ves; sie würde es sein, wenn sie als Verneinung des Tages beurteilt
würde, so wie die Kälte als Verneinung der Wärme beurteilt wird.
Aber „Kälte und Nacht sind die verborgenen Schreine, in denen
das Einfache unberührbar aufbewahrt wird“.11 Das Seyn, das zur
Kälte der Nacht gehört, das sich dorthin zurückgezogen und in
Erwartung des bevorstehenden Endes Zuflucht gefunden hat, ist
der dunkle Protagonist der Schwarzen Hefte.
Heidegger hat immer, sowohl als Schriftsteller als auch als Redner,
an seine Adressaten gedacht. Zwischen Vorlesungen, Vorträgen,
Seminaren, Briefen, Aufsätzen, Erläuterungen, Büchern spekulati-
9 H. ARENDT – M. HEIDEGGER: Briefe 1925 bis 1975 und andere
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Von einem esoterischen Ton… 115
ven Charakters, liegen die Unterschiede auf der Hand. Kann man
deshalb in seinem Denken eine esoterische von einer exoterischen
Dimension unterscheiden? 12 Einer Anregung von Volpi zufolge
ist es vielleicht angebracht, die Art, in der Heidegger seine Schrif-
ten aufteilt, dem Kriterium anzunähern, mit dem das corpus Aristo-
telicum in der Tradition differenziert worden ist. 13 Zwischen den
exoterischen, für die Öffentlichkeit bestimmten, und den esoteri-
schen, an wenige gerichtete Schriften, gibt es einen kontinuierli-
chen Initiationsweg. In einer autobiographischen Note von
1937/38 Über die Bewahrung des Versuchten, die dem Testament
Wunsch und Wille beigelegt ist, schlägt Heidegger selbst eine Glie-
derung seiner Schriften vor, die sich folgendermaßen zusammen-
fassen lässt:
1. Die Vorlesungen
2. Die Vorträge
3. Die Aufzeichnungen zu den Übungen
4. Die Vorarbeiten zum Werk
5. Überlegungen und Winke
6. Die Hölderlinvorlesung (WS 1934/35) und die Vorarbeiten
zum „Empedokles“
7. Vom Ereignis (Beiträge zur Philosophie).14
In dieser aufsteigenden Hierarchie, in der die Beiträge den Gipfel
darstellen, d.h. den Punkt, der den unantastbaren und verborge-
nen Falten des Seyns am nächsten liegt, nehmen die Schwarzen
Hefte, die durch den Titel „Überlegungen und Winke“ bezeichnet
werden, die dritthöchste Stufe ein. Heidegger unterstreicht ihre
Grundstimmung des Fragens, die Weisungen in die äußersten
Gesichtskreise, die Unmittelbarkeit – sie seien „je nach Augenbli-
cken entstanden“ – und die „unausgesetzte Bemühung um die
einzige Frage“.15 Die Aura der Beiträge geht auf die Schwarzen Hefte
über und hüllt sie in das Rätsel ein. Beide erschienen nach Hei-
deggers Willen posthum. Was sie gemeinsam haben, ist ein krypti-
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116 Die Seinsfrage und die Judenfrage
scher Stil, der Kürze, Beharrlichkeit, Wiederholung bevorzugt,
sowie eine sehr geschmeidige Sprache, die sich der Herrschaft des
diskursiven Denkens zu entziehen sucht. Und schließlich geht es
bei beiden um das Einzige, das Seyn, das sich zu entfernen
scheint, sobald der Initiationsweg den Gipfel zu erreichen scheint.
Wenn die Beiträge sich eher als ein philosophisches Destillat erwei-
sen, wurden die Schwarzen Hefte zwar in einem esoterischen Ton,
jedoch mit spontanerer Freiheit geschrieben. Sie behandeln The-
men der Politik, der Theologie und Philosophie in ihrer unlösba-
ren Verschlingung, und erzählen Heideggers einsame und tragi-
sche Geschichte, sein ungeheures Scheitern.
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Antisemitismus und die nie verscheuchten Zweifel 117
musste ausgesprochen werden. Heidegger verteidigte sich, indem
er alles leugnete und die Gerüchte sarkastisch zurückwies.
Liebe Hannah!
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118 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Nicht unmöglich, dass dieser Brief zu Arendts Entscheidung
beigetragen hat, Deutschland im August 1933 zu verlassen.18
Heideggers Verteidigung ist dermaßen zweideutig, dass sie in
eine Selbstanklage umschlagen muss. Über den zornigen Ton
hinaus, mit dem er seine großzügige Hilfsbereitschaft, die den
Juden gewährte Unterstützung betont, ist mehr als auffällig, dass
er das Recht beansprucht, in akademischen Fragen „Antisemit“
sein zu dürfen. Als ob ein akademischer Antisemitismus vernünf-
tig und daher legitimierbar sein könnte, als ob er sich auf die zwi-
schenmenschlichen Beziehungen nicht auswirken würde.
Erstaunlich, dass diese beiden Argumente noch heute von den-
jenigen angeführt werden, die versuchen, Heidegger zu entlasten.
Das erste Argument, das sich genauer betrachtet als ein Trug-
schluss herausstellt, setzt stillschweigend eine Unterscheidung
zwischen dem militanten, biologisch-rassistischen Antisemitismus
der Nazis und dem kultur-universitären Antisemitismus voraus,
der harmlos und unverfänglich sei. Das Argument lautet so: Da
der Antisemitismus biologisch ist, Heidegger aber jeden Biologis-
mus ablehnte, darf er nicht des Antisemitismus bezichtigt werden.
Das zweite Argument betrifft die Freunde: Da Heidegger über
Jahre und Jahrzehnte hinweg Beziehungen zu Juden hatte, kann er
kein Antisemit gewesen sein.19
Im damaligen Deutschland, in dem über fünfhunderttausend
Juden lebten, war es kaum möglich, den Umgang mit ihnen zu
vermeiden.20 Es waren die Maßnahmen der neuen Regierung, die
die Juden ab dem April 1933 von den Ämtern, von der öffentli-
chen Sphäre und, in wachsendem Tempo, vom Leben des Landes
ausschlossen. Aber auch jenseits dieser Maßnahmen hatten über-
zeugte und erklärte Antisemiten keinerlei Schwierigkeit, ihre Ju-
denfeindlichkeit auszuleben. Karl Löwith z.B. schreibt in seinen
Erinnerungen, dass sie keinerlei Schwierigkeiten hatten, zwischen
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Antisemitismus und die nie verscheuchten Zweifel 119
den „‚persönlichen‘ Beziehungen zu Juden und den ‚sachlichen‘
Notwendigkeiten der n.s. Politik“ zu trennen. 21 Auch für den
Juristen Carl Schmitt war der Antisemitismus gewöhnlich. 22 Die
Situation war beinahe schizophren. Das entging einer scharfsinni-
gen Beobachterin wie Simone Weil nicht, die bei ihrem Besuch in
Berlin im August 1933 in einem Brief schrieb: „noch einmal treten
die antisemitischen und nationalistischen Gefühle in den persönli-
chen Beziehungen gar nicht vor“.23
Die Anwesenheit der Juden an den Universitäten und in der in-
tellektuellen Welt überhaupt war unübersehbar. 24 War es aber
deswegen unvermeidbar, darauf mit einem akademischen oder
geistigen Antisemitismus zu reagieren? War etwa die Furcht vor
der „Verjudung“ der Universität verständlich?
Mindestens zweimal hat Heidegger dieses Wort benutzt. In ei-
nem Brief vom 2. Oktober 1929 warnte er Viktor Schwoerer, der
Berater des Ministeriums für öffentliche Bildung des Landes Ba-
den war:
ter Brief Heideggers. In: Die Zeit 52 vom 22.12.1989, 50. Vgl. auch das
Zeugnis von Max Müller: Als ein Jude, der Mediziner Siegfried Thann-
hauser, eine Professur in Freiburg 1931 antrat, zog Heidegger im Ge-
spräch mit Müller seine Aufmerksamkeit darauf, „dass ursprünglich nur
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120 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Viele Jahre zuvor, in einem Brief an seine zukünftige Frau Elfride
Petri vom 18. Oktober 1916, schrieb Heidegger:
zwei jüdische Ärzte in der Internistik tätig waren, dann schließlich aber in
diesem Fach nur noch zwei Nichtjuden anzutreffen waren. Das hat ihn
schon etwas geärgert“. Vgl. Gespräch mit Max Müller. In: M. HEID-
EGGER: Briefe an Max Müller und andere Dokumente. Hrsg. von H.
Zaborowski und A. Bösl. Alber: Freiburg – München 2004, 128.
26 „Mein liebes Seelchen!“ A.a.O., 51.
27 Vgl. J. KATZ: Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus. Eine
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Antisemitismus und die nie verscheuchten Zweifel 121
sich trotz der Kontinuität gerade hierin vom christlichen Antijuda-
ismus unterscheidet: „Verjudung“ wird zur Metapher der jüdi-
schen Herrschaft. Die europäische Kultur sei dem Juden äußerlich
geblieben, denn dieser, bei all seinen Bemühungen, sich beinahe
bis zur Auslöschung seines eigenen Ursprungs zu assimilieren, sei
seiner fortwährenden und unveränderlichen Natur nach ontolo-
gisch fremd. Deshalb unterminiere er die Kunst, die Kultur, den
Geist. Aus Wagners Ansicht geht eine neue, umfassendere Kate-
gorie des „Juden“ hervor, dessen negatives Wesen sich in seiner
Fähigkeit offenbart, mit seiner Entartung und seiner Korruption
alles zu kontaminieren. Mehr noch: Die Moderne wird zum „jüdi-
schen Zeitalter“. Die Juden seien verantwortlich für alles Böse,
während das Judentum umgekehrt nur „das üble Gewissen unse-
rer modernen Zivilisation“ sei.30
Das Thema der „Verjudung“ wird dann von Marr aufgenom-
men und nicht nur von Dühring, sondern auch von Hitler weiter
entwickelt. Hitler beklagt in Mein Kampf nicht nur die „verjudeten
Universitäten“, sondern auch die „Verjudung unseres Seelenle-
bens“.31
Wie Heidegger bei mindestens zwei Gelegenheiten, 1916 und
1929, in einem Abstand also von über 10 Jahren, von einer „Ver-
judung“ zu reden, heißt nicht, an einer christlichen Judeophobie
zu leiden, die im Badischen Katholizismus dank seines „sich
fromm gebärdenden Gewissensdespotismus“ verbreitet war.32 Es
bedeutet vielmehr, eine stereotypische, doch moderne Ansicht des
Juden und des Judentums zu teilen. Die Furcht vor der Anwesen-
heit der Juden an den Universitäten und die Angst vor der Kon-
tamination des „deutschen geistigen Lebens“ gehören zu einem
Antisemitismus, gemäß dem der Jude kein gleichberechtigter
Mitbürger, sondern ein Nicht-Deutscher, ein Nicht-Autochthoner
30 Ebd, 190.
31 W. MARR: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum.
A.a.O., 8; E. DÜHRING: Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfra-
ge. Reuther: Karlsruhe 1881, 144; A. HITLER: Mein Kampf. A.a.O., 184,
270; A. ROSENBERG: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der
seelisch-geistigen Gestaltungskämpfe unserer Zeit. Hoheneichen: Mün-
chen 1930, 129.
32 „Mein liebes Seelchen!“ A.a.O., 78.
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122 Die Seinsfrage und die Judenfrage
ist, der sich als hoffnungslos fremd und unerwünscht erweist. Zur
Verjudung ist kein Kontakt nötig: Als Prinzip der Unreinheit ist
der Jude schon in all dem unrein, was zu ihm gehört oder an sei-
nem Leben teilhat. Es gibt eine jüdische Wissenschaft, eine jüdi-
sche Kunst, eine jüdische Musik, vor denen man sich hüten muss.
So wird eine Trennung zwischen Reinem und Unreinem, Heiligem
und Profanem eingeführt, die durch die „sakralen“ Reichsgesetze,
angefangen mit dem Gesetz vom 15. September 1935 „zum
Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, bezeugt
und befestigt werden wird.33
Heidegger kommt auf dieses Thema auch in Briefen zurück,
obwohl er auf das Wort „Verjudung“ verzichtet. Das ist etwa der
Fall, wenn er sich auf den Band Hölderlin und Diotima: Dichtungen
und Briefe der Liebe bezieht, der vom Germanisten Rudolf Ibel für
den jüdischen Verlag Manesse herausgegeben wurde. Am 8. Sep-
tember 1920 schreibt Heidegger:
Manesse [?] – Hölderlin ist so grotesk, daß man nur lachen kann – ob wir
je noch mal aus dieser Verseuchung zu einer ursprünglichen Frische u.
Bodenständigkeit des Lebens kommen – manchmal möchte man schon
geistiger Antisemit werden.34
Was Du über das Judenblatt u. den Tick [?] schreibst, war auch schon
mein Gedanke. Man kann hier nicht mißtrauisch genug sein. [...] Aber wie
ich schon schrieb – so viel Überwindung einem die Nazis abfordern, es
ist immer noch besser, als diese schleichende Vergiftung, der wir in den
letzten Jahrzehnten unter dem Schlagwort „Kultur“ u. „Geist“ ausgesetzt
waren.35
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Antisemitismus und die nie verscheuchten Zweifel 123
Der Briefwechsel scheint nicht vollständig veröffentlicht worden
zu sein. Die Herausgeberin Gertrude Heidegger behauptet, sie
habe, um „Spekulationen vorzubeugen“, alle ihr „vorliegende
Briefe von 1933 bis 1938“ in das Buch aufgenommen und „jede
der insgesamt wenigen antisemitischen und politischen Äußerun-
gen bezüglich des Nationalsozialismus“ zitiert. 36 Das Argument
der Seltenheit antisemitischer Äußerungen ist aber nicht beson-
ders sinnvoll – nicht nur, weil es eben nicht sicher ist, dass das
Material vollständig publiziert wurde, sondern weil angesichts
dieser Aussagen ihre Anzahl nicht entscheidend ist.
Fokussiert man den Briefwechsel auf das Wort „Jude“, so stößt
man auf einen Antisemitismus, der aus ordinären Stereotypen und
gewöhnlichen Vorurteilen besteht. In einem am 12. August 1920
in Meßkirch geschriebenen Brief notiert Heidegger:
Die Lutherausgabe ist mir unentbehrlich geworden [...]. Hier spricht man
viel davon, dass jetzt so viel Vieh aus den Dörfern von den Juden fortge-
kauft wird u. daß es dann mit dem Fleischkauf im Winter zu Ende sei. [...]
– die Bauern werden hier oben allmählich auch unverschämt u. alles ist
überschwemmt von Juden u. Schiebern.37
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124 Die Seinsfrage und die Judenfrage
munistisch“. Er fügt noch hinzu: „Trotzki läßt jede Woche ein
Heftchen zu 20 Pfg. in Deutschland erscheinen, worin er sich
über die Lage ausspricht, beobachtet u. Richtungen gibt“. Heid-
egger studiert sogar die Presse: „Baeumler hat für mich die ‚Jüdi-
sche Rundschau‘ bestellt, die ausgezeichnet orientiert u. Niveau
hat. Ich werde Dir die Nummern schicken“.40
Die diffamierende Geste schreibt sich in ein Gutachten über
Baumgarten ein, das der Dozentenbund Göttingen 1933 von
Heidegger fordert. Es ist Jaspers, der es 1945 denunziert. Heid-
egger habe von Baumgarten gesagt: er „nahm rege Verbindungen
zu dem […] jetzt von hier entlassenen Juden Fraenkel auf“. 41
Doch Heidegger verteidigt sich: „Parteijargon“ – die Abschrift sei
ein Auszug, die letzte Fassung dem Original nicht entsprechend
gewesen.42
Problematischer aber als dieses Dokument, das viele Polemiken
ausgelöst hat, ist Heideggers Urteil über Richard Hönigswald. So
wie in anderen Bereichen der Wissenschaft und der Kultur, gab es
viele Juden auch in der Philosophie: Hermann Cohen, Edmund
Husserl, Ernst Cassirer, Georg Simmel und Max Scheler waren
allesamt jüdischer Herkunft. Als namhafter Vertreter des Neokan-
tianismus hatte Hönigwald lange in Breslau unterrichtet, bevor er
1930 nach München kam. Dort wurde er am 1. September 1933
vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Heidegger spekulierte damals
auf die Möglichkeit, Hönigwalds Stelle an der Münchener Univer-
sität zu übernehmen. München war – wie er in einem Brief vom
19. September 1933 an seine Freundin Elisabeth Blochmann (eine
Jüdin, die im Begriff war, nach England auszuwandern) bemerkte
– nicht so „isoliert“ wie Freiburg; in diesem Zusammenhang be-
tonte er einen weiteren Vorteil von München: „an Hitler heranzu-
kommen“. 43 Schwierig zu sagen, ob Heidegger zur Entfernung
40 Ebd., 175-176.
41 Jaspers’ Text findet sich in M. HEIDEGGER – K. JASPERS: Briefwech-
sel 1920 – 1963, 271.
42 GA 16, 373. Vgl. ebd., 774. Heidegger hat immerhin zwei günstige
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Metapher einer Abwesenheit 125
von Hönigswald beigetragen hat; das ist jedenfalls das Urteil, das
er am 25. Juni 1933 verfasste:
Hönigswald kommt aus der Schule des Neukantianismus, der eine Philo-
sophie vertreten hat, die dem Liberalismus auf den Leib zugeschnitten ist.
Das Wesen des Menschen wurde da aufgelöst in ein freischwebendes
Bewusstsein überhaupt und dieses schließlich verdünnt zu einer allgemein
logischen Weltvernunft. Auf diesem Weg wurde unter scheinbar streng
wissenschaftlicher philosophischer Begründung der Blick abgelenkt vom
Menschen in seiner geschichtlichen Verwurzelung und in seiner volkhaf-
ten Überlieferung seiner Herkunft aus Boden und Blut. Damit zusammen
ging eine bewusste Zurückdrängung jedes metaphysischen Fragens, und
der Mensch galt nur noch als Diener einer indifferenten, allgemeinen
Weltkultur. Aus dieser Grundeinstellung sind die Schriften und offen-
sichtlich auch die ganze Vorlesungstätigkeit Hönigswalds erwachsen.44
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126 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Es ist hervorzuheben, dass die Bezeichnung „Jude“ sowie das,
was zu dieser Bezeichnung gehört, zum philosophischen Kontext
der „Seynsgeschichte“ gehört. Heidegger berührt ein Thema, das
die Geschichte der abendländischen Philosophie seit langem
kennt: dasjenige der Beziehung zwischen dem Sein und dem Ju-
den.
Wenn also die Rolle des Protagonisten im dramatischen Szena-
rio der Seynsgeschichte, des Schicksals des Abendlandes, von
Anfang an dem Juden zugeschrieben wird, wie erklärt sich dann
das Schweigen, das ihn zu verbergen scheint? In den zahlreichen,
von Heidegger am Ende beinahe jeden Heftes selbst verfertigten
Stichwortverzeichnissen kommt das Stichwort „Jude“ nie vor.
Warum diese Ausschließung?
Es ist legitim, sich weiter zu fragen, warum der Jude in den
Schwarzen Heften, die für die Veröffentlichung bestimmt waren, erst
seit 1937 auftritt und warum seine Anwesenheit in der Zeit von
1939 bis 1941 auf exponentielle Weise wächst.47 Der Fall ist nicht
singulär. Es bestehen Ähnlichkeiten zu Carl Schmitt. In seinen
Schriften tauchen antisemitische Ausdrücke ab 1933 auf und
mehren sich in den Kriegsjahren.48 Heidegger und Schmitt identi-
fizieren mit dem „Juden“ den Feind eines planetarischen Krieges,
den Deutschland gegen die ganze Welt zu kämpfen hat.
Schmitts Strategie, die er nicht erfunden hatte, sondern die in
jenen Jahren verbreitet war, wird auch von Heidegger verfolgt. Ist
auch die Anzahl der Stellen in den Schwarzen Heften begrenzt, in
denen von Juden und dem Judentum die Rede ist, so sind die
indirekten Bezüge viel häufiger. Indem Heidegger Schlüsseltermini
des theologischen antijüdischen Wörterbuches, Nietzsche-Zitate,
biologische Metaphern, Stereotypen des antisemitischen Jargons
Mal ist die Frage der „Kontamination“ auf eine kritische und offene
Weise von Trawny gestellt worden. Vgl. P. TRAWNY: Heidegger und der
Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Klostermann Verlag: Frankfurt
am Main 2/2014, 12, 99, 107, 114 ff.
47 Nach Trawny geht die erste Stelle der Schwarzen Hefte, in der von
den Juden gesprochen wird, auf das Jahr 1937 zurück, obwohl die Über-
legungen VIII von 1938 sind.Ebd., 33.
48 Schmitts Auseinandersetzung mit den Juden muss aber lange vor
1933 begonnen haben. R. GROSS: Schmitt und die Juden. A.a.O, 35.
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Der Jude und die Seinsvergessenheit 127
und Redeweisen der LTI, die Sprache des Dritten Reiches in sein
philosophisches Idiom überträgt, verweist er auf die Juden, ohne
sie direkt zu erwähnen. Der explizite Angriff wird überflüssig.
Dank des Codes der antisemitischen Rhetorik sind Anspielungen,
Anzüglichkeiten, stillschweigende Hinweise leicht zu entziffern.
So bildet sich eine Semantik, die dazu dient, ein begriffliches
Netz zu spinnen, das den Juden einkreist, abgrenzt, zu definieren
versucht. Und während der Jude sich entzieht, versucht man sein
Wesen metaphorisch durch eine Reihe von Symbolen, Charakte-
ren und Eigentümlichkeiten zu ergreifen, die seine Figur wieder-
geben sollen. Um auf den figuralen Juden zu deuten, reicht dann
der Bezug auf eines solcher Bilder aus. So kann man den Feind
verschweigen, systematisch seine Erwähnung umgehen, ohne aber
darauf zu verzichten, ihn unter Beschuss zu halten. Diese Elimi-
nierung ante litteram, beinahe ein Exorzismus, vermeidet den Na-
men „Jude“ und überlässt dem Leser die Aufgabe, seine Abwe-
senheit zu füllen.
Die Stellen der Schwarzen Hefte, in denen Heidegger das Thema
des Judentums anschneidet, sind also viel zahlreicher als seine
ausdrücklichen Nennungen. Das verraten Termini wie: „Verwüs-
tung“, „Entrassung“, „Entwurzelung“, „Vorschub“, „Herdenwe-
sen“, „Vergemeinerung“, „Rechenfähigkeit“, „Beschneidung des
Wissens“, „Gemeinschaft der Auserwählten“, „Unheil“. Die Liste
könnte fortgesetzt werden. Deshalb sollte die Deutung des Juden
und des Judentums durch Heidegger innerhalb dieses weiter ge-
sponnenen spekulativen Netzes verstanden werden.
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128 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Der griechischen Bedeutung zufolge bezeichnet Metaphysik die
Bewegung des Daseins, das über (metá) das Seiende hinausgeht
und sich dabei dem Sein öffnet; das Dasein versteht das Seiende,
indem es über es hinausgehend, es jeweils im Lichte des Seins, des
Grundes, aus dem das Seiende hervorgeht, anschaut. 49 In Heid-
eggers Arbeiten der dreißiger Jahre aber erhält die Metaphysik eine
negative Bedeutung. Die ganze abendländische Philosophie von
Platon bis Nietzsche sei metaphysisch, weil sie das „Über“ nicht
bewahren konnte; darum habe sie das Sein und das Seiende auf
dieselbe Ebene gestellt. Sie habe nämlich das Sein als ein allgemei-
nes Seiendes gedacht, das sich aus der Beobachtung des allem
Seienden Gemeinsamen konstituiere. Auf solche Weise wird das
Sein entifiziert, d.h. als Sein vergessen und verlassen. Man vergisst
das Sein zugunsten des Seienden. Die ontologische Differenz, die
Differenz zwischen dem Sein und dem Seiendem, wird verwischt.
Die Geschichte des Seyns ist die Geschichte der Metaphysik, die
sich in der Moderne, als Moderne, vollendet.
In den Schwarzen Heften, in denen Heidegger ständig vor der
Seinsvergessenheit warnt, spitzt sich die ontologische Differenz
zu. Sie wird zu einer extremen Dichotomie, zu einem unheilbaren
Gegensatz. Der Weltkrieg wird durch das Schema der ontologi-
schen Differenz gelesen. Er erweist sich als der Krieg des Seins
gegen das Seiende. Der planetarische Konflikt, der sich am Rande
des totalen Abgrunds abzeichnet, hat zugleich eine ontologische,
theologische und politische Bedeutung. Die Seynsgeschichte er-
scheint als eine apokalyptisch klingende Erzählung, als die Schil-
derung eines letzten Kampfes, als die metaphysische Fassung des
Gog-Magog-Kriegs aus der Johannes-Offenbarung.
Wird den Deutschen, d.h. der Avantgarde der europäischen
Völker, das Schicksal des Seins als Verantwortung zugeschrieben,
so wird den Juden unterstellt, die Vormacht des Seienden betrie-
ben zu haben. Der Jude, der mit dem Seienden identifiziert wird,
ist nicht nur vom Sein hoffnungslos geschieden; er ist dieser
Scheidung selbst schuldig, wird ihrer beschuldigt. Sein Los ist
gewissermaßen schon besiegelt: Vom Sein getrennt, rückt der Jude
dem Nichts gefährlich näher, zu dem Hegel ihn schon verdammt
hatte.
49 Vgl. GA 9, 103-122.
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Der Jude und die Seinsvergessenheit 129
Heidegger weist die Komplizenschaft zwischen Metaphysik
und Judentum auf: Wenn die Metaphysik der Neuzeit dem Juden-
tum den Weg geebnet hat, so konnte das Judentum davon profi-
tieren, indem es seinerseits die Metaphysik befördert hatte.
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130 Die Seinsfrage und die Judenfrage
die Wirrnis der Entifizierung, in den Untergang des Seyns mit-
reißt.52 Es ist in der Tat so, dass die Historie des Seienden einen
Punkt erreichen kann, an dem die Geschichte des Seyns aus dem
Gesichtskreis des Menschen verschwindet. 53 Gerade weil der
Zusammenstoß eine metaphysische Tiefe hat, ist er epochema-
chend. Man kann ihn mit anderen Konflikten nicht vergleichen.
Denn in ihm steht nicht zur Wahl: „der Wille einer Generation
gegen den einer vorigen, nicht der ‚Geist‘ eines Jahrhunderts ge-
gen ein vergehendes, nicht das Wesen eines Zeitalters gegen ein
kommendes, nicht Christentum gegen eine neue ‚Religion‘, nicht
zwei Jahrtausende abendländischer Geschichte gegen eine frem-
de“.54 Die Entgegensetzung, die sich nicht auf ein logisches Ent-
weder-Oder zurückführen lässt, ist die „Entscheidung“ zwischen
der dreisten Vormacht des Seienden und der Verborgenheit des
Seyns.
Das Wort „Feind“ taucht auf; doch es dient Heidegger nicht
dazu, sich zu fragen, wo dieser sei, wie man ihn angreifen solle,
und mit welchen Waffen – gemäß dem üblichen kriegerischen
Kanon, auch dem des nationalsozialistischen Kriegszustands. 55
Der metaphysische Konflikt nimmt den Philosophen unmittelbar
in Anspruch: „der Philosophie verschrieben steht der Denker gegen
einen Feind (das Unwesen des Seienden, das seiend sich verleug-
net), der, ohne je die Feindseligkeit aufzugeben, sich als zugehörig
zu dem erweist, dem der Denker von Grund aus der Freund sein
muß (das Wesen des Seyns)“.56
Der Denker soll im Boden des Seyns fest eingewurzelt sein, um
den Zwiespalt ans Licht zu ziehen, um das Gewirr zu entflechten.
An anderer Stelle ist Heidegger noch deutlicher: der dünne Faden
der Zugehörigkeit zum Seyn scheint zerrissen zu sein. Das Seiende
– sagt er mit einer Metapher – ist „eine schwere, längst zugeschla-
gene Tür“, die „erbrochen und aus den Angeln gehoben werden“
muss, „damit das Nichts als der erste echte Schatten des Seyns
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Die Griechen, die Deutschen – und die Juden 131
erscheine“.57 Wer wird zu sagen wagen, dass dies der einzige nöti-
ge Schritt ist?
Innerhalb der Seinsfrage, d.h. des Zusammenhangs, auf den
Heidegger die Judenfrage zurückführt, tritt diese letzte Frage in
ihrer abgründigen Tiefe nicht als Rassenproblem, sondern als
metaphysische Frage auf. In einer der Passagen in den Schwarzen
Heften, deren Bedeutung inkommensurabel zu sein scheint, trifft
die Frage die „Menschentümlichkeit“ der Juden, die „ungebun-
den“ die Entwurzelung des Seyns betreiben.
Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern
die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die
schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein
als „weltgeschichtliche“ Aufgabe übernahmen kann.58
Der Völker sind viele, die in den Schwarzen Heften auf die Bühne
der Weltgeschichte gerufen werden. Protagonisten sind aber die
Deutschen und die Griechen. Ihre Stelle wird von der Seynsachse
bestimmt, die dem Bereich zwischen dem von den Griechen ein-
geweihten „ersten Anfang“ und dem „anderen Anfang“, d.h. dem
den Deutschen zugespielten weltgeschichtlichen Auftrag, Stabilität
verleiht. 59 Die anderen Völker, die Russen, die Amerikaner, die
Chinesen, die Engländer, die Italiener werden auf dem Weg der
Seynsgeschichte jeweils anders verortet. Und die Juden?
Schon im Frühjahr 1932 hatte Heidegger in seiner Vorlesung
über Anaximander und Parmenides über das Ende der Metaphy-
sik nachgedacht und sich dabei die Frage nach dem Anfang ge-
stellt.60 Die lange abendländische Tradition, die durch das anbre-
chende Denken der Griechen eröffnet wurde, ging zu Ende, zer-
mahlen zwischen den Mahlsteinen der Wissenschaft und der pla-
netarischen Technik; demgegenüber musste ein anderer Anfang
57 GA 95, 275.
58 Ebd., 243.
59 GA 94, 314.
60 Vgl. GA 35.
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132 Die Seinsfrage und die Judenfrage
möglich, ja sogar notwendig sein, und zwar nicht als eine Rück-
kehr zur Vergangenheit, sondern als eine Rückwärtsbewegung, in
der die Metaphysik verwunden werden sollte, um als Morgenhelle
einer kommenden Epoche wieder aufzutauchen.
Das Abend-Land – weder ein geographischer Ort noch ein
Wertesystem, sondern ein Zeitalter der Weltgeschichte – ging
zugrunde, stürzte unzweideutig ein, versank in das Nichts des
europäischen Nihilismus. Dieser Prozess war in Oswald Spenglers
Buch Der Untergang des Abendlandes verewigt worden, das in zwei
Bänden 1918 und 1922 erschien. 61 Obwohl Heidegger von der
Lektüre dieses Buches tief beeindruckt war, hatte er Abstand von
ihm genommen. 62 Durfte man wirklich von einem „Untergang“
reden? Von einem endgültigen Einsturz? Von einem Ende?
In den Schwarzen Heften wird der Untergang im Sinne Spenglers
als Übergang interpretiert.63 „Ein Zeitalter des Übergangs […]. Mitten
inne stehen und doch darüber hinaus“. 64 Das Dunkel der Nacht soll
nicht missverstanden werden. Denn es ist nicht die Finsternis des
Todes, sondern das Erlöschen der letzten Nachtlampe, damit das
Morgengrauen in der Ferne leuchten kann.
Wer kann aber die kalte Nacht des Seyns durchschreiten? Wer
kann einen Übergang erblicken, wo alle einen unvermeidbaren
Einsturz sehen? Wer kann der Bahn des Endes folgen, um den
Weg des Anfangs einzuschlagen? Nur die Deutschen. Das Schick-
sal des Abendlandes ist in ihren Händen. „Im Besitz des großen
Vermächtnisses des griechischen Daseins wagen wir sicheren
Geistes den Überschwung in die frei bindende Eröffnung des
Künftigen“.65
Die deutsche imitatio ist die Suche nach einem Griechenland,
das nicht existiert, das nie existiert hat, und das nur durch
Deutschland ans Licht kommen kann. Es ist das mythische und
nächtliche, archaische und tragische, rein heidnische Griechen-
land, das von Hölderlin besungen, von Hegel begehrt, von Nietz-
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Die Griechen, die Deutschen – und die Juden 133
sche ersehnt wurde. Griechenland ist die Heimat, das Land der
Autochthonie, des Beisichseins.
Die Seynsgeschichte erweist sich dann als ein theologisch-
politischer Weg zu jenem Anfang, der der Zukunft des Abendlan-
des aufbewahrt worden ist. Nur das deutsche Volk ist berufen,
diesen Weg zu gehen. Nur dem deutschen Volk könne die
„Überwindung der Metaphysik“ gelingen. Nur das deutsche Volk
sei der Wächter des Seyns, weil es allein das Seyn in Hölderlins
Kielwasser „ursprünglich neu dichten und sagen“ könne. 66 Des-
halb werde das deutsche Volk seit langem schon auf der weltge-
schichtlichen Bühne erwartet, um endlich den Auftrag zu erfüllen,
der in der beschleunigten Vereinigung der Welt inzwischen plane-
tarisch geworden ist.
„Halt! Und hier ist die ursprüngliche Grenze der Geschichte –
nicht das leere überzeitliche Ewige – sondern die Ständigkeit der
Verwurzelung.“67 Die verheerenden Wirkungen der Technik, der
Machenschaft, die Entfremdung, die Verwüstung können nur von
Deutschland, von der eisernen Kohäsion seiner tief in der Boden-
ständigkeit verwurzelten Volksgemeinschaft eingedämmt werden.
Der griechisch-deutsche Zug drängt die Juden beiseite, schließt
sie von der Seynsachse aus. Für sie gibt es keinen Platz mehr in
der Topographie des Abend-Landes. Wenn dieses sich zu einer
neuen Frühe entschließen soll, indem es sich als Land des Mor-
gens entdeckt, dann kann es der Frage nach dem metaphysischen
Feind nicht mehr ausweichen; nach dem Feind, der in seiner An-
wesenheit das Seyn von Innen unterminiert und den Zugang zum
anderen Anfang versperrt.
Es ist jedoch notwendig, sich zu fragen, ob diese Ausschlie-
ßung, die eine neue Geschichtlichkeit des Seyns und eine neue
geopolitische Ordnung ankündigt, nicht nur die Juden, sondern
auch andere Völker betrifft. Handelt es sich nicht um eine diskri-
minierende Geste, die alle unterschiedslos angeht?
Die Einheit des Abendlandes ist ein Thema, das die ganze eu-
ropäische Kultur nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigt und sich
in den dreißiger Jahren zuspitzt. Heidegger ist nicht der einzige,
der einen Appell zur letzten Rettung ausspricht, und er ist auch
66 GA 95, 27.
67 GA 94, 38.
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134 Die Seinsfrage und die Judenfrage
nicht der einzige, der diskriminiert. Dem deutschen Volk, einem
„großen Zivilisationsvolk“, setzt Max Weber den „Senegalneger“
entgegen. 68 So setzt sich eine Dichotomie zwischen den westli-
chen oder verwestlichten und den anderen Völkern durch, die
vom Westen marginalisiert, aus der Geschichte der Menschheit
ausgeschlossen werden und demnach Gefahr laufen, nicht als
menschlich betrachtet zu werden.
Nicht einmal Husserl entzieht sich dem eurozentrischen Vorur-
teil. Bei ihm ist es zwar nicht Deutschland, sondern das „geistige
Europa“, das als Erbe des alten Griechenland „eine archontische
Funktion“ für die ganze Menschheit ausübt. Trotzdem werden aus
der „Übernationalität Europas“ nicht nur die östlichen und kolo-
nialen Bevölkerungen explizit verstoßen, sondern auch „Eskimos
und Indianer der Jahrmarktsmenagerien oder die Zigeuner, die
dauernd in Europa herumvagabundieren.“ 69 Dieses Verdikt, das
aus dem nomadischen Charakter eine Schuld macht, wird in ei-
nem unüberhörbar tendenziösen Ton in zwei Vorträgen ausge-
sprochen, die Husserl in Wien am 7. und am 10. Mai 1935, einige
Monate vor den Nürnberger Gesetzen, hielt.
Der Universalismus der Vernunft hält Husserl von der Diskri-
minierung nicht ab. Wo für Husserl der „Papua“, der als Symbol
des Primitiven gilt, als ein dem Tierreich angenähertes Lebewesen
erscheint, fällt sein Begriff des Menschlichen unvermeidbar ausei-
nander. 70 Gemäß der herkömmlichen Definition, nach der der
Mensch das vernünftige Lebewesen ist, wäre auch „der Papua
Mensch, nicht Tier“. Doch Husserl fügt hinzu: „Aber so wie der
Mensch und selbst der Papua eine neue Stufe der Animalität,
gegenüber dem Tier nämlich, darstellt, so stellt in der Menschlich-
keit und ihrer Vernunft die philosophische Vernunft eine neue
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Die Griechen, die Deutschen – und die Juden 135
Stufe dar“.71 Wahrhaft menschlich, im Sinne der Kulturmensch-
heit, ist eigentlich nur der Europäer.
Auf ähnliche Weise beschränkt Heidegger das geschichtliche
oder abendländische „Menschentum“. 72 Den einzigen Unter-
schied scheint die Rolle auszumachen, die er Deutschland in der
Führung des Abendlandes zuteilt. Gleichzeitig behauptet Heideg-
ger, dass „Neger wie z.B. Kaffern [...] keine Geschichte haben“.
Demnach wäre es also möglich, dass es innerhalb des menschli-
chen Bezirkes, „wie bei den Negern“, Gruppen gibt die „keine
Geschichte“ haben. 73 Die Geschichtlichkeit wäre dann keine
auszeichnende Bestimmung des menschlichen Seins als solchem.
Die Geste, mit der der Jude diskriminiert wird, wäre in dieser
Perspektive nur das Ergebnis einer einfachen Erweiterung, die
Verschärfung eines Rassismus, der sich, sofern das „Herz der
Finsternis” im kultivierten und humanen Okzident schlägt, mit
dem antijüdischen Hass verknüpft und damit zum Antisemitismus
wird.74
Für Heidegger aber, und nicht allein für ihn, steht die Sache
anders. In den Schwarzen Heften tritt dies deutlich hervor. Die Ju-
den werden aus dem Abendland nicht deswegen ausgeschlossen,
weil sie etwa in einer geopolitischen Hierarchie des Globus, in der
Deutschland im Zentrum steht und die westlichen und verwest-
lichten Völker um es herum geordnet sind, in der Peripherie zu-
sammen mit den „Negern“ wohnen dürften, die immer schon aus
der menschlichen Geschichte verstoßen sind.75 Die Juden werden
71 Ebd., 341.
72 GA 53, 51-52; GA 54, 62 ff.
73 GA 38, 81. Vom „Neger“ und „Senegalneger“ Heidegger spricht
aus Europa. Vgl. L. POLIAKOV – J. WULF: Das dritte Reich und die Juden.
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136 Die Seinsfrage und die Judenfrage
vielmehr aus dem Seyn ausgeschlossen. Die griechisch-deutsche
Achse, die eine neue Geschichtlichkeit eröffnet, kann dem Juden,
dem Gegner, oder besser, dem metaphysischen Feind per definiti-
onem keinen Raum lassen. Denn so wie er Jahrhunderte lang
gelogen und zu verstehen gegeben hat, das zu sein, was er nicht ist,
so verheimlicht der Jude das Seyn, versteckt es und, indem er die
Vorherrschaft des Seienden fordert, verhindert er den Übergang,
versperrt er dem Deutschen den Weg zum anderen Anfang.
Bei den Juden handelt es sich also nicht nur um eine Diskrimi-
nierung, so wie jene, die den Anderen aus der Geschichte aus-
streicht. Es handelt sich vielmehr darum, dem Feind entgegenzu-
treten, ihn zu bekämpfen, um die Seynsgeschichte zu entscheiden.
Der Konflikt hat eine planetarische Dimension und eine ontologi-
sche Tiefe. „Das ‚Vaterland‘ ist das Seyn selbst“ – schreibt Heid-
egger.76 Wenn das so ist, dann scheint das Dasein des Juden darin
keinen auch nur vorläufigen Platz finden zu können.
Aufgrund einer Entgegensetzung, die sich in den Schwarzen Hef-
ten nach und nach verschärft, ist der Jude die Figur des Endes, der
Deutsche die des Anfangs. Der Jude ist derjenige, der am entfern-
testen vom Ursprung, vom reinen Brunnen der Identität, von der
Quelle des Seyns existiert. Dieser Zustand der Uneigentlichkeit
hat etwas Selbstzufriedenes und Absichtliches. In einer dramati-
schen Eschatologie, in der das Seyn auf dem Spiel steht, ist der
Jude das Ende, das nicht enden will. Deshalb wiederholt es sich in
einem um sich selbst drehenden Wirbel, in einer ewigen Wieder-
holung des Gleichen, das dennoch jeweils als neu ausgegeben
wird. Die Wiederholung verlangt nach einer Beschleunigung, um
sich als Fortschritt zu tarnen, um das Gleiche als verschieden, das
Alte als neu erscheinen zu lassen, nach dem Muster einer journa-
listischen Chronik, dem Paradigma dieser ewigen Wiederkehr, die
die Endphase zum „Dauerzustand“ macht und das Ende in eine
A.a.O., 89. Der Plan verschwand später deshalb aus dem Blick, weil er
zwar dem Kanon des traditionellen Rassismus, nicht aber dem biopoliti-
schen Projekt der planetarischen Vernichtung entsprach. Vgl. dazu auch
P. BURRIN: Hitler und die Juden. Die Entscheidung für den Völkermord.
Fischer: Frankfurt am Main 1993, 96 f.
76 GA 39, 121.
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Die wurzellosen Agenten der Moderne 137
„Endlosigkeit“ verlängert. 77 „Der ‚Fortschritt‘ in allen seinen
möglichen Verkleidungen ist das ‚Idol‘, mit dem die unbekannte
Angst vor dem Anfang vollends verdeckt und der verschüttete
Anfang durch vorgesetzte Ziele ersetzt wird“. 78 Indem die Ent-
scheidung fehlt, setzt der Fortschritt die Dämmerung fort. 79 Es
gibt für Heidegger nichts Schlimmeres als dieses endlose Sichfort-
setzen der Dämmerung. Denn wie „soll der neue Tag kommen,
wenn ihm die Nacht vorenthalten wird“?80
Dagegen strebt das „verborgene Deutschland“, das versteckt
und verhüllt an der Frontlinie des Seyns kämpft, in die Nacht. Es
ist in jedem Augenblick für die Entscheidung bereit. In der Erwar-
tung des anderen Anfangs wird es niemals die Waffen ablegen, da
es weiß, dass die vom Judentum herbeigeführte Verwüstung
nichts anderes als „der Nachschlag des bereits entschiedenen
Endes“ ist.81
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138 Die Seinsfrage und die Judenfrage
lung“ Teil eines höheren Auftrags, eines zwar ferneren, jedoch
immer im Auge zu behaltenden Zieles ist, und zwar des Ziels der
Verwirklichung der geschichtlichen Größe eines Volkes, die nur
durch den Staat erreicht werden kann. 82 Es ist leicht zu ahnen,
dass er an den Auftrag denkt, der den Deutschen zugeschrieben
wird. 83 Nicht allein ihr Zusammenhalt, sondern auch ihre tief-
gründige geo-ontologische Festigkeit ermöglicht den Deutschen,
das „in der Mitte“ stehende, das „metaphysische Volk“ Europas
zu sein, das „in der großen Zange zwischen Rußland auf der einen
und Amerika auf der anderen Seite“ liegt.84
Der „Verfall“ und die „Dämonie“ der Bodenlosigkeit sind hin-
gegen Ergebnis der Entwurzelung. 85 Wer keinen Boden besitzt,
hat auch keine Wurzeln, die er in der Erde schlagen kann – er ist
wurzellos. Noch bevor es ein geschichtlicher und politischer Zu-
stand ist, erscheint das wurzellose Sein als eine Deformierung, die,
falls sie keine natürliche ist, mit der Zeit zu einer solchen wurde.
Wer nomadisch lebt, hat die Fähigkeit zur Einwurzelung verloren.
In diesem Zusammenhang kann Heidegger sich auf das Denken
der ihm vorangehenden Philosophen von Fichte bis Hegel beru-
fen.86 Es ist kein Zufall, dass er gerade in seinem Hegel-Seminar
von „semitischen Nomaden“ spricht und damit deutlich auf das
jüdische Volk verweist.87
Dennoch besitzt der Begriff der Entwurzelung eine breitere
Bedeutung als die der Bodenlosigkeit. Die Juden sind nicht nur
nomadisch, ohne Erde und ohne Staat, d.h. unfähig, sich selbst
eine politische Staatsform zu geben. Die Entwurzelung wird von
Heidegger als die „Ungebundenheit“ – noch so ein in den Schwar-
zen Heften oft wiederkehrendes Wort – betrachtet, die zwar ein
Zeichen der Zeit ist, doch von Heidegger den Juden unterstellt
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Die wurzellosen Agenten der Moderne 139
wird. Die Bodenlosigkeit, die ein Fehlen an Grund und Funda-
ment bedeutet, stellt das Eigentümliche eines Daseins dar, das
eine Existenz auf der Oberfläche führt und keine Bindungen hat,
ja das Bindungen zerstört. Vor allem zerstört es die Bindung mit
dem Seyn.88
Die politische Anklage hat seinsgeschichtliche Bedeutung. Es
handelt sich nicht mehr um die von Hegel verwendete Entgegen-
setzung zwischen dem autochthonen Griechen und dem nomadi-
schen Juden. Deleuze und Guattari bemerken Folgendes:
Daher verschiebt Heidegger das Problem und verlegt den Begriff in die
Differenz von Sein und Seiendem statt in die von Subjekt und Objekt. Er
sieht im Griechen eher den Autochthonen als den freien Bürger [...]: das
Eigentliche der Griechen liegt im Bewohnen des Seins und darin, das
Wort dafür zu besitzen. Als deterritorialisierter reterritorialisiert sich der
Grieche an seiner eigenen Sprache und seinem sprachlichen Schatz, dem
Verb „sein“. Daher ist der Orient nicht vor der Philosophie, sondern
daneben, weil er denkt, aber nicht das Sein denkt. [...] Aber bei Heidegger
steht nicht zur Debatte, weiter als die Griechen zu gehen; es genügt, ihre
Bewegung in einer neuerlichen, initiierenden Wiederholung wiederaufzu-
greifen. Weil nämlich das Sein aufgrund seiner Struktur im Zuge seines
Wendens sich immer wieder abwendet, und weil die Geschichte des Seins
oder der Erde die seiner Abwendung ist, seiner Deterritorialisierung in
der weltweiten technischen Entwicklung der von den Griechen initiierten
und am Nationalsozialismus reterritorialisierten abendländischen Zivilisa-
tion.89
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140 Die Seinsfrage und die Judenfrage
einher, in die der Planet hinabgestürzt ist, dass sie als die Förderer
und Hauptprofiteure dieses Vorgangs angesehen werden. Durch
die Beschleunigung dieses Prozesses wird ein Volk gefördert, dem
jedes Fundament fehlt. Seinem geheimnisvollen, sich der Feststel-
lung entziehenden Wesen gemäß bewegt es sich leicht auf der
Oberfläche der Erde und veranlasst deren nivellierende Vereini-
gung.
Obwohl Heidegger diese Anklage in einem seinsgeschichtli-
chen Sinn rechtfertigt, ist er nicht der einzige, der den Juden so-
wohl Bodenlosigkeit als auch ein stillschweigendes Profitieren an
der Moderne vorwirft. In die in jenen Jahren herausgegebene
berühmte Encyclopaedia Judaica wurde der Artikel „Boden“ einge-
fügt, um mit einer Aufzählung von talmudischen Zeugnissen den
Vorwurf der Bodenlosigkeit zurückzuweisen.90
Die traditionalistische Welt, besonders die katholische, zu der
Heidegger gehörte, sah im Juden das Symbol der urbanen, kalten
und unpersönlichen Moderne, den Einbruch einer Entwurzelung,
die niemanden verschont. 91 Die Idee, die Juden fühlten sich in
einer seelenlosen Gesellschaft wohl und profitierten davon, war
weit verbreitet. Der seiner konkreten Züge entkleidete Jude wurde
zu einer Figur der Abstraktion, die die Wüstenlandschaft der
Moderne beherrscht. So setzte sich ein neuer Antisemitismus
durch, der sich auf immer zahlreichere, stabilere und drastischere
Dichotomien stützte.
In diesem Kontext spielt Werner Sombart eine entscheidende
Rolle. Der Geist des Kapitalismus sei von Max Weber irrigerweise
in der protestantischen Ethik ausfindig gemacht worden. Die
„Erbsünde“ des Kapitalismus müsse vielmehr den Juden zuge-
schrieben werden. Das ist der Hauptgedanke, den Sombart in
seinem zum ersten Mal 1911 veröffentlichten Werk Die Juden und
das Wirtschaftsleben entwickelt. Obwohl dieses „Judenbuch“ – wie
es nicht zufällig genannt wurde – lange Autorität und Prestige
Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von J. Klatzkin et. al. Eschkol: Berlin
1929, 902. Ein ähnlicher Fall ist der von M. SEW – W. RAPAPORT: Boden-
besitz. In: Jüdisches Lexikon. Hrsg. von G. Herlitz und B. Kirschner. Bd.
I. Jüdischer Verlag: Berlin 1927, 1097-1098.
91 Dazu s. Kap. IV, § 9.
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Die wurzellosen Agenten der Moderne 141
genoss, entsprang es einem „vorurteilsvollen und phantasierei-
chen“ Bild der Juden und hatte eine offensichtlich verleumderi-
sche Absicht.92 Der kapitalistische Geist sei der „jüdische Geist“.
Mit dieser These gelang es Sombart, verschiedene Ziele zu errei-
chen: einerseits konnte er insofern den kulturellen Antimodernis-
mus mit der technisch-industriellen Welt versöhnen, als er den
Weg eines gereinigten und „arisierten“ Kapitalismus präsentierte,
der sich mit dem „Volk“ und mit der nationalen Gemeinschaft
verbinden ließ; andererseits trug er zu einer essentialistischen Sicht
auf den Juden bei, auf den das Unbehagen, die Unruhe und das
Ressentiment in Bezug auf die abrupten und unerklärlichen öko-
nomischen Bewegungen gerichtet werden konnten.
Sombart zufolge seien die Juden in die selbstgenügsame mittel-
alterliche Wirtschaft eingedrungen, haben die natürlichen Zweck-
mäßigkeiten verdreht, das Rechnen intensiviert, die Warenproduk-
tion über das Nützliche hinaus getrieben, das Primat der Ökono-
mie bestimmt. Die jüdische Systemreligion, die sich auf einen
„Vertrag zwischen Gott und seinem auserwählten Volk“ zurück-
führen lässt, habe das theologische Schema der „vertragsmäßigen“
bzw. der „geschäftsmäßigen Regelung“ auf den Kapitalismus
übertragen. 93 Das Judentum, in dem Sombart eine Rationalisie-
rung des Lebens erkennen will, in der Gefühle und Gemütsbewe-
gungen ignoriert werden, während eine zähe Selbstdisziplin die
natürlichen Instinkte regelt, erweist sich als der echte „Puritanis-
mus“, als die Askese, die das Kapital befördert hat.94 Grenzenlos
flexibel und rationalistisch seien die Juden dazu fähig, sich an die
verschiedenartigsten Situationen anzupassen. „Papier steht hier
gegen Blut: Verstand gegen Instinkt; Begriff gegen Anschauung;
Abstraktion gegen Sinnlichkeit“.95 Aus der wirtschaftlichen Tätig-
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142 Die Seinsfrage und die Judenfrage
keit haben sie eine intellektuelle Angelegenheit gemacht. Wo der
jüdische Geist die Oberhand gewinnt, da seien „alle Qualitäten
durch die Beziehungen auf den rein quantitativen Tauschwert
ausgelöscht“.96 Die durch abstrakte Koordinaten geregelte, kapita-
lisierte Welt habe ihren letzten Grund im Geld gefunden. Die
„innerste Eigenart“ von Judentum und Kapitalismus komme „im
Geld“ zum vollendeten Ausdruck.97
Als „orientalisches Volk“, das nach Europa ausgewandert ist,
haben die Juden in ihrem Exil das Nomadentum und den Wüs-
tensinn behalten. Sombart führt eine Entgegensetzung zwischen
„Wald“ und „Wüste“ ein, die tiefgreifende Auswirkung haben
wird. Helle Mondnächte, brennende Sonne, grenzenlose Räume
haben Abstraktion und Opposition zur Natur begünstigt. Im
Nomadenleben, wo alles, die Herde, die Güter plötzlich ver-
schwinden und auf ebenso wunderbare Weise wieder erscheinen
konnten, setzte sich die Möglichkeit des Erwerbs, der unbegrenz-
ten Produktion, die Idee eines Wertes durch, der überall als Mün-
ze austauschbar war. Hier liegt der Grund für die enge Verbin-
dung zwischen Juden und Geld auf der Hand. „Wüste und Wald
sind die großen Kontraste“.98 Der dichte und dunkle Wald ist die
Lebenswelt der nordischen Völker, die zwar zur geheimnisvollen
Traumdimension des Lebens neigen, dennoch fest im Boden
eingewurzelt sind und daher konkret denken. Als Symbol
Deutschlands beschwört der Wald, der durch die Urbanisierung
bedroht wird, den Verlust der Landschaft, die fortschreitende
Verwüstung, welche metaphorisch auf die andrängende jüdische
Macht verweist.99
In seinem Mangel an Bodenständigkeit und Wurzelhaftigkeit
steht der Jude per definitionem dem Lande fern. Auch das kleinste
Ghetto, so arm es sein mag, ist Teil der Metropole. Es ist deshalb
nicht schwer, zu erkennen, warum die Juden, außer in den Ghet-
tos, auch in den Großstädten wohnen: „Die Großstadt ist die
96 Ebd., 329.
97 Ebd.
98 Ebd., 416.
99 Über die Verwüstung s. § 10. Sartre wird den Antisemit als den
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Gegen die jüdischen Intellektuellen 143
unmittelbare Fortsetzung der Wüste – sie steht der dampfenden
Scholle ebenso fern wie diese und zwingt ihren Bewohnern ein
nomadisierendes Leben auf wie diese“.100
Sofern die Juden gegenüber dem Staat und dem Schicksal des
sie aufnehmenden Gastvolkes gleichgültig seien, benehmen sie
sich als Fremde, erscheinen sie als im Grunde desinteressierte
Schauspieler. Die Verhältnisse, in denen sie in der Diaspora gelebt
haben, übertragen sie auf die Menschheit. Deshalb haben sie
durch den Marxismus, der für Sombart ein seelenloser Internatio-
nalismus ist, die sozialistische Idee selbst beeinträchtigt. Wie das
deutsche Volk – das Volk der „Helden“ im Gegensatz zum jüdi-
schen Volk der „Händler“ – aus der Wüste des wirtschaftlichen
Zeitalters in die Eigentlichkeit des Waldes zurückkehren muss, so
muss auch der Sozialismus wieder national werden.101
Diese Motive kommen bei Heidegger wieder vor. Doch der
Blick, den er auf die Landschaft seiner Kindheit wirft, ist schon
postmodern – das Band mit der Mutter „Suevia“ fließt in die
Sprache seines Denkens ein; in eine Sprache, die ihm Hölderlin
zuflüstert.
Die Menschen hier haben die Seele verloren – einen Ausdruck haben die
Gesichter überhaupt nicht – höchstens den der Gemeinheit, in dieser
100W. SOMBART: Die Juden und das Wirtschaftsleben. A.a.O., 415.
101Vgl. W. SOMBART: Deutscher Sozialismus. Buchholz & Weissange:
Berlin 1934, 87 ff.
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144 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Dekadenz gibt es kein Aufhalten mehr – vielleicht kann das geistige
Berlin durch eine bodenständige Kultur an den Provinzuniversitäten
überwunden werden.102
102 „Mein liebes Seelchen!“ A.a.O., 72-73. Vgl. auch die berühmte
Schrift, mit der Heidegger den Ruf nach Berlin zurückwies: GA 13, 9-14.
103 F. TÖNNIES: Studie zur Entwicklungsgeschichte des Spinoza. In:
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Gegen die jüdischen Intellektuellen 145
Spekulationen verbrauchte. Der Jude war für eine Intellektualisie-
rung des Lebens verantwortlich, deren unheilvolle Wirkungen
überall auf der Hand lagen.
Die große Renaissance der jüdischen Kultur in der Weimarer
Zeit bis zur Krise von 1929-1939, die Gesellschaftskritik, das
politische Denken, die Rolle der „Linksintellektuellen“ und im
Allgemeinen der Einfluss der Juden auf die Presse, auf das Ver-
lagswesen, das Theater und das Kino, um von der Literatur, der
Kunst und der Musik zu schweigen, motivierte antisemitische
Polemik. All das, was neu, kühn, modern war, wurde mit den
Juden identifiziert; umgekehrt erschien das als jüdisch, was die
Tradition bedrohte.105 Die Unduldsamkeit gegenüber der Verbrei-
tung des „jüdischen Geistes“ durchdrang das konservative Bürger-
tum, die Landleute der Provinzen, die akademische Welt und alle
diejenigen, die sich „deutsch“ fühlten und am Ende mit den Posi-
tionen der radikalsten Antisemiten übereinstimmten. Die „gebil-
dete Judenphobie“ war ein eigentümliches Phänomen, das sich
schwer erklären lässt, wenn man es mit heutigen Kriterien beur-
teilt.106
In seinem Essay La crise de l’esprit von 1919 hatte Paul Valéry
die Aufmerksamkeit auf das gespenstische Ereignis gelenkt, das
Europa bevorstand.107 In Deutschland hatte die Philosophie gera-
de angefangen, einen Unterschied zwischen der Intelligenz und
dem Geist zu konstatieren. Das war eigentlich ein Paradox, da die
ganze idealistische Tradition seit Hegel in der Intelligenz die Geis-
tigkeit des Geistes gesucht hatte. In der Reihenfolge sensus, ratio,
intellectus ähnelte das intelligere schon seit dem Mittelalter dem gött-
lichen Begreifen. Die Intelligenzen waren die reinen Geister, die
Engel, die Gott unmittelbar schauten.
105 Vgl. M. BRENNER: The Renaissance of Jewish Culture in Weimar
Germany. Yale University Press: New Haven 1996; P. GAY: Freud, Juden
und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur. Hoff-
mann und Campe: Hamburg 1992.
106 Vgl. D. L. NIEWYK: The Jews in Weimar Germany. Transaction
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146 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Die Krise schien in der Trennung des Intellekts, in seiner Iso-
lierung vom Geist fassbar zu werden. Max Scheler fragte sich nach
der Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen Intelligenz und
Geist wiederherzustellen. Ihm zufolge verbreitete sich das Prob-
lem in der Philosophie jener Jahre.108
Intelligere, Intelligenz, Intellektualität, Intellektueller, Intellektua-
lismus: Der ganze semantische Bereich, der sich um den „Intel-
lekt“ dreht, wird unter Anklage gestellt. Wenn intelligere – so be-
merkt Heidegger – „Sache des intellectus ist“, dann ist der Intel-
lektualismus ein unvermeidbares Ergebnis.109 Die Verurteilung ist
einhellig. Ein Chor von Stimmen, nicht nur von Philosophen,
erhebt sich sowohl gegen die blutleere und entwurzelte, aleatori-
sche und abstrakte Intellektualität als auch gegen den Intellektuel-
len, der keine Verbindung zur Volksgemeinschaft mehr habe. Er
sei nicht imstande, sich an das Schicksal einer Gemeinschaft zu
binden und all das mit ihr zu teilen, was, wie das Schicksal, unbe-
rechenbar ist. Auch Jaspers spricht von einem Intellektuellen
„ohne bindende Wurzel“ in der Geschichtlichkeit. Er hebt die
Konsequenzen sowohl für die einzelne Existenz als auch für die
Gemeinschaft hervor, indem er auf eine „lebensfremde intellektu-
elle Akrobatik“ verweist.110
Bei Heidegger aber sind die Ausschläge heftiger. Nachdem er
sich für den Nationalsozialismus entschieden hat, führt er, im
Gegensatz zu Jaspers, die Polemik bis zu ihrem Ende. So wie der
Held Leo Schlageter, der gegen die französische Okkupation
kämpfte und als Märtyrer starb, eingemeißelt ist im „Urgestein“,
im „Granit“ der Schwarzwälder Berge, muss auch der Philosoph
eingemeißelt im Gebirge stehen. Er muss eine „Härte des Willens“
und eine „Klarheit des Herzens“ zeigen.111 Aus den Abgründen des
Jahre nach dem Tod von Schlageter, dessen Figur für die Nationalsozia-
listen einen hohen symbolischen Wert angenommen hatte.
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Gegen die jüdischen Intellektuellen 147
Daseins kann er mit Mut, Härte und Entschlossenheit zur Höhe
des Seins emporragen. In seiner Tiefe, die zugleich auch die seiner
Wurzeln und seiner Besinnung ist, setzt er sich dem entwurzelten
und geschichtslosen Intellektuellen entgegen, der sich „in eine
freischwebende, in sich selbst ablaufende Spekulation“ verliert.112
Von „sozial freischwebende[r] Intelligenz“ hatte Karl Mannheim
in seinem im Jahre 1929 erschienenen Buch Ideologie und Utopie
gesprochen. 113 Im selben Jahr hielt Heidegger seine Vorlesung
über die Grundbegriffe der Metaphysik. Heidegger attackierte
Mannheim, der den Begriff von Alfred Weber übernommen hatte,
vermutlich deshalb, weil dieser einerseits die Figur des unabhängi-
gen Intellektuellen thematisiert hatte, andererseits der Jude war,
der eine potenziell subversive Intellektualität personifizierte.
Die Polemik verschärft sich jedoch nicht nur in der Rektorats-
rede von 1933, in der der „Geist“ nicht zufällig ein Protagonist ist,
sondern auch in den Werken, die um 1935 und etwas später ent-
stehen.
Wessen macht sich aber in Heideggers Augen der Intellektua-
lismus schuldig? Warum soll er bekämpft werden? Für ihn handelt
es sich um einen dürftigen „Ausläufer“ der „Vorrangstellung des
Denkens“, die von der abendländischen Metaphysik lange vorbe-
reitet und perfektioniert worden ist.114 Er ist das vom Sein losge-
löste Denken, das den Zugang zu ihm nicht mehr findet und
daher leer läuft.115 Dieses Denken „kommt nicht über Nacht“.116
Es gehört zur Vormacht der traditionellen Logik; insofern grenzt
es an den Rationalismus. Dennoch ist es ein „aktuelles“ Phäno-
men, da es das Ergebnis der Entwurzelung, der Verlustes jeder
gemeinschaftlichen Bindung bedeutet. Es repräsentiert das ge-
schichtliche Mitsein, das den Verlust der Geschichte, die Abwehr
alles ursprünglichen Fragens, die Vorherrschaft des Gleichgülti-
gen, das Einbrechen der Vermassung, die Kultur des Nutzlosen
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148 Die Seinsfrage und die Judenfrage
und das Nutzlose der Kultur bewirkt. Kurzum: Es ist der Geist,
der auf die Intellektualität reduziert wird.117
Heidegger redet darum von einer „Entmachtung des Geistes“,
die auf ein nicht näherer bestimmtes „Dämonische[s]“ zurückzu-
führen sei.118 Er betont, dass es ein Fehler wäre, sie nur Russland
und Amerika zuzuschreiben, denn die Zersetzung der geistigen
Kräfte kommt ursprünglich aus Europa. Nicht einmal der deut-
sche Idealismus war dem „Geist“ gewachsen. Alles entbehrte der
Tiefe und wurde auf die angelaufene Fläche eines nicht mehr
spiegelnden Spiegels reduziert. Die Reflexion fand keinen Raum.
Der „Geist“ wird missverstanden, verkannt, verfälscht. „Alles
Literaten- und Ästhetentum ist nur eine späte Folge und Abart des
zur Intelligenz umgefälschten Geistes. Das Nur-Geistreiche ist der
Anschein von Geist und die Verhüllung seines Mangels“.119 Sol-
che Kritik, die die Wissenschaft, die zur spezialistischen Techni-
sierung verdammt sei, nicht schont, hat vor allem den instrumen-
talen Gebrauch des „Geistes“ im Auge. Er ist überall zu finden,
wo man die Intelligenz äußeren Zwecken unterwerfen will. Doch
er hat seine „extreme Form“ im Marxismus und in der Auffas-
sung, dass die Kultur ein „machtloser Überbau“ gegenüber den
wirtschaftlichen Verhältnissen sei. 120 Während die Kultur-Werte
sich entleeren – Dichtung um der Dichtung, Kunst um der Kunst,
Wissenschaft um der Wissenschaft willen – wird der „Geist“
Prunkstück und Mittel des persönlichen Nutzens.121
Obwohl der Intellektualismus so wie der nicht mehr spiegelnde
Spiegel ein Phänomen der Oberfläche ist, ist er jedoch kein ober-
flächliches Phänomen. Darum irrt derjenige, der ihn, ohne ihn
wirklich zu kennen, mit intellektualistischen Waffen, auf intellek-
tualistischer Ebene zu bekämpfen versucht; denn man läuft Ge-
fahr, mit dem Gegner unversehens gemeinsame Sache zu ma-
chen.122 So wird die Tragweite dieses „Kampfes“, in dem sich das
117 Vgl. GA 40, 49-50. Zu diesem Thema kehrt Heidegger auch in der
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Gegen die jüdischen Intellektuellen 149
geschichtliche und geistige Schicksal Deutschlands entscheidet,
nicht verstanden. Gegen wen wendet sich aber Heideggers Pole-
mik hier?
Die Antwort auf diese Frage ist auch die Antwort auf das Prob-
lem, das Derrida in der überraschenden Erscheinung des „Geis-
tes“ in Heideggers Schriften der dreißiger Jahre erkennt. Die
Schwarzen Hefte, in denen der Intellektualismus ein wiederkehren-
des Thema ist, lassen ein Ungesagtes auftauchen, das auch die
übrigen Texte durchdringt und selbst aufmerksamen Lesern
entgeht. Wenn es in der Rede über die Selbstbehauptung der deutschen
Universität einleuchtend ist, dass Heidegger auf die Möglichkeiten
des Nationalsozialismus setzt, dem „Intellektualismus“ entgegen-
zuwirken, werden die Verantwortlichen erst in den Schwarzen Hef-
ten genannt.
Die „Kultur“ als Machtmittel sich anzueignen und damit sich behaupten
und eine Überlegenheit vorgeben, ist im Grunde ein jüdisches Gebahren.
Was folgt daraus für die Kulturpolitik als solche?123
Man sollte sich nicht allzulaut über die Psychoanalyse des Juden „Freud“
empören, wenn man und solange man überhaupt nicht anders über Alles
und Jedes „denken“ kann | als so, daß Alles als „Ausdruck“ „des Le-
bens“ einmal und auf „Instinkte“ und „Instinktschwund“ „zurückführt“.
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150 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Diese „Denk“-weise, die überhaupt im voraus kein „Sein“ zuläßt, ist der
reine Nihilismus.127
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Geist und ruach 151
ser: München 1983, 89. Vgl. auch E. KÄSTNER: Über das Verbrennen von
Büchern. Atrium: Zürich 2013, 7 ff.
131 GA 16, 652- 683, hier 658.
132 E. GRASSI: Macht des Bildes: Ohnmacht der rationalen Sprache.
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152 Die Seinsfrage und die Judenfrage
der Bücher schon zwischen dem 17. und dem 20. Juni mehr oder
weniger heimlich auf dem Exerzierplatz verbrannt, der „symboli-
sche Verbrennungsakt“ hätte am 21. Juni während der Sonnen-
wendfeier stattfinden sollen.133
Über den Ritus hinaus wurde jedenfalls die magische Orgie der
Zerstörung vollzogen, mit der das Volk des Buches seine Biblio-
theken von bestimmten Büchern reinigte. Wie Leo Löwenthal in
einer der ganz wenigen Überlegungen zu diesem Thema bemerkt
hat, ging es um die „die totale Liquidierung aller Intellektualität,
aller Intellektuellen“. 134 Eine verführerische Unmittelbarkeit, die
das Wort nicht dulden wollte, verwandelte den „jüdischen Geist“
in Asche.
Es ist Derrida gewesen, der die Frage nach dem „Geist“ im
Werk Heideggers gestellt hat.135 Strenggenommen gehört „Geist“
nicht zu Heideggers philosophischem Wortschatz – er darf des-
halb nicht neben die Begriffe von Sein, Ereignis, Gelassenheit,
usw. gerückt werden. Wenn Heidegger in seiner Habilitations-
schrift von 1916 Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus
sein Denken als eine „Philosophie des lebendigen Geistes“ prä-
sentiert, wird er später vorsichtiger. Geist ist ein Terminus, den das
metaphysische Denken beständig zelebriert. Er stellt die Krönung
der Metaphysik dar, indem er die Dichotomie zwischen Sinnli-
chem und Übersinnlichem festigt und dem letzten vorsteht. Daher
all die Behutsamkeit, mit der Heidegger operiert. Schon in Sein und
Zeit ist er gezwungen, von dem zu sprechen, was als „Geist“ im-
mer zu vermeiden war. „Wie nicht sprechen (Comment ne pas parler)“.136
So stellt sich das erste Problem, das Heidegger zu lösen ver-
sucht, indem er entweder den Geist nicht erwähnt oder zu Anfüh-
rungszeichen greift, um das Wort in „seinem dekonstruierten
Sinn“ erscheinen zu lassen. In diesem Fall wird Geist zur „gespens-
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Geist und ruach 153
tischen Silhouette“ des metaphysischen Geistes, der schattenhaft
anwesend bleibt. Das geschieht etwa in der Analytik des Daseins,
in der Heidegger zwischen Anführungszeichen und Kursivierun-
gen auf etwas verweist, das kein traditioneller „Geist“ ist. Es ist
nämlich nicht einfach, sich vom Geist als einem Protagonisten der
Philosophie zu befreien. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für
die abgeleiteten Formen: geistig und Geistigkeit, aber auch geistlich
und Geistlichkeit. Während die ersten eine mehr philosophische
und intellektuelle Bedeutung haben, bilden die letzten die Evange-
lien-Übersetzung des griechischen pneumatikós.
In der komplexen Frage des „Geistes“ öffnet sich eine weitere.
Geist ist die Übersetzung des lateinischen spiritus und, ursprüngli-
cher noch, des griechischen pneûma. Heidegger ist sich dessen
natürlich bewusst. Die Theologie beeinflusst die Tradition der
Metaphysik. Wie steht es aber mit dem Streit der Sprachen, wenn
der deutsche Geist eine außerordentliche Autorität zu genießen
scheint? Derrida nimmt am Ende seines Essays zu diesen Über-
setzungsbewegungen Stellung. Mit einem großen Effekt führt er
das hebräische ruach ein. Ist es vielleicht so, dass das Gespenst, das
letzten Endes dem deutschen Geist innewohnt, das ineffable
hebräische Wort ruach ist? So könnte man die Frage von Derrida
zusammenfassen, der diesbezüglich von „Ausschluss“, forclusion,
spricht.137
Davor gilt es aber, dem Weg Heideggers nachzufolgen, der
zwar auf das Griechische zurückgeht, es aber seines Ursprungs-
primats enthebt, als ob es nicht mehr das letzte Wort hätte; auf
der Suche nach einem „Original“ über das Griechische hinaus,
kehrt er zum Deutschen zurück, dem er „Ursprünglichkeitssupp-
lement“ zuteilt. Mag auch das Sein auf viele Weisen gesagt wer-
den, der Geist lasse sich nur auf Deutsch sagen. Genauer betrach-
tet wählt Heidegger auch an anderer Stelle diesen Weg, wenn er
nur scheinbar auf die griechischen Wörter zurückgeht, in Wahr-
heit aber auf eine ursprünglichere germanische Sage zielt.138
Auf dem zirkulären Weg vom Deutschen zum Deutschen ent-
fernt sich der Geist aus dem Hauch des griechischen pneûma, um
137Ebd., 117.
138Vgl. M. ZARADER: La dette impensée. Heidegger et l’héritage
hébraique. Vrin: Paris 2013, 204.
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154 Die Seinsfrage und die Judenfrage
sich als Flamme wiederzuentdecken. „Was ist der Geist?“ – so
fragt Derrida139, indem er die Frage wieder aufnimmt, die Heid-
egger sich in dem berühmten Aufsatz über Trakl von 1953 stellt.
Mit dem Dichter erwidert Heidegger: „heiße Flamme“. 140 Doch
vor Trakl hatte ihm Hölderlin mit seinem Gedicht Brot und Wein
die Verbindung zwischen Geist und Feuer nahe gelegt.
Im Abendländischen Gespräch, einem Text, der zwischen 1946 und
1948 geschrieben wurde und erst 2000 erschienen ist, unterstreicht
Heidegger die Aufgabe, „das Geistige“ „in seiner vollen Wesens-
weite“ zu denken, ohne es „meta-physisch“ auf das Übersinnliche
zu reduzieren.141 Das Geistige ist „das Feurige“, und das Feuer ist
die „ursprüngliche Einheit“, die in das Offene aufgeht. Dieses
Aufbrechen des Flammenden im erglühenden Leuchten ist „das
Zornige des Feuers“.142 Noch einmal folgt Heidegger der Etymo-
logie, die ihn auf die Verbindung Geist – Geysis – gaysa bringt: „in
unserer alten Sprache“ wurde das verheerende Feuer in seinem
Wüten „Geist“ genannt.143
Wie steht es mit dem Hebräischen? Und mit den zahlreichen
Bedeutungen von ruach: von Gotteswind, der in Bereshit 8,1 die
Schöpfungswasser durchschlägt und spaltet, bis zum Sturm und
dem Hauch, dem Nichts und der Vergänglichkeit, dem Atem und
dem Denken, dem Mut und der Wut? Im Gegensatz zu dem, was
Derrida auf den letzten Seiten seines Essays behauptet, ist das
Hebräische nicht das in der Pneumatologie der Evangelien er-
scheinende Ungesagte der Vergessenheit, das darauf wartet, wie-
der aufgenommen zu werden. Es ist einfach das Nicht-Gesagte,
das verdrängt und vertilgt worden ist.
In den dreißiger Jahren spricht Heidegger vom „Geist“, im
Namen des Geistes, welcher Flamme ist und entflammt. In den
Schwarzen Heften lobpreist er das „ursprüngliche Feuer“ einer kom-
menden Wahrheit, die mit ihrer Flamme alles umschmelzen, mit
ihrem Brand alles reinigen kann.144 Es ist der Entwurf einer Flam-
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Machenschaft und Macht 155
me, die sich nicht in reinen Geist auflöst, da sie sich aus „Blut und
Boden“ erhebt. 145 Heidegger prangert die „Verfälschung“ eines
„Geistes“ an, der droht, ein „Gespenst“ zu werden – es ist ein
„Geist“, der auf das „Gespenst“ reduziert wird.146 Als der germa-
nische „Geist“ mit flammenden Worten proklamiert wurde, ver-
hauchte der Atem, ruach, in beunruhigender Gespenstigkeit über
dem Feuer. Und der „jüdische Geist“, verleugnet und verbrannt,
ersteht in den Aschen der Bücher und in den Gespenstern wieder
auf.
Eines der Schlüsselworte der Schwarzen Hefte, das nicht selten auch
in anderen Schriften derselben Jahre vorkommt, ist „Machen-
schaft“. Dem Grimmschen Wörterbuch zufolge bedeutete das
Wort im Süddeutschen „das Gemachte“. Heidegger behält diesen
Zusammenhang bei. Man kann sagen, dass „Machenschaft“ das
Gebiet des Machens bezeichnet, mithin auf den neuen kategori-
schen Imperativ hinweist, der die Welt der Technik, wo alles unter
dem Befehl des Machens und des Gemacht-Werdens erscheint,
monoton durchzieht.
Die bleierne Landschaft dieser planetarischen Geschäftigkeit
ist, wie in Charlie Chaplins Film Moderne Zeiten, die eines ewigen
Fließbandes, das seit langem schon das Innere der Fabrik verlas-
sen hat. In seinem Mechanismus vernetzt und verschweißt es
Strassen und Städte zu „gigantischen Werkstätten der Formen“,
die in ihren wimmelnden Bewegungen, im unaufhörlichen Wech-
sel ihrer architektonischen Verknotungen eigentlich „keine Form
besitzen“.147 Heideggers „Machenschaft“ verweist auf Ernst Jün-
gers „totale Mobilmachung“, auf die durchdringende und scho-
nungslose Disziplin, die sich bis auf das Kind in der Wiege er-
streckt, auf die Physik des Verkehrs und die Metaphysik der Ar-
beit, wo der Einzelne bestürzt sein Schicksal als „Arbeiter“, als
145 Ebd., 127.
146 GA 94, 226.
147 E. JÜNGER: Der Arbeiter. In: Ders.: Sämtliche Werke. Zweite Ab-
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156 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Beschäftigter des Apparats, als Angestellter der Machenschaft
anerkennen muss. Er tut nichts anderes, als das geheimnisvolle
Gesetz anzuwenden, dem im Zeitalter der Massen und der Ma-
schinen alles ausgeliefert wird.148
Wenn jede Spur von Revolte fehlt, so ist es, weil Heidegger,
anders etwa als Weber, der von einer „Entzauberung der Welt“
sprach, in der Potenz der Machenschaft eine raffinierte Verzaube-
rung erblickt, in der dank eines grenzenlosen Fortschritts nichts
mehr unmöglich erscheint. Alles erweist sich als machbar, und die
Machbarkeit, die die Metaphysik kennzeichnet und ihre Perfektion
markiert, ist die Art, in der sich das Seiende verfügbar macht. In
griechischen Termini ist die Machenschaft der Übergang von der
phýsis, von der Natur im weiteren Sinne, zur téchne. Das Mittelstück
dieses Übergangs bildet das poietische Machen, die poíesis. Jedes
Seiende, auch wenn es natürlich ist, erscheint als ein Arte-fakt. Im
ersten griechischen Anfang gelangt die Machenschaft, die als
solche immer naturwidrig ist, nicht zu jener Potenz, die sie im
„jüdisch-christlichen Schöpfungsgedanken“ erhält. 149 Die bibli-
sche Vorstellung des schaffenden Gottes ändert die Art, das Sei-
ende anzusehen, das sich als ens creatum erweist. Das, so Heidegger,
habe die ganze Metaphysik irregeleitet, da der Ursache-Wirkungs-
Zusammenhang, der in der Schöpfungsidee herrsche, das Seiende
immer als verursacht erscheinen ließe. Heideggers Kritik hat eine
theologische Valenz, die nicht zu übersehen ist: Um die Machen-
schaft auf den jüdischen Kontext zurückzuführen, unterstellt
Heidegger dem biblischen Denken sowohl eine scholastische Idee
der Schöpfung, die als kausale Emanation verstanden wird, als
auch eine Idee Gottes, gemäß der Gott ein schaffendes Seiendes
unter Seienden ist; doch diese Ideen finden in der Thora keine
Entsprechung. In ihr ist das Schöpfen ein dialogisches Seinlassen.
Je mehr sie ihre eigene Potenz entfaltet hat, desto mehr hat die
Machenschaft sich verborgen – bis zur äußersten Seinsverlassen-
heit im Zeitalter der Technik, in der das Seiende, dem Zwang des
All-Machens ausgeliefert, dem unaufhaltsamen Rechnen unter-
worfen wird, sich auf Bestand, Vorrat reduziert und verzehrt,
148 Vgl. E. JÜNGER: Die Totale Mobilmachung. In: Ders.: Sämtliche
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Machenschaft und Macht 157
vernutzt und verschlissen wird. Es ist nicht schwierig zu ahnen,
dass sich die Machenschaft nicht nur auf das Machen im Sinne des
Herstellens beschränkt, sondern als ein riesenhaftes Verbrauchen
erscheint, das auch ein Auslöschen ist. Während die Machenschaft
das Seiende hervorbringt, ist sie für dasselbe die größte Gefahr:
Indem sie über es disponiert, exponiert sie es zugleich und setzt es
dem Nichts und der Abnutzung aus.
Die Potenz der Machenschaft ist eine Macht, die kraft einer
ontologischen Gewalt herrscht, einer Gewalt, die zum Gestell der
Machbarkeit gehört. Es gibt keine Machenschaft ohne Gewalt.150
Da im Verlauf der Jahrhunderte die phýsis immer mehr und immer
wieder verletzt worden ist, kann man die Metaphysik als eine
Geschichte der Gewalt lesen, in der die Machenschaft das letzte
Ergebnis darstellt. Wie können wir den Willen zur Macht überse-
hen, der sich im medientechnischen Gestell manifestiert, in dem
die Zeit auf die Wiederholung des Immergleichen erniedrigt wird?
So zeichnet sich zwischen der Macht der Machenschaft und
der Herrschaft des Seyns eine politische Entgegensetzung ab. So
wie bereits in anderen Texten aus dem Umkreis des seynsge-
schichtlichen Denkens, wird diese Entgegensetzung zum wieder-
kehrenden Thema in den Schwarzen Heften, in denen ihre Erörte-
rung, vor allem in den Überlegungen XII-XV von 1939 – 1941,
immer schärfere Töne annimmt.
Obwohl Heidegger betont, dass die „Machenschaft“ eine Art
„der Wesung des Seins“ bezeichnet, in der dieses sich auf die
„Machsamkeit“ richtet, hebt er hervor, dass der Terminus in der
alltäglichen Bedeutung die hinterlistige Betriebsamkeit und Anzet-
telung meint. Von dieser Bedeutung, die sich auf ein niederträch-
tiges menschliches Verhalten bezieht, solle man also absehen,
auch wenn die Machenschaft das „Unwesen“ des Seins begüns-
tigt.151
Dennoch ist es Heidegger selbst, der in den Schwarzen Heften of-
fensichtlich nicht davon absieht. Er spricht vom „Zeitalter der
Machenschaft“, um damit den „endgültigen Sieg“ der Metaphysik
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158 Die Seinsfrage und die Judenfrage
zu bezeichnen; ein Sieg, der in einer verborgenen Komplizen-
schaft auch den Sieg des Judentums mit sich bringt.152
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Die Verwüstung der Erde 159
wird und der souveränen Herrschaft, die aus der gründenden
anfänglichen Entscheidung entspringt, zu.155
Das Zeitalter der Machenschaft, das Vorspiel und Anzeichen
des bevorstehenden Konflikts ist, wird mit immer dramatischeren
Termini geschildert.
Es ist ein Wanderer, der Schatten Zarathustras, der ein altes Lied
singt, das er „unter Töchtern der Wüste“ dichtete, als er dem alten
Europa am fernsten war: „Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüs-
ten birgt.“158
„Bergen“ bedeutet sowohl „Finden“ als auch „Schutz bieten“.
Die Warnung ist demnach zweideutig. Man wohnt in der Wüste
und wird von der Wüste bewohnt. Für Nietzsche ist das Wachsen
der Wüste kein bloß geographisches Phänomen. Die Verheerung
des Bodens ist nicht nur die Verwüstung der Erde.
Auch nach Heidegger geht die „Verwüstung“ weit über die Ge-
fährdung der Umwelt, der Naturressourcen, der nachhaltigen
155Vgl. ebd., 53.
156Ebd., 52-53.
157 Ebd., 260.
158 F. NIETZSCHE: Also sprach Zarathustra. Kritische Gesamtausgabe.
Abt. 6., Bd. 1. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari. De Gruyter: Berlin –
New York 1968, 376.
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160 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Entwicklung hinaus. „Ver-wüstung meint hier nicht bloß: Wüst-
machen eines Vorhandenen“.159 Es soll also nicht nur an die Wüs-
te gedacht werden, die wächst und alles verheert. Die Verwüstung,
die aus der Machenschaft „ausbricht“, ihre perverse und unver-
meidbare Folge bildet, ist vielmehr das „Einrichten der Wüste“,
das erst eine wüste Leere zum Vorschein kommen lässt.160 Hin-
sichtlich des Wortes „Verwüstung“ darf der Bezug auf die „Wüs-
te“ nicht übersehen werden, denn sonst wird das Phänomen redu-
ziert. Über seinen politischen Sinn hinaus hat es für Heidegger
eine ontologische Relevanz und wird deshalb in die Geschichte
des Seyns eingeschrieben.
Daher ist in den Schwarzen Heften, vor allem in den Überlegun-
gen XII-XV, häufig von der Verwüstung die Rede. Der „planetari-
sche Krieg“ wird früh geahnt. Er erscheint im Zusammenstoß
von „Zerstörung“ und „Verwüstung“. Während die Zerstörung
„der Vorbote eines verborgenen Anfangs“ sei, erweist sich die
Verwüstung als der „Nachschlag des bereits entschiedenen En-
des“.161 Der Unterschied könnte nicht abgründiger sein. Die Zer-
störung hat für Heidegger mithin eine schöpferische Bedeutung;
wenn sie geschieht, auch als Krieg, kann sie den Übergang öffnen
und den anderen Anfang vorbereiten. Im Gegensatz dazu ist die
Verwüstung ein Ende, das sich als Ende unaufhörlich wiederholt,
indem sie als eine „wesentliche“ Überführung in das Nichtige das
Seyn noch vor dem Seienden betrifft.
Die Verwüstung der Erde ist die Desertion des Seyns. So
kommt die „Verwüstung“ der „Vernichtung“ nahe. „Die vollstän-
dige Vernichtung ist die Verwüstung“. 162 Denn in der Wüste
„wächst“ nichts mehr. Das Seiende verliert die Verbindung mit
dem Seyn, wird von ihm abgetrennt, gelangt nicht mehr in die
Entscheidung für das Seyn. Verwüstung meint dann „Untergra-
bung der Möglichkeit jeder anfänglichen Entscheidung“. 163 Hier
liegt also die geschichtliche Tragweite der Verwüstung, die den
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Die Verwüstung der Erde 161
Zugang zu den Bereichen der Entscheidung verstellt und so das
Ereignis des anderen Anfangs verhindert.
Zuweilen ersetzt Heidegger den Begriff der „Verwüstung“
durch das poetischere Wort „Verödung“; gewiss evoziert das
pejorative Präfix in beiden Fällen die „Verjudung“. Jenseits dieser
Affinität ist aber der Widerklang des Wortes „Wüste“ wichtiger.
Denn es ist nicht schwierig, in der Verwüstung eine weitere Figur
des Judentums zu erblicken. Und dies nicht nur, weil die Wüste
der symbolische Ort des jüdischen Volkes ist, sondern auch, weil
die Verwüstung die Unmöglichkeit des Anfangs darstellt. Sie ist
die Entwurzelung, die droht, planetarisch zu werden und so „das
Unzerstörbare zu vernichten“, d.h. den Ursprung auszuhöhlen
und zu untergraben, aus dem das Licht des anderen Anfangs
heraufdämmern kann.164
Doch zwischen Wüste und midbàr, zwischen der Einöde der
deutschen Vorstellungswelt von Heidegger und der Wüste, die
den Hintergrund der Thoraerzählung bildet, ist die Distanz
enorm. Dürr, verheert, kahl, steinig, ungastlich, unbewohnbar,
leblos, leer und nichtig, formloser und unermesslicher Raum,
ohne Grenzen und daher Ort der Verdammnis und der Versu-
chung, Sitz des Bösartigen und des Dämonischen: das ist die
Wüste für Heidegger.
Umgekehrt ist midbàr für die Juden die Öffnung der Freiheit,
die sich nach dem Ausgang aus Ägypten, Mitzraim, d.h. den engen
Orten der Knechtung und der Unterdrückung aufschließt. In der
Wüste fangen sie wieder an, zu atmen, den Atem zu artikulieren,
als freie Menschen zu sprechen. So enthält midbàr in seinem Ety-
mon die Wurzel d-w-r, dawàr, das „Wort“ bedeutet – Wort, das zu
sagen und noch mehr zu hören ist. In der Wüste hört Israel zu
und empfängt die Thora, nicht um daraus einen exklusiven Besitz
zu machen, sondern um sie der Welt zu bringen. Dazu sind die
Juden berufen, das ist ihre Auserwählung. Andererseits haben sie
schon durch den Exodus bezeugt, dass die Sklaven wieder frei
werden können. Die Wüste ist der Weg der Rückkehr, die die
Bahn vorzeichnet. Es ist das Gesetz Moses’, das sie orientiert. In
der scheinbaren Leere der Wüste lernen sie, den Blick nach oben
zu wenden. In der Wüste, in diesem Ort der Abwesenheit, konsti-
164 GA 96, 260.
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162 Die Seinsfrage und die Judenfrage
tuiert sich Israel durch den theologisch-politischen Pakt als Volk,
es bildet die „Theokratie“, die „auf dem anarchischen Seelengrund
Israels errichtet“ ist.165 Die Wüste, in der es keinen Anfang gibt,
veranschaulicht die politische Idee, nach der das jüdische Volk die
Führung Gottes anerkennt, um die arché, das Prinzip und das
Kommando zu verweigern.166
Gerade darin liegt die Schwierigkeit für Heidegger: Das Juden-
tum lehnt den Anfang ab. In diesem Sinne unterminiert es grund-
sätzlich die Herrschaft. Denn alle „Herrschaft ist anfänglich und
des Anfangs“.167 Andererseits bedeutet arché „zugleich Anfang und
Herrschaft […], Ausgang und Verfügung“.168 Die Herrschaft hat
die königliche Fähigkeit, „den Anfang zu setzen“. Herr ist derjeni-
ge, dessen Macht aus dem Advent des Seyns kommt. In den Au-
gen dieser Macht ist das Unwesen des Judentums ein zerstöreri-
sches Wesen. „Der Ordnungsdrang der Verwüstung ist Drang“.169
Statt Verwüstung könnte man auch Anarchie sagen.
Unempfindlich gegen alles, was sie verleugnet, könne die Ver-
wüstung in ihrem „Unwesen“ – so Heidegger – „nicht unmittelbar
beseitigt, sondern nur durch ihr Wesen selbst in ihr Wesensende
gesetzt werden“.170
Nach dem Krieg ändert sich Heideggers Einstellung nicht. Er
datiert das Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager in Rußland
zwischen einem Jüngeren und einem Älteren auf den 8. Mai 1945. Das
Thema ist die Verwüstung und das Warten. Der rätselhaften und
heilsamen Weite des russischen Waldes wird die Verwüstung
entgegengesetzt, die sich, sofern sie nicht eingedämmt wird, als
das wurzellose und entwurzelte „Böse“ überall einnistet. Diesem
Bösen entstammt der planetarische Krieg. Es ist ein Böses, das
nicht als das moralisch „Schlechte“ und auch nicht als das „Ver-
werfliche“, sondern als „das Bösartige“ zu verstehen sei. Und das
8, 260 f.
167 GA 66, 17.
168 GA 9, 239-302, 247.
169 GA 69, 48.
170 Ebd.
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Apokalyptik und „der Fürst dieser Welt“ 163
Bösartige sei das, was aufrührte, dabei aber seinen Ingrimm ver-
berge. „Das Wesen des Bösen ist der Ingrimm des Aufruhrs“.171
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164 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Judentum und Christentum in der Biologisierung der antisemiti-
schen Metaphorik erneut eine Rechtfertigung gefunden. So wäre
es falsch, den modernen Antisemitismus als bloß „biologisch“
einzuschätzen. Unter dem Mantel der Wissenschaft oder der
Pseudowissenschaft tauchen alte theologische Vorurteile wieder
auf, die die Entgegensetzung zwischen „Ariern“ und „Semiten“
motivieren und stützen sollen. Ohne diese Kontinuität würde die
politische Theologie des Nationalsozialismus, die aus Hitler das
„göttliche Instrument“ im planetarischen Krieg gegen die Juden
macht, unverstanden bleiben.174
Ein bloß biologischer Rassismus würde die Frage: Warum die
Juden? nicht beantworten können. Der Hitlersche Antisemitismus
ist eine Verbindung von Theologie und Politik, von Rassismus
und Apokalyptik: einerseits der kalte Szientismus des Arztes, der
die Infektion beseitigt, des Züchters, der die Herden selektiert,
andererseits die apokalyptische Vision des Propheten, der vom
existenziellen Hass, von einer metaphysischen Passion im Szena-
rio einer Endschlacht zwischen dem Guten und dem Bösen, eines
extremen und beklemmenden Konflikts zwischen Rettung oder
Nichts, getrieben ist. Der Sieg der Juden würde tatsächlich nicht
nur das Ende der arischen Rasse, sondern die Vernichtung des
Kosmos bedeuten.
Das wird im Bild vom Juden bestätigt. Er ist im Inventar des
Biologismus Mikrobe, Bazillus, ewiger Pilz, Spinne, Blutsauger,
Parasit, Vampir.175 Zugleich ist er aber der Bösartige, das dämoni-
sche Wesen, Satan. Nach Dietrich Eckart, Hitlers Mentor und
Begründer des Nationalsozialismus, erweist sich der Jude, der
„seelenlos“ und Leugner der Unsterblichkeit ist, als die neue Ver-
sion des Mephistopheles, dessen unergründliches Ziel es ist, die
Welt zu „entseelen“, sie zunichte zu machen. Mehr noch: In einer
Perspektive, die offensichtlich auf die Johannes-Apokalypse ver-
weist, ist der Jude der „Fürst dieser Welt“, der Antichrist.176 Eine
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Die Entrassung der Völker 165
ähnliche satanologische Apokalyptik, die übrigens auch die Texte
der NS-Ideologen durchdringt, lässt sich auch bei Joseph Goeb-
bels feststellen, für den der Jude „der Antichrist der Weltgeschich-
te“ ist, und darum darf „Christ kein Jude sein“. 177 Das „Dritte
Reich“ konnte in diesem Sinne als das Reich der Rettung vorge-
stellt werden.
Wenn der totalitäre Anspruch des Nationalsozialismus erfasst
werden soll, ist es nötig, beide Register zu berücksichtigen. „Von
der Mikrobe zum Kosmos ist das ganze Universum mobili-
siert“.178 Ob der Jude als Mikrobe oder als Dämon angesehen wird
oder ob er in die untermenschliche oder übermenschliche Sphäre
verbannt wird, das Ergebnis ist jedenfalls seine Enthumanisierung.
tern. Zentralverlag der NSDAP: München 1929, 58. Über den Juden als
Antichrist vgl. C.-E. BÄRSCH: Die politische Religion des Nationalsoziali-
smus. W. Fink: München 2/2002, 71 ff., 131 ff.
178 P. BURRIN: Ressentiment et Apocalypse: Essai sur l’antisémitisme
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166 Die Seinsfrage und die Judenfrage
eine besonders einschneidende Stelle, die die Entwicklung seines
Denkens über die Machenschaft beleuchtet.
Dass die „Rasse“ zum Prinzip der Geschichte erhoben wird, ist
für Heidegger nicht die willkürliche Erfindung von „Doktrinä-
ren“, sondern eine „Folge der Macht der Machenschaft“, die das
Seiende in die planhafte Berechnung niederzwingt.179 Dabei steht
die Idee im Visier, dass das Leben manipuliert werden kann. Hier
lässt sich eine ausdrückliche Kritik am biopolitischen Projekt des
Nazismus erkennen.180 Heidegger ahnt, dass die Neuheit des Pro-
jekts, das weit über den Rassismus des 19. Jahrhunderts hinaus-
geht, in der vom Willen zur Macht befohlenen Manipulation, in
der Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft liegt.
Doch der Hinweis auf die Machenschaft ist verdächtig. Und in der
Tat: Heidegger unterstellt, dass die Juden die ersten Anwender des
Rasseprinzips seien. Sie waren es, die es als die ersten Rassisten
klammheimlich in die Geschichte eingeführt haben.
Die Juden „leben“ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon
nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die
uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen. Die Aufrichtung der
rassischen Aufzucht entstammt nicht dem „Leben“ selbst, sondern der
Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft. Was diese mit
solcher Planung betreibt, ist eine vollständige Entrassung der Völker durch
die Einspannung derselben in die gleichgebaute und gleichschnittige
Einrichtung alles Seienden. Mit der Entrassung geht eine Selbstentfrem-
dung der Völker in eins – der Verlust der Geschichte – d.h. der Entschei-
dungsbezirke zum Seyn.181
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Die Entrassung der Völker 167
sung“ sowohl Beraubung, Entzug der Rasse, als auch gleichschnit-
tige Züchtung heißt?
Darüber hinaus seien die Juden gegen die „uneingeschränkte“
Anwendung – das Adjektiv verweist auf die Nürnberger Gesetze –
des Rasseprinzips, nicht weil sie sich diskriminiert fühlten, son-
dern weil sie sich weigerten, ihr Privileg auf andere zu übertragen.
Gerade das würde die Deutschen legitimieren, dasselbe Recht zu
beanspruchen.
Die Entrassung der Völker ist eine der schwersten Anklagen,
die Heidegger gegen die Juden erhebt. Indem ihnen schon hier
von Heidegger hinterlistige Absichten unterstellt werden, deutet er
ein Komplott an, über das noch später zu reden sein wird. Um der
oszillierenden Logik dieser Anklage folgen zu können, um vor
allem ihre Tragweite zu begreifen, gilt es, an zwei Namen zu erin-
nern: an Nietzsche und an Hitler.
In einem Kapitel des Zarathustra, das den Titel „Von den Pries-
tern“ trägt, schreibt Nietzsche: „ihre Torheit lehrte, daß man mit
Blut Wahrheit beweise. Aber Blut ist der schlechteste Zeuge der
Wahrheit; Blut vergiftet die reinste Lehre noch zu Wahn und Haß
der Herzen“. 182 Nietzsche zielt entschlossen auf diejenigen, die
nicht anders „ihren Gott zu lieben“ wussten, „als indem sie den
Menschen ans Kreuz schlugen“.183 Das jüdische Volk, das durch
den Gottesmord, durch das blutige Verbrechen der Kreuzigung
definiert wird, sei das Priestervolk, dessen „Torheit“ – und un-
überhörbar klingt hier das Wort „Thora“ an – es gelehrt habe,
dem Blutgesetz zu folgen, das die Wahrheit bezeuge. Das jüdische
Volk halte sich also an die vom Blut vorgezeichnete Linie, an die
Abstammung und an die Rasse.
Nietzsches Worte werden von Heidegger in der Vorlesung
vom Wintersemester 1938/39 kommentiert – genau in der Zeit
also, in der die heikle Stelle der Schwarzen Hefte entstand.184 Nach
einem berühmtem Spruch Nietzsches sei „Wahrheit die Art von
Irrthum“, die sich im Werden, im Irren ergebe; das Blut, etwas
„Endgültiges“, die „Stillstellung des Lebens“, die „Abschnürung
seiner neuen Möglichkeiten“, müsse deshalb der schlechteste
182 F. NIETZSCHE: Also sprach Zarathustra. A.a.O., 115.
183 Ebd., 114.
184 GA 47, 228-229, 245; GA 46, 304, 342, 365.
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168 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Zeuge der Wahrheit sein. Heidegger geht dann zur „deutschen
Einheit“ und den „Deutschen der Gegenwart“, die die „Form“
verloren hätten, über.185
Hitler ist eindeutiger, wenn er den Talmud diffamiert: „Die jü-
dische Religionslehre ist in erster Linie eine Anweisung zur Rein-
haltung des Blutes des Judentums sowie zur Regelung des Ver-
kehrs der Juden untereinander, mehr aber noch mit der übrigen
Welt, mit den Nichtjuden also“.186 Obwohl er sich im Gastvolk
tarne, „hüte“ der Jude sein eigenes Volkstum, übe selber „strengs-
te Ausschließung seiner Rasse“ und erhalte „seinen männlichen
Stamm grundsätzlich immer rein“. 187 Kurzum: „Er vergiftet das
Blut der andern, wahrt aber sein eignes“. 188 Der Jude schleiche
sich ein, um die anderen zu bastardisieren, da er sich bewusst sei,
dass die „Bastarde [...] nach der jüdischen Seite“ ausschlagen. 189
Aber „ein rassereines Volk, das sich seines Blutes bewusst ist, wird
vom Juden niemals unterjocht werden können“.190 Für Hitler ist
der Weg der Vermischung, der Heterogenität, der Andersartigkeit
die politische Strategie der Juden. Sie realisierten Demokratie,
Gleichheit und Parlamentarismus, um so die Weltherrschaft zu
erlangen. Diese Herrschaft zu erreichen, kämpften sie nicht auf-
richtig und entzögen sich sogar der Freund-Feind-
Unterscheidung, indem sie sich durch List und Betrug dem Zu-
griff entzögen. Sie versteckten ihre eigene Gleichartigkeit und
beförderten zugleich die Andersartigkeit des Gegners: dies sei der
jüdische Weg zur Weltherrschaft.
Israels Erwähltsein steht demnach unter Anklage, die Schei-
dung – kadosch heißt auf Hebräisch „geschieden“, so wie gesagt
wird: „Seid heilig, denn ich der Herr, euer Gott, bin heilig“191 –
Gott eines „heiligen“ Volkes, das sich Regeln unterwirft, die das
185 F. NIETZSCHE: Nachgelassene Fragmente Herbst 1884 – Herbst
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Die Entrassung der Völker 169
Leben heiligen. Als Anerkennung der Gottesherrschaft über die
Geschöpfe achtet es z.B. auf die Reinigung der Hände oder auf
das Verbot, sich von Blut zu ernähren, da das Blut Symbol der
Vitalität ist. 192 Diese und andere Gebote, die Pflichten sind und
aus Israel ein „Volk von Priestern“ machen, werden mitsamt der
Zugehörigkeit zu einer Tradition, die sich in die Geschichte –
toldòt, Geschlechte – entfaltet und nichts Biologisches hat, als
Ausdruck eines jüdischen Rassismus verstanden.
Der Begriff der „Entrassung der Völker“ scheint sich also dem
zu nähern, was Carl Schmitt den „Dämon der Entartung“
nennt. 193 Denn „Entrassung“ entziehe die „Art“, ein Synonym
von „Rasse“, das Weise, Gattung, Schnitt, Form (um ein Wort
Nietzsches zu berücksichtigen) bedeutet, und zwar nicht nur in
einem biologischen, sondern auch politischen Sinn. Das sei des-
halb möglich, weil die Juden eine „Unrasse“ oder, wie Rosenberg
sagt, eine „Gegenrasse“ seien.194
Die Macht der Machenschaft wird nach Heidegger durch eine
Kalkulation ausgeübt, die das Leben manipuliert und es dem Joch
der Gleichheit unterwirft. Die Unterschiede zwischen den Völ-
kern und ihr jeweils eigentümliches Gepräge werde durch die
Entrassung verwischt. Sie hänge mit einer „Selbstentfremdung der
Völker“, einem „Verlust der Geschichte“ sowie einer Entfernung
von den Bezirken, in denen die Entscheidung zum Seyn möglich
sei, zusammen.195
Durch diesen erzwungen Egalitarismus, der von der biologi-
schen Sphäre auf die politische überspringt, wird die „ureigene
Geschichtskraft“ der Völker daran gehindert, sich zu sammeln.
Dabei bezieht sich Heidegger nicht nur auf die Deutschen, son-
dern auch auf die Russen, wobei er eine Differenz zwischen „Rus-
sentum“ und „Bolschewismus“ setzt. Der Bolschewismus als
politischer Ausdruck des Judentums sei nichts anderes als die
192 Levitikus/Wajkra 17,10-12. Das Verbot gilt übrigens auch für den
Fremdling.
193 C. SCHMITT: Die Verfassung der Freiheit. In: Deutsche Juristenzei-
686.
195 GA 96, 56.
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170 Die Seinsfrage und die Judenfrage
„Vorwegnahme der uneingeschränkten Macht der Machenschaft“.
Da der Bolschewismus in derselben Metaphysik wurzele, aus der
auch der Rassismus hervorgehe und in die der Nationalsozialis-
mus, der noch auf einer „historisch-technisch[en]“ Ebene stehe,
zurückzufallen drohe, sei es sinnlos, ihn durch das Rasseprinzip
eindämmen zu wollen.196
Soll man also denken, dass der Rassismus für Heidegger zur Me-
taphysik gehöre? Und dass hier der Grund liegt, weshalb er vom
Rasseprinzip Abstand nehmen möchte?
Das Wort „Rasse“ taucht in Heideggers Texten ab 1933 auf
und erscheint in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre immer
häufiger.197 Das muss nicht verwundern. Denn das ist es, was in
den Texten der zeitgenössischen Autoren von Jünger zu Schmitt
im Allgemeinen geschieht. Auf das vorsichtige Schweigen folgt
eine entschlossene Stellungnahme zu einem Schlüsselwort der
Lingua Tertii Imperii, der Sprache des „Dritten Reiches“.
In Heideggers Haltung zum Rassenthema spiegelt sich – und
wird deutlicher – die zum Nationalsozialismus. Seine kritische
Betrachtung der biologischen Verkürzung des Begriffs, seine
Suche nach der Etymologie des Wortes sowie sein Verweis auf
eine umfänglichere Bedeutung scheinen zu belegen, dass Heid-
egger den Begriff zurückweist und das Wort durchstreicht. Dass
er den Rassismus der Metaphysik bezichtigt, heißt aber keines-
wegs, dass er eine hierarchische Einteilung der Menschheit aus-
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Rasse oder Rang? 171
schließt. In ihr haben nur bestimmte Völker – und bestimmte
Völker nicht – Anteil an der Weltgeschichte.198
Das Wort „Rasse“ kommt bei Heidegger beinahe immer in An-
führungszeichen vor. Es geht um dieselben Anführungszeichen,
deren ambivalenter Gebrauch von Derrida beim ähnlichen Fall
des „Geistes“ hervorgehoben wird. Es geht darum, das Wort zu
übernehmen, ohne es wirklich zu übernehmen. Obwohl es distan-
ziert wird, wird es akzeptiert. „Die Katharsis, die mit dem Ge-
brauch der Anführungszeichen einhergeht, befreit das Wort von
seinen vulgären, uneigentlichen, Spuren“.199 Wenn das Wort außer-
halb der Einzäunung der Anführungszeichen erscheint, dann nur,
damit es eines Makels verdächtigt werden kann.
Es ist gewiss richtig, dass Heidegger den biologischen Rassis-
mus ablehnt, und zwar nicht nur wegen dessen szientistischem
Anspruch oder dem Primat, das dabei dem Körper zufällt. Der
Grund der Ablehnung liegt vielmehr darin, dass der Biologismus
nichts anderes als ein Ergebnis der Metaphysik ist. „Alles Rasse-
denken ist neuzeitlich, bewegt sich in der Bahn der Auffassung
des Menschen als Subjekt“. 200 Immer wieder betont Heidegger,
dass Rasse und Subjektivität eng miteinander verbunden seien.
Dazu verweist er auf Ernst Jünger: „‚Rasse‘ ist ein Machtbegriff –
setzt Subjektivität voraus, vgl. zu Ernst Jünger“. 201 In welchem
Sinne aber geht das Rassedenken aus der Subjektivität und vor
allem aus der Macht bzw. aus dem Willen zur Macht hervor?
Man muss vermuten, dass ihm der Weg dazu nicht allein von
Nietzsche geöffnet wurde, dessen „Rassengedanke nicht einen
biologistischen, sondern einen metaphysischen Sinn“ habe. 202
„Aufzucht“ sei ein schon von Nietzsche benutzter und später in
den NS-Jargon übergegangener Terminus, den Heidegger, wenn
tel II, § 5.
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172 Die Seinsfrage und die Judenfrage
auch in einem pejorativen Sinn, hemmungslos gebraucht; er be-
zieht sich auf die Züchtung, aber auch auf die Zucht als Disziplin.
Die Herkunft des Begriffs „Rasse“, mag sie auch unklar sein, geht
auf das Altfranzösische haraz zurück, das seinerseits auf eine
skandinavische Herkunft zurückgeht und „Pferdezüchtung“ be-
deutet. Die Gleichartigkeit sei demnach also nicht erblich gege-
ben, sondern werde durch planvolle Berechnung gesucht, gewollt.
Nur ein modernes Subjekt, das sich einbildet, souverän zu sein,
kann bei jenem Manipulierungsprozess an den Punkt gelangen,
eine Rasse schaffen zu wollen, d.h. Menschen zu züchten, um aus
ihnen eine gleichartige Gruppe zu bilden. In dieser Hinsicht ist die
Pflege der Rasse eine extreme Maßnahme, zu der die Moderne
drängt.
Hier erschöpft sich aber Heideggers Kritik. Obwohl er Biolo-
gismus, Darwinismus und die ihnen zugrundeliegende Metaphysik
des Willens zur Macht deutlich verurteilt, stellt er die „Rasse“
nicht wirklich in Frage. Heidegger betont an keiner Stelle, dass
„Rasse“ eine Erfindung ist. Und erst recht nicht stellt er klar, dass
Menschen keine Tiere und insofern nicht in Arten unterscheidbar
sind. Gerade diese Unterscheidung zwischen Mensch und Tier
aber setzt Heideggers Denken überall voraus. Daher ersetzt er den
Begriff der Rasse durch den des Rangs. Der Unterschied des
Rangs lässt sich nämlich nicht auf die bloße Leiblichkeit reduzie-
ren. Der Rangunterschied, der durch das Adjektiv „rassig“ (nicht
„rassisch“) bezeichnet wird, kann in seinen Augen nicht durch
eine biologische Manipulation erzeugt werden, sondern er ge-
schieht, ereignet sich.
„Rasse“ meint nicht nur Rassisches als das Blutmäßige im Sinne der
Vererbung, des Erbblutzusammenhangs und des Lebensdranges, sondern
meint zugleich auch oft das Rassige. Dies ist aber nicht beschränkt auf
leibliche Beschaffenheit, sondern wir sagen z.B. auch „rassiges Auto“
(wenigstens die Jungen). Das Rassige verwirklicht einen bestimmten
Rang, gibt bestimmte Gesetze, betrifft nicht in erster Linie die Leiblich-
keit der Familie und der Geschlechter. Rassisch im ersteren Sinne braucht
noch lange nicht rassig zu sein, es kann vielmehr sehr unrassig werden.203
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Rasse oder Rang? 173
Rasse und Rang sind nicht dasselbe. Was von Rasse ist, ist nicht
notwendigerweise von Rang. Indem er aber den „Rang“ geltend
macht, behauptet Heidegger auch den „Vorrang“, d.h. strukturell
genau die Idee, die der Rassengedanke impliziert und akzentuiert,
nicht.204 Die Etymologie von „Rang“, verweist auf das altfranzösi-
sche renc oder rang, d.h. Kreis, Versammlung, sich einordnen in
einen Ring. Man kann sagen, dass dieses Bild, das an ein Treffen
von Rittern erinnert, die Idee von Reihe und Ordnung mit evo-
ziert. Doch diese Ordnung wird durch Grad und Wert differen-
ziert und setzt keine Selektion voraus. Dass „rassig“ in diesem
Sinn verstanden wurde, bezeugt Klemperer:
[Frieda] identifizierte das Deutsche mit dem magischen Begriff des Ari-
schen; es schien ihr kaum fasslich, daß mit mir, dem Fremden, der Krea-
tur aus einer anderen Sparte des Tierreiches, eine Deutsche verheiratet
sei, sie hatte „artfremd“ und „deutschblütig“ und „niederrassig“ und
„nordisch“ und „Rassenschande“ allzu oft gehört und nachgesprochen:
sie verband sicherlich mit alledem keinen klaren Begriff.205
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174 Die Seinsfrage und die Judenfrage
des Daseins“ sei.209 Wie sich das Volk nicht auf den Körper des
Volkes, auf die Bindungen von Fleisch und Blut zurückführen
lässt, so beschränkt sich das Dasein nicht auf seine „Geworfen-
heit“. Heidegger beruft sich ausdrücklich auf Sein und Zeit, um
klarzustellen, dass „Rasse“ eine „notwendige und sich unmittelbar
aussprechende Bedingung des geschichtlichen Daseins“ sei, die
trotzdem nicht als ein „Unbedingtes“ bezeichnet werden kann.210
Man würde sonst vergessen, dass das Dasein, obwohl es in seine
geschichtliche Faktizität geworfen ist, frei, d.h. geworfener Ent-
wurf, ist.
Wenn das Blut keine hinreichende Bedingung ist, wenn es noch
weniger zum Unbedingten werden kann, so ist es doch eine „Be-
dingung“. Daher kann Heidegger schon im Winter 1933/34 sagen:
„Blut und Boden sind zwar mächtig und notwendig, aber nicht
hinreichende Bedingung für das Dasein eines Volkes“. 211 Einige
Monate später fügt er hinzu:
So kann auch das Blut und das Geblüt nur dann den Menschen wesens-
mäßig bestimmen, wenn es von Stimmungen bestimmt ist, nie von sich
allein aus. Die Stimme des Blutes kommt aus der Grundstimmung des
Menschen.212
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Metaphysik des Blutes 175
Wer ist Jude? Wie muss man den Juden definieren? Oder ist sein
„Wesen“ undefinierbar, indem es alle Grenzen überschreitet? Die
Umzingelung, auch die begriffliche, ist nicht imstande, Grenzen
zu ziehen.
Das ist das Problem, das im NS-Staat der Bürokratie überlassen
wird, der dunklen Macht der Büros, die nicht zufällig unmittelbar
verantwortlich für die Vernichtung sein wird. Schon die Protago-
nisten des Rassismus vom Ende des 19. Jahrhunderts von Marr
bis zu Dühring und zu Fritsch stießen gegen das Hindernis der
Definition. Sie gelangten nie dazu, den Juden, das Objekt ihrer
Obsession, zu definieren, obwohl sie nie müde wurden, Anathe-
mata und Warnungen vor der Gefahr des „jüdischen Bluts“ aus-
zusprechen. Das Böse – sagten sie – liege in der Rasse.214 Wie ist
aber die Rasse zu bestimmen? Ist sie nicht ein „Arcanum“ – wie
Carl Schmitt einige Jahre später zugibt?215
Das Problem, das schon durch die Existenz des „Mischlings“,
des Halb-Juden gegeben war, da dieser nicht nur bastardisiert,
nicht nur das „arische Blut“ verunreinigt, sondern die Errichtung
wirksamer Barrieren zum Schutz des „deutschen Leibs“ verhin-
dert, wird dringlich, wenn die antijüdischen Maßnahmen und die
Ausschließungsverordnungen rechtsgültig werden. Die Dokumen-
te der NS-Gesetzgeber zeigen Uneinigkeit und Zwiespalt über die
Begriffe von Rasse und Allogen. Während eine essentialistische
Auffassung sich durchsetzt, die von den radikalen Antisemiten der
NSDAP vertreten wird und die besagt, dass ein Tropfen jüdischen
Bluts ausreiche, um aus einem Deutschen einen Bastard zu ma-
chen, verschiebt sich die Grenze immer mehr bis zur Einschlie-
ßung der Halb-Juden. Trotz aller Rhetorik erreicht die nationalso-
zialistische Gesetzgebung nie eine biologisch-rassische Definition
des „Juden“. Die Nürnberger Gesetze zum „Schutz des deutschen
214 R. HILBERG: Die Vernichtung der europäischen Juden. Bd. 1. Fi-
scher: Frankfurt 1990, 58 ff., 69 ff.; P. PULZER: The Rise of Political Anti-
Semitism in Germany and Austria. Harvard University Press: London –
Cambridge 2/1988.
215 C. SCHMITT: Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 –
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176 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Blutes“ bleiben unvollständig. Das bringt Wissenschaftler der
Rasse und Eugeniker von Eugen Fischer zu Ottmar von Ver-
scheure in Verlegenheit, denn sie lobpreisen zwar opportunistisch
die Gesetze, sind sich aber bewusst, kein Instrument zur Klassifi-
zierung jüdischer Bürger liefern zu können, da es keine „jüdische
Rasse“ gibt.
Das Paradox ist folgendes: Einerseits behauptet man, dass nur
derjenige dem deutschen Volk angehöre und als Mitbürger anzu-
erkennen sei, der deutsches Blut habe. Damit wird die Konfession
nicht berücksichtigt – so dass ein Jude, der zum Christentum
bekehrt ist, Jude bleibt und dem deutschen Volk nicht angehören
kann; andererseits, sagt man, dass diejenigen Menschen „nicht-
arisch“ seien, die von Juden abstammten, wobei unter „Juden“
diejenigen zu verstehen seien, die der jüdischen Religion angehö-
ren.216 Im Gegensatz zu dem, was man noch heute glaubt, stützen
sich die Nürnberger Gesetze keineswegs auf „wissenschaftliche“
Kriterien. Da die rassistischen Phantasien nie eine empirische
Bestätigung fanden und deshalb auf die Theologie rekurrieren
mussten, wurden sie nur aus propagandistischen Zwecken „Ras-
sengesetze“ genannt.
In welcher Hinsicht sollte sich das jüdische Blut vom deut-
schen unterscheiden? Warum sollte Blut Identität festsetzen? Die
Frage ist eine philosophische.
Man kann Tracht und Bräuche ändern, eine andere Kultur er-
werben, eine neue Sprache lernen, man kann sogar den Glauben
wechseln – doch das Blut bleibt. Es ist das Wesen der Identität.
Die Obsession, den Juden zu definieren, als ob ein unveränderli-
ches jüdisches Wesen gegeben sei, drängt darauf, eine Antwort in
jenem inneren Element zu finden, das nach Außen hin weder
verheimlicht noch verstellt werden kann.
Wasser kann Blut nicht abwaschen – nicht einmal das des
Taufbeckens. Meister in der Mimikry und in der Lüge, in der
Kunst nämlich, sich als das auszugeben, was sie nicht sind, kön-
nen die Juden, selbst wenn sie geschickt sind, ähnlich zu erschei-
nen, d.h. ihre Identität zu verschleiern und zu verbergen, sich dem
Blut und der Probe des Blutes nicht entziehen.
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Metaphysik des Blutes 177
So schloss Spanien nach der Einführung der Zwangstaufe und
der von der vermeintlich universalen Bruderschaft in Toledo 1449
erlassenen Sentencia Estatuto, durch die der Begriff der limpieza de
sangre eingeführt wurde, um cristianos viejos, „Christen vom reinen
christlichen Ursprung“, von den cristianos nuevos, den getauften
Juden, die in ihrem Blut unverändert blieben, zu unterscheiden,
die Juden endgültig aus. War der gegen die Juden erhobene Vor-
wurf nicht der, dass sie Jesus als Messias nicht anerkannten? Wenn
sie ihn aber anerkannten und „Gläubige in Christus“ wurden, war
es dann nicht theologisch widersinnig, sie wegen ihres Blutes zu
diskriminieren? Ging das nicht gegen die Lehren jenes Rabbis von
Nazareth, der aus dem Volk Israel stammte? Nachdem Spanien
jahrhundertelang die Assimilierung der Juden durch Überredung
und Gewalt befördert hatte, richtete es sein Ressentiment, seine
Frustration auf die unidentifizierbaren conversos. Obwohl sie sich
für Christen ausgaben, blieben die Marranen weiter Juden; sie
logen, waren opportunistisch und hatten vor allem die jüdischen
Züge List, Gier, und Rachsucht unverändert behalten. Ihr bösarti-
ges Wesen bewahrte sich im Blut, was keine Bekehrung hätte
abstellen können. Gegen das Blut war kein Kraut gewachsen. Sein
Eindringen in anderes Blut war unvermeidbar. Nun wurde die
Reinheit des Blutes, die Verhinderung einer jüdischen Kontamina-
tion, viel wichtiger als die Reinheit des Glaubens. Und das Krite-
rium des echten Spaniers wurde die limpieza de sangre de tiempo im-
memorial, die unvordenkliche Reinheit des Blutes.
Es ist nicht schwierig, die „phänomenologischen Affinitäten“
zu erkennen, die Yerushalmi zwischen dem damaligen Spanien
und dem Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts aufzuzeigen
vermochte. Sie sind vor dem Hintergrund einer geschichtlichen
Kontinuität zu lesen.217 Es gibt hier über die Jahrhunderte hinweg
eine Ähnlichkeit zwischen dem Vorgang einer mehr oder weniger
gelingenden Assimilation und einer antisemitischen Reaktion, die
antijudaistische Züge hat. Dieser Zusammenhang wird in beiden
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178 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Fällen durch eine politische Theologie ermöglicht, die darauf zielt,
den inneren Feind zu besiegen. Der politische Gebrauch der The-
ologie in der Inquisition liefert dafür ein beredtes Beispiel.
Unter diesem Gesichtspunkt sollte das in seiner beunruhigen-
den Komplexität bis jetzt vernachlässigte Phänomen der vielen
Bekehrungen von Philosophen und Philosophinnen untersucht
werden, die um Husserl, seinerseits ein konvertierter Jude, kreis-
ten, und sich auf die Phänomenologie beriefen: von Adolf Rein-
ach zu Max Scheler, von Edith Stein zu Hedwig Conrad Martius.
Der Weg Steins, der sie in die Klausur eines Klosters von Karme-
literinnen, einem kleinen Käfig innerhalb des größeren Käfigs, der
Deutschland damals für die Juden geworden war, führte, endete
bekanntlich in Auschwitz. Ihre letzte Reise sei, wie Günther An-
ders schreibt, „noch jammervoller gewesen [...] als die der Ande-
ren, als die der Tausenden, mit denen zusammen sie den Öfen
entgegenfuhr, da sie ja [...] eine Art von Kostümfest spielte, näm-
lich im Habit der Karmeliterinnen zwischen ihnen saß“.218
Es gab für die konvertierten Juden im „Dritten Reich“ keinen
Platz. Sie waren zwar Christen, konnten aber niemals als Deutsche
betrachtet werden. Die Assimilierung schien nur eine Provokation
zu sein. Unter dem Verdacht der „jüdischen“ Fähigkeit zur Mi-
mikry galten die assimilierten Juden als der unsichtbare Feind. Sie
waren „ein Staat im Staat“.219
Das antisemitische Paradigma, das in diesem Zusammenhang
Gewicht hat, ist nicht dasjenige des Juden, der zur Bezeugung der
christlichen Wahrheit berufen ist, sondern dasjenige, das von
Ester dargestellt wird, der Königin nämlich, von der die Weltge-
schichte nichts weiß, deren Meghillah aber viel realistischer als
andere biblische Erzählungen ist. Dem jüdischen Volk wird vor-
geworfen, abgesondert zu leben und seinen eigenen Gesetzen zu
folgen. Man plant, die Frage endgültig zu lösen und es an einem
einzigen Tag zu vernichten. Ester, eine assimilierte Jüdin, enthüllt
ihre Identität und rettet ihr Volk. Vorbild für die Marranen, bildet
sie die dunkle und heimtückische, die feindselige und bedrohliche
Fremdheit, vor der es legitim sei, sich durch ihre Vernichtung im
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Metaphysik des Blutes 179
Voraus zu schützen. Aus diesem ausgesprochen politischen Para-
digma schöpfen die modernen Verschwörungstheorien.
Man muss betonen, dass alte theologische Stereotype im natio-
nalsozialistischen Antisemitismus immer wieder auch dort auftau-
chen, wo scheinbar politische Kategorien leitend waren. Gerade
im Blut gerinnt eine Jahrhunderte alte Anklage, die das deutsche
Judentum erschüttert. 220 Diabolisch schlau, aus Machtgier fähig,
sich mit den „zivilisierten“ Völkern zu vermischen, sei das jüdi-
sche Volk eigentlich wild geblieben. So wäre der Durst nach
christlichem Blut erklärbar, das nach der absurden Legende am
Osterfest in den Teig der Matzen gemischt wurde. Die Anschuldi-
gung ist die des Vampirismus und „Ritualmords“.221 Der Jude sei
der Blutsauger, der Vampir schlechthin – daraus geht der „wirt-
schaftliche Vampirismus“ hervor. Der jüdische Wucherer trinke
das Blut der Christen so, wie die Rabbiner das Kind töten, um
von seinem Blut einen rituellen Gebrauch zu machen.
Es war Heinrich Heine, der in der kurzen Erzählung Der Rabbi
von Bacherach die legendäre Szene des Ritualmords schildert: Zwei
Christen verstecken die Leiche eines Kindes unter dem Tisch der
Juden, die das Pesakh-Fest begehen, um sie des Vampirismus zu
bezichtigen; der Rabbi bemerkt es und flieht mit seiner Frau Sa-
rah. Während er das Verbrechen aufdeckt und seinerseits den
miserablen Zustand der Juden in den Ghettos, die von den Chris-
ten „ausgesaugt“ werden, beklagt, singt Heine den zerbrochenen
Traum der schönen Sarah: es schien, als „murmelte der Rhein“
immer noch die „Melodien der Agade“.222
Auch Heine muss einsehen, dass sein verzweifelter Versuch,
Jude und Deutscher zugleich zu sein, zum Scheitern bestimmt ist.
Nachdem er konvertiert war, kehrt er am Ende seines Lebens zum
Judentum zurück und wählte das Pariser Exil. Nietzsche schreibt:
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180 Die Seinsfrage und die Judenfrage
„Deutschland hat nur Einen Dichter hervorgebracht, außer Goe-
the: das ist Heinrich Heine – und der noch dazu ein Jude ...“.223
Heidegger kommentiert: „Dies Wort wirft ein seltsames Licht auf
den Dichter Goethe. Goethe – Heine, ‚der‘ Dichter Deutsch-
lands“.224
Hinter der Blutschuld taucht die Verdammnis für den Got-
tesmord auf. Sie ist in dem missverstandenen Spruch des Matthä-
us enthalten: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“225
Nachdem sie sich mit dem Blute Christi befleckt haben, ließen die
Juden weiter christliches Blut fließen; Jesus sei schon als Kind und
nicht erst als Erwachsener geopfert worden. Als fleischliches
Volk, das den geistlichen Sinn nicht lesen und den Messias nicht
erkennen könne, obwohl es die Beweise seines Erscheinens über-
all zu lesen bekomme, glaubt es, einen Zugang zur Rettung und
zum Jenseits nicht mit dem Taufwasser, sondern mit dem Blut der
Eucharistie zu erhalten. Sie werde im Ritualmord grauenhaft ent-
weiht. So töteten Juden einen Christen, tränken sein Blut und
stellten sich dabei vor, die Religion des Moses mit derjenigen
Christi in einer Vermischung versöhnen zu können, in der alles,
Matzen und Hostie, Blut und Wein, kontaminiert wird.
Ausgestattet mit der Idee eines „arischen Christus“ taucht in
den Kulten des Nationalsozialismus die Obsession für das „reine“
Blut wieder auf. Es ist die Eugenik, die mit dem Begriff des „Ah-
nenplasmas“ operiert, der auch vom „völkischen“ Glauben pro-
pagiert wird, um die neuesten Modelle der rassischen Biologie
durchzusetzen – nicht umgekehrt. 226 Die Transsubstantiation
mündet in den Blutmythos ein: Der eucharistische Leib des Vol-
kes ist gleichzeitig ein verletzbares und sterbliches Fleisch des
Krieger-Märtyrers und Blut, ein seinem Ursprung nach göttliches
Fluidum, das die Wesenseinheit von Gott und deutschem Volk,
dem neuen auserwählten Volk, materialisiert. Nur wenn das Blut
unkontaminiert bleibt, kann das solcherart „reine“ Volk die
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Metaphysik des Blutes 181
Schwelle der Ewigkeit übertreten und „Volk im Werden“ sein.
Unter den moderateren „Deutschen Christen“ und den
„Deutschgläubigen“, den Beförderern eines germanischen Neu-
heidentums, sind es vor allem diese letzteren, die auf der Blutrein-
heit beharren. Rosenberg schreibt: „Heute erwacht aber ein neuer
Glaube: der Mythus des Blutes, der Glaube, mit dem Blute auch
das göttliche Wesen des Menschen überhaupt zu verteidigen. Der
mit hellstem Wissen verkörperte Glaube, daß das nordische Blut
jenes Mysterium darstellt, welches die alten Sakramente ersetzt
und überwunden hat“.227 Das Volk ist „Gemeinschaft der Leben-
digen und der Toten“, die durch Blut miteinander verbunden,
aneinander gebunden sind; das Blut, immer dasselbe, fließt erneu-
ert in den Lebenden, die die Toten achten. Als Emblem der ewi-
gen Wiederkehr des Gleichen gehört das Blut, das ständig zirku-
liert, nicht dem Einzelnen, sondern der Gemeinschaft, die imstan-
de ist, das „Dritte Reich“, den irdischen und überirdischen Auf-
enthalt des Deutschtums zu gründen. Das Reich kann „tausend-
jährig“ sein, nur wenn das deutsche Blut sich unverändert erhält.
Das Ziel ist nicht die Selektion im Hinblick auf den Übermen-
schen, sondern die ursprüngliche Reinheit, die in ihrer Rückkehr
aus der mythischen Vergangenheit Quelle der Ewigkeit ist. Das
Hakenkreuz ist das Symbol dieser Rückkehr, die Swastika des
Heils, die sich um ihre Rotationsachse dreht, um auf die unauf-
hörliche Regeneration einer der Unsterblichkeit geweihten Rasse
hinzudeuten. Das arische und endogame Deutschland versichert
sich seiner Nachkommenschaft aus sich selbst heraus, indem es
die Grenze zwischen Leben und Tod in der „Hochzeit des Kada-
vers“ zurückweichen lässt, um auf keinen einzigen Tropfen seines
Blutes zu verzichten. 228 Zur Trauer über die im Krieg nicht ge-
zeugten Kinder kommt das tragische Schicksal des Helden hinzu,
der im kalten Nichts der nordischen Hölle fiel. Was geschieht mit
den Toten, deren Blut im feindlichen Land, dem eigentlich ger-
der deutschen Braut und dem geopferten Kämpfer. Vgl. Culti di sangue.
A.a.O., 147 ff.
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182 Die Seinsfrage und die Judenfrage
manischen Lebensraum im Osten, verströmt? Ihre Seelen erheben
sichin der eiskalten Steppe und spornen ihre Kameraden an, den
Krieg gegen die Horden der Judeobolschewiken fortzusetzen. Sie
rufen: „Wir gehen Euch voran!“ Wenn die Schlechtesten überle-
ben, sind es die „Besten“, die fallen, die Deutschlands wertvollstes
Blut für den Endsieg vergießen. „Uns bleibt, – schreibt Heidegger
1941 – das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern“.229
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Mein „Angriff auf Husserl“ 183
Brief um Entschuldigung bat“. 233 Am 6. März 1950 hatte er an
Malvine Husserl geschrieben: „Ich bitte Sie an diesem Tage, mir
das menschliche Versagen, dem ich beim Heimgang Ihres Mannes
anheimfiel, aus der weisen Güte Ihres Herzen zu verzeihen. Außer
diesem Versagen hat aber nie auch nur die Spur einer Entfrem-
dung oder gar Feindseligkeit in meiner Gesinnung Platz gefun-
den“.234
Obwohl in Klausur, stand Edith Stein ihrem alten Lehrer in
seinen letzten Jahren bei, indem sie mit einer anderen Schülerin
von Husserl in Kontakt blieb, der Benediktinernonne Adelgundis
Jaegerschmid, geborene Amélie, einer 1921 zum Katholizismus
konvertierten Jüdin, die im Freiburger Kloster St. Lioba lebte und
daher der Familie des großen Phänomenologen behilflich sein
konnte. Ihr schrieb Edith Stein am 15. Mai 1938 aus dem Kölner
Karmeliterkloster: „Über das Begräbnis weiß ich gar nichts. Es
stand ja auch nichts davon auf der Anzeige. Wie hat sich wohl die
Universität verhalten? Wie Heidegger?“.235
Husserls Tod wurde von Schweigen begleitet. Husserl, der am
14. April 1933 aus dem Lehrbetrieb „entlassen“ wurde, war seit
1935 aufgrund des „deutschen Rechts“, auf das Hitlers Reich sich
berief, eine Un-Person. Wie ihm in den Jahren der Nazi-
Herrschaft keine Solidarität zuteil wurde, so wurden auch später
keine Abschiedsworte veröffentlicht; niemand ließ ihm eine letzte
Huldigung zuteil werden. Auch Heidegger, sein Schüler, sein
Nachfolger, verschwendete kein einziges Wort über das Verschei-
den einer der größten Figuren der Philosophie des zwanzigsten
Jahrhunderts. Die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, aus deren
Lehrkörper Husserls Name schon ausgelöscht war, hielt sich der
Gedenkverpflichtung für enthoben.
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184 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Als die Nachricht von Husserls Tod aber die Hebräische Uni-
versität in Jerusalem erreichte, gedachte Hans Jonas in einer auf
Hebräisch gehaltenen Radiorede seines Lehrers.236 In ihr heißt es:
Anfang Mai starb Edmund Husserl, einer der Großen der Philosophie
unserer Zeit. Er starb in Freiburg, an dessen Universität er bis zu seiner
Emeritierung im Jahre 1929 als Haupt einer philosophischen Schule
gelehrt und geforscht hatte, zu dem die Schüler strömten und von der ein
tiefreichender Einfluß auf das philosophische Leben Deutschlands aus-
ging. Er hat eine Generation im Denken erzogen, er hat den Ruhm ge-
kannt und starb vereinsamt in einer verwandelten Umwelt, die ihm nicht
einmal mehr Nachrufe widmet. Gegenüber diesem Schweigen im Lande
seines Wirkens ist es eine Ehrenpflicht für uns, seiner hier zu gedenken.
Er selbst, der das Judentum in jungen Jahren verlassen hatte, ein deut-
scher Professor war, sich ganz und gar als Diener der europäischen Wis-
senschaft, als Sachwalter des abendländischen Kulturerbes fühlte, hätte
gewiß nicht daran gedacht,, daß in Jerusalem getan würde, was in Frei-
burg unterlassen wird. Die Tatsache, daß heute ein Schüler, der vor Jah-
ren zu seinen Füßen gesessen hat, vom Jerusalemer Sender in hebräischer
Sprache zu seinem Gedenken sprechen darf, ist für sich selbst ein Symbol
unserer Zeit.237
236 Vgl. H. JONAS: Husserl und das Problem der Ontologie [hebr.]. In:
Mosnajim 7/1938, 581-589.
237 H. JONAS: In memoriam Edmund Husserl [hebr.]. In: Turim 1938;
in einem Brief an Scholem vom 25. Juni 1938 erzählt Jonas, an der hebrä-
ischen Ausarbeitung eine Woche lang geschwitzt zu haben. Vgl. Nachlaß
Gershom Scholem. Jewish National University Library – JNUL 4° 1599.
Vgl. auch H. JONAS: Erinnerungen. A.a.O., 441-442.
238 K. LÖWITH: Mein Leben in Deutschland. A.a.O., 59.
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Mein „Angriff auf Husserl“ 185
über Husserl verhalten hatte und lieferte in einem Vortrag eine
eigene Rekonstruktion ihrer gemeinsamen Geschichte.239
Es mag wahr sein oder auch nicht, dass Heidegger, vielleicht in
einem bürokratischen Automatismus, eine Verordnung unter-
schrieb, mit der den „Nicht-Ariern“ und also auch seinem Freund
und altem Lehrer Husserl das Betreten des Philosophischen Se-
minars und sogar der Bibliothek verboten wurde. Auch ist kaum
zu ermitteln, ob er nur auf Druck des Verlages Niemeyer die
Husserl-Widmung auf dem Vorsatzblatt der 1941 erschienenen
Neuauflage von Sein und Zeit zurückzog. – Diese und weitere
Vorkommnisse sind trotz Heideggers Selbstverteidigung in
Deutschland unterschiedlich aufgenommen worden. Davon gibt
es sogar ein Zeugnis in der Literatur.
„Du ontischer Hund! Alemannischer Hund! Du Hund mit Zip-
felmütze und Schnallenschuhen! Was hast Du mit dem kleinen
Husserl gemacht? […] Du vorsokratischer Nazihund!“. 240 Diese
spöttische Parodie findet sich in dem berühmten Roman von
Günter Grass Hundejahre, dem Schlussteil der Danziger Trilogie;
unter verschiedenen Gestalten, dem Deserteur, dem Verspreng-
ten, dem ehemaligen Kommunisten, tritt auch der Heideggerianer
auf, der das Sein mit y, Seyn, schreibt, der von „Verfallen“ und
„Nichtung“ redet. Sein philosophischer Jargon ist Quelle zahlrei-
cher Karikaturen.
Die spannungsreiche Beziehung zwischen Husserl und Heid-
egger lässt sich weder auf den sonst nicht unüblichen Konflikt
zwischen Lehrer und Schüler noch auf eine philosophische Ausei-
nandersetzung zurückführen. Die bis jetzt veröffentlichten Brief-
sammlungen zeigen eine heillose Divergenz, die sich mit der Zeit
erweitert und vertieft. Selbst das Schlüsselwort „Phänomenolo-
gie“, das sie hätte verbinden müssen, trennt sie schließlich. „Sie
und ich sind die Phänomenologie“ – pflegte Husserl vor 1928 zu
Heidegger zu sagen. 241 Doch in einer Vorlesung vom Winterse-
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186 Die Seinsfrage und die Judenfrage
mester 1930/31 erklärt Heidegger: wir werden „gut tun, künftig
nur noch das Phänomenologie zu nennen, was Husserl selbst
geschaffen hat und bringen wird“.242
Heideggers Schritt zu Husserl geschah im Zeichen der Logischen
Untersuchungen, des Werkes, das zwischen 1900 und 1901 die Phä-
nomenologie begründete und das Heidegger – wie er selbst sich
erinnert – 1909 während seines ersten Studiensemesters der Theo-
logie las.243 Die Faszination, die die Lektüre der zwei Bände auf
ihn ausübte, konnte seine Zweifel und Bedenken nicht ausräumen:
Einerseits widerlegte Husserl den „Psychologismus in der Logik“,
andererseits beschrieb er die „für den Aufbau der Erkenntnis
wesentlichen Akte des Bewusstseins“.244 Worin bestand die Phä-
nomenologie, wenn sie weder Logik noch Psychologie war?
Als Husserl 1916 nach Freiburg kam und zu lehren begann,
konnte Heidegger seine Methode kennenlernen, jenes „phäno-
menologische ‚Sehen‘“, das sowohl von einem nicht verifizierten
Gebrauch philosophischer Kenntnisse als auch vom Gespräch mit
den großen Philosophen absah. Für Heidegger hätte das geheißen,
sich von Aristoteles und den anderen griechischen Denkern tren-
nen zu müssen, gerade als die Auseinandersetzung mit ihren Tex-
ten produktiv zu werden begann.
Obwohl er seine Nähe zu Husserl nur als eine „Episode“ be-
trachtete und seine Unduldsamkeit gegen die als „zu eng u. blut-
los“ bezeichnete Phänomenologie aussprach, intensivierte Heid-
egger seine Zusammenarbeit mit ihm.245 1919 wurde er Assistent
von Husserl; dieser unterstützte Heideggers akademische Karriere
nach Kräften. Ab 1923 ging Heidegger nach Marburg. Während
sie sich voneinander entfernten, begann sich ihr philosophischer
Streit abzuzeichnen. Die Auseinandersetzung in Todtnauberg
über die Themen von Sein und Zeit im Frühling 1926 sowie später
im Herbst 1927 die gemeinsame Arbeit am Artikel „Phänomeno-
logie“ für die Encyclopaedia Britannica bestätigten ihre fortschreiten-
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Mein „Angriff auf Husserl“ 187
de philosophische Entfremdung.246 Auf die extrem kritischen Rand-
bemerkungen, die Husserl in sein Exemplar von Sein und Zeit notier-
te, folgte Heideggers mit sarkastischen Anspielungen durchsetzte
Rede, die er am 8. April 1929 zum siebzigsten Geburtstag seines
Lehrers hielt. Die einige Monate später gehaltene Antrittsvorle-
sung Was ist Metaphysik? markierte nicht nur seine Rückkehr nach
Freiburg, sondern auch seinen „Abschied von der Phänomenolo-
gie“. 247 Husserl antwortete sowohl in einem Nachtrag, der der
englischen Ausgabe der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-
nomenologischen Philosophie hinzugefügt wurde, als auch in einem
Vortrag, den er am 10. Juni 1931 in Berlin hielt. In ihm habe
Husserl, wie Heidegger feststellt, ihn selbst „vor 1600 Zuhörern“
und in „einer ‚Art von Sport-Palast-Stimmung‘“, ohne freilich den
Namen auszusprechen, attackiert.248
Über diese Episoden hinaus bleiben Husserls Bitternis über
seinen Schüler, dem er die Zukunft der Phänomenologie anver-
trauen wollte, und Heideggers Groll gegen den Philosophen,
dessen Monologe und dessen Leben als „Mission des ‚Begründers
gen 1963, 79. In Bezug auf Sein und Zeit hatte Heidegger an Jaspers in
einem Brief vom 26. Dezember 1926 eingeräumt: „Wenn die Abhandlung
‚gegen‘ jemanden geschrieben ist, dann gegen Husserl, der das auch
sofort sah, aber sich von Anfang an zum Positiven hielt“. M. HEIDEGGER
– K. JASPERS: Briefwechsel 1920 – 1963. A.a.O., 71. Vgl. Randbemerkun-
gen Husserls zu Heideggers Sein und Zeit und Kant und das Problem der
Metaphysik. Hrsg. von R. Breeur. In: Husserl Studies 11/1994, 3-63.
248 E. HUSSERL: Phänomenologie und Anthropologie. In: Ders.: Auf-
sätze und Vorträge (1922 – 1937). Husserliana. Bd. XXVII. Hrsg. von T.
Nenon und H. R. Sepp. Kluwer Academic Publishers: Den Haag 1989,
164-181. Vgl. M. HEIDEGGER: Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger
(23. September 1966). In: GA 16, 660 ff. Dazu K. SCHUHMANN: Zu
Heideggers Spiegel Gespräch über Husserl. In: Zeitschrift für philosophi-
sche Forschung 32/4/1978, 591-612.
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188 Die Seinsfrage und die Judenfrage
der Phänomenologie‘“ er verabscheute.249 Es bleiben vor allem die
Gründe für einen philosophischen Streit, der noch heute nicht als
beigelegt gelten kann. 250 Ist Heideggers hermeneutische Kehre
eine interne Vertiefung der Phänomenologie? Oder gibt es einen
Unterschied, der ihn von Anfang an „himmelweit“ von Husserl
trennte und den er schon sehr früh wahrgenommen hatte?251 Die
Frage betrifft das Sein und – wie Gadamer richtig bemerkt – den
noch metaphysischen Seinsbegriff von Husserls Phänomenolo-
gie.252
Husserls Parole „Zurück zu den Sachen selbst!“ ist brisant.253
Das Denken lässt sich weder auf die Konstruktion von Theorien,
noch auf die Geschichte der Philosophie reduzieren. Von den
Sachen auszugehen heißt, sie so zu beschreiben, wie sie in ihrer
sichtbaren und intersubjektiv geteilten Phänomenalität erscheinen;
dazu ist es nötig, sich von jedem Filter zu befreien und sich nur an
die Wahrnehmung zu halten. Die Sachen, zu denen Husserl zu-
rückkehren möchte, sind nicht vom Bewusstsein unabhängig;
vielmehr sind sie einzig und allein in seiner Intentionalität gege-
ben. Wirkliches ist nur auf diese Weise zugänglich. Es überrascht
249 Vgl. Heideggers Brief an Jaspers von 14. Juli 1923. M. Heidegger –
103.
252 H.-G. GADAMER: Die phänomenologische Bewegung. In: Ders.:
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Mein „Angriff auf Husserl“ 189
nicht, dass die Hermeneutik an die Intentionalitätsanalyse anknüp-
fen konnte.254
Worin liegt aber der Streit begründet? Am Anfang und am En-
de des Philosophierens. Für Husserl muss der Berufsphilosoph
von einer Epoché, einer Suspendierung der natürlichen Einstellung,
d.h. der alltäglichen Ansicht der Sachen, ausgehen; nur eine solche
phänomenologische Reduktion erlaubt es, die geheimen Operati-
onen zu erblicken, die in unsere Erlebnisse in der Lebenswelt
eingehen. Für Heidegger entspringt die Philosophie einer Umkeh-
rung, die kein absichtlicher Akt ist, sondern die das Dasein bis in
seine Stimmungsverfassung hinein einbezieht und es dazu drängt,
sich nicht nur nach dem Seienden, sondern auch nach dem Dasein
selbst zu fragen. In diesem Augenblick kann die Seinsfrage er-
scheinen. Wie die Philosophie kein Beruf, sondern eine Berufung
ist, so ist die Seinsfrage eine Frage für alle und keinen, da letztlich
alle von ihr betroffen sind; keiner ist ein Philosoph, solange er
nicht nach dem Seienden fragt, indem er dessen Unmittelbarkeit
übersteigt und sich dem Sein zuwendet.
Husserl bleibt mit seinem transzendentalen Subjekt in der Tra-
dition der modernen Philosophie verankert, besonders im selbst-
bewussten Cogito, in jenem Cartesianischen Ego, das sich in sich
selbst einrichtet, ohne die Anderen denken zu können. Für Hei-
degger ist das Subjekt kein unerschütterliches Fundament; es ist
insofern zu erschüttern, als es zeitlich und endlich ist. So wie man
nicht mehr von einem ursprünglichen Ego ausgehen kann, so gilt
es, sich vom apodiktischen Vorbild der Wissenschaft zu befreien.
In der Philosophie ist auf einen Mythos der Letztbegründung zu
verzichten, den Husserl fortschreiben will.
Für Heidegger stellt die Phänomenologie keine philosophische
Richtung dar.255 Sie zeigt vielmehr den Weg zur Erscheinung des
Seienden, zu seiner Entbergung und Enthüllung. Wurde das aber
nicht schon von Aristoteles gedacht? Und wäre es nicht richtiger,
von Ontologie zu sprechen, da der Logos das Seiende so sehen
lässt, wie es sich offenbart? Ist die Wahrheit, die nicht mehr als
Adäquation aufgefasst werden kann, nicht die alétheia, die Unver-
borgenheit? Darum kann Heidegger zwar dem Anspruch der
254 Zum Thema der Intentionalität vgl. GA 20, 34 ff., 124 ff.
255 Vgl. SuZ, § 7, 27-39.
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190 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Phänomenologie folgen, die das Denken aus verschlissenen
Schemata befreite, doch zugleich kann er die Griechen befragen,
um auf eine ursprüngliche Erfahrung des Seins zurückzukommen.
Für Heidegger fiel Husserls transzendentale Phänomenologie,
die mit der Zeit noch szientistischere Züge annahm, in die Meta-
physik zurück. Denn sie reduziert das Sein auf das Seiende und
verfehlt die Seinsfrage.
Husserl wiederum fühlte sich verkannt und verraten; er über-
legte, in einem Aufsatz Stellung zu nehmen. Seinem Freund Ro-
man Ingarden gestand er in einem Brief vom 26. Dezember 1927
seine enorme Enttäuschung über Heideggers philosophische und
menschliche Distanz; über Heidegger, der „die ganze Jugend mit
sich fortreißt“.256 Er spürte aber, dass mehr auf dem Spiel stand.
Einige Jahre später, im Mai 1933, wendet er sich an seinen Schü-
ler, den Philosophen Dietrich Mahnke, der damals in Marburg
lehrte und einer der wenigen war, die mit Husserl in Kontakt
geblieben waren:
in: Martin Heidegger und das Dritte Reich. Hrsg. von B. MARTIN. Wis-
senschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1989, 149. In diesem Band
sind auch die Dokumente des gegen Heidegger 1945 eingeleiteten Ver-
fahrens: Bericht über das Ergebnis der Verhandlungen im Bereiningungs-
ausschuß vom 11. u. 13. XII 45 (19. Dez. 1945). Im Kapitel „Verhalten
gegen die Juden“ werden Heideggers Beziehung zu Husserl und die Fälle
der zurückgewiesenen Doktoranden, wie Seidemann und Weiß, ange-
sprochen. In der Rolle des Anklägers erscheint Eucken, der vor 1945
ausgestoßen wurde, weil er mit einer Jüdin verheiratet war und dem
„Freiburger Kreis“ angehörte. Während Heidegger behauptet, dass
„Husserls jüdische Abstammung“ für ihn keine Bedeutung hatte, berich-
tet Eucken, dass Husserl überzeugt war, dass „Heidegger sich aus Anti-
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Mein „Angriff auf Husserl“ 191
In den Schwarzen Heften treten viele Philosophen auf, zuerst Nietz-
sche, dann aber auch Aristoteles, Augustinus, sogar Thomas. Dem
Namen Husserl begegnet man in einem unmissverständlichen
Kontext. In der Aufzeichnung 24 der aus dem Jahre 1939 stam-
menden Überlegungen XII glaubt Heidegger, eine Komplizenschaft
zwischen dem Judentum und der Metaphysik behaupten zu müs-
sen. In einer Parenthese, die als eine Art weiterer Betrachtung
oder näherer Bestimmung eines schon Gesagten zu verstehen ist,
unternimmt Heidegger einen Angriff auf Husserl. Mehr noch: Der
polemisch in Anführungszeichen stehende „Angriff“ – als ob
Heidegger einen bereits öfter erhobenen Vorwurf wieder aufnäh-
me – sei insofern berechtigt, als er über Husserl hinausgehe und
gegen die Machenschaft des Seienden, die mit dem Judentum
identifiziert wird, gerichtet sei.
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192 Die Seinsfrage und die Judenfrage
sche Strömungen zurückgefallen, von denen er Abstand hätte
gewinnen müssen. Der philosophische Vorwurf wird präzisiert:
Husserl bleibe innerhalb der Metaphysik, er dringe nicht zu den
Bezirken vor, in denen allein eine Entscheidung für das Seyn
möglich sei. In dieser Hinsicht ist der Angriff nicht nur gegen ihn
gerichtet. Der Angriff ist als nur persönlicher „unwesentlich“; in
Wahrheit zielt er auf das „Wesen“ der Metaphysik, auf die Ma-
chenschaft, die den Geschichtsverlauf durch die Behauptung eines
Vorrangs des Seienden und die Verhüllung des Seyns bestimme.
In diesem epochalen Konflikt betrachtet sich Heidegger als einen
Philosophen, der den „geschichtlichen Augenblick der höchsten
Entscheidung“ stiften kann, den Kairós, der gegen den Vorrang
des Seienden die Gründung der Wahrheit des Seyns ermöglichen
soll.
Wie Heidegger selbst zugibt, werden in dieser Argumentation
verschiedene Ebenen verwechselt. Es geht nicht nur um die Vor-
herrschaft der Metaphysik. Vielmehr wird erneut der Zusammen-
stoß mit dem Judentum dargelegt, das das Abendland bedroht.
Die ontologische Frage erweist sich als eine politische Frage. Und
der „Angriff“ – ein zu einer offensichtlich kriegführenden Philo-
sophie gehörender Terminus – wird, wie Husserl anscheinend
erkannte, mit Bedeutungen beladen, die weit über persönliche
oder philosophische Begründungen hinausgehen. Husserl wird als
ein Repräsentant des Judentums angegriffen, als ob das Jude-Sein
sein metaphysisches Denken bedingen würde, als ob seine Denk-
art eine Wirkung seiner Zugehörigkeit zum Judentum wäre. Weil
Husserl Jude sei, könne er die Bezirke der Entscheidung nicht
erreichen, nicht zur Seynsfrage gelangen. In einer Zeile, die der
oben zitierten Stelle unmittelbar voraufgeht, schreibt Heidegger:
„Je ursprünglicher und anfänglicher die künftigen Entscheidungen
und Fragen werden, umso unzugänglicher bleiben sie dieser ‚Ras-
se‘“. 259 Die Frage wird überflüssig und irritierend: Steht Husserl
deshalb im Fokus, weil er als Jude nicht anders als metaphysisch
denken kann oder weil umgekehrt seine metaphysische Einstel-
lung ein charakteristisches Resultat des Judentums ist?
Dass Heidegger in den Schwarzen Heften von 1948 auf Husserl
zurückkommt, dass er ihm einen langen Paragraphen widmet, ist
259 Ebd., 46.
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Mein „Angriff auf Husserl“ 193
wohl ein Indiz der Reue und des Schuldgefühls. Vielleicht spürt
er, dass der „Angriff“ auf seinen Lehrer eines der dunkelsten
Kapitel seines Lebens ist. Zugleich wird er von der Notwendigkeit
gedrängt, seine eigene Version der Geschehnisse zu liefern:
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194 Die Seinsfrage und die Judenfrage
die sonst viel benutzen Vorlesungen als Zeugnisse meines Denkensanzu-
führen, sei dies noch einmal vermerkt, nicht für die Öffentlichkeit, nicht
zur Verteidigung, sondern als Feststellung. Vgl. Lehrer.260
spräche. Karolinger: Wien – Leipzig 2002, 29, 51, 88 ff. Vgl. auch E.
JÜNGER – M. HEIDEGGER: Briefwechsel 1949 – 1975. Hrsg. von G. Figal.
Klett-Cotta und Klostermann: Stuttgart und Frankfurt am Main 2008.
263 E. JÜNGER: In Stahlgewittern. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1.
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Heidegger, Jünger und die Topologie des Juden 195
ge Herausforderung des Todes: der Kampf wurde von Jünger zu
einem „inneren Erlebnis“ erhoben, das nach dem Krieg sowohl
im politischen Leben als auch im tragischen Fließen der Existenz
anwesend blieb.264 Auch später blieb der Kampf für ihn die Chiff-
re der Existenz und spitzte sich sogar durch eine abgründige onto-
logische Kluft zu, die vom „Feind“, vom Fremden, vom Anderen
als Gefährdung des Eigenen trennte. Denn allmählich erweiterte
sich das Niemandsland zwischen den Schützengräben, dieses
Bezirks der Rechtsaufhebung, der wilden Zerstörung, der Orgien
von Wut und Gewalt, der Aussetzung des bloßen Lebens und der
Entfesselung der mechanischen Potenz. Feuer und Blut färbten
Jüngers heroisches Universum, in dem die Natur mit der Technik
in einer beispiellosen kosmischen Harmonie verschmolz und in
dem der neue, paradigmatische Menschentypus der kalte und
metallische, aus dem Kampf geschmiedete „Arbeiter“ war. Ent-
menschlichung des Feindes, Gleichgültigkeit gegenüber dem Le-
ben, Antihumanismus, Erotismus der Kriegergemeinschaft, heid-
nische Erhöhung der Naturelemente und der Ur-Gewalt liefen in
einen „Mystizismus des Krieges“ zusammen, wie Walter Benjamin
diese Einstellung nannte. 265 Benjamin kam Jünger und „seinen
Freunden“, den „Wegbereiter[n] der Wehrmacht“, sicher nicht
entgegen; für ihn entstammten ihre Kriegsansichten der „rabiates-
ten Dekadenz“ und waren nichts anderes als eine „hemmungslose
Übertragung der Thesen des L’Art pour l’Art auf den Krieg“.266
Weder der Soldatentypus, ein überlebender Zeuge des Weltkrie-
ges, der im Nachkrieg „die Landschaft der Front, seine wahre
Heimat“ weiter verteidigte, noch der „finstere Runenzauber“, der
ohnehin dem Verfall geweiht war, übten irgendeinen Reiz auf
Benjamin aus.267
264 E. JÜNGER: Der Kampf als inneres Erlebnis. In: Ders.: Sämtliche
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196 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Jünger wünschte und schürte als Vertreter des „neuen Nationa-
lismus“ durch seine intensive publizistische Tätigkeit die Zerstö-
rung der Weimarer Republik, bevor er seine Vision in den apoka-
lyptischen Erwartungen des Hitler-Regimes wiedererkannte, ob-
wohl er nie Mitglied der Partei wurde und immer einen blasierten
Hohn für das pöbelhaft Vulgäre der braunen Hemden zeigte, der
viel zu oft, wie im Falle Heideggers, als eine Form des „Wider-
stands“ verstanden wurde. 268 Als er während der Besatzung in
Paris Wehrmachtsoffizier war, wurde er für eine kurze Zeit an die
Ostfront abkommandiert. Dort wurde er Zeuge der Judenverfol-
gung; davon berichtet er sowohl in seinem Tagebuch als auch im
Briefwechsel mit Schmitt. Im Zusammenhang einer umfassende-
ren Kritik des Kriegsnihilismus, der zum Nichts der Asche geführt
hatte, verweist er nur flüchtig darauf.269 In seiner Antwort erwähnt
Schmitt ein Buch von Léon Bloy, das er als „immer größer und
wahrer“ betrachtete.270
Im Gespräch mit Gnoli und Volpi gibt Jünger an, das Werk
von Léon Bloy „intensiv“ gelesen zu haben. Von diesem catholique
intolérant, las er mit besonderem Interesse die Schrift Das Heil durch
die Juden, einen Text, „der in die ‚Arcana‘ einer magischen, heiligen
Macht“271 führe. Bloy habe ihn inspiriert, weil er „die Realität des
Dämonischen begriffen“ habe.272
Das kontroverse Buch des französischen Essayisten, der in den
katholischen Milieus sehr bekannt war, entnimmt seinen Titel dem
Johannes-Evangelium (4, 22): salus ex Iudaeis est – he sotería ek tôn
268 Auch Hannah Arendt hat das offensichtlich missverstanden, als sie
schrieb, Jünger sei „vom ersten bis zum letzten Tag des Regimes ein
aktiver Nazigegner und bewies damit, daß der etwas altmodische Ehrbe-
griff, der einst im preußischen Offizierskorps geläufig war, für individuel-
len Widerstand völlig ausreichte“. H. ARENDT: Besuch in Deutschland.
In: Dies.: Zur Zeit. Politische Essays. Hrsg. von M. L. Knott. Dtv: Mün-
chen 1989, 43-70, hier 47.
269 E. JÜNGER – C. SCHMITT: Briefe 1930 – 1983. Hrsg. von H. Kiesel.
Klett-Cotta: Stuttgart 1999, 151 ff. (Briefe von 10., 23. und 27. Dezember
1943).
270 Ebd., 164 (Brief von Schmitt an Jünger vom 4. August 1943).
271 A. GNOLI – F. VOLPI – E. JÜNGER: Die kommenden Titanen.
A.a.O., 98.
272 Ebd., 103.
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Heidegger, Jünger und die Topologie des Juden 197
iudaíon estín.273 Schaurige und gewalttätige Synthesis des Antijuda-
ismus am Ende des 19. Jahrhunderts, der allmählich durchaus
zum Antisemitismus wird – mit Äußerungen wie: „Man verbietet
die Desinfektion und beklagt sich, dass man Wanzen hat“ – greift
Bloy in seinem Buch auf all die theologischen Gemeinplätze der
Judenfeindlichkeit zurück, indem er immer wieder auf die Be-
schuldigung des Gottesmordes zurückkommt: „Mir genügt vollauf
zu wissen, daß sie das größte Verbrechen begangen haben, mit
dem verglichen alle anderen Verbrechen Tugenden sind“.274
In seinen politischen Traktaten hatte Jünger sich mehrmals zur
„Judenfrage“ geäußert, indem er darauf beharrte, dass sich die
„deutsche Frage“ nicht darin erschöpfe.275 Der Jude und der Ar-
beiter – was war vom Juden entfernter als der Arbeiter, als der
Deutsche, der stolz darauf war, an einer neuen militär-technischen
Ordnung teilzuhaben? „Deutschland ist unsere große Mutter,
Europa ist uns nur ein Begriff, der sich dem der Nation unterzu-
ordnen hat“.276 Einer Nation anzugehören heiße, mit ihr durch die
„großen, geheimnisvollen Ströme des Bluts“ verbunden zu sein.277
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198 Die Seinsfrage und die Judenfrage
In einer echten Lobrede preist Jünger das Blut, das kein „vor-
wiegend biologischer, sondern ein vorwiegend metaphysischer
Begriff“ sei.278 Ein Aufsatz Jüngers antwortet auf die Frage: „Was
aber ist das Blut?“279 In einer dunklen Metaphysik wird das Blut
auf die intimste und verborgene Quelle, auf eine „Geheimsprache,
die vor allen Sprachen ist“, zurückgeführt.280 Den Wert des Blutes
durch die modernen Naturwissenschaften beweisen zu wollen
heiße, „den Knecht für den Herren zeugen zu lassen“.281 Das Blut
sei „der Brennstoff, den die metaphysische Flamme des Schicksals
verbrennt“. Seine magnetische Kraft bedürfe keiner Erkennungs-
zeichen.282 Die Fahnen des Blutes besäßen keinen logischen, son-
dern einen symbolischen Wert. „Durch das Blut fühlen wir uns
fremd oder verwandt“.283 Für den neuen Nationalismus, der auf
die Befestigung der Grenzen zielt, ist das Judentum nicht so sehr
eine „überstaatliche“, sondern eine staatsfeindliche, „antinationale
Macht“. Und Jüngers Ton wird bedrohlich: Sobald der Staat rein
nationalistisch wird, „dann werden auch alle antinationalen Mäch-
te einen schlechten Tag erleben“.284
In seinem Aufsatz Über Nationalismus und Judenfrage, den er auf
Anregung von Paul Nicolaus Coßmann schreibt, tritt Schmitts
Einfluss im Sinne seiner Freund-Feind-Unterscheidung deutlich
zutage; in den von ihm begründeten „Süddeutschen Monatshef-
ten“ wollte Coßmann eine Debatte über die Rolle der Juden in
Deutschland eröffnen.285
278 E. JÜNGER: Großstadt und Land [1926]. In: Ders.: Politische Publi-
konnte. Coßman, der ein konvertierter Jude war, neigte zu Polemiken und
liebte scharfe Kontroversen; er lud deshalb vierzehn Autoren von ver-
schiedenen Fronten ein, unter den Juden auch angesehene Repräsentan-
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Heidegger, Jünger und die Topologie des Juden 199
Bei Jünger wechseln sich alte Stereotype mit originellen An-
sichten ab. Die Anwesenheit des Juden, der als ein Rest der feuda-
len Welt betrachtet wird, sei vor allem in den repräsentativen
Stellungen ein „Schönheitsfehler“. 286 Der Jude, „der wirklich
Talent, der wirklich Witterung“ besitze, der sich der „Männer und
Mächte mit jener Vorurteilslosigkeit“ bediene, „die zu den Kenn-
zeichen seiner Rasse“ gehöre, dringe überall heimtückisch ein, da
er der „Meister aller Masken“ sei; da er jeder Schöpferkraft ent-
behre, jeder Form unfähig und sogar unförmig sei, verfälsche der
Jude die Morphologie der Deutschen, bedrohe ihre Kultur. Gegen
diesen „Zivilisationsjuden“ richtet Jünger seinen Angriff; dabei
nimmt er jedoch von einem Antisemitismus Abstand, der die
Juden unschädlich machen möchte, so wie man es mit „Bakterien
und Spaltpilzen“ tue. Die Auseinandersetzung solle auf einer
anderen Ebene geschehen, zumal man hinter den banalen Formen
eine „überlegene Priesterschaft“ vermutet.287 Der Zivilisationsjude
sei „der Sohn des Liberalismus“, das heißt der Nivellierung und
der Assimilation; deshalb versuche er, unerkannt zu bleiben – bis
zum „leiseste[n] Wahn, in Deutschland Deutsch sein zu kön-
nen“.288 In dem Augenblick aber, in dem er aufgespürt und seinen
„eigenen Gesetzen“ unterworfen werde, höre er auf, gefährlich zu
sein. 289 Man darf das nicht missverstehen: Es geht wohl nicht
darum, die Juden mit besonderen Rechten auszustatten. Wenn
Jünger den assimilierten Juden entweder auf den „Zionismus“
verweist oder ihn auf die „jüdische Orthodoxie“ zurückdrängt,
geschieht es, um seine Anwesenheit einzudämmen, um ihn auszu-
grenzen und zu ghettoisieren. Nur so kann das angestrebte Er-
gebnis erreicht werden: „Der Deutsche gewinnt sein eigentliches
ten des deutschen Judentums wie Leo Baeck, Israel Cohen, Max
Neumann, unter den Deutschen auch rabiate Antisemiten und National-
sozialisten wie Theodor Frisch und Theodor Seibert. Das Jahr 1930
wurde ein Grenzdatum.
286 E. JÜNGER: Über Nationalismus und Jugendfrage [1930]. In: Ders.:
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200 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Element – in ihm ist das Fremde zur tiefsten Ohnmacht ver-
dammt, wie ein Fisch, der auf eine vulkanische Insel geschleudert
wird“.290
Die Abgrenzung zum Juden sei möglich, wenn sich der „deut-
sche Wille“, Gestalt anzunehmen und das Reich zu prägen, durch-
setze. Gibt es noch Platz für den Juden in diesem Reich? Nur als
Jude, nicht als Deutscher. Ansonsten – und das wäre seine „letzte
Alternative“ – solle er wählen, „nicht zu sein“.291 Diese Alternati-
ve kommt Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung näher als die
Idee einer Euthanasie des Judentums bei Kant oder Wagner. Sie
kommt dem Erfordernis näher, den Juden zu markieren (wie es
dann tatsächlich geschah), um aus ihm einen sichtbaren Feind zu
machen, der ohne Bürgschaft außerhalb des deutschen Nomos,
von seiner Eliminierung bedroht werden kann.292
Worin unterscheidet sich aber Jüngers Figur des Juden von je-
ner Heideggers? Wie sehen die Ähnlichkeiten und die Unterschie-
de aus? Eine Antwort darauf kann nur in Heideggers Kritik an
Jünger gefunden werden.
Bereits zu Beginn der dreißiger Jahre beginnt Heidegger, Jün-
gers Werke zu lesen: Die totale Mobilmachung (1930), Der Arbeiter
(1932), Über den Schmerz (1934). Dabei geht es nicht um eine bloße
Lektüre, sondern um eine gründliche hermeneutische Auseinan-
dersetzung. Jünger erscheint als einzigartiger Zeuge der politi-
schen Katastrophe. Er gilt Heidegger als „der einzige echte Nach-
folger von Nietzsche“.293 Er sei sogar radikaler als dieser, da sein
Denken selbst eine „Gestalt des Willens zur Macht“ sei. 294 Die
seiner Feder entsprungene Welt ist durch die Arbeit mobilisiert,
diese Kraft, die verheerender als der Krieg sein könnte; zum ers-
ten Mal zeigt Jünger die zerstörerische Potenz der Macht nicht im
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Heidegger, Jünger und die Topologie des Juden 201
Chaos, sondern in der Organisation der Technik. Doch biete
Jünger zwar wunderbare Beschreibungen, gelange jedoch nie zu
einer philosophischen Frage.295 Denn er sehe nicht, dass das Reich
des Arbeiters noch die alte Welt sei, die durch die Metaphysik
regiert wird, dass die Arbeiter, obwohl sie inzwischen Herren und
Besitzer geworden sind, sich immer noch als „Knechte der Seins-
verlassenheit“ erweisen.296
Heidegger wirft Jünger deshalb wiederholt vor, weiterhin in-
nerhalb der Grenzen der Metaphysik zu denken und zu schreiben.
So verstehe Jünger z.B. nicht den Sinn der Entscheidung. Er
nehme sie als einen Akt des Willens und der Vernunft, während
die Ent-scheidung, indem sie auf die Spaltung zwischen dem
Seiendem und dem Sein verweist, die Wahrheit des Seyns auf-
schließt.297
Der Streit entzündet sich an Jüngers berühmtem Essay, den er
zu Heideggers sechzigstem Geburtstag verfasste und der den Titel
Über die Linie trägt. Das Wort über ist zweideutig, da es entweder
„über“ oder „jenseits“, d.h. darüber hinaus, bedeuten kann. Jünger
versteht es im zweiten Sinn: Die Linie ist der „Nullmeridian“, die
Grenze, über die die moderne Welt durch die Beschleunigung der
Technik hinausgetrieben worden ist. Hier zerfallen die alten Ord-
nungen, die Bestände werden verbraucht, alles scheint ins Nichts
zu verschwinden. Es ist die Zeit des Nihilismus, der zwar seinem
Ende näher kommt, der aber nicht vollendet ist. „Über die Linie“
besagt für Jünger nicht, den Nihilismus zu überwinden, was hieße,
über den eigenen Schatten zu springen, sondern in den Bereich
einzutreten, in dem das Nichts wesentliches Moment der Wirk-
lichkeit ist. 298 Während er den planetarischen Nihilismus be-
schreibt, zeigt Jünger die „Wüste“, die sich in der Nachkriegszeit
noch ausgedehnt hat; für ihn eine Oase der Freiheit, in der der
über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Enke: Stuttgart 1958,
68 ff.
298 E. JÜNGER: Über die Linie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd 7. Klett-
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202 Die Seinsfrage und die Judenfrage
„Anarch“, der einsame Widerstandskämpfer, in der germanischen
Innerlichkeit des Waldes Zuflucht finden kann.
Das Denken als Waldgang, der einsame Weg durch den Wald,
überhaupt der Wald verbindet Jünger und Heidegger, die sich zum
ersten Mal im Sommer 1948 in Todtnauberg treffen. Die Schatten
des Schwarzwalds stiften den Ort einer durchaus gelungenen
Begegnung. Sie erscheinen als die Metapher eines vorübergehen-
den Rückzugs der besiegten Kämpfer, die die Metaphysik hinter
sich lassen und noch einmal die vertrauten Anhöhen besteigen.299
Heideggers Kritik an Jünger dreht sich um die Metaphysik. Ein
„Über“ im Sinne eines Jenseits der Linie ist nicht möglich. Über die
Linie bedeutet vielmehr „auf der Linie“.300 Heidegger schätzt zwar
die von Jünger umrissene Phänomenologie des Nihilismus, bleibt
aber philosophisch viel vorsichtiger und moniert, dass bereits die
Rede vom „Jenseits“ ein Zeichen des Willens zur Macht sei. Wo
die philosophische Anamnese fehlt, da entsteht die Gefahr, dass
die Metaphysik „selbstverständlich“ wird.301 Jünger ist im Nihilis-
mus gefangen; sein Blickwinkel, der Ort, aus dem er erzählt, so
wie seine Sprache bleiben in der Seinsvergessenheit verfangen. Da
ihm jegliche Vertikalität fehlt, kann sich Jünger der Seinsfrage,
ihrer Geschichte und ihren epochalen Schickungen nicht stellen.
In dieser Kritik klingt Heideggers berühmter Vorschlag an: Statt
von einer Überwindung sollte man besser von einer Verwindung
sprechen. Denn es geht nicht darum, die Metaphysik zu überwin-
den, sondern sich aus ihr zu befreien, wie man sich von einer
Krankheit erholt. Man leidet noch, obwohl die Heilung schon
eingesetzt hat.
Die „Linie“ ist der Schützengraben – in einer Welt, die gerade-
zu übermütig nihilistisch ist. Die Überquerung der Linie ist die
299 Vgl. H. KIESEL: Ernst Jünger. Eine Biographie. A.a.O., 543. Zur
Jüngers Schrift Über die Linie (1950) und Martin Heideggers Kritik Über
„Die Linie“ (1955). In: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. Hrsg. von H.-H.
Müller und H. Segeberg. W. Fink: München 1955, 181-197.
301 GA 9, 385-426, hier 390.
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Heidegger, Jünger und die Topologie des Juden 203
Bewegung des Soldaten, der in feindliches Gebiet vordringt. Er
macht die Stellungen des Feindes ausfindig, kartographiert sie,
definiert ihn. Jüngers Linie re-markiert Schmitts Grenze zwischen
Freund und Feind. Seine Topographie des Juden bleibt innerhalb
dieser Entgegensetzung, innerhalb der Metaphysik. Jüngers Jude
hat keinen Platz in der Seinsgeschichte. Er ist die dämonische
Kraft, die den göttlichen Vorposten des germanischen Helden
vergeblich attackiert, der Feind, der vernichtet werden muss.
Für Heidegger ist die Linie die äußerste Grenze, das éschaton, das
den Schritt zurück in den anderen Anfang nahelegt. Die Topogra-
phie setzt eine Topologie voraus. Dies gilt für den Nihilismus,
aber auch für den Juden. Es hat keinen Sinn, ihn metaphysisch mit
einer Sprache zu beschreiben, die – so hat Heidegger einmal be-
merkt – wie die „Sprache d. Wehrmachtberichtes“ klingt.302 Viel-
mehr muss sein Platz, wenn er überhaupt existiert, in der Seinsge-
schichte verortet werden. Keine Entgegensetzung also, sondern
eine Erörterung, die den Ort auch erreicht; keine Topographie
trans lineam, sondern eine Topologie de linea.303 Heidegger verweist
nicht auf eine scharfe Linie, die an die Kriegsfront erin nert, son-
dern auf eine Grenze als Öffnung, auf das éschaton als Anfang des
Anderen.
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204 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Strauss und Kuhn, Marcuse und Löwith, viele haben seit den
dreißiger Jahren die Aufmerksamkeit auf einen möglichen Ver-
gleich zwischen Heidegger und Schmitt gelenkt. 304 Jaspers ver-
band ihre Namen in seiner Anzeige vom 22. Dezember 1945:
Er und Baeumler und Carl Schmitt sind die unter [sic] sehr verschiedenen
Professoren, die versucht haben, geistig an die Spitze der nationalsozialis-
tischen Bewegung zu kommen. Vergeblich. Sie haben wirkliches geistiges
Können eingesetzt, zum Unheil des Rufes der deutschen Philosophie.
Daher kommt ein Zug von Tragik des Bösen, den ich mit ihnen wahr-
nehme.305
272.
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 205
der nicht nur die Universität, sondern das ganze „geistige“ Leben
der Nation transformieren wollte, auf der anderen Seite Schmitts
durchschlagenden Erfolg als „Kronjuristen des Dritten Reichs“.
Dennoch sind die eigentlichen Divergenzen nicht in den histori-
schen Fakten, sondern in ihrem Denken zu suchen.
Heidegger, der gerade Rektor in Freiburg geworden ist, dankt
in einem Brief vom 22. August 1933 Schmitt für die Zusendung
der dritten Auflage seines Essays Der Begriff des Politischen. Damals
hatte Schmitt sich durch seine Schriften zur politischen Theologie
bereits einen Namen gemacht. Heideggers Ziel war es, sich für die
zukünftige Universitätspolitik mit Schmitt zu verbünden:
Ich danke Ihnen für die Übersendung Ihrer Schrift, die ich in der zweiten
Auflage schon kenne und die einen Ansatz von der größten Tragweite
enthält.
Ich wünsche sehr, mit Ihnen darüber einmal mündlich sprechen zu kön-
nen.
An Ihrem Zitat von Heraklit hat mich ganz besonders gefreut, daß Sie
den basileús nicht vergessen haben, der dem ganzen Spruch erst seinen
vollen Gehalt gibt, wenn man ihn ganz auslegt. Seit Jahren habe ich eine
solche Auslegung mit Bezug auf den Wahrheitsbegriff bereit liegen – das
édeixe und epoíese, die im Fragment 53 vorkommen.
Aber nun stehe ich selbst mitten im pólemos und Literarisches muß zu-
rücktreten.
Heute möchte ich Ihnen nur sagen, daß ich sehr auf Ihre entscheidende
Mitarbeit hoffe, wenn es gilt, die juristische Fakultät im Ganzen nach
ihrer wissenschaftlichen und erzieherischen Ausrichtung von Innen her
neu aufzubauen.
Hier ist es leider sehr trostlos. Die Sammlung der geistigen Kräfte, die das
Kommende heraufführen sollen, wird immer dringender.
Für heute schließe ich mit freundlichen Grüßen
Heil Hitler!
Ihr
Heidegger306
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206 Die Seinsfrage und die Judenfrage
seinen Lehrstuhl wieder, den er schon in Berlin innehatte. Man
weiß nicht, ob sich die beiden jemals begegnet sind. In seinem
Buch über Paulus erwähnt Taubes eine Erzählung, die er von
Schmitt gehört habe: Zusammen mit deutschen Staatsräten und
Professoren, darunter auch Heidegger, sei er 1934 von Göring in
einem Nachtzug nach Rom zu einem Gespräch mit Mussolini
verfrachtet worden. 307 Zu dieser recht legendären Begebenheit
tritt noch das Zeugnis des amerikanischen Dolmetschers Gary
Ulmen hinzu. Demzufolge habe Schmitt sich in seiner Gegenwart
an eine Begegnung mit Heidegger im Jahre 1944 in Berlin erinnert;
damals sollen sie am Vorabend der Niederlage vom bevorstehen-
den Untergang Deutschlands gesprochen haben.308 Ihr Verhältnis
wurde von Jünger vermittelt, der mehr mit dem Juristen als mit
dem Philosophen verbunden blieb. Es ist kaum zu klären, was
Heidegger in seinem Brief mit jenem scheinbar schmeichelhaften
Urteil über Schmitt wirklich zum Ausdruck bringen wollte.
In Heideggers erst im Jahre 2011 veröffentlichtem Seminar
über Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts vom Wintersemes-
ter 1934/35 erscheint ein ganz anderes Urteil. Sowohl das Politi-
sche als auch die Freund-Feind-Unterscheidung, die die Achse des
ersten bildet, werden anders verstanden.309 Dabei handelt es sich
keineswegs um marginale Bemerkungen. Sie hängen mit Heid-
eggers gesamter politischer Ansicht eng zusammen.
Es ist nicht gewagt, zu behaupten, dass sich das politische und
juristische Denken Schmitts, der sich selbst als den „letzten, be-
wußten Vertreter des jus publicum Europaeum“ bezeichnete, um
307 Vgl. J. TAUBES: Die politische Theologie des Paulus. Hrsg. von A.
Continuity in Carl Schmitt’s Thought. In: Telos 119/2001, 18-31, hier 29.
Vgl. auch N. TERTULIAN: Scènes de la vie philosophique sou le IIIe
Reich: Steding, Schmitt, Heidegger. In: Carl Schmitt ou le mythe du
politique. Hrsg. von C. Y. Zarka. PUF: Paris 2009, 121-160, hier 158-159.
Obwohl er weiterhin wenig bekannt bleibt, ist Christoph Steding einer
der wichtigsten Autoren des Nationalsozialismus. Vgl. C. STEDING: Das
Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. Hanseatische Verlags-
anstalt: Hamburg 1942.
309 Vgl. GA 86, 173 ff.
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 207
die Idee des Feindes herum entfaltet.310 Der Aufsatz Der Begriff des
Politischen, der erstmals 1927 erschien und später in der dritten
Auflage von 1932 überarbeitet wurde, legt diese Idee dar. Was
Schmitt mit einem substantivierten Adjektiv das „Politische“
nennt, ist die radikalste Form, die eine menschliche Gruppe verei-
nigen und einer anderen Gruppe entgegensetzen kann. „Der poli-
tische Gegensatz ist der intensivste und äußerste Gegensatz“. 311
Es geht um die Existenz: das Politische entsteht in der Nähe des
Todes, am Schützengraben des Lebens, da, wo es in der letzten
Bedrohung, der schwersten Gefahr, geboten ist, sich gemeinsam
zu verteidigen. In der existenzialen Tiefe von Schmitts Begriff des
Politischen sind die Anklänge von Sein und Zeit unverwechselbar
zu hören. Das politische Dasein ist ein „Sein zum Tode“. Und es
hat sich in einem tödlichen Kampf gegen den Feind zu bewähren.
Wer ist aber der Feind?
Die begriffliche Unterscheidung, die das Politische begründet
und erschließt, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.
Insofern sie aus anderen Begriffen nicht ableitbar und daher an
sich gültig ist, scheint sie dem Gegensatz von Gut und Böse im
Moralischen und von Schön und Hässlich im Ästhetischen ähn-
lich zu sein. Da sie selbstständig ist, überschneidet sie sich mit
diesen, lässt sich aber auf sie nicht zurückführen: Der Feind kann
schön und gut sein – er bleibt dennoch ein Feind. Bereits hier
taucht die Autonomie des Politischen auf.312 In einer begrifflichen
Unterscheidung, die sich genauer betrachtet als ontologischer
Gegensatz entpuppt, richtet sich Schmitts Interesse fast aus-
schließlich auf den Feind. Um ihn festzulegen, mobilisiert er so-
wohl die griechische Philosophie als auch die christliche Tradition.
Der Feind kann weder, wie im Liberalismus, auf den Konkurren-
ten, noch auf den Gegner reduziert werden. Keineswegs darf er
auf die private Sphäre eingeschränkt werden. Die Trennung zwi-
schen privatem und öffentlichem Feind, die in den modernen
Sprachen meist nicht ausdrücklich wird, gibt den Ausschlag. Das
Vorwort und drei Corollarien. Duncker & Humblot: Berlin 2015, 28.
312 Vgl. ebd., 25-26.
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208 Die Seinsfrage und die Judenfrage
bezeugen auch das Griechische und das Lateinische. Sie verfügen
jeweils über zwei Begriffe, die im Sinne des öffentlichen und pri-
vaten Feindes differenziert werden müssen: polémios ist nicht
echthrós (im Sinne Platons), hostis ist nicht inimicus.313 „Feind ist nur
der öffentliche Feind“, bemerkt Schmitt.314 In einem 1938 beige-
fügten „Corollarium“ weist er auf die ursprüngliche öffentliche
Bedeutung von „Freund“ hin. Er sei so viel wie ein Sippengenosse
bzw. Blutsfreund. Zugleich wird das deutsche Wort „Feind“ reha-
bilitiert. Obwohl seine Wurzel noch nicht aufgeklärt ist und einige
Etymologen und Sprachforscher einen Zusammenhang mit fijan,
hassen, erkannt haben wollen, schlägt Schmitt eine Bedeutungs-
nähe zu Fehde vor. Da die Fehde den Zustand der Todfeindschaft
bezeichnet, würde die deutsche Sprache im „Feind“, das heißt im
Fehdegegner, den öffentlichen Feind meinen.315
Wie steht es dann aber mit dem evangelischen Gebot „Liebet
eure Feinde“, das der Katholik Schmitt nicht ignorieren kann? Die
Schwierigkeit kann gerade durch die Trennung zwischen dem
Privaten und dem Öffentlichen umgangen werden.
Die viel zitierte Stelle „Liebet eure Feinde“ (Matth. 5,44; Luk. 6,27) heißt
„diligite inimicos vestros“, agapâte toùs echthroùs humôn, und nicht: diligite
hostes vestros; vom politischen Feind ist nicht die Rede.316
Nur in der privaten Sphäre sei es sinnvoll, den Feind als inimicus,
als denjenigen, der uns hasst, zu lieben. Das „christliche“ Gebot
der Liebe bleibt an der Grenze stehen, an der der öffentliche
Feind, der uns bekämpft, erscheint. Die „Bibelstelle“ – so Schmitt
– sei nur auf Gefühlsbeziehungen anwendbar und berühre kei-
neswegs den politischen Gegensatz. Man könnte in der Tat einen
Feind privat lieben, der sonst zu bekämpfen sei. Schmitt greift
Ders.: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort
und drei Corollarien. Duncker & Humblot: Berlin 2015, 94-102, hier 95
ff.
316 C. SCHMITT: Der Begriff des Politischen. A.a.O., 28.
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 209
absichtlich auf ein ambivalentes Beispiel zurück: „Auch ist in dem
tausendjährigen Kampf zwischen Christentum und Islam niemals
ein Christ auf den Gedanken gekommen, man müsse [...] Europa,
statt es zu verteidigen, dem Islam ausliefern“.317
Den privaten vom öffentlichen Feind nicht genau zu unter-
scheiden und dabei an eine sich über die Grenze erweiternde
Liebe zu denken hieße, den Begriff des Politischen selbst zu be-
einträchtigen. „Das Verschwinden des Feindes würde dem Politi-
schen als solchen die Totenglocke läuten“.318 Die Unterscheidung
muss rein bleiben, weil die Auswirkungen eines unklaren Freund-
Feind-Verhältnisses verheerend wären. Trotzdem scheint Schmitt
zu wissen, dass sich sein Denken der Freund-Feind-Differenz
zwischen umkämpften Demarkationslinien, zwischen labilen
Grenzen, die seinen Diskurs ruinieren könnten, bewegt. Derrida
hat einmal bemerkt, dass „seine ganze Konstruktion gegen die
Möglichkeit dieses Einsturzes gerichtet“ sei.319
Wenn ein Volk auf die Möglichkeit verzichtete, zu entscheiden,
wer als Feind betrachtet und behandelt werden müsse, würde es
mithin auch auf seine politische Einheit verzichten.320 Es gilt, den
Feind noch vor jeglicher Strategie und Taktik zu definieren. Das
ist nur in einer Welt möglich, in der der Krieg insofern der letzte
Horizont ist, als „das ganze menschliche Leben ein ‚Kampf‘ und
jeder Mensch ein ‚Kämpfer‘ ist“. 321 Eine Welt ohne Krieg wäre
eine Welt ohne Feind und daher eine Welt ohne Politik. Der Krieg
lässt sich nicht aus der Politik ableiten, da sie seine Voraussetzung
ist, während er andererseits „aus der Feindschaft folgt“ und sogar
die „äußerste Realisierung der Feindschaft“ ist, weil er zur physi-
schen Tötung des Anderen, zur absoluten Verneinung seiner
Existenz führt.322 „Der Feind ist letzten Endes jener, der physisch
317 Ebd.
318 J. DERRIDA: Politik der Freundschaft. Suhrkamp: Frankfurt am
Main 2000, 125.
319 Ebd., 130. Es sei am Rande bemerkt, dass Derrida den ontologi-
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210 Die Seinsfrage und die Judenfrage
vernichtet werden muß“ – kommentiert Franz Neumann,
Schmitts ehemaliger Schüler, im Jahr 1941.323 Man könnte sagen:
neco ergo sum, ich töte, also bin ich. Das Dasein ist mehr als ein
Sein-zum-Tode ein Sein-zum-Töten und zum-Getötet-Werden.
Schmitts „Feind“-Denken ist in jeder Hinsicht das Gegenteil des
Hebräischen lo tirtzach, „Du sollst nicht töten“.
Doch noch ist die Frage, wer der Feind sei, offen. Für Schmitt
ist es nicht so, dass „ein bestimmtes Volk ewig der Freund oder
Feind eines bestimmten anderen sein müßte“. 324 Obwohl der
Feind immer gut identifizierbar sein müsse, könne er im Laufe der
Geschichte wechseln. Der geschichtliche Feind wäre dann jeweils
ein anderer. Doch bei Schmitt scheint sich eine andere Figur des
Feindes zu zeigen. Es gibt einen bleibenden inneren Feind, der
sich in seiner irreduziblen Fremdheit über die Grenzen der Ge-
schichte erhebt. „Er ist eben der andere, der Fremde, und es ge-
nügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven
Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist“.325 Die Freund-
Feind-Unterscheidung enthält auch eine Diskriminierung. Sofern
sie von der Sorge bewegt ist, die Grenze rein zu halten, tendiert
sie zu einer xenophobischen Reinigung. Gegen diesen Feind kann
der Konflikt weder „durch eine im voraus getroffene generelle
Normierung“ noch „durch den Spruch [...] eines Dritten“ gelöst
werden. 326 „Über das Politische hinausgehend “ wird die Form eines
„endgültig letzten Krieges der Menschheit“ angedeutet. Der „zum
unmenschlichen Scheusal“ gemachte Feind muss nicht mehr nur
besiegt, „nicht mehr nur in seine Grenzen“ zurückgewiesen, sondern
„definitiv vernichtet“ werden. 327 Der in diesem inhumanen und
323 F. NEUMANN: Behemoth: Struktur und Praxis des Nationalsozia-
lismus 1933 – 1944. Europäische Verlagsanstalt: Hamburg 1977, 72.
Neumann, der gezwungen war, aus Deutschland zu emigrieren, weil er
Jude war, versuchte sehr früh eine Interpretation des Nationalsozialismus
zu liefern.
324 C. SCHMITT: Der Begriff des Politischen. A.a.O., 33.
325 Ebd., 26. In der Fassung von 1933 Schmitt korrigiert „Anderer“
mit „Andersgearteter“. Der Andersgeartete ist anders nach der Art, d.h.
nach der „Rasse“.
326 Ebd.
327 Ebd., 35. Schmitt selbst hat in einer späteren Anmerkung die Rele-
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 211
absoluten Begriff gut erkennbare Feind ist der, der als dem Politi-
schen fremd aus der Menschheit ausgeschlossen werden muss, ist
der ewige Wahlfeind, ist der auserwählte Feind: Israel.
Engländer, Franzosen, Amerikaner und sogar Russen sind äu-
ßere und temporäre politische Feinde. Schmitt verdeutlicht das in
einer Eintragung im Glossarium vom 25. September 1947: „Juden
bleiben immer Juden. Während der Kommunist sich bessern und
ändern kann“. Schmitt fügt noch hinzu: „Gerade der assimilierte
Jude ist der wahre Feind“. 328 Denn der Jude bastardisiert die
Frontlinie, judaisiert die Grenze – er macht sie unerkennbar. Ewer
bezeichnet etymologisch die andere Seite, das gegenüberliegende
Ufer; indem er die Grenze überquert – awar – zerfranst der Jude
die Ordnung der Fronten. Er stellt daher die unerträglichste Pro-
vokation für den Begriff des Politischen dar. Mehr noch: Er ist
der Feind des Politischen. Er ist der „Gast“, der hospes, innerhalb
des deutschen Staates. Doch weil er deutscher Bürger sein kann
und tatsächlich ist, ist er nicht der Fremde als Ausländer, er ist
nicht der Fremde, der von Außerhalb kommt; indessen ist er der
Fremde als Anderer, und zwar als der nächste Andere, der in
seiner beunruhigenden Intimität die feste Grenze der Identität
und der Identifikation unterminiert.
Der Jude stellt eine innere und äußere Bedrohung dar. So er-
regt und bewirkt er ein In-Sich-Sammeln der Nation. Er legiti-
miert damit eine deutsche Expansionspolitik. Deutschland ist zur
Verteidigung aufgerufen. „Uns beschäftigt der Jude nicht seiner
selbst wegen. Was wir suchen und worum wir kämpfen, ist un-
ser[e] unverfälschte eigene Art, die unversehrte Reinheit unseres
deutschen Volkes“. 329 Die Wichtigkeit, die der Jude in Schmitts
A.a.O., 18.
329 C. SCHMITT: Das Judentum in der Rechtswissenschaft. Ansprachen,
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212 Die Seinsfrage und die Judenfrage
„erbittert konservativen“ Thesen einnimmt, liegt nicht nur des-
halb auf der Hand, weil sich die germanische Nation in einem
Konflikt mit dem Juden ihre Identität verschafft, sondern außer-
dem weil die Definition des Juden mit der Bestimmung des Fein-
des, dem Angelpunkt seines politischen und juristischen Denkens
überhaupt, zusammenfällt.330
Taubes hat das in seinem Aufsatz von 1985 Carl Schmitt – Ein
Apokalyptiker der Gegenrevolution hervorgehoben:
Es ist für mich keine Frage, daß das Judenproblem Carl Schmitt lebens-
lang verfolgte, daß 1936 für ihn nur Anlaß war, „zeitgemäß“ zu einem
Problem Stellung zu nehmen, das für ihn ganz andere Tiefen besaß. Er
war Christ aus den Völkern, der mit Haß und Neid auf jene blickte, ‚die
da sind von Israel, welchem gehört die Kindschaft und die Herrlichkeit
und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißun-
gen; welchem auch sind die Väter und aus welchem Christus herkommt
nach dem Fleisch‘ (Paulus, Römerbrief, Kapitel 9 in der Luther-
Übersetzung). Christentum war für Schmitt „Judentum für die Völker“,
gegen dessen Macht aufzustehen er immer begehrte.331
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 213
lik, hatte 1918 durch eine abstrakte und demokratische „Herr-
schaft des Gesetzes“ mit dem Wilhelminischen Kaiserreich, mit
einer politisch konkreten Ordnung, die auf monarchische Institu-
tionen begründet war, Schluss gemacht. Schmitt fasst dieses politi-
sche Ereignis so zusammen: „Die Herren der Lex unterwerfen
den Rex“. 332 Die Juden, diese Protagonisten der Auflösung des
alten Kaiserreichs, sind in seinen Augen sowohl die Befürworter
der Demokratie, d.h. einer endlosen Debatte und ergebnislosen
Dialektik, als auch die unermüdlichen Förderer der „Legalität“
und der „Gleichheit“, dieser leeren Werte, gegen die „Legitimität“
und „Homogenität“ in Stellung gebracht werden müssen. „Ho-
mogenität“ ist „Artgleichheit“, Gleichheit der Art bzw. der „Ras-
se“, auf die sich das neue nationalsozialistische Reich stützen soll.
Wenn ein Volk erwacht, um zu sich selbst zurückzukehren, muss
ihm der „Artfremde“, mag der sich noch so viele Mühe geben,
nicht fremd zu sein, für schädlich gelten. Denn „er denkt und
versteht anders, weil er anders geartet ist, und bleibt in jedem
entscheidenden Gedankengang in den existenziellen Bedingungen
seiner eigenen Art“.333 Zugleich gibt es eine listige Absicht, sich
einzuschleichen. Dazu wird die Pflege universeller Ideale zur
Schau gestellt. Doch: „Wer Menschheit sagt, will betrügen!“334
Für den Juristen Schmitt sind die Juden aber insbesondere die
Vertreter des „Gesetzes“. „Es gibt Völker, die ohne Boden, ohne
Staat, ohne Kirche, nur im ‚Gesetz‘ existieren; ihnen erscheint das
normativistische Denken als das allein vernünftige Rechtsdenken
und jede andere Denkart unbegreiflich, mystisch, phantastisch
oder lächerlich“.335 Hinter der politischen Anklage einer bodenlo-
sen, exilierten, deterritorialisierten Existenz taucht die theologi-
sche auf, die jahrhundertelang gegen die Juden lanciert wurde: Die
Juden seien von einer sich am Buchstaben klammernden, geistlo-
sen Interpretation abhängig, sie seien einer nur äußeren Obser-
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214 Die Seinsfrage und die Judenfrage
vanz unterworfen, sie seien Sklaven eines formalistischen Lega-
lismus, den die Religion der Liebe aufgehoben habe. So sei der
jüdische Partikularismus, der mit der bestrittenen Auserwählung
Israels zusammenhängt, im „alten“ Testament stecken geblieben.
Dieses spreche von Hass und Rache und sei durch das „neue“
Testament ersetzt worden. Der Angelpunkt der Substitutionstheo-
logie ist der griechische nómos, womit thora irrtümlich übersetzt
worden ist.336 Auf diese antijüdische Tradition greift der Nomos
von Schmitt zurück. Da nómos vom griechischen Verb némo stam-
me, ließe sich eine Verwandtschaft mit dem deutschen „Nehmen“
nachweisen. Solches Nehmen ist zugleich ein Verteilen, aber auch
ein Besetzen und Erobern, das folglich auf die ursprüngliche
Einnahme der Erde, auf ihre Aneignung hindeute.337 Weit davon
entfernt, nur eine juristische Kategorie zu sein, sei der Nomos, da
er den Raum ordnet und abgrenzt, der unvordenkliche Gestus,
der die Weltgeschichte eröffne – Ordnung und Ortung – und seine
Wurzel in die justissima tellus, in die universell gerechte Erde, die
Mutter eines jeden Rechtes, einsenke.338 Nomos heißt also „Recht“,
ein Wort, das Schmitt dem Begriff des „Gesetzes“ gegenüberstellt.
Neue Aufteilungen können zwar auftreten, jedoch das Recht muss
„erdhaft“ bleiben. Und die Ordnung ist unabdingbar.
Mit ihrem Gesetz beeinträchtigen die Juden die Verbindung
von Recht und Erde, nicht nur weil sie die Möglichkeit eines Vol-
kes bezeugen, das ohne die Wurzeln eines jus terrendi überlebt hat,
sondern auch weil das jus scriptum des Judentums die Unmöglich-
rechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954. Duncker und Humblot:
Berlin 1958, 489-504. Vgl. G. MARRAMAO: Macht und Säkularisierung.
Die Kategorien der Zeit. Verlag Neue Kritik: Frankfurt am Main 1989.
338 C. SCHMITT: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publi-
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 215
keit, sich die Erde anzueignen, gutheißt. 339 Die Gefahr, die der
„jüdische Geist“ darstellt, ist über die Verwüstung des Raumes
und die Entwurzelung der Existenz hinaus diejenige der Auflö-
sung selbst des Nomos. Der Konflikt ist juristisch, politisch, exis-
tenziell – in einem gewissen Sinn auch „biogeographisch“, da es
sich um zwei Lebensformen handelt, die hinsichtlich der Bezie-
hung zur Erde eine Alternative darstellen. „Das eigentümliche
Missverhältnis des jüdischen Volkes zu allem, was Boden, Land
und Gebiet angeht, ist in seiner Art politischer Existenz begrün-
det. Die Beziehung eines Volkes zu einem durch eigene Siedlungs-
und Kulturarbeit gestalteten Boden und zu den daraus sich erge-
benden konkreten Machtformen ist dem Geist des Juden unver-
ständlich“.340
Nachdem Schmitt am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP ge-
worden war, am selben Tag, an dem auch Heidegger offiziell in
die Partei eintrat, lieferte er einen entscheidenden rechtlich-
philosophischen Beitrag zur Verfassung des Reiches, indem er
bewies, dass die Maßnahme vom 28. Februar 1933, mit der Rechte
suspendiert und der Ausnahmezustand erklärt worden waren, der
legale Übergang war, durch welchen Deutschland aufhörte, eine
„kommissarische Diktatur“ zu sein und zur „souveränen Dikta-
tur“ wurde. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand ent-
scheidet“. 341 Schmitt berief sich auf dieses Prinzip, als er am 1.
August 1934 den Aufsatz Der Führer schützt das Recht veröffentlich-
te. In ihm legitimierte er Hitlers Macht dadurch, dass er ihn als
„des Deutschen Volkes obersten Gerichtsherr“ proklamierte. 342
So unterstrich er die Diskontinuität mit der vorangegangenen
Epoche. Die Verfassung, mit der das deutsche Volk sich neu
339 Vgl. D. DI CESARE: Israele. Terra, ritorno, anarchia. Bollati Bo-
ringhieri: Torino 2014.
340 C. SCHMITT: Völkerrechtliche Grossraumordnung. Duncker &
https://doi.org/10.5771/9783465142539
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216 Die Seinsfrage und die Judenfrage
konstituierte, war für Schmitt keine bloße fundierende Norm,
sondern eine existenzielle Entscheidung. Der Führer war in seiner
Gleichartigkeit mit dem Volk der eigentliche Garant und Beschüt-
zer, die „Quelle“ selbst des Rechts. Wenn der Ausnahmezustand
die Aufhebung der Regeln war, konnte die Ordnung nicht aus
regelkonformem Handeln hervorgehen. Sie entsprang vielmehr
einem politisch-souveränen Handeln, das fähig war, zu entschei-
den.343 Es ist unüberhörbar, dass in der „Aufhebung“ der Normen
das politische Echo einer theologischen Entscheidung nachklingt,
mit der das Christentum verlangte, das jüdische Gesetz zu über-
winden.344
So ist es legitim, sich mit Taubes zu fragen: „Kann sich aber
der neue Nomos der Erde mit dem Nomos Christi messen?“345
Zu überlegen ist auch, an welchem Punkt die lange Paulus zuge-
schriebene Autonomie in Verweigerung von Heteronomie um-
schlägt, d.h. in die Unmöglichkeit verfällt, das Gesetz oder Gebot
des Anderen anzuerkennen, vor allem wenn der Andere der
Fremde ist.
Schmitt präsentierte 1935 in seinem Essay Die Verfassung der
Freiheit eine Legitimierung der Nürnberger Gesetze. In diesem
Text warnte er vor den „Feinden und Parasiten Deutschlands“,
vor den „typischen Tarnungsformen der Fremdherrschaft“.346 Im
darauf folgenden Jahr organisierte er am 3. und 4. Oktober in
Berlin die Tagung der „Reichsgruppe Hochschullehrer des Natio-
Wunder ausdrückt, kann man dann von einem Wunder des Souveräns
sprechen, der den Ausnahmezustand und damit die Aufhebung aller
Gesetze erklärt?
345 „Das Wort vom neuen Nomos erinnert (und soll erinnern??) an
Joh. 13,34: an das Wort von entolèn kainèn dídomi…[Ich gebe Euch ein
neues Gebot …] J. TAUBES: Brief an Armin Mohler. In: Ders.: Ad Carl
Schmitt. Gegenstrebige Fügung. Merve Verlag: Berlin 1978, 31-35, hier
33. Vgl. A. MOHLER: Die konservative Revolution in Deutschland –
1918 – 1932. Ein Handbuch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darm-
stadt 1989.
346 C. SCHMITT: Die Verfassung der Freiheit. A.a.O., 1133 f.
https://doi.org/10.5771/9783465142539
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 217
nalsozialistischen Rechtswahrerverbundes“ mit dem Thema: Das
Judentum in der Rechtswissenschaft.
In seinem Schlusswort mahnt er die unheilvolle „Herrschaft“
des „jüdischen Geistes“ an. Besessen von der Notwendigkeit, den
Juden zu identifizieren, bei gleichzeitiger Schwierigkeit, seine
Essenz zu definieren, dreht Schmitt die Schwäche seiner antisemi-
tischen Argumentation um und glaubt, im polaren und flüchtigen
Charakter des Juden das Kennzeichen seines angeblich jüdischen
Wesens zu erkennen. Das zeige am deutlichsten das „jüdische
Gesetz“, diese „Erlösung aus einem Chaos“, die nichts mit dem
deutschen Recht zu tun habe. Er eifert gegen „die merkwürdige
Polarität von jüdischem Chaos und jüdischer Gesetzlichkeit, von
anarchistischem Nihilismus und positivistischen Normativismus,
von grob sensualistischem Materialismus und abstraktem Mora-
lismus“.347
Nach Schmitt entziehe sich der Jude jeder Definition, weil er in
Betrug und Lüge lebe; darum könne er sich hinter vielen Masken
verbergen, bis er sogar unsichtbar werde. Gerade die Unsichtbar-
keit beunruhigt Schmitt. Die assimilierten Juden sind das Parade-
beispiel. Wie soll man sie aufstöbern? Denn indem sie die deut-
sche Sprache sprechen und oft selbst ihren Namen wechseln,
geben sie sich für Deutsche aus. Es sind vor allem konvertierte
Juden, die in seinen Augen trotz der Taufe weiterhin Juden blei-
ben. Es ist kein Zufall, dass Schmitt für sich die Figur des Groß-
inquisitors beansprucht; des Großinquisitors, den Dostojewski in
seinem Roman Die Brüder Karamasow auftreten lässt.348
Die Juden überlisten, indem sie vorgeben, allgemeine Werte zu
vertreten, während sie doch nur auf ihre besonderen Interessen
347 C. SCHMITT: Das Judentum in der Rechtswissenschaft. A.a.O., 28.
„Merkwürdig“ steht in der Version, die in der DJZ erschienen ist: Die
deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist.
Schlußwort auf der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NSRB
am 3. Und 4. Oktober 1936. In: Deutsche Juristen-Zeitung 41/1936,
1193-1199, hier 1193.
348 Vgl. F. DOSTOJEWSKI: Die Brüder Karamasow. Independent Publi-
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218 Die Seinsfrage und die Judenfrage
achten. Mit dieser Strategie fördern sie die Moderne in ihrer dra-
matischen Beschleunigung. So ziehen sie die Fäden des Alltags,
üben hinter den Kulissen der Geschichte ihre geheime Macht aus.
Wie soll der rastlose Geist des Judentums aufgehalten werden?
Lassen sich die Agenten der Beschleunigung noch fassen?
Schmitt bezieht sich auf das mythische Bild des Leviathan. Das
geschieht zwischen dem Ende des Jahres 1937 und dem darauf
folgenden Frühjahr. Es herrscht bereits die Zeit des intellektuellen
Rückzugs, des „Wegs nach Innen“, auf den sich Jünger und Heid-
egger begeben hatten. Im Zusammenhang der heftigen Debatte
über den „totalen Staat“ will Schmitt eine neue Hobbes-
Interpretation anbieten. Hobbes erscheint dabei als der unver-
gleichbare politische Lehrer, der allerdings die Verantwortung für
den Zerfall des Staates übernehmen muss, zu dem „die jüdischen“
Autoren von Spinoza bis zu Mendelssohn und Marx kräftig beige-
tragen hatten.
Schmitt führt den Leviathan von Hobbes auf das Ungeheuer
zurück, das im Buch Hiob (40-41) beschrieben wird. Neben dem
starken und unbezähmbaren Seetier tritt in der Bibel auch
Behemoth, ein Landtier auf.349 Dabei bezieht sich Schmitt nicht
nur auf die christliche Exegese, sondern auch auf „jüdische“ Deu-
tungen, die er Rabbinern und Kabbalisten zuschreibt:
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 219
anderen derartigen Lehren spielt Gott täglich einige Stunden mit dem
Leviathan.350
dem Leviathan spielt, stammt aus einer alten Haggadah. Vgl. L. GINZ-
BERG: The Legends of the Jews. Bd. 5. Bible Times and Characters. From
the Creation to Jacob. Jewish Publication Society of America: Philadelph-
ia 1909, 27.
353 Vgl. H. HEINE: Romanzero. In: Ders.: Hebräische Melodien. His-
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220 Die Seinsfrage und die Judenfrage
sprach, verwiesen hat? Die Antwort ist einfach: 1937 war das Jahr
des 500. Geburtstags Abravanels. Er galt in den jüdischen Ge-
meinden Deutschlands als vorbildlicher Denker und Politiker.
Damals nahm das Interesse für die marranos bzw. für die Vertrei-
bung der Juden aus Spanien im Jahr 1942 zu. Abravanel, der Vor-
kämpfer für Toleranz, der gegen das heilige Offizium gekämpft
und u.a. die Gewalttätigkeit der Inquisition offen angesprochen
hatte, wird in Schmitts Fassung zum blutrünstigen Kabbalisten.354
Die Szene im Leviathan weist auf die völlig „abnorme Lage“ des
jüdischen Volkes gegenüber den anderen Völkern hin. 355 Die
Auserwählung Israels wäre so gesehen nichts anderes als eine
randständige Betrachtung der Weltgeschichte, um im günstigen
Augenblick Vorteile zu erhaschen, um vom historischen Blutbad
zu profitieren, um Leben aus dem Tod der anderen zu ziehen.
Aus imaginären jüdisch-kabbalistischen Deutungen entspringt der
bekannte Mythos der Judenverschwörung.
Mythos und Geschichte sind vor allem in Schmitts politischer
Theorie eng miteinander verknüpft. So war es für die Zeitgenos-
sen nicht schwierig zu verstehen, dass der Leviathan England
darstellte, während Behemoth, die irdische Potenz, Deutschland
war, das von der „Seeblockade“ durch die englische Marine stran-
guliert worden war.356
In Land und Meer kehrt Schmitt zum Leviathan zurück. Zu-
gleich führt er die eschatologische Figur des Katechons ein, der
„aufhaltenden Macht“, die das Erscheinen des Antichristen in
satanischer Potenz mit allerlei lügenhaften Kräften, Zeichen und
Wundern ankündigt.357 Es heißt: „Und ihr wisset, was ihn noch
354 Quelle von Schmitt war die berüchtigte antisemitische Schrift von
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 221
aufhält, bis er offenbart werde zu seiner Zeit. Denn es regt sich
bereits das Geheimnis des Frevels, nur daß, der es jetzt aufhält, erst
muß hinweggetan werden“. 358 Die enigmatische Sprache der so-
genannten kleinen Apokalypse (2. Thess. 2,1-12) gibt in der neu-
testamentarischen, besonders patristischen Exegese, zu verstehen,
dass der Katechon das Erscheinen des Antichristen verzögert. So
lässt sich noch auf die Parusie, auf die Wiederkunft Christi, war-
ten.
Schmitt aktualisiert die Gestalt des Katechons. Die Epoche des
„Staates“ ist an ihr Ende gekommen. Dasselbe gilt für Hobbes’
Leviathan, dem Symbol des „Staates“. Der Katechon, der Aufhal-
ter, passt zum neuen Reich; mit ihm wird das „Dritte Reich“ in die
Heilsgeschichte eingeschrieben. „Reich bedeutet die geschichtliche
Macht, die das Erscheinen des Antichrist und das Ende des ge-
genwärtigen Äon aufzuhalten vermag“.359 Als geschichtliche Form
des Katechons kann das Reich beanspruchen, tausendjährig zu
sein; falls es einmal unterliegt, wird die Heilskraft des Katechons
nicht beeinträchtigt.
In der Zeit, in der Schmitt vom Katechon spricht, von dieser
defensiven Macht, die aufhalten, verschieben, verzögern kann, ist
die Wehrmacht gezwungen, nach den ersten Erfolgen die sowjeti-
sche Gegenoffensive an der gesamten Ostfront aufzuhalten. Die
expansionistische Politik des Reichs, die durch Schmitts „Groß-
raumtheorie“ legitimiert wurde, droht im Winter 1942 zu schei-
tern. Was ist aus den Agenten der Beschleunigung geworden?
Schmitt erwähnt sie nicht, obwohl klar ist, welchen Feind sein
Katechon bremst. 1942 hatte man schon längst damit begonnen,
die Agenten der Beschleunigung, die verhaftet, deportiert, in Ver-
die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes [1916]. Duncker
& Humblot: Berlin 1991, 61. Zu einem kritischen Überblick über Sch-
mitts politische Theologie vgl. Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und
die Folgen. Hrsg. von J. TAUBES. Schöningh und W. Fink: München
1985.
358 Der zweite Thessalonicher-Brief (2,1-12) zusammen mit Daniel 7-
12, der Offenbarung des Johannes 13-17 und Matthäus 24 machen den
Hauptbestand des neutestamentlichen Kanons aus, aus dem die umfang-
reichen christlichen Endzeitlehren und Antichristologien schöpfen. Vgl.
M. CACCIARI: Il potere che frena. Adelphi: Milano 2013.
359 C. SCHMITT: Der Nomos der Erde. A.a.O., 29.
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222 Die Seinsfrage und die Judenfrage
nichtungslagern interniert worden waren, in die Gaskammern zu
schicken.
„‚Wie bitte, ich Freund von Carl Schmitt? Ich bin Jude und von
Carl Schmitt zum Erbfeind erhoben‘“.360 Das war die Antwort, die
Taubes 1952 einem neugierigen Studenten während eines Semi-
nars über die „Apokalyptik der Revolution“ in Harvard gab. Was
verband ihn mit Schmitt? Wenig: Die Erfahrung der Zeit und die
der Geschichte als „Frist“. Der Gedanke, dass die Zeit der Welt
nicht unendlich ist, sondern ein Ende hat, ist eine christliche Idee,
weil sie eine jüdische Idee ist: et ketz.361 Dennoch zeigt Schmitts
„Kat-echon“, wie die jüdische „Endzeit“-Vision im Christentum
„domestiziert“, d.h. „der Welt und ihren Gewalten“ angepasst
wird. 362 „Carl Schmitt denkt apokalyptisch, aber von oben her,
von den Gewalten; ich denke von unten her“.363
Doch bei aller eschatologischen Begeisterung bleibt Schmitt
zutiefst antimessianisch. Sein Katechon ist eine reaktionäre Macht,
im buchstäblichen Sinne. Er reagiert auf eine revolutionäre
Sprengladung, die die Geschichte durchschüttelt. Er möchte die-
ses Beben mit seinem Willen zur Macht aufhalten. Dabei verfällt
er in einer Apokalyptik, die weder von Hoffnung noch von Erlö-
sung weiß. Sie behandelt den Anderen als eschatologische Grenze
seines eigenen immanenten Verschwindens und bleibt daher an
ihn als Feind gefesselt.
Obwohl er proklamiert hatte, dass die Zeit des Schweigens ge-
kommen war, sprach Schmitt noch nach 1945 – nicht aber, um
sich zu entschuldigen oder um öffentlich den Feind um Verzei-
hung zu bitten. Als er 1947 in Nürnberg verhört wurde, verteidig-
te er vielmehr seine Positionen.364 Er hielt sich immer für einen
Besiegten – militärisch, doch nicht geistig geschlagen. In Bezug
A.a.O., 23.
361 Vgl. D. DI CESARE: Grammaire des temps messianiques. Hermann:
Paris 2011.
362 J. TAUBES: Carl Schmitt – Ein Apokalyptiker der Gegenrevolution.
A.a.O., 22.
363 Ebd.
364 Vgl. C. SCHMITT: Antworten in Nürnberg. Hrsg. von H. Quaritsch.
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Der Feind. Heidegger gegen Schmitt 223
auf die Juden sagte er: „Sie fühlen sich heute als Sieger, und sind
es auch“.365 Gewiss kam nicht von ihnen das Heil, sondern, wenn
überhaupt, aus der captivitas, aus der Gefangenschaft.366 So notiert
er am 12. Januar 1950 in seinem Glossarium: „Salus ex Judaeis?
Perdito ex Judaeis? Erst einmal Schluß mit diesen vordringlichen
Judaeis! Als wir uneins wurden, haben die Juden sich subintrodu-
ziert. Solange das nicht begriffen ist, gibt es kein Heil. Spinoza war
der erste, der sich subintroduzierte“.367 Im damaligen Deutschland
waren kaum noch Spuren des Judentums zu finden. Es ging daher
um eine gespenstische Präsenz. Dennoch fühlte sich Schmitt
weiterhin vom Juden als seinem metaphysischen Feind verfolgt.
Und während er noch auf den jungen Hegel und dessen bahnbre-
chende Opposition zum Legalismus verwies, war er immer noch
vor der „Herrschaft des Gesetzes“ auf der Hut. „Zu katéchon: ich
glaube an den Katechon; er ist für mich die einzige Möglichkeit,
als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden“. Aber
„wer ist heute der katéchon? [...]. Die Frage ist wichtiger als die
nach dem jüngerschen Oberförster“. 368 In einer Aufzeichnung
vom 28. April 1950, in der er das Buch von Marcel Simon über
die Beziehungen zwischen Juden und Christen im römischen
Reich kommentiert, schreibt er:
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224 Die Seinsfrage und die Judenfrage
l’Etoile, et, dans l’Israel assagi et résigné, s’instance le règne exclusif de la
loi.369
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Pólemos und totaler Krieg 225
das nur aus der Voraussetzung der Sorge erfolgen kann, d.h. in
dem In-der-Welt-sein, das immer ein geschichtliches Mit-sein ist.
Der „Gegensatz“ von Freund und Feind habe seinen „Wesensur-
sprung“ aus dem Mit- des „Miteinanderseins“, aus dem geschicht-
lichen Dasein der Gemeinschaft.372 Das bedeutet selbstverständ-
lich nicht, dass die Freund-Feind-Differenz ignoriert werden kann;
vielmehr gilt es, sie auf den Kontext zurückzubeziehen, dem sie
entstammt. Es gilt zu begreifen, was die abgeleiteten und sekundä-
ren, das Politische nicht erschöpfenden Begriffe von Freund und
Feind bedeuten.
Schmitt verlangt dagegen, das Politische auf der metaphysisch
gefassten Freund-Feind-Differenz zu begründen. Schmitts Den-
ken verbleibt innerhalb des metaphysischen Horizonts, und das
sowohl wegen der Art und Weise, in der er den Anfang und die
Ordnung des Anfangs denkt, als auch wegen einer Perspektive,
die nur als die des modernen Subjekts bezeichnet werden kann.
Heideggers bündige Kritik gipfelt in dem harten Verdikt: „Carl
Schmitt denkt liberal“.373
Die Kritik an Schmitt, er bewege sich noch im Liberalismus,
bestimmt die politische Distanz, in der Heidegger sie formuliert.
Zudem macht er das Primat der Philosophie geltend: Es kann
keine neue Politik geben, keinen wahren Nationalsozialismus,
solange kein Bewusstsein für das Erfordernis entsteht, die Meta-
physik, die die Quelle des modernen Liberalismus ist, zu „verwin-
den“.
Doch Heideggers Kritik dehnt sich aus und trifft schließlich die
Politik selbst. Indem er Schmitt hinter sich lässt, begibt sich Heid-
egger auf einen steilen, wenig begangenen Weg, der vom Staat aus
zur pólis zurückführt. Es ist der Weg, dem die „nationale Revoluti-
on“ hätte folgen müssen. Sie war angetreten, wieder zusammenzu-
fügen, was die Moderne getrennt hatte: die griechische pólis und
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226 Die Seinsfrage und die Judenfrage
den Staat. Im Sommer 1942 geht Heidegger diesen Weg zum
künftigen Andenken allein; er lässt sich von Hölderlin und vom
Unterlauf der Donau leiten. Die Donau mündet im Pontos, in
diesem weit im Osten liegenden Meer. Ihr früherer griechischer
Name lautet Ister.
Heidegger möchte die politischen Kategorien dem Begriffszu-
sammenhang der Moderne entziehen, das „Politische“ abbauen,
oder, besser, dekonstruieren, indem er die Politik an den Ort
führt, auf den die Etymologie sie verweist, auf die pólis. Das genea-
logische Primat der pólis über den Staat, das schon im Hegel-
Seminar angedeutet wurde, tritt acht Jahre später in der Vorlesung
über Hölderlins Ister noch klarer hervor. Das „Politische“ sei das,
„was zur pólis gehört“.374 Aber eben nicht umgekehrt. Will man,
mit politischen Kategorien ausgestattet, die pólis begreifen, so
verfehlt man ihre Bedeutung. Denn die pólis sei „kein ‚politischer‘
Begriff“.375 Und es sei auch nicht gesagt, dass die Griechen nur
deshalb, weil sie in der pólis lebten, über deren Wesen im Klaren
gewesen seien. Es sei falsch, sie mit dem Staat oder mit der Stadt
oder mit dem Stadtstaat zu identifizieren. Die pólis sei der Pol, um
den die Existenz sich drehe. Heidegger schöpft die Ressourcen
des Deutschen aus und folgt seinen homophonischen Verweisen:
Die pólis sei „weder nur Staat, noch nur Stadt, sondern zuvor und
eigentlich ‚die Statt‘: die Stätte des menschlich geschichtlichen
Aufenthalts des Menschen inmitten des Seienden“. 376 Auf
Deutsch aber gestattet die Statt – in dem Sinne, dass sie das
menschliche Wohnen ermöglicht. Die pólis ist daher, mehr als eine
in der Vergangenheit schon verwirklichte Form, der Ort einer
noch zu-kommenden Gemeinschaft.
Die pólis erweist sich, da sie keine ideale Verfassung und noch
weniger eine Herrschaftsform ist, als der Ort der noch ungedach-
ten, jeweils neuen und singulären Möglichkeiten, in denen die
Menschen einen Zugang zum Mitsein und zum Zusammenleben
erlangen. Kein Diktat und keine Diktatur können die pólis regie-
ren. Heidegger hält sich von der instrumentalen Auffassung der
Politik fern, die er hingegen Schmitt vorwirft; deshalb liegt ihm
374 GA 53, 99.
375 Ebd., 100.
376 Ebd., 101.
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Pólemos und totaler Krieg 227
nicht daran, die arché und das Prinzip festzusetzen, das die Ge-
meinschaft ordnet. In einer anderen Vorlesung aus dem Jahr 1942
bemerkt er: „Insgleichen denken wir die griechische pólis und das
Politische ganz ungriechisch. Wir denken das Politische römisch,
d.h. imperial“. 377 Tatsächlich bedeutet das lateinische imperium
„Befehl“.378 Die Politik darf nicht weiter als Herrschaft und Be-
herrschung gedacht werden. Das sei der Fehler des Nationalsozia-
lismus gewesen. Denn die pólis kann nicht einfach geschaffen
werden, noch lässt sich ihre Stätte gründen. Als Stätte, als Da,
worin das Da-sein sich als geschichtlich erweist, heiße pólis die
„Geschichtsstätte“, in der und für die das Ereignis der Geschichte
geschehe. 379 In dieser Hinsicht sei die pólis für das Fragen das
Fragwürdigste, das dem „Politischen“ fehle. Aus dem Fehlen
dieser Fragwürdigkeit folge die „Totalität“, der totalitäre Charakter
der Politik. Er beruhe nicht, „wie naive Gemüter glauben, auf der
zufälligen Willkür von Diktatoren“ (die Anspielung auf Schmitt ist
hier alles anderes als verschleiert), sondern „im metaphysischen
Wesen der neuzeitlichen Wirklichkeit“.380
Die als ursprünglich gefasste Freund-Feind-Differenz in Frage
zu stellen heißt, weder den pólemos zu verleugnen, den Heidegger
oft mit „Kampf“ übersetzt, noch die Existenz des Feindes abzu-
streiten. Obwohl „Feind“ kein Schlüsselwort des Heideggerschen
Wortschatzes ist und nur selten in seinem Werk vorkommt, tritt
es jedoch an einigen strategischen Stellen seiner aus den dreißiger
Jahren stammenden Schriften, insbesondere in den Schwarzen
Heften, auf.
Wer ist der „Feind“ für Heidegger? Oder sollte man vielleicht
besser fragen: Was ist der Feind? Oder ist es richtiger, die im
Hegel-Seminar formulierte Frage wieder aufzunehmen: „Wodurch
wird und ist einer Feind?“.
Heideggers Antwort ist ambivalent. Sie wechselt im Laufe der
Jahre von 1933 bis 1941 und entwickelt sich im Zusammenhang
seiner zwar nicht expliziten, doch offenbaren Auseinandersetzung
mit Schmitt, der ihn zuerst beeinflusst hatte, später aber von ihm
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228 Die Seinsfrage und die Judenfrage
aufs Korn genommen wird. Ebenso klar ist, dass der Feind als
hostis, als öffentlicher Feind verstanden, der Jude ist. Anders als
Schmitt aber hütet sich Heidegger, den Feind plakativ mit dem
Juden zu identifizieren.
In den Vorlesungen von 1933, die unter der Überschrift Sein
und Wahrheit veröffentlicht wurden, erklärt Heidegger, dass der
Feind derjenige sei, von dem eine „wesentliche Bedrohung“ für
das Volk ausgeht. „Der Feind braucht nicht der äußere zu sein,
und der äußere ist nicht einmal immer der gefährlichere“.381 Wenn
es so aussieht, als gäbe es keinen Feind, ist es geboten, „den Feind
zu finden, ihn ins Licht zu stellen“.382
Der Feind kann in der innersten Wurzel des Daseins eines Volkes sich
festgesetzt haben und dessen eigenem Wesen sich entgegenstellen und
zuwiderhandeln. Um so schärfer und härter und schwerer ist der Kampf,
denn dieser besteht ja nur zum geringsten Teil im Gegeneinanderschla-
gen; oft weit schwieriger und langwieriger ist es, den Feind als solchen zu
erspähen, ihn zur Entfaltung zu bringen, ihm gegenüber nichts vorzuma-
chen, sich angriffsfertig zu halten, die ständige Bereitschaft zu pflegen
und zu steigern und den Angriff auf weite Sicht mit dem Ziel der völligen
Vernichtung anzusetzen.383
Das Bild des inneren Feindes, der das Wesen des Volkes angreift,
ruft unmittelbar Schmitts These in Erinnerung. 384 Und wirklich
kann man sagen, dass Heidegger ihm in der Identifizierung des
ontologischen und politischen Feindes, der der Jude ist, beinahe
wortgetreu folgt.
Einige Jahre später aber wird der Feind in den Schwarzen Heften
zum Thema einer Frage, die die des Hegel-Seminars wieder auf-
nimmt und erweitert: „Wo steht der Feind und wie wird er geschaffen?
Wohin der Angriff? Mit welchen Waffen?“385 Heidegger fragt an
der Frontlinie nach der „Frontbildung“.386 Obwohl er den Akzent
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Pólemos und totaler Krieg 229
auf den „Kampf für das Wesen“ legt, den die Deutschen kämpfen
müssten, kritisiert er diejenigen, die nicht nur den Gegner zum
Feind, sondern den Feind auch noch zum „Teufel“ machen. Er
stimmt demnach mit einer Dämonisierung des Feindes, mit der
Beseitigung des Schöpferischen an der Gegnerschaft, die den
Kampf um die Existenz verhindert, nicht überein.387
Es ist nicht schwierig zu erraten, gegen wen seine Kritik gerich-
tet ist. Heidegger hebt zwei Gefahren hervor: „‚Das Politische‘
überhaupt zu verabsolutieren“ oder aber „es allzubillig einzubauen
in ein scheinbar erneutes Christentum“.388 Die Kritik wird noch
schärfer, als er auf den „politische[n] Katholizismus“ zu sprechen
kommt, der durch eine „‚katholische‘ Politik“ abgelöst worden sei,
d.h. – im Rahmen der etymologischen Zurückführung von „ka-
tholisch“ auf kathólon, „über das Ganze herrschend“, „das ‚Tota-
le‘“ – auf eine Politik, die in ihrem Herrschaftswillen als total be-
zeichnet werden kann. Wie Schmitt das substantivierte Adjektiv
„das Politische“ benutzt hatte, so spricht Heidegger nun sarkas-
tisch vom „Katholischen“, dessen Wesen jedoch nicht im Chris-
tentum liege; zum ersten Mal habe es im „Jesuitismus“ Form ge-
wonnen und sich im „Gegen“, angefangen mit der „Gegen-
reformation“, weitergebildet. „Das ‚Katholische‘ in diesem we-
sentlichen Sinne ist seiner geschichtlichen Herkunft nach römisch
– spanisch –; ganz und gar un-nordisch und vollends un-
deutsch“.389 Als Schmitt Heidegger später eine atheologische und
enttheologisierte Eschatologie vorwirft, brandmarkt Heidegger
Schmitts katholische Dogmatik des Feindes:
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230 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Während der Krieg total wird, blickt Heidegger auf den pólemos.
Worin besteht der Unterschied zwischen Krieg und Kampf? Und
inwiefern distanziert er sich von Schmitt? So wie der pólemos ihre
Auseinandersetzung initiiert hatte, so schließt er sie ab. Heidegger
dreht die Beziehung um: Nicht der Feind sei die Voraussetzung
des pólemos, sondern der pólemos die Voraussetzung des Feindes.
Nach Schmitt öffnet sich die Feindschaft vom Feind ausgehend;
sie durchdringt und ermöglicht das „Politische“; der Krieg ist ihre
extreme Verwirklichung. Clausewitz hatte behauptet: „Krieg ist
die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Schmitt
behauptet, dass Krieg die immer vorhandene „Voraussetzung“ der
Politik ist.391 So zeichnet sich eine Kontinuität zwischen den Be-
griffen von Feind, Kampf und Krieg ab, die die Achse von Sch-
mitts politischem Denken bildet.
Für Heidegger besteht im Gegenteil zwischen Kampf und
Krieg Diskontinuität. Wo der Krieg sich durchsetzt und der Geg-
ner zum Feind wird, erstarrt der pólemos und verliert seine seinsge-
schichtliche Tiefe. Deshalb teilt Heidegger Schmitts Auffassung
des Kriegs nicht. Und so wie „Feind“ kein Schlüsselwort seines
Vokabulars ist, ist es ebenso wenig der „Krieg“. Das hindert ihn
freilich nicht daran, über die letzte Form des Krieges nachzuden-
ken, die erschienen war, als Deutschland am Ende der dreißiger
Jahre in seine Katastrophe marschierte.
Der Krieg ist nicht, wie Clausewitz noch denkt, die Fortsetzung der
Politik mit anderen Mitteln; wenn „Krieg“ den „totalen Krieg“ meint, d.h.
den der losgebundenen Machenschaft des Seienden als solchen entsprin-
genden Krieg, dann wird er zur Verwandlung der „Politik“ [...]. Solcher
Krieg setzt nicht ein schon Vorhandenes fort, sondern zwingt es in die
Ausführung von Wesensentscheidungen, deren es selbst nicht Herr ist.
Deshalb läßt solcher Krieg nicht mehr „Sieger“ und „Besiegte“ zu; alle
werden zu Sklaven der Geschichte des Seyns.392
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Pólemos und totaler Krieg 231
Der Krieg deckt die Unterwerfung der Politik unter die Macht auf,
macht ihren instrumentellen Gebrauch deutlich. Der „totale“
Charakter des Krieges entspringt der Seinsverlassenheit. Es be-
steht kein Unterschied mehr zwischen Krieg und Frieden – es sei
denn, man verwechselt den Frieden mit einem temporären Waf-
fenstillstand. Seit der Krieg zur Welt geworden ist und die Welt
zum Krieg, d.h. seit es den Welt-Krieg gibt, gibt es keinen Platz
mehr für den Frieden.393 So gibt es auch keinen Raum mehr für
den Feind – und vielleicht auch keinen Ort mehr für den Freund
– und für all die reinen Unterscheidungen, auf die Schmitt mit
„Sturheit“ weiter beharrt.394
Wenn zwischen Krieg und Frieden kein Gegensatz mehr exis-
tiert, bleibt dann noch eine andere Opposition, eine Entgegenset-
zung übrig? Lässt sich ein Ausweg, eine Rettung aus der „Totali-
tät“ des Kriegs finden? In einem Schema, das Heidegger in den
Schwarzen Heften umreißt, steht der Gegensatz von Krieg und
Frieden in der Mitte, während die Extreme der pólemos und die
Entscheidung bilden.395
Seit Sein und Zeit hat Heidegger häufiger den Begriff des pólemos,
den er meistens mit „Kampf“, aber sonst auch mit „Streit“ oder
„Auseinandersetzung“ übersetzt, thematisiert. Um die Bedeutung
des „Kampfes“, dieses Schüsselbegriffs seines Wortschatzes zu
verstehen, ist es nötig, das Fragment 53 von Heraklit heranzuzie-
hen. Dieses Fragment ist der Rahmen, in dem Heidegger die Be-
deutung des „Kampfes“ entfaltet: „Krieg ist aller Dinge Vater,
aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die andern als
Menschen, – die einen lässt er Sklaven werden, die anderen
Freie“.396 Der Streit spaltet nicht, der Konflikt bewahrt und ver-
sammelt – ist Versammlung. Daraus ergibt sich der Zusammen-
hang zwischen pólemos und lógos.397 Bleibt pólemos bei Schmitt ein
trüber Begriff, so liegt es bei Heidegger auf der Hand, dass er
ohne Waffen geschieht. Er steht mit dem Fragen und dem eroti-
schen Streit der Philosophen in Verbindung. Seine Bedeutung ist
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232 Die Seinsfrage und die Judenfrage
jedoch umfassender und betrifft die Gemeinschaft schlechthin.
„Jede Gemeinschaft trägt, in ihrem Ohr, die Stimme des Gegners,
eine Art inneren Widerstand bei sich oder in sich“.398 Der Feind
wird wieder Gegner, und der Gegner zieht sich beinahe in den
Ruf des Gewissens, in die Stimme des Anderen, der im Selbst
spricht, zurück. Heideggers Distanz zu Schmitt ist hier – so Der-
rida – ein „unüberbrückbarer Abgrund“. 399 Denn Schmitt bean-
sprucht den pólemos als einen Diskurs über den Krieg. Das gilt
nicht für Heidegger, der sich an Heraklits Worte erinnert: pólemos
ist patèr, Vater, Erzeuger. Er ist pânton basileús, „König aller Din-
ge“; basileús, was nicht einfach „König“ bedeutet, ist der „waltende
Bewahrer“, der, zwar herrschend, alles in der „Aus-ein-ander-
setzung“, die ein Sichentfalten des einen durch den anderen ist,
zum Dasein kommen lässt. Der pólemos ist der Bewahrer, der re-
giert, und regierend das Seyn bewahrt.
Im „‚geistigen‘ Kampf“ geht es nicht um den Sieg. 400 Es gibt
Kämpfer, die stets einen Gegner, ja sogar einen Feind brauchen.
Wenn er fehlt, wird er erfunden, denn sonst scheinen sie ziellos zu
erlahmen. Sie kämpfen stets um den Feind und machen sich von
diesem abhängig. Indessen gibt es Kämpfer, deren höchster
Kampf es ist, die wesentlichen Entscheidungen, in denen es nicht
„um Besitz und Erfolg, nicht um Macht und Genuß“ geht, son-
dern um den „Anfang der Seinsgeschichte“, im Blick zu haben.401
Sieger-sein – bedeutet nicht nur, aus einem Kampf als der Überlegene
hervorgehen; denn dabei kann der Sieger gerade zum Unterlegenen ge-
worden sein, indem er sich ausschließlich dem Ziel und dem Verfahren
des Feindes verschrieben hat und künftig diese in einer Steigerung be-
treibt. Sieger sein heißt: dem Kampf das eigentliche und höchste Ziel
setzen.402
Das sind nicht die Worte eines Pazifisten. Heidegger ist niemals
einer gewesen. Als er das im Jahre 1940 schreibt, macht er sich
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Weltjudentum. Über die Verschwörung 233
über den planetarischen Krieg keine Illusionen mehr. Er kümmert
sich darum, Kampf von Krieg zu unterscheiden. Er strebt danach,
der Bewahrer des Bewahrers zu sein. Nicht der Herrscher, der die
Ausnahme entscheidet, muss bewahrt werden, sondern der, der
jedes Ding sein lässt und insofern herrscht, als er das Seyn be-
wahrt.
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234 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Vom „Weltjudentum“ zu sprechen bedeutet, den Mythos einer
jüdischen Weltverschwörung zu teilen, zu unterstützen und weiter
zu verbreiten. Das Auftreten des Terminus in den Schwarzen Heften
entspricht dabei einem Zeugnis von Jaspers, das bis dato eher als
unglaubwürdig betrachtet wurde. Jaspers erinnert sich an ein Ge-
spräch mit Heidegger, das in Heidelberg im Mai 1933 stattfand:
„Ich sprach über die Judenfrage, über den bösartigen Sinn von
den Weisen von Zion, worauf er: ‚Es gibt doch eine gefährliche
internationale Verbindung der Juden‘“.406
Worin besteht der Mythos der jüdischen Weltverschwörung?
Warum erreichte er den Gipfel seiner Wirkung gerade in jener
Zeit? Was war die „ursprüngliche“ Szene der Konspiration?
Ein junger Gelehrter aus Berlin mit unverwechselbaren germa-
nischen Zügen, mit geistes- und willensstarkem Aussehen, trifft
nachts auf dem jüdischen Friedhof in Prag mit einem gewissen
Lasali, einem zweideutigen, getauften und skrupellosen, italieni-
schen Juden zusammen. Dieser ist bereit, ihm das „Geheimnis“
der Juden zu enthüllen, ihn in die Kabbalah, die jüdische Ver-
schwörung gegen die ganze Welt, einzuführen. In der mystischen
und grausigen Dunkelheit hören sie die Gittertür des Friedhofs;
Gestalten in langen Mänteln huschen konfusen Schatten gleich
vorüber. Es handelt sich um die zwölf Stämme Israels, die sich
alle einhundert Jahre versammeln, um über ihr Projekt der Erobe-
rung der Welt zu berichten. An dem großen Synedrion nimmt
auch ein dreizehnter Stamm teil: der Stamm der Verbannten. Der
Versammlung sitzt Aaron, der die Leviten vertritt, vor.
Für jeden Stamm erklingt der Name einer europäischen Met-
ropole – es ist das Zeichen der jüdischen Macht. Jeder stellt die
Bilanz der letzten hundert Jahre auf und schlägt seine Machen-
schaft vor: Börsengeschäfte, Verschuldung der Staaten, Erwerb
von Grundbesitz, Reduzierung der Handwerker auf Arbeitneh-
mer, Zerstörung der Kirchen, Schwächung der Armeen, Stärkung
der Revolution, Handelsmonopole, Besetzung des öffentlichen
Dienstes, kulturelle Hegemonie, Mischehen, Untergrabung der
Moral. Als letzter ergreift Manasse das Wort. Er erklärt, dass ohne
die Beherrschung der Presse alles nutzlos wäre, da sie Ungerech-
406 K. JASPERS: Philosophische Autobiographie. Piper: München – Zü-
rich 1984, 101.
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Weltjudentum. Über die Verschwörung 235
tigkeit in Gerechtigkeit, Demütigung in Ehre umwandle, Familien
trenne und Throne erschüttere. Aaron schließt mit dem Hinweis,
dass dem auf der Erde verstreuten Volk Abrahams die ganze Erde
gehören müsse. Die Zeit sei nie so nahe herangekommen. Denn
das Gold sei die Herrschaft über die Welt – das ist das Geheimnis
der Kabbalah. In dem uralten Kampf Israels wird das neue Jahr-
hundert endlich dasjenige seines Sieges sein.
Das ist die „ursprüngliche“ Szene der Verschwörung, so wie sie
der Feder von Ottomar Herrmann Friedrich Gödsche, einem
grauen Beamten der preußischen Post, entsprang; 1868 veröffent-
lichte er den mittelmäßigen Roman Biarritz, der das Kapitel Auf
dem Judenfriedhof in Prag enthielt. Der Erfolg war gesichert. Die
Phantasieerzählung wurde bald als ein echtes Dokument angese-
hen. In der französischen Zeitschrift „Contemporain“ erschien
1881 Die Rede des Rabbiners, die Zusammenfassung jener düsteren
Versammlung, die – so wurde versichert – tatsächlich stattgefun-
den habe.
Es ging aber noch nicht um die Protokolle der Weisen von Zion.
Gödsche lieferte nur das literarische Modell. Wer hat dann die
Protokolle verfasst? Wann und wo? Norman Cohn hat versucht,
das verwickelte Gewebe, aus dem der Mythos der jüdischen Welt-
verschwörung hervorgegangen ist, zu entwirren.407 Aber die heute
noch alles andere als geklärte Geschichte hat keinen eigentlichen
Beginn. Schon das vermeintliche Original fehlt.408 Auch weiß man
nicht, wer der Autor ist. Viel wichtiger als die Entstehung des
Textes aber ist seine Wirkung.
Die Protokolle wurden am Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris
im Auftrag der zaristischen Geheimpolizei, der berüchtigten
Okhrana, hergestellt. Ihre Auslandsabteilung wurde von Pierre
407 N. COHN: Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von
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236 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Ratschowski Iwanowitsch geleitet. Dieser wendete sich an seinen
Freund Matwej Golowinski, der als guter Fälscher die schon be-
stehenden Texte manipulierte und überarbeitete, und zwar neben
dem Roman Biarritz das Pamphlet von Maurice Joly Dialog in der
Hölle zwischen Machiavelli und Montesquieu, das 1864 gegen Napoleon
III geschrieben wurde. Ihre vorwiegend politische Absicht war die
Veröffentlichung des vermeintlichen Protokolls einer geheimen
Sitzung der Anführer des „Weltjudentums“, um ihren Plan zur
Welteroberung zu entlarven und somit nicht nur die russische
Regierung, sondern die internationale öffentliche Meinung insge-
samt davor zu warnen. Danach tauchten die Protokolle, ein Palimp-
sest von hundert Seiten, das in vierundzwanzig Kapitel unterteilt
war, im Jahre 1905 als Anhang zu dem Buch Das Große im Kleinen:
Der Antichrist ist eine imminente politische Möglichkeit des russischen
Mystikers Sergej Alexandrowitsch Nilus noch einmal auf. Die
Figur des Antichristen wurde in einem apokalyptischen Zusam-
menhang der Idee des Komplotts angepasst.409 Die antisemitische
Mobilisierung schöpfte das symbolische Archiv des christlichen
Antijudaismus aus, um die Erzählung der Konspiration bedrohlich
zu stärken. Ein säkulares Thema wurde so in die Aura des Myste-
riums eingekleidet. Die Gestalt eines absoluten Feinds erschien.
In den „Weisen von Zion“ verschmolzen theologische und po-
litische Motive. In den fiktiven Figuren konvergierten die alten
Weisen Israels, die seit der Zeit Salomos einen Plan gegen die
Menschheit entworfen hätten, die zionistischen Anführer, allen
voran Theodor Herzl und der anonyme Puppenspieler, der die
Fäden der Intrige spinnt. Der Zionismus wurde zum Katalysator,
der „als strategischer Plan, um die Welt zu erobern und sie dem
Joch Israels zu unterwerfen“, verstanden wurde. 410 Die Verbrei-
tung der Protokolle fiel tatsächlich mit den ersten Zionistischen
Kongressen zusammen, vom ersten in Basel im Jahr 1897 bis zum
sechsten, der im August 1903 stattfand. Kein Zufall, dass der
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Weltjudentum. Über die Verschwörung 237
völkische Ideologe Theodor Fritsch 1924 seine Version der Fäl-
schungen mit dem Titel Die zionistischen Protokolle veröffentlichte.
Aber die „jüdische Gefahr“ war vor allem die „rote Gefahr“.
Von 1903 bis zur Oktoberrevolution bildeten die Protokolle eine
mächtige ideologische Waffe in den Händen derer, die jeden Re-
formversuch verhindern wollten, da sie darin ein Manöver der
Verschwörung und einen Schritt hin zur „Verjudung“ vermuteten.
Übersetzt und veröffentlicht, mit neuen Vorworten, Schluss-
worten, Titeln und Untertiteln versehen, die eine jeweils andere
Botschaft enthielten, landeten die Protokolle in den Hauptstädten
Europas und erreichten Deutschland, wo sie 1920 in der Ausgabe
von Gottfried zur Beek alias Ludwig Müller mit dem emblemati-
schen Titel Die Geheimnisse der Weisen von Zion erschienen. Die
Resonanz war enorm; in einem Jahr gelang es dem Verlag Auf
Vorposten mehr als 120.000 Exemplare zu verkaufen.411 Später, als
die Nazis an die Macht kamen, wurden die Protokolle mit einer
Verordnung vom 13. Oktober 1934 zur Pflichtlektüre an den
deutschen Schulen erklärt.
Zunächst diente die Fiktion der jüdischen Weltverschwörung
dazu, eine bequeme Erklärung für den katastrophalen Ausgang
des Krieges und für die deutsche Krise bereitzustellen. Nirgendwo
auf der Welt wurde die Botschaft der Protokolle „so begierig aufge-
nommen wie im Deutschland der Weimarer Republik“. 412 Die
Ideologen des Nationalsozialismus, von Eckart bis Rosenberg,
bedienten sich daran, nicht nur um die These des „Staats im Staat“
glaubhaft zu machen, sondern auch um die Vorstellung eines
unsichtbaren Feindes zu bekräftigen, der um so gefährlicher war,
als er in seiner Einzigartigkeit fähig schien, in unterschiedlichsten
Gestalten aufzutreten: so war er einmal der skrupellose Bankier,
dann wieder der revolutionäre Kommunist. Der Jude war die
große Bedrohung der ganzen Welt, weil der „jüdische Geist“
seinen mächtigsten Avatar im Bolschewismus gefunden hatte. In
der deutschen Kultur, die stark in der Tradition verwurzelt war,
zeigte die Mischung einer sehr alten Verschwörungsangst mit
411 Der Verlag „Auf Vorposten“ gehörte zum „Verband gegen die
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238 Die Seinsfrage und die Judenfrage
einer neuen Bedrohung eine starke Wirkung: die „judeo-
bolschewike Verschwörung“ wurde zu einem allgemeinen Horror.
Das neue, ungewöhnliche Syntagma, das bereits Rosenberg 1923
mit seinem Buch Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische
Weltpolitik eingeführt hatte, wurde der Judeo-Bolschewismus, die
Zauberformel, die Deutschlands Feind definierte. Dieser Feind
musste enttarnt werden, um in einem zähen Kampf eine reinigen-
de und erlösende Zerstörung zu ermöglichen.413
An die Verschwörung zu glauben heißt, eine zugespitzte, bei-
nahe magische Auffassung der Geschichte zu vertreten. In ihr
sind Gut und Böse klar zu unterscheiden, alles lässt sich auf eine
einzige Ursache zurückführen. Sie agiert absichtsvoll mit einem
subjektiven und beharrlichen Willen.414 Je komplexer das geschicht-
liche Szenario erscheint, desto mehr wächst der Wunsch, eine
letzte Erklärung zu finden, die nicht unbedingt logisch und ratio-
nal sein muss. Daher stammt die Analogie zum mythischen Den-
ken. Die Wirksamkeit des Mythos liegt nicht in seiner Wahrhaf-
tigkeit, sondern in den Bedürfnissen, denen er entgegenkommt, in
den Aufregungen, die er erweckt, in den Suggestionen, die er
nährt. In diesem Sinne ist es irreführend, von einer Fälschung zu
reden, da kein echter und originaler Text existiert. Der Mythos
negiert nichts; er beschränkt sich lediglich auf die Feststellung. Es
ist die performative Kraft der Fiktion. Es nutzt in der Tat nichts,
das Plagiat zu enthüllen – wie übrigens auch Hitler schadenfroh
betonte.415
Im Mythos der Verschwörung, der in der säkularisierten Mo-
derne auftaucht, entstammen die politischen Kategorien einem
religiösen Hintergrund. Ohne ihn bliebe das Phänomen oberfläch-
lich. Zentral dabei ist wieder einmal die Auserwähltheit des jüdi-
schen Volkes, die als unerträgliche Arroganz angeprangert wird.
Aber Zielscheibe ist auch die mythische geheime Macht der Juden,
die in der Verheißung der Weltherrschaft enthalten sei. Es ist
eigentlich gleichgültig, ob ein Jude in einem isolierten galizischen
413 Vgl. S. FRIEDLÄNDER: Das Dritte Reich und die Juden. Dtv: Frank-
furt am Main 2008, 82 ff.
414 Vgl. P.-A. TAGUIEFF: L’imaginaire du complot mondial. Aspects
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Weltjudentum. Über die Verschwörung 239
Dorf dürftig vor sich hin lebt; definitionsgemäß gehört er, seinem
Wesen nach, zur jüdischen Internationale. Als ein solcher ist er
mächtig und furchterregend. Dabei erweist sich das Arcanum des
Judentums, die verborgene Idee, dass es ein Geheimnis besitzt,
das es nicht verrät und das seine Macht bildet, als äußerst wir-
kungsvoll. Seine Macht ist eben nur mächtig, wenn das Geheimnis
bewahrt wird. Das ist das Geheimnis aller Geheimnisse; daher der
Vorwurf der Lüge samt dem damit zusammenhängenden Ver-
dacht der Machenschaft und der Verschwörung.
Wo – so Freud – die Feinde des jüdischen Volkes an „die Ver-
schwörung der ‚Weisen von Zion‘“ glauben, sind Neid und Be-
wunderung am Werk. 416 Auf analoge Weise drückt sich Hannah
Arendt aus, die diesen Gründen den mimetischen Impuls der
Nazis hinzufügt: „Die Fiktion einer gegenwärtigen jüdischen
Weltherrschaft bildete die Grundlage für die Illusion einer zukünf-
tigen deutschen Weltherrschaft“. 417 Ihr Ziel war es, eine Ge-
heimorganisation aufzubauen, die in allem derjenigen ähnlich sein
sollte, welche die antisemitische Phantasmagorie der Protokolle den
Juden zuschrieb. Hitler und die Seinen modellierten sich selbst
nach dem Vorbild der imaginären Weisen von Zion.418 Ihre Ge-
heimorganisation war die SS und ihre Aufgabe die Vernichtung
der Juden in einem apokalyptischen Krieg, der die Welt vor ihrer
unaufhaltsamen Macht bewahren sollte.419
Die Prophezeiung des Antichristen, des eschatologischen Fein-
des, in dem der einflussreiche französische Antisemit Gougenot
des Mousseaux – Autor des 1869 veröffentlichten Werks Le Juif, le
judaïsme et la judaïsation des peuples chrétiens – den König der kabbalis-
tischen Juden anzeigte, die dabei waren, die Welt zu erobern, hallt
unverwechselbar, wenn auch in einer verweltlichten Form, in den
heiligen Texten der NS-Demagogen wider. Man würde jedoch die
759.
418 Vgl. N. COHN: Die Protokolle der Weisen von Zion. A.a.O., 201 ff.
419 Vgl. J. ROGOZINSKI: Hell on Earth. Hannah Arendt in the Face to
Hitler. In: Law and Evil: Philosophy, Politics, Psychoanalysis. Hrsg. von
A. Hirvonen und J. Portikkivi. Routledge: London 2010, 257-274.
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240 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Apokalyptik nicht verstehen, wenn sie nicht in ihrer antimessiani-
schen Bedeutung erkannt würde. Nicht nur greift sie auf den
Vorwurf gegen die Juden zurück, dass diese Jesus als den Messias
nicht anerkannt haben. Auch erinnert sie nicht nur an die Anklage
der buchstäblichen und störrischen Treue der Juden zum Gesetz.
Sie wendet sich vor allem gegen die jüdische – entscheidend irdi-
sche und stark politische – Auffassung des Messianismus.
Diese antimessianische Apokalyptik durchdringt auch bestimmte
Gedanken Heideggers, die die den Protokollen zugrundeliegende
Geschichtsauffassung zu teilen scheinen. Mehrmals deutet er auf
„Mächte“, die die Fäden der „Machenschaft“ ziehen und durch
keinen fairen Kampf aufzuhalten seien. Sie haben nichts Authenti-
sches – entziehen sich durch Mimikry und Täuschung. „Eine
Vorform war Versailles“. 420 Seitdem wirkt diese „riesige Ver-
schleierung“, die keinen anderen Zweck hat, als sich zu wiederho-
len, um eine ebenso „riesenhafte Leere“ zu verhüllen.421 In dieser
Vollstreckung, die sich keineswegs vollstreckt und als endlos er-
weist, verschmäht der große Konspirateur einerseits nicht die
Überrumpelungsstrategie, dem Feind überraschend in den Rücken
zu fallen. Andererseits verbirgt er sich auf einer metageschichtli-
chen Ebene, von der aus er den Lauf der Ereignisse steuern kann.
So bedient er sich entgegengesetzter Kräfte, um geschickt die eine
gegen die andere ausspielen zu können. Dieser große Anzettler sei
das „internationale Judentum“.422 Der kriegerische Imperialismus
und der humanitäre Pazifismus, beides Ausläufer der Metaphysik
und verschieden nur unter einem onto-historischen Aspekt, wer-
den von der jüdischen Machenschaft gelenkt. Die Geschichte
erreicht den Rand der „Entscheidung zwischen Nichts und Seyn“.423
Wie Schmitt, so besteht auch Heidegger auf der Unsichtbarkeit
jener „Mächte“, die nur zuweilen ihr Spiel verraten, während sie
sonst „unkenntlich“ bleiben.424 So wie sie also nicht greifbar sind,
da sie hinter den Kulissen stecken, so sind sie auch nicht zu er-
420 GA 96, 40; ein weiterer Hinweis auf den Ersten Weltkrieg befindet
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Der Judeo-Bolschewismus 241
obern. Sie müssen nicht einmal offen kämpfen; indem sie ver-
schiedene und manchmal einander entgegengesetzte Gestalten
annehmen und an die hintergründigsten Motive appellieren, kön-
nen sie Staaten aufhetzen, Völker gegeneinander aufwiegeln, Krie-
ge ausbrechen lassen. Dafür brauchen sie keine Armee zu bewe-
gen. 425 Nach dem Vorbild der Protokolle schreibt Heidegger in
einem Text von 1941:
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242 Die Seinsfrage und die Judenfrage
in die Moderne eingeschlichen habe. 428 Doch es ist frappierend,
dass er den Bolschewismus als „jüdisch“ bezeichnet. Was hat
Heidegger im Sinn, wenn er vom Bolschewismus spricht?
Die Entstehung der Formel „Judeo-Bolschewismus“ geht auf
das Nachkriegsdeutschland und auf die Weimarer Republik zu-
rück. Von hier ausgehend, hatte sie sich auf Wegen, die vom My-
thos der Weltverschwörung gebahnt wurden, nicht nur in Europa,
sondern auch in den Vereinigten Staaten verbreitet. Entscheidend
war die Oktoberrevolution: Die Bolschewiken, die die Macht in
dem riesigen russischen Reich ergriffen, stammten zum größten
Teil aus der jüdischen Intelligenzija. Sie selbst betrachteten das
Ereignis als den ersten Schritt zur Weltrevolution.
Der Bolschewismus schien also das beargwöhnte Komplott zu
bestätigen, indem er sich nur innerhalb einer verschwörerischen
Auffassung der Geschichte als erklärbar erwies: Die Juden waren
dabei, die Zivilisation zu untergraben, die etablierte Ordnung
umzustürzen und überall ihre Herrschaft aufzubauen. Was war die
Weltrevolution anderes als eine Bolschewisierung oder, besser
gesagt, eine Verjudung der Welt?
In Deutschland erwies sich der Einschlag der bolschewisti-
schen Revolution als auf einzigartige Weise brisant. An der großen
politischen Wegscheide, die die Geschichte der künftigen Jahr-
zehnte durchquerte, kristallisierten sich Hoffnung, Hass und
Furcht einer in zwei Hälften geteilten Bevölkerung. Sie brachen in
einem Zusammenstoß aus, der epochemachend wurde. Der Wind
der Revolution kam im Jahr 1919 auf und wehte zuerst in Berlin.
Die Spartakisten erschienen, und die Berliner Arbeiterschaft folgte
ihnen; Revolten flammten überall auf. Es wäre nicht schwierig
gewesen, die Oberhand über die schwache sozialdemokratische
Regierung von Ebert zu gewinnen. Sie wurde jedoch von Grup-
pen von Freiwilligen der aufgelösten Armee verteidigt. Karl Lieb-
knecht und Rosa Luxemburg wurden am 15. Januar festgenom-
men und brutal ermordet.
Die Anführer der Spartakisten in Berlin waren Juden: neben
Rosa Luxemburg auch Leo Jogiches und Paul Levi. Aber noch
eklatanter war der Vorrang der Juden in der Münchner Räterepub-
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Der Judeo-Bolschewismus 243
lik, die von Kurt Eisner am 7. November 1918 ausgerufen wurde
und einen Schlussstrich unter die Jahrhunderte alte Dynastie der
Könige von Bayern zog. Nach der Ermordung Eisners durch
einen Anhänger der extremen Rechten wurde die Räterepublik in
einem Tumult chaotischer Ereignisse am 6. April 1919, dem Vor-
abend des jüdischen Passahs, von den revolutionären Arbeiterrä-
ten erneut proklamiert. Ihre wichtigsten Vertreter waren Juden:
Erich Mühsam, Ernst Toller, Frida Rubiner, Towia Axebrod,
Gustav Landauer, Ernst Niekisch.429 Auch der Chef der Spartakis-
ten Eugen Levine-Nissen war Jude. Unterstützt von nationalis-
tisch-paramilitärischen Gruppen, den Freikorps, die aus Garmisch
und aus den bayerischen Bergen Hakenkreuzfahnen schwenkend
in die Straßen von München einmarschierten, ertränkte die Armee
die Revolution im Blut.
Es war kein Geheimnis, dass die Juden mit der revolutionären
Linken verbunden waren. 430 Es handelte sich um Frauen und
Männer, die, seit kurzem emanzipiert, sich umso mehr dazu ver-
pflichtet fühlten, gegen jede Diskriminierung kämpfen zu müssen.
Gleichgültig, ob sie Bundisten, Spartakisten, Anarchisten oder
Zionisten waren, brachten sie die Botschaft der Gleichheit, das
Ideal des Sozialismus, die Hoffnung einer erlösten Menschheit.
Selbst diejenigen unter ihnen, eigentlich die meisten, die sich vom
Glauben ihrer Väter entfernt hatten, blieben den Propheten treu,
indem sie die Wege des jüdischen Messianismus beschritten.
Die Namen der „jüdischen Bolschwiken“ klangen wie eine
Drohung. Um enttarnt zu werden, wurden sie sub specie judaeorum
gelesen: Trotzki-Bronstein, Litwinow-Finkelstein, Wolodarsky-
Cohen, Rosenfeld-Kamenew, Zinowjew-Apfelbaum. Das war der
unwiderlegbare Beweis für eine Revolution, die die Nationen
unterminierte, die gesamte Zivilisation gefährdete. Es war nicht
nur die Rechte, die das Komplott anprangerte. Auch die Liberalen
waren schockiert. So fürchtete Thomas Mann die Entfesselung
429 H.-H. KNÜTTER: Die Juden und die deutsche Linke in der Weima-
rer Republik 1918 – 1933. Droste Verlag: Düsseldorf 1971, 118 ff.
430 Vgl. zu diesem Thema M. LÖWY: Erlösung und Utopie. Jüdischer
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244 Die Seinsfrage und die Judenfrage
eines Weltkriegs gegen Deutschland. 431 Während die Empörung
gegen die „jüdischen Bolschewiken“ zunahm, blickte man auf den
roten Faden, der sich von Moskau zumindest bis zur Pariser
Kommune spannte. Spengler ging noch viel weiter, als er bemerk-
te: „Es ist der Urhaß der Apokalypse gegen die antike Kultur, und
etwas von der finsteren Erbitterung der Makkabäerzeit und viel
später noch jenes Aufstandes, der zur Zerstörung von Jerusalem
führte, liegt sicher allem Bolschewismus zugrunde“.432
Es war Dietrich Eckart, der in einem 1924 posthum erschienen
Pamphlet den Judeo-Bolschewismus thematisierte. Es trug den
bedeutsamen Titel: Der Bolschewismus von Moses bis Lenin. Zwiege-
spräch zwischen Adolf Hitler und mir. 433 Nach Eckarts skurriler und
beunruhigender Interpretation hatten die Juden schon zu Moses’
Zeiten die Ägypter gegeneinander aufgehetzt, indem sie Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit propagierten – ein strategisches
Paradigma, das sich wiederholte.434 Von diesem Paradigma, dieser
von den Juden im Laufe der Zeiten eingenommen destruktiven
Haltung ausgehend, definierte er den Bolschewismus und führte
ihn über Trotzki und Marx bis auf Paulus von Tarsus, seinen
eigentlichen Initiator, zurück. 435 In Eckarts finsterem Buch, das
von apokalyptischen Visionen durchdrungen ist, erscheint die
Judenschaft als „Fürst dieser Welt“, dessen Herrschaft das Ende
97.
433 Nolte hat auf dieses Werk als eine der wichtigsten Quellen der NS-
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Der Judeo-Bolschewismus 245
der Welt herbeiführt. 436 Eine solche Vision des Weltuntergangs,
der von den Juden veranlasst sei, taucht in Mein Kampf wieder auf:
„Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekennt-
nisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der
Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder
wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther zie-
hen“.437
Die Auslegung der Oktoberrevolution vor dem Hintergrund
der Johannes-Apokalypse, die dämonische Darstellung des Juden,
der als zugleich untermenschliches Vehikel des Zerfalls und
übermenschliche Kraft der Verdammnis die Geschichte reiten
kann, dessen gottesmörderische Gewalttätigkeit dem Gelächter
Satans entspringt, kommt auch in früheren Werken Eckarts vor.
1919, im Schatten der Revolution, skizzierte er eine völlig enthis-
torisierte Alternative: „Die Entscheidungsstunde ist gekommen;
zwischen Sein und Schein, zwischen Deutschtum und Judentum, zwischen
dem All und dem Nichts“. 438 Ähnliche Töne erklangen auch in
Eckarts Satire Totengräber Rußlands, die einunddreißig Karikaturen
russischer Revolutionäre enthielt; sie wurde mit einer Einleitung
von Rosenberg veröffentlicht. Hier wird hervorgehoben, dass der
Bolschewismus kein Ziel sei, sondern Mittel „zur Ausrottung alles
Wurzelstarken, zur Entsittlichung der Völker, zur Vernichtung der
nationalen Wirtschaft“.439 Und man ahnt, was folgt:
Am 30. Januar 1939 hält Hitler anlässlich der Jahresgedenkfeier
der Machtübernahme eine Rede vor dem Reichstag, die live im
Rundfunk übertragen wurde:
Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen
Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker
noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht
die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein,
sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.440
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246 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Die Rüstungsvorbereitungen für den Krieg gegen Sowjetrussland
und die Endlösung waren schon voll im Gang. Bereits zwanzig
Jahre zuvor war Hitler davon überzeugt gewesen, dass das interna-
tionale Judentum mit der Oktoberrevolution die germanische
Führungsschicht Europas verdrängt und die Vorherrschaft über
die vollkommen passiven slawischen Massen ergriffen hatte; des-
halb sei es im künftigen Krieg notwendig, die Ordnung der Ver-
gangenheit wiederherzustellen.441
Hitler kehrte immer wieder zu seiner „Prophezeiung“ zurück:
„meine Prophezeiung wird ihre Erfüllung finden, daß durch die-
sen Krieg nicht die arische Menschheit vernichtet, sondern der
Jude ausgerottet werden wird ...“; „ich hüte mich vor voreiligen
Prophezeiungen“; „Die Juden haben einst auch in Deutschland
über meine Prophezeiungen gelacht. Ich weiß nicht, ob sie heute
noch lachen ...“; „Ich bin in meinem Leben sehr oft Prophet
gewesen und wurde meistens ausgelacht“; es war „das jüdische
Volk, das nur mit Gelächter meine Prophezeiungen hinnahm“.
Eine Hermeneutik der Reden Hitlers stößt auf viele dunkle und
rätselhafte Stellen. Doch zumindest das kann man sagen: Der
Prophet ist nicht jemand, der verwirklicht, was er vorhersagt; sein
Stil gehört vielmehr zum apokalyptischen Schema, in dem das
Thema des „jüdischen Krieges“ wieder auftaucht. Der propheti-
sche Ton verweist auf den Inhalt der Botschaft: Hitler verkündigt,
dass die Juden, wer auch immer der Sieger sein wird, in diesem
Kampf unterliegen werden. Er spricht also im metaphysischen
Raum des Konflikts zwischen Gutem und Bösem, um ein kosmi-
sches Ereignis zu verordnen: das Ende des jüdischen Reichs. Zur
Apokalypse kommt das Ressentiment hinzu: Sich auf auf ihre
Macht verlassend, lachen die Juden höhnisch dasselbe Gelächter,
das eine lange christliche Überlieferung Satan zusprach. 442 In
dieser sadistischen Darstellung eines Machtwechsels werden die
Juden an ihrem Gelächter ersticken.
Der Russlandfeldzug wurde in der Atmosphäre einer rausch-
haften Siegesgewissheit vorbereitet. Am Nachmittag des 15. Juni
1941 wurde Goebbels von Hitler in die Reichskanzlei beordert.
Man stand bereits an der Schwelle eines Angriffs „allergrößten
441 E. JÄCKEL: Hitlers Weltanschauung. A.a.O., 43.
442 Vgl. P. BURRIN: Ressentiment et Apocalypse. A.a.O., 48 ff.
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Der Judeo-Bolschewismus 247
Stils. Wohl der gewaltigste, den die Geschichte je gesehen hat“ –
so notierte Goebbels nach dem Treffen. Er fügte hinzu: „In Russ-
land wird nicht der Zarismus zurückgeholt, sondern entgegen dem
jüdischen Bolschewismus der echte Sozialismus durchgeführt“.443
Nach Frankreichs Niederlage und Englands Weigerung, den
angebotenen „Frieden“ anzunehmen, schätzte Hitler die strategi-
schen Auswirkungen des Ausgriffs in den Osten ab. Einer der
wichtigsten Gründe für ihn war der Hass gegen den Judeo-
Bolschewismus. Der Anfang des Krieges, der Bruch des Paktes
mit Stalin, wurde zuerst auf den 15. Mai terminiert, dann aber auf
den 22. Juni 1941 verschoben. Die Bolschewiken mussten ausge-
rottet werden; mörderische Initiativen gegen die Juden waren
geplant. 444 Die Zerstörung der sowjetischen Herrschaft und die
Vernichtung der jüdischen Macht galten als ein und dasselbe.
Hitler wechselte den Codenamen der Kampagne: von Fritz zu
Barbarossa. 445 Der Name verriet den halbmythischen Charakter
des Unternehmens. Der Stauferkaiser, der sich auf einen Kreuz-
zug gegen die Ungläubigen begeben hatte, galt als der geheime
Erlöser, der, schlafend im Gebirge des thüringischen Kyffhäuser,
erwachen würde, um sein Volk im tragischsten Augenblick seiner
Geschichte zu retten.
An einer Stelle, die die Überlegungen XIV der Schwarzen Hefte be-
schließt – eine der wenigen, in der das Datum angegeben wird:
1941 – schreibt Heidegger: „Der Ausbruch des Krieges gegen den Bol-
schewismus“. 446 Diejenigen Deutschen, die die allzu enge Verbin-
dung mit Russland abgelehnt hatten, würden endlich – fügt er
noch hinzu – „von dieser Last befreit“. Ohne Hitler zu erwähnen,
bezieht er sich auf die offizielle Erklärung, die am Morgen des 22.
Juni 1941 der Weltöffentlichkeit mitteilte, dass der Krieg gegen die
443 J. GOEBBELS: Die Tagebücher. Teil I, Bd. IX. Hrsg. von E. Frölich.
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248 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Sovjetunion begonnen habe – ein Dokument, das erst spätere
Zeiten „recht würdigen“447 könnten.
Es besteht kein Zweifel, auf welcher Seite Heidegger steht,
zumal er sehr oft das Pronomen „wir“ benutzt. Mag er auch kri-
tisch gegenüber einigen Aspekten des Nationalsozialismus einge-
stellt sein, so hört er nicht auf, sich mit dem deutschen Reich zu
identifizieren und die Expansion nach Osten zu befürworten.
Auch für ihn richtet sich der Krieg gegen den Bolschewismus.
Das wird durch die unmittelbar folgende Stelle bestätigt:
und der trotzkistischen Linke angehörte, 1939, in der Zeit der großen
Repression, nach einer Verurteilung zum Arbeitslager umgebracht wor-
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Der Judeo-Bolschewismus 249
gung der heimtückischen Mimikry und Doppelzüngigkeit wieder.
Diese Stelle der Schwarzen Hefte scheint von einer ähnlichen nicht
sehr entfernt zu sein, die sich in Eckarts Satire Totengräber Rußlands
befindet. Hier erscheint auch eine Karikatur von Radek: „K. Ra-
dek = Sobelsohn. Berüchtigter Sowjetagent ...“.450
Was ist aber der Bolschewismus für Heidegger? Gerade in
Heideggers Werken der dreißiger Jahre finden sich viele Betrach-
tungen zum Kommunismus. Es handelt sich um eine sehr origi-
nelle Interpretation. Sie wird vor allem in den Schwarzen Heften
entwickelt, in denen Heidegger den Kommunismus in seiner
historischen Realisierung – zahlreich sind dabei die Beziehungen
auf Lenin und auf die russische Revolution – von einem „Kom-
munismus“ unterscheidet, der sich weder auf den Namen eines
politischen Regimes noch auf eine Form von ökonomischer Or-
ganisation zurückführen lässt. Der Kommunismus wird der
Seynsgeschichte eingeschrieben. Deshalb muss er philosophisch
gedacht werden. In diesem Sinne sind für Heidegger sowohl Marx
und Lenin als auch Nietzsche und Jünger Denker des Kommu-
nismus. Um dessen Komplexität zu untersuchen, schlägt Heideg-
ger auch in diesem Fall den etymologischen Weg ein, der ihn zur
„Gemeinschaft“, zum „Gemeinen“ und zum griechischen Begriff
koinón bringt, d.h. zu einem Mit-Sein, in dem die Ontologie des
Kommunismus ans Licht kommen kann. 451 Wenn er auch aus
dem politischen Szenario verschwinden sollte, wäre er trotzdem
eine Möglichkeit der abendländischen Geschichte.
Der Bolschewismus ist eine Verwirklichung des Kommunis-
mus. Durch eine eigentümliche „Gott-losigkeit“ charakterisiert,
wird der Bolschewismus von Heidegger auf das Judentum zurück-
geführt und letzen Endes als ein säkularisierter Messianismus
den. Über Radek vgl. W. LERNER: Karl Radek: The Last Internationalist.
Stanford University Press: Stanford 1970.
450 D. ECKART: Totengräber Russlands. A.a.O., 6.
451 Dem Kommunismus wird ein wichtiger Exkurs gewidmet, der sich
sowohl in der Geschichte des Seyns als auch in den Schwarzen Hefte
befindet. Vgl. GA 69, 199 ff.; GA 96, 149-162. Auf den Leninismus
kommt Heidegger auch später zu sprechen. Vgl. GA 54, 127 f.
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250 Die Seinsfrage und die Judenfrage
betrachtet. 452 „Der ‚Bolschewismus‘ hat nichts zu tun mit dem
Asiatischen und noch weniger mit dem Slaventum der Russen –
also mit dem arischen Grundwesen“. Man würde sonst die russi-
sche Geistigkeit verfehlen, die trotz alledem der deutschen so nah
ist. Vielmehr entspringt der Bolschewismus „der abendländisch-
westlichen neuzeitlichen rationalen Metaphysik“.453 Als jene „des-
potisch-proletarische Macht“ ist er weder „asiatisch“ noch rus-
sisch, sondern in die Vollendung der Moderne einzubeziehen.454
Der Bolschewismus ist in dieser Hinsicht ein despotischer Sozia-
lismus. Erweist er sich so nicht als der Bruder des „Nationalsozia-
lismus“? Für Heidegger darf der deutliche politische Unterschied
zwischen beiden nicht zur Verkennung ihrer Nachbarschaft füh-
ren: sie seien „metaphysisch dasselbe“. 455 „Der Name ‚Sozialis-
mus‘ bezeichnet nur dem Schein nach noch und für das ‚Volk‘
einen Gefühlssozialismus im Sinne der sozialen Fürsorge; gemeint
ist die politisch-militärische-wirtschaftliche Organisation der Mas-
sen“.456 Die Metaphysik des Sozialismus lasse sich in der Vorherr-
schaft des Seienden, in der Seynsverlassenheit erkennen.
Die bevorstehende Gefahr sei daher nicht „die ‚Bolschewisie-
rung‘ Europas“, sondern das unermüdliche Sichwiederholen der
Vollendung, die nie zu einem Ende komme und daher die Mög-
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Der Judeo-Bolschewismus 251
lichkeiten des Seins verstelle. 457 Das sei die große Chance einer
Expansion nach Osten. Sollte sich Deutschland mit Russland
verbinden können, würden sich verborgene Möglichkeiten eröff-
nen. „Rußland ist nicht Asien und asiatisch, gehört aber ebenso
wenig zu Europa“.458 Es warte darauf, sich vom Bolschewismus
befreien zu können. Heidegger erblickt hier die Perspektiven, die
sich in einem Krieg nicht gegen die Russen, sondern gegen die
Bolschewiken ergeben könnten; einen solchen möglichen Krieg
bezeichnet er als eine „Auseinandersetzung“, die den Gegner „in
die höhere Möglichkeit seines Wesens rettet“ und darum eine
seinsgeschichtliche Bedeutung habe.459
Das Hindernis dafür ist der Bolschewismus – ihn zu nennen ist
lediglich eine andere Art, Weltjudentum zu sagen. Es erklärt,
warum „die englisch-amerikanische ‚Welt‘ und der ‚Bolschewis-
mus‘ im Innersten zusammengehören, trotz des scheinbaren Ge-
gensatzes von Kapitalismus und Antikapitalismus“: Das ist so
sowohl aufgrund der „Rationalität“, von der beide das Ergebnis
sind, als auch aufgrund der Metaphysik und der Machenschaft.460
Noch einmal zeichnet hier sich der planetarische Konflikt, der
über die geopolitischen Grenzen hinausgeht, der metahistorische
und metaphysische Zusammenstoß, das bellum judaicum, ab.
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252 Die Seinsfrage und die Judenfrage
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Weltlos. Der Jude und der Stein 253
Weltjudentum. Wie soll die Bedeutung des Präfixes Welt-, das sich
offensichtlich in den beiden Komposita widerspricht, erklärt wer-
den? In welchem Sinne kann sich das Judentum in seiner Weltlo-
sigkeit in die Welt ausdehnen?
Gerade der ontologische Zustand der Entwurzelung, der auch
ein politischer ist, gemäß dem sich die Juden ungebunden auf der
Erde verstreut haben, dabei aber den Nationen fremd, d.h. nicht
assimilierbar geblieben sind, würde es ihnen ermöglichen, unter
sich Beziehungen zu pflegen, die über die nationalen Grenzen
hinausgehen, die eben inter-nationale Beziehungen sind. Das
würde ihrem aufständischen Wesen, ihrem Willen zur Macht
entsprechen. Weltlossein würde einen Abstand von der Welt
bekräftigen, der es ihnen erlauben würde, um den Globus herum
ein Netz, eine planetarische Intrige zu spinnen, der die jüdische
Weltherrschaft entspringt.
In dieser Hinsicht ist die Weltlosigkeit, die ein Vorspiel der
Weltherrschaft darstellt, nicht nur eine Beschreibung, sondern
auch eine Anschuldigung: diejenige der Machenschaft. Dennoch
steckt wohl noch etwas mehr und anderes in der Weltlosigkeit. Es
ist zu fragen, welchen philosophischen Wert der Terminus „welt-
los“ für Heidegger hat, wo er davon spricht und in welchem Sin-
ne. Was heißt es, weltlos zu sein?
Heidegger ist der Philosoph, der die Art, die Welt zu denken
und zu verstehen, wie kein anderer verändert hat. In Sein und Zeit
kritisiert er die herkömmliche Vorstellung, nach der das autonome
und souveräne Subjekt sich die Welt entweder als das Ganze der
Dinge, von denen es umgeben ist, oder als Grundlage, auf die es
sich stützt, entgegensetzt. Damit hängt die irrige Idee zusammen,
die das Verhältnis zur Welt als eine bloße Erkenntnisbeziehung
zwischen einem Subjekt und einem Objekt fasst, so als ob In-der-
Welt-sein nichts anderes bedeuten würde, als ständig eine „objek-
tive Wirklichkeit“ zu erkennen. Das desinteressierte Erkennen,
das vor allem die Wissenschaften auszeichnet, ist nicht die primäre
Art, in der Welt zu sein. Sie ist sekundär und abgeleitet.
Darum muss nach dem In-der-Welt-sein gefragt werden. Was
heißt in, was besagt In-sein? Gewöhnlich wird es als Sein-in ver-
standen. Man stellt sich vor, in der Welt zu sein, so wie das Was-
ser im Glas ist, die Bank im Hörsaal, der Hörsaal in der Universi-
tät, die Universität in der Stadt. Man denkt an ein räumliches
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254 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Verhältnis, an die Welt als ein mit Gegenständen angefüllter Con-
tainer. Um mit dieser Vorstellung aufzuräumen, reicht es, auf die
Etymologie von in zurückzugreifen, das aus innan, d.h. wohnen,
verweilen, herstammt. An verweist dabei auf das Vertraut-sein mit
etwas oder mit jemandem; das In-der-Welt-sein bezeichnet dem-
nach keine räumliche Anwesenheit, sondern die Existenz. „Sein
als Infinitiv des ‚ich bin‘, d.h. als Existenzial verstanden, bedeutet
wohnen bei ..., vertraut sein mit ...“.466
Das In-der-Welt-sein ist die Art und Weise, in der das Dasein
jeweils faktisch, d.h. als Geworfenheit und Entwurf existiert.
Deshalb ist sein Sein keine bloße Anwesenheit; es ist vielmehr
stets ein Sein-Können. Das Dasein geht ständig über sich hinaus
und entwirft sich auf seine Möglichkeiten. Dabei geht es nicht von
einer soliden und objektiven Grundlage, sondern von einem nich-
tigen Abgrund aus, in dem ihm seine Möglichkeiten zu entgehen
drohen. In seinem Entwurf verhält es sich zu den Dingen, denen
es begegnet, in einer nicht erkenntniszentrierten Praxis.
Es ist nicht überraschend, dass es für Heidegger keine Welt
ohne Dasein gibt. Die Welt ist kein Objekt und keine Gesamtheit
von Objekten, sondern ein Existenzial, ein „Charakter“ des Da-
seins.467 Nur wo Dasein existiert, weltet die Welt. Denn es ist das
Dasein, das sie jeweils eröffnet. Daher kann Heidegger jenseits der
Metaphysik sagen, dass die Welt ein phänomenales Ereignis ist.
Sein bedeutet für das Dasein, zu existieren, mit einer Welt vertraut
zu sein, die es, in ihr wohnend, als solche erscheinen lässt. Aber
die Welt ist ihrerseits auch eine Struktur des Daseins. Diese Be-
deutung liegt nahe, wenn etwa der Lebensmüde „Fahre hin,
Welt!“ sagt. Man kann die Welt nur dahinfahren lassen, weil sie
Merkmal des Daseins ist. Das Dasein ist weltlich, zeichnet sich
durch seine „Weltlichkeit“ aus. Wenn es einerseits keine Welt
ohne Dasein gibt, so gibt es andererseits kein Dasein ohne Welt.
Wenn das Dasein aber essentiell weltlich ist, welchen Sinn hat
dann das Adjektiv „weltlos“? Heidegger benutzt es selten, und
noch seltener das Substantiv „Weltlosigkeit“. Der Terminus
kommt besonders in der Freiburger Vorlesung vom Wintersemes-
ter 1929/1930 vor, in der eine „vergleichende Betrachtung“ zwi-
466 SuZ, § 12, 54.
467 Ebd., § 14, 64.
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Weltlos. Der Jude und der Stein 255
schen Mensch, Tier und Stein durchgeführt wird; der Mensch sei
„weltbildend“, das Tier „weltarm“, der Stein „weltlos“. 468 In
„Vom Geist“ hatte Derrida vor allem das Bild des Tieres in Frage
gestellt.469 Seine Weltarmut sei zweideutig: „Das Tier hat und hat
keine Welt“.470 Das Nicht-Haben ist ein Modus des Habens. Das
Tier hat keinen Zugang zum Seienden als solchen, hat kein Seins-
verständnis. Es handelt sich – so Derrida – um eine „humanisti-
sche Teleologie“, in der „Welt“ eine andere Art ist, „Geist“ zu
sagen. 471 Heidegger scheint dann nicht so weit von Hegel oder
von einer Metaphysik entfernt zu sein, die er überwinden möchte.
Anders als das Tier, das als weltarm durchaus über eine Welt und
mithin über einen Geist verfügt, ist der Stein weltlos. Dieses Los
ist ein Fehlen, kein Entbehren. Der Stein hat keinen Zugang zum
Seienden und also keinen Zugang zur Welt. Wenn es auch nach
Derrida über die Tierheit in ihrem Weltverhältnis offene Fragen
geben kann, so besteht kein Zweifel hinsichtlich Steines. „Weltlo-
sigkeit ist eine solche Verfassung des Steines, dass der Stein der-
gleichen wie Welt nicht einmal entbehren kann.“ 472 Um diesen Ge-
danken weiter zu klären, fährt Heidegger fort: „Die Erde ist für
den Stein nicht als Unterlage, als ihn, den Stein, tragend, geschwei-
ge denn als Erde gegeben“.473 Denn je nach den Umständen kommt
der Stein „da und dort vor, unter und zwischen anderen Dingen,
so zwar, dass ihm das, worunter er auch vorhanden ist, wesenhaft
nicht zugänglich ist“.474 Weltlosigkeit bedeutet hier, dass der Stein
nicht ins Existieren gelangt. So schreibt Heidegger: „Ein Stein
kann nicht tot sein, weil er nicht lebt“.475
Der Jude ist wie der Stein – weltlos. Auf Französisch heißt welt-
los im-monde, auf Italienisch im-mondo – weltlos als unrein. Der Jude
ist unrein, weil er ohne Welt, ohne die Weltlichkeit der Existenz
lebt. Wie bei Hegel taucht der Stein hier als Metonymie der philo-
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256 Die Seinsfrage und die Judenfrage
phischen Figur des Juden auf.476 Als versteinerter und unassimi-
lierbarer Rest in der Seynsgeschichte droht der Jude seinerseits das
Sein zu versteinern. Seine akosmische und deformierende Trägheit
belastet den schon verwüsteten Planeten. Er verdunkelt jedes
Licht, versperrt jede Lichtung, verwischt jeden Ort auf der Erde,
von dem aus die Welt erscheinen kann, steigert vor eschatologi-
schem Hintergrund die Beschleunigung und wiederholt endlos das
Ende.
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Metaphysischer Antisemitismus 257
sie aufzuzählen, sondern um die Erkenntnis selbst zu begreifen,
was sie [ti ésti] wohl sein mag“.477
In den Jahren, in denen Heidegger die Überlegungen schreibt,
lässt Ludwig Wittgenstein im Blauen Buch die metaphysische Frage
ti ésti insofern implodieren, als er sie auf das sie leitende Sprach-
spiel zurückführt. Der Philosoph wird durch die Frage ti ésti, was
ist, dazu gedrängt, die konkreten Fälle als unbedeutend zu verwer-
fen. Diese „Verachtung des Einzelfalls“ verbindet sich mit „dem
Wunsch nach Verallgemeinerung“, mit dem Streben nach dem
Wesen. Die Frage ti ésti lässt glauben, dass es ein Was, ein identi-
sches Wesen, trotz der Unterschiede und über die Unterschiede
hinaus, gibt. Solche Tendenz zur Verallgemeinerung ist die „wirk-
liche Quelle der Metaphysik“.478
Heidegger unterzieht sowohl die Definition der Identität als
auch den Begriff des Wesens eine ähnlichen Kritik. Die Art und
Weise aber, in der er nach den Juden fragt, ist metaphysisch, weil
er schließlich die Frage ti ésti, was ist, stellt: Was ist der Jude? Was
ist seine Identität? Was ist sein Wesen?
So teilt Heidegger die Sorge der Autoren der Nürnberger Ge-
setze, den Juden zu definieren und zu identifizieren. Sie zeigt sich
auch im Argwohn Carl Schmitts, der in seiner Schrift Die deutsche
Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist auf die Tautologie
verfällt: „der Jude ist der Jude“. 479 Zwischen dem „Wer“, nach
dem der Jurist und der Politiker fragen, und dem „Was“, nach
dem der Philosoph sucht, gibt es jedoch einen wichtigen Unter-
schied. Wer ist der Jude? Was ist der Jude? Schmitt befindet sich
an der Grenze zwischen den beiden Fragen, und obwohl sein
juristischer Ansatz ihn an die politische Praxis bindet, ist er sich
der Relevanz der philosophischen Frage bewusst. Vor dem „Wer“
477 PLATON: Theätet. Griechisch-deutsch. Übersetzt von F. Schleier-
Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970, 38 f.; ders.: Zettel. In: Ders.: Schrif-
ten Bd. 5. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1970, § 444, 377 f.; ders.: Philo-
sophische Bemerkungen. Werkausgabe. Bd. 2. Hrsg. von R. Rhees. Suhr-
kamp: Frankfurt am Main 1984, § 92, 118.
479 C. SCHMITT: Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen
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258 Die Seinsfrage und die Judenfrage
kommt das „Was“: Die Definition der Identität ist die unentbehr-
liche Voraussetzung, um die Schranken des „Wer “ zu markieren,
um die Grenzen des Judeseins anzugeben.
Heidegger stellt die philosophische Frage was ist? in der Seins-
geschichte. Er knüpft an die Tradition an, die bereits über die
Beziehung des Juden zum Sein und über seinen Platz in der
abendländischen Geschichte nachgedacht hatte. Heidegger verrät
gewissermaßen die Seinsfrage. Wenn er in Bezug auf die Judenfra-
ge danach verlangt, das Wesen des Juden zu definieren, fällt er in
die Metaphysik zurück.
Der Anspruch liegt aber nicht nur im Charakter der Frage, im
leitenden Sprachspiel, wie Wittgenstein sagen würde. Er ist fun-
damentaler (oder fundamentalistischer): man will den Juden defi-
nieren, um die leibhaftigen, konkreten Juden auf ihn zu reduzie-
ren. Der Genitiv hat nicht nur einen objektiven, sondern auch
einen subjektiven Aspekt. Die Metaphysik des Juden führt zum meta-
physischen Juden, zu einer abstrakten Figur, der Qualitäten zuge-
schrieben werden, die der „Idee“, dem Modell des Juden inhärie-
ren. Bedrohliche Vorstellungen der Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft fließen in seine phantasmatische Substanz zusam-
men.
Aber es gibt noch einen anderen Grund, um von einer Meta-
physik zu sprechen. Die Art, in welcher der Jude definiert wird, in
der ihm also die bekannten Stereotype zugeschrieben werden, um
ihn von anderen Charakterzügen abzutrennen, lässt sich in alte
metaphysische Dichotomien einordnen, deren Gültigkeit Heideg-
ger sonst bestreitet. Es ist darum nicht nur die Sprache, die in die
Metaphysik zurückfällt, sondern es gibt darüber hinaus einen
Rückgriff auf binäre und hierarchische Entgegensetzungen, die die
abendländische Tradition dominiert haben.
Geht man vom Originären zum Abgeleiteten über, so stellt der
Jude bei jeder Dichotomie den negativen Pol, das auszusondernde
Extrem dar: Seele / Leib, Geist / Buchstabe, Inneres / Äußeres,
Anfang / Ende, rein / unrein, Wirklichkeit / Schein, bodenstän-
dig / fremd, Selbst / Anderer, eigentlich / uneigentlich, Herz /
Intelligenz, Natur / Zivilisation, konkret / abstrakt, voll / leer,
sichtbar / unsichtbar, Qualität / Quantität, schöpferisch / repro-
duktiv, Originalität / Nachahmung, Leben / Tod, gut / böse,
heilig / dämonisch, Wahrheit / Lüge, Sein / Nichts.
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Metaphysischer Antisemitismus 259
Die Liste könnte fortgeschrieben und dabei feiner ausdifferen-
ziert werden: Blut / Geld, Nomos / Gesetz, Wald / Wüste, Bo-
den / Entwurzelung, Sesshaftigkeit / Nomadentum, Land / Stadt,
Volk / Masse, Held / Händler, treu / treulos, Loyalität / Vertrag,
Hierarchie / Gleichheit, Legitimität / Legalität, Besinnung /
Rechnen, Nationalismus / Kosmopolitismus, Reich / Revolution.
Die Metaphysik des Juden bringt den metaphysischen Juden hervor,
eine Idee des Juden, die aufgrund von jahrhundertelang wirksa-
men Entgegensetzungen metaphysisch definiert wird. Es sind Ent-
gegensetzungen, die den Juden in die Uneigentlichkeit und in den
Schein zurückdrängen, in die seelenlose Abstraktion, in die ge-
spenstische Unsichtbarkeit verbannen – Schritt für Schritt bis ins
Nichts.
Für einen Juristen wäre das dichotomische Vorgehen vielleicht
verständlich, für einen Philosophen, der sich die Frage nach der
Metaphysik stellt und versucht, sie durch die Destruktion ihrer
erstarrten Sprache in ein Anderes zu versetzen, jedoch nicht.
Doch an der Wegscheide zwischen dem Sein und dem Juden
geschieht noch etwas anderes.
Die dichotomischen Begriffsreihen entscheiden über das Ver-
hältnis zwischen dem Sein und den Juden. Denn ihre Bedeutung
ist enorm. Daher die paradoxe Stellung des Philosophen. Er ist
zwar nicht direkt in die politische Praxis des Gesetzes und in seine
Anwendung einbezogen. Weil er nicht wie der Jurist an der Defi-
nition und an der Selektion teilnimmt, scheint er von einer unmit-
telbaren Verantwortung entfernter zu sein. Andererseits ist er
umso verantwortlicher, desto näher er an den metaphysischen
Dichotomien arbeitet. Er haftet für die Metaphysik. Wenn der
Jude aus dem Sein herausfällt, wenn er zum Nichts verurteilt wird,
so liegt das an der Entscheidung des Philosophen.
Die konkreten Juden mit ihren unzähligen Differenzen (die
völlig indifferent zu sein scheinen) werden also vom Juden an sich
ersetzt, dessen Wesen begriffen und festgelegt werden soll. Neben
dem sogar noch zu konkreten Substantiv taucht mithin das sub-
stantivierte Adjektiv „das Jüdische“ auf, das nach dem begriffli-
chen Kanon der deutschen Philosophie dessen Inbegriff, dessen
quidditas verdichten soll. Auf ähnliche Weise bezeichnet der Be-
griff „Judentum“ nicht die faszinierenden, dramatischen und
komplexen Geschehnisse des jüdischen Volkes – zumal dieses als
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260 Die Seinsfrage und die Judenfrage
geschichtslos erklärt wird; „Judentum“ ist der Terminus einer
weiteren Abstraktion, in der alle substanziellen Eigenschaften, die
den Juden zugesprochen werden, in einem substantivierten Kol-
lektivum verschmelzen. Dieses Substantiv, das die Züge eines
Subjekts annimmt, verhält sich, als ob es ein monolithischer
Agent, ein beunruhigender, feindseliger, bedrohlicher Moloch
wäre, der schließlich die Bedrohung überhaupt darstellt.
Um diese drei Termini Jude, Jüdisches, Judentum dreht sich Heid-
eggers metaphysischer Antisemitismus. Es scheint aus mehreren
Gründen angebrachter zu sein, ihn als metaphysisch und nicht,
wie Trawny, als seinsgeschichtlich zu bezeichnen.480 Zunächst hat
das Adjektiv „seinsgeschichtlich“ eine mystische Aura und einen
esoterischen Ton, die die diskriminierende Geste mildern; außer-
dem könnte das Adjektiv „seinsgeschichtlich“ Heideggers Stellung
in der Diskussion um den Antisemitismus isolieren, als ob sie ein
unicum wäre. Im Gegenteil berührt Heidegger keineswegs ein
neues Thema in der abendländischen Philosophie. Die Beziehung
zwischen dem Sein und dem Juden ist ein bekanntes Thema des
Antisemitismus. Darüber hinaus erscheint zwar der Jude in der
Seinsgeschichte, um aber sogleich aus ihr herausgetrieben zu wer-
den. Der Grund dafür ist, dass Heidegger bei der Definition des
Juden zu einem Metaphysiker wird.
Indessen vom metaphysischen Antisemitismus zu reden, heißt
Heideggers Position mit derjenigen anderer Denker zu verglei-
chen, und zwar nicht nur mit den Philosophen der Vergangenheit,
die für ihn zur abendländischen Metaphysik gehören. Die diskri-
minierende Geste, die den Begriff der „Rasse“ einführt, ist eine
philosophische. Später wird sie wissenschaftlich durch die Biolo-
gie unterstützt und legitimiert. Das geschieht im Nationalsozialis-
mus. Es ist jedoch völlig falsch, diesen Antisemitismus auf einen
schwörung. A.a.O., 31. In diesem Sinn stimme ich mit Jean-Luc Nancy,
der von „Heideggers Banalität“ spricht, überein. Allerdings wird diese
Banalität sogleich in einem Antisemitismus aufgehoben, der philosophi-
schen Rang beansprucht. J.-L. NANCY: Heideggers Banalität. In:
Heidegger, die Juden, noch einmal. Hrsg. von P. Trawny und A. Mitchell.
Klostermann Verlag: Frankfurt am Main 2015, 12-42, insb. 30.
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Metaphysischer Antisemitismus 261
Biologismus zu reduzieren.481 Der metaphysische Antisemitismus
muss in seiner Weite und in seiner Tiefe betrachtet werden. Eine
solche Betrachtung wird durch Bedenken und Verdrängungen
behindert, die schwer zu überwinden sind. Doch für die Zeitge-
nossen war die Frage deutlich. In seinem Werk Um des Reiches
Zukunft, das 1932 in Freiburg veröffentlicht wurde, schreibt Guri-
an:
481 Es ist kein Zufall, dass für Heidegger der Biologismus – wie gezeigt
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262 Die Seinsfrage und die Judenfrage
Damit tritt ein weiterer Grund auf, der dazu nötigt, vom metaphy-
sischen Antisemitismus zu reden. Es geht um den Bezug zwischen
der Metaphysik und der Theologie. Hierarchische Entgegenset-
zungen wie die zwischen Seele/Leib, Geist/Buchstabe oder Inne-
res/Äußeres verraten ihre theologische Herkunft. In diesem Sinne
lässt der metaphysische Antisemitismus das Erbe des christlichen
Antijudaismus ans Licht kommen, ein Vermächtnis von schauri-
gen Bildern und dämonisierenden Metaphern, mit denen er die
Juden identifiziert, eine Menge von hinterhältigen Vorwürfen,
perversen Lügen und grausamen Anklagen, die in der Anschuldi-
gung des Gottesmordes gipfeln. Dieser Antijudaismus, der auch in
einem vermeintlich säkularen Laizismus wirken kann, agiert oft
unbewusst, aber nicht unschuldig. Er hat die ganze abendländi-
sche Metaphysik durchdrungen, ohne dabei entdeckt und zurück-
gewiesen zu werden.484
Schließlich gilt es vom metaphysischen Antisemitismus zu spre-
chen, weil er eine Art ist, den Juden als Figur, Erscheinung, Phä-
nomen – wie Gurian nahelegt – zu betrachten, dessen Wesen
jenseits, metá gesucht werden muss. Diese Verschiebung kenn-
zeichnet aber ein Vorgehen, das für Heidegger zur Metaphysik
gehört.
484 Eine Philosophie, die sich heute noch für autonom hält, sollte über
2/2005, 86.
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Der Jude und die „Reinigung des Seins“ 263
ist ein philosophischer Irrtum, der Irrtum des Philosophen, der
die Metaphysik in Frage gestellt hatte.
Heidegger kompromittiert sich in zweifacher Hinsicht: Zum
einen, indem er sich vom Nationalsozialismus in den Dienst neh-
men lässt. Zum anderen hatte er seinen Denkweg schon zuvor
kompromittiert, als er auf jenem Weg, den er von seinem Vorpos-
ten aus allein einschlägt, um in die Zukunft des deutschen Volkes
zu schauen, um in dieser Zukunft den Übergang zum anderen
Anfang zu bahnen, dem Juden begegnet.
Welchem Juden aber? Nicht einem der vielen – nicht einem
seiner Schüler, nicht einem seiner Lehrer, nicht einer seiner
Freundinnen, nicht einer seiner Geliebten. Nicht Hannah. Er
begegnet dem Schatten des Juden – dem Gespenst, der Projekti-
on, der Figur des Juden, dem figuralen Juden, der mit einem meta-
physischen Gewicht beschwert ist. Das ist der Jude, der für seine
Zugehörigkeit zum Judentum haften muss.
Aber wie? Der Jude scheint sich immer jedem Versuch entzo-
gen zu haben, sein Wesen auf den Begriff zu bringen. Je mehr die
Philosophen versuchten, den Juden als eine metaphysische Er-
scheinung zu betrachten, desto mehr entglitt er ihnen. Für den
Juden, verbannt in die Heteronomie, in das Gesetz des Anderen,
der autonomen Vernunft widersprechend, hatte schon Kant die
Euthanasie gefordert und ihn so aus der Metaphysik verdrängt.
Hegel hatte ihn indessen vor der Eingangspforte Europas, vor der
Christenheit und ihrem Heil stehen gelassen. Für Hegel war der
Jude fähig, die Verheißung zu bringen, jedoch in seiner eigensin-
nigen Treue zu sich selbst unfähig, sie zu verstehen; so wurde das
unglückliche Bewusstsein, das als emblematische Figur der Spal-
tung nichts Eigenes, kein Eigentum hatte, das „Herz aus Stein“,
das in seinem pharisäischen Buchstaben unaufgehoben und un-
aufhebbar versteinert war, einfach „negiert“ und aus der Dialektik
der Weltgeschichte ausgeschlossen. Nietzsche hatte sogar die
Chiffre seiner Existenz als Fälschung betrachtet.
Auch für Heidegger ist der Jude ein Hindernis, ein Stein auf
seinem Weg durch die Seinsgeschichte. Ihn zu definieren ist die
einfachste Weise, ihn loszuwerden. Welches andere Mittel könnte
gegen denjenigen eingesetzt werden, der per definitionem die
Grenze überschreitet? So versucht Heidegger, das geheimnisvolle
und unveränderliche Wesen des Juden zu ergreifen und festzule-
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264 Die Seinsfrage und die Judenfrage
gen. Er geht dabei bis zum Blut; denn in dem geheimnisvollen
Fluidum zwischen Leib und Seele liegt vielleicht das metaphysi-
sche Arcanum des Judentums verborgen. Um den Juden zu defi-
nieren, fällt Heidegger in die Metaphysik zurück und gibt dem
Impuls nach, die alte Abscheu vor dem Anderen, dem Nächsten,
philosophisch zu legitimieren. Er kommt dem Kult der Art, des
gestaltenden und identischen Gepräges nach und teilt den autopo-
etischen Mythos der Deutschheit und des Ariers, der sich im
Gegensatz zum gestaltlosen Volk herausbildet. Heidegger ver-
stärkt das Argument noch, indem er ihm einen ontologischen
Rang einschreibt, und gründet auf eine Fiktion, nämlich die der
„Rasse“, eine Metaphysik des Juden. Hier zeigt der metaphysische
Antisemitismus, im Unterschied zu anderen Erscheinungsformen
des Antisemitismus, offen das Fehlen jeglichen Fundamentes.
Heidegger schwächt die Frage nicht ab; er verschärft sie und
macht sie anschaulicher. Er sagt deutlich, dass es eine „Judenfra-
ge“ gibt und verbindet sie mit der Seinsfrage. Niemals war der
Jude so wichtig – er steht im Herzen des Seins, das das Herz der
Philosophie ist. Niemals zuvor hat er eine so große Bedrohung
dargestellt.
Der Jude, dem Heidegger auf dem seinsgeschichtlichen Weg
begegnet, verwehrt ihm den Übergang, hindert ihn daran, die
Quelle der Reinheit zu erreichen. Es ist, als ob der Jude ihn war-
nen würde: Quelle und Reinheit gibt es nicht. Es gibt weder Quel-
le, noch Ursprung, weder Reinheit, noch Eigentlichkeit, weder
Bodenständigkeit noch Authochtonie – weder für den Juden noch
für den Deutschen noch für irgendwen.
Diese Warnung klingt für Heidegger bedrohlich, zumal sie das
zu artikulieren scheint, was der „Ruf des Gewissens“ ihm schon
seit langem und wiederholt sagte. Der Jude sagt ihm, dass seine
„Entscheidung“, oder besser, seine Scheidung, in der er sich dem
Sein zuwendet, ein Holzweg ist.
Der Jude unterminiert das Sein. Er setzt dessen Unversehrtheit
und dessen Reinheit aufs Spiel, stürzt anarchisch seine arché um.
Der Zusammenhang zwischen Judenfrage und Seinsfrage liegt
hier. Die Juden sind unbequeme Zeugen der Nicht-
Übereinstimmung mit sich selbst, der unvordenklichen Enteig-
nung, des unüberwindbaren Andersseins, der Unmöglichkeit, bei
sich selbst zu sein. Sie können das Sein zum Einsturz bringen,
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Der Jude und die „Reinigung des Seins“ 265
weil es sich von den undefinierbaren Juden nur mit unentschiede-
nen, offenen Sätzen aussagen lässt. Wie das talmudische Fragen,
das ein tertium und ein quartum datur reklamiert, zeigt, haben sich
die Juden Jahrhunderte lang gegen die Logik des Seins zur Wehr
gesetzt, haben Synthesen und Rückschlüssen Widerstand geleistet
–. Deshalb hemmen und durchkreuzen sie jedes Projekt der An-
eignung, jede Passion der Besitzergreifung, jeden Hang zur Be-
herrschung, jede Obsession der Herrschaft, jede Begründung und
Selbstbegründung, jeden Drang zur Vollendung. Und darum hat
der Nationalsozialismus sie zu Feinden auserwählt.
In den Augen des Philosophen, für den die Seinsfrage die ei-
gentliche Frage des Abendlandes ist, beginnt der Platz der Juden,
unsicher und schwankend zu werden. Gibt es überhaupt einen
Ort für die Juden? Was wird aus der von Ernst Jünger aufgerisse-
nen Topologie? Auch für Heidegger scheint der Jude keinen Platz
zu haben. Welchen Ort könnte in der Seinsgeschichte derjenige
beanspruchen, der das Sein als solches beeinträchtigt? Der Nicht-
Ort der Juden wird unabwendbar konkret.
Das Judentum – behauptet Heidegger – sei Mittäter und Kom-
plize der Metaphysik. Das eine habe die andere befördert – und
umgekehrt. Zur Verwindung der Metaphysik, der abendländischen
Krankheit, ist die Verwindung des Judentums nötig. Andererseits
scheint das Judentum unerlässlich zu sein. Indessen kann das
Abendland nur auf dem Weg zurück zum unbefleckten Ursprung,
zu der Reinheit, die für immer verloren gehen könnte, gerettet
werden. Der Jude, dem der Philosoph auf diesem Weg begegnet,
ist der Mittäter der Metaphysik. Er stellt für ihn ein entifiziertes
Dasein dar, ein vom Sein geschiedenes Seiendes, das seine Spal-
tung universal, seine Entwurzelung planetarisch machen möchte,
indem es für immer den Zugang zum Sein verstellt. Diese Ma-
chenschaft ist seine Aufgabe in der Weltgeschichte.
In einer zugespitzten ontologischen Differenz erscheint der Ju-
de als das vom Sein getrennte Seiende, das keine Möglichkeit
mehr hat, den Bezug zum Sein zurückzugewinnen. Der Seinsver-
lassenheit beschuldigt, ist der Jude dazu verurteilt, vom Sein ver-
lassen zu werden.
Da oben auf dem Weg, auf dem er allein dem Abgrund begeg-
net, ahnt Heidegger, dass der Jude, der im Weg steht, kein verstei-
nerter und obsoleter Rest ist, den das „katholische“ Abendland, in
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266 Die Seinsfrage und die Judenfrage
seinem Willen, „total“ zu sein, einfach loswerden könnte, so wie
Schmitt es verlangte.486 Heidegger erkennt intuitiv, dass der Jude
nicht der ontologische Feind ist. Die Grenze, die er darstellt, ist
keine einfache Differenz, sondern die Grenze des Über, das nur
der Andere in seinem Anderssein eröffnen kann.
Doch Heidegger tritt zurück. Ihm ist das Sein wichtiger. Er
lässt den Juden fallen. Dabei wiederholt er eine den Philosophen
nur allzu vertraute Geste. Für den Juden gibt es keinen Platz in
der Geschichte des Seins. Heideggers Ausschließungsgeste ist
umso beunruhigender, als sie in der dürftigen Zeit, in der Nacht
der Welt, an der Grenze zum Abgrund vollzogen wird. Ohne
Zögern redet Heidegger dann von einer „ersten Reinigung des
Seins von seiner tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des
Seienden“.487 Als er das schreibt ist die „Reinigung des Seins“ zur
Vernichtung geworden.
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„Wie steht es um das Nichts?“ 267
lichkeit noch Furcht vor etwas Bestimmtem, sondern Angst vor
Nichts ist. Alles scheint dann in eine Art von Gleichgültigkeit zu
versinken. Das Seiende im Ganzen entfernt sich, rückt weg, und
lässt das Nichts erscheinen. Heidegger hat ein solches Auftauchen
des Nichts, in dem sich das Seiende entzieht, als „Nichten“ be-
zeichnet. Zudem spricht er von einer „Nichtung“.490 Der nebulöse
Schimmer des Nichts wird von der Angst gelichtet: Das Dasein
entdeckt sich zwar als „sich hineinhaltend in das Nichts“, stellt
aber zugleich fest, schon immer über das Seiende hinausgegangen
zu sein. Das Dasein transzendiert, d.h. es existiert frei. Das Dasein
erweist sich als „Platzhalter des Nichts“.491
Das Nichts ist kein Objekt, kein Seiendes. Es ist das, was das
Seiende für das Dasein „möglich macht“. Das Seiende taucht erst
jeweils aus dem Nichts auf. Es ist ursprünglicher als jedes
„Nicht“, als jede Verneinung. Wenn aber das Seiende auftaucht,
wenn es aus dem Grund des Nichts zum Sein kommt, dann sind
Sein und Nichts unauflöslich miteinander verknüpft. Wäre es aber
nicht unvorsichtig, eine solche Verknüpfung zu denken? Noch
unvorsichtiger scheint es, auf diesem Weg das alte metaphysische
Axiom ex nihili nihil fit, aus Nichts entsteht nichts, in Zweifel zu
ziehen. 492 Doch Heidegger zögert nicht, dieses Axiom geradezu
umzukehren: Aus Nichts entsteht jedes Seiende.
Sowohl in der philosophischen als auch in der theologischen
Tradition gibt es von einem solchen Gedanken keine Spur. Die
Griechen hatten sich stets ein primordiales Chaos vorgestellt, das
dann Form annimmt, in einem kósmos geordnet wird. Die Kabba-
lah stellt die Ausnahme dar. Zwischen den stillen Flanken der
Schöpfung erblickten die Kabbalisten den dunklen Abgrund des
Nichts und entzifferten ihn in den Ausdrücken tohu wabohu, tehom,
chodesch, den ersten Versen der Genesis. Sie durchstießen den
fiktiven Damm, den die Philosophen zum Schutz der Vernunft
um das Nichts ausgehoben hatten. Sie wagten sich zum Nichts
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268 Die Seinsfrage und die Judenfrage
vor, nicht nur um seine vernichtende Potenz zu erkunden, son-
dern um dessen Nichten zu erfahren. Auch für die Kabbalisten
nichtet das Nichts.
Man kann nicht umhin, diese überraschende Konvergenz zwi-
schen Heidegger und der Kabbalah festzustellen. 493 Es ist eine
Konvergenz, die auch das Verständnis des Nichts, das keine bloße
Verneinung ist, betrifft. Abwesend in seiner Anwesenheit, unzu-
gänglich in seiner Zugänglichkeit, ist das Nichts die Tiefe des
Seins, die Finsternis, aus welcher jedes Licht entsteht – am Nichts,
Aìn, hängen alle Leuchter und Kandelaber der Welt.
Aìn wird zum Anì, aus dem Nichts kommt das Ich Gottes, der
sprechend schöpft. Die Kabbalisten erweitern das Nichts, bis es
Gott selbst umgreift; das Nichts ist Gott selbst in seinem verbor-
gensten Aspekt. Sein und Nichts sind in Gott aufs innigste ver-
knüpft. Aus dem Nichts, d.h. aus sich selbst, entzieht sich Gott,
um das von ihm geschaffene Seiende sein zu lassen. Die Schöp-
fung ist keine Emanation, sondern ein Sichzurückziehen, ein
Sichzusammenziehen. Sie ist das Exil Gottes.494
Heidegger schreibt im Brief über den „Humanismus“: „Das Sein
nichtet – als das Sein“.495 Indem es sich im Sein einhaust, gibt das
Nichts die Art und Weise an, wie es zu entziffern ist. Es zeigt
zugleich die Gefahr für ein Dasein an, das, sofern es für die
Schwere des Seins unempfindlich ist, zum Seienden erstarren und
versteinern könnte. Die Abspaltung vom Sein ist die Verwüstung
des Nichts. Dann versinkt das Dasein im Nihilismus.
Wo das Sein verwüstet wird, erhält das Nichts einen anderen
Ton, eine andere Bedeutung: nicht mehr „Nichtung“, sondern
„Vernichtung“. Davon spricht Heidegger in seinen Nietzsche-
Vorlesungen. Er bezieht sich auf das Denken, das „ausscheiden“
muss, um bauend zu sein. Dieses Denken soll das zerstören, „was
als Verfestigung und als Niederziehendes das bauende in-die-
Höhe-Gehen verhindert“. Das Vernichten „sichert gegen den
493 Es ist anzunehmen, dass Meister Eckhart und Jakob Böhme in die-
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„Wie steht es um das Nichts?“ 269
Andrang aller Bedingungen des Niederganges“.496 Um die Radika-
lität einer Vernichtung hervorzuheben, die ein wesentliches Über-
tragen in das Nichts ist, fügt er an einer anderen Stelle zwei Binde-
striche ein: „Was soll jenes gedachte Nichts des Seins angesichts
der wirklichen Ver-nichts-ung alles Seienden, die mit ihrer überall
sich einschleichenden Gewalt fast schon jede Gegenwehr vergeb-
lich macht?“.497
Taubes hat in einem kritischen Aufsatz über das Nichts bei
Heidegger die Aufmerksamkeit auf die „Resonanz“ der metaphy-
sischen Frage gelenkt, die in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg
unüberhörbar war. Taubes beantwortet die Frage von der Theolo-
gie aus, verweist dabei aber auf ihren Zusammenhang mit der
Politik. Die metaphysische Frage verrät „die geheime Verabre-
dung, die zwischen Philosophie und Politik besteht“.498
Das ontische Nichts scheint mit dem Nichts, das im Sein haust,
keine Bindung mehr zu haben. Es ist das Nichts, das in der Ver-
nichtung auftritt und die Existenz verneint. Es ist das Nichts des
Rauches und der Asche. Von der Asche ausgehend klingt die
Frage der Metaphysik anders: Wie steht es mit dem Nichts?
496 GA 6.2, 323; vgl. auch GA 47, 254-255, 316; GA 50, 70.
497 GA 6.2, 372-373. Von „Vernichtung“ in diesem Sinn spricht Heid-
egger auch anderswo. Vgl. GA 36/37, 91; GA 66, 16.
498 J. TAUBES: Vom Adverb „Nichts“ zum Substantiv „das Nichts“.
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IV. NACH AUSCHWITZ
1. Bellum judaicum
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272 Nach Auschwitz
eines „romantischen Antikapitalismus“ und eines libertären Den-
kens.4 Sie sind Schüler von Heidegger.
Sie fragen nach dem, was in Europa geschieht, nach dem ein-
zigartigen Krieg, den die Nazis gegen die Juden führen. Was für
ein Krieg ist es? Wann wurde er erklärt? Und warum? Sie nehmen
den Nazismus weder für eine vulgäre Propaganda noch für einen
vorübergehenden Wahn. Levinas hatte von einer „Philosophie des
Hitlerismus“ gesprochen, d.h. von einer Vergötterung der Natur,
einer Form des Heidentums, in der der Mensch bereit sein müsse,
die Faktizität seines Daseins als geschichtliches Schicksal zu ak-
zeptieren.5
Der planetarische Krieg nimmt gegen Ende der dreißiger Jahre
deutlichere Konturen an und profiliert sich als Konflikt zwischen
Heidentum und Judentum. In diesem Sinne wird er, wenn auch
mit unterschiedlichen Akzenten und Zielen, besonders von Tau-
bes und Jonas erörtert. Beide kommen aus dem Umkreis der
Theologie und haben das Phänomen der Gnosis und die Apoka-
lyptik untersucht. Sie wissen, dass sich der Angriff des „Dritten
Reichs“ auf die Juden nicht in die alten Schemata einordnen, sich
nicht etwa mit einer Verfolgung oder einem Pogrom vergleichen
lässt. Vielmehr handelt es sich um ein in der Geschichte beispiel-
loses Ereignis. Dennoch schreiben sie es in die jüdische Geschich-
te ein und suchen nach seinen Vorgängern. Sie blicken zurück in
die Jahrhunderte bis zur anderen großen Shoah, in der Israel von
Rom besiegt wurde und der Triumph des Imperiums die Zer-
streuung und das Exil des jüdischen Volks besiegelte. Beide spre-
chen vom bellum judaicum im expliziten Verweis auf Flavius Jo-
sephus. 6 Veröffentlichungen zur abendländischen Eschatologie
aus dem Jahre 1947 können im Lichte dieses Konflikts gelesen
Leipzig 2008.
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Bellum judaicum 273
werden, in dem die letzte Apokalypse als Krieg zwischen dem
„Dritten Reich“ und Israel interpretiert wird.7
Jonas hatte seine Dissertation über den Begriff der Gnosis ge-
schrieben, als er in Marburg bei Heidegger studiert hatte.8 Nicht
ohne Betrübnis und Bedauern hatte er Deutschland verlassen und
war im Frühjahr 1935 in Haifa eingetroffen. Gerade die Arbeit
zwischen Philosophie und Theologie wird ihm ermöglichen, das
zu erblicken, was die anderen nicht sahen. Das Phänomen der
Gnosis und Heideggers Philosophie zeigen einen gemeinsamen
Zug: den kosmischen Nihilismus.9 So ahnt Jonas, dass der nihilis-
tische Grund des nazistischen Heidentums zu einer totalen Ver-
nichtung des jüdischen Volks führen wird. Es gibt ein neues bellum
judaicum. Der Krieg des nationalsozialistischen Deutschland gegen
Israel ist der Krieg gegen ein Volk ohne Staat und ohne Armee,
das sich nicht verteidigen kann. Oft ist es sich nicht einmal be-
wusst, vom „Dritten Reich“ Reich als absoluter Feind ausgewählt
worden zu sein.
In September 1939 lanciert Jonas einen Appell an alle emigrier-
ten Juden: Unsere Teilnahme an diesem Kriege. Ein Wort an jüdische
Männer. Man müsse gegen Hitlers Deutschland kämpfen: „Diese
ist unsere Stunde, dies ist unser Krieg“.10 Er beansprucht in dem
geschehenden Konflikt ein „Erstlingsrecht“ und eine „Erstlings-
pflicht“ für das jüdische Volk.11 Würde das „Dritte Reich“ siegen,
würde kein einziger Jude überleben. Denn dem metaphysischen
Feind kann kein Platz mehr auf der Welt eingeräumt werden.
Jonas versteht den Unterschied zwischen dem Zustand der Juden
und dem der anderen Völker folgendermaßen:
Bedroht sind sie in einem, wenn auch noch so wesentlichen, Teil ihrer
Stellung auf der Erde – bei uns zielt das Naziprinzip, das sich zum Welt-
prinzip zu erweitern strebt, ins Zentrum unserer Menschenwürde und
7 Vgl. J. TAUBES: Abendländische Eschatologie. A.a.O., 82 ff.
8 Vgl. H. JONAS: Gnosis und spätantiker Geist. Vandenhoeck & Rup-
recht: Göttingen 1993.
9 Vgl. H. JONAS: Heidegger und die Theologie. In: Heidegger und die
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274 Nach Auschwitz
zugleich unserer nackten Daseinsmöglichkeit auf Erden. Wir sind sein
metaphysischer Feind, sein designiertes Opfer vom ersten Tage an, und
keine Ruhe ist uns gegönnt, solange jenes Prinzip oder wir, einer von uns
beiden noch lebt.
Bei uns steht daher nicht ein Teil, sondern das Ganze auf dem Spiel.
Gegen uns ist wahrhaft der totale Krieg. Gäbe es heute einen jüdischen
Staat, er hätte der erste sein müssen, der jetzt im Gefolge Englands und
Frankreichs dem Deutschland Hitlers den Krieg erklärte.12
Jonas entgeht nicht die Neuheit des politischen Projekts des Nati-
onalsozialismus, der zum ersten Mal in der Geschichte auf eine
Umgestaltung der ganzen Menschheit zielt. Das unterscheidet das
neue vom alten bellum judaicum: Rom hatte einem politisch besieg-
ten Judentum erlaubt, zu überleben. Das wird „unter dem Absatz
der Gestapo“ nicht geschehen. 13 Der Jude, der vom metaphysi-
schen Urteilsspruch betroffen ist und aus dem Sein herausfällt, ist
nicht nur kein Mitbürger mehr. Er kann niemals mehr einen Platz
auf dieser Welt für sich beanspruchen. Im metaphysischen Urteil
wird die End-Lösung angekündigt.
Für die Juden geht es also nach Jonas um ein „‚bellum judai-
cum‘ in des Wortes tiefster Bedeutung – das erste seit dem Ende
unseres staatlichen Daseins“.14 Genauer betrachtet handelt es sich
um „den ersten Religionskrieg der Moderne“: auf der einen Seite
das „Dritte Reich“, auf der anderen Israel, auf der einen Seite das
Heidentum, auf der anderen das Judentum und das Christentum,
diese „Verjudung der europäischen Menschheit“.15
Den Worten folgten die Taten. Jonas diente beinahe sieben
Jahre lang in der Jüdischen Brigade, bevor er von Italien aus im
Jahre 1945 Deutschland erreichte. Später focht er mit den Waffen
der Philosophie gegen den Nationalsozialismus und dessen heid-
nische Verachtung der Menschheit. Mit Heidegger kämpfte er auf
seine Weise gegen Heidegger. Nie hat er seinem Lehrer, der ein
„Bahnbrecher, der Neuland erschlossen hat“, war verziehen. 16
Ihre einzige Begegnung nach dem Krieg im Jahr 1960 geriet zu
12 Ebd., 188.
13 Ebd., 190.
14 Ebd., 193-194.
15 Ebd., 194.
16 Ebd., 299.
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Dem Schweigen nachgeben? 275
einer bitteren Enttäuschung: „Was uns beide auf Dauer trennte,
blieb von Schweigen umhüllt“.17
Obwohl die Juden aus dem Körper der deutschen Nation elimi-
niert worden waren, wurden sie weiterhin in einer noch gegenwär-
tigen und aufdringlichen Abwesenheit gespürt. In einer kurzen
17 Ebd., 309.
18 Vgl. jetzt M. OLENDER: Il silenzio di una generazione. In: Ders.:
Razza e destino. Bompiani: Milano 2014, 401-446.
19 H. ARENDT: Besuch in Deutschland. A.a.O., 45.
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276 Nach Auschwitz
Schrift von 1963 stellte Ernst Bloch das Paradox eines Antisemi-
tismus ohne Juden fest. Im bellum judaicum waren die Nazis erfolg-
reich bis zuletzt; es wurde „ihr einziger Erfolg“.20 Trotz alledem,
trotz „allem Ungeheuerlichen“, das zur Endlösung führte, selbst
„in Ermangelung von Juden“, blieb noch die „Judenfrage“.21 Sie
tauchte sowohl in einer eigenartigen Reue, deren Anlass nicht gern
erwähnt wurde, als auch im Negieren bzw. Ableugnen – von
Auschwitz oder Majdanek will „keiner etwas gehört haben“ –, als
auch in einem Bedauern, einer Art umgekehrter Reue, auf, „in
Sachen Judenhaß“ nicht bis zum Ende gegangen zu sein. Das
drückte sich in Anklagen wie dieser aus, dass „an den fallenden
Atombomben (der anderen, versteht sich) einzig die brunnenver-
giftenden Juden schuld“ seien.22
Zwischen der Grabesstille der Opfer und dem Schweigen der
Verfolger schien es keinen Platz für Auschwitz zu geben. Die
Nennung des Namens wurde tabuisiert, Auschwitz wurde ein
unnennbares Gespenst. Und es war auch nicht klar, worin es sich
von all den unzählbaren anderen Verbrechen, die in jenen Jahren
begangen wurden, unterschied.
In diesem Zusammenhang steht auch Heideggers undurch-
schaubares Schweigen. Diejenigen, die – vor allem außerhalb
Deutschlands – von ihm wenigstens einen Wink, ein Wort, wenn
nicht eine explizite Verurteilung dessen, was geschah, erwarteten,
wurden enttäuscht. Ehemalige Schüler forderten ihn heraus. 1947
schreibt ihm Herbert Marcuse aus den Vereinigten Staaten, um
ihn davon zu überzeugen, öffentlich Stellung beziehen zu müs-
sen.23 Doch trotz der zahlreichen Anfragen zeigt sich Heidegger
unerschütterlich.
Auch das legendäre Spiegel-Interview vom 23. September 1966,
das erst 1976, nach dem Tod des Philosophen, erscheint, unter-
In: Martin Heidegger und das ‚Dritte Reich‘. Ein Kompendium. Hrsg.
von B. Martin. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1989, 155-
156.
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Dem Schweigen nachgeben? 277
bricht das Schweigen nicht. Heidegger antwortet mit äußerster
Unbefangenheit auf Fragen, die erscheinen, als wären sie verein-
bart.24 Insgesamt wird eine defensive Strategie verfolgt: Einerseits
erkennt Heidegger wenn auch vorsichtig sein Engagement an:
„Ich erwartete vom Nationalsozialismus eine geistige Erneuerung
des ganzen Lebens“ gleichwohl ohne einzuräumen, dass die Revo-
lution als epochales Geschehnis des Seyns für ihn ein philosophi-
sches und kein politisches Ereignis war. Andererseits leistet
Heidegger aber auch keine Abbitte. Er gibt sich keineswegs als
Demokrat der letzten Stunde aus. An die Demokratie glaubte er
nie, um so weniger in der „Zeit der Technik“.25 Am Ende spricht
er sogar von der „konkreten Bestimmung der Deutschen“, nicht
jedoch von ihrer Verantwortung.26 Es gibt keine einzige Silbe über
die Vernichtung. Nichts.
Über „Heideggers Schweigen“, das inzwischen ein regelrechter
Topos der Philosophie geworden ist, sind zahlreiche Aufsätze und
Bücher geschrieben worden; daraus ist eine Diskussion entstan-
den, die im Laufe der Jahre viele Interpretationen hervorgebracht
hat. Für Lyotard ist Heideggers „Schweigen“, das der „Philosoph
von Todtnauberg“ bis zuletzt bewahrt hat, ein hermetisch ge-
schlossenes „bleiernes Schweigen“. 27 Für Lacoue-Labarthe ist es
schlicht unverzeihlich, da es in seiner Verweigerung des Sprechens
die Frage nach der moralischen Bedeutung von Auschwitz offen
lässt.28 Viele sehen in der hartnäckigen Schweigsamkeit nach 1945
24 Über den Hintergrund des Interviews, das zwar von Rudolf Aug-
stein geführt wurde, das aber von einem Redakteur des „Spiegels“, dem
ehemaligen SS-Mitglied und Geheimagent Georg Wolff vorbereitet wur-
de, ist vor kurzem das Buch von Lutz Hachmeister erschienen, der u.a.
auch Heideggers Geschick im Umgang mit Journalisten rekonstruiert.
Vgl. L. HACHMEISTER: Heideggers Testament. Der Philosoph, der Spiegel
und die SS. Propyläen: Berlin 2014, insb. 7 ff., 145 ff.
25 GA 16, 658-659, 668. In diesem Sinne schreibt er im Antwortbrief
an Marcuse vom 20. Januar 1948: „Ein Bekenntnis nach 1945 war mir
unmöglich, weil die Nazianhänger in der widerlichsten Weise ihren Ge-
sinnungswechsel bekundeten, ich aber mit ihnen nichts gemein hatte“.
GA 16, 430-431, hier 431.
26 Ebd., 679.
27 J.-F. LYOTARD: Heidegger und „die Juden“. A.a.O., 65.
28 P. LACOUE-LABARTHE: Die Fiktion des Politischen. A.a.O., 164 f.
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278 Nach Auschwitz
eine schwerere Schuld als im Beitritt zur NSDAP im Jahr 1933.
Das ist etwa die Position von George Steiner, der zum einen für
die Anhänger, die still und treu bleiben, harte Worte findet, zum
anderen sich aber gleichwohl fragt, wie Heideggers Schweigen mit
der „lyrischen Menschlichkeit“ seiner letzten Schriften in Einklang
zu bringen sei. 29 Das Thema wird auch von Richard Bernstein
aufgenommen, für den „Heidegger’s silence“ ein betäubendes und
inkriminierendes Schweigen ist.30
Die Schwarzen Hefte werfen ein neues Licht auf dieses Schwei-
gen. Gewiss hat sein metaphysischer Antisemitismus entscheidend
dazu beigetragen. In diesem Zusammenhang lässt sich das
Schweigen besser verstehen. Man kann sich dann noch einmal
fragen, um was für ein Schweigen es sich handelte. Diese Frage
bringt ihrerseits zwei weitere Fragen mit sich. So gilt es, sich über
den Begriff des „Schweigens“ in Heideggers Denken zu verstän-
digen sowie das Schweigen im Denken der auf die Shoah unmit-
telbar folgenden Jahre zu betrachten. Das verlangt, dass man
sowohl von dem Verbot, das Adorno den Dichtern auferlegte, als
auch und vor allem von der Begegnung zwischen Celan und Heid-
egger spricht.
Während die Dichter versuchten, das Schweigen der Opfer in
ihren Versen zu artikulieren, während die Historiker die Beweise
der Vernichtung sammelten und die Juristen sich mit Verbrechen
befassten, die scheinbar über jede Strafbarkeit hinausgingen,
schwiegen die Philosophen. Diese Sprachlosigkeit ist eine Wunde
der Philosophie. Der „Schwindel“, den die Shoah aufgerissen
hatte, erwies sich als abgründig. 31 Zur Schwierigkeit der vom
Übermaß des Monströsen gelähmten Einbildungskraft kam noch
diejenige des Denkens hinzu, das den Übergang vom Narrativen
der Erinnerung zum philosophischen Begriff kaum vollziehen
konnte. Das Nachdenken über das radikale Böse erschütterte die
Philosophie, die sich bewusst war, vor das Gericht der Geschichte
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Dem Schweigen nachgeben? 279
geladen zu sein. Wenn die Philosophen auch nicht auf der Ankla-
gebank der Nürnberger Prozesse saßen, so war doch allen klar,
dass auch die Philosophie sich ihren eigenen Nürnberger Prozess
stellen musste. Gerade deshalb wurde die Shoah so lange vom
philosophischen Diskurs ignoriert.32
Einige verlangten, alles durch Ursachen und Wirkungen zu er-
klären, in der Hoffnung, wieder den Triumph des Lichtes der
Vernunft über die Dunkelheit verkünden zu können; andere wa-
ren überzeugt, dass Auschwitz ein unergründliches und unsagba-
res Geheimnis war.
Adorno war nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen
Exil einer der ersten, die das Schweigen brachen, um es paradox-
erweise mit einem philosophischen Verdikt erneut zu verordnen:
„nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“.33 Der
Kritiker in den Kleidern des Anklägers, also auch der Dichter, sei
am Ende Komplize gewesen und habe, indem er durch eine ästhe-
tisierende Darstellung vom Grauen ablenkte, am Weben des
Schleiers mitgewirkt. Keineswegs verschleiert aber war der Bezug
zu Heidegger, den Adorno von Anfang an kritisierte. Doch sein
1949 verfasster und 1951 veröffentlichter Aufsatz gab Anlass zu
vielen Missverständnissen. Sein Verdikt wurde schließlich zum
Fetisch der Undarstellbarkeit von Auschwitz. Die Reaktionen
ließen nicht auf sich warten; nicht nur Dichter und Schriftsteller,
sondern auch Philosophen wie Günther Anders äußerten sich zur
Sache.34
Zu dieser Zeit war in Deutschland bereits eine Elegie erklun-
gen, die in ihrer fürchterlichen Schönheit kristallklar von der
Nacht sprach: es handelte sich um das Gedicht Todesfuge von Paul
Celan. Jene hämmernden und unerbittlichen Verse treiben einen
frenetischen Rhythmus an, der an die Musik der Lagerorchester
erinnert. Das Gedicht setzt das „goldene Haar“ Margaretes und
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280 Nach Auschwitz
das „aschene Haar“ Sulamiths, Goethes „Faust“ und das Schir ha
Schirim, das Lied der Lieder, einander entgegen – und in der Mitte
steht Heine. 35 Das Gedicht wiederholt obsessiv das tragische
Ende des deutschen Judentums.
Dachte Adorno an Todesfuge, als er seinen lapidaren Spruch
formulierte? Celan war sich sicher. Er fühlte sich zutiefst ent-
täuscht. Er hatte in Adorno viele Hoffnungen gesetzt. In ihm sah
er den Freund Benjamins und Scholems; mit ihm wünschte er,
eine Freundschaft schließen zu können, um gemeinsam über die
Abwege des deutschen Gedächtnisses zu wachen. Vor allem er-
wartete er sich von ihm ein Buch über sein Werk, das Adorno
niemals schrieb. Denn dieses blieb Adorno fremd. Er verstand
seine politische Bedeutung nicht, übersah die Umkehrung seines
eigenen Verbots, die Peter Szondi später so formulierte: „die
Aktualisierung der Vernichtungslager nicht allein das Ende von
Celans Dichtung, sondern zugleich deren Voraussetzung“.36
Celans Verhältnis zu Adorno erwies sich nicht nur als enttäu-
schend, sondern auch als unerfreulich. Adorno hatte den Namen
seines Vaters Wiesengrund, das wenige Jüdische, das ihm geblie-
ben war, in der Abkürzung „W.“ verheimlicht. Celans Missbilli-
gung dieser Verheimlichung klingt in den Versen eines Gedichts
nach, das er im Januar 1965 verfasste: Mutter, Mutter. Die neuen
Angreifer schrieben „in der neu und gerecht zu verteilenden Un-
menschlichkeit Namen“, und sie schrieben „nicht ab-[gründig],
nein“, sondern „wiesen-gründig“ – nicht wie über einem Heid-
eggerschen Abgrund, sondern wie über einem Adornoschen
Wiesengrund.37
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Dem Schweigen nachgeben? 281
Was aber konnte Celan mit dem Philosophen gemeinsam ha-
ben, der in einem Jargon der Eigentlichkeit redete? 38 Das, was ihn
von Adorno trennte, zog ihn bei Heidegger an: die Sprache. Wie
konnte das Unsagbare gesagt werden? Das war die Frage nach
Auschwitz. Wie konnte man die „Majestät des Absurden“ artiku-
lieren, ohne in eine banalisierende Sublimation zu fallen, aber auch
ohne sie in einer gefährlichen Mystik des Nichts zu bannen?39
Celan stand zwischen zwei sehr verschiedenen Schweigen: dem
von Adorno, das dem Dichter Schweigen aufzwang, und dem von
Heidegger, das ihm enigmatisch und unentzifferbar vorkam.
Celans Bibliothek, deren Katalog vor kurzem veröffentlicht
wurde, enthält 33 Bände von Heidegger, alle mit Anmerkungen
versehen. 40 Celan suchte in diesen Texten nicht nur Heideggers
Gedanken über die Dichtung, sondern auch über die Verbindung
von Sprache und Schweigen: „Schweigen heißt aber nicht stumm
sein“. „Wer [...] schweigt, kann eigentlicher zu verstehen geben,
das heißt das Verständnis ausbilden, als der, dem das Wort nicht
ausgeht“.41 Schon in Sein und Zeit hatte Heidegger hervorgehoben,
dass das Schweigen eine „wesenhafte Möglichkeit des Redens“
sei.42 Auch später, sowohl in den Nietzsche-Vorlesungen, im Kom-
mentar zu Hölderlins Hymne „Der Rhein“, wie in den Beiträgen zur
Philosophie (zwei Texte, die Celan nicht kennen konnte) weist Heid-
egger darauf hin, dass „die Sprache im Schweigen“ gründe.43 So
unterscheidet er zwischen einem Verschweigen, einem Geheimhal-
ten und Vorenthalten, das auch ein Unterschlagen und Verbergen
ist, und einem Erschweigen, das ein Nicht-Gesagtes bewahrt, es
offen lässt und dem Wort des Anderen übergibt.
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282 Nach Auschwitz
Aus seiner Lektüre von Sein und Zeit hatte sich Celan viele Wör-
ter gemerkt. Ihm war das Wort „Verlautbarung“ aufgefallen.
Heidegger schreibt: „Im konkreten Vollzug hat das Reden den
Charakter des Sprechens, der stimmlichen Verlautbarung in Wor-
ten“.44 Darin fand er seine eigene Arbeitet verdichtet. Er teilte mit
dem Philosophen unter anderem das Streben, dorthin zurückzu-
gehen, wo die Sprache im Abgrund des Schweigens versinkt – um
den Abgrund zu überschreiten. Heideggers Weg zur Sprache
schien ihm den Ausweg aus der „Enge“ aufzuschließen. Doch
Celan ging es darum, nicht einen Ursprung zu erreichen, sondern
die Wunde erscheinen zu lassen, das Würgen zu artikulieren, an
dem die Opfer zu ersticken drohten. Darin bestand sein Ringen
mit dem Deutschen. Es ging um das Deutsche, um den Abstieg in
die Todessprache, darum, das deutsche Wort, das unvordenkliche
Echo der Mutter wieder ans Licht zu bringen. Von dort aus wollte
Celans Dichtung wieder anfangen zu sprechen – vom Abgrund
des Himmels, von den Luftgräbern da oben, von Auschwitz.45
Deshalb ist sein Wort ein „er-schwiegenes“ Wort. 46 Indessen
ist das Schweigen eine „Tracht“ und kann ein „Stoß“ werden:
„Der Schweigestoß gegen dich,/ die Schweigestöße“.47 Der Dich-
ter spricht „in die Stille“ hinein, er bricht das Schweigen, schneidet
es ein. Ihm kommt keine Ursprünglichkeit, keine ursprüngliche
Kreativität zu. Er beansprucht für sich die „Reproduktivität“,
Anklagepunkt gegen die Juden. Sein Dienst ist der des „Fergen“,
des Fährmanns. 48 Dieser Fergendienst macht aus dem Dichten
Heidegger. In: Heidegger und die Literatur. Hrsg. von G. Figal und U.
Raulff. Klostermann Verlag: Frankfurt am Main 2012, 17-34.
46 P. CELAN: Argumentum e silentio. In: Ders.: Gesammelte Werke in
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Dem Schweigen nachgeben? 283
mehr ein Übersetzen als ein Schöpfen. Denn der Dichter setzt
von Ufer zu Ufer über. Er übersetzt das Schweigen der Ver-
stummten und erlöst es. So wie die des Fährmanns ist die Arbeit
des Dichters eine messianische. Sein Wort entsteht nicht aus ei-
nem „Entsprechen“ auf den Zuspruch der Sprache – so wie Hei-
degger es suggeriert.49 Indessen ist es ein „Gegen-Wort“, ein Wort
gegen diejenigen, die verneinen oder verschweigen. Dieses Wort
trägt in sich die Wunde, aus der es ausgebrochen ist, indem es das
erstickte Stammeln reartikuliert und jenes Würgen wie ein Wund-
mal in die deutsche Sprache einschreibt.
Der beinahe vernichtete Atem wird zum Wort. Nach
Auschwitz ist Dichtung diese Umkehrung. „Dichtung: das kann
eine Atemwende bedeuten“. 50 Die Inversion ist vor allem eine
Subversion, eine Revolte. „Atemwende“ heißt also Revolution des
Atems. So ist die Dichtung dieser Übergang vom Verzicht des
Schweigens zur messianischen Kühnheit der Sprache.
Heidegger war vor allem von Celans Atemwende fasziniert,
von seiner Art, die Dichtung als den „Aufbruch“ zu verstehen. Er
studierte eingehend sein Werk und schätzte es hoch. Später lud er
ihn nach Freiburg ein. Wenn der Dichter ihm so am Herzen lag,
war das Motiv sicher die Shoah. Sie trafen sich häufiger. Ihre
komplexe Beziehung entfaltete sich über fast zwanzig Jahre. Ihre
Begegnung in Todtnauberg am 25. Juli 1967 ist von vielen als
epochal betrachtet worden. Am Tag davor las Celan an der Frei-
burger Universität vor mehr als tausend Hörern aus seinen Ge-
dichten. In der ersten Reihe saß Heidegger. Daraufhin stiegen sie
zusammen in den Schwarzwald hinauf. Ihr Gespräch an diesem
Morgen ist von Geheimnis umgeben. Auf einer Seite des Hütten-
buchs notierte Celan: „Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den
Brunnenstern, mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort ins
Herzen. Am 25. Juli 1967 / Paul Celan“.51 Einige Tage später, am
1. August 1967, schrieb er sein berühmtes Gedicht Todtnauberg.
Danach trafen sie sich erneut. Im Sommer 1970 wünschte Hei-
degger, den Dichter zur Quelle der Donau, in seine von Hölderlin
49 GA 7, 194.
50 P. CELAN: Der Meridian. A.a.O., 195.
51 Vgl. O. PÖGGELER: Spur des Wortes. Zur Lyrik Paul Celans. Alber:
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284 Nach Auschwitz
besungene Lieblingslandschaft bringen zu können. Doch einige
Monate davor, am 20. April 1970, nahm Celan sich das Leben.
Heidegger sprach von Auschwitz niemals in der Öffentlich-
keit.52 Niemand konnte ihn zu bewegen, weder seine Schüler noch
seine Kollegen. Auch Bultmann hatte es vergeblich versucht.
Celan war sich sicher, dass gerade das Wort des Philosophen, mit
dem er seinen Irrtum eingeräumt hätte, unerlässlich gewesen wäre,
um gegen einen neuen Neonazismus und Antisemitismus anzuge-
hen. Gerade Heidegger hätte mehr als andere eingreifen sollen.
Die Idee, Heidegger dazu überreden zu können, trieb Celan um.
Hat die „Scham“ Heidegger daran gehindert, wie er einmal Jas-
pers gestand?53 War es das Schuldgefühl? Die Bestürzung gegen-
über dem Übermaß des Verbrechens, für das dem Denker die
vorstellungskraft fehlte? Hat er sich in das Schweigen eingewi-
ckelt, weil er – wie Derrida vermutete – sich der Unmöglichkeit
bewusst war, ein dem Geschehnis ebenbürtiges Wort zu finden?54
In den Schwarzen Heften nach 1945 spricht Heidegger häufiger
vom „Schweigen“. Er weist damit auch auf sein eigenes hin. So
stellt er seine Distanz zur „Öffentlichkeit“ polemisch dar: „das
öffentliche Geschwätz nicht mehr mitmachen – das ist noch gar
nicht schweigen“. 55 Und weiter: „Verstummen möchte ich noch
nicht. Aber schweigen ist not“. 56 Während er die sogenannte
„Diktatur der Öffentlichkeit“ denunziert, hält er die Zeit für sein
Wort, für das, was er zu sagen hat, noch nicht für gekommen.57 In
dieser Hinsicht ist er deutlich: „Das rechte Schweigen verschweigt
weil dort eine jüdische Frau wohnte, sondern weil ich mich einfach
schämte“. Brief an Jaspers vom 7. März 1950. In: M. HEIDEGGER – K.
JASPERS: Briefwechsel 1920 – 1963. A.a.O., 196.
54 J. DERRIDA: Heideggers Schweigen. In: Antwort. Martin Heidegger
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Die „Fabrikation von Leichen“ und die ontische Indifferenz 285
auch noch sich selber. Darum redet es zu Zeiten, und sei es nur in
der Sage der Schrift“.58
Was Heidegger sagen musste und wollte, hat er in den Schwar-
zen Heften gesagt. Sie zerreißen den Schleier seines angeblichen
Schweigens. Sie beseitigen einen großen Topos der Philosophie
des 20. Jahrhunderts: Heideggers Schweigen über die Shoah. Cel-
ans „Hoffnung“ aber wurde ein für allemal enttäuscht. Trawny
schreibt: „Heideggers Denken schweigt vom nicht zu verschwei-
genden Ereignis. Wenn das Schweigen, Verschweigen, Tote noch
einmal töten kann, dann hat Heideggers Schweigen diesen dun-
kelsten Schatten auf dieses Denken gelegt.“59
Ich habe lange über das nachgedacht, was Sie mir bei meinem Besuch in
Todtnauberg gesagt haben [...]. Ich will nicht an Ihren Worten zweifeln.
58Ebd., 363.
59P. TRAWNY: Celan und Heidegger. Noch einmal. In: Heidegger, die
Juden, noch einmal. Hrsg. von P. Trawny und A. Mitchell. Klostermann
Verlag: Frankfurt am Main 2015, 233-251, hier 251.
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286 Nach Auschwitz
Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß Sie sich 1933-34 so stark mit dem
Regime identifiziert haben, daß Sie heute noch in den Augen vieler als
einer der unbedingtesten geistigen Stützen des Regimes gelten. [...] Viele
von uns haben lange auf ein Wort von Ihnen gewartet [.... Sie haben ein
solches Wort nicht gesprochen ... Ich – und sehr viele andere – haben Sie
als Philosophen verehrt und unendlich viel von Ihnen gelernt [...]. Ein
Philosoph kann sich im Politischen täuschen – dann wird er seinen Irr-
tum offen darlegen. Aber er kann sich nicht täuschen über ein Regime, das Milli-
onen von Juden umgebracht hat – bloß weil sie Juden waren.60
Marcuse erwidert seinerseits am 13. Mai 1948, nicht ohne auf das
incipit „20.1.“, auf das Datum hinzuweisen, das sein Lehrer viel-
leicht unbewusst verwendete. Marcuse erinnert daran, dass am 20.
Januar 1942 die Wannseekonferenz stattgefunden hatte:
Wir haben diese Verhältnisse sehr genau gekannt – vielleicht sogar besser
als die Menschen in Deutschland. [...] Wir wussten, und ich selbst habe es
noch gesehen, daß der Beginn schon das Ende enthielt [...]. Sie, der Philo-
soph, haben die Liquidierung des abendländischen Daseins mit seiner
Erneuerung verwechselt? [...] Sie schreiben, daß alles, was ich über die
Ausrottung der Juden sage, genauso für die Alliierten gilt, wenn statt
„Juden“ „Ostdeutsche“ steht. Stehen Sie nicht mit diesem Satz außerhalb
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Die „Fabrikation von Leichen“ und die ontische Indifferenz 287
der Dimension, in der überhaupt noch ein Gespräch zwischen Menschen
möglich ist – außerhalb des Logos? Denn nur völlig außerhalb dieser
„logischen“ Dimension ist es möglich, ein Verbrechen dadurch zu erklä-
ren, auszugleichen, zu „begreifen“, daß Andere so etwas ja auch getan
hätten. Mehr: wie ist es möglich, die Folterung, Verstümmelung und
Vernichtung von Millionen Menschen auf eine Stufe zu stellen mit einer
zwangsweisen Verpflanzung von Volksgruppen, bei der keine dieser
Untaten vorgekommen ist?63
A.a.O., 186. Auch Nolte teilt die Meinung von Ott. Vgl. E. NOLTE: Mar-
tin Heidegger. Politik und Geschichte im Leben und Denken. A.a.O.,
220. Heideggers Stellung ist von Pöggeler verteidigt worden. O. PÖGGE-
LER: Auschwitz. In: Ders.: Heidegger in seiner Zeit. A.a.O., 213 ff.
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288 Nach Auschwitz
schen Konflikts (egal, ob Millionen von ihnen umgebracht wur-
den), die Deutschen aber die Besiegten. Die Deutschen kämpften
heroisch, die Juden betrügerisch. Es seien die Deutschen gewesen,
die in erster Linie Opfer der militärischen Operationen der Alliier-
ten wurden. Indem Heidegger von den „Ostdeutschen“ spricht,
bezieht er sich womöglich auch auf die Phosphorluftangriffe auf
Dresden. Sieger und Besiegte seien sozusagen nicht endgültig
festzustellen. Die narrative Strategie, die in jenen Jahren sehr
verbreitet war, hatte auch den Vorteil, den Nebel zu bewahren,
der noch die Vernichtungslager und vor allem die Gaskammern
einhüllte.66
Es gilt zu betonen, dass die Vernichtung der europäischen Ju-
den in der Nachkriegszeit als eines unter vielen Ereignissen der
Zerstörung erschien. Während die Überlebenden schweigen und
die Verfolger von der Verdrängung profitieren, ist das europäische
Bewusstsein weiterhin nicht imstande, in den Abgrund der Endlö-
sung zu blicken. Die unvergleichlichkeit von Auschwitz wird mit
den anderen Verbrechen vermischt und so verdünnt.67
Dabei spielt Hannah Arendt eine entscheidende Rolle. Sie ahnt,
was geschehen ist: der industrialisierte Massenmord, und spricht
66 Anfangs entzogen sich die Deutschen der Auseinandersetzung mit
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Die „Fabrikation von Leichen“ und die ontische Indifferenz 289
schon 1946 von „Todesfabriken“. 68 Einerseits erkennt sie, dass
der Zweck der Lager in der „Transformation der menschlichen
Existenz“ besteht.69 Andererseits erscheint ihr die Vernichtung als
Epilog zum technischen Geist der Zeit, als Moment der bürokra-
tischen Weltorganisation, in der sich der Totalitarismus durchge-
setzt hatte. Gerade der Begriff des Totalitarismus, in dem Arendt
den Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus und Stalinis-
mus zu entdecken glaubt, als seien sie die zwei Seiten desselben
Phänomens, hindert sie daran, den kategorialen Unterschied zwi-
schen dem Konzentrations- und dem Vernichtungslager zu erfas-
sen. So betrachtet sie das Vernichtungslager lediglich als eine
verschärfte Variante des Konzentrationssystems.
Im Dezember 1949 wird Heidegger eingeladen, eine Vortrags-
reihe im Rathaussaal der Freien Hansestadt Bremen zu halten. Die
Vorträge haben die Überschriften: Das Ding, Das Gestell, Die Ge-
fahr, Die Kehre. Heidegger erörtert vor einem ihm treu ergebenen
Publikum, das sich wünscht, von der Komplizenschaft mit dem
Nationalsozialismus nichts mehr hören zu müssen und stattdessen
die aktuelle Lage des „Kalten Kriegs“ zu besprechen, die Frage
der Technik. Er präsentiert den Begriff des „Gestells“; ein Begriff,
der die Rezeption von Heideggers Spätphilosophie stark beein-
flusst hat. 70 Der esoterische Begriff des „Gestells“ machte in
Deutschland die Runde. Heidegger hat ihn in seinem berühmten
Münchner Vortrag von 1953 über die Technik weiter entwickelt.
Mit seinem orakelhaften Stil beschreibt er die beunruhigende
Bedrohung, die die Technik nicht nur für den Menschen, sondern
auch für die Natur darstellt. Sogar die „Feldbestellung“ sei „in den
Sog eines andersgearteten Bestellens geraten“; der Ackerbau sei
68 H. ARENDT: Das Bild der Hölle. In: Nach Auschwitz. Essays und
Kommentare. Hrsg. von E. Geisel und K. Bittermann. Tiamat: Berlin
1989, 49-62, hier 50
69 H. ARENDT: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. A.a.O,
940.
70 Über die Bremer Vorträge siehe W. PETZET: Auf einen Stern zuge-
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290 Nach Auschwitz
zur „motorisierten Ernährungsindustrie“ geworden. 71 Die 1954
erstmals publizierte Druckfassung des Vortrags unterschlägt je-
doch, was Heidegger in Bremen hinzugefügt hatte:
71 GA 7, 6-36, hier 16. Der Text des Aufsatzes Die Frage nach der
Technik ist die erweiterte und überarbeitete Version des Vortrags Das
Gestell.
72 GA 79, 24-45, hier 27. Über die Modifikationen dieser Stelle, die in
the Victim. In: The Heidegger Case: On Philosophy and Politics. Hrsg.
von T. Rockmore und J. Margolis. Temple University Press: Philadelphia
1992, 265-281.
75 T. W. ADORNO: Negative Dialektik. Suhrkamp: Frankfurt am Main
1966, 353.
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Die „Fabrikation von Leichen“ und die ontische Indifferenz 291
unkontrollierbaren Getriebe. Wer den Vergleich zurückweist,
ignoriert die Logik der Sache. Er weicht dem aus, was die Provo-
kation zu denken geben will. Er verschließt die Augen vor der
Gefahr.
Der Aufruf zum Denken ist ambivalent: Einerseits kann Heid-
egger für sich beanspruchen, die Vernichtung bedacht zu haben;
andererseits scheint es, dass derjenige, der seiner Spur nicht folgen
will, das Phänomen in seiner Tiefe nicht begreifen kann. Wie in
den Schwarzen Heften, so geht Heidegger auch hier von einer Abs-
traktion aus, die von der Seinsgeschichte diktiert wird. Vom „We-
sen“ der Technik her gesehen werden die einzelnen Erscheinun-
gen unwesentlich. Das ist das Ergebnis einer verschärften und
erstarrten ontologischen Differenz: Die Seinsgeschichte trennt
sich von geschichtlichen und politischen Geschehnissen, die an
eine ontische Indifferenz ausgeliefert werden. Einzig die Ent-
fremdung des Daseins vom Sein zählt. Und so wie der Jude, dieser
Entfremdung bezichtigt, fallen gelassen wird, so wird die Vernich-
tung im nivellierenden und anästhetisierenden Blick des Seinsphi-
losophen zu einer Erscheinung wie jede andere. Sie wird ontisch
indifferent.
In der Seinsgeschichte gibt es keinen Platz für den Schrei der
Opfer. 76 Es gibt keinen Platz für das Trauma. Es scheint, als
schreite die Seinsgeschichte unerschütterlich fort, metaphysisch
gerichtet in einer Kontinuität mit Nietzsche, mit Hegel und sogar
mit Platon.77 Hier liegt der Grund von Heideggers ontologischer
Gleichgültigkeit gegenüber der Shoah. Wenn erst einmal das Ge-
stell entdeckt ist, erweist sich die Vernichtung philosophisch als
irrelevant.78 Wenn Heidegger das Unvergleichliche von Auschwitz
76 Vgl. R. J. SHEFFLER MANNING: The Cries of Others and Heidegger’s
Ear: Remarks on the Agriculture Remark. In: Martin Heidegger and the
Holocaust. Hrsg. von A. Milchman und A. Rosenberg. Humanity Books:
New York 1996, 19-30.
77 Wie Derrida in Bezug auf den „Geist“, so hat Bret Davis im Begriff
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292 Nach Auschwitz
erblickt hätte, wenn er es als das traumatische Ereignis der euro-
päischen Geschichte anerkannt hätte, dann hätte er es als den
entscheidenden Trümmer-Bruch der Seinsgeschichte deuten kön-
nen. Doch vor seinem nächtlichen Horizont, der nur vom fernen
Licht des Morgen-Landes erleuchtet wird, darf kein ontisches
Geschehen in das Geschick Seins eingreifen, nicht einmal der
Untergang des Humanen.
Wenn die Judenfrage metaphysisch ist, dann ist es auch ihre Ant-
wort. Gerade deshalb kann diese Antwort nicht vorübergehend
und provisorisch sein. Die Frage muss endgültig und abschließend
beantwortet werden. Denn das Problem der Juden, das die abend-
ländische Geschichte von Anfang an bedrängt und beunruhigt
hat, muss zu einem Ende gebracht werden. Die „Endlösung“
schreibt sich als solche in ein apokalyptisches Szenario finis historiae
ein. Die Vernichtung ist nicht die Ausstoßung aus den geographi-
schen Grenzen, sondern die Neubestimmung der Ränder der
Welt, die vollständige Ausradierung des Juden aus der Weltge-
schichte. Die Vernichtung ist das Zunichtemachen des Endes
selbst. Alles muss in die absolute Vergessenheit verdrängt werden.
Das Massaker wird deshalb im Zeichen einer Vernichtung ver-
übt, die keine Spur hinterlassen darf. Von Anfang an wird es von
Schweigen und Finsternis eingehüllt. „Nacht und Nebel“, die
Worte, die Wagners Alberich, der sich unter der Tarnkappe im
Dunkel verbergende König der Nibelungen, in einer Szene aus
Rheingold ausspricht, werden zur Sigle: NN-Aktion, NN-Transport,
NN-Häftling. Die Worte werden zur Bezeichnung des spurlosen
Verschwindens der Opfer.79 NN besagt also nicht nur „Nacht und
Nebel“, sondern auch „Nichts“.
Das bellum judaicum verläuft hinter den Kulissen der Politik und
der Geschichte. Es vollzieht sich in der Stille, übertönt vom Ge-
79 Der Filmregisseur Alain Resnais wählte diesen Spruch als Titel eines
Kurzfilms. Dieser Film war der erste, der in Auschwitz gedreht wurde.
Resnais besuchte Heidegger nach dem Krieg. R. SAFRANSKI: Ein Meister
aus Deutschland. A.a.O., 387.
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Das ontologische Massaker. Parmenides und Auschwitz 293
räusch der anderen Kriege, wie ein leises Verbrechen im Herzen
Europas. Welche Art Feinde sind die Juden? Und was für ein
Krieg wird gegen sie geführt? Sie sind Feinde, denen man eine
Würde, die auch im Krieg beherzigt wird, vorenthält. Sie stehen
nicht im Licht der offenen Auseinandersetzung. Ihnen wird keine
militärische Ehre erwiesen. Indem sie in den Bereich einer „Men-
schentümlichkeit“ versetzt werden, geraten sie in eine Spähre
diesseits und jenseits des Menschlichen. So eliminiert man die
Juden im Namen ihrer Nicht-Zugehörigkeit zur „Menschengat-
tung“. 80 Die Szene der Vernichtung ist nicht die tragische und
heroische Szene der Kriegsfront, sondern es ist die von einem
fahlen Licht beleuchtete niederträchtige Szene, in der Abfälle
liquidiert werden. Es handelt sich um eine Industrieszene, um
einen technischen Akt der Produktion am Fließband. Weder wer-
den konventionelle Waffen benutzt, noch agieren Armeen. Man
greift auf Gas zurück, das in einer Operation der Entsorgung des
Überflüssigen und Unsauberen, des „im-mondo“, des Weltlosen,
verabreicht wird.
Das Unmenschliche durchdringt und kennzeichnet das Massa-
ker, das ohne Blutvergießen geschieht. Das metaphysische Wesen,
in dem man das Arcanum des Judentums zu fassen vermeint, und
das das Todesurteil der Juden bestimmt, spielt in der Liquidation
paradoxerweise keine Rolle. Es fließt kein Blut, als würde darauf
hingedeutet, dass diejenigen, die eliminiert werden, keine lebendi-
gen, sondern unwesentliche Wesen sind, immer schon wegen ihrer
„Andersartigkeit“ ins Nicht-Sein versetzt.
Das ontologische Massaker versiegelt dieses Nicht-Sein in einer
metaphysischen Stille. Nach ihrer Absonderung in die Unsicht-
barkeit werden die Unwesentlichen vernichtet. Sie wissen von
ihrer Vernichtung nichts, werden bis zur Gaskammer belogen.
Von der „Empfangszeremonie“, d.h. von den Schlägen und Be-
leidigungen für die aus den Waggons mehr fallenden als steigen-
den Menschen, bis hin zur bürokratischen „Entwesung“ verheim-
lichen Euphemismen, die krude und abscheuliche Obszönitäten
verbergen, die Vernichtung. Die Lüge gehört zum Urteil, das über
die Juden gefällt wird, da sie selbst die Lügner par excellence sind:
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294 Nach Auschwitz
stets fingierten sie, etwas zu sein, das sie nicht waren. Im Nicht-
Sein des Juden hallt bedrohlich die Vernichtung wider. Die unzäh-
ligen, scheinbar harmlosen und auch von Philosophen geprägten
Metaphern werden in der Endlösung buchstäblich genommen.
Dieses Buchstäblich-Nehmen ist dann die Arbeit der Henker in
der bürokratischen Lagerorganisation.
Die Vernichtung, die keiner Logik, sei sie politisch, ökono-
misch, gesellschaftlich oder militärisch, gehorcht, entspricht der
Ontologie. Sie ist in die Geschichte der abendländischen Meta-
physik eingeschrieben. In diesem Sinn pointiert Lacoue-Labarthe:
„Die Apokalypse von Auschwitz hat nicht mehr und nicht weni-
ger enthüllt als den Grund (essence) des Abendlandes“.81
Man muss sich hüten, die Verantwortung für alle ethisch-
politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit einer gewissen
Unbefangenheit auf die „abendländische Metaphysik“ zu bezie-
hen.82 Im Sinne der Schwarzen Heften scheint Auschwitz allerdings
mit der Seinsvergessenheit zusammenzuhängen. Es könnte daher
auch gerechtfertigt sein, die Katastrophe mit zwei Schwellen zu
verbinden: mit der, die im Gedicht des Parmenides geschildert
wird, sowie mit derjenigen, von der Primo Levi bei seiner Ankunft
in Auschwitz spricht:
Dort ist das Tor der Wege von Nacht und Tag, und ein Türsturz um-
schließt es und eine steinerne Schwelle.83
Dann blieb der Lastwagen stehen, und man erkannte ein großes Tor und
darüber die grell beleuchtete Schrift (die mich heute in meinen Träumen
bedrängt): ARBEIT MACHT FREI.84
1974, 11. In einem Brief an Jaspers vom 12. August 1949 hebt Heidegger
die Kontinuität seines Denkens mit dem eînai des Parmenides hervor.
Vgl. M. HEIDEGGER – K. JASPERS: Briefwechsel 1920 – 1963. A.a.O., 181.
84 P. LEVI: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. Dtv:
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Das ontologische Massaker. Parmenides und Auschwitz 295
Warum also Parmenides in Auschwitz? Was verbindet seine
Fragmente mit Levis Zeugnis? Es gibt eine suggestive Verwandt-
schaft. 85 Der Weg, den Levi einschlagen muss, nachdem er die
Schwelle überschritten hat, erinnert an den Weg, den die Moira
untersagt, den Weg des Nicht-Seins.
In den Fragmenten des Parmenides, die Heidegger mehrmals
kommentiert hat, werden drei Wege unterschieden: der Weg, der
sagt, ésti, dass „es ist“, der Weg des Seins; der Weg, der sagt, ouk
ésti, dass es „nicht ist“, der Weg des Nicht-Seins; schließlich der
Weg der Sterblichen, die sprechend Sein und Nicht-Sein vermi-
schen und daher außerhalb der Wahrheit leben. Der zweite Weg
ist nicht erforschbar, da er nicht einmal begehbar ist: Das „nicht
ist“ existiert nicht und darf deshalb strenggenommen weder ge-
dacht noch gesagt werden. Parmenides verschanzt sich hinter dem
einzigen möglichen lógos: ésti, ist.
Um den lógos und damit auch die Philosophie zu retten, begeht
Platon den berühmten Vatermord. Dabei ergreift nicht zufällig der
„Fremde aus Elea“ das Wort, der gegen Parmenides zeigt, dass
das Nicht-Sein auf eine gewisse Weise ist. Denn sagen, dass etwas
„nicht ist“, heißt nicht notwendig, dass es nicht existiert, sondern
dass es etwas anderes ist: „Wenn wir Nicht-Sein sagen, so meinen
wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes des Seins, sondern
nur ein Anderes“.86 Von der absoluten Negativität, von der Nicht-
existenz des negativen Nichts, geht man zur Negativität über, die
auf das Andere und auf die Existenz des Anderen, héteron, ver-
weist. Es handelt sich um einen epochalen Übergang: Durch die
85 Ich schulde diese Suggestion dem Buch von Dorra, von dem ich
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296 Nach Auschwitz
Enteignung der Identität des Seins erscheint das Anders-Sein in
der Philosophie. Das ist das Verdienst des subversiven Fragens
des Fremden aus Elea. Doch das Sein des Parmenides bleibt im
Hinterhalt, ständig bereit, als Substantiv – großgeschrieben und
mit Artikel – seine Rolle zu spielen. 87 Dieses Sein, das vergisst,
nichts anderes zu sein als ein bloßes Verb, verhindert die Aner-
kennung des Anderen und droht, ihn zum Nicht-Sein zu verurtei-
len, um sich selbst zu reinigen.
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„Sterben sie? Sie kommen um. Sie werden liquidiert…“ 297
bleibt.89 Gerade die Flucht vor dem Tod aber offenbart, dass die
empirische Dimension des Todes irrelevant ist, dass es eine exis-
tenziale Gewissheit des Todes gibt. Darum ist es möglich, sich
von seinen Illusionen zu befreien und den Tod gleichsam vorweg-
zunehmen – das ist der Weg, um zu sich selbst zu kommen, um
eigentlich zu sein. Es geht deshalb darum, den Tod nicht bloß als
das Ereignis zu betrachten, das den Lauf des Lebens beendet, das
seine Grenze bemisst. 90 Der Tod begleitet das Dasein immer:
Jeder Mensch ist immer schon alt genug, um zu sterben, ja, er
existiert immer schon gleichsam sterbend. Die Beziehung zu die-
ser äußersten Möglichkeit des Daseins – das Sein-zum-Tode –
erlaubt dem Dasein, seine Endlichkeit zu übernehmen. Nun
schaut es auf das Ganze seiner Möglichkeiten, kommt auf sich
selbst zurück und entwirft sich auf seine Zukunft. Dann existiert
das Dasein eigentlich. Die „Sterblichen“, so Heidegger, sind dieje-
nigen, die – wie Hölderlin sagt – nicht bloß wie die Tiere veren-
den, sondern sterben. 91 Der Tod des Menschen ist kein bloßes
Ableben.
„Ich darf wohl als bekannt voraussetzen, daß der Lagerhäftling
nicht Tür an Tür, sondern im selben Raume mit dem Tode leb-
te“. 92 In seinen Reflexionen über das eigentümliche Phänomen
des Todes im Vernichtungslager, zeigt Jean Améry den Zusam-
menbruch der „ästhetischen Todesvorstellung“ auf, indem er
Heideggers Konzeption des Seins-zum-Tode kritisiert.93 Im Lager
befasste sich der Häftling nicht mit dem Tod, sondern mit dem
Sterben. Der freie Mensch kann an den Tod denken, ohne not-
wendig vom Sterben bedrückt zu werden. Im Lager war das un-
möglich: „Das Sterben war allgegenwärtig, der Tod entzog sich“.94
Man existierte täglich für den Tod oder, besser, für das Getötet-
Sein. Man lebte mit der Angst, im Gas zu ersticken. Zugleich war
jeder des Todes beraubt.
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298 Nach Auschwitz
Primo Levi schrieb einmal: „Man zögert, sie als Lebende zu be-
zeichnen; man zögert, ihren Tod […] als Tod zu bezeichnen“.95 In
den Lagern ist nicht nur das Leben kein Leben, sondern auch der
Tod kein Tod mehr. Um aber den Angriff auf die Würde des
Todes zu verstehen, ist es an dieser Stelle nötig, Heidegger hinzu-
ziehen. Er hat, so paradox es auch erscheinen mag, die ontologi-
schen Koordinaten zu einer solchen Deutung angeboten. Die
Vernichtung ist eine Produktionsanordnung, eine „Fabrikation
von Leichen“ gewesen, in der der Tod auf ein Verenden reduziert
wurde:
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Das Gestell, die Technik, das Verbrechen 299
„letzten Ruhe“ übergeben werden soll, gehört zum ethischen
Gemeingut der Menschheit. Der abscheuliche Geruch, der von
den Krematorien ausging, ist das Zeichen der äußersten Schande,
die Auschwitz der Würde der Sterblichen zugefügt hat.
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300 Nach Auschwitz
Vor dem Hintergrund des Lagers wird die Entmenschlichung
eines Wesens geschildert, das Heidegger „unmenschlich“ nennt, um
darauf hinzudeuten, dass es sich trotz aller Vergegenständlichung
nicht zur Maschine wandeln kann. Er sagt: „Männer und Frauen
müssen sich zu einem Arbeitsdienst stellen. Sie werden bestellt.
Sie werden von einem Stellen betroffen, das sie stellt, anfordert.
Einer stellt den anderen. Er hält ihn an. Er stellt ihn.“102
Heidegger lässt das Gestell und sein Funktionieren erscheinen.
Obwohl er das Tor des Lagers nicht öffnet, wirft er Licht auf ein
Stellen, von dem das Lager regiert wird. Auf diese Weise veran-
schaulicht er den komplexen Zusammenhang zwischen Technik
und Shoah (aber auch zwischen Technik und Nationalsozialismus,
zwischen Shoah und Metaphysik). 103 Während aber das Gestell,
das das Lager ontologisch bestellt und darin seine äußerste Form
findet, allmählich durchschaubarer wird, verliert Heidegger die
ontischen Unterschiede aus den Augen. Sie könnten seine ontolo-
gischen Erörterungen beeinträchtigen.
Zunächst ist zu fragen, was für eine Art von Lager gemeint ist.
Ein Konzentrations- oder ein Vernichtungslager? Sowohl Heideg-
ger als auch Arendt reden zwar von „Todesfabriken“, doch der
Unterschied zwischen den beiden Lagerarten war damals noch
unbekannt. Zudem wurde er durch den Begriff des Totalitarismus
verdunkelt, der es erlaubte ein Vernichtungslager wie das von
Auschwitz mit den Straflagern an der Kolyma auf dieselbe Ebene
zu stellen. 104 Die erste Frage betrifft die Unvergleichbarkeit von
Auschwitz, die es selbst im Zusammenhang mit anderen NS-
Verbrechen zu einem Ereignis ohne Vorläufer macht. Noch heute
scheut man davor zurück, es mit anderen Genoziden zu verglei-
chen.
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Das Gestell, die Technik, das Verbrechen 301
Die zweite Frage betrifft das Thema der Banalität des Bösen,
das sich leicht in den Gedanken des Gestells einfügen lässt. Wenn
Eichmann nichts anderes als ein „Angestellter des Bestellens“ war,
kann er tatsächlich als ein Prototyp der Banalität des Bösen ange-
sehen werden. Wer aber ist dann für die Morde verantwortlich?
Hier öffnet sich eine gefährliche Lücke im Verhältnis von Täter
und Opfer. Das erklärt, warum man noch heute im Anschluss an
Heidegger und leider auch an Arendt von der Shoah als einer
bloßen Konsequenz des Gestells reden kann. Hinzutritt dann
noch die Rede von einem nicht näher zu bestimmenden Tod
Gottes in den Lagern.
Die Antwort auf die erste Frage ist die, dass der Unterschied
zwischen einem Konzentrationslager und einem Vernichtungsla-
ger, die kontinuierlich ineinander übergehen, ein qualitativer ist.
Bei beiden handelt es sich um Todesuniversen; doch der Tod
spielt eine unterschiedliche Rolle. Das System der Arbeitslager
organisiert sich hinsichtlich ihrer Zielsetzungen. In der Sowjetuni-
on wurden die Häftlinge zur Rodung ganzer Wälder, zur Erbau-
ung von Eisenbahnen und Elektrizitätsleitungen, zur Errichtung
von neuen Stadtgebieten ausgenutzt. Zentrum des Lagers war die
Arbeit; der Tod war ein vorgesehener, aber nicht programmierter
Unglücksfall. In den Vernichtungslagern war der Tod zugleich
Zentrum und Ziel. Die meisten Juden wurden von der Rampe
direkt ins Gas verbracht. Die Lagerleistung bestand in der Anzahl
der produzierten Leichen: umso mehr Kadaver Hitlers Werkstät-
ten herstellten, desto höher wurden sie geschätzt. Die Vernich-
tung der Juden war selbst noch wichtiger als die erfolgreiche
Kriegsführung. 105 Der absolute Terror produzierte nichts, da er
eben nur ein Vernichtungswerk war. 106 Die Vernichtung um der
Vernichtung willen ist in der Geschichte ohne Präzedenz. Sie
entzieht sich jeder Logik und jeder Ökonomie.
Dasselbe gilt auch für das „Verbrechen gegen die Menschlich-
keit“, ein Begriff, der später wieder aufgenommen und auf andere
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302 Nach Auschwitz
Fälle angewendet worden ist. Die Frage betrifft unmittelbar die
Philosophie. Der Lagerhäftling als Muselmann ist das sich auflö-
sende menschliche Wesen, das auf ein bloßes Bündel physischer
Funktionen reduziert wird. Wenn es auch menschlich bleibt, wird
es dennoch auf eine Zone verwiesen, die nicht mehr menschlich
ist. Der Muselmann wird zum Gegenstand eines Experimentes, in
dem jedes menschliche Wesen, das die Nazis als nicht-menschlich
betrachteten, in einen Nichtmenschen verwandelt wird. So wurde
die Menschlichkeit selbst in Frage gestellt.
Obwohl das menschliche Leben immer denselben Wert hat,
müssen die Vorgänge, die zum Tod führen, und der Tod selbst
unterschieden werden. Der Industrialisierungsprozess des Todes
erzeugt eine neue Qualität. Durch das Gestell der Gaskammer, ein
Ritual der Technik, konnte das planetarische Projekt der biopoliti-
schen Umgestaltung der Menschheit eingeleitet werden.
Schließlich ist die Vernichtung ohne Präzedenz in der Ge-
schichte, weil die Gaskammer die Anonymität der Henker ein-
führte und demzufolge die Verantwortlichkeit zertrümmerte. Wer
verbrachte die Opfer in die Gaskammer? Wer warf die Kristalle
des Zyklon B in die Luftschächte? In dieser Hinsicht stellte das
„Sonderkommando“ die grausamste Erfindung dar.
Die speziellen Aufgaben erfüllte das „Sonderkommando“ mit
Fleiß und Pünktlichkeit. So vermochten die Verbrecher dem Re-
sultat ihrer Handlungen fernzubleiben. Die delegierte Arbeit schuf
eine Distanz, die die Vernichtung erleichterte. Ihre Organisatoren
entzogen sich dem unmittelbaren Gegenüber mit den Opfern.
Hier stellte sich die Frage nach der Verantwortung mit bisher
ungekannter Dringlichkeit. Arendt zieht die Aufmerksamkeit auf
den Verbrecher, der sich hinter seinem Schreibtisch verschanzt.
Im „Verwaltungsmassenmord“ ist er nichts anderes als ein Rad in
einem Getriebe, das auch ohne ihn funktionieren würde. Eich-
mann gilt ihr als ein Beispiel von skandalöser Dummheit. Er ist
der graue Angestellte, der einem Eid selbst dann treu bleibt, wenn
er zu Unmenschlichkeiten verpflichtet. „Die Ideologie, glaube ich,
hat keine sehr große Rolle dabei gespielt. Dies scheint mir das
Entscheidende“. 107 In der Tat hatten die NS-Verbrecher nach
Gespräche und Briefe. Hrsg. vonU. Ludz und T. Wild. Piper: München –
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Das Gestell, die Technik, das Verbrechen 303
dem Krieg immer wieder betont, dass sie reine Befehlsempfänger
waren. Wie konnte aber ein Verbrecher, der eigentlich nur ein
Angestellter war, der Befehle weisungsgemäß umsetzte, verurteilt
werden?
Günther Anders nimmt gegenüber Heidegger eine kritische
Stellung ein. In Bezug auf die neue Qualität des „Monströsen“,
das die Verbrechen der Nationalsozialisten charakterisiert, spricht
er von „infernalischen Regeln“: „Wenn das, worauf zu reagieren
eigentlich erforderlich wäre, übermäßig wird, dann fällt auch unser
Fühlen aus“. Wir werden „emotionale Analphabeten“. „Sechs
Millionen bleiben für uns eine Ziffer, während die Rede von zehn
Ermordeten vielleicht noch irgendwie in uns anzuklingen vermag,
und uns ein einziger Ermordeter mit Grauen erfüllt“.108 Denn die
Fähigkeit zur Verantwortung hat mit der Vorstellungskraft zu tun.
Es handelt sich jedoch, so Anders, um ein „exploitiertes Gefäl-
le“: Die Hemmung unserer Vorstellungskraft wurde gewollt und
von den die Vernichtungen dirigierenden Eichmanns gewissenlos
ausgebeutet.109 Anders beklagt, dass sich „die zwei Wege der Ver-
antwortung und der Skrupellosigkeit unwiderruflich gabeln“. 110
Die Linie zwischen Henkern und Opfern ist gut markiert. Hier
gibt es und kann es keinen Raum für eine Mittäterschaft oder eine
Mitverantwortlichkeit geben.
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304 Nach Auschwitz
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Der Nordostwind. Die Niederlage 305
schen Wesens“ über die Selbstverwüstung des neuzeitlichen Men-
schentums hinaus nicht gerettet würde. 117 Dieser Kummer wird
zur dominierenden Note in den letzten Kriegsjahren. „Die ‚Ver-
luste‘ müssen sich in ein anderes gestillteres Eigentum verwandeln
und ein Ursprung werden“.118 Schwere, Schmerz, Trübsal – Echos
eines verletzten Landes, das unaufhaltsam in einen Abgrund
stürzt, sind oft wiederkehrende Stimmungen, die in den Heften
philosophisch sublimiert werden. „Der Schmerz ist die reine
Form des Austrags der Wahrheit des Seyns“.119 Während der Tod
über ihm schwebt, muss Deutschland sich auf eine Trauer vorbe-
reiten, in deren unerträglichen Übermaß Heidegger noch einen
Sinn sucht. „Inwiefern sind uns die Toten näher als die Lebenden?
Wer sind die Toten? Was ist der Tod? Er ist die Ankunft der
Wahrheit des Seyns. Warum gehorchen wir so selten der einfa-
chen Nähe der Toten? [...] Die Echtheit und Stetigkeit unserer
Trauer wird daran gemessen, ob wir es vermögen, im Andenken
das zu bewahren, was die Gefallenen für uns selbst und unsere
Läuterung durch ihre Nähe sind und sein wollen“.120
Doch die Stunden sind gezählt und die „Zange“ zwingt
Deutschland immer mehr in ihren Griff. „Der Einbruch der asia-
tischen Steppe?“. „Nein!“ – antwortet Heidegger. Es gibt nichts
„‚Asiatisches‘“ in der Technik, in der Politik, in der Kriegsfüh-
rung. Vielmehr handelt es sich um eine „Rückflut“ des neuzeitlich
Europäischen über Europa, um seine Selbstzerstörung zu vollen-
den.121
Neben dem Begriff der „Zerstörung“ taucht in den Anmerkun-
gen I das Wort „Vernichtung“ immer häufiger auf. Schon in den
Überlegungen XIV, also um 1940 und 1941, weist Heidegger auf die
„Vernichtung“ hin. Als aber der „planetarische“ Charakter des
Krieges deutlich wird, erscheint der Terminus der „Selbstvernich-
tung“. Was besagt dieses beunruhigende Kompositum? Und wa-
rum macht Heidegger von ihm so häufig Gebrauch?
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306 Nach Auschwitz
Im „Planetarismus“ wird das Ende kein bloßes Ende mehr
sein. Es handelt sich nicht um den Ausgang eines Endens, son-
dern vielmehr um ein apokalyptisches Übersetzen in das Nichts –
selbst das Ende wird noch in das Nichts übersetzt werden.122 Nur
der Anfang wird übrig bleiben. Neben „Verendung“, „Zerstö-
rung“, „Verwüstung“ ist auch „Vernichtung“ ein Wort für das
Ende. Doch es ist sprechender als die anderen, weil das Enden
kein bloßes Zerstören, sondern ein Vernichten sein wird. 123 Seit
der Krieg zur Welt und die Welt zum Krieg geworden ist, gibt es
weder eine Front noch einen Spielraum für die Unterschiede, die
die Front erhielten. Es gibt keinen „Ausweg“ mehr.124 Mehr noch:
Im Zeitalter des „Supranihilismus“, eines „schlechthin nichtswürdi-
gen Nichts“, kann die Vernichtung des Anderen jederzeit in die
Selbstvernichtung umschlagen.125
Die Gefahr des planetarischen Kriegs liegt also nicht nur und
nicht so sehr in der Vernichtung als in der Selbstvernichtung. Es
geht um zwei mögliche Resultate des Krieges, in denen es keine
Sieger und keine Besiegten mehr geben wird – eine Unterschei-
dung, die in die Metaphysik zurückfällt – und in denen es vielmehr
um das Ende und den Anfang geht. Denn es ist ein Krieg, der nur
dann enden kann, wenn das Ende verendet, sich selbst vernichtet,
und den Anfang sein lässt.126
In diesen neuen Modalitäten des planetarischen Kriegs, die sich
nur in der Seynsgeschichte entziffern lassen, besteht der „höchste
Akt der Politik“ darin, „den Gegner in eine Lage hineinzuspielen,
in der er dazu gezwungen ist, zu seiner eigenen Selbstvernichtung zu schrei-
ten“. 127 Darum darf die Politik „sich durch zeitweilige Niederla-
gen“ nicht irre machen lassen; vielmehr muss sie „einen langen
Atem“ und „einen langen Arm“ haben und imstande sein, längere
Zeit hindurch Niederschläge hinzunehmen.128
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Die Shoah als „Selbstvernichtung“ der Juden 307
„In welcher Gestalt vollzieht sich diese Selbstvernichtung?“129
Es überrascht nicht, dass die reinste Gestalt der Selbstvernichtung
für Heidegger die Technik ist. „Die höchste Stufe der Technik ist
dann erreicht, wenn sie als Verzehr nichts mehr zu verzehren hat
– als sich selbst“. 130 Die Technik verzehrt sich, nutzt sich ab,
konsumiert sich, zerstört sich selbst. Sie ist zugleich Paradigma
und Ort der Selbstverzehrung – eine andere Art, die Verwindung
der Metaphysik im planetarischen Horizont zu nennen. Die Meta-
physik lässt sich nicht verwinden, wenn sich keine Selbstverzeh-
rung der Technik vollzieht.
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308 Nach Auschwitz
um die Geschichte der Metaphysik und um ihre Ausgänge. Als
Figur des Endes verhindert der Jude die Vollendung der Metaphy-
sik:
Der Anti-Christ muß wie jedes Anti- aus dem selben Wesensgrund
stammen wie das, wogegen es anti- ist – also wie „der Christ“. Dieser
stammt aus der Judenschaft. Diese ist im Zeitraum des christlichen
Abendlandes, d.h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung. Das
Zerstörerische in der Umkehrung der Vollendung der Metaphysik – d.h.
der Metaphysik Hegels durch Marx. Der Geist und die Kultur wird zum
Überbaus des „Lebens“ – d.h. der Wirtschaft, d.h., der Organisation –
d.h. des Biologischen – d.h. des „Volkes“.132
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Die Shoah als „Selbstvernichtung“ der Juden 309
vom Kopf auf die Füße. 134 Die erst von Marx und dann vom
Marxismus vollzogene Umkehrung lässt also nicht nur die Meta-
physik unberührt, sondern fördert schließlich auch deren Dauer.
Nicht zufällig betont Heidegger seine Kritik am marxschen Be-
griff des „Überbaues“.135 Zudem ist der Marxismus für ihn nicht
nur ein Ergebnis der Metaphysik, sondern auch ein Produkt des
Judentums, ein säkularisierter Messianismus.136
Angesichts eines sich auf zerstörerische Weise perpetuierenden
Endes bleibt nichts anderes übrig, als im Andenken auf den grie-
chischen Anfang zurückzugehen, der intakt, vom Judentum oder
Christentum unberührt geblieben ist. Heideggers Kritik an der
Metaphysik nimmt so theologisch-politische Konturen an. Juden-
tum und Christentum werden zusammengezogen und als die zwei
Seiten ein und desselben Phänomens gelesen. Ihnen wird das
griechische Heidentum entgegengesetzt. So schreibt Heidegger in
der dritten Aufzeichnung:
Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in das verborgene
anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes das Andenken an
den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb des Juden-
tums und d.h. des Christentums geblieben.137
Was hat das aber mit der Vernichtung, mit der Selbstvernichtung
und mit dem Selbstverzehr der Technik zu tun? Die Antwort
findet sich in der zweiten, der mittleren Aufzeichnung, in der
Heideggers seinsgeschichtliche Interpretation der Shoah enthalten
ist. Mit dieser Aufzeichnung verschwindet ein großer Topos der
134 Über den Juden Marx als „Prinzip des Hasses“ in der NS-Zeit vgl.
C.-E. BÄRSCH: Die politische Religion des Nationalsozialismus. A.a.O.,
133. Vgl. auch A. ROSENBERG: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. A.a.O.,
107 ff.
135 Vgl. Kap. III, § 9.
136 In Bezug darauf schreibt Heidegger anderer Stelle: „Gäbe es keine
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310 Nach Auschwitz
Philosophie des 20. Jahrhunderts: Heideggers Schweigen über
Auschwitz.
Der Name für die Ausrottung ist für Heidegger die „Selbstver-
nichtung“. Wenn die „jüdische Frage“ eine metaphysische Frage
ist, dann wird ihre Beantwortung ebenso metaphysisch sein. In-
nerhalb der Seinsgeschichte stellt sich die „Endlösung“ als
„Selbstvernichtung“ heraus. Heidegger sieht vom Konkreten, von
den Juden aus Fleisch und Blut ab. Er greift auf das abstraktere
Subjekt, auf das substantivierte Adjektiv zurück, das die Quintes-
senz des metaphysisch definierten Juden versammelt, um es zum
Symbol der vom Judentum durchdrungenen und dominierten
Moderne aufzusteigern.139 Nur wenn die Herrschaft des Jüdischen
vollständig ist, kann auch der Kampf gegen das Jüdische auf diese
Herrschaft zurückgeführt werden. Noch einmal taucht die Figur
des Feindes auf, der gezwungen ist, sich selbst auszumerzen, aus-
zulöschen, zu vernichten.
Seinem metaphysischen Antisemitismus entsprechend interpre-
tiert Heidegger die Shoah als Vernichtung: Die Juden haben sich
selbst vernichtet. Als Agenten der Moderne, als Komplizen der
Metaphysik folgen die Juden dem Schicksal der Technik, das sich
im Wort „Verzehr“ zusammenfassen lässt: Die Wucherer wu-
chern, die Verbraucher verbrauchen, die Zerstörer enden in der
Selbstzerstörung. Wenn die Juden sich selbst in den Lagern ver-
nichtet haben, dann liegt das am „Gestell“, an dem Räderwerk, an
dem Getriebe, das sie überall in ihrer Weltverschwörung befördert
und begünstigt haben. Der Zusammenhang zwischen Technik
und Vernichtung ist deutlich. Heidegger selbst hat auch in ande-
ren Aufzeichnungen darauf hingewiesen.140
138 Ebd.
139 Es gilt, hervorzuheben, dass das „Jüdische“ an dieser Stelle dreimal
in, einmal ohne Anführungszeichen erscheint.
140 Vgl. hier § 6.
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Die Shoah als „Selbstvernichtung“ der Juden 311
Diese Bestimmung der Shoah, die in ihrer erbarmungslosen
Strenge einzigartig ist, wirft ein neues Licht auf das, was „gesche-
hen ist“, eröffnet eine zwar unbekannte, aber nahezu erwartbare
Perspektive. In ihr erscheint das ontologische Massaker, das dem
in den Lagern funktionierenden Gestell zugeschrieben wird. In
diesem Gedanken zerbricht alle Verantwortlichkeit. Zugleich
fungiert er aber auch als die Interpretation des Ereignisses aus der
Sicht der Täter. So sollte die Shoah in die Geschichte eingehen: als
Selbstvernichtung der Juden.
Niemand hätte belangt werden dürfen – außer den Juden
selbst. Die Schuld an der Vernichtung wird ihnen selbst zuge-
schrieben, als ob sie hätten endgültig sühnen müssen. Ganz gleich,
ob die Vernichtung Folge ihres Gottesmords oder ihrer Beschleu-
nigung der Technik war, Israels Sühne, das läuternde Feuer – wie
es noch in einigen theologischen Traktaten zu lesen ist – stellt das
unausweichliche Opfer, den rettenden Holocaust dar. 141 Um so
beunruhigender erscheint Heideggers Gedanke einer „Reinigung
des Seyns“.142
Die Shoah wäre „der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der
Geschichte“. Denn nur das „auserwählte“ Volk, das metaphysisch
definiert wird und der Komplize der Metaphysik ist, bringt die
wüstenartige Leere, das Nichts des technischen Nihilismus mit
sich. Seine Selbstzerstörung kann deshalb nicht mit derjenigen
anderer Völker verglichen werden. Dieses Ereignis ist in die
Seynsgeschichte eingeschrieben und markiert das Vergehen der
Metaphysik. Es ist das apokalyptische Moment, in dem das Ende,
das nicht enden will, endlich in das Nichts übertragen wird und
den anderen Anfang anfangen lässt. Doch es ereignete sich nicht
…
Ausflüge in Landschaften der Schuld und der Vergebung. Text & Dialog:
Dresden 2013, bes. 43 ff.
142 Vgl. GA 96, 238.
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312 Nach Auschwitz
Fremdes Wesen umstellt noch und verunstaltet unser noch uns vorent-
haltenes eigenes Wesen. Woher stammt die Verführbarkeit der Deut-
schen zu fremdem Wesen, woher das Unvermögen zur Politik?144
143 Dieser war andererseits ein sehr geläufiger Terminus zur Definition
der Juden schon in zwanziger und dreißiger Jahren – man denke etwa an
Mein Kampf. Vgl dazu Kap. II, § 6.
144 GA 97, 47.
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Der Verrat des „deutschen Wesens“ 313
Nicht anders als Schmitt und viele andere Deutsche nimmt
Heidegger die Niederlage als eine Ungerechtigkeit, als eine unver-
schuldete und unverhältnismäßige Strafe wahr, die Deutschlands
Geschick, den Auftrag, nach dem es zur Rettung des Abendlands
angetreten ist, aufhält. Er tröstet sich, indem er die Niederlage für
eine nur militärisch-politische und vor allem für eine vorläufige
hält. Wenn es noch Sieger und Besiegte gibt, dann ist das Spiel
noch offen.
Heidegger identifiziert sich mit dem deutschen Volk. Auch an-
gesichts der Verbrechen lässt sich keine Spur eines Abstandes
erkennen. Es bangt ihm nur davor, dass sich eine Selbstvernich-
tung der Deutschen verwirklichen könnte. Bitterkeit, Ressenti-
ment und Groll durchdringen hunderte von Seiten, die in einer
Zeit geschrieben wurden, in der Heidegger gleichzeitig mit
Deutschlands Scheitern auch seinen akademischen Absturz er-
lebt.145
„Verrat“ und „Rache“ sind zwei Schlüsselwörter, die häufiger
wiederkehren. Sie kennzeichnen Heideggers Position.
Zunächst „Verrat“ – an wem, und warum? Verrat ist eine ande-
re Weise, von der Selbstvernichtung der Deutschen zu sprechen.
Heidegger greift auch auf die pejorative Form „Verräterei“ zu-
rück, die ein perfides, heimtückisches und unfaires Handeln be-
zeichnet, das das Gemeinwesen beschädigen und verderben
kann. 146 Die Deutschen, dieses zusammengeschweißte Volk, das
die Technik hätte eindämmen müssen und können, das bis zuletzt
gegen die bolschewistischen Horden und die amerikanischen
Armeen kämpfte, ohne zu kapitulieren, läuft jetzt Gefahr, zum
Selbstverrat bzw. zur Selbstvernichtung gedrängt zu werden. Es
ist nicht der Verrat an der Kriegsfront – welcher deutscher Soldat
hatte Deutschland jemals verraten? Vielmehr handelt es sich um
eine hinterlistige und niederträchtige Form von Untreue zu sich
selbst, zu der die Deutschen von den Anderen verleitet wurden.
Die eigentliche Gefahr besteht darin, dass sich die am Ende nicht
schwer zu verwindende militärische Niederlage in eine Selbstver-
nichtung mit verheerenden Folgen verwandeln könnte. So könn-
145 Der ehemalige Rektor von Freiburg wird im Jahr 1946 aus der
Lehrtätigkeit entlassen.
146 GA 97, 136.
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314 Nach Auschwitz
ten die Deutschen, die von den Alliierten zu einer Art Umerzie-
hung gezwungen werden, womöglich glauben, sie seien schuldig.
Sie könnten sich veranlasst sehen, ihr eigenes Wesen zu vernich-
ten:
Man redet jetzt fortgesetzt nur von den Amerikanern und den Franzosen,
von den Engländern und den Russen und davon, wie es uns durch diese
und ihre Erziehungsarbeit ergeht. Niemand denkt daran, wie es mit den
Deutschen steht, ob sie noch und erst einmal bei sich selbst sind, ob sie
überhaupt wissen, wer sie selbst sind, ob sie zu denken vermögen, um in
dieses Wissen zu gelangen, ob sie in die lange Zeit des Andenkens einge-
hen können, in der erst die Wahrheit ihres Wesens gedeiht.147
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Der Verrat des „deutschen Wesens“ 315
Der Einsturz des Reichs bedeutet keine Niederlage; Niederlage
heißt vielmehr Selbstvernichtung. Sie würde den Sieg der „Ande-
ren“ bestätigen und den Weg, den die Deutschen noch gehen
müssen, für immer versperren:
Die Eigentliche Niederlage besteht nicht darin, daß „das Reich“ zerschla-
gen, die Städte zertrümmert, die Menschen durch unsichtbare Tötungs-
maschinerien hingemordet werden, sondern daß sich die Deutschen
durch die Anderen in die Selbstvernichtung ihres Wesens treiben lassen
und sie selbst betreiben unter dem plausiblen Anschein, das Schreckens-
regiment des „Nazismus“ zu beseitigen.150
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316 Nach Auschwitz
ger spricht von einem „Schatten“, der sie „verfolgt“, von einer
„Beschattung“, die ihnen nachschleicht. Doch beunruhigender als
dieser Schatten und alarmierender als das verharmloste und ver-
dunkelte Bild, das man von Deutschland auf der Weltbühne her-
umreicht, ist die Gefahr der Selbstvernichtung:
Die Deutschen stehen jetzt in der Beschattung durch die eigene gegen
sich selbst betriebene Verräterei am eigenen Wesen – ein Vorgang, der
sich nicht auf unvermeidliche Folge des Terrorregiments des verschwun-
denen Systems berufen darf – ein Verhalten vielmehr, das blindwütiger ist
und zerstörerischer als die weithin sichtbare Verwüstung und die in Pla-
katen anschaulich zu machenden Greuel.155
Auf welche „Greuel“ bezieht sich Heidegger und auf welche Pla-
kate? Die „Psychological Welfare Division“ der „Supreme Head-
quarters Allied Powers Europe“ hatte Plakate unter der deutschen
Bevölkerung verteilen lassen, auf denen Fotografien aus den Ver-
nichtungslagern abgebildet waren. Die Überschrift lautete: „Diese
Schandtaten: Eure Schuld!“156
ein Terminus ist, der in den früheren Schwarzen Heften in Bezug auf die
Juden und das Judentum verwendet wird. Es wäre dann ein Unheil, das
Unheil hervorbringt. Dies bestätigt übrigens die These von der Selbstver-
nichtung.
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Wer ist Opfer? Wenn Deutschland „ein einziges Kz ist“ 317
wurde. Für Heidegger, der sonst gegenüber dem instrumentalen
Gebrauch von Abkürzungen kritisch ist, ist diese Wahl sympto-
matisch. Sie zeigt die Absicht, das zu verheimlichen, was hinter
dem grauenhaften Akronym steckt.
In beiden Aufzeichnungen der Anmerkungen I, in denen das
Kürzel „Kz“ vorkommt, ist das Konzentrationslager nicht nur
eine Vergleichsgröße, sondern es ist auch die Größe, die im Ver-
gleich eine Verkleinerung erfährt.
Thema der ersten Aufzeichnung ist der Nihilismus, der nach
Heidegger in eine neue Phase eintrete. Es sei ein „schleichend-
unkenntlicher“, „täuschender“ und „verfänglicher“ Nihilismus,
der schwieriger zu enttarnen sei als der „übertölpelnde“, der ihm
vorangegangen sei. Vor allem handele es sich um einen „auszeh-
renden“ Nihilismus, der auslaugt, verbraucht, aufreibt – und das
Verb „Auszehren“ verweist auf das „Verzehren“ der Technik und
des Judentums. 158 Die Aufzeichnung, die Nietzsches Stil und
Inhalt zu übernehmen scheint, schließt so:
Der Terror des endgültigen Nihilismus ist noch unheimlicher als alle
Massivität der Henkerknechte und der Kz.159
158 Ebd., 59. In wenigen Zeilen wiederholt Heidegger das Wort „aus-
zehrend“ dreimal.
159 Ebd.
160 Ebd., 77.
161 Ebd., 74.
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318 Nach Auschwitz
Der Terror des endgültigen Nihilismus wäre also unheimlicher
als die „Massivität“, als alle Grobheit der Henker und als alle
Grausamkeit der Lager.
Frappierend ist hier nicht nur der Vergleich – der erste einer
ganzen Reihe – zwischen offensichtlich inkommensurablen Grö-
ßen, sondern die Umkehrung, die im Verhältnis zwischen Opfern
und Henkern vollzogen wird. Dieser Rollenwechsel, der verhäng-
nisvolle Auswirkungen haben wird, tritt deutlich in der zweiten
Aufzeichnung auf, die wohl Heideggers betrüblichste Äußerung
über die Vernichtung darstellt.
In der Mitte seiner Sorge stehen wie immer die Deutschen. Das
für sie häufiger reklamierte Recht auf das „Eigene“, das kein „Na-
tionalismus“, sondern eine „Rückkehr in den Anfang“ sei, wird
betont.162 Dieser Anspruch galt schon früher, als die Deutschen,
um den „Schatz“ ihres „Eigenen“ zu erfahren, sich befreiten oder,
besser, ihm „ge-freyt seyn“ mussten.163 Heidegger fährt mit einem
kryptischen und gewundenen Satz fort, der jedoch viel klarer ist,
als es auf den ersten Blick erscheint: Deshalb „mußten die Frem-
den uns lassen im Sinne einer Hilfe“.164 Die Fremden haben sich
also selbst ausgetrieben, um die Deutschen bei der Bergung des
Eigenen zu unterstützen, um ihnen die Rückkehr in den Anfang
zu erleichtern. Die Vernichtung erweist sich als eine in der Seyns-
geschichte unerlässliche Selbstaustreibung. Um so mehr kann
dieses Recht der Deutschen in der Nachkriegszeit Geltung bean-
spruchen, als die Gefahr der „Enteignung“ und der „Verfrem-
dung“ angesichts der fremden Kräfte der „technischen Inquisiti-
on“, der „Diktatur des ‚man‘“ und der „Weltdemokratie“ drän-
gend wird.165
Aus diesen Überlegungen gespeist erscheint Heideggers Erwi-
derung auf die von den Alliierten verteilten Plakate, seine Reakti-
on auf die Fotografien aus den Lagern und auf den Kommentar,
der zum Nachdenken auffordern, zur Reue ermahnen sollte: Diese
Schandtaten: Eure Schuld! Diese Frevel sind euer Werk, auch wenn
ihr nichts davon wissen möchtet; schaut, gesteht, bekennt eure
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Wer ist Opfer? Wenn Deutschland „ein einziges Kz ist“ 319
Schuld! Heidegger antwortet darauf mit zwei langen quälenden
Fragen:
Wäre z.B. die Verkennung dieses Geschicks – das uns ja nicht selbst
gehörte, wäre das Niederhalten im Weltwollen – aus dem Geschick ge-
dacht, nicht eine noch wesentlichere „Schuld“ und eine „Kollektiv-
schuld“, deren Größe gar nicht – im Wesen nicht einmal am Greuelhaf-
ten des „Gaskammern“ gemessen werden könnte –; eine Schuld – un-
heimlicher denn alle öffentlich „anprangerbaren“ „Verbrechen“ – die
gewiß künftig keiner je entschuldigen dürfte. Ahnt „man“, daß jetzt schon
das deutsche Volk und Land ein einziges Kz ist – wie es die Welt aller-
dings noch nie gesehen hat und das die Welt auch nicht sehen will –
dieses Nicht-wollen noch wollender als unsere Willenlosigkeit gegen die
Verwilderung des Nationalsozialismus.166
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320 Nach Auschwitz
Zusammengehörigkeit im Ereignis, das die Seynsgeschichte be-
stimmt, zu betrachten.
Aber 1945 geht Heidegger weit über den Vergleich hinaus. Er
wägt Verbrechen ab, stellt eine Hierarchie aufgrund seinsge-
schichtlicher Kriterien auf. Er entscheidet, dass das singuläre
Verbrechen im Hinblick auf die Seynsgeschichte dasjenige ist, das
gegen das deutsche Volk verübt wird. Denn diesem Volk, das das
„Herz der Völker“ darstellt, ist verwehrt worden, seinen weltge-
schichtlichen Auftrag zu vollziehen, seine Aufgabe zu erfüllen, zu
der es berufen wurde. Es wurde daran gehindert, seinem Ge-
schick, dem höchsten Ziel der Rettung des „Abend-Landes“, zu
folgen. Da genau liegt das wahre Verbrechen: Es ist die „Verken-
nung“ dieses Geschicks.169 Die Alliierten haben es nicht erkannt
bzw. nicht erkennen wollen. Stattdessen haben sie die Deutschen
in ihrem planetarischen Projekt aufgehalten. Das ist die eigentliche
Schandtat, der Frevel, die ruchlose Handlung.
Im Vergleich dazu sind die „Gaskammern“ nichts. Das „Greu-
elhafte der ‚Gaskammern‘“ – Heidegger schreibt das Wort in
Anführungszeichen, als ob er die Meinung Anderer wiedergäbe –
darf seiner Bedeutung nach nicht einmal dem Verbrechen am
deutschen Volk angenähert werden. Aus dem Geschick gedacht,
ist dieses Delikt unvergleichbar. Gibt es eine „Kollektivschuld“,
dann hier.170 Wer wird sich in der Zukunft vor dem Gericht der
Geschichte dafür verantworten? Wer wird sich für diese Schandtat
von planetarischen Dimensionen entschuldigen, die verschwiegen,
von den alliierten Richtern übertönt wird, von den emphatischen
Klagen über die „öffentlich ‚anprangerbaren‘ ‚Verbrechen‘“?
Heidegger dreht die Rollen um. Er initiiert damit, schon 1945,
eine Auslegungsstrategie, die sowohl mit seinem metaphysischen
Antisemitismus als auch mit seiner Auffassung der Shoah als
Selbstvernichtung des Judentums zusammenhängt. In solcher
Strategie werden viele Deutschen sich wiedererkennen und Trost
finden, während die Juden sie in verschiedenen Formen und Kon-
texten bis heute weiter erleiden müssen.171
semitismus.
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Wer ist Opfer? Wenn Deutschland „ein einziges Kz ist“ 321
Die Deutschen sind die Opfer – nicht die Juden. Das einzigar-
tige Verbrechen wurde an den Deutschen verübt – nicht an den
Juden. Die Deutschen befinden sich in einem „Kz“, in einem
Lager – nicht die Juden. Über die Deutschen ist die „Kollektiv-
schuld“ der Alliierten hereingebrochen – vor den Juden gibt es
keine Schuld. Überall sind die Deutschen der Gewalt der „Tö-
tungsmaschinerie“ ausgesetzt, und zwar nicht nur die Gefallenen,
sondern auch die Überlebenden, die weiterhin verfolgt werden –
die Henker sind die Alliierten, d.h. die Amerikaner bzw. die Emig-
ranten, die zurückkehren oder, besser, die Juden, die ihrer Rache
freien Lauf lassen.
Die Juden werden nazifiziert, während die Deutschen gleich-
sam hebräisiert und zu Opfern gemacht werden – in einer Rollen-
verdrehung, die nach der Shoah auch in anderen Zusammenhän-
gen erfolgreich wiederholt wurde. Die Opfer werden von ihrem
Platz, der ihnen in der Geschichte zukommt, verdrängt. Noch
dieser Platz wird usurpiert, vertilgt, vernichtet. Es gibt keine
Barmherzigkeit und kein Mitleid – weder des Denkens noch des
Fühlens. Heidegger beklagt sogar die Art, in der die „Opfer“, die
diesen Namen nicht verdienen, zu einem „Riesenlärm“ miss-
braucht werden, während man das echte Opfer, das sich zur Ret-
tung des „Abend-Landes“ anbot, übersieht. 172 „‚Opfer‘“ und
„Opfer“ müssen unterschieden werden.
Die Anführungszeichen markieren noch einmal den Abstand –
diesmal nicht von der Metaphysik, sondern von den Gerüchten,
vom Gerede, von der Öffentlichkeit und der „Diktatur des
‚man‘“. Die Erzählung der historischen Geschehnisse, die Heid-
egger in den Schwarzen Heften vermittelt, wird der Informationspo-
litik der Alliierten und ihren Plakaten entgegengesetzt; es ist die
Schilderung des entweihten, verletzten, besetzten Deutschlands,
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322 Nach Auschwitz
der „bleichen Mutter“, die zwar erschöpft, nicht aber niederge-
schlagen ist. Sie ist bereit, sich in ihren Herbst zurückzuziehen
und zu warten, dass ihre Stunde in der Geschichte wiederkehrt.173
Denn diese Stunde wird kommen. Und Deutschland wird sie
nicht versäumen. Die „Erweckung“ des deutschen Volkes zu
seinem Geschick, die Heidegger voreilig bereits gekommen sah
(hierin liege sein einziger politischer Irrtum der dreißiger Jahre),
wird es ermöglichen, sich noch einmal auf den Weg zum anderen
Anfang zu machen.174
Was die Juden angeht, so sind sie auch diesmal die echten Sie-
ger des bellum judaicum. Sie sind deshalb die Sieger, weil die Selbst-
vernichtung nicht vollendet wurde, weil sie als Über-lebende er-
zählen, als Zeugen der „Gaskammern“ berichten können. Damit
werfen sie einen Schatten auf Deutschland, verfinstern sein Bild.
Sie geben sich für die Opfer der Deutschen aus, obwohl sie nur
die Opfer des Gestells sind, das sie selbst befördert haben.
Die Gefahr ist der Missbrauch der Erzählung und des Ge-
dächtnisses: Die Juden werden sich der „Gaskammern“ bedienen
– diesem Gerede und Gerücht –, um die Fäden ihrer Macht wei-
terzuspinnen, überall die Öffentlichkeit zu organisieren, die
„Weltdemokratie“ und ihren Monotheismus überall auszubrei-
ten.175
173 „Lili Marleen“ und „Die Ehe der Maria Braun“ sind Spielfilme von
Rainer Werner Fassbinder, ein Regisseur, der in den siebziger Jahren zur
Konsolidierung dieser Vision beigetragen hat.
174 Der einzige Irrtum, den Heidegger ab 1945 sich selbst und den
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Die „Schuldfrage“ und das Verbrechen an den Deutschen 323
Herrschaft außer derjenigen kennt, die von der Öffentlichkeit
diktatorisch ausgeübt wird.176
Was ist eigentlich die so gepriesene Demokratie? Heidegger
antwortet: „Demokratie ist Anarchie; denn ihr fehlt die arché im
Sein der Herrschaft des Anfänglichen“.177 In diesem Zusammen-
hang ist auch die Kritik von Carl Schmitt an der politischen Form
Israels in Erinnerung zu rufen. Nach Heidegger ist die Demokra-
tie „der Deckname für den planetarischen Schwindel“. 178 Sie ist
der Schein, hinter dem der „Imperialismus der Diktatur“, der
losgebundene Wille zum Willen der „unbedingten Machenschaft“
steckt. 179 Dieser „Maschinerie“ der „Demokratisierung“ werden
jetzt die Deutschen unterzogen.180
Die Rollenverdrehung geschieht auch im politischen Bereich:
Die Deutschen sind nicht von einer Diktatur des Nationalsozia-
lismus, den Heidegger übrigens nie als eine solche benennt, befreit
worden; vielmehr versucht man nun, sie der Diktatur der planeta-
rischen Demokratie zu unterjochen. Sie ist die „Tötungsmaschine-
rie“, die im Lager Deutschland angewendet wird. Sie soll nichts
weniger leisten als die „vollständige Vernichtung“ seiner Insas-
sen.181 Wer konnte jemals glauben, die Demokratisierung sei eine
Rettung der Deutschen? Es liegt umgekehrt auf der Hand, dass
die „Tötungsmaschinerie“, die den Deutschen „Elend“ und
„Qual“ bringt, weit mehr ist als die „Strafe“ für den Nationalso-
zialismus und die bloße Ausgeburt einer „Rachsucht“.182
„Das deutsche Volk ist politisch, militärisch, wirtschaftlich und
in der besten Volkskraft ruiniert“. 183 Wer hat es ruiniert?
Heidegger antwortet: Hitlers „verbrecherischer Wahnsinn“ und
der „Vernichtungswille des Auslandes“.184 In einer anderen Auf-
zeichnung wird er expliziter: „Die Zerstörung Europas ist, wie
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324 Nach Auschwitz
immer sie verlaufen mag, ob ohne oder mit Rußland, das Werk
der Amerikaner. ‚Hitler‘ ist nur der Vorwand. Doch die Amerika-
ner sind ins ganze gesehen Europäer. Europa zerstört sich
selbst“. 185 Diese destruktive Tendenz hätte sich durchgesetzt,
selbst wenn Hitler nicht „an“ die Macht gekommen wäre.186
Es ist nicht schwierig, in Heideggers Erklärungen das erste
Echo der Debatte über Deutschlands Schuld zu erkennen. Mit
seinem Buch Die Schuldfrage hatte Jaspers gerade in jener Zeit erste
Überlegungen in Gang gesetzt.187 Inwiefern waren die Deutschen
verantwortlich? Wie musste ihre Schuld bezeichnet werden? Han-
delte es sich um eine verbrecherische, politische, moralische oder
metaphysische Schuld?
Nach Heidegger waren die Deutschen unschuldig. „Wie kann
ein Mensch und sei er auch ein bestallter Philosophie-gelehrter –
sich anmaßen, über ‚Schuld‘ zu räsonnieren – wo niemand weiß,
in welchem Seyn wir überhaupt sind und treiben“?188 Wie, wenn
all die „Schuldrednerei und –Schreiberei“ nichts anderes als eine
„Fassade“, eine bloße Inszenierung wäre? Nachdem er schon
zuvor von „Verrat“ gesprochen hatte, bekräftigt Heidegger in
Bezug auf Jaspers seinen Vorwurf der „Verräterei“.189
Die Weltschande, die dem deutschen Volk droht, die Schande vor der ver-
borgenen Welt des Geschicks, nicht vor der „Welt“ als der journalisti-
schen Organisation der Öffentlichkeit des Pöbels, ist keineswegs „die
Schuld“, die „man“ ihm anrechnet, sondern das Unvermögen, in ge-
schicklicher Haltung unterzugehen und die „Welt“ der Moderne zu ver-
achten. Und dennoch: im Verborgenen ist mehr „Haltung“ und „Helden-
tum“ als das ganze „demokratische“ Geschrei vermuten läßt.190
Heidegger entzieht sich selbst und das deutsche Volk als eigentli-
ches Opfer der „Weltschande“ jeder Verantwortung. Die „Welt-
schande“ ist nicht die von Deutschen verübte, sondern die von
185Ebd., 230.
186Vgl. ebd., 150, 405.
187 K. JASPERS: Die Schuldfrage: Von der politischen Hoffnung
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Die „Anmerkung für Esel“. Gegen die jüdische Prophetie 325
ihnen erlittene. Es gibt ein Vergehen an den Deutschen und an
ihrem Geschick in der Weltgeschichte. Mit dem Begriff der
„Weltschande“ antwortet Heidegger auf die von Jaspers aufge-
worfene „Schuldfrage“. Er fasst seine defensive Strategie der
Umdrehung, der Inversion zusammen, die konsequent und ohne
zu zögern verfolgt wird.
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326 Nach Auschwitz
Antijudaismus ausgeliefert, der im Anschluss an Nietzsche auch
auf das Christentum als Judentum für das Volk zielt.
In einer Aufzeichnung der Anmerkungen II wird das „Christen-
tum“, die Organisation des jüdisch-christlichen Lebens, aus dem
Europa hervorging, dem „Griechentum“, d.h. dem anfänglichen
Modell des Abendlandes, entgegengesetzt:
„Europa“, das ist die neuzeitliche Gestalt der Vergessenheit, in der das
Abend-land zurückgehalten wird. Das Christentum, d.h. die paulinisch-
gnostisch-römisch-hellenistische Organisation des evangelischen Lebens
Jesu, ist die Vorform Europas. Es hat mit dem Abendland nichts zu tun,
weil es das Griechentum verleugnet, in der verfänglichsten Weise der
umdeutenden Ausnutzung für seine Zwecke; weshalb das Griechentum
als Heidentum gilt.191
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Die „Anmerkung für Esel“. Gegen die jüdische Prophetie 327
Vergangenheit des Christentums als vielmehr auf seine Gegen-
wart. Wer sind denn die „Heiden“? Opfer des Christentums? Und
dazu noch eines Christentums, das auf einmal den Antisemitismus
als „unchristlich“ brandmarkt? Warum fügt Heidegger eine „An-
merkung für Esel“ hinzu? Warum wendet er sich an Teilnehmen-
de, die glauben, einen „Antisemitismus“ selbst dort zu erblicken,
wo es ihn, wie in seinen Ausführungen, nicht gibt?
„Prophetie“ ist die Technik der Abwehr des Geschicklichen der Ge-
schichte. Sie ist ein Instrument des Willens zur Macht. Daß die großen
Propheten Juden sind, ist eine Tatsache, deren Geheimes noch nicht
gedacht worden. (Anmerkung für Esel: mit „Antisemitismus“ hat die
Bemerkung nichts zu tun. Dieser ist so töricht und so verwerflich, wie das
blutige und vor allem unblutige Vorgehen des Christentums gegen „die
Heiden“. Daß auch das Christentum den Antisemitismus als „unchrist-
lich“ brandmarkt, gehört zur höhen Ausbildung der Raffinesse seiner
Machttechnik.).193
leicht noch ‚christlich‘ zu dulden. Ich bin nicht Christ, und einzig deshalb,
weil ich es nicht sein kann“. Ebd., 199.
193 Ebd., 159.
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328 Nach Auschwitz
1946, aus der Zeit, in der Heidegger aus der Universität entfernt
wurde – ein Vorgehen, für das in seinen Augen nicht nur Jaspers,
dem er „Verrat“ unterstellt, sondern auch der Apparat der Kirche
verantwortlich ist. Vertreter dieses Apparats hatten sein Denken
als „unchristlich“ und darum als gefährlich verurteilt.194 Das Den-
ken muss sich mit der Entnazifizierung und Demokratisierung
Deutschlands beschäftigen. Der Antisemitismus, die schwerste
und häufigste Anschuldigung gegen die Deutschen, wird tabui-
siert. Die Äußerung muss demnach im Zusammenhang mit einer
Tabuisierung des Antisemitismus ausgelegt werden; einer Tabui-
sierung, die umso strikter vollzogen wurde, je mehr das Ausmaß
der Verbrechen offenbar wurde.
Heidegger beschränkt sich jedoch keineswegs darauf, den Anti-
semitismus zu tabuisieren. Auch diesmal dreht er die Rollen um.
Was andere „Antisemitismus“ nennen, ist „so töricht und so
verwerflich“ wie das ähnliche Vorgehen, das das Christentum für
die „Heiden“ reserviert hat. Heidegger unterstellt, dass in diesem
Vorgehen die „Raffinesse“, d.h. die ganze Machttechnik des
Christentums zum Vorschein komme, das nach einer jahrhunder-
telangen Judenverfolgung eine Kehrtwendung vollzieht und den
Antisemitismus als „unchristlich“ stigmatisiert. Auch in diesem
Fall, wie schon in Bezug auf Jaspers, könnte Heidegger von „Ver-
rat“ sprechen. Das Christentum profitiert von seiner vermitteln-
den Position zwischen Judentum und Heidentum. Gerade noch
rechtzeitig, d.h. unter den Voraussetzungen einer neuen Zeit,
missbilligt es den Antisemitismus.
Es sind die „Heiden“, die den Preis dafür bezahlen. Es ist dabei
nicht einmal notwendig, weit in die Geschichte zurückzublicken.
Das unblutige Geschehen, auf das die Stelle hinweist, hat sich erst
kürzlich ereignet. Der Heide, Opfer eines sich wetterwendisch auf
die Seite des Judentums stellenden Christentums, ist Heidegger
selbst. Das Wortspiel zwischen „Heide“ und Heidegger ist nicht
arbiträr. Auf einem Zettel, der in der Nähe der Aufzeichnung in
das entsprechende Heft eingelegt wurde, kommentiert Heidegger
seine Entfernung aus der Universität:
Heid-egger
einer, der auf ein unangebautes Land, Heide, trifft und diese eggt.
194 Ebd., 61.
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Die „Anmerkung für Esel“. Gegen die jüdische Prophetie 329
Aber der Egge muß er erst lang einen Pflug durch Steinäcker vorauf-
gehen lassen.195
des Ackerbodens.
197 Ebd., 159.
198 Ebd.
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330 Nach Auschwitz
tums: Ausdruck seiner Technik der Macht und seiner mittels der
Technik ausgeübten Macht. Es ist daher kein Zufall, dass das
Wort „Technik“ diese wohl esoterischste Stelle der Anmerkungen II
eröffnet und schließt. Wenn sie im geschichtlichen Zusammen-
hang und unter Berücksichtung der Komplexität ihrer Hinweise
gelesen und entschlüsselt wird, enthüllt sie Heideggers Einstellung
zum Judentum, die sich auch in der Nachkriegszeit nicht ändern
wird.
Heidegger umreißt nicht nur in den Schwarzen Heften, sondern
auch in anderen Schriften eine negative Auffassung der Prophetie.
Die Figur des Propheten wird in ein schlechtes Licht gerückt.199
Als eine Mischung von Hellseher und Wahrsager wird der Pro-
phet stets als dem Judentum verwandt und als Verwahrer eines
religiösen Wissens, als unbefugter Überbringer einer Heilsbot-
schaft betrachtet. Er instrumentalisiert die Sprache, um Gewalt
auf die Zeit auszuüben. Vorhersehend und -sagend versucht er sie
zu kontrollieren. Darum setzt Heidegger der Prophetie die Dich-
tung, den Propheten die Dichter entgegen. In seinem im Hölder-
lin-Jahr 1943 veröffentlichten Aufsatz „Andenken“ wird diese
Entgegensetzung folgendermaßen dargestellt:
Die Dichter können aber das, was vor ihrem Dichten und für es das
Gedicht ist, nur sagen, wenn sie das sagen, was allem Wirklichen voraus-
geht. Das Kommende. Ihr Wort ist das voraussagende Wort im strengen
Sinne des propheteúein. Die Dichter sind, wenn sie in ihrem Wesen sind,
prophetisch. Sie sind aber keine „Propheten“ nach der jüdisch-christlichen
Bedeutung dieses Namens. Die „Propheten“ diese Religionen sagen nicht
erst nur voraus das voraufgründende Wort des Heiligen. Sie sagen so-
gleich vorher den Gott, auf den die Sicherheit der Rettung in die überirdi-
sche Seligkeit rechnet. Man verunstalte Hölderlins Dichtung nicht durch
das Religiöse der Religion [...]. Man überbürde nicht das Wesen dieses
Dichtertums, indem man den Dichter zu einem „Seher“ im Sinne des
Wahrsagers macht.200
Auch in diesem Fall tut Heidegger nichts anderes, als dem navì,
dem Propheten des Judentums, seine Rolle und Eigentümlichkeit
zu entziehen, um sie dem Dichter, besonders Hölderlin, zuzuspre-
199 Vgl. z.B. GA 36/37, 4; GA 38, 100; GA 50, 157; GA 58, 5, 20, 34,
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Weltdemokratie und Diktatur des Monotheismus 331
chen. Das Wort navì entstammt einer seltenen Wurzel, die nur im
Kontext der Prophetie vorkommt; es findet vielleicht seinen an-
schaulichsten Sinn im Verb hitpael, das sich aus der Wurzel entfal-
tet und ein intensives Reflexiv ist, das eine besondere Seinsweise
des Propheten bezeichnet. Der Prophet handelt, indem er zuvor
das Zu-Sagende erleidet. Deshalb hat navì beinahe eine passivische
Bedeutung. Es hat nichts mit dem griechischen Verb propheteúo
gemeinsam, das Wahrsagen, die Zukunft Voraussagen, heißt und
auf die Beschwörung von Gottheiten, von magischen und dunk-
len Kräften hindeutet. Das ist der Götzendienst der Propheten
des Balaals. Die neviìm aber sagen weder die Zukunft voraus noch
sagen sie wahr.201 Sie sind berufen, die Stimme Gottes zu sein. So
scheuen einige von ihnen vor der Berufung zurück, widersetzen
sich dem Ruf. Diejenigen, die voraussagen, haben eine große
Gefolgschaft. Israels Propheten aber sind einsam und unerhört;
sie sprechen zu einem frevlerischen, unaufmerksamen und bocki-
gen Volk. Sie sind keine „Wahrsager“. So wie Amos, wohl der
früheste unter den Propheten, können sie die Welt nicht ändern,
sondern sie nur aus einem Abstand betrachten, der es ihnen er-
laubt, Empörung und Hoffnung auszudrücken. Sie erinnern an die
Verheißung. Sie kümmern sich nicht um das Heil des Einzelnen,
sondern um die soziale Gerechtigkeit der Gemeinschaft. Hier
bricht die prophetische Figur des Elias durch. In ihm verdichtet
sich Israels Warten, seine Offenheit für die messianische Zeit.202
201 Über das Thema der Zeit im Judentum und bei Heidegger siehe
hier § 18.
202 Vgl. hier § 19.
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332 Nach Auschwitz
Die modernen Systeme der totalen Diktatur entstammen dem jüdisch-
christlichen Monotheismus.203
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Weltdemokratie und Diktatur des Monotheismus 333
stoßen wurde, wird die Auserwählung auf das „versus Israel“, d.h.
auf die Kirche, übertragen. Marcionismus und Gnosis hingegen
leugnen jede Auserwählung ab, gleichgültig, ob sie die eines Got-
tes oder eines Volkes sei.
Der gnostische Hintergrund von Heideggers Denken, auf den
Jonas häufiger hingewiesen hat, zeigt sich in der folgenden Auf-
zeichnung der Anmerkungen IV:
Zur Gotteslehre. Jehova ist derjenige der Götter, der sich anmaßte, sich zum
auserwählten Gott zu machen und keine anderen Götter mehr neben sich
zu dulden.206 Die Wenigsten erraten, wie dieser Gott auch so noch und
zwar notwendig sich unter die Götter rechnen muß; wie könnte er sich
sonst aussondern. Daraus wurde dann der eine einzige Gott, außer dem
(praeter quem) überhaupt sonst keiner sei. Was ist ein Gott, der sich
gegen die anderen zum auserwählten hinaufsteigert? Jedenfalls ist er nie
„der“ Gott schlechthin, gesetzt, daß das so Gemeinte, je göttlich sein
könnte.207
Der Gott, der sich anmaßt, auserwählt zu sein, ist der eifersüchti-
ge Gott, der die Beseitigung der anderen Götter verlangt, der
nichts Anderes neben sich duldet. Er ist der untolerante Gott, der
einzig sein will, der mit Gewalt seine Einzigkeit durchsetzt. Wo
gibt es ein besseres Paradigma der Diktatur? So wird die Hypothe-
se angedeutet, der Polytheismus befördere von sich selbst her
Formen politischer Pluralität, während der jüdische Monotheis-
mus das Präludium der Diktatur sei.208 Es besteht kein Zweifel,
206 Jeder und auch dieser Versuch, den Namen Gottes zu vokalisieren,
stellt für das Judentum eine Blasphemie dar. Da es sich hier um ein Zitat
handelt, ist es leider unvermeidbar, diese Vokalisierung wiederzugeben.
207 GA 97, 369.
208 Eine ähnliche, sehr umstrittene These ist neulich von dem Ägypto-
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334 Nach Auschwitz
dass Heidegger in seiner Kritik des Gottesbegriffs mehr das Ju-
dentum als das Christentum im Blick hat.209
Doch das genügt nicht. Heidegger setzt den eifersüchtigen
Gott, der keine anderen Göttern neben sich duldet, in seiner
Göttlichkeit herab. Er scheint sehr wenig göttlich zu sein. In einer
provokativ gegen Pascal gerichteten Anmerkung fragt sich Hei-
degger: „Wie wenn der Gott der Philosophen immer noch göttli-
cher wäre als der Gott Abrahams, der keinen seinesgleichen neben
sich duldete?“210
Monotheismus und Auserwählung sind also für Heidegger Ur-
sache der Gewalt – in Theologie und Politik. Der gewalttätige,
grausame, jähzornige Gott sei auch rachsüchtig. In einer Auf-
zeichnung, in der das Jüdische dem Dämonischen angenähert
wird, schreibt Heidegger: „Das Dämonische ist nicht diabolisch;
das Diabolische reicht nicht in das Dämonische. Der Diabolos ist
nur der Gegenspieler des einen, d.h. des rachsüchtigen Gottes“.211
Wie im ältesten und unversöhnlichsten Antijudaismus überträgt
der Philosoph die Charakterzüge dieses Gottes auf das Volk, das
ebenso gewalttätig, grausam und rachsüchtig sei wie er – unfähig
zur Verzeihung.
209 Heidegger irrt, weil er nicht weiß, wie weit der jüdische Name Got-
tes von einem Gattungsnamen, der eine Klasse von höheren Wesen oder
das einzige Überbleibsel einer Reihe von Göttern bezeichnet, entfernt ist.
Dazu seine Frage: „Wer ist der Gott? Der älteste, uralte Knecht des
Seyns?“. GA 97, 118. Über „Seyn und Gott“ vgl. ebd., 356-357. Näheres
dazu hier § 19.
210 Ebd., 409.
211 Ebd., 441.
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„Ein alter Geist der Rache geht um die Erde“ 335
sichtsvollen Missverständnis für etwas verurteilt wird, was es nicht
ist, stellt der Vorwurf der Rachsüchtigkeit eines der ältesten und
zähesten Klischees dar. So wie der Gott der jüdischen Religion
nur die strenge Gerechtigkeit kenne, so fröne das jüdische Volk
der Rache und verweigere sich dem Verzeihen.
Das Unheilvolle dieser jahrhundertelang wiederholten An-
schuldigungen besteht darin, dass der Andere, der Jude, nicht
nach seinem Selbstverständnis, sondern aufgrund von alten hass-
erfüllten Vorurteilen definiert wird.
Dass dies nach Auschwitz geschehen ist und geschieht, ist ein
Thema, das ein tieferes Nachdenken herausfordert. Die Schwarzen
Hefte tragen dazu bei, einen Schleier zu zerreißen. Sie nötigen
dazu, zu sehen, was man nicht sehen möchte. Sie zwingen dazu,
eine Erzählung zu lesen, die sich an künftige Generationen wen-
det. In ihr artikuliert Heidegger Gefühle, Gedanken und Ängste
eines besiegten Volkes, das sich in das Ressentiment zu flüchten
versucht.
Konnte es noch eine Zukunft für Deutschland geben? Und
welche? Konnte es Deutschland in der Zukunft Europas geben?
Trotz des Reichs und über das Reich hinaus? Oder konnte es
noch ein Reich geben? Ein viertes? Eine künftige Herrschaft, dank
einer erneuten Gelegenheit, Protagonist auf der Bühne der Welt-
geschichte zu sein? Ging es deshalb nur darum, zu warten und das
Seyn zu bewahren? Sollte das Land der Saat weiterhin geeggt
werden?
Wie reagierte Israel? Der „Rest“, der den Holocaust überlebt
hatte? Musste er sich nicht der Rache hingeben? Musste er nicht
das Andenken missbrauchen, um von ihm zu profitieren? Musste
das jüdische Volk nicht weiter Konflikte anzetteln? Und sogar
mehr denn je? War Deutschland nicht schon von den Alliierten
besetzt, seien sie Amerikaner oder Russen, die in Wahrheit In-
strumente der Juden waren?
„Rache“ ist das Wort, das die Furcht ausdrückt, mit der die
Anwesenheit der Juden auch nach der Shoah empfunden wird.
Zudem wird sie als eine ontologische Feindschaft, eine atavisti-
sche Feindseligkeit erfahren, die weder Mitleid für die Opfer der
Vernichtungslager noch Reue über die Verbrechen zulässt.
In einer der Anmerkungen I, die unmittelbar nach dem 8. Mai
1945 geschrieben wurden, warnt Heidegger schon vor der „Ra-
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336 Nach Auschwitz
che“, die wie ein Unheil über die Deutschen hereinbrechen könn-
te. Besiegt und zerstört, wird das deutsche Volk von ihr heimge-
sucht, um es zu seiner Selbstvernichtung zu drängen. Die „Rache“
ist eine Waffe der Friedenszeit, der Zeit eines provisorischen
Waffenstillstands, eines aufgeschobenen Kriegszustands. Deshalb
verheimlicht sie sich und maskiert sich in der „Moral“ – ein Wort,
das Heidegger ausschließlich in einer negativen Bedeutung be-
nutzt:
Die Moral, die meint, Gerechtigkeit bestehe in der Rache. Die Meinung,
sich an einem Volk rächen zu können und deshalb sich rächen zu müs-
sen, schlägt auf uns zurück.212
„Gerechtigkeit“? Was ist es, das sie so nennen und ausrufen? Nur der
überanstrengte Kampf der schlechten Verheimlichung einer ratlosen
Rache.213
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„Ein alter Geist der Rache geht um die Erde“ 337
sucht“. 214 „Erbärmlich“ ist sowohl das, was Barmherzigkeit er-
weckt, als auch das, was jämmerlich, kleinlich und abscheulich ist.
Hinter dem scheinbar Erbarmungswürdigen steckt das Jämmer-
lichste, d.h. die jüdische Rachsucht.
Der theologische Ton geht in einen politischen über. Heid-
egger zögert nicht, von einem „Geist der Rache“ oder von einem
„Geist als Rache“ zu reden.215 Dieser Geist erscheint als ein Ge-
spenst, von dem Deutschland und Europa, ja eigentlich der ganze
Planet sich nicht befreien können.
Jahre nach der Shoah beklagt Heidegger den politischen, militä-
rischen und ökonomischen Ruin des deutschen Volkes. Es bliebe
nur noch übrig, „die Deutschen geistig und geschichtlich auszulöschen“. Er
fährt fort: „Man mache sich nichts vor“. 216 Und dann fügt er
hinzu:
Ein alter Geist der Rache geht um die Erde. Die Geistes-Geschichte
dieser Rache wird nie geschrieben werden, das verhindert die Rache
selber; diese Geschichte kommt nicht einmal in die öffentliche Vorstel-
lung; die Öffentlichkeit ist selber schon Rache.217
„Ein alter Geist der Rache geht um die Erde“ ist ein Satz, der an
den Beginn des Manifests der Kommunistischen Partei von Marx und
Engels erinnert: „Ein Gespenst geht um in Europa“.218 Es ist der
alte Geist der Rache, des Judentums. Heidegger hätte kaum tref-
fendere Worte als die des ikonischen Beginns des Manifests finden
können, um die seiner Ansicht nach vom Judentum ausgehende
Bedrohung zu betonen.
Die Geschichte des alten jüdischen Geistes und seiner Rache –
nach Auschwitz – wird niemals geschrieben werden. Nichts aus
dieser dunklen Geschichte wird ans Tageslicht kommen – nichts
wird in die Öffentlichkeit gelangen; um so weniger kann es ein
Thema des Denkens sein. Das verhindere die Rache selbst, die
214 Ebd., 362.
215 Ebd., 461. Es ist kein Zufall, dass dieser Geist der Rache mit dem
„Willen zum Willen“ verbunden wird. Vgl. auch ebd., 23, 92.
216 Ebd., 444.
217 Ebd., 444-445.
218 K. MARX – F. ENGELS: Das Manifest der Kommunistischen Partei.
Reclam: Stuttgart 2011, 23. Heidegger schreibt vom „Geist der Rache“ im
Jubiläumsjahr des Manifests, das 1848 veröffentlicht wurde.
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338 Nach Auschwitz
Öffentlichkeit, d.h. der „Weltjournalismus“ – ein Ausdruck, der
das „Weltjudentum“ unmittelbar in Erinnerung ruft. Die Rache
vollzieht sich durch den „Weltjournalismus“.
Die gesteuerte öffentliche Meinung, so Heidegger, will nicht
sehen, was geschah. Sie schreibt alle Schuld den Deutschen zu.
Manchmal verweist Heidegger polemisch auf das Verzeihen: „Vo-
rübergehen – ohne Hass und Rache“.219 Dabei unterstreicht er den
tiefen Zusammenhang zwischen Vergessen und Verzeihen.220 Die
Schwarzen Hefte sind jedoch selbst die Geschichte einer Rache, die
die Deutschen infamerweise dem alten jüdischen Geist und dem,
was von ihm nach Auschwitz übrig blieb, zuschrieben.
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Ob es möglich ist, einem Rav zu verzeihen 339
möglich, jemandem zu verzeihen, der mehr als die anderen hätte
verstehen müssen? Ist es möglich, dem „genialen“ Denker, dem
Rav, wie Lévinas ihn nennt, zu vergeben?
In einem Brief an seine Frau vom 12. August 1952 bezieht sich
Heidegger auf einen Aufsatz von Martin Buber, den er anschei-
nend gerade gelesen hatte. Es handelt sich um den Vortrag Hoff-
nung für diese Stunde. Buber hatte ihn im selben Jahr in New York
gehalten, um darin die politische Bedeutung seiner Philosophie
des Gesprächs in internationalen Konflikten darzustellen.221 Heid-
egger kommentiert:
221 M. BUBER: Hoffnung für diese Stunde. In: Ders: Hinweise. Ge-
sammelte Essays. Manesse: Zürich 1953, 315-316.
222 „Mein liebes Seelchen!“ A.a.O., 279.
223 Erinnerungen an Martin Heidegger. Hrsg. von G. NESKE. Neske:
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340 Nach Auschwitz
schließt mit einer berühmt gewordenen Aussage: „Die Verzeihung
ist in den Todeslagern gestorben“.225
Im Rahmen einer Talmud-Lesung, die vom Traktat Joma aus-
geht, problematisiert Lévinas die Frage nach der Verzeihung, ohne
dabei auf den Kontext der Shoah einzugehen. Die Verzeihung
skandiert in ihrer Schwerkraft das jüdische Jahr. Im Ritus des
Kippurs sind die verziehenen Handlungen zunächst diejenigen, die
gegen Gott begangen wurden. Dagegen scheint die Versöhnung
mit dem Anderen komplexer zu sein. Die Mischna sagt: „Des Men-
schen Fehl gegen Gott verzeiht der Versöhnungstag; des Men-
schen Fehl gegen den anderen Menschen verzeiht der Versöh-
nungstag nicht eher als er den Anderen besänftigt hat“. 226 Das
Judentum kennt die Verzeihung, macht sie aber nicht einfach. Die
Verzeihung darf nur von der verletzten Partei bewilligt werden.
Gott kann die Verfehlungen, die gegenüber Gott begangen wur-
den, vergeben, nicht aber die gegenüber dem Menschen. Es gibt
keine Vollmacht zur Verzeihung. Die Verletzung des Einzelnen
lässt sich nicht im Namen eines absolvierenden Absoluten tilgen.
Niemand darf zur Verzeihung gezwungen werden. Und niemand,
auch Gott nicht, darf an Stelle des unvertretbaren Opfers verzei-
hen. Lévinas schreibt: „Gott ist vielleicht nur diese permanente
Verweigerung einer Geschichte, die sich mit unseren privaten
Tränen abfindet“.227
Die dem Anderen geschlagene Wunde beeinträchtigt das
Gleichgewicht der Welt. Gott kann die Sünde des Menschen nicht
auf sich nehmen. Er kann die Verantwortung des Menschen nicht
aufheben. „Wenn Chanina dem gerechten, humanen Rab nicht
verzeihen konnte […], dann kann man Heidegger umso weniger
verzeihen“.228
Ähnlich ist die Stellung Derridas in seinem Essay Pardonner:
l’impardonnable et l’imperscriptible, der 2004 veröffentlicht wurde. In
ihm thematisiert er das Missverständnis einer Verzeihung, die mit
dem Vergessen und mit der Trauerarbeit verwechselt wird. Derri-
da zeigt die Notwendigkeit, an eine Verzeihung zu denken, die
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Vetter Groß und Vetter Klein 341
zwar nicht vergisst, die jedoch, indem sie jede Absolution verbie-
tet, nichts anderes als das „Unverzeihliche“ verzeiht.229
Was ist die Antwort des Juden auf den „Geist“ der Metaphysik,
der sein Gebäude um die Reinheit des Seyns herum errichtet hat,
um dabei den weltlosen, unreinen Rest der Übertragung ins
Nichts zu schicken?
Gespräch im Gebirg, ein kurzer Prosa-Text von Celan, der im Au-
gust 1959, nach der verfehlten Begegnung mit Adorno im Enga-
din, geschrieben wurde, ist zugleich ein nicht erzwungenes Auto-
dafé und eine der bedeutsamsten Überlegungen über das Jü-
dischsein nach Auschwitz. 230 Das Gespräch verwebt literarische
Reminiszenzen und Anspielungen miteinander: Lenz von Büch-
ner, Der Ausflug im Gebirge von Franz Kafka, Nietzsches Zarathust-
ra, die Bergpredigt, das Gespräch in den Bergen von Martin Buber – um
nur einige zu erwähnen. Aber es ist vor allem eine Antwort, die
sich an die Philosophen richtet, an Hegel nicht weniger als an
Heidegger.
Die nie erwähnte Shoah bildet den Hintergrund für die Begeg-
nung zwischen dem Juden Klein und dem Juden Groß – seinem
Vetter, „der um ein Viertel Judenleben ältre“.231 Von Anfang an
wird der Jude als „Jud“, also mit dem Namen der Diskriminie-
rung, bezeichnet. Und genauer betrachtet handelt es sich nicht nur
um einen Juden, sondern um zwei: Groß, der abendländische
Jude, der wohl Adorno darstellen soll, trifft Klein, den östlichen
Juden, der entsprechend Celan nachbildet.
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342 Nach Auschwitz
Eines Abends, die Sonne, und nicht nur sie, war untergegangen, da ging,
trat aus seinem Häusel und ging der Jud, der Jud und Sohn eines Juden,
und mit ihm ging sein Name, der unaussprechliche.232
Der Jude Klein kam „dahergezockelt“, sich auf einen Stock stüt-
zend, sich verlauten lassend, „hörst du mich?“, „ging unterm
Gewölk“, ging „im Schatten, dem eignen und dem fremden –
denn der Jud, du weißts, was hat er schon, das ihm auch wirklich
gehört, das nicht geborgt wär, ausgeliehen und nicht zurückgege-
ben“.233
In diesen Worten lässt sich leicht Hegels Vorwurf wiederer-
kennen, nach dem die Juden „alles nur als geliehen, nicht als Ei-
gentum besaßen, weil sie als Staatsbürger alle Nichts waren“. 234
Was der Jude besitze, sei kein Eigentum. „Juif n’est pas juif “ –
kommentiert Derrida. 235 Was ist aus dem dialektisch-
ontologischen Urteil geworden?
Der Jude Klein geht seinen Weg weiter. Der Jude Groß kommt
ihm entgegen. Auch er kommt „in dem Schatten, dem geborgten
– denn welcher, so frag und frag ich, kommt, da Gott ihn hat
einen Juden sein lassen, daher mit Eignem?“ 236 Der Schatten
vereint Klein und Groß, die aber verschieden und uneinig sind.
Groß besitzt einen großen Stock, mit dem er Klein gebietet, sei-
nen Stock still zu halten. Die Philosophie, die offensichtlich weiter
spricht, zwingt der Dichtung auf, zu schweigen. Alles verstummt.
„So schwieg auch der Stein, und es war still im Gebirg, so sie
gingen, der und jener“. 237 Kann aber unter Juden, diesen „Ge-
schwätzigen“, lange geschwiegen werden? Wenn der Jude einem
den Jud hin, großgeschrieben auf den Namen Gottes, auf das Tetra-
gramm, das nicht ausgesprochen werden kann.
233 Ebd.
234 G. W. F. HEGEL: Der Geist des Christentums und sein Schicksal.
A.a.O., 290.
235 „Jüdisch ist nicht jüdisch“. J. DERRIDA: Schibboleth für Paul Celan.
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Vetter Groß und Vetter Klein 343
anderen Juden begegnet, dann „ists bald vorbei mit dem Schwei-
gen, auch im Gebirg“.238
Schweigen und Judentum sind miteinander unvereinbar. Denn
das Schweigen – so wie Rosenzweig und Benjamin hervorgehoben
haben – ist tief im Tragischen verwurzelt, in jener griechischen
Dimension des Helden, der, allein und aufständisch, an der un-
überwindlichen Mauer seiner eigensinnigen Einsamkeit scheitert,
ohne den Ausweg des Worts finden zu können.239
Das Schweigen wird bald gebrochen. Und das Gespräch fängt
wieder an – nach Auschwitz. „Es hat sich die Erde gefaltet hier
oben, hat sich gefaltet einmal und zweimal und dreimal, und hat
sich aufgetan in der Mitte“.240 Der Stein, stumm wie die Toten, die
er der jüdischen Auffassung nach schützt, scheint zu niemandem
zu reden, denn „niemand und Niemand“ hört ihn; dennoch
„spricht“ er. Ohne Mund und ohne Zunge sagt er: „Hörst Du?“241
Eine Frage, ein Gebot, ein Verweis auf das Schemah.242
Der Weg der Vettern Groß und Klein, d.h. der Versuch, eine
monolothische Idee des Juden zu zersplittern und dafür eine
vielstimmige und konkrete Vision anzubieten, war bekannt. Jahr-
hunderte lang hatten jüdische Philosophen, von Moses Mendels-
sohn bis zu Hermann Cohen, die von Kant vertretene Universali-
tät der Vernunft akzeptiert und darum ihr Judentum, das auf eine
private und besondere Sphäre fixiert war, rechtfertigen müssen.
Die Schwierigkeit, zwei sich widersprechende Angehörigkeiten zu
verbinden, wurde für die deutschen Juden das Thema einer um-
238 Ebd.
239 F. ROSENZWEIG: Stern der Erlösung. A.a.O., 80-90; W. BENJAMIN:
Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften.
Bd. I/1. Hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Suhrkamp
Frankfurt 1991, 203-430, hier 286 ff.
240 P. CELAN: Gespräch im Gebirg. A.a.O., 170.
241 Ebd., 171.
242 Das jüdische Gebet, das mit den Worten Schemah Israel beginnt.
Es ist hier nicht möglich, die unzähligen Wege, die Celans Text auf-
schließt, zu erläutern. Für ein Kommentar siehe S. MOSÈS: Quand le
langage se fait voix. In: P. CELAN: Entretien dans le montagne. Verdier:
Paris 2001, 25-50.
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344 Nach Auschwitz
fangreichen und quälenden Debatte.243 Auch unter den Befürwor-
tern der „deutsch-jüdischen Symbiose“ verbreitete sich die Forde-
rung, gleichzeitig Juden und Deutsche sein zu müssen. Ohne den
Bindestrich, ohne das „und“, das verbindet, indem es den Unter-
schied hervorhebt, wäre jene Symbiose eine hybride und prekäre
Frucht geworden. Das war Rosenzweigs Position. Er sah sehr
früh die Schwierigkeit, das Judentum in Begriffe zu fassen. Im
Versuch, den Juden zu definieren, erwies sich jede Kategorie als
inadäquat. Schließlich konnte von jeder das Gegenteil behauptet
werden. Sind die Juden etwa ein „Volk“? Auf diese Frage, die ihm
der damalige Direktor der „Jüdischen Rundschau“ stellte, antwor-
tete Rosenzweig in einem seiner letzten Artikel, der im August
1928 veröffentlicht wurde. Die Juden seien auch ein Volk; sie
seien etwas mehr und etwas weniger:
Wir finden uns also zu dem Begriff des jüdischen Volkes in der vertrack-
ten, aber sehr jüdischen Lage jenes Chasen, der, vor Gericht befragt, was
ein Schofar sei, nach vielem Drumherumgerede schließlich erklärt, es sei
eine Trompete, und, von dem entrüsteten Richter zur Rede gestellt,
weshalb er das nicht gleich gesagt habe, erwidert: is es denn e Trom-
pet?244
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Vetter Groß und Vetter Klein 345
Gedanken. Er greift auf das antisemitische Bild des Juden zurück,
der „seelenlos“ und unfähig sei, eine „schöpferische Originalität“
zu sein. Wittgenstein versucht keineswegs, dieses Bild zu widerle-
gen. Vielmehr geht es darum, seine (des Bildes) Produktivität zu
zerstören. Mit Ironie bekennt er, „jüdischer Denker“ zu sein. Er
beansprucht für sich selbst die Hitlersche Diffamierung, um aus
ihr eine neue Philosophie zu eröffnen:
Das jüdische „Genie“ ist nur ein Heiliger. Der größte jüdische Denker ist
nur ein Talent. (Ich z.B.) Es ist, glaube ich, eine Wahrheit darin, wenn ich
denke, daß ich eigentlich in meinem Denken nur reproduktiv bin. Ich
glaube, ich habe nie eine Gedankenbewegung erfunden, sondern sie wurde
mir immer von jemand anderem gegeben. Ich habe sie nur sogleich lei-
denschaftlich zu meinem Klärungswerk aufgegriffen.245
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346 Nach Auschwitz
durch einen Faden – der das jüdische Volk sein könnte – mitei-
nander verbunden.
Wittgenstein hatte schon Anfang der dreißiger Jahre notiert:
„Der Jude wird in der westlichen Zivilisation immer mit Maßen
gemessen, die auf ihn nicht passen“248. Dieser Widerspruch spitzt
sich später zu und explodiert in der Shoah. Dem Sein, dem
Schicksal, dem Ursprung, dem Logos, der Ratio, dem Entweder-
Oder unterworfen, stellt sich der übriggebliebene Jude nicht als
archaischer und lästiger Rest der von der Moderne nicht gelösten
„Frage“ auf die Bühne der Weltgeschichte, sondern er erscheint
als ein unassimilierbarer Rest – als ein Rest, der auf die Möglich-
keit eines „Über“ verweist. In diesem Verweis verschwindet die
Alternative zwischen dem Partikularismus und dem Universalis-
mus, in der der Jude jahrhundertelang eingesperrt war. Die unaus-
löschbare Eigentümlichkeit des Judentums ist nicht die Fixierung
auf das Besondere einer in sich geschlossenen Existenz, auf die
Schranken eines schweren Schicksals; sie ist vielmehr die Öffnung,
die die abendländische Zivilisation an der Abdrift in einen totalitä-
ren und totalisierenden Universalismus hindert.
Die Grundsätze, die die Philosophie für geltend gehalten hatte,
haben die Probe von Auschwitz nicht bestanden. Angesichts der
absoluten Degradierung des Humanen, das nicht nur seiner Wür-
de und seines Lebens, sondern sogar seines Todes beraubt wurde,
hat die ethische Grenze jeden Sinn verloren. Zum ersten Mal wird
der gewalttätige Zug der abendländischen Philosophie deutlich:
der Wille, sich den Anderen anzueignen, ihn zu assimilieren, zu
vernichten. Auschwitz ist das letzte Ergebnis eines ego-
zentrischen Totalitarismus, der die Differenz zum Anderen ein-
reißt; ein Totalitarismus, in dem das Wissen mit dem Können und
mit der Macht identifiziert wird, der Macht eines Subjekt, das
verlangt, der Gesetzgeber des Universums zu sein.249
Nach Auschwitz denken heißt, von Lévinas bis zu Derrida,
wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten, von einer autistischen
Syntax auszugehen, um auf diesem Weg nicht eine abstrakte Frei-
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Vetter Groß und Vetter Klein 347
heit, sondern eine Befreiung, wie die des Exodus, zu erlangen.
Diese Freiheit realisiert sich jeweils mit dem Anderen. Der Exo-
dus ist der Schritt nach außen; er wird von einem Selbst vollzogen,
das sich immer bewusst ist, dass der Andere ihm vorangeht. Die-
sem Anderen, der dazwischenredet, der einberuft, fragt, ist das
Selbst zu antworten aufgerufen. Das geschieht nicht aus einem
Akt freiwilliger Zustimmung. Vielmehr konstituiert sich das ich
unvermeidbar gerade in dem Sichwenden, in dieser Torsion. Und
wie der Andere dem Selbst vorangeht, so geht die Verantwortung
der Freiheit voran.
Diese Inversion des Weges ist die jüdische Subversion, die die
Achse des Seins brechen lässt. Gemäß der berühmten Formulie-
rung von Lévinas bedeutet die Bewegung vom Sein zum Anderen
nicht so sehr ein Anderssein als vielmehr ein „anders als Sein“.250
Jüdischsein erweist sich in dieser Hinsicht als ein prekärer Zu-
stand, der die Unvollkommenheit einer Welt, die durch die Forde-
rung nach Gerechtigkeit gezeichnet ist, auf sich nimmt. Als ob es
eine Aufgabe des Juden gäbe, einen Riss in das unerschütterliche
Sein einzuzeichnen. Als ob der Jude immer bereit sein müsste, das
In-humane anzuklagen, das ein sich ständig im Begriff verschlie-
ßendes Universales verheimlicht oder sogar rechtfertigt.
Die Frage nach dem Jüdischsein entfaltet hier ihre Weite und
Tiefe. Es geht nicht darum, einen archaischen Rest am Leben zu
halten; umgekehrt ist es gerade der Rest, der dem Abendland ein
Über aufzeigt. Judeité ist das Wort, das Derrida dem Judentum
beistellt, das auf jene „beispielhafte Erfahrung“ des Juden deutet,
die von der Qual der Identität durchzogen ist – nicht eine Schwie-
rigkeit, sondern das Verdienst, auf den Riss im Inneren eines
jeden Identitätsdenkens zu verweisen. „Juif – Jude wäre ein ande-
rer Name für diese Unmöglichkeit, ein Selbst zu sein“. 251 Vom
Sein zur „Entscheidung“ gezwungen, bis aufs Blut und bis auf die
Asche, reklamiert der Jude für sich die „Unentscheidbarkeit“, das
Paradox des Jüdischseins, das sich, genauer betrachtet, als die
250 Vgl. E. LÉVINAS: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht.
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348 Nach Auschwitz
Verantwortung und das Privileg herausstellt, gleichzeitig Universali-
tät beanspruchen und Singularität behaupten zu können.252
Rabbiner und Dichter, beide Übersetzer, auch wenn es eine ir-
reduzible Differenz zwischen Gedicht und Kommentar gibt,
arbeiten auf ihrer Wanderung – so wie es in der jüdischen Land-
schaft von Derrida gezeigt wird – zwischen Schrei und Schrift, um
die nazistische Wiederholung zu verhindern, um die Unerreich-
barkeit der arché zu zeigen, um den Mythos des Anfangs zu dekon-
struieren. Die Thora öffnet sich mit einem beth, dem zweiten
Buchstaben des Alphabets, nicht mit dem ersten, mit dem aleph.
Die ganze jüdische Tradition insistiert auf die an-archische Dis-
semination, auf die Aufsplitterung des Anfangs, die schon im
Bereshit auftritt. In einer chassidischen Geschichte mit dem Titel
Das erste Blatt wird erzählt:
Man fragte Rabbi Levi Jizchak [von Berditschew]: „Weshalb fehlt in allen
Traktaten des babylonischen Talmuds das erste Blatt und jeder fängt mit
dem zweiten an?“ Er antwortete: „Wieviel ein Mensch auch gelernt hat,
er soll sich vor Augen halten, daß er noch nicht ans erste Blatt gelangt
ist“.253
Auf der letzten Strecke seines Wegs hat Heidegger häufiger die
Seinsvergessenheit als die „Grunderfahrung“ seines Denkens
bezeichnet. 254 Nach der Kehre wird die Vergessenheit zu einem
Entzug. Die Seinsvergessenheit ist kein Defizit des Daseins; viel-
mehr ist es das Sein, das sich entzieht. Die Veränderung ist be-
gen: Wien 1995, 255 ff. Vgl. auch M. BLANCHOT: L’Entretien infini.
Gallimard: Paris 1969. Über den figuralen Juden in der zeitgenössischen
Philosophie vgl. S. HAMMERSCHLAG: The Figural Jew. Politics and Identi-
ty in Postwar French Thought. Chicago University Press: Chicago and
London 2010.
253 M. BUBER: Schriften zum Chassidismus. Werke. Bd. 3. Kösel und
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Die Vergessenheit des Hebräischen 349
achtlich: Das Sichentziehen ist die Bewegung des Seins. So verge-
genwärtigt sich das Sein, indem es sich entfernt, offenbart sich,
indem es sich verbirgt, verschenkt sich, indem es sich entzieht –
und lässt das Seiende in die Nähe des Seins kommen. Die Seins-
vergessenheit „gehört zum Wesen des Seins selbst“.255
In den Schwarzen Heften aber wird die Seinsvergessenheit dem
Juden angelastet. Dass das Seyn in die Vergessenheit geraten ist,
dass es zum Seienden gemacht wird, daran trage der Jude durch
seine Komplizenschaft mit der Metaphysik die Schuld. Deshalb ist
die „Judenfrage“ eine metaphysische Frage. Das bedeutet, dass
der Jude nicht nur im Herzen des Heideggerschen Denkens ange-
siedelt ist, sondern darüber hinaus im Mittelpunkt der Frage der
Philosophie überhaupt steht. Der Jude ist keine Randfigur. Heid-
egger begegnet ihm an einer wichtigen Stelle seines Weges, an
einer entscheidenden Kehre. Doch gerade der Jude scheint ein
unüberwindliches Hindernis zu sein, das den Zugang zu den Be-
reichen versperrt, wo allein die Entscheidung für das Seyn mög-
lich ist.256 Dem in die Seinsfrage eingeschriebenen Juden wird die
Seinsvergessenheit, die schwerste und unverzeihlichste Schuld,
zugeschrieben. 257 In dieser Schuld hallt das Echo einer anderen,
älteren und unverwechselbaren Schuld wider, die des Gottesmor-
des. Ist der Jude in der Theologie für den Tod Gottes, so ist er in
der Ontologie für die Seinsvergessenheit verantwortlich.
So ist schließlich die Frage zu stellen: Was für eine Vergessen-
heit eignet dem Juden? Steckt nicht ein objektiver Genitiv hinter
dem subjektiven der Vergessenheit des Juden? Verdeckt die dem
Juden zugeschriebene Vergessenheit nicht eine andere ihr voran-
gehende Vergessenheit? Eine Vergessenheit, die man verdecken
und vertuschen möchte? Beschuldigt man nicht, um sich zu ent-
schuldigen, und um jeder Beschuldigung vorzubeugen? Und ist es
dann nicht nötig, die Vergessenheit, die den Juden betrifft, zu
betonen, d.h. den Juden und das Hebräische, auf dessen Verges-
senheit und Verdrängung Heidegger hätte antworten sollen?
den Juden und die Kontexte, in denen er in den Schwarzen Heften er-
scheint, loszuwerden.
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350 Nach Auschwitz
„In welche Sprache setzt das Abend-Land über?“258 Diese Fra-
ge war von Celan in seiner Lektüre der Holzwege unterstrichen
worden. 259 Wenn die Sprache des in der Ferne zu erblickenden
Morgen-Landes nicht das Griechische war, das Heidegger auf der
Suche nach einem anderen Anfang dekonstruiert hatte, könnte
nicht das Hebräische die Sprache des unerlässlichen und gefährli-
chen Übergangs sein, auf dem das Abend-Land übersetzt? Ist
vielleicht das Hebräische die unvordenkliche Zukunft des Abend-
landes?
Bei der Beantwortung dieser Frage kann ein Bekenntnis
Heideggers in Erinnerung gerufen werden. In dem bekannten
Gespräch „Zwischen einem Japaner und einem Fragenden“ sagt
Heidegger in Bezug auf die Theologie und die Hermeneutik:
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Die Vergessenheit des Hebräischen 351
Hier hantierte er bedächtig in den Pausen seines Dienstes bei der Turm-
uhr und den Glocken, die beide ihre eigene Beziehung zu Zeit und Zeit-
lichkeit unterhalten.262
Eine kurze bedeutsame Schrift von 1945 ist sogar dem Glocken-
turm, seiner musikalischen „Fuge“, selbst gewidmet. Er bestimmte
den Rhythmus der Existenz, er unterschied zwischen Arbeits- und
Festtagen, die sich in seinen Schlägen sammelten und bewahrten –
bis zum letzten Geläut ins Gebirge des Seyns:
Die geheimnisvolle Fuge, in der sich die kirchlichen Feste, die Vigiltage,
und der Gang der Jahreszeiten und die morgendlichen, mittäglichen und
abendlichen Stunden jedes Tages ineinanderfugten, so dass immerfort ein
Läuten durch die jungen Herzen, Träume, Gebete, Spiele ging – sie ist es
wohl, die mit eines der zauberhaftesten und heilsten und währendsten
Geheimnisse des Turmes birgt, um es stets gewandelt und unwiederhol-
bar zu verschenken bis zum letzten Geläut ins Gebirg des Seyns.263
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352 Nach Auschwitz
Feind der Christen, die Ursache der Pest und jeder anderen Geißel
anklagte. Sein Antisemitismus hält sich in den Grenzen des Anti-
semitismus seiner Zeitgenossen oder Luthers selbst. In Heid-
eggers Rede ist kein Hinweis darauf zu finden. Er ergreift darin
eigentlich nur die Gelegenheit, die modernen Zeiten und ihre
„grundstürzende Neuerungswut“ zu attackieren.264
Die spätere Begegnung mit dem Theologen Carl Craig, dem
letzten Vertreter der spekulativen Schule von Tübingen, drängt
ihn dazu, sich von der Scholastik zu entfernen: An die Stelle von
Thomas und Suarez treten Hegel und Schelling. Heidegger nimmt
auf seine Weise am „Modernismusstreit“ teil, der gerade in jenen
Jahren ausbricht, indem er versuchte die katholische Doktrin
gegen die Angriffe der Modernen zu verteidigen. 265 Im Winter
1911 wechselt er die Fakultät und wählt das Studium der Mathe-
matik. Hier fällt ihm alles leichter, da er besonders in der Infinite-
simalrechnung begabt ist. Trotzdem folgt er Braig weiter und,
nachdem er Schleiermacher und Dilthey entdeckt hatte, beginnt
er, sich eingehend mit Nietzsche, Kierkegaard und Dostojewski zu
befassen. Zudem liest er Rilke und Trakl. Der Schritt zur Philoso-
phie markiert auch Heideggers Distanzierung vom Katholizismus.
Seine Habilitationsthese über Duns Scotus von 1915 rechtfertigt
diese Distanzierung: Der scholastische Begriff der Transzendenz
scheint ihm zu weit vom Einzelnen und seinem Leben entfernt zu
sein. „Immanenz und Transzendenz sind Relationsbegriff.“266 Der
Scholastik wirft er vor, die Verbindung mit der Mystik verloren zu
haben.
264 GA 13, 1-3, hier 3. In diesem Sinn scheint das Kapitel von mehr als
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Die Vergessenheit des Hebräischen 353
Nur eine hohle Kulturkritik hält die Mystik für etwas Irrationa-
les. „Womit man die Mystik als das ‚Formlose‘ beschwatzt, ist
lediglich ein Gerede zu im Grunde unwissenschaftlichen Metho-
den begrifflicher oder vorgedachter ‚Gegenüberstellungen‘“. 267
Seine Annäherung an den Protestantismus, die durch eine Ausei-
nandersetzung mit Luther bestimmt wird, erschließt ihm den Weg
zur Innerlichkeit. Neben Meister Eckhart und Bernardus von
Clairveaux erscheint nun auch Teresa von Avila.268
Das wird durch eine Vorlesung bezeugt, die im Jahr 1918 vor-
bereitet, aber nie gehalten wurde: Philosophische Grundlagen der mittel-
alterlichen Mystik. Hier kritisiert Heidegger das „dogmatische Ge-
hege“ des Katholizismus, der sich nur durch die Ausübung einer
dunklen Autorität und einer „Polizeigewalt“ erhält und jedes „ur-
sprüngliche genuine religiöse Werterlebnis“ erstickt. 269 Hodie le-
gimus in libro experientiae – „Heute wollen wir uns im Felde persön-
licher Erfahrung auffassend (beschreibend) bewegen“. 270 So
nimmt Heidegger die Worte des Bernardus auf. Und fügt am
Ende jene von Teresa hinzu: „Denn das, was ich vortragen will, ist
sehr schwierig und dunkel, wo keine Erfahrung da ist“.271
Zürich 2006. Teresa von Avila wurde damals viel gelesen. Für die Phä-
nomenologen stellte sie vermutlich eine Art Übergang vom Judentum
zum Christentum dar. Ihre Texte forderten Bekehrungen, die Husserl
nicht gefielen. Als Tochter eines conversos aus Toledo beanspruchte sie
den Dissens der marranos und die Notwendigkeit einer neuen Theologie,
die sich wie die des Francisco Osuna und des Juan de La Cruz, beide
conversos, der Scholastik widersetzte: Gott war nicht das Objekt der
Erkenntnis, sondern das durch einen inneren Abstieg zu erreichende Ziel.
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354 Nach Auschwitz
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Die Verborgenheit des Paulus 355
Paulus eine komplexe und zweideutige Gestalt.274 Der Apostel der
Heiden sei der wahre Begründer des Christentums – nicht Jesus
von Nazareth:
Paulus will weiter sagen, er sei durch eine ursprüngliche Erfahrung, nicht
durch eine historische Tradition zum Christentum gekommen. Hieran
knüpft sich eine in der protestantischen Theologie kontroverse Theorie:
Paulus habe kein historisches Bewußtsein von Jesus von Nazareth gehabt,
sondern er habe eine eigene neue christliche Religion gegründet, ein
neues Urchristentum, das die Zukunft beherrscht: die paulinische Religi-
on nicht die Jesusreligion. Man braucht also nicht auf einen historischen
Jesus zurückzugehen. Jesu Leben ist ganz gleichgültig.275
auf Benjamin schaut. Vgl. G. AGAMBEN: Die Zeit, die bleibt: Ein Kom-
mentar zum Römerbrief. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2006. In den
letzten Jahren haben sich die philosophischen und theologisch-
politischen Studien über Paulus vermehrt.
275 GA 60, 69-70.
276 Ebd., 69.
277 Vgl. Kap. II, § 21. Man muss hervorheben, dass die Debatte um
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356 Nach Auschwitz
Wieder andere verzichten auf beide und mithin auf das ganze
Christentum. 278 Diese Befangenheit ist bekanntlich sehr alt. Sie
bezieht sich auf die Notwendigkeit des Christentums, sich vom
Judentum zu trennen, um sich als eine neue Religion geltend ma-
chen zu können. Da es keine geschichtliche Zäsur für diese Tren-
nung gibt, ist es am leichtesten, von der Geschichte abzusehen.
Das ist der Weg Heideggers, der den fiktiven Anfang in Paulus’
„ursprünglicher Erfahrung“ zu erkennen glaubt. Er rettet Paulus
und lässt den historischen Jesus fallen. Vor allem spricht er vom
„Urchristentum“. Er verwendet das Adjektiv „urchristlich“ – zum
Beispiel in der Wendung von der „urchristlichen Religiosität“.
Was bedeutet dieses Präfix? Auf welche Weise könnte es unkri-
tisch verstanden werden? Ur- ist das Zeichen einer Zäsur, eines
deutlichen Schnitts gegenüber dem, was früher existierte, es ist der
Versuch der Verdeckung, der Verhüllung. Es ist schließlich ein
Präfix, das sich metaphysisch entwirft, um Ursprung und Ur-
sprünglichkeit zu reklamieren. Während das Präfix sich in die
Vergangenheit zurückdehnt, um sich das ihm vorangehende ein-
zuverleiben, rückt es vor, reicht das Recht ein, das erste zu sein,
beansprucht das Erstlingsrecht.
Das „Urchristentum“ wäre also das Christentum der frühesten
Gemeinden, der Gläubigen um Paulus herum, die jedoch gar nicht
wussten, dass sie Christen waren. Paulus selbst ist es nicht und
weiß es auch nicht, da er Shaul heißt, Sohn von Baruch, aus der
jüdischen Gemeinde Tarsus. Er ist ein Kind der Juden, ein Kind
von Pharisäern, Schüler des berühmten Rabban Gamaliel.
278 Man ahnt auf jüdischer Seite, dass in Bezug auf die Auslegungen
des „Urchristentums“ eine Revision nötig wäre. So ist der Versuch von
Sholem Asch bedeutsam. Nach seiner Auswanderung von Polen in die
Vereinigten Staaten schrieb er auf Jiddisch und veröffentlichte auf Eng-
lisch The Nazaren (1939) und The Apostle (1943). Er reklamiert sowohl
den Rabbi von Nazareth als auch Shaul von Tarsus als geschichtliche
Gestalten für das Judentum. Er rekonstruiert den Irrtum von Damaskus;
den von einem Juden, der immer Jude geblieben ist, begangenen Irrtum.
Er überlässt Yakov ben Joseph, dem ersten der fünf Brüder von Jesus,
die Aufgabe, Shaul zu sagen, wie sehr er mit seiner Botschaft das Be-
wusstsein von Israel verletzt hat. Vgl. S. ASCH: The Apostle. G. P.
Pittman’s Sons: New York 1943.
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Die Verborgenheit des Paulus 357
Wie steht es mit dem Judentum in Heideggers Text? Wie steht
es mit dem Hebräischen? Nur mühsam sind verstreute Spuren
ausfindig zu machen, die eigentlich nur Reste einer gründlichen
Tilgung sind. Es gibt vor allem negative Hinweise: „Paulus ist [...]
im Kampfe mit den Juden“, „seine eigene ursprüngliche Position“
soll von der „rabbinisch-jüdisch-teologisch[en]“ Argumentation
unterschieden werden; das Gesetz ist das, was „den Juden zum
Juden macht“, daher die „Gegenüberstellung von Glaube und
Gesetz“; die „eschatologischen Vorstellungen“ auf das Spätjuden-
tum und dann auf das alte Judentum zurückzuführen, bedeutet
nicht, Paulus zu „erklären“, da der „ursprüngliche Vollzugszu-
sammenhang“ wichtig ist.279
Zweifellos ist Heidegger nicht der einzige, der diese Verdrän-
gung vollzieht. Denn sie war damals ein relativ verbreiteter Ge-
stus. Trotzdem wirkt Heideggers Behauptung verblüffend: „Der
griechische Urtext ist der allein zu Grunde zu legende: ein wirkli-
ches Verständnis setzt ein Eindringen in den Geist des neutesta-
mentlichen Griechisch voraus“. 280 Da das „Urchristentum“ auf
sich selbst begründet werden muss, ist der „Urtext“ griechisch. Es
ist unwichtig, dass das Griechische der Briefe offensichtlich eine
übersetzte und abgeleitete Sprache ist, dass es von Zeichen über-
sät ist, die auf einen Hintergrund, auf eine Meta-Sprache, auf das
es prägende und kontaminierende Hebräische verweisen.281 Es ist
unwichtig, dass die zahlreichen Zitate andere und ältere Texte
auftauchen lassen und dass Paulus selbst seine Herkunft verrät,
indem er sich ins Griechische übersetzt.
„Das ist doch nicht Griechisch, das ist doch Jiddisch!“282 – eine
witzige Bemerkung Emil Staigers, die von Taubes berichtet wird.
Heidegger liest Paulus’ Texte „mit dem Genie des Ressentiments“,
aber eben mit Ressentiment.283 Das „Jiddisch“ belästigt und beun-
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358 Nach Auschwitz
ruhigt ihn. So löscht er es aus. Und in seinen Vorlesungen ver-
wendet er einen neutestamentlichen „Urtext“. Das geschieht übri-
gens in den Jahren, in denen sich ein Bewusstsein für den hebräi-
schen Text gerade in Deutschland und gerade unter den Philoso-
phen deutlich schärft. Buber und Rosenzweig überzeugen sich
von der Notwendigkeit einer neuen „Verdeutschung der Schrift“,
einer erneuten Übersetzung der Thora, um die Substitutionstheo-
logie einzudämmern und das vom lutherschen Deutsch verstellte
Original wieder ans Licht zu bringen.
Wie lässt sich sonst erklären, dass Heidegger, der überall die
„Destruktion“ anwendet, der die Schichten der Metaphysik abbaut
und an den Worten arbeitet, sie auf ihre Etymologie zurückführt
und so das traditionelle Verständnis demontiert, in seiner Paulus-
Auslegung beim neutestamentlichen Griechischen stehen bleibt,
um es als Grund und Begründung seiner Interpretation zu beto-
nen?
Heideggers Vorgehensweise hat eine theologische Bedeutung:
Er trennt das Griechische vom Hebräischen, das Neue vom Alten
Testament. Er schließt die Thora aus, beschränkt die „Bibel“ nur
auf die griechischen Texte des neutestamentlichen Kanons, der in
einem weiteren Schritt auf eine reine Glaubenserfahrung reduziert
wird. Die Philosophie betrachtet auf der einen Seite den evangeli-
schen, besser noch, den christlichen Glauben, auf der anderen das
griechische Denken. Das will zunächst sagen, dass es kein bibli-
sches und noch weniger ein jüdisches Denken gibt (Denken ist ein
Merkmal Athens, nicht Jerusalems). Aber das heißt auch, dass der
ursprüngliche Charakter des Christentums sich in den Glauben
auflöst – obwohl die christliche Theologie ein Amalgam von grie-
chischer Metaphysik und Urchristentum ist. Natürlich hat der
Philosoph nichts mit dem Glauben zu tun; er kann bei seiner
Auseinandersetzung mit den philosophischen Fragen der Grie-
chen davon absehen. Das hindert ihn übrigens nicht daran, sich
vom „Glauben“ inspirieren zu lassen, um zur Not kurze Überfälle
in dessen Gebiete zu machen.
Bei Philosophen ist ein solches Verfahren alles andere als un-
gewöhnlich. Bei Heidegger aber beunruhigt, dass es ihm auf die
Ausschließung der hebräischen Bibel aus dem Abendland, auf die
Eliminierung des Hebräischen ankommt. So ist es legitim, sich mit
Ricœur zu fragen, „warum Heidegger, der zwar ausgehend von
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Die Verborgenheit des Paulus 359
dem Evangelium und der christlichen Theologie denkt, immer das
hebräische Massiv vermieden hat, das das absolute Fremde gegen-
über dem Griechischen ist“. Heidegger macht hier „keinen Schritt
zurück“, um „die radikal hebräische Dimension des Christen-
tums“ anzuerkennen. 284 Warum also Hölderlin und nicht die
Psalmen?
Gewiss könnte man hier das Fehlen einer einschlägigen Bil-
dung geltend machen: Es ist nicht gesagt, dass man das Hebräi-
sche kennt und deshalb die Texte des Alten Testaments lesen
kann. Es ist möglich, dass damals in der avancierteren christlichen
Theologie weder die Sprache noch die jüdischen Quellen selbst
bekannt waren. Wer die berühmte „Graeca“ von Bultmann in
Marburg besuchte, konnte kaum einen Zugang zu jener Tradition
haben. Zudem wurde sie von der Theologie verdrängt. Trotz
allem: Selbst wenn man das Hebräische nicht kennt, kann man
nicht umhin, anzuerkennen, dass das Hebräische existiert, dass es
die Sprache ist, die vom Griechischen verdeckt wurde und die
wieder ans Licht gezogen werden soll.
Heidegger schweigt über das Hebräische. Ob dieses Schweigen
schon das ankündigt, was wir heute kennen? Die Gestalt des
Apostels wird auf eine suggestive, neue Weise dargestellt. Warum
ist es nicht legitim, sich vom urchristlichen Leben, das Heidegger
phänomenologisch beschreibt, inspirieren zu lassen? Das, was
perplex macht, ist nicht nur die Hermeneutik, die sich nicht zu-
rückhält, um den Text sprechen zu lassen, die bei einem „Urtext“
stehen bleibt und ihn so zu einer Grenze macht. Das Paradox liegt
vielmehr darin, dass der der Vergessenheit übergebene Sinn zu-
gleich als Original und Neuheit inszeniert wird.
Ist es nicht die jüdische Zeitauffassung, an die Paulus erinnert?
Woher kommt die Warnung, die Tage, die Monate nicht zu rech-
nen im Warten auf das, was kommen muss? Woher die Warnung,
wach und wachsam zu bleiben für das abrupte und plötzliche
Kommen? Wer hat zu diesem höheren Handeln aufgefordert, das
weder ein Machen noch ein Vorstellen, sondern eine Aufmerk-
samkeit ist? Heidegger entleert die jüdischen Inhalte, um die Er-
fahrung der Zeit, der Ankündigung, des Wartens – und der Spra-
284P. RICŒUR: Note introductive. In: Heidegger et la question de
Dieu. Hrsg. von R. Kearney und J. S. O’Leary. PUF: Paris 2009, 37.
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360 Nach Auschwitz
che – zu erhalten. In seinem berühmten Aufsatz Gelassenheit unter-
scheidet er zwischen einem „Erwarten“ und dem „Warten“: man
erwartet etwas Bestimmtes und Vorgestelltes, im Warten aber lässt
man das, worauf man wartet, offen.285 Die Entsprechungen sind
unverkennbar. 286 Das wird deutlich, wenn Heidegger an die Art
erinnert, in der Paulus vom Tag spricht, „ an dem der Herr wie ein
Dieb in der Nacht kommt“.287
Deshalb hat Zarader von einer „ungedachten Schuld“ gespro-
chen.288 Der verschwiegene hebräische Anteil an Heideggers Den-
ken tritt an strategischen Punkten, an entscheidenden Kehren auf:
in der Auffassung der Sprache, in der Ansicht der Geschichte,
beim Thema der Interpretation, bei dem des Entzugs, des Nichts,
der Gelassenheit, sogar der Zeitlichkeit.289 Zarader kann deshalb
fragen: „Mit welchem Recht [de quel droit], und woher ausgehend,
kann Heidegger von einer der Metaphysik inhärenten ‚Vergessen-
heit‘ sprechen und also von einem Ungedachten?“290 Wenn Heid-
egger „das hebräische Massiv“ – „le massif hébraïque“ – ver-
285 M. HEIDEGGER: Gelassenheit. A.a.O., 44 ff.
286 Vgl. M. ZARADER: La dette impensée. A.a.O., 179-186. Zarader be-
zieht sich auf die Zeugnisse über den Kurs, der damals, als sie ihren Text
schrieb, noch nicht veröffentlicht war. Im heute vorliegenden Text der
Vorlesung sind die Entsprechungen und Ähnlichkeiten noch deutlicher.
Hier ist es freilich nicht möglich, eine zusammenhängende Interpretation
zu liefern.
287 PAULUS: Thess. 5,2. Talmudb Sanhedrin 79a.
288 M. ZARADER: La dette impensée. A.a.O., 23 ff.
289 Daher die breite Rezeption von Heidegger im jüdischen Denken –
übrigens ein noch nicht geschriebenes Kapitel. Das erste Buch, das in
Amerika über Heidegger veröffentlicht wurde, ist dasjenige von Michael
Wyschogrod. Vgl. M. WYSCHOGROD: Kierkegaard and Heideger. The
Ontology of Existence. Routledge & Kegan: London 1953. Über die
Affinitäten siehe auch A. SCHULT: Being Jewish /Reading Heidegger. An
Ontological Encounter. Fordham: New York 2004. Der Kabbalah-
Forscher und Philosoph Elliot Wolfson hat Heidegger ein Kapitel seines
neuen Buches gewidmet. Vgl. E. R. WOLFSON: Giving Beyond the Gift.
Apophasis and Overcoming Theomania. Fordham: New York 2014, 227-
260.
290 M. ZARADER: La dette impensée. A.a.O., 26. Dieses Nicht-Gesagte,
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Die Zukunft des Seins und das Hebräische des Namens 361
schweigt, um zugleich aus ihm zu schöpfen, dann muss seine
Beziehung zu ihm heimlich, verheimlicht, secret, travesti, sein. 291
Doch die „ungedachte Schuld“ konnte nicht „ungedacht“ bleiben.
Nachdem Zarader einige deutliche Konvergenzen hervorgehoben
und auf Böhme, Schelling bzw. auf die Linie des deutschen Den-
kens verweist, das der Kabbalah begegnete, schließt sie, dass der
Traum des Griechischen das Hebräische vertilgt und Heideggers
Abendland „geheimnisvoll gereinigt“, „mystérieusement [...]
purifié “ ist.292
19. Die Zukunft des Seins und das Hebräische des Namens
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362 Nach Auschwitz
um auf den denkfremden Glauben zurückzugehen, öffnet Hei-
degger das Denken der Möglichkeit eines anderen Gottes. Im
Wort des Dichters kehrt Gott in die Nähe des Denkens zurück.
Heidegger stellt nicht selten das lateinische Deus und vor allem
das griechische theós (beide auf das indoeuropäische *deiwa zurück-
führbar), das die Helligkeit des himmlischen Gewölbes bezeich-
net, aus dem Zeûs, deus, divus herstammen, dem deutschen Wort
„Gott“, das ein Wort mit ungewissem Etymon ist, an die Seite.295
Gleichgültig, ob man von Gott oder von Deus spricht, in beiden
Fällen wird ein Gattungsname verwendet, der auf eine Klasse des
höheren Seienden hindeutet, auf ein Überbleibsel einer Reihe von
Göttern. Die Tradition der abendländischen Metaphysik hat den
Artikel beseitigt und den Großbuchstaben eingeführt, um die
Einzigkeit Gottes zu markieren. Doch der Gattungsname „Deus“
hält den Zusammenhang mit den Göttern fest.
Das Hindernis, das die Übersetzung der Thora ins Griechische
und in andere Sprachen erschwert, ist das Tetragramm yod-he-waw-
he: YHWH, die hebräischen Buchstaben des Gottesnamens. Man
darf das Tetragramm nicht aussprechen, es nicht vokalisieren, weil
das bedeuten würde, Gott zu ergreifen und zu objektivieren, aus
ihm ein Seiendes, wenn auch das höchste Seiende, machen zu
wollen. Im hebräischen Text markiert das Tetragramm eine verti-
kale Unterbrechung. Doch es darf auch deshalb nicht ausgespro-
chen werden, weil die exakte Aussprache im Geheimnis der Tradi-
tion verschwunden ist. Sogar dem Tetragramm ist kein Ursprung
eingeschrieben.
Obwohl es sich nicht aussprechen lässt, ist das Tetragramm ein
Eigenname mit einer Bedeutung, die kurz vor dem Exodus aus
Ägypten offenbart wurde. Die Jahre der Sklaverei hatten die
Hoffnung der Juden erschöpft, sie hatten die Erinnerung an den
Gott ihrer Väter, der der Szene der Geschichte schon lange fern
geblieben war, geschwächt.
Während Moses achar hamidbar, in einen Ort eingedrungen ist,
der schon jenseits der Wüste und jenseits des Wortes ist, enthüllt
ihm Elohim in dem Augenblick, in dem er zu einem theologisch-
politischen Pakt mit seinem Volk aufruft, seinen Namen: Ehjeh
295 Gott heißt entweder „derjenige, der angerufen wird“, oder „derje-
nige, dem geopfert wird“.
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Die Zukunft des Seins und das Hebräische des Namens 363
Asher Ehjeh, „Ich werde derjenige sein, der sein wird“. Moses soll
dem Volk berichten: „Ehjeh schickt mich zu Euch“.296
Die jüdische Hermeneutik sieht wegen der gemeinsamen Buch-
staben im Tetragramm eine Synthese der Wendung „Ich werde
derjenige sein, der sein wird“. Nach seinem eigenen Namen ge-
fragt, antwortet Gott mit einem Verb, mehr noch, mit dem dop-
pelten Futur des Verbums Sein. In diesem Futur erscheint das
Verb „Sein“ im Imperfekt. Es deutet auf eine unvollendete Akti-
on, auf eine Gegenwart hin, die auf eine offene Zukunft verweist.
Gott verzichtet auf seine Identifizierung und lässt zu, dass zwi-
schen den beiden Futurwendungen eine Differenz auftritt, die das
Pronomen asher aufrechterhält. Ich werde derjenige sein, der sein wird
lässt jede Definition zu Gunsten der unendlichen Unvorherseh-
barkeit der Zukunft, der menschlichen Zeiterfahrung, offen. Man
könnte es so umformulieren: „Ich werde derjenige sein, den ihr
wollt, dass ich bin“ – „die Zukunft meines Seins wird von Euch
abhängen“. Die Kluft zwischen den beiden Futurformulierungen
ist die der Grammatik der menschlichen Zeit, in die hinein Gott
sich deklinieren und konjugieren lässt, um sich auf den Gang der
Geschichte einzulassen.
In Heideggers veröffentlichten Schriften gibt es keine Anspie-
lung auf das Tetragramm. Er ist ein Leser der griechischen Über-
setzung der Septuaginta. „Die Sprache, die ihm den Zugang auf
die Bibel ermöglicht, ist diejenige des Delphischen Orakels“.297 In
dieser Sprache ist Gott etymologisch mit den Dämonen verwandt.
Weil er nicht den Schritt zurück macht, den die Hermeneutik ihm
eigentlich nahelegt, bleibt ihm der Zugang zum Tetragramm ver-
sperrt. Und so bleibt er der Offenbarung des Anderen fern, die
sich in dem Ehjeh einer unvollendeten Zukunft ereignet.
296Exodus/Schemot 3,13-14.
297Vgl. B. DUPUY: Heidegger et le Dieu inconnu. In: Heidegger et la
question de Dieu. Hrsg. von R. Kearney und J. S. O’Leary. PUF: Paris
2009, 123-141, hier 123.
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364 Nach Auschwitz
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Eine heidnische Landschaft 365
Gott von Brot und Wein, von Boden und Blut“.300 Deshalb gibt
es einen gestorbenen Gott. Doch der Name oder der Namenlose
kann nicht sterben.
Der in der Rektoratsrede zitierte Spruch Nietzsches „Gott ist
tot“, wurde von Heidegger später folgendermaßen gerechtfertigt:
„Diesen Satz habe ich aus wesentlichen Gründen in meiner Rek-
toratsrede eingeführt. [...] Er bedeutet: Die übersinnliche Welt,
insbesondere die Welt des christlichen Gottes, hat seine wirkende
Kraft in der Geschichte verloren“.301
Aber Gott ist nicht das „Übersinnliche“, das sich von der Na-
tur her oder in einer schönen Form bestimmen lässt: „Gott kann
und muß nur in einem Denken der Natur, des Dionysischen und
Orphischen, im Christentum sterben (und wiederauferstehen),
einem Denken, worin der Augenblick des nihil, der Kreuzigung,
verziehen und aufgehoben wird“.302 In dieser Hinsicht bleibt der
späte nicht weniger als der frühe Heidegger „an das Opfer gefes-
selt und verkennt gänzlich das Heilige“.303
Hat der Spruch „Gott ist tot“ nach Auschwitz noch einen
Sinn? Viele wiederholen ihn, oft unbedacht, als sei er der Refrain
des Nihilismus, der alles erklärt – auch die Vernichtung. Für La-
coue-Labarthe ist es das, was Heidegger zwar nie sagte, doch was
er hätte sagen können.304
Der Gott, der stirbt, beunruhigt. Die Szene der Kreuzigung ist
quälend, weil sie den Gottesmord evoziert. Anklagen, Beschuldi-
gungen, Todesurteile werden heimlich lanciert – als seien die
Vergasten Opfer eines echten Holocausts, als ob sie hätten süh-
nen müssen.
Doch wenn ein Gott in dieser Apokalypse gestorben ist, dann
war er ein heidnischer Gott, sei er der erste oder der letzte oder
der Gott des griechisch-christlichen Abendlandes. In diesem Sinne
ist Auschwitz nicht nur die Schwelle, die die dem Nicht-Sein Aus-
gelieferten überqueren mussten, sondern es ist auch der Ort, wo
die vernichtet wurden, die durch ihre bloße Existenz nicht einfach
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366 Nach Auschwitz
einen anderen Gott, sondern DAS ANDERE bezeugten. Ohne
diese Vernichtung gibt es keine Vollendung des Abendlandes.
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Der andere Anfang, der Anfang des Anderen 367
So lässt sich auch ahnen, warum der Anfang das Sein auf-
schließt. Das Sein sei sogar als Anfang und als Ereignis zu verste-
hen. Für Heidegger ist der Anfang – wie die Griechen wussten –
die Grenze einer Eröffnung. Obwohl er als abgründig gedacht
wird, ist er nicht kontaminiert. Die Geste der Hand, die fasst, wird
von einem Einzelnen vollzogen. Der Anfang ist ein Sich-nehmen.
Doch er ist nicht der Anfang des Anderen.
Heideggers Denken kommt aus der Erfahrung der Endlichkeit
– „das Dasein […] existiert endlich“307 – und folglich ist es ein endli-
ches Denken (mit all den Aporien, die sich daraus ergeben). Das
heißt aber nicht, dass die Faktizität, in die das Dasein geworfen ist,
eine Falle ohne Ausweg sein muss. Die Radikalität, mit der Heid-
egger die Endlichkeit denkt, bedingt allerdings die Art, in der er
das ständige Über-Sich-Hinausgehen des Daseins betrachtet.
Ohne das „Über“ könnte auch kein Dasein existieren; vielmehr ist
das Dasein sogar dieses Über. Das Dasein existiert „in und als
Transzendenz“. 308 Heidegger spricht vom „Überstieg“, der ein
Überschreiten, ein Übersichhinausgehen ist.309
Das Dasein, das über sich hinaus geht, öffnet sich der Welt und
wirft sich Möglichkeiten zu; doch diese Bewegung ist nicht „hin-
über zu einem anderen hinauf, sondern herüber zu ihm selbst“.310
Dieses „Herüber“ erscheint als eine diesseitige Rückkehr. Heideg-
ger misstraut dem „Jenseits“, weil er dem Unendlichen, das aus
einem Denken der ursprünglichen Endlichkeit ausgeschlossen
werden muss, misstraut. Daraus folgt, dass die Bewegung des
Daseins sich immer im Endlichen vollzieht: Das Dasein, das über
sich hinausgeht, nähert sich nicht dem Anderen, sondern es kehrt
zu sich selbst zurück, wendet sich der eigentlichen Aneignung
seiner selbst zu. Die Grenze ist immer unvermeidbar eine abgrün-
dige Grenze, die auf den Abgrund verweist. Es ist nicht die Gren-
ze des Anderen, die sich dem unendlichen Über des Anderen
öffnet.311 Zwar fehlt der Andere in Heideggers Landschaft nicht;
Milano 2006.
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368 Nach Auschwitz
doch es ist die Endlichkeit des Daseins, die vom Anderen de-
finiert, d.h. begrenzt, wird. Den Anderen, der die Grenze aufhebt,
gibt es nicht.
Dem entstammt Heideggers Askese der Grenze, die unaufhör-
lich über der Suche nach dem anderen Anfang, der kein Anfang
des Anderen sein darf, schwebt. Sie begleitet die Trauer des Seins.
Das Sein im Zeichen der Trauer denken heißt, gegen die Endlich-
keit, gegen den Tod, das letzte Ende, gegen die äußerste Grenze
des Ereignisses anzudenken, in dem es sich erst, jeweils ver-
schwindend, ergibt.
In den Schwarzen Heften, in denen Heidegger nicht viel zitiert,
begegnet man der Eintragung einer ganzen Stelle aus Hannah
Arendts Buch über Rahel Levin, einer herausragenden Figur des
jüdischen Berlin vom Ende des 18. Jahrhunderts. Die Stelle wurde
dem Schlussteil entnommen, in dem Rahels letzte Lebensjahre
erzählt werden.
Rahel kam ihrem Wunsch nach Emanzipation u.a. dadurch
nach, dass sie ihren Namen mehrmals wechselte. Trotzdem hatte
sie stets das Bewusstsein eines „Schlemihls“. Schutzlos und rebel-
lisch, vom Scheitern bedroht, vom Unstern verfolgt, von der Last
einer Existenz gequält wie von der Chimäre einer unmöglichen
Eigentlichkeit, stand Rahel dauernd auf der Kippe zwischen dem
Zurückweichen des Parvenüs und der bewussten Revolte des
Parias. Als Frauensymbol eines Jüdischseins, das über die Assimi-
lation hinausging, bezeugte sie das Versagen jenes Traums.
„Ist nicht stets am Ende, wenn man nicht mehr zerstreut und beteiligt am
Einzelnen, Gegenwärtigen ist, an Glück und Unglück, wenn alles schon
entschieden ist, der Anfang wieder eindringlich da, all das, was man
vergessen mußte, um weiter zu können, überströmt von der Fülle und
dem viel zu Vielen eines menschlichen Lebens? Und gebärdet sich nicht
der Anfang stets als das Eigentliche, nicht zerstörbare, als der Kern?“
Rahel Varnhagen H. A.312
Wenn alles schon entschieden ist, wenn das Leben an sein Ende
gekommen zu sein scheint, taucht der Anfang auf und hebt sich
gegen die Dunkelheit des Epilogs ab. Heidegger erkennt sich in
312GA 95, 265. H. ARENDT: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer
deutschen Jüdin aus der Romantik, Piper: München – Zürich 2014, 180.
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Ein Engel im Schwarzwald. Apokalyptik und Revolution 369
diesen Worten wieder, weil er den Anfang des Seins aus dem
Dasein und aus dessen Ende her denkt. Er verkennt jedoch die
messianische Tragweite des Anfangs des Anderen, die Hannah
Arendt durchaus erfasste:
Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, daß er, von dem Gewesenen
und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerre-
chenbar in die Welt bricht. [...] Der Neuanfang [...] ist immer das unend-
lich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger
Erfahrung begegnen [...] immer wie ein Wunder an. [...] Handeln als
Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem
Einzelnen die Tatsache des Geborenseins.313
In der Nacht der Welt, in der dürftigen Zeit, hat Heidegger eine
Eschatologie des Seyns umrissen, indem er, wie wohl kein ande-
rer, bis zu den Grenzen des Abend-Landes vorgedrungen ist, um
von da aus den Abgrund zu erblicken. Sein Denken ereignet sich
als ein Scheitern im engen Übergang zwischen zwei Negationen:
dem „nicht mehr“ der entflohenen Götter und dem „noch nicht“
des kommenden Gottes. 314 Deshalb vertraute er sich Hölderlins
Dichtung an, die dazu berufen ist, den Raum des Heiligen zu
erschließen und das sich bereitende Neue entstehen zu lassen.
In den Schwarzen Heften, die zeitlich der deutschen Niederlage
vorangehen, ist Hölderlin noch nicht der Dichter der „Wander-
schaft“, eines Wohnens, das ein Wandern, ein unheimliches Hei-
mischwerden im Fließen des Stromes ist, wenn die „Heimatlosig-
keit“ bereits ein „Weltschicksal“ geworden ist und sich kein ande-
rer Wohnsitz mehr als das Asyl der Dichtung anbietet.315 In diesen
Heften ist Hölderlin vielmehr der Dichter der Revolution.
313 H. ARENDT: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper: München
– Zürich 2002, 216-217.
314 V. VITIELLO: Cristianesimo senza redenzione. Laterza: Roma – Bari
1995, 67-71.
315 GA 53, 203 f.; GA 9, 339.
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370 Nach Auschwitz
Warum aber soll die Revolution einem Dichter überlassen wer-
den? Und dazu noch einem visionären, entwaffneten Dichter, der
im öffentlichen wie auch im privaten Leben ein Versager, ein
Wahnsinniger war? Heidegger wird Jahre später im Wahnsinnigen
denjenigen erkennen, der „sinnt“, ohne über den Sinn und die
Logik der anderen zu verfügen. „Sinnen“ bedeutet reisen, streben
nach.316 Der Wahnsinnige ist der Abgeschiedene, der anderswohin
unterwegs ist. Der Dichter ist in seinem Vergangensein und in
seinem Vorwegnehmen stets der Ortlose; er ist eine gewesene
Zukunft und eine zukünftige Gewesenheit. Er schliesst das „Zwi-
schen“ auf, den Raum des Heiligen zwischen einem „nicht mehr“
und einem „noch nicht“. Er stiftet das, was bleibt, er nennt das,
worauf gewartet wird. Deshalb sind die Dichter die „Künfti-
gen“.317
Hölderlin ist aber auch seit seiner Tübinger Zeit das Symbol
einer verfehlten Revolution, die zwar immer erträumt, doch nie
vollzogen wurde. Es geht um eine Revolution, die zwar tragisch in
einem engen Turm endete, aber eine kommende ist, weil sie in der
ontologischen Tiefe einer Dichtung bewahrt wird.
Nicht zufällig wird Hölderlin in den Schwarzen Heften in die Nä-
he Lenins gerückt; hundert Jahre trennen sie: Der eine ist im Jahr
1770, der andere im Jahr 1870 geboren. 318 Die bolschewistische
Revolution „bringt das ‚Ende‘“, ist die letzte Fassung einer Meta-
physik, die dank der Komplizenschaft mit dem Judentum das
Ende unendlich wiederholt und es als „ein Neues“ ausgibt.319 Die
andere Revolution, die von Hölderlin, bringt das Neue „des ande-
ren Anfangs“.320
Schwarzen Heften weit über die Grenzen einer bloß historischen, allein
auf den Nationalsozialismus bezogenen Bedeutung hinaus. Vgl. z.B. B. H.
F. TAURECK: Heideggers Interesse an der „nationalsozialistischen Revolu-
tion“. Ein metaphernkritischer Versuch. In: Politische Unschuld? In
Sachen Martin Heidegger. Hrsg. von B. H. F. Taureck. W. Fink: Mün-
chen 2008, 143-201.
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Ein Engel im Schwarzwald. Apokalyptik und Revolution 371
Einerseits handelt es sich um eine internationale und internati-
onalistische Revolution. Sie vollzieht sich nach dem Paradigma
der Übersetzung. Andererseits gibt es eine Revolution, die der
Dichtung und ihrer radikalen Ursprünglichkeit entspringt. Sie
kann nur auf Deutsch verfasst werden. Einerseits gibt es eine
moderne Revolution, die im Zuge der „Elektrifizierung“ ausge-
brochen ist, andererseits eine Revolution, die noch kommen kann,
weil sie nur aus der Überwindung der Metaphysik zu erscheinen
vermag. Die eine ist Ausdruck des Willens zur Macht, die andere
wird im Zeichen des Wartens und der Gelassenheit erfolgen.
In die übrigens zutreffende Kritik an der bolschewistischen
Revolution als einer direkten Folge der Technik fügt Heidegger
das Thema der Verlängerung oder, besser, der Rückkehr des En-
des ein. So zeigt sich zwischen Heideggers Beharren auf diesem
Thema und der ebenso kritischen jüdischen Auffassung der ewi-
gen Wiederkehr des Gleichen eine verblüffende Konvergenz.
Doch Heidegger liest sie als eine ewige Rückkehr des Endes.
Paradoxerweise erkennt er gerade in den Bolschewiki bzw. im
Juden den wichtigsten Repräsentanten dieses Endes. Der Jude, der
der Quelle des Seyns am fernsten ist, ist für ihn die Figur des
Endes überhaupt.
Damit führt er in das Denken eine metaphysische Trennung
zwischen dem Anfang und dem Ende ein, die er nun nicht mehr
miteinander verbinden kann. Sie scheinen einen Gegensatz zu
bilden. Das Ende hat nur noch einen negativen Wert. Die Alterna-
tive zwischen der Revolution Lenins und der Hölderlins wird zu
einer Sackgasse. Trotzdem trifft seine Kritik der vergangenen
Revolutionen (nicht nur der bolschewistischen) ins Schwarze,
indem er die ihnen eigentümliche Bewegung beleuchtet. Es ist
eine Bewegung, die keine ontologische Tiefe hat und sich auf eine
äußerliche Umwälzung beschränkt.
Eine solche Bewegung, die revolutionär sein möchte, versteht
die Revolution nur als „Umkehrung“. Revolutionär wäre in die-
sem Sinn nur das abhängige Gegenspiel zum „Konservativen“. In
der Umkehrung lässt die Revolution sich in das Vorherige verstri-
cken. Sie ist keine echte Überwindung, sie eröffnet keinen Anfang:
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372 Nach Auschwitz
Alle „Umwälzung“ übernimmt nur als Umkehrung den bereits zerstörten,
nicht mehr anfangenden Anfang. Keine „Revolution“ ist „revolutionär“
genug.321
fünf Bänden. Bd. II. Hrsg. von B. Allemann und S. Reichert. Suhrkamp:
Frankfurt am Main 1986, 356.
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Ein Engel im Schwarzwald. Apokalyptik und Revolution 373
noch“. Es gibt keinen Ausweg, keine „Er-lösung“, die lediglich als
Befreiung von der Ursprungsschuld bzw. als Rettung der Seele
verstanden wird.327 Noch steht das extreme Opfer bevor, das dem
Gründer des Abgrunds obliegt, während die Revolution apokalyp-
tisch zu einer Weisheit der Katastrophe wird. Sie wird auf den
Übergang verschoben, der sich für die „Zukünftigen“, jene
„Fremdlinge gleichen Herzens“, vorbereitet, für die Wenigen und
Seltenen, die un-ruhig in opfernder Verhaltenheit, dem „äußersten
Ingrimm der Seinsverlassenheit“ trotzend, auf die Winke des
letzten Gottes warten. Darum ist „Hölderlin ihr weitherkommen-
der und daher zukünftiger Dichter“.328
Die Wenigen, die Zukünftigen, die in ihrer Fremdheit gegen-
über der öffentlichen Welt mit dem Dichter verbunden sind, von
dem sie inspiriert werden, können das Volk führen, weil sie „im
herrschaftlichen als dem wahrhaften Wissen“ stehen. 329 Sie sind
zugleich Avantgarde und Nachhut, Bewahrer des Seyns und seine
Geschichte. Diese Revolution gilt nicht der Welt, sondern sie ist
einem einzigartigen Volk aufgetragen, dem die Welt anvertraut
werden müsste, wenn das Abendland noch gerettet und der Plane-
tarismus verhindert werden sollte.
Diese Inspiration wird nicht zur Konspiration. Der Hauch des
Anfangs mag zwar die Gipfel umhüllen, er erreicht aber nicht die
Metropolen, dringt nicht in die Niederungen und Souterrains ein,
durchläuft nicht die Peripherien, verheißt den Sklaven keine Be-
freiung, gibt den Fremden keine Zuflucht, öffnet den Verstoße-
nen keine Türen, wendet sich nicht den Gottverlassenen zu und
tröstet nicht die Misshandelten.
Es ist keine Erlösung, die aus der unvordenklichen Vergangen-
heit kommt, indem sie die Erinnerung an die Zukunft bewahrt
hat. Die „Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch
den sie auf Erlösung verwiesen wird“. 330 Aber in die Seinsge-
schichte bricht das „dennoch“ nicht ein, das die Geschichte un-
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374 Nach Auschwitz
terbricht. Es gibt in ihr kein Heute, in dem sich die früheste Ver-
gangenheit und die fernste Zukunft treffen, kein Jetzt, das die Zeit
umkehrt und den gegenwärtigen Augenblick zum letzten bekehrt.
Viel entscheidender als der Ursprung ist der Exodus. In der Zu-
kunft der Erinnerung, am éschaton der Geschichte, geschieht das
Ende, das den Anfang rettet. Die Apokalyptik beugt sich in eine
Revolution zurück, die sich deshalb in die Zukunft entwerfen
kann, weil sie die Vergangenheit, die Zeit der Besiegten, wieder-
herstellt. „Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er
kommt als der Überwinder des Antichrist“.331
Der Engel der Geschichte zeigt sich auch in Heideggers Land-
schaft. Es ist ein Engel, der mit einem schwermütigen Blick auf
die Kette von Trümmern schaut, die sich zu seinen Füßen häufen.
Doch der Sturm weht nicht vom Paradies her, hebt ihn nicht
hinweg. Der Wind weht eisig gegen seine Flügel. Der Engel ver-
sinkt in den Nebeln des Schwarzwalds.
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