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Identitätspolitik
Immer schön die eigene Diskurshecke im Blick: So ist der linke Spießer
heute (Symbolbild). © Sean Gallup/Getty Images
"Während wir dies von der radikalen Rechten nicht anders erwarten, breitet
sich auch in unserer Kultur zunehmend eine Atmosphäre von Zensur aus", hieß
es jüngst in einem offenen Brief von 153 Intellektuellen (darunter auch Noam
Chomsky, Margaret Atwood oder Salman Rushdie), der gleichzeitig in Harper’s
Magazine, Le Monde, La Repubblica und der ZEIT erschien
[https://www.zeit.de/2020/29/cancel-culture-liberalismus-rassismus-soziale-
gerechtigkeit].
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7/18/2020 Identitätspolitik: Die digitalen linken Spießer | ZEIT ONLINE
JAN FREYN Dass sich über diesen Aufruf gerade diejenigen Linken
studierte Philosophie und empörten, die sich hiervon nicht zu Unrecht
Deutsch an der Universität angesprochen fühlen durften, war ebenso wenig
zu Köln und arbeitete dort
überraschend wie der Umstand, dass viele ihrer
am Institut für Deutsche
Sprache und Literatur. Zum
Empörung in kurzen Tweets Ausdruck verliehen.
vorliegenden Text kam es, Natürlich entging ihnen die Ironie, dass sie ihre Kritik
nachdem Freyn mit einem an dem Aufruf in eben jenem Duktus der
geharnischten Leserbrief
"moralischen Gewissheit" formulierten, den der Brief
auf diesen Text
[https://www.zeit.de/kultur zuvor problematisiert hatte. Doch auch damit war zu
/2020-06/taz-polizei- rechnen, denn tatsächlich wird unsere Zeit
hengameh-yaghoobifarah- zunehmend und in nicht unerheblichem Maße von
satire-seehofer] reagiert
"linken" Gestalten geprägt, die alle genannten
hatte.
Momente in sich bündeln: einen Hang zu
Konformität, krasser Komplexitätsreduktion und
moralistischer Dogmatik.
Wie der Philosoph E.M. Cioran einmal hellsichtig bemerkt hat, kann es
geschehen, "daß die Linke, die in die Mechanik der Macht verstrickt … ist, ihre
Tugenden verliert, daß sie erstarrt und die Übel erbt, die gewöhnlich der
Rechten eignen". Diese Beschreibung trifft unsere kulturelle Situation sehr
genau.
Eine erstarrte und ins Pädagogische abgedriftete Linke, die sich durch ihre
Weigerung bestimmt, "ihr eigenes Machtstreben zu reflektieren, ihren Aufstieg
in den akademischen und kulturellen Institutionen" (Michael Hampe), ein
dergestalt zur Karikatur verkommener Linksliberalismus, der vergessen hat,
dass er nicht mehr unter allen Umständen subversiver Underdog ist, sondern
sich an Universitäten oder in Social-Media-Kontexten explizite Machtzentren
geschaffen hat, bringt einen epochalen Menschenschlag hervor: den digitalen
linken Spießer.
Dieser droht die Linke leider für Leute von außerhalb dieser Blasen mittelfristig
noch unattraktiver zu machen, als sie es ohnehin schon ist, denn auch und
gerade für politische Bewegungen gilt: An ihren Langweilern sollst du sie
erkennen. Der neue linke Spießer betrachtet Gegenwart und Vergangenheit mit
puritanischem und polizeilichem Blick und genießt es, unablässig den Wuchs
der Diskurshecken zu prüfen, mit der Gartenschere in der Hand.
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Es ist bedauerlich, dass ein Teil der Linken nicht mehr liest und wenn doch,
dann bestenfalls Memes und Twitterbotschaften, zumindest ist das der
Referenzrahmen, in dem dann die weitere Auseinandersetzung stattfindet.
Aber spuckt nicht, wer auf Hegel spucken möchte, zugleich auch auf die
bedeutende Rolle, die dieser für die Entwicklung des emanzipatorischen
Denkens gespielt hat – und noch immer spielt: bei Judith Butler, Axel Honneth
oder Jacques Rancière? Kennen die neuen linken Militanten die feministische
Hegellektüre von Simone de Beauvoir, in der die Dialektik von Herr und Knecht
analog zum Emanzipationsverhältnis von Mann und Frau gedacht wird? (Von
den zahlreichen feministischen Lektüren der Antigone-Diskussion bei Hegel
ganz zu schweigen...)
Gewiss: Der Hinweis darauf, dass die Beziehung zwischen Hegel und dem
Feminismus auch gegenwärtig im Zentrum ernsthafter internationaler
Debatten steht, ist für diejenigen, die den Autor der Phänomenologie des Geistes
auf stumpfsinnige Weise abtun möchten, vollkommen uninteressant: Er lässt
sich nämlich kaum für die eigene mediale Selbstinszenierung verwerten, die ja
auch und gerade die Nicht-Leser unter den Linken motiviert. Aus demselben
Grund geht sie auch jene Ambivalenz buchstäblich nichts an, die darin liegt,
dass Hume, Kant oder Hegel zweifelsfrei rassistisch oder sexistisch schrieben
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Nur die, die wissen, dass sie über Macht verfügen, können sich überhaupt die
Frage stellen, ob sie andere tolerieren, das heißt: aushalten, erdulden möchten
– oder eben nicht. Hieraus folgt: Die neopuritanische Linke muss sich darüber
ehrlich machen, dass ihre Adepten in vielen politisch-kulturellen
Konstellationen mittlerweile zu nichts anderem als Figuren der Macht
geworden sind. Bislang versuchen sie es wortreich zu vermeiden, doch gerade
sie hätten es nötig, sich ein Mantra von Adorno, einem maßgeblichen Vertreter
der lesenden Linken, in Erinnerung zu rufen: "Wer innerhalb der Demokratie
Erziehungsideale verficht" – mahnte dieser nämlich streng – "ist
antidemokratisch, auch wenn er seine Wunschvorstellungen im formalen
Rahmen der Demokratie propagiert."
Dass eine solche demokratische Gesinnung derzeit bei vielen Linken wenig
praktische Würdigung erfährt, mag auch von der althergebrachten Arroganz
herrühren, mit der insbesondere die einflussreichen französischen
Linksintellektuellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vor und nach
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Was die alte poststrukturalistische linke Avantgarde angeht, so bestach sie aus
heutiger Sicht freilich durch ihren – für die linken Spießer der Gegenwart
empörenden – Mangel an moralistischer Dogmatik. Sie verehrte de Sade,
studierte Heidegger und rehabilitierte mit Nietzsche einen der politisch
unkorrektesten Autoren der Geistesgeschichte. Im Übrigen betonte etwa
Foucault, dass sich Fragen der Ent-Unterwerfung niemals dogmatisch,
systematisch oder gar verwaltungstechnisch entscheiden ließen; vielmehr
zähle der subversive Umgang mit Einzelfällen. Und auch Richard Rorty – der
ein zentraler Vertreter der sogenannten postmodernen amerikanischen Linken
war – glaubte nicht daran, dass sich gesellschaftliche Wirklichkeiten mit
starren sprachlichen Regeln verändern ließen. Vielmehr brauche es
idiosynkratische Einbildungskraft – "kreativen Sprachmissbrauch" –, eine
Position, zu der sich auch Judith Butler einmal bekannt hat.
Es geht nicht darum, jedes Interesse für Begriffe oder jede differenziertere
Bewertung historischer Persönlichkeit zu diskreditieren. Die Verbissenheit aber,
mit der man Debatten mit zugleich geleugneter diskursiver Macht moralistisch
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Dass heute die AfD bei manchen Wahlen mehr Arbeiter-Stimmen erhält als jede
andere Partei, ist in jedem Fall auch ein trauriges Zeugnis für die
naserümpfende, spießig gewordene Linke, die in ihren schlechtesten
Momenten zugleich den Eindruck erweckt, einen Klassenkampf "von oben" zu
betreiben: eine Rebellion der tadellosen Vier-Zimmer-Altbau-Bourgeoisie gegen
das schrecklich vulgäre, unaufgeklärte und politisch unkorrekte Proletariat.
Solange die Linke das nicht begreift, werden sich ihre politischen Gegner die
Hände reiben.
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