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A Primer on Decision Making: How Decisions Happen, by James G. March with


Chip Heath, Free Press, New York et al. 1994, 290 pages, $ 35.00

Article in Schmalenbach Business Review · January 2000


DOI: 10.1007/BF03396612

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A Primer on Decision Making: How Decisions Happen?, by James G. March with Chip Heath, Free Press, New York
et al. 1994, 290 pages, $ 35,00
Lohnt es sich im Jahr 2000 ein Buch zu besprechen, das 1994 erschienen ist? Ja, wenn der Autor James G. March heisst.
Er ist einer jener Autoren, die die Business- und Managementliteratur seit Jahrzehnten ungeachtet schnellebiger Zeiten
und dem Auf und Ab der Modewellen in der Mangamentliteratur prägen. Mit dem Primer on Decision Making legt
March ein Buch vor, das auf seiner Vorlesung an der Standford University basiert und einen Überblick über seine
bisherigen Beiträge verschafft. Die Bedeutung des Bandes wird nicht geschmälert durch die Tatsache, dass sowohl Titel
wie Untertitel einen falschen Eindruck erwecken können. Der Primer ist mehr als eine erste Einführung in Fragen des
Decision Making. Vielmehr wird der ganze Ansatz von March thematisiert, indem das Verhalten in Organisationen
unter der Perspektive des Decision Making aufgerollt wird. Das Buch beschreibt auch nicht how real decisions happen
und versucht ausgehend von konkreten Entscheidungssituationen ein allgemeines Entscheidungsmodell zu
entwickeln. Vielmehr wird ein abstraktes Modell der Entscheidung zuerst dargestellt und dann durch Lockerung der
grundlegenden Annahmen kapitelweise der Realität angenähert.
Das Referenzmodell, das March im ersten Kapitel einführt, ist das Rational Choice Model: Der vollständig informierte
und in seinen Präferenzen stabile Entscheider wählt jene Alternative, deren Konsequenzen seinen Nutzen maximieren.
Diese logic of consequence behält auch dann Gültigkeit, wenn die Annahmen inbezug auf die Rationalität des
Entscheiders gelockert werden. Unter bounded rationality tritt aber anstelle der Entscheidungsregel – Maximiere
deinen Nutzen! – die Regel – Suche eine befriedigende Lösung! (satisficing). Individuen handeln unter diesem Prinzip
zwar intendedly rational, die gewählten Alternativen sind aber wegen der beschränkten kognitiven Fähigkeiten und
unvollständiger Information der Entscheider nicht nutzenmaximierend sondern nur besser als die anderen Lösungen,
die zur Auswahl stehen. Der Entscheider wählt statt der Taube auf dem Dach lieber den Spatz in der Hand. Satisficing
ist in diesem Sinne keine Entscheidungs- sondern eine Suchregel. Dabei unterscheidet March zwischen failure-induced
search und success-induced search. Failure induced search is search to reduce the gap between aspiration level and
performance when performance falls short of aspiration level. Sie führt mit grosser Sicherheit zu naheliegenden, auf
bestehendem aufbauenden Lösungen. Success-induced search is open ended search conducted by organizational
slack when performance exceeds the aspiration level. Ob Lösungen gefunden werden, ist bei der slack-search
unsicherer als bei der failure-induced search. Dafür besteht die Chance, dass grundlegend Neues und Besseres
gefunden wird. Slack search kann also zu Innovation führen, aber der Erwartungswert seiner Resultate ist kleiner und
die Varianz grösser als bei failure-induced search.
Während die logic of consequence der Modelle des ersten Kapitels in die Zukunft orientiert ist, wählt der Ansatz des
zweiten Kapitels den Blick in die Vergangenheit. Mit der logic of appropriatness befolgen Individuen Regeln, die eine
Übereinstimmung zwischen einer bestimmten Situation und ihren, auch sozial definierten Identitäten (z.B. als
Buchhalter oder Krankenpflegerin) ermöglicht. Die möglichen Entscheidungsregeln sind aus vergangenen Erfahrungen
gewonnen. Entscheiden heisst finden einer Antwort auf die Frage: Was macht eine Person wie ich in dieser Situation?
Formale Organisationen nehmen sowohl auf die Identitäten von Individuen Einfluss wie auf die Regeln, die sie
befolgen sollen. Doch das ist keine Einbahnstrasse: Gerade indem Regeln und Routinen von Individuen angewendet
werden, kann ein Prozess der Veränderung eingeläutet werden. Rule violation, die zum Beispiel durch die Delegation
von Entscheiden in Kauf genommen wird, trägt dabei wesentlich zur Regelentwicklung, zum Change bei. Für March
schliessen sich die logic of consequence und die logic of appropriatness trotz ihrer Unterschiedlichkeit nicht aus. «Both
processes organize an interaction between personal commitment and social justification» (p. 101). Die erste Logik
stellt hohe Anforderungen an die Fähigkeit der Entscheider, die Zukunft zu antizipieren. Die zweite Logik stellt hohe
Anforderungen an die Lernfähigkeit und an die Fähigkeit nützliche Identitäten zu entwickeln.
Im dritten und vierten Kapitel führt March mehrere Handelnde in diese Modelle ein. Haben die multiple actors
konsistente Präferenzen wie in der ökonomischen Teamtheorie bzw. Identitäten, so reduziert sich die Fragestellung auf
ein single actor Problem, das in den ersten beiden Kapitel behandelt wurde. Falls die Präferenzen bzw. Identitäten der
an Entscheiden Beteiligten inkonsistent sind und wegen begrenzten Ressourcen nicht alle Handlungen umgesetzt
werden können, so stellt sich die Frage, wie trotzdem Entscheide zustande kommen. Im Kapitel drei schildert March
den Fall des aligning von Präferenzen bzw. Identitäten. Konsistenz zwischen den unterschiedlichen Individuen wird
erzeugt, indem der ursprüngliche Konflikt mittels bargaining, negotiation, policy making or politics in ein agreement
überführt wird. Dadurch wird ein Team geformt. Dieses Übereinkommen braucht dann in einer zweiten Phase nur
noch administriert zu werden. Für das Aligning der Partner stehen je nach Entscheidungsmodell eine Variante zur
Verfügung. Das Rationalmodell stellt die gleich Ausrichtung der Präferenzen via incentives her. Der regelbasierte
Ansatz wählt den Weg über die Schaffung gleicher Identitäten. Ist eine Gleichrichtung von Präferenzen bzw.
Identitäten nicht möglich, kommt die Frage der Macht und der Bildung von Koalitionen ins Blickfeld, welche March im
Kapital vier behandelt. Hier werden Mechanismen des decision making vorgestellt, mit denen Entscheide in
Organisationen möglich sind, ohne dass die Beteiligten sich auf die gleichen Präferenzen oder Identitäten einigen
müssen. Als Muster solcher Mechanismen können das Preissystem und das demokratische, politische System gelten.
Mehrere Aktoren brauchen ein Muster, um zu gemeinsamen Entscheiden zu kommen. In Organisationen wird dafür oft
eine Spielart gewählt, die darauf abzielt, Präferenzen bzw. Identitäten anzugleichen. Für March ist dieses Aligning nicht
nur im Falle von mehreren Personen aktuell. Auch der Entscheidungsprozess von single actor kann mit den Theorien
der multiple actors besser begriffen werden, wenn der Einzelentscheider eine Person mit conflicting preferences and
identities ist.
Das fünfte Kapitel und abschliessende, sechste Kapitel bringt eine weitere Annäherung an reale
Entscheidungssituationen: Die Ambiguität. Die früheren Kapitel des Buches gingen davon aus, dass Menschen
Entscheide fällen, indem sie objektive Gegebenheiten entdecken und mit ihren subjektiven Wünschen in einen
konsistenten Zusammenhang bringen. Entscheide sind Ausdruck menschlicher Kohärenz in einer kohärenten Welt.
Ambiguität bedeutet Abschied von der Koäherenz.
March ortet hinter dem «Rational Choice»-Ansatz und dem regelbasierten Vorgehen beim Fällen von Entscheiden drei
verbundene Ideen. Erstens die Vorstellung, dass eine reale Welt existiert, zweitens die Idee der Kausalität, drittens der
Gedanke, dass Entscheide Instrumente zur Umsetzung von Zwecken des Entscheidungsträgers sind (Intentionalität).
Unter Ambiguität fehlen alle drei Zutaten der bisherigen Ordnungskonzeptionen. Mehrdeutigkeit unterscheidet sich
deshalb deutlich von der Vorstellung der Unsicherheit. Bei der letzteren Idee geht man davon aus, dass eine reale Welt
existiert, diese aber nicht vollständig erfasst werden kann. Bei Vorliegen von Ambiguität wird die reale Welt als soziale
Konstruktion begriffen, die nicht entdeckt sondern nur erfunden werden kann.
Entscheide werden zu Instrumenten der Konstruktion, die helfen eine grundsätzlich verwirrende Welt zu interpretieren.
Dadurch kehrt sich das Verhältnis zwischen Sinn und Entscheiden um. Während im «Rational Choice» und im
regelbasierten Ansatz in den realen Verhältnissen Sinn gesucht wird, um Entscheide zu fällen, kommt unter den
Bedingungen der Ambiguität Entscheiden die Aufgabe der Sinnerzeugung zu.
Unter dem Blickwinkel des «Rational Choice»-Ansatzes ist Leben Wählen. Im Mittelpunkt steht dabei das Resultat der
Entscheidung und nicht der Entscheidungsprozess. Er ist nur ein Instrument, um zu handeln. Unter Ambiguität wird
aber dieser Prozess zum Zentrum, weil im Prozess Sinn produziert wird. Der Entscheidungsprozess wird von der Basis
zur Aktion zum Ziel an sich. Leben ist unter dieser Perspektive Interpretation, ist soziale Konstruktion.
Man könnte zum Schluss gelangen, dass durch die Einführung der Ambiguität der «Rational Choice»-Ansatz erledigt
ist und March sein eigenes Vorgehen ad absurdum führt. Denn warum wird der «Rational Choice»-Ansatz von March
immer wieder als Referenzmodell benutzt, wenn damit offensichtlich das Falsche modelliert wird: das Resultat an Stelle
des Prozesses der Entscheidung?
Doch durch die Hintertüre der Funktion von Mythen in Entscheidungsprozessen kommt «Rational Choice» zurück. Weil
in modernen Gesellschaften die Ideen der Realität, der Kausalität und der Intentionalität ein grosses Gewicht haben,
kommt auch dem rationalen Entscheidungsmodell eine grosse Bedeutung zu. Dies wohlgemerkt nicht darum, weil
Entscheide sich an dieses Modell hielten, sondern weil in einer Gesellschaft mit moderner, rationalistischer Ideologie
die Menschen davon ausgehen, dass Entscheide gemäss dem Rationalmodell ablaufen und ablaufen sollen. Dadurch
wird aber nur scheinbar alles zu einer Frage von Präferenzen und Restriktionen gemacht. Gerade weil rationales
Entscheiden nach March unter solchen Bedingungen zur «sacred activity» wird, trägt «Rational Choice» zum Finden
von Sinn durch den Entscheidungsprozess bei, wird dadurch selbst zum Mythos.
Mit den abschliessenden Kapiteln kommt March an die Grenzen seines Vorgehens der schrittweisen Annäherung eines
Modells an die Realität. Dadurch dass er sich durch die Zulassung von Ambiguität weiter realen
Entscheidungsprozessen nähert, gerät er in Gefahr, seinen Ausgangspunkt das «Rational Choice» Modell obsolet zu
machen und die Orientierungsfunktion von Modellen überhaupt zu verlieren. Der ersten Gefahr entgeht March, indem
er den «Rational Choice»-Ansatz als dominierenden, sozialen Mechanismus der Sinnfindung durch Entscheide einführt.
Mit diesem dialektischen «Trick» kann dessen Bedeutung als Folie für das Verständnis von Entscheiden und sein
Gewicht im «Primer on Decision Making» gerechtfertigt werden. Der zweiten Gefahr hingegen erliegt March. Ein
zwingender roter Faden ist am Ende des Buches nicht sichtbar, wofür das Referenzmodell dient wird nicht mehr klar.
Organisationen dienen der Koordination von Individuen beispielsweise durch hierarchische Kontrollen und
organisatorische Routinen. Trotzdem stellt March reihenweise Inkonsistenzen im Handeln von Organisationen fest.
Wegen der Mehrdeutigkeit ihrer Präferenzen und Identitäten, Erfahrungen und Geschichte hängen Worte und Taten
nur lose zusammen («loose Coupling»). «Loose Coupling» ist eine Manifestation von Ambiguität. Eine Form der losen
Verbindung ist jene zwischen Wort und Tat, hinter der das Phänomen des impliziten Wissens als Ursache der
Unverbundenheit und damit der Mehrdeutigkeit vermutet werden kann. Für March spielt so verstandenes Wissen im
ersten und zweiten Kapitel seines «Primer on Decision Making» keine Rolle. Entscheiden ist reine
Informationsverarbeitung. Dies ändert sich im dritten und vierten Kapitel, wo soziale Prozesse innerhalb von
Organisationen einbezogen werden und im fünften Kapitel, wo Entscheiden unter Mehrdeutigkeit die Aufgabe
zukommt, Sinn zu erzeugen. In diesen drei Kapitel müssen Entscheide als kontextspezifisch gedacht werden, weil in sie
nicht nur objektive Informationen einfliessen, sondern die Bedeutung von Informationen für die Entscheider und der
Sinn den Entscheidungen für sie machen. Dadurch fliesst implizites, subjektives Wissen in die Entscheide ein. Doch
March zieht daraus keine Konsequenzen. Organisationen dienen jetzt allenfalls der Wissens- statt nur der
Informationsverarbeitung, doch das aktive Schaffen von Wissen wird nicht mitgedacht, auf die Bedeutung und den
Zusammenhang zwischen expliziten und impliziten Wissen wird nicht eingegangen. Damit bleibt Innovation auf die
Kombination von expliziten Wissen beschränkt. Firmenspezifisches Wissen als Grundlage von nachhaltigen
Wettbewerbsvorteilen kann daraus nicht entstehen.
Trotz diesen kritischen Bemerkungen lohnt sich nicht nur eine Besprechung des Buches von March im Jahr 2000
sondern auch dessen Lektüre. Man lernt dabei neben den für Management Science grundlegenden Beiträgen von
March weitere anregende Ideen in grosser Zahl kennen.
Leo Boos / 22/7/1999

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