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Erziehung
Ohne Zweifel handelt es sich bei „Erziehung“ um jenen „Grundbegriff, der als
semantischer Generator die Entwicklung der Disziplin antreibt und für die (im
Vergleich mit anderen beeindruckende) Expansion der Pädagogik als Wissen-
schaft sorgt“ (Kraft 2013, S. 186). Doch erscheint es als eine Ironie dieser Dis-
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ziplingeschichte, dass just in dem Moment, als die „Pädagogik“ in den 1960er
Jahren von der – sozialwissenschaftlicher klingenden – „Erziehungswissen-
schaft“ abgelöst wurde, ihres namensgebenden Begriffs verlustig ging. Begin-
nend mit den 1970er Jahren wurde Erziehung durch „Sozialisation“ und später
dann „Bildung“ als zentralem Leitbegriff der Erziehungswissenschaft abgelöst
(Groppe 2008). Jenseits von Einführungswerken und Handbüchern wird Er-
ziehung derzeit nur noch in wenigen erziehungswissenschaftlichen Untersu-
chungen fokussiert, wie diese etwa von Prange (2012) und Sünkel (2013) vor-
gelegt wurden. Zu Recht spricht daher Krinninger (2019, S. 249), den jüngsten
Forschungsstand resümierend, von einer „kollektiven Vermeidung“ des Erzie-
hungsbegriffs in der Erziehungswissenschaft.
Auch die empirische Forschung zu Erziehung ist, vergleicht man sie mit
der Bildungs-, Sozialisations- und Lernforschung, bislang nur als marginal zu
bezeichnen. Während hier einerseits die Erziehungsbeteiligten unter besonde-
rer Fokussierung von Erziehungsstilen untersucht werden (Ecarius 2002),
rückt andererseits – gerade auch im Zuge audio- und videotechnischer Inno-
vationen – das Geschehen zwischen Erziehenden und Zu-Erziehenden ver-
stärkt in den Blick (Audehm 2007; Müller/Krinninger 2016). Gerade hier, wo
Erziehung empirisch analysiert wird, tritt sie allerdings nahezu ausschließlich
als familiales Phänomen auf den Plan (so auch bei Ecarius et al. 2017). Ähnlich
wie die Erziehung von Erwachsenen (Ausnahme: Hunold 2019; Nohl 2022)
wird auch Erziehung in der Schule kaum explizit thematisiert (Ausnahmen:
Leser 2018; Budde 2020; Asbrand/Martens 2020).
Im Unterschied zur theoretischen Diskussion über Erziehung, die nahezu
keinen Bezug auf die Ergebnisse empirischer Forschung nimmt, sind die ge-
nannten empirischen Untersuchungen meist auch von einer erziehungstheo-
retischen Argumentation geprägt. Denn gerade auch für empirische Forschun-
gen, seien sie quantitativer oder qualitativer Art, gilt: Ohne einen theoretischen
Begriff von Erziehung ist es unmöglich, Erziehung als empirisches Phänomen
in den Griff zu bekommen [↑Methoden]. Umso mehr lohnt es, sich einiger
Kontroversen um den Erziehungsbegriff zu vergewissern.
Immer wieder findet man Untersuchungen, in denen zwar von Erziehung die
Rede ist, die sich aber nicht die Mühe machen, diesen Begriff zu reflektieren
oder gar zu definieren. Dies führt nicht nur zu Unschärfen in der Argumenta-
tion, sondern auch zu einem ‚Ausfransen‘ des Begriffs, werden doch so seine
Grenzen verwischt.
Aber auch dort, wo der Begriff der Erziehung geschärft wird, ist umstritten,
auf welche pädagogischen Phänomene verwiesen ist. In der einschlägigen the-
oretischen Diskussion zeichnen sich zwei einander gegenüberstehende Mög-
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lichkeiten ab, Erziehung zu definieren. An dem einen Pol der Diskussion wird
Erziehung zum Zentralbegriff der Erziehungswissenschaft und zur maßgebli-
chen Operation, die durch die erziehungswissenschaftliche Forschung beo-
bachtet wird. Am anderen Pol hingegen steht Erziehung neben einer Reihe
weiterer pädagogischer Grundprozesse, mit denen sie einhergehen kann, von
denen sie aber zuallererst abgegrenzt werden muss.
Sehr gut lässt sich jener Begriff, der Erziehung zur zentralen Operation des
Pädagogischen erklärt, an der einschlägigen Studie von Klaus Prange (2012)
zur „Zeigestruktur der Erziehung“ (so der Titel) erläutern (siehe aber zum Bei-
spiel auch Benner 1987, S. 108 ff.; Brezinka 1981, S. 80). Prange fragt nach „den
eigenen Mustern, Verfahrensweisen und Formen des Erziehens selber“ (2012,
S. 50) und sieht die „Grundform des Erziehens“ im „Zeigen“, welches auf Ler-
nen bezogen ist (ebd., S. 57). Dabei unterscheidet er vier „Operationen des
Zeigens“: Erstens das „ostensive“ Zeigen, in dessen Mittelpunkt „Fertigkeiten“
stehen, die durch „Üben“ angeeignet werden können. Zweitens das „repräsen-
tative“ Zeigen, das sich auf das Erlernen von „Kenntnissen“ beziehe (ebd.,
S. 121). Bis hierhin zielt Erziehung – so Prange – also auf den Erwerb von Wis-
sen und Können. Eine dritte Operation des Zeigens ist „direktiv“ angelegt und
ruft durch „Appellieren“ bei den Adressat*innen „Haltungen“ hervor (ebd.,
S. 121). Dieses direktive Zeigen wird von ihm in Ko-Autorenschaft mit Gab-
riele Strobel-Eisele (2015) weiter ausgearbeitet. Es gehe hier um eine ganze
„Palette“ von „Aufforderungen“, die „von der strengen Weisung über das An-
regen und Ermuntern, Ermahnen und Erinnern bis zur Bitte, zum Rat und
zum Appell an die Einsicht“ reichten (ebd., S. 76). Eine vierte Operation wird
von Prange und Strobel-Eisele (2015, S. 87) als „reaktives Zeigen“ bezeichnet.
Hierbei handelt es sich um die Rückmeldungen, die die Lernenden von den
Erziehenden erhalten. Diese Rückmeldungen beziehen sich nicht nur auf das
„Wissen und das Können“, sondern auch „auf den Lernenden als Person“
(ebd., S. 88), es geht also auch um die Haltungen, die die Lernenden zum Ler-
nen entwickelt haben. Während das „reaktive Zeigen“ sich auf bereits erwor-
bene Haltungen bezieht, dient das „direktive Zeigen“ dem neuen Erwerb dieser
Haltungen.
Prange und Strobel-Eisele machen auf diese Weise Erziehung zum Ober-
begriff der ↑Erziehungswissenschaft, innerhalb dessen es aber Differenzierun-
gen hinsichtlich der verschiedenen Formen des Zeigens gibt. Eine alternative
Möglichkeit, den Erziehungsbegriff zu definieren, besteht nun darin, diese Bin-
nendifferenzierungen dafür zu nutzen, einzelne pädagogische Grundprozesse
zu identifizieren und theoretisch zu reflektieren. So lässt sich die pädagogische
Operation, die sich auf das ↑Lernen (als den Erwerb von Wissen und Können)
bezieht, als „Lehren“ bezeichnen. Dieses Lehren hat ein eigenes Proprium, geht
es doch ausschließlich darum, wie den Adressat*innen dabei geholfen werden
kann, sich bislang unbekannte Fertigkeiten und Kenntnisse anzueignen. In der
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Erziehungswissenschaft und darüber hinaus gibt es zur Lehre einen sehr brei-
ten Forschungsstand (etwa in der sog. Lehr-Lern-Forschung).
Von dem Lehren wäre dann das Erziehen selbst zu unterscheiden, das auf
die Haltungen oder Orientierungen der Adressat*innen zielt. Hier geht es –
wie ich dies fassen würde – um die nachhaltige und sanktionsbewehrte Zu-
mutung von Orientierungen: Zugemutet erstens in dem Sinne, dass Erzie-
hung dort greift, wo Menschen nicht selbstläufig – etwa über Bildungs- oder
Sozialisationsprozesse – neue Orientierungen entfalten, sondern dazu aufge-
fordert werden. Zweitens insofern, als dass die neue Orientierung seitens der
zu Erziehenden (zunächst) als den eigenen, momentanen Interessen und Be-
findlichkeiten durchaus entgegengesetzt erfahren wird. Und drittens Zumu-
tung als Zusprechung von Mut, denn die Erziehenden muten aus der Über-
zeugung heraus zu, dass die zu Erziehenden prinzipiell in der Lage seien, die
ihnen zugemutete Orientierung zu übernehmen. Dabei verweist der Orien-
tierungsbegriff auf eine Art und Weise zu handeln (etwa zu lernen oder sich
zu benehmen), die zur Gewohnheit werden soll. Ein solcher Erziehungsbe-
griff, der auch von Bildung abgegrenzt werden kann (Nohl 2020; siehe auch
Hunold 2019), ermöglicht es, Überlappungen mit anderen pädagogischen
Prozessen (Bildung, Lehre) empirisch herauszuarbeiten (vgl. Dehnavi/Nohl
2022).
lässt. Hier komme es auf die „Kunst der Umlenkung“ (Platon 1961, S. 227) an,
die von einem schon bestehenden Sehvermögen ausgehe, welches jedoch „nicht
recht gestellt sei“; deshalb leite diese Kunst zur richtigen Blickrichtung an – in
moderneren Übersetzungen spricht man hier auch von der „Kunst des Erzie-
hens“ (so bei Böhm et al. 2019, S. 27). Auch Kants Überlegungen basieren darauf,
dass dem Menschen die Sehkraft und insbesondere der Verstand von vorneher-
ein gegeben seien. Wenn „Aufklärung“ den „Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit“ impliziert, dann lautet die Aufforderung:
„Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant 1784/ 2017,
S. 7). Diese Aufforderung sei aber die Prämisse von Erziehung, die Kant zufolge
der „Ort“ ist, „an dem eine solche Orientierung an Aufklärung Fuß fassen kann“
(Thompson 2020, S. 75). Theodor W. Adorno knüpft hieran an und hebt hervor,
dass Kant Mündigkeit „als eine dynamische Kategorie, als ein Werdendes und
nicht als ein Sein bestimmt“ habe (2019, S. 144). Insofern erweise sich auch Er-
ziehung zur Mündigkeit als eine stete Aufgabe, die nie als abgeschlossen gelten
könne. Insbesondere fragt Adorno aber nach den gesellschaftlichen Bedingun-
gen der Entstehung von Mündigkeit und gibt seiner Überzeugung Ausdruck,
dass gerade die heutige Welt „angesichts des unbeschreiblichen Drucks, der auf
die Menschen ausgeübt wird“ (etwa durch die die Menschen zu Konformist*in-
nen machende „Kulturindustrie“), der Mündigkeit entgegenstehe (ebd.). A-
dorno plädiert daher – im Sinne der Mündigkeit – für eine „Erziehung zum Wi-
derspruch und zum Widerstand“ (ebd., S. 145).
Gegen die seit Platon postulierte enge Verknüpfung von Erziehung und
Mündigkeit können mehrere Punkte eingewandt werden: Erstens liegt hier ein
recht enger Erziehungsbegriff vor, der viele Interaktionen ausklammert, die
zwar für die Erziehungswissenschaft bedeutsam sein können, die aber nicht
das normative Kriterium dieses Erziehungsbegriffs erfüllen. So kann man ja
durchaus die Frage stellen, ob die nachhaltige Aufforderung an ein Kind, beim
Essen zu schweigen, seiner Mündigkeit dient – wie lässt sich dann aber diese
Aufforderung erziehungswissenschaftlich einordnen? Und wäre es nicht ein
Widerspruch in sich, wenn man – etwa für den Nationalsozialismus – von ‚ide-
ologischer Erziehung‘ sprechen würde, da eine Ideologisierung der Mündig-
keit diametral entgegenstünde? Zweitens bleibt bei diesem normativen Krite-
rium unklar, ob die mit der Mündigkeit angedeutete Zielvorstellung in der
Absicht der Erziehenden liegen muss oder ob es genügt, dass Mündigkeit das
Ergebnis des Erziehungsprozesses ist – gleich welche Absichten die Erziehen-
den gehabt haben mögen. Ein drittes Problem ergibt sich aus der allgemein
verbreiteten Auffassung, dass Kinder zwar noch nicht, Erwachsene aber schon
mündig seien. Denn zielte Erziehung stets auf Mündigkeit, so könnte es dann
keine Erziehung der ja schon mündigen Erwachsenen geben (so schon Schlei-
ermacher 1983, S. 45 f.). Warum aber werden dennoch Erwachsene erzogen
(vgl. jüngst: Hunold 2019)?
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Fazit
Bonusmaterial
Haneke, M. (2009): Das weiße Band [Film]. Deutschland: X-Filme/Wega Film • Hornby, N. (1998)
About a boy. London • Kafka, F. (1913/2005): Das Urteil. Prag • Petry, A. (1946/2020): Die Straße.
Zürich • Schalansky, J. (2011): Der Hals der Giraffe. Berlin
Literatur
Adorno, T. W. (2019): Erziehung zur Mündigkeit. Berlin • Asbrand, B./Martens, M. (2020): Erzie-
hung in Lehrer-Schüler-Interaktionen. In: Nohl, A.-M. (Hrsg.): Rekonstruktive Erziehungsfor-
schung. Wiesbaden, S. 215–238 • Audehm, K. (2007): Erziehung bei Tisch. Bielefeld • Benner, D.
(1987): Allgemeine Pädagogik. Weinheim • Böhm, W./Schiefelbein, E./Seichter, S. (2019): Projekt
Erziehung. Eine Einführung in pädagogische Grundprobleme. Stuttgart • Brezinka, W. (1981):
Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft – Analyse, Kritik, Vorschläge. München • Budde, J.
(2020): Ethnographie von Erziehungspraktiken. In: Nohl, A.-M. (Hrsg.): Rekonstruktive Erzie-
hungsforschung. Wiesbaden, S. 61–79 • Dehnavi, M./Nohl, A.-M. (2022): Zur Differenz von Er-
ziehen und Lehren in der pädagogischen Interaktion. In: Dobmeier, F./Emmerich, M. (Hrsg.):
Operativität – Erziehung – Differenz. Systemtheoretische, praxistheoretische und phänomenolo-
gische Anschlüsse an Operative Pädagogik. Wiesbaden • Ecarius, J. (2002): Familienerziehung im