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17:11 Quelle: Milena Feldmann, Markus Rieger-Ladich, Carlotta Voß & Kai Wortmann (Hrsg.):
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Erziehung
Ohne Zweifel handelt es sich bei „Erziehung“ um jenen „Grundbegriff, der als
semantischer Generator die Entwicklung der Disziplin antreibt und für die (im
Vergleich mit anderen beeindruckende) Expansion der Pädagogik als Wissen-
schaft sorgt“ (Kraft 2013, S. 186). Doch erscheint es als eine Ironie dieser Dis-
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ziplingeschichte, dass just in dem Moment, als die „Pädagogik“ in den 1960er
Jahren von der – sozialwissenschaftlicher klingenden – „Erziehungswissen-
schaft“ abgelöst wurde, ihres namensgebenden Begriffs verlustig ging. Begin-
nend mit den 1970er Jahren wurde Erziehung durch „Sozialisation“ und später
dann „Bildung“ als zentralem Leitbegriff der Erziehungswissenschaft abgelöst
(Groppe 2008). Jenseits von Einführungswerken und Handbüchern wird Er-
ziehung derzeit nur noch in wenigen erziehungswissenschaftlichen Untersu-
chungen fokussiert, wie diese etwa von Prange (2012) und Sünkel (2013) vor-
gelegt wurden. Zu Recht spricht daher Krinninger (2019, S. 249), den jüngsten
Forschungsstand resümierend, von einer „kollektiven Vermeidung“ des Erzie-
hungsbegriffs in der Erziehungswissenschaft.
Auch die empirische Forschung zu Erziehung ist, vergleicht man sie mit
der Bildungs-, Sozialisations- und Lernforschung, bislang nur als marginal zu
bezeichnen. Während hier einerseits die Erziehungsbeteiligten unter besonde-
rer Fokussierung von Erziehungsstilen untersucht werden (Ecarius 2002),
rückt andererseits – gerade auch im Zuge audio- und videotechnischer Inno-
vationen – das Geschehen zwischen Erziehenden und Zu-Erziehenden ver-
stärkt in den Blick (Audehm 2007; Müller/Krinninger 2016). Gerade hier, wo
Erziehung empirisch analysiert wird, tritt sie allerdings nahezu ausschließlich
als familiales Phänomen auf den Plan (so auch bei Ecarius et al. 2017). Ähnlich
wie die Erziehung von Erwachsenen (Ausnahme: Hunold 2019; Nohl 2022)
wird auch Erziehung in der Schule kaum explizit thematisiert (Ausnahmen:
Leser 2018; Budde 2020; Asbrand/Martens 2020).
Im Unterschied zur theoretischen Diskussion über Erziehung, die nahezu
keinen Bezug auf die Ergebnisse empirischer Forschung nimmt, sind die ge-
nannten empirischen Untersuchungen meist auch von einer erziehungstheo-
retischen Argumentation geprägt. Denn gerade auch für empirische Forschun-
gen, seien sie quantitativer oder qualitativer Art, gilt: Ohne einen theoretischen
Begriff von Erziehung ist es unmöglich, Erziehung als empirisches Phänomen
in den Griff zu bekommen [↑Methoden]. Umso mehr lohnt es, sich einiger
Kontroversen um den Erziehungsbegriff zu vergewissern.

Die Grenzen des Erziehungsbegriffs

Immer wieder findet man Untersuchungen, in denen zwar von Erziehung die
Rede ist, die sich aber nicht die Mühe machen, diesen Begriff zu reflektieren
oder gar zu definieren. Dies führt nicht nur zu Unschärfen in der Argumenta-
tion, sondern auch zu einem ‚Ausfransen‘ des Begriffs, werden doch so seine
Grenzen verwischt.
Aber auch dort, wo der Begriff der Erziehung geschärft wird, ist umstritten,
auf welche pädagogischen Phänomene verwiesen ist. In der einschlägigen the-
oretischen Diskussion zeichnen sich zwei einander gegenüberstehende Mög-
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lichkeiten ab, Erziehung zu definieren. An dem einen Pol der Diskussion wird
Erziehung zum Zentralbegriff der Erziehungswissenschaft und zur maßgebli-
chen Operation, die durch die erziehungswissenschaftliche Forschung beo-
bachtet wird. Am anderen Pol hingegen steht Erziehung neben einer Reihe
weiterer pädagogischer Grundprozesse, mit denen sie einhergehen kann, von
denen sie aber zuallererst abgegrenzt werden muss.
Sehr gut lässt sich jener Begriff, der Erziehung zur zentralen Operation des
Pädagogischen erklärt, an der einschlägigen Studie von Klaus Prange (2012)
zur „Zeigestruktur der Erziehung“ (so der Titel) erläutern (siehe aber zum Bei-
spiel auch Benner 1987, S. 108 ff.; Brezinka 1981, S. 80). Prange fragt nach „den
eigenen Mustern, Verfahrensweisen und Formen des Erziehens selber“ (2012,
S. 50) und sieht die „Grundform des Erziehens“ im „Zeigen“, welches auf Ler-
nen bezogen ist (ebd., S. 57). Dabei unterscheidet er vier „Operationen des
Zeigens“: Erstens das „ostensive“ Zeigen, in dessen Mittelpunkt „Fertigkeiten“
stehen, die durch „Üben“ angeeignet werden können. Zweitens das „repräsen-
tative“ Zeigen, das sich auf das Erlernen von „Kenntnissen“ beziehe (ebd.,
S. 121). Bis hierhin zielt Erziehung – so Prange – also auf den Erwerb von Wis-
sen und Können. Eine dritte Operation des Zeigens ist „direktiv“ angelegt und
ruft durch „Appellieren“ bei den Adressat*innen „Haltungen“ hervor (ebd.,
S. 121). Dieses direktive Zeigen wird von ihm in Ko-Autorenschaft mit Gab-
riele Strobel-Eisele (2015) weiter ausgearbeitet. Es gehe hier um eine ganze
„Palette“ von „Aufforderungen“, die „von der strengen Weisung über das An-
regen und Ermuntern, Ermahnen und Erinnern bis zur Bitte, zum Rat und
zum Appell an die Einsicht“ reichten (ebd., S. 76). Eine vierte Operation wird
von Prange und Strobel-Eisele (2015, S. 87) als „reaktives Zeigen“ bezeichnet.
Hierbei handelt es sich um die Rückmeldungen, die die Lernenden von den
Erziehenden erhalten. Diese Rückmeldungen beziehen sich nicht nur auf das
„Wissen und das Können“, sondern auch „auf den Lernenden als Person“
(ebd., S. 88), es geht also auch um die Haltungen, die die Lernenden zum Ler-
nen entwickelt haben. Während das „reaktive Zeigen“ sich auf bereits erwor-
bene Haltungen bezieht, dient das „direktive Zeigen“ dem neuen Erwerb dieser
Haltungen.
Prange und Strobel-Eisele machen auf diese Weise Erziehung zum Ober-
begriff der ↑Erziehungswissenschaft, innerhalb dessen es aber Differenzierun-
gen hinsichtlich der verschiedenen Formen des Zeigens gibt. Eine alternative
Möglichkeit, den Erziehungsbegriff zu definieren, besteht nun darin, diese Bin-
nendifferenzierungen dafür zu nutzen, einzelne pädagogische Grundprozesse
zu identifizieren und theoretisch zu reflektieren. So lässt sich die pädagogische
Operation, die sich auf das ↑Lernen (als den Erwerb von Wissen und Können)
bezieht, als „Lehren“ bezeichnen. Dieses Lehren hat ein eigenes Proprium, geht
es doch ausschließlich darum, wie den Adressat*innen dabei geholfen werden
kann, sich bislang unbekannte Fertigkeiten und Kenntnisse anzueignen. In der
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Erziehungswissenschaft und darüber hinaus gibt es zur Lehre einen sehr brei-
ten Forschungsstand (etwa in der sog. Lehr-Lern-Forschung).
Von dem Lehren wäre dann das Erziehen selbst zu unterscheiden, das auf
die Haltungen oder Orientierungen der Adressat*innen zielt. Hier geht es –
wie ich dies fassen würde – um die nachhaltige und sanktionsbewehrte Zu-
mutung von Orientierungen: Zugemutet erstens in dem Sinne, dass Erzie-
hung dort greift, wo Menschen nicht selbstläufig – etwa über Bildungs- oder
Sozialisationsprozesse – neue Orientierungen entfalten, sondern dazu aufge-
fordert werden. Zweitens insofern, als dass die neue Orientierung seitens der
zu Erziehenden (zunächst) als den eigenen, momentanen Interessen und Be-
findlichkeiten durchaus entgegengesetzt erfahren wird. Und drittens Zumu-
tung als Zusprechung von Mut, denn die Erziehenden muten aus der Über-
zeugung heraus zu, dass die zu Erziehenden prinzipiell in der Lage seien, die
ihnen zugemutete Orientierung zu übernehmen. Dabei verweist der Orien-
tierungsbegriff auf eine Art und Weise zu handeln (etwa zu lernen oder sich
zu benehmen), die zur Gewohnheit werden soll. Ein solcher Erziehungsbe-
griff, der auch von Bildung abgegrenzt werden kann (Nohl 2020; siehe auch
Hunold 2019), ermöglicht es, Überlappungen mit anderen pädagogischen
Prozessen (Bildung, Lehre) empirisch herauszuarbeiten (vgl. Dehnavi/Nohl
2022).

Erziehung als normativer oder deskriptiver Begriff

Eine zweite Kontroverse entspannt sich in Bezug darauf, inwieweit Erziehung


als ein normativer oder als ein deskriptiver Begriff zu fassen ist [↑Normativi-
tät]. Plastisch deutlich wird die normative Auffassung von Erziehung in einem
viel zitierten Satz von Klaus Mollenhauer (1968, S. 10): „Für die Erziehungs-
wissenschaft konstitutiv ist das Prinzip, das besagt, daß Erziehung und Bildung
ihren Zweck in der Mündigkeit des Subjektes haben“. Und in einem aktuellen
Lehrbuch heißt es: „Ganz allgemein kann man als Erziehung jene Maßnahmen
und Prozesse bezeichnen, die den Menschen zu Autonomie und Mündigkeit
hinleiten und ihm helfen, alle seine Kräfte und Möglichkeiten zu aktuieren und
sich als selbständige Person zu gestalten“ (Böhm et al. 2019, S. 222; Hervorhe-
bung A-M. N.).
Dass etwas nur dann als Erziehung gelten könne, wenn es der ↑Mündigkeit
diene, diese pädagogische Idee lässt sich bis zu Platons Höhlengleichnis zurück-
führen, findet ihren modernen Ausdruck in Immanuel Kants Philosophie und
wurde unter anderem von Theodor W. Adorno auf die Bedingungen des mas-
senmedialen Zeitalters bezogen. Im Höhlengleichnis wenden sich die Men-
schen, die bislang gefesselt in der Dunkelheit der Höhle nur die Schatten der
Gegenstände gesehen haben, nach ihrer Befreiung nur widerwillig dem Licht
der Sonne zu, das sie zugleich blendet und die Gegenstände selbst erkennen
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lässt. Hier komme es auf die „Kunst der Umlenkung“ (Platon 1961, S. 227) an,
die von einem schon bestehenden Sehvermögen ausgehe, welches jedoch „nicht
recht gestellt sei“; deshalb leite diese Kunst zur richtigen Blickrichtung an – in
moderneren Übersetzungen spricht man hier auch von der „Kunst des Erzie-
hens“ (so bei Böhm et al. 2019, S. 27). Auch Kants Überlegungen basieren darauf,
dass dem Menschen die Sehkraft und insbesondere der Verstand von vorneher-
ein gegeben seien. Wenn „Aufklärung“ den „Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit“ impliziert, dann lautet die Aufforderung:
„Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant 1784/ 2017,
S. 7). Diese Aufforderung sei aber die Prämisse von Erziehung, die Kant zufolge
der „Ort“ ist, „an dem eine solche Orientierung an Aufklärung Fuß fassen kann“
(Thompson 2020, S. 75). Theodor W. Adorno knüpft hieran an und hebt hervor,
dass Kant Mündigkeit „als eine dynamische Kategorie, als ein Werdendes und
nicht als ein Sein bestimmt“ habe (2019, S. 144). Insofern erweise sich auch Er-
ziehung zur Mündigkeit als eine stete Aufgabe, die nie als abgeschlossen gelten
könne. Insbesondere fragt Adorno aber nach den gesellschaftlichen Bedingun-
gen der Entstehung von Mündigkeit und gibt seiner Überzeugung Ausdruck,
dass gerade die heutige Welt „angesichts des unbeschreiblichen Drucks, der auf
die Menschen ausgeübt wird“ (etwa durch die die Menschen zu Konformist*in-
nen machende „Kulturindustrie“), der Mündigkeit entgegenstehe (ebd.). A-
dorno plädiert daher – im Sinne der Mündigkeit – für eine „Erziehung zum Wi-
derspruch und zum Widerstand“ (ebd., S. 145).
Gegen die seit Platon postulierte enge Verknüpfung von Erziehung und
Mündigkeit können mehrere Punkte eingewandt werden: Erstens liegt hier ein
recht enger Erziehungsbegriff vor, der viele Interaktionen ausklammert, die
zwar für die Erziehungswissenschaft bedeutsam sein können, die aber nicht
das normative Kriterium dieses Erziehungsbegriffs erfüllen. So kann man ja
durchaus die Frage stellen, ob die nachhaltige Aufforderung an ein Kind, beim
Essen zu schweigen, seiner Mündigkeit dient – wie lässt sich dann aber diese
Aufforderung erziehungswissenschaftlich einordnen? Und wäre es nicht ein
Widerspruch in sich, wenn man – etwa für den Nationalsozialismus – von ‚ide-
ologischer Erziehung‘ sprechen würde, da eine Ideologisierung der Mündig-
keit diametral entgegenstünde? Zweitens bleibt bei diesem normativen Krite-
rium unklar, ob die mit der Mündigkeit angedeutete Zielvorstellung in der
Absicht der Erziehenden liegen muss oder ob es genügt, dass Mündigkeit das
Ergebnis des Erziehungsprozesses ist – gleich welche Absichten die Erziehen-
den gehabt haben mögen. Ein drittes Problem ergibt sich aus der allgemein
verbreiteten Auffassung, dass Kinder zwar noch nicht, Erwachsene aber schon
mündig seien. Denn zielte Erziehung stets auf Mündigkeit, so könnte es dann
keine Erziehung der ja schon mündigen Erwachsenen geben (so schon Schlei-
ermacher 1983, S. 45 f.). Warum aber werden dennoch Erwachsene erzogen
(vgl. jüngst: Hunold 2019)?
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Unter anderem um diesen Unwägbarkeiten und Untiefen eines normativ


aufgeladenen Erziehungsbegriffs zu entgehen, wurde versucht, einen stärker
deskriptiven Begriff zu entwickeln. Als ein erster Schritt in diese Richtung kann
der Ansatz von Wolfgang Brezinka (1981) verstanden werden, der Erziehung
nicht mehr an das eine Ziel der Mündigkeit band, sondern eine Vielfalt von
(kultur- und gesellschaftsspezifischen) Erziehungszielen annahm, deren ein-
zige Gemeinsamkeit es sei, etwas zu verbessern. So versteht er unter Erziehung
jene „Handlungen …, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychi-
schen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu
verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Bestandteile zu erhalten oder die
Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten“
(Brezinka 1981, S. 95). In gewisser Weise trägt dieser Erziehungsbegriff einer
empirisch herauszuarbeitenden, immanenten Normativität Rechnung, indem
das, was die Verbesserungsabsicht ausmacht, dezidiert nicht durch die erzie-
hungswissenschaftlichen Beobachter*innen festgelegt wird, sondern im Be-
nehmen der Erziehenden steht.
Noch weiter geht Wolfgang Sünkel, der auf ein Moment der Verbesserung
komplett verzichtet. Kurz gefasst ist für ihn Erziehung „die vermittelte Aneig-
nung nichtgenetischer Tätigkeitsdispositionen“ (2013, S. 63). Hier geht es also
weder um ein von außen angelegtes normatives Kriterium noch grenzt Sünkel
Erziehung auf jene Vorgänge ein, in denen die Erziehenden selbst eine Verbes-
serungsabsicht haben. Dies mag auch damit zu tun haben, dass Sünkel insge-
samt der Intentionalität in Erziehungsprozessen wenig Gewicht einräumt
(s. u.).
Wenn man – wie etwa Brezinka oder Sünkel – einen nicht-normativen Be-
griff von Erziehung bevorzugt, dann bedeutet dies allerdings nicht, dass man
als Erziehungswissenschaftler*in auf eine normative Perspektive verzichten
muss. Vielmehr ist es möglich, unterschiedliche Erscheinungsformen von Er-
ziehung mittels eines deskriptiven Begriffs zu untersuchen und vor dem Hin-
tergrund von – wo auch immer her stammenden – Kriterien daraufhin zu be-
fragen, wie diese jeweils (normativ) zu bewerten sind.

Das Problem der Intentionalität

In der Erziehungswissenschaft wird Erziehung häufig über die Absichten der


am Erziehungsprozess Beteiligten definiert, wie dies schon bei Brezinka (siehe
Abschnitt 2) zu sehen war. Wenn es bei Brezinka um Handlungen geht, mit
denen die psychischen Dispositionen anderer Menschen dauerhaft zum Bes-
seren beeinflusst werden sollen, so orientiert sich der Autor mit seinem Hand-
lungsbegriff an Alfred Schütz und Max Weber, denen zufolge Handlungen auf
einem „Handlungsentwurf“ (Brezinka 1981, S. 71) basieren. Brezinka schränkt
allerdings ein, dass ein solcher Handlungsentwurf und die für Erziehung cha-
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rakteristische „Förderabsicht“ im Erziehungsgeschehen nicht stets willensmä-


ßig präsent sein müssten, sondern auch aus „zeitlich zurückliegenden Willens-
entschlüssen und Absichten sowie die durch sie bedingten Einstellungen“
(ebd., S. 97) schöpfen könnten. Es wäre also zu einfach, den Erziehungsbegriff
lediglich auf die im Erziehungsprozess aktuell bewussten Intentionen der Er-
ziehenden zu beziehen. Dennoch muss es Brezinka zufolge stets einen wie auch
immer weit zurückliegenden Entschluss zur Erziehung gegeben haben, selbst
wenn die Erziehenden diesen Entschluss bereits vergessen haben mögen.
Diese Annahme eines Entschlusses zur Erziehung teilte auch Klaus Mol-
lenhauer, der aber Brezinka dafür kritisierte, ausschließlich die Erziehenden zu
betrachten. Diese Sichtweise habe „zur Folge, daß … für die Veränderung pä-
dagogischer Situationen als konstitutiv nur die Intentionen des ‚Mächtigeren‘
akzeptiert werden, nicht aber die Intentionalität des ‚Schwächeren‘, des Edu-
candus, ins Spiel kommt; dessen Intentionen werden allenfalls als modifizie-
rende Bedingungen berücksichtigt“ (Mollenhauer 1974, S. 28). Demgegenüber
bestimmt Mollenhauer pädagogisches Handeln als „ein Handeln mit ‚gebro-
chener Intention‘; die Intentionen des Erziehenden müssen sich im Lichte der
zu interpretierenden Intentionen des Educandus reflektieren“ (1974, S. 15).
Nicht nur angesichts dieser gebrochenen Intentionalitäten im Erziehungs-
prozess ist allerdings in Frage gestellt worden, ob sich Erziehungsintentionen
so ohne Weiteres in Erziehungsergebnisse übersetzen. Luhmann und Schorr
(1979) bezweifelten dies und sprachen vom „Technologiedefizit der Erzie-
hung“, verspreche Erziehung doch etwas, das sie nicht halten könne: nämlich
die garantierte Veränderung der Zu-Erziehenden. Oelkers (1992) machte da-
rauf aufmerksam, dass schon theoretisch die Komplexität intentionalen Han-
delns in ihrer Relation zu Wirkungen nur schwer in den Griff zu kriegen ist.
Und auch für die empirische Forschung ist es schwierig, Zusammenhänge zwi-
schen erzieherischen Absichten und Wirkungen empirisch überzeugend her-
auszuarbeiten (Heid 1994, S. 57).
Es finden sich – nicht nur aus den genannten Gründen – dann aber auch
Erziehungstheorien, die dezidiert von den Intentionen der Erziehenden oder
zu Erziehenden absehen. Dies ist unter anderem bei dem bereits erläuterten
Erziehungsbegriff von Prange und Strobel-Eisele (2015) der Fall. Aber auch
Wolfgang Sünkel (2013, S. 74) kritisiert dezidiert jene Autor*innen, die die In-
tentionalität „zum Definitionsmerkmal des Erziehungsbegriffs erheben“, und
macht sich die oben genannte Argumente zu eigen. Für seinen bereits in Ab-
schnitt 2 erwähnten Begriff von Erziehung spielt die Intentionalität der Erzie-
henden und zu Erziehenden „nur eine marginale Rolle, weil Erziehungsakte, -
situationen und -prozesse vor dem Bewusstsein davon und unabhängig von
ihm geschehen und auch beim Hinzutreten von Absicht und Bewusstsein in
ihrer Struktur … dieselben bleiben“ (2013, S. 74).
Es lässt sich aber – gegenüber Sünkel (2013) wie auch den anderen erwähn-
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ten Autor*innen – die Frage stellen, ob Intentionalität stets eine Angelegenheit


des Bewusstseins sein muss, ob die Erziehungsabsicht den Erziehenden also
explizit präsent sein müssen. So gebrauchte etwa Wilhelm Flitner einen weit-
aus breiteren Begriff der Intentionalität und schrieb: „Die Erziehungsintention
ist das entscheidende Phänomen – sie ist wirklich im naiven Dasein, in Sitte
und unmittelbaren Lebensverhältnissen aller Art. Als Intention ist sie im
Geiste des Erziehenden, ist ein ‚Wissen‘“ (1983, S. 52). Dieses Wissen aber ist
den Erziehenden nicht immer explizit bewusst und reflexiv zugänglich. Viel-
mehr gibt es auch ein von Flitner so genanntes „Tatwissen“ (ebd.), das zwar
reflektiert werden kann, dessen Intentionalität aber auch ohne die explizite Re-
flexion und jenseits dieser den Erziehungsprozess mitstrukturiert. Man könnte
hier von einer implizit bleibenden, in (Erziehungs-)Gewohnheiten veranker-
ten Intentionalität sprechen (siehe dazu auch Nohl 2018).

Fazit

Wie schon diese wenigen Anmerkungen zu drei Kontroversen um den Erzie-


hungsbegriff zeigen, bietet „Erziehung“ viele Möglichkeiten, Einsichten in pä-
dagogische Grundprozesse zu gewinnen. Die Fruchtbarkeit solcher erzie-
hungstheoretischer Diskussionen erhöht sich mit der Prägnanz, in der die
Konturen des Phänomens und Begriffs der Erziehung herausgearbeitet wer-
den. Hierfür sind nicht nur theoretische Interventionen von hoher Bedeutung;
auch die empirische Forschung kann, wenn sie sich denn der Erziehungstheo-
rie vergewissert, ihren Beitrag zur erziehungswissenschaftlichen Diskussion
leisten.
Arnd-Michael Nohl

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