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73. Jahrgang, 17/2023, 24.

April 2023

AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
Deutsche
Außenpolitik
Alyona Getmanchuk ∙ Jarosław Kuisz ∙ Thorsten Benner
Eric-André Martin ∙ Peter Sparding FÜR EINE CHINAPOLITIK
PARTNER DEUTSCHLAND OHNE ILLUSIONEN
Angela Mehrer ∙ Jana Puglierin Marieke Fröhlich ∙ Anna Hauschild
DEUTSCHLAND IN EUROPA FEMINISTISCHE AUẞ ENPOLITIK
Claudia Major ∙ Christian Mölling Sarah Brockmeier
NEUE DEUTSCHE FÜR EINE ZEITENWENDE
SICHERHEITSPOLITIK IM AUSWÄRTIGEN AMT

Der
APuZ-Podcast

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE


dcast
FÜR POLITISCHE BILDUNG bpb.de/apuz-po

Beilage zur Wochenzeitung


Deutsche Außenpolitik
APuZ 17/2023
ALYONA GETMANCHUK ∙ JAROSŁAW KUISZ ∙ THORSTEN BENNER
ERIC-ANDRÉ MARTIN ∙ PETER SPARDING FÜR EINE CHINAPOLITIK OHNE ILLUSIONEN
PARTNER DEUTSCHLAND Bei der Neuausrichtung der deutschen China­
Seitdem Olaf Scholz angesichts des russischen politik gilt es, die Lehren aus dem Scheitern der
Angriffs auf die gesamte Ukraine von einer deutschen Russlandpolitik zu berücksichtigen.
„Zeitenwende“ sprach, blicken Deutschlands Denn die Abhängigkeiten Deutschlands gegen­
internationale Partner erwartungsvoll nach über China sind weitreichender und komplexer,
Berlin. Wie steht es um das Bild Deutschlands in als es jene gegenüber Russland je waren.
der Ukraine, Polen, Frankreich und den USA? Seite 28–33
Seite 04–15
MARIEKE FRÖHLICH · ANNA HAUSCHILD
ANGELA MEHRER · JANA PUGLIERIN FEMINISTISCHE AU ẞ ENPOLITIK
DEUTSCHLAND IN EUROPA Nachdem Schweden 2014 vorgelegt hat, verfolgt
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die seit 2021 auch die Bundesregierung laut Koali­
Europäer enger zusammenrücken lassen und tionsvertrag eine „Feminist Foreign Policy“. Was
Erwartungen an Deutschland als Führungsmacht genau ist feministische Außenpolitik, wie hat
geweckt. Berlin konnte diese bisher oft nicht sich dieses Konzept entwickelt und wie schlägt
erfüllen und hat sich stattdessen von einigen seiner es sich in der politischen Praxis?
engsten europäischen Partner entfremdet. Seite 34–39
Seite 16–21
SARAH BROCKMEIER
CLAUDIA MAJOR · CHRISTIAN MÖLLING FÜR EINE ZEITENWENDE
NEUE DEUTSCHE SICHERHEITSPOLITIK IM AUSWÄRTIGEN AMT
Deutschland muss seine Sicherheitspolitik auch Die öffentliche Debatte rund um die „Zeitenwen­
abseits des russischen Krieges gegen die Ukraine de“ konzentriert sich auf notwendige Reformen
zukunftsfest aufstellen. Die äußere Zeitenwende bei der Bundeswehr. Aber wie müsste sich
erfordert eine innere Zeitenwende, und eine eigentlich das Außenministerium verändern, um
erfolgreiche deutsche Zeitenwende ist Vorausset­ dem Anspruch einer Zeitenwende in der deutschen
zung für eine europäische Zeitenwende. Außen- und Sicherheitspolitik gerecht zu werden?
Seite 22–27 Seite 40–45
EDITORIAL
Lange konnte die Bundesrepublik in der auf multilateraler Zusammenarbeit
basierenden internationalen Ordnung zu einem wirtschaftlichen Schwergewicht
gedeihen, ohne sich für deren Beschaffenheit oder Bewahrung besonders enga­
gieren zu müssen. Berlin vertraute auf die stabilisierende Kraft regelbasierter
Kooperation und wechselseitiger Abhängigkeiten in einer globalisierten Staa­
tengemeinschaft sowie auf den strategischen Schutz durch die USA und gerierte
sich auf der Weltbühne als Zivilmacht, die vor allem auf Soft Power setzt – auch
angesichts zunehmender Mahnungen aus dem In- und Ausland, es sei an der
Zeit, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 mar­
kierte das Ende dieser bequemen Lage. Als Bundeskanzler Olaf Scholz wenige
Tage später von einer „Zeitenwende“ sprach und unter anderem ankündigte,
Deutschland werde Waffen an die Ukraine liefern, von nun an das Zweiprozent­
ziel der Nato einhalten, ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für
die Bundeswehr auflegen und seine Abhängigkeit von Russland bei der Energie­
versorgung verringern, schienen sich die Erwartungen an die Bundesrepublik als
zentrale Macht in Europa zu erfüllen.
Seither hat sich unter Deutschlands Partnern zum Teil erhebliche Ernüchte­
rung eingestellt. Das Agieren der Bundesregierung wird bisweilen als zögerlich
und von nationalen Interessen geleitet wahrgenommen, und auch in Deutsch­
land selbst erweist sich die Umsetzung der ausgerufenen Ziele als ausgesprochen
zäh. Dabei ist die Dringlichkeit nach wie vor hoch, dass sich Deutschland
außen- und sicherheitspolitisch so aufstellt, dass es auch in einer internationalen
Ordnung bestehen kann, die veränderten Prämissen folgt. Die erste Nationale
Sicherheitsstrategie und die erste deutsche China-Strategie, die in den kommen­
den Monaten vorgelegt werden sollen, sind dafür zentrale Bausteine.

Anne-Sophie Friedel

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APuZ 17/2023

PARTNER DEUTSCHLAND
Internationale Perspektiven
Berlin dazu stand. Seit Februar 2022 hat sich ge­
ESSAY zeigt, dass auch bei der Militärhilfe eine deutsche
Führung unverzichtbar ist. Allerdings ließ die er­
Partner im Krieg, hoffte Zustimmung auf sich warten, und es folgte
eine Enttäuschung auf die andere.
Partner für Frieden Seit wann sich diese Entwicklung ankündig­
te, ist schwer zu sagen. Der Wendepunkt kam für
Das Deutschlandbild in der Ukraine die meisten Ukrainer 2008 beim Nato-Gipfel in
Bukarest, als Bundeskanzlerin Angela Merkel
Alyona Getmanchuk ihr Veto gegen einen Aktionsplan für eine Mit­
gliedschaft der Ukraine einlegte. Darauf folg­
te die Genehmigung Berlins für die Gaspipeline
Vermutlich gibt es kein Land, das die Menschen in Nord Stream 2, die viele in der Ukraine nicht
der Ukraine so fasziniert, aber auch so enttäuscht nachvollziehen konnten: Wogen die realen wirt­
wie Deutschland. Die Faszination ist in der Re­ schaftlichen Vorteile wirklich so viel schwerer
gel subtil; doch wenn sich die Enttäuschung Bahn als die Risiken? Die Ukrainer waren enttäuscht
bricht, reist sie in wenigen Tagen von den Ufern und blieben es auch, als Angela Merkel nach der
des Dnepr bis an die Spree. Die Bundesrepublik russischen Annexion der Krim 2014 sowohl in
fasziniert aufgrund ihres hohen Lebensstandards Deutschland als auch in der EU für die Unterstüt­
und ihrer Rechtsstaatlichkeit. Wenn es ein einzel­ zung der Sanktionen gegen Russland warb – und
nes Land gibt, das in der ukrainischen Vorstellung trotz ihrer überraschend herzlichen Beziehungen
für die EU steht, dann ist das vermutlich Deutsch­ zum ukrainischen Präsidenten Petro Poroschen­
land. Es überrascht daher nicht, dass Deutschland ko. Allerdings ahnten sie nicht, wie tief diese Ent­
bereits vor dem russischen Überfall das belieb­ täuschung noch reichen würde. Das erkannten sie
teste Ziel für auswandernde Ukrainerinnen und erst am 24. Februar 2022, als Russland mit seinem
Ukrainer war und seither nach Polen die meisten Angriff auf die gesamte Ukraine begann.
ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen hat. Erst dann wurde klar: Nichts provoziert Pu­
tin mehr als der politische Vorsatz, Putin nicht zu
VERKÖRPERUNG DER POLITIK, provozieren. Die Ablehnung eines Aktionsplans
PUTIN NICHT ZU PROVOZIEREN für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine in Bu­
karest, verbunden mit dem vagen Versprechen ei­
Alles Deutsche trägt in der Ukraine eine Art „Gü­ ner künftigen Mitgliedschaft, hatte die Ukraine
tesiegel“. Das erklärt vielleicht, warum die Ukra­ noch anfälliger für Angriffe gemacht. Dass Berlin
ine von Deutschland mehr als von jedem anderen trotz der russischen Annexion der Krim 2014 und
EU-Land erwartet und auch in Zukunft erwar­ des anhaltenden Krieges in der Ostukraine osten­
ten wird – und warum sie mehr an die Fähigkei­ tativ an Nord Stream 2 festhielt, hatte im Kreml
ten der Bundesrepublik glaubt als sie selbst. Bis die Überzeugung gefestigt, dass Geld und billiges
zum russischen Überfall auf die gesamte Ukra­ Gas mehr zählten als die von der EU vertretenen
ine schien militärische Unterstützung die ein­ Werte und das Völkerrecht. Das sogenannte Mins­
zige Frage, in der die Ukraine von Deutschland ker Abkommen und das Normandie-Format zur
keine Führungsrolle erwartete, während in allen Beilegung des Konflikts im Donbas, die von An­
anderen Bereichen – Reformpolitik, Energie, Fi­ gela Merkel orchestriert wurden, die Verhandlun­
nanzhilfen, Sanktionen gegen Russland sowie mit gen über ein Ende des Krieges in der Ostukraine,
Blick auf eine EU- oder Nato-Mitgliedschaft der hatten Putin eher zu einem Krieg gegen die ge­
Ukraine – letztendlich alles davon abhing, wie samte Ukraine ermutigt, als ihn davon abgehalten.

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Deutsche Außenpolitik APuZ

Wie sich herausstellte, gab es eigentlich gar WENN SCHON KEINE FÜHRUNG,
keine deutsche Ukraine-Politik an sich – eher DANN ENTSCHLOSSENHEIT
die allgemeine Haltung, Putin nicht zu provozie­
ren, an der alle strategischen Entscheidungen zur Trotz aller Enttäuschungen und mitunter auch
Ukraine ausgerichtet wurden. Die Entscheidun­ Frustration glauben die Menschen in der Ukraine
gen, die zu dieser Politik passten, etwa Finanzhil­ immer noch an die Entschlossenheit und Verant­
fen oder Besuche deutscher Abgeordneter oder wortung Deutschlands. Das gilt nicht nur mit Blick
Minister in der Ukraine, wurden umgesetzt; die, auf den Wiederaufbau nach dem Krieg, auf den
die nicht dazu passten, etwa eine Zustimmung Berlin oft verweist, sondern auch mit Blick auf die
zur Nato-Mitgliedschaft der Ukraine oder Mili­ Frage, wie der Krieg mit einem ukrainischen Sieg
tärhilfen, wurden auf höchster Ebene sabotiert. beendet werden kann. Eine mögliche Antwort be­
Damit verkörperte Deutschland für viele stünde darin, auf dem Schlachtfeld deutliche Über­
Ukrainer wie kein anderes Land die vom Westen legenheit zu demonstrieren – unter anderem mit in
verfolgte Linie gegenüber Moskau. Die ukraini­ Deutschland hergestellten Leopard­-Panzern.
sche Überzeugung, dass nicht etwa das trügerische Der Wiederaufbau ist sicher ein viel einfacheres
Versprechen einer Nato-Mitgliedschaft, sondern Thema als die Militärhilfe oder als Sanktionen ge­
diese Haltung, Putin nicht provozieren zu wollen, gen Russland, und für dieses Engagement gebührt
zum Krieg geführt hat, erklärt, warum Berlin seit Deutschland Dank. Allerdings sollte man sich stets
Russlands Überfall auf die Ukraine mit Bitten aus vor Augen halten, dass der Wiederaufbau erst nach
Kyjiw und nur selten mit Dank überhäuft wird. einem Friedensschluss erfolgen kann, der ohne ei­
Und sie erklärt auch, warum alle deutschen Ab­ nen ukrainischen Sieg nicht möglich ist. Und ein
sichtsbekundungen und Versprechungen von der solcher ist wiederum nicht möglich ohne schnel­
Ukraine kühl, ja ungläubig aufgenommen werden. le und umfangreiche westliche Waffenlieferungen.
Vielleicht würde man sich in der Ukraine die Daher ist es für die Ukraine wichtig, dass die deut­
Haltung, Putin nicht provozieren zu wollen, nicht sche Rüstungsindustrie, die bereit ist, der Ukraine
so zu Herzen nehmen, wenn sie dort nicht selbst hochentwickelte Waffen zu liefern, in Einklang mit
vertreten worden wäre: Jahrelang traf auch Kyjiw der Bundesregierung handeln kann.
Entscheidungen mit Rücksicht auf den Kreml, Die Menschen in der Ukraine erwarten von
etwa beim Verzicht darauf, die angestrebte Auf­ Deutschland auch ein entschlosseneres Auftreten
nahme in die Nato gesetzlich zu verankern, bei Zu­ mit Blick auf eine zukünftige ukrainische EU-Mit­
geständnissen in Energiefragen, bei der Duldung gliedschaft. Als ich im Herbst 2022 drei Länder auf
russischer Agenten in der Regierung, im Parla­ dem westlichen Balkan besuchte, um von ihren Er­
ment und in den Medien oder sogar bei der Abkehr fahrungen bei der Aufnahme in die EU zu lernen,
von einem Assoziierungsabkommen zwischen der hörte ich mehr als einmal von der positiven Rolle
Ukraine und der EU, die 2013 in die Revolution Deutschlands – im Gegensatz zu jener Frankreichs
der Würde („Euromaidan“) mündeten. oder der Niederlande, die als Haupthindernis­
Diese Politik hat von der Ukraine einen ho­ se angesehen wurden – für die Annäherung ihrer
hen Tribut gefordert. Russland annektierte die Länder an die EU. In der Ukraine gilt Deutsch­
Krim und Teile der östlichen Grenzgebiete, als land jedoch immer noch als „europaskeptisches“
die Ukraine offiziell ein bündnisfreier Staat war Land. Das ist nicht überraschend: Bundeskanzler
und keinerlei Ambitionen verfolgte, der Nato Olaf Scholz war der vorletzte Staats- und Regie­
beizutreten – um Putin nicht zu „provozieren“, rungschef der EU, der 2022 grünes Licht für den
versteht sich. Als Russland dann genügend Streit­ Beitrittsstatus der Ukraine gab.
kräfte zusammengezogen hatte, wurde die Ukra­ Die Situation wird sich hoffentlich ändern: Die
ine entgegen aller Erwartungen brutal angegrif­ zukünftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist von
fen, mit einem groß angelegten Krieg, der für großer geopolitischer und sicherheitspolitischer Be­
jemanden mit gesundem Menschenverstand im deutung. Als EU-Mitglied kann die Ukraine nicht
Europa des 21. Jahrhunderts unverständlich ist. gleichzeitig Teil eines wiederbelebten russischen
Wenn es also um die Folgen der Politik geht, Pu­ Imperiums oder welcher Entität auch immer sein,
tin nicht provozieren zu wollen, ist die Ukraine die Putin militärisch zu etablieren versucht. Je stär­
ein eindrucksvoll abschreckendes Beispiel, vom ker die Ukraine also in die EU integriert wird, desto
dem die restliche Welt viel lernen kann. geringer ist für Putin die Motivation für einen Krieg.

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APuZ 17/2023

Die größte Bedeutung einer Aufnahme in die Charkiw sowie der Stadt Cherson. Waffen befrei­
EU besteht jedoch in ihrer katalysierenden Wir­ en nicht nur Gebiete, sondern auch Menschen,
kung für Wandel. Es gibt keine vergleichbare Kraft die Folter und Zwang ausgesetzt sind.
für Veränderungen in der Ukraine. Daher muss je­ Darüber hinaus hofft man in der Ukraine, dass
der, der sich für eine Nachkriegs-Ukraine mit be­ sich auch die deutsche Haltung gegenüber einer
lastbaren demokratischen Institutionen, mit we­ Nato-Mitgliedschaft des Landes ändern wird. Es
niger Korruption, mit Rechtsstaatlichkeit, mit ist gut, dass Bundeskanzler Scholz verstanden hat,
transparenten Geschäftspraktiken einsetzt, ernst­ dass die Nato-Bestrebungen der Ukraine nicht der
haft daran interessiert sein, dass die Ukraine bald Grund für den Krieg waren. Es wäre aber noch
vollwertiges EU-Mitglied wird. Man kann nicht ei­ besser, wenn er erkennen würde, dass Russland –
nerseits den Wiederaufbau fördern und andererseits ob mit Putin an der Spitze oder einem Nachfol­
den EU-Beitritt verhindern. Ich bin daher über­ ger – ständig versucht wäre, die Ukraine anzugrei­
zeugt, dass Deutschland in Bezug auf die EU-Inte­ fen, solange es keine Sicherheitsgarantien für die
gration in der Ukraine bald ähnlich gesehen werden Ukraine gibt, die Artikel 5 des Nordatlantikver­
wird wie in den Ländern auf dem westlichen Bal­ trags entsprechen. Berlin sollte damit beginnen,
kan – als Verbündeter und nicht als Saboteur. seine Entscheidung auf dem Nato-Gipfel 2008 in
Nach den von Angela Merkel initiierten Mins­ Bukarest zu überdenken, als der Ukraine ein Ak­
ker Vereinbarungen und dem Normandie-Format, tionsplan für die Mitgliedschaft verweigert wurde.
mit denen der Ukraine so viel zugemutet wurde, er­ Die Ukraine erwartet auch die Unterstützung
wartet Kyjiw, dass Deutschland nun bei Verhand­ Deutschlands, wenn es darum geht, Russland zur
lungen mit Russland auf seiner Seite steht. Wenn Rechenschaft zu ziehen – sowohl durch die Ein­
derzeit ein diplomatischer Weg aus dem Krieg mög­ richtung eines Sondertribunals als auch durch die
lich wäre, wäre die Ukraine die erste am Verhand­ Beschlagnahmung von Vermögenswerten russi­
lungstisch. Ihr Engagement dafür hat sie bereits scher Oligarchen und der russischen Zentralbank,
mehrfach bewiesen. Schon im März 2022 unterbrei­ die dem Wiederaufbau der Ukraine zugutekom­
tete sie Putin ein diplomatisches Angebot mit dem men sollen. Wir in der Ukraine sind überzeugt, dass
politisch heiklen Zugeständnis, auf eine künftige es ziemlich ungerecht wäre, wenn die Partner der
Mitgliedschaft in der Nato zu verzichten – doch Pu­ Ukraine für den Wiederaufbau zahlen müssten und
tin reagierte mit weiteren Gräueltaten und Kriegs­ nicht der Aggressor. Russland soll die Rechnung
verbrechen. Im November schlug Wolodymyr Se­ bezahlen, und den Wiederaufbau sollen vor allem
lenskyj die sogenannte Friedensformel vor, in der Unternehmen aus den Ländern übernehmen, die
in zehn Punkten die Vorstellungen der Ukraine zur zum Sieg der Ukraine beigetragen haben. Hier soll­
Erreichung eines dauerhaften Friedens skizziert ten deutsche Unternehmen im Vorteil sein. Es wäre
wurden, darunter der Abzug der russischen Trup­ für alle von Nutzen, wenn Zehntausende Evakuier­
pen, die Wiederherstellung der territorialen Inte­ te, die in die Ukraine zurückkehren, auch Zehntau­
grität der Ukraine, die Einrichtung eines Sondertri­ sende deutsche Unternehmen mitbringen würden.
bunals zur Verfolgung russischer Kriegsverbrechen Deutschland kommt also eine bedeutende Rol­
und die Freilassung ukrainischer Kriegsgefangener le zu – sowohl wenn es darum geht, der Ukraine
und Kinder, die nach Russland verschleppt wurden. zu helfen, den Krieg zu gewinnen, als auch wenn
Es gab und gibt jedoch keine Anzeichen, es darum geht, die Ukraine im Frieden weiterzu­
dass Putin zu Verhandlungen bereit wäre. Ganz entwickeln. Für den Krieg brauchen wir deutsche
im Gegenteil: Er ist offenbar entschlossen, sei­ Waffen. Für den Frieden brauchen wir die deut­
ne Kriegsanstrengungen zu verstärken, indem sche Unterstützung bei einer Aufnahme in die EU
er weiteres ukrainisches Territorium annektiert, und bei Investitionen für den Wiederaufbau.
die Rüstungsproduktion erhöht, eine unbefris­
tete Mobilisierung erklärt und weiterhin öffent­ Aus dem Englischen von Heike Schlatterer,
lich die Maximalziele seiner militärischen „Spezi­ Pforzheim.
aloperation“ zur „Entnazifizierung“ der Ukraine
verkündet. Das erste Kriegsjahr hat gezeigt, dass ALYONA GETMANCHUK
es eine Möglichkeit gibt, Putins Pläne zu durch­ ist Gründerin und Leiterin des Think Tanks New
kreuzen: eine angemessene militärische Antwort, Europe Center in Kyjiw.
wie bei der Befreiung der Regionen Kyjiw und alyona.getmanchuk@neweurope.org.ua

06
Deutsche Außenpolitik APuZ

genüber den Deutschen zu empfinden. 1984 äu­


ESSAY ßerten das bereits zwölf Prozent und vier Jahre
darauf rund 16 Prozent.01 Doch erst der Zerfall
Im Zeichen historischer des kommunistischen Blocks und die Wieder­
erlangung der Unabhängigkeit Polens bedeu­
Traumata tete für die Beziehungen zwischen Polen und
Deutschland einen wirklichen Umbruch: Endlich
Das Deutschlandbild in Polen wurde die Frage der Staatsgrenzen abschließend
geregelt, außerdem begann eine intensive Zusam­
Jarosław Kuisz menarbeit der Regierungen sowie der Zivilgesell­
schaften. Die polnischen Eliten trieben ab Anfang
der 1990er Jahre den Versöhnungsprozess voran,
Das Bild Deutschlands in Polen ist auch 2023 mit nachdem insbesondere die erste nicht-kommu­
der traumatischen Vergangenheit der Beziehun­ nistische Regierung von Tadeusz Mazowiecki
gen zwischen den beiden Ländern verbunden. 1989/90 den Ton vorgegeben hatte.
Die wichtigste Zäsur ist hierbei der Zeitraum Nach 1989 spielten auch geopolitische Inte­
von 1939 bis 1945. Es gibt im öffentlichen und ressen eine Rolle für die deutsch-polnischen Be­
privaten Raum in Polen nichts, was nicht vom ziehungen: Polen wollte der russischen Einfluss­
Krieg berührt worden wäre, der mit dem Angriff zone entkommen und der Nato sowie der EU
Deutschlands am 1. September 1939 begann. Die­ beitreten, denen das vereinigte Deutschland be­
se sechs Jahre waren ein einziges großes, kollek­ reits angehörte. Aber auch bilaterale wirtschaft­
tives Trauma, und das Wissen darüber wurde von liche Interessen waren von Bedeutung, und das
einer Generation an die nächste weitergegeben. Handelsvolumen zwischen Deutschland und Po­
Wenn man nach dem gegenwärtigen Bild len wuchs rasch. Die gesellschaftliche und kul­
Deutschlands in Polen fragt, kann man es na­ turelle Zusammenarbeit wurde ausgebaut, auch
türlich nicht bei dieser Feststellung bewenden wenn sie nie wirklich in die große Breite wirkte.
lassen. Die Beschreibung und die Interpretati­ Gleichzeitig wuchs auch die Sympathie der
on des Zweiten Weltkrieges fand nicht nur im Polinnen und Polen zu den Deutschen. 2020 äu­
privaten Raum sowie auf rechtlicher oder wis­ ßerten 36 Prozent Sympathie, 29 Prozent Gleich­
senschaftlicher Ebene statt. Der Sieg über das gültigkeit und 29 Prozent Abneigung gegenüber
„Dritte Reich“ war auch eine der wichtigsten den Deutschen.02 Das scheint im Vergleich zu an­
propagandistischen und legitimatorischen Strate­ deren Nationen nicht besonders viel zu sein – so
gien der UdSSR und der kommunistischen Staa­ erklären zum Beispiel 53 Prozent der Befragten
ten, zu denen die 1944 gegründete Volksrepublik in Polen ihre Sympathie zu den benachbarten
Polen zählte, die geopolitisch gesehen Moskau Tschechen. Doch an der Weichsel hat man einen
unterstellt war. Das ist hier hervorzuheben, da weiten Weg zurückgelegt.
es in Zeiten politischer Umbrüche zu den intel­
lektuellen Strategien gehört, auf Wissensbestän­ ZONE DER ANGST
de aus der Vergangenheit zurückzugreifen. Es
scheint, als würden die traumatischen Verletzun­ Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine
gen, die Deutschland Polen zugefügt hat, seit ei­ hat gezeigt, wie zerbrechlich die steigende Sym­
nigen Jahren gewissermaßen „aus der Tiefkühl­ pathie ist – und zwar vor dem Hintergrund der
truhe geholt“. Manche Entscheidungen Berlins traumatischen Vergangenheit. Auch schon vor
seit Beginn des Krieges in der Ukraine werden Februar 2022 gab es deutliche Signale des Miss­
im östlichen Europa durch die Brille der Vergan­ trauens aus Polen gegenüber der deutschen Au­
genheit interpretiert. Dies führt zu vielen Miss­ ßenpolitik, und das nicht nur aus dem Umfeld
verständnissen. der seit 2015 regierenden nationalen Rechten.
Von allen politischen Entscheidungen Deutsch­
GESTIEGENE SYMPATHIE lands seit 1989 war zweifellos die Übereinkunft
mit Russland zum Bau der Gaspipeline Nord
In Polen erklärten noch Mitte der 1970er Jahre Stream 2 diejenige, die in den Staaten Ostmittel-
nur acht Prozent der Befragten, Sympathie ge­ und Osteuropas am stärksten zur kritischen Re­

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APuZ 17/2023

flexion der deutschen Politik bewegte. Die Art verschwunden sind, verleitet einen Politiker wie
und Weise, wie diese Entscheidung getroffen den PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński dazu,
wurde, empfand man als Verständigung über die sie politisch zu nutzen. Bei Wahlkampfveranstal­
kleineren Staaten hinweg. Der damalige Vertei­ tungen, aber auch bei anderen Gelegenheiten, set­
digungsminister Radosław Sikorski verglich den zen Politikerinnen und Politiker der Partei nicht
Bau der Pipeline mit den Ereignissen vor 1939: selten mit einer alles andere als diplomatischen
„Polen ist besonders sensibel bei der Frage von Sprache auf nationale Emotionen.
Korridoren und Absprachen über unsere Köpfe Wenn der Bau von Nord Stream 2 in Ostmit­
hinweg“, sagte er und ergänzte, dies sei „die Tra­ teleuropa rote Lampen hatte aufleuchten lassen,
dition von Locarno, die Tradition des Hitler-Sta­ so bedeutete Russlands Überfall auf die Ukra­
lin-Pakts.12“03 ine für die polnische Regierung das Ende jeder
Diese Aussage führt uns heran an das geo­ Nachsicht in den Beziehungen zu den Staaten
politische „Geheimnis“ nicht nur Polens, son­ Westeuropas. Angesichts der realen Bedrohung
dern aller Staaten Ostmittel- und Osteuropas: die der staatlichen Existenz erfreut sich die Kritik an
posttraumatische Souveränität.04 Situationen in der deutschen, aber auch der französischen Au­
der internationalen Politik, die ein erhöhtes Ri­ ßenpolitik breiter Unterstützung. Die gesam­
siko für die Unabhängigkeit eines Staates bedeu­ te westliche Russlandpolitik wird als falsch aus­
ten, aktivieren vor dem Hintergrund historischer gelegt. Sie habe mittelbar zu einer neoimperialen
Erfahrungen des Untergangs ein Bündel regiona­ Politik Moskaus geführt. Damit wird unter ande­
ler kultureller Codes. So eint auch die politische rem Berlin moralisch für den Ausbruch des Krie­
Landschaft in Polen eine Überempfindlichkeit ges verantwortlich gemacht.
für potenzielle Bedrohungen der staatlichen Un­ Im Zeichen der posttraumatischen Souverä­
abhängigkeit. nität löste der Kriegsbeginn hinter den eigenen
Die Politiker betrachten die Welt sogar dann Staatsgrenzen in der gesamten Region das Gefühl
aus der Perspektive des drohenden staatlichen geopolitischer Bedrohung aus. Die Überemp­
Untergangs, wenn sie Deutschland zu mehr Ak­ findlichkeit gegenüber Berlin zeigte sich im Streit
tivität auffordern. So mahnte Sikorski als Außen­ um die eventuelle Überlassung deutscher Panzer
minister 2011 mit Blick auf das Schicksal des pol­ an Polen, aber auch an den Differenzen rund um
nisch-litauischen Doppelstaates, der 1795 von der die Stationierung des Flugabwehrsystems „Patri­
Landkarte radiert wurde, dass der EU ein ähn­ ot“ in Polen.
liches Schicksal drohe, wenn sie sich zu spät re­ Für das Gefühl einer Bedrohung der Souverä­
formiere. Der russische Angriff auf die gesamte nität spielt die Parteizugehörigkeit in Polen kei­
Ukraine hat diese „existenzielle“ Perspektive auf ne große Rolle. Auch Oppositionspolitiker kom­
die internationale Lage in Polen weiter verstärkt mentieren Deutschlands Russlandpolitik kritisch.
und das Bild von der deutschen Politik mit be­ Das hat für Jarosław Kaczyński allerdings keine
einflusst. Bedeutung. Er möchte keine nationale Einheit in
2015 kam mit Recht und Gerechtigkeit (Pra­ Zeiten des Krieges herbeiführen, sondern Wahlen
wo i Sprawiedliwość, PiS) in Polen eine Partei mit gewinnen. Deshalb wird die Kritik an der Außen­
dem Ziel an die Macht, die Souveränität des Staa­ politik Berlins oder Paris auf Politiker der libera­
tes maximal zu vergrößern. Angesichts der inter­ len Opposition ausgeweitet.
nationalen Lage musste dies zu Spannungen füh­ Um die Souveränität des Landes zu stärken,
ren. Dass die antideutschen Stereotype in Polen sollte eigentlich sein Außenbild gestärkt werden.
statistisch gesehen zurückgegangen, aber nicht Stattdessen hat Kaczyński die Frage der Repa­
rationen für die Schäden im Zweiten Weltkrieg
01 Vgl. Zbigniew Bokszański, Polacy wobec innych narodów, in:
hervorgeholt. Warschau hat eine astronomische
Studia Socjologiczne 3/2001, S. 27–51, hier S. 33. Summe von 1,3 Billionen Euro von Berlin ver­
02 Vgl. Centrum Badania Opinii Społecznej, Komunikat z langt. Offensichtlich ist der PiS-Vorsitzende der
badań 31/2020. Meinung, dass in den deutsch-polnischen Bezie­
03 Zit. nach Bartosz Wieliński, Niemcy wściekłe na Sikorskiego,
hungen der stete Tropfen den Stein höhlt. Innen­
4. 5. 2006, h­ ttps://wiadomosci.gazeta.pl/wiadomosci/​7,​114873,​
3321425.html.
politisch betrachtet, scheinen antideutsche Töne
04 Vgl. ausführlich Jarosław Kuisz, The New Politics of Poland. ein erfolgreicher Weg zu sein, um Wähler zu
The Case of Post-Traumatic Sovereignty, Manchester 2023 (i. E.). ­mobilisieren.

08
Deutsche Außenpolitik APuZ

ERWARTUNGEN ständig eine wichtigere Rolle in Ostmitteleuropa


ausfüllt. Vielmehr erwarten die kleineren Staaten
Die Gesten der deutschen Seite dringen nur eine umfassende Kooperation – und dies umso
schwach ins Bewusstsein der Polinnen und Polen mehr, als der Kriegsbeginn auch die Vielschich­
vor. In den vergangenen Monaten hat der Bun­ tigkeit zwischenmenschlicher Solidarität aufge­
destag zum Beispiel eine Initiative unternom­ zeigt hat. Dafür ist die Zusammenarbeit zwischen
men, um Mittel für einen Erinnerungsort für die Warschau, Kyjiw und den baltischen Staaten das
Kriegsopfer Polens in Berlin zur Verfügung zu beste ­Beispiel.
stellen. Gleichzeitig wurde eine erhebliche Sum­ Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfordern die
me für Polnischunterricht in Deutschland bereit­ deutsch-polnischen Beziehungen zivilgesell­
gestellt, außerdem Mittel für diverse Gedenkstät­ schaftliche und bildungsbezogene Initiativen.
ten in Polen. Eine tatsächliche Herausforderung ist es, das all­
Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Herbst gemeine Wissen übereinander zu verbessern und
2023 hat die Regierung in Warschau kein Inte­ von negativen Stereotypen wegzukommen. Das
resse daran, die deutsch-polnische Aussöhnung ist eine schwierige und langfristige Aufgabe, denn
voranzubringen und der Wählerschaft die Nu­ die künstlich fabrizierten Klischees reichen bis ins
ancen der deutschen Politik zu erklären. Russ­ 18. Jahrhundert zurück, als der preußische Hof
lands Überfall auf die Ukraine hat dazu geführt, seine territoriale Expansion auf Kosten Polen-Li­
dass sich unabhängig von der polnischen Regie­ tauens zu legitimieren versuchte. Aber es gibt hier
rungspolitik das geopolitische Zentrum Euro­ keine Abkürzung. Denn in der politischen Bilanz
pas faktisch nach Osten verschoben hat. Jarosław Deutschlands lässt sich das Misstrauen der Nach­
Kaczyński wird diese internationale Konjunktur barn nicht auf die Haben-Seite buchen.05
dafür nutzen, zu betonen, dass seine Agenda ei­ Wenn man nur das Feld der Politik betrach­
ner maximalen Souveränität von Anfang an nicht tet, ist kaum zu glauben, dass die wirtschaftli­
nur moralisch, sondern auch politisch richtig war. che Zusammenarbeit beider Staaten alle Rekor­
Und nach heutigem Stand ist ein Sieg der PiS bei de schlägt. Polen ist derzeit der fünftwichtigste
den Parlamentswahlen nicht auszuschließen.56 Handelspartner Deutschlands. Die Summen sind
Die Erwartungen aus Polen an Berlin soll­ immens: Der Handelsaustausch hat 2022 die Re­
te man deshalb in Erwartungen der Regierung kordhöhe von 167,7 Milliarden Euro erreicht.06
und objektive Erwartungen unterteilen. Die Re­ Und so drängt sich abschließend folgende Bemer­
gierung zielt darauf, die EU-Staaten dazu zu be­ kung auf: Nach 1989 haben beide Staaten wirt­
wegen, die Perspektive Ostmitteleuropas zu schaftlich von ihrer Zusammenarbeit in der EU
übernehmen. Von Berlin erwartet sie eine gerin­ profitiert. Nun ist die Zeit für eine geistige Berei­
gere internationale Rolle, wohl aber ein stärke­ cherung ­gekommen.
res materielles Engagement für die Ukraine und
auch in Polen. Objektiv gesehen ist kaum zu er­ Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew,
warten, dass Berlin diese Forderungen passiv er­ Darmstadt.
füllt. Daher sollte der nächste Schritt der Ver­
söhnung zwischen den beiden Nationen, der zu
Recht von den Eliten angestoßen worden ist,
auf die Ebene der Bürgerinnen und Bürger füh­
ren. Die internationale Lage begünstigt zudem
eher multilaterale als bilaterale Aktivitäten in der
Region der Staaten mit posttraumatischer Sou­
veränität. Denn die anderen Staaten der Region
warten nicht darauf, dass Polen nunmehr eigen­
JAROSŁAW KUISZ
ist Chefredakteur der Online-Wochenzeitschrift
05 Vgl. Juliusz Mieroszewski, Listy z Wyspy. ABC polityki „Kultu-
„Kultura Liberalna“ in Warschau. 2023 erscheint
ry“, Paris–Krakau 2012, S. 103.
06 Vgl. Rekordowa wymiana handlowa, 10. 2. 2023, h­ ttps://
sein Buch „The New Politics of Poland. A Case of
tvn24.pl/biznes/z-​kraju/polska-​niemcy-​rekordowa-​w ymiana-​ Post-Traumatic Sovereignty“.
handlowa-​miedzy-​polska-​i-​niemcami-​w-​2022-​roku-​6751134 kuisz@kulturaliberalna.pl

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APuZ 17/2023

geringen Fortschritte hinwegtäuschen. Zwar hat


ESSAY die deutsch-französische Zusammenarbeit einige
Durchbrüche auf europäischer Ebene ermöglicht,
Das Ende des wie zum Beispiel das europäische Aufbauinstru­
ment „Next Generation EU“ für die Zeit nach
wohlwollenden Hegemons? Covid-19. Doch die verhaltene Reaktion Berlins
auf die inhaltlichen Vorschläge Macrons für Eu­
Die Achse Paris-Berlin in Europa ropa hat auf französischer Seite zu einer gewissen
Frustration geführt, die mitunter in Überdruss
Eric-André Martin und sogar Ressentiments umschlug. Auf deut­
scher Seite sorgten zum einen die Alleingänge
des französischen Präsidenten in Angelegenhei­
„Frankreich und Deutschland tragen gemeinsam ten der Außen- und Sicherheitspolitik für Verär­
die Verantwortung dafür, das Projekt eines ge­ gerung, zum anderen, dass man vom Partner vor
einten und souveränen Europas zu bekräftigen.“ vollendete Tatsachen gestellt wurde.02 Während
Mit diesen Worten fasste Frankreichs Präsident Deutschland einen institutionellen Ansatz vor­
Emmanuel Macron anlässlich der Feierlichkeiten zog, um die Rolle der EU und der Nato in Sicher­
zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée- heitsfragen zu stärken, verfolgte Frankreich mit
Vertrags zusammen, was seit seinem Amtsantritt Blick auf Libyen und die Türkei eine sehr auf die
2017 im Mittelpunkt seines Handelns in Europa eigenen nationalen Interessen fokussierte Poli­
und in Bezug auf Deutschland steht: die Entwick­ tik. Den Höhepunkt dieser Differenzen markier­
lung einer gemeinsamen Agenda, die zugleich Im­ te zweifellos die Aussage des französischen Präsi­
pulse für die bilaterale Zusammenarbeit setzt, die denten zum „Hirntod“ der Nato.
Position Europas auf der Weltbühne stärkt und Paradoxerweise führen die wiederholten Kri­
es diesem Europa ermöglicht, den Herausforde­ sen der vergangenen Jahre und vor allem der rus­
rungen von morgen zu begegnen – eine ehrgeizi­ sische Angriffskrieg gegen die Ukraine aber klar
ge europäische Agenda also, zu deren Prioritäten vor Augen, dass die EU die einzig richtige Ebene
die Stärkung der europäischen Souveränität zählt. ist, um den Herausforderungen entgegenzutre­
Ihr zugrunde liegt die Auffassung, dass die wich­ ten, denen Frankreich und Deutschland gegen­
tigsten Herausforderungen, denen sich Europa in überstehen. Dieser Konflikt wird tiefgreifende
den vergangenen Jahren gegenübersah, von globa­ Konsequenzen für die EU nach sich ziehen, und
ler Dimension sind. Dieses Postulat wiederum er­ vor dem Hintergrund der Polykrise und Ressour­
fordert ein Überdenken des Projekts Europa vor cenknappheit kommt die Versuchung wieder auf,
dem Hintergrund seiner Beziehungen zur übri­ „rette sich, wer kann“ zu denken und eine Jeder-
gen Welt. Es gilt, eine Agenda zu entwerfen, dank für-sich-Haltung einzunehmen. Daher stellt sich
derer Europa seine Souveränität durch Initiativen die Frage, wie Frankreich und Deutschland die
in sechs Handlungsräumen stärken kann, die Ma­ Zukunft für sich selbst, aber auch für die EU und
cron als wesentliche Elemente zeitgenössischer die internationale Ordnung sehen. Welchen Platz
Macht identifiziert: Sicherheit und Verteidigung, nehmen die Partner in der Vorstellung ein, die der
Migration und Grenzen, ökologischer Wandel, andere sich von seiner eigenen Zukunft macht?
digitale Transformation, Ernährungssouveränität,
wirtschaftliche und industrielle Macht.01 Letztlich DER KRIEG ALS
laufe dieses Bestreben auf eine Neugründung Eu­ ASYMMETRISCHER SCHOCK
ropas hinaus, bei der der ursprüngliche Fehler des
europäischen Projekts behoben würde: der Ver­ Seit Beginn des Krieges in der Ukraine dreht sich
zicht auf Macht, der eine notwendige Vorausset­ die öffentliche Diskussion in Deutschland um die
zung für die europäische Einigung war. Die Um­ „Zeitenwende“. Berlin ist gezwungen, das Land
setzung von Macrons Projekt hängt von einem aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern,
deutsch-französischen Kern und dessen Fähigkeit vor allem vom russischen Gas, zu befreien und die
ab, eine treibende Kraft für Europa zu entfalten. Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft vo­
Gleichwohl kann aber auch die Beständigkeit, ranzutreiben, um die Wettbewerbsfähigkeit des
mit der Macron dieses Ziel vertritt, nicht über die Produktionsstandorts Deutschland zu sichern.

10
Deutsche Außenpolitik APuZ

Die aktuelle Krise wirft in Deutschland existen­ dung des Inflation Reduction Act in den USA
zielle Fragen auf. Berlin muss unter Zeitdruck unterstreicht das Risiko, dass europäische Un­
sein Wirtschaftsmodell überdenken und so gestal­ ternehmen ihren Standort verlagern und die eu­
ten, dass es Wohlstand und Sicherheit zugleich ge­ ropäischen Wirtschaftssysteme aufgrund der stei­
währleisten kann12 – und das, während die Wettbe­ genden Energiekosten an Wettbewerbsfähigkeit
werbsfähigkeit der deutschen Industrie gefährdet verlieren. Nur mit einer Antwort auf europäischer
ist. 03 Bundeskanzler Olaf Scholz muss sowohl der Ebene wird es möglich sein, die für den digitalen
Bevölkerung als auch den Wirtschaftskreisen ein Wandel und die Energiewende notwendigen Tech­
Gefühl der Sicherheit vermitteln und gleichzeitig nologien souverän und nachhaltig zu entwickeln.
die bisweilen abweichenden Ansichten seiner Ko­ Im Hinblick auf die Beziehung zu Berlin ist
alitionspartner ausbalancieren. die französische Sichtweise ambivalent. Einer­
In Frankreich gestaltet sich die politische De­ seits sieht Paris darin eine Gelegenheit, Deutsch­
batte um den Krieg in der Ukraine einvernehm­ land für seine europäische Agenda zu gewinnen,
licher. Geschützt durch den verfassungsrechtli­ in deren Mittelpunkt das erklärte Ziel einer größe­
chen Status der Außen- und Verteidigungspolitik ren strategischen Autonomie steht, insbesondere
als „domaine réservé“ des Staatspräsidenten, also gegenüber den USA und China. Angesichts einer
als ein ihm vorbehaltener Bereich, bewahrt sich deutschen Haltung, die als zögerlich oder unent­
Macron einen breiten Handlungsspielraum und schlossen wahrgenommen wird, ist Frankreich
bleibt weitgehend von Kritik verschont. Aus fran­ versucht, den eigenen Vorteil zu suchen und Berlin
zösischer Sicht bestätigt der Krieg in der Ukraine dazu zu bewegen, Entscheidungen zu treffen, die
die Dringlichkeit einer Stärkung der europäischen den französischen Vorstellungen ­entsprechen.04
Souveränität. Auch hat Frankreich im Rahmen Andererseits ist sich Frankreich der Tatsache
der Krisenbewältigung nicht die Hemmschwellen bewusst, dass die Erschütterung durch den Krieg
zu überwinden, denen sich Berlin gegenübersieht. Berlin mit der Zeit dazu bewegen könnte, seine
Das gilt insbesondere für Waffenexporte oder Ver­ Stellung in Europa neu auszurichten und sich von
suche, Gespräche mit dem russischen Präsidenten Paris zu distanzieren. Das rührt an alte französi­
zu führen. Für Paris wirft der Konflikt Deutsch­ sche Ängste und die Sorge, dass Berlin seine Rol­
land auf grundlegende Fragen zurück, die zu lange le als wohlwollender Hegemon aufgeben könnte,
auf die lange Bank geschoben wurden: Berlin muss um eine auf die eigenen nationalen Interessen aus­
den offenkundig gewordenen Widerspruch über­ gerichtete Agenda zu verfolgen und eine härtere
winden, eine technologisch und wirtschaftlich er­ Gangart bei Themen einzulegen, die für Paris zen­
folgreiche Großmacht sein zu wollen, auf geopo­ tral sind. Hierzu zählen die Bereitstellung von Mit­
litscher Ebene aber unbedeutend zu sein. Es gilt, teln auf europäischer Ebene, die zur Überwindung
die Fähigkeiten und die Ausrüstung des deutschen der Energiekrise und der Kriegsfolgen notwendig
Militärs weiterzuentwickeln und zu verbessern. sind,05 die Reform der europäischen Institutionen,
Berlin muss nicht nur in die Sicherheit des Landes die Erweiterung der EU sowie die transatlanti­
investieren, sondern auch die Abhängigkeit von schen Beziehungen. Vor diesem Hintergrund wur­
bestimmten ausländischen Märkten verringern. den bestimmte Beschlüsse der Bundesregierung in
Zudem drängt die gegenwärtige Krise zu einem Frankreich als eine Tendenz Berlins interpretiert,
Überdenken der staatlichen Eingriffsmöglichkei­ im Alleingang zu handeln, etwa die China-Reise
ten im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich, von Bundeskanzler Scholz nach der Wiederwahl
um die Entstehung einer wahrhaft europäischen von Xi Jinping zum Staats- und Parteichef – zu ei­
Industriepolitik zu ermöglichen. Die Verabschie­ nem Zeitpunkt, als die europäischen Partner sich
mit der Frage beschäftigen, wie auf den autoritä­
01 Vgl. Clément Beaune, L’Europe par-delà le COVID-19, in:
Politique étrangère 3/2020, S. 9–29. 04 Vgl. Nicholas Vinocur, Theater or Zelensky? How Macron
02 Vgl. Ronja Kempin (Hrsg.), Frankreichs Außen- und Si- Keeps Failing to Lead European Response to Ukraine War,
cherheitspolitik unter Präsident Macron. Konsequenzen für die 15. 2. 2023, www.politico.eu/article/theatre-​zelenskyy-​macron-​
deutsch-französische Zusammenarbeit, Stiftung Wissenschaft keeps-​failing-​lead-​european-​response-​ukraine-​war-​paris-​scholz-​
und Politik, SWP-Studie 4/2021. russia-​jets-​tanks.
03 Vgl. Eric-André Martin, Le choc de la réalité: La coalition 05 Vgl. Eric Bonse, La politique européenne franco-allemande
feu tricolore dans la crise russo-ukrainienne, Institut francais des vue de Bruxelles, Stiftung Genshagen, La France et l’Allemagne
Relations internationales, Notes du Cerfa 167/2022. après les élections 4/2023.

11
APuZ 17/2023

ren Kurs des chinesischen Regimes zu reagieren päische Politik, die bei den geplanten Reformen
sei. Hinzu kamen die unkooperative Haltung in der europäischen Institutionen Vorsicht erfor­
der EU-Haushaltsdebatte und Deutschlands Wi­ derlich macht, vor allem mit Blick auf das Ein­
derstand gegen den europäischen Gaspreisdeckel. stimmigkeitsprinzip.06 Letztlich könnten die po­
Gleichzeitig stehen die deutsch-französischen litischen Ereignisse des Jahres 2024 die Karten in
Unstimmigkeiten bei Energiethemen, militärischen Europa neu mischen, wenn das Europäische Par­
Angelegenheiten und Handelsfragen konkreten lament gewählt und die Europäische Kommissi­
Fortschritten in der bilateralen Zusammenarbeit on abgelöst wird, aber auch die Präsidentschafts­
im Weg. Das zeigen zum Beispiel die Schwierig­ wahlen in den USA stattfinden.
keiten im Zusammenhang mit dem Rüstungspro­ Auf globaler Ebene werden Frankreich und
jekt Future Combat Air System oder der geplanten Deutschland auf den Status mittelgroßer Mäch­
Gaspipeline aus Spanien durch Frankreich. te zurückgeworfen.07 Ihre Fähigkeit steht infrage,
die Folgen der zunehmenden amerikanisch-chi­
MOMENT DER WAHRHEIT nesischen Spannungen durch den Aufbau einer
FÜR GEMEINSAME AMBITIONEN soliden, auf effizientem Multilateralismus ba­
sierenden Verteidigung abzufangen. Das unter­
Im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und streicht die Herausforderung, vor der die EU als
seinen Folgen für Europa ist es Deutschland und Ganzes steht: Sie muss sich als unabhängiger und
Frankreich nicht gelungen, als treibende Kraft zu widerstandsfähiger Akteur in einer zunehmend
wirken und die anderen EU-Mitgliedstaaten und multipolaren und von Machtrivalitäten gepräg­
die Kommission für eine gemeinsame Agenda zu ten Welt behaupten. Für Bundeskanzler Scholz
gewinnen. Dabei ist jetzt nicht die Zeit für Selbst­ hat Deutschland daher keine andere Wahl, als
reflexion, Konkurrenzdenken oder gar Schuldzu­ sich mit seinen Partnern in Bereichen solidarisch
weisungen, sondern es sind Taten gefragt. Wie die zu zeigen, in denen eine innere Spaltung Europas
beiden Länder die Folgen des Krieges bewältigen, Einmischungen aus dem Ausland Tür und Tor
wird von entscheidender Bedeutung für den Zu­ öffnen würde. In dieser Hinsicht ist es „von ent­
sammenhalt der EU sein. scheidender Bedeutung, eine noch engere Zusam­
Das678 gilt umso mehr, als die deutsch-französi­ menarbeit mit Frankreich zu pflegen, das diesel­
sche Autorität in den Augen einiger EU-Mitglie­ be Vorstellung einer starken und souveränen EU
der angeschlagen ist, weil Paris und Berlin die Ge­ hat“.08 Die aktuelle Situation erfordert ein neu­
fahr eines Krieges mit Moskau unterschätzt und es Projekt für Europa, das nicht mehr auf Frie­
die Warnungen Polens oder der baltischen Staa­ den und Versöhnung, wirtschaftliche Expansi­
ten vor Russland ignoriert haben. Dieser Autori­ on und Integration ausgerichtet ist, sondern auf
tätsverlust wird sich in verschiedenen Bereichen die Verteidigung der Sicherheit, des wirtschaft­
bemerkbar machen: zunächst in der Veränderung lichen Wohlstands, der Entscheidungsfähigkeit
des militärischen Gleichgewichts in Europa – Po­ und des Gesellschaftsmodells. Für Paris und Ber­
len verfolgt das Ziel, die stärkste Landstreitkraft lin bedeutet das, dass sie sich wieder gemeinsam
Europas zu werden, das Vereinigte Königreich mit den großen Fragen des aktuellen Zeitgesche­
hat durch die frühzeitige und bedingungslose hens auseinandersetzen müssen. Getrennte Wege
Unterstützung der Ukraine an Einfluss gewon­ zu gehen, würde heißen, sich von der ursprüng­
nen, und die Türkei behauptet ihre Militärmacht; lichen Idee eines Europas im Sinne seiner Grün­
des Weiteren in der Kritik am übermäßigen Ein­ derväter zu verabschieden und damit faktisch die
fluss Frankreichs und Deutschlands auf die euro­ Vorstellung eines starken, handlungsfähigen Eu­
ropas aufzugeben.
06 Vgl. Mateusz Morawiecki, La guerre en Ukraine a aussi
révélé la vérité sur l’Europe, 16. 8. 2022, www.lemonde.fr/idees/ Aus dem Französischen von Sandra Uhlig, Bonn.
article/​2022/​08/​16/mateusz-​morawiecki-​la-​guerre-​en-​ukraine-​
a-​aussi-​revele-​la-​verite-​sur-​l-​europe_​6138131_​3232.html. ERIC-ANDRÉ MARTIN
07 Vgl. Erik Brattberg, Middle Power Diplomacy in an Age
ist Generalsekretär des Studienkomitees für
of US-China Tensions, The Washington Quarterly 1/2021,
S. 219–238.
deutsch-französische Beziehungen am Institut
08 Olaf Scholz, Die globale Zeitenwende, 5. 12. 2022, français des Relations internationales (IFRI) in Paris.
www.foreignaffairs.com/germany/die-​globale-​zeitenwende. martin@ifri.org

12
Deutsche Außenpolitik APuZ

schon genannte Außenminister Blinken – waren


ESSAY bereits in der Regierung von Barack Obama in ge­
hobenen außenpolitischen Positionen vertreten.
Bester Freund Und es war in der Amtszeit Obamas, als insbe­
sondere Deutschland unter den engsten Verbün­
oder Freerider? deten in Washington zunehmend an Bedeutung
gewann. Dies hatte zunächst nicht direkt mit den
Deutschlands Image in den USA deutsch-amerikanischen Beziehungen im engeren
Sinne zu tun, sondern eher mit den sich häufen­
Peter Sparding den Krisen in Europa. Eigentlich hatte Washing­
ton gehofft, sich nach dem Ende des Kalten Krie­
ges und der Kriege im ehemaligen Jugoslawien
Deutschland, das sei Amerikas bester Partner und weniger mit Problemen in Europa befassen zu
Freund in der Welt, so befand US-Außenminis­ müssen und sich zunehmend auf den indopazifi­
ter Antony Blinken bei seinem Antrittsbesuch in schen Raum als zentralen geopolitischen Ort der
Berlin im Sommer 2021.01 Auch wenn diese Aus­ Zukunft konzentrieren zu können. Europa galt
sage in London oder Ottawa vermutlich für Ver­ als „gelöst“. Doch dann kam es infolge der welt­
wunderung sorgte, für die Regierung in Berlin weiten Finanzkrise zur Krise im Euroraum, an­
waren die warmen Worte aus Washington eine gefangen mit den dramatischen Entwicklungen
wohltuende Erfahrung nach Jahren der teils hit­ in Griechenland 2010. Dass diese sich über viele
zigen Auseinandersetzung mit der Trump-Regie­ Jahre hinzog und insbesondere im Wahljahr 2012
rung. Ähnlich war es Berlin schon einmal ergan­ drohte, auch weltwirtschaftlich negative Konse­
gen, als der Hoffnungsträger Barack Obama 2009 quenzen nach sich zu ziehen, entsetzte viele US-
die Amtsgeschäfte von George W. Bush über­ Ökonomen02 und beunruhigte die amerikanische
nahm, in dessen Amtszeit die bis dato tiefste Kri­ Regierung. Denn aus US-Sicht hätte die Krise
se zwischen Berlin und Washington seit Ende des durch ein entschiedeneres Eingreifen viel schnel­
Kalten Krieges gefallen war. Dieses dramatische ler gelöst werden können. Deutschland rück­
Hin und Her in den deutsch-amerikanischen Be­ te dabei aufgrund seiner wirtschaftlichen Größe
ziehungen der vergangenen Jahrzehnte hat eine und seiner der amerikanischen Sichtweise oftmals
Art diplomatisches Schleudertrauma ausgelöst. diametral entgegenstehenden wirtschaftspoliti­
In einer sich rapide verändernden globalen Lage, schen Ansichten in den Fokus. Für Washington
die trotz des aktuellen US-Engagements in der schien die Eurokrise endlich die berühmte Fra­
Ukraine insgesamt von einer Re-Fokussierung ge Henry Kissingers zu beantworten, wen man
der Vereinigten Staaten auf den indo-pazifischen anrufen solle, um Europa zu sprechen: Es war
Raum geprägt ist, stellen sich Fragen zum Image nicht Brüssel. Es war Berlin. Und so kam es in
und Standing der Bundesrepublik in Washington. dieser Zeit zu ungewohnten Begebenheiten in der
Wie blicken die USA auf Deutschland? Welche sonst so stark in Richtung Washington gewichte­
Erwartungen gibt es in Washington gegenüber ten deutsch-amerikanischen Beziehung, wie dem
Berlin, insbesondere mit Blick auf die Ukraine Besuch des US-Finanzministers Timothy Geith­
und die Sicherheitslage in Europa? Und wie stabil ner auf der Ferieninsel Sylt 2012, wo er den deut­
und verlässlich ist die amerikanische Position vis- schen Finanzminister Wolfgang Schäuble sogar
à-vis Deutschland? im Urlaub aufsuchte.03
In den nächsten Jahren, in denen sich die Kri­
DIPLOMATISCHES sen in Europa häuften, schien sich Washingtons
SCHLEUDERTRAUMA Orientierung auf Berlin weiter zu bestätigen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel übernahm nach
Der aktuelle US-Präsident, Joe Biden, und ein Russlands Annexion der Krim 2014 mit der Un­
Großteil seines außenpolitischen Teams entstam­ terstützung des US-Präsidenten eine Führungs­
men dem außenpolitischen Establishment der rolle im sogenannten Minsk-Prozess, und auch
Demokratischen Partei, für das die Allianz mit in der Migrationskrise 2015 stand Deutschland
Europa historisch und inhaltlich eine Herzensan­ im Fokus. Großbritannien, ohnehin kein Mit­
gelegenheit ist. Die meisten – wie etwa auch der glied der Eurozone, war in diesen Jahren zuneh­

13
APuZ 17/2023

mend mit sich selbst und der eigenen Beziehung te in den deutsch-amerikanischen Beziehungen
zu Europa beschäftigt, und in Frankreich war mit ein. Im Gegenteil, die drei Hauptkritikpunkte
François Hollande ein eher unauffällig agierender aus Washington in Richtung Berlin waren unter
Präsident123 im Amt, der auch in den USA kaum Trump dieselben wie unter Obama und teilwei­
wahrgenommen wurde. Aus Washingtoner Sicht se bereits unter George W. Bush: Deutschlands
weniger erfreulich, aber ebenfalls ein Zeichen des niedrige Verteidigungsausgaben, die permanent
besonderen Status der Beziehung in dieser Zeit, die Nato-Vorgabe von zwei Prozent des BIP ver­
war der diplomatische Streit infolge der Enthül­ fehlten, die aus US-Sicht unausgewogene deut­
lungen von Edward Snowden 2013 und auch die sche Handelsbilanz und die geplante Gaspipeline
vor allem in Deutschland heftige und teils anti- Nord Stream 2.
amerikanisch gefärbte Opposition gegen das ge­
plante transatlantische Handelsabkommen TTIP. DER DRUCK STEIGT
Dennoch war es nicht verwunderlich, dass Barack
Obama gegen Ende seiner Präsidentschaft Ange­ Auch nach Joe Bidens Amtsantritt bildeten die­
la Merkel als seine „engste internationale Verbün­ se Themenfelder die größten Streitpunkte, auch
dete“ bezeichnete und sein letztes internationales wenn die Herangehensweise Bidens wie schon
Telefonat als Präsident mit der deutschen Kanz­ die Obamas gewiss nicht mit der rabiaten und
lerin führte.04 kontraproduktiven Art Donald Trumps zu ver­
Diese besondere Würdigung Merkels hat­ gleichen ist. Als Olaf Scholz wenige Monate nach
te allerdings auch innenpolitische Gründe. Denn dem eigenen Amtsantritt und unter dem immen­
nach der Wahl Donald Trumps im Herbst 2016 sen Schock des russischen Angriffs auf die Ukra­
galt Merkel vielen Demokraten und liberalen ine am 27. Februar 2022 in seiner viel beachteten
Amerikanern als eine der wenigen verbliebenen Rede vor dem Bundestag ankündigte, Deutsch­
Hoffnungsträgerinnen. Der Blick des progressi­ land werde sich von russischen Gasimporten un­
ven Amerikas auf Merkel war dabei eine Kom­ abhängig machen und von nun an mindestens
bination aus echter Bewunderung, insbesonde­ zwei Prozent seines BIP für die eigene Vertei­
re für ihr Agieren in der Migrationskrise, und digung ausgeben, konnte man dies als ein Ein­
Projektionen, die eher mit ihrer vermeintlichen geständnis der Richtigkeit der amerikanischen
Rolle als Gegenspielerin von Donald Trump zu Kritik der Vorjahre verstehen. Scholz’ „Zeiten­
tun hatten.05 Trump selbst hatte diese Sichtwei­ wende-Rede“ wurde in Washington entsprechend
se befeuert, als er die Kanzlerin bereits im Wahl­ positiv aufgenommen. Durch ihre Vehemenz und
kampf mehrfach persönlich anging und ihr vor­ die Konkretisierung der Ankündigungen gelang
warf, Deutschland durch ihre Flüchtlingspolitik es dem Kanzler zumindest kurzzeitig, das Nar­
zu ruinieren. Auch als Präsident behielt Trump rativ von Deutschland als sicherheitspolitischem
seinen negativen Fokus auf Deutschland bei. Sei­ „Freerider“ und einem zuallererst auf die eigenen
ne erratische, undiplomatische und teilweise wi­ wirtschaftlichen Interessen bedachten Land zu
dersprüchliche Art des Umgangs erhielt dabei durchbrechen.
den Großteil der Aufmerksamkeit. Allerdings Seither hat sich jedoch auch in Washington
schoss sich Trump kaum auf neue Themengebie­ insbesondere mit Blick auf die Verteidigungsaus­
gaben wieder eine gewisse Ernüchterung einge­
01 US Has No Better Friend in the World than Germany – stellt. Zwar schaffte es Deutschland schneller und
Blinken, 23. 6. 2021, www.reuters.com/world/europe/us-has-no- problemloser, sich vom russischen Gas unabhän­
better-friend-world-than-germany-blinken-2021-06-23. gig zu machen, als viele erwarteten, doch nach an­
02 Vgl. Thomas Kleine-Brockhoff/Peter Sparding, Europa, die
fänglichen großen Schritten – etwa dem angekün­
Andersartige. Wie Amerika über die Krise auf dem alten Konti-
nent diskutiert, in: Internationale Politik 1/2013, S. 93–99.
digten Kauf von amerikanischen F-35-Kampfjets
03 Vgl. Christina Ruta, Clash of Wills, 31. 7. 2012, www. – scheint es bei den gesteigerten Verteidigungs­
dw.com/en/​a-16132826. ausgaben wieder einmal zu Verzögerungen zu
04 Obama Lands in Berlin for Farewell Visit to Closest Ally kommen, die auch in Washington bemerkt wer­
Merkel, 16. 11. 2016, www.reuters.com/article/idUSKBN13B2CJ.
den. Das über einen langen Zeitraum entstandene
05 Vgl. Tarik Abou-Chadi, No, America. Angela Merkel Is
Not a Progressive Champion, 6. 6. 2019, www.washington-
Narrativ, dass Deutschland zwar oft ankündigt,
post.com/opinions/​2019/​06/​06/no-​america-​angela-​merkel-​is-​ auch sicherheitspolitisch mehr Verantwortung
not-​progressive-​champion. übernehmen zu wollen, dann aber in der Umset­

14
Deutsche Außenpolitik APuZ

zung – und insbesondere, wenn es um tatsäch­ tische Positionen vertreten, die die USA oft als
liche Ausgaben geht – hinter den Erwartungen von ihren Partnern ausgenutztes Land darstel­
zurückbleibt, sorgt nun dafür, dass einzelne Er­ len, deutet auf die Sprengkraft der „Freerider“-
klärungen für etwaige Verzögerungen aus Ber­ Narrative hin, wie sie Trump und andere über
lin oftmals nur als eine weitere Ausrede gewer­ Deutschland pflegen. Für ein Land, das die Part­
tet werden. Während die Biden-Regierung sich nerschaft mit den Vereinigten Staaten seit seiner
mit öffentlicher Kritik zurückhält, haben einige Gründung als einen außen- und sicherheitspoli­
republikanische Amtsträger und Experten ange­ tischer Grundpfeiler ansieht und durch die rus­
fangen, sich (wieder) auf Deutschland einzuschie­ sische Invasion der Ukraine soeben wirkungsvoll
ßen. So bezeichnete der neugewählte Senator aus an die Aktualität der amerikanischen Sicherheits­
Ohio, J. D. Vance, Anfang März Deutschlands garantie erinnert wurde, bedeutet die Entwick­
Verhalten im Ukraine-Krieg als „schändlich“ und lung der US-Parteipolitik somit eine ernstzuneh­
bemängelte, dass zu viele Republikaner weiterhin mende Gefahr.
bereit seien, Deutschlands Versprechen Glauben Berlin scheint sich der Erwartungen aus Wa­
zu schenken.06 Den Republikanern nahestehen­ shington durchaus bewusst zu sein. So kündig­
de Außenpolitik-Experten wie Elbridge Colby, te Olaf Scholz Ende 2022 im Fachjournal „For­
der unter Trump als Deputy Assistant Secretary eign Affairs“ an, dass Deutschland danach strebe,
im Pentagon arbeitete, verschärfen ihre Kritik an „Garant der europäischen Sicherheit zu werden,
Deutschland zunehmend und bemängeln das aus so wie es unsere Verbündeten von uns erwar­
ihrer Sicht zu nachgiebige Verhalten der Biden- ten“.08 Dies wäre die Erfüllung einer langgehegten
Regierung gegenüber Berlin.07 Für diese Seite der amerikanischen Hoffnung, die bereits Präsident
republikanischen Partei müsste Deutschland viel George Bush sr. 1989 zum Ausdruck brachte, als
schneller die Fehler der Vergangenheit ausbügeln er – noch vor der Wiedervereinigung – Deutsch­
und maßgeblich für die eigene und die Verteidi­ land anbot beziehungsweise es aufforderte, Ame­
gung Europas verantwortlich sein, da die USA rikas „Partner in Leadership“ zu werden.09 Joe
sich schneller als erwartet Richtung Asien orien­ Biden und seine Regierung folgen (noch) einer
tieren werden. ähnlichen Sichtweise auf Deutschland. Aller Vor­
In89 der öffentlichen Debatte spielt diese Dis­ aussicht nach werden in den kommenden Jahren
kussion – wie die Außenpolitik insgesamt – eine jedoch Prä­si­dent*­innen ins Amt kommen, für die
geringe Rolle. Allerdings lehrt die Erfahrung, die transatlantischen Beziehungen keine solche
dass nahezu alle Themen an Relevanz gewinnen Herzensangelegenheit sind. Der Blick auf Europa
können, wenn sie in den Sog des inneramerikani­ wird sich in jedem Fall ändern und die Erwartun­
schen Kulturkampfes geraten. Hier besteht auch gen an die größte europäische Macht werden stei­
eine Gefahr für Deutschland und sein Standing. gen. Die Frage stellt sich daher, ob Deutschland
Dass ausgerechnet einige der republikanischen den notwendigen politischen Willen aufrechter­
Amtsträger, denen Ambitionen auf höhere Äm­ halten kann, um, wie vom Bundeskanzler ange­
ter nachgesagt werden – etwa Senator Josh Haw­ kündigt, ein Garant für die europäische Sicher­
ley aus Missouri – sich in jüngerer Zeit mit Blick heit zu werden und somit auch seine Bedeutung
auf die Unterstützung der Ukraine und die trans­ als Verbündeter Amerikas zu unterstreichen. Da­
atlantischen Beziehungen skeptisch geäußert ha­ bei muss die Antwort auf diese Frage unter er­
ben, deutet darauf hin, dass hier politisches Po­ höhtem Zeitdruck gefunden werden, denn die
tenzial gesehen wird. Dass darüber hinaus Teile prekäre Entwicklung der US-Politik birgt auch
der konservativen Medien verstärkt isolationis­ Gefahren für die Bundesrepublik.

06 Vgl. Panzer gibt es nicht im Supermarkt, 8. 3. 2023,


www.faz.net/-​18732103.html.
07 Vgl. Elbridge Colby, Tweet vom 3. 3. 2023, ­https://twit-
ter.com/ElbridgeColby/status/​1631647511818432512?​s=​20.
08 Olaf Scholz, Die globale Zeitenwende, 5. 12. 2022,
PETER SPARDING
www.foreignaffairs.com/germany/die-​globale-​zeitenwende.
09 George H. W. Bush, A Whole Europe, A Free Europe, Rede
ist Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund
an der University of Maryland, 31. 5. 1989, h­ ttps://voicesofde- of the United States in Washington, D. C.
mocracy.umd.edu/bush-​a-​whole-​europe-​speech-​text. psparding@gmfus.org

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APuZ 17/2023

DEUTSCHLAND IN EUROPA
Angela Mehrer · Jana Puglierin

In einer Umfrage des European Council on For­ ken. Stattdessen zwang Russlands Angriffskrieg
eign Relations, die zwischen Ende Mai und An­ die Deutschen dazu, sich von bis dato handlungs­
fang Juni 2021 in zwölf EU-Ländern durchge­ leitenden Prinzipien in der deutschen Außen-
führt wurde, zeigte sich, dass die Bürgerinnen und Sicherheitspolitik zu verabschieden und ihre
und Bürger der EU Deutschland als vertrau­ Rolle in Europa neu zu definieren. Die neue si­
enswürdige, pro-europäische Macht wahrnah­ cherheitspolitische Bedrohungslage weckte Er­
men.01 Die Bundesregierung schien am Ende der wartungen an Deutschland als „europäische Füh­
Ära Merkel eine integrierende Kraft und Berlin rungsmacht“, die die von Bundeskanzler Olaf
der Anker der EU in schwierigen Zeiten zu sein. Scholz geführte Regierung bislang oft nicht erfül­
Nicht ganz zwei Jahre später würde eine solche len konnte – oder wollte. In Brüssel ist der Ein­
Umfrage wohl weniger positiv ausfallen. Im Zuge druck entstanden, dass Berlin allzu oft seine eige­
des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nen Interessen vor die Interessen Europas stellt.
hat Berlin in den Ländern Mittel- und Osteuro­
pas viel Vertrauen eingebüßt. Gleichzeitig läuft EUROPAPOLITIK
der deutsch-französische Motor alles andere als IN DER ÄRA MERKEL
rund. Im Oktober 2022 warnte Frankreichs Prä­
sident Emmanuel Macron sogar öffentlich, es sei Als Zentralmacht Europas wollte Deutschland in
„nicht gut für Europa“, wenn Deutschland „sich den Jahren der Ära Merkel als eine Kraft der Mä­
isoliere“.02 ßigung und des Ausgleichs gesehen werden, nicht
In den 16 Jahren unter Bundeskanzlerin An­ als Hegemon. Angesichts des Erstarkens von na­
gela Merkel hatte Deutschland sich zunehmend tionalistischen und EU-skeptischen Kräften in
als Krisenmanager geriert, der die EU durch die ganz Europa war es Merkels oberste Priorität,
globale Finanzkrise, die Krise in der Eurozone, das im europäischen Integrationsprozess Erreich­
die Migrationskrise, den Brexit, die Trump-­Jahre te zu konsolidieren und zu bewahren. Ehrgeizige
und die Covid-19-Pandemie lotste. Das deutsche Reformvorschläge waren nicht ihre Sache. Statt­
Mantra in Bezug auf die eigene Rolle in der EU dessen plädierte sie in der Europapolitik stets für
lautete stets: „die Union zusammenhalten“. An ein Fahren auf Sicht, wobei sie sich oft mit dem
dieses Rollenverständnis wollte auch die neue kleinsten gemeinsamen Nenner zufriedengab. Es
Bundesregierung anknüpfen. Im Koalitionsver­ wurde Markenzeichen ihrer Politik, in der EU
trag vom Dezember 2021 nahm sich die Ampel- immer nur so viel Veränderung zu unterstützen,
Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und dass der Status quo grundsätzlich erhalten blieb.
FDP vor, Deutschlands „besondere Verantwor­ Nicht immer stießen ihre Ansätze auf einhel­
tung“ in einem „dienenden Verständnis für die lige Zustimmung. Zweifellos hat Merkels Politik
EU als Ganzes“ wahrzunehmen.03 die EU ebenso oft gespalten wie geeint. Während
Nach Beginn des russischen Angriffskrie­ ihrer Amtszeit traf Merkel einige einseitige Ent­
ges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 stan­ scheidungen gegen die ausdrücklichen Einwände
den die Deutschen allerdings über Nacht vor den enger europäischer Partner. Die deutsche Euro-
Trümmern ihrer Russlandpolitik. Anders als nach Rettungspolitik, die insbesondere in Südeuro­
der Annexion der Krim im März 2014, als es Ber­ pa stark kritisiert wurde, oder Merkels Handeln
lin gelungen war, die übrigen Europäer hinter ge­ während der Migrationskrise, die in Mittel- und
meinsamen Sanktionen zu versammeln und die Osteuropa auf große Widerstände stieß, sind da­
europäische Antwort auf die russische Aggressi­ für Beispiele, ferner die deutsche Russlandpolitik.
on maßgeblich zu prägen, konnte die Bundesre­ Die strategische Partnerschaft zwischen Ber­
gierung dieses Mal nicht als einigende Kraft wir­ lin und Moskau wurde von den verschiedenen

16
Deutsche Außenpolitik APuZ

Merkel-Regierungen oft stärker gewichtet als das Merkels Sache. Eine gut ausgerüstete und wehr­
Verhältnis zu den europäischen Partnern in Mit­ fähige Bundeswehr gehörte nicht zu ihren Prio­
tel- und Osteuropa, die häufig das Gefühl hatten, ritäten, im Gegenteil. Diplomatisches Geschick,
Berlin mache eine Politik über ihre Köpfe hin­ soft power und eine starke Wirtschaftsleistung ga­
weg.04 In Berlin herrschte quer durch alle Partei­ rantierten ihr stattdessen lange Zeit strategischen
en die Ansicht, es werde in Europa keine Sicher­ Einfluss.
heit ohne oder gar gegen Russland geben.05 Trotz
einer nach innen immer autokratischer und nach VOM MERKELISMUS
außen immer aggressiver auftretenden Führung ZUR ZEITENWENDE
im Kreml sah Deutschland sich stets als „Ver­
mittler zwischen Russland und Europa“.06 Berlin Russlands immer aggressiverer Revisionismus,
handelte nach dem Prinzip „Annäherung durch Chinas Entwicklung zum systemischen Riva­
Verflechtung“ und trieb Deutschlands Energie­ len und die transaktionale Außenpolitik Donald
abhängigkeit von Russland weiter voran. Obwohl Trumps, der pragmatische Ad-hoc-Allianzen in­
die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 stitutionalisierter Kooperation vorzog, stellten
das Verhältnis zu Moskau schwer belastete, be­ dieses Modell bereits gegen Ende der Merkel-Ära
schloss die Große Koalition aus Union und SPD infrage. Merkel selbst räumte 2017 ein, die Zeiten,
nur ein Jahr später gegen den großen Widerstand in denen sich Europa auf andere völlig verlassen
der Mittel- und Osteuropäer den Bau der Gas­ konnte, seien „ein Stück vorbei“. Deshalb müss­
pipeline Nord Stream 2. Im Rückblick scheint es, ten die Europäer mehr tun, um für ihre eigene Si­
als habe Berlin die militärische Bedrohung durch cherheit zu sorgen und ihre Interessen in der Welt
Russland systematisch unterschätzt, um das gute zu verteidigen.07
Einvernehmen und die lukrativen wirtschaftli­ Als die Ampelkoalition unter Führung von
chen Beziehungen nicht zu gefährden. Bundeskanzler Scholz im Dezember 2021 ins
Angela Merkels123456 Politikstil war allerdings das Amt kam, legte sie einen europapolitisch am­
perfekte Symbol für den deutschen Zeitgeist. bitionierten Koalitionsvertrag vor. Berlins Wil­
Berlin versuchte die unterschiedlichen Interes­ le, sich für eine stärkere EU zu engagieren, zog
sen der europäischen Partner – und auch Russ­ sich wie ein roter Faden durch das gesamte Pa­
lands – miteinander zu verbinden, zusammen­ pier. Die neue Regierung wollte ihre Außen-, Si­
zuhalten und zu verflechten. Merkel setzte auf cherheits-, Entwicklungs- und Handelspolitik auf
die Einbindung aller Akteure in ein postmoder­ der Basis gemeinsamer europäischer Interessen
nes, globalisiertes, verrechtlichtes und multila­ ausrichten und die europäische Souveränität för­
terales internationales System, in dem Geopoli­ dern. Langfristig sollte ein föderaler europäischer
tik und militärische Stärke als anachronistische Bundesstaat entstehen; die gemeinsame Außen-
Überbleibsel galten. „Harte Sicherheit“ war nie und Sicherheitspolitik sollte reformiert und durch
Mehrheitsentscheidungen effektiver werden. Im
01 Vgl. Piotr Buras/Jana Puglierin, Beyond Merkelism: What Streit um Rechtsstaatlichkeit wollte die neue Bun­
Europeans Expect of Post-election Germany, 14. 9. 2021, desregierung eine harte Linie verfolgen. Der Ko­
www.ecfr.eu/publication/beyond-​merkelism-​what-​europeans-​
alitionsvertrag las sich, als habe die Ampel ver­
expect-​of-​post-​election-​germany.
02 Zit. nach Thomas Gutschker/Michaela Wiegel, Ist Deutsch-
standen, dass eine moderierende Haltung, die auf
land isoliert?, 20. 10. 2022, www.faz.net/​18402014.html. die Einheit und den Status quo der EU zielt, nicht
03 SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP, Mehr Fortschritt wagen. länger dem Zeitgeist entsprach. Stattdessen schien
Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 104. sie eine proaktivere, stärker gestaltende Rolle ein­
04 Vgl. Joachim Krause, Deutschlands Ostpolitik bis zum
nehmen zu wollen, die eine handlungsfähigere EU
Überfall Russlands auf die Ukraine, in: Stefan Hansen/Olha
Husieva/Kira Frankenthal (Hrsg.), Russlands Angriffskrieg gegen
zum Ziel hatte.
die Ukraine. Zeitenwende für die deutsche Sicherheitspolitik, Gleichzeitig war bereits im Wahlkampf ab­
Baden-Baden 2023, S. 117–154. sehbar, dass Olaf Scholz in der Außenpolitik be­
05 Vgl. stellvertretend für viele Frank-Walter Steinmeier, Für
eine deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft, Rede am
Institut für internationale Beziehungen der Ural-Universität in 07 Vgl. Adam Soboczynski, „Die Zeiten, in denen wir uns auf
Jekaterinburg, 13. 5. 2008. andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei“,
06 Andreas Heinemann-Grüder, Russland-Politik in der Ära 1. 6. 2017, www.zeit.de/​2017/​23/angela-​merkel-​rhetorik-​
Merkel, in: Sirius 6/2022, S. 359–372, hier S. 361. deutschland-​usa.

17
APuZ 17/2023

strebt sein würde, insbesondere mit Blick auf das Das entschiedene und mutige Vorgehen des Kanz­
Verhältnis zu Russland und China Kontinuität lers galt vielen europäischen Partnern als Inspi­
zu wahren. Noch im Dezember 2021 bezeichne­ ration. Endlich schien eine deutsche Bundesre­
te er die Pipeline Nord Stream 2 als „privatwirt­ gierung bereit, voranzugehen und eine wirkliche
schaftliches Vorhaben“, das er losgelöst von den Führungsrolle in Europa einzunehmen, um euro­
damaligen Bemühungen sah, eine Zuspitzung des päische Interessen zu befördern. Eine diesbezüg­
Konflikts zwischen Russland und der Ukraine zu liche Erwartungshaltung an Berlin hatte es schon
verhindern.08 In Mittel- und Osteuropa bestätig­ lange gegeben.
te dies viele in ihrer Annahme, Deutschland habe Bereits wenige Monate später kamen bei ei­
schon immer seine „wirtschaftliche Interessen über nigen EU-Partnern, insbesondere in Mittel- und
die Sicherheitsinteressen Mitteleuropas“ g­ estellt.09 Osteuropa, Zweifel an der Ernsthaftigkeit des an­
Der Beginn der russischen Invasion in der ge­ gekündigten Kurswechsels auf. Die Umsetzung
samten Ukraine am 24. Februar 2022 traf Berlin der Ankündigungen blieb hinter dem zurück,
weitgehend unvorbereitet. Die wenigsten politi­ was sie sich erhofft hatten. Bei der Lieferung von
schen Entscheidungsträger in Berlin hatten mit Rüstungsgütern an die Ukraine war Deutsch­
einem Krieg gerechnet – entsprechend groß war land kaum jemals Vorreiter, sondern wartete ab,
der Schock. Nur drei Tage später machte der bis andere die Initiative ergriffen. Hinzu kam die
Bundeskanzler in seiner inzwischen berühmt Frustration darüber, dass Berlin bei den Debat­
gewordenen Regierungserklärung zur „Zeiten­ ten über einen möglichen Importstopp für russi­
wende“ weitreichende Ankündigungen, die ei­ sches Gas beziehungsweise einen Gaspreisdeckel
ner kleinen Revolution der deutschen Außen-, zunächst auf der Bremse stand. Mit großem Un­
Verteidigungs- und Energiepolitik gleichkamen: verständnis nahmen die Entscheidungsträger in
Waffenlieferungen in die Ukraine, umfassen­ Warschau, Riga, Tallin und Vilnius zudem wahr,
de Sanktionen gegen Russland, mehr deutsches dass bei den Beschaffungsvorhaben für die Bun­
Engagement zum Schutz der Alliierten in Ost­ deswehr jede Menge Zeit ins Land ging, bevor
europa, ein im Grundgesetz abgesichertes „Son­ Beschlüsse gefasst und Aufträge an die Industrie
dervermögen Bundeswehr“ von 100 Milliar­ vergeben wurden.
den Euro, das Bekenntnis zum Zweiprozentziel Zwar hat Deutschland mittlerweile mehr
der Nato sowie eine sofortige Reduzierung der Waffen, Munition und andere militärische Gü­
Energieabhängigkeit von Russland. Gegen Ende ter als jedes andere Land in Kontinentaleuropa
der Rede verwies Scholz zudem explizit auf die an die Ukraine geliefert.11 Die humanitäre, wirt­
europäische Dimension der Zeitenwende: „Für schaftliche und militärische Hilfe beläuft sich in­
Deutschland und für alle anderen Mitgliedslän­ zwischen auf mehr als 14 Milliarden Euro. Doch
der der EU heißt das, nicht bloß zu fragen, was es ist der Bundesregierung nicht gelungen, diese
man für das eigene Land in Brüssel herausholen Leistung erfolgreich zu kommunizieren und die
kann, sondern zu fragen: Was ist die beste Ent­ Deutungshoheit über das eigene Handeln zu er­
scheidung für die Union? Europa ist unser Hand­ langen. Besonders Olaf Scholz und das Kanzler­
lungsrahmen.“10 amt standen in Brüssel häufig isoliert da.
Die Rede wurde in den europäischen Haupt­
städten und in Washington frenetisch begrüßt. EUROPÄISIERUNG
DER ZEITENWENDE
08 Vgl. Jana Puglierin, Sanctions in the Pipeline, Germany’s
Troubles Over Russia and Nord Stream 2, European Council on In seiner Regierungserklärung zur Zeitenwende
Foreign Relations, ECFR Commentary, 19. 1. 2021, ­https://ecfr.eu/
hatte der Bundeskanzler offengelassen, was diese
article/sanctions-​in-​the-​pipeline-​germanys-​troubles-​over-​russia-​
and-​nord-​stream-​2.
für die gemeinsame europäische Politik in Brüs­
09 Lenz Jacobsen/Johanna Roth, „Ihr Deutschen habt euch be- sel und die deutschen europapolitischen Prioritä­
nommen, als ginge euch das nichts an“, Interview mit Radosław ten konkret bedeuten sollte. Am 29. August 2022
Sikorski, 28. 2. 2022, www.zeit.de/politik/ausland/​2022-​02/
radoslaw-​sikorski-​polen-​verteidigungspolitik-​russland-​ukraine-​
krieg-​interview. 11 Vgl. ders., Rede anlässlich der Munich Security Conference,
10 Olaf Scholz, Regierungserklärung, 27. 2. 2022, 17. 2. 2023, www.bundesregierung.de/breg-​de/suche/rede-​von-​
www.bundesregierung.de/breg-​de/suche/regierungserklaerung-​ bundeskanzler-​scholz-​anlaesslich-​der-​munich-​security-​confe-
von-​bundeskanzler-​olaf-​scholz-​am-​27-​februar-​2022-​2008356. rence-​am-​17-​februar-​2023-​in-​muenchen-​2166452.

18
Deutsche Außenpolitik APuZ

holte er dies nach, indem er in Prag eine europa­ in kritischen Bereichen und sie zu einem globa­
politische Grundsatzrede mit dem Titel „Europa len technologischen Vorreiter aufzubauen. Eben­
ist unsere Zukunft“ hielt, in der er die Zeitenwen­ so plädierte Scholz für eine besser koordinierte
de auf die europäische Ebene übertragen wollte. und ambitioniertere europäische Verteidigungs­
Die Wahl des Ortes war kein Zufall. Gerade ange­ politik. Hier machte er eine Reihe konkreter
sichts der Zweifel an der Verlässlichkeit Deutsch­ Vorschläge: eine engere Kooperation europäi­
lands in vielen Hauptstädten in Mittel- und Ost­ scher Rüstungsunternehmen, einen eigenständi­
europa ging es Scholz um ein starkes Zeichen der gen Rat der Verteidigungsministerinnen und -mi­
Verbundenheit mit der Region. In seiner Rede nister, die mittelfristige Schaffung eines echten
wurde deutlich, wie sehr er durch den Krieg in EU-Hauptquartiers, eine Überprüfung der Rüs­
der Ukraine seine eigenen europapolitischen Pri­ tungsexportbestimmungen und ein gemeinsames
oritäten neu sortiert hatte. Während das Thema Luftverteidigungssystem für Europa.
EU-Erweiterung in seiner Humboldt-Rede vom Einen weiteren Schwerpunkt der Rede legte er
November 2018 keine Erwähnung gefunden hat­ auf das Thema Rechtsstaatlichkeit. Er brachte sei­
te, war es in Prag ein zentrales Element seiner ne Unterstützung für ein konsequentes Vorgehen
Überlegungen: „Europas Mitte bewegt sich ost­ der EU-Kommission bei der Verletzung rechts­
wärts“, so Scholz.12 Emmanuel Macrons Idee ei­ staatlicher Standards zum Ausdruck und for­
ner Europäischen Politischen Gemeinschaft ist derte, Zahlungen von EU-Mitteln von der Ein­
für ihn keine Alternative zur Erweiterung. Der haltung rechtsstaatlicher Prinzipien abhängig zu
Kanzler hatte zuvor lange gezögert, sich für die machen. Bereits im Koalitionsvertrag hatten sich
rasche Gewährung des EU-Kandidatenstatus für die Parteien der Ampel-Regierung für eine EU
die Ukraine und Moldau auszusprechen und dies ausgesprochen, „die ihre Werte und ihre Rechts­
erst beim gemeinsamen Besuch in Kyjiw mit Prä­ staatlichkeit nach innen wie außen schützt“, und
sident Macron, Italiens Regierungschef Mario damit zu erkennen gegeben, dass sie bei diesem
Draghi und dem rumänischen Präsidenten Klaus Thema klare Kante zeigen wollte.
Iohannis im Juni 2022 getan. Nun vertrat er diese Weil sich die Ampel-Koalition nach ihrem
Position umso entschiedener. Amtsantritt bis dato kaum europapolitisch posi­
Um die EU erweiterungsbereit zu machen, tioniert hatte und in Brüssel seltsam blass geblie­
plädierte er für weitreichende institutionelle Re­ ben war, galt die Europa-Rede als Wegweiser für
formen und die schrittweise Ausweitung von die europapolitischen Prioritäten der Bundesre­
Mehrheitsentscheidungen, auch in der Außen­ gierung. Viele der Vorschläge, die Scholz in Prag
politik. Gleichzeitig wurde klar, dass Scholz, wie ausführte, waren allerdings nicht neu und eher
vor ihm Merkel, der Idee eines Europas der ver­ technokratischer Natur. Wie sie nun gegen die
schiedenen Integrationstiefen und Geschwindig­ bisherigen Widerstände umgesetzt werden sollen,
keiten nicht viel abgewinnen kann. Wie Merkel erklärte er nicht. Ähnlich wie Merkel neigt auch
will auch Scholz „keine EU der exklusiven Clubs Scholz nicht zu großen europapolitischen Visi­
und Direktorien“, sondern eine EU „der gleich­ onen. Und noch eine weitere Parallele ist offen­
berechtigten Mitglieder“. kundig: In seiner Rede machte Scholz deutlich,
Scholz’ Ziel ist ein „geopolitisches Europa“. dass er Deutschlands Rolle weniger darin sieht,
Die EU sieht er als Bollwerk der Europäer gegen sich an die Spitze der EU zu setzen und voranzu­
Herausforderungen von außen. Er möchte sie gehen, sondern vielmehr darin, als „Land in der
in die Lage versetzen, ihre Sicherheit, Unabhän­ Mitte des Kontinents“ alles dafür zu tun, „Ost
gigkeit und Stabilität in einer multipolaren Welt und West, Nord und Süd in Europa zusammen­
zu bewahren, in der einzelne europäische Nati­ zuführen“. Das klang deutlich mehr nach „ehrli­
onalstaaten sich nicht allein behaupten können. chem Makler“ als nach „Führungsnation“. Bereits
Dazu gehört auch, die EU resilient zu machen im Juli 2022 hatte er in einem Gastbeitrag für die
gegen einseitige Abhängigkeiten von Drittstaaten „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ geschrieben:
„Führen, das kann nur heißen: zusammenführen,
und zwar im doppelten Wortsinn.“13 Scholz ver­
12 Ders., Rede an der Karls-Universität in Prag, 29. 8. 2022,
www.bundesregierung.de/breg-​de/suche/rede-​von-​bundes-
kanzler-​scholz-​an-​der-​karls-​universitaet-​am-​29-​august-​2022-​in-​ 13 Ders., Die EU muss zu einem geopolitischen Akteur werden,
prag-​2079534. 17. 7. 2022, www.faz.net/​18176580.html.

19
APuZ 17/2023

steht darunter, gemeinsam mit anderen Lösungen Brüssel die Hoffnung, dass Berlin zukünftig we­
zu erarbeiten, auf Alleingänge zu verzichten und niger eine Sonderbeziehung zu Beijing suchen
als einigende Kraft in Europa zu ­wirken. würde, als dies noch unter Merkel der Fall ge­
wesen war. Deshalb traf die Entscheidung von
WAHRNEHMUNG Olaf Scholz, im November 2022 mit einer gro­
AUF EUROPÄISCHER EBENE ßen Delegation von Wirtschaftsvertretern nach
Beijing zu reisen und Staats- und Parteichef Xi
Von der Absicht, „deutsche Interessen im Lich­ Jinping seine Aufwartung zu machen, in Europa
te europäischer Interessen“ zu definieren, wie auf Kritik – zumal Frankreichs Präsident Mac­
es sich die Ampel-Parteien im Koalitionsvertrag ron Scholz zuvor vorgeschlagen hatte, diese Rei­
vorgenommen haben, spüren Deutschlands Part­ se gemeinsam anzutreten, um ein Signal der Ei­
ner bislang allerdings häufig zu wenig. Stattdes­ nigkeit der EU zu senden und den chinesischen
sen haben sie den Eindruck, dass Berlin allzu oft Versuchen, ein europäisches Land gegen ein an­
keinen Gedanken an die Reaktionen in anderen deres auszuspielen, entgegenzuwirken. Im April
europäischen Hauptstädten verschwendet. Das 2023 reiste Macron nun gemeinsam mit Kom­
liegt maßgeblich an einem Mangel an Kommu­ missionspräsidentin Ursula von der Leyen nach
nikation. Der im September von Bundeskanzler Beijing.
Scholz angekündigte 200 Milliarden Euro schwe­ Schon dass Olaf Scholz in seiner Prager Rede
re „Doppel-Wumms“, mit dem die Ampel-Regie­ die deutsch-französischen Beziehungen mit kei­
rung die Folgen der gestiegenen Energiepreise für nem Wort erwähnt hatte, war in Paris sehr nega­
deutsche Bürgerinnen und Bürger sowie für Un­ tiv aufgefallen. Ende Oktober 2022 wurden die
ternehmen abfedern will, wurde im Vorfeld nicht deutsch-französischen Regierungskonsultati­
mit den europäischen Partnern abgestimmt. Itali­ onen kurzfristig abgesagt. Seitdem gilt das Ver­
en, Spanien, Frankreich und die EU-Kommission hältnis als belastet. Insbesondere mit Blick auf
reagierten entsprechend verärgert und beklagten die Verteidigungspolitik gibt es große Differen­
eine unfaire Wettbewerbsverzerrung. Deutsch­ zen. Frankreich strebt nach wie vor eine größere
land verhalte sich nicht solidarisch, da weniger fi­ Autonomie Europas an, insbesondere im Bereich
nanzkräftige Staaten ein solches Hilfspaket nicht der Rüstung. Eine starke, wettbewerbsfähige eu­
auf die Beine stellen könnten. Die EU-Kommis­ ropäische Verteidigungsindustrie hat für Frank­
sare Thierry Breton und Paolo Gentiloni warn­ reich einen hohen Stellenwert. Für Deutschland
ten in einem Meinungsartikel vor einem „europa­ hat hingegen kurzfristig das schnelle Schließen
weiten Subventionswettlauf“,14 der die Solidarität von Fähigkeitslücken Priorität. Europäische Lö­
und Einheit in Europa untergraben könne. Die sungen werden dabei oft als zu zeitaufwendig
Bundesregierung konterte mit dem Argument, und komplex angesehen. Stattdessen hat die Bun­
auch andere EU-Staaten schützten ihre Un­ desregierung beschlossen, vor allem amerikani­
ternehmen vor den Folgen der Energiekrise sche Waffensysteme „von der Stange“ zu kau­
und griffen ihren Bürgern unter die Arme. Das fen, darunter Kampfflugzeuge vom Typ F-35 zur
stimmte zwar, doch hatte sich der Eindruck eines Aufrechterhaltung der nuklearen Teilhabe. Diese
deutschen nationalen Alleingangs da bereits fest­ Entscheidung sieht man in Paris mit großer Skep­
gesetzt. Es bleibt ein Rätsel, wieso Olaf Scholz als sis, weil befürchtet wird, das geplante deutsch-
Architekt des europäischen Aufbauplans „Next französisch-spanische Future Combat Air Sys­
Generation EU“ in dieser Frage nicht über mehr tem könnte dadurch untergraben werden.
Fingerspitzengefühl verfügte. Ähnlich skeptisch sehen die Franzosen die
Irritationen gab es in Brüssel auch mit Blick von Deutschland initiierte European Sky Shield
auf die deutsche Chinapolitik. Nachdem sich die Initiative – das in der Prager Rede angekündig­
Parteien der Ampel im Koalitionsvertrag darauf te gemeinsame Luftverteidigungssystem für Eu­
verständigt hatten, ihre Beziehungen zu China ropa. Der Initiative haben sich bislang 15 Staaten
stärker europäisch auszugestalten, hatte man in angeschlossen, allerdings sind weder Frankreich
noch Polen dabei. Sie soll auf dem deutschen Iris-
14 Thierry Breton/Paolo Gentiloni, Nur eine europäische
T SML und dem amerikanischen Patriot System
Antwort kann Industrie und Bürger schützen, 13. 10. 2022, aufbauen, erwogen wird zudem der Kauf des isra­
www.faz.net/​18359695.html. elischen Systems Arrow 3. Frankreich sowie auch

20
Deutsche Außenpolitik APuZ

Italien kritisierten, dass europäische Alternativen verfolgt, anstatt sie aktiv zu gestalten. Angesichts
gar nicht erst berücksichtigt wurden. der Zeitenwende in Europa ist dies nicht mehr
Hinter den deutsch-französischen Dissonan­ ausreichend. Von Deutschland als mächtigstem
zen steht die viel grundsätzlichere Frage, wie und reichstem Land der EU wird mehr proakti­
groß die Rolle der USA bei der europäischen ve Führung erwartet, um die europäische Hand­
Verteidigung sein soll. Im Zuge des russischen lungsfähigkeit nach innen und außen zu stärken.
Krieges gegen die Ukraine offenbarte sich, dass Um diese Rolle ausfüllen zu können, muss die
der wichtigste Verbündete Berlins nicht in Eu­ Ampel-Koalition entschiedener als bislang eu­
ropa, sondern in Washington sitzt. Der französi­ ropäische Interessen zur Basis ihrer Entschei­
sche Verteidigungsexperte Camille Grand bringt dungen machen. Sie sollte wieder stärker die Zu­
die französischen Bedenken auf den Punkt: sammenarbeit mit Paris suchen und verlorenes
„Aus Pariser Sicht deutet das Bestreben Ber­ Vertrauen insbesondere in Mittel- und Osteuro­
lins, (…) stets nur gemeinsam mit den USA zu pa zurückgewinnen. Sie sollte ihren Partnern zei­
handeln (wie beim Marder, den Patriots und den gen, dass sie aus den Fehlern der Vergangenheit
Leopard-Panzern) auf eine Ausrichtung, die für gelernt hat und nicht wieder in alte Reflexe zu­
deutsch-französisch-europäische Initiativen we­ rückfällt. Eine ehrliche Aufarbeitung der deut­
nig Raum lässt.“ 15 schen Russlandpolitik der vergangenen 25 Jah­
Richtet man den Blick auf die Partner re wäre ein guter Anfang. Alleingänge wie das
Deutsch­lands in Mittel- und Osteuropa, so wird Nord-Stream-2-Projekt dürfen sich nicht wie­
nach wie vor deutlich, dass die Bundesregierung derholen. Stattdessen muss Berlin seine Russ­
verlorenes Vertrauen zurückgewinnen muss. In land- und seine Chinapolitik europäisch einbet­
Berlin wird allerdings manchmal so getan, als sei ten. Vor allem muss die Bundesregierung ihre
dies in erster Linie das Ergebnis der Propaganda Politik besser kommunizieren. Es geht darum,
der polnischen Regierungspartei „Recht und Ge­ die europäischen Partner einzubeziehen, statt sie
rechtigkeit“, die das systematische Schlechtreden nur ex post zu informieren. Eine Grundvoraus­
Deutschlands seit Jahren kultiviert und momen­ setzung dafür wäre allerdings, dass sie sich in der
tan offensiv benutzt, um ihre Chancen im lau­ Europapolitik auf eine gemeinsame Linie einigt
fenden Wahlkampf zu erhöhen. Aber die Enttäu­ – und Brüssel nicht wie bei der Debatte um den
schung über Deutschland ist auch innerhalb der Verbrennungsmotor zur Bühne koalitionsinter­
polnischen Opposition weit verbreitet. Piotr Bu­ ner Auseinandersetzungen macht.
ras, Leiter des Warschauer Büros des European Auf vielfache Weise hat der russische An­
Council on Foreign Relations, resümiert: „Die griffskrieg Europa enger zusammenrücken las­
polnische Wahrnehmung Berlins ist so negativ sen. Dies trifft jedoch nicht auf Deutschland
wie selten zuvor – weit über die Kreise der übli­ zu – es hat sich von einigen seiner engsten Part­
chen Deutschlandskeptiker hinaus.“16 ner entfremdet. Berlin aber bleibt das wirtschaft­
liche und politische Kraftzentrum der EU. Ohne
PROAKTIVERE ROLLE FÜR BERLIN oder gegen Deutschland lässt sich in Europa nur
schwer etwas erreichen. Dieser Verantwortung
Die Ära Merkel war geprägt von der Notwen­ muss die Bundesregierung besser gerecht wer­
digkeit, die EU unter wachsendem internen und den – und die Europapolitik stärker am Geist des
externen Druck zusammenzuhalten. Als Zentral­ Koalitionsvertrags ausrichten.
macht in Europa hat Deutschland seine Aufga­
be darin gesehen, den Status quo zu bewahren, ANGELA MEHRER
aber ohne klare Vorstellungen davon zu entwi­ ist Office Programme Coordinator des Berliner Büros
ckeln, wie es weitergehen soll. Berlin hat eine Po­ des European Council on Foreign Relations (ECFR).
litik der Anpassung an die äußeren Bedingungen angela.mehrer@ecfr.eu

JANA PUGLIERIN
15 Camille Grand, Ohne europäische Dimension?, in: Internati-
ist promovierte Politikwissenschaftlerin und leitet
onale Politik 2/2023, S. 70–74.
16 Zit. nach Christoph von Marschall, Treffen europäischer
das Berliner Büro des European Council on Foreign
Sozialdemokraten in Warschau. Wer hat noch Vertrauen in Relations (ECFR).
Deutschland?, 6. 3. 2023, www.tagesspiegel.de/-​9458471.html. jana.puglierin@ecfr.eu

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APuZ 17/2023

ÜBER DIE ZEITENWENDE HINAUS


Für eine neue deutsche Sicherheitspolitik
Claudia Major · Christian Mölling

Europa befindet sich in der wohl entscheidend­ Sicherheit und der Verteidigung des deutschen
sten Phase der vergangenen 75 Jahre. Der Krieg Rechtsstaates abgekoppelt. Dieses Ordnungs­
Russlands gegen die Ukraine ist ein Grund da­ prinzip spiegelt sich zugleich in der klaren Tren­
für, aber nicht der einzige. Bereits die langfris­ nung der Zuständigkeiten zwischen Bund, Län­
tigen Entwicklungen sogenannter Megatrends dern und privaten Akteuren wie den Betreibern
wie etwa der Klimawandel bedeuteten eine Ver­ von Kraftwerken oder IT-Infrastruktur wider.
änderung der globalen sicherheitspolitischen Integrierte Ansätze sind die Ausnahme. Die­
Ordnung. Der Krieg hat neben seinem direkten ses innere deutsche Ordnungsprinzip der po­
Effekt – der Zerstörung der Ukraine und der si­ litischen Insellösungen bietet weder Antwor­
cherheitspolitischen Ordnung in Europa – den ten auf den Wandel der globalen Ordnung noch
Wandlungsprozess der globalen Ordnung be­ auf die Fragen, die Europa in Zukunft umtrei­
schleunigt. Auf diese Beschleunigung und die ben und die Sicherheit Deutschlands bestimmen
damit verbundene Unsicherheit darüber, welche werden. Es gilt also, die deutsche Sicherheits­
Folgen der Wandel mit sich bringen wird, gilt es politik neu zu denken und über den russischen
nun zu reagieren. Davon hängt ab, wie weit Eu­ Krieg gegen die Ukraine hinaus für zukünfti­
ropa sein Schicksal selbst gestalten kann, oder ob ge Herausforderungen aufzustellen. Die äuße­
es eher von anderen gestaltet wird. re Zeitenwende erfordert also auch eine innere
Dies definiert zugleich die Phase schwerster Zeitenwende, und nur eine erfolgreiche deut­
Prüfungen für die deutsche Sicherheitspolitik seit sche Zeitenwende ermöglicht eine erfolgreiche
Bestehen der Bundesrepublik. Denn Deutschland europäische Zeitenwende.
kommt aufgrund seines wirtschaftlichen und po­
litischen Gewichts bei der Gestaltung der Zu­ NEUE SICHERHEITS-
kunftsfähigkeit Europas eine zentrale Rolle zu. (UN)ORDNUNG
Deutschland wird unweigerlich zur Handlungs­
fähigkeit Europas beitragen: entweder positiv Die aktuelle Situation der sicherheits-, wirt­
durch seinen aktiven Beitrag oder negativ durch schafts- und gesellschaftspolitischen Unordnung
die Abwesenheit dieses Beitrags. Für einen ak­ ist entscheidend für Europa. Das liegt an drei fun­
tiven Beitrag müsste Deutschland zwei Heraus­ damentalen Folgen des russischen Krieges gegen
forderungen als zentral erkennen, in denen eine die Ukraine: Erstens verändert der Krieg unmit­
Zeitenwende eine 180-Grad-Wende einer Politik telbar die Sicherheitslage und die Bedingungen,
bedeutet, deren Kurs jahrzehntelang nicht hinter­ unter denen die europäischen Staaten und ihre
fragt wurde. Verbündeten Sicherheit auf dem Kontinent er­
Der eine Bereich ist die Verteidigungspoli­ möglichen müssen. Zweitens ist er zugleich ein
tik. Auch wenn der Schock des russischen An­ Beschleuniger für den schon länger laufenden
griffs die Rolle des Militärs kurz unterstrichen Wandel globaler Ordnungen in den Bereichen Si­
haben mag: Einen belastbaren Plan, was Vertei­ cherheit, Technologie, Wirtschaft und Demokra­
digungsfähigkeit für Deutschland bedeutet und tie sowie für den Kampf gegen den Klimawandel.
wie sie herzustellen wäre, gibt es bislang nicht. Drittens wirkt der Krieg wie eine zukunftsver­
Der andere Bereich ist die Sicherheitspolitik. ändernde Explosion, die die Verlaufsbahnen der
Diese war bisher vor allem eine Außenpolitik großen Trends in Politik, Wirtschaft und Techno­
mit zivilen Mitteln, denn sie war von Fragen logie verschiebt.01 Allerdings ist unklar, in wel­
der wirtschaftlichen Sicherheit, der öffentlichen che Richtung und mit welchen Folgen genau. Es

22
Deutsche Außenpolitik APuZ

verändern1 sich also die Gewichte, mit denen die­ und erschwerend ist, dass die Herausforderun­
se Trends auf uns wirken, und es verändern sich gen zeitgleich auftreten. Daher werden die kom­
ebenso die Konstellationen der Trendbahnen un­ menden Jahre der Neugestaltung für Europa eine
tereinander, also wie sich die Trends gegenseitig Phase großer Unsicherheit und geringer Stabili­
beeinflussen. Damit entstehen neue Räume der tät sein.
Ungewissheit – Risiken, aber auch Chancen. So Bei der Konstruktion einer belastbaren Ord­
hat etwa die Reduzierung der Energieabhängig­ nung sollten Deutschland und Europa sich an
keit von Russland die deutsche Energiewende drei zentralen Fragen orientieren: Wie sieht eine
beschleunigt. gute europäische Ordnung aus, die europäische
Alle drei Wirkungen haben gemeinsam: Sie öffentliche Güter wie Sicherheit, Wohlfahrt und
sind tiefgreifend und haben langfristige struk­ demokratische Entscheidungsfindung bereitstellt
turelle Auswirkungen. Dennoch steckt die Dis­ und schützt? Wie kann sie gebaut werden, auf
kussion, wie Deutschland und Europa reagie­ welche Widerstände wird sie treffen? Wie kann
ren sollten, bislang mehrheitlich im Hier und sie aufrechterhalten werden?
Jetzt fest. Der deutsche Diskurs wird derzeit
mehr vom Blick zurück bestimmt als vom Blick RAHMENBEDINGUNGEN
nach vorn. Die Zeitenwende ist eine Reaktion EINER NEUEN DEUTSCHEN
auf eine Veränderung in der Vergangenheit. Da­ SICHERHEITSPOLITIK
bei verändert der Krieg in der Ukraine die we­
sentlichen Bedingungen für Risiken und Chan­ Ein Jahr Zeitenwende ist auch ein Jahr der Neu­
cen in der Zukunft und setzt einen fundamental vermessung all dessen, was sich verändert hat und
neuen Rahmen für die deutsche Sicherheitspoli­ sich weiter verändern wird. Vor allem sind vor­
tik. Es geht nicht nur darum, angemessen auf ihn handene und zukünftige Abhängigkeiten ins Be­
zu reagieren, sondern auch darum, die deutsche wusstsein gerückt, die Sicherheit, Wohlstand und
Sicherheitspolitik über den Krieg hinaus für den politische Teilhabe begrenzen können. Bei der
Umgang mit und die Gestaltung von zukünftigen Neugestaltung ist Zeit ein zentraler Faktor: Zum
Schocks aufzustellen. einen hat die Neuordnung schon begonnen, zum
Dies erfordert eine grundlegende Überar­ anderen bestehen etwa durch Wahlen Unsicher­
beitung bisheriger Grundannahmen, Struktu­ heiten über die Kontinuität politischer Geschlos­
ren und Prozesse in Deutschland und Europa. senheit in Europa. All dies kann aber nicht über
Deutschlands künftiger Handlungsspielraum bei die Schlüsselrolle Deutschlands für das Gelin­
der Wahrung seiner Sicherheit und seines Wohl­ gen einer neuen europäischen Sicherheitspolitik
stands sowie bei der Verteidigung seiner Interes­ hinwegtäuschen, die zuallererst eine erfolgreiche
sen hängt davon ab, wie die zukünftige Ordnung Neuaufstellung der Bundesrepublik erfordert.
aussehen wird. Die Bundesregierung muss also Vier Abhängigkeiten zeigen die Grenzen von
einen Plan entwickeln, wie sie die Ordnungsele­ Deutschlands Handlungsfähigkeit auf.02 In den
mente, die durch den Krieg durcheinendergewir­ Bereichen fossile Energieträger und Rohstoffe
belt wurden, wieder sinnvoll zusammensetzen war Deutschland lange abhängig von Russland,
kann, sei es die Rolle militärischer Gewalt oder wo es beides günstig einkaufen konnte, um sei­
der Einfluss technologischer Entwicklungen. nen wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern und
Noch existiert kein Bauplan für die neue gesellschaftliche Wohlfahrt zu ermöglichen. Den
Ordnung. Einzelne Bausteine aus den Berei­ Preis für diese Abhängigkeit und die Loslösung
chen Sicherheit und Verteidigung, Wirtschaft davon zahlt Deutschland jetzt, ökonomisch und
und Finanzen, Klima, Energie, Technologie und politisch.
Demokratie sind zwar bekannt, denn viele Pro­ Eine weitere Abhängigkeit besteht von Chi-
bleme sind nicht neu. So ist weitgehend bekannt, na als Markt für deutsche Unternehmen und we­
wie Regierungen auf den Klimawandel reagieren sentlicher Teil deutscher Lieferketten, aber auch
sollten. Doch welche Rolle welche Bausteine zu­
künftig spielen sollten, bleibt zu bestimmen. Neu
02 Vgl. Christian Mölling et al., Smarte Souveränität, Deutsche
Gesellschaft für Auswärtige Politik, DGAP Bericht, September
01 Vgl. Nato, Science & Technology Trends 2020–2040, Brüs- 2021, ­https://dgap.org/sites/default/files/article_pdfs/smarte_​
sel 2020, S. vii. souveraenitaet-​ideenwerkstatt_aussenpolitik-​final.pdf.

23
APuZ 17/2023

zunehmend mit Blick auf gesellschaftliche Infra­ Und schließlich hängt Deutschland von der EU
struktur in Deutschland, sei es über IT-Elemente als politischer, ökonomischer und rechtlicher Ge­
in der öffentlichen Kommunikation, chinesische meinschaft ab. Nicht nur profitiert Deutschland
Beteiligungen an deutschen Unternehmen oder vom Binnenmarkt und der europäischen Handels­
Kooperationen bei der Transportinfrastruktur. macht, sondern ist die EU auch die Antwort auf die
Neben dieser ökonomischen Abhängigkeit steht Frage, wo Deutschland geopolitisch steht. Für kein
China auch als Beispiel für die Dreiecksverbin­ anderes Land in Europa ist diese Verortung so wich­
dungen, die Deutschland beeinflussen, etwa bei tig, weil unsere Partner und Alliierten bis heute die
dem Ziel, Russland und Putin eigene Stärke ent­ Frage stellen, ob sich die historische Erfahrung mit
gegenzusetzen: China unterstützt Russland in den Vorgängern der Bundesrepublik wiederholen
diesem Krieg und hat damit kein Interesse an ei­ könnte, die mit ihrer Größe und der Lage im Her­
ner deutschen Stärke, die einen Nachteil für Putin zen Europas ein Risiko für die Sicherheit auf dem
bedeuten könnte. Kontinent waren. Diese „deutsche Frage“ stellt sich
Traditionell ist Deutschland wie ganz Europa heute in besonderem Maße, weil Deutschland sei­
bei militärischer Sicherheit von den USA abhän­ nen Partnern im Rahmen der EU und der Nato so­
gig. Das gilt bis heute: Die USA unterstützen die gar ein Schutzversprechen gegeben hat – und sich
Ukraine in ihrem Abwehrkampf nicht nur quan­ zugleich nicht ohne seine Partner schützen kann.
titativ und mit Blick auf die Bandbreite der Waf­ Doch neben den Gefahren von außen für die
fen in einem Maß, das kein anderer Staat leisten EU und damit auch für Deutschland sind es vor al­
kann.03 Sie ermöglichen mit ihren einzigarti­ lem innere Spannungen, die die Fähigkeit der EU
gen Fähigkeiten bei der Aufklärung und Zielsu­ bedrohen, ihre Aufgabe als Konsensmaschine in
che auch die Effizienz der ukrainischen Armee.04 Europa wahrzunehmen. Die Mitgliedstaaten ha­
Die USA eröffnen damit Handlungsoptionen für ben wesentliche Fragen der EU-Weiterentwick­
die europäische Sicherheit, die Deutschland nicht lung in den vergangenen Jahren vertagt, weil ihre
bieten könnte. Ohne die amerikanische Unter­ Erwartungen an die Union zu verschieden und
stützung wäre Europa in einem klassischen mi­ ihre Bereitschaft, sich für sie zu engagieren, zu ge­
litärischen Szenario nicht in der Lage, sich selbst ring waren. Dies gilt für nahezu alle Politikfelder.
zu verteidigen. Weil aber die Abhängigkeiten Als jüngste Herausforderung kommt die Aufnah­
von Russland und vor allem von China zuneh­ me der Ukraine, Moldovas und der sechs Balkan­
mend problematisch sind, steigt die Bedeutung staaten hinzu. Während sich alle einig sind, dass
der USA auch mit Blick auf gemeinsame Märkte die EU dies in ihrer derzeitigen Konstitution nicht
und Technologien. Sie bieten eine Alternative zur stemmen kann, zeichnet sich keine Reform der
russischen und chinesischen Option. Gleichzeitig EU ab. Zwar werden die neuen Beitrittskandida­
zeichnet sich immer deutlicher ab, dass auch der ten über die neue Europäische Politische Gemein­
Krieg in der Ukraine die langfristige Ausrichtung schaft enger an die EU gebunden. Doch welcher
der USA auf den Indopazifik und China nicht Union sie irgendwann beitreten können, bleibt
beeinflussen wird, Deutschland und Europa also unklar. Damit stehen nicht nur die alten außen­
künftig mehr Ressourcen für die eigene Sicherheit politischen Sicherheitskonzepte, Integration und
aufbringen müssen. Stabilitätsexport in die Nachbarschaft, infrage – es
gibt auch noch keine Alternativen.
03 Verschiedene Vergleiche der Unterstützung der Ukraine Von den Abhängigkeiten von Russland und
finden sich als Datensatz unter www.ifw-​kiel.de/fileadmin/Da- China muss Deutschland sich lösen beziehungs­
teiverwaltung/Subject_Dossiers_Topics/Ukraine/Ukraine_Sup- weise sie verringern, um sich weniger erpressbar
port_Tracker/Ukraine_Support_Tracker.xlsx sowie als Arbeitspa-
zu machen. Die Abhängigkeit von den USA gilt
pier von Christoph Trebesch et al., The Ukraine Support Tracker,
Kiel Institut für Weltwirtschaft, Kiel Working Papers 2218/2023,
es, hin zu einer ausgewogeneren Lastenteilung
www.ifw-​kiel.de/fileadmin/Dateiverwaltung/IfW-​Publications/-​ im Verteidigungsbereich weiterzuentwickeln und
ifw/Kiel_Working_Paper/​2022/KWP_​2218_Which_countries_ anzuerkennen, dass die eigenen Interessen mit
help_Ukraine_and_how_/KWP_​2218_Trebesch_et_al_Ukraine_​ denen der USA nicht deckungsgleich sind. Die
Support_Tracker.pdf.
Abhängigkeit von der EU gilt es, in einen hand­
04 Vgl. Isabelle Khurshudyan et al., Ukraine’s Rocket Campaign
Reliant on U. S. Precision Targeting, Officials Say, 9. 2. 2023,
lungsfähigeren Rahmen zu überführen.
www.washingtonpost.com/world/​2023/​02/​09/ukraine-​himars-​ Die kommenden fünf Jahre werden entschei­
rocket-​artillery-​russia. dend sein für diese Weichenstellungen. Wie viel

24
Deutsche Außenpolitik APuZ

Handlungsspielraum die europäischen Staa­ bitionen? Gelingt Deutschland die Fortsetzung


ten und auch Deutschland dabei haben werden, seiner Energiewende und die Verringerung seiner
hängt auch vom politischen und gesellschaftli­ Abhängigkeiten von China?
chen Zusammenhalt in den europäischen Staaten Noch reagiert Deutschland vor allem und ver­
ab. 2024 wird in Großbritannien, Finnland, der sucht, die Konsequenzen des Krieges und globaler
Slowakei, Rumänien, Litauen sowie auf europä­ Trends im Hier und Jetzt zu beeinflussen. Das ist
ischer Ebene das EU-Parlament gewählt. Ver­ in einer Zeit, in der sich die Dinge schnell weiter­
änderte Mehrheiten könnten den Zusammenhalt entwickeln, unzureichend: Es braucht eine lang­
in Europa und seine Handlungsfähigkeit weiter fristig belastbare Neuaufstellung. Hinzu kommt
schwächen. Hinzu kommen die Wahlen in den der Eindruck, dass die anfängliche Dringlichkeit,
USA 2024, die sich auch auf Europa auswirken die unmittelbar nach dem russischen Überfall auf
werden. Ohne politische Führung aus Washing­ die Ukraine bahnbrechende Entscheidungen er­
ton wird es schwer, die Geschlossenheit in Eu­ möglichte, immer mehr schwindet – und mit ihr
ropa aufrecht zu erhalten, und alte Trennlini­ die Bereitschaft, tiefgreifende und schmerzhafte
en drohen wieder aufzubrechen, etwa mit Blick Entscheidungen zu treffen. Die Umsetzung der
auf den Umgang mit Russland, den Wiederauf­ Zeitenwende vor allem in der Verteidigungspo­
bau der Ukraine und die Weiterentwicklung der litik geht nur schleppend und anscheinend ohne
Nato. systematischen Plan voran.
Dies liegt auch daran, dass Deutschland für
SCHLÜSSELROLLE seine außenpolitische Neuaufstellung auch eine
FÜR EUROPA innenpolitische und gesellschaftspolitische Zei­
tenwende braucht. Dazu gehören eine Aufar­
Während alle Regierungen in Europa Antwor­ beitung und Neuausrichtung der Russlandpoli­
ten für die europäische und internationale si­ tik; die Erarbeitung einer neuen Ostpolitik, die
cherheitspolitische Neuordnung finden müssen, die Länder der Region als solche und nicht nur
kommt der Bundesregierung eine Schlüsselrolle durch die russische Brille wahrnimmt; eine Neu­
zu. Deutschlands Wirtschaftskraft ist in Europa definition der Rolle des Militärs als Instrument
und weltweit von Bedeutung, aber der Krieg in der Sicherheitspolitik; eine praktische Reform
der Ukraine hat ihre Schwachstellen aufgezeigt: des Verteidigungssektors; sowie ein neues Ver­
Die Bundesrepublik muss sich mit den deut­ ständnis über eine aktive deutsche Rolle in EU
schen Abhängigkeiten auseinandersetzen und und Nato.
neue Energiequellen auftun, die Lieferketten di­
versifizieren und neue Märkte erschließen. Po­ BLICK NACH VORN
litisch ist Berlin noch dabei, sich an seine neue
Rolle zu gewöhnen: Der Krieg in der Ukraine Ohne eine deutsche Neuaufstellung in den Berei­
hat Deutschland gezwungen, eine aktivere Rolle chen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik droht
in der europäischen Sicherheit und Verteidigung die Rückkehr alter Rezepte. Die Widerstände
zu spielen. Deutschland ist sowohl wirtschaft­ sind jedoch jeweils anders gelagert: Der Bereich
lich als auch sicherheitspolitisch ein wichti­ Verteidigung leidet unter einem Staats- und Sys­
ger Partner, aber es bleibt verwundbar und zö­ temversagen. Probleme sind so miteinander ver­
gert, entscheidende Maßnahmen zu ergreifen, bunden, dass einfache und isolierte Lösungsan­
etwa bei der militärischen Unterstützung der sätze schnell auf Probleme in anderen Bereichen
Ukraine. treffen. In der Sicherheitspolitik wehren sich Ent­
2023 und 2024 werden auch national entschei­ scheidungsträger in Bund und Ländern mit Hän­
dende Jahre sein: Gelingt es Deutschland, die Fi­ den und Füßen gegen die Umsetzung all jener
nanzierung seiner Verteidigung langfristig in der seit Langem gepredigten Konzepte, die eine um­
Finanzplanung zu verankern? Bislang basiert die fassendere Sicherheitspolitik ermöglichen sollen,
Erhöhung der Verteidigungsausgaben weitge­ sei es die Vernetzung von innerer und äußerer Si­
hend auf dem einmaligen 100-Milliarden-Euro- cherheit, die Einbettung neuer Ansätze wie Kli­
Sondervermögen für die Bundeswehr. Analysiert maschutzkonzepte oder die Förderung der Rech­
und definiert die Nationale Sicherheitsstrategie te, Repräsentanz und Ressourcenausstattung von
überzeugend Deutschlands Sichtweise und Am­ Frauen und marginalisierten Gruppen. Eine Ver­

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APuZ 17/2023

änderung würde erhebliche konzeptionelle und Obwohl militärische Sicherheitsvorsorge und


institutionelle Anpassungen voraussetzen – vor in der Folge auch Rüstung Verfassungsrang ha­
allem aber den unbedingten Willen, im bereits ben, blickt Deutschland auf 30 Jahre politisches
laufenden Systemkonflikt bestehen zu wollen, Desinteresse und bürokratische Regulierungs­
unabhängig vom einen oder anderen Lieblings­ wut zurück. Im Ergebnis machen alle Dienst
projekt, sowie die Bereitschaft, Macht abzugeben. nach Vorschrift, doch am Ende steht keine nen­
nenswerte Verteidigungsfähigkeit auf der Ha­
„Deutschlandgeschwindigkeit“ benseite. Die Verkettung von Einzelproblemen
bei der Verteidigung bedeutet auch, dass es keine schnelle präsentab­
Die Hürden für eine erfolgreiche Verteidigungs­ le Insellösung gibt, die man sich nun als Einzel­
politik und der Graben zwischen Anspruch und projekt vornehmen kann. Rasche Erfolge kann es
Wirklichkeit sind groß. Während Deutschland aber bei der Unterstützung der Ukraine und der
sich seit dem Ende des Kalten Krieges nicht we­ Wiederaufnahme europäischer Kooperationspro­
sentlich bewegte, tat es der Rest der Welt: Die si­ jekte geben.
cherheitspolitische Lage wandelte sich von ein­ Deutschland hat es nach dem russischen
zelnen Brandherden erst zu einer Krisensichel, Überfall in beeindruckender Geschwindigkeit ge­
die ganz Europa umgab, und dann zu einem schafft, sich aus der Abhängigkeit von russischen
Flächenbrand, der immer näher an die Grenzen Energielieferungen zu lösen. Diese Erfolgsge­
Europas heranrückte. Eine leistungsfähige mi­ schichte läuft unter dem Motto „Deutschlandge­
litärische Feuerwehr, also eine einsatzfähige Bun­ schwindigkeit“. Es bräuchte diese Deutschland­
deswehr – zum Brandschutz oder zum Löschen – geschwindigkeit auch im Verteidigungsbereich.
war nicht mehrheitsfähig.05
Mit der Zeitenwende will die Bundesregie­ Lineare Sicherheitspolitik
rung schlagartig umsteuern. Das scheitert bislang überwinden
nicht nur daran, dass der Motor im Maschinen­ Deutschlands neue Sicherheit muss in einem
raum unterdimensioniert und nicht funktions­ Kontext systemischer Konflikte gewährleistet
tüchtig ist, sondern auch daran, dass kaum je­ werden. Dies erfordert schnelles und umfassen­
mand den Maschinenraum bedienen kann, also des Handeln sowie die Fähigkeit, die Auswir­
militärische Macht und ihren Einsatz mitdenkt, kungen von Megatrends proaktiv zu beeinflus­
und lange Zeit politische Führung fehlte. Zudem sen. Das ist nichts, was Deutschland bis heute
bleibt unklar, welcher Zustand nach der Zeiten­ vorweisen kann, weder in seiner institutionellen
wende erreicht werden soll. Aufstellung noch in seiner politischen Ausrich­
Für die dringende Generalüberholung hat tung.06 Deutschland wird daher sein gesamtes
Deutschland seit Olaf Scholz’ Zeitenwende-Re­ Politikmodell neu gestalten müssen – ein Unter­
de im Bundestag ein entscheidendes Jahr verloren. fangen, das über die klassische Außen- oder Si­
Zugleich bleibt nur noch wenig Zeit: Die Bundes­ cherheitspolitik hinausgeht. Wie herausfordernd
regierung ist noch etwas mehr als zwei Jahre im das ist, zeigen bereits die Energiekrise und die
Amt, um Erfolge zu erzielen, die eine Fortsetzung Klimapolitik.
der Reform rechtfertigen. Dieser Zeithorizont Die Herausforderung besteht darin, die line­
steht im Spannungsverhältnis zu der Zeit, die es are Fortsetzung deutscher Politik entlang beste­
braucht, um die grundlegenden Missstände zu be­ hender Strukturen und Grenzen zu beenden. Es
wältigen: 12 bis 15 Jahre für den Wandel bei Kultur, gilt anzuerkennen, dass Deutschlands Umwelt
Prozessen und Material. Es geht um nicht weniger einem exponentiellen, disruptiven Wandel un­
als den Verteidigungssektor insgesamt, also um das terworfen ist. Eine angemessene Reaktion muss
Zusammenspiel von Politik, Verwaltung, Streit­ Deutschland daher in die Lage versetzen, Störun­
kräften und industrieller Basis, das aus einem Zu­ gen zu bewältigen oder zu verhindern. Das be­
stand des System- und Staatsversagens heraus in ein deutet einerseits, das bislang vorherrschende Po­
leistungsfähiges System umgebaut werden muss. litikmodell zu überwinden, das in erster Linie

05 Vertiefend zu diesem Unterkapitel Christian Mölling, Zehn 06 Dieses Unterkapitel beruht auf Claudia Major/Christian
Punkte für den neuen Verteidigungsminister, 17. 1. 2023, Mölling, Zum Zaudern keine Zeit, in: Internationale Politik
www.faz.net/​18607797.html. ­Special 2/2023, S. 4–11.

26
Deutsche Außenpolitik APuZ

auf externe Schocks reagiert, und andererseits ropa zurückkehrt und die Errungenschaften und
ein Konzept zu entwickeln und umzusetzen, das das Erfolgsmodell Deutschlands und der EU in­
Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen des frage stellt: Frieden durch Recht. Die Unbehol­
disruptiven Wandels gewährleistet. fenheit rührt auch daher, dass durch den Krieg ein
Eine erfolgreiche Neuaufstellung ist dann fundamentaler Wandel der deutschen Politik not­
abgeschlossen, wenn Deutschland seine Hand­ wendig und der Einsatz eigener Stärke erforder­
lungsfähigkeit im Kontext systemischer Konflik­ lich wird, um zum Frieden durch Recht zurück­
te in vier Bereichen signifikant verbessert hat: Be­ zukehren. Der Bundeskanzler verweist damit auf
urteilungsfähigkeit; Kooperationsfähigkeit über die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart
Europa hinaus; Konfliktfähigkeit und Präventi­ und Zukunft.
onsfähigkeit.07 Eine Nationale Sicherheitsstra­ Stark vereinfacht, geht es bei der Zeitenwen­
tegie kann eine erste Antwort geben. Letztlich de also um das sicherheitspolitische Erwachsen­
sind es jedoch nicht Regierungsdokumente, die werden Deutschlands. Das ist ein langfristiger
Deutschlands Sicherheitspolitik verändern, son­ Prozess, der jetzt auf die richtige Bahn gesetzt
dern die langfristige und dauerhafte Umsetzung, werden muss. Deutschlands Partner können die­
also zielgerichtetes Handeln, um Deutschland sen Prozess unterstützen, indem sie signalisieren,
und seine Partner vor existenzbedrohenden Risi­ dass ein stärkeres Engagement etwa im Verteidi­
ken zu schützen. gungsbereich erwünscht und nicht bedrohlich ist,
und indem sie diese Neuaufstellung aktiv unter­
Sicherheitspolitisches stützen. Denn die erfolgreiche deutsche Zeiten­
Erwachsenwerden wende ist eine Voraussetzung für die erfolgreiche
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Zeiten­ europäische Zeitenwende, die Deutschland mit
wende-Rede sehr klar die wesentliche Herausfor­ seinen Partnern voranbringen muss.
derung für die deutsche Sicherheitspolitik um­
rissen: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das
bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe
wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Fra­
ge, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es
Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die
Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder
ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie
Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stär­
ke voraus.“08
Aufgrund ihrer Geschichte war die Bundes­
republik lange überzeugt, den Krieg und das Mi­
litärische überwunden zu haben. Es geht heute
allerdings nicht darum, den Krieg gutzuheißen,
sondern damit umgehen zu können, wenn ande­
re Länder oder Akteure Deutschland mit militäri­
scher Gewalt konfrontieren oder versuchen, ihre
Interessen damit durchzusetzen. Es geht darum,
die Unbeholfenheit der deutschen Gesellschaft CLAUDIA MAJOR
zu überwinden, mit Krieg als sozialer Realität ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Leiterin
umzugehen, mit der Überraschung und dem Ent­ der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der
setzen darüber, dass der Krieg wieder nach Eu­ Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
claudia.major@swp-​berlin.org

07 Vgl. Christian Mölling, German Zeitenwende and the CHRISTIAN MÖLLING


Emerging European Security Order. The Role of Partners,
ist promovierter Politikwissenschaftler und
Hanns-Seidel-Stiftung, Paris 2022.
08 Olaf Scholz, Regierungserklärung, 27. 2. 2022, www.
Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für
bundesregierung.de/breg-​de/suche/regierungserklaerung-​von-​ Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.
bundeskanzler-​olaf-​scholz-​am-​27-​februar-​2022-​2008356. moelling@dgap.org

27
APuZ 17/2023

VON „UMFASSENDER STRATEGISCHER


PARTNERSCHAFT“ ZU SYSTEMRIVALITÄT
Für eine Chinapolitik ohne Illusionen
Thorsten Benner

„Wir müssen unsere China-Politik an dem Chi­ terwerfungsanspruch formuliert wie Putin gegen­
na ausrichten, das wir real vorfinden“, sagte Olaf über der Ukraine. Er könnte einen Krieg mit den
Scholz in seiner Regierungserklärung nach seiner USA riskieren, um seinen Traum zu erfüllen, Tai­
Wahl zum Bundeskanzler im Dezember 2021.01 wan unter chinesische Kontrolle zu bringen. Ein
Ein knappes Jahr später, kurz vor seiner Reise nach solches Szenario hätte auch für Deutschland weit
Beijing im November 2022, erklärte er: „Wenn sich größere Konsequenzen als der Krieg Russlands ge­
China ändert, muss sich auch der Umgang mit Chi­ gen die Ukraine. Das betrifft nicht nur die militäri­
na verändern.“02 Diese beiden Sätze mögen banal sche Dimension eines Krieges zwischen den Groß­
und selbstverständlich klingen. Doch sie sind es mächten. Die weltweiten Verwerfungen durch den
nicht. Insbesondere seit der Machtübernahme Xi kompletten Bruch der Wirtschaftsbeziehungen
Jinpings als Chinas Staats- und Parteichef 2013 hat zwischen den USA, ihren Verbündeten und China
Deutschland unter Bundeskanzlerin Angela Mer­ wären dramatisch. Deutschlands Abhängigkeiten
kel seine China­ politik an Blütenträumen einer gegenüber China sind weitreichender und komple­
„umfassenden strategischen Partnerschaft“ mit ei­ xer als jene gegenüber Russland. Sie betreffen zahl­
nem Wunsch-China ausgerichtet, obwohl sich das reiche Rohstoffe, industrielle Vorprodukte und
Land immer stärker zu einem Systemrivalen und weitere wichtige Teile von Lieferketten, nicht zu­
Gegner entwickelt, der Deutschland und Europa letzt bei den Kerntechnologien der Energiewende.
mit seinem globalen Machtanspruch sowie seinem Schon jetzt benutzt Beijing wirtschaftliche Abhän­
autoritären Staatskapitalismus mit riesigem Hei­ gigkeiten als Waffe. Deutschland muss diese Ab­
matmarkt (sicherheits)politisch, wirtschaftlich und hängigkeiten mit Nachdruck reduzieren.
gesellschaftlich herausfordert.
Olaf Scholz hat mit seinen beiden zitierten Ma­ MERKELS ILLUSIONEN
ximen die Grundlagen für eine realistische China­
politik gelegt. Jetzt geht es darum, den chinapoli­ Im Juli 2017 brachte Angela Merkel in einer ge­
tischen Kurswechsel, den viele Stimmen bereits meinsamen Pressekonferenz mit Chinas Staats-
gegen Ende der Merkel-Ära anmahnten,03 mit und Parteichef Xi Jinping im Bundeskanzleramt
Nachdruck umzusetzen. Grundlage dafür muss ihre chinapolitischen Illusionen prägnant auf den
eine mentale Neujustierung auf Basis des real exis­ Punkt: „Wir haben inzwischen nicht nur eine
tierenden kommunistischen Parteistaats sein sowie strategische Partnerschaft, sondern eine umfas­
der Abschied von weit verbreiteten Illusionen. Da­ sende strategische Partnerschaft, wie wir das nen­
bei gilt es, die richtigen Lehren aus dem katastro­ nen. Das bedeutet im Grunde, dass alle Bereiche
phalen Scheitern der deutschen Politik gegenüber der Gesellschaft in diese Zusammenarbeit mit
der anderen autoritär regierten Großmacht zu be­ einbezogen sind.“04
rücksichtigen: Russland. Das böse Erwachen aus Die Bundeskanzlerin machte unmissverständ­
der bisherigen Russlandpolitik und den energiepo­ lich deutlich, dass sie die Partnerschaft zwischen
litischen Abhängigkeiten kam für viele in Deutsch­ Deutschland und China auch unter Xi Jinping aus­
land erst am Tag des russischen Überfalls auf die zuweiten gedachte, und hielt bis zum Ende ihrer
gesamte Ukraine. Mit Blick auf China sollte das Er­ Kanzlerschaft an dieser Linie fest. Eines ihrer letz­
wachen früher kommen. Xi hat gegenüber Taiwan ten Prestigeprojekte war es, Ende 2020 in der EU
einen sehr ähnlichen historisch begründeten Un­ ein Investitionsabkommen mit China durchzu­

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Deutsche Außenpolitik APuZ

setzen, das Comprehensive Agreement on Invest­ Schon früh nach seinem Amtsantritt als Staats-
ment. Dies war Merkels chinapolitischer Willkom­ und Parteichef 2013 war klar geworden, dass Xi
mensgruß an den frisch gewählten US-Präsidenten keinen Kurs der politischen Öffnung verfolgen
Joe Biden. Dabei ging es ihr darum, mit Beijing zu­ würde.
sammenzuarbeiten, um „eigene Handlungsspiel­ In dem 2013 verfassten „Dokument 9“ for­
räume auch gegenüber den USA zu erweitern“.05 derte die Führung der Kommunistischen Partei
Merkel versuchte mithilfe der strategischen Part­ eine starke Reideologisierung im Kampf gegen als
nerschaft mit Beijing, Gegenmacht gegenüber den feindlich wahrgenommene „westliche Ideen“.08
USA aufzubauen. Im ersten Jahrzehnt seiner Führung hat Xi den
Mit12345 diesem Ansatz war Merkel keinesfalls al­ absoluten Herrschaftsanspruch der Kommunisti­
lein auf weiter Flur. Der Schock über das Verhal­ schen Partei in allen Bereichen zementiert, auch
ten des US-Präsidenten Donald Trump, der jegli­ in der Wissenschaft. Dazu gehören verschärfte
ches gemeinsame Vorgehen der USA und Europas Repressionen gegen all diejenigen, die der Par­
gegenüber China ablehnte und Deutschland und teistaat als „nicht auf Linie“ klassifiziert. Im Na­
Europa regelmäßig handelspolitisch drohte, saß men des „Kampfes gegen den Terror“ verletzt Xis
tief. Führende China-Experten in Deutschland Parteistaat systematisch die Rechte der Minder­
forderten, mit Beijing zusammenzuarbeiten, um heit der Uiguren.09 Entgegen des in einem inter­
die Rolle des US-Dollars als internationale Leit- nationalen Abkommen verbrieften Versprechens
und Reservewährung zu begrenzen.06 Das Anti „ein Land, zwei Systeme“ hat Xi mit großer Ent­
Coercion Instrument, das die EU derzeit als schlossenheit die politische Autonomie Hong
Schutz gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen Kongs ausgehebelt und Demonstrationen da­
ausarbeitet und inzwischen vor allem auf China gegen brutal niederschlagen lassen. Xi geht zu­
gemünzt ist, war ursprünglich als Reaktion auf dem unter Inkaufnahme wirtschaftlicher Kos­
US-Sekundärsanktionen gegenüber Iran gedacht, ten gegen Teile der chinesischen Wirtschaft etwa
die europäische Firmen ins Visier nahmen. im Digitalbereich vor, um den Macht- und Kon­
trollanspruch der Partei durchzusetzen. Den ei­
XIS KAMPF genen Machtanspruch perpetuierte Xi, indem er
Amtszeitbegrenzungen und das Prinzip kollekti­
In Merkels letzter Amtszeit von 2018 bis 2021 ver Führung abschaffte, die die Kommunistische
war die Ausrichtung am Leitbild einer „umfas­ Partei nach den Erfahrungen mit Mao eingeführt
senden strategischen Partnerschaft“ mit dem hatte. Den Kampf gegen internationale Widersa­
China Xis zunehmend umstritten. Ein chinapo­ cher, insbesondere gegen die USA und den von
litisches Umdenken setzte in Deutschland wie ihnen angeführten Westen, führt Xi genauso ent­
auch auf europäischer Ebene ein.07 Wichtigster schlossen wie den Kampf im Inneren. Die chi­
Katalysator dafür waren Worte und Taten Xis. nesische Führung sieht das als Teil einer histori­
schen Mission, das Land wieder zu alter Größe
01 Olaf Scholz, Regierungserklärung, 15. 12. 2021, zu führen, als zentrales Element des von Xi pro­
www.bundesregierung.de/breg-​de/service/bulletin/regierungs​ pagierten „chinesischen Traums“. Bis spätestens
erklaerung-​von-​bundeskanzler-​olaf-​scholz-​1992008.
2049, dem 100-jährigen Jubiläum des Parteistaats,
02 Ders., Darum geht es bei meiner Reise nach China,
2. 11. 2022, www.faz.net/​18431634.html.
soll die „nationale Wiedergeburt“ erfolgreich
03 Vgl. etwa Thorsten Benner, Merkels China-Illusion, 11. 7. 2016, vollzogen sein.
www.sueddeutsche.de/1.3073375; James Mann, The China Dabei traf Xi zu Beginn seiner Amtszeit in­
Fantasy: How Our Leaders Explain Away Repression, New York ternational auf wenig Widerstand. Im südchinesi­
2007.
schen Meer schüttete Beijing völkerrechtswidrig
04 Angela Merkel, Pressestatement im Bundeskanzleramt,
5. 7. 2017, www.bundesregierung.de/breg-​de/aktuelles/-​844138.
05 Lea Sahay/Kai Strittmatter, „Die Fronten klären sich. Und 08 Document 9. A ChinaFile Translation, 8. 11. 2013,
China ist auf der anderen Seite“. Interview mit Mikko Huotari, www.chinafile.com/document-​9-​chinafile-​translation.
29. 3. 2022, www.sueddeutsche.de/​1.​5556872. 09 Vgl. UN Office of the High Commissioner for Human
06 Vgl. Andreas Rinke, Experte: EU und China sollten Rolle des Rights, OHCHR Assessment of Human Rights Concerns in the
Dollars begrenzen, 22. 5. 2018, www.reuters.com/article/idDEK- Xinjiang Uyghur Autonomous Region, People’s Republic of China,
CN1IN21Z<. 31. 8. 2022, www.ohchr.org/en/documents/country-​reports/
07 Den besten Überblick liefert Andrew Small, No Limits. The ohchr-​assessment-​human-​rights-​concerns-​xinjiang-​uyghur-​auto-
Inside Story of China’s War with the West, New York 2022. nomous-​region.

29
APuZ 17/2023

Inseln auf und militarisierte diese anschließend.10 rig und des kanadischen Geschäftsmanns Michael
Dies geschah während Barack Obamas US-Prä­ Spavor ab Dezember 2018, die als Reaktion auf
sidentschaft, der mit Blick auf Herausforderun­ die Festnahme der Tochter des Huawei-Grün­
gen wie Afghanistan oder Nordkorea auf Koope­ ders in Kanada erfolgte, zeigte, dass Beijing heute
ration mit Beijing setzte und die Konfrontation auch nicht mehr davor zurückschreckt, ausländi­
scheute. Die chinesische Antwort auf Obamas sche Staatsbürger als Faustpfand für die Durch­
Kooperationsangebot war, dies als Schwäche aus­ setzung seiner Interessen zu instrumentalisieren.
zunutzen und die eigenen militärischen Interessen Dasselbe gilt für frontale Angriffe auf die Wissen­
durchzusetzen. Die USA vertraten unter Donald schaftsfreiheit in Europa, wie die im März 2021
Trump und vertreten nun auch unter Joe Biden von China verhängten Sanktionen gegen kriti­
eine deutlich konfrontativere Position gegenüber sche China-Forscher in Europa belegen, darunter
Beijing – nicht zuletzt auch technologisch, etwa das gesamte Berliner Mercator Institute for China
durch Sanktionen auf Hochtechnologieexporte Studies, die als Vergeltung für EU-Sanktionen ge­
wie im Halbleiterbereich, wo China auf von den gen einige an Menschenrechtsverletzungen betei­
USA und ihren Verbündeten kontrollierte Tech­ ligte chinesische Beamte auferlegt wurden.
nologie angewiesen ist. Xi sieht sich in einem lan­ Generell ist Beijings Außenpolitik klar zwei
gen Kampf mit den USA. Im März 2023 brachte er Zielen untergeordnet: die innere Legitimität der
dies auf den Punkt: „Westliche Länder, angeführt Kommunistischen Partei zu erhöhen und gleich­
von den Vereinigten Staaten, haben China in all­ zeitig die Position des Parteistaats zu stärken,
umfassender Weise eingedämmt und unterdrückt, vor allem gegenüber den USA. Aus dieser Ziel­
was für die Entwicklung unseres Landes beispiel­ setzung erklären sich auch zwei der außenpoliti­
lose Herausforderungen gebracht hat.“11 schen Positionierungen Chinas, die Deutsche und
Die zentrale Herausforderung ist aus Xis Europäer in den vergangenen Jahren am meisten
Sicht, sich für diesen Kampf nach innen wie nach verstört haben dürften: die Pandemieaußenpoli­
außen zu härten und widerstandsfähig zu sein.12 tik sowie die „grenzenlose Freundschaft“ mit Pu­
Dafür soll das chinesische Militär in Xis Wor­ tins Russland. In den ersten Wochen der Coro­
ten zu einer „Großen Mauer aus Stahl“ ausge­ na-Pandemie leisteten europäische Länder China
baut werden.13 In einer Rede im April 2020 sagte Unterstützung in Form von Hilfslieferungen,
er sehr klar, dass man in allen sicherheitsrelevan­ ohne daraus Kapital zu schlagen. Beijing hinge­
ten Bereichen der Produktion vom Ausland un­ gen schlachtete jede Lieferung von medizinischen
abhängig werden wolle. Gleichzeitig müsse man Gütern nach Europa später öffentlich aus, stellte
die „Abhängigkeit internationaler Produkti­ den eigenen Weg der Pandemiebekämpfung pro­
onsketten von China erhöhen und dadurch eine pagandistisch als Zeichen der Überlegenheit des
starke Fähigkeit zu Gegenmaßnahmen und Ab­ Parteistaats dar, unterband offene Untersuchun­
schreckung gegenüber Ausländern ausbilden, gen zum Ursprung des Virus in China und ver­
die Lieferungen an China künstlich einschrän­ breitete gleichzeitig Verschwörungstheorien zum
ken könnten“.14 Die drei Jahre dauernde Geisel­ angeblichen Ursprung des Virus in den USA. Die­
nahme des kanadischen Forschers Michael Kov­ se Verweigerung einer offenen Zusammenarbeit
angesichts eines globalen Gesundheitsnotstands,
10 Vgl. Niharika Mandhana, How Beijing Boxed America Out
weil Machtinteressen der Kommunistischen Par­
of the South China Sea, 11. 3. 2023, www.wsj.com/articles/chi- tei dem entgegenstanden, warf grundlegende Fra­
na-​boxed-​america-​out-​of-​south-​china-​sea-​military-​d2833768. gen zur Kooperationsfähigkeit Beijings auf.
11 Friederike Böge, Die Schuldigen sind andere, sagt Xi, Ebenso irritierend finden viele Europäer, dass
8. 3. 2023, h­ ttps://zeitung.faz.net/faz/politik/​2023-​03-​08/​
Beijing seit Beginn der Invasion Russlands in der
869245.html.
12 Vgl. Mikko Huotari, Festung China, in: Internationale Poli-
gesamten Ukraine fest an der Seite des Kreml
tik 6/2022, S. 18–23. steht und an der zwischen Xi und Putin im Fe­
13 Vgl. Xi will „Große Mauer aus Stahl“, 13.3. 2023, www. bruar 2022 kurz zuvor vereinbarten „Freund­
zdf.de/nachrichten/politik/xi-jinping-china-militaer-mauer- schaft ohne Grenzen“ und „ohne verbotene Be­
stahl-100.html.
reiche“ festhält.15 Beijings Unterstützung für
14 Xi Jinping, Certain Major Issues for Our National Medium-
to Long-Term Economic and Social Development Strategy, in:
Qiushi, 1. 11. 2020, ­https://cset.georgetown.edu/wp-​content/ 15 Für den Wortlaut der Erklärung zwischen China und Russland
uploads/t0235_Qiushi_Xi_economy_EN-​1.pdf. vom 4. Februar 2022 siehe www.en.kremlin.ru/supplement/​5770.

30
Deutsche Außenpolitik APuZ

Moskau, die sich in politischer Flankierung, ver­ Region.“17 Aufseiten der Politik ist Bundestags­
tieften Handelsbeziehungen sowie Kooperation vizepräsident Hans-Peter Friedrich (CSU) ein
des Militärs niederschlägt, ist vor allem der Tatsa­ Vertreter dieser Haltung. 2021 sagte er: „Nein,
che geschuldet, dass China Russland in der Aus­ China ist keine Diktatur, China ist ein Staat, in
einandersetzung mit den USA langfristig an sei­ dem im Wesentlichen eine Partei, nämlich die
ner Seite haben möchte. Beijings Sorge ist nicht Kommunistische Partei herrscht. Wir haben das
eine langfristige Destabilisierung der europäi­ einfach so zur Kenntnis zu nehmen.“18 Derarti­
schen Friedensordnung, sondern eine Niederla­ ge Äußerungen sind allerdings mittlerweile in der
ge Moskaus, die eine Ablösung Putins durch ei­ politischen Mitte seltener geworden.
nen weniger chinafreundlichen Kreml-Herrscher Dazu hat auch die Betonung der Systemriva­
nach sich ziehen könnte. lität mit China durch Teile der Wirtschaft beige­
Auch Beijings Politik gegenüber Deutschland tragen, die durch die „Made in China 2025“-Stra­
folgt den Zielen der Stärkung der eigenen Herr­ tegie aufgeschreckt wurden. Mit ihr verkündete
schaftsbasis und der eigenen Position im System­ Beijing die Absicht, Deutschland in zentralen In­
konflikt mit den USA. China schätzt Deutsch­ dustriebereichen wie dem Maschinen- und An­
land als Absatzmarkt und in den Bereichen, in lagenbau den Rang abzulaufen. Lange Zeit hatte
denen Deutschland wie etwa in der Industrie und sich die deutsche Industrie darauf verlassen, dass
in der Wissenschaft etwas anzubieten hat, auch man sich am Markt durch Innovationsvorsprung
als Bereitsteller von Technologie. Gleichzeitig global durchsetzen werde und China als Wett­
möchte Beijing so weit wie möglich verhindern, bewerber nicht gefährlich werden könne. Doch
dass Deutschland und Europa sich mit den USA nun wurde vielen klar, dass dies ein Trugschluss
gegen China zusammenschließen. war. Die chinesische Konkurrenz konnte sich
sehr wohl und viel öfter als gedacht durchsetzen.
CHINAPOLITISCHES Dies war aus Sicht der Industrie nicht nur dem
UMDENKEN Fleiß der chinesischen Ingenieure geschuldet,
sondern auch unfairen Methoden des autoritären
Diese Betrachtung macht deutlich: Wer im chi­ Staatskapitalismus chinesischer Prägung. Viele
nesischen Parteistaat einen „umfassenden stra­ deutsche Unternehmen können über Beispiele
tegischen Partner“ sieht, ist blind für die Rea­ des Diebstahls geistigen Eigentums in Joint Ven­
litäten der Machtpolitik Xis. In der deutschen tures oder Benachteiligungen auf dem chinesi­
Wirtschaft und Politik gibt es noch einige, die schen Markt bei der Auftragsvergabe gegenüber
dies nicht einsehen – ob aus kurzsichtigem wirt­ chinesischen Konkurrenten berichten. Doch die
schaftlichen Eigeninteresse oder aus sonstigen Problematik geht tiefer.19 Chinesische Unterneh­
Motiven. Aufseiten der Wirtschaft ist der lang­ men haben den Vorteil eines riesigen geschütz­
jährige Volkswagen-Chef Herbert Diess da­ ten Heimatmarkts, in dem sie Wettbewerbsvor­
für ein Beispiel. Im Sommer 2022 sagte er über teile aus Skaleneffekten und staatlichen Krediten
den Kongress der Kommunistischen Partei, der zu Vorzugskonditionen ziehen können. Im Ja­
im Oktober anstand, dieser „dürfte eine weitere nuar 2019 fasste der Bundesverband der Deut­
Öffnung bringen. China wird sich auch im Wer­ schen Industrie (BDI) seine Bedenken in einem
tesystem weiter positiv entwickeln. Wir können wegweisenden Grundsatzpapier zusammen, das
einen Beitrag zum Wandel leisten, indem wir vor China als „systemischen Wettbewerber“ identi­
Ort vertreten sind.“16 Sein Nachfolger Oliver
Blume verteidigte Anfang September 2022 das
17 Roman Eichinger/Burkhard Uhlenbroich, Kosten E-Autos
VW-Werk in Xinjiang mit einer formvollende­
Jobs, Herr Blume?, Interview mit Oliver Blume, 4. 9. 2022, www.
ten „Wandel durch Handel“-Argumentation: bild.de/bild-​plus/-​81211446.bild.html.
„Es geht darum, unsere Werte in die Welt zu 18 Zit. nach Ruth Kirchner/Steffen Wurzel, Kein Wandel durch
tragen. Auch nach China, auch in die Uiguren- Handel, 27. 4. 2021, www.deutschlandfunk.de/deutsche-​china-​
politik-​kein-​wandel-​durch-​handel-​100.html.
19 Vgl. Agatha Kratz/Janka Oertel, Home Advantage: How
16 Simon Hage/Steffen Klusmann, „Ohne die Geschäfte mit China’s Protected Market Threatens Europe’s Economic Power,
China würde die Inflation noch weiter explodieren“, Interview European Council on Foreign Relations, ECFR Policy Brief,
mit Herbert Diess, in: Der Spiegel 27/2022, S. 60–63, hier 15. 4. 2021, h­ ttps://ecfr.eu/publication/home-​advantage-​how-​
S. 62. chinas-​protected-​market-​threatens-​europes-​economic-​power.

31
APuZ 17/2023

fizierte.20 Dass Beijing 2021 aus Ärger über die und FDP dafür, dass der Bundestag ein Gesetz
Taiwanpolitik Litauens auch dort produzieren­ verabschiedete, das Instrumente zum Ausschluss
de deutsche Unternehmen mit Wirtschaftssank­ Huaweis enthielt. Eine bemerkenswert kritische
tionen belegte, ließ die Alarmglocken des BDI Positionierung gegenüber Beijing hat in den ver­
noch einmal lauter läuten. Der BDI verurteilte gangenen Jahren die FDP entwickelt. Der stell­
diesen fundamentalen Angriff auf die Kernprin­ vertretende FDP-Bundesvorsitzende Johannes
zipien des EU-Binnenmarkts als „verheerendes Vogel etwa hat sehr deutlich einen Stresstest für
Eigentor“.21 Zwei Monate nach der Publikation die deutschen Abhängigkeiten von China gefor­
des BDI-Berichts Anfang 2019 verkündete dann dert und argumentiert, dass China die „größere
die EU in einem Strategiepapier, dass China zu­ systemische Herausforderung“ sei als Russland.24
gleich Partner, Wettbewerber und Systemriva­ Die vielleicht härteste Positionierung gegenüber
le sei.22 Der Dreiklang fand auch Einzug in den Beijing findet sich bei den Grünen, vorangetrie­
Koalitionsvertrag der Ampelkoalition. ben unter anderem durch den EU-Abgeordneten
Eine wachsende Zahl von Stimmen erkennt Reinhard Bütikofer. Entsprechend sind Außen­
mittlerweile an, dass die Systemrivalität über­ ministerin Annalena Baerbock und Wirtschafts­
wiegt. In einem Positionspapier formulierte die minister Robert Habeck Antreiber einer realisti­
SPD-Bundestagsfraktion 2020: „Die Systemkon­ scheren Chinapolitik in der Ampelkoalition.
kurrenz bestimmt letztendlich das Ausmaß, wie
die Partnerschaft mit China konkret ausgestaltet WIDERSTANDSFÄHIGE
werden kann, und beeinflusst auch die Art und CHINA-STRATEGIE
Weise des wirtschaftlichen Wettbewerbs mit Chi­
na.“23 Der SPD-Kovorsitzende Lars Klingbeil So erfreulich dieses Umdenken ist, so wenig aus­
hat mehrfach betont, dass Deutschland dringend reichend sind bislang die Resultate. Xis China hat
kritische Abhängigkeiten von China reduzieren sich weit schneller auf bedrohliche Art und Wei­
muss. Aufseiten der Union gehört Norbert Rött­ se verändert als unser Umgang damit. Handelsbi­
gen zu den Politikern, die bereits unter Angela lanzdefizit und Abhängigkeiten wachsen weiter.25
Merkel ein sehr deutliches Umdenken mit Blick Und zu viele gefährliche Illusionen haben weiter
auf China anmahnten. Ein Kristallisationspunkt einen prominenten Platz in der Debatte: Zu vie­
war die Debatte um die von Merkel vorangetrie­ le flüchten sich in das Narrativ „China ist nicht
bene Beteiligung des chinesischen Konzerns Hu­ Russland“, als ob wir sicher sein könnten, dass Xi
awei an der kritischen Mobilfunkinfrastruktur nicht ähnlich wie Putin ideologisch und macht­
5G. Röttgen opponierte erfolgreich gegen Mer­ politisch getriebene, aus unserer Sicht irrationa­
kels Kurs und sorgte gemeinsam mit Abgeord­ le Entscheidungen trifft – etwa für eine Invasion
neten des damaligen Koalitionspartners SPD und Taiwans. Zu viele, auch der Kanzler, nutzen das
mit Unterstützung der Opposition aus Grünen Scheinargument „Keine Entkopplung“ als Ne­
belkerze in der Diskussion, als ob jemand von
Belang eine komplette Entkopplung von China
20 Bundesverband der Deutschen Industrie, Partner und sys- fordern würde. Zu viele gehen davon aus, dass
temischer Wettbewerber: Wie gehen wir mit Chinas gelenkter
man klimapolitisch mit Beijing problemlos zu­
Volkswirtschaft um?, Januar 2019, h­ ttps://bdi.eu/publikation/
news/china-​partner-​und-​systemischer-​wettbewerber.
sammenarbeiten könne oder gar Zugeständnisse
21 Streit mit China: Taiwan legt Investitionsfonds für litauische in anderen Bereichen machen müsse, damit Chi­
Wirtschaft auf, 11. 1. 2022, www.handelsblatt.com/27965228. na uns klimapolitisch entgegenkommt. Zu vie­
html. Vgl. Jürgen Matthes/Manuel Fritsch, Auswirkungen der le hoffen, mit einem System ohne unabhängigen
Sanktionen Chinas gegen Litauen auf die EU, Institut der
Rechtsstaat ließe sich verlässlich Reziprozität
deutschen Wirtschaft, IW-Kurzbericht 4/2022, www.iwkoeln.
de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/​2022/IW-​
Kurzbericht_​2022-​Sanktionen-­​Chinas-​gegen-​Litauen.pdf.
22 Vgl. EU-Doc. JOIN(2019) 5 final, ­https://commission.europa. 24 Daniel Brössler, „Die systemische Herausforderung ist noch
eu/system/files/​2019-​03/communication-​eu-​china-​a-​strategic-​ größer als durch Putins Russland“, Interview mit Johannes Vogel,
outlook.pdf. 3.11.22, www.sueddeutsche.de/​1.​5685824.
23 SPD-Bundestagsfraktion, Souverän, regelbasiert und 25 Vgl. Jürgen Matthes, China-Handel 2022: Ungleichgewicht
transparent. Eine sozialdemokratische China-Politik, 30. 6. 2020, und Abhängigkeit weiter verstärkt, IW-Kurzbericht 9/2023,
www.spdfraktion.de/system/files/documents/positionspapier_ www.iwkoeln.de/studien/juergen-​matthes-​ungleichgewicht-​und-​
china.pdf. abhaengigkeit-​weiter-​verstaerkt.html.

32
Deutsche Außenpolitik APuZ

beim Marktzugang vereinbaren. Die Liste ließe ne weiteren Abhängigkeiten einzugehen – anders
sich fortsetzen. als durch die Entscheidung von Bundeskanzler
Es ist wichtig, dass die erste Nationale Si­ Scholz im Herbst 2022, dem chinesischen Staats­
cherheitsstrategie und die erste China-Strate­ unternehmen Cosco den Einstieg in den Ham­
gie, die die Bundesregierung im Laufe des Jahres burger Hafen zu ermöglichen, statt in eine ein­
2023 vorlegen wird, gegen diese Illusionen ange­ heitliche europäische Position gegenüber Cosco
hen und eine ambitionierte China-Politik formu­ zu investieren. Richtigerweise verwenden Scholz
lieren, die2678 die Widerstandsfähigkeit gegenüber und sein Kabinett viel Zeit darauf, Beziehungen
der aggressiven Politik Xis umfassend erhöht. zu Ländern zu vertiefen, die alternative Märkte,
Dazu ist ein chinapolitischer Europäisierungs­ Bezugsquellen für Rohstoffe und kritische Pro­
schub sowie enge Koordinierung mit gleichge­ dukte für die Industrie oder ein politisches Ge­
sinnten Partnern nötig. Orientierung dabei kann gengewicht zu China darstellen.
die jüngste messerscharfe chinapolitische Grund­ In einem dritten Schritt sollte die Regierung
satzrede von EU-Kommissionspräsidentin Ur­ sicherstellen, dass deutsche Unternehmen und
sula von der Leyen vermitteln, die bislang beste Wissenschaftler keinen Beitrag zum Aufbau chi­
Antwort auf Xis China vonseiten einer führenden nesischer Kapazitäten im Militär- oder Repressi­
europäischen Politikerin.26 onsapparat leisten. Hier wird der Druck vonseiten
Entsprechend sollte sich die Bundesregierung der USA auf der Basis der von der Biden-Regie­
im Bereich „wirtschaftliche Sicherheit“ verpflich­ rung verkündeten drastischen Verschärfung der
ten, in einem ersten Schritt die Abhängigkeiten Exportkontrollen gegenüber China bei kritischen
auf Unternehmensebene sowie gesamtwirtschaft­ Technologien, die auch militärischen Nutzen ha­
lich klar zu erfassen und einem Stresstest zu un­ ben, noch einmal enorm zunehmen.27 Gleichzei­
terziehen, um festzustellen, ob Unternehmen, tig müssen Deutschland und Europa massiv in die
Branchen und Lieferketten den Schock einer Ab­ eigene Innovationsfähigkeit investieren.
kopplung von China im Kriegsfall absorbieren Gesellschaftlich sollten wir uns besser gegen
könnten. Versuche chinesischer Einflussnahme schützen,
In einem zweiten Schritt sollten konkrete etwa durch Transparenzerfordernisse für Lobby­
Maßnahmen zur Verringerung der Abhängigkei­ isten oder für jegliche Vereinbarungen mit wis­
ten vorangetrieben werden. Politisch sollte die senschaftlichen Einrichtungen und Medien, und
Bundesregierung das Risiko für China-Investiti­ gleichzeitig unsere Chinakompetenz deutlich
onen klar an die Unternehmen zurückgeben, statt ausbauen, wie auch unsere gesamte Asien- und
immer höhere Abhängigkeiten vonseiten deut­ Indopazifikkompetenz.
scher Großunternehmen politisch zu flankieren. Sicherheitspolitisch muss Deutschland ver­
Bei Rohstoffen und industriellen Vor- und Zwi­ hindern, dass aus der Systemrivalität mit Beijing
schenprodukten muss die Regierung durch klare ein heißer Krieg wird. Friedenspolitisch muss
Vorgaben und Anreize sicherstellen, dass Unter­ Deutschland deshalb mit Partnern in eine glaub­
nehmen Abhängigkeiten von China reduzieren würdige Abschreckung Beijings investieren, den
und alternative Bezugsquellen erschließen, auch friedlichen Status quo zu Taiwan gewaltsam zu
wenn dies mit höheren Kosten verbunden ist. Ge­ verändern.28 Gleichzeitig sollten wir uns einen
rade bei kritischer Infrastruktur ist es zentral, kei­ neugierigen Blick auf die Diversität der chinesi­
schen Gesellschaft bewahren, politische Kanäle
offenhalten sowie Beijing Kooperationsangebo­
26 Vgl. Ursula von der Leyen, Speech on EU-China Relations to te unterbreiten, wo deutsche und europäische In­
the Mercator Institute for China Studies and the European Policy
teressen dies nahelegen. Chinapolitisch steht ein
Centre, 30. 3. 2023, h­ ttps://ec.europa.eu/commission/presscor-
ner/detail/en/SPEECH_23_2063.
turbulentes Jahrzehnt bevor. Deutschland soll­
27 Die Rede von Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan am te sich mit großer Entschlossenheit sturmfester
16. September 2022 ist hierbei von zentraler Bedeutung. Siehe ­machen.
www.whitehouse.gov/briefing-​room/speeches-​remarks/​2022/​
09/​16/remarks-​by-​national-​security-​advisor-​jake-​sullivan-​
THORSTEN BENNER
at-​the-​special-​competitive-​studies-​project-​global-​emerging-​
technologies-​summit.
ist Mitbegründer und Direktor des Global Public
28 Vgl. Thorsten Benner, Schlüsselfrage Taiwan, in: Internatio- Policy Institute (GPPi) in Berlin.
nale Politik 2/2022, S. 70–75. tbenner@gppi.net

33
APuZ 17/2023

FEMINISTISCHE AUẞENPOLITIK
Hintergründe und Praxis
Marieke Fröhlich · Anna Hauschild

SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP einigten Feministische Außenpolitik richtet den Fokus
sich in ihrem Koalitionsvertrag 2021 darauf, eine auf die am meisten marginalisierten Menschen mit
„Feminist Foreign Policy“ zu verfolgen, und be­ dem spezifischen Ziel, intersektionale menschli­
riefen mit Annalena Baerbock erstmals eine Frau che Sicherheit und Gerechtigkeit herbeizuführen.
an die Spitze des Auswärtigen Amtes. 2014 hat­ Ein intersektionales Verständnis berücksichtigt
te Schwedens Außenministerin Margot Wall­ das Zusammenwirken verschiedener Unterdrü­
ström die erste offizielle feministische Außen­ ckungs- und Diskriminierungsmechanismen, etwa
politik eines Staates verkündet. Seitdem haben aufgrund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Ori­
sich mindestens zehn Staaten zu feministischer entierung oder Rassifizierung.03 Menschliche Si­
Außenpolitik, feministischer internationaler Zu­ cherheit bezieht sich auf die Erweiterung des Si­
sammenarbeit oder feministischer Diplomatie be­ cherheitsverständnisses, weg von einem Fokus
kannt beziehungsweise die Absicht hierzu erklärt. auf das Sichern von Grenzen. Stattdessen steht die
Was genau bedeutet feministische Außenpolitik, Sicherheit von Menschen als Individuen und in
wie hat sich dieses Konzept entwickelt und wie Gemeinschaften im Mittelpunkt. Intersektiona­
schlägt es sich in der politischen Praxis? le menschliche Sicherheit bedeutet eine Erweite­
Keine der bisher staatlich formulierten femi­ rung des Verständnisses der sieben Dimensionen
nistischen Außenpolitiken erwähnen, wie genau menschlicher Sicherheit – gesellschaftliche, wirt­
sie das „feministische“ an ihrer Politik definieren. schaftliche, politische, gesundheitliche, persönliche
Es gibt für das Konzept auch keine allgemeingül­ sowie Ernährungs- und Umweltsicherheit –, um
tige Definition, die auf unterschiedliche politische unsichtbare normalisierte Gewaltstrukturen und
und historisch gewachsene Kontexte angewandt Diskriminierungen zu überwinden, die für margi­
werden kann, weil Feminismus unterschiedliche nalisierte Menschen in Unsicherheit münden.04
Bedeutungen für unterschiedliche Akteur*­ innen Grundsätzlich verfolgt eine feministische Au­
und Kontexte hat.01 Grundsätzlich ist feministi­ ßenpolitik also nicht nur die Gleichstellung der
sche Außenpolitik eine menschenrechtsbasierte Geschlechter oder gar nur die Beteiligung von
Friedenspolitik, die Geschlechtergerechtigkeit und Frauen im Sinne eines Reformansatzes, sondern
die Überwindung internationaler Herrschafts- und eine Transformation von existierenden gewaltvol­
Gewaltverhältnisse als eine Voraussetzung für Frie­ len Strukturen und ungerechten Machtverhältnis­
den versteht. Somit verfolgt sie das Ziel eines femi­ sen im internationalen System – und damit eine
nistischen Friedens, also eines positiven Friedens, Disruption.05
der nicht nur der Beendigung direkter physischer
Gewalt und Kriegshandlungen bedarf, sondern GESCHICHTLICHE EINORDNUNG
auch einer Überwindung von struktureller Gewalt
insbesondere mit Blick auf Diskriminierung.02 Fe­ Die Geburtsstunde feministischer Außenpoli­
ministische Außenpolitik kommt also der gesam­ tik wird oft mit der Erklärung Schwedens 2014
ten Gesellschaft zugute. Diesem Beitrag liegt ein datiert, dabei reicht die Geschichte der aktivisti­
Verständnis von feministischer Außenpolitik als schen Entwicklung entsprechender Ansätze viel
normativem, friedenspolitisch orientiertem Poli­ weiter zurück. Feministische Friedensaktivistin­
tikansatz zugrunde, der machtkritisch eine Trans­ nen, antikoloniale und antiimperiale Bewegungen
formation internationaler Herrschaftsverhältnisse befassen sich schon seit mehreren Hundert Jah­
anstrebt, insbesondere militarisierter, patriarchaler, ren mit den Inhalten feministischer Außen- und
rassifizierter und neokolonialer Gewaltstrukturen. Friedenspolitik.

34
Deutsche Außenpolitik APuZ

Die erste spezifische Formulierung ihrer ne auf, darunter die UN-Konvention zur Beseiti­
Grundsätze erfolgte im Rahmen des Internationa­ gung jeder Form von Diskriminierung der Frau
len Frauenfriedenskongresses 1915 in Den Haag. von 1979, die Erklärung von Beijing der Vierten
Der Kongress, auf dem sich über tausend Frau­ UN-Weltfrauenkonferenz von 1995 sowie die
en aus zwölf Ländern trafen, um über einen Aus­ Millennium- beziehungsweise Sustainable Deve­
weg aus dem Ersten Weltkrieg hin zu einer nach­ lopment Goals aus dem Jahr 2000 und 2015. Zen­
haltigen Friedensordnung zu beraten, mündete trales Fundament für die Praxis feministischer
neben zwanzig Forderungen an politische Ent­ Außenpolitik ist die Resolution 1325 des UN-Si­
scheidungsträger auch in die Gründung der heute cherheitsrates aus dem Jahr 2000 mit der Agenda
ältesten Frauenfriedensorganisation: die Women’s „Frauen, Frieden und Sicherheit“. Die Agenda er­
International League for Peace and Freedom wähnt erstmals die geschlechtsspezifischen Dyna­
(WILPF, deutsch: Internationale Frauenliga für miken und Folgen von Kriegen und Konflikten
Frieden und Freiheit). Die Forderungen der Akti­ und verpflichtet die Staatengemeinschaft zur Prä­
vistinnen umfassten die sofortige Beendigung des vention von Konflikten und deren geschlechts­
Krieges, eine universelle Abrüstung, das Selbst­ spezifischen Folgen, insbesondere sexualisierter
bestimmungsrecht der Völker, eine Demokrati­ Kriegsgewalt, zum Schutz von Frauen und Mäd­
sierung von Außenpolitik, ein Plädoyer für Frie­ chen in Konflikten sowie zur gleichberechtigten
dens- statt Kriegspolitik, Multilateralismus sowie Partizipation von Frauen und Mädchen bei der
eine gleichberechtigte Beteiligung von Frauen in Beilegung von Konflikten. Die einstimmig ange­
allen Bereichen12345 der Gesellschaft.06 Die Friedens­ nommene Resolution legte einen neuen normati­
aktivistinnen waren ihrer Zeit weit voraus: Wur­ ven Grundstein, auf dem feministische Außenpo­
den ihre Forderungen 1915 noch kaum beachtet, litik aufbaut und an dessen Implementierung sie
fand ein Großteil von ihnen mehr als drei Jahr­ sich mindestens orientieren muss.
zehnte später Eingang in die Gründungscharta der Die Weiterentwicklung dieser existierenden
Vereinten Nationen.07 Die Zivilgesellschaft spielte Werkzeuge ist das Alleinstellungsmerkmal von
auch in der weiteren Entwicklung von feministi­ feministischer Außenpolitik: Durch eine Auswei­
scher Außenpolitik eine zentrale Rolle. tung feministischer Perspektiven auf weitere sich
Feministische Außenpolitik baut heute neben gegenseitig beeinflussende Themenbereiche wie
dem Frauenfriedenskongress von 1915 auf eine Handelspolitik, Migrationspolitik, Klimapolitik
Reihe von Meilensteinen auf internationaler Ebe­ oder Rassismuskritik erfordert feministische Au­
ßenpolitik eine übergreifende und kohärente fe­
ministische Politikpraxis.
01 Vgl. Columba Achilleos-Sarll/Jennifer Thomson, Introduction
to the Forum, in: International Studies Review 1/2023, Forum:
FEMINISTISCHE IB-THEORIEN
The Past, Present and Future(s) of Feminist Foreign Policy, h­ ttps://
doi.org/​10.​1093/isr/viac068; Jessica Cheung et al., Practicing
Feminist Foreign Policy in the Everyday: A Toolkit, 2021, www. Zeitgleich zu den internationalen politischen Ent­
boell.de/sites/default/files/​2022-​02/​220201_WILPF_V2.pdf. wicklungen für mehr Gleichberechtigung entwi­
02 Vgl. Johan Galtung, Peace and Peace Research, in: Journal ckelten sich auch im Forschungsfeld Internationa­
of Peace Research 3/1969, S. 167–191.
le Beziehungen (IB) feministische Ansätze. Diese
03 Vgl. Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection
of Race and Sex, in: University of Chicago Legal Forum 1/1989,
stehen im Gegensatz zu Perspektiven der realisti­
S. 139–167. schen Schule, die in der Disziplin den Mainstream
04 Vgl. Heidi Hudson, „Doing“ Security As Though Humans ausmachen: Wo feministische Ansätze insbeson­
Matter, in: Security Dialogue 2/2005, S. 155–174. dere eine Transformation von Herrschaftsverhält­
05 Vgl. Women’s League for Peace and Freedom et al. (Hrsg.),
nissen hin zu egalitärer und emanzipatorischer
Annäherung an eine feministische Außenpolitik Deutschlands,
2022, www.wilpf.de/wp-​content/uploads/​2022/​08/Annaehe-
Politik adressieren, befasst sich der Realismus-
rung_an_eine_Feministische_Aussenpolitik_Deutschlands.pdf; Ansatz mit der Erhaltung des Status quo, etwa
Claudia Zilla, Feministische Außenpolitik: Konzepte, Kernele- durch internationalen Machtausgleich.08 Anstatt
mente und Kontroversen, Stiftung Wissenschaft und Politik, einer Konfrontationslogik ist in feministischer
SWP-Aktuell A50/2022.
Außenpolitik eine Friedenslogik verankert.
06 Vgl. WILPF, Frauen. Freiheit. Frieden, München 2014.
07 Vgl. Freya Baetens, International Congress of Women
(1915), in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of 08 Vgl. Paul Kirby, The Feminist Sovereign, in: International
Public International Law, Bd. V, Oxford 2010, S. 455–458. Studies Review 1/2023 (Anm. 1).

35
APuZ 17/2023

Feministische, antikoloniale und andere kri­ Als noch relativ junges, sich rapide entwi­
tische Forscher*­innen hinterfragen und denken ckelndes, aber dennoch marginalisiertes For­
seit Jahrzehnten die Grundannahmen der IB neu. schungsgebiet fließt feministische Forschung mit
Dabei stellen sie heraus, wie Theorie und Praxis diversen Schulen in feministische außenpolitische
internationaler Beziehungen von einem patriar­ Ansätze ein, je nachdem, welche Schwerpunk­
chalen und (post)kolonialen Projekt herrühren, te gesetzt werden. Grundsätzlich muss eine Au­
dessen Auswirkungen und Ausläufer auch heute ßenpolitik, die feministisch gestaltet werden soll,
internationale Machtdynamiken strukturieren.09 aber an den Perspektiven, Bedarfen und Lebens­
Beispielsweise bauen die Vereinten Nationen als realitäten der am meisten marginalisierten Men­
Institution grundlegend auf Machtungleichheiten schen orientiert sein.14 Dafür sind kritische Re­
und dem Erbe eines kolonialen Machtgefälles auf, flexivität, also ein kontinuierliches Hinterfragen
wie etwa die Mitgliederkonstellation des Sicher­ und Reflektieren des eigenen Handelns, sowie ein
heitsrates illustriert. Angesichts dieser rassifizier­ „ethischer Kosmopolitismus“ notwendig.15 Fe­
ten und (post)kolonialen Herrschaftsverhältnisse ministische Außenpolitik orientiert sich demnach
darf eine solche antikoloniale Perspektive in der an einem inklusiven Multilateralismus, der inter­
feministischen Außenpolitik nicht fehlen.10 sektionale menschliche Sicherheit in den Mittel­
Kritische feministische IB-Theorien fragen also punkt stellt und in einer Friedenslogik denkt. Da­
nicht nur nach der Sichtbarkeit von Frauen, sondern mit diese friedenspolitische Orientierung Früchte
auch, von wem, wo, wie und in welcher Form Macht trägt, müssen Staaten eine gemeinwohlorientier­
ausgeübt wird.11 Werden diese Fragen im Diskurs, te Politik verfolgen.16 Menschliche Sicherheit
im Verständnis und in der Praxis internationaler steht hier über dem Sichern von Staatsgrenzen.
Politik ignoriert, besteht das „Risiko, diese Bezie­ Zugleich muss das Verständnis menschlicher Si­
hungen von Dominanz und Unterdrückung zu per­ cherheit im feministischen Sinne erweitert wer­
petuieren“.12 Dabei reicht es nicht, einfach mehr den, um geschlechtsspezifische und intersektio­
Frauen in existierende Institutionen zu bringen. nale Aspekte von Sicherheit zu berücksichtigen.
Denn ohne strukturelle Veränderungen in Institu­ Das bedeutet, dass strukturelle Gewaltverhältnis­
tionen internationaler Politik besteht die Gefahr, se wie Frauenfeindlichkeit und Rassismus aus si­
dass weibliche Diplomat*­innen hier für Symbol­ cherheitspolitischer Sicht überwunden werden
politik herhalten müssen. Die bestehenden Macht- müssen.
und Herrschaftsverhältnisse sind von Grundannah­ Geschlechtergerechtigkeit und eine Trans­
men wie jenen der (neo)realistischen IB-Theorien formation internationaler politischer Strukturen
geprägt, also männlich und „weiß“-europäisch. Fe­ und Praktiken in Richtung feministischer Ansät­
ministische Außenpolitik stellt diese strukturellen ze werden nicht nur aus normativen Gründen an­
Machtdynamiken infrage und setzt sich für ihre De­ gestrebt, sondern auch, weil sich die Belege meh­
konstruktion und Überwindung ein.13 ren, dass dadurch andere Ziele demokratischer
internationaler Beziehungen unterstützt werden.
So gibt es etwa Erkenntnisse darüber, dass Staaten
09 Vgl. Brian Hocking, Diplomacy and Foreign Policy, in: Cos- weniger in bewaffnete Konflikte involviert sind,
tas M. Constantinou (Hrsg.), The SAGE Handbook of Diplomacy,
wenn die Geschlechtergerechtigkeit dort hoch
Los Angeles 2016.
10 Vgl Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern
ist.17 Der Umkehrschluss scheint auch wahr zu
Speak?, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hrsg.), Marxism sein: Je mehr Geschlechter­ungerechtigkeit in ei­
and the Interpretation of Culture, Champaign 1988, S. 271–313;
Chandra Talpade Mohanty, Under Western Eyes, in: Feminist
Review 1/1988, S. 61–88. 14 Vgl. Victoria Scheyer/Marina Kumskova, Feminist Foreign
11 Vgl. Cynthia Enloe, Bananas, Beaches and Bases: Making Policy, in: Journal of International Affairs 2/2019, S. 57–77;
Feminist Sense of International Politics, Berkeley 1989; Carol Make Foreign Policy Feminist, 15. 11. 2021, ­https://centreforfe-
Cohn, Sex and Death in the Rational World of Defense Intellec- ministforeignpolicy.org/make-​foreign-​policy-​feminist-​a-​feminist-​
tuals, in: Signs 4/1987, S. 687–718. foreign-​policy-​for-​germany.
12 Judith Ann Tickner, Gender in International Relations, New 15 Karin Aggestam/Annika Bergman Rosamond, Feminist For-
York 1992, S. 9 (eig. Übersetzung). eign Policy 3.0, in: SAIS Review of International Affairs 1/2019,
13 Vgl. Marieke Fröhlich/Victoria Scheyer, Feminist Approa- S. 37–48.
ches to Foreign Policy, in: Francis Onditi et al. (Hrsg.), The 16 Vgl. Cheung et al. (Anm. 1).
Palgrave Handbook of Diplomatic Thought and Practice in the 17 Vgl. Mary Caprioli, Gender Equality and State Aggression,
Digital Age, London (i. E.). in: International Interactions 3/2003, S. 195–214.

36
Deutsche Außenpolitik APuZ

nem Staat herrscht, desto eher werden internati­ und internationale Machtpositionierungen spie­
onale Konflikte mit Waffen ausgetragen. Aus ei­ len hier eine wichtige Rolle.19
ner feministischen Forschungsperspektive ist das Schwedens feministische Außenpolitik ver­
keine Überraschung, denn Systeme patriarcha­ folgte den „3R-Ansatz“: die Rechte und gleichbe­
ler, rassistischer oder wirtschaftlicher Unterdrü­ rechtigte Repräsentanz von Frauen und Mädchen
ckung und Militarismus bedingen sich gegensei­ sollten sichergestellt und zudem die nötigen Res-
tig und führen zu Gewalt – ob in struktureller sourcen dafür zur Verfügung gestellt werden. Ein
oder physischer Form.18 viertes „R“ für Realität folgte mit der Begrün­
Als Korrektiv zu akademischer Theorie und dung, dass die feministische Außenpolitik in der
staatlicher Praxis wirkt die Zivilgesellschaft. So­ Lebenswirklichkeit von Frauen verankert sein
fern sie in die Politikgestaltung eingebunden ist, müsse. Dieser Ansatz hat sich als eine Art Standard
kann sie zu Reflexivität beitragen. Zivilgesell­ durchgesetzt, wird von feministischen Forscher*­
schaft zu stärken und einzubeziehen, insbeson­ innen und Teilen der Zivilgesellschaft jedoch als
dere kritisch-emanzipatorische, Graswurzel- und reformistisch und nicht transformativ kritisiert.20
feministische Akteure, ist daher ein Grundpfeiler Schwedens Bilanz aus acht Jahren feministi­
feministischer Außenpolitik. Denn das Vernetzen scher Außenpolitik ist gemischt. Einerseits war der
und Engagieren in der Zivilgesellschaft macht es whole of government approach ein wichtiges Zei­
marginalisierten Menschen möglich, ihren Stim­ chen für die notwendige Kohärenz zwischen in­
men breiteres Gehör zu verschaffen. Außerdem nen- und außenpolitischer Umsetzung feminis­
verfügen zivilgesellschaftliche Akteure über das tischer Politik. Die schwedische Regierung hat
notwendige Wissen, die Erfahrungswerte und das starke Erfolge bei der gleichberechtigten Reprä­
Netzwerk, um die Bedürfnisse und Stimmen von sentanz von Frauen in gesellschaftlichen Struk­
marginalisierten Menschen hörbar zu machen. turen und Politik erzielt. Das Mainstreaming von
Gleichberechtigung im politischen System hat
PRAXISBEISPIEL SCHWEDEN gut funktioniert und wurde auch in multilateralen
Kontexten erfolgreich vertreten.21 Es gibt jedoch
Feministische Außenpolitik als Staatspolitik auch schwerwiegende Kritikpunkte: Konzeptio­
nahm 2014 in Schweden den Anfang. Tatsächlich nell griff die Strategie Schwedens für feministische
rief Schweden 2014 auch eine feministische Re­ Außenpolitik zu kurz, da sie an einem binären Ge­
gierung aus, also auch eine innenpolitisch orien­ schlechterverständnis orientiert war und LGBT­
tierte feministische Politik. Ende 2022 verkünde­ QI-Perspektiven nicht spezifisch verfolgt wur­
te der neue Außenminister Tobias Billström, dass den. Auch Bereiche wie die strikte Asylpolitik sind
Schweden nun das feministische Label ablegen, als besonders gewaltvoll für Frauen und Mädchen
die Politik inhaltlich jedoch weiterverfolgen wer­ einzustufen. Außerdem werden die kontinuier­
de. Inwiefern dies tatsächlich der Fall ist, muss liche und sogar gestiegene Waffenproduktion so­
abgewartet werden. Inzwischen haben unter an­ wie die Waffenexporte Schwedens kritisiert, ins­
derem auch Kanada (2017), Frankreich (2019), besondere nach Saudi-Arabien.22 Das bezieht sich
Mexiko (2020), Libyen (2021), Spanien (2021), nicht nur auf die problematische politische Praxis
Luxemburg (2021) und Chile (2022) wenigstens Saudi-Arabiens, insbesondere mit Blick auf Frau­
die Absicht erklärt, eine feministische Außenpo­ enrechte, sondern vielmehr darauf, dass Schweden
litik zu verfolgen. Interessant ist zu hinterfragen, als Produktionsstätte und Lieferant von Kriegsma­
welche Funktion eine offizielle Verkündung fe­ terialien stark von der politischen Ökonomie von
ministischer Außenpolitik für diese Staaten er­ Krieg und Militarisierung profitiert.
füllt, insbesondere im Kontext internationaler
Machthierarchien. Denn diverse Staaten prakti­ 19 Vgl. Interview mit Jessica Cheung, 30. 7. 2021, www.e-​ir.info/​
zieren feministische Prinzipien, betiteln ihre Poli­ 2021/​07/​30/interview-​jessica-​cheung.
tik jedoch nicht als solche. Diskursive Wirkmacht 20 Vgl. etwa WILPF (Anm. 5).
21 Vgl. Vaishnavi Pallapothu, Sweden’s Feminist Foreign Policy:
7 Years Later, 1. 2. 2021, www.gendersecurityproject.com/post/
18 Vgl. Marieke Fröhlich/Anna Hauschild, Atomare Abrüs- sweden-​s-​feminist-​foreign-​policy-​7-​years-​later.
tung 2.0, in: Jennifer Menninger/Victoria Scheyer (Hrsg.), Deutsche 22 Vgl. Fiona Robinson, Feminist Foreign Policy as Ethical For-
Abrüstungspolitik, 2021, www.wilpf.de/​wp-content/​uploads/​2021/​ eign Policy?, in: Journal of International Political Theory 1/2021,
02/​Broschuere_WILPF-Deutschland_Abru%CC%88stung.pdf. S. 20–37.

37
APuZ 17/2023

PRAXISBEISPIEL DEUTSCHLAND nistischer Außenpolitik benannt und somit ein


binäres Geschlechterverständnis aufrechterhal­
Die feministische Außenpolitik der Bundesregie­ ten. Die Leitlinien aber benennen auch weite­
rung orientiert sich ebenfalls am 3R-Ansatz. Im re marginalisierte Gruppen und verweisen damit
Koalitionsvertrag 2021 formulierte die neue Bun­ auf Intersektionalität. Allerdings finden patriar­
desregierung den Anspruch: „Gemeinsam mit chale und (post)koloniale Machtstrukturen, die
unseren Partnern wollen wir im Sinne einer Fe­ Außenpolitik weiterhin prägen, weniger explizit
minist Foreign Policy Rechte, Ressourcen und Erwähnung. Daher spiegeln die Leitlinien eher
Repräsentanz von Frauen und Mädchen welt­ ein liberal-feministisches als ein umfassendes in­
weit stärken und gesellschaftliche Diversität för­ tersektional-transformatives feministisches Ver­
dern.“23 Die Konkretisierung der deutschen fe­ ständnis von feministischer Außenpolitik.
ministischen Außenpolitik erfolgte insbesondere Der Prozess der Erarbeitung der Strategie für
durch die kontinuierliche öffentlichkeitswirk­ feministische Außenpolitik umfasste einzelne Di­
same Thematisierung durch Außenministerin alogformate und Konsultationen mit (feminis­
Annalena Baerbock sowie die Veröffentlichung tischen) Akteuren aus der Zivilgesellschaft und
der Leitlinien für feministische Außenpolitik im Wissenschaft. Dies ist zu begrüßen, denn ein fe­
März 2023 durch das Auswärtige Amt.24 ministischer Anspruch in außenpolitischen Pro­
Die Leitlinien dienen als Richtschnur zur zessen braucht auch eine feministische Ausgestal­
Zielsetzung und Umsetzung der feministischen tung genau dieser Prozesse. Das heißt, sie sollten
Außenpolitik des Auswärtigen Amtes. Sie sind so dialogisch, hierarchiearm und transparent wie
aufgeteilt in eine Erläuterung des 3R-Ansatzes möglich gestaltet werden: Das Einbeziehen von
und in Ausführungen zu sechs außenpolitischen feministischer Expertise, Erfahrung und Wissen
Bereichen: Friedens- und Sicherheitspolitik, hu­ in der Formulierung, Umsetzung und Evaluation
manitäre Hilfe und Krisenmanagement, Men­ einer feministischen Außenpolitik ist dabei ent­
schenrechtspolitik, Klima- und Energieaußenpo­ scheidend. Jedoch können auch in diesen Dialog-
litik, Außenwirtschaftspolitik sowie Auswärtige und Konsultationsprozessen exkludierende patri­
Kultur- und Bildungspolitik. Außerdem beinhal­ archale, rassistische und klassistische Hierarchien
ten die Leitlinien eine interne Dimension, die sich und Machtdynamiken wirken, die es durch kriti­
auf Arbeitsweisen und Strukturen innerhalb des sche Selbstreflexion zu überwinden gilt.25
Ministeriums sowie im diplomatischen Dienst
bezieht und wie diese diverser und inklusiver ge­ SPANNUNGSFELDER IN DER
staltet werden können. Feministische Außenpo­ PRAKTISCHEN UMSETZUNG
litik soll in all diesen Themenbereichen und Ar­
beitsabläufen mitgedacht und ein „feministischer Bei der Umsetzung feministischer Außenpolitik
Reflex“ ausgebildet werden. müssen Ambivalenzen und die Notwendigkeit
Im Einklang mit dem Anspruch von Refle­ von Komplexität anerkannt werden. Das Unter­
xivität verstehen sich die Leitlinien als work in fangen, feministisches Denken und Handeln in
progress. Inwieweit feministisches Wissen und außenpolitischen Prozessen zu etablieren, fin­
Erfahrungswerte aus Zivilgesellschaft und Wis­ det zwangsläufig innerhalb derselben Strukturen
senschaft als Korrektiv auch in der Umsetzung statt, die überwunden werden sollen. Gleichzei­
einbezogen werden, wird über die Glaubwürdig­ tig ist der Vorwurf, feministische Außenpolitik
keit des selbst auferlegten Anspruchs der Selbst­ wäre ein utopisches, theoretisches oder abstraktes
reflexion entscheiden. Konzept, das in der sogenannten Realpolitik kei­
Die Leitlinien zeigen bereits eine Weiterent­ ne Anwendung finden kann, nicht haltbar. Denn
wicklung des Verständnisses feministischer Au­ feministische Außenpolitik verfolgt den An­
ßenpolitik. Im Koalitionsvertrag wurden nur spruch, marginalisierte Perspektiven in den Mit­
Frauen und Mädchen als Adressat*­innen femi­ telpunkt zu stellen und als Ausgangspunkt poli­
tischer Entscheidungen zu sehen, also ist sie auch
23 SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP, Mehr Fortschritt wagen.
Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 114. 25 Vgl. Karoline Färber, Communities of Actors in the Produc-
24 Siehe www.auswaertiges-​amt.de/blob/​2585008/ tion of FFP Knowledges, in: International Studies Review 1/2023
d444590d5a7741acc6e37a142959170e/ll-​ffp-​data.pdf. (Anm. 1).

38
Deutsche Außenpolitik APuZ

immer realitätsnah, praxisorientiert und kontex­ konfliktbezogener sexualisierter Gewalt oder der
tuell. Nichtsdestotrotz ist die Umsetzung von fe­ Notwendigkeit geschlechtersensibler humanitärer
ministischer Außenpolitik von Spannungsfeldern Hilfe. Dabei ist die Förderung feministischer zivil­
geprägt, die es zu navigieren gilt. gesellschaftlicher Organisationen und Netzwerke
Es zeigt sich beispielsweise ein Spannungs­ entscheidend, da diese besonders niedrigschwelli­
feld zwischen Anspruch und Praxis feministi­ ge und unmittelbare Aufgaben humanitärer Hil­
scher und sozialer Bewegungen einerseits und fe, Versorgung und Care-Arbeit übernehmen.
der Möglichkeit der Umsetzung feministischer Sie überlegen auch bereits während Kriegen und
Außenpolitik als Staatspolitik andererseits.26 Konflikten, wie ein geschlechtergerechter Wieder­
Staaten sind selbst durch patriarchale Hierarchi­ aufbau ihrer Gesellschaften gestaltet werden kann.
en gekennzeichnet und existieren wiederum in Eine zusätzliche Herausforderung in der Umset­
einem patriarchalen, (post)kolonialen interna­ zung ist deshalb verbunden mit der Frage nach der
tionalen System. In diesem System zeigt sich wei­ Kontinuität feministischer Außenpolitik. Um sie
terhin eine Tendenz zu steigenden Rüstungsaus­ auch über die derzeitige Legislaturperiode hinaus
gaben oder ein Festhalten an Logiken wie jener zu gewährleisten, gilt es, sich insbesondere auf die
der nuklearen Abschreckung. Ein feministischer Stärkung und kohärente Umsetzung existierender
und friedenspolitischer Anspruch richtet sich je­ multilateraler Instrumente zu fokussieren sowie
doch gegen Aufrüstung und für eine gendersensi­ feministische und emanzipatorische Zivilgesell­
tive restriktive Rüstungskontrolle sowie Demili­ schaft zu fördern, damit sie im Falle eines Regie­
tarisierung. Vor diesem Hintergrund stellen auch rungswechsels und der Zunahme von antifemi­
Entwicklungen im deutschen Kontext wie das nistischen Tendenzen als Korrektiv wirken kann.
Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Außerdem ist es notwendig, dass ein feministi­
Bundeswehr einen Widerspruch dar, insbesonde­ scher Politikstil in allen Ressorts und Politikberei­
re angesichts der deutlich geringeren Investitio­ chen Anwendung findet, denn ungerechte Macht­
nen in sozialpolitische, geschlechtergerechte oder strukturen wirken und bedingen sich auf lokaler,
klimapolitische Maßnahmen. nationaler und internationaler Ebene und in allen
Daraus ergibt sich ein weiteres Spannungs­ miteinander verwobenen Politikfeldern.
feld: Hat feministische Außenpolitik per se einen Ein weiteres Spannungsfeld wird sichtbar in
pazifistischen Anspruch? Feministische Außen­ der Frage, inwieweit das Framing als „feminis­
politik unterscheidet zwischen der Notwendig­ tisch“ selbst Machtstrukturen zementiert. Hierbei
keit kurzfristiger feministischer Intervention zu­ ist wichtig, dass in der Umsetzung einer feministi­
gunsten Betroffener direkter Gewaltausübung schen Außenpolitik kritisch mit eurozentrischem,
sowie langfristiger feministischer und friedens­ weißem und westlichem Feminismus umgegangen
politischer Transformation. Daher ist es durchaus wird. Die Existenz und das Wirken verschiedener
möglich, ambivalente Realitäten anzunehmen, die Feminismen, insbesondere in unterschiedlichen
sich daraus ergeben, bewaffneten Widerstand und lokalen Kontexten, müssen anerkannt werden und
das Recht auf Selbstverteidigung anzuerkennen Verständnisse und Widerstände feministischer zi­
und sich gleichzeitig langfristig für Abrüstung vilgesellschaftlicher Akteure aus den jeweiligen
auszusprechen. Kontexten im Zentrum feministischen außenpo­
Durch feministische Außenpolitik werden litischen Handelns ­stehen.
Leerstellen in internationalen Sicherheitsfragen
sichtbar gemacht, denen umfassend mit der Im­ MARIEKE FRÖHLICH
plementierung und Weiterentwicklung schon be­ ist Ko-Vorstandsvorsitzende der Deutschen Sektion
stehender Instrumente und Mechanismen wie der der Internationalen Frauenliga für Frieden und
UN-Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ Freiheit (WILPF) in Berlin.
begegnet werden kann. Dabei handelt es sich bei­ froehlich@wilpf.de
spielsweise um das Herausstellen der Bedeutung
reproduktiver Rechte und des Zugangs zu medi­ ANNA HAUSCHILD
kamentösen Schwangerschaftsabbrüchen als Folge ist als Forschungsassistenz für Feministische
Außenpolitik bei der Deutschen Gesellschaft für
26 Vgl. Victoria Scheyer, Ein Ambivalentes Projekt? Feministi- Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin tätig.
sche Außenpolitik, in: Frauen*Solidarität 1/2023, S. 14 f. hauschild@dgap.org

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APuZ 17/2023

„REVIEW 2024“?
Für eine Zeitenwende im Auswärtigen Amt
Sarah Brockmeier

Krieg in Europa, Debatten über Waffenlieferun­ keit kaum eine Rolle spielt. Immer mehr außen­
gen, „Zeitenwende“ – Außen- und Sicherheitspo­ politische Themen werden in Fachministerien be­
litik ist knapp ein Jahr nach Beginn des russischen arbeitet, und auch in Deutschland trifft der oder
Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine wohl prä­ die Regierungschef*in die wichtigsten außen- und
senter in öffentlichen Debatten in Deutschland als sicherheitspolitischen Entscheidungen.02 2020
je zuvor in den vergangenen Jahrzehnten. Schon verfügten die Fachministerien in der Bundesregie­
vor dem Krieg war klar: Wenn Deutschland dazu rung zusammengenommen über fast dreimal so
beitragen möchte, dass Europa weniger abhängig viele Referate, die sich mit internationalen Fragen
ist von den USA, wenn Berlin langfristig zu eu­ befassten, als es Referate im Auswärtigen Amt
ropäischer Souveränität beitragen möchte, muss gab.03 Die Relevanz des Außenministeriums ist
es stärker führen, müssen mehr Ideen, Initiativen vor diesem Hintergrund in den Augen vieler stark
und Strategien aus Deutschland kommen. Da­ gesunken. Auch die Globalisierung, moderne
bei ist es mit mehr Geld, einem höheren Verteidi­ Kommunikationstechnologie und soziale Medien
gungshaushalt oder auch notwendigen Mehrausga­ sowie die Vielzahl nicht-staatlicher Akteure, die
ben für Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit sich immer stärker in Außenpolitik einmischen,04
oder humanitäre Hilfe nicht getan – hier sind sich stellen mindestens seit den 1990er Jahren ein Mo­
die meisten Ex­pert*­innen einig. Auch die Mentali­ dell von Diplomatie und Außenpolitik infrage, in
tät in allen relevanten Ministerien, die Strukturen dem die Außenministerien für ihren Mehrwert
der Außen- und Sicherheitspolitik brauchen ein auf ihr Hoheitswissen verweisen konnten.
Update.01 Während sich die öffentlichen Debat­ Doch gerade wegen der gestiegenen Komple­
ten hierbei auf notwendige Reformen bei der Bun­ xität von Außenpolitik werden Außenministerien
deswehr konzentrieren, fehlt in den Diskussionen heute gebraucht. Neben ihren zentralen logisti­
im Bundestag, in der Fachcommunity und in den schen Aufgaben – Unterstützung für die eigenen
Medien fast gänzlich die Frage, wie sich eigentlich Bür­ger*­innen im Ausland, Konsularwesen – ist
das Außenministerium verändern müsste, um dem ihre politische Kernaufgabe die Vernetzung: das
Anspruch einer Zeitenwende in der deutschen Au­ Zusammenführen von Wissen aus den Botschaf­
ßen- und Sicherheitspolitik gerecht zu werden. Da­ ten aus aller Welt sowie aus dem Austausch mit
bei geht es um das Selbstverständnis des Ministeri­ nationalen und internationalen staatlichen und
ums in Zeiten, in denen alle Fachministerien und nicht-staatlichen Akteuren und anderen Ministe­
das Bundeskanzleramt internationale Politik be­ rien. Zu diesem Schluss kommen seit über zwei
treiben, sowie um die Fragen, welche Aufgabe das Jahrzehnten nicht nur Wis­sen­schaftler*­innen,05
Außenministerium in der Koordinierung der Au­ sondern das ist auch das Ergebnis von Reformde­
ßenpolitik noch innehat – und wie es sich vor allem batten zu Außenministerien in anderen Ländern.
verändern muss, um die wichtigste Ressource bes­ Für das Auswärtige Amt fasste der damalige
ser einzusetzen, die es im 21. Jahrhundert zu bieten Planungsstabsleiter Thomas Bagger diese Aufga­
hat: die eigenen Di­plo­mat*­innen. be 2013 als „Netzwerkaußenpolitik“ zusammen
und empfahl dem eigenen Ministerium, die Auf­
MEHRWERT DES AUSWÄRTIGEN gabe der „Systemintegration“ zu übernehmen.06
AMTES Zusammen mit seinem Stellvertreter Wolfram
von Heynitz wies Bagger damals auch darauf hin,
Es ist kein Zufall, dass die interne Aufstellung des dass die Lösung globaler Probleme es erforde­
Auswärtigen Amtes selbst in der Fachöffentlich­ re, in Paketlösungen zu denken, für die allein es

40
Deutsche Außenpolitik APuZ

aber eine Institution brauche, die den Überblick vorsieht, „die außenpolitische Beziehungen be­
behält: „Zugeständnisse in der Emissionsmin­ treffenden Tätigkeiten von staatlichen und an­
derung können so bspw. ‚eingetauscht‘ werden deren öffentlichen Einrichtungen der Bundesre­
gegen Zugeständnisse in ganz anderen Politik­ publik Deutschland im Ausland im Rahmen der
feldern und Verhandlungsforen. Wo123456 aber sollen Politik der Bundesregierung zu koordinieren“. In
die unterschiedlichen Interessenlagen analysiert der Realität verfügt das Ministerium aber schon
werden und wo können Linkages entwickelt und lange nicht mehr über die Autorität, um diese
getestet werden, wenn nicht dort, wo die Infor­ Koordinierung effektiv auszuführen.08 Andere
mationen aus den Hauptstädten dieser Welt zu­ Ressorts schauen auf das Kanzleramt, um die Ko­
sammenlaufen?“07 In der Tat gibt es dafür kei­ ordinierung in wichtigen außen- und sicherheits­
nen anderen Ort in der Bundesregierung, und politischen Fragen sicherzustellen. Dort wiede­
das würde sich für einen ganz wesentlichen Teil rum wird diese Rolle selten übernommen. Alle
der Außenpolitik auch nicht ändern, würde das Versuche, über die Einführung eines „Nationa­
Kanzleramt eine stärkere Koordinierungsrolle als len Sicherheitsrates“ oder eines andersgenannten
bisher übernehmen. Den Mehrwert, den ein Au­ Gremiums die Koordinierungsfrage zu klären,
ßenministerium wie das Auswärtige Amt heute scheiterten vor allem daran, dass immer derjeni­
bieten kann, ist, die Informationen von über 220 ge Koalitionspartner, der gerade das Auswärtige
Auslandsvertretungen und der Fachministerien Amt besetzte, solche Reformen aus Sorge vor ei­
zusammenzuführen und daraus mehr zu machen nem Machtverlust des Amtes blockierte. So droh­
als die Summe aus vielen einzelnen Politiken von ten auch im März 2023 die Verhandlungen um die
14 anderen Ressorts. Einführung neuer Koordinierungsstrukturen im
Rahmen der Entwicklung der ersten Nationalen
KOORDINIERUNGSBLOCKADE Sicherheitsstrategie Deutschlands zu scheitern.
Ein Weg aus der Koordinierungsblockade
Statt diesen Mehrwert voll auszuschöpfen und die könnte es sein, in zukünftigen Koalitionen das
eigene Kohärenz-Kompetenz gegenüber den an­ Auswärtige Amt immer der gleichen Partei wie
deren Ressorts in der Praxis spürbar zu machen, das Kanzleramt zuzuteilen und eine Amtsspitze
sieht sich das Auswärtige Amt seit mindestens zu ernennen, die sich eher auf das Implementieren
zwanzig Jahren in erster Linie in Konkurrenz zu als auf die politische Profilierung konzentriert.
den Fachministerien und dem Kanzleramt. Spit­ Abgesehen davon, dass dies politisch eher unre­
ze und Mit­ ar­
bei­
ter*­
innen des Hauses werden alistisch ist – das Außenamt bleibt durch die Me­
nicht müde, auf das „Gesetz über den Auswär­ dienberichterstattung über die vielen Reisen der
tigen Dienst“ von 1990 zu verweisen, das für das Hausspitze attraktiv für politische Profilierung –,
Außenministerium unter anderem die Aufgabe könnte dies auch für eine aktivere Außenpolitik
Deutschlands problematisch sein. Denn der oder
01 Vgl. Carlo Masala, Die Zeitlupenwende, 11. 2. 2023, die Außenminister*in ist das einzige Mitglied der
www.zeit.de/​2023/​07/olaf-​scholz-​ukraine-​krieg-​zeitenwende-​ Bundesregierung, bei dem alle internationalen
aussenpolitik. Themen zusammenlaufen – wenn Außenpolitik
02 Vgl. Brian Hocking et al., Wither Foreign Ministries in a Post-
im politischen Gefüge der Bundesregierung und
Western World?, Clingendael Institute, Policy Brief 20/2013.
03 Vgl. Tobias Bunde et al., Zeitenwende, Wendezeiten: Son-
in den politischen Debatten in Deutschland nicht
derausgabe des Munich Security Report zur deutschen Außen- untergehen soll, macht es also einen Unterschied,
und Sicherheitspolitik, München 2020. ob das Amt von einer ehrgeizigen Spitzenpoliti­
04 Vgl. Volker Stanzel (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit der Au- kerin geführt wird oder nicht.
ßenpolitik: Diplomatie im 21. Jahrhundert, Stiftung Wissenschaft
Im Sinne einer aktiven und strategischeren
und Politik, SWP-Studie 23/2018.
05 Vgl. Brian Hocking (Hrsg.), Foreign Ministries. Studies in
Außenpolitik könnte es im nächsten Koaliti­
Diplomacy, London 1999; Andrew Fenton Cooper et al., Global onsvertrag ein Kompromiss sein, dem Kanzler­
Governance and Diplomacy: Worlds Apart?, London 2008; amt eine größere Koordinierungsrolle zuzuspre­
Jorge Heine, From Club to Network Diplomacy, Oxford 2013. chen, dabei aber gleichzeitig eine starke Rolle
06 Thomas Bagger, Netzwerkpolitik, in: Internationale Poli-
tik 1/2013, S. 44–50, hier S. 48.
07 Ders./Wolfram von Heynitz, Der vernetzte Diplomat, in: 08 Vgl. Sarah Brockmeier/Tobias Bunde, Kommt Zeit, kommt
Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Supplement 1/2012, Rat?, 11. 10. 2021, www.ipg-​journal.de/rubriken/aussen-​und-​si-
S. 49–61. cherheitspolitik/artikel/kommt-​zeit-​kommt-​rat-​5482.

41
APuZ 17/2023

des Auswärtigen Amtes zu berücksichtigen. In Ministerium eine Kultur, die Anreize setzt für
der genauen Umsetzung dieser neuen Archi­ neue Ideen, ein adäquates Wissensmanagement
tektur böten sich konkrete Möglichkeiten, der und ein Personalmanagement, das die eigenen
Angst vor einem Machtverlust im Auswärtigen Mit­
ar­
beiter*­
innen optimal unterstützt und die
Amt entgegenzutreten: So könnte die Leitung besten Leute anzieht. Hier gibt es noch dringen­
eines Kabinettsausschusses mit den relevanten den Reformbedarf.
Min­ister*­innen gemeinsam von Kanzler*in und
Außenminister*in ernannt werden. Auch könn­ Von Konformismus
te ein überproportionaler Teil des zusätzlich be­ zu Teamarbeit und Befähigung
nötigten Personals für das im Kanzleramt ange­ Der wichtigste und vielleicht schwierigste Schritt
siedelte Sekretariat für diesen Ausschuss aus dem wäre ein tiefgreifender Kulturwandel im Minis­
Auswärtigen Amt entsendet werden.09 terium mit Blick auf die Art und Weise, wie die
Einen Machtverlust für das Außenministe­ eigenen Di­plo­mat*­innen zusammenarbeiten.10
rium könnte eine solche Architektur bedeuten, Bereits im September 2000 forderte der damalige
wenn der oder die Außenminister*in nur noch als Außenminister Joschka Fischer ein „neues Selbst­
eine von vielen statt als „die“ Stimme der deut­ verständnis“ des Amtes, flachere Hierarchien und
schen Außenpolitik wahrgenommen würde. Die mehr „konzeptionell-strategische[s] Denken“.11
Bilder von Auslandsreisen, die den Au­ßen­min­ Doch mehr als zwei Jahrzehnte später sind die
ister*­
innen zu Beliebtheit in der Bevölkerung Strukturen und Hierarchien im Ministerium wei­
und damit auch zu politischer Macht verhelfen, terhin eher auf das Verwalten und Umsetzen von
blieben aber bestehen. Und für das Außenminis­ Ideen anderer ausgelegt statt auf Kreativität, der
terium selbst sowie vor allem für die deutsche Förderung neuer Ideen oder Widerspruch.
Außen- und Sicherheitspolitik wäre einiges ge­ Das ließe sich durch eine Vielzahl von Maß­
wonnen, wenn die Architektur der Bundesregie­ nahmen ändern. So könnte die Hausleitung das
rung zumindest Anreize dazu setzen würde, Kon­ Vorlagesystem so umstellen, dass ihr von den ei­
flikte zwischen den Koalitionspartnern schneller genen Mit­ar­bei­ter*­innen mehrere gleichwertige
anzugehen. Wenn öfter und schneller verbindliche Optionen zur politischen Entscheidung unter­
Entscheidungen zu außen- und sicherheitspoliti­ breitet werden, statt wie derzeit eine „Hausmei­
schen Fragen getroffen würden, würde gerade das nung“, die zwischen etlichen Referaten und Ab­
Auswärtige Amt profitieren, das für deren Um­ teilungen abgestimmt wurde.12 Denn im Moment,
setzung zuständig ist. Es würde dem Ministeri­ so formuliert es ein Diplomat, „schreibst du im­
um und seinen über 220 Auslandsvertretungen die mer für den Konsens“.
Möglichkeit bieten, deutsche Außenpolitik effek­ Um Räume für strategisches Denken zu öff­
tiver zu erklären. Und neben der wichtigen und nen, wären „Redteam“-Übungen, bei denen eine
heute fehlenden Koordinierung auf höchster poli­ Gruppe von Di­plo­mat*­innen die explizite Auf­
tischer Ebene zur Aushandlung von Kompromis­ gabe hat, die Ideen einer anderen Gruppe her­
sen, Prioritäten und Entscheidungen bliebe dem auszufordern, oder Planspiele hilfreich, bei de­
Auswärtigen Amt, den eigenen Mehrwert für die nen immer wieder die Di­plo­mat*­innen mit dem
alltägliche Netzwerkarbeit, die Außenpolitik er­ relevanten Wissen zusammengezogen werden,
fordert, stärker zum Tragen zu bringen. um Handlungsoptionen für verschiedene Sze­
narien zu durchdenken. Auch hier steht vor al­
REFORMBEDARF INNERHALB lem die Kultur im Weg: Oft wird schon allein
DES AUSWÄRTIGEN AMTES
10 Vgl. Sarah Brockmeier, Ein Haus für unser Jahrhundert, in:
Wenn der wichtigste Mehrwert des Außenminis­ Internationale Politik 2/2020, S. 106–111.
teriums die Vernetzung und das Wissen der ei­ 11 Joschka Fischer, Rede bei der ersten Konferenz der
genen Di­plo­mat*­innen im In- und Ausland ist Leiterinnen und Leiter deutscher Auslandsvertretungen in
sowie das Entwickeln und Nachhalten von Stra­ Berlin, 4. 9. 2000, www.bundesregierung.de/breg-​de/service/
bulletin/rede-​des-​bundesministers-​des-​auswaertigen-​joschka-​
tegien und neuen Initiativen, dann braucht das
fischer–784758.
12 Vgl. Mirko Kruppa/Kenneth Kero-Mentz, A U. S.-German
09 Vgl. Philipp Rotmann, Vom alten Diesel auf Hybrid, in: Inter- Look at the Essentials for Modern Diplomacy, in: The Foreign
nationale Politik 5/2021, S. 32–37. Service Journal July/August 2021, S. 20 ff.

42
Deutsche Außenpolitik APuZ

deswegen nicht diskutiert, in Szenarien gedacht welche Kontakte genau bei Wechseln übergeben
oder dies gar verschriftlicht, weil im Ministeri­ werden, hängt immer noch zu sehr von den ein­
um eine große Angst herrscht, dass Informatio­ zelnen Personen ab – und dies, obwohl jedes Jahr
nen nach außen gelangen könnten. Der vermehrte etwa 1500 Mit­ar­bei­ter*­innen rotieren. Gleichzei­
Einsatz von Planspielen und das gezielte Leaken tig führt die Fokussierung darauf, wer im Amt
ihrer Ergebnisse, wie es etwa in den USA üblich welchen Posten innehat, dazu, dass jemand, der
ist, könnten jedoch dazu beitragen, diese Art von vier Jahre in Afghanistan gearbeitet hat, eini­
Beschäftigung mit verschiedenen Szenarien zu ge Tage nach seinem Postenwechsel in der Re­
normalisieren.13 Auch Dissens-Kanäle wie im gel schon nicht mehr für einen inhaltlichen Aus­
US-Außenministerium wären eine Möglichkeit, tausch zu Afghanistan herangezogen wird. Auch
Warnungen und unbequeme Positionen zur Not die IT, Geheimschutzvorgaben und fehlende ab­
schnell und unbürokratisch an die Leitungsebene hörsichere Systeme stehen teilweise dem Teilen
zu kommunizieren. Insgesamt müsste aber auch von Wissen im Wege. So kann es passieren, dass
das Beurteilungssystem des Ministeriums darauf ein Länderreferat nicht die Akten der Botschaft
ausgelegt sein, neue Ideen, Kreativität, Teamar­ für genau dieses Land einsehen kann. Um Infor­
beit, Widerspruch und das Teilen von Informati­ mationen mit anderen Ressorts zu teilen, müssen
onen zu belohnen. teilweise Ausdrucke von Ministerium zu Minis­
Ferner müssten die Auslandsvertretungen terium gefahren werden.
insgesamt gestärkt und den Di­ plo­
mat*­innen Eine weitere Herausforderung ist die Fra­
in den Vertretungen mehr Vertrauen auch sei­ ge, wie das Wissen der Di­plo­mat*­innen über ihre
tens der Leitungsebene des Hauses entgegenge­ gesamte Laufbahn hinweg systematisch aufge­
bracht werden. Zwar stellte das Auswärtige Amt baut und immer wieder sinnvoll eingesetzt wer­
in den vergangenen Jahren immer mehr Personal den kann. Wie viel Spezialisierung ist sinnvoll –
ein. Dieses wird aber überproportional in Berlin zum Beispiel auf bestimmte Regionen, Sprachen
eingesetzt. Auch nutzt das Ministerium die Res­ und technische Kenntnisse? 16 Mit der Einführung
sourcen und das Urteilsvermögen der eigenen einer „nicht-technischen Verwaltungslaufbahn“
Leute vor Ort nicht systematisch. Eine im „Spie­ außerhalb des Rotationssystems des Auswärti­
gel“ berichtete Anekdote, nach der die zuständi­ gen Dienstes vollzog das Ministerium im Januar
ge Staatssekretärin einem Bericht der Botschaft in 2023 möglicherweise eine kleine Revolution. Mit
Afghanistan über einen Bombenanschlag in Ka­ zunächst 40 bis 60 Stellen wird eine Laufbahn ge­
bul erst glaubte, als der Anschlag als Tickermel­ schaffen, die es Spe­ zia­list*­
innen für bestimmte
dung in den Medien war, ist vielleicht besonders Themen erlaubt, längerfristig für das Auswärti­
extrem, aber symptomatisch.14 ge Amt zu arbeiten, ohne alle paar Jahre ins Aus­
land zu wechseln. Das lässt nicht nur eine inhalt­
Wissen teilen und fördern liche Spezialisierung zum Beispiel im Bereich der
Auch das Wissensmanagement müsste ausgebaut Klimapolitik oder der Rüstungskontrolle zu, son­
werden. Nach langen Verzögerungen gibt es in­ dern könnte auch im Bereich der Kommunikation
zwischen eine – wenn auch noch nicht von al­ und der Personalverwaltung eine stärkere Profes­
len genutzte – elektronische Aktenführung und sionalisierung erlauben.
ein neues Intranet. Laut dem Digitalisierungsbe­ Gerade in der Personalabteilung könnte mehr
auftragten des Ministeriums steht auch eine Mo­ Konstanz dazu beitragen, die Karriereentwick­
dernisierung der Übergabe bei Postenwechseln lung aller Di­ plo­mat*­ innen stärker zu fördern
an.15 Das ist überfällig, denn welches Wissen und und planvoller zu gestalten. Gerade mit der Ein­
führung der Be­amt*­innen­lauf­bahn ohne Rotati­
13 Siehe die Zusammenfassung von Philipp Rotmann, Tweet
on ist es wichtig, die Laufbahn von rotierenden
vom 26. 1. 2023, ­https://twitter.com/PhilippRotmann/status/​ Di­plo­mat*­innen attraktiv zu halten, indem eine
1618573376418902018. individuelle Begleitung von Karrieren gewähr­
14 Vgl. Matthias Gebauer/Konstantin von Hammerstein, leistet wird und die Möglichkeit besteht, sich
„Das ist das Endgame“. Teil 1 einer Serie über die abenteuerli-
che Flucht der Deutschen aus Kabul, in: Der Spiegel 31/2022,
S. 8–17. 16 Vgl z. B. Ulric Shannon, Competitive Expertise and Future
15 Vgl. Sven Egyedy, Tweet vom 7. 3. 2023, h­ ttps://twitter.com/ Diplomacy, Centre for International Policy Studies, University of
AAdigitalisiert/status/​1633051602775842817. Ottawa, Policy Report, August 2022.

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APuZ 17/2023

trotz Rotation und Generalistenprinzip auf be­ rung E-Akte oder die neue Spe­zial­ist*­innen­lauf­
stimmte Themen und Regionen zu spezialisieren. bahn zeigen. Sowohl bei den sogenannten Pleu­
ger-Reformen unter Joschka Fischer als auch bei
Diverse Belegschaft und Attraktivität dem vom damaligen Außenminister Frank-Walter
als Arbeitgeber Steinmeier 2014 angestoßenen „Review-Prozess“
Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie es dem Mi­ scheiterten aber gerade die Maßnahmen, die es
nisterium gelingen kann, eine diverse Gruppe an wirklich bräuchte, um Kulturwandel, Netzwerk­
möglichst guten Mit­ar­bei­ter*­innen anzuziehen. 17 politik und Strategieentwicklung umzusetzen.
Bei der Geschlechtergerechtigkeit hat das Amt in Das mag an Beharrungskräften auf allen Ebe­
den vergangenen Jahren spürbare Fortschritte ge­ nen des Ministeriums gelegen haben, aber vor
macht, sowohl in den Ausbildungsjahrgängen als allem an Widerständen auf der Führungsebe­
auch bei der Beförderung in Führungspositionen. ne direkt unter den jeweiligen Außen­minister*­
Im Vergleich zu anderen Bundesbehörden lag das innen sowie dem fehlenden Anreiz für den oder
Ministerium laut Gleichstellungsindex des Statis­ die Minister*in und die Führungsebene, wirklich
tischen Bundesamtes 2022 mit 29,8 Prozent Frau­ etwas zu verändern. Für umfassende Reformen
enanteil in Leitungspositionen aber weiterhin auf müsste ein*e Außenminister*in den politischen
dem letzten Rang unter den Ressorts. Die im März Willen haben, das Haus umzukrempeln, aber auch
2023 veröffentlichten Leitlinien „Feministische ganz praktisch eine*n Staatssekretär*in ernennen,
Außenpolitik gestalten“ kündigen hier Verbesse­ der oder die sich dieser Aufgabe annimmt.19 In
rungen an – auch für die Diversität des Auswär­ der Praxis sind Erfolg des oder der Minister*in
tigen Dienstes in anderer Hinsicht: Nur 14,7 Pro­ – gemessen an der Wahrnehmung in den Medien
zent der Mit­ar­bei­ter*­innen des Auswärtigen Amts und der Beliebtheit in der Bevölkerung – und Er­
haben aktuell einen Migrationshintergrund, bei folg und Effektivität des Ministeriums als solches
27 Prozent in der deutschen Gesellschaft. 18 zu sehr entkoppelt. Die Führungsebene des Am­
Sowohl für die Gleichstellung als auch für die tes, die im bestehenden System aufgestiegen ist,
Attraktivität des Auswärtigen Dienstes insgesamt fokussiert sich vor allem darauf, wie der oder die
müsste das Ministerium die Vereinbarkeit von Minister*in wahrgenommen wird.
Familie und Beruf noch stärker fördern – in der Ohne Druck von außen sind wesentliche Ver­
Zentrale wie in den Auslandsvertretungen. So änderungen deswegen unwahrscheinlich. Sowohl
zeigt etwa der Gleichstellungsindex, dass 2022 im Parlament als auch in der Fachöffentlichkeit
nur 4,8 Prozent der Beschäftigten im Auswärti­ ist das Thema in Deutschland aber unterrepräsen­
gen Amt in Teilzeit arbeiteten – 82 Prozent davon tiert. Das zeigt ein Vergleich mit Entwicklungen
Frauen und nur 0,3 Prozent der Beschäftigten in in den USA. Im Januar 2023 verabschiedete der
Führungspositionen. Während die Leitlinien für Kongress ein Gesetz, das nicht nur für Ausbil­
feministische Außenpolitik auf zwei Botschaften dung, Diversity und Personalmanagement kon­
verweisen, die im Job-Sharing von einem Ehepaar krete Reformen des State Department forderte,
geleitet werden, vermissen viele Di­plo­mat*­innen sondern auch eine 16-köpfige Kommission für
eine stärkere Unterstützung der Berufstätigkeit Reform und Modernisierung des State Depart­
der Part­ner*­innen bei Einsätzen im Ausland. ment einberief, die aus Mitgliedern aus beiden
Parteien besteht.20
„REVIEW 2024“? In den Debatten der vergangenen Jahre zum
Haushalt des Auswärtigen Amtes – die einzi­
Dass es dieser Änderungen und noch vieler mehr gen Gelegenheiten, bei denen im Bundestag aus­
bedarf, ist bereits seit über zwei Jahrzehnten klar. führlicher über das Ministerium gesprochen wird
Gerade in den vergangenen Jahren bewegt sich
auf verschiedenen Ebenen auch einiges, wie die 19 Vgl. Sarah Brockmeier, Wer eine neue Außenpolitik will,
Anstrengungen zur Gleichstellung, die Einfüh­ braucht auch ein neues Außenministerium, 2. 12. 2021, ­https://
blog.prif.org/​2021/​12/​02/wer-​eine-​neue-​aussenpolitik-​will-​
braucht-​auch-​ein-​neues-​aussenministerium.
17 Siehe auch den Bericht des Truman Center, Transforming 20 Vgl. Dan Spokojny, Congress Orders Changes for State
State, März 2021. Department in New Authorization, 3. 1. 2023, www.fp21.org/
18 Vgl. Auswärtiges Amt, Feministische Außenpolitik gestalten: publications/congress-​orders-​changes-​for-​state-​department-​in-​
Leitlinien des Auswärtigen Amts, März 2023, S. 70. new-​authorization.

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Deutsche Außenpolitik APuZ

– brachte dagegen kaum jemand mögliche Re­ Wettbewerbs der Narrative die Kommunikation
formen zur Sprache. Auch hier fehlen Anreize: des Ministeriums in die heimische Öffentlichkeit
Abgeordnete der Regierungskoalition müssten und ins Ausland verbessert werden? Wie könn­
die eigene Regierung kritisieren. Op­pos­i­ti­ons­po­ te das Amt Klischees und potenziell rassistische
lit­iker*­innen versprechen sich – wahrscheinlich Einstellungen in der eigenen Arbeit stärker aufar­
zu Recht – mehr davon, die Substanz der Außen­ beiten, wie etwa zuletzt in den Niederlanden ge­
politik zu beklagen als die bürokratischen Pro­ schehen? Welche weiteren Investitionen braucht
zesse dahinter. das IT-System kurz- und mittelfristig? Wie könn­
Dass das Thema im Bundestag kaum eine te der Personalaustausch mit anderen Ministeri­
Rolle spielt, kann aber auch daran liegen, dass es en und die Durchlässigkeit zwischen Ministeri­
weder aus der Fachcommunity noch aus der or­ um, Wissenschaft oder Wirtschaft verstärkt und
ganisierten Zivilgesellschaft Nachfragen oder ent­ ermöglicht werden? Und wie könnte das Amt mit
sprechenden Druck gibt. In den USA veröffent­ dem Europäischen Auswärtigen Dienst oder ein­
lichten vor oder zu den Präsidentschaftswahlen zelnen Partnerländern eine bessere Arbeitsteilung
2020 renommierte Institutionen wie der Coun­ finden? Wie sollte das Training in der Postenvor­
cil on Foreign Relations, die Kennedy School an bereitung verändert, wie ein lebenslanges Lernen
der Harvard University, das Truman Center und systematisch gefördert werden? Die Beantwor­
der Atlantic Council 50- bis 70-seitige Berichte tung vieler dieser Fragen wäre auch die Grundla­
mit Forderungen notwendiger Reformen im Sta­ ge für eine Antwort auf die Frage, ob das Minis­
te Department. In Deutschland wird alle vier Jah­ terium eigentlich mehr Personal braucht, um die
re zum Regierungswechsel die Zusammenlegung Zeit für strategisches Denken und Initiative ein­
des Auswärtigen Amtes und des Entwicklungs­ zuräumen, und wenn ja, an welchen Stellen.
ministeriums in den Raum gestellt, aber es gibt Richtig aufgesetzt, könnte eine solche Kom­
keine einzige veröffentlichte schriftliche Analy­ mission den politischen Druck für Verände­
se eines Think Tanks oder Forschungsinstituts zu rungen erhöhen, indem sie die Lücke aufzeigt
den Vor- und Nachteilen oder zur Umsetzung ei­ zwischen der Realität des Auswärtigen Amtes ei­
ner solchen Megareform. Auch detaillierte Aus­ nerseits und der Möglichkeiten des Ministeriums
einandersetzungen mit der Sicherheitsarchitektur und der deutschen Außenpolitik als Ganzes an­
oder der internen Aufstellung des Auswärtigen dererseits, würde man den Di­plo­mat*­innen­stab
Amtes existieren kaum. effektiver nutzen. Denn den viel beschworenen
Eine Möglichkeit, mehr Reformdruck aufzu­ Mentalitätswandel und die strukturellen Refor­
bauen, wäre die Einrichtung einer parteiübergrei­ men, die es braucht, damit die Zeitenwende in der
fenden Kommission aus dem Bundestag oder ei­ deutschen Außen- und Sicherheitspolitik Realität
ner durchmischten Gruppe aus Abgeordneten, wird, braucht es auch im Auswärtigen Amt. Mit
Ex­pert*­innen aus dem In- und Ausland und Ver­ einem Krieg vor der Haustür, mit gestiegener öf­
tret­er*­innen des Auswärtigen Amtes, die sich mit fentlicher Aufmerksamkeit und dem damit ver­
möglichen Reformen beschäftigen und Empfeh­ bundenen politischen Druck gäbe es den Rücken­
lungen ausarbeiten könnte. Zehn Jahre nach dem wind dafür, dass sich das Auswärtige Amt und
„Review 2014“ könnte sich eine solche Kommis­ dessen Führung, der Bundestag und die Fach­
sion etwa im Rahmen eines „Review 2024“ de­ community in Deutschland ernsthaft mit Refor­
zidiert mit der internen Aufstellung des Amtes men im Außenministerium auseinandersetzen.
beschäftigen. Dabei wären zusätzlich zu den er­
wähnten Themen noch viele weitere Fragen drän­
gend: Wie gelänge eine bessere Prioritätensetzung
im Amt, von der auch viele strukturelle und per­
sonelle Entscheidungen abhängen? Sind die Ab­ SARAH BROCKMEIER
teilungsstrukturen des Amtes noch angemessen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut
und wenn nein, wie könnten diese anders aufge­ Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
stellt werden? Braucht es eine Novellierung des (HSFK) in Frankfurt am Main und Non-Resident
Gesetzes für den Auswärtigen Dienst und wie Fellow am Global Public Policy Institute (GPPi) in
könnte diese aussehen? Wie sollte vor dem Hin­ Berlin.
tergrund von Desinformation und eines globalen brockmeier@prif.org

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Der APuZ-Podcast
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suchen wir Antworten aus unterschied- um ein komplexes Thema – mit Hinter-
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Politikwissenschaftlern und Soziologen, lich fundiert, kontrovers und überra-
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auch Weltraumforschern, Stadtplanerin-
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Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 14. April 2023

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