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Band 77 / 2023 Heft 2
persönliches Exemplar,
nur gemäß den Richtlinien
der Zeitschrift zu verwenden
KLOSTERMANN
Susanne Burri, Konstanz
Müller setzt sich für einen nicht-absolutistischen Pazifismus ein, der Platz für
begründete Ausnahmen lässt. Als einzige historische Ausnahme nennt er den „al-
liierten Krieg gegen Hitler-Deutschland“ (PEV 28), den er nicht in allen seinen
Details, aber doch zumindest „im französischen, britischen und amerikanischen
Eintritt in den Krieg“ (PEV 48) als moralisch richtig empfindet. Dass sich die
historischen Ausnahmen nicht häufen sollten, ist für Müller bedeutsam: Wird
die Ausnahme beispielsweise bei Verteidigungskriegen zur Regel, dann verliert
der Pazifismus seinen eigenständigen Charakter (PEV 12–5, 28).
Wie jedoch lassen sich allfällige Ausnahmen vom pazifistischen Leitprinzip be-
gründen? Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit ein Kriegseintritt als mora-
lisch zulässig einzustufen ist? Und liegt Müller (zusammen mit anderen bekann-
ten Pazifisten wie Albert Einstein oder Bertrand Russell, siehe PEV 28) richtig mit
seiner Einschätzung, dass historisch der alliierte Krieg gegen Hitler-Deutschland,
und wahrscheinlich nur dieser Krieg, die relevanten Kriterien erfüllt?
Das von Müller explizit diskutierte zentrale Kriterium für begründete Aus-
nahmen ist dasjenige der verantwortungsethischen Folgenabschätzung, welches
nach Müller Folgendes fordert: „Ein Krieg ist nur dann zulässig, wenn seine
Vermeidung einen inakzeptabel größeren Preis an Menschenleben, Verletzun-
gen, Traumatisierungen usw. nach sich zieht als seine Durchführung“ (PEV 28).
Das Problem mit dem Kriterium der Folgenabschätzung bildet die Kernthese
von Müllers Werk: Eine Folgenabschätzung ist zumindest bei einem komple-
xen sozialen Phänomen wie demjenigen des Krieges immer nur wertgeleitet
durchführbar; ohne konkretes Menschenbild sind entscheidende Spekulati-
onen schlicht nicht entscheidbar. Müllers pragmatistische Pazifistin glaubt an
das Gute im Menschen und schätzt damit den Erfolg von Maßnahmen, die an
Vernunft und Menschlichkeit appellieren, höher ein, als dies jemand mit einem
pessimistischeren Menschenbild tut. Ob ein Krieg das Kriterium der Folgenab-
schätzung erfüllt, ist somit keine Frage, die sich ideologiefrei sinnvoll debattieren
lässt. Es mag daher den Eindruck erwecken, dass Müllers Überlegungen auf fol-
gende unbefriedigende These hinauslaufen: Pazifistin darf sich nennen, wer sich
sein Menschenbild so zurechtlegt, dass er oder sie die allermeisten historischen
Kriegseintritte aufgrund von wertgeleiteten Folgeabschätzungen als moralisch
fehlgeleitet einzustufen vermag.
Diese Lesart von Müllers Text scheint mir unangemessen. Schließlich ver-
tritt Müller mit Nachdruck die These, dass eine pragmatistische Pazifistin stets
darum bemüht ist, ihren Pazifismus mit konkreten Handlungsvorschlägen zu
untermauern. Wer etwa den Kosovokrieg als ungerechtfertigt verurteilt, der tut
gut daran, zu erklären, was an seiner Stelle hätte stehen können und sollen.1
1 Müllers Vorschlag lautet wie folgt: „Noch entschlossener als im tatsächlichen Ablauf
hätten die Beobachter einer vergrößerten und besser ausgestatten [Kosovo-Verifika-
Vielleicht sind illustre Pazifisten dazu geneigt, den alliierten Kriegseintritt ge-
gen Hitler-Deutschland einfach deswegen gutzuheißen, weil das Ausmaß und
der Organisationsgrad der damit bekämpften Verbrechen historisch nach wie
vor unübertroffen sind. Als Rechtfertigung für die alliierte Entscheidung reicht
dies allein jedoch nicht aus.
Müller spricht offen über die Unsicherheiten, die ihn in Bezug auf seinen Pazifis-
mus seit Putins Überfall auf die Ukraine plagen (PEV 101–7). Er fürchtet sich vor
dem Inferno eines Atomkriegs (PEV 102) und hat Mühe damit, die Angst als tägli-
chen Begleiter in sein humanistisches Weltbild zu integrieren (PEV 102–3). Nicht
zuletzt, weil er das Risiko einer nuklearen Eskalation so klein wie möglich halten
will, hält er es für moralisch richtig, die Ukraine „militärisch im Stich zu lassen“
(PEV 107). Klar ist für ihn, dass wir humanitäre Hilfe leisten, „Kriegsflüchtlinge
mit offenen Armen aufnehmen“ und ökonomische Sanktionen gegen Russland
mit aller Härte – und auch auf eigene Kosten – durchsetzen müssen (ebd.). Den-
noch, so Müller, sei es ihm bewusst, dass er sich mit seiner Entscheidung gegen
eine militärische Unterstützung der Ukraine „schuldig mache“ (ebd.).
Müllers Unbehagen mag überraschen. Ein überzeugter Pazifist ist doch si-
cherlich gerade deswegen überzeugter Pazifist, weil er sich in den allermeisten
Fällen – und eben auch im Fall der Ukraine – nicht vorstellen kann, dass die Fol-
gen eines Krieges weniger verheerend sind als diejenigen eines Kriegsverzichts.
Und sicherlich bürdet man sich keine Schuld auf, wenn man für die bessere von
zwei schlechten Lösungen einsteht (jedenfalls wenn man keine Verantwortung
dafür trägt, dass nur noch schlechte Alternativen zur Verfügung stehen2)?
Im Folgenden möchte ich erklären, weshalb ich Müllers Unbehagen für be-
rechtigt halte. Mir scheint entscheidend, dass die ukrainische Bevölkerung – das
heißt die primär vom Unrecht Betroffenen – ihre Situation anders sehen, als sich
diese aus pazifistischer Perspektive präsentiert. Damit sehen sich pragmatistische
Pazifisten mit der schwierigen Frage konfrontiert, wie sie ihre epistemische Be-
scheidenheit mit einem angemessenen Respekt für die Selbstbestimmung der
ukrainischen Bevölkerung in Einklang bringen können.
Kennzeichnend für den Krieg in der Ukraine ist die zumindest von der ukra
inischen Regierung mit viel Entschlossenheit vorgetragene Überzeugung, dass
eine kriegerische Antwort auf Putins Angriffskrieg notwendig und moralisch
richtig ist. Nehmen wir an, dass die breite ukrainische Bevölkerung diese Über-
zeugung teilt und den Verteidigungskrieg gegen Putin befürwortet.
2 Teilweise sieht Müller seine Schuld wohl hier. Siehe PEV 73, wo Müller die These
aufstellt, dass eine schärfere Antwort auf die russische Annexion der Krim im Jahre
2014 wohl vonnöten gewesen wäre.
Literaturverzeichnis
Walzer, Michael (1977): Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical
Illustrations (4th edition). New York: Basic Books.