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Universität Koblenz-Landau

Campus Landau
FB 5: Institut für Philosophie

Sinnlosigkeit und Lebensbejahung in Albert Camus‘


Philosophie des Absurden

Bachelorarbeit
Gall, Annette
1. Gutachter: Henrike Lerch
2. Gutachter: Christian Hauck

Annette Gall
Schloßstraße 6
76829 Landau
Tel.: 015778873664
Email: gall1943@uni-landau.de
Lehramt Förderschule
Matrikelnr.: 214100257
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ................................................................................................................................ 1
2. Camus‘ Stil und Methode ...................................................................................................... 2
3. Das Absurde ............................................................................................................................ 7
3.1 Das Gefühl des Absurden .................................................................................................. 10
3.2 Das Absurde auf Verstandesebene.................................................................................... 14
3.4 Die Logik des Absurden ..................................................................................................... 16
4. Philosophischer Selbstmord................................................................................................. 18
4.1 Gedemütigte Vernunft ....................................................................................................... 19
4.3 Relative Vernunft ............................................................................................................... 21
5. Schlussfolgerungen aus dem Absurden .............................................................................. 24
5.1 Auflehnung .......................................................................................................................... 26
5.2 Freiheit................................................................................................................................. 27
5.3 Leidenschaft ........................................................................................................................ 29
6. Sinnlosigkeit und Lebensbejahung ..................................................................................... 31
7. Fazit ....................................................................................................................................... 38
8. Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 40
1. Einleitung
„Es ist ein seltsames Schicksal des Menschlichen Verstandes, wenn er sich, es sey durch einen natürlichen Hang
oder auch durch das wahre Interesse, das ihn antreibt, in eine Wissenschaft verwikelt, und dazu gleichsam
verurtheilt sieht, die nach Jahrhundert langen Bemühungen bey vereinigter Kraft der scharfsinnigsten Kopfe doch
nicht einen Schritt weiter gebracht werden kann. Will man die Bemühung aufgeben, so zieht uns theils die
Natürliche Bewegung unsres Geistes dazu zurück, theils stoßen wir allerwerts auf Fragen in ansehung unsrer
wichtigsten Angelegenheit, in ansehung derer wir nicht anders als durch einige Einsicht in diesem Felde
befriedigt werden konnten. Von dieser Art kenne ich zum Glück der Menschen nur eine einzige Wissenschaft,
nemlich Metaphysik, eine theoretische Philosophie der reinen, d.i. von allen Erfahrungsquellen freyen Vernunft,
sie ist der Stein des sisyphus, an dem man rastlos wältzt und ohne ihn jemals an seine bleibende Stelle zu
bringen.“1

Dieses Zitat stammt von einem der wohl bedeutendsten Philosophen der Geschichte, nämlich
von Immanuel Kant. Der Begründer der Aufklärung drückt in diesen Worten aus, worüber
knapp 200 Jahre später ein Mann zur Zeit des französischen Existenzialismus eine ganze
philosophische Abhandlung geschrieben hat. Alle Bemühungen um eine absolute Erkenntnis
in der Metaphysik sind vergeblich, aber es liegt in der Natur des menschlichen Verstandes,
trotzdem immer wieder metaphysische Fragen zu stellen. 2
Albert Camus hat sich in seinem Essay Der Mythos des Sisyphos 1942 der zentralen Frage der
Metaphysik gewidmet, der Frage nach dem Sinn des Lebens. Wie der Titel bereits impliziert,
stellt sich Camus die Frage nach dem Sinn des Lebens als eine Sisyphosarbeit vor, die der
Mensch aufgrund seiner natürlichen Beschaffenheit immer wieder stellt, obwohl eine
Beantwortung der Frage aussichtslos erscheint.
Durch den Mythos des Sisyphos ist Albert Camus, der an sich mehr für seine literarischen
Werke bekannt ist, zum Philosophen des Absurden geworden, auch wenn er sich selbst
zeitlebens nie als Philosophen gesehen hat: „Ich bin kein Philosoph. Ich glaube nicht genug
an die Vernunft, um an ein System zu glauben. Was mich interessiert, ist, zu wissen, wie man
leben soll.“3 Der Mythos des Sisyphos ist Teil von Camus‘ Zyklus des Absurden, dem sich
zusätzlich seine Werke Der Fremde und Caligula zuordnen lassen.4
Durch seine Feststellung des Absurden als existenzielle Grundsituation des Menschen wird
Camus oft mit Nihilismus und Pessimismus assoziiert. Dies wird seinen Aussagen im Mythos
allerdings nicht gerecht. Er ist nur insofern Nihilist, als er von einer Sinnlosigkeit des Lebens
ausgeht. Jedoch sagt er darüber hinaus: „Der grundlegende Gedanke dieses Buches ist, daß

1
Annemarie Pieper, Camus‘ Verständnis des Absurden in ‚Der Mythos des Sisyphos‘, in: Annemarie Pieper
(Hrsg.), Die Gegenwart des Absurden. Studien zu Albert Camus, Tübingen, Basel 1994, S. 1
2
Vgl. Ebd. S. 1
3
Heinz Robert Schlette, Albert Camus. Welt und Revolte, Freiburg, München 1980, S. 15
4
Vgl. Christian R. Hirschochs, Der Begriff ‚absurd‘ in Albert Camus‘ ‚Mythos des Sisyphos‘. Verwendung und
Bedeutung. Antwort auf die Sinnfrage?, Gehrden 2016, S. 7
1
der metaphysische Pessimismus keineswegs zur Folge hat, daß man am Menschen
verzweifeln muß – im Gegenteil.“5 Camus schafft es, innerhalb seiner Philosophie des
Absurden den Nihilismus zu überwinden.6 Für ihn folgt überraschenderweise aus der
Sinnlosigkeit des Lebens eine absolute Lebensbejahung.
Wie Camus die Umkehrung des Absurden in eine Lebensbejahung gelingt, soll in dieser
Arbeit nachgegangen werden. Dazu ist es zunächst wichtig, seine Methode und
Argumentationsstruktur zu analysieren, um seinen teilweise unstrukturierten
Gedankengängen folgen zu können. Daraufhin wird auf das Absurde bei Albert Camus
eingegangen, der sich diesem unter der Frage nähert, ob aus dem Absurden der Selbstmord
logisch folgt. Camus beschreibt das Absurde zunächst unter den zwei Aspekten Gefühl und
Verstand, bevor er schließlich seinen zentralen Punkt, die Logik des Absurden, näher
erläutert. Als Gegenpol zu seinem eigenen Standpunkt kritisiert Camus verschiedene
existenzielle Philosophen. Auch darauf soll eingegangen werden, da es zu dem Verständnis
von Camus Philosophie beiträgt. Der Kern der Arbeit soll sich den lebensbejahenden
Aspekten der Philosophie des Absurden widmen, die sich für Camus in drei
Schlussfolgerungen äußern: Auflehnung, Freiheit und Leidenschaft. Hier soll auch Camus
Frage nach dem Selbstmord beantwortet werden. Im letzten Teil der Arbeit „Sinnlosigkeit
und Lebensbejahung“ soll noch einmal genauer in Augenschein genommen werden, wie es
Camus gelingt, aus der Erfahrung der Sinnlosigkeit eine lebensbejahende Haltung zu ziehen.

2. Camus‘ Stil und Methode


Da sich Camus selbst nie als Philosophen betrachtet hat, ist es nicht verwunderlich, dass auch
sein Stil nicht dem einer gewöhnlichen philosophischen Schrift entspricht. Als Schriftsteller
schmückt Camus seine Worte mit zahlreicher bildlicher Sprache und Poesie aus7, sodass der
Mythos des Sisyphos aus einem für Camus „charakteristische[n] Zusammenspiel von Lyrik
und Argumentation“8 besteht. Es lässt sich auf den ersten Blick auch keine klare
Argumentationsstruktur erkennen, seine Gedanken wirken teilweise unsystematisch und dicht
zugleich. „Der ganze ‚Sisyphos‘ ist in einem lakonischen, skizzenhaften Stil geschrieben, der
dem absurden Klima entspricht.“9 Bisweilen erscheint seine Argumentationsstruktur nicht
schlüssig. An manchen Stellen widerspricht er sich selbst, wenn er einerseits schreibt, „[d]ie

5
Jürgen Hengelbrock, Albert Camus. Ursprünglichkeit der Empfindung und Krisis des Denkens. Freiburg,
München 1982, S. 39
6
Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Thesen zum Begriff des Absurden bei Albert Camus, in: Heinz Robert Schlette
(Hrsg.), Wege der deutschen Camus-Rezeption, Darmstadt 1975, S. 116
7
Vgl. „blutige Mathematik“, Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Reinbek bei Hamburg20 2015, S. 28
8
Amet Dzelili, Der Wille zum Glück bei Albert Camus, Norderstedt 2006, S. 9
9
Hengelbrock, Albert Camus, S. 39
2
hier definierte Methode bekennt sich zu dem Gefühl, dass jede wirkliche Erkenntnis
unmöglich ist.“10, und er an anderer Stelle die Absurdität als „erste Wahrheit“11 postuliert.
Camus war sich seiner Inkohärenz selbst bewusst: „Ich weiß nicht, was ich suche, ich nenne
es mit Vorsicht, ich widerrufe, wiederhole mich, ich dringe vor und weiche zurück.“ 12 Zudem
sind alle seine Äußerungen auch immer aus rhetorischer Sicht zu betrachten, um seinen
Äußerungen mehr literarisches Gewicht zu verleihen.13 Camus selbst hatte nicht den
Anspruch an sein Werk als ein ausgebildetes, in sich geschlossenes Gedankenkonstrukt mit
Absolutheitsanspruch.14 Darauf deutet auch die Bezeichnung als Essay hin. Es ist also nur als
ein Versuch über das Absurde zu betrachten und beansprucht damit keine letzte Gültigkeit.15
Diese Absage an das Absolute steht bei Camus in der Tradition des Mittelmeerischen
Denkens. Typisch für diese Tradition des Denkens ist die Philosophie der Grenzen und des
Relativen im aristotelischen Sinne. Allem Absoluten wird entsagt und das menschliche
Handeln soll sich am rechten Maß orientieren.16 Auch Camus‘ Philosophie orientiert sich an
diesem Leitbild des Relativen, wie es sich vor allem in seinem Folgewerk Der Mensch in der
Revolte finden lässt, in der die Revolte das rechte Maß darstellt, während die Revolution
durch den Mord dieses überschreitet.17 In Camus letztem philosophischem Werk, das sich am
Mythos der Nemesis orientieren sollte und leider nur fragmentarisch blieb, widmet er sich
ganz und gar diesem Gerechtigkeitsgedanken des Maßes und der Mitte.18 Aber auch in dieser
Arbeit wird sich der relative Gedanke vor allem in Bezug auf die Vernunft noch zeigen.
Immer wieder hat Camus sein Zugehörigkeitsgefühl zu dem Lebensraum des Mittelmeers
bekundet: „Ich wurde halbwegs zwischen das Elend und die Sonne gestellt. Das Elend hindert
mich daran zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei, die Sonne
lehrt mich, dass die Geschichte nicht alles ist. Das Leben ändern, aber nicht die Welt, die ich
zu meiner Gottheit mache.“19 Der Mensch als vergängliches Wesen muss sich in die
Beständigkeit und Dauerhaftigkeit der Natur einbetten und es gilt das Ideal der Stoa, in

10
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 24
11
Vgl Ebd. S. 43
12
Agnes Bidmon, Denkmodelle der Hoffnung in Philosophie und Literatur. Eine typologische Annäherung,
Berlin, Boston 2016, S. 234
13
Vgl. Hengelbrock, Albert Camus, S. 23-25
14
Vgl. Matthias Rath, Albert Camus: Absurdität und Revolte. Eine Einführung in sein Werk und die deutsche
Rezeption, Frankfurt am Main 1984, S. 28
15 Vgl. Bidmon, Denkmodelle der Hoffnung in Philosophie und Literatur, S. 234
16
Vgl. Rath, Albert Camus: Absurdität und Revolte, S. 91 ff
17
Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Von der absurden Welt zum mittelmeerischen Gedanken. Bemerkungen zu
Camus‘ neuem Buch ‚Der Mensch in der Revolte‘, in: Heinz Robert Schlette (Hrsg.), Wege der deutschen
Camus-Rezeption, Darmstadt 1975, S. 274
18
Vgl. Hans-Joachim Pieper, Revolte gegen das Absurde: Zur Philosophie Albert Camus‘, in: Willi Jung (Hrsg.)
u.a., Albert Camus oder der glückliche Sisyphos – Albert Camus ou Sisyphe heureux, Göttingen 2013, S. 117-
118
19
Peter Kampits, Zohra Bouchentouf-Siagh, Zur Aktualität von Albert Camus, Wien 2001, S. 49-50
3
Einklang mit ihr zu leben.20 Die Geschichte der Menschheit stellt dabei nur einen kleinen
Zeitpunkt in der Zeitlosigkeit der Natur dar.21 Der mittelmeerische Mensch muss sein Leben
zwischen den Berührungspunkten von Himmel, Meer und Erde vollziehen, während die
Sonne als Taktgeber Einfluss auf sein Leben nimmt. 22 Die mythische Tradition der Kulturen
im Mittelmeerraum erschafft ein besonderes Naturverhältnis in Form einer Anbetung und
Bewunderung der Schönheit und Herrlichkeit des Kosmos.23 Das Mittelmeerische Denken ist
Ausdruck einer „Ontophilie“24, einer Liebe zu allem Lebendigen, und einer vollkommenen
Bejahung der Welt und des Lebens, die der Mensch in der Einheit mit der Natur findet.
Camus Äußerungen sind im Kontext dieses besonderen Verhältnisses des Menschen zur Welt
im Mittelmeerraum, insbesondere des mittelmeerischen Gedanken des Maßes sowie der
Bejahung von Leben und Natur, zu betrachten.
Um den Gedankengang von Camus nachzuvollziehen, ist es wichtig, die Grundlage zu
verstehen, auf welcher er seine Argumentation aufbaut. Zum einen fußt Camus‘ Logik auf
dem Anspruch der phänomenologischen Methode, zum anderen auf einem Wahrheitsgebot.
Er stellt den Anspruch an sich, in seinem Essay nur mit dem zu arbeiten, dessen er sich selbst
sicher ist. Diese Forderung widerholt er an mehreren Stellen in seinem Essay: „Man sehe in
diesem Essay als ständigen Bezug die fortwährende Kluft zwischen dem, was wir zu wissen
vermeinen und dem, was wir wirklich wissen“25. Deshalb verschreibt er sich streng der
phänomenologischen Methode, denn nur das, was innerhalb unseres menschlich Erfahrbaren
liegt, ist für ihn wirklich evident, weil der Mensch nur durch die Erfahrung unhintergehbares
Wissen erlangen kann. „Jedem über dieses empirisch verankerte Grundwissen
hinausgreifenden Erkennen begegnet Camus mit Skepsis. Wenn es sich darum handelt,
gedankliche Zusammenhänge zu stiften, kann er diese allein unter der Bedingung einer
vorausgegangenen Erfahrung durch die Sinne anerkennen.“26 Jede Form der Metaphysik
verliert vor diesem Hintergrund ihre Legitimität. Aufgrund dieses phänomenologischen
Vorgehens spielt das Moment der Erfahrung in seiner Philosophie eine ausschlaggebende
Rolle. Empirische Belege haben für ihn einen mindestens genauso hohen Stellenwert wie
logisch-rationale Argumente.

20
Vgl. Christoph Kann, Albert Camus – ein Cartesianer des Absurden?, in: Jung, Willi (Hrsg.) u.a., Albert Camus
oder der glückliche Sisyphos – Albert Camus ou Sisyphe heureux, Göttingen 2013, S. 58
21
Vgl. Bollnow, Von der absurden Welt zum mittelmeerischen Gedanken, S. 275
22
Vgl. Asa A. Schillinger-Kind, Albert Camus zur Einführung, Hamburg 1999, S. 9-15
23
Vgl. André Espiau De la Maeste, Der Sinn und das Absurde. Malraux – Camus – Sartre – Claudel – Péguy,
Salzburg 1961, S. 52-54
24
Bidmon, Denkmodelle der Hoffnung in Philosophie und Literatur, S. 228
25
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 30
26
Karin Schaub, Albert Camus und der Tod, hrsg. von H. A. Salmony, Zürich 1968, S. 2
4
Camus Anspruch, nur mit dem leben zu wollen, was gewiss ist, lässt ihn mitunter als
„Cartesianer des Absurden“27 erscheinen, wie ihn einst Sartre betitelte. So geht er wie
Descartes von einer Grundwahrheit aus, die er für evident hält und will nur aus dieser
schlussfolgern.28 Diese stellt sich bei ihm als das Absurde dar. Sowohl Descartes, als auch
Camus bauen ihr Denken und Leben auf einer einzigen Wahrheit auf, die bei Camus die
subjektive Erfahrung der Absurdität ist.29 Dies ist es auch, was Camus von den bisherigen
Existenzphilosophen unterscheidet. Seine Vorgänger mündeten mit ihren Überlegungen beim
Absurden, er aber nimmt es als Ausgangspunkt für seine Philosophie: „das Absurde – das
bisher als Schlussfolgerung verstanden wurde – [wird] in diesem Essay als Ausgangspunkt
betrachtet.“30 Mit Descartes gemein hat er auch, dass er von den subjektiven Möglichkeiten
der Erfahrung und der Erkenntnis ausgeht. Das Absurde ist eine Wahrheit, die sich dem
Menschen als Subjekt aus seiner Erfahrung erschließt. Dieser Ausgang vom Subjekt
rechtfertigt auch die Bedeutung, die Camus der Empfindung, beimisst. Die Authentizität der
Empfindung ist für Camus ähnlich bedeutend wie Descartes Ich denke.31 Als Teil der
menschlichen Erfahrungswelt erweisen sich Empfindungen und Gefühle in Camus
Subjektivitätsphilosophie als genauso gültig wie vernunftgegebene Erkenntnisse. So ist für
Camus das Absurde vor allem wegen der subjektiven Erfahrung desselben evident.
Neben seines Evidenzanspruchs stellt Camus ein Wahrheitsgebot auf, nämlich die Pflicht
eines Menschen, an etwas, was er einmal als wahr erkannt hat, festzuhalten und sein Handeln
danach zu richten: „[E]in Mensch [ist] immer Gefangener seiner Wahrheiten […]. Hat er sie
einmal erkannt, so kann er sich von ihnen nicht frei machen.“32 Dieses Gebot der
Wahrheitserhaltung ergibt sich für Camus aus der conditio humana, nach der der Mensch stets
nach Einheit, Wahrheit und Konsistenz strebt.33 Es liegt in der Natur des menschlichen
Geistes, nach Einheit zu suchen und sich selbst nach dieser zu richten, um innerhalb seines
eigenen Versandes konsistent zu bleiben: „Man kann den Grundsatz aufstellen, bei einem
aufrichtigen Menschen werde das Handeln von dem bestimmt, was er für wahr hält.“34 Der
Mensch möchte kohärent und im Einklang mit sich selbst leben, also muss er sein Handeln

27
Heinz Robert Schlette, Albert Camus heute, in:, Heinz Robert Schlette (Hrsg.), Wege der deutschen Camus-
Rezeption, Darmstadt 1975, S. 177
28
Vgl. Simone Neuber, Vom logischen Selbstmord, dem Wert des absurden Lebens und Camus Logik bis zu
deren Tod, in: Andreé Gerland (Hrsg.) u.a., Per Absurdum. Das Absurde als Lebensentwurf und Denkmodell. 11
Versuche, Berlin 2016, S. 93-94
29
Vgl. Kann, Albert Camus – ein Cartesianer des Absurden?, S. 53 – 72.
30
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 13
31
Vgl. Ebd. S. 53 – 72.
32
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 44
33
Vgl. Neuber, Vom logischen Selbstmord, dem Wert des absurden Lebens und Camus Logik bis zu deren Tod,
S. 99
34
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 18
5
nach dem richten, was er für wahr hält. Das Konsistenzgebot fußt auf den Bedingungen der
Vernunft, wenn man annimmt, dass ein vernunftgemäßes Handeln das Aufrechterhalten einer
Gewissheit erfordert. Camus verlangt damit nichts als Folgerichtigkeit in theoretischer
Vernunft und Aufrichtigkeit in praktischer Vernunft.35
Man könnte kritisieren, dass dieses vernunftorientierte Gebot auf keine Letztbegründung
zurückgeht, da angesichts der Absurdität, die sich als erste Wahrheit des Menschen darstellt,
wie sich noch zeigen wird, jeder Wertanspruch nivelliert ist. Warum sollte man innerhalb der
Absurdität vernunftgemäß handeln und gerade diesen Wahrheitsanspruch bewahren, wenn
sonst alles gleichgültig ist? Das Absurde ergibt sich erst aus diesem Wahrheitsanspruch und
würde verloren gehen, wenn der Mensch sein Einheitsbedürfnis aufgibt. Der Mensch als
Vernunftwesen erzeugt selbst erst durch seine conditio humana das Absurde, da er sein
Einheitsbedürfnis nicht befriedigen kann. Wahrheit und Absurdes bedingen sich damit
gegenseitig: ohne Wahrheitsanspruch kein Absurdes und das Absurde kann nur bestehen
bleiben, wenn der Mensch seine Forderung nach Wahrheit und Einheit nicht aufgibt, obwohl
das Absurde als Wahrheit paradoxerweise jede Handlungsmaxime, also auch die der
Wahrheitserhaltung, verneint. Das Absurde ist damit eine absurde Wahrheit: Der Mensch hat
einen Wahrheitsanspruch, aus dem das Absurde als eine Wahrheit entsteht. Das Absurde
wiederum verneint aber jeden Anspruch auf Wahrheit und damit sich selbst. Das ist aber
unmöglich, da es erst aus dem Wahrheitsanspruch selbst entsteht: „Wenn ich etwas als wahr
erkenne, muß ich daran festhalten. Wenn ich ein Problem lösen will, dann darf ich zumindest
durch diese Lösung nicht einen Bestandteil dieses Problems verschwinden lassen.“ 36 Da die
conditio humana in der Schlussfolge vor dem Absurden steht und das Absurde von der
conditio humana abhängt, erscheint es gerechtfertigt, den menschlichen Anspruch auf Einheit
und Konsistenz zu wahren und ihm zu folgen. Denn das Absurde ist eine Wahrheit und steht
deshalb unter dem Gebot seiner Erhaltung, die nur gewährleistet wird, wenn der Mensch sich
als Vernunftwesen anerkennt und seinem natürlichen Sinnbedürfnis nachgeht.37 „Dieser
Mensch wird auch angesichts der Irrationalität der Welt, mit dem Absurden konfrontiert,
seinen Anspruch auf Klarheit und Rationalität nicht aufgeben: Im Gegenteil: Da genau dieser
Anspruch das Absurde ja erst hat entstehen lassen, hieße, ihn jetzt fallen zu lassen, sich selbst
verleugnen.“38 Das Absurde bleibt nur erhalten, wenn der Mensch gleichzeitig seine eigene
Wesenheit an die Gleichgültigkeit des Absurden nicht verrät. Er entscheidet sich damit für
35
Vgl. Gerthild Tesak-Gutmannsbauer, Der „Wille zum Sinn“. Das Wahre, Gute und Schöne bei Albert Camus,
Hamburg 1993, S. 24-28
36
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 44
37
Vgl. Neuber, Vom logischen Selbstmord, dem Wert des absurden Lebens und Camus Logik bis zu deren Tod,
S. 99-100
38
Tesak-Gutmannsbauer, Der „Wille zum Sinn“, S. 27
6
sich selbst. Das Moment der Entscheidung spielt in Camus Philosophie ebenso eine
ausschlaggebende Rolle wie das der Erfahrung. So bietet das Postulat des Erhalts der
Wahrheit keine objektive Grundlage, sondern ist mehr als eine subjektive Entscheidung für
die Vernunft zu sehen, so wie die Entscheidung gegen den Selbstmord und für die
Auflehnung und das Leben. Die Entscheidungsfreiheit des Individuums stellt für Camus
generell eines der höchsten Güter dar.39
Diesen zwei methodischen Prämissen, der der phänomenologischen Evidenz und der der
Wahrheit, versucht Camus in seinem Essay treu zu bleiben. Die Schlussfolgerungen, die sich
für Camus daraus ergeben, werden im Folgenden behandelt.

3. Das Absurde
„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es
wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.“40

Camus Weg zum Absurden führt ihn über das Phänomen des Selbstmords. Er stellt den
Selbstmord als die eindeutigste Antwort heraus, die ein Mensch auf die Frage geben kann, ob
das Leben seine Mühe wert ist: „Es handelt sich einfach um das Geständnis, es sei es nicht
wert. […] Es heißt gestehen, dass man mit dem Leben nicht fertigwird oder es nicht
versteht.“41 Deshalb ist der Selbstmord für ihn das grundlegendste Problem der Philosophie.
Alle anderen philosophischen Themen sind gegenüber dieser Grundfrage zweitrangig, ja
sogar „nichtig“42, denn sie steht in engem Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn des
Lebens, da man annehmen kann, dass ein wertvolles Leben einen Sinn braucht, um als
solches zu gelten. Die Sinnfrage wird hier von Camus als Entscheidungsfrage für oder gegen
das Leben betrachtet. Wenn man sich umbringt, dann sieht man keinen Sinn darin, all das
Leid und die Mühen des Lebens zu ertragen. Im Alltag vollziehen die Menschen ihr Leben
aus Gewohnheit, aber wer Selbstmord begeht, der hat das „Lächerliche dieser Gewohnheit
[…], das Fehlen jedes tiefen Grundes, zu leben, die Sinnlosigkeit dieser täglichen
Betriebsamkeit, die Nutzlosigkeit des Leidens [erkannt]“43. Daraus, dass sich so viele
Menschen umbringen, weil sie in ihrem Leben keinen Sinn finden, schließt Camus zunächst,
dass „der Sinn des Lebens die dringlichste aller Fragen ist.“44

39
Vgl. Tesak-Gutmannsbauer, Der „Wille zum Sinn“, S. 7, 24
40
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 15
41
Ebd. S. 17
42
Ebd. S. 15
43
Ebd. S. 17f
44
Ebd. S. 16
7
Camus stellt dann allerdings diese Annahme infrage, dass zwischen dem Wert des Lebens
und dem Sinn des Lebens eine Verbindung existiert. Besteht wirklich ein direkter kausaler
Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Sinnlosigkeit und dem Selbstmord? Hat das Leben
für einen Menschen wirklich nur dann Wert, wenn er auch einen Sinn darin sieht? Camus
stellt fest, dass es durchaus Menschen gibt, die Selbstmord begangen haben, obwohl sie an
einen Sinn des Lebens geglaubt haben und auch umgekehrt leben Menschen weiter ohne
jeden Sinn. Oft haben Menschen sich schlicht an das Leben gewöhnt und zu beachten ist
auch, dass ein selbstmörderischer Geist stets auch seine körperlichen Bestrebungen
überwinden muss, denn „der Körper scheut die Vernichtung.“ 45 Seine Gewohnheiten und sein
Überlebenstrieb können den Menschen lange Zeit am Leben erhalten.
Für Camus steht fest: „Man bringt sich um, weil das Leben es nicht wert ist, gelebt zu werden
– das ist zweifellos eine Wahrheit […] Aber rührt diese Beleidigung der Existenz, diese
Verleugnung, in die man sie stürzt, daher, dass sie keinerlei Sinn hat?“46. Camus bezweifelt
diese Annahme, „dem Leben einen Sinn abzusprechen führe notgedrungen zu der Erklärung,
das Leben sei es nicht wert, gelebt zu werden. In Wahrheit gibt es zwischen diesen beiden
Urteilen keine zwanghafte Verbindung.“47
Diese vorangegangenen Überlegungen zum Selbstmord dienen Camus als Hinführung zu
seiner eigentlichen Frage: „Die Betrachtung des Selbstmordes gibt mir also Gelegenheit, die
einzige mich wirklich interessierende Frage zu stellen: Gibt es eine Logik bis zum Tode?“48
Ist es logisch, wegen der Sinnlosigkeit der Welt Selbstmord zu begehen? Über dieses
Problem gelangt Camus zum Phänomen der Absurdität.
Das Absurde entsteht bei Camus durch das Bedürfnis des Menschen nach Einheit und Sinn
und durch die Welt, die dieses nicht befriedigen kann: „Es ist jene Entzweiung zwischen dem
begehrenden Geist und der enttäuschenden Welt, es ist meine Sehnsucht nach der Einheit,
dieses zersplitterte Universum und der Widerspruch, der beide verbindet.“49
Es liegt in der conditio humana, also im Wesen des Menschen, dass der Mensch ein
Einheitsstreben innehat und nach Sinn sucht, denn er ist ein Vernunftwesen. Da der Mensch
aber in einer Welt lebt, die ihm offensichtlich keinerlei Sinnangebote macht und es auch nicht
in seiner Macht liegt, dies zu ändern, wird das Absurde zu einer fundamentalen
anthropologischen Grunderfahrung.50 Das Absurde ist die Lebensbedingung, unter der alle
Menschen stehen. Die conditio humana befindet sich somit im Wechselspiel zwischen dem
45
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 20
46
Ebd. S. 20f
47
Ebd. S. 20
48
Ebd. S. 21
49
Ebd. S. 62f
50
Vgl. Bidmon, Denkmodelle der Hoffnung in Philosophie und Literatur, S. 221
8
Rationalitätsdenken des Menschen und der Irrationalität der Welt. Diese beiden Pole sind
konstitutiv für ein menschliches Wesen, und da diese beiden miteinander unvereinbar sind,
entsteht das Absurde als elementarer Teil der conditio humana.51
Mit Ausnahme einzelner mittelmeerischer Momente, in denen er noch Einheitsmomente mit
der Natur spürt, hat sich für Camus der moderne Mensch durch seine Vernunftorientierung
vollkommen von der Welt abgewandt. Mit den Abstraktions- und Objektivierungsleistungen
seines Geistes und seinem funktionalen Denken hat er die Ursprünglichkeit der Existenz in
der Welt aufgegeben. Er kann die Welt nicht mehr an sich wahrnehmen, so wie sie ist,
sondern muss sie in den ihm eigenen Begriffen und Formen denken. Damit hat der Mensch
den Zugang zur Welt verloren und sich für die Botschaften der Welt verschlossen, kann nicht
mehr mit ihr kommunizieren. Er hat verlernt, in die Beständigkeit der Welt zu vertrauen und
die Beschaffenheit der Elemente wird durch seinen Geist zu manipulierten Gestalten, die ihm
dadurch selbst fremd werden. Seine Vernunftbegabung lässt auch das Gefühl der Einsamkeit
in ihm aufkeimen, denn sie isoliert ihn von der ursprünglichen Einheit der Welt, er fühlt sich
nicht mehr in der Natur geborgen und integriert.52 Die Tiere leben noch in Einheit mit ihrer
Umwelt. Aber durch seine Vernunft unterscheidet er sich vom Tier und sie ist es, die ihn mit
der Welt entzweit:

„Wäre ich ein Baum unter Bäumen, Katze inmitten der Tiere, dann hätte dieses Leben einen Sinn oder dieses
Problem hätte vielmehr keinen, denn ich wäre Teil dieser Welt. Ich wäre diese Welt, gegen die ich mich jetzt mit
meinem ganzen Bewusstsein und mit meinem ganzen Anspruch auf Vertrautheit stemme. Ebendiese so
lächerliche Vernunft setzt mich in Widerspruch zur ganzen Schöpfung.“53

Indem der Mensch als erstes Wesen die Frage Warum? in die Welt geworfen hat, hat er sich
von ihr entfernt, denn die Frage führt zur Distanzierung von dem, auf das sie gerichtet ist.54
Und auch das Bewusstsein selbst konnte nur in Distanzierung zum Sein entstehen. Das Sein
offenbart sich im Menschen, der zwar bewusst ist, aber damit auch distanziert von der Welt
und ihr fremd. Die Erkenntnis dieser Kluft zwischen Mensch und Welt, die durch das
Bewusstsein entsteht, ist das Absurde.55 Schließlich kann der Mensch auch den Sinn seiner

51
Mit dieser Annahme einer bestimmten absurden Wesenheit des Menschen akzeptiert Camus nicht Sartres Die
Existenz geht der Essenz voraus.
52
Vgl. Schillinger-Kind, Albert Camus zur Einführung, S. 93f
53
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 64f
54
Vgl. Schillinger-Kind, Albert Camus zur Einführung, S. 73-98
55
Vgl. Jean Firges, Albert Camus: Das Absurde und die Revolte. Die Suche nach einem neuen Mythos,
Annweiler am Trifels 2000, S. 34f
9
Existenz in der Welt nicht mehr finden, weil es ein abstrakter Sinn ist, den die Welt nicht
kennt.56
Die conditio humana steht unter der Bedingung des Absurden selbst. Dieses befindet sich in
unweigerlichem Zusammenhang mit dem Gefühl der Sinnlosigkeit, da es die Konfrontation
des Sinnbedürfnisses des Menschen und der Sinnverweigerung der Welt darstellt. Die
Sinnlosigkeit der Welt wird erst zur Bürde des Menschen, weil dieser dieses Verlangen nach
Sinn hat und sie führt dann zur Verzweiflung, wenn er sich dieser Entzweiung bewusst ist:
„Diese Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden
und seinem Rahmen, genau das ist das Gefühl der Absurdität. Da alle gesunden Menschen an
Selbstmord gedacht haben, wird man ohne weitere Erklärungen erkennen können, dass
zwischen diesem Gefühl und dem Streben nach dem Nichts eine direkte Beziehung
besteht.“57 Da die Sinnlosigkeit im Menschen zu allererst ein Gefühl der Verzweiflung
auslöst, erscheint der Selbstmord als die Erlösung. Aber ist diese Entscheidung auch auf
vernünftige Weise logisch? Genau diese Frage möchte Camus beantworten: „Gegenstand
dieses Essays ist ebendieser Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Selbstmord,
das genaue Ermessen, wieweit der Selbstmord für das Absurde eine Lösung ist.“58

3.1 Das Gefühl des Absurden


Die Absurdität ist die Evidenz und erste Wahrheit, auf die Camus in seinem Essay seine
Argumentation aufbaut. Wie bereits angesprochen, möchte Camus seine absurde Logik auf
phänomenologischen Argumenten aufbauen, deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er sich
dem Absurden zunächst als einem Gefühl nähert, das uns überkommt, wenn wir das Absurde
erfahren. Es ist also zunächst nichts rational gegebenes, sondern etwas real erfahrenes. Dies
erschwert allerdings den Zugang für Menschen, die selbst noch nicht Zeuge des absurden
Gefühls geworden sind, weshalb sie sich weniger damit identifizieren können und sich damit
nicht auf die phänomenologische Evidenz dieses Gefühls berufen können.
Jedoch kann „[d]as Gefühl der Absurdität […] an jeder beliebigen Straßenecke jeden
beliebigen Menschen anspringen.“59 Kein Mensch ist dagegen gewappnet, ganz gleich,
welchem Lebensinhalt er nachgeht. Die Gefühle, die ein Mensch angesichts der Sinnlosigkeit
spürt, tauchen die Welt in ein bestimmtes „Klima des Absurden“. Damit ein Mensch beginnt,
über die Sinnlosigkeit des Daseins auf Verstandesebene nachzudenken, muss er nach Camus
zunächst das Gefühl des Absurden empfinden: „Das Klima der Absurdität steht am

56
Vgl. Schillinger-Kind, Albert Camus zur Einführung, S. 73-98
57
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 18
58
Ebd. S. 18
59
Ebd. S. 23
10
Anfang“60. Daraus erst entstehen die mörderischen geistigen Regungen. Es ist ein
unberechenbares Gefühl, das einen in jeder alltäglichen Gewohnheit überkommen kann:

„Manchmal stürzen Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden ‚Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn,
vier Stunden Arbeit, Essen Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe
Rhythmus – das ist meist ein bequemer Weg. Eines Tages aber erhebt sich das Warum, und mit diesem
Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an. ‚Fängt an‘ – das ist wichtig. Der Überdruss steht am Ende
der Handlungen eines mechanischen Lebens, gleichzeitig leitet er aber auch eine Bewusstseinsregung ein. Er
weckt das Bewusstsein und fordert den nächsten Schritt heraus. Der nächste Schritt ist die unbewusste Rückkehr
in die Kette oder das endgültige Erwachen. Schließlich führt dieses Erwachen mit der Zeit zur Entscheidung:
Selbstmord oder Wiederherstellung. An sich hat der Überdruss etwas Widerwärtiges. Hier jedoch muss ich den
Schluss ziehen, dass er gut ist. Denn mit dem Bewusstsein fängt alles an, und nur durch das Bewusstsein hat
etwas Wert.“61

Es wird deutlich, dass das Absurde einen keineswegs nur in außergewöhnlichen existenziellen
Situationen überkommt. Camus beschreibt es mehr wie eine lauernde Bedrohung in Form
eines Verdrusses, die einen unvorbereitet in der Monotonie des Alltags angreift. Für Camus
stellt dieser Angriff aber etwas Positives dar, denn er rüttelt die Menschen wach aus einem
bewusstlosen Leben. Der Überdruss weckt das Bewusstsein für die eigene Situation. Der
Mensch wird aus seinem stumpfen und automatischen Leben herausgerissen, meistens durch
die einfache Frage Warum?: „Sinnfragen können langsam, fast unmerklich in kleinen
Alltagssituationen beginnen, sich darin festsetzen und sich mehr und mehr ausbreiten und
schließlich ein beachtliches Gewicht erhalten, wenn das bohrende „wozu“ zu immer größeren
Horizonten drängt und sich schließlich im ‚Wert des Lebens überhaupt‘ verfängt.“ 62
Camus beschreibt drei verschiedene Weisen, durch die der Mensch mit der Absurdität
konfrontiert werden kann: Die Zeit, eng in Zusammenhang mit dem Tod, und die Fremdheit.
Das Bewusstsein für die eigene absurde Lage entsteht vor allem dann, wenn der Mensch sich
ins Verhältnis zur Zeit setzt:

„So trägt uns im Alltag eines glanzlosen Lebens die Zeit. […] Wir leben auf die Zukunft hin. […] Zugleich aber
situiert er sich im Verhältnis zur Zeit. Er nimmt in ihr seinen Platz ein. Er erkennt an, sich an einem bestimmten
Punkt einer Kurve zu befinden, die er eingestandenermaßen durchlaufen muss. Er gehört der Zeit, und bei jenem
Grauen, das ihn dabei packt, erkennt er in ihr seinen schlimmsten Feind.“ 63

60
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 24
61
Ebd. S. 25
62
Alfried Längle, Wenn der Sinn zur Frage wird…, Wien 2002, S. 12-13.
63
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 25f
11
Ihm wird klar, dass alle seine Lebensziele, die seinem Leben Sinn geben, auf die Zukunft
ausgerichtet sind. Doch nichts ist ungewisser als diese Zukunft, denn nichts garantiert ihm,
dass er als sterbliches Wesen diese Zeit erleben wird. 64 Der Mensch mit einem zeitlichen
Bewusstsein agiert immer in Bezug zur Zeitlichkeit und es ist ein elementarer Teil seines
Denkens, dass sich ihm alles in aufeinanderfolgenden Kausalketten erschließt. Ihm erscheint
nur das als sinnvoll, was er in einen kausalen Zusammenhang setzen kann. Und dadurch, dass
der Mensch immer nach einem letzten Grund von allem sucht, werden seine Kausalketten
unendlich und für seinen endlichen Verstand nicht mehr greifbar. Sie unterliegen einem
„infiniten Regress der Ursachen“65. Da seine Kausalketten meistens zukunftsorientiert sind,
brechen alle kausalen Verhältnisse angesichts des Todes zusammen, der dem Leben ein
endgültiges Ende setzt66: „Das Grauen rührt in Wirklichkeit von der rechnerischen Seite des
Ereignisses her.“67: Er erkennt keinen Sinn und Zweck mehr in seinen Mühen, die
letztendlich alle in seiner eigenen Vernichtung münden werden: „Im tödlichen Licht dieses
Verhängnisses tritt die Nutzlosigkeit in Erscheinung.“ 68 Durch sein Todesbewusstsein wird
jegliche sinngebende Beschäftigung in seinem Leben gefährdet. In Bezug auf den Tod tritt
uns das Gefühl des Absurden am elementarsten entgegen, denn wenn der Mensch sich die
Bedeutung des Todes, nämlich die Vernichtung seines selbst, wirklich vor Augen führt,
überkommt ihn eine existenzielle Angst. Es ist für uns absurd, dass der Tod unserer Existenz
schlagartig ein Ende bereiten kann, mindestens genauso absurd und verwunderlich ist es aber
für Camus, dass es der Menschheit möglich ist, über lange Zeit ihr Wissen um den Tod zu
verdrängen und so zu tun und zu handeln, als gebe es dieses Ende nicht: „Man kann jedoch
nie genug darüber staunen, dass alle so leben, als ob niemand wüsste.“69
Aber nicht nur in der Zeit und im Tod wird der Mensch mit der Absurdität seines Daseins
konfrontiert, auch im Angesicht des Anderen, sich selbst und der Natur überfällt ihn die
Absurdität als Gefühl der Fremdheit, denn „in einem Universum, das plötzlich der Illusionen
und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd.“70 Es liegt in der Natur des
Menschen, Dinge verstehen zu wollen, und was er sich nicht erklären kann, das ist ihm fremd.
Er kann die Welt nur mit seinen eigenen Vernunftkategorien begreifen, die sich aber nur
widerwillig auf die Irrationalität der Welt übertragen lassen. Die Anstrengungen des

64
Vgl. Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 25f
65
Neuber, Vom logischen Selbstmord, dem Wert des absurden Lebens und Camus Logik bis zu deren Tod, S. 97
66
Ebd. S. 97f
67
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 27
68
Ebd. S. 28
69
Ebd. S. 27
70
Ebd. S. 18
12
Menschen, die Welt vernünftig zu erfassen, scheitern daher an der Verfasstheit der Welt71.
Wir können die Welt mit unserer Vernunft nicht verstehen, deshalb ist sie uns fremd: „Eine
Sekunde lang verstehen wir die Welt nicht mehr […] Die Welt entgleitet uns, da sie wieder
sie selbst wird. Die von der Gewohnheit verstellten Kulissen werden wieder, was sie wirklich
sind. Sie entfernen sich von uns.“72 Auch die Mannigfaltigkeit der Natur wirkt unmenschlich
und es tritt die „ursprüngliche Feindseligkeit der Welt“ 73 entgegen. Die Größe, Stärke und
Kraft der Natur lässt die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschen gewahr werden. Ihr ist
unsere Existenz gleichgültig und es ist beklemmend, „mit welcher Intensität die Natur oder
eine Landschaft uns verneinen kann.“74
Aber nicht nur die Natur, „[a]uch die Menschen sondern Unmenschliches ab.“ Diese
„Unmenschlichkeit des Menschen selbst“75 spüren wir in Form eines Ekels. Wenn wir die
Menschen zu genau beobachten, ihre mechanischen Bewegungen und Angewohnheiten
studieren, erscheinen sie uns seltsam. Sogar unser Gegenüber, auch wenn wir ihn Jahre
kennen, wird uns fremd, wenn uns das Gefühl des Absurden befällt: „Wahrscheinschlich ist
es wahr, dass uns ein Mensch immer unbekannt bleibt und es in ihm immer etwas
Unauflösbares gibt, das sich uns entzieht.“76 Und sogar unser eigenes Selbst kann uns fremd
erscheinen, denn wenn wir über uns selbst nachdenken, so gelingt uns dies nur, indem wir uns
von uns selbst distanzieren. Gleichzeitig entfernen wir uns aber durch diese Distanz auch von
uns selbst und werden uns selbst fremd.77 Tragischerweise können wir nur über uns selbst als
einen Fremden nachdenken: „Nie wird der Graben zu füllen sein zwischen der Gewissheit
meiner Existenz und dem Inhalt, den ich dieser Gewissheit zu geben suche. Ich werde mir
selbst immer fremd bleiben.“78
Das Klima des Absurden begegnet uns also auf verschiedene Weise: als die Angst, die uns
ergreift, wenn uns unser eigener Tod bewusst wird: „Dieses Aufbegehren des Fleisches ist das
Absurde“79; als die Fremdheit gegenüber der Natur: „diese Dichte und diese Fremdheit der
Welt sind das Absurde.“80, als die Fremdheit der anderen Menschen: „dieser Ekel, wie ein
Autor unserer Tage es nennt, ist das Absurde“81 und zuletzt auch als das Fremdsein vor uns
selbst: „Und auch der Fremde, der uns in gewissen Augenblicken in einem Spiegel begegnet

71
Vgl. Rath, Albert Camus: Absurdität und Revolte, S. 122
72
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 26
73
Ebd. S. 26
74
Ebd. S. 26
75
Ebd. S. 27
76
Ebd. S. 23
77
Vgl. Schaub, Albert Camus und der Tod, S. 2
78
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 31
79
Ebd. S. 26
80
Ebd. S. 26
81
Ebd. S. 27
13
[…] ist das Absurde.“82 Daraufhin kann der Mensch versuchen, in sein bewusstloses Leben
und die Gewohnheit zurückkehren oder er muss sich endgültig mit der Absurdität befassen,
Selbstmord begehen, in die Hoffnung ausweichen oder einen anderen Ausweg finden. 83

3.2 Das Absurde auf Verstandesebene


Als nächstes widmet Camus sich dem Absurden auf der Verstandesebene, denn nachdem der
Mensch von dem Gefühl der Sinnlosigkeit übermannt wird, wendet er sich hilfesuchend an
seinen Intellekt. Die sinnlichen Erlebnisse oder Gefühle gehen bei Camus dem Denken immer
voraus und die Reflexion setzt erst dann ein, wenn sich der Mensch seinen affektiven
Erfahrungen bewusst wird.84 Camus hat bereits festgestellt, dass der Mensch ein natürliches
Bedürfnis nach Verständnis und Klarheit hat. Dabei ist sein Denken anthropomorph, es muss
die Erscheinungen auf menschliche Weise verstehen: „Die Welt verstehen heißt für einen
Menschen, sie auf das Menschliche zurückführen, ihr sein Siegel aufdrücken. […] ‚Alles
Denken ist anthropomorph‘. So kann der Geist, der die Wirklichkeit verstehen will, sich erst
dann zufriedengeben, wenn er sie auf Denkbegriffe zurückgeführt hat.“85 Um mir etwas
vertraulich und begreiflich zu machen, brauche ich meine Vernunft, gleichzeitig entfernt
diese mich aber von der Welt, die ich begreifen will, denn sie kennt die Verstandesbegriffe
und Kategorien des Menschen nicht. Unsere Vernunftkategorien lassen sich nicht auf die
unvernünftige Welt übertragen, deshalb erscheint sie uns als irrational.86 Auch die
Naturwissenschaft stößt mit ihren Formeln und Gesetzen an ihre Grenzen:

„Ihr [die Wissenschaften] beschreibt sie mir, und ihr lehrt mich, sie zu klassifizieren. Ihr zählt ihre Gesetze auf,
und in meinem Wissensdurst halte ich sie für wahr. Ihr zerlegt ihren Mechanismus, und meine Hoffnung wächst.
Schließlich lehrt ihr mich, dieses blendende und bunte Universum lasse sich auf das Atom zurückführen und das
Atom wieder auf das Elektron. […] Ihr erklärt mir die Welt mit einem Bild. Jetzt merke ich, dass ihr bei der
Poesie gelandet seid: nie werde ich wirklich etwas wissen. […] So läuft diese Wissenschaft, die mich alles lehren
sollte, schließlich auf eine Hypothese hinaus, die Klarheit versinkt in einer Metapher. […] Gewiss kann ich die
Erscheinungen wissenschaftlich fassen und aufzählen, doch kann ich damit noch nicht die Welt ergreifen.“87

All die Erkenntnisse, die der Mensch für endgültige Wahrheiten gehalten hat, zerbrechen und
die vermeintliche Einheit zerfällt in einzelne Bruchstücke. Die Wissenschaft bietet nur

82
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 27
83
Vgl. Ebd. S. 24f
84
Dzelili, Der Wille zum Glück bei Albert Camus, S. 8
85
Camus, Der Mythos des Sisyohos, S. 29
86
Vgl. Laura Böckmann, Auflehnung – Freiheit – Leidenschaft. Eine Mediation über das Absurde, in: Andreé
Gerland (Hrsg.) u.a., Per Absurdum. Das Absurde als Lebensentwurf und Denkmodell. 11 Versuche, Berlin 2016,
S. 11f
87
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 32
14
scheinbare Antworten. Ihr grundlegender Fehler besteht darin, dass sie die Fragen nach
Struktur und Ordnung mit Sinnfragen vertauscht. Sie kann zwar bis zu einem gewissen Punkt
Gesetzmäßigkeiten und Strukturen in der Welt erkennen, aber das hilft bei der Beantwortung
der Frage nach dem Sinn dahinter nicht weiter.88 Camus kritisiert im Kontext seiner
Subjektivitätsphilosophie außerdem, dass man heutzutage nur noch von Wahrheiten sprechen
kann, aber nicht mehr von einer Wahrheit. Diese Wahrheiten können nur noch als
Annäherungen gelten. Stattdessen kann der Mensch die Welt nach Camus viel klarer und
intensiver empfinden angesichts der Unfassbarkeit der Natur: „Die sanften Linien dieser
Hügel und die Hand des Abends auf meinem erregten Herzen lehren mich viel mehr.“89
Sogar, wenn das Denken versucht, über sich selbst zu reflektieren, endet es nur in Paradoxien.
Bei der Aussage „Alles ist wahr“, sowie bei der Aussage „Alles ist falsch“ gerät der Geist in
einen circulus vitiosus. Wenn alles wahr ist, so muss auch das wahr sein, was diesem Satz
widerspricht. Genauso verhält es sich, wenn alles falsch sein soll, denn dann ist auch dieser
Satz selbst falsch, also seine Aussage ungültig. Diese „Verrenkung der Logik“ 90 macht die
Begrenztheit der menschlichen Vernunft sogar in Bezug auf sich selbst deutlich.
Das Absurde auf Verstandesebene endet für Camus in einer Unmöglichkeit wahrer
Erkenntnis: „Mit Ausnahme der berufsmäßigen Rationalisten glaubt heute niemand an die
wahre Erkenntnis.“91 Denn auf sich selbst gerichtet negiert sich das Denken und auch
außerhalb seiner selbst erreicht der Mensch keine vollkommene Erkenntnis. Die menschliche
Vernunft kann noch so lange und erbittert nach ihresgleichen in der Außenwelt suchen, sie
wird dort nur ihr Gegenteil antreffen. Ihr steht nur Irrationalität gegenüber. So bleibt der
Mensch sich selbst und der Welt fremd: „Auch der Verstand sagt mir also auf seine Weise,
dass diese Welt absurd ist.“92 Der rationale Geist ist eingesperrt in einer irrationalen Welt.
Durch diesen Zusammenstoß, dem Verlangen nach Vernunft und der Irrationalität, entsteht
das Absurde. Diese Absurdität bestimmt des Menschen Verhältnis zum Leben und es ist die
einzige Wahrheit, der sich ein Mensch sicher sein kann.93

88
Vgl. Rudolf Lüthe (Hrsg.), Absurder Lebensstolz. Postmoderne Auseinandersetzung mit der Philosophie Albert
Camus‘, Berlin 2012, S. 25
89
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 32
90
Ebd. S. 29
91
Ebd. S. 31
92
Ebd. S. 33
93
Vgl. Ebd. S. 33f
15
3.4 Die Logik des Absurden
Das Verlangen des menschlichen Geistes, in der Welt einen Sinn zu finden und die
Unmöglichkeit dessen, stellt sich für Camus als ein Drama dar, innerhalb dessen der Mensch
sein Leben führen muss: „Diese Sehnsucht nach Einheit, dieses Verlangen nach Absolutem
enthüllt die wesentliche Triebkraft des menschlichen Dramas.“94 Die drei Figuren des Dramas
sind das Irrationale der Welt, die Sehnsucht des Menschen nach Rationalität und das Absurde,
das aus deren Unvereinbarkeit entsteht:

„Und die Vernunft ist vor diesem Schrei des Herzens machtlos. Der von dieser Forderung geweckte Geist sucht
und findet nur Wiedersprüche und Unsinnigkeiten. Was ich nicht begreife, ist ohne Vernunft. Die Welt ist voll
dieser irrationalen Dinge. Sie selbst, für sich genommen, deren einzigartige Bedeutung ich nicht begreife, ist nur
ein riesiges Irrationales. […] An diesem Punkt seiner Bemühungen steht der Mensch vor dem Irrationalen. Er
fühlt in sich sein Verlangen nach Glück und Vernunft. Das Absurde entsteht aus diesem Zusammenstoß zwischen
dem Ruf des Menschen und dem vernunftlosen Schweigen der Welt.“95

Der Mensch befindet sich für Camus somit innerhalb „absurder Mauern“96, sowohl auf
Gefühls-, als auch auf Verstandesebene, aus denen er nicht ausbrechen kann. Er kann sie
nicht einmal mithilfe seiner Vernunft überwinden, da diese erst das Absurde entstehen lässt.
Nach der Beschreibung des Absurden unter diesen zwei Gesichtspunkten, wendet Camus sich
seiner Logik des Absurden zu.
Zunächst spricht er den Begriff des Absurden an: „Das Gefühl des Absurden ist nicht mit dem
Begriff des Absurden gleichzusetzen“97, denn er kann niemals das Gefühl der Absurdität ganz
erfassen. Camus versucht mit einem Alltagsbeispiel zu beleuchten, wie wir den Begriff des
Absurden in unserem Sprachgebrauch verwenden. Wenn jemanden etwas vorgeworfen wird,
was er unmöglich getan haben kann, dann wird dieser den Vorwurf als absurd bezeichnen. Er
bringt damit „den absoluten Widerspruch zwischen der Handlung, die ich ihm unterstelle, und
seinen Lebensgrundsätzen zum Ausdruck.“98 In diesem Sinne heißt absurd so viel wie
unmöglich und „Das ist ein Widerspruch in sich.“ 99 Der Begriff des Absurden findet also
Verwendung, wenn etwas im Widerspruch zueinander steht: „In gleicher Weise führt man
einen Beweis ad absurdum, indem man die unmöglichen Folgen einer Behauptung mit der
logischen Realität vergleicht, die wir beweisen wollen.“100

94
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 30
95
Ebd. S. 40
96
Ebd. S. 22
97
Ebd. S. 41
98
Ebd. S. 42
99
Ebd. S. 42
100
Ebd. S. 41
16
Es wird deutlich, dass das Absurde dann entsteht, wenn zwei einander gegensätzliche Dinge
aufeinandertreffen, und die Intensität des Absurden wird „umso größer sein, je größer der
Abstand zwischen meinen Vergleichsobjekten ist“101. Der Widerspruch entsteht aber erst,
wenn diese zwei Dinge miteinander in Beziehung gesetzt werden und wir versuchen, sie
miteinander zu vereinen. Das Absurde resultiert also aus einem Vergleich, und zwar aus
einem solchen Vergleich, den wir als unverträglich und widerstreitend erkennen. Wir setzten
etwas mit etwas anderem in Beziehung und bemerken, dass diese zwei Dinge miteinander
unvereinbar sind, daraus entsteht ein Widerspruch, der in uns ein Gefühl der Absurdität
verursacht. Betrachtet man etwas für sich allein, würde die Bezeichnung absurd dieses
verfehlen, denn absurd kann etwas nur in Relation zu etwas anderem sein: „Das Absurde ist
im Wesentlichen eine Entzweiung. Es ist weder in dem einen noch in dem anderen der
verglichenen Elemente enthalten. Es entsteht durch deren Gegenüberstellung.“ 102 Bezogen
auf das Verhältnis zwischen Mensch und Welt zeichnet sich dieser konkrete Vergleich als das
Sinnbedürfnis des Menschen und die Sinnlosigkeit der Welt ab: „An sich ist diese Welt nicht
vernünftig – das ist alles, was man von ihr sagen kann. Absurd aber ist der Zusammenstoß
des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Innern des
Menschen laut wird. Das Absurde hängt ebenso sehr vom Menschen ab wie von der Welt. Es
ist vorerst das einzige Band zwischen ihnen.“103 Der Wille des Menschen verlangt etwas, das
die Welt ihm nicht bieten kann, und aus diesem Wiederspruch entsteht das Absurde. Es ist die
Verbindung des Menschen zur Welt.104
Camus bezeichnet diesen Sachverhalt als eine „eigentümliche Dreieinigkeit“ 105 bestehend aus
den Variablen Mensch, Welt und Absurdes. Diese unteilbare Dreieinigkeit entsteht nur, wenn
alle drei Faktoren zusammen diese besondere Bindung eingehen. Wird ein Element zerstört,
so reißt das Band. Stirbt ein Mensch und wird sein Geist ausgelöscht, so endet auch das
Absurde, denn der Mensch selbst ist es, der durch sein natürliches Bedürfnis, alles auf
Vernunftgründe zurückzuführen, das Absurde erzeugt: „Außerhalb eines menschlichen
Geistes kann es nichts Absurdes geben.“106 Das Absurde liegt damit in der Natur unseres
Geistes selbst begründet. Indem er unbedingte Einheit will, entzweit er sich von der Welt. Der
Mensch wird zum Schöpfer seines eigenen absurden Schicksals. Der Tod des Menschen ist
auch der Tod des Absurden. Und ohne den Bezug auf die irrationale Welt kann das Absurde
auch nicht bestehen. Da Camus die Absurdität als elementare und wesentliche Verbindung
101
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 42
102
Ebd. S. 43
103
Ebd. S. 33f
104
Vgl. Ebd. S. 34
105
Ebd. S. 43
106
Ebd. S. 43
17
des Menschen mit der Welt festgestellt hat, schließt er, dass sie seine „erste Wahrheit“107 ist.
Und an dieser einzigen Wahrheit fühlt er sich verpflichtet, festzuhalten, weil sie die einzige
Wahrheit ist, derer er sich gewiss sein kann. Sie ist die conditio humana, der der Mensch
unterliegt.

4. Philosophischer Selbstmord
Neben dem physischen Selbstmord benennt Camus den philosophischen Selbstmord, mit dem
er die Flucht des Menschen vor der Absurdität in eine, meist religiöse, Hoffnung meint.
Diesen Selbstmord begehen für ihn all jene, die an eine Form des Jenseitigen und
Übersinnlichen glauben, indem sie ihre Vernunft wegsperren. Für Camus ist dies ein feiges
Ausweichen vor der grausamen, absurden Realität durch die „Hoffnung auf ein anderes
Leben, das man sich verdienen muss, oder die Betrügerei jener, die nicht für das Leben selbst
leben, sondern für irgendeine große Idee, die das Leben überschreitet, es sublimiert, ihm
einen Sinn gibt und es verrät.“108
Camus macht zunächst mehrere Denker aus, darunter Kierkegaard, Schestow, Jaspers und
Heidegger109, bei denen er erkennt, dass sie bereits einmal die Wüsten des Absurden, „die
verlassenen, ausgedörrten Stätten, in denen das Denken seine äußerste Grenze erreicht“110,
betreten haben und bei denen er eine „Identität der geistigen Landschaften, in denen sie sich
bewegen“111 sieht. Er möchte untersuchen, ob ihr Denken in diesem mörderischen112 Klima
der Absurdität überleben konnte, oder ob sie ihre Erkenntnis an eine Hoffnung geopfert
haben. Dem entgegengesetzt behandelt Camus auch Husserls Phänomenologie, der Hoffnung
in einer Rationalisierung der Welt findet.113 Diese sogenannte „triumphierende Vernunft“ soll
aber in dieser Arbeit weitestgehend unbeachtet bleiben, da sie über die wesentliche Aussage
dieses Kapitels hinausführt. Im Folgenden soll unter dem Punkt „gedemütigte Vernunft“
Camus‘ Kritik an Kierkegaard exemplarisch für die religiöse Existenzphilosophie dargelegt
werden. Dabei geht es ihm um die Frage, ob Kierkegaard der dreifachen Verbindung von
Mensch, Absurdität und Welt gerecht geworden ist, oder ob er die Verbindung zerstört hat.
Camus selbst hat sich viel mit Kierkegaards Philosophie beschäftigt114 und begegnet ihm trotz

107
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 43
108
Ebd. S. 20
109
Vgl. Ebd. S. 41
110
Ebd. S. 21
111
Ebd. S. 41
112
Vgl. Ebd. S. 41
113
Vgl. Ebd. S. 55-62
114
Vgl. Lüthe (Hrsg.), Absurder Lebensstolz, S. 8-10
18
seiner Kritik mit Bewunderung115: „Ich weiß auch, dass die Ohnmacht nie so ergreifende
Akkorde erzeugt hat wie bei Kierkegaard.“116 In Bezug auf das Absurde lässt sich Camus als
„Kierkegaard minus Christentum“117 diagnostizieren.

4.1 Gedemütigte Vernunft


Als „gedemütigtes Denken“118 bezeichnet Camus solche Philosophien, in denen die Vernunft
zugunsten des Irrationalen verneint wird. Vor allem im religiösen Glauben sieht Camus einen
solchen Sprung in die Hoffnung, indem er sich vollkommen in das Irrationale versenkt: „[Sie]
vergöttlichen […] durch einen sonderbaren Schluss, was sie niederdrückt, und sie finden
einen Grund zur Hoffnung in dem, was sie hilflos macht. Diese erzwungene Hoffnung ist bei
allen wesenhaft religiös.“119 Camus wirft den Gläubigen vor, dem Streben nach einem ewigen
Leben nachgegeben zu haben, indem sie den Sprung ins Irrationale vollzogen haben.120
Kierkegaard geht wie Camus von einem Universum aus, in dem das Irrationale die
Vorherrschaft besitzt. Er erkennt das Absurde der Welt und gibt sich der schmerzlichen
Erkenntnis der Absurdität ganz und gar hin. Aber für Kierkegaard kann der Mensch im
Bewusstsein der Sinnlosigkeit nicht glücklich werden, er würde daran verzweifeln, was er als
die „Krankheit zum Tode“121 bezeichnet. Deshalb begeht er einen „Selbstmord des Denkens
im Moment seiner reinsten Auflehnung“122, als er sich mit der Erkenntnis der Absurdität
konfrontiert sieht. Die Angst vor der Wahrheit der Sinnlosigkeit bringt ihn dazu, dem
Absurden auszuweichen und ins Irrationale zu springen. Er vollzieht den Sprung ins Ewige,
weil seine Vernunft an einer Sinnstiftung scheitert und ihm somit nur noch der religiöse
Glaube bleibt, um sein Sinnvakuum zu füllen.123 Er interpretiert das Absurde als Zeichen für
die Existenz Gottes. So gelingt es ihm, dass „[g]erade das, was ihn am Sinn und an der Tiefe
dieses Lebens zweifeln ließ, […] ihm jetzt seine Wahrheit und seine Klarheit [schenkt].“ 124
Mit seinem Verstand kann er keinen übergeordneten Sinn in der Welt finden, deshalb
vollzieht er folgenden Gedankensprung: „Das übersteigt, sagt man, jedes menschliche Maß,
es muss also übermenschlich sein.“125. Dass wir Menschen mit unserer Vernunft keine

115
Vgl. Liselotte Richter, Camus und die Philosophen in ihrer Aussage über das Absurde, in:, Heinz Robert
Schlette (Hrsg.), Wege der deutschen Camus-Rezeption, Darmstadt 1975, S.73
116
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 63
117
Lüthe (Hrsg.), Absurder Lebensstolz, S. 8
118
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 34f
119
Ebd. S. 45
120
Vgl. Ebd. S. 45
121
Lüthe (Hrsg.), Absurder Lebensstolz, S. 19
122
Camus, der Mythos des Sisyphos, S. 22
123
Vgl. Ebd. S. 10
124
Ebd. S. 50
125
Ebd. S. 52
19
übersinnliche Ordnung in der Welt finden können, ist für ihn gerade der Beweis für die
Existenz Gottes. Bei ihm wird das Absurde zu Gott, der durch die begrenzte menschliche
Vernunft nicht fassbar ist. Er gibt „mit gequälter List dem Irrationalen das Antlitz und seinem
Gott die Attribute des ungerechten, inkonsequenten und unbegreiflichen Absurden. Sein
Verstand versucht allein das tiefe Verlangen des menschlichen Herzens in ihm zu
unterdrücken.“126 Damit gibt Kierkegaard sich ganz dem Irrationalen hin, was bei ihm die
Bedingung für das Erkennen von Gott darstellt. Er kann in dem Klima des Absurden nicht
verweilen und sucht nach einer Hoffnung, die er in Form des Christentums findet. Als er an
die Grenzen seiner Vernunft gerät, beginnt er gleich an ihrer ganzen Wirksamkeit zu
zweifeln. Er gibt das Vertrauen in seine Vernunft vollständig auf und opfert seinen Verstand
einer Hoffnung.127 In dem Verlangen des Geistes nach Sinnhaftigkeit und Einheit „versagt
[er] der Vernunft die Vernunftgründe“128 und verrät sich damit selbst an das Irrationale. Er
legitimiert dies, weil der menschliche Verstand, der über sich selbst hinaus will, nur bei Gott
enden kann: „Es gibt eine Weltanschauung, der zufolge das Paradox höher ist als jedes
System.“129 Gott wird zur Grenze des Denkbaren und der Glaube zum „leidenschaftliche[n]
Verstehen des Transzendenten“. Das Absurde wird somit zum „Kriterium des Jenseits“ 130.
Damit schafft es Kierkegaard, dem Absurden auszuweichen, aus dem Zustand der
Verzweiflung zu fliehen und seine Sehnsucht nach Einheit zu befriedigen.131
Dabei verübt er für Camus aber eine „freiwillige seelische Verstümmelung“ 132, weil er seine
Vernunft, die ein elementarer Teil des menschlichen Geistes ist, tötet. Indem er der Vernunft
ihr Recht abspricht, begeht er für Camus einen philosophischen Selbstmord, ist doch die
Vernunft das leitende Prinzip aller philosophischen Argumentationen. Er ermordet seinen
eigenen Geist, indem er jegliche Möglichkeit von Vernunft leugnet. Es ist „ein Denken, das
sich selbst negiert und danach strebt, in seiner Verneinung über sich hinauszugehen.“133 Das
Wesenhafte des menschlichen Denkens ist gerade die Vernunft, die hier negiert wird, und
somit verleugnet Kierkegaard sich selbst.
Camus bejaht zwar Kierkegaards Entdeckung des Absurden, aber nicht die
Schlussfolgerungen, die dieser daraus zieht. Für Camus Vorgehen ist sein Sprung nicht
nachvollziehbar, denn dieser geht über die menschliche Wahrnehmung hinaus und kann somit

126
Camus, der Mythos des Sisyphos, S. 52
127
Vgl. Ebd. S. 50
128
Ebd. S. 38
129
Richter, Camus und die Philosophen in ihrer Aussage über das Absurde, S. 59
130
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 50
131
Vgl. Richter, Camus und die Philosophen in ihrer Aussage über das Absurde, S. 59-65
132
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 52
133
Ebd. S. 54
20
keine Gewissheit sein.134 Kierkegaards Sprung bietet keine logische Gewissheit, denn es gibt
keinen Grund anzunehmen, dass etwas Übersinnliches und Göttliches existiert, nur weil wir
mit unserem menschlichen Verstand keinen Sinn in der Welt wahrnehmen können: „Ich kann
nur sagen, dass es tatsächlich mein Maß überschreitet.“135 Wir wissen, dass die Welt unsere
begrenzte Vernunft übersteigt. Und weiter wissen wir nichts. Über unsere menschlichen
Erfahrungen hinaus können wir nichts logisch behaupten.

4.3 Relative Vernunft


Kierkegaard weicht mit seinem Gedankensprung der absurden Realität aus. Er kann eine
sinnlose Welt nicht ertragen und erliegt der Verführung des Sprungs in die Irrationalität.136
Bei ihm befindet sich „der absurde Geist selbst im Kampf mit einer Wirklichkeit, die stärker
ist als er.“137 Nach Camus zerstört er dabei aber das Absurde, das nur durch die Koexistenz
von Irrationalität und Rationalität existiert. Es kann nur in einem spannungsvollen
Gleichgewicht der beiden Pole bestehen. Wird das Gleichgewicht zugunsten einer Seite
verschoben, so geht diese sensible Verbindung kaputt.138 Dieses Gleichgewicht wird in der
Religion nicht gewahrt. Kierkegaard hat sich dem Irrationalen verschrieben und alles
Rationale beseitigt. Damit hat er auch das Absurde zerstört, welches gerade der
Ausgangspunkt seiner Überlegungen war, denn er hat einen Teil des Widerspruchs, den des
rational denkenden Menschen, vernachlässigt. Kierkegaard sieht, dass die Vernunft ihre
Grenzen hat und schließt daraus vorschnell auf eine „Nichtigkeit jeglicher Vernunft“ 139.
Dadurch „verschwindet das Absurde mit einem seiner Vergleichsglieder.“140
Auch Camus kennt die Sehnsucht, die Kierkegaard zum Sprung getrieben hat, doch das
Denken stürzt sich in eine Selbsttäuschung, wenn es versucht, vor dem Absurden zu
fliehen.141 Ein religiöser Sprung verneint seine eigenen Vernunftgründe, aber „für den
absurden Geist [gibt es] jenseits der Vernunft […] nichts.“142 Camus hingegen plädiert für
eine relative Vernunft: „Sie hat ihren Bereich, in dem sie wirksam ist, Es ist genau der
Bereich der menschlichen Erfahrung. Deshalb wollen wir alles aufhellen. Falls wir das nicht
können und wenn dabei das Absurde entsteht, so geschieht das genau in dem Zusammenstoß

134
Camus, der Mythos des Sisyphos, S. 65
135
Ebd. S. 53
136
Vgl. Walter Lesch, ‚Der Mensch ist das Opfer seiner Wahrheiten‘. Der philosophische Selbstmord, in:
Annemarie Pieper (Hrsg.), Die Gegenwart des Absurden. Studien zu Albert Camus, Tübingen, Basel 1994, S. 27-
30
137
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 38
138
Vgl. Ebd. S. 51-63
139
Ebd. S. 49
140
Ebd. S. 50
141
Vgl. Ebd. S. 83
142
Ebd. S. 48
21
dieser wirksamen, aber begrenzten Vernunft mit dem stets neu entstehenden Irrationalen.“ 143
Auch wenn ihre Macht relativ ist, innerhalb der menschlichen Erfahrung ist die Vernunft
wirksam und es gibt durchaus Dinge, die wir verstehen können, wodurch die Vernunft ihre
Berechtigung erhält. Bei Kierkegaard wird die Vernunft verneint, was ihrer relativen Wirkung
widerspricht. Betrachtet man hingegen Husserl, so diagnostiziert Camus eine Vergöttlichung
der Vernunft, was ebenfalls ihrem relativen Charakter widerspricht:

„das Denken [kann] auf den einander entgegengesetzten Wegen einer gedemütigten und einer triumphierenden
Vernunft zu seiner eigenen Verneinung kommen […] Die Sehnsucht [nach Einheit und Sinn] ist hier stärker als
das Wissen. Es ist bezeichnend, dass das Denken unserer Zeit wie kaum ein Denken zuvor von einer Philosophie
der Bedeutungslosigkeit der Welt durchdrungen und gleichzeitig in seinen Schlüssen äußerst zerrissen ist. Es
schwankt fortwährend zwischen der äußersten Rationalisierung des Wirklichen, die zu dessen Fragmentierung in
Vernunft-Typen drängt, und seiner äußersten Irrationalisierung, die zu seiner Vergöttlichung treibt.“ 144

Das Absurde liegt an dieser Grenze der Vernunft, wo sie auf das Irrationale stößt. Dass das
Absurde existiert, bedeutet aber nicht, dass es nichts Vernünftiges in der menschlichen
Erfahrung gibt: „Der absurde Mensch dagegen vollzieht diese Nivellierung nicht. Er erkennt
den Kampf an, verachtet die Vernunft nicht absolut und lässt das Irrationale zu.“ 145 Das
Absurde existiert gerade, weil der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, das nach Einheit
und Verständnis strebt.146 Ein Mensch, der den „Geboten des Absurden“147 treu bleibt, versagt
deshalb der Vernunft nicht absolut. Er versucht das fragile Gleichgewicht des Absurden zu
wahren und das Rationale und das Irrationale nebeneinander bestehen zu lassen. Er handelt
im Sinne des rechten Maßes und lässt eine relative Vernunft zu: „Das Absurde ist die
hellsichtige Vernunft, die ihre Grenzen feststellt.“148 Diese Verteidigung der relativen
Vernunft steht damit in der Tradition von Camus‘ mittelmeerischen Gedanken des Maßes und
der Mitte. Da die Religion einen unbezweifelbaren Wahrheitszugang für sich beansprucht,
kann Camus diese nur ablehnen: „Zwischen dem Relativen und dem Absoluten schwankend,
stürzt [der absurde Mensch] sich mit Feuereifer ins Relative.“ Er hält dem verführerischen
Sprung in die Hoffnung stand, denn er glaubt nur an das, was er wirklich wahrnehmen kann.
Trotz seiner scharfen Religionskritik149 ist Camus jedoch kein entschiedener Atheist, sondern
vielmehr ein Agnostiker150: „Ich weiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über sie

143
Camus, der Mythos des Sisyphos, S. 49
144
Ebd. S. 60f
145
Ebd. S. 49f
146
Vgl. Ebd. S. 49
147
Ebd. S. 47
148
Ebd. S. 62
149
Vgl. Fritz Paepcke, Der Atheismus in der Sicht von Albert Camus, in: Heinz Robert Schlette (Hrsg.), Wege
der deutschen Camus-Rezeption, Darmstadt 1975, S. 45-54
22
hinausgeht. Aber ich weiß, dass ich diesen Sinn nicht kenne und dass ich ihn zunächst
unmöglich erkennen kann. Was bedeutet mir ein Sinn, der außerhalb meiner Situation liegt?
Ich kann nur innerhalb menschlicher Grenzen etwas begreifen.“151 Für ihn gilt nach wie vor
der Anspruch, nur von dem auszugehen, was evident ist, weshalb Camus jegliche
Transzendenz kritisiert, da sie für ihn die Grenze der menschlichen Erkenntnis
überschreitet.152 Weil das Konzept eines Gottes wesenhaft innerhalb des Transzendenten
liegt, also die menschliche Erfahrung übersteigt, kann er davon kein Wissen haben. Damit ist
es auch nicht für sein diesseitiges Leben relevant und hat keine Bedeutung.153
Für Camus kann also der Weg des philosophischen Selbstmordes nicht der richtige sein:

„Erkennt man, dass die ganze Macht dieses Begriffes [des Absurden] darauf beruht, wie er unseren elementaren
Hoffnungen widerspricht, und fühlt man, dass das Absurde nur bestehen kann, wenn man nicht in es einwilligt,
dann sieht man, dass es sein wahres Antlitz, seinen menschlichen und relativen Charakter verloren hat, um in eine
unbegreifliche und zugleich befriedigende Ewigkeit einzugehen. Wenn es das Absurde gibt, dann nur im
Universum des Menschen. Sobald dieser Begriff sich in ein Sprungbrett zur Ewigkeit verwandelt, ist er nicht
mehr mit der menschlichen Hellsichtigkeit verbunden. Dann ist das Absurde nicht mehr die Evidenz, die der
Mensch feststellt, ohne in sie einzuwilligen. Der Kampf ist dann vermieden. Der Mensch integriert das Absurde
und lässt damit sein eigentliches Wesen verschwinden, das Gegensatz, Zerrissenheit und Entzweiung ist. Dieser
Sprung ist ein Ausweichen.“154

Der philosophische Selbstmord verstößt gegen Camus‘ Grundsätze der Evidenz und der
Wahrheit. Hier werden Aussagen über das Transzendente gemacht, welches außerhalb
menschlicher Erfahrung liegt, und das Absurde als einzige Wahrheit, welche dem Menschen
erfahrungsgemäß zugänglich ist, wird zerstören, indem das Gleichgewicht zwischen
Rationalität und Irrationalität nicht gewahrt wird. Kierkegaard negiert die menschliche
Vernunft, die in dem Menschen das Bedürfnis nach Einheit erzeugt, und tilgt damit auch das
Absurde, das schließlich aus dem vernünftigen Geist erst entspringt.

150
Vgl. Rath, Albert Camus: Absurdität und Revolte, S. 183f
151
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 64
152
Vgl. Lesch, ‚Der Mensch ist das Opfer seiner Wahrheiten‘, S. 30
153
Vgl. Anne-Kathrin Reif, Vom Absurden zur Liebe – der unbekannte Camus, in: Willi Jung (Hrsg.) u.a., Albert
Camus oder der glückliche Sisyphos – Albert Camus ou Sisyphe heureux, Göttingen 2013, S. 124; Schlette,
Albert Camus heute, S. 183f
154
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 48
23
5. Schlussfolgerungen aus dem Absurden
Der absurde Mensch, der im Bewusstsein des Absurden lebt, baut nur auf das, was ihm seiner
Erfahrung nach gewiss ist und will mit sich selbst einig bleiben. Er „hat es verlernt zu
hoffen.“155 Er kann nichts finden, das innerhalb seiner Erfahrung liegt, das die Sinnlosigkeit
aufheben könnte. Das Absurde ist das einzige, das er wahrhaft erkennen kann: „Was mir so
evident erscheint, auch gegen mich selbst, muss ich aufrechterhalten.“156 Camus möchte
wissen, „ob ich mit dem, was ich weiß, und nur damit leben kann.“ 157, und nicht
irgendwelchen transzendenten Vermutungen verfallen. Er möchte nicht nach dem
Wünschenswerten suchen, sondern aus seinen Gewissheiten eine Lebensregel aufbauen. 158 Er
will wissen, ob ein Mensch in der Präsenz des Absurden weiterleben kann oder „ob die Logik
es verlangt, dass wir daran sterben.“159
Betrachtet man nun Camus‘ Eingangsfrage, ob das Absurde den physischen Selbstmord
verlangt, es also eine „Logik bis zum Tode“ gibt, so zeigt sich, dass dieser genau wie der
philosophische Selbstmord die Wahrheit, das Absurde, die er doch aufrechterhalten sollte,
untergräbt, denn die rationale Variable des Absurden, der Mensch, wird ausgelöscht und
damit das Absurde selbst, das ja nur durch ihn existiert. Wenn man für Camus aber das
Problem des Selbstmords lösen möchte, so muss man alle drei Elemente dieser Wahrheit mit
einbeziehen. Der Selbstmord löst das Problem des Absurden damit für Camus nur auf
unbefriedigende Weise. Der Widerspruch wird zwar überwunden, aber auf Kosten des
menschlichen Geistes: „Auf seine Weise löst der Selbstmord das Absurde. Er zieht es mit in
den gleichen Tod.“160 Hier verrät der Mensch nicht nur seine conditio humana wie im
philosophischen Selbstmord, er vernichtet sie vollständig. Er gibt seinen Anspruch auf Sinn
und Einheit vollkommen auf und resigniert vor der ihn umgebenden Irrationalität: „Der
Selbstmord ist, wie der Sprung, die Zustimmung, die an ihre Grenzen gelangt ist.“ 161 Der
Selbstmörder willigt in das Absurde ein, denn er stürzt sich in den Tod, der das Absurde per
se ist. Auch durch diese Einwilligung wird das Absurde zerstört, da seine Eigenart gerade
Uneinheit darstellt. Für Camus folgt der Selbstmord damit nicht logisch aus dem Absurden,
da er die absurde Wahrheit zerstört. Für Camus geht es aber darum, „unversöhnt und nicht
aus freiem Willen zu sterben. Der Selbstmord ist ein Verkennen.“162

155
Camus, der Mythos des Sisyphos, S. 65
156
Ebd. S. 65
157
Ebd. S. 53
158
Vgl Ebd. S. 54
159
Ebd. S. 63
160
Ebd. S. 67
161
Ebd. S: 67
162
Ebd. S. 68
24
Was bleibt dem Menschen dann noch, wenn sowohl der philosophische, als auch der
physische Selbstmord abzulehnen sind?
Der absurde Mensch kann seine Sinnessehnsucht nicht leugnen und muss sich auch
eingestehen, dass sie in dieser irrationalen Welt nicht gestillt werden kann. Wenn der absurde
Mensch seiner conditio humana treu bleiben will, darf er seinen Anspruch auf Klarheit nicht
irgendeiner Hoffnung opfern. Er muss „sich selbst der Ewigkeit vorziehen“ 163. Er darf auch
nicht in das Absurde einwilligen, denn dann gäbe er seinen Einheitsanspruch zusammen mit
sich selbst auf. Camus fordert, dass der Mensch das Absurde aushalten muss, denn es ist die
conditio humana, in der er sich befindet. Er verneint sich selbst, wenn er die Absurdität
auflöst, denn das Absurde ist die conditio, in er sich befindet. Es ist seine Lebenslage, die er
nicht überwinden kann, ohne einen Teil seiner selbst, seine Vernunft, zu verneinen. 164 Aber
erst durch das Bewusstsein von dieser aussichtslosen Situation, durch diese Erkenntnis des
absurden Verhältnisses zwischen ihm und der Welt, wird die Absurdität wirklich gewahr.
Durch dieses Bewusstsein wird der Mensch immer wieder mit seiner absurden Situation
konfrontiert.165: „Das Absurde ist der metaphysische Zustand des bewussten Menschen."166
Wenn der Mensch nach seiner conditio humana leben will, und nach Camus kann er nur
glücklich werden, wenn er dies tut, dann muss er versuchen, sein Leben innerhalb dieser
absurden Existenz zu bestreiten. Dabei darf er diese absurde Situation nicht akzeptieren im
Sinne eines Einverständnisses mit der Sinnlosigkeit und Sterblichkeit, denn dann würde er
seinem Einheitsbedürfnis nicht gerecht werden. Er muss akzeptieren, dass er dieses Bedürfnis
nie wird befriedigen können und trotzdem immer wieder nach Sinn streben wird, weil er nur
so ein ganzer Mensch bleiben kann. So sind das Leben des Menschen und das Absurde
untrennbar miteinander verknüpft. Sie können nur miteinander bestehen, auch wenn sie in
ständigem Widerstreit zueinander stehen.
Der Mensch muss das Absurde aufrechterhalten, wenn er sich als vernunftbegabtes Wesen
nicht verraten will. Camus fordert die Menschen dazu auf, sich auf die „zerstörende und
wunderbare Wette des Absurden“167 einzulassen und so die Größe ihres Menschseins zu
bewahren. Für Camus schwächt die Religion den Menschen, weil sie ihm diese
Herausforderung nicht zutraut: „Diese Wirklichkeit, deren Unmenschlichkeit die Größe des

163
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 99
164
Vgl. Ebd. S. 64
165
Vgl. Ebd. S. 66f
166
Ebd. S. 53
167
Ebd. S. 65
25
Menschen ausmacht, kleiner machen heißt zugleich ihn ärmer machen. […] Sie entlasten
mich von dem Gewicht meines eigenen Lebens, das ich doch allein tragen muss.“168
Camus ist überzeugt, wenn man die Verzweiflung angesichts der Sinnlosigkeit erträgt und die
Logik des Absurden konsequent zu Ende denkt169, wird man „den Wein des Absurden und
das Brot der Gleichgültigkeit“170 finden. Wie sich dies für Camus erschließt und wie sich ein
Leben in der Sinnlosigkeit bewältigen lässt, erläutert er anhand von drei Schlussfolgerungen:
„meine Auflehnung, meine Freiheit und meine Leidenschaft“171. Diese sollen im Folgenden
genauer erörtert werden.

5.1 Auflehnung
Camus‘ erste Schlussfolgerung aus dem Absurden liegt in der Auflehnung des Menschen
gegen sein Schicksal. Sie stellt für Camus „[e]ine der wenigen philosophisch kohärenten
Positionen“ angesichts der Absurdität dar. Denn wie bereits erläutert, kann der Mensch sich
nur in vollen Zügen im Sinne seiner conditio humana ausleben, wenn er das Absurde als seine
existenzielle Grundsituation anerkennt. Das bedeutet für Camus, diese absurde Wahrheit
seiner Existenz, auf die er gestoßen ist, aufrechtzuerhalten. Er darf angesichts der Absurdität
seinen Anspruch auf Sinn und Einheit nicht aufgeben. Der absurde Mensch resigniert nicht
angesichts der Absurdität und willigt auch nicht in sie ein. Nur durch die Auflehnung gegen
das Absurde kann dieses bestehen bleiben, denn sich mit dem Absurden einverstanden zeigen
oder sich ihm ergeben, löst die Entzweiung zwischen Mensch und Welt und damit das
Absurde auf. Vor allem mit dem Tod, wo das Absurde sich am grausamsten zeigt, darf er
nicht einig sein: Auflehnung ist „gleichzeitig Bewusstsein und Ablehnung des Todes“. Es ist
eine metaphysische Revolte, da sie im Bewusstsein des Menschen stattfindet. Der absurde
Mensch ist sich seines „erdrückenden Schicksals“172 bewusst und weiß, dass er es nicht
ändern kann. Aber er empört sich über diese ungerechte Situation und weigert sich trotz
dieser Hoffnungslosigkeit, sich mit der Sinnlosigkeit abzufinden. Die Auflehnung ist der
bewusste Widerstand gegen das absurde Schicksal des Menschen sowie seine bewusste
Konfrontation damit. So „lässt die metaphysische Auflehnung des Bewusstseins sich über die
ganze Erfahrung ausbreiten. Sie ist die ständige Anwesenheit des Menschen bei sich

168
Camus, der Mythos des Sisyphos, S. 68
169
Vgl. Ebd. S. 31
170
Ebd. S. 66
171
Ebd. S. 77
172
Ebd. S. 67
26
selbst.“173 Indem der Mensch sich das Absurde ständig ins Bewusstsein ruft, führt er ein
klarsichtiges Leben, denn das Absurde stellt die Grundeigenschaft seines Lebens dar.

5.2 Freiheit
Als zweites schlussfolgert Camus aus dem Absurden die Freiheit. Diese Freiheit sieht Camus
nicht im metaphysischen Sinne der Willensfreiheit, sondern in der einfachen
Handlungsfreiheit. Ob ein Mensch eine metaphysische Freiheit besitzt, ist für ihn nicht
relevant, da sie nicht evident ist, denn diese Form der Freiheit liegt außerhalb des
Wahrnehmbaren und Erfahrbaren. So kann man nicht wissen, ob ein Mensch an sich frei ist,
denn nach Camus ist diese Frage an die Frage nach der Existenz Gottes gebunden: „entweder
wir sind nicht frei, und der allmächtige Gott ist für das Böse verantwortlich. Oder wir sind
frei und verantwortlich, aber Gott ist nicht allmächtig. Alle scholastischen Spitzfindigkeiten
haben der Schärfe dieses Paradoxons nichts hinzugefügt und nichts genommen“174.
Wir können zwar nichts über die metaphysische Freiheit aussagen, aber unsere eigene
Freiheit liegt innerhalb unserer individuellen Erfahrung. Es geht um die reine Handlungs- und
Entscheidungsfreiheit, sowie die Freiheit des menschlichen Geistes: „Die einzige Freiheit, die
ich kenne, ist die des Geistes und des Handelns.“175 Für Camus ist gerade der absurde Mensch
frei, weil er nicht auf ein Leben nach dem Tod hofft. Er verliert zwar die Hoffnung auf die
Ewigkeit, gewinnt damit aber einen „Zuwachs an Beweglichkeit“176 innerhalb des
Diesseitigen, und alleine das zählt. Es ermöglicht ihm eine vielfältigere Freiheit, als ihm die
Freiheit von Vergänglichkeit bedeuten kann. Anstelle der Illusion einer ewigen Freiheit setzt
er eine zeitlich begrenzte Freiheit, die aber umso mannigfaltiger ist. Religion bedeutet eine
Befreiung von der Todesangst sowie der Angst vor Verantwortlichkeit.177 Dieses Gefühl von
Befreiung verwechseln die Menschen nach Camus dann mit echter Freiheit.178 Für den
absurden Menschen ist der Tod sein absolutes Ende. Sein Ziel ist es nicht, die Angst vor ihm
durch eine Hoffnung zu überlisten, sondern im Angesicht des Todes sein Leben in jedem
Atemzug auszukosten. Auch er ist damit auf seine Weise befreit: „[Er] fühlt sich losgelöst
von allem, was nicht zu dieser leidenschaftlichen Aufmerksamkeit gehört“179.
Begegnet der Mensch dem Absurden, so wird alle Zukunft ungewiss angesichts des
unberechenbaren, aber gewissen Todes. Der Tod ist die einzige Grenze, die die absurde

173
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 67
174
Ebd. S. 69
175
Ebd. S. 70
176
Ebd. S. 70
177
Vgl. Ebd. S: 72
178
Vgl. Ebd. S. 72
179
Ebd. S. 71
27
Freiheit anerkennen muss. Dieser zeitlichen Einschränkung seiner Selbstentfaltung kann der
absurde Mensch nichts entgegenbringen. Für ihn hat es deshalb keinen Sinn, sich eine
Zukunft auszumalen, denn er weiß nicht, wann er stirbt, und ob er diese Zukunft überhaupt
erleben wird. Er lebt, als gäbe es kein Morgen für ihn und tut nichts für die Zukunft. 180 Die
Gleichgültigkeit gegenüber allem Künftigen ist damit Bedingung für die Freiheit in der
Absurdität. Die absurde Freiheit ist nur sinnvoll „in ihrer Beziehung auf ihr begrenztes
Schicksal“181, also im Bewusstsein des Todes. Für Camus schränkt die Sorge um die Zukunft
die gegenwärtigen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ein, denn sie bindet an die
Vorstellung dieser Zukunft. Bevor der Mensch dem Absurden begegnet, ist er abhängig von
seinen Zielsetzungen, die er erreichen will und hat das Gefühl, sich für seine Lebensführung
rechtfertigen zu müssen. Durch Ziele wird er gebunden und entfernt sich von seinem Ich der
Gegenwart. Die Orientierung seines Lebens auf die Zukunft hin schränkt ihn in seinen
Selbstverwirklichungstendenzen ein: „Im selben Maße, wie er sich ein Ziel seines Lebens
vorstellte, passte er sich den Forderungen eines zu erreichenden Zieles an und wurde ein
Sklave seiner Freiheit.“182 Wenn sich ein Mensch zukünftige Ziele setzt, so macht ihn das
unflexibel und berechenbar, denn er versucht, seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden
und passt sich den Forderungen seiner Umwelt an. Er gleicht sein Ich dem Bild, das er und
seine Mitmenschen von ihm haben, an und verliert damit die Freiheit, sich ungehindert zu
entfalten: „je mehr ich hoffe, je mehr ich besorgt bin um eine mir eigene Wahrheit, um eine
Art, zu sein oder zu schaffen, je mehr ich schließlich mein Leben ordne und dadurch beweise,
dass ich ihm einen Sinn unterstellte, umso mehr Schranken schaffe ich mir, zwischen denen
ich mein Leben einzwänge.“183 Diese Verarmung an Selbstverwirklichung geschieht
unbewusst; der Mensch meint, wählen zu können, wer und wie er sein will, aber gleichzeitig
bindet er sich an die Vorstellung von seinem Ich und schränkt sich damit selbst ein. Die
Freiheit des absurden Menschen liegt in seiner Unabhängigkeit von den Vorstellungen
anderer und der Zukunft: „Die Gegenwart und die Abfolge von Gegenwartsmomenten vor
einer ständig bewussten Seele, das ist das Ideal des absurden Menschen.“184 Der absurde
Mensch versteht nicht, warum er seine Gegenwart, in der er gerade lebt, für eine ungewisse
Zukunft, sei sie ihm Diesseits, das er wohlmöglich gar nicht mehr erleben wird, oder im
Jenseits, das es wahrscheinlich gar nicht gibt, opfern soll. Die Zeit ist nicht mehr sein
schlimmster Feind, da er die Gegenwart zu seiner Zeit macht. Er besitzt eine Freiheit, die

180
Vgl. Camus, der Mythos des Sisyphos, S. 71
181
Ebd. S. 74
182
Ebd. S. 71
183
Ebd. S. 71
184
Ebd. S. 76
28
innerhalb seiner subjektiven und individuellen Erfahrung und innerhalb der menschlichen
Möglichkeiten liegt, und die dadurch Bedeutung für ihn hat.

5.3 Leidenschaft
Aus dieser Betonung des Diesseitigen und Gegenwärtigen folgt Camus‘ dritte
Schlussfolgerung, die Leidenschaft: „Ist die Absurdität erst einmal erkannt, dann wird sie zur
Leidenschaft, zur ergreifendsten aller Leidenschaften.“ 185
Den Menschen, der den Tod als
endgültige und unabwendbare Tatsache bereift und die Konsequenzen daraus zieht, ergreift
angesichts seiner neu gewonnen Freiheit und Unabhängigkeit eine „Gleichgültigkeit der
Zukunft gegenüber und das leidenschaftliche Verlangen, alles Gegebene auszuschöpfen.“ 186
Er lebt in dem Bewusstsein, nur dieses eine Leben und nur diese eine Chance zu haben: „Wir
müssen uns ihrer nur bewusst werden. Sein Leben, seine Auflehnung und seine Freiheit so
stark wie möglich empfinden, das heißt: so intensiv wie möglich leben.“ 187 Seine
Leidenschaft drückt sich in seiner Bewusstheit für seine absurde Existenz aus, sowie in seiner
Authentizität, also dem Willen zur Selbstverwirklichung, außerdem darin, nichts gleichen zu
wollen als sich selbst, und der Intensität, wie stark er sein Leben spürt und empfindet.
Die absurde Leidenschaft mündet nach Camus in einer Ethik der Quantität: „worauf es
ankommt, ist nicht, so gut wie möglich, sondern so viel wie möglich zu leben“188. Camus
weist eine Ethik der Qualität zurück, weil diese in ihren Normvorstellungen eine objektive
Wertung beansprucht.189 Er geht in seiner Philosophie des Absurden vom Subjektiven aus und
lehnt deshalb eine universalistische Moralvorstellung ab: „Der Glaube an den Sinn des
Lebens setzt immer eine Wertskala voraus, eine Wahl, unsere Vorlieben. Der Glaube an das
Absurde lehrt nach unseren Definitionen das Gegenteil“190. Da die Qualität von Erfahrungen
und Handlungen nur subjektiv bewertet werden kann, muss sich eine Ethik nach deren Anzahl
richten, um allgemeine Gültigkeit zu haben. Nur die Anzahl an Erfahrungen, also ihre
Quantität, ist gültig, da nur sie objektiv quantifizierbar ist: „Der besondere Charakter einer
allgemeinen Moral [beruht] weniger auf der idealen Bedeutung der Prinzipien […], die sie
beseelen, als auf der Norm einer messbaren Erfahrung“ 191 Der absurde Mensch kennt keine
qualitativen Bewertungen mehr, außer vielleicht den Wert des Lebendigseins an sich. Über
die Forderung nach möglichst viel Erfahrung und Empfindung hinaus hält Camus eine Moral

185
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 34
186
Ebd. S. 73
187
Ebd. S. 76
188
Ebd. S. 74
189
Vgl. Ebd. S. 74
190
Ebd. S. 73
191
Ebd. S. 74
29
nicht für zweckmäßig: „Ich habe Leute gesehen, die mit viel Moral Böses taten, und ich stelle
täglich fest, dass die Anständigkeit keiner Regeln bedarf.“192 Die einzige Instanz, die
überhaupt absolute Werte vorschreiben könnte, wäre Gott, und den gibt es im Universum des
absurden Menschen nicht. Der absurde Mensch lebt „unwiderruflich“193, da er seine eigene
Existenz so konsequent wie möglich lebt194 und sich für seinen Lebensstil nicht vor einer
höheren Macht rechtfertigen muss.195 Gleichzeitig ist er aber auch für sich alleine
verantwortlich und kann niemanden um Vergebung für seine Taten bitten.
Was genau meint Camus damit, wenn er eine Ethik der Quantität vorschlägt? Camus schreibt,
es sei ein „Irrtum [zu glauben], die Menge unserer Erfahrung hinge von unseren
Lebensumständen ab, während sie doch nur von uns selbst abhängt“ 196
. Es kommt für ihn
darauf an, das Leben, das einem gegeben wurde, so gut wie möglich auszunutzen und
auszukosten, also so authentisch, bewusst und intensiv wie möglich zu leben und jede
Gelegenheit zur Empfindung wahrzunehmen.197 Für ihn zählt demnach nicht allein die
Anzahl der Erlebnisse, sondern er betont auch die Bewusstheit des Gelebten. So sagt er auch,
dass „[e]in Beamtenanwärter der Post einem Eroberer gleich[t], wenn beide das gleiche
Bewusstsein haben.“198 Dabei schwingt in dieser Auffassung von Quantität ein Moment der
Qualität mit, denn die Quantität an Erfahrungen ist für Camus bedeutungslos, wenn diese
Erfahrungen nicht bewusst gelebt werden199: „Quantität bedeutet manchmal Qualität“200. Die
einzige Tatsache, welche den Reichtum unseres Lebens bedroht, und gegen die wir machtlos
sind, ist der Tod. Der absurde Mensch muss sich angesichts dieser Endgültigkeit geschlagen
geben: „Das Absurde und der Zuwachs an Leben, den es mit sich bringt, hängen also nicht
vom Willen des Menschen ab, sondern von seinem Gegenteil, vom Tod“ 201. Er wird die
Bewusstheitsmomente, die ihm durch den Tod entbehrt werden, nicht erleben können. Die
Qualität eines Menschenlebens liegt für Camus demnach in der Quantität der Erfahrungen.
Man muss sich die bittere Tatsache eingestehen, dass ein langes Leben einem Menschen nun
mal mehr Gelegenheiten bietet, unterschiedliche Erfahrungen zu machen und damit
vielfältiger und mannigfaltiger ist. So wird es zu einer Glückssache, nach wie vielen Jahren

192
Camus, der Mythos des Sisyphos, S. 83
193
Ebd. S. 73
194
Vgl. Christian Aichner, „Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus. Theoretische Betrachtungen über das
Absurde, Norderstedt 2006, S. 17
195
Vgl. Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 83
196
Ebd. S. 75f
197
Vgl. Ebd. S. 76
198
Ebd. S. 85
199
Vgl. Ebd. S. 85
200
Ebd. S. 75
201
Ebd. S. 76
30
der Tod dem Menschen die Möglichkeit nimmt, weitere Erfahrungen zu machen. 202 Aber
innerhalb des begrenzten Zeitraumes zwischen Geburt und Tod liegt es in unserer Hand, was
wir aus unserem Leben machen und wie sehr wir es ausschöpfen. Hier liegt es an uns, wie
erfahrungsreich wir unser Leben gestalten. Man muss sich nur den Willen und die
Leidenschaft für das Lebendigsein bewahren. Diese Leidenschaft ist an die Bewusstheit,
Intensität und Authentizität des Erlebten gebunden und gilt der „reinen Flamme des
Lebens“203.

6. Sinnlosigkeit und Lebensbejahung


„So erahnt der absurde Mensch ein glühendheißes und eiskaltes, durchsichtiges und begrenztes Universum, in
dem nichts möglich, aber alles gegeben ist, und jenseits ist nur noch Niedergang und Nichts. Nun kann er sich
entschließen und bereit sein, in einem solchen Universum zu leben und aus ihm seine Kraft zu gewinnen, seinen
Verzicht auf Hoffnung und die eigensinnige Bekundung eines Lebens ohne Trost.“ 204

Es ist zweifellos eine hohe Bürde, die Camus dem absurden Menschen auferlegt. Er stellt das
Absurde als den fundamentalen Zustand des Menschen heraus, den er selbst durch sein
Verlangen nach Sinn und Einheit heraufbeschwört, weil er in einer sinnlosen Welt lebt, die
ihm keine Sinnangebote macht. Das Absurde ist seine existenzielle Grundsituation. Aber für
Camus liegt das Glück eines absurden Menschen darin, sich diesem Schicksal anzunehmen
und darüber hinauszuwachsen: „Für den Menschen ohne Scheuklappen gibt es kein schöneres
Schauspiel als die Intelligenz im Widerstreit mit einer ihn überschreitenden Wirklichkeit.“ 205
Der absurde Mensch findet sein Glück in seiner Auflehnung, die Freiheit und Leidenschaft
bedeutet. Gewiss erfordert Camus‘ Haltung Mut und Stärke.206 Camus scheint diese Kraft in
einer Art „Trotzmacht des Geistes“207 zu finden. Durch diese Eigenart kann sich ein Mensch
über sein eigenes Schicksal erheben. Er trotzt gewissermaßen dem Absurden das Leben ab.
Die einzige Möglichkeit für ein wahrhaftiges menschlichen Lebens besteht für Camus darin,
trotz seines absurden und sinnlosen Schicksals zu leben. Seine Antwort auf die Sinnlosigkeit
des Lebens ist ein einziges: Trotzdem! Er trotzt der Sinnlosigkeit durch seinen Lebenswillen,
seine Entschlusskraft und seinen starken Geist. Sein Trotz ist auch eine Empörung über sein

202
Vgl. Camus, der Mythos des Sisyphos, 76
203
Ebd. S. 73
204
Ebd. S. 73
205
Ebd. S. 106
206
Vgl. Ebd. S. 83
207
Elisabeth Lukas, Von der Trotzmacht des Geistes. Menschenbild und Methoden der Logotherapie, Freiburg
1986.
31
ungerechtes Schicksal, in das ihn die Welt zwingt, und durch diese Missachtung bezwingt er
dieses: „Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.“208
Neben dieser Trotzmacht gewinnt der absurde Mensch Kraft in einer stoischen Form des
Aushaltens.209 Der Mensch muss sein absurdes erdrückendes Schicksal im Sinne der ataraxia
des Stoizismus, also der Unerschütterlichkeit, ertragen. Er weiß, dass es außerhalb seiner
Macht liegt, seine absurde Situation zu ändern, trotzdem verleugnet er sich nicht selbst, und
so kann er seinen menschlichen Stolz210 bewahren. „Es handelte sich einfach darum, sich vor
nichts zu drücken.“211 Er nimmt es als seine Aufgabe an, sich diesem Kampf gegen die
Sinnlosigkeit zu stellen: „In diesem Bewusstsein und in dieser Auflehnung bezeugt er Tag für
Tag seine einzige Wahrheit, die Herausforderung.“212 Das stoische Moment der
Unerschütterlichkeit ist unverkennbar, jedoch würde Camus die stoische apatheia, also die
Leidenschaftslosigkeit, wie in seiner dritten Schlussfolgerung, der Leidenschaft, deutlich
geworden ist, vollkommen ablehnen.
Darüber hinaus lassen sich Momente der Achtsamkeit in Camus vorgeschlagener Haltung
finden, wenn er von der Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft spricht. Denn nur weil wir
auf die Zukunft hin leben, vernichtet der Tod jede Möglichkeit von Sinn. Der Mensch soll
sich auf sein Leben im Hier und Jetzt konzentrieren, sowie auf das besinnen, was ist und was
ihm gegeben ist: „Wenn das Wort Weiser einen Menschen bezeichnet, der von dem lebt, was
er hat, und nicht auf das spekuliert, was er nicht hat, dann sind sie [die absurden Menschen]
Weise.“213 Das Leben in der Gegenwart führt zu einem totalen Beisichsein des Menschen,
und indem der absurde Mensch nicht versucht, hinter den Dingen einen höheren Sinn zu
entdecken, kann er sie wieder unmittelbar und als das sehen, was sie sind.214
Camus lebensbejahende Haltung lässt sich zunächst in seiner Ablehnung des Selbstmordes
finden, wie bereits erläutert wurde. Da der Tod die „offensichtlichste Absurdität“215 darstellt,
heißt, gegen das Absurde revoltieren, das Leben dem Tod vorziehen. Da der absurde Mensch
den Tod verabscheut, bejaht er alles Lebende. Seine Liebe ist eine Leidenschaft für das
Lebendige. Lebensbejahung bedeutet für Camus aber auch Bejahung seiner conditio humana,
also seines Wahrheits- und Einheitsverlangens. Das schließt das Absurde ein, denn es ist die
einzige Wahrheit, die Camus anerkennt. Lebensbejahung bedeutet also auch, dass das
Absurde am Leben gehalten werden muss, auch wenn es dem Leben entgegengesetzt ist. Der
208
Camus, Der Mythos des Sisyphos , S. 143
209
Vgl. Michel Onfray, Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, München 1 2013, S. 97
210
Vgl. Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 68
211
Ebd. S. 113
212
Ebd. S. 68
213
Ebd. S. 108
214
Vgl. Jürgen Hengelbrock, Albert Camus, S. 75
215
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 72
32
Mensch kann das Absurde nicht aufgeheben, ohne die Ansprüche seiner conditio humana
aufzugeben, also muss er das Absurde um seiner selbst willen aufrechterhalten. Der Mensch
kann diesen absurden Zustand nicht überwinden, ohne sich selbst zu verneinen, denn negiert
der Mensch das Absurde, so negiert er seinen Sinnanspruch, also sich selbst: „Leben heißt das
Absurde leben lassen.“216 Da das Absurde Teil der conditio humana ist, bedeutet Bejahung
des Absurden auch Selbstbejahung. Wer das Absurde will, der will sich selbst. Da aber das
Absurde wiederum im Wesentlichen die Entzweiung an sich darstellt, darf man nicht in es
einwilligen, da sonst diese Entzweiung aufgelöst wird. Wenn man also das Absurde
aufrechterhalten will, muss man sich ihm widersetzen. Indem der Mensch Nein zum
Absurden sagt, bejaht er das Absurde und lässt es weiterexistieren.217 Die Auflehnung gegen
das Absurde ist damit paradoxerweise Bejahung und Verneinung des Absurden in einem. Die
Absurdität ist eine absurde Wahrheit, die nur erhalten bleiben kann, wenn man gleichzeitig
gegen sie revoltiert. Wenn man die absurde Wahrheit bejahen will, heißt das
widersprüchlicherweise im Sinne der Absurdität, sie zu verneinen. Man muss der Absurdität
widersprechen, da man sonst sein Verlangen nach Einheit aufgeben würde. Bejahung seiner
conditio humana bedeutet also Verneinung des Absurden, da es das Resultat unbefriedigten
Sinnstreben ist. Nur so kann es dann als Kluft zwischen Sinnverlangen und Sinnnegation
bestehen. Da das Absurde den Wert des Lebens negiert, muss man sein Leben bejahen, um
sich gegen es aufzulehnen. Und da es den Tod herausfordert, wird die Lebensbejahung zum
Inbegriff von Camus Auflehnung. „Das Absurde hat nur insoweit einen Sinn, als man sich
nicht mit ihm abfindet.“218
Camus heroische Bekundung des Absurden lässt es bisweilen als eine Art Ersatzreligion,
einen Absurdismus219, erscheinen: „So gibt es ein metaphysisches Glück, die Absurdität der
Welt zu stützen.“220 Teilweise erscheint es nicht überzeugend, warum dem Erhalt des
Absurden eine solche Bedeutung beigemessen wird.221 Es wird von Camus absolut gesetzt.
Jedoch könnte dieser Eindruck eines vergöttlichten Absurden auch an Camus Wortwahl
liegen, durch die er mit seinem schriftstellerischen Können von seiner absurden Haltung
überzeugen möchte. Weiter meint Camus auch, dass dieser Absurdismus für einen Menschen
notwendig ist, wenn er in der Sinnlosigkeit überleben möchte: „All diese Leben, die sich in

216
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 67
217
Vgl. Pieper, Revolte gegen das Absurde, S. 113; Pieper, ‚Camus‘ Verständnis des Absurden, S. 5ff
218
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 103
219
Vgl. De la Maeste, Der Sinn und das Absurde, S. 61
220
Camus, der Mythos des Sisyphos, S. 113
221
Vgl. Rath, Albert Camus: Absurdität und Revolte, S. 28
33
der dünnen Luft des Absurden bewegen, könnten sich ohne einen tiefen und beständigen
Gedanken, der sie mit seiner Kraft belebt, nicht halten.“ 222
Die metaphysische Auflehnung gegen das Absurde, die Camus beschreibt, ist als eine
individuelle Revolte zu verstehen223, die jeder Mensch mit sich selbst als Schöpfer seiner
eigenen Absurdität führen muss: „Die bewusste Revolte beseitigen heißt dem Problem aus
dem Weg gehen. Das Thema der permanenten Revolution geht so in die individuelle
Erfahrung über.“ Camus absurde Haltung ist als eine persönliche Hilfe für das Individuum zu
verstehen, das sich mit der Sinnlosigkeit konfrontiert sieht, indem er eine Form der
Lebensbewältigung und individueller Selbstverwirklichung vorschlägt. In Camus
philosophischem Folgewerk Der Mensch in der Revolte, das dem Mythos des Prometheus
gewidmet ist224, wird diese individuelle metaphysische Revolte zur kollektiven Revolte der
Gemeinschaft gegen jede Form von Unmenschlichkeit. Sie wird zu einer Revolte der Tat im
Sinne der Humanität.225
Der Mensch lebt im Zustand des Absurden, dagegen kann er nichts ausrichten. Aber es liegt
in seiner Hand, wie er diesen Zustand wahrnimmt. So ist es ein Vermögen des Menschen,
sich zu seinem Schicksal in unterschiedlicher Weiße in Beziehung zu setzen oder die
Perspektive zu wechseln.226 Er hat die geistige Macht, der Absurdität auf andere Weise als
mit Verzweiflung zu begegnen. „Durch das bloße Spiel des Bewusstseins verwandle ich in
eine Lebensregel, was eine Aufforderung zum Tode war“227. Er kann sich über sie stellen,
indem er sie verachtet, sowie Freiheit und Leidenschaft aus ihr ziehen. So kann der Mensch
aus der Absurdität eine Lebensbejahung schöpfen, wenn er sie nur richtig umdeutet.
Dass das Leben keinen Sinn hat und die Welt vollkommen sinnlos ist, bedeutet nicht, dass das
Leben es nicht wert ist, gelebt zu werden. Für Camus hängt der Wert des Lebens nicht von
seinem Sinn oder seiner Sinnlosigkeit ab. Im Gegenteil: „Hier dagegen wird deutlich, dass es
umso besser gelebt werden wird, je weniger Sinn es hat.“228 Dies stellt sich für Camus so dar,
weil der Glaube an den Sinn des Lebens die Annahme beinhaltet, dass es eine bestimmte Art
zu Leben gibt, die diesem Sinn entspricht. Für Camus kann der Mensch deshalb nur im
Absurden vollkommen frei sein, da sein Leben für ihn dann nicht an irgendeinen
übergeordneten Sinn und Zweck geknüpft ist. Ein dem Menschen übergeordneter Sinn würde

222
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 113
223
Vgl. Maurice Weyembergh, Überwindung des Absurden? Der Ansatz Camus‘ in der Diskussion, in:
Annemarie Pieper (Hrsg.), Die Gegenwart des Absurden. Studien zu Albert Camus, Tübingen, Basel 1994, S. 74-
75
224
Vgl. Pieper, Revolte gegen das Absurde, S. 111-116
225
Vgl. Kampits, Bouchentouf-Siagh, Zur Aktualität von Albert Camus, S. 55
226
Vgl. Lukas, Von der Trotzmacht des Geistes, S. 34-40
227
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 77
228
Ebd. S. 66
34
ihm seine Freiheit nehmen, sein Leben nach seinem Willen und seinen Maßstäben zu richten.
Die Verneinung eines solchen Sinnes gibt dem Menschen somit eine Vielfalt, sein Leben zu
gestalten. Nur dadurch kann er sich ungehindert selbstverwirklichen und eins mit sich
werden. Allerdings lebt der absurde Mensch in einem existenziellen Vakuum, welches er nie
komplett wird füllen können. Er wird seine Existenz nie vollenden können. Und er muss diese
Freiheit erst einmal ertragen lernen, denn sie bedeutet auch vollkommene Verantwortung und,
dass seine Fragen unbeantwortet bleiben und er aus sich selbst heraus Handlungsrichtlinien
erschaffen muss. Da es keinen übergeordneten Sinn gibt, muss der absurde Mensch auf diese
stützende Vorstellung eines höheren Sinns verzichten als eine Art „absurden Askese“229.
Neben der gewonnenen Freiheit kann der Mensch ebenso nur durch diese Verneinung eines
übergeordneten Sinnes Zweck an sich sein.230 Darin besteht die Würde des Menschen, dass er
keinen anderen Sinn und Zweck hat, als sich selbst. Der absurde Mensch ist sich selbst sein
eigener Zweck und darin besteht seine Glückseligkeit: „Ja, der Mensch ist sein eigener
Zweck. Und er ist sein einziger Zweck.“104 Camus kehrt die belastende Erkenntnis einer
Sinnlosigkeit des Lebens damit in etwas Positives um. Nur im Absurden ist der Mensch sein
Selbstzweck.
Das Leben hat keine Bedeutung, die über den Menschen selbst hinausgeht. Der Mensch muss
von seinem einfachen Vorhandensein in der Welt ausgehen. Trotzdem kann das Leben eines
Menschen wertvoll sein, indem er selbst sinnstiftend handelt. Sinn in einem absoluten
Kontext ist nicht möglich, wohl aber in einem relativen, und zwar innerhalb des menschlichen
Lebens. Wenn es keinen übermenschlichen, transzendenten Sinn gibt, muss sich der Mensch
selbst Sinn erschaffen: „In diesem nicht zu entziffernden und begrenzten Universum
bekommt das Schicksal des Menschen nun seinen Sinn.“231 Sinnfindung wird so zur
existenziellen Aufgabe des Menschen232: „Ich glaube allerdings immer noch fest daran, daß
die Welt keinen transzendentalen Sinn hat. Ich weiß aber sehr wohl, daß etwas in der Welt
Sinn hat, und zwar der Mensch selbst, weil er das einzige Wesen ist, das eben nach Ordnung
verlangt. Diese Welt besitzt zumindest die Wahrheit des Menschen, und unsere Aufgabe
besteht darin, ihm seine Rechtfertigung gegen das Schicksal selbst zu geben.“233 Der Mensch
muss seinen Sinn in seiner eigenen Existenz finden. So hat Camus sicherlich seinen

229
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 133, Vgl. Francois Bondy, Albert Camus und die Welt des Absurden, in:
Heinz Robert Schlette (Hrsg.), Wege der deutschen Camus-Rezeption, Darmstadt 1975, S. 223, Matthias Rath,
Albert Camus: Absurdität und Revolte. Eine Einführung in sein Werk und die deutsche Rezeption, Frankfurt am
Main 1984, S. 25
230
Vgl. Neuber, Vom logischen Selbstmord, dem Wert des absurden Lebens und Camus Logik bis zu deren Tod,
S. 105f
231
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 33
232
Vgl. Längle, Wenn der Sinn zur Frage wird, S. 47
233
De la Maeste, Der Sinn und das Absurde, S. 66
35
persönlichen Sinn in der Kunst und Literatur gefunden, die ihm als Verarbeitung der absurden
Erfahrung diente. Auch die Darstellung des absurden Lebens als eine Art Lebenskunst,
entspricht Camus als Künstler. Der absurde Mensch wird zum Schöpfer seines Lebens und
das Leben zu einer Art Kunstwerk, welches er erschafft.234 Er findet sein Glück darin, sein
absurdes Leben zu seiner bewusst angenommenen Aufgabe zu machen.235
In dieser Hinsicht nutzt Camus den Mythos des Sisyphos als Metapher für das Leben des
absurden Menschen. Dieser kann als Prototyp des absurden Menschen gelten: „Sisyphos ist
der absurde Held. Ebenso sehr aufgrund seiner Leidenschaften wie seiner Qual. Seine
Verachtung der Götter, sein Hass auf den Tod und sein leidenschaftlicher Lebenswille haben
ihm die unsagbar Marter eingebracht, bei der sein ganzes Sein sich abmüht, ohne etwas zu
vollenden.“236 Genau wie Sisyphos dazu verdammt ist, eine nutzlose und aussichtslose Arbeit
zu verrichten, kann der Mensch nicht aufhören, unablässig nach Sinn zu suchen in einer
sinnlosen Welt, ohne Aussicht auf Erfolg. Der absurde Mensch ist dazu verurteilt, innerhalb
der Sinnlosigkeit sein Leben einzurichten, ohne Hoffnung, dass er seinem absurden Dasein
entkommen kann. Er tut dies bei vollem Bewusstsein: „Dieser Mythos ist tragisch, weil sein
Held bewusst ist.“237 Aber indem er sein grausames Schicksal als seines anerkennt, schöpft er
die Kraft und den Mut, mit ihm fertig zu werden. Es ist sein eigenes Leben, von ihm gestaltet,
von ihm gelebt: „Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört
ihm.“238 Er ist Herr seines Glücks, da es nur noch von ihm selbst abhängt.239
Camus „macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen
geregelt werden muss“240, und das mindert die Angst vor der Sinnlosigkeit, denn was
menschlich ist, ist auch vertraut. Die Angst vor dem Tod als Ausformung des Absurden kann
Camus nicht nehmen, denn er erkennt ihn als eine endgültige Vernichtung des Menschen
selbst. Allerdings haben Menschen meistens dann Angst vor dem Tod, wenn sie Dinge
bereuen und das Gefühl haben, nicht genug Erfahrungen und Erlebnisse gemacht zu haben. In
seiner Ethik der Quantität fordert Camus aber den absurden Mensch auf, alle seine
Möglichkeiten zum Erfahrungsgewinn zu nutzen. Durch sein authentisches, bewusstes und
intensives Leben muss der absurde Mensch am Ende seines Lebens nicht das Gefühl haben,
Zeit ungenutzt gelassen zu haben oder nicht ausreichend gelebt zu haben.

234
Vgl. Weyembergh, Überwindung des Absurden, S. 72
235
Vgl. Lüthe (Hrsg.), Absurder Lebensstolz, S. 27
236
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 142
237
Ebd. S. 143
238
Ebd. S. 145
239
Ebd. S. 138
240
Ebd. S. 106
36
Auf den ersten Blick scheint es unmöglich, aus dem Absurden irgendeine Moral zu
begründen, da sie Sinnlosigkeit und Gleichgültigkeit bedeutet. Auch Camus bleibt dem
Menschen, der auf der Suche nach Handlungsrichtlinien ist, dies schuldig, abgesehen von der
Beschreibung verschiedener absurder Lebensstile241. Er hat viel zu hohe Achtung vor der
Entscheidungsfreiheit des Individuums242, als dass er moralische Maximen vorschreiben
würde, und er betont die Verantwortung des Einzelnen für seine Handlungen. Ohne eine
göttliche Instanz kann es keine absoluten, zeitlich überdauernden Werte geben. 243 Als
vernunftbegabtes Wesen kommt der Mensch aber nicht an der Frage nach der Richtigkeit
seiner Handlungen vorbei.244 So muss der Mensch im Absurden selbst denken. Camus ist
davon überzeugt, dass „der Mensch ohne Hilfe des Ewigen aus sich selbst allein heraus seine
eigenen Werte schaffen kann.“245 Camus‘ Revolte gegen das Absurde ließe sich so
interpretieren, dass der Mensch seine Handlungen sinnstiftend, also ethisch gestalten muss.
Wenn der Mensch sich ethische Werte setzt, so rebelliert er gegen die Gleichgültigkeit, die
das Absurde ausruft246. „Das Absurde befreit nicht, es bindet. Es rechtfertigt nicht alle
Handlungen. Alles ist erlaubt – das bedeutet nicht, dass nichts verboten wäre.“247 Eine solche
Moral wäre trotzdem individuell und situationsbedingt zu verstehen. 248 Wenn man außerdem
annimmt, dass das Gute das Vernünftige ist und das Gute somit Teil des vernünftigen
Menschen ist, hieße eine Forderung nach authentischem Menschsein nach seiner conditio
humana, dass er sich verwirklichen soll, indem er Gutes tut. Würde ein Mensch jemand
anderen ermorden, so würde er quasi zum Komplizen des Absurden, das ja im Tod am
deutlichsten entgegentritt. So bietet das Absurde nicht nur eine Bejahung des eigenen Lebens,
sondern auch des Lebens des Gegenübers.249
Das Absurde kann noch so zerstörende Wirkung haben, es gibt einen Wert, den es nicht
verneinen kann, ohne sich selbst zu verneinen, und das ist das Leben selbst: „[Das Absurde]
ist ein Widerspruch seinem Inhalt nach, denn es schließt Werturteile aus und will doch das
Leben aufrecht erhalten, wo doch das Leben an sich schon ein Werturteil ist. Atmen heißt
urteilen.“250 Da in der Absurdität alles Gleichgültig ist, muss der Mensch sich selbst Wert und

241
Der Don Juan, der Eroberer, der Schauspieler; Vgl. Brigitte Sändig, Albert Camus. Eine Einführung in Leben
und Werk, S. 90-92
242
Vgl. Schaub, Albert Camus und der Tod, S. 80-81
243
Vgl. Hengelbrock, Albert Camus, S. 100f
244
Vgl. Ebd. S. 100f
245
De la Maeste, Der Sinn und das Absurde, S. 49
246
Vgl. Knut Wenzel, Verteidigung des Relativen. Albert Camus und das Christentum, in: Willi Jung (Hrsg.) u.a.,
Albert Camus oder der glückliche Sisyphos – Albert Camus ou Sisyphe heureux, Göttingen 2013, S. 171
247
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 84
248
Vgl. Böckmann, Auflehnung – Freiheit – Leidenschaft, S. 19
249
Vgl. Bollnow, Von der absurden Welt zum mittelmeerischen Gedanken, S. 269-274
250
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 103
37
Sinn stiften. Durch das Moment der Entscheidung erschafft der Mensch seine eigenen Werte,
indem er sich für oder gegen etwas entscheidet.251 Und wenn der Mensch sich angesichts der
Absurdität nicht umbringt, so hat er bereits einen Wert gesetzt, nämlich den Wert des Lebens:
„Sobald man sich gegen den Tod wehrt, entscheidet man sich für das Leben, dem man einen
zumindest relativen Wert zuerkennt.“252 So wird Camus‘ absurde Haltung der Auflehnung
gegen das Absurde zu einer Lebensbejahung. Diese Lebensbejahung ist nicht gleichzusetzen
mit Lebensglück. Es gibt keine Garantie für den absurden Menschen, dass er ein glückliches
Leben führen wird. Er sagt bedingungslos Ja zum Leben und dazu gehören sowohl die guten,
als auch die schlechten Seiten: „Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört
nicht mehr auf.“253 Er sieht die harten Zeiten als Teil seines Schicksals. Ein bewusstes Leben
ist für Camus wichtiger als ein glückliches. Er hat eine Freude am reinen Dasein und an
jeglicher Empfindung, die ihm bezeugt, dass er am Leben ist. Auch die radikale Verneinung
eines Lebens nach dem Tod hilft dem absurden Menschen, sich auf sein gegebenes Leben zu
konzentrieren, denn es ist das einzige, das er hat. Er will im Diesseits glücklich werden, wo er
alles ihm Mögliche ausschöpfen möchte. „Hin und her gerissen zwischen der Welt, die
unzulänglich ist, und Gott, den er nicht besitzt, entscheidet der absurde Geist sich
leidenschaftlich für die Welt.“254

7. Fazit
Betrachtet man die zuvor bearbeiteten Gedankengänge Camus und setzt diese erneut in Bezug
zu Kant, so lassen sich dessen Grundfragen der Philosophie mittels Camus‘ Philosophie des
Absurden wie folgend beantworten: Was kann ich wissen? Dass das Absurde ist; Was soll ich
tun? Revoltieren; Was darf ich hoffen? Möglichst lange zu leben 255; und zuletzt: Was ist der
Mensch? Ein vernünftiges Wesen in einer sinnlosen Welt, also insofern unter der conditio des
Absurden.
Camus kann überzeugend darlegen, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens eine natürliche
Eigenart und Wesenhaftigkeit des Menschen ist, was auch die jahrhundertelange
Beschäftigung mit dieser Frage in der Geschichte der Philosophie bezeugt. 256 Es liegt im
Menschsein, ein unbedingtes Streben nach Sinn zu haben. Es ist kein krankhaftes Symptom
von Langeweile, Wertleere oder Orientierungslosigkeit, kann aber durch sie verstärkt werden,

251
Vgl. Lüthe (Hrsg.), Absurder Lebensstolz, S, 18
252
De la Maeste, Der Sinn und das Absurde, S. 65
253
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 145
254
Wenzel, Verteidigung des Relativen, S. 172
255
Vgl. Christian R. Hirschochs, Der Begriff ‚absurd‘ in Albert Camus‘ ‚Mythos des Sisyphos‘, 2016, S. 45
256
Vgl. Viktor E. Frankl, Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute, Wien 1977, S. 70f; Viktor E.
Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, München 1979, S. 46
38
wie sich am modernen Menschen zeigt. Dem heutigen Menschen sagen nicht nur keine
Instinkte mehr, was er tun muss, wie dem Tier, er hat auch keine Traditionen mehr, die ihm
sagen, was er tun soll.257 Dadurch gerät er in eine existenzielle Überforderung und wird mit
vielfältigen Sinnkrisen konfrontiert.258
Für Camus ist die Erkenntnis der absoluten Sinnlosigkeit jedoch kein Grund zur
Verzweiflung. Er denkt seine Logik des Absurden konsequent bis zum Schluss, lässt sich
durch die Verzweiflung angesichts der Absurdität nicht vorzeitig davon abkehren und schafft
es darüber hinaus, sie als etwas Positives und Lebensbejahendes zu interpretieren. Indem der
Mensch sich die Auflehnung gegen das Absurde zu seiner persönlichen Aufgabe macht,
wächst er wie Sisyphos über sein Schicksal hinaus: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein
Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen
vorstellen.“259 Wie sich herausgestellt hat, kann ein Mensch nur in der Sinnlosigkeit wirklich
frei und sein eigener Zweck sein, und nur dort lebt er sinngemäß nach seiner conditio
humana. Deshalb kann der Mensch bei Camus nur in der Sinnlosigkeit wirklich glücklich
werden: „Glück und Absurdität sind Kinder ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar.“ 260
Das Absurde wird zu einem Element, das den Lebenswillen und die Leidenschaft des
Menschen betont und damit zu einer absoluten und bedingungslosen Bejahung des Lebens.
Camus veranschaulicht dem Menschen, der auf Sinnsuche ist, dass er gar keinen absoluten
Sinn braucht, um ein glückliches Leben zu führen. Der Mensch kann seinem Leben einen
eigenen Sinn und Wert geben. Er zähmt die Sinnwütigkeit des Menschen und macht es ihm
möglich, sich in der Sinnlosigkeit einzurichten und zurechtzufinden, und darauf aufbauend
auch sich selbst zu finden. Er führt ihm vor Augen, dass er selbst sein eigener Sinn ist und es
seine Entscheidung ist, wie er seinem Leben Sinn gibt. Camus bieten eine Sichtweise an, sich
dem Sinn nicht zu veräußern, sondern ihn in sich selbst, als absurden Menschen, zu finden.
Somit besitzt der Mensch die Entscheidungskraft, über die Art und Weise zu bestimmen, wie
er seinem eigenen Leben einen Sinn zuspricht.
Für Camus ist diese lebensbejahende Erkenntnis aber nur der Anfang: „Bisher wurde nur eine
Denkweise dargelegt. Jetzt aber gilt es zu leben.“261

257
Vgl. Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, S. 414
258
Vgl. Frankl, Das Leiden am sinnlosen Leben, S. 75f
259
Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 145
260
Ebd. S. 144
261
Ebd. S. 7
39
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in: Annemarie Pieper (Hrsg.), Die Gegenwart des Absurden. Studien zu Albert Camus,
Tübingen, Basel 1994.

43
Erklärung

Hiermit versichere ich, dass ich diese Bachelorarbeit selbständig verfasst und keine anderen
als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen meiner Arbeit, die dem
Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter
Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht. Diese Arbeit hat in dieser oder einer
ähnlichen Form noch nicht im Rahmen einer anderen Prüfung vorgelegen.

Landau, 26.04.17 Annette Gall

44

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