Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Vorwort
Zur Einführung 8
1.1 Einführung 12
Teil 2: Textuntersuchungen 56
lonich 139
(b) VV. 3-4: Die paravklhsi" 143
(c) VV. 5-7: Dritte Antithese 144
(d) VV. 7-8: Familienmetaphorik I 147
2.3.4.2 Der zweite Rückblick – die Perspektive Mitei-
nander (2,9-12) 150
(a) V. 9 151
(b) V. 10 152
(c) VV. 11-12 153
2.3.4.3 Zusammenfassung 155
Literaturverzeichnis 207
8
EINFÜHRUNG
Der kurze erste Brief des Paulus an die Thessalonicher gilt gemeinhin
als das älteste Dokument des Neuen Testaments. Er ist also auch das
älteste urchristliche Missionszeugnis, das literarisch in Form gebracht
worden ist und nicht erst durch Quellenkritik aus anderen Texten
herausgearbeitet werden muss. Der Brief ist nicht nur für das
Verständnis des Neuen Testaments als Ganzes von Bedeutung, auch
innerhalb des paulinischen Schrifttums ist es nicht unbedeutend, dass
dieser Brief den Anfang markiert.
Insbesondere in einer Zeit, in der man Paulusbriefe hauptsächlich
systematisch erschließen wollte, spielte der 1Thess eine untergeord-
nete Rolle. Ein theologisches Profil ist auf den ersten Blick nur mit
Mühe zu erkennen. Und es passt keineswegs zu der Theologie der
„großen“ Briefe, da das Thema Rechtfertigung kaum diskutiert wird.
Greifbar wird allenfalls der missionarische Kontext, der in der
Argumentation jedoch nur wenige theologische Aspekte bereitstellt,
die noch dazu kaum in ein komplexes Argumentationsgefüge
eingestellt zu sein scheinen. Diese Tatsache hat vornehmlich dazu
geführt, den 1Thess eher assoziativ zur Interpretation frühchristlicher
Problemzusammenhänge heranzuziehen. Berühmt geworden ist bspw.
der Passus 1,9f., der mit seiner explizit monotheistischen Stoßrichtung
von einigen Forschern als fest geprägtes Traditionsgut aus dem
Bereich der monotheistischen Missionspredigt identifiziert wurde.
Ähnlich berühmt, allerdings unter negativen Vorzeichen, ist der Passus
2,14-16, der einen ungewöhnlichen polemischen Ausfall des Paulus
gegen das Judentum darstellt und zumindest bei Lesern, die biblische
Texte nicht unter methodisch-wissenschaftlichem Anspruch lesen,
Anstoß erregen muss. Für die Exegese besteht daher die Pflicht, die
Mühen für eine Klärung auf sich zu nehmen. Dies jedoch geschieht oft
9
ohne den Blick auf den theologischen Horizont des Briefes, der
aufgrund der missionarischen Situation auch kaum fassbar zu sein
scheint.
Theologische Relevanz ist nur in ein paar wenigen Passagen zu
entdecken, die der Gemeindeparänese entnommen sind. Die Argumen-
tation konzentriert sich in diesem Zusammenhang insbesondere auf die
Parusieerwartung, die anscheinend den Thessalonichern sehr am
Herzen lag – und im Hinblick auf den pseudepigraphischen 2 Thess
wohl schon im Urchristentum als Kennzeichen des thessalonischen
Christentums galt.
Bei all dieser Fremdheit kann man beinahe fragen, warum der
Brief äußerst selten als pseudepigraphisch angesehen wurde.
Wahrscheinlich liegt es daran, dass diese Annahme nicht
erkenntnisleitend und daher unnötig erschienen ist. Die Unterschiede
sind nicht zu groß und konnten entweder als Ausgangspunkt einer
Entwicklung beschrieben werden oder aufgrund des fehlenden Profils
einfach als situativ und weniger ausgearbeitet betrachtet werden. Eine
Ausscheidung aus dem Corpus Paulinum rechtfertigt sich weder durch
sprachliche noch durch inhaltliche Vorgaben, und so war dies auch
niemals wirklich in Diskussion. Es wäre auch methodisch kein Ge-
winn zu erwarten, da sich die entscheidenden theologischen Überle-
gungen eben außerhalb des 1Thess abspielen, der 1Thess aber ohne
weiteres eingeordnet werden kann (im Gegensatz zu den
Pseudepigraphien, deren Brüche zwar ebenfalls auf einer Linie
gesehen werden können, jedoch zum besseren Verständnis einen
anderen zeitlichen Rahmen erfordern).
Vorliegende Arbeit versucht nun genau auf diese eben
beschriebenen Phänomene einzugehen. Ausgangspunkt ist dabei die
Überlegung, den Brief als missionsstrategisches Schreiben zu
betrachten, ganz wie er sich selbst zu erkennen gibt. Dennoch soll
versucht werden, das theologische Profil zu schärfen. Dies ist nur
möglich, wenn man versucht, Zusammenhänge innerhalb der
brieflichen Argumentation herauszuarbeiten, worauf sich die
Forschung am 1Thess in den letzten Jahren in zunehmendem Maße
konzentriert hat. Hier soll gezeigt werden, dass die eklektisch
herangezogenen Stellen durchaus eine plausible Funktion im
Gesamtzusammenhang der Argumentation ergeben und auch einen
vollständig neuen Sinn erhalten können (besonders die Passage 2,14-
16).
Die hier vorgelegte Interpretation versteht sich als Beitrag zur
„Neuen Perspektive“ innerhalb der Paulusforschung. Dabei sollen die
10
1.1 Einführung
Diese Einschätzung ist inzwischen nicht mehr aktuell. Zwar wird der
1Thess auch weiterhin eklektisch zur Klärung theologischer Fragen
herangezogen. Darüber hinaus ist aber das Interesse am 1Thess sehr
groß geworden. Dies zeigt sich an der Anzahl der Kommentare, die in
letzter Zeit erschienen sind und so die Lücken in den Kommentar-
reihen schließen konnten.3 Zudem richten immer mehr Arbeiten ihr
Augenmerk auf den 1Thess und setzen sich mit der Frage nach dessen
Eigenständigkeit auseinander.4 Beckers Aufsatz, der später noch
diskutiert werden soll, kann in gewisser Weise als Initialzündung be-
trachtet werden. Seine Thesen haben nicht etwa zu einem Forschungs-
konsens geführt, sondern im Gegenteil die strittigen Anfragen an den
Brief erst so richtig angeheizt. Dabei ist die Diskussion um die Ein-
schätzung des 1Thess keine neue Diskussion. Schon sehr früh war man
sich einig, dass dieser Brief innerhalb des paulinischen Denkens eine
Sonderstellung einnimmt. Aufgefallen war immer, dass die „großen“
Themen wie die Rechtfertigungslehre oder die theologia crucis nicht
erwähnt werden. Um die Eigenart des 1Thess klären zu können, sollen
im Folgenden die wichtigsten diesbezüglichen Fragen geklärt werden
(1.2), um schließlich einen Ansatz zu entwickeln, der für die Ein-
schätzung des 1Thess und dessen Interpretation leitend sein kann (1.3).
Der Brief fällt insofern aus dem Rahmen der paulinischen Briefe, als
er sowohl in den Formulierungen in mehreren Fällen von der sonst
üblichen paulinischen Redeweise abweicht, als auch zu den scheinbar
wichtigen Themen, wie sie in den Hauptbriefen behandelt werden,
schweigt. Dies mag unter anderem mit der Situation des Briefes zu tun
haben, denn wie kein anderer Brief des Paulus steht der 1Thess der
Erstverkündigung der Gemeinde sehr nahe. Bis auf die Ausführungen
zur richtig verstandenen Parusieerwartung tritt die Behandlung ge-
meindeinterner Probleme deutlich in den Hintergrund. Die ausge-
dehnte Paränese zielt augenscheinlich auf den Abschluss oder die Wei-
der 1Thess weithin als paulinisch anerkannt. Wäre der 2 Thess ein au-
thentisch-paulinisches Schreiben, wäre er für die Erhebung der pauli-
nischen Theologie von Bedeutung. Die meisten Vertreter der Echtheit
des 2 Thess verstehen ihn als notwendige Korrektur der Aussagen zur
Parusie des 1Thess,11 die schon sehr bald nach der Verfassung des
1Thess notwendig geworden sei. Jedoch ist es schwer zu erklären, wa-
rum das Konzept der Parusievorstellung so entscheidend von der Vor-
stellung des 1Thess abweicht. Insbesondere die Figur des eschatologi-
schen Gegenspielers Gottes vor der Parusie fügt sich nicht in die
ansonsten „unmittelbare Parusienaherwartung, die bis zum Phil die
sachliche Mitte aller eschatologischen Aussagen bildet.“ 12 Zudem kann
man davon ausgehen, dass der 2 Thess den 1Thess als Vorlage ver-
wendet hat, da bis in die Gliederung hinein Berührungen zwischen
beiden Briefen zu entdecken sind,13 wobei jedoch inhaltlich wie
sprachlich große Differenzen zwischen beiden Briefen herrschen. Ne-
ben der unterschiedlichen Parusievorstellung fällt auch die eigentümli-
che Sprache auf. So weist Trilling darauf hin, dass innerhalb des zwei-
ten Thessalonicherbriefes 17 Wendungen, die sonst nirgends im NT zu
finden sind, gebraucht werden.14 Auch weitere stilistische Eigenheiten
sprechen gegen die Echtheit des 2 Thess, so dass man mit Trilling zu-
sammenfassend feststellen kann: „Wortgebrauch, stilistische Eigenart
und Gedankenführung müssen zusammen gesehen werden. Typische
Gedanken, Wörter und Wendungen weisen auf eine in Lehre und
christlichen Lebensformen entwickeltere Situation als die von I
[Thess] und die aller unbezweifelt echten Paulusbriefe hin.“15
davon, dass die Juden(-christen) Priskilla und Aquila aus Rom fliehen
mussten aufgrund größer angelegter Verfolgungen. Diese Verfolgun-
gen werden auf das Claudius-Edikt zurückgeführt, das nach der Anga-
be bei Orosius auf das 9. Regierungsjahr des Claudius, also auf 49 n.
Chr. zu datieren ist.
Der 1Thess wäre demnach auch der einzige Brief, der auf der
zweiten Missionsreise bzw. an ihrem Ende im Jahre 50/51 in Korinth
entstanden ist.18 Als nächstes dürften mit einem Abstand von etwa 3
bis 4 Jahren nach und nach die Korintherbriefe, der Galaterbrief, der
Römerbrief und der Philipperbrief entstanden sein.19
Dennoch muss im Folgenden auf zwei Versuche eingegangen
werden, die diesen Status Quo in Frage gestellt haben. Diese hätten
direkte Auswirkungen auf die theologische Einordnung des 1Thess.
Zum einen wird eine extreme Frühdatierung des 1Thess versucht, die
ihn schon vor dem Apostelkonzil ansetzt, zum anderen gerät die Datie-
rung des 1Thess als frühestem Paulusbrief in Konkurrenz mit der
Frühdatierung des Galaterbriefes, die diesen entweder vor oder in
direkte Nähe des 1Thess rückt (wobei wichtige Themen, etwa die
Rechtfertigungslehre, die im 1Thess nicht zum Tragen kommen, im
Gal bereits auf einer hohen Reflexionsstufe vorliegen würden).
Den bisher bedeutendsten Vorstoß mit dem Ziel, die Datierung der
Paulusbriefe auf ein vollkommen neues Fundament zu stellen, hat Lü-
demann20 unternommen. Im Rückgriff auf wichtige Vorarbeiten von
Knox21 und anderen amerikanischen Autoren,22 versucht er auch in der
deutschsprachigen Forschung neue Akzente in der Pauluschronologie
zu setzen. Von seinem Grundansatz her wendet er sich gegen eine
Corinth, 173-176; Plassart, Inscription; ders., Fouilles, 26-32.
18 Gemäß Apg 18,5 trifft Paulus in Korinth mit seinen Mitarbeitern Silas und
Timotheus in Korinth wieder zusammen. Nachdem Paulus dort längere Zeit
verbringt, im Brief allerdings die positiven Neuigkeiten durch Timotheus
hervorgehoben werden, kann man darauf schließen, dass der 1Thess
höchstwahrscheinlich in Korinth entstanden ist.
19 Ich schließe mich im Wesentlichen der Datierung bei Schnelle, Wandlungen,
22-36 an. Auch wenn die Datierung des Phil umstritten ist, geht es hier vor
allem um den Nachweis, dass Konsens darüber besteht, dass der 1Thess mit
einem wahrnehmbaren Abstand zum 1 Kor verfasst worden ist. Zur Datierung
des Gal vgl. Kapitel 1.2.2.3.
20 Vgl. Lüdemann, Paulus I.
21 Knox, Chapters; ders., Chronology.
22 Riddle, Paul; Jewett, Chronology.
18
einschließt. Zugleich nehmen sie aufgrund der Notiz in Gal 4,13 (to;
provteron) an, dass der Brief in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur dorti-
gen Missionsarbeit entstanden sein müsse. Somit wäre es möglich, den
Gal sogar vor den Apostelkonvent zu datieren, mindestens aber in des-
sen unmittelbare Nähe.37
Allerdings ist umstritten, ob Paulus mit den Galatern wirklich die
Gemeinden aus Apg 13 und 14 meint. Eine andere Möglichkeit wäre
die – dem antiken Sprachgebrauch folgende – Identifizierung der
Adressaten mit den Bewohnern der „Landschaft“ Galatien im Norden,
also dem „Gebiet, das sich um das Halysbecken herum bis zum Fluß
Iris im Osten und zum Sangarios im Westen ausdehnt und die Städte
von Anykra, Tavium, sowie die neuen römischen Siedlungen von Pes-
simus und Germa umgibt.“38
Eine eindeutige Entscheidung zur Identifizierung der Galater ist kaum mög-
lich. Für die nordgalatische Hypothese spricht der antike Sprachgebrauch,
der dieses Gebiet ebenfalls als Galatien ausgewiesen hat – und so nennen
auch Apg 16,6 und 18,23 das galatische Land (Galavtikh Cw'ra) neben Phry-
gien, während in Apg 13-14 die Bezeichnung Galatien nicht zu finden ist.
Somit würde die polemische Anrede in Gal 3,1 wohl nur seine Wirkung ent-
falten, wenn sie Personen bezeichnete, die sich traditionell als Galater ver-
standen. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass kaum zu erklären sei, wa-
rum sich ausgerechnet im Norden eine so bedeutende judenchristliche Ge-
genmission zu Paulus breit gemacht hat, obwohl für dieses Gebiet keine jüdi-
schen Einwohner bekannt waren. Der synagogale Einfluss sei eher im Süden
zu erwarten. Schließlich weist Breytenbach 39 darauf hin, dass im Norden
überhaupt keine vorkonstantinischen Spuren der Christianisierung zu erken-
nen seien.40
Identifiziert man die Galater mit den Bewohnern der nördlichen Land-
schaft Galatien, ist es theoretisch immer noch denkbar, dass der Brief
noch vor dem Aufbruch zur Europamission des Paulus geschrieben
worden ist. Das hängt letztlich auch davon ab, wie man Gal 4,13 ver-
steht. Nach Broer41 würde der Vers eindeutig auf zwei Besuche ver-
weisen, wobei nicht an Hin- und Rückweg42 zu denken sein müsse,
sondern eventuell ein deutlicher Hinweis gegeben sei auf die beiden
Besuche, wie sie auch in Apg 16 und 18, also auf der 2. und 3. Mis-
sionsreise übermittelt sind. Dies würde die oben vorgeschlagene Deu-
tung unterstützen und den Brief, wie es auch sein Inhalt zu erkennen
gibt, in die Nähe des Römerbriefes rücken. Bedenkenswert ist ebenso
der Vorschlag Vougas, der aufgrund der Nähe zum Röm und 2 Kor
„mit einer Redaktion in Ephesus, in Makedonien (2 Kor 7,5; 9,2), in
Korinth (Röm 15,14-32 ...) kurz vor der letzten Abfahrt nach Je-
rusalem 55/57 n. Chr oder noch auf der Reise nach Jerusalem“ 43 rech-
net. Nach dieser Einschätzung könnte man also selbst bei einer Früh-
datierung des Gal die dortigen Ausführungen zur Rechtfertigungslehre
als späteren redaktionellen Einschub betrachten.
1.2.2.4 Fazit
Nachdem weder die Frage nach der Authentizität noch diejenige nach
der Chronologie entscheidende Hinweise darauf geben konnten, wie
sich die theologische Sonderstellung des 1Thess begründen ließe, müs-
sen nun die theologischen Auffälligkeiten selbst in den Blick kommen.
Ist es auf der rein theologischen, innerbrieflich situativen Ebene
43 Vouga, Gal, 11.
24
„in das alle anderen Aussagen des Briefes eingetragen werden kön-
nen.“48 Die Äußerungen zum Thema Erwählung erscheinen dabei in
einem eschatologisch orientierten Zusammenhang: die Thessalonicher
sind erwählt, am Heil Gottes Teil zu haben. Darauf laufen demnach al-
le Aussagen zur Erwählung hinaus.49
Becker meint nun, aufgrund dieses Strukturmusters aus dem
1Thess die Spuren einer theologischen Gesamtkonzeption erheben zu
können, die man als Erwählungstheologie bezeichnen könne. An die-
ser Stelle soll nur in Grundzügen auf die wichtigsten von Becker
herausgestellten Linien eingegangen werden:
(1) Subjekt der Berufung ist durchgehend Gott. Seine Berufung ist
zu verstehen als „endzeitliche Gnadenwahl, indem sie unmit-
telbar vor dem nahen Endgericht zum endzeitlichen Heil be-
ruft.“50 Die Thessalonicher bekommen durch diese Berufung
die Chance, als Gemeinde Gottes dem Zorn Gottes zu ent-
gehen.
(2) Die Berufung geschieht durch das Evangelium (Gottes) bzw.
das Wort Gottes bzw. des Herrn. Im 1Thess wird dieser Begriff
nur im missionarischen Kontext verwendet und ist von daher
auch an die Überbringer des Evangeliums, die Apostel, gebun-
den.51 Die Apostel sind ebenso von Gott erwählt zur Verkündi-
gung des Evangeliums (2,4) und können sich deshalb als Apos-
tel Christi bezeichnen (2,7).52
(3) Die Adressaten nehmen das Evangelium durch ihren Glauben
an. Diese Annahme wird durch den Geist Gottes unterstützt
(1,5), beruht also nicht ursächlich auf der missionarischen
Leistung der Apostel. Und dieser Geist Gottes bewirkt in der
Annahme des Evangeliums zugleich die endzeitliche Neube-
stimmung des Menschen, sodass die Thessalonicher bei der Pa-
rusie keiner Verwandlung mehr bedürfen, wie sie etwa schon
in 1 Kor 15,50 vorausgesetzt wird.53
(4) Der Inhalt des Evangeliums zielt auf die Rettung ab. Im Ge-
gensatz zum Judentum ist dabei nicht das Gesetz der Weg, der
zum Heil führt, sondern Christus.
48 Becker, Erwählung, 82.
49 Vgl. Becker, Erwählung, 82.
50 Becker, Erwählung, 82.
51 Vgl. Becker, Erwählung, 83.
52 Vgl. Becker, Erwählung, 84
53 Vgl. Becker, Erwählung, 87.
27
(5) Die Christologie des 1Thess ist deshalb auch an die Retter-
funktion Jesu gebunden, da mit seiner Parusie die Berufung der
Heiden in die Endzeitgemeinde vollendet wird. Nach dem
Konzept des 1Thess ist „Gott als Schöpfer und Herr der Welt
ihr Richter (1,9f.), der Kyrios jedoch der endzeitliche Retter
derer, die Gott durch das Evangelium erwählt hat (1,4f.10;
2,12f.19f.; 4,13-18; 5,9f.23f.).“54 Anspielungen auf weitere
christologische Funktionen (Schöpfungsmittlerschaft etc.) feh-
len in diesem Konzept, alle Aussagen zielen nach Becker wohl
absichtlich auf die soteriologische Funktion ab.55
(6) Schließlich zeigen die „Antagonismen und Konkurrenzen“56,
mit denen sich die paulinische Mission auseinanderzusetzen
hat, ganz genau auf, dass Paulus „imstande ist, die theologische
Selbständigkeit des Heidenchristentums durch eine in Umris-
sen gut erkennbare, in sich geschlossene Position zu entfalten –
und das so kurze Zeit nach dem Apostelkonvent.“57
schichte des Urchristentums, da man dann den 1Thess nicht nur für
das Verständnis paulinischen Denkens, sondern zugleich für das Ver-
ständnis des antiochenischen Strangs der frühchristlichen Theologie
auswerten könnte.
(vgl. 1,9; 4,14 und 5,9f.).67 An dieser Stelle versucht Söding einen
Bezug zur Rechtfertigungslehre herzustellen:
können.
Söding meint nun insbesondere durch die Tatsache, dass Paulus
bereits im 1Thess auf das Gesetz als Heilsweg verzichtet, ein
Argument für das Vorliegen der Rechtfertigungslehre gewonnen zu
haben.70 Diese Rechtfertigungslehre werde zwar später noch weiter-
entwickelt und auf eine „qualitativ neue Stufe der paulinischen Theo-
logie“ gehoben, liege allerdings „auf der christologischen und soterio-
logischen Linie“71 der späteren Lehre.
Was schließlich verwundert sind die Schlussfolgerungen Sö-
dings. Eigentlich denkt man, er vertrete eine Sonderstellung des
1Thess zumindest insofern, als man eine qualitativ eigenständige Stufe
paulinischen Denkens erkennen könne. Im 1Thess stoße man eindeutig
auf die hellenistisch-judenchristlichen Theologie Antiochias, die „in
der Verkündigung des Heilstodes und der Auferweckung Jesu, (...) in
der Erwartung des Kyrios als des endzeitlichen Retters, in der chris-
tologisch neu interpretierten Theologie, in der starken Betonung der
futurischen Eschatologie mitsamt der intensiven Naherwartung, im
Wissen um die Universalität des Heilswillens Gottes und die Aufgabe
der Heidenmission, im Verständnis der Taufe als Sakrament der Ge-
meinschaft mit Christus und der Zugehörigkeit zur Ekklesia Gottes, in
zentralen Elementen der Paraklese..., vermutlich aber auch in der theo-
logischen Distanz zum Judentum, soweit es sich dem Christus-Glau-
ben verschließt,“72 deutlich werde. In diesem Sinne also inter-pretiert
Söding den 1Thess als Zeugnis der Theologie Antiochiens; allerdings
weist er im selben Atemzug darauf hin, dass Paulus sich in Antiochia
bereits deutlich abgehoben hat von Petrus und Barnabas, die aufgrund
des Einhaltens von Speisevorschriften von Paulus angegriffen werden.
Er misst dem Gesetz keine Bedeutung mehr zu. Dies sei die Basis der
Trennung von Barnabas und zugleich das Zeichen dafür, dass der
1Thess eben nicht als Zeugnis antiochenischer Theologie interpretiert
werden könne.73
70 Vgl. Söding, 1Thess, 1Thess, 199f.
71 Söding, 1Thess, 201.
72 Söding, 1Thess, 201f.
73 Vgl. Söding, 202f. Damit impliziert Söding, dass der Streit in Antiochia durch
einen Positionswechsel des Paulus zustande gekommen ist, der plötzlich eine
neue, eigenständige Theologie vertritt. Sein Aufbegehren gegen Petrus und
Barnabas, die sich an die Bedeutung und Vorschriften des jüdischen Gesetzes
klammern wollten, liest Söding als Erkennungszeichen einer neuen Theologie,
nicht aber als Ausgangspunkt für Überlegungen für bisher unreflektierte
Fragestellungen. Er verkennt damit die Situation, denn erst der Konflikt bringt
dieses Problem zur Sprache. Antiochenische Theologie wird sich wohl ebenso
wenig wie der 1Thess um die Frage nach der Beschneidung gekümmert haben.
32
Wie unschwer zu erkennen ist, entzündet sich die Debatte um die Ein-
ordnung des 1Thess an der Beurteilung der Frage, ob die Theologie
des Briefes für sich sprechen darf (Becker) oder ob man die
Rechtfertigungslehre voraussetzen muss (Söding). Södings Ansatz
unterscheidet sich dabei letztlich nicht so weit von den Überlegungen
Beckers, wie er annehmen will, nur meint er im Gegensatz zu Becker,
die Abgrenzung gegenüber typischen Positionen Antiochias eintragen
zu müssen.74 Diese Abgrenzung ist dann auch das Argument für den
Wechsel der Perspektive, nach der man die Aussagen nicht zurück-
projizieren dürfe auf die antiochenische Zeit, sondern als Grundlage
für das Verständnis heranziehen müsse, das sich innerhalb der späteren
Briefe entfalten würde.
Von da aus stellt sich freilich die Frage, warum man sich über-
haupt für eine bestimmte Richtung entscheiden muss. Wie ein Blick
auf die Paulusforschung zeigt, sind die Forscher derzeit insofern in
zwei Lager aufgespalten, als die einen eine Entwicklung paulinischen
Denkens im Rahmen seiner Briefe annehmen wollen, andere wiede-
rum nicht. Der Streit konzentriert sich hauptsächlich auf die Rechtfer-
tigungslehre, allerdings sind auch weitere Themen in Diskussion.75
Die vorhandenen Quellen machen es nicht einfach, eine konsis-
tente Theologie des Paulus zu erheben, legt er doch keine systemati-
sche Abhandlung vor, sondern nur situationsbezogene Briefe an seine
Gemeinden. Noch schwieriger erscheint es, eine Entwicklung aus die-
sen spärlichen Quellen abzuleiten. Und dennoch gibt es einige Ansät-
ze, die sich dieser Herausforderung stellen. Im Folgenden sollen die
wesentlichen Daten dieses Diskurses zusammengefasst und aus-
gewertet werden. In einem ersten Schritt wird dabei auf die grund-
legenden Themen eingegangen, die eventuell eine Entwicklung erken-
74 Vgl. Söding, 202f. Jedoch heißt das nicht, dass der Streit in Antiochia auf einen
Bruch mit der antiochenischen Theologie zurückgeht. Denn auch wenn Paulus
gegen Barnabas Position bezieht, so doch nur deswegen, weil er anders als die
Judenchristen Antiochias sein Missionswerk in Frage gestellt sieht.
75 Bei genauerer Betrachtung fällt dann auch auf, dass Södings Position auf den
ersten Blick zwar um Ausgleich bemüht zu sein scheint, aber doch eher auf
Seiten der Entwicklungsgegner anzusiedeln ist. Zumindest verwischt er die
Grundlinien der Debatte. Er nimmt zwar Entwicklungen an, die eine qualitativ
neue Stufe innerhalb des paulinischen Denkens ausmachen würden, andererseits
aber subsummiert er die Position des 1Thess bereits unter den Begriff der
Rechtfertigungslehre, was, wie sich zeigen wird, ebenfalls umstritten ist.
33
nen lassen, ehe in einem zweiten Schritt die Argumente pro und contra
einer Entwicklung dargestellt und miteinander in Diskussion gebracht
werden. Von da aus soll dann abschließend ein eigener Ansatz ent-
wickelt werden, der versucht, die Besonderheit des 1Thess zur Geltung
zu bringen.
1.3.3.1 Diskursthemen
Das Schweigen des 1Thess lässt, wie bereits durch Södings Position
angedeutet wurde, nicht darauf schließen, dass das Thema Gesetz /
Rechtfertigung dort noch keine Rolle gespielt hätte. Allein die
Situation des Briefes kann erklären, dass Paulus vor einer heiden-
christlichen Gemeinde, die kaum durch Positionen judaisierender Ju-
denchristen angegriffen wurde, das Thema nicht zu erwähnen braucht.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass einige Autoren bereits für den
1Thess die Rechtfertigungslehre voraussetzen.78 Allerdings wird diese
Position nicht von allen Autoren geteilt.
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts legten Wrede und
Schweitzer zwei wichtige Arbeiten zum paulinischen Denken vor, in
denen sie versuchten, die Rechtfertigungslehre von ihrer zentralen
Stellung bei der Auslegung paulinischer Theologie zu befreien. Wre-
de bezeichnet die Rechtfertigungslehre als eine „Kampfeslehre“, die
im Rahmen missionarischer Herausforderungen herausgebildet wur-
79 Wrede, Paulus, 67. Vgl. auch S. 74: „Athene sprang gewappnet in voller Kraft
aus dem Haupte des Zeus hervor. So ist die Theologie des Paulus nicht
entstanden. Sie ist gewachsen und geworden, und wir begreifen sie wie alles
Geschichtliche nur in dem Maße wirklich, als wir in ihr Werden hineinsehen.“
80 Schweitzer, Mystik, 220.
81 Zum Bultmannschen Einfluss auf die Paulus-Exegese vgl. Kümmel, Bultmann,
174-193.
82 Ausführliche Analysen etwa bei Schnelle, Wandlungen, 49-76, oder – um auch
einen Gegner der Entwicklungshypothese zu Wort kommen zu lassen – bei von
Bendemann, Erwägungen.
35
Einzig 1 Kor 15,56 lässt schon einmal den Horizont der Rechtferti-
gungslehre erahnen, wenn es heißt: to; de; kevntron tou' qanavtou hJ
aJmartiva, hJ de; duvnami" th'" aJmartiva" oJ novmo". Hier wird also der
Zusammenhang von Sünde, Gesetz und Tod zum ersten Mal explizit
aufgegriffen. Ein Bezug zum Begriff dikaiosuvnh fehlt im 1 Kor noch
ganz. Dieser findet sich allerdings im 2 Kor im Zusammenhang mit
der Rede von der Sünde. Die Frage ist, wie dies zu bewerten ist.
Entwicklungsbefürworter urteilen im Sinne Bergers, indem sie das
Fehlen entscheidender begrifflicher Zusammenhänge bemängeln. Das
Zitat in 1 Kor 15,56 erinnere zwar schon sehr stark an den
Zusammenhang, der im Gal entfaltet wird, nach Schnelle ist es aber
eher als zufällige Äußerung zu werten, die noch nichts von einer
durchdachten Theorie erkennen lasse.84 Schnelle zufolge wäre die
Rechtfertigungslehre, hätte sie schon das Niveau des Gal erreicht,
sicher aufgegriffen worden in der Auseinandersetzung mit den korin-
thischen Enthusiasten.85 An dieser Stelle widerspricht allerdings von
Bendemann. Er sieht genau im 1Kor die Wende zwischen „Frühling
83 Berger, Theologiegeschichte, 444.
84 So Schnelle, Wandlungen, 53. Ähnlich urteilt auch Wilckens, Entwicklung, 163.
85 Vgl. Schnelle, Wandlungen, 53.
36
88 Vgl. oben zur Auseinandersetzung zwischen Söding und Becker. Für die
Ausprägung der Rechtfertigungslehre in Antiochia plädiert Dunn, New
Perspective, 33.
89 Stuhlmacher, Evangelium, 161.
90 Zu dieser Position vgl. insbesondere Dietzfelbinger, Berufung, 16ff.29.
91 Zum Gegenentwurf vgl. Schnelle, Wandlungen, 15-21.
38
(c) Israel
Die dritte größere Linie, die innerhalb der paulinischen Theologie als
Anzeichen für eine Entwicklung seines Denkens gesehen wird, ist das
Verhältnis der paulinischen Mission zu Israel. Freilich ist die Israel-
frage nicht eindeutig von dem vorhin besprochenen Themenkomplex
Gesetz und Rechtfertigung zu trennen. Allerdings wäre eine Identifi-
zierung beider Fragestellungen eine Engführung, die einer Erhellung
paulinischer Theologie im Wege stünde. Deshalb sollen in diesem Ab-
schnitt die expliziten Äußerungen des Paulus bzgl. Israel zur Sprache
kommen.
Die Aussage in 1Thess 2,14-16 wirkt in ihrer Polemik überaus
radikal. Aufgrund der Behinderung der Mission der Apostel erklärt
Paulus, dass der Zorn Gottes vollständig über die Juden herein-
gebrochen sei. Dabei stellt Paulus die Mitglieder der thessalonischen
Gemeinde den Juden gegenüber. Die Thessalonicher hätten am kom-
menden Heil Anteil, die Juden hingegen jeglichen Anspruch auf dieses
94 So Schnelle, Wandlungen, 46.
40
Heil verwirkt.95
Der 1 Kor thematisiert die Israelproblematik nicht. Kraus 96 je-
doch interpretiert die Aussagen – sieht man von der polemischen
Überspitzung der Formulieurng im 1Thess ab – in Kontinuität zu den
Aussagen des 1Thess. Nach Kraus „finden sich im 1 Kor Ansätze,
Israel als Gottesvolk in den Hintergrund zu drängen. Dies geschieht
insbesondere durch die direkte Übertragung atl. Motive auf die
christliche Gemeinde.“97 In 2 Kor 3 macht Paulus deutlich, dass auch
Israel für das Heil noch nicht verloren ist. Allerdings muss es sich zu
Christus bekehren, denn ohne ein Bekenntnis zu Christus bleibt ihnen
das „Alte Testament“ verschlossen, und somit auch ihr Anspruch auf
das Heil. Nur in Christus kommt die Verheißung Gottes zur Geltung.
Paulus nimmt also die pauschale Verurteilung der Juden zurück, inter-
pretiert aber das Heilsangebot Gottes ähnlich wie im 1Thess – Israel
hat sich durch die Ablehnung Jesu ins Abseits manövriert und kann
erst durch eine Umkehr wieder zum Heil gelangen.
Die Ausführungen des Gal sind in Auseinandersetzung mit
judenchristlichen Gegnern des Paulus formuliert und aufgrund dessen
auch teilweise polemisch gefärbt. Ansonsten liegen die Aussagen auf
einer Linie mit den Aussagen des 1Thess in der Betonung der christo-
logischen Interpretation in Gal 6,15: weder Beschneidung noch Unbe-
schnittenheit hätten Bedeutung, sondern nur die neue Existenz in
Christus. Das Verhältnis der Bundestreue Gottes zu seinem Volk hat
Paulus insofern gelöst, als er in 4,25 den Israelbegriff auf die christ-
lichen Gemeinden anwendet. Das ungläubige Judentum aber stehe au-
ßerhalb der Treue Gottes, da es in der Tradition Hagars und Ismaels
stünde, nicht Saras und Isaaks.
Erst im Röm kommt es dann zu einer zufriedenstellenden, sehr
komplexen Zeichnung des Zusammenhangs der atl. Verheißung und
der ntl. christologischen Interpretation dieser Verheißung. Grundaus-
sage in Röm 3,1-8 ist zunächst, dass Gott seine Treue zum Volk Israel
aufrechterhält. Das Thema der Treue Gottes wird dann in Röm 9-11
breit entfaltet. Wieder greift Paulus den Unterschied des wahren
Israels (der Judenchristen) gegenüber den ungläubigen Israeliten auf
(‚nicht alle, die aus Israel sind, sind Israel’). Das verstockte Israel ist
nicht verstoßen. Die Heidenmission soll Israel auch dazu motivieren,
wieder in die Heilsgemeinschaft einzutreten. Im Endgeschehen erwar-
tet Paulus dann auch ein Eingreifen Gottes, das die Juden wieder zum
Heil führen wird.
Gerade hinsichtlich der Israel-Problematik wird allerdings
deutlich, dass Paulus sehr kontextbetont argumentiert. Betrachtet man
die entfaltete Theorie im Röm, so wird deutlich, dass vor diesem Hin-
tergrund die Aussagen des 1Thess zur Stellung Israels nicht mehr
möglich wären. Allerdings muss man bei solchen Überlegungen vor-
sichtig sein, da der Fokus im 1Thess sehr eingeschränkt ist. Wie sich
im Vorgriff auf die Ergebnisse dieser Arbeit sagen lässt, gibt es neben
der rein polemischen Wertung der Wendung in 1Thess 2,15-16 auch
die Möglichkeit der Interpretation in der Richtung, dass Paulus hier
eine Einschränkung üblicher Vorwürfe der Heiden gegenüber dem
Judentum beabsichtigt. Wenn die Thessalonicher wesentliche Elemen-
te des jüdischen Glaubens übernehmen, so besagt dies nicht, dass das
Urteil der Griechen über die Juden, diese seien „Feinde aller Men-
schen“, auch auf die christliche Gemeinde übertragen werden kann.
Paulus deutet das pagane Urteil über die Juden um und bezieht es auf
die jüdischen Angriffe auf die urchristlichen Missionsbestrebungen. 98
Dennoch ist im Röm ein wesentlicher Erkenntnisfortschritt nach-
vollziehbar, der zeigt, dass Paulus seine theologischen Überlegungen
zur Stellung des Judentums in wesentlichen Punkten überarbeitet hat.
tuation finden könnten. Für sie scheint es ganz wichtig, die Einheit
paulinischer Theologie zu retten und schon Anfragen an diese Einheit
im Keim zu ersticken. An dieser Stelle soll ein kurzer Überblick über
die methodischen Vorbehalte gegenüber einer Entwicklung bei Paulus
gegeben werden.
Eine solche Aussage ist ein Beispiel dafür, wie entschieden eine
Weiterentwicklung der theologischen Positionen des Paulus bestritten
wird. Aus Hahns Position ist aber ebenso zu erkennen, dass er bis zu
gewissen Grenzen eine „Weiterführung und Vertiefung der Thematik“
anerkennt, nur billigt er dieser Erkenntnis anscheinend keinen heuristi-
schen Wert zu. Zumindest wendet er sich mit seiner These gegen
solche Positionen, die den Akzent auf die Herausbildung der Recht-
fertigungslehre in der galatische Krise schieben. Damit wendet er sich
zu Recht gegen rein reduktive Ansätze, die die Rechtfertigungslehre
nur im Sinne Wredes als Kampfeslehre verstanden wissen wollen.103
Für die Interpretation des 1Thess bedeutet dies, dass auch dort
die Rechtfertigungslehre vorauszusetzen sei, was viele Autoren ähn-
lich wie Hahn nachzuweisen versuchen.104 Gemeinsam ist allen diesen
Positionen, dass sie das Damaskusereignis als Ausgangspunkt der
Rechtfertigungslehre deuten.
Diese Herangehensweise an das Thema Gesetz und Rechtferti-
gungslehre ist allerdings methodologisch ebenso problematisch wie
die Annahme, dass eine Entwicklung paulinischer Theologie ohne
weiteres nachvollzogen werden könne. Bezüglich paulinischer
Theologie ist – wie oben bereits erwähnt – auch die Einschätzung der
Damaskuserfahrung des Paulus ein entscheidendes Datum. Insgesamt
aber kann man erkennen, dass die Entscheidung für oder gegen
102 Hahn, Entwicklung, 365f.
103 Vgl. hierzu Anmerkung 84.
104 Vgl. dazu oben, 25-29.
45
109 Vgl. Theißen, Religion; Räisänen, Theologie; ders., Alternative. Vgl. auch die
Diskussion der Ansätze bei Vos, Theologie, 248-250; Becker, Theologiege-
schichte, 115f.
110 Theißen, Religion, 17. Zur Psychologie des Urchristentums vgl. den neuen Ent-
wurf von Theißen, Erleben.
111 Theißen, Religion, 17.
112 Auch von Räisänen liegen bisher nur Entwürfe eines groß angelegten Pro-
gramms vor.
48
122 Ein tiefer Einblick in die Eigendynamik des paulinischen Evangeliums lässt sich
insbesondere in der Korinthermission darstellen. Vgl. Schnelle, Paulus, 201: „In
Korinth fiel das paulinische Evangelium auf fruchtbaren Boden, mehr noch: die
Korinther nahmen es in ihre eigenen Hände.“ Ein Blick auf die Korinther-
mission mit den gemeindeinternenen Spaltungstendenzen zeigt auf, dass theo-
logische Akzentuierungen nicht nur ihre Entfaltungen aufgrund einer Bedro-
hung von außen (wie im Gal) entstehen, sondern dass auch die Mitglieder der
paulinischen Gemeinden direkten Einfluss nehmen auf die theologische
Entwicklung der Gemeinde und so auch zur Legitimierung herausfordern.
51
123 Wobei darauf hinzuweisen ist, dass selbst Theißen, Religion, 294-296, dem
Programm einer Entwicklung bei Paulus äußerst reserviert gegenübersteht.
52
auflösen.“124
Idee.126
Wenn es auch nicht gelingt, antiochenische Theologie genauer
zu fassen als bisher möglich, so verbietet es sich, die sprachlichen
Besonderheiten des 1Thess vollständig zu nivellieren. Selbst wenn
schon eine lange Zeit seit der Berufung des Paulus verstrichen ist,
markiert die selbständige Mission in Griechenland dennoch einen
neuen Abschnitt, der neue Probleme mit sich bringt. Auf keinen Fall
darf eine Entwicklung nur deshalb geleugnet werden, weil so die
Kontinuität im Denken des Paulus gewahrt werden kann.
Auf einen relativ neuen Ansatz sei an dieser Stelle schließlich
noch hingewiesen. Dieser Ansatz schafft vielleicht zum ersten Mal
das, was Schnelle als „Kontinuität im Wandel“127 bezeichnet hat, auf
ein breiteres Fundament zu stellen. Wilk128 hat in seiner groß-
angelegten Untersuchung über die Verwendung des Jesaja-Buches bei
Paulus nachweisen können, dass eine Interpretation jesajanischer
Texte in allen Briefen zu erkennen ist. Anhand der Verwendung des
Jesaja-Buches lässt sich aber auch eine Weiterentwicklung bzw. Ver-
tiefung paulinischer Theologie nachvollziehen. Der Befund stellt sich
zunächst folgendermaßen dar:129
126 Allerdings finden Becker und sogar Söding (s.o.) durchaus gute Gründe für die
Idee, eine antiochenische Theologie vorauszusetzen. Zur Bedeutung Antiochias
für die paulinische Theologie vgl. ausführlich Hengel/Schwemer, Paulus, 404-
461.
127 Schnelle, Wandlungen, 88-90, weist auf Entwicklungstendenzen innerhalb der
Bereiche Anthropologie, Ethik und Missionsverständnis hin.
128 Wilk, Bedeutung.
129 Wilk, Bedeutung, 404f.
54
Für die Auslegung des 1Thess ist also festzuhalten: zunächst besteht
die Notwendigkeit, den Brief für sich zu lesen, ohne die theologischen
Spezifizierungen späterer Briefe vorauszusetzen. Hinsichtlich der
Herangehensweise ist sodann nicht die Entscheidung zwischen den
eingangs vorgestellten Positionen entweder Beckers oder Södings
nötig. Beide Perspektiven, sowohl der Rückblick auf die antio-
chenische Zeit, als auch der Vorausblick auf die paulinische
Theologie, müssen in den Blick kommen. Man darf weder in den
1Thess hineinlesen, dass er schon die gesamte im Röm entwickelte
Theologie beinhalte, noch darf sein Schweigen über wichtige Themen
paulinischer Theologie bedeuten, dass sich Paulus darüber noch keine
Gedanken gemacht hat. Sein historischer Ort ist allerdings ernst zu
nehmen: der 1Thess ist relativ kurz nach seinem Aufbruch aus
Antiochia entstanden und steht am Anfang der eigenständigen
Missionsarbeit des Paulus. Für die Untersuchung des 1Thess heißt das
Folgendes: Einerseits soll ein eigenständiges Bild der
Thessalonichermission entworfen werden, das klar die Entwicklungs-
möglichkeiten in Richtung späterer Paulusbriefe offen lässt, anderer-
seits sollen insbesondere die Herausforderungen in den Blick kommen,
die während der Mission auf ihn zukamen. Auf keinen Fall darf man
den Folgerungen Riesners zustimmen, wenn er die Entwicklungsmög-
lichkeiten der paulinischen Theologie ablehnt:
Situation und Anlass des 1Thess lassen sich sehr gut aus dem Brief
selbst bestimmen. Paulus kam aus Philippi, wo er, wie 2,2 erkennen
lässt, bei der Mission Angriffen ausgesetzt war, nach Thessalonich und
gründet dort erfolgreich eine Gemeinde. Vermutlich musste er die
Gemeinde schneller als erwartet wieder verlassen (2,17) und ist
deswegen in Sorge, da er sein Missionswerk noch nicht zu einem ihn
zufriedenstellenden Ende gebracht hatte (3,10). Auch die
Apostelgeschichte deckt im Grunde genommen diesen Verlauf, aller-
dings ist bei der Darstellung der Mission in Thessalonich (Apg 17,1-9)
Vorsicht geboten. Denn der Aufenthalt des Paulus in der Stadt dauerte
sicher länger als die dort angegebenen drei Sabbate. Man wird mit ein
paar Monaten rechnen dürfen, hat Paulus doch dreimal aus Philippi
finanzielle Hilfen erhalten (vgl.Phil 4,16). Außerdem wird man – unter
der Voraussetzung, dass sich die thessalonische Gemeinde aus ehema-
ligen Heiden zusammensetzt – einen längeren und intensiveren Mis-
sionsprozess annehmen müssen.132 Der Grund für die Abreise wird
nicht näher expliziert. Eventuell hat man auch hier an Nachstellungen
gegen Paulus zu denken, wobei die Flucht aus der Stadt, wie sie in
Apg 17 beschrieben wird, mit äußerster Zurückhaltung zu interpretie-
ren ist.133
Für den Versuch der Fortsetzung der (Erst-)Verkündigung und
die Reaktion auf Anfeindungen Paulus gegenüber sprechen auch die
Bemerkungen, dass baldige Besuchswünsche scheitern mussten
(2,17f.), und die Entsendung des Timotheus von Athen aus (3,1f.), der
mit guten Nachrichten zurückgekehrt ist (3,6). Nach der Rückkehr des
Timotheus – vermutlich treffen sich Paulus und Timotheus wieder in
Korinth (vgl. Apg 18,5) – verfassen sie den Brief an die thessalonische
Gemeinde. Die guten Nachrichten über den Status der Gemeinde
schlagen sich innerhalb des Briefes insofern nieder, als die Danksa-
gung einen relativ breiten Raum einnimmt. Ausgehend von 1,2 wird
sie in 2,13 wieder aufgegriffen und kommt erst in 3,13 zu einem Ab-
schluss.134 Die theologischen Ausführungen sind im Verhältnis zu der
ausführlichen Danksagung tatsächlich ungewöhnlich kurz gefasst.135
Neben ethischen Weisungen greift Paulus ein Hauptthema auf, indem
er die Frage nach dem Heil der schon vor der Parusie verstorbenen Ge-
meindemitglieder behandelt. Vermutlich geht Paulus damit auf Anfra-
gen aus der Gemeinde ein, die ihm eventuell Timotheus bei ihrem
Zusammentreffen übermittelt hat.
1,1 Präskript
1,2-10 Proömium
2,1-5,11 Korpus
5,12-5,22 Korpusende
5,23-5,28 Briefschluss
Bickmann hat recht, wenn sie darauf hinweist, dass das Briefkorpus
nicht ohne Schwierigkeiten zu erschließen ist. Jedoch heißt das noch
lange nicht, dass ein solcher Versuch deshalb sinnlos sei. Die Vermitt-
lung von Informationen lässt sich sowohl im ersten (das werden im
142 Ähnlich reserviert steht sie den Überlegungen bzgl. der rhetorischen Analyse
gegenüber, da sie die argumentatio bei Paulus vermisst.
143 Bickmann, Kommunikation, 103.
144 Vgl. Klauck, Brieflieteratur, 269-281.
60
tet nur von den Inhalten, die bei der Bekehrung vermittelt wurden.
Auffällig ist auch das doppelte Strukturmerkmal: Sowohl der Ab-
schnitt in 1,9f., als auch 2,1-12 sind Beschreibungen der ei[sodo" der
Apostel bei den Thessalonichern. Der Unterschied der Darstellung
begründet sich aus den verschiedenen Perspektiven, aus denen diese
ei[sodo" berichtet wird. In 1,9 verweist die Wendung„sie selbst“
zurück auf die Gläubigen in Makedonien und Achaja, die in dieser
Weise ein positives Urteil über den Glauben abgeben; parallel dazu
wird dann in 2,1-12 die Gemeinsamkeit dieser ei[sodo" der Apostel
aus Sicht der Thessalonicher entfaltet. Die Verse dienen der Absicht,
die Apostel als würdig darzustellen und ihr Handeln zu legitimieren.
Allerdings ist damit noch nicht der gesamte Zusammenhang
erfasst. Die beiden Texte, die von der Bekehrung und dem erfolg-
reichen Eingang sprechen, sind gerahmt von zwei Stellen, die vom
entscheidenden Ergebnis dieser Mission sprechen. Sowohl in 1,6-8 als
auch in 2,13-16 werden die Thessalonicher als vollgültige „Christen“
identifiziert. Paulus bezeichnet sie beide Male als „Nachahmer“
(mivmhtai). In 1,6-8 sind sie „Nachahmer der Apostel und des Herrn“,
in 2,13-16 sind sie „Nachahmer der Gemeinden Gottes, die da sind in
Christus Jesus“. Also sind auch hier wieder zwei unterschiedliche
Bezugspunkte angegeben. Welche Perspektiven dadurch genau
abgedeckt werden, muss noch genauer untersucht werden. Klar er-
sichtlich ist, dass Paulus mehrschichtig argumentiert.
Der eben dargestellte komplexe Zusammenhang wurde in der
Forschung bisher eher konstatiert als konsequent durchdacht.148 Zwar
mehren sich die Stimmen, die erkennen, dass die Auslegung nicht
mehr eklektisch vorzunehmen ist, dass etwa die Passage 2,13-16 nicht
für sich allein sprechen darf, sondern erst dann zu vollen Geltung
gelangt, wenn die Verse 2,1-12 mit in die Untersuchungen einbezogen
werden.149 Der Gesamtzusammenhang von 1,6-2,16 wurde aber bisher
noch nicht angemessen gewürdigt. Im Rahmen dieser Arbeit soll
gezeigt werden, dass dies für das Verständnis des 1Thess eine
wesentliche noch bestehende Lücke darstellt, da die Symmetrie, die
durch die Begriffe mivmhsi" – ei[sodo" – ei[sodo" – mivmhsi" angelegt
ist, wohl mit Absicht in dieser Weise konstruiert wurde. Die folgende
Auslegung will versuchen, diesem Sturkturschema gerecht zu werden.
148 In den Kommentaren geht man davon aus, dass der zweite Mimesisbegriff die
konsequente Wiederaufnahme des ersten ist, allerdings wurde der
Zusammenhang bisher nicht vertieft.
149 Darauf hat Hoppe, Verkündiger, 325f., kürzlich mit guten Gründen
hingewiesen.
62
Als erster Text soll der von der Forschung mittlerweile intensiv
behandelte Abschnitt 1,9f. analysiert werden. Bereits Harnack las da-
rin die „monotheistische Missionspredigt in nuce“150, woraufhin Dob-
schütz dieser Fragestellung einen eigenen Exkurs in seinem Kommen-
tar zum 1Thess widmete.151 Friedrich versuchte ein „Tauflied helle-
nistischer Judenchristen“ daraus zu rekonstruieren152, und spätestens
seit der wichtigen Arbeit von Wilckens zu den Missionsreden der
Apostelgeschichte153 und dessen Einschätzung, dass man durch einen
Vergleich von 1,9f. mit Apg 14,15-17; 17,22-31 und Hebr 5,11-6,2 ein
Schema monotheistischer Missionspredigt rekonstruieren könne, sind
die Diskussionen um diese Stelle kaum mehr verstummt.154 Auch wenn
unterschiedliche Akzentuierungen gesetzt wurden, gab es zumindest
einen Grundkonsens: die Annahme, dass Paulus hier eine geprägte
Formel aus dem Missionskontext aufgegriffen hätte.155 Die These von
Wilckens wurde insbesondere durch den EKK-Kommentar von
Holtz156 widerlegt, der das Augenmerk auf die Herkunft aus der helle-
nistisch-jüdischen Diasporaliteratur gerichtet hat. Zwei Gründe sind
für diese Diskussion ausschlaggebend. Zum einen fällt auf, dass
Paulus auf Formulierungen zurückgreift, die er sonst vermeidet, zum
2.2.1 Analyse
2.2.1.1 Auffälligkeiten
(1) Die Bekehrung der Heiden zu Gott ist mit ejpistrevfein ausge
drückt. Innerhalb der Literatur des hellenistischen Judentums wie
auch des frühen Christentums157 (außer Paulus) ist dieser Begriff
hinreichend belegt und kann mit Bussmann als terminus technicus
der Missionspredigt gelten.158 Paulus bevorzugt die Wendung
uJpakoh' bzw. uJpakoei'n159, bzw. pisteuvein in der Bedeutung
„zum Glauben kommen.“160 Das Verb ejpistrevfein findet sich
hingegen nur an zwei weiteren Stellen, nämlich in Gal 4,9 und in
2 Kor 3,16. Die Bedeutung im Gal ist jedoch negativ konnotiert
und meint nicht die Bekehrung zu Gott, sondern im Gegenteil den
Rückfall der Galater zu ihren stoicei'a, ihren alten Götzen.
157 Dtn 30,2; 1 Kön 7,3; 4 Kön 23,25; 2 Chr 6,26; 15,4; Jes 45,22; Jer 4,1; 15,19;
Hos 5,4; 6,1; Am 4,6.8.9.10; Mal 3,7; Thr 5,21; Neh 1,9; Tob 3,6; Bar 4,28;
TestJud 23,5; TestIss 6,3; TestDan 5,9.11; TestNaph 4,3; JosAs 11,11; TestAbr
A 10,14; B 12,13; Mt 13,15; Mk 4,12; Apg 3,10; 9,35; 11,21; 14,15; 15,19;
26,18.20; 28,27.
158 Vgl. Bussmann, Themen, 39 im Anschluss an Oepke, Missionspredigt, 25.
159 Vgl. zu uJpakohv Röm 1,5; 15,18; 2 Kor 10,5.6; zum Infinitiv uJpakouvein Röm
6,17; 10,16.
160 Vgl. Laub, Verkündigung, 29, mit Verweis auf Röm 1,5; 15,18; 2Kor 10,5.6
und Röm 13,11; 1Kor 3,5; 15,2.11; Gal 2,16. Konradt, Gericht 41f. weist jedoch
darauf hin, dass die Wortwahl auch stilistische Gründe haben könnte, da er auch
schon in V.8 pisteuvein gebraucht hat und deswegen ejpistrevfein anstelle von
ejpisteuvsate schreibt, um „die Dissoziation der thessalonischen Neu-Christen
von ihrer 'heidnischen' Vergangenheit zu betonen...“ (42).
64
Ebenso ist der Bezugspunkt in 2 Kor 3,16 ein anderer. Hier geht
es nicht um die Bekehrung von den Heiden zu Gott, sondern um
die theologische Erörterung der Gesetzesproblematik, wahr
scheinlich als paulinische Auslegung des Textes Ex 34,34 LXX.
Allerdings ist ejpistrevfein dort eine Modifikation des Textes,
die wahrscheinlich Paulus eingetragen hat. Im LXX-Text steht
eijsporeuveto.161
(2) Ebenso ist die Gottesprädikation ajlhqinov" in V. 9 der einzige Be
leg bei Paulus. Im NT taucht das Wort ansonsten nur in johannei
scher Tradition auf162, allerdings ist es, ebenso wie das an dieser
Stelle korrelierende, bei Paulus und im Frühchristentum belegte
zw'n, der alttestamentlich jüdischen Tradition zuzuweisen und
taucht besonders häufig in der jüdisch-hellenistischen Missionsli
teratur auf.163
(3) Ein weiteres auffälliges Indiz ist die Verwendung von ajnamevnein,
einem ntl. hapax legomenon. Wenn Paulus an anderen Stellen von
der Parusieerwartung spricht, verwendet er ajpekdevchsqai.164
Aber auch in diesem Fall wird man die Sprache der LXX an
nehmen dürfen, da dort an einigen Stellen ajnamevnein im Kontext
von Aussagen zum Thema Heilserwartung verwendet wird, in Jdt
8,16f. LXX sogar im Zusammenhang mit dem rechten
Gottesverhältnis.165
(4) Ferner fällt die Verwendung von rJuvesqai als Ausdruck für die es
chatologische Rettungshandlung Jesu auf. Nur in Röm 11,26 ver
wendet es Paulus in ähnlicher Weise, dort allerdings eindeutig
typisch für die LXX – man beachte etwa die Wörter douleuvein171,
ojrghv172 oder die Gottesprädikation zw'n173. Doch bleibt diese Verortung
noch sehr vage, und so soll im Folgenden versucht werden, durch
weitere Überlegungen die verwendeten Traditionen weiter einzugren-
zen.
2.2.1.2 Deutungsversuche
ihn, sondern für alle urchristlichen Missionare relevant waren und auf
ähnliche Weise gelöst werden sollten. Motivgeschichtlich kann man in
der Zusammenschau, wie es Wilckens tut, durchaus ein Schema mono-
theistischer Missionspredigt wiedererkennen, das jedoch für jeden Fall
eigens akzentuiert zu sein scheint.
Dennoch hat sich im Großen und Ganzen lange die Meinung ge-
halten, dass auch in 1,9f. ein Missionsschema der monotheistischen
Missionspredigt vorliegen würde, auch wenn immer mehr Stimmen
gegen die Verortung durch Wilckens laut wurden. Auf ein ent-
scheidendes Argument gegen Wilckens hat Holtz in seinem großen
Kommentar zum 1Thess hingewiesen. Er insistiert auf die Nähe des
Missionsschemas, wie es auch im jüdischen Roman „Joseph und Ase-
neth“179 vorkommt. Dort wie bei Paulus taucht ein sehr ähnlicher Be-
kehrungsvorgang auf – beide Male wird die Bekehrung mit
ejpistrevfein beschrieben, und beide Male ist auch die Bekehrungsbe-
wegung dieselbe: Im Mittelpunkt steht das Ziel der Hinwendung zu
Gott, die Abkehr von den Götzen wird als logische Folge begriffen,
nicht als Voraussetzung, wie es die anderen frühchristlichen Texte ver-
stehen. Holtz erkennt also in der Gemeinsamkeit zwischen dem pauli-
nischen Text und JosAs den entscheidenden Unterschied zu den von
Wilckens zum Vergleich herangezogenen Texten. Denn im paulini-
schen Text, so Holtz, geht es nicht wie in Wilckens Vergleichstexten
darum, eine Brücke zu bauen, die erst den jüdischen Gott vermittelt
und dann im Nachhinein die christliche Interpretation beifügt, sondern
im 1Thess erscheint der Bekehrungsvorgang zum jüdischen Gott be-
reits christlich interpretiert.180
Aber auch diese Konkretisierung auf den Horizont jüdisch-helle-
nistischer Missionspredigt beschränkt sich einzig auf den dargestellten
Bekehrungsvorgang. Damit mag man einzig verdeutlichen, dass die
These von Wilckens überholt ist, da die Formulierung eine Kombina-
tion aus der Auferstehungsaussage mit der typisch jüdisch-monotheis-
tischen Bekehrungsaussage ist.
In jedem Falle wird deutlich, dass es kaum möglich ist, ein fest-
geprägtes Schema hinter den einzelnen Aussagen aufzudecken, weder
aus dem frühchristlichen noch dem jüdisch-hellenistischen Kontext.
179 Vgl. JosAs 11,10f.: ajkvkoa de; pollw'n legovntwn o{ti oJ qeo;" tw'n Jebraivwn
qeo;" ajlhqinov" ejsti, kai; qeo;" zw'n, kai; qeo;" ejlehvmwn ... loipo;n tolmhvsw
kajgw; hJ tapeinhv, kai; ejpistrevyw pro;" aujtovn, kai; katafeuvxomai ejp j
aujtovn. „Ich habe viele sagen gehört: Der Gott der Hebräer ist ein wahrer Gott
und ein lebendiger Gott und ein erbarmender Gott ... So wage auch ich, die
Elende, es und wende mich zu ihm und suche Zuflucht bei ihm.“
180 Vgl. zum Zusammenhang, Holtz, 1Thess, 56-60, sowie ders., Glaube.
69
Aber wie geht man mit der Bekehrungsaussage um? Ist sie ebenfalls
der Missionsterminologie entnommen oder geht sie doch auf Paulus
zurück? An dieser Stelle ist es nötig, auf die eingangs schon angedeu-
tete Forschungsdiskussion zurückzukommen. Wie bereits festgestellt
wurde, kommt der Zusammenhang der Gottesprädikationen zw'n und
ajlhqinov" nur sehr selten vor. Holtz185 hat auf die besondere Nähe der
vorliegenden Textstelle zu einer Formulierung in Joseph und Aseneth
(JosAs 11,10) hingewiesen, wo die Bekehrung ebenso mit
ejpistrevfein beschrieben wird. Wie oben erwähnt, wird die Bekeh-
rung nicht als Folge von der Abkehr der nichtigen Götzen verstanden,
sondern genau umgekehrt erscheint die Abkehr von den Göttern als
Folge des Glaubens an den einen Gott.
2.2.1.4 Syntheseversuch
187 Vgl. Wilk, Bedeutung, 199-202 sowie 242 mit Anm. 14.
188 Vgl. Wilk, Bedeutung, 322 zum Zusammenhang Jes 59,17 und 1Thess 5,8,
189 Vgl. die Wendung in Jes 59,16. Diese erscheint nach Wilk, Bedeutung, 245
auch in Röm 11,10-32 christologisch interpretiert. Ebenso deutet Röm 15,18 oJ
bracivwn kurivou aus Jes 53,1 in dieser Weise christologisch, vgl. Wilk,
Bedeutung, 233f.
190 Zu den weiteren Vergleichspunkten aus dem Kontext vgl. Wilk, Bedeutung,
326.
191 Wilk, Bedeutung, 327.
192 Holtz, 1Thess, 61f. hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die christologische
Aussage im Mittelpunkt der Ausführungen in 1Thess 1,9f. steht. Allerdings geht
er in seinen Folgerungen etwas zu weit, wenn er meint, dass man aufgrund der
Nähe zu JosAs und gegen die Nähe zu den Texten der Apg und des Hebr darauf
schließen müsse, dass die paulinische Missionspredigt nicht mit der
monotheistischen Predigt eingestiegen sei, sondern grundsätzlich mit dem
Christusereignis missionarisch geworben hätte.
72
193 Vgl. Munck, Preaching. Im Anschluss an dessen Ansatz als Weiterführung ist
der Aufsatz von Hooker, Nutshell, zu beachten.
194 Vgl. Munck, Preaching, 104-105.
195 Zur Kritik dieser These vgl. die Anmerkungen zu Söding in Kapitel 1.3.2 dieser
Arbeit.
196 Ein ähnliches Vorgehen entdeckt Munck übrigens auch im Gal sowie 1 Kor
1,2.7 (108).
73
2.2.2 Interpretationen
Auf der narrativen Ebene erscheint der Text als Schilderung der
ei[sodo" der Apostel und der damit einhergehenden erfolgreichen Hin-
wendung der Thessalonicher zum jüdischen Gott, wie es die Gemein-
den aus den Provinzen Achaja und Makedonien dem Paulus geschil-
dert haben. Paulus spricht nicht nur von der Bekehrung, sondern führt
das Missionswerk auf seinen (und seiner Mitarbeiter) „Eingang“ in
Thessalonich zurück, stellt damit also die Bedeutung seiner Person ex-
plizit in den Mittelpunkt. Das Wort ei[sodo" ist in diesem Zusammen-
hang nicht eindeutig zu übersetzen, kann es doch in passiver Verwen-
dung auf pro;" uJma'" verweisend die Aufnahme des Wortes durch die
Thessalonicher ausdrücken, in aktiver Wendung hingegen im Blick auf
das peri; hJmw'n auch das Auftreten der Apostel charakterisieren. Mit
Dobschütz kann man deswegen annehmen, „daß Paulus gar nicht so
scharf beide Bedeutungen auseinander hielt.“201
In den folgenden Untersuchungen soll nun dieser so knapp ge-
schilderte Eingang, explizit also die Bekehrung der Thessalonicher,
auf die Möglichkeit des Erfolges untersucht werden. Die Auslegung
des Textes wird deshalb in folgenden Schritten vollzogen: ein erster
Untersuchungsgang gibt grundsätzlich Auskunft über das inhaltliche
Ziel der Bekehrung, nämlich die Verkündigung des jüdischen Gottes.
In einem zweiten Schritt wird dann nach Anknüpfungspunkten für die
christliche Missionspredigt gesucht. Diesbezüglich werden konkret die
Religiosität der Thessalonicher untersucht sowie der allgemeine Hori-
zont des damaligen theologischen Denkens. In einem dritten interpre-
tatorischen Schritt schließlich wird die Bekehrungsbewegung, wie sie
der Text beschreibt, nochmals genauer ausgelegt. Diese Auslegung
soll den Vollzug des neuen Glaubens deutlich machen sowie die Frage
nach der Christologie aufnehmen.
201 Dobschütz, 1Thess, 75. Für 2,1 wird man hingegen die aktive Bedeutung
voraussetzen dürfen, doch dazu s.u.
75
Der Erfolg der Missionare steht und fällt mit der Vermittlung des
jüdisch-biblischen Gottes. Es ist nicht alleine der Monotheismus, der
diesen Gott zu etwas Besonderem macht und der im Dialog mit den
Griechen zu unzähligen Missverständnissen geführt hat.202 Erst wenn
dieses Gottesverhältnis mit all seinen Konsequenzen bewusst wird,
kann es als verstanden gelten. Der Unterschied zwischen dem jüdi-
schen Gott und anderen griechischen Göttern, ja auch zu monotheisti-
schen Konzepten Griechenlands ist groß und darf nicht übersehen wer-
den. Treffend hat diesen Unterschied E. Aurelius auf den Punkt ge-
bracht, wenn er schreibt:
„Als Israel starb, starb nicht Jhwh - und deshalb starb auch Israel
nicht. Das ist das Besondere an diesem Volk: daß es seinen politi-
schen Untergang überlebte. Anders gesagt: Das Besondere am Al-
ten Testament ist seine Existenz.“203
Hier zeigt sich also folgendes: Der jüdische Gott ist mit keinem Gott
der Religionen seiner Umwelt zu vergleichen. Er erweist sich als stark
und ist eine tiefe Beziehung mit seinem Volk eingegangen, die sich
letztlich unabhängig für seine eigene Existenz erweist. Dieser Gott ist
nicht untergegangen, sondern er ist mit der Geschichte seines Volkes
und gerade aufgrund vieler Niederlagen seines Volkes gewachsen und
immer stärker geworden. Niederlagen wurden nicht als Versagen Got-
tes interpretiert, sondern als Verfehlungen des Volkes Israel im Ver-
hältnis zu seinem Gott. Dies wird meistens als Grund dafür angesehen,
dass sowohl Israel, als auch der Glaube an den Gott Israels nie aufge-
hört haben zu existieren.204
202 Auch im griechischen Denken gab es ein wachsendes Interesse an der
Reduzierung vieler Götter auf einen einzigen Wahrheitsursprung hin, vgl.
hierzu unten, 2.2.2.5.
203 Aurelius, E., Israel, 325.
204 Vgl. z. B. Lang, NBL, Art. Monotheismus, 836. Es würde an dieser Stelle zu
weit führen, auf die Forschungen der atl. Wissenschaft zur Frage nach der
Entwicklung zum Monotheismus einzugehen. Zur Zeit des Paulus war dieser
jüdische Monotheismus mit all seinen Konsequenzen bereits Realität und nicht
mehr zu hinterfragen. Einen guten Einblick in die atl. Forschung vermitteln etwa
die (selektiv ausgewählten, neueren) Arbeiten von Aurelius, Israel; Herr, JHWH;
Niehr, Weg; Zwickel, Religionsgeschichte; Wacker, Monotheismus; Stolz, Gott;
76
Nach dem Zeugnis des 1Thess setzt sich die dortige Gemeinde aus
ehemaligen Heiden zusammen. Die Aussage in 1,9f. ist eindeutig auf
diejenigen bezogen, die sich von ihren Göttern abgewandt haben, um
dem wahren und lebendigen Gott zu dienen. Aus ehemaligen Heiden
wurden Christen, die nun an den biblischen Gott glauben mit allen nö-
tigen Konsequenzen, die daraus folgen.
Reiser207 hat versucht nachzuweisen, dass Paulus in 1,9f. auf die Be-
kehrung der Thessalonicher vor seiner Ankunft in der Stadt anspielen
würde, d.h. dass er zumindest, wie es auch die Apostelgeschichte
nahelegt, vor Gottesfürchtigen gepredigt hat und daher einen so
sicheren Missionserfolg erzielen konnte. Nach Reiser müsste dann
aber ejpistrevfein plusquamperfektisch aufgefasst werden und sich auf
christliche Missionsleistungen beziehen, die schon vor dem Auftreten
des Paulus erzielt worden seien. Allerdings wird diese Interpretation
dem Text nicht gerecht, da die Rede von der ei[sodo" des Paulus
eindeutig auf das ejpistrevfein der Thessalonicher bezogen ist und
somit ein direkter Zusammenhang zwischen dem Auftreten der
Missionare und der Hinwendung der Thessalonicher zum Glauben be-
stehen muss. Die Bekehrung zu Gott wurde demnach durch die Mis-
sion des Paulus in die Wege geleitet.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob die bekehrten Heiden ein
jüdisches Vorwissen abrufen konnten. Von Diasporasynagogen ist be-
kannt, dass sie auch für Nicht-Juden offen waren, sodass Inhalte jüdi-
schen Glaubens auch für Außenstehend zugänglich war. Welche Kon-
sequenzen dieser Sachverhalt für die Situation in Thessalonich haben
könnte, soll im Folgenden erörtert werden.
„Der Brief setzt voraus, daß die Gemeinde vor nicht sehr langer
Zeit gegründet ist. Er bedient sich gleichwohl einer Sprache, die
durch das Judengriechische wesentlich bestimmt und zu einem
entschiedenen Teil nur dem voll verständlich ist, der dieses kennt.
Will man nicht annehmen, daß Paulus an seinen Lesern vorbeire-
det, muß man voraussetzen, daß sie mit dieser Sprache vertraut
waren, d.h. in ihrer Mehrheit dem hellenistischen Kreis ent-
stammten, der sich in vielfältig abgestufter Weise um die Synago-
ge sammelte, ohne doch zum Judentum überzutreten und damit
sein angestammtes sozio-kulturelles Umfeld radikal aufzuge-
ben.“209
Vom Brocke versucht diese These von Holtz mit dem Hinweis zu rela-
tivieren, dass im gesamten Brief kein einziges Zitat aus der LXX zu
finden sei und die sprachlichen Bezüge auf die Herkunft des Paulus zu
beziehen wären. „Insofern dürften Reste ‚judenchristlichen’ Sprach-
stils, auch wenn sie sich in einem Brief an eine makedonische Ge-
meinde finden, nicht überbewertet werden.“210 Vom Brocke versucht
damit die Behauptung zu stützen, dass sich die Gemeinde der
Thessalonicher alleine aus heidenchristlichen Mitgliedern zusammen-
gesetzt habe. Jedoch verkennt er dabei die Problemlage völlig. Zu-
nächst sind die Bezüge zur LXX nicht ganz so lückenhaft wie er
meint.211 Zudem darf man den Hinweis auf den Einflussbereich der Sy-
müssen. Damit soll allerdings suggeriert werden, dass die Abreise des Paulus in
einem sehr frühen Stadium der Mission erfolgte. Dies bestätigt nämlich auch der
Brief selbst. Nach 1Thess 2,17 ist Paulus erst vor kürzester Zeit aus Thessalo-
nich abgereist und hätte sein Missionswerk gerne noch fortgesetzt, wurde jedoch
daran gehindert (deshalb hat er ja auch Timotheus geschickt, siehe 3,2.5.6).
209 Holtz, 1Thess 10. Vgl. auch Holtz, Traditionen, 56f. Ähnlich argumentieren
Morris, 1 Thess, 18. Marxsen, 1Thess, 20. Etwas zurückhaltender formulieren
Malherbe, 1Thess, 56; Collins, First Letter, 773, Downing, Paul's Drive, 361.
Erneut aufgegriffen und umfassender begründet hat diese Idee Blumenthal in
seinem Aufsatz über die Adressaten des 1Thess, vgl. Blumenthal, Adressaten.
210 Vom Brocke, Thessaloniki, 115. Dass es sich nicht um Juden handelt, kann vom
Brocke schließlich durch die Argumentation stützen, dass die Gegner der
Thessalonicher in 2,14 aufgrund ihrer Kennzeichnung als sumfulevtai zu
bezeichnen sind und deswegen – da zur Zeit des Paulus die Phylenverfassung in
Thessalonich noch bedeutend war, in der Juden kaum Mitglieder sein konnten –
eindeutig als Heiden ausgewiesen seien. Vgl. hierzu die Ausführungen in
Kapitel 2.4.2.2 dieser Arbeit.
211 Wenn sich auch kein direktes LXX-Zitat ausmachen lässt, so konnte Wilk,
Bedeutung, jedoch zeigen, dass zumindest Jes 59 den Hintergrund für die
Formulierungen in 1,9f. sowie 5,9ff. bildet (zu Wilks Auslegung vgl. 2.2.1 und
79
se des Paulus an der Mission unter den Juden ausmalt, wird man auch
erkennen, dass sich Paulus sehr für das Vorwissen der Nichtjuden in-
teressiert. Besonders deutlich wird dies in der Einführung zur
Areopagrede Apg 17,22f., wo er sein Vorgehen eindeutig beschreibt:
„Männer von Athen, ich sehe, dass ihr in jeder Beziehung den
Göttern sehr ergeben seid. Denn als ich umherging und eure Hei-
ligtümer betrachtete, fand ich auch einen Altar, an dem die Auf-
schrift war: Einem unbekannten Gott. Was ihr nun, ohne es zu
kennen, verehrt, das verkündige ich euch.“
Charakteristisch für die Stadt Thessalonich war der Kult des Kabi-
rus.240 Bei den Kabiren handelte es sich dem Mythos nach um drei
Brüder, deren einer von den beiden anderen umgebracht und dessen
Kopf am Fuße des Olymp begraben wurde. Ihren Mittelpunkt hatte die
Kabirenverehrung wohl auf der Insel Samothrake. Auffällig war, dass
in Thessalonich nur ein einziger Kabirus verehrt wurde241, und folgt
237 Vgl. hierzu Büchsel, ThWNT II, 373. Die Götterbilder oder Weihestatuen
werden in diesem Zusammenhang denn auch meist als a[galma bezeichnet. Vgl.
aber die Verwendung bei Dion von Prusa in der Olympischen Rede (dazu
unten).
238 Klauck, Herrenmahl, 242.
239 Vom Brocke, Thessaloniki, 116.
240 Zum Kabirus-Kult vgl. Edson, Cults, 153-204; Hemberg, Kabiren; Witt, Ka-
beiroi, 67-80; Donfried, Cults; Vom Brocke, Thessaloniki, 117-121.
241 Nach Witt, Kabeiroi, 78, handelt es sich hierbei um eine monotheistische Form
des Kabiruskultes. Allerdings sollte man mit solchen Zuweisungen vorsichtig
86
„Denn ein Bruder wird von zwei (andern) ermordet, und damit
kein Anzeichen den gewaltsamen Tod des Bruders verrate, wird
er am Fuß des Berges Olymp von den Brudermörden göttlich ver-
ehrt. Eben diesen verehren die Mazedonier in törichter Einbil-
dung. Das ist Kabirus, zu dem die Thessalonicher mit blutbefleck-
ten Händen als dem Blutbefleckten zu flehen pflegten.“
sein, da sie sicher nicht als Beweismittel für eine besondere Aufnahmefähigkeit
der Thessalonicher für den Monotheismus herangezogen werden dürfen.
242 Zur Übersetzung vgl. A. Müller, Schrift, 37.
243 Nach vom Brocke, 118-119 lässt sich insbesondere durch die autnomen
Münzprägungen schon zur Zeit des Kaisers Vespasians (69-79 n. Chr.) eine
hohe Präsenz dieses Kultes eventuell bereits für die erste Hälfte des 1. Jahrhun-
derts annehmen. Hemberg, Kabiren, 209, weist außerdem darauf hin, dass die
Kabiren schon 200 v. Chr. in Larissa verehrt wurden, und schließt von da aus
wenigstens auf die Bekanntheit der Kabiren in Thessalonich in vorpaulinischer
Zeit.
244 Vgl. IG X 2,1 Nr. 199.
245 Paulus verwendet aJgiasmov" außerdem in Röm 6,19.22, 1 Kor 1,30, aJgiwsuvnh
in Röm 1,4; 2Kor 7,1.
246 Vgl. Witt, Kabeiroi, 79.
247 Vgl. hierzu auch Holtz, 1Thess, 146 sowie vom Brocke, Thessaloniki, 121.
87
248 Vgl. Riesner, Frühzeit, 331, der sogar von Staatsreligion spricht; ähnlich Elliger,
Paulus, 98. Zum Dionysos-Kult allgemein, vgl. R. Merkelbach, Hirten.
249 Hierzu vgl. Merkelbach, Hirten, 123.131f.; auch Pilhofer, Philippi, Bd.1, 105ff.
250 Die Weiheinschrift IG X 2,1 nr. 259 spricht von der „mitternächtlichen Zeremo-
nie“, vgl. Daux, Inscritptions, 532.
251 Vgl. Merkelbach, Hirten, 122.
252 Riesner, Früheit, 333; Donfried, Cults, 342; vom Brocke, 128f.
253 Vom Brocke, Thessaloniki, 129, jedoch sieht gerade in der Verbindung der
Trunkenheit mit der Nacht den besonderen Reflex auf den Dionysos-Kult gege-
ben. Zurückhaltender hier Holtz, 1Thess, 224, oder von Dobschütz, 1Thess, 209,
die in der nächtlichen Trunkenheit nicht sofort kultische Anspielungen ent-
decken wollen, da die Betrunkenheit generell als „nächtliches“ Phänomen zu
deuten sei.
254 Insbesondere Donfried, Cults, 337 oder Riesner, Frühzeit, 332. Donfrieds Über-
legungen zur Bedeutung von oJmeivromai sind abzulehnen, da eine Gleichsetzung
mit ejpiqumiva keinen Sinn ergibt. Vgl. hierzu Kap. 2.3.4.1 dieser Arbeit.
255 Vgl. vom Brocke, 130f. Griechische Städte waren damals bekannt für ihr
88
„buntes“ Treiben, ihre Bordelle, etc. Auch für Thessalonich ist dies
nachzuweisen (vgl. vom Brocke, Thessaloniki, 129). Hingegen war es sicher im
Interesse der frühen Christen, sich um eine ethische Lebenführung zu bemühen,
da sie sich auf das Kommen des Herrn vorbereiten wollten. Und deswegen war
ein Anliegen der Christen, sich vor illegitimer Sexualität zu verwahren, die –
wie es Holtz, 1Thess, 160, ausdrückt – „vorzüglich außerhalb der Ehe ihren Ort
hat.“
256 Belege bei Elliger, Paulus, 96 sowie vom Brocke, Thessaloniki, 139.
257 Vgl. Donfried, Cults, 346; vom Brocke, Thessaloniki, 139f. Zu der Münzdar-
stellung ist folgendes zu sagen: auf der Vorderseite ist Iulius Caesar abgebildet
und mit QEOS überschrieben, während auf der Rückseite Augustus abgebildet
ist mit der Aufschrift QESSALWNIKEWN.
258 Darauf hat als erstes Bammel, Beitrag, 837, hingewiesen. Siehe auch Wengst,
Pax Romana, 216 A. 50; Faust, Pax Christi, 444.
259 Vom Brocke, Thessaloniki, 172.
260 Donfried, Cults, 344, sieht insbesondere in den Wörtern parousiva, ajpavnthsi"
und kuvrio", die die Aussage vorbereiten, eine mögliche Unterstützung der
These vom Kaiserkult, da diese auch im Zusammenhang mit dem Kaiserkult
immer wieder auftauchen: „parousiva refers to the arrival of Caesar, a king or an
official, ... ajpavnthsi" refers to the citizens meeting a dignitary who is about to
visit the city ... kuvrio", especially when used in the same context as the two
preceding terms, also has a definite political sense. As Deissmann has shown,
the people in the eastern Mediterranean applied the term kuvrio" to refer to the
Roman emperors from Augustus on ...“
89
„Denn nur dieses eine Wesen sei Gott, das uns alle, Erde und Meer
umfasse und das wir Himmel, Welt und die Natur des Seienden
nennen. Wie könne nun wohl jemand, der bei Verstand sei, sich er-
dreisten, sich von diesem Wesen ein Bildnis zu formen, das irgend-
einem der Dinge bei uns gleiche?“ (Strabo XVI, 34ff.)263
Der Weg, den das griechische Denken zur Rede von „dem Einen“
bzw. „dem einen Gott“ genommen hat, ist mit der Entwicklung im bib-
lischen Bereich überhaupt nicht vergleichbar. Die Verbindung mit dem
Kult existierte nicht, oder zumindest schaffte es die philosophische
Besinnung auf das Eine hin nie, das Verhältnis der Griechen zu ihren
kultischen Bezügen zu erschüttern.264 Dennoch ist die Besinnung auf
das Eine in der griechischen Philosophie vom Phänomen her gar nicht
so weit entfernt von der Entwicklung bei den Juden zum biblischen
Monotheismus. Ursprünglich ist es im griechischen Denken die Frage
263 Allerdings kommt Poseidonios im selben Zusammenhang auf das jüdische
Gesetz zu sprechen, das er polemisch als Aberglaube abqualifiziert. Zur Kritik
des Verständnisses des Judentums bei Poseidonius, vgl. Amir, Begegnung, 9.
Zur Auseinandersetzung des jüdischen Monotheismus mit dem griechischen
Denken vgl. insbesondere Amir, Begegnung; ders., Eingottglaube.
264 Vgl. Nesselrath, Griechen, 44. „Mehr als tausend Jahre lang half dieses Götter-
bild vielen Griechen, sich in ihrer Welt zurechtzufinden, und weder die kriti-
schen Fragen eines Xenophanes im 6. Jahrhundert vor Chr. noch der Spott eines
Lukian im 2. Jahrhundert nach Chr. konnte seine Lebensfähigkeit ernsthaft be-
drohen; es waren erst die zum Teil recht brachialen Maßnahmen christlich ge-
wordener römischer Kaiser, die ihm den Todesstoß versetzten.“
91
nach dem Woher, nach dem Ursprung, der ajrchv, die am Anfang allen
Philosophierens steht. Zugleich wurzelt sie auf den mythischen und
kultischen Vorstellungen Griechenlands. Gigon bezeichnet nicht um-
sonst Hesiod als ersten Philosophen, war er es doch, der innerhalb sei-
ner Theogonie die Frage nach dem Woher der Götter und allen Seins
aufgebracht hat.265 Ähnlich verweist auch West in seiner Untersuchung
zum Monotheismus von den Ursprüngen bis hin zu den Vorsokratikern
immer wieder auf die Frage nach der ajrchv als Ursprung der Frage
nach dem Einen.266
An dieser Stelle wird allerdings auch schon ein grundlegendes
Problem bewusst: Wer sich mit der Frage nach dem „einen Gott“ bei
den Griechen auseinandersetzt, darf nicht enttäuscht sein, wenn er
nicht durchgehend auf die Terminologie qeov" stößt. Die Frage nach
den Ursprüngen ist im Griechischen zunächst nicht auf die Gottesfrage
beschränkt. Auch darf man nicht annehmen, dass das griechische Wort
qeov" deckungsgleich ist mit der jüdischen Verwendung. Wenn die
Juden ihren Gott im Griechischen als qeov" bezeichnen, wird das Wort
allenfalls zur Vergleichsgröße, die eben durch den Zusammenhang erst
näher zu spezifizieren ist.
Im Folgenden sollen stichprobenartig wichtige philosophische
Positionen zur Sprache kommen, die die Denkbewegung auf das Eine
hin in ihrer Bedeutung für den theologischen Kontext zu erschließen
vermögen.267
Xenophanes
Das Aufkommen der Philosophie geht einher mit der Kritik an religiö-
sen Mythen und kultischer Praxis. Bei Xenophanes wird dies zum er-
sten Mal in einer Art Theorie greifbar, in deren Zusammenhang so et-
was wie ein Bekenntnis zum philosophischen Monotheismus heraus-
zuhören ist. Natürlich ist beim fragmentarischen Charakter seines
265 Vgl. Gigon, Ursprung, 22: „Hesiod will vom Anfange reden, vom Ersten, das da
war. So beginnt keine Dichtung (...) die Frage: 'Was war zuerst?' ist entschei-
dend bezogen auf die Gegenwart, sofern sie den Anfang eines Prozesses meint,
der in die Gegenwart des Fragenden mündet. Sie ist die Frage der Geschichte,
und zwar an ihrem Grenzpunkt, wo sie schon in Philosophie umschlägt.“
266 Zu den unterschiedlichen Realisierungen der Rückfrage nach dem Ursprung bei
den Vorsokratikern vgl. insbesondere West, Monotheism, 29-40. Vgl. auch
Zeller, Gott, 49.
267 Sehr aufschlussreiche Übersichten und zugleich differenzierte Detailanalysen
finden sich bei West, Monotheism und Frede, Monotheism. Einen guten Über-
blick bietet auch Zeller, Gott.
92
„Alles haben für die Götter gestiftet Homer und Hesiod, was bei
den Menschen Schimpf und Tadel ist: Stehlen, Ehebruch treiben
und einander betrügen.“ (B 17)
„Wenn die Ochsen, die Pferde und Löwen Hände hätten, um mit
Händen zu zeichnen oder Werke zustandezubringen wie die Men-
schen, würden die Pferde den Pferden, die Ochsen den Ochsen
ähnlich die Gestalten der Götter zeichnen und Körper bilden von
der Art, wie sie selbst ihre Gestalt haben.“ (B15)
„.. stellen sich doch die Neger ihre Götter stumpfnasig und
schwarz vor, die Thraker rotblond und blauäugig ...“ (B16)
268 Nesselrath, Griechen, 23 verweist auf die zu Xenophanes parallele Kritik der
anthropomorphen Züge der Götter in der ‚Musenelegie‘ Solons, wo darauf
hingewiesen wird, dass göttliches Handeln vom Menschen nicht einsehbar sei.
269 Vgl. Nesselrath, Griechen, 21f. mit Verweis auf Anaxandrides, Povlei", fr. 40
K.-A.: „Nicht könnte ich mit euch verbündet sein: Nicht nämlich Wesen noch
Gesetz vergleichbar sind von uns; nein, voneinander vielmehr weit getrennt. Du
betest Rinder an, ich aber opf're Göttern; gewaltig groß als Gottheit, glaubst du,
sei der Aal – gewaltig köstlich ist dagegen er für uns. Du ißt kein
Schweinefleisch, ich aber freue mich daran am meisten; du ehrst den Hund, ich
schlage ihn, wenn ich ihn fressend meine Speis' erwisch'. Die Priester hier sind
unversehrt – so das Gesetz; bei euch, wie's scheint, sie müssen angeschnitten
sein. Wann immer du die Katze leiden siehst, dann weinst du; ich dagegen bring'
sie um und häute sie. Bei euch, da gilt die Spitzmaus viel, doch nicht bei uns.“
93
„Ein Gott, unter Göttern und Menschen der größte, weder an Ge-
stalt den Sterblichen ähnlich noch im Denken. Als ganzer sieht er,
als ganzer denkt er, als ganzer hört er. Stets bleibt er im gleichen,
ohne sich zu bewegen; es ziemt sich nicht für ihn, bald da, bald
dorthin zu gehen. Ohne Anstrengung durch einen Akt des Den-
kens erschüttert er alles...“ (B 23-26)
weiter gefasst als der heutige Begriff, der immer schon monotheisti-
sche Implikationen oder Erwartungshaltungen voraussetzt. Bei Xeno-
phanes taucht zum ersten Mal in deutlichen Worten Kritik und damit
einhergehend die Spezifizierung eines neuen Verständnisses des Wor-
tes „Gott“ auf; deswegen ist er in jedem Falle als erste Station auf ei-
nem Weg zum philosophischen Monotheismus zu würdigen. Mag die
spärliche Quellenlage einen letzten Vorbehalt auch Burkert gegenüber
zulassen, ist anzumerken, dass immerhin seine Wirkungsgeschichte
sehr bald in Richtung Monotheismus ging.
Heraklit
„Eines ist das Weise, allein für sich; es will nicht genannt sein und
will doch genannt sein mit dem Namen Zeus.“ (B 32)
Ganz ähnlich findet auch hier eine Substitution statt. Heraklit nimmt
weiterhin den Namen des obersten olympischen Gottes an, impliziert
dabei aber, dass eine Gleichsetzung nur bedingt funktioniert, dass etwa
bestimmte Eigenschaften es rechtfertigen würden, ihn als Zeus zu be-
zeichnen, andere wiederum nicht.274 Die Äußerung spielt mit der Pro-
273 So kann man zumindest den Rundumschlag gegen andere philosophische „Grö-
ßen“ in B 40 auswerten, wenn Heraklit schreibt: „... viel Gelehrsamkeit lehrt
noch nicht, sich einen Begriff zu machen; sonst würde sie es Hesiod gelehrt
haben und Pythagoras, wie auch Xenophanes und Hekataios.“
274 West, Monotheism, 33.
95
Platon
Auch in Platons Dialogen lässt sich auf den ersten Blick kein einheitli-
ches theologisches Konzept erkennen. Allerdings fällt auf, dass er im-
mer wieder versucht, letzte Wirklichkeiten aufzudecken, etwa die Idee
des Guten (Rep. 508f.), oder eine Weltseele, die die Bewegung der
Himmelskörper erklären könnte (Nom. 897c).278 Schließlich findet sich
auch das Verständnis Gottes als Schöpfer (etwa Rep. 415a3f. oder Ion.
537c7f.). Platon spricht einerseits von vielen Göttern, andererseits
kennt er aber auch die Bezeichnung oJ qeov". Bordt verweist darauf,
dass man oJ qeov" im Zusammenhang je unterschiedlich übersetzen
müsse, da der Artikel im Griechischen individualisierend oder genera-
lisierend verwendet werden könne, d.h. Platon bezeichnet mit oJ qeov"
entweder anaphorisch einen ganz bestimmten Gott oder aber er ver-
275 Vgl. B 15: „Wäre es nicht Dionysos, dem zu Ehren sie die Prozession begehen
und das den Schamgliedern gewidmete Lied singen, so geschähe das Unver-
schämteste. Dionysos, dem zu Ehren sie sich wie Verrückte und Rasende
benehmen, ist ja derselbe wie Hades.“
276 Vgl. B5: „... Und sie beten zu zu den Götterbildern um uns herum, so wie wenn
einer sich mit Tempeln unterhielte, ohne auch nur im geringsten von Göttern
und Heroen zu wissen, wer sie sind.“
277 Vgl. West, Towards Monotheism, 33.
278 Vgl. auch Zeller, Gott, 50f.
96
„Ich glaube doch [an sie], Athener, wie keiner von meinen Anklä-
gern, und ich überlasse es euch und dem Gott, so über mich zu ur-
teilen, wie es für mich und für euch das Beste sein würde.“ (Ap.
35d6-9)
279 Vgl. im Folgenden insbesondere Bordt, Theologie, 56-72. Dort findet sich auch
eine Auflistung der unterschiedlichen Aussageweisen zu oJ qeov".
280 Deswegen ist die Verwendungsweise auch nicht mit derjenigen im
Johannesprolog gleichzusetzen, wo der Gott durch den Artikel vom Logos
unterschieden wird.
281 Bordt, Theologie, 75. Vgl. in diesem Zusammenhang auch weitere Belege einer
unbestimmten individualisierenden Verwendung.
282 Das komplizierte Verhältnis des Demiurgen zur Welt der Ideen kann in diesem
Rahmen nicht diskutiert werden. Wahrscheinlich handelt es sich beim
Demiurgen nach Ferrari, Gott, 23f., nicht um „ein von der Welt der Ideen
getrenntes und unabhängiges Wesen“, sondern um „die Metapher eines
Aspektes dieser Welt, genauer gesagt ihres aktiven Aspektes. Wenn Platon
behauptet, dass Gott die höchste der Ursachen sei (...), will er nicht zum
Ausdruck bringen, dass dieser sich von den Ideen unterscheidet und ihnen
97
Aristoteles
„Wenn sich nun so gut, wie wir zuweilen, Gott immer verhält, so
ist es bewundernswert, wenn aber noch besser, dann noch bewun-
dernswerter. So verhält er sich aber. Und Leben kommt ihm zu;
überlegen ist, sondern dass er der Höchste ist, da er das Ganze der Ideen bildet.“
Ähnlich Zeller, Gott, 51.
283 Vgl. Bordt, Theologie, 70.
284 Bordt, Theologie, 86.
98
denn die wirkliche Tätigkeit der Vernunft ist Leben, jene aber ist
die wirkliche Tätigkeit. Ihre wirkliche Tätigkeit an sich ist aber
bestes und ewiges Leben. Gott, sagen wir, ist das ewige, beste Le-
bewesen, so dass Leben und kontinuierliche Ewigkeit Gott zu-
kommen; dieses ist nämlich (der) Gott (oJ qeov").“ (L7, 1072b24-29)
Dieses Zitat aus L7 ist nun entscheidend für das aristotelische Gottes-
verständnis. Auch an dieser Stelle ist zu fragen, wie der Artikel oJ auf-
zufassen ist, generalisierend oder individualisierend.285 Düring286 wählt
die erste Möglichkeit, versteht oJ qeov" also generalisierend als allge-
meine Aussage zum Themenbereich ‚Götter’. Das Verständnis, wo-
nach es sich um einen einzigen Gott handelt, der gegenüber anderen
Göttern eine Sonderstellung einnimmt und somit in Richtung Mono-
theismus verstanden werden könnte, lehnt Düring ab. Dieses Fehlver-
ständnis sei auf die mittelalterliche interpretatio christiana zurückzu-
führen, die mit Aristoteles den Monotheismus philosophisch zu durch-
dringen versuchte. Auf Aristoteles angewendet sei die Fragestellung
ein Anachronismus, da die griechische Philosophie nicht die Alternati-
ve ein Gott – viele Götter thematisierte, sondern nur die Frage nach
Göttern an sich.287
Allerdings ist Düring in diesem Punkt nicht zuzustimmen. Rich-
tig ist, dass die Fragestellung, ob es nur einen oder viele Götter gebe,
in der Philosophie nicht thematisiert wurde. Jedoch beweist dies nicht,
dass Aristoteles sich Gott nicht als einen einzigen vorstellen konnte.
Eine Analyse der einschlägigen Stellen aus Metaphysik L kann darle-
gen, dass im vorliegenden Fall nicht die interpretatio christiana den
Blick auf die Argumentation bei Aristoteles verstellt, sondern die Ab-
wehr einer christlichen Interpretation jegliche theologischen Argumen-
te auszuklammern versucht.
Entscheidend ist der Nachvollzug, dass es Aristoteles darum
geht, auf ein allererstes Prinzip durchzustoßen, welches er schließlich
mit Gott identifiziert.288 Der Gedankengang ist für das heutige Ver-
ständnis denn auch sehr eigenwillig. Für das grundlegende Verständnis
des unbewegten Bewegers sind zunächst die ontologischen Prämissen
„wie ein Geliebtes, und durch das Bewegte bewegt es die anderen
Dinge.“ (L7, 1072b3)
Stoa
Auch in der Stoa ist eine eindeutige Tendenz auf einen Gott hin
nachzuweisen. Nach dem Urteil des Philodemus gilt für die Stoiker:
„Alle von Zenon an ... sagen, es gebe nur einen Gott.“ 292
dern erkennen in den vielen Göttern einzig „kosmische Aspekte der ei-
nen Weltvernunft, deren Wesen Himmel und Erde darstellen.“ 294 Frede
erklärt dies mit der antiken Strömung, den Wahrheitsgehalt hinter den
alten Mythen wieder zu entdecken und so in wesentlichen Prinzipien
eine Zuschreibung zu vollziehen (etwa in den Elementen Feuer, Erde,
Wasser, Luft), was insbesondere in der Stoa „Konjunktur“ hatte.295
Die vielen Götter gelten wie der eine Gott als unsterblich, aber
nur der eine Gott ist zugleich auch ewig und von daher wiederum ein-
deutig zu unterscheiden. Sind die vielen Götter nur als Entfaltungen
der Welt zu verstehen, so ist der eine Gott das Prinzip, das Werden
und Vergehen steuert. Nach dem Denken der Stoa erneuert sich die
Welt immer wieder im Weltenbrand, fällt in sich zusammen und ent-
faltet sich neu. Gott ist also nicht von der Materie, aus der die Welt be-
steht, zu trennen, sondern ist mit dem dynamischen, dem Werden und
Vergehen der Materie steuernden Prinzip zu identifizieren. Von daher
wird auch die Unterordnung der anderen Götter verständlicher, die nur
im Rahmen der aktuellen Entfaltung der göttlichen Materie zu identifi-
zieren sind.
Untrennbar mit dem Wesenszug des stoischen Gottesbildes ver-
bunden ist auch die provnoia, die göttliche Fürsorge. Nach Cicero, De
nat. d. II 3 kümmern sich die Götter um die Menschen, und zwar so-
wohl kollektiv als auch individuell (De nat. d. II 164). Cicero setzt da-
bei die göttliche Vorsehung mit der göttlichen Vernunft bzw. dem
„künstlerischen Feuer“ gleich, da das Ziel der Fürsorge ist, alles zum
Besten zu lenken (De nat. d. II 57f.). Auch in der Stoa tauchen ver-
meintlich personale Züge im Wesen Gottes auf. Allerdings dient die
Vorstellung der Fürsorge Gottes der Stützung des pantheistischen
Weltbildes der Stoa. Dadurch erweist sich nämlich die Entfaltung der
Wirklichkeit grundsätzlich als auf das Gute und „auf das Gelingen des
Gesamtplanes“ hin ausgerichtet.296
(b) Vermittlungsinstanzen
Die christlichen Missionare, die von Stadt zu Stadt zogen und das
Evangelium verkündeten, waren auf den ersten Blick kein Einzelphä-
nomen. In der Antike gab es viele Reisende, die ihr Wissen und ihren
Glauben verkünden und verbreiten wollten. Neben religiösen Denkern
waren reisende Philosophen anzutreffen, die ihr Wissen nicht in Aka-
demien anbieten wollten, sondern im öffentlichen Leben zu erproben
versuchten. Am berühmtesten sind wohl die Wanderprediger der kyni-
schen Tradition. Bei ihnen handelte es sich um Philosophen, die der
Tradition der Stoa nahe standen und versuchten, ihre Philosophie in
der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Auch sie griffen explizit theolo-
gische Fragestellungen auf. Als bedeutend für die Interpretation des
1Thess wird immer wieder Dion von Prusa298 herangezogen. Dient er
Malherbe299 insbesondere dazu, den Abschnitt 2,1-12 zu erklären, fin-
den sich in seinen Reden auch wichtige Aspekte zum philosophischen
Gottesverständnis in neutestamentlicher Zeit.300
In der sog. Olympischen Rede, die Dion von Prusa während der
Olympischen Spiele im Jahre 105 (?) n. Chr.301 gehalten hat, ist das
Thema die Verehrung Gottes bzw. der Götter. Ausgangspunkt bildet
die für den Zeustempel in Olympia angefertigte, mit Gold und Elfen-
297 Vgl. Frede, Monotheism, 67.
298 Zu Dion von Prusa, vgl. insbesondere von Arnim, Leben und Werke; Klauck,
Pantheisten, 7.15; ders., Dion von Prusa.
299 Dazu siehe Malherbe, Nurse.
300 Vgl. hierzu insbesondere Klauck, Pantheisten, 7-15.
301 Zur Problematik der Datierung vgl. Klauck, Einleitung, 25-27.
103
„Vom Wesen der Götter im Allgemeinen und von dem des Lenkers
des Alls im Besonderen gibt es als erstes und vor allem eine Vor-
stellung und eine Idee, die dem gesamten Menschengeschlecht,
Griechen und Barbaren gleichermaßen, gemeinsam ist. Notwendig
ist sie jedem vernunftbegabten Wesen von Natur aus eingepflanzt;
ohne Dazwischentreten eines sterblichen Lehrers oder eines Myste-
rienpriesters und somit auch ohne Täuschung hat sie sich durch-
gesetzt. Sie resultiert aus der Verwandtschaft von Menschen und
Göttern und aus den vielen wahrheitsgetreuen Zeugnissen, die es
nicht zuließen, dass die allerersten und ältesten Generationen in
dieser Hinsicht schläfrig oder unaufmerksam wurden.“
Es gibt also eine angeborene Idee von Gott bzw. den Göttern. Die Ar-
gumentation lässt noch keine nähere Spezifizierung zu, ob Dion einen
polytheistischen oder monotheistischen Gottesbegriff voraussetzt, er
kennt sowohl die vielen Götter als auch den einen Gott. Allerdings
lässt die Rede vom „Lenker des Alls“ erahnen, dass auf der kosmolo-
gischen Ebene eine Tendenz in Richtung Monotheismus gegeben zu
sein scheint.
Für die weitere Entfaltung seiner Aussagen greift Dion auf eine
Art Modell zurück, das in der Antike weit verbreitet war. Dabei han-
delt es sich um die sog. theologia tripertita, die sog. „dreifältige“
Theologie (auch wenn, wie sich zeigen wird, Dion auf 4 Weisen zu-
rückgreift).
Lange Zeit war die Annahme verbreitet, dass die theologia
tripertita ihren Ursprung in der Stoa habe, genauerhin auf Panaitios
zurückgehe. Diese Annahme kann allerdings mittlerweile als widerlegt
gelten. Lieberg303 konnte in einer kritischen Bestandaufnahme der
einschlägigen Quellen und des Forschungsstandes aufzeigen, dass die
traditionsgeschichtliche Herleitung der theologia tripertita scheitern
muss, da sich die überkommenen Traditionen einer systematischen
Einordnung entziehen. Die Quellenbasis ist einerseits relativ schmal,
andererseits nicht auf eine philosophische Richtung zurückzuführen.
Am berühmtesten wird die Rede von der dreifältigen Theologie in der
Auseinandersetzung des Augustinus mit der Theologie Varros.
302 Zur Archäologie vgl. Bäbler, Zeus.
303 Vgl. den Forschungsüberblick bei Lieberg, Theologia, insbesondere 107.
104
Hand, weil auch hier auf die Einheit und Einzigkeit Gottes zurückge-
griffen wird. Punkt (4) ist von besonderem Interesse, weil auch im
1Thess die ei[dwla thematisiert werden. In der christlichen Vorstel-
lungswelt ist dieser Begriff selbstverständlich negativ besetzt. Sie sind
unbrauchbar, tot, etc. und werden dem christlichen Gott gegenüberge-
stellt. Nicht so bei Dion.306 Er wagt eine Synthese. Auch er kennt Ar-
gumente, die gegen die Verbildlichung der Götter angeführt werden,
wie sie etwa bei Plinius dem Älteren zu finden sind.
late der platonischen Philosophie aufnimmt 313, sich allerdings auch an-
deren philosophischen Strömungen öffnet314. Im Prinzip orientiert sich
Plutarch in seiner Gotteslehre an Platons Gott aus dem Timaios, dem
Demiurgen.315 Er interpretiert die platonische Philosophie auf seine ei-
gene Weise, weicht aber in den wichtigsten Zügen nicht von Platons
Denken ab.316
In seiner Schrift de E apud Delphos, die über das Epsilon-Zei-
chen über dem Apollon-Tempel in Delphi reflektiert, kommt er in-
teressanterweise zu dem Schluss, dass dieses Epsilon als Bekenntnis
zu Gott aufzufassen sei: ei\ – „Du bist“ bzw. „Du bist eins.“ Dieses Be-
kenntnis bezieht sich auch auf die Frage nach der Unvergänglichkeit,
nach dem Einzigen, was nicht vergeht. Dieses Eine scheint Grundlage
allen Denkens zu sein und wird zum Anbeginn jeglicher Ontologie. 317
Dies führt er folgendermaßen aus:
„Weil nun Gott einer ist, deshalb hat er mit dem einen Jetzt das Im-
mer angefüllt, und nur was auf diese Weise ist, ist wahrhaftiges
Sein, das weder geworden ist noch eine Zukunft vor sich hat, das
weder Anfang noch Ende kennt.“ (393A)
Die Formulierung als Bekenntnis verweist darauf, dass der Gott Plu-
tarchs nicht als rein ontologisches Prinzip verstanden wird, sondern
eindeutig personale Züge trägt.318 Denn das Bekenntnis ist grundsätz-
lich als Antwort eines Anrufes Gottes zu verstehen, wie aus folgenden
beiden Zitaten zu erschließen ist:
„Denn der Gott ruft jeden von uns, die wir hierher kommen,
gleichsam als Gruß das ‚Erkenne dich selbst’ entgegen ... und
wird wiederum sprechen, dem Gott antwortend, ‚Du bist’, womit
313 Nach Klauck, Umwelt II, 124 sind diese die Transzendenz Gottes, die Existenz
der Ideen sowie die Unsterblichkeit der Seele.
314 Mit Ausnahme der Epikureer, denen bspw. Plutarch mehrere Streitschriften ge-
widmet hat. Vgl. etwa die Schriften non posse suaviter vivi secundum Epicurum
(vgl. den Kommentar von Zacher, Plutarchs Kritik) oder de latenter vivendo
(vgl. die Interpretationen bei Berner et al., Plutarch).
315 Vgl. Ferrari, Gott, 23f.
316 Vgl. hierzu insbesondere Ferrari, Gott.
317 Vgl. im Folgenden Hirsch-Luipold, Gott, 142f. Hirsch-Luipold verweist auch
auf die Deutung der Namen Apolls, wie sie in 393B und 388F vorzufinden sind:
jIhvio" sei demzufolge eine Zusammensetzung aus ei|" kai; movno", jA-povllwn
bedeute ajrnouvmeno" ta; pollav (= derjenige, der der Vielfältigkeit eine Absage
erteilt).
318 Mit (sehr) viel Phantasie kann man dabei bereits das Schema Israel heraushören.
110
wir ihm das wahre, nicht irrende, ihm allein einzig zukommende
Prädikat, das des Seins, als Anrede widmen.“ (392A).
„Übrigens ist, wie es scheint, dem ‚Du bist’ das ‚Erkenne dich
selbst’ auf eine Weise entgegengesetzt und auf gewisse Weise
wiederum mit ihm in Einklang.“ (394A)
„von den Vätern ererbte Glaube ... völlig ausreichend [ist] und
man ... darüber hinaus keine klareren Aussagen und keinen kla-
reren Beweis (sc. über die Götter) finden“322
schiede herausstellen will. Somit wird der Blick auf die entscheiden-
den Aspekte der alten Überlieferungen gelenkt. Wenn Plutarch die
Einheit Gottes zu erklären versucht, kann beinahe jeder Gott zum „ei-
nen Gott“ werden. Plutarch will keinen bestimmten der traditionellen
Götter gegen einen anderen ausspielen, sondern zeigt für jede Tradi-
tionslinie die Bedeutung auf, die sich im je eigenen Bekenntnis mani-
festiert, und wie sich in jedem Bekenntnis immer der Absolute, einzige
Gott zu offenbaren scheint. So sind denn auch Apollo (der delphische
Hauptgott, vgl. in de E apud Delphos), Eros (im Amatorius) und Osiris
(in de Iside et Osiride) beinahe austauschbar. In De Is. 377 F etwa
heißt es:
Damit erklärt sich auch, warum verschiedene Götter durch andere er-
setzt werden können, warum es letztlich egal ist, welchen Gott er ins
Zentrum rückt. Er hat ein grundsätzlich inklusives, harmonisierendes
Anliegen, will nicht den Kampf um den richtigen Gott entfachen, son-
dern geht davon aus, dass alle Glaubensrichtungen, werden sie nur
konsequent zu Ende gedacht, sich bei demselben Gott treffen.323
Der eine Gott Plutarchs trägt eindeutig personale Züge, wie es
der traditionelle Rückgriff auf verschiedene Götter immer wieder ver-
anschaulichen kann. Schließlich sei eine weitere Linie in Plutarchs
Gottesverständnis aufgedeckt, die ebenfalls Berührungen mit dem bib-
323 Hier sei auch an die Grenzen dieser „Offenheit“ erinnert. Was das Kultische
anbelangt, ist Plutarch wie schon erwähnt ein Gegner von Götterbildern.
112
Der eigentliche Aspekt des Tierkultes ist also die Verehrung des Le-
bendigen, welches dem Wesen Gottes ontologisch am nächsten
kommt.327 Auch für Plutarch ist – ganz in platonischer Tradition – die
göttliche Wirklichkeit nicht erreichbar, selbst mit der Philosophie kann
nicht mehr als ein „undeutliches Traumbild“ erfasst werden. Das gilt
324 Vgl. Feldmeier, Osiris, 215. Im Folgenden orientiere ich mich sehr stark an der
Argumentation Feldmeiers. Aufgrund der erstaunlichen Parallelen sollen die
wichtigsten Argumente an dieser Stelle trotzdem zur Sprache gebracht werden.
325 Vgl. seine Kritik in De Isid. 71,379 D-E, wo er die praktizierten Kultformen als
unpassend abqualifiziert.
326 Feldmeier, Osiris, 222.
327 Plutarch weicht an dieser Stelle entscheidend von Platon ab. Er stellt nicht das
Sein dem Leben entgegen, sondern den Tod. Zitat Hirsch-Luipold, Denken, 219:
„Als Gegensatz zu der anderswo bei Plutarch als Werden und Vergehen
qualifizierten Sphäre des irdischen Lebens erscheint hier nicht das wahre Sein,
wie man es in Anschluss an Platon erwarten würde, sondern die Leblosigkeit.“
113
„Aber in Wirklichkeit ist Osiris weit weg von der Erde, unbe-
rührt, unbefleckt und rein von jeder Substanz, die Verfall und
Tod ausgesetzt ist.“ (...) (78,382E-F)
Von daher erschließt sich auch, inwieweit Osiris als Gott des Todes zu
denken ist. Er ist kein Gott der Unterwelt, der den Aspekt des Lebens
an sich reißt, sondern durch seine Trennung von der Welt Garant für
das wirkliche Leben. „Als Totengott ist er gleichsam die Negation der
Negation; durch den Tod wird der Tod überwunden.“328 Durch den
Tod wird die menschliche Seele befreit:
„Aber wenn sie [sc. die menschlichen Seelen], vom Körper ge-
löst, hinübergehen zum Unsichtbaren, Unschaubaren, Leidlosen,
Reinen, dann ist dieser Gott ihnen Führer und König.“
(78,382F)
(c) Fazit
sog. ei[dwla, den sog. Götzen, und man wird davon ausgehen können,
dass tatsächlich eine polemische Komponente mitgedacht ist.
- lebendiger Gott
Die Rede vom lebendigen Gott hat Paulus, wie schon eingangs gezeigt
wurde, ohne Zweifel aus der LXX übernommen. Grundsätzlich ist der
Begriff auch im Urchristentum verbreitet. Allerdings scheint es sich
um kein zentrales Theologumenon zu handeln, da er im AT und NT
nur spärlich vorkommt.332 Versucht man die Geschichte dieses Be-
griffs nachzuzeichnen, gelangt man zu der zunächst grundlegenden re-
ligionsgeschichtlichen Vorstellung, dass dieser Gott allein für die Le-
benden von Bedeutung ist.333 Mit dem Aufkommen des Gedankens ei-
ner creatio ex nihilo ändert sich jedoch das Verhältnis zum Bereich der
Toten, da jetzt alles Dasein göttlich ist und somit auch das Nichts und
der Tod unter dem Einflussbereich Gottes stehen.334 Dass Gott ein Gott
des Lebens ist, erschließt sich auch aus den Erfahrungen des Volkes
Israel mit diesem Gott. Sie erfahren ihren Gott als den Gott, der sie im-
mer wieder rettet und in höchster Gefahr für ihr Leben einsteht. Von
daher ist die Rede vom „lebendigen Gott“ zu verstehen.335 Er trägt die
Verantwortung für die Verheißung des Lebens. In vielen Aussagen
wird das Attribut „lebendig“ auch schöpfungstheologisch verwendet.
Für die neutestamentliche Verwendungsweise sind insbesondere
diejenigen Stellen aufschlussreich, die den Begriff in Zusammenhang
mit der Abgrenzung gegenüber anderen Göttern gebrauchen. Zu nen-
nen wären etwa 4 Bas 19,4.16 mit der Parallele Jes 37,4.17 sowie Dan
5,23. In diesen Stellen wird die Ohnmacht der anderen Götter im Ge-
gensatz zum lebendigen Gott dargestellt. Zumindest in 4 Bas 19,15
332 Vgl. zur Einschätzung Stenger, lebendiger Gott, 61 mit Verweis auf Schmidt,
Alttestamentlicher Glaube, 140 und Kraus, Gott, 172.
333 Vgl. hierzu Feldmeier, Osiris, 215: „Ursprünglich wurde damit zum Ausdruck
gebracht, dass der alttestamentliche Gott mit dem Bereich der Toten nichts zu
tun hat. Rhetorische Fragen wie ‚Wer wird dir bei den Toten danken?‘ (Ps 6,6)
oder ‚Wirst du an den Toten Wunder tun?‘ (Ps 88,11) unterstreichen dies ebenso
wie die Feststellung: ‚Die Toten loben dich nicht‘ (Jes 38,18; Ps 115,17).“
Anders Stenger, lebendiger Gott, 61, der den Ursprung der Vorstellungen „aus
dem Vorstellungsbereich der sterbenden und wiederauferstehenden Gottheiten
der kanaanäisch-syrischen Religion entlehnt“ sieht.
334 Vgl. Feldmeier, Osiris, 126 unter Verweis auf 2 Makk 7,28f (Auferste-
hungsglaube) sowie SapSal 2,23-3,9; 6,18f. (Verewigung der frommen Seelen).
335 Siehe Kraus, lebendiger Gott, 183.
116
- wahrer Gott
nen weder Gutes noch Böses tun, der lebendige und wahre Gott hat
Himmel und Erde geschaffen und ist Herr über die Naturgewalten. 344
3Makk 6,18.28 handelt von der Verfolgung der Juden Alexandrias.
Diese werden von ihrem „allherrlichen, allmächtigen und wahren
Gott“ (megalovdoxo" pantokravtwr kai; ajlhqino;" qeov" ) durch eine
Epiphanie gerettet, woraufhin Ptolemäus IV. anordnet, die Söhne die-
ses „allmächtigen lebendigen Gottes des Himmels“ (pantokravtwr
ejpouravnio" qeo;" zw'n) freizulassen. Hier finden sich im weiteren
Kontext Belege für die Abgrenzung des jüdischen Gottes von den Göt-
zen, da Ptolemäus die militärischen Erfolge auf seine eigenen Götter
zurückführt (3,14). Ausdrücklich polarisiert wird der Gegensatz zwi-
schen den Götzen und dem wahren und lebendigen Gott auch in Sib
Frgm 3,43-46. Über die Heiden soll ewiges Feuer wegen ihrer Götzen-
verehrung kommen (3,45), während die Juden aufgrund des ewigen
und wahren Gottes ewiges Leben erben werden (3,46).
Die Kombination der Begriffe zw'n und ajlhqinov" rückt die Aus-
sagen – zumindest in den paulinischen Vergleichstexten zu 1Thess 1,9
– in einen explizit schöpfungstheologischen Zusammenhang, mit dem
die Ablehnung von den toten Götzen begründet werden soll. Diese Vo-
raussetzung wird man auch im 1Thess annehmen dürfen. Hier werden
die toten Götter dem wahren Gott gegenübergestellt. Das Bekenntnis
zum wahren Gott bestätigt nochmals den erfolgreichen Verlauf der Be-
kehrung, da wie in JosAs die Thessalonicher zu der Erkenntnis gelan-
gen konnten, dass die Götzen tot bzw. überhaupt nicht sind, während
der biblische Gott lebendig ist und die Wahrheit verheißt.
344 Jer 10,10 fehlt in der LXX und ist nur masoretisch überliefert (אמת אלהים ויהוה
)חיים הוא־אלהים. Auch werden die Attribute nicht näher erörtert, stehen allerdings
eindeutig in schöpfungstheologischem Zusammenhang.
345 Die Kritik Konradts, Gericht, 45 an den Thesen Bergers, Theologiegeschichte,
355 und Beckers, Erwählung, 93-95, die einen antiochenischen Ursprung in der
119
ger – qerapeuvein.356
Im 1Thess allerdings wird die Freiheitsproblematik an keiner
Stelle thematisiert, der Begriff gibt nur zu erkennen, dass die Thessa-
lonicher dem jüdischen Gott dienen wollen. Zunächst sagt die Ver-
wendung von douleuvein bei Paulus noch nichts Ungewöhnliches aus,
ist doch douleuvein in der LXX „der häufigste Ausdruck für den Got-
tesdienst, und zwar im Sinne totaler Bindung an die Gottheit, nicht et-
wa im Sinne des gottesdienstlichen Einzelaktes.“357 Wenn Paulus die-
ses Wort voraussetzt, kann man vermuten, dass er in diese Richtung
bereits im Rahmen seiner Erstverkündigung argumentiert hat, da das
Verhältnis zum lebendigen und wahren Gott nicht verglichen werden
konnte mit dem paganen Interesse an der Verehrung mehrerer Götter.
Den 1Thess kann man aber nicht als Indiz dafür werten, dass Paulus
bereits auf ein ausgefeiltes Konzept eines Freiheitsverständnisses wie
in seinen späteren Briefen zurückgreift, jedoch waren ihm sicher die
grundlegenden Probleme der griechischen Freiheitsterminologie geläu-
fig.358
bivo" politikov" den bivo" ejleuqhrov" entgegen. Die Freiheit ist nicht mehr
von der Stellung innerhalb der Gesellschaft abhängig, sondern vollzieht sich
allein in der „Heiterkeit des Lebens.“ Nach diesem Konzept kann auch der
Sklave „jene Freiheit, die von den Mächten der Selbstentfremdung befreit,“
gewinnen.362 Für die Herleitung des paulinischen Freiheitsverständnisses
wird immer wieder auf das Freiheitsverständnis der Stoa hingewiesen, das
auch in formaler Hinsicht mit neutestamentlichen Freiheitskonzeptionen har-
moniert, etwa wenn Epiktet Diss. 4,1-6.33-40 die Einfügung in Gottes Welt-
ordnung als wahre Freiheit gegenüber den Abhängigkeiten und Versklavung
der Welt propagiert, von denen auch die „sog.“ Freien abhängig sind. 363 Was
das paulinische Freiheitsverständnis betrifft, soll nur in groben Linien nach-
gezeichnet werden, wie die Verhältnisbestimmung Freiheit – Sklaverei ver-
standen werden kann. Paulus bezeichnet sich in Röm 1,1 und Phil 1,1 als
„Sklave Christi“. Jedoch wendet sich dieses Verständnis zugleich weg von
der Erfahrung weltlicher Versklavung. Durch die Erlösertat Jesu Christi er-
hält der Mensch zum ersten Mal die Chance, wirklich frei zu werden – aber
eben nur, wenn er seine Abhängigkeit und Begrenzung im Hinblick auf Gott
einsieht. In Gal 4,8 wird in diesem Sinne die Unsinnigkeit des antiken Frei-
heitsstrebens herausgestellt. Erst wenn man seine Begrenzung und Abhän-
gigkeit von Gott akzeptiert und einsieht, kann man auf diesem Fundament
aufbauend allmählich für den Menschen konkrete Freiheit erschließen: Frei-
heit vor dem Gesetz, von der Macht der Sünde, von der Todesmacht, etc. Mit
diesen Begriffen weist Paulus über den atl. Zusammenhang hinaus, indem er
wichtige Inhalte an Hand des Freiheitsbegriffs neu zu fassen versucht. 364 Die
Freiheitsthematik kommt im 1Thess an keiner Stelle zum Tragen. Dennoch
kann man vermuten, dass Paulus zumindest die Grundzüge der Verhältnisbe-
stimmung douleuvein – ejleuqhriva vermittelt hat, wenn er den Thessaloni-
chern das Gottesverhältnis als douleuvein näher erläutern wollte.
362 Mußner, Freiheit, 58. „Daher hatte Epikur bei seinen Anhängern den Ehrenna-
men swthvr und ejleuqhrwthv".“
363 Zum stoischen Freiheitsverständnis vgl. ausführlich Vollenweider, Freiheit, 23-
104.
364 Vgl. hierzu auch Mußner, Freiheit, 16-27.
123
Die beiden Infinitive douleuvein und ajnamevnein sind zwar parallel ge-
führt, verweisen allerdings auf zwei unterschiedliche Objekte. Mit
douleuvein wird auf die theologische Aussage verwiesen, mit ajnamev-
nein auf die christologische. Beide scheinen zunächst gleichwertig.
Ein leichtes Übergewicht erhält freilich die theologische Aussage, da
auch im zweiten Halbsatz die Aussage über Christus von der Aussage
über Gott abhängig ist – schließlich erhält Christus seine Funktion nur
deshalb, weil ihn Gott erweckt hat von den Toten. Die Auferweckung
ist konstitutiv dafür, dass Jesus die Gläubigen aus dem kommenden
Zorn zu retten vermag. Die christologische Aussage ist von daher auf
die theologische Aussage hingeordnet. Auf der narrativen Ebene be-
gründet sich die theologische von der christologischen Aussage her, da
die Lebensführung, das douleuvein in der Rettungsaktion durch Jesus
ihre Begründung oder Motivation erfährt. „Der Hinweis auf den ret-
tenden Jesus, den ‚Gott erweckte', nahm dem [Tod] seinen möglichen
Schrecken. Denn Jesu Retten ist keine Sache des Rückblicks. Es hat
einen eschatologischen Ton. Jesus rettet vor Gottes Zorn.“365 In diesem
Sinne spricht Holtz davon, dass die Aussage der Verse 1,9f. unter ei-
ner christologischen Klammer stehe.366
Dies ist auch in der Pragmatik des Briefes erkennbar. Schon
Munck367 hatte darauf hingewiesen, dass die Intention des Textes in
1,10 als Vorbereitung der Ausführungen zur Parusie-Problematik
formuliert ist. Von der Sache her ist es am Text zu belegen, denn die
Erwartung ist auf ein konkretes in der Zukunft liegendes Ereignis
365 Karrer, Jesus Christus, 48.
366 Hierzu Holtz, 1Thess 62: „Es darf als wahrscheinlich gelten, daß ein derartiger
Glaube von Anfang an über die Christuspredigt geweckt worden ist. Wenn man
überhaupt von 1Thess 1,9b.10 auf eine Form der Missionspredigt
zurückschließen kann, dann auf eine derartige, die der Missionsweise entspricht,
die hinter JosAs sichtbar wird. Nicht eine vorlaufende monotheistische Predigt,
sondern das mit einem ganz bestimmten Inhalt, nämlich der Christusgeschichte,
gefüllte Gotteszeugnis erweckt den Glauben. Der Glaube der Gemeinde an Gott
ist der durch das Evangelium gegründete Heilsglaube.“ Hierzu ist zu sagen, dass
Holtz davon ausgeht, dass sich die Gemeinden des Paulus vornehmlich aus
Gottesfürchtigen zusammensetzten, und deswegen sei die monotheistische
Missionspredigt auch nicht nötig gewesen. Vgl. auch Holtz, Glaube, 475f;
Klumbies, Rede, 142, schließt sich diesem Urteil an. M. E. geht allerdings die-
ser Rückschluss zu weit. Auf der narrativen Ebene ist der christologische
Schwerpunkt durchaus nachvollziebar, allerdings kann der historische Rück-
schluss auf die tatsächliche Missionspredigt in Thessalonich nicht überzeugen.
Vgl. dazu u.
367 Zu Munck vgl. o. 2.2.1.4.
124
es Jesus selbst, der als Richter auftritt. 374 Diese Interpretationen orien-
tieren sich an Vorstellungen, wie sie in Röm 2,5-11 oder Röm 8,34
dargestellt sind – die Guten werden belohnt, die Schlechten bestraft,
und Jesus tritt für die Seinen ein. Konradt allerdings wendet sich mit
Recht gegen derartige Deutungsversuche.375 Die Vorstellung passt
nicht in den Zusammenhang des 1Thess. Dort ist nämlich nirgends
von einem Gericht die Rede, bei dem das Verhalten vor dem Urteils-
spruch geprüft wird und dann entweder positiv oder negativ ausfällt.
Die Rettung durch Jesus ist den Thessalonichern durch ihre Lebens-
form aufgrund ihrer Bekehrung ja schon zugesagt. Deswegen muss
man bei der Retterfunktion Jesu aus dem Zorn Gottes „an die Bewah-
rung der Christen vor dem eschatologischen Vernichtungshandeln
Gottes denken.“376
Dies bestätigen auch die beiden anderen Stellen innerhalb des
1Thess, an denen Paulus auf die Parusie zu sprechen kommt. In 4,13-
18 ist die Rettungshandlung Jesu als Entrückungsszene beschrieben,
die Paulus an dieser Stelle auch deswegen heranzieht, um auf die Ret-
tung der bereits vor der Parusie Verstorbenen verweisen zu können.
Aus dem Zusammenhang der Verse 16 und 17 wird nicht ganz klar,
wie man sich die Parusie vorzustellen hat. Eindeutig ist nur die positi-
ve Aussage – Christus steigt herab, und unmittelbar darauf werden die
toten Christen auferstehen. Erst dann werden die Lebenden zusammen
mit den auferstandenen Christen „entrückt.“ Paulus greift hier die üb-
liche Vorstellung der Entrückung in einer Wolke auf.377 Die Vor-
stellung der Entrückung ist weder Juden noch Heiden fremd. 378 Jedoch
ist immer nur von der Entrückung Einzelner die Rede, Kollektivent-
rückungen sind nicht belegt. Nach Haufe ist diese Kollektiventrückung
„ein singulärer Zug im Text.“379
Schließlich ist noch zu fragen, ob man unter Einbeziehung der
374 Vgl. Müller, 1Thess, 119.
375 Vgl. im Folgenden Konradt, Gericht, 66-69.
376 Konradt, Gericht, 68 im Anschluss an Brandenburger, Gerichtskonzeptionen,
307.311 und Müller, Gott, 34f.
377 Siehe auch äth Hen 39,3; ApkEsr 5,7; Apg 1,9; Apk 11,12. Ähnlich wird in Dan
7,13 oder Mk 13,16 das Kommen des Menschensohnes auf Wolken erwartet,
378 Od 4,561-569 berichtet von der Entrückung des Menelaos; Il 20,232-235 von
Ganymed; Hesiod, Erg. 167-172 kennt die Entrückung der Heroen. Im AT sind
Elijas (2 Kön 2,1-15) und Henochs (Gen 5,21-24) Entrückung bekannt. Auch in
der jüdischen Apokalyptik ist die Rede von Entrückungen, vgl. etwa Sap 4,10f;
Jub 4,23; äth Hen 39,3; äth Hen 70f; sl Hen 36,2 (Henoch); äth Hen 89,52
(Elia); 4 Esr 14,9(.14).49 (Esra); syr Bar 13,3; 25,1; 76,2 (Baruch).
379 Haufe, 1Thess, 85. In diesem Sinne auch Siber, Christus, 52f; Konradt, Gericht,
68.
126
2.2.3 Zusammenfassung
(1) Man ignoriert das scheinbar besser bezeugte nhvpio" und bleibt
bei der älteren Lesart h[pio", die auf den ersten Blick mehr
Sinn ergibt. Argumentiert wird, dass es sich etwa um Dittogra-
phie handle, oder aber, wie Schoon-Janßen387 behauptet, der
Vergleich der bedeutendsten Handschriften eine Patt-Situation
ergebe und die bessere Bezeugung von nhvpio" deshalb nicht
zutreffend sei.388
(2) Legt man den kritischen Text von Nestle-Aland zugrunde,
muss man zugleich die Zeichensetzung innerhalb des Textes
überdenken, die in der Neuausgabe nicht geändert wurde. Bei
genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass die Zeichen-
setzung gerade darauf ausgerichtet war, die Amme als mild zu
bezeichnen. Deswegen schlägt Merk eine andere Zeichenset-
zung vor. Im Anschluss an Dibelius389 fordert er, „hinter ajpov-
stoloi ein Komma zu setzen und hinter ejn mevsw uJmw'n einen
385 Zur besseren Bezeugung und somit der Entscheidung für nhvpio" vgl. Aland,
Text, 287f.; Bickmann, Kommunikation, 178f.; Gaventa, Apostles, 194ff;
Müller, 1Thess, 131; Sailors, Wedding, 80-88. Weima, Infants, 549ff.
386 So der Titel des Aufsatzes von Malherbe, „gentle as a nurse.“
387 Vgl. Schoon-Janßen, Apologien, 59. Die Zeugenschaft des P 65 kann er denn
auch nur mit sehr viel Mühe nivellieren.
388 In diesem Sinne interpretieren Best, 1Thess, 101; Bruce, 1Thess, 29; Dobschütz,
1Thess, 93; Dibelius, 1Thess, 9; Haufe, 1Thess, 37f.; Holtz, 1Thess, 82; Hoppe,
Metaphorik, 274f; Lyons, Autobiography, 198; Malherbe, Nurse; ders., 1Thess,
145. Stegemann, Anlaß, 405f.; Wanamaker, 1Thess, 100; Burke, Paternity, 75.
Dass sich Malherbe schwer tut, seine Position zu revidieren, mag verständlich
sein, da die von ihm aufgedeckten Parallelen zur popularphilosophischen
Literatur gerade in der Einschätzung der Amme als h[pio" gipfeln. Allerdings
verlieren die Bezüge auch ohne diesen Bezugspunkt nicht ihre Aussagekraft,
dazu allerdings vgl. im Folgenden.
389 Vgl. Dibelius, 1Thess 8.
130
Variante (1) lässt sich m.E. nicht mehr sinnvoll vertreten, und wie sich
im Verlaufe der Interpretationen zeigen wird, ist der Umweg über die
„Amme“ auch gar nicht nötig. Wie man sich hinsichtlich der Varianten
(2) und (3) zu entscheiden hat, sollte der Diskurs in der Forschung her-
ausarbeiten. In meinen Augen ist Variante (2) vorzuziehen, da hier
nicht so sehr wie in (3) der Gegensatz der Apostel zu den Thessaloni-
chern in den Mittelpunkt gerückt wird, sondern im Gegensatz dazu das
zurückhaltende Auftreten der Apostel veranschaulicht wird. Zwar sind
beide Gegensätze sinnvolle Annahmen, jedoch charakterisieren auch
Besonderes Augenmerk hat die Forschung seit jeher auf die Aussage-
absicht des Abschnitts im Briefzusammenhang gelegt. So dokumen-
tieren der im Jahr 2000 von Donfried und Beutler herausgegebene
Sammelband „The Thessalonians Debate“ als sowie aktuelle Veröf-
fentlichungen zu dieser Frage394, dass die Diskussion um die Intention
des Textstückes 2,1-12 noch weit entfernt ist von einem Forschungs-
konsens.395 Die große Frage, die im Hintergrund steht, ist die, ob es
sich um eine Apologie des Paulus handelt, also um den Versuch der
„Widerlegung gegnerischer Vorwürfe gegen seine Person.“396 Dabei
herrschte lange Zeit zumindest in der Tendenz Übereinstimmung, dass
sich Paulus in irgendeiner Weise gegen Gegner zu verteidigen ver-
sucht. Anders konnte man sich den durchwegs antithetisch gestalteten
Aufbau nicht erklären. Warum sah sich Paulus nach erfolgter Mission
dazu gezwungen, sich vor seiner Gemeinde zu verteidigen?
Dass Paulus auch schon zur Zeit der Thessalonichermission Geg-
ner hatte und Verfolgungen ausgesetzt war, bestätigt der 1Thess ein-
deutig. Schon seine Ankunft in Thessalonich ist überschattet von den
Verfolgungen, die er in Philippi erlitten hat und die ziemlich sicher mit
der Evangeliumsverkündigung in Zusammenhang standen.397 Zudem
ist Paulus in Sorge um den Status der Gemeinde, weil auch jene Be-
drängnissen ausgesetzt zu sein scheint (vgl. 2,14 oder 3,4). Er selbst
wollte sogar zur Unterstützung der Gemeinde nach Thessalonich rei-
sen, wurde aber daran gehindert (3,5). Eventuell musste Paulus früher
als erwartet aus Thessalonich abreisen, deuten doch die „Mängel des
Glaubens“ (3,10) darauf hin, dass das Missionswerk noch nicht ganz
abgeschlossen war.398
Konkrete Hinweise aber auf die Gegner, die hinter 2,1-12 stehen,
sind dem Text zunächst nicht zu entnehmen. Dennoch gibt es immer
Hier seien nur die wichtigsten von Malherbe in den Raum gestellten Auffäl-
ligkeiten zusammengefasst: Zunächst (1) weist Malherbe auf den scheinba-
ren Zusammenhang der Worte uJbrisqevnte", kenov", ejparrhsiasavmeqa und
ajgw'n in 1Thess 2,1-2 hin, da diese vier Worte zumindest in Dions Or. 32 ei-
nen argumentativen Zusammenhang ergeben. Dort werden andere Wander-
prediger kritisiert, weil sie weltabgewandte Philosophie betreiben und sich
nicht dem Kampf des Lebens stellen wollen (ajgw'n), wohl aus Angst vor der
u{bri" der Menge. Der wahre Philosoph hingegen könne – da seine Rede
ebenso von Gott autorisiert ist (siehe die mehrfachen Bezüge im 1Thess zur
göttlichen Beauftragung) – offen auf die Menge zutreten (parrhsiva). (2) In
Or. 32,11-12 seien eine ganze Reihe weiterer Parallelen zu Paulus zu ver-
zeichnen: Dions ajpatw'sin/plavnh steht bei Paulus die Wendung oujk ejk
plavnh" gegenüber, sowohl Dion (kaqarw'"/ajdovlw") als auch Paulus (oujk ejx
ajkaqarsiva" oujde; ejn dovlw/) weisen darauf hin, dass ihre Rede weder unrein
noch listig sei. Zudem findet sich zum Zusammenhang des paulinischen Un-
terhaltsverzichts in Kombination mit dem Desinteresse am Streben nach ei-
genem Ruhm (ou[te zhtou'nte" ejx ajnqrwvpwn dovxan ... ou[te .. en lovgw/
kolakeiva") eine Parallele bei Dion (mhvte dovxh" cavrin ... mhvt j ejp j
ajrgurivw/ ... kolavkwn). Schließlich ist auch bei Dion die in 1Thess 2,1-8
vorherrschende oujk-ajllav-Konstruktion zu erkennen. (3) Dion verweist in Or.
77/78,40-43 auch auf die Fürsorge der Philosophen bzgl. ihrer Hörer, was
eventuell mit der Familienmetaphorik bei Paulus in Einklang gebracht wer-
den könnte: Dion ist väterlich, brüderlich, fällt nicht zur Last (baruv"), eher
sanft (h[pio" ...).
Der Aufsatz Malherbes hat die Forschung zu 1Thess 2,1-12 sehr stark
vorangetrieben. Auch wenn das Ergebnis der Textkritik die Verwen-
dung von h[pio" als sekundär erweist und so gerade der Titel des Auf-
satzes keinen Bezugspunkt mit der Textbasis mehr zu haben scheint,
kann man die Aussagekraft der anderen Vergleichspunkte nicht so
ohne weiteres zur Seite schieben. Malherbe kommt zu dem Schluss,
dass man den Text nicht als Apologie lesen sollte, sondern dass Paulus
aus paränetischem Interesse sich als Lehrer darstellt und somit im
Rahmen der brieflichen Selbstempfehlung seinen Legitimitätsanspruch
unterstreicht.
An den Forschungen Malherbes kommt man heute nicht mehr
vorbei, auch wenn die Debatte damit noch lange nicht entschieden ist.
Viele Interpretatoren begnügen sich mit dem Verweis auf die paräneti-
sche Bedeutung des Abschnitts, wenn auch auf die apologetischen Zü-
ge immer wieder hingewiesen wird. Bezeichnend ist hierfür die Positi-
on Schoon-Janßens, der in diesem Zusammenhang von einer „potenti-
ellen Apologie“ spricht405, zwar im Großen und Ganzen den Ausfüh-
rungen Malherbes zustimmt, jedoch dem Text die apologetische Funk-
tion nicht endgültig absprechen will.406
Bickmann407 und Schmeller408 haben sich von der Einschätzung,
es handle sich bei 1Thess 2,1-12 um eine Apologie, deutlich entfernt.
Beide sehen den Schwerpunkt der Argumentation auf dem Dialog mit
der Gemeinde und entfalten die Idee, dass Paulus sich ähnlich wie
405 Schoon-Janßen, Apologien, 53.
406 Nach Konradt, Gericht, 31, „lässt es [der Textbefund] nicht geraten erscheinen,
zwischen paränetischem und apologetischem Anliegen eine strikte Alternative
zu sehen. Der Text ist vielmehr mehrdimensional.“
407 Bickmann, Kommunikation, 183-187.
408 Schmeller, Schulen, 139-145.
134
Wie bereits erörtert wurde, ist 2,1-12 als eigenständiger Abschnitt in-
nerhalb des gesamten Zusammenhangs von 1,6-2,16 zu interpretie-
ren.417 Markiert wird der Text eindeutig durch den Begriff ei[sodo",
derparallel steht zum ei[sodo" aus Vers 1,9 und somit zum zweiten
Mal auf das anspielt, was dazu geführt hat, dass die Thessalonicher zu
Nachahmern werden konnten. Im Gegensatz zu Vers 1,9f. geht es hier
allerdings nicht um die Inhalte der Verkündigung, sondern um die
kommunikative Situation. Paulus thematisiert in 2,1-12 die Art und
Weise, wie der Dialog mit den Thessalonichern zustande kam. Es wird
nicht auf fremdes Wissen rekurriert wie im Abschnitt 1,9f., der als Zu-
sammenfassung der Aussagen der Gläubigen in Makedonien und
Achaja über die Thessalonicher formuliert ist, sondern augenschein-
lich auf die tatsächliche Eingangssituation – mit kaqw'" oi[date in V. 1
spricht Paulus die Gemeinde direkt an und thematisiert im Dialog mit
der Gemeinde das eigene Auftreten während der Mission in Thessalo-
nich. Die Bedeutung liegt dabei nicht mehr auf dem Inhalt, sondern
auf dem Vorgang bzw. den Rahmenbedingungen von Bekehrung und
Mission.418
Nach dieser Abgrenzung im Gesamtrahmen soll die innere Struk-
tur des Textes näher untersucht werden. Eine erste Auffälligkeit ist,
dass die Wendung in V. 1 (aujtoi; ga;r oi[date, ajdelfoiv) in V. 9 (mnh-
moneuvete gavr, ajdelfoiv) ähnlich wiederaufgenommen wird.419 Dies
weist auf einen Neueinsatz hin, wobei die unterschiedliche Wortwahl
(oi[date einerseits, mnhmoneuvete andererseits) einen Wechsel im
Argumentationsniveau angibt. Zwar taucht im gesamten Zusammen-
hang oi[date immer wieder auf, jedoch nie als eindeutiges Gliede-
rungselement. Teilt man den Text aber in die Abschnitte 1-8 und 9-12
auf, so werden bei einem näheren Vergleich trotz ihrer unterschiedli-
chen Länge einige auffällige Parallelen sichtbar.420 Auf folgende Über-
einstimmungen ist demnach hinzuweisen:
418 Von da aus wird die Abgrenzung zu V. 13ff. klar. Denn dort wechselt die
Argumentation erneut, auch bzgl. der kommunikativen Situation. Deswegen
sind 2,1-8 und 2,9-12 auch nicht voneinander zu trennen.
419 Vgl. zur Strukturierung des Absatzes insgesamt auch die informative Studie von
Bickmann, Kommunikation, 161-166, die den vorliegenden Text in ähnlicher
Weise gliedert, allerdings die VV. 1-8 und 9-12 voneinander trennt, da sie als
unterschiedliche Sprechakte kenntlich werden: V. 1 thematisiert dabei die Rede
der Apostel, V. 9 die Erinnerung der Thessalonicher an die Arbeit der Missiona-
re. Bickmann geht es insbesondere darum, die kommunikativen Strukturen in-
nerhalb des Textes ausfindig zu machen.
420 In diesem Sinne gliedern auch Johanson, Brethren, 149, und Coulot, Paul, 380.
137
Damit sind aber erst die Gemeinsamkeiten der Ansätze geklärt. Schaut
man sich die einzelnen Aspekte etwas genauer an, erkennt man auch
Unterschiede in der Formulierung, die eventuell auf einen Erkenntnis-
fortschritt schließen lassen und damit als ein Indiz dafür gelten könn-
ten, dass sich Paulus nicht nur als Lehrer sieht, sondern innerhalb des
Textes auch der Lernerfolg seitens der Gemeinde nachvollzogen wer-
den kann. Ohne vorerst zu große Rückschlüsse ziehen zu wollen, sei
doch auf die unterschiedlichen Ebenen hingewiesen: (1) das oi[date in
V.1 kennzeichnet den ersten Durchgang (1-8) hinsichtlich des episte-
mologischen Aspekts im Gegenüber von Aposteln – Gemeinde, wäh-
rend durch mnhmoneuvete am Anfang von (9-12) auf die gemeinsame
Erinnerung aus demselben Blickwinkel rekurriert wird. (2) So ist auch
die Darstellung in der Struktur zu unterscheiden: im ersten Durchgang
ist sie stets antithetisch (1-2; 3-4; 5-7b)421, im zweiten Durchgang fehlt
diese antithetische Struktur. (3) Die unterschiedlichen Ebenen verdeut-
licht auch die Verwendung von mavrtu": im Gegenüber Gemeinde-
Apostel in 1-8 tritt Gott als Zeuge für die Apostel auf, auf der neuen
Ebene in 9-12 sind die Gemeinde und Gott Zeugen für die Apostel. (4)
Schließlich wird man auch die beiden unterschiedlichen Stufen der
geschilderten Familienbeziehungen für diese Lehrbewegung in An-
schlag bringen dürfen, wenn zunächst das Verhältnis der Amme/
Mutter-Säuglinge, dann das Verhältnis Vater-Kinder thematisiert wird.
Die meisten Exegeten schließen sich in Grundzügen dieser Glie-
derung an,422 zumindest akzeptieren sie den Neueinsatz in V.9 als
Gliederungselement. Allerdings besteht Uneinigkeit über den ersten
Abschnitt. Meistens wird er nochmals unterteilt und entweder V.1423
oder VV. 1 und 2424 als gesondert herausgehoben, oft mit dem Hinweis
auf die antithetische Struktur der VV. 3-8. Die durchgängige oujk-
ajllav-Struktur, auf die Reck425 hinweist, ist nämlich nicht erst ab V. 3,
sondern schon ab V. 1 das leitende Strukturprinzip. So sind die VV. 1-
8 als gemeinsamer Abschnitt zu interpretieren. Die Rede von der ei[s-
odo" mag zwar als Überschrift für den gesamten Abschnitt gelten,
421 Darüber herrscht Konsens, wenn freilich die Abgrenzung der einzelnen Antithe-
sen von mehreren textkritischen Entscheidungen abhängig ist.
422 Merk, 2,1-12, 387, verweist auf den völlig konträren Versuch in Bultmanns
Manuskripten zum 1Thess, in denen die ersten beiden Kapitel in die Abschnitte
1,4-2,4 und 2,5-12 untergliedert werden.
423 So etwa bei Hill, Church, 83ff.; Schoon-Janßen, Apologien, 56f; Müller,
1Thess, 121-123.
424 Vgl. bspw. Reck, Kommunikation, 174f; Gebauer, Paulus, 95f.; Holtz, 1Thess,
65f., untergliedert V. 1-2.3-4.5-9 und 10-12.
425 Vgl. Reck, Kommunikation, 174f.
138
Hinzuweisen ist auf den Ansatz Gerbers426. Gerber untersucht in ihrer Arbeit
die Verwendung der Eltern-Kind-Metaphern bei Paulus. So ist ihre Gliede-
rung auch in diesem Falle auf diese Problematik abgestimmt. Sie gliedert den
Text in die Abschnitte 1-6 (Abgrenzung von anderen Predigern), 7-9 (Mut-
ter-Kind-Beziehung) und 10-12 (Vater-Kind-Beziehung). Auch hier liegt ei-
ne Steigerung vor, jedoch wendet sich Gerber gegen die Charakterisierung
des Paulus als Lehrer. Dabei geht sie „davon aus, dass ejn bavrei und ejpi-
barh'sai inkludierend auf dasselbe referieren.“ 427 Ihr Beweisziel ist, dass in
den Versen 7-9 der apostolische Unterhaltsverzicht thematisiert wird und ejn
bavrei auch im ersten Falle bereits als finanziell konnotiert zu verstehen sei.
Deswegen gehören ihrer Interpretation zufolge VV 7-9 zusammen und be-
schreiben das Ammen/Mutter-Kind-Verhältnis im Zusammenhang des Un-
terhaltsverzichts. So interessant dieser Versuch auch sein mag, so wenig
überzeugt die Idee, das Bild der Amme auf das Thema Unterhaltsverzicht
einzuschränken. Außerdem geht damit das doch auffällige Gliederungs-
merkmal aus V.9 verloren. Hier soll aber kein letztes Urteil über Gerbers An-
satz gesprochen werden, in der Auslegung wird häufig auf ihre wichtige Ar-
beit einzugehen sein.
2.3.4 Interpretation
426 Vgl. Gerber, Paulus, 270-313, besonders die für die Gliederung entscheidenden
Überlegungen 275-279.
427 Gerber, Paulus, 278.
428 Wobei die Entscheidung entweder jüdisch-weisheitlich oder philosophisch zu
plakativ ist. Selbst wenn im paulinischen Denken die jüdisch-weisheitlichen Ka-
tegorien leitend sind, werden diese von einem heidnischen Publikum nicht unbe-
dingt als solche wahrgenommen. Zudem wird dadurch nicht ausgeschlossen,
dass Paulus im Rahmen seiner jüdischen Argumentation bewusst philosophische
Fragestellungen aufgreift.
139
429 Zum Zusammenhang von 2,1-12 vgl. insbesondere Holtz, 1Thess, 65f., Müller,
1Thess, 121f.
430 Vgl. Malherbe, 1Thess 135 mit Verweis auf Lukian, Hermotimus, 73-74, für die
Verwendung von ei[sodo". Dort auch weitere Belege.
431 Plutarch, Symp. 2,632 E; Diog. Laertius, Vit.Phil. 6,86.
432 Freilich sind diese Leiderfahrungen, die durch propaqovnte" kai; uJbrisqevnte"
ausgedrückt werden, nicht näher zu spezifizieren, zu übersetzen etwa mit
Vorleiden und Misshandlungen. Nach Malherbe ist uJbrisqevnte" in Verbindung
mit der Verwendung bei Dion zu bringen (s.o.), wenn die Auseinandersetzung
mit der Menge für Paulus bittere Realität geworden zu sein scheint. Die sog.
„Vorleiden“ (pro-paqovnte") sind evtl. am besten unter Einbeziehung von Apg
16,22.24 oder Phil 1,30 in Form von Gefängnisstrafen oder Auspeitschungen zu
verstehen, vgl. hierzu Müller 1Thess 124.
433 Müller, 1Thess 124: „Von den 18 ntl. Belegen des Begriffs 'kenos' kommt mehr
als die Hälfte bei Paulus vor, sie gehen meist auf LXX-Sprache zurück und
müssen differenziert übersetzt werden.“
141
darauf hin, dass sie standhaft bleiben und sich auch nicht vor weiteren
Verfolgungen fürchten.447 Es betont ihren Ansatz gerade im Gegenzug
zu den Verfolgungen in Philippi.448
Zusammenfassend lässt sich sagen: der Eingang der Missionare
war von Erfolg gekrönt, denn der Kontakt zur Gemeinde wurde herge-
stellt. Dabei wurde allerdings nicht nur der Erfolg an sich charakteri-
siert, sondern zugleich die Art und Weise des Auftretens als richtig le-
gitimiert.
Nach der ei[sodo" wird die paravklhsi" der Apostel, wie Gebauer
meint, beschrieben, was zunächst „nichts anderes als die Verkündi-
gung der Missionsbotschaft“449 meint. Allerdings weist Gebauer zu-
gleich darauf hin, dass der Aspekt der Zuwendung mitzudenken sei,
und so charakterisiert Paulus vielleicht schon im Vorgriff auf die be-
sondere Zuwendung, die in der Familienmetaphorik vertieft zur Gel-
tung kommen wird, seine Verkündigung als Zuspruch. Paulus hat nur
Erfolg, wenn sein Missionswerk wirklich Bestand hat, und deswegen
sorgt er sich auch weiter um die Thessalonicher. Die Zuwendung ist
nicht rhetorisches Mittel, sondern ehrlich gemeint.450
Wieder sieht sich Paulus genötigt, diesen Zuspruch antithetisch
näher zu beschreiben. Sein Zuspruch geschieht deswegen auch nicht
aus Betrug, Böswilligkeit (bzw. schmutziger Gesinnung) 451 oder gar
List (oujk ejk plavnh" oujde; ejx ajkaqarsiva" oujde; ejn dovlw/ )452, sondern
die Missionare sprechen so, wie sie von Gott für Wert befunden
wurden (kaqw;" dedokimavsmeqa uJpo; tou' qeou' pisteuqh'nai to; euj -
aggevlion ou{tw" lalou'men). Es läuft auf den Gegensatz hinaus, Gott
447 Vgl. zur Stelle Müller, 125. Zur Wettkampfmetaphorik im Allgemeinen vgl.
Poplutz, Athlet, insbesondere 230-234 (zur Stelle); Schwankl, Lauft.
448 So auch Haufe, 1Thess, 35.
449 Gebauer, Paulus, 95.
450 Vgl. Gebauer, Paulus, 95. Nach Schmitz, ThWNT V, 792, handelt es sich um
die „werbende Heilsverkündigung bei der Predigt.“
451 Mit Holtz, 1Thess, 71, ist darauf hinzuweisen, dass ajkarqasiva in diesem
Zusammenhang etwas weiter gefasst werden muss als sonst bei Paulus oder im
hellenistischen Judentum, da es dort immer sexuell konnotiert ist. Auch in
1Thess 4,1 wird es allgemeiner, zur zusammenfassenden Charakterisierung der
„heidnischen Hauptlaster, Unzucht und Habsucht“ verwendet. So könne man
etwa „schmutzige Gesinnung“ o.ä. als Bedeutung annehmen.
452 Wie bereits erwähnt konnte Malherbe, Nurse, diese Begriffe eindeutig der
griechischen Popularphilosophie zuweisen.
144
453 Nach Grundmann, ThWNT, 259, ist dokimavzein „in der Bedeutung prüfen ...
terminus technicus für die amtliche Prüfung, die veranstaltet wird,“ (vgl. etwa
Xenophon Mem III 5,20; Platon, Nomoi VI, 754a ff.), kann aber auch auf die
Bewährung nach Erprobung anspielen (z.B. Xenophon Mem I 2,42).
454 ajnqrwpavresko" ist einzig im Bibelgriechischen verwendet. Vgl. Holtz, 1Thess
73 mit Verweis auf Ps 52,6; PsSal 4,8.10.21; Kol 3,22; Eph 6,6.
455 Vgl. z.B. Gen 5,22; 6,2; Ps 25,3; 114,9; [mehr]; für den hellenistischen Kontext
vgl. Epiktet, discourse 1.30.1, Dion von Prusa or. 12,1ff; 33,3.13ff.
456 Vgl. Dion von Prusa, Or. 34.31-33; 66.26; Ps-Crates, Ep. 35.2; Ps.-Diogenes,
Ep. 11.
457 Holtz, 1Thess, 74 mit Verweis auf Jer 11,20 und Ps 16,3.
458 Vgl. hierzu auch Best, 1Thess, 97.
145
kann in den Negativreihen der VV. 5 und 6 gesehen werden, die aus-
führlich darauf eingehen, wozu eine falsch verstandene Autorität bei
Paulus hätte führen können.
Im Einzelnen genannt sind Schmeichelrede (kolakeiva)459, Hab-
gier (pleonexiva)460 und Streben nach Ruhm (zhtou'nte" ... dovxan)461
gegenüber anderen Menschen, letztlich alles Vorwürfe, die den Apos-
teln gemacht werden könnten, wenn sie nicht bewusst ihre Autorität
außen vor gelassen hätten. Die dovxa darf deswegen nicht erstrebt wer-
den, weil der Begriff in 1Thess 2,12 eindeutig für Gott reserviert ist.462
Besonderen Nachdruck verleiht Paulus seiner Aussage, indem er
nach dem zweiten Negativglied den Satz „Gott ist mein Zeuge“ beina-
he im Sinne einer Schwurformel einschiebt.463 Wichtig scheint es Pau-
lus auch hier wieder zu sein, darauf hinzuweisen, dass die apostolische
Autorität immer wieder von Gott ausgeht. So wie er im Rahmen der
Antithesen der VV. 3-4 Gott als den Prüfenden beschrieben hat, so re-
kurriert hier Gott als Zeuge wieder auf denselben Sachverhalt. Ein be-
sonderes Signal setzt Paulus mit dem Wort mavrtu", da es in V. 10 er-
neut auftaucht, dort aber, um die Thessalonicher zusammen mit Gott
als Zeugen zu bezeichnen.
Der Akzent der Negativkette der VV. 5 und 6 liegt nach Ger-
464
ber eindeutig auf dem Aspekt des Unterhaltsverzichts der Apostel.
Dies werde in der Verwendung des Begriffes ejn bavrei deutlich, der
den eigentlichen Anspruch des Apostelbegriffes qualifiziert. Die mei-
459 Ein ntl. Hapaxlegomeneon, in der LXX ist nur kolakeuvw 1 Esdr 4,31; Hi
19,17; Sap 4,17; Bei Philo findet sich sowohl das Verb (LegGai 116; DetPotIns
21; SpecLeg I 60; MigrAbr 111), als auch das Substantiv (Sobr57; LegAll III;
Abr 126). Belege im Profangriechischen vgl. Malherbe, 1Thess, 142.
460 Nach Müller, 1Thess, 128, hat die Rede von der pleonexiva „im AT und in der
jüd. Ethik eine lange Vorgeschichte und ihren festen Platz in den ntl.
Lasterkatalogen. Der Begriff bezieht sich nicht nur auf Gier nach Geld und
Reichtum, sondern auch auf das unmoralische Streben nach Macht auf Kosten
der anderen. In der prophetischen Drohrede gegen gewaltsame Bereicherung,
Ausbeutung der Armen und Bestechung, hat der Begriff in der LXX seinen
festen Platz...“
461 Freilich war es ebenso ein wichtiger Begriff im jüdischen Denken, nicht den
eigenen Ruhm, den Selbstruhm in den Vordergrund zu stellen, etwas, was
nämlich nur Gott gebührt (kabod JHWH!), darf vom Menschen nicht bean-
sprucht werden. Im popularphilosophischen Umfeld vgl. etwa Dion von Prusa
or. 32,6.10.11; Lukian Peregrinus 13.
462 Vgl. zur Stelle.
463 So etwa auch Müller, 1Thess, 129. Rigaux, Saint Paul, 415 sowie von Dob-
schütz, 1Thess, 91 haben sicher nicht Recht, wenn sie meinen, er brauche in
puncto Habgier einen Zeugen.
464 Vgl. im Folgenden Gerber, Paulus, 280f.
146
sten Ausleger fassen ejn bavrei ei\nai als „gewichtiges Auftreten“ der
Apostel. Gerber wendet ein, dass dieser Bedeutungsgehalt im Griechi-
schen allerdings kaum belegt ist465 und im NT grundsätzlich im Sinne
einer Belastung negativ verwendet wird. Hingegen sei eindeutig beleg-
bar, dass sich das Wortfeld bavro", baruv", barei'n auf Belastungen fi-
nanzieller Natur beziehen würde.466 Den Zusammenhang mit dem Un-
terhaltsverzicht stellt dann eindeutig 1Thess 2,9 her, wo Paulus darauf
hinweist, selbst für seinen Lebensunterhalt gesorgt zu haben, um seine
Gemeindemitglieder nicht zu belasten. Ob allerdings der Begriff auch
in 2,7 ganz so eng ausgelegt werden muss, bleibt dahingestellt, dies
würde den Aussagegehalt der Negativreihe der VV. 5-6 zu sehr auf
den finanziellen Aspekt einschränken.467 Dass er mitgedacht werden
muss, geht eventuell aus 1 Kor 9,1-15 hervor, wo Paulus ebenfalls de-
monstrativ auf seine apostolische Autorität im Zusammenhang mit
dem Unterhaltsrecht verzichtet.
Wenn sich Paulus in 2,7 als Apostel Jesu Christi bezeichnet, be-
gründet er sein Auftreten eschatologisch mit der Retterfunktion Chris-
ti, wie sie in 1,10 inhaltlich deutlich wird. 468 Der Gegensatz zum ge-
wichtigen Auftreten der Apostel ist nhvpio", was wörtlich „kindlich“
bzw. „unmündig“ heißt.469 Paulus gebraucht das Wort in übertragenem
Sinne, wie es in der Armentheologie des Alten Testaments verwendet
wird. Demnach heißt nhvpio" demütig, bescheiden, anspruchslos.470
Die Apostel verzichten in diesem Sinne auf ihre (finanziellen) Vor-
rechte und begegnen den Thessalonichern ganz bescheiden auf glei-
cher Ebene.
465 Vgl. Gerber, 279 unter Verweis auf Schrenk, ThWNT I, 551-559.
466 So schon Strelan, Burden-Bearing, 268, Stegemann, Anlaß, 407f.; Merk, 1Thess
2,1-12, 397. Zur ntl. Verwendung in diesem Sinne vgl. 1Thess 2,9; 2 Kor 11,9;
2 Kor 12,16; 2 Thess 3,8.
467 So auch Wanamaker, 1Thess, 99. Gerber, Paulus, 279f., schränkt den Inhalt der
drei Antithesen tatsächlich im Sinne der finanziellen Belastung ein. Auch ist ihr
Hinweis auf die grundsätzliche negative Konnotation von baruv" nicht
ausgeschlossen, da Paulus den Begriff ja hinsichtlich der Gefahr negativer
Auslegung einsetzt. Würde er seine Autorität positiv herausstellen, dann sicher
nicht mit der Vokabel ejn bavrei. Spricht Paulus von seiner apostolischen
Vollmacht, verwendet er den Ausdruck ejxousiva, wie etwa in 2 Kor 13,10; Gal
2,7f. oder 1 Kor 9,1-15.
468 Dass er sich in einer Linie mit Christus sieht, wird auch durch die Verwendung
des Mimesis-Begriffes in 1,6 deutlich. Vgl. dazu Kap. 2.4.2.1.
469 Vgl. Légasse, EWNT II, 1142.
470 Vgl. Bertram, ThWNT IV, 913-925; W. Grundmann, NEIPIOI; Müller, 1Thess,
131.
147
(1) Zunächst fällt auf, dass das Bild zwischen der Amme (trofov")
und der Mutter (ta; eJauth;" tevkna) pendelt.
(2) Außerdem wird darauf hingewiesen, dass der Vergleich un-
glücklich gewählt ist471, da die Apostel ihren Unterhaltsverzicht
herausstellen, während die Amme für ihre Tätigkeit Geld ver-
langt.
(3) Schließlich muss auf der Sachebene geklärt werden, wie das
ntl. Hapaxlegomenon oJmeivromai zu übersetzen ist, dessen Be-
deutung umstritten ist.
Ein Problem besteht darin, dass das Wort ojmeirovmenoi kaum belegt ist, nur
in Ijob 3,21 LXX, Ps 63,2 Sym, in 1Thess 2,8 sowie einem Epigramm aus
471 So zumindest Merk, 1Thess 2,1-12, 398; Holtz, 1Thess, 83, der „Ungeschick-
lichkeit“ in der paulinischen Ausdrucksweise annimmt.
472 Nach § 101 Anm. 39, S. 78 ihrer Grammatik sei eine gemeinsame Etymologie
beider Wörter unmöglich.
473 Vgl. Gerber, Paulus, 286.
474 So übersetzt Bickmann, Kommunikation, 163.
475 Vgl. Baumert, JOmeirovmenoi.
148
dem 4. Jahrhundert. Sowohl Ijob 3,21 LXX, Ps 63,2 Sym, als auch 1Thess
2,8 bieten als alternative Lesart iJmeivromai, was mit „liebevolle Gesinnung
hegen“ oder „Sehnsucht haben“ übersetzt werden könnte, in allen vorliegen-
den Texten aber wenig Sinn zu ergeben scheint. Auch die ursprüngliche he-
bräische Textbasis hinter den atl. Stellen führt zu keiner sicheren Lösung.
Deshalb hat Baumert vorgeschlagen, ojmeivromai von meivromai her zu verste-
hen, was in der Grundbedeutung zwar „Anteil haben“, allerdings im Dialekt
auch „teilen“ oder „trennen“ bedeuten kann, wie er es beim Dichter Aratos
an zwei Stellen nachweist. Demnach wird ojmeivromai „gebildet aus dem
Grundwort meivresqai mit prothetischem o (ohne Aspiration), liegt seman-
tisch in der Linie von ‚teilen, trennen’ in passivischer Bedeutung und heißt
an unseren Belegstellen: ‚von jemandem oder von etwas (schicksalhaft) ge-
trennt werden, weggehalten werden’, und zwar von jemandem, zu dem man
gehört.“476
479 Gegen Holtz, 1Thess, 83; Müller, 1Thess, 131f.; Kuhn, Bedeutung, 344, die
einzig die Funktion des Stillens betonen.
480 Gerber, Paulus, verweist darauf, dass der Begriff tivtqh eindeutig auf die
Nähramme Bezug nehmen würde, während trofov" weiter zu fassen sei. Vgl.
Belege bei Herzog-Hauser, PRE 34,1491; Hopfner/Klauser RAC 1,381.
481 Vgl. dazu kritisch Gerber, Paulus, 284, die auf das ambivalente Ammenbild der
Antike hinweist. Dies weist letztlich nur nach, dass der Einflussbereich der
Amme auf die Kinder groß war. Ob Paulus deswegen das Ammenwesen kritisch
einschätzen musste, bleibt zu hinterfragen. Im Blick auf atl. Stellen kann man
evtl. annehmen, dass er das Bild übernommen hat, ohne die soziologischen
Aspekte bis ins Detail zu durchdenken.
482 Vgl. hierzu Gerber, Paulus, 283.
150
Der zweite Durchgang ist wesentlich knapper gestaltet als der erste.
Auffällig ist, dass keine Antithesen mehr verwendet werden. Im gan-
zen Abschnitt hat man außerdem den Eindruck, dass die Thessaloni-
cher ein höheres Niveau erreicht haben, dass also ein Lerneffekt nach-
vollziehbar wird: Geht es im ersten Fall um das Wissen über das da-
malige Geschehen (oi[date), das Vernunftbegriffe bemüht, die die Ar-
beit der Apostel als richtig erweisen soll, geht es im zweiten Fall um
die Darstellung der gemeinsamen Erinnerung an diese Zeit. Daher ist
es nicht mehr nötig antithetisch abzugrenzen, sondern aus dieser Sicht
zu berichten: die Thessalonicher erscheinen nunmehr auf der gleichen
Ebene. Sie müssen nicht mehr durch das Zeugnis Gottes von der
Rechtmäßigkeit des Tuns der Apostel überzeugt werden, sondern kön-
nen dies nun selbst richtig einschätzen, sie sind ebenso wie Gott Zeu-
gen des Tuns der Apostel. Daher kann sich Paulus letztlich auch kür-
zer fassen. Ebenso erscheint das Schüler-Lehrer-Verhältnis auf einer
neuen Ebene, nämlich im Verhältnis von Kindern zu ihrem Vater. Die-
ser Erkenntnisfortschritt soll im Folgenden analysiert werden.
483 Man könnte mit Guiterrez, Paternité, 97ff., die Apostel auf die Ammenfunktion
beschränken und die Mutterrolle auf Gott übertragen, da durch seinen Ruf zur
Erwählung die „Kinder“ erst zur Welt kommen, durch die Apostel nur mit der
Evangeliumsverkündigung genährt werden. Jedoch wäre dies eine Überinterpre-
tation, die wohl am Folgevergleich Vater-Kinder scheitert. Danach wird
deutlich, dass die Rolle Gottes die des Königs, nicht diejenige der Mutter sein
kann. Vgl. dazu unten.
151
(a) V.9
Paulus erinnert zunächst die Gemeinde an die Zeit der Mission. Der
Neueinsatz wird markiert durch mnhmoneuvete gavr, ajdelfoiv.484 Im
Mittelpunkt der Aussage in V. 9 steht wiederum das Verhältnis der
Missionare zu ihrem Evangelium. Diesmal greift Paulus nicht auf ab-
strakte Begriffe zurück, sondern wird ganz konkret: er verweist auf
seine finanzielle Ungebundenheit, da er beinahe rund um die Uhr gear-
beitet hat, um den Gemeindemitgliedern nicht finanziell zur Last zu
fallen. Dies drückt Paulus mit dem Verb ejpibarh'sai aus.485 Hier malt
er also inhaltlich das aus, was er in V. 7 noch antithetisch abstrakt be-
züglich seiner apostolischen Autorität ausgesagt hat.486
Seine finanzielle Unabhängigkeit ist Paulus während der Mission
überaus wichtig, wenn er auch immer wieder Unterstützungen erfahren
hat aus bereits existierenden Gemeinden. 487 Die Betonung des Unter-
haltsverzichts trifft man bei Paulus öfters an. 488 Dass er selbst für sich
sorgen konnte, erklärt sich aus seiner Biographie. Paulus war vor sei-
ner Berufung zum Heidenmissionar Pharisäer, zu deren Ethos es ge-
hörte, einen Beruf auszuüben.489 Dies kam ihm auf seinen Missionsrei-
sen stets zugute, und er konnte dadurch auch immer wieder auf seine
Glaubwürdigkeit verweisen. Eventuell kann man annehmen, dass Pau-
lus einen großen Teil seiner Mitglieder während der Arbeit gewinnen
konnte, indem er gleichzeitig missionierte.490
484 Anders Holtz, 1Thess, 85, der meint, die erneute Anrede sei kein Neueinstieg,
sondern würde der Aussage Nachdruck verleihen. Ähnlich Merk 399, 1Thess
2,1-12, der im Anschluss an Bultmanns Manuskript zum 1Thess meint: „Mit V.
9 hat der speziellere Gedankengang über den Unterhalt des Paulus seine
Rundung gefunden.“ Aber damit holt er zuviel aus den Aussagen und der
apostolischen Autorität, in überaus synchronem Paulusverständnis.
485 Nachdem schon für V.7 mit Stegemann und Gerber auf den möglichen
finanziellen Anhaltspunkt verwiesen wurde, wird an dieser Stelle der
Bezugspunkt klar.
486 Von daher ist die Gliederung, die Gerber vorschlägt, auch nicht ganz von der
Hand zu weisen. Wenn man durchgehend den Schwerpunkt auf der Aussage
bzgl. der apostolischen Autorität sehen will, lässt der Neueinsatz in V.9 die
gesamte Darstellung in einem neuen Licht erscheinen.
487 Außerdem ist daran zu erinnern, dass Paulus finanzielle Hilfen aus Philippi in
Anspruch genommen hat (Phil 4,16).
488 Vgl. neben 1Thess 2,9 auch 1 Kor 9; 2 Kor 11,7-11.
489 Vgl. hierzu Hengel, Der vorchristliche Paulus, 208-212.
490 Dies legt zumindest die Interpretation von Hock, Workshop, 442f. nahe, der
ejrgazovmenoi als modales Partizip auffasst: „Grammatically, this verse can be
read as evidence for Paul preaching while working, for the participle 'working'
is circumstantial, that is, it defines the circumstances under which the preaching
152
(b) V.10
was delivered.“
491 Im NT außerdem Lk 1,75; Eph 4,24; Tit 1,8, in der LXX nie.
492 Vgl. Malherbe, 1Thess, 150 mit Verweis auf Platon, Gorgias 507B; Polybius,
Hist. 22.10.8; Dion von Prusa, Or. 69,2; PParis 63. Zur Zusammenstellung eines
dieser Adverbien mit a[mempto" vgl. Holtz, 1Thess, 88, Anm. 385.
493 Gerber, Paulus, 295.
153
sein Königtum beruft, vorzüglich mit dem Vergleich des Paulus mit
seiner Gemeinde als eines Vaters zu seinen Kindern zusammenpasst:
„An Stelle der Gott-Vater-Metaphorik steht hier das Bild eines hierar-
chischen Imperiums, in dem Gemeinde, Missionare und Gott einen je
eigenen Platz haben – jedoch kein römischer Potentat.“ 500 In diesem
von der gesellschaftlichen Realität enthobenen Bild manifestiert sich
also bereits das Reich Gottes, das eigentlich erst bei der Parusie des
Herrn vollendet wird. Die von Gott Berufenen befinden sich bei einer
dem Ruf gemäßen Lebensführung bereits im Heilszustand und haben
deshalb den Zorn nicht mehr zu fürchten.501 Allerdings ist mit Schwe-
mer502 darauf hinzuweisen, dass die Vorstellung der Basileia nicht prä-
sentisch aufzufassen ist, sondern paränetisch-eschatologisch sich erst
bei der Parusie verwirklichen würde.
Damit wird zudem klar, dass sich Paulus jetzt eindeutig in bibli-
schen Sprachmustern bewegt. Die im ersten Teil virulenten rhetorisch-
philosophischen Bezüge werden im zweiten Teil ganz eindeutig auf
die alttestamentliche Verheißung hin ausgelegt.503 Ähnlich wird deut-
lich, dass auch das Bild des väterlichen Lehrers eindeutig jüdische Im-
plikationen trägt. Denn bei den Griechen trägt zwar ebenfalls der Vater
die Verantwortung für die Erziehung, jedoch wurde dort die Bildung
schon damals sehr früh in professionelle Hände gegeben,504 während
sich im Alten Testament die Forderung an den Vater findet, für die
religiöse Unterweisung zu sorgen.505 Diese väterliche Sorge um den
Glauben der Kinder bestimmt also zum Zeitpunkt des Briefes das Ver-
hältnis zwischen Paulus und seiner Gemeinde. Davon ausgehend soll
schließlich zusammenfassend die Intention des Abschnitts erneut be-
trachtet werden.
500 Gerber, Paulus, 299. Mit Yeo, Election, 531f. verweist sie zugleich auf mögli-
che politische Implikationen, die anderen Machthabern außer Gott keinen Raum
geben wollen.
501 Auch Kraus, Volk Gottes, 138, weist auf die präsentische Komponente der
Gottesherrschaft hin und versteht die Berufung zur basileiva als Zugehörigkeit
zum Volk Gottes und sieht darin „sachlich-inhaltlich eine Gleichstellung der
zum Glauben an Jesus gekommenen Thessalonicher mit dem Gottesvolk.“
502 Schwemer, Gott als König, 117f. Siehe auch Hengel/Schwemer, Königsherr-
schaft, 18.
503 Freilich sind die Vorstellungen des Wandelns auf Gottes Wegen auch
philosophischen Texten nicht gänzlich unbekannt, jedoch geht Paulus in seiner
Sprache eindeutig über diesen Bereich hinaus.
504 Vgl. hierzu Müller, Mitte, 89ff.; Eyben, Fathers, 138ff.
505 Vgl. Dtn 4,9; 6,7.20-25; 11,19 – die Sorge um die Vermittlung der 10 Gebote.
Vgl. auch 2 Makk 7; 4 Makk 18,10ff. Gen 49,1; 1 Kön 2,1; Tob 14,1; TestXII;
vgl. zur Argumentation ausführlich Gerber, Paulus, 302.
155
2.3.4.3 Zusammenfassung
Im Rückblick auf die Verse 1-12 des zweiten Kapitels wird klar, dass
es nicht sinnvoll ist, den Textzusammenhang als Apologie zu deuten.
Zumindest bezieht sich der Text an keiner Stelle auf konkrete Gegner.
Allenfalls kann die antithetische Struktur der VV. 1-8 deutlich heraus-
stellen, dass die Verkündigung des Paulus nicht zu verwechseln ist mit
der Verkündigung von Scharlatanen oder Predigern, die nur auf den ei-
genen Profit bedacht sind. In seiner Abgrenzung geht Paulus so weit,
darauf hinzuweisen, dass es ihm letztlich gar nicht um die Verfolgung
seiner Interessen, sondern derjenigen Gottes geht. Er definiert seine ei-
gene Aufgabe als eine Vermittlung des Evangeliums Gottes in zwei
Phasen. In der ersten Phase geht es ihm um die grundsätzliche Unter-
wiesung und die Vermittlung von Grundlagenwissen des Glaubens. In
dieser Phase grenzt er sich eindeutig von anderen Lehrenden ab, um zu
verdeutlichen, dass sein Zugang zur Gemeinde mit der Legitimation
durch Gott steht und fällt. In einer zweiten Phase, nachdem die Ver-
mittlung der entscheidenden Glaubensinhalte bereits abgeschlossen zu
sein scheint, macht er seine weitergehende Verantwortung deutlich, in-
dem er die Gemeinde weiterhin in ihrem Glaubensvollzug unterstützt
und nicht allein lässt. Damit zeigt er auf, dass das von ihm verkündete
Evangelium nicht einfach mit philosophischen Lehren verglichen wer-
den kann, die man durch die Verkündigung möglichst überall bekannt
machen will, sondern dass zudem ein existentieller Bezug dahinter-
steckt, der neben der Vermittlung für das Bleiben im Glauben die Ver-
antwortung trägt.
Durch die Argumentation auf zwei Ebenen wird ein Erkenntnis-
fortschritt thematisiert. Die Aufgabe der Apostel ist im ersten Fall mit
derjenigen einer Amme verglichen, im zweiten mit derjenigen des Va-
ters. Die Gemeindemitglieder machen in diesem Rahmen die Entwick-
lung von Säuglingen zu Kindern durch. Paulus macht innerhalb des
Textstücks also seine Funktion als der eines Lehrers deutlich, der eine
sehr tiefe Beziehung zur Gemeinde aufbauen konnte und auch weiter
für sie Verantwortung trägt. Letztlich wird man Bickmann zustimmen
können, dass Paulus dem Bild eines jüdischen Weisheitslehrers 506 eher
gerecht wird als dem eines philosophischen Wanderpredigers. Aller-
506 Vgl. zur Einschätzung oben, Kapitel 2.3.2. Vgl. hierzu auch die Hinweise bei
Hoppe, Verkündiger, 334, und Vos, Response, 84-87 auf die Analogien aus der
biblisch-prophetischen Tradition, die durch die Verknüpfung von 2,1-12 mit
2,13-16 deutlich hervortreten.
156
dings muss darauf hingewiesen werden, dass Paulus sehr wohl mit bei-
den Kategorien spielt, da diese Unterscheidung erst im Abschnitt 9-12
eindeutig zum Tragen kommt. In der Erstbegegnung mit der Gemeinde
ist Paulus von anderen Wanderpredigern zunächst nur insofern zu un-
terscheiden, als seine Lehre sich positiv von den Lehren der anderen
abhebt.507 Erst nach der erfolgreichen Unterweisung und der Übernah-
me der christlichen Lebensform erkennen die Thessalonicher die gan-
ze Tragweite des Glaubens und somit die Tatsache, dass es beim
Evangelium nicht um eine alternative philosophische Lehre geht, son-
dern um einen existentiellen Glaubensvollzug. Der Erkenntniszuwachs
lässt sich durch folgende Übersicht verdeutlichen:
507 Und deswegen schießt Bickmann, Kommunikation, 185-188, m.E. ein wenig
über das Ziel hinaus, wenn sie unbedingt die Belege für den philosophischen
Hintergrund im ersten Teil bei Malherbe zu widerlegen versucht.
508 Bickmann, Kommunikation, 210.211 bringt diesen Erkenntnissprung sehr schön
zur Geltung, wenn sie den Abschnitt 2,1-18 mit „Die Rolle des Lehrers
entwerfen“ und 2,9-12 mit „Das Handeln des Lehrers erinnern“ betitelt.
157
...
Nachdem die beiden Stellen interpretiert wurden, die vom ei[sodo" der
Apostel und ihrer Verkündigung in Thessalonich gehandelt haben, soll
nun die Rahmung dieser beiden Stellen untersucht werden, die durch
die Stichwortverknüpfung des beidemal verwendeten Begriffes der
mimhtaiv gegeben ist. Auch innerhalb dieser beiden Textstücke sind et-
liche Bezüge zu erkennen, die aufeinander verweisen. Für eine erste
Orientierung dienen daher die Hervorhebungen im obigen Text. Mit
dem Begriff mimhtaiv kann ähnlich wie mit der ei[sodo" die Problema-
tik von zwei Seiten her betrachtet werden. Thematisiert wird nicht die
Arbeit der Missionare, sondern die Reaktion der Thessalonicher auf
deren Arbeit. Um die Eruierung dieses Zusammenhangs soll es im Fol-
genden vornehmlich gehen. Die bisherige Forschung hat diese Verbin-
159
dungslinie bisher eher zurückhaltend oder gar nicht interpretiert. 510 Na-
türlich wird bestätigt, dass der Begriff mimhtaiv an zwei Stellen ver-
wendet wird und diese wohl auch aufeinander verweisen würden, je-
doch wurde der Zusammenhang mit den beiden ei[sodo"-Stellen in der
Forschung kaum berücksichtigt, was wohl daran liegt, dass sich die In-
terpretation der Verse 2,14-16 sehr stark verselbständigt hat. Das
Hauptaugenmerk gilt dabei der Frage, was Paulus zu dieser – für Hö-
rer des 21. Jahrhunderts – antisemitisch erscheinenden Aussage veran-
lasst hat, bzw. der Klärung des Sachverhalts, dass die Kategorie „anti-
semitisch“ für die paulinische Äußerung unpassend ist. 511 In diesem
Zusammenhang soll gezeigt werden, dass eine zufriedenstellende Lö-
sung allein durch die Auswertung der parallelen Komposition des Zu-
sammenhangs der Verse 1,6-8[.9-10].[1,1-12.]13-16 möglich er-
scheint, um die Aussage des Paulus ins rechte Licht rücken zu kön-
510 Obwohl schon Dibelius, 1Thess, 13 auf den planvollen Aufbau der ersten beiden
Kapitel des 1Thess hingewiesen hat. Ähnlich Schulz, Nachfolge, 315. Vgl. hier-
zu auch die Hinweise bei Jewett, Correspondence, 220f.; Bickmann, Kommuni-
kation, 126f.; Merk, 1Thess 2,1-12, 385-387; Hoppe, Verkündiger, 325f.
511 Auf absolutes Unverständnis muss die Forderung Goldhagens, Kirche, 360-363
treffen, Passagen, die man antisemitisch verstehen könnte, aus der Bibel zu
entfernen. „Wer geltend macht, dass die katholische Kirche ihre Bibel wegen
des kanonischen Status nicht verändern dürfe oder solle, müsste imstande sein
zu behaupten, dass der Schaden, den der Text durch den darin verbreiteten
Antisemitismus hervorruft, nicht so groß sei, dass dadurch die Entfernung der
textlichen Ursache für diesen Schaden gerechtfertigt wäre. Angesichts der
Größe des Schadens und vor dem Hintergrund des moralischen Prinzips (...),
anderen keinen ungerechten Schaden zuzufügen bzw. an anderen keine Sünde
zu begehen, fällt es schwer, eine Behauptung wie diese zu verteidigen“ (361).
Selbst die historisch-kritische Aufarbeitung, die die Aussagen in ihrem Kontext
zu erklären versucht, erscheint ihm nicht ausreichend. Denn der „naive“
Bibelleser hätte kaum Möglichkeiten, diese Kritik nachzuvollziehen. So erklärt
Goldhagen, Kirche, 354: „Aber die Kirche verbreitet diese [antisemitischen]
Anwürfe an jedem Tag, an dem Katholiken ihre Bibel lesen. Das ist um so
betrüblicher, als so viele derer, die ein Auge zudrücken und solche schädlichen
Lehren sogar verteidigen, Männer und Frauen guten Willens sind, die ihre
Leben der Güte geweiht haben, indem sie sich in den Dienst ihrer Kirche und
Gottes stellten.“ Damit fordert Goldhagen aber die Veränderung historischer
Quellen, die auf den ersten Blick dem jüdisch-christlichen Verhältnis
Konfliktpotential entziehen würde. Doch damit würden eben auch historische
Zusammenhänge, die durch die Auswertung dieser problematischen Stellen erst
erschlossen werden können, einem harmonisierenden Anliegen geopfert werden.
Goldhagens Ansinnen ist deshalb in aller Schärfe abzulehnen. Allerdings stehen
Kirche und historische Wissenschaft in der Pflicht, unermüdlich auf die
Problematik dieser leicht misszuverstehenden Texte hinzuweisen und ihr
Entstehen zu erklären.
160
nen.512 Der doppelte Verweis auf die mimhtaiv soll genau wie die dop-
pelte Schilderung der ei[sodo" nicht jeweils etwas anderes aussagen,
sondern dasselbe von einer anderen Perspektive aus darstellen, um
sich zu einer vollständigen Aussage zusammenzufügen. Dies soll im
Folgenden näher erläutert werden.
Nachdem der Begriff ei[sodo" den Eingang der Apostel auf der narrati-
ven Ebene zum einen aus der Perspektive der Glaubenden in Makedo-
nien und Achaja dargestellt hat, zum anderen aus der Sicht, wie die
Thessalonicher selbst die Apostel bei der Mission erlebt haben, gibt
der Begriff mimhtaiv gewissermaßen die „Antwort“ auf die ei[sodo" in
zwei unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen. Die erste
Verwendung in 1,6-8 verweist direkt auf die Verknüpfung mit der Ein-
schätzung der ei[sodo" in 1,9f. Dort wird die Nachahmung der Apostel
und Christi durch die Thessalonicher begründet durch den Verweis auf
die Erfahrbarkeit ihres Glaubens in Makedonien und Achaja und an-
deutungsweise in der gesamten Ökumene (vgl. 1,8). Die zweite Stelle
legt das Augenmerk nicht so sehr auf die aktive Form des Christseins
wie 1,6, sondern auf die passive Seite. Im Prinzip erkennen die Apos-
tel in den Anfeindungen und Leiderfahrungen, denen die Thessaloni-
cher infolge ihrer Bekehrung ausgesetzt sind, ein wichtiges Identitäts-
kriterium, das auch bei den palästinischen Gemeinden zu beobachten
ist und somit wohl zu einem entscheidenden Kriterium christlicher
Existenz überhaupt wird.513
512 Hoppe, Topos, 536ff.; ders., Verkündiger, 332-336 weist ebenfalls darauf hin,
dass zwar die Isolierung der Verse 2,1-12 und 2,13-16 sinnvoll ist, allerdings für
die inhaltliche Durchdringung nur in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit zu
verstehen sind. 2,13-16 kann demnach nur unter Einbeziehung des Kontextes
1,2-10.2,1-12 verstanden werden.
513 Die Leiderfahrungen scheinen beinahe denknotwendig zum Christentum
dazuzugehören. So bezeichnet schon von Dobschütz, 1Thess, 108, das Leid als
„Zeichen des Christenstandes.“
161
514 Vgl. Michaelis, ThWNT IV, 665. Die Stelle Ps 30,7 B ist als Schreibfehler
(ejmivmhsa" anstelle von ejmivshsa") zu vernachlässigen.
515 Betz, Nachahmung, 85 interpretiert das Schweigen der LXX als bewusste Zu-
rückhaltung gegenüber einer vom heidnischen Kult überbeanspruchten Termi-
nologie.
162
Ethik der Antike eine so große Rolle spielen sollte, seinen Ursprung
im kultischen Bereich hatte521 und eventuell als „kultische Aufführung
eines Mythos“522 verstanden werden muss, die in engem Zusam-
menhang mit dem Dionysos-Kult zu stehen scheint.523 Da das my-
thische Denken für die Theoretisierung der griechischen Philosophen
von großer Bedeutung ist, ist es auch nicht verwunderlich, dass der
Begriff in der Philosophie bald sehr wichtig zu werden scheint. 524 Las-
sen sich erste Vorstellungen bereits bei den Vorsokratikern ent-
decken525, gewinnt die Rede von der Mimesis im Sinne einer sittlichen
Angleichung an Gott insbesondere in Platons Ideenlehre auf unter-
schiedlichsten Ebenen an Kontur. In Theaetet 176b beschreibt Sokra-
tes das Tugendstreben als Möglichkeit, dem Übel der Welt zu entflie-
hen (fugh; de; oJmoivwsi" qew'/ kata; to; dunatovn ). Denn das Tugend-
streben ist der Versuch des Menschen, Gott ähnlich zu werden, und bei
Gott wird das Gute nicht durch das Böse bedroht. 526 Zugleich aber
wird durch kata; to; dunatovn angezeigt, dass diese Angleichung des
Menschen an Gott nur bedingt funktionieren kann, da der Abstand
zwischen Mensch und Gott unüberwindlich zu sein scheint. 527 Soll der
Mensch im Theaetet gerecht (divkaion) werden, soll er nach Nomoi IV
715e-716e durch Nachahmung Gottes besonnen (sofrw'n) werden. In
Politeia X 613a beschreibt Platon jegliches Tugendstreben als Nach-
ahmung Gottes.
Besondere Bedeutung erlangt der Begriff der Nachahmung in der
platonischen Kosmologie. Im Mittelpunkt dieses Denkens steht die
Gottheit bzw. der Demiurg, der die Welt als sein Abbild geschaffen
hat.528 Von daher erhält der Begriff der mivmhsi" die Bedeutung, die
unterschiedlichen kosmologischen Relationen und Abstufungen zu be-
521 Vgl. hierzu Cornford, Mysticism, 137ff; Diès, Platon, 593ff.; Gulin, Nachfolge,
45-47. „Im Kult ahmte man Gott nach, imitierte ihn, und dabei hatte man das
Gefühl, wie ein Gott zu werden“ (46) ; Nielen, Kultsprache, 59ff.
522 Betz, Nachahmung, 50 mit Verweis auf Plutarch de def. orac. 418 A (mivmhma);
Strabo IX, 422; Aischylos, Fragment 71 Mette (=Fragment 57 Nauck, 2. Aufl.)
aus Strabo X, 470.
523 So Betz, Nachahmung, 59. Vgl. zum Ursprung der Mimesisvorstellung Betz,
Nachahmung 48-61 und zur weiteren Verbreitung 61-84. Dort finden sich
weitere Belege.
524 Vgl. Betz, Nachahmung 107f.
525 Vgl. den Überblick bei Betz, Nachahmung, 107-111.
526 Man beachte die Überlegungen in 2.2.2.4 zur Einschätzung der ei[dwla als
Trugbilder, die die negative Charakterisierung kenntlich machen.
527 So auch Schulz, Nachfolge, 108.
528 Zur kosmologischen Interpretation vgl. insbesondere Betz,Nachahmung 113-
120.
164
schreiben – so wie der Kosmos das Abbild des Demiurgen ist und ver-
sucht, ihn nachzuahmen, so ist die Wirklichkeit die Abbildung der
Ideen, das Sichtbare die Nachahmung des Unsichtbaren, etc. Eine be-
sondere Stellung nimmt der Mensch ein, der die Schöpfungsordnung
des Demiurgen begreifen kann und deswegen versucht, ihn nachzuah-
men. Dies allerdings geht alleine durch die Mittel der Philosophie
bzw. des Denkens, weil damit die Wahrheit erkannt werden kann.
Höhepunkt dieses Strebens ist die Schau des Guten.
Der Begriff der mivmhsi" ist sowohl positiv als auch negativ kon-
notiert. Positiv ist er in seiner Ausrichtung, die immer auf etwas Hö-
heres verweist, negativ dadurch, dass in ihm die das Bewusstsein der
Unerreichbarkeit des Vorbildes (Gott!) immer schon mit angelegt
ist.529 So wird er je nach Aussageabsicht auch positiv oder negativ ein-
gesetzt.
Platons Mimesisverständnis wurde in der philosophischen Tradi-
tion breit rezipiert und weiterentwickelt. Die Mimesisvorstellung war
nicht nur auf die Nachahmung Gottes ausgerichtet. Auch wichtige Per-
sonen konnten als bedeutende Vorbilder, die man nachahmen sollte,
dienen. Dies wird besonders für die paulinische Verwendung interes-
sant, da dieser sich selbst immer wieder als Vorbild, wie man Christus
nachahmen solle, in den Mittelpunkt stellt. Ähnliche Aussagen finden
wir bei vielen Philosophen und Rhetorikern, die auf bedeutende Perso-
nen oder auf sich selbst als Beispiele verweisen, um nachgeahmt zu
werden.530 Berühmt ist etwa der ideale Mensch, den die Stoiker erwar-
ten, der allerdings nur alle 500 Jahre „wie der Phönix aus der Asche
auftaucht.“531
529 Daher können die Abbilder auch abschätzig betrachtet werden, vgl. etwa die
negativen Äußerungen in Platons Politeia gegenüber den Malern und Dichtern
(Belege bei Michaelis, ThWNT IV, 662f.).
530 Vgl. zum Zusamenhang Fiore, Example, 33-35.177 mit Verweis auf die
wichtigsten Stellen der antiken Literatur: Dion von Prusa or. 55.4-5; 18.21;
Epictetus Diss. 3.21.1-6; Seneca Ep. 94.49; Plutarch, De se ipsum citro inv.
544D, 15-F fin; Ps-Diogenes Ep. 15 (108.17); 18 (110.17); Isocrates Adv.
sophist. 17-18; Xenophon Mem. 1.6.1; Plato Symp. 209 B-C; Seneca Ep. 6.5;
Ps-Diogenes Ep. 33 (140.31); 15 (108.14); 38 (160.28); 46(176.7); Isocrates
Antid. 239,237.
531 Vgl. Malherbe, 1Thess, 126 mit Verweis auf Seneca, Ep. 42,1. Vgl. hierzu auch
das umfangreiche Material bei Fiore, Example, 26-44 („Example in rhetorical
theory, education and literature“), 45-78 („The use of example in the kingship
literature of Isocrates, Plutarch and Dio Chrysostom“), 79-100 („Example in
epistolary exhortation“), 101-163 („Example in the Socratic letters“).
165
sicht ist.535 Eine letzte Entscheidung ist kaum möglich. Man kann nur
festhalten – Paulus spricht genau da von der Nachahmung, wo in den
Evangelien von der Nachfolge die Rede ist.
535 Eingehende Analysen zur Problematik finden sich bei Schulz, Nachfolge, 332-
335; Betz, Nachahmung, 137-142.
536 Vgl. hierzu u.a. Müller, 1Thess, 110: „Die Bedrängnis, von der auch 2,14 redet,
bestand sicher in all den leidvollen Erfahrungen, die zunächst Paulus selbst in
seinen Verfolgungen durch jüd. Mitbürger wie durch heidnische Behörden und
Gegner machte, und die nun die Thessalonicher in ihrem heidnischen Milieu in
ähnlicher Weise gemacht haben.“ Ähnlich Holtz, 1Thess, 49; Tannehill, Dying,
100-109; Haufe, 1Thess, 27; Schlier, ThWNT III, 146; Dibelius, 1Thess, 5,
überaus pragmatisch: „Von der thlipsis erzählt 2,14.“
537 Der Unterschied zwischen Vorbild und Abbild ist in diesem Fall nicht in einer
167
2.4.1.4 Gegenüberstellung
Der zunächst parallele Aufbau von 1,6-8 und 2,14-16 wird am Schluss
umgeformt in eine Gegenüberstellung von den Thessalonichern und
den Juden. 1,8 endet mit der Einschätzung, dass nichts mehr zu sagen
ist; die Leiderfahrungen aus 2,14 bringen Paulus dazu, sehr wohl
etwas zu sagen, aber nicht zu den Thessalonichern, sondern zu den
Juden, die nicht wie die Thessalonicher den Glauben angenommen
haben, sondern sich trotz des Heilsangebotes einem Anschluss
verweigern und sogar aktiv gegen die Verbreitung dieses
Heilsangebotes agitieren.538
2.4.2 Einzelanalysen
(a) Erstes Kriterium für die Nachahmung: „indem ihr annahmt das
Wort in viel Bedrängnis mit Freude heiligen Geistes“
Die Annahme des Wortes geschieht aus freien Stücken, wird den
Thessalonichern also nicht aufgezwungen, wie das Partizip im Aorist
(dexavmenoi)539 ausdrückt. Die Charakterisierung dieser Annahme mit
„in viel Bedrängnis mit Freude heiligen Geistes“ wird zum ersten,
grundlegenden Kriterium der Nachahmung.540 Es handelt sich bei der
Nachahmung also zunächst um die Bestätigung des Angebots der
Apostel in 1,5 durch die Antwort der Thessalonicher in 1,6. Genauso
wie die Apostel bei der Verkündigung vom Heiligen Geist unterstützt
werden, so unterstützt der Geist auch die Annahme des Wortes durch
die Thessalonicher. Die Apostel werden durch den heiligen Geist legi-
timiert, und durch die Geistwirkung erscheint das Evangelium den
Thessalonichern glaubwürdig, selbst wenn die qli'yi" dieser Annahme
entgegenstehen sollte.
Die Rede von der qli'yi" ist im Neuen Testament weit verbreitet.
Besonders bei Paulus kommt dem Begriff eine tragende Rolle zu. Ur-
sprünglich leitet sich qli'yi" von qlibei'n, also „drücken“, „quetschen“,
„reiben“ ab, es kann allerdings in übertragenem Sinne auch „be-
drängen“, „bedrücken“, „betrüben“ bedeuten.541 Im biblischen Anwen-
dungsbereich trifft man weitestgehend auf den übertragenen Gebrauch,
der allerdings theologisch mit großem Bedeutungsumfang verwendet
wird. So werden unterschiedliche hebräische Begriffe in der LXX mit
548 Vgl. die obigen Ausführungen zum douleuvein in der Auslegung von 1,9f.
549 Von Dobschütz, 73-74. Nicht gemeint sein könne „die qli'yi" der Apostel (s. zu
2,2; 3,3), durch die sich die Thessalonicher nicht zurückschrecken ließen“ (74).
550 Vgl. Malherbe, Paul and the Thessalonians, 48. Hiergegen wendet sich Haufe,
1Thess, 27, der meint, dass die „Freude“ sich auf die Gewissheit der Erwählung
beziehen würde und deshalb innere Bedrängnisse ausgeschlossen seien.
Allerdings ist diese Ansicht alles andere als schlüssig, schließt doch die durch
den Geist gewirkte Freude nicht innere Spannungen im Gefühlsleben der
Thessalonicher aus, zumal die Geistwirkung diesbezüglich als Hilfestellung
interpretiert werden kann.
551 Bei Epiktet spielt der Begriff qli'yi" eine wichtige Rolle und steht für die
Widrigkeiten bzw. Bedrängnisse des Lebens, die es philosophisch zu überwin-
den gilt, vgl. Dissertationes 1,25,17; 1,25,28; 1,27,2f; 3,13,8; 4,1,45. Vgl. hierzu
Schlier, ThWNT III, 139.
552 Vgl. Malherbe, 1Thess, 128 mit Verweis auf JosAs 12,11; 13,11. Beide Stellen
veranschaulichen eindrucksvoll die Sorgen und Nöte Aseneths, als sie erkennt,
dass sie ihr ganzes bisheriges Leben die falschen Götter verehrt hat.
553 Müller, 1Thess. Ähnlich Rigaux, Saint Paul, 383; von Dobschütz, 1Thess, 74;
Holtz, 1Thess, 49.
171
sie aus freien Stücken das Wort annehmen, unterstützt sie der Geist bei
diesem Prozess. Zugleich hilft er, die qlivyei", welcher Art sie nun im-
mer auch sein mögen, zu kompensieren.554
Der sog. „Topos von der Freude im Leid“ 555 ist bereits im Juden-
tum häufig belegt und wurde vom frühen Christentum bereitwillig re-
zipiert und ausgebaut556. Die Verwendung an dieser Stelle will die ein-
gangs erwähnte Erwählungshandlung Gottes nochmals unterstreichen.
Nach Holtz557 ist die „Freude des heiligen Geistes“ Zeichen dafür, dass
die Thessalonicher zumindest objektiv als Nachahmer der Apostel und
Jesu bestätigt sind, auch wenn man nicht auf eine bewusste Nachah-
mung ihrerseits schließen könne.558
(b) Folge von Kriterium 1 und Grundlage für Kriterium 2: „sodass ihr
allen Glaubenden in Makedonien und Achaja ein Vorbild wurdet“
Man könnte meinen, dass erst an dieser Stelle die Nachahmung akzen-
tuiert würde, jedoch handelt es sich hier nur um das Ergebnis, um die
Folge oder um die Bestätigung der Tatsache, dass die Christen Nach-
ahmer geworden sind.
In den paulinischen Texten verlangt der Mimesisbegriff immer
ein Vorbild.559 Diese Vorbilder sind zunächst für die Thessalonicher
die Apostel und der Herr Jesus Christus; die Konsequenz ist, dass die
Thessalonicher nun selbst Vorbilder werden für die Gemeinden in Ma-
kedonien und Achaja. In 2,14, wo die Thessalonicher nur durch ihre
Leiden passiv als Nachahmer identifiziert werden, fehlt der Bezug auf
ihr Vorbild-Sein. In 1,7 allerdings werden sie aktiv gezeichnet und
auch selbst zu Vorbildern. Sie „treten damit in die orientierende Reihe
Gott-Christus-Apostel ein. Sie werden jetzt ihrerseits Nachahmer und
Nachfolger finden (Phil 3,17; 2 Thess 3,9).“560 Zu fragen ist allerdings,
wie diese Vorbildhaftigkeit der Thessalonicher zu beschreiben ist. Ih-
ren Vorbildcharakter üben sie zunächst auf die Gläubigen im Gebiet
554 Nach von Dobschütz, 1Thess, 74 betont Paulus die freudige Geistwirkung umso
mehr, je höher sich die Bedrängnisse seiner Adressaten erweisen. Dabei ver-
weist er auf Röm 15,13; 2 Kor 1,24 und Gal 5,22.
555 Vgl. Conzelmann, ThWNT IX 358; Nauck, Freude, 78-80. Holtz, 1Thess, 49f.
zur Stelle, Müller, 1Thess 111 zur Stelle; biblische Belege: 2 Makk 7,30; 4
Makk 10,20.
556 Vgl. Jak 1,2; 1 Petr 1,6f.; 2,20-24; 3,17; 4,12-14.
557 Vgl. Holtz, 1Thess 49.
558 Vgl. hierzu Schulz, Nachfolgen 287.314-316; Tannehill, Dying, 103.
559 Vgl. Holtz, 1Thess, 48.
560 Müller, 1Thess, 112.
172
(c) Zweites Kriterium für die Nachahmung: „von euch nämlich ist
herausgeschallt das Wort...“
Der erste Halbsatz bestätigt sodann, dass man eventuell schon erste
missionarische Tendenzen bei den Thessalonichern erwarten darf.
Zumindest kommt die Nachahmungsvorstellung zu einem Schluss-
punkt – die Thessalonicher sind nicht nur zum Glauben gekommen,
sondern von ihnen schallt (ejxhcevw) das Wort des Herrn, sprich das
Evangelium, heraus. Das Verb ejxhcevw ist ntl. Hapaxlegomenon563 und
meint, dass das Wort des Herrn „wie ein Echo (...) heraus- und zurück-
schallt, nachdem dieses ‚Wort des Herrn’ zuvor von den Missionaren
in die Gemeinde hineingesprochen worden war.“564 Damit werden die
Provinzen Makedonien und Achaja zumindest indirekt als Missions-
bereich der Gemeinde der Thessalonicher ausgewiesen. Wahrschein-
lich kann man zu diesem frühen Zeitpunkt so kurz nach der Gemein-
degründung noch nicht davon ausgehen, dass die Thessalonicher sich
zum Ziel gesetzt hätten, die ganze Provinz zu bekehren und neue Mis-
sionszentren zu schaffen. Allerdings legt die Gemeinde lebendiges
Zeugnis ab, indem sie das Wort des Herrn laut bekennt. Das Wort
schallt heraus, es ist nicht zu überhören, die Thessalonicher sind mu-
tig, offen und verstecken sich nicht. Sie bekennen sich aktiv und offen-
siv zum Evangelium.565
561 Vgl. hierzu Holtz, 1Thess, 51; Dibelius, 1Thess, 5; Rigaux, Saint Paul, 385.
Ähnlich wie an vorliegender Stelle nennt er auch in Gal 1,21; Röm 15,19.24.28
(2 Kor 1,1) Provinzen.
562 So Müller, 1Thess, 112.
563 Vgl. 1 Kor 13,1 hjcevw. In der LXX vgl. Joel 3,14; Koh 9,13; 15,13; 3 Makk
3,2. Vgl. Rigaux, Saint Paul, 386.
564 Müller, 1Thess, 113.
565 Es ist kaum möglich viel mehr über die Missionsbestrebungen der Thessaloni-
cher auszusagen. Müller, 1Thess 113. Holtz, 1Thess, 52, lehnt die Vorstellung
173
(e) Zwischenresümee
Die Thessalonicher können als Nachahmer der Apostel und des Herrn
bezeichnet werden, da sie selbst zu Vorbildern für die Glaubenden in
den Provinzen Makedoniens und Achajas geworden sind. Ihre Charak-
terisierung als Nachahmer realisiert sich dabei in zweierlei Hinsicht.
Zum einen dadurch, dass sie das Wort Gottes trotz aller Widrigkeiten
aufnehmen, zum anderen, dass sie offen Zeugnis ablegen und als Vor-
bilder in die Nachahmerreihe Christus-Paulus/Apostel gleichwertig
570 Zur Abgrenzung von V. 12 zu V.13 vgl. Holtz, 1Thess, 65 sowie Merk, 1Thess
2,1-12, 385f.
571 Vgl. die Rede vom wahren Gott in 1,9 (vgl. oben). Auch an dieser Stelle ist in
dieselbe Richtung zu deuten.
175
Mimesis in 1,6, die die aktive Komponente herausstellt, ist die theolo-
gische Qualifizierung zunächst rein passiv auf die Identifizierung mit
den anderen Gemeinden ausgerichtet. Die Gemeinden Gottes werden
ebenfalls christozentrisch bestimmt. Man kann mit Holtz die nachträg-
liche Charakterisierung „in Christus“ als unnötig bezeichnen, da
Paulus andernorts diesen Zusatz nicht bringt.575
(b) Kriterium für die Nachahmung: „weil dasselbe littet auch ihr von
den eigenen Stammesgenossen, gleichwie auch sie selbst von den
Judaiern“
575Vgl. Holtz, 1Thess, 100: „Damit sind sie [die Gemeinden Gottes] eigentlich
inhaltlich überbestimmt. Denn ejkklhsiva tou' qeou' benennt die Gemeinde des
allein einen Gottes, der in der Christusgeschichte Jesu sich endzeitlich gültig
offenbart hat. Daneben kann es keine anderen 'Gottesgemeinden' geben.“
576 Dobschütz, 1Thess, 108.
577 Vgl. etwa 1Thess 2,2; Röm 8,36; 12,12; 1 Petr 3,13ff; 4,12ff; Jak 2,16f; 5,6-11;
Hebr 10,32ff u. ö. Vgl. hierzu Baumeister, Anfänge, 66-228, besonders 156-
191.
578 Vgl. Gal 1,13f.; Apg 7,54-8,3.
579 Allerdings wird er nicht seine eigene Biographie an dieser Stelle auswerten
wollen. Sicher hat er konkrete Verfolgungen im Blick, die, falls sie wirklich in
177
Die grundsätzliche Frage ist die nach den Gegnern der thessalo-
nischen Gemeinde. Ohne auf die Verse 15 und 16 einzugehen, die oft
für die Lösung dieser Frage herangezogen werden, soll hier allein auf-
grund der Angaben in V. 14 die Entscheidung getroffen werden. Die
Leidenserfahrungen der Thessalonicher gehen denn auch von den
sumfulevtai der neuen Gemeindemitglieder aus. Das Wort sumfulev-
tai ist neutestamentliches Hapaxlegomenon und auch sonst im Grie-
chischen sehr selten belegt.580 So ist seine Bedeutung zunächst unsi-
cher. Der Wortstamm fuvlh bezeichnet zunächst einmal die Phylen, die
im weitesten Sinne eine Einteilungsform für gesellschaftliche Grup-
pierungen innerhalb der antiken Polis waren. Ein sumfulevto" wäre
demnach ein Mitglied einer solchen Phyle. Holtz behauptet, dass für
die neutestamentliche Zeit die ursprüngliche Bedeutung nicht mehr
gelten würde und einzig „die Vorstellung von einem Wohnbezirk bzw.
seiner Einwohner“ ausgesagt sei und deswegen „nicht die Angehöri-
gen eines bestimmten Volkes, auch nicht einer bestimmten Religion,
sondern die Mitglieder des sozialen Lebensbereiches, dem die Thes-
salonicher zugehören“, meine.581
Vom Brocke konnte allerdings nach der Auswertung epigraphi-
schen Materials feststellen, dass zumindest vier solcher Phylen noch
bis ins dritte Jahrhundert in Thessalonich Bestand hatten. 582 Drei dieser
Phylen finden sich auf Ehreninschriften für Claudius Meno, einem Ho-
noratioren der Provinz. Alle drei Ehreninschriften tragen dabei densel-
ben Text, sind mit povli" überschrieben und werden von der jeweiligen
Phyle unterzeichnet (IG X 2,1 nr. 183-185). Dies sei ein Beleg dafür,
„daß die Bürgerschaft Thessalonikis – die povli" im verfassungs-
den 30er Jahren stattgefunden haben, in den 50er Jahren noch wichtiger
wurden.
580 Vgl. dazu die Hinweise bei Pilhofer, Philippi, Bd. I, 124, der nach einer
Auswertung des TLG feststellt, es gebe „lediglich 28 Belege, von denen einer
die hier diskutierte Stelle ist; 26 weitere sind bei christlichen Autoren zu finden,
die häufig sogar auf ihre Quelle im Thessalonicherbrief ausdrücklich Bezug
nehmen.“
581 Holtz, 1Thess, 102. Die Übersetzungsvorschläge innerhalb der Forschung gehen
alle in diese Richtung. V. Dobschütz, 1Thess, 109, übersetzt mit
„Volksgenossen“, noch weiter fassen Marxsen, 1Thess, 42 oder Riesner,
Frühzeit, 311, die Bedeutung, indem sie von „Landsleuten“ sprechen (vgl. auch
„compatriots“ bei Wanamaker, 1Thess, 113). Holtz, 1Thess, 96 schließlich
nennt sie „Mitbürger“.
582 Zu nennen wären die fulh; jAsklhpiav" (aus IG X 2,1 nr. 183), die fulh;
jAntigoniv" (aus IG X 2,1 nr. 184), die fulh; Dionusiav" (aus IG X 2,1 nr. 185)
sowie die fulh; Gnaiva"(aus IG X 2,1 nr. 278). Vgl. hierzu und im Folgenden
vom Brocke, Thessaloniki, 156-162.
178
(c) Zwischenresümee
Der Begriff mivmhsi" wird zum Identitätskriterium für die junge christ-
liche Gemeinde. Die doppelte Verwendung deckt dabei alle nötigen
Komponenten ab, und von beiden Seiten her erscheint die junge Ge-
meinde als vollgültig in die Gemeinschaft der Christusanhänger integ-
riert. Die beiden ei[sodo"-Stellen geben Auskunft über deren Christ-
werdung, sowohl aus inhaltlicher Sicht, als auch bzgl. der Art und
Weise der Missionierung. Beide Elemente werden möglicherweise in-
nerhalb der Mimesis-Vorstellung zur Geltung kommen, wobei zugege-
benermaßen die vollgültige Übertragung nicht aufgeht. Ein eindeutiger
Bezug lässt sich für die erste Mimesis-Stelle herstellen, da der Glaube
der Gemeinde als leuchtendes Vorbild für andere herausschallt, d.h.
der Inhalt, wie er in 1,9f.589 dargestellt wird, weitergetragen wird und
so den Vorbildcharakter der Apostel, wie er in 2,1-12 herausgestellt
wird, selbst einnimmt. Der Vers 2,14 andererseits gibt das Ergebnis
nochmals wieder, gewissermaßen als Konsequenz und logische Folge
dieser Wandlung von den mimhtaiv zu den tuvpoi – jetzt sind sie
vollgültig aufgenommen.
Blickt man auf die Schwierigkeiten, die die folgenden Verse der bishe-
rigen Forschung bereitet haben, so wird man kaum annehmen können,
mehr Licht in die Frage nach den Gründen für die Verfolgungen der
Gemeinden zu bringen. Gemeinsam ist den Gegnern der Gemeinden in
Judäa und denjenigen der Gemeinde in Thessalonich die ablehnende
Haltung gegenüber deren religiösen Ansichten. Zu fragen ist nach der
Intention der VV. 15 und 16. Sind sie nur polemische Beigabe, hat
sich Paulus also „gehen lassen“590, oder sollen sie als vertiefende Er-
klärung gelten, was zugegebenermaßen auf den ersten Blick als eher
unwahrscheinlich erscheint? Jedoch wird sich zeigen, dass man dies-
bezüglich gute Gründe angeben werden kann.
Die traditionelle Herkunft der Passage ist dank ihres befremden-
den Tons inzwischen gut erforscht und als authentisch paulinisch er-
wiesen. Auch macht die symmetrische Komposition mivmhsi" – ei[so-
do" – ei[sodo" – mivmhsi" deutlich, dass der Text bewusst angelegt ist
und nicht nachträglich erweitert wurde. Jedoch gab – und gibt es
immer noch – Versuche, die VV. 15-16 (oder 13-16) als Interpolation
zu betrachten, was aber nicht zuletzt aufgrund der scharfsinnigen Ana-
lysen Broers als widerlegt zu gelten hat.
590 Kraus, Volk Gottes, 148 spricht in diesem Zusammenhang ganz diplomatisch
von einer „Entgleisung“.
591 Vgl. oben, Abschnitt 1.2.1
592 Vgl. Kapitel 1.2.1 dieser Arbeit.
593 Vgl. insbesondere Pearson, 1Thess 2,13-16. 79-94. Außerdem gehen von einer
Interpolation eines oder mehrererer Verse aus: Okeke, Fate, 127; Thoma,
Theologie, 238; Köster, Einführung, 546; Schenke-Fischer, Einleitung, 70;
Laub, 1Thess, 21f.
594 Broer, Antisemitismus; ders., Zorn, setzt sich ausführlich mit den Argumenten
181
Die ersten sechs Vorwürfe sind sehr konkret, 3 und 6 beziehen sich auf
die aktuellen Herausforderungen der Mission und könnten den Grund
angeben, warum Paulus sich in dieser Weise echauffiert – nicht nur die
Thessalonicher und die judäischen Gemeinden, auch die Apostel sind
in Auseinandersetzungen verwickelt. Beide Vorwürfe zeigen auf, wo-
rum es eigentlich geht – um die Ermöglichung des Heils. Greift man
die vorigen Überlegungen zum Mimesis-Begriff und zur apostolischen
Funktion als Bindeglied bis zur Parusie auf, erkennt man in 1-3 zu-
nächst eine Reihung der Aussagen von den Propheten über Jesus bis
hin zu den Aposteln. Die Aspekte 4 und 5 erklären sich dann durch die
Konkretisierung in These 6. These 4 hat deutlichen Bezug zu 1Thess
2,4, wo das Gegenteil von den Aposteln ausgesagt wird. Wie deutlich
zu erkennen ist, dass die Apostel Gott gefallen, ist genauso offensicht-
lich, dass die Juden Gott nicht gefallen. Der Grund liegt auf der Hand:
sie stellen sich gegen das Heil, gegen das, was Gott plant. Von daher
erschließt sich die Bedeutung von These 5: der Versuch, die Heiden
durch aktive Opposition gegen die christliche Mission an der Teilhabe
am Heilsangebot zu hindern, wird als Feindschaft gegenüber den
anderen Menschen interpretiert. Thesen 7 und 8 schließlich sind zu
klärende theologische Aussagen. Die Bedeutung der These 8 liegt auf
der Hand. Wenn in 1,10 die Lebensführung der Thessalonicher
insofern charakterisiert wird, als sie durch das douleuvein und das
ajnamevnein den Schutz vor Gottes Zorn erfahren können, wird deutlich,
dass den Juden, die sich aktiv gegen das Heil stellen, das Gegenteil zu
Der Vorwurf, die Juden hätten ihre Propheten ermordet, ist eine im
biblischen Denken weit verbreitete Anschauung, deren Ursprünge auf
die deuteronomistische Geschichtsschreibung zurückgehen.599 Diese
sog. „deuternomistische Prophetenaussage“ erhält in nachexilischer
Zeit große Bedeutung. Dabei handelt es sich um eine zweigliedrige
Aussage, wie sie zum ersten Mal in Neh 9,26 begegnet. Die Ab-
weisung prophetischer Warnungen durch das von Gott abgefallene
Volk Israel wird in diesem Zusammenhang als Tötung der Propheten
interpretiert und durch eine Gerichtsaussage abgeschlossen. Als Hin-
tergrund für die Gerichtsaussage werden dabei die großen Katastro-
phen 722 (Untergang des Nordreichs) und 586 (babylonisches Exil) v.
Chr. herangezogen. Die Aussage
Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. lebt diese Vorstellung bei den
Rabbinen und auch bei Joesphus unter neuem Vorzeichen wieder auf,
indem diese die Kritik der Prophetentötung auf die Katastrophe der
Zerstörung des zweiten Tempels hin deuten.601
Die deuternomistische Prophetenaussage ist also in erster Linie
ein Zeugnis für innerjüdische Selbstkritik, indem die Untreue des eige-
nen Volkes als Begründung für die großen Katastrophen gedeutet
wird. Im 1Thess wird die Rede vom Prophetenmord auf die Verkündi-
ger der christlichen Mission ausgeweitet.602 Die Juden haben nicht nur
ihre Propheten getötet, sondern sogar den Herrn, Jesus. Der Tod Jesu
wird damit nicht „als trauriger Ausnahmefall, sondern als hervorste-
chendes Glied einer Kette des gewaltsamen Widerstandes gegen Got-
tes Boten und damit gegen Gott selbst“603 dargestellt. Dadurch stellt
Paulus den Tod Jesu in den Zusammenhang der Tradition von der
Ermordung der Propheten, deutet also letztlich die Missachtung der
Lehre Jesu und die Behinderung der Mission mit dieser innerjüdischen
Kategorie. Somit steht er zunächst nicht in Konfrontation mit dem
Judentum, sondern stellt sich auf die Seite der Propheten, da auch sein
Missionswerk immer wieder von jüdischen Angriffen bedroht wird.
Zu fragen ist, ob die Zusammenstellung der Aussagen in 2,15
(und 16) eine Leistung des Paulus selbst ist oder bereits in der
Tradition in ähnlicher Weise vorlag. Die Zuschreibung der Schuld am
Tod Jesu wird trotz der Tatsache, dass Jesus Opfer römischer Justiz
ist,604 im Neuen Testament sehr bald greifbar. 1Thess 2,15 ist hierfür
600 Steck, Israel, 79f.
601 Vgl. Jos. Ant. IX, 13, 2 und 14,1. Und zwar aus lebendiger Überlieferung, nicht
nur aus der Schrift allein abgeleitet (Steck, 86.). Vgl. in rabbinischen Quellen
PesR 183a; PesR 146a; PesR 129a; LevR 10,2; PRK 16 u.v.m.
602 Vgl. die Aussagen Mk 12,1-9; Mt 23,29-33 par.; Apg 7,52; Röm 11,3 etc. Vgl.
auch Hebr 11,32-38.
603 Konradt, Gericht, 79f.
604 Vgl. die Arbeit von Riedo-Emmenegger, 290-306; inwieweit die Jerusalemer
Aristokratie beteiligt war, ist zu hinterfragen. Stegemann, Beteiligung, 16-20,
geht davon aus, dass die Verurteilung Jesu zum Tode ganz ohne jüdische
Beteiligung auf die Römer zurückzuführen ist.
185
der früheste literarische Beleg, doch lässt die Quellenlage den Schluss
zu, dass diese Zuweisung schon älter ist. Insbesondere in der
Apostelgeschichte findet sich vermehrt die Aussage „ihr (die Juden)
habt ihn (Jesus) getötet, Gott hat ihn auferweckt“, die Lukas aller
Voraussicht nach der Tradition entnommen hat.605 Eine Verknüpfung
dieser Schuldzuweisung mit der deuteronomistischen Prophetenaus-
sage liegt auch in Apg 7,52 sowie im Winzergleichnis Mk 12,1-9 vor.
Schließlich ist die Kontextualisierung der Prophetenaussage auf das
Schicksal der Apostel hin bereits in der Logienquelle nachweisbar.606
Der Befund lässt keine eindeutige Entscheidung zu, ob Paulus an
dieser Stelle eine festgeprägte Tradition aufgegriffen hat oder nicht.
Allerdings ist deutlich, dass mindestens die gedanklichen Verbindun-
gen der einzelnen Aussagen im frühen Christentum grundgelegt
waren.
Alle Versuche, den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der
Stelle konkreter zu fassen, können nicht restlos überzeugen. Die Über-
legungen Beckers und Haufes,607 die meinen, dass die Verbindung der
drei Aussagen in V. 15 mit den aus der heidnischen Judenpolemik
stammenden Aussagereihen aus V. 16 in Antiochia realisiert wurde,
sind überaus hypothetisch, da es keinerlei überzeugende Anhaltspunk-
te gibt, die diese Idee stützen könnten. Aber auch der Versuch Stecks,
bereits die Verbindung mit dem Gerichtsmotiv der Tradition zuzu-
schreiben, mag nicht so ganz überzeugen.608 Voraussetzung für diese
Annahme wäre die Zuweisung von Mt 23,32 zur Logienquelle, sodass
in Q 11,47f. bereits eine Verbindung zwischen der Prophetenaussage
und der Aussage bzgl. des eschatologischen Maßes (vgl. 1Thess 2,16)
vorliegen würde. Jedoch geht die Mehrheit der Exegeten davon aus,
dass Mt 23,32 redaktionell ist.609 Eine gemeinsame traditionelle
605 Zur traditionellen Einschätzung der Aussagen der Apg vgl. etwa Roloff,
Anfänge, 38f. oder Schneider, Apg I, 271. Vgl. hierzu auch, Konradt, Gericht,
79. Vgl. die Äußerungen innerhalb der Apostelgeschichte: Apg 2,23.36;3,15;
4,10; Siehe ferner Mk 8,31;14,1; Joh5,18; 7,19f. 25; 8,37.40; 11,53.
606 Vgl. Q 6,22f; 11,47-51; 13,34; vgl. Mt 21,33-46; 22,1-10.
607 Vgl. Becker, Paulus, 490f. und Haufe, 1Thess, 46.
608 Vgl. Steck, Israel, 274. Ihm folgen Lüdemann, Paulus und das Judentum, 22;
Donfried, Paul, 248f.; Best, 1Thess, 121f; Holtz, 1Thess 104; Wanamker,
1Thess, 116; Haufe 1Thess, 46; Konradt, Gericht 81. Dagegen argumentiert
Broer, Antisemitismus, 69-72.
609 Vgl. etwa Luz, Mt III, 343; Gundry, Mt, 468f.; Newport, Sources 150f. Ebenso
spricht sich die Critical Edition des IQP gegen eine traditionelle Zuordnung von
Mt 23,32 zur Logienquelle aus. Ähnlich verweist Tuckett, Tradition, 166 auf mt
Redaktion. Auch hinsichtlich der übrigen Parallelen sieht er keine
Notwendigkeit zur Annahme einer gemeinsamen Tradition.
186
Grundlage kann demnach nicht postuliert werden, ist wohl aber auch
nicht nötig. Die Verwendung bei Matthäus bestätigt nur aufs Neue die
Bedeutung des Aussagekomplexes innerhalb des Urchristentums.
Der Vorwurf der Tötung der Propheten und Jesu durch die Juden mag
für Heiden unverständlich wirken, findet allerdings in den parallelen
Vorwürfen, die Juden würden Gott nicht gefallen und seien Feinde al-
ler Menschen, eine Entsprechung aus dem paganen Milieu. Beide Vor-
würfe werden im heidnischen Umfeld, entweder getrennt oder gemein-
sam, immer wieder gegen die Juden vorgetragen.610 Der erste Vorwurf,
die Juden würden Gott nicht gefallen, gipfelt in einem pauschalen
Atheismusvorwurf, der die Juden aufgrund der Leugnung anderer Göt-
ter als Atheisten bezeichnet.611 So weit kann Paulus in seinem Urteil
nicht gehen, da er bzgl. der Gottesvorstellung eindeutig in Kontinuität
zum Judentum steht. Dies ändert sich allerdings in der Qualifizierung
des Gottesverhältnisses. In Abgrenzung zu seinem missionarischen
Wirken (in 1Thess 2,4 hat Paulus darauf hingewiesen, dass er nicht
den Menschen gefallen will, sondern Gott) bezeichnet er die Juden als
diejenigen, die Gott nicht gefallen. Beide Aussagen sind zu den ersten
beiden Anschuldigungen den Juden gegenüber parallel geführt. Zu-
mindest ist hier von der Struktur eine Gleichsetzung der Vorwürfe vor-
gegeben, die auch ähnlich begründet werden. Im ersten Fall war der
Vorwurf des Prophetenmordes im Einklang mit den Verfolgungen der
Missionare formuliert, im vorliegenden Fall wird die Feindschaft den
Menschen gegenüber an der Haltung festgemacht, die das Heil der
Heiden verhindern möchte.
Bei den Anschuldigungen handelt es sich um das „typische Re-
pertoire des heidnischen Antijudaismus“,612 das immer wieder in ähnli-
cher Weise auftaucht – die Feindschaft allen Menschen gegenüber fast
wörtlich bei Tacitus, Hist. V,5: adversus omnes alios hostile odium.613
Diese Einschätzung kann auch bei Josephus Ap 1,310; 2,125.148
nachgelesen werden und bestätigt immer wieder aufs Neue die
Vorurteile gegenüber dem Judentum aufgrund seiner exklusiven Got-
tesbeziehung.
610 Kümmel, Problem, 412; Dibelius, 1Thess 12, bezeichnet sie als „geläufige
Beschuldigungen der Umwelt gegen die Juden.“
611 Vgl. zum Atheismusvorwurf das Zitat von Poseidonius bei Anm. 280.
612 Kraus, Volk Gottes, 151.
613 Vgl. auch Est 3,13eLXX.
187
Paulus greift die pagane Einschätzung der Juden als Feinde aller Men-
schen auf, deutet sie aber entschieden um. Für die Heiden bestand das
Problem darin, dass die Juden aufgrund ihrer exklusiven Gottesbezie-
hung und ihrer strengen Bräuche in vielen Lebensbereichen ihre Mit-
bürger auszuschließen schienen und deshalb im Verdacht standen, ih-
nen feindlich gesinnt zu sein. Paulus setzt mit seiner Kritik in gewisser
Weise ebenfalls bei der Verschlossenheit der Juden gegenüber den An-
dersgläubigen an. Allerdings sind für ihn die Juden Feinde aller Men-
schen, weil sie das Heil Gottes für sich allein beanspruchen und sich
aktiv gegen die christliche Mission stellen, die durch ihre christologi-
sche Neuinterpretation das Heil auch den Heiden anbieten will.
614 Conzelmann, Heiden, 119. Zur Einschätzung vgl. auch Michel, Fragen, 208.
Vgl. zudem das ausführliche Material bei Conzelmann, Heiden, 54-119 sowie
die Beilagen 1-13 bei Dibelius, 1Thess, 34-36.
615 Vgl. die Vorstellung in Jes 30,1, dass Israel das Sündenmaß „fortgesetzt voll
mache.“
616 Kraus, Volk Gottes, 151.
188
Mit der Rede vom Zorn Gottes wird zurückgegriffen auf die Heils-
zusage an die Gemeinde der Thessalonicher in 1,9f.619 Im Vergleich ist
damit eine Gegenbewegung gezeichnet. Während die Thessalonicher
617 Vgl. insbesondere Stuhlmann, Maß, 93ff. Auch Kraus, Volk Gottes, 151f., ders.,
Tod Jesu, 101 A. 54. 133. Wesentliche Stellen dabei sind Sir 23,2ff, PsSal 7,3.5;
10,1-13; 16,10. Der Beleg Mt 23,32 sei nach Haufe, 1Thess, 47, Beleg dafür
dass es sich bei der Vorstellung vom eschatologischen Sündenmaß um eine
„breite ‚biblizistische‘ Wendung [handle], der sich christliche Judenpolemik
schon sehr früh bediente, um das Strafgericht Gottes über die das Evangelium
ablehnende Synagoge zu begründen.“
618 Als Ausnahme wäre PsPhilo, LibAnt 26,13, zu nennen wo feindliche Angriffe
mit der Auffüllung des Sündenmaßes begründet werden.
619 Zum Bedeutungsspektrum des Zornes Gottes siehe die Ausführungen zu 1Thes
1,9f.
189
620 Eine Stütze erhhält diese These auch durch die Tatsache, dass auch die deutero-
nomistische Prophetenaussage häufig auf eine historische Situation hingedeutet
war, zunächst auf die großen Katastrophen 722 und 586, später bei Josephus auf
die Zerstörung des Tempels.
621 Vgl. Pearson, 1Thessalonians 2:13-16, 83.
622 Vgl. etwa Bammel, Judenverfolgung, 295ff.308-310; Theißen, Aporien, 537;
auch Kraus, Volk, 152. Gegen die ingressive Fassung des Aorists bei Kraus
wendet sich zurecht Konradt, Gericht, 85, wenn er anmerkt, dass nach 1Thess
5,2 keine Vorboten des Zorngerichtes zu erwarten seien.
623 Buck/Taylor, Paul, 148f.
624 Erwähnt werden außerdem der Theudasaufstand unter Cuspius Fadus (44-46 n.
Chr.) im Anschluss an den Bericht des Josephus in Ant 20,97-99; Apg 5,36)
oder der Tod von 20-30000 Juden in Jerusalem unter Ventidius Cumanus im
Jahre 49, worauf Johnson, Notes, 174f. sowie Jewett, Agitators, 205, Anm. 5
hinweisen.
625 Allerdings ist auch nicht dem Ansatz Stegemanns, Anlaß, 60f. zu folgen, wenn
er e[fqasen zu pavntote aus V. 16b zieht und übersetzt: „Stets hat sie aber der
Zorn schließlich erreicht“, was allerdings grammatikalisch schwierig zu
begründen ist und sich auch zu weit von den vorgegebenen Traditionen
wegbewegt.
190
das Maß der Sünden jetzt voll.“626 Und von daher erschließt sich auch
eindeutig die Übersetzung von eij" tevlo" als definitives, endgültiges
Urteil Gottes über die Juden.
2.4.2.4 Fazit: Was kann der 1Thess über die sumfulevtai und ihre
Angriffe auf die Thessalonicher aussagen?
Die Überlegungen zu den Versen 2,15-16 machen die schon für V.14
abgelehnte These, bei den Gegnern der Thessalonicher handle es sich
um Juden bzw. von jüdischer Seite angezettelte Agitationen, nicht
wahrscheinlicher.627 Eine genauerer Blick auf den Text kann m. E. den
polemischen Ausfall des Paulus hinreichend erklären.
Entscheidend ist dabei ein erneuter Rekurs auf die sumfulevtai.
Der Grund für die Auseinandersetzung zwischen den sumfulevtai und
der paulinischen Gemeinde dürfte wie gesagt in den Konsequenzen der
Bekehrung zu finden sein. Versteht man die Wendung sumfulevtai
eng gefasst als „Phylenmitglieder“, wie vom Brocke vorschlägt, 628
wird man die konträren Auffassungen in kultischen Belangen als
Auslöser dieser Konflikte zu sehen haben. Aber auch bei einer
offeneren Verwendung scheinen Konflikte um den Kult die
naheliegendsten Aspekte für die Auseinandersetzung darzustellen. In
diesen Auseinandersetzungen kann man möglicherweise die Lösung
dafür finden, dass Paulus mit den Juden so hart ins Gericht geht.
Beziehen sich die Anfragen auf kultische Auseinandersetzung, so sind
genau die Vorwürfe, die Paulus gegen die Juden erhebt, wohl diesel-
ben Vorwürfe, mit denen sich die Thessalonicher von Seiten ihrer
sumfulevtai konfrontiert sahen. Eventuell wurden sie von ihren
Mitbürgern als Juden beschimpft. Auch wenn sie einst Heiden waren,
dürfte ihnen bewusst geworden sein, dass ihr neuer Glaube auf den
Traditionen des Judentums beruhte.629 Kam es etwa zu Verunsicherun-
626 Konradt, Gericht, 86 im Anschluss an von Dobschütz, 1Thess, 116; Rigaux,
1Thess 452; Haufe, 1Thess, 46; Johanson, 1Thess, 522.529-531. Vgl. auch Hab
2,16; Jes 4,13; Jud 11.
627 Auch sehr hypothetisch bleibt der Versuch bei Konradt, Gericht, 91, der die
Annahme von im Hintergrund agitierenden Juden dadurch stützen will, dass er
die Aussage in Apg 18,6f, wonach ihm das Predigen in der Synagoge verboten
wird, historisch in zeitlichen Zusammenhang mit der Abfassung des 1Thess zu
bringen versucht. Jedenfalls würde damit die Ursache für den polemischen
Ausfall von den sumfulevtai abgelenkt und auf konkrete Gegner des Paulus
bezogen.
628 Zu vom Brocke s.o.
629 Gegen Fenske, Paulus, 240, nach dem Juden für die Thessalonicher nur „ein
Beispiel für ihre heidnischen Mitbürger“ sind.
191
2.4.2.5 Zusammenfassung
630 Vgl. die bereits zitierte Einschätzung bei Conzelmann, Heiden, 119.
631 Auch wenn die Wortwahl nahelegt, dass Paulus von den Juden insgesamt
spricht, macht dennoch der Kontext deutlich, dass es um diejenigen geht, die
sich aktiv gegen die paulinische bzw. urchristliche Mission im Allgemeinen
stellen.
192
die hier vorgetragene Interpretation als richtig, wendet Paulus also die
antijüdischen Argumente der heidnischen Gegner der thessalonischen
Gemeinde auf diese selbst zurück.
Aber die Frage bleibt bestehen – was hat Paulus zu dieser harten
Aussage veranlasst? Der Text gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass
Juden Auslöser der Bedrängnisse der Thessalonicher sein könnten.
Dennoch ist man erst zufrieden, wenn man für diesen Zusammenhang
klären kann, warum Paulus unvermittelt und so hart mit den Gegnern
ins Gericht geht. Hierfür sollte man sich noch einmal die Argumenta-
tionsstruktur der Verse 1,6-8 und 2,13-16 im Vergleich vor Augen
führen:
Inhalt, 2,1-12 meint das Vorgehen der Mission aus der Sicht
der Missionare. Wie sich zeigt, erfolgt die Zuordnung doppelt.
Einerseits kann 2,1-12 die Parallelität der missionarischen Ak-
tivität darstellen, aber auch den Grund dafür, dass sowohl die
Thessalonicher als auch die Apostel negativ angegriffen wer-
den. Andererseits können aus 1,9f. Inhalte der Missionsverkün-
digung abgeleitet werden, die ebenso erklären können, warum
die Thessalonicher „Ärger“ bekommen haben. Insgesamt zeigt
sich also, dass die vier Textstellen 1,6-8.9-10.2,1-12.13-16 eng
miteinander verwoben sind und nur in der Aufdeckung ihrer
gegenseitigen Zuordnungen alle Aspekte des Missionsverlaufs
in Thessalonich dargestellt werden können.
Die Frage nach der Theologie des 1Thess hat in den Interpretationen
bereits einen breiten Raum eingenommen. Aufs Ganze gesehen steht
die Rede von Gott im 1Thess im Mittelpunkt, nicht zuletzt weil der
Horizont der Erstverkündigung immer noch mitschwingt. Merk fasst
den Sachverhalt folgendermaßen zusammen:
Dies wurde bereits ähnlich im Ansatz Beckers expliziert, der die Ei-
genart des 1Thess als Erwählungstheologie beschrieben hat (vgl. Kapi-
tel 1 dieser Arbeit). Im Zentrum steht dabei der Gott der Bibel. Dessen
traditionelle Wurzeln werden besonders in 1,9f deutlich. Er ist der
lebendige und wahre Gott, aber auch der zornige Gott, der über alle
richten wird, die am Tag des Gerichts nicht auf seiner Seite stehen.
Dieser Gott fordert auch völlige Unterwerfung unter seinen Willen.
Das wird durch das für antike Hörer befremdliche douleuvein mehr als
deutlich. Es gibt keine Alternative zu diesem Gott, er ist nämlich der
einzige Gott. Darauf verweist auch die Zusammenstellung der beiden
Attribute lebendig und wahr, die, wie nachgewiesen wurde, in Kombi-
nation immer in schöpfungstheologischem Zusammenhang stehen. 634
Die urchristliche Mission bricht die Begrenzung dieses Gottes auf das
jüdische Volk auf. Nicht mehr die Zugehörigkeit zum Volk der Israeli-
ten ist entscheidend, sondern die Erwählung durch Gott, die all dieje-
nigen Gemeinden bezeichnet, die wie die Thessalonicher zum Glauben
gekommen sind und den Herrn und die Apostel nachahmen.
Auch die Arbeit der Missionare ist von Gott legitimiert, wie im
Zusammenhang von 2,1-12 deutlich gemacht wird. So erfahren die
Thessalonicher, dass der Dialog mit den Missionaren zugleich immer
ein Dialog mit Gott ist, weil deren Botschaft einzig und allein göttliche
Interessen beinhaltet (vgl. 2,1-12). Paulus zeichnet dabei das Bezie-
hungsverhältnis in Familienmetaphern nach. Auch hier wird deutlich,
dass Gott diesen Beziehungsformen enthoben ist. Ihm kommt gerade
nicht die Vater- oder gar Mutterrolle im Verhältnis zur Gemeinde zu,
sondern die Rolle des Königs. Hier finden sich also bei Paulus An-
klänge an die Gottesherrschaft. Man mag dies etwa als Anspielung an
den Kaiserkult interpretieren, Ziel der Argumentation ist jedenfalls
auch hier wieder die Ausrichtung der Gläubigen auf den Weg des bib-
lischen Gottes, der durch die Missionare vorgezeichnet wird. Die
Thessalonicher sollen diesen Weg ebenfalls einschlagen, „auf dass sie
würdig Gottes, des sie Rufenden zu seinem Glanz, wandeln“ (1Thess
2,12).
In den rahmenden Stellen 1,6-8 und 2,13-16 wird hauptsächlich
Die Christologie des 1Thess ist, wie gezeigt wurde, in sehr „zurück-
haltender“ Weise präsentiert. Zwar sind beinahe alle wesentlichen
christologischen Hoheitstitel bereits im 1Thess vorhanden. Doch
besagt dies nichts für die konkrete Ausgestaltung der Christologie. 635
Paulus stellt einzig die soteriologischen Aspekte in den Vordergrund.
Andere christologische Aussagen wie z. B. Schöpfungsmittlerschaft
etc. werden nicht thematisiert. Der Aspekt der Schöpfung ist angedeu-
tet in der Person Gottes als lebendig und wahr (s.o.), aber grundsätz-
lich nicht von Bedeutung innerhalb der Darstellung der Christologie
des 1Thess. Christus ist in allen Belangen Gott untergeordnet. Seine
einzige Funktion ist die Rettung aus dem Zorngericht. Er wird am Tag
des Gerichtes kommen, um zunächst diejenigen, die vor der Parusie
verstorben sind, aufzuerwecken, und diese zusammen mit den dann
noch Lebenden zu entrücken.
Aber auch diese Rettungsfunktion Christi wird zuallererst legiti-
miert durch das Handeln Gottes. Grundvoraussetzung für die soterio-
logische Funktion Christi ist das Handeln Gottes. Gott hat Jesus von
den Toten auferweckt (1,10). Dies ist die Grundbedingung für die
soteriologische Retterfunktion Jesu im Endgeschehen.
In 2,1-12 kommt die Christologie nur am Rande zur Geltung. In
1Thess 2,7 bezeichnet Paulus sich und seine Mitarbeiter als Apostel
Christi, was eigentlich als Legitimationsgrund für autoritatives Auftre-
ten gelten könnte. Paulus verzichtet allerdings auf diesen Autoritätsan-
spruch, um nicht mit anderen Predigern, die nur ihren eigenen Vorteil
suchen, verwechselt zu werden. Erst durch diese Zurückhaltung wird
635 Vgl. die Hinweise bei Hahn, EWNT III, 1156f. Ihm folgt Merk, Christologie,
367.
198
er wirklich zum Apostel Jesu Christi, denn nur so vermeidet er es, sein
Missionswerk zu gefährden. Eventuell kann man auch die Funktion
der Apostel als christologisch bezeichnen. 636 Denn sie sind es, die die
Rettungsaktion Jesu beim Gericht Gottes vorbereiten. Die Gemeinden
Gottes in Jesus Christus gelten als die Gemeinden, die gerettet werden.
Aufgabe der Apostel ist es, Gemeinden zu gründen und daher
möglichst viele Gläubige zu erreichen. Denkt man diesen Gedanken in
all seinen Konsequenzen zu Ende, dann übernimmt auch die Gemein-
de der Thessalonicher bis zu gewissen Grenzen christologische Funk-
tion. In 1,6-8 werden die Thessalonicher als Nachahmer der Apostel
und des Herrn bezeichnet. Damit sind drei verschiedene Ebenen
bezeichnet. Die Heilszusage Christi wird unterstützt durch die Verkün-
digung der Apostel sowie durch die Aufnahme und Bezeugung des
Wortes Gottes durch die Thessalonicher. Zumindest in ihrem nächsten
Umfeld werden sie zu einem Beispiel des richtigen Lebenswandels.
Durch ihre Standhaftigkeit trotz erster Verfolgungserfahrungen (wie
sie nochmals in 2,14 bestätigt wird), unterstützen sie durch ihre
Vorbildhaftigkeit die christliche Mission.
Der 1Thess ist der früheste erhaltene Brief des Paulus an eine Gemein-
de und zugleich das älteste literarische Zeugnis des Neuen Testaments.
Er unterscheidet sich von den anderen Paulusbriefen insofern, als er
zentrale Themen späterer Briefe (Rechtfertigungslehre, theologia
crucis etc.) mit keinem Wort erwähnt.637 Wesentliches Merkmal des
Briefes ist die Nähe zur Erstverkündigung. Paulus breitet keine theolo-
gischen Themen und Auseinandersetzungen aus, sondern stellt die
Erstverkündigung ins Zentrum, um durch inhaltliche Erläuterungen
zur Parusieproblematik diese zu präzisieren bzw. abzuschließen. Dane-
ben ist nur noch durch die Polemik in 2,14-16 ein weiteres wichtiges
Thema paulinischer Theologie angedeutet, nämlich die Frage nach
dem Verhältnis der christlichen Gemeinden zu Israel. Beide Themen
lassen erahnen, dass die Ausführungen innerhalb des 1Thess am
636 Dies würde überdies durch Klaucks Vorschlag bestätigt, der bzgl. des
Briefaufbaus die „apostolische Parusie“ der Parusie Christi zuordnet. Somit also
übernehmen die Apostel die Rolle Jesu, bis er wiederkommt.
637 Auf eine Einordnung der Position des 1Thess bzgl. dieser Themen soll deshalb
verzichtet werden, da diese nur indirekt erschlossen werden könnte. Hierzu sei
auf die grundlegende Übersicht in Kapitel 1.3.3.1 verwiesen.
199
Als unüberwindbar wird oft der Gegensatz des 1Thess zum Röm hin-
sichtlich der Israelproblematik betrachtet.644 Die vollkommene Ver-
werfung der Juden in 1Thess 2,16 scheint schwerlich zusammenge-
dacht werden zu können mit der Argumentation in Röm 9-11, in der
auch die Rettung ganz Israels bei der Parusie erwartet wird. Allerdings
sind beide Stellen extrem kontextbezogen. Die Verwerfung „der Ju-
den“ in 1Thess richtet sich trotz der absoluten Formulierung in erster
Linie gegen diejenigen Juden, die sich der christlichen Missionsarbeit
entgegenstellen. Die Thessalonicher werden aufgrund ihrer Bekehrung
zum biblischen Gott und ihres neuen Lebenswandels von ihren Mitbe-
wohnern verfolgt und als Juden wahrgenommen. Dabei werden sie
wohl mit dem typischen heidnischen Vorwurf konfrontiert, sie seien
Feinde aller Menschen. Paulus jedoch erklärt ihnen, dass dieser
Vorwurf auf sie keinesfalls zutrifft, indem er einerseits in der ausführ-
lichen Argumentation von 1,6-2,16 die Rechtmäßigkeit ihres
641 Dazu allerdings vgl. die Ausführungen in 1.3.3.1.
642 Warum das Problem davor keine Rolle gespielt hat, sei dahingestellt.
Wahrscheinlich hat sich diese Frage für Paulus nicht gestellt, da ihm als Jude
die Vorstellung einer Auferweckung von den Toten bekannt war. Vgl. Schnelle,
Wandlungen, 39.
643 So Schnelle, Wandlungen, 41.
644 Vgl. die Überlegungen in Kapitel 1.3.3.1
201
langen will, erkennt nicht, dass diese nur noch durch den Glauben an
Jesus Christus, dem Ende des Gesetzes (Röm 10,4), zu erlangen ist.
Die entscheidende Frage stellt Paulus in Röm 11,1: „Hat Gott sein
Volk verstoßen?“ Dagegen wendet sich Paulus. Zwar deutet sich be-
reits an, dass sich die christlichen Gemeinden mittlerweile überwie-
gend aus Heidenchristen zusammensetzen, jedoch hat sich auch eine
gewisse Anzahl an Juden zu Gott bekehrt, gewissermaßen der „Rest“
Israels (Röm 11,5).649 Das restliche Israel aber ist verstockt (Röm
11,7). Hier nun stößt Paulus zu seinem eigentlichen
Argumentationsziel durch: er gibt die Rettung Israels nicht auf,
sondern sieht in der Heidenmission einen Weg zur Rettung Israels –
durch den Übergang der Erwählung auf die Heiden soll Israel eifer-
süchtig werden und ebenfalls zum Glauben gelangen (Röm 11,12f.).
Sobald aber die „Fülle“ der Heiden bekehrt ist, kann die Verstockung
überwunden und ganz Israel gerettet werden (Röm 11,25-27). Die Ret-
tung Israels, die Aufhebung der Verstockung erwartet Paulus bei der
Parusie Christi, wie er durch den Bezug auf Jesaja 59,20f. deutlich
macht: „Der Retter wird aus Zion kommen, er wird alle Gottlosigkeit
von Jakob entfernen.“ Paulus erwartet also ein endzeitliches Handeln
Gottes, bei dem ganz Israel zum Glauben kommen wird, denn nur im
Glauben ist die Erlangung des Heils möglich (vgl. Röm 11,23).650
Holtz651 versucht aufzuzeigen, dass der Unterschied zwischen
1Thess und Röm nicht unüberwindbar ist. Denn zweifellos bezieht
sich der polemische Vorwurf gegen die Juden, der Zorn sei bereits
über sie gekommen, auf diejenigen Juden, die sich der Mission aktiv in
den Weg stellen.652 Zudem wird man damit rechnen können, dass sich
die paulinische Mission nicht allein auf Heidenchristen beschränkt,
sondern sich auch an die Mitglieder der Synagoge richtet, wie Paulus
etwa in 1 Kor 9,20 selbst bestätigt. 653 Und ebenso setzt der Röm die
Position voraus, dass die Juden, die nicht an Christus glauben, außer-
649 Zur Vorstellung des Restmotivs vgl. Hübner, Israel, 101f.
650 Zur ausführlichen Interpretation von Röm 11,25-27 vgl. Hahn, Verständnis,
227; Luz, Geschichtsverständnis, 288f. Die Einschränkung auf den Glauben
macht deutlich, dass Paulus wohl nicht daran denkt, dass wirklich das gesamte
ethnische Israel (vgl. Röm 9,6!) gerettet wird. Zwar ist zu erwarten, dass durch
die Aufhebung der Verstockung möglichst viele Israeliten erwählt werden,
allerdings ist in Röm 11,14 das Ziel einschränkend formuliert: Paulus will
wenigstens einige seiner Landsleute retten. Das Ziel freilich ist die Rettung
aller. Zur Problematik vgl. Schnelle, Wandlungen, 84f. mit Verweis auf
Käsemann, Röm, 295.
651 Vgl. Holtz, Gericht.
652 Vgl. Holtz, Gericht, 314.
653 Vgl. Holtz, Gericht, 324f.
203
halb des Heils stehen.654 Aber dennoch sollte man vorsichtig sein bei
einer Harmonisierung beider Positionen. Argumentationsziel des Röm
ist die Rettung aller Juden beim Endgeschehen, während der 1Thess
nur die Rettung derjenigen thematisiert, die zum Glauben an Gott ge-
kommen sind und sich in ihren Lebenswandel ganz auf die kommende
Parusie ausgerichtet haben. Ist das Ziel der christlichen Mission nach
dem 1Thess die Rettung möglichst vieler vor dem Zorn Gottes, so be-
gründet Paulus in Röm 9-11 die Heidenmission damit, dass er Juden
eifersüchtig machen und zur Öffnung für das Heil provozieren will.
Beide Positionen lassen sich auf den jeweiligen Kontext im Brief zu-
rückführen. Doch es bleibt zweifelhaft, ob Paulus auch schon im
1Thess das Ziel verfolgt hat, durch die Heidenmission die Juden zu
retten.655 Dafür wirkt das allgemeine Urteil, dass der Zorn bis zum En-
de über Israel hereingebrochen sei, .in 2,16 doch ein wenig zu hart.
Entscheidend für den Unterschied beider Positionen ist aber eine
andere Beobachtung. Interessanterweise gipfelt die Argumentation in
Röm 11,25-27 in der Aufnahme von Jes 59,20f. Diese Passage hat
Paulus nach Wilk auch im Kopf, wenn er im 1Thess seine Überlegun-
gen zur Parusieerwartung verschriftlicht. 656 Ist Wilks Interpretation
richtig, so ist die Interpretation von Jes 59,20f. als wichtiges Kontinu-
um paulinischer Theologiebildung zu betrachten. Zugleich aber sind
Differenzen in der Anwendung des Zitats zu erkennen. Wie bereits er-
wähnt setzt Wilk für den Röm eine erneute Beschäftigung des Paulus
mit dem Jesajabuch voraus.657 Den Unterschied macht Wilk dann wie
folgt deutlich:
3.5 Ausblick
Literaturverzeichnis
BÄBLER, B. Der Zeus von Olympia, in: DION VON PRUSA, Olympische
Rede oder Über die erste Erkenntnis Gottes, eingel., übers. und in-
terpretiert v. H.-J. Klauck, mit einem archäologischen Beitrag von
B. Bäbler (SAPERE 2), Darmstadt 2000, 217-238.
BALZ, H., Art. sumfulevth" in: EWNT III, 694.
BAMMEL, E. Ein Beitrag zur paulinischen Staatsanschauung, ThLZ 85
208
(1960), 837-840.
—. Judenverfolgung und Naherwartung. Zur Eschatologie des Ersten
Thessalonicherbriefes, ZthK 56 (1959), 294-315.
BAUER, B. Kritik der paulinischen Briefe, Berlin 1852.
BAUMEISTER, T. Die Anfänge der Theologie des Martyriums, Münster
1980.
BAUMERT, JOmeirovmeno" in 1Thess 2,8, in: Bib 68 (1987), 552-563.
BAUR, F.C. Paulus, der Apostel Jesu Christi, Leipzig 1845.
BECKER, J. Die Erwählung der Völker durch das Evangelium.
Theologiegeschichtliche Erwägungen zum 1Thess, in: Studien
zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments (FS H. Greeven),
hg. v. W. Schrage, BZNW 47, Berlin – New York 1986, 82-101.
—. Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 31998.
—. Theologiegeschichte des Urchristentums – Theologie des Neuen
Testaments – Frühchristliche Religionsgeschichte, in: Breyten-
bach, C. – Frey, J. (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theo-
logie des Neuen Testaments (WUNT 1.205), Tübingen 2007, 115-
134.
BENDEMANN, R. von. ‚Frühpaulinisch‘ und/oder ‚spätpaulinisch‘. Erwä-
gungen zu der These einer Entwicklung der paulinischen Theolo-
gie am Beispiel des Gesetzesverständnisses, EvTh 60 (2000), 215-
229.
BERGER, K. Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des
Neuen Testaments, Tübingen – Basel, 1994.
BERGER, P.L. The Heretical Imperative. Contemporary Possibilities of
Religious Affirmation. New York 1980.
—. The Social Reality of Religion. London 1969.
BERGER, P.L. – Luckmann , T. The Social Construction of Reality.
Garden City 1967.
BERTRAM, G. Art. nhvpio", in: ThWNT IV, 913-925.
BEST, E. A Commentary on the First and Second Epistles to the Thes-
salonians (BNTC), London 1972.
BETZ, H.D. Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testa-
ment, BHTh 37, Tübingen 1967.
BICKMANN, J. Kommunikation gegen den Tod. Studien zur paulinischen
Briefpragmatik am Beispiel des Ersten Thessalonicherbriefes (fzb
86), Würzburg 1998.
BJERKELUND, C.J. Parakalô. Form, Funktion und Sinn der parakalô-Sät-
ze in den paulinischen Briefen, BTN 1 Oslo u.a. 1967.
BLASS, F. – DEBRUNNER, A. Grammatik des neutestamentlichen Grie-
chisch, bearb. v. F. Rehkopf, Göttingen 1979.
209
and Luke, Mark and Thomas with English, German and French
Translations of Q and Thomas, hrsg. von J.M. Robinson, P. Hoff-
mann und J.S. Kloppenborg, Leuven/Minneapolis, MN 2000.
CRAWFORD, C. The 'Tiny' Problem of 1Thessalonians 2,7: The Case of
the Curious Vocative, in: Bib 54 (1973), 69-72.
FELDMAN, L.H. Jew and Gentile in the Ancient World. Attitudes and In-
teractions from Alexander to Justinian, Princeton 1993.
FELDMEIER, R. Osiris: Der Gott der Toten als Gott des Lebens (De Iside
Kap. 76-78), in: Hirsch-Luipold, R. (Hg.), Gott und die Götter bei
213
2002.
—. Art. Cirstov", in: EWNT III, 1147-1165.
HARE, D.R.A. The Theme of Jewish Persecution of Christians in the
Gospel According to Matthew, Cambridge 1967.
HARNACK, Adolf von. Die Mission und Ausbreitung des Christentums
in den ersten drei Jahrhunderten, Bd. I: Die Mission in Wort und
Tat, Leipzig 41924.
HAUFE, G. Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher (ThHK
12/1), Leipzig 1999.
HEMBERG, B. Die Kabiren, Uppsala 1950.
HEMER, C.J. The book of Acts in the setting of Hellenistic History
(WUNT 49), Tübingen 1989.
HEMER, C.J. The Letters to the Seven Churches of Asia in their Local
Setting (JSNT.SS 11), Sheffiled 1989.
HENGEL, M. Der Vorchristliche Paulus, in: Hengel, M. – Heckel, U.
Paulus und das antike Judentum. Tübingen-Durham-Symposion
im Gedenken an den 50. Todestag Adolf Schlatters (19. Mai
1938) (WUNT 1.58), Tübingen 1991, 177-293.
—. Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-
hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 1977.
—. Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter be-
sonderer Berücksichtigung Plästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s. v.
Chr. (WUNT 10), 2., durchg. und erg. Aufl., Tübingen 1973.
HENGEL, M. – SCHWEMER, A.M. Paulus zwischen Damaskus und Antio-
chien. Die unbekannten Jahre des Apostels, mit einem Beitrag von
E.A. Knauf (WUNT 1.108), Tübingen 1998.
—. Königsherrschaft Gottes und Himmlischer Kult im Judentum, Ur-
christentum und in der hellenistischen Welt (WUNT 1.55), Tübin-
gen 1991.
HERR, B. JHWH und die Götter, in ZRGG 52 (2000), 167-175.
HILGENFELD, A. Die beiden Briefe an die Thessalonicher, in: ZWTh 5
(1862), 225-264.
HILL, J.L. Establishing the Church in Thessalonica, Diss. masch., Duke
University, 1990.
HIRSCH-Luipold, R. Einleitung, in: Hirsch-Luipold, R. (Hg.), Gott und
die Götter bei Plutarch. Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder;
Berlin u.a. 2005, 1-11.
—. Plutarchs Denken in Bildern. Studien zur literarischen, philosophi-
schen und religiösen Funktion des Bildhaften (StTAC 14), Tübin-
gen 2002.
HOCK, R.F. The Workshop as a Social Setting for Paul’s Missionary
216
ben/Über die späte Strafe der Gottheit/Über Isis und Osiris. Grie-
chisch-deutsch, übers. und hg. v. H. Görgemanns unter Mitarbeit
v. R. Feldmeier & J. Assmann (Stusc), Düsseldorf/Zürich 2003.
POHLENZ, M. Griechische Freiheit. Wesen und Werden eines Lebens-
ideals, Heidelberg 1955.
POPLUTZ, U. Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie
zur Wettkampfmetaphorik bei Paulus (HBS 43), Freiburg u.a.
2004.
TACITUS, Historien, lat. u. dt., hrsg. von J. Borst unter Mitarbeit von H.
Hross und H. Borst (TuscBü), München u.a. 1969.
TANNEHILL,, R.C. Dying and Rising with Christ. A Study in Pauline
Theology (BZNW 32), Berlin u.a. 1967.
THEISSEN, G. Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen
Testaments, in: Blum, E. – Macholz, Chr. – Stegemann, E.W.
(Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte
(FS Rendtorff), Neukirchen-Vluyn, 535-553.
—. Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des
Urchristentums, Gütersloh 2007.
—. Legitimation und Lebensunterhalt. Ein Beitrag zur Soziologie
urchristlicher Missionare, in NTS 21 (1974/75) 192-221 = ders.,
Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen
3
1989, 201-230.
—. Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur
Geschichte der synoptischen Tradition (NTOA 8), Freiburg,
Schweiz 1989.
—. Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums,
227
Gütersloh 2000.
THOMA, C. Christliche Theologie des Judentums, Aschaffenburg 1978.
TREBLICO, P.R. Jewish Communities in Asia Minor (MSSNTS 69),
Cambridge 1991.
TRILLING, W. Die Briefe des Paulus an die Thessalonicher, in: ANRW
II.25.4, 3365-3403.
—. Untersuchungen zum zweiten Thessalonicherbrief (ETS 27),
Leipzig 1972.
—. Der zweite Brief an die Thessalonicher (EKK 14), Zürich 1980.
TUCKETT, C.M. Synoptic Tradition in I Thessalonians?, in: The
Thessalonian Correspondence, hg. v. R.F. Collins, BEThL 87,
Leuven 1990, 160-182.
ZELLER, D. Der eine Gott und der eine Herr Jesus Christus. Religions-
geschichtliche Überlegungen, in: Zeller, D. Neues Testament und
hellenistische Umwelt (BBB 150), Hamburg 2006, 47-60.
ZENGER, E. Der Monotheismus Israels. Entstehung – Profil – Relevanz,
in: Söding, T. (Hg.), Ist der Glaube Feind der Freiheit? Die neue
Debatte um den Monotheismus (QD 196), Freiburg u.a. 2003, 9-
52.
ZWICKEL, W. Religionsgeschichte Israels. Einführung in den gegenwär-
tigen Forschungsstand in den deutschsprachigen Ländern, in: Ja-
nowski, B. – Köckert, M. (Hg.), Religionsgeschichte Israels. For-
male und materiale Aspekte, Gütersloh 1999, 9-56.