Die Mystik
des Apostels Paulus
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Albert Smweitzer
D. theoI., Dr. phil., Dr. med.
1954
Printed in Germany.
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Drude K. GrammlidJ.. Plitzhaustn- Tüblngtn
Der theologischen F akuität der Universität Zürich
in dankbarem Gedenken
Vorrede.
Das Kapitel, das der "Mystik des Apostels Paulus" als Einleitung
dienen sollte, wuchs sich zu einem Buche aus und erschien 1911 als
"Geschichte der paulinischen Forschung". Die "Mystik des Apostels
Paulus", deren erster Entwurf auf das Jahr 1906 zurückgeht, sollte
alsbald folgen. Krankheit und die Arbeit an der zweiten, erweiterten
Auflage der "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" machten es mir
unmöglich, das Manuskript vor der unaufschiebbaren ersten Aus-
reise nach Afrika, 1913, druckfertig zu machen. Während meines
ersten Europaurlaubs war ich ganz durch die Ausarbeitung der beiden
ersten Bände der Kulturphilosophie in Anspruch genommen. So konnte
ich erst Ende 1927, bei meiner zweiten Rückkehl nach Europa, die
"Mystik des Apostels Paulus" wieder vornehmen und im Laufe zweier
Jahre dem Manuskripte seine endgültige Gest'l1lt geben. Dieser Verzöge-
rung verdanke ich es, daß meine Auffassung der Lehre Pauli in der Aus-
einandersetzung mit den Arbeiten Reitzensteins, Boussets, Deißrnanns
und anderer gezwungen wurde, zu voller Klarheit über sich selbst zu ge-
langen und sich umfassender zu begründen, als sie es sonst getan hätte.
Da ich es auf eine Darstellung des Systems Pauli abgesehen hatte,
mußte ich es mir versagen, auf die neuere Paulusliteratur so ein-
zugehen, wie ich es gerne gewollt hätte, und die Förderung, die ich von
ihr erfahren, im einzelnen anzuführen. Überdies habe ich mich in der
zweiten Auflage der "Geschichte der paulinischen Forschung", zu
der ich bald Zeit zu finden hoffe, zu den seit 1911 erschienenen Wer-
ken zu äußern.
Wieviel ich Hans Lietzrnann, Martin Dibelius und anderen neueren
Kommentatoren Pauli verdanke, ist aus gar manchen Einzelheiten zu
ersehen. Welch bleibenden Wert daneben die ausführlichen Analysen
behalten, wie sie sich in den Arbeiten H. J. Holtzmanns, P. W. Schmie-
dels und anderer Vertreter der älteren Schule finden, habe ich immer
und immer wieder feststellen können.
VIII Vorrede.
Mit dieser Darstellung der Lehre Pauli bringe ich das Unternehmen,
dem meine bisherigen theologischen Arbeiten galten, zu einem ge-
wissen Abschluß. Als Student hatte ich den Plan gefaßt, die gedank-
liche Entwicklung des Christentums der ersten Generationen von der
mir unabweisbar erscheinenden Voraussetzung aus begreiflich zu
machen, daß Jesu Verkündigung vom Reiche Gottes ganz eschato-
logisch gewesen und von den Hörern auch so verstanden worden sei.
Meine Studien über das Problem des historischen Abendmahls, über
das Messianitäts- und Leidensgeheimnis Jesu, über die Wege der
Leben-Jesu-FOlschung und die der Auslegung der Lehre Pauli drehen
sich alle um die beiden Fragen, ob neben der eschatologischen Auf-
fassung der Predigt Jesu eine andere noch irgendwie Raum hat und
wie der ursprünglich durch und durch eschatologische Christen-
glaube bei der Ersetzung der eschatologischen Denkweise durch die
hellenistische verfahren ist.
Die bisherige Dogmengeschichte erleichterte sich die Lösung des
Problems der Hellenisierung des Christentums dadurch, daß sie bei
Jesus neben den eschatologischen zugleich auch uneschatologische
Gedanken annahm und die Lehre Pauli zum Teil als eschatologisch,
zum Teil als hellenistisch ausgab. Durch allgemein religiöse und durcl!
hellenistische Vorstellungen, die sie im Christentum als von Anfang
an vorhanden voraussetzte, ließ sie also die totale Hellenisierung
vorbereitet sein, die in der kleinasiatischen Theologie des beginnen-
den 2. Jahrhunderts erfolgte.
In Wirklichkeit aber handelt es sich darum, zu erklären, wie der
rein eschatologische Glaube sich zum hellenistischen entwickelt hat.
Das so gestellte Problem der Hellenisierung des Christentums dreht
sich um die paulinische Frage. An Stelle der unhaltbaren Auskunft,
daß Paulus eschatologische mit hellenistischen Gedanken vereinigt
habe, muß jetzt entweder eine rein eschatologische oder eine rein
hellenistische Erklärung seiner Lehre treten. Ich führe die erstere
durch. Sie statuiert die vollständige Zusammengehörigkeit der Lehre
Pauli mit der Jesu. Die Hellenisierung des Christentums setzt nicht
mit Paulus, sondern erst nach ihm ein.
Das Problem der Hellenisierung des Christentums hat es also mit der
Frage zu tun, warum Ignatius und die Vertreter der kleinasiatischen
Theologie des 2. Jahrhunderts sich die vorgefundene urchristliche
Lehre nicht zu eigen machen konnten und auf welche Weise sie sie
ins Hellenistische umdachten. Die sehr einfache Antwort lautet, daß
Vorrede. IX
sie durch das Zurücktreten der eschatologischen Erwartung ganz natür-
lichdazu gebracht wurden, ihren Glauben in den ihnen geläufigen
hellenistischen Vorstellungen neu zu begreifen. Dies wurde ihnen da-
durch möglich gemacht, daß sie mit Pauli Mystik des Seins in Christo
vertraut waren. Sie übernahmen sie, indem sie die ihnen nbht mehr
verständliche eschatologische Logik derselben dur~h eine hellenisti-
sche ersetzten. So erklärt sich die Entwicklung von Jesus über Paulus
zu Ignatius auf sehr natürliche Weise. Paulus war nicht der Helleni-
sator des Christeutums. Aber er hat ihm in seiner eschatologischen
Mystik des Seins in Christo eine Fassung gegeben, in der es helleni-
sierbar wurde.
So glaube ich erwiesen zu haben, daß durch die Anerkennung des
eschatologischen Charakters der Predigt Jesu und der Lehre Pauli
das Problem der Hellenisierung des Christentums sich zwar in viel
schrofferer Form stellt als bisher, zugleich aber auch· auf viel ein-
fachere Weise lösbar wird.
Viel kam mir darauf an, den Zusammenhang der eschatologischen
Gedanken Pauli mit dem Spätjudentum darzutun und ihre Wurzeln
bis in die Zeit der exilischen und vorexilischen Propheten hinauf zu
verfolgen. Für dieses Unternehmen War es mir sehr wertvoll, daß
Herr Professor Gerhard Kittel zu Tübingen und sein Assistent Herr
Lic. theol. Karl Heinrich Rengstorf sich die Mühe nahmen, mein
Manuskript zu lesen uild. ihre Bemerkungen dazu zu machen. Ihre
Kenntnis des Spätjudentums und des Rabbinentums setzte mich in-
stand, so manche Linie klarer zu ziehen, als es mir sonst möglich
gewesen wäre. Für die Förderung, die meine Arbeit durch ihr Wissen
erfuhr, schulde ich ihnen tiefen Dank.
Altmodisch bin ich in meiner Arbeitsweise darin geblieben, daß ich
darauf ausgehe, die Gedanken Pauli in ihrer historisch bedingten
Form darzustellen. Ich glaube, daß von der jetzt so vielfach und oft
mit blendender Virtuosität geübten Vermengung unserer religiösen
Betrachtungsweise mit der geschichtlichen die geschichtliche Er-
kenntnis gar nichts und unser religiöses Leben auf die Dauer nicht
sehr viel hat. Die Erforschung der geschichtlichen Wahrheit als solcher
gilt mir als ein Ideal, dem die wissenschaftliche TheQlogie nachzustre-
ben hat. Noch immer bin ich überzeugt, daß die bleibende geistige
Bedeutung, die das religiöse Denken der Vergangenheit für das unsrige
hat, sich am stärksten auswirkt, wenn wir mit jener Frömmigkeit, so
wie sie wirklich war, nicht wie wir sie uns zurechtlegen, in Berührung
x Vorrede.
Albert Schweitzer
XI
Inhaltsübersicht.
Seite
Vorrede VII
Seite
Die urchristliche Vorstellung von der Bedeutung des Todes Jesu 63-64.
- Der Tod Jesu und die eschatologische Lehre von der Erlösung bei
Paulus 64-66. - Die Wiederkunft Jesu und die Endereignisse 66-70.
- Gesetz und Engelherrschaft 70-72. - Die gnostische Wendung
der eschatologischen Lehre von der Erlösung. Gnosis und Mystik 72-75.
Seite
- Taufe und Mahlfeier bei Jesus 231-233. - Die vierte Bitte als
Bitte um das messianische Mahl 233-235. - Das letzte Mahl Jesu
mit den Jüngern 235-238. - Das Voranziehen nach Galiläa und das
Neutrinken des Weines 238-241. - Das Abendmahl Jesu und das
Herrenmahlder Urgemeinde 241-246. - Das Wesen des urchristlichen
Herrenmahls 246-251. - Sakramente der Wüstenwanderung und
messianische Sakramente 251-253. - Die Taufe bei Paulus 254-256.
- Die paulinischen Stellen über das Herrenmahl 256-258. - Pauli
Kenntnis vom Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern 258-260. -
Mahlgemeinschaft mit Christo bei Paulus 260-262. - Das Herren-
mahl und die Gemeinschaft mit dem Leibe Christi 262-264. - Ge-
meinschaft mit Christo durch das Herrenmahl in der hellenistischen
Theologie 264-270. - Paulinische und hellenistische Auffassung von
Taufe und .Eucharistie 270-271. - Pauli Sakramente gehen nur auf
die messianische Seligkeit 271-273. - Pauli Sakramente als Garanten
der Auferstehung 273-276. - Die Taufe für Verstorbene 276-278.
- Sakramente und Auferstehung in der hellenistischen Theologie
278-280. - Die Sakramente in der uneschatologischen Vorstellung
der Erlösung 280-284.
Sach-Register 387-392
Stellen-Register 393-405
Namen-Register 407
1
aber, welche Färbung sie auch annimmt, bezieht sich die Denkmystik
auf den letzten Inbegriff des Seins.
* *
*
Welcher Art ist die Mystik Pauli?
Sie nimmt eine ganz eigentümliche Stellung zwischen der pmlll-
tiven und der denkenden Mystik ein. Die religiösen Vorstellungen des
Apostels stehen hoch über denen der primitiven Mystik. Dement-
sprechend müßte seine Mystik auf das Einssein des Menschen mit
Gott, als dem Urgrund des Seins, gehen. Dies tut sie aber nicht.
Nie spricht Paulus von einem Einssein mit Gott oder einem Sein in
Gott. Wohl behauptet er die Gotteskindschaft des Gläubigen. Gottes-
kindschaft aber faßt er merkwürdigerweise nicht als ein unmittelbares,
mystisches Verhältnis zu Gott auf, sondern läßt sie vermittelt und
verwirklicht sein durch die mystische Gemeinschaft mit Christo.
Höhere und niederere Mystik sind also durcheinandergeschoben.
Bei Paulus gibt es keine Gottesmystik, sondern nur Christusmystik,
durch die der Mensch in Beziehung zu Gott tritt.
Der Fundamentalgedanke der paulinischen Mystik lautet: Ich bin
in Christo; in ihm erlebe ich mich als ein Wesen, das dieser sinnlichen,
sündigen und vergänglichen Welt enthoben ist und bereits der ver-
klärten Welt angehört; in ihm bin ich der Auferstehung gewiß; in
ihm bin ich Kind Gottes.
Etwas ganz Eigentümliches hat diese Mystik noch dadurch an sich,
daß das Sein in Christo als ein Gestorben- und Auferstandensein mit
ihm vorgestellt wird, durch das man von der Sünde und dem Gesetze
freigeworden ist, den Geist Christi besitzt und der Auferstehung ge-
wiß ist.
Dieses Sein in Christo ist das große Rätsel der Lehre Pauli.
S p r ü c h e p a u I in i s c her Mys t i k.
Gal 219 U. 20. "Durch das Gesetz bin ich dem Gesetze gestorben, daß ich Gott
lebe; mit Christo bin ich gekreuzigt; ich lebe nun nicht ich selber: Christus lebt
in mir."
Gal 326-28. "Ihr alle seid ja Söhne Gottes durch den Glauben an JesUB Chri-
stus. So viele ihr auf Christum getauft wurdet, habt ihr Christum angezogen. Da
ist nicht Jude noch Grieche, nicht Knecht noch Freier, nicht Mann noch Weib:
alle seid ihr ja Einer in Christo Jesu."
1*
4 I. Die Eigenart der Mystik Pauli.
Gal 46. "Weil ihr aber Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes aus-
gesandt in unsere Herzen, welcher da ruft: Abba, Vater."
Gal 524-25. "Welche aber Christo Jesu angehören, die hab€'n das Fleisch
samt Leidenschaften und Lüsten gekreuzigt. Wenn wir durch den Geist leben,
so lasset uns auch im Geiste wandeln."
Gal 614. "Mir aber soll nicht widerfahren, daß ich mich rühme, es sei denn
des Kreuzes unseres Herrn Jesu Christi, durch welches mir die Welt gekreuzigt
ist und ich der Welt."
II Kor 5.17. "Darum, ist Jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das
Alte ist vergangen, siehe, es ist neu geworden."
Röm 610-11. "Was Christus gestorben ist, das ist er ein für allemal der Sünde
gestorben; was er aber lebt, das lebt er für Gott. Also achtet auch ibr euch als
tot für die Sünde, lebend aber für Gott in Christo Jesu."
Röm 74. "Ebenso, meine Brüder, seid auch ihr getötet worden für das Gesetz
durch den Leib Cbrist,i, um einem andern zu eigen zu werden, dem von den Toten
Auferweckten, damit wir Frucht bringen mögen für Gott."
Röm 81-2. "So gibt es denn jetzt keine Verdammnis mehr für die, die in
Christo Jesu sind. Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat
dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes."
Röm 8 9-11. "Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern im Geiste, wenn anders
Gottes Geist in euch wohnt; wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.
Ist aber Christus in euch, so ist, der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist
aber Leben um der Gerechtigkeit willen. Wenn aber der Geist dessen, der Jesum
von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird der, welcher Christum
Jesum von den Toten erweckt hat, auch eure sterblichen Leiber durch seinen
in euch wohnenden Geist lebendig machen."
Röm 124-5. "Denn wie wir an einem Leibe viele Glieder haben, alle Glieder
aber haben verschiedene Verrichtung, also sind wir, die Vielen, ein Leib in Christo;
als einzelne zueinander aber sind wir Glieder."
Phi! 3 8-11. "Daß ich Christum gewinne und in ihm erfunden werde, als der
ich nicht meine eigene Gerechtigkeit ha be, die Gerechtigkeit aus dem Gesetz,
sondern die durch den Glauben an Christum, die Gerechtigkeit aus Gott, auf
Grund des Glaubens, ihn zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und
die Gemeinschaft seiner Leiden, seinem Tode gleichgestaltet, ob ich gelangen
möchte zur Auferstehung von den Toten."
* *
*
Das Nächstliegende und Natürlichste, von uns aus gesehen, wäre
gewesen, daß PaU]US die von Jesus verkündete und im UrchIistentum
geltende Vorstellung der Gotteskindschaft ins Mystische ausgedacht
und zum Sein in Gott vertieft hätte. Er läßt sie aber so stehen, wie er
sie überkommen hat, und bildet daneben die Mystik des Seins in Christo
aus, als bedürfte die Gotteskindschaft einer Begründung durch das
Sein in Christo. Paulus ist der einzige christliche Denker, der nur
Christusmystik ohne Gottesmystik. 5
Das Fehlen von Aussprüchen über das Sein in Gott bei dem Paulus
der Briefe soll also als etwas Zufälliges und Belangloses gelten können,
weil ja der Paulus der Apostelgeschichte von Gott sagt: "In ihm leben
und weben und sind wir" (Act 17 28).
Gestützt auf dieses Wort deI Apostelgeschichte meint zum Beispiel
Adolf Deißmann, bei Paulus eine auf vorchristlich-jüdische Gedanken
zurückgehende Mystik des Seins in Gott annehmen zu können, um
die sich dann die aus dem Erlebnis bei Damaskus entstandene Mystik
des Seins in Christo WIe ein äußerer Kreis um einen inneren herum-
gelegt habe. 1
* *
*
Stammt das Wort auf dem Areopag wirklich von Paulus?
Gewic4tige Bedenken sprechen dagegen und machen wahrschein-
lich, daß die Rede vor den Athenern nur dem Verfasser der Apostel-
geschichte angehört. Es ist ja im Altertum bei den Geschichtsschrei-
bern allgemeiner Brauch, daß sie eine Rede entwerfen, wie sie ihnen
in einer gegebenen Lage zu einer gegebenen Persönlichkeit zu passen
scheint und sie von ihr so gehalten sein lassen. Dieser Gepflogenheit ist
der Verfasser der Apostelgeschichte unbedenklich gefolgt. Er beab-
sichtigte zu Athen einen Paulus auftreten zu lassen, der den Griechen
ein Grieche wäre. 2
Unhistorisch an dieser Rede ist schon die Tatsache, daß Paulus
eine Inschrift zum Ausgangspunkt nimmt, die einen athenischen
Altar "einem unbekannten Gotte" weiht. Eine solche hat es nie ge-
geben. Bezeugt sind in der antiken Literatur nur Altäre für "unbe-
kannte Götter", in der Mehrzahl, nicht für "einen unbekannten Gott",
in der Einzahl.
Nachricht besitzen wir von dreien solcher Altäre. Einer stand auf dem Wege
von Phaleron nach Athen (Pausanias I 1 4), ein anderer in Olympia (Pausanias
V 148), ein anderer zu Athen (PhiIostratus. Vita Apollonii 63). Vielleicht ist
uns neben diesen literarischen Zeugnissen aus dem zweiten und dritten Jahr-
hundert nach Christus sogar ein solcher Altar erhalten. Bei den Ausgrabungen
1) .Lidal! Deißmann, "Paulus"; 2. Auf!.; Tübingen. 1925; 292 S.; S. Po.
1. Auf!. 1911. - Englische Ausgabe "St. Paul. A Study in Social and Religions
History". 1912.
2) Zur Frage der Rede auf dem Areopag siehe Eduard Norden, "Agnostos
Theos" (Leipzig 1913; 410 S.), S. 1-140. Norden sieht in der Rede eine Schöpfung
des Verfassers der Apostelgeschichte, wie schon Eduard Reuß, Heinrich Julius
Holtzmann und die Vertreter der älteren kritischen Schule überhaupt.
Die stoische Gottesmystik der Rede auf dem Areopag. 7
zu Pergamon wurde im Herste 1909 im heiligen Bezirke der Demeter eine Altar-
aufschrift gefunden, die besagt, daß der Fackelträger Kapit[on] den Altar lJeoi,;
ayv • •. weiht. Möglicherweise ist das verstümmelte Wort in ayv[wuTOI(;] (un-
bekannten) zu ergänzen. 1
Schon der Kirchenvater Hieronymus macht darauf aufmerksam, daß der
von der Apostelgeschichte gemeinte Altar in Athen nur einer Mehrzahl unbekannter
Götter, nicht einem einzelnen unbekannten Gotte geweiht sein konnte. Ihm
zufolge soll die Inschrift gelautet haben: "Diis Asiae et Europae et Africae, diis
ignotis et peregrinis". 2
Wer hat dann aus "unbekannten Göttern" "einen unbekannten Gott" ge-
macht?
Hieronymus meint, daß Paulus selber die Inschrift zurechtgelegt und um-
gebogen habe, um sie der monotheistischen Predigt dienstbar zu machen. Ähn-
lich urteilen moderne Ausleger, die die Geschichtlichkeit der Rede auf dem Areopag
retten wollen, wenn sie nicht lieber annehmen, daß der Apostel in der Zerstreut-
heit den Singular statt des Plurals gelesen habe. VieHach ziehen sie sich auch
auf die Ausrede zurück, es habe in Athen neben dem Altar für unbekannte Götter
noch einen für einen unbekannten Gott gegeben.
Tatsächlich aber liegt der Fall so, daß Paulus vor den Leuten, die den Altar
alle Tage vor Augen hatten, die Inschrift nicht vergewaltigen konnte. Auch mußte
ihn ein einer Mehrzahl unbekannter Götter geweihter Altar eher zu einer flam-
menden Rede gegen die Vielgötterei als zu einem Preise des Monotheismus an-
regen.
und der Götterbilder erweisen, zur Buße auffordern und das Kommen
Christi als des WeItrichters verkünden. Dazu wäre nicht erforderlich,
die Gedanken bis in die Höhe der Mystik hinaufzutreiben, von welcher
sie dann doch alsbald wieder heruntersinken. Die Mystik tritt hier
als unmotivierte Zugabe auf. Sie ist eine gesucht effektvolle Modula-
tion in einem sonst einfachen Stücke.
Wie ganz anders sind die mystischen Sprüche in den Briefen Pauli
motiviert! In diesen bricht die Lehre von dem Sein in Christo als das
Argument der Argumente in dem Gedankengang durch und beherrscht
die Logik des ganzen Abschnitts. Hier wird die Mystik von einem
Denker gehandhabt. In der Areopagrede der Apostelgeschichte ist
sie ein schriftstellerisches Requisit. Um den Griechen ein Grieche zu
sein, muß Paulus sich einen Augenblick in stoisch-pantheistischer
Mystik bewegen und sich auf einen aus der Literatur bekannten Spruch
berufen. Nach dem Feuerwerk des Altarweihespruchs wird dieses
andere abgebrannt.
Die Rede auf dem Areopag ist uns ans Herz gewachsen, weil sie
die Mystik des Seins in Gott verkündet, nach der unsere Frömmigkeit
verlangt und die nirgends sonst im Neuen Testament in so unmittel-
barer Weise ausgesprochen ist. Unser modernes Denken empfindet die
Nötigung, uns und die ganze Natur mit uns als in Gott seiend zu be-
greifen. Darum kommt es uns so überaus schwer an, darauf zu ver-
zichten, daß Paulus selbst auf dem Areopag dies ausgesprochen habe.
* *
*
In dem Satze "In ihm leben und weben und sind wir; wir sind
seines Geschlechts" spricht sich stoisch-pantheistische Mystik aus.
Sie setzt eine Weltanschauung mit immanentem Gottesbegriff voraus.
Gott wird als der Inbegriff aller in der Natur wirkenden Kräfte ge-
dacht. Also ist alles, was ist, "in Gott". In dem denkenden Menschen
wird diese Tatsache in den Zustand des Bewußtseins erhoben.
Wo dieses unmittelbare Verhältnis zwischen Natur und Gott nicht
vorausgesetzt wird, ist auch die elementare Mystik des Seins in Gott
undenkbar. Paulus aber ist weit entfernt von dem Deus sive Natura
des stoischen Denkens. Er lebt nicht in der Weltanschauung des
immanenten, sondern des transzendenten Gottes. Die stoische Idee
des natürlichen und unmittelbaren Seins in Gott muß ihm, wenn er je
Stoische und pauliniBche Mystik. 9
auf sie aufmerksam geworden ist und sich mit ihr auseinandergesetzt
hat, als eine Torheit und Vermessenheit vorgekommen sein.
Soweit ist Paulus von stoischen Voraussetzungen entfernt, daß ihm
nicht einmal der in der Areopagrede vorausgesetzte Allgemeinbegriff
des Menschen vollziehbar ist. Die Möglichkeit, daß der Mensch als
solcher und allgemein in Beziehung zu Gott stehe, liegt außerhalb
seines Gesichtskreises. Er kennt keine homogene Menschheit, sondern
nur Menschenkategorien.
Zunächst einmal ist sein Denken ja durch die Idee der Prädestination
beherrscht. Ein gewaltiger Riß geht bei ihm durch den Begriff der
Menschheit hindurch. Nicht der Mensch als solcher, sondern nur der,
der dazu erwählt ist, kann zu Gott in Beziehung treten. Der herrliche
Spruch Röm 82B "Wir wissen aber, daß denen die Gott lieben, er
alles zum Guten zusammenwirken läßt" hat den furchtbaren be-
schränkenden Nachsatz: "denen nämlich, die nach dem Vorsatz be-
rufen sind".
Aber aU{,h abgesehen von der Prädestination stehen die Menschen
bei Paulus nicht auf einer Linie. Die Unterschiede von Mann und
Weib, Jude und Grieche sind bei ihm nicht nur Unterschiede des
Geschlechts und der Rasse, sondern Unterschiede der Gottesnähe.
Daß dies für Juden und Heiden gilt, ist nach jüdischen Voraussetzungen
selbstverständlich. Das Überraschende aber, daß der Mann von sich
aus Gott näher steht als das Weib, erfahren wir aus den befremdlichen
Ausführungen, in denen Paulus begründet, daß beim Beten die Frauen
das Haupt verhüllen müssen, die Männer hingegen es unverhüllt
tragen sollen.
I Kor 11 7-11: "Der Mann braucht das Haupt nicht zu bedecken, denn er
ist Bild und Abglanz Gottes; das Weib aber ist Abglanz des Mannes. Der Mann
ist ja nicht aus dem Weibe, aber das Weib aus dem Manne; denn nicht wurde
geschaffen der Mann um des Weibes willen, sondern das Weib um des Mannes
willen. Deshalb muß das Weib eine Hülle (e~ovala) auf dem Haupte haben dllr
Engel wegen."
Zur Bedeutung Hülle (Schleier) kommt das griechische Wort e;ovala (Macht)
nach G. Kittel (Arbeiten zur Religionsgeschichte des Urchristentums. 1. Band,
3. Heft S. 17-31: "Die Macht auf dem Haupte." Leipzig 1920) dadurch, daß
es im Semitischen zwei Stämme slt gegeben habe, von denen der eine "umhüllen",
der andere "herrschen" bedeutete. Weil er von der ersteren Bedeutung kein Be-
wußtsein mehr hatte, habe Paulus das rabbinische saltonajja irrtümlicher.
weise mit e~ovata (Macht) wiedergegeben.
Daß die Frauen das Haar bedeckt haben sollen, ist nach KitteZ ein Stück all-
gemeiner Ehrbarkeit. Um ihren Schutzengeln, die um sie sind, keinen Anstoß
10 I. Die Eigenart der Mystik Pauli.
zu geben, sollen sie also die Hülle auf dem Haupte tragen. Die gewöhnliche Aus-
legung geht von der Erzählung der Verführung der Töchter der Menschen durch
die Engel (Gen 61-4) aus und läßt die Frauen das Haar verhüllt tragen, um
nicht die Gier der Engel zu erregen. Diesen Grund führt auch Tertullian in seiner
Schrift über das Verhüllen der Jungfrauen an, in der er auf diese Sttlle des Paulus
Bezug nimmt (Tertullian De virginibus velandis 7). In jedem Falle verlangt
Paulus von den Griechinnen in Korinth, daß sie im Gottesdienste die Kopf tracht
haben, die er von den jüdischen Frauen her gewohnt ist.
* *
*
Unmöglich ist die stoisch-pantheistische Gottesmystik für Paulus
auch deswegen, weil er vom pantheistischen Gottesbegriff so weit
entfernt ist, als nur immer möglich. Nicht nur daß er Welt und
Gott nach Art des jüdischen Denkens streng auseinanderhält : auf
Grund seiner eschatologischen Weltanschauung nimmt er sogar an,
daß, solange die natürliche Welt dauert, ja noch bis in die messianische
Zeit hinein, Engelgewalten zwischen den Menschen und Gott stehen
und direkte Beziehungen zwischen beiden unmöglich machen. Am
Ende des 8. Kapitels des Römerbriefs ertönt ein Jubelhymnus über
die Stellung, die die Erwählten, die in Christo sind, daraufhin Gott
Engelherrschaft als Hindernis der Gottesmystik. 11
gegenüber einnehmen. Was wird hier als erreicht gefeiert? Nur dies,
daß hinfort keine anklagenden Engelwesen bei Gott gegen diese Er-
wählten Recht bekommen können und daß es keiner Art von Engel-
macht mehr gelingen soll, sich wirksam zwischen die Liebe Gottes
und sie zu stellen!
Röm 8 38-39: "Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel
noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch irgendwelche Mächte,
weder solche aus der Höhe, weder solche aus der Tiefe, noch irgendein anderes
Wesen uus zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist,
unserem Herrn."
Durch das Sein in Christo ist also das eine erreicht, daß die Verbin-
dung zwischen den Erwählten und Gott hergestellt ist. Sie sind in den
Weltverlauf eingereiht, der seine Richtung wieder auf Gott zu nimmt.
Hier tut sich der fundamentale Unterschied zwischen der Welt-
anschauung auf, in der die Mystik des naturhaften Seins in Gott
möglich ist, und der anderen, in der sie undenkbar bleibt. Zu dem
Unterschiede von Immanenz und Transzendenz Gottes kommt noch
der von natürlichem und übernatürlich-dramatischem Weltgeschehen.
In der stoischen Weltauffassung ist die Welt als ruhende und sich
gleich bleibende gedacht. Sie ist Natur, die zu dem Weltgeist, welcher
sich in ihr erlebt und in welchem sie sich selber erlebt, stetig in dem-
selben Verhältnis steht. Für Paulus aber ist die Welt nicht Natur,
sondern übernatürliche Geschichte, und zwar Geschichte des Hervor-
gehens der Welt aus Gott, ihrer Entfernung von ihm und ihrer Rück-
kehr zu ihm.
Diese dramatische Weltanschauung ist in ihrer Art auch Mystik,
aber nicht ruhende, sondern in Bewegung befindliche. Dieser Mystik
ist der Satz möglich, daß alle Dinge aus Gott und durch Gott und zu
Gott sind. Aber niemals kann sie sagen, daß die Dinge in Gott sind.
Denn dieses trifft bei ihr nicht zu, solange es eine sinnliche Welt und
ein sinnliches Weltgeschehen gibt. Erst wenn das Ende kommt, wo
die Zeitlichkeit durch die Ewigkeit abgelöst wird und alle Dinge zu
Gott zurückkehren, sind sie in Gott.
Da Paulus in den Vorstellungen der dramatischen Weltanschauung
der spätjüdischen Eschatologie lebt, ist er der damit gegebenen Logik
unterworfen. Den Hymnus auf Gott, am Ende des 11. Kapitels des
Briefes an die Römer, beschließt er mit dem Spruche: "Denn aus ihm
und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge" (Röm 11 36). Aber er kann
nicht weitergehen und hinzufügen, daß die Dinge in Gott sind.
12 I. Die Eigenart der Mystik Pauli.
1) Eine ausführliche Beschreibung der Zeremonie findet sich bei dem christ-
lichen Schriftsteller Prudentius (geb. 348) in Peristephanon X 1006-1050; ab-
gedruckt bei Hugo Hepding, "Attia, aeine Mythen und sein Kult." Gießen 1903.
S. 65 ff. Auf die Taurobolien bezieht sich ebenfalls die Inschrift "taurobolio crio-
bolioque in aeternum renatus aram sacravit". Corp. inscript. Lat. VI 510."
2) Apuleius Metamorph. XI 21: "renatos ad novae ... salutis curriculae."
Das Realistische der Mystik Pauli. 15
Joh 3 ~: "Wenn einer nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht
in das Himmelreich eingehen." - I Joh 39: "Jeder, der aus Gott gezeugt ist,
tut nicht Sünde."
Justin I Dial 61: "Dann werden sie von uns an einen Ort geführt, wo Wasser
ist, und werden neu geboren in einer Art von Wiedergeburt, die wir auch selbst
an uns erfahren haben." - Justin Dialog mit Trypho 1382: "Christus, obwohl
der Erstgeborene aller Schöpfung, ist doch auch der Anfang eines zweiten Ge-
schlechts geworden. Dieses nun hat er wiedergeboren durch Wasser, Glaube
und Holz."
Die paulinische Behauptung, daß, wer in Christo ist, eine neue Kreatur (XUtll1)
x-rlatr;. Gal 615; II Kor 517) sei, hat nichts mit der Vorstellung der Wiedergeburt
zu tun. Eine neue Kreatur ist der in Christo Seiende, weil er als ein in ihm Ge-
storbener und Auferstandener bereits der neuen Welt angehört.
Die Tatsache, daß sich bei Paulus nur Auferstehungs- und nicht
auch Wiedergeburtsmystik findet, wird in der bisherigen Forschung
nicht nach Gebühr beachtet. Gewöhnlich wird sie sogar überhaupt
übersehen. Richard Reitzenstein und Adolf Deißmann, die sich so ein-
gehend mit dem Probleme des Hellenistischen bai Paulus beschäftigen,
nehmen von dem Fehlen des Ausdrucks Wiedergeburt bei ihm keine
Notiz. Was aber bedeutet es für die Entscheidung dit=lses Problems
daß eine so dominierende Vorstellung hellenistischer Mystik bei ihm
nicht vertreten ist, wo doch sein ganzes Denken sich um die Idee
des neuenLebens bewegt!
Daß Paulus bei seiner Vertrautheit mit der griechischen Sprache
den Ausdruck Wiedergeburt und seine Bedeutung für die hellenistische
Frömmigkeit gekannt hat, ist wohl anzunehmen. Aber er kann ihn
nicht verwenden, weil er ganz realistisch und logisch denkt. Das Ster-
ben mit Christo und das Auferstehen mit ihm ist ihm nicht etwas
Symbolisches, das daneben auch noch durch ein anderes Symbol
ausgedrückt werden kann, sondern einfache Wirklichkeit. Weil sein
Denken ganz durch die eschatologische Erwartung bestimmt ist, ist
es für die Vorstellung der Wiedergeburt nicht aufnahmefähig.
* *
*
Mit dem Realismus der Mystik Pauli und ihrer unhellenistischen
Art hängt zusammen, daß ihm die Vorstellung der Vergottung fremd
ist. Nach dem in den hermetischen Schriften waltenden Denken, ist der
Wiedergeborene gewissermaßen selber Gott geworden. Auch im
Mithrasmysterium der Himmelswanderung und in den Isismysterien
erlebt er eine Vergottung und wird sogar als Gott angebetet. Diese
16 I. Die Eigenart der Mystik PauIi.
* *
*
Schon bei der Frage, warum bei Paulus keine Gottesmystik neben
die Christusmystik tritt, war die Tatsache zum Vorschein gekommen,
daß seine Mystik nicht für sich besteht, sondern in ein Welt drama
eingespannt ist. Er kennt keine Gottesmystik, weil der Weltzustand
eine solche vorerst unmöglich macht.
In den Sakramenten waltet dieselbe Bedingtheit. Sie vermitteln
nicht einfach das ewige Leben, wie in den griechischen Mysterien-
religionen, sondern die Teilnahme an einem sich vorbereitenden
Weltzustand. Das Sakrament hat also eine Beziehung zum kos-
mischen Geschehen.
Dies kommt schon darin zum Ausdruck, daß die Sakramente bei
Paulus ephemere Veranstaltungen sind. In den hellenistischen My-
sterienreligionen gehört es zum Wesen des Sakraments, daß es in
Mythische und kosmisch-geschichtliche Mystik. 23
die geheimnisvolle Urzeit zurückreicht und für alle Zeiten und in
allen Generationen der Menschheit wirksam ist. Nichts von alledem
bei Paulus. Seine Sakramente nehmen ihren Anfang mit dem Tode
Jesu, also in unmittelbarer Gegenwart, und gehen bis zu seiner
Wiederkunft in Herrlichkeit, also bis zur unmittelbaren Zukunft.
Nur für diese Zeitspanne sind sie da. Vorher sind sie unmöglich,
nachher unnötig. Sie sind ad hoc geschaffen für eine bestimmte
Menschenklasse einer bestimmten Menschengeneration : die Erwählten
der Generation, "auf die das Ende der Zeiten gekommen ist"
(I Kor 1011).
Als ephemere Veranstaltungen ad hoc haben sie ihre Typen in
den Sakramenten des aus Ägypten nach Kanaan wandernden Volkes.
Auch diese gelten nur für eine Generation und auf ein in der nächsten
Zukunft erwartetes Gut hin.
Bezeichnend für die sakramentale Anschauung Pauli ist, daß er
einmalige oder nur einige Male sich wiederholende und von einer
großen Menge von Menschen gemeinsam erlebte Geschehnisse wie
den Durchgang durch das Rote Meer, das Wandern unter der Wolke,
die Speisung mit Manna und die Tränkung aus dem Felsen über-
haupt als Sakramente ansehen kann.
Die Tatsache, auf welche bei ibm Mystik und Sakramente zurück-
gehen, ist das in jüngster Vergangenheit erfolgte Sterben und Auf-
erstehen Jesu Christi. Sie ist ein Stück Weltgeschehen. Im Tod
Jesu beginnt das Aufhören der natürlichen Welt und in seiner Auf-
erstehung das Anbrechen der übernatürlichen. Dieses Weltgeschehen
wirkt sich in der Kreatürlichkeit der Menschheit als Sterben und
Auferstehen aus.
Pauli Mystik ist geschichtlich-kosmisch, die der hellenistischen
Mysterienreligionen mythisch. Der Unterschied ist fundamental. Die
mythische Mystik ist nach der Vorzeit hin orientiert, die geschichtlich-
kosmische nach der Endzeit. In der mythischen Mystik bekommt
ein in der Vergangenheit liegendes Geschehnis allgemeine Bedeutung
und Wirkung, indem es im Symbol wiederholt und dabei von einer
Persönlichkeit, die eine Anstrengung daraufhin macht, gewissermaßen
wiedererle bt wird. Der Mythus wird in die Gegenwart hineingezogen.
In der Mystik Pauli aber vmläuft alles objektiv. Weltumgestaltende
Kräfte, welche in Jesu Sterben und Auferstehung zum erstenmal
in Erscheinung getreten sind, fangen an, sich in Menschen einer be-
stimmten Menscbheitsklasse wirksam zu erweisen. Diese brauchen
24 I. Die Eigenart der Mystik Pauli.
nur zu den Erwählten zu gehören und durch die Taufe dem Wirken
dieser Kräfte ausgesetzt zu werden.
Die Mystik der Mysterienreligionen ist individualistisch, die des
Paulus kollektivistisch; die erstere hat aktivistischen Charakter, die
zweite hat etwas eigentümlich Passives an sich.
In den hellenistischen Mysterien erwirbt der Geweihte die Un-
vergänglichkeit, um beim Eintritt seines Todes in deren Besitz zu
sein. Die paulinische Mystik hat es mit dem Vergehen und Wieder-
erstehen der Welt und dem in diesem Geschehen verlaufenden Schicksal
der Erwählten zu tun. Sie nimmt nicht einmal an, daß alle sterben,
sondern erwartet, daß viele von ihnen das Ende bei lebendigem
Leibe erleben und als Verwandelte in die durch das Sein in Christo
erworbene Herrlichkeit eingehen werden.
Daß sie in Weltenderwartung auftritt und sich in kosmischem
Geschehen begründet, macht das eigentümliche Wesen der pau-
linischen Mystik aus. Vergebens hat man durch literarische Künste
versucht, die Todeserwartung der hellenistischen Mysterien auch in
Weltenderwartung schillern zu lassen, um die hellenistische Mystik
der Sakramente der paulinischen näherzubringen.
In brennender Weltenderwartung lodernd, ist die paulinische Mystik
etwas absolut Eigenartiges. Keine vorher oder gleichzeitig oder später
aufgetretene Mystik ist ihr vergleichbar.
* *
*
Eine letzte Eigentümlichkeit der Mystik Pauli liegt darin, daß
Paulus nicht nur Mystiker ist.
Für gewöhnlich verschmäht es derjenige, der einmal zum letzten
Erkennen und Erleben des Unvergänglichen in dem Vergänglichen
durchgedrungen ist, weiterhin mit den unzulänglichen Anschauungen
des gewöhnlichen Denkens und der gewöhnlichen Frömmigkeit um-
zugehen. Er ist ganz Mystiker. Im Besitze der von innen kommenden
und auf das Innere gehenden Betrachtungsweise, ist er erhaben über
alle Erkenntnisse von außen her. Duldet er auch die naiven Aussagen
über zeitlich und ewig als überlieferte Bilder, so hat er doch immer
das Bestreben, dieses Exoterische mit dem durchdringenden Lichte
der Mystik zu durchleuchten und es in seiner armseligen Relativität
offenbar werden zu lassen.
Das Nebeneinander von mystischer und nichtmystischer Lehre. 25
Bei Paulus zeigt die Mystik ein ganz anderes Verhalten. Unbefangen
läßt sie nichtmystische Anschauungen über die Erlösung als gleich-
berechtigt neben sich zu Worte kommen.
Wohl steht auch für Paulus fest, daß es eine wissende Erfassung
der Erlösung gibt, die weiter geht als die Anschauungen des gewöhn-
lichen Glaubens. Von solcher "Weisheit" redet er in den drei ersten
Kapiteln des ersten Korintherbriefes. Er definiert sie als von Gott
kommende Weisheit, in der die Dinge Gottes, so wie sie sind, sich
in dem Geiste Gottes darstellen, der den geistig gewordenen Menschen
innewohnt. Aber nirgends setzt er die Mystik des Seins in Christo,
die der Inhalt dieser adäquaten Erkenntnis ist, über andere Formu-
lierungen der Erlösung. Er läßt sie neben sie treten. Worauf es ihm
ankommt, ist, daß man den ganzen Umfang und die ganze Tragweite
der am Kreuz geschehenen Erlösung überschaue und den ganzen
Reichtum dessen, "was uns von Gott geschenkt ist" (I Kor 212),
ermesse. Die mystische Erkenntnis entwertet das Glauben nicht,
sondern vervollständigt es. Für die, die durch den Geist das adäquate
Wissen erlangt haben, liegt das ganze Panorama bis zu den fernsten
Ketten in Klarheit da; für die Unmündigen in Christo sind nur die
nächsten Höhen sichtbar; für die, die im Sinne der Welt Weise sind,
ist alles mit Wolken verhangen.
Drei verschiedene Lehren von der Erlösung gehen bei Paulus
nebeneinander her: eine eschatologische, eine juridische und eine
mystische.
Nach der eschatologischen sind die Erwählten erlöst, weil durch
Tod und Auferstehung J esu Christi das Ende der Herrschaft der
Engelmächte und damit das Ende der natürlichen Welt herbeigeführt
wird. Es ist also gewiß, daß er bald in seiner Herrlichkeit erscheinen
und seine Erwählten, ob sie schon tot oder noch lebendig sind, in
die messianische Herrlichkeit eingehen läßt.
Die juridische Erlösungslehre von der Gerechtigkeit aus dem Glau-
ben beruht auf der Idee des Sühnetodes Jesu. Durchgeführt wird
sie mit Hilfe des Schriftbeweises. Daß Gott den Abraham, ehe es
noch ein Gesetz gab, für gerecht erklärte, weil er seinem Wort glaubte
(Gen 156), bedeutet, daß die wahren Nachkommen Abrahams die-
jenigen sind, die sich für die Erlangung der messianischen Seligkeit
nicht auf die Werke des Gesetzes, sondern allein auf den Glauben
an die von Gott in Christo dargebotene Erlösung verlassen.
So lebt Paulus zugleich in den elementaren Gedankengängen der
26 I. Die Eigenart der Mystik PauIi.
* *
*
27
Die Art aber, wie Reitzenstein die Frage der Beeinflussung des
Christentums durch den Hellenismus in Angriff nimmt, ist nicht
glücklich. Er stellt keine allgemeinen Erwägungen darüber an, wie
und wann der urchristliche Glaube an die Messianität Jesu und das
baldigst anbrechende Reich dazu kommen konnte, Gedanken der
Frömmigkeit der hellenistischen Mysterienreligionen in sich aufzu-
nehmen, und in welcher Weise dies dann vor sich gehen mußte, sondern
behauptet einfach, daß bereits bei Paulus eine Synthese jüdischer
und hellenistisch-mysterienhafter Vorstellungen vorliege. Bei Paulus
wiederum unterläßt er es, der Eigenart seiner Gedanken und den
Zusammenhängen, die zwischen ihnen walten, nachzugehen. Sein
ganzes Bestreben ist einseitig darauf gerichtet, ihn ohne weiteres aus
irgendwie gleichlautenden hellenistischen Anschauungen zu erklären.
Ehe der arme Apostel nur zu Worte kommt, hat er ihn schon mit
Parallel stellen aus der hellenistischen Literatur gesteinigt.
Der Philologe in Reitzenstein steht so im Banne des draufgänge-
rischen Religionsgeschichtlers, daß er die einfachstell philologischen
Feststellungen unterläßt. Mit keinem Worte erwähnt er, daß Paulus
den Gedanken der Wiedergeburt nicht verwendet. Ebenso geht er
darüber hinweg, daß der der Vergottung bei ihm nicht vorkommt.
Auch setzt er sich nicht damit auseinander, daß seine Mystik durch
die Idee der Prädestination beherrscht ist und auch sonst noch in
vielfacher Weise mit der Eschatologie zusammenhängt, und daß sich
aus dem Hellenismus ni.chts zur Erklärung des "in Christo" und des
mystischen Leibes Christi beibringen läßt. Die Überzeugung, daß
Paulus, wenn er Ausdrücke gebraucht, die in dem hellenistischen
Mysterienglauben vorkommen, auch die entsprechenden Gedanken
von dort herhaben müsse, beherrscht ihn in der Weise, daß er für
die einfachsten methodologischen Überlegungen unzugänglich ist. So
kommt er auch dazu, den Umstand, daß die ganze von ihm zur Er-
Die hellenistische Erklärung. Reitzenstein. 29
klärung des Paulus benutzte Literatur in eine viel spätere Zeit fällt,
nicht gebührend in Betracht zu ziehen.
Daß Paulus mit hellenistischen Anschauungen nicht nur durch
die griechische Umgangssprache, sondern durch ein eingehendes
Studium der religiösen hellenistischen Literatur bekannt geworden
sei, gilt Reitzenstein als ausgemacht. Durch diese ihm schon in seiner
jüdischen Zeit bekannten Erbauungs- und Offenbarungsschriften soll
der Apostel fähig geworden sein, aus dem Damaskuserlebnis das zu
machen, was es für ihn wurde, und sich von der väterlichen Religion
loszureißen. 1 "Ein erneutes Studium war notwendig von dem Moment
an, in dem der Apostel sich mit voller Hingabe zur Predigt unter
den "E)J''fJ'V8~ rüstete. Er mußte die Sprache und Anschauungswelt
der Kreise, die er gewinnen wollte, kennenlernen und für die Ge-
meinden, die er schaffen wollte und doch nicht nach dem Vorbild
der Urgemeinde gestalten konnte, wie für den Gottesdienst, den er
in ihnen einrichten wollte, Normen finden." 2 Dieser Paulus, der
sich durch entsprechende Lektüre auf den Missionarsberuf vorbereitet,
ist derart ins Professorenhafte verzeichnet, daß er mit dem, der
uns in den Briefen entgegentritt, keine Ähnlichkeit mehr hat.
In Untersuchungen über die paulinische Vorstellung der Taufe als eines Ge-
storbenseins mit Christo, über seine Begriffe der Gnosis und des Pneuma, über
seine Erwartung der Verwandlung, über sein Selbstbewußtsein, über Christus
als den neuen .Adam, über die Formel Glaube, Liebe, Hoffnung: überall glaubt
Reitzenstein nachzuweisen, daß Paulus nur aus der Gedankenwelt der helle-
nistischen Mysterienreligionen verständlich zu machen sei. Sein Scharfsinn in
der Beibringung interessanter Parallelen ist ebenso erstaunlich wie sein Vermögen,
das. Nächstliegende zu übersehen.
Um seine Theorie durchzuführen, darf er nicht annehmen, daß Paulus ein
Denker ist, der eigene Gedanken zu einem System zusammenfügt. Er muß seine Tä-
tigkeit darin bestehen lassen, das, was er in der hellenistischen und jüdischen Um-
welt vorfindet, in sich zur Einheit zu verarbeiten, wobei dann "aus der jüdischen
Messiashoffnung der Glaube an einen die Menschheit erlösenden Gesandten Gottes,
der erschienen ist und in den Seinen weiterwirkt", 3 hervorgeht und Gestalt
gewinnt. Durch seine Beschäftigung mit der Gedänkenvermengung im griechi.
schen Orient hat Reitzenstein das Verständnis für das Wesen des wirklichen
Denkers verloren.
* *
Viel tiefer erfaßt das Problem Wilhelm B0U8set. 1 Er geht von der
Überlegung aus, daß die Umgestaltung des Christentums nach dem
Geiste der hellenistischen Mysterienreligionen nicht die Tat eines
Einzelnen gewesen sein könne. Hätte Paulus allein solches unter-
nommen, so wäre es für die Gemeinden ein Neues gewesen. Nun
ergibt sich aber aus den Briefen, daß eine Verschiedenheit des Glau-
bens nicht in Frage stand. Das einzige, worin Paulus von den an-
erkannten Anschauungen abwich, war dies, daß er die Geltung des
Gesetzes für die Gläubigen aus den Heiden bestritt.
Nur eine Lösung, die Paulus und die urchristlichen Gemeinden
gemeinsam Anleihen bei den hellenistischen Mysteriellleiigionen ma-
chen läßt, kann also in Betracht kommen.
BOU8set nimmt an, daß die Hellenisierung in der Gemeinde zu
Antiochia in Syrien, die ja schon vor Pauli Auftreten bestand, und
etwa noch in anderen gleichzeitig gegründeten Gemeinden, vor Paulus
und unabhängig von ihm eingesetzt habe. Aus hellenistischen Kreisen
kommende Christen hätten den Kult eines Kyrios mitgebracht und
diesen auf Jesus Christus übertragen. So erkläre es sich, daß die
Bezeichnung Jesu als Kyrios (Herr) neben die als Christus (Messias)
trete. Aus dieser Verehrung Jesu als des Kyrios sei dann die pau-
linische Mystik erwachsen.
Der Kyrios der "hellenistischen Urgemeinde" ist, nach BOU8set,
eine im Kult und im Gottesdienst gegenwärtige Größe. Dement-
1) Wie sehr die erste christliche Kirche an Jerusalem gebunden war, zeigt
Karl Holls Studie "Der Kirchenbegriff des Paulus in seinem Verhältnis zu dem
der Urgemeinde". (Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Band II "Der
Osten". 464 S. Tübingen 1928. S.44-67.)
Siehe auch J ttlius Wagenmann, "Die Stellung des Apostels Paulus neben den
Zwölf in den ersten zwei Jahrhunderten". 224 S. Gießen. 1926.
Die hellenistische Erklärung. Bousset. 33
der seine. Die Christen aus dem Heidentum und die aus dem griechisch
redenden Judentum begeben sich also unter die Autorität der Christen
aus dem palästinensischen Judentum, mögen sie zahlenmäßig auch
die stärkeren gewesen sein. Wie ist damit vereinbar, daß sie in der
Ausgestaltung des Glaubens und des Kultus ihre eigenen Wege ge-
gangen sein sollen? Und was für Wege! Damit für Paulus als Ver-
geistiger dieses hellenistischen Christentums auch etwas zu tun übrig
bleibe, muß BOU8set annehmen, daß der Glaube der Gemeinden aus
der Diaspora das Sakramental-Mystische der Mysterienreligionen in
seiuer ganzen Ursprünglichkeit und Kraßheit übernommen habe.
Um die Tatsache, daß die Aufnahme sakramental-mystischer Ge-
danken aus den hellenistischen Mysterienreligionen in der ersten
christlichen Generation als Neuerung empfunden und beanstandet
worden wäre, kommt man nicht herum, ob man die Neuerung auf
Rechnung der Gemeinden aus der Diaspora oder auf die des Paulus
setzt. Wie empfindlich ist doch zwei Menschenalter später das unter-
dessen durch die Übernahme der Logostheorie schon reichlich helle-
nisierte Christentum gegen die Gedanken hellenistischer Mysterien-
religionen, die ihm in der Gnosis entgegentreten! Wie sollte da die
erste Generation solche Vorstellungen in dem Glauben der Diaspora-
gemeinden einfach hingenommen haben!
Unerklärlich bleibt bei Bousset auch, daß Paulus als einziger dieser
hellenistischen Christen die Geltung des Gesetzes beanstandet. Dies
soll seine einzige originale Tat sein. 1 Waren die Diasporagemeinden
wirklich unter dem Einfluß der hellenistischen Mysterienreligionen,
so mußte auch ihnen das Gesetz etwas Nebensächliches werden.
Menschen, die in der kultisch-mystischen Gemeinschaft mit dem
Kyrios-Christos aller irdischen Bedingtheit überhobene Wesen wurden,
konnten sich doch nicht mehr als unter dem jüdischen Gesetze stehend
begreifen. Daß Paulus als einziger die natürliche :B'olgerung aus
dieser Mystik gezogen hätte, wäre schwer verständlich. Vollends un-
begreiflich aber wäre, daß die Diasporagemeinden, wenn sie wirklich
in den Vorstellungen hellenistischer Mystik lebten, gegen den Ver-
fechter der in dieser Mystik begründeten :B'reiheit Partei ergriffen
hätten, wie sie es in Wirklichkeit taten.
1) S. 161: "Nur an einem Punkt ist Paulus sicher original, darin, daß er die
Bedeutung des Kreuzestodes Christi in Beziehung zur Ablösung des Gesetzes
bringt." Bousset übersieht, daß Paulus das Außerkraftsein des Gesetzes gerade
aus der Mystik des Seins in Christo begründet.
A. Schweitzer, Die Mystik cles Apostels Pauhts. 3
34 TI. Hellenistisch oder jüdisch?
* *
'"
Adolt Deißrnann ist vorsichtiger als Reitzenstein und BOU88et. 1
Die Bedeutung der Gedankenwelt der hellenistischen Mysterien-
1) Der folgenden Darstellung ist die 2. völlig neubearbeitete Auflage von
Adolf DeifJmanns .,Paulus" (1. Aufl. 1911; 202 S.) zugrunde gelegt (Tübingen.
1925. 292 S.). - Englische Ausgabe "St. Paul" 1912.
Die jüdisch-hellenistische Erklärung. Deißmann. 35
1) S.84. 2) S.85.
3*
36 II. Hellenistisch oder jüdisch?
'" '"
'"
Warum hat man es bisher nicht unternommen, die Mystik Pauli aus
der Eschatologie zu erklären, wo sich doch aus der Aufnahme des
Tatbestands seiner Lehre ergibt, daß seine Mystik des Sterbens und
Auferstehens mit Christo in einer brennenden eschatologischen Er-
wartung auftritt? KabisGh und Wrede fingen an in dieser Richtung
zu gehen. 1 Warum haben sie keine Nachfolger gefunden?
Als sakramentale Mystik hat Pauli Lehre eine gewisse .Ähnlichkeit
mit der der hellenistischen Mysterienreligionen. Es schien daher
aussichtsreicher, sie mit dieser in Verbindung zu bringen, als den
Versuch zu machen, sie aus der eschatologischen Weltanschauung
herzuleiten, die keine Mystik aufweist und auch keine Ansätze zu
einer solchen erkennen läßt. Wie sollte überhaupt die Frucht der
Mystik auf dem Baum des .Judentums zu suchen sein? Die Trans-
zendenz des jüdischen Gottesbegriffes und die in der jüdischen
Weltanschauung waltende naive Entgegensetzung von Jetzt und
1) Richa·rd Kabiseh, "Die Eschatologie des Paulus in ihren Zusammenhängen
mit dem Gesamtbegriff des Paulinismus." 1893; 338 S. - William Wrede, "Pau-
Ius". 1904; 113 S. - tJ"ber diese Werke siehe Albert Schwez:tze/l', "Geschichte der
pauIinischen Forschung." S. 45-50 und 130-140.
38 H. Hellenistisch oder jüdisch?
Dann, Diesseits und Jenseits stehen der Mystik entgegen. Bei den
Propheten, bei den Schriftgelehrten und bei Johannes dem Täufer
ist keine Spur von Mystik zu entdecken. Wie sollte da zu erwarten
sein, daß der Weg zu den Gefilden paulinischer Mystik über die zer-
klüfteten Höhen spätjüdischer Eschatologie führe?
Aus diesen so natürlichen Erwägungen glaubte die Forschung,
sie müsse die paulinische Mystik mit der der hellenistischen Mysterien-
religionen zusammenbringen oder sie als die Verwirklichung der
etwa in dem jüdischen Hellenismus vorhandenen Möglichkeiten einer
Messiasmystik begreifen. Nun aber ha,ben sich die scheinbar so aus-
sichtsreichen Unternehmen Reitzensteins, BOU8sets und Deißmanns
als undurchführbar erwiesen. Will die Forschung sich nicht darein
ergeben, über ein Beschreiben der paulinischen Mystik nicht hinauszu-
kommen, so bleibt ihr nichts anderes übrig, als den scheinbar aussichts-
losen Weg über die spätjüdische Eschatologie zu versuchen.
Näheres Überlegen zeigt, daß er gar nicht so aussichtslos ist, wie
bisher angenommen wurde.
Welche Mystik ist dem Judentum und dem aus ihm hervorgegan-
genen Urchristentum unmöglich? Die Gottesmystik. Bei Paulus
handelt. es sich ja aber gar nicht um Gottesmystik, sondern um Cbri-
stusmystik. Dieser steht die Transzendenz des jüdischen und urchrist-
lichen Gottesbegriffes nicht im Wege.
Und warum sollten in der Eschatologie nicht Möglichkeiten einer
Mystik gegeben sein? Die Eschatologie unternimmt ja die Aufhebung
der Transzendenz. Sie läßt die natürliche Welt durch die übernatür-
liche abgelöst werden und dieses Ereignis in dem Sterben und Auf-
erstehen Jesu seinen Anfang nehmen. Ist es da nicht denkbar, daß
einer spekulativen, in eschatologischer Erwartung glühenden Be-
trachtungsweise die beiden Welten für den Augenblick, in dem sich
die unmittelbar einsetzende Ablösilllg vorbereitet, ineinander gescho-
ben erscheinen? Damit wären die Voraussetzungen für das Erleben
des Zukünftigen und Ewigen in dem Gegenwärtigen und Zeitlichen
gegeben, was ja der Vorgang in der Mystik ist. Die so entstandene
Mystik wäre von jeder andern dadurch unterschieden, daß das In-
einander von Ewigem und Zeitlichem bei ihr nicht durch einen Akt
des Denkens zustande käme, sondern in der Wirklichkeit tatsächlich
vorläge und vom Denken nur elfaßt zu werden brauchte. Nun gehen
die eigenartigen Züge, durch die sich die paulinische Mystik von der
der hellenistischen Mysterienreligionen und von jeder anderen Mystik
Die Möglichkeit der eschatologischen Erklärung. 39
1) Dieses viel wiederholte Wort sagte Overbeck in der Mitte der achtziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts bei sich zu Hause in einem Tischgespräch zu Adolt
Harnack. Er prägte es mit Bezug auf das Wort, das über die Schüler Hegels um-
ging, daß der einzige, der ihn verstanden, ihn mißverstanden habe. Dem Philo-
sophen gab er den Apostel zum Leidensgenossen. Harnack führte das Wort in
seinen Vorlesungen über Dogmengeschichte an. Durch die Studenten wurde es
dann öffentlich bekannt. Also erzählt es Overbeck selbst in seinem nachgelassenen
Buche "Christentum und Kultur", 1919, S. 218 ff.
2) Die etwas verworrene Stelle lautet: "Und achtet die Langmut unseres
Herrn als Rettung, wie auch unser geliebter Bruder Paulus nach der ihm gegebenen
Weisheit euch geschrieben hat, wie auch in allen Briefen in ihnen über diese Dinge
redend, in welchen sich manches Schwerverständliche findet, was die Unver-
ständigen und Unbefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften, zu ihrem
eigenen Verderben" (2 Petr 315-16).
Mißverstanden hat den Paulus der Verfasser des Jakobusbriefes in seiner
Polemik gegen den Glauben ohne Werke (Jac 214-26). Die Lehre des Glaubens
ohne Werke ist aber an sich mißverständlieh, wie die seit Jahrhunderten über
sie andauernde Diskussion zeigt.
40 II. Hellenistisch oder jüdisch?
Jahrhunderts davor, sich durch gnostische Auslegung der dem Gnostizismus ent·
gegenkommenden Stellen bei Paulus verwirren zu lassen.
Das Gegenstück zu dem Problem, daß Pauli Lehre den Gläubigen
der ersten Generation nicht etwas Fremdes gewesen sein könne, bildet
das andere, daß sie den nächsten Generationen etwas Fremdes wird.·
Ignatiu8, der Repräsentant der kleinasiatischen Theologie, die die
Hellenisierung des Christentums unternimmt, steht in seinen Briefen,
äußerlich betra<.htet, ganz unter dem Einfluß Pauli. Er bewegt sich
in paulinischen Reminiszenzen und erbaut seine Lehre auf der von
Paulus herrührenden Anschauung des Seins in Christo. Aber gerade
in dieser Vertrautheit mit den paulinischen Briefen tritt zutage, wie
fremd ihm die paulinische Lehre eigentlich ist. Nie erklärt er das
Sein in Christo durch authentische paulinische Gedanken! Nie führt
er ein Wort von Gestorben- und Auferstandensein mit Christo an!
Nie entwickelt er die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben!
Was er von Paulus übernimmt, ist die Anschauung vom Sein in
Christo, aber ohne ihren paulinischen Inhalt. Diesen ersetzt er durch
neue, einfachere Gedanken hellenistisc,her Herkunft. Ignatius und
die mit ihm verwandte joharmeische Schule hellenisieren also das
Christentum, als ob Paulus dies nicht schon getan hätte. Für sie,
denen man doch einiges Empfinden für Hellenistisch und Nicht-
hellenistisch zutrauen darf, ist die Vorstellung vom Gestorben- oder
Auferstandensein mit Christo nicht hellenistisch, sonst würden sie
sie mit der Anschauung des Seins in Ohristo übernehmen, statt sie
durch eine der Logosidee entnommene Anschauung zu ersetzen.
Wäre der Paulinismus hellenisiertes Christentum gewesen, so hätte
er in der Folgezeit als solches gewirkt. Daß schon die zweite Genera-
tion nichts mehr mit ihm anzufangen weiß, legt die Annahme nahe,
er habe sich auf einer Ueberzeugung erbaut, die nur für die erste
Gemeinde bestand. Was aber wal' es, das mit dem Aussterben der
ersten Christengeneration hinfällig wurde? Die Erwartung der un-
mittelbaren Nähe des Anbruchs der messianischen Herrschaft Jesu.
Wird der Paulinismus aus hellenistischer Mystik erklärt, so werden
die beiden an sich schon unerklärlichen Tatsachen, daß das Urchristen-
tum ihn nicht als fremd ablehnte und daß die nachfolgenden Genera-
tionen nichts mit ihm anzufangen wußten, noch vollends rätselhaft.
Gelingt es hingegen, ihn aus der Eschatologie abzuleiten, so werden
sie miteinander verständlich. Allein schon die Aussicht, die bisher
nie begriffene Stellung Pauli sowohl zu den Zeitgenossen als auch
Die Möglichkeit der eschatologischen Erklärung. 41
* *
*
42
1) Über die literarische Kritik Ferdinand Christian Baurs und seiner Schüler
siehe Albert Schweitzer, "Geschichte der paulinischen Forschung" S. 10--22;
über die radikale Kritik Bmno Bauers und der Holländer ebendaselbst S. 92-111.
Die Echtheitsfrage. 43
* *
*
Pauli Briefe sind Gelegenheitsschriften. Er hat sie nicht geschrieben,
um eine zusammenhängende Darstellung seiner Lehre zu geben,
sondern bringt in ihnen von seinen Anschauungen nur so viel vor,
als die Umstände erfordern, die den Brief veranlaßten. Aus Frag-
menten, wie sie die betreffende Polemik oder Apologetik gerade be-
nötigte, müssen wir uns ein Gesamtbild seiner Lehre zu schaffen
suchen. Daß dies dennoch einigermaßen möglich ist, beweist, daß
es sich um Vorstellungen handelt, die sich aus einer Grundanschauung
ergeben und unter sich zusammenhängen.
Als das älteste der uns erhaltenen Schreiben ist wohl der erste
Brief an die Thessalonicher anzusehen. Paulus ergreift die Feder, um
der neugegründeten Gemeinde, aus der ihn eine von den Juden her-
rührende Verfolgung vertrieben hat, Nachricht zu geben, sie durch
Belehrung im Glauben zu stärken und sie zum Aushalten in Verfol-
gung zu ermahnen.
Den Galaterbrief schreibt der Apostel, um seine Autorität in den
von ihm auf der zweiten Missionsreise im nordöstlichen Phrygien
gegründeten und unterdessen von ihm auf der dritten Missionsreise
wieder besuchten Gemeinden zu verteidigen. Eiferer aus dem Juden-
christentum sind dort im Begriff, die Gläubigen aus den Heiden zu
überzeugen, daß sie, um wirklich Christen zu sein, das jüdische Gesetz
und die Beschneidung annehmen müßten. Sie reden den Leuten vor,
daß Paulus ihnen etwas vorenthalte, wenn er sie nicht also lehre.
Ja, sie stellen in Abrede, daß er überhaupt als ein Apostel wie die
zu Jerusalem gelten dürfe.
Der Brief, in dem Paulus seine also angegriffene Lehre und Autori-
tät verteidigt, fällt wahrscheinlich in die Zeit, wo er, auf der dritten
Zweck und Inhalt der Briefe. 45
Mit dem Römerbriefe will sich Paulus die Wege nach dem Westen
ebnen. Er findet, daß er in den Gegenden z",-ischen Jerusalem und
Illyrien keinen Raum mehr habe (Röm 1523). Der Sinn steht ihm
danach, bis nach Spanien zu gehen (Röm 1524). Bestimmend für
diesen Entschluß ist seine Überzeugung, daß er dazu berufen sei, das
Evangelium in der ganzen Welt bekannt zu machen. Überdies wird
ihm ein Wirken im Westen dadurch nahegelegt, daß die Feindschaft
der Juden sowohl als die der Eiferer aus dem Judenchristentum,
hinter denen di.e Apostel zu Jerusalem stehen, ihm ein ersprießliches
Missionieren im Osten vorderhand unmögl" ch machen. Dies spricht
er den Römern gegenüber zwar nicht aus. Aber, was sein Herz bewegt,
können sie daraus ersehen, daß er sie bittet, zu Gott zu flehen, daß
er errettet werden möge von den Ungläubigen in Jerusalem und daß
die von ihm den Heiligen daselbst überbrachte Spende ihnen wohl-
gefällig sei (Röm 1530-31).
Weil er mit. der Möglichkeit rechnen muß, daß die Gemeinde zu
Rom gegen ihn eingenommen ist oder bei Bekanntwerden seiner
Reisepläne gegen ihn beeinflußt wird, verantwortet er sich zum voraus
vor ihr, indem er ihr seine Stellung zum Gesetz brieflich darlegt. In
dieser Apologie verleugnet er die Grundzüge seinel. Lehre nicht. Aber
er tritt so vorsichtig auf, wie er nur immer kann. Jede Polemik gegen
die Apostel zu Jerusalem wird vermieden und seine Anhänglichkeit
an sein angestammtes Volk nach Möglichkeit herausgekehrt.
Welche Aufnahme diese Verantwortung fand, wissen wir nicht.
Nicht im darauffolgenden Herbst, wie er sich vornimmt, kommt
Paulus nach Rom, sondern erst 2 % Jahre später, im Frühling, und
zwar nicht auf der Durchreise nach Spanien, sondern als Gefange-
ner. Christen aus Rom, die von den Brüdern aus Puteoli seine
Ankunft daselbst erfuhren, ziehen ihm auf der Via Appia bis Forum
Appii, 43 römische Meilen weit, entgegen (Act 2814-15).
In der Gefangenschaft zu Rom schreibt Paulus dann den Brief an
die Philipper. Diese haben ihm eine Gabe geschickt und dazu wahr-
scheinlich noch bestimmt, daß Epaphroditus, ihr Überbringer, als
Diener bei ihm bleiben solle. Letzteres verwirklicht sich nicht, da
Epaphroditus auf den Tod erkrankt und nach seiner Genesung nach
Hause verlangt (Phil 225-30). Er nimmt Pauli Schreiben mit dem
Danke an die Philipper und Ermahnungen an sie mit. Seine Lage
beurteilt der Apostel günstig. Muß er zwar immer noch mit der Mög-
lichkeit eines tötlichen Ausgangs seiner Gefangenschaft rechnen
Die Zeit der Entstehung der Briefe. 47
(Phil 217), so hegt er doch große Hoffnung, bald frei zu werden und
wieder nach Philippi zu kommen (Phil 125-..26; 224).
Ebenfalls aus der Gefangenschaft geschrieben ist der Brief an einen
wahrscheinlich in Kolossae ansässigen Gläubigen namens Philemon.
Paulus hat einen diesem entlaufenen Sklaven, Onesimus mit Namen,
kennengelernt und bekehrt. Er bestimmt ihn, zu seinem Herrn zu-
rückzukehren, und gibt ihm einige Zeilen mit, in denen er diesen
bittet, ihm zu verzeihen und ihn hinfort nicht nur als Sklaven, sondern
auch als Bruder in Christo bei sich zu haben. Auch in diesem Brief
spricht Paulus die Hoffnung aus, bald frei zu kommen und die Ge-
meinden Kleinasiens wieder zu besuchen.
Man hat daran Anstoß genommen, daß der Sklave bis nach Rom
hin entlaufen sei und von so weit her übers Meer zu seinem Herrn
zurückkehre, und gemeint, die Situation würde verständlicher sein,
wenn der Brief aus irgend einem kleinasiatischen Gefängnis - Paulus
saß ja öfters gefangen (H Kor 11 23)! - oder aus der Haft in Cäsarea
geschrieben wäre. Auch für den Philipperbrief wollte man annehmen,
daß er eher aus einer früheren Gefangenschaft als aus der römischen
stamme. Unmöglich ist dies nicht. Daß Paulus aber Grüße "derer
aus dem Hause des Kaisers", das heißt kaiserlicher Sklaven an die
Philipper bestellt (Phil 422), macht es immer noch am wahrschein-
lichsten, daß das Schreiben nach Rom gehört. Freilich wissen wir
aus Inschriften in Ephesus, daß es dort und also wohl auch anders-
wo in der Provinz Vereine von Freigelassenen und kaiserlichen Sklaven
(servi domini nostri Augusti) gab. Aber der Ausdruck "aus des Kaisers
Hause" erklärt sich am ungezwungensten, wenn es sich wirklich um
Gesinde aus dem Hause des Kaisers handelt.
Bei dem lebhaften Verkehr, der damals auf dem Mittelmeer herrschte,
ist es gut denkbar, daß die Gemeinde zu Philippi Paulus eine Gabe
nach Rom schickte, und er einen aus Kleinasien entlaufenen Sklaven
dorthin zurückkehren hieß.
* *
*
In welchen Jahren sind diese Briefe entstanden? Die Anhaltspunkte
für eine Chronologie des Wirkens Pauli sind: die Zeit, in der der naba-
täische König Aretas IV (9 v. Chr. bis 39 n. Chr.) - dessen Ethnarch
(gemeint ist eine Art von Vertreter) zu Damaskus den Paulus in
seine Gewalt zu bekommen suchte, und dem dieser nach H Kor 11 82-sa
48 In. Die Briefe Pauli.
Anwesenheit hier gefordert wird. Auf jenem Teil der Reise gibt es
für ihn, wie er an die Korinther berichtet, "keine Erholung für das
Fleisch, sondern nichts als Bedrängnis: von außen Kämpfe, innen
Furcht" (II Kor 7 5).
Im Römerbriefe gehört die lange Liste von Grüßen, die an liebe Be-
kannte auszurichten sind (Röm 161-23), sicherlich nicht zum ur-
sprünglichen Bestande des Schreibens. Wie sollte Paulus zu einer
Gemeinde, die er eingestandenermaßen nicht kennt, so viele per-
sönliche Beziehungen haben! Also ist wahrscheinlich, daß Röm 161-23
ursprünglich in einem an eine vertraute Gemeinde in Kleinasien
gerichteten Briefe stand und beim späteren Abschreiben in den
Römerbrief geriet. Weil Aquila und Priska unter den zu Grüßenden
erwähnt werden, ist als Bestimmungsort für jenes Schreiben am
ehesten wohl an Ephesus zu denken. Diese Ansicht über die Grußliste
im Römerbrief wurde erstma.lig von David Sohulz im Jahre 1829
geäußert.
Enthält der Römerbrief aber die Grußliste eines anderen Schreibens,
so ist wahrscheinlich, daß er auch dies und das vom sonstigen Inhalte
desselben mit sich führt. Wie merkwürdig 1st doch, daß Paulus einer
ihm unbekannten Gemeinde Anweisungen gibt, wie man sich einer
Richtung gegenüber zu verhalten habe, die den Genuß von Fleisch
und Wein und anderen Dingen verwirft und als Nahrung für die
Gläubigen nur Kräuter gelten lassen will (Röm 141-1513)! Viel
begreiflicher werden diese Ausführungen über die "Starken" und
die "Schwachen", wenn er auf Nachrichten hin, die ihm aus einer
ihm wohlbekannten Gemeinde zugekommen sind, Gesichtspunkte zur
Schlichtung des Streites aufstellt. Hier läge also der Fall vor, daß der
Brief an die Römer, zur Zeit da er als Vorlesungs schrift für den Gottes-
dienst abgeschrieben wurde, ein in Abschrift ebenfalls im Besitze
der römischen Gemeinde befindliches, aber ursprünglich nicht an
sie gerichtetes Schreiben in sich aufgenommen hätte.
Es ist also mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die Abschrift einer
Sammlung paulinischer Briefe, auf die unsere Kenntnis der Briefe des
Apostels zurückgeht, uns die Briefe an die Korinther, Philipper und
Römer nicht in ihrer ursprünglichen Form erhalten hat, sondern
sie uns in der Fassung bietet, die sie in den zum Zwecke der gottes-
dienstlichen Vorlesung angefertigten Abschriften annahmen.
Damit ist nur gesagt, daß der Zusammenhang der einzelnen Ab-
schnitte nicht immer der ursprüngliche ist. Eine eigentliche Über-
4*
52 IH. Die Briefe Pauli.
arbeitung des Textes hat nicht stattgefunden. Daß hie und da viel-
leicht Randglossen eines Abschreibers in den Text eingedrungen sind,
ist nicht unmöglich. Aber alle Versuche, durchgehends Einschübe
nachzuweisen, haben sich als undurchführbar erwiesen. In der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts meinten Ohristian Hermann Weiße,
Daniel V ölter und andere, hinter dem überlieferten den ursprüng-
lichen Text der paulinischen Briefe suchen zu müssen. 1 Im Grunde
haben sie durch ihre Unternehmungen nur dargetan, wie willkürlich
ihre versuchten Streichungen sind.
Sind sämtliche von Paulus geschriebenen Briefe erhalten? Die
Möglichkeit, daß eine Anzahl derselben verloren ging, muß zugegeben
werden. Immer wieder muß man sich vergegenwärtigen, daß uns
Briefe des Apostels nur erhalten blieben, weil sie zu kirchlichen Vor-
lesungsschriften wurden und als solche in Abschriften in den verschie-
denen Gemeinden verbreitet waren. So mag manches kürzere oder
längere Schreiben des Apostels, weil es nicht rechtzeitig aus der Ge-
:rneinde, an die es gerichtet war, durch Abschrift zu anderen kam und
mit der Sammlung paulinischer Briefe dann fort und fort abgeschrie-
ben wurde, in Vergessenheit geraten und damit der Vernichtung
anheimgefallen sein.
Verwunderlich ist, daß überhaupt so viel erhalten blieb. Schreiben,
wie der Brief an die Galater und der zweite Brief an die Korinther,
schienen wirklich nicht zum Weiterleben bestimmt zu sein. Wie kamen
die Gemeinden dazu, Schriftstücke, die ihnen so wenig zum Ruhme
gereichten, aufzubewahren? Noch erstaunlicher ist, daß sie ihre Schande
nachher in gottesdienstlichen Vorlesungen immer aufs neue auf-
leben ließen. Wie stark muß der Zauber des Namens Pauli gewesen
sein, daß Schreiben, die inaktuell und damit unverständlich ge-
wordene l!'ragen und Kämpfe behandelten und so harte Urteile über
die damaligen Gemeinden enthielten, statt der Vergessenheit über-
antwortet zu werden, Rang und Ansehen von Erbauungsschriften
erhielten! Daß uns solche durch ihren Inhalt in der Weiterexistenz
bedrohte Schriften überliefert sind, macht es wahrscheinlich, daß die
Umstände der Erhaltung paulinischer Briefe günstig waren. Was
verloren ging, ist durch Zufall und Unachtsamkeit, und zwar wohl
schon in frühester Zeit, abhanden gekommen.
In jedem Falle ist das, was noch vorhanden ist - mag es im Ver-
hältnis zu dem, was Paulus überhaupt geschrieben hat, viel oder
wenig sein - hinreichend, um uns einen Begriff seines gewaltigen
Denkens zu geben. Nie können wir den unbekannten Gemeindevor-
stehern und Abschreibern, durch die uns diese Schätze erhalten ge-
blieben sind, genug dafür danken.
* *
*
54
daß sie in der kommenden Zeit Engeln das Urteil sprechen werden
(I Kor 6 a), daß sie selber des Gerichtes, in dem alles durch Feuer
erprobt wird, gewärtig sein müssen (I Kor 313-15) und daß die Feier
des Herrenmahls ein Gedenken des Todes Jesu im Hinblick auf
seine Wiederkunft ist (I Kor 11 26). Vom bevorstehenden Tage des
Offenbarwerdens der Herrlichkeit Christi ist im Eingang des Briefes
die Rede (I Kor 1 7-8); beschlossen wird er mit dem Gebetsruf
Maranatha ("Unser Herr, komme doch!" I Kor 1622).
Auch im 2. Briefe an die Korinther bricht mehrmals die Erwartung
des Tages des Herrn durch.
II Kor 114 : "Daß wir euer Ruhm sind, wie auch ihr der unsere am Tage unseres
Herrn J esu."
II Kor 510: "Denn alle müssen wir offenbar werden vor dem Richterstuhl
Christi."
II Kor 112: "Denn ich habe euch einem Manne verlobt, euch als eine reine
Jungfrau Christo darzustellen".
Gewaltige Worte eschatologischer Erwartung finden sich im Römer-
brief. Der Apostel läßt die ganze Schöpfung sehnsüchtig auf den
Tag des Offenbarwerdens der Söhne Gottes ausblicken (Röm 8 19).
Er hält dafür, daß die Errettung jetzt näher ist als zur Zeit, da er und
die Römer gläubig wurden (Röm 1311), daß der Morgen des erwarteten
Tages bereits zu dämmern beginnt (Röm 13 12) und daß Gott den
Satan in Bälde unter den Füßen seiner Gläubigen zertreten werde
(~öm 1620).
Im Briefe an die Philipper tritt die eschatologische Erwartung fort
und fort im derselben Weise auf wie im ersten an die Thessalonicher.
Phil 10: "Daß der, der in euch angefangen hat ein gutes Werk, es vollenden
wird bis zum Tage Jesu Christi."
Phil 110: "Damit ihr rein seiet und unanstößig auf den Tag Christi."
Phil216: "Daß ihr am Worte des Lebens haltet, mir zum Ruhm auf den Tag
Christi."
Phil 320-21: "Denn unsere Heimat ist im Himmel, von dannen wir auch er-
warten den Herrn J esum Christum als Erretter, welcher verwandeln wird den
Leib unserer Niedrigkeit, daß er gleich werde dem Leibe seiner Herrlichkeit."
Phil 44-5: "Freuet euch im Herrn allezeit! Und wiederum sage ich: Freuet
euch! .•. Der Herr ist nahe!"
Hat also Paulus irgendwie eine Entwicklung durchgemacht, so
bestand sie sicherlich nicht darin, daß die Lebendigkeit seiner eschato-
logischen Erwartung mit der Zeit nachgelassen hätte.
* *
*
56 IV. Die eschatologische Lehre von der Erlösung.
wurde erstmalig 1871 durch Oeriani veröffentlicht. Beide dem Inhalte nach eng
miteinander verwandten Schriften sind ursprünglich wohl hebräisch geschrieben.
Neben diesen vier Schriften sind noch zu erwähnen: das Buch der Jubiläen,
eine etwa um 120 v. Ohr. entstandene Paraphrase des ersten Buches Mosis und des
zweiten bis zum Passah am Sinai; die in leichter christlicher "Überarbeitung er-
haltenen Testamente der 12 Patriarchen, deren jüdische Grundschrift, dem Geiste
nach mit dem Buche der Jubiläen verwandt, wohl auch etwa um 120 v. Ohr.
entstanden ist; die aus dem Beginn des 1. Jahrhunderts n. Ohr. stammende
"Himmelfahrt Mosis".
Die natürliche Welt ist in der eschatologischen Weltanschauung
nicht nur durch ihre Vergänglichkeit charakterisiert, sondern auch
dadurch, daß Dämonen und Engelwesen in ihr Macht ausüben. In
welchem Umfange sie dies tun, wird aus den verschiedenen Dar-
stellungen nicht deutlich ersichtlich. Einen wirklichen Dualismus
kennt die jüdische Eschatologie nicht, obwohl sie stark von der
Zarathustrareligion beeinflußt ist. Die nach Gen 61-1. von Gott abge-
fallenen Engel werden nach dem Buche Henoch als bald überwunden
und auf ihre endgültige Bestrafung bei dem Weltgericht hin gefangen
aufbewahrt. Aber ihre mit den Menschentöchtern erzeugten Nach-
kommen, die Dämonen, verwirren die Welt bis zum Ende (Hen
158-164). Ihr Oberster führt verschiedene Namen und wird öfters
mit dem Satan (Ankläger) identifiziert, der ursprünglich aber kein
widergöttliches Wesen, sondern nur der von Gott zugelassene Ankläger
der Menschen vor Gott ist.
Im allgemeinen ist die Ansicht der jüdischen Eschatologie wohl
die, daß das übel in der Welt von den Dämonen kommt und daß Engel-
wesen, mit Gottes Zulassung, sich zwischen ihn und die Menschen ge-
stellt haben. Die elementare Vorstellung von der Erlösung besteht
also darin, daß das messianische Reich diesem Zustande ein Ende
macht.
* *
*
Jesus und Paulus setzen in gleicher Weise voraus, daß Dämonen
und Engel in der Welt Macht haben.
Die Geisteskranken gelten Jesu als von Dämonen besessen. Daß
er sie heilt, erklären die Pharisäer dadurch, daß er mit Beelzebub,
dem Obersten der Dämonen, im Bunde stehe und von ihm Macht
empfangen habe, solches zu tun. Jesus aber gibt die viel natürlichere
Erklärung, daß der Oberste der Dämonen jetzt an Macht verloren
58 IV. Die eschatologische Lehre von der Erlösung.
In den Psalmen Salomos spielen die Engel überhaupt keine Rolle. Die Apokalypsen
Esra und Baruoh erwähnen Engelwesen nur als gehorsame Diener Gottes und
nie als seine Widersaoher und als Bedrüoker von Mensohen. Nur der "Engel des
Todes", der nach Apoo Bar 2122-23 von Gott bedroht werden muß, damit die
Sterbliohkeit aufhört und "die Vorratskammern der Seelen die zurüokkehren
lassen, die in ihnen eingesohlossen sind", übt ein übles Amt aus. Aber auoh er
ist irgendwie als im Dienste Gottes stehend gedaoht.
Bezeiohnend ist, daß Gott in der Apokalypse Esra ausdrüoklioh versiohert;
er habe die Erde allein gesohaffen und er allein werde die Schöpfung am Ende
der Zeiten heimsuchen (IV Esra 556-66). Damit wird auch die jüdisch-helle-
nistisohe Vorstellung von dem Mitwirken personifiziert gedachter Kräfte (Geist
Gottes; Weisheit Gottes; Wort Gottes) bei der Weltsohöpfung abgelehnt.
Jesus und auch Paulus sind also der Gedankenwelt des Henochbuches viel
näher, als das Schriftgelehrtentum, nach den Apokalypsen Baruch und Esra
zu urteilen, es war.
Die elementare eschatologische Lehre von der Erlösung findet sich
also schon bei J esus. Er hat die überzeugung, daß seine Gegenwart
in der Welt den Beginn des Zusammenbruchs der Dämonenherrschaft
bedeute.
* *
*
Auch in der Wertung seines Todes ist Jesus durch die eschatolo-
gische Vorstellung der Erlösung bestimmt. 1 Der Vernichtung der
Macht des "Bösen" dient sein Tod schon dadurch, daß er seine Er-
hebung zum Messias zur Folge hat. Als mesbianischer König hat er
ja dann die himmlischen Engel zur Verfügung, um alles, was Gott
zuwider ist, endgültig niederzuwerfen. Aber auch die Anschauung,
daß sein Tod ein "J.Jösegeld (ÄV7:eo'P) für Viele" (Mc 10 45 ) sei und sein
Blut als "Blut des Bundes für Viele vergossen werde" (Mc 1424), ist
von ihm in der eschatologischen Vorstellung der Erlösung gedacht.
Der historische Jesus stirbt nicht für die Menschheit und nicht für
eine allgemeine Sündenvergebung, sondern für eine bestimmte Viel-
heit, nämlich die zum Reich Gottes Erwählten. Den Gedanken, daß
er leiden und sterben müsse, denkt er von jeher, nur daß er es zuletzt
in anderer Weise tut als vorher. In der ersten Zeit hat er ihn so gegen-
wärtig, wie er in der Vorstellung der vormessianischenDrangsal ge-
geben ist. Er erwartet, mit den um ihn gescharten Erwählten von
1) über den Leidens- und Todesgedanken Jesu siehe Albert Schweitzer. "Ge-
schichte der Leben.Jesu-ForschWlg" 2. und folgende Auflagen, S. 408-411 und
432--437.
60 IV. Die eschatologische Lehre von der Erlösung.
Mit der Aussendung der Jünger glaubt Jesus also die vormessianische
Drangsal zu entfesseln, als deren Beschluß das Reich Gottes kommen
soll. Nun aber ereignet sich nichts von dem, was er erwartete und ver-
hieß. Statt daß die Erscheinung des Menschensohnes erfolgt, ehe
die Jünger mit den Städten Israels zu Ende sind (Mt 10 23), kehren
sie einfach zu ihm zurück. Daraufhin zieht er sich mit ihnen in die
Einsamkeit zurück und sucht die Deutung des Unfaßlichen. Er findet
sie beim Propheten Jesaja (Jes 53) darin, daß Gott ihm bestimmt
habe, allein zu sterben, und daß er diesen seinen Tod als ein die Er-
wählten von der vormessianischen Drangsal befreiendes Lösegeld
gelten lassen wolle. Von jeher hat Jesus ja mit der Möglichkeit ge-
rechnet, daß Gott die Enddrangsal ausfallen lassen könne. Darum
hat er diese Bitte in das Gebet um das Reich aufgenommen. Nun
wird ihm gewiß, daß sie für die Anderen, aber nicht für ihn erhört ist.
Die eschatologische Bedingtheit der Sühnetodvorstellung Jesu. 61
gabe den Wert einer Sühne für die Sünden der Erwählten zuerkennt,
die diese in der vormessianischen Drangsal sonst in eigenem Leiden
leisten müßten, kann er ihnen diese ersparen, der Macht des Bösen
ohne weiteres ein Ende machen und das Reich alsbald anbrechen
lassen. Der Tod Jesu läßt das Vaterunser als Bitte um das Reich,
um Sündenvergebung, um Verschonung von der "Versuchung" und
um Erlösung von dem "Bösen" in Erfüllung gehen.
Aus der eschatologischen Lehre von der Erlösung wird auch erst recht ver-
ständlich, warum Jesus aus Petrus, als dieser ihn vom Todesentschlusse abbringen
will, den Satan heraushört. Der Satan hat ja ein Interesse daran, daß er sein Vor-
haben aufgibt. Stirbt Jeaus nicht, so bleibt die Herrschaft des Bösen bestehen.
So fremdartig der aus der eschatologischen Vorstellung von der
Erlösung begriffene Gedanke des Sühnetodes Jesu sich ausnimmt,
so einfach und tief ist er. Sühnendes Leiden, das Menschen erdulden
müßten, um Vergebung der Sünden zu erlangen, nimmt der zu-
künftige Messias als eine von Gott zugelassene Gnade auf sich. Wie
viel lebendiger und fruchtbarer ist dieser historisch wahre, aus der
allgemeinen Wertung des Leidens als Sühne hervorwachsende Ge-
danke J esu als so viel dogmatisch oder undogmatisch Erfundenes,
das man ihm unterschiebt!
* *
*
Die Jünger und die Gläubigen über seinen Sühnetod zu belehren,
hält Jesus nicht für nötig. Er kommt ihnen ja objektiv, ohne daß sie
es wissen und glauben, zugute. Darum begnügt er sich mit dunkeln
Andeutungen. Im Reich Gottes werden sie dann verstehen, wie dies
alles zuging. .
Die erste Gemeinde erklärt sich den Tod Jesu aus seinen überliefer-
ten Worten und ihrer eschatologischen Vorstellung der Erlösung
dahin, daß er durch Tod und Auferstehung Messias in Herrlichkeit
geworden sei, als welcher er das Reich bald heraufführen werde, und
daß er Sühne erworben habe, auf Grund deren die Erwählten der
Sündenvergebung beim Gericht gewiß sind. Der ursprüngliche Ge-
danke Jesu, daß sein Tod an die Stelle der vormessianischen Drangsal
trete und durch deren Vollzug das Kommen des Reiches bev.-irke, ist
ihnen nicht bewußt geworden und hat auch durch den Gang der
Ereignisse seine Geltung verloren. Während für Jesus Sündenver-
gebung mit Verschonung von der Drangsal identisch ist, glauben die
64 IV. Die eschatologische Lehre von der Erlösung.
steht: Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag, sind geachtet wie
Schlachtschafe (Ps 4423).
Aber in dem allem überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat.
Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Künftiges, noch Mächte, weder in der Höhe noch in
der Tiefe, noch sonst eine Kreatur uns trennen kann von der Liebe Gottes, die
in Christo Jesu ist, unserem Herrn."
Noch Justin, um die Mitte des 2. Jahrhunderts, vertritt die Lehre, daß das
Werk Jesu Christi darin bestanden habe, der Herrschaft der Engel und Dämonen,
die die Menschen durch Betörung in ihrem Dienst erhielten, ein Ende zu machen
(I Apol 54; 58; 62; 64; Il Apol 4; 5; 7).
Dialog 49 8: "Ihr könnt erkennen, daß der gekreuzigte Christus die geheime
Macht Gottes besitzt; vor ihm erschrecken die Dämonen und überhaupt sämt-
liche Kräfte und Mächte der Erde."
Erreicht ist also, daß die Engel vor Gott nichts mehr gegen die
Erwählten vermögen. Ist diesen aber die Liebe Gottes und die Recht~
fertigung durch Gott sicher, so hat es wenig mehr zu bedeuten, daß
sie für die kurze Zeit, in der die durch das Sterben Christi zu Tode
getroffene Engelmacht sich in den letzten Zuckungen windet, durch
diese noch auf mancherlei Art gequält werden.
Die Verfolgungen, die über die junge Gemeinde zu Thessalonich kommen,
und die Umstände, die es unmöglich machen, daß Paulus zu ihnen zurückkehrt,
um ihren Glauben zu stärken, sind das Werk des Satans (I Thess 33-5; 218).
Der Ansicht, daß gläubig gewordene Ehegatten miteinander leben sollen, als
wären sie nicht verheiratet, tritt Paulus mit dem Argument entgegen, daß der
Satan sich solchen Versuch zur Enthaltsamkeit zunutze machen könnte, um
diese Gläubigen in geschlechtliche Sünde fallen zu lassen (I Kor 71-6).
In der Angelegenheit gegen den Mann, der in Korinth wider ihn aufstund,
ist Paulus zu einer an Charakterlosigkeit grenzenden Nachgiebigkeit bereit, weil
er fürchtet, daß mit der Fortführung dieses Handels nur der Sache des Satans,
der die Gemeinde durch Zwiste zu stören sucht, gedient sei (Il Kor 25-11).
Auf den Satan führt er auch seine furchtbaren körperlichen Leiden zurück.
Weil er bis in den Himmel und das Paradies entrückt wurde und unaussprech-
liche Offenbarungen empfing, ist er dem "Engel des Satans" in besonderer Weise
ausgeliefert. Dieser hat Macht, ihn mit Fäusten zu schlagen, daß er sich nicht
überhebe (Il Kor 121-7).
* *
*
Vollendet wird die Vernichtungder Engelherrschaft bei der Wieder~
kunft Jesu. Sein Erscheinen wird nicht durch vorausgehende Zeichen
angekündigt (I Thess 51--4). Plötzlich ist er da. Bei seinem Kommen
vom Himmel erschallt ein Befehlsruf ; die Stimme des Engels läßt
sich vernehmen; die Trompete Gottes ertönt. Die bereits entschlafenen
Die Wiederkunft Jesu und die Endereignisse. 67
wunden, bis zuletzt auch der Tod seiner Macht beraubt ist (I Kor
1523-28).
Daß der Tod hier als eine Engelmacht gedacht ist, ergibt sich aus dem Zu-
sammenhang. Erwähnt wird der Engel des Todes auch in der Apokalypse Baruch
(Apoc Bar 2122-23). 1 Ob der Tod überhaupt die Sterblichkeit wirkt oder
nur der Herr der Gestorbenen ist, wird aus der Stelle nicht ganz klar. Das erstere
scheint eher der Fall zu sein. Jedenfalls ist er ein in der Unterwelt beheimatetes
Engelwesen. In der Apokalypse Johannis erscheint der Tod als ein zu Pferde
sitzendes, von dem Hades gefolgtes Wesen, dem in der vormessianischen Drangsal
Macht gegeben wird, übel' ein Viertel der Erde jegliches Sterben zu bringen (Apoc
Joh 68). Apoc Joh 2013-14 müssen der Tod und der Hades nach dem Ende des
messianischen Reiches die Toten herausgeben und werden dann selber in den
Feuersee zur ewigen Qual geworfen.
In dem Buch der Jubiläen, wo die Engelwesen alle am ersten Schöpfungstage
entstehen, wird der Engel des Todes unter den Geschaffenen nicht besonders
genannt. Er ist wohl in der Schar der Engel "der Abgründe der Tiefe und der
Finsternis" einbegriffen (Jub 21-2).
Auch Paul11S scheint anzunehmen, daß der Todesengel nicht nur Macht über
die Toten hat, sondern überhaupt bewirkt, daß es ein Sterben gibt. I Kor 1555
redet er vom Stachel des Todes. Ob der "Verderber", dem nach I Kor 1010 die
murrenden Israeliten in der Wüste zum Opfer fallen, mit dem Engel des Todes
identisch ist, läßt sich nicht entscheiden.
Sicher ist jedenfalls das eine, daß nach Überwindung des Engels des Todes
die allgemeine Totenauferstehung möglich wird, wie dies auch die Apokalypse
Johannis (Apoc Joh 2018) annimmt.
Mit der Überwindung des Todes nimmt das messianische Reich
ein Ende. Seine Dauer gibt Paulus nicht an, wie auch die Apokalypse
Baruch dies nicht tut. Nach der Apokalypse Esra währt es 400 Jahre
(IV Esra 7 26-42), nach der Apokalypse Johannis (Apoc Joh 201-7)
1000 Jahre.
Während Paulus ein Zertretenwerden des Satans, wohl gleich zu
Beginn des messianischen Reiches, erwartet (Röm 1620), läßt ihn die
Apokalypse Johannis (Apoc Joh 202-3; 207-10) während der Dauer
des messianischen Reiches gefesselt sein, nachher wieder zum Stiften
neuen Aufruhrs freikommen und zuletzt im Feuersee ewiger Pein
überliefert werden.
In der allgemeinen Totenauferstehung am Ende des messianischen
Reiches stehen alle Menschen auf, die je auf Erden gelebt haben,
soweit sie nicht als Teilhaber des messianischen Reiches bereits Auf-
erstandene sind. Nun erfolgt das Endgericht, in dem sich entscheidet,
welche Wesen zur ewigen Seligkeit eingehen und welche dem ewigen
1) Siehe S. 59.
Die Wiederkunft Jesu und die Endereignisse. 69
Tode verfallen. Den ewigen Tod nennt die Apokalypse Johannis den
"zweiten Tod" (Apoc Joh 206; 2014-15). Sie läßt ihn in ewiger Qual
im Feuersee bestehen.
Die allgemeine Totenauferstehung und das auf sie folgende End-
gericht über alle Menschen und über die überwundenen Engelwesen
führt Paulus in der Aufzählung von I Kor 1523-28 nicht an. Dies
alles fällt für ihn unter den allgemeinen Begriff des "Endes" (dA.o~.
I Kor 1524) und wird als bekannt vorausgesetzt. Er will ja keine
Schilderung der Endzeit geben, sondern streift ihre Ereignisse nur
in der Widerlegung einer zu Korinth aufgetretenen Ansicht, daß es
keine Totenauferstehung gebe. Aber das Richten über die Welt und
die Engel, das nach dem 1. Korintherbriefe (I Kor 6 2 -3) den zur
messianischen Herrlichkeit eingegangenen Gläubigen zufällt, spielt
sich wohl bei jenem Endgericht ab. Die zu richtenden Engelmächte
werden ja erst nach und nach im Verlaufe des messianischen Reiches
überwunden. Überdies sind, nach dem Buche Henoch (Hen 19 1; 2110),
die in den ersten Zeiten der Welt gefallenen Engel (Gen 61-4) im
Gefängnis bewahrt, um bei Anbruch der Ewigkeit gerichtet zu werden.
Es ist also anzunehmen, daß an jenem Tage alle unbotmäßigen Engel
miteinander ihr Urteil empfangen.
Auch nach Jesus werden der Teufel und seine Engel am Ende
der Zeiten mit den verdammten Menschen in das ewige Feuer ge-
worfen (Mt 2541).
Worauf es Paulus ankommt, ist darzutun, daß der Messias nach der
Niederwerfung der Engelmächte seine Macht an Gott zurückgeben
wird, damit Gott sei alles in allem. In jenem Augenblicke hat das
Weltgeschehen !.lein Ende erreicht. Alle Wesen, die bei dem Kommen
der Dinge aus Gott und ihrer Rückkehr zu ihm ihre Zugehörigkeit
zu ihm bewährten, gehören ihm dann wieder unter"chiedslos an und
sind in ihm. Die andern sind der ewigen Verdammnis verfallen.
Die ewige Seligkeit denkt Paulus sich nicht als eine rein geistige
Existenz, sondern als ein Sein in dem Zustande des leiblichen Auf-
erstandenseins. Die Erwählten, die am messianischen Reiche teil-
hatten, verbleiben für die ewige Seligkeit in der Seinsweise, die sie
bereits besitzen. Wenn der Zustand, den sie bei der Wiederkunft
Jesu mit der Auferstehung oder der Verwandlung empfingen, als
der der Unvergänglichkeit bezeichnet wird, so bedeutet dies, daß
er als ewig gedacht ist. Es ereignet sich also nur dies, daß nach dem
messianischen Reiche alle Toten, die beim Gericht als zur Seligkeit
70 IV. Die eschatologische Lehre von der Erlösung.
"zu seiner Rechten seine Engel mit ihm", Hier sind also die Engel die Begleiter
Gottes bei der Gesetzgebung.
Auch in der rabbinischen Überlieferung sind die Engel bei der Gesetzgebung
auf Sinai zugegen. In Pesiqta rabbati wird auf eine aus der Zeit des Exils stam-
mende Überlieferung zurückgeführt, daß "zwei l\fyriaden von den ... Engeln
mit Gott auf den Berg Sinai herunterfuhren, um Israel die Tora zu geben".
Daß das Gesetz eigentlich durch die Engel gegeben sei, behauptet
Paulus im Galaterbrief mit den Worten: "Verordnet ist es durch
Engel, durch die Hand eines Vermittlers. Der Vermittler aber ver-
tritt nicht einen Einzelnen; Gott aber ist ein Einzelner" (Gal 319-20).
Die mit rabbinischen Schlüssen arbeitende und sich um den Begriff
des Vermittlers (fJ-eat-r'YJ~) drehende Logik ist folgende. Wollte Gott,
der ein Einzelner ist, dem Volke, das eine Vielheit ist, das Gesetz geben,
so bedurfte es keiner Mittelsperson, denn ein Einzelner kann unmittel-
bar mit einer Vielheit verkehren. Zwei Vielheiten aber vermögen
dies nicht, sondern bedürfen einer zwischen ihnen vermittelnden
Einzelperson. Ist das Gesetz also durch einen Vermittler gegeben, so
heißt dies, daß auf beiden Seiten Vielheiten beteiligt waren. Auf der
himmlischen Seite kann es sich also nicht um Gott, sondern nur um
die dort einzig in Frage kommende Vielheit der Engel handeln. Dabei
steht das Wort "Vermittler", um den sich der Beweis dreht, gar nicht
in dem Levitikustexte (Lev 26 46), auf den Paulus hier anspielt, son-
dern ist in ihn hineingetragen.
Lev 2646: "Dies sind die Satzungen und die Rechte und Weisungen, die Jahwa
zwischen sich und den Israeliten auf dem Berge Sinai durch die Hand des l\foses
aufgestellt hat." Daß Paulus dafür das von ihm benötigte "durch die Hand eines
Vermittlers" gebrauchen kann, geht darauf zurück, daß im rabbinischen Schrift-
gelehrtentum die Anschauung von l\fose als dem ~ic;1;: (Unterhändler; #ealT1J~)
allgemein verbreitet ist.
Aus der Theorie, daß das Gesetz von Engeln gegeben sei, zieht Paulus
aber Folgerungen, die den andern Vertretern derselben fern liegen.
Während diese dabei stehen bleiben, daß das Gesetz im Auftrage
Gottes durch Engel kund getan worden sei, schreitet er zu der nur
bei ihm vorkommenden Behauptung fort, daß der dem Gesetze be-
wiesene Gehorsam gar nicht Gott, sondern nur den Engeln erwiesen
werde. Durch das Gesetz seien die Menschen unter die Vormund-
schaft der "Weltelemente" (m:oLxeia 'mv -xoaf1ov. Gal 43; 4 9) getaI,l.,
die sie in Abhängigkeit von sich erhielten, bis Gott sie durch Christus
vom Fluche des Gesetzes frei machte (Gal 41-5). Wenn also solche,
die früher Heiden waren, sich als Christen dem Gesetze unterwerfen,
72 IV. Die eschatologische Lehre von der Erlösung.
so bedeutet dies, nach Paulus, nichts anderes, als daß sie, statt nun
ausschließlich dem einen Gott zu dienen, sich wiederum, nur in an-
derer Form, den jetzt durch Christus gar noch schwach und armselig
gewordenen "Weltelementen" unterwerfen und die ihnen geltenden
"Tage, Monate, Zeiten und Jahre" beobachten (Gal 48-11).
Philo und vor ihm bereits die etwa um 100 v. ehr. entstandene "Weisheit
Salomos" (Sap Sa1132) behaupten, daß die Heiden die Elemente Erde, Wasser,
Luft und Feuer wie auch die Sterne als göttliche Wesen verehren. Diese An-
schauung wendet Paulus dahin, daß diese Wesen in Wirklichkeit Engel sind und
hinter dem jüdischen Gesetze stehen.
* *
*
Mit seiner Behauptung, daß das Gesetz Engelherrschaft und nicht
Gottesherrschaft bedeute, tritt Paulus aus der Gedankenwelt des
Judentums heraus und bereitet den Gnostizismus vor. Ein Denker
gerät über die Vorstellung, daß das Gesetz nur bis zum messianischen
Reiche gelte und dann durch etwas Vollkommenes abgelöst werde;·
Er kann sie nicht mehr nach der gewöhnlichen Meinung verstehen,
die Gottes Walten gleicherweise in dem Unvollkommenen wie in dem
Vollkommenen erkennt, sondern muß das Unvollkommene als eine
von Gott zugelassene Betätigung von Gewalten ansehen, die das
Vollkommene nicht begreifen. Tatsächlich ist Paulus, weil er die
Heilsgeschichte logisch begreifen will, auf dem Wege zur Vorstellung
des Demiurgen.
Diesen Weg geht er aber nur so weit, als es sich um das Gesetz handelt. Der
Gedanke, daß Gott es ist, der die Welt erhält, wird nicht in Mitleidenschaft ge-
zogen. Denjenigen, die ängstlich sind, sich durch Genuß von Fleisch, das von
Götzenaltären herrührt, zu versündigen, hält er entgegen, daß alles aus Gott
ist (I Kor 86), und führt ihnen das Psalmwort an, daß die "Erde und ihre Fülle
des Herrn ist" (I Kor 1026; Ps 241). Gegen diejenigen, die zwischen erlaubter
und nicht erlaubter Speise unterscheiden wollen, stellt er im Römerbrief (Röm
1414; 1420) den Grundsatz auf, daß an sich alles rein sei, d. h. von Gott komme.
Er geht sogar soweit, daß er die weltliche Obrigkeit nicht im Dienste des Bösen.
sondern in dem Gottes stehen läßt (Röm 131-7).
Die gnostische Annahme der vermöge des Gesetzes ausgeübten
Engelherrschaft verlangt auch eine gnostische Lösung des damit
gestellten Problems. Tatsächlich gibt Paulus eine solche. Er behauptet,
daß der Tod Jesu eine Un",issenheitstat der Engelwesen gewesen sei,
die sie um ihre Herrschaft gebracht habe. Ihm zufolge sind der Hohe
Rat und die Schriftgelehrten, die Jesum kreuzigen lassen, nur die
Die gnostische Wendung der eschatologischen Lehre von der Erlösung. 73
zuvor durch Steinigung oder auf andere Art getöteten Übeltäters. Dieser als
verflucht geltende Leichnam würde das Land verunreinigen und darf daher nicht
lange hängen bleiben, sondern muß noch an demselben Tage bestattet werden.
Wahrscheinlich kodifiziert das Gesetz damit nur einen alten Brauch, dessen
Sinn es selber nicht mehr versteht. Der ursprüngliche Gedanke ist wohl der, daß
der Geist des Toten umgeht, bis der Leichnam begraben ist. Es ist also Pflicht
sowohl um des Landes willen, das durch diesen Geist heimgesucht werden könnte,
als um des Toten willen, dessen Geist Ruhe finden soll, daß man die Bestrafung
des Übeltäters nicht soweit treibt, seinen Leichnam tagelang hängen zu lassen.
*
*
76
* *
*
Die vorexilischen und exilischen Propheten erwarten den Messias
aus Davids Geschlecht als den von Gott gesalbten und mit Weisheit
und Macht ausgerüsteten Herrscher des großen Friedensreiches, das
den Abschluß der Weltgeschichte bilden soll. Diese Zukunft malen
sie schon in übernatürlichen Farben. Aber es handelt sich dabei nur
um eine Verklärung der Wirklichkeit. Der Messias ist ein wirklicher
Abkömmling Davids, der dann von Gott übernatürliche Kräfte
empfängt. Die Teilnehmer am Reiche sind Menschen, die Gott in den
Drangsalen, in denen er die Völker sichtete, am Leben erhielt und
denen er nun ein über alle Begriffe langes und freudvolles Dasein
schenkt, indem er sie in einer Natur leben läßt, die allen ihren Be-
dürfnissen entgegenkommt.
Bei der Rückkehr aus dem Exil sehen die Propheten Haggai und
Sacharja um 520 v. Ohr. in Serubbabel, dem Führer der ersten Rück-
kehrkarawane und dem Statthalter zu Juda, einem Fürsten aus
Davids Geschlecht, die Persönlichkeit, die durch den kommenden Tag
Gottes zum Herrscher der heiligen Stadt und Herrn aller Völker er-
hoben werden soll. Aber der Tag des Herrn kommt nicht. Serubbabel
verschwindet von der Bildfläche. Die Rolle des Hauses David ist zu
Ende, in der Geschichte für immer, in der Eschatologie zeitweise.
In der Zukunftserwal"tung, wie sie sich in den prophetischen Schrif-
ten der nun folgenden Zeit ausbildet, spielt der Messias keine Rolle
mehr. An Stelle des messianischen Reiches tritt das Gottesreich,
in dem Gott unmittelbar herrscht. Typisch für diese E"chatologie ohne
Messias sind das etwa um 450 v. Ohr. geschriebene Buch Maleachi
und eine in Jesaja 24-27 erhaltene, wohl um 300 v. Chr. oder später
entstandene prophetische Schrift.
Zum Abschluß kommt diese Entwicklung in dem zwischen 168 bis
164 v. Chr. unter dem Eindruck der Entweihung des jerusalemitischen
78 V. Die Probleme der Eschatologie Pauli.
* *
*
So scheint die messianische Eschatologie der Propheten durch die
danielische Menschensohn-Eschatologie verdrängt zu sein. Aber in
den unter dem Eindruck der Eroberung Jerusalems durch Pompejus
(63 v. Chr.) entstandenen Psalmen Salomos steht sie da, als wäre
sie immer in Geltung gewesen und das Buch Daniel nie geschrieben
worden.
Wie ist diese Restauration der messianischen Erwartung der Pro-
pheten zu erklären? Sie kommt aus dem Schriftstudium. Als Schrift-
gelehrter lebt der Verfasser der Psalmen Salomos in der Gedanken-
welt Jesajas und Deuterojesajas und macht sie sich zu eigen.
Dazu kommt noch etwas anderes. Durch die Hasmonäer ist das
jüdische Volk wieder eine politische, von Königen regierte Nation
geworden, während es vorher, seit dem Exil, immer eine zu fremden
Staaten gehörige Masse war. Weil sie wieder mit der Idee des König-
tums vertraut geworden sind, können diese schriftgelehrten Frommen
wieder in der messianischen Zukunfts erwartung denken. Daß Gott
durch die Hand des Pompejus dem ihm nicht gefälligen Königtum der
Hasmonäer ein Ende gemacht hat, legen sie dahin aus, daß er bald
den durch Jesaja verheißenen messianischen Herrscher aus Davids
Stamm mit Macht bekleiden und das Ende der Dinge heraufführen
werde. Das hasmonäische Königtum hat also die Voraussetzungen
1) Das Vorkommen des Ausdrucks "seines Gesalbten" (Ren 48 10; 524) ist
ein Problem für sich.
2) Ren 102-104.
80 V. Die Probleme der Eschatologie Pauli.
* *
*
Die Eschatologie Jesu. Auferstandene im Gottesreich. 81
So gehen in der Zeit vor dem Auftreten Johannes des Täufers und
Jesu zwei ganz verschiedene Zukunfts erwartungen nebeneinander
einher. 1 Welche der beiden der Täufer vertrat, läßt sich nicht aus-
machen, da wir zu wenig von seiner Lehre wissen.
Bei Jesus aber ist offenbar, daß er ganz in der Menschensohn-Escha-
tologie der Bücher Daniel und Henoch lebt. Er verkündet das Kommen
des von Engeln umgebenen Menschensohnes auf den Wolken des
Himmels. Statt vom messianischen Reich redet er vom Reich Gottes.
Dieses denkt er. sich ganz überweltlich. Aus dem Worte, in dem er
den Jüngern verheißt, daß sie auf zwölf Stühlen die zwölf Stämme
Israels richten werden, erfahren wir, daß das Gericht des Menschen-
sohnes mit der "Palingenesie" (naAlj:yevea{a); das heißt der Neu-
schaffung des Himmels und der Erde zusammenfällt (Mt 19 28).
Die Schaffung des ewigen Himmels und der ewigen Erde ist das letzte aller
eschatologischen Ereignisse: Hen 9116-17; Apoc Bar 326; 4411-12; 572; IV Esra
775; Apoc Joh 211.
Damit stimmt überein, daß Jesus dem Gesetze Geltung zusichert,
"bis daß Himmel und Erde vergehen" (Mt 518), unq das Gericht
"am Ende der Zeiten" (Mt 1340) stattfinden läßt. Daß dieses Gericht,
wie im Buche Henoch, auch über die Engel ergehen wird, ist daraus
zu erschließen, daß der Menschensohn die Verworfenen zu dem Feuer-
pfuhle verdammt, der den Teufeln und seinen Engeln bereitet ist
(Mt 1342; Mt 2541). Die ihn umgebenden Engelwesen vollziehen sein
Urteil (Mt 1341).
Entscheidend für den Charakter der Vorstellung Jesu vom Reiche
ist, daß er Menschen, die früheren Generationen angehörten, als Auf-
erstandene an demselben teilnehmen läßt. So denkt er sich Abraham,
Isaak und Jakob als Mitfeiernde beim messianischen Mahl (Mt 811).
Überhaupt werden sich im Reiche alle in der Seinsweise der Auf-
erstehung befinden und den Engeln des Himmels gleich sein, wie sich
aus Jesu Antwort auf die Sadduzäerfrage nach der Auferstehung (Mc
1224-25) ergibt. Wenn er den Gerechten unter Anlehnung an Worte
aus Daniel und Henoch verheißt, daß sie wie die Sonne in ihres Vaters
Reiche leuchten werden (Mt 13 43), so meint er damit, daß sie dann
übernatürliche Wesen sind.
1) Über diese in der Forschung bisher viel zu wenig beachtete Tatsache siehe
auch Joachim Jeremias. "Erlöser und Erlösung im Spätjudentum und Urchristen-
tum" (Deutsche Theologie II; Göttingen 1929; S. 106 ff.). Einzelnes darüber
auch bei August von Gall. "BaatÄela TOU 1}eou"; Heidelberg. 1926. 491 S.
A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Palll1l8. 6
82 V. Die Probleme der Eschatologie Pauli.
Dan 123: "Die Weisen aber werden leuchten wie der Glanz der Himmelsfeste,
und die viele zur Gerechtigkeit geführt haben, wie die Sterne auf immer und
ewig."
Hen 1042 : "Nun werdet ihr wie die Lichter des Himmels leuchten und scheinen."
Mt 1343: "Alsdann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres
Vaters Reich."
Die Lösung des Rätsels ist also die, daß der Messias, wovon die
Schriftgelehrten nichts ahnen, in der Person Jesu zuerst als Mensch
aus Davids Geschlecht unerkannt in Niedrigkeit unter den Menschen
lebt, nachher aber in den überirdischen Mes!>ias verwandelt wird,
als welcher er, obwohl Davids Sohn, Davids Herr ist, weil er nun über
alle Wesen, Menschen sowohl wie Engel, die Herrschaft besitzt. Daß
die Forschung bis auf den heutigen Tag diese messianologische Frage
Jesu an die Schriftgelehrten gewöhnlich dahin auslegt, als ob er damit
die Abstammung des Messias von David bestreiten oder als bedeu-
tungslos hinstellen wolle, zeigt nur, wie wenig sie damit rechnet, daß
die sich in der Eschatologie auftuenden Probleme von den V81'tretern
der eschatologischen Weltanschauung empfunden worden sind.
Obwohl er so den Messias mit dem Menschensohne zusammenlegt,
unternimmt Jesus keine weitergehende Synthese zwischen der pro-
phetischen und der danielischen Edchatologie, sondern hält sich für
den Aufriß der Endereignisse einzig an das aus den Büchern Daniel
und Henoch bekannte Schema, wobei unentschieden bleiben muß,
inwieweit er von diesen Schriften direkt beeinflußt ist und inwieweit
er sich einfach ihre Vorstellungen, soweit sie zu seiner Zeit in be-
stimmten Kreisen in Geltung sind, zu eigen macht. Seine Escha-
tologie ist also einfach und einheitlich. Er erwartet ein Endgericht,
das beim Erscheinen des Messias-Menschensohnes über die Menschen
aller Generationen und die Engel ergeht. Dabei setzt er, wie das Buch
Daniel, voraus, daß vor diesem Gerichte und auf es hin die allgemeine
Totenauferstehung statt hat. Die überlebenden der letzten Generation
mitsamt den Menschen aller auferstandenen Geschlechter empfangen
1) Ps 1101. Über die Deutung dieser Frage Jesu siehe Albert Schweitzer. "Ge-
schichte der Leben-Jesu-Forschung" 2. und folgende Auflagen S. 393.
Die Eschatologie der Apokalypsen Baruch und Esra. 85
ihr Urteil, die einen zur Verdammnis, die anderen zum Leben. Im
Reiche Gottes leben also unter der Herrschaft des Menschensohnes
Erwählte aus allen Menschheitsgenerationen in der Seinsweise der
Auferstehung, sei es, daß sie diese als Überlebende durch Verwand~
lung annahmen, sei es, daß sie dazu vom Tode erstanden. Dieses
Reich ist etwas Definitives. Es wird durch nichts anderes abgelöst,
sondern ist das Ende des Geschehens und währt ewig.
* *
*
Völlig verschieden von der Eschatologie Jesu ist die der Apokalypsen
Baruch und Esra. Diese versuchen, die prophetische und die danielische
Eschatologie miteinander in Einklang zu bringen. Sie tun es in ein-
facher Weise so, daß sie das messianische Reich der Propheten als
etwas Vorübergehendes ansehen und es durch das ewige Gottesreich,
als den definitiven Abschluß des Geschehens, abgelöst werden lassen.
Damit sind sie in der Lage, sich das messianische Reich ganz nach
der Art, wie es bei den älteren Propheten geschildert ist, vorzustellen.
Teilnehmer am messianischen Reich sind nach den Apokalypsen
Baruch und Esra nur Erwählte der letzten Menschheitsgeneration,
die das Ende der Zeiten erleben. Die prophetische Anschauung von
der vormessianischen Drangsal als einer von Gott veranstalteten
Sichtung ist voll in Geltung. Diejenigen, die zum Reich bestimmt
sind, werden in der Drangsal von Gott bewahrt, daß sie bei der An-
kunft des Messias überlebend sind.
Apoc Bar 702-711: "Siehe, Tage kommen, da wird, wenn die Zeit der Welt
reif sein und die Ernte der Aussaat des Bösen und des Guten kommen wird, der
Allmächtige über die Erde und ihre Bewohner und über ihre Regenten Geistes-
verwirrung und. herzlähmenden Schreck herbeiführen. Und sie werden einander
hassen und sich gegeneinander zum Krieg anreizen ... Und jeder, der sich aus
dem Kriege rettet, soll durch ein Erdbeben sterben, und der, der sich aus dem
Erdbeben rettet, wird im Feuer verbrennen, und der, der sich aus dem Feuer
rettet, wird durch Hunger zugrunde gehen; und alle, die sich retten und allen
den vorher erwähnten Gefahren entgehen - mögen sie nun. gesiegt haben oder
besiegt worden sein - , die werden den Händen meines Knechtes,des Messias,
überantwortet werden. Denn die ganze Erde wird ihre Bewohner verschlingen.
Das heilige Land aber wird sich dessen erbarmen, was zu ihm gehört, und wird
zu jener Zeit seine Bewohner beschirmen."
Das Gelicht, das der Messias am Ende der Drangsal abhält, ergeht
nur über die Überlebenden, nicht auch über Tote. Die Angehörigen
86 V. Die Probleme der Eschatologie Pauli.
fremder Völker, die sich nie gegen Israel vergangen haben, läßt er
am Leben und macht sie zu Unterworfenen. Aber alle, die Israel
bekämpft haben, überliefert er dem Schwert (Apoc Bar 72).
In dem nun anbrechenden Friedensreiche gibt es weder Schmerz
noch Trübsal, sondern Freude wandelt auf der ganzen Erde einher.
Niemand wird vorzeitig sterben. Die wilden Tiere werden aus dem
Wald kommen und den Menschen zu Diensten sein. Die Weiber
werden ohne Schmerzen gebären (Apoc Bar 73). Der Behemoth und
der Leviathan werden den Erwählten zur Speise dienen. Die Erde
wird ihre Frucht zehntausendfältig geben. Eine Traube wird tausend
Beeren haben. 1 Mannavorräte werden wieder von oben herabfallen.
Die Genossen des Messias werden davon in jenen Jahren essen, weil
sie das Ende der Zeiten erlebt haben (Apoc Bar 29).
Dieses in den Farben von Tritojesaja (Jes 6517-25) geschilderte
messianische Reich hat eine zeitlich begrenzte Dauer. Ist es zu Ende,
dann findet die Auferstehung der Toten statt (Apoc Bar 30 1-4).
In der Art, wie sie das Ende des messianischen Reiches schildern,
weichen die Apokalypsen Baruch und Esra voneinander ab. Die
Apokalypse Baruch macht keine Angabe über seine Dauer, sondern
berichtet einfach, daß der Messias, wenn die Zeit seines Herrschens
um ist, in den Himmel zurückkehren wird, worauf die Auferstehung
der Toten statt hat.
Apoc Bar 301-4.: "Und darnach, wenn die.Zeit der Ankunft des Messias sich·
vollendet, wird er in Herrlichkeit [in den Himmel] zurückkehren. Alsdann werden
alle die, die in Hoffnung auf ihn entschlafen sind, auferstehen. Und es wird zu
jener Zeit geschehen: auftun werden sich die Vorratskammern, in denen die Zahl
der Seelen der Gerechten aufbewahrt worden ist, und sie werden herausgehen;
und die vielen Seelen werden alle auf einmal, als eine Schar eines Sinnes, zum
Vorschein kommen. Und die ersten werden sich freuen und die letzten sich nicht
betrüben. Denn es weiß ein jeder, daß die Zeit herbeigekommen ist, von der es
heißt, daß es das Ende der Zeiten ist. Die Seelen der Gottlosen aber werden,
wenn sie dies alles sehen, alsdann ganz [vor Angst] vergehen; denn sie wissen,
daß ihre Peinigung sie [nun] erreicht hat, und ihr. Untergang herbeigekommen
ist. "
1) Irenäus (V. 33s) zitiert nach dem 4. Buch der Auslegung von Herren-
worten (Äoylwv "v!?ta"iiiv E;~YTJ!1t,) des Papias ein angebliches Wort Jesu von
der Fruchtbarkeit im messianischen Reich, demzufolge jede Rebe 10 000 Zweige,
jeder Zweig 10000 Triebe, jeder Trieb 10 000 Trauben tragen und jede Traube
25 Metreten Weins geben werde. Auch die übrigen Pflanzen würden in demselben
Maße Ertrag liefern und die Tiere unter sich und mit den Menschen in völligem
Frieden leben.
Die Eschatologie der Apokalypsen Baruch und Esra. 87
Nach der Apokalypse Esra dauert das messianische Reich 400 Jahre
und nimmt ein Ende dadurch, daß der Messias und mit ihm alles
was Menschenodem hat, dem Tode verfällt, worauf dann die Auf-
erstehung aller derer erfolgt, die je gelebt haben.
IV Esra 726-33: "Denn siehe, Tage kommen, wann die Zeichen, die ich früher
gesagt, eintreffen, da wird die unsichtbare Stadt erscheinen und das verborgene
Land sich zeigen; und jeder, der aus den Plagen, die ich dir vorausgesagt, ge-
rettet ist, der wird meine Wunder schauen. Denn mein Knecht, der Messias, 1
wird sich offenbaren samt allen bei ihm und wird den Übriggebliebenen Freude
geben 400 Jahre lang. Nach diesen Jahren wird mein Sohn, der Messias, sterben
und alle, die Menschenodem haben. Dann wird sich die Welt zum Schweigen der
Urzeit wandeln, sieben Tage lang, wie im Uranfang, so daß niemand überbleibt.
Nach sieben Tagen aber wird der Äon, der jetzt schläft, erwachen und die Ver-
gänglichkeit selber vergehen. Die Erde gibt wieder, die darinnen ruhen; der Staub
läßt los, die darinnen schlafen; die Kammern erstatten die Seelen zurück, die
ihnen anvertraut sind. Der Höchste erscheint auf dem Richtertron."
Nach den Apokalypsen Baruch und Esra ist der Gang der Ereig-
nisse also folgender: vormessianische Drangsal, in der die zum messi-
anischen Reiche Erwählten am Leben bleiben; Erscheinung des Messias;
Gericht des Messias über alle Überlebenden, wobei die, die des messiani-
schen Reiches nicht würdig sind, zum Sterben verurteilt werden;
messianisches Reich; Ende des messianischen Reiches und Rückkehr
des· Messias in den Himmel; Auferstehung der Toten aiier Genera-
tionen ulld Endgericht über sie durch Gott; ewige Seligkeit in dem
Reiche Gottes oder ewige Qual.
Diese Eschatologie kennt also zwei Seligkeiten (die messianische und
die ewige), zwei Gerichte (das Gericht des Messias zu Beginn des messia-
nischen Reiches über die Überlebenden der letzten Menschheitsgene-
ration und das Endgericht Gottes über die ganze auferstandene Mensch-
heit nach dem messianischen Reich) und zwei Reiche (das vorüber-
gehende messianische und die eViige Gottesherrschaft). Jesus erwartet
nur eine Seligkeit (die messianische, die zugleich ewig ist), ein Gericht
(das Gericht des Messias-Menschensohnes zu Beginn des Gottesreiches,
das über die überlebenden der letzten Generation und zugleich über die
ganze auferstandene Menschheit ergeht) und ein Reich (das Reich deI:!
Messias-Menschensohnes, das zugleich das ewige Reich Gottes ist).
Der ganze Unterschied zwischen den bei den Anschauungen geht
darauf zurück, daß Jesus, wie das Buch Daniel, die Auferstehung
beim Anbruch des messianischen Reiches erfolgen läßt, während die
Apokalypsen Baruch und Esra sie an das Ende desselben verlegen.
Die Apokalypsen Baruch und Esra vertreten die Eschatologie
des Schriftgelehrtentums, das alle in den Büchern der Propheten,
Daniel inbegriffen, ausgesprochenen Erwartungen anerkennt und
miteinander in Einklang zu bringen sucht. Der Art, wie es Ordnung
in das Chaos bringt, kann man die Bewunderung nicht versagen.
Hier waren Theologen am Werke, die des Denkens kundig waren.
90 V. Die Probleme der Eschatologie Pauli.
Ein erster Versuch eines Aufrisses der Endereignisse findet sich in der so-
genannten "Zehnwochenapokalypse", einem der ältesten Stücke des Buches
Henoch (Hen 91J2-J7; 931-9). Hier werden die Ereignisse von Anbeginn bis
zum Ende der Welt in "Weltwochen" gegliedert. Das messianische Reich beginnt
in der achten Weltwoche, in der die Sünder den Händen der Gerechten über-
geben werden und das Haus des großen Königs in Herrlichkeit für immerdar
ersteht. In der neunten ergeht das "Gericht der Gerechtigkeit", auf Grund dessen
die Werke der Gottlosen von der Erde verschwinden und die Welt für den Unter-
gang aufgeschrieben wird. In der zehnten Woche, in deren siebentem Teile, findet
das große, ewige Gericht statt, bei dem die Strafe an den Engeln vollzogen wird.
Danach vergeht der "erste Himmel", um einem neuen Platz zu machen, womit
das Ende alles Geschehens gekommen ist (Hen 9112-17). Hier werden also zwei
Gerichte im Verlaufe eines ewig währenden messianischen Reiches angenommen.
Wann die Totenauferstehung erfolgt, wird nicht angegeben. Die Vorstellung
scheint die zu sein, daß bei dem Endgerichte die auferstehenden Gerechten aus
den früheren Generationen zu den bereits im ewigen messianischen Reiche befind-
lichen Überlebenden aus der letzten Generation, die logischerweise ebenfalls in
der Seinsweise der Auferstehung geda~ht werden müssen, hinzugetan werden.
.Ähnlich ist die Anschauung der "Bilderreden Henoch" (Hen 37-71), wo zuerst
das Erscheinen und das Gericht des Menschensohnes gesehildert werden (Hen
45--50), worauf der Totenauferstehung Erwähnung geschieht (Hen 51). Da aber
in den Bilderreden alles mit "In jenen Tagen" aneinandergereiht wird, weiß
man nie recht, ob es sich um gleichzeitige oder um aufeinanderfolgende Ereignisse
handelt. Entscheidend ist, daß das Reich des Menschensohnes nach dem Buche
Henoch ewig ist" woraus mit Notwendigkeit folgt, daß seine Teilnehmer sich
in der Seinsweise der Auferstehung befinden. Die Sehriftgelehrten aber haben,
wie die Apokalypsen Baruch und Esra beweisen, diese Anschauung nicht an-
genommen, sondern sind bei der altprophetischen verblieben, daß das messianische
Reich das Privileg der Überlebenden der letzten Menschheitsgeneration sei.
Da die Apokalypsen Baruch und Esra erst nach der Zerstörung
Jerusalems unter Titus ges~hrieben sind, könnte fraglich sein, ob
die in ihnen gebotene Eschatologie auch wirklich von den Schrift-
gelehrten einer früheren Zeit vertreten wurde. Durch Paulus ist
erwiesen, daß dies tatsächlich der Fall ist. Die Eschatologie, die er
voraussetzt, ist dem Plane der Endereignisse nach dieselbe, wie die
der Apokalypsen Baruch und Esra. Diese war also unter den Schritt-
gelehrten, aus denen er hervorging, in Geltung.
* *
*
Daß Paulus sich die Aufeinanderfolge der Ereignisse der Endzeit
nach der gedoppelten Eschatologie der Schriftgelehrten vorstellt,
zeigt sich darin, daß er den Tod erst amEnde des messianischen Reiches
vernichtet werden läßt. Dies bedeutet, daß nach seiner Annahme die
Messianische und ewige Seligkeit bei Paulus. 91
* *
*
Die Lehre von zwei Auferstehungen findet Paulus nicht vor. Alle
Eschatologie vor ihm kennt nur eine Auferstehung, die entweder, wie in
den Büchern Daniel und Benoch und bei Jeaus, vor dem messianischen
Reich, oder, wie in den Apokalypsen Baruch und Esra, nach demselben
angesetzt wird.
I) Apoc Joh 204-6. Siehe S. 91-92.
Pauli Annahme zweier Auferstehungen. 95
Mit der Auferstehung Jesu hat die übernatürliche Welt bereits be-
gonnen, nur daß sie noch nicht in Erscheinung getreten ist.
Die anderen Gläubigen meinen, der Zeiger der Weltuhr stehe
unmittelbar vor dem Beginn der neuen Stunde, und warten auf den
Schlag, der diese verkünden soll. Paulus sagt ihnen, daß er schon
darüber hinausgerückt ist, und daß sie den Schlag, als er bei der
Auferstehung Jesu erfolgte, überhört haben.
Hinter dem stehengebliebenen äußeren Schein der natürlichen
Welt ist ihre Verwandlung in die übernatürliche im Gange, wie die
Bühne sich hinter dem Vorhang verändert.
* *
*
Für das Erkennen, das die Dinge zu sehen wagt, wie sie wirklich
sind, hört der Glaube auf, reiner Erwartungsglaube zu sein. Er nimmt
gegenwärtige Gewißheiten in sich auf. Dieses Auftreten von Gegen-
wartsglauben im Zukunftsglauben hat nichts mit einer Vergeistigung
der eschatologischen Erwartung zu tun, sondern ergibt sich gerade
aus einer Überspannung derselben. Für den Weltaugenblick zwischen
der Auferstehung Jesu und seiner Wiederkunft sind die vergängliche
und die unvergängliche Welt also ineinandergeschoben. Damit sind
die Voraussetzungen einer einzigartigen Mystik geschaffen. 1 Auf
Grund des Zustandes der Welt, nicht durch einen reinen Denkakt,
wie in der sonstigen Mystik, kann derjenige, der ein Wissender ist,
sich zugleich als in der vergänglichen und in der unvergänglichen Welt
seiend erfassen. Er braucht nur in Gedanken zu realisieren, was mit
ihm und mit der Welt vorgeht: daß Kräfte des übernatürlichen Seins
am Werke sind, ihn - wie alles was um ihn ist, soweit es dazu bestimmt
ist - in der Art umzugestalten, daß die äußere Erscheinung wohl
noch die der vergänglichen Welt, das Wesen aber bereits das der un-
vergänglichen ist. In den Erwählten, die dazu berufen sind, bei der
Wiederkunft Christi alsbald in der Seinsweise der Auferstehung offen-
bar zu werden, muß das Werk jener übernatürlichen Kräfte be-
reits am weitesten fortgeschritten sein.
Diese objektive Mystik der Tatsachen ist alsbald gegeben, sowie
das in der eschatologischen Erwartung lebende Denken sich die Trag-
weite des Todes und der Auferstehung Jesu als kosmischer Ereignisse
klar macht und die Auferstehung Jesu als den Beginn der Toten-
I) Siehe S. 38.
Das Ineinandersein von natürlicher und übernatürlicher Welt. 101
* '"
*
102
M.I 316-17: "Damals redeten zusammen, die Jahwe fürchten, und Jahwe
merkte auf und hörte, und es wurde vor ihm ein Gedenkbuch geschrieben für
die, die Jahwe fürchten und seinen Namen achten. Sie sollen mir, spricht Jahwe
der Heerscharen, am Tage, da ich einschreite, zu eigen werden, und ich werde
mit ihnen Mitleid haben, wie einer Mitleid hat mit seinem Sohne, der ihm dient."
Die Vorstellung, daß die zum Reiche bestimmten Heiligen miteinander im
Buche des Lebens aufgezeichnet sind, tritt in der Eschatologie dann fort und
fort auf (Ps 6929; Dan 12 1; Hen 1032; 1041 ; 1083). Nach den Psalmen Salomos
tragen sie Gottes Zeichen an sich, das sie rettet, wenn Gottes Zorn ausgeht, die
Gottlosen zu vernichten (Ps Sal 154-6).
Von einem "Volke der Heiligen des Höchsten", dem das ewige Reich Gottes
verliehen wird, redet das Buch Daniel (Dan 727). Ausgebildet ist die Vorstellung
der "Gemeinde der Heiligen", die auch "Gemeinde der Gerechten" genannt
wird, im Buche Henoch. Sie wird hier als eine präexistente Größe gedacht, die
bei Anbruch der messianischen Zeit mit dem Messias offenbar wird (Hen 381-5).
Hen 627--8: "Denn der Menschensohn war vorher verborgen und der Höchste
hat ihn vor seiner Macht aufbewahrt und ihn den Auserwählten geoffenbart.
Die Gemeinde der Heiligen und Auserwählten wird gesät werden, und alle Aus-
erwählten werden an jenem Tage vor ihm stehen."
Hen 6214-15: "Der Herr der Geister wird über ihnen wohnen, und sie werden
mit jenem Menschensohn essen, sich niederlegen und erheben bis in alle Ewigkeit.
Die Gerechten und Auserwählten werden sich von der Erde erheben und auf-
hören, ihren Blick zu senken, und werden mit dem Kleide der Herrlichkeit an-
getan sein."
1) Über die Prädestination bei Jesus siehe Albert 8chweitzer, "Geschichte der
Leben-Jesu-Forschung" 2. und folgende Auflagen S. 400-402.
104 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
historisch ist, nimmt Jesus deutlich auf die von Ewigkeit her mit dem
Menschensohn zusammengehörende und bei seinem Erscheinen offenbar
werdende "Gemeinde der Heili.gen" aUil dem Buche Henoch Bezug.
In derselben Weise denkt Paulus prädestinatianisch. Die Gläubigen
sind für ihn "berufene (xAr]7:ol) - berufene hat bei Paulus den Sinn
von erwählte! - Heilige" (I Kor 12; Röm 1 7). Das schöne Wort, daß
denen, die Gott lieben, Gott in allem zum Besten hilft, gilt nur denen,
"die nach dem Vorsatz Berufene sind" (Röm 828).
Die präexistente Gemeinde der Heiligen identifiziert Paulus, wie
es auch die Apokalypse Esra (IV Esra 9 38-10 57) tut, mit den Ange-
hörigen des präexistenten himmlischen Jerusalem. Auf sie bezieht er
die Worte aus Jesaja (Jes 541): "Juble, du Unfruchtbare, die nicht
geboren hat, brich in Jubel aus, die du nicht kreißest, denn die Einsame
hat viele Kinder, mehr als die, die einen Mann hat" (GaI426--27).
Obgleich Paulus hier Bekanntschaft mit dem Idealbegriff der
"Gemeinde Gottes" zeigt, 'Wollte die protestantische Wissenschaft
lange nicht von dem Vorurteil abkommen, daß er mit dem Ausdruck
Gemeinde (lxxArJC1la) immer nur die empirische Einzelgemeinde, nie
die ideale Gesamtgemeinde (Kirche) meine. Sie war dabei von dem
Bestreben geleitet, den katholischen Kirchenbegriff als eine empirisch
entstandene Größe darzutun. Bei Paulus glaubte sie, den Nachweis
führen zu können, daß die ursprüngliche Größe die Einzelgemeinde
war und daß aus der Gesamtheit dieser Einzelgemeinden nach und
nach der Begriff der Gesamtgemeinde erwachsen sei.
Das Wort b'''Ä'T)ala wird von jeder religiösen Gemeinschaft gebraucht. Es kann
also sowohl die ideale eschatologische Größe der Gemeinde der zum messianischen
Reiche Erwählten (" Gemeinde der Heiligen"; "Gemeinde Gottes") als auch
jede empirische religiöse Gemeinde bezeichnen.
Tatsache ist, daß Paulus in den meisten Stellen mit "Gemeinde"
eine an einem Orte empirisch vorhandene Einzelgemeinde meint.
Dies ergibt sich schon daraus, daß er diesen Ausdruck an die zwanzig
Male in der Mehrzahl gebraucht. Zugleich verwendet er ihn aber
doch auch so, daß er nur als Bezeichnung der Gesamtgemeinde ver-
ständlich wird. Er klagt sich an, "die Gemeinde Gottes" verfolgt zu
haben (Gal 113; I Kor 159). Die Korinther tadelt er, daß sie "die
Gemeinde Gottes" verachten (I Kor 11 22), und ermahnt sie, untadelig
für die "Gemeinde Gottes" zu werden (I Kor 1032).
Der Idealbegriff der "Gemeinde Gottes" kommt also schon in den
sicher authentischen Briefen Pauli vor und ist nicht erst eine Schöp-
Die Vorstellung der Gemeinde der Heiligen als Keimzelle der Christusmystik. 105
* *
*
Schon die Verkündigung Jesu enthält Christusmystik. Es ist näm-
lich nicht so, daß Jesus nur die Nähe des Gottesreiches und die Ethik,
die während der Erwartung desselben betätigt werden soll, verkündet.
Er spricht zugleich aus, daß man durch mit ihm eingegangene Gemein-
schaft schon jetzt die Gewähr habe, einmal Genosse des Menschen-
sohns zu sein. Diese Christusmystik trägt er als Geheimnis vor. Die
Hörer wissen ja nicht, daß er derjenige ist, der einmal als Menschen-
sohn erscheinen wird, und können also nicht verstehen, warum Ge-
meinschaft mit ihm auch solche mit dem Menschensohn bedeutet.
Wäre in der Eschatologie irgendwie vorgesehen gewesen, daß der
Messias-Menschensohn vor seinem Erscheinen zuerst unerkannt in
Menschenexistenz aufträte, so hätten die Hörer seinen Worten ent-
nehmen müssen, daß die von ihm behauptete Solidarität zwischen
ihm und dem zukünftigen Menschensohn Identität sei. Nun ist aber
die Verbindung zwischen einer Menschenexistenz und der Erschei-
nung des Menschensohns die Tat des Selbstbewußtseins Jesu und
als solche nur ihm bekannt. Also kann er in seinen Aussprüchen so
weit gehen, daß die Identität zwischen ihm und jenem aus ihnen in
allen Tönen herausklingt : die Hörer können ihnen doch nur ent-
nehmen, daß der Menschensohn sich in allem als mit ihm, dem Ver-
künder seines Kommens, solidarisch erweisen wird. Mehr brauchen
sie auch nicht zu ",issen. Für ihre Errettung kommt es ja nur darauf
an, daß sie durch Gemeinschaft mit Jesus Gemeinschaft mit dem
Menschensohn erlangen, nicht daß sie verstehen, wie dies zugeht.
Tatsächlich beherrscht die Lehre, daß erworbene und bewahrte
Gemeinschaft mit ihm Gemeinschaft mit dem Menschensohn bedeutet,
die Verkündigung Jesu, ",enn sie auch in den bisherigen Darstellungen
nicht in ihrer Bedeutung erkannt ist.
Christusmystik in der Verkündigung Jesu. 107
Im Hinblick auf das, was er für sich und die Gläubigen in der
vormessianischen Drangsal erwartet, fleht Jesus sie an, in seiner
Erniedrigung, wenn nötig bis in den Tod, bei ihm auszuharren, da
Leiden mit ihm Herrlichkeit mit dem Menschensohn im messianischen
Reiche bedeute.
Mt 511-]2: "Selig seid ihr, so sie euch schmähen oder verfolgen und euch
alles Schlechte andichten um meinetwillen. Freuet euch und frohlocket, denn
euer Lohn ist groß in den Himmeln."
Mc 835: "Wer sein Leben verliert um meinetwillen und des Evangeliums willen,
der wird es erretten."
Mc 8 38: "Denn wer sich meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehe-
brecherischen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn
schämen, wenn er kommt in der Herrlichkeit seines Vaters, mit seinen heiligen
Engeln."
Dem Täufer, der bei ihm angefragt hat, wer er sei, kann Jesus sein
Geheimnis nicht preisgeben. Er antwortet ausweichend, indem er
auf die Zeichen hinweist, aus denen die Nähe des Reiches offenbar
wird, und schließt mit dem Worte: "Selig ist, wer sich nicht an mir
ärgert" (Mt 11 6). Damit läßt er ihn, wie die Jünger und das Volk, das
Eine wissen, Was not tut.
Später, als ihm feststeht, daß den andern die Drangsal erspart wird
und er allein leiden und sterben solI, eröffnet er dies den Jüngern
unter Preisgabe seines Messianitätsgeheimnisses. Dies tut er, damit
sie dann nicht an ihm irre werden. Wer von ihm in seiner Erniedrigung
abfällt, verwirkt ja damit das Sein mit ihm in seiner Menschensohn-
herrlichkeit.
Die ErwähIung ist bei Jesus nämlich nicht etwas Unabänderliches.
Obgleich er, wie auchPaulus, ausgesprochener prädestinatianisch denkt
als die jüdische Eschatologie vor ihm, behält sein Begriff der Er-
wählung doch das Schwankende, das ihm von der jüdischen Escha-
tologie her anhaftet. Dieses Schwankende rührt daher, daß das Prä-
destinatianische und das Ethische ineinander gedacht sind. Weil er
erwählt ist, ist der Erwählte ein Gerechter, und weil er gerecht ist,
ist er ein Erwählter. Auch bei Jesus stehen das Prädestinatianische
und das Ethische noch in Wechselbeziehung zueinander. Wrom die
Erwählung durch das Eingehen der Gemeinschaft mit ihm und das
Verharren in ihr nicht fest gemacht wird, so wird sie hinfällig. Anderer-
seits kann einer, der eigentlich nicht erwählt ist, aber durch sein Ver-
halten in Gemeinschaft mit Jesus tritt, damit die Rechte eines Er-
wählten für das Sein mit dem Menschensohn im messianischen Reich
108 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
Schicksal so schlimmer Art, daß ihm besser wäre, er wäre nie geboren
(Mt 185-6).
Auf Grund der unwil:lsentlich erworbenen oder verfehlten Zugehörig-
keit zum Menschensohn wird es am Tage des Gerichts große über-
raschung geben. Menschen werden vom Menschensohn als Gerechte
und Teilnehmer des Reiches erklärt werden, mit der Begründung, daß
sie ihn gespeist hätten, als er hungerte, ihn getränkt hätten, als er
dürstete, ihn beherbergt hätten, als er fremd war, ihn bekleidet hätten,
als er bloß war, ihn besucht hätten, als er krank war, zu ihm gekommen
wären, als er gefangen lag. Auf ihr erstauntes Fragen, wann sie ihm
solches erwiesen hätten, erfahren sie, daß sie es einem der Geringsten
antaten, der sein Bruder war, und es damit ihm selbst angetan hätten.
Ebenso werden andere zu ihrem Erstaunen erfahren, daß sie verworfen
sind, weil sie versäumten, einem der Geringsten aus dem Kreise des Men-
schensohnes die Barmherzigkeit zu erweisen, deren er gerade bedurfte,
wodurch sie der Zugehörigkeit zum Menschensohn verlustig gegangen
seien (Mt 2531-46). Diese Rede Jesu vom Gericht ist nicht so rein
ethisch, wie wir sie nach unserem Empfinden aufzufassen geneigt sind.
Der geringste der Brüder des Menschensohns, dem die so wunderbar
belohnte Tat galt, ist nämlich nicht irgend ein in Not befindlicher
Mensch, sondern ein Zugehöriger zur Gemeinde der erwählten Ge-
nossen des Menschensohns. Das Ethische erhält seine Bedeutung
durch das Mystische.
Die Zugehörigkeit zur Gemeinde derer, die zu Genossen des Men-
schensohnes berufen sind, setzt alle andern Beziehungen außer Kraft.
Denen, die ihm melden, daß seine Mutter und seine Brüder nach ihm
fragen, gibt Jesus mit dem Blick auf die ihn umlagernden Gläubigen
den Bescheid, daß diese ihm Mutter und Brüder seien, weil sie den
Willen Gottes tun wollten (Mc 331-35). In der Rede bei der Aussen-
dung der Jünger spricht er es in voller Schroffheit aus, daß die Liebe
zu Vater, Mutter, Bruder und Schwester vor der zu ihm zurücktreten
müsse (Mt 1037), wobei sein Gedanke der ist, daß durch die Liebe zu
ihm die Zugehörigkeit zum Menschensohn und den Seinen verwirk-
licht werde. Es soll sogar nicht mehr erlaubt sein, sich Meister (Rabbi)
nennen zu lassen, da man nur noch einen Meister (gemeint ist der
Messias) kennen dürfe; und niemand solle man mehr Vater heißen,
weil (im Augenblicke, wo die Gemeinde der Heiligen, das heißt der
Kinder Gottes, im Begriffe ist offenbar zu werden) nur noch der
Vater im Himmel Anspruch auf diesen Namen habe (Mt 238-9).
110 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
* *
*
Paulus lehrt Christusmystik, wie sie für die Zeit gilt, die auf Tod
und Auferstehung Jesu folgt.
Ist solche aber überhaupt möglich?
Wie soll denkbar sein, daß die noch als natü.rliche Menschen auf
Erden wandelnden Erwählten in Gemeinschaft mit dem bereits im
übernatürlichen Zustand befindlichen Christus stehen? Wie kann
bei solcher Verschiedenheit der Seinsweise eine Vorherverwirklichung
ihrer Zusammengehörigkeit mit dem Messias möglich sein? Welchen
Sinn könnte sie überhaupt haben?
In der Zwischenzeit zwischen der Auferstehung und der Wieder-
kunft Jesu scheint das Verhältnis der Erwählten zu ihm also darauf
beschränkt zu bleiben, daß sie an seine Messianität glauben und
hoffend auf die in der messianischen Herrlichkeit stattfindende Ver-
wirklichung ihrer Zusammengehörigkeit mit ihm ausschauen. Dies
ist allen Gläubigen der ersten Gemeinde selbstverständlich ... außer
Paulus. Sämtlichen entgegenstehenden Tatsachen zum Trotz behauptet
dieser, daß die Zusammengehörigkeit der Erwählten mit Christo sich
schon in der Zeit zwischen seiner Auferstehung und Wiederkunft
auswirke und daß dadurch ihre Vereinigung mit ihm in der messiani-
schen Herrlichkeit überhaupt erst möglich werde.
Von dem, was die Erwählten und Jesns miteinander gemeinsam
haben müssen, um miteinander in der Herrlichkeit des messianischen
Reiches vereinigt sein zu können, steht für Paulus dies im Vorder-
grund, daß sie miteinander der Seinsweise der Auferstehung teil-
haftig werden, ehe die Auferstehung für die anderen Toten angebrochen
ist. Das Wesentliche ihrer vorherbestimmten Zusammengehörigkeit
ist also dies, daß sie miteinander an einer Leiblichkeit teilhaben,
die in besonderer Weise der Wirkung von Auferstehungskräften
Zusammengehörigkeit mit Christo als Teilhaben an derselben Auferstehung. 111
* *
*
·112 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
* *
*
Diese ganze Mystik der zugleich mit der Menschheit in Verwand-
lung begriffenen Welt ist nichts anderes als die eschatologische Vor-
stellung von der Erlösung von innen her geschaut. Daß mit Jesu Tode
und Auferstehung die natürliche Welt sich in die übernatürliche
zu verwandeln beginnt, ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß von
jenem Augenblicke an die Herrschaft der Engelmächte im Vergehen
und .die messianische Zeit im Anbruch begriffen ist.
Daß die Erwählten schon jetzt der übersinnlichen Welt zugehören,
geht darauf zurück, daß für sie die Engelherrschaft, die sich, obwohl
schon gebrochen, bis in die messianische Zeit fortsetzt, nicht mehr gilt.
A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus. 8
114 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
* *
*
Paulus verkündet also Christusmystik auf Grund der eschatologi-
schen Vorstellung von der vorherbestimmten Zusammengehörigkeit
der Erwählten untereinander und mit dem Messias, wie Jesus es auch
tat. Der Unterschied ist nur der, daß er sie in der Fassung vorträgt, die
sie auf Grund des Todes und der Auferstehung Jesu annimmt.
Wie viel macht sich die Forschung mit dem Probleme Paulus und
J esus zu schaffen und wie Mannigfaltiges bringt sie vor, um er klären
zu können, warum Paulus seine Lehre nicht auf die Predigt Jesu
zurückführt, sondern darin so unbegreiflich selbständig neben ihm
steht! Sie redet dabei um ein Problem herum, das sie sich von vorn-
herein dadurch unlösbar macht, daß sie es nicht in seiner Vollständig-
keit erfaßt. Die Feststellung, daß Paulus sich Jesus gegenüber selb-
ständig verhält, ist irreführend, wenn man sich dabei nicht zugleich ver-
gegenwärtigt, was er alles mit ihm gemeinsam hat. Mit ihm teilt er
die eschatologische Weltanschauung und die eschatologische Erwar-
tung samt allem, was damit gegeben ist. Verschieden ist nur die
jedesmal in Betracht kommende Weltzeit. Beidemale ist es dasselbe
Gebirge. Jesus erschaute es als vor ihm liegend; Paulus aber steht
darin und hat die ersten Anhöhen schon hinter sich. Anders als vorher
stellen sich jetzt die Dinge der eschatologischen Gewißheit dar.
Nicht alles, was damals galt, gilt noch jetzt, und nicht alles, was jetzt
in Kraft ist, war es schon damals. Weil die Weltzeit eine andere ge-
worden ist, kann die "Lehre Jesu" für Paulus nicht mehr maßgebend
Die Lösung des Problems des Verhältnisses Pauli zu Jesus. 115
sein. Die Autorität der Tatsachen muß ihm höher stehen als die
autoritative Geltung, welche die Lehraussprüche Jesu beanspruchen
können. Wahrheit ist ihm, was sich auf Grund der eschatologischen
Erwartung aus der Tatsache des Todes und der Auferstehung Jesu als
Wissen von der Erlösung ergibt.
Diejenigen, die sich weiterhin unbefangen auf Aussprüche Jesu
berufen, bekunden damit, nach Paulus, nur, daß ihnen die Einsicht
in den durch Tod und Auferstehung Jesu bewirkten Fortschritt der
Zeit abgeht. Gegen solches Irren wagt er die Behauptung, daß auch
derjenige, der Christum nach dem Fleische gekannt habe, ihn jetzt
nimmer so kennen dürfe.
II Kor 5 16: " Wenn wir Christum auch nach dem Fleische gekannt haben,
so kennen wir ihn jetzt nicht mehr."
bei ihnen ist. Sie würden es tun, wenn er von ihnen genomme~ sein werde (Me
218-20). Damit spielt er auf die Zeit der messianischen Drangsal an, in der er
für sich Verfolgung und Tod erwartet.
Jesu Stellung zum Gesetz ist widerspruchsvoll. Er erkennt sein Bestehen in
feierlichen Worten an (Mt 517-]9). Zugleich aber lehrt und verlangt er die Ge-
rechtigkeit, die besser ist, als die der Schrütgelehrten, und legt in anzüglichen
Worten dar, wie widersinnig es ist, einen neuen Lappen auf ein altes Kleid zu
setzen und neuen Wein in alte Schläuche zu füllen (Me 22]-22).
Aber daß das Gesetz vor dem Eintritt des messianischen Reiches als auf-
gehoben erklärt werden könne, hat er weder gesagt noch gedacht. Eine solche
Behauptung hätte in seiner eschatologischen Erwartung auch keinen Sinn gehabt.
Für Paulus aber stellt sich die Frage, ob das Gesetz noch Geltung haben kann,
wenn in der Auferstehung Jesu die messianische Zeit bereits angebrochen ist.
Aus der mit Jesu geteilten eschatologischen Wertung seines Todes
und seiner Auferstehung als kosmischer Geschehnisse gelangt Paulus,
weil sie sich unterdessen ereignet haben, zu Behauptungen, die Jesus
fern lagen. In derselben Weise ist seine Mystik, obwohl sie als etwas
von ihr so ganz Verschiedenes neben die Lehre Jesu tritt, nicht etwas
absolut Neues, sondern nur die Umgestaltung einer Christusmystik,
die schon Jesus der eschatologischen Vorstellung von der vorher-
bestimmten Zusammengehörigkeit der Erwählten unter sich und mit
dem Messias entnommen hat.
Weil Jesus das Anbrechen des messianischen Reiches für alsbald
nach seinem Tode erwartet, setzt er für jene Zeit keine Lehre von
der Erlösung mehr voraus. Wo eine solche dann, weil das messianische
Reich verzieht, dennoch aufgestellt werden muß, begnügen sich die
andern mit Flickwerk. Sie erwarten die durch Jesum geschaffene
Erlösung nach Maßgabe der überlieferten Eschatologie, die in keiner
Weise auf die Tatsache angelegt ist, daß der zukünftige Messias zuvor
stirbt und aufersteht. Paulus als einziger gestaltet den Glauben an die
Erlösung wirklich danach um, daß der Messias nicht einfach erscheint,
sondern vorher schon in Menschenexistenz da war und durch sein
Sterben und Auferstehen die Totenauferstehung anbrechen ließ.
'" * *
Der ursprüngliche und zentrale Gedanke der Mystik Pauli ist also
der, daß die Erwählten miteinander und mit Jesu Christo an einer
Leiblichkeit teilhaben, die in besonderer Weise der Wirkung von Ster-
bens- und Auferstehungskräften ausgesetzt ist und damit der Erlan-
gung der Seinsweise der Auferstehung fähig wird, bevor noch die
allgemeine Totenauferstehung statt hat.
Die Gemeinde der Heiligen und der mystische Leib Christi. 117
Weil sich in dem mystischen Leibe Christi das Sterben und Auf-
erstehen mit Christo abspielt, sind die Erwählten aus dem Judentum
"durch den Leib Christi getötet dem Gesetze" und gelten ihm gegen-
über als Gestorbene, auf die es kein Recht mehr hat (Röm 7 <1-6).
Sie hören auf, fleischliche Wesen zu sein und als solche "im Fleische
zu sein" (Röm 7 5; 8 9) und nach dem Fleische zu wandeln (Röm
8 <1-5; 812). Ihr Fleisch samt Leidenschaften und Lüsten ist vernichtet,
als wären sie mit Christo gekreuzigt worden (Ga] 524).
Als solche, die eigentlich als Gestorbene zu gelten haben, sind sie,
wie dem Fleisch, so auch der Sünde enthoben (Röm 62; 66-7). In
allem sind sie wie solche, die mit Christo begraben wurden und nun
bereits im neuen Dasein existieren (Röm. 64-5). Dem Wesen dieser
neuen Seinsweise nach sind sie Tote, die zu Lebendigen geworden sind
(Röm 613). Sind sie dem äußeren Scheine nach noch natürliche Men-
schen, so ist doch die Lebenskraft, die in ihnen ist, nicht mehr natür-
licher, sondern übernatürlicher Art. Alles, was sie erleben, ist in dem
Satze beschlossen "Wenn auch unser äußerer Mensch sich verzehrt,
'Jo wird doch unser innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert" (II Km."
416).
Als Lebenskraft haben sie den Geist Gottes, der auch der Geist
ist, der in Christo lebt und von ihm ausgeht (Röm 8 9). Christus selber
ist in ihnen (Röm 810; Gal 220). Weil die Lebenskraft seiner Aufer-
stehungsseinsweise auch die ihre ist, sind sie "neue Schöpfung" (uawiJ
U'tfcJl~. II Kor 517; Gal 615), das heißt bereits Geschöpfe der neuen
Welt. Der in ihnen wohnende Geist dessen, der Jesum von den Toten
erweckt hat, wird auch ihre sterblichen Leiber lebendig machen
(Röm 8 11 J. Eingepflanzt in Christi Sterben, sind sie es auch in seine
Auferstehung (Röm 65) und haben die Gewißheit, daß sie mit ihm
leben werden (Röm 68).
Die Mystik Pauli ist die letzte Phase des Kampfes, den der Auf-
erstehungsgedanke um seine Geltung in der Eschatologie führt.
Der Realismus und die Logik dieser Mystik bringen es mit sich,
daß die Vorstellung des neuen Zustandes als einer W1edergeburt, so
naheliegend sie an sich gewesen wäre und so gewohnt sie dem mit dem
Hellenismus irgend wie bekannt gewordenen Denken Pauli auch sein
mochte, nicht aufkommen kann. 1 Der am J..Jeibe Christi teilhabende
Erwählte wird eine neue Kreatur durch Vorwegnahme seiner Auf-
'" '"
*
Da die Grundvorstellung der Mystik Pallli die ist, daß die Erwählten
mit Christo an derselben Leiblichkeit teilhaben, wird sie in der zu-
treffendsten Weise durch Wendungen wiedergegeben, in denen noch
erkenntlich ist, daß es sich um ein Erleben handelt, das die Erwählt~m
mit Christo gemeinsam haben. Diejenigen, in denen das "mit Christo"
zu einem "in Christo" wird, entfernen sich dementsprechend von der
ursprünglichen Idee.
Mit Christo. "Mit Christo bin ich gekreuzigt" (Gal 220). - "Mit ihm (Christo)
sind wir begraben worden durch die Taufe" (Röm 64). - "Wenn wir mit Christo
gestorben sind, so glauben wir, daß wir auch mit ihm leben werden" (Röm 68).
Gemeinschaft mit Christo. "Gott ist getreu, durch den ihr berufen seid zur
Gemeinschaft ("owwvla) seines Sohnes Jesu Christi, unseres Herrn" (I Kor 19).
- "Ihn (Christum) zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Ge-
meinschaft ("owwvla) seiner Leiden, seinem Tode gleichgestaltet werdend, ob
ich gelangen möchte zur Auferstehung von den Toten" (Phil 310-11).
Christo angehören. "Seid ihr Christi, so seid ihr Abrahams Same" (-Gal 3 29).
- "Die, die Christi sind, haben das Fleisch samt den Leidenschaften und den
Lüsten gekreuzigt" (Gal 524). - "Ihr seid Christi, Christus ist Gottes" (I Kor
323). - "Wenn einer sich zuschreibt Christi zu sein, so soll er wiederum dies
bei sich bedenken, daß wie er selber Christi ist, ebenso auch wir" (Il Kor 107).
- "Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein" (Röm 89).
Von Christo ergriffen sein. "Ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen
möchte, darum weil ich auch ergriffen worden bin von Christo" (Phil 312).
Christum anziehen. "So viele ihr auf Christum getauft seid, habt ihr Christum
angezogen" (Gal 327).1
* '"
*
Da das "in Christo" die am meisten vorkommende Wendung ist,
hielt man sie für die ursprünglichste und versuchte, von ihr aus in die
1) Daß das "Anziehen Christi" keine hellenistische Vorstellung ist, siehe
S.134-135.
Gemeinschaft mit Christo und Sein in Christo. 123
Mystik Pauli einzudringen. Damit begab man sich in eine Sackgasse.
Das für das Ursprüngliche Angesehene ist in Wirklichkeit ein Abge-
leitetes, aus dem die Vorstellung, ",ie sie tatsächlich ist, nicht begriffen
werden kann.
Schon die Tatsache, daß neben dem "in Christo" noch das "mit
Christo" und andere Wendungen vorkommen, hätte darauf aufmerk-
sam machen sollen, daß hinter dem "in Christo" möglicherweise eirie
allgemeinere, den Hauptnenner für diese verschiedenen Ausdrücke
abgebende Vorstellung zu suchen sei. Vollends hätte darauf führen
müssen, daß neben dem "Wir in Christo" auch die Umkehrung .,Chri-
stus in uns" auftritt. Wie konnte man an diesem Problem sprachlicher
Logik vorübergehen und die beiden einander entgegengesetzten Aus-
drücke als miteinander identisch ausgeben, ohne die Nötigung zu
empfinden, diese Identität sachlich zu erklären!
Christus in uns. "Meine Kinder, für die ich abermals in Wehen liege, bis daß
Christus in euch Gestalt gewinne" (Gal 419). - "Merkt ihr etwa nicht, daß
Christus in euch ist 1" (11 Kor 135). - "Ist Christus in euch, so ist der Leib zwar
tot um der Sünde willen, der Geist aber Leben um der Gerechtigkeit willen" (Röm
810). - "Christus wird verherrlicht werden in meinem Leibe, sei es durch Leben,
sei es durch Tod" (PhiII2o). - "Ihr verlangt ja einen Beweis dafür, daß Christus
in mir redet, und dieser ist nicht schwach gegen euch, sondern mächtig in euch"
(11 Kor 133).
Die ursprüngliche Vorstellung, in der die verschiedenen Wendungen
wie in ihrem Hauptnenner aufgehen, ist also die des Teilhabens mit
Christo an der in besonderer Weise der Auferstehung fähigen Leiblich-
keit. Aus dieser Art des Vereinigtseins werden das "Christus in uns"
und das "Wir in Christo" miteinander in gleicher Weise verständlich.
*
*
Der Ausdruck "Sein in Christo" ist nur eine sprachliche Verkürzung
für Teilhaben am mystischen Leibe Christi. Weil in ihm nicht mehr
enthalten ist, daß der Einzelne mit der Vielheit der Erwählten zu-
sammen an dem Leibe Christi teil hat, führte er die von ihm aus-
gehende Forschung in die Irre. Er verleitete sie dazu, das, was sich
nach Paulus als ein kollektives und objektives Geschehnis an den
Gläubigen ereignet, als ein individuelles und subjektives Erleben
erklären zu wollen.
Das "Sein in Christo" ist also der gebräuchlichste, aber nicht der
zutreffendste Ausdruck der Gemeinschaft mit Christo. Er setzt sich
124 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
als der brauchbarste durch, nicht nur durch seine Kürze, sondern vor
allem deswegen, weil er die Möglichkeit bietet, für die in Betracht
kommenden Antithesen die analogen Ausdrücke "im Leibe", "im
Fleisch", "in der Sünde" und "im Geiste" zu gebrauchen und damit die
Mystik auf knappe Gleichungen zu bringen.
Das "in Christo" bildet auch das Gegenstück zu "im Gesetz". Wohl
steht das "im Gesetz" in den meisten Fällen ursprünglich für "durch
das Gesetz", dem Sprachgebrauch der Septuaginta entsprechend,
die das hebräische ~ durch sv ",iedergibt. Wenn aber Paulus vom
Sündigen im Gesetz (Röm 2 12) und dem Gerechtfertigtwerden im
Gesetz (GaI3n; 54) redet, so geht bei ihm auch die Vorstellung eines
Sündigens und Gerechtfertigtwerdens im Zustande des "Seins im
Gesetze" mit einher. Das "Sein im Gesetz" ist mit dem "Sein im
Fleische" gegeben. Für gewöhnlich gebraucht Paulus dafür den
natürlicheren Ausdruck "Sein unter dem Gesetz" (Röm 614; I Kor
920; Gal 3 23; 44; 45; 421; 5 18). Aber um einen Parallelausdruck
zum "Sein im Fleische" und "Sein in Christo" zu haben, redet er
auch vom "Sein im Gesetze". So sagt er im Römerbriefe, daß das,
was das Gesetz redet, an diejenigen ergeht, "die im Gesetze sind"
(Röm 3 19). Die räumliche Bedeutung des hebräischen ~ verbindet sich
bei ihm mit der instrumentalen.
Sein in Christo. "Die Toten in Christo werden zuerst auferstehen" (I Thess 416).
- "Versuchend in Christo gerechtfertigt zu werden" (Gal 217). - "In Christo
Jesu gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittenheit, sondern der Glaube, der
sich in Liebe auswirkt (Gal 56). - "In Christo Jesu Geheiligte" (I Kor .12.). -
"Von ihm (Gott) aus seid ihr in Christo Jesu" (I Kor Iso). - "Unmündige in
Christo" (I Kor 31). - "Timotheus, der mein liebes und getreues Kind ist in
dem Herrn" (I Kor 417). - "Wer als Sklave im Herrn berufen ist, der ist ein
Freigelassener des Herrn" (I Kor 7 22). - "Wenn Christus nicht auferstanden
ist ... dann sind auch die in Christo Entschlafenen verloren" (I Kor 1517-18).
- "Denn wie in Adam alle sterben, so werden auch in Christo alle lebendig ge-
macht werden" (I Kor 1522). - "Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Schöp-
fung" (Il Kor 517). - "Daß wir in ihm (Christo) würden Gerechtigkeit Gottes"
(11 Kor 521). - "Ich kenne einen Menschen in Christo" (Il Kor 122). - "Durch
die Erlösung in Christo Jesu" (Röm 324). - "Tot für die Sünde, lebendig aber
für Gott in Christo Jesu" (Röm 611). - Die Gnadengabe Gottes ist ewiges Leben
in Christo Jesu" (Röm 623). - "So gibt es denn jetzt keine Verdammnis mehr
für die, die in Christo Jesu sind" (Röm 81). - "Das Gesetz des Geistes des Lebens
in Christo Jesu" (Röm 82). - "Also sind wir, die Vielen, ein Leib in Christo"
(Röm 125). - "Andronikos und Junias ... die vor mir in Christo gewesen sind"
(Röm 167). - "Grüßt die von den Leuten des Narkissos, die im Herrn sind"
(Röm 1611). - "Grüßt den Rufus, den Erwählten im Herrn" (Röm 1613). -
Das Sein in Christo. 125
"Allen Heiligen in Christo Jesu, die da sind in Philippi" (Phil 11). - "Auf daß
ich in ihm (Christo) erfunden werde" (Phil 39). - "Der Friede Gottes, welcher
höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und eure Gedanken in Christo Jesu
bewahren" (Phil 47). - "Als einen geliebten Bruder ... sowohl im Fleische als
im Herrn" (Philm 116). - "Es grüßt dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christo
Jesu" (Philm 123). -
Aus dem "Sein in Christo" erklärt sich das "durch Christum", wie es Paulus
öfters gebraucht.
"Ich danke meinem Gott durch Jesum Christum" (Röm 18). - ~,Dank sei
Gott durch Christum Jesum" (Röm 725). - "Friede mit Gott durch unsern
Herrn Jesum Christum" (Röm 51). - "Zu ewigem Leben durch Jesum Christum"
(Röm 521). - "Der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesum Christum"
(I Kor 15 57). - "Zum Erwerb der Errettung durch unsern Herrn Jesum Christum"
(I Thess 59).
Was sich in Worten fast formelhaft ausnimmt, ist nicht also ge-
dacht. Für Paulus ist der Getaufte in allen seinen Lebensäußerungeu
durch das Sein in Christo bestimmt. In die Leiblichkeit Christi ein-
gepflanzt, verliert er sein kreatürliches Eigendasein und seine natür-
liche Persönlichkeit. Hinfort ist er nur noch eine Erscheinungsform
der in jener Leiblichkeit dominierenden Persönlichkeit Jesu Christi.
Solches behauptet Paulus in aller Schärfe, wenn er im Galaterbrief
126 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
schreibt: "Ich bin mit Christo gekreuzigt; so lebe ich jetzt nicht mehr
als ich selbst, vielmehr lebt Christus in mir" (Gal 219-20).
Daß so das ganze Sein bis in das alltägliche Denken und Tun in
das mystische Erleben einbezogt'm ist, bedeutet, daß diese Mystik
eine Weite, eine Stetigkeit, eine Sachlichkeit und zugleich eine Stärke
besitzt, für die sich in der sonstigen Mystik kaum Beispiele finden
lassen. Jedenfalls ist sie darin ganz anders geartet als die hellenistische,
die das alltägliche Erleben neben dem mystischen und ohne Beziehung
zu ihm einhergehen läßt.
* *
*
Obgleich das "in Christo" in der Darstellung der paulinischen
Mystik sprachlich dominiert, bricht doch allenthalben die ursprüng-
liche Vorstellung durch, daß es sich um ein gemeinsames Teilhaben der
Erwählten und Christi an derselben Leiblichkeit handelt. Insbesondere
bekundet sich dies in der Umkehrbarkeit der in der Mystik waltenden
Beziehungen. Nicht nur, daß sich das "Wir in Christo" durch ein
"Christus in uns" ersetzen läßt: An Stelle des "Christus für uns"
kann das" Wir für Christus" treten. So wagt Paulus den Satz: "Immer-
fort werden wir, die Lebenden, in den Tod gegeben um Jesu willen,
damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleische offenbar
werde" (II Kor 411).1 Die Gemeinschaft zwischen den Erwählten
und Christus bedeutet also nicht nur etwas im Hinblick auf die Er-
wählten, sondern auch im Hinblick auf Christum selber. In der obigen
Stelle werden die Erwählten als Brennstoff bewertet, der bestimmt
ist, dem Sterben und Auferstehen Jesu weitere Ausdehnung zu geben.
Paulus geht sogar so weit, für die in dem Leibe Christi zusammen-
gefügten Existenzen eine übertragbarkeit des mystischen Erlebens
von den einen auf die anderen anzunehmen. So behauptet er den
Korinthern gegenüber, sie und er machten das Sterben und Aufer-
stehen in dem Leibe Christi miteinander in der AJ:t durch, daß die
Sterbenskräfte sich an ihm auswirkten, während die entsprechenden
Verlebendigungskräfte an ihnen zutage treten. Darum ist er Christi
wegen töricht, schwach und verachtet, während sie in Christo klug, stark
und geehrt sind. In seiner Drangsal erwirbt er Trost, der sirh an ihnen
1) Der erste Teil des Satzes berührt sich mit dem Zitat in Röm 836: "Um
deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlacht-
schafe" (Ps 44 23).
Wechselbeziehungen im mystischen Leibe Christi. 127
zum Ertragen von Leid wirksam erweist. Auf das Geheimnisvolle
und die Tragweite dieser Übertragbarkeit ist die bisherige Forschung
nicht genügend aufmerksam geworden.
II Kor 410-12 : "Ständig tragen wir das Gestorbensein Jesu an unserem Leibe
herum, damit auch das Leben Jesu an unseren Leibern offenbar werde. Immerfort
werden wir, die Lebenden, in den Tod gegeben um Jesu willen, damit auch das
Leben Jesu an unserem sterblichen Fleische offenbar werde. So wirkt also der
Tod in uns, das Leben aber in euch."
II Kor 139: .,Wir freuen uns ja, wenn wir schwach sind und ihr stark seid."
I Kor 4 10: "Wir sind Toren um Christi willen, ihr seid klug in Christo. Wir
sind schwach, ihr seid stark. Ihr seid im Ruhm, wir in Schande."
11 Kor 1 5-7: "Denn wie die Leiden Christi an uns reichlich sind, so ist auch
durch Jesum Christum reichlich unser Trost. Haben wir Bedrängnis, so ist es
zu eurem Trost und Heil; werden wir getröstet, so ist es zu eurem Troste, der
sich wirksam erweist im Ertragen derselben Leiden, die auch wir leiden. Und
unsere Hoffnung für euch ist fest, da wir wissen, daß ihr, wie an den Leiden, so
auch an der Tröstung teil habt."
Diese Stelle, die sich sonst als ein gekünsteltes Eingangskompliment des
Briefes hin- und herwindet, wird zu etwas Einfachem und Ergreifendem, sobald
sie in dem Gedanken der in dem mystischen Leibe Christi waltenden "Übertrag-
barkeit ihren wahren Sinn gewinnt.
Ob der extreme Satz des Kolosserb>:iefes "Nun freue ich mich in
meinen Leiden für euch und mache voll in meinem Fleische, was
von den Leiden Christi noch aussteht, für seinen Leib, welcher ist
die Kirche" (Kol 124) von Paulus ist oder nicht, läßt sich nicht aus-
machen. Jedenfalls liegt er in der Fortsetzung des Gedankens von
II Kor 410-12 und von Stellvertretungsideen im Briefe an diePhilipper.
Phil 120: "Daß Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, sei es durch
Leben, sei es durch Tod." - Phil 129: "Euch ist verliehen für Christum, nicht
allein an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden." - Phil 217: "Aber
wenn ich auch gespendet werde zum Opfer und zur Weihe eures Glaubens, so
freue ich mich und habe Freude mit euch allen."
Der mystische Leib Christi ist für Paulus also nicht ein Bild oder
eine in symbolischen und ethischen Erwägungen zustande gekommene
Vorstellung, sondern eine naturhafte Größe. Nur so erklärt es sich,
daß nicht nur Christus für die Erwählten, sondern auch die Erwählten
für Christus und ebenso für andere Erwählte leiden können. Die
Vertauschbarkeit der Beziehungen geht darauf zurück, daß die be-
treffenden Existenzen in derselben Leiblichkeit naturhaft unter-
einander zusammenhängen und eine in die andere übergehen. Aus dem
einseitigen "Sein in Christo" wären solche Aussagen nicht erklärlich.
* * *
128 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
Die Bedeutung dieser Stelle für die Mystik des Paulus ist bisher
nicht gebührend hervorgehoben worden. Sie besagt, daß Paulus die
extremsten Folgerungen daraus zu ziehen wagt, daß er sich die Ge-
Aufhebung der Gemeinschaft mit Christo. 129
das Sein im Fleische, mit dem es das Gesetz zu tun hat, und gibt damit
das Sein in Christo auf. Wird der Gläubige durch das Sterben mit
Christo vom Gesetze "weggetan", so wird er dadurch, daß er sich
wieder unter das Gesetz begiebt, hinwiederum von Christo "weg-
getan".
Röm 74-6: "Ebenso, meine Brüder, seid auch ihr getötet worden für das
Gesetz durch den Leib Christi, einem andern anzugehören, dem aus den Toten
Auferweckten ... Nun sind wir losgetan (uaT'T}(!yi}iJ'T}Wv) von dem Gesetz, indem
wir dem, worin wir festgehalten wurden, gestorben sind."
Gal 54: "Losgetan (uaT'T}(!yi}iJ'T}Te) seid ihr von Christo, so viele ihr im Gesetze
gerechtfertigt werdet: aus der Gnade seid ihr herausgefallen."
Weiter wird die Gemein"chaft mit Cillisto noch durch die mit
den Dämonen eingegangene aufgehoben. Die Kultmahle in den Tem-
peln, zu denen die Opfernden Einladungen an ihre Bekannten ergehen
lassen, stellt Paulus in Analogie zum Herrenmahl. Das Herrenmahl
bedeutet Gemeinschaft mit Christo. Die Opfer werden, da es Götter
nicht gibt, in Wirklichkeit den Dämonen: dargebracht. Also wirken
die Opfermahlzeiten Gemeinschaft mit den Dämonen. Da Gemein-
schaft mit Christo und Gemeinschaft mit den Dämonen sich aus-
schließen, geht derjenige, der an einer Götzenopfermahlzeit teil-
nimmt, der Gemeinschaft mit Christo verlustig (I Kor 1014-21).
I Kor 10 20-2] : "Ich will nicht, daß ihr Genossen der Dämonen werdet. Ihr
könnt nicht den Becher des Herrn trinken und den Becher der Dämonen; ihr
könnt nicht am Tische des Herrn teilhaben und am Tische der Dämonen."
Auf Grund seiner Mystik statuiert Paulus also drei Todsünden: die
Unzucht, die Übernahme der Beschneidung nach der Taufe und die
Beteiligung an den Götzenopfermahlen. Während alle anderen Ver-
gehen die Gemeinschaft mit Christo nur schädigen, heben diese drei
sie alsbald auf. Da die Etlangung der Seinsweise der Auferstehung
bei der Wiederkunft Jesu nur auf Grund des Seins in Christo erfolgt,
wirken sie also den Tod.
* *
*
In welcher Weise werden die Erwählten durch das Sterben und
Auferstehen mit Christo zum vorzeitigen Auferstehen oder zur Ver-
wandlung bereitet?
Um Paulus richtig zu verstehen, darf man ihm nicht die Vorstellung
der Auferstehung des Fleisches beilegen, wie sie sich bei 19natius,
Pauli Vorstellung vom Sterben und Auferstehen. 131
ein Nacktsein. Sie hat die Hülle des fleischlichen Leibes abgelegt und
muß noch auf die des himmlischen warten. Da ihm dieses Nacktsein
auch für die Seelen der Gerechten als eine armselige Existenz vor-
kommt, hält er dafür, daß die, die bis zur Wiederkunft Jesu am Leben
bleiben und dann alsbald aus der natürlichen Seinsweise in die über-
natürliche verwandelt werden, besser daran sind als die, die als unter-
dessen Entschlafene dieses Nacktsein und das damit gegebene schatten-
hafte Dahinleben durchmachen müssen. Er selber sehnt sich danach,
bei der Wiederkunft Jesu Christi überlebend zu sein, um überkleidet
zu werden, ohne erst entkleidet worden zu sein.
II Kor 51-9: "Denn wir wissen, daß, wenn unser irdisches Zelthaus ab-
gebrochen wird, wir einen Bau von Gott haben, ein nicht mit Händen gemachtes
ewiges Haus in den Himmeln. Denn in diesem seiend seufzen wir, indem wir
uns sehnen, unsere aus dem Himmel stammende Behausung darüber anzuziehen,
da wir ja, wenn wir sie angezogen haben werden, nicht nackt werden erfunden
werden. Denn wir, die wir in dem Zelte sind, seufzen in Bedrücktheit, weil wir
nicht ausziehen, sondern darüber anlegen wollen, damit das Sterbliche vom
Leben verschlungen werde. Der aber, der uns dazu bereitet hat, ist Gott, der
uns das Angeld des Geistes gegeben hat. So sind wir denn voll Zuversicht und
wissen, daß wir, wenn wir in dem Leibe daheim sind, fern sind von dem Herrn,
denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber voll Zuver-
sicht und wollen lieber aus dem Leibe auswandern und unsere Heimat beim
Herrn haben. Darum streben wir auch, wir mögen daheim sein oder in der
Fremde, daß wir ihm wohlgefallen."
Nach der Apokalypse Baruch (Apoc Bar 49-51) stehen alle Toten
zuerst in ihrer ursprünglichen Gestalt auf, damit sie einander wieder-
kennen. Danachfindet das Gericht statt. Auf dieses hin werden die einen
in engelgleiche Wesen, die andern in häßliche Gestalten verwandelt.
Dies gilt für die allgemeine Totenauferst.ehung. Die Apokalypse
Baruch und mit ihr die spätjüdische Eschatologie überhaupt kennen
ja nur diese eine.
Anders denkt sich Paulus die Auferstehung der in Christo Ent-
schlafenen bei der Wiederkunft Jesu. Er läßt sie schon im Auferstehen
mit dem Herrlichkeitsleib angetan sein. Dies meint er, wenn er im
1. Korintherbriefe schreibt, daß die Toten in Christo unverweslich
(aq)'f}a(!Tot) auferstehen, während gleichzeitig die überlebenden ver-
wandelt werden (I Kor 1552).1 Die Toten in Christo sind eben andere
1) Obgleich Paulus in I Kor 1552 dem Wortlaute nach von den Toten über-
haupt redet, meint er tatsächlich, wie in I Thess 4 Hl und in I Kor 1523, nur die
Toten in Christo. Siehe S. 95.
Pauli Vorstellung vom Sterben und Auferstehen. 133
als die gewöhnlichen. Bei ihnen entscheidet sich nicht erst nach der
Auferstehung, ob sie zur Herrlichkeit oder zur Verdammnis eingehen.
Ihr Schicksal steht von vornherein fest. überdies sind sie durch
das Teilhaben an dem verklärten Leibe Christi bereits auf die Erlan-
gung des ihnen bestimmten Herrlichkeitsleibes vorbereitet. Also
können sie ohne weiteres im Herrlichkeitsleibe auferstehen.
DaßPaulus den begrabenen fleischlichen Leib als die Saat bezeichnet,
aus welcher der unverwesliche hervorgeht (I Kor 1542-44), spricht
auch dafür, daß er für die in Christo Gestorbenen, von denen er redet,
ein bereits im Herrlichkeitsleibe stattfindendes Auferstehen erwartet.
Für die allgemeine Totenauferstehung kann aber auch Paulus nicht
annehmen, daß die Gestorbenen alsbald im Herrlichkeitsleibe er-
scheinen. Im Gerichte, durch das sie als Auferstandene hindurch-
müssen, entscheidet sich ja erst, ob sie den Herrlichkeitsleib erhalten
oder als häßliche Gestalten in der ewigen Pein schmachten.
Selbstverständlich erleben bei Paulus alle Menschenwesen, die je auf
Erden waren, ihre Auferstehung, mit Ausnahme derjenigen, die bei
der Wiederkunft Jesu als Überlebende in Christo waren und deshalb
durch die Verwandlung in die Seinsweise der Auferstehung eingingen.
Die Toten in Christo stehen bei der Wiederkunft Jesu auf, alle anderen
bei der allgemeinen Totenauferstehung nach dem messianischen Reiche.
Damit sie alle auferstehen können, müssen alle zuvor gestorben sein.
Paulus muß also annehmen, daß bei dem Gerichte, das bei Anbruch
des messianischen Reiches statt hat, alle noch am Leben befindlichen
Menschen, soweit sie nicht zur Zahl der in Christo Seienden gehören,
dem Tode überantwortet werden. Ob sie dadurch schon bestimmt
sind, bei dem Endgericht, zu dem sie nachher auferstehen, zur ewigeD
Verdammnis verurteilt zu werden, läßt sich nicht ausmachen. Denk-
bar wäre, daß irgendwelche unter ihcen die ewige Seligkeit erlangen,
obwohl sie der messianischen verlustig gingen. Dieser Fall käme
theoretisch zum Beispiel für Erwählte der letzten Menschheits-
generation in Betracht, zu denen keine Kunde von Christo gelangt
wäre und die also keine Gelegenheit gehabt hätten, ihre Erwählung
durch das Sein in Christo zu verwirklichen. Damit hätten sie das
Privileg der letzten Generation, aber nicht die ewige Seligkeit ver·
loren.
Hingegen steht fest, daß diejenigen, die an der messianischen Selig-
keit teilhaben, damit ohne weiteres auch das Recht auf die ewige
besitzen.
134 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
Interessant ist, daß bei dem ersten Versuche einer Verbindung des Auf-
erstehungsgedankens mit der Eschatologie, den die Apokalypse Jes 24-27 unter·
nimmt, nicht die Auferstehung Aller, sondern nur die derer, die Gott wohlgefällig
sind, angenommen wird.
Jes 2614: ,,[Ihre] Toten werden nicht lebendig, die Schatten stehen nicht
auf; du hast sie gestraft, sie vertilgt und jedes Gedenken an sie vernichtet." -
Jes 2619: "Deine Toten werden lebendig, [meine Leichen] werden auferstehen,
[erwachen und jauchzen werden] die im Staube liegen."
Hier verbindet sich der Auferstehungsgedanke also in einfacher Weise mit
dem der Bewahrung der Gerechten in der Enddrangsal. Zu den bei der Sichtung
der Völker am Leben erhaltenen Gerechten gesellt sich eine Schar von solchen,
die zum Teilhaben am Reiche aus dem Tode erweckt wurden (Jes 267-21).
Auch im Buche Daniel ist nur davon die Rede, daß viele von denen, die im
Erdenstaube schlafen, auferstehen. Aber schon ist hier der Gedanke des Gerichts
über Auferstandene vorausgesetzt, insofern als den einen die Auferstehung Selig-
keit, den andern Qual bringt.
Dan 122: "Und viele von denen, die im Erdenstaube schlafen, warden er-
wachen,
die einen zum ewigen Leben, die ancl:ern zu Schmach, zu ewigem Abscheu."
Ist einmal der Gedanke der Auferstehung in der Art mit der Eschatologie
verbunden, daß ein Gericht über die Auferstandenen angenommen wird, so drängt
die Entwicklung mit Notwendigkeit dahin, daß alle Gestorbenen auferstehen,
um alle ihr Urteil zu empfangen. Diese Folgerung ist in der Eschatologie der
Apokalypsen Henoch, Baruch und Esra wie auch in der Jesu und Pauli gezogen.
* *
*
Pauli Sätze von einem Überkleidetwerden mit dem himmlischen
Zelthause (Il Kor 52-3) und einem Anziehen der Unvergänglichkeit
und der Unsterblichkeit (I Kor 1553-54) erklären sich voll und ganz
aus der ihm geläufigen spätjüdischen Anschauung, daß die leiblich
gedachte Seele mit dem Tode die fleischliche Leiblichkeit ablegt und
nun im Zustande des Nacktseins auf die himmlische Leiblichkeit
wartet. Es ist also nicht nötig, hellenistische Anschauungen zu ihrer
Erklärung anzuführen. Sie werden dadurch nicht deutlicher, als sie
von sich aus sind, sondern eher dunkler. Die einzig zulässigen Kommen-
tare zu Pauli Vorstellung von Sterben und Auferstehen sind die
spätjüdischen Apokalypsen Benoch, Baruch und Esra_
Daß diese spätjüdischen Anschauungen selber nicht genuin jüdisch
sind, sondern mit der Auferstehungsidee aus dem Parsismus und der
orientalischen Religiosität überhaupt übernommen sind, ist eine
Sache für sich. Paulus besitzt sie als etwas überliefert Jüdisches
und fühlt kein Bedürfnis, sie durch das, was er über Sterblichkeit und
Abscheiden und bei Christo sein. Phi! 121-26. 135
Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein, was bei weitem das Bessere ist; aber
das Verbleiben im Fleische ist das Notwendigere um euretwillen."
Wie ist dieser Umschwung in der Auffassung vom Tode zu er-
klären?
Man hat annehmen wollen, daß Paulus zur Zeit des Philipper-
briefes die Wiederkunft Jesu nicht mehr für so bald erwarte wie
früher und dementsprechend mit dem Sterben deI' Gläubigen als dem
normalen Fall zu rechnen anfange. Um dem so für alle in Aussicht
genommenen Tode seine Bitterkeit zu nehmen, habe er sich mit Hilfe
hellenistisch-individualistischer Gedanken zu der Gewißheit hindurch-
gearbeitet, daß jeder in Christo Verstorbene alsbald nach seinem Tode
in die Seinsweise der Auferstehung eingehen und durch Entrückung
zu Christus in den Himmel gelangen werde. Nach der früheren Annahme
sollten alle in Christo Entschlafenen miteinander bei seiner Wieder-
kunft auferstehen und ihm entgegen in die Wolken erhoben werden.
An dieser Erklärung ist zunächst unzutreffend, daß Paulus im
Philipperbrief weniger zuversichtlich mit der baldigen Wiederkunft
Jesu rechnen soll als früher. Dagegen spricht schon allein der Satz
"Der Herr ist nahe" (Phil 45) und das auf solche Gewißheit zurück-
gehende "Freuet euch" (Phil 4 <1,). 1 Sodann ist nicht einzusehen,
warum diese Hoffnung auf alsbaldiges und individuelles Auferstehen
etwas Hellenistisches sein soll, das neben der Eschatologie zur Geltung
kommt. Was ist Hellenistisches an der Vorstellung der Entrückung zu
Christus hinauf?
Viel natürlicher ist es, diese Hoffnung auf Auferstehung und Ent-
rückung als eine Überspannung der in der Mystik des Seins in Christo
gegebenen Auferstehungserwartung zu erklären.
Auszugehen ist von der Feststellung, daß Paulus in Phil 1 21~6
nur von dem redet, was er für sich erwartet. Er stellt nicht eine neue
Lehre von Sterben und Auferstehen auf, die die bisherige außer
Kraft setzt, sondern läßt nur eine besondere Hoffnung zu Worte
kommen, die er für sich auf Grund seines Selbstbewußtseins hegt.
Und zwar beschäftigt er sich mit ihr im Hinblick auf ein besonderes
Sterben, das ihm möglicherweise beschieden ist. Er muß ja damit
rechnen, daß seine Gefangenschaft mit dem Märtyrertod endigen
könne. Für diesen Fall erwartet er seine Entrückung zu Christus in
alsbaldiger Auferstehung.
1) Über die unverminderte Lebendigkeit der eschatologischen Erwartung im
Philipperbriefe siehe S. 55.
Abscheiden und bei Christo sein. Phil 121-26. 137
Pauli Lehre von Tod und Auferstßhung wandelt sich also nicht.
Nur erwartet er auf Grund seines Selbstbewußtseins, daß ihm im
Falle seines Märtyrertodes eine besondere Art von Auferstehung be-
schieden sei.
Wie stark sein Selbstbewußtsein an den Gedanken beteiligt ist,
die er sich über seine etwaige Verurteilung zum Tode macht, ergibt
sich daraus, daß er ihn als ein für seine Gemeinden dargebrachtes
Opfer bewertet.
Phil 2 17: "Aber auch wenn ich hingespendet werde über dem Opfer und der
priesterlichen Darbringung eures Glaubens, so freue ich mich und habe Freude
mit euch allen."
In seinem Selbstbewußtsein, das man sich nicht gewaltig genug
vorstellen kann, erwartet Paulus also, daß ihm dasselbe beschieden
sei wie Henoch, Elia, Esra und Baruch. Möglicherweise hat das
ekstatische Erlebnis, daß er "sei es in dem Leibe, sei es außerhalb
des Leibes", bis in den dritten Himmel und in das Paradies entrückt
'wurde (II Kor 122-4), dazu beigetragen, daß sich die Hoffnung
einer Entrückung zu Jesus bei ihm ausbildete.
Diese im 2. Korintherbriefe als vor 14 Jahren geschehen angeführte Ent-
rückung liegt zur Zeit des Philipperbriefes zwar schon an die 20 Jahre zurück.
Welche Bedeutung sie für Paulus aber stets behält, ist daraus zu ersehen, daß
er in dem Kampfe um seine Apostelwürde darauf zu sprechen kommt und sie
als eine einzigartige Auszeichnung wertet, aus der allein schon sich seine Gleich-
berechtigung mit den Uraposteln, wenn nicht gar seine Ueberlegenheit über sie,
ergeben muß. Ins Paradies wurde Henoch bei seiner Entrückung versetzt (Hen
608; 70 3). Paulus hat also ein Erlebnis gehabt, das dem dieses Frommen der
Urzeit vergleichbar ist, und hat dort geweilt, wo er sich aufhält! Welchem von
den Aposteln ist solches zuteil geworden!
Durch die Bezweiflung seiner Apostelwürde ist Pauli Selbstbewußt-
sein in Wallung gebracht und gesteigert worden. Dieses Selbstbewußt-
sein gibt ihm die Hoffnung einer alsbald nach dem Tode stattfindenden
und mit der Entrückung zu Christo verbundenen Auferstehung ein.
Die eschatologische Mystik erlaubt ihm, sie auszudenken. Bereits
nimmt er für die Toten in Christo ja an, daß sie als solche, die mit
Christo schon Sterben und Auferstehen durchgemacht haben, nicht wie
andere Tote auferstehen, sondern bei ihrem Erwachen aus der Toten-
ruhe alsbald die unvergängliche Leiblichkeit besitzen und in dieser
Jesus entgegen in die Lüfte entrückt werden (I Thess 417). Der Ge-
danke der Entrückung zu Jesus ist also in der Vorstellung der Auf-
erstehung der in Christo Gestorbenen an sich bereits enthalten. Paulus,
138 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
der sich bewußt ist, das Sterben mit Christo in einzigartiger Weise
durchgemacht und bereits eine Entrückung zum Himmel erlebt zu
haben, kann daher im Ausblick auf seinen etwaigen Opfertod wohl
zur Erwartung gelangen, eine noch mehr bevorzugte Auferstehung
zu erleben als die anderen, die in Christo verstorben sind. So entsteht
in ihm die Hoffnung, im Falle seines Märtyrertodes in alsbaldiger
individueller Auferstehung dahin entrückt zu werden, wo Christus
ist. Sie umspielt ihn im Gefängnis. Aber sein Wirklichkeitssinn behält
die Oberhand. In dem Fragen, ob Gott ihm den Tod oder die Freiheit
bestimmt habe, dominiert schließlich immer wieder die Gewißheit,
daß das Letztere der Fall ist, weil das Verbleiben im Fleische um der
Gemeinden willen notwendig ist. So schaut Paulus mit dem ihm von
Gott befohlenen Lebensmut auf ein Freiwerden aus der Gefangen-
schaft und die Rückkehr zu seinen Gemeinden aus und erwartet
weiter seine Verwandlung bei der Wiederkunft Jesu.
Phil 1 24-26: "Das Verbleiben im Fleische ist notwendiger um euretwillen.
Und in dieser Gewißheit weiß ich, daß ich bleiben und. bei euch allen verbleiben
werde zu eurem Fortschreiten und zur Freude eures Glaubens, auf daß euer Ruhm
reichlich werde in Christo in mir, durch meine abermalige Anwesenheit bei euch."
*
*
Die Probleme, die seine Mystik notwendig machen, und die all-
gemeine Vorstellung, auf der sie beruht, hat Paulus nicht dargelegt,
wie er ja überhaupt die Lehre des Seins in Christo nicht in ihrem
Zusammenhang entwickelt, sondern ihre Behauptungen als etwas
Selbstverständliches vorträgt. Aber hinter den Sätzen, in denen er
seine Mystik ausspricht, stehen die Probleme, durch die sie gefordert
wird, und die GrundvorstellUllgen, aus der sie erwächst, mit solcher
Deutlichkeit, daß sie von jeher sichtbar gewesen wären, wenn man nur
den Mut gehabt hätte, diese Mystik aus der eschatologischen Erwartung
begreifen zu wollen. Aber man hielt es für selbstverständlich, daß sie
mehr oder weniger hellenistisch sein müsse.
Die Möglichkeit, daß Paulus durch die griechische Sprache helleni-
stische Gedanken in sich aufgenommen habe und daß diese nicht
ohne Einfluß auf seine Mystik geblieben seien, soll in keiner Weise
bestritten werden, wenn auch das Meiste von dem, was bisher aus
der hellenistischen Literatur zar Erklärung der paulinischen Gedanken-
welt beigebracht wurde, nicht das erwartete Licht auf sie warf. Sicher
Die überlegenheit der eschatologischen Erklärung über die hellenistische. 139
aber ist, daß diese Mystik als Ganzes sich nicht aus hellenistischen
Ideen zusammenflicken läßt, sondern nur aus der Eschatologie be-
greiflich wird. Die Erklärung aus der Eschatologie ist der aus dem
Hellenismus in jeder Hinsicht überlegen. Sie vermag die Mystik des
Paulus als durch Probleme der Eschatologie gefordert und also als
notwendig darzutun; sie zeigt, wie die verschiedenartigsten Behaup-
tungen aus einer einzigen Grundvol'stellung fließen; sie macht die
Herkunft der Vorstellung des mystischen Leibes Christo deutlich,
der die hellenistische Erklärung ratlos gegenübersteht; sie leitet aus
ihr die Anschauung des "Seins in Christo" ab, für die sich im Hellenis-
mus gar keine befriedigenden Parallelen finden; sie vermag den natur-
haften Charakter der Gemeinschaft mit Christo und das Realistische
des Sterbens und Auferstehens mit ihm zu erklären; sie macht be-
greiflich, warum die Vorstellung der Wiedergeburt bei Paulus fehlt
und der neue Zustand ausschließlich als eine vorweggenommene
Auferstehung aufgefaßt wird.
Weiter wird aus ihr verständlich: der Zusammenhang dieser Mystik
mit der Prädestination; die Eigentümlichkeit, daß das Sein in Christo
nicht ein subjektives, sondern ein kollektives Erlebnis ist; das Fehlen
des Symbolischen; die Tatsache, daß das gesamte Leben des Gläubi-
gen bis in seine alltäglichen Äußerungen als in Christo verlaufend
gedacht ist; die Möglichkeit, daß der Erfolg des sich in den Erwählten
auswirkenden Sterbens Christi l1uf andere übertragen und an ihnen
als Leben Christi offenbar wird. So werden sowohl das Ganze als
auch die Einzelheiten der Mystik Pauli ungleich besser durch die
Herleitung aU3 der Eschatologie als durch die aus dem Hellenismus
erklärt.
Die überlegenheit der eschatologischen Deutung zeigt sich auch
darin, daß sie das Problem Paulus und Jesus in ein neues Licht rückt
lmd es in viel befriedigenderer Weise löst, als dies bisher der Fall war.
Sie vermag zu zeigen, daß Paulus viel mehr mit Jesus gemeinsam
hat, als gewöhnlich angenommen wird. Zugleich macht sie deutlich,
warum er genötigt ist, sich eine eigene Lehre zu schaffen. Die Theorie
des Abfalls Pauli von Jesus, ohne die die hellenistischen und halb-
hellenistischen Erklärungen der Mystik Pauli nicht auskommen,
wird für die eschatologische gegenstandslos.
Weiter hat die eschatologische Erklärung noch den Vorteil, da.ß
sie Paulus in ein natürliches Verhältnis zum Urchristentum bringt.
Sie macht das, was er mit ihm gemeinsam hat, und das, worin er über
140 VI. Die Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo.
Fleische leidet, ist los von Sünde." - I Petr 4 13: "In dem Maße, als ihr an den
Leiden Christi Anteil habt, freuet euch, damit ihr auch bei der Offenbarung seiner
Herrlichkeit Wonne und Freude haben mögt." - I Petr 416: "Wenn er aber
leidet als Christ, so schäme er sich nicht; er verherrliche aber Gott in diesem
Namen." - I Petr 419: "Die da leiden nach Gottes Willen." - I Petr 5 9: "Wis-
send, daß das Gleiche an Leiden sich in der Welt an eurer Brüderschaft erfüllt."
- I Petr 510: "Der Gott aller Gnade wird euch nach kurzem Leiden vollbereiten."
für das Gesetz durch den Leib Christi" (Röm 74). - "Ist Christus in euch, so
ist der Leib tot" (Röm 810). - "Stets das Gestorbensein Jesu an unserem Leibe
herumtragend" (11 Kor 410). - "Denn immerfort werden wir, die da leben,
in den Tod gegeben, um Christi willen" (11 Kor 411). - "Mir widerfahre es nicht,
mich zu rühmen, außer allein des Kreuzes unseres Herrn Jesu Christi, durch
welches mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt" (Gal 614). - "Mit Christo
bin ich gekreuzigt" (GaI220). - "Niemand schaffe mir fernerhin Mühe; ich trage
die Malzeichen (Stigmata; G-clYl'a-ca) Jesu an meinem Leibe herum" (GaI617).
Die Malzeichen (Stigmata) sind eigentlich die Brandmale, durch die ein Sklave
oder ein Tier als seinem Herrn zugehörig kenntlich gemacht wurde. Das Zeichen
der Zugehörigkeit zu Christus ist das Leiden. Gal617 besagt also, wie 11 Kor 410,
daß Paulus das Gestorbensein Christi an sich herumträgt. Möglicherweise meint
er mit den Stigmata auch die Narben, die er von den verschiedenen Auspeitschungen
sicherlich behalten hat. Vielleicht will er auch behaupten, er sei in der Art schon
ein mit Jesus Gekreuzigter, daß er zu achten sei als einer, der die Spuren der
Kreuzigung aufweist. Als ein gleichwie Christus bereits Gekreuzigter verlangt
er, daß man ihm nicht fernerhin Mühe schaffe, wie wenn er noch als natürlicher
Mensch umherwandelte.
Auf die Behauptung Pauli, daß er die Stigmata (Malzeichen) Jesu an sich trage,
geht bekanntlich das an einer Reihe von abnorm beeinflußbaren Menschen auf-
getretene Phänomen des Sichtbarwerdens blutender Wundmale an Händen und
Füßen zurück. Es handelt sich darum, daß durch die intensive Vorstellung der
aus Abbildungen bekannten Wundmale und durch das bewußte oder unbewußte
Sehnen, des bei Paulus angenommenen Erlebnisses solcher Stigmatisation eben-
falls teilhaftig zu werden, auf Grund dahingehender vasomotorischer Erregung
solche Wundmale tatsächlich hervorgerufen werden. Was bei Paulus also bildlich
gemeint war, wird hier zur Wirklichkeit.
* *
*
Indem er den gewaltsamen Gedanken der Todesgemeinschaft mit
Christo vorträgt, bringt Paulus lediglich eine aus der Eschatologie
stammende, von Jesus verkündete und im Urchristentum geltende
Anschauung auf den Ausdruck, den sie auf Grund des Todes und der
Auferstehung J esu logischerweise annehmen muß.
Bis zur Aussendung der Zwölfe lehrt J esus, daß man mit ihm leiden
und bis in den Tod ausharren müsse, um vom Menschensohne als dem
messianischen Reiche zugehörig anerkannt zu werden. 1 Was er
für sich und die an das Reich Gläubigen an Verfolgung erwartet, ist
ja in der allgemeinen Größe der vormessianischen Drangsal gegeben_
Später gelangt er, auf Grund des Ausbleibens der Drangsal, zu der
Überzeugung, daß von ihm freiwillig herbeigeführtes Sterben von
1) Siehe S. 59-63.
144 VII. Leiden als Erscheinungsweise des Sterbens mit Christo.
Gott als Sühne für die Erwählten angenommen werde und daß diese
daraufhin von der Drangsal frei bleiben. 1 Da er diesen Gedanken
als Geheimnis für sich behält und nur Andeutungen darüber macht,
begreift das Urchristentum von seinem Tode nur so viel, daß er damit
eine Sühne geleistet habe, auf Grund deren das Kommen des Reiches
möglich wird und die Erwählten in der Taufe Sündenvergebung auf
das Gericht hin empfangen. Überdies dauern Verfolgung und Drangsal
fort; ja, sie brechen eigentlich jetzt erst an. Dadurch wird die ur-
sprüngliche Idee, mit der Jesus in den Tod gegangen, wenn sie über-
haupt verstanden worden war, durch die Wirklichkeit außer Kraft
gesetzt. Der Gedanke der vormessianischen Drangsal besteht weiter.
In ihm begreifen die Gläubigen die ihnen begegnende Verfolgung.
Damit bringen sie ihr Leiden naturgemäß mit dem Jesu in Verbin-
dung, da dieses ebenfalls ein Geschehnis der vormessianischen Drangsal
ist. Ihr Leiden ist dem seinigen zugehörig und setzt es fort. Mögen die
ersten Christen sich im übrigen auch rein glaubend und erwartend
verhalten, so ist in ihrer Auffassung des Leidens doch ein Element
der Mystik der Gemeinschaft mit Christo gegeben, insofern als sie,
auf Grund der Vorstellung der vormes'3ianischen Drangsal, mit ihm
leiden.
Im Urchristentum kommt der Gedanke der Leidensnachfolge
neben dem der Leidensgemeinschaft mit Christo fast nicht auf. Der
Gläubige wertet sein Leiden als etwas, das in der großen Drangsal
inbegriffen ist, die nach dem Ratst-hluß Gottes von den widergött·
lichen Gewalten über die Angehörigen des zukünftigen messianischen
Reiches, den Messias wie die Erwählten, gebracht wird, damit sie
darin geläutert werden, ihre Zugehörigkeit zu Gott bewähren und
Anwartschaft auf die kommende Herrlichkeit erwerben. 2 Die sachliche
Zugehörigkeit dieses Leidens zu dem Jesu Christi wird durch die
zeitliche Getrenntheit nicht berührt. Sogar vor dem Auftreten Jesu
erduldete Erniedrigung kann mit der seinen in Zusammenhang stehen.
Im Hebräerbrief wird Mose, der es ablehnt, ein Sohn der Tochter
Pharaos zu heißen, um das Schicksal des Volkes Gottes zu teilen,
dafür gepriesen, daß er in vorausschauendem Glauben "die Schmach
Christi für einen größeren Reichtum hielt als die Schätze Ägyptens"
(Hebr 11 24-26).
1) Über Jesu Anschauung von seinem Leiden und Tod siehe S. 59-63.
2) Über die Enddrangsal siehe S. 81-83.
Die Leidensgemeinschaft mit Christo ala urchristliche Vorstellung. 145
Aucl:.. nach den Psalmen Salomos hat das Leiden sündentilgende Kraft.
Ps Sal 1310: "Denn der Herr schont seiner Frommen, und ihre "Übertretung
tilgt er durch Ziichtigung."
Ps Sal18 4-5 : "Deine Züchtigung ergeht über uns wie über einen erstgeborenen
einzigen Sohn, daß du folgsame Seelen von unbewußter Verirrung abbringst.
Gott reinige Israel auf den Tag der heilsamen Gnade, auf den Tag der Auswahl,
wenn sein Gesalbter zur Herrschaft kommt."
Daß Leiden Sünde tilgt, ist auch in der Vorstellung vom leidenden Gottes-
knecht (Jes 53) ausgesprochen. Dieser leidet ja, damit die andern nicht für ihre
Missetat dulden müssen.
Da Paulus das Sterben an die Stelle des Leidens setzt, gelangt er zu dem Satze
(Röm 67): "Denn wer gestorben ist, ist losgesprochen (&t5t."atwTat) von der
Sünde." Er meint, wie der Zusammenhang (Röm 64-11) besagt, das Gestor·
ben sein mit Christo.
Eine Stelle aus Ignatius scheint die sühnende Bedeutung des Leidens nicht an·
zuerkennen. In seinem Römerbriefe (Ad Rom 51) sagt er mit Bezug auf die Leiden,
die er von seinen Wärtern zu erdulden hat: "Unter ihren Unbilden werde
ich besser geschult, aber darum bin ich nicht gerechtfertigt." Die Märtyrer-
bescheidenheit redet aus ihm. Im Ausblick auf die Bestien zu Rom will er sagen,
daß er die jetzt ausgestandenen Unbilden noch nicht zu den Leiden rechnet,
die sühnende Kraft besitzen, wie er ja auch äußert, daß er jetzt erst anfange
ein Jünger zu sein (Ad Rom 53).
Überdies fließt sein "aber darum bin ich nicht gerechtfertigt" aus der Remini-
szenz an I Kor 4 4: "Denn ob ich mir auch nichts bewußt bin, so bin ich darum
noch nicht gerechtfertigt."
Die Leidens- und Sterbensgemeinschaft mit Christo ist die Lösung
des Problems der Sünde nach der Taufe. Nach der Anschauung
des Urchristentums und des Paulus schafft der Sühnetod Jesu ja
nicht eine fortlaufende Sündenvergebung, sondern nur den in der
Taufe zu erlangenden Erlaß der zuvor begangenen Sünden. Für die
nachfolgenden Verfehlungen wird Sühne in dem Leiden mit Christo
erworben. Diese Anschauung ist nur solange haltbar, als die escha-
tologische Erwartung und mit ihr die Vorstellung der vormessiani-
schen Drangsal lebendig ist. Von dem Augenblick an, wo den Gläubigen
die Überzeugung nicht mehr gegenwärtig ist, daß sie in der vormes-
sianischen Drangsal stehen und also mit Jesus Christus zusammen
leiden, tritt alsbald das Problem der Möglichkeit der Sündenverge-
bung nach der Taufe in der Gestalt der Frage der zweiten Buße auf ...
um niemals eine befriedigende Lösung zu finden.
Der Gedanke des Teilhabens an der von Christo geschaffenen
Sühne ist in unmittelbarer Weise also nur im Zusammenhang mit
dem ihm ursprünglich zugehörenden Gedanken der Leidensgemein-
schaft mit Christo begreiflich. Mit dessen Hinfälligwerden tritt die
Pauli Leiden. Die Angaben der Apostelgeschichte. 147
Die Logik seiner Mystik drängt Paulus die Wertung des Leidens
als einer Erscheinungsform des Sterbens mit Christo auf. Das Über-
maß des Leidens, das ihm von der Zeit an beschieden ist, wo er
Christum verkündet, hilft mit, daß er diese Vorstellung denken kann.
Vielfach wollte man annehmen, daß die paulinische Lehre aus der
Einzigartigkeit des Erlebnisses seiner· Bekehrung zu erklären sei.
Seine Mystik, meinte man, sei jene Erfahrung, auf einen allgemein-
gültigen Ausdruck gebracht. Wenn aber wirklich etwas von seinem
eigentümlichen persönlichen Erleben erkennbar in seine Lehre hinein-
ragt, so ist es nicht so sehr die Christusvision vor Damaskus als die
Tatsache, daß ihm sein Christo geweihtes Dasein wirklich als ein
Gegebenwerden in den Tod vorkommen konnte. Auf die Besonderheit
seiner Bekehrung greift er in seinen Briefen kaum zurück. Des öfteren
aber redet er von seinen so schweren und so vielfachen Leiden. Hier
liegt also, nach seinem eigenen Zeugnis, das Erlebnis vor, das er in
seiner Lehre verallgemeinert hat.
Die Apostelgeschichte berichtet nur von einem Teil des Schweren,
das ihm begegnet ist. Wie viel aber ist schon dieses! In Damaskus,
gleich nach seiner Bekehrung, kann er den Juden und dem Ethnar-
10"
148 VII. Leiden als Erscheinungsweise des Sterbens mit Christo.
ehen des Königs Aretas, die ihn umbringen wollen, nur dadurch
entgehen, daß er in der Nacht in einem Korbe über die Stadtmauer
heruntergelassen wird (Aot 923-25; II Kor 11 32-33). In Jerusalem
trachten ihm dann die hellenistischen Juden nach dem Leben, wes-
halb er von den Brüdern nach Cäsarea gebracht wird, von wo aus er
sich nach Tarsus begibt (Act 929-30).
Auf der ersten Missionsreise wird er durch einen von den Juden
angestifteten Aufruhr aus Antiochia in Pisidien vertrieben (Act 1350 -51) .
In Ikonium muß er sich der Steinigung durch die Flucht entziehen
(Act 145---ß). In Lystra wird er gesteinigt und als tot vom Pöbel aus
der Stadt geschleift (Act 1419-20).
Auf der zweiten Missionsreise wird er in Philippi nach vorher-
gehender schwerer körperlicher Züchtigung durch die römischen
Behörden gefangen gesetzt (Act 1622-24-). Aus Thessalonich muß er
vor dem von den Juden aufgewiegelten Pöbel fliehen (Act 175-9).
Dasselbe Schicksal hat er nachher in Beröa (Act 1713-14). In Korinth
wird er vor den Prokonsul Gallio, den Bruder des Philosophen Seneca,
geschleppt, der aber mit religiösen Streitigkeiten der Juden unter-
einander nichts zu tun haben will (Act 1812-17).
Auf der dritten Missionsreise entsteht ein Aufruhr gegen ihn in
Ephesus (Act 1923-201). In Korinth kann er den Plan, zu Schiff
nach Syrien zu reisen, nicht ausführen, weil die Juden einen Anschlag
gegen ihn vorhaben (den sie wohl bei der Einschiffung oder auf See
ausführen wollen), und muß sich entschließen, von den mitreisenden
Brüdern geleitet und bewacht, den Landweg über Makedonien einzu-
schlagen (Act 203). In Jerusalem will ihn dann die durch Juden aus
Kleinasien erregte Menge vor dem Tempel töten. Der Befehlshaber der
römischen Wache bewahrt ihn davor. Diese Errettung aber ist der
Beginn der zum Tode führenden Gefangenschaft (Act 2127-35).
* *
*
Das ganze Elend seines Daseins erfahren wir aber erst aus den
Briefen. In Ephesus hat er mit Menschen als mit Tieren gekämpft.
I Kor 1532: "Wenn ich auf Menschenart Tierkampf bestand ("aTa üV{}llw:rtOv
e{}7}llw/LaX7}l1a) in Ephesus, was nützt es mir?"
Ein wirklicher Tierkampf kann nicht gemeint sein. Wäre Paulus als Aufrührer
zum Tierkampf verurteilt worden, so hätte er damit auch sein römisches Bürger-
recht verloren. Bei der Gefangennahme zu Jerusalem besitzt er es aber noch.
Er redet also wahrscheinlich davon, daß die Menschen in Ephesus wie wilde Tiere
Pauli Leiden. Die Angaben der Briefe. 149
gegen ihn gewesen sind. Ist damit ein anderer Aufstand gemeint als der des De-
metrius (Act 1923-201), bei dem er, nach dem Berichte der Apostelgeschichte,
nicht in die Gewalt des Volkes fällt 1
Wohl in Anlehnung an Paulus redet Ignatius von dem Tierkampf, den er
auf seiner Reise als Gefangener durchmacht. Ad Rom 51: "Von Syrien bis
nach Rom bestehe ich den Tierkampf zu Wasser und zu Lande, bei Tag und
Nacht, gefesselt an zehn Leoparden, das heißt an eine Abteilung Soldaten. Diese
werden sogar auf empfangene Wohltaten hin noch schlimmer."
In Betracht zu ziehen ist noch, daß Pauli Worte auch irreal gemeint sein
können. "Wenn ich nach Menschenart in Ephesus Tierkampf bestanden hätte,
was wäre es mir nütze gewesen 1" Er würde damit auf die den Lesern bekannte
Tatsache anspielen, daß er beinahe zum Tierkampf verurteilt worden wäre. Nur
hat in diesem Fall das "ara l1:11{}(!w:n:ov (nach Menschenart 1) keinen rechten Sinn.
Ignatius jedenfalls faßt den Tierkampf als bildlich gemeint auf.
1) Das der Arena entlehnte Bild findet sich schon Henoch 62 9-12. Hier flehen
die Könige und Mächtigen der Erde beim Gerichte den Menschensohn an, daß
er bei Gott Barmherzigkeit für sie erbitte. Dieser aber überliefert sie den Straf-
engeln, welche sie in Empfang nehmen und an ihnen Rache dafür üben, daß
sie seine Kinder und Auserwählten mißhandelt haben. "Sie werden für die Ge-
rechten und seine Auserwählten ein Schauspiel abgeben; diese werden sich über
sie freuen, weil der Zorn des Herrn der Geister auf ihnen ruht."
In der Rhetorik der Stoiker ist der Weise im Kampfe mit dem Geschick ein
Schauspiel für Gott und Menschen.
150 VII. Leiden als Erscheinungsweise des Sterbens mit Christo.
gelitten; eine Nacht und einen Tag habe ich [als Schiffbrüchiger auf dem Meere
treibend] über dem Abgrund zugebracht; durch Reisen vielfach (mehr Diener
Christi als die andern]; durch Gefahren von Flüssen; du~ch Gefahren von Räubern;
durch Gefahren vom eigenen Volk; durch Gefahren von Heiden; durch Gefahren
in der Stadt; durch Gefahren in der Wüste; durch Gefahren auf dem Meere;
durch Gefahren unter falschen Brüdern; durch Mühe und Not; in durchwachten
Nächten vielfach; in Hunger oder Durst; in Fasten oftmals; in Kälte und Blöße;
abgesehen von dem Übrigen, dem täglichen Zudrang zu mir, der Sorge für alle
Gemeinden. Wo ist einer schwach, und ich bin es nicht ? Wo leidet einer Ärgernis,
und ich brenne nicht? Wenn's ans Rühmen gehen soll, so will ich mich meiner
Schwachheit rühmen."
* *
*
Die jüdische Behörde strafte rillt Peitschenhieben, die römische
mit Ruten, das heißt mit Stockschlägen. Eigentlich handelte es sich
bei der Züchtigung durch die Sy;nagoge nicht um eine Geißelung,
sondern um ein Schlagen mit einem vierfach zusammengelegten, ge-
flochtenen Kalbsriemen, also einer Art Ochsenziemer. Diese furcht-
bare Prozedur beschreibt in Anlehnung an Deut 252-3, wo die Aus-
peitschung verordnet wird, der Mischnatraktat Makkot (Schläge).
Dieser war ursprünglich der zweite Teil des berühmten Mischna-
traktats "Sanhedrin" (Synedrium), der das jüdische Strafrecht be-
handelt. In ihren ältesten Elementen gehen beide Traktate wahrschein-
lich auf eine im zweiten Jahrhundert n. Ohr. erfolgte Niederschrift
des altüberlieferten jüdischen Strafrechts zurück. Die in ihnen ge-
gebenen Bestimmungen entsprechen also wohl der Handhabung des
Rechts zur Zeit Jesu und der Apostel. 1
Deut 25 2-3: "Wenn der Schuldige Schläge als Strafe verdient, so soll der
Richter denselben hinlegen und ihm in seiner Gegenwart eine seinem Frevel ent-
sprechende Anzahl Schläge geben lassen. Vierzig (Hiebe) darf er ihm geben lassen,
aber nicht mehr, damit dein Volksgenosse nicht in deinen Augen entehrt werde,
wenn man ihm noch weitere Streiche versetzt."
Traktat Makkot III 10: "Wieviel Schläge gibt man ihm? Vierzig weniger
einen; denn es heißt [Deut 252-3] an die Zahl vierzig, [mithin] eine Anzahl,
die nahe an vierzig ist." 2
Der Brauch, nicht volle vierzig Schläge zu geben, findet sich auch bei Jo-
sephus bezeugt. Antiquit IV 821: "Wer gegen diese Gebote handelt, soll öffent-
lich 39 Streiche erhalten." Ebenso IV 8 23.
Traktat Makkot IIII2-14: ,,[Einer] bindet seine beiden Hände an die Säule
hüben und drüben, und der Diener der Gemeinde packt [ihn] bei seinen Kleidern
- wenn sie zerreißen, mögen sie zerreißen, und wenn sie in Stücke gehen, mögen
sie in Stücke gehen - bis er sein Herz entblößt. Und der Stein wird hinter ihn
gelegt, und der Diener der Gemeinde tritt darauf und [hält] einen Kalbsriemen
in seiner Hand, zusammengelegt einen zu zweien und zwei zu vieren, und zwei
Riemen gehen auf und nieder in ihm. [Gemeint sind wohl die zwei Riemen, welche
die anderen Riemen zuammenflechten.] Der Griff desselben [mißt an Länge]
eine Handbreite, und seine Breite [beträgt ebenfalls] eine Handbreite, [und er
muß so lang sein, daß er] bis an seinen Nabel reicht.
Und [der Diener] versetzt ihm ein Drittel [der Streiche] vornhin und zwei
Drittel hintenhin. Und während er ihn schlägt, steht jener weder [aufrecht] noch
sitzt er, sondern nimmt eine gebückte Haltung ein ... Und der Schlagende schlägt
mit einer Hand aus voller Kraft.
Der Vorleser liest: "Wenn du nicht darauf achtest zu tun alle Worte des Ge-
setzes, die in diesem Buche geschrieben stehen, zu fürchten diesen herrlichen und
furchtbaren Namen" usw. [Deut 2858-59] •.. und er beginnt wieder.
Und wenn er [der Bestrafte] unter seiner [des Gemeindedieners] Hand stirbt,
so ist er [der Gemeindediener] straffrei; gibt er ihm [aber] einen [Streich mit dem]
Riemen zu viel, und jener stirbt, so wird er um jenes willen verbannt.
Verunreinigt sich [d]er [Bestrafte während des Empfangs der Streiche], sei
es durch Auswurf, sei es durch Urin, so ist er [straf]frei."
Traktat Makkot III 11: "Hat man ihm vierzig zu erhalten auferlegt [und] er
hat einen Teil Schläge bekommen [und] man sagt, er kann es nicht aushalten,
vierzig zu erhalten, so ist er frei."
* *
*
Derjenige, der in dieser Art, neben der Not und den Gefahren
stetigen Reisens, Gefangenschaft, Steinigung und körperliche Züchti-
gung erfährt, ist ein kranker Mann. Welches sein körperliches Leiden
war, läßt sich, nach den Nachrichten, die er uns davon gibt, nicht
mit Sicherheit ausmachen. Daß es sich um Anfälle handelt, die ge-
eignet waren, ihn in den Augen der Menschen herabzusetzen, erfahren
wir aus dem Briefe an die Galater. Er dankt den Galatern, daß sie
vor seinem Leiden nicht ausspieen und ihn deswegen nicht gering
schätzten.
Gal 4 13-]4: "Ihr wißt, daß ich in Krankheit des Fleisches euch das vorige Mal
das Evangelium verkündete, und ihr habt eure Versuchung an meinem Fleisch
nicht gering geschätzt noch davor ausgespieen, sondern habt mich wie einen Engel
Gottes aufgenommen, wie Christum Jesum."
Man spie gegen Menschen aus, die mit rätselhaften Krankheiten behaftet waren,
um sich gegen die Dämonen zu schützen, als deren Werk man die betreffende
Krankheit ansah. Insbesondere gebrauchte man diese Abwehr gegen Epileptische
und gegen Geisteskranke.
Die natürlichste Annahme ist also die, daß Paulus an epileptiformen
Anfällen litt, womit in keiner Weise gesagt ist, daß er ein wirklicher
Epileptiker war. Damit würde stimmen, daß er vor Damaskus in
einem Anfall Stimmen hört und eine vorübergehende Sehstörung
davonträgt, wenn das Bekehrungserlebnis wirklich in einem solchen
Anfall vor sich gegangen ist (Act 9 3-9). Eine Entrückung in den dritten
Himmel und in das Paradies, bei der er unaussprechliche Worte
hörte, faßt Paulus als einzigartige Gnade auf, deren er gewürdigt wor-
den ist (Ir Kor 121-4).
11 Kor 12 1-4: "Soll gerühmt werden, was zwar nicht nützlich ist, so komme ich
auf Gesichte und Offenbarungen des Herrn. Ich weiß einen Menschen in Christus
vor vierzehn Jahren - ob im Leibe, weiß ich nicht, ob außer dem Leibe, weiß
Pauli Krankheit. Ekstatische Erlebnisse. 158
ich nicht, Gott weiß es - welcher entrückt wurde bis zum dritten Himmel. Und
ich weiß von dem betreffendenMenschen-ob im Leibe oder ohne den Leib, weiß ich
nicht., Gott weiß es - daß er entrückt wurde in das Paradies und unaussprechliche
Worte hörte, die einem Menschen auszusprechen nicht· zusteht."
Möglicherweise handelt es sich bei der Entrückung in den dritten Himmel
und ins Paradies um ein und dasselbe Erlebnis, das Paulus in jüdischem Stil
doppelt beschreibt.
Nach dem slawischen Henoch und dem "Leben Adams und Evas" befindet
sich das Paradies im dritten Himmel. Slawischer Henoch Rec. A. Kap 8 (Ed.
Bonwetsch S. 7): "Und sie führten mich umher in dem dritten Himmel und stellten
mich in die Mitte des Paradieses". Dem "Leben Adams und Evas" (Kap. 37)
zufolge wird Adam nach seinem Tode durch den Erzengel Michael ins Paradies
bis zum dritten Himmel gebracht. Die vom slawischen Henoch, der griechischen
Baruchapokalypse (1-17), dem Testament Levis (3) und andern nach dem 1. Jahr-
hundert n. Chr. entstandenen Schriften angenommene Zahl von sieben Himmeln
wird bei Paulus wohl noch nicht vorausgesetzt. Vor dem 2. Jahrhundert n. Chr.
zählte man im Judentum nur drei Himmel. Auf diese Zahl kamen die Schrift-
gelehrten durch eine Stelle aus dem 1. Buch der Könige. I Reg 827 sagt Salomo
von Gott: "Siehe der Himmel und der Himmel der Himmel fassen dich nicht."
Dies macht nach rabbinischer Auslegung drei Himmel. Midrasch zu Psalm 114 § 2:
"Die Rabbanen haben gesagt: Zwei Firmamente [Himmel] gibt es, denn es heißt:
Der einherfährt in den Himmeln der Himmel (Ps 68 34). Unsere Lehrer haben gesagt:
Drei (Himmel gibt es), denn es heißt: Der Himmel und der Himmel der Himmel"
(I Reg 827). Siehe L. Strack und P. Billerbeck "Die Briefe des Neuen Testaments
und die Offenbarung Johannis erläutert aus Talmud und Midrasch." München
1926, S. 531.
Nach der Apokalypse Henoch, die nur einen Himmel kennt, liegt das Paradies,
das sie als Garten der Auserwählten und Gerechten (Hen 6023; 6112) bezeichnet,
am äußersten Ende des Himmels. Es dient den Genossen des Menschensohns zur
Wohnung. Dorthin wird Henoch am Ende seines Lebens entrückt (Hen 60 8; 703).
Ob Paulus, der nur drei .Himmel zählt, das Paradies, wie es bei der später ange-
nommenen Siebenzahl der Himmel geschieht, in dem dritten Himmel liegend denkt,
wissen wir nicht. Ist das Paradies nicht ein Stück des dritten Himmels, BO
handelt es sich in n Kor 12 1-4 nicht um ein, sondern um zwei ekstatische Er-
lebnisse.
In den Schmerzen, die er auszustehen hat, kommt Paulus zum Be-
wußtsein, daß er ein kranker Mensch ist. Er führt sie darauf zurück,
daß ein Engel des Satans befugt ist, ihn mit Fäusten zu schlagen,
damit er sich nicht überhebe, weil er der Entrückung in den dritten
Himmel und in das Paradies gewürdigt wurde.
n Kor 12 6-9: "Ich halte aber an mich, damit keiner von mir mehr denkt,
als er an mir sieht oder von mir hört, auch in bezug auf die überschwänglichen
Offenbarungen. Damit ich mich nicht überhebe, ward mir ein Dorn ins Fleisch
gegeben, ein Engel des Satans, daß er mich mit Fäusten schlüge, daß ich mich
nicht überhebe. Wegen dessen habe ich den Herrn dreimal angerufen, daß er von
154 VII. Leiden als Erscheinungsweise des Sterbens mit Christo.
mir abstehen möchte. Und er hat zu mir gesagt: Meine Gnade muß dir genügen,
denn die Kraft vollendet sich in der Schwachheit."
Welcher Art diese Schmerzen sind und wie sie mit den Anfällen
zusammenhängen, wird nicht ersichtlich. Was aber muß Paulus ge-
litten haben, um in solcher Weise davon zu reden!
* *
*
Keinen Augenblick ist dieser so oft mißhandelte, kranke Mensch
seines Lebens sicher. Was steht nicht alles hinter den Worten "Ge-
fahren vom eigenen Volk" (Il Kor 11 26)! Die hellenistischen Juden,
die er einst, als einer der Ihren, bei der Steinigung des Stephanus
anführte, haben ihm den Tod geschworen. 1 Von dem Augenblicke an,
wo er als Bekehrter wieder in Jerusalem erscheint (Act 929), stellen
sie ihm ständig nach, nicht nur weil er Christgläubiger geworden ist,
sondern insbesondere, weil er Beschneidung und Gesetz als nicht
mehr geltend erklärt. Welches Licht fällt auf sein Leben aus der
lakonischen Notiz, daß er für die Heimkehr von Korinth nach Jeru-
salem statt, wie er es vorgehabt, zu Schiffe nach Kleinasien über-
setzen zu können, auf dem Landweg über Makedonien dahin reisen
muß, um dem gegen ihn bereiteten Anschlag zu entgehen (Act 20 a)!
Nach seiner Gefangennahme zu Jerusalem verschwören sich vierzig
Juden, nicht zu essen und nicht zu trinken, bis daß sie ihn getötet
hätten, so daß der Befehlshaber der Wache, dem dieser Plan durch
den Neffen des Paulus zu Ohren gekommen ist, sich entschließen muß,
ihn nachts, eilends und heimlich, unter starker militärischer Bedek-
kung - 400 Fußgänger und 70 Reiter! - nach Cäsarea in Sicherheit
zu bringen (Act 2312-24).
Mit derselben Hartnäckigkeit wie die Juden verfolgen ihn die Eiferer
aus dem Judenchristentum, nur daß sie es nicht auf sein Leben,
1) Die aus Zilizien und Asien stammenden Juden zu J erusalem samt den anderen
hellenistischen Juden disputieren mit Stephanus und klagen ihn vor dem Hohen
Rat an (Act 68-14). Bei der Steinigung, wo die Zeugen die ersten Würfe tun
sollen (Deut 17 7), legen diese, um freie Hand zu haben, ihre Kleider zu Füßen
des aus Tarsus in Zilizien stammenden Saulus ab, der dadurch als der Leiter der
Aktion kenntlich gemacht ist (Act 758).
Die Erwähnung der Zeugen und ihrer Rolle beweist, daß es sich bei der Steini-
gung des Stephanus nicht um eine Tat des erregten Pöbels, sondern um eine regu-
läre Exekution handelt, wie sie im Mischnatraktat Sanhedrin (deutsch von
Gustav Hölscher, Tübingen 1910; 143 S.; S. 75-78) beschrieben ist.
Verfolgungen durch die Juden. Anfeindung durch Judenchristen. 155
sondern auf sein Ansehen und Wirken abgesehen haben. Hinter ihnen
stehen die Apostel zu Jerusalem. Seine Lehre, daß die Gläubigen aus
dem Heidentum Gesetz und Beschneidung nicht auf sich zu
nehmen brauchen, ist den Gläubigen aus dem Judentum unbegreiflich
und unerträglich.
Der Versuch einer Einigung dahin, daß Paulus sich den Heiden
widmen solle, während die Apostel zu Jerusalem sich die Mission unter
allem, was jüdisch ist, vorbehalten, hat sich als undurchführbar er-
wiesen, wenn er überhaupt ernstlich gemacht worden ist. 1 Eine ört-
liche Scheidung ist der Lage der Dinge nach ja auch unmöglich. In
dem sich mit Notwendigkeit ergebenden Kampfe ist Paulus der
Unterliegende. Die Führenden in Jerusalem haben es nicht schwer,
ihm durch ihre Sendlinge die Gemeinden zu entfremden. Er hat nur
die Wahrheit für sich, sie aber die Überlieferung und den gesunden
Menschenverstand, die da sagen, daß, wer an den Hoffnungen des
Volkes Israel teilhaben wolle, ihm durch Beschneidung und Gesetz
beitreten müsse. Er verfügt nur über die Autorität seiner Persönlich-
keit, sie aber über die der Kirche. Daß es schon damals etwas wie eine
Kirche gab und daß die Gemeinde zu Jerusalem diese Kirche verkör-
perte, hat man nicht wahr haben wollen. Es ist aber doch so. Für
die Gläubigen der Gemeinden in Kleinasien und Griechenland ist die
Gemeinde zu Jerusalem in demselben Sinne und demselben Umfang
Autorität wie der Hohe Rat daselbst für die Synagogen in der Diaspora.
Die Spende, die sie für sie zusammenbringen, ist nicht so sehr eine
Gabe, die sie den Armen derselben zukommen lassen, als eine der
Tempelsteuer der jüdischen Proselyten vergleichbare Abgabe, die sie
ihr entrichten. 2 Und wie setzt sich Paulus, wie wir aus den Briefen
an die Korinther ersehen, dafür ein, daß durch seine Bemühungen
der Tribut reichlich aU3falle! Er hofft, damit die Geister in Jerusalem
milde zu stimme~! Bei seiner Ankunft aber wird ihm von den Apo-
steln auferlegt, mit vier von ihnen bezeichneten Männern eiu Gelübde
auf sich zu nehmen, um vor aller Welt zu bekunden, daß er im Gesetz
wandelt. Demütig beugt er sich. Dieses ihm aufgezwungene Gelübde
wird ihm zum Verhängnis. Da er in der Erfüllung desselben geschorenen
1) Wie weit gehen Act 15 und Gal 2 schon in der Auslegung der versuchten
Vereinbarung auseinander!
2) Klar sieht in dieser Frage Karl Holl in seiner inhaltsreichen Studie "Der
Kirchenbegriff des Paulus in seinem Verhältnis zu dem der Urgemeinde." Siehe
auch S. 32.
156 VII. Leiden als Erscheinungsweise des Sterbens mit Christo.
Hauptes im Tempel steht, werden Juden aus Kleinasi.en auf ihn auf-
merksam und erregen den Aufstand wider ihn, der zu seiner Gefangen-
nahme führt (Act 2120-86). '
Die persönliche Autorität, die der Heidenapostel derjenigen der
jerusalemitischen Kirche entgegenzusetzen hat, ist nicht groB. In
seiner vorübergehend heftigen und dann wieder so nachgiebigen Art
vermag er keinen überlegten Widerstand zu organisieren. Er ist
nur ein Denker, kein Taktiker. Sowohl durch seine Heftigkeit als
durch seine Nachgiebigkeit bringt er sich in eine unvorteilhafte Lage.
Die offenen und versteckten Bemerkungen, die er gegen die Urapostel
laut werden läßt, gehen so weit, daß er sich damit ins Unrecht setzt
und ihnen Waffen gegen sich in die Hand gibt. Er ironisiert das An-
sehen, das ihnen beigelegt wird, wirft einem der Ihren, dem Petrus,
vor allen Gläubigen in Antiochia Heuchelei vor,l stellt sich höher
als sie, weil er mehr leiste und mehr leide, deutet an, daß sie für die
Beschneidung sind, um den Verfolgungen, die die wahre Lehre vom
Kreuze Christi über ihre Verkünder heraufbeschwört, zu entgehen, und
behauptet zuletzt, in der furchtbaren Erregung, in der er den 2. Korin-
therbrief hinwirft, nicht mehr und nicht weniger, als daß sie in ihrer
Kurzsichtigkeit, vom Satan betört, des Satans Sache gegen die
Christi betreiben.
Gal 2 6: "Von denen aber, die dafür gelten etwas zu sein, wer immer sie waren,
gilt mir gleich; vor Gott gilt kein Ansehn der Person." - II Kor 11 5: "Ich denke
in nichts zurückzustehen hinter denen, die übermäßig Apostel sind ('növ V:TtB(!Älav
MOOTOÄWV)." Ebenso II Kor 12 11. - I Kor 15 10: "Ich habe mehr gearbeitet als
sie a.lle." - Gal 510: "Der, der euch verstört, wird die Strafe tragen, wer er auch
sei." - Gal 5 12: "Sie sollen sich doch verstümmeln lassen, die, die euch auf-
wiegeln." - Gal 612: "Sie zwingen euch zur Beschneidung, nur damit sie durch
das Kreuz Christi keine Verfolgung haben." - II Kor 1113-15: "Die Betr.effenden
sind falsche Apostel, trügerische Arbeiter, die sich das Ansehen von Aposteln
Christi geben. Und dies ist kein Wunder, denn der Satan selber verkleidet sich
ja in einen Engel des Lichts. Da ist es nichts Besonderes, wenn auch seine Diener
sich in Diener der Gerechtigkeit verkleiden. Und ihr Ende wird sein nach ihren
Taten."
In dieser letzten Stelle nennt Paulus die Apostel zu Jerusalem nicht direkt.
Aber er kann auch hier keine anderen meinen als die, "die übermäßig Apostel
sind" (I1 Kor 115). Mit diesen hat er es ja in den letzten Kapiteln des 2. Korinther-
briefes zu tun.
* *
*
Aber auch bei besserer Taktik wäre seine Sache verloren gewesen.
Sein Anspruch, ein Apostel Christi in derselben Geltung wie die
Urapostel und Jakobus der Gerechte zu sein, ist undurchführbar.
Die anderen haben ihre Autorität auf Grund der Berufung durch den
auf Erden wandelnden Christus oder der nahen Verwandtschaft mit
ihm. Und Paulus verlangt dieselbe Autorität nur, um ihrer Ansicht
von Gesetz und Beschneidung entgegenzutreten. Sein tieferes Wissen
von der Tragweite des Todes und der Auferstehung J esu zwingt
ihn ,jazu. Der Heidenapostel ist der erste, der sich gegen die Autorität
der Kirche auflehnt, der erste auch, der ihre Macht zu fühlen bekommt.
Am Ende des dreijährigen Aufenthalts zu Ephesus, der etwa von
54 bis 57 dauerte, muß ihm die Niederlage klar sein. Die Gemeinden
Galatiens sind von ihm abgefallen. In Korinth ist sein Ansehen unter-
graben. Seine Widersacher daselbst höhnen, daß er nicht wage, den
Unterhalt von den Gemeinden zu fordern, weil er sich selber nicht
für einen Apostel halte (II Kor 11 7-9). Sie sagen, daß er in den Brie-
fen große Worte gegen sie führe, aber in der mündlichen Aussprache
ganz klein werde, und unterstellen ihm, daß er sein Kommen aus
Angst vor ihnen immer wieder hinausschiebe (II Kor 10 1-2 ; 10 10; 1 23).
Weiter: auf sein Wort sei kein Verlaß (II Kor 117); er schreibe anders,
als er es meine (II Kor 113); er wende List an (II Kor 1216-17); er
rühme sich gern (II Kor 3 1); er sei in seiner Selbstüberhebung ein
Narr geworden (II Kor 111; 1116; 12 n).
Mag er solche Widersacher durch die Größe seiner Persönlichkeit
auch immer wieder niederkämpfen, und mögen Gemeinden wie die
158 VII. Leiden als Erscheinungsweise des Sterbens mit Christo.
* *
159
Jes 59 21: "Was aber mich angeht, ist dies mein Bund mit ihnen, spricht Jahwe:
Mein Geist, der auf dir ruht, und meine Worte, die ich dir in den Mund gelegt
habe, die sollen nicht weichen aus deinem Munde, noch aus dem Munde der Nach-
kommen deiner Nachkommen, spricht Jahwe, von nun an bis in Ewigkeit."
Der Knecht Jahwes wird ebenfalls als Träger des Geistes charakterisiert
(Jes421).
In der späteren Eschatologie wird die Anschauung, daß der Geist
das Lebensprinzip der Teilnehmer am messianischen Reich sei, auf-
gegeben. Das Auftreten des Geistes wird zu einem Wunder, das mit
anderen Geschehnissen die Nähe des Gerichtes Gottes anzeigt. Diese
Wandlung tritt in der berühmten Stelle des Buches Joel zutage, die
wohl aus dem dritten oder zweiten Jahrhundert v. Chr. stammt.
JoiH 31-4: "Und hernach werde ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch:
da werden eure Söhne und Töchter prophezeien, eure Greise werden Träume
haben und eure Jünglinge Gesichte schauen. Auch über die Sklaven und die Skla-
vinnen werde ich in jenen Tagen meinen Geist ausgießen. Und ich lasse Zeichen
am Himmel und auf Erden erscheinen: Blut, Feuer und Rauchsäulen; die Sonne
wird sich in Finsternis wandeln und der Mond in Blut vor dem Anbruch des großen
und schrecklichen Tages Jahwes."
Diese neue Vorstellung vom Kommen des Geistes erklärt sich daraus,
daß an Stelle des messianischen Reiches das Gottesreich getreten ist.
Steht das Reich nicht mehr unter dem geistgesalbten Herrscher aus
dem Geschlechte Davids, so wird auch die damit zusammenhängende
Ansicht hinfällig, daß die Teilhaber an diesem Reiche Geistesträger
sind. Es ist also der transzendentale Charakter der Zukunftserwar-
tung, der die prophetische Anschauung vom Kommen des Geistes
außer Kraft setzt.
In der Eschatologie des Buches Daniel und der Apokalypse Henoch
spielt die Ausgießung des Geistes nicht einmal mehr als Vorzeichen
des Endes eine Rolle.
Die Psalmen Salomos greifen auf die prophetische Erwartung
zurück, indem sie als Herrscher der Endzeit einen Sohn Davids er-
warten, "den Gott stark gemacht hat an heiligem Geist" (Ps Sal17 37).
Daß die Genossen seines Reiches ebenfalls Geistesträger sind, wird
aber nicht gesagt.
* *
*
Johannes der Täufer verbindet die von Joel geweissagte allgemeine
Geistesausgießung mit dem von Maleachi, ebenfalls für die letzten
Tage, in Aussicht gestellten Kommen des Elia.
Die Geistesausgießung bei den Propheten, dem Täufer und Jesus. 161
Mal 323-24: "Fürwahr, ich sende euch vor dem Kommen des Tages Jahwes,
des großen und furchtbaren, den Propheten Elia; er wird aussöhnen die Väter (mit
ihren Söhnen) und die Söhne mit ihren Vätern, damit ich nicht komme und das
Land mit dem Bannfluch schlage." 1
In der Apokalypse Esra (IV Esra 623-26) erscheinen die Männer, "die einst
emporgerafft sind und den Tod nicht geschmeckt haben seit ihrer Geburt" (gemeint
sind Henoch, Elia und Esra), am Ende der EnddrangsaJ, worauf dann "das Herz
der Erdenbewohner verändert und zu neuem Geiste verwandelt wird." Hier fallen
also, wie bei dem Täufer, das Erscheinen des Elia und die Geistesausgießung zu-
sammen.
Der Täufer erwartet also, daß der "Kommen-Sollende" die Menschen
"mit dem heiligen Geiste taufen" wird. Seine eigene Bestimmung
sieht er darin, der Wegbereiter dieses Kommen-Sollenden zu sein und
die Menschen zur Buße aufzurufen, damit sie fähig werden, den bei
dessen Ankunft ausgegossenen Geist zu empfangen. Wer von ihm
jetzt mit Wasser zur Buße getauft ist, ist geweiht, alsdann Träger des
Geistes zu werden und damit als ein aus dem Gericht zu Errettender
gekennzeichnet zu sein.
Daß die Annahme, der Täufer habe mit dem Kommen-Sollenden
den Messias gemeint, bis in die neueste Zeit in der kritischen Forschung
mitgeführt wird, zeigt an, wie schwer es der Wissenschaft wird, die
wahre Perspektive an Stelle der traditionellen zu setzen.
Der Kommen-Sollende ist die vom Himmel herabkommende Persönlichkeit
des Elia. Kein natürlicher Mensch kann mit dem Anspruch auftreten, dieser Vor-
läufer des Messias zu sein. Andererseits ist die Erwartung nicht auf das Erscheinen
des Messias, sondern vorerst auf das des Kommen-Sollenden, des Elia, gerichtet.
Bevor dieser da ist, kann der Messias nicht eintreffen.
Wie konnte man die klare Sprache des Textes, in dem die Anfrage des Täufers
an Jesum erzählt wird, so lange überhören! Die Jünger des Gefangenen fragen
Jesum in seinem Auftrage, ob er der Kommen-Sollende (0 eexo,usvoc;) sei (Mt 113).
Nachdem dieser sie mit einem dunkeln Bescheide - er kann ihnen das Geheimnis
seiner zukünftigen Messianität nicht preisgeben! - entlassen hat, eröffnet er
dem Volke, das um ihn ist, daß der Täufer selber der kommen-sollende Elia (Mt 1114 :
'H),etac; 0 ,uO.),wv eexw{}at) sei. Daraus geht klar hJrvor, daß auch der Täufer in
seiner Anfrage - und also auch in seiner Verkündigung!- mit dem Kommen-
Sollenden den Elia meinte.
Daß der Täufer selber der kommen-sollende Elia sei, teilt Jesus den Hörern
als etwas schwer zu Fassendes mit.
Mt 1114-15: "Wenn ihr es annehmen wollt: Er ist Elia, der da kommen soll.
Wer Ohren hat zu hören, der höre."
1) Bei den Rabbinen entscheidet der Elia alle nicht entschiedenen Streitig-
keiten aus der Zeit vor dem Kommen des l\'l:essias. Siehe K. Heinrich Rengstorf,
"Jebamot. (Von der Schwagerehe). " Gießen 1929, S. 150.
A. Schweitzer, Die I\Iystik des Apostels Paulus. 11
162 VIII. Geistbesitz als Erscheinungsweise des Auferstandenseins mit Christo.
Tatsächlich tut Jesus der Wirklichkeit mit dieser Identifizierung Gewalt an.
Weder das in der Schrüt gegebene, noch das von J ohannes selber gezeichnete Bild
des Elia passen auf ihn, der nicht mehr ist und sein will, als der Verkünder des
Kommens des Elia. Aber Jesu eigenes Selbstbewußtsein zwingt ihn, den Täufer
zum Elia zu machen. Ist er selber der zukünftige Messias, so muß auch der Elia
schon da sein. Also ist der Täufer der Elia. I
Über Joel geht der Täufer darin hinaus, daß ihm die Ausgießung
des Geistes nicht einfach ein die Endzeit ankündigendes, an irgend
welchen Menschen in Erscheinung tretendes Wunder ist, sondern daß
sie sich nur an denjenigen ereignet, welche bestimmt sind, am kom-
menden Reiche teilzuhaben, und die auf dessen Kommen hin Buße
tun.
Jesus sieht sich als Träger des Geistes an und erklärt die von ihm
getanen Wunder als durch den Geist gewirkt. Die Behauptung, daß
sie nicht in der Kraft des heiligen Geistes, sondern in der des Obersten
der Dämonen geschehen, bezeichnet er als Sünde wider den heiligen
Geist, die nicht verziehen werden kann, wenn auch alle andern, selbst
die Lästerung des Menschensohnes, Vergebung finden können (Mt
1222-32).
Bei der Aussendung der Jünger stellt er diesen in Aussicht, daß
sie bei der einbrechenden Drangsal, wenn sie um seinetwillen vor
Fürsten geführt werden, es erleben werden, daß der Geist Gottes
aus ihnen redet. Mit dem Täufer teilt er also die Anschauung des
Buches Joel, daß die Geistesausgießung ein Ereignis ist, welches das
unmittelbare Bevorstehen des Endes anzeigt. Das Ende ist für ihn
das Erscheinen des Menschensohnes.
Mt 10 17-23: "Sie werden euch an Ratsversammlungen ausliefern und euch in
ihren Synagogen geißeln; und vor Statthalter und Könige werdet ihr um meinet-
willen geführt werden, zum Zeugnis für sie und die Völker. Wenn sie euch aber
vorführen, so sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener
Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn nicht ihr seid es, die da reden,
Bondern der Geist eures Vaters, der da in euch redet ... Wer aber aushanet bis
ans Ende, der wird gerettet werden. Wenn sie euch aber verfolgen in der einen
Stadt, so fliehet in die andere. Wahrlich, ich sage euch, ilir sollt mit den Städten
Israels nicht zu Ende sein, bis der Menschensohn kommt."
Zu beachten ü,t, daß Jesus das Sein im Reiche Gottes niemals als
das Sein im Besitze des Geistes schildert. Er nimmt an, daß die Teil-
1) Zu diesem Problem siehe Albert Schweitzer, "Das Messianitäts- und Leidens-
geheimnis" (Tübingen 1901, S. 44-48. 2. unveränderte AufI. 1929) und "Geschichte
der Leben-Jesu-Forschung" (Tübingen. 1906); 2. (1913) und folgende Auflagen
S.418-420.
Paulus. Der heilige Geist als Geist Christi und als Auferstehungsgeist. 163
* *
*
Für die naive Betrachtungsweise tritt durch ein verheißenes Wunder
Gottes an natürlichen Menschen in der natürlichen Weltzeit der Geist
Gottes in Erscheinung. Für das Wissen um die Dinge stellt sich dies
jedoch anders dar. Wenn Gottes Geist nach der Auferstehung Christi
ausgegossen wird, so will dies heißen, daß er auf Grund derselben in
die Erscheinung tritt. Geist Gottes gibt es in den Menschen erst, seitdem
Menschen in Christo J esu sind und in der Gemeinschaft mit seiner
Leiblichkeit auch an dem diese belebenden Geiste Gottes teilhaben.
Der heilige Geist kommt den Gläubigen also von Christus aus als Geist
Christi zu. Durch das Sein in Christo werden sie desselben teilhaftig.
11'"
164 VIII. Geistbesitz als Erscheinungsweise des Auferstandenseins mit Christo.
Nicht als natürliche Menschen, sondern als solche, die rrüt Christo im
Sterben und Auferstehen begriffen sind, sind sie Geistesträger. Die
Vorstellung der alten Propheten, daß der Messias und die Teilnehmer
am messianischen Reiche miteinander den Geist besitzen, wandelt
sich bei Paulus also dahin, daß der Geist des Messias auf die Teil-
nehmer am Reiche übergeht.
Für die gewöhnliche Betrachtungsweise ist der an den Gläubigen zu-
tage tretende Geist der Offenbarungsgeist, der auch in den Propheten
und in Jesu Christo war. In dieser Art legt der erste Petrusbrief schon
den Propheten den Geist Christi bei.
I Petr 110-11: "Das Heil, über welches die Propheten suchten und forschten,
die über die euch treffende Gnade geweissagt haben, forschend nämlich, auf welche
oder was für eine Zeit der in ihnen seiende Geist Christi vorauszeugend die auf
Christum gehenden Leiden und die darauf folgenden Herrlichkeiten verkündete•.• "
Für Paulus aber ist der Geist Christi, an dem die Gläubigen teil-
haben, etwas viel Umfassenderes als der frühere prophetische Geist.
Er ist das Lebensprinzip seiner messianischen Persönlichkeit und über-
haupt der Daseinsweise im messianischen Reich. Als solcher ist er
etwas Einzigartiges, bisher noch nicht Dagewesenes. Als vorherbe-
stimmte Genossen der Herrlichkeit des Messias haben die Gläubigen
an seinem Geiste teil.
Paulus zieht also die Konsequenz aus der Tatsache, daß der den
Gläubigen zuteil gewordene Geist der Geist Christi ist und daß die
Geistesausgießung zeitlich auf die Auferstehung Christi folgt. Was der
gewöhnliche Glaube als Wunder der vormessianischen Zeit ansieht,
wird ihm zu einem Geschehnis der messianischen. Die Einsicht, daß
mit der Auferstehung Jesu die übernatürliche Weltzeit angebrochen ist,
wirkt sich in seinem Denken nach allen Seiten hin aus und bestimmt
auch die Anschauung vom Geist. So muß Paulus dazu kommen, in
dem Auftreten des Geistes ein Hervorbrechen der messianischen
Herrlichkeit in der natürlichen Welt zu sehen.
Indem er das Wunder des Vorhandenseins des Geistes mit der
Persönlichkeit Jesu Christi als des kommenden Messias und mit der
erwarteten übernatürlichen Seinsweise der Gläubigen im messiani-
schen Reich zusammenbringt, gelangt Paulus, über J08l hinaus-
gehend, wieder zur ursprünglichen prophetischen Anschauung des
Geistes als des Lebensprinzips, das dem Messias und den Angehörigen
seines Reiches gemeinsam ist. Der transzendent gewordenen Zukunfts-
erwartung paßt er sie dadurch an, daß er den Geist nicht nur als gei-
Paulus. Der heilige Geist als Geist Christi und als Auferstehungsgeist. 165
stiges und ethisches Prinzip faßt, wie die Vertreter der prophetisch-
messianischen Zukunftserwartung, oder als Offenbarungserscheinung,
wie Joel, sondern dazu noch als die Kraft, die die Seinsweise der
Auferstehung verleiht.
Für die wissende Betrachtungsweise steht also dies im Vordergrunde,
daß der Geist Erscheinungsform von Auferstehungskräften ist. Durch
den Besitz des Geistes haben die Gläubigen die Gewißheit, derselben
Auferstehung wie Christus teilhaftig zu werden. Der Geist ist das Pfand
der kommenden Herrlichkeit, das ihnen ins Herz gegeben wurde. Als
Träger des den Erwählten zuteil gewordenen Auferstehungsgeistes
ist Christus der Stammvater einer unvergänglichen Menschheit. Er ist
der himmlische Adam, der den irdischen ablöst.
Röm 811: "Wohnt der Geist dessen, der Jesum von den Toten erweckt hat, in
euch, so wird der, welcher Jesum Christum von den Toten erweckt hat, auch eure
sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen in euch wohnenden Geist."
II Kor 122: "Gott, der uns versiegelt und das Angeld des Geistes gegeben hat,
das in unseren Herzen ist."
I Kor 1545-49: "Es ward der erste Mensch Adam zur lebendigen Seele, der
letzte Adam zum lebenspendenden Geist ... Der erste Mensch ist von Erde irdisch,
der zweite Mensch ist vom Himmel . • . Wie wir das Bild des irdischen getragen
haben, werden wir auch das Bild des himmlischen tragen."
Die paulinische Lehre von Christus als dem zweiten Adam erklärt sich so natür-
lich aus der Mystik des Gestorben- und Auferstandenseins mit Christo und dem
Teilhaben der Gläubigen an dem Geiste Christi, daß es in keiner Weise geboten
ist, sie mit dem persischen Mythus des Urmenschen Gajomart, mit dem indischen
des Urmenschen Purusa und der Lehre vom Urmenschen im hellenistischen Trak-
tat Poimandres zusammenzubringen. Auch der unkörperliche Urmensch, der bei
Philo vor Adam und Eva da ist, hat mit jenen Spekulationen nichts zu tun.
Philo erschließt seine Existenz aus exegetischen Überlegungen über das Vor-
handensein zweier Berichte der Erschaffung des Menschen (Gen 126-27; 215-25).
Als präexistentes Wesen sollte Christus bei Paulus eigentlich der erste Adam
heißen. Aber Mensch, von dem eine neue Menschheit ausgeht, wird er erst durch sein
Kommen im Fleisch und durch sein Sterben und Auferstehen. Da die zur messiani-
schen Herrlichkeit bestimmte Menschheit, die von ihm ihren Anfang nimmt, als
zweite auf die von Adam ausgehende folgt, bezeichnet ihn Paulus als zweiten Adam.
Schon durch diese Bezeichnung sollte sichergestellt sein, daß er nichts mit dem
Urmenschen der indischen, persischen und hellenistischen Mythen zu tun hat.
Er ist ja gar kein Urmensch, sondern ein zweiter Adam, und dies erst auf Grund
seiner Auferstehung, durch die er Stammvater derer wird, die zur Auferstehung
bermen sind. Der zweite Adam bei Paulus ist eine eschatologische, keine mythische
Größe.
* *
*
166 VIII. Geistbesitz als Erscheinungsweise des Auferstandenseins mit Christo.
Der Besitz des Geistes zeigt den Gläubigen an, daß sie bereits der
natürlichen Seinsweise enthoben und in die übernatürliche versetzt
sind. Sie sind "im Geiste", was besagt, daß sie nicht mehr im Fleische
sind. Das Sein im Geiste ist ja nur eine Erscheinungsform des Seins
in Christo. Beidemale handelt es sich um die Beschreibung ein und
desselben Zustandes.
Als solche, die im Geiste sind, sind die Gläubigen allen Bedingt-
heiten des Seins im Fleische enthoben. Wie sie dem Tode nicht mehr
unterworfen sind, so auch nicht mehr dem Gesetz, der Sünde und der
Verdammnis. Durch den Geist ist die wahre Beschneidung, die des
Herzens, an ihnen vollzogen. In ihm kommt der neue Bund zustande.
Er ist das neue Gesetz, welches Leben wirkt, wo das alte, das des
Buchstabens, nur Sünde offenbar machen konnte und damit den
Menschen dem Tode überantwortete. Der Geist gibt den Gläubigen
die Gewißheit, Kinder Gottes zu sein und vor ihm als gerechtfertigt
zu gelten. Durch den Geist erleben sie die Liebe, mit der sie von Gott
geliebt werden, in ihren Herzen.
Röm 81-2: "So gibt es jetzt keine Verdammnis mehr für die, die in Christo
Jesu sind. Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo hat dich frei gemacht
von dem Gesetze der Sünde und des Todes."
Röm 228-29: "Jude ist nicht, wer es offensichtlich ist, und Beschneidung
nicht die, welche es offenbar im Fleische ist, sondern Jude ist, der es im
Verborgenen ist, und Beschneidung ist Herzensbeschneidung, im Geiste, nicht
dem Buchstaben nach." - Phil 3 3: "Die Beschneidung, das sind wir, die wir
im Geiste Gottes anbeten und uns Christi rühmen und nicht auf das Fleisch ver-
trauen."
II Kor 36: "Gott, der uns fähig gemacht hat zu Dienern des Deuen Bundes,
nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist
aber macht lebendig."
Ga1518: "Wenn ihr vom Geiste getrieben werdet, so said ihr nicht unter dem
Gesetz." - Röm 7 6: "Jetzt aber sind wir losgetan von dem Gesetze, abgestorben
dem, in dem wir festgehalten wurden, daß wir dienen in dem neuen Wesen des
Geistes und nicht in dem alten des Buchstabens."
Gal 4 6: "Weil ihr aber Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere
Herzen entsandt, der da ruft: Abba, Vater." - Röm 814-16: "Denn soviele vom
Geiste Gottes getrieben werden, diese sind Söhne Gottes. Ihr habt ja nicht empfan-
gen einen Geist der Knechtschaft wiederum zur Furcht, sondern einen Geist der
Kindschaft, in welchem wir rufen: Abba, Vater. Der Geist selbst bezeugt unserem
Geiste, daß wir Gottes Kinder sind."
Gal 55: "Wir erwarten im Geiste durch den Glauben die Hoffnung gerecht zu
werden." - Röm 84: "Damit das Recht des Gesetzes erfüllt würde in uns, die
wir nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste wandeln." - Röm 810:
"Ist aber Christus in euch, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist
Das Sein im Geiste. 167
aber Leben um der Gerechtigkeit willen." - I Kor 6 11 :" Ihr wurdet gerechtfertigt
durch den Namen des Herrn Jesu Christi und den Geist unseres Gottes."
Röm 5 5 : "Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den heiligen
Geist, der uns verliehen ist."
* *
*
Von sich selber weiß Paulus, daß deI' Geist sich durch ilm betätigt.
Wenn seine Predigt wirkt, so ist es, weil sie in der Kraft des. Geit3tes
geschieht; wenn Zeichen und Wunder von ihm ausgehen, so sind sie
durch den Geist gewirkt. Desgleichen gehen auch alle Gaben, die an
den Gläubigen zutage treten, so verschiedenartig sie auch sind, auf
den Geist zurück. Alles wahrhaft Geistige und alle sich in Wundern
168 VIII. Geistbesitz als Erscheinungsweise des Auferstandenseins mit Christo.
* *
*
Von den Erweisungen des Geistes schätzt das gewöhnliche Urteilen
das ekstatische Reden (Glossolalie), das die Gläubigen im Gottes-
dienste befällt, am höchsten ein, weil es die sinnenfälligste ist. Paulus
aber wertet das Wirken des Geistes nach der Erbauung und der
geistigen Förderung, die in ihm zustande kommt. Darum wendet
er sich, .obwohl ihm, wofür er Gott dankt, das ekstatische Reden
in höherem Maße zu Gebote steht als anderen (I Kor 1418), gegen
die Überschätzung desselben. Er 'will nicht, daß es sich im öffent-
lichen Gottesdienst allzusehr breit mache, wie dies in Korinth auf-
kommt. Reden in Zungen, urteilt er, ist ein Reden mit Gott, von dem
die anderen nichts verstehen. Darum will er im Gottesdienste lieber
fünf Worte mit dem Verstand reden und mit ihnen unterweisend auf
Das sinnenfällig Geistige und das vernunftgemäß Geistige. 169
* *
*
Das Erkennen im Geist, das Paulus über das Sprechen jm Geist
stellt, besteht darin, daß der Mensch fähig wird, die Tiefen der Gott-
heit zu erforschen und das "Wort vom Kreuze" (I Kor 118), das der
irdischen Weisheit Torheit ist, seinem ganzen Inhalt nach zu begreifen.
Was der natürliche Mensch nicht zu fassen vermag (I Kor 214) und
was sogar den Engelwesen verborgen blieb (I Kor 2 8), tut Gott den
Erwählten durch seinen Geist kund. Inhalt dieser innerlichen Offen-
barung ist also das Wissen um das ganze Geheimnis des Gestorben-
und Auferstandenseins mit Christo.
I Kor 210-13: "Uns aber hat es Gott enthüllt durch den Geist; denn der Geist
erforscht alles, auch die Tiefen der Gottheit. Denn wer von den Menschen weiß
die Gedanken des Menschen, es sei denn der Geist des Menschen in ihm? So er-
kennt auch keiner die Gedan4en Gottes, es sei denn der Geist Gottes. Wir aber
haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist aus Gott, damit
wir wissen, was uns von Gott geschenkt worden ist. Wovon wir auch reden, nicht
in Worten, die uns Menschenweisheit gelehrt hat, sondern in vom Geist gelehrten
Worten, Geistbegabten Geistiges deutend."
Auf Grund von Offenbarungen, die ihm aus dem Geiste kommen,
gibt Paulus Entscheide auf Fragen des Glaubens und des Wandels.
Als ein "Geheimnis", das heißt als ein Wissen aus dem Geiste, teilt er
den Korinthern mit, daß bei dem Kommen Christi Überlebende und
Tote (gemeint sind in Christo Gestorbene) miteinander die Unver-
gänglichkeit empfangen werden (I Kor 1551-52). Dasselbe tut er den
Thessalonichern als "ein Wort des Herrn" kund (I Thess 415-18).
Was ihm durch den Geist Christi offenbar wird, gilt ihm als ein von
Christo empfangenes Wort.
Weil er durch den Geist in unmittelbarer Weise von Christo selber
Bescheid empfängt, kann er die überlieferte Lehre Jesu von Nazareth
Das Erkennen im Geist. 171
beiseite lassen. Die Weltzeit, die sich durch Jesu Tod und Auferste-
hung so verändert hat, daß die vorher ergangene Lehre Jesu in ihr
nicht mehr ohne weiteres gelten kann, zwingt Paulus dazu, schöpferisch
neben Jesus zu treten und dem Evangelium die Fassung zu geben, in
der es jetzt Geltung hat. 1 Die Gewißheit der aus dem Geiste von
Christo her kommenden Offenbarung ermöglicht ihm, das zu verwirk-
lichen, was er tun muß.
Nach Möglichkeit vermeidet er es, irgend etwas aus der Verkündi-
gung Jesu anzuführen, ja diese überhaupt nur zu erwähnen. Wären
wir nur auf ihn angewiesen, so wüßten wir nicht, daß Jesus Gleich-
nisse geredet, die Bergpredigt gehalten und die Seinen das Vater-
unser gelehrt hat. Paulus geht an Herrenworten auch da vorüber,
wo sie sich ihm auf den Weg stellen. So führt er das Gebot "Du sollst
deinen Nächsten lieben als dich selbst" als Erfüllung des ganzen Ge-
setzes an, ohne sich darauf zu beziehen, daß Jesus selber es in diese
Bedeutung eingesetzt hat (Ga15 14; Röm 13 8-10). Mit den Korinthern
setzt er sich über das Ja, das .Ja ist, und das Nein, das Nein ist, aus-
einander, um sich vor ihnen zu rechtfertigen, daß er sein'angekündigtes
Kommen nicht verwirklichte (Il Kor 1 ]7-19). Irgendwie steht hier,
vielleicht von den Korinthern herbeigezogen, das Wort Jesu "Eure
Rede sei Ja, Ja; Nein, Nejn. Was darüber ist, das ist vom Bösen"
(Mt 537) im Hintergrunde. Aber erwähnt wird es von Paulus nicht.
Ebensow9nig legt er Wert auf die Feststellung, daß seine Mahnung
"Segnet, die euch verfolgen" (Römer 1214) ein Wort Jesu (Mt 544)
wiedergibt.
Daß das von ihm verkündete Evangelium in keiner Weise auf durch
Menschen empfangene Überlieferung und Lehre von Christo zurück-
geht, behauptet er im Galaterbrief in der entschiedensten Weise.
Gal 1 ]]-]2: "Ich tue euch kund, Brüder, in betreff des von mir verkündigten
Evangeliums, daß es nicht Menschensache ist. Habe ich es doch nicht von einem
Menschen empfangen noch gelehrt bekommen, sondern durch eine Offenbarung
J esu Christi."
1) Siehe S. 114-116.
172 VIII. Geistbesitz als Erscheinungsweise des Auferstandenseins mit Christo.
In I Kor 1210 wird als eine Gabe des Geistes die "Unterscheidung der Geister"
(t5ui~!!La!(;
7CVEV/1aTwv) angeführt. Was Paulus damit meint, wissen wir nicht. Jeden-
falls kann es sich nicht um die Gabe handeln, festzustellen, ob göttliche oder
dämonische Geister das Wort führen. Nach I Kor 123 ist ja jeder Geist, der sich
überhaupt zu Christus bekennt, als göttlicher Art anzuerkennen.
nicht vergeben werden. Aber nicht jeder, der im Geiste redet, ist ein Prophet, .
sondern nur, wenn er die Lebensweise des Herrn hat; an der Lebensweise erkennt
man den falschen und den (rechten) Propheten. Und kein Prophet, der den Tisch
richten läßt im Geiste, ißt davon, außer er ist ein falscher Prophet. Und jeder
Prophet, der zwar das Rechte lehrt, ist ein falscher Prophet, wenn er das, was er
lehrt, nicht tut ... Wenn einer sprhht im Geiste: Gib mir Geld oder sonst etwas,
so höret nicht auf ihn; wenn er aber für andere Bedürftige um Gaben bittet, soll
niemand ihn richten."
Um 150 n. Ohr. beschäftigt sich der Verfasser des "Hirten des
Hermas", der selber ein Prophet ist, ebenfalls mit dem stachlichen
Problem, ohne noch ein dogmatisches Kriterium anzuerkennen. Er faßt
es sachgemäßer an als die Didache.
Past Hermae Mand II 3: "Fürs erste ist der Mensch, der den Geist von oben
besitzt, milde, ruhig, demütig, frei von jeder Schlechtigkeit und von jeder eitlen
Begierde nach dieser Welt. Er macht sich geringer als alle anderen Menschen.
Nie gibt der göttliche Geist jemand aui eine Frage Auskunft, noch redet er im Ver-
borgenen für sich oder wenn ein Mensch will, daß er rede. Vielmehr spricht dcr
heilige Geist nur dann, wenn es Gottes Wille ist, daß er rede." - Mand II ]2-]4 :
"Kann ein göttlicher Geist Lohn nehmen und dafür prophezeien? Das geht nicht
an bei einem Propheten Gottes, vielmehr ist der Geist solcher Propheten von der
Erde. Sodann kommt er gar nicht in die Versammlung gerechter Männer, sondern
geht ihnen aus dem Wege. Dafür verkehrt er mit den Zweiflern und hohlen Men-
schen, prophezeit ihnen in Winkeln und betrügt sie, indem er lauter eitles Zeug
schwatzt nach ihrem Begehren ... Wenn er aber in eine Versammlung von lauter
gerechten Männern, die den göttlichen Geist haben, kommt und wenn von diesen
gebetet wird, dann steht jener Mensch leer da. Der irdische Geist flieht von ihm aus
Furcht, und so wird er stumm und ganz bestürzt, sodaß er nichts mehr reden
kann."
Als Kriterium wird also hier aufgestellt, daß der wahre Geistbegabte nur im
öffentlichen Gottesdienste, der falsche aber außerhalb desselben rede.
Wie aus einer anderen Welt klingt in solches Sorgen um die Echt-
heit des Geistes das gewaltige, noch einzig auf die Glut desselben
bedachte Wort Pauli an die Thessalonicher (I Thess 519-20) hinein:
"Den Geist dämpfet nicht! Die Weissagung verachtet nicht!"
* *
*
175
* *
*
Jesus teilt den Missionseifer der Schriftgelehrten und Pharisäer
nicht, weil er im alten Erwartungs- Universalismus denkt, nach welchem
Heiden mit dem Anbrechen der messianischen Zeit als solche, die
zum Reiche berufen sind, offenbar werden. Heiden vorher bekehren,
heißt also, selber in die Hand nehmen, was Gott sich vorbehalten
hat. Der Missions-Universalismus, der bei den Schriftgelehrten den
Erwartungs-Universalismus abgelöst hat, ist dessen logische Vernei-
nung.
1) Spuren des universalistischen Gedankens finden sich in Apoc Bar 42 5 und
IV Esra 332-36.
Universalistischer Glaube und partikularistisches Verhalten bei Jesus. 177
Obgleich er solches für die Heiden erwartet und schon jetzt gelegent-
lich bei Heiden __ dem Hauptmann von Kapernaum (Mt 810) und
dem kananäischen Weibe (Mt 1528)! - einen Glauben findet, der
ihn in Erstaunen setzt, richtet Jesus seine Tätigkeit nur auf Israel
und erlegt den Jüngern bei der Aussendung dieselbe Beschränkung
auf.
Mt 15 24: "Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen aus dem Hause
Israel."
Mt 10 5-6: "Ziehet auf keiner Heidenstraße und betretet keine Samariterstadt;
gehet vielmehr zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel."
Dieses Verhalten hat nichts mit Engherzigkeit zu tun und ist auch
nicht einzig aus der Kürze der bis zum Einbrechen des Reiches zur
Verfügung stehenden Zeit zu erklären. Es hängt gerade mit Jesu
Universalismus zusammen. Sein Erwartungs-Universalismus verbietet
Mission unter den Heiden.
Zu den Juden ist er zur Gnade und zum Gericht gesandt. Den unter
ihnen Erwählten bedeutet seine Predigt eIDe Erprobung. Glauben
A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus. 12
178 IX. Mystik und Gesetz.
sie ihr, so verwirklicht sich ihre Erwählung; hören sie nicht darauf,
so gehen sie derselben verlustig. Solche aber, die nicht zu den Er-
wählten gehören und nach ihrem bisherigen Wandel offensichtlich
als Verworfene gelten müssen, können durch Annahme seiner durch
Wunder bekräftigten Predigt in die Rechte von Erwählten eintreten.
Möglicherweise steht bei Jesus die Vorstellung im Hintergrund,
daß für alle Kinder Israels, die begnadet sind, sein unerkanntes Er-
scheinen unter ihnen zu erleben, die Möglichkeit des Erwerbes der
Erwählung durch Eingehen der Gemeinschaft mit ihm besteht. In
dieser Form wären bei ihm dann das Privileg Israels und das der letzten
Generation miteinander gewahrt und mit der Erwählung überhaupt in
Einklang gebracht. Für die Heiden bleibt es einfach dabei, daß Gott
eine Anzahl von ihnen erwählt hat und beim Erscheinen des messia-
nischen Reiches in dieses aufnehmen wird. Sie können die Erwäh-
lung aber nicht erwerben, wie die Kinder Israels, weil keine Predigt
des Reiches Gottes an sie ergeht.
Der ursprüngliche Gedanke Jesu wäre also der, daß allen zu seiner Zeit lebenden
Angehörigen des Volkes Israel die Möglichkeit gegeben ist, die ihnen im Prinzip
offen stehende Zugehörigkeit zum Reiche durch Bekenntnis zu ihm, der scheinbar
nur der Verkündiger desselben, in Wirklichkeit aber der Menschensohn ist, tat-
sächlich zu erwerben. In dem Maße aber, als er feststellen muß, daß Israeliten in
großer Anzahl nicht daran denken, ihre mögliche Erwählung zu einer wirklichen zu
machen, kommt er dann zu der Überzeugung, daß Erwählte aus dem Heidentum
an ihre Stelle treten, damit die Zahl der Genossen des Reich~~ voll werde. Diese
nachträglich Erwählten werden von Gott einfach zur Teilnahme am Reiche be-
stimmt. Eine Predigt ergeht an sie nicht. Die Gnade, durch freien Entscheid in die
Rechte von Erwählten eintreten zu können, ist den Kindern Israels vorbehalten.
So erklärt sich, daß Jesus universalistisch denkt und jüdisch-partikularistisch
handelt.
* *
Nach Jesu Tod wird das Evangelium unter den Heiden verkündet.
Wie kommt man dazu, von seiner Haltung abzugehen? Es geschieht
in einem unvermeidlichen Vorgang dadurch, daß die jüdische Mission
in der Diaspora durch christgläubige hellenistische Juden naturgemäß
zu einer christlichen wird. Nach der ältesten Erzählungsschicht der
Apostelgeschichte ereignet sich dies erstmalig zu Antiochia in Syrien.
Dort beginnen christgläubige hellenistische Juden, Cyprier und
Kyrenäer, die der Gemeinde zu Jerusalem angehörten, nach der
Steinigung des Stephanus aber vertrieben wurden, auch den Griechen
Die urchristliche und die paulinische Heidenpredigt. 179
Bei Paulus ist der Gedanke also dieser, daß das Ende kommt, wenn
die Zahl derjenigen voll ist, die ihre Erwählung zum messianischen
Reich durch den Glauben an Jesum verwirklicht haben. Wenn er
sich gedrungen fühlt, die Kunde von Christo in die ganze Welt hinauszu-
tragen, so ist es, um damit allen Erwählten aus dem Heidentum die
Möglichkeit zu geben, in den Zustand des Seins in Christo zu gelangen
und so ihre Erwählung Wirklichkeit werden zu lassen. Aus diesem
dogmatischen Grunde will er bis nach Spanien dringen.
Den Plan, das Evangelium dort zu verkünden, wo es noch nicht bekannt ist,
kündigt er nicht erst im Römerbrief (Röm 1520-24) an, sondern spricht ihn schon
in einer dunkeln Stelle des 2. Korintherbriefes aus. II Kor 10 15-16: "Indem wir
uns nicht ins Ungemessene fremder Leistungen rühmen, aber Hoffnung haben,
wenn euer Glaube wächst, groß gemacht zu werden bei euch gemäß unserem
Maßstab zu Weitergehendem, nämlich in die über euch hinausliegenden Gegenden
Die Bedeutung der Heidenpredigt für die Bekehrung Israels. 181
das Evangelium zu bringen, nicht in fremdem Gebiet in bezug auf das Fertige
uns zu rühmen."
Weil Paulus als Einziger die so geartete Notwendigkeit der Predigt
unter den Heiden einsieht und das erforderliche Tun unternehmen
will, erkennt er sich als den von Gott berufenen Apostel der Heiden,
der neben die Apostel für die aus der Beschneidung treten muß.
Welch tiefen Sinn erhalten von hier aus die Worte aus dem Römer~
brief über die Verkündigung des Evangeliums, die allerorts erfolgen
soll!
Röm 1013-15: "Denn ein jeglieher, der den Namen des Herrn (Christus) anrufen
wird, wird gerettet werden. Wie können sie nun den anrufen, an den sie nicht
gläubig geworden sind? Wie können sie glauben an den, von dem sie nichts hörten ?
Wie können sie hören ohne Verkündiger ? Wie können sie aber verkündigen, wenn sie
nicht ausgesandt sind? Wie denn geschrieben steht: Wie lieblich sind die Füße
derer, die gute Botschaft bringen!"
Nur bei Paulus haben die Heiden wirklich ein Recht auf die Predigt
von Christo. Weil sie, nach ihm, auf Grund ihrer Erwählung gleich-
berechtigt mit den Juden sind, soll ihnen auch die gleiche Möglichkeit
Christum kennen zu lernen geboten werden, wie sie die andern schon
haben. Vor der Wiederkunft Christi muß das Evangelium in die
ganze Welt getragen werden!
* *
*
Nicht nur um der Erwählten aus den Heiden willen, sondern auch
Israels wegen muß das Evangelium, nach Paulus, raschestens in aller
Welt verkündigt werden! Paulus kann sich nicht mit dem Gedanken
abfinden, daß die Angehörigen der Beschneidung, die in erster Linie
zur wahren Abrahamskindschaft berufen sind, ihre Erwählung nicht
verwirklichen. Indem er mit diesem schwersten Problem der Prä-
destination ringt, findet er die Lösung darin, daß diese Verstockung
nur eine vorübergehende, in Gottes Plan vorgesehene sein kann.
Also verkündet er im Römerbrief als ein Geheimnis, daß, wenn die
Erwählten aus der Nichtbeschneidung durch den Glauben an Christum
alle offenbar geworden sein werden, dann die aus Israel, dadurch
eifersüchtig gemacht, die Verstockung, die sie zeitweise befallen
hat, abschütteln werden, um nun auch selber zur Gnade einzugehen.
Dieses Wunder erwartet er vor der Wiederkunft Christi! Um mitzu-
helfen, daß es sich ereigne, will er die Kunde von Christo bis an die
182 IX. Mystik und Gesetz.
Enden der Welt tragen. Die Wiederkunft soll ja nicht eintreten, bis
alle Erwählten aus den Heiden den Ruf des Evangeliums vernommen
haben. Um Israel zu retten, übt Paulus also seinen Beruf als Apostel
der Heiden aus! Er müht sich ab, die Eifersucht wach zu rufen, die
seinem Volke zum Heile ausschlagen soll (Röm 1113. u). Wenn die
fremden Zweige, die dem Ölbaum Israels eingepfropft wurden, einge-
wachsen sind, werden die ausgehauenen eigenen Zweige desselben
nun ihrerseits wieder eingepfropft werden (Röm 1117-24).
Röm 1113-14: "Euch aber, den Heiden, sage ich: Insofern als ich Heidenapostel
bin, preise ich mein Amt, ob ich vielleicht meine Stammesgenossen nach dem
Fleisch eifersüchtig machen und einige von ihnen retten kann."
B.öm 11 23-24: "Jene, wenn sie nicht bei ihrem Unglauben beharren, werden
wieder eingepfropft werden. Denn Gott vermag sie wieder einzupfropfen. Denn
wenn du aus dem natürlichen wilden Ölbaum herausgeschnitten und wider die
Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, um wie viel mehr werden
diese, deren Natur es entspricht, in ihren eigenen Ölbaum (wieder) eingepfropft
werden."
Röm 11 25-26: "Darum will ich euch, Brüder, dieses Geheimnis nicht ver-
hehlen, damit ihr nicht auf eure eigene Weisheit baut, daß eine teilweise Ver-
stockung über Israel gekommen ist, bis die Vollzahl der Heiden (zum Glauben)
eingeht, und also wird ganz Israel gerettet werden."
Im 1. Thessalonicherbriefe urteilt Paulus so hart über die Juden, daß fast
nicht verständlich wird, wie er damit noch die Hoffnung auf ihr Gläubigwerden
und ihre Errettung vereinigen kann.
I Thess 214-16: "Denn ihr seid Nachahmer geworden, Brüder, der Gemeinden
Gottes, die in Judäa in Christo Jesu sind, da ihr dasselbe von den eigenen Stammes-
genossen erlitten habt, wie auch sie von den Juden, die den Herrn Jesus und die
Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Men-
schen entgegen sind, indem sie uns hindern, den Heiden ihre Errettung zu predigen,
um das Maß ihrer Sünden auf immer voll zu machen. Gekommen aber ist auf sie
der Zorn bis zum Ende."
Möglich ist, daß Paulus zur Zeit des 1. Thessalonicherbriefes sich noch nicht
zum Glauben an die schließliche Errettung ganz Israels durchgerungen hat. Viele
Ausleger sehen die Worte "Gekommen aber ist auf sie der Zorn zum Ende" als
eine in den Text eingedrungene Randbemerkung eines Abschreibers an, der damit
auf die 70 n. Chr. erfolgte Zerstörung Jerusalems anspielte. Tatsächlich ist nicht
zu ersehen, was Paulus mit einem bereits über die Juden ergangenen Strafgericht
Gottes gemeint haben kann.
Röm 11 29: "Denn unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung
Gottes." -Röm 1182: "Gott hat alle unter den Ungehorsa.m beschlossen, da.mit
er sich über alle erbarme."
Mit dieser Errettung aller weiß die bisherige Auslegung nichts
Rechtes anzufangen, lmd zwar aus zwei Gründen. Erstens übersieht
sie, daß mit diesen allen eben nur alle Erwählten gemeint sind; zwei-
tens hält sie die messianische und die ewige Seligkeit nicht in der von
Paulus vorausgesetzten Weise auseinander. Daß die Stelle (Röm 11 82)
auf die ewige Seligkeit gehe, ist nach dem ganzen in Röm 9-11
zur Frage stehenden Problem unmöglich. Paulus redet nicht von einer
Wiederbringung aller je auf Erden gewesenen Menschen (dno"a'ta:rraO't~
naml)v) als einer All-Beseligung, die sich in dem Augenblick, da Gott
alles in allem wird, ereignen soll. Er hat es nur mit den Angehörigen
der Menschheitsgeneration, die das Ende der Zeiten erlebt, und mit
ihrer Teilnahme am messianischen Reiche zu tun. Es handelt sich
für ihn um das Gläubigwerden der Gesamtheit der Erwählten aus
dem Heidentum wie aus dem Judentum auf die Wiederkunft Christi
hin ... um das Wunder, das er in seinem um Israel sorgenden Glauben
postuliert und das er noch in seinem Erdendasein zu erleben hofft.
Aus dieser Erwartung, daß alle dazu Berufenen die Gerechtigkeit
aus dem Glauben ergreifen werden, wird ihm der Sinn der Verzöge-
rung der Wiederkunft Christi verständlich. Wahrscheinlich nimmt er
an, daß ganz Israel bestimmt ist, gläubig zu werden (Röm 11 26).
Er hält also die Vorstellung fest, die wohl auch Jesus gehabt hat,
die dieser aber im Verlaufe seiner Wirksamkeit aufgab.
* *
*
Mit der Tatsache, daß Pauli Predigt an die Heiden aus dem
Erwartungs-Universalismus kommt, ist weiter gegeben, daß sie einen
ganz besonderen Charakter hat. Sie ergeht an Heiden, die als Heiden
berufen sind, nicht an Heiden, die als christgläubige Juden die Zahl
derer voll machen, die in das Reich eingehen sollen. Dieser theoretische
Unterschied scheint auf den ersten Blick geringfügig. Er geht aber
sehr tief. An ihm liegt es nämlich letzten Endes, daß Paulus die für
seine Heidenchristen geforderte Unterwerfung unter Gesetz und
Beschneidung nicht zugestehen kann. Er darf nicht davon abgehen,
daß sie als Heiden, nicht als zu Juden gemachte Heiden zum Sein
in Christo berufen sind. Die in dem Erwartungs-Universalismus be-
184 IX. Mystik und Gesetz.
gründete Freiheit der Heidenchristen vom Gesetz wird für sie auch
durch die Mystik des Seins in Christo gefordert. Wäre die Frage des
Gesetzes nicht gewesen, so hätte Paulus seine Mystik des Seins in
Christo für sich behalten können. Der Gläubige braucht das ganze
Geheimnis dessen, was von der Taufe an mit ihm vorgeht, ja gar nicht
zu wissen. Wenn er in dem unbefangenen Glauben, noch in der natür-
lichen Weltzeit zu leben, Jesum als den Messias erwartet und sich auf
seine Ankunft in Buße und Heiligung bereit hält, geht er ebenso gewiß
zu ihm in seine messianische Herrlichkeit ein, als wenn ihm dazu
noch bewußt ist, daß durch die Auferstehung Jesu die übernatürliche
Weltzeit bereits angebrochen ist, daß Sterbens- und Auferstehungs-
kräfte sich von der Taufe an in den Gläubigen auswirken und daß
diese daraufhin nur noch ihrer äußeren Erscheinungsweise nach
natürliche Menschen sind.
Taucht aber die Frage des Gesetzes auf, so ist ohne die Erkenntnis
der Mystik des Seins in Christo nicht auszukommen. Will der unbe-
fangene Glaube hier von sich selber aus entscheiden, so ist er dem
verhängnisvollen Irren ausgeliefert, daß er das Gesetz auch nach
Jesu Tod und Auferstehung noch in Geltung sein läßt und dement-
sprechend dem Gläubigen aus dem Heidentum in aller Einfalt zu-
mutet, es auf sich zu nehmen, um als einer, der dem erwählten Volke
beigetreten ist, auch auf die diesem geltenden Verheißungen An-
spruch zu haben. In Wirklichkeit aber tut der Gläubige aus dem Hei-
dentum in diesem Falle nichts anderes, als daß er unrettbar von Christo
abfällt, mag er ihn weiterhin auch noch als Messias bekennen und
sich in Buße und Heiligung auf sein Kommen bereit halten. Mit der
Annahme des Seins im Gesetze gibt er ja das Sein in Christo und
damit die Erlösung auf. Um diese grausige Torheit zu verhindern,
muß Paulus mit der Mystik des Seins in Christo hervortreten.
* *
*
Welches ist eigentlich Pauli Stellung zum Gesetz?
Hält man die daraufbezüglichen Aussprüche aus seinen Briefen
nebeneinander, so ergibt sich etwas merkwürdig Kompliziertes und
in sich Widerspruchsvolles. Er behauptet das Außerkraftsein des
Gesetzes. Zugleich aber gesteht er ihm doch wieder Geltung zu, insofern
als er annimmt, daß diejenigen, die sich zu ihm bekennen, ihre unter-
worfen sind und an ihm zugrunde gehen. Dazu kommt noch eine
Die Eigenart der paulinischen Lehre von der Gesetzesfreiheit. 185
* *
*
Die Unvereinbarkeit von Gesetz und Eschatologie tritt darin zu-
tage, daß das Gesetz stetig von der Eschatologie her bedroht ist, und
1) Als dem Leibe Christi angehörend, sind sie Init Christo gestorben.
2) Durch das Gesetz ist er dem Gesetze gestorben, weil Christus, Init dem er
gestorben ist, durch das Gesetz ans Kreuz gebracht wurde und dort den Fluch
des Gesetzes zunichte machte (GaI313) und weil das Gesetz im Zusammentreffen
Init Fleisch und Sünde den Tod des Menschen wirkt.
Die Unvereinbarkeit von Gesetz und Eschatologie. 187
zwar in doppelter Weise: durch den der Eschatologie von Natur aus
innewohnenden Trieb nach unmittelbarer und absoluter Ethik und
durch den überweltlichen Charakter des messianischen Seins, dem sich
das auf die natürliche Welt eingestellte Gesetz nicht anpassen kann.
Das nachexilische Judentum und das Schriftgelehrtenturn machen
den Versuch, das Unvereinbare zu vereinigen. Sie verbinden Gesetz
und Eschatologie in der Art, daß das Gesetz auf das messianische Reich
zuführen und die Beobachtung des Gesetzes die Erlangung der messia-
nischen Seinsweise gewährleisten soll. Damit bauen sie eine Brücke,
die sich gut ausnimmt, aber nicht tragfähig ist. Sie vermögen nichts
gegen die geschichtliche und logische Tatsache, daß die Eschatologie
von den vorexilischen Propheten her, die sie schufen, nicht auf das
Gesetz, das damals noch nicht bestand, sondern auf unmittelbare
und absolute Ethik angelegt ist. Diese Zusammengehörigkeit macht
sich unabweisbar geltend, wo mit der Eschatologie Ernst gemacht
wird, das heißt, wo die Erwartungs-Eschatologie in lebendigen Persön-
lichkeiten zur Tat-Eschatologie wird. Die unmittelbare Ethik kommt
dann wie die alte Farbe unter der später aufgetragenen hervor. Sie
verdrängt das Gesetz nicht. Aber sie überlagert es. Darum fordern
der Täufer und Jesus Buße und absolute Herzensethik, statt bis ins
Letzte gehende Beobachtung des Gesetzes als das sinngemäße Verhal-
ten im Hinblick auf das im Anbruch befindliche Reich auszugeben.
Die Geltung des Gesetzes zu beanstanden, haben sie keinen Grund.
Es steht ihnen nicht im Wege. Mit dem Anbruch des Reiches wird es
ja so wie so hinfällig. So verkündet Jesus feierlich, daß das Gesetz
in allen seinen Bestimmungen weiterhin verbindlich sei (Mt 517-19).
Zugleich aber nimmt er ihm alle Bedeutung durch seine Ethik der
Weltlosgelöstheitund durch seine Forderung einer Gerechtigkeit,
die besser ist, als die der Schriftgelehrten (Mt 520).1
Mt 517-18: "Denket nicht, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Pro-
pheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
Denn wahrlich ich sage euch, bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch
nicht ein Jota oder ein Häkchen vom Gesetz vergehen, bis alles wird geschehen
sein."
Dieses Wort besagt nicht, wie man gewöhnlich annimmt, daß Jesus dem Ge-
setze hier ewige Geltung zugesteht. Er läßt es in Kraft sein "bis der Himmel und
die Erde vergehen", das heißt bis dieser Himmel und diese Erde bei Anbruch des
Gottesreiches dem neuen Himmel und der neuen Erde Platz machen. ErBt bei
dieser Deutung erhält der Nachsatz "bis alles wird geschehen sein" einen Sinn.
1) Über Jesu Stellung zum Gesetz siehe auch S. 81; 115-116.
188 IX. Mystik und Gesetz.
Jesus spricht also deutlich aus, daß das Gesetz nur bis zum Beginn
des Reiches Gottes gilt. Wie sollte er auch annehmen, daß es für
die Auferstandenen, die Genossen des Reiches sind, noch eine Be-
deutung haben könne!
Das Judentum wehrt sich dagegen, sich die Unvereinbarkeit von
Gesetz und Eschatologie einzugestehen. Die exilischen und nach-
exilischen Propheten unternehmen den Versuch, das messianische
Reich als das Reich der vollendeten Beobachtung des Gesetzes aufzu-
fassen. Nach Ezechiel (Ez 3626-27) und Jeremia (Jer 31 3a) wird Gott
in der messianischen Zeit den Menschen durch die Verleihung seines
Geistes das Gesetz ins Herz geben, daß sie nicht anders können
als danach leben. 1 Der Geist steht bei ihnen im Dienste des Gesetzes.
Um 520, zur Zeit der Wiederaufrichtung des Tempels, verkünden
Haggai und Sacharja als messianisches Reich ein von J erusalem
aus über alle Völker sich ausdehnendes Friedensreich, in dem das
Gesetz herrscht. Dieselbe Vorstellung vertreten die wohl aus dem
5. Jahrhundert v. ehr. stammenden Stücke Jesaja 22-4 und Micha
41-4 und die ebenfalls nachexilischen Weissagungen in Jesaja 60
und 66.
Aber das Ideal des messianischen Reiches als des vollendeten
Reiches des Gesetzes wird in dem Maße unhaltbar, als das kommende
Reich transzendent gedacht wird. Die Tatsache, daß das auf natür·
liche Menschen berechnete Gesetz gegenstandslos wird, wenn es sich
nicht mehr um natürliche, sondern um übernatürliche Wesen handelt,
wirkt sich aus, auch wenn man sie zu übersehen sucht. Wohl spre-
chen die spätjüdischen Apokalypsen den Satz, daß das Gesetz im
zukünftigen Reiche nichts mehr bedeute, nicht aus. Tatsächlich aber
sind sie ihm unterworfen und verhalten sich dementsprechend. Nir-
gends nämlich, so überraschend es klingen mag, behaupten sie, daß
das Gesetz im messianischen Reiche in Kraft sei, und niemals schil-
dern sie das Dasein im kommenden Reich als das Dasein der vollende-
ten: Gesetzeserfüllung, sondern immer nur als das Leben in dem
glückseligen, allen irdischen Bedingtheiten enthobenen neuen Zu-
stande! Wie sollte das Buch Henoch, demzufolge die Heiligen "Engel
im Himmel werden" (Hen 514), den Gedanken durchführen, daß sie
nach dem Gesetze lebenl Aber auch die Psalmen Salomos, die Apo-
kalypse Baruch und die Apokalypse Esra, die sich die Teilhaber am
1) Siehe S. 159-160.
Die Unvereinbarkeit von Gesetz und Eschatologie. 189
messianischen Reich nicht als Auferstandene, sondern nur als in
idealen Lebensbedingungen existierende Wesen vorstellen, machen
keinen Versuch, das messianische Reich als Reich der vollendeten
Gesetzesherrschaft darzustellen. Ihr Standpunkt ist der, daß man
sich durch Halten des Gesetzes Anrecht auf das messianische Reich
erwirbt, im messianischen Reiche aber von Natur aus, kraft des Deuen
Zustandes, nach Gottes Willen wandelt.
Wenn in der Apokalypse Baruch (Apoc Bar 4847) gesagt wird, daß Gott am
Tage des Gerichts auf Grund der Übertretung des Gesetzes straft, so will dies
nicht heißen, daß das Gesetz auch in dem messianischen Reich in Kraft ist.
Für die ewige Geltung des Gesetzes hat man IV Esra 936-37 angeführt.
IV Esra 9 36-37: "Wir, die das Gesetz empfangen, müssen wegen unserer Sün-
den verloren gehen samt unserem Herzen, in das es getan ist. Das Gt',setz aber
geht nicht verloren, sondern bleibt in seiner Herrlichkeit." Daß das Gesetz ewig
ist, will nicht heißen, daß es ewig in Anwendung ist. Ewig ist es, weil es prä-
existent ist. Aber wie es ruhte, obwohl es existierte, bis es dem Volke Israel auf
dem Sinai gegeben wurde, so kann es wieder ruhen vom Eintritt der messia-
nischen Zeit an. Auch Paulus, wenn er das Gesetz als heilig (Röm 7 12), pneu-
matisch (Röm 714) und göttlich (Röm 722) bezeichnet, muß es sich als ewig
denken. Dies hindert ihn nicht zu behaupten, daß es nur in der natürlichen Welt
und in dieser auch nur während einer relativ kurzen Zeitperiode Geltung habe.
Jedenfalls schildert die Apokalypse Esra den neuen Zustand im messianischen
Reiche, ohne des Gesetzes Erwähnung zu tun. IV Esra 626-28: "Dann wird das
Herz der Erdenbewohner verändert und zu neuem Geiste verwandelt. Dann ist
das Böse vertilgt und der Trug vernichtet, der Glaube in Blüte, das Verderbnis
überwunden, und die Wahrheit wird offenbar, die so lange Zeit ohne Frucht ge-
blieben ist."
Wo das Böse nicht mehr existiert, hat logischerweise auch das Gesetz nichts
mehr zu tun.
Der übernatürlicLe Charakter des Reiches macht es dem Spät-
judentum also unmöglich, das Reich tatsächlich als Reich des Ge-
setzes zu denken. Dementsprechend zehrt die Vorstellung, daß im
Reiche die Herzen der Menschen vom Geiste Gottes regiert werden,
die andere, daß sie dem Gesetze dienstbar sind, auf, mag sie bei
Ezechiel und Jeremia ursprünglich auch so gemeint gewesen sein,
daß durch den Geist Gottes das Gesetz in die Herzen gegeben werde.
Menschen, in denen Gott selber in unwiderstehlicher Weise wirkt,
bedürfen keines Gesetzes, um seinen Willen zu erfüllen.
In Pauli Vorstellung der durch den Auferstehungsgeist gewirkten
Ethik verbinden sich die umnittelbare Ethik und die Tatsache des
übernatürlichen Charakters des messianischen Seins miteinander
gegen das Gesetz. Paulus ist sich in derselben Weise wie Jesus klar
190 IX. Mystik und Gesetz.
darüber, daß das Gesetz nur bis zum Anbruch des messianischen
Reiches in Kraft sein kann. Da er nun aber annimmt, daß die Er-
wählten, soweit sie in Christo sind, nicht mehr der natürlichen, sondern
bereits der messianischen Welt angehören, muß er auch behaupten,
daß sie schon jetzt nicht mehr unter dem Gesetze stehen.
Unaufhaltsam setzt sich die historisch und logisch gegebene Un-
vereinbarkeit von Gesetz und Eschatologie durch. In Paulus und in
dem Judentum der auf ihn folgenden Generationen erfüllt sich das
damit gegebene Schicksal. Paulus opfert das Gesetz der Eschatologie.
Das Judentum gibt die Eschatologie auf und behält das Gesetz.
Den Rabbinen, die keine lebendige Vorstellung der Eschatologie
mehr haben, sondern nur noch literarisch in ihr leben, ist dann mög-
lich, was die spätjüdischen Apokalypsen nicht vermochten: das
messianische Reich als das Reich des Gesetzes aufzufassen. Viel-
fach beschreiben sie, wie die Gerechten im Garten Eden die Tora
studieren. Sechzig Genossenschaften sollen unter dem Baume des
Lebens sich mit ihr befassen (Midrasch Hohes Lied 69). Moses, wel-
cher die Tora in dieser Welt gelehrt hat, wird dies auch in der zu-
künftigen tun (Exodus rabba 2). Nach anderen Aussprüchen wird
Gott selber (Tanchuma Ed. Buber 106 a) oder der Messias (Targum
Hohes Lied 81-2) dieses Amt übernehmen.
Aus dieser Anschauung der späteren Rabbinen darf man in keiner
Weise schließen, daß das Spätjudentum zur Zeit Jesu und Pauli
ebenso gedacht habe. Sie beweist nur, daß sich die Dinge für die
rabbinische Reminiszenzen-Eschatologie anders darstellen als für die
lebendige Eschatologie der Zeit vor der Zerstörung Jerusalems.
Wie sollen sich die Gläubigen zu dem für sie nicht mehr geltenden
Gesetz verhalten?
Das einfachste wäre gewesen, wenn Paulus es für sie als AdiaphoroD,
das heißt als einen bedeutungslosen, weder schadenden noch nützen-
den Brauch hätte erklären können. Dann wäre er in der Lage gewesen,
mit den Uraposteln in Frieden zu leben und dem Treiben der judaisti-
schen Sendlinge mit Lächeln zuzusehen, wissend und verkündend,
daß die Gläubigen aus den Heiden, die sich von ihnen zur Über·
nahme von Beschneidung und Gesetz bewegen ließen, sich damit
etwas Unnötiges auflüden. Nun ereignet sich aber das Tragische,
daß er nicht ironisch auf diesen Eifer herabsehen darf, sondern ihn
ernst nehmen muß. Also will es die J.Jogik der Mystik des Seins in
Christo.
Die Theorie des status quo. 191
Wurde jemand also als Sklave gläubig, so soll er, nach dieser Theo-
rie, die Freiheit, auch wenn sie ihm angeboten wird, nachher nicht
annehmen (I Kor 7 21-22); 1 wurde er als Verheirateter gläubig, so
soll er verheiratet bleiben und sich nicht einreden lassen, daß er
und seine Frau, um der Heiligung auf das kommende Reich willen,
nun miteinander leben müßten, als wären sie nicht verheiratet
(I Kor 73-5; 710-11); wurde jemand als ledig oder verwitwet gläubig,
so soll er ledig oder verwitwet bleiben, und zwar schon deswegen,
weil er in diesem Stande insofern am besten daran ist, als er seine
Gedanken ganz auf Christum richten kann, wo hingegen Verhei-
ratete noch durch die Sorge um den ihnen zugehörigen Menschen in
Anspruch genommen werden (I Kor 78; 732-35).
In derselben Weise soll, wer als Unbeschnittener berufen wurde,
unbeschnitten bleiben, und wer als Beschnittener gläubig wurde,
nichts unternehmen, um als Unbeschnittener zu gelten (I Kor 718).
Diese Theorie des status quo ist durch die Mystik des Seins in
Christo gefordert. Von dem Augenblick an, wo jemand in Christo ist,
* *
*
Die Durchführung des Entscheids stößt aber auf Schwierigkeiten.
Feiern Gläubige aus dem Judentum das Herrenmahl mit den Brüdern
aus dem Heidentum, so vergehen sie sich gegen das Verbot der Tisch·
gemeinschaft mit den Heiden. Über dieser Frage kommt es in Anti·
ochia zwischen Paulus und Petrus zum Bruch (Gal 211-16). Nachdem
Petrus sich zuerst dazu verstanden hatte, das Herrenmahl mit Heiden·
christen zu feiern, gibt er dies nach der Ankunft einiger Brüder, die
Jakobus dem Gerechten nahestehen, auf, sei es daß diese ihm Vor·
stellungen darüber gemacht haben, sei es daß er einer Auseinander·
setzung mit dem streng pharisäischen Jakobus aus dem Wege gehen
will.
Daß es sich in Antiochien um die Frage des gemeinsamen Essens beim Herren·
mahl handelte, ist so selbstverständlich, daß Paulus es nicht besonders erwähnt.
Über von Petrus abgelehnte private Einladungen zum Essen bei Heidenchristen
A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus. 13
194 IX. Mystik und Gesetz.
hätte er sich wohl nicht in dieser Weise aufgeregt. Jedenfalls wird das Problem der
Tischgemeinschaft mit den Heiden erst da wirklich aktuell, wo es sich, wie beim
Herrenmahle, um ein unvermeidliches gemeinsames Essen handelt.
In dem alttestamentlichen Gesetze findet sieh keine Bestimmung, die den Juden
untersagt, mit Heiden an demselben Tische zu essen. Nur die Enthaltung von
gewissen Speisen und vom Fleisch von Tieren, die nicht nach gesetzlieher Vor-
schrift geschlachtet sind, wird ihnen anbefohlen. Erst die Satzungen der Schrift-
gelehrten verbieten die Tischgemeinschaft mit Heiden. Ob ihre dahin gehenden Vor-
schriften in der Zeit vor der Zerstörung Jerusalems schon so ausgebIldet und so
allgemein anerkannt waren, daß jeder Jude, der mit Heiden aß, sich bewußt sein
mußte, gegen das Gesetz zu handeln, wissen wir freilich nicht sicher. In der Apostel-
geschichte (Act 10 28 und II 3) wird es behauptet. Auch Paulus scheint es voraus-
zusetzen, wenn er Petrus darauf festnagelt, daß er durch seine Teilnahme an dem
gemeinsamen Herrenmahl als Jude heidnisch gelebt habe (Gal 214).
Dem Beispiele Petri folgend, bleiben nun auch die andern Gläubigen
aus dem Judentum und selbst Barnabas dem gemeinsamen Herren-
mahle fern. Daraufhin stellt Paulus ihn zur Rede, daß er gegen seine
bessere Überzeugung, aus Angst vor der strengen Richtung in Jerusa-
lern, so handle. Habe er zuerst selber das Gesetz gebrochen, indem er
mit Heidenchristen aß, so habe er jetzt gar kein Recht, andere anzu-
halten, jüdisch zu tün (Gal 211-14).
Gerade die Frage der Tischgemeinschaft beim Herrenmahl wird
es gewesen sein, die die Autoritäten zu Jerusalem darauf dringen ließ,
daß die HeidenchIisten durch Übernahme der Beschneidung den
Judenchristen gleich würden. Der große Kampf im Urchristentum
hat also als Abendmahlsstreit begonnen.
Auch sonst ist die vom St.andpunkte der Mystik des Seins in Christo
so klare und folgerichtige Entscheidung Pauli in der Praxis schwer
zu handhaben. Daß sie den einen gebietet, was sie den andern verbietet,
setzt sie Mißdeutungen nach beiden Richtungen aus. So behaupten
die einen, Paulus verleite die Juden in der Diaspora zum Abfall vom
Gesetz (Act 2121); andere hinwiederum, wie wir aus dem Galater-
briefe wissen, streuen aus, er predige ja selber noch die Beschneidung,
die er den Heidenchristen vorenthalten wolle (Gal 511). Möglich ist,
daß diejenigen, die ihm in dieser Weise vorwerfen, er könne gelegent-
lich auch gegen seinen Grundsatz handeln, sich sogar auf Tatsachen
berufen können. Wenn die Apostelgeschichte recht berichtet, hat
er zu Beginn der zweiten Missionsreise in Lystra "um der Juden
willen, die in jenen Gegenden waren" den Timotheus beschnitten, ehe
er ihn als Begleiter mitnahm (Act 161-3). Möglicherweise hat er dieiJ
vorher, auf dem Apostelkonvente zu Jerusalem, auch mit Titus getan.
Der Kampf um das Gesetz. 195
Gal 23-5: "Aber nicht einmal Titus, mein Begleiter, obwohl ein Grieche,
wurde gezwungen sich beschneiden zu lassen. Wegen der eingedrungenen falschen
Brüder aber, welche eingedrungen waren, um auszukundschaften unsere Freiheit,
die wir in Christo Jesu haben, um uns zu knechten, welchen wir auch nicht eine
Stunde gewichen sind durch die Unterwerfung, damit die Wahrheit des Evangeliums
bei euch bleibe •.. " Hier bricht der Satz ab. Die natürlichste Erklärung ist, daß
Titus nicht beschnitten wurde. Möglich aber ist auch die 1tndere, daß der Akzent
auf dem "nicht gezwungen" liegt. Danach hätte die Beschneidung also stattge-
funden, aber nicht aus Zwang, sondern aus Entgegenkommen um des lieben Frie-
dens willen.
Bei Timotheus liegt der Fall insofern anders, als dieser "dar Sohn einer gläubigen
Jüdin, aber eines griechischen Vaters" ist (Act 161-3). Da nach der rabbinischen
Anschauung bei Kindern aus nicht ebenbürtiger Ehe die Voll{8- beziehungsweise
Standeszugehörigkeit der Mutter über ihren rechtlichen Charakter entscheidet,
ist er also Jude. Trotzdem hätte ihn Paulus, wenn er sich selber treu geblieben
wäre, nach der Taufe nicht mehr beschneiden können.
Steht Paulus zu jener Zeit noch nicht in derselben Weise wie später
fest, daß der in Christo Seiende nachher nicht noch Gesetz und Be-
schneidung auf sich nehmen dürfe? Oder ist er wirklich der, der in
Briefen große Worte macht, in der mündlichen Auseinandersetzung
sich aber nicht zu helfen weiß (Il Kor 1010) und demnach unter Um-
ständen, um den Menschen zu gefallen (GaI110), für Dinge zu haben
ist, die gegen seine Überzeugung gehen?
* *
*
Als Grundsatz steht also für Paulus fest, daß der Gläubige aus dem
Heidentum, der sich zu Gesetz und Beschneidung bereden läßt, ver-
loren sei. Wer solche Veränderungen des Seins im Fleische für geboten
ansieht, zeigt damit an, daß er sich wirklich noch als im Fleische
seiend betrachtet. Damit hebt er das Sein in Christo auf und liefert
sich den Engelmächten aus, die hinter dem Gesetze stehen. 1 Gesetz
und Beschneidung, wenn sie erst nach dem Gläubigwerden übernom-
men werden, sind etwas gam, anderes als wenn man vorher bereits
darin lebt: dieser merkwürdigen Wahrheit sucht Paulus Gehör zu
verschaffen, um dem Wahne ein Ende zu machen, in dem solche,
die er für Christus gewonnen hat, ins Verderben gehen. Der Galater-
brief ist nichts anderes als ein Angstschrei des Herzens, der in Worten
laut wird.
Gal 32-3: "Das Eine möchte ich von euch wissen. Habt ihr aus den Werken
des Gesetzes den Geist empfangen oder aus dem Hören der Glaubensbotschaft ?
Seid ihr so unverständig, daß ihr, nachdem ihr im Geiste begonnen habt, im
Fleische aufhört 1"
Gal 43-5: "Als wir Unmündige waren, waren wir unter die Elementengeister
der Welt geknechtet. Da aber die Erfüllung der Zeit kam, entsandte Gott seinen
Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, damit er die dem Ge-
setze Unterworfenen loskaufe, und wir zu Söhnen eingesetzt würden." - Gal4 8-11 :
"Damals, als ihr Gott noch nicht kanntet, habt ihr den Göttern gedient, die dies
von Natur nicht sind; jetzt aber, da ihr Gott erkannt habt, oder vielmehr von
Gott erkannt seid, wie könnt ihr euch da wieder zurückwenden zu den ohnmächtigen
und armseligen Elementengeistern, ihnen von neuem als Sklaven zu dienen? ...
Ich fürchte, daß meine Mühe um euch umsonst war."
Ga1416: "So bin ich denn euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit
sage 2" - GaI419-20: "Meine Kinder, um die ich wieder Geburtswehen leide, bis
daß Christus in euch Gestalt gewinne: ich möchte, ich wäre jetzt bei euch und könnte
meine Stimme wandeln, denn ich bin in Not um. euch!"
Ga151: "Für die Freiheit hat uns Christus befreit: so stehet nun fest und lasset
euch nicht abermals ins Joch der Knechtschaft einspannen!"
Letzten Endes geht die ganze Betörung von den Engelwesen aus.
Sie wollen damit für sich retten, was noch zu retten ist. Können sie
den Tod J esu nicht ungeschehen machen, so suchen sie es fertig zu
bringen, daß er so gut wie umsonst ist. 1 Gelingt es ihnen nämlich,
den Irrtum in Aufnahme zu bringen, daß das Gesetz und die Be-
schneidung neben dem Glauben an Christum erforderlich sind, dann
gibt es trotz Glauben an Tod und Auferstehung Christi kein Sein in
Christo. Damit haben sie erreicht, daß Menschen, die wähnen Christo
anzugehören, wieder unter ihre Gewalt zurückgekehrt sind, Heiden-
christen und Judenchristen miteinander. Denn nicht nur die Gläu-
bigen aus dem Heidentum, die das Sein unter dem Gesetz nachträg-
lich zum Sein in Christo hinzutun, "fallen aus der Gnade" (Gal 54):
dasselbe Schicksal trifft die aus dem JudentuIU, wenn ihnen Gesetz
und Beschneidung etwas anderes sind, als ein bedeutungslos gewordener
Zustand, den sie weiter an sich tragen, weil sie sich im Augenblicke
ihres Gläubigwerdens darin befanden. Wer als Getaufter etwas von
dem, was mit dem Sein im Fleische zusammenhängt, als für die
Erlösung bedeutungsvoll bejaht, gibt damit das Sein in Christo auf.
Der furchtbare Satz, daß man nicht in Christo und im Fleische zu-
gleich sein könne, erfüllt sich an ihm erbarmungsloser als an solchen,
die durch Sünde, infolge von Schwachheit, in das Sein im Fleische
1) Über die Beteiligung der Engel an dem Kampfe um das Gesetz siehe auch
S. 158.
Der Kampf um das Gesetz. 197
An Paulus aber, der als Einziger durchschaut, was es mit der An-
empfehlung von Gesetz- und Beschneidung für eine Bewandtnis hat,
rächen sich die Engelmächte, Während die Apostel in Jerusalem in
Ruhe und in Ansehn sind, wird er in jeder Weise erniedrigt und ge-
quält. Wenn er das Sterben Christi so sichtbar wie kein anderer an
sich herumträgt, so ist es, weil die Engel ihn zunichte machen wollen,
wie damals Jesum. Sie meinen, gewonnenes Spiel zu haben, wenn sie
mit ihm fertig werden.
Darum braucht er das Gerede, daß auch er die Beschneidung noch
predige, gar nicht zu widerlegen. Die Verfolgungen, die er aussteht,
beweisen das Gegenteil.
Gal 511: "Ich aber, Brüder, wenn ich wirklich noch die Beschneidung ver-
kündige, warum werde ich da noch verfolgt? Beseitigt ist ja dann das .Ärgernis des
Kreuzes,"
Vielfach wird angenommen, daß Paulus mit der Zeit zu einer milderen
Anschauung über die Gesetzesfrage gekommen sei. In den Briefen an
die Korinther und Römer soll zu erkennen sein, daß der Kampf nach-
gelassen habe. Dies ist falsch. Wenn die Frage der Beschneidung
und des Gesetzes in den Korintherbriefen nicht behandelt wird, so
bedeutet das nicht, daß sie nicht mehr existiert. Der Kampf hat nur
andere Form angenommen. Aus der Offensive ist Paulus in die Defen-
sive gedrängt worden. Statt ihm über Gesetz und Beschneidung Rede
und Antwort zu stehen, bestreiten ihm die Urapostel und ihre Send-
linge überhaupt das Recht, sich Apostel zu nennen. Durch diese Tak-
tik wird er in die Lage versetzt, den Kampf um Beschneidung und
Gesetz als Kampf um seine Autorität in seinen Gemeinden führen zu
müssen.
Daß im Römerbrief nichts von dem Kampfe um das Gesetz zu lesen
ist, hat seinen guten Grund. Paulus schreibt ihn, um die Gemeinde
auf sein Kommen vorzubereiten und sie sich günstig zu stimmen.
Zum voraus verantwortet er sich vor ihr. Also legt er seine Stellung
zum Gesetz so friedfertig dar, als er nur immer kann.
Den Philippern gegenüber braucht er sich nicht so vorsichtig zu
geben. Aus den temperamentvollen Worten, die er aus der Gefangen-
schaft an sie gelangen läßt, geht hervor, daß der Kampf noch weiter
tobt und der Apostel das Interesse an ihm nicht verloren hat.
Phil 32-3: "Schaut doch die Hunde! Schaut doch die bösen Arbeiter! Schaut
doch die Zerschneidung! Die Beschneidung, das sind wir, die wir im Geiste Gottes
anbeten und uns Christi rühmen und nicht auf das Fleisch vertrauen."
Eiferer um die Beschneidung meint Paulus auch mit dem Worte Phil 318-19:
"Denn es wandeln gar manche - ich habe euch oft von ihnen gesagt, und sage es
jetzt mit Tränen, daß sie Feinde des Kreuzes Christi sind. Ihr Ende ist Verderben;
ihr Gott ist der Bauch; ihr Ruhm ist in ihrer Scham; ihr Sinn geht auf das Irdische."
Will man nicht annehmen, daß diese Ausfälle durch den während der Gefangen-
schaft weitergehenden Kampf motiviert sind, so muß man diesen Abschnitt des
Briefes an die Philipper einem früher an sie gerichteten Schreiben zuweisen, das
dann später mit dem Gefangenschaftsbriefe zu einem einzigen VorIesungsschreiben
zusammengearbeitet worden wäre. Undenkbar ist dies nicht 1. Aber damit ist
nicht bewiesen, daß Paulus in der Gefangenschaft über die Frage von Gesetz und
Beschneidung anders gedacht hat als vorher.
Daß Pauli Gegner den Kampf auch in der Zeit seiner Gefangen-
schaft weiter führen, ergibt sich aus den Worten des Philipperbriefes,
1) über die Möglichkeit, daß der Philipperbrief aus zwei Schreiben zusammen·
gearbeitet ist, siehe S. 50.
Der Kampf um das Gesetz. 199
um das Gesetz zu einem Kampfe der Autorität dessen, der bei Damas-
kus vom verklärten Christus zum Apostel berufen wurde, gegen
diejenigen, die Jesus von Nazareth in Galiläa zu seinen Jüngern
eingesetzt hat und denen er Worte in die Hand gab, mit denen sie
jeder Antastung des Gesetzes begegnen können. 1
Damit ist der Ausgang des Kampfes entschieden. Die Meinung
des gesunden Menschenverstandes, die Schrift, die Autorität Jesu,
die Autorität der Zwölfe : dies alles miteinander hat Paulus gegen
sich. Daß er sich durch seine Stellungnahme gegen das Gesetz noch
den Haß der ganzen Judenschaft auflädt, macht seine Lage vollends
verzweifelt.
Alsbald nach Pauli Tod wendet sich die von ihm verlorene Schlacht
zum Sieg. Tatsachen verwirklichen jetzt die Freiheit vom Gesetz,
für die er mit Gedanken eintrat. Die Zerstörung Jerusalems macht
der Urgemeinde, die die Autorität über die Kirche ausübte, ein Ende.
Die Absonderungstendenzen, die nach dieser Katastrophe im Juden-
tum zur Macht kommen, bringen den Scheidungsprozeß zwischen
Judentum und Christentum in Gang. In derselben Richtung wirkt
das zahlenmäßige Überhandnehmen der Bekehrten aus dem Heiden-
tum über die aus dem Judentum.
So hört das Problem des Gesetzes auf zu existieren. Gegenstand
der Auseinandersetzung zwischen Judenchristentum und Heidenchri-
stentum wird jetzt die Lehre von Christo.
Wenn die Freiheit vom Gesetz sich im Gefolge der eintretenden
Tatsachen aber so rasch und kampflos durchsetzt, so ist es, weil die
Theorie in den paulinischen Briefen und der Überlieferung fertig vor-
liegt. Den ursprünglichen Sinn der paulinischen Freiheit vom Gesetz
versteht diese neue Generation ebensowenig wie den der eschatolo-
gischen Mystik, aus der sie stammt. Aber sie zieht durch die Bresche
ein, die der Heidenapostel gelegt hat.
In Paulus lehnt sich der erste christliche Denker gegen die Au-
torität der Kirche auf und teilt das Los derjenigen, die nach ihm
dasselbe unternehmen. Zugleich aber ereignet sich schon hier, daß
die gegen die Kirchenlehre vertretene Wahrheit des Denkens nachher
in der Kirchenlehre selber selbstverständlich wird.
* *
*
1) Siehe auch S. 81; 115-116; 187-188.
201
und der Seinsweise der Auferstehung, aus dem Sein in Christo zu be-
gründen. Tatsächlich gibt es Stellen, in denen er sie in dieser ihrer
ursprünglichen Bedingtheit auftreten läßt.
Gal 2 17: "Wenn wir bei dem Streben, in Christo gerecht zu werden ..•"
Röm 81-2: .. So gibt es denn jetzt keine Verdammnis mehr für die, die in Christo
Jesu sind. Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo hat dich frei ge-
macht von dem Gesetz der Sünde und des Todes."
11 Kor 5 21 : ..Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht"
damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden."
Sollte die Bedeutung des Glaubens mit ausgesprochen werden,
so mußte die Formulierung lauten: Auf Grund des Glaubens an Chri-
stum haben wir die Gerechtigkeit durch das Sein in Christo. In dieser
Vollständigkeit findet sich die Lehre einmal im Philipperbriefe.
Phil 3 8-9: ..Dies alles achte ich für Kot, um Christum zu gewinnen und in
ihm erfunden zu werden als der, der ich nicht meine eigene Gerechtigkeit habe,
die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christum, die Gerechtig-
keit aus Gott."
Für gewöhnlich aber legt es Paulus darauf an, sich so auszudrücken,
als würde die wahre Gerechtigkeit durch den Glauben als solchen
erworben.
Röm 328: .. So urteilen wir, daß ein Mensch gerechtfertigt werde durch den
Glauben. ohne Gesetzeswerke. "
Röm 45: .. Derjenige der keine Werke treibt, wohl aber seinen Glauben setzt
auf den, der den Unfrommen rechtfertigt, dem wird sein Glaube als Gerechtigkeit
angerechnet. "
Daß die Gerechtigkeit unmittelbar aus dem Glauben kommt,
kann Paulus nur in uneigentlichem Sinne meinen, da es sachlich
unmöglich ist. Alles, was der Gläubige an Gütern der Erlösung besitzt,
fließt ja aus dem Sein in Christo, und nur aus diesem. Der Glaube
als solcher hat keine effektive Bedeutung, sondern wird erst wirksam
durch das mit der Taufe anhebende Sein in Christo, zu dem er führt.
Wie kommt nun Paulus dazu, sich anders auszudrücken, als er
es eigentlich meint, und dem Glauben als solchem zuzuschreiben,
was erst in dem nachfolgenden Sein in Christo entsteht? Gründe
sprachlicher und dialektischer Zweckmäßigkeit bestimmen ihn.
Der vollständige Ausdruck" Gerechtigkeit auf Grund des Glaubens
durch das Sein in Christo" ist zu umständlich, um dauernd in der
Diskussion mitgeführt werden zu können. Die kurze, sachliche "Ge-
rechtigkeit in Christo" ist dialektisch nicht verwendbar. Der Ge-
rechtigkeit aus dem Tun des Gesetzes muß nämli.ch eine ebenfalls aus
Gerechtigkeit aus Glauben statt Gerechtigkeit in Christo. 203
für seine Lehre anführen kann, fordern. Man stelle sich die Lage
vor, in der er sich mit seiner Lehre von der Freiheit vom Gesetz be-
findet! Wohl ergibt sie sich in zwingender Weise aus der eschatologi-
schen Lehre von der Erlösung und aus der Mystik des Sterbens und
Auferstehens mit Christo. Was nützt aber alle logische Richtigkeit, wenn
die Gegner den Schriftbeweis für sich haben? Und die Schrift steht
ihnen in allen Aussagen zur Verfügung, außer in zweien. Diese findet
Paulus in genialer Weise heraus. Die eine berichtet, daß Abraham
Gott geglaubt habe und ihm dies zur Gerechtigkeit angerechnet
wurde (Gen 15 G; Gal 36; Röm 43).1 Mit ihr verbindet Paulus eine
aus Habakuk, die er sich so zurechtlegt, daß sie besagt: "Der aus
Glauben Gerechte wird leben" (Hab 24; Gal 3 11, Röm 117).
Im hebräischen Text steht "Der Gerechte wird durch seine Treue (il'1.m~.~~)
leben." Daraus macht die Septuaginta "durch meine (Gottes) Treue (6" nltJTEWr;;
p.ov)". Aus Urtext und griechischer Übersetzung kombiniert sich Paulus 0 /3["atot;
6" nltJTEWr; C'ljaETat, wobei er 7ltaTtr; nicht als Treue, sondern als Glaube faßt und
"aus Glauben" vom Zeitwort ablöst und mit dem Hauptwort "der Gerechte"
zu einem Begriffe werden läßt. So entsteht das von ihm benötigte Wort "Der aus
Glauben Gerechte wird leben".
Diese beiden Stellen - Gen 156 und Hab 24 - geben für Paulus
die eigentliche Meinung der Schrift wieder. Mit ihnen setzt er alle
andern außer Kraft. Um sie aber benutzen zu können, muß er die
Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Sein in Christo als Lehre von
der Gerechtigkeit aus dem Glauben vortragen.
* *
*
Zweimal entwickelt Paulus die Lehre der Gerechtigkeit aus dem
Glauben: einmal, in Kürze, im Galaterbrief (Gal 31-46), das andere
Mal, weiter ausgeführt, im Römerbrief (Röm 211-425). Beide Dar-
stellungen weichen in charakteristischer Weise voneinander ab. Die
ältere Fassung liegt im Galaterbrief vor. Das Ursprüngliche bekundet
sich hier darin, daß die Lehre der Gerechtigkeit aus dem Glauben noch
nicht von der eschatologischen Erlösungslehre und der Mystik des
Seins in Christo losgelöst ist, sondern auf beide zurückgreift. Im Römer-
brief versucht sie, so weit sie es kann, selbständig aufzutreten.
In der Darstellung des Galaterbriefes wird die Frage, warum das
Gesetz keine Gerechtigkeit wirken kann und wieso Christus des Ge-
l) Gen 156: "Und er glaubte Jahwe, und das rechnete er ihm als Gerechtig-
keit zu."
Die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben im Galaterbrief. 205
setzes Ende und der Anfang der Glaubensgerecbtigkeit ist, aus der
eschatologischen Lehre von der Erlösung entschieden. Das Gesetz
kann keine Gerechtigkeit wirken, weil dies gar nicht seine Bestim-
mung ist. Es ist gegeben, damit die Menschen unter seiner Knecht-
schaft die Bedeutung der durch Christus gebrachten Freiheit einsehen
lernen. Von Engeln stammend, erhält es die Menschen unter deren
Herrschaft. Daß es keine Anwartschaft auf das Leben zu geben ver-
mag, ergibt sich daraus, daß die Schrift (Hab 24) nur sagt, daß der
aus Glauben Gerechte leben wird.
Das Gesetz, weil es unerfüllbar ist, bringt also nur Sünde zur Er-
scheinung und wirkt damit Fluch.
Ga1310: "Denn so viele aus Gesetzes Werken sind, die stehen unter dem Fluch."
- Gal 319: "Was soll also das Gesetz? Um der Uebertretungen willen ist es
hinzugesetzt worden - bis daß der Same käme, dem die Verheißung gegeben ist,
verordnet durch Engel." - Gal 3 22-24: "Die Schrift hat alles unter die Sünde
beschlossen, damit die Verheißungen aus dem Glauben an Jesus Christus den
Glaubenden zuteil würden. Bevor aber der Glaube kam, wurden wir insgesamt
unter dem Gesetze gefangen gehalten, in Gewahrsam auf den Glauben hin, der
da offenbart werden sollte. So ist das Gesetz unser Zuchtmeister. auf Christus hin
geworden, damit wir aus Glauben gerecht würden."
Die Verheißungen Gottes an Abraham beziehen sich nach Paulus
- und darauf beruht seine Beweisführung! - nicht, wie sie gemeint
sind, auf eine geschichtliche Zeit, sondern auf die messianische. Damit
übt er eine dem damaligen Scbriftgelehrtentum selbstverständliche
Auslegung. Daß sich die Worte von Israels Größe und vom gelobten
Land nicht erfüllt haben, beweist, daß sie alle auf die messianische
Zeit gehen. So beruhen die Apokalypsen Esra und Baruch auf dem
Gedanken, daß die Unglücksweissagungen für Jerusalem auf das ir-
dische, die Herrlichkeitsweissagungen aber auf das bimmlische, das
am Ende der Tage erscheinen soll, gesprochen sind 1. Diese Ansicht
erlaubt ihnen, die Zerstörung Jerusalems durch Titus als den Auf-
takt der Endzeit aufzufassen. Das irdische Jerusalem muß vergehen,
um dem himmlischen Platz zu machen.
Auf diese Weise wird der Ausdruck "das Land ererben" in Jesu Seligpreisung
der Sanftmütigen (Mt 54) gleichbedeutend mit "das Reich Gottes besitzen".
In diesem Sinne gebrauchen ihn schon der 37. Psalm und die Apokalypse Henoch.
Ps 379: "Denn die Bösen werden ausgerottet, aber die auf Jahwe harren, die er-
erben das I... and." - Ps 37 11 : "Aber die Dulder werden das Land ererben und sich
Der Berg Sinai ist das Sinnbild der Knechtschaft, weil Paulus eine, für uns
nicht mehr verständliche sprachliche oder geographische Beziehung zwischen
Sinai und Agar statuiert (Gal 4 24). Das Volk Israel, das dem auf dem Sinai ge-
gebenen Gesetze dient, ist also in der Sehrift durch die Nachkommenschaft der
Dienerin Agar vorgebildet.
Daß Paulus die Bürger des himmlischen Jerusalem zu Söhnen desselben macht,
geht darauf zurück, daß er das tatsächlich auf Zion gehende Wort aus Jesaja
(Jes 541) von der unfruchtbaren Frau, die nachher über reiche Nachkommen-
schaft frohlocken darf, auf das himmlische Jerusalem bezieht. In IV Esra 107
ist das irdische Zion die Mutter der natürlichen Kinder Israel.
Auch in Hebr 1222, Apoc 3 12, 212, 21 9-225 spielt das himmlische Jerusalem
eine Rolle.
Damit die Zeit der Verheißung anbrechen könne, muß das Ende
des zwischen Weissagung und Erfüllung eingeschobenen Gesetzes
kommen. Dies führt Jesus Christus in der Art herbei, daß er am
Kreuze stirbt. Damit setzt er das Gesetz in einer seiner Bestimmungen
außer Kraft. Als einer, der am Holze hängt, sollte er eigentlich ver-
flucht sein (Deut 2123). Dies aber kann, des göttlichen Wesens seiner
Persönlichkeit wegen, nicht der Fall sein. Hat er nun das Gesetz in
einer seiner Bestimmungen außer Kraft gesetzt, so hat er es überhaupt
unwirksam gemacht. Es kann ja nur so sein, daß es überhaupt gilt,
oder überhaupt nicht gilt. 1
Im Galaterbrief handelt es sich also, was wohl zu beachten ist,
nicht um eine durch Christus Gott geleistete Sühne, sondern einfach
um einen von ihm mit überlegener Berechnung gegen Gesetz und
Engel unternommenen Vorstoß, durch den er die, die unter dem
Gesetze schmachten, frei macht (Gal 45) und das "Kommen des Glau-
bens" (Gal 325) heraufführt.
So wird die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben im
Galaterbrief mit dem Material der eschatologischen Lehre von der
Erlösung und der Mystik des Seins in Christo in straffer Logik als
kosmisch-geschichtliche Spekulation durchgeführt.
* *
*
Da die Darstellung der Lehre von der Glaubensgerechtigkeit im
Römerbriefe (Röm 211-425) grundsätzlich nicht auf die eschatolo-
gische Erlösungslehre, wie auch nicht auf die Mystik des Seins in
Christo, Bezug nimmt, muß sie für die Erklärung des Versagens des
Gesetzes von allen Spekulationen über Gesetz und Engelherrschaft
absehen und die Katastrophe in dem Wesen des Gesetzes und dem
des Menschen gegeben sein lassen.
Daß das Gesetz (dies der Gedankengang von Röm 3 9---20,415,513,520
und 77---25) keine Gerechtigkeit wirken kann, ist aus seinem Zusammen-
treffen mit dem Fleische zu erklären. Durch das Fleisch werden alle
Möglichkeiten zum Guten, die im Gesetze gegeben sind, unwirksam
gemacht und in ihr Gegenteil verkehrt. In dem Fleische ist die Sünde.
Das Gesetz verbietet sie. Aber es hat keine Macht, sie zu ertöten.
Sein Erfolg kann also nur der sein, daß es Sünde offenbar und wirk-
sam macht. Die Sünde aber zieht den Tod, das heißt den Verlust
des Anrechts auf das Leben im messianischen Reiche, nach sich.
Das Ergebnis des Zusammentreffens von Gesetz und Fleisch ist also
Verdammnis, Tod und Verzweiflung.
Röm 320: "Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch gerecht vor ihm (Gott);
denn durch das Gesetz kommt nur Erkenntnis der Sünde."
Röm 4 15: "Das Gesetz schafft Zorn. Denn wo das Gesetz nicht ist, da gibt es
auch keine Übertretung." (Ähnlich Röm 513 und 520).
Röm 7 14: "Wir wissen, daß das Gesetz geistig ist; ich aber bin Fleisch, ver-
kauft unter die Sünde." - Röm 717-24: "Was ich tue, das vollbringe nicht ich,
sondern die in mir wohnende Sünde. Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem
Fleische, nichts Gutes wohnt. Das Wollen des Guten liegt bei mir, aber nicht das
Vollbringen. Denn nicht das Gute, das ich will, sondern das Schlechte, das ich
nicht will, dieses tue ich. Wenn ich aber das, was ich nicht will, tue, so vollbringe
ich es nicht mehr ich selbst sondern die in mir wohnende Sünde. Ich finde also
das Gesetz für mich, der ich das Gute tun will, daß mir nur das Böse zusteht.
Meinem inwendigen Menschen nach stimme ich dem Gesetze Gottes mit Freuden
zu. Aber in meinen Gliedern sehe ich ein anderes Gesetz, das mit dem Gesetze
meiner Vernunft im Kriege liegt und mich gefangen nimmt unter das Gesetz der
Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich unglückseliger Mensch! Wer wird mich
erretten aus dem Leibe dieses Todes?"
Gedanke ist ja, daß die Engelwesen, um das jüdische Volk in ihrer
Gewalt zu haben, ihm etwas Unerfüllbares auferlegen. Unerfüllbar für
Menschen ist das Gute, Heilige, Pneumatische und Göttliche. Also
geben sie ihm dies als Gesetz, und erreichen damit ihren Zweck am
vollständigsten.
Daß Paulus im Römerbrief nur von den Eigenschaften, nicht von
der Herkunft des Gesetzes redet, will also nicht heißen, daß er über
letztere jetzt anders denkt als vier oder fünf Jahre vorher. In apolo-
getischer Absicht schreibend, meidet er alles, was zu Angriffen auf
ihn benützt werden könnte, und geht in der Anerkennung dessen,
was den Gegnern ",ert ist, so weit als nur immer möglich. Nun läuft
das, was der religiöse Mensch mit dem Gesetze erlebt, auf dasselbe
hinaus, was sich aus dem wahren Wissen um seine Herkunft ergibt.
Also stellt Paulus die Unmöglichkeit der Gerechtigkeit aus dem Ge-
setz als eine von ihm gemachte, allgemeingültige und von jedem zu
wiederholende Erfahrung dar.
Indem er dies tut, läßt er uns tief in sein Herz schauen. In er-
schütternder Weise entrollt sich vor uns, was er mit dem Gesetze
erlebt hat. Wohl war er ein Eiferer um das Gesetz. Aber die unbe-
fangene Gesetzeszuversicht blieb ihm versagt. Ihm war beschieden,
durch das Gesetz die Sünde zu erleben.
Daß er mit solchem Erleben unter den Schriftgelehrten seiner Zeit
nicht allein stand, erfahren wir aus den Apokalypsen Esra und Baruch.
Auch in diesen Schriften ringt ein tiefes Bewußtsein der mensch-
lichen Sündhaftigkeit mit dem Probleme des Gesetzes.
IV Esra 7 68-69: "Denn alle, die geboren sind, sind von Gottlosigkeit entstellt,
voll von Sünden, mit Schuld beladen. Und viel besser wäre es für uns, wenn wir
nach dem Tode nicht ins Gericht müßten."
IV Esra 7118-120: "Ach Adam, was hast du getan! Als du sündigtest, kam
dein Fall nicht nur auf dich, sondern auch auf uns, deine Nachkommen! Was hiUt
es uns, daß uns die Ewigkeit versprochen ist, wenn wir die Werke des Todes
getan haben!"
IV Esra 9 36-37: "Wir, die das Gesetz empfangen, müssen wegen unserer
Sünden verloren gehen samt unserem Herzen, in das es getan ist. Das Gesetz
aber geht nicht verloren, sondern bleibt in seiner Herrlichkeit."
Apoc Bar 155: "Der Mensch würde mein Gericht nicht richtig erkennen, wenn
er nicht das Gesetz empfangen hätte, und wenn ich ihn nicht einsichtigerweise
unterrichtet hätte! Jetzt aber, weil er wissentlich übertreten hat, darum soll er auch
wissentlich Pein leiden."
Apoc Bar 4842: "O! Was hast du, Adam, allen denen angetan, die von dir
abstammen !"
A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus. 14
210 X. Mystik und Gerechtigkeit aus dem Glauben.
Apoc Bar 5415: "Wenn Adam zuerst gesündigt und über alle den vorzeitigen
Tod gebracht hat, so hat doch auch von denen, die von ihm abstammen, jeder
einzelne sich selbst die zukünftige Pein zugezogen."
Auf das Problem, wie die nicht unter dem Gesetz stehenden Men-
schen sich ihrer Sündhaftigkeit bewußt werden, brauchen die Apo-
kalypsen Baruch und Esra nicht einzugehen. Ihnen genügt, daß die
Heiden Sünder sind. Bei Paulus aber mü.ssen sie durch etwas, das dem
Gesetz entspricht, den Antagunismus von Gesetz und Fleisch erleben,
um zum Verlangen nach der wahren Gerechtigkeit geführt zu "\\-erden.
So kommt er dazu, zu Beginu des Römerbriefes (Röm 211-16) die
Lehre aufzustellen, daß die Heiden das Gewissen als Gesetz in sich er-
leben und kein Gesetz habend sich selber Gesetz siud.
* *
*
Da das Gesetz keine Gerechtigkeit schafft, kann nur die Gnade
Gottes helfen, indem sie die Möglichkeit einer anderen Gerechtigkeit
darbietet. Das Erstaunliche am Galaterbrief ist, daß er die Lehre
von der neuen Gerechtigkeit entwickelt, ohne von Sündenverge-
bung und Sühnetod Christi zu reden. Das will keineswegs heißen,
daß diese in Pauli Glauben damals noch keine Rolle spielten. Aber
für die kosmisch-historische Spekulation, in der das Problem von
der Unmöglichkeit der Gesetzesgerechtigkeit und der dadurch not-
wendig werdenden Erlösung im Galaterbrief gestellt und gelöst wird,
besteht die Gnade Gottes darin, daß er Christum der Herrschaft des
Gesetzes durch seinen Tod ein Ende machen läßt. In dem damit
geschaffenen Zustand der Freiheit ist alles, was zur Erlösung gehört,
implicite gegeben und wird von dem Gläubigen durch das Sein in
Christo angeeignet.
Im Römerbrief ist die Unmöglichkeit der Gedetzesgerechtigkeit als
persönliches Erlebnis der unentrinnbaren Sündhaftigkeit entwickelt.
Also muß die Lösung in dem Erleben der Gewißheit der aus Gottes
Gnade durch Christum kommenden Sündenvergebung bestehen.
Wenn Paulus die Gerechtigkeit, die zum Reiche befähigt, durch
die Gnade Gottes verliehen sein läßt, so bringt er damit eigentlich
keinen neuen Gedanken auf. Von den Propheten her ist die Vor-
st.ellung in der Eschatologie heimisch, daß bei der Verleihung der
Herrlichkeit des Reiches die Barmherzigkeit Gottes mitbeteiligt ist.
Ganz hat sich der Gedanke, daß die Menschen auf Grund der durch
Die Glaubensgerechtigkeit im Römerbriefe. Die Gnade Gottes. 211
Denn gerade weil wir nicht Werke der Gerechtigkeit haben, wirst du, wenn du ein-
willigst, uns zu begnadigen, der Gnädige heißen."
IV Esra 81-3: "Diese Welt hat der Höchste um vieler willen geschaffen, aber
die zukünftige nur für wenige ... Viele sind geschaffen, wenige aber gerettet."
IV Esra 915: "Mehr sind der Verlorenen als der Erlösten, wie die Flut mehr
ist als ein Tropfen."
IV Esra 922: "So gehe nun dahin die Menge, die für nichts geboren ist."
Einige Ausnahmemenschen werden nach den Apokalypsen Baruch und Esra
vor Gott, ohne seine Gnade in Anspruch nehmen zu müssen, als Gerechte bestehen,
weil ihnen von Gott von Anbeginn der Welt ein Schatz von guten Werken bereitet
ist. Apoc Bar 1412-14: "Denn die Gerechten erwarten gern das Ende und furcht-
los gehen sie aus diesem Leben. Weil sie bei dir einen Schatz von Werken haben,
der in den Vorratskammern aufbewahrt wird, verlassen sie auch furchtlos diese
Welt, und voll freudiger Zuversicht harren sie darauf, daß sie die Welt empfangen,
die du ihnen verheißen hast." - IV Esra 8 33: "Denn die Gerechten, denen viele
Werke bei dir bewahrt sind, werden aus eigenen Werken den Lohn empfangen."
- Diese guten Werke sind von Gott zugleich mit dem Paradies und dem himmli-
schen Jerusalem geschaffen (IV Esra 852).
Ein kleiner Rest des Ideals der Gerechtigkeit aus den Werken wird also durch
Annahme einer besonders dazu befähigenden Berufung Gottes zum Scheine
gerettet.
Indem er Gottes Sündenvergebung als das Wesentliche in dem
Zustandekommen der Erlösung ansieht, bewegt sich Paulus also
in Gedanken, die zum mindesten gewissen Kreisen des Schriftgelehrten-
tums seiner Zeit geläufig sind. Zugleich aber ist er in der Lage, ihnen
durch die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod eine neue Bestimmt-
heit zu geben.
* *
*
Aus einigen geheimnisvollen Andeutungen, die Jesus über die Be-
deutung seines Todes machte, wissen die Jünger, daß er ihn als ein
Sühnopfer zur Vergebung der Sünden der zum Reich Erwählten
ansah. Der Gedanke der durch den Tod Jesu erworbenen Sünden-
vergebung ist dem Urchristentum also etwas Selbstverständliches,
nur daß es i1n nicht mehr in der besonderen Bestimmtheit erfaßt,
in der Jesus selber ihn dachte. 1
Paulus steht also auf dem Boden des Urchristentums und irgendwie
auch auf dem der Anschauung Jesu, wenn er in der Durchführung
der Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben im Römerbrief
1) Über Jesu Auffassung von seinem Tode und die Veränderung, die sie bei
ihrer Aufnahme in den urchristlichen Glauben erfuhr, siehe S. 59-64.
Die Glaubensgerechtigkeit im Römerbriefe. Der Sühnetod Jesu. 213
(Röm 321-28) den Tod Jesu im Sinne des Sündopfers (Lev 422-526;
618) und des Sündopfers am großen Versöhnungstage (Lev 161-27)
wertet und ihn als ein Sterben ansieht, das Sünde tilgt und Gott
das Verzeihen ermöglicht. Die Versuche, dieser Stelle den Gedanken
einer durch Christum Gott dargebrachten Genugtuung abzuspre-
chen, wie sie von Albrecht Rit8Chl und anderen unternommen wurden,
sind undurchführbar. 1
Röm 3 21-26: "Nun ist aber außerhalb des Gesetzes Gerechtigkeit Gottes offen-
bar geworden, bezeugt vom Gesetz und den Propheten, nämlich von Gott stam-
mende Gerechtigkeit durch den Glauben an Jesum Christum, für alle, die da glau-
ben. Denn es ist da kein Unterschied: alle haben sie gesündigt und ermangeln
der göttlichen Herrlichkeit und werden nun umsonst gerecht gemacht durch seine
Gnade auf Grund der in Christo geschehenen Erlösung, den Gott als Sühnemittel 2
mittelst des Glaubens hingestellt hat, in seinem Blut, zum Erweise seiner Ge-
rechtigkeit - wegen Übersehens der vorher geschehenen Sünden, in der Langmut
Gottes, zum Erweise seiner Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit - : auf daß er
gerecht sei und zugleich sei der, welcher rechtfertigt den, der aus dem Glauben
an Jesum ist."
Röm 51-2: "Gerecht gesprochen aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott
durch unsern Herrn Jesum Christum, durch welchen wir auch, durch Glauben,
den Zugang haben zur Gnade, in welcher wir stehen, und uns rühmen auf Grund der
Hoffnung der Herrlichkeit Gottes."
I Kor 5 7: "Denn unser Passa ist geopfert, Christus."
So verdeutlicht Paulus den Tod Christi an einer dem religiösen
Denken des Judentums vertrauten Vorstellung, in der auch das
Urchristentum, auf Grund des Wortes Jesu beim Abendmahl, ihn zu
sehen gewohnt ist. Am wichtigsten aber ist für ihn, und darum greift
er auf die Opferidee zurück, daß ihm auf diese Weise möglich wird, die
Vorstellung der Gerechtigkeit, als aus der Leistung des Glaubens kom-
mend, greifbare Gestalt annehmen zu lassen. In der Idee des Opfers
ist die der Opfergemeinde gegeben. Wer das Sühnopfer Christi im
Glauben als für ihn mitgeschehen auf sich bezieht, für den ist es mit-
1) Albrecht Ritschl, "Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöh-
nung." (3. Auf!. 1888-1889.)
2) "lÄao7:rJetov ist ein substantiviertes Adjektiv und bezeichnet eine irgendwie
mit Sühne zusammenhängende Sache" (Hans Lietzmann, Kommentar zum Römer-
brief; 3. AufI.; 1928. S. 49.). In der Septuaginta wird der Deckel der Bundeslade
als lÄao7:rJetOV inifh/la (Ex 25 17) oder, in den meisten Stellen, kurzweg als lÄao7:r]ewv
bezeichnet.
Das Sühnedenkmal, das Herodes errichtet, nachdem er in das Grab Davids, in
der Hoffnung Silber und Gold darin zu finden, eingedrungen ist, heißt bei J osephus
lÄaodetov /w1j/la (Antiquit XVI 7 1).
214 x. Mystik und Gerechtigkeit aus dem Glauben.
* *
*
Ist es Paulus im Römerbriefe wirklich gelungen, der Lehre von der
Gerechtigkeit aus dem Glauben eigene Beweiskraft zu verleihen und
sie damit selbständig zu machen? Bestehen bei ihm zwei Vorstellungen
der Erlösung, eine naturhafte und eine gedankliche, nebeneinander?
Lange Zeit nahm die Forschung an, daß das, was in dem Galater-
brief und dem Römerbrief so im Vordergrund steht, das Hauptstück
der Lehre Pauli sein müsse. Dieses Urteil lag deshalb so nahe, weil
wir selber uns die Erlösung nicht naturhaft denken, sondern sie in der
gedanklichen Aneignung dessen, was Christus für uns ist, bestehen
lassen. Was uns die naturhaHe Erlösungslehre der Mystik Pauli noch
Die Glaubensgerechtigkeit als Fragment einer Erlösungslehre. 215
besonders fremd macht, ist, daß sie ein kollektives, kosmisch bedingtes
Erlebnis ist. Die Lehre der Gerechtigkeit aus dem Glauben hingegen
ist individualistisch und unkosmisch. Die Erlösung ist ihr etwas,
was sich zwischen Gott, Christus und dem Gläubigen abspielt. So
hatte die Forschung nur Verständnis für die der unseren einiger-
maßen gleichartige gedankliche Erlösungslehre Pauli und sah die
naturhafte, als sie endlich auf sie aufmerksam wurde, als einen merk-
würdigen Nebentrieb derselben an. 1 Dementsprechend versuchte
man bis auf den heutigen Tag, das Sein in Christo als ein in einen
anderen Zustand übergeführtes Glauben an Christum zu erklären,
ohne sich durch den jederzeit kläglichen Ausgang dieses alchimisti-
schen Experiments beirren zu lassen.
Indem man die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben zum
Ausgangspunkt nahm, machte man sich das Verständnis der pau-
linischen Gedankenwelt unmöglich. Unbewußt modernisierte man
ihn. Dabei übersah man, daß seiner Lehre der Gerechtigkeit aus dem
Glauben, mag sie unserem Empfinden darin entgegenkommen, daß
sie den Erfolg des Todes Jesu gedanklich angeeignet werden läßt,
dennoch eine nicht zu behebende Fremdheit anhaftet. Die fortlaufend
sich erneuernde Vergebung der Sünden, die die reformatorische und
die moderne Frömmigkeit in ihr finden wollen, ist ihr unbekannt
und unerschwinglich. Christi Sühnetod bezieht sich bei ihr nur auf
die im alten Seinszustand, das heißt vor der Taufe, geschehenen
Verfehlungen (Röm 325). Pauli Lehre von der Gerechtigkeit aus dem
Glauben ist nichts anderes. als eine besondere Formulierung der
urchristlichen Vorstellung der durch den Tod Jesu geschaffenen
Möglichkeit der Buße.
Die naturhafte Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo
auf die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben zurückzu-
führen, ist also in jeder Hinsicht unmöglich. Demgemäß kann es sich
nur darum handeln, ob die zweite wirklich in eigener Logik selb-
ständig neben der ersteren steht, oder ob sie nicht in einer besonders
gearteten Darstellung ein Resultat, das an sich in jener ersten gegeben
ist, vorträgt.
Eine Reihe von Tatsachen sprechen dafür, daß die Lehre von der
gedanklich, durch den Glauben, angeeigneten Erlösung nur ein
aus der umfassenden Erlösungslehre der Mystik herausgebrochenes
1) Siehe S. 17.
216 X. Mystik und Gerechtigkeit aus dem Glauben.
Fragment ist, das Paulus zu dem von ihm benötigten Prisma schleift.
Welches sind diese Tatsachen?
Im Galaterbrief, wo sie in ihrer einfachsten und ursprünglichsten
Form vorliegt, ist die Lehre von der Glaubensgerechtigkeit noch nicht
selbständig, sondern wird mit Hilfe der Gedanken der eschatologi-
schen Erlösungslehre und der Mystik des Seins in Christo durch-
geführt. l
Immer, im Galaterbrief wie im Römerbrief, tritt sie nur da auf,
wo die Kontroverse über das Gesetz zur Verhandlung steht, und,
bezeichnenderweise, hier auch nur da, wo mit dem Glaubensgehorsam
des noch unbeschnittenen Abraham der Schriftbeweis geführt wird.
Nur wo sie Halt an diesem Schriftbeweis finden kann, kommt sie vor.
Daß die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben nur ein Frag-
ment einer Erlösungslehre ist, erhellt insbesondere noch daraus,
daß Paulus die anderen Güter der Erlösung, den Geistbesitz und die
Auferstehung, nicht mit ihr zusammenbringt. Sowie er aus der durch
den Schriftbeweis bestimmten Diskussion über Glaubens- oder Ge-
setzesgerechtigkeit heraustritt, kann sie ihm nicht mehr dienen.
Auch für die Begründung der Ethik und für die der Lehre von Taufe
und Herrenmahl greift er in keiner Weise auf sie zurück. In der Lehre
von der Gerechtigkeit aus dem Glauben ist man eben in der Tatsache
eingeschlossen, daß der Gläubige durch den Sühnetod Jesu gerecht-
fertigt ist, ohne aus ihr zu den andern Tatsachen der Erlösung ge-
langen zu können. Als Ganzes läßt sich die Lehre von der Erlösung nur
aus der Mystik des Seins in Christo ent",ickeln.
So stellt sich die Frage, ob Paulus die Einsicht in die Unvereinbar-
keit der Sündenvergebung Gottes mit der menschlichen Anstrengung,
soweit als möglich auch dem Gesetze nach gerecht zu werden, tat-
sächlich aus dem Nachdenken über den Sühnetod Jesu gewonnen
hat, oder ob sie ihm nicht vielmehr aus der Mystik des Seins in Christo
feststeht und er sie nur in der Lehre vom Sühnetod Jesu vorträgt.
In der Vorstellung vom Sühnetod Jesu ist nichts enthalten, was
die Verneinung des Gesetzes fordern könnte. Man beachte, daß in
Gal 313, wo die Vernichtung des Gesetzes aus dem Kreuzestod Jesu
bewiesen wird, dieser Tod in keiner Weise als Sühnetod, sondern
einfach als eine gegen das Gesetz gerichtete Tat in Betracht kommt.
Logischerweise sollte Paulus also, wie die Apostel zu Jerusalem und
1) Siehe S. 205-207.
Die Glaubensgerechtigkeit als Fragment einer Erlösungslehre. 217
die übrigen Gläubigen, die von Gott durch Christus geschenkte Sünden-
vergebung als etwas zum Gesetz Hinzutretendes ansehen. Mag die
Glaubensgerechtigkeit als Ergänzung der versuchten Gesetzes-
gerechtigkeit auch derart hoch angeschlagen werden, daß die letztere
so gut wie bedeutungslos wird, so läßt sich doch aus dem Sühnetod
Jesu in keiner Weise ableiten, daß die mit einhergehende Anstrengung
auf die Gesetzesgerechtigkeit hin verwerflich ist. Mit andern Worten:
Paulus kann den Gedanken der Gesetzesfreiheit nicht aus der Vorstel-
lung des Sühnetodes Jesu gewonnen haben, sondern er legt ihn in sie
hinein.
Woher aber steht ihm die Verbundenheit vou Gesetzesfreiheit und
Sündenvergebung fest? Aus der l\fystik des Seins in Christo.
Die Mystik des Seins in Christo hat ihre eigene Lehre von der
Sündenvergebung. Diese beruht in keiner Weise auf dem Tod Jesu
als Sühnetod, sondern auf seinem Tod als solchem, und zwar in seiner
Verbindung mit der Auferstehung. Geschaffen wird diese Sünden-
vergebung dadurch, daß Christus im Fleischesleib gekommen ist und
durch sein Sterben und Auferstehen das Fleisch mit all der ihm an-
haftenden Verschuldung außer Kraft gesetzt hat. Erworben wird sie
nicht durch den Glauben, sondern dadurch, daß der Gläubige durch
das Sterben und Auferstehen mit Christo wie von dem Sein im Fleische,
so auch von der damit zusammenhängenden Sünde frei wird. Es han-
delt sich also nicht so sehr um ein Vergeben der Sünde als um eine
Vernichtung derselben, die sachlich dem Vergeben gleichkommt.
Diese Sündenvergebung wird nicht angeeignet, sondern sie ereignet
sich an dem Gläubigen, sobald er das Sterben und Auferstehen mit
Christo durchmacht.
Röm 8 3-4: "Was das Gesetz nicht vermochte, das, worin es kraftlos war durch
das Fleisch, das hat Gott vollbracht, indem er seinen Sohn sandte in der Gestalt
des Sündenfleisches und um der Sünde willen, und die Sünde im Fleisch verurteilte,
auf daß die Forderungen des Gesetzes erfüllt würden in uns, die wir nicht nach
dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist."
11 Kor 517-19: "Deshalb, ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur;
das Alte ist vergangen, siehe es ist neu geworden. Das alles kommt aus Gott, der
uns durch Christus mit sich versöhnt hat und den Dienst der Versöhnung gegeben
hat, da Gott es war, der in Christo die Welt mit sich versöhnte, indem er ihnen
ihre Übertretungen nicht anrechnete." - 11 Kor 5 21: "Den, welcher Sünde nicht
kannte, hat er für uns zu Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes
würden."
Mit Unrecht werden die Gedanken von 11 Kor 5 17-21 immer mit denen von
Röm 321-26 zusammengebracht, als bezögen sie sich, wie diese, auf den Sühnetod.
218 X. Mystik und Gerechtigkeit aus dem Glauben.
Zur Sünde macht Gott hier Christum (II Kor 521) nicht durch den Sühnetod,
sondern dadurch, daß er ihn im Sündenfleische, das durch seinen Tod und seine
Auferstehung vernichtet werden soll, kommen läßt. Überall, wo mit dem Sterben
Jesu irgendwie das "mit Christo" oder "in Christo" Erwähnung findet und das Auf-
erstehen mitangeführt wird, kommt sein Tod nicht so sehr als Sühnetod sondern
als mitzuerlebendes Sterben in Betracht.
Ein interessantes Beispiel hierfür ist II Kor 515: "Einer ist für alle gestorben.
Also sind alle gestorben. Und für alle ist er gestorben, damit die Lebenden nicht
mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist."
Daß einer für alle gestorben ist, wird hier nicht nach der Logik des Sühnegedankens,
sondern nach der des Sterbens mit Christo verstanden und besagt, daß in seinem
Sterben alle mitgestorben sind, damit sie hinfort, als mit ihm Gestorbene und mit
ihm Auferstandene, nur noch ihm leben.
Das "für alle gestorben" heißt nicht, daß sein Tod allen Menschen gilt. Unter
den "allen" ist nur die Viellieit der Erwählten verstanden.
Eine dieser Tatsachen aber ist die Freiheit vom Gesetz. Aus der
Mystik des Seins in Christo steht fest, daß die, die mit Christo ge-
storben und auferstanden sind, sowohl von der Sünde als vom Gesetz
frei sind. Also kann Paulus nicht mehr anders, als diese beiden Gewiß-
heiten stets miteinander verbunden gegenwärtig zu haben. Wenn er
den Gedanken der Sündenvergebung nicht mehr ohne den der Freiheit
vom Gesetz zu denken vermag, so ist es deshalb, weil er die Sünden-
vergebung in der Vorstellung des Sterbens und Auferstehens mit
Christo erlebt hat. Wäre dies nicht der Fall, so hätte auch er, wie die
andern, die von Gott geschenkte Sündenvergebung mit dem Streben
nach gesetzgemäßem Leben vereinigen können. So aber sieht er sich
gezwungen, die ihm aus der Mystik feststehende Unvereinbarkeit von
Sündenvergebung und Gesetz nun auch in der überlieferten Lehre
von der Sündenvergebung durch den Sühnetod Jesu auszusprechen.
Durch sein Erleben unter dem Gesetz ist Paulus die Gerechtigkeit aus dem
. Gesetz irgendwie problematisch geworden, wenn auch wahrscheinlich nicht in
dem Maße, wie er es im Römerbrief darstellt, wo er das früher Erlebte in der Be-
stimmtheit und Tragweite schildert, in der er es von der seither gefundenen Lö-
sung aus erschaut. Mag aber der Konflikt, den er mit sich herumtrug, auch noch
so weit gediehen sein und mag der Glaube an Jesu Messianität, der bei Damaskus
von ihm Besitz ergriffen, ihm auch alsbald die Richtung für die Lösung angezeigt.
haben: zur Gewißheit wurden ihm die Freiheit vom Gesetz und die Unvereinbarkeit
von Gesetz und Gnade Gottes erst in dem Augenblick, wo er sie in der Mystik
des Sterbens und Auferstehens mit Christo als tatsächlich und denknotwendig
erkannte.
Wann dies war, wissen wir nicht. Wir müssen annehmen, daß es ihm spätestens
nach der ersten Missionsreise feststand, als er, nach der Darstellung des Galater-
briefes, zu Jerusalem die Freiheit der Heidenchristen vom Gesetz verfocht. Daß
die Mystik des Seins in Christo schon zur Zeit der Abfassung des 1. Thessalonicher-
briefes fertig ist, zeigt die in ihm vorkommende Vorstellung von "Toten in Christo"
(I Thess 416) mitsamt dem sonstigen Gebrauch der Formel "in Christo." 1
Durch seine Mystik wird Paulus also gez", ungen, die Lehre von
der Sündenvergebung durch den Sühnetod Jesu dahin umzubilden,
daß in ihr zugleich die der Freiheit vom Gesetz enthalten ist. In
natürlicher Logik ist dies unmöglich, weil aus dem Sühnetod Jesu
an sich kein Argument gegen die Geltung des Gesetzes zu gewinnen
ist. Also bleibt nichts anderes übrig, als den Glauben an die Freiheit
vom Gesetz in gekünstelter Logik in den der Sündenvergebung durch
den Sühnetod Jesu hineinzutragen. Dies tut Paulus in der Weise,
1) I Thess 11 und 214 (Gemeinde in Christo); 41 (Ermahnen in Christo);
512 (Vorstehen in Christo); 518 (Wille Gottes in Christo).
220 X. Mystik und Gerechtigkeit aus dem Glauben.
der Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben beginnt, die Frei-
heit vom Gesetz und die damit gegebene andere Gerechtigkeit als
eine Folge des Gekreuzigt- und Auferstandenseins mit Christo dar
(Gal 219-:11). Im Römerbriefe ereignet sich das Erstaunliche, daß,
nachdem die neue Gerechtigkeit ausführlich als aus dem Glauben
an das Sühnopfer Christi kommend dargestellt ist (Röm 31-521),
sie noch einmal, ohne jegliche Bezugnahme auf das bisher Ausgeführte,
aus der Mystik des Sterbens und Auferstehens mit Christo begründet
wird (Röm 61-81). Aus diesem Nebeneinander zweier auf dieselbe
Frage gehender Darlegungen rührt der verwirrende Eindruck her,
den der Römerbrief immer wieder hervorruft.
Auf jede Weise tritt also zutage, daß die Lehre von der Gerechtigkeit
aus dem Glauben etwas Unselbständiges und Unvollständiges ist.
Aber dieses Fragment einer Erlösungslehre ist das, was an der Lehre
Pauli das Wirksamste wurde. Durch die in ihm niedergelegte Formel
ist er der Vorkämpfer für die Hoheit Gottes geworden, wo immer sie
im Christentum bedroht war. Wo der Glaube mit Menschengedanken
und Menschensatzungen paktieren wollte und das lebendige Bewußt-
sein für Sünde und Erlösung verlor, wurde er durch Pauli Lehre von
der wahren Gerechtigkeit wieder wach gerüttelt. Und wo ein frommer
Geist für die Reinheit des religiösen Gedankens auf den Plan trat,
konnte er sich auf die Sätze berufen, in denen Paulus seinerzeit
diesen Kampf geführt hatte.
Was hat es da zu sagen, daß die Logik der Lehre der Gerechtigkeit
aus dem Glauben an sich anfechtbar ist und späteren Zeiten fremd
werden mußte! Wirksam ist die darin nach Gestaltung ringende
Überzeugung dadurch, daß Paulus sie in erschütternden Worten
als etwas Erlebtes ausspricht, das sich in den Herzen der Menschen
ständig neu erleben will.
So ist es für alle Zeiten bedeutungsvoll geworden, daß die in der
Mystik des Seins in Christo begründete Freiheit vom Gesetz von Paulus
zugleich als Gerechtigkeit aus dem Glauben vorgetragen worden ist.
* *
*
222
Die Idee der Taufe findet Johannes der Täufer also da, wo ihm
auch die der Ausgießung des Geistes begegnet: bei den Propheten.
Alle in der Religionsgeschichte eventuell noch zu entdeckenden
Waschungen können für die Erklärung des Aufkommens der Jo-
hannestaufe nicht soviel besagen wie diese prophetischen Stellen, weil
die hier waltende Beziehung der Waschung auf das kommende Gericht,
die Geistesausgießung und das messianische Reich in ihnen naturge-
mäß fehlen wird. Die Frage nach der Herkunft der Taufe des Jo-
hannes wird dadurch mehr oder weniger bedeutungslos, daß sie ihrer
absolut originalen Bedeutung nach aus keinem anderen Taufen er-
klärbar ist.
Ob Johannes durch die jüdische Proselytentaufe beeinflußt worden ist, muß
fraglich bleiben. Daß der Brauch, die Proselyten zu taufen, schon vor dem Jahre 70
n. Chr. bestand, ist sehr wahrscheinlich, obwohl die spärlichen Nachrichten über
ihn aus späterer Zeit stammen. 1 Es ist nämlich schwer denkbar, daß er im Juden-
tum zu einer Zeit, wo das Taufen bei den Christen geübt wurde, in Aufnahme ge-
kommen sei. Auffällig ist, daß Justin in seinem Dialog mit Trypho nicht auf die
jüdische Proselytentaufe als auf eine Nachäffung des christlichen Taufens zu
sprechen kommt.
Daß Johannes zu dem Taufen, das Juden Sündenvergebung und Empfang
des Geistes zusichern sollte, durch Waschungen angeregt worden sein soll, die
an Heiden bei ihrem "Übertritt zum Judentum vollzogen wurden, ist nicht leicht
begreiflich zu machen. Jedenfalls läßt sich die Bedeutung der Johannestaufe
nicht aus der der jüdischen Proselytentaufe herleiten.
seine Taufe als das wirksame Mittel der Errettung zu erkennen. Aber
er verweigert sie ihnen nicht.
Auch für Jesus ist die Taufe des Johannes eine übernatürlich
wirkende Handlung. Als er sich vor den Priestern und Schriftgelehrten
darüber verantworten soll, in welcher Vollmacht er im Tempel auf-
tritt, stellt er ihnen die Gegenfrage, ob die Taufe des Johannes vom
Himmel oder von den Menschen gewesen sei. Die nach seiner Auffas-
sung richtige Antwort, daß das Erstere zutreffe, können sie nicht
geben, weil sie sich damit selber das Zeugnis ausstellen würden, daß
sie eine von himmlischer Vollmacht getragene Veranstaltung nicht
entsprechend würdigten (Mc 11 28-33).
Eine effektive Bedeutung der Taufe auf die Erlangung der Herrlich-
keit des messianischen Reiches hin setzt Jesus auch voraus, wenn er
den beiden Jüngern, die ihn um die Plätze zu seiner Rechten und
Linken bitten, die Todesleistung, durch welche er die Messiaswürde
erreicht, als seine Taufe bezeichnet (Mc 1038-39).
Die wenigen Angaben, die wir in den beiden ältesten Evangelien
über die Johannestaufe besitzen, bezeugen also klar, daß sie ein
eschatologisches Sakrament ist.
* *
*
Wie aber kommt diese Taufe, die Johannes kraft seiner Vollmacht
erteilte, dann von selbst, ohne Befehl J esu, in der christlichen Ge-
meinde auf? 1 Als eschatologisches Sakrament.
Die Gemeinde macht aus ihr nichts anderes, als was sie von Johannes
aus ist. Sie bleibt ihr ein die Gültigkeit der Buße auf die Geistesaus-
gießung und das Gericht hin verbürgender Akt. Entscheidend für
die Übernahme der Taufe ist wohl, daß die erste Gemeinde sich auf
jüdischem Boden, im Lande der Täuferbewegung, bildet und also in
der Hauptsache wohl aus Anhängern der von Johannes ausgegangenen
reichsgläubigen Bewegung besteht, die nachher an Jesum als den Mes-
sias glaubten. Auch die anerkennende Stellung, die Jesus zu Johannes
und seiner Taufe einnimmt, kann für das Aufkommen der Taufe in
der christlichen Gemeinde von Bedeutung gewesen sein.
1) Daß die Überlieferung den Taufbefehl dem auferstandenen Jesns in den
Mund legt (Mt 28 19-20), zeigt, daß es sich um eine spätere Anschauung handelt.
Dazu paßt auch, daß dieser Taufbefehl nicht die Taufe auf. Christum, sondern
bereits die auf Vater, Sohn und Geist erteilte voraussetzt.
Die Übernahme der Johannestaufe durch die erste Gemeinde. 229
Vollständig falsch ist es, die christliche Taufe als die entsprechende
Wiederholung der Taufe Jesu aufzufassen. Diese Ansicht findet in
den älteren Stellen über die christliche Taufe gar keine Stütze. Bis
auf Ignatius herunter wird die Taufe Jesu nie in irgendwelchen Zu-
sammenhang mit der christlichen gebracht, und die Verbindung,
die dann Ignatius zwischen beiden statuiert, besagt gar nicht, daß die
christliche Taufe eine entsprechende Wiederholung der Taufe Jesu ist.
Ignatius ad Eph 182: "Er (Jesus) wurde geboren und getauft, damit er durch
das Leiden das Wasser reinige." - Justin bringt die Taufe Jesu mit der christ-
lichen Taufe überhaupt nicht in Verbindung, sondern bleibt bei dem Gedanken
stehen, daß das Kreuzesholz sich im Taufwasser an den Gläubigen errettend
bewährt, wie das Holz der Arche in der Sintflut an N oah und den Seinen (Dialog 138).
Erst bei Irenäus (Adv haer III 9 B) und Tertullian (Adv Judaeos 8) schafft Jesus
durch seine Taufe die christliche Taufe.
Die christliche Gemeinde übernimmt also das eschatologische
Sakrament des Täufers. Wie ist es möglich geworden, daß die Hand-
lung, deren Bedeutung darin lag, daß sie durch ihn vollzogen wurde,
nun von andern geübt wird? Die Vollmacht der Kirche ist an die
Stelle der seinen getreten.
Das Johannesevangelium will das Rätsel des Aufkommens der
Johannestaufe in der christlichen Gemeinde dadurch lösen, daß es
die Jünger Jesu zu Lebzeiten ihres Meisters die Wassertaufe erteilen
läßt (Joh 41-2). Dies ist eine spätere Auskunft.
An zwei Punkten setzen die treibenden Kräfte ein, welche das
vom Täufer übernommene eschatologische Sakrament dann wirklich
zur christlichen Taufe umbilden. Die eschatologische Erwartung ist
in der ersten Gemeinde durch den Glauben an die Messianität Jesu
näher bestimmt. Dementsprechend wird die Taufe zu einer Taufe
auf J esum Christum. Sodann ist das von dem Täufer als zukünftige
Wirkung der Taufe erwartete Empfangen des Geistes nun bereits
Wirklichkeit, wie die ekstatische Betätigung der Getauften beweist.
Die Wassertaufe ist also gleichzeitig Geistestaufe. So wird die in der
Gemeinde geübte Johannestaufe durch die Tatsachen zur christlichen
Taufe. Daraufhin setzt man die Wassertaufe, die zugleich Geistes-
taufe ist, der einfachen Wassertaufe des Johannes entgegen, ohne
mehr ein Bewußtsein davon zu haben, daß auch diese urspriinglich in
ursächlicher Beziehung zur Geistestaufe stand.
In solcher Unkenntnis des wahren Wesens der Johannestaufe wird die Theorie
der christlichen Taufe als Wasser- und Geistestaufe in der jüngeren Erzählungs-
Bchicht der Apostelgeschichte durchgeführt. Hier wird angenommen, daß Gläubige
230 XI. Mystik und Sakramente.
in Ephesus nur die Wassertaufe besitzen und nichts davon gehört haben, daß es
einen heiligen Geist gibt. Daraufhin werden sie von Paulus neu getauft und empfan-
gen auf Grund seiner Handauflegung den Geist (Act 191-1). Das Gemachte der
Theorie zeigt sich darin, daß diese Jünger, auf die Frage nach der Art ihrer früheren
Taufe, antworten, sie seien "auf die Taufe des Johannes" getauft. Die Taufe des
Johannes wird also in Analogie zur Taufe auf Jesum zu einer Taufe "auf" Jo-
hannes. Ebenso unzutreffend ist es, wenn der hier auftretende Paulus die unge-
nügend getauften Jünger dahin belehrt, daß Johannes nur eine Taufe zur Buße
erteilt und mit dem kommen-sollenden Größeren Jesum gemeint habe. Wie der
heutigen Forschung ist ihm verborgen, daß die Johannestaufe auf die kommende
Geistesausgießung hin geschah, und daß mit dem Kommen-Sollenden nicht der
Messias, sondern der Elia gemeint war. Die Apostelgeschichte hat also die falsche
Perspektive geschaffen, in der man dann ,Tahrhunderte lang die Predigt und das
Taufen des Täufers erschaut!
Daß sich eine Täuferbewegung neben der urchristlichen Gemeinde erhalten
habe, ist nicht unmöglich, obwohl wenig wahrscheinlich. Sehr fraglich aber muß
bleiben, ob wir in Act 191-7 wirklich eine Nachricht eines solchen Überlebens
der Täuferbewegung besitzen.
Ganz unzutreffend an der Theorie der späteren Erzählungsschicht der Apostel-
geschichte ist auch, daß der Geist nicht durch die Taufe als solche, sondern erst
durch die Handauflegung der Apostel, denen hierin auch Paulus gleichgestellt
ist (Act 196), empfangen wird. Die auf Christi Namen von Philippus getauften
Samaritaner kommen in Besitz des Geistes erst durch die nachherige Handauf-
legung des Petrus und des Johannes (Act 812-17). Die falsche Theorie von der
christlichen Taufe wird also noch mit einer unzutreffenden Anschauung von einer
die Taufe ergänzenden Handauflegung der Apostel verbunden.
Die Tendenz der Erzählung von Act 19 }-7 ist also die, den Unterschied zwi-
schen der Johannestaufe und der christlichen Taufe festzulegen und zugleich
Paulus durch die Tatsache, daß seine Handauflegung den Geist verleiht, in die
Reihe der Apostel zu rücken.
Gegen solche Theorien und die mit ihnen zusammenhängende Ent-
wertung der Johannestaufe bleibt bestehen, daß die in der Urgemeinde
geübte Taufe mit dem von Johannes dem Täufer gebrachten, sich auf
die Geistesausgießung und die Errettung vom Gericht beziehenden
eschatologischen Sakrament identisch ist, nur daß das Empfangen
des Geistes nun als mit der Wassertaufe zeitlich zusammenfallend ge-
dacht ist, und daß die Taufe auf den Namen Jesu als des erwarteten
Messias geschieht. "Tut Buße, und lasse sich ein jeglicher von euch
taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so
werdet ihr die Gabe des heiligen Geistes empfangen," heißt es in der
Pfingstrede des Petrus (Act 238).
Die in der Taufe erlangte Sündenvergebung erstreckt sich nur auf
die vor ihr begangenen Sünden und ist so gemeint, daß sie die Er-
rettung im kommenden Gericht gewährleistet.
Taufe und Mahlfeier bei Jesus. 231
* *
*
Jesus nimmt die Predigt von der Nähe des Reiches Gottes vom
Täufer auf und trägt sie nach Galiläa. Eigentlich hätte er nun auch
die Taufe, mit der die Gläubigen in Judäa zum Empfang des Geistes
und zur Errettung beim Gericht geweiht wurden, mitübernehmen
sollen. Dies tut er überraschenderweise nicht.
Warum setzt Jesus mit der Predigt des Johannes nicht auch zu-
gleich sein Taufen fort? Daß die Forschung an dieser Frage vorüber-
gegangen ist, wird immer unbegreiflich bleiben.
Wenn Jesus den Reichsgläubigen in Galiläa die errettende Taufe
des Johannes vorenthält, so tut er es nicht deshalb, weil sie für ihn
an die Vollmacht des Täufers gebunden ist. Er selber besitzt ja Voll-
macht in Sachen des Reiches Gottes und könnte also in derselben Weise
wie jener zum Geistbesitz und zur Errettung im Gericht taufen. Er
unterläßt es aber, weil er es nicht für nötig hält. Seine Gegenwart
als solche hat sakramentale Bedeutung. Wer sich zu ihm, dem zu-
künftigen Messias, hält und damit Gemeinschaft mit ihm eingebt,
braucht nicht getauft zu sein, um den Geist zu empfangen und beim
Gericht errettet zu werden. Er ist, ohne es zu wissen, Genosse des
Messias geworden· und hat als solcher Anrecht auf alle kommenden
Güter. 1 Weil seine Vollmacht noch größer ist als die des Täufers,
braucht Jesus keine Weihe auf das Reich Gottes hin zu erteilen.
Darum setzt er das Taufen des Johannes nicht fort, obwohl er es als
eine vom Himmel kommende errettende Veranstaltung anerkennt.
Der von sich aus wirkenden sakramentalen Bedeutung seiner Gegen-
wart gibt er besonderen Ausdruck, indem er am See Genezareth der
Menge der um ihn gelagerten Gläubigen Speise von seiner Hand
austeilt. Damit weiht er sie, ohne daß ihnen die Bedeutung des Vor-
gangs bewußt wird, zu seinen Genossen beim messianischen Mahle. 2
1) Über die errettende Bedeutung der Gemeinschaft mit Jesus, dem unerkann-
ten Messias, siehe S. 106-110.
2) Über die Erklärung der wunderbaren Speisung als einer Weihe zum messia-
nischen Mahle siehe S. 108. Vergleiche auch Albert Schweitzer, "Geschichte der
Leben-Jesu-Forschung." 2. und folgende Auflagen S. 421. - Ob Jesus diese Aus"
teilung nur einmal vorgenommen hat und in unseren Evangelien also zwei Berichte
232 XL Mystik und Sakramente.
Ausgangspunkt der Vorstellung des Mahles der Endzeit ist wohl eine aus dem
Exil stammende Stelle aus Deuterojesaja.
Jes 6513-14: "Fürwahr, meine Knechte sollen essen, und ihr sollt hungern,
fürwahr, meine Knechte sollen trinken, und ihr sollt dürsten,
fürwahr, meine Knechte sollen sich freuen, und ihr sollt beschämt stehen,
fürwahr, meine Knechte sollen jubeln, vor Herzenswohlsein,
ihr aber sollt schreien, vor Herzensweh. "
Ausgebildet findet sich die Vorstellung in der spät-nachexilischen Apokalypse
J es 24-27. Da diese kein messianisches Reich, sondern nur ein Reich Gottes
kennt, redet sie von einem von Gott bereiteten Mahl.
Jes 256: "Und Jahwe der Heerscharen wird für alle Völker auf diesem Berge
bereiten ein Mahl von Fettspeisen, von markigen Fettspeisen, von geklärten
Hefenweinen. "
Im Buche H\!noch sind die Erwählten ständige Mahlgenossen des Menschen-
sohnes. Hen 62 14-15: "Der Herr der Geister wird über ihnen wohnen, und sie
werden lnit jenem Menschensohn essen, sich niederlegen und erheben bis in alle
Ewigkeit. Die Gerechten und Auserwählten werden sich von der Erde erheben und
aufhören, ihren Blick zu senken, und werden lnit dem Kleide der Herrlichkeit
angetan sein."
Nach der Apokalypse Baruch beginnt das Mahl alsbald lnit dem Erscheinen
des Messias. Apoc Bar 29 3-8: "Alsdann wird der Messias anfangen, sich zu offen-
baren. Und offenbaren wird sich der Behemoth aus seinem Lande, und der Le-
viathan wird emporsteigen aus dem Meere; die bei den gewaltigen Seeungeheuer,
die ich am fünften Tag des Schöpfungswerks geschaffen und bis auf jene Zeit
aufbehalten habe, werden alsdaun zur Speise für alle die sein, welche übrig sind.
Auch wird die Erde ihre Frucht zehntausendfältig geben; und an einem Weinstocke
werden tausend Ranken sein, und eine Ranke wird tausend Tra,uben tragen, und
eine Traube wird tausend Beeren tragen, und eine Beere wird ein Kor Wein bringen.1
Und die da gehungert haben, sollen reichlich genießen. Weiter aber sollen sie auch
an jedem Tage Wunder schauen. Denn Winde werden von lnir ausgehen, um Mor-
gen für Morgen den Duft der aromatischen Früchte lnit sich zu führen, und am
Ende des Tages Wolken, die heilungbringenden Tau herabträufeIn. Und zu jener
Zeit werden wieder die Mannavorräte von oben herabfallen; und sie werden davon
in jenen Jahren essen, weil sie das Ende der Zeiten erlebt haben."
Daß Leviathan und Behemoth 30m Ende der Tage den Heiligen als Speise dienen,
setzt auch Hen 6024 voraus. Für sie werden auch die Bäume des dann wieder auf
Erden erscheinenden Paradieses Frucht tragen (Hen 25 4 -5 ; 32 3-6; IV Esra 7 123).
Bei Ezechiel nähren sich die Bewohner des neuen Jerusalem von den alle Monate
aufs neue reifenden Früchten der Bäume, die an den Ufern der von der Tempel-
quelle ausgehenden Wasser stehen, und von den Fischen dieser wunderbaren
Flüsse (Ez 477-12).
Auch in der Apokalypse Johannis spielt das messianische Mahl eine große
Rolle. Apoc Joh 320: "Siehe ich stehe vor der Tür und klopfe an; wer meine
Stimme hört und die Tür aufmacht, zu dem werde ich eingehen und das Mahl
mit ihm halten und er mit mir." - Apoc Joh 716-17: "Sie werden nicht mehr
hungern noch dürsten, noch wird die Sonne auf sie fallen, noch irgend Hitze, denn
das Lamm, das inmitten des Trones ist, wird sie weiden und sie leiten zu Wasser-
quellen des Lebens." -Apoc Joh 19 7: " Gekommen ist die Hochzeit des Lammes."
- Apoc Joh 19 9: "Selig sind, die berufen sind zum Hochzeitsmahl des Lammes."
Daß die Vorstellung des messianischen Mahles dem Denken Jesu
gegenwärtig ist, ergibt sich daraus, daß er die Seligkeit als ein Zu-
Tische-Liegen mit Abraham, Isaak und Jakob im Reiche Gottes
(Mt 811-12) und ein Geladensein zum Hochzeitsmahle des Königs-
sohnes (Mt 221-14) schildert, und beim letzten Mahle mit den Jüngern
diesen verheißt, daß er den Wein neu mit ihnen trinken werde in
seines Vaters Reich (Me 1425).
* *
(Mt 625 -34) und überzeugt sein sollen, daß Gott alle ihre Bedürfnisse kennt
und erfüllt, ohne daß sie ihn darum bitten (Mt 68; 632). Alles andere
dahingestellt sein lassend, sollen sie nur auf das Reich Gottes bedacht
sein (Mt 633). Das heißt, daß auch ihr Gebet nur auf dieses gehen
darf. Damit sie nicht Unnötiges erbitten, wie die Heiden, lehrt sie
Jesus das Gebet um das Reich Gottes und seine Güter (Mt 67-9).
Wie ist es dann denkbar, daß er unter diesen Bitten um das Eine,
was not tut, eine bringt, die der verbotenen Sorge um die irdische
Notdurft Ausdruck gibt?
Nun wehrt sich auch der Text der vierten Bitte dagegeu, auf das
tägliche Brot gehen zu sollen. Er lautet: 'l'OV a(!-rov fJftWV TOV buovatOv
!5o~ fJfttV a~ft8(!OV (Mt 611). Was bedeutet das nur hier vorkommende
Wort buovatO~? Das einzig Mögliche ist, es als eine adjektivische
Bildung von bUBvat aufzufassen und es mit "bevorstehend" oder "kom-
mend" zu übersetzen, wie man in der Apostelgeschichte (Act '726)
'l'fi buovar/ fJftS(!q. mit "am kommenden (d. h. folgenden) Tage" wieder-
gibt. 1 Die vierte Bitte heißt also: "Unser Brot, das kommende
(zukünftige), gib uns heute." 2 Nur weil die Bitte vorgeblich so keinen
Sinn hat, gibt man das buovaw~ mit "notwendig" wieder. Um ihm
diese Bedeutung beizulegen, läßt man es, was sprachlich eigentlich
unmöglich ist, als adjektivische Bildung von hd und ova{a gelten.
Es müßte ja dann, mit Vermeidung des Hiatus, btOvaw~ heißen.
Und was hat dieses Adjektiv für einen Sinn? ova{a heißt das Wesen;
im populären Sprachgebrauch bezeichnet es den Besitz. Aus beiden
Bedeutungen ist für das Adjektiv kein Sinn zu gewinnen. Daher ver-
fällt man darauf, daß das ova{a auch Dasein bedeuten kann und über-
setzt lmovaw~ mit "für das Dasein notwendig." Dagegen spricht,
daß eine Adjektivbildung keinen so weit hergeholten Sinn haben
kann, und daß, wenn das Dasein im Sinne der materiellen Bedürfnisse
der Existenz gemeint sein soll, der abstrakt philosophische Begriff
des Seins ova{a unmöglich ist.
Alle diese sprachlichen Künsteleien sind unnötig. In der natürlichen
Übersetzung "Unser Brot, das kommende, gib uns heute" hat die
vierte Bitte tatsächlich einen Sinn, und zwar gerade den, der zu den
übrigen Bitten paßt. Wie diese erfleht sie ein Gut des kommenden
Reiches Gottes: die Speise desselben. Brot steht für Nahrung über-
I) Siehe auch Act 1611; 2015; 2118.
2) Nach dem Vorgang des Hebräerevangeliums übersetzt Hieronymus richtig
"panis crastinus," das heißt "morgiges Brot."
Das letzte Mahl Jesu mit den Jüngern. 235
* *
*
Aus der Erwartung des messianischen Mahles heraus ist Jesu
Handeln am See Genezareth zu erklären. Aus den gerade vorhandenen
Vorräten gibt er jedem etwas Speise, nicht um ihn zu sättigen, sondern
nur um ihn aus der Hand des zukünftigen Messias Speise empfangen
zu lassen und ihn damit zur Teilnahme am messianischen Mahle zu
weihen.
Was er hier mit einer großen Menge vornimmt, wiederholt er dann
beim letzten Mahle mit den Jüngern (Mc 1422-25; Mt 2626---29). Über
dem Essen nimmt er Brot, spricht eine Danksagung darüber und
teilt jedem davon aus. Desgleichen ergreift er den Kelch, spricht
Dank darüber und reicht ihn dann herum.
Worauf geht Jesu Danksagung beim Abendmahl? Daß er nicht
einfach für Speise und Trank dankt, sondern ein Bitten und Danken
im Hinblick auf das Kommen des Reiches Gottes und seines Mahles zu
Gott emporschickt, können wir, obwohl uns seine Worte leider nicht
überliefert sind, daraus erschließen, daß in der Gemeindefeier, die
aus diesem Mahle entstanden ist, Bitten und Danken im Ausblick auf
das Reich Gottes und seine Güter geschieht. Dies bezeugen die Gebete
bei der Mahlfeier der Didache (Did 9 und 10).
236 XI. Mystik und Sakramente.
Did 94: "Wie dieses gebrochene Brot auf den Bergen zerstreut war und zu-
sammengebracht eins wurde, so möge deine Gemeinde von den Enden der Erde
zusammengebracht werden in dein Reich."
Did 10 3-7 : "Du, allmächtiger Herrscher, hast alles geschaffen um deines Namens
willen; Speise und Trank hast du gegeben den Menschen zur Nießung, daß sie
dir danken. Uns aber hast du geschenkt geistige Speise und Trank und ewiges
Leben durch deinen Knecht. Vor allem danken wir dir, weil du mächtig bist. Dir
sei Preis in Ewigkeit. Gedenke, Herr, deiner Kirche, sie zu erlösen von allem
Bösen und sie zu vollenden in deiner Liebe; und führe sie, die geheiligte, von den
vier Winden zusammen in dein Reich. Denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Es komme die Gnade und es vergehe diese Welt. Hosianna dem Gotte
Davids.
Ist jemand heilig, der komme; ist er es nicht, der tue Buße. Maranatha. Amen.
Den Propheten gestattet Dank zu sagen soviel sie wollen."
Auch wenn wir die Didache nicht besäßen, wären wir doch durch Justins Dialog
mit Trypho einigermaßen über den Inhalt der Danksagung beim Herrenmahl
unterrichtet.
Dialog 411: "Das Opfer des Weizenmehls, welches nach der Überlieferung für
die vom Aussatz Gereinigten dargebracht wurde, war ein Vorbild des Brotes der
Eucharistie, deren Feier JesusChristus, unser Herr, angeordnet hat zur Erinnerung
an das Leiden, das er erduldete für die, welche sich von jeder Sünde gereinigt haben.
Er wollte nämlich, daß wir Gott danksagen sowohl dafür, daß er die Welt mit allem,
was in ihr ist, um der Menschen willen erschaffen hat, wie dafür, daß er uns von
der Sünde, in der wir lebten, befreit hat, als auch dafür, daß er die Mächte und
Kräfte durch den, der nach seinem Willen leidensfähig geworden ist, vollständig
niedergeschlagen hat." 1
Daß in der Mahlfeier der Gemeinde in dieser Weise Bitte und Dank-
sagung für das Reich Gottes und seine Güter geschieht, kann nur
daraus erklärt werden, daß das Danksagen Jesu beim letzten Mahle
mit den Jüngern ebenfalls darauf ging. Auch das Danksagen beim
Mahle am See Genezareth wird diesen Inhalt gehabt haben. Das Spei-
sungswunder ist in Wirklichkeit die erste Eucharistie.
Bei dem letzten Mahle Jesu mit seinen Jüngern kommt die Bezie-
hung auf das erwartete messianische Mahl noch darin zum Ausdruck,
daß der Herr ihnen ein Wiedersehn bei demselben in Aussicht stellt.
Er beschließt die Feier nämlich mit dem Worte: "Ich sage euch,
nicht mehr werde ich trinken von nun an von diesem Gewächse des
Weinstocks bis zu dem Tag, da ich es neu trinken werde mit euch
in meines Vaters Reich" (Mt 2629).2 Dies kann nichts anderes be-
1) Mit den niedergeschlagenen Mächten und Kräften sind die Engel und die
Dämonen gemeint. Zu dieser Vorstellung Justins siehe auch Dial 498. Vergleiche
S.66.
2) Bei Markus (Mc 1425) fehlt "mit euch." Aber das Wort als solches weist auf
eine Wiedervereinigung beim messianischen Mahle hin.
Das letzte Mahl Jesu mit den Jüngern. 237
deuten, als daß er ihnen in Bälde ein Wiederzusammensein beim
messianischen Mahle verheißt.
Das Abendmahl zu Jerusalem ist also seinem Wesen nach dasselbe,
was die Feier am See mit der Volksmenge war: ein Mahl, bei dem
Jesus auf das kommende Reich und das messianische Mahl gehende
Danksagung tut und den Teilnehmern die in dieser Art geweihte
Speise austeilt, um sie dadurch als seine Genossen beim messianischen
Mahl anzuerkennen.
Beim Abendmahl spricht er über das Danksagen hinaus noch Worte,
in denen er auf seinen bevorstehenden Tod Bezug nimmt. Das Brot
bezeichnet er als seinen Leib, den Wein als sein Bundesblut, das für
viele zur Vergebung der Sünden vergossen wird (Mc 1422-24; .Mt
2626-28). Ganz allgemein ist an diesen Worten nur klar, daß sie einen
Hinweis auf seinen Tod bedeuten. Bei dem Wort vom Kelch wird
überdies noch deutlich, daß es auf das Wort "Das ist das Blut des
Bundes, den Jahwe mit euch geschlossen hat" (Ex 248) Bezug nimmt,
das Mose bei der Bundesschließung am Sinai während der Bespren-
gung des Volkes mit Blut ausspricht. Warum und in. welchem Sinne
aber Jesus das Brot, das sie essen, und den Wein, den sie trinken,
gerade als seinen Leib und sein Blut bezeichnet, wird immer dunkel
bleiben.
Nun wird aber für die erste Gemeinde das Wesen der Feier gar nicht
durch die geheimnisvollen Gleichnisse von Brot und Wein als Leib
und Blut Jesu bestimmt. Wenn etwas in der ältesten Geschichte der
Mahlfeier der Gemeinde feststeht, so ist es dies, daß diese sogenannten
Einsetzungsworte beim Essen und Trinken der Gläubigen nicht
wiederholt wurden. Dies geht schon aus der Art hervor, wie Paulus
sie den Korinthern gegenüber als etwas, was er ihnen schon mitgeteilt
hat und jetzt wiederholen muß, anführt (I Kor 112s). Dies sieht
wirklich nicht danach aus, als ob sie der Gemeinde aus der sonntäg-
lichen Feier bekannt wären. Auch in den Anweisungen zur Feier des
Mahles in der Didache ist nur von den Dankgebeten, nicht von der
Wiederholung der "Einsetzungsworte" die Rede.
Ebensowenig wie durch "Einsetzungsworte" ist die erste Gemeinde
durch einen "Wiederholungsbefehl" dazu bestimmt worden, die
Mahlfeier, die Jesus mit seinen Jüngern abhielt, weiter zu begehen.
Bekanntlich wissen die beiden ältesten Zeugen, Matthäus und Markus,
nichts von einem Befehle der Wiederholung des Essens und Trinkens,
wie er sich bei Lukas (Luc 2219) nnd Paulus (I Kor 1124-25) findet.
238 XI. Mystik und Sakramente.
Also muß das Abendmahl von sich aus, das heißt aus einer im Wesen
der Feier gegebenen Notwendigkeit von den Gläubigen als "Herren-
mahl" wiederholt worden sein. 1
'" '"
*
Wie ist nun die erste Gemeinde dazu gekommen, das letzte Mahl
Jesu mit seinen Jüngern ohne einen dahingehenden Befehl seinerseits
und ohne Bezugnahme auf die Worte von Brot und Wein als seinem
Leib und seinem Blut zu wiederholen? Zunächst: was hat sie denn
eigentlich wiederholt?
Das Wesen des historischen Abendmahls, wie des Mahles am See
Genezareth, besteht darin, daß es ein auf das messianische Mahl
ausblickendes Danksagungsmahl ist, bei dem Jesus den Teilnehmern
Speise und Trank austeilt. Wiederholbar ist von diesem Tun nicht
die Austeilung der Speise durch Jesus, die ja ihren Sinn nur hat, wenn
er selber sie vornimmt, sondern allein die Danksagung auf das Reich
Gottes und das messianische Mahl hin. Also hat die erste Gemeinde
das Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern als ein auf das messianische
Mahl ausschauendes Danksagtmgsmahl wiederholt. Grund der Wieder-
holung ist das eschatologische Schlußwort von dem Neutrinken des
Weines mit den Jüngern in des Vaters Reich. Dieses wird für die Jünger
zum Wiederholungsbefehl.
Wie geht dies zu?
Auf Grund dieses Wortes erwarten die Jünger, daß der auferstan-
dene Jesus beim Mahle, in demselben Gemach, wo er am letzten Abend
mit ihnen zusammen war, zu ihnen kommen und mit ihnen dann
nach Galiläa ziehen wird, wo er als Messias in Herrlichkeit offenbar
werden soll. Darum bleiben sie nach seinem Tode, statt sich nach
Galiläa zu zerstreuen, in' J erusalem mit den Gläubigen in jenem Ge-
mache vereint und halten mit ihnen Danksagungsmahle in Erwartung
des Erscheinens Christi.
Viel zu wenig hat sich die Forschung mit der Frage beschäftigt,
was denn die Jünger Jesu zwischen Ostern und Pfingsten getan haben.
Man gefällt sich darin, in den schreiendsten Farben ihre gänzliche
1) Über das Problem des Entstehens der urchristlichen Gemeindefeier aus dem
letzten Mahle Jesu mit seinen Jüngern siehe Albert Schweitzer, "Das Abendmahls-
problem auf Grund der wissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts und
der historischen Berichte." Tübingen 1901, 62 S. - 2. (unveränderte) Auflage
1929.
Das Voranziehen nach Galiläa und das Neutrinken des Weines. 239
Weil das Wort von dem Zuge des Auferstandenen mit den Jüngern nach Galiläa
sich nicht verwirklicht hat, mißhandelt die Überlieferung es, um es anders aus-
sagen zu lassen, als es wirklich gemeint war. Sie versucht, es außer Kraft zu setzen,
indem sie es in anderer Fassung dem Engel am Grab in den Mund legt und es
besagen läßt, daß die Jünger nach GaIiläa gehen sollen, wo ihnen Jesus, der sich
bereits dorthin begeben habe, erscheinen werde.
Mc 167 sagt der Engel zu den Weibern am Grabe: "Gehet hin und sagt seinen
Jüngern und Petrus, daß er vor euch nach GaIiläa zieht (neoaYSt Vllü,); dort
werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat." Aus einem räumlichen wird hier
also ein zeitliches Voranziehen. Bei Matthäus wird das Wort nicht nur von dem
Engel (Mt 287), sondern vom auferstandenen Jesus selber umgedeutet. Mt 2810:
"Darauf sprach Jesus zu ihnen (den Frauen): Fürchtet euch nicht; geht hin und
verkündet es meinen Brüdern, daß sie nach Galiläa gehen sollen; und dort werden
sie mich sehen." Als Erfüllung dieses so korrigierten Wortes läßt Matthäus die
Jünger wirklich nach Galiläa ziehen und dort, also nicht in Jerusalem, den Auf-
erstandenen sehen (Mt 2816-20).
Daß Erscheinungen des Auferstandenen nur in Jerusalem stattgefunden haben
und die Jünger zwischen dem Tode Jesu und Pfingsten nur in Jerusalem und
nicht auch in Galiläa waren, ist durch die Apostelgeschichte, mit der hierin Lukas
zusammengeht, sichergestellt. Was Matthäus und das Johannesevangelium von
Erscheinungen des Auferstandenen in Galiläa berichten, geht auf. sekundäre Tra-
dition zurück, die entstanden ist, um für das Wort vom Voranziehen nach Galiläa
auf irgendeine Weise Erfüllung zu schaffen. Dabei läßt Matthäus Jesum den
Jüngern nur in Galiläa erscheinen, während das vierte Evangelium von Erschei-
nungen sowohl in Judäa (Joh 20 19-29) als auch in GaIiläa (Joh 211-23) berichtet.
Auch die aus Jesu letztem Wort beim Abendmahl entstandene, ebenfalls uner-
füllt gebliebene Erwartung, daß er als Auferstandener zu einem neuen Mahle mit
den Jüngern zusammenkommen werde, sucht die sekundäre Tradition irgendwie
in Erfüllung gehen zu lassen. So entstehen die Erzählungen, in denen der Auf-
erstandene bei einer Mahlzeit erscheint. Über seinem Brechen des Brotes erkennen
die Jünger zu Emmaus, daß der Fremde der auferstandene Herr ist (Luc 2413-35).
Bei der darauffolgenden Erscheinung unter den Jüngern zu Jerusalem verlangt
der Auferstandene Speise, worauf erst ihre Zweifel, daß er es sei, aufhören (Luc
2436-43). In der Erzählung der Erscheinung Jesu am See Genezareth erwartet
der Auferstandene die aus dem Schiffe steigenden Jünger bei einem Mahle, das
am Strande bereitet ist, und teilt ihnen dann Brot und Fische aus (Joh 211-14).
Nach dem Hebräerevangelium (die Stelle ist bei Hieronymus "De viris iIIustri-
bus" 2 erhalten) hat Jakobus der Gerechte geschworen, kein Brot mehr zu essen
von der Stunde an, da er den Kelch des Herrn getrunken hatte, bis er ihn von den
Schlafenden auferstanden sähe. Als ihm dann der Auferstandene erscheint, läßt
dieser einen Fisch und Brot bringen, reicht ihm von dem unter Danksagung ge-
brochenen Brot und spricht zu ihm: "Mein Bruder, iß dein Brot, denn des Men-
schen Sohn ist von den Schlafenden auferstanden." 1
* *
*
J esu Wort vom Wiedersehen beim Mahle verstehen die Jünger
sogar dahin, daß er in dem Gemache, wo er das letzte Mahl mit ihnen
1) KarZ Schmidt, "Gespräche Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung
(Epistula Apostolorum). Ein katholisch-apostolisches Sendschreiben des 2. Jahr-
hunderts." Leipzig 1919. 731 S.
A. Sc h w e i t zer, Die Mystik des Apostels Paulus. 16
242 XI. Mystik und Sakramente.
hielt, das neue mit ihnen feiern werde. Darum halten sie sich mitein-
ander dort auf.
Die Apostelgeschichte enthält genaue Nachrichten über das Wohnen
der Jünger in Jerusalem. Sie sind im Hause der Mutter des Johannes
Markus. In dieses Haus begibt sich Petrus" nachdem ihn der Engel
aus dem Gefängnis befreit hat und er wieder zu sich gekommen ist
(Act 1211-12). Zahlreiche Gläubige sind dort im Gebet versammelt.
Zu dem Saal, in dem sie sind, führt ein Vorsaal (Act 1214; nvÄw'V).
Der große Saal, in dem sich die Jünger mit den Gläubigen aufhalten,
ist ein Obergemach (vneecpo'V) , das heißt ein unmittelbar unter dem
flachen Dach gelegener Raum, wie wir gleich zu Anfang der Apostel-
geschichte erfahren.
Act 113-14: "AIs sie [nach Jerusalem] hineingekommen waren [nach der Rück-
kehr von der Himmelfahrt Jesu], gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie sich
aufzuhalten pflegten ••. Diese alle beharrten da einmütig im Gebet nebst Frauen,
und Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern." - Act 115 wird die Zahl
der Versammelten auf 120 angegeben.
In diesem Gemach sind die Apostel mit den Gläubigen am Morgen
des Pfingsttages versammelt (Act 2 1~). Inwiefern aber ist es iden-
tisch mit dem, in welchem J esus das Abendmahl feierte? Als er die
zwei Jünger in die Stadt schickt, das Passamahl für ihn zu bereiten,
sagt er ihnen, daß ein Mann mit einem Wasserkrug sie in ein Haus
mit einem großen, mit Polstern belegten Obergemach (u'Varaw'V flira
ecrrewpe'Vo'V. a'Vuraw'V ist gleichbedeutend mit vneecpo'V) führen werde,
wo sie dann das Mahl zurichten sollen (Mc 1413-15). Daß dieses große
Oberzimmer mit dem aus der Apostelgeschichte identisch ist und also
im Hause der Mutter des Johannes Markus liegt, kann wohl kaum
zweifelhaft sein. Damit bekommt die alte Vermutung neue Nahrung,
daß der Jüngling, der Jesus und den Jüngern in jener Nacht nachfolgte
und den ihn greifenden Häschern entrann, indem er ihnen sein Leinen-
gewand in den Händen ließ, J ohannes Markus gewesen sei (Mc 1451-52).1
In dem Raume, wo Jesus mit ihnen das Danksagungsmahl hielt
und ihnen die Wiedervereinigung beim messianischen Mahl in Aus-
sicht stellte, warten die Jünger seiner Wiederkehr zum Mahle, indem
sie mit den Gläubigen Mahle feiern, bei denen sie im Ausblick auf
1) über die Theorie der Identität des Hauses, in dem Jesus das Abendmahl
feierte, mit dem in Act 1212 erwähnten Hause der Mutter des Johannes Markus
siehe auch Theodor Zahn, "Einleitung in das Neue Testament." 2. Auflage 1900.
Band H. S. 213; 242-245; 252.
Das Abendmahl Jesu und das Herrenmahl der Urgemeinde. 243
Act 246: "Zu Hause das Brot brechend, nahmen sie Speise in Frohlocken
(ev ayaÄÄuiaot)."
V on dem Flehen um das Kommen Christi gibt der aramäische Ruf
Maranatha (Nz;! Nnrr = Unser Herr, komme!) Kunde. In der Didache
bildet er den Beschluß der letzten Danksagung bei der Feier, in der
Formel: "Ist jemand heilig, der komme; ist er es nicht, tue er Buße.
Maranatha. Amen" (Did 106) .
.Dieses Maranatha findet sich auch bei Paulus, in dem eigenhändigen
Gruß am Schluß des 1. Korintherbriefes ; und zwar tritt es in einem
Satze auf, der inhaltlich an den Schluß des Abendsmahlsgebets der
Didacheerinnert. "Wenn jemand nicht liebt den Herrn, sei er ver-
flucht. Maranatha" (I Kor 1622).
In griechischer übersetzung (' AI-'~v lexov, "Veto ' IrJGov) bildet das Maranatha
den Beschluß der Apokalypse Johannis (Apoc Joh 2220).
Der aramäische Ruf Maranatha stammt also aus der Mahlfeier der
Urgemeinde zu Jerusalem. Aus ihm läßt sich entnehmen, welche
Rolle die Erwartung des Kommens Jesu in jenen ersten Feiern des
Danksagungsmahles gespielt hat.
Was also tun die Jünger zwischen Ostern und Pfingsten? Täglich
warten sie mit den andern Gläubigen beim Mahle in dem Saale, wo
Jesus das Abendmahl mit ihnen feierte, daß er als Auferstandener
zu ihnen zurückkehren und als Messias sich mit zu Tische setzen
werde. Wenn sie sich untätig verhalten, so ist es nicht aus Furcht
vor den Juden, sondern weil dje Erwartung des Kommens Jesu sie
ganz in Anspruch nimmt und das Predigen von Jesus gar nicht auf-
kommen läßt. Die Bedeutung des Pfingsttages ist dann die, daß sie
durch den von ihnen Besitz ergreifenden Geist hingerissen werden,
dieses passive Verhalten aufzugeben und die Messianität Jesu zu
verkünden. Die so oft gehörte Meinung, daß Pfingsten die Gründung
der christlichen Gemeinde bedeute, ist falsch. Die Gemeinde besteht
seit Ostern. An Pfingsten werden ihr durch die Predigt Petri drei-
tausend neue Mitglieder hinzugetan (Act 241). Zu der Erwartung der
Wiederkunft JElSU tritt an jenem Tage die Predigt des Glaubens
an ihn:
* *
*
Das Danksagungsmahl in der Erwartung der Wiederkunft Jesu ist
die einzige gottesdienstliche Feier der ältesten Zeit. Reine Wortgottes-
Das Wesen des urchristlichen Herrenmabls. 247
dienste kennt sie nicht. Alles Beten, Weissagen, Verkündigen und Leh-
ren geschieht im Rahmen der Danksagung bei der Mahlfeier. Was wir
durch Paulus im 1. Korintherbrief (I Kor 141-40) von dem Auftreten
der Geistbegabten und Propheten erfahren, spielt sich alles im Ver-
laufe derselben ab. Daß er keine andere Zusammenkunft der Ge-
meinde als die zur Mahlfeier kennt, wird aus seinem Gebrauche des
Wortes "Zusammenkommen" im ersten Korintherbrief deutlich.
I Kor 1117: "Das aber kann ich, da ich beim Anordnen bin, nicht loben, daß
ihr nicht zum Guten, sondern zum Schlechten zusammenkommt." - I Kor 11 20:
"Wenn ihr nun an einem Ort zusammenkommt, so ist es nicht möglich, das Herren-
mahl zu essen" (das heißt: so wird euer Mahl gar kein rechtes Herrenmahl).l -
I Kor 1426: "Wenn ihr zusammenkommt, bringt jeder, sei es einen Psalm, sei es
eine Belehrung, sei es eine Offenbarung, sei es ein Reden mit Zungen, sei es eine
Auslegung mit." - I Kor 14 23: " Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Orte
zusammenkommt, und alle reden in Zungen ... "
Nur unter der Voraussetzung, daß die Mahlfeier ursprünglich die
einzige gottesdienstliche Feier ist, wird die Geschichte des ältesten
christlichen Gottesdienstes verständlich. Ganz .klar ist aus Justin
zu ersehen, daß Schriftverlesung und Predigt bei der sonntäglichen
Morgenfeier die Einleitung des Betens und Danksagens beim Mahle
siud, wie auch schon Paulus dem Lehrhaft-Erbaulichen Platz in dem
Danksagen schaffen wili (I Kor 145; 1419; 1426).
Justin I Apol 67: "An dem Tage, den man Sonntag nennt, findet eine Ver-
sammlung aller statt, die in Städten oder auf dem Lande wohnen; dabei werden
die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Propheten vorgelesen,
solange es angeht. Hat der Vorleser aufgehört, so gibt der Vorsteher in einer
Ansprache eine Ermahnung und Aufforderung zur Nachahmung all dieses Guten.
Darauf erheben wir uns alle zusammen und senden Gebete empor. Und wie schon
erwähnt, wenn wir mit dem Gebete zu Ende sind, werden Brot, Wein und Wasser
herbeigeholt, der Vorsteher spricht Gebete und Danksagungen mit aller Kraft,
und das Volk stimmt ein, indem es Amen sagt. Darauf findet die Austeilung statt."
Zum Wesen des Mahles gehört, daß möglichst alle an einem Orte
ansässigen Gläubigen dabei miteinander versammelt sind. Die Ansicht,
daß man die Feier gruppenweise in Häusern beging, trifft nicht zu.
Die 120 ersten Gläubigen zu Jerusalem versammeln sich zum gemein-
samen Brotbrechen im Saale, da Jesus das Abendmahl mit den Jüngern
gehalten hatte.
Natürlich konnten diese 120 Teilnehmer beim Mahle nicht alle "zu Tische liegen",
da hierfür der Platz in dem Gemache (und auf dem wohl zu Hilfe genommenen
flachen Dache) nicht ausgereicht hätte. Aber dies spielte in Anbetracht dessen,
daß alle miteinander essen und trinken sollten, keine Rolle.
Daß die Korinther sich zum Herrenmahle "an einem Ort zusammen-
fanden" (I Kor 11 20), erfahren wir bei Paulus. Dasselbe wird bei
Justin vorausgesetzt. Hier wird der Gedanke, daß die ganze Gemeinde
dieselbe geweihte Speise essen soll, sogar dahin durchgeführt, daß
den Abwesenden ihr Teil durch die Diakonen nach Hause gebracht
wird (Justin I Apologie 67). Waren es in Jerusalem nach Pfingsten
über 3000 Gläubige, so mußte das Mahl natürlich in verschiedenen
Räumen gefeiert werden.
Begangen wird die Feier in der Morgenstunde. Zu der Tageszeit,
da Jesus auferstanden ist, erwartet man seine Rückkehr. Also wird
das Mahl, in dem man auf seine Wiederkunft ausschaut, in der Frühe
abgehalten. Ausnahmsweise aber kann jedes Mahl, zu welcher Stunde es
auch stattfindet, den Charakter des Danksagungsmahles annehmen.
Hans Lietzmann, in seiner Studie "Messe und Herrenmahl" nimmt an, daß
das Herrenmahl ursprünglich Abends, "wenn die Gemeinde sich nach staubiger
Tagesarbeit und Sorgen des Lebens versammelte" (S. 229), gefeiert worden sei.
Er vermag aber nicht auf befriedigende Weise zu erklären, warum es nachher
in die Frühe verlegt wurde.
erwähnt wird es bei Justin (I Apol 67), um 150 n. Chr., mit der Begründung, daß
der Sonntag der Tag der Erschaffung des Lichts und der Auferstehung Jesu sei.
Daß die Feier am Morgen stattfindet, ist beiden so selbstverständlich, daß sie
nicht darauf zu sprechen kommen.
Die Mahlfeier am Sonntag Morgen meint Plinius in seinem berühmten Brief an
Trajan (Plinius X 96), um 113 n. Chr., wenn er berichtet, daß die Christen sich an
einem bestimmten Tage vor Sonnenaufgang versammeln, um Christum in Hymnen
gewissermaßen als Gott zu preisen und sich durch ein Sakrament untereinander
zu verbinden.
Die älteste uns überlieferte Bezeichnung der Mahlfeier ist die bei
Paulus vorkommende als Herrenmahl (I Kor 11 20; XVetaXOll beinllolI).
Ob das Mahl so heißt, weil eS aus dem, das Jesus mit seinen Jüngern
gefeiert hat, hervorgegangen ist, oder weil es auf die Erwartung seines
Kommens zum Mahle des Wiedervereinigtseins geht, läßt sich nicht
ausmachen. Für die zweite Annahme würde sprechen, daß der Sonn-
tag mit Beziehung auf die Auferstehung J esu Herrentag (fJpeea XVetaurl)
genannt wird.
In der Apostelgeschichte (Act 2 46; 207) und nachher in der Didache
(Did 141) heißt das Mahl einfach das Brotbrechen, weil das Brechen
des Brotes unter Danksagung zu seiner überlieferten Form gehört.
Wohl aus ältesten Zeiten stammt die in der Didache (Did 91), bei
Ignatius (ad Smyrn 71; ad Philad 41) und bei Justin (I Apol 66)
vorkommende Bezeichnung als Eucharistie. Sie ist die sachlichste,
weil die Danksagung das Wesen der Mahlfeier ausmacht.
Ignatius (ad Smyrn 82) setzt auch noch die Bezeichnung des Mahles
als Agape (a:yan'YJ) voraus. Sie bedeutet, daß die Teilnehmer bekunden,
daß sie untereinander, und auch mit Gott und Christo, in Liebe
verbunden sind. Vielleicht hängt diese Bezeichnung der Feier mit der
mystisch-spekulativen Auffassung der Liebe in der ignatianischen,
johanneischen und justinischen Theologie zusammen.
Abendmahl wird die alte Gemeindefeier nirgendwo genannt. Dieses
Wort darf auf sie überhaupt nicht angewandt werden. Wer es braucht,
bekundet damit nur, daß er sich die urchristliche Mahlfeier immer
noch irgendwie nach Art der späteren Austeilungsfeier vorstellt, bei
der die Einsetzungsworte J esu von Brot und Wein als seinem Leib
und seinem Blut das Wesen einer Zeremonie konstitu