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Refraktionsfehler
Epidemiologie, Auswirkungen und Behandlungsmöglichkeiten

Ulrich Schiefer, Christina Kraus, Peter Baumbach, Judith Ungewiß, Ralf Michels
3
Punkte
cme
ZUSAMMENFASSUNG
D en größten Teil unserer Umweltinformationen Teilnahme nur im
nehmen wir über unser visuelles System auf Internet möglich:
Hintergrund: Refraktionsfehler zählen zu den weltweit (1). Für eine optimale Funktionsweise ist eine scharfe aerzteblatt.de/cme
häufigsten, behandelbaren Funktionsstörungen. Mit einer Abbildung relevanter Sehobjekte auf der Netzhaut
Prävalenz von annähernd 70 % bei Erwachsenen haben
unbedingt erforderlich. Refraktionsfehler zählen welt-
Ametropien auch in Deutschland eine hohe epidemiologi-
weit zu den häufigsten, behandelbaren „Erkrankun-
sche und sozioökonomische Bedeutung.
gen“ überhaupt. Auf das brennende Problem der
Methode: Es wurde eine selektive Literaturrecherche unter speziell im asiatischen Raum rapide zunehmenden
Verwendung der Stichwörter „ametropia“, „anisometro- Myopie geht die Metaanalyse von Huang et al. ein (2).
pia“, „refraction“ und „visual acuity“, „epidemiology“ Mit einer Prävalenz von annähernd 70 % in der er-
durchgeführt und Bezug genommen auf die eigene klini- wachsenen deutschen Bevölkerung haben Refrakti-
sche Erfahrung. onsfehler auch in Deutschland eine hohe epidemiolo-
Ergebnisse: Im Jahr 2011 hatten in Deutschland nur circa gische und sozioökonomische Bedeutung: Im Jahr
31 % der über 16-Jährigen keine Sehhilfe; 63,4 % waren 2011 hatten in Deutschland nur circa 31 % der über
mit einer Brille, 5,3 % mit Kontaktlinsen versorgt. Refrakti- 16-Jährigen keine Sehhilfe, 63,4 % waren mit einer
onsprobleme waren mit 21,1 % der häufigste Grund für ei- Brille, weitere 5,3 % mit Kontaktlinsen versorgt (3, 4).
nen Augenarztbesuch. Die stenopäische Blende eignet Der häufigste Grund für einen Augenarztbesuch waren
sich gut zur Basisdiagnostik optisch bedingter visueller Refraktionsprobleme (21,1 %) – gefolgt von Glauko-
Funktionsminderungen. Sphärische Refraktionsfehler men (19,3 %), Pathologien der Augenlinse/Katarakt
(Myopie und Hyperopie), zylindrische Fehlsichtigkeiten (14,9 %) und Erkrankungen der hinteren Augenab-
(Astigmatismus) sowie Brechwertungleichgewicht (Aniso- schnitte (12,5 %) (5). Im Jahr 2010 betrugen die
metropie) und Alterssichtigkeit führen zu typischen Funkti- durchschnittlichen Ausgaben pro Bundesbürger 55,42
onseinschränkungen und lassen sich auch durch nicht Euro für die Versorgung beim Augenoptiker,
ophthalmologisch tätige Ärzte aufdecken. 32,02 Euro für die augenärztliche Versorgung und wei-
Schlussfolgerung: Im Praxisalltag können einfache Funkti- tere 6,16 Euro für Augenmedikamente (5).
onstests schnell und mit hinreichender Sicherheit feststel-
len, ob eine primär harmlose Fehlsichtigkeit vorliegt oder Lernziele
andere folgenschwere Ursachen einer visuellen Funktions- Ziel dieses Beitrags ist es, dem Leser
störung bestehen. ● charakteristische Symptome von Refraktionsfeh-
lern aufzuzeigen
►Zitierweise
Schiefer U, Kraus C, Baumbach P, Ungewiß J, Michels R:
● einfache diagnostische Hilfsmittel für die eigene
Praxis vorzustellen
Refractive errors—epidemiology, effects and treatment
options. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 693–702.
● ein Grundverständnis der optischen Versorgung
zu vermitteln.
DOI: 10.3238/arztebl.2016.0693
Die Themenbereiche Kontaktlinsen, Intraokularlin-
sen sowie weitere operative refraktive Maßnahmen
werden aufgrund des begrenzten Umfangs des Beitrags
nicht erörtert und werden daher nur kursorisch ange-
sprochen.

Hochschule Aalen, Kompetenzbereich „Vision Research“, Studiengang


Augenoptik/Augenoptik-Hörakustik: Prof. Dr. med. Schiefer, Frau Kraus,
B.Sc. Augenoptik, Prof. Dr. rer. nat. Baumbach, Frau Ungewiß, M.Sc. Augenoptik Epidemiologie
und Psychophysik, Dipl.-Ing. (FH) Michels
Fehlsichtigkeiten zählen weltweit zu den
Department für Augenheilkunde, Universitätsklinikum Tübingen:
Prof. Dr. med. Schiefer häufigsten Funktionsstörungen: In Deutschland
benötigen fast 70 % aller über 16-Jährigen
eine Brille oder Kontaktlinsen.

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einen unzureichend korrigierten Refraktionsfehler einen


(möglichst dunklen) Pappkarton (Postkarte) mit einem
circa 1 mm großen Loch in einem Abstand von wenigen
Millimetern vor das zu untersuchende Auge zu halten
und ihn aufzufordern, wie durch ein Schlüsselloch auf
kleine Sehzeichen einer Sehprobe (zum Beispiel Plakat
mit Schriftzeichen oder Buchseite) zu schauen. Kommt
stenopäische Blende es zu einer deutlichen Verbesserung der Sehschärfe, so
ist eine Fehlsichtigkeit (Myopie, Hyperopie, Astigmatis-
mus) oder eine beginnende Beeinträchtigung der bre-
chenden Medien hoch wahrscheinlich. Vor allem Kurz-
sichtige erzeugen durch das Zusammenkneifen der Lider
(„Blinzeln“) eine stenopäische Lücke und verbessern so
ihre reduzierte Sehschärfe in der Ferne.

Tipp
Oft gibt der Patient an, durch die vorgehaltene steno-
päische Blende „nur dunkel“ oder „gar nichts“ zu se-
hen. Der Hinweis „auf das zu suchende Schlüsselloch“
kann in diesen Fällen hilfreich sein. Alternativ kann
man, zum Beispiel mit einer Speisegabel, gleich mehrere
benachbarte Löcher in die Karte bohren – eine steno-
päische Öffnung innerhalb eines derartigen „Loch-
siebs“ findet der Untersuchte dann mit hoher Wahr-
scheinlichkeit. Übrigens – die im Internet angepriese-
nen sogenannten „Rasterbrillen“ funktionieren nach
demselben Prinzip.
Das Wirkprinzip einer stenopäischen Blende besteht
in der Ausblendung störender „Randstrahlen“, die an-
sonsten – gerade im Falle von Medientrübungen oder
(irregulären) Brechwertdefiziten – einer scharfen Ab-
bildung eines Sehobjekts auf der Netzhaut im Wege ste-
Abbildung 1: Stenopäische Blende – Funktionsprinzip und diagnostische Relevanz: Trübun- hen (Abbildung 1).
gen oder Irregularitäten der brechenden Medien beeinträchtigen (gestrichelte grüne Linien) Zu beachten ist, dass zu kleine Lochdurchmesser ei-
den idealen Abbildungsvorgang (durchgezogene grüne Linien). ner stenopäischen Blende zu Beugungsphänomenen
Das Vorhalten einer stenopäischen Blende steigert merklich die Abbildungsgüte und damit und damit zu einer verschlechterten Bildwahrnehmung
die Erkennbarkeit der initial kaum wahrnehmbaren Lücke im Landolt-Ring (oberes C auf wei-
der bestehenden Refraktionsdefizite führen.
ßem Grund) durch eine Beschränkung auf einen umschriebenen axialen und paraxialen
Bereits vor langer Zeit wurden derartige stenopäische
Strahlengang (rote Linien) und weitgehendes Eliminieren der „störenden“ Strahlenverläufe
(gestrichelte grüne Linien); durch das Ausblenden von Bildanteilen sinkt aber auch die reti- Lücken durch arktische Ureinwohner genutzt; so sägten
nale Beleuchtungsstärke – der Bildeindruck wird generell dunkler (siehe unteres C auf dunk- diese etwa derartige „Sehschlitze“ in Walfischknochen.
lem Grund). Diese visuellen Hilfsmittel dienten nicht primär der
Sehschärfeverbesserung, sondern der Reduktion der
Umfeldleuchtdichte in einer gleißenden Gletscherland-
Diagnostik schaft (sozusagen als Ersatz für eine Sonnenbrille). Die-
Die stenopäische Lücke oder Blende (englisch: „pin- ser Sekundäreffekt einer stenopäischen Blende ist (dif-
hole“) ist der diagnostische Zugang zu praktisch allen ferenzial-)diagnostisch zu berücksichtigen: Auch bei ei-
Formen refraktiv bedingter Fehlsichtigkeiten – und ein ner Zapfendystrophie oder bei anderen degenerativen
vergleichsweise einfacher noch dazu: Hierzu genügt es, oder dystrophischen Netzhaut-/Makulaerkrankungen
dem Patienten bei Verdacht auf eine Fehlsichtigkeit oder verbessert eine solche „Siebblende“ den Seheindruck.

Diagnose Dunklerer Bildeindruck


Ein deutlicher Anstieg der Sehschärfe bei Durch das Ausblenden von Bildanteilen sinkt
Vorhalten einer stenopäischen Lücke (Lochblende) bei Verwendung der stenopäischen Blende die
ist ein deutlicher Hinweis auf ein refraktives retinale Beleuchtungsstärke – der Bildeindruck
Problem. wird generell dunkler.

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Bei einer Zapfendystrophie fällt nämlich die bei Tages- TABELLE


licht hemmende Wirkung dieses Rezeptorsystems auf
die Stäbchen aus. Diese arbeiten somit ungehemmt Erkennungsabstände in Metern für (deutsche) Autokennzeichen
als grober Anhaltspunkt für die zentrale Sehschärfe*1
(nunmehr auch) unter photopischen Bedingungen und
führen zu „retinaler Blendung“. Eine stenopäische Lü- Visus Erkennungsabstand (m)*2 Bemerkungen
cke hat – durch Reduktion der retinalen Bestrahlungs- 2,0 90
stärke – bei einer Zapfendystrophie also denselben posi-
1,0 45
tiven Effekt wie ein neutralgraues Filterglas.
Sollte eine stenopäische Lücke nicht zu einer deutli- 0,5 22,5 Mindest-Visus (für das bessere Auge)
in Bezug auf Fahrtauglichkeit
chen Besserung der zentralen Sehschärfe führen, sind
weiterführende Untersuchungen zum Ausschluss von 0,2 9
Sehbahnläsionen notwendig – unter anderem Pupillen- 0,1 4,5
wechselbeleuchtungstest („swinging flashlight“-Test),
Untersuchung des Gesichtsfelds sowie der vorderen *1 Bei Tageslicht und unter guten Sichtbedingungen muss im jeweils aufgeführten Erkennungsabstand mehr
als die Hälfte (60 %) der runden Buchstaben oder Zahlen korrekt erkannt werden.
und hinteren Augenabschnitte mittels Spaltlampe und *2 gerundete Werte
Augenspiegel (6).

Orientierende Abschätzung der Sehschärfe


Fernvisus „8“ deutlich schwerer zu erkennen als eine „4“). Im ang-
Die Sehschärfe (Visus) gibt Auskunft über das Auflö- loamerikanischen Raum haben die buchstabenbasierten
sungsvermögen des Auges. Um hier weitgehend entfer- ETDRS-Tafeln („early treatment of diabetic retinopathy
nungsunabhängig arbeiten zu können, wird meist nicht study“) eine besondere Bedeutung; diese kommen, unter
die Objektgröße (zum Beispiel in cm), sondern der zuge- anderem für Studienzwecke, mittlerweile auch im
hörige Sehwinkel (zum Beispiel in Winkelminuten) zu- deutschsprachigen Raum zur Anwendung.
grunde gelegt. Die Sehschärfe ist umgekehrt proportio- Oftmals werden in einer nicht-ophthalmologischen
nal zum Sehwinkel: Erkennt man ein relevantes Objekt- Praxis oder Ambulanz derart standardisierte Tests für
detail unter einem Sehwinkel von einer Winkelminute den Fernvisus nicht zur Verfügung stehen. Behelfsmä-
(1') korrekt, so wird diesem ein Sehschärfewert von 1,0 ßig kann man auf die Ermittlung von Erkennungsab-
zugeordnet; sinkt dieser Winkel auf 0,5', steigt die Seh- ständen ausweichen. Hierfür bieten sich (deutsche) Au-
schärfe auf 2,0 und vice versa. Junge Menschen können tokennzeichen als ein grober Anhaltspunkt an: Mit ei-
durchaus eine (Fern-)Sehschärfe von 2,0 erreichen. ner Strichstärke („Liniendicke“) von circa 13 mm
Gemäß DIN 58220 (7) und ISO 10938 (8) ist der so- müssten bei einem Visus von 1,0 (Auflösungsfähigkeit
genannte Landolt-Ring mit 8 möglichen Lückenpositio- 1´) – bei Tageslicht unter guten Sichtbedingungen –
nen (4 gerade und 4 schräge) das einzige, international mehr als die Hälfte (60 %) der Buchstaben/Zahlen in
bei Gutachten akzeptierte Sehzeichen (eAbbildung 1). einem Abstand von circa 45 m korrekt erkannt werden.
Mindestens 60 % einer Zeile von mindestens fünf Landolt- Weitere Erkennungsabstände sind der Tabelle zu ent-
Ringen identischer Größe, aber unterschiedlicher Lü- nehmen.
ckenpositionen, müssen korrekt erkannt werden, um die
zugehörige Visusstufe als erkannt werten zu können. Nahvisus
Ein computerbasierter Visustest unter Einsatz von Die Bestimmung der Einzeloptotypen-Sehschärfe
Landolt-Ringen kann im Internet abgerufen werden (9). (meist durch Sehzeichen-Karten für die Kitteltasche)
Für sehr geringe Visuswerte kann man sich geeignete Vi- ist für die Beurteilung des Nahsehvermögens in den
sustafeln mit großen Landolt-Ringen selbst ausdrucken meisten Fällen von untergeordneter Bedeutung und
(10). Prinzipiell kann die Sehschärfe auch mit anderen dient als Ersatz für einen fehlenden Fernvisus-Test. Es
Sehzeichen (Optotypen), zum Beispiel Zahlen oder kommt in der Nähe in erster Linie auf das Lesevermö-
Buchstaben, getestet werden. Hierbei sollten die ver- gen an, bei dem nicht nur einzelne Sehzeichen, sondern
wendeten Optotypen so ausgewählt werden, dass alle ganze Buchstabengruppen auf einmal erfasst und durch
Sehzeichen einer Visusstufe in ihrer Erkennbarkeit mög- sogenannte Leserucke verbunden werden müssen (11,
lichst identisch sind (bei Zahlen ist zum Beispiel eine 12). Eine orientierende Visusabschätzung erfolgt durch

Zapfendystrophie Sehschärfe
Auch bei einer Zapfendystrophie oder bei Bei einem Visus von 1,0 müssten unter guten
anderen degenerativen oder dystrophischen Sichtbedingungen mehr als die Hälfte der
Netzhaut- und Makulaerkrankungen verbessert (runden) Zeichen auf einem Autokennzeichen in
eine stenopäische Blende den Seheindruck. einem Abstand von circa 45 m korrekt erkannt
werden.

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Überprüfung der (flüssigen) Lesefähigkeit von regulä- Sphärische Ametropie


rem Zeitungsdruck in 40 cm Abstand unter guten Be- Der einfachste zugrundeliegende Refraktionsfehler ist
leuchtungsbedingungen; dies entspricht einer die sogenannte sphärische Ametropie, bei der ein rotati-
(Nah-)Sehschärfe von circa 0,5. Zentrumsnahe Ge- onssymmetrisches und somit durch einfache Plus- oder
sichtsfeldausfälle oder Verzerrungen der Bildwahrneh- Minuslinsen auszugleichendes Missverhältnis zwischen
mung (Metamorphopsien) können die Lesefähigkeit Augapfellänge und Augenbrechwert besteht. Hierbei
stark beeinträchtigen. Speziell Metamorphopsien sind weicht in der überwiegenden Mehrzahl die Baulänge des
mit Hilfe eines sogenannten Amsler-Gitters zu erfassen Auges vom Ideal (circa 24 mm) ab (Längenametropie):
(zur Not reicht hierzu auch ein „Rechenkästchen“-Blatt Zu große Baulängen induzieren eine Myopie (Kurzsich-
mit zentralem Fixationspunkt). Hierbei wird der Patient tigkeit), zu geringe eine Hyperopie (Weitsichtigkeit).
gebeten – gegebenenfalls mit adäquater Nahkorrektion Seltener weicht die Brechwert der optischen Komponen-
(Einstärkenglas) – unter Abdeckung des Partnerauges ten von der Norm ab (zum Beispiel veränderte Krüm-
auf den Fixationspunkt der im angegebenen Untersu- mungsradien von Hornhaut und/oder Augenlinse, Stei-
chungsabstand (meist 40 cm) präsentierten, homogen gerung des Brechungsindex der Augenlinse durch Glu-
beleuchteten Amsler-Karte zu schauen. Metamorphop- koseeinlagerung bei entgleistem Diabetes mellitus).
sien äußern sich üblicherweise in einem lokal „welli- Der Brechwert (also die „Stärke“) eines korrigieren-
gen“ Linienverlauf und oft auch in einer veränderten den Glases wird in Dioptrien (dpt) angegeben; dies ent-
„Helligkeitswahrnehmung“ in diesem Areal. Diese spricht dem Kehrwert der zugehörigen, in Metern ange-
Wahrnehmungen kann der Patient zur Befunddoku- gebenen Brennweite. Als Daumenregel gilt: Pro Milli-
mentation und/oder zur Verlaufskontrolle durch Um- meter Baulängenabweichung resultiert eine Ametropie
randen mit einem Stift (ohne vom initial anvisierten Fi- von circa ±3 dpt.
xationsort wegzuschauen) auch selbst markieren.
Myopie
Ametropien (Fehlsichtigkeiten) Bei einer Kurzsichtigkeit, auch Myopie genannt, ent-
Fehlsichtigkeiten sind die häufigste Ursache für eine steht beim Blick in die Ferne für den Betroffenen ein un-
Sehschärfeminderung. Die Bestimmung einer solchen scharfer Seheindruck. Der Grund hierfür liegt darin, dass
Ametropie erfolgt entweder mit Hilfe von gerätebezoge- der Brechwert des abbildendenden Systems im Verhält-
nen Messverfahren (weitgehend ohne Zutun durch den nis zur Augenlänge zu hoch ist. Wie in eAbbildung 2b zu
Betroffenen: objektive Refraktion) oder durch eine weit- sehen ist, entsteht das Bild eines entfernten Objektes vor
gehend standardisierte Befragungstechnik während der der Netzhaut und wird somit in der Fovea unscharf abge-
Vorgabe von Korrektionsgläsern (subjektive Refraktion). bildet. Nahe gelegene Objekte bilden sich dagegen auch
Detaillierte Beschreibungen der Refraktionstechniken ohne jeglichen Akkommodationsaufwand auf der Retina
finden sich in der weiterführenden Literatur (13–19). Die scharf ab. Je geringer dieser Nahabstand bei (akkommo-
Reproduzierbarkeit der letzteren Vorgehensweise ist, dationsloser) Ruhelage des Auges ausfällt, desto stärker
selbst unter optimalen Bedingungen, unter anderem ist die Myopie. Ein kurzsichtiger Patient kann somit im
durch die Streuung der Probandenantworten, begrenzt Nahbereich ohne/mit geringem Akkommodationsauf-
(20). Ein insuffizienter Refraktionsausgleich kann zu ei- wand scharf sehen: Ein Myoper mit einem Brechkwert-
ner ein- oder beidseitigen Reduktion der Sehschärfe, defizit von −2,0 dpt sieht ohne oder mit vermindertem
aber auch zu erheblichen Einbußen des Sehkomforts Akkommodationsaufwand in 50 cm Abstand scharf. In
führen; hierzu zählen unter anderem sogenannte „asthe- Deutschland sind circa 35 % der Bevölkerung zwischen
nopische Beschwerden“ (zum Beispiel Trockenheits-, 35 und 74 Jahren von einer Myopie mit einer Ametropie
Fremdkörpergefühl der Augen, Augenrötung, Doppel- von mehr als −0,5 dpt betroffen (21).
bildwahrnehmung, vorzeitige Ermüdung, Leseunlust, Die bekannteste Korrektionsmöglichkeit stellt die
Kopfschmerzen). Brillen- oder Kontaktlinsenkorrektion mittels Zerstreu-
Vereinbarungsgemäß spricht man bei dem (reversi- ungslinsen dar (eAbbildung 2b). Diese optischen Lin-
blen) Vorsatz von optischen Medien von „Korrektion“ sen mit meniskenförmiger Gestalt und negativer Wir-
– der Begriff „Korrektur“ findet hingegen für operative kung verschieben das ursprünglich im Glaskörperraum
optisch korrigierende Maßnahmen am beziehungswei- befindliche Bild nach hinten auf die Netzhaut und er-
se im Auge Anwendung. zeugen somit eine scharfe Bildwahrnehmung.

Insuffizienter Refraktionsausgleich Sphärische Ametropie


Ein mangelhafter Refraktionsausgleich kann zu Bei sphärischer Ametropie besteht ein
einer ein- oder beidseitigen Reduktion der rotationssymmetrisches und somit durch einfache
Sehschärfe, aber auch zu erheblichen Einbußen Plus- oder Minuslinsen auszugleichendes
des Sehkomforts führen. Missverhältnis zwischen Augapfellänge und
Augenbrechwert.

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Brennlinie 2

Brennlinie 1

Abbildung 2: Pathogenese des Astigmatismus in Gestalt einer nichtrotationssymmetrischen Verformung der brechenden Medien.
Linke Bildhälfte: Darstellung rein sphärischer Abbildungsverhältnisse bei rotationssymmetrisch brechenden Medien;
Rechte Bildhälfte: bildhafte Erklärung der Astigmatismus-Pathogenese in Gestalt einer nichtrotationssymmetrischen Verformung der brechen-
den Medien. Anstelle einer kugelförmigen Linse liegt nunmehr ein Rotationsellipsoid („Football“) mit zwei unterschiedlichen Krümmungsra-
dien vor. Statt eines Brennpunkts (wie in der linken Bildhälfte) resultieren nunmehr zwei Brennlinien. Die weiter vorne liegende Brennlinie 1
korrespondiert mit dem senkrecht stehenden Meridian (blaue bogenförmige Linie) mit kleinerem Krümmungsradius und daher stärker
brechendem Hauptschnitt sowie vice versa.

Für Minusgläser gilt: Je weiter das korrigierende Glas Brillengläser mit negativer dioptrischer Wirkung (Mi-
von der Hauptebene (diese liegt circa 1,5 mm hinter der nusgläser) haben eine Bildverkleinerung zur Folge, die
Cornea) entfernt ist, desto ausgeprägter ist die Verkleine- sowohl der Brillenträger als auch sein Gegenüber bemer-
rungswirkung des Glases. Eine Verschiebung der Brillen- ken: Das Auge hinter einer Brille mit Minusgläsern er-
fassung nach vorn (gleichbedeutend mit einer Vergröße- scheint kleiner – besonders deutlich wird dies durch einen
rung des sogenannten Hornhautscheitelabstands) verla- Versatz des schläfenseitigen Orbitarands nach innen (eAb-
gert den Brennpunkt der Brillengläser nach vorn und vice bildung 3b). eAbbildung 3a–c vermitteln einen Eindruck
versa. Dieses Phänomen nutzen Brillenträger zum Aus- über das Ausmaß der Orbitarand-Verlagerung in Abhän-
gleich inadäquater Brillenkorrektionen: So wird zum Bei- gigkeit von der Stärke des korrigierenden Brillenglases.
spiel ein Myoper mit Überkorrektion (zu starken Minus- Eine weitere Korrektionsmöglichkeit der Myopie bie-
gläsern = Brennpunkt hinter der Netzhaut) seine Brille tet die refraktive Chirurgie: Hier wird mittels Laserbe-
nach vorne zur Nasenspitze hin verschieben. Hingegen handlung die Hornhaut „abgeflacht“ und somit der
wird ein Myoper mit Unterkorrektion (zu schwachen Mi- Krümmungsradius der Hornhautoberfläche vergrößert.
nusgläsern = Brennpunkt vor der Netzhaut) seine Brille Durch diesen zentralen Materialabtrag werden prinzi-
zur Nasenwurzel hin drücken, um besser sehen zu können. piell auch die biomechanischen Eigenschaften der Horn-

Korrektion durch Linsen Hyperopie


Bei Myopie verschieben optische Linsen das Bei der Hyperopie liegt das Bild eines
ursprünglich im Glaskörperraum befindliche Bild entfernten Objektes bei entspanntem Blick
nach hinten auf die Netzhaut und erzeugen somit (ohne Akkommodation) hinter der Netzhaut
eine scharfe Bildwahrnehmung. und wird somit auf der Netzhaut unscharf
abgebildet.

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haut beeinflusst, was sich unter anderem auch auf die träger wahrnimmt. Gleichzeitig erscheint auch das Au-
applanatorische Augeninnendruckmessung im Rahmen ge des hyperopen Brillenträgers hinter dem Brillenglas
von Glaukomuntersuchungen auswirken kann (22–24). größer – der schläfenwärtige Orbitarand verlagert sich
Weitere Details derartiger kerato-refraktiver Verfahren nach außen (eAbbildung 3c).
werden aufgrund des begrenzten Umfangs des Beitrags Auch bei der Hyperopie können prinzipiell (kera-
nicht erörtert; bezüglich weiterführender Literatur wird to-)refraktive Eingriffe zur Anwendung kommen: Hier
auf Übersichtsarbeiten verwiesen (25, 26). wird mittels geeigneter Laserbehandlung die Krüm-
mung der Hornhautoberfläche „steiler“ gestaltet, also
Hyperopie der Krümmungsradius verkleinert.
Bei dieser Form der Fehlsichtigkeit, auch Weitsichtigkeit
oder Übersichtigkeit genannt, entsteht bei entspanntem (Reguläre) zylindrische Ametropie
Blick (ohne Akkommodation) in die Ferne für den Pa- Eine zylindrische Ametropie entsteht immer dann,
tienten ein unscharfer Seheindruck. Der Grund hierfür wenn die Ursache der Fehlsichtigkeit in einer nichtrota-
liegt darin, dass der Brechwert des abbildendenden Sys- tionssymmetrischen Verformung der brechenden Me-
tems im Verhältnis zur Augenlänge zu gering ist: Das dien liegt. Dies ist vergleichbar mit einem (initial ku-
Bild eines entfernten Objektes liegt hinter der Netzhaut gelförmigen) Ball, der zwischen den Handflächen ge-
und wird somit auf der Netzhaut unscharf abgebildet drückt und somit abgeflacht wird. In derjenigen Ebene
(eAbbildung 2c). Junge Patienten können diesen Abbil- (Hauptschnitt), die senkrecht zu den drückenden Hand-
dungsfehler „automatisch“/unwillkürlich ausgleichen, flächen liegt, wird der Ball (zu einem Rotationsellip-
indem sie die Brechwert der Augenlinse durch Verringe- soid, einem „Football“) zusammengedrückt, der Krüm-
rung des Krümmungsradius anpassen (Akkommodation). mungsradius wird dadurch kleiner, und die lichtbre-
Somit wird das Bild nach vorne, auf die Netzhaut, ver- chende Wirkung (Brechwert) nimmt zu (Abbildung 2).
schoben und es entsteht ein scharfer Seheindruck. Schar- Im anderen (dazu senkrechten) Hauptschnitt ist der
fes Sehen ist für den (jungen) Hyperopen somit zwar Krümmungsradius vergleichsweise größer und die
möglich, aber mit zusätzlichem Akkommodationsauf- Brechwert somit relativ geringer. Bei einer zylindri-
wand verbunden („latente Hyperopie“). Liegt das Sehob- schen Fehlsichtigkeit ist also die Brechwert für ver-
jekt in der Nähe, so vergrößert sich die hierfür ohnehin schiedene Meridiane (Richtungen) unterschiedlich und
erforderliche Akkommodation zusätzlich um den bereits bedingt dadurch meist eine strichförmige Abbildung
für scharfe Netzhautabbildung von Fern-Objekten aufzu- des ursprünglich punktförmigen Objekts (daher die Be-
bringenden Betrag und steigert somit die Wahrschein- zeichnung „Stabsichtigkeit“ oder „Astigmatismus“).
lichkeit von sogenannten „asthenopischen Beschwer- Anstelle eines Brennpunkts nimmt der Betroffene unter
den“: Der Betroffene klagt hierbei über vergleichsweise Umständen somit eine Brennlinie wahr. Ursächlich
unspezifische Beschwerden, wie zum Beispiel Augen- liegt meist eine Verformung der Hornhaut (äußerer
schmerzen, Augenrötung, trockenes Auge, zeitweilige Astigmatismus) vor. Ein messtechnisch schwieriger zu
Doppelbilder, passageres Unscharfsehen oder Kopf- erfassender innerer Astigmatismus (Verformung der
schmerzen. Diese Symptome treten insbesondere in den Augenlinse) ist erheblich seltener.
Abendstunden, unter schlechten Beleuchtungsbedingun- In Deutschland sind 32,3 % der Bevölkerung zwi-
gen und nach längerer Nahtätigkeit auf. In Deutschland schen 35 und 74 Jahren von einem nennenswerten
sind 31,8 % der Bevölkerung zwischen 35 und 74 Jahren Astigmatismus (> 0,5 dpt) betroffen (21).
von einer Hyperopie (> +0,5 dpt) betroffen (21). In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle stehen
Die verbreitetste Korrektionsmöglichkeit der Hyper- die zugehörigen Ebenen (Hauptschnitte) senkrecht auf-
opie besteht in der Verordnung von Sammellinsen in einander – dann spricht man von einem regulären
Gestalt von Brillen- oder Kontaktlinsen (eAbbildung Astigmatismus, der sich durch sogenannte Zylinderlin-
2c). Diese optischen Linsen mit meniskenförmiger Ge- sen geeigneter Achslage und Stärke ausgleichen lässt.
stalt und positiver Wirkung verschieben das Bild von Anderenfalls liegt ein (vergleichsweise seltener) irregu-
entfernten Objekten von ihrer ursprünglichen Position lärer Astigmatismus vor, der durch konventionelle
hinter dem Auge nach vorne, auf die Netzhaut, wo- (sphäro-zylindrische) Brillengläser nicht vollständig
durch ein scharfes Bild entsteht. Derartige Sammellin- korrigiert werden kann, dessen Auswirkungen sich aber
sen vergrößern das Bild, das der weitsichtige Brillen- durch Vorhalten einer stenopäischen Blende meist spür-

Brillengläser Zylindrische Ametropie


Brillengläser mit positivem Brechwert korrigieren Eine zylindrische Ametropie entsteht durch
hyperope Refraktionsfehler (Weitsichtigkeit). eine nichtrotationssymmetrische Verformung
Circa 32 % der deutschen Erwachsenen haben der brechenden Medien.
eine Hyperopie jenseits von +0,5 dpt.

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A. inversus

RA LA

A. obliquus

A. rectus

n = 24 604 (Pupillen– Ø ≥ 4,5 mm); Gesamtkohorte = 40 850 (Österreich, Belgien, Deutschland, Niederlande, Schweiz)

Abbildung 3: Prävalenz der Achslagen des korrigierenden Minuszylinders in einer großen Population im Raum Mainz/Bingen (siehe auch [29]). Die relative Häufigkeit
für eine bestimmte Achslage ist durch die Länge der radiären Striche beziehungsweise durch die Radien der konzentrischen Kreise (beginnend mit dem kleinsten Ra-
dius, entsprechend n = 200, bis zum größten Radius, entsprechend n = 1 200) symbolisiert. A., Astigmatismus; RA, rechtes Auge; LA, linkes Auge

bar bessern lassen. Sollten diese Störungen durch ober- Die Achslage des korrigierenden (Minus-)Zylinder-
flächliche Hornhautirregularitäten mit Beeinträchti- glases ist ein Klassifikationskriterium des Astigmatis-
gung des Tränenfilms bedingt sein, kann eine formsta- mus. Gemäß des sogenannten TABO-Schemas (Techni-
bile Kontaktlinse Abhilfe schaffen. scher Ausschuss Brillen-Optik) wird die Achslage aus
Reguläre Astigmatismen werden optisch üblicher- der Sicht des Untersuchers („Auge in Auge“/„face to
weise durch sogenannte Zylinderlinsen ausgeglichen. face“) beschrieben. Hierbei entspricht die 0°-Position
Diese sind nichtrotationssymmetrisch, sondern Ab- einer horizontalen Achslage/Orientierung des Minus-
schnitte eines Glaszylinders (eAbbildung 4a). Hierbei oder Pluszylinders (Abbildung 3). Für beide Augen
ist der parallel zur Zylinderachse liegende Hauptschnitt steigt der Wert bei Drehung der Minuszylinder-Achse
optisch wirkungslos, senkrecht zur Zylinderachse hin- in mathematisch positiver Drehrichtung (also bei Dre-
gegen entfaltet ein Zylinderglas seine maximale opti- hung gegen den Uhrzeigersinn) an und endet bei 180°
sche Wirkung. (= 0°).
Ziel der Refraktionsbestimmung bei zylindrischer Eine Darstellung der Prävalenz der Achslagen des
Fehlsichtigkeit ist es, ein korrigierendes Zylinderglas korrigierenden Minuszylinders in einer großen Populati-
mit identischer Achslage, betragsmäßig gleicher Stärke on findet sich in Abbildung 3. Der Astigmatismus rectus
aber umgekehrtem Vorzeichen vor das astigmatische kommt am häufigsten vor, gefolgt vom Astigmatismus
Auge zu setzen. Durch diese Kombination entsteht eine inversus und vom deutlich selteneren Astigmatismus ob-
„planparallele Platte“, und die Stabsichtigkeit ist somit liquus (21). Letztere Astigmatismusform ist – gerade bei
ausgeglichen (eAbbildung 4b). monokularem/einseitigem Auftreten in nennenswertem
Ausmaß – mit einem besonderen Amblyopie-Risiko be-
Astigmatismus-Klassifikation gemäß Achslage haftet (27, 28).
Eine Klassifikation in Bezug auf die Astigmatismus-
Achslage hat nicht nur eine akademische, sondern Presbyopie
durchaus auch eine funktionelle beziehungsweise prog- Bei einer Alterssichtigkeit, auch Presbyopie genannt,
nostische Bedeutung; diese wird im eSupplement ver- ist die Fähigkeit des Auges beeinträchtigt, sich auf nahe
anschaulicht (eAbbildung 5a–d). Objekte einzustellen. Der Grund hierfür liegt im Elasti-

Verformung der Hornhaut Zylinderglas


Ursächlich liegt bei der zylindrischen Ametropie Bei Zylinderlinsen ist der parallel zur Zylinder-
meist eine Verformung der Hornhaut vor. Eine achse liegende Hauptschnitt optisch wirkungslos,
messtechnisch schwieriger zu erfassende senkrecht zur Achse hingegen entfaltet ein
Verformung der Augenlinse ist erheblich seltener. Zylinderglas seine maximale optische Wirkung.

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MEDIZIN

zitätsverlust der Augenlinse sowie in strukturellen Än- re Tiefe der Amblyopie auf als Betroffene mit einem
derungen im Bereich der Zonulafasern und des Ziliar- niedrige Brechwertdifferenz (39). Ein frühzeitiges Re-
muskels (30, 31). Die Alterssichtigkeit beginnt in der fraktionsscreening im Vorschulalter ist empfehlens-
Regel in der Mitte der 5. Lebensdekade: Ein in der Fer- wert, kann allein aber nicht alle Amblyopie-Ursachen
ne rechtsichtiger presbyoper Patient sieht Objekte in aufdecken (40).
der Ferne zwar scharf, diese verschwimmen jedoch in
der Nähe wegen der nachlassenden Akkommodations- Fazit
fähigkeit. Typisches Leitsymptom sind die „zu kurzen Einfache Funktionstests erlauben es auch nicht oph-
Arme“ beim intendierten Lesevorgang. thalmologisch tätigen Ärztinnen und Ärzten, im Praxis-
Die bekannteste Korrektionsmöglichkeit ist die Bril- alltag oder in einer Klinikambulanz schnell und mit
lenkorrektion mittels einer Lesebrille (mit Pluswir- hinreichender Sicherheit zwischen einer (primär harm-
kung) (18, 32). Der Refraktionsausgleich für Ferne und losen) Fehlsichtigkeit und anderen, folgenschweren Ur-
Nähe kann über zwei getrennte Brillen für Ferne und sachen einer visuellen Funktionsstörung zu unterschei-
Nähe, über eine Bifokalbrille (mit zwei Brechwerten: den.
Ferne, Nähe), selten über eine Trifokalbrille (mit drei
Brechwerten/Brechwertzonen: Ferne, Mittelbereich, Danksagung
Die Autoren danken Elli Goldhorn für die Anfertigung der Fotografien für eAb-
Nähe) oder eine Gleitsichtbrille (mit stufenloser Brech- bildung 3, Maja Grigoleit für die Erstellung der Grafiken in eAbbildung 4, Mat-
wertänderung von Fern- zu Nahwirkung) erfolgen. In thias Müller für die Visualisierung der Häufigkeitsverteilungen in Abbildung 3,
jüngerer Zeit kommen auch Kontaktlinsen und Intra- Thomas Kübler für die optischen Schemazeichnungen in eAbbildung 2 sowie
Dr. phil. Dr. med. Ronald D. Gerste, Prof. Dr. Anne Buser und allen Gutachtern
okularlinsen mit verschiedenen Brechwertzonen zur herzlich für ihre wertvollen Hinweise.
Anwendung; allerdings gibt es für diese Linsentypen
Hinweise auf reduzierte Abbildungseigenschaften bei Interessenkonflikt
vergleichsweise großem Pupillendurchmesser in der Prof. Schiefer erhielt Honorare für Beratertätigkeiten von Servier, Pharm-Aller-
gan, Haag-Streit sowie für Vortragstätigkeiten von Alcon Pharma, Pharm-Aller-
Dämmerung oder bei Nacht (33–35). Eine Korrektion gan, MSD-Chibret, Pfizer und Oculus.
ist prinzipiell auch möglich durch sogenannte Monovi- Die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
sion (ein Auge mit Fernkorrektion, das andere Auge mit
Nahkorrektion) – allerdings bei dann eingeschränktem Manuskriptdaten
eingereicht: 26. 2. 2016, revidierte Fassung angenommen: 19. 7. 2016
räumlichem Sehvermögen (36).
LITERATUR
Anisometropie 1. Taylor JF: Vision and driving. Practitioner 1982; 226: 68.
Der Begriff Anisometropie charakterisiert ein relevan- 2. Huang J, Wen D, Wang Q, et al.: Efficacy comparison of 16 inter-
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Partneraugen: Für einen interokularen Brechwertunter- Ophthalmology 2016; 123: 697–708.
schied von 3 dpt oder mehr wird eine Prävalenz von 3. Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen: Brillenstudie
2–3 % angegeben (37). In ausgeprägten Fällen einer 2014 | ZVA. www.zva.de/brillenstudie (last accessed on 24 Sep-
tember 2016).
Anisometropie kann begleitend ein beträchtlicher Un-
terschied der Bildgrößenwahrnehmung (Aniseikonie) 4. Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen: Branchen-
kennzahlen Augenoptik. www.zva.de/branchenkennzahlen (last ac-
auftreten. cessed on 24 September 2016).
Unter Amblyopie versteht man eine Schwachsichtig- 5. Wolfram C, Pfeiffer N: Weißbuch zur Situation der ophthalmologi-
keit/Sehschärfeminderung ohne morphologisch unmit- schen Versorgung in Deutschland. Deutsche Ophthalmologische
telbar fassbares Korrelat, als Ergebnis einer beeinträch- Gesellschaft 2012.
tigten Entwicklung des Sehvermögens. Die Amblyo- 6. Zrenner E, Wilhelm H, Schiefer U: Differentialdiagnostische Strate-
pie-Prävalenz liegt in Deutschland gemäß einer großen gien bei unklaren Sehstörungen. Ophthalmologe 1993; 90:
prospektiven Kohortenstudie bei 5,6 % (38). Ungefähr 104–19.
50 % aller Amblyopie-Fälle sind durch eine Anisome- 7. Wesemann W, Schiefer U, Bach M: Neue DIN-Normen zur Seh-
schärfebestimmung. Ophthalmologe 2010; 107: 821–6.
tropie verursacht, 25 % durch Schielen und circa 17 %
8. Ophthalmische Instrumente – Sehzeichenprojektoren (DIN EN
durch eine Kombination der beiden vorgenannten Ursa-
ISO 10938). Berlin: Beuth 1998. www.beuth.de/de/norm/
chen (39). Kinder mit einer höhergradigen Anisometro- din-en-iso-10938/3725889 (last accessed on 24 September
pie weisen eine höhere Prävalenz und eine ausgeprägte- 2016).

Ausgleich durch Zylindergläser Alterssichtigkeit


Astigmatische Fehlsichtigkeiten führen zu Ein in der Ferne rechtsichtiger presbyoper Patient
einer Verzerrung der Bildwahrnehmung und sieht Objekte in der Ferne zwar scharf, diese
werden durch Zylindergläser (mit nichtrotations- verschwimmen jedoch in der Nähe wegen der
symmetrischer Wirkung) ausgeglichen. nachlassenden Akkommodationsfähigkeit.

700 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 41 | 14. Oktober 2016


MEDIZIN

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Monokularer Feinabgleich. Ophthalmologe 2002; 99: 657–67. Hochschule Aalen
18. Friedburg D, Krause K: Subjektive Refraktionsbestimmung – Teil III: Anton-Huber-Straße 23
Binokularabgleich, Nahbrille. Ophthalmologe 2002; 99: 734–41. 73430 Aalen
ulrich.schiefer@hs-aalen.de
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@ The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
2002; 30: 334–7. Zusatzmaterial
Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:
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www.aerzteblatt.de/lit4116 oder über QR-Code
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www.aerzteblatt.de/16m0693 oder über QR-Code
24. Shrivastava A, Madu A, Schultz J: Refractive surgery and the glau-
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small-incision lenticule extraction vs. femtosecond laser-assisted
LASIK. Curr Opin Ophthalmol 2015; 26: 260–4.
Weitere Informationen zu cme
26. Reinstein DZ, Archer TJ, Gobbe M: Small incision lenticule extraction
(SMILE) history, fundamentals of a new refractive surgery technique Dieser Beitrag wurde von der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort-
and clinical outcomes. Eye Vis Lond Engl 2014; 1: 3.
und Weiterbildung zertifiziert. Die erworbenen Fortbildungspunkte können mit
27. Chou YS, Tai MC, Chen PL, Lu DW, Chien KH: Impact of cylinder axis
on the treatment for astigmatic amblyopia. Am J Ophthalmol 2014;
Hilfe der Einheitlichen Fortbildungsnummer (EFN) verwaltet werden.
157: 908–14. e1. Unter cme.aerzteblatt.de muss hierfür in der Rubrik „Persönliche Daten“ und
28. Abrahamsson M, Sjöstrand J: Astigmatic axis and amblyopia in bei der Registrierung die EFN in das entsprechende Feld eingegeben werden
childhood. Acta Ophthalmol Scand 2003; 81: 33–7. und durch Bestätigen der Einverständniserklärung aktiviert werden.
29. Hartwig A, Atchison DA: Analysis of higher-order aberrations in a
large clinical population. Invest Ophthalmol Vis Sci 2012; 53: Die 15-stellige EFN steht auf dem Fortbildungsausweis.
7862–70.
30. Bron AJ, Vrensen GF, Koretz J, Maraini G, Harding JJ: The ageing Wichtiger Hinweis
lens. Ophthalmologica. 2000; 214: 86–104. Die Teilnahme an der zertifizierten Fortbildung ist ausschließlich über das Internet
31. Gilmartin B: The aetiology of presbyopia: a summary of the role of möglich: cme.aerzteblatt.de. Einsendeschluss ist der 8. 1. 2017.
lenticular and extralenticular structures. Ophthalmic Physiol Opt J
Br Coll Ophthalmic Opt Optom 1995; 15: 431–7. Einsendungen, die per Brief oder Fax erfolgen, können nicht berücksichtigt werden.
32. Krause H-K: Fallstricke bei der Bestimmung von Nahbrillen. Oph- Die cme-Einheit „Pharmakotherapie chronischer neuropathischer Schmerzen“
thalmologe 2011; 108: 324–30. (Heft 37/2016) kann noch bis zum 11. 12. 2016 bearbeitet werden.
33. García-Lázaro S, Ferrer-Blasco T, Madrid-Costa D, Albarrán-Diego
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multifocal contact lenses under dim and glare conditions. Eye Con- (Heft 33–34/2016) kann noch bis zum 13. 11. 2016 bearbeitet werden.
tact Lens 2015; 41: 19–24.
Die cme-Einheit „Diagnostik und Therapie von Nagelerkrankungen“
34. Woods J, Woods C, Fonn D: Visual performance of a multifocal con-
tact lens versus monovision in established presbyopes. Optom Vis (Heft 29–30/2016) kann noch bis zum 16. 10. 2016 bearbeitet werden.
Sci 2015; 92: 175–82.

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 41 | 14. Oktober 2016 701


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Bitte beantworten Sie folgende Fragen für die Teilnahme an der zertifizierten Fortbildung. Pro Frage
ist nur eine Antwort möglich. Bitte entscheiden Sie sich für die am ehesten zutreffende Antwort.

Frage Nr. 1 Frage Nr. 6


Wie hoch ist der Anteil der mit einer Sehhilfe versorgten Wie weit ist ein Auto entfernt, wenn unter guten
Bürger über 16 Jahren in Deutschland? Sichtbedingungen und einer Sehschärfe von 1,0 bei einer orientie-
a) circa 10 % renden Visusprüfung rund 60 % der runden Buchstaben oder Zah-
b) circa 30 % len des Autokennzeichens korrekt erkannt werden?
c) circa 50 % a) circa 15 m
d) circa 70 % b) circa 30 m
e) circa 90 % c) circa 45 m
d) circa 60 m
e) circa 100 m

Frage Nr. 2
Welcher prozentuale Anteil von Patienten
kommt aufgrund von Refraktionsproblemen in eine Frage Nr. 7
Augenarztpraxis? Wie groß ist circa die Nah-Sehschärfe bei einer flüssigen
a) circa 3 % Lesefähigkeit von normalem Zeitungsdruck in 40 cm Abstand?
b) circa 13 % a) circa 0,1
c) circa 21 % b) circa 0,2
d) circa 53 % c) circa 0,5
e) circa 70 % d) circa 0,8
e) circa 1,0

Frage Nr. 3
Welches Hilfsmittel erlaubt eine vergleichsweise Frage Nr. 8
schnelle und einfache Identifikation refraktiv bedingter Was charakterisiert den Begriff der Anisometropie?
Fehlsichtigkeiten? a) das relevante Brechwertungleichgewicht zwischen den beiden
a) das Vorhalten einer Loch- oder Siebblende Partneraugen
(stenopäische Lücke) b) die beeinträchtigte Fähigkeit des Auges, sich auf nahe Objekte
b) die direkte Ophthalmoskopie einzustellen
c) der Pupillen-Wechselbeleuchtungstest c) die optische Korrektion durch Plusgläser
(„swinging flashlight“-Test) d) die oberflächliche Hornhautirregularität
d) das Vorhalten starker Plus- beziehungsweise Minuslinsen e) den zu geringen Brechwert des abbildenden Systems im Verhältnis
e) die Gesichtsfelduntersuchung (Perimetrie) zur Augenlänge

Frage Nr. 4 Frage Nr. 9


Worüber gibt die Sehschärfe (der Visus) unmittelbar Wie viel Dioptrien sind in etwa zur Korrektion von 1 mm
Auskunft? Abweichung der Baulänge des Auges erforderlich?
a) über die Kontrastempfindlichkeit a) ±1 dpt
b) über die Blendungsempfindlichkeit b) ±3 dpt
c) über die Leuchtdichteunterschiedsempfindlichkeit c) ±5 dpt
d) über das Auflösungsvermögen d) ±7 dpt
e) über die räumliche Wahrnehmung e) ±9 dpt

Frage Nr. 5 Frage Nr. 10


Welches Sehzeichen ist international bei Wann entsteht eine zylindrische Ametropie?
Gutachten anerkannt? a) durch eine Verkleinerung des Krümmungsradius
a) Zahlenreihen b) wenn schräge Astigmatismen mit einer Amblyopie verknüpft sind
b) gemischte Buchstaben- und Zahlenreihen c) bei einer rotationssymmetrischen Verzeichnung von Sehobjekten
c) Lesetexte d) durch asthenopische Beschwerden
d) die Sehzeichenkarte e) wenn die Ursache der Fehlsichtigkeit in einer nichtrotationssymetrischen
e) der Landolt-Ring Verformung der brechenden Medien liegt

702 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 41 | 14. Oktober 2016


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Zusatzmaterial zu:
Refraktionsfehler
Epidemiologie, Auswirkungen und Behandlungsmöglichkeiten
Ulrich Schiefer, Christina Kraus, Peter Baumbach, Judith Ungewiß, Ralf Michels
Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 693–702. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0693

eSUPPLEMENT

G emäß DIN 58220 (7) und ISO 10938 (8) ist der
so genannte Landolt-Ring mit acht möglichen
Lückenpositionen (vier gerade und vier schräge) das
Astigmatismus-Klassifikation
gemäß der Achslage
Astigmatismus rectus
einzige, international bei Gutachten akzeptierte Sehzei- Bei dieser häufigsten astigmatischen Fehlsichtigkeit
chen, (Abbildung 1, eAbbildung 1). Mindestens 60 % liegt die Achse des korrigierenden Minuszylinders
einer Zeile von mindestens fünf Landolt-Ringen identi- annähernd horizontal (Bereich 150°–30°, eAbbil-
scher Größe, aber unterschiedlicher Lückenpositionen dung 5b und Abbildung 3); Objekte werden in die-
müssen korrekt erkannt werden, um die zugehörige Vi- sem Fall in vertikaler Richtung ver-/entzerrt. Ur-
sus-Stufe als erkannt werten zu können. sächlich ist hier unter anderem die Lidspannung der
Brillengläser mit negativer dioptrischer Wirkung (Mi- horizontal ausgerichteten Ober- und Unterlidkante
nusgläser) haben eine Bildverkleinerung zur Folge, die (wie ein von oben und unten zusammengedrückter
sowohl der Brillenträger bemerkt als auch sein Gegen- Ball, siehe auch Abbildung 2). Unkorrigiert führt
über: Das Auge hinter einer Brille mit Minusgläsern er- hierbei die verstärkte Brechwert in senkrechter Wir-
scheint kleiner – besonders deutlich wird dies durch einen kung zu einer Verzerrung/Streckung der Bildwahr-
Versatz des schläfenseitigen Orbitarands nach innen (eAb- nehmung in vertikaler Richtung. Diese der Wirkung
bildung 3b). eAbbildung 3a–c vermittelt einen Eindruck eines Lesestabs entsprechende Vergrößerung von
über das Ausmaß der Orbitarand-Verlagerung in Abhän- Buchstaben in vertikaler Richtung wird von einigen
gigkeit von der Stärke des korrigierenden Brillenglases. Patienten gerade beim Lesen gegenüber der Origi-
Gleichzeitig erscheint auch das Auge des hyperopen nalvorlage (eAbbildung 5a) als positiv empfunden.
Brillenträgers hinter dem Brillenglas größer – der schlä-
fenseitige Orbitarand verlagert sich nach außen (eAbbil- Astigmatismus inversus
dung 3c). Diese Abbildung vermittelt auch einen Eindruck Bei dieser zweithäufigsten astigmatischen Fehlsichtig-
über das Ausmaß der Orbitarand-Verlagerung in Abhän- keit liegt die Achse des korrigierenden Minuszylinders
gigkeit von der Stärke des korrigierenden Brillenglases. annähernd senkrecht (Bereich 60°–120°, eAbbildung 5c),
und Objekte werden in horizontaler Richtung verzerrt.

Astigmatismus obliquus
Bei dieser astigmatischen Fehlsichtigkeit liegt die Ach-
se des korrigierenden Minuszylinders schräg, also in ei-
nem Bereich von 30–60° beziehungsweise 120–150°
(eAbbildung 5d), und Objekte werden somit schräg ver-
zerrt. Diese Astigmatismusform ist – gerade bei mon-
okularem/einseitigem Auftreten in nennenswertem
Ausmaß – mit einem besonderen Amblyopie-Risiko
behaftet. Bei dieser Konstellation kommt es nämlich zu
einer Diskrepanz zwischen der (verzerrten, verkippten)
visuellen Wahrnehmung und der durch den Lage- oder
Tastsinn vermittelten regulären (horizontalen bezie-
hungsweise vertikalen) Ausrichtung. Der einfachste
Weg, eine derartige „Konfusion“ zu beseitigen, besteht
im funktionellen/neuronalen „Abschalten“ des betrof-
fenen Auges. Hieraus resultiert eine Schwachsichtig-
keit (Amblyopie) – das heißt eine Funktionsminderung
ohne (makroskopisch-strukturell) fassbares Korrelat:
eAbbildung 1: Landolt-Ring: Der Ring ist in ein Quadrat aus 5 x 5
Der Betroffene hat eine reduzierte Sehschärfe, insbe-
quadratischen Teilelementen der Kantenlänge „e“ einbeschrieben.
Seine Strichstärke und ebenso auch die Lückenbreite entsprechen
sondere für eng beieinanderstehende Sehzeichen, die
einem Teilelement. Die Lücke kann in acht (vier geraden und vier nicht hinreichend getrennt werden können und „durch-
schrägen) Positionen dargeboten werden. Der Sehwinkel, unter dem einanderpurzeln“ („crowding“). Dies wirkt sich insbe-
die Lücke erscheint, spezifiziert die zugehörige Sehschärfestufe. sondere auf Lesetexte aus (27, 28).

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 41 | 14. Oktober 2016 | Zusatzmaterial I


II
Brechwertstatus Darstellung schematischer Strahlengang schematischer Strahlengang
der Auswirkung (ohne optische Korrektion) (mit optischer Korrektion)
a) Emmetropie
MEDIZIN

b) Myopie

Objekt Zwischenbild Bild

c) Hyperopie

Objekt Bild Zwischenbild

eAbbildung 2: Veranschaulichung der „Emmetropie“ (Rechtsichtigkeit, eAbbildung 2a) und sphärischer Fehlsichtigkeiten: Myopie (Kurzsichtigkeit, eAbbildung 2b), Hyperopie (Weitsichtigkeit, eAbbildung 2c) sowie die
zugehörigen schematischen Strahlengänge ohne und mit optischer Korrektion
a) Emmetropie – das Bild eines unendlich weit entfernten Objekts liegt (bei entspannter Ruhelage, also ohne Akkommodation) genau auf der Netzhaut.
b) Myopie: Das Bild eines unendlich weit entfernten Gegenstands liegt vor der Netzhaut. Eine Akkommodation, mit der Folge einer stärkeren Krümmung und dadurch gesteigerter Brechwert der Augenlinse, würde das Bild noch
weiter von der Netzhautebene fort nach vorne in den Glaskörperraum verlagern und damit noch unschärfer machen.
c) Hyperopie: Das Bild eines unendlich weit entfernten Objekts liegt (bei entspannter Ruhelage, also ohne Akkommodation) hinter der Netzhaut, kann aber durch Akkommodationsaufwand zumindest in Richtung auf die Netz-
hautebene hin verschoben oder sogar bis auf die Netzhautebene selbst vorverlagert werden.

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 41 | 14. Oktober 2016 | Zusatzmaterial


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0 dpt
a

–3 dpt –6 dpt –9 dpt


b

+3 dpt +6 dpt +9 dpt


c
eAbbildung 3: Ausmaß des schläfenseitigen Orbitarands in Abhängigkeit von Vorzeichen und Stärke des verwendeten Brillenglases
a) Ausmaß der brillenglasbedingten Verlagerung des schläfenseitigen Orbitarands bei Emmetropie (0 dpt)
b) Ausmaß der brillenglasbedingten Verlagerung des schläfenseitigen Orbitarands bei Myopie (−3,0 dpt, −6,0 dpt, −9,0 dpt)
c) Ausmaß der brillenglasbedingten Verlagerung des schläfenseitigen Orbitarands bei Hyperopie (+3,0 dpt, +6,0, +9,0 dpt)

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 41 | 14. Oktober 2016 | Zusatzmaterial III
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Pluszylinder Astigmatismus gleiche Achse, gleiche Stärke,


Konvexzylinder umgekehrtes Vorzeichen:

Hauptschnitt
(→ Wirkung)
senkrecht zur Achse

a b

→ planparallele Platte
Zylinderachse („Fensterglas“)

eAbbildung 4: Zylindrische Fehlsichtigkeiten und deren optische Korrektion


a) Funktionsprinzip einer (Plus-)Zylinderlinse: Hierbei handelt es sich um den Abschnitt eines Glaszylinders. Der parallel zur Zylinderachse ausgerichtete
Hauptschnitt ist optisch wirkungslos, der senkrecht zur Zylinderachse liegende Hauptschnitt entfaltet hingegen die maximale optische Wirkung.
b) Ausgleich einer zylindrischen Fehlsichtigkeit durch Vorgabe eines korrigierenden Zylinderglases mit identischer Achslage, betragsmäßig gleicher Stärke,
wirkungsmäßig aber umgekehrtem Vorzeichen. Hierdurch resultiert eine optisch neutrale (das heißt optisch unwirksame) „planparallele Platte“.

IV Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 41 | 14. Oktober 2016 | Zusatzmaterial


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Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 41 | 14. Oktober 2016 | Zusatzmaterial V


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eAbbildung 5a–d: Astigmatismus-Klassifikation und -Auswirkung im Hinblick auf die Achslage des korrigierenden Minuszylinders
(beziehungsweise der Achslage der jeweils vorderen Brennlinie) – dargestellt am Beispiel eines standardisierten Lesetexts (RADNER-Tafeln).
Die Abbildungen sollen eine exemplarische Darstellung des Seheindrucks vermitteln; dieser hängt stets davon ab, welche der Brennlini-
en näher an der Netzhaut liegt.
a) Originalsituation (links: Fernsicht, rechts: Nah-Leseprobe, RADNER-Test);
b) Astigmatismus rectus: Die weiter vorne liegende Brennlinie verläuft annähernd horizontal; dies gilt somit auch für die Achslage
des korrigierenden Minuszylinders: Bereich 0°–30° beziehungsweise 150°–180° (Abbildung 3).
c) Astigmatismus inversus: Die weiter vorne liegende Brennlinie verläuft annähernd vertikal; dies gilt somit auch für die Achslage
des korrigierenden Minuszylinders: Bereich 60°–120° (Abbildung 3).
d) Astigmatismus obliquus: Die Achslage des korrigierenden Minuszylinders liegt schräg: Bereich 30°–60° bis 120°–150°.

VI Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 41 | 14. Oktober 2016 | Zusatzmaterial

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