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Iberoamericana Editorial Vervuert is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend
access to Iberoamericana (1977-2000)
Iberoamericana 1, 1980 23
Während die diktatoriale Gewalt die Sicht auf die strukturelle Gewalt der ab-
hängigen kapitalistischen Gesellschaft verstellt, könnte vielleicht umgekehrt
jede Revolution - von unten, versteht sich - die gesamtgesellschaftlichen
Notwendigkeiten erhellen, und sei es auch nur für einen kurzen historischen
Moment. Wenigstens ist anzunehmen, daß die gemeinschaftliche, Klassen-
grenzen aufhebende revolutionäre Erfahrung oder auch nur die existentielle
Grenzsituation der Entscheidung, mitzumachen oder nicht, die Reflexion
über den eigenen gesellschaftlichen Standort allen Ernstes erzwingt. Da aber
das durch eine Revolution geweckte Bewußtsein ungerecht verteilter Lasten
und Privilegien, die obendrein nicht einmal im Sinne nationalökonomischer
Bedürfnisse genutzt werden, mit vielen und verzweigten Interessen kollidiert,
wird es lieber verdrängt als literarisch aufgearbeitet4 .
Bisher sind noch die meisten Diktatoren in Lateinamerika gestürzt worden,
nicht immer durch Volkserhebungen, aber doch häufig genug, um am Ende
der geschichtlichen Erfahrung einer Diktatur prinzipiell eine mehr oder weni-
ger lange Phase revolutionärer Aktionen und Stimmung anzusetzen. Sicher
gehen die Diktatorenromane von jeweils unterschiedlichen historischen, per-
sönlichen und literarischen Erfahrungen aus. Besonders die in den siebziger
Jahren erschienenen sind kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen5
und vielleicht ist die gesamte Serie von García Márquez mit El otoño del
patriarca (1975) zu Grabe getragen worden, wenigstens was einen hypertro-
phen politischen Wirkungsanspruch anbelangt. Mit aller Vorsicht ließe sich
jedoch die Annahme vertreten, daß bei der literarischen Gestaltung der Dik-
tatur die Revolution, die ihren Sturz herbeiführte, berücksichtigt wurde und
daß die Texte Zeichen enthalten, die diese Revolution ausweisen. Anders ge-
sagt: bei der Gestaltung einer endlosen Diktatur ergibt sich eine Bruchstelle
von realer historischer Erfahrung und literarischer Gestaltung von Geschichte
oder Geschichtspartikeln, deren Auswertung möglicherweise sogar struktur-
bestimmende Elemente zutage bringen könnte. Die Voraussetzung dazu ist
jedoch, daß man an jene Bruchstelle bis auf Kompatrioten- und Zeitgenossen-
nähe des Autors heranzukommen sucht.
Um mein Vorgehen bei der Untersuchung von Miguel Angel Asturias' Roman
El señor Presidente (1946)6 zu präzisieren: Ihr Ziel ist nicht der Vergleich
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Bereits Seymour Menton hatte auf die Vielzahl von historischen Personen
und Lokalitäten Guatemalas, die in die Romanhandlung eingegangen sind,
hingewiesen^* . Ihre Identifikation wurde später mit großer Sorgfalt von Jack
Himelblau vorgenommen10. Himelblau geht jedoch nicht über eine Verifizie-
rung hinaus und fragt nicht, warum, mit welcher Zielsetzung und welchen Ein-
schränkungen die realhistorischen Elemente von Asturias bearbeitet wurden.
Er geht auch nicht auf die Fragen ein, die sich aus den Angaben zur erzählten
Zeit der drei Romanteile ergeben :
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Die belegbaren geschichdichen Elemente des Romantextes sind mit den an-
geführten Beispielen nicht erschöpft. Manche Charakterzüge und die Dipso-
manie des Señor Presidente, die Folterungen in den Gefängnissen, das Bordell
„El dulce encanto" neben anderen Lokalitäten, die Bettler Patahueca, Mosco,
Pelele u.a. oder auch das Modell von Cara de Angel, Alfonso Gálvez Porto-
carrero, könnten noch aufgeführt werden20. In ihrer Gesamtheit bestätigen
sie, daß es Asturias bei seinen Rückgriffen auf die Geschichte Guatemalas
darum ging, die Diktatur als ein weder durch Individuen noch durch soziale
Gruppen überwindbares System darzustellen21 . Die aufgeworfene Frage nach
seiner ideologischen Position ist damit noch nicht eindeutig zu beantworten,
wenn auch die durchgängige Negation jeglichen erfolgreichen Widerstands ge-
gen die Diktatur, die besonders in der Umänderung der Carrascosa-Folie deut-
lich wird, die angenommene politische Intention des Autors hinsichtlich der
geschichtlichen Bedeutung der „semana trágica" problematisch werden läßt.
Denn wenn auch jener Aufstand über den Sturz Estrada Cabreras hinaus letzt-
lich scheiterte22, bewiesen seine Vorbereitung und Durchführung, daß die
stabilste Diktatur gestürzt werden kann oder sogar, daß systemverändernde
Revolutionen möglich sind, wohingegen der Romantext weder eine revolu-
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Was aber sind die Hintergründe für das Verhalten Asturias'? Welche persön-
lichen Rücksichten oder Absichten bedingen seine auf Negation hinauslau-
fende literarische Verarbeitung der guatemaltekischen Revolutionen? Das
Attribut „politisch", das durch den Gegensatz zu „sozialem Engagement"
auf eine von Klassenbeziehungen abgelöste Vorstellung von parteipolitischer
Tätigkeit hindeutet, könnte einen Hinweis bieten.
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