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Springer-Lehrbuch

Jürgen Krämer
Joachim Grifka

Orthopädie
Unter Mitarbeit von
T. Kalteis, L. Perlick, A. Rößler, F. Rubenthaler, M. Tingart,
M. Wiese, R. Willburger

7., korrigierte und aktualisierte Auflage

Mit 248 Abbildungen in 410 Einzeldarstellungen und 110 Übersichten

123
Professor Dr. med. Jürgen Krämer
Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik St. Josef Hospital Bochum
Gudrunstraße 56, 44791 Bochum

Professor Dr. med. Joachim Grifka


Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik Regensburg, BRK Rheumazentrum Bad Abbach
Kaiser Karl V-Allee 3, 93074 Bad Abbach

Dr. med. Frank Rubenthaler


Dr. med. Mattias Wiese
Priv. Doz. Dr. med. Roland Willburger
Oberärzte der Orthopädischen Universitätsklinik St. Josef Hospital Bochum

Dr. med. Lars Perlick


Oberarzt der Orthopädischen Universitätsklinik Regensburg

Dr. med. Thomas Kalteis


Dr. med. Markus Tingart
Assistenzärzte der Orthopädischen Universitätsklinik Regensburg

Achim Rößler
Leiter der Schule für Physiotherapie der St. Elisabeth-Stiftung, Bochum

ISBN 3-540-21970-6
Springer Medizin Verlag Heidelberg
1. Auflage (1983) erschien unter dem Titel »Orthopädie« Heidelberger Taschenbücher, Band 224
ISBN 3-540-41788-5 6. Auflage Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
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Lektorat: Peter Bergmann, Springer, Heidelberg
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Herstellung: Constanze Sonntag, PRO EDIT GmbH, Heidelberg
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Zeichnungen: R. Gattung-Petith, Albert R. Gattung, Edingen-Neckarhausen
SPIN 10 81 67 62
Satz: hagedorn kommunikation, Viernheim
Druck: Stürtz GmbH, Würzburg
Gedruckt auf säurefreiem Papier 15/3160/So–5 4 3 2 1 0
V

Vorwort zur 7. Auflage

Aus dem »Monoautorenlehrbuch« wurde in der 6. Auflage ein »Biautorenlehrbuch«

Die Berufung des neuen Mitautors Prof. Grifka auf den Lehrstuhl für Orthopädie an der Universität
Regensburg schuf beste Voraussetzungen für eine gemeinsame Weitergestaltung dieses Kurzlehrbuchs.
Lehrstuhl bedeutet ständige Auseinandersetzung mit den Lehr- und Prüfungsinhalten der Mediziner-
ausbildung im zweiten Studienabschnitt. Der Text darf nicht zu umfangreich sein, muss aber dennoch
alles enthalten, was ein Nicht-Orthopäde von unserem Fachbereich wissen sollte und gegebenenfalls im
zweiten Staatsexamen abgefragt werden kann.
In dieser Auflage sind neben neuen unbedingt wissenswerten Lerninhalten auch erstmalig Fallbei-
spiele mit typischen Orthopädiepatienten (Nomen est omen) aufgenommen worden, die dem problem-
orientierten Lernen und Prüfen (POL und POP) Rechnung tragen.

Wir freuen uns schon auf die nächsten Auflagen.

Bochum und Regensburg, 2004


Jürgen Krämer, Joachim Grifka
Vorwort zur ersten Auflage

Mit dem Wandel des Medizinstudiums ändern sich auch die Lehrbücher. Zur Examensvorbereitung benö-
tigt der Medizinstudent Unterlagen, die ihm einerseits das notwendige Wissen für seine spätere ärztliche
Tätigkeit auch in Spezialdisziplinen wie der Orthopädie vermitteln, andererseits muss er sich in möglichst
kurzer Zeit einen Wissensstand erarbeiten, der es ihm erlaubt, schriftliche Fragen zu beantworten, die z.T.
einer berufsfremden Eigengesetzlichkeit unterliegen. In einem Seminar für Examenssemester, das seit 10
Jahren zunächst in Düsseldorf und nun auch in Bochum im letzten klinischen Semester abgehalten wird,
haben wir versucht, beide Aufgaben miteinander zu verbinden. Als Unterlage diente ein Skript, das nun
als Taschenbuch erscheint.
Ich danke allen meinen Doktoranden und Seminarstudenten, die bei der Manuskriptgestaltung und
Fragenzusammenstellung halfen. Bei meiner Frau bedanken wir uns für die schönen Zeichnungen.

Bochum – Formentera im Frühjahr 1983


J. Krämer
VII
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Allgemeine Orthopädie Spezielle Orthopädie

1 Anatomie, Biomechanik und 5 Wirbelsäule 131


Pathophysiologie 7 5.1 Grundlagen zur Orthopädie der
1.1 Anatomie 8 Wirbelsäule 133
1.2 Biomechanik und Statik 10 5.2 Anlagebedingte Störungen 135
1.3 Allgemeine Pathophysiologie der Stütz- 5.3 Entzündliche Wirbelsäulen-
und Bewegungsorgane 26 erkrankungen 149
5.4 Degenerative Wirbelsäulen-
2 Anamnese und klinische erkrankungen 154
Untersuchung 37 5.5 Tumoren an der Wirbelsäule 174
2.1 Anamnese 38 5.6 Wirbelsäulenverletzungen 174
2.2 Untersuchungsbefund 38 5.7 Begutachtung 176
2.3 Weiterführende Untersuchungs-
verfahren 40 6 Brustkorb 179
6.1 Trichterbrust (Pectus excavatum) 180
3 Behandlungsmethoden 53 6.2 Hühnerbrust (Pectus carinatum,
3.1 Nichtoperative Therapie 54 Kielbrust) 180
3.2 Operative Therapie 63 6.3 Neurovaskuläre Engpasssyndrome
3.3 Soziale Orthopädie, Rehabilitation 68 am Hals/Thoraxübergang (Thoracic-
outlet-Syndrom) 181
4 Generelle Erkrankungen 73
4.1 Kongenitale Deformierungen 75 7 Hals 183
4.2 Metabolische Knochenerkrankungen 7.1 Schiefhals (Torticollis) 184
und Knochenumbaustörungen 80
4.3 Entzündliche Knochenerkrankungen 89 8 Schulter 187
4.4 Tumoren und tumorähnliche 8.1 Funktionelle Anatomie 188
Erkrankungen im Knochen 92 8.2 Klinische Untersuchung 190
4.5 Erkrankungen der Muskeln, Sehnen 8.3 Omarthritis, Omarthrose 190
und Schleimbeutel 106 8.4 Periarthropathia humeroscapularis (PHS)
4.6 Erkrankungen der Gelenke 110 oder Subakromialsyndrom (SAS) 192
4.7 Neurogene Erkrankungen mit 8.5 Typische Verletzungsfolgen des
Auswirkungen auf die Bewegungs- Schulterbereichs 198
organe 121 8.6 Begutachtung 202
4.8 Verletzungen der Bewegungsorgane
und Folgen 125 9 Arm und Hand 203
9.1 Entwicklungsstörungen
und Anomalien 204
9.2 Erworbene Störungen von Ellen-
bogengelenk und Unterarm 204
9.3 Traumatische Folgen am
Ellenbogengelenk 207
VIII Inhaltsverzeichnis

9.4 Erworbene Störungen von Handgelenk 12 Unterschenkel und oberes


und Hand 207 Sprunggelenk 259
9.5 Verletzungsfolgen an Handgelenk 12.1 Unterschenkel 260
und Hand 212 12.2 Verletzungen und Verletzungsfolgen
9.6 Begutachtung 215 im Knöchelbereich 262
12.3 Begutachtung 267
10 Hüftregion 217
10.1 Grundlagen zur Orthopädie der Hüfte 218 13 Fuß 269
10.2 Angeborene und konstitutionell 13.1 Grundlagen zur Orthopädie des Fußes 271
bedingte Störungen 219 13.2 Angeborene Deformitäten 273
10.3 Erworbene Störungen 233 13.3 Erworbener Plattfuß, Spreizfuß 281
10.4 Begutachtung 239 13.4 Entzündliche und degenerative
Veränderungen 283
11 Kniegelenk 241 13.5 Aseptische Nekrosen 283
11.1 Grundlagen zur Orthopädie 13.6 Knochenvorsprünge am Fuß,
und funktionelle Anatomie des Fersenschmerzen 285
Kniegelenks 242 13.7 Neurogene Störungen
11.2 Angeborene Störungen 244 (Lähmungsfolgen) 285
11.3 Entzündungen 247 13.8 Verletzungen und Verletzungsfolgen 286
11.4 Neurogene Arthropathie 248 13.9 Tarsaltunnelsyndrom 287
11.5 Degenerative Veränderungen 248 13.10 Zehendeformitäten 287
11.6 Tumoren und geschwulstartige 13.11 Begutachtung 290
Affektionen 254
11.7 Verletzungen und Verletzungsfolgen 255 Raritätenlexikon 291
11.8 Begutachtung 257
Sachverzeichnis 301
Was ist Orthopädie? – Sensus orthopaedicus
1 1
Was ist Orthopädie? Der Orthopädieschuhtechniker ist für die Her-
– Sensus orthopaedicus stellung und Anpassung von orthopädischen Schu-
hen sowie Zurichtungen am Konfektionsschuh zu-
ständig.
Definition Krankengymnasten, Physiotherapeuten, Ergo-
Orthopädie ist die Lehre von den Erkrankungen therapeuten und Masseure haben einen wesentli-
und Verletzungen der Stütz- und Bewegungsor- chen Anteil in der konservativen Orthopädie und
gane. Die Bezeichnung wurde von Andry1 geprägt Rehabilitation.
und bedeutet aus dem Griechischen übersetzt Hoher technischer Aufwand mit motorgetrie-
soviel wie »Erziehung zur aufrechten Haltung«. benen Instrumenten, intraoperativen bildgebenden
Verfahren und spezielles Instrumentarium erfor-
dern speziell ausgebildete Operationsschwestern,
Zur Erkennung orthopädischer Erkrankungen die dem orthopädischen Chirurgen assistieren.
gehört neben der genauen klinischen Untersu-
chung der Stütz- und Bewegungsorgane auch die Sensus orthopaedicus
fachgebundene Labor-, Ultraschall- und Röntgen-
diagnostik. Ergänzend setzt man andere Untersu- Wer sich länger mit der Orthopädie beschäftigt, be-
chungsverfahren ein wie Computertomographie, kommt Blick, Gefühl und besonderes Vorstellungs-
Kernspintomographie, Szintigraphie, Elektrodiag- vermögen für die Veränderungen der Stütz- und
nostik und Endoskopie. Bewegungsorgane.
Die Behandlung umfasst konservative Maß-
nahmen wie Lagerung, manuelle Therapie und Sehen
Redression, Anlegen spezieller Verbände, lokale Der orthopädische Blick erfasst schon von wei-
Injektionen, physikalische Therapie, Krankengym- tem geringe Fehlhaltungen und fehlerhafte Bewe-
nastik und operative Maßnahmen mit der gesam- gungsabläufe wie leichtes Schwanken des Oberkör-
ten Wirbelsäulen- und Extremitätenchirurgie. pers beim Hüfthinken, »en bloc«-Bewegungen des
Die Rehabilitation nach Erkrankungen und Bechterewkranken oder Nachziehen des Fußes bei
Verletzungen der Stütz- und Bewegungsorgane der Peronäusparese. Bei näherer Betrachtung fal-
findet ambulant bzw. in speziellen orthopädischen len Veränderungen der Rückenform, Asymmetrien
Einrichtungen stationär statt. Dabei spielt die Vor- der Schultern, Beckenkämme und Hautfalten auf.
beugung von Schäden und Verbrauchserscheinun- Das Wesen vieler orthopädischer Erkrankungen ist
gen der Bewegungsorgane eine bedeutende Rolle. bereits optisch zu erfassen.

Berufe Tasten
Untersuchung und Behandlung der Stütz-und Be-
Der Facharzt für Orthopädie ist entweder in einer wegungsorgane erfordern einen speziellen Tastsinn
Praxis, Rehabilitationseinrichtung oder als ortho- sowie räumliches Vorstellungsvermögen.
pädischer Chirurg in einer Klinik tätig. Während Bewegungseinschränkungen noch
Orthopädietechniker versorgen konservativ einfach zu erkennen sind und in Winkelgraden an-
und operativ behandelte Patienten mit orthopädi- gegeben werden können, muss man Hypermobili-
schen Hilfsmitteln wie Orthesen (Schienen, Kor- täten fühlen, wie z.B. Instabilitäten der Säuglings-
setts), Bandagen und Prothesen. In den von Or- hüfte, Kapselbandläsionen am Kniegelenk oder ge-
thopädietechnikern betriebenen Orthopädiefach- lockerte Bewegungssegmente an der Wirbelsäule.
geschäften erhält man vorwiegend orthopädische Gelenkgeräusche und Schnappphänomene werden
Hilfsmittel als (Halb-) Fertigprodukte. eher gefühlt als gehört.

1 Nicolaus Andry (1741)


2 Was ist Orthopädie? – Sensus orthopaedicus

Eingriffe an der Schulter. Am Knochen fühlt sich


1 Übersicht. Sensus orthopaedicus der orthopädische Chirurg wohl und sicher.
1. Der orthopädische Blick Der Umgang mit Muskeln, Bändern und Kno-
2. Tastsinn chen erfolgt besonders behutsam. Diese Struktu-
3. Räumliches Vorstellungsvermögen ren haben zwar eine ihren Aufgaben entsprechende
4. Orthopädisches Operieren Kraft und Stabilität, sind jedoch harten Operati-
5. Langzeitdenken onsinstrumenten gegenüber sehr empfindlich.
Beim Eintreiben von Meißeln, Markraumnägeln
oder zementfreien Endoprothesen verhalten sich
Räumliches Vorstellen Knochen ähnlich wie Weichholz: sie spalten und
brechen, wenn man nicht entsprechend vorbohrt
Um Funktionsstörungen in der Tiefe »zu erfassen«, und gefühlvoll einpasst. Auf der anderen Seite
muss man über räumliches Vorstellungsvermögen darf man nicht zu zaghaft vorgehen, denn Osteo-
sowie gute anatomische Kenntnisse verfügen. Or- synthesen, zementfreie Endoprothesen oder Kap-
thopädie ist angewandte Anatomie – mehr als jedes selbandrekonstruktionen müssen am Ende soviel
andere Fach in der Medizin. Stabilität aufweisen, dass schon am postoperativen
Bildgebende Verfahren wie Röntgen, CT, MRT Tag mit der Mobilisierung und funktionellen Be-
und Sonographie geben weitere Informationen. handlung begonnen werden kann. Es erfordert ein
Dabei ist die Sichtbarmachung tiefer gelegener besonderes Gefühl für die Knochenbruchgrenze
Weichteilstrukturen mit dem Ultraschallkopf, dem mit »eingebautem« Drehmomentschlüssel, z.B.
»verlängerten Finger der Orthopäden«, von beson- beim Anziehen von Schrauben und Drähten, um
derer Bedeutung. den Anforderungen an übungsstabile postoperati-
Aus dem Inspektions- und Tastbefund ergibt ve Verhältnisse gerecht zu werden.
sich schon oft der therapeutische Ansatz. Sobald Der Orthopäde denkt bei all seinen Maßnah-
Funktionsstörungen erfühlt sind, erfolgt die kor- men an die weitere Behandlung und Rehabilitati-
rigierende Gegenbewegung, wie z.B. der Redres- on. Schon deswegen geht er intraoperativ mit Mus-
sionsgriff beim angeborenen Klumpfuß, oder die keln, Sehnen und Gelenkkapseln vorsichtig um,
Dreipunktekorrektur der juvenilen idiopathischen denn diese Strukturen benötigt er für die rasche
Skoliose. Aus solchen Korrekturgriffen erfährt der Wiederherstellung der Funktion. Zur Erhaltung
Orthopäde Möglichkeiten und Grenzen seiner der Propriozeptoren am Kapselbandapparat und
konservativen bzw. operativen Maßnahmen. zur Verringerung postoperativer Wundschmerzen
Nach der Korrektur bzw. Reposition erfolgt die bevorzugt man deswegen in der orthopädischen
Retention. Das heißt, die erzielte Korrektur muss Chirurgie immer mehr endoskopische und mikro-
auch gehalten werden. Dazu dienen neben Schie- chirurgische Verfahren.
nen und Verbänden v. a. krankengymnastische
Übungen. Langzeitdenken

Operieren Das Denken an das Nachher bezieht sich auch


auf das Langzeitergebnis. Besonders in der Kin-
Tastsinn, Gefühl und räumliches Vorstellungsver- derorthopädie müssen Statik, Achsenverhältnisse
mögen sind in der orthopädischen Chirurgie be- sowie mögliches Fehl- und Korrekturwachstum,
sonders gefragt. Anatomische Orientierungspunk- z.B. nach Epiphysenverletzungen, im weiteren
te an Knochen und Sehnenansätzen werden nicht Verlauf berücksichtigt werden. Die orthopädische
nur gesehen, sondern mit dem »Sondenfinger« in Behandlung bzw. Nichtbehandlung wirkt sich oft
der Tiefe ertastet, wie z.B. der Trochanter minor erst nach Jahrzehnten aus, wie z.B. bei einer nicht
und das Tuberculum innominatum am proximalen ausreichend korrigierten Hüftdysplasie mit später
Femurende zur intertrochantären Umstellungsos- entstehender Coxarthrose.
teotomie oder der Processus coracoideus für die
Was ist Orthopädie? – Sensus orthopaedicus
3 1

Auch oder gerade langfristig sollte der Patient


mit dem Behandlungsergebnis seines Orthopäden
zufrieden sein.
Wenn Vorlesung, Praktikum und Lehrbuch der
Orthopädie neben Kenntnissen auch ein wenig
vom »Sensus orthopaedicus« vermittelt haben, ist
der Lehrauftrag erfüllt.
Allgemeine Orthopädie
1

1 Anatomie, Biomechanik
und Pathophysiologie
1.1 Anatomie –8
1.1.1 Gestaltenwandel – 8
1.1.2 Ossifikationszentren – 10

1.2 Biomechanik und Statik – 10


1.2.1 Von der Funktions- zur Strukturstörung – 10
1.2.2 Ossäre und artikuläre Formstörungen – 11
1.2.3 Statikstörungen – 13
1.2.4 Lenden-Becken-Beinwinkel (LBB) – 16
1.2.5 Haltungsstörungen – 17
1.2.6 Funktionsstörungen – 17
1.2.7 Bewegungsstörungen des Rumpfes – 22
1.2.8 Bewegungseinschränkung der Gelenke, Kontrakturen – 23

1.3 Allgemeine Pathophysiologie der Stütz-


und Bewegungsorgane – 26
1.3.1 Schädigungen durch biomechanische Faktoren – 26
1.3.2 Degeneration – 27
1.3.3 Alterung – 28
1.3.4 Reaktive Phänomene bei degenerativen Prozessen – 28
1.3.5 Präexistente Schädigungen und Störungen – 29
1.3.6 Weichteilschädigungen – 34
1.3.7 Bedeutung und Häufigkeit der einzelnen ätiologischen Faktoren
und Pathomechanismen – 35
8 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

>> Einleitung wie z.B. das O-Bein des Kleinkindes durch Rachitis
1 Orthopädie ist angewandte Anatomie der Stütz- und oder den Altersrundrücken durch Osteoporose.
Bewegungsorgane. Deswegen empfiehlt es sich, den Im ersten Lebensjahr besteht noch eine phy-
Band »Bewegungssystem« griffbereit zu haben. Einige siologische Beugehaltung im Hüftgelenk. Der Rü-
Abschnitte haben als »orthopädische Wetterecken« cken ist gerade. Die physiologische O-Beinstellung
besondere Bedeutung und sollten rekapituliert wer- (Säuglings-O-Bein) verliert sich nach Gehbeginn
den, z.B. untere Hals- und Lendenwirbelsäule, Kopf- und geht in eine physiologische X-Beinstellung
Hals-Übergang, Rotatorenmanschette der Schulter, über, die im dritten bis vierten Lebensjahr ihr Ma-
Hüft-, Knie- und Sprunggelenk, proximale Hand- und ximum erreicht.
Fußwurzelknochen, Großzehgrundgelenk. Weniger oft
kommen vor z.B. distale Hand- und Fußwurzelknochen, Wichtig
Einzelheiten des Thorax und der Brustwirbelsäule. Genua valga mit einem Innenknöchelabstand bis
Aus der Entwicklungsgeschichte ist das Erscheinen zu 5 cm sind im Vorschulalter nicht behandlungs-
der Knochenkerne wichtig, ebenso typische Skelettver- bedürftig.
änderungen, die sich im Laufe des Lebens ergeben.
Orthopädische Biomechanik ist funktionelle Anato-
mie und Pathologie der Stütz- und Bewegungsorgane. Zur gleichen Zeit besteht eine ebenfalls physiolo-
Man muss neben den normalen auch die fehlerhaften gische Valgusstellung der Ferse. Beim kindlichen
Formen und Funktionen der Knochen, Gelenke und Knicksenkfuß handelt es sich um meist harmlose
Muskeln definieren und erklären können, z.B. Kontrak- bis zu einem gewissen Grad physiologische Fuß-
tur, Ankylose, Luxation usw. Aus der Form ergibt sich die fehlstellung im Kleinkindesalter mit verstärkter
Funktionsstörung, die sich am besten einprägt, wenn Valgusstellung des Fersenbeins (Knickfuß) mit
man sie selbst vorführt, wie z.B. die verschiedenen Abflachung der medialen Fußwölbung (Senkfuß).
Hüftgelenkskontrakturen oder das Duchenne-Trende- Beim Zehenspitzenstand kommt es zum vollstän-
lenburg-Hinken. Hier zeigt es sich, wer Orthopädie ver- digen Ausgleich der Fehlform, die Ferse korri-
standen hat. giert sich in eine Varusstellung und der mediale
Fragen nach der orthopädischen Pathophysiolo- Fußrand wölbt sich. Die Prognose eines flexiblen
gie erlauben Rückgriffe auf die allgemeine Pathologie, Knicksenkfußes ist gut. Die meisten Knicksenkfü-
wenn es gilt, Begriffe wie Alterung, Degeneration, Ent- ße bedürfen keiner Therapie, da eine Spontankor-
zündung und Zirkulationsstörungen vorzutragen. rektur im Schulalter erfolgt. Auch beim Dreijähri-
gen bestehen noch Knickfüße, der Rücken ist ge-
rade, das heißt, die physiologischen Krümmungen
1.1 Anatomie in der Sagittalebene bilden sich erst im weiteren
Verlauf. Im Vorschulalter kann es (vorübergehend)
1.1.1 Gestaltenwandel zu einem Einwärtsgang (s. S. 20) kommen, bedingt
durch eine Antetorsion des Schenkelhalses (coxa
Die Grenzen des Normalen und Anfänge des Pa- antetorta).
thologischen am Skelettsystem des Menschen sind
fließend. Wann ist einer klein, groß, aufrecht oder Wichtig
krumm? Die individuelle Schwankungsbreite ist Sog. »Wachstumsschmerzen« gibt es im Wachs-
sehr groß. Normwerte mit ihren physiologischen tumsalter nicht.
Varianten orientieren sich an der altersabhängigen
Gestalt des Menschen, die sich im Laufe des Lebens
ständig ändert (⊡ Abb. 1.1). Dabei ergibt sich ein Wenn Schmerzen an den Bewegungsorganen im
charakteristischer Gestaltenwandel sowohl in der Wachstumsalter auftreten, muss dem immer nach-
Frontal- als auch in der Sagittalebene. Orthopädi- gegangen werden.
sche Erkrankungen können die altersspezifische Im Alter verkürzt sich der Rumpf durch Band-
Erscheinungsform des Menschen grotesk steigern, scheibensinterung und Zunahme der Brustkypho-
1.1 · Anatomie
9 1
⊡ Abb. 1.1 a, b. Gestaltenwandel des
Menschen in der Sagittal- und Fron-
talebene

se (Altersrundrücken). Entsprechend kommt es des Menschen, mit vernünftiger Ernährung, Sport,


zur Vorwölbung des Bauches und Faltenbildungen Gymnastik und ausreichend Bewegung, garantiert
am Rumpf, die sich bei der Osteoporose bis zum neben den ganzen Vorteilen für die Gesundheit
sog. Tannenbaumrücken steigern können. Über- auch ein passables Erscheinungsbild im Alter.
lange Arme, Hängebauch und dünne O-Beine Um das Abweichen von der physiologischen
vervollständigen das Erscheinungsbild des alten zur pathologischen Gestalt besser erkennen zu
Menschen. Steigerungen finden sich bei der Hüft- können, gibt es neben dem geschulten Blick des
und Kniearthrose. Natürlich sind die z.T. grotesken Orthopäden noch einige Anhaltspunkte in Zenti-
Altersveränderungen der Gestalt nicht zwangsläu- metern und Winkelgraden.
fig. Eine »artgerechte Haltung«
10 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

Wichtig Wichtig
1 Innenknöchelabstand beim X-Bein und Femur- Ein verzögertes Erscheinen aller Knochenkerne
kondylenabstand beim O-Bein sollten nicht mehr gibt es bei folgenden Erkrankungen:
als 4 cm betragen. Genauere Messdaten liefern ▬ Rachitis ▬ M. Addison
Röntgenlangaufnahmen der Beine. ▬ Myxödem ▬ Unterernährung
▬ Kretinismus ▬ Hypophysärem
Minderwuchs
Neben den Veränderungen der äußeren Gestalt
gibt es auch altersabhängige Skelettentwicklungen,
die man nur im Röntgenbild zu sehen bekommt. Es gibt auch lokale Entwicklungsstörungen. So er-
Dazu zählt z.B.: scheinen z.B. bei der kongenitalen Hüftgelenkslu-
▬ Abnahme des Schenkelhalswinkels xation die Hüftkopfkerne verspätet.
▬ Abnahme der Schenkelhalsantetorsion
▬ Verschmälerung der Zwischenwirbelab- Wichtig
schnitte Ein vorzeitiges Erscheinen der Knochenkerne
▬ Verschmälerung der Gelenkspalten beobachtet man bei:
▬ Verringerung der Knochendichte. ▬ Pubertas praecox ▬ Hyperthyreose
▬ Hypophysärem ▬ Chronischen
1.1.2 Ossifikationszentren Riesenwuchs Entzündungen

Besonderheiten des wachsenden Knochens erge-


ben sich durch das Vorhandensein von Wachstum-
szonen und noch nicht verknöchertem Knorpel, die 1.2 Biomechanik und Statik
röntgenologisch transparent sind. Die Ossifikation
der Röhrenknochen beginnt zuerst im Mittelstück, 1.2.1 Von der Funktions-
in der Diaphyse. An den Knochenenden entstehen zur Strukturstörung
dann Knochenkerne bzw. Ossifikationspunkte.
Beim reifen Neugeborenen sind die Mittelstü- Es gibt ausgleichbare und nichtausgleichbare
cke der langen Röhrenknochen ossifiziert. Von den Form- und Funktionsstörungen am Bewegungs-
kurzen Knochen besitzen Wirbelkörper, Talus und system.
Kalkaneus einen Knochenkern. Die Handwurzel-
knochen fehlen zu diesem Zeitpunkt noch. In den Wichtig
ersten 6 Lebensjahren treten die Knochenkerne in Ausgleichbare Abweichungen von der Neutral-
den übrigen Epiphysen und kurzen Knochen auf. Null-Stellung nennt man funktionelle Störungen.
Apophysen (sekundäre Epiphysen) treten um das
10. Lebensjahr auf und tragen zur endgültigen Aus-
modellierung des Knochens bei. Klinische Bedeu- Sind bereits Änderungen der Form und Struktur
tung hat die Apophyse der Tuberositas tibiae. Dort eingetreten, ist die Störung nicht mehr ausgleich-
gibt es eine wichtige aseptische Knochennekrose, bar. Bei den meisten angeborenen orthopädischen
den M. Schlatter. Im 15.–17. Lebensjahr beginnt die Erkrankungen liegen von vornherein strukturelle
Verknöcherung der Epiphysenfugen, bei Mädchen Veränderungen vor, wie z.B. bei den Missbildun-
2 Jahre früher als bei Jungen. gen. Hier ist eine Normalisierung nicht möglich,
Skelettentwicklungsstörungen dokumentieren allenfalls eine Reparatur. Auch viele erworbene
sich im Röntgenbild u.a. in einer veränderten Er- Störungen des Bewegungssystems haben einen
scheinungszeit der Knochenkerne. strukturellen Charakter, wie z.B. Arthrosen, Rheu-
ma und Tumoren.
Bei einigen Erkrankungen ist die Störung zu-
nächst funktionell und wird mit zunehmender
1.2 · Biomechanik und Statik
11 1

Dauer durch das Eintreten irreversibler Kontraktu- 1.2.2 Ossäre und artikuläre
ren, Verkürzungen und Knochendeformierungen Formstörungen
strukturell. Bei diesen Leiden sind Früherkennung
und Frühbehandlung von großem Wert. Achsenfehler sind Abweichungen von der physio-
logischen Achse an der WS, an den Extremitäten
Wichtig oder an Extremitätenabschnitten.
Funktionell – noch ausgleichbar
Wichtig
Strukturell – nicht mehr ausgleichbar
Achsenfehler am Bein mit der Hauptkrümmung
im Kniegelenk werden als Genu valgum (X-Bein),
Eine Beinlängendifferenz ruft zunächst einen Be- Genu varum (O-Bein) oder Genu recurvatum
ckenschiefstand mit noch ausgleichbarer (funkti- (Knickbein) bezeichnet (⊡ Abb. 1.2).
oneller) Seitverbiegung der WS hervor. Wird die
Beinlängendifferenz am wachsenden Skelett nicht
ausgeglichen, so verformen sich die Wirbel und Zu einem Genu recurvatum kommt es z.B. nach
Zwischenwirbelabschnitte durch ständige asym- einem Ausfall der Kniestrecker durch eine Polio-
metrische Belastung: Die Skoliose wird struktu- myelitis – damit das Knie nicht nach vorne durch-
rell. knickt. Wenn man bei der Lagerung nicht aufpasst,
Auch Achsenabweichungen der WS anderer kann sich nach der Lähmung auch eine Kniebeuge-
Genese (idiopathische Skoliose, juvenile Kyphose) kontraktur entwickeln.
sind zunächst funktionell, erst im weiteren Ver- Rekurvation heißt nach hinten durchgebogen,
lauf stellen sich strukturelle Veränderungen ein Antekurvation nach vorne. Die nicht ausgleichbare
( Übersicht 1.1). Antekurvationsstellung im Kniegelenk ist gleich-
bedeutend mit einer Kniebeugekontraktur. Achs-
fehler, wie z.B. X- und O-Bein, sind typische multi-
Übersicht 1.1. Abgrenzung funktioneller ätiologische Deformitäten. In Frage kommen:
und struktureller Störungen ▬ in Fehlstellung verheilte Frakturen,
Funktionell: Strukturell: ▬ lokalisierte Erkrankungen der Wachstums-
Skoliotische Fehlhaltung Skoliose fugen,
Haltungsinsuffizienz Haltungsschaden ▬ Tumoren und Entzündungen,
Spitzfußhaltung Spitzfuß ▬ v.a. Rachitis.
Schmerzhafte Kontraktur
Bewegungseinschränkung Typischer Achsfehler der WS in der Frontalebene
ist die Skoliose.

⊡ Abb. 1.2. a Genu valgum,


b Genu varum, c Genu recurvatum
12 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

Torsionsfehler sind Verdrehungen um die eige- Wichtig


1 ne Achse. Sie sind der Horizontalebene zuzuordnen Die Längendifferenz der Beine führt zum Becken-
und kommen sowohl an den Extremitäten als auch schiefstand mit Seitverbiegung der WS und Spitz-
an der WS vor. Torsionsfehler der WS sind mit einer fußhaltung am zu kurzen Bein.
Verdrehung der übrigen Skelettanteile des Rumpfes
verbunden. An der BWS kommt es zu einer Verwer-
fung des Thorax mit Hervortreten der Rippen auf Gemessen wird die Längendifferenz durch:
der Konvexseite (Rippenbuckel) und Eindellung ▬ Messen des Abstands zwischen der Spina iliaca
auf der gegenüberliegenden Thoraxhälfte (Rippen- anterior superior und Innen- bzw. Außenknö-
tal). An der LWS treten als Folge der Torsion kon- chel.
vexseitig die langen Rückenstreckmuskeln stärker ▬ Unterlegen verschieden dicker Brettchen unter
hervor (Lendenwulst). das zu kurze Bein, bis Beckengradstand erreicht
Die Antetorsion des Schenkelhalses spielt bei ist.
der kongenitalen Hüftluxation eine Rolle: Schen- ▬ Röntgenologische Ganzaufnahmen der Beine.
kelhals und Kopf sind nach vorn verdreht, so dass Dabei wird der Abstand zwischen Kopfmittel-
der Hüftkopf vorn etwas aus der Pfanne heraus- punkt und dem Spalt des oberen Sprungge-
schaut (s. S. 19). Es gibt auch eine vermehrte An- lenks gemessen.
tetorsion des Schenkelhalses ohne Hüftdysplasie. ▬ Seitenvergleich der Gelenkspalten mittels einer
Diese Kinder haben einen Innenrotationsgang und speziellen sonographischen Vorrichtung.
sitzen gern im sog. umgekehrten Schneidersitz. Die
Ganganomalie verschwindet von selbst. Durch diese Messungen und Röntgenaufnahmen
Anlagebedingte Torsionsfehler gibt es außer- erfährt man auch, ob es sich um eine absolute
dem am proximalen Humerusende bei der habitu- Beinverkürzung mit Minderung des Abstandes
ellen Schulterluxation und am Unterschenkel, meist zwischen Hüftkopf und Fuß oder um eine relative
als Innenrotationsfehler: Das Knie zeigt geradeaus, Beinlängendifferenz mit Verkürzung des Abstands
der Fuß steht nach innen (⊡ Abb. 1.3). zwischen Hüftkopf und Beckenkamm handelt, wie
Längendifferenzen der Extremitäten sind ent- z.B. bei der kongenitalen Hüftluxation: Bei einsei-
weder angeboren oder erworben. Es handelt sich tiger Hüftluxation ist der Hüftkopf-Fuß-Abstand
um eine typische multiätiologische Deformität. seitengleich, der Beckenkamm-Fuß-Abstand der
Unterschiedliche Beinlängen finden sich beim par- Luxationsseite ist trotzdem geringer als auf der ge-
tiellen Riesenwuchs, bei Lähmungen, nach Frak- sunden Seite.
turen und Gelenkerkrankungen (Hüftluxation, M.
Perthes, Koxitis, Epiphysenlösung).

⊡ Abb. 1.3. a Antekurvations-,


b Rekurvations, c Torsionsabweichung
1.2 · Biomechanik und Statik
13 1
Wichtig noch ein Nach-vorn-Stehen der Schulter, Becken-
Eine funktionelle Beinverkürzung liegt vor, wenn kippung nach vorn und Vorwölbung des Bauches.
das Knie- oder Hüftgelenk nicht gerade gestreckt Bedeutungsvoll sind statische Störungen im Bereich
werden kann oder wenn eine Adduktionskontrak- des für die aufrechte Haltung (Statik) wichtigen
tur im Hüftgelenk vorliegt. Systems WS-Becken-Bein. Ausgleichsbewegungen
sind bis auf den relativ starren Kreuzbein-Becken-
Übergang an allen Gelenken, v.a. an der LWS und
Das Bein kann durch eine Spitzfußkontraktur auch an den Hüftgelenken, möglich. Ist die Statik in ei-
funktionell zu lang sein (⊡ Abb. 1.4). nem Abschnitt dieses Systems gestört, so entstehen
Damit es nicht zu Rückwirkungen auf die WS kompensatorische Abweichungen von der physio-
kommt, müssen Beinlängendifferenzen ausgegli- logischen Körperhaltung in anderen Bereichen, um
chen werden. Bei geringeren Längenunterschieden den Gesamtkörper der Schwerkraft entsprechend
genügt eine Absatzerhöhung bzw. Schuhsohlener- lotgerecht einzustellen.
höhung. Mehr als 4 cm müssen mit einem ortho- Kompensatorische Abweichungen sind zu-
pädischen Schuh ausgeglichen werden. Operativ nächst funktionell, können aber nach längerem
kann man das längere Bein verkürzen (Verkür- Bestehen strukturell, d.h. nicht mehr ausgleichbar,
zungsosteotomie durch Herausnahme eines Kno- werden. Statische Störungen sind nach allen Rich-
chenstückchens) oder das kürzere Bein verlängern. tungen hin möglich. Statikstörungen in der Ho-
Die Korrektur sollte möglichst am erkrankten Bein rizontalebene sind die typischen Torsionsabwei-
erfolgen. chungen, z.B. bei der Skoliose oder den Drehfehl-
stellungen an den Extremitäten mit Außen- und
Wichtig Innenrotationsfehlern. In der Frontalebene finden
Am wachsenden Skelett besteht noch die Mög- sich folgende Seitabweichungen:
lichkeit, die Wachstumsfugen am längeren Bein ▬ Skoliose,
vorübergehend zu verklammern. ▬ Beinlängendifferenz,
▬ Beckenschiefstand,
▬ X-Bein,
1.2.3 Statikstörungen ▬ O-Bein,
▬ Knickfuß.
Abweichungen von der physiologischen Körper-
haltung und Neutral-Null-Stellung finden sich bei Die statischen Formabweichungen der Frontalebe-
zahlreichen Form- und Funktionsstörungen des ne erkennt man am besten, wenn man hinter dem
Bewegungssystems. Patienten steht.
Die Statikstörung kann lokalisiert sein, wie Statische Formabweichungen der Sagittalebe-
beim X- und O-Bein oder mehrere Abschnitte des ne, d.h. von vorn nach hinten, sind:
Skelettsystems betreffen, wie bei der schlechten ▬ vermehrte Brustkyphose (M. Scheuermann),
Haltung. Hier findet sich neben dem Rundrücken ▬ Hyperlordose der LWS,

⊡ Abb. 1.4 a–c. Beinlängendifferenzen.


Anatomische Beinverkürzung (a). Funktio-
nelle Beinverkürzung: Kniebeugekontraktur
(b), Adduktionskontraktur (c)
14 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

▬ Beckenvor- und -rückkippung, dem ist der Mensch immer bemüht, den Kopf mit
1 ▬ Beugekontrakturen im Hüft- und Kniegelenk, gerader Blickrichtung über den Körperschwer-
▬ Ante- und Rekurvationsstellungen der langen punkt zu halten.
Röhrenknochen am Bein,
▬ Spitzfuß. Wichtig

Solange die Verbiegung der LWS noch ausgleich-


Oft sind die Statikstörungen kombiniert. So be- bar ist, muss man den Schuh auf der verkürzten
wirkt z.B. eine Spitzfußkontraktur in der Frontal- Seite erhöhen.
ebene infolge der funktionellen Beinverlängerung
einen Beckenschiefstand mit Seitverbiegung der
WS. In der Sagittalebene wird beim Bemühen, die Wenn die Skoliose allerdings schon fixiert ist, er-
Ferse trotz der Spitzfußkontraktur auf den Boden scheint ein solcher Ausgleich nicht mehr sinnvoll,
zu bringen, das Knie nach hinten durchgedrückt: weil es dann wiederum zum Überhang des Rump-
Es entsteht ein Genu recurvatum. fes kommt (s. ⊡ Abb. 1.5 e).
Als weiteres Beispiel für Statikstörungen in Umgekehrt kann eine strukturelle Skoliose der
der Frontalebene wurde schon die Beinverkürzung WS, die keine entsprechenden Gegenkrümmungen
mit kompensatorischem Beckenschiefstand und aufweist, von oben her einen Beckenschiefstand
Seitenverbiegung der WS zur verkürzten Seite hin mit scheinbarer Beinlängendifferenz verursachen.
erwähnt. Bei der Behandlung solcher Statikstörungen
nimmt man einen Beckenschiefstand in Kauf, um
Wichtig den oberen Teil des Rumpfes aufrecht zu halten,
Bei einer linksseitigen Beinverkürzung kommt es d.h. der Kopf soll möglichst lotrecht über der Mitte
zur linkskonvexen Seitverbiegung der LWS. der Auftrittsfläche stehen. Deswegen ist es bei einer
strukturellen Skoliose mit Überhang des Rumpfes
durchaus gerechtfertigt, das Becken auf der Über-
Das rechte Hüftgelenk ist adduziert, das linke ab- hangseite durch Schuherhöhung anzuheben, um
duziert (⊡ Abb. 1.5 b). Der Patient versucht, durch Kopf und obere Rumpfhälfte in eine Mittelstellung
Plantarflexion die Beinlängendifferenz auszuglei- zu bringen (⊡ Abb. 1.6).
chen, was eine Spitzfußentwicklung fördert. Er- Eine Zentralstellung bei den Statikstörungen
folgte hier keine kompensatorische Verbiegung der nimmt das Becken ein. Funktionelle und struk-
WS, stünde der Rumpf zur Seite weg (Überhang des turelle Störungen der Hüftgelenke haben sowohl
Rumpfes, ⊡ Abb. 1.5 b), was für die Rumpfmuskeln Rückwirkungen nach oben auf die WS als auch
vermehrte Haltearbeit bedeuten und mit entspre- nach unten auf das Bein.
chenden Schmerzen einhergehen würde. Außer-

⊡ Abb. 1.5 a–e. Beinlängen-


differenz (a) mit kompensa-
torischem Beckenschiefstand
(b) und Seitverbiegung (c) der
LWS, d Beinlängenkorrektur
mit Schuherhöhung bei noch
ausgleichbarer Seitbiegung der
WS. e Schuhausgleich bei fixier-
ter WS-Seitverbiegung führt
zum Überhang des Rumpfes zur
anderen Seite
1.2 · Biomechanik und Statik
15 1
⊡ Abb. 1.6. a Strukturelle Skoliose der WS
ohne ausreichende Gegenkrümmung.
b Kompensatorischer Beckenschiefstand
mit scheinbarer Beinverkürzung.
c Schuherhöhung auf der scheinbar ver-
kürzten Seite, der Kopf steht lotrecht über
der Auftrittsfläche, beide Beine stehen auf
dem Boden

⊡ Abb. 1.7. a Adduktions-Anspreiz-Kon-


traktur der Hüfte mit funktioneller Beinver-
kürzung. b Stellt sich der Patient auf beide
Beine, so muss er das andere Hüftgelenk
abduzieren. Mit gespreiztem Bein kann
man auf die Dauer nicht gehen und ste-
hen. c Parallel unterstellte Beine erfordern
eine Schuherhöhung auf der kranken
(kontrakten) Seite

⊡ Abb. 1.8. a Abduktions-Abspreiz-Kontrak-


tur der Hüfte mit funktioneller Beinverlän-
gerung. b Stellt der Patient sich auf beide
Beine, so muss er das andere Bein abdu-
zieren. So kann man auf die Dauer nicht
stehen und gehen. c Parallel unterstellte
Beine erfordern eine Erhöhung auf der
gesunden Seite

Wichtig Umgekehrt ist es bei einer Abduktionskon-


Bei einer Adduktionskontraktur der Hüfte kommt traktur (Abspreizkontraktur), wenn das Bein in
es zur scheinbaren Beinverkürzung der erkrank- der Hüfte nicht adduziert, d.h. angespreizt werden
ten Seite. kann.
Da den Ausgleichsbewegungen an Becken und
WS Grenzen gesetzt sind, verbleibt bei stärkeren
Gleichzeitig entstehen Beckenschiefstand und Sko- Hüftgelenkkontrakturen eine deutliche funktio-
liose. Der Patient sagt dann, sein Bein sei kürzer ge- nelle Beinlängendifferenz mit Verkürzungshinken.
worden, außerdem stünde die Hüfte weiter heraus Dabei ist das Bein mit einer Adduktionskontrak-
(⊡ Abb. 1.7). Die Therapie besteht in Krankengym- tur der Hüfte scheinbar zu kurz und das mit der
nastik, evtl. Durchtrennung der Adduktorensehnen Abduktionskontraktur scheinbar zu lang bzw. das
am Beckenansatz. gegenüberliegende gesunde zu kurz (⊡ Abb. 1.8).
16 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

Zu den Statikstörungen in der Sagittalebene Wichtig


1 mit dorsoventraler Verlaufsrichtung zählen: Die Beckenrückkippung mit abgeflachter oder
▬ an der WS: Verstärkung, Abflachung oder sogar kyphosierter LWS bezeichnet man als
Umkehrung der physiologischen Lordosen kyphosiertes Becken.
bzw. Kyphosen;
▬ am Becken: Vorkippung, Rückkippung;
▬ an Hüfte und Knie; Beuge- und Streckkon- Sie tritt ein bei Rückenmuskelinsuffizienz, oder
traktur, Rekurvation; wenn das Hüftgelenk über 90° gebeugt ist, wie z.B.
▬ am Fuß: Spitzfuß, Hackenfuß. beim Sitzen. Eine pathologische Lumbalkyphose
findet sich bei Spondylitis tuberculosa, Lumbago,
Eine Zentralstellung nimmt auch hier wieder lumbalem Scheuermann, Bechterew und bei Vor-
das Becken mit dem Drehpunkt im Hüftgelenk derkanteneinbruch eines oder mehrerer Lenden-
ein. Für die Stabilisierung des Beckens über dem wirbelkörper. Beim Prüfen einer Beugekontraktur
Drehpunkt Hüftgelenk sind die Bauch-, Rücken- an der Hüfte gleicht man die Lendenlordose durch
und Oberschenkelmuskeln verantwortlich. Hüftbeugung und Beckenrückkippung aus (s. S.
Bei normaler Lendenlordose und gerade un- 219).
terstelltem Bein steht das Becken in Mittelstellung
(⊡ Abb. 1.9). 1.2.4 Lenden-Becken-Beinwinkel (LBB)

Wichtig Die Oberschenkelachse steht im Ruhezustand nicht


Eine Beckenvorkippung ist immer mit einer in Verlängerung der Rumpfachse senkrecht unter
verstärkten Lendenlordose verbunden. dem Körper, sondern in einem leichten Beugewin-
kel von 15° – dem Lenden-Becken-Beinwinkel. Ur-
sächlich hierfür sind noch entwicklungsgeschicht-
Man spricht deswegen auch vom lordosierten liche Reste vom Vierfüßlergang sowie die relativ
Becken. Die Beckenvorkippung kommt bei der stärkere ventrale Hüftgelenkskapsel mit dem Lig.
schlechten Haltung mit Bauchmuskelinsuffizienz, iliofemorale. Die stabilen Kapselverhältnisse sor-
beim Hohlrundrücken, bei der Hüftbeugekont- gen dafür, dass sich Oberschenkelbewegungen in
raktur, Bauchmuskellähmung, Hüftluxation und
Spondylolisthese vor.

⊡ Abb. 1.10. Ventraler und dorsaler


⊡ Abb. 1.9. a Beckengradstand: normale Lendenlordose, Muskel-Bänder-Komplex stehen bei
b Beckenvorkippung: verstärkte Lendenlordose, einem Hüftbeugewinkel von 15 ° im
c Beckenrückkippung: Lumbalkyphose Gleichgewicht
1.2 · Biomechanik und Statik
17 1

⊡ Abb. 1.11 a–c. Wenn durch mehr Beugung oder Streckung dorsale bzw. ventrale Muskeln, Bänder und Hüftkapselanteile an-
gespannt werden, bewegt sich die Lendenwirbelsäule mit, und zwar bei Beugung (a) zur Lumbalkyphose und bei Streckung (c)
zur Lordose; b stellt die Mittelstellung dar. Über den Hebel der Oberschenkel kann man ohne Muskelbetätigung Einfluss auf die
Stellung der Wirbelsäule nehmen

der Sagittalebene – also Beugung und Streckung Als typische erworbene Haltungsstörung mit pa-
– schon frühzeitig auf die Beckenstellung und so- thologischer Rumpfhaltung ist der Haltungsscha-
mit auf die Lendenwirbelsäule auswirken. den anzusehen. Bei schmerzhaften Erkrankungen
Hüftbeugung führt zur Beckenrückkippung der WS kommt es zu pathologischen Rumpfhaltun-
mit Kyphosierung der LWS, und Hüftstreckung gen, die für das jeweilige Leiden charakteristisch
bzw. Überstreckung bedeutet Beckenvorkippung sind. Dazu zählt z.B. die ischiatische Fehlhaltung
mit Verstärkung der Lendenlordose (⊡ Abb. 1.10 beim lumbalen Bandscheibenvorfall oder der aku-
und 1.11). te Schiefhals beim Zervikalsyndrom. Die Fehlhal-
Wenn verkürzte Muskeln und Bänder beim tung ist hier als Schonhaltung anzusehen.
untrainierten Menschen dem Lenden-Becken- Der Patient nimmt die Position ein, die ihm am
Bein-System nur wenig Spielraum lassen, setzt der wenigsten Beschwerden bereitet.
Übertragungsmechanismus von der veränderten Die Fehlinnervation der Haltemuskulatur an
Beinstellung auf die Wirbelsäule schon frühzeitig Rumpf und Extremitäten bei Erkrankungen des
ein, d.h. es kommt schon bei relativ geringen Beu- zentralen Nervensystems führt ebenfalls zu einer
gewinkeln zum Rundrücken und bei Streckung pathologischen Haltung. Para-, Hemi- und Te-
zum Hohlkreuz. Eine wesentliche Aufgabe der Rü- traplegien haben bei spastischen oder schlaffen
ckenschule besteht darin, Körperhaltungen und Lähmungen jeweils ein charakteristisches Erschei-
Bewegungsabläufe so auszurichten, dass sich die nungsbild und Bewegungsmuster. Typisch ist z.B.
anfälligen lumbalen Bewegungssegmente in einer bei der spastischen Tetraplegie die Gesamthaltung
belastbaren Mittelstellung befinden. mit:
▬ gebeugten Hüft- und Kniegelenken,
1.2.5 Haltungsstörungen ▬ adduzierten und innenrotierten Hüften,
▬ Spitzfüßen,
Viele orthopädische Krankheiten sind durch ihr ▬ pronierten Unterarmen (⊡ Abb. 1.12 c) und
äußeres Erscheinungsbild geprägt und deswegen ▬ Scherengang (Überkreuzen der Beine) durch
schon auf den ersten Blick zu erkennen. Hypertonus der Adduktoren.
Zu den angeborenen Deformitäten zählen die
mit Minderwuchs einhergehenden Missbildungen 1.2.6 Funktionsstörungen
des Gesamtskeletts:
▬ M. Morquio (M. Brailsford), Gangbildstörungen
▬ M. Pfaundler-Hurler, Die Beurteilung des Gangbildes ist ein wesentlicher
▬ Chondrodystrophie. Teil der orthopädischen Untersuchung. Aus dem
18 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

⊡ Abb. 1.12 a–c. Haltungsstörun-


1 gen. a Schlechte Haltung, b ischi-
atische Fehlhaltung, c Fehlhaltung
bei spastischer Tetraplegie mit
Scherengang

a b c

Gangbild ergeben sich Hinweise auf den Habitus Fällen bis zum Wachstumsabschluss die patholo-
und psychischen Zustand des Patienten. Durchtrai- gische Antetorsion zu physiologischen Werten zu-
nierte und wohlgelaunte Menschen laufen anders rückbildet.
als abgeschlaffte. Man kann aber hier noch nicht
von einer regelrechten Gangstörung sprechen, die Wichtig
sich nur bei Form- und Funktionsstörungen der In aller Regel gute Prognose der idiopathischen
unteren Extremitäten findet. Wir unterscheiden Coxa antetorta mit Rückbildung bis zum Wachs-
verschiedene Formen der Gangstörungen. tumsabschluss.

Innenrotationsgang. Bei dieser Gangstörung, die


bis zu einem gewissen Grad noch als physiolo- Neben dem habituellen Nach-innen-Aufsetzen der
gisch und gewohnheitsbedingt zu betrachten ist, Füße, das häufig bei Kindern im Vorschulalter an-
läuft der Patient mit den Fußspitzen nach innen zutreffen ist, kommt der Innenrotationsgang bei al-
und rollt den Fuß über den Fußaußenrand ab. Man len Hüfterkrankungen vor, die mit einer vermehr-
sagt: »Er läuft über den großen Onkel«. Die Schuhe ten Antetorsion im Schenkelhals einhergehen:
werden außen zuerst abgelaufen. ▬ kongenitale Hüftluxation,
Die Rotation der Hüftgelenke wird mit Vorteil ▬ in Fehlstellung verheilte Schenkelhalsfraktur,
in Bauchlage geprüft. Bei idiopathischer Coxa ante- ▬ Coxa antetorta (idiopathisch).
torta findet sich nicht selten eine Innenrotation von
70-90 Grad bei stark verminderter Außenrotation. Bei der frühkindlichen Hirnschädigung gehört der
Aufgrund der nahezu in 90% eintretenden Spon- Innenrotationsgang zum Bewegungsmuster. Ossä-
tankorrektur der idiopathischen Coxa antetorta re Rotationsfehler mit nachfolgendem Innenrota-
während des Wachstums ist die zunächst entschei- tionsgang sind im Verlauf der ganzen Beinachse
dende Therapie die Aufklärung und Beratung. Eine möglich. Sie sind entweder anlagebedingt oder,
operative Behandlung mit Derotationsosteotomie was am häufigsten ist, eine Folge von Frakturen,
kommt nur in Extremfällen bei Antetorsionswinkel die in Rotationsfehlstellung verheilt sind. Schließ-
über 50 Grad infrage. Die Prognose des Innenrota- lich kann die Ursache noch am Fuß selbst liegen.
tionsganges aufgrund einer idiopathischen Coxa Hier kommen Klump- und Hohlfuß in Frage
antetorta ist durchweg gut, da sich in den meisten ( Übersicht 1.2).
1.2 · Biomechanik und Statik
19 1

Übersicht 1.2. Innenrotationsgang


(Innendrehgang)
▬ Gewohnheit
▬ Pathologische Antetorsion des Schenkel-
halses (⊡ Abb. 1.13)
▬ Rotationsfehler des Ober- bzw. Unter-
schenkels
▬ Spastische Lähmung
▬ Klumpfuß, Hohlfuß

Außenrotationsgang. Dieses Gangbild beobachtet


man häufig bei hochgewachsenen adipösen Men-
schen und bei Plattfüßigen: die Fußspitzen werden
nach außen aufgesetzt (wie Charlie Chaplin). Der
Fuß wird über den Fußinnenrand abgerollt, dem-
entsprechend sind die Schuhsohlen zuerst innen
abgelaufen. Neben dem gewohnheitsmäßigen
Nach-außen-Aufsetzen der Füße findet sich ein Au-
ßenrotationsgang bei pathologischer Retrotorsion
des Schenkelhalses, die nach Schenkelhalsfraktu-
ren und einer Epiphysenlösung als Fehlstellung
verbleiben kann. Eine Außenrotationsstellung kann
auch nach Frakturen am Ober- und Unterschenkel
auftreten ( Übersicht 1.3).

Übersicht 1.3. Außenrotationsgang


⊡ Abb. 1.13 a–c. Innenrotationsgang
▬ Gewohnheit bei Coxa antetorta.
▬ Pathologische Retrotorsion des Schenkel- a Normalbefund: Bei der physiologischen Antetorsionsstel-
halses lung des Schenkelhalses stehen Kniescheiben und Füße nach
vorn. Der Hüftkopf steht regelgerecht in der Gelenkpfanne.
▬ Rotationsfehler des Ober- bzw. Unter-
b Coxa antetorta mit pathologischer Antetorsion des Schen-
schenkels kelhalses von über 40 °. Wenn Füße und Kniescheiben gera-
▬ Knick- oder Plattfuß (⊡ Abb. 1.14) deaus gerichtet sind, steht der vordere Hüftkopfanteil nicht
regelrecht in der Gelenkpfanne.
c Ausgleich der Coxa antetorta durch Innenrotation. Der
Hüftkopf steht wieder regelrecht in der Gelenkpfanne wie in
Hinken, Humpeln. Die wichtigste Störung des a. Kinder mit verstärkter Antetorsion der Schenkelhälse sitzen
Gangbildes ist das Hinken. Je nach Ursache gibt es gern im sog. umgekehrten Schneidersitz
verschiedene Formen, die durch Leitsymptome ge-
kennzeichnet sind ( Übersicht 1.4):

▬ Verkürzungshinken. Beinlängendifferenzen
Übersicht 1.4. von mehr als 1 cm führen zum Verkürzungs-
Ursache: Merkmal: hinken. Es sieht aus, als ob der Patient mit dem
Verkürzungshinken Stufensteigen längeren Bein jedesmal auf eine kleine Stufe
Schmerzhinken Kurzer Auftritt tritt. Durch Spitzfußhaltung auf der zu kurzen
Hüfthinken Entenwatscheln Seite kann die Beinlängendifferenz funktionell
20 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

⊡ Abb. 1.14 a–c. Störung des Gangbilds.


1 a Normal-, b Innen-, c Außenrotationsgang

suffizienzerscheinungen und bandscheibenbe-


dingte Beschwerden einstellen.
▬ Hüfthinken, Trendelenburg1-Hinken. Diese
Form des Hinkens tritt bei positivem Trende-
lenburg-Phänomen ein. Normalerweise wird
das Becken – auch beim Stand auf einem Bein
– waagerecht gehalten. Diese Haltefunktion
üben die Hüftabduktoren – im wesentlichen
die Mm. glutaei (medius und minimus) – aus,
die vom großen Rollhügel zum Beckenkamm
ziehen. Sind diese insuffizient, so sinkt das
Becken beim Stand auf dem kranken Bein zur
a b
gesunden Seite ab (positives Trendelenburg-
⊡ Abb. 1.15 a, b. Trendelenburg-Zeichen: a negativ (normal), Phänomen)(⊡ Abb. 1.15).
b positiv (das Becken sinkt auf der gegenüberliegenden Seite ▬ Hüfthinken, Duchenne-Hinken. Bei dieser
unter die Horizontale ab
Form des Hinkens wird der Rumpf bei einer
Schwäche der Hüftmuskulatur zur Balance ge-
ausgeglichen und das Hinken verhindert wer- nutzt. Beim Stehen auf einem Bein müssen die
den. Den gleichen Effekt hat auch die Schuher- Hüftabduktoren der Last des Oberkörperge-
höhung zum Beinlängenausgleich. wichtes auf der Seite des längeren Hebelarmes
▬ Schonhinken, Schmerzhinken. Wenn das Be- entgegenwirken (⊡ Abb. 1.16 a). Ist die Muskula-
lasten eines erkrankten Beins Schmerzen be- tur insgesamt geschwächt oder sind die Hebel-
reitet, ist der Patient bemüht, die Extremität zu verhältnisse beispielsweise durch Verkürzung
schonen und die Auftrittsphase beim Gehen der Wirkstrecke der Muskulatur ungünstig,
möglichst kurz zu halten. Beim Stehen belastet dann kann durch die Neigung des Oberkörpers
er ohnehin nur das gesunde Bein. Die einsei- zur Seite des Standbeines der Hebelarm für das
tige Beinbelastung beim Stehen ist mit einem Oberkörpergewicht verringert werden (⊡ Abb.
Beckenschiefstand und Seitverbiegung der WS
verbunden. Nach längerem Bestehen können
sich auch im Bereich der Rumpfmuskeln In- 1 Friedrich Trendelenburg, Chirurg, Rostock (1844–1924)
1.2 · Biomechanik und Statik
21 1
Oberkörpergewicht ⊡ Abb. 1.16 a, b. a Der lange Lastarm (*)
mit dem Oberkörpergewicht muss von
den kleinen Glutaen gehalten werden.
b Mit der Seitneigung des Oberkörpers
wird der Lastarm (x‘) kürzer

x y x' y

a Beinachse b

1.16 b). Bei beidseitiger Betroffenheit resultiert ▬ Spastischer Gang, Scherengang. Es handelt
eine Gangstörung mit Hin- und Herschwenken sich hier um Gangstörungen aufgrund kom-
des Oberkörpers, die als Duchenne1-Zeichen plexer Behinderungen des Bewegungssystems
eingeordnet wird. Es entsteht das typische Bild bei zentralen neurologischen Störungen. Das
des Entenwatschelns. Ursachen für das Hüft- Gangbild bei spastischer Tetraplegie ist durch
hinken sind: folgende Merkmale gekennzeichnet: Die Füße
– Insuffizienz der Hüftabduktoren durch Läh- werden nur im Vorfuß belastet (Spitzfuß, Hüft-
mung und Atrophie, und Kniegelenke sind auch in der Belastungs-
– Ineffektivität der Hüftabduktoren bei An- phase gebeugt). Wegen der Adduktionskont-
näherung von Ansatz und Ursprung, z.B. raktur der Hüftgelenke reiben die Knie beim
bei kongenitaler Dislokation der Hüfte, Gehen aneinander. (Zur Eigentümlichkeit des
M. Perthes, Coxa vara, Epiphysenlösung, Gangbildes bei neurologischen Erkrankungen
posttraumatischem Trochanterhochstand, wie Parkinson, Kleinhirntumoren usw. s. GK
Schenkelhalspseudarthrose. Nervenheilkunde).

Wichtig Wichtig

Trendelenburg – Becken sinkt zur gesunden Seite Der spastische Gang wirkt gebremst.
Duchenne – Rumpf neigt sich zur kranken Seite

▬ Steppergang, Storchengang. Wenn der plantar


▬ Hinken aufgrund von Gelenksteifen (Schie- flektierte Fuß weder aktiv (Peronäuslähmung)
begang). Wenn das Hüftgelenk versteift ist, noch passiv (Achillessehnenverkürzung) dor-
kann das Bein in der Schwungphase nicht nach sal extendiert werden kann, ist er beim Gehen
vorn geschwungen werden, weil die Hüftbeu- eine Behinderung. Es kann außerdem nur der
gung fehlt. Um das Bein nach vorn zu bringen, Vorfuß belastet werden. Das Bein ist durch den
schiebt der Patient die ganze Beckenhälfte vor. nach unten hängenden Fuß funktionell zu lang.
Es entsteht der charakteristische Schiebegang. Damit der Vorfuß beim Durchschwingen auf
Dieser kommt auch bei der sog. Hüft-Lenden- Unebenheiten des Bodens nicht hängen bleibt,
Strecksteife vor, bei der die Hüftbeugung durch muss das Bein stärker angehoben werden.
Kontraktur der Ischiokruralmuskeln funktio- Beim Aufsetzen des spitzfüßigen Beins wird
nell behindert ist. das Kniegelenk außerdem nach hinten durch-
gedrückt, wodurch auf die Dauer ein Knickbein
(Genu recurvatum) entstehen kann.
1 Guillaume Duchenne, Neurologe, Paris (1806–1875)
22 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

⊡ Abb. 1.17 a–c. Gehhilfe


1 durch a Gehilfen, b Unterarm-
gehstützen, c Handstock

▬ Hackengang. Eine wichtige Phase beim Gehen, luxationen, akuter Periarthropathia humerosca-
Springen, Hüpfen und Treppensteigen ist das pularis, ist der Arm wie gelähmt und wird vom
Abstoßen vom Fußboden, das im wesentlichen Patienten nicht bewegt, um die Schmerzen nicht
vom Triceps surae bewerkstelligt wird. Fällt noch zu verstärken. Davon abzugrenzen sind die
dieser durch Lähmung (Polio, Meningomye- echten Lähmungen bei Armplexusläsionen. Zen-
lozelen: MMC) oder Achillessehnenriss aus, so tral bedingte Koordinationsstörungen mit einge-
entsteht der Hackengang: Der Patient kann nur schränkter Greifbewegung finden sich bei vielen
kurze Schritte vollführen, ohne den Fuß regel- neurologischen Erkrankungen (s. GK Neurologie).
recht abzurollen und den Vorfuß zu belasten, er Nach längerem Bestehen solcher Lähmungen stel-
kann sich nicht auf die Zehenspitzen stellen. len sich Kontrakturen ein, und zwar:
▬ an der Schulter: die Adduktionskontraktur,
Gehhilfen. Bei starker Gehbehinderung oder wenn ▬ am Ellenbogen: die Beugekontraktur,
ein Bein überhaupt nicht belastet werden darf, sind ▬ an der Hand: die Volarflexions- und Pronati-
Gehhilfen erforderlich. Sie dienen dazu, einen Teil onskontraktur.
der Körperlast vom geschwächten oder lädierten
Bein zu nehmen und auf die oberen Extremitäten 1.2.7 Bewegungsstörungen des Rumpfes
umzuleiten (⊡ Abb. 1.17). (Schober1-Zeichen)

Wichtig Der Rumpf ist normalerweise nach allen Seiten


Einseitige Gehhilfen trägt man auf der Gegenseite hin beweglich. Bei der Rumpfbeugung nach vorn
des Beins, das entlastet werden soll. kommt es zu einer gleichmäßigen Entfaltung der
Dornfortsatzreihe. Die Rumpfbeweglichkeit lässt
sich mit dem Schober-Zeichen messen s. Abb. 5.4,
Als weitere Gehhilfen kommen Achselstützen oder S. 135.
Gehwagen in Frage. Nach Verletzungen und Opera- Bei eingeschränkter Rumpfbeweglichkeit ist
tionen ist es wichtig, mit Gehhilfen von der totalen diese Distanz geringer. Der Fingerspitzen-Boden-
Entlastung über die Teilbelastung zur Vollbelas- Abstand beträgt beim Jugendlichen normalerwei-
tung überzugehen. se 0 cm. Mit zunehmendem Alter kommt es zur
physiologischen Einschränkung der Rumpfbe-
Komplexe Bewegungsstörung der oberen weglichkeit. Einige Erkrankungen gehen mit Be-
Extremität wegungsstörungen des Rumpfes einher. Diese kön-
Die Bewegungsunfähigkeit der oberen Extremität
kann verschiedene Ursachen haben. Bei starken
Schmerzen, z.B. nach Oberarmbrüchen, Schulter- 1 Paul Schober, prakt. Arzt, Wildbad (1865–1943)
1.2 · Biomechanik und Statik
23 1

nen vorübergehend (z.B. Hexenschuss) oder von Wichtig


dauernder Natur sein (Bechterew-Erkrankung). Ankylose: Gelenkversteifung durch feste Verbin-
Beim M. Scheuermann betrifft die Bewegungsstö- dung (Fusion) der artikulierenden Gelenkflächen.
rung nur einen bestimmten Rumpfabschnitt, die
untere BWS. Eine fixierte Fehlstellung findet sich
vorübergehend bei der ischiatischen Fehlhaltung Bei der fibrösen Ankylose sind die Gelenkpartner
und Hüft-Lenden-Strecksteife. Dauernde Fehlstel- bindegewebig, bei der ossären Ankylose knöchern
lungen bestehen bei allen strukturellen Achsenab- untereinander verbunden. Ankylosen kommen vor
weichungen der WS, wie z.B. bei der Skoliose oder bei bakteriellen und rheumatischen Gelenkentzün-
beim Hohlrundrücken. dungen, Gelenktrümmerfrakturen, Blutergelenken
und nach Operationen, v.a. wenn das operierte Ge-
Wichtig lenk lange fixiert werden musste. Knöcherne An-
Bei einer Starre des Rumpfes, wie sie häufig bei kylosen, v.a. an der Hüfte, finden sich nach bakteri-
der Bechterew-Erkrankung anzutreffen ist, kann ellen Entzündungen.
die Unfähigkeit der Rumpfbeugung durch eine
Wichtig
gute Hüftbeweglichkeit kompensiert werden
(⊡ Abb. 1.18). Kontraktur: Gelenkzwangsstellung mit verminder-
ter bis aufgehobener Bewegungsfähigkeit.

1.2.8 Bewegungseinschränkung
der Gelenke, Kontrakturen Das Gelenk kann in jeder Stellung verharren.
Am häufigsten sind Beugekontrakturen, weil die
Je nach Ursache, Umfang und Dauer unterschei- Beugemuskeln, z.B. an Hüfte, Knie und Ellenbo-
det man verschiedene Formen der Bewegungsein- gen, stärker als ihre Antagonisten sind. Aber auch
schränkung von Gelenken. Die Gelenksteife kann Streck-, Innen-, Außenrotations-, Ab- und Adduk-
angeboren (z.B. angeborene Kniestrecksteife) oder tions- sowie Pro- und Supinationskontrakturen
erworben (z.B. Schultersteife) sein. Die Ursache kommen vor. Nach der Ätiologie und Pathogenese
liegt entweder im Gelenk selbst (z.B. Meniskusein- unterscheidet man:
klemmung, Arthrose) oder außerhalb (z.B. durch ▬ Ontogenetische Kontrakturen. z.B. angebore-
Sehnenverkürzung). Bei Nerven- und Muskelschä- ner Klumpfuß, angeborene Kniestrecksteife,
den unterscheidet sich die aktive von der passiven Arthrogryposis.
Beweglichkeit. Was das Ausmaß der Gelenkbe- ▬ Neurogene Kontrakturen. Lähmungsklumpfuß,
weglichkeit betrifft, so gibt es von der freien Be- Kontrakturen bei Polio, spastische Lähmungen,
weglichkeit bis zur vollständigen Einsteifung alle Myelomeningocelen usw.
Übergänge.

⊡ Abb. 1.18. a Gleichmäßige Entfaltung der normalen


WS. b Starre WS, trotzdem beträgt der Fingerspitzen-
Boden-Abstand 0 cm wegen einer guten kompensato-
rischen Hüftbeugung
24 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

▬ Dologene Kontraktur (Schmerzkontraktur). – an der Schulter die Adduktionskontraktur,


1 Jedes Gelenk hat bei einer Kapselschwellung – an der Hüfte die Beuge- und Außenrotations-
oder bei einem Erguss eine Position, die die kontraktur,
wenigsten Schmerzen bereitet. An der Hüfte ist – die Kniebeugekontraktur und v.a.
es die Flexions-, Außenrotations-, Abduktions- – die Spitzfußkontraktur ( Übersicht 1.5).
stellung, an Knie und Ellenbogen die Beugehal-
tung, die am meisten Erleichterung bringt, weil
Gelenkkapseln und Bänder entspannt sind. Übersicht 1.5. Kontrakturen
Wird diese Stellung wegen der anhaltenden Ursache: Merkmal: Beispiel:
Schmerzen länger beibehalten, so entsteht eine Ontogenetisch Angeboren Angeborener
Kontraktur: Aus der zunächst haltungsbeding- Klumpfuß
ten wird eine strukturelle Fehlstellung. Neurogen Lähmung Lähmungs-
▬ Dermatogene Kontraktur. Narbige Schrump- klumpfuß
fungen, wie z.B. nach Verbrennungen der Haut, Dologen Entlastungs- Ischialgie
können ein Gelenk in eine Zwangsstellung zie- haltung
hen. In der Kniekehle führen solche Narben Arthrogen Im Gelenk Rheuma
zur Kniebeugekontraktur, in der Halsregion Dermatogen Narben- Fingerbeuge
entsteht ein narbenbedingter Schiefhals, am schrumpfung kontraktur
Rumpf entsteht eine Skoliose und nach Opera- Tendomyogen Sehnen- Volkmann-
tionen in der Hohlhand, besonders in Grund- muskel- Kontraktur
gelenknähe, können Beugekontrakturen der schrumpfung
Finger entstehen. Lagerungs- Behandlungs- Spitzfuß
▬ Arthrogene Kontraktur. Darunter fasst man deformität fehler
alle Kontrakturen zusammen, die von einem
der Gelenkanteile ausgehen, also von Knor-
pelunebenheiten, Kapselbandschrumpfungen, Wichtig
Verklebungen der Gelenkinnenhaut, bakteri- Eine wichtige Maßnahme zur Beseitigung von
ellen Entzündungen und Rheuma. Arthrogen Kontrakturen ist die Krankengymnastik mit akti-
sind auch die Gelenksperren durch freie Ge- ven und passiven Bewegungsübungen.
lenkkörper (Osteochondrosis dissecans) und
Meniskuseinklemmung.
▬ Tendomyogene Kontraktur. Auch außerhalb Zur Vorbereitung und als Begleitmaßnahmen die-
des Gelenks gelegene Muskel- und Sehnener- nen:
krankungen führen zu Kontrakturen. Narbige ▬ Wärmeanwendungen und Massage,
Schrumpfungen der Muskulatur, wie bei der ▬ Aufwärmen und Vorbereitung des Muskels
Volkmann-Kontraktur und beim M. Sudeck, durch Kontraktion gegen Widerstand,
oder Verkürzungen der Muskeln und Sehnen ▬ vorsichtige Dehnung des kontrahierten Mus-
kommen als Ursache in Frage. kels in der postisometrischen Entspannungs-
▬ Die Kontraktur als Lagerungsdeformität. Diese phase,
stellt die wichtigste Kontrakturform dar, weil ▬ Traktion und Gleitmobilisation direkt am Ge-
sie durch adäquate Prophylaxe vermieden wer- lenk,
den kann. Lagerungsdeformitäten entstehen ▬ Stimulation und Kräftigung der Antagonisten,
durch unsachgemäße Lagerung von immobi- ▬ Dauerzüge, Streckverbände, Lagerungsschie-
lisierten Patienten, die aus Krankheitsgründen nen und motorgetriebene Bewegungsschienen
(Lähmung, Verletzung, Bewusstlosigkeit) län- in den Behandlungspausen.
gere Zeit liegen müssen. Neben Dekubitalge-
schwüren stellen sich Kontrakturen ein, und Sprechen alle konservativen Maßnahmen nicht an,
zwar: erfolgt die Kontrakturbeseitigung operativ durch
1.2 · Biomechanik und Statik
25 1

Verlängerung verkürzter Sehnen, z.B. Achilloteno- dorsal durchbiegen (z.B. Genu recurvatum). Solan-
tomie beim Spitzfuß, oder Arthrolysen mit operati- ge diese Befunde symmetrisch sind und keine Be-
ver Lösung intraartikulärer Verwachsungen. schwerden verursachen, ist eine Behandlung nicht
Maßnahmen zur Kontrakturprophylaxe sind: erforderlich.
▬ aktives und passives Durchbewegen der kon-
trakturgefährdeten Gelenke, Wichtig
▬ korrekte Lagerung in Funktionsmittelstellung: Erst wenn sich die Gelenkpartner teilweise oder
abduzierte Schulter, gebeugter Ellenbogen, ganz voneinander trennen und in Fehlstellung
dorsal extendiertes Handgelenk, gebeugte Fin- zueinander geraten, spricht man von Subluxation
ger, gestrecktes Hüft- und Kniegelenk, Recht- bzw. Luxation.
winkelstellung am Fußgelenk,
▬ spezielle Hilfsmittel, z.B. der Bettkasten am
Fußende zur Spitzfußprophylaxe, untergelegte Das Schultergelenk zeigt die größte Luxationsbe-
Kissen, Extensionslagerungsschienen, Wech- reitschaft, weil die gelenkführenden Gelenkflächen
sellagerung. Medikamente (z.B. Muskelrelaxan- sehr klein sind und eine Stabilisierung des Gelenks
tien) richten bei Kontrakturen nichts aus. nur kapsulär bzw. muskulär erfolgen kann. Diese
Sicherung ist sehr anfällig, so dass Lähmungen und
Luxation Verletzungen an der Schulter häufig zu Luxationen
Wenn sich ein Gelenk über die normalen Ausmaße führen.
hinaus bewegen lässt, handelt es sich um eine pa-
thologische Gelenkbeweglichkeit, wobei das, was Wichtig
man noch als normal bezeichnen kann, nicht ge- Habituelle Luxation: Häufige und ohne besondere
nau definiert und in Winkelgraden festgelegt ist. Gewalteinwirkung auftretende Verrenkungen
Die individuellen Unterschiede sind groß, sie hän- (⊡ Abb. 1.19).
gen von Alter, Geschlecht und Trainingszustand
ab. Junge asthenische Frauen weisen häufig eine
generalisierte Überstreckbarkeit der Gelenke auf, Als Ursachen der Gelenkluxation kommen in
die man nicht als pathologisch bezeichnen kann. Frage:
Besonders Knie- und Ellenbogengelenke lassen ▬ Ontogenetische Störungen. Typisches Beispiel
sich bei einigen Menschen erstaunlich weit nach ist die kongenitale Hüftluxation aufgrund einer

⊡ Abb. 1.19 a, b. Habituelle Patellaluxation nach la-


teral (a), habituelle Schulterluxation nach caudal (b)
26 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

angeborenen Hüftgelenksdysplasie. Auch die luxation, z.B. bei der MMC. Auch hier wan-
1 habituelle Patellaluxation ist im wesentlichen dert der Hüftkopf allmählich aus der Pfanne
auf anlagebedingte Störungen zurückzuführen: ( Übersicht 1.6).
schlaffer Kapselbandapparat am Knie, X-Bein,
Abflachung des lateralen Femurkondylus.
▬ Traumatische Luxationen. Verletzungen des Übersicht 1.6. Luxationen
Kapselbandapparats sind die häufigsten Ur- Ursache: Merkmal: Beispiel:
sachen für Luxationen. Durch Zerreißung von Ontogenetisch Angeboren Hüftluxation
Kapselanteilen und Führungsbändern kommt Traumatisch Kapselband- Schulter
es zur Trennung der artikulierenden Gelenk- ruptur
flächen. Dieser Mechanismus ist praktisch an Habituell Disposition Patella,
jedem Gelenk möglich, am häufigsten tritt er Schulter
jedoch am Schulter-, Ellenbogen-, Knie- und Rheuma Kapselband- Fingergrund-
Sprunggelenk auf. Heilt der Kapselbanddefekt zerstörung gelenke
nicht aus, so entstehen rezidivierende, evtl. Lähmung Instabil Schulter
habituelle Luxationen, am häufigsten an der
Schulter. Neben der Verletzung mit Abriss der
Kapsel vom vorderen Pfannenrand spielt hier
auch eine anlagebedingte Bereitschaft zur Lu- 1.3 Allgemeine Pathophysiologie
xation eine Rolle. der Stütz- und Bewegungsorgane
▬ Erkrankungen des Kapselbandapparats. Diese
Luxationen setzen oft allmählich ein, wie z.B. 1.3.1 Schädigungen durch
beim Gelenkrheuma oder bei schweren dege- biomechanische Faktoren
nerativen und neuropathischen Gelenkleiden
(z.B. tabische Arthropathie). In den gelockerten Positive biomechanische Faktoren wie Schwerkraft,
Gelenken sind die Gelenkkörper abnorm ge- Bewegung, Beschleunigung, Druck- und Zugreize
geneinander verschieblich und schwer zu sta- sind natürliche biologisch-mechanische Beanspru-
bilisieren. Es kommt zum Schlottergelenk. Die chungen und Impulse für unsere Stütz-, Halte- und
rheumatische Entzündung greift im Verlauf der Bewegungsorgane. Bleiben z.B. biomechanische
Erkrankung von der Gelenkinnenhaut auch auf Faktoren wie Schwerkraft und Bewegung über
die Gelenkkapsel und Bänder über und zerstört längere Zeit aus (Weltraumkapsel), so kommt es
diese. Im Zusammenhang mit den gleichzeitig zur Demineralisierung des Skeletts und zur Mus-
auftretenden Deformierungen der Gelenkflä- kelatrophie.
chen entstehen pathologische Gelenkbeweg- Muskelaktivität fördert nicht nur Wachstum
lichkeiten und Achsenabweichungen. Typisch und Durchblutung des betätigten Muskels, son-
ist die Subluxation der Fingergrundgelenke mit dern bewirkt auch eine bessere Durchblutung und
Ulnardeviation beim Rheuma. Am Fuß finden Mineralisation der mitbeanspruchten Knochen,
sich ähnliche Veränderungen an den Zehenge- womit deren Bruchfestigkeit erhöht wird. Gleiches
lenken. gilt für Gelenkkapseln, Sehnen und Bänder, deren
▬ Lähmungsluxationen. Auch außerhalb des Rissfestigkeit erhöht wird.
Gelenks liegende Störungen führen zu Luxati- Bewegung fördert durch den Wechsel zwischen
onen. Die Verrenkung tritt aufgrund mangeln- Be- und Entlastung den Stoffaustausch im Gelenk-
der muskulärer und ligamentärer Stabilisie- knorpel und in den Bandscheiben, die durch Dif-
rung ein. Lähmungsluxationen treffen bevor- fusion ernährt werden. Darin liegt die Bedeutung
zugt die Schulter. Eine Armplexuslähmung hat von Bewegung und Muskelaktivität bei der kran-
z.B. regelmäßig einen allmählichen Austritt des kengymnastischen Übungsbehandlung und für die
Humeruskopfes aus der Schultergelenkpfanne Prävention von degenerativen Erkrankungen des
zur Folge. An der Hüfte gibt es die Lähmungs- Skelettsystems ( Übersicht 1.7).
1.3 · Allgemeine Pathophysiologie der Stütz- und Bewegungsorgane
27 1
1.3.2 Degeneration
Übersicht 1.7. Biomechanik der
Bewegungsorgane Die Degeneration des Binde- und Stützgewebes ist
Positiva: Negativa: Ursache vieler orthopädischer Erkrankungen: Ar-
Bewegung Immobilisation throse, Bandscheibenschaden, Tendinose. Bei der
Schwerkraft Schwerelosigkeit Entwicklung degenerativer Veränderungen des
Wechsel zwischen Gleichbleibende Binde- und Stützgewebes sind verschiedene Fak-
Be- und Entlastung Be- oder Entlastung toren begünstigend.
Muskelaktivität Faulheit
Glatte Gelenkflächen Inkongruente Endogene Faktoren
Gelenkflächen Konstitution, ererbte Gewebequalität und indivi-
Normale Belastung Fehl-, Überbelastung duelle Belastbarkeit des Stütz-, Halte- und Bewe-
gungsapparats sind für den Entstehungszeitpunkt
und den Ausprägungsgrad einer degenerativen Er-
Negative biomechanische Faktoren können zu krankung maßgebend. Trotz ungünstiger äußerer
Fehlbelastungen und Überbeanspruchung am Umstände, z.B. nach einer Gelenkverletzung mit
Skelettsystem führen. Dazu zählen z.B. Immobili- Stufenbildung, bildet sich eine Arthrose im betrof-
sation, Achsfehler der langen Röhrenknochen, die fenen Gelenk erst sehr spät oder überhaupt nicht.
Fehlbelastungen der benachbarten Gelenke her- Dafür ist die natürliche Widerstandskraft des Ge-
vorrufen. Achsfehler der WS (z.B. Skoliose) führen lenkknorpels, der hier starken punktförmigen Be-
zur Überbeanspruchung der Rumpfmuskeln. Ein lastungen ausgesetzt wird, verantwortlich. Weitere
instabiles Gelenk (Wackel-Schlotter-Gelenk) ist Faktoren sind geschlechts- und rassenspezifische
durch Bänderschlaffheit vermehrt aufklappbar. Merkmale.
Die Folge ist, dass der Kapselbandapparat des Ge-
lenks weiter überdehnt wird, außerdem kommt es Exogene Faktoren
zur Fehlbelastung des Gelenkknorpels mit Entste- Traumen, Fehl- und Überbelastungen, Entzündun-
hung einer Arthrosis deformans. Inkongruenzen gen sowie Ernährungsstörungen können degene-
der Gelenkflächen, die nicht mehr richtig aufeinan- rative Veränderungen des Binde- und Stützgewe-
der passen, entstehen auf verschiedenartige Weise: bes verursachen und verschlimmern.
Frakturen mit Gelenkbeteiligung hinterlassen oft
Stufen in den Gelenkflächen. Typisch ist z.B. die Wichtig
Stufenbildung nach Patellafraktur mit nachfolgen- Dystrophe Prozesse (Ernährungsstörungen) im
der Arthrosis deformans im Femoropatellargelenk. bradytrophen Bandscheibengewebe und im
Stufen entstehen auch häufig nach Tibiakopffrak- Gelenkknorpel werden bei Bewegungsmangel
turen durch Absinken des Tibiakopfplateaus im eingeleitet.
frakturierten Abschnitt. Deformierungen mit In-
kongruenzen der Gelenkflächen entstehen aber
auch nach Entzündungen, Nekrosen und Knorpel- Der diffusionsabhängige Stoffaustausch in diesen
erkrankungen (Arthrosis deformans). Geweben ist auf den Wechsel zwischen Be- und
Entlastung, also auf Bewegung angewiesen. Im All-
Wichtig gemeinen ist Bewegungsmangel durch Automati-
Biologisches Grundgesetz nach Arndt1-Schulz2: sierung der Umwelt als eine wesentliche Ursache
Schwache Reize fördern, starke hemmen, stärkste der zunehmenden degenerativen Gelenk- und
lähmen die Lebenstätigkeit. Also: Adäquate Belas- Bandscheibenerkrankungen zu sehen.
tung regt an, übermäßige schadet.

1 Rudolf Arndt, Psychiater, Greifswald (1835–1900)


2 Hugo Schulz Pharmakologe, Greifswald (1835–1932)
28 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

1.3.3 Alterung Wichtig


1 Die Alterung des Knochens geht mit Entkalkung,
Binde- und Stützgewebe zeigen auch ohne speziel- Kortikalisverdünnung sowie Verminderung der
le konstitutionelle Voraussetzung oder Umweltein- Trabekel einher.
flüsse im Laufe des Lebens zunehmende Alterungs-
erscheinungen, die die Entstehung degenerativer
Erkrankungen begünstigen. Dadurch bricht der Knochen u.U. schon bei relativ
Die Bandscheiben verlieren durch Abnahme geringer mechanischer Beanspruchung, bevorzugt
der Mukopolysaccharide und Wasserverlust ihre am distalen Radiusende und am Schenkelhals; die
innere Spannkraft und zeigen schon frühzeitig Ge- Wirbel sintern. Die Erweiterung der Trabekelab-
fügelockerungen, Risse und Sequesterbildungen, stände mit Höhlenbildung im Knochen kennzeich-
die die pathologisch-anatomische Grundlage für net auch die Erkrankung: Osteoporose.
bandscheibenbedingte Beschwerden (HWS-LWS- Es muss nochmals ausdrücklich darauf hinge-
Syndrom) bilden. wiesen werden, dass die Alterung des Bindegewe-
Auch im Gelenkknorpel findet sich mit zuneh- bes an sich noch keine Krankheit ist. Sie ist dem
mendem Alter eine Minderung der Mukopolysac- Grauwerden der Haare und der Faltenbildung der
charide, Abnahme der Permeabilität für Nährstoffe Haut gleichzusetzen. Durch Alterung wird ledig-
und Verringerung der Zellzahl. Dadurch wird der lich das Verhältnis zwischen Belastung und Belast-
Gelenkknorpel weniger widerstandsfähig gegen barkeit zuungunsten der Belastbarkeit beeinflusst
exogene Schäden (z.B. Trauma, Immobilisation, ( Übersicht 1.8).
Entzündung) und entwickelt eher Erweichungen,
Erosionen und Risse, die die Arthrosis deformans 1.3.4 Reaktive Phänomene
einleiten. Die Dehnbarkeit und Elastizität von Seh- bei degenerativen Prozessen
nen, Faszien und Bändern lässt aufgrund einer
Verminderung der Anzahl elastischer Fasern nach. Im Gelenk Bei der beginnenden Arthrose können
Spontanrupturen der Sehnen (bevorzugt Achilles- pathologisch-anatomische Veränderungen und
und Bizepssehne) treten bei alten Menschen eher klinische Symptome noch sehr gering sein oder
auf als bei jungen. sogar fehlen (latente Arthrose). Am Anfang stehen
Reiben und Knirschen beim Durchbewegen der be-

Übersicht 1.8. Alterung als für degenerative Erkrankungen begünstigender Faktor


Gewebe: Physiologische Pathologisch- Degenerative
Alterserscheinung: anatomische Erkrankung:
Veränderung:
Bandscheiben Wasserverlust Risse HWS-Syndrom
Abnahme der Mukopolysaccharide Lockerung LWS-Syndrom
Quelldruckerniedrigung Sequesterbildung
Gelenkknorpel Reduzierte Permeabilität Erweichung Arthrose
für Nährstoffe Erosion
Abnahme der Mukopolysaccharide Risse
Sehnen Abnahme der elastischen Risse Spontane
Fasern Teilrisse Sehnenruptur
Verminderte Rissfestigkeit Nekrosen Insertionstendopathie
Knochen Entkalkung Frakturen Osteoporose
Kortikalisverdünnung Knochensinterung
Erweiterung der Trabekelabstände
1.3 · Allgemeine Pathophysiologie der Stütz- und Bewegungsorgane
29 1
⊡ Abb. 1.20. Reaktive Veränderungen bei der Arthrose am
Beispiel des Kniegelenks

troffenen Gelenke, hinzu kommen belastungsab-


hängige Schmerzen und bei einer sog. aktivierten
Arthrose ein entzündungsähnlicher Reizzustand
mit reaktiver Synovialitis, Kapselschwellung, Ge-
lenkerguss, Überwärmung und Spontanschmer-
zen. Im Röntgenbild sieht man eine Gelenkspalt-
verschmälerung, subchondrale Sklerosierungen
der Knochen mit Zystenbildungen und Randwülste
an den Gelenkkanten (Osteophyten) (⊡ Abb. 1.20).
Zu den Späterkrankungen gehören schließlich
Gelenkfehlstellungen (z.B. X-Bein, O-Bein, Sublu-
xation), Lockerung des Kapselbandapparates mit
Wackel- bzw. Schlottergelenkbildung. Auch kann
ein arthrotisches Gelenk fast vollständig einsteifen
(Wackelsteife).
⊡ Abb. 1.21. Reaktive Veränderungen bei degenerativen
An der WS. Während bei den degenerativen Gelenk- Prozessen an der WS

erkrankungen die pathologischen und anatomi-


schen Veränderungen sowie die röntgenologisch noch keine röntgenologisch sichtbaren Phänome-
sichtbaren Erscheinungen i. allg. parallel zu den ne hervorrufen (⊡ Abb. 1.21).
klinischen Symptomen verlaufen und eine gewisse Spondylose und Osteochondrose treten erst
Progredienz zeigen, ist dies bei den degenerativen später als Zeichen früher durchgemachter Band-
WS-Erkrankungen nicht der Fall. Die reaktiven scheibenlockerungen auf.
Phänomene bei der Bandscheibendegeneration mit
Verschmälerung des Zwischenwirbelabschnitts, 1.3.5 Präexistente Schädigungen
subchondralen Sklerosierungen der angrenzenden und Störungen
Wirbeldeckplatten (Osteochondrose, Diskose) und
Randwulstbildungen an den Wirbelkanten nehmen Viele orthopädische Erkrankungen treten als Se-
zwar im Laufe des Leben zu, haben aber keine we- kundärschäden auf. Das primäre Geschehen kann
sentliche klinische Bedeutung. Beschwerdeverur- ontogenetisch, biomechanisch oder degenerativ
sachend bei den degenerativen WS-Erkrankungen sein. Darüber hinaus gibt es noch weitere ätiolo-
sind die Segmentlockerungen und Verlagerungen gische Faktoren, wie Entzündung, Trauma, Inakti-
von Bandscheibengewebe (Prolaps), die zunächst vität und Immobilisation, Systemfaktoren, Zirku-
30 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

lationsstörungen und neurotrophische Störungen, Fehlstellung verheilte Frakturen führen zu Achs-


1 präarthrotische Deformitäten und Tumoren. abweichungen und Torsionsfehlern. Typische post-
traumatische Fehlstellungen als präexistente Schä-
Entzündung digungen und Störungen für Folgeerkrankungen
Orthopädische Erkrankungen können als Residuen (Arthrosis deformans) sind:
vorangegangener Entzündungen auftreten. Neben ▬ nach Schenkelhalsbruch: posttraumatische
rheumatischen Entzündungen kommen v.a. bak- Coxa vara, Coxa valga;
terielle Entzündungen in Frage. Sie entstehen ent- ▬ nach Ober-, Unterschenkelbruch: posttrauma-
weder durch direkte Einbringung des Erregers bei tisches X-O-Bein;
einer offenen Verletzung, Operation und Injektion ▬ nach Knöchelbruch: posttraumatischer Knick-
oder indirekt auf hämatogenem Weg nach einem fuß, Varusstellung der Ferse;
bakteriellen Entzündungsprozess an anderer Stel- ▬ nach Fersenbeinbruch: posttraumatischer
le (Tonsillitis, Furunkel, pathogene Darmkeime, Plattfuß;
Infektionskrankheiten). Bakterielle Entzündungs- ▬ nach suprakondylärem Oberarmbruch: Cubi-
prozesse können sich grundsätzlich an jeder Stelle tus valgus, Cubitus varus;
des Bewegungssystems abspielen. Je nach Lokalisa- ▬ nach Radiusfraktur an typischer Stelle: Bajo-
tion bezeichnet man sie als: nettstellung im Handgelenk;
▬ Osteomyelitis = Knochenmarkentzündung, ▬ nach epiphysären oder epiphysenfugennahen
▬ Spondylitis = Wirbelentzündung, Frakturen bei Kindern: partielle Verknöche-
▬ Koxitis = Hüftgelenkentzündung, rung und Schiefwuchs.
▬ Gonitis = Kniegelenkentzündung,
▬ Omarthritis = Schultergelenkentzündung Nach unvollständig verheilten Kapselbandläsionen
usw. entsteht eine Bandinsuffizienz mit posttraumati-
scher Gelenkinstabilität. Beispiele:
Wichtig ▬ Innen-, Außen- und Kreuzbandinsuffizienz am
Hauptmanifestationsort bei der hämatogenen Ab- Knie
siedlung von Erregern sind die gut durchbluteten ▬ Innen- und Außenbandinsuffizienz am oberen
Metaphysen der langen Röhrenknochen und die Sprunggelenk.
Wirbelspongiosa.
Diese Gelenke sind ebenfalls durch eine posttrau-
matische Arthrosis deformans gefährdet.
Trauma Rezidivierende Luxationen können auch trau-
Traumatische Einwirkungen auf die Bewegungs- matischen Ursprungs sein: Nach der ersten trau-
organe können je nach Ausmaß und Richtung matischen Luxation eines Gelenks ist der Kapsel-
unterschiedliche Folgen haben. Prellungen, Zer- bandapparat an einer bestimmten Stelle so schlaff,
rungen und Distorsionen heilen i. allg. folgenlos dass es immer wieder, auch bei geringeren Gewalt-
aus. Massive Gewalteinwirkungen führen zu Frak- einwirkungen, zu Luxationen kommt. Beispiele:
turen, Luxationen und Zerreißungen. Durch sofort ▬ habituelle Schulterluxation,
einsetzende adäquate Therapie ist in vielen Fällen ▬ habituelle Patellaluxation.
eine völlige Wiederherstellung zu erzielen, ohne
dass Form- und Funktionsstörungen verbleiben. Allerdings sind gewisse dispositionelle Faktoren
Beispiele: für die Manifestation dieser Leiden mitentschei-
▬ sofortige Achillessehnennaht nach Achillesseh- dend. Auch anscheinend geringe traumatische Ein-
nenruptur, wirkungen können Schäden am Bewegungssystem
▬ stabile Osteosynthese bei Frakturen. hervorrufen, wenn sie über längere Zeit einwirken.
Mikrotraumen und Vibrationen, wie sie z.B. bei
Wenn keine Restitutio ad integrum erreicht wer- der Betätigung von Pressluftwerkzeugen auftre-
den kann, treten posttraumatische Schäden auf. In ten, verursachen eine Arthrose im Ellbogengelenk
1.3 · Allgemeine Pathophysiologie der Stütz- und Bewegungsorgane
31 1
⊡ Abb. 1.22 a–c. Präarthroti-
sche Deformitäten.
a M. Perthes, b Osteochondro-
sis dissecans, c X- und O-Bein

oder die spontane Osteonekrose des Mondbeins z.B. ein X- oder O-Bein. Ebenso hinterlassen Ent-
(Lunatummalazie). Über längere Zeit einwirkende zündungen und vorübergehende Stoffwechselstö-
Mikrotraumen sind neben einem gewissen dispo- rungen oft irreversible Schäden an Gelenkinnen-
sitionellen Faktor auch verantwortlich für die Ent- haut und Knorpel, die präarthrotisch sind (⊡ Abb.
stehung von: 1.22).
▬ Insertionstendopathien (z.B. Tennisellen- Ähnlich wie präarthrotische Deformitäten zur
bogen) und Arthrosis deformans führen, gibt es auch Form-
▬ Ermüdungsbrüchen (z.B. Marschfraktur). und Funktionsstörungen am Bewegungssystem,
die die Entwicklung der Bandscheibendegenerati-
Immobilisationsschaden on (Diskose) an der WS begünstigen. Analog den
präarthrotischen Deformitäten werden sie als prä-
Wichtig diskotische Deformitäten bezeichnet.
Inaktivität und Immobilisation reduzieren den
Wichtig
Stoffaustausch im Gelenkknorpel derart, dass
nach mehreren Wochen Veränderungen auftreten, Unter prädiskotischer Deformität versteht man
welche die Belastbarkeit des Gelenks vermindern. Veränderungen am Skelettsystem, die eine anhal-
tende asymmetrische Belastung einer oder meh-
rerer Zwischenwirbelabschnitte zur Folge haben.
Kommt eine inadäquate Belastung hinzu, so kön-
nen Knorpelläsionen entstehen. Dies ist z.B. der
Fall, wenn man den Patienten nach längerer Gips- Eine asymmetrische Einstellung des Zwischenwir-
immobilisation sofort auftreten und voll belasten belabschnitts ist sowohl in der Sagittal- als auch in
läßt. Zunächst ist hier Teilbelastung angebracht. der Frontalebene möglich. Zu den prädiskotischen
Deformitäten zählen:
Präarthrotische und prädiskotische ▬ Beinlängendifferenz,
Deformitäten ▬ M. Scheuermann,
▬ Keilwirbel,
Wichtig ▬ asymmetrische Übergangswirbel,
Präexistente Schäden und Störungen, die zur Ar- ▬ Spondylolyse,
throsis deformans führen, werden als präarthroti- ▬ in Fehlstellung verheilte Wirbelfrakturen,
sche Deformitäten bezeichnet. ▬ Entzündungen (⊡ Abb. 1.23).

Präarthrotische und prädiskotische Deformitäten


Dieser Begriff ist im weitesten Sinne zu verstehen. stellen nur ein Krankheitspotential dar, sie müssen
Auch fernab vom betroffenen Gelenk können De- nicht unbedingt zur Krankheit führen. Endogene
formitäten bestehen, die zur Arthrose führen, wie Faktoren (individuelle Belastbarkeit) und Bean-
32 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

⊡ Abb. 1.23 a–c. Prädiskotische


1 Deformitäten. a Keilwirbel,
b M. Scheuermann, c Blockwirbel:
die der Deformität benachbarten
Bandscheiben sind durch asymmet-
rische Belastung überbeansprucht

spruchung der vorgeschädigten Anteile des Ske- lenartige Verkalkungssäume um den Knochen
lettsystems sind für den Manifestationszeitpunkt zeigen. Vitamin-D-Mangel führt zur Rachitis.
und das Ausmaß der sekundären Verschleißer- ▬ Hormonelle Störungen
krankungen maßgebend (⊡ Abb. 1.24). Bei einigen Drüsenstörungen kommt es auch
zu Störungen am Skelettsystem.
Systemfaktoren – Nebenschilddrüse: Überfunktion (Hyper-
Während angeborene Defekte, Verletzungen, dege- parathyreoidismus), z.B. durch ein Neben-
nerative und bakterielle Veränderungen eher loka- schilddrüsenadenom: Osteodystrophia fib-
lisiert auftreten, gibt es ätiologische Momente, die rosa generalisata.
systemisch bedingt sind. Zu den Systemfaktoren – Hypophyse: Unterfunktion (zu wenig STH):
mit Manifestation am Bewegungssystem zählen: hypophysärer Minderwuchs, Überfunktion
▬ Immunpathologische Prozesse (zu viel STH): hypophysärer Riesenwuchs,
Etwa die Erkrankungen des rheumatischen solange die Wachstumsfugen noch offen
Formenkreises: chronische Polyarthritis, M. sind. Wenn eine Überproduktion von Wachs-
Bechterew, Still-Krankheit, Reiter-Krankheit, tumshormon im Erwachsenenalter stattfin-
Arthritis psoriatica. det, kommt es zur Akromegalie.
▬ Metabolische Störungen Bei der Dystrophia adiposogenitalis kommt
Etwa Gicht und Pseudogicht, Diabetes mellitus, es neben der Fettsucht und dem Hypogona-
Hunger- und Mangelosteopathie. dismus häufig zu folgenden Skeletterkran-
▬ Vitaminmangelkrankheiten kungen: Epiphysenlösung, X-Bein, Platt-
Vitamin-C-Mangel verursacht subperiostale füße.
Blutungen, die sich im Röntgenbild als scha-

⊡ Abb. 1.24. Darstellung der Faktoren, die zur degene-


rativen Erkrankung führen
1.3 · Allgemeine Pathophysiologie der Stütz- und Bewegungsorgane
33 1

– Schilddrüse: Unterfunktion: Kretinismus am Wichtig


Skelettsystem mit Minderwuchs (dyspropor- Spontane Osteonekrosen sind lokalisierte Durch-
tioniert, kurze Extremitäten), Wirbelverfor- blutungsstörungen an bestimmten Epi- und
mungen (platt- oder keilförmig, pathologi- Apophysen, bedingt durch ein Missverhältnis
sche Kyphose), O-Beine, epiphysäre Wachs- zwischen Durchblutungsangebot und -nachfrage,
tumsstörungen. z.B. in bestimmten Wachstumsphasen, in denen
Überfunktion: manchmal mit einer Osteopo- an die Blutversorgung des Knochens große Anfor-
rose einhergehend, sonst für das Skelettsys- derungen gestellt werden.
tem ohne Bedeutung.
– Nebennierenrinde: Überfunktion: führt zum
Cushing-Syndrom am Skelettsystem mit Os- Der betroffene Knochenabschnitt verliert durch
teoporose, Spontanfrakturen und Hüftkopf- die ischämische Nekrose an Stabilität und verformt
nekrosen. sich (⊡ Abb. 1.25,  Übersicht 1.9).
▬ Gerinnungsstörungen
Hier kommt es zu Gelenkblutungen, am bedeu-
tendsten ist die Bluterkrankheit. Übersicht 1.9. Nekrosen und deren Namen
Hüftkopf – Perthes
Zirkulationsstörungen (sponta- Capitulum humeri – Panner
ne Osteonekrosen, aseptische Knie – König
Knochennekrosen, Osteochondrosen) Tibia – Schlatter
Lokale Durchblutungsstörungen kommen bei ei- Hacken – Haglund
nigen wichtigen Skeletterkrankungen als ätiologi- Kahnbein – Köhler I
scher Faktor in Frage, so z.B. bei den ischämischen Mittelfußköpfchen – Köhler II
Knochennekrosen. Diese können scheinbar ohne Mondbein – Kienböck
äußere Ursache entstehen und heißen dann spon-
tane Osteonekrosen (= Osteochondrosen, asepti-
sche Knochennekrosen).

⊡ Abb. 1.25 a–h. Spontane


Osteonekrosen. a Hüftkopf-
epiphyse (M. Perthes),
b Ellenbogen (M. Panner),
c Knie: Osteochondrosis
dissecans (M. König), d Tibia-
apophyse (M. Schlatter), e Apo-
physitis calcanei (M. Haglund),
f Os naviculare pedis (M. Köhler
I), g Mittelfußköpfchen
(M. Köhler II), h Os lunatum
(M. Kienböck)
34 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

Die einzelnen Krankheitsbilder werden in den Neurotrophische Störungen


1 jeweiligen Kapiteln in der speziellen Orthopädie Erkrankungen des Nervensystems ziehen sekun-
besprochen. Neben diesen spontanen Osteonekro- där auch Veränderungen des Skelettsystems nach
sen gibt es noch zahlreiche andere Lokalisationen, sich. Die mit der Nervenläsion verbundene Im-
die allerdings wegen ihrer Seltenheit weniger von mobilisation führt zu einer Atrophie der Muskeln,
Bedeutung sind. Bänder und Knochen und macht sich dort nach
längerem Bestehen als Osteoporose bemerkbar.
Wichtig Am wachsenden Skelett sind bei neurogenen Er-
Einige Gemeinsamkeiten bei den spontanen krankungen lokalisierte Wachstumsstörungen die
Osteonekrosen: Folge. Beispiele:
▬ Bis auf die spontanen Osteonekrosen des ▬ Eine geburtsbedingte Armplexuslähmung
Mittelfußköpfchens und des Os lunatum führt zum Minderwachstum des Armes.
betreffen alle das wachsende Skelett. Die Lu- ▬ Eine Rumpfmuskellähmung ruft asymmetri-
natumosteonekrose hat den spätesten Alters- sches Wirbelkörperwachstum mit struktureller
gipfel. Skoliose hervor.
▬ Am Gelenk ist immer ein Gelenkkopf und
nicht die Pfanne betroffen. Bei der Sudeck-Dystrophie wird als Ätiologie eine
▬ Die unteren Extremitäten sind häufiger be- neurotrophische Störung vermutet. Durch ein
troffen als die oberen, wohl wegen der stärke- Trauma, das mitunter sehr gering sein kann (Ba-
ren Belastung. gatelltrauma), wird auf reflektorischem Weg eine
Dystrophie (Reflexdystrophie) der betroffenen Ex-
tremität eingeleitet.
Die idiopathische Hüftkopfnekrose beim Erwach- Neurogene Osteoarthropathien sieht man bei
senen müsste hier eigentlich auch aufgeführt wer- Nervenerkrankungen, die mit einem Mangel an
den. Da, wie die Bezeichnung idiopathisch schon Tiefensensibilität einhergehen. Beispiele:
sagt, die Ätiologie noch nicht ganz geklärt ist, er- ▬ Tabische Arthropathie mit schweren arthroti-
scheint eine Aufführung unter den Zirkulationsstö- schen Veränderungen und Fehlstellungen ohne
rungen und ischämischen Nekrosen jedoch nicht wesentliche Schmerzen, betroffen sind v.a. die
gerechtfertigt. unteren Extremitäten.
▬ Die Arthropathie bei Syringomyelie betrifft be-
Periphere Durchblutungsstörungen. Sie betreffen sonders die oberen Extremitäten.
nur indirekt das Skelettsystem und sind v.a. für die ▬ Neurogene Arthropathie, z.B. im Rahmen der
Differenzialdiagnose von Bedeutung. Patienten mit diabetischen Neuropathie.
arteriellen Durchblutungsstörungen klagen über
Beschwerden in beiden Beinen in Form krampfar- 1.3.6 Weichteilschädigungen
tiger Wadenschmerzen, die nach einer bestimmten
Wegstrecke auftreten und nach dem Stehenbleiben Druckschäden der Haut
wieder verschwinden. Ein belastungsabhängiger Sie treten auf bei fehlerhaft angelegten Schienen
Schmerz, der vom Kapselbandapparat ausgeht, und Gipsverbänden, besonders häufig und gefähr-
hält nach der Entlastung zunächst weiter an. Die lich sind Druckstellen und Ulzera bei trophischen
Hauptlokalisation der durchblutungsbedingten Störungen. Die entstandenen Druckulzera heilen
Schmerzen an den Akren entspricht auch nicht nicht ab. Prädilektionsstellen für Druckstellen der
den orthopädischen Erkrankungen. Weitere Diffe- Haut sind:
renzierung: Fußpulse, Ergometertest, Oszillogra- ▬ Darmbeinkämme,
phie, Angiographie usw. Differenzialdiagnostisch ▬ Kreuzbein,
kommt die Claudicatio intermittens spinalis bei ▬ Patella,
lumbaler Wirbelkanalstenose in Frage. ▬ Fibulazäpfchen
▬ Ferse.
1.3 · Allgemeine Pathophysiologie der Stütz- und Bewegungsorgane
35 1

Diese Gegenden müssen im Gipsverband beson- Wichtig


ders abgepolstert werden. Bei der Entstehung von Skeletterkrankungen
wirken in den meisten Fällen mehrere Faktoren
Narbenkontrakturen zusammen.
Diese treten nach ausgedehnten Weichteilschädi-
gungen auf und sind grundsätzlich an allen Weich-
teilen und Gelenken möglich. Narbenbedingte Häufig ist die Kombination konstitutioneller Mo-
Form- und Funktionsstörungen treten z.B. nach mente mit anlagebedingter Schwäche bestimmter
Verbrennungen auf. Am Hals kann durch einsei- Gewebeabschnitte oder des ganzen Skelettsystems
tigen Narbenzug ein narbenbedingter Schiefhals (ontogenetischer Faktor) mit einem Trauma. Ty-
entstehen. Ausgedehnte Narben am Rumpf führen pische Beispiele sind hier die habituellen Luxatio-
zur Skoliose. Narben in der Ellenbeuge oder in der nen des Schultergelenks und der Patella. Auch bei
Kniekehle führen dort zu Beugekontrakturen. degenerativen Erkrankungen (Arthrosen, Band-
scheibenschäden), rheumatischen Entzündungen,
Therapie. Orthopädische Hilfsmittel sind hier hormonellen Störungen, metabolischen Erkran-
Schienen und Apparate. Wenn die Kontrakturen kungen (Gicht), ischämischen Knochennekrosen,
bereits eingetreten sind, und es sich um verhärte- neurotrophischen Störungen (M. Sudeck) und
te Narben handelt, sind konservative Maßnahmen Tumoren ist die Anlage zur Entwicklung dieser
meistens nicht mehr erfolgversprechend. Hier hilft Leiden gegeben. Manifestation und Ausprägung
dann nur noch eine Operation mit Z-förmiger Ver- der Erkrankung werden durch äußere Umstände
längerung des verkürzten Hautareals. bestimmt.

Prophylaxe. Richtige Lagerung in Funktionsmit- Symptomatik orthopädischer


telstellung des Gelenks bei Weichteilverletzungen. Erkrankungen
Die allgemeinen Symptome bei Erkrankungen
1.3.7 Bedeutung und Häufigkeit der des Skelettsystems gliedern sich entsprechend der
einzelnen ätiologischen Faktoren Anamnese und dem Untersuchungsgang in subjek-
und Pathomechanismen tive Angaben des Patienten und objektive Befunde.
Dabei unterscheidet man Befunde, die bei der In-
Viele orthopädische Erkrankungen lassen sich spektion, Palpation und Funktionsprüfung am Be-
eindeutig auf einen einzigen ätiologischen Faktor wegungsapparat zu erfassen sind. Hinzu kommen
zurückführen (monofaktorielle Ätiologie). Dazu spezielle Untersuchungsmethoden, wie Röntgen,
zählen die ontogenetischen Störungen mit angebo- Labor, Szintigramm, Arthrogramm, usw. Einige
renen Defekten, Dysplasien und Aufbaustörungen Befunde sind mehreren verschiedenen Krankhei-
der Gewebe. Auch bakterielle Entzündungsprozes- ten gemeinsam, andere findet man nur bei einem
se, Verletzungsfolgen und Vitaminmangelerkran- Krankheitsbild, welchem dementsprechend eine
kungen sind in ihrer Entstehung auf eine einzige große diagnostische Aussagekraft zukommt. Das
Ursache zurückzuführen. Bei der Pathogenese und Vorhandensein eines solchen krankheitsspezifi-
weiteren Entwicklung der Erkrankungen spielen schen Symptoms weist mit großer Sicherheit auf
schon wieder anlagebedingte Faktoren eine Rolle. das betreffende Leiden hin. Diagnosesichernd ist
Es wurde darauf hingewiesen, dass z.B. die Ent- z.B. der Erregernachweis im Gelenkpunktat oder
wicklung einer posttraumatischen Arthrose nach das Ergebnis der histologischen Untersuchung bei
einer bestimmten Gelenkverletzung individuell Tumoren und spezifischen Entzündungen. Beson-
verschieden, je nach Qualität und Widerstandskraft ders wertvoll sind jedoch krankheitsspezifische
des Knorpels, verläuft. Symptome, die schon nach der ersten körperlichen
Untersuchung ohne spezielle Zusatzuntersuchun-
gen eine Diagnosestellung erlauben. Einige ortho-
pädische Krankheiten sind schon aufgrund ihres
36 Kapitel 1 · Anatomie, Biomechanik und Pathophysiologie

typischen Erscheinungsbilds zu erkennen, z.B. Andere haben einen typischen Einzelbefund bei
1 Trichterbrust, Klumpfuß, Hallux valgus ( Über- der Palpation oder Funktionsprüfung, der nur für
sicht 1.10). eine Krankheit kennzeichnend ist. Auch hier gibt es
Sondersituationen und Ausnahmen.
Die meisten Befunde am Bewegungssystem sind
Übersicht 1.10. Krankheitsspezifische krankheitsunspezifisch, d.h. sie treffen auch für
Einzelbefunde am Bewegungssystem mehrere Krankheiten zu. Ein Gelenkerguss kann
Klinischer Einzelbefund: Krankheit: z.B. arthrotisch, entzündlich oder traumatisch
Verschiebeschmerz Chondropathia sein.
der Patella patellae Erst weitere diagnostische Kriterien wie Anam-
Drehmann-Zeichen Epiphysenlösung nese und Punktionsergebnis führen zur Diagnose.
Aus- und Einrenkungs- Kongenitale Auch Achsenfehler der Extremitäten, Skoliosen,
phänomen an der Hüftluxation Bewegungs- und Haltungsstörungen, Ganganoma-
Säuglingshüfte lien und Atrophien sind gemeinsame Symptome
Druckschmerz über dem Tennisellenbogen verschiedener Krankheiten. Erst in ihrer Kombi-
Epicondylus lateralis nation sind sie krankheitsspezifisch.
humeri
2

2 Anamnese und klinische Untersuchung

2.1 Anamnese – 38

2.2 Untersuchungsbefund – 38
2.2.1 Längen- und Umfangsmessungen – 40
2.2.2 Andere spezielle Untersuchungen – 40

2.3 Weiterführende Untersuchungsverfahren – 40


2.3.1 Das Wirk-e-Prinzip – 40
2.3.2 Arteriographie – 41
2.3.3 Arthrographie – 41
2.3.4 Arthroskopie und arthroskopische Operationen – 42
2.3.5 Computertomographie (CT) – 42
2.3.6 Diskographie – 42
2.3.7 Elektromyographie – 43
2.3.8 Konsilien – 43
2.3.9 Labor – 44
2.3.10 Kernspintomographie, (Magnetresonanztomogramm, MRT) – 44
2.3.11 Myelographie – 45
2.3.12 Probeexzision (PE) – 45
2.3.13 Sonographie (Ultraschalluntersuchung) – 45
2.3.14 Szintigramm des Skelettsystems – 46
2.3.15 Röntgenaufnahmen – 47
2.3.16 Radiologische Symptome am Skelett – 47
38 Kapitel 2 · Anamnese und klinische Untersuchung

>> Einleitung Unfällen, Operationen, Krankenhausaufenthalten


Nach der allgemeinen Befragung und Befunderhebung und ggf. Dauer einer Gipsbehandlung, um Hinwei-
erfolgt bei orthopädischen Erkrankungen noch ein spe- se für Unfallfolgen, Immobilisationsschäden und
2 zieller Untersuchungsgang. dergleichen zu erhalten.
Das fängt mit speziellen Fragen zur Anamnese an Die jetzige Anamnese zum Krankheitsbild, das
und führt zu den obligatorischen Umfangs-, Längen- den Patienten zum Arzt führt, ist bei verschiedenen
und Winkelmessungen. Deshalb gehört zum Untersu- orthopädischen Erkrankungen oft das einzige Kri-
chungswerkzeug des Orthopäden ein Bandmaß und terium für die Diagnosestellung, wobei aktueller
ein Winkelmesser. Alle weiterführenden Maßnahmen Untersuchungsbefund, Röntgenbild und Zusatz-
muss man vom Prinzip her kennen, besonders in Bezug untersuchungen kein Ergebnis erbringen. Dazu
auf Invasivität, Risiko, Kostspieligkeit in Relation zur Ef- zählen z.B.
fektivität. Dabei schneidet die Sonographie am besten ▬ Meniskuseinklemmungen,
ab. Ein solches Gerät steht heute in jeder orthopädi- ▬ habituelle Schulterluxation,
schen Klinik und Praxis. ▬ habituelle Patellaluxation,
▬ Wurzelreizerscheinungen bei bandscheibenbe-
dingten Erkrankungen,
2.1 Anamnese ▬ Gelenkschwellungen bei seronegativer rheu-
matischer Arthritis.
In der Familienanamnese erfragen wir nicht nur
Häufungen von Rheuma, Gicht, Diabetes, Tuberku- In diesen Fällen kann man die Diagnose nur durch
lose, Hämophilie usw., sondern wir erkundigen uns mehr oder weniger invasive weiterführende Unter-
auch nach speziellen körperlichen Behinderungen suchungsverfahren sichern.
bekannter Vorfahren, etwa nach unübersehbaren Mit gezielten Fragen, wo, wie lange, wobei, kann
▬ Verformungen des Rumpfes, man die Angaben des Patienten noch präzisieren:
▬ Buckelbildung, »Zeigen Sie mir den genauen Schmerzpunkt; wie
▬ Kleinwuchs, lange hält der Schmerz an; bei welcher Gelegenheit
▬ Rundrückenbildung, tritt der Schmerz auf, im Sitzen, Stehen oder Liegen;
▬ Hinken und welche Körperbewegung verstärkt oder verringert
▬ Krückstocktragen, den Schmerz; bei welcher Bewegung verrenkte sich
die Hinweise für schwere Arthrosen der unteren die Schulter; bitte machen Sie mit dem gesunden
Extremitäten, oft nach anlagebedingten Gelenkde- Arm die Bewegung vor.«
formitäten, sind. Wichtigstes Beispiel ist die ange-
borene Hüftdysplasie, der bei familiärer Häufung
schon bei Neugeborenen größte Beachtung ge- 2.2 Untersuchungsbefund
schenkt werden muss.
In der Eigenanamnese fragt man gezielt nach Die Untersuchung bei Erkrankungen an den Bewe-
früher durchgemachten Erkrankungen und Verlet- gungsorganen gliedert sich in 4 Teile:
zungen an Knochen und Gelenken, z.B.: »Lagen Sie ▬ Inspektion,
als Säugling im Beckengips oder in einer Spreiz- ▬ Palpation,
hose« (Hüftdysplasie), »hatten Sie als Kind Hüft- ▬ Funktionsprüfung,
probleme im Vorschulalter« (Perthes) »oder später ▬ spezielle Untersuchungsmethoden.
mit 12–14 Jahren?« (Epiphysenlösung). Diese Er-
krankungen gehen selbst im floriden Stadium oft Zur Inspektion gehört die Untersuchung der Kör-
nur mit geringen Krankheitserscheinungen einher, perhaltung, des Gangbildes, etwaiger Achsenab-
führen aber dazu, dass die Kinder vorübergehend weichungen, von Atrophien und Fehlbildungen.
hinken oder andere Ganganomalien zeigen und Bei der Palpation geht es u.a. darum, die für
vorübergehend im Sportunterricht schlechte Leis- verschiedene Erkrankungen charakteristischen
tungen erbringen. Wichtig ist auch die Frage nach Druckpunkte herauszutasten, z.B. am Epicondylus
2.2 · Untersuchungsbefund
39 2

Bewegungsausschlag die Nullstellung, kommt die


Null in die Mitte. Wird die Nullstellung nicht er-
reicht, erscheint die Null sinngemäß vor oder hin-
ter den beiden anderen Zahlen (⊡ Abb. 2.2).
Wenn z.B. im Ellenbogengelenk keine Über-
streckung möglich ist, lautet das Protokoll 150/0/0.
Kann die Nullstellung, etwa wegen einer Kontrak-
tur, nicht erreicht werden, so notiert man die Null
vorne oder hinten. Bei einer Beugekontraktur von
20° und einer von dieser Stellung aus erreichten
weiteren Beugung von 130 lautet das Protokoll:
Flexion/Extension 130/20/0 (⊡ Abb. 2.3). Liegt
eine Versteifung des Ellenbogengelenks in einer
Beugestellung von 20° vor, heißt es im Protokoll:
20/20/0.

⊡ Abb. 2.1. Aufrechte Haltung: Neutral-Null-Stellung

lateralis humeri: Tennisellenbogen; am medialen


Kniegelenkspalt: Meniskopathie; am Unterrand
des Akromions: Erkrankungen der Rotatorenman-
schette.
Am besten lässt man sich vom Patienten selbst
die Hauptschmerzpunkte mit einem Finger zei-
gen.
Mit der Funktionsprüfung nach der Neutral-
Null-Methode kann man für das Protokoll die Ge- ⊡ Abb. 2.2. Normale Beweglichkeit im Ellenbogengelenk.
lenkbeweglichkeit in Gradzahlen genau festhalten. Protokoll: Flexion/Extension 150/0/10
Bei dieser Methode wird von der anatomischen
Normalstellung, auch Neutralstellung oder funk-
tionelle Ausgangsstellung genannt, aus gemessen
(⊡ Abb. 2.1). Die Zahlenwerte der rechten Seite no-
tiert man zuerst.

Wichtig

Bei der Neutral-Null-Methode gibt der abgelesene


Winkelwert den Bewegungsausschlag von der
Nullstellung aus an.

Eine Bewegung wird nicht nur durch die beiden


⊡ Abb. 2.3. Beugekontraktur im Ellenbogengelenk. Die
erreichten Endwerte, etwa für Beugung und Stre-
Nullstellung kann nicht erreicht werden. Aus der Kontraktur-
ckung, angegeben, sondern beim Passieren der stellung von 20°-Beugung kann das Ellenbogengelenk bis
festgelegten Nulllinie, z.B. wird die Null als 2. und 130° (von der Nullstellung aus gemessen) um 110° gebeugt
die Endstellung als 3. Zahl eingetragen. Passiert der werden. Protokoll: Flexion/Extension 130/20/0
40 Kapitel 2 · Anamnese und klinische Untersuchung

2.2.1 Längen- und Umfangsmessungen weichungen an Rumpf und Extremitäten müssen


die Deviationswinkel angegeben werden. Die Win-
Am Arm misst man die Länge zwischen Akromi- kelmessungen sollten mit einer Genauigkeit von 5°
2 onspitze und Processus styloideus radii. Ober- reproduzierbar sein, aber auch keine geringeren
armlänge: von der Akromionspitze bis zum Epi- Sprünge als 5° umfassen ( Übersicht 2.1).
condylus lateralis humeri, Unterarmlänge: vom
Epicondylus lateralis humeri bis zum Processus
styloideus radii bei rechtwinklig gebeugtem Ellen- 2.3 Weiterführende
bogen. Ausgangspunkt für Umfangsmessungen ist Untersuchungsverfahren
wiederum der Epicondylus lateralis humeri: Man
misst den Umfang 10 und 20 cm oberhalb und un- Nach Anamneseerhebung und klinischer Untersu-
terhalb desselben. chung mit den üblichen Hilfsmitteln kann man auch
Die Längenmessung am Bein erfolgt von der ohne Zusatzuntersuchungen schon bei vielen or-
Spina iliaca anterior superior bis zur Spitze des thopädischen Erkrankungen eine Diagnose stellen:
Malleolus lateralis oder medialis. Misst man nur bei offensichtlichen Form- und Funktionsstörun-
den Oberschenkel, so gilt die Distanz zwischen gen wie O-Beinen, Trichterbrust und Skoliose. Alle
der Spitze des Trochanter major und dem latera- weiterführenden Untersuchungsverfahren dienen
len Kniegelenkspalt. Am Unterschenkel ist der in solchen Fällen zur Sicherung und Präzisierung
Abstand zwischen lateralem Kniegelenkspalt und der Diagnose sowie als Grundlage für Verlaufskon-
Außenknöchelspitze maßgebend. trollen: Beim O-Bein müssen Hauptkrümmung
Für die Umfangsmessung am Bein nimmt man und Deviationswinkel auf Ganzaufnahmen der
den medialen und lateralen Kniegelenkspalt als Beine bestimmt werden, wenn eine Korrekturos-
Ausgangspunkt und wählt Abstände von 10 und 20 teotomie geplant ist; eine Trichterbrust kann zur
cm ober- bzw. unterhalb desselben. Die Patella ist Veränderung der inneren Thoraxorgane führen,
wegen ihrer Verschieblichkeit als Orientierungs- die man nur unter Röntgendurchleuchtung sieht;
punkt ungeeignet. und bei einer juvenilen Skoliose muss der Krüm-
mungswinkel im Röntgenbild zur Progredienz-
2.2.2 Andere spezielle Untersuchungen und Therapiebeurteilung gemessen werden.

Andere spezielle Untersuchungen an den Bewe- 2.3.1 Das Wirk-e-Prinzip


gungsorganen werden nur durchgeführt, wenn
sich aus der Anamnese und dem bisherigen Befund Alle weiterführenden Maßnahmen in Diagnostik
Hinweise auf eine bestimmte Erkrankung ergeben. und Therapie müssen unter Berücksichtigung des
Bei Schmerzen am Knie prüft man zusätzlich Patel- Stellenwerts für die Diagnosesicherung und den
laverschieblichkeit, Meniskuszeichen, Instabilitäts- Gewinn für den Patienten 4 Bedingungen erfül-
zeichen usw.. Bewegungsstörungen an der Hüfte len:
erfordern den Thomas-Handgriff, bei Achsenab-

Übersicht 2.1. Spezielle Untersuchungstests in der Orthopädie


Thomas-Handgriff – Beugekontraktur der Hüfte S. 219
Drehmann-Zeichen – Epiphysenlösung S. 232
Schober-Zeichen – Rumpfbeweglichkeit S. 135
Steinmann-Zeichen – Meniskusriss S. 251
Schublade, Lachmann, Pivot – Kreuzbandriss S. 257
Wadenkneiftest – Achillessehnenriss S. 266
Mennell – Kreuzdarmbeinfuge S. 150
2.3 · Weiterführende Untersuchungsverfahren
41 2
Wichtig ren zeigen typische Durchblutungsmuster, Gefäß-
Diagnostik und Therapie sollen wenig invasiv, erweiterungen, Anastomosen usw.
riskant, kostspielig, aber effektiv sein (Wirk-e-
Wichtig
Prinzip)
Arteriographie: Invasiv, riskant (Kontrastmittel,
hohe Röntgenbelastung) und kostspielig. Wegen
Einige neue Untersuchungsverfahren, wie z.B. die des hohen Effektivitätsgrades ist die Arteriogra-
Sonographie, haben wegen ihres guten Abschnei- phie bei einigen Knochentumoren zur präoperati-
dens nach dem Wirk-e-Prinzip eine weite Verbrei- ven Diagnostik vertretbar.
tung erlangt, andere, wie Myelographie und Arte-
riographie (riskant und kostspielig), werden in der
Orthopädie immer weniger angewendet. 2.3.3 Arthrographie
Gerade der junge Arzt, der in der Anfangsphase
eines Krankheitsfalls die weiterführende Diagnos- Prinzip. Kontrastdarstellung von Gelenken.
tik bestimmt, sollte sich darüber im klaren sein,
was er seinem Patienten und dem Kostenträger Procedere. Kontrastmittel, Luft oder besser beides
– bei aller Effektivität für die Diagnosesicherung werden über eine Punktionskanüle in den Gelenk-
und Präzisierung – zumutet. Dabei kann nicht oft innenraum injiziert. Das Gelenk wird dann in meh-
genug betont werden, dass dem Patienten durch reren Ebenen geröntgt.
genaues Befragen und Untersuchen manche inva-
sive, riskante und teure Untersuchungsmaßnahme Komplikationen. Reaktionen auf das Kontrastmit-
erspart werden kann. Gleiche Überlegungen gelten tel, Infektion.
für den therapeutischen Ansatz (nicht nur in der
Orthopädie). Indikation. Am Kniegelenk zur Meniskusdiagnos-
tik; bei der kongenitalen Hüftluxation, um evtl.
2.3.2 Arteriographie vorliegende Repositionshindernisse festzustellen;
an der Schulter zum Nachweis eines Defektes der
Prinzip. Direkte Kontrastdarstellung von Arterien. Rotatorenmanschette, des Pfannenrandes oder des
Labrum glenoidale; am Ellenbogen zur Darstellung
Procedere. Ein Röntgenkontrastmittel wird in eine knorpeliger Gelenkkörper.
Arterie injiziert, entweder durch direkte Gefäßdar-
stellung oder indirekt durch einen Katheter. Sofort Befunde. Das Kontrastmittel benetzt knorpelige,
und kurz hintereinander angefertigte Röntgen- röntgentransparente Gelenkanteile, dringt in Risse
aufnahmen zeigen die Durchblutung im Ausbrei- und Zysten ein und stellt diese dar.
tungsgebiet. Durch die DSA (s. Radiologie) heute
nicht mehr so invasiv wie früher. Wichtig

Arthrographie: Invasiv, riskant (Kontrastmittelre-


Komplikationen. Hämatome, Thrombose, Infekti- aktion, Röntgenbelastung). Vor jeder Arthrogra-
on, Kontrastmittelreaktion. phie sollte man überprüfen, ob man nicht mit der
Sonographie auskommt oder ob eine Arthros-
Indikation. In der Orthopädie hat die Arteriogra- kopie durchgeführt werden sollte, weil man hier
phie eine gewisse Bedeutung zur Bestimmung ne- gleichzeitig therapieren kann (s. S. 42).
krotischer Knochenbezirke, z.B. am Hüftkopf, für
die Tumordiagnostik und bei Missbildungen.

Befunde. Bei Knochennekrosen sieht man Defekte


im Gefäßnetz und Gefäßabbrüche. Einige Tumo-
42 Kapitel 2 · Anamnese und klinische Untersuchung

2.3.4 Arthroskopie und arthroskopische Befunde. Man sieht Kniebinnenläsionen in allen


Operationen (⊡ Abb. 2.4) Details, besser noch als bei einer Arthrotomie.

2 Prinzip. Darstellung des Gelenkinnenraumes mit Wichtig


einem Arthroskop. Arthroskopie: Bei relativ geringer Invasivität und
niedrigem Operationsrisiko hat das Verfahren ei-
Procedere. In Lokal-, Regionalanästhesie oder nen hohen Effektivitätsfaktor, weil Diagnostik und
Vollnarkose wird das Arthroskop in den Gelenkin- Therapie in einer Sitzung durchgeführt werden
nenraum vorgeschoben. Aufgesetzt ist eine kleine können.
Fernsehkamera, die das Bild auf einen Bildschirm
überträgt. Von einem weiteren Arbeitszugang aus
werden Instrumente eingeführt, die den flüssig- 2.3.5 Computertomographie (CT)
keitsgefüllten Gelenkinnenraum austasten. Durch
den gleichen Zugang führt man arthroskopische Prinzip. Röntgenschichtaufnahmen in der Trans-
Instrumente ein, mit denen Eingriffe am Meniskus, versalebene mit computergesteuerter Bildrekons-
am Knorpel oder an der Gelenkinnenhaut ausge- truktion.
führt werden: Meniskotomie, Knorpelglättung,
Synovektomie. Procedere. Eine um den Körper kreisförmig rotie-
rende Röntgenröhre nimmt schichtweise Bilder auf,
Komplikationen. Wie bei jeder Operation, aller- die computergesteuert zusammengesetzt werden.
dings wesentlich geringer, da es sich nur um punkt-
förmige Zugänge handelt. Komplikationen. Keine. Zu beachten ist die Rönt-
genstrahlenexposition.
Indikation. Am Kniegelenk alle Meniskusläsionen,
freie Gelenkkörper, Knorpelaufbrüche bei akti- Indikation. Zur Zeit neben dem MRT noch we-
vierter Arthrose, Chondropathia patellae, habitu- sentliches Diagnostikum für den zervikalen und
elle Patellaluxation. An anderen Gelenken dient die lumbalen Bandscheibenvorfall und für Wirbelka-
Arthroskopie hauptsächlich zur Diagnostik: oberes nalstenosen. Es können auch Tumoren und Verlet-
Sprunggelenk, Schultergelenk, Ellenbogengelenk, zungen an Wirbelsäule und Becken gut dargestellt
Handgelenk. werden.

Befunde. Wie im Röntgenbild sieht man eine


schwarz-weiße Rekonstruktion der Organe
(⊡ Abb. 2.5).

Wichtig

CT: Ohne Invasivität und Risiko. Zu beachten sind


Strahlenexposition und Kosten. Die hohe Effekti-
vität bei bandscheibenbedingten Erkrankungen
macht die Myelographie für diese Indikationen
(fast) überflüssig.

2.3.6 Diskographie

⊡ Abb. 2.4. Arthroskopie im medialen Kompartment des


rechten Kniegelenks. Ein Längsriss (Pfeil) am Innenmeniskus
Prinzip. Kontrastdarstellung des Bandscheibenin-
wird mit dem Tasthaken aufgesucht und der freie Rand des nenraums.
Risses entfernt. Meniskusteilresektion
2.3 · Weiterführende Untersuchungsverfahren
43 2
2.3.7 Elektromyographie

Prinzip. Messen der Elektropotenzialdifferenz


zwischen 2 Punkten eines Muskels in Ruhe und bei
Willkürinnervation.

Procedere. Stimuliert wird mit einer Oberflächen-


elektrode, abgeleitet mit Nadel- oder Oberflächen-
elektroden. Die Stimulationsimpulse und Reizant-
worten sind auf einem Monitor sichtbar.

Komplikationen. Vorsicht bei Vorliegen eines


Herzschrittmachers.
⊡ Abb. 2.5. Computertomogramm der LWS in Höhe der Band-
scheibe L 4/5. Ein Bandscheibenvorfall (Pfeil) wölbt sich in den Indikationen. Erkrankungen des peripheren mo-
Wirbelkanal vor und komprimiert dort die linke Nervenwurzel torischen Neurons, Muskelerkrankungen, neuro-
L 5 sowie den Durasack muskuläre Überleitungsstörungen.

Befunde. Leitungsunterbrechungen, Amplituden-


Procedere. Nach Vorbereitung wie bei Operationen verminderung, Polyphasie und Verkürzung der
wird unter Röntgenkontrolle eine Punktionskanüle Potenzialdauer signalisieren Neuropathien und
in das Bandscheibenzentrum vorgeschoben, an der Myopathien.
HWS von ventral, an der LWS von posterolateral.
Kontrastmittel und ggf. Medikamente werden in- Wichtig
jiziert. EMG: Entspricht dem Wirk-e-Prinzip bei z.T. hoher
Effektivität. In der Kinderorthopädie Zurückhal-
Komplikationen. Reaktionen auf das Kontrastmit- tung mit Nadelelektroden.
tel, Infektion, paravertebrales Hämatom.

Indikation und Befunde. Als Voruntersuchung für 2.3.8 Konsilien


die Chemonukleolyse und die perkutane Disko-
tomie zur Sicherung der zentralen Nadellage und Hinzuziehung von Ärzten anderer Fachrichtun-
um zu sehen, ob der Sequester den Anulus fibrosus gen.
perforiert hat (Kontrastmittelabfluss in den Epidu-
ralraum). Weniger diagnostische Bedeutung haben Procedere. Ausschreiben eines Konsilscheines mit
die Kontrastmittelkonfigurationen innerhalb der genauer Fragestellung.
Bandscheibe. Aufschlussreich ist oft eine typische
Schmerzausstrahlung, wenn man in die betroffene Wichtig
Bandscheibe injiziert. Konsilien: Der Diagnoseablauf kann verzögert
werden, Nebenbefunde finden mehr Beachtung
Wichtig
als das eigentliche Anliegen des Patienten.
Diskographie: Invasiv, riskant (Kontrastmittelreak-
tion, Infektion, Röntgen), aufwendig, für die Routi-
nediagnostik nicht geeignet. Zur Vorbereitung der Indikationen. Bei einigen orthopädischen Erkran-
Chemonukleolyse unerlässlich. kungen sind Konsilien unerlässlich. Beim Schief-
hals muss z.B. der Ophthalmologe die okuläre Ge-
nese ausschließen. Alle neuromuskulären Störun-
gen erfordern die Hinzuziehung eines Neurologen.
44 Kapitel 2 · Anamnese und klinische Untersuchung

Bei einer Trichterbrust sind die inneren Organe zu 2.3.10 Kernspintomographie,


beurteilen. (Magnetresonanztomogramm,
MRT)
2 Befunde. Neben dem Untersuchungsbefund sollte
der Konsilbericht eine klare Antwort auf die ge- Prinzip. Atomkerne mit magnetischen Eigenschaf-
stellte Frage enthalten, z.B. ob der Patient operiert ten richten sich im Organismus, der einem starken
werden kann, verlegt werden sollte usw. magnetischen Gleichfeld ausgesetzt ist, in eine be-
stimmte Richtung.
Beurteilung. So wichtig Konsilien in Einzelfällen
auch sein mögen, so überflüssig sind sie, wenn es Procedere. Der Patient liegt längere Zeit in einer
um Banalitäten geht. meistens engen Röhre in einem starken Magnet-
feld, während die Aufnahmen computergesteuert
2.3.9 Labor angefertigt werden. Es sind Rekonstruktionen in
allen Ebenen möglich.
Prinzip. Analyse von Körperflüssigkeiten und Par-
tikeln. Komplikationen. Keine. Kinder und Patienten mit
Schmerzen können oft nicht so lange liegen, bei
Indikation. Orientierende Laborparameter gehö- ängstlichen Patienten evtl. Engegefühle.
ren zur Untersuchung bei jeder orthopädischen
Erkrankung. Blutbild, Blutsenkungsgeschwindig- Indikation. Lumbale und zervikale Bandscheiben-
keit und Elektrophorese sollten immer, Harnsäure, vorfälle, beginnende Hüftkopfnekrosen im Kindes-
alkalische Phosphatase, Kalzium, Phosphor, Rheu- und Erwachsenenalter, Verlaufskontrollen bei juve-
mafaktoren, HLAB-27 bei speziellen Fragestel- nilen Spondylolisthesen, Tumoren und intradurale
lungen untersucht werden. Vor Operationen gilt Prozesse (Differenzialdiagnose).
es, Blutzucker, Leberwerte, Elektrolyte, Blutgerin-
nungsfaktoren, Nierenwerte usw. zu überprüfen. Befunde. Wassergehalt und Gewebezusammenset-
In Gelenkpunktaten sucht man nach Bakterien, zung können genau beschrieben werden.
Gichtkristallen und Zellen ( Übersicht 2.2).
Wichtig
Beurteilung. Bei aller Einfachheit der Verlaufs- MRT: Nichtinvasive, risikolose (keine Röntgen-
kontrollen mit geringem Risiko und Invasivität ist strahlen), aber kostspielige Untersuchung. Bei
an die Kosten (HLAB-27) und die Belastung der einigen Krankheitsbildern ständig steigende
Patienten, insbesondere in der Kinderorthopädie Effektivität.
zu denken.

Übersicht 2.2. Für die Differenzialdiagnose orthopädischer Erkrankungen wichtige Laborwerte


Serumkalzium Alkalische Phosphatase
erhöht: erniedrigt: erhöht bei:
M. Paget Vit.-D-Mangel Rachitis
Metastasen osteoklastisch Hypoparathyr. Osteomalazie
Primärer Hyperparathyr. Metastasen osteoblastisch M. Paget, Hyperparathyr.
2.3 · Weiterführende Untersuchungsverfahren
45 2
2.3.11 Myelographie Komplikationen. Wie bei jeder Operation (Ent-
zündung, Thrombose, Narkosekomplikation usw.).
Prinzip. Kontrastmitteldarstellung des liquorhalti- Wenn sich die PE-Stelle entzündet, kann der ei-
gen spinalen Subarachnoidalraumes. gentliche Eingriff verzögert werden.

Procedere. Bei der lumbalen Myelographie wird Indikation. Klärung der Artdiagnose bei Tumoren
der Durasack mit einer dünnen Kanüle punktiert. und Knochenerkrankungen.
Etwas Liquor wird zur Diagnostik gewonnen und
wasserlösliches Kontrastmittel injiziert. Anschlie- Befunde. Sind bei der Kleinheit der Gewebeproben
ßend fertigt man Röntgenbilder in verschiedenen nicht immer ganz einfach. PE aus Randbezirken ei-
Ebenen an. nes Tumors kann zur Fehldiagnose führen.

Komplikationen. Kopfschmerzen durch Liquorab- Wichtig


fluss, meningeale Reizungen, Reaktionen auf das PE: Invasivität und Risiko sind durch den Operati-
Kontrastmittel, Infektionen. onscharakter gegeben. Hohe Effektivität bei der
Diagnosesicherung.
Kontraindikationen. Epileptische Anfälle. Hirn-
druckzeichen. Stationäre Beobachtung erforder-
lich. 2.3.13 Sonographie (Ultraschall-
untersuchung) (⊡ Abb. 2.6)
Indikationen. Beim lumbalen Bandscheibenvorfall
als Zusatzuntersuchung bei unklarem CT und MRT, Prinzip. Mechanische Schwingungen des Ultra-
v.a. bei Verdacht auf neurologische Erkrankungen schalls werden in den Organismus geleitet und
(Liquordiagnostik).

Befunde. Kontrastmittelaussparungen des Dura-


sacks und der Nervenwurzelkonfiguration.

Wichtig

Myelographie: Invasiv, riskant und kostspielig. CT


und MRT machen die Myelographie bis auf weni-
ge Fälle mit unklarer neurologischer Symptomatik
bei bandscheibenbedingten Erkrankungen meis- a
tens entbehrlich.

2.3.12 Probeexzision (PE)

Synonyme. Probebiopsie, Nadelbiopsie, Gewebe-


entnahme.

Prinzip. Gewebegewinnung zur histologischen, b


ggf. bakteriologischen Untersuchung.
⊡ Abb. 2.6 a, b. Ultraschalluntersuchung am Beispiel der
Schulter. a Der Schallkopf befindet sich in der Position I nach
Procedere. Nadel- bzw. Bohrbiopsie oder operative
Hedtmann. Vorne unten befindet sich das Korakoid, lateral
Gewebeprobenentnahme. Stanzbiopsie zur Kno- oben das Akromion, dazwischen das Lig. coracoacromiale mit
chenentnahme, z.B. aus dem Beckenkamm. der Bursagrenzlinie. b Darstellung des Lig. coracoacromiale,
darunter befindet sich die Rotatorenmanschette
46 Kapitel 2 · Anamnese und klinische Untersuchung

an Grenzflächen von Geweben unterschiedlicher weg im Knochen. Die Dichte der Radioaktivität
Dichte reflektiert, gestreut oder absorbiert. wird mit Ganzkörperscannern oder -kameras nach
2–3 h gemessen.
2 Procedere. Der Ultraschallkopf als Schallsender
und Empfänger des reflektierten Strahles wird auf Komplikation. Unverträglichkeiten gegenüber den
die Hautoberfläche gelegt. Die darunterliegenden markierten Substanzen. Zu beachten ist die Strah-
Gewebeschichten sind in verschiedenen Grautönen lenexposition.
auf einem Monitor sichtbar.
Indikation. Suche nach Skelettmetastasen, Kno-
Komplikationen. Keine. chenumbauzonen, Entzündungen.

Indikation. In der Orthopädie v.a. zur Diagnostik Befunde. Pathologischer Knochen reichert schnel-
der kongenitalen Hüftdysplasie, der Periarthro- ler und mehr Radioaktivität an als seine Umgebung
pathia humeroscapularis, von Veränderungen der bzw. die Gegenseite.
Achillessehne, Kniekehlenzysten, Meniskus und
anderen Weichteilprozessen, wie Kapselschwellun-
gen, Narbenbildungen und Gelenkergüssen. Intra-
ossäre Prozesse sind nicht darstellbar. Der beson-
dere Wert liegt in der funktionellen Untersuchung:
Man kann Gewebe bei der Bewegung beobachten.

Befunde. In Standardpositionen an der Säuglings-


hüfte (nach Graf) und an der Schulter (nach Hedt-
mann) lassen sich Krankheitsbilder anhand der
Sonogramme definieren und einteilen. Grenzen für
die Sonographie in der Orthopädie ergeben sich
dadurch, dass der Knochen wegen seines hohen
Schallwellenwiderstands Schallsignale fast völlig
reflektiert. Dahinterliegende Gewebe können nicht
dargestellt werden.

Wichtig

Die Ultraschalldiagnostik entspricht dem Wirk-


e-Prinzip: nicht-invasiv, ohne Risiko, vertretbare
Kosten und hohe Aussagekraft, beliebig häufige
Verlaufskontrollen. Ausgezeichnetes Ausbildungs-
gerät für die Unterrichtung von Studenten.

2.3.14 Szintigramm des Skelettsystems

Prinzip. Radioaktiv markierte Substanzen konzen-


trieren sich in bestimmten Skelettabschnitten und
zeigen dort erhöhten Knochenumbau an (⊡ Abb.
2.7).
⊡ Abb. 2.7. Typisches Skelettszintigramm bei Metastasen. Die
Procedere. Nach i.v.-Gabe verteilt sich die mar- dunklen Stellen markieren einen vermehrten Knochenumbau
kierte Substanz (99m-Technetium) über den Blut- in den Tumorbezirken
2.3 · Weiterführende Untersuchungsverfahren
47 2
Wichtig 2.3.16 Radiologische Symptome
Szinti: Intravenöse Gabe und Strahlenexposition
am Skelett
bestimmen den Wirk-e-Faktor. Die Effektivität
wird dadurch beeinträchtigt, dass das Szinti-
Knochendichte
gramm zwar den erhöhten Knochenumbau zeigt Bei den meisten Erkrankungen an den Bewegungs-
aber eine Diagnose nicht zulässt (nicht spezifisch). organen treten auch Veränderungen im Röntgen-
bild auf. Beim Röntgenbild handelt es sich um ein
Negativbild.
2.3.15 Röntgenaufnahmen
Wichtig
Prinzip. Darstellung der Summe aller sich überla- Die hellen Abschnitte des Knochens zeigen eine
gernden schattengebenden Objekte. verdichtete Struktur mit vermehrtem Kalkgehalt,
die dunklen Abschnitte zeigen eine vermehrte
Procedere. Lagerung in Standardtechniken mit Strahlendurchlässigkeit mit vermindertem
Darstellung in 2 oder mehr Ebenen. Kalkgehalt.

Komplikationen. Keine. Zu beachten ist die Strah-


lenexposition. Vermehrter Kalkgehalt (Verdichtung) findet sich
in der Umgebung von chronischen Entzündungen,
Indikationen. Zur Basisdiagnostik gehört eine z.B. bei der Knochenmarksentzündung (Osteomy-
Röntgenaufnahme des betroffenen Skelettab- elitis), bei verkalkten Knorpeltumoren, in den ge-
schnitts. In besonderen Fällen können zusätzlich lenknahen Knochenabschnitten bei degenerativen
Schichtaufnahmen (Tomogramme) angeordnet Gelenkerkrankungen (Arthrosis deformans), beim
werden, z.B. bei Osteomyelitis, Tumor, Verdacht auf M. Paget, in osteoblastischen Metastasen (Arthro-
Hüftkopfnekrose, Pseudarthrose. sis deformans), und als Reaktion des Knochens auf
vermehrte Belastung. Verminderter Kalkgehalt des
Wichtig Knochens mit vermehrter Strahlendurchlässigkeit
Röntgenaufnahmen gehören auch heute noch findet sich generalisiert bei Osteoporose und Oste-
zu (fast) jeder orthopädischen Untersuchung. In omalazie, lokalisiert bei osteoklastischen Tumoren
der Kinderorthopädie sollte man besonders bei (z.B. Metastasen), bei spezifischen Entzündungen
Verlaufskontrollen zurückhaltend sein. Zur Diag- (Tuberkulose), bei Inaktivitätsatrophie und beim
nostik der dysplastischen Säuglingshüfte ist die M. Sudeck, Rheuma usw. ( Übersicht 2.3). Zur Di-
Sonographie besser. agnose und Verlaufskontrolle von Osteoporosen
misst man die Knochendichte in speziellen Rönt-
genvorrichtungen oder im CT (Osteodensitome-
trie).

Übersicht 2.3. Knochendichte


Knochenverdichtung: Knochenverdünnung:
Am Rand der Osteomyelitis Bei Osteoporose, Osteomalazie
In verkalkten Knorpeltumoren Bei Tumoren u. Metastasen
Subchondral bei Arthrosen In der Umgebung von Tbc-Herden
In den Deckplatten degenerierter Wirbelkörper Als Inaktivitätsatrophie
In osteoblastischen Metastasen Rheumagelenke
Als Reaktion auf vermehrte Belastung Bei M. Sudeck
Am Rand gutartiger Knochenzysten Bei M. Paget
48 Kapitel 2 · Anamnese und klinische Untersuchung

⊡ Abb. 2.8 a–c. Projektionsphänomen am Schenkelhals. a Innenrotation: Der wahre Schenkelhalswinkel stellt sich dar, die physi-
ologische Antetorsion ist ausgeglichen. b Außenrotation: der scheinbar vergrößert projizierte, falsche Schenkelhalswinkel stellt
sich dar, der Hals ist nach vorn gedreht und projiziert sich auf den großen Rollhügel. c Extreme Außenrotation: Schenkelhalsach-
se und Diaphysenachse liegen auf einer Linie. Zur Antetorsion s. a. S. 19

Eine Ossifikationsstörung schafft einen Kno- Seite. Auch Skelettanomalien, wie akzessorische
chendefekt. Ein angeborener Knochendefekt fin- Knochen, treten häufig doppelseitig auf und kön-
det sich z.B. am Pfannenerker bei der kongenitalen nen als solche besser identifiziert werden, etwa bei
Hüftluxation. Erworbene Ossifikationsstörungen differenzialdiagnostischer Abgrenzung einer trau-
finden sich bei Epiphysenverletzungen. matischen Knochenabsprengung.
Spezielle Aufnahmetechniken sind z.B. die Lau-
Projektionsphänomene enstein-Aufnahme am Hüftgelenk in Abduktion
Diese sind häufig Quellen für die Fehlbeurteilung und Außenrotation zur Darstellung der 2. Ebene
von Röntgenaufnahmen. Ein typisches Beispiel ist am Schenkelhals, die Aufnahme des Patellagleitla-
der Schenkelhalswinkel. Er ist nur auf der Innen- gers am Knie, die Einblickaufnahme am Knie nach
rotationsaufnahme exakt messbar, wenn die nor- Frick zur Darstellung der Fossa intercondylaris
malerweise vorhandene leichte Antetorsion des und der hinteren Femurkondylen bzw. Gelenkflä-
proximalen Femurendes ausgeglichen wird. In der chen ( Übersicht 2.4).
Außenrotationsstellung projiziert sich der Schen-
kelhals auf die Trochanterregion. Durch die Verdre- Degenerationszeichen
hung erscheint der Schenkelhalswinkel größer, bei Diese bestehen im wesentlichen aus Defekten in-
einer Außenrotation von 90° beträgt der scheinba- folge von Abnutzungserscheinungen und Reparati-
re Schenkelhalswinkel durch Fehlprojektion 180°. onsvorgängen. Die Abnutzungsdefekte finden sich
Schenkelhals und Oberschenkelschaft liegen dann meistens am Anfang der Degeneration, sie doku-
auf einer Linie (⊡ Abb. 2.8 c). mentieren sich z.B. als Verschmälerung des rönt-
genologischen Gelenkspalts durch Abnahme der
Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen Knorpelschichtdicke. Später stellen sich reaktive
Anterior-posteriore und seitliche Aufnahmen ge- Veränderungen ein als:
ben Aufschluss über die Stellung des Knochens ▬ Subchondrale Knochenverdichtungen. Sie
oder die Frakturlinien im Raum. Eine Fraktur, die bilden sich parallel zur Gelenkfläche und ent-
in der a.-p.-Aufnahme scheinbar achsengerecht stehen zuerst in der Druckbelastungszone des
steht, kann in der anderen Ebene abgewinkelt und Gelenks.
verschoben sein. Zysten, Tumoren, Fremdkörper ▬ Knöcherne Schliffflächen. Sie bilden sich an
u.ä. lassen sich durch Röntgenaufnahmen in meh- gegenüberliegenden Gelenkenden, wenn der
reren Ebenen besser lokalisieren. Röntgenaufnah- Gelenkknorpel vollständig abgerieben ist. Der
men korrespondierender Skelettteile der Gegen- vom Knorpel entblößte glattgeschliffene Kno-
seite dienen zum Vergleich, z.B. zur Bestimmung chen wird auch als Knorpelglatze bezeichnet.
der Knochendichte bei Inaktivitätsatrophie einer ▬ Verschmälerung des Gelenkspaltes.
2.3 · Weiterführende Untersuchungsverfahren
49 2

Übersicht 2.4. Spezielle Röntgenaufnahmetechniken


Technik: Bei:
Lauenstein1-Schenkelhals axial in Epiphysenlösung Schenkelhalsfraktur
Hüftabduktion-Außenrotation (-fissur)
Patellagleitlager in Kniebeugung, Patellafraktur
Zentralstrahl unter die Patella Gleitlagerdysplasie
Knieeinblick in Kniebeugung, Osteochondrosis dissecans
Zentralstrahl in die Fossa (sog. Tunnelaufnahme) Freie Gelenkkörper, Eminentia intercondylaris
45° Schrägaufnahmen der Lenden-Wirbelsäule Spondylolyse im Gelenkfortsatz

▬ Randwülste und Osteophyten. Sie bilden sich der Arthrose ist der röntgenologische Gelenkspalt
in druckfreien Gelenkabschnitten an der Knor- durch Zerstörung des Knorpels verschmälert. Für
pel-Knochen-Grenze, also vornehmlich an den die Differenzialdiagnose gegenüber der Arthrose
Gelenkkanten. sind in erster Linie klinische Daten maßgebend. Bei
▬ Arthrotische Geröllzysten. Diese treten v.a. in einer Arthritis finden sich Entzündungszeichen
der Druckaufnahmezone an korrespondie- bei den Laborwerten (Blutsenkung, Leukozytose
renden Stellen von Kopf und Pfanne auf. Die usw.). Bei der Arthrose fehlen sie, selbst im aku-
Zysten sind rundlich und haben einen Verdich- ten Stadium. Die Sicherung der Diagnose erfolgt
tungssaum. durch Gelenkpunktion mit Erregernachweis bzw.
▬ Deformierungen der Gelenkkörper. Sie treten Analyse des Gelenkpunktats.
erst in fortgeschrittenen Stadien der Degene- Ein Entzündungszeichen des Knochens erkennt
ration auf. Es kommt zur Entrundung, Abplat- man an der reaktiven Sklerosierung um einen oste-
tung und Auswalzung der Gelenkflächen. Ty- olytischen Defekt. Der Herd ist meistens gut abge-
pisch ist die Deformierung des Hüftkopfs bei grenzt. Bei der Osteomyelitis kommt es zu zentra-
fortgeschrittener Koxarthrose (⊡ Abb. 2.9) len Knocheneinschmelzungen unter Bildung von
Knochensequestern. Die Kortikalis zeigt außen
Entzündungszeichen reaktive periostale Auflagerungen.
Diese gehen mit Arrosionen (Zerstörungen) und
Osteolyse (Auflösung der Knochenstruktur) einher. Zirkulationsstörungen
Um das entzündete Gelenk herum ist der Kalkgehalt Durchblutungsstörungen im Knochen führen zu
des Knochens vermindert, er wirkt im Röntgenbild den sog. spontanen Osteonekrosen (s. Kap. 1.3.5).
durchscheinend und verwaschen. Ebenso wie bei Röntgenologisch macht sich eine Nekrose als Sin-

⊡ Abb. 2.9. Röntgenologische Degenerati-


onszeichen am Beispiel einer fortschreitenden
Koxarthrose

1 Carl Lauenstein, Chirurg, Hamburg (1850–1915)


50 Kapitel 2 · Anamnese und klinische Untersuchung

terung des Knochens mit Aufhebung der Trabe- bösartigen Tumor handelt, kommt es zur Destruk-
kelstruktur bemerkbar. Außerdem vermehrt sich tion der knöchernen Umgebung mit Auflösung der
der Kalkgehalt, d.h. der Knochen wird röntgeno- Spongiosa und Kortikalis oder zur Demarkierung
2 logisch dichter. Betrifft die Zirkulationsstörung mit Ausbildung einer glatt konturierten Begren-
einen Knochenkern, wie etwa am Hüftkopf, so zungszone. Einige Tumoren und Zysten treiben
kommt es zu einer Entwicklungsstörung, d.h. der den Knochen auf, so dass sich auch die Außenkon-
Knochenkern bleibt im Wachstum zurück, außer- tur verändert.
dem wird er deformiert. Zirkulationsstörungen in
gelenknahen Abschnitten des Knochens führen zur Wichtig
Demarkierung von Knorpel-Knochen-Sequestern, Bevorzugte Lokalisation der intraossären Struk-
die schließlich als freie Gelenkkörper ins Gelenk turstörungen ist die Metaphyse.
abgestoßen werden, nachdem sie sich demarkiert
haben. Typisches röntgenologisches Demarkie-
rungszeichen ist der Sklerosesaum um den Seques- Auch Knochennekrosen sind Strukturstörungen.
ter. Da der Gelenkknorpel nicht von den Zirkulati- Die Lastdurchleitung erfährt jeweils Deviationen,
onsstörungen im Knochen betroffen ist (Knorpel die an den angrenzenden Knochenverdichtungen
wird per diffusionem von der Synovia ernährt), ablesbar sind.
bleibt der Gelenkspalt vorerst erhalten.
Bei diffusen Zirkulationsstörungen, wie z.B. Kontinuitätsunterbrechung
beim M. Sudeck, oder bei arteriellen Durchblu- Zeichen der frischen Fraktur sind i. d. R. exakte
tungsstörungen kommt es zu einer diffusen Ent- Linien in der Spongiosa mit einer Aufhellungs-
kalkung des Knochens mit Verdünnung der Kor- zone und im Bereich der Kortikalis scharfkanti-
tikalis und Vergrößerung der Abstände zwischen ge Vorsprünge oder Knochenunterbrechungen.
den Knochentrabekeln ( Übersicht 2.5). Ermüdungsbrüche und Umbauzonen sind durch
knöcherne Verdichtungszonen in der Umgebung
mit vermehrter Kallusbildung gekennzeichnet. Ein
Übersicht 2.5. Arthritis – Arthrose – typischer Ermüdungsbruch ist die Marschfraktur
Osteonekrose im Röntgenbild am Mittelfußknochen. Pathologische Frakturen
Arthritis Arthrose Osteonekrose entstehen in erster Linie im tumorös veränderten
Gelenkspalt Gelenkspalt Gelenkspalt Knochen. Neben den Zeichen der frischen Fraktur
verschmälert verschmälert normal (Kontinuitätsunterbrechung des Knochens, Ver-
Subchondrale Subchondrale Subchondrale schiebung der Knochenfragmente) sieht man noch
Knochenver- Knochen- Knochen- die Zeichen des Knochentumors mit Destruktion,
dünnung verdichtung destruktion Aufhebung der Spongiosa und Verformung. Eine
Pseudarthrose zeigt im Gegensatz zur frischen
Fraktur abgerundete oder kolbig aufgetriebene
Osteoporose und Osteomalazie Knochenenden, die von reaktivem Knochen um-
Die Porose des Knochens (Osteoporose) zeichnet geben sind. Oft ist der Markraum zum Pseud-
sich röntgenologisch aus durch eine geringe Zahl arthrosespalt hin durch verdichteten Knochen ver-
an Knochenbälkchen sowie durch verdünnte Kno- schlossen. Es gibt hypertrophische Pseudarthrosen
chenbälkchen und verdünnte Kortikalis. Am Wir- mit ausgedehnter Knochenreaktion und atrophi-
bel kommt es zu Deformierungen mit Eindellung sche Pseudarthrosen mit breitem Defekt und wenig
der Deck- und Bodenplatten. Knochenreaktion ( Übersicht 2.6).

Intraossäre Strukturstörungen Implantate


Knochendefekte mit Hohlraum und Zystenbildun- Die Lockerung und Infektion in der Umgebung
gen werden in erster Linie durch Tumoren hervor- von Gelenkersatzstücken und Osteosynthesemate-
gerufen. Je nachdem, ob es sich um einen gut- oder rial erkennt man an einem breiten osteolytischen
2.3 · Weiterführende Untersuchungsverfahren
51 2

Übersicht 2.6. Kontinuitätsunterbrechung im Knochen


Frische Fraktur – exakte Linien, kantige Vorsprünge
Ermüdungsbruch – knöcherne Verdichtungszone, Szintigramm
Pathologische Fraktur – Knochendestruktion durch Tumor
Pseudarthrose – abgerundete oder kolbig aufgetriebene Knochenenden
Angeborene Unterbrechungen – abgerundete Knochenenden, ohne Knochenreaktion

Saum in der Umgebung des Implantats und an re- Röntgenaufnahmen im Stehen geben etwaige sta-
aktiven Knochenbildungen mit Sklerosesaum und tische Formabweichungen am besten wieder. Hier
Verdickung der Kortikalis. Häufig finden sich auch erkennt man z.B. das volle Ausmaß eines X- oder
Ermüdungsbrüche in der Umgebung des Implan- O-Beins unter Belastung, einen Beckenschiefstand
tats. Weiteres zu Implantaten, s. S. 66. oder eine Achsenabweichung der WS. Diese Defor-
mitäten sind auf Röntgenaufnahmen, die im Liegen
Befunde durch Radiometrie und angefertigt werden, u.U. nicht zu sehen. Die Mo-
Funktionsaufnahmen bilität des einzelnen Bewegungssegments der WS
Einige Deformitäten lassen sich im Röntgenbild wird auf sog. Funktionsaufnahmen festgestellt. An
ausmessen. Dadurch ist eine genaue Verlaufskont- der HWS werden z.B. Röntgenaufnahmen bei ma-
rolle möglich. Die wichtigsten Winkel sind: ximaler Vor- und Rückneigung des Kopfes ange-
▬ an der WS: der Cobb-Winkel zum Ausmessen fertigt. Ebenso gibt es Funktionsaufnahmen an der
der Skoliose (s. ⊡ Abb. 5.13, S. 142), LWS bei maximaler Vor- und Rückneigung sowie
▬ an der Hüfte: der Schenkelhalswinkel (Cen- bei den Seitneigungen, um etwaige Verschiebun-
trum-Collum-Diaphysen-Winkel: CCD-Win- gen der Wirbel gegeneinander oder Fixierungen zu
kel; s. S. 218), erkennen.
▬ bei Verbiegungen der langen Röhrenknochen
sowie bei sonstigen Achsenabweichungen (X-,
O-Bein): der Deviationswinkel.
3

3 Behandlungsmethoden
3.1 Nichtoperative Therapie – 54
3.1.1 Lagerung – 54
3.1.2 Passive Bewegung, Mobilisierung – 54
3.1.3 Krankengymnastik/Physiotherapie – 55
3.1.4 Beschäftigungs- und Arbeitstherapie (Ergotherapie) – 59
3.1.5 Orthesen – 59
3.1.6 Orthopädische Schuhe, Einlagen – 61
3.1.7 Prothesen – 61
3.1.8 Manuelle Therapie (Chiropraxis) – 62
3.1.9 Elektrotherapie – 62
3.1.10 Massagen – 62
3.1.11 Medikamentöse Therapie (Grundlagen) – 63
3.1.12 Extrakorporale Stoßwellenbehandlung – 63

3.2 Operative Therapie – 63


3.2.1 Operationsverfahren – 63
3.2.2 Biomaterialien – 65
3.2.3 Gelenkersatz (Endoprothesen) – 65
3.2.4 Implantate zur Osteosynthese – 66
3.2.5 Ersatz von Sehnen und Bändern – 67
3.2.6 Komplikationen – 67

3.3 Soziale Orthopädie, Rehabilitation – 68


3.3.1 Prävention und Rehabilitation – 68
3.3.2 Begutachtungsprobleme – 69
3.3.3 Rückenschule – 70
3.3.4 Knieschule – 70
54 Kapitel 3 · Behandlungsmethoden

>> Einleitung 3.1.2 Passive Bewegung, Mobilisierung


Unter den konservativen Behandlungsmethoden le-
gen wir einen besonderen und zunehmenden Wert auf Mit Quengelverbänden können bewegungseinge-
die Krankengymnastik – vor und nach jeder Operation, schränkte Gelenke mit Kontrakturen wieder be-
ergänzend zu anderen Maßnahmen oder als alleinige weglicher gemacht werden. Man dehnt langsam die
Therapie: Krankengymnastik ist immer richtig. verkürzten Weichteile z.B. mit einem Quengelgips
3 Von Orthesen, Prothesen und orthopädischen oder mit Umstellgipsen. Auf Quengelverbände bzw.
Schuhen sollte der Student Definitionen und Indikatio- Quengelgips sollte erst dann zurückgegriffen wer-
nen kennen. Speziell der entlastende Apparat (Thomas- den, wenn normale krankengymnastisch-physio-
Splint) erfreut sich allgemeiner Fragenbeliebtheit. therapeutische Dehntechniken nicht ausreichend
Die verschiedenen Operationsmethoden für das sind.
gleiche Krankheitsbild, noch dazu alle mit Eigennamen, Redression ist ein typisches Behandlungsmittel
sind für den Facharzt. Der Nicht-Facharzt sollte opera- der Orthopädie, Extremitätenabschnitte, die Ver-
tive Verfahren wie Arthrodese, Endoprothese, Synov- formungen aufweisen, werden durch vorsichtiges
ektomie, Osteosynthese usw. vom Prinzip her kennen, Zurückführen mit der Hand allmählich in ihre
einschließlich der dabei verwendeten Biomaterialien Normalform gebracht. Beispiel: Klumpfußredres-
und der operationsspezifischen Komplikationen. sion. Anschließend muss das Ergebnis gehalten

a
3.1 Nichtoperative Therapie

3.1.1 Lagerung

Durch die richtige Lagerung werden, z.B. bei Läh-


mungen, Fehlstellungen und Kontrakturen in den
Gelenken vermieden. Der betroffene Abschnitt des
Bewegungssystems muss so gelagert werden, dass
sich die Gelenke in Funktionsmittelstellung befin-
den:
▬ geringe Abduktion in der Schulter,
▬ leichte Beugung im Ellenbogengelenk,
b
▬ geringe Dorsalextension im Handgelenk,
▬ Fingerbeugung,
▬ Streckstellung im Hüftgelenk,
▬ Streckstellung im Kniegelenk,
▬ Rechtwinkelstellung im Fußgelenk.

Die Immobilisation eines Abschnitts des Bewe-


gungssystems wird für therapeutische Zwecke
benutzt. Zum Beispiel ist bei Entzündungen eines
Gelenks oder des Knochens (Osteomyelitis) die
Immobilisation des betroffenen Extremitäten-
abschnitts erforderlich.
Lange Fixierung bedeutet Gefahr eines Immo- ⊡ Abb. 3.1 a, b. Motorgetriebene Bewegungsschiene mit
dauernder passiver Bewegung (»continuous passive motion«)
bilisationsschadens. Dabei kommt es zur Knochen-
zur Nachbehandlung nach Knieoperationen und zur Adhä-
und Muskelatrophie sowie zur Lockerung der Kap- sionsprophylaxe bei entzündlichen Prozessen. Gleichzeitig
seln und Bänder. Pathologische Frakturen können muss immer eine krankengymnastische Übungsbehandlung
entstehen. erfolgen
3.1 · Nichtoperative Therapie
55 3

werden (Retention). Die Retention erfolgt oft im sen. Auch auf anderen Fachgebieten gibt es für die
Gipsverband oder in einer Schiene. Krankengymnastik wichtige Aufgaben, so z.B. bei
Durch Extension werden z.B. voneinander ent- Kreislauf- und Atemwegserkrankungen, in der Ge-
fernte Gelenkpartner wieder in ihre ursprüngliche burtshilfe, Neurologie, Chirurgie, Pädiatrie usw.
Position gebracht, wie z.B. bei der kongenitalen Im einzelnen zeichnen sich bei orthopädischen
Hüftluxation. Extension dient auch zur Neutra- Erkrankungen folgende Aufgabenbereiche ab:
lisierung des Muskelzugs bei Frakturen, um eine
Fehlstellung mit Verkürzung zu vermeiden. Muskelkräftigung. Durch aktive Betätigung eines
Durch Reposition werden verschobene Kno- Muskels werden dessen Kraft, Kraftausdauer, Aus-
chen oder Gelenkpartner wieder zusammenge- dauer und Durchblutung gefördert. Der Kraftzu-
bracht. Die Reposition eines luxierten Gelenks wachs des Muskels ist mit einer Zunahme seiner
kann manuell durch Extension oder auch operativ kontraktilen Substanz durch Hypertrophie der
erfolgen. Die Gefahren der Gelenkmobilisation in Einzelfasern verbunden. Durch Bewegungsthera-
Narkose bestehen darin, dass man eine Fraktur pie können Spannungsveränderungen des Muskels
setzen kann. Beispiel: subkapitale Humerusfraktur beeinflusst werden bzw. die Koordination verbes-
bei der Schultermobilisation wegen adhäsiver Peri- sert werden. Mit isometrischen bzw. statischen
arthropathia humeroscapularis. Spannungsübungen ist es möglich, einen Muskel
auch ohne Beteiligung des betroffenen Gliedma-
3.1.3 Krankengymnastik/Physiotherapie ßenabschnittes zu trainieren. Kraft bzw. Kraft-
ausdauertraining wird gezielt nach dem vorher
erstellten Befund durchgeführt. Ein guter Erfolg
Wichtig der Muskelkräftigung ist auch bei Übungen gegen
Krankengymnastik ist ärztlich verordnete Bewe- Bewegungswiderstände festzustellen.
gungstherapie, die mit spezieller Befunderhe- Bei der kompensatorischen Bewegungsthera-
bung und Behandlungstechnik bei Fehlentwick- pie handelt es sich um das Auftrainieren primär ge-
lungen, Verletzungen und Verletzungsfolgen oder sunder Muskeln, die besonders gekräftigt werden
Störungen organischer und psychischer Funktio- müssen, um den Ausfall gelähmter Muskelgruppen
nen angewandt wird. Im wesentlichen handelt es zu übernehmen. Hierher gehört z.B. das Training
sich um Heilen durch Bewegen. der oberen Extremitäten bei Querschnittsgelähm-
ten und die Übungen für das erhaltene Bein bei
Oberschenkelamputation oder Lähmungsfolgen.
Bewegung als solche reicht nicht aus, um einen
krankhaften Zustand zu beseitigen; sie muss ziel- Mobilisation. Das aktive und passive Bewegen von
gerichtet sein und zumindest zuerst unter Anlei- bewegungseingeschränkten Gelenken gehört ne-
tung erfolgen. Der Krankengymnast zeigt dem Pa- ben der Muskelkräftigung zu den wichtigsten Auf-
tienten, wie und was er bewegen soll, und hilft bei gaben der Krankengymnastik. Kontrakte Muskeln,
der Ausführung. Krankengymnastik ist nicht allein Gelenkkapseln und Bänder werden gedehnt. Die
Gymnastik von und mit Kranken, Geduld und Ein- Maßnahmen der folgenden Punkte dienen vielfach
fühlungsvermögen sind ebenso bedeutungsvoll zur Erleichterung und Unterstützung.
wie die eigentliche Bewegungsbehandlung.
In der Orthopädie fallen der Krankengymnas- Bewegungsübungen aus der Entlastungshaltung.
tik wesentliche Aufgaben zu, entweder als beglei- (⊡ Abb. 3.2). Schmerzen am Bewegungsapparat sind
tende Maßnahme, z.B. zur Nachbehandlung von durch ihre Positionsabhängigkeit gekennzeichnet.
Operationen, oder als alleinige Therapieform z.B. Es gibt Körperhaltungen und Bewegungsabläufe,
bei Haltungsschäden, zerebralen Bewegungsstö- die Schmerzen und Muskelverspannungen auslö-
rungen und Lähmungsfolgen. Deswegen sind Aus- sen, und solche, die schmerzfrei sind. Die Betroffe-
bildungsstätten für Krankengymnasten/Physio- nen nehmen willkürlich oder unwillkürlich immer
therapeuten orthopädischen Kliniken angeschlos- die schmerzfreie Haltung ein, die sog. Entlastungs-
56 Kapitel 3 · Behandlungsmethoden

⊡ Abb. 3.2. Beispiel für Übungen aus der Entlastungshaltung zum Training der Rumpf- und proximalen Extremitätenmuskeln.
Indikation: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS, lumbales Facettensyndrom, Spondylodesen und -listhesen, posttrau-
matische Lockerungen

haltung. Dies sind meist die Gelenkstellungen, in


denen die Gelenkkapseln sowie verkürzte Muskeln Übersicht 3.1. Typische Entlastungs-
und Bänder den geringsten Spannungszustand haltungen
aufweisen. HWS Leichte Kopfvorneigung, Kopf
Die in  Übersicht 3.1 aufgeführten Gelenkstel- abgestützt
lungen sind als endgültige Stellung eines Gelenks BWS Leichte Kyphose, Bauchlage mit
meist unerwünscht, als Ausgangsstellung für eine untergelegtem Kissen
krankengymnastische Übungsbehandlung jedoch LWS Stufenlage, auch als Bauchstu-
geeignet. Bei Beginn der Behandlung schmerzhaft fenlage oder Seitlage
eingeschränkter Gelenke bewegt man aktiv oder Schulter Adduktions-Rotations-Mittelstel-
passiv das Gelenk zunächst im schmerzfreien Spek- lung
trum. Tägliche Übungen, unterstützt durch Wärme, Ellenbogen Flexion 90°, Pronationsmittelstel-
Eis, Ablenkung, Thermalbad oder spezielle Techni- lung
ken, wie Traktion, propriozeptive neuromuskulä- Hand Leichte Dorsalextension
re Fazilitation (PNF), erweitern das schmerzfreie Finger Flexion
Spektrum, bis die erwünschte Normalstellung er- Hüfte Flexion/Außenrotation/
reicht ist. Krankengymnastische Übungen sollten Abduktion
nicht mit Schmerzen einhergehen, besonders nicht Knie Flexion
am Anfang. Fuß Leichte Plantarflexion
3.1 · Nichtoperative Therapie
57 3

Geführte Bewegungen. Standardbewegungen, wie Haltungs- und Verhaltenstraining, Rückenschule.


z.B. Beugung – Streckung, können vom Kranken- Im Rahmen der Rehabilitation und Prophylaxe von
gymnasten unterstützt, d.h. unter Abnahme der Wirbelsäulenschäden, speziell der bandscheiben-
Eigenschwere einer Extremität oder gegen zusätz- bedingten Erkrankungen, müssen die Patienten
lichen Widerstand, ausgeführt werden. So ist es neben Muskelkräftigungsübungen eine rücken-
z.B. wichtig, nach Hüftendoprothesenoperationen schonende Verhaltensweise erlernen. In der Rü-
unter Aufhebung der Eigenschwere üben zu lassen, ckenschule zeigt der Krankengymnast richtiges
damit das frisch implantierte Hüftgelenk nicht zu Heben, Tragen, Bücken, Sitzen, Stehen und Liegen.
stark unter Druck gesetzt wird. Übungen gegen den Weiter werden die richtigen Bewegungsabläufe und
Widerstand zur Muskelkräftigung und Mobilisati- Körperhaltungen bei den täglichen Verrichtungen,
on führen oft zu einem raschen Kraftzuwachs. wie An- und Auskleiden, Waschen, Verrichtungen
im Haushalt, demonstriert und eingeübt.
Bewegungsbehandlung im warmen Wasser. Auf- Ähnliche Verhaltensschulung gibt es auch bei
hebung der Eigenschwere, Muskelentspannung Erkrankungen anderer Körperregionen: Knieschu-
und spielerische Bewegungen erhöhen die Einsatz- le (⊡ Abb. 3.3), Schulterschule.
bereitschaft im warmen Wasser und erleichtern die
Übungsbehandlung z.B. bei schmerzhaften Bewe- Krankengymnastik und Sport. Gezielte Muskel-
gungseinschränkungen und Gehbehinderungen. kräftigung und Schulung von Bewegungsabläufen
Wesentlich ist die Ausnutzung der Wärmewirkung, sind wesentliche Elemente von Sport und Gym-
des Auftriebs im Wasser und des Reibungswider- nastik. Einsatzfreude und Motivation der Patien-
standes. ten sind bei sportlicher Betätigung größer als bei
einfachen Übungen. Der Patient erlernt durch den
Kryotherapie. Lokale Anwendung von Kälte, z.B. Krankengymnasten, z.B. im Rahmen der Rücken-
als Eis- oder Gelpackung bei Weichteilschwellun- schule, die richtige Haltung beim Schwimmen,
gen nach Operationen, Distorsionen, rheumati- Laufen, Radfahren, Kraft- und Ausdauertraining.
schen Entzündungen und Hämatomen. Gleiches gilt für die Knieschule.
Kontraindikation: Spasmen der Muskulatur
und Kontrakturen. Krankengymnastik auf neurophysiologischer
Basis. Für schlaffe oder spastische Lähmungen,
aber auch bei sonstigen Bewegungsstörungen

⊡ Abb. 3.3. Selbstübung aus der Knieschule zur Kräftigung des M. quadriceps, insbesondere des M. vastus medialis, zwischen
0°- und 30°-Kniebeugung. Indikationen: Chondropathia patellae, Patellaluxation, Knieinstabilitäten, postoperativ.
Übung aus der Knieschule:
1. Man nehme ein mindestens 500 Seiten starkes Buch.
2. Man setze sich auf einen Stuhl und stelle das Buch vor die Füße.
3. Dann klemmt man das Buch zwischen die Füße und bringt die Knie zur Streckung.
4. Die Streckstellung soll mindestens 10 s gehalten werden.
5. Das Buch wird langsam wieder abgesetzt.
Die Übung kann beliebig oft wiederholt werden.
58 Kapitel 3 · Behandlungsmethoden

und Kontrakturen sind verschiedene Formen der aktive Bewegungstherapie unter krankengymnas-
Bewegungstherapie entwickelt worden, die sich tischer Anleitung unterstützen. Elektrostimulati-
körpereigene Reflexe und das physiologische Ver- onsgeräte können helfen, atrophierte Muskelgrup-
halten von Nerven und Muskeln bei bestimmten pen gezielt aufzutrainieren, wie z.B. beim Training
Beanspruchungen zunutze machen. der konvexseitigen Rückenstreckmuskulatur bei
Bei der propriozeptiven neuromuskulären Skoliose oder beim Training des M. vastus medialis
3 Fazilitation (PNF) arbeitet der Physiotherapeut bei Patellainstabilität und Chondropathia patellae.
in bestimmten Bewegungsmustern, mit dem Pa-
tienten adäquat angepasstem Widerstand, unter Wichtig
Stimulation von Propriozeptoren. Die muskuläre Insgesamt ist Krankengymnastik wenig riskant,
Ansprechbarkeit wird dadurch erhöht. wenig invasiv und wenig kostspielig bei hoher
Die Methoden von Vojta1 und Bobath2 zielen in Effektivität (Wirk-e-Prinzip, s. S. 40). Es gibt kaum
erster Linie auf die Behandlung von frühkindlichen ein orthopädisches Krankheitsbild, bei dem nicht
Hirnschäden und orthopädischen Fehlhaltungen Krankengymnastik als effektiver Teil der Therapie
ab. Das Ziel ist die Bahnung physiologischer Bewe- verordnet werden sollte.
gungsabläufe, die durch frühkindliche Hirnschä-
den in ihrer Entwicklung blockiert wurden oder
durch Traumata verloren gegangen sind. In  Übersicht 3.2 sind einige Beispiele für kran-
kengymnastische Übungsbehandlungen wieder-
Einsatz von Trainings- und Elektrogeräten. Es gibt gegeben.
zahlreiche Trainings- und Elektrogeräte, die eine

Übersicht 3.2. Beispiele für die krankengymnastische Übungsbehandlung


Diagnose: Krankengymnastische Maßnahmen:
Skoliose Training der Rumpfmuskeln, Haltungsschulung
Spastische Lähmungen Einstudieren normaler Bewegungsabläufe,
Kontrakturbehandlung und -prophylaxe,
Übungen aus einer Ausgangsstellung, in der die
pathologische Reflextätigkeit äußerst gering ist
(Prinzip der Bobath-Behandlung)
Klumpfuß Dehnung und Redression, Kräftigung der
pronierenden und dorsal extendierenden
Muskelgruppen
M. Bechterew Brustkorb- und Atemgymnastik, Gelenk und WS
mobilisierende Übungen
Periarthropathia humeroscapularis adhaesiva Schultermobilisation
(Schultersteife)
Zustand nach Verletzung oder Operation am Kräftigung der atrophierten Muskeln, schonende
Bewegungsapparat Mobilisation
Zustand nach Amputation, z.B. Oberschenkel Stumpfgymnastik, Kontrakturprophylaxe,
Gangschulung

Kontraindikationen: schwere Allgemeinerkrankungen wie kardiale oder pulmonale Insuffizienz, Fieber, frische Verletzungs- oder
Operationswunden, instabile Frakturen und Osteosynthesen

1 Vaclav Vojta, Kinderneurologe, Prag (1917–2000)


2 Ehepaar Bobath, Neurologe (1906–1991) und Kranken-
gymnastin (1907–1991), London, Berlin
3.1 · Nichtoperative Therapie
59 3
3.1.4 Beschäftigungs- und 3.1.5 Orthesen
Arbeitstherapie (Ergotherapie)

Wichtig
Wichtig
Orthesen sind orthopädische Hilfsmittel, die
Ergotherapie: Mit Hilfe von echten, abgewandel- Funktionen des Bewegungssystems ersetzen,
ten oder angepassten Beschäftigungen aus Beruf Fehlstellungen korrigieren und lockere Gelenke
und Alltag werden die durch Krankheit gestörten passiv von außen stabilisieren.
Funktionen wieder normalisiert oder, bei bleiben-
dem Defekt, kompensiert.
Beispiel: Schienenhülsen-, Schienenschellen-
bzw. Schienenspangenapparat. Wenn z.B. die sta-
Ziel ist die Wiedereingliederung und Anpassung tische Haltemuskulatur der Beine ausfällt, muss ein
an die Erfordernisse des Alltags und des täglichen Stützapparat mit Metallschienen verordnet werden,
Lebens. um ein Einknicken der Gelenke zu vermeiden. Die
Koordinations- und Kräftigungsübungen sowie Stützapparate für die Gliedmaßen bestehen aus 2
mobilisierende Maßnahmen für die Bewegungsor- an der Innen- und Außenseite längs verlaufenden
gane sind auch in Tätigkeiten des täglichen Lebens, Metallschienen, die durch Leder- bzw. Kunststoff-
beim Spiel und Handwerken enthalten. Mit zielge- hülsen (Schienenhülsenapparat) oder gepolsterte
richtetem Basteln, Spielen und Werken werden Be- Metallspangen (Schienenspangenapparat) mitein-
wegungsabläufe geschult, die der Funktionsverbes- ander verbunden sind. Die Gelenke können teilwei-
serung lädierter Gelenke dienen. Dadurch wird die se gesperrt werden (⊡ Abb. 3.4).
Krankengymnastik, besonders für Kinder, durch Indikationen ergeben sich bei:
spielerisch anregende Mittel ergänzt ( Übersicht ▬ schlaffen Lähmungen,
3.3). ▬ Polio,
Mit Hilfe der Beschäftigungstherapie kann ▬ MMC,
man Gelenke mobilisieren, Muskeln kräftigen, die ▬ Peronäusparesen,
Koordination und Sensibilität schulen sowie Ge- ▬ posttraumatischen Zuständen und
lenke vor übermäßigem Einsatz schützen, wenn sie ▬ Bandinstabilitäten, wie z.B. beim Schlotter-
von Deformierung und Zerstörung bedroht sind. oder Wackelknie,
Selbsthilfetraining und Anpassung an Hilfsmittel ▬ tabischer oder diabetischer Arthropathie und
stehen bei bleibenden Defekten (z.B. Amputation) ▬ traumatischen oder entzündlich-rheumati-
im Mittelpunkt. schen Destruktionen der Fußgelenke.

Übersicht 3.3. Anwendungsmöglichkeiten der Beschäftigungstherapie


Krankheit: Beschäftigungstherapie:
Juvenile Skoliosen und Kyphosen Arbeiten am Webrahmen, der über der Kopfhöhe
angebracht ist (Hochwebrahmen)
Rheumatische oder posttraumatische Bastel- und Handwerksarbeiten
Störungen der Handfunktion
Zustand nach Verlust der oberen Extremität Einstudieren neuer Bewegungsabläufe
Schultereinsteifung bei Periarthropathia Bügeln, Hobeln, Sägen, Schrauben, Flechten
humeroscapularis
Pro- und Supinationsbehinderung
60 Kapitel 3 · Behandlungsmethoden

⊡ Abb. 3.5. Thomas-Schiene: entlas-


tender Apparat für das ganze Bein.
Der Aufsitz befindet sich am Tuber
ossis ischii (Pfeil)

⊡ Abb. 3.6. Überbrückungsmieder


⊡ Abb. 3.4 a, b. Oberschenkelschienenhülsenapparat mit fest- nach Hohmann2
gestelltem Kniegelenk (a) (z.B. wenn der Patient infolge einer
Quadrizepsparese im Kniegelenk immer einknickt), bewegli-
chem Knie- und Fußgelenk (b)

Wenn ein Gelenk spontan als Ankylose oder ope-


rativ als Arthrodese versteift ist, wird der Apparat
überflüssig.

Beispiel: Entlastende Apparate. Sie werden für die


unteren Extremitäten verordnet, wenn eine axiale
Belastung nicht erfolgen soll. Indikationen ergeben
sich z.B. bei einer verminderten Belastbarkeit der
unteren Extremitäten, beim M. Perthes, bei zysti-
schen Tumoren und beim Crus varum congeni-
tum. eine Schuherhöhung erforderlich. Hauptindikati-
Beim typischen entlastenden Apparat für die onen für diese Schiene sind alle Hüfterkrankun-
untere Extremität (Thomas1-Schiene) hängt das gen, die keine Belastung erlauben, weil es sonst zur
Bein in einem Gestell (⊡ Abb. 3.5). Das Körperge- Hüftkopfdeformierung kommt, wie z.B. beim M.
wicht wird vom Tuber ossis ischii unter Umgehung Perthes. Heute weiß man durch Druckmessungen,
des Beines über 2 Metallschienen zum Fußboden dass die erwartete Entlastung nicht erreicht wird.
geleitet. Der entlastende Apparat erlaubt Hüftbe-
wegungen ohne Belastungen und vermeidet einen Beispiel: Orthopädische Mieder und Korsetts.
haftenden Kontakt an den Weichteilen und Kno- Diese stützen die WS bei Erkrankungen derselben.
chenvorsprüngen des Beines. Das Bein hängt in Typische Indikationen sind Bandscheibenlocke-
dem Gestell. Auf der gegenüberliegenden Seite ist rung, Wirbelkörperentzündung, Wirbeltumoren

1 Hugh Owen Thomas, Orthopäde, London (1834–1891) 2 George Hohmann, Orthopäde, München (1880–1970)
3.1 · Nichtoperative Therapie
61 3

und andere Erkrankungen, die die Stabilität des angebrachte Rolle (Ballenrolle) schont das Großze-
Achsenorgans herabsetzen. Bei einem Rumpfmie- hengrundgelenk, z.B. bei Arthrose (Hallux rigidus).
der oder Korsett wird das Gewicht des Oberkör- Eine Abrollhilfe am Schuh entlastet den Fuß und
pers an der WS vorbei zum Becken geleitet. Sie wird nicht die Hüfte. Indikationen für orthopädische
damit entlastet. Seitverbiegungen sowie Vor- und Schuhe ergeben sich bei Fehlstellungen des Fußes
Rückneigung sind in einem WS-Korsett reduziert. (Klumpfuß), schwerem Knickfuß, rheumatischen
Eine Wirbelkörperentzündung kann dadurch in Entzündungen, Vorfußamputation, degenerativen
Ruhe ausheilen. Beispiel: Überbrückungsmieder Gelenkerkrankungen (Arthrose), Beinverkürzun-
(⊡ Abb. 3.6). gen über 4 cm, schweren Fußdeformitäten oder Ze-
henfehlbildungen (Hallux valgus, Hammerzehen),
3.1.6 Orthopädische Schuhe, Einlagen bei denen eine Versorgung mit Konfektionsschu-
hen nicht möglich ist.
Sie sollen Form- und Funktionsstörungen am Fuß Einlagen dienen zur Stützung des Fußlängsge-
kompensieren. Sie werden nach Gipsabdruck indi- wölbes beim Senkfuß und des Quergewölbes am
viduell angefertigt. Man kann mit ihnen folgende Vorfuß beim Spreizfuß. Weitere Indikationen sind
Wirkung erzielen (⊡ Abb. 3.7): Ballenhohlfüße, neuromuskuläre Fußdeformitäten,
▬ Bettung und Stützung der Fußauftrittsfläche, Fersensporne und nach Operationen am Vorfuß,
▬ Defektausgleich, z.B. Hallux-valgus-Operation. Einlagen sollen in-
▬ Korrektur, dividuell nach Gipsabdruck gefertigt werden und
▬ Feststellhilfe, bestehen aus Leichtmetall, Holz oder Kunststoff.
▬ Abrollhilfe. Besonders bei Kindern ist es erforderlich, neben
den Einlagen auch immer Krankengymnastik zur
Auch können Beinlängendifferenzen damit ausge- Kräftigung der fußgewölbetragenden Muskeln zu
glichen werden. Geringere Beinverkürzungen (bis verordnen.
1 cm) gleicht man durch Absatzerhöhung oder
(und) Einlagen aus. Orthopädische Schuhe und 3.1.7 Prothesen
Verkürzungs- bzw.Verlängerungsosteotomien sind
erst bei größeren Beinlängendifferenzen erforder-
lich. Eine Verbreiterung des Absatzes nach medial Wichtig
oder lateral verhindert ein Umknicken des Fußes Prothesen dienen zum Ersatz von fehlenden bzw.
bei Instabilität. Mit einer Korkbettung hat man amputierten Gliedmaßen.
die Möglichkeit, Druckstellen der Fußsohle hohl-
zulegen und damit zu entlasten. Versteifungen der
Schuhsohle und Abrollhilfen an der Ferse und an Bei Zehen-, Vor- und Mittelfußamputationen er-
der Sohle sorgen dafür, dass erkrankte Gelenke am folgt der Defektausgleich im orthopädischen
Fuß nicht zu stark beansprucht werden. Eine vorn Schuh. Unterschenkelstümpfe sind wegen der ge-

⊡ Abb. 3.7. Form- und Funktionsprinzi-


pien beim orthopädischen Schuh
62 Kapitel 3 · Behandlungsmethoden

ringen Weichteildeckung mit Prothesen schwer zu den »erfasst« und je nach Befund passiv mobilisiert
versorgen. Die günstigste Stelle für die Oberschen- oder durch Übungen stabilisiert.
kelamputation liegt im Übergang vom mittleren Durch spezielle Handgriffe kann man Fehl-
zum distalen Drittel. Bei den modernen Saugpro- stellungen am Bewegungssystem, insbesondere
thesen wird der Schaft durch Unterdruck und Ad- an den Bewegungssegmenten der WS, beseitigen.
häsion am Stumpf gehalten. Vor jeder Manipulation sollte man sich durch La-
3 bor- und Röntgenuntersuchung davon überzeugen,
Wichtig dass keine Entzündungen oder Tumoren vorliegen.
Die Lastübertragung vom Becken zum Kunstbein Die manuelle Therapie sollte nur nach gründlicher
erfolgt nicht über die Stumpfkuppe, sondern über Spezialausbildung ausgeübt werden.
den Sitzbeinhöcker, ähnlich wie beim entlasten-
den Apparat.
3.1.9 Elektrotherapie

Zu den wichtigsten Stumpfkrankheiten beim Am- Wichtig


putierten gehören: Bei der Elektrotherapie wird elektrischer Strom
▬ Ekzeme, zur Behandlung z.B. von Muskelhärten, Durchblu-
▬ Durchblutungsstörungen, tungsstörungen, Verspannungen und Lähmungen
▬ Neurome, eingesetzt.
▬ Phantomschmerzen,
▬ Kontrakturen,
▬ Druckstellen, Bei der Niederfrequenzbehandlung werden gal-
▬ Exostosen und vanische Ströme verwendet. Durch Iontophorese
▬ Osteomyelitis am Knochenende. bringt man Medikamente mit Hilfe von galva-
nischen Strömen über die Haut in den Organis-
Für einseitig Armamputierte gibt es neben mus. Mit faradischen Strömen werden Nerven
Schmuckarmen, die nur zum kosmetischen De- und Muskeltätigkeiten angeregt. Vollständig oder
fektausgleich dienen, auch Arbeitsarme mit Ha- teilgelähmte Muskeln können durch elektrische
ken, Öse, Spitzzange usw. Selbsttätige Bewegungen Reizung entweder direkt oder indirekt zur Kon-
können mit Pressluft oder elektronisch (myoelek- traktion angeregt werden. Anwendungsbeispiele:
trische Prothesen) gesteuert werden. Bei den my- Entbindungslähmungen, Peronäusparesen nach
oelektrischen Armprothesen werden Aktionspo- Druckschädigung, Zustand nach Polio.
tentiale proximal erhaltener Muskeln mit Kontak-
telektroden als Impulsgeber zur Motorsteuerung Wichtig
benutzt. Kontraindiziert ist die elektrische Reizung bei
allen spastischen Zuständen, akuten Entzündun-
3.1.8 Manuelle Therapie (Chiropraxis) gen, Metallimplantaten, Herzschrittmachern,
Thrombosen, Hautverletzungen.

Wichtig

Bei der manuellen Therapie handelt es sich um


3.1.10 Massagen
eine mit den Händen ausgeübte Untersuchungs-
und Behandlungstechnik für reversible Funktions- Hier wird die Durchblutung angeregt, außerdem
störungen an den Bewegungsorganen. werden die Muskeln gelockert. Über Reflexzonen
kann es auch zu einer vermehrten Durchblutung
tiefergelegener Organabschnitte kommen. Massa-
Bewegungseinschränkungen und Überbeweglich- gen werden durchgeführt als Streichung, Knetung
keiten einzelner Gelenkgruppen oder Gelenke wer- oder Vibration. Damit werden Stoffwechselschla-
3.2 · Operative Therapie
63 3

cken und Flüssigkeitsansammlungen im Gewebe 3.1.12 Extrakorporale


beseitigt. Tonus und Eigenerregbarkeit des Mus- Stoßwellenbehandlung
kels werden erhöht. Massagen dienen deswegen
vornehmlich als Vorbereitung zu gymnastischen Ursprünglich galt die Stoßwellenbehandlung den
Übungen. Nieren- und Gallensteinen als sog. Lithotripsie.
Stoßwellen sind modulationsfähige Druckimpulse,
Wichtig die, unter Wasser über Elektroden generiert, we-
Eine Kräftigung der Muskulatur erzielt man mit gen ihrer akustischen Eigenschaften auch in den
Massagen nicht. Körper eindringen und auf kleine Areale fokussiert
werden können. Die biologisch nutzbaren Energi-
en liegen in einer Größenordnung zwischen 14 und
3.1.11 Medikamentöse Therapie 20 Kilowatt. Neben der Steinzertrümmerung ha-
(Grundlagen) ben Stoßwellen auch Einwirkungen auf kollagene
Gewebe der Stütz- und Bewegungsorgane durch
Medikamente werden bei entzündlichen, rheuma- Induktion von Reparations- und Transformations-
tischen, aber auch bei degenerativen Erkrankun- vorgängen. Wesentlich ist eine Knochenneubildung
gen des Bewegungssystems eingesetzt. Da es sich z.B. bei der Umwandlung von nicht kalzifiziertem
meistens nicht um generalisierte, sondern um lo- Pseudarthrosengewebe zu Knochengewebe. Wei-
kale Manifestationen dieser Erkrankungen handelt, tere Indikationsbereiche sind pathologische Frak-
bevorzugt man auch meistens eine lokale Therapie. turen, Knochenzysten, fibröse Dyplasie, aseptische
Bei einem lokalen Reizzustand eines Gelenks oder Knochennekrosen, Osteochondrosis dissecans.
eines Sehnenansatzes ist deswegen auch eher eine Auch bei Insertionstendopathien wird die Stoß-
lokale Applikation eines Anästhetikums in Kom- welle eingesetzt: Epicondylopathia radialis humeri,
bination mit einem Antiphlogistikum (Kortison- Periarthropathia humeroscapularis, Achillodynie.
kristallsuspension) angebracht als die systemische
Anwendung. Bei intraartikulären Injektionen sind
die Vorschriften der Asepsis strengstens zu beach- 3.2 Operative Therapie
ten. Es kann zu einem Empyem kommen.
Unter Synoviorthese versteht man eine Verö- 3.2.1 Operationsverfahren
dung der rheumatisch-entzündlich veränderten
Gelenkinnenhaut durch Einbringen von chemi- Man unterscheidet Weichteiloperationen mit
schen Mitteln oder Radioisotopen. Mittel, die zu Eingriffen an Sehnen, Muskeln und Bändern
dieser chemischen Synovektomie (ohne Operation) (z.B. Sehnenverpflanzungen und -verlängerun-
verwendet werden, sind u.a. Osmiumsäure, Thiote- gen, Muskelverpflanzungen, Weichteilresektionen
pa und Varicocid. Keines dieser Mittel hat eine rein usw.) und Knochenoperationen. Osteotomie ist die
selektive Wirkung auf die Synovialschicht, viel- Knochendurchtrennung mit Säge oder Meißel. Es
mehr sind alle Gelenkstrukturen mitbetroffen. Für werden Korrekturosteotomien durchgeführt, um
die Radioisotopensynoviorthese verwendet man Fehlstellungen des Knochens zu beseitigen, z.B. die
Yttrium 90, besonders für Knie- und Hüftgelenke, X- oder O-Bein-Korrektur zur Behandlung der be-
allerdings nur bei Patienten von über 50 Jahren. ginnenden Kniearthrose, die Korrektur einer Coxa
Die Akupunktur wird in der Orthopädie ergän- valga oder vara durch intertrochantäre Umstel-
zend zur physikalischen Therapie, v.a. bei chroni- lungsosteotomie und die Beinverkürzungs- bzw.
schen Schmerzen (z.B. Lumboischialgie) eingesetzt, Verlängerungsoperation bei größeren Beinlängen-
um den Medikamentenverbrauch zu reduzieren. differenzen. Bei der Osteosynthese werden Kno-
chenfragmente so stabil mit Hilfe von Metallplatten
und -schrauben, Marknägeln (Küntscher-Nagel)
zusammengefügt, dass unmittelbar postoperativ
bereits mit Bewegungsübungen begonnen werden
64 Kapitel 3 · Behandlungsmethoden

kann. Man kann Knochen auch verpflanzen. Aus häufigsten von Rheuma betroffen sind und opera-
dem Beckenkamm, Tibiakopf oder Trochantermas- tiv einfach erreicht werden können.
siv gewonnene Spongiosaspäne dienen zur Über- Arthroskopische Operationen sind operati-
brückung von Knochendefekten, Anlagerung bei ve Eingriffe in Gelenken unter endoskopischer
Pseudarthrosen und bei Versteifungsoperationen, Kontrolle ohne Gelenkeröffnung. Meniskotomi-
v.a. an der WS (Spondylodese). Verpflanzte Korti- en, Knorpelglättungen, Synovialektomie und Ge-
3 kalis zeigt eine schlechtere Einheilungstendenz. Je lenkkörperentfernungen können so durchgeführt
nach Herkunft unterscheidet man: werden, hauptsächlich am Knie, aber auch an der
▬ autologe Transplantate: von demselben Men- Schulter, am Ellenbogen, am Hand- und am oberen
schen, Sprunggelenk.
▬ homologe Transplantate: von einem anderen Arthrodese ist die operative Gelenkversteifung.
Menschen, Folgende Abschnitte kann man ohne größeren
▬ heterologe Transplantate: vom Tier, Funktionsverlust versteifen, weil benachbarte Ge-
▬ alloplastisches Material: Kunststoff, Metall, lenke kompensieren:
Keramik. ▬ einzelne Wirbelsäulenabschnitte – Nachbar-
segmente und Hüften kompensieren
Wichtig ▬ Handgelenk – Daumen und Fingergelenke
Biologisch am wertvollsten zur Förderung der kompensieren
Ossifikation ist autologe Spongiosa. ▬ Daumensattelgelenk – Handgelenk und Dau-
mengrundgelenk kompensieren
▬ Fingergelenk – die anderen Fingergelenke
Knochentransplantationen mit autologer Spongio- kompensieren.
sa führt man z. B. durch bei:
▬ Pseudarthrosen (auch infiziert), Versteifte Knie- oder Ellenbogengelenke lassen
▬ Knochendefekten bei gutartigen Tumoren (z.B. sich schlecht kompensieren.
Zysten), Arthrorise ist die partielle Sperrung eines Ge-
▬ angeborenen Knochendefekten, lenks durch knöchernen Anschlag.
▬ Knochenoperationen (z.B. Spondylodese). Einige orthopädische Erkrankungen kann
man nur operativ behandeln (freier Gelenkkörper,
Die Technik der autologen Knochentransplantati- Bandscheibenvorfall mit Nervenlähmung, Verkür-
on ist unterschiedlich: zung der Achillessehne beim Klumpfuß, Ersatz
▬ als Verpflanzung von Spongiosa aus dem arthritisch oder arthrotisch deformierter Gelenke
Beckenkamm (häufigste Methode), durch Endoprothesen usw.).
▬ gefäßgestielter Fibulaabschnitt bei Tibiapseud- Fehler und Gefahren orthopädischer Ope-
arthrose, rationen bestehen darin, dass die konservativen
▬ Kortikalisspan zur Verblockung z.B. zwischen Maßnahmen nicht ausreichend berücksichtigt
Dornfortsätzen, wurden. Bei jeder Osteotomie, -synthese und En-
▬ Knochenkeil von der intertrochantären Osteo- doprothesenoperation kann es zu einer Infektion
tomie für die Pfannendachplastik (S. 226). mit chronisch rezidivierender Osteomyelitis kom-
men. Auch besteht die Möglichkeit, dass sich die
Die Arthrotomie dient zur Eröffnung des Gelenks durchtrennten und wieder zusammengefügten
und zur Freilegung evtl. vorliegender freier Ge- Knochen nicht knöchern miteinander verbinden,
lenkkörper. Die Entfernung der Gelenkinnenhaut so dass eine Pseudarthrose (Falschgelenk) entsteht,
(Synovektomie) ist indiziert bei chronischen Er- besonders wenn die Fragmente nicht ausreichend
krankungen derselben, wie z.B. bei rheumatischer fixiert sind.
oder tuberkulöser Synovitis. Synovektomien wer-
den vorwiegend an den Knie-, Ellenbogen-, Hand-
und Fingergelenken durchgeführt, weil diese am
3.2 · Operative Therapie
65 3
3.2.2 Biomaterialien Metallimplantate korrosionsbeständig und be-
stehen aus Edelmetallegierungen, die Kobalt,
Die Verbesserung von Biomaterialien und Ope- Chrom, Molybdän und in einigen Fällen Nickel
rationstechniken haben es in den letzten Jahren enthalten. Bei nachgewiesener Unverträglich-
ermöglicht, in fast allen Abschnitten der Bewe- keit gegen eines dieser Metalle besteht noch
gungsorgane Implantate aus Fremdmaterial als die Möglichkeit einer Spezialanfertigung aus
sog. Alloplastik einzusetzen. Man unterscheidet je Titan, die allerdings sehr teuer und u. U. we-
nach Material Metall-, Kunststoff-, Keramik- und niger belastbar ist. Die zur Zeit am häufigsten
Bänderimplantate. verwendeten Kunststoffe (Polyethylen und Si-
Je nach Verweildauer gibt es temporäre Imp- likone) und Aluminiumoxidkeramik zeichnen
lantate, die ihre Funktion vorübergehend erfüllen, sich durch gute Biokompatibilität aus;
z.B. zur Osteosynthese, und Dauerimplantate, die ▬ gute mechanische Eigenschaften besitzen und
lebenslänglich funktionieren sollten, wie z.B. En- möglichst lange halten, was insbesondere für
doprothesen. die Dauerimplantate gilt. Dazu gehören Eigen-
Um ein Implantat im Organismus sinnvoll ein- schaften wie Bruchfestigkeit, Elastizität und
setzen zu können, sind gewisse Forderungen an Beständigkeit gegenüber dem Elektrolytmilieu
das Implantatlager und an das Implantat selbst zu des Organismus;
stellen. ▬ Implantatbrüche als Ermüdungsbrüche treten
Das Implantatlager sollte: erst nach längerer Verweildauer (über 1 Jahr)
▬ gute Verankerungsmöglichkeiten bieten. Der auf;
Knochen für eine Osteosyntheseplatte oder ▬ nicht zu teuer sein. Es gibt Implantate mit auf-
einen künstlichen Gelenkanteil muss ausrei- wendigem Instrumentarium, die außer einem
chend groß und fest sein. Osteoporosen stellen hohen Preis keine Besonderheiten bieten. Der
z.B. oft Kontraindikationen dar; Arzt sollte gerade bei Implantaten immer auf
▬ infektfrei sein, was im übrigen auch für die wei- das Preis-Leistungs-Verhältnis achten.
tere Umgebung einschließlich der Hautinzisi-
onsstelle gilt. Bakterien siedeln sich gerne in
der Umgebung eines areaktiven Fremdkörpers, 3.2.3 Gelenkersatz (Endoprothesen)
also des Implantates, an und verschwinden erst,
wenn das Fremdmaterial wieder entfernt ist; Endoprothesen sind Dauerimplantate als Körper-
▬ gut zugänglich sein, ohne dass wichtige Sehnen, ersatzstücke, meistens in Form von künstlichen
Nerven und Gefäße beiseitegeräumt und später Gelenken. Am häufigsten werden Hüftendoprothe-
durch das Implantat irritiert werden. Wichtig sen eingesetzt, jährlich etwa 170.000 in Deutsch-
ist dies z.B. bei der Implantatverankerung an land. Hauptindikation sind Koxarthrosen. Es gibt
der Wirbelsäule und am distalen Humerus verschiedene Modelle, die alle nach dem gleichen
(N. radialis). Prinzip arbeiten: Die künstliche Pfanne besteht
aus einer Schale, die im Acetabulum verankert
Wichtig wird. Der Hüftkopf wird mit einem Stiel im pro-
Der Effekt der Osteosynthese sollte in einem ximalen Femurende fixiert. Die eingesetzten Kom-
vernünftigen Verhältnis zu Invasivität und Risiko ponenten bestehen je nach Prothesenmodell aus
stehen. Metall, Polyethylen oder Keramik. Konventionell
ist die Kombination von Kunststoffpfanne mit Me-
tallschaft oder Keramik. Beide werden mit einem
Das Implantat sollte: selbsthärtenden Kunststoff aus Polymethylmeta-
▬ biokompatibel (körperverträglich) sein. Es krylat, dem sog. Knochenzement, im Knochen ver-
dürfen keine Unverträglichkeiten – lokal z.B. ankert. Da der Knochenzement im Laufe der Jahre
mit überschießender Bindegewebebildung oder Abnutzungserscheinungen zeigt und spröde wird,
allgemein als Allergie – auftreten. Deshalb sind bemüht man sich um Endoprothesen für jüngere
66 Kapitel 3 · Behandlungsmethoden

Patienten (unter 60 Jahre), die zementfrei in den


Knochen geschraubt oder geklemmt werden. Sie
bestehen meistens aus Titan, das eine hohe Kno-
chenaffinität besitzt. Die Entwicklung ist jedoch
noch nicht abgeschlossen.
Trotz standardisierter Operationstechnik zur
3 Implantation von Endoprothesen kommt es immer
wieder zu Fehlimplantationen mit zu steil oder zu
flach stehender Hüftgelenkspfanne insbesondere
wenn die intraoperativen palpatorisch/anatomi-
schen Orientierungspunkte durch Verformung
oder (und) Kontrakturen unzuverlässig sind. Die
Folgen: Luxation, Frühlockerung. Um Implantati-
onsfehler zu umgehen, werden Gelenkimplantate
zunehmend computergesteuert (navigiert) einge-
setzt. Das heißt, die Implantationsinstrumente wer-
den an ein computergestütztes optisches System
gekoppelt, das die Implantationswinkel vorgibt, die
den Operateur leiten.
Am Knie, der zweithäufigsten Endoprothesen-
indikation, werden grundsätzlich die gleichen Ma-
terialien verwendet, auch mit und ohne Knochen-
zement. Je nach Grundkrankheit und Zerstörung
des Kniegelenks setzt man Totalprothesen und
Teilprothesen als mono- oder bikondyläre Schlitten
ein (⊡ Abb. 3.8). Die übrigen Gelenke (Schulter, El- ⊡ Abb. 3.8. Möglichkeiten des Gelenkersatzes beim
Menschen
lenbogen, Finger usw.) sind rein zahlenmäßig von
untergeordneter Bedeutung, einmal, weil es hier
weniger Indikationen gibt, zum anderen, weil die
Verankerungsmöglichkeiten ungünstig sind (z.B. Wird der Knochen im Implantatbereich nicht be-
am oberen Sprunggelenk). ansprucht, verabschiedet er sich aus diesem. Man
darf deswegen den Zeitpunkt für die Entfernung
3.2.4 Implantate zur Osteosynthese des Osteosynthesematerials nicht verpassen.
An der WS sind der Osteosynthese aus topo-
Osteosynthesematerial dient zur Fixierung von graphischen Gründen Grenzen gesetzt. Frakturen
Knochen nach Frakturen oder Osteotomien. Es werden mit transpedikulär eingedrehten langen
werden Platten, Schrauben, Nägel und Drähte ein- Schrauben reponiert und fixiert. Bei der operati-
gesetzt, um den Knochen möglichst stabil zusam- ven Skoliosekorrektur setzt man entweder von dor-
menzuhalten, damit der Patient sich nach der Ope- sal her Metallstäbe ein, die man am Wirbelbogen
ration sofort bewegen und üben kann (übungssta- einhängt (Operation nach Harrington), oder der
bile Osteosynthese). Bis der Knochen verheilt ist, Eingriff wird am Wirbelkörper selbst mit flexiblen
vergehen einige Wochen bis Monate. Man entfernt Drähten und Schrauben von ventral her durchge-
das Osteosynthesematerial i. allg. nach 1 Jahr. führt (Operation nach Zielke und Dwyer). Bei allen
diesen Eingriffen ist das Risiko-Effektivitäts-Ver-
Wichtig hältnis zu berücksichtigen!
Bei großen, knochenüberbrückenden Implanta-
ten ist die sog. Spongiosierung zu beachten.
3.2 · Operative Therapie
67 3
3.2.5 Ersatz von Sehnen und Bändern zusammenheilt (Pseudarthrose) und Ermü-
dungsbrüche im überbeanspruchten Osteo-
Es gibt, wenn überhaupt, bisher wenig Indikatio- synthesematerial auftreten.
nen für den Ersatz von Sehnen und Bändern durch ▬ Unverträglichkeiten gegenüber dem Material
Kunststoffe. Dabei besteht entweder die Möglich- gehören zu den Seltenheiten. Man muss aber
keit, das Kunststoffmaterial als sog. Augmentati- immer daran denken, wenn nach einer Opera-
onsplastik in autologes Gewebe einzuflechten oder tion lokal oder allgemein Reaktionen auftreten,
das fehlende Band vollständig durch alloplasti- die sich sonst nicht erklären lassen. Es gibt z.B.
sches Material zu ersetzen. Es gibt z.B. künstliche (selten) Nickel- oder Chromallergien, die sich
Kreuzbänder aus Dakron, Polyethylen oder ande- mitunter erst nach der Operation entwickeln.
ren Materialien. Durch Austestung läßt sich die Situation klä-
ren.
3.2.6 Komplikationen ▬ Das Infektionsrisiko ist bei Implantation von
Fremdmaterialien größer als bei anderen Ope-
Neben den üblichen Operationsrisiken gibt es rationen. Bei eingetretener Infektion kann man
implantatspezifische Komplikationen, über die zunächst einen Rettungsversuch mit der Saug-
der Patient vor einer Operation aufgeklärt werden Spül-Drainage und/oder Antibiotikaplomben
muss, weil alle einen erneuten Eingriff, meist mit mit Gentamycinketten machen, selbstverständ-
Implantatentfernung oder -wechsel erforderlich lich mit Erregeraustestung und spezifischer
machen: Antibiotikagabe. Meistens lässt sich die Imp-
▬ Periartikuläre Verkalkungen: In der Umgebung lantatentfernung nicht vermeiden. Auch nach
von Hüftendoprothesen können sich Weichteil- infektfreier Implantation können noch nach
verkalkungen und ektopische Knochenbildun- mehreren Jahren im Bereich einer Endoprothe-
gen entwickeln. Bei größerer Ausdehnung sind se Infektionen auftreten. Die Erreger kommen
sie mit einer Bewegungseinschränkung ver- über die Blutbahn (haematogen) dort hin und
bunden. Schmerzen müssen nicht unbedingt setzen sich bevorzugt in der Umgebung von
vorhanden sein. Fremdmaterialien fest.
▬ Das Implantat kann sich lockern. Bei fehlerhaf-
ter oder unzureichender Verankerung, Implan- ⚉ Fallbeispiel
tatlagerschwäche oder durch Überbeanspru- Gustav Pannenbeck1, 70, hat seit 8 Jahren eine künst-
chung kann es zu Mikrobewegungen zwischen liche Hüfte rechts, mit der er jahrelang zufrieden
Knochen und Implantat kommen. Bei Endo- war. Seit einem halben Jahr hat er zunehmende be-
prothesen kann der Kunststoffabrieb Fremd- lastungsabhängige Schmerzen in der rechten Leiste
körpergranulome hervorrufen, der Knochen- und im rechten Oberschenkel. Er leidet außerdem an
zement wird spröde. Abriebpartikel bei künstli- einem Diabetes und an einer chronischen Bronchitis
chen Gelenken führen zu Phagozytose, villöser mit Fieberschüben.
Proliferation, Nekrosen und narbenähnlicher Befund. Bei Hüftrotation und Abduktion verstärken
Fibrosierung der neugebildeten Gelenkkapsel. sich seine typischen Leisten- und Oberschenkel-
Die Patienten haben zunehmende Schmerzen. schmerzen. Radiologisch: Resorptionssaum im Schaft-
Im Röntgenbild sieht man eine Resorptionszo- bereich der Endoprothese. Das Knochenszintigramm
ne in der unmittelbaren Implantatumgebung. zeigt eine erhöhte Aktivität im distalen Schaftbereich.
Mikrobewegungen und Fehlbeanspruchung
führen meistens zum
▬ Implantatbruch an mechanisch besonders stark
1 Bei den in den Fallbeispielen genannten Personennamen
beanspruchten Stellen durch Schwingungs-
handelt es sich um künstliche Wortschöpfungen, die den
vorgänge. Osteosyntheseplatte und Schrau- Bezug zum Krankheitsbild darstellen sollen. Eventuelle
ben brechen immer dann, wenn der Knochen Ähnlichkeiten mit den Namen tatsächlich existierender
nach Fraktur oder Osteosynthese nicht richtig Personen wären somit rein zufälliger Natur.
68 Kapitel 3 · Behandlungsmethoden

Zusatzuntersuchung. Hüftgelenkspunktion zum Aus- Wachstumsstörungen an der WS vorliegen (juve-


schluss einer Infektion (auf hämatogenem Wege) im nile Kyphose, Skoliose) oder präarthrotische De-
Implantatlager. formitäten an den Gelenken, ist Vorsicht geboten.
Diagnose. Hüftendoprothesenlockerung.
Therapie. Hüftendoprothesenwechsel bei infizierter Tertiäre Prävention. Bei bereits bestehender bzw.
Hüfte ggf. zweizeitig. im Abklingen begriffener Erkrankung soll eine
3 Verschlimmerung oder ein Wiederaufflackern ver-
hindert werden, z.B. soll man nach einer Lumbago
3.3 Soziale Orthopädie, Rehabilitation oder Ischialgie nicht schwer heben und tragen.

>> Einleitung Arbeitsbedingte Schäden


Die allgemeinen Ausführungen zur Kranken-, Unfall- Pathogenetisch wirksame Situationen am Arbeits-
und Rentenversicherung sind auf die Erkrankungen der platz, die Erkrankungen am Bewegungssystem
Stütz- und Bewegungsorgane zu beziehen. hervorrufen, sind in der Berufskrankheitenverord-
Die soziale Betreuung körperlich Behinderter (frü- nung (BKVO) fixiert.
her Krüppelfürsorge) spielt in der Orthopädie eine Bei Arbeiten mit Pressluftwerkzeugen kommt
große Rolle, weil die meisten Betroffenen wegen ihrer es nach langjähriger Tätigkeit und entsprechender
orthopädischen Erkrankungen vorübergehend oder Disposition zu charakteristischen Veränderungen
dauernd nicht mehr ihre berufliche Tätigkeit ausführen am Ellenbogen mit Arthrosis deformans und Os-
können. Da vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen bei teochondrosis dissecans, im Handbereich zu einer
Verschleißerkrankungen der Stütz- und Bewegungsor- Lunatummalazie und am Schultereckgelenk zu ei-
gane von Bedeutung sind, muss jeder Arzt die Rehabili- ner Arthrose. Nach mindestens 3jähriger Tätigkeit
tationsmöglichkeiten kennen, wie z.B. die Verordnungs- mit Pressluftwerkzeugen und dem Vorliegen dieser
weise bei ambulanter und stationärer Rehabilitation Erkrankungen werden sie als Berufskrankheit an-
und Rückenschule. erkannt.
Haltungskonstanz in halbgebückter Stellung
3.3.1 Prävention und Rehabilitation oder die ständig vornübergebeugte Haltung beim
Sitzen ist mit einer starken Beanspruchung der WS,
Primäre Prävention. Durch bestimmte Vorsorge- insbesondere der Bandscheiben, verbunden.
maßnahmen, wie z.B. Impfungen, allgemeine Hy-
giene, sollen Krankheiten gar nicht erst auftreten. Wichtig
Typische Beispiele in der Orthopädie sind Vitamin- Langjähriges Arbeiten mit Pressluftwerkzeugen
gabe zur Vermeidung der Rachitis, Rückenschule führt zu:
als Haltungs- und Verhaltenstraining zur Vermei- ▬ Arthrosis deformans ⎫ am
dung von Rückenschäden. ⎬
▬ Osteochondrosis dissecans ⎭ Ellenbogen
▬ Lunatummalazie
Sekundäre Prävention. Darunter versteht man die ▬ Schultereckgelenkarthrose.
Frühdiagnose bereits bestehender Erkrankungen,
wie z.B. der kongenitalen Hüftluxation, Skoliose,
Osteochondrosis dissecans und des muskulären Meniskusschäden werden nach mindestens 3jäh-
Schiefhalses im Rahmen der Vorsorgeuntersu- riger Tätigkeit im Bergbau unter Tage anerkannt,
chung. Früherkennung bedeutet Frühbehandlung aber auch bei anderen Arbeiten, die in der Knie-
und damit bessere Prognose. Mit der Vorsorgeun- hocke durchgeführt werden, etwa bei Fliesen- und
tersuchung sollen Erkrankungen bereits erkannt Teppichbodenlegern.
werden, wenn sie noch keine Beschwerden berei- Pathogenetisch wirksame Situation ist hier die
ten. Die Vorsorgeuntersuchung ist auch bei der Kniebeugung unter Belastung und die starke me-
Berufswahl und Sporttauglichkeitsuntersuchung chanische Beanspruchung der Kniegelenke.
wichtig. Wenn prädiskotische Deformitäten und
3.3 · Soziale Orthopädie, Rehabilitation
69 3
Rehabilitation oder Arthrosis deformans, müssen in Abzug ge-
Die Rehabilitation schließt sich an die Behand- bracht werden. Solche Situationen können sich
lungszeit an. Sie umfasst den Zeitraum zwischen beispielsweise ergeben, wenn ein arthrotisch
Krankheit und Gesundheit. Der Genesende soll verändertes Kniegelenk von einer gelenknahen
auf die Anforderungen des täglichen Lebens vor- Fraktur (z.B. Tibiakopffraktur) betroffen wird.
bereitet werden. Muskelkräftigungsübungen, Be- Hier ist die endgültige Behinderung teilweise
wegungsübungen für die Gelenke und durchblu- unfallabhängig und teilweise unfallunabhän-
tungsfördernde Maßnahmen gehören zur Reha- gig. Die unfallbedingte MdE (GdB) richtet sich
bilitation bei vielen orthopädischen Krankheiten. nach dem Ausmaß der zusätzlichen Schädigung
Diese Maßnahmen sind z.B. wichtig beim Zustand ( Übersicht 3.4). Gliedertaxe (Vorsicht MC!) ist die
nach Verletzungen oder Operationen an den Kno- Wertung (Taxierung) des Schadens an den Glied-
chen und Gelenken, die mit einer längeren Immo- maßen in der privaten Unfallversicherung. Der
bilisation verbunden waren. Rehabilitationsmaß- Umfang der bleibenden teilweisen Gebrauchsun-
nahmen können ambulant oder stationär durch- fähigkeit einer Gliedmaße gegenüber der vollen
geführt werden. Gebrauchsfähigkeit einer gesunden Gliedmaße
Wenn die Schäden am Bewegungssystem zu wird in Zahlenwerten von 1/10, 1/4, 1/3 usw. ange-
einer dauernden Körperbehinderung führen, sind geben. Z.B. wertet man die Versteifung des Knie-
neben der krankengymnastischen Rehabilitation gelenks in Streckstellung mit 1/2, oberes Sprung-
auch orthopädische Hilfsmittel nötig. Bei Paraple- gelenk in Mittelstellung mit 1/3, Ellenbogen in
gien muss der Betroffene für den Umgang mit dem Mittelstellung mit 1/3.
Rollstuhl geschult werden. Bei Verlust der manuel-
len Wirksamkeit durch Form- und Funktionsstö-
rungen im Bereich der oberen Extremitäten ist eine Übersicht 3.4. Beispiele für die MdE- bzw.
Gewöhnung an spezielle Prothesen erforderlich. GdB-Bewertung bei Schäden am Bewe-
gungsapparat
3.3.2 Begutachtungsprobleme MdE (%)
Oberschenkelamputation 70
Wesentlich für die Begutachtung bei Schäden am Unterschenkelamputation 50
Bewegungssystem ist die Abgrenzung anlagebe- Versteifung des Kniegelenks 30–40
dingter Leiden von Verletzungen. Ermüdungsbrü- Versteifung der Fußgelenke 30
che, pathologische Frakturen und Sehnenrupturen Chronisch rezidivierendes
nach degenerativen Vorschäden werden nicht als Zervikal- oder Lumbalsyndrom 20–30
Unfallfolge anerkannt. Verlust des Oberarmes 70
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) Verlust Unterarm/Hand 50
bzw. der Grad der Behinderung (GdB) ist in Pro- Versteifung Ellenbogengelenk 30
zenten anzugeben. Sie richtet sich nach dem Verlust eines Daumens 20
Ausmaß der Behinderung durch die betreffende
Erkrankung. So wird z.B. die MdE nach Verstei-
fung des Kniegelenks mit 30% bewertet. Bei Ver- Berufsunfähig ist ein Versicherter, der aus medi-
lust eines Beins im Oberschenkel (Zustand nach zinischen Gründen weniger als die Hälfte dessen
Oberschenkelamputation) mit prothesenfähigem verdienen kann, was vergleichbar Ausgebildete ver-
Stumpf liegt eine MdE von 70% vor. Eine MdE dienen können. Es geht also um die jeweilige dau-
wird auch durch andere Form- und Funktions- ernde Behinderung am Bewegungssystem bezogen
störungen an den Bewegungsorganen hervorge- auf den jeweils vorher ausgeübten Beruf.
rufen, z.B. Bewegungseinschränkungen im be-
troffenen Gelenk, Achsenabweichungen nach in
Fehlstellung verheilten Frakturen. Vorbestehende
degenerative Schäden, z.B. Bandscheibenschaden
70 Kapitel 3 · Behandlungsmethoden

Wichtig ▬ Aktiver Wirbelsäulenschutz durch Kranken-


Menschen mit Arthrosen an den unteren Extremi- gymnastik und Sport, wobei eine Erläuterung
täten, z.B. einer Koxarthrose, können keine Tätig- der wirbelsäulenstabilisierenden Sportarten
keiten mehr verrichten, die mit längerem Gehen wichtig ist.
und Stehen verbunden sind (z.B. als Briefträger,
3 Maurer oder Krankenpfleger); sie sind berufsun-
Übersicht 3.5. 10 Regeln der Rückenschule
fähig.
1. Du sollst dich bewegen
2. Halte den Rücken gerade
Erwerbsunfähigkeit liegt vor, wenn der Patient 3. Gehe beim Bücken in die Hocke
aufgrund seiner Behinderung überhaupt keine Er- 4. Hebe keine schweren Gegenstände
werbstätigkeit, also auch keine leichten Arbeiten 5. Verteile Lasten und halte sie dicht am
mehr verrichten kann. Auf orthopädischem Fach- Körper
gebiet zählen dazu: 6. Halte beim Sitzen den Rücken gerade,
▬ schwere Verlaufsformen beim Rheuma, stütze den Oberkörper ab und wechsle
▬ hohe Querschnittslähmungen, öfter diese Haltung
▬ einige generalisierte Skeletterkrankungen. 7. Stehe nicht mit geraden Beinen
8. Ziehe beim Liegen die Beine an
3.3.3 Rückenschule 9. Treibe Sport, am besten Schwimmen,
Laufen oder Radfahren
10. Trainiere täglich deine Wirbelsäulen-
Wichtig muskeln
Unter Rückenschule versteht man ein Haltungs-
und Verhaltenstraining zur Vorbeugung von
Rückenschäden.
3.3.4 Knieschule

Prinzip. Im Rahmen der Rehabilitation und Pro- Die Knieschule vermittelt kniegerechte Verhal-
phylaxe von Wirbelsäulenschäden, speziell der tensweisen, um Beschwerden vorzubeugen bzw.
bandscheibenbedingten Erkrankungen, erlernen bei Kniegelenkserkrankungen im Alltag besser zu-
die Patienten neben Muskelkräftigungsübungen rechtzukommen.
eine rückenschonende Verhaltensweise. In der Analog zur Rückenschule werden in der Knie-
Rückenschule zeigt der Krankengymnast rich- schule Verhaltensmaßnahmen im Alltag trainiert,
tiges Heben, Tragen, Bücken, Sitzen, Stehen und um die Gelenke zu schonen und vermehrte Bean-
Liegen. spruchung zu vermeiden. Dazu gehören richtiges
Weiterhin werden die richtigen Bewegungsab- Aufstehen aus dem Sitzen, richtiges Hinknien, si-
läufe und Körperhaltungen bei den täglichen chere Belastung in Sport, Beruf und Freizeit. Au-
Verrichtungen wie An- und Auskleiden, Waschen, ßerdem werden gezielte Übungen zur Aufschulung
Verrichtungen im Haushalt, demonstriert und ein- der Kniegelenksmuskulatur trainiert. Das Training
geübt. richtet sich nach den zugrundeliegenden Erkran-
Im wesentlichen bestehen die Lerninhalte der kungen und Beschwerden und setzt sich aus Hal-
Rückenschule aus 3 Teilen: teübungen (statisch) sowie Bewegungsübungen
▬ Informationen über Bau und Funktion der (dynamisch) zusammen.
Wirbelsäule Die Lerninhalte der Knieschule bestehen ana-
▬ Systematisches Durchgehen der Rückenschul- log zur Rückenschule aus:
regeln ( Übersicht 3.5, ⊡ Abb. 3.9) ▬ Information über Bau und Funktion des Knie-
gelenkes
3.3 · Soziale Orthopädie, Rehabilitation
71 3
Hohlkreuz vermeiden: ⊡ Abb. 3.9. Rückenschule

Rücken flach an die Wand! Ein Bein aufsetzen! Abstützen, wo immer es geht!

Halte den Rücken gerade: und am Abend:


Beim Bücken und Heben Bein aufsetzen,
in die Hocke gehen außerdem Oberkörper abstützen

▬ Aktivem Schutz durch kniestabilisierende Übersicht 3.6. Knieschulregeln


Übungen und Sportarten: z.B. Radfahren 1. Du sollst dich bewegen
▬ Verinnerlichen der Knieschulregeln ( Über- 2. Verringere dein Körpergewicht
sicht 3.6). 3. Entlaste dein Kniegelenk beim Aufstehen
und Treppensteigen
4. Trage keine schweren Lasten
5. Vermeide längeres Stehen und Gehen
6. Trage Schuhe mit flachen Absätzen
7. Gehe auf weichen Sohlen
8. Vermeide starke Kniebeugung
9. Treibe kniefreundliche Sportarten:
Schwimmen, Radfahren
10. Trainiere täglich deine Beinmuskeln
4

4 Generelle Erkrankungen

4.1 Kongenitale Deformierungen – 75


4.1.1 Plus- und Minusbildungen – 75
4.1.2 Mono- und multiätiologische Deformität – 76
4.1.3 Generelle Entwicklungsstörungen – 77

4.2 Metabolische Knochenerkrankungen


und Knochenumbaustörungen – 80
4.2.1 Osteoporose – 80
4.2.2 Rachitis (englische Krankheit) – 85
4.2.3 Osteomalazie – 87
4.2.4 Osteodystrophia fibrosa generalisata
(Morbus Recklinghausen, Brauner Tumor) – 87
4.2.5 Osteodystrophia deformans (Morbus Paget, Ostitis deformans) – 88

4.3 Entzündliche Knochenerkrankungen – 89


4.3.1 Akute hämatogene Osteomyelitis – 90
4.3.2 Exogene Knocheninfektion – 91
4.3.3 Brodie-Abszess – 91
4.3.4 Osteomyelitis sclerosans (Garr) – 92

4.4 Tumoren und tumorähnliche Erkrankungen im Knochen – 92


4.4.1 Einteilung – 92
4.4.2 Gutartig – 93
4.4.3 Potentiell bösartig – 100
4.4.4 Bösartig – 101

4.5 Erkrankungen der Muskeln, Sehnen und Schleimbeutel – 106


4.5.1 Sehnen- und Sehnenscheidenerkrankungen – 108
4.5.2 Schleimbeutelerkrankungen – 110
4.6 Erkrankungen der Gelenke – 110
4.6.1 Bakterielle Arthritis – 110
4.6.2 Rheumatische Gelenkentzündungen – 112
4.6.3 Sonstige Formen der abakteriellen Gelenkentzündung
und Arthropathien – 117
4.6.4 Arthrosen (Arthrosis deformans, Gelenkverschleiß,
degenerative Gelenkerkrankungen) – 119
4.6.5 Polyarthrose – 120
4.6.6 Gelenkschädigung durch Immobilisation und Inaktivität – 121

4.7 Neurogene Erkrankungen mit Auswirkungen


auf die Bewegungsorgane – 121
4.7.1 Infantile Zerebralparese (ICP; spastische Kinderlähmung,
frühkindlicher Hirnschaden) – 121
4.7.2 Querschnittslähmungen – 123
4.7.3 Spina bifida (Meningomyelozelen:
MMC, dorsale Dysraphie, Rhachischisis posterior) – 123
4.7.4 Poliomyelitis (spinale Kinderlähmung, Poliomyelitis anterior acuta) – 124

4.8 Verletzungen der Bewegungsorgane und Folgen – 125


4.8.1 Komplikationsmöglichkeiten und Spätfolgen bei Knochenbrüchen – 125
4.8.2 Spätfolgen von Verletzungen der Gelenkkapseln,
Bänder und Sehnen – 127
4.8.3 Morbus Sudeck (Sudeck-Dystrophie, Algodystrophie) – 127
4.1 · Kongenitale Deformierungen
75 4
>> Einleitung rungsstörungen und Amnionstränge mit Ab-
Aus der umfangreichen Systematik der Missbildungen schnürdefekten.
ist hier das wichtigste wiedergegeben. Weitere angebo-
rene Form- und Funktionsstörungen finden sich in den Nach der Form der ontogenetischen Störungen un-
einzelnen Kapiteln. terscheidet man Plus- und Minusbildungen:
Bei den generellen Entwicklungsstörungen erge- a) Plusbildungen:
ben sich Überschneidungen mit der Pädiatrie. Mukopo- ▬ Polydaktylie (überzähliges Glied),
lysaccharidosen, Chondrodystrophie und Osteogenesis ▬ Hyperphalangie (z.B. dreiphalangischer Dau-
imperfecta sind durch die typischen Veränderungen an men),
den Bewegungsorganen charakterisiert und werden in ▬ Partieller Riesenwuchs;
Fragen bei Aufzählungen und Differenzialdiagnosen b) Minusbildungen:
verwendet. ▬ Amelie (Extremität fehlt völlig),
▬ Peromelie (Extremität als amputationsartiger
Stumpf vorhanden),
4.1 Kongenitale Deformierungen ▬ Phokomelie (»Robbengliedrigkeit«, Extremität
ist wie bei einem Seehund angelegt, d.h. die pe-
4.1.1 Plus- und Minusbildungen ripheren Abschnitte wie Hand und Fuß setzen
unmittelbar am Rumpf an, da die langen Röh-
Es handelt sich um Entwicklungsstörungen vom renknochen fehlen) (⊡ Abb. 4.1).
befruchteten Ei bis zum Wachstumsabschluss, die
bei vielen orthopädischen Erkrankungen eine Rol- Die größte Gruppe der Extremitätenmissbildungen
le spielen. bilden die Ektromelien.
Missbildungen, angeborene Defekte und De-
formierungen können endogen oder exogen sein: Wichtig
▬ endogene Faktoren: vererbbare Genschäden Bei der Ektromelie handelt es sich um das Fehlen
und Genmutationen. Dabei unterscheidet man oder den Minderwuchs von zentralen und peri-
verschiedene Erbgänge: pheren Extremitätenteilen ohne amputationsarti-
– autosomal dominant (z.B. Syndaktylie, Poly- gen Aspekt.
daktylie, Achondroplasie);
– autosomal rezessiv (z.B. Mukopolysacchari-
dosen); Die meisten Ektromelien finden sich an der obe-
– polygen (z.B. Hüftdysplasie, Klumpfuß, Spi- ren Extremität. Hypo- bzw. Aplasien einzelner oder
na bifida); mehrerer Knochen führen zu charakteristischen
▬ exogene Faktoren: schädigende Umwelteinflüs- Erscheinungsformen.
se wie Sauerstoffmangel, ionisierende Strahlen, Die vererbbare Wachstumsstörung der dista-
Infektionen (Röteln), Intoxikationen, Ernäh- len Radiusepiphyse führt zur Madelung-Deformi-

⊡ Abb. 4.1 a–c. Minusbildungen


(transversal). a Amelie, b Peromelie,
a b c c Phokomelie
76 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

tät (s. S. 204). Fehlt der Radius ganz, kommt es zur Partieller Riesenwuchs
Klumphand. Bei Minusbildung des Zentralstrahls Mitunter ist eine ganze Körperhälfte (Halbseiten-
einer Extremität entsteht die Spalthand bzw. der riesenwuchs), Gliedmaße oder ein Extremitäten-
Spaltfuß. Andere Ektromelien sind kongenita- abschnitt betroffen.
le isolierte Defekte von Fibula, Tibia oder Femur,
Oligodaktylien mit Fehlen von Fingern oder Zehen Wichtig
(⊡ Abb. 4.2). Der partielle Riesenwuchs geht einher mit harmo-
Störungen der Formdifferenzierung (Dysplasi- nischer Vergrößerung aller Gewebeteile.
4 en) sind grundsätzlich von den Defekten zu tren-
nen. Während bei den Defekten etwas fehlt, handelt
es sich bei den Dysplasien um ein Fehlwachstum Beim Klippel1-Trenaunay-Syndrom finden sich
in Form einer mangelnden Entwicklung eines neben dem partiellen Riesenwuchs auch Häm-
Skelettanteils. Wichtigstes Beispiel ist die konge- angiome, Venektasien oder arteriovenöse Fisteln.
nitale Hüftdysplasie, bedingt durch mangelnde Die Hyperämie in der Nähe der Epiphysenfugen
Entwicklung des Hüftpfannenerkers. Anlagebe- wird für das vermehrte Wachstum verantwortlich
dingt ist hier ein gewisser Ossifikationsrückstand gemacht. Die unteren Extremitäten sind häufi-
an einer biomechanisch wichtigen Stelle. Ist der ger vom partiellen Riesenwuchs betroffen als die
Hüftkopf durch den schlecht entwickelten Pfan- oberen. Normales Wachstum in der Kindheit, aber
nenerker nicht ausreichend überdacht, kommt es auch pathologisches Wachstum, z.B. beim partiel-
zur Hüftluxation. Ähnliche Mechanismen führen len Riesenwuchs, verlaufen ohne Schmerzen.
zur habituellen Patellaluxation bei einer Dysplasie
des Patellagleitlagers oder zur habituellen Schul- 4.1.2 Mono- und multiätiologische
terluxation bei einer Dysplasie der Schulterpfanne Deformität
( Übersicht 4.1).
Eine Deformität am Bewegungssystem kann un-
terschiedlicher Ätiologie und Pathogenese sein.
Übersicht 4.1. Störungen der Formdifferen- Eine Skoliose besteht z.B. schon bei der Geburt als
zierung führen zur Dysplasie mit Luxation Missbildungsskoliose mit angeborenen Halbwir-
Hüftpfannendysplasie – Hüftluxation beln oder entwickelt sich erst im Laufe des Lebens
Patellagleitlagerdysplasie – Patellaluxation als Lähmungsskoliose, idiopathische Skoliose oder
Schulterpfannendysplasie – Schulterluxation Skoliose durch Narbenzug. Die daraus entstehende
Deformität Skoliose mit allen Begleitsymptomen
(Rippenbuckel, Lendenwulst, Schultertiefstand
usw.) ist die gleiche.
Ähnlich ist es bei der Deformität Klumpfuß:
Er kann angeboren sein oder durch Lähmung (pa-
ralytisch) und Trauma entstehen. Ein Schiefhals
entwickelt sich durch Narbenzug, Missbildung
der Halswirbel (ossärer Schiefhals) oder, was am
häufigsten ist, durch angeborene Verkürzung des
M. sternocleidomastoideus. Die endgültige De-
formität Schiefhals mit Gesichtsasymmetrie und
Skoliose ist in allen Fällen die gleiche ( Übersicht
4.2). Daneben gibt es auch typische Formstörun-
a b gen am Bewegungssystem, für die nur eine Ursa-
⊡ Abb. 4.2 a, b. Ektromelien (longitudinal). a Fibuladefekt mit
Fehlen des lateralen Strahls am Fuß. b Radiusdefekt mit Feh-
len des 1. Strahls an der Hand 1 Maurice Klippel, Neurologe, Paris (1858–1942)
4.1 · Kongenitale Deformierungen
77 4

Übersicht 4.2. Multiätiologische Deformitäten am Bewegungsapparat


Deformität: Atiologie:
Skoliose Ontogenetisch, paralytisch, traumatisch, entzündlich degenerativ
Klumpfuß Ontogenetisch, paralytisch, traumatisch
Schiefhals Ontogenetisch, traumatisch
Hüftluxation Ontogenetisch, traumatisch, entzündlich, paralytisch
Epiphysenlösung Hormonell, traumatisch

Übersicht 4.3. Monoätiologische Deformitäten am Bewegungssystem


Deformität: Atiologie:
Ulnardeviation der Finger Rheuma
Kontraktur der Palmaraponeurose (M. Dupuytren) Ontogenetisch
Navikularpseudarthrose Traumatisch
Trichterbrust Ontogenetisch

che in Frage kommt. So sind z.B. die Deformitäten als Gargoylismus (zu engl. gargoyle = Wasserspei-
an der Hand des Rheumatikers so charakteristisch er) bezeichnet. Charakteristisch sind weiter ver-
für die Erkrankung (Gelenkschwellung, Ulnarde- mehrte Kyphose der unteren Brustwirbelsäule,
viation, Schwanenhalsdeformität usw.), dass eine multiple Gelenkversteifungen, Hornhauttrübung
andere Ätiologie nicht in Betracht kommt. Auch und Schwachsinn. Die Prognose ist schlecht, weil
die meisten Missbildungen – bis auf Klumpfuß, auch innere Organe betroffen sind. Eine Behand-
Skoliose und Hüftluxation – sind monoätiologisch lung gibt es bisher noch nicht.
( Übersicht 4.3).
Mukopolysaccharidose Typ IV Morquio3. Haupt-
4.1.3 Generelle Entwicklungsstörungen kennzeichen sind abgeplattete Wirbel (Platyspon-
dylie), die zu einer Verkürzung der Wirbelsäule
Mukopolysaccharidosen führen. Der Morquio-Zwerg ist deswegen ein Wir-
Unter den angeborenen generalisierten Gewebe- belsäulenzwerg. Er hat zudem noch schlaffe Gelen-
aufbaustörungen sind für das Skelettsystem die ke mit starken X-Beinen und eine Kielbrust (Pectus
Mukopolysaccharidosen von Bedeutung. Dabei carinatum). Intelligenz und Gesicht sind im Gegen-
handelt es sich um eine erbliche Stoffwechselstö- satz zum Pfaundler-Hurler-Zwerg normal.
rung der Mukopolysaccharide, die intra- und extra-
zellulär abgelagert werden. Bei allen kommt es zu Chondrodystrophie (Achondroplasie)
Skelettveränderungen, meistens mit Minderwuchs
einhergehend. In letzter Zeit sind zahlreiche Typen Definition
von Mukopolysaccharidosen bekannt geworden. Minderwuchs mit kurzen Extremitäten bei nor-
Wesentlich sind zwei: maler Rumpflänge (⊡ Abb. 4.3) durch anlagebe-
dingte Störung der enchondralen Ossifikation der
Mukopolysaccharidose Typ I Pfaundler1-Hurler2. Röhrenknochen.
Die klinische Symptomatik ist gekennzeichnet
durch Minderwuchs, kurzen Hals, fratzenhaftes
Gesicht, gewölbte Stirn, platte Nase, wulstförmige 1 Meinhard v. Pfaundler, Pädiater, München (1872–1947)
Lippen, ähnlich dem Aussehen gotischer Wasser- 2 Gertrud Hurler, Pädiaterin (1889–1965)
speier. Deswegen wird dieses Krankheitsbild auch 3 Louis Morquio, Pädiater, Montevideo (1867–1935)
78 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Wichtig

Chondrodystrophie: Dysproportionierter Minder-


wuchs mit normalem Rumpf und kurzen Extremi-
täten.

Röntgen. Breite aufgetriebene Röhrenknochen


(⊡ Abb. 4.4), breite quadratische Beckenschaufeln,
4 kurze, hohe, dorsal konvexe Wirbelkörper, die zur
Wirbelkanalstenose führen können.

Therapie. Bei Achsenfehlstellungen der Beine Um-


stellungsosteotomie.

⊡ Abb. 4.3. Minderwuchs mit kurzen Extremitäten und relativ


großem Kopf und Rumpf bei Chondrodystrophie

Ätiopathogenese. Ursache des Leidens ist ein De-


fekt der Knorpelzellproliferation im Bereich der
Wachstumsfugen. Die mangelhafte epiphysäre
Knochenbildung beeinträchtigt das Längenwachs-
tum. Es handelt sich um ein dominant vererbba-
res Leiden, das auch im Tierreich vorkommt (z.B.
Dackel).

Klinik. Das Krankheitsbild ist schon beim Neuge-


borenen erkennbar. Der Hirnschädel ist vergrößert,
die Stirn stark gewölbt. Ein größerer Zwischen-
raum zwischen Mittel- und Ringfinger ergibt das
Bild der Dreizackhand. Weitere Merkmale: Hyper-
lordose der LWS mit Beckenkippung nach vorn,
Coxa vara, O-Beine, Watschelgang und faltige Haut
( Übersicht 4.4).

Übersicht 4.4. Minderwuchsformen


Proportioniert: Unproportioniert:
Ererbter Kleinwuchs Chondrodystroph
Hypophysär Rachitisch
Mongoloid Schilddrüse ⊡ Abb. 4.4. Chondrodystrophie: Beckenübersicht und untere
Glasknochen Morquio Extremitäten eines Kleinkinds (Epiphysenfugen offen). Die
langen Röhrenknochen sind plump verkürzt und verbreitert
4.1 · Kongenitale Deformierungen
79 4
Osteogenesis imperfecta (Osteopsathyrose,
Glasknochenkrankheit, abnorme
Knochenbrüchigkeit, Fragilitas osseum
hereditaria)

Definition

Abnorme Knochenbrüchigkeit infolge anlagebe-


dingter mangelnder Osteoidbildung und Osteo-
blastenschwäche als Kollagenose.

⊡ Abb. 4.5. Abnorme Knochenbrüchigkeit. Die Femora sind


teilweise ungewöhnlich grazil und im O-Sinn verbogen. Stark
Ätiopathogenese. Es handelt sich um ein Erblei- verdünnte Kortikalis
den, das durch vermehrte Knochenbrüchigkeit
gekennzeichnet ist. Ursache ist eine unzulängliche
Bildung der Grundsubstanz aller Mesenchymab- Das Gebiss ist kariesgefährdet. Die ersten Kno-
kömmlinge. Der Defekt liegt in der Typ-I-Kollagen- chenbrüche treten bei Gehbeginn auf. Am stärks-
Synthese. Die abnorme Knochenbrüchigkeit beruht ten sind Femur, Tibia und Fibula gefährdet. Nach
auf einer Dysfunktion der die Knochengrundsub- der Pubertät werden die Knochenbrüche seltener.
stanz liefernden Osteoblasten. Die Störung betrifft
sowohl die endostale als auch die periostale Oste- Wichtig
ogenese, die enchondrale Knochenbildung ist nor- Osteogenesis imperfecta: Proportionierter Minder-
mal. Man unterscheidet 2 Formen: wuchs mit Verbiegungen der Extremitäten.
▬ Bei der Osteogenesis imperfecta congenita
(Typ Vrolik1) handelt es sich um eine schwer-
wiegende Erkrankung, die schon im Säuglings- Röntgen. Im Röntgenbild sieht man eine vermehr-
alter meistens letal endet. Es kommt schon im te Strahlendurchlässigkeit mit Verdünnung der
Uterus oder bei der Geburt zu schweren Schä- Kortikalis. Während des Wachstums bilden sich
delfrakturen. Das Kind hat kaum Überlebens- auch Verbiegungen der Knochen aus (⊡ Abb.4.5):
chancen. Kartenherzform des Beckens, Coxa vara, O-Beine
▬ Die Osteogenesis imperfecta tarda (Typ Lob- als Belastungsdeformitäten, Keilwirbel, Fischwir-
stein2) hat eine bessere Prognose. Sie ist häufig bel ( Übersicht 4.5).
kombiniert mit blauen Skleren und einer Oto-
sklerose. Therapie. Sie ist symptomatisch und besteht in der
Schienung frakturgefährdeter dünner Knochen.
Klinik. Klinisch gehört zur Knochenbrüchigkeit Bei starken Achsenabweichungen kommen Um-
auch oft eine Bänderschlaffheit mit überstreck- stellungsosteotomien in Frage.
baren Gelenken und schweren Knick-Platt-Füßen.

Übersicht 4.5. Osteogenesis imperfecta – Memo


– Glasknochenkrankheit – Proportionierter Minderwuchs
– Angeborene Osteoblastenschwäche – Verbogene Extremitäten
– Typ Vrolik – letal – Kartenherzbecken
– Typ Lobstein – bessere Prognose – Fisch- und Keilwirbel

1 Wilhelm Vrolik, Anatom, Groningen (1801–1863)


2 Johann Lobstein, Chirurg, Straßburg (1777–1835)
80 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Endochondrale Dysostosen ihre typischen Knochenveränderungen von Bedeutung


und kommen häufig als Distraktoren in Betracht. Einzu-
Definition prägen sind v.a. die Definitionen, mit denen oft schon
Ungenügende Wachstumspotenz des Knorpels. das meiste gesagt ist.
Wichtigstes Krankheitsbild dieser Gruppe ist die Os-
teoporose, die man sich in allen Einzelheiten einprägen
Ätiopathogenese. Diese Skelettveränderungen ge- sollte, weil man ihr mit Sicherheit später begegnet und
hören zu den erblichen Bildungs- und Wachstums- weil gleich in mehreren Fächern danach gefragt wird:
4 störungen des Knochens und beruhen auf einer Pädiatrie, Gynäkologie, Pathologie und Orthopädie.
Störung der enchondralen Ossifikation. Es gibt:
▬ lokalisierte Formen: einseitige Tibia vara, Ma- 4.2.1 Osteoporose
delung-Deformität, Wachstumsstörungen des
Hüftkopfs, z.B. als Coxa vara;
▬ generalisierte Formen: Chondrodystrophie, Definition
multiple epiphysäre Dysplasie. Osteoporose ist pathologischer Knochenschwund.
Es findet ein Verlust an Knochenmasse gegenüber
Multiple epiphysäre Dysplasie der alters- und geschlechtsentsprechenden Norm
(Ribbing1-Müller) statt, wobei das verbliebene Knochengewebe in
der Zusammensetzung normal ist.
Definition
Es ist zu wenig normaler Knochen da. Den phy-
Generalisierte Störung der enchondralen Ossifika- siologisch allmählich entstehenden Knochen-
tion im epiphysären Bereich. schwund im Alter ohne klinische Symptomatik
nennt man Altersosteopenie (⊡ Abb. 4.6, 4.7).

Ätiopathogenese. Die Säulenordnung des Wachs-


tumsknorpels ist mangelhaft. Betroffen sind die Ätiopathogenese. Es gibt primäre, eigentlich idio-
Epiphysen der langen Knochen, aber auch platte pathische, Osteoporosen unbekannter Genese und
Knochen (Wirbel). sekundäre Osteoporosen, die endokrine, metaboli-
sche oder sonstige bekannte Ursachen haben.
Klinik. Manifestiert sich im Vorschulalter und führt
zum generalisierten Minderwuchs mit Verformung Primäre (idiopathische) Osteoporosen
der Knochen. Später kommt es zu Arthrosen. Je nach dem Lebensabschnitt, in dem die Osteopo-
rose auftritt, unterscheidet man die seltene juvenile
Differentialdiagnose. M. Perthes, Rachitis. und die früherwachsene Form (bis 50 Jahre) von
der postklimakterischen Osteoporose (50–70 Jahre,
Therapie. Symptomatisch. Typ I) und der Altersosteoporose (ab 70 Jahre, Typ
II). Am häufigsten und bedeutungsvollsten ist die

4.2 Metabolische
Knochenerkrankungen
und Knochenumbaustörungen

>> Einleitung
Die meisten Erkrankungen finden sich auch in der Päd-
iatrie und der Inneren Medizin. Für die Orthopädie sind

1 Seved Ribbing, Röntgenologe, Uppsala (Zeitgen.) ⊡ Abb. 4.6. Circulus vitiosus bei Osteoporoseschmerzen
4.2 · Metabolische Knochenerkrankungen und Knochenumbaustörungen
81 4
⊡ Abb. 4.7. Mineralgehalt des
Skeletts und primäre (idiopathi-
sche) Osteoporosen

Altersosteoporose (Typ II), weil sie praktisch jeden chenverlust von ca. 40% erreicht. Hier liegt dann
älteren Menschen betrifft oder zumindest bedroht. auch die Grenze zwischen physiologischer Alters-
Sie wird auch Involutionsosteoporose genannt. Mit osteopenie und krankhafter Altersosteoporose.
zunehmendem Alter steigt auch die Osteoporose- An mechanisch besonders stark beanspruchten
rate. Die Tatsache, dass nach dem 60. Lebensjahr Abschnitten des Skelettsystems kommt es zu Ver-
ca. 25% aller Frauen an einer Osteoporose leiden, formungen und Frakturen.
legt die Vermutung nahe, dass ein Nachlassen der
endokrinen Ovarialfunktion mit der Menopause Wichtig
bei der Entstehung der postklimakterischen (Typ Besonders betroffen ist die Wirbelsäule, gefolgt
I) Osteoporose eine entscheidende Rolle spielt von Oberschenkelhals, distalem Radiusende und
( Übersicht 4.6). Rippen.

Übersicht 4.6. Primäre (idiopathische) Da der Knochen das Prinzip der Leichtbauweise
Osteoporosen verfolgt, können betroffene Skelettabschnitte über
Juvenile u. früherwachsene O. – bis 50 Jahre lange Zeit biomechanisch kompetent bleiben.
Postklimakterische O. (Typ I) – 50–70 Jahre
Alterso. (Typ II) – ab 70 Jahre Aktivierte Osteoporosen – ruhende Osteoporo-
sen. Osteoporosen – d.h. Knochenschwund mit
klinischer Symptomatik – verlaufen in Schüben.
Wichtig Phasen stärkster Schmerzen wechseln sich oft mit
Fast 50% aller Menschen über 70 Jahre haben eine jahrelangen beschwerdefreien Intervallen ab. Das
Osteoporose, der Rest steht kurz davor. Frakturgeschehen nach Bagatelltraumen spielt für
das Auftreten akuter Symptome eine wesentliche
Rolle. Vielfach kommt es aber ohne jegliche äuße-
Bei der Osteoporose wird mehr Knochen ab- als re Einwirkung zur Aktivierung der Osteoporose
aufgebaut. Die Zahl der Knochenbälkchen wird durch einen scheinbar spontan eintretenden ra-
verringert, wodurch sich ihr Abstand erweitert. schen Knochenumsatz (High-turn-over-Osteopo-
Auch die Kortikalis wird dünner. Die klinische Ma- rose). Die Gründe für diese Aktivierung sind noch
nifestation bzw. Frakturgrenze ist ab einem Kno- unbekannt. Der Krankheitsverlauf ist dramatisch.
82 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Übersicht 4.7. Klinik der Osteoporose


Kleiner geworden Tannenbaumphänomen
Rücken schmerzt Dornfortsätze ⎫
Rücken rund Rippenbogenrand ⎬ druckempfindlich
Bauch steht vor Muskelansätze ⎭

4 Multiple Wirbelfrakturen und Verformungen mit Noxen wie die Dauertherapie mit Heparin oder
rasch einsetzenden statischen Veränderungen be- Hyperthyreose.
stimmen das klinische Bild. Solche Verlaufsformen
finden sich v.a. bei der Typ I- bzw. postklimakteri- Klinik. Die Patienten klagen über Rückenschmer-
schen Osteoporose durch Abfall des Östrogenspie- zen. Auf besonderes Befragen hin geben sie an, dass
gels. sie kleiner geworden sind. Auffallendes Merkmal
des Osteoporotikers ist die vermehrte Brustkypho-
Wichtig se, die auch als Altersrundrücken bezeichnet wird.
Die Aktivierung der Osteoporose wird durch Kompensatorisch entsteht eine Hyperlordose der
raschen Knochenverlust eingeleitet (fast loser). Hals- und Lendenwirbelsäule, von wo die meisten
Beschwerden ausgehen. Die Wirbelsäulenverkür-
zung durch Wirbelkörpersinterungen und Fraktu-
Der Verlust an Knochen ist zunächst klinisch ren lässt den Bauch stärker hervortreten (⊡ Abb.
stumm, bis erste Frakturen auftreten. 4.8) und Hautfalten in der Taille entstehen mit
Die meisten Osteoporosen haben einen langsa- dem sog. Tannenbaumrücken (s. ⊡ Abb. 1.1 b, S. 9).
men Knochenumsatz (Low-turn-over-Osteoporo- Der Rippenbogen kann den Beckenkamm berühren
sen) und sind durch chronische Beschwerden mit und dort Schmerzen verursachen. Bei der Unter-
allmählich einsetzenden statischen Veränderun- suchung finden sich druckempfindliche Dornfort-
gen gekennzeichnet. Hierzu zählen die vielen Typ sätze, besonders im thorakolumbalen Übergang,
II- bzw. Altersosteoporosen. und schmerzhafte, mit Myogelosen durchsetzte
Aber auch bei der Altersosteoporose kann aus Rückenmuskeln. Das Labor zeigt keinen patholo-
der ruhenden Form mit nur geringen Beschwerden gischen Befund ( Übersicht 4.7).
eine Aktivierung entstehen, wenn Medikamente
(Kortison), fehlerhafte Ernährung oder Nahrungs-
verwertung, Bewegungsmangel oder krankheits-
bedingte Immobilisation (Fraktur) das Skelett zu-
sätzlich demineralisieren.

Sekundäre Osteoporose
Kortisoninduzierte Osteoporosen entstehen endo-
gen beim M. Cushing und exogen bei einer Dau-
ermedikation mit Kortisonpräparaten, etwa bei
Asthma oder Rheuma.
Alimentäre Osteoporosen entstehen durch
fehlerhafte Ernährung oder unzureichende Nah- ⊡ Abb. 4.8. Strukturelle Veränderun-
rungsverwertung. Kalziummangel und mangelhaf- gen mit Rundrücken bei Osteoporose.
Kompensatorische Hyperlordosen der
te Kalziumresorption spielen eine Rolle.
Hals- und Lendenwirbelsäule. Durch die
Zu den metabolischen Osteoporosen zählen alle Verkürzung des Rumpfs und Muskeler-
Störungen, die irgendwie in den Knochenstoff- schlaffung wölbt sich der Bauch vor. Die
wechsel eingreifen. Dazu gehören auch skelettäre Arme wirken zu lang
4.2 · Metabolische Knochenerkrankungen und Knochenumbaustörungen
83 4

Röntgen. Durch die Verminderung des Kalksalz- Knochendichtemessung (Osteodensitometrie).


gehaltes kommt es zu einer vermehrten Trans- Mit der Quantitativen Computertomographie
parenz des Knochens mit Verbreiterung des Ab- (QCT) oder der dualen Photonenabsorptiometrie
stands zwischen den Kortikaliswänden und den kann man den Knochenmineralgehalt in der Peri-
einzelnen Knochentrabekeln (sog. Rarefizierung pherie, aber auch an der Wirbelsäule, messen. Die
der Trabekelstrukturen). Die Wirbel sacken an den Osteodensitometrie dient zur Früherkennung der
Punkten größter Belastung in sich zusammen, sie fast loser, sowie zur Verlaufskontrolle primärer und
sintern. Am häufigsten findet dieser Vorgang im sekundärer Osteoporosen.
Übergangsbereich von der Brust- zur Lendenwir-
belsäule statt, zwischen Th11 und L2. Durch den Differenzialdiagnose. Diffuse Schmerzen, ty-
Ausdehnungsdruck des Bandscheibengewebes pisches Röntgenbild mit Verformung mehrerer
entstehen an der LWS konkave Eindellungen der Wirbel und v.a. die normalen Laborwerte sind we-
Wirbelkörperdeck- und -bodenplatten, die sie wie sentliche Kriterien zur Abgrenzung von Tumoren
Fischwirbel aussehen lassen (Fische haben solche (Metastasen, Plasmozytom) und Entzündungen
Wirbel). An der BWS kommt es durch die Vorder- (Spondylitis).
kantenbelastung zu Keil- und Plattwirbeln (⊡ Abb.
4.9,  Übersicht 4.8). Therapie. Neben der medikamentösen Therapie
mit Fluoriden, welche die Osteoblastentätigkeit
anregen, und Kalzium für die Remineralisierung
Übersicht 4.8. Radiologische Befunde bei ist v.a. Bewegungstherapie zur Skeletterhaltung
Osteoporose und Neubildung angezeigt. Man gibt Kalzitonin, Ös-
Vermehrte Knochentransparenz trogene und Anabolika. Bei akuten Schmerzen gibt
Rarefizierte Trabekel man Analgetika und evtl. vorübergehend ein Kor-
Keil- und Plattwirbel-BWS sett. Bettruhe darf, wenn überhaupt, nur für kurze
Fischwirbel-LWS Zeit eingehalten werden. Der Erhalt der Mobilität
Verminderter Knochenmineralgehalt ist bei den meist alten Leuten das Ziel.

⊡ Abb. 4.9 a, b. Wirbelverformungen bei Oste-


oporose. a Fisch- und Keilwirbel. b Röntgenpo-
sitivaufnahme von Fischwirbeln: bogenförmige
Eindellung der Deck- und Bodenplatten. Die
Wirbel erscheinen transparent
84 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Bei bereits bestehenden osteoporotischen


Sinterungsfrakturen der Wirbelkörper werden
Bisphosphonate verabreicht, um die Aktivität der
Osteoklasten zu hemmen und dadurch indirekt
eine Zunahme der Knochenmineralisation zu be-
wirken. Zusätzlich ist eine Kalzium-, Vit-D 3- und
mineralstoffreiche Ernährung sinnvoll.

4 Krankengymnastik. Der Krankengymnastik


kommt bei der Osteoporose eine besondere Be-
deutung zu ( Übersicht 4.9).

Übersicht 4.9. Krankengymnastik bei


Osteoporose
Kräftigen: Dehnen:
Thorakale Zervikale
Rückenstrecker Rückenstrecker
Bauchmuskeln Lumbale
Ischiokruralmuskeln M. pectoralis
⊡ Abb. 4.10. Statische Veränderungen bei Osteoporose.
Mm. rhomboidei Hüftbeuger Durch die vermehrte Brustkyphose wandert der Körper-
schwerpunkt nach vorn. Die Bauchmuskeln erschlaffen, es
kommt zur Beckenvorkippung. Hüftbeuger und normale
Wichtig Rückenstrecker erlangen ein relatives Übergewicht, die Ischio-
kruralmuskeln werden überdehnt
Gemäß der Krankengymnastik-Definition »Heilen
durch Bewegen« werden durch Bewegung er-
schlaffte Muskeln gekräftigt und Osteoblasten zur
Knochenbildung angeregt. sofort wieder hergestellt. Gefahr: Durch den not-
wendigen Druck, der zur Füllung des Wirbels not-
wendig ist, kann es zum Austritt der eingebrachten
Muskelkräftigung. Die statischen Veränderungen Substanz über einen Frakturspalt in den Wirbel-
bei Osteoporose fordern einigen Muskelgruppen kanal mit nachfolgenden Lähmungserscheinungen
erhebliche Leistungen ab. Dazu gehören v.a. die kommen.
überdehnten thorakalen Rückenstrecker, Bauch-
muskeln, Ischiokruralmuskeln und Schulterblatt- Prophylaxe. Die Vorbeugung der Osteoporose
rückzieher (⊡ Abb. 4.10). Diese müssen nach ent- fängt schon früh an.
sprechender Vorbereitung durch Wärme und Mas-
sage gekräftigt werden. Wichtig
Verkürzte und kontrakte Muskelgruppen sind Man sollte in der Jugend und im mittleren
vorher zu dehnen, v.a.: Lebensabschnitt das Skelett mit soviel Kalzium
▬ zervikale und lumbale Rückenstrecker, und Knochensubstanz ausstatten, dass genügend
▬ M. pectoralis und Reserven für das Alter vorhanden sind.
▬ Hüftbeuger.

Vertebroplastie. Osteoporotisch frakturierte Wir- Durch tägliche Gymnastik, Sport, körperbelasten-


bel werden transpedikulär, d.h. von dorsal über de Arbeit, sowie mit einer kalzium-, eiweiß- und
den Wirbelbogen mit biokompatiblen Kunststof- vitaminhaltigen Kost kann man ein solides Ske-
fen aufgefüllt. Damit wird die Stabilität des Wirbels lettsystem aufbauen und erhalten. Sportler haben
4.2 · Metabolische Knochenerkrankungen und Knochenumbaustörungen
85 4

vergleichbar höhere Mineralwerte – speziell im be- Klinik. Die Manifestation der Erkrankung erfolgt
lasteten Knochen – als Nichtsportler. in der Zeit der größten Wachstumsgeschwindigkeit
Bei Frauen ist ein ausreichender Östrogenspie- zwischen dem 3. Monat und dem 3. Lebensjahr. Die
gel von der Menarche bis zur Menopause von Be- wichtigsten äußeren Merkmale sind:
deutung. ▬ Caput quadratum,
Im Alter und bei bereits eingetretener Osteopo- ▬ Kraniotabes (Nachgeben des Schädelknochens
rose führt körperliche Aktivität zur Anregung der bei Fingerdruck),
Osteoblastentätigkeit. Die Rückenschule gibt hier ▬ ventral erniedrigte Wirbel mit rachitischem
wichtige Hinweise und Übungen. Sitzbuckel (Sitzkyphose),
▬ Beckenverformung durch Einsinken des Kreuz-
⚉ Fallbeispiel beins mit Einengung des inneren Beckenrings
Josefine Fischer, 72, sucht wegen ihrer Rückenschmer- als Geburtshindernis,
zen den Arzt auf. Eine Ausstrahlung in die Beine be- ▬ rachitischer Rosenkranz am Thorax durch
steht nicht. Sie ist in den letzten Jahren deutlich kleiner Auftreibung der Knorpel-Knochen-Grenze der
geworden und hat einen Rundrücken bekommen. Rippen,
Befund. Vermehrte Brustkyphose, Hyperlordose der ▬ nach unten verbreiterter glockenförmiger Tho-
Hals- und Lendenwirbelsäule. Labor: o.B. In den Über- rax mit beidseitigen Einsenkungen in Zwerch-
sichtsaufnahmen der BWS und LWS sieht man die fellhöhe als Harrison-Furche,
typischen Wirbeldeformierungen (s: ⊡ Abb. 4.9 a, b ▬ Prominenz des Sternums als Hühnerbrust. Die
S. 83). langen Röhrenknochen zeigen Verbiegungen
Diagnose. Altersosteoporose. (O-, X-Beine) sowie Auftreibungen in der Ge-
Therapie. Kalzium, Vitamin D, Natriumfluorid, evtl. vo- gend der Metaphyse (⊡ Abb. 4.11). Die Vermin-
rübergehend Kalzitonin. Sie erhält die Aufforderung derung des Muskeltonus im Abdominalbereich
viel spazieren zu gehen, allerdings nicht bei Glatteis. führt zum sog. Froschbauch.

4.2.2 Rachitis (englische Krankheit)

Definition

Stoffwechselerkrankung mit unzureichender


Mineralisation des wachsenden Knochens infolge
einer durch Lichtmangel (UV-Licht) verursachten
Minderproduktion von Vitamin D bei Kindern zwi-
schen 3 Monaten und 3 Jahren.

Ätiopathogenese. Der exogene oder endogene


Mangel an Vitamin D führt zu einer ungenügenden
Kalzium- und Phosphataufnahme aus dem Darm.
Es kommt zu einer unzureichenden Mineralisati-
on des Knochens. Vitamin D ist außerdem für die
Reabsorption der Phosphate in den distalen Ab-
schnitten der Tubuli renales contorti verantwort-
lich. In den Wachstumszonen finden sich größere
Mengen hyalinen Knorpels und unverkalkten Os-
⊡ Abb. 4.11. 2½jähriges Kind mit Auftreibung des Unter-
teoids. Die Knorpelzellen haben sich zwar zu Säu- schenkels dicht über dem Innenknöchel (Pfeil). Rechts im
len geordnet, aber die Mineralisation des hyalinen Profil, auch links angedeutet zu erkennen (doppelter Innen-
Knorpels bleibt weitgehend aus. knöchel): Rachitis mit Auftreibung der Metaphyse
86 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Der erhöhte Knochenumbau bedingt eine Erhö- Neben den Verbiegungen finden sich u.U. Grün-
hung der alkalischen Phosphatase als einzigem pa- holzfrakturen, schleichende Frakturen an den
thologischen Laborwert ( Übersicht 4.10). Belastungsspitzen als sog. Looser1-Umbauzonen
und quer zur Längsachse der langen Röhrenkno-
Röntgen. Typisch sind die pathologisch veränder- chen verlaufendeVerdichtungsbänder (Remissions-
ten Wachstumszonen mit becherförmiger Auftrei- linien).
bung der Metaphysen (⊡ Abb.4.12a,  Übersicht
4.11).
4
Übersicht 4.10. Klinik der Rachitis
▬ Caput quadratum ▬ Glockenthorax
▬ Kraniotabes ▬ Harrison-Furche
▬ Platt-, Keilwirbel ▬ Hühnerbrust
▬ Sitzbuckel ▬ O-, X-Beine
▬ Kreuzbein eingesunken ▬ Froschbauch
▬ Rosenkranz ▬ Metaphysenverdickung

Übersicht 4.11. Röntgen der Rachitis


▬ Metaphysenbecher ▬ Looser-Umbauzone
▬ Knochenverbiegung ▬ Remissionslinien
▬ Grünholzfraktur

⊡ Abb. 4.12 a, b. Kindliches


Skelett. a O-Beine: Pathologi-
sche Veränderungen der Me-
taphysen besonders im Knie-
bereich mit Verbreiterung und
becherförmiger Konfiguration.
b X-Beine: An den Hauptbie-
gungsstellen des Schienbeins
finden sich Umbauzonen mit
querverlaufendem Spalt und
Verdichtung des umgebenden
Knochens (Looser-Umbauzo-
nen, Pfeile)

a b

1 Emil Looser, Chirurg, Zürich (1877–1936)


4.2 · Metabolische Knochenerkrankungen und Knochenumbaustörungen
87 4

Differenzialdiagnose. Die rachitischen Deformitä- 4.2.4 Osteodystrophia fibrosa genera-


ten finden sich immer bilateral symmetrisch etwa lisata (Morbus Recklinghausen1,
im Vergleich zum Crus varum congenitum. Brauner Tumor)

Therapie. Im floriden Stadium erfolgt die Behand-


lung durch erhöhte Vitamin-D-Gabe und zusätzli- Definition
che Ultraviolettbestrahlung, Cave: D-Hypervitami- Durch Nebenschilddrüsenadenom vermehrt pro-
nose mit Hyperkalzämie, verstärkter Verkalkung duziertes Parathormon (Parathyrin) löst Kalzium
der Wachstumszonen, genereller Osteosklerose, und Phosphate aus den Knochen und führt zur
Nephrokalzinose, Nephrolithiasis, Niereninsuffi- zystischen Osteoporose.
zienz.

Prophylaxe. Tägliche Gabe von Vitamin D. Ätiopathogenese. Das vermehrte Parathormon


Auch bei stärkeren Achsenabweichungen sollte (Parathyrin) steigert die Osteoklastentätigkeit
man im Säuglingsalter zunächst eine abwartende und setzt dadurch Kalzium und Phosphat aus dem
Haltung einnehmen, da es häufig zu Spontankor- Skelett frei. Es regt außerdem die Phosphataus-
rekturen kommt. Erst nach dem 6. Lebensjahr sind scheidung durch die Niere an. Es kommt zu einer
verbliebene stärkere Achsenabweichungen zu kor- schweren generalisierten Osteoporose mit Spon-
rigieren, z.B. O-Bein-Korrektur durch Tibiakopfos- tanfrakturen und großen Zysten, in denen sich
teotomie oder supramalleoläre Osteotomie. Blut ansammelt. Es entsteht ein Granulationsgewe-
be mit Fremdkörperriesenzellen und Blutresten als
4.2.3 Osteomalazie sog. Brauner Tumor (⊡ Abb. 4.13).

Klinik. Allgemeine Osteoporose mit Spontan-


Definition frakturen. Diagnostisch wichtig ist die vermehrte
Knochenerweichung durch verminderte Minerali- Kalziumausscheidung im Urin mit positivem Sul-
sation der normalen Knochenmatrix. kowitch-Test. Es entstehen Nierensteine sowie Nie-
reninsuffizienzerscheinungen. Ferner finden sich
Auswirkungen des hohen Serumkalziumspiegels
Ätiopathogenese. Durch Störungen der intesti- auf die Nervenzellen, die Nervenleitung, den Mus-
nalen Kalziumaufnahme sowie durch mangelnde kel und den Muskeltonus.
Eiweiß- und Kalziumzufuhr wird kein regelrechter
Knochen gebildet, da nicht genügend Kalziumapa- Labor. Hyperkalziurie, Hyperphosphaturie, Hypo-
tit als tragfähige Substanz in das Osteoid eingela- phosphatämie, Hyperkalzämie. Erhöhter Parathor-
gert werden kann. Ursächlich ist auch hier wie bei monspiegel im Serum.
der kindlichen Rachitis ein Vitamin-D-Mangel, al-
lerdings durch eine hepatische oder renale Hydro- Röntgen. Erweiterung des Markraums der Röh-
xylierungsstörung des Vitamin D. Die alkalische renknochen, Verdickung und Auflockerung des
Phosphatase ist erhöht. Schädeldachs, Resorption der Wirbelkörper-
deckplatten. Die Ausdünnung der Kompakta und
Klinik. Durch die Knochenerweichung kommt es zu Spongiosierung mit subperiostalen Resorptionen
Verkrümmungen der langen Röhrenknochen (O-, eventuell Knochenzysten ist v. a. an den Händen
X-Beine), zu Verformungen des Beckens sowie zu nachweisbar, deswegen bei Verdacht auf Osteo-
Looser-Umbauzonen. Generalisierte Schmerzen. dystrophia fibrosa generalisata: Röntgenkontrolle
beider Hände.
Therapie. Vitamin D, Behandlung der verursachen-
den Grundkrankheit. 1 Friedrich v. Recklinghausen, Pathologe, Königsberg
(1833–1910)
88 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

⊡ Abb. 4.13. Osteodystrophia


fibrosa generalisata mit typischen
Veränderungen in den Röhren-
knochen. Diffuse Osteoporose
mit deutlicher Verdünnung der
Kortikalis und vereinzelten zysti-
schen Veränderungen. Der Schä-
del erscheint verschwommen
und zart gefleckt. (Aus Adams
1982)
4

Übersicht 4.12. Osteodystrophia fibrosa generalisata – Memo


▬ Vermehrtes Parathormon ▬ Hyperkalziurie- und -ämie
▬ Zystische Osteoporose ▬ Schädelröntgen
▬ Braune Tumoren ▬ Operation des Adenoms

Therapie. Exstirpation des Nebenschilddrüsen- betrifft sowohl die langen Röhrenknochen als auch
adenoms ( Übersicht 4.12). die platten Knochen. Vorzugslokalisation:
▬ Kreuzbein,
▬ Oberschenkel,
4.2.5 Osteodystrophia deformans ▬ LWS,
(Morbus Paget1, Ostitis deformans) ▬ Becken,
▬ Schädel.

Definition Neben der monostotischen regionalen Form gibt es


Schubweise fortschreitender Knochenumbau. auch polyostotische Formen.

Klinik. Spontanverformungen der äußerlich sicht-


Ätiopathogenese. Genaue Ursachen sind nicht baren Knochen mit ziehenden Schmerzen. Das
bekannt, eine Slow-virus-Infektion wird disku- Schienbein biegt sich nach vorn mit dem Aspekt
tiert. Im Alter zwischen 50 und 60 Jahren kommt einer Säbelscheide als Crus antecurvatum. Der
es spontan, bevorzugt bei Männern, zum Knochen- Knochenumbau im Felsenbein führt zu Hörstö-
umbau. Dem subkortikalen Knochenabbau folgt rungen und Schwindelattacken. Der Schädel ver-
ein periostaler Knochenanbau. Der neugebildete größert sich (Hutnummer). Es kommt zu Verbie-
Knochen ist statisch minderwertig. Der Umbau gungen der langen Röhrenknochen. Kreuz- und

1 Sir James Paget, Chirurg, London (1814–1899)


4.3 · Entzündliche Knochenerkrankungen
89 4

Ischiasschmerzen treten beim Befall der LWS auf. Weitere Untersuchungen. Röntgenaufnahmen des
Als Ausdruck des vermehrten Knochenumbaus ist Schädels und der Lendenwirbelsäule zeigen die typi-
die alkalische Phosphatase erhöht. Es kommt zur schen Vergrößerungen mit unscharfen Rändern.
vermehrten Ausscheidung von Hydroxyprolin. Labor. Erhöhung der alkalischen Phosphatase.
Diagnose. Morbus Paget.
Röntgen. Strähnige Verdichtungen des Knochens Therapie. Thyreokalzitonin, ggf. Biphosphonat.
mit unscharfer Konturierung, Kortikalisverbreite-
rung und Markraumeinengungen finden sich ne-
ben osteolytischen Herden. Die Wirbel zeigen cha- 4.3 Entzündliche
rakteristische Verdichtungen und Vergrößerungen Knochenerkrankungen
mit unscharfem Rand (Paget-Wirbel).
>> Einleitung
Differenzialdiagnose. Chronische Osteomyelitis, Eine der gefürchtetsten Komplikationen in der orthopä-
osteoblastische Metastasen, Osteodystrophia fib- dischen Chirurgie ist die Wund- und Knocheninfektion
rosa generalisata. mit nachfolgender Osteomyelitis.
Die möglichen Folgen müssen dem Patienten im
Therapie. Mit Thyreokalzitonin lässt sich die Oste- präoperativen Aufklärungsgespräch erklärt werden. In
oklastenüberaktivität bremsen. Ein weiteres Mit- der Regel führt dieses Gespräch der Stationsarzt. Dieser
tel ist Biphosphonat. Die Normalisierung des Hy- sieht auch als erster die Frühzeichen der Entzündung
droxyprolins und der alkalischen Phosphatase ist und muss sofort handeln: Abstrich, Antibiotika, Isolie-
ein Parameter für den Therapieerfolg. Bei starken rung des Patienten usw. Je früher man das Richtige ver-
Verbiegungen und Frakturgefahr gibt man ortho- anlasst, um so besser ist die Prognose. Es ist ratsam, die
pädische Apparate oder führt eine Korrekturoste- wichtigsten Erreger und ihre Verhaltensweisen aus der
otomie durch. Mikrobiologie zu rekapitulieren.
Die Knochentuberkulose wird unter den regionalen
Prognose. Langsam schleichender Verlauf, Krank- Erkrankungen, z.B. Spondylitis tuberculosa, Koxitis etc.
heitsstillstand möglich ( Übersicht 4.13). An den abgehandelt.
unteren Extremitäten Spontanfrakturen möglich.
Maligne Entartung zum Osteosarkom in 5 bis 10% Klinik. Entzündungen des Knochens zeigen wie an-
der Fälle. dere Entzündungen Schwellung, Rötung, Schmer-
zen, typische Laborveränderungen, Temperaturer-
⚉ Fallbeispiel höhung.
Moritz Pageldorf, 62 bemerkt eine zunehmende Ver- Die klinischen Erscheinungen sind davon ab-
formung seines rechten Schienbeins, das sich immer hängig, ob es sich um eine akute oder chronische
mehr nach vorne wölbt. Seit einigen Jahren hat er Entzündung handelt.
schon Kreuz- und Ischiassmerzen. Außerdem kann er
schlecht hören. Die Frage nach der Hutnummer beant- Röntgen. Osteolytische Zonen (Knochenabbau)
wortet er damit, dass er keine Hüte trägt. und osteosklerotische Abschnitte (Knochenan-
bau).

Übersicht 4.13. Paget – Memo


▬ Knochenumbau ▬ Felsenbein
▬ strähnige Knochenverdichtungen neben Osteolysen ▬ Paget-Wirbel
▬ 60-jährige Männer ▬ Alkalische Phosphatase
▬ Becken und Nachbarschaft ▬ DD-Osteomyelitis
▬ Schädel ▬ Thyreokalzitonin
90 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

In der Anamnese findet sich oft ein Hinweis auf


den primären Eiterherd (Tonsillen usw.). Betroffen
sind meist Kinder und Jugendliche ( Übersicht
4.14).

Wichtig

Bevorzugter Absiedlungsort sind die gut durch-


bluteten Anteile der Metaphysen der langen Röh-
4 renknochen (Femur, Tibia, Humerus).

Die Gelenkbeteiligung bei der Knocheninfektion


⊡ Abb. 4.14. Saug-Spül-Drainage bei infizierter Tibiafraktur
bzw. Pseudarthrose. Fragmente sind mit einem Fixateur exter-
ist vom Alter abhänig: Bis zum zweiten Lebensjahr
ne stabilisiert überbrücken Gefäße die sich ausbildende Epiphy-
senfuge, eine Keimausbreitung von metaphysär
Therapie. In erster Linie Ruhigstellung (Gipsver- nach intraartikulär ist möglich, s. Säuglingsoste-
band mit Einschluss der benachbarten Gelenke) omyelitis).
und gezielte Antibiotikaapplikation. Umschrie- Ab dem zweiten Lebensjahr bis Wachstumsen-
bene Herde werden operativ ausgeräumt und mit de: Die Epiphysenfuge ist offen, eine Gefäßüber-
einer Saug-Spül-Drainage bzw. mit einer antibi- brückung findet nicht statt. Eine Keimübertragung
otikahaltigen Knochenzementeinlage versehen zum Gelenk ist wenig wahrscheinlich.
(⊡ Abb. 4.14). Im Erwachsenenalter können wegen der ge-
schlossenen Epiphysenfuge Keime von der Me-
4.3.1 Akute hämatogene Osteomyelitis taphyse zur Epiphyse und von dort zum Gelenk
übertragen werden.

Definition Klinik. Der betroffene Knochen ist druckempfind-


Durch Absiedlung von Eitererregern hervorgeru- lich, die Umgebung gerötet und geschwollen, Be-
fene Knochenmarkentzündung. lastungsschmerz, Temperaturerhöhung. Typische
Laborveränderungen mit Erhöhung der Blutkör-
perchensenkungsreaktion (BKS) und Leukozytose.
Ätiopathogenese. Sie wird meistens durch den Die benachbarten Gelenke sind häufig in den ent-
Staphylococcus aureus haemolyticus hervorgeru- zündlichen Prozess miteinbezogen (sympathischer
fen, der von einem Eiterherd (Tonsillen, Furunkel, Reizerguss).
Appendizitis u.ä.) auf dem Blutweg zum Knochen
gelangt. Röntgen. Osteolytischer Defekt mit sklerotischem
Randsaum, zentral evtl. ein Knochensequester.

Übersicht 4.14. Hämatogene Osteomyelitis Therapie. Ruhigstellung, Antibiotika, operative


– Memo Ausräumung, Saug-Spül-Drainage.
▬ Staphylokokken Die akute Osteomyelitis kann in ein chroni-
▬ Knochensequester sches Stadium mit Fisteleiterung übergehen. Die
▬ Metaphysäre Absiedlung Osteomyelitis wandert diaphysenwärts und unter-
▬ Wachstumsstörungen hält oft jahrelange Fisteleiterungen.
▬ Sympathische Gelenkergüsse
▬ Markraumphlegmone Spätfolgen. Wachstumsstörungen, Knochende-
formierungen, Versteifung der benachbarten Ge-
lenke.
4.3 · Entzündliche Knochenerkrankungen
91 4
Akute Säuglingsosteomyelitis

Definition

Sonderform der hämatogenen Osteomyelitis mit


Absiedlungsort in der Nähe des Hüftgelenks,
s. Säuglingskoxitis, S. 234.

4.3.2 Exogene Knocheninfektion

Definition

Posttraumatische bzw. postoperative Osteomy-


elitis.
⊡ Abb. 4.15. Ausgeprägte Osteomyelitis des distalen Femur-
endes mit pathologischer Fraktur (Pfeile). Dia- und Metaphyse
zeigen eine fleckige Sklerose mit osteolytischen Herden (links:
Ätiopathogenese. Der Erreger dringt direkt von seitliche, rechts: a.-p.-Aufnahme)
außen ein und erzeugt eine lokale Entzündung, die
zu entzündlichen Allgemeinreaktionen, wie Fieber, Therapie:
Schüttelfrost und Laborwertveränderungen, führt. ▬ Antibiotika,
Gelingt keine sofortige Beseitigung der akuten In- ▬ Ausräumung,
fektion durch Antibiotika und Ausräumung des ▬ Saug-Spül-Drainage,
Herdes, kommt es zur chronischen posttraumati- ▬ Resektion der Sequester,
schen Osteomyelitis. Hier finden sich ausgedehnte ▬ Einlegen von Spongiosa,
Bezirke mit Nekrosen und Granulationsgewebe, ▬ Einlegen von antibiotikahaltigen (Gentamycin)
die von sklerotischem, neugebildetem Knochen Methylmetakrylatkugeln,
umgeben sind. Zentral liegen isolierte nekrotische ▬ Ruhigstellung mit Fixateur externe.
Knochenteile, die man als Sequester bezeichnet. Oft
führt ein Fistelgang vom Eiterherd nach außen. 4.3.3 Brodie1-Abszess

Klinik. Lokale Schwellung, Rötung, evtl. Fisteleite- Definition. Primär chronische Osteomyelitis mit
rung, Laborwertveränderungen. gutartigem Verlauf durch gute Abwehrlage des Or-
ganismus und geringer Virulenz der Erreger.
Wichtig

Eine chronische Osteomyelitis kann nach Jahren Ätiopathogenese. Im metaphysären Bereich lan-
scheinbarer Ruhe wieder aufflackern. ger Röhrenknochen siedeln sich die Erreger ab. Als
Ausdruck einer guten Abwehrlage bildet sich sofort
ein starker Sklerosesaum.
Begleiterscheinungen: Sekundäre Gelenkbeteili-
gung, Immobilisationsschäden, Amyloidose. Klinik. Ziehende, meist nachts auftretende Schmer-
zen in der erkrankten Knochenpartie, die druck-
Differentialdiagnose. Tumor, enchondrale Dysos- schmerzhaft ist. Sympathische Gelenkergüsse.
tosen. Zeichen einer chronischen Entzündung bei den
Laborwerten: Blutsenkungserhöhung, Verände-
Röntgen. Im entzündeten Knochen wechseln os- rungen in der Elektrophorese.
teosklerotische mit osteolytischen Zonen ab. Mit-
unter finden sich zentrale sklerotische Inseln als
Sequester (⊡ Abb. 4.15). 1 Sir Benjamin Brodie, Chirurg, London (1783–1862)
92 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Therapie. Ausräumung, Ausmuldung des Herdes, ren häufiger als bösartige. Beide setzen die Stabilität
Auffüllung mit Spongiosa. des Knochens herab und können zu Spontanfrakturen
führen. Zwei Drittel aller Primärknochentumoren be-
4.3.4 Osteomyelitis sclerosans (Garr1) treffen Kinder und Jugendliche. Die kniegelenksnahen
Metaphysen sind am häufigsten befallen, eine histolo-
gische Differenzierung einiger Tumorformen ist für den
Definition Pathologen schwierig. Die Dignität hängt u.a. von der
Primär chronische Osteomyelitis im Schaft langer Fähigkeit ab, Metastasen zu setzen. Potenziell maligne
4 Röhrenknochen. (semimaligne) Tumoren wachsen lokal destruierend
und setzen mitunter Metastasen.
Wissenswert sind Prädilektionsalter, Symptome,
Klinik. Dumpfe, ziehende Schmerzen im betrof- röntgenologische Malignitätszeichen und Prognose.
fenen Extremitätenabschnitt, auch vorwiegend Bei Differenzialdiagnosen anderer Erkrankungen sollte
nachts auftretend. man immer auch an Tumoren denken. Das betrifft alle
Läsionen, die eine örtliche Knochenzerstörung verursa-
Röntgen. Verbreiterung der Kortikalis mit unregel- chen.
mäßiger Oberfläche und fast vollständiger Verle- Die Probeexzision ist die wichtigste diagnostische
gung des Markraums. Spindelförmige Auftreibung Maßnahme bei Tumoren.
des Schafts. Während die Behandlung gutartiger Knochenge-
schwülste symptomatisch erfolgt und meistens von der
Therapie. Aufbohren des Markraums, Ausmuldung Stabilitätsfrage bestimmt wird, ist heute die Therapie
des Herdes. primärer bösartiger Knochentumoren nur durch inter-
disziplinäre Zusammenarbeit zwischen Pathologen,
Differenzialdiagnose. Osteoidosteom (Nidus) Onkologen und orthopädischen Chirurgen möglich
und osteogenes Sarkom müssen ausgeschlossen und erfolgt nach speziellen Richtlinien in onkologi-
werden. schen Arbeitskreisen.
Die Prognose der Osteosarkome hat sich durch die
Chemotherapie verbessert. Wie auch sonst bei bösarti-
4.4 Tumoren und tumorähnliche gen Tumoren dient die TNM-Klassifikation der Charak-
Erkrankungen im Knochen terisierung des Tumors und seiner Ausbreitung.

>> Einleitung 4.4.1 Einteilung


Primäre Knochentumoren und tumorähnliche Gebilde
im Knochen (tumor like lesions) sind in diesem Kapitel Die Einteilung der Tumoren erfolgt nach der his-
zusammengefasst, weil sie trotz unterschiedlicher Ätio- togenetischen Geschwulstsymptomatik. Bei his-
logie klinisch und radiologisch Ähnlichkeiten aufweisen. tologisch schwieriger Zuordnung werden histo-
Da einerseits bei einigen Knochentumoren die Progno- chemische und immunhistochemische Kriterien
se ganz entscheidend von der frühzeitigen Diagnose hinzugezogen. In  Übersicht 4.15 sind neben den
und Therapie abhängt, andererseits ganze Familien ver- definitionsgemäß echten Tumoren (autonome
schreckt werden, wenn ein Patient mit einer harmlosen Gewebeneubildung) auch tumorähnliche Gebilde
Knochenzyste gleich in ein Tumorzentrum geschickt und geschwulstmäßige Affektionen aufgeführt. Die
wird, sind grundlegende Kenntnisse von wichtigen bösartigen Knochengeschwülste heißen Sarkome.
Symptomen und Erscheinungsformen der Knochen- Neben dem Ausgangsgewebe und der Dignität las-
geschwülste gefragt (10% der Fragen), obwohl sie nur sen sich für einige Knochentumoren und Zysten
selten vorkommen. Nach bösartigen Knochentumoren noch andere gemeinsame Nenner herausarbeiten,
wird oft gefragt. Dabei sind gutartige Knochentumo- die für die Differenzialdiagnose wichtig sind. Dazu
zählen auch Lokalisation und Prädilektionsalter
1 Karl Garr, Chirurg, Rostock (1857–1928) (⊡ Abb. 4.16)
4.4 · Tumoren und tumorähnliche Erkrankungen im Knochen
93 4

Übersicht 4.15. Einteilung der Tumoren und tumorähnlichen Erkrankungen im Knochen


(nach der WHO-Klassifikation)
Geht aus vom: Benigne: Semimaligne: Maligne:
Knorpel (chondrogen) Osteochondrom Stammnahes Chondrosarkom
(kartilaginäre Exostosen) Enchondrom
Stammfernes Enchondrom Chondromyxoidfibrom
Chondroblastom
Knochen (osteogen) Osteom Osteogenes
Bindegewebe Osteoidosteom Sarkom
(kollagen) Nichtossifizierendes Fibrom
Juvenile Knochenzyste
Fibröse Knochendysplasie
Ganglion
Knochenmark Eosinophiles Granulom Riesenzelltumor Ewing-Sarkom
(myelogen) Osteoklastom Retothelsarkom
Plasmozytom
Gefäße (angiogen) Hämangiom Hämangiosarkom
Aneurysmatische
Knochenzyste
Tumorabsiedlungen Metastasen
im Knochen Synovialom

4.4.2 Gutartig ( Übersicht 4.16)

Übersicht 4.16. Kriterien der Gutartigkeit


von Knochenneubildungen
▬ Langsam wachsend
▬ Scharf begrenzter Rand
▬ Glatte reaktive Sklerosierung
▬ Solide Periostreaktion
▬ Fehlende Weichteilkomponente
▬ Geographische Knochendestruktion
Kommentar:
Langsam wachsende, gutartige Veränderun-
⊡ Abb. 4.16. Typische Lokalisation wichtiger primärer Kno- gen im Knochen lassen dem Gewebe Zeit, auf
chentumoren die Neubildung zu reagieren. Solide Randbe-
reiche und geordnete (geographische) Kno-
chenreaktionen sind die Folge.
94 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Osteochondrom (Synonyme: Kartilaginäre Lokalisation. Entwicklung im Innern kleiner Röh-


Exostose, Exostosenkrankheit) renknochen; Hauptlokalisation: Finger, Mittel-
handknochen. Systemisches Auftreten als Enchon-
Definition dromatose.
Von einer Knorpelkappe überzogene Ausstülpung
des Knochens. Häufigste gutartige Knorpelge- Alter. Alle Lebensalter.
schwulst, die sich auf dem Knochen entwickelt.
Die als Osteochondrom bezeichneten Exostosen Klinik. Schmerzhafte Schwellung eines oder meh-
4 entstehen aus versprengten Knorpelzellnestern. rerer Finger und Spontanfrakturen weisen auf En-
Es gibt eine autosomal dominant erbliche Form chondrome hin.
mit systemischer Verbreitung auf das ganze Ske-
lettsystem, verbunden mit Wachstumsstörungen Röntgen. Die Diagnose wird meistens anhand des
als Exostosenkrankheit. Röntgenbildes gestellt, wo man scharf begrenz-
te zystische Auftreibungen der kleinen Knochen
sieht. Der Knochen erscheint aufgebläht, die Kor-
Lokalisation. Im metaphysären Bereich der langen tikalis verdünnt, aber nicht unterbrochen. Keine
Röhrenknochen. Sie wandern während des Wachs- periostale Reaktion.
tums zur Diaphyse.
Therapie. Wegen der Beschwerden und der Mög-
Alter. Werden meistens zwischen dem 10. und lichkeit von Spontanfrakturen sollten alle Enchon-
20. Lebensjahr entdeckt. drome ausgeräumt werden. Der Hohlraum wird
mit Spongiosa aufgefüllt.
Klinik. Beschwerden entstehen nur, wenn Nerven
oder Gefäße verdrängt werden. Meistens sind sie Prognose. Enchondrome der kleinen Röhrenkno-
symptomlos. chen sind immer gutartig. Enchondrome anderer
Lokalisation, etwa im Becken, gelten als semimali-
Röntgen. Pilzartige Vorwölbungen, breitbasig oder gne Tumoren.
gestielt, die dem Knochen aufsitzen.
Wichtig
Therapie. Eine Abmeißelung der Exostosen ist nur Kurzcharakteristik: Chondrom – kleine Röhrenkno-
erforderlich, wenn sie Beschwerden verursachen chen – multipel – ausräumen.
oder wenn sie sich plötzlich rasch stark vergrößern
(Sarkomverdacht).
Chondroblastom (Codman-Tumor)
Prognose. Gutartig. Maligne Entartung wird be-
schrieben, ist aber extrem selten. Definition

Seltener gutartiger epiphysärer Knorpeltumor.


Wichtig

Kurzcharakteristik: Osteochondrom –
Jugendliche – multilokuläre Exostosen – harmlos. Lokalisation. Entwicklung aus chondroblasten-
ähnlichen Zellen in der Epiphyse langer Röhren-
knochen.
Stammfernes Enchondrom
(Synonym: Chondrom) Alter. Zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr.

Definition Klinik. Durch die Gelenknähe kommt es zu Bewe-


Gutartige Knorpelgeschwulst peripherer Knochen. gungsschmerzen und Reizergüssen.
4.4 · Tumoren und tumorähnliche Erkrankungen im Knochen
95 4

Röntgen. Rundliche, gut abgegrenzte Aufhellun-


gen in der Epiphyse, teils auch metaphysär mit
Kalkeinlagerungen.

Therapie. Ausräumung und Spongiosaauffüllung.

Prognose. Immer gutartig.

Wichtig

Kurzcharakteristik: Chondroblastom –
Jugendliche – epiphysär – ausräumen.

Chondromatose (Gelenkchondromatose)

Definition

Multiple freie Gelenkkörper aus Knorpel durch


metaplastische Umwandlung von Synovialmem-
bran in Knorpel.

Lokalisation. Am häufigsten sind Knie und Ellen-


bogen betroffen.
⊡ Abb. 4.17. Viele rundliche kalkdichte Schatten in der Umge-
bung eines Gelenks sprechen für eine Gelenkchondromatose
Alter. Nur Erwachsene. (meist Knie und Ellenbogen)

Klinik. Einklemmungen, Gelenkblockierungen. Lokalisation. Im Schädel und in den langen Röh-


renknochen.
Röntgen. Wenn die Gelenkkörper verkalkt sind,
sieht man rundliche Schatten (⊡ Abb. 4.17). Alter. In jedem Lebensalter, bevorzugt das weibli-
che Geschlecht.
Therapie. Exstirpation, am besten Synovektomie
zur Rezidivprophylaxe. Klinik. Keine Beschwerden, werden zufällig ent-
deckt.
Prognose. Immer gutartig.
Röntgen. Scharf begrenzte knochendichte Rund-
Wichtig schatten.
Kurzcharakteristik: Gelenkchondromatose – freie
Gelenkkörper – Knie – Ellenbogen – ausräumen. Therapie. Nicht erforderlich.

Prognose. Immer gutartig.


Osteom
Wichtig
Definition
Kurzcharakteristik: Osteom – runde Verdich-
Gutartiger knochenbildender rundlicher Tumor. tungen – harmlos.
96 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Osteoidosteom ⊡ Abb. 4.18. Osteoidosteom


des Femurs. Zu beachten ist
die lokale Kortikalisverdickung
Definition mit einem kleinen zentralen
Nidus (Pfeil). (Aus Adams 1982)
Gutartiger knochenbildender Tumor von 1 cm
Durchmesser, mit starken Schmerzen einherge-
hend.

4 Lokalisation. In der Kortikalis langer Röhrenkno-


chen und in Wirbelbögen.

Alter. Vorwiegend zwischen dem 5. und 30. Lebens-


jahr.

Klinik. Starke lokale Schmerzen, die vorwiegend


nachts auftreten und charakteristischerweise auf
Aspirin gut ansprechen.
Kurzcharakteristik. Osteoblastom, starke Schmer-
Röntgen. Typisch ist eine kleine (ca. 1 cm) zystische zen, Wirbelbogenlokalisation, operative Entfer-
Aufhellung mit ausgedehnter Randsklerose, die nung.
man als Nidus (Fleck) bezeichnet (⊡ Abb. 4.18).
Nichtossifizierendes Fibrom,
Therapie. Operative Entfernung ist allein wegen fibröser Kortikalisdefekt
der Schmerzen erforderlich.
Definition
Prognose. Immer gutartig. Umschriebener Herd von Bindegewebe im Kno-
chen, temporäre Störung der enchondralen Ossi-
Wichtig
fikation im Randbereich der Wachstumsfuge ohne
Kurzcharakteristik: Osteoidosteom – Knochendeformierung.
Jugendliche – schmerzhaft – Nidus.

Lokalisation. In den Metaphysen von Femur, Tibia


Osteoblastom und Fibula.

Definition Alter. 5.–15. Lebensjahr.


Gutartiger knochenbildender Tumor, wesentlich
größer als das Osteoidosteom. Klinik. Symptomlos.

Röntgen. Rundlicher, traubenförmiger Knochen-


Lokalisation. In der Diaphyse langer Röhrenkno- defekt mit Sklerosesaum, führt i. allg. nicht zu Kno-
chen und in den Wirbelbögen. chendeformierungen (⊡ Abb. 4.19).

Klinik. Starke lokale Schmerzen, kein Nacht- Therapie. Nicht erforderlich. Operation nur bei
schmerz. Bei der Lokalisation am Wirbel hartnä- größerer Ausdehnung, wenn Frakturgefahr be-
ckige Wurzelkompressionssyndrome. steht.

Therapie. Operative Entfernung. Prognose. Bildet sich spontan nach Abschluss des
Wachstums zurück, lagert sich der Kortikalis an.
4.4 · Tumoren und tumorähnliche Erkrankungen im Knochen
97 4
⊡ Abb. 4.19. Nicht ossifizierendes
Fibrom bei einem 8-jährigen Jun-
gen als Zufallsentdeckung.
Die Röntgenaufnahme wurde
wegen einer Knieverletzung durch-
geführt. Der traubenförmige Kno-
chendefekt ist von einem Sklerose-
saum umgeben. Therapie: Keine.

Wichtig mit solitärer Höhle im Alter von 10–12 Jahren von


Kurzcharakteristik; Nichtossifizierendes Fibrom – einer latenten Läsion mit verkalkter mehrkamme-
Jugendliche – gut abgegrenzt – klein – harmlos. riger Höhle nach dem 12. Lebensjahr.

Therapie. Ausräumung und Auffüllung mit Spon-


Juvenile Knochenzyste giosa ist erforderlich, um einer Spontanfraktur
(Synonym: solitäre Knochenzyste) vorzubeugen, Alternativmethode: Kortisoninjek-
tion in die Zyste.
Definition

Gutartiger zystischer einkammeriger Knochen- Prognose. Immer gutartig, spontane Heilung. Bei
defekt mit gelblicher Flüssigkeit. Spontanfraktur der dünnen Zystenwand kann es
in die Zyste hineinbluten. Dadurch wird der knö-

Lokalisation. In den Metaphysen langer Röhren-


knochen und in spongiösen Knochen, z.B. Kalka-
neus. Sie können im Laufe des Wachstums auch
diaphysenwärts wandern.

Alter. 5.–20. Lebensjahr.

Klinik. Bis zur Spontanfraktur symptomlos. Spon- ⊡ Abb. 4.20. Knöchel-


tanfrakturen finden besonders in der proximalen gabel a.-p. beim Kind
Humerusmetaphyse statt, weil hier die Knochen- (Wachstumsfugen offen).
zysten besonders groß sind. Die Fibula zeigt eine
Auftreibung im distalen
Ende mit Verdünnung der
Röntgen. Großer, rundlicher Knochendefekt Kortikalis, metaphysäre
mit Kortikalisverdünnung und evtl. Fraktur Lokalisation: juvenile
(⊡ Abb. 4.20). Man unterscheidet eine aktive Läsion Knochenzyste
98 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

cherne Durchbau beschleunigt, allerdings unter Therapie. Konservativ orthopädisch mit Schienen
Deformierung des Knochens. und entlastenden Apparaten.

Wichtig Prognose. Eine Heilung ist nicht möglich, nach Ab-


Kurzcharakteristik: Juvenile Knochenzyste – Ju- schluss des Wachstums hört der Umbau auf, keine
gendliche – gut abgegrenzt – groß – ausräumen. maligne Entartung.

Wichtig
4 Fibröse Knochendysplasie Kurzcharakteristik: Fibröse Knochendysplasie
(Synonym: M. Jaffé1-Lichtenstein2, – wabige Auftreibung – ganzer Knochen – Appa-
Osteofibrosis deformans juvenilis) rateversorgung.

Definition

Ersatz des Knochens durch zystenförmiges


Intraossäres Ganglion
Bindegewebe, fibröse Herde mit unreifem Faser-
(Synonym: subchondrales Ganglion)
knochen.
Definition

Gutartige, kleine gelenknahe Zyste, gefüllt mit


Lokalisation. Ein oder mehrere Knochen sind di- Gallerte, in einem nichtarthrotischen Gelenk. Bei
ametaphysär in größeren Abschnitten betroffen. einem arthrotischen Gelenk würde man sonst von
Femur und Tibia sind zystisch aufgetrieben und einer Geröllzyste sprechen.
verbogen ( Übersicht 4.17).

Alter. Beginnt während des Wachstums, Stillstand Lokalisation. Hüft-, Knie-, Sprunggelenk.
nach der Pubertät.
Alter. Erwachsene.
Klinik. Schon äußerlich erkennt man die Defor-
mierung der Extremität, meist mit Verkürzung Klinik. Mitunter Bewegungsschmerz durch Gelenk-
einhergehend. Die polyostotische Form geht oft reizung.
mit endokrinen Krankheiten (Diabetes, Cushing,
Hyperthyreose) einher. Röntgen. Bis zu kirschgroßer subchondraler
Defekt mit kräftigem Sklerosesaum.
Röntgen. Wabige Auftreibung und Deformierung
des Knochens mit Fehlwachstum. Therapie. Nur bei Beschwerden Ausräumung und
Spongiosaauffüllung.

Übersicht 4.17. Zysten – Memo


Alter Vorzugslokalisation Merkmal
Juvenile Knochenzyste Jugendliche Metaphysen Spontanfraktur
Fibröse Knochendysplasie Kinder Metadiaphyse ganze Knochen
Intraossäres Ganglion Erwachsene Gelenknähe nichts machen
Aneurysmatische Knochenzyste junge Erwachsene Metaphyse Bienenwabe

1 Henry Jaffé, Pathologe, New York (1896–1979)


2 Louis Lichtenstein, Pathologe, Los Angeles (1906–1977)
4.4 · Tumoren und tumorähnliche Erkrankungen im Knochen
99 4

Prognose. Intraossäre Ganglien sind wie die Weich- Therapie. Operative Ausräumung. Beim Plattwir-
teilganglien immer gutartig. bel (Vertebra plana) konservativ durch Korsett-
behandlung. Durch Kortisoninstillation kann die
Wichtig Heilung beschleunigt werden.
Kurzcharakteristik: Ganglion – gelenknah –
klein – rund. Prognose. Immer gutartig, Neigung zur Selbsthei-
lung.

Eosinophiles Granulom Wichtig


(Synonym: Histiozytosis x) Kurzcharakteristik: Eosinophiles Granulom –
Jungen – ausgestanzter Defekt – Eosinophilie.
Definition

Umschriebener 1–3 cm großer Knochendefekt


durch eosinophile Leukozyten und Histiozyten.
Knochenhämangiom
Benigne Verlaufsform der Histiozytose.
Definition

Von den Blutgefäßen ausgehender gutartiger


Lokalisation. Im Markraum von Schädel, Becken, Knochentumor.
langen Röhrenknochen, Wirbeln (Vertebra plana).

Differenzialdiagnose. des Plattwirbels (Vertebra Lokalisation. Vorzugsweise in den Wirbeln und im


plana): Lymphome im Kindesalter (s. Blutbild), os- Schädel ( Übersicht 4.18).
teoporotischer Plattwirbel (nur bei Erwachsenen).
Alter. Erwachsene, Frauen.
Alter. Jungen zwischen 5. und 18. Lebensjahr.
Klinik. Meistens symptomlos, bei expansivem
Klinik. Lokale Schmerzen, Spontanfrakturen, Wachstum Nervenwurzelkompression.
Eosinophilie.
Röntgen. Bienenwabenartige Spongiosastruktur
Röntgen. Rundliche, scharf begrenzte Defekte, mit größeren Hohlräumen und verstärkten Trabe-
sehen aus wie ausgestanzt. keln (⊡ Abb. 4.21).

Übersicht 4.18. Benignes und semimalignes – om – Memo


Alter Vorzugslokalisation Merkmal
Osteochondrom Jugendliche Metaphysen multipel
Stammfernes Enchondrom alle Finger multipel
Chondroblastom Jugendliche Epiphyse solitär
Osteom alle Schädel nichts machen
Osteoidosteom Jugendliche Diaphyse Nidus
Nicht ossif. Fibrom Jugendliche Metaphyse nichts machen
Eosinophiles Granulom Jugendliche Diaphysen solitär
Knochenhämangiom Erwachsene Wirbel solitär

Stammnahes Enchondrom jugendl. Erwachsene Becken semimaligne


Osteoklastom jugendl. Erwachsene Epiphysen semimaligne
100 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Röntgen. Mehrkammeriger Defekt mit Aufblä-


hung des Knochens und Veränderung der äußeren
Knochenkontur.

Therapie. Wegen der Rezidivfreudigkeit möglichst


En-bloc-Resektion, Defektausgleich mit Spon-
giosa.

4 Prognose. Immer gutartig. Bei unzureichender


Exstirpation sind Rezidive häufig.

Wichtig

Kurzcharakteristik: Aneurysmatische Knochenzys-


te – mehrkammerig – aufgebläht – rezidivfreudig.

4.4.3 Potentiell bösartig

⊡ Abb. 4.21. LWS seitlich. Der 2. Wirbel von unten zeigt eine Stammnahes Enchondrom
wabenartige Struktur mit größeren Hohlräumen. Die äußere (Synonym: Chondrom)
Kortikalis ist unverändert: Wirbelhämangiom
Definition
Therapie. Meistens nicht erforderlich, bei expan- Semimaligne Knorpelgeschwulst.
sivem Wachstum: Bestrahlung, Dekompression
(Laminektomie).
Lokalisation. Entwicklung in langen Röhrenkno-
Prognose. Immer gutartig. chen, Rippen, Wirbeln und im Becken.

Wichtig Alter. Bevorzugt ist das Alter zwischen 5 und 25 Jah-


Kurzcharakteristik: Knochenhämangiom – ren sowie das weibliche Geschlecht.
Frauen – Wirbel – bienenwabenartig.
Klinik. Das verdrängende Wachstum verursacht
örtliche Schmerzen und Schwellung.
Aneurysmatische Knochenzyste
Röntgen. Zunächst gut abgegrenzter, rundlicher
Definition Knochendefekt. Oft finden sich Kalkeinlagerungen
Gutartiger, zystischer, mehrkammeriger Knochen- mit gesprenkeltem Aussehen (sog. Kalkspritzer).
defekt mit blutigem Inhalt.
Therapie. Wo es möglich ist: En-bloc-Resektion
und Defektüberbrückung mit autologem Kno-
Lokalisation. In den Metaphysen langer Röhren- chen.
knochen, aber auch in Wirbel und Becken.
Prognose. Die Rezidivneigung und Tendenz zur
Alter. 15.–30. Lebensjahr. malignen Entartung ist besonders nach wieder-
holter (vergeblicher) Resektionsbehandlung groß,
Klinik. Lokale Schmerzen und Schwellung durch deshalb semimaligner Tumor.
expansives Wachstum.
4.4 · Tumoren und tumorähnliche Erkrankungen im Knochen
101 4
Wichtig Therapie. En-bloc-Resektion.
Kurzcharakteristik: Stammnahes Enchondrom –
junge Frauen – Kalkeinlagerungen – maligne Prognose. 15% der Riesenzelltumoren sind primär
Entartung. maligne; zunächst gutartige Tumoren können nach
wiederholten Operationen wegen lokaler Rezidive
maligne entarten und Lungenmetastasen setzen.
Riesenzelltumor (Synonym: Osteoklastom,
Blutungen ins Tumorgewebe mit Wichtig
Hämatomresten haben zur Bezeichnung Kurzcharakteristik: Riesenzelltumor – junge
»Brauner Tumor« geführt) Erwachsene – semimaligne – epiphysär –
Operation – Rezidive.
Definition

Semimaligner, vom Knochenmark ausgehender


Tumor. Charakteristisch sind 2 verschiedene Zell-
4.4.4 Bösartig
typen: Spindelförmige Zellen und Riesenzellen.
( Übersicht 4.19, ⊡ Abb. 4.23)

Chondrosarkom
Lokalisation. In den Epiphysen langer Röhrenkno-
chen. Definition

Vom Knorpel ausgehender, langsam wachsender


Alter. Junge Erwachsene zwischen 15 und 40 Jahren, maligner Tumor.
meistens Frauen.

Klinik. Schwellung, Schmerz, Bewegungseinschrän- Lokalisation. Metaphyse von Femur, Humerus, Ti-
kung. bia und in Becken, Schulter, WS. Peripher als malig-
ne Entartung von Osteochondromen und Enchon-
Röntgen. Exzentrisch epiphysärer, großer Defekt dromen (selten).
ohne knöcherne Reaktion auf die Metaphyse über-
greifend, expansives Wachstum führt zur Aufblä- Alter. Vorwiegend Erwachsene.
hung des Knochens, dehnt sich bis zur Gelenkflä-
che aus (⊡ Abb. 4.22).
⊡ Abb. 4.22. Riesenzelltumor des
Knochens in üblicher Lokalisation.
Der schwachgekammerte Tumor
zerstört in den meisten Fällen einen
der Femurkondylen. Er dehnt sich
bis fast zur Gelenkfläche aus.
(Aus Adams 1982)
102 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Übersicht 4.19. Malignitätskriterien von Knochenneubildungen


▬ Codman1-Dreieck – spornartige periostale Abhebung als Periostsporn
▬ Spiculae – senkrecht zum Schaft wachsende Knochenbälkchen
▬ Mottenfraß – Defekte im Knochen ohne Reaktion
▬ Lamellen – durchgehende periostale Abhebungen übereinander
▬ Weichteilausdehnung
Kommentar:
4 Schnell wachsende, bösartige Veränderungen im Knochen lassen dem Gewebe keine Zeit, geordnet auf
die Neubildung zu reagieren. Unscharfe Randbereiche und chaotische Knochenreaktionen sind die Folge.
Zum Staging gehören Szintigramm, Abdomensono, Lungen-CT und MRT.
Die Tumoragressivität ist durch rasche Tumorvolumenzunahme, geringen Differenzierungsgrad,
Zellatypien, Mitosen, und hohen Infiltrationsgrad gekennzeichnet. Das Szintigramm zeigt eine hohe
Technetium-99-Aufnahme.

Benigne Läsion Maligne Läsion ⊡ Abb. 4.23. Typische radiologische


Veränderungen bei benignen und
malignen Läsionen. (Aus Idelberger
gut abgrenzbarer
sklerosierter Rand 5. Auflage)
unscharfer, breiter
fehlende verwaschener Rand
Weichteilkomponente ohne Reaktion (Mottenfraß)

solide Periostreaktion Weichteilausdehnung

geographische unterbrochenes Periost


Knochendestruktion
Spiculae,
Codman-Dreieck
Lamellen

Klinik. Wegen des langsamen Wachstums kaum Wichtig


Symptome, späte Metastasen. Kurzcharakteristik: Chondrosarkom –
Erwachsene – langsam wachsend – Verkalkungen
Röntgen. Knochendefekt ohne knöcherne Reakti- – Radikaloperation.
onen, Kalkeinlagerungen.

Therapie. Amputation, wo es möglich ist, Exartiku- Osteosarkom


lation, Hemipelvektomie u.ä., Resektion solitärer
Metastasen. Geringe Strahlenempfindlichkeit. Definition

Vom Knochen ausgehender, schnell wachsender,


Prognose. Relativ geringer Malignitätsgrad und maligner Tumor, der Knochen bilden kann. Neben
langsames Wachstum führen bei konsequenter Be- dem Plasmozytom der häufigste maligne primäre
handlung zu einer Fünfjahresüberlebensrate von Knochentumor.
über 50%.

Lokalisation. Metaphysen langer Röhrenknochen,


meist Knienähe.
1 Ernest Codman, Chirurg, Boston (1869–1940)
4.4 · Tumoren und tumorähnliche Erkrankungen im Knochen
103 4

Alter. Kinder und Jugendliche. Kann als Paget-Sar- Wichtig


kom bei alten Menschen vorkommen. Kurzcharakteristik: Osteosarkom – Kinder –
schnellwachsend – Knochenneubildung –
Wichtig
Operation und Zytostatika.
Sarkom und Alter: Ewing- und Osteosarkome ent-
stehen vorwiegend zwischen dem 5. und 25. Le-
bensjahr. Fibro-, Chondro- und Retikulumzellsar-
Fibrosarkom
kome sind eher bei Erwachsenen anzutreffen.
Definition

Vom Bindegewebe ausgehender, langsam wach-


Klinik. Tastbare Verdickung, ziehende Schmerzen. sender Knochentumor.
Labor: alkalische Phosphatase erhöht, Allgemein-
zustand reduziert, Lungenmetastasen.
Lokalisation. Metaphysen langer Röhrenknochen.
Röntgen. Knochendefekt, Knochenneubildung
in Form von Knochenbälkchen im Tumorgewebe Alter. Vorwiegend Erwachsene.
als sog. Spiculae. Periostale Reaktionen (Codman-
Dreieck) (⊡ Abb. 4.24) und Periostlamellierung. Klinik. Tastbare Verdickung, ziehende Schmerzen,
Labor.
Therapie. Radikaloperation (En-bloc-Resektion,
Amputation) und Chemotherapie. Röntgen. Zentrale Destruktionsherde ohne knö-
cherne Reaktion.
Prognose. Trotz verbesserter Chemotherapie ist
die Prognose insgesamt immer noch schlecht. Therapie. Radikaloperation (En-bloc-Resektion,
Amputation) und Zytostatika. Geringe Strahlen-
empfindlichkeit.

Prognose. Langsames Wachstum und Radikalope-


ration bewirken eine relativ gute Prognose.

Wichtig

Kurzcharakteristik: Fibrosarkom – Erwachsene –


langsam wachsend – Radikaloperation und
Zytostatika.

Ewing1-Sarkom

Definition

Vom Knochenmark ausgehender, schnell wach-


sender maligner Tumor, bestehend aus kleinen
undifferenzierten Mesenchymzellen mit chroma-
⊡ Abb. 4.24. Kniegelenk und distales Femurende eines Kindes tindichten Kernen. Frühe Metastasenbildung in
(Wachstumsfuge am Tibiakopf offen). Starke Destruktionen
anderen Knochen und in der Lunge.
mit Knochenneubildung: Osteosarkom. An der Übergangs-
zone vom gesunden Knochen zum Tumor findet sich eine
verknöcherte periostale Abhebung, die mit dem darunterlie-
genden (kranken) Knochen zusammen ein langgezogenes
dreieckiges Gebilde (sog. Codman-Dreieck, Pfeil) ergibt 1 James Ewing, Pathologe, New York (1866–1943)
104 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Lokalisation. Metadiaphysärer Bereich der langen Klinik. Wegen des langsamen zentralen Wachstums
Röhrenknochen. zunächst wenige Symptome.

Alter. Kinder und Jugendliche (5.–20. Lebensjahr). Röntgen. Knochendefekte, Knochenverdichtun-


gen.
Klinik. Schmerzen, Temperaturerhöhung, Labor,
reduzierter AZ. Therapie. Strahlentherapie, Zytostatika, Resek-
tion.
4 Röntgen. Knochendestruktion mottenfraßähnlich
im Schaft langer Röhrenknochen mit Periostreak- Prognose. Wegen des guten Ansprechens auf
tionen als Lamellenformation (zwiebelschalenar- Strahlen relativ gut.
tig) und als Periostsporn (Codman-Dreieck).
Wichtig
Wichtig
Kurzcharakteristik: Retikulumzellsarkom – Erwach-
Wichtigste Differenzialdiagnose bei Knochentu- sene – langsam wachsend – strahlensensibel.
moren ist die Osteomyelitis.

Plasmozytom
Differenzialdiagnose. Osteomyelitis. (Synonyme: multiples Myelom, M. Kahler1)

Therapie. Sehr strahlenempfindlich, Zytostatika- Definition


therapie, in bestimmten Fällen kombiniert mit Tu- Neoplastische Wucherung von Plasmazellen im
morresektion oder Radikaloperation. Knochen, multilokulär.

Prognose. Durch die neue Zytostatika-Strahlen-


Kombinationstherapie etwas besser geworden. Lokalisation. WS, Rippen, Schädel.

Wichtig Alter. Ältere Erwachsene, kommt häufiger vor.


Kurzcharakteristik: Ewing-Sarkom – Kinder –
schnell wachsend – Osteomyelitisähnlichkeit – Klinik. Diffuse Schmerzen, Paraproteinämie, star-
Strahlen und Zytostatika. ke Erhöhung der Blutsenkungsgeschwindigkeit,
Bence-Jones-Protein im Urin.

Retikulumzellsarkom Röntgen. Multiple, rundliche, ausgestanzte Defekte


(Synonyme: Retothelsarkom, immuno- ohne knöcherne Reaktion, Osteoporose, pathologi-
blastisches Sarkom. Non-Hodgkin- sche Frakturen.
Lymphom des Knochens)
Therapie. Zytostatika, Strahlentherapie, lokale
Definition Tumorresektion.
Vom Knochenmark ausgehender, langsam wach-
sender maligner Tumor. Prognose. Langsames Wachstum und Remissionen
durch Zytostatika führen zu einem chronischen
Verlauf ( Übersicht 4.20).
Lokalisation. Diaphysen der langen Röhrenkno-
chen, Schulter, Schädel, WS.

Alter. Erwachsene.
1 Otto Kahler, Internist, Prag (1849–1893)
4.4 · Tumoren und tumorähnliche Erkrankungen im Knochen
105 4

Übersicht 4.20. Sarkom – Memo


Alter Ort Wachstum
Chondrosarkom Erwachsene Metaphysen langsam
Osteosarkom Kinder Metaphysen schnell
Fibrosarkom Erwachsene Metaphysen langsam
Ewing-Sarkom Kinder Diaphysen schnell
Retikulumzellsarkom Erwachsene Diaphysen langsam
Plasmozytom Alte WS langsam

Wichtig

Kurzcharakteristik: Plasmozytom – alte Menschen –


multilokulär – Paraproteinämie – Zytostatika.

Knochenmetastasen

Definition

Absiedlungen malignen Tumorgewebes im Kno-


chen. Knochenmetastasen setzen vorwiegend
Mamma-, Schilddrüsen-, Bronchial-, Nieren- und
Prostatakarzinome.

⊡ Abb. 4.25. Seitliche Schichtaufnahme der BWS. Ein Wirbel


Wichtig (Pfeil) ist zusammengesintert. Die Deck- und Bodenplatte ist
unregelmäßig konturiert. Die Knochenstruktur ist verdichtet.
Die häufigsten bösartigen Knochengeschwülste Die angrenzenden Bandscheibenräume sind erhalten bzw.
sind Metastasen. erweitert. In Frage kommt ein Tumor, am ehesten eine Wir-
belkörpermetastase. Bei osteoporotischer Sinterung wären
mehrere Wirbel beteiligt

Lokalisation. Wirbelkörper, Becken, proximales


Femurende, Rippen.
Therapie. Richtet sich nach dem Primärtumor,
Alter. Meistens ältere Erwachsene. Solitärmetastasen können en bloc reseziert wer-
den. Alloarthroplastik.
Klinik. Starke lokale Schmerzen durch verdrängen- Solitätmetastasen kommen z.B. vor bei Schild-
des Wachstum, Tumorkrankheit, Labor. drüsenkarzinomen, Nierenzellkarzinomen.

Röntgen. Knochendefekte ohne Reaktion, Spon- Wichtig


tanfraktur (⊡ Abb. 4.25). Man unterscheidet Me- Kurzcharakteristik: Metastasen – alte Menschen –
tastasen mit Knochenverdichtung (osteoblastische starke Schmerzen – Tumorkrankheit.
Metastasen; Prostata-, Mamma-, Blasenkarzinom)
und knochenauflösende Metastasen (osteolytisch,
osteoklastisch; Bronchial-, Schilddrüsen-, Mam-
ma-, Nierenkarzinom).
106 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

4.5 Erkrankungen der Muskeln, Arthrogryposis multiplex congenita


Sehnen und Schleimbeutel (angeborene Gliederstarre)

>> Einleitung Definition


Obwohl Muskeln die Hauptmasse des Körpers ausma- Partielle Versteifung der Gelenke in Fehlstellung
chen, zeigen sie die wenigsten eigenständigen Erkran- durch erhebliche Schrumpfung der Gelenkkap-
kungen. Sie sind meist sekundär in das Krankheitsge- seln, Bänder und Skelettmuskeln mit Hypotonie
schehen einbezogen, wie z.B. bei Lähmungen, Kontrak- der Muskeln.
4 turen und metabolischen Erkrankungen. Zum besseren
Verständnis der Krankengymnastik und physikalischen
Therapie sind die Grundlagen aus der Muskelphysio- Ätiopathogenese. Wachsartige Atrophie und De-
logie mit den verschiedenen Kontraktionsmustern zu generation der Muskelfasern sowie Schrumpfung
wiederholen. des Kapselbandapparats der Gelenke führen zu ei-
ner symmetrischen Fehlstellung aller Gelenke mit
Myogelosen Kontrakturen und partieller oder vollständiger
Versteifung.
Wichtig

Unter Myogelosen versteht man längliche, in Fa- Klinik. Es kommt zu Hüftverrenkungen, Klumpfü-
serrichtung der Muskulatur gelegene erbsen- bis ßen, Klumphänden, mitunter ist der ganze Patient
bohnengroße Verhärtungen der Muskulatur. völlig starr. Die Veränderungen sind meist symme-
trisch. In Abortivfällen beschränken sie sich auf
einzelne Gliedmaßenabschnitte.
Diese sind histologisch durch wachsartige Degene- Diagnostisch ist die Muskelbiopsie wertvoll.
ration der Muskelfibrillen und Fetteinlagerungen
charakterisiert. Sie finden sich bei Überanstren- Röntgen. Knochenwachstum normal, Inaktivitäts-
gung der Muskulatur häufig in den Rückenstre- osteoporose, Skoliose, Subluxation und Luxation
ckern, Waden und in der Nacken-Schultergürtel- der Gelenke, z.B. Hüfte und Knie.
Muskulatur.
Therapie. Die Behandlung ist symptomatisch und
Myotendinosen besteht in der korrekten Lagerung sowie Redres-
sionsbehandlung für die deformierten Gelenke.
Wichtig Mitunter müssen die Fehlstellungen (Klumpfüße)
Bei Myotendinosen handelt es sich um schmerz- operativ beseitigt werden.
hafte Reizzustände am Übergang Muskel – Sehne
oder Sehne – Knochen.
Myositis ossificans, heterotope Ossifikation
( Übersicht 4.21)

Als Ursachen kommen Überlastungen und Fehl-


beanspruchungen in Frage, wie z.B. der ruckartige Übersicht 4.21. Myositis ossificans – Memo
Zug bei verschiedenen Sportarten. ▬ Heterotope Ossifikation
▬ Metaplastische Knochenneubildung
Angeborene Muskelkontrakturen ▬ Generalisierte ererbte infauste Form
Diese finden sich z.B. beim muskulären Schiefhals. ▬ Zirkumskripte reaktive Form
Hier zeigt der M. sternocleidomastoideus eine ▬ Adduktoren, Deltoideus, Pektoralis und
Verkürzung. Auch der angeborene Klumpfuß zählt postoperativ nach TEP
dazu. Kontrakt sind hier die Plantarflektoren und
Supinatoren.
4.5 · Erkrankungen der Muskeln, Sehnen und Schleimbeutel
107 4
Definition

Verknöcherungen im Muskel als heterotope


Ossifikation.

Ätiopathogenese. Metaplastische Knochenbil-


dung bedeutet Knochenentwicklung im Weichteil-
gewebe, bevorzugt in Muskeln, Kapseln und Bän-
dern in der Umgebung von Gelenken.
Die generalisierte Form der Myositis ossificans
⊡ Abb. 4.26. Myositis ossificans. Beckenübersicht, beidseits
(progressiva) ist ein Erbleiden mit langsam fort- starke Verkalkungen der Weichteile in der Umgebung des
schreitender Verknöcherung der quergestreiften Hüftgelenks (Pfeile) mit wolkiger Umschattung bei einem
Muskulatur, beginnend in der Rückenmuskulatur 8jährigen nach Schädelhirntrauma
mit Ausbreitung über den ganzen Körper. Die Pro-
gnose ist infaust. Wenn die Beweglichkeit wesentlich beeinträch-
Am häufigsten ist die Myositis ossificans cir- tigt ist: operative Entfernung der Verknöcherun-
cumscripta. Die örtlich begrenzten Verknöche- gen.
rungen im Muskel entstehen nach ausgedehnten
Quetschungen und Zerreißungen von Muskelge- Prophylaxe. Periartikuläre Ossifikationen bei
webe nach Gelenkoperationen. Auch nach Quer- Totalendoprothesen vermeidet man durch:
schnittslähmungen, apoplektischen Insulten und ▬ Atraumatisches Operieren
Rückenmarkserkrankungen kann es bei entspre- ▬ Gabe nichtsteroidaler Antirheumatika wie z.B.
chender Disposition zu Weichteilverkalkungen Diclofenac, Indometacin
und -verknöcherungen kommen. ▬ Ausgiebige intraoperative Wundspülung
Lokalisierte Verknöcherungen finden sich auch (Lavage)
in den Adduktoren bei Reitern durch vermehrte ▬ Perioperative Röntgenbestrahlung.
Beanspruchung (Reiterknochen) und bei Soldaten
(früher) im M. deltoideus und M. pectoralis (sog. Ischämische Muskelkontraktur
Exerzierknochen). Auch nach der Implantation (Volkmann1-Kontraktur)
von Totalendoprothesen an der Hüfte werden pe-
riartikuläre Ossifikationen beobachtet, besonders Definition
wenn intraoperativ die Weichteilgewebe stark trau- Narbige Schrumpfung der Unterarmmuskeln
matisiert werden. Der Kalziumstoffwechsel ist bei infolge mangelnder Blut- und Nervenversorgung
allen Formen der Myositis ossificans normal. Eine der Muskulatur nach suprakondylärer Oberarm-
überdosierte Kalziumtherapie führt auch nicht zu fraktur.
heterotopen Ossifikationen.

Klinik. Bewegungseinschränkung und Schmerzen Ätiopathogenese. Nach suprakondylärem Über-


im betroffenen Abschnitt. Die Verknöcherungen streckungsbruch des Humerus im Kindesalter wer-
können auch völlig asymptomatisch sein. den Gefäße und Nerven über dem distalen Ende
des oberen Fragments komprimiert. Betroffen sind
Röntgen. Wolkige oder streifenförmige Verschat- vorwiegend die Fingerbeuger, Pronatoren und klei-
tungen im Muskelverlauf (⊡ Abb. 4.26). nen Handmuskeln. Es kommt zur Klauenhand. Die
Pathogenese ist durch Gefäßspasmen, venöse Stase
Therapie. Während der Entstehung ist der Muskel und Sympathikusreaktionen gekennzeichnet.
weitgehend zu schonen. Übungen, Massagen und
Mobilisationen fördern die Ossifikation.
1 Richard v. Volkmann, Chirurg, Halle (1830–1889)
108 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Klinik. Schwellung und blaurote Verfärbung des schließlich nach kranial fort und ergreift auch
Unterarms. Die Finger sind gefühllos und unbe- den Schultergürtel und v.a. die Atemmuskula-
weglich. Der Radialispuls fehlt. Die anfänglich tur, deshalb ist die Prognose infaust. Klinisch
starken Schmerzen lassen infolge Absterbens der imponiert eine Hyperlordosierung mit Becken-
Nerven nach. Im weiteren Verlauf bildet sich eine kippung nach vorn. Typisch ist die Pseudohy-
narbige Schrumpfung aus mit einer typischen pertrophie der Waden durch Einlagerung von
Zwangshaltung der Hand und trophischen Haut- Fett in das geschwundene Muskelgewebe. Im
veränderungen am Unterarm. weiteren Verlauf entwickeln sich Kontrakturen
4 (Hüft- und Kniebeuger, Spitzfüße).
Therapie und Prophylaxe. Schonende Reposition
von Frakturen in diesem Bereich, keine zirkulär Therapie. Die Behandlung ist symptomatisch und
einschnürenden Verbände. Sobald klinische Zei- besteht in der Kontrakturbehandlung bzw. Prophy-
chen einer ischämischen Muskelkontraktur auf- laxe sowie der Apparate- und Korsettversorgung
treten, sofort Spalten der Verbände evtl. Muskel- beim Beckengürteltyp, um die Geh- und Stehfähig-
faszienspaltung. keit wenigstens vorübergehend zu erhalten.
Falls die Kontraktur schon eingetreten ist,
Krankengymnastik, evtl. Sehnenverlängerungen Rhabdomyom, Rhabdomyosarkom
und Arthrolyse. Das Rhabdomyom ist ein gutartiger, das Rhabdo-
myosarkom ein bösartiger, von der quergestreif-
Progressive Muskeldystrophie ten Muskulatur ausgehender Weichteiltumor. Das
(Dystrophia musculorum progressiva) Rhabdomyosarkom tritt im Kindes- und Erwach-
senenalter auf. Bevorzugte Metastasierung in Lun-
Definition ge und Lymphknoten. Die Behandlung ist chirur-
Zerfall der quergestreiften Skelettmuskulatur auf- gisch mit adjuvanter Chemotherapie.
grund einer erblichen Stoffwechselstörung.
Polymyalgia rheumatica
Entzündlich-rheumatische Muskelerkrankung des
Ätiopathogenese. Die Kreatinphosphokinase älteren Menschen mit symmetrischem Befall der
(CPK) im Serum ist erhöht. Es kommt zum partiel- Schultergürtel- und Beckenmuskeln. Blutsenkung
len Schwund der Muskelfasern mit Einlagerungen stark erhöht. Begleitend findet sich eine Arteriitis
von Fett in das Interstitium. Das vermehrte Fett- temporalis. Therapie mit Kortison.
und Bindegewebe anstelle der Muskeln führt zur
sog. Pseudohypertrophie.
4.5.1 Sehnen- und Sehnenscheiden-
Klinik. Nach den klinischen Erscheinungsformen erkrankungen
unterscheidet man 2 Typen:
– Die Schultergürtelform beginnt nach der Pu-
bertät und zeigt eine zunehmende Schwäche Wichtig
der Schultergürtelmuskulatur. Es sind zunächst Bestimmte Sehnen des Organismus, wie z.B. Achil-
die Schulterblattrückzieher betroffen. Die les- und Bizepssehne, zeigen degenerative Verän-
Schulterblätter stehen flügelartig ab. Unterarm derungen infolge Alterung und reißen bei starker
und Hände werden nicht befallen. Die Krank- mechanischer Beanspruchung spontan.
heit schreitet meistens nur langsam vorwärts.
Der Verlauf ist i. allg. gutartig.
– Die Beckengürtelform beginnt im 2. Lebens- Die Änderung der Reißfestigkeit ist allein Folge
jahr und führt zunächst zu einer zunehmen- der Degeneration. Als Zusatzimpuls genügen dann
den Schwäche der Glutäalmuskeln, Kniebeuger normale Bewegungsabläufe des täglichen Lebens,
und -strecker sowie Wadenmuskeln, schreitet wie z.B. Treppensteigen, um einen Spontanriss der
4.5 · Erkrankungen der Muskeln, Sehnen und Schleimbeutel
109 4

Achillessehne, oder Anheben eines schweren Ge- Ätiopathogenese. Exogene Faktoren durch lokale
genstands, um einen Spontanriss der Bizepssehne Spitzenbelastungen bei Fehlstatik oder -beanspru-
entstehen zu lassen. chung sowie Disposition solcher Insertionstendo-
pathien spielen ursächlich eine Rolle. Histologisch
Achillessehnenruptur findet sich ein interstitielles Ödem mit degenera-
(s. S. 266) tiver Verfettung, Auffaserung und Zerreißung der
sehnigen Partien mit knöchernen Reaktionen als
Sehnenknoten und spornartige Ausziehungen.
Sehnenscheidenstenosen (Tendovaginitis
stenosans, schnellender Finger) Klinik. Druck- und Belastungsschmerz im betrof-
Diese treten bevorzugt an der Hand und hier wie- fenen Sehnengebiet. Verstärkung der Schmerzen
derum an den Fingerbeugern in Höhe der Grund- bei Beanspruchung der Muskeln, die an der Sehne
gelenke auf. Die Ätiologie ist noch nicht geklärt. ziehen. Die Muskulatur ist oftmals verhärtet und
Das Endgelenk lässt sich nicht aktiv strecken, druckempfindlich wegen der ständigen schmerz-
Schmerzen fehlen. In Höhe des Gelenks tastet man haften Anspannung. Weiterhin kann der Muskel
in der Sehne der Flexoren einen kleinen derben verkürzt bzw. abgeschwächt sein.
Knoten, der sich proximal des stenotischen Seh- Im einzelnen unterscheiden wir:
nenscheidensegments befindet. Beim »Schnellen« ▬ Obere Extremität:
passiert die Sehne das stenotisch verdickte Seh- – Epicondylitis lateralis humeri (s. S. 206): Ten-
nenscheidensegment mit einem Ruck. Bei größerer nisellenbogen mit Reizerscheinungen am
Enge lässt sich das Hindernis nur noch passiv und Epicondylus lateralis humeri durch patho-
dann unter Schmerzen überwinden. Die Therapie logische Zugwirkung der Unterarmstrecker,
besteht in der operativen Erweiterung der vereng- besonders des M. extensor carpi radialis.
ten Sehnenscheide mit ovalärer Exzision. – Styloiditis radii: Umschriebener Druck-
schmerz über dem Processus styloideus
Sehnenscheidenentzündungen radii, dort wo der M. brachioradialis ansetzt.
(Tenosynovitis, Tendovaginitis) – Styloiditis ulnae: Druckschmerz über dem
Bei der chronischen Polyarthritis kommt es häu- Griffelfortsatz der Elle, wird häufig mit der
fig auch zu Sehnenscheidenentzündungen. Das Sehnenscheidenentzündung verwechselt.
aggressive rheumatische Granulationsgewebe zer- – Supraspinatussehnensyndrom: Druck- und
stört die Sehnen, so dass spontane Sehnenrupturen Bewegungsschmerz am Ansatz der Supraspi-
vorkommen. Die sackartige Ausweitung der Seh- natussehne in der Rotatorenmanschette in
nenscheide führt zu erheblichen lokalen Schwel- der Gegend des Tuberculum majus humeri
lungen. Bevorzugte Lokalisation: Die Strecksehnen dicht unterhalb des Akromions. Das Krank-
der Finger. Breitet sich das aggressive rheumatische heitsbild gehört zur Periarthropathia hume-
Granulationsgewebe am Handgelenk aus, so kön- roscapularis (s. S. 192).
nen Einengungen der Nerven entstehen, wie z.B. ▬ Untere Extremität:
die Einengung des N. medianus im Karpaltunnel: – Gracilissyndrom: Umschriebener Druck-
Es entsteht das Karpaltunnelsyndrom. schmerz der Adduktorenansätze, besonders
des M. gracilis am Sitz- und Schambein (Pec-
Insertionstendopathien (Myotendinosen) ten ossis pubis). Verstärkung der Schmerzen
bei passiver Hüftabduktion.
Definition – Patellaspitzensyndrom: Ansatz des Lig. pa-
Schmerzhafte Reizzustände am Übergang tellae an der Kniescheibe. Verstärkung der
Muskel – Sehne – Knochen, wo Sehnenfasern Schmerzen bei anhaltender Kniebeugung.
direkt in den Knochen einstrahlen. – Achillodynie: Ansatzzone der Achillessehne
am Fersenbein, oft auch flächenhaft über der
110 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

ganzen Achillessehne als Reizzustand des sigkeit, Synovialis = Gelenkinnenhaut) klar, serös und
Achillessehnengleitgewebes. leicht fadenziehend.
– Trochanter major femoris, Glutäusansätze. Grundsätzliches zu Rheuma, Tuberkulose und Ar-
throse sollte man aus der Pathologie immer parat haben,
Therapie der Insertionstendopathien. Ursächli- weil jedes Gelenk mehr oder weniger davon betroffen
che Behandlung durch Ausschaltung des patholo- ist. Mehr zur Arthrose in den einzelnen Kapiteln.
gischen Bewegungsablaufs, z.B. Verbesserung der
Technik beim Tennisellenbogen, Absatzerhöhung 4.6.1 Bakterielle Arthritis
4 bei Achillessehnenbeschwerden usw., lokale Wär-
me und Elektrotherapie (z.B. Ultraschall mit α- Unspezifische bakterielle Arthritis
Chymocutan), lokale Injektionen. Extrakorporale (Arthritis purulenta, eitrige Arthritis)
Stoßwellenbehandlung (s. S. 63). Ätiopathogenese. Die Bakterien können entwe-
Krankengymnastisch zunächst Schmerzlinde- der auf dem Blutweg (hämatogen) oder direkt in
rung durch Eispackungen, Entspannungstechni- ein Gelenk gelangen. Die direkte Gelenkinfektion
ken, Querdehnung der Muskeln, tiefe Querfriktio- erfolgt entweder durch Verletzungen, Operationen
nen. Kausale Therapie mit selektivem Training der oder, was am häufigsten vorkommt, durch intraar-
betroffenen Muskeln. tikuläre Injektion bzw. diagnostische Gelenkpunk-
Falls keine Besserung eintritt: Desinsertion der tion. Am häufigsten sind Hüft- und Kniegelenk be-
Sehnen als Entlastungsoperation. troffen.

Wichtig
4.5.2 Schleimbeutelerkrankungen Die Entzündung betrifft zuerst die Synovialmem-
bran und greift dann auf Knorpel und Knochen
Schleimbeutel dienen als Verschiebeschicht zwi- über.
schen Knochen und Weichgewebe. Oft findet sich
ein Hohlraum, der mit einer Synovialflüssigkeit ge-
füllt ist. Im Rahmen mechanischer oder entzünd- Es kommt zum eitrigen Erguss (Gelenkempyem)
licher Reizungen (Rheuma, Gicht, Tbc) kommt es mit Synovialitis (Gelenkinnenhautentzündung).
zur Bursitis. Typische Bursitiden: Die periartikulären Weichteile schwellen entzünd-
▬ Bursitis olecrani lich an (Kapselphlegmone). Granulationsgewebe
▬ Bursitis subacromialis als sog. Pannus zerstört die Gelenkflächen. Schließ-
▬ Bursitis subdeltoidea lich versteift das Gelenk als fibröse bzw. ossäre An-
▬ Bursitis trochanterica kylose.
▬ Bursitis praepatellaris.
Klinik. Das betroffene Gelenk schwillt einige Tage
nach dem Eingriff an (Erguss), ist überwärmt und
4.6 Erkrankungen der Gelenke bereitet starke Schmerzen. Es entstehen Entzün-
dungserscheinungen mit Fieber, Leukozytose und
>> Einleitung Blutsenkungsbeschleunigung. Die Diagnose wird
Vor dem Einstieg in die Gelenkkrankheiten empfiehlt es durch Gelenkpunktion und Erregerbestimmung
sich, noch einmal kurz im Anatomiebuch den typischen gestellt.
Gelenkaufbau und die Knorpelhistologie (für das Ver-
ständnis der Arthrose) zu wiederholen. Röntgen. Der Gelenkspalt ist durch partielle Auflö-
Die Gelenkpunktion stellt eine zentrale diagnosti- sung des Knorpels verschmälert, die gelenknahen
sche Maßnahme bei Gelenkerkrankungen dar: blutiges, Abschnitte der Knochen zeigen eine vermehrte
trübes oder eitriges Punktat bringt schon die halbe Dia- Strahlendurchlässigkeit (Osteolyse). Die Weichteile
gnose, insbesondere im Zusammenhang mit der Mikro- in der Umgebung des Gelenks (Gelenkkapsel) zei-
biologie. Normalerweise ist die Synovia (= Gelenkflüs- gen durch entzündliche Schwellung eine Verdich-
4.6 · Erkrankungen der Gelenke
111 4

tung und einen verbreiterten Schatten ( Übersicht tion in der Synovialmembran) oder sekundär durch
4.22). Einbruch eines Knochenherds in das Gelenk.
Vom primären Absiedlungsort greift die Tuber-
kulose allmählich auf das gesamte Gelenk über. Es
Übersicht 4.22. Röntgenbefund kommt zur spezifischen Synovitis, Kapsulitis und
bei Arthritis bzw. Arthrose Osteomyelitis. Dementsprechend entwickeln sich
Arthritis: Arthrose: Ergüsse, Kapselverdickungen und Knorpelzerstö-
Gelenkspalt Gelenkspalt rungen.
verschmälert verschmälert
Gelenkkapsel verdickt Gelenkkapsel verdickt Wichtig
gelenknaher Knochen gelenknaher Knochen Die Gelenktuberkulose geht i. d. R. mit einer tota-
verdünnt verdichtet len Gelenkzerstörung einher und führt schließlich
zur fibrösen oder ossären Ankylose (Gelenkver-
steifung).
Therapie. Nach der Resistenzbestimmung gibt
man hochdosiert Antibiotika. Während man frü-
her das betroffene Gelenk im Gipsverband ruhig- Bei primärer Absiedlung in der Synovialmembran
stellte, versucht man heute möglichst schon im und rechtzeitiger Therapie kann das Gelenk noch
Frühstadium der Infektion, mit arthroskopischer weitgehend erhalten bleiben.
Spülung und Synovektomie die bakterielle Arthri-
tis aktiv anzugehen. Anschließend wird das Gelenk Klinik. Starke Kapselverdickung, Bewegungsein-
nicht mehr ruhiggestellt, sondern auf einer Motor- schränkung bei relativ geringgradigen Beschwer-
bewegungsschiene unter kontinuierlicher passi- den charakterisieren das Krankheitsbild. Am
ver Bewegung gelagert. Die Prognose ist meistens Kniegelenk kommt es zur starken Auftreibung mit
ungünstig. Durch die entzündliche Knorpelzer- Atrophie der Oberschenkelmuskulatur, so dass
störung entsteht später eine Arthrosis deformans. das Kniegelenk selbst einen tumorartigen Aspekt
Vielfach versteift das Gelenk durch bindegewebige erhält (Tumor albus). Alle Laborwerte deuten auf
Verklebungen (fibröse Ankylose) oder durch knö- eine chronische Entzündung. Die Diagnostik er-
cherne Verbindung der Gelenkenden (knöcherne folgt schließlich durch Gelenkpunktion und Pro-
Ankylose). Deswegen muss man bei fortgeschrit- beexzision mit Identifikation des spezifischen Gra-
tenen Arthritiden auf die richtige Funktionsmit- nulationsgewebes.
telstellung der Gelenke im Gips achten.
Wichtig
Arthritis bei Lyme-Borreliose. Zecken übertragen Neben einer Gelenkspaltverschmälerung durch
den Erreger Borrelia burgdorferi während der war- Einschmelzung des Knorpels findet sich bei der
men Jahreszeit v. a. in waldreichen Gebieten. Gelenktuberkulose im Röntgenbild eine deutliche
4 Wochen nach Erregerübertragung treten Mü- Atrophie des Knochens in der Gelenkumgebung
digkeit, Fieber und Hautrötungen auf. Begleitend (⊡ Abb. 4.27).
sind Gelenkschmerzen. Im Spätstadium kommt es
zur erosiven Arthritis einer oder mehrerer Gelen-
ke. Diagnostik durch den Elisa-Test mit Nachweis Differenzialdiagnose. Die unspezifische Arthritis
spezifischer IgG- bzw. IgM-Antikörper in den Kör- geht mit akuten Erkrankungserscheinungen ein-
perflüssigkeiten. Therapie durch Antibiotika. Im her, wie hohem Fieber, starker Schmerzhaftigkeit
Spätstadium eventuell Synovektomie. und den akut entzündlichen Lokalsymptomen. Bei
rheumatischen Gelenkentzündungen sind noch
Spezifische Arthritis (Tuberkulose) andere Gelenke betroffen.
Ätiopathogenese. Gelenktuberkulosen entwickeln
sich entweder primär (durch Angehen einer Infek-
112 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Klinik. Fieber, Schwellung großer Gelenke, Gelenk-


schmerzen, Karditis, Chorea minor, Erythema anu-
lare, subkutane Rheumaknoten.

Labor. BKS hoch, Antistreptolysin-O-Titer erhöht,


Rheumafaktor negativ.

Therapie. Penicillin auch nur zur Prophylaxe über


4 mehrere Jahre, Antirheumatika. Kontrakturpro-
phylaxe durch richtige Lagerung.

Prognose. Was das Herz anbetrifft: schlecht; was


die Gelenke anbetrifft: gut, keine Destruktionen.
⊡ Abb. 4.27. Koxitis (Pfeil). Gelenkspaltverschmälerung Chronischer Gelenkrheumatismus des
gegenüber der gesunden Seite. Atrophie der Knochen mit
vermehrter Strahlendurchlässigkeit
Jugendlichen (juvenile chronische Arthritis)

Definition
Therapie. Operative Ausräumung (z.B. Synovekto- Mono-, Oligo- oder Polyarthritis beim Jugend-
mie), Tuberkulostatika. lichen ohne oder mit systemischer Beteiligung
Neben der WS (Spondylitis tuberculosa) gelten (Milz, Leber, Myokard) als M. Still1.
als Hauptmanifestationsorte der Skeletttuberkulose
das Hüftgelenk (Coxitis tuberculosa), Kniegelenk,
Kreuz-Darmbein-Fugen und die Fingerknochen Klinik. Meist ist ein großes Gelenk betroffen, gele-
als Spina ventosa (sog. Winddorn). Die speziellen gentlich HWS- und Kiefergelenke. Es gibt Verlaufs-
Erscheinungsformen werden in den entsprechen- formen mit alleinigem Gelenkbefall ohne Beteili-
den Extremitätenkapiteln beschrieben. gung innerer Organe. Hier ist die Prognose quoad
vitam günstiger. Allerdings gibt es Amyloidosen.
4.6.2 Rheumatische Allgemeinreaktionen mit Fieber und Hautver-
Gelenkentzündungen änderungen können vorkommen. Myokard und
Augenbeteiligung (Iridocyclitis) sind möglich.
Akuter Gelenkrheumatismus
(rheumatisches Fieber, akute Polyarthritis) Labor. BKS hoch, Rheumafaktor negativ, Anti-
streptolysin-O-Titer negativ, C-reaktives Protein
Definition positiv.
Allgemeinerkrankung mit Gelenkbeteiligung als
hyperergische Reaktion auf Toxine β-hämolysie- Therapie. Antirheumatika (Aspirin unter Serum-
render Streptokokken. spiegelkontrolle, Krankengymnastik, Kontraktur-
prophylaxe).

Ätiopathogenese. Nach Streptokokkeninfektion


kommt es zu Antigen-Antikörper-Reaktionen in
der Synovialmembran der Gelenke, aber auch in
Myokard, Endokard, Skelettmuskel, Blutgefäßen,
Lunge und Haut. Betroffen sind Kinder und Ju-
gendliche.

1 Sir George Still, Pädiater, London (1868–1941)


4.6 · Erkrankungen der Gelenke
113 4
Chronischer Gelenkrheumatismus
(des Erwachsenen) (rheumatische Arthritis, Übersicht 4.23. Rheumazeichen an der
progressiv chronische Polyarthritis: pcP, Hand
chronische Polyarthritis, rheumatoide ▬ Schmerzhafter Händedruck und Morgen-
Arthritis: RA) steife
▬ Ulnardeviation der Hand und der Finger-
Definition gelenke
Chronisch destruierende Entzündung ausgehend ▬ Symmetrischer Grund- und Mittelgelenk-
von den Gelenkinnenhäuten und Sehnenscheiden befall
durch immunologische autoaggressive Reaktio- ▬ Knopfloch- und Schwanenhalsdeformität
nen. ▬ Handgelenkbeugekontraktur und Caput-
ulnae-Vorwölbung
▬ Schnellender Finger und Karpaltunnel-
Ätiopathogenese. Der Entstehung der Erkrankung syndrom
liegt ein multifaktorielles Geschehen zugrunde. ▬ Rechtwinkeldeformität des Daumens im
Disposition und immunologische Reaktionen mit Grund- und Endgelenk
Autoaggression spielen eine Rolle.
Am Anfang und im Mittelpunkt der chroni-
schen Polyarthritis steht eine Entzündung der Die Finger zeigen durch Überstreckung der Mittel-
Gelenkinnenhäute (Synovitis). Diese greift im wei- gelenke und Beugung der Endgelenke die typische
teren Verlauf mit pannösem Granulationsgewebe Schwanenhalsdeformität oder eine sog. Knopf-
auch auf die Gelenkflächen über, so dass schließ- lochdeformität durch knopflochartigen Defekt
lich eine Panarthritis entsteht. Es kommt zu einer der Fingerstrecksehne über dem beugekontrakten
allmählichen Zerstörung des Gelenkknorpels, der Mittelgelenk (⊡ Abb. 4.28, 4.29). Eine Knopfloch-
Gelenkkapsel und des subchondralen Knochens. deformität kann auch traumatischen Ursprungs
Eine Proliferation des Synovialgewebes im Zu- sein. Im weiteren Verlauf kommt es zur vollstän-
sammenhang mit einer osteolytischen Destruktion digen Destruktion der Gelenke mit Auflösung des
mehrerer Gelenke spricht für eine rheumatische Gelenkknorpels bis zum Knochen, der dann frei-
Arthritis. liegt. Das aggressive Granulationsgewebe zerstört
Es gibt ein uncharakteristisches Prodromal- und überdehnt den Kapsel-Band-Apparat, so dass
stadium mit entzündlichen Schwellungen der Subluxationen und Luxationen mit Ausbildung ei-
kleinen Gelenke von Hand und Fuß, insbesondere nes Schlottergelenks entstehen. Die Gelenke kön-
der Grund- und Mittelgelenke der Finger. Charak- nen auch fibrös einsteifen (ankylosieren). An den
teristisch ist der symmetrische Befall. Im weiteren Sehnenscheiden kommt es zu entsprechenden Ver-
Verlauf ergreift die Erkrankung auch die großen änderungen (sog. Tenosynovitis) mit Schwellung,
Gelenke und deren mittelbare Umgebung. Die Ge- Ausbreitung eines destruierenden Granulations-
lenkkapseln schrumpfen, die Muskeln atrophie- gewebes, das auch die Sehnen angreift, diese rup-
ren, an der Hand kommt es zur charakteristischen turieren schließlich. Die Fingerstrecksehnen sind
Ulnarabweichung im Handgelenk und in den Fin- häufig betroffen, man sieht dann eine sackartige
gergelenken. Weiter kommt es zur streckseitigen Vorwölbung unter der Haut an der Streckseite des
Prominenz des distalen Endes der Ulna als sog. Ca- Handgelenks. Die Tenosynovitis führt auch zum
put-ulnae-Syndrom. Mitunter entwickelt sich eine schnellenden Finger (s. S. 211).
Handgelenkbeugekontraktur ( Übersicht 4.23). Der chronische Gelenkrheumatismus des Er-
wachsenen befällt häufig die Halswirbelsäule mit
Entzündungen der Wirbelgelenke, auch der Kopf-
gelenke mit Subluxation im Atlanto-Axialgelenk,
Zerstörung des Ligamentum transversum sowie
des Dens axis.
114 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

⊡ Abb. 4.28. 4. Finger rechts und 5. Finger


links sind im Grundgelenk überstreckt
und im Mittelgelenk gebeugt (Knopfloch-
deformität). Der Mittelfinger rechts ist im
Mittelgelenk überstreckt und im Endgelenk
gebeugt (Schwanenhalsdeformität). Die
Grundgelenke 2 und 3 sind geschwollen.
Knopflochdeformität im Daumengrund-
gelenk mit sekundärer Überstreckung im
Daumenendgelenk (90°/90° Deformität)
4

⊡ Abb. 4.29. a Knopflochdeformität,


b Schwanenhalsdeformität

Wichtig ▬ Gelenkschwellung mindestens drei Gelen-


Die Halswirbelsäule ist die fünfte Extremität des ke mehr als 6 Wochen
Rheumatikers. ▬ Symmetrische Fingergrund- und -mittelge-
lenkschwellung mehr als 6 Wochen
▬ Rheumaknoten
Klinik. Die Erkrankung kann sich in jedem Lebens- ▬ Rheumafaktoren
alter entwickeln. Frauen sind häufiger betroffen ▬ Gelenknahe Osteoporose und Erosionen
( Übersicht 4.24).

Am Anfang steht Morgensteifigkeit der kleinen


Übersicht 4.24. Diagnose des chronischen Gelenke, besonders der Fingergrundgelenke mit
Gelenkrheumatismus Schwellungsgefühlen, im weiteren Verlauf dann
Wenigstens drei der folgenden Symptome auch mit tatsächlichen Schwellungen. Der Hände-
müssen vorhanden sein: druck wird schmerzhaft durch die Synovialitis der
▬ Morgensteifigkeit mindestens eine Stunde Metacarpophalangealgelenke. Charakteristisch ist
mehr als 6 Wochen der symmetrische Befall. Die typischen, äußerlich
sichtbaren pathologisch-anatomischen Verände-
4.6 · Erkrankungen der Gelenke
115 4

rungen treten erst mehrere Monate bis Jahre nach


den ersten Erscheinungen auf: Die Gelenkschwel-
lungen nehmen zu. Es kommt zur Überwärmung
mit heftigen Gelenkschmerzen, Gelenksteifen und
schließlich Verformungen der Gelenke durch Sub-
luxation und Luxationsstellung. Die durch Inakti-
vität eingetretene Muskelatrophie betont die Ge-
lenkschwellungen. An den Sehnenscheiden kommt
es zu ähnlichen Veränderungen mit Schwellungen,
schmerzhafter Bewegungseinschränkung und
schließlich Sehnenruptur. Bevorzugt sind die
Streckseiten des Handgelenks. Gelenk- und Seh-
nenscheidenschwellungen können auch zu sekun-
dären Nervenkompressionen führen, wie z.B. beim
Karpaltunnelsyndrom (s. S. 211). Durch Zerstörung
der distalen radioulnaren Bandverbindungen wird
das Ellenköpfchen dorsalseitig prominent und ⊡ Abb. 4.30. Handübersichtsaufnahme eines Erwachsenen.
schmerzt (Caput-ulnae-Syndrom). Starke Destruktionen der Handwurzelknochen, Handgelenk
Die Laborbefunde entsprechen meistens den nicht mehr sichtbar. Subluxation der Fingergrundgelenke
und des Daumengrundgelenks. Ulnardeviation in den Finger-
klinischen Erscheinungen: Im Krankheitsschub grundgelenken: chronische Polyarthritis. Radialabduktion im
ist die Blutsenkung stark beschleunigt, außerdem Handgelenk und Ulnarabduktion in den Fingergrundgelen-
finden sich entzündliche Veränderungen in der Se- ken lassen das Bild einer Handskoliose entstehen.
rumelektrophorese sowie eine Verminderung des
Serumeisens, Leukozytose und Anämie. Bei der Radiologische Stadieneinteilung beim Rheu-
seropositiven Polyarthritis sind die Rheumafak- ma:
toren positiv (Latexfixationstest, Waaler-Rose-Test 1. Gelenknahe Weichteilschwellung und Osteopo-
u.a.). rose, leichte Gelenkspaltverschmälerung.
Die Rheumafaktoren sind Immunglobuline der 2. Eindeutige Frühveränderung mit Erosionen
IgM-Klasse, die gegen veränderte IgG-Immunglo- und Gelenkspaltverschmälerung.
buline gerichtet sind. Sie werden durch Latex bzw. 3. Mittelgradig destruierende Veränderung mit
Waaler-Rose-Test nachgewiesen und sind später Erosionen und Gelenkspaltverschmälerung.
bei 80% der Erkrankten positiv. 4. Schwere destruierende Veränderung mit Erosi-
Bei der seronegativen Polyarthritis finden sich onen und Glenkspaltverschmälerung und De-
neben einer leicht beschleunigten Blutsenkung formierung der Gewicht tragenden Gelenke.
normale Laborbefunde. 5. Massive Deformierung der betroffenen Ge-
lenke.
Röntgen. Bei anfangs leichter Gelenkschwellung
sieht man im Röntgenbild noch nichts, allenfalls Therapie. Im akuten Schub gibt man Analgetika
eine Verdichtung und Verbreiterung des periarti- und Antiphlogistika als symptomatische Therapie
kulären Weichteilschattens. Im weiteren Verlauf (Salizylate, Indometazin u.a.).
kommt es durch Knorpelauflösung zur Verschmä- Die Krankengymnastik/Physiotherapie rich-
lerung des Gelenkspalts sowie zu einer Atrophie tet sich nach Beschwerden und Stadium. Zur
der am Gelenk beteiligten Knochen (gelenknahe Schmerzlinderung kann sowohl im akuten als auch
Knochenentkalkungen). Im Stadium der Destruk- im chronischen Stadium vorsichtig eine schmerz-
tion entstehen schließlich Knochendeformierun- lindernde Traktion anhaltend oder intermittierend
gen mit Usuren, subchondralen Zysten und Dislo- durchgeführt werden. Im Akutstadium: Lagerung
kation der Gelenkpartner (Subluxation, Luxation) in Gebrauchsstellung zur Kontrakturprophylaxe.
(⊡ Abb. 4.30). Je nach Akzeptanz Eis- oder Wärmepackungen.
116 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Im chronischen Stadium: Aktive bzw. passive Be- ⚉ Fallbeispiel


wegungsübungen bis zur Schmerzgrenze, Bewe- Elisabeth Schwanauer, 73, leidet seit 10 Jahren an
gungsbad. Dazu Erlernen und Erhalten komplexer Rheuma. Es begann mit Schmerzen und Schwellun-
Bewegungsabläufe, wie z.B. Treppensteigen, An- gen an den Hand- und Fingergelenken, die anfäng-
und Auskleiden, Ergotherapie usw. zur Erhaltung lich nur morgens auftraten. Händeschütteln tat weh.
der Eigenständigkeit. Jetzt sucht sie den Rheumachirurgen auf, weil sich ihre
Zusätzlich ist eine regelrechte Lagerung des Finger zunehmend verkrümmen und sie nicht mehr
Patienten mit Gelenkposition in Funktionsmit- richtig zugreifen kann.
4 telstellung erforderlich, um Hüft- und Kniebeu- Befund. Der mangelnde Faustschluss wird durch eine
gekontrakturen sowie Spitzfußkontrakturen zu Überstreckung in den Mittelgelenken und Beugung in
vermeiden. den Endgelenken der Finger verursacht.
Die semikausale Basistherapie mit Goldsal- Diagnose. Typische Fingerdeformität (s. Text) bei rheu-
zen, Penicillamin, Zytostatika, MTX u.ä. ist noch matischer Arthritis .
in der wissenschaftlichen Diskussion und wegen Therapie. Zunächst Kontrakturbehandlung durch
der zahlreichen gravierenden Nebenwirkungen Krankengymnastik und Ergotherapie. Wenn die Be-
(Niere, Leber, Blutbild) mit Vorsicht anzuwenden. hinderung zunimmt, Mittelgelenkersatz durch Endo-
Die konservative orthopädische Behandlung be- prothese evtl. Arthrodese der Endgelenke.
steht neben der funktionsgerechten Lagerung in
Krankengymnastik, Beschäftigungstherapie (für Differenzialdiagnose der monoartikulären
die funktionsgestörten Hände) sowie Verordnung Arthropathie
von orthopädischen Apparaten und Schuhen bei Gelenkdistorsion: Adäquates Trauma, Verlet-
Gelenkdeformierungen und Instabilitäten. zungszeichen, normale Blutwerte, Röntgenbild
unauffällig.
Wichtig Rheumatische Arthritis: Entzündungszeichen
Operativ kommt im Frühstadium eine Entfernung mit Schwellung, Überwärmung, schmerzhafte Be-
der entzündlich erkrankten Gelenkinnenhaut in wegungseinschränkung, beschleunigte BSG, evtl.
Frage: weitere Laborwertveränderungen, familiäre Dis-
Frühsynovektomie position (früher schon einmal das gleiche oder an-
▬ an den Fingergrundgelenken, dere Gelenk in ähnlicher Weise betroffen; Punktat
▬ an(m) Knie-, serös bis leicht trübe).
▬ obere Sprung-, Bakterielle Entzündung: Starke Gelenkschwel-
▬ Schulter-, lung und Schmerzen, Fieber, Punktat trübe, starke
▬ Ellenbogen und BSG-Beschleunigung, Leukozytose.
▬ Handgelenk. Aktivierte Arthrose: Belastungsabhängige
Schmerzen, arthrotische Gelenkdeformierungen
im Röntgenbild, Labor negativ, Punktat serös.
Mit diesem Eingriff wird der primäre Manifestati- Gicht: Starker Befall des periartikulären Weich-
onsort der rheumatischen Entzündungen, die Syn- teilgewebes, Harnsäure erhöht, Harnsäurekristalle
ovialmembran, entfernt. Dementsprechend gibt es im Punktat.
auch Tenosynovektomien an den Sehnenscheiden. Pseudogicht: Röntgenologisch Verkalkungen
Im Stadium der Gelenkdestruktionen kommen im Knorpel und in den Menisken durch Pyrophos-
nur noch Gelenkversteifungen (Arthrodesen), In- phatkristallablagerungen.
terpositionsplastiken mit Zwischenlagerung von Begleitarthritis bei Hepatitis, Röteln, Mumps,
Faszien und Fettgewebe sowie Gelenkersatzopera- Windpocken, Scharlach, Typhus, Tuberkulose,
tionen in Frage. Grippe, M. Crohn, Colitis ulcerosa, Yersinien-En-
teritis.
4.6 · Erkrankungen der Gelenke
117 4
4.6.3 Sonstige Formen der abakteri- kozytose) und v.a. Schmerzen. Der Gelenker-
ellen Gelenkentzündung und guss ist serös und enthält oft Harnsäurekristal-
Arthropathien le, die sich im Punktat histologisch nachweisen
lassen. Der akute Gichtanfall gehört neben der
Gicht (Arthritis urica, Uratgicht) eitrigen Arthritis zu den stärksten Schmerzzu-
ständen am Gelenk. Beginn meistens nachts
Definition oder frühmorgens.
Reizerscheinungen im Gelenk sowie im periartiku- ▬ Interkritische Phase: Symptomfreies Intervall
lären Gewebe durch Urateinlagerungen. zwischen 2 Gichtanfällen. Die pathologisch-
anatomischen Veränderungen schreiten fort,
ohne dass wesentliche klinische Erscheinungen
Ätiopathogenese. Der primären Gicht liegt eine bestehen.
erbliche Stoffwechselstörung mit einer Erhöhung ▬ Chronische Gicht: Nach längerem Bestehen
der Harnsäurekonzentration im Serum zugrunde. kommt es zu Gewebeumwandlungen in der
Sie kommt fast ausschließlich bei Männern vor. Umgebung der Uratkristalle mit Entwicklung
Die sekundäre Gicht beruht auf einem Überan- von Gichttophi als Verdickungen des Knorpels
gebot an Purinen oder auf einer Niereninsuffizienz z. B. auch am Ohr.
mit mangelnder Ausscheidung. Auslöser ist häufig Die Diagnose ist gesichert, wenn von folgenden
eine üppige Mahlzeit verbunden mit Alkohol. Es 4 Kriterien mindestens 2 vorhanden sind:
kommt zu Uratablagerungen im bradytrophen Ge- ▬ Typischer Gelenkschmerz
webe des Knorpels, Knochens, der Gelenkkapseln, ▬ Hyperurikämie
Bänder und Sehnen. Hauptmanifestationsort ist ▬ Tophi
die Umgebung des Großzehengrundgelenks. Den ▬ Nachweis von Harnsäurekristallen im Gewebe
Gichtanfall im Großzehengrundgelenk bezeichnet oder in der Gelenkflüssigkeit.
man nach Hippokrates als Podagra. Weitere Mani-
festationen: Daumengrundgelenk, Fingergelenke, Röntgen. Nach längerem Bestehen bilden sich
Knie- und Handwurzelgelenke ( Übersicht 4.25). rundliche, scharf begrenzte osteolytische Defekte
in Gelenknähe des Knochens.

Übersicht 4.25. Bevorzugte Gichtorte Wichtig


▬ Großzehengrundgelenk Die Harnsäurekristalle sind röntgenologisch nicht
▬ Handwurzel sichtbar.
▬ Kniegelenk
▬ Daumengrundgelenk
▬ Oberes Sprunggelenk Therapie. Dauerbehandlung mit purinarmer Diät,
▬ Fingergelenke Allopurinol 200–400 mg täglich, im akuten Gicht-
anfall Antiphlogistika (Indometazin) und Kolchi-
zin alle 1–2 h 1 mg.
Klinik. Man unterscheidet 4 verschiedene Erschei-
nungsformen: Pyrophosphatgicht
▬ Asymptomatische Hyperurikämie: Latentes (Pseudogicht, Chondrokalzinose)
Stadium ohne klinische Erscheinungen. Die
Erkrankung wird zufällig entdeckt. Definition
▬ Akuter Gichtanfall: Antwort der Synovialmem- Gelenkreizung durch Einlagerung von Pyrophos-
bran auf das Ausfällen von Uratkristallen im phatkristallen.
Gelenkinnenraum. Es kommt zu einer starken
Gelenkreaktion mit erheblicher Schwellung,
Ergussbildung mit Entzündungszeichen (Leu-
118 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Ätiopathogenese. Die aus dem Intermediärstoff- Arthritis psoriatica


wechsel stammenden Pyrophosphate sammeln
sich im Gelenk und im Knorpel. Betroffen sind Wichtig
große Gelenke, meist das Kniegelenk. Im Rahmen der Psoriasis (Schuppenflechte) kann
es auch zum Gelenkbefall kommen, und zwar
Klinik. Akuter Gelenkschmerz, der allerdings nicht sowohl vor als auch nach Auftreten der Hauter-
so stark ist wie beim Gichtanfall. Häufig sind meh- scheinungen.
rere Gelenke gleichzeitig betroffen. Nachweis der
4 Pyrophosphatkristalle im Gelenkpunktat sichert
die Diagnose. Bei Fingerbefall sind entweder die DIP-Gelenke
(distale Interphalangealgelenke) als Transversal-
Wichtig typ oder alle Fingergelenke als Axialtyp betroffen
Das abgelagerte Pyrophosphat ist im Röntgenbild – und zwar symmetrisch. Letztere heißen auch we-
sichtbar (Meniskusknorpeldarstellung). gen ihres Gesamtbefalls »Wurstfinger« (geeignet
für MC-Fragen). Die Erscheinungen sind ähnlich
wie bei der rheumatischen Arthritis, nur können
Therapie. Symptomatisch mit Antiphlogistika. hier primär auch große Gelenke befallen sein. Die
Behandlung ist symptomatisch.
Arthritis bei Morbus Reiter1
Arthritis bei Morbus Bechterew
Definition Beim Morbus Bechterew (Spondylarthritis ancy-
Mit Konjunktivitis und Urethritis einhergehende lopoetica) kann es neben den Veränderungen an
Mono- oder Oligoarthritis der großen Gelenke aus der WS auch zu Entzündungen der großen Gelenke
dem rheumatischen Formenkreis. und Kreuzdarmbeinfugen kommen.

Wichtig
Ätiopathogenese. Es handelt sich um eine rheu- Manchmal ist eine Monarthritis, im Knie-, Hüft-
matische Entzündung ähnlich wie bei der chroni- oder Sprunggelenk oder ein Fersenschmerz das
schen Polyarthritis, jedoch mit anderer klinischer erste Symptom eines Morbus Bechterew.
Manifestation. Häufig steht am Anfang eine Ure-
thritis als Initialinfektion.
Die Gelenkerscheinungen entsprechen patholo-
Klinik. Die seltene Erkrankung trifft hauptsächlich gisch, anatomisch und klinisch denen der chro-
Männer zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Es nischen Polyarthritis. Diagnosesicherung erfolgt
erkranken vorwiegend die großen Gelenke der durch genaue klinische Untersuchung (WS-Beweg-
unteren Extremitäten und die Kreuzdarmbeinge- lichkeit, Atembreite) sowie durch eine Röntgenauf-
lenke. Dazu kommen Entzündungen der Achilles- nahme der Kreuzdarmbeinfugen.
sehne und der Plantarfaszie.
Häufig sind begleitende Konjunktivitis, Irido- Begleitarthritis (Rheumatoid, Arthritis
zyklitis und Urethritis. Die Rheumatests sind weit- fugax, transitorische Synovitis)
gehend negativ. Der Röntgenbefund entspricht den
Anfangsstadien der chronischen Polyarthritis. Definition

Definition. Flüchtige begleitende (sympathische)


Therapie. Antiphlogistika, im akuten Anfall und Arthritis bei und nach allgemeinen Infektions-
bei Iridozyklitis vorübergehend Steroide. krankheiten.

1 Hans Reiter, Hygieniker, Berlin (1881–1969)


4.6 · Erkrankungen der Gelenke
119 4

Ätiopathogenese. Durch allergisch hyperergische Blutergelenk


Reaktionen der Synovialmembran, wahrscheinlich Durch die häufigen Blutergüsse kommt es zu einer
aufgrund einer im Rahmen der Infektionskrank- fibrösen Verschwartung der Gelenkkapsel und der
heit vorkommenden pathologischen Zusammen- Gelenkinnenhaut. Die Hämatome werden teilweise
setzung der Gelenkflüssigkeit, kommt es zu einer organisiert und führen zu Verklebungen der Gelen-
unspezifischen Reaktion, die spontan wieder ab- kinnenhaut. So entstehen Fehlstellungen, Kontrak-
klingt. Wird beobachtet bei: turen und erhebliche Bewegungseinschränkungen,
▬ Hepatitis die oft nur operativ unter entsprechendem Blutge-
▬ Röteln rinnungsschutz beseitigt werden können.
▬ Mumps
▬ Windpocken Neuropathische Gelenkleiden
▬ Scharlach (z.B. Tabes dorsalis)
▬ Typhus Diese gehen mit starken Zerstörungen der gro-
▬ Tuberkulose ßen Gelenke an den unteren Extremitäten einher.
▬ Grippe Mangelnde Kontrolle bei der Gelenkführung und
▬ Morbus Crohn Schmerzlosigkeit sowie trophische Störungen
▬ Colitis ulcerosa durch das Ursprungsleiden in der betroffenen Ex-
▬ Enteritiden, z.B. Yersinien. tremität lassen erhebliche Form- und Funktions-
störungen entstehen. Die Instabilität der Gelenke,
Klinik. Schwellungen, Schmerzen, Bewegungsein- besonders am Kniegelenk, erfordert orthopädische
schränkungen betreffen vorwiegend die großen Apparate zur Schienung der Gelenke oder, bei älte-
Gelenke (Hüft-, Knie-, Sprunggelenk). Sie klingen ren Patienten, Endoprothesen.
spontan wieder ab. Kinder sind häufig betroffen.
4.6.4 Arthrosen (Arthrosis deformans,
Wichtig Gelenkverschleiß, degenerative
Die Begleitarthritis stellt die wichtigste DD beim
Gelenkerkrankungen)
Morbus Perthes dar.

Definition
Therapie. Vorübergehende Ruhigstellung und Degeneratives Gelenkleiden durch ein Missver-
Entlastung, sonst wegen der Spontanheilung keine hältnis zwischen Belastung und Belastbarkeit des
weitere Behandlung erforderlich. Gelenkknorpels.

Wichtig

Die Prognose der Begleitarthritis ist gut. Ätiopathogenese. Die Arthrose beruht ihrem We-
sen nach auf einer Überbeanspruchung. Die Ursa-
che kann auf der biologischen oder mechanischen
Enteropathische Spondylarthritis: Die Begleitar- Seite liegen. Man unterscheidet primäre (anlage-
thritis bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa bedingte) und sekundäre Arthrosen. Es kommt zu
sowie Morbus Whippel betrifft vorwiegend das Veränderungen der Knorpelgrundsubstanz mit
Knie-, Sprung- und Ellenbogengelenk. Außerdem Demaskierung von kollagenen Fasern. Die aus
kann es zum Befall der Kreuzdarmbeingelenke mit Knorpelusuren herausgelösten Knorpelpartikel
einer Sakroiliitis und der Wirbelgelenke wie beim (Detritus) gelangen in die Gelenkflüssigkeit und
Morbus Bechterew kommen. führen zu einer Detritussynovialitis mit Gelenk-
Mit der Behandlung der Darmerkrankung kapselreizung und sekundärem Knochenumbau.
bilden sich auch die Entzündungszeichen an den Die Ursache der primären Arthrosen ist noch
Gelenken zurück. nicht bekannt (deswegen auch idiopathisch).
120 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Bei den sekundären Arthrosen kennt man die Krankengymnastik/Physiotherapie. Ziel ist es, die
Ursache: In den meisten Fällen handelt es sich um Beweglichkeit des Gelenkes zu erhalten bzw. zu ver-
anlagebedingte oder erworbene Gelenkdeformitä- bessern. Verkürzte Muskeln müssen intensiv unter
ten, die über eine Fehlbelastung des Knorpels zur Entlastung der betroffenen Gelenkfläche gedehnt
Arthrosis deformans führen. werden. Das Gelenk selbst kann durch Traktion
entlastet werden oder durch manualtherapeutische
Wichtig Techniken mobilisiert werden.
Form- und Funktionsstörungen eines Gelenks Schmerzhaft verspannte Muskelstrukturen
4 oder dessen Umgebung, die zur Arthrose führen, werden durch Weichteiltechniken wie z.B. Frik-
nennt man präarthrotische Deformitäten. tionen bzw. Querdehnung behandelt. Wichtig ist,
dass durch intensive aktive und passive Bewegungs-
übungen das Bewegungsausmaß erhalten bleibt.
Dazu zählen z.B. Frakturen unter Gelenkbeteili- Ergänzend können Bewegungsübungen im Ther-
gung, Fehlbelastung bestimmter Knorpelteile bei malbad, Schulung von Alltagsbewegungen (z.B.
Achsenabweichungen der gelenknahen Knochen- Gang), Selbsthilfetraining durchgeführt werden.
abschnitte, Formveränderungen der Gelenkflächen Aufklärung und Verhaltenstraining zur Vermei-
oder der knöchernen Gelenkkörper nach Erkran- dung schmerzauslösender Haltungen erfolgt in der
kungen, z.B. Polyarthritis, aseptische Knochenne- Knie-, Schulter-, Rückenschule.
krose (Morbus Perthes).
Operation. In letzter Zeit hat die operative Be-
Klinik. Die Symptome sind durch einen schleichen- handlung der Arthrose große Bedeutung erlangt.
den Beginn und wechselnden Verlauf gekennzeich- Es werden durchgeführt: Synovektomien bei chro-
net. Die Beschwerden sind positions- und belas- nisch rezidivierenden Synovitiden mit Gelenker-
tungsabhängig. güssen, Umstellungsosteotomien zur Herstellung
normaler Achsenverhältnisse am arthrotisch de-
Wichtig formierten Gelenk, Gelenkresektionen mit Ersatz
Wegen des mechanischen und lokalen Charakters der zerstörten Gelenkflächen durch Endoprothe-
der Erkrankung kommen Allgemeinreaktionen, sen aus Kunststoff und Metall.
wie z.B. pathologische Laborwerte, erhöhte Tem-
peratur u.ä. nicht vor.
4.6.5 Polyarthrose

Hier handelt es sich um eine generalisierte Ar-


Die Prävention ist in erster Linie darauf ausgerich- throsis deformans vorwiegend der großen Gelen-
tet, präarthrotische Deformitäten zu beseitigen (X- ke, aber auch der kleinen Gelenke, aufgrund einer
und O-Bein-Korrekturen, Gelenkflächenbegradi- Minderwertigkeit des Gelenkknorpels. Es sind in
gungen, Stellung der Frakturfragmente), so dass erster Linie die statisch mehr beanspruchten Ge-
keine Inkongruenz der Gelenkflächen verbleibt. lenke der unteren Extremitäten betroffen (Hüft-,
Ferner gehört zur Prävention die Vermeidung von Knie- und Fußgelenke).
statisch-dynamischer Belastung, die zu weiterem
Knorpelabrieb führen könnte. Heberden1-Arthrose
(Arthrose der DIP-Gelenke)
Therapie. Eine kausale Therapie ist nicht bekannt. Form der Arthrose, die besonders bei Frauen in
Man kann nur symptomatisch behandeln, kon- der Menopause auftritt und mit knotenförmigen
servativ mit Packungen, Einreibungen, Wärmeap- Auftreibungen der Fingerendgelenke, verbunden
plikation, intraartikulären Injektionen; Kortison mit einer Arthrosis deformans der angrenzenden
beseitigt zwar den arthrotischen Reizzustand, hat
aber auf das eigentliche Leiden keinen Einfluss.
1 William Heberden, Allgemeinarzt, London (1710–1801)
4.7 · Neurogene Erkrankungen mit Auswirkungen auf die Bewegungsorgane
121 4

die Muskeln isometrisch, d.h. ohne die Extremität


zu bewegen, anzuspannen.

Wichtig

Ein Immobilisationsschaden betrifft sowohl


den Knochen (Demineralisation, Änderung der
Bruchfestigkeit) als auch den Muskel (Atrophie),
die Sehnen (Degeneration, Verminderung der
Rissfestigkeit) und den Knorpel (verminderte
Widerstandsfähigkeit, Arthrose).

4.7 Neurogene Erkrankungen


mit Auswirkungen auf die
Bewegungsorgane

>> Einleitung
Die Erkrankungen sind aus der Neurologie und Pädiatrie
⊡ Abb. 4.31. Deformierung der Endgelenke mit knötchen-
förmigen Vorwölbungen im Bereich der Finger 2 und 3:
bekannt. Wichtig sind die verschiedenen Kontrakturen
Heberden-Arthrose und ihre Behandlungsmöglichkeiten: Jedesmal Kran-
kengymnastik! Operationen, vorwiegend mit Verpflan-
zungen, Verlängerungen oder Durchschneidungen von
Sehnen, stehen erst an zweiter Stelle. Auch heute ist die
Gelenke einhergeht. Das harmlose Leiden bedarf Polio noch gefragt, weil immer wieder Erkrankungsfälle
keiner Behandlung (⊡ Abb. 4.31). auftreten und Patienten, die vor 1960 erkrankt sind, als
es noch keine Impfung gab, sich mit Folgeerscheinun-
Differenzialdiagnose. Beteiligung der DIP-Gelen- gen in dauernder orthopädischer Behandlung befin-
ke im Rahmen der Psoriasisarthritis. den.

4.6.6 Gelenkschädigung durch 4.7.1 Infantile Zerebralparese (ICP; spas-


Immobilisation und Inaktivität tische Kinderlähmung, frühkindlicher
Hirnschaden)
Gelenkknorpel, Gleitgewebe und Verschiebe-
schichten leben von der Bewegung, d.h. nur durch
regelmäßige Bewegung ist eine Durchsaftung die- Definition
ser Gewebe mit Gelenkflüssigkeit bzw. Lymphe ge- Störung des Muskeltonus und der Muskelkoordi-
währleistet. Immobilisation und Inaktivität min- nation durch Schädigung des zentralen Nerven-
dern den Gewebefluss und reduzieren die Diffusi- systems im Kindesalter.
onsvorgänge. Durch aktive Betätigung der Muskeln
wird außerdem die Blutzirkulation angeregt (sog.
Muskelpumpe). Ätiopathogenese. Sauerstoffmangel des kindli-
Die therapeutische Konsequenz besteht darin, chen Gehirns in der perinatalen Phase oder spä-
dass längere Immobilisationszeiten, wie etwa im ter im Rahmen entzündlicher oder traumatischer
Gipsverband, möglichst zu vermeiden sind. Auch Hirnschädigungen (Enzephalitis, Meningitis,
wenn die Immobilisation, z.B. bei Frakturen im Schädel-Hirn-Trauma). Es entstehen spastische
Gipsverband, erforderlich ist, kann der Patient Lähmungen der willkürlichen Bewegungen. Der
durch die Krankengymnastik angehalten werden, Muskeltonus ist entweder gesteigert oder abge-
122 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

schwächt. Durch Eigeninnervation kommt es zu


heftigen überschießenden Muskelkontraktionen Übersicht 4.26. ICP-Kontrakturen
mit bestimmten Bewegungsmustern (⊡ Abb. 4.32). ▬ Hüftbeugeadduktions-,
innenrotations-

Klinik. Bei Tonuserhöhung spürt man beim pas- ▬ Kniebeuge- ⎪
siven Durchbewegen der betroffenen Extremität ▬ Fußspitz- ⎬ -Kontraktur
einen stufenweise sich lösenden und wieder auftre-
tenden Widerstand (Zahnradphänomen). Meistens
▬ Ellenbogenbeuge-
▬ Unterarmpronations-

4 handelt es sich um einen Befall aller 4 Extremitä- ▬ Handgelenkbeuge- ⎭
ten (Tetraplegie; Hemiplegie: halbseitiger Befall:
Diplegie und Paraplegie; Befall beider Arme oder
beider Beine).
Durch die gestörte Koordination der Willkür- Übersicht 4.27. Orthopädiche Folgekrank-
bewegung und des Muskeltonus entstehen Hyper- heiten bei ICP
kinesien, Zwangsbewegungen. Das Überwiegen ▬ Skoliose
bestimmter Muskelgruppen (meist Beuger) führt ▬ Coxa valga
zu Kontrakturen der betroffenen Gelenke (Hüft- ▬ Hüftluxation
beugeadduktions-, Kniebeuge-, Spitzfuß-, Ellen- ▬ Spitzfuß
bogenbeuge- und Pronationskontraktur) ( Über- ▬ Klumpfuß
sicht 4.26). Bei längerem Bestehen kommt es zum
Schiefwachsen der Knochen (Coxa valga) sowie
Kapsel- und Sehnenschrumpfungen (Achillesseh- Folgende Reflexe sind nach dem 6. Monat nicht
nenverkürzung, Hüftluxation, Skoliose, Klumpfuß) mehr normal:
( Übersicht 4.27). ▬ Moro-Reflex. Kind in Rückenlage, kurzer Schlag
auf die Unterlage (Erschütterung): Kind streckt
Arme, bewegt Kopf.
▬ Asymmetrisch tonischer Nackenreflex (ATNR).
Kind in Rückenlage, Kopfdrehung: Armstre-
ckung auf der Gesichtsseite, Armbeugung auf
der anderen.
▬ Sprungbereitschaft fehlt. Wird das Kind mit
dem Gesicht nach unten einer Unterlage genä-
hert, streckt es die Arme zur Landung. Diese
Reaktion stellt sich bei geschädigten Kindern
nicht ein.

Je nachdem, welche Zentren im Nervensystem


geschädigt sind, entstehen:
▬ spastische Zustände mit vermehrtem Muskel-
tonus und Reflexsteigerung,
▬ hypotone Zustände mit abnormer Schlaffheit,
▬ Athetosen mit unkontrollierten bizarren
Zwangsbewegungen der Mimik und Extremi-
tätenmotorik,
▬ Ataxien mit Koordinationsstörungen, v.a. beim
⊡ Abb. 4.32. Infantile Zerebralparese mit Beuge-Adduktions- Gehen, Mischformen sind häufig.
Innenrotations-Kontraktur der linken Hüfte, Kniebeugekon-
traktur und Spitzfuß
4.7 · Neurogene Erkrankungen mit Auswirkungen auf die Bewegungsorgane
123 4

Diagnose. Verdachtsmomente für eine Zerebralpa- thesie, Verlust der Vasomotorik, Blasen- und Mast-
rese beim Säugling sind: Atem-, Saug- und Trink- darmlähmung. Später setzt dann eine Tonuserhö-
schwäche, Bewegungsarmut oder wurmförmige hung mit Spastik und Kontrakturen ein.
Bewegungen (Athetosen).
Die Diagnose wird erhärtet durch abnormes Therapie. Die Rehabilitation bei Querschnittsge-
Reflexverhalten, mangelhafte Kopfkontrolle, fest lähmten betrifft in erster Linie die Krankengym-
geschlossene Fäuste mit eingeschlagenem Dau- nastik mit Durchbewegen der gelähmten Gliedma-
men, allgemeine motorische Retardierung mit ver- ßen. Kontrakturprophylaxe durch korrekte Lage-
spätetem Sitzen, Stehen und Gehen. rung, Hautpflege zur Verhütung von Druckstellen.
Wichtig ist das Auftrainieren der funktionsfähigen
Therapie. In erster Linie konservativ. Sie besteht in Muskeln und Einüben kompensatorischer Bewe-
spezieller Krankengymnastik auf neurophysiolo- gungsabläufe, z.B. für die oberen Extremitäten.
gischer Basis, z.B.: Sind noch Muskeln funktionsfähig, z.B. bei tie-
▬ Krankengymnastik nach Vojta: Übungen aus fen thorakalen und lumbalen Querschnittslähmun-
vorgegebenen Ausgangsstellungen erleichtern gen, können die Betroffenen durch Apparate und
das Einüben bis dahin nicht gekonnter Bewe- Schienen zum Stehen und Gehen gebracht werden.
gungsabläufe durch Bahnung physiologischer Die Beine werden durch orthopädische Apparate
Bewegungsmuster. und Schienen soweit stabilisiert, dass sich die Pati-
▬ Krankengymnastik nach Bobath: Pathologi- enten fortbewegen können.
scher Tonus und abnorme Bewegungen wer-
den durch äußere Stimulation und Bahnung Wichtig
koordinierter Bewegungsabläufe abgebaut. Paraplegiker, die mit Schienenapparaten versorgt
Pathologische Reflexe werden gehemmt, Vo- sind, lernen den Stützengang unter krankengym-
raussetzungen für normale und koordinierte nastischer Anleitung. Bei ihnen kann der Aktions-
Bewegungsabläufe werden damit geschaffen. radius durch einen Rollstuhl erweitert werden.

Ergänzung der Krankengymnastik durch gezieltes


Spiel und durch Bastelaufgaben bei der Beschäf- Die operativen Eingriffe an den gelähmten Ex-
tigungstherapie. Kontrakturen werden durch La- tremitäten beschränken sich auf die Beseitigung
gerungen, aktive oder passive Bewegungsübungen etwaiger Kontrakturen.
und Schienen behandelt (s. oben). Weitere Mög-
lichkeiten sind: Quengel- und Umstellgipsverbän-
de und operative Maßnahmen, z.B. Sehnenverlän- 4.7.3 Spina bifida (Meningomyelozelen:
gerungen, Muskelverpflanzungen. Bei dem sehr MMC, dorsale Dysraphie,
häufigen Spasmus der Adduktoren durchtrennt Rhachischisis posterior)
man deren Sehnen in der Leiste oder deren Nerv
(N. obturatorius).
Definition
4.7.2 Querschnittslähmungen Angeborene Entwicklungsstörung als Spalt im
Wirbel und Rückenmark mit partieller oder totaler
Durch Ausfall der Innervation der Skelettmuskula- Querschnittslähmung.
tur kommt es zu schwerwiegenden Folgen: Funkti-
onsausfall, Kontrakturen, trophische Störungen.
Im akuten Schockstadium (Trauma, Blutung, Ätiopathogenese. Die Ursache liegt in einer
Tumor, Entzündung als Ursache) kommt es zu- Schädigung des Rumpforganisators während der
nächst zu einer schlaffen Lähmung. Bei kompletter Neurulation. Von der klinisch asymptomatischen
Querschnittslähmung liegen neben der Lähmung Störung des Bogenschlusses bei S1 (Spina bifida
zunächst folgende Symptome vor: Areflexie, Anäs- occulta) bis zur kompletten Rückenmarkfehlbil-
124 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

dung mit vollständiger Querschnittslähmung gibt schaltung nur auf ein entzündliches Ödem zurück-
es alle Übergänge. Am häufigsten ist ein inkom- zuführen ist. Die gelähmten Muskeln atrophieren
pletter Spalt mit lumbaler Lokalisation als MMC. und verlieren ihre Kontraktionsfähigkeit. Die Ant-
Dabei sind Meningen und Rückenmark betroffen. agonisten überwiegen, es entstehen Kontrakturen.
Sie quellen hernienartig aus der Bogenspalte her-
vor und müssen sofort nach der Geburt operiert Klinik. Die akute Erkrankung zeichnet sich durch
werden, weil sonst eine Meningitis eintritt. 4 Stadien aus:
▬ Prodromalstadium (präparalytisches Stadium):
4 Klinik. MMC im Lumbalbereich sind mit schlaf- Fieber, uncharakteristische Allgemeinerschei-
fen Lähmungen der Beine, des Beckenbodens, der nungen.
Sphinkteren der Blase und des Mastdarms sowie ▬ Paralytisches Stadium: Meningeale Reizzustän-
schweren Störungen der Sensibilität und Trophik de, Lähmungen, Muskelschmerzen, Tempera-
verbunden. turabfall.
Je nachdem, welche Muskeln gelähmt oder ▬ Reparationsstadium: Ödembedingte Lähmun-
erhalten sind, entstehen Hacken-, Klump-, Spitz-, gen bilden sich zurück (2 Jahre).
Schaukelfüße, Beugekontrakturen der Hüft- und ▬ Endstadium: Kontrakturen, Wachstumsstörun-
Kniegelenke. gen mit Extremitätenverkürzung, strukturelle
Bei vielen Kindern besteht gleichzeitig ein Hy- Skoliosen, Wackelgelenke (bes. Knie), Druckge-
drozephalus, der bei mangelnder Versorgung eben- schwüre exponierter Extremitätenabschnitte.
falls zentrale Lähmungen entstehen lassen kann.
Differenzialdiagnose. MMC, progressive Muskel-
Therapie. Krankengymnastik zur Aufschulung dystrophie.
der verbliebenen Muskeln steht im Vordergrund,
aktive und passive Bewegungsübungen, Lagerung Therapie. Nach Beendigung der Infektiosität der
und Kontrakturprophylaxe. Schienen und Appara- Erkrankung (6–8 Wochen) beginnt der ortho-
te dienen zur Stabilisierung der gelähmten Beine. pädische Teil der Behandlung. Lokalisation der
Mit Operationen kann man bereits entstandene bleibenden Lähmungen: Tibialis anterior (Spitz-
Kontrakturen beseitigen, z.B. fuß), Quadrizeps (Kniebeugekontraktur), Glutäen
▬ Achillessehnenverlängerung zur Beseitigung (Hohlkreuz, Beckenkippung nach vorn), Trizeps
einer Spitzfußkontraktur, und Deltoideus (Adduktionskontraktur im Schul-
▬ Kniebeugesehnenverlängerung bei Kniebeuge- tergelenk), Rumpfmuskellähmung mit Lähmungs-
kontraktur. skoliose, Genu recurvatum mit zunehmendem Wa-
ckelknie. Kontrakturprophylaxe durch die richtige
4.7.4 Poliomyelitis (spinale Lagerung. Für die Beurteilung der Lähmung ist die
Kinderlähmung, Poliomyelitis elektrische Untersuchung mit Bestimmung der
anterior acuta) Entartungsreaktion entscheidend.

Wichtig
Definition
Bei Restlähmungen sind häufig Operationen
Virusinfektion des Rückenmarks mit verbleiben- erforderlich, z.B. Sehnenverlängerungen beim
der schlaffer Lähmung verschiedener Muskel- Spitzfuß, Sehnenverpflanzungen durch Verei-
gruppen. nigung gelähmter und noch funktionstüchtiger
Muskeln, Arthrodesen (Gelenkversteifungen, z.B.
am Knie- oder Fußgelenk durch Ausfall der das
Ätiopathogenese. Die infektiöse Erkrankung der Gelenk stabilisierenden Muskeln als Alternative
Vorderhörner des Rückenmarks führt zur schlaf- zum orthopädischen Apparat).
fen Lähmung. Muskeln und Nerven werden wieder
funktionsfähig, wenn ihre vorübergehende Aus-
4.8 · Verletzungen der Bewegungsorgane und Folgen
125 4

Bei den Apparaten sollte eine Immobilisation des älteren Kindern kann es verletzungsbedingt zu
Gelenks vermieden werden. Man kann z.B. einen vorzeitigem Verschluss der Epiphysenfuge kom-
Bein-Schienen-Schellen-Apparat bei Quadrizeps- men mit resultierender Verkürzung oder (und)
parese so konstruieren, dass das Scharniergelenk Abweichung.
am Knie zum Stehen und Gehen festgestellt und Häufigste Ursache der verzögerten Knochen-
beim Sitzen beweglich gemacht werden kann. bruchheilung ist die mangelnde Ruhigstellung der
Da die Erkrankung meistens Kinder betrifft, Frakturfragmente. Weitere Ursachen sind Interpo-
kommt es auch zum Zurückbleiben des Wachs- sition von Weichteilen, mangelnde Durchblutung,
tums der betroffenen Extremität. Ein Beinlängen- Infektion.
ausgleich oder evtl. eine beinverlängernde Opera- Eine Pseudarthrose ist gekennzeichnet durch:
tion ist erforderlich. ▬ abnorme Beweglichkeit,
▬ Schmerzen,
▬ verminderte Belastbarkeit,
4.8 Verletzungen der ▬ im Röntgenbild Pseudarthrosespalt mit reakti-
Bewegungsorgane und Folgen ver Sklerosierung in der Umgebung.

>> Einleitung Hauptsächliche Fehlstellungen nach Ausheilung


Die orthopädische Traumatologie beschäftigt sich in eines Knochenbruchs sind:
erster Linie mit den Folgen nach Knochenbrüchen und ▬ Achsenabweichungen (X-, O-Bein),
Kapsel-Band-Verletzungen. Wichtige Verletzungen und ▬ Rekurvation,
Verletzungsfolgen sind in den speziellen Kapiteln auf- ▬ Antekurvation,
geführt. ▬ Rotationsfehler.
Die Akut-Traumatologie mit der Systematik von
Thorax-, Wirbelsäulen-, Abdomen- und Extremitäten- Solange die Fraktur noch nicht fest ist, erfolgt er-
verletzungen sollte aus einem Chirurgielehrbuch ge- neute Reposition. Fixierte Fehlstellungen können
lernt werden. nur durch Korrekturosteotomien beseitigt wer-
den.
4.8.1 Komplikationsmöglichkeiten und Epiphysenverletzungen führen zu Wachstums-
Spätfolgen bei Knochenbrüchen stillstand im betroffenen Abschnitt mit Achsen-
abweichung (X-, O-Bein) oder zum vermehrten
Posttraumatisches Ödem sowie Hämatome können Wachstum durch Hyperämie (Knochenverlänge-
zu Abschnürungen ganzer Extremitätenabschnitte rung).
mit Nekrobiose bzw. Nekrose führen. Lähmungen Im Kleinkindesalter bestehen Epi- und Apo-
können auftreten. Typisch ist z.B. die Lähmung des physen noch vielfach aus mechanisch weniger
N. peronaeus durch Gipsdruck am Wadenbein- belastbarem Knochen und führen bei Traumen zu
köpfchen. Prophylaxe durch Hochlagerung, Auf- Dislokationen, so z.B. an der Hüfte und am Ellen-
schneidung des Gipsverbandes bis zum Abklingen bogen. Man unterscheidet: Epiphysenfugenverlet-
des Ödems bzw. Hämatoms. zungen mit und ohne Fraktur der angrenzenden
Nach Frakturen kann es zur Verkürzung des Epiphyse bzw. Metaphyse. Die Einteilung erfolgt
Knochens durch Fehlstellung kommen. Bei unzu- nach Aitken (⊡ Abb. 4.33):
reichender Reposition und fehlender Extension ▬ Aitken 1: Epiphysenlösung allein oder mit me-
schieben sich die Knochenfragmente durch Mus- taphysärem Fragment. Wachstumsstörungen
kelzug aneinander vorbei. Häufig ist eine Rotati- sind nicht zu erwarten. Therapie: konservativ.
onsfehlstellung durch Überwiegen der Außenrota- ▬ Aitken 2: Epiphysenlösung mit epiphysärem
toren bei Frakturen der unteren Extremitäten. Fragment. Wachstumsstörungen sind zu er-
Zur Verlängerung kommt es bei vermehrter warten. Therapie: operative Reposition und
Extension und durch Reizung (Hyperämie) der Fixation.
Epiphysenfuge mit vermehrtem Wachstum. Bei
126 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

⊡ Abb. 4.33. Die Epiphysenfuge


trennt eine metaphysäre und eine
epiphysäre Hälfte. Die für das
Wachstum wichtige Proliferations-
Meta- zone liegt in der epiphysären Hälfte.
physe
In der gegen Scherkräfte anfälligen
Epiphysen- metaphysären Hälfte spielen sich
fuge die Epiphysenlösungen ab. Alle
Verletzungen der Epiphyse und epi-
physären Hälfte der Wachstumsfuge
4 Epiphyse
1a 1b 2 3 führen zu Wachstumsstörungen.
Die Einteilung der Epiphysenfugen-
normal Epiphyseolyse Epiphyseolyse Epiphyseolyse Fraktur
mit partiell mit durchkreuzt die verletzungen erfolgt nach Aitken.
Metaphysenkeil Epiphysenkeil Epiphysenfuge Es gibt noch eine Einteilung nach
mit Salter, bei der 1a und 1b je eine
Metaepiphysen- Gruppe bilden und die reine Epiphy-
fragment
senfugenstauchung als 5. Gruppe
Therapie konservativ operativ aufgenommen ist
(Reposition, Drahtfixation)

▬ Aitken 3: Die Fraktur geht durch Epi- und Meta- Unebenheiten der Gelenkflächen nach Frak-
physe. Wachstumsstörungen sind zu erwarten. turen (Stufen) führen zwangsläufig zu Verschlei-
Therapie: operative Reposition und Fixation. ßerscheinungen im Sinne der Arthrosis deformans.
Traumatische Gelenkkapselüberdehnungen und
Apophysenausrisse, meist nach Sportverletzungen, -risse können zu gewohnheitsmäßigen Luxationen
kommen vor an der Spina iliaca anterior, superior der betroffenen Gelenke führen (habituelle Luxa-
und inferior, z.B. durch plötzliche Maximalanspan- tion). Typisches Beispiel: habituelle Schulterluxa-
nung des M. rectus femoris, am Tuber ossis ischii tion.
und am Trochanter minor und brauchen nicht Ermüdungsbrüche und pathologische Frak-
operiert zu werden. Lediglich beim Ausriss der Tu- turen sowie Sehnenrupturen nach degenerativen
berositas tibiae muss wegen des Lig. patellae eine Vorschäden entstehen auch durch inadäquates
Refixation erfolgen. Trauma. Im Röntgenbild bzw. im histologischen
Die posttraumatische eitrige Knocheninfekti- Befund bei Sehnenrupturen erkennt man dann die
on muss konsequent mit operativer Ausräumung, Vorerkrankung.
Ruhigstellung und Antibiotika behandelt werden, Ermüdungsbrüche (Stressfrakturen) gibt es
sonst kommt es zu einer chronisch rezidivierenden im Metatarsale II und III als sog. Marschfraktur,
Osteomyelitis (Knochenmarkeiterung) mit Fistel- in der proximalen Tibiametaphyse, im Schenkel-
bildung, Pseudarthrose und Allgemeinerkrankung hals bei Coxa vara, seltener auch im Waden- und
(Amyloidose). Fersenbein. Das Knochenszintigramm ist zur
Bei Gelenkverletzungen können verschiedene Frühdiagnose geeignet, wenn man im Röntgenbild
Schädigungen entstehen: noch nichts sieht. Die Therapie besteht in Ruhig-
▬ Gelenkfrakturen, stellung.
▬ Kapselrisse, Der Ermüdungsbruch des Schenkelhalses muss
▬ Knorpelläsionen. sofort operativ versorgt werden weil der Hüft-Kopf
sonst abrutscht.
Bei Verletzungen der Gelenkinnenhaut und der Posttraumatische habituelle Luxationen gibt es
Gelenkkapsel kommt es zu einem blutigen Erguss am Knie-, Schulter-, Hüft- und Sprunggelenk.
(sanguinolent) mit Hämarthrose.
Gelenknahe Erkrankungen (Frakturen, Ent-
zündungen, Tumoren) führen zu einem sympathi-
schen serösen Erguss.
4.8 · Verletzungen der Bewegungsorgane und Folgen
127 4
4.8.2 Spätfolgen von Verletzungen der schnitts, charakterisiert durch lokale Durchblu-
Gelenkkapseln, Bänder und Sehnen tungsstörungen, Schmerzen und Funktionsein-
schränkung.
Nicht konsequent behandelte Verletzungen der
Gelenkkapseln, Bänder und Sehnen können zu
Dauerschäden führen. Wenn der rupturierte Kap- Ätiopathogenese. Ursache des Leidens ist eine
selbandapparat eines Gelenks nicht sofort operativ Reflexdystrophie auf neurovegetativer Basis. Das
versorgt bzw. konservativ im Gips ausreichend lan- Wesen der Erkrankung besteht in einer Zirkula-
ge ruhiggestellt wird, entsteht eine Minderung der tionsstörung mit anschließender Bildung von
Stabilität im betroffenen Gelenk. Beispiele: schrumpfendem Bindegewebe und nachfolgenden
▬ Wackelknie nach Kapselbandverletzungen, bleibenden Funktionsstörungen.
▬ Instabilität im oberen Sprunggelenk nach Dis-
torsionstrauma. Klinik. Voraussetzung für die Entwicklung eines
Sudeck-Syndroms ist eine individuelle Krankheits-
Die posttraumatische Instabilität kann so weit füh- disposition mit besonderer vegetativer und psychi-
ren, daß die Gelenke habituell luxieren. Beispiele: scher Labilität.
▬ habituelle Schulterluxation nach traumatischer
Ruptur der vorderen Kapsel, Wichtig
▬ habituelle Patellaluxation nach primär trauma- Betroffen sind nur Erwachsene, vorwiegend Frau-
tischer Patellaluxation. en zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr.

Die konservative Therapie posttraumatischer Ge-


lenkinstabilitäten besteht in der Aufschulung der Man unterscheidet ( Übersicht 4.28):
das Gelenk stabilisierenden Muskeln (am Knie-
gelenk z.B. der M. quadriceps) und ischiocrurale Stadium der akuten entzündlichen
Muskelgruppe. Wenn dies nicht gelingt, muss in Schwellung
Form von aufwendigen Kapselbandplastiken ope- Pathogenese. Hyperämie mit Stauung und kolla-
riert werden. teralem Ödem.

4.8.3 Morbus Sudeck (Sudeck1- Klinik. Im Vordergrund stehen Ruheschmerz,


Dystrophie, Algodystrophie) Schwellung, Funktionseinschränkung. Die Haut ist
rötlich, livide, teigig und überwärmt. Schon die ge-
ringsten Bewegungen verursachen starke Schmer-
Definition zen.
Nach äußerer Einwirkung auftretende reaktive
dystrophische Erkrankung eines Extremitätenab- Röntgen. Atrophie mit fleckig verwaschener Struk-
turaufhellung in unmittelbarer Gelenkumgebung.

Übersicht 4.28. Sudeck – Memo


Akut: Dystrophie: Atrophie:
Hyperämie, Ödem fleckige Atrophie Schrumpfung, Kontraktur
viel Schmerz Schmerz wenig Schmerz
Haut rötlich livide, warm Haut livide bis blass, kalt Haut blass, kalt
Haare unauffällig wenig Haare keine Haare

1 Paul Sudeck, Chirurg, Hamburg (1866–1945)


128 Kapitel 4 · Generelle Erkrankungen

Stadium der Dystrophie Differenzialdiagnose. Tuberkulose mit BSG-Erhö-


Pathogenese. Die Schwellung geht zurück. Auf- hung, Gelenkspalt im Röntgenbild verschmälert,
fallend ist jetzt eine starke Atrophie des Gewebes, Probeexzision.
insbesondere im Bereich der Umgebung der Kno- Inaktivitätsatrophie: keine fleckige Atrophie,
chen. keine schmerzhafte Einsteifung der Gelenke.

Klinik. Nicht mehr so starke Schmerzen, Steifigkeit Therapie. Stellatumblockaden, gefäßerweiternde


der Gelenke, deutliche Muskelatrophie, trophische Mittel, Kalzitonin, Beschäftigungstherapie.
4 Störung an den Nägeln, Behaarung geht zurück.
Die Haut ist livide bis blass, die Temperatur her- Wichtig
abgesetzt. Erst im 3. Stadium sind eingreifende Maßnahmen
zur Beseitigung der Kontrakturen angebracht:
Röntgen. Typische fleckige Atrophie größerer Gelenktechniken (Manuelle Therapie), aktive und
Knochenabschnitte. passive Bewegungsübungen.

Stadium der Atrophie


Pathogenese. Ein Endstadium der Umbauvorgän- Prophylaxe. Schonendes Vorgehen bei der Be-
ge ist erreicht. Knochen und Weichteile sind atro- handlung von Verletzungen, insbesondere bei der
phiert. Narbige Schrumpfung des Kapselbandap- Radiusfraktur, keine wiederholten Repositionsver-
parates, Kontrakturen. suche. Im Zweifelsfall operativ stabile Osteosynthe-
se anstreben. Frühzeitige Mobilisation mit aktiven
Klinik. Deutliche Bewegungseinschränkung aller Bewegungsübungen.
betroffenen Gelenke, Atrophie der Muskeln. Die
Haut ist verdünnt, blass, Behaarung fehlt. Es besteht Wichtig
kein Ödem mehr. Die von Sudeck vorgeschlagenen Stadien sind
auch heute noch gültig.
Röntgen. Erhebliche Knochenatrophie, die Korti-
kalis ist wie mit dem Bleistift gezeichnet.
Spezielle Orthopädie
5

5 Wirbelsäule

5.1 Grundlagen zur Orthopädie der Wirbelsäule – 133


5.1.1 Entwicklung – 133
5.1.2 Untersuchung – 134

5.2 Anlagebedingte Störungen – 135


5.2.1 Haltung – 135
5.2.2 Arkuäre (langbogige) Kyphosen – 136
5.2.3 Anguläre (kurzbogige) Kyphosen – 138
5.2.4 Skoliosen – 139
5.2.5 Fehlbildungen, Variationen und Verletzungen – 143

5.3 Entzündliche Wirbelsäulenerkrankungen – 149


5.3.1 Spondylitis ancylosans (Morbus Bechterew) – 149
5.3.2 Spondylitis tuberculosa – 151
5.3.3 Andere Spondylitiden – 154

5.4 Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen – 154


5.4.1 Definitionen, Epidemiologie – 154
5.4.2 Das Bewegungssegment – 155
5.4.3 Bandscheibendegeneration – Diskose – 155
5.4.4 Zervikalsyndrome – 157
5.4.5 Thorakalsyndrome – 162
5.4.6 Lumbalsyndrome – 163
5.4.7 Postoperative Beschwerden: Postdiskotomiesyndrom (PDS) – 171
5.4.8 Lumbale Wirbelkanalstenosen – 172
5.4.9 Kaudakompressionssyndrom – 173
5.4.10 Hüftlendenstrecksteife – 173

5.5 Tumoren an der Wirbelsäule – 174


5.6 Wirbelsäulenverletzungen – 174
5.6.1 Orthopädische Aspekte – 174
5.6.2 Spätfolgen nach Wirbelverletzungen – 174
5.6.3 Beschleunigungsverletzung der HWS (Schleudertrauma) – 175

5.7 Begutachtung – 176


5.1 · Grundlagen zur Orthopädie der Wirbelsäule
133 5
>> Einleitung Die Randleiste ist für verschiedene Erkrankungen
Die Wirbelsäule hat mit 20% den höchsten Fragenan- im Wachstumsalter bedeutungsvoll:
teil.
Die Häufigkeit ihrer Erkrankungen und die unmit- Wichtig
telbare Nachbarschaft zum zentralen Nervensystem Juvenile Kyphosen und Skoliosen entstehen durch
machen die Wirbelsäule zum bedeutendsten Organ der asymmetrische Kompression des Randleisten-
Orthopädie. Jeder zweite Patient beim Orthopäden hat anulus.
ein Wirbelsäulenproblem. Um die Ätiologie und Patho-
genese der Wirbelsäulenverkrümmungen und die de-
generativen Erkrankungen besser verstehen zu können, Der Wirbelkörper bleibt auf der komprimierten
ist eine Wiederholung der Entwicklungsgeschichte und Seite im Wachstum zurück, und es entstehen Keil-
Anatomie des Bewegungssegmentes zu empfehlen. wirbel. Beispiel: Ventralerniedrigung der Brust-
Bei den Wirbelsäulensyndromen gibt es Über- wirbel bei der Scheuermann-Erkrankung, Seit-
schneidungen mit der Neurologie. Dieser Abschnitt kantenerniedrigung der Wirbel bei der juvenilen
sollte auch dort noch einmal nachgelesen werden, al- idiopathischen Skoliose.
lein schon wegen der möglichen Differenzialdiagnosen Von hoher Bedeutung für die frühzeitige de-
und Distraktoren. generative WS-Erkrankung beim Menschen ist die
besondere Stoffwechselsituation des Bandschei-
bengewebes. Die Besonderheiten der Stoffaus-
5.1 Grundlagen zur Orthopädie tauschvorgänge im Zwischenwirbelabschnitt des
der Wirbelsäule erwachsenen Menschen bestehen darin, dass:
▬ keine Blutgefäße vorhanden sind,
5.1.1 Entwicklung ▬ die Ernährung allein durch Diffusion über
lange Wegstrecken und semipermeable Grenz-
In der Entwicklung der Zwischenwirbelabschnitte schichten erfolgen muss,
finden sich bereits erste Ansätze für die beim Men- ▬ die Bandscheiben anhaltenden Druckbelastun-
schen relativ früh einsetzenden degenerativen Ver- gen ausgesetzt sind.
änderungen. Als Vorläufer der WS entsteht bei den
Vertebraten ein zelliger Achsenstrang, der Chorda Unter diesen ungünstigen Bedingungen leiden in
dorsalis genannt wird. Dieser wird im Laufe der erster Linie die Bandscheibenzellen, das sind Fib-
Keimentwicklung schon frühzeitig durch knorpe- roblasten, Knorpel- und Chordazellen.
lige bzw. knöcherne WS-Bestandteile ersetzt. Wäh- Sie produzieren Grundsubstanz und Fasern
rend das Zentrum des Wirbelkörpers allmählich von minderer Qualität und Quantität, es kommt
verknöchert, entwickelt sich an der Wirbelkörper- frühzeitig zu Rissbildungen, Zermürbungserschei-
Bandscheiben-Grenze die Knorpelplatte mit ihrer nungen und Gefügelockerungen. Klinisch entste-
knorpeligen Randleiste, aus der später die knö- hen die WS-Syndrome.
cherne Randleiste hervorgeht.
Das Wachstum des Wirbelkörpers erfolgt von Röntgenanatomie des Wirbels
der Proliferationszone der Knorpelplatten her. An Der Wirbelkörper ist ein zylindrischer Knochen,
der markhöhlenwärts gerichteten Fläche der Knor- der von einer dünnen Kompaktalamelle umgeben
pelplatten ist eine typische Knorpelwachstums- und wird. Bei gerader Projektion stellt sich dieser Zylin-
Abbauzone ausgebildet, die erst um das 20. Lebens- der als ein Viereck dar. Bei nur geringer Schrägpro-
jahr verschwindet. In dem knorpeligen Randleis- jektion bilden sich aus den strichförmigen Deck-
tenring entstehen Knochenkerne, die sich um das und Bodenplatten Ovale. Bei korrekter Aufnahme-
12. Lebensjahr zum knöchernen Randleistenring technik weist die ovaläre Darstellung der Deck- und
verbinden. Von da ab beginnt die Verschmelzung Bodenplatten auf eine Achsenabweichung der WS
der knöchernen Randleiste mit dem Wirbelkörper. (z.B. Skoliose) hin (⊡ Abb. 5.1).
134 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.1 a–d. Röntgenanatomie


des Wirbels am Beispiel der LWS:
a anterior-posterior, b seitlich,
c schräg. Die Gelenkfortsätze se-
hen wie Hunde aus. d Bei Spondy-
lolyse entspricht das Hundehals-
band dem Spalt im Gelenkfortsatz

In der Röntgenübersichtsaufnahme erkennt teolysespalt projiziert sich dann so auf den Halsteil
man Tumoren oder Entzündungsherde in der der Hundefigur, als trüge der Hund ein Halsband.
Spongiosa des Wirbelkörpers erst dann, wenn sie
eine Größe von 10–15 mm überschreiten. Kleine- 5.1.2 Untersuchung
re Herde sind nur auf Schichtaufnahmen oder
im Szintigramm zu diagnostizieren. Im anterior- Die Untersuchung des Achsenorgans beginnt, wie
posterioren (a.-p.) Strahlengang (dorsoventral) auch bei den anderen Abschnitten des Bewegungs-
erkennt man neben dem Wirbelkörper auch Teile apparates, mit der Inspektion und setzt sich fort
des Bogens in ihrer Projektion. Die Dornfortsätze in der Palpation und Funktionsprüfung. Die In-
projizieren sich in der Mittellinie und die Bogen- spektion erfolgt zunächst durch die Betrachtung
abgänge als sog. Bogenwurzelovale jeweils seitlich von hinten. Man beurteilt Kopfhaltung, Schulter-
davon ab als längsovale Gebilde auf den Wirbeln. stellung, Abstehen der Schulterblätter, Form der
Projizieren sich die Dornfortsätze und Bogenwur- Taillendreiecke, Höhe der Darmbeinkämme. Bei
zelovale nach einer Seite verschoben, so liegt eine Seitverbiegungen der WS findet sich ein Schulter-
Drehung des Wirbels (Torsion) vor, was z.B. bei den blatthochstand, eine Asymmetrie der Taillendrei-
meisten Skoliosen der Fall ist. Im Seitbild projizie- ecke sowie eine asymmetrische Ausbildung der
ren sich Wirbelkörper und Bögen getrennt. Hier Schulter-Nacken- und Rückenstreckmuskeln.
lassen sich Einzelheiten der Wirbelstruktur besser Bei der Betrachtung von der Seite erkennt man
erkennen. Wirbelgelenke, Gelenkfortsätze und Fo- die physiologischen Krümmungen. Diese sind nor-
ramina intervertebralia projizieren sich am besten mal, abgeflacht oder verstärkt. Die Palpation richtet
im schrägen Strahlengang. An der LWS sehen die sich in erster Linie auf die Dornfortsätze und die
Gelenkfortsätze auf den Schrägbildern wie kleine oberflächlichen Muskelschichten. Umschriebener
Hunde aus. Ein wichtiges Krankheitsbild ist z.B. die Druck- und Klopfschmerz eines Dornfortsatzes
Spondylolyse und -listhesis bei der anlagebedingt weist auf Fraktur, Tumor oder Entzündung hin, die
ein Spalt im Gelenkfortsatz vorhanden ist. Der Os- diffuse Klopfschmerzhaftigkeit sämtlicher Dorn-

⊡ Abb. 5.2 a–c. Funktionsprü-


fung der HWS: a Vor- und Rück-
neigung, b Seitneigung,
c Drehung (Rotation)
5.2 · Anlagebedingte Störungen
135 5
⊡ Abb. 5.3 a–c. Funktionsprüfung
der BWS und LWS: a Vor- und
Rückneigung, b Seitneigung,
c Drehen (Rotation Schulter-
gürtel zum Becken)

Seitendifferenzen und deutliche Bewegungsein-


schränkungen, die dem Alter nicht entsprechen
(⊡ Abb. 5.2., 5.3., 5.4.). Bei Prüfung der Seitneigung
an der Hals- und Lendenwirbelsäule kann es zu
einem Entfaltungsknacken als Ausdruck des natür-
lichen passiven Gelenkspiels kommen.

5.2 Anlagebedingte Störungen

5.2.1 Haltung

Man versteht darunter das Gesamtbild des frei und


aufrecht stehenden Menschen. Es werden 4 Hal-
tungsformen unterschieden (⊡ Abb. 5.5).

Wichtig
⊡ Abb. 5.4. Schober- und Ott-Zeichen. Eine 30 cm lange
Messstrecke über der BWS (a) entfaltet sich bei der Rumpf- Die vier Haltungsformen sind Variationen der
beugung nach vorn (Ott-Zeichen). Ebenso verhält es sich an Norm und keineswegs pathologisch. Diese
der LWS (b und b1; Schober-Zeichen). Die Entfaltung ist wegen
Normabweichungen disponieren jedoch eher zu
der auszugleichenden Lordose etwas größer (4–6 cm)
Bandscheibenschäden und Rückenmuskelinsuffi-
zienzerscheinungen.
fortsätze zeigt generalisierte Knochenerkrankun-
gen, wie z.B. die Osteoporose, an.
Die Funktionsprüfung der HWS, BWS und LWS Haltungsstörungen der WS sind gekennzeichnet
richtet sich nach der Neutral-Null-Methode. Ent- durch:
scheidend sind nicht die absoluten Werte, sondern ▬ eine stärkere Rundung des Rückens,
136 Kapitel 5 · Wirbelsäule

Die Grundzüge der Therapie bei Haltungsschä-


den bestehen in erster Linie in einer aktiven kran-
kengymnastischen Übungsbehandlung zur Kräf-
tigung der Rumpfmuskulatur und der proximalen
Extremitätenmuskeln. Verkürzte Muskeln, wie z.B.
der M. pectoralis major beim Nachvornstehen der
Schultern, müssen gedehnt werden. Günstig sind
sportliche Betätigung und v.a. Rückenschwimmen.
Man kann mit diesen Behandlungen zwar keine
grundsätzliche Änderung der Rückenform errei-
5 chen, jedoch die Muskeln so weit kräftigen, dass
eventuelle Formabweichungen muskulär kompen-
siert werden.

5.2.2 Arkuäre (langbogige) Kyphosen

⊡ Abb. 5.5 a–d. Haltungsformen: a Normalrücken, b hohl-


runder Rücken (verstärkte Brustkyphose, verstärkte Lenden-
Eine Kyphose stellt die nach hinten (dorsal) kon-
lordose), c totaler Rundrücken (langgezogene verstärkte vexe Ausbiegung der WS dar. Sie ist im Bereich der
Brustkyphose), d Flachrücken (abgeflachte physiologische BWS physiologisch. Die WS ist beim Säugling nor-
Krümmungen) malerweise noch gerade.

▬ Nachvornstehen der Schultern, Wichtig


▬ Beckenkippung nach vorn, Erst mit dem aufrechten Gang bilden sich die
▬ Vorwölbung des Bauches bei schlaffen Bauch- physiologischen Krümmungen der WS in der
decken. Sagittalebene aus:
▬ Halslordose
Die Differenzierung der Haltungsschwäche vom ▬ Brustkyphose
Haltungsfehler bzw. Haltungsschaden erfolgt durch ▬ Lendenlordose
den Haltungstest nach Matthiaß1 (⊡ Abb. 5.6).

⊡ Abb. 5.6 a, b. Schema des Haltungstests nach


Matthiaß1: a Ausgangsposition, die für 30 s beibe-
halten werden muss, wenn man von leistungsfä-
higer Muskulatur sprechen kann. b Abkippen im
Verlauf der 30 s mit Abgleiten des Schultergürtels
nach vorn, Abkippen des Oberkörpers nach hinten
und Verdrehung des Beckens nach vorn als Aus-
druck der muskulären Leistungsinsuffizienz

1 Hans Matthiaß, Orthopäde, Münster (Zeitgen.)


5.2 · Anlagebedingte Störungen
137 5

Das Ausmaß der Kyphose ist vom Lebensalter ab-


hängig. Das volle Ausmaß der Brustkyphose ist mit Übersicht 5.1. Scheuermann-Trias
dem 6. Lebensjahr erreicht. ▬ Keilwirbel
Das Kleinkind nimmt beim Sitzen eine aus- ▬ Schmorl-Knötchen
gleichbare großbogige C-förmige Sitzkyphose ein; ▬ Fixierte Kyphose
bei der Rachitis ist diese Sitzkyphose verstärkt.
Scheitelpunkt ist der thorakolumbale Übergang
(Sitzbuckel). Als weitere Ursachen einer Sitzkypho- Die Veränderungen können auch an der oberen
se beim Säugling kommen in Frage: Bindegewebs- LWS zwischen L 1 und L 3 auftreten. Auch hier ent-
schwäche und Bewegungsarmut, die durch falsche stehen bogenförmige Eindellungen der Deck- und
Lagerung auf zu weicher Unterlage noch verstärkt Bodenplatten mit Schmorl-Impressionen sowie
werden. Als Endzustand resultiert später häufig ein einer Abflachung der LWS mit evtl. kyphotischer
Flachrücken. Ausbiegung. Lumbale und thorakolumbale For-
men gehen häufiger mit Schmerzen einher als die
Morbus Scheuermann1 (Adoleszentenky- thorakale. Die pathologisch-anatomischen Verän-
phose, juvenile Kyphose, Lehrlingsrücken) derungen sind mit Abschluss des Wachstums, d.h.
mit dem 16. oder 17. Lebensjahr abgeschlossen. Eine
Definition Verschlimmerung tritt danach nicht ein (⊡ Abb.
Wachstumsbedingte vermehrte Kyphose der 5.7, 5.8).
mittleren und unteren BWS.
Klinik. Nur etwa 20% der Jugendlichen haben im
floriden Stadium Rückenschmerzen, deswegen
Ätiopathogenese. An der unteren BWS zwischen wird die Erkrankung oft nicht erkannt. Schmerzen
Th 6 und Th 10 kommt es zu Wachstumsstörungen durch Rückenmuskelinsuffizienzerscheinungen
der Wirbel. Die Wirbel wachsen vorn langsamer treten erst beim Erwachsenen auf. Es kommt zur
als hinten. Es entstehen die typischen Keilwirbel. Überdehnung der Rückenmuskeln. Bei Menschen
Dazu kommen unregelmäßige Konturierungen der mit einem Zustand nach Scheuermann-Erkran-
Deck- und Bodenplatten mit umschriebenen Vor- kung treten gehäuft auch bandscheibenbedingte
wölbungen des Zwischenwirbelabschnitts (Ein- Beschwerden auf.
bruch von Bandscheibengewebe in die Wirbelkör-
perspongiosa) als sog. Schmorl-Knorpelknötchen. Wichtig
Die Erkrankung tritt während des Hauptwachs- Bei der Untersuchung des Scheuermann-Erkrank-
tums zwischen dem 8. und 13. Lebensjahr auf. Kna- ten findet sich eine fixierte, d.h. nicht ausgleichba-
ben sind häufiger betroffen. Endogene Faktoren re Kyphose, die man durch ventralen Durchhang
sind für das Auftreten maßgebend. Äußere Belas- im Vierfüßlerstand prüfen kann.
tung führt in der Wachstumsphase zu einer Ver-
schlimmerung. Da die keilförmige Deformierung
der Wirbel nicht immer ganz symmetrisch erfolgt, Die Beschwerden gehen v.a. von der Lendenwir-
kommt es häufig zu einer Skoliose, deswegen ist für belsäule aus. Bei vermehrter Brustkyphose entwi-
dieses Krankheitsbild die Bezeichnung Kyphosko- ckelt sich eine kompensatorische Hyperlordose der
liose in einigen Fällen angebracht. Im betroffenen LWS.
WS-Abschnitt sind die Bandscheibenräume ver-
schmälert ( Übersicht 5.1). Röntgen. Beweisend für die Scheuermann-Erkran-
kung sind die Röntgenveränderungen: Keilwirbel,
unregelmäßige Konturierung der Deck- und Bo-
1 Holger Scheuermann, Radiologe, Kopenhagen denplatten, Schmorl2-Knorpelknötchen, Verlän-
(1877–1960) gerung der betroffenen Wirbel im dorsoventralen
2 Christian Schmorl, Pathologe, Dresden (1861–1932) Durchmesser, verschmälerte Bandscheibenräume.
138 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.7 a, b. M. Scheuermann


(Adoleszentenkyphose). a Heran-
wachsender Junge mit verstärkter
Brustkyphose, tief eingesattelter
Lendenlordose (Hohlrundrücken).
Punktum maximum der Kyphose
im unteren BWS-Abschnitt. b Rönt-
genbild: Keilwirbel und Deckplatte-
nunregelmäßigkeiten

Die Veränderungen an der LWS beschränken sich tungssportler hatten in ihrer Jugend eine Scheuer-
i. allg. auf etwas größere Schmorl-Knorpelknötchen mann-Erkrankung.
sowie auf eine Achsenabweichung mit Abflachung
der LWS und evtl. leichter Kyphose. Weitere arkuäre Kyphosen
Gleichmäßige, vermehrte kyphotische Ausbiegun-
Therapie. Eine kausale Therapie mit Abflachung gen der BWS gibt es noch bei der Bechterew-Er-
der Kyphose ist nur während des Wachstums mög- krankung (s. Kap. 5.3.1), der Osteoporose sowie bei
lich. Zur Druckentlastung der ventralen Wachs- der Haltungsinsuffizienz bzw. beim Haltungsfehler.
tumsfugen am Wirbelkörper tragen bei: kypho- Letztere unterscheiden sich vom M. Scheuermann
seabflachende Übungen, Kräftigung der Rücken- durch das Röntgenbild.
muskulatur durch Krankengymnastik und, bei
stärkerer Kyphose, evtl. ein entlastendes Korsett 5.2.3 Anguläre (kurzbogige) Kyphosen
(vorübergehend). Bei schweren Verkrümmungen
kommt eine aufrichtende Operation mit Fusion in Im Gegensatz zu den obengenannten großbogi-
Frage. gen Kyphose handelt es sich hier um kurzbogige
Abwinkelungen der WS, die durch starke Ventral-
Prognose und Begutachtung. Die residuelle fi- erniedrigung eines oder zweier Wirbel hervor-
xierte Kyphose der BWS stellt im Verlauf keine gerufen wird. Als Ursache kommen in Betracht:
wesentliche Behinderung dar. Durch regelmäßige Wirbelkörperentzündungen (Spondylitis), Kom-
Gymnastik und Kräftigungsübungen sowie häu- pressionsfraktur eines Wirbels mit starker Vorder-
figes Schwimmen sollte die Muskulatur in einem kantenerniedrigung, Tumor und wachstumsbe-
guten Trainingszustand gehalten werden. Dann dingte Störungen, die auf einen Wirbel beschränkt
treten auch keine Schmerzen auf. Viele Hochleis- sind (Keilwirbel bei Missbildungen). Das klinische
5.2 · Anlagebedingte Störungen
139 5
5.2.4 Skoliosen

Definition

Unter Skoliose versteht man eine fixierte Seitver-


biegung der WS. Nichtfixierte Seitverbiegungen
heißen skoliotische Fehlhaltung (ischiatische Fehl-
haltung, Schmerzfehlhaltung).

Ätiopathogenese. Je nach Ursache der Skoliose


unterscheidet man verschiedene Formen:
▬ Myopathische Skoliosen. Werden verursacht
durch eine primäre Muskelerkrankung, wie z.B.
die progressive Muskeldystrophie.
▬ Neuropathische Skoliosen. Durch einseitige
Lähmung der Rumpfmuskulatur kommt es zur
Seitverbiegung, wie z.B. bei der Poliomyelitis,
Neurofibromatose, Zerebralparese, traumati-
schen inkompletten Lähmungen.
▬ Osteopathische Skoliosen. Werden verursacht
durch primäre Störung der Wirbelkörper-
symmetrie, wie z.B. bei angeborenen Fehlbil-
dungen, Wirbelkompressionsfrakturen, Wir-
belkörperentzündungen mit asymmetrischer
⊡ Abb. 5.8. Sog. lumbaler Scheuermann mit Deformierung
der Vorderoberkante von L1 und L2 durch juvenile Wachs-
Blockbildung. Die angeborenen Skoliosen sind
tumsstörungen im Randleistenbereich. Statt Lordose findet durch die Missbildung einzelner oder mehrerer
sich in diesem Abschnitt eine Kyphose, die zu Beschwerden Wirbel gekennzeichnet.
führen kann ▬ Idiopathische Skoliosen. Die Ursache ist noch
unbekannt. Vermutet wird eine zentralgesteu-
erte, asymmetrische Innervation der Rumpf-
Bild ist durch einen spitzwinkligen Buckel (Gib- muskulatur, d.h. die Schädigung liegt primär
bus) gekennzeichnet ( Übersicht 5.2). im Nerven-Muskel-Bereich. Sekundär treten
dann die Formstörungen der Wirbel durch
asymmetrisches Wachstum ein. Entsprechend
Übersicht 5.2. Ursachen von arkuären und gestaltet sich der Verlauf. Am Anfang stehen
angulären Kyphosen mehr oder weniger fixierte Seitverbiegungen,
Arkuäre Anguläre in der weiteren Entwicklung setzt dann auch
Kyphosen bei: Kyphosen bei: asymmetrisches Wachstum der Wirbelkör-
M. Scheuermann Spondylitis per durch einseitige Druckbelastung ein. Aus
M. Bechterew Kompressionsfraktur der zunächst funktionellen Störung wird eine
Altersosteoporose Tumor (pathologische strukturelle.
Fraktur)
Haltungsinsuffizienz Keilwirbel als Missbil- Wichtig
dung Etwa 90 % aller Skoliosen sind idiopathisch.
140 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.10. Die Vorwölbung der hin-


Sie entstehen während des Wachstums. Die Fixie- teren Thoraxhälfte auf der Konvexseite
rung im Bereich des Hauptbogens ist bei der idi- mit dem Rippenbuckel wird noch
opathischen Skoliose durch eine Verkürzung der deutlicher, wenn sich der Patient nach
Weichteile in der Konkavität bedingt. Durch die vorn beugt
Schädigung der Wachstumsfuge auf der Konkav-
seite bleiben die Wirbelkörper hier niedriger, wäh-
rend auf der Konvexseite das Wachstum ungestört
weitergeht. Die Bandscheibenräume verschmälern
sich konkavseitig und fibrosieren frühzeitig. Je
nach Lokalisation unterscheidet man thorakale,
5 thorakolumbale und lumbale Skoliosen. Die Pri-
märkrümmung – meist thorakal rechtskonvex – ist
immer mit einer sekundären kompensatorischen
Krümmung der darüber bzw. darunter liegenden
Wirbelabschnitte verbunden. Auf diese Weise ent-
stehen S-förmige, mitunter auch doppel-S-förmige
Skoliosen mit mehreren Krümmungsabschnitten. Lendenwulst durch stärkeres Hervortreten der lan-
Daneben gibt es auch C-förmige Totalskoliosen mit gen Rückenstreckmuskeln.
nur einem Bogen. Tripelskoliose ist eine Haupt- Die ventrale Thoraxwand verhält sich umge-
krümmung mit je einer Nebenkrümmung darüber kehrt wie die dorsale. Sie ist konkavseitig promi-
und darunter. nent und konvexseitig abgeflacht. Die Rippen lie-
Neben der Seitverbiegung findet sich immer gen bei einer ausgeprägten thorakalen Torsions-
auch eine mehr oder weniger ausgeprägte Verdre- skoliose konkavseitig eng nebeneinander und sind
hung der Wirbel. konvexseitig gespreizt. Die Thoraxdeformierung
führt zu einer Verkleinerung der Vitalkapazität mit
Wichtig einer Belastung des kleinen Kreislaufs. Atelektasen
Die Dornfortsätze drehen sich zur Konkavseite, entstehen auf der Konkavseite, emphysemartige
die Wirbelkörper zur Konvexseite. Aufblähungen auf der Konvexseite. Im weiteren
Verlauf kann sich ein Cor pulmonale einstellen.

Die Rippen treten dadurch auf der Konvexsei- Wichtig


te stärker hervor. Es entsteht der Rippenbuckel Im Röntgenbild einer Skoliose (⊡ Abb. 5.11, 5.12)
(⊡ Abb. 5.9, 5.10). Das Pendant an der LWS ist der erscheinen die Verkrümmungen stärker ausge-
prägt als bei der klinischen Untersuchung, weil die
Dornfortsätze torsionsbedingt zur Konkavseite
wandern.

Klinik. Die meisten Skoliosen bemerkt man wäh-


rend des präpubertären Wachstumsschubs. Auf-
fallend ist zunächst eine Asymmetrie des Schulter-
stands, des Beckens und schließlich die Seitverbie-
gung der Dornfortsatzreihe. Die Vorwölbung einer
hinteren Thoraxhälfte wird noch deutlicher, wenn
sich der Patient nach vorn beugt (s. ⊡ Abb. 5.10).
⊡ Abb. 5.9. Verformung des Thorax durch die Torsion der
Brustwirbel in der Hauptkrümmung. Die Dornfortsätze sind
Schmerzen sind selten. Die Kyphose der BWS ist
zur Konkavseite gedreht. Der Rippenbuckel findet sich auf der meist abgeflacht, deswegen ist der Begriff Kyphos-
Konvexseite koliose im Zusammenhang mit der Skoliose falsch.
5.2 · Anlagebedingte Störungen
141 5

⊡ Abb. 5.11. Thorakal rechts-, lumbal linkskonvexe Skoliose. ⊡ Abb. 5.12. Idiopathische Skoliose. Linkskonvexe Seitver-
Das linke Schulterblatt steht tiefer als das rechte. Die BWS ist biegung der WS mit dem Scheitel am Brustwirbel-Lenden-
nach rechts ausgebogen, die LWS nach links. Links springt die wirbel-Übergang. Leichte rechtskonvexe Gegenschwingung
Rückenstreckmuskulatur stärker hervor (Lendenwulst). Die oberhalb, Beckenschiefstand. Asymmetrische Konfiguration
Taillendreiecke sind asymmetrisch. Leichtes Überhängen des der beiden oberen Lendenwirbel
Rumpfs nach rechts

Man spricht von einer kompensierten Skoliose oberen und unteren Ende einer Krümmung fin-
mit statischem Gleichgewicht, wenn ein vom Ok- det sich der sog. Neutralwirbel, der keine keilför-
ziput gefälltes Lot (Bandmaß) auf die Kreuzbein- mige Deformierung mehr aufweist. Neutralwirbel
mitte fällt. Verläuft es deutlich daneben, so liegt haben parallelstehende Deck- und Bodenplatten.
eine nicht kompensierte Skoliose mit Überhang Man fällt das Lot auf die Parallelen dieser Deck-
vor. platten und misst im Schnittpunkt den Komple-
mentärwinkel. Leichte Skoliosen haben einen
Wichtig Skoliosewinkel unter 40°, mittelschwere 40–60°
Als Screening zur Frühdiagnose einer Skoliose im und schwere 60–80°. Die Winkelmessungen sind
Kindesalter ist die klinisch funktionelle Wirbelsäu- wichtig zur Bestimmung der Progredienz und des
lenuntersuchung am besten geeignet. therapeutischen Vorgehens (⊡ Abb. 5.13). Nach
Wachstumsabschluss nimmt der Skoliosewinkel
nur noch wenig zu.
Im Erwachsenenalter können Skoliosen durch In- Beim Röntgen ist weiterhin darauf zu achten,
suffizienzerscheinungen der überbeanspruchten inwieweit die Ringapophysen der Wirbelkörper
Muskeln Rückenschmerzen verursachen. Betroffen und die Darmbeinkammapophysen noch vorhan-
sind besonders Patienten mit Lumbalskoliosen. den sind und ob mit einem weiteren Wachstum
noch zu rechnen ist (Risser-Zeichen, ⊡ Abb. 5.14).
Röntgen. Das Ausmaß der Krümmung bestimmt Bendingaufnahmen (Biegeaufnahmen) sind a.-p.-
man mit der Winkelmessung durch Cobb. Am Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule bei Seitnei-
142 Kapitel 5 · Wirbelsäule

nastische Übungen zur Kräftigung der Rumpfmus-


kulatur.
Krankengymnastisch erfolgen Übungen im
Vierfüßlergang und -stand (sog. Klapp-Kriechen),
gezielte Übungen für die (überdehnte, geschwäch-
te) konvexseitige Muskulatur, kombiniert mit
Atemgymnastik nach Lehnert-Schroth oder mit
vorgegebenen Bewegungswiderständen (PNF)
durch den Krankengymnasten.

Wichtig
5
Bei skoliotischen Krümmungen über 20° müssen
die konkavseitigen Wachstumszonen der Wirbel-
körper entlastet werden, um weitere strukturelle
⊡ Abb. 5.13. Messung des Skoliosewinkels nach Cobb
Veränderungen zu vermeiden. Dazu dienen
unterschiedliche Korsetts (Milwaukee, Boston,
Chêneau)

Bei der Korsettversorgung muss auch unbedingt


krankengymnastisch behandelt werden. Zusätzlich
erfolgt eine Elektrostimulationsbehandlung der
geschwächten (konvexseitigen) Muskelgruppen
( Übersicht 5.3).

Bei Winkeln über 40° und bei starker Progredienz


während des Wachstums muss an eine operative
Behandlung gedacht werden, weil mit einer jähr-
lichen Zunahme des Skoliosewinkels von 1–2° zu
rechnen ist. Diese besteht zunächst in einer pas-
siven Korrektur durch Distraktion entweder mit
einem Umkrümmungsgips oder mit einer Dauer-
⊡ Abb. 5.14. 5 Stadien der Apophysenverschmelzung am
Darmbeinkamm (Risser1-Zeichen) als Hinweis für das noch zu
extension, anschließend in einer Versteifungs-
erwartende Wirbelsäulenwachstum. Bei I ist noch viel, bei V operation, unter Verwendung des Harrington2-Dis-
kein Wachstum mehr zu erwarten traktionsstabs oder anderer Metallimplantate. Die-
se sollen die erreichte Abflachung der Krümmung
und die Versteifung so lange aufrecht erhalten, bis
gung nach rechts und links, um bei Skoliosen das die eingesetzten Knochenspäne fest werden. Die
Ausmaß der Fixierung festzustellen. übrigen nichtversteiften WS-Abschnitte kompen-
sieren den Bewegungsverlust. Die Rumpfbeugung
Therapie. Die Behandlung richtet sich nach dem nach vorn erfolgt hauptsächlich aus dem Hüftge-
Alter des Patienten, nach dem Krümmungsgrad lenk (s. ⊡ Abb. 1.18, S. 23). Hauptziel der Operation
und dessen Progredienz. Wichtig ist eine Behand- in der Adoleszenz besteht darin, eine weitere Ver-
lung noch während des Wachstums. Bei leichten krümmung mit der Entwicklung eines deformier-
Verkrümmungen bis zu 20° reichen krankengym- ten Thorax aufzuhalten.

1 Joseph Risser, Chirurg, New York (1892–1981) 2 Paul Harrington, Chirurg, Houston (1911–1980)
5.2 · Anlagebedingte Störungen
143 5

Übersicht 5.3. Skolioseorthesen


Boston: Rundumkorsett mit Dreipunkt-Korrektursystem für Seitabweichung und Rotation
Chêneau: Rundumkorsett mit individuell eingearbeiteten Druckpolstern (Pelotten) zur Korrektur

Operationsverfahren bei Skoliose


Harrington (H): Distraktion mit einem Stab, der an den Wirbelbögen verankert wird
Cotrel-Dubousset (CD): (H) mit zusätzlicher Dauerstabilisierung
Ventrale Derotations Spondylodese (VDS) nach Zielke: über ventral in die lumbalen Wirbelkörper einge-
brachte Schrauben und Kabelverbindung wird ein derotierender, begradigender Zug auf die Skoliose
ausgeübt.

Prognose. Nach Wachstumsabschluss verstärkt Klinik. Die Kinder liegen schief im Bett und drehen
sich eine leichte bis mittelgroße Skoliose nicht we- sich immer auf eine Seite. Bei der Untersuchung
sentlich. Bei 30° ist auch im Erwachsenenalter noch findet sich eine großbogige C-förmige Totalkrüm-
mit einer Progredienz zu rechnen. mung, die nicht ausgleichbar ist.

⚉ Fallbeispiel Röntgen. Großbogige C-förmige Seitverbiegung,


Der Mutter von Saskia Kobwinkel, 12, fällt beim An- auf der gehaltenen Umkrümmungsaufnahme nicht
probieren des neuen Kleides auf, dass die rechte Schul- ausgleichbar.
ter höher steht als die linke. Beschwerden bestehen
keine. Differenzialdiagnose. Lageschaden bei Säuglin-
Befund. Thorakal rechtskonvexe Skoliose mit Vorwöl- gen, die vom 1. bis zum 5. Monat auf dem Rücken
bung der hinteren Thoraxhälfte rechts, die sich bei der liegend aufgezogen wurden. Gleicht sich spontan
Rumpfvorneigung noch deutlicher zeigt. (s. ⊡ Abb. durch Bauchlage aus.
5.10 ).
Der Krümmungswinkel im Röntgenbild beträgt 25°. Therapie. Durch Bauchlage und Krankengymnas-
Therapie. Das Mädchen muß 2–3 Jahre ein Korsett tra- tik kann man die ohnehin vorhandene Spontan-
gen und täglich üben. Zum Sport kann sie das Korsett heilungstendenz fördern. Ein Umkrümmungs-
abnehmen. Regelmäßige Verlaufskontrollen durch gipsbett, wie es früher verwandt wurde, ist selten
Oberflächenmessung und im MRT sind erforderlich. erforderlich.
Wenn die Krümmung zunimmt, ist eine größere Ope-
ration erforderlich, die zu einer Abflachung der Krüm- 5.2.5 Fehlbildungen, Variationen
mung führen soll und auf jeden Fall aber die Progredi- und Verletzungen
enz der Skoliose aufhält.
Kopf-Hals-Übergang:
Säuglingsskoliose Okziputatlas, Atlantookzipitalgelenk
Einige Gelenkverbindungen und Bänder sind für
Definition die Form- und Funktionsstörungen am Kopf-Hals-
Es handelt sich um eine Sonderform der idiopathi- Übergang von besonderer Bedeutung.
schen Skoliose im Säuglingsalter. Das obere Kopfgelenk, bestehend aus dem
rechten und linken Atlantookzipitalgelenk, hat
schlaffe Gelenkkapseln und erlaubt Bewegungen
Ätiopathogenese. Noch nicht geklärt. Möglicher- in alle Richtungen. Kapselrupturen und Subluxati-
weise handelt es sich um eine asymmetrische In- onen treten hier eher selten auf. Bei Extrembewe-
nervation der Rumpfmuskulatur beim Säugling im gungen klappen die Gelenke auf, ohne dass es zu
Rahmen einer infantilen Zerebralparese (ICP). Verletzungen kommt.
144 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.15 a, b. Bänder und


Gelenke am Kopf-Hals-Übergang

5
Das untere Kopfgelenk, bestehend aus dem Klinisch äußert sich eine Rotationsinstabilität der
rechten und linken Atlantoaxialgelenk sowie dem oberen Halswirbelsäule in Nackenschmerzen,
vorderen (vorderer Atlasbogen – Dens) und hinte- Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen,
ren Zahngelenk (Dens – Lig. transversum), ist wie hervorgerufen durch Irritationen und Durchfluss-
das obere Kopfgelenk ebenfalls durch Kapseln und störungen in der A. vertebralis, die schleifenförmig
Bänder gesichert, allerdings mit limitierten Bewe- am oberen und unteren Kopfgelenk vorbeiläuft.
gungsausschlägen, so dass hier Verletzungsmög- Die Therapie ist zunächst konservativ und besteht
lichkeiten gegeben sind (⊡ Abb. 5.15). in Ruhigstellung der Region mit einer Halskrawatte
Das Lig. transversum verbindet die beiden Mas- in leichter Flexion. Krankengymnastik mit rein iso-
sae laterales, verläuft hinter dem Zahn und schützt metrischen Übungen zur Stabilisation der Schul-
das Myelon. Rupturen sind bei Beschleunigungs- ter-Nacken-Gegend nach vorbereitender Wärme
verletzungen in dorsoventraler Richtung möglich, und leichter Massage ergänzt das konservative
meist mit tödlichem Ausgang. Die ligamentäre Programm. Bei Therapieresistenz und starken Be-
Stabilität des Dens ist weiter gesichert durch das schwerden ist eine Spondylodese zwischen Okzi-
Lig. apicis dentis, welches zum Vorderrand des Fo- put-Atlas und -Axis zu diskutieren.
ramen magnum zieht und durch die Ligg. alaria,
die als paarige Bänder vom Dens zum seitlichen Atlantoaxiale Dislokation
Rand des Foramen magnum schräg nach oben zie- Als Kriterium für eine anlagebedingte oder erwor-
hen. Sie limitieren die Rotation zwischen Atlas und bene atlantoaxiale Dislokation in dorsoventraler
Axis, die fast 40% der gesamten HWS-Drehbewe- Richtung (anteriore atlantale Dislokation) gilt der
gung ausmacht. Abstand zwischen vorderem Atlasbogen und Dens
(atlantodentale Distanz), der im seitlichen Rönt-
Rotationsinstabilität genbild zu erkennen ist. Der Normalwert beträgt
Bei übermäßiger Rotation kann es zur Ruptur 1–2 mm, bei Kindern 2–3 mm. Bei entzündlicher
dieser Bänder mit Rotationsinstabilität kommen, Lockerung (z.B. Rheuma) und nach Verletzungen
die sich im funktionellen Computertomogramm kann der Abstand vergrößert sein: Bis zu einem
nachweisen lässt und bei einiger Übung auch mit Abstand von 5 mm kann das Lig. transversum noch
der segmentalen manuellen Untersuchungstechnik als intakt angesehen werden. Bei höheren Werten
feststellbar ist. ist das Myelon in Gefahr und eine posteriore Spon-
dylodese zwischen Atlas und Axis ist erforderlich.
Wichtig
Wichtig
Die Querfortsätze des Atlas lassen sich im Mandi-
bulo-Mastoid-Winkel tasten und in ihrer relativen Mit einer Instabilität im Atlas-Axis-Gelenk ist
Verschieblichkeit gegen ihre Umgebung bei der besonders bei der chronischen Polyarthritis zu
Funktionsprüfung beurteilen. rechnen.
5.2 · Anlagebedingte Störungen
145 5
Basiläre Impression Wichtig
Zur Beurteilung von Fehlbildungen und Variatio- Mobilisierende Übungen und v.a. manualthe-
nen am Kopf-Hals-Übergang sind Orientierungsli- rapeutische Maßnahmen sind bei der basilären
nien von Bedeutung. Die wichtigsten sind in ⊡ Abb. Impression kontraindiziert.
5.16 dargestellt. Die McRae-Linie kennzeichnet die
Öffnung des Foramen magnum und die McGre-
gor-Linie die Schädelbasis, vom harten Gaumen Übergangswirbel
tangential zum Okziput ziehend. Normalerweise Bevorzugte WS-Region der Variationen sind die
liegt die Densspitze unterhalb dieser Verbindungs- Übergangszonen. An der HWS gilt dies für den
linien. Liegt sie deutlich darüber (s. ⊡ Abb. 5.16 b), Atlashinterkopfbereich oder für Halsrippen am
handelt es sich um eine basiläre Impression. Sie untersten HWS-Segment. Variationen an der WS
entsteht entweder traumatisch als axiale Vertikal- betreffen Schwankungen der Zahl (numerische
dislokation oder ist als angeborene Fehlbildung Variation) oder der Gestalt (morphologische Va-
anlagebedingt (ontogenetisch). Weiter beobachtet riation).
man basiläre Impressionen bei der Osteomalazie Kranialverschiebungen im Atlasbereich finden
und beim Morbus Paget als Folge schwerkraftab- sich als seltene Verwachsungen des Atlas mit dem
hängiger Knochenumbauvorgänge. Ist die basiläre Hinterhauptsbein (Atlasassimilation s. oben). Am
Impression mit einem Tiefstand der Kleinhirnton- zervikothorakalen Übergang tritt eine symmet-
sillen und einer Verschiebung der Medulla oblon- rische bzw. unsymmetrische Formanpassung des
gata nach kaudal unter das Niveau des Foramen oc- 7. Halswirbels an die Gestalt des Brustwirbels auf.
cipitale magnum verbunden, so handelt es sich um Klinisch am bedeutungsvollsten sind in diesem
ein sog. Arnold-Chiari-Syndrom. Beim Vorliegen Gebiet die Halsrippen. Je nach Ausbildung eines
derartiger Deformierungen ist besondere Vorsicht Gelenks zwischen Querfortsatz und Rippe wird
geboten ( Übersicht 5.4). dies als echte, beim Fehlen des Gelenks als unechte
Halsrippe bezeichnet. Form und Länge der Rippen
sowie überzählige Rippen führen zur Beeinträchti-
Übersicht 5.4. Memo: Basiläre Impression gung von Nachbargebilden, wie Nerven und Gefä-
▬ Dens über McRae- und Gregorlinie ßen in der Skalenuslücke.
▬ Ontogenetisch, traumatisch, Paget, Variationen am Brust-Lenden-Übergang tre-
Osteomalazie, Rheuma ten fast ausschließlich in Form der klinisch bedeu-
▬ Cave: Manualtherapie tungslosen Lendenrippen auf. Am lumbosakralen
Übergang gibt es Kranial- und Kaudalvariationen

⊡ Abb. 5.16. a Orientierungs-


linien an der Schädelbasis zur
Bestimmung der Densposition.
McRae-Linie: Vorder- und Hin-
terrand des Foramen magnum.
McGregor-Linie: Vom harten
Gaumen (Palatum durum) zur
Okziputtangente. b Basiläre Im-
pression. Die Densspitze über-
ragt beide Linien und befindet
sich im Foramen magnum
146 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.17. Der Spalt im Wirbelbogen L5 stellt eine asympto- ⊡ Abb. 5.19. Schmetterlingswirbel. Dass es sich um eine Fehl-
matische Verknöcherungsstörung dar bildung im Wachstumsalter handelt, erkennt man daran, dass
die angrenzenden Deckplatten der benachbarten Wirbelkör-
per in den Defekt vorgewachsen sind. Therapie: keine

⊡ Abb. 5.18 a–d. Wirbelfehlbildungen. a Keil-


wirbel mit Skoliose, b Blockwirbel, c Halbwir-
bel mit Skoliose, d Schmetterlingswirbel

(Lumbalisation oder Sakralisation). Bedeutungs- an der HWS und an der LWS. Die Wirbelfehlbil-
voll sind asymmetrische Übergangswirbel, wenn dungen führen wegen ihrer asymmetrischen Form
eine Seite knöchern fest eingebaut ist und die an- meistens zu Verkrümmungen der WS und zu Miss-
dere einen freien Querfortsatz zeigt. Hier kommt bildungsskoliosen (⊡ Abb. 5.17, 5.18, 5.19).
es zu einer asymmetrischen Beanspruchung der
darübergelegenen lumbalen Bewegungssegmente. Spina bifida
Lumbalisation bedeutet Ausbildung des kra- Fehlt der Wirbelbogen teilweise, wird dies als Spina
nialen Kreuzbeinabschnitts zum 6. Lendenwirbel. bifida bezeichnet. Mit der Missbildung bzw. dem
Sakralisation ist die Verschmelzung des 5. Lenden- Fehlen des Wirbelbogens sind häufig Rücken-
wirbels mit dem Kreuzbein, es resultieren dann 4 markmissbildungen verbunden (MMC, Spina bifi-
freie Lendenwirbel. da aperta, Spina bifida occulta, s. Kap. 4.7.3).

Typische Wirbelfehlbildungen. Darunter versteht Wichtig


man Halbwirbel, Blockwirbel, Schmetterlingswir- Die Spina bifida occulta ist eine asymptomatische
bel (diese sehen im Röntgenbild aus wie ein entfal- Verknöcherungsstörung im Wirbelbogen.
teter Schmetterling), Keilwirbel, Übergangswirbel
5.2 · Anlagebedingte Störungen
147 5
Spondylolyse, Spondylolisthesis,
Spondyloptose (Wirbelgleiten)

Definition

Durch einen Spalt im Gelenkfortsatz (Interartiku-


larabschnitt, Zwischengelenkstück) des Wirbel-
bogens verliert der Wirbelkörper seinen Halt und
gleitet mit der darüberliegenden WS nach vorn
( Übersicht 5.5).

⊡ Abb. 5.20. Hyperlordosierung der LWS führt zu Umbauzo-


nen im Zwischengelenkstück des Wirbelbogens (Spondyloly-
Ätiopathogenese. Disposition und mechanische se) und zur Berührung der Dornfortsätze (Baastrup-Syndrom,
Überbeanspruchung z.B. durch Hohlkreuzbelas- Kissing spine)
tung beim Kunstturnen im Wachstumsalter füh-
ren zu einer Umbauzone im Zwischengelenkstück.
Dieser Umbau findet am häufigsten in den Wirbel-
bögen der durch die lordotische Einstellung stark Klinik. Die meisten Patienten mit Spondylolysen
beanspruchten unteren LWS statt (⊡ Abb. 5.20). Bei und Spondylolisthesen haben keine Beschwerden,
der Geburt ist die Spondylolyse noch nicht vorhan- da die Dislokation langsam vonstatten geht und die
den. Die Häufigkeit des Auftretens einer Spondy- angrenzenden Nerven ausreichend Zeit zur Adap-
lolyse in der Durchschnittbevölkerung beträgt ca. tation haben. Einseitige Spondylolysen gehen häu-
6%. figer mit Kreuzschmerzen einher als doppelseitige.
Der Gleitvorgang beginnt in der Mehrzahl der Beschwerden treten meistens bei degenerativer
Fälle zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr. Bis auf Lockerung der betroffenen Bandscheibe ein. Sie
Ausnahmefälle bleibt das Ausmaß der Dislokation äußern sich durch hartnäckige Rückenschmerzen,
nach Abschluss des Wachstums konstant. Je nach die sich bei Reklination verstärken.
der Gleitstrecke des betroffenen Wirbels unter-
scheidet man verschiedene Schweregrade (1–4) Wichtig
der Spondylolisthesis. Das totale Abrutschen eines Durch Kompression der Nervenwurzeln beim
Wirbelkörpers über die Vorderkante des kaudal Gleitvorgang kann es zu einer doppelseitigen
folgenden wird als Spondyloptose bezeichnet. Ischialgie kommen.
Beim Gleitvorgang rückt der Wirbelkörper
mit dem ventralen Teil des Wirbelbogens und den
Querfortsätzen nach ventral, während der hintere Bei der Untersuchung findet sich oft der knopf-
Bogenanteil mit den unteren Gelenkfortsätzen und förmig vorspringende, gelegentlich etwas lockere
dem Dornfortsatz zusammen mit den darunterlie- druckempfindliche Dornfortsatz, der vom Gleit-
genden Wirbeln stehen bleibt (⊡ Abb. 5.21). wirbel hinten stehengeblieben ist. Beim stehenden

Übersicht 5.5. Spondylo – Memo


Spondylolyse – Spalt im Gelenkfortsatz
Spondylolisthese – Wirbelgleiten bei Spondylolyse
Pseudospondylolisthese – Wirbelgleiten ohne Spondylolyse
Spondyloptose – Vollständiger Abrutsch des Gleitwirbels
Spondylose – Degenerative Wirbelkantenausziehung
148 Kapitel 5 · Wirbelsäule

5
⊡ Abb. 5.21. a Spondylolyse: Unterbrechung im Gelenkfortsatz des Bogens L5 ohne Verschiebung, b Spondylolyse: Wie in a, mit
Ventralverschiebung des Wirbelkörpers L5 (Spondylolisthesis), c Graduierung des Gleitvorganges von 1–4: Je nachdem, in wel-
chem Viertel sich die Verlängerung der Hinterkante des Gleitwirbels auf der Gleitfläche des darunterliegenden Wirbels findet,
d Spondyloptose: Mit vollständigem Abrutschen des Gleitwirbels über die Vorderkante des darunterliegenden Wirbels

Patienten tastet man an der unteren LWS eine Stufe auf den Schrägaufnahmen zu erkennen (s. ⊡ Abb.
(⊡ Abb. 5.22). Der Gleitvorgang nach ventral ist mit 5.1 c, S. 134).
einer Hyperlordosierung der LWS verbunden. Bei
fortgeschrittenem Gleitvorgang ist eine Kyphosie- Differenzialdiagnose. Pseudospondylolisthesis,
rung der unteren LWS nicht mehr möglich. degeneratives Wirbelgleiten: Auch durch Band-
scheibenlockerung können sich Wirbel gegenein-
Röntgen. In der a.-p.-Aufnahme finden sich fei- ander verschieben, besonders bei der WS älterer
ne Aufhellungslinien dicht unterhalb der Bogen- Menschen. Meistens bestehen keine Beschwerden.
wurzelovale. Durch Projektion des 5. Lendenwir- Wichtigster Unterschied zur echten Spondylo-
belkörpers auf das Sakrum entsteht das Bild des listhesis: Das Zwischengelenkstück zeigt auf den
umgekehrten Gendarmen bzw. Napoleonhuts. Die Schrägaufnahmen keinen Spalt.
Spalten im Zwischengelenkstück sind am besten
Therapie. Solange keine Beschwerden bestehen,
erübrigt sich auch eine Therapie. Reklinierende
Bewegungen und Sportarten, bei denen es zur Hy-
perlordose kommt, sollten vermieden werden: Ge-
räteturnen, Gewichtheben, Trampolinspringen. Bei
diesen Sportarten kommt es neben der vermehrten
Lordose auch zu einer Stauchung der WS.

⚉ Fallbeispiel
Bei Stephan Schanzen, 16, wurde bei der Einstellungs-
untersuchung als Maurer eine stufenförmige Vorwöl-
bung am Dornfortsatz der unteren Lendenwirbelsäu-
le festgestellt (s. ⊡ Abb. 5.22). Beschwerden bestehen
keine. Eine Röntgenaufnahme einschließlich Schrä-
gaufnahmen zeigen eine Spondylolisthese Grad II
(⊡ Abb. 5.20b) mit Unterbrechung des Gelenkfortsat-
zes im Bogen L5 beidseits (s. ⊡ Abb. 2.18).
Therapie. Keine.
⊡ Abb. 5.22. Sprungschanzenphänomen bei Spondylolis- Vom Maurerberuf wird abgeraten. Stephan soll einen
these Beruf mit leichterer körperlicher Arbeit erlernen und
5.3 · Entzündliche Wirbelsäulenerkrankungen
149 5

Übersicht 5.6.
Wirbelgleiten bei Spondylolyse Degeneratives Wirbelgleiten
Beginn während des Wachstums Beginn nach dem 50.–60. Lebensjahr
Spondylolyse Wirbelbogen intakt
Totaler Abrutsch möglich Abrutsch nur bis Grad II
Operative Therapie immer mit Fusion Operative Therapie durch Dekompression ggf. Fusion

bestimmte Sportarten meiden. Falls unbeeinflussbare Ätiopathogenese. Im Rahmen der degenerativen


Rücken- und Beinschmerzen auftreten: Fusionsopera- Bandscheibenlockerung gleitet ein Wirbel auf der
tion. darunter liegenden Bandscheibe nach vorn und
zwar soweit wie es die Wirbelgelenke zulassen,
Bei Rücken- und Ischiasbeschwerden kommt die meistens nur bis Grad II. Auf den Schrägaufnah-
gleiche Therapie wie bei bandscheibenbedingten men sieht man keine Unterbrechung im Gelenk-
Beschwerden zum Tragen: Wärme, Analgetika, fortsatz.
Stufenlagerung.
Bei fortgeschrittenem Wirbelgleiten (Meyer- Klinik. Das degenerative Wirbelgleiten tritt nach
ding III und IV, Spondyloptose) muss bei einer dem 50.–60. Lebensjahr ein. Häufig bestehen kei-
Schwangerschaft eine Sektio vorgenommen wer- nerlei Symptome (kompensiertes Wirbelgleiten).
den, weil bei einer Spontangeburt Probleme beim Bei Dekompensation bestehen Kreuzschmerzen
Durchtritt des Kopfes durch das kleine Becken ent- und beidseitige Beinschmerzen insbesondere beim
stehen könnten. Gehen und Stehen. Betroffen sind die Nervenwur-
Krankengymnastisch/physiotherapeutisch ste- zeln L4/5 und S1 im lateralen Rezessus. Häufig ist
hen Bauchmuskeltraining und andere delordosie- die Kombination degeneratives Wirbelgleiten und
rende Maßnahmen (Stufenlagerung, Flexions- Spinalkanalstenose (s. dort).
orthesen) im Vordergrund.
Bei Erfolglosigkeit dieser konservativen Maß- Therapie. Zunächst konservativ mit Wärme, Kran-
nahmen wird eine Fusionsoperation, d.h. Verstei- kengymnastik und epiduralen Steroidinjektionen
fungsoperation, des betroffenen WS-Abschnitts zur Wurzelabschwellung. Bei Therapieresistenz
durchgeführt. Nervenwurzelkompressionssyn- Dekompressionsoperation ggf. mit Fusion.
drome erfordern eine Dekompressionsoperation
mit Laminektomie (Entfernung des Wirbelbo-
gens) und Erweiterung des Wirbelkanals. Da bei 5.3 Entzündliche
Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen noch ein Wirbelsäulenerkrankungen
Fortschreiten des Gleitvorgangs zu erwarten ist,
muss bei nachgewiesener Progression in Röntgen- 5.3.1 Spondylitis ancylosans
kontrollaufnahmen oder im NMR trotz fehlender (Morbus Bechterew)1
Beschwerden die Versteifungsoperation erwogen
werden.
Definition
Degeneratives Wirbelgleiten Eine zur Versteifung der WS führende Erkrankung
(Pseudospondylolisthesis) des rheumatischen Formenkreises.

Definition. Spontanes Wirbelgleiten durch Locke-


rung im Bewegungssegment.
1 Wladimir v. Bechterew, Neurologe, St. Petersburg
(1857–1927)
150 Kapitel 5 · Wirbelsäule

Ätiopathogenese. Primär chronisch-rheumati- Wichtig


sche Entzündung der Kreuzdarmbeinfugen und Mennell1-Zeichen: Forcierte Überstreckung der
der Wirbelgelenke führt dort allmählich zur Ver- Hüfte verursacht Schmerzen in der Kreuzdarm-
knöcherung. beinfuge.
Bei der Ätiologie der Erkrankung spielt, ähn-
lich wie beim Rheuma, eine konstitutionelle erbli-
che Krankheitsbereitschaft eine Rolle. Männer sind Labor. Die BSG ist beschleunigt, Serumeisen er-
häufiger befallen als Frauen. Bei Frauen ist der Ver- höht, Rheumafaktoren negativ. Bei über 80% der
lauf meist günstiger. Das Leiden beginnt zwischen Fälle findet sich ein positiver HLA-B-27-Test.
dem 20. und 40. Lebensjahr. Pathologisch-anato-
5 misch handelt es sich um eine metaplastische Ossi- Röntgen. Die Kreuzdarmbeinfugen zeigen die
fikation des kollagenen Bindegewebes der Gelenk- ersten Veränderungen mit Erweiterung des Ge-
kapseln. Zunächst entsteht Faserknochen, der spä- lenkspalts, unregelmäßiger Konturierung und
ter in lamellären Knochen umgebaut wird. An der beginnendem Durchbau. Rundliche Defekte sind
WS verknöchern neben den Wirbelgelenken auch perlschnurartig aneinandergereiht (⊡ Abb. 5.23).
die Längsbänder. Die überbrückenden Knochen- Am Becken sieht man Periostsporne, die im Ex-
spangen nennt man auch Syndesmophyten. Das tremfall zum sog. Stachelbecken führen. An der
Atlanto-Axial-Gelenk bleibt meistens verschont. WS kommt es zu Überbrückungsvorgängen mit
Dadurch, dass Bänder und Gelenke die Trag- Syndesmophyten und schließlich zur Bambus-
funktion der Wirbel übernehmen, entsteht eine Os- stabform.
teoporose der Wirbelkörper. Infolgedessen kommt Die Wirbel selbst zeigen eine Osteoporose
es zu einer zunehmenden arkuären Kyphosierung (⊡ Abb. 5.24). Entzündliche Veränderungen an der
der BWS. Neben der WS können auch die großen Wirbelsäule bezeichnet man als Spondylitis anteri-
Gelenke (vornehmlich Hüftgelenke) befallen sein. or, die schließlich zur Begradigung der Wirbeltaille
durch appositionelles Wachstum führt: Es entsteht
Klinik. Das Leiden beginnt mit uncharakteris- der sog. Kasten- oder Tonnenwirbel.
tischen Kreuzschmerzen, die besonders nachts
auftreten (Morgensteife). Initial können auch Fer-
sen- und Achillessehnenbeschwerden oder mo-
noartikuläre Gelenkbeschwerden (Hüfte, Knie,
Sprunggelenk) sein.
Begleitende oder vorausgehende Erkrankun-
gen bei Morbus Bechterew: Iritis, Urethritis.
Bei der klinischen Untersuchung fällt eine Be-
wegungseinschränkung der WS auf. Die Schober-
Distanz (s. Kap. 1.2.7) ist reduziert. Der Fingerspit-
zen-Boden-Abstand wird immer größer. Durch
Mitbefall der Wirbel-Rippen-Gelenke kommt es
zu einer Einschränkung der Atemexkursionen mit
Verringerung der Atembreite. Die Thoraxstarre
führt in Spätstadien zur vorwiegenden Bauchat- ⊡ Abb. 5.23. Beginnender Morbus Bechterew bei einem
28jährigen Patienten, der zunächst über nächtliche Kreuz-
mung. Die Entzündung (Sakroileitis) der Kreuz- schmerzen klagte. Man sieht eine unregelmäßige Konturie-
darmbeingelenke erkennt man am lokalen Druck- rung der Kreuzdarmbeinfuge mit rundlichen Defekten, wel-
und Stauchungsschmerz sowie am che perlschnurartig aneinandergereiht sind (Pfeile)

1 James Mennell, Orthopädie, Cambridge (1880–1957)


5.3 · Entzündliche Wirbelsäulenerkrankungen
151 5

Übersicht 5.7. Krankengymnastik bei


Morbus Bechterew
▬ Atemübungen
▬ Gelenkmobilisation
▬ Kyphoseprophylaxe

Übersicht 5.8. Bechterew – Memo


▬ Rheumatisch ▬ Junge Männer
▬ Nächtliche
Kreuzschmerzen ▬ Steife Wirbelsäule
▬ Atembreite ▬ Sakroileitis
▬ Bambusstab ▬ HLA-B-27

Prognose. Die Krankheit muss nicht immer zur


völligen Einsteifung der WS führen. Durch recht-
zeitige Therapie können die Fehlformen mit ver-
mehrter Kyphosierung vermieden werden.
⊡ Abb. 5.24. Morbus Bechterew: LWS seitlich. Verknöcherung 5.3.2 Spondylitis tuberculosa
des vorderen Längsbands (Pfeile). Die Bandscheibenräume
sind ventral geradlinig überbrückt. Vermehrte Strahlendurch-
lässigkeit des Knochens im Wirbelkörper durch Osteoporose
Definition
Differenzialdiagnose. Alle anderen rheumatischen Tuberkulose der WS.
Erkrankungen haben nicht die charakteristische
Verknöcherungsform der Kreuzdarmbeinfugen
und der Wirbelsäule. Ätiopathogenese. Es erkrankt hauptsächlich der
Wirbelkörper. Die Erreger gelangen auf hämatoge-
Therapie. Durch Analgetika und Antiphlogistika nem Weg dorthin. Eine Absiedlung von Keimen in
werden im Schub die Entzündungszeichen und der Bandscheibe ist bei Erwachsenen nicht mög-
Schmerzen behandelt. lich, weil diese keine Blutgefäße enthält. Bei Kin-
dern ist eine primäre Diszitis möglich. Meistens
Krankengymnastik. Aktive und passive Mobilisa- liegt der tuberkulöse Herd vorn in der Deckplatte.
tion zur Verbesserung bzw. Erhaltung der Extre- Die Bandscheibe ist sekundär mitbefallen (⊡ Abb.
mitäten- und WS-Beweglichkeit unter Beachtung 5.25).
der aufrechten Haltung. Im Vordergrund stehen
die gegen eine vermehrte Brustkyphose gerichte- Wichtig
ten Übungen und Lagerungen (Bauchlage). Atem- Die tuberkulöse Entzündung an der WS ist die
übungen und Training der Bauchatmung am bes- häufigste Form der Skeletttuberkulose.
ten in der Gruppe. Schmerzlinderung durch phy-
sikalische Therapie: Fango, Eis und Übungen im
Thermalbad. Besonders wichtig sind rehabilitative Wenn sich der Herd ausbreitet, kann er auch nach
und berufsfördernde Maßnahmen. Geistige (Früh- dorsal in den Wirbelkanal einbrechen und eine
rente) und körperliche Immobilisation (Korsett) Querschnittslähmung verursachen (⊡ Abb. 5.26).
sollten vermieden werden ( Übersicht 5.7, 5.8). Breitet der Herd sich ventral entlang des vorderen
152 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.26 a, b. Spondylitis-Tbc. a Akutes Stadium.


b Ausheilung mit Blockwirbel und Gibbus
⊡ Abb. 5.25. Seitaufnahme der unteren Lendenwirbelsäule
mit einer Spondylodiszitis L4/L5 durch Tuberkulose. Der Zwi-
schenwirbelabschnitt ist erniedrigt, es findet sich eine Des-
truktion der Wirbelkörper im deckplattennahen Anteil (Pfeile) raturen, bei Kindern nächtliches Aufschreien. Von
einer Spondylitis sind auch alte Leute betroffen, die
Symptomatik kann hier sehr diskret sein. Rücken-
Längsbandes aus, spricht man von der Spondylitis marksymptome und Nervenwurzelreizerschei-
anterior migrans mit Zerstörung der Wirbelvor- nungen treten primär durch die Entzündung oder
derkanten. sekundär durch Deformierung ein.
Bei akuten Symptomen und bei unspezifischer
Wichtig Spondylitis stützt sich der Patient beim Bücken
Um den tuberkulösen Herd herum sammelt sich und Wiederaufrichten charakteristischerweise mit
Eiter an, der sich im Bereich der BWS im Röntgen- den Armen an den Oberschenkeln ab.
bild als Spindelschatten darstellt.
Im Bereich der LWS kommt es zum Senkungsabs- Röntgen. Erniedrigung des Zwischenwirbel-
zess entlang der Faszie des M. iliopsoas. Die Spon- abschnitts, Destruktion der Wirbelkörper im
dylitis tuberculosa ist gekennzeichnet durch ein deckplattennahen Anteil, Abszessschatten (BWS:
häufiges Auftreten von Senkungsabszessen. Spindelschatten, LWS: Verbreiterung des Psoas-
schattens). Sicherung der Diagnose durch Schicht-
aufnahmen, CT, Verlaufskontrollen, Probepunktion
Dieser Abszess wandert durch die Lacuna muscu- (⊡ Abb. 5.27). Die Durabedrängung sieht man im
lorum und erscheint in der Leiste. Die Spondylitis CT und NMR.
tuberculosa führt zur Deformierung der betroffe-
nen Wirbel. Mehrere Segmente können betroffen Wichtig
sein. Die Diagnose der tuberkulösen Spondylitis erfolgt
durch Probepunktion mit Nachweis von Erregern
Klinik. Rückenschmerzen (meistens lokalisiert), oder (und) spezifischem Granulationsgewebe.
die besonders nachts auftreten, Rückenmarksymp-
tome bei Ausbreitung des Herdes nach dorsal, um-
schriebener Druck- und Rüttelschmerz über dem Differenzialdiagnose. Unspezifische Spondyli-
betroffenen Dornfortsatz, Erhöhung der BSG, Ver- tis (stürmischer Verlauf, höheres Fieber, höhere
änderung in der Elektrophorese, subfebrile Tempe- BSG, Erregernachweis), Tumor (meistens in Form
5.3 · Entzündliche Wirbelsäulenerkrankungen
153 5
⊡ Abb. 5.27 a, b. Spondylitis-Tbc
der a LWS mit Senkungsabszess
und b BWS mit spindelförmigem
Abszessschatten

von Metastasen, verursachen primär keine Band- ⚉ Fallbeispiel


scheibenzerstörung), Fraktur (Labor, Anamnese), Elias Motten, 38, aus Afrika, der sich seit einem halben
Morbus Scheuermann (Labor, mehrere Wirbel be- Jahr in Deutschland aufhält, klagt über zunehmende
troffen). Eine deutliche Verschmälerung des Zwi- Kreuzschmerzen und leichte Temperaturerhöhung.
schenwirbelabschnitts wie bei der Diszitis findet Zusätzlich berichtet er über eine schmerzhafte Schwel-
sich noch beim Morbus Scheuermann und bei fort- lung in der rechten Leiste.
geschrittener Degeneration (Osteochondrose). Befund. Fehlhaltung und Rumpfneigung zur rechten
Seite. Starker Druckschmerz über der unteren Lenden-
Therapie. Konservativ: Ruhigstellung in der Gips- wirbelsäule. Prallelastische Vorwölbung in der rechten
schale, Tuberkulostatika. Operativ: Ausräumung Leiste.
des tuberkulösen Herdes, Abszessdrainage, an- Labor. BSG 18/32, CRP 42
schließend Versteifungsoperation mit Spananlage- Röntgen. Erniedrigung des Zwischenwirbelabschnitts
rung. L2/3 mit Destruktion der Wirbelkörper, Verbreiterung
des Psoasschattens auf der rechten Seite.
Prognose. Die Krankheit dauert ein bis zwei Jah- Differenzialdiagnose. Bei der Anamnese muss man
re, Ausheilung durch knöcherne Verschmelzungen auch an Malaria denken. Leistenschwellung gibt den
(Blockwirbel) meist mit Ventralerniedrigung und Verdacht auf Morbus Hodgkin.
pathologischer Kyphose der Wirbelsäule im be- Therapie. Nach Sicherung der Diagnose durch Punk-
troffenen Abschnitt. Die kyphotische Abknickung tion und Erregernachweis, operative Ausräumung
nennt man auch Gibbus ( Übersicht 5.9). des tubekulösen Herdes, Abszessdrainage.

Übersicht 5.9. Differenzialdiagnose der Spondylitis tuberculosa


1. Unspezifische Spondylitis: Erregernachweis, akuter Verlauf, ein Segment
2. Tumor: Bandscheibe erhalten
3. Fraktur: Anamnese, Labor normal
4. M. Scheuermann: Mehrere Wirbel betroffen, Labor normal
154 Kapitel 5 · Wirbelsäule

5.3.3 Andere Spondylitiden Wirbelsäulensyndrome sind sehr häufig, führen zu


20% aller krankheitsbedingten Ausfälle (Krank-
Osteomyelitis der WS (unspezifische Spondylitis, schreibungen) und sind in fast 50% Gegenstand
infektiöse Spondylitis). Erreger meistens Staphylo- vorzeitig gestellter Rentenanträge.
kokken, Streptokokken, neuerdings auch Kolibak- Je nach Lokalisation unterscheidet man Zervi-
terien und Proteus. Wichtigste differenzialdiag- kal, Thorakal- und Lumbalsyndrome. Zwei Drittel
nostische Kriterien gegenüber der Tuberkulose, der Erkrankungen entfallen auf den unteren Ab-
abgesehen von den genannten Faktoren: schnitt der Lendenwirbelsäule, etwa ein Drittel auf
▬ kürzere Anamnese, die Halswirbelsäule und nur ein geringer Anteil
▬ bessere Heilungstendenz, von etwa 2% betrifft die Brustwirbelsäule. Bleiben
5 ▬ häufigeres Fehlen eines Abszesses. die Beschwerden auf die betroffene Wirbelsäulen-
region beschränkt, spricht man von lokalem Zer-
Therapie. Gipsschale, Antibiotika, ggf. operative vikal-, Thorakal- oder Lumbalsyndrom. Strahlen
Ausräumung. die Schmerzen durch Wurzelkompression oder
pseudoradikuläre Symptomatik in die Extremi-
täten aus, so bezeichnet man diese Syndrome als
5.4 Degenerative Zervikobrachialgie bzw. an der Lendenwirbelsäule
Wirbelsäulenerkrankungen als Ischialgie. An der Brustwirbelsäule ersetzt man
die vorher übliche Bezeichnung »Interkostalneu-
5.4.1 Definitionen, Epidemiologie ralgie« mit thorakalem Wurzelsyndrom.
Alle mit der Bandscheibendegeneration zusam-
Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen gehen menhängenden biomechanischen und patholo-
direkt oder indirekt von den Zwischenwirbelab- gisch-anatomischen Veränderungen am Zwischen-
schnitten aus. wirbelabschnitt bezeichnet man als »Diskose«.
Dazu gehören Quelldruckverlust, Rissbildungen
Wichtig und Zermürbungserscheinungen, die den Zustand
Die durch Bandscheibendegeneration hervorge- der Bandscheibenlockerung ergeben. Spondylose
rufenen Krankheitsbilder werden als Wirbelsäu- und Osteochondrose sind knöcherne Reaktionen
lensyndrome bezeichnet. der angrenzenden Wirbelanteile und stellen kei-
ne Diagnose, sondern nur ein röntgenologisches

Übersicht 5.10. Terminologie und Definitionen bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen


Diskose (Bandscheibendegeneration, Alle mit der Bandscheibendegeneration
regressive Bandscheibenver- zusammenhängenden biomechanischen
änderungen, Verschleiß, und pathologisch-anatomischen Ver-
Chondrosis intervertebralis) änderungen im Zwischenwirbelabschnitt
Osteochondrose Bandscheibenverschmälerung und
Sklerosierung der Wirbelkörperdeck-
platten bei Bandscheibendegeneration
Spondylose Kantenausziehungen am Wirbel,
Randzacken, Randwülste bei der
Bandscheibendegeneration
Bandscheibenprolaps (Bandscheibenvorfall) Vorfall von Bandscheibengewebe mit
Perforation des Anulus fibrosus
Bandscheibenprotrusion (Bandscheibenvorwölbung) Vorwölbung der Bandscheiben ohne
Perforation des Anulus fibrosus
5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
155 5
⊡ Abb. 5.28. Das Bewegungssegment
nach Junghanns1

Symptom der durchgemachten Bandscheibenlo- re dann, wenn statisch-mechanische Belastungen


ckerung dar ( Übersicht 5.10). hinzukommen (⊡ Abb. 5.29).
Im Rahmen der Bandscheibendegeneration Lumbale Bandscheiben stellen das größte zu-
kommt es zu intradiskalen Massenverschiebungen sammenhängende, nichtvaskularisierte Gebilde
mit Sequesterbildung. Für den therapeutischen im Organismus dar. Neben vertikaler Wirbelsäu-
Ansatz ist es entscheidend, ob das nach dorsal leneinstellung und Haltungskonstanz wirken auch
verschobene Bandscheibengewebe nur zu einer anlagebedingte Faktoren beim Auftreten degene-
Protrusion, d.h. Vorwölbung des noch erhaltenen rativer Bandscheibenveränderungen mit. Geneti-
Anulus fibrosus geführt hat oder ob der Sequester sche Faktoren sind u.a. für die Qualität und An-
unter Perforation der äußeren Bandscheibenbe- ordnung der Kollagenfasern im Anulus fibrosus
grenzung als Prolaps bzw. Vorfall nach außen ge- verantwortlich. Jenseits des 30. Lebensjahres gibt
treten ist. es fast keine Wirbelsäule beim Menschen mehr, die
nicht schon degenerative Veränderungen aufweist
5.4.2 Das Bewegungssegment ( Übersicht 5.11). Die Vorgänge sind zunächst nur
auf das Bandscheibengewebe beschränkt und spie-
Das Bewegungssegment stellt die Bau- und Funk- len sich daher im röntgenologisch transparenten
tionseinheit der Wirbelsäule dar. Wesentlicher Raum ab.
Bestandteil ist der Zwischenwirbelabschnitt mit
Gallertkern, Anulus fibrosus und Knorpelplatten.
Weiterhin gehören zum Bewegungssegment die Übersicht 5.11. Ursachen der Diskose
benachbarten Wirbel, vorderes und hinteres Längs- (Bandscheibendegeneration)
band, gelbes Band (Lig. flavum), Wirbelgelenke 1. Anhaltende Druckbelastung des
und alle Weichteile, die sich dem Segment entspre- Bandscheibengewebes
chend im Wirbelkanal, im Foramen intervertebrale 2. Blutgefäßlosigkeit des Zwischenwirbel-
sowie in den paravertebralen Weichteilen befinden. abschnitts
Die nicht knöchernen Bestandteile zwischen zwei 3. Bewegungsmangel
Wirbelkörpern werden gewöhnlich als Bandschei- 4. Gewebequalität
be bezeichnet (⊡ Abb. 5.28).

5.4.3 Bandscheibendegeneration – Man sieht im Röntgenbild allenfalls eine Verschmä-


Diskose lerung des Zwischenwirbelabschnittes. Wegen der
fehlenden Vaskularisation finden im Bandschei-
Anhaltend starke axiale Druckbelastungen durch bengewebe selbst keine reparativen Vorgänge statt.
den aufrechten Gang und verlangsamter Stoffaus- Diese gehen bei länger bestehender Bandscheiben-
tausch im Zwischenwirbelabschnitt durch man- zermürbung vom benachbarten Wirbel aus. Da es
gelnde Bewegung sind wesentlich für das frühzei- sich bei den degenerativen Vorgängen in diesem
tige Auftreten degenerativer Veränderungen der
Bandscheiben. Blutgefäßlose bradytrophe Gewebe
neigen ohnehin zur raschen Alterung, insbesonde- 1 Herbert Junghanns, Chirurg, Bad Homburg (1902–1984)
156 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.29. Der Bandschei-


benbelastungsdruck beträgt im
Liegen bis zu 70 kp, im Stehen,
Sitzen, Heben und Tragen steigt
er an. Bei Entlastung im Liegen
saugen sich die Bandscheiben
mit Wasser und Stoffwechsel-
substraten voll; unter Belastung
im Stehen Sitzen, Heben,
Tragen usw. werden die Band-
scheiben wieder ausgepresst.
Der regelmäßige Wechsel
zwischen Be- und Entlastung
5 fördert den Stoffaustausch
im Zwischenwirbelabschnitt:
Die Bandscheibe lebt von der
Bewegung.

Stadium auch um Knochenveränderungen handelt, typischen, erst horizontalen Abgang und dann ver-
werden sie unter dem Begriff Osteochondrose zu- tikalem Verlauf (⊡ Abb. 5.30).
sammengefasst. Die angrenzenden Wirbelkörper- Starke Spangenbildung über mehrere Segmente
schlussplatten zeigen sklerotische Verdichtungen nennt man Spondylosis hyperostotica. Sie kommt
mit einer unregelmäßigen Konturierung. An den meistens zusammen mit Diabetes mellitus vor.
Wirbelkanten bilden sich knöcherne Ausziehun- Die Diskose läßt in ihrem Ablauf gewisse Ge-
gen als sog. spondylotische Randwülste mit ihrem setzmäßigkeiten erkennen. Einige Stadien sind
durch Krankheitsgefährdung gekennzeichnet. An-
dere, wie die Anfangs- und Schlussphase, verlaufen
klinisch stumm.
Man unterscheidet drei Diskosestadien (⊡ Abb.
5.31).
▬ Erstes Stadium (4. bis 18. Lebensjahr). Mit dem
Verschwinden der Blutgefäße beginnt beim
Menschen nach dem 2. Lebensjahr die Band-
scheibendegeneration. Der Anulus fibrosus be-
sitzt in den ersten Lebensjahren jedoch noch
soviel Widerstandskraft, dass eine Verlagerung
des zentralen mobilen Bandscheibengewebes
nach außen nicht vorkommt. Es entstehen al-
lenfalls breitbasige Vorwölbungen.
⊡ Abb. 5.30. Spondylose als Zeichen der Degeneration. Die
Randwülste überragen die Wirbelvorderkante, mitunter auch
▬ Zweites Stadium. Radiärrisse im Anulus fibro-
die Hinterkante, mit Bedrängung des Spinalnerven im Fora- sus, intradiskale Sequesterbildungen und Mas-
men intervertebrale senverschiebungen führen zur Lockerung des
5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
157 5

⊡ Abb. 5.31 a–e. Stadien der Bandscheibendegeneration


(Diskose): a Normalzustand, b 1. Stadium der Diskose mit
breitbasigen Vorwölbungen des Anulus fibrosus, c, d 2. Sta-
dium der Diskose mit Radiärrissen im Anulus fibrosus und
Bandscheibenvorfall, e 3. Stadium mit Verfestigung des Band-
scheibengewebes und Teilversteifung der Wirbelsäule

Zwischenwirbelabschnittes und zur Vorwöl- Wichtig


bung bzw. zum Vorfall von Bandscheibengewe- In dem verfestigten Bandscheibengewebe kommt
be über die Grenzen des Anulus fibrosus hin- es nicht mehr zu Verlagerungen von intradiskalen
aus. Die Erscheinungen treten zwischen dem Sequestern. Ein Bandscheibenvorfall stellt bei
20. und 60. Lebensjahr mit einem Maximum älteren Menschen eher eine Ausnahme dar. Man
um das 40. Lebensjahr auf. spricht auch von der wohltätigen Teilversteifung
der Wirbelsäule im Alter (nach Idelberger1).
Wichtig

Im mittleren Lebensabschnitt besteht die biome-


chanische Konstellation zum Bandscheibenvorfall
5.4.4 Zervikalsyndrome
mit noch relativ gut erhaltenem Wassergehalt und
Quelldruck des Gallertkernes bei einem bereits Spezielle Anatomie und Pathogenese. Die zer-
rissig und spröde gewordenen Anulus fibrosus. Es vikalen Bewegungssegmente zeichnen sich durch
entstehen klinische Krankheitsbilder wie Lumba- eine Reihe anatomischer und biomechanischer
go, Ischialgie und Zervikalsyndrom. Besonderheiten aus, die zu frühzeitigen Verschlei-
ßerscheinungen Anlass geben können.
Die Deckplatten der Halswirbelkörper C3 bis
▬ Drittes Stadium. Nach dem 60. Lebensjahr C7 haben an der hinteren und seitlichen Kante sat-
trocknen die Bandscheiben soweit aus, dass telartige Ausziehungen, die als Processus uncinati
sich das Gewebe verfestigt und keine Neigung bezeichnet werden. Durch Höhenminderung des
zu Verlagerungen mehr zeigt. Zum Teil ausge- Zwischenwirbelabschnittes im Rahmen der Band-
prägte spondylotische und osteochondrotische scheibendegeneration bekommen diese Processus
Veränderungen in diesem Lebensabschnitt uncinati knöchernen Kontakt zum Nachbarwirbel.
stellen Residuen durchgemachter Bandschei-
benlockerungen dar und sind nicht Ausdruck
aktueller Beschwerden. 1 Karl Heinz Idelberger, Orthopäde, Düsseldorf (1909–2003)
158 Kapitel 5 · Wirbelsäule

Sie biegen sich zur Seite aus und bilden knöcherne gungseinschränkungen der HWS charakterisiert
Appositionen. Auch am Gegenpol des gegenüber- sind ( Übersicht 5.12).
liegenden Wirbels kommt es zu reaktiven Verdich-
tungen (⊡ Abb. 5.32).
Übersicht 5.12. Klinik der Zervikalsyndrome
Wichtig ▬ Positionsabhängige Schulternacken-
Osteophytäre Reaktionen, welche von den Proces- schmerzen
sus uncinati ausgehen, führen zusammen mit der ▬ Bewegungseinschränkung der Halswirbel-
Höhenminderung des Zwischenwirbelabschnittes säule
zu einer Einengung des Foramen intervertebrale. ▬ Hartspann der Nackenmuskulatur
5
Wenn der Reserveraum erschöpft ist, entstehen Die Symptome können akut einsetzen, etwa durch
Nervenwurzelirritationen, die für das Zervikobra- eine abrupte Drehbewegung des Kopfes, aber auch
chialsyndrom ursächlich sind. schleichend ohne besondere Ursachen. Häufig wer-
den Unterkühlung und Zuglufteinwirkung in der
Lokales Zervikalsyndrom Anamnese angegeben. Bei der Untersuchung kann
der Patient seine Schmerzausgangspunkte ziemlich
Definition genau lokalisieren. Sie liegen im Versorgungsgebiet
Unter einem lokalen Zervikalsyndrom versteht der Rami dorsales am oberen Trapeziusrand vom
man alle klinischen Erscheinungen, welche direkt Okziput bis zum Akromioklavikulargelenk, wenn
oder indirekt von degenerativen Veränderungen die kranialen Segmente der HWS betroffen sind.
zervikaler Bewegungssegmente ausgehen und Bei einer Irritation der unteren zervikalen Be-
auf die Halsregion beschränkt bleiben. wegungssegmente werden Schmerzen zwischen
den Schulterblättern angegeben. Neben den typi-
schen Schmerzpunkten findet sich ein mehr oder
Klinik. Es handelt sich um Beschwerdebilder, die weniger ausgeprägter Hartspann der gesamten
allein durch positionsabhängige Schulternacken- Schulternackenmuskulatur mit Bewegungsein-
schmerzen, Muskelverspannungen und Bewe- schränkung der HWS.
Eine Sonderform des lokalen Zervikalsyn-
droms stellt die Okzipitalisneuralgie dar. Es handelt
sich um ein lokales Geschehen in der Nacken-Hin-
terhaupt-Region mit Irritation des Nervus occi-
pitalis major, der in der Höhe der Protuberantia
occipitalis externa unter die Haut zieht und dort
als schmerzempfindlicher Druckpunkt nachweis-
bar ist.

Akuter Schiefhals (Torticollis s. S. 187)

Definition

Der akute Schiefhals stellt eine Sonderform des


lokalen Zervikalsyndroms dar, bei der Fehlhaltun-
gen und Bewegungseinschränkungen der HWS
⊡ Abb. 5.32. Processus uncinatus, Arteria vertebralis und
ganz im Vordergrund stehen. Er kommt in erster
Spinalnerv liegen dicht nebeneinander. Degenerative Verbrei-
terung des Processus uncinatus führt zu einer Bedrängung Linie bei Kindern und Jugendlichen vor und ist
des Spinalnerven (nach dorsal und der Arteria vertebralis eine Frühform diskogener Erkrankungen der HWS.
nach lateral)
5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
159 5

Pathogenese. Pathogenetisch spielen die Horizon- Processus uncinatus hervorgerufen. Knöcherne


talspalten und eine Hypermobilität der zervikalen Bedrängungen sind wesentlich häufiger. Klinische
Bewegungssegmente eine Rolle. Intradiskale Mas- Bedeutung erlangt die Kombination Segmentlo-
senverschiebungen führen, ähnlich wie bei einer ckerung und unkovertebraler Osteophyt.
akuten Lumbago, zur Irritation der sensiblen Fa-
sern des Ramus meningeus im hinteren Längs- Klinik. Die Symptome eines zervikobrachialen
band. Muskuläre Symptome sind sekundär. Durch Syndroms durch knöcherne Bedrängung der
die reflektorische, entlastende Schiefhaltung stel- Nervenwurzel setzen allmählich ein und werden
len sich die Wirbelgelenkfacetten in eine extreme durch eine positionsabhängige dermatombezoge-
Position; zur Aufrechterhaltung dieser Stellung ist ne Brachialgie bestimmt. Charakteristisch ist der
eine Dauerkontraktur der Schulternackenmuskeln nächtliche Schmerz, der mit »Ameisenkribbeln«
erforderlich. und Taubheitsgefühl im Dermatom einhergeht.
Typisch ist ein chronisch rezidivierender Verlauf.
Klinik. Anamnestisch finden sich uncharakteristi- Durch äußere Einwirkungen (Beschleunigungs-
sche Angaben. Mitunter sind bei Kindern Drehbe- verletzung der Halswirbelsäule, Schleudertrau-
wegungen der HWS unter Belastung vorausgegan- ma), Haltungskonstanz in ungünstiger Stellung
gen, manchmal entwickelt sich ein akuter Schief- (Schreibtischarbeit, Fernsehen) kann das Syndrom
hals morgens beim Aufstehen, wenn der Patient aktualisiert werden. Beschwerdefreie Intervalle, die
verdreht im Bett gelegen hat; oft ist die Anamnese oft Monate oder Jahre lang anhalten, wechseln mit
leer. Phasen stärkster Schmerzen ab. Am häufigsten ist
Bei der Inspektion imponiert eine groteske die untere Halswirbelsäule betroffen.
Schiefstellung des Kopfes. Palpatorisch findet sich
eine einseitig betonte Anspannung der Schulterna- C6-Syndrom. Charakteristisch ist die Ausstrah-
ckenmuskulatur. Die HWS ist aus der Fehlhaltung lung zum Daumen. Bei massiver Kompression
heraus nur geringgradig und als kompakte Einheit der C6-Wurzel ist der Bizepssehnenreflex abge-
bewegbar. schwächt bzw. erloschen und die grobe Kraft beim
Anwinkeln des Ellenbogens reduziert (⊡ Abb. 5.33,
Therapie. Der Schiefhals ist v.a. bei Kindern und  Übersicht 5.13).
Jugendlichen durch seinen stets gutartigen Verlauf
gekennzeichnet. Unter der Therapie mit Traktion, C7-Syndrom. Charakteristisch ist die Ausstrahlung
Antiphlogistika und Halskrawatte kommt es rasch zum Mittelfinger. In schweren Fällen kommen Tri-
zur Beseitigung der Fehlhaltung. zepsmuskelschwäche, Abschwächung des Trizeps-
reflexes und Daumenballenatrophie hinzu (⊡ Abb.
Zervikobrachiales Syndrom 5.34).

Definition C8-Syndrom. Charakteristisch ist eine Ausstrah-


Es handelt sich um ein Zervikalsyndrom mit Aus- lung zur Kleinfingerseite der Hand. Motorische
strahlung in die obere Extremität. Störungen betreffen die Fingerbeuger und die
Dabei kann es sich um Schmerzen, Parästhesien Muskeln des Kleinfingerballens (⊡ Abb. 5.35).
und neurologische Ausfälle mit Reflexdifferenzen
und Muskelatrophien handeln. In der Regel ist es
Zervikozephales Syndrom
jedoch nur ein ins betroffene Segment ausstrah-
Definition
lender Schmerz, der das Krankheitsbild definiert.
Ein zervikozephales Syndrom ist ein Zervikal-
syndrom, das mit Kopfschmerzen, Schwindeler-
Pathogenese. Ein zervikobrachiales Syndrom wird scheinungen, manchmal auch mit Hör-, Seh- und
entweder durch einen (weichen) Diskusprolaps Schluckstörungen einhergeht.
oder durch harte (knöcherne) Konstriktionen am
160 Kapitel 5 · Wirbelsäule

Übersicht 5.13. Zervikale Wurzelreizsyndrome


Nerven- Band- Peripheres Dermatom: Kennmuskel: Reflexabschwächung:
wurzel: scheibe:
C5 (C4/C5) Deltoideus Bizeps
C6 (C5/C6) Daumen Bizeps Bizeps
Teil Zeigefinger Brachioradialis Radiusperiost
C7 (C6/C7) Zeige- und Mittelfinger, Daumenballen Trizeps
Teil Ringfinger Trizeps
Pronator teres
5 C8 (C7/ Kleinfinger, Kleinfingerballen (Trizeps)
Th1) Teil Ringfinger Fingerbeuger
Interossei

⊡ Abb. 5.33 a–c. C6-Syndrom.


a Schmerz- und Hypästhesie-
feld im Daumen-Zeigefinger-
Bereich. b Einschränkung der
groben Kraft bei Ellenbogen-
beugung. c Abschwächung des
Bizepsreflexes

⊡ Abb. 5.34 a–d. C7-Syndrom.


a Schmerz- und Hypästhesie-
feld im Mittelfingerbereich.
b Reduktion der groben Kraft
bei der Ellenbogenstreckung.
c Abschwächung des Trizepsre-
flexes. d Atrophie der Daumen-
ballenmuskulatur
5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
161 5
⊡ Abb. 5.35 a–c. C8-Syndrom.
a Schmerz- und Hypästhesie-
feld im Kleinfingerbereich.
b Einschränkung der groben
Kraft bei der Fingerbeugung.
c Atrophie der Kleinfingerbal-
lenmuskulatur

Übersicht 5.14. Terminologie und Definition der Zervikalsyndrome


Zervikal-Syndrom (CS) (HWS-Syndrom) Beschwerden durch degenerative
Veränderungen der HWS
Lokales Zervikal- Auf die HWS-Region beschränkte
Syndrom (LCS) Beschwerden beim CS
Zerviko-brachiales (Schulterarm-Syndrom Zervikalsyndrom mit Ausstrahlung
Syndrom (CBS) Zervikales Wurzelsyndrom in den Arm
Zervikalbrachialgie)
Zerviko-zephales (Migraine cervicale CS mit Kopfschmerzen
Syndrom Zervikale Kopfschmerzen Schwindel
Zervikaler Schwindel) Hör-Seh-Schluckstörungen
Zerviko-medulläres CS mit Rückenmarksymptomen
Syndrom (CMS)
Posttraumatisches (Zustand nach Schleudertrauma- CS nach Verletzung der HWS
Zervikal-Syndrom Distorsion)
Akuter Schiefhals (Torticollis akutes CS) Akutes CS mit betonter Fehlhaltung

Pathogenese. Das zervikozephale Syndrom wird nungen, die sich bei der Kopfrückneigung und Ro-
durch eine Bedrängung der Arteria vertebralis und tation bemerkbar machen ( Übersicht 5.14). Die
des Halssympathikus im Bereich der Halswirbel- Positionsabhängigkeit der Beschwerden bestimmt
säule verursacht. Als Störfaktoren kommen Fehl- auch den therapeutischen Ansatz.
stellungen der Gelenke am Kopf-Hals-Übergang, Wegen der starken Kopfschmerzen wird das
Achsenabweichungen der Halswirbelsäule, Ver- Krankheitsbild auch »Migraine cervicale« ge-
schiebung der Wirbel gegeneinander und Einen- nannt.
gung des Arteria vertebralis-Kanals durch laterale Unter Traktion in Kyphose und Anlegen einer
knöcherne Ausziehungen an den Processus unci- Halskrawatte in leichte Flexionsstellung kommt es
nati C4 bis C7 in Frage. Meistens handelt es sich um zur Beschwerdebesserung.
eine Kombination von Ursachen.
Differenzialdiagnose. Schmerzen und Schwindel-
Klinik. Neben den Symptomen des lokalen Zervi- erscheinungen, evtl. einhergehend mit Hör, Seh-
kalsyndroms bestehen in erster Linie positionsab- und Schluckstörungen erfordern immer eine voll-
hängige Kopfschmerzen und Schwindelerschei- ständige Diagnostik der betroffenen Fachgebiete.
162 Kapitel 5 · Wirbelsäule

Der Morbus Ménière verursacht länger anhaltende setzten Muskelgruppen durchführen lassen. Beim
Schwindelerscheinungen und geht mit Erbrechen HWS-Syndrom sind es in erster Linie isometrische
einher. Muskelkräftigungsübungen für die Schulterna-
ckenmuskulatur. Auch die Übungen sollten, wie
Zervikomedulläres Syndrom alle Begleitmaßnahmen, die Flexionshaltung der
Halswirbelsäule als Ausgangsstellung haben. Eine
Definition axiale Traktion entweder manuell (und) oder im
Unter einem zervikomedullären Syndrom versteht Glisson-Zug kann zur Entlastung der komprimier-
man die Rückenmarkkompression durch dor- ten Nervenwurzel beitragen.
somediale Bandscheibenvorwölbungen oder
5 spondylotische Ausziehungen.
Operationen
Indikationen zur operativen Behandlung ergeben
sich sehr selten. Hauptindikation stellt der zervi-
Pathogenese und Klinik. Medulläre Syndrome kale Diskusprolaps mit Nervenwurzelbedrängung
durch degenerative Veränderungen an der HWS oder Rückenmarkkompression dar. Es gibt ventra-
sind selten. Die Hauptrichtung der Bandscheiben- le Fusionsoperationen, bei denen die Bandschei-
vorfälle und knöchernen Ausziehungen zielt nach be ausgeräumt und verblockt wird, und dorsale
lateral oder dorsolateral. Diagnosesicherung er- Dekompressionen mit Erweiterung der Foramina
folgt bei vorliegender partieller Querschnittsymp- intervertebralia.
tomatik durch CT, NMR oder Myelographie.
5.4.5 Thorakalsyndrome
Therapie der Zervikalsyndrome
Neben der primär mechanischen Komponente
muss man auch sekundäre Krankheitserscheinun- Definition
gen wie Muskelverspannungen, Haltungsfehler Das Thorakalsyndrom stellt den Sammelbegriff
und psychische Veränderungen behandeln. Wär- für alle klinischen Erscheinungen dar, die durch
meanwendungen, Elektrotherapie, Massagen und degenerative Veränderungen der BWS verursacht
Analgetika sollen diese sekundären Erscheinungen werden.
beseitigen und den Circulus vitiosus Schmerz-Ver- Die Thorakalsyndrome stellen nur etwa 2% aller
spannung-Fehlhaltung-Schmerz unterbrechen. degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen.
Wichtiger Bestandteil der Therapie von Zer-
vikalsyndromen ist die vorübergehende Anwen-
dung von Halskrawatten. Hiermit werden alle Spezielle Anatomie und Pathogenese. Im wesent-
Bewegungen unterbunden, die zu wiederholten lichen sind es zwei Gründe, dass degenerative Er-
mechanischen Irritationen der gereizten Nerven- krankungen an der Brustwirbelsäule
wurzeln und der sensiblen Rezeptoren im hinte- nicht in gleicher Frequenz auftreten wie an der
ren Längsband und in den Wirbelgelenken führen. Hals- und Lendenwirbelsäule:
Schmerzauslösende Kopfhaltungen ergeben sich ▬ Anders als an der HWS und LWS befinden sich
unwillkürlich bei unbedachten Bewegungen oder die Foramina intervertebralia der Brustwirbel-
im Schlaf. Darüber hinaus wird die körpereigene säule nicht hinter den Bandscheiben, sondern
Wärme durch den isolierenden Verband im Schul- auf der Höhe des Wirbelkörpers.
ternackenbereich gestaut und entspannt dort die ▬ Die Brustwirbelsäule ist durch den Brustkorb
Muskeln. gut geschient, so dass Extrembewegungen mit
Krankengymnastische Übungen sind v.a. wäh- intradiskalen Massenverschiebungen weniger
rend der Rehabilitationsphase angebracht. Paral- leicht möglich sind.
lel zum Tragen einer immobilisierenden Orthese
– in diesem Falle Halskrawatte – muss man immer Die vorwiegend an der Brustwirbelsäule entste-
Kräftigungsübungen für die außer Funktion ge- henden Wirbelsäulendeformierungen in der Sa-
5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
163 5

gittal- und Frontalebene (Morbus Scheuermann, Wichtig


Skoliose) entwickeln sich langsam und erlauben Pathogenetisch wirksam für das Entstehen dege-
den Nervenwurzeln ausreichende Adaptations- nerativer Veränderungen in den unteren lumbalen
möglichkeiten. Trotzdem kommt es zu Bandschei- Bewegungssegmenten ist der hohe Belastungs-
benvorwölbungen, Wirbel- und Wirbelrippenge- druck, dem die unteren lumbalen Bandscheiben
lenkverschiebungen, die lokale und ausstrahlende ausgesetzt sind.
Schmerzen verursachen können.

Klinik. Die Symptomatologie der thorakalen Spi- Hier muss das Gewicht aller höher gelegenen Ab-
nalnervenwurzeln erschöpft sich i. allg. in typisch schnitte des Organismus auf einer kleinen Fläche
lokalisierten, gürtelförmigen Schmerzen, evtl. dis- von wenigen Quadratzentimetern getragen wer-
kreten Störungen der Algesie, deren Topik sich den. Andererseits vergrößert sich der Belastungs-
aus dem Dermatomschema ergibt. Ein wichtiges druck bei Verlagerungen des Oberkörpers aus der
diagnostisches Kriterium für die vertebragene In- Mittellinie um ein Vielfaches.
terkostalneuralgie ist auch an der Brustwirbelsäule
die Positionsabhängigkeit der Beschwerden. Unter Intradiskale Massenverschiebungen
Entlastung bzw. Extension lassen die Schmerzen und dorsale Protrusionen
nach. Bei Belastung und bestimmten Körperdreh- Frühzeichen der lumbalen Bandscheibenlocke-
bewegungen verstärken sie sich. rung sind Risse in den zentral gelegenen Anteilen
des Anulus fibrosus, die ihren Ausgang von herd-
Differenzialdiagnose. Differenzialdiagnostisch förmigen, regressiven Veränderungen nehmen. In
kommen segmental ausstrahlende Schmerzen bei diese Risse dringen Teile des Gallertkerns ein und
und nach einem Zoster in Frage. setzen den äußeren Faserring sowie das hintere
Durch die typischen Hautveränderungen ist Längsband unter Zugspannung. Damit werden die
hier die Diagnose meistens sichergestellt. sensiblen Fasern des Ramus meningeus des Spi-
nalnerven gereizt. Dieses Derangement ist noch
Therapie. Die Therapie der Thorakalsyndrome ist auf den Innenraum der Bandscheibe beschränkt.
konservativ und besteht in der Entlastung durch Wenn der Vorgang in einer lumbalen Bandscheibe
Horizontallagerung, Wärmeanwendung aller Art stattfindet, entsteht eine Lumbago; beim Kind und
sowie in der lokalen Injektionsbehandlung im be- Jugendlichen entwickelt sich das Bild einer Hüft-
troffenen Segment. lendenstrecksteife. Die Übergänge zur lumbalen
Bandscheibenprotrusion und zum Prolaps sind
5.4.6 Lumbalsyndrome fließend. Klinisch bedeutungsvoll sind die Verlage-
rungen von Bandscheibengewebe nach dorsal und
Spezielle Anatomie und Pathogenese. Die Zwi- dorsolateral. Neben Kreuzschmerzen entwickeln
schenwirbellöcher mit ihren Spinalnerven finden sich Nervenwurzelreizerscheinungen.
sich an der Lendenwirbelsäule in Höhe der Band- Für die klinische Symptomatik ist entschei-
scheiben, so dass eine enge Beziehung zwischen dend, ob sich eine seitliche Protrusion mehr zur
den degenerativen Veränderungen in der Band- Mitte hin (paramedian), zur Seite (lateral) oder
scheibe und den Spinalnerven besteht. Die Zwi- ganz nach außen (intraforaminal) entwickelt.
schenwirbellöcher werden außerdem dorsal durch Die durch eine Vorwölbung (Protrusion) her-
die Facetten der Wirbelgelenke begrenzt, so dass vorgerufene Symptomatik zeigt einen wechselhaf-
auch hier Irritationsmöglichkeiten bestehen. ten Verlauf, denn das vorgewölbte Gewebe ist noch
Bestandteil eines intakten osmotischen Systems
und macht alle druckabhängigen Flüssigkeitsver-
schiebungen mit den entsprechenden Volumen-
schwankungen und Konsistenzänderungen der
Bandscheibe mit. Sofern sich noch eine kräftige
164 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.36. a Bandscheiben-


protrusion: Der Anulus fibrosus
ist noch intakt. Eine Rückverla-
gerungsmöglichkeit des dislo-
zierten Bandscheibenmaterials
(Pfeil) ist gegeben. b Bandschei-
benvorfall (Prolaps): Das verla-
gerte Bandscheibengewebe ist
durch eine Perforation des Anu-
lus fibrosus hindurchgetreten
(Pfeil), eine Rückverlagerungs-
möglichkeit ist nicht gegeben

Lamelle des Anulus fibrosus über der Vorwölbung Gleichzeitige Seitenverschiebung und Rotation
befindet, besteht noch die Möglichkeit zur Rück- bezeichnet man als Drehgleiten. Strukturelle Lum-
verlagerung ins Bandscheibenzentrum (⊡ Abb. balskoliosen neigen zum Drehgleiten der Wirbel
5.36). im Krümmungsscheitel. Da die Dornfortsätze sich
zur Konkavseite – d.h. zur Mitte – drehen, ist die
Bandscheibenlockerung Deformierung, von außen betrachtet, nicht sehr
Nicht alle Beschwerden, die von lumbalen Bewe- auffällig.
gungssegmenten ausgehen, sind auf Verlagerun-
gen von Bandscheibengewebe zurückzuführen. Lokales Lumbalsyndrom, Kreuzschmerzen
Wesentlich häufiger sind klinische Erscheinungen
auf Grund von Bandscheibenlockerungen. Definition

Unter einem lokalen Lumbalsyndrom versteht


Wichtig
man alle klinischen Erscheinungen, welche auf de-
Man versteht unter Bandscheibenlockerung alle generative und funktionelle Störungen lumbaler
Erscheinungen, welche auf einer zunehmenden Bewegungssegmente zurückzuführen sind und in
Wasserverarmung der Grundsubstanz und dem ihrer Symptomatik im wesentlichen auf die Lum-
Elastizitätsverlust der Fasern beruhen. balregion beschränkt bleiben.
Vom akuten Hexenschussanfall, der plötzlich
einsetzt und ebenso rasch wieder verschwindet,
Im Zusammenhang damit treten Insuffizienzer- bis zu chronisch rezidivierenden Kreuzschmerzen
scheinungen der Rumpfmuskeln, Fehlbeanspru- gibt es beim lokalen Lumbalsyndrom alle Über-
chungen der Wirbelgelenke, Insertionstendopa- gänge.
thien, u.U. Nervenwurzelreizerscheinungen durch
Kompression des Spinalnervs im Foramen inter-
vertebrale auf. Auch bei der Pathogenese der lum- Pathogenese. Ausgangspunkt der Beschwerden
balen Wirbelkanalstenose spielt die Bandscheiben- sind degenerative Veränderungen der unteren
lockerung eine Rolle. lumbalen Bewegungssegmente mit mechanischer
Die Verschiebungen der Wirbelgelenke führen Irritation des hinteren Längsbandes, der Wirbel-
zur Überdehnung der Wirbelgelenkkapseln mit gelenkkapseln und des Wirbelperiosts. Es sind
entsprechenden Beschwerden. Auch Verschiebun- vorwiegend sensible Fasern des Ramus meningeus
gen der Wirbel gegeneinander entstehen durch und des Ramus dorsalis der Spinalnerven betrof-
Bandscheibenlockerung. Kommt es zur Dislo- fen. Reflektorische Anspannung der Rückenstreck-
kation eines Wirbels nach dorsal, so spricht man muskeln wird als unangenehm und schmerzhaft
von Retrolisthesis, bei der Verschiebung nach ven- empfunden.
tral von einer degenerativen Spondylolisthesis.
5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
165 5
⊡ Abb. 5.37. Beschwerdeauslösende Momente
bei Lockerung einer lumbalen Bandscheibe und
ihre Verstärkung durch Lordosierung. Wirbel-
gelenke und Dornfortsätze werden unter Druck
gesetzt (Pfeile). Die von den Wirbelgelenkfacetten
ausgehenden Beschwerden nennt man Facetten-
syndrom. Das Aneinanderreiben der Dornfort-
sätze heißt Kissing-Spine-Syndrom (Baastrup1-
Syndrom)

Klinik. Die Patienten leiden unter positionsabhän- vom Untersuchungstisch wieder in die aufrechte
gigen Kreuzschmerzen, Verspannungen der lum- Haltung begeben. Die Dornfortsätze der unteren
balen Rückenstreckmuskeln und Bewegungsein- LWS erweisen sich bei der Palpation als druck- und
schränkungen der Lendenwirbelsäule. klopfempfindlich. Unter entsprechender Therapie
mit Wärmeanwendungen, entlastender Lagerung
Wichtig und kurzfristiger Applikation von Analgetika klin-
Die Lumbago (Hexenschuss) stellt eine akute Form gen die Beschwerden rasch wieder ab.
des lokalen Lumbalsyndroms dar.
Wichtig

Das Facettensyndrom stellt die chronisch rezidivie-


In der Anamnese dominieren unvorhergesehe- rende Form des lokalen Lumbalsyndroms dar. Die
ne Belastungen der Wirbelsäule wie Bücken und Beschwerden gehen von den lumbalen Wirbelge-
Heben; außerdem werden häufig Kälte- und Näs- lenkkapseln aus.
seeinwirkung angegeben. Der meistens blitzartig
einschießende Kreuzschmerz führt sofort zur Be-
wegungssperre der LWS, die in einer charakteris- Eine beschwerdeauslösende Hyperlordose der
tischen Fehlhaltung erstarrt. Um die Bewegungs- LWS stellt sich bei vielen Menschen durch Hal-
sperre als Entlastungshaltung aufrecht zu erhalten, tungsschwäche im Stehen ein. Zur Verstärkung der
kommt es reflektorisch zur starken Anspannung Beschwerden kommt es auch beim Bergabgehen
der lumbalen Rückenstreckmuskeln. Aktive oder und bei Tätigkeiten, die mit einer Rückneigung
passive Bewegungsversuche aus dieser fixierten des Rumpfes verbunden sind. Mitunter gehen die
Fehlhaltung heraus sind mit heftigen Schmerzen Kreuzschmerzen mit einer Ausstrahlung in Gesäß,
verbunden. Der Patient vermeidet ängstlich jede Leisten, Unterbauch, Oberschenkel und Trochan-
Bewegung und berichtet auch über eine Schmerz- terregion einher. Deswegen wird das Facettensyn-
verstärkung beim Niesen, Husten und Pressen. Die drom auch Pseudoradikuläres Lumbalsyndrom
Hauptschmerzzone findet sich in der unteren Lum- genannt. Die Schmerzen werden als diffus flächig
balregion und über dem Kreuzbein,eine Rumpfbeu- bezeichnet und mit der flach aufgelegten Hand
gung ist nicht möglich und wird, wenn überhaupt, demonstriert, im Gegensatz zu Patienten mit ra-
nur in den Hüftgelenken – bei völliger Steifhaltung dikulären Syndromen, die das betroffene Derma-
der LWS – ausgeführt. Der Patient kann sich nur tom umschrieben mit einem Finger zeigen können
mit einer charakteristischen Seit-Roll-Bewegung (⊡ Abb. 5.37,  Übersicht 5.15).

1 Christian Baastrup, Radiologe, Kopenhagen (1885–1950)


166 Kapitel 5 · Wirbelsäule

Pathogenese. Ursachen einer Ischialgie sind


Übersicht 5.15. Kreuzschmerz – Memo meistens Protrusionen oder Prolapse der unteren
▬ Kreuzschmerz nach Aufstehen morgens, beiden lumbalen Bewegungssegmente. Die Be-
der allmählich verschwindet: degenerativ drängung der Nervenwurzeln durch das verlagerte
▬ Kreuzschmerz beim Gehen und Stehen, Bandscheibengewebe erfolgt i. d. R. direkt in Höhe
der beim Sitzen und Vornüberneigen ver- der erkrankten Bandscheibe (⊡ Abb. 5.38). Extra-
schwindet: diskal gelegenes Prolapsgewebe kann die Nerven-
Spinalkanalstenose wurzeln, aber auch hinter dem Wirbelkörper oder
▬ Kreuzschmerz in der 2. Hälfte der Nacht: im Zwischenwirbelloch (intraforaminal) kompri-
Verdacht auf Bechterew mieren. Als weitere Ursachen einer Ischialgie auf
5 ▬ Dauerkreuzschmerz mit nächtlicher Ver- degenerativer Basis kommen knöcherne Bedrän-
stärkung: Psyche gungen durch appositionelles Wachstum an den
▬ Cave: Immer Tu und -itis-Ausschluss Wirbelhinterkanten oder an den Gelenkfacetten im
Rahmen der Spinalkanalstenose in Frage. Während
beim lokalen Lumbalsyndrom die Symptomatik
Wichtig vorwiegend durch die Rr. meningei und Rr. dorsa-
Aufgrund der Pathophysiologie von Facetten- les des Spinalnervs bestimmt werden, stehen beim
syndrom und M. Baastrup sind alle lordosever- lumbalen Wurzelsyndrom Erscheinungen aus dem
stärkenden, also reklinierenden Maßnahmen, zu Versorgungsgebiet der ventralen Spinalnervenäste
vermeiden. Entlordosierung entlastet die kompri- im Vordergrund.
mierten Areale. Besonders für Therapie und Prognose ist es von
Bedeutung, ob das lumbale Wurzelsyndrom von ei-
ner Protrusion oder von einem Prolaps verursacht
Lumbale Wurzelsyndrome, Ischialgie wird. Die Heilungsaussichten bei einer Protrusion
sind wesentlich günstiger als bei einem Prolaps.
Definition

Unter Ischialgie (Ischias, Lumboischialgie) ver- Klinik. Bei einem lumbalen Wurzelsyndrom finden
steht man ein Lumbalsyndrom mit Beteiligung der sich neben den Leitsymptomen des lokalen Lum-
Spinalnervenwurzeln L5/S1, zum Teil L4 und S2, balsyndroms die typischen Ischiaszeichen mit
aus denen sich der Ischiasnerv zusammensetzt. positivem Lasègue1-Zeichen, segmental ausstrah-
Ein Lumbalsyndrom mit Beteiligung der Spinal- lenden Schmerzen, dermatomabhängigen Sensibi-
nervenwurzeln L2/3 und zum Teil L4 betrifft die litätsstörungen, Reflexdifferenzen und Störungen
Wurzeln des N. femoralis und wird als hohes lum- der Motorik.
bales Wurzelsyndrom bezeichnet.

⊡ Abb. 5.38. a Normalansicht


einer lumbalen Bandscheibe:
1 Wirbelbogen, 2 Duralsack,
3 Nervenwurzel, 4 Bandschei-
benring, 5 Gallertkern. b Vor-
wölbung der Bandscheibe nach
hinten mit Druck auf das hinte-
re Längsband: Hexenschuss.
c Vorwölbung der Bandscheibe
nach hinten seitlich mit Druck
auf die Nervenwurzeln: Ischias

1 Ernest Lasègue, Internist, Paris (1816–1883)


5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
167 5
Wichtig Bei einer Kompression der Nervenwurzel L4
Führendes Symptom und namengebend für die findet sich eine Abschwächung des M. tibialis an-
Ischialgie ist der in das Versorgungsgebiet der be- terior.
troffenen Wurzel ausstrahlende Schmerz.
▬ L5-Ischialgie. Der Schmerz strahlt von der Len-
denkreuzgegend über die Hinteraußenseite
Das Schmerzband beginnt in den proximalen An- des Oberschenkels zur Vorderaußenseite des
teilen des Dermatoms und kann sich im weiteren Unterschenkels in Richtung auf den Außen-
Krankheitsverlauf nach distal ausbreiten. Manch- knöchel. Hier wird der Schmerz meistens am
mal bleibt der Schmerz proximal und schießt nur intensivsten empfunden. Das Schmerz- und
bei bestimmten Bewegungen, z.B. beim Husten, Hypästhesieareal findet sich auf dem Fußrü-
Niesen und Pressen, in den peripheren Segmen- cken und im Bereich der Großzehe. Bei intensi-
tanteil ein. Das Vorkommen der Ischiasleitsymp- ver Wurzelkompression kann es zur Fuß- und
tome hängt von Sitz und Größe der mechanischen Zehenheberschwäche kommen. Konstant pare-
Wurzelbedrängung ab. Die Beteiligung der Einzel- tischer Kennmuskel L5 ist der M. extensor hal-
symptome am Gesamtkrankheitsbild kann wech- lucis longus (⊡ Abb. 5.39).
seln. Bei kompletter Wurzelkompression kann der ▬ S1-Ischialgie. Das Schmerz- und Hypästhesie-
Schmerz vollständig verschwinden, dafür kommt band liegt dorsal von dem des L5-Syndroms,
es im betroffenen Segment zu Anästhesie und z.B. also an der Hinterseite des Ober- und Unter-
im Segment L5 zu Fuß- und Zehenheberparesen. In schenkels. Distal findet sich eine Ausstrahlung
diesen Fällen muss sofort operiert werden. zur Ferse und zum Fußaußenrand einschl. der
Die ischiatische Fehlhaltung gibt gewisse Hin- Zehen III–V. Motorische Innervationsstörun-
weise auf den Sitz des Prolapses oder der Protrusi- gen finden sich beim S1-Syndrom im Bereich
on in Relation zum Nervenwurzelabgang. des M. triceps surae mit Einschränkung der
Die Fehlhaltung ist als reflektorisches Auswei- groben Kraft bei der Plantarflexion, d.h. beim
chen zur Entlastung der Nervenwurzel zu verste- Zehenspitzenstand. Auch Paresen der Glutäal-
hen. Der Patient nimmt unwillkürlich im Stehen muskulatur kommen vor. Charakteristisches
die Rumpfhaltung ein, bei der die Kompression der Zeichen ist die Abschwächung oder das Fehlen
Nervenwurzel durch das verlagerte Bandscheiben- des Achillessehnenreflexes, das schon bei ge-
gewebe am geringsten, evtl. sogar aufgehoben ist. ringer Bedrängung der Wurzel S1 zu verzeich-
Meistens verstärkt sich die ischiatische Fehlhal- nen ist. (⊡ Abb. 5.40).
tung bei der Rumpfvorneigung. Unter Umständen
macht sie sich erst bei dieser Bewegung bemerkbar. Differenzialdiagnose der Ischialgie
Die einzelnen Wurzelsyndrome sind wie folgt ge- Eine Bedrängung der Spinalnervenwurzeln oder
kennzeichnet: des peripheren Ischiasnervs ist auch durch ande-
▬ Hohes lumbales Wurzelsyndrom (L3 und L4). re mechanische oder entzündliche Prozesse und
Das Schmerz- und Hypästhesieband findet retroperitoneale Verdrängungen möglich.
sich an der Vorderinnenseite des Oberschen-
kels und an der Innenseite des Unterschenkels. Wichtig
Die grobe Kraft des M. quadriceps ist redu- Eine Ischialgie bei Spondylolisthesis ist meistens
ziert, der Patellasehnenreflex abgeschwächt. doppelseitig.
Das Lasègue-Zeichen ist negativ. Dafür kann
man in einem großen Teil der Fälle in Bauchla-
ge beim Anheben des gestreckten Beines einen Zur Nervenirritation beim Wirbelgleiten kommt es
Schmerz als sog. Femoralisdehnungsschmerz durch fibröse Wucherungen im Bereich der Bogen-
auslösen. spalte und durch Ausziehungen der Wurzel über
die Hinteroberkante des unter dem Gleitwirbel
befindlichen Wirbels.
168 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.39. L5-Syndrom.


(Näheres s. Text)

⊡ Abb. 5.40. S1-Syndrom

Wenn sich eine Spondylitis nach dorsal aus- Therapie der Lumbalsyndrome
breitet, entstehen Wurzelreizerscheinungen, die Konservative Behandlung. Eine Reihe allgemei-
sich durch Positionsänderungen und Extension ner therapeutischer Maßnahmen wie Bettruhe,
nicht ändern. Charakteristisch ist der nächtliche Wärmeapplikation, Massage und Elektrotherapie,
Schmerz. Wirbeltumoren, meistens in Form von Gabe von Analgetika greifen in irgendeiner Form
Metastasen, verursachen Ischiassymptome, wenn in den Circulus vitiosus Schmerz-Verspannung-
die Tumormassen den Spinalnerven im Wirbelka- Schmerz ein und führen in leichteren Fällen allein
nal bedrängen ( Übersicht 5.16). zur Beschwerdefreiheit.
Da lumbale Bandscheiben in der Horizontalla-
gerung mit Abflachung der Lendenlordose durch
5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
169 5

Übersicht 5.16. Terminologie und Definition der Lumbalsyndrome


Lumbal-Syndrom (LS) (LWS-Syndrom, Lumbales Beschwerden durch degenerative
Bandscheiben-Syndrom) Veränderungen der LWS
Lokales Lumbal- (Lumbalgie, Kreuzschmerzen) Auf die Lumbosakral-Region
Syndrom (LLS) beschränkte Beschwerden beim LS
Lumbago (Akutes LS, Hexenschuss) Akute Form der LLS
Pseudoradikuläres (Facetten-Syndrom) Von den lumbalen Wirbelgelenken und
Lumbal-Syndrom Rändern ins Bein ausstrahlende Schmerzen
ohne segmentale Ausstrahlung
Radikuläres LS mit segmentaler Ausstrahlung ins Bein
Lumbal-Syndrom
Ischialgie (Ischias, Lumboischialgie, Lumbales Wurzel-Syndrom unter Beteiligung
unteres radikuläres der Wurzeln L4–S2
Lumbal-Syndrom)
Oberes radikuläres (Femoralisneuralgie) Lumbales Wurzel-Syndrom unter
Lumbal-Syndrom Beteiligung der Wurzeln L1–L4
Kauda-Syndrom (Lumbosakrales
Querschnitt-Syndrom)

Anwinkelung der Hüft- und Kniegelenke am we- Die Indikation für eine manuelle Therapie ist
nigsten belastet sind, empfiehlt sich als Erstmaß- bei bandscheibenbedingten Erkrankungen be-
nahme die sog. Stufenlagerung (⊡ Abb. 5.41). grenzt. Eine Kontraindikation besteht darin, das
Wärme in Form von Fangopackungen, Heiz- betroffene Segment zu mobilisieren. Hier besteht
kissen und Rotlicht wirkt schmerzlindernd und die Hauptgefahr, dass sich die Beschwerden durch
baut die Muskelverspannungen ab. Bei sehr star- Weiterverlagerung des Bandscheibengewebes ver-
ken Schmerzen gibt man zusätzlich Analgetika und schlimmern und u.U. Lähmungserscheinungen
Antiphlogistika, wie z.B. Diclofenac, Indometacin auftreten. Eine Mobilisation von benachbarten
u. a. Mit Massage und Elektrotherapie wird beim Segmenten ist durchaus indiziert, sollte jedoch nur
akuten Lumbalsyndrom erst dann begonnen, wenn von erfahrenen Manualtherapeuten durchgeführt
die akuten Erscheinungen durch Lagerung, Wärme werden.
und Analgetika weitgehend abgeklungen sind. Bei
der Elektrotherapie kommen hochfrequente Strö- Traktion. Bei verlagertem Bandscheibengewebe
me, niederfrequente Stromarten und Interferenz- mit noch geschlossenem Anulus fibrosus besteht
ströme zur Anwendung. noch eine gute therapeutische Chance zur Rück-
verlagerung des Gewebes ins Bandscheibenzen-
trum durch manuelle Therapie, v.a. aber durch
Traktion. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die
Wirbelsäule im LWS-Bereich zu strecken, so z.B.
durch »Aushängen«, Anlegen von Dauerzügen am
Beckenkamm oder durch eine Streckbandage.

Orthesen. Bei degenerativen Wirbelsäulenerkran-


⊡ Abb. 5.41. Stufenlagerung: Hüft- und Kniegelenke befinden kungen nutzt man die stützende und korrigierende
sich im rechten Winkel und bilden die Form einer Stufe. In
dieser Lagerung ist der Ischiasnerv maximal entspannt, die
Funktion von Rumpforthesen (⊡ Abb. 5.42). Indi-
Lendenlordose ist abgeflacht; dadurch erweitern sich die Fo- kationen ergeben sich bei postoperativer Segmen-
ramina intervertebralia, der lumbale Wirbelkanal wird weiter tinstabilität, z.B. nach der Diskotomie, perkutaner
170 Kapitel 5 · Wirbelsäule

mend andere Ausgangsstellungen eingenommen


bis hin zu belastenden Ausgangspositionen.
In diesen Ausgangsstellungen versucht der
Patient wieder normale Bewegungsabläufe durch-
zuführen und dabei die betroffenen Wirbelsäu-
lenbereiche zu stabilisieren. Weiterhin gehört zur
Krankengymnastik bei degenerativen Wirbelsäu-
lenerkrankungen das Haltungs- und Verhaltens-
training im Rahmen der Rückenschule (s. dort).

5 Lokale Injektionsbehandlung. Durch Applikation


anästhesierender, entzündungshemmender und
entquellender Mittel an den Ort des Geschehens
versucht man einen direkten Einfluss auf die Form-
und Funktionsstörungen im lumbalen Bewegungs-
segment zu gewinnen. Bei der paravertebralen
Injektion wird das Lokalanästhetikum (z.B. 0,5%
Lidocain) paravertebral in die unmittelbare Umge-
bung des Foramen intervertebrale appliziert. Dort
erreicht man, neben aus dem Foramen interverte-
⊡ Abb. 5.42 a, b. Flexionsorthese zur Behandlung des Lum- brale austretenden Spinalnerven, auch den Ramus
balsyndroms, insbesondere wenn die Beschwerden von den meningeus, der in den Wirbelkanal zurückzieht.
Wirbelgelenken oder vom Foramen intervertebrale ausgehen. Mit der epiduralen Injektion kann man anäs-
Im Unterschied zu a sind die Foramina intervertebralia in b
durch Abflachung der Lendenlordose deutlich weiter. Diesen
thesierende und entzündungshemmende Mittel
Effekt erreicht man durch eine Orthese mit suprapubischer direkt an den Ort bringen, an dem das verlagerte
Bauchpelotte, die den Bauch zusammendrückt und einem ge- Bandscheibengewebe die Nervenwurzel kompri-
raden Rückenteil, der ober- und unterhalb der Lendenlordose miert und ödematös aufquellen lässt. Steht die
ansetzt. Durch die intraabdominelle Druckerhöhung wird au- Symptomatik von seiten der Wirbelgelenkkapseln
ßerdem der intradiskale Druck erniedrigt (um etwa 30%)
im Vordergrund, wie z.B. beim Facettensyndrom,
ist die Injektion in die lumbalen Wirbelgelenke in-
diziert.
Nukleotomie und Chemonukleolyse. Die Orthesen
sollen durch intraabdominelle Druckerhöhung das Intradiskale Therapie. Die intradiskale Therapie
Bewegungssegment entlasten und die Lordose der erfolgt durch Chemonukleolyse oder perkutane
Lendenwirbelsäule abflachen. Mit der Abflachung Nukleotomie.
der Lendenlordose kommt es zur Erweiterung der ▬ Chemonukleolyse. Prinzip: Durch Injektion
Zwischenwirbellöcher und des Wirbelkanals. chondrolytischer oder quelldruckreduzie-
render Substanzen in den Zwischenwirbelab-
Krankengymnastik/Physiotherapie. Schmerzlin- schnitt kann man einen direkten Einfluss auf
derung durch axiale Traktion bzw. durch entspan- das vorgewölbte Bandscheibengewebe gewin-
nende Lagerung für die Hals- und Lendenwirbel- nen. Voraussetzung ist eine geschlossene Band-
säule. scheibe, damit das Injektionsmittel nicht in den
Entlastungshaltung: Für die Halswirbelsäule in Epiduralraum abfließt. Deswegen muss vor je-
leichter Kopfvorneigung bei Kopfabstützung, für der intradiskalen Injektion eine Diskographie
die Lendenwirbelsäule in Stufenlagerung. Zu Be- erfolgen.
ginn sollten isometrische Spannungsübungen aus
der Entspannungshaltung durchgeführt werden. Injiziert wird vorwiegend Chymopapain, ein pro-
Nach Abnahme der Beschwerden werden zuneh- teolytisches Enzym aus der Papayapflanze. Das
5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
171 5

Einbringen des Mittels in den Bandscheibenin- ⚉ Fallbeispiel


nenraum erfolgt unter sterilen Bedingungen im Salvatore Prolli, 42, hat schon länger Rückenschmer-
Operationssaal mit Bildwandlerkontrolle. zen und seit 2 Tagen einen tauben Fuß. Er kann den
Als Komplikationen sind allergische Reaktionen rechten Vorfuß nicht mehr anheben. In der Anamnese
bis zum anaphylaktischen Schock (deswegen keine finden sich u.a. Nikotinabusus und Nierensteine.
wiederholte Anwendung), Infektionen (Spondylo- Befund. Fehlhaltung und Rumpfneigung zur linken
diszitis) und – bei versehentlicher intrathekaler Seite (heterolaterale ischiatische Fehlhaltung), positi-
Applikation – neurologische Störungen möglich. ver Lasègue, Fußheberparese rechts Kraftgrad III.
▬ Perkutane Nukleotomie. Prinzip: Punktion Diagnose. Bandscheibenprolaps L4/5 (s. ⊡ Abb. 2.5,
des Bandscheibeninnenraumes mit einem S. 43)
Kanülensystem mit Entfernung des zentralen Differenzialdiagnose. Durchblutungsstörungen und
mobilen Bandscheibengewebes mit Hilfe von Nierensteinkoliken sind ausgeschlossen.
Fasszangen und speziellen Saugfräsen. Therapie. Wegen des akuten Ausfalls der funktionell
wichtigen Fußhebermuskeln sofortige Bandscheiben-
Der Eingriff wird ähnlich wie die intradiskale In- operation.
jektion im OP unter Bildwandlerkontrolle durch-
geführt. Auch dieser Eingriff ist nur sinnvoll, wenn 5.4.7 Postoperative Beschwerden:
sich das verlagerte Bandscheibengewebe noch Postdiskotomiesyndrom (PDS)
innerhalb des Intervertebralabschnittes befindet
und vom Bandscheibenraum aus erreicht werden
kann. Definition
Hauptkomplikation: Infektion des Zwischen- Als Postdiskotomiesyndrom bezeichnet man
wirbelabschnittes mit Spondylodiszitis. alle anhaltenden, starken Beschwerden nach
der Operation einer lumbalen Bandscheibe, die
Operative Behandlung. Für eine Operation kom- durch Segmentinstabilität und Verwachsungen im
men nur schwerwiegende, konservativ nicht mehr Wirbelkanal (peridurale Fibrose) hervorgerufen
zu beherrschende Schmerzzustände in Frage. werden.
Verklebungen mit den dorsalen Anteilen der
Wichtig
Bandscheibe lassen die Nervenwurzeln an allen
Eine Entfernung des verlagerten Bandscheiben- Konsistenz- und Volumenänderungen des intra-
gewebes ist absolut indiziert, wenn eine Cauda- diskalen Gewebes teilnehmen.
equina-Kompressionssymptomatik besteht oder
akute Ausfallerscheinungen funktionell wichtiger
Muskeln auftreten. Prophylaxe. Zur Vermeidung des PDS ist ein atrau-
matisches Operieren bei der primären Bandschei-
benoperation unter Verwendung mikrochirur-
Eine relative Indikation findet sich bei anhaltend gischer Technik erforderlich. Die Indikation zur
starken therapieresistenten Wurzelsyndromen mit Diskotomie (Bandscheibenoperation) ist nur bei
extradiskaler Sequesterlage. eindeutigem Befund zu stellen. Liegt kein zwin-
Bei der Operation wird der Wirbelkanal nach gender Grund vor, sollte man im Zweifelsfall kon-
Entfernung des Ligamentum flavum auf der be- servativ vorgehen.
troffenen Seite eröffnet. Um an den Sequester zu
gelangen, ist mitunter die teilweise Entfernung des Wichtig
Wirbelbogens bis zur Hemilaminektomie erfor- Wer nicht diskotomiert wird, bekommt auch kein
derlich. Postdiskotomiesyndrom.
Komplikationen: Nerven-, Gefäß- und Dura-
verletzungen, Spondylodiszitis und postoperative
peridurale Vernarbungen.
172 Kapitel 5 · Wirbelsäule

5.4.8 Lumbale Wirbelkanalstenosen Idiopathische Wirbelkanalstenose


Hyperlordose
Spondylolyse, Spondylolisthesis
Definition B. Erworbene Ursachen
Unter Wirbelkanalstenose (Synonyma: Spinalka- Posttraumatische Stenose
nalstenose, Lumbalstenose) versteht man jede Degenerative Ursachen
Form einer Einengung des Wirbelkanals unter a) Knöcherne Reaktionen an Wirbelkanten
Ausschluss von Entzündungen (Spondylitis), Tu- und -gelenken
moren und kompletten Bandscheibenvorfällen. b) Bandscheibenprotrusion
c) Pseudospondylolisthesis
5 Postoperative Wirbelkanalstenose
Ätiologie und Pathogenese. An der Einengung a) nach Fusionsoperation
können sowohl knöcherne (Wirbelbogen, Wirbel- b) Narbengewebe
körper) als auch Weichteilstrukturen (Bandschei- C. Mischformen
be, Bindegewebe) beteiligt sein. Eine Wirbelka- Generalisierte Knochenerkrankungen
nalstenose kann je nach Ursache segmental oder a) Fluorose
generalisiert vorkommen. b) Morbus Paget
Unter den verschiedenen Ursachen der lumba- Idiopathische Wirbelkanalstenose mit
len Wirbelkanalstenose spielen die kombinierten degenerativen Veränderungen
Einengungen auf degenerativer Basis durch oste-
ophytäre Reaktionen an den Gelenkfacetten-Vor-
wölbungen der hinteren Bandscheibengrenzen Eine relativ geringe Protrusion des dorsalen Anu-
und Verschiebungen der Wirbel gegeneinander lus fibrosus oder kleine Randzacken bei Spon-
bei Bandscheibendegeneration im Zusammen- dylose können im relativ zu engen Wirbelkanal
hang mit einer anlagebedingten Einengung des schon erhebliche Beschwerden verursachen. Die
Wirbelkanals (idiopathische Wirbelkanalstenose) idiopathische Wirbelkanalstenose wird durch ab-
die größte Rolle (⊡ Abb. 5.43,  Übersicht 5.17). geflachte seitliche Rezessus oder Verkürzung des
a.-p.-Durchmessers bzw. der Interpedikulardistanz
verursacht.
Übersicht 5.17. Ursachen lumbaler Wirbel-
kanalstenosen Klinik. Charakteristisch für die Wirbelkanalstenose
A. Angeborene Ursachen ist die Claudicatio intermittens der Cauda equina.
Chondrodystrophie Unter Belastung, d.h. beim Gehen und Stehen, ent-
Wirbelmissbildungen wickeln sich Beinbeschwerden, z. T. mit segmenta-
ler Ausstrahlung, die sich unter Kyphosierung der

⊡ Abb. 5.43 a, b. Horizon-


talschnitt durch ein Bewe-
gungssegment in Höhe der
Bandscheibe (wie im CT). Bei
einer Einengung des Wirbel-
kanals durch Hypertrophie der
Wirbelgelenke kann die Ner-
venwurzel im lateralen Rezes-
sus in Bedrängnis geraten (a),
insbesondere dann, wenn eine
Vorwölbung der Bandscheibe
(Protrusion) hinzukommt (b)
5.4 · Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen
173 5

LWS, d.h. bei leichter Vorneigung und beim Sitzen wie Ausfall des Achillessehnenreflexes beiderseits.
wieder bessern. Die Claudicatio intermittens spi- Diese Symptomatik erfordert eine sofortige Ein-
nalis macht sich v.a. bei Belastung unter Lordosie- weisung in die Klinik. Dort wird nach CT, MR oder
rung der Wirbelsäule bemerkbar. Charakteristisch Myelographie zur Lokalisation der Kompressions-
hierfür ist z.B. die Angabe der Patienten, dass die stelle eine sofortige Operation durchgeführt (La-
Beinschmerzen beim Bergabgehen sich intensivie- minektomie), da sonst dauernde Nervenschäden
ren und durch leichte Rumpfvorneigung wieder auftreten können.
aufhören.
5.4.10 Hüftlendenstrecksteife
Wichtig

Bevorzugte Sportart bei Spinalkanalstenose ist


Definition
Radfahren.
Es handelt sich um einen klinischen Symptomen-
komplex, bei dem das sog. »Brettsymptom« im
Ungünstig sind alle mit Lordosierung der LWS Vordergrund steht.
einhergehenden Aktivitäten, wie Brustschwim-
men, (langsames) Spazierengehen, Gymnastik in
der Bauchlage. Wichtig
Die Einengung des Wirbelkanals im lateralen Brettsymptom bei Hüftlendenstrecksteife: Hebt
Rezessus oder im dorsoventralen Durchmesser man die gestreckten Beine des auf dem Rücken
lässt sich im lumbalen Computertomogramm ob- liegenden Patienten hoch, folgt der Rumpf sofort
jektivieren. Man sieht dort über mehrere Etagen nach, weil sich die Hüftgelenke durch reflektori-
die Einengungen, v.a. in Höhe der Zwischenwirbel- sche Anspannung der ischiokruralen und Rücken-
abschnitte. streckmuskeln nicht passiv beugen lassen.
Durch die verbesserte Technik in der Kern- Beine und Rumpf bilden eine brettartige Einheit
spintomographie kann man die Einengung genau (⊡ Abb. 5.44).
feststellen und lokalisieren, so dass man bei einer
Dekompressionsoperation mit einem umschriebe-
nen Eingriff auskommt. Ätiologie und Pathogenese. Die meisten Hüftlen-
denstrecksteifen werden durch dorsale Bandschei-
Differenzialdiagnose. Claudicatio bei arterieller benvorwölbungen bei Kindern und Jugendlichen
Verschlusskrankheit. Diese Patienten haben auch hervorgerufen. Aufgrund der besonderen topo-
Beinschmerzen nach einer bestimmten Wegstre- graphischen Größenverhältnisse des im Wachs-
cke. Die Schmerzen lassen sich jedoch nicht durch
Rumpfvorneigung bessern. Außerdem: Fußpulse
tasten, Gefäßdiagnostik.

Therapie. Konservativ wie beim Lumbalsyndrom.


Bei Therapieresistenz ggf. operative Erweiterung
des Spinalkanals.

5.4.9 Kaudakompressionssyndrom

Wenn ein Bandscheibenvorfall oder ein Tumor die


Cauda equina komprimiert, so kommt es zu Bla-
⊡ Abb. 5.44. Brettsyndrom bei Hüftlendenstrecksteife: Mit
sen-Mastdarm-Störungen mit Hypästhesie oder dem Anheben der Beine hebt sich automatisch der ganze Kör-
Anästhesie in der Perianalgegend an der Innen- per »brettartig« hoch. Die dorsale Muskulatur am Becken und
seite der Oberschenkel (Reithosenanästhesie) so- Bein ist stark verspannt
174 Kapitel 5 · Wirbelsäule

tum befindlichen lumbalen Wirbelkanals stellt die durch Schichtaufnahmen, Szintigraphie, Laborver-
Hüftlendenstrecksteife eine für den Jugendlichen änderungen: BSG-Erhöhung, Elektrophorese.
spezifische Ausdrucksform des Lumbalsyndroms
dar. Therapie. Symptomatisch. Beim Querschnittssyn-
drom evtl. Dekompressionsoperation und Fusion.
Klinik. Leitsymptom bei der Hüftlendenstreckstei-
fe ist neben dem »Brettsymptom« die total fixierte
LWS, die eine Vornüberneigung des Rumpfes mit 5.6 Wirbelsäulenverletzungen
gestreckten Knien nicht erlaubt sowie das charak-
teristische Gangbild, das man als »Schiebegang« 5.6.1 Orthopädische Aspekte
5 bezeichnet.
Differenzialdiagnostisch müssen Tumoren, Statik. Neben den primären Folgen der WS-Ver-
Entzündungen und Missbildungen im LWS-Be- letzung ergeben sich nach Abheilung der Verlet-
reich ausgeschlossen werden. Auch eine progredi- zungen orthopädische Probleme hinsichtlich der
ente Spondylolisthese kann den Symptomenkomp- Statik. Frakturen der Wirbelkörper können in
lex einer Hüftlendenstrecksteife hervorrufen. Fehlstellung ausheilen. Bei ventraler Erniedrigung
entsteht eine vermehrte Kyphose. Bei Seitenkan-
Therapie. Die Therapie der Hüftlendenstrecksteife tenerniedrigung entsteht eine posttraumatische
ist abwartend, konservativ. Sofern keine stärkeren Skoliose. Verletzung der Bandscheibe bedeutet In-
Beschwerden bestehen, kann man den spontanen stabilität im Bewegungssegment oder Bandschei-
Heilungsverlauf abwarten. Bei therapieresistenten benvorfall. Die Behandlung besteht in der Aufschu-
Beschwerden kommen intradiskaltherapeutische lung der Rumpfmuskulatur nach Frakturheilung.
Maßnahmen (s. S. 170) in Frage. Eine Operation Korsettversorgung nur in Ausnahmefällen.
zur Entfernung des vorgewölbten Bandscheiben-
gewebes ist nur ausnahmsweise erforderlich. Rehabilitation von Querschnittsgelähmten. Akti-
ve Übungsbehandlung zum Training der noch er-
haltenen Abschnitte des Bewegungsapparats, Kon-
5.5 Tumoren an der Wirbelsäule trakturprophylaxe, Dekubitusprophylaxe durch
geeignete Lagerung, Apparateversorgung.
Wie bei den allgemeinen Knochentumoren gibt es
auch an der WS primäre und sekundäre Tumoren, 5.6.2 Spätfolgen nach
gutartige und bösartige. Primäre Tumoren kom- Wirbelverletzungen
men selten vor. Häufigste Tumoren an der WS sind
Metastasen. Wegen der unmittelbaren Nachbarschaft sind alle
Das Plasmozytom (Morbus Kahler, s. dort) ma- Wirbelverletzten auch durch Läsionen des Rücken-
nifestiert sich häufig an der WS. marks und der Nervenwurzeln gefährdet.
Wichtigste Hinweise für WS-Tumoren sind: Im schlimmsten Fall tritt eine Querschnitts-
▬ ungewöhnliche Frakturlokalisationen, lähmung ein. Diese ist besonders dann zu erwar-
▬ lokaler Rüttel- und Druckschmerz, ten, wenn der Wirbelbogen frakturiert ist, wenn
▬ Hinweise auf einen Primärtumor (Mamma, gleichzeitig Wirbelluxationen eintreten oder
Schilddrüse, Prostata). wenn ein Wirbelkörperfragment sich nach dorsal
in den Wirbelkanal disloziert. In diesen Fällen ist
Der Tumor breitet sich aus und führt zu Sympto- ein sofortiges operatives Eingreifen zur Dekomp-
men des Rückenmarks bzw. der austretenden Ner- ression des Rückenmarks erforderlich, meistens
venwurzeln. durch Entfernen des Wirbelbogens (Laminekto-
mie). Beim Transport und bei der Lagerung dieser
Diagnose. Durch Röntgenbild (Wirbelkörper Patienten sind besondere Vorsichtsmaßnahmen
zerstört, Bandscheibenraum erhalten). Sicherung angebracht.
5.6 · Wirbelsäulenverletzungen
175 5

Aber selbst wenn Rückenmark und Nerven- 5.6.3 Beschleunigungsverletzung


wurzeln nicht tangiert werden, können Spätfolgen der HWS (Schleudertrauma)
und dauernde Funktionsbeeinträchtigungen der
WS durch Achsenabweichungen in der Frontal-
und Sagittalebene entstehen. Definition

Das nach einer Beschleunigungsverletzung der


Posttraumatische Kyphose Halswirbelsäule, zu der auch das Schleudertrauma
Wenn die Wirbel ventral einbrechen, kommt es zu gehört, auftretende Beschwerdebild wird als post-
einer Verstärkung der nach dorsal konvexen Ausbie- traumatisches Zervikalsyndrom bezeichnet.
gung der WS in der Sagittalebene. In der BWS ver- Das Schleudertrauma stellt nur eine der mögli-
mehrt sich die Brustkyphose, an der LWS kommt es chen Entstehungsursachen dar.
zur Aufhebung der Lendenlordose. Meistens ist die
Abknickung kurzbogig, so dass eine spitzwinklige
(anguläre Kyphose, s. Kap. 5.2.3) entsteht. Klinisch Ätiologie und Pathogenese. Zu den Entstehungs-
machen sich solche Kyphosen durch chronische mechanismen beim posttraumatischen Zervikal-
Rückenschmerzen infolge pathologischer Überbe- syndrom gehören alle Arten von Gewalteinwir-
anspruchung der Muskeln bemerkbar. kungen, welche zu einer verhältnismäßig starken
Verbiegung oder Stauchung der Halswirbelsäule
Posttraumatische Skoliose führen. Die Halswirbelsäule stellt zwischen Kopf
Sie entsteht durch Seitkantenerniedrigung. Die- und Thorax ein relativ schwaches Bindeglied dar,
se Skoliose ist kurzbogig. Die Statik wird durch welches praktisch nach allen Seiten hin frei beweg-
Überhang des Rumpfs sowie durch vermehrte Be- lich ist. Gewaltsame Stauchungen und Verbiegun-
anspruchung der darüber- und darunterliegenden gen der Halswirbelsäule kommen vor beim Sport,
Bandscheiben beeinflusst. wie z.B. beim Handball, Boxen, aber auch bei an-
Deforme Frakturheilung an der WS mit Keil- deren Gelegenheiten, wie z.B. auf der Kirmes und
wirbelbildung unter Beeinflussung der WS-Sta- dem Rummelplatz.
tik führt in den benachbarten fehlbeanspruchten Am häufigsten führen all jene Bewegungsrich-
Bewegungssegmenten durch asymmetrische Be- tungen zur Verletzung, die über das physiologische
lastung zu vorzeitigen Verschleißerscheinungen Ausmaß hinausführen, bzw. die ungebremst ablau-
(Diskose). Sie werden deshalb prädiskotische De- fende Ante- und Retroflexion.
formitäten genannt. WS-Syndrome, die von den Bei ungebremster, maximaler Vorneigung des
benachbarten WS-Abschnitten ausgehen, sind Kopfes entsteht eine Überbeugung der Halswir-
deswegen als sekundäre Spätfolgen von Wirbelver- belsäule als Anteflexion bzw. Hyperflexion mit
letzungen anzusehen. Distraktion der dorsalen und Kompression der
ventralen Anteile im Bewegungssegment. Unter
Schipperkrankheit diesen Umständen können Ventralkompressions-
Die Ablösung der Dornfortsatzspitze des 7. Hals- frakturen und dorsale Einrisse im Anulus fibrosus
oder 1. Brustwirbels kann nach schwerer körperli- im hinteren Längsband sowie im Ligamentum in-
cher Arbeit (schippen) oder als Folge einer direkten terspinosum bestehen. Wenn der Kopf bei festste-
Traumatisierung entstehen. Da keine wesentlichen hendem Rumpf eine starke Beschleunigung nach
Beschwerden damit verbunden sind, ist es auch hinten erfährt, kommt es zur Überstreckung der
keine Berufserkrankung. Halswirbelsäule. Bei Unfallverletzten findet man
regelmäßig retropharyngeale Hämatome, die als
Differenzialdiagnose. Es gibt auch angeborene Ab- Substrat für die Schluckbeschwerden der Verletz-
gliederungen von Dornfortsatzspitzen. ten aufzufassen sind.
Beim Schleudertrauma handelt es sich um
eine Retroflexion mit anschließender Anteflexion
(⊡ Abb. 5.45,  Übersicht 5.18).
176 Kapitel 5 · Wirbelsäule

⊡ Abb. 5.45. Schleudertrauma (Beschleuni-


gungsverletzung) der HWS bei Heckaufprall.
Zuerst pendelt der Kopf nach hinten, dann
nach vorn. Häufigste Lokalisation der Verlet-
zung zwischen C4 und C6

5
in Erscheinung getreten waren, kann eine unfall-
Übersicht 5.18. HWS-Schleudertrauma – bedingte Kompression durch Abknickung oder
Memo Abwinklung zu einer vorübergehenden Mangel-
▬ Erst Kopf nach hinten, dann nach vorn durchblutung führen. Das posttraumatische zer-
▬ Verursacht ein posttraumatisches Zervikal- vikozephale Syndrom wird auch durch eine Rei-
syndrom zung der tiefen Anteile des Halssympathikus in der
▬ Beschwerdefreies Intervall Umgebung der A. vertebralis ausgelöst. Vestibuläre
▬ Nacken-, Arm-, Kopfschmerzen Störungen, akustische Phänomene, okuläre und
▬ Halskrawatte psychische Symptome können im Zusammenhang
mit einem solchen posttraumatischen zervikoze-
phalen Syndrom auftreten.
Klinische Symptome. Charakteristisch ist ein be-
schwerdefreies Intervall zwischen der Verletzung Therapie. Kältepackungen und Ruhigstellung der
und dem Auftreten der ersten Symptome. HWS in einer Halskrawatte tragen zur Beschwerde-
Nur ein Drittel der Patienten mit posttrauma- besserung bei. Auch beim posttraumatischen Zer-
tischem Zervikalsyndrom hat sofort nach dem vikalsyndrom ist eine leichte Flexionshaltung bei
Unfall Beschwerden im HWS-Bereich. Bei den Üb- allen therapeutischen Maßnahmen anzustreben.
rigen treten die Erscheinungen erst nach mehreren
Stunden bzw. Tagen auf.
Die Symptome beim posttraumatischen Zer- 5.7 Begutachtung
vikalsyndrom bestehen in Nacken-Hinterkopf-
Schmerzen mit schmerzhafter Bewegungsein- WS-Syndrome sind oft Gegenstand ärztlicher
schränkung der Halswirbelsäule. Je nach Schwere Begutachtung. Man unterscheidet grundsätzlich
und Richtung der Gewalteinwirkung können auch 2 Fragestellungen:
andere Teile der Halswirbelsäule betroffen sein. ▬ Beeinträchtigung der körperlichen Leistungs-
Eine Brachialgie als posttraumatisches zervi- fähigkeit durch die WS-Erkrankung, z.B. im
kobrachiales Syndrom entsteht beim Schleuder- Hinblick auf die Arbeits- und Berufsfähigkeit
trauma durch Wurzelirritation in der Unkoverte- oder die Wehrdiensttauglichkeit. Hier gilt es
bralgegend mit Veränderung der Lage zwischen auch, die MdE zu bestimmen. Diese beträgt
degenerativ vergrößertem Processus uncinatus beim lokalen Zervikal- und Lumbalsyndrom,
und Spinalnerv. Ein posttraumatisches zervikoze- d.h. also ohne radikuläre Symptomatik, zwi-
phales Syndrom tritt z.B. als hartnäckiger Hinter- schen 10 und 20% und kann sich bei hartnä-
kopfschmerz mit Okzipitalisneuralgien in Erschei- ckigen Zervikobrachialgien oder Ischialgien
nung. bis zu 50% steigern.
Besonders wenn schon Obstruktionen der A. ▬ Einfluss äußerer Faktoren auf die Entstehung
vertebralis durch degenerative HWS-Veränderun- und Verschlimmerung von WS-Erkrankungen.
gen vorliegen und bis dahin noch nicht klinisch Hier gilt es, die degenerativen von den post-
5.7 · Begutachtung
177 5

traumatischen Veränderungen zu trennen, was platz vor. Die Anzeige bei drohenden oder bereits
nicht immer einfach ist. Entscheidend für die eingetretenen berufsbedingten Wirbelsäulenschä-
Beurteilung ist immer die Frage, ob das Trau- den stellt der behandelnde Arzt bei der zuständi-
ma zu einer vorübergehenden oder zu einer gen Berufsgenossenschaft.
dauernden Störung geführt hat. Wenn eine de-
generativ vorgeschädigte WS durch ein relativ ⚉ Fallbeispiel
geringes Trauma (z.B. Distorsion) lädiert wird Elisabeth Schleudhäuser Traumasberg, 56, erleidet
und die Beschwerden noch jahrelang nach dem auf dem Weg zur Schule einen Auffahrunfall. Ein wei-
Unfall anhalten, so wird nur ein Teil dieser Be- terer PKW fährt von hinten auf, als sie gerade an der
schwerden für einen bestimmten Zeitraum als Ampel steht. Zunächst hat sie keine Beschwerden. Erst
unfallbedingt anerkannt. in der darauffolgenden Nacht treten Schulter-Nacken-
schmerzen auf.
Wirbelsäulenschäden als Berufskrankheit Befund. Schmerzhafte Bewegungseinschränkung der
Nach der neuen Berufskrankheitenverordnung Halswirbelsäule. Sonst kein pathologischer Befund.
werden bandscheibenbedingte Erkrankungen der Eine Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule in 2 Ebe-
Lendenwirbelsäule, wie z.B. Segmentlockerungen, nen zeigt gegenüber Röntgenaufnahmen, die wegen
chronische Nervenwurzelreizerscheinungen, Is- gleichartiger Beschwerden ohne Unfall bereits früher
chialgie nach mindestens 10jähriger Tätigkeit in angefertigt wurden, keinen Unterschied.
einem Beruf mit schwerer körperlicher Belastung Diagnose. Posttraumatisches Zervikalsyndrom nach
als Berufskrankheit anerkannt. In Frage kommen Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule. We-
Berufsgruppen wie Bauarbeiter, Lastenträger, Un- gen bleibender Beschwerden macht Frau E.S.T. An-
tertagearbeiter und auch Krankenpflegeberufe. sprüche bei der gegnerischen Haftpflichtversicherung
Das neue Gesetz sieht neben der Entschädigung und bei der zuständigen BG (Wegeunfall) geltend.
bei bereits eingetretenen Wirbelsäulenschäden Gutachten. Vorübergehende Verschlimmerung eines
v. a. vorbeugende Maßnahmen zur Vermeidung degenerativen HWS-Syndroms. Kein unfallbedingter
von Überlastungen der Wirbelsäule am Arbeits- Dauerschaden.
6

6 Brustkorb

6.1 Trichterbrust (Pectus excavatum) – 180

6.2 Hühnerbrust (Pectus carinatum, Kielbrust) – 180

6.3 Neurovaskuläre Engpasssyndrome am Hals/Thoraxübergang


(Thoracic-outlet-Syndrom) – 181
180 Kapitel 6 · Brustkorb

>> Einleitung
Während Hühner- und Trichterbrust sich schon wegen
der Namen und Abbildungen sofort einprägen, sollte
man sich den Thorax-/ Halsübergang mit den Kompres-
sionsmöglichkeiten für Plexus brachialis und Arteria
subclavia genau anschauen. Die Engpasssyndrome
sind zwar selten, kommen aber als Differenzialdiagnose
nicht nur in der Orthopädie immer wieder vor.

6.1 Trichterbrust (Pectus excavatum)

Ätiopathogenese. Die trichterförmige Einziehung


6 entsteht dadurch, dass das mittlere und kaudale
Sternum im Wachstum zurückbleibt. Es gibt brei-
te und spitze Trichter. Hochgradige Einsenkungen
bedrängen das Mediastinum. Astheniker sind häu-
figer betroffen. Das Leiden zeigt sich erst richtig im
Alter von 6–10 Jahren (⊡ Abb. 6.1). Eine Fehlstatik
der Wirbelsäule entwickelt sich nicht.
⊡ Abb. 6.1. Trichterbrust. Einziehung des vorderen Thorax im
Wichtig Brustbeinbereich
Bei der Trichterbrust handelt es sich um eine an-
geborene Hemmungsmissbildung der vorderen
Thoraxwand wobei die Rippen stärker wachsen
als das Brustbein. und Krankengymnastik können bei dieser Hem-
mungsmissbildung nicht viel ausrichten.

Differenzialdiagnose. Rinnenbrust. Die Rippen-


knorpel beiderseits des Sternums wölben sich vor, 6.2 Hühnerbrust
dadurch zeigt sich in der Mitte eine rinnenartige (Pectus carinatum, Kielbrust)
Vertiefung.
Ätiopathogenese. Brustbein und vordere Anteile
Röntgen. In schweren Fällen Verdrängung des der Rippen sind nach vorn gewölbt. Funktionelle
Herz- und Gefäßschattens. Störungen oder Beschwerden kommen nicht vor
(⊡ Abb. 6.2).
Therapie. Konservativ.
Wichtig
Wichtig
Als Hühnerbrust bezeichnet man ein kielartiges
Erst wenn Verdrängungserscheinungen des Her- Vorspringen des Sternums, entweder als angebo-
zens vorliegen, muss operiert werden. rene oder erworbene (Rachitis) Deformität.

Das Sternum wird angehoben und mit Metallstäben Therapie. Während des Wachstums empfehlen
im Niveau der übrigen Thoraxwand fixiert. Sonst sich Haltungsturnen und Thoraxgymnastik (Atem-
erfolgt die Operation eher aus kosmetischen Grün- übungen). Bei stärkeren Deformierungen kommt
den. Konservative Maßnahmen wie Atemübungen eine operative Korrektur in Frage.
6.3 · Neurovaskuläre Engpasssyndrome am Hals/Thoraxübergang
181 6

Bei einer eventuellen Halsrippe kommt es


schon etwas weiter kranial zur knöchernen Be-
drängung des Gefäßnervenstranges. Neben an-
lagebedingten Faktoren (Halsrippe) können hier
posttraumatische Veränderungen an der Klavikula
(Frakturkallus) oder Tumoren für das Engpass-
syndrom verantwortlich sein. Die Beschwerden
verstärken sich besonders beim Tragen von Lasten
und bei Überkopfarbeiten. Auch Prozesse an der
Pleurakuppel (Tumoren) können von kaudal her
den knöchernen Engpass verlegen und zu neuro-
vaskulären Erscheinungen am Arm führen.

Pectoralis minor-Syndrom
Das Gefäßnervenbündel kann schließlich zwischen
Thorax und der Sehne des M. pectoralis minor
komprimiert werden (⊡ Abb. 6.3,  Übersicht 6.1).

Übersicht 6.1. Neurovaskuläre Engpass-


syndrome am oberen Thorax
⊡ Abb. 6.2. Hühnerbrust
Skalenus ⎫
Halsrippen ⎪ neurologischen
Kosto-Klavikular ⎬ Syndrom + Symptomen
6.3 Neurovaskuläre Engpasssyndrome Pleurakuppel ⎪ vaskulären
am Hals/Thoraxübergang Pectoralis minor ⎭
(Thoracic-outlet-Syndrom)

Skalenussyndrom Klinische Erscheinungen


Das neurovaskuläre Bündel am Hals/Thorax- Je nach Ausmaß der Kompression kann es zu sen-
übergang, bestehend aus Plexus brachialis und siblen und motorischen Ausfällen durch Kom-
A. subclavia, muss durch einige Engpässe hin- pression des Plexus brachialis kommen, die sich
durch, bevor es am Oberarm landet. Von kranial zunächst im ulnaren Bereich bemerkbar machen.
nach kaudal findet sich die erste Einengung zwi- Dazu kommen Zirkulationsstörungen mit Pulsab-
schen dem M. scalenus anterior und dem M. sca- schwächung bei bestimmten Bewegungen sowie
lenus medius in der sog. hinteren Skalenuslücke. Zyanose oder Blasswerden der Finger. Verstärkt
Beide Muskeln entspringen an den Querfortsätzen werden die Symptome bei:
der Halswirbel und ziehen versetzt zur ersten Rip- ▬ Abduktion und Retroversion des Armes,
pe. Ansatzanomalien oder Spannungsänderungen ▬ Kopfrückneigung und -seitneigung zur kran-
dieser Muskeln können bei bestimmten Armhal- ken Seite (Adson-Test),
tungen gleichzeitig zu Kompressionserscheinun- ▬ Herabziehen der Schulter.
gen an der A. subclavia und am Plexus brachialis ▬ Faustschlusstest. Die Hände werden beim Ab-
führen. spreizen und außenrotierten Armen 3 Minu-
ten lang zur Faust geschlossen und geöffnet.
Kosto-Klavikular-Syndrom Beim Vorliegen eines Kompressionssyndroms
Etwas weiter kaudal von der Skalenuslücke findet kommt es zu rascher Ermüdung, ulnaren Par-
sich der nächste Engpass, bedingt durch die Klavi- ästhesien und Schmerzen, die nach Abbruch
kula ventral und die erste Rippe dorsal. des Tests schnell abklingen (nach A. Reichelt).
182 Kapitel 6 · Brustkorb

Die Behandlung der neurovaskulären Kompres-


sionssyndrome ist zunächst konservativ. Bei The-
rapieresistenz und starken Beschwerden kommt
eine operative Behandlung, z.B. mit Entfernung der
Halsrippe oder eine Einkerbung des M. scalenus
anterior an seinem Ansatz in Frage. Voraussetzung
ist eine genaue Diagnose durch neurologische Tests
und Arteriographie (DSA).

⊡ Abb. 6.3. Thorax-Auslass-Syndrome. Plexus brachialis und


A. subclavia können von kranial nach kaudal durch folgende
Strukturen bedrängt werden:
▬ zwischen Scalenus medius und Scalenus anterior,
▬ zwischen Klavikula und erster Rippe bzw. Halsrippe,
▬ Prozesse an der Pleurakuppel,
▬ zwischen Thorax und M. pectoralis minor.
7

7 Hals
7.1 Schiefhals (Torticollis) – 184
184 Kapitel 7 · Hals

>> Einleitung
Wohin sich der Kopf beim Schiefhals dreht und neigt,
prägt man sich am besten mit der ⊡ Abb. 7.1 ein. Die
einseitige Zugrichtung des Musculus sternocleidomas-
toideus lässt nur eine typische Kopfhaltung zu, die es zu
beschreiben und in der mündlichen Prüfung vorzuma-
chen gilt. Wenn man dann noch alle Ursachen nennen
kann, ist die Prüfung (in diesem Teil) gelaufen.

7.1 Schiefhals (Torticollis)

Definition

Der Begriff Schiefhals charakterisiert nur ein Symp-


7 tom, die Schiefhaltung des Kopfs. Die Ursachen
sind verschieden. Man unterscheidet angeborene
und erworbene Zwangshaltungen des Kopfs.
Je nach Dauer und Ursache gibt es plötzlich auf-
⊡ Abb. 7.1. Muskulärer Schiefhals. Schiefhaltung des Kopfs
tretende Schiefhaltungen des Kopfs und solche, mit leichter Drehung. Asymmetrie des Gesichts (sog. Gesichts-
die sich langsam über Jahre entwickeln. Im einzel- skoliose)
nen unterscheidet man folgende Formen:
Das Kopfnickerhämatom entsteht durch den Ein-
riss des bereits verkürzten Muskels.
Angeborener muskulärer Schiefhals
(Torticollis muscularis congenitus) Differenzialdiagnose. Die anderen Schiefhalsfor-
Ätiopathogenese. Es handelt sich um eine ange- men, insbesondere okulärer und ossärer Schief-
borene Fehlbildung mit einseitiger Verkürzung des hals.
M. sternocleidomastoideus. Der Muskel ist in einen
derben fibrösen Strang verwandelt, den man sehr Therapie. Im 1. Lebensjahr begnügt man sich mit
gut tasten kann. der Lagerung in Korrekturstellung und passiven
Dehnungsübungen. Gezielte frühzeitige kran-
Wichtig kengymnastische Behandlung auf neurophysio-
Beim angeborenen muskulären Schiefhals ist der logischer Grundlage soll die Kopfbeweglichkeit
Kopf zur Seite des verkürzten Muskels geneigt erhalten und die Stellung verbessern. Effektiv ist
und zur gesunden Seite gedreht. nur die Operation (nach dem 1. Lebensjahr) mit
Durchtrennung des verkürzten Muskels am oberen
und unteren Ende: (bi-terminale) Tenotomie des
Durch die ständige Schiefhaltung des Kopfes M. sternocleidomastoideus. Anschließend wird ein
kommt es zu Sekundärerscheinungen: Thoraxkopfgips oder eine Schiene in Überkorrek-
▬ Gesichtsasymmetrie (die Gesichtshälfte auf der turstellung für etwa 6 Wochen angelegt.
Seite des verkürzten Muskels bleibt im Wachs-
tum zurück), Akuter Schiefhals
▬ Skoliose (⊡ Abb. 7.1). (Torticollis acutus)
So bezeichnet man alle Zwangsfehlhaltungen der
Der Schiefhals ist schon vor der Geburt vorhanden. Kopfregion, die im Zusammenhang mit einem
Bei Sectiokindern kommt der muskuläre Schief- degenerativ bedingten akuten HWS-Syndrom auf-
hals ebenso häufig vor wie bei Nichtsectiokindern. treten.
7.1 · Schiefhals (Torticollis)
185 7
Wichtig 2. Halswirbels führt zu einer atlantoaxialen Dislo-
Der akute Schiefhals ist eine Sonderform des kation mit Verbreiterung des Abstands zwischen
lokalen Zervikalsyndroms, bei dem Fehlhaltung Dens und vorderem Atlasbogen. Dieser Schiefhals
und Bewegungseinschränkung der HWS im Vor- wird auch als Torticollis atlantoepistrophealis
dergrund stehen. (Grisel) bezeichnet.

Spastischer Schiefhals (Torticollis spasticus)


Er kommt in erster Linie bei Kindern und Jugendli- Spasmen der Halsmuskeln, insbesondere der Kopf-
chen vor und ist eine Frühform diskogener Erkran- nicker, treten bei frühkindlichen Hirnschäden (CP)
kungen der HWS. und bei der Enzephalitis mit tonisch-klonischen
Krämpfen als hyperkinetisch extrapyramidales
Ossärer Schiefhals Krankheitsbild auf.
(Torticollis osseus, Kurzhals)
Angeborene Fehlbildung der Halswirbel, wie z.B. Narbenschiefhals (Torticollis cutaneus)
asymmetrische Atlasassimilationen, Halbwirbel Ausgedehnte Narben der Halsweichteile, z.B. nach
und Wirbelverschmelzungen, sind hier als Ursache Verbrennungen, aber auch nach Verletzungen und
zu nennen. Blockwirbel mit Kurzhals und Bewe- Operationen (»neck dissection«), ziehen den Kopf
gungseinschränkungen der HWS nennt man Klip- allmählich in eine Schiefhaltung.
pel-Feil-Syndrom1.
Ein ossärer Schiefhals kann auch nach Hals- Psychogener Schiefhals
wirbelfrakturen auftreten, die in Fehlstellung ver- (Torticollis mentalis)
heilen. Durch einen Tic wird der Kopf zur Seite gedreht
und zur Schulter herabgezogen.
Rheumatischer Schiefhals
(Torticollis rheumaticus) Okulärer Schiefhals (Torticollis opticus)
So genannt wird eine plötzlich auftretende Die Schiefhaltung des Kopfs entsteht durch Sehstö-
schmerzbedingte Schiefhaltung des Kopfes beim rung (Obliquus-superior-Parese).
Rheuma.
Ursachen sind noch nicht ganz geklärt. Disku- Otogener Schiefhals (Torticollis acusticus)
tiert werden entzündlich-rheumatische Vorgänge Bei Einohrschwerhörigkeit entwickelt sich ebenso
in den Wirbelgelenkkapseln. Ähnlich wie beim wie beim okulären Schiefhals aus der habituellen
akuten Schiefhals bilden sich die Symptome un- schließlich eine fixierte Kopfschiefhaltung ( Über-
ter adäquater Therapie (Extension, Halskrawatte, sicht 7.1).
Analgetika) nach kurzer Zeit wieder zurück.

Postinfektiöser Schiefhals Übersicht 7.1. Schiefhälse


(Torticollis infectiosus) Schnell entstehend: Langsam entstehend:
Bei oder nach einer bakteriellen Entzündung im Torticollis acutus Torticollis muscularis
Nasen-Rachen-Raum (Tonsillitis, Pharyngitis) Torticollis rheumaticus Torticollis osseus
kommt es durch lymphogene Begleitentzündung Torticollis infectiosus Torticollis cutaneus
der Halsweichteile zu einer Zwangsschiefhaltung Torticollis spasticus Torticollis mentalis
des Kopfs. In diesem Zusammenhang kann auch Torticollis opticus
das sog. Grisel2-Syndrom entstehen: Die entzündli- Torticollis acusticus
che Lockerung des Querbands hinter dem Dens des

1 Maurice Klippel, Neurologe, Paris (1858–1942)


André Feil, Neurologe, Paris (geb. 1884)
2 Paul Grisel (Zeitgen. franz. Arzt)
8

8 Schulter

8.1 Funktionelle Anatomie – 188

8.2 Klinische Untersuchung – 190

8.3 Omarthritis, Omarthrose – 190

8.4 Periarthropathia humeroscapularis (PHS)


oder Subakromialsyndrom (SAS) – 192

8.5 Typische Verletzungsfolgen des Schulterbereichs – 198


8.5.1 Verletzung des Plexus bei der Geburt – 198
8.5.2 Traumatische Plexuslähmungen – 199
8.5.3 Verrenkungen und Instabilitäten – 199
8.5.4 Verletzungen des Schultereckgelenks
(Akromioklavikulargelenk = AC-Gelenk) – 201

8.6 Begutachtung – 202


188 Kapitel 8 · Schulter

>> Einleitung Humeruskopf und den korakoakromialen Be-


Zum Verständnis der Schultererkrankungen ist die To- standteilen des Schulterblatts, zerreiben sich und
pographie dieser Region wichtig. Über die Darstellung neigen zu frühzeitigen Verschleißerscheinungen.
in den einzelnen anatomischen Lehrbüchern hinaus
gilt unser Interesse v.a. der funktionellen Anatomie Sehnenverhältnisse im
des korakoakromialen Nebengelenkes. Wenn man er- subkorakoakromialen Raum
klären kann, bei welcher Bewegung welche Sehne von Über dem Humeruskopf und unter dem Dach der
welchem Knochen bedrängt wird, kann man sich we- Schulter, gebildet aus Processus coracoideus, Lig.
sentliche Krankheitsbilder, wie das Rotatorensehnen- coracoacromiale und Akromion, befindet sich eine
syndrom, aus der Anatomie herleiten – Fragen beant- Sehnenplatte, die sog. Rotatorenmanschette, beste-
worten sich von selbst. hend aus den am Tuberculum majus ansetzenden
Sehnen der Mm. supraspinatus, infraspinatus, dem
dorsal am Humeruskopf inserierenden Teres minor
8.1 Funktionelle Anatomie sowie ventral der Sehne des am Tuberculum minus
inserierenden Subskapularis. Dieser ist der einzige
Die Schulter besteht aus einem Hauptgelenk zwi- Innenrotator der Rotatorenmanschette. Zwischen
schen Humeruskopf und Schulterpfanne (Hume- Rotatorenmanschette und dem korakoakromialen
8 roskapulargelenk) und den Nebengelenken: Bogen befindet sich die Bursa subcoracoacromi-
▬ Akromioklavikulares Nebengelenk (= laterales alis, die sich durch den ganzen Raum erstreckt
Schlüsselbeingelenk) und ergänzend das Ster- (⊡ Abb. 8.1).
noklavikulargelenk.
▬ Thorakoskapulares Nebengelenk. Gleitfähige Wichtig
Weichteile zwischen Skapula und Thoraxwand. Sehnenmanschette und Bursa können Kontakt
Werden diese Weichteile gereizt, entsteht ein am Schulterdachbogen bekommen und damit
Schleimbeutel. Bei Bewegungen entstehen Ge- Verschleißprozesse induzieren.
räusche und Schmerzen. Das Ganze nennt man
schmerzhaftes Schulterblattkrachen. Therapie:
Wärme, Elektrobehandlung, lokale Injektio- Ein besonderer Engpass bildet sich dort, wo die Su-
nen, evtl. Entfernung der Bursa. praspinatussehne unter dem Lig. coracoacromiale
▬ Subakromiales Nebengelenk zwischen dem Tu- hindurchzieht und an der vorderen Akromionkan-
berculum majus des Humeruskopfs und dem te inseriert (⊡ Abb. 8.2).
darüber befindlichen korakoakromialen Bogen
des Schulterblatts.

Durch das Zusammenwirken dieser Gelenke ist


das Schultergelenk nach allen Richtungen hin sehr
gut beweglich. Selbst wenn das Schulterhauptge-
lenk versteift ist, sind noch Bewegungen in den
Nebengelenken, v.a. im Thorakoskapulargelenk,
möglich.
Der geringe Gelenkflächenkontakt mit ei-
ner vorwiegend muskulärligamentären Führung
macht das Schultergelenk anfällig gegen Traumen.
Es kommt leicht zur Schulterluxation. Sie tritt spon-
tan ein, wenn die Schultergürtelmuskeln gelähmt
sind. Wegen des geringen knöchernen Halts ist die
Schulter auch prädestiniert für habituelle Luxatio-
nen. Die periartikulären Weichteile, v.a. zwischen ⊡ Abb. 8.1. Die Rotatorenmanschette im Schnittbild
8.1 · Funktionelle Anatomie
189 8
⊡ Abb. 8.2. a.-p.-Ansicht der Schulter mit der Rota-
torenmanschette in Höhe der Supraspinatussehne,
die durch den Engpass zwischen Akromion und dem
Tuberculum majus humeri hindurchzieht

Risse und Defekte werden nur unzureichend repa-


riert.
Die Abduktionsbewegung im Schultergelenk
ist ein komplexer Vorgang. Der M. deltoideus be-
wirkt die Abduktion und gleichzeitig eine Krani-
alverschiebung des Humeruskopfes, der gegen den
korakoakromialen Bogen gedrückt wird. Die Kra-
nialbewegung wird von der Rotatorenmanschette
kompensiert. Ab 90° begünstigt eine Außenrota-
tion das Hindurchgleiten des Tuberculum majus
unter dem korakoakromialen Bogen. Diese Außen-
drehung bewirken die Muskeln der Rotatorenseh-
nenplatte (daher der Name), gleichzeitig zentrieren
sie den Humeruskopf in die Pfanne (⊡ Abb. 8.3).
Bei einer Schwäche der Rotatoren überwiegt die
Aktion des M. deltoideus, und das Tuberculum ma-
⊡ Abb. 8.3. Zusammenwirken von M. deltoideus und M.
supraspinatus bei der Schulterabduktion. Der M. deltoideus
jus humeri wird bei der Abduktion abnorm stark
bewirkt gleichzeitig eine Kranialverschiebung, der M. supra- unter den subakromialen Bogen gedrückt. Der M.
spinatus eine Medialverschiebung des Humeruskopfs mit supraspinatus ist der Starter der Abduktionsbewe-
zusätzlichem kaudalen Kraftvektor, der den Humeruskopf gung, außerdem hilft er dem Tuberculum majus
zentriert des Humeruskopfs, unter dem korakoakromia-
len Bogen hinwegzutauchen. Dieser komplizier-
Wichtig te Bewegungsablauf ist sehr störanfällig, deshalb
Die mechanische Kompression der Rotatorenman- kommt es im subakromialen Nebengelenk häufig
schette ist pathogenetisch bedeutungsvoll, weil zu mechanischen Reizungen des Gleitgewebes mit
es sich um ein stoffwechselinaktives bradytrophes Bursitiden, Peritendinitis, Verklebungen und Seh-
Gewebe handelt, das keine oder nur unwesentli- nenrissen.
che Regenerationsmöglichkeiten besitzt.
190 Kapitel 8 · Schulter

8.2 Klinische Untersuchung

Sie besteht, wie bei allen anderen Regionen des Be-


wegungsapparats, aus Inspektion, Palpation und
Funktionsprüfung.

Inspektion. Bei Betrachten der Schulterkulisse


achtet man auf einen eventuellen Hochstand einer
Schulter. Dieser kommt beim angeborenen Schul-
terblatthochstand (Sprengel1-Deformität), bei der
Skoliose durch die Thoraxdeformierung, bei ein-
seitiger Atrophie (Lähmung) oder Aktivitätshyper-
trophie der Schultermuskeln (⊡ Abb. 8.4,  Über-
sicht 8.1) vor. Eine Ursache ist z.B. eine traumatische
Kompression des N. thoracicus longus durch einen
Thoraxgips oder einen Gurt vom Rucksack. Weiter
betrachtet man die Kulisse des Schultereckgelenks
8 (Luxation mit sog. Klaviertastenphänomen), der
Klavikula (in Fehlstellung verheilte Fraktur), Del-
⊡ Abb. 8.4. Sprengel-Deformität. Die rechte Schulter steht
le unter dem Akromion (Deltoideusatrophie nach höher als die linke. Das Schulterblatt ist verbreitert. Seitabwei-
Axillarisläsion). chung der WS

Um den Infraspinatus bzw. Subskapularis zu testen,


Übersicht 8.1. Schulterblatthochstand lässt man isometrisch gegen Widerstand außen-
▬ Sprengel-Deformität bzw. innenrotieren. Dabei auftretender Schmerz
▬ Skoliose spricht für eine Ansatzerkrankung der betroffenen
▬ Lähmung Sehne.
▬ Tennisspieler

8.3 Omarthritis, Omarthrose


Palpation. Beschränkt sich auf bestimmte Druck-
punkte, wie z.B. am Akromioklavikulargelenk, der Unter Omarthritis versteht man die Entzündung
subakromialen Grube (Bursa subacromialis) sowie des Schultergelenks. Sie kommt vor als bakterielle
am Tuberculum majus (Bursa subdeltoidea). Entzündung – entweder spezifisch oder unspezi-
fisch – und als rheumatische Entzündung.
Beweglichkeitsprüfung. Wird einmal durchge-
führt bei fixiertem und einmal bei mitgehendem Wichtig
Schulterblatt. Man unterscheidet die in ⊡ Abb. 8.5 Die meisten Reizzustände im Schulterbereich ge-
angegebenen Bewegungsausschläge. hen nicht vom Schultergelenk selbst, sondern von
den periartikulären Weichteilen und Nebengelen-
Kraftprüfung. Um die Abduktionskraft (Delta- ken aus und werden unter dem Begriff Periarthro-
und Supraspinatusmuskel) zu prüfen, lässt man pathia humeroscapularis zusammengefasst. Ein
den Patienten gegen Widerstand der eigenen Hand neuer Begriff ist Subakromialsyndrom.
die hängenden Arme isometrisch abduktorisch an-
spannen und vergleicht befallene und Gegenseite.
Die Omarthrose (Arthrosis deformans des Schul-
tergelenks) ist eine seltene Erkrankung, weil das
1 Otto Sprengel, Chirurg, Braunschweig (1852–1915) Schultergelenk nicht wie die großen Gelenke der
8.3 · Omarthritis, Omarthrose
191 8
⊡ Abb. 8.5. a Abduktion und
Adduktion, b Rück- und Vorfüh-
rung, c Innen- und Außenrota-
tion (bei um 90° abduziertem
Schulter- und gebeugtem Ellen-
bogengelenk)

unteren Extremitäten statisch belastet wird. Ge- Bei rheumatischer Omarthritis wird zunächst
lenkdestruierende Erkrankungen und Verletzun- konservativ behandelt.
gen kommen deshalb hier nicht so häufig vor. Die Arthrose wird ebenfalls konservativ mit In-
Bei der Rotatorensehnendefektarthropathie jektionen, physikalischer Therapie und Kranken-
bildet sich mit Höhertreten des Humeruskopfes gymnastik behandelt.
im Rahmen degenerativer Veränderungen der Ro- Bei fortgeschrittener rheumatischer Destruk-
tatorenmanschette eine Nearthrose (Falschgelenk) tion oder Arthrose stehen Alloarthroplastiken
zwischen Akromion und Tuberculum majus des (künstliche Gelenke) zur Verfügung, sofern die
Humeruskopfes, gleichzeitig auch eine glenohu- Rotatorenmanschette erhalten ist. Sonst kommt
merale Arthrose. ebenso wie bei der Gelenkzerstörung durch bakte-
rielle Arthritis nur die Arthrodese (operative Ver-
Therapie der Omarthritis und Arthrose. Bei der steifung) in Frage.
akuten bakteriellen Omarthritis muss das Gelenk
– neben antibiotischer Behandlung – sofort opera-
tiv synovektomiert und gespült werden, weil sonst
eine Einsteifung droht.
192 Kapitel 8 · Schulter

8.4 Periarthropathia humeroscapularis schmerzauslösende Abduktion und Elevation nach


(PHS) oder Subakromialsyndrom vorn unwillkürlich vermeidet.
(SAS)
Wichtig

Nach längerem Bestehen einer PHS treten auch


Definition
bindegewebige Verklebungen in der Umgebung
Periarthropathia humeroscapularis (PHS) ist die der Bursa subacromialis und der Rotatorenseh-
Sammelbezeichnung für alle degenerativen Ver- nenplatte auf, die eine direkte fibröse Verbindung
änderungen des subakromialen Raumes. zwischen dem korakoakromialen Bogen und dem
Tuberculum majus (humeri) schaffen.

Ätiopathogenese. Die topographischen und


funktionellen Besonderheiten des subakromialen Aus der funktionellen wird eine strukturelle
Nebengelenks führen im Laufe des Lebens zu Ver- Schultersteife. Oft lassen in diesem Stadium auch
schleißerscheinungen an der Rotatorenmanschette die Schmerzen nach, weil die schmerzauslösenden
und an der langen Bizepssehne mit ihren Begleitge- Reibebewegungen zwischen der Rotatorensehnen-
weben. Die im Zusammenhang damit auftretenden platte und dem Lig. coracoacromiale unterbleiben.
8 Schmerzen und Funktionsstörungen werden unter Das Röntgenbild zeigt mitunter wolkige Ver-
dem Begriff Periarthropathia humeroscapularis kalkungen, die in der Gegend der Bursa subacromi-
zusammengefasst. Ätiologie und Pathogenese ver- alis oder an der Ansatzstelle der Supraspinatusseh-
weisen auf 2 wesentliche Tatsachen: ne lokalisiert sind. Sie sind Ausdruck des gestörten
▬ Die PHS gehört zum degenerativen Formen- Stoffwechsels.
kreis. Je nachdem, welcher Teil des periartikulären
▬ Sie ist eine Erkrankung der Erwachsenen. Gewebes an der Schulter gerade betroffen ist und
klinische Erscheinungen verursacht, unterscheidet
Die Durchblutung der Rotatorenmanschettenan- man im Rahmen der PHS einzelne Krankheitsbil-
sätze am Tuberculum majus ist kritisch und dispo- der. Die Unterteilung erfolgt nach Schmerzlokali-
niert deshalb zu degenerativen Veränderungen. sation, -auslösbarkeit und -intensität, die jeweils
bestimmten pathologisch-anatomischen Situati-
Klinik. Die Symptomatik ist durch Schulterschmer- onen im Kapselbandapparat zugeordnet werden
zen gekennzeichnet, die bei bestimmten Bewegun- können. Bei der rezidivierenden PHS zeichnet
gen auftreten und teilweise in den ganzen Arm aus- sich dabei ein bestimmter Verlauf ab. Am Anfang
strahlen, allerdings nicht segmental und auch nicht stehen vorübergehende Reizerscheinungen im
mit Sensibilitäts- und Reflexstörungen einherge- Bereich der Schleimbeutel und im Peritendineum
hend wie beim zervikobrachialen Syndrom. Wei- der Rotatorenmanschette und der Bizepssehne
terhin besteht oft eine Bewegungseinschränkung mit reversiblen, meist schmerzbedingten Bewe-
der Schulter ( Übersicht 8.2). Diese ist zunächst gungseinschränkungen. Es folgen dann die struk-
schmerzbedingt (funktionell), weil der Patient die turell bedingten Krankheitsbilder, bedingt durch

Übersicht 8.2. Differenzialdiagnose zwischen PHS und zervikobrachialem Syndrom (CBS)


PHS: CBS:
An der Schulter lokalisierter Schmerz Diffuser Schulter-Nacken-Schmerz
Diffuser Armschmerz, keine Parästhesien Segmental lokalisierter Armschmerz, Parästhesien
Schmerz abhängig von Schulterbewegungen Schmerz abhängig von HWS-Bewegungen
Nächtlicher Schmerz nur beim Liegen Nächtlicher Schmerz in jeder Lage
auf der kranken Schulter
8.4 · Periarthropathia humeroscapularis (PHS) oder Subakromialsyndrom (SAS)
193 8

Verklebungen des Gleitgewebes (Schultersteife),


Kalkeinlagerungen und Sehnenrisse. Die meisten
Krankheitsbilder gehen von der Rotatorenman-
schette und deren Gleitgewebe aus. Sie werden
auch als Rotatorensehnensyndrom zusammenge-
fasst. Eine weitere kleine Gruppe stellen die von der
langen Bizepssehne ausgehenden Beschwerden dar
( Übersicht 8.3).

Rotatorensehnensyndrom
Ausgangspunkt sind mechanische Irritationen
der Sehnen und Gleitgewebe zwischen dem kora-
koakromialen Bogen und dem Tuberculum majus
⊡ Abb. 8.6. PHS simplex der Rotatorenmanschette. Bursitis
humeri. subacromialis, Peritendinitis supraspinata, Insertionstendopa-
thia supraspinata
Wichtig

Beim Rotatorensehnensyndrom sind haupt- culum majus humeri beschränkt ist, kommt es nur
sächlich Sehnenansatz und Peritendineum des in einem bestimmten Abduktionswinkel zwischen
M. supraspinatus und die Bursa subacromialis 60 und 130° zur mechanischen Irritation und da-
betroffen. mit zu Schmerzen. Darüber und darunter ist die
Abduktion schmerzfrei (⊡ Abb. 8.7).
Innerhalb des schmerzhaften Bogens (»pain-
Es entsteht zunächst eine Peritendinitis und Bursi- ful arc«) verstärken sich die Schmerzen noch bei
tis subacromialis als einfachste und noch reversible Innenrotation sowie beim Heben des Arms gegen
Form der PHS (PHS simplex, ⊡ Abb. 8.6). Widerstand ( Übersicht 8.4).
Diese Strukturen liegen unter dem korakoa-
kromialen Bogen dicht beieinander und rufen in
der funktionellen Anfangsphase einen einheitli- Übersicht 8.4. Rotatorensehnensyndrom-
chen Symptomenkomplex hervor. Dieser ist neben schmerzen
den allgemeinen Zeichen der PHS, wie Schulter- ▬ Subakromialer Spontanschmerz
schmerz auch nachts und schmerzhafte Bewe- ▬ Subakromialer Druckschmerz
gungseinschränkung, meistens noch durch einen ▬ Schmerzhafter Bogen (painful arc)
umschriebenen lokalen subakromialen Druck-
schmerz sowie durch das sog. Abduktionsphäno-
men gekennzeichnet. Wenn der Reizzustand auf Die Anstoß- oder Kontaktphänomene von Rota-
einen begrenzten Bezirk dicht oberhalb des Tuber- torenmanschette und subakromialer Bursa am

Übersicht 8.3. Stadien und Einteilung der PHS


Rotatorensehnen: Bizepssehne:
PHS simplex (funktionell) Peritendinitis Peritendinitis
Bursitis subacromialis Tenosynovitis
Insertionstendopathie
PHS deformans (strukturell) PHS calcificans
PHS adhaesiva
PHS destructiva
Rotatorensehnenruptur Bizepssehnenruptur
194 Kapitel 8 · Schulter

⊡ Abb. 8.7. Impingement-Abduktions-


phänomen beim Rotatorensehnen-
syndrom: Die Abduktion schmerzt nur
zwischen 60 und 130°

korakoakromialen Bogen bezeichnet man als Im- Klinisch kommt ihnen nur z. T. Bedeutung zu, denn
pingement. man findet sie oft auch an der gegenüberliegenden,
Das Vorliegen eines Impingements überprüft nichterkrankten Schulter oder als Zufallsbefund
man mit dem sog. Impingementzeichen. Geläufig bei Menschen, die noch nie Beschwerden an der
ist ein Test, wobei der leicht innenrotierte Arm vom Schulter hatten. Ein besonderes Krankheitsbild im
Untersucher brüsk hochgehoben wird. Ein ober- Rahmen der Verkalkungsvorgänge ist die Bursitis
halb von ca. 50° auftretender Schmerz ist ein posi- calcarea, wenn das Kalkdepot in die Bursa suba-
tives Impingementzeichen. cromialis einbricht und dort einen akuten Reizzu-
stand verursacht. Bei der Punktion entleeren sich
PHS calcificans dann größere Mengen kalkmilchhaltiger Synovial-
(Subakromialsyndrom mit Kalkdepot) flüssigkeit. Die Kalkdepots werden meistens nach
einiger Zeit spontan wieder aufgelöst. Die Auflö-
Wichtig sung geht oft mit heftigen und sehr schmerzhaften
Kalkdepots (meist Hydroxylapatitkristalle) entwi- reaktiven Entzündungsprozessen einher. Deshalb
ckeln sich in der Umgebung der Sehnenansätze werden größere Kalkdepots mitunter auch operativ
dicht oberhalb des Tuberculum majus humeri als entfernt.
Ausdruck des gestörten Stoffwechsels.
8.4 · Periarthropathia humeroscapularis (PHS) oder Subakromialsyndrom (SAS)
195 8
PHS adhaesiva (Schultersteife)
(Adhäsives Subakromialsyndrom)

Wichtig

Nach wiederholten Reizzuständen der Rotatoren-


sehnenansätze und der Bursa subacromialis set-
zen proliferative Vorgänge mit Verklebungen des
Gleitgewebes zwischen dem Tuberculum majus
humeri und dem korakoakromialen Bogen ein.

⊡ Abb. 8.8. PHS adhaesiva. Durch fibröse Adhäsionen


Es entsteht die PHS adhaesiva, auch Schultersteife, zwischen Bursa acromialis und Rotatorenmanschette »klebt«
Schulterfibrose genannt ( Übersicht 8.5). Davon der Humeruskopf am korakoakromialen Bogen
abzugrenzen ist die sog. »frozen shoulder« oder
adhäsive Kapsulitis. Hierbei finden sich eine Sy-
novialitis ungeklärter Ursache mit nachfolgender Das Ausmaß der Schultereinsteifung prüft man
Kapselschrumpfung und oft auch eine Tenosynovi- durch Bewegen des Oberarmes bei passiv fixiertem
tis bicipitalis. Der Krankheitsprozess findet primär Schulterblatt. Am meisten sind Abduktion und Ro-
im Gelenk und nicht subakromial statt. tation eingeschränkt. Oft ist diese Bewegungsein-
Der Oberrand des Tuberculum majus hume- schränkung dem Betroffenen nicht bewusst, weil
ri klebt unter dem korakoakromialen Bogen, was die Bewegungen kompensatorisch im Schultergür-
sich im Röntgenbild auch durch einen Hochstand tel erfolgen. Die inaktivierten Muskeln der Rota-
des Humeruskopfes bemerkbar macht (⊡ Abb. 8.8, torenmanschette atrophieren rasch, so dass eine
8.9).

Übersicht 8.5. Schultersteife bei der PHS


Funktionell: Strukturell:
Schmerzhafte Bewegungseinschränkung Fibröse Verklebungen im subakromialen Raum,
Supraspinatussehnenriss

⊡ Abb. 8.9. a Normalstellung,


b deutlicher Humeruskopf-
hochstand: Der Humeruskopf
tritt bereits in Kontakt mit dem
Akromion, das eine reaktive Skle-
rosierung zeigt. Ursache ist ein
großer Rotatorenmanschetten-
defekt, so dass der Humeruskopf
nicht mehr gegen die kraniali-
sierende Kraft des Deltamuskels
in der Pfanne zentriert werden
kann

a b
196 Kapitel 8 · Schulter

Einschränkung der aktiven Schulterbeweglichkeit


besteht, selbst wenn die passive durch Mobilisation
wiederhergestellt ist.
Bewegungseinschränkungen der Schulter kom-
men auch bei anderen Erkrankungen vor, wie z.B.
bei Lähmungen der Schultermuskeln (M. deltoi-
deus), nach längerer Immobilisation der Schulter
mit anliegendem Arm (Mitella, Desault) und bei
allen Erkrankungen der Schulter selbst (Arthrose,
Rheuma usw.).

PHS destructiva
⊡ Abb. 8.10. Arthrographie des Schultergelenkes. Durch die
Risse in der Rotatorenmanschette stehen oft am Ruptur der Rotatorenmanschette im Supraspinatusanteil
Ende der Reihe pathologisch-anatomischer Verän- kommuniziert die Bursa subacromialis mit dem Schulterge-
derungen im subakromialen Raum der Schulter. Sie lenkspalt. Die Ruptur kann man auch im Sonogramm darstel-
len
treten deswegen meist erst nach dem 60. Lebens-
jahr auf. Die Kontinuitätsdurchtrennung erfolgt
Wichtig
8 entweder allmählich unbemerkt oder plötzlich
beim Anheben eines Gegenstandes, beim Sport Der plötzliche Abriss größerer Teile im Supraspi-
oder bei einem Unfall (posttraumatische Schul- natusabschnitt der Rotatorenmanschette führt
tersteife). Diesen Ereignissen kommt meist nur zur akuten Bewegungseinschränkung der Schul-
auslösende Bedeutung zu, was besonders für die ter, die auch als PHS pseudoparalytica bezeichnet
Begutachtung wichtig ist. Ohne degenerative Vor- wird (⊡ Abb. 8.10, 8.11).
schädigung ist eine Ruptur der betroffenen Sehnen
nur selten möglich. Dadurch, dass die Sehnenan-
sätze in der Rotatorenmanschette untereinander Bizepssehnensyndrom
in Verbindung stehen, ist der Funktionsausfall bei Die Leitsymptome der PHS können auch von der
schleichendem Verlauf und bei Teilrupturen relativ langen Bizepssehne und deren Umgebung verur-
gering. sacht werden. Diese gehören nicht eigentlich zur

⊡ Abb. 8.11. a Normale Kontur


der Rotatorenmanschette (RM)
MD über der Humeruskopfkontur
RM (HK), b Ruptur der Rotatoren-
RM manschette (RM) mit Eindellung
HK HK (Pfeil) über der Humeruskopfkon-
tur (HK). MD ist der M. deltoideus

a b
8.4 · Periarthropathia humeroscapularis (PHS) oder Subakromialsyndrom (SAS)
197 8

Rotatorenmanschette. Die lange Bizepssehne zieht, Voraussetzung für die Läsion. Die Bizepssehnen-
vom Oberrand der Schulterpfanne entspringend, ruptur wird deswegen i. allg. nicht als Unfallscha-
durch das Innere des Schultergelenks vorn un- den anerkannt.
terhalb in einer Rinne der Rotatorenmanschette
und verläuft ventral am Humeruskopf entlang in Wichtig
einem Knochenkanal (Sulcus intertubercularis) Der Funktionsverlust nach Ruptur der langen Bi-
zum Muskelbauch. Durch die Verflechtung der zepssehne ist auf die Dauer gering, weil der kurze
Rotatorenmanschette mit der langen Bizepssehne Bizepskopf die Funktion übernimmt.
beeinflussen sich die Sehnen gegenseitig und bil-
den in den meisten fortgeschrittenen Fällen einen
zusammenhängenden Symptomenkomplex, der Operationen sind nur bei jüngeren Menschen in
die gemeinsame Bezeichnung PHS rechtfertigt. Erwägung zu ziehen. Dabei wird der periphere Seh-
Reizzustände des Peritendineums, bedingt durch nenstumpf im Sulcus intertubercularis befestigt.
Reibungen in diesem engen Knochenkanal, be-
stimmten das pathologisch anatomische Bild der Therapie der PHS
Anfangsphase (PHS simplex). Klinisch findet sich Konservativ. Die Grundzüge der Therapie sind bei
ein umschriebener Druckschmerz an der Vorder- allen Formen der PHS gleich. Sie richten sich in
seite des Schultergelenkes. erster Linie nach den im Vordergrund stehenden
Symptomen. In der akut schmerzhaften Anfangs-
Wichtig phase gibt man Analgetika, Antiphlogistika sowie
Der Bizepssehnenschmerz ist außerdem bei Beu- lokal Kältepackungen. Außerdem muss der Arm
gung und Supination des Unterarms gegen Wider- geschont werden, um die schmerzauslösenden
stand auslösbar, sowie bei Abduktion in Außenro- Abduktions- und Rotationsbewegungen zu ver-
tation (sog. Palm-up-Test). Die Schmerzen strahlen meiden. Die Schulter darf aber keinesfalls etwa mit
entlang der Beugeseite des Oberarmes aus. einem Verband ruhiggestellt werden, weil sie sonst
einsteift. Zusätzlich werden lokale Kortisonkris-
tallsuspensionen in die Bursa subacromialis und
Im weiteren Verlauf eines Bizepssehnensyndroms in das Peritendineum der Rotatorenmanschette
kann die Sehne auch reißen (PHS destructiva). bzw. der langen Bizepssehne appliziert. Neben der
Der Riss entsteht durch allmähliche Auffaserung antiphlogistischen Wirkung besteht auch eine an-
der Sehnenfasern in der Knochenrinne. Bei Bi- tiproliferative Wirkung, die Verklebungen vermei-
zepssehnenruptur findet sich klinisch eine leichte det. Elektro- und Bewegungstherapie bleiben mehr
Beeinträchtigung der Supinationsfähigkeit. Vorbe- der chronisch rezidivierenden PHS vorbehalten.
stehende Schmerzen können verschwinden, weil
die Sehne nicht mehr im Sulkus irritiert wird. Au- Krankengymnastik. Die Beweglichkeit der Schul-
ßerdem kann es zu einer Einschränkung der Beu- ter ist wiederherzustellen. Geeignet sind Übun-
gung im Ellenbogengelenk kommen. Insgesamt ist gen unter axialer Traktion, um den Andruck des
der Funktionsverlust jedoch nicht sehr ausgeprägt. Oberarmkopfes unter dem korakoakromialen
Schleichende Rupturen bleiben oft unbemerkt, Bogen zu reduzieren. Dasselbe erreicht man auch
wenn das abgetrennte Sehnenende in der Kno- mit Pendelübungen des herabhängenden Armes.
chenrinne im Zusammenhang mit den aseptisch Überkopfbewegungen sind in der Akutphase zu
entzündlichen Veränderungen wieder verwächst. vermeiden. Verhaltensweisen zur Rezidivprophy-
Bei plötzlichem Riss (Bizepssehne im oder ober- laxe (z.B. Überkopfbewegungen vermeiden) und
halb des Sulcus intertubercularis) sieht und tastet Eigenübungen werden dem Patienten in der Schul-
man deutlich den Bauch des retrahierten Bizeps- terschule beigebracht.
muskels. Die Ruptur kann spontan oder bei einer Krankengymnastik dient andererseits dazu, die
plötzlichen Kraftanstrengung eintreten. Auch hier regulären Kraftverhältnisse zwischen Delta- und
ist der degenerative Vorschaden eine wesentliche Rotatorenmuskeln und ihre Koordination wie-
198 Kapitel 8 · Schulter

derherzustellen. Sie kann schmerzhaft verspannte ⚉ Fallbeispiel


Muskeln detonisieren und zu schwache kräftigen. Immer wenn Petra Hansen-Esslinger, 48, Fensterteile
Sie ist unverzichtbar bei Bewegungseinschränkun- putzt, die sich in ihrer Kopfhöhe befinden, verspürt sie
gen, um die Motilität wiederherzustellen. Schmerzen in der rechten Schulter, die Fensterschei-
ben darüber und darunter kann sie schmerzfrei bear-
Physikalische Maßnahmen. (Elektro-, Thermo- beiten. Nachts wacht sie auf, wenn sie auf der rechten
und Ultraschalltherapie) sind begleitend, aber Schulter liegt.
ausschließlich nicht sinnvoll. Die extrakorporale Befund. Druckschmerz dicht unterhalb des Akromi-
Stoßwelle kann alternativ zu den operativen Ver- ons, Bewegungsschmerzen der rechten Schulter mit
fahren eingesetzt werden. (S. 63). »painful arc«-Symptom.
Ultraschalluntersuchung. der rechten Schulter: Bursi-
Operativ. Mit den konservativen Maßnahmen tis subakromialis.
ist nur eine symptomatische Behandlung bei der Diagnose. Subakromialsyndrom (Periarthropathia
PHS möglich, da man versucht, die Reizzustände humero scapularis).
und Verklebungen im periartikulären Gewebe der Therapie. Wenn die Symptome trotz konservativer
Schulter zu beseitigen. Die Ursache, d.h. die Enge Behandlung persistieren: Endoskopische Dekompres-
am subkorakoakromialen Raum, welche die Frik- sion des Subakromialraumes.
8 tionen der Sehnen und ihres Gleitgewebes immer
wieder auslöst, ist damit nicht beseitigt. So treten
nach beschwerdefreien Intervallen immer wieder 8.5 Typische Verletzungsfolgen
periarthritische Schübe auf. des Schulterbereichs
Bei chronisch rezidivierender PHS sind deshalb
operative Maßnahmen zur Dekompression bzw. 8.5.1 Verletzung des Plexus
Erweiterung des subkorakoakromialen Raums er- bei der Geburt
forderlich.
In einfachen Fällen genügt die Resektion des Bei Geburtskomplikationen, z.B. bei hochgeschla-
Lig. coracoacromiale. Eine weitergehende Erwei- genem Arm, der manuell heruntergeholt werden
terung wird erreicht, indem man die Vorderun- muss, oder beim Zug am vorgefallenen Arm, kann
terkante des Akromions entfernt (anteriore Akro- es zu Nervendehnungen und Rissen kommen.
mionplastik). Beide Eingriffe können heute auch Neben einem Riss des M. sternocleidomastoideus
arthroskopisch durchgeführt werden. Wenn ein (Kopfnickerhämatom) und der Klavikulafraktur
Kalkdepot vorliegt, kann man dieses isoliert oder können Plexusschäden entstehen ( Übersicht 8.6).
in Verbindung mit einer Dekompressionsoperation Bei der Zangenentbindung kann der Plexus entwe-
entfernen. der direkt durch einen nicht exakt angelegten Löf-
Sehnenrupturen werden bei Menschen im fel oder indirekt durch den starken Zug am Kopf
mittleren Lebensalter genäht, durch Transplantate komprimiert werden. Man unterscheidet 2 Typen
überbrückt oder knöchern reinseriert. Postope- von Entbindungslähmungen.
rativ muss die Schulter einige Wochen (2–6) ent-
weder im Gilchristverband oder auf einer Abduk-
tionsschiene ruhiggestellt werden. In dieser Zeit Übersicht 8.6. Geburtsverletzung am Hals
sind nur passive krankengymnastische Übungen ▬ M. sternocleidomastoideus
erlaubt. ▬ Klavikula
▬ Armplexus
Wichtig

Die Indikation zur operativen Rekonstruktion der


Rotatorenmanschette hängt ab vom Alter und
Aktivitätsanspruch des Patienten.
8.5 · Typische Verletzungsfolgen des Schulterbereichs
199 8

▬ Die obere Plexuslähmung (Duchenne1-Erb2) es zur Lähmungsluxation im Schultergelenk. Die


betrifft die 5. und 6. Zervikalwurzel (M. bra- Therapie besteht zunächst in einem Versuch, den
chioradialis und M. biceps). Es fällt zunächst lädierten Nervenstrang neurochirurgisch zu revi-
auf, dass das Kind den Oberarm nicht bewegt. dieren und evtl. eine Nerventransplantation vorzu-
Dies wird besonders deutlich bei der Prüfung nehmen; gleichzeitig muss der Arm in Abduktion
des Moro-Reflexes. Bei Dauerschädigung ent- gehalten werden, um eine Adduktionskontraktur
wickelt sich eine Adduktions-Innenrotations- zu verhindern. Später kommen nur noch orthopä-
Pronations-Kontraktur. Differenzialdiagnos- dische Operationen wie Sehnentransplantationen
tisch muss immer eine Humerusfraktur oder oder Versteifung (Arthrodese) des Schultergelenks
Epiphysenlösung am Humeruskopf ausge- in Funktionsstellung in Frage. Die MdE (GdB) be-
schlossen werden. Die Behandlung besteht in trägt zwischen 30 und 40%. An Rehabilitations-
Lagerung, 90°-Abduktion und Außenrotation und Umschulungsmaßnahmen ist rechtzeitig zu
(Fechterstellung) zur Entlastung des M. del- denken.
toideus, passivem Durchbewegen sowie Elek-
trostimulation. Die Prognose ist gut, da es sich Wichtig
meistens nur um eine Dehnung handelt. Bei Axillarislähmung ist die Arthrodese des
▬ Die untere Plexuslähmung (Klumpke3) betrifft Schultergelenks die Therapie der Wahl.
20% der Entbindungslähmungen. Geschädigt
sind die Wurzeln C8 und Th1. Es kommt zu
einem Ausfall der Nn. medianus und ulnaris. 8.5.3 Verrenkungen und Instabilitäten
Betroffen sind v.a. die Beuger der Hand und
Finger sowie die Mm. interossei und Mm. lum- Ätiopathogenese. Die Verrenkung des Schulterge-
bricales. Es findet sich eine Krallen- oder Pföt- lenks erfolgt meistens durch Trauma mit Verrei-
chenstellung der Hand. Die Prognose ist hier ßung des Arms in Abduktion/Außenrotation oder
weniger gut, da häufig komplette Rupturen aus abduzierter Stellung nach hinten. In nur etwa
und Quetschungen vorliegen. Man sollte im- 1% treten hintere Luxationen auf. Bei der vorderen
mer einen Neurochirurgen hinzuziehen und Luxation (⊡ Abb. 8.12 b, 8.13) reißt in der Regel das
eine Nervennaht diskutieren. Konservative Be- Labrum glenoidale als Kapselansatzstruktur vom
handlung wie bei der oberen Plexuslähmung. vorderen, unteren Pfannenrand ab (sog. Bankart-
Bei Dauerschädigung des Armplexus kommt es Läsion4). Gelegentlich kommen auch knöcherne
zu Minderwachstum. Pfannenrandabrisse mit dem Labrum vor (sog.
knöcherne Bankart-Läsion). Die Diagnose des Lab-
8.5.2 Traumatische Plexuslähmungen rumabrisses wird mit Arthro-CT oder MRT gestellt
und ggf. arthroskopisch bestätigt. Bei mangelnder
Auch beim Erwachsenen kommen Läsionen des Anheilung ist der Humeruskopf vorne nicht mehr
Plexus vor. Diese entstehen z.B. bei Schulterverlet- fest gefasst, so dass er bei Abduktions-Außenrota-
zungen sowie bei der habituellen Schulterluxation. tionsbewegungen unkontrolliert in eine Kapselta-
Die Plexusläsion kann akut durch Trauma oder sche luxieren kann. Diese Form bezeichnet man als
chronisch durch Kompression verursacht werden. posttraumatisch-rezidivierende Schulterluxation.
Bei der vollständigen Plexuslähmung sind außer Sie kann nur operativ behandelt werden.
dem M. trapezius alle Schulter- und Armmuskeln Seltener trifft man atraumatisch-rezidivieren-
ausgefallen, der Arm hängt schlaff herab. Handelt de (habituelle) Luxationen an. In diesen Fällen
es sich um eine bleibende Lähmung, so kommt liegt entweder eine anlagemäßig zu weite Kapsel
mit übermäßiger Laxizität des Gewebes vor oder
aber sehr selten eine Dysplasie in Form einer zu
1 Giullaume Duchenne, Neurologe, Paris (1806–1875)
2 Wilhelm Erb, Neurologe, Heidelberg (1840–1921)
3 Augusta Klumpke, Neurologin, Paris (1859–1927) 4 Arthur Bankart, Chirurg, London (1879–1951)
200 Kapitel 8 · Schulter

8 c

⊡ Abb. 8.12. a–c. Verletzungsmechanismus bei der vorderen


Schulterluxation; a unauffälliger Zustand; b vordere Luxation.
Der Humeruskopf frakturiert den ventralen Pfannenrand und
zerreißt die Kapsel (Bankart-Läsion); c Humeruskopfimpressi-
on im dorsalen Anteil im luxierten Zustand (Hill-Sachs-Delle)

kleinen Pfanne oder einer Fehlorientierung von


Humeruskopf und Pfanne i.S. einer Verminderung
der Retrotorsion des Humeruskopfes oder der Re-
troversion der Pfanne. Objektivierung des Befun-
des erfolgt durch CT.
Häufig finden sich Dellen und Kerben am
Humeruskopf als Impressionsfraktur (Hill-Sachs-
Läsion). Als weitere Begleitverletzungen bei der
Schulterluxation kommen in Frage: Rotatorenman-
schettenrupturen, Abriss des Tuberculum majus
humeri und Nervenläsionen (z.B. N. axillaris).

Wichtig
⊡ Abb. 8.13. a Vordere Luxationen des rechten Humeruskop-
Bei frischer Luxation ändert sich das Schulterrelief, fes nach unten bei einem 54-jährigen Patienten nach Skisturz.
der Kopf ist meistens vorn unterhalb der Schulter- b Nach Reposition befindet sich der Humeruskopf wieder in
pfanne zu tasten, die Pfanne ist leer. Der Arm ist der Schultergelenkspfanne. Ruhigstellung 14 Tage in einem
schmerzhaft in Adduktionsstellung fixiert. Verband in Adduktionsstellung. Anschließend vorsichtige
Mobilisierung unter krankengymnastischer Anleitung. Sollte
unter der Mobilisierung ein Bewegungsschmerz an der Vor-
derseite des Schultergelenkes auftreten, bildgebendes Ver-
Bei der willkürlichen Schultergelenksluxation fahren z.B. Arthro-CT, MRT oder (und) Sonographie
kann der Patient seine Schulter selbstständig lu-
xieren oder subluxieren. Die willkürliche Schulter-
gelenksluxation lässt sich inspektorisch und pal-
8.5 · Typische Verletzungsfolgen des Schulterbereichs
201 8
⊡ Abb. 8.14 a, b. Schultergelenks-
reposition: a nach Arlt1 über Stuhl-
lehne; b nach Hippokrates2 mit Hilfe
des Fußes

a b

patorisch nach dem Luxationsvorgang erfassen. 8.5.4 Verletzungen des Schultereck-


Willkürliche Luxation und Reposition gehen i. d. R. gelenks (Akromioklavikulargelenk
ohne Schmerzen einher. = AC-Gelenk)

Behandlung. Die Therapie der frischen Erstluxa- Luxationen und Subluxationen


tion besteht in Reposition (u.U. in Narkose) und Am Schultereckgelenk entstehen durch Stürze auf
kurzfristiger Ruhigstellung bis zu 2 Wochen in ei- den ausgestreckten Arm aber auch durch direkte
nem Verband in Adduktionsstellung (⊡ Abb. 8.14). Traumen des Schultergürtels Zerreißungen des
Kapsel-Band-Apparates des Schultereckgelenks
Wichtig mit Zerreißung der korakoklavikulären Bänder.
Nach der frischen Luxation sollten die Funktionen Unter dem Zug des Sternokleidomastoideus-
des N. axillaris und die Intaktheit der Rotatoren- muskels tritt das Schlüsselbein dann hoch, was
manschette nach der Reposition durch neurologi- man radiologisch darstellen kann. Klinisch findet
sche Untersuchung sowie Sonographie überprüft man eine Stufenbildung im Bereich des AC-Gelen-
werden. kes mit sog. Klaviertastenphänomen (die laterale
Klavikula ist wie eine Klaviertaste herunterzudrü-
cken) und vermehrte horizontale Verschieblichkeit
Die Therapie sowohl der posttraumatisch-rezidi- der lateralen Klavikula. Man teilt die Verletzungen
vierenden wie der habituellen Luxationen ist ope- nach Stadien ein. Stadium I: Zerrung/Dehnung der
rativ. Kapsel ohne Zerreißung der korakoklavikulären
Dabei refixiert man das vordere Labrum mit Bänder. Kein Hochstand der Klavikula. Stadium
der Kapsel wieder am Pfannenrand (Operation II: Zerreißung der Kapsel und Teilzerreißung der
nach Bankart). Alternativ werden knöcherne Span- korakoklavikulären Bänder. Die laterale Klaviku-
plastiken am vorderen Pfannenrand oder Dop- la tritt um etwa halbe Schaftbreite hoch. Stadium
pelungsverfahren von Kapsel und Subskapularis III: Komplette Zerreißung der Kapsel und der ko-
durchgeführt. Ein anderes Verfahren dreht den Hu- rakoklavikulären Bänder. Die Klavikula tritt in
meruskopf gegenüber dem Schaft nach innen (Ro- gesamter Breite hoch. Der Discus articularis reißt
tationsosteotomie). Wenn das Kapselvolumen zu in vielen Fällen und kann Ursache anhaltender Be-
groß ist, müssen zusätzlich volumenverkleinernde schwerden sein (⊡ Abb. 8.15).
Kapselplastiken durchgeführt werden. Ohne erkennbare Ursache (idiopathisch)
Bei korrekt ausgeführter Operation und Nach- oder aber posttraumatisch können Arthrosen des
behandlung ist die Prognose gut. Sportfähigkeit ist Schultereckgelenks eintreten. Auch rheumatische
wieder gegeben. Bei kompletter Lähmungsluxation, Erkrankungen können das Schultereckgelenk
z.B. nach Ausfall des N. axillaris, kommt nur noch
eine Arthrodese (Versteifung) des Schultergelenks
in Frage. 1 Benno Arlt, Chirurg, Klagenfurt, geb. 1874
2 Hippokrates, Arzt, Kos (460–370)
202 Kapitel 8 · Schulter

Akromion
Klavikula ⊡ Abb. 8.15. Verletzungen des Schul-
tereckgelenkes, Einteilung nach Tossy

Korakoid

Tossy 0 Tossy I Tossy II Tossy III


normal Dehnung der Riss der Riss der
AC-Kapsel AC-Kapsel AC-Kapsel
kleine Stufe Riss Lig. coraco-
claviculare
große Stufe

befallen (v.a. bei Spondylitis ancylosans) und im 8.6 Begutachtung


Endstadium zur postarthritischen Arthrose füh-
ren. Klinisch erkennt man die AC-Arthrose an der Die Begutachtung spielt eine Rolle v.a. bei Rotato-
8 Auftreibung des Gelenks. Es liegt ein sog. hoher renmanschettenzerreißungen infolge eines Unfalls.
schmerzhafter Bogen (ab ca. 120° Armhebung) vor, Hier muss man Schadensanlage (asymptomatische
sowie ein Überkreuzungsschmerz, wenn der Arm Degeneration) bzw. Vorschaden (manifeste Vorer-
vor dem Körper aus ca. 90° Vorhebung zur Gegen- krankung, z.B. PHS simplex) von den eigentlichen
seite bewegt wird. Unfallfolgen trennen. In der gesetzlichen Unfall-
Röntgenologisch erkennt man die Gelenkspalt- versicherung werden Unfallfolgen anerkannt,
verschmälerung mit subchondraler Sklerosierung wenn das Ereignis geeignet erscheint, die Rotato-
und osteophytären Ausziehungen. Wenn diese nach renmanschette zu zerreißen, ungeachtet einer evtl.
kaudal zeigen, können sie ein Impingement der Ro- vorbestehenden Degeneration. In der privaten
tatorenmanschette hervorrufen und sekundär zu Unfallversicherung wird der Anteil einer vorbeste-
einer PHS führen. henden Degeneration anteilmäßig auf die späteren
Folgen angerechnet.
Therapie. Die Mehrzahl der Schultereckgelenkver- Die Luxation des Schultergelenks kann auch
letzungen behandelt man heute konservativ-funk- ohne entsprechende Dysplasie traumatisch erfol-
tionell, d.h. nach wenigen Tagen Ruhigstellung gen. Bei entsprechender Gewalteinwirkung wird
z.B. im Gilchristverband wird Krankengymnastik die Luxation als Unfall anerkannt. War die betrof-
aufgenommen. Bei ausgedehnten Zerreißungen fene Schulter jedoch schon vor dem Unfallereignis
sollte man v.a. bei Sportlern die Bänder operativ ein- oder mehrfach luxiert, so wird bei unfallbe-
rekonstruieren. dingter erneuter Luxation das traumatische Ereig-
nis nur als Teilursache anerkannt.
9

9 Arm und Hand

9.1 Entwicklungsstörungen und Anomalien – 204

9.2 Erworbene Störungen von Ellenbogengelenk


und Unterarm – 204
9.2.1 Funktionsprüfung des Ellenbogengelenks – 204
9.2.2 Arthritis, Arthrose – 204
9.2.3 Osteochondrosis dissecans (Morbus Panner) – 205
9.2.4 Myotendinosen (Epikondylopathia, Tennisellenbogen) – 206
9.2.5 Typische Kontrakturen am Ellenbogen – 207
9.2.6 Bursitis olecrani (Studentenellenbogen) – 207

9.3 Traumatische Folgen am Ellenbogengelenk – 207

9.4 Erworbene Störungen von Handgelenk und Hand – 207


9.4.1 Funktionsprüfung des Handgelenks – 207
9.4.2 Arthritis, Arthrose – 207
9.4.3 Lunatummalazie – 208
9.4.4 Daumensattelgelenkarthrose (Rhizarthrose) – 209
9.4.5 Neurogene Störungen – 209
9.4.6 Sehnen- und Sehnenscheidenerkrankungen – 210
9.4.7 Karpaltunnelsyndrom – 211
9.4.8 Dupuytren-Kontraktur – 212

9.5 Verletzungsfolgen an Handgelenk und Hand – 212


9.5.1 Fehlstellung – 212
9.5.2 Sudeck-Syndrom – 212
9.5.3 Kahnbeinbruch – 212
9.5.4 Handgelenkinstabilitäten – 215

9.6 Begutachtung – 215


204 Kapitel 9 · Arm und Hand

>> Einleitung
Entwicklungsstörungen und Verletzungsfolgen an Arm
und Hand sind v. a. von differenzialdiagnostischer Be-
deutung.
Im Röntgenbild ist die proximale Handwurzel-
⊡ Abb. 9.1. Bajonetthaltung der Hand bei Madelung-Defor-
knochenreihe zu beachten (Kahnbeinpseudarthrose,
mität und nach fehlverheilter Radiusfraktur
Lunatummalazie), ebenso wie das distale Radiusende
(Madelungdeformität, Radiusfraktur). Einzuprägen sind
alle Rheumaveränderungen der Hand, die sich z. T. hier Differenzialdiagnose. In Fehlstellung verheilte
und im Rheumakapitel finden. Radiusfraktur.

Therapie. Verkürzungsosteotomie der Ulna. Um-


9.1 Entwicklungsstörungen stellungsosteotomie am Radius.
und Anomalien
Syndaktylie
Radioulnare Synostose Schwimmhautbildung unterschiedlicher Ausprä-
Knöcherne Verbindung zwischen Speiche und Elle. gung. Dominantes Erbleiden, gibt es an Händen
Die distale Form führt zur Klumphand mit Abwin- und Füßen ein- und doppelseitig. Wenn alle Finger
kelung nach radial. und Zehen betroffen sind, handelt es sich um eine
Löffelhand bzw. um einen Löffelfuß. Auch ossäre
9 Radiusköpfchenluxation Syndaktylien sind möglich.
Angeborene Missbildung mit Supinations-Beu-
ge-Behinderung. Es bildet sich ein Cubitus val- Therapie. Operative Korrektur.
gus (Abweichung des Unterarms nach lateral bei
Streckstellung und Ellenbeuge nach vorn) mit Amniotische Abschnürung
Pronationsstellung aus. Im Röntgenbild sieht man Abschnürungen von Gliedmaßen durch Simon-
eine Verformung des Radiusköpfchens in Luxati- art-Bänder oder Nabelschnurverschlingung. Da
onsstellung. es auch erbliche Amputationen (Peromelien) gibt,
hat die Diagnose »amniotische Abschnürung« nur
Differenzialdiagnose. Einen Cubitus valgus gibt dann Beweiskraft, wenn der einengende Amni-
es auch nach in Fehlstellung verheilter suprakon- onfaden oder freiliegende Extremitätenabschnitte
dylärer Humerusfraktur. Dabei kann der N. ulnaris gefunden werden.
überdehnt werden.

Therapie. Radiusköpfchenresektion, Krankengym- 9.2 Erworbene Störungen von


nastik. Ellenbogengelenk und Unterarm

Madelung1-Deformität 9.2.1 Funktionsprüfung des


Zählt zu den enchondralen Dysostosen, d.h. Knor- Ellenbogengelenks (⊡ Abb. 9.2, 9.3)
pel-Knochen-Wachstumsstörungen. Es handelt
sich um eine Wachstumshemmung der distalen 9.2.2 Arthritis, Arthrose
Radiusmetaphyse. Infolgedessen kommt es zum
Ulnavorschub, das distale Ulnarisende springt dor- Es gibt bakterielle und abakterielle rheumatische
salwärts vor (Bajonettstellung der Hand). Dorsal- Entzündungen des Ellenbogengelenks. Am häu-
flexion und ulnare Abduktion sind eingeschränkt. figsten kommt die Ellenbogengelenkentzündung
Beschwerden bestehen keine (⊡ Abb. 9.1). im Rahmen der pcP vor. Durch Kapselschrump-
fung und Gelenkdestruktion stellt sich eine typi-
1 Otto Madelung, Chirurg, Rostock (1846–1926) sche Beuge-Pronations-Kontraktur ein. Im akuten
9.2 · Erworbene Störungen von Ellenbogengelenk und Unterarm
205 9
⊡ Abb. 9.2. a Beugung, Streckung
und Überstreckung, b Supination
und Pronation

stärkeren Grades, weil dann die Hand beim Essen


nicht mehr zum Mund geführt werden kann. In
diesen Fällen Synovektomie mit Radiusköpfchen-
resektionen, evtl. Alloarthroplastik mit Ersatz des
zerstörten Ellenbogengelenks durch ein künstli-
ches.

9.2.3 Osteochondrosis dissecans


(Morbus Panner2)

a b Aseptische Knochennekrose am Ellenbogenge-


lenk, meistens am Humerusköpfchen (Capitulum
⊡ Abb. 9.3 a, b. Hueter1-Dreieck. Epicondylus medialis und la-
teralis humeri sowie Olekranonspitze bilden physiologischer-
humeri) lokalisiert. Es ist der Teil des Humerus, der
weise ein gleichseitiges Dreieck (a). Bei voller Ellenbogenstre- mit dem Radiusköpfchen artikuliert. Dort kommt
ckung liegen die Punkte auf einer Linie (b) es zur Bildung eines Knorpel-Knochen-Sequesters,
der in das Gelenk abgestoßen wird und dort Ein-
klemmungserscheinungen hervorruft. Selbst wenn
Reizzustand kommt es zur Synovialitis mit Erguss- der freie Gelenkkörper entfernt ist, besteht die Ge-
bildung. Den Erguss tastet man am besten auf der fahr einer Früharthrose durch den Defekt in der
Beugeseite neben der Bizepssehne. Knorpelfläche (⊡ Abb. 9.4,  Übersicht 9.1).
Die Arthrose des Ellenbogengelenks ist eine ty-
pische Zweiterkrankung. Sie tritt ein nach Entzün-
dungen, Frakturen und nach der Osteochondrosis Übersicht 9.1. Memo – Gelenkblockierung
dissecans. Die genannten Erkrankungen hinterlas- im Ellenbogen
sen Deformitäten an den Gelenkflächen und stellen ▬ Osteochondrosis dissecans
deswegen sog. präarthrotische Deformitäten dar. ▬ Subluxation des Radiusköpfchens
▬ Gelenkchondromatose
Therapie. Zunächst konservative Übungsbehand-
lung durch Krankengymnastik. Funktionell un-
günstig ist insbesondere eine Beugebehinderung Pressluftschaden
Durch den Vibrationsdruck kommt es zu Knor-
pel-Knochen-Schäden in der Belastungskette des
1 Karl Hueter, Chirurg, Greifswald (1838–1882) Arms. Diese beinhaltet sowohl eine Nekrose des
2 Hans Panner, Radiologe, Kopenhagen (1870–1930) Os lunatum (Lunatummalazie) als auch eine Os-
206 Kapitel 9 · Arm und Hand

⊡ Abb. 9.4. Typische Lokalisation der


Osteochondrosis dissecans am Ellenbo-
sich ein Druckschmerz über dem betroffenen Epi-
gen: Oberarmgelenkrolle gegenüber kondylus. Passive Dehnung des M. extensor carpi
dem Speichenköpfchen radialis durch Herunterdrücken der Hand mit Vo-
larflexion ruft Spontanschmerzen am Epicondy-
lus radialis hervor, ebenso Dorsalextension gegen
Widerstand.

Wichtig

Typisches, oft einziges Symptom des Tennisellen-


bogens ist der Druckschmerz über dem Epicondy-
lus lateralis humeri.
teochondrosis dissecans am Ellenbogen. Gutach-
terlich werden Pressluftschäden nach mindestens
3jähriger Tätigkeit am Presslufthammer aner- Ähnliche Veränderungen gibt es am Processus
kannt. Durch die Unebenheiten der Gelenkflächen styloideus ulnae und radii und an den Addukto-
nach Pressluftschäden entstehen präarthrotische renansätzen der Hüfte, besonders am M. gracilis
Deformitäten mit der Entwicklung einer Arthro- (Gracilissyndrom).
se im Handgelenk und im Ellenbogengelenk. Bei
fortgeschrittener Arthrose bleibt dann nur noch Wichtig
die operative Versteifung der betroffenen Gelenke
9 (Arthrodese), ggf. Endoprothese ( Übersicht 9.2).
Differenzialdiagnose: Zervikobrachialsyndrom
(mit segmentaler Ausstrahlung), Arthrose des
Ellenbogengelenks, freie Gelenkkörper.

Übersicht 9.2. Pressluftschäden an


Ellenbogen und Hand Konservative krankengymnastische Therapie.
▬ Osteochondrosis ⎫ Nach gezielter Ausdifferenzierung des bzw. der
dissecans ⎬ am Ellenbogen betroffenen Muskeln erfolgt eine intensive Quer-
▬ Arthrosis deformans ⎭ friktion am Ursprung, eine Weichteildehnung des
▬ Nekrose des Os lunatum betroffenen Muskelbauchs und eine Quer- bzw.
Längendehnung des betroffenen Muskels. Im An-
schluss daran erfolgt ein intensives Training der
9.2.4 Myotendinosen (Epikondylopathia, betroffenen Muskulatur, welches der jeweiligen
Tennisellenbogen) Belastungssituation im Alltag adäquat ist.

Es handelt sich um Überlastungsschäden der Seh- Ärztliche Behandlung. Infiltration mit Kortison-
nen und Muskelansätze, insbesondere am Über- kristallsuspension, Ultrasonophorese, Gipsruhig-
gang zum Knochen. Typisches Beispiel ist der Ten- stellung, Operation (Einkerbung der Ansätze der
nisellenbogen (Epicondylopathia lateralis humeri). Handgelenkstrecker am Epicondylus lateralis hu-
Pathologisch-anatomische Untersuchungen zeigen meri). Alternativ zur Operation kann die extrakor-
regressive Veränderungen der Sehnenursprünge porale Stoßwelle (ESW) eingesetzt werden (S. 63).
und -ansätze mit Verfettungen und Aufsplitterung Die Prognose der Epicondylopathia radialis hume-
von Sehnenfasern. Es handelt sich meistens um ri ist günstig. Die Beschwerden gehen häufig von
Folgen von muskulärer Überanstrengung (Tennis selbst auch ohne Behandlung zurück. Es entstehen
spielen, Schreibmaschine schreiben). Auch der me- keine Kontrakturen oder sonstige Folgeschäden.
diale (ulnare) Epikondylus kann erkranken. Nicht
nur Tennis und Sport, sondern auch Überanstren- ⚉ Fallbeispiel
gungen aller Art rufen Insertionstendopathien am Steffi Becker, 36, Sportlerin verspürt seit einigen Wo-
Ellenbogen hervor. Bei der Untersuchung findet chen Schmerzen an der rechten Ellenbogenaußen-
9.4 · Erworbene Störungen von Handgelenk und Hand
207 9

seite. Sie kann das Ellenbogengelenk voll bewegen,


äußerlich ist nichts zu sehen.
Befund. Umschriebener Druckschmerz über dem Epi-
condylus lateralis humeri. Labor und Röntgen o.B.
Diagnose. Epicondylopathia lateralis humeri
Therapie. Wenn die konservative Behandlung mit Phy-
siotherapie, Stoßwelle und 1–2 Kortisoninjektionen
nichts hilft, operative Einkerbung der Sehnenansätze
am Ellenbogen.

9.2.5 Typische Kontrakturen


am Ellenbogen ⊡ Abb. 9.5. Monteggia-Fraktur: Ulnafraktur mit Radiusköpf-
chenluxation. Therapie: Plattenosteosynthese der Ulnafraktur.
Das Radiusköpfchen reponiert sich spontan
Nach Verletzungen am Ellenbogen stellen sich häu-
fig Beugekontrakturen ein. Die Ursache liegt darin,
dass die Ellenbogenbeuger wesentlich stärker sind 9.3 Traumatische Folgen
als die Strecker und günstigere Hebelverhältnisse am Ellenbogengelenk
haben. Daher reicht schon die Fixation des Ellen-
bogens in Beugestellung über mehrere Wochen Bevorzugte Frakturen sind suprakondyläre, Radi-
aus, um eine Beugekontraktur entstehen zu lassen. usköpfchen- und Monteggia1-Fraktur (⊡ Abb. 9.5).
Eine Versteifung des Ellenbogens, selbst in der Die meisten Frakturen entstehen durch Stauchung
Funktionsmittelstellung, bedeutet eine erhebliche des gestreckten Arms beim Sturz.
Beeinträchtigung, weil eine Kompensation durch
benachbarte Gelenke nicht möglich ist. Therapie. Die Kongruenz der Gelenkflächen muss
wiederhergestellt werden. Falls dies konservativ
Therapie und Prophylaxe. Frühzeitige kranken- nicht möglich ist, muss man operieren. Haupt-
gymnastische Übungsbehandlung. Falls durch sächliche Achsenfehlstellungen sind Cubitus val-
Bewegungstherapie keine volle Streckung erreicht gus und varus. Beim stärkeren Cubitus valgus kann
werden kann, kommen Quengelmaßnahmen in durch Überdehnung eine Parese des N. ulnaris ent-
Frage. stehen.

9.2.6 Bursitis olecrani


(Studentenellenbogen) 9.4 Erworbene Störungen
von Handgelenk und Hand
Entzündung des Schleimbeutels über dem Olekra-
non nach starker mechanischer Beanspruchung, 9.4.1 Funktionsprüfung des Handgelenks
längerem Aufstützen und beim Zustand nach Frak- (⊡ Abb. 9.6, 9.7)
tur. In der Bursa können sich größere Flüssigkeits-
mengen ansammeln. 9.4.2 Arthritis, Arthrose

Therapie. Ruhigstellung, später evtl. Entfernung Eine Entzündung des Handgelenks tritt meistens
des Schleimbeutels. im Rahmen der rheumatischen Polyarthritis auf.
Spezifische und unspezifische bakterielle Entzün-
dungen sind im Handgelenk selten.

1 Giovanni Monteggia, Chirurg, Italien (1762–1815)


208 Kapitel 9 · Arm und Hand

⊡ Abb. 9.6. a Dorsalextension


und Volarflexion, b Radial- und
Ulnarabduktion

⊡ Abb. 9.7. Fingergelenke und


typischer Gelenkbefall. Bei chro-
nischer Polyarthritis und Lupus
erythematodes ist symmetrischer
Gelenkbefall charakteristisch

Die Arthrose des Handgelenks ist eine typische gelenkgegend auf. Im Röntgenbild findet sich eine
Zweiterkrankung. Als Ursache kommen in Fehl- feine subchondrale Fissur, gefolgt von einer Sinte-
stellung verheilte Radiusfrakturen sowie sponta- rung des Knochens mit Verdichtung der Struktur
ne Osteonekrosen und Verletzungsfolgen an den (⊡ Abb. 9.8). Durch Kernspintomographie (MRT)
Handwurzelknochen in Betracht. Typische Verlet- kann die Diagnose noch vor röntgenologisch sicht-
zungsfolgen sind arthrotische Deformierungen des baren Veränderungen gestellt werden. Im weiteren
Handgelenks nach Navikularfraktur bzw. Pseudar- Verlauf tritt eine Arthrosis deformans im Hand-
throse und nach der Lunatummalazie. gelenk ein.

Therapie. Zunächst konservativ. Falls keine Besse- Differenzialdiagnose. Verletzungsfolgen, Ganglion


rung erzielt werden kann, kommt nur eine opera- des Handrückens, Entzündungen des Handgelenks
tive Versteifung des Handgelenks (Arthrodese) in (z.B. bei pcP), ausstrahlende Schmerzen von der
Frage. HWS im Rahmen eines Zervikalsyndroms.

9.4.3 Lunatummalazie Therapie. Ruhigstellung im Gipsverband 3–5 Mo-


nate lang. In den Anfangsstadien kann eine Druck-
Spontane Osteonekrose (Osteochondrose) des Os entlastung auf das Os lunatum durch Verkür-
lunatum (M. Kienböck2). Es erkranken Männer im zungsosteotomie des Radius geschaffen werden.
Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Das Mondbein Bei bereits eingetretener Arthrose: Arthrodese des
wird nekrotisch, es treten Schmerzen in der Hand- Handgelenks.

1 Charles Bouchard, Pathologe, Paris (1837–1915)


2 Robert Kienböck, Radiologe, Wien (1871–1953)
9.4 · Erworbene Störungen von Handgelenk und Hand
209 9

⊡ Abb. 9.8. Lunatummalazie (Pfeil). Handgelenk eines Er- ⊡ Abb. 9.9. Arthrose des Daumensattelgelenks (Pfeil). Bemer-
wachsenen. Das Os lunatum (Mondbein: mittlerer Knochen im kenswert sind Verschmälerung des Gelenkspalts und ausge-
proximalen Handwurzelbereich) ist unregelmäßig konturiert, prägte Osteophyten. (Aus Adams 1982)
Trabekelstruktur ist aufgehoben, zystische Aufhellungen und
Verdichtungen.
1 Os trapezium, Wichtig
2 Os trapezoideum,
3 Os capitatum, Das Sattelgelenk zwischen Os metacarpale I und
4 Os hamatum, Os trapezium ist sehr störanfällig.
5 Os scaphoideum,
6 Os lunatum,
7 Os triquetrum, Arthrosen in diesem Gelenk entstehen durch
8 Os pisiforme
posttraumatische Veränderungen (in Fehlstellung
verheilte Frakturen) oder aber bei mechanischer
Überbeanspruchung des Gelenks und gegebener
9.4.4 Daumensattelgelenkarthrose Knorpelschwäche (⊡ Abb. 9.9). Bei einer Arthro-
(Rhizarthrose) se kommt es zur schmerzhaften Bewegungsein-
schränkung in diesem Gelenk. Zunächst kann man
Der Daumen nimmt eine Sonderstellung unter den mit einer Daumenspange das Gelenk unterstützen.
5 Fingern der Hand ein, da er aus der Ebene der üb- Bei fortgeschrittener Arthrose kommt nur eine
rigen Finger herausrückt und diesen gegenüberge- operative Behandlung in Frage. Diese besteht ent-
stellt wird. Dadurch ist der Daumen ein Zweig der weder in einer Versteifung des Gelenks, in einem
Greifzange Hand. Der Verlust des Daumens wird künstlichen Gelenkersatz oder in einer Resektions-
mit einer MdE von 20% bewertet. Die biologisch arthroplastik mit Entfernung des Os trapezium.
so wichtige Oppositionsfähigkeit des Daumens
kommt daher, dass sein Mittelhandknochen mit 9.4.5 Neurogene Störungen
der Handwurzel nicht wie bei den übrigen Fingern
straff, sondern in dem Sattelgelenk, der Articulatio Die peripheren Nerven am Arm können bei Verlet-
carpometacarpea, frei beweglich verbunden ist. zungen direkt geschädigt werden oder indirekt spä-
ter durch Hämatome, Ödeme oder überschießende
Kallusbildung. Je nachdem, welcher Ast betroffen
210 Kapitel 9 · Arm und Hand

⊡ Abb. 9.10 a–c. Lähmungszustän-


de. a Fallhand (Radialis), b Schwur-
hand (Medianus), c Krallenhand
(Ulnaris)

a b c

ist, entstehen charakteristische Lähmungszustände 9.4.6 Sehnen- und Sehnenscheiden-


an der Hand (⊡ Abb. 9.10) erkrankungen
Bei der Radialislähmung sind die Strecker des
Handgelenks und sämtliche Finger sowie der M. Zwerchsackhygrom
abductor pollicis longus gelähmt, es entsteht die Tuberkulose der Sehnenscheiden. Betroffen sind
Fallhand. Sensibilitätsstörungen finden sich auf die Beugesehnen des Handgelenks, seltener die
der Streckseite des Handrückens, insbesondere auf Strecksehnen.
der Daumen- und Zeigefingerseite. Bei veralteter
Radialislähmung mit der funktionsungünstigen Differenzialdiagnostisch muss man an rheumati-
Fallhand versteift man (Arthrodese) das Handge- sche Entzündungen und Ganglien denken.
9 lenk in funktionsgünstiger leichter Dorsalexten-
sion, damit Greiffähigkeit und Faustschluss ver- Therapie. Operation, Tuberkulostatika.
bessert werden (z.B. in der mündlichen Prüfung
vormachen). Sehnenscheidenentzündung
Bei der Medianuslähmung können Zeige- und Durch Überanstrengung oder Trauma entwickelt
Mittelfinger nicht aktiv gebeugt werden, außerdem sich eine chronische Entzündung der Sehnenschei-
fällt die Oppositionsfähigkeit des Daumens aus. de. Es kommt zur Wandverdickung mit Einengung.
Sensibilitätsstörungen finden sich volarseitig am Es treten Schmerzen und Schwellung auf.
Daumen, Zeige- und Mittelfinger.
Bei der Ulnarislähmung stehen die Finger in Therapie. Ruhigstellung, Antiphlogistika.
den Grundgelenken überstreckt, dadurch tritt
gleichzeitig eine Beugung der Mittel- und End- Paratenonitis crepitans (Paratendinitis)
gelenke ein. Gelähmt sind in erster Linie die Mm. Diese entspricht der Tendovaginitis de Quervain1.
interossei. Die Finger können nicht gespreizt und Es findet sich ein Reizzustand der Sehnenhüllen
geschlossen werden. Sensibilitätsstörungen finden des Daumenstreckers und -abspreizers (M. abduc-
sich volar und dorsal am 4. und 5. Finger sowie an tor pollicis longus und M. extensor pollicis bre-
der Hand. vis), meist bei Frauen mittleren Alters. Typische
Bewegungsschmerzen bei Betätigung dieser Seh-
Therapie. Durch aktive und passive Übungen müs- nen. Dabei tritt dann auch das charakteristische
sen Kontrakturen vermieden werden. Mit Schienen Schneeballknirschen auf. Wenn die fibrotischen
bringt man die Hand wieder in eine funktionstüch- Veränderungen zu einer Einengung des Seh-
tige Mittelstellung. Die Funktionsmittelstellung nengleitgewebes führen, kommt es zur Tendova-
kann man, z.B. bei der Radialisparese, auch durch ginitis stenosans.
eine Arthrodese des Handgelenks erreichen.

1 Fritz de Quervain, Chirurg, Bern (1868–1940)


9.4 · Erworbene Störungen von Handgelenk und Hand
211 9

Differenzialdiagnostisch muss man an eine Rhi- Es resultieren Schmerzen auf der Beugesei-
zarthrose denken. te des Finger- oder Daumengrundgelenkes mit
schmerzhafter Beuge- und Streckhemmung.
Therapie. Ruhigstellung im Unterarmgips 14 Tage
lang, ggf. Spaltung des 1. Sehnenfaches des Retina- Ganglien
culum extensorum. Mit gallertartigen Massen angefüllte, von einer
Bindegewebekapsel umgebene Gebilde, die sich in
Styloiditis radii der Nähe von Gelenken, Sehnen- und Nervenschei-
Umschriebener Druckschmerz über dem Processus den, aber auch in Sehnen, Kniegelenksmenisken
styloideus radii als Ursache einer Insertionstendi- oder im parameniskären Gewebe entwickeln. Sie
nose. Betroffen sind die Ansätze des M. brachiora- sind anfangs oft mehrkammerig. Sie zählen zu den
dialis. Typischer Bewegungs- und Druckschmerz. Gewebemissbildungen. Meistens sitzen sie an der
Die Tendovaginitis stenosans ist weiter proximal Streckseite des Handgelenks und werden dort als
lokalisiert und zeigt einen längsverlaufenden Strei- Überbein bezeichnet.
fen entlang der Sehnenscheiden.
Therapie. Solange keine Verdrängungserscheinun-
Schnellender Finger gen und Beschwerden entstehen, ist keine Behand-
(Tendovaginitis stenosans) lung erforderlich, sonst Operation.
Degenerative Verdickung des Ringbands an der
Sehnenscheide der Fingerbeuger im Bereich der 9.4.7 Karpaltunnelsyndrom
Beugeseite des Fingergrundgelenks. Die Sehne
selbst verdickt sich ebenfalls an entsprechender Kompression des N. medianus durch das Lig. carpi
Stelle, so dass der Sehnengleitvorgang in einer transversum am Handgelenk. Die Raumbeengung
bestimmten Stellung behindert ist. Bei der Fin- kann durch eine Synovitis (z.B. pcP) der Sehnen-
gerbeugung entsteht plötzlich ein Widerstand, der scheiden, nach in Fehlstellung verheilter Radius-
nur durch starken Sehnenzug überwunden werden fraktur, aber auch bei anlagebedingter Enge des
kann. Nach Überwindung des Hindernisses kommt Karpaltunnels entstehen. Betroffen sind meist
es zu einem Schnapphänomen (⊡ Abb. 9.11). weibliche Erwachsene in der Postmenopause.

Therapie. Spaltung des Ringbandes durch ovaläre Klinik. Zuerst Sensibilitätsstörungen im Ausbrei-
Ausschneidung des stenosierenden Rings aus der tungsgebiet des N. medianus. Später auch Atrophie
Sehnenscheide. des Daumenballens, Schwäche des M. abductor
pollicis brevis. Die Schmerzen treten anfangs be-
sonders nachts auf. Durchblutungsstörungen oder
trophische Hautveränderungen treten nicht auf.

Tinel-Hoffmannsches1 Zeichen. Beklopft man das


proximale Ende eines komprimierten sensiblen
Nervs, in diesem Falle des Nervus medianus, wird
elektrisierendes Missgefühl in dem bisher sensibel
versorgten Bereich empfunden.

Differenzialdiagnose. Zervikalsyndrom (radikulä-


re Symptomatik). Für die Beurteilung einer Funk-

1 Jules Tinel, Neurochirurg, Paris (1879–1952)


⊡ Abb. 9.11. Schnellender Finger Paul Hoffmann, Physiologe, Freiburg (1884–1962)
212 Kapitel 9 · Arm und Hand

tionsstörung des N. medianus ist die Messung der


Nervenleitgeschwindigkeit entscheidend.

Therapie. Spaltung des Lig. carpi transversum.

⚉ Fallbeispiel
Karla Tunnel, 55, leidet seit mehreren Jahren an Rheu-
ma. Seit 3 Monaten hat sie Kribbeln und Schmerzen im
Mittelfingerbereich beider Hände, besonders nachts.
Außerdem hat sie hin und wieder Nackenschmerzen
⊡ Abb. 9.12. Dupuytren-Kontraktur
und kann den Hals nicht richtig bewegen.
Befund. Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäu-
le, rheumatypische Schwellungen der Fingergrund-
und -mittelgelenke. bei Gelenkbeteiligung mit Stufenbildung eine post-
Zusatzuntersuchung. Messen der Nervenleitge- traumatische Arthrose im Handgelenk.
schwindigkeit ergibt eine Nervus medianus-Kompres-
sion beidseits. Prophylaxe. Immer eine korrekte Reposition der
Therapie. Dekompressionsoperation endoskopisch Radiusfraktur anstreben, ggf. operativ.
oder offen.
9.5.2 Sudeck-Syndrom
9 9.4.8 Dupuytren1-Kontraktur
Eine weitere wesentliche Verletzungsfolge nach
Chronische Fibrose der Palmaraponeurose mit Radiusfraktur ist die Sudeck-Dystrophie. Der Gips
Verkürzung und Entwicklung einer Kontraktur. Es sollte bei normal stehender Fraktur nur bis zu den
kommt zur Verdickung und Strangbildung vorwie- Grundgelenken der Finger reichen und auch nur
gend des 4. und 5. Fingers. Die Beugesehnen blei- am Unterarm angelegt sein, um ausreichende Be-
ben frei. Durch Verwachsungen mit der Haut wird wegungen der nicht unmittelbar betroffenen Ge-
die Therapie (Operation) zunehmend schwieriger lenke zu ermöglichen.
(⊡ Abb. 9.12). Betroffen sind meistens männliche
Erwachsene. Familiäre Häufung. 9.5.3 Kahnbeinbruch
Analog der Kontraktur der Palmaraponeurose
gibt es eine Kontraktur mit Bildung derb fibrinöser Die Fraktur des Os naviculare wird häufig überse-
Knoten in der Plantaraponeurose (Ledderhose2- hen. Es kommt dann zur Entwicklung einer Pseu-
Syndrom). darthrose mit Arthrose im Handgelenk (⊡ Abb.
9.15). Die Kahnbeinfraktur entsteht durch Sturz
9.5 Verletzungsfolgen an Handgelenk auf die überstreckte Hand. Die Fraktur ist im Rönt-
und Hand genbild auf Spezialaufnahmen, aber auch auf den
Übersichtsaufnahmen zu erkennen. Die Bruchli-
9.5.1 Fehlstellung nie verläuft meistens quer. Klinisch schmerzhaf-
te Bewegungseinschränkung, Schwellung sowie
Am häufigsten führen in Fehlstellung verheilte Druckschmerz in der Tabatire. Die Pseudarthro-
Speichenbrüche zu Form- und Funktionsstörun- se entsteht durch mangelnde Blutversorgung des
gen am Handgelenk. Bei Stauchung und Dislokati- proximalen Kahnbeinanteils, die Blutversorgung
on entsteht die typische Bajonettstellung der Hand; erfolgt von distal.

1 Guillaume Dupuytren, Chirurg, Paris (1777–1835)


2 Georg Ledderhose, Chirurg, München (1855–1925)
9.5 · Verletzungsfolgen an Handgelenk und Hand
213 9
⊡ Abb. 9.13. a Typische Radius-
Fraktur (Colles1): Sturz auf die
dorsal extendierte Hand. Distales
Fragment nach dorsal verscho-
ben. Therapie: Reposition, Gips.
b Aushängemanöver in Längsex-
tension (Colles). c Manuelle Repo-
sition bei üblicher Radiusfraktur.
d Bei Gips in Funktionsstellung
ist das Handgelenk in 20° Dorsal-
extension und, falls die Finger-
grundgelenke mit eingeschlossen
werden, dann in 50° Flexion zu
fixieren

50
20

c d

Wichtig Sklerosierungen; es tritt meistens doppelseitig auf


Ist das primäre Röntgenbild nach Stauchungs- und führt nicht zur Arthrose wie die Kahnbein-
verletzung des Handgelenks unauffällig, muss pseudarthrose.
bei fortbestehenden Beschwerden nach 14 Tagen Schlecht verheilte Mittelhandknochenbrüche
erneut geröntgt werden; oft ist ein Frakturspalt im führen zu Fehlstellungen mit verschlechterter Aus-
Kahnbein erst dann erkennbar. gangssituation für die Sehnen und Muskeln, ins-
besondere bei Verkürzung ( Übersicht 9.3, ⊡ Abb.
9.16, 9.17).
Therapie der frischen Kahnbeinfraktur. Ruhigstel-
lung im Faustgipsverband über 12 Wochen. Falls
dann keine Konsolidierung eingetreten ist, Druck- Übersicht 9.3. Handknochen – Memo
osteosynthese mit einer Schraube. Die Kahnbein- ▬ Os lunatum – Malazie
pseudarthrose erfordert zumeist osteosyntheti- ▬ Os naviculare – Pseudarthrose
sche Stabilisierung und eine Spongiosaplastik. ▬ Metacarpale I – Rhizarthrose
Alternativ kann die Stoßwelle (S. 63) eingesetzt
werden. Die Kahnbeinpseudarthrose ist durch den
querverlaufenden Spalt mit angrenzender Skle-
rosierung gekennzeichnet. Ein Os naviculare bi-
partitum besteht aus 2 rundlichen Knochen ohne 1 Abraham Colles, Chirurg, Dublin (1773–1843)
214 Kapitel 9 · Arm und Hand

⊡ Abb. 9.14. Galeazzi1-Fraktur: Radius-


schaftfraktur mit Luxation der distalen
Ulna. Therapie: Plattenosteosynthese
der Radiusfraktur, die Luxation der Ulna
reponiert sich von selbst

⊡ Abb. 9.16. Bennett2-Fraktur, Fraktur der Metacarpale-


I-Basis. Bei der Bennett-Fraktur handelt es sich um eine
interartikuläre Schrägfraktur der Basis des Metacarpale I. Der
9 häufigste Verletzungsmechanismus ist eine axiale Stauchung
⊡ Abb. 9.15. Pseudarthrose im Kahnbein (Pfeile) des adduzierten Daumens. Dadurch bleibt das Fragment mit
nach übersehener Fraktur. Die Bruchlinie verläuft quer dem Gelenkflächenanteil am Ort, während sich der gesamte
distale Bruchanteil mit dem Daumen nach dorsal und radial
verschiebt. Therapie: konservativ, evtl. Osteosynthese

⊡ Abb. 9.17. Subluxation des rech-


ten Daumengrundgelenkes bei einer
40-jährigen Patientin nach Skiver-
letzung. Das Grundglied ist auf der
gehaltenen Aufnahme nach radial
subluxiert. Ursache: Ruptur des Liga-
mentum collaterale ulnare. Gefahr
der dauernden Funktionsbeeinträch-
tigung durch Instabilität und (oder)
Fehlstellung mit entsprechender Ein-
schränkung der Greiffunktion. Links:
gehaltene Aufnahme der gegen-
überliegenden Seite zum Vergleich.
Therapie: Primäre Nahtversorgung

1 Riccardo Galeazzi, Orthopäde, Mailand (1866–1952)


2 Edward Bennett, Chirurg, Dublin (1837–1907)
9.6 · Begutachtung
215 9
Wichtig 9.6 Begutachtung
Mittelhandfrakturen müssen sorgfältig reponiert
und in Beugestellung der Grundgelenke fixiert Die wichtigste Funktion der Hand ist die Greif-
werden. funktion. Diese ist gewährleistet durch die Oppo-
nierbarkeit des Daumens. Der Ausfall des Daumens
ist in funktioneller Hinsicht dem Ausfall sämtlicher
9.5.4 Handgelenkinstabilitäten Finger gleichzusetzen. Die MdE wird entsprechend
hoch angesetzt (s. oben). Entsprechend gering ist
Nach Radiusfrakturen, Mondbeinnekrosen und im der funktionelle Ausfall bei Verlust nur eines Fin-
Rahmen rheumatischer Handgelenkentzündun- gers. Die MdE beträgt hier zwischen 0 und 10%.
gen kann eine Handgelenkinstabilität resultieren. Neben dem Verlust von Teilen der Hand sind
Klinisch bestehen bewegungsabhängige Schmer- auch Kontrakturen funktionsbeeinträchtigend.
zen. Bei der palmaren Handgelenkinstabilität ist Die Versteifung eines Fingers in Streckstellung ist
das Mondbein gegenüber dem Radius nach dorsal sehr hinderlich und wird deswegen bei der Begut-
subluxiert, wenn man das Handgelenk beugt. Die achtung hinsichtlich der MdE einer Amputation
Therapie besteht in frischen Fällen in einer Kap- gleichgesetzt.
selrekonstruktion, bei veralteten Fällen in einer
interkarpalen Arthrodese.
10

10 Hüftregion

10.1 Grundlagen zur Orthopädie der Hüfte – 218

10.2 Angeborene und konstitutionell bedingte Störungen – 219


10.2.1 Frühkindliche Hüftdysplasie (sog. angeborene Hüftluxation) – 219
10.2.2 Coxa vara congenita – 226
10.2.3 Pathologische Schenkelhals-winkel, Coxa antetorta – 227
10.2.4 Idiopathische kindliche Hüftkopfnekrose (Morbus Perthes) – 228
10.2.5 Jugendliche Hüftkopflösung
(Epiphysiolysis capitis femoris, Epiphysenlösung) – 231
10.2.6 Idiopathische Protrusio acetabuli – 233

10.3 Erworbene Störungen – 233


10.3.1 Lagebedingte Deformitäten – 233
10.3.2 Tuberkulöse und andere bakterielle Koxitiden – 234
10.3.3 Säuglingskoxitis (Neugeborenenkoxitis) – 234
10.3.4 Coxitis fugax – 234
10.3.5 Koxarthrose – 235
10.3.6 Idiopathische Hüftkopfnekrose des Erwachsenen – 236
10.3.7 Verletzungen und Verletzungsfolgen – 238
10.3.8 Femurdefekte und -fehlstellungen – 239

10.4 Begutachtung – 239


218 Kapitel 10 · Hüftregion

>> Einleitung Wichtig


Die Hüftregion ist Ausgangspunkt zahlreicher ortho- Wenn der Hüftkopf deformiert wird, entstehen
pädiespezifischer Erkrankungen, sowohl im Kindes- als absolute Beinverkürzungen. Beispiele: M. Perthes,
auch im Erwachsenenalter. juvenile Epiphysenlösung, kongenitale Hüftluxa-
Nach der Wirbelsäule gibt es hier die meisten Fra- tion.
gen. Zuvor jedoch sollte man sich mit Biomechanik und
Statik der Hüftregion beschäftigt haben.
Wegen ihrer Frühdiagnose mit den effektiven Mög- Funktionelle Beinverkürzungen sind durch Kon-
lichkeiten zur Frühbehandlung besitzen Hüftluxation, trakturstellungen im Hüftgelenk möglich, z.B. bei
Perthes und Epiphysenlösung einen hohen Stellen- der Beugekontraktur und Adduktionskontraktur.
wert. Verbleibende Schäden führen zur Koxarthrose im
Erwachsenenalter. Was man beim Säugling mit Ultra- Die Kontrakturstellungen im Hüftgelenk haben
schalluntersuchung und Spreizhosenbehandlung ver- auch Rückwirkungen auf die WS. Kontrakturen mit
säumt hat, muss man im Erwachsenenalter mit einem funktionellen Beinverkürzungen sind immer auch
künstlichen Hüftgelenk nachholen. mit einem Beckenschiefstand und Seitverbiegung
der WS verbunden.

10.1 Grundlagen zur Orthopädie Wichtig


der Hüfte Bei einem Erguss im Hüftgelenk kommt es zur Fle-
xions-Abduktions-Außenrotations-Haltung, weil
Am wachsenden Skelett sind bestimmte Abschnitte so die Spannung der Gelenkkapsel am geringsten
der Hüftregion für die Orthopädie von besonde- ist.
10 rem Interesse (⊡ Abb. 10.1).
Erkrankungen der Hüftregion im Wachstums-
alter haben Rückwirkungen auf die benachbarten Eine vermehrte Innenrotation findet sich bei ver-
Skelettabschnitte. stärkter Antetorsion des Schenkelhalses, z.B. im
Rahmen der kongenitalen Hüftdysplasie.
Bei doppelseitiger Beugekontraktur kommt es
zur Beckenverkippung mit Hyperlordosierung der

⊡ Abb. 10.1. Wichtige ana-


tomische Strukturen in der
Hüftregion
10.2 · Angeborene und konstitutionell bedingte Störungen
219 10
⊡ Abb. 10.2. Doppelseitige Hüftbeuge-
kontraktur bei beidseitiger Hüftluxation
mit Hyperlordose der LWS

LWS und Ausbildung eines Hohlkreuzes (⊡ Abb.


10.2).

Funktionsprüfungen nach der Neutral-Null-


Methode (⊡ Abb. 10.3)

Prüfung der Beugekontraktur (⊡ Abb. 10.4) ⊡ Abb. 10.3. a Beugung, Streckung und Überstreckung,
b Abduktion und Adduktion, c Innen- und Außenrotation
10.2 Angeborene und konsti- (bei um 90° gebeugtem Hüft- und Kniegelenk)
tutionell bedingte Störungen
(⊡ Abb. 10.5)

10.2.1 Frühkindliche Hüftdysplasie


(sog. angeborene Hüftluxation)

Definition

Es handelt sich um eine erbliche Entwicklungsstö-


rung der Hüftpfanne.

Ätiopathogenese. Angeboren ist die Hüftdyspla-


sie, die Luxation ist lediglich eine Komplikation der
dysplastischen Entwicklungsstörung. Das Erblei-
den tritt regional gehäuft auf (Tschechien, Sachsen,
Thüringen). Das weibliche Geschlecht ist häufiger
⊡ Abb. 10.4. a Normale Rückenlage. b Ausgleich der Lenden-
betroffen als das männliche (5,4:1). lordose durch Hüftbeugung (Thomas1-Handgriff ). c Bei der
Der Hüftkopf findet in der flachen Gelenkpfan- Hüftbeugung hebt sich das zu prüfende Bein um den Kon-
ne keinen Widerhalt und gleitet über den Pfannen- trakturwinkel von der Unterlage
rand durch Muskelzug oder später bei Belastung
nach oben. Je nach Ausmaß der Entwicklungsstö- Sekundär kommt es zu folgenden Veränderungen:
rung und Dauer des Zeitraums ohne Behandlung ▬ Der Hüftkopfkern bleibt im Wachstum zurück.
stellt sich die Missbildung dar als: ▬ Durch mangelnden Gelenkkontakt mit dem
▬ Pfannendysplasie ohne Luxation, Acetabulum ändern Schenkelhals und -kopf
▬ Subluxation,
▬ Luxation. 1 Hugh Owens Thomas, Orthopädie, London (1834–1891)
220 Kapitel 10 · Hüftregion

⊡ Abb. 10.5 a–d. Verschiedene


Formen der Hüftdysplasie. a Nor-
mal, b Hüftdysplasie ohne Luxa-
tion, c Subluxation mit Sekun-
därveränderungen, d Luxation
mit Sekundärveränderungen

⊡ Abb. 10.6. Beckenübersicht Jugendlicher. Links normale


re li Verhältnisse, auf der rechten Seite steht der Hüftkopf
außerhalb einer abgeflachten Gelenkpfanne: Coxa valga
subluxans bei kongenitaler Hüftdysplasie

10

ihre Wachstumsrichtung, und zwar nach kra- ▬ Dysplastische und subluxierte Gelenke entwi-
nial, so dass sich der Schenkelhalswinkel ver- ckeln später wegen der Inkongruenz der Ge-
größert: Es entsteht eine Coxa valga. Außerdem lenkpartner eine Koxarthrose (⊡ Abb. 10.6).
wächst der Schenkelhals mehr nach vorn und
erfährt eine Antetorsion (Coxa antetorta). Klinik. Zu den Früherkennungszeichen nach der
▬ Der höher getretene Hüftkopf bildet sich ober- Geburt zählen
halb der eigentlichen Gelenkpfanne ein neues ▬ Faltenasymmetrie (⊡ Abb. 10.7 b),
Widerlager, eine Sekundärpfanne. ▬ Abspreizbehinderung (⊡ Abb. 10.7 a),
▬ Weichteilveränderungen: Die leere Pfanne füllt ▬ Veränderungen im Sonogramm,
sich mit Weichteilgewebe. Der knorpelige obere ▬ geringe aktive Beweglichkeit im betroffenen
Pfannenrand (Limbus) schlägt nach kaudal um Gelenk,
und legt sich vor den Pfanneneingang. Das Lig. ▬ Instabilitätszeichen (nach Ortolani, ⊡ Abb.
teres verdickt sich. Muskeln und Bänder ver- 10.8).
kürzen sich. Die Gelenkkapsel wird schlauchar-
tig in die Länge gezogen und verklebt teilweise. Wichtig
Alle Weichteilveränderungen erschweren die Die Instabilität bei frühkindlicher Hüftdysplasie
Einrenkung und machen diese nach längerem prüft man, indem man das Hüftgelenk des Neuge-
Bestehen sogar unmöglich. borenen beugt und abduziert. Dabei kann man ein
Schnappen im Gelenk fühlen und manchmal hören.
10.2 · Angeborene und konstitutionell bedingte Störungen
221 10

⊡ Abb. 10.7 a, b. Frühzeichen der Hüftdysplasie. a Abspreiz-


behinderung: Die Beinchen werden vom Untersucher abge-
spreizt. Rechts ist die Abspreizung behindert. b Faltenasym-
metrie: Die Hautfalten am Oberschenkel sind asymmetrisch

⊡ Abb. 10.8 a, b. Instabilitätszeichen nach Ortolani1: Das Aus- und Einrenkungsphänomen prüft man, indem man das Hüft-
gelenk des Neugeborenen beugt und abduziert. Wenn der Hüftkopf über den hinteren Pfannenrand bei der Abduktion vom
luxierten Zustand (⊡ Abb. 10.8 a) in die Pfannen zurückspringt (⊡ Abb. 10.8 b), hört und fühlt man ein deutliches Schnappen.
Wegen der möglichen Traumatisierung der Hüfte sollte das Aus- und Einrenkungsphänomen nur vom geübten Untersucher
geprüft werden

Bei einer Hüftdysplasie mit instabilem, luxations-


bereitem Gelenk kommt es zur Aus- und wieder
zur Einrenkung. Dieses Zeichen ist nur in den ers-
ten Tagen nach der Geburt nachweisbar.
Später, v.a. bei eingetretener Luxation, finden
sich noch Beinlängendifferenz, positives Trende-
lenburg-Zeichen, Hinken mit Watschelgang und
Veränderungen im Röntgenbild. Die Beinlängen-
differenz erkennt man beim Säugling durch unter-
schiedliche Oberschenkellänge im Liegen (⊡ Abb.
10.9). Bei doppelseitiger Hüftluxation hat man als
⊡ Abb. 10.9. Grobe Prüfung der Beinlängendifferenz beim
Säugling mit unterschiedlicher Oberschenkellänge infolge
1 Marino Ortolani, Pädiater, Ferrara (1904–1983) einseitiger Hüftluxation
222 Kapitel 10 · Hüftregion

⊡ Abb. 10.10. Röntgenologische Zeichen der


kongenitalen Hüftluxation. Es bilden ein Koordi-
natensystem: a Hilgenreiner-Linie = Horizontale
durch den Grund beider Hüftpfannen und
b Ombérdanne-Linie = Senkrechte auf die
Hilgenreiner-Linie in Höhe des Pfannenerkers

re li gedachte Linie von der oberen Umrandung des


Foramen obturatum zur medialen Begrenzung des
Schenkelhalses – ist unterbrochen.

Wichtig

Die typischen Veränderungen im Röntgenbild


sind erst nach dem 3. Lebensmonat zu erkennen.
Es ist deshalb nicht sinnvoll, vorher ein Röntgen-
10 bild anfertigen zu lassen.

Der Winkel zwischen der Pfannendachtangente


und der queren Beckenachse – der Pfannendach-
⊡ Abb. 10.11. Kongenitale Hüftluxation. Kindliches Becken
a.-p. (Epiphysenfugen noch offen). Rechts normale Verhält-
oder Acetabulumwinkel – ist beim Säugling über
nisse, links steht der Hüftkopfkern außerhalb der Pfanne. Das 35°, beim 1jährigen über 28° und beim Kleinkind
Pfannendach ist steil. Der Hüftkopfkern ist etwas kleiner als über 25° pathologisch. Der Hüftkopfkern ist kleiner
auf der gesunden Seite als auf der gesunden Seite (⊡ Abb. 10.10, 10.11).

Frühzeichen die Abduktionsbehinderung und das Sonographie (⊡ Abb. 10.12). Bereits bei der Neu-
Aus- und Einrenkungsphänomen, später den Wat- geborenenuntersuchung ist es möglich, Hüftreife-
schelgang sowie eine Beckenvorkippung mit Hohl- störungen im Ultraschall zu erkennen. Man kann
kreuzbildung und doppelseitig positivem Trende- die Kapselweichteile, Hüftkopf- und Pfannenknor-
lenburg-Zeichen. pel sowie die Stellung des Hüftkopfes genau beur-
teilen. Grenzen für die Sonographie ergeben sich
Röntgen. Im Falle einer Subluxation oder Luxation mit zunehmender Knochenentwicklung, weil nur
steht der Hüftkopfkern im oberen äußeren Qua- Weichteile dargestellt werden können. Die sono-
dranten eines Koordinatensystems, das aus einer graphische Einteilung erfolgt nach Graf3 ( Über-
Senkrechten durch den Pfannenerker und einer sicht 10.1).
Horizontalen durch den Grund beider Pfannen
gebildet wird. Die Ménard-Shenton-Linie – eine Wichtig

Als Screening zur Frühdiagnose einer kongeni-


1 Maxime Ménard, Gerichtsmediziner, Paris (1872–1929) talen Hüftdysplasie beim Neugeborenen ist die
2 Edward Shenton, Radiologe, London (1872–1955) Sonographie am besten geeignet.
3 Reinhard Graf, Orthopäde, Stolzalpe (Zeitgen.)
10.2 · Angeborene und konstitutionell bedingte Störungen
223 10

Übersicht 10.1. Sonographische Hüfttypen nach Graf und Procedere


Typ I normal ausgereifte Hüfte – alles in Ordnung
Typ I a normale noch nicht ausgereifte Hüfte – aufpassen, Kontrolle
Typ II b dysplastische Hüfte ohne Luxationstendenz – behandeln, Spreizhose
Typ II c, d dysplastische Hüfte »am Luxieren« ⎫
Typ III bereits subluxierte Hüfte ⎬ Behandlung nur durch Spezialisten
Typ IV ganz luxierte Hüfte ⎭

Knöcherner
Pfannenerker

Schallkopf
Labrum acetabulare
Unteres Ileum

Hüftkopfkern

Gelenkkapsel

⊡ Abb. 10.12 a–c. Ultraschalluntersuchung der Säuglingshüfte zur Frühdiagnose der kongenitalen Hüftdysplasie und -luxation.
b Normalbefund im Ultraschallbild der Säuglingshüfte: Der Hüftkopf steht direkt unter dem gut entwickelten knöchernen Pfan-
nenerker. c (S. 224) Pathologischer Befund mit dezentriertem (subluxiertem) Hüftgelenk: Die Hüftkopfkontur ist nach kranial
und lateral verschoben
224 Kapitel 10 · Hüftregion

⊡ Abb. 10.12 c.

Labrum acetabulare
nach kranial verdrängt

Schallkopf Knöcherner Pfannenerker unterentwickelt


Unteres Ileum

Gelenkkapsel
vom dislozierten Kopf
c nach lateral verdrängt

Differenzialdiagnose. Hüftgelenkluxationen kom- Besonderer Wert wird daher auf die Früherken-
men sonst noch vor bei: nung – z.B. im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung
10 ▬ Säuglingsosteomyelitis: Auch hier kann es zur – und funktionelle Frühbehandlung gelegt.
Hüftluxation durch entzündliche Zerstörung
des Gelenkkomplexes kommen. Laborwerte Wichtig
und Fieberschübe geben den diagnostischen Bei der funktionellen Behandlung von Entwick-
Hinweis. lungsstörungen am Bewegungsapparat, wie
▬ Teratologische Hüftluxationen. Sie sind mit an- z.B. bei der angeborenen Hüftdysplasie und
deren Missbildungen verbunden. Sie bestehen Hüftverrenkung, nutzt man die Fähigkeiten des
schon bei der Geburt und sind nicht einrenk- wachsenden Organismus, auf Druck-, Zug- und
bar. Bewegungsreize mit einem korrigierenden Wachs-
▬ Lähmungsluxation bei Polio, Meningomyeloze- tum zu antworten.
le, Zerebralparese vom spastischen Typ.
▬ Traumatischer Hüftluxation. Sie ist im Kindes-
alter selten. Es gilt, den Ossifikationsrückstand am Pfannen-
▬ Proximalen Femurdefekten. dach wieder aufzuholen. Beim Säugling geschieht
dies am besten durch Strampelbewegungen aus
Therapie. Grundzüge der konservativen Behand- der Beugespreizstellung. Um die Hüftgelenke in die
lung: Beugespreizstellung zu bringen, bedient man sich
z.B. einer Spreizhose oder Beugespreizbandage
Wichtig (⊡ Abb. 10.13). Beim Neugeborenen mit Verdacht
Je früher die Hüftdysplasie erkannt und behandelt auf Hüftdysplasie reicht zunächst breites Wickeln,
wird, um so günstiger sind die Heilungsaussich- d.h. man legt ein breites Windelpaket oder ein
ten. Schaumgummipolster zwischen die Beinchen, um
die funktionell günstige Abspreizstellung zu errei-
chen. Die Behandlung mit der Spreizhose und Beu-
ge-Spreizbandage muss engmaschig kontrolliert
werden, weil bei falschem Sitz Schäden in Form
10.2 · Angeborene und konstitutionell bedingte Störungen
225 10
Wichtig

Für die Behandlung der Hüftluxation ergibt sich


folgender Ablauf: Reposition – Retention – nach-
holende Entwicklung.

Der funktionellen Behandlung sind Grenzen ge-


setzt. Nach dem 3. Lebensjahr wird die Reposition
immer schwieriger, auch lässt mit zunehmendem
Alter die nachholende Entwicklung zu wünschen
übrig. Um keine präarthrotischen Deformitäten zu
hinterlassen, muss operiert werden (⊡ Abb. 10.14).
⊡ Abb. 10.13. Funktionelle Frühbehandlung der Hüftdysplasie
mit der Beuge-Spreizbandage nach Bernau1. Anpassung und
Für die Konstruktion einer gut überdachten
Sitz der Bandagen zur Behandlung von Hüftreifungsstörun- Gelenkpfanne kann man Pfannendachplastiken
gen müssen ständig fachorthopädisch überprüft werden oder Beckenosteotomien durchführen. Bei Coxa
valga mit pathologischer Antetorsion osteotomiert
von Hüftkopfnekrosen oder Heraushebeln des man zwischen dem kleinen und großen Rollhügel
Hüftkopfes aus der Pfanne auftreten können. und entnimmt einen kleinen Knochenkeil mit me-
Bei bereits eingetretener Hüftluxation ist erst dialer Basis. Außerdem werden die osteotomierten
eine Einrenkung erforderlich. Diese kann man Fragmente gegeneinander rotiert, um die patho-
durch Dauerextension über mehrere Wochen (Ex- logische Antetorsion auszugleichen (Derotations-
tensionsreposition) oder, falls dies nicht gelingt, Varisierungs-Osteotomie) (⊡ Abb. 10.15).
mit einer Operation erreichen. Nach der Repositi- Krankengymnastik ist in allen Phasen und Sta-
on folgt die Retention, d.h. der eingerenkte Zustand dien der Hüftdysplasie von Bedeutung.
muss gehalten werden. Dazu bedient man sich ent-
weder eines Gipsverbands mit Beugespreizstellung Wichtig
oder besser noch spezieller Schienen, die schon Es gilt, die hüftstabilisierenden Muskeln zu trai-
frühzeitig aktive Bewegungen erlauben. Anschlie- nieren, insbesondere Mm. glutaei medius et mini-
ßend folgt, wie bei der einfachen Hüftdysplasie, die mus, um das Trendelenburg-Hinken abzubauen.
nachholende Entwicklung.

⊡ Abb. 10.14 a, b. Pfannendachre-


konstruktion durch Beckenosteo-
tomien: a nach Chiari2: Das Becken
wird unmittelbar oberhalb der
Pfanne durchtrennt. Durch Ver-
schieben des kranialen Beckentei-
les nach lateral entsteht eine bes-
sere Überdachung des Hüftkopfes;
b nach Salter3: Durchtrennen des
Beckens unmittelbar oberhalb der
Gelenkpfanne. Herunterbiegen des
distalen Beckenteiles durch Ein-
klemmen eines Knochenkeiles aus
dem Beckenkamm

2 Karl Chiari, Orthopäde, Wien (Zeitgen.)


1 Andreas Bernau, Orthopäde, Tübingen (Zeitgen.) 3 Robert Salter, Orthopäde, Toronto (Zeitgen.)
226 Kapitel 10 · Hüftregion

⊡ Abb. 10.15. a Intertrochantäre


Varisierungs-Osteotomie und
Pfannendachplastik, um die
Kontaktflächen zu vergrößern
(Druckreduzierung) und b die Ar-
throseentwicklung zu verzögern.
Der intertrochantär entnommene
Knochenkeil kann gleichzeitig
als autologes Transplantat für die
Pfannendachplastik genommen
werden. Fixation mit Metallplatte
und Schrauben

Postoperativ sind Gelenkmobilisierung, Thrombo- beim Stand auf dem linken Bein auf der gegenüberlie-
seprophylaxe und später Gangschulung indiziert. genden Seite ab (s. Text). Weil, wie der Arzt sagt, eine
Die Gefahren der Behandlung bestehen darin, Ultraschalluntersuchung nichts mehr bringt – wird ein
dass man zusätzliche Schäden setzen kann. Neben Röntgenbild der Hüften angefertigt (s. ⊡ Abb. 10.11).
Wachstumsstörungen des Schenkelhalses (Coxa Diagnose. Kongenitale Hüftluxation links. Weil die
valga, Ante- oder Retrotorsion), Immobilisations- Ultraschalluntersuchung im Rahmen des Screenings
schäden und psychischen Schäden durch langwie- gleich nach der Geburt verpasst wurde, konnte die
rige Gipsbehandlung und zahlreiche Operationen Frühdiagnose mit Frühbehandlung durch eine Spreiz-
sowie Krankenhausbehandlungen sind es in erster hose nicht durchgeführt werden.
Linie Hüftkopfnekrosen, auch Luxations-Perthes Therapie. Jetzt sind Operationen erforderlich, um
genannt, die die Prognose verschlechtern. Nach den Hüftkopf in die Pfanne einzustellen und die ab-
10 einer Nekrose kommt es meistens zur Deformie- geflachte Pfanne wieder aufzubauen (Derotations-
rung des Hüftkopfes, die eine Beinverkürzung und varisierungsosteotomie und Pfannendachplastik
später eine Koxarthrose zur Folge hat. Als Ursache s. ⊡ Abb. 10.15)
kommen das gewaltsame Vorgehen bei der Ein-
renkung und die Retention in Extremstellungen in 10.2.2 Coxa vara congenita
Frage. Man ist daher heute von den früher üblichen
manuellen Einrenkungsverfahren und von der Re- Angeborene Entwicklungsstörungen des Schenkel-
tention in Extremstellungen (z.B. Froschhaltung) halses. Der Schenkelhalswinkel ist verkleinert, er
abgekommen. Als schonendstes Verfahren hat sich liegt unter 120°.
die Extensionsreposition mit anschließender Re-
tention in einer Bewegungsschiene mit physiolo- Wichtig
gischer Beugespreizstellung erwiesen ( Übersicht Durch Annäherung des Trochanters an den Darm-
10.2). beinkamm kommt es zur Insuffizienz der kleinen
Glutaei mit positivem Trendelenburg-Zeichen.

Übersicht 10.2. Hüftluxation – Memo


▬ Frühdiagnose durch Sonographie Klinisch findet sich weiter eine Einschränkung der
▬ Frühbehandlung durch Spreizhose Abduktion und durch Beckenkippung nach vorn
▬ Bei später Diagnose: Reposition und Reten- eine Hyperlordose der Lendenwirbelsäule. Die
tion Coxa vara congenita ist eine präarthrotische De-
formität. In fortgeschrittenen und unbehandelten
Fällen kann es zur spitzwinkeligen Einstellung des
⚉ Fallbeispiel Schenkelhalses (unter 90°) mit Bildung der Hirten-
Sarah Trendler, 3, hat einen komischen Watschelgang stabform kommen. Durch Umbauzonen im Schen-
mit Hin- und Herschwanken des Oberkörpers. Sie kann kelhalsbereich entsteht spontan eine Pseudarthro-
schon auf einem Bein stehen, dabei sinkt das Becken se mit Kontinuitätsunterbrechung.
10.2 · Angeborene und konstitutionell bedingte Störungen
227 10

⊡ Abb. 10.16 a, b. Operative Behandlung der Coxa vara.


a Coxa vara congenita. b Aufrichtungsosteotomie durch Ent- ⊡ Abb. 10.18. a Coxa valga, b normal, c Coxa vara
nahme eines Knochenkeils mit lateraler Basis.
Fixation mit Metallplatte und Schrauben 10.2.3 Pathologische Schenkelhals-
winkel, Coxa antetorta
Die Coxa vara congenita zeigt keine Spontan-
korrektur etwa im Vergleich zur Coxa antetorta
oder zu O-Beinen im Kindesalter. Wichtig

Der Schenkelhalswinkel beträgt bei der Geburt


Therapie. Aufrichtungsosteotomie (Valgisierungs- etwa 150° und bildet sich bis zum Abschluss des
osteotomie, ⊡ Abb. 10.16). Wachstums auf 125° zurück.

Coxa valga (⊡ Abb. 10.18 b)


Schenkelhalsschaftwinkel größer als 125°, wobei
Winkel bis zu 140° noch als Sonderformen inner-
halb der Variationsbreite angegeben werden kön-
nen. Kommt vor bei der kongenitalen Hüftluxation
und als Entlastungs-Coxa-valga bei allen mögli-
chen Lähmungserscheinungen (z.B. Polio).

Wichtig

Bei der infantilen Zerebralparese entwickelt sich


die Coxa valga durch eine Spastik der Adduktoren.

Eine starke Coxa valga ist eine präarthrotische De-


formität, weil die Biomechanik der Hüfte durch er-
höhten intraartikulären Druck gestört ist. Die Hüft-
gelenksbelastung ist bei einer Coxa valga größer als
bei einer Coxa vara. Der Schenkelhalsschaftwinkel
kann durch intertrochantäre Osteotomie normali-
⊡ Abb. 10.17. Coxa vara: Der Trochanter major steht höher siert werden (s. ⊡ Abb. 10.15).
als der Hüftkopfmittelpunkt. Es resultiert eine Insuffizienz der
kleinen Glutaei mit positivem Trendelenburg-Zeichen. Außer- Coxa vara (⊡ Abb. 10.17)
dem hat sich eine Arthrose mit Gelenkspaltverschmälerung
und starken Schmerzen entwickelt. Therapie bei diesem Schenkelhalswinkel kleiner als 125°. Kommt vor
62 jährigen Patienten: Totalendoprothese. bei:
228 Kapitel 10 · Hüftregion

▬ Rachitis, wachstums. In der Epiphyse kommt es zur Nekrose


▬ Coxa vara congenita, des Knochens und des Knochenmarks. Auch die
▬ Chondrodystrophie, Epiphysenfuge ist betroffen, so dass Wachstums-
▬ nach Schenkelhalsfraktur, als Begleitmissbil- störungen auftreten. Beim Befall der Metaphyse
dung bei der und des Schenkelhalses spricht man auch vom
▬ Dysostosis cleidocranialis. Hals-Perthes. Der nekrotische Knochen wird abge-
baut, durch Bindegewebe ersetzt und reossifiziert.
Coxa antetorta Man unterscheidet verschiedene Stadien (⊡ Abb.
Pathologisch vermehrte Antetorsion des Schenkel- 10.19):
halses. ▬ Initialstadium mit Gelenkspalterweiterung
Kommt vor bei der kongenitalen Hüftdyspla- und Verdichtung (Kondensation) des Hüftkopf-
sie, nach fehlverheilter Schenkelhalsfraktur und kernes,
idiopathisch. Bis zu einem Antetorsionswinkel ▬ Fragmentierungsstadium mit scholligem Hüft-
von 45° ist eine Kompensation durch Innenrota- kopfzerfall,
tionsgang möglich ( Übersicht 10.3). Röntgenolo- ▬ Reossifikationsstadium, Wiederaufbau meist
gische Bestimmung der Antetorsionsstellung des mit Fehlform.
Schenkelhalses: Rippstein-Aufnahme (Hüft- und
Kniegelenke sind jeweils 90° gebeugt, 20° Absprei- Die Stadien dauern jeweils 1 Jahr. Während des Ab-
zung im Hüftgelenk und parallele Ausrichtung der laufs der Knochenresorption und Reossifikation
Unterschenkel). Weitere Ausführungen s. Kap. 1.2.6, kommt es zu einer Minderung der Knochenfestig-
S. 20. keit mit möglichen Kopfdeformierungen. Neben
der Stadieneinteilung nach dem Verlauf gibt es
10 noch eine Einteilung nach dem Schweregrad (nach
Übersicht 10.3. Coxa – Memo Catterall2) mit sog. Risikofaktoren, die Prognose
▬ Coxa antetorta: vermehrte Antetorsion im und Therapie bestimmen. Trifft die Diagnostik
Schenkelhals den Beginn der Erkrankung, findet sich die Nekro-
▬ Coxa saltans: Traktusschnappen se anterolateral oben im Hüftkopf (Gruppen 1 und
▬ Coxa valga: Schenkelhalswinkel vergrößert 2), später ist der gesamte Hüftkopf beteiligt (Grup-
▬ Coxa vara: Schenkelhalswinkel verkleinert pe 3), oder es kommt zur Auflösung des gesamten
Hüftkopfes (Gruppe 4) ( Übersicht 10.4).

Als Risikozeichen gelten:


10.2.4 Idiopathische kindliche ▬ Beteiligung der Metaphyse,
Hüftkopfnekrose ▬ Lateralisation des Hüftkopfes,
(Morbus Perthes1) ▬ laterale Verdichtung der Epiphyse.

Es gibt Verlaufsformen mit starker Deformierungs-


Definition tendenz, die man immer entlasten lassen bzw. ope-
Spontane Osteonekrose des Hüftkopfes. Manifes- rieren sollte, und leichtere Formen, die sogar ohne
tationsalter 4–8. Lebensjahr. Betroffen sind meist besondere Behandlung weiterbelastet werden kön-
Knaben. Beidseitiges Vorkommen ist häufig. nen (⊡ Abb. 10.20).

Klinik. Zunächst langsam einsetzende, belastungs-


Ätiopathogenese. Dauer der Erkrankung: 4 Jahre. abhängige Schmerzen in der Hüfte mit Atrophie
Ursache ist wahrscheinlich eine Insuffizienz der des Oberschenkels, Bewegungseinschränkung im
Vaskularisation in einer Zeit stärkeren Längen- Hüftgelenk und geringer Beinverkürzung.

1 Georg Perthes, Chirurg, Tübingen (1869–1927) 2 Anthony Catterall, Orthopäde, London (Zeitgen.)
10.2 · Angeborene und konstitutionell bedingte Störungen
229 10

⊡ Abb. 10.19 a–e. Stadieneinteilung beim Morbus Perthes. a Initialstadium: Abflachung und Kondensation des Hüftkopfkerns,
Gelenkspalterweiterung, b Fragmentierungsstadium: Hüftkopfkern fragmentiert, Epiphysenfuge unregelmäßig, Schenkelhals
verbreitert. c Reossifikation mit Deformierung: Kopf pilzförmig verbreitert und abgeflacht, Coxa valga. d Initialstadium: Be-
ckenübersichtaufnahme eines Kindes (Wachstumsfugen offen). Auf der rechten Seite ist die Hüftkopfepiphyse abgeflacht. Der
Gelenkspalt (Abstand zwischen Pfannendach und Epiphysenkern) ist vergrößert. Normale Hüftpfannenverhältnisse. e Fragmen-
tierungsstadium: Beckenübersichtaufnahme eines Kindes (Wachstumsfuge auf der linken Seite offen). Linke Seite normal, rechts
Deformierung des Hüftkopfs bei normaler Pfanne. Hüftkopfepiphyse in einzelne Fragmente unterteilt. Gelenkspalt (Abstand
zwischen Pfanne und Kopf ) normal weit oder sogar etwas erweitert. Der exzentrische Hüftkopf droht aus der Pfanne zu wan-
dern

Übersicht 10.4. Perthes – Memo


▬ Hüftkopfnekrose vaskulär ▬ Knieschmerz
▬ 4–8jährige Knaben ▬ Innenrotationseinschränkung
▬ Dauer 4 Jahre ▬ Gelenkspaltverbreiterung
▬ Initial-Fragmentierungs-Reossifikationsstadium ▬ Präarthrotische Deformität

Wichtig Röntgen. Das Röntgenbild zeigt initial eine Verbrei-


Als Frühzeichen beim Morbus Perthes gelten terung des Gelenkspaltes sowie eine Abflachung
rasches Ermüden bei Belastung, endgradige des Epiphysenknochens. Im Fragmentierungs-
schmerzhafte Einschränkung der Hüftgelenk- stadium finden sich mehrere Verdichtungen und
innenrotation sowie Abduktion. Aufhellungen nebeneinander. Im Reparationssta-
dium sieht man den Wiederaufbau eines mehr oder
weniger stark veränderten Hüftkopfes. Bei starker
Die Schmerzen werden häufig ins Knie projiziert. Deformierung entsteht eine Pilz- oder Walzenform
In ausgeprägten Fällen mit Kopfsinterung ist das des Hüftkopfes.
Trendelenburg-Zeichen positiv. Ein chronischer Im MRT ist eine Frühdiagnose möglich.
Verlauf über Jahre ist typisch.
230 Kapitel 10 · Hüftregion

⊡ Abb. 10.20. Prognostische Eintei-


lung des M. Perthes nach Catterall

Catteral Gruppe I Catteral Gruppe II


nur anterolateraler Sektor betroffen ca. 50% der Epiphyse nekrotisch

Catteral Gruppe III Catteral Gruppe IV


gesamte Epiphyse nekrotisch Auflösung der Epiphyse
(schlechte Prognose)

Prognose. Hängt vom Ausmaß der Deformierung kann wie bei anderen juvenilen Knochennekrosen
ab. Meistens verbleiben präarthrotische Defor- u.U. sogar die Krankheitsdauer verkürzen.
mitäten, die später zu einer Arthrosis deformans
10 führen. Als Risikofaktoren für eine schlechte Prog- Krankengymnastik. Wenn das Bein entlastet wer-
nose gelten: Exzentrische Knochenkernanteile mit den soll, müssen die Muskeln durch isotonische
Wachstumsveränderungen der Hüftkopfrichtung und isometrische Übungen in Form gehalten
nach lateral mit Subluxation, Verknöcherung der werden. Die meist vorhandene Abduktionsbehin-
lateralen Epiphyse, Metaphysenbeteiligung. derung erfordert eine vorsichtige Mobilisierungs-
behandlung. Gangschulung bei erlaubter Teilbe-
Differenzialdiagnose. Koxitis (typische Labor- lastung. Einübung mit dem Gehapparat. Gutes
werte, röntgenologisch Verschmälerung des Ge- Bewegungsausmaß verbessert die Prognose. Die
lenkspalts). Enchondrale Dysostosen und multiple Krankengymnastik soll für optimalen Bewegungs-
epiphysäre Dysplasien zeigen Verformung meistens umfang in Knie- und Hüftgelenk über den gesam-
beider Hüftgelenke. Im Verlauf zeigen sich keine ten Krankheitsverlauf sorgen.
wesentlichen Veränderungen, keine Beschwerden.
⚉ Fallbeispiel
Therapie. Keine sofortige Operation. Das Thera- Peer Tersteegen, 5, ermüdet beim Spazierengehen
pieprinzip ist das Containment (Überdachung des rasch und klagt dann über Schmerzen im rechten
gesamten Hüftkopfes durch abduzierende Maßnah- Knie.
men, z.B. Schienen, Osteotomie). Eine Entlastung Befund. Die Knieuntersuchung ergibt keinen auffälli-
des erweichten Hüftkopfs im entlastenden Apparat gen Befund. An der Hüfte findet sich jedoch eine Ein-
(Thomas-Schiene, s. ⊡ Abb. 3.5, S. 60) wird heute schränkung der Beweglichkeit. Die Blutuntersuchung
nicht mehr als erforderlich angesehen. Entlastungs- ist o.B.
operationen durch intertrochantäre Osteotomie Die Röntgenübersichtsaufnahme zeigt eine Hüftge-
zum Zwecke der Containmentbehandlung vor dem lenkspaltverbreiterung rechts mit partieller Hüftkopf-
7. Lebensjahr werden als prognostisch günstig an- nekrose bei guter Hüftkopfüberdachung durch die
gesehen. Operationen sind nur erforderlich, wenn Pfanne.
die o.g. Risikofaktoren vorliegen. Extrakorporale Diagnose. Idiopathische kindliche Hüftkopfnekrose.
Stoßwellenbehandlung: Der Einsatz der Stoßwelle Zur Behandlung erhält Peer Krankengymnastik und
10.2 · Angeborene und konstitutionell bedingte Störungen
231 10

soll regelmäßig zur Kontrolle beim Arzt vorgestellt wer-


den. Das Ganze wird in drei bis vier Jahren abgeheilt
sein. Leider ist mit einer verbleibenden Beinverkür-
zung von 1–2 cm sowie mit einer Hüftkopfdeformie-
rung und evtl. nachfolgender Arthrose zu rechnen.

10.2.5 Jugendliche Hüftkopflösung


(Epiphysiolysis capitis femoris,
Epiphysenlösung)

Definition

Definition und Ätiopathogenese. Es erfolgt eine


Verschiebung in der Epiphysenfuge zwischen
Schenkelkopf und Schenkelhals. Die Kopfkappe ⊡ Abb. 10.21 a–d. Verschiebung des Hüftkopfes gegenüber
dem Schenkelhals. a und b Normalbefund, c und d Epiphy-
selbst bleibt am Ort, d.h. in der Hüftpfanne. Durch
senlösung
Überwiegen der Außenrotatoren drehen sich Bein
und Fuß nach außen, der Schenkelhals verschiebt
sich nach vorn oben, so dass sich die Kopfkappe wegungsbehinderung mit dem typischen Dreh-
relativ zum Schenkelhals meistens nach hinten mann1-Zeichen:
unten einstellt (⊡ Abb. 10.21). Die Krankheit
Wichtig
manifestiert sich in der präpuberalen Wachstums-
phase, also zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr Drehmann-Zeichen: Bei Hüftbeugung kommt es
und tritt oft doppelseitig auf. Betroffen sind zwangsläufig zur Außenrotation.
meistens Knaben mit einer Dystrophia adiposoge-
nitalis oder einem eunuchoidalen Hochwuchs. Die
Ursache ist wahrscheinlich eine Hormonstörung Bei doppelseitiger Epiphysenlösung überkreuzen
mit Überwiegen des STH gegenüber den Sexual- sich die Unterschenkel bei Kniebeugung (Scheren-
hormonen ( Übersicht 10.5). symptom) (⊡ Abb. 10.22, 10.23).

Klassifikation klinisch. Der Abrutschvorgang kann


akut oder schleichend sein. Beim schleichenden
Übersicht 10.5. Epiphysenlösung – Memo Abrutsch (E. lenta) kommt es zu einem langsamen
▬ Adipöser Hochwuchs Verschieben zwischen Schenkelkopf und -hals; die
▬ Leisten- und Knieschmerz Beschwerden sind gering. Beim akuten Abrutsch
▬ Drehmann-Zeichen kommt es zu einer plötzlichen Kontinuitätsdurch-
▬ Akut oder schleichend trennung zwischen Kopf und Schenkelhals mit
▬ Röntgen in Lauensteinlagerung starker Verschiebung (⊡ Abb. 10.24). Es bestehen
▬ Sofortige Kirschnerdrahtfixation starke Schmerzen und Bewegungseinschränkung.
▬ Präarthrotische Deformität Oft wird ein Unfall als Ursache für das Ereignis
verantwortlich gemacht. Dieser kann im Begut-
achtungsfall jedoch nicht als Unfallfolge anerkannt
Klinik. Klinische Verdachtszeichen sind adipö- werden. Weitere klinische Symptome sind Außen-
ser Hochwuchs bei Jugendlichen und ziehende rotationsstellung des Beins, Beinverkürzung, Tro-
Schmerzen in der Leiste oder im Kniegelenk, Au-
ßenrotationsgang bei fehlender Innenrotation
und Beinverkürzung. Außerdem besteht eine Be- 1 Gustav Drehmann, Orthopäde, Breslau (1869–1932)
232 Kapitel 10 · Hüftregion

⊡ Abb. 10.22. Positives Drehmann-Zeichen ⊡ Abb. 10.23. Scherenphänomen

ginnender Lösung (Epiphysiolysis capitis femoris


incipiens).

Wichtig

Bei Lauenstein-Lagerung (Flexion von 70°, Abduk-


tion von 50°) sieht man die Dislokation in vollem
10 Umfang (s. ⊡ Abb. 10.21 d).

Im Sonogramm sieht man ggf. eine Kapselverdi-


ckung und Erweiterung.

Prognose. Unbehandelt führt eine Verschiebung


zwischen Kopf- und Schenkelhals zur Fehlbelas-
tung mit später auftretender Arthrosis deformans.
Häufig kommt es zur Hüftkopfnekrose, wenn
beim Abrutsch die ernährenden Blutgefäße durch-
⊡ Abb. 10.24. Juvenile Epiphysenlösung. Rechte Hüfte a.-p.
Kontinuitätsdurchtrennung zwischen Hüftkopfepiphyse und
trennt werden. Eine weitere Komplikation stellt die
Schenkelhals im Bereich der Epiphysenfuge Chondrolyse des Gelenkknorpels dar.
Komplikationen der jugendlichen Hüftkopflö-
sung:
chanterhochstand: Das Bein liegt da wie bei einer ▬ Epiphysennekrose,
dislozierten Schenkelhalsfraktur. Die Diagnose ▬ Chondrolyse (Knorpelnekrose)
wird im Röntgenbild gesichert. Zu Beginn sieht ▬ später: Arthrose.
man eine Verbreiterung der Epiphysenfuge mit
Auflockerung. Beim Abrutsch findet sich in der Therapie. Wiederherstellung der normalen Ach-
a.-p.-Aufnahme eine Höhenminderung der Kopf- senverhältnisse. In akuten Fällen kann man durch
kalotte. Extension versuchen, den Kopf wieder auf den
Schenkelhals zu bekommen. Anschließend erfolgt
Klassifikation radiologisch. Die Unterscheidung eine Fixierung der Kopfepiphyse mit Kirschner-
erfolgt zwischen drohender Epiphysenlösung Drähten (⊡ Abb. 10.25) oder Schraubenosteosyn-
(Epiphysiolysis capitis femoris imminens) und be- these. Falls der Kopf in Fehlstellung angeheilt ist,
10.3 · Erworbene Störungen
233 10
⊡ Abb. 10.25. Fixation
der Hüftkopfebene mit
Kirschner1-Drähten

⊡ Abb. 10.26. Protrusio acetabuli


muss man durch Osteotomien und Keilresektion
im Schenkelhalsgebiet bzw. intertrochantär versu-
chen, achsengerechte Verhältnisse wiederherzu- 10.2.6 Idiopathische Protrusio
stellen. Auch die Gegenseite muss durch Epiphy- acetabuli
senfixierung mitbehandelt werden, weil auch dort
ein Abrutsch droht. Dabei handelt es sich um eine Vorwölbung des
Hüftpfannenbodens in den inneren Beckenring
Krankengymnastik. Gangschulung, Üben der Teil- (⊡ Abb. 10.26). Der Hüftkopf steht tief in der Pfan-
belastung, Gelenkmobilisation zum Abbau des ne. Der Schenkelhalswinkel ist oft verringert (Coxa
Drehmann-Zeichens. vara). Die Protrusio acetabuli führt meistens zur
Arthrosis deformans. Vorher bestehen keine nen-
⚉ Fallbeispiel nenswerten Beschwerden. Eine Protrusio aceta-
Thomas Hamburger, 12, fällt beim Schulsport ohne buli kann auch nach Einstauchungsfrakturen des
besonderen Grund hin und kann mit dem rechten Bein Pfannenbodens entstehen oder im Spätstadium bei
nicht mehr auftreten, weil er dann starke Schmerzen chronischer Polyarthritis und Morbus Bechterew
im Knie und in der rechten Leiste verspürt. Der Junge als sekundäre Protrusio acetabuli.
wird sofort mit Frakturverdacht ins Krankenhaus ein-
geliefert.
Befund. Der Befund ergibt ein verkürztes rechtes Bein, 10.3 Erworbene Störungen
welches außenrotiert liegt.
Bei Hüftbeugung verstärkt sich automatisch die Au- 10.3.1 Lagebedingte Deformitäten
ßenrotation. Das a.p.-Röntgenbild zeigt eine leicht ab-
gerutschte Hüftkopfepiphyse, die sich auf einer Spe- Je nach Grunderkrankung können sich an der Hüf-
zialaufnahme bei 70° Beugung und 50° Abspreizung te verschiedene Lagerungsdeformitäten einstellen.
noch deutlicher darstellt. Typisch ist die Abduktions-Außenrotations-Beu-
Diagnose. Akute juvenile Hüftkopflösung. gefehlstellung bei der Querschnittslähmung, v.a.
Therapie. Die Hüftkopfepiphyse muss sofort operativ im Kindesalter. Das Bein sinkt der Schwere nach
mit Kirschnerdrähten fixiert werden, damit sie nicht in diese Fehlstellung (Froschstellung der Beine).
noch weiter abrutscht. Die Eltern werden darauf auf- Durch Zusammenwickeln der Beine kann man
merksam gemacht, dass sich als Komplikation der derartige Lagerungsdeformitäten vermeiden.
Erkrankung – nicht der Operation – eine Epiphysen- (Fehlstellungen der Hüfte durch Beinlängendiffe-
nekrose einstellen kann. renz und Verkrümmungen der WS, s. Kap. 1.2.3).

1 Martin Kirschner, Chirurg, Heidelberg (1879–1942)


234 Kapitel 10 · Hüftregion

10.3.2 Tuberkulöse und andere bewegt. Der Säugling hat starke Schmerzen und ist
bakterielle Koxitiden unruhig. Die BSG ist erheblich beschleunigt.

Röntgen. Das Röntgenbild zeigt zunächst nichts


Wichtig Auffälliges; erst nach 2–3 Wochen sieht man neben
Die tuberkulöse Koxitis zählt zu den häufigsten einer Atrophie und Auflockerung der Spongiosa ei-
Skeletttuberkulosen. nen oder mehrere kleine Rundherde mit Auflösung
des Knochens. Es kann eine vollständige Auflösung
des Hüftkopfs entstehen. Sekundär kommt es zur
Wichtig ist die Differenzialdiagnose gegenüber der Hüftluxation, die differenzialdiagnostisch gegen
unspezifischen bakteriellen Koxitis aufgrund der eine kongenitale Hüftluxation abgegrenzt werden
Punktion des Gelenks und des bakteriologischen muss. Je nach Ausdehnung der Zerstörung kommt
Befunds. Die tuberkulöse Koxitis verläuft außer- es zu einer Läsion der Epiphysenfuge mit Wachs-
dem nicht so akut wie eine bakterielle nichttu- tumsstörungen, das Bein bleibt kürzer.
berkulöse. Bei einer tuberkulösen Koxitis sind die
gelenknahen Knochenabschnitte atrophisch, bei Therapie. Das Prinzip der Behandlung besteht in
einer nichttuberkulösen bakteriellen Koxitis eher der Ruhigstellung und Applikation von Antibioti-
sklerotisch. Tuberkulinproben, Schichtaufnahmen ka, ggf. operativer Sanierung.
und schließlich eine Probeexzision mit Nachweis Bei Fisteleiterungen muss der Herd ausge-
des spezifischen Granulationsgewebes helfen die räumt werden. Die Abszesspunktion ist zur Ei-
Diagnose sichern. tergewinnung und Erregerresistenzbestimmung
Eine primär synoviale Form der Coxitis tuber- erforderlich.
10 culosa ist ebenso häufig wie eine primär ossäre.
Gelenknahe epi- oder metaphysäre Herde brechen 10.3.4 Coxitis fugax
in das Gelenk ein und führen zu Kombinations-
formen. Im Kindesalter kommt die sog. flüchtige Koxitis
(Coxitis fugax) vor.
Therapie. Immobilisation (Becken-Bein-Fuß-Gips- Als Ursache kommen partiell-allergische Re-
verband) und Applikation von Tuberkulostatika. aktionen der Synovialmembran nach Allgemeinin-
Größere Herde werden ausgeräumt. Der Eingriff fekten in Frage. Die Kinder klagen über belastungs-
ist dann mit einer Arthrodese (operative Gelenk- abhängige Schmerzen im Hüftgelenk. Der Schmerz
versteifung) verbunden. Bei Tuberkulosen werden ist wie beim Morbus Perthes in der Leiste oder im
häufig sog. extraartikuläre Arthrodesen durch- Oberschenkel bzw. im Knie lokalisiert.
geführt, d.h. das Gelenk wird von außen versteift,
ohne dass der entzündliche Prozess im Gelenk Differenzialdiagnose. Auszuschließen ist entspre-
selbst angegangen wird. chend der Morbus Perthes durch eine Röntgen-
aufnahme des Beckens. Im Sonogramm sieht man
eine Kapselverdickung. Zur Differenzialdiagnose
10.3.3 Säuglingskoxitis von Perthes und Coxitis fugax wird immer mehr
(Neugeborenenkoxitis) das MRT verwendet.

Ätiopathogenese. Entsteht durch hämatogene Wichtig


Aussaat von Eitererregern, die sich im metaphysä- Im Gegensatz zum Morbus Perthes ist bei der
ren Anteil des Schenkelhalses festsetzen. Das Hüft- flüchtigen Koxitis im Kindesalter die BSG erhöht.
gelenk ist sekundär betroffen.

Klinik. Der Untersuchungsbefund zeigt Schwellung Außerdem finden sich entzündliche Veränderun-
und Rötung. Außerdem wird das Beinchen nicht gen im Blutbild. Die Punktion des Hüftgelenks
10.3 · Erworbene Störungen
235 10

ergibt meistens einen Erguss. Bis zur Klärung der


Diagnose wird eine schmerzhafte bewegungsein-
geschränkte Hüfte Beobachtungshüfte genannt.
Die Diagnose erhärtet sich durch den Verlauf mit
Kontrolluntersuchungen.

Therapie. Entlastung des Hüftgelenks durch Bett-


ruhe und Gabe von Antiphlogistika (Aspirin). Die
Erkrankung heilt folgenlos aus.

10.3.5 Koxarthrose

Definition ⊡ Abb. 10.27. Koxarthrose

Arthrosis deformans des Hüftgelenks.


Oberkörper auf die erkrankte Seite ( Übersicht
10.6).
Ätiopathogenese. Man unterscheidet eine idio-
pathische Koxarthrose bei anlagebedingter Min-
derwertigkeit des Gelenkknorpels ohne Vorer- Übersicht 10.6. Koxarthrose – Memo
krankung und eine sekundäre Arthrose nach Vor- ▬ Präarthrotische Deformitäten
erkrankungen. Diese sind z.B. Epiphysenlösung, ▬ Aseptische Synovialitis, Kapsulitis
Perthes-Erkrankung, kongenitale Hüftluxation, ▬ Leisten-Knieschmerz
rheumatische Arthritis, Schenkelhalsfrakturen ▬ Adduktions- und Beugekontraktur
sowie idiopathische Hüftkopfnekrosen. Sie füh- ▬ Kopf deformiert
ren meistens zu Defektheilungen und hinterlassen ▬ Entlastung
präarthrotische Deformitäten. Das Gelenk läuft ▬ Umstellungsosteotomie-TEP
wie ein defekter Motor unrund und verschleißt
eher.
Präarthrotische Deformitäten sind auch Ach- Wichtig
senabweichungen des Schenkelhalses wie Coxa Bei der Koxarthrose – wie bei anderen Arthrosen
valga, vara, antetorta oder Anlagefehler der Pfanne – sind die Schmerzen abhängig vom Ausmaß der
wie die Protrusio acetabuli. Gelenkkapselreizung und Begleitsynovialitis und
nicht vom Ausmaß der im Röntgenbild sichtbaren
Klinik. Die Koxarthrose beginnt mit einer schmerz- Deformierungen.
haften Bewegungseinschränkung (zuerst Innenro-
tation) sowie belastungsabhängigen Schmerzen.
Typisch für alle Hüfterkrankungen sind Leisten- Röntgen. Gelenkspaltverschmälerung, subchon-
schmerzen, die über die Vorderinnenseite des drale Sklerosierung, Geröllzysten, später starke
Oberschenkels zum Knie ausstrahlen. Schmerzen Deformierungen von Kopf und Pfanne.
sind bei der Koxarthrose nicht obligat. Man spricht
von der kompensierten und dekompensierten bzw. Differenzialdiagnose. Koxitis (Laborwerte), Band-
aktivierten Arthrose. Die Begleitsynovialitis be- scheibensyndrome (segmental ausstrahlender
stimmt das Schmerzgeschehen. Im weiteren Ver- Schmerz).
lauf stellen sich Kontrakturen (Adduktions-Beu-
ge-Kontraktur), Gelenkergüsse und Kapselverdi- Therapie. Konservativ: Wärme, Elektrotherapie,
ckungen ein (⊡ Abb. 10.27). Der Patient hinkt und Bewegungsbäder, intraartikuläre Injektionen, wei-
verlagert zur Schmerzreduktion beim Gehen den che Schuhsohlen und Absätze, Gehstock benutzen
236 Kapitel 10 · Hüftregion

lassen. Krankengymnastisch muss durch intensive Therapie. Totale Hüftgelenkendoprothese und zwar
Muskeldehnung und Gelenkmobilisation das Be- einzementiert, damit der Patient gleich voll belasten
wegungsausmaß im Hüftgelenk erhalten bzw. ver- kann.
bessert werden. Gewichtsabnahme vermindert den
Gelenkinnendruck. Operativ: bei jüngeren Men- 10.3.6 Idiopathische Hüftkopfnekrose
schen Gelenkversteifung oder bessere Einstellung des Erwachsenen
des Hüftkopfes in die Pfanne durch intertrochan-
täre Umstellungsosteotomie mit Verkleinerung des Ätiopathogenese. Lokale Durchblutungsstörun-
Schenkelhalswinkels (s. ⊡ Abb. 10.15, S. 226) evtl. gen am Hüftkopf können, ähnlich wie beim Morbus
zementfreie Totalendoprothese. Bei älteren Men- Perthes des Kindesalters, auch beim Erwachsenen
schen Alloarthroplastik mit Totalendoprothesen zu einer Hüftkopfnekrose führen (⊡ Abb. 10.28).
(s. Kap. 3.2), die einzementiert werden. Als Ursache kommen Strahlentherapie, Kortison-
behandlung, Alkoholabusus, Schenkelhalsfraktu-
⚉ Fallbeispiel ren, Zytostatika-Behandlung, Caisson-Krankheit,
Emil Teppler, 75, klagt über belastungsabhängige Hyperurikämie und metabolische Störungen des
Schmerzen in der rechten Leiste mit Ausstrahlung zur Fettstoffwechsels in Frage. Pathologisch-anato-
Vorderseite des Oberschenkels. Die schmerzfreie Weg- misch kommt es zu einer Demarkierung der abge-
strecke wird immer kürzer. Diclofenac-Tabletten helfen storbenen Knochenbezirke mit nachfolgenden De-
nur vorübergehend und haben schon zu deutlichen formierungen des ganzen Hüftgelenks. Der Kopf
Magenbeschwerden geführt. Als Begleiterkrankungen sintert in sich zusammen. Betroffen sind meistens
finden sich Diabetes, koronare Herzerkrankung und Männer zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr.
postthrombotisches Syndrom.
10 Befund. Schmerzhafte Bewegungseinschränkung der
rechten Hüfte. Beinverkürzung um 2 cm. Im Röntgen-
bild fortgeschrittene Koxarthrose rechts.

a b

⊡ Abb. 10.28 a, b. Idiopathische Hüftkopfnekrose mit keilförmiger Demarkierung des abgestorbenen Knochenbezirks in der
Hauptbelastungszone des Hüftkopfs
10.3 · Erworbene Störungen
237 10
Wichtig Transiente Osteoporose. Es handelt sich hierbei
Im Gegensatz zum M. Perthes ist bei der Hüft- um eine vorübergehende Entkalkung der gelenk-
kopfnekrose des Erwachsenen eine Reossifikation nahen Knochen an der Hüfte. Genese unbekannt,
nicht zu erwarten. keine Deformierungen.

Therapie. Im Anfangsstadium und bei partiellen


Der Gelenkknorpel (Gelenkspalt) bleibt lange er- Nekrosen kann man eine entlastende Umstellungs-
halten. Der Kopf flacht sich ab und verbreitert sich osteotomie und Spongiosaunterfütterung versu-
gleichzeitig durch Randwülste ( Übersicht 10.7). chen. Meistens kommt nur eine Totalendoprothese
Die Nekrose betrifft nur den Hüftkopf und nicht in Frage. Die kausale Therapie der ischämischen
die Pfanne. Femurkopfnekrose ist nicht bekannt.

Klinik. Schleichender Beginn mit Leistenschmerzen ⚉ Fallbeispiel


und Einschränkung der Beweglichkeit zunächst Klaus Schluckendorf, 45, verspürt seit einigen Wochen
bei der Innenrotation. Mit weiterer Deformierung Schmerzen in der rechten Leiste mit Ausstrahlung zur
nehmen die Beschwerden zu. Beim Übergang zur Vorderseite des rechten Oberschenkels.
sekundären Coxarthrose kommt es zu Kontraktu- Befund. Einschränkung der Innenrotation der rechten
ren und zur Beinverkürzung durch Kopfschrump- Hüfte, sonst o.B.
fung. Röntgenbeckenübersicht: o.B.
Zusatzuntersuchung MRT. Umschriebene Vedichtung
Röntgen. Im Anfangsstadium ist die Röntgenüber- im vorderen Anteil des Hüftkopfes.
sichtaufnahme noch normal (Stadium 1), (Vorrönt- Diagnose. Partielle Hüftkopfnekrose
genstadium). Die Frühdiagnose ist im Szintigramm Therapie. Intertrochantere Umstellungsosteotomie
durch vermehrte Anreicherung, etwas später im mit Spongiosaunterfütterung.
CT und auf Schichtaufnahmen möglich. Man sieht Die Erfolgschancen hängen u.a. von der Compliance
dann einen keilförmigen Verdichtungsbezirk. Im ab, weil der Patient längere Zeit nicht belasten darf.
Kernspintomogramm (NMR) finden sich schon Bricht die Nekrose ein, bleibt nur die Hüftendopro-
Veränderungen, noch bevor im Röntgenbild etwas these.
sichtbar ist. Im Röntgenbild sieht man dann Os-
teolysen und Osteosklerosen bei zunächst erhal- Pathologische Frakturen
tener Kopfkontur (Stadium 2). Schließlich sintert Diese sind im Schenkelhalsbereich meistens durch
der Kopf zusammen und sequestriert (Stadium 3 Tumoren bedingt. In Frage kommen primäre me-
und 4). taphysär entstehende Tumoren und beim älteren
Menschen v.a. Metastasen. Therapie durch Endo-
Differenzialdiagnose. Im Gegensatz zur Arthrose prothesen.
und Arthritis ist der Gelenkspalt lange erhalten
(Knorpel).

Übersicht 10.7. Stadieneinteilung der idiopathischen Hüftkopfnekrose


0) keine Schmerzen erste Zeichen im NMR
1) Leistenschmerz, Innenrotation eingeschränkt
2) Leistenschmerz, Innenrotation eingeschränkt + Röntgen: Zysten im Hüftkopf
3) Schmerzen, konzentrische Bewegungseinschränkung + Röntgen: Zysten mit Einbrüchen
4) völliger Kopfkollaps, Kontrakturen
238 Kapitel 10 · Hüftregion

Schnappende Hüfte Posttraumatische Hüftkopfnekrosen treten nach


(Coxa saltans, schnellende Hüfte) Hüftgelenkluxationen auf. Auch nach Langzeitthe-
Diese wird durch ein Überspringen des Tractus rapie mit Kortisonpräparaten entstehen Hüftkopf-
iliotibialis über den großen Rollhügel beim Ge- nekrosen. Die röntgenologischen Zeichen einer
hen hervorgerufen. Das Hin- und Hergleiten kann Hüftkopfnekrose bestehen in einer Verdichtung
mit Schmerzen und einem deutlichen Geräusch der Knochenstruktur, in einer unregelmäßigen
(Schnappen) verbunden sein. Der über dem Tro- Konturierung und Eindellung der Kopfkalotte. Der
chanter major befindliche Schleimbeutel ist ent- Gelenkspalt ist anfangs noch normal, später, beim
zündet. Das Leiden kommt vorwiegend bei jungen Einsetzen der sekundärarthrotischen Veränderun-
Mädchen vor. gen, wird auch er verschmälert.
Hüftgelenkverletzungen sollen immer so
Therapie. Fixierung des Tractus iliotibialis am behandelt werden, dass keine präarthrotischen
Trochanter major durch subperiostale Nähte oder Deformitäten verbleiben. Daher ist auf korrek-
Z-förmige Verlängerung. te Schenkelhalsschaft- und Winkelverhältnisse
(⊡ Abb. 10.29, 10.30) sowie Zentraleinstellung des
10.3.7 Verletzungen Hüftkopfs in die Pfanne zu achten. Verbleiben Stu-
und Verletzungsfolgen fen oder Fehlstellungen, so kommt es zur Koxar-
throse.
Besonders im höheren Alter kommt es in der Hüft- Abrissfrakturen im Becken- und Hüftbereich
region bevorzugt zu Schenkelhalsfrakturen. Ursa- treten auf an der Spina iliaca ventralis durch Zug
che ist meist ein Trauma durch Sturz auf das seitli- der Rektusmuskulatur, am Trochanter major durch
che Becken mit direkter Gewalteinwirkung auf den Zug der Glutaei und in Form von schalenförmigen
10 Trochanter. Abrissen an der Sitzbeinkonvexität durch Zug der
4/5 der Blutversorgung des Hüftkopfs erfolgen Adduktoren. In der Regel müssen die Apophysen-
durch den Schenkelhals, 1/5 durch die Arterie im ausrisse am Becken und Oberschenkel nicht repo-
Lig. capitis femoris. niert und fixiert werden – im Gegensatz zu der am
Schienbein (Tub. tibiae).
Wichtig Typische Tendopathie im Beckenbereich bei
Mediale Schenkelhalsfrakturen führen häufig zu Sportlern ist die Insertionstendinose des M. adduc-
Hüftkopfnekrosen. tor longus und des M. gracilis mit charakteristi-
schen Leistenschmerzen. Das Krankheitsbild wird
auch als Gracilissyndrom bezeichnet.

⊡ Abb. 10.29. Mediale Schenkelhals-


frakturen werden nach dem Verlauf
α α des Bruchspalts eingeteilt (nach
α
Pauwels1). Pauwels 1 heilt in jedem
Lebensalter konservativ. Pauwels 2
und 3 müssen wegen der Kopf-Ab-
rutschgefahr mit Winkelplatten und
Schrauben operiert werden, beim
älteren Patienten am besten mit
einer Endoprothese

Pauwels 1 Pauwels 2 Pauwels 3


α unter 30 α 30–70 α über 70

1 Friedrich Pauwels, Chirurg, Aachen († 1980)


10.4 · Begutachtung
239 10
⊡ Abb. 10.30. Mediale Schenkelhals-
fraktur links bei einer 80-jährigen
Patientin. Therapie: Sofortversorgung
mit einer Hüfttotalendoprothese
(Duokopfprothese) wie auf der rech-
ten Seite (Sturz vor 1 Jahr). Vorteil der
TEP: Sofortige Mobilisierung möglich,
Gefahr der Hüftkopfnekrose bei Oste-
osynthese

10.3.8 Femurdefekte vationsfehlstellungen, werden durch Korrekturos-


und -fehlstellungen teotomien mit Keilentnahme und anschließender
Druckosteosynthese korrigiert. Beinlängendiffe-
Hypoplastische Entwicklungsstörungen renzen werden durch Verkürzungs- bzw. Verlänge-
des Oberschenkelbereichs rungsosteotomien ausgeglichen.
Vom partiellen bis zum totalen Defekt kommen
alle Missbildungen vor. Eine minimale Manifestati-
on (Entwicklungsstörung) ist die leichte Verkrüm- 10.4 Begutachtung
mung des Oberschenkels. Fehlstellungen der Ober-
schenkelregion treten meistens nach Frakturen auf. Nach Verletzungen bleiben am Hüftgelenk Defor-
Eine typische Fehlstellung ist der Rotationsfehler. mierungen zurück, die zunächst keine Beschwer-
den verursachen, jedoch später nach einem be-
Wichtig schwerdefreien Intervall zu einer Arthrosis defor-
Durch Überwiegen der Außenrotatoren über die mans führen. Diese präarthrotischen Deformitäten
Innenrotatoren kommt es nach Frakturen, selbst können in einer Inkongruenz der Gelenkflächen
wenn diese in achsengerechter Stellung verheilen, an Kopf und Pfanne bestehen oder aber auch post-
häufig zu Außenrotationsfehlstellungen. traumatische Veränderungen der Achsenverhält-
nisse im koxalen Femurende darstellen.

Ein scheinbarer Beinlängenunterschied kommt Wichtig


durch Ab- und Adduktionskontraktur im Hüftge- Nach Schenkelhalsfrakturen entsteht häufig eine
lenk zustande. Bei der Adduktionskontraktur ist posttraumatische Coxa vara.
das Bein kürzer, bei der Abduktionskontraktur
länger (immer nur scheinbar, s. Kap. 1.2.5). Die
tatsächliche absolute Beinlänge lässt sich durch Die sekundäre posttraumatische Arthrosis defor-
den Trochanter-Innenknöchel-Abstand bzw. am mans ist dementsprechend als Unfallfolge anzuer-
genauesten in der Ganzaufnahme am Röntgenbild kennen.
ausmessen. Nach traumatisch bedingter Hüftluxation ent-
Beinlängenunterschiede führen immer zu ei- steht häufig eine Hüftkopfnekrose, weil mit der
ner skoliotischen Ausbiegung der WS. Die Konve- Luxation auch ein Kapselriss und damit eine Kon-
xität der LWS findet sich auf der Seite des kürzeren tinuitätsdurchtrennung der für die Kopfernährung
Beins. Auswirkungen finden sich erst ab 1 cm Bein- wichtigen Gefäße verbunden ist. Auch die post-
längenunterschied. Achsenabweichungen, etwa im traumatische Femurkopfnekrose ist als Unfallfolge
X- oder O-Sinne, Rotationsfehler, Ante- und Rekur- anzuerkennen.
11

11 Kniegelenk

11.1 Grundlagen zur Orthopädie und funktionelle Anatomie


des Kniegelenks – 242
11.1.1 Kniestreckapparat – 243

11.2 Angeborene Störungen – 244


11.2.1 Patellaluxation – 244
11.2.2 Konstitutionelle Störungen, X-Bein, O-Bein – 246
11.2.3 Blutergelenk – 247

11.3 Entzündungen – 247


11.3.1 Infektion (Kniegelenkempyem) – 247
11.3.2 Abakterielle Entzündungen – 248

11.4 Neurogene Arthropathie – 248

11.5 Degenerative Veränderungen – 248


11.5.1 Gonarthrose – 248
11.5.2 Meniskopathie – 249
11.5.3 Chondropathia patellae – 252
11.5.4 Osteochondrosis dissecans (König) – 253
11.5.5 Morbus Osgood-Schlatter – 254

11.6 Tumoren und geschwulstartige Affektionen – 254


11.6.1 Synovitis villonodularis (Pigmentierte villonoduläre Synovitis) – 254
11.6.2 Synovialsarkom – 254
11.6.3 Ganglien (Baker-Zyste) – 255

11.7 Verletzungen und Verletzungsfolgen – 255


11.7.1 Tibiakopffrakturen – 255
11.7.2 Knieinnenläsion – 255
11.7.3 Bandverletzungen – 255
11.7.4 Alte Kreuzbandverletzungen – 256

11.8 Begutachtung – 257


242 Kapitel 11 · Kniegelenk

>> Einleitung ▬ Femoropatellargelenk


Wegen der häufigen Verletzungen, Überlastungser- ▬ Mediales Tibiofemoralgelenk
scheinungen und Beteiligung an orthopädischen All- ▬ Laterales Tibiofemoralgelenk.
gemeinerkrankungen (z.B. Rheuma) handelt es sich um Im Kniegelenk finden verschiedene Bewegun-
eine orthopädische Region erster Ordnung (jede zehn- gen statt:
te Frage). Rekapitulieren sollte man die anatomischen ▬ Beugung – Streckung: Dabei kommt es gleich-
Strukturen in den einzelnen Gelenkkompartments mit zeitig zu einer Gleitbewegung nach vorn bzw.
den jeweiligen Stabilisatoren. hinten. Am Ende des Streckvorgangs kommt
Überlastungs- und Verletzungsschwerpunkte sind es zu einer leichten Außenrotation des Unter-
Patella und Menisci mit ihren verschiedenen Fehlbil- schenkels gegen den Oberschenkel von etwa 10°
dungs- und Rissformen. Erinnerungswert haben auch je (sog. Schlußrotation).
drei klinische Meniskus- und Instabilitätszeichen, sowie ▬ Innen- und Außenrotationsbewegung im Knie-
spontane Osteonekrosen. Ätiologie und Pathogenese gelenk sind bei 90° Beugung (erschlaffter Kap-
der degenerativen entzündlichen Kniegelenkserkran- selbandapparat) über einen Bogenabstand von
kungen entsprechen denen anderer Gelenke. Bei allen 40–50° möglich (⊡ Abb. 11.2).
Erkrankungen, die sich im Knie abspielen: nicht die Ar- Die Stabilität des Kniegelenks wird aufrecht erhal-
throskopie vergessen! ten durch:
▬ statische Kräfte: Gelenkkapsel und Bänder:
Wölbung der Femurkondylen, die in der Kon-
11.1 Grundlagen zur Orthopädie kavität der tibialen Gelenkflächen erhalten
und funktionelle Anatomie werden, unterstützt durch die Menisci. Die
des Kniegelenks Menisci haben die Funktion als Lastverteiler,
Bremsklötze, Stoßdämpfer und Stabilisierer im
Im Kniegelenk bewegen sich Ober- und Unter- Bereich des Kniegelenks.
11 schenkel gegeneinander. Es ist das größte Gelenk ▬ dynamische Kräfte: Muskelgruppen, die das
des Körpers und zugleich aufgrund seines kompli- Kniegelenk kreuzen. Die statischen und dyna-
zierten Kapselbandapparats vermehrt verletzungs- mischen Kräfte sind gleichmäßig um die zen-
anfällig. Man unterscheidet 3 Gelenkkompartments trale Knieachse verteilt (⊡ Abb. 11.3).
(⊡ Abb. 11.1):

⊡ Abb. 11.1. Gelenkkompartments


und wichtige Bänder am Knie
11.1 · Grundlagen zur Orthopädie und funktionelle Anatomie des Kniegelenks
243 11
⊡ Abb. 11.2 a, b. Funktionsprü-
fungen. a Beugung, Streckung
und Überstreckung, b Rotati-
onsbewegung. 1 Innenrotation,
2 Außenrotation

⊡ Abb. 11.3. Statisch und dyna-


misch stabilisierende Kräfte

Beim Ausfall eines funktionell wichtigen Muskels throse oder nach Trauma) als auch bei Ausfall der
erhalten die Antagonisten das Übergewicht, und es dynamischen Kräfte (Lähmungsluxation).
entstehen Kontrakturen: z.B.
11.1.1 Kniestreckapparat
Wichtig

Beugekontrakturen entstehen bei Ausfall des Der M. quadriceps mit seinen 4 Köpfen – Rectus,
M. quadriceps, Streckkontraktur mit Rekurvati- Vastus medialis, lateralis und intermedius – ist der
onsfehler bei Ausfall der Beuger (⊡ Abb. 11.4). größte und mächtigste Muskel unseres Körpers.
Funktionsanatomisch gehören zum Streckapparat
die in ⊡ Abb. 11.5 aufgezeigten Strukturen.
Instabilitäten im Kniegelenk entstehen sowohl bei Im ganzen Verlauf des Streckapparats können
Ausfall der statischen Kräfte (Kapselbandläsionen, Verletzungen und Erkrankungen auftreten. Am
Veränderungen der Gelenkflächen, z.B. bei Ar- wichtigsten und häufigsten sind die Läsionen der
244 Kapitel 11 · Kniegelenk

Wichtig

Viele Erkrankungen, die unter Beteiligung der


Gelenkinnenhäute einhergehen (Rheuma, Bluter-
krankheit), spielen sich bevorzugt am Kniegelenk
ab und führen dort zu entzündlichen bzw. bluti-
gen Ergüssen.

Ein Zeichen für die vermehrte Flüssigkeitsan-


sammlung im Kniegelenk ist das Schwimmen
bzw. »Tanzen« der Patella auf Fingerdruck, die
normalerweise der Femurgelenkfläche unmittel-
bar aufliegt. Der obere Kniegelenkrezessus wölbt
sich vor. Durch die Kapselspannung besteht eine
Bewegungseinschränkung nach allen Richtungen
⊡ Abb. 11.4. a Genu recurvatum (mit Plantarflexion des (⊡ Abb. 11.6).
Fußes), b normal, c Kniebeugekontraktur (mit Dorsalextension
des Fußes) Wichtig

Isolierte präpatellare Schwellungen sprechen für


eine Bursitis praepatellaris.
Patella. Bei der Untersuchung des Kniegelenks wei-
sen bestimmte Befunde auf Anomalitäten hin: so
z.B. eine weit lateral und hochstehende Patella als
Patella alta bei der habituellen Patellaluxation oder 11.2 Angeborene Störungen
11 schmerzhaftes subpatellares Krepitieren beim Hin-
11.2.1 Patellaluxation (⊡ Abb. 11.7)
und Herschieben der Patella als Symptom für die
Chondromalazie.
Die Gelenkhöhle des Knies ist die größte des Ätiopathogenese. Die Luxationstendenz ist in den
Körpers: Entsprechend ausgedehnt ist die Innen- meisten Fällen noch nicht bei der Geburt vorhan-
auskleidung der Gelenkinnenhaut (Synovialmem- den, sondern entwickelt sich erst später während
bran). des Wachstums. Begünstigend wirken Genua valga,

⊡ Abb. 11.5. Der Kniestreckapparat und seine wichtigsten


Läsionen
11.2 · Angeborene Störungen
245 11

aus dem femoralen Gleitlager lösen als sog. Flake-


Fraktur. Fettaugen im Gelenkpunktat sprechen für
eine Flake-Fraktur (osteochondrale Fraktur). In
fortgeschrittenen Fällen luxiert die Patella bei jeder
Beugung des Kniegelenks. Röntgenaufnahmen des
Patellagleitlagers in leichter Beugung zeigen eine
Lateralisierung der Patella bei Abflachung des late-
ralen Femurkondylus und evtl. schon eine Arthrose
im Femoropatellargelenk.
⊡ Abb. 11.6. »Tanzen« der Patella bei Kniegelenkserguss (Bal-
lottement): Die rechte Hand des Untersuchers umgreift den Wichtig
oberen Rezessus und schiebt ihn nach kaudal, damit sich die
Die Patellaluxation ist anlagebedingt und auf
Flüssigkeit unter der Kniescheibe ansammelt. Mit der linken
Hand drückt man die Kniescheibe auf der prallelastischen Un- Genua valga und eine Dysplasie des ossären
terlage herunter und läßt sie »tanzen« Gleitlagers am Femurkondylus mit Schwäche der
Muskeln sowie der Bänder zurückzuführen.

Patelladysplasien, Kapselbandschwächen und ge-


änderte Motorik bei Mongolismus und schlaffen Wenn nichts unternommen wird, entstehen Schliff-
Lähmungen (Polio). Eine Patellaluxation kommt furchen und arthrotische Veränderungen im Knie-
auch vor bei Systemerkrankungen wie Ehlers-Dan- gelenk, vornehmlich im Femoropatellargelenk.
los-Syndrom, Arthrogrypose, Nagel-Patella-Syn-
drom. In schweren Fällen scheint das distale Fe- Therapie. Es gibt zahlreiche operative Verfahren.
murende vermehrt außenrotiert zu sein. Es handelt In leichten Fällen mit nur wenigen Luxationen in
sich ausnahmslos um Subluxationen oder Luxatio- der Anamnese ist eine Längsspaltung des latera-
nen nach lateral. Beim Übergang von der Streckung len Retinaculums ausreichend. Man kann diesen
zur Beugung verlässt die Kniescheibe ihr Lager und Eingriff auch arthroskopisch durchführen. Am
wandert nach außen. Die habituelle Patellaluxation weitesten verbreitet ist eine Zügelungsplastik der
ist oft doppelseitig. Bis auf einen »Hochstand« (pa- Patella als reine Weichteiloperation. In schweren
tella alta) der Patella findet sich bei der klinischen Fällen wird diese kombiniert mit einer Versetzung
Untersuchung im Intervall meistens kein patholo- der Tuberositas tibiae nach medial-distal. Beim Re-
gischer Befund. Allenfalls findet sich ein Verschie- zidiv wird eine Rotationsosteotomie durchgeführt.
beschmerz der Patella (Zohlen-Zeichen). Nach fri- Knöcherne Eingriffe sollten erst nach Wachstums-
scher Luxation kommt es häufig zum Bluterguss abschlusserfolgen, weil es sonst zu Wachstumsstö-
(Hämarthros) durch Kapselriss. Mitunter kann sich rungen kommt.
ein Knorpelfragment aus der Patellarückfläche und

⊡ Abb. 11.7. Normale und luxierte Patella


246 Kapitel 11 · Kniegelenk

Krankengymnastik. Im Rahmen der konservati- 11.2.2 Konstitutionelle Störungen,


ven Behandlung oder nach Operationen sollten X-Bein, O-Bein
die Muskeln trainiert werden, die die Knieschei-
be nach innen ziehen, also v.a. M. vastus medialis,
möglichst isometrisch in Streckstellung, weil bei Wichtig
Kniebeugung eine Luxationstendenz besteht. Alle Neugeborenen weisen zunächst leichte
O-Beine auf. Bei Gehbeginn entwickelt sich daraus
Patellafehlbildungen gewöhnlich ein physiologisches X-Bein, das bis
Die Patella kann fehlen (Aplasie) oder zu klein zum 10. Lebensjahr verschwindet.
sein (Hypoplasie). Es gibt angeborene geteilte
Kniescheiben (Patella partita), die man nicht mit
Frakturen verwechseln darf. Osteopathia patellae Stärkere frühkindliche O-Beine sind meistens ra-
(M. Sinding-Larsen) ist die aseptische Knochenne- chitischen Ursprungs. In schweren Fällen bestehen
krose der Patellaspitze ( Übersicht 11.1). gleichzeitig Coxa vara, Femora vara und Crura
vara, wobei der Scheitel im Unterschenkel meis-
tens im unteren Drittel liegt. Daneben gibt es aber
Übersicht 11.1. Patella – Memo auch erbliche konstitutionelle O-Beine. Beim O-
Patella bipartita – angeborene Zwei- Bein (Crus varum, Genu varum) wird der mediale
teilung Kniegelenkanteil verstärkt belastet, beim X-Bein
Chondropathia – subpatellare Knorpel- der laterale. Bei progredienten X-Beinen im Wachs-
patellae erweichung tumsalter müssen Stoffwechselerkrankungen und
Patellaluxation – habituell nach lateral hormonelle Störungen ausgeschlossen werden. Im
Tanzende Patella – bei Erguss Rahmen einer rheumatischen Arthritis kann sich
Osteopathia patellae – Patellaspitzennekrose ein X-Bein durch Einsinken des lateralen Tibia-
11 Patella alta – Hochstand kopfes entwickeln. Stärkere Achsenabweichungen
Aplasia patellae – fehlt erfordern Korrekturosteotomien, die meistens in
Hypoplasia patellae – zu klein Form der Pendelosteotomie oder Keilosteotomie
im Tibiakopfbereich durchgeführt werden. Im
Wachstumsalter kann die Korrektur der Achsen-
Wichtig fehlstellung durch temporäre Epiphysiodese mit
Häufig ist die Zweiteilung der Patella Klammern erfolgen. Dadurch wird das Wachstum
(Patella bipartita) in diesem Fugenanteil vorübergehend gehemmt
bis die Beinachse korrigiert ist. Dann werden die
Klammern wieder entfernt. Viele O-Beine gehen
Angeborene Kniegelenkluxation mit einer Einwärtsrotation der Tibia und der Knö-
Durch anlagebedingtes Überwiegen des Knie- chelgabel einher.
streckapparats wird das Kniegelenk überstreckt
(rekurviert). Der Tibiakopf wird gegen den Femur Wichtig
nach vorn verschoben. Das untere Femurende kann Die kniegelenknahen Wachstumsfugen machen
man in der Kniekehle tasten. den größten Teil des Beinlängenwachstums aus.

Therapie. Extension, Einrenkung (evtl. auch durch


Operation), Verlängerung des Kniestreckapparats. Bedeutungsvoll sind Verletzungen dieser Fuge. Es
kommt dann meistens zu Achsenfehlstellungen
(X-Bein, O-Bein, Genu recurvatum, Genu antecur-
vatum). Die kniegelenknahen Wachstumsfugen
können durch Entzündungen (Osteomyelitis) oder
11.3 · Entzündungen
247 11
⊡ Abb. 11.8. a Korrekturosteo-
tomie beim O-Bein. Entnahme
eines Knochenkeils aus dem Tibia-
kopf mit lateraler Basis, Fixation
der Fragmente, z.B. mit Recht-
winkelmetallplatte. Die Fibula
muss durchtrennt werden, damit
sie nicht sperrt. b Korrekturoste-
otomie beim X-Bein: Entnahme
eines Knochenkeils aus dem
Oberschenkel suprakondylär
mit medialer Basis. Fixation der
Fragmente mit rechtwinkliger
Metallplatte

a b

Tumoren irritiert werden und lokal mit vermehr- bei Beugekontrakturen Verlängerung der Kniebeu-
tem oder vermindertem Wachstum reagieren. gesehnen oder suprakondyläre Umstellungsoste-
otomie.
11.2.3 Blutergelenk

Rezidivierende Blutergüsse im Kniegelenk führen 11.3 Entzündungen


bei Hämophilie zu einer chronischen Synovitis
mit Eisenablagerungen in der Synovialmembran, 11.3.1 Infektion (Kniegelenkempyem)
Fibrinbelägen und partieller bindegewebiger Or-
ganisation des Gelenkinnenraums, v.a. im oberen Eine Infektion entsteht meistens durch Eindringen
Rezessus. Die Kapsel verdickt und verkürzt sich von Erregern bei der Gelenkpunktion. Aber auch
besonders in den dorsalen Anteilen. Es entstehen auf hämatogenem Weg kann es zur Kniegelenkin-
Schrumpfungen und Kontrakturen am Kniegelenk, fektion kommen. Die bakterielle Entzündung der
meistens in Form von Beugekontrakturen. Der Ge- Synovialis führt zur Eiteransammlung im Knie-
lenkknorpel, der durch Diffusion aus der Synovia gelenk, Zerstörung des Knorpels, Verdickung der
ernährt wird, wird durch den pathologischen Ge- Gelenkkapsel mit fibröser Einsteifung (Ankylose)
lenkinhalt in Mitleidenschaft gezogen. Es kommt des Gelenks.
zu Knorpelarrosionen, in fortgeschrittenen Fällen
zur bindegewebigen Einsteifung des Kniegelenks Wichtig
in Fehlstellung (fibröse Ankylose). Die Kombination von Kniegelenkverdickung
durch Erguss und Kapselentzündung mit Muskel-
Therapie. Korrekte Lagerung. Beim Auftreten von atrophie lässt das Knie spindelförmig tumorartig
Ergüssen, wenn die Kontraktur schon eingetreten erscheinen (Tumor albus).
ist, muss man unter medikamentöser Kontrolle
langsam geradequengeln (s. Kap. 3.1.2) oder operie-
ren. An Operationen kommen in Frage: Synovekto- In der Tat muss man differenzialdiagnostisch im-
mie (Entfernung der erkrankten Gelenkinnenhaut; mer an einen kniegelenknahen Tumor denken.
248 Kapitel 11 · Kniegelenk

Therapie. Punktion, Antibiotikagabe nach Resis- Wichtig


tenzbestimmung, evtl. Saug-Spül-Drainage. Im Das Kniegelenk ist nach dem Großzehengrund-
Frühstadium führt man heute auch eine arthros- gelenk der zweithäufigste Gichtmanifestationsort.
kopische Synovektomie (Entfernung der Gelenkin-
nenhaut) mit anschließender Bewegungstherapie
durch. Alle chronischen Kniegelenkentzündungen ent-
wickeln eine Tendenz zur Kniebeugestruktur. Bei
Prophylaxe. Intraartikuläre Injektionen dürfen Kniegelenkergüssen und Knorpelreizungen ist
nur nach sorgfältiger Desinfektion der Haut unter eine leichte Kniebeugung von 20–30° die schmerz-
aseptischen Bedingungen durchgeführt werden. ärmste Haltung. Wenn die Kniebeugestellung bei
einer Gonitis längere Zeit eingehalten wird, ent-
11.3.2 Abakterielle Entzündungen steht durch Kapselschrumpfung, Muskelverkür-
zung und -verklebung eine Kniebeugekontraktur,
Hier ist in erster Linie die rheumatische Arthritis zu die nur durch langwieriges Üben und Quengeln
nennen (s. Kap. 4.6.2). behoben werden kann.

Wichtig Wichtig

Das Kniegelenk mit seiner großen inneren Ober- Bei allen Kniegelenkerkrankungen, speziell bei
fläche ist neben den Fingergelenken Hauptma- Entzündungen, ist von Anfang an auf die richtige
nifestationsort der chronischen rheumatischen Lagerung in Kniestreckstellung zu achten.
Arthritis.

Es kommt zu rezidivierenden Kniegelenkergüs- 11.4 Neurogene Arthropathie


11 sen, Fibrinablagerungen, bindegewebiger Organi-
sation. Die Synovia zeigt im Gelenkpunktat eine Bei der tabischen Arthropathie findet man fortge-
hohe Zellzahl, keine Bakterien. Die entzündlichen schrittene Destruktionen, Deformierungen und
rheumatischen Veränderungen greifen bald auf die Lockerungen der Gelenke der unteren Extremität,
Knorpelgelenkflächen über. Durch Frühsynovek- vorwiegend des Kniegelenks, durch mangelnde
tomie kann der Prozess aufgehalten werden. Koordination und Fehlbelastung.
Kniegelenkergüsse führen zu einer Überdeh- Da auch eine Alloarthroplastik unter diesen Vo-
nung der Gelenkkapsel und damit zum Wackel- raussetzungen nicht zum Erfolg führt, weil es auch
knie. Zunächst werden konservative Behandlungen hier durch Fehlbelastung zur Lockerung kommt,
mit Gelenkpunktion, Druckverbänden und Appli- ist die orthopädisch-technische Apparateversor-
kation antiphlogistischer Medikamente durchge- gung angebracht. Es werden Schienenhülsenappa-
führt, bei rezidivierenden Ergüssen Synovektomie. rate mit Scharniergelenken verordnet. Damit lässt
Bei schwerer Gelenkdestruktion mit Wackelknie, sich eine passive Stabilisierung des Kniegelenks
Achsenabweichungen und Kontraktur kommt erreichen (s. ⊡ Abb. 3.4, S. 60).
nur noch eine operative Behandlung in Frage. In
Frühfällen von Achsenabweichungen werden Um-
stellungsosteotomien durchgeführt. Bei größeren 11.5 Degenerative Veränderungen
Destruktionen der Gelenkflächen ist die Alloar-
throplastik mit partiellem oder totalem Kniege- 11.5.1 Gonarthrose
lenkersatz erforderlich.
Eine abakterielle Entzündung des Kniegelenks Ätiopathogenese. Die Arthrosis deformans des
ist auch bei der Gicht möglich. Kniegelenks entsteht meistens nach präarthro-
tischen Deformitäten, wie X-Bein, O-Bein, Genu
recurvatum, Genu antecurvatum oder Fraktu-
11.5 · Degenerative Veränderungen
249 11

ren mit Gelenkbeteiligung (z.B. Tibiakopffraktur, Randkantenausziehungen hinzu. In fortgeschritte-


Kondylenfrakturen). Aber auch Bandlockerungen, nen Fällen deformieren sich die Gelenkflächen.
Meniskusläsionen und Kreuzbandläsionen führen Die Kniearthrose ist bei älteren Menschen häu-
zu Arthrosen. Es gibt jedoch auch Kniearthrosen fig kombiniert mit venösen Rückflussstörungen
ohne äußere Ursache, allein aufgrund einer anlage- und Varikosis – besonders am betroffenen Bein.
bedingten Minderwertigkeit des Gelenkknorpels.
Belastungsfaktoren wie Fettsucht und Schwerar- Therapie. Belastung reduzieren, nicht soviel gehen
beit verschlimmern das Leiden. Außerdem findet und stehen. Handstock auf der Gegenseite benut-
sich eine auffällige Häufung zwischen Kniearthro- zen, Wärmepackungen, Elektrotherapie, intra-
se und Varikose ( Übersicht 11.2). artikuläre Injektionen. Die Arthrose kann dadurch
jedoch nicht aufgehalten werden. Es handelt sich
um eine rein symptomatische Therapie.
Übersicht 11.2. Gonarthrose – Memo Operativ frühzeitig Korrektur von Achsenab-
▬ Präarthrotische Deformitäten weichungen, Arthroplastiken.
▬ Eminentiaausziehung Bei beginnender Gonarthrose kann man durch
▬ Aseptische Synovialitis, Kapsulitis arthroskopische Revision teilgelöste Meniskusan-
▬ Entlastungs- und Muskeltraining teile und Knorpelpartikel entfernen, um den Reiz-
▬ Einlaufschmerz zustand zu reduzieren. Bei starker Deformierung
▬ Achsenkorrektur der Gelenkflächen erfolgt der Ersatz der Gelenkflä-
▬ Beugekontraktur chen durch eine Teil- oder Vollendoprothese.

Krankengymnastik. Im Rahmen der konservati-


Wichtig ven Therapie, Training der kniestabilisierenden
Im Rahmen der Arthrose entstehen Schlifffurchen Muskeln, Dehnung der zur Verkürzung neigen-
im Knorpel, aseptische Entzündungen der Syno- den Muskulatur (M. rectus femoris, ischiokrurale
vialis, Gelenkergüsse, Kapselüberdehnungen und Muskelgruppe), Entlastung des Kniegelenks durch
sekundäre Achsenabweichungen (arthrotisches Längszug des Unterschenkels sowie Bewegung des
O- oder X-Bein bzw. Varus- oder Valgusgonar- Kniegelenks ohne Belastung im Thermalbad.
throse).
Wichtig

Der Krankengymnast soll den Patienten über


Klinik. Belastungsabhängige Beschwerden, Span- Haltungs- und Verhaltensrichtlinien informieren
nungsgefühle im Kniegelenk, Nachtschmerz, Be- und ihm Anregungen darüber geben, wie er am
wegungseinschränkungen, Ergussbildungen und besten mit seinem arthrotischen Knie im Rahmen
Kontrakturen. Typisch ist der Anfangsschmerz der Knieschule umgeht. Dazu gehört die richtige
beim Aufstehen: Die Patienten geben an, dass sie Technik beim Treppensteigen, Schwimmen, Rad-
sich immer erst »einlaufen« müssen. fahren usw.
Der Verlauf der Arthrosis deformans des Knie-
gelenks ist schubweise: Es treten akute arthro-
tische Reizzustände auf, die durch starke belas- 11.5.2 Meniskopathie
tungsabhängige Beschwerden gekennzeichnet
sind. Ätiopathogenese. Dadurch, dass der mediale
Meniskus fest mit seiner Umgebung verbunden ist
Röntgen. Im Röntgenbild beginnt die Kniearthro- (z.B. Innenband), ist er verletzlicher als der beweg-
se mit einer Verschmälerung des Gelenkspalts und lichere laterale Meniskus.
spitzen (arthrotischen) Ausziehungen an der Emi- Eine Meniskuserkrankung wird durch ein
nentia intercondylaris. Später kommen subchond- Trauma, durch wiederholte Mikrotraumatisierung
rale Sklerosierungen und Zystenbildungen sowie oder durch Alterungsvorgänge verursacht.
250 Kapitel 11 · Kniegelenk

Meniskusdegeneration. Die zentralen Zweidrittel schenkelmuskeln – besonders M. quadriceps (Um-


der Meniskussubstanz werden durch Diffusionen fangsdifferenz). Bei Korbhenkelriss federnde Beu-
ernährt, das kapselnahe Drittel ist gefäßversorgt. ge- und Streckhemmung.
Die Übergangszone zwischen beiden Bezirken ist
gleichzeitig die Praedilektionsstelle für die Ausbil- Differenzialdiagnose. Eine Streckhemmung weist
dung von Längsrissen. Degenerativ vorgeschädigte auf eine Meniskuseinklemmung hin. Bänderrisse
Menisken reißen während physiologischer Kniebe- führen i. allg. nicht zur Streckhemmung im Knie.
wegungen. Meniskusrisse auch in Korbhenkelform führen
nicht zum Bluterguss, weil sie in der gefäßlosen
Wichtig Zone des Meniskus erfolgen.
Auslösender Mechanismus für die Meniskusläsion
ist meistens eine Drehbewegung des Kniegelenks Spezielle Meniskuszeichen. Sie beruhen auf dem
unter Belastung. Versuch, durch bestimmte passive Bewegungen
eine Teileinklemmung des verletzten Meniskus
und dadurch charakteristische Schmerzen auszu-
Durch die Gewalteinwirkung kommt es zum Ab- lösen ( Übersicht 11.3).
riss des Vorder- oder Hinterhorns oder zum sog.
Korbhenkelriss mit streifenförmiger Ablösung des Röntgen. Normalerweise und bei frischen Fällen
inneren Anteils. Dabei reißen die mittleren Anteile sieht man nichts.
des Meniskus in Längsrichtung ein, während im Bei älteren Verletzungen findet sich das Rau-
Bereich des Vorder- und Hinterhorns der Zusam- ber-Zeichen: kleine osteophytenartige Ausziehun-
menhang gewahrt bleibt (⊡ Abb. 11.9). gen unterhalb des inneren Kniegelenkspalts.
Schmerzen treten auf, wenn sich die abgerisse- Zur Sicherung der Diagnose wird eine Doppel-
nen Teile des Meniskus zwischen Femur und Tibia kontrastdarstellung des Gelenkinnenraums (Ar-
11 einklemmen und es zu Gelenkkapselzerrungen thrographie) oder eine Arthroskopie durchge-
kommt. Es tritt eine totale Bewegungssperre in führt, seit kurzem auch die Sonographie und Kern-
leichter Beugestellung ein. Die Einklemmung lässt spintomographie.
sich manchmal durch leichte Pendelbewegungen
beseitigen. Neben dem traumatischen Einriss gibt Therapie. Entfernung der abgerissenen Menis-
es aber auch degenerative Meniskusläsionen, die kusanteile so früh wie möglich, sonst kommt es zu
durch vermehrte Beanspruchung zustande kom- arthrotischen Veränderungen.
men: Berufsfußball, langjährige Arbeit in der Ho-
cke, z.B. bei Bergleuten, Gärtnern, Fliesenlegern. Wichtig

Heute ist es möglich, alle Meniskusschäden ar-


Klinik. Überstreckungsschmerz, Überbeugungs- throskopisch zu diagnostizieren und gleichzeitig
schmerz, Bewegungseinschränkung, evtl. leichter unter arthroskopischer Kontrolle zu behandeln.
Erguss mit Tanzen der Patella. Atrophie der Ober-

⊡ Abb. 11.9 a–d. Formen der


Meniskusläsion. a Längsriss,
b Längsriss mit Verschiebung
(Korbhenkelriss), c Vorderhorn-
einriss, d Querriss
11.5 · Degenerative Veränderungen
251 11

Übersicht 11.3. Meniskuszeichen


Steinmann1 I: Wird der Unterschenkel bei Kniebeugung von über 90° gegen den Oberschenkel
passiv nach innen oder außen gedreht, tritt am medialen Gelenkspalt vorn ein
Spontanschmerz auf.
Steinmann II: Ein Spontanschmerz am vorderen inneren Kniegelenkspalt wandert bei zunehmen-
der passiver Kniebeugung in Höhe des Gelenkspalts von vorn nach hinten
Merke2-Zeichen: Rotationsbewegung bei Einbeinstand mit typischem Schmerz am vorderen
inneren Kniegelenkspalt.

⊡ Abb. 11.10 a, b. Arthroskopische Operation am In-


nenmeniskus. a Operateur 1 stellt mit dem Arthroskop
(an dem sich eine Videokamera befindet) das mediale
Kniegelenkkompartment ein. Operateur 2 reseziert
über einen Stichkanal mit einer Beißzange den abge-
rissenen Meniskusanteil. Beide Operateure verfolgen
die Operation auf dem Bildschirm. b Schematische
Darstellung der arthroskopischen Operation. Links die
Spitze des Arthroskops, rechts die Beißzange mit dem
abgerissenen Meniskusanteil (Pfeil)

D.h. die inneren Anteile von Meniskuslängsrissen, gen wieder auftrainiert, besonders Quadrizepstrai-
Korbhenkelrissen werden arthroskopisch abge- ning.
trennt und entfernt (⊡ Abb. 11.10). Bei Jugendli-
chen kann ein basisnaher Längsriss wieder vernäht Meniskuszyste
werden. Besonders im Außenmeniskus entstehen oft mehr-
kammerige Hohlräume, die mit gallertigem Inhalt
Krankengymnastik. Nach der Meniskusoperation gefüllt sind (Meniskusganglion, Meniskuszyste).
werden die Muskeln durch isometrische Span- Hier kommt es gehäuft zu Einrissen und Einklem-
nungsübungen und funktionelle Bewegungsübun- mungserscheinungen. Operative Entfernung erfor-
derlich ( Übersicht 11.4).

1 Fritz Steinmann, Chirurg, Bern (1872–1932)


2 Franz Merke, Orthopäde, Basel (1893–1974)
252 Kapitel 11 · Kniegelenk

Ätiopathogenese. Der Kniescheibenknorpel fasert


Übersicht 11.4. Meniskus – Memo sich auf und wird teilweise abgeschilfert. Manch-
Scheibenmeniskus – Außenmeniskus als mal entsteht ein größerer Sequester, der sich auch
Scheibe – Kinder abstoßen und zur Gelenkmaus werden kann. Prä-
Meniskusganglion – Gallerthohlräume disponierend ist eine Dysplasie des femoropatella-
meistens im Außen- ren Gelenks mit Lateralisation der Patella (⊡ Abb.
meniskus 11.11), die man in einer Röntgenaufnahme bei 30°
Meniskuskorbhenkel – Längsriss mit Beugung mit Strahlengang zwischen Knieschei-
Verschiebung be und Oberschenkelgleitlager sehen kann (sog.
Meniskuszeichen – Kniebeugung und Axialaufnahme) ( Übersicht 11.5).
Rotation
Differenzialdiagnose. Spontane Osteonekrose der
Patellaspitze (M. Larsen1).
Scheibenmeniskus
Im lateralen Kompartment findet sich statt des Me-
niskus eine knorpelige Scheibe, die sich einklem- Übersicht 11.5. Chondropathia patellae –
men kann (schon bei Kindern). Memo
▬ Subpatellare Knorpelerweichung
Therapie. Entfernung der inneren Scheibenanteile ▬ Axialaufnahme
(arthroskopisch). ▬ Femoropatellare Dysplasie
▬ Vastus-medialis-Training
⚉ Fallbeispiel ▬ Verschiebeschmerz
Karsten Henkel, 22, kann nach dem Fußballspiel das ▬ Patellaentlastungs-Operation
rechte Knie weder voll beugen noch voll strecken. Auf- ▬ Giving way
11 treten kann er noch. Über Nacht ist es zu einer leichten
Knieschwellung gekommen.
Befund. Federnde Beuge- und Streckhemmung des Klinik. Typisch ist der Spontanschmerz bei starker
rechten Kniegelenkes. Bei Beugung und Innenrotation Kniebeugung, z.B. beim Treppensteigen und in der
tritt ein Spontanschmerz am inneren Kniegelenkspalt Kniebeuge oder beim Aufstehen nach längerem
auf. Deutlicher Erguss mit Tanzen der Patella. Sitzen.
Rö: Kniegelenk in 2 Ebenen, o.B.
Diagnose. Verdacht auf Innenmeniskuslängsriss mit
Verschiebung (⊡ Abb. 11.9 b).
Therapie. Arthroskopie mit Entfernung der abgeris-
senen Meniskusanteile. Präoperativ wird darauf hinge-
wiesen, dass man bei basisnahem Riss den Meniskus
wieder annähen kann, was mit längerer Schonung und
Teilbelastung verbunden ist.

11.5.3 Chondropathia patellae


⊡ Abb. 11.11. Dysplasietypen des Femoropatellargelenks
nach Wiberg2 als prädisponierender Faktor für eine Chondro-
Wichtig pathia patellae. I ist normal. Von II–IV findet sich eine zuneh-
mende Lateralisation der Patella mit Hypoplasie des medialen
Die Chondropathia patellae ist ein sehr häufiges Patellaanteils
Leiden, hervorgerufen durch Knorpelerweichung
unterhalb der Patella.
1 Christian Larsen, Arzt, Oslo (1986–1930)
2 Gunnar Wiberg, Orthopäde, Stockholm († 1988)
11.5 · Degenerative Veränderungen
253 11
⊡ Abb. 11.12. a Ein Knorpel-
Knochen-Sequester demarkiert
sich am medialen Femurkondy-
lus. b Der Sequester ist gelöst
und liegt lose im Mausbett.
c Der Sequester befindet sich
als freier Gelenkkörper (Gelenk-
maus) im Kniegelenk

Subpatellares Reiben, Verschiebeschmerz Wichtig


der Patella. Schmerz bei Quadrizepsanspannung Wenn der Sequester ausgestoßen wird, entsteht
und Patellaandruck. Wenn die Patienten mit ge- ein freier Körper, der zu Einklemmungserschei-
beugten Knien schlafen, besteht ein nächtlicher nungen führen kann.
Ruheschmerz. Das Knie kann beim Gehen auf un-
ebenem Boden auch plötzlich nachgeben (»giving
way«). Die Schmerzen verstärken sich beim Berg- Da der freie Körper überall im Gelenk auftauchen
abgehen. und verschwinden kann, wird er auch Gelenkmaus
genannt (⊡ Abb. 11.12). Der Defekt im medialen
Therapie. Konservativ: Vermeidung der starken Femurkondylus ist eine präarthrotische Deformi-
Kniebeugung, um den Patellaandruck zu verrin- tät mit Inkongruenz der Gelenkflächen. Es entsteht
gern. Dazu kann man auch einen Gipstutor (Ober- eine Arthrosis deformans. Eine Osteochondrosis
Unterschenkel-Gips in Streckstellung) verordnen. dissecans kommt noch vor im oberen Sprung-, El-
Operativ: Entlastungsoperationen für die Pa- lenbogen- und Hüftgelenk. Eine Flake-Fraktur ist
tella, z.B. durch Versetzen der Tuberositas tibiae das traumatische Ausbrechen eines Knorpelkno-
oder Einkerben des lateralen Retinaculums, um chenstückchens aus der Gelenkfläche.
den Patellaandruck zu reduzieren. Diese Operation
kann auch arthroskopisch durchgeführt werden. Klinik. Spontan- und Belastungsschmerzen am
Dabei glättet man gleichzeitig den aufgefaserten inneren Kniegelenkspalt. Das Knie kann nur un-
Knorpel. ter Schmerzen voll gestreckt werden. Bei freien
Gelenkkörpern kommt es regelmäßig zu Blockie-
Krankengymnastik. Im Rahmen der konservati- rungen.
ven Behandlung und nach Operation Training des
Vastus medialis, ergänzt durch Elektrostimulation. Therapie. Eine kausale Behandlung ist heute noch
Kniebeugung vorerst vermeiden (Patellaandruck). nicht möglich. Wenn die Knorpeldecke noch ge-
schlossen ist (MRI), also der Sequester noch sicher
11.5.4 Osteochondrosis dissecans in situ, kann der Herd seitlich von der Kondylen-
(König1) rolle aus angebohrt und mit Spongiosa angefrischt
werden. Ist das Knorpel-Knochen-Stück gelockert,
Ätiopathogenese. Gehört zu den spontanen Oste- so kann es mit Stiften oder Schrauben refixiert wer-
onekrosen. Am Kniegelenk kommt es infolge von den. Ist der Sequester (Maus) aus dem Bett (Maus-
Druck-Scher-Einwirkung zur Demarkierung eines bett) gelöst, so wird er entfernt. Der Defekt kann
Knorpel-Knochen-Sequesters, bevorzugt am me- mit Spongiosa und einer Knorpeltransplantation
dialen Femurkondylus. aufgefüllt werden, um die ansonsten eintretende
Arthrose möglichst zu vermeiden.
1 Franz König, Chirurg, Rostock (1832–1910)
254 Kapitel 11 · Kniegelenk

11.5.5 Morbus Osgood1-Schlatter2 Belastungen vermeiden (keine Kniebeugen, Sport-


karenz). Besondere therapeutische Maßnahmen
sind nicht erforderlich.
Deinition

Definition und Ätiopathogenese. Spontane Prognose. Gut, heilt nach Wachstumsabschluss aus
Osteonekrose der Tibiaapophyse, oft beidseitig ( Übersicht 11.6).
(⊡ Abb. 11.13). Es erkranken bevorzugt
Jungen im Alter zwischen 8 und 15 Jahren.
Übersicht 11.6. Spontane Osteonekrosen
am Knie
Klinik. Schwellung und Schmerzen an der Tubero- Osteochondrosis – mediale Femurkondy-
sitas tibiae. dissecans lusmaus
Schlatter – Tuberositas tibiae
Röntgen. Apophysenkern aufgelockert, fragmen- – gute Prognose
tiert. Sinding Larsen – Patellaspitze – selten

Therapie. Konservativ. Bei akuter Beschwer-


desymptomatik Entlastung mit zwei Unterarm-
gehstützen. Bei leichten Beschwerden vermehrte 11.6 Tumoren und geschwulstartige
Affektionen

11.6.1 Synovitis villonodularis


(Pigmentierte villonoduläre
Synovitis)
11
Entzündung der Gelenkinnenhaut in chroni-
scher Form mit Verdickung der Synovialmembran
und Zottenwucherung. Andere Gelenke sind sel-
tener betroffen. Bei blutigem Gelenkerguss ohne
Trauma ist an eine Synovitis villonodularis zu
denken.
Ursache ist eine primär gutartige Vermehrung
des Synovialepithels unter Bildung braungefärbter
Zotten. Die Gelenkflächen sind sekundär betrof-
fen.
Die Behandlung besteht in einer möglichst
frühzeitigen Entfernung der Gelenkinnenhaut
(Synovektomie).

11.6.2 Synovialsarkom

Aus der Synovialis hervorgehende bösartige Ge-


⊡ Abb. 11.13. Osgood-Schlatter-Erkrankung. Ausheilung schwulst, die besonders am Knie-, Fuß- und El-
mit kraterförmigem Defekt (Pfeil) der Tuberositas tibiae. lenbogengelenk auftritt. Betroffen sind meistens
(Aus: Idelberger 1984) Erwachsene. Der Tumor wächst langsam und
schmerzt.
1 Robert Osgood, Orthopäde, Boston (1873–1956) Die Therapie besteht in der frühzeitigen radi-
2 Carl Schlatter, Chirurg, Zürich (1864–1934) kalen operativen Entfernung des Tumors.
11.7 · Verletzungen und Verletzungsfolgen
255 11
11.6.3 Ganglien (Baker1-Zyste) fraktur. Auch bei der Patellaluxation kommt es zum
Bluterguss durch Kapselriss und ggf. Ausbruch ei-
Diese kommen am Kniegelenk, v.a. in der Kniekeh- nes Knochenknorpelfragments. Bei Bändern, die
le vor. Es handelt sich um zystenartige Gebilde (Ba- im Kniegelenk verlaufen, wie z.B. Kreuzband, ent-
ker-Zyste, Poplitealzyste), die mit einer gallertigen steht ebenfalls ein Bluterguss, wenn es zur Ruptur
Masse ausgefüllt sind. Sie stehen häufig mit dem kommt.
Kniegelenk durch einen langen Stiel in Verbindung.
Sie verursachen Beschwerden durch Druck auf die 11.7.3 Bandverletzungen
Umgebung und können bis zum Unterschenkel
reichen. Häufig findet sich eine Baker-Zyste als Von der Dehnung und Zerrung bis zum komplet-
Begleiterscheinung bei Arthrose oder Rheuma. ten Durchriss kommen alle Übergänge vor. Meis-
Der Untersuchungsbefund zeigt eine mehr oder tens handelt es sich nur um Dehnungen. Typisch
weniger deutliche prallelastische Vorwölbung in ist der Druckschmerz an den Innen- und Außen-
der Kniekehle. Eine Abtragung bis zum Stiel ist un- bandansätzen. Verstärkung des Schmerzes bei dem
bedingt erforderlich, sonst besteht Rezidivgefahr. Versuch, das Knie in gestreckter Stellung seitlich
Durch Darstellung mit Kontrastmitteln oder mit aufzuklappen. Bei kompletter Bandruptur ist eine
Sonographie kann die Diagnose Baker-Zyste gesi- seitliche Aufklappbarkeit nachweisbar. Bei Kniein-
chert werden. nenbandläsion lässt sich das Kniegelenk durch
Abduktion medial aufklappen (⊡ Abb. 11.14 a).
Die Knieinnenbandläsion ist häufig mit einer
11.7 Verletzungen und Meniskusläsion kombiniert, da beide Strukturen in
Verletzungsfolgen Verbindung stehen (⊡ Abb. 11.15). Bei kompletter
Ruptur kann man die vermehrte Aufklappbarkeit
11.7.1 Tibiakopffrakturen des betroffenen Gelenkspalts im Röntgenbild mit

Häufig, besonders beim älteren Menschen. Hier


kommt es zur Niveaudifferenz im Tibiaplateau mit
X- oder O-Bein sowie Stufenbildung im Gelenk.
Die Entstehung einer Arthrose wird begünstigt.

Prophylaxe. Anatomische Reposition durch Ope-


ration mit Osteosynthese.

11.7.2 Knieinnenläsion

Kombinierte Bänder-Meniskus-Verletzung, meis-


tens Innenband-Innenmeniskus, evtl. auch unter
Beteiligung des vorderen Kreuzbands. Ausgedehn-
te Kapsel-Band-Läsionen führen zur Instabilität
des Kniegelenks mit Subluxation bzw. Luxation.
Bleibt der Zustand länger bestehen, entsteht eine
Kniearthrose.
Ein Hämarthros am Kniegelenk ist zu erwarten,
wenn die Bruchlinien bis in den Knieinnenraum ⊡ Abb. 11.14. a Knieinnenbandläsion: Prüfung der vermehr-
ten Aufklappbarkeit des inneren Kniegelenkspalts durch
reichen, wie etwa bei einer Patella- oder Tibiakopf-
passive Abduktionsbewegung des Unterschenkels gegen
den Femur, b Knieaußenbandläsion: Prüfung der vermehrten
Aufklappbarkeit des äußeren Kniegelenkspalts durch passive
1 William Baker, Chirurg, London (1839–1896) Adduktionsbewegung des Unterschenkels gegen den Femur
256 Kapitel 11 · Kniegelenk

ersatz kann die Belastbarkeit der Patellasehne


ebenfalls reduziert sein.

11.7.4 Alte Kreuzbandverletzungen

Auch hier kommen Dehnungen und komplette


Durchrisse vor. Die Patienten beklagen sich über
eine Instabilität im Kniegelenk und häufiges Ein-
knicken.

Wichtig

Schubladenzeichen: Verschiebung der Tibia


gegen den Femur bei 90° gebeugtem Kniegelenk
(⊡ Abb. 11.16).
⊡ Abb. 11.15. Der unglückliche »Dreier« (Unhappy triad):
Knieinnenverletzung mit Innenbandriss, Innenmeniskusriss
und vorderem Kreuzbandriss Bei Riss des vorderen Kreuzbandes lässt sich die
Tibia nach ventral verschieben (vordere Schubla-
gehaltenen Aufnahmen objektivieren (Gipshülse de). Bei hinterem Kreuzbandriss (sehr selten) lässt
vom Ober- zum Unterschenkel). sich die Tibia nach dorsal, d.h. zur Kniekehle hin,
verschieben (hintere Schublade).
Therapie. Konservativ. Ruhigstellung im Gipstutor
für 8 Wochen. Bei komplettem Durchriss und star- Wichtig
ker Aufklappbarkeit Bandnaht, später Bandplastik. Beim Lachman2-Test prüft man die Ventralver-
11 Wenn aus irgendeinem Grund die Kapselbandre- schieblichkeit der Tibia bei 20°-Kniebeugung
konstruktion noch nicht vorgenommen werden (⊡ Abb. 11.17).
kann, muss man eine kniestabilisierende Schiene
verordnen. Wenn alle Versuche fehlschlagen und
ein Schlottergelenk entsteht, kommt auch eine Ar- Der Pivot-shift-Test besteht in Provokation einer
throdese oder Knieendoprothese in Frage. Subluxation des lateralen Tibiaplateaus nach vent-
ral durch Valgusstress, Innenrotation und Beugung
Wichtig von 30°. Der Funktionsverlust des vorderen Kreuz-
Stieda1-Schatten: Schalenförmige Verkalkungs- bandes führt beim Übergang von der Streckung
streifen neben dem Femurkondylus bei abgelau- zur Beugung zu einer verlängerten Rollphase des
fener Seitenbandläsion. lateralen Femurkondylus auf dem lateralen Tibia-
plateau ( Übersicht 11.7).

Patellarsehnenriss
Die Patellarsehnenruptur stellt eine teilweise oder Übersicht 11.7. Instabilitätszeichen am
vollständige Kontinuitätsdurchtrennung des Liga- Knie
mentum patellae durch direkte bzw. indirekte Ge- Schublade – Tibia gegen Femur bei 90°
walteinwirkung oder durch plötzliche körpereige- Lachman – Tibia gegen Femur bei 20°
ne Kraftanstrengung dar. Bei Systemerkrankungen Pivot – Valgusstress und Innenrotation
(Diabetes) oder nach lokalen Kortisoninjektionen bei 30°
und nach Transplantatentnahme zum Kreuzband-

1 Alfred Stieda, Chirurg, Königsberg (1869–1945) 2 John Lachman, Orthopäde, Philadelphia (Zeitgen.)
11.8 · Begutachtung
257 11
⊡ Abb. 11.16. Prüfen des »Schubladenzeichens« bei
Verdacht auf Kreuzbandriss: Verschieben der Tibia
gegen den Femur bei 90° gebeugtem Kniegelenk.
Zur Stabilisierung des Unterschenkels setzt sich der
Untersucher auf den Fuß des Patienten. Vorteil des
Schubladenzeichens: In Rotationsstellung des Unter-
schenkels können auch Seitenbänder und Kapselan-
teile mitgeprüft werden

Prognose. Die unbehandelte vordere Kreuz-


bandruptur kann zu einem Meniskus- und Knor-
pelschaden führen und sekundäre Instabilitäten
erzeugen.

11.8 Begutachtung

Die Meniskuserkrankung gilt als entschädigungs-


⊡ Abb. 11.17. Prüfen des »Lachman-Tests«: Man prüft die
Ventralverschieblichkeit der Tibia bei 20° Kniebeugung. Vorteil
pflichtige Berufskrankheit, z.B. bei Bergleuten und
des Lachman-Tests: Beste Position für allgemeine Bandent- Berufsfußballspielern. Ständige und physiologische
spannung am Knie Beanspruchung des bradytrophen Meniskusgewe-
bes führt hier zu Degenerationsveränderungen, die
als Berufserkrankung nach mindestens 3jähriger
Therapie. Zunächst konservativ durch Muskeltrai- beruflicher Tätigkeit anerkannt werden.
ning, Schienenversorgung. Schwere und therapie- Die Anerkennung eines Meniskusschadens als
resistente Fälle erfordern eine Kreuzbandplastik. Unfallfolge erfolgt nur dann, wenn es sich um einen
Man nimmt dazu entweder die Sehne des M. graci- frischen Einriss handelt. Beweisend ist das Operati-
lis, das mittlere Patellasehnendrittel, die Sehne des onsgut, in dem keine degenerativen Veränderungen
M. semitendinosus oder homologes Sehnenmate- gefunden werden dürfen. Ein adäquates Trauma ist
rial. außerdem Voraussetzung für die Anerkennung als
Unfallfolge.
Einige Prozentwerte für die MdE bei Knieschä-
den: Kniegelenkversteifung 30–40%, Kontraktur
bis 30%, Kapselbandinstabilität 20–30%.
12

12 Unterschenkel und oberes


Sprunggelenk

12.1 Unterschenkel – 260


12.1.1 Angeborene Schienbeinpseudarthrose (Crus varum congenitum) – 260
12.1.2 Entzündliche Störungen am Schienbein – 261
12.1.3 Traumatische Störungen am Schienbein – 261
12.1.4 Weichteilschwellungen und thrombotische Syndrome
am Unterschenkel – 262
12.1.5 Tibialis-anterior-Syndrom – 262

12.2 Verletzungen und Verletzungsfolgen im Knöchelbereich – 262


12.2.1 Frakturen, Distorsionen und Bandverletzungen – 262
12.2.2 Versteifung des oberen Sprunggelenks – 265
12.2.3 Sehnenschäden – 265

12.3 Begutachtung – 267


260 Kapitel 12 · Unterschenkel und oberes Sprunggelenk

>> Einleitung 3 cm kommt es bei fehlendem Beinlängenausgleich


Für diese Region gibt es zahlreiche Überschneidungen zum kompensatorischen Spitzfuß.
mit der Chirurgie/Traumatologie. Einprägen muss man Achsenabweichungen des Unterschenkels stö-
sich die Kapselbandverhältnisse am oberen Sprungge- ren die Statik und Funktion, besonders im Knie
lenk, sowie die verschiedenen Formen der Malleolar- und in den Sprunggelenken. Aufgrund der Fehlbe-
frakturen mit ihren Folgezuständen für die Statik. Bei lastung können dort Arthrosen entstehen. Deswe-
allen Eingriffen am Unterschenkel und Sprunggelenk gen sind Korrekturen erforderlich.
sind die typischen Komplikationen zu berücksichtigen
und im Aufklärungsgespräch dem Patienten zu erläu- 12.1.1 Angeborene Schienbein-
tern. Besonders zu beachten ist das Tibialis-anterior- pseudarthrose
Syndrom (bisher 5 Fragen), das rechtzeitig diagnosti- (Crus varum congenitum)
ziert und therapiert werden muss.
Ätiopathogenese. Es handelt sich um ein seltenes,
fast immer einseitiges Erbleiden. Je nach Stärke des
12.1 Unterschenkel endogenen Faktors gibt es Erscheinungsformen
mit nur leichter Verkrümmung und solche mit
Die Unterschenkelknochen (Tibia und Fibula) kön- stärkerer Verkrümmung und starker Verdünnung
nen anlagebedingt verkürzt oder verbogen sein. der Unterschenkelknochen bis zur Pseudarthrose.
Die Verbiegung im O-Sinne heißt Crus varum, Betroffen sind Tibia und Fibula (⊡ Abb. 12.1). Häu-
die Verbiegung im X-Sinne Crus valgum. Im fig besteht gleichzeitig eine Neurofibromatose.
Gegensatz zum Genu varum und valgum liegen
die Hauptkrümmungen im Unterschenkel. Achsen- Klinik. Die angeborene Verbiegung ist oft knickar-
abweichungen in der Sagittalebene mit Antekur- tig, ihre Konvexität nach vorn außen gerichtet, sel-
vation (Verbiegung nach vorn) und Rekurvation tener nach vorn innen (Crus valgum congenitum)
(Ausbiegung nach hinten) kommen nach Unter- oder nach hinten (Crus recurvatum congenitum).
schenkelfrakturen vor, die in Fehlstellung verheilt Durch die O-förmige Verbiegung beim Crus va-
sind. rum kommt es zur vermehrten Belastung des Fuß-
12 Einseitige Verkürzungen und Verbiegungen außenrandes mit Ausprägung eines sekundären
des Unterschenkels führen über eine Beinverkür- Klumpfußes. Am Kniegelenk entsteht eine stärkere
zung zum Beckenschiefstand mit Seitverbiegung Belastung der medialen Kniegelenkanteile, was
der WS. Bei einer Beinverkürzung von mehr als hier zu einer Arthrose führen kann.

⊡ Abb. 12.1 a, b. Crus varum congenitum. Die Ver-


krümmung und Verdünnung von Fibula und Tibia
befinden sich im unteren Drittel des Unterschen-
a
kels, die Konvexität ist nach vorn außen gerichtet
12.1 · Unterschenkel
261 12

Die Unterschenkelpseudarthrose ist entweder ▬ Arterielle Durchblutungsstörungen


bei starker Ausprägung des endogenen Faktors be- (Gefäßverletzung)
reits bei der Geburt vorhanden (angeborene Unter- ▬ Postthrombotisches Syndrom
schenkelpseudarthrose) oder sie entsteht erst im ▬ Tibialis-anterior-Syndrom
Krümmungsscheitel unter zunehmender Belas-
tung durch Umbauzonen und Spontanfrakturen.
Im Röntgenbild sieht man, dass sich die ver- Die Osteomyelitis des Schienbeins kann auf häma-
bogene Tibia gegen den Krümmungsscheitel hin togenem Weg (s. Kap. 4.3.1), am häufigsten aber im
verschmächtigt. Es finden sich Umbauzonen und Zusammenhang mit Verletzungen und Operatio-
evtl. pseudarthrotische Spalten. Die Knochenen- nen entstehen. Gefürchtet ist die Osteomyelitis der
den sind dann zum Defekt hin ausgezogen und Tibia nach offener Unterschenkelfraktur und nach
sklerosiert ( Übersicht 12.1). operativer Versorgung von Frakturen in diesem
Bereich; wegen der schlechten Prognose mit dau-
ernder Behinderung ist bei chronischer Fisteleite-
Übersicht 12.1. Crus varum – Memo rung eine Unterschenkelamputation in Erwägung
▬ Einseitiges Erbleiden zu ziehen.
▬ Verdünnung und Verbiegung
▬ Pseudarthrosegefahr Therapie. Konservativ Ruhigstellung im Ober-
▬ Rezidive nach Operation schenkelgips (immer die benachbarten Gelenke,
also Sprung- und Kniegelenk miteinbeziehen), An-
tibiotika. Operative Ausräumung des Eiterherdes,
Differenzialdiagnose. O-Beine sind immer dop- Saug-Spül-Drainage (s. Kap. 4.3.2). Bei infizierter
pelseitig bei Achondroplasie und bei Rachitis. Pseudarthrose Anlagerung von autologer Spongi-
osa aus dem Beckenkamm und Fixation der Frag-
Therapie. Autologe Spongiosaplastik mit vaskula- mente mit einem äußeren Spanngerät.
risiertem Fibulaspan, stabile Osteosynthese. Wegen
der Gefahr erneuter Spontanfrakturen muss lange Prognose. Bei der chronischen Osteomyelitis des
entlastet werden. Schienbeins ist die Prognose getrübt durch die hohe
Rezidivrate: Auch nach Jahren scheinbarer Ruhe
12.1.2 Entzündliche Störungen kann die Eiterung immer wieder aufbrechen.
am Schienbein
12.1.3 Traumatische Störungen
Das Schienbein zeigt am Übergang vom mittleren am Schienbein
zum unteren Drittel seine schwächste Stelle. Hier
findet sich auch eine unzureichende Weichteilde- Die Tibia ist wegen ihrer exponierten Lage direkt
ckung. Folgen sind häufige Frakturen, schlechte unter der Haut und infolge der statischen Bean-
Frakturheilung, Pseudarthrosebildung, Infektions- spruchung besonders verletzungsgefährdet. Die
gefahr und Osteomyelitis ( Übersicht 12.2). Frakturen betreffen vornehmlich den Tibiaschaft.
Häufigste Heilungsstörungen solcher Frakturen
sind Pseudarthrose und Osteomyelitis. Finden die
Übersicht 12.2. Mögliche Folgen Brüche an den Knochenenden im Kindesalter in
von Verletzungen und Operationen der Nähe der Wachstumsfugen statt, kann es zu
am Unterschenkel einer vorübergehenden oder dauernden Störung
▬ Achsen- und Drehfehler des Epiphysenwachstums kommen. Besonders
▬ Pseudarthrosen die distale Wachstumsfuge des Schienbeins, dicht
▬ Osteomyelitis oberhalb der Knöchelgabel, ist davon betroffen. Als
▬ Neurologische Störungen (N. peronaeus) Folge eines Epiphysenfehlwachstums in der dista-
len Wachstumsfuge der Tibia können entstehen:
262 Kapitel 12 · Unterschenkel und oberes Sprunggelenk

▬ Beinverkürzung durch vorzeitigen Schluss der ber. Die Fußpulse bleiben auch beim voll entwickel-
Epiphysenfuge, ten Kompartmentsyndrom erhalten.
▬ Beinverlängerung durch angeregtes Wachstum
infolge Hyperämie im Frakturbereich, Therapie. Spaltung der Muskelfaszie als Notfall-
▬ asymmetrisches Epiphysenwachstum mit X-, operation bei beginnender Symptomatik.
O-, Ante- oder Rekurvationsfehlstellung im
unteren Unterschenkeldrittel. Wichtig

Das Tibialis-anterior-Syndrom erfordert ein so-


12.1.4 Weichteilschwellungen fortiges operatives Eingreifen mit Spalten der
und thrombotische Syndrome Muskelfaszie.
am Unterschenkel

Man behandelt sie nach längerer Ruhigstellung Prophylaxe. Grundsätzlich bei jeder Operation am
durch aktive Übungsbehandlung (Muskelpumpe). Unterschenkel Saugdrainagen einlegen, Hochla-
Die Extremitäten müssen hochgelagert werden, um gern des Beins, strangulierende Fasziennaht ver-
den Lymphabstrom und den Rückfluss des venösen meiden.
Bluts zu erleichtern. Außerdem legt man Stütz- und
Dauerverbände an, z.B. in Form von elastischen
Binden, Gummistrümpfen, Zinkleimverband. 12.2 Verletzungen und Verletzungs-
folgen im Knöchelbereich
Wichtig

Unter postthrombotischem Syndrom versteht


12.2.1 Frakturen, Distorsionen
man eine chronisch-venöse Insuffizienz mit
und Bandverletzungen
Weichteilschwellung, Ödem, bläulich-livider Ver-
färbung, sekundären Varizen, trophischen Störun-
Grundlagen
gen und evtl. Ulcus cruris. Am Aufbau des oberen Sprunggelenks beteiligen
sich die distalen Enden der beiden Unterschen-
12 kelknochen Tibia und Fibula sowie ein Fußwur-
Therapie. Gummistrümpfe, Krankengymnastik. zelknochen: das Sprungbein (Talus). Die Gelenk-
kapsel des oberen Sprunggelenks ist vorn und hin-
12.1.5 Tibialis-anterior-Syndrom ten schlaff und dünn, an den Seiten durch Bänder
verstärkt. Als Scharniergelenk besitzt das obere
Ätiopathogenese. Diese wird von Durchblutungs- Sprunggelenk Seitenbänder, die flächenartig in
störungen im M. tibialis anterior nach Verletzun- mehrere Züge aufgespalten sind und sich an ver-
gen und Operationen im Unterschenkelbereich schiedenen Stellen der Fußwurzelknochen befes-
verursacht. Ein Hämatom nach stumpfem Trauma tigen (⊡ Abb. 12.2). Diese starken Bänder limitie-
kommt ebenfalls als Ursache in Frage. Auch ein- ren die Seitbewegung des Fußes nach innen und
schnürende Verbände und ungewöhnliche Be- außen (Pronation, Supination) und bewirken, dass
lastungen wie lange Märsche können zu Muskel- im oberen Sprunggelenk lediglich Dorsalextensi-
schäden in diesem Bereich führen. Es entsteht eine ons- (30°) und Plantarflexionsbewegungen (50°)
ischämische Partialnekrose mit ödematöser Auf- möglich sind.
quellung des M. tibialis anterior. Der Raum wird Frakturen, Bandrupturen und Distorsionen
für den Muskel innerhalb einer Faszie relativ zu mit Bänder- und Kapseldehnungen beeinträchti-
eng, die Muskeln werden durch Druck geschädigt. gen die Stabilität der Knöchelgabel. Inkongruenzen
Sekundär: Lähmung des N. peronaeus profundus. der Gelenkflächen können sowohl durch Frakturen
als auch durch Bandlockerungen entstehen. Eine
Klinik. Starke Schmerzen, Schwellung und partiell Arthrosis deformans im oberen Sprunggelenk ist
oder vollständig aufgehobene Funktion der Fußhe- die Folge.
12.2 · Verletzungen und Verletzungsfolgen in Knöchelbereich
263 12
⊡ Abb. 12.2. Ligamentäre Stabi-
lisierung der Knöchelgabel

⊡ Abb. 12.3. Außenbandrup- Therapie. Bei der einfachen Distorsion ohne


tur nach Supinationstrauma Bandruptur anfangs kühlende Verbände, später
im oberen Sprunggelenk. Pa-
elastische Binden. Bei einer Bandruptur Gipsim-
thologische laterale Aufklapp-
barkeit auf der gehaltenen
mobilisation, Funktionsschienen sowie, je nach
Röntgenaufnahme Ausmaß der Verletzung, sofortige Bandnaht. Bei
unzureichender Heilung kommt es zur Gelenkinst-
abilität mit Neigung zum Umknicken nach außen.

Wichtig

Maßnahmen bei habituellem Umknicken infolge


Außenbandinsuffizienz: Muskeltraining zur Kräfti-
20-25
gung der Pronatoren, Stützverband, Schuhabsatz
nach außen etwas verbreitern (ausbauen) (⊡ Abb.
12.4).

Falls durch die konservativen Maßnahmen keine


nachhaltige Besserung erzielt wird, muss operiert
werden (Außenbandplastik).
Kapselbandläsionen des oberen
Sprunggelenks

Wichtig

Die Distorsion durch gewaltsame Supination ist


die häufigste Verletzung am Fuß.

Je nach Verletzungsausmaß handelt es sich um


eine Zerrung oder eine Außenbandruptur (⊡ Abb.
12.3).

Klinik. Es findet sich eine starke, druckempfindliche


Schwellung an der Außenseite des oberen Sprung- ⊡ Abb. 12.4. Nach außen ausgebauter
Schuhabsatz soll das supinatorische
gelenks. Die Abgrenzung der einfachen Zerrung
Umknicken verhindern. Zur Vermei-
von der Bandzerreißung erfolgt durch eine gehal- dung eines supinatorischen Umkni-
tene Röntgenaufnahme. Das Röntgenbild zeigt ein ckens empfiehlt sich zugleich eine
lateral aufklappbares Sprunggelenk. Außenranderhöhung der Schuhsohle
264 Kapitel 12 · Unterschenkel und oberes Sprunggelenk

⊡ Abb. 12.5 a–c. Klassifizierung der Malleolarfrakturen. a Typ A: Fibulafraktur unterhalb der tibiofibularen Syndesmose, Abscher-
fraktur des Innenknöchels, Bänder intakt. b Typ B: Fibulafraktur auf Syndesmosenhöhe mit Innenbandruptur. c Typ C: Fibulafrak-
tur oberhalb der Syndesmose mit Innenbandruptur, regelmäßig mit Hinterkantenabbruch der Tibia (Volkmann-Dreieck)

Knöcherne Verletzungen, ⊡ Abb. 12.6. Innen- und Außen-


Luxationsfrakturer knöchelverschraubung nach
einer Fibulafraktur vom Typ A
Knöchelabsprengungen können medial sowie late-
ral vorkommen.

Wichtig

Von Bedeutung für die Stabilität der Knöchelga-


bel ist die Höhe der Fibulafraktur: distal, proximal
oder in Höhe der tibiofibularen Syndesmose.

Entscheidend für die Prognose ist also die Situ-


ation an der Außenseite der Knöchelgabel. Die
12 Malleolenfraktur distal der Syndesmose ohne Be-
teiligung derselben ist am günstigsten. Fibulafrak-
turen in Höhe oder dicht oberhalb der Syndesmose
gehen mit Zerreißungen derselben einher und ha-
ben häufig Begleitverletzungen, z.B. einen Ausriss
eines dorsolateralen Tibiafragments (Volkmann-
Dreieck, ⊡ Abb. 12.5).

Therapie. Nur nicht dislozierte Frakturen vom


Typ Weber-A oder Weber-B ohne Syndesmosen-
⊡ Abb. 12.7. a Posttraumatische Valgusstellung des Rück-
ruptur sowie nicht dislozierte Innenknöchelfrak- fußes: Pes valgus, b Posttraumatische Varusstellung des
turen ohne Syndesmosenruptur kann man noch Rückfußes: Pes varus
konservativ behandeln. Sonst ist die Behandlung
i. d. R. operativ. Durch Osteosynthese und Naht der Bei einer Fibulaverkürzung nach Fraktur ent-
Syndesmose versucht man die Knöchelgabel so gut steht eine Valgusstellung der Ferse, der posttrau-
wie möglich zu rekonstruieren. Gelingt dies nicht, matische Knickfuß (Pes valgus). Wenn Talus und
drohen Gelenkinstabilität, Stufen in den Gelenk- Kalkaneus nach einer Luxationsfraktur nach innen
flächen mit nachfolgender Arthrose, Bewegungs- abgewinkelt verbleiben, entsteht eine posttrauma-
behinderung im Sprunggelenk und Fehlstellungen tische Varusstellung des Rückfußes (⊡ Abb. 12.7).
des Talus in der Knöchelgabel (⊡ Abb. 12.6). Bei langdauernder Fixation in Hacken- oder Spitz-
12.2 · Verletzungen und Verletzungsfolgen in Knöchelbereich
265 12
12.2.2 Versteifung des oberen
Sprunggelenks

Da die Verankerung von Endoprothesen im oberen


Sprunggelenk noch technische Schwierigkeiten
bereitet, ist die operative Versteifung (Arthrodese)
in diesem Bereich bei schwerwiegenden posttrau-
matischen Form- und Funktionsstörungen noch
die beste Lösung, um eine ausreichende Geh- und
Stehfähigkeit zu erzielen. Hauptindikation ist die
fortgeschrittene posttraumatische Arthrosis de-
formans. Es gibt verschiedene Techniken zur Ar-
throdese des oberen Sprunggelenks: Verschiebe-
span, Spongiosaanlagerung, Verplattung, äußerer
Spanner.

Wichtig
⊡ Abb. 12.8. Osteochondrosis dissecans des Talus: Ähnlich wie
bei der OD am Kniegelenk demarkiert sich ein Knorpel-Kno- Die operative Versteifung (Arthrodese) des oberen
chen-Sequester (Pfeil) an der Gelenkkante des Talus. Wenn er Sprunggelenks erfolgt am besten in Rechtwinkel-
ins Gelenk ausgestoßen wird, entsteht ein freier Gelenkkörper
stellung.
mit Einklemmungserscheinungen.

Falls eine operative Behandlung nicht möglich ist,


fußstellung kann es zu Kontrakturen in der jewei- stehen apparative Hilfsmittel zur Stabilisierung
ligen Fehlstellung kommen. der Knöchelgabel zur Verfügung, z.B. als Feststell-
abrollschuh (s. S. 61) oder als Unterschenkelfuß-
Osteochondrosis dissecans der Talusrolle schiene.
Ätiopathogenese. Gehört zu den spontanen Oste-
onekrosen. Ein Zusammenhang mit Distorsions- 12.2.3 Sehnenschäden
traumen wird gelegentlich diskutiert. Bevorzugte
Lokalisation ist die mediale Schulter der Talusrolle. Am bedeutendsten in dieser Region sind die
Wie auch an anderen Gelenken kann es bei voll- Schäden an der Achillessehne bei gleichzeitiger
ständiger Separierung als freier Gelenkkörper zu schlechter Stoffwechselversorgung des bradytro-
Einklemmungserscheinungen kommen (⊡ Abb. phen Sehnengewebes. Bei entsprechender Dis-
12.8). position führen beide Faktoren zu degenerativen
Veränderungen im Sehnengleitgewebe sowie in
Therapie. Bei Frühstadien mit OD im MRT und den Sehnenfibrillen selbst. Bei Dauerbeanspru-
unauffälligem Röntgenbild ist im pubertären Al- chung (Langlauf) und insbesondere bei schnellen
ter ein symptomatisches Vorgehen mit zeitweiser Kraftleistungen (Sprung) kommt es zu krankhaf-
Entlastung angeraten. Zeigt sich die Separierung ten Erscheinungen, die je nach Lokalisation und
des Knochens bei noch intakter Knorpeldecke, so Schweregrad verschiedene Formen zeigen ( Über-
kann der Herd von retrograd, also vom gegenüber- sicht 12.3).
liegenden, distalen Talusknochen angebohrt und
mit Spongiosa unterfüttert werden. Löst sich der
Herd aus dem Lager, so muss das Knorpel-Kno-
chen-Stück entfernt werden. Der Defekt kann mit
einer Knorpelmatrix aufgefüllt werden.
266 Kapitel 12 · Unterschenkel und oberes Sprunggelenk

Die Klassifikation der Achillessehnenruptur


Übersicht 12.3. Überlastungsschäden erfolgt nach der Lokalisation: Proximal, mittleres
der Achillessehne Drittel, distal.
Paratendinitis – Sehnengleitgewebe
Achillodynie – Insertionstendopathie Wichtig
Achillessehnenriss – Degenerative Achillessehnenrisse ereignen sich v.a. durch Maxi-
Vorschädigung malanspannungen beim Sport.

Paratenonitis (Paratendinitis) achillae Symptome. Der Betroffene verspürt einen plötzli-


Es handelt sich um einen entzündlichen Reizzu- chen Ruck, der mit einem deutlich vernehmbaren
stand des Sehnengleitgewebes. Bei Fußbewegun- Geräusch verbunden ist. Er kann sich anschließend
gen tastet man über der Sehne ein charakteristi- nicht mehr auf die Fußspitze stellen. Es treten star-
sches Knirschen, verbunden mit Reibegeräuschen ke Schmerzen auf. Unmittelbar nach dem Ereignis
(Paratenonitis crepitans). sieht und tastet man eine Delle in der Achillesseh-
nenkontur, etwa 3 Querfinger oberhalb der Ferse.
Therapie. Schonung, Wärmeapplikation und An- Später kann dieser Befund durch ein ausgedehntes
tiphlogistika. Hämatom verdeckt sein. Die aktive Plantarflexion
ist zwar durch den erhaltenen M. plantaris nicht
Achillodynie aufgehoben, aber stark geschwächt und schmerz-
Darunter versteht man alle Schmerzzustände in der haft. Beim Zusammendrücken der Wadenmus-
Achillessehnengegend, die vornehmlich nach Be- kulatur verbleibt der Fuß in Neutralstellung, nor-
lastung auftreten. Der Schmerz kann am Sehnen- malerweise kommt es hierbei zur Plantarflexion
ansatzpunkt an der Ferse lokalisiert sein im Sinne (Wadenkneiftest).
einer Insertionstendopathie oder sich diffus auf Mit der Sonographie lassen sich heute alle Ein-
den ganzen Sehnenabschnitt verteilen. Mitunter zelheiten des Defektes darstellen.
tritt eine spindelförmige Auftreibung in der Seh-
12 nenmitte auf. Als Ursache für die diffusen Schmer- Differenzialdiagnose. Muskelfaserriss, Achillody-
zen kommen umschriebene zentrale Nekrosen des nie, Paratenonitis achillae. Eine Fußsenkerschwä-
Sehnengewebes in Frage. che mit der Unmöglichkeit sich auf die Zehen-
spitzen zu stellen gibt es auch beim S1-Syndrom
Therapie. Schonung, Absatzerhöhung. Auf keinen (s. dort).
Fall Kortisoninjektionen. Diese beseitigen zwar
vorübergehend den Reizzustand, verhindern je- Therapie. Die Naht der Sehne sollte möglichst sofort
doch aufgrund ihrer antiproliferativen Wirkung nach der Verletzung erfolgen, um eine Retraktion
die reparativen Vorgänge und führen schließlich des M. triceps surae zu verhindern. Nach Auffri-
zur Achillessehnentotalruptur. Bei anhaltenden schen der Sehnenenden wird mit festem Nahtmate-
Beschwerden und spindelförmiger Auftreibung rial eine End-zu-End-Naht vorgenommen (⊡ Abb.
der Achillessehne operative Ausräumung der 12.9). Zusätzliche Sicherungen, insbesondere bei
Nekrosen. veralteter Ruptur mit Dehiszenz, bieten Plastiken
mit einer Plantaris-longus-Sehne, Faszientrans-
Achillessehnenriss plantationen (Fascia lata) und Umkehrplastiken.
Ätiopathogenese. Voraussetzung dafür sind dege- Nach der Operation muss ein Oberschenkel-
nerative Veränderungen im Sehnengewebe. Hinzu gipsverband angelegt werden in Spitzfußstellung
treten indirekte Gewalteinwirkungen, wie sie bei und Kniebeugung (zur Entlastung der genähten
Sprungübungen, Ballspielen, Skilauf usw., manch- Achillessehne).
mal auch ohne jede adäquate Belastung, vorkom-
men. Es gibt partielle und komplette Rupturen.
12.3 · Begutachtung
267 12

auftreten. Zur Anamnese gibt er weiterhin an, dass


er häufig an Ischias leide und auch schon mal eine
Thrombose nach Kniegelenksoperation hatte. Da sich
im Röntgenbild keine Knochenverletzung zeigt, lässt
sich Herr Lessner an seinen Heimatort bringen und
sucht 3 Tage nach dem Ereignis einen Arzt auf.
Befund. Stark geschwollener Fuß und Unterschenkel.
Patient kann auftreten, sich aber nicht auf die Zehen-
spitzen stellen.
Diagnose. Achillessehnenriss, Sicherung durch Sono-
grafie und Wadenkneiftest.
Differenzialdiagnose. Fußsenkerparese bei S1-Syn-
drom mit Thrombose, Ausschluss durch Doppelson-
sografie, ggf. CT und MRT der Lendenwirbelsäule.
⊡ Abb. 12.9. End-zu-End-Naht bei frischer Achillessehnen- Therapie. Achillessehnenrekonstruktion.
ruptur

Konservative Therapie. Bei Kontraindikationen 12.3 Begutachtung


zur Operation im hohen Alter oder bei Allgemein-
erkrankungen: Mehrwöchige Ruhigstellung in Voraussetzung für den Riss einer Achillessehne
Spitzfußstellung zur narbigen Ausheilung durch bei einem indirekten Trauma (plötzliche Überdeh-
Annäherung der Sehnenenden. Allerdings: Erhöh- nung) ist immer eine degenerative Vorschädigung.
te Thrombosegefahr und unvollständige funktio- Das Unfallereignis wird daher immer nur als Teil-
nelle Wiederherstellung. ursache im Sinne einer Auslösung gewertet. Bei
normalen Achillessehnenverhältnissen kommt es
⚉ Fallbeispiel bei Gewalteinwirkungen eher zu einem Abriss des
Achim Lessner, 45, verspürt nach einem Sprung beim Fersenbeins als zu einem Achillessehnenriss. De-
Beach-Volleyball im Urlaub einen Knacks im linken generativ vorgeschädigte Achillessehnen können
Unterschenkel und Knöchelbereich. Fuß und Unter- schon bei relativ geringen mechanischen Bean-
schenkel schwellen sofort stark an, er kann aber noch spruchungen (Sprung von geringer Höhe) reißen.
13

13 Fuß

13.1 Grundlagen zur Orthopädie des Fußes – 271

13.2 Angeborene Deformitäten – 273


13.2.1 Klumpfuß – 273
13.2.2 Hackenfuß (Pes calcaneus) – 277
13.2.3 Plattfuß (Pes planus congenitus, Schaukelfuß, Tintenlöscherfuß) – 278
13.2.4 Sichelfuß (Pes adductus) – 279
13.2.5 Hohlfuß (Pes excavatus) – 279
13.2.6 Spaltfuß und -hand – 280
13.2.7 Polydaktylie, Syndaktylie – 280
13.2.8 Einseitiger Riesenwuchs – 280
13.2.9 Anatomische Variationen – 280

13.3 Erworbener Plattfuß, Spreizfuß – 281

13.4 Entzündliche und degenerative Veränderungen – 283

13.5 Aseptische Nekrosen – 283


13.5.1 Morbus Köhler – 283
13.5.2 Morbus Köhler II – 284

13.6 Knochenvorsprünge am Fuß, Fersenschmerzen – 285


13.6.1 Kalkaneussporn – 285
13.6.2 Haglund-Ferse (Haglund-Exostose), Hohe Ferse – 285
13.6.3 Fersenschmerzen – 285

13.7 Neurogene Störungen (Lähmungsfolgen) – 285

13.8 Verletzungen und Verletzungsfolgen – 286


13.9 Tarsaltunnelsyndrom – 287

13.10 Zehendeformitäten – 287


13.10.1 Hallux valgus – 287
13.10.2 Hallux rigidus – 288
13.10.3 Hammer- und Krallenzehen – 289
13.10.4 Hühneraugen (Clavi) – 289

13.11 Begutachtung – 290


13.1 · Grundlagen zur Orthopädie des Fußes
271 13
>> Einleitung Das Fußskelett bildet eine Tragstrahlkonstruk-
Wegen nur geringer Überschneidungen mit anderen tion mit 3 Hauptbelastungspunkten an der Fuß-
Fächern ist der Fuß orthopädiespezifisch. Pathologisch- sohle: Fersenbein, Mittelfußköpfchen I und V.
anatomische Schwerpunkte bilden die proximalen Fuß- Von diesen Stützpunkten errichten sich 3
wurzelknochen mit ihren Gelenken, Vorfußquergewöl- Tragstrahlen, die sich im Talus treffen:
be und Großzehenregion. Den angeborenen Klumpfuß ▬ hinterer Tragstrahl: Talus – Calcaneus,
muss man wegen seiner guten Behandlungsmöglichkeit ▬ vorderer medialer Tragstrahl: Talus – Navicu-
bei Frühdiagnose in allen Einzelheiten kennen. Senk-, lare – Cuneiforme – Metatarsale I,
Knick- und Spreizfüße sind sehr häufig und werden ▬ vorderer lateraler Tragstrahl: Calcaneus –
leider im Untersuchungsbefund oft »vergessen«. Die Cuboideus – Metatarsale IV und V.
übrigen angeborenen und erworbenen Fußfehlformen
sollte man sich v.a. wegen ihrer differenzialdiagnosti-
schen Bedeutung als Distraktoren einprägen. Übersicht 13.1. Bänder, die das Fußlängs-
(Wichtige Aspekte der Einlagen und orthopädi- gewölbe halten
schen Schuhversorgung finden sich auf S. 61). ▬ Lig. calcaneonaviculare
▬ Lig. plantare longum
▬ Aponeurosis plantaris
13.1 Grundlagen zur Orthopädie
des Fußes
Hinterer und vorderer medialer Tragstrahl bilden
Der anatomische Bauplan des Fußes umfasst Fuß- das wichtige mediale Längsgewölbe des Fußes. Zwi-
wurzelknochen (Tarsalia), Mittelfußknochen (Me- schen den vorderen Tragstrahlen liegt das Quer-
tatarsalia) und Zehen (Phalangen). gewölbe des Vorfußes mit den Auflagepunkten an
Funktionell-orthopädisch hat sich die Eintei- den Mittelfußköpfchen I und V (⊡ Abb. 13.2).
lung in Rück-, Mittel- und Vorfuß als zweckmäßig Die wichtigsten Bänder, die das Längsgewölbe
erwiesen (⊡ Abb. 13.1). in seiner Form halten, sind in ⊡ Abb. 13.3 und in
Die Abgrenzung erfolgt durch die Lisfranc1-  Übersicht 13.1 dargestellt.
bzw. Chopart2-Gelenklinie.

⊡ Abb. 13.1. Einteilung des Fußes

1 Jaques Lisfranc, Chirurg, Paris (1790–1847)


2 Francois Chopart, Chirurg, Paris (1743–1795)
272 Kapitel 13 · Fuß

⊡ Abb. 13.2. Quergewölbe des Vorfußes

⊡ Abb. 13.4. Steigbügelmuskeln

Am Fuß unterscheiden wir 2 Hauptgelenke:


⊡ Abb. 13.3. Die wichtigsten Bänder hinsichtlich des ▬ Im oberen Sprunggelenk (Talokruralgelenk)
Längsgewölbes
sind 2 Bewegungen möglich. Vorfuß anheben
(Dorsalextension) zur Hackenfußstellung und
Eine aktive Haltefunktion üben, neben den Vorfuß senken (Plantarflexion) zur Spitzfuß-
kurzen Fußsohlenmuskeln v.a. die Steigbügelmus- stellung.
keln aus (Tibialis anterior und Fibularis longus) ▬ Das untere Sprunggelenk besteht anatomisch
(⊡ Abb. 13.4). Die Supinatoren (Triceps surae, Tibi- aus 2 Abteilungen: hintere Abteilung: Articula-
alis posterior) greifen am Rückfuß an, die Pronato- tio talocalcanearis (subtalaris); vordere Abtei-
ren vorn am Fußaußenrand. lung: Articulatio talocalcaneonavicularis.

13

⊡ Abb. 13.5. a Dorsalextension und Plantarflexion


des oberen Sprunggelenks. b Pronieren und
c Supinieren der Tarsalgelenke
13.2 · Angeborene Deformitäten
273 13
⊡ Abb. 13.6. a Inversion (Modell Klumpfuß),
b Eversion (Modell Knickfuß)

Diese Gelenke lassen die in ⊡ Abb. 13.5 dargestellten Wichtig


Bewegungen zu und als Mischbewegungen die In- Beim Plattfuß ist der Sohlenabdruck vergrößert,
version (Einwärtskantung), bestehend aus Vorfuß- beim Spreizfuß vorn verbreitert, beim Hohlfuß
adduktion, Plantarflexion, Supination, Varusferse verkleinert und beim Sichelfuß vorn nach innen
(nach innen), und die Eversion (Auswärtskantung), verbogen.
bestehend aus Vorfußabduktion, Dorsalextension,
Pronation, Valgusferse (nach außen) (⊡ Abb. 13.6,
 Übersicht 13.2).
Der Sohlenabdruck des Fußes gibt eine bildli-
che Darstellung der Fußauftrittsfläche: 13.2 Angeborene Deformitäten
Darüberliegende Deformitäten wie Varus- oder
Valgusstellung der Ferse ergeben keinen speziellen 13.2.1 Klumpfuß (⊡ Abb. 13.7, 13.8)
Sohlenabdruck.
Ätiopathogenese. Dieses Erbleiden betrifft Kna-
ben doppelt so häufig wie Mädchen. Die Missbil-
Übersicht 13.2. Mischbewegungen am Fuß dung wird durch eine Störung des Muskelgleich-
Inversion: Eversion: gewichts mit Überwiegen der Plantarflexoren und
Adduktion Abduktion Supinatoren verursacht. Der M. tibialis posterior
Plantarflexion Dorsalextension als starker Supinator und Plantarflexor wird daher
Supination Pronation auch als Klumpfußmuskel bezeichnet.
Varusferse Valgusferse Diese Symptome sind bereits bei der Geburt
deutlich vorhanden ( Übersicht 13.3).
274 Kapitel 13 · Fuß

Übersicht 13.3. Komponenten des Klump-


fußes
▬ Spitzfuß – equinus
▬ Hohlfuß – excavatus
▬ Vorfußadduktion – adductus
▬ Supinationsfuß mit Varusstellung der
Ferse – varus

Außerdem besteht eine deutliche Atrophie der


Wadenmuskulatur (Klumpfußwade).
⊡ Abb. 13.7. Klumpfüße. Beide Füße stehen supiniert. Die
Fersen stehen nach innen (Varusstellung). Die Vorfüße sind
Röntgen. Wichtigster Befund: auf dem Seitbild adduziert, hohes Längsgewölbe beidseits. Der Patient läuft
stehen die Achsen des Talus und des Kalkaneus na- auf dem Fußaußenrand
hezu parallel, normalerweise bilden sie einen nach
hinten offenen Winkel von etwa 30° (⊡ Abb. 13.9).

Differenzialdiagnose. Beim Sichelfuß (Pes adduc- Wichtig


tus) ist nur die Vorfußadduktion vorhanden. Die Viele Neugeborene haben eine physiologische
Ferse steht normal oder sogar in leichter Valgus- Supinationshaltung des Fußes.
stellung.

⊡ Abb. 13.8. Klumpfuß


(Pes equinovarus, eigentlich Pes
equino-excav-adducto-varus)

13

⊡ Abb. 13.9 a, b. Seitliches


Röntgenbild vom Fuß.
a Normalfuß, b Klumpfuß
13.2 · Angeborene Deformitäten
275 13
⊡ Abb. 13.10. Beispiel einer Klumpfußredression

⊡ Abb. 13.11. Z-förmige Verlän-


Diese ist jedoch aktiv und passiv voll ausgleichbar. gerung der Achillessehne zur
Das Röntgenbild zeigt einen normalen Winkel zwi- Beseitigung des Spitzfußes
schen Talus und Kalkaneus.

Therapie. Schonendes Redressement des Fußes, das


schon so früh wie möglich, also in den ersten Tagen
nach der Geburt, ausgeführt werden sollte. Durch
bestimmte Handgriffe werden alle einzelnen Kom-
ponenten bis zur Korrektur bzw. sogar Überkor-
rektur redressiert (⊡ Abb. 13.10). Die erreichte Kor-
rekturstellung wird im Gipsverband festgehalten
(Retention). Der Gipsverband muß alle 3–4 Tage lisieren und die Eltern anleiten, damit die Behand-
gewechselt werden, damit keine Druckschädigun- lung täglich erfolgt.
gen der Haut entstehen.

Wichtig Übersicht 13.4. Konservative Behandlung


beim angeb. Klumpfuß
Etappenredressement als Frühbehandlung beim
angeborenen Klumpfuß. ▬ Redressement in Etappen
▬ Schienen für die Nacht
▬ Gipsverband zur Retention
Etappenredressements und Gipsverbände werden ▬ Korrigierende Einlagen
bis zur leichten Überkorrekturstellung durchge- ▬ Krankengymnastik
führt. Die Behandlung des Kalkaneushochstands,
falls dieser verbleibt, wird später mit der operati-
ven Achillessehnenverlängerung beseitigt. Bei die- Wichtig
ser Operation lässt man an der Ferse den lateralen Behandlungsfehler beim angeborenen Klumpfuß:
Achillessehnenansatz stehen, um der Varusstellung Neben Druckstellen und Frakturen ist es v.a. das
des Rückfußes entgegenzuwirken (⊡ Abb. 13.11). falsche Redressieren mit Hochbiegen des Vorfu-
In Ergänzung und Vorbereitung der Etappen- ßes, während der Rückfuß unverändert bleibt.
redressements sollte auch der Krankengymnast Es entsteht ein Schaukel- oder Tintenlöscherfuß
vorsichtige passive Dehnungen der verkürzten (s. ⊡ Abb. 13.16, S. 278).
Muskeln vornehmen, die Fußwurzelgelenke mobi-
276 Kapitel 13 · Fuß

Wenn die konservative Behandlung nicht ausreicht,


sind Operationen erforderlich. Neben der Achil-
lessehnenverlängerung (s. oben) werden während
des Wachstums vorwiegend Weichteiloperationen
durchgeführt. Dazu zählt z.B. die Verpflanzung des
M. tibialis anterior auf den Fußaußenrand. Nach
Abschluss des Wachstums kommen Knochen-
operationen in Betracht, vorher wären Wachstums-
anomalien zu erwarten. Durch Osteotomie und
Entnahme von Knochenkeilen im Rück- und Mit-
⊡ Abb. 13.12. Einlage zur Nachbehandlung beim Klumpfuß telfuß wird die Fußform normalisiert. Die funktio-
nell nicht so wichtigen Gelenke zwischen den Fuß-
Da die Ursache des angeborenen Klumpfußes – die wurzelknochen werden dabei weitgehend versteift
Störung des Muskelgleichgewichts – durch die Re- (⊡ Abb. 13.13,  Übersicht 13.5).
dression und Retention nicht beseitigt wird, ist eine
langdauernde Beobachtung und Nachbehandlung
zur Rezidivprophylaxe erforderlich. Dazu dienen in Übersicht 13.5. Operative Behandlung
erster Linie aktive Bewegungsübungen, außerdem beim angeborenen Klumpfuß
Nachtschienen und speziell zugerichtete Einlagen ▬ Achillessehnenverlängerung
(⊡ Abb. 13.12). ▬ Verpflanzung der Sehne des M. tib. ant.
▬ Arthrodese der hinteren Fußwurzel-
Wichtig knochen
Man spricht von einem rebellischen Klumpfuß,
wenn die Rezidivneigung sehr groß ist.
Ursachen sonstiger Klumpfüße sind:
▬ schlaffe und spastische Lähmungen, z.B. bei Po-
lio, MMC, neurologischen Erkrankungen,

13

⊡ Abb. 13.13 a, b. Endgültige skelettäre


Eingriffe zur Normalisierung der Stellung
beim Klumpfuß nach Wachstumsab-
schluss. a Arthrodese des Talokalkaneal-
gelenks mit Entnahme eines Knochen-
keils mit lateraler Basis zur Korrektur
der Varusstellung im Rückfuß. b Im
Mittelfuß wird ein Teil mit dorsaler Basis
zur Spitzfußkorrektur entnommen (sog.
T-Arthrodese: die Osteotomieflächen
entsprechen der Form eines T)
13.2 · Angeborene Deformitäten
277 13

▬ Verletzungen des N. peronaeus den Tagen wird ein gipsähnlicher Verband angelegt,
▬ frühkindliche Hirnschädigungen, der immer wieder erneuert wird. In einem halben bis
▬ apoplektische Insulte. einem Jahr muss wahrscheinlich eine Achillessehnen-
Ein Klumpfuß kann auch nach: verlängerung vorgenommen werden.
▬ Frakturen (Talus, Kalkaneus) oder durch
▬ Narbenzug entstehen ( Übersicht 13.6). 13.2.2 Hackenfuß (Pes calcaneus)

Übersicht 13.6 Klumpfußursachen Definition


▬ Angeborene Mißbildung Definition und Ätiopathogenese. Vermehrte
▬ Polio ⎫ Dorsalextension bei behinderter Plantarflexion
▬ Myelomeningozelen ⎬ Lähmung (⊡ Abb. 13.14).
▬ Zerebralparese ⎭ Die Ursache des angeborenen Hackenfußes liegt
▬ N. peronaeus-Läsion ⎫ entweder in einem genetisch bedingten Muskel-
▬ Talus-Kalkaneus-Fraktur ⎬ Verletzung ungleichgewicht oder in einer neuromuskulären
▬ Narbe ⎭ Störung, die bereits intrauterin bestand (Hirnscha-
den, Spina bifida, Myelodysplasie). Weiterhin wird
eine Entstehung durch Zwangshaltung im Uterus
Beim Klumpfuß nach Lähmungen spricht man mit Überdehnung der Wadenmuskulatur disku-
auch vom paralytischen Klumpfuß. Bei eingetrete- tiert. Oft findet sich beim Neugeborenen eine
ner Lähmung versucht man der Verschlimmerung ausgeprägte Hackenfußhaltung, die sich jedoch
und Kontraktur entgegenzuwirken durch: aktive innerhalb weniger Tage spontan ausgleicht.
und passive Übungen mit Widerstandsgymnas-
tik, spezielle Schienen, die den Vorfuß heben und
Nachtlagerungsschienen, die bis zum Unterschen- Wichtig
kel reichen. Schuhe allein reichen nicht. Der Hackenfuß ist häufig kombiniert mit einer
Valgusstellung der Ferse (Knick-Hacken-Fuß).
⚉ Fallbeispiel
Bei dem neugeborenen Thorsten Spitzner stehen
beide Füße nach innen, so dass er auf seine Fußsohlen Der erworbene Hackenfuß entsteht durch eine
schauen könnte. Bei Spontanbewegungen kommt es Schädigung der Gastroknemiusmuskulatur (neu-
nicht zur Normalstellung. rogen durch Lähmung der vom N. tibialis versorg-
Diagnose. Angeborene Klumpfüße. Erhärtung der Di- ten Muskulatur) oder der Achillessehne. In Frage
agnose durch ein seitliches Röntgenbild mit Parallel- kommen Verletzungen, Entzündungen, Lähmun-
stellung von Talus und Kalkaneus (s. ⊡ Abb. 13.9 b). gen (Polio) oder eine überdosierte operative Ver-
Therapie. Sofortige Redression beider Füße am Tag längerung der Achillessehne ( Übersicht 13.7).
nach der Geburt und Halten des erreichten Korrektur-
ergebnisses in einem Verband. In den darauffolgen-
Übersicht 13.7. Hackenfuß – Memo
▬ Präarthrotische Deformitäten
▬ Valgusferse
▬ Dorsalextension
▬ Redression
▬ Angeboren – erworben
▬ Rückfußosteomie

⊡ Abb. 13.14. Pes calcaneus


278 Kapitel 13 · Fuß

13.2.3 Plattfuß (Pes planus


congenitus, Schaukelfuß,
Tintenlöscherfuß)

Das Längsgewölbe ist bereits bei der Geburt nach


unten durchgebogen, die Fußsohle konvex, der
Fußrücken konkav geformt. Die Ferse steht hoch.
⊡ Abb. 13.15. Entnahme eines Knochenkeils aus dem Rückfuß Der tiefste Punkt des Fußskeletts wird vom Kubo-
zur Korrektur des Pes calcaneus
id gebildet (⊡ Abb. 13.16). Weitere Merkmale sind
Vorfußabduktion, Vorfußdorsalextension, Rück-
fußvalgus und Fersenhochstand.

Wichtig

Wesentliches röntgenologisches Kennzeichen


beim angeborenen Plattfuß ist der Talus verticalis
(Steilstellung des Talus) (⊡ Abb. 13.17).

⊡ Abb. 13.16. Pes planus congenitus


Der angeborene Plattfuß kommt häufig auch bei
anderen Skelettmissbildungen vor, so z.B. bei
MMC, Hüftverrenkungen und beim Klumpfuß auf
Therapie. Die konservative Behandlung beim Neu- der gegenüberliegenden Seite.
geborenen besteht in der manuellen Redression
und in einer anschließenden Schienen- bzw. Gips- Therapie. Bei der Behandlung kommt zunächst
redression. Zur Nachbehandlung werden Nacht- ebenfalls ein Redressement in Frage, später eine
schienen in Überkorrektur (Spitzfußstellung) an- Operation, bei der das Fersenbein aufgerichtet
gelegt. Der endgültige skelettäre Eingriff erfolgt wird.
nach Wachstumsabschluss durch Rückfußosteoto- Die Nachbehandlung erfolgt mit Nachtschie-
mie mit Knochenkeilentnahme (⊡ Abb. 13.15). nen und Einlagen. Nach dem Wachstumsabschluss
13

⊡ Abb. 13.17. Röntgenbild. Der Talus steht ver-


tikal. Der Talus-Kalkaneus-Winkel ist vergrößert
(über 30°). Der Untersucher drückt den Vorfuß in
maximale Dorsalextension
13.2 · Angeborene Deformitäten
279 13

⊡ Abb. 13.19. Pes excavatus

(⊡ Abb. 13.19). Begleitdeformierungen sind: Va-


⊡ Abb. 13.18. Pedes adducti
russtellung der Ferse, Pronationsstellung des Vor-
fußes, Krallenstellung der Zehen. Die Ursache des
werden bei Restdeformitäten skelettäre Eingriffe Hohlfußes liegt in einer Störung des Muskelgleich-
durchgeführt, meistens in Form einer Arthrodese gewichts. Als Ursachen kommen in Frage: Rü-
im Rückfußbereich. ckenmarkmissbildungen (Myelodysplasien, Spina
bifida), Muskelerkrankungen (z.B. progressive
13.2.4 Sichelfuß (Pes adductus) Muskeldystrophie), Lähmungen und die hereditä-
re Ataxie. Er tritt also häufig bei neurologischen
Der Sichelfuß ist durch eine Adduktionsstellung Erkrankungen auf.
des Vorfußes (meist doppelseitig) aufgrund eines
Überwiegens des M. adductor hallucis und/oder Wichtig
tibialis anterior gekennzeichnet (⊡ Abb. 13.18). Als Friedreich-Fuß bezeichnet man einen Hohlfuß
mit Krallenstellung der Zehen, besonders der
Wichtig
Großzehe, als Symptom der Friedreich1-(hereditä-
Beim Sichelfuß steht die Ferse normal oder in ren) Ataxie.
Valgusstellung, während zum Klumpfuß eine
Varusstellung der Ferse gehört.
Am häufigsten ist der idiopathische Hohlfuß un-
klarer Ätiologie, der sich zwischen dem 8. und 12.
Differenzialdiagnose. Lagedeformitäten sind ab- Lebensjahr entwickelt und bis zum Wachstumsab-
zugrenzen (z.B. bei häufiger Bauchlage des Säug- schluß weiter fortschreitet ( Übersicht 13.8).
lings), die passiv voll ausgleichbar sind und keiner
weiteren Behandlung bedürfen.
Übersicht 13.8. Hohlfuß – Memo
Therapie. Manuelle Redression und anschließen- ▬ Längsgewölbe erhöht
de Fixierung im Gips. Später werden Schienen und ▬ Varusferse
korrigierende Einlagen gegeben. Führt diese Be- ▬ Hacken oder Ballen
handlung nicht zum Erfolg, so wird eine Operation ▬ Krallenzehen
mit medialer Kapselerweiterung bzw. später eine ▬ Friedreich
Korrekturosteotomie im Bereich der Mittelfuß- ▬ Spreizfuß
knochen durchgeführt.

13.2.5 Hohlfuß (Pes excavatus) Klinik. Neben den obengenannten Deformierun-


gen treten Druckstellen über dem Großzehenge-
Das Längsgewölbe ist erhöht. Je nachdem, ob die lenk sowie Hühneraugen auf den Krallenzehen auf.
Ferse oder der Vorfuß den tiefsten Punkt bildet,
spricht man vom Hacken- bzw. Ballenhohlfuß 1 Nicolaus Friedreich, Internist, Würzburg (1825–1882)
280 Kapitel 13 · Fuß

Durch die vermehrte Vorfußbelastung kommt es los, an der Hand müssen plastische Operationen
zum Spreizfuß (Hohlspreizfuß). zur Trennung der Verwachsungen vorgenommen
werden.
Therapie. Zunächst konservativ durch Einlagen-
versorgung zur Entlastung der Druckstellen. In 13.2.8 Einseitiger Riesenwuchs
schweren Fällen werden orthopädische Schuhe
verordnet. Nach Wachstumsabschluss werden in Dieser kann die ganze Extremität oder aber auch
schweren Fällen Mittelfußosteotomien mit dorsa- nur Teile betreffen. Beim Klippel1-Trénaunay-We-
ler Keilentnahme zur Abflachung des Längsgewöl- ber-Syndrom finden sich neben der Hypertrophie
bes durchgeführt (s. ⊡ Abb. 13.13 b, S. 276). des betroffenen Extremitätenabschnitts auch Ge-
fäßveränderungen (Nävi, arteriovenöse Fisteln).
13.2.6 Spaltfuß und -hand
Therapie. Bei störender Größe Operation mit Re-
Es handelt sich hier um erbliche, keilförmige Defek- duktion des überflüssigen Weichteil- und Kno-
te der primitiven Hand- bzw. Fußanlage. Die Ent- chengewebes.
wicklung der mittleren Strahlen ist unterdrückt.
Im Extremfall bleiben nur die Randstrahlen 13.2.9 Anatomische Variationen
(I und V) stehen, so dass hummerscherenarti-
ge Gebilde an den Extremitätenenden entstehen Diese treten am Fuß häufig auf. Verwechslungen
(⊡ Abb. 13.20). Diese Missbildungen zählen zu den mit traumatischen Veränderungen sind möglich.
Ektrodaktylien (s. Kap. 4.1.1, S. 75). In der Regel sind So gibt es z.B. angeborene knöcherne Verbindun-
beide Füße, nicht selten sogar alle Extremitäten gen (Synostosen) unter den einzelnen Fußwurzel-
betroffen. knochen, am häufigsten zwischen Talus, Kalkane-
us, Navikulare und Kuboid.
Therapie. Eine kausale Behandlung ist nicht mög-
lich. Mit plastischen Operationen kann die funkti- Wichtig
onelle Situation etwas verbessert werden, um einen Die akzessorischen Knochenelemente am Fuß
ausreichenden Zangengriff zu erreichen. ergeben häufig Verwechslungsmöglichkeiten mit
traumatischen Absprengungen.
13 13.2.7 Polydaktylie, Syndaktylie

Bei der Polydaktylie sind mehr als 5 Zehen (an der Akzessorische Knochen sind rundlich begrenzt
Hand mehr als 5 Finger) vorhanden. Bei der Syn- und liegen an typischer Stelle ( Übersicht 13.9).
daktylie sind die Phalangen zusammengewachsen.
Man teilt sie ein in solche mit Schwimmhautbil-
dung und solche mit einer knöchernen Syndakty- Übersicht 13.9. Die häufigsten akzessori-
lie. Am Fuß sind diese Missbildungen bedeutungs- schen Knochen am Fuß
▬ Os tibiale externum: neben dem Os navi-
culare in Verlängerung des Innenknöchels
▬ Os trigonum: auf der Seitaufnahme hinter
dem Talus in der Gegend des Processus
posterior tali
▬ Os supratalare: an der Vorderseite des
Talus (⊡ Abb. 13.21)

⊡ Abb. 13.20. Spaltfuß 1 Maurice Klippel, Neurologe, Paris (1858–1942)


13.3 · Erworbener Plattfuß, Spreizfuß
281 13
⊡ Abb. 13.21 a–c. Akzessorische
Knochenelemente am Fuß. Die 3
häufigsten sind rot markiert

13.3 Erworbener Plattfuß, Spreizfuß

Ätiopathogenese. Der Plattfuß entsteht durch ein


Einsinken des Fußlängsgewölbes infolge Insuffizi-
enz der Muskeln und Bänder. Durch das Tragen von
Schuhen haben Fuß und Zehen nicht die notwendi-
ge Bewegungsfreiheit, um ein Training der Musku-
latur zu erlauben. Die Schuhe halten im Verein mit
den glatten Böden der Sohlenhaut alle Reize fern,
welche die Muskeln aktivieren.

Wichtig

Durch Einsinken des vorderen medialen Tragstrah- ⊡ Abb. 13.22. Knick-Platt-Fuß (Pes planovalgus)
les kommt es zu einer Valgusstellung der Ferse: mit Pronationsstellung der Fersen unter Belastung
Es entsteht der bänderschlaffe Knick-Senk- bzw.
Knick-Platt-Fuß (⊡ Abb. 13.22).
282 Kapitel 13 · Fuß

Beim Einsinken des Vorfußquergewölbes entsteht Talokalkanealgelenk führen zu Knorpeldegenera-


der Spreizfuß. Er kommt sowohl in Verbindung mit tionen und arthrotischen Reizzuständen. Durch
dem Senk- bzw. Plattfuß als auch mit dem Hohlfuß Verkürzung der Gelenkkapseln und Verstärkungs-
vor. Frauen sind häufiger betroffen. In Fehlstellung bänder entsteht aus dem zunächst muskulär-kon-
verheilte Fersenbeinfrakturen mit verändertem trakten Plattfuß der ligamentär-kontrakte und
Tubergelenkwinkel führen zu einem posttraumati- schließlich, aufgrund der knöchernen arthroti-
schen Knick-Platt-Fuß. schen Deformierungen, der ossär-kontrakte Platt-
fuß ( Übersicht 13.10).
Klinik. Schmerzen am Fußlängsgewölbe in der Ge-
gend des Lig. calcaneonaviculare sowie in der Wa-
denmuskulatur (medialer Gastroknemiusbauch). Übersicht 13.10. Plattfuß – Memo
Die Beschwerden sind belastungsabhängig. Beim ▬ Medialer Tragstrahl sinkt ein
Einsinken des knöchernen Längsgewölbes kann ▬ Schmerzen am Lig. calcaneonaviculare
der Taluskopf medial hervorragen und lässt den ▬ Auch posttraumatisch (Fersenbeinbruch)
Eindruck eines 2. Innenknöchels entstehen. ▬ Doppelter Innenknöchel
▬ Kombiniert mit Knick-Spreizfuß
Differenzialdiagnose. Beim erworbenen Plattfuß ▬ Einlagen, Krankengymnastik
steht der Talus im Gegensatz zum angeborenen
Plattfuß normal.
Der Spreizfuß ist häufig mit dem Plattfuß kombi-
Wichtig niert. Er ist durch eine Verbreiterung des Vorfußes
Im Kindesalter ist eine leichte Valgusstellung der gekennzeichnet und führt zu einer Abflachung des
Ferse physiologisch (s. ⊡ Abb. 1.1); sie heilt spon- Quergewölbes. Schmerzen im Vorfuß treten beim
tan aus. Gehen und längeren Stehen auf. Klinisch bedeut-
sam sind Schwielen und Druckschmerzen an den
Mittelfußköpfchen 2 und 3 sowie ein Kompressi-
Bei stärkerer Abwinkelung der Ferse nach au- onsschmerz des Mittelfußes. Als Folge von Spreiz-
ßen unter Belastung spricht man vom kindlichen füßen treten fast immer Zehendeformitäten auf
Knickfuß, der behandlungsbedürftig ist. Ein Platt- (Hallux valgus, Hammerzehen) (⊡ Abb. 13.23).
13 fuß ist beim Kind meistens noch nicht vorhanden.
Er wird häufig nur durch Weichteilpolster in der Therapie bei Spreiz- und Plattfußbeschwerden.
Fußsohle vorgetäuscht. Die Behandlung des kind- Verordnung von Einlagen sowie Übungen zur
lichen Knickfußes erfolgt am besten mit Fußgym-
nastik, Barfußlaufen auf weichem Boden (Sand,
Gras, Teppichboden) und Einlagen.

Wichtig

Der entzündliche oder kontrakte Plattfuß stellt


eine Sonderform des Plattfußes dar.

Schmerzen und Bewegungseinschränkungen ste-


hen ganz im Vordergrund. Insbesondere sind die
Bewegungen in den unteren Sprunggelenken bei
⊡ Abb. 13.23. a Beim normalen Quergewölbe wird der Druck
der Pro- und Supination eingeschränkt. Ein kon-
beim Auftritt gleichmäßig auf alle 5 Mittelfußknochen ver-
trakter Plattfuß entsteht bei Jugendlichen und teilt. b Beim Spreizfuß richtet sich der Hauptdruck auf die
Erwachsenen, die ihre Arbeit stehend verrichten Mittelfußköpfchen II und III. Dort entstehen an der Fußsohle
müssen. Dauerbelastungen im Talonavikular- und Schwielen
13.5 · Aseptische Nekrosen
283 13

Kräftigung der Unterschenkel- und Fußmuskeln. 13.4 Entzündliche und degenerative


Die Einlagen unterstützen das Längsgewölbe in der Veränderungen
Gegend des Lig. calcaneonaviculare und das Quer-
gewölbe unmittelbar hinter den Mittelfußköpfchen Rheumatische Entzündungen betreffen vorwiegend
(Vorfußpelotte) ( Übersicht 13.11). Schwere Defor- das obere Sprunggelenk und die Zehengrundge-
mierungen und Beschwerdezustände erfordern or- lenke. Differenzialdiagnostisch sind Reizzustände
thopädische Schuhe. Bei chronisch rezidivierenden bei Arthrosen in Erwägung zu ziehen. Röntgenbild
arthrotischen Reizzuständen in den Fußwurzelge- und Laborwerte sichern die jeweilige Diagnose.
lenken sind operative Eingriffe, z.B. in Form einer Beim Gichtanfall entzündet sich i. d. R. zunächst
talokalkanearen Arthrodese bzw. Talonavikularar- die Umgebung des Großzehengrundgelenks.
throdese, erforderlich. Bei Kindern und Jugendli- Bei allen entzündlichen Veränderungen am
chen versucht man zunächst, ohne orthopädische Fuß ist auf eine korrekte Lagerung zu achten, um
Hilfsmittel auszukommen, und verordnet Fuß- Fehlstellungen, insbesondere in Spitzklumpfuß-
übungen, häufiges Barfußlaufen und Konfektions- form, zu vermeiden.
schuhe mit weichen Sohlen, die der Fußsohle noch Ursachen degenerativer Veränderungen am
ausreichend Beweglichkeit garantieren und ein Fuß:
gewisses Bodengefühl vermitteln, um die Aktivität ▬ oberes Sprunggelenk (Zustand nach in Fehl-
der Fuß- und Unterschenkelmuskeln anzuregen. stellung verheilten Knöchelbrüchen),
Der Schuh darf nicht zu klein gewählt werden, da- ▬ unteres Sprunggelenk (Zustand nach Fer-
mit freies Zehenspiel gewährleistet ist. Absatzerhö- senbeinfraktur, Fehlbelastung beim Plattfuß,
hung, insbesondere in ihrer Megaform als Pumps, Klumpfuß, Defektheilung nach aseptischer Ne-
sind (nicht nur) beim Spreizfuß nicht angebracht. krose des Os naviculare und bei angeborenen
Zwischen vorderem und hinterem Schuhanteil Knochenverschmelzungen, z.B. bei der Coalitio
müssen noch leichte Torsionen möglich sein. Des- calcaneonavicularis),
wegen sind feste Sohlen (Holz) zu vermeiden. ▬ das Großzehengrundgelenk mit einer anlage-
bedingten Arthrosis deformans (Hallux rigi-
dus, s. S. 288).
Übersicht 13.11. Indikationen für Schuh-
einlagen
▬ Spreiz- und Plattfußbeschwerden 13.5 Aseptische Nekrosen
▬ Neuromuskuläre Fußdeformitäten (Ballen-
hohlfüße)
▬ Schmerzhafter Kalkaneussporn (s. Kap. 13.6) Wichtig
▬ Nach Hallux-valgus-Operationen (s. Kap. Am Fuß sind 2 aseptische Nekrosen
13.10.1) bedeutungsvoll:
Morbus Köhler I (Kahnbein)
Morbus Köhler II (Mittelfußköpfchen)
Krankengymnastik. Training der gewölbestüt-
zenden Muskeln, speziell der Steigbügelmuskeln
(s. oben), dazu Mobilisation der Mittelfußkno- 13.5.1 Morbus Köhler1 (⊡ Abb. 13.24)
chen und Zehengrundgelenke, die oft schmerzhaft
kontrakt sind. Fußbäder und tiefe Friktionen mit Die spontane Osteonekrose des Kahnbeins (Os
Querdehnung der kurzen Fußmuskeln unterstüt- naviculare) am Fuß tritt zwischen dem 8.–12. Le-
zen diese Maßnahmen. bensjahr auf. Jungen sind häufiger betroffen als
Mädchen.

1 Alban Köhler, Radiologe, Wiesbaden (1874–1947)


284 Kapitel 13 · Fuß

⊡ Abb. 13.24. Morbus Köhler I. Das Os navicu-


lare ist verschmälert und verdichtet (Pfeil).
Die angrenzenden Gelenkspalten sind ver-
breitert

Klinik. Spontanschmerzen bei Belastung sowie terschenkelgehgipsverband mit guter Anmodellie-


Druckschmerz und Schwellungen über der Kahn- rung des Längsgewölbes an.
beingegend.
13.5.2 Morbus Köhler II (⊡ Abb. 13.25)
Röntgen. Im Röntgenbild tritt zunächst, ähnlich
wie beim Morbus Perthes, eine Kondensation des Er betrifft die Köpfchen der Mittelfußstrahlen II
Knochens mit Verbreiterung der benachbarten Ge- und III. Häufig findet sich ein Zusammenhang mit
lenkspalten auf. Das Kahnbein kann sich bis zu ei- Spreizfüßen. Die Erkrankung tritt in der Adoles-
ner schmalen Scheibe verschmälern und u.U. nach zenz auf und betrifft häufiger Mädchen. Vielfach
dorsal luxieren. wird der Zustand nach M. Köhler II erst später ent-
deckt, wenn bereits arthrotische Veränderungen in
Therapie. Einlagenversorgung. Das Fußlängsge- den betroffenen Zehengrundgelenken eingetreten
wölbe muss während der Erkrankung, die sich sind.
ähnlich wie beim Morbus Perthes über mehrere
13 Jahre hinzieht, unterstützt werden. Bei stärkeren Röntgen. Betroffene Metatarsalköpfchen sind ab-
Reizzuständen legt man vorübergehend einen Un- geflacht, verkürzt, verbreitert.

⊡ Abb. 13.25. Morbus Köhler II.


Destruktion mit Fragmentierung im
Mittelfußköpfchen II
13.6 · Knochenvorsprünge am Fuß, Fersenschmerzen
285 13

Therapie. Unterstützung des Fußquergewölbes un- sich ein störender Schleimbeutel, die Achillessehne
mittelbar hinter den Mittelfußköpfchen (retrokapi- wird gereizt. Wenn die Druckentlastung im Schuh
tal) durch Einlagen. Im floriden Stadium kann der nicht gelingt, muss die Kante abgemeißelt werden.
Einsatz der Stoßwelle die Nekrose revitalisieren. Die Haglund-Ferse darf nicht verwechselt werden
Falls keine Besserung eintritt, wird das deformierte mit der Apophysitis calcanei (Morbus Haglund) als
Mittelfußköpfchen entfernt. spontane Osteonekrose der Kalkaneusapophyse.

13.6.3 Fersenschmerzen
13.6 Knochenvorsprünge am Fuß,
Fersenschmerzen Kommen außer beim Fersensporn und bei der
Haglund-Ferse auch bei anderen Erkrankungen
13.6.1 Kalkaneussporn vor ( Übersicht 13.12). Typisch ist der Fersen-
schmerz als Frühsymptom vom Morbus Bechterew.
Am Fersenbein treten spornartige Ausziehungen Juvenile Zysten kommen bevorzugt im Kalkaneus
an bestimmten Punkten auf (⊡ Abb. 13.26). Der vor. Neuerdings beobachtet man Ermüdungsfrak-
untere Fersensporn findet sich im Bereich des Ur- turen im Kalkaneus bei Extremjoggern. Anlagebe-
sprungs der Plantaraponeurose. Seltener ist der dingt und bei Belastung schmerzhaft ist auch die
hintere Fersensporn als Ansatzverknöcherung im Coalitio calcaneonaviculare. Nicht zu vergessen bei
Bereich der Achillessehne. der Differenzialdiagnose ist das S1-Syndrom mit
Schmerzdermatom bis zur Ferse.
Therapie. Zunächst konservativ. Wärmeapplika-
tion sowie Hohllegung der Druckstelle im Schuh
durch Abpolsterung bzw. Hohllegung mit einer Übersicht 13.12. Ursachen für Schmerzen
Locheinlage. Bei Therapieresistenz wird der untere im Bereich der Ferse
Fersensporn operativ abgetragen. Alternativ kann ▬ Haglund-Ferse
die Stoßwelle (S. 63) eingesetzt werden. ▬ Coalitio calcaneonaviculare
▬ Fersensporn
13.6.2 Haglund1-Ferse ▬ S1-Wurzelsyndrom
(Haglund-Exostose), Hohe Ferse ▬ Morbus Bechterew
▬ Durchblutungsstörungen
Abnorme Ausziehung der Hinteroberkante des ▬ Fraktur
Fersenbeins. Über dem Knochenvorsprung bildet

13.7 Neurogene Störungen


(Lähmungsfolgen)

Je nachdem, welche Fuß- und Unterschenkelmus-


keln ausfallen, entstehen zunächst haltungsbe-
dingte und später irreversible Fußdeformitäten. So
entwickelt sich z.B. beim Ausfall der Dorsalexten-
soren (N. peronaeus) ein Lähmungsspitzfuß (Pes
equinus), der funktionell-anatomisch einer Beu-
⊡ Abb. 13.26. Fersensporn: Spornartige Ausziehung unter gekontraktur im oberen Sprunggelenk entspricht
dem Kalkaneus an der Ansatzstelle der Plantaraponeurose. (⊡ Abb. 13.27).
Dieser Sporn kann beim Auftreten Beschwerden verursachen
Beim Überwiegen der Pronatoren und Aus-
fall der Gastroknemiusmuskulatur entsteht der
1 Patrik Haglund, Orthopäde, Stockholm (1870–1937) Lähmungs-Knick-Hacken-Fuß (Pes calcaneoval-
286 Kapitel 13 · Fuß

⊡ Abb. 13.27. Pes equinus ⊡ Abb. 13.28. Pes calcaneovalgus

gus) (⊡ Abb. 13.28). Bei Ausfall des N. tibialis ent- entstehen, deswegen ist eine Spitzfußprophylaxe
steht ein Hackenhohlfuß ( Übersicht 13.13). erforderlich. Dazu dienen:
▬ aktives und passives Durchbewegen der
Sprunggelenke,
Übersicht 13.13. Lähmungsfolgen ▬ Bettkasten, Schlauchbinde, um den Vorfuß in
Nerv: Muskel: Fußform: Mittelstellung zu halten,
N. peronaeus Dorsalextensoren Spitzfuß ▬ Training der Fußhebermuskeln,
N. tibialis Plantarflektoren Hackenfuß ▬ vorsichtiges Aufdehnen der verkürzten Gas-
troknemiusmuskulatur durch manuelle Redres-
sion,
Therapie. Die konservative Behandlung von Fuß- ▬ soweit erlaubt, Patient hinstellen, Fersen auf
deformitäten als Lähmungsfolge erfolgt durch den Boden.
Schienen und orthopädische Schuhe. Operativ
wird beim Spitzfuß die Achillessehne verlängert
(s. ⊡ Abb. 13.11, S. 275) und beim Knick-Hackenfuß 13.8 Verletzungen und
eine Verlängerung bzw. Durchtrennung der Pro- Verletzungsfolgen
natoren durchgeführt. Falls die Deformierungen
13 schon längere Zeit bestehen und Ankylosen der Fersen- und Sprungbeinbrüche gehen häufig mit
Gelenke eingetreten sind, kann man die Fußstel- Deformierungen und Gelenkverletzungen einher.
lung nur durch Operationen mit Keilentnahme Aufgrund der Gelenkinkongruenzen sowie der
(s. ⊡ Abb. 13.15, S. 278) korrigieren. posttraumatisch entstandenen Fußfehlformen
Chronische Ulzera am Fuß entstehen durch entwickeln sich Arthrosen in diesen Gelenken mit
trophische Störungen bei Lähmungen, Durchblu- schmerzhaften Bewegungseinschränkungen (Kon-
tungsstörungen und Stoffwechselstörungen (z.B. traktur).
Diabetes). Das trichterförmig in die Tiefe führende
Ulkus beim Sensibilitätsverlust heißt Malum per- Wichtig
forans pedis. Wenn die entzündlichen Vorgänge Am häufigsten ist der Fersenbeinbruch mit Be-
auf den Knochen übergreifen, kommt es zu einer teiligung der talokalkanearen Gelenkfläche. Das
fortschreitenden Entzündung der Fußwurzel- und Fußlängsgewölbe sinkt ein, und es entsteht ein
Mittelfußknochen (Strahlenosteomyelitis). Viel- posttraumatischer Plattfuß.
fach bleibt dann nur noch die Vorfußamputation.

Krankengymnastik zur Spitzfußprophylaxe bei Zur Ausschaltung der schmerzhaften Pro- und Su-
Lähmungen. Ein Spitzfuß kann durch fehlerhafte pination kann man einen orthopädischen Schuh
Lagerung eines gelähmten oder über längere Zeit verordnen. Bei jüngeren Patienten und Ineffekti-
bewußtlosen bzw. bewegungsunfähigen Patienten vität besteht die Therapie dann in einer operativen
13.10 · Zehendeformitäten
287 13

Versteifung des Rückfußes im Talokalkaneargelenk 13.10 Zehendeformitäten


(subtalare Arthrodese, s. ⊡ Abb. 13.13). Endopro-
thesen sind in diesem Bereich nicht sinnvoll. 13.10.1 Hallux valgus
Ermüdungsfrakturen (Stressfrakturen) am Fuß
betreffen v.a. den II. und III. Mittelfußknochen Ätiopathogenese. Es handelt sich um eine Abwin-
(Marschfraktur), treten nach Dauerbelastungen kelung der Großzehe im Grundgelenk nach lateral.
auf. Die Abweichung wird in Winkelgraden angegeben.
Weitere Lokalisationen für Stressfrakturen: Durch die Abspreizung des I. Mittelfußknochens
▬ Tibia (obere Metaphyse), Fibula, mit Vorstehen des 1. Mittelfußköpfchens wird eine
▬ Schenkelhals und Kalkaneus, Exostose vorgetäuscht. Auf dem Kochenvorsprung
▬ Frühdiagnose durch Knochenszintigraphie. bildet sich ein Schleimbeutel. Der Hallux valgus ist
an das Vorhandensein eines Spreizfußes gebun-
den (⊡ Abb. 13.29). Die Extensorensehne wird im
13.9 Tarsaltunnelsyndrom Vergleich zur Knochenstrecke relativ zu kurz. Mit
dem Auseinanderweichen der Mittelfußstrahlen
wandern die Streck- und Beugesehnen der Groß-
Definition zehe nach lateral und ziehen die Großzehe weiter
Irritation des distalen N. tibialis hinter dem Innen- in die Fehlstellung (⊡ Abb. 13.30) mit Tendenz zur
knöchel. Subluxation ( Übersicht 13.14). Der Musculus ad-
ductor hallucis verliert seine varisierende Wirkung
und proniert und flektiert die Großzehe. Deswe-
Ätiopathogenese. Örtlicher Kompressionsschaden gen dreht sich die Großzehe um die eigene Achse
des Nervus tibialis posterior im Canalis malleola- in Pronationsrichtung. Mit dem Lebensalter nimmt
ris, dem vom Retinaculum musculorum flexorum sowohl die Häufigkeit als auch die Schwere der De-
überdachten Durchtrittskanal, z.B. durch Trauma, formität zu. Die Rolle der Schuheinwirkung (vorn
Überanstrengung und Fußüberlastung. spitz zulaufend) wird häufig überschätzt. Die Sub-
luxation im Großzehgrundgelenk führt häufig zur
Klinik. Druckschmerz unterhalb des Innenknö- Arthrosis deformans mit Bewegungseinschrän-
chels, Nachtschmerz mit Parästhesien. kung. Ein Hallux valgus kann auch posttrauma-
tisch nach Fraktur (selten) oder postarthritisch
Therapie. Entlastung des Fußlängsgewölbes. (bei Rheuma) entstehen.
Op.: Spaltung des Retinakulums, Neurolyse.

⊡ Abb. 13.29. Vorfüße Mutter und


Kind. Die Großzehe ist im Grund-
gelenk nach lateral abgewinkelt.
Die Vorfüße sind auffallend
verbreitert: Spreizfüße mit Hallux
valgus, erbliche Komponente
288 Kapitel 13 · Fuß

⊡ Abb. 13.30. Hallux valgus

⊡ Abb. 13.31 a, b. Operationen zur Korrektur des Hallux


valgus. a Op. nach Brandes, b Osteotomie Metatarsale I

▬ Nachbehandlung mit der Schlaufensandale


Übersicht 13.14. Hallux valgus – Memo oder Einlagen.
▬ Großzehe nach lateral
▬ Pseudoexostose ⚉ Fallbeispiel
▬ Kombiniert mit Spreizfuß Bei Frau H. V., 74, verbiegen sich seit einigen Jahren die
▬ Resektionsarthroplastik oder Osteotomie Großzehen fortschreitend nach außen. Sie klagt über
Metatarsale I Druckstellen am Ballen und unter dem Vorfuß.
Außerdem hat sie Zucker, der mit Tabletten eingestellt
ist, und allgemeine Durchblutungsstörungen.
Krankengymnastisch erfolgt Dehnen der verkürz- Diagnose. Spreizfüße mit Hallux valgus beidseits.
ten Sehnen an der Großzehe, Mobilisation des Therapie. Wegen des Operationsrisikos zunächst
Großzehgrundgelenks und Training des M. abduc- konservativ mit Einlagen zur Unterstützung des Fuß-
tor hallucis, anschließend Retention in der Schlau- quergewölbes. Bei Therapieresistenz Resektionsar-
13 fensandale. Eine Operation ist in den meisten throplastik, z.B. nach Brandes (s. ⊡ Abb. 13.31 a), die
Fällen nicht erforderlich, weil kaum Beschwerden eine sofortige Belastung postoperativ erlaubt.
bestehen. Ist die Abweichung zu stark, und kommt
es zu Druckstellen mit schmerzhaften Schwielen, 13.10.2 Hallux rigidus
muss operiert werden (⊡ Abb. 13.31):
▬ Verkürzung der Knochenstrecke durch Re- Die Arthrose im Großzehgrundgelenk ohne Hallux
sektion eines Teils des Großzehgrundglieds valgus nennt man Hallux rigidus. Sie ist gekenn-
(Brandes1, als Resektionsarthroplastik, ⊡ Abb. zeichnet durch eine schmerzhafte Bewegungs-
13.31 a). einschränkung im Großzehgrundgelenk vorwie-
▬ Operation am Mittelfußknochen mit Osteo- gend für die Streckung, so daß der Abrollvorgang
tomie, Keilentnahme und Verschiebung nach behindert ist. Daher gibt man als konservative
lateral (⊡ Abb. 13.31 b). Maßnahme zunächst eine Abrollhilfe an der Schuh-
Daneben gibt es noch andere, seltener ange- sohle (s. ⊡ Abb. 3.7, S. 61). Als entzündliche Ursache
wandte Operationsmethoden wie Abtragung kommt eine Gicht oder eine rheumatische Arthritis
von Exostosen, Sehnenverpflanzungen und die in Frage. Die Behandlung besteht wie beim Hallux
Versteifung (Arthrodese) des Großzehgrund- valgus in einer Teilresektion des Großzehgrund-
gelenkes. glieds, um eine Artikulation der geschädigten Ge-
lenkpartner zu vermeiden. Verschiedentlich wer-
1 Max Brandes, Orthopäde, Dortmund (1881–1976) den Arthroplastiken mit Kunststoffinterponaten
13.10 · Zehendeformitäten
289 13

⊡ Abb. 13.32. Hammerzehe: Flexionskontraktur nur im ⊡ Abb. 13.33. Krallen- bzw. Klauenzehe: Flexionskontraktur im
Endgelenk Mittelgelenk

verwendet. Vor der operativen Behandlung kann ist auf eine relative Verkürzung der Beugesehnen
man noch Versuche mit intraartikulären Injektio- durch Veränderungen im Fußskelett (Spreizfuß,
nen, gelenküberbrückenden Einlagen und Abroll- Ballenhohlfuß) zurückzuführen (⊡ Abb. 13.32,
hilfen vorn am Schuh durchführen. 13.33).

13.10.3 Hammer- und Krallenzehen Wichtig

Krallenzehe:Überstreckung im Grundgelenk
Diese kommen bevorzugt beim Spreiz- und Hohl- Beugung im Mittel- und Endgelenk
fuß vor. Die Krallen- bzw. Klauenzehe ist durch eine Hammerzehe: Beugung im Endgelenk
Überstreckung im Grundgelenk und Beugekon-
traktur im Mittel- und Endgelenk gekennzeichnet.
Schwielen und Hühneraugen (Clavi) bilden sich Therapie. Falls die konservative Behandlung mit
über der Streckseite des Mittelgelenks. Hohllegung der Druckstellen keinen Erfolg bringt,
Die Hammerzehe stellt eine isolierte Beugekon- ist eine operative Behandlung, meist in Form der
traktur im Endgelenk dar. Meist ist die 2. Zehe be- Hohmann-Resektion eines Teiles des Grundglieds,
troffen. Die Entstehung dieser Zehendeformitäten erforderlich.
Der Digitus quintus superductus (varus) stellt
eine angeborene Zehenfehlbildung dar (⊡ Abb.
13.34). Dabei legt sich die 5. Zehe über die 4. und
verursacht Druckerscheinungen.
Therapie: Strecksehnenverlängerung.

13.10.4 Hühneraugen (Clavi)

Immer wenn spitze Knochen sich unmittelbar un-


ter der Haut befinden und Druck ausgesetzt sind,
entstehen Hühneraugen. Um den Knochen nicht
durchspießen zu lassen, entwickelt die Epidermis
eine Hyperkeratose, die trichterförmig in die Tiefe
wächst und mit ihrem Epithel manchmal bis zum
Knochen reicht. Die Stachelzellschicht entwickelt
sich im Gegensatz zur Schwiele, die nur oberfläch-
lich bleibt, bis in die Tiefe.

⊡ Abb. 13.34. Digitus quintus superductus. Therapie. Beseitigung der Ursache, also der Zehen-
Vorfuß eines Kindes. Die 5. Zehe liegt auf der 4. Zehe deformation bzw. des Schuhdrucks.
290 Kapitel 13 · Fuß

13.11 Begutachtung Derartige Zustände kommen vor nach in Fehlstel-


lung verheilten Frakturen der Knöchelgabel mit
Erkrankungen des Fußes beeinträchtigen die Steh- posttraumatischer Arthrosis deformans im oberen
und Gehfähigkeit. Bei entzündlichen Veränderun- Sprunggelenk und nach Fersenbeinfrakturen mit
gen in den Sprunggelenken ist ein regelrechtes Ab- arthrotischen Veränderungen im Talokalkaneal-
rollen des Fußes beim Gehvorgang nicht möglich. gelenk.
Durch orthopädische Hilfsmittel, wie Einlagen und
orthopädische Schuhe mit Abrollhilfen, lässt sich
die Funktion des Fußes verbessern.

Wichtig

Schmerzhafte Teilversteifungen der Sprunggelen-


ke bewirken eine MdE zwischen 20 und 30%.

13
Raritätenlexikon
292 Raritätenlexikon

Berlin-Syndrom: Ektodermale Dysplasie u.a. mit Min-


A derwuchs, dünnen Beinen und Hautatrophie (Erstbe-
schreibung durch C.J. Berlin, Dermatologe in Tel Aviv)
Affenhand: Bei der Medianuslähmung kommt es zur
Schwurhand. Liegt der Daumen dem Zeigefinger an und Beugehandschuh: Passive Herbeiführung einer Finger-
kann wegen Lähmung der Daumenballenmuskulatur und Daumenbeugestellung in den ersten Wochen nach
sowie der Mm. flexores pollicis longus und brevis nicht eingetretener Querschnittslähmung mit Tetraplegie, um
opponiert werden, sieht die Hand wie beim Affen aus später das passive Greifvermögen zu ermöglichen

Ahlbäck-Erkrankung: Spontane Osteonekrose im Knie- Bindegewebsmassage: Reflexzonenmassage, bei der


gelenkbereich des Erwachsenen, meist am Femurkon- Haut und subkutanes Bindegewebe tangential mit der
dylus. Eine frühzeitige Diagnose ist mittels Magnetreso- Fingerkuppe durchstrichen werden
nanztomographie möglich
Blount-Erkrankung: s. Tibia vara infantum
Akrozephalosyndaktylie: Erbleiden mit Turmschädel
und Syndaktylie Böhler-Zeichen: Eines der vielen Meniskuszeichen.
Bei passiver Adduktion in Streckstellung schmerzt der
Albers-Schoenberg-Erkrankung: Marmorknochen- lädierte Innenmeniskus, bei Abduktion der Außenme-
krankheit, Osteopetrose, Osteosklerose. Erbliche Kom- niskus
paktknochenbildung durch mangelnde Osteoklasten-
tätigkeit. Der Markraum wird mit Knochen ausgefüllt. Bonnevie-Ullrich-Syndrom: Minderwuchs, Nagelatro-
Folge: Anämie, extramedulläre Hämatopoese, Spleno- phie, Schwimmhäute, Gelenkanomalien, Pterygium
megalie colli, Patellafehlbildung

Amyloidose: Amyloid als komplexes fibrilläres Protein Borggreve-Plastik: Resektion des Oberschenkels wegen
lagert sich auch in Knochen und Gelenken ab (bilateral) Osteosarkoms. Replantation des Unterschenkels am
verbliebenen Femuranteil um 180° gedreht: Das Sprung-
Apert-Syndrom: Turmschädel und Syndaktylien an allen gelenk wird zum funktionellen Knie
Extremitäten (s. Akrozephalosyndaktylie)
Bouchard-Arthrose: Fingermittelgelenkarthrose mit
Apley-Meniskuszeichen: In Bauchlage und K90° Knie- dorsaler Knotenbildung und Gelenkverdickung
beugung: Unterschenkel drehen
Brachialgia nocturna: Nächtliche schmerzhafte Paräs-
Arcq-Operation: Distalisierung des Hüftkopfs und Pfan- thesien im Medianusgebiet beim Karpaltunnelsyndrom
nenrekonstruktion bei hoher Hüftluxation
Brachydaktylie: Zu kurze Finger: mit verschiedenen
Typen z.B. nur alle Mittelphalangen, nur 5. Finger, nur
Endphalangen 2–5, nur Daumen usw.
B
Brachyolmie: Zu kurzer Rumpf mit lauter Plattwirbeln
Battered-child-Syndrom: Symptome von Kindesmiss- (Platyspondylie)
handlungen auch am Bewegungsapparat
Brinon-Syndrom: Bilaterale aseptische Knochennekro-
Benjaminsyndrom: Minderwuchs, graziler Knochenbau, se des Os cuneiforme
hydrozephaler Schädel bei konstitutioneller Anämie mit
starker Poikilozytose Bumerang-Dysplasie: Osteochondrodysplasie mit
Bumerang-ähnlichen Verformungen der proximalen
Röhrenknochen
Raritätenlexikon
293 A-D

Burning-feet-Syndrom: Brennende Missempfindungen Chondrodysplasia punctata (calcarea): Sonderform


beider Füße, bei Polyneuropathie, Diabetes, Alkohol der Achondroplasie (Chondrodystrophie) mit punktför-
usw. miger Verkalkung der knorpeligen Skelettabschnitte,
meist letaler Ausgang

Chondrodystrophia calcarea: Multiple Kalkschatten in


C den Epiphysen schon beim Neugeborenen, mit Wachs-
tumsstörungen einhergehend
Café-au-lait-Flecken: Bräunliche Pigmentanomalien der
Haut bei fibröser Knochendysplasie und Neurofibroma- Containment: Möglichst vollständige Überdachung
tose Recklinghausen des Hüftkopfs als Therapieziel bei Hüftdysplasie und
M. Perthes
Calvé-Erkrankung: Vertebra plana (Plattwirbel) als eo-
sinophiles Granulom eines Wirbels im Jugendalter. Im Conradi-Hünermann-Syndrom: Chondrodysplasia
Röntgenbild sieht man einen platten Wirbel bei norma- punctata als angeborene Systemerkrankung mit stripp-
len Bandscheiben. Therapie: Korsettbehandlung chenförmigen Verkalkungen der Epiphysen, Zwerg-
wuchs und Skoliose
Camurati-Engelmann-Krankheit: Erbliche symmetri-
sche Kortikalisverdickung im Bereich der Diaphysen der Corona phlebectatica paraplantaris: Venenstauung
langen Röhrenknochen und Erweiterung am Fußsohlenrand

Caplan-Syndrom: Polyarthritis mit Silikose Crush-Syndrom: Ausgedehnter Muskelfaseruntergang


führt zu Nierenversagen z.B. nach Trauma-Operationen
Carpe-bassu: Exostose am Handrücken bei Arthrose in
den Gelenken zwischen Metacarpale II und III und Os
capitatum
D
Cast-Syndrom: Gipskorsett-Syndrom mit ileusartiger
Symptomatik beim Rumpfgips. Therapie: sofort abma- Daumen, flottierender: Vollständige Aplasie des I. Strah-
chen les mit rudimentärer Anlage des Grund- und Endglieds

Chaissaignac-Luxation: Traumatische Subluxation des Deltaphalanx: Dreiecksform eines Fingergliedes


Radiusköpfchens bei Kleinkindern durch Kind-am-Arm-
hochnehmen und drehen De-Quervain-Erkrankung: Stenosierende Tenosyno-
vitis des Extensor pollicis brevis und Abductor pollicis
Charcot-Gelenk: Arthropathia tabica. Störungen der longus
Schmerzempfindung und Tiefensensibilität bei Tabes
dorsalis führen zu Gelenkdestruktionen an der unteren Diastematomyelie: Zweiteilung des Rückenmarkes
Extremität durch ein fibröses, knorpeliges oder knöchernes Sep-
tum. Diagnose durch CT, Myelographie oder NMR
Chester-Erdheim-Erkrankung: Xanthomatose des
Skelettsystems mit Lipideinlagerungen in Sehnen und Diastrophischer Zwergwuchs: Kurze Extremitäten,
Knochen Kontrakturen, Klumpfüße

Chinesinnenfuß: Hackenhohlfuß (Pes calcaneus exca- Dietrich-Erkrankung: Spontane Osteonekrose am


vatus) Metakarpalköpfchen

Chiragra: Gicht im Handgelenk


294 Raritätenlexikon

Digitus mortuus: Toter Finger, Leichenfinger bei vaso-


motorischen Störungen
F
Dolichostenomelie: s. Marfan-Syndrom Facies leontina: Löwengesicht bei M. Paget mit Befall
des Gesichtsschädels
Dreschflegelsyndrom: Abnorme Kniebeweglichkeit mit
Schlottergelenk bei tabischer Arthropathie Fanconi-Syndrom: Renale glykosurische Rachitis. Erblei-
den mit rachitisähnlichen Veränderungen, generalisier-
Duchenne-Griesinger-Erkrankung: Typ der progressi- ter Osteoporose und Ermüdungsfrakturen, Aminoaze-
ven Muskeldystrophie im Bereich der unteren Extremi- turie
täten
Felty-Syndrom: Rheumasonderform im Erwachsenenal-
Duplay-Krankheit: früher gebräuchlicher Begriff für ter mit Polyarthritis, Splenomegalie, Leuko- und Throm-
Periarthropathia humeroscapularis (s. dort) bopenie, Lymphknotenschwellung, Leberschwellung

Dysostosis cleidocranialis: Seltene erbliche mesenchy- Fiessinger-Leroy-Reiter-Syndrom: Morbus Reiter


male Verknöcherungsstörung, oft mit verbreitertem
Schädel und Fehlen der Schlüsselbeine. Als Begleitmiss- Flaschenzeichen: Abduktions- und Oppositionsbeein-
bildung kommen Coxa vara, Trichterbrust, Skoliose und trächtigung des Daumens beim Umgreifen einer Flasche
Zahnanomalien vor durch Nervus-medianus-Läsion.

Floppy-Infant: Angeborene Muskelhypotonie unter-


schiedlicher Ursache mit abnormer Gelenkbeweglich-
E keit

Eaton-McKusick-Syndrom: Tibiadefekt + Polydaktylie + Flossenfuß: Pes adductus


Dreigliederdaumen
Fluorose: Periostaler Knochenzuwachs durch Fluorin-
Ehlers-Danlos-Syndrom: Hypermobilität der Gelenke, toxikation (industrielle Exposition oder überdosierte
Bindegewebsschwäche mit Auftreten von Hernien, Hy- Fluortherapie bei Osteoporose) mit erhöhter Knochen-
perlaxität der Haut, Skoliose. Ursache ist eine Kollagen- dichte, ektopischen Knochenbildungen, Zahnschmelz-
reifungsstörung veränderungen

Eichhoff-Finkelstein-Zeichen: Ulnarabduktion der Faust Friedrich-Erkrankung: Spontane Osteonekrose des


mit eingeschlagenem Daumen. Ruft Schmerzen in der Schlüsselbeinkopfs
Sehne des M. abductor pollicis longus bei stenosieren-
der Tenosynovitis hervor Froschdeformität: Hüft-Abduktions-Außenrotations-
Beugekontraktur bei der thorakalen Form der Myelo-
Elfenbeinwirbel: Osteosklerose im Wirbel, homogene meningozelen. Das Kind liegt da wie ein Frosch
knöcherne Verdichtung eines Wirbels mit Aufhebung
der Spongiosastruktur. Kommt bei der chronisch-mye- Fründ-Zeichen: Klopfempfindlichkeit der Patella in
loischen Leukämie vor Rechtwinkelstellung bei Chondropathia patellae

Erb: Typ der progressiven Muskeldystrophie als juvenile Fußhöcker, dorsaler: Knöcherne Vorwölbung auf dem
skapulohumerale Form Fußrücken meist mit einem Schleimbeutel darauf.
Ursächlich sind Randwülste an den Gelenkenden des
Os naviculare und metatarsale I. Therapie: Im Schuh
hohllegen oder mit dem Meißel abschlagen
Raritätenlexikon
295 E-J

Hoffa-Syndrom: Lipomatöse Entartung des Corpus


G adiposum genu mit Schmerzen und lokaler Synovitis

Gaenslen-Zeichen: Schmerz der rheumatisch erkrank- Hundeohrpfanne: Nach kranial ausgezogene Pfanne
ten Fingergrundgelenke bei kräftigem Händedruck bei kongenitaler Hüftdysplasie

Garn-Index: Kortikalisbreite der Metacarpalia als Index Hyperostose, hereditäre generalisierte: Vermehrter
für die Osteoporose periostaler Knochenanbau an Diaphysen, Wirbelsäule
und Gelenken
Gaucher-Erkrankung: Lipidspeichererkrankung, An-
sammlung u.a. im Knochen mit Durchsetzen des Kno- Hyperphosphatasie: Juveniler Morbus Paget mit erhöh-
chenmarks, Auftreibung der langen Röhrenknochen, ter alkalischer Phosphatase. Schädelverdickung, sym-
Verschmälerung der Kortikalis metrische Knochenverdickungen und -verbiegungen

Gigantomelie: Riesenwuchs Hyperthyreose: Vorzeitiger Epiphysenschluss, ver-


mehrtes Längenwachstum, später Osteoporose, Mus-
Gilchrist-Verband: Zur Ruhigstellung der Schulter mit kelschwäche
Schlauchbinden
Hypophosphatämie, familiäre: Vitamin-D-resistente
Gnomenwaden: Pseudohypertrophie der Waden bei Rachitis, erblich
progressiver Muskeldystrophie
Hypophosphatasie: Angeborene Synthesestörung der
Gonagra: Gicht im Knie alkalischen Phosphatase führt zu unterentwickelten
Knochen mit unzureichender Ossifikation

Hypothyreose: Störung der enchondralen Ossifikation


H und verzögerter Epiphysenschluss bewirken dyspropor-
tionierten Minderwuchs
Hallux flexus: Einsteifung des Großzehgrundgelenks in
Beugestellung

Hallux malleus: Hammerzehe


I
Hammerfinger: Beugefehlstellung des Endgelenks nach Impingement: Einklemmung z.B. an der Rotatoren-
Abriss der Strecksehne an der Endgliedbasis manschette der Schulter bei PHS, einer Synovialzotte
im Gelenk
Hämochromatose – Hämosiderose: Pathologische
Eisenablagerungen, z.B. bei hämolytischer Anämie u.a.
in der Synovialmembran
J
Hegemann-Syndrom: Spontane Osteonekrose der
Trochlea humeri Jeanskrankheit: Schmerz- und Taubheitsgefühl in der
Leiste und am Beckenkamm durch Läsion des Ner-
Hessing-Sandale: Sohlenplatte als unterster Teil eines vus iliohypogastricus oder Nervus cutaneus femoris
Schienenhülsenapparats lateralis

Hill-Sachs-Läsion: Oberarmkopfimpression bei Schul-


terluxation als knöcherne Begleitverletzung
296 Raritätenlexikon

Kugelhand: Bei der Epidermiolysis bullosa dystrophica


K verbacken die Finger durch die entzündlichen Vorgänge
untereinander
Kalzinose: Subkutane Kalkablagerungen in der Umge-
bung von Gelenken, meist beidseitig Kümmel-Erkrankung: Keilwirbelbildung nach Kom-
pressionsfraktur
Kamptodaktylie: Angeborene Fingerbeugekontraktur,
meist 4 und 5

Kegler-Daumen: Parästhesien der ulnaren Daumenseite


L
durch Läsion des Nervus digiti proprius
Landouzy-Djerine-Erkrankung: Typ der progressiven
Kerzenwachstropfenphänomen: s. Melorheostose Muskeldystrophie als infantile faszioskapulohumerale
Form
Kletterfuß: Pes supinatus
Larsen-Syndrom: Angeborene bilaterale Luxation der
Klinodaktylie: Zu kurzes Mittelglied des 5. Fingers plus Knie-, Hüft- und Ellenbogengelenke mit abgeplattetem
Radialabweichung des Endglieds Gesicht und prominenter Stirn. Dysproportionierter
Minderwuchs
Kneeing in: Gleich Kniebohrergang mit nach innen
gedrehtem Oberschenkel und Knie bei gerader Unter- Ledderhose-Krankheit: Induration der Plantarfaszie
schenkel- und Fußstellung entsprechend der Dupuytren-Krankheit an der Hand

Kniebohrergang: Als sog. Kneeing in bei nach innen Lehrlingsplattfuß: Akut kontrakter Plattfuß durch Über-
gedrehtem Oberschenkel mit Knie bei gerader Unter- lastung des Fußskeletts bei Jugendlichen
schenkel- und Fußstellung
Léri-Weill-Syndrom: Dyschondrosteosis L.W. mit Min-
Knocheninsel: Solitäre Enostose, Osteom, solitäre rund- derwuchs von Radius, Ulna, Tibia und Fibula
liche bis erbsengroße harmlose Knochenverdichtung
Leyden-Erkrankung: Typ der progressiven Muskeldys-
Kokzygodynie: Chronischer Steißbeinschmerz trauma- trophie mit Atrophie des Beckengürtels
tisch oder idiopathisch
Lorenz-Stellung: Froschstellung. Früher übliche Hüft-
Kolumnotomie: Korrekturosteotomie an der Wirbel- einstellung mit 90°-Beurteilung und 90°-Abduktion zur
säule Retention einer eingerenkten kongenitalen Hüftluxa-
tion
Krukenberg-Operation: Umarbeitung der Unterarm-
knochen zu einer Greifzange bei doppelseitigem Hand-
verlust
M
Krückenlähmung: Radialis-Lähmung durch Krücken-
druck in der Axilla Mafucci-Kast-Syndrom: Chondrome, Angiome und
Venektasien, Maltrecking der Patella bei Lateralisation
Kryotherapie: Lokale Anwendung von Eis, z.B. als Gel- mit schlechtem Lauf im Femoropatellargelenk
packung nach Distorsion
Malum coxae puerilis: Morbus Perthes
Kuboidexkochleation: Ausräumung des Kuboids beim
Klumpfuß als Operation bei noch wachsendem Skelett
Raritätenlexikon
297 K-N

Malum coxae senilis: Hüftarthrose im Alter infolge Ver- Milkman-Syndrom: Form einer renalen Osteopathie
sagens des Knorpelstoffwechsels mit multiplen knöchernen Umbauzonen beim Erwach-
senen
Marfan-Syndrom: Arachnodaktylie. Erbliche mesoek-
todermale Störung mit Herz- und Gefäßanomalien, Lin- Moeller-Barlow-Krankheit: Vitamin-C-Hypovitaminose.
senschlottern, Spinnengliedrigkeit, Knick-Senk-Füßen, Herabgesetzte Osteogenese durch ungenügende Kno-
Fersensporn, Hochwuchs, Haltungsinsuffizienz, Über- chengrundsubstanz. Die typische Gefäßbrüchigkeit mit
streckbarkeit der Gelenke mit Luxationstendenz Blutungsneigung führt zu subperiostalen Hämatomen
mit Schmerzen
Marie-Bamberger-Syndrom: Hypertrophische pulmo-
nale Osteoarthropathie. Symmetrische diaphysäre peri- Morton-Metatarsalgie: Durch ein Neurinom zwischen
ostale Knochenneubildung bei Lungenerkrankungen den Mittelfußknochen II und IV kommt es dort zu ste-
chenden Schmerzen, Taubheit, Parästhesien, meistens
Marmorknochenkrankheit: s. Albers-Schoenberg-Er- zusammen mit dem Spreizfuß. Lokalanästhesie sichert
krankung die Diagnose. Wenn Einlagen nicht helfen, operative
Entfernung des Neurinoms, das manchmal schwer zu
Maskengesicht: Myotonie (s. dort) mit Primärbefall der finden ist
Kernmuskulatur
Mouchet-Erkrankung: Spontane Osteonekrose an der
Mausarm: Er tritt durch vermehrte Arbeit mit der Com- Gelenkrolle des Talus
putermaus auf und ist gekennzeichnet durch Schwel-
lung, Schmerzen im Unterarm, z. T. bis zum Nacken Myelosklerose – Myelofibrose: Neoplastische Kno-
ziehend, als Repetive Strain Injury. chenmarkfibrose und -sklerose mit Knochenmarkver-
drängung
Medial shelf: Plica mediopatellaris, medial der Knie-
scheibe verlaufende Synovialfalte, die gelegentlich ein- Myodese: Fixierung der Muskulatur am knöchernen
reißt Stumpf bei Amputation

Melorheostose: Erbliche wachstropfartige, streifenför- Myotonia congenita (Thomsen-Erkrankung): Erbliches


mige Knochenverdichtungen durch vermehrte Osteo- Leiden mit Verkrampfung von Muskeln im Anschluss an
blastenaktivität eine normale willkürliche Muskelinnervation durch eine
unbekannte anhaltende Membrandepolarisation
Meralgia paraesthetica: Taubheitsgefühl an der Ober-
schenkelvorderseite durch Läsion des Nervus cutaneus
femoris lateralis
N
Metartarsus varus: s. Sichelfuß
Naevus varicosus osteohypertrophicus: s. Klippel-
Micromelia chondromalacia: s. Chondrodystrophie Trénaunay-Weber-Syndrom. Partieller Riesenwuchs und
Venenerweiterung
Mietens-Syndrom: Beugekontrakturen, Minderwuchs,
Hornhauttrübungen, Hüftluxation und Radiusköpfchen- Nanosomie, pituitäre: Mangel an Wachstumshormon
luxation als Erbleiden vom Hypophysenvorderlappen

Mikulicz-Linie: Beinachse im Röntgenbild, gemessen Nearthrose: Neues oder falsches Gelenk, z.B. bei einer
von der Hüftkopfmitte über die Kniemitte zur Mitte des Pseudarthrose oder wenn sich der luxierte Hüftkopf in
Spaltes am oberen Sprunggelenk der Beckenschaufel einen Pfannenersatz schafft
298 Raritätenlexikon

van-Neck-Krankheit: Spontane Osteonekrose des Otopalatodigitales Syndrom: Dysostose mit Schwer-


Scham-, und Sitzbeins. (Syn.: Synchondrosis ischiopu- hörigkeit, Gaumenspalten, Finger- und Zehendeformi-
bica) täten

Nukleotomie: s. Diskotomie Over-head-Extension: Besondere Form der geschlos-


senen Einrenkung der kongenitalen Hüftluxation durch
Extension und starke Hüftbeugung

O
Ochronose: Schwarzfärbung von Bindegewebe durch
P
Homogentisinsäure und ihre Oxidationsprodukte
Parkbanklähmung: Lagerung des Oberarmes auf einer
Ollier-Krankheit: Chondrome, die nur eine Körperhälfte harten Kante mit Radialisparese
befallen, sitzen in Epiphysennähe und rufen Wachstums-
störungen, z.B. Achsenabweichungen und halbseitigen Payr-Zeichen: Schmerzen am inneren Kniegelenkspalt
Minderwuchs, hervor im Schneidersitz verstärken sich, wenn man das Knie
herunterdrückt: Innenmeniskusschaden
Omagra: Gicht in der Schulter
Pectus infundibiliforme: Trichterbrust
Osteochondrosis ischiopubica: s. van-Neck-Krankheit
Osteoklasie: Knochendurchtrennung Periarthrosis coxae: Tendomyosen in der Umgebung
des Hüftgelenks bei Koxarthrose und statischen Störun-
Osteolyse: Knochenauflösung hereditär und idiopa- gen. Beinlängendifferenz
thisch meist an den Akren, es gibt verschiedene Typen
Peronaeus-Sehnenluxation: Das Retinaculum am
Osteomesopyknose: Rumpfbetonte Osteosklerose mit Außenknöchel ist insuffizient und lässt die Sehnen
vermehrter Kyphose (sub)luxieren

Osteoonychodysplasie: Nagelpatellasyndrom. Erbli- Pes olens: Stinkfuß


che Störung mit Nagelmissbildungen, Patellaluxation,
Augenpigmentstörungen und ggf. weiteren Skelett- Pinchtest: Kneiftest. Die rheumatische Tenosynovitis der
anomalien Beugesehnen verhindert beim Kneifen das Bilden einer
Hautfalte
Osteopathia striata: Voorhoeve-Erkrankung. Symmet-
rische längsgerichtete streifenförmige Verdichtung im Piriformis-Syndrom: Schmerzhafte Hüftabduktion- und
Knochen, gutartig Außenrotation gegen Widerstand, Druckschmerz

Osteopetrose: s. Albers-Schoenberg-Krankheit Plikasyndrom: Schmerzen an der medialen Knieseite,


hervorgerufen durch eine übergroße Falte der Synovial-
Osteopoikilie: Erbleiden mit punktförmigen Knochen- membran (Plica mediopatellaris)
verdichtungen. Ohne klinische Bedeutung
Poland-Syndrom: Aplasie des Musculus pectoralis
Ostitis pubis: Schmerzen durch Periostreizung an der einseitig mit Anomalien der gleichseitigen Hand und
Symphyse Aplasie der gleichseitigen Niere

Pollux rigidus: Angeborene Beugekontraktur im Dau-


menendgelenk
Raritätenlexikon
299 O-S

Polyserositis rheumatica: Befall vieler Gelenke und Seh- Röhrenabszess: Ausgedehnte Knochentuberkulose
nenscheiden bei der rheumatischen Arthritis
Rucksacklähmung: Scapula alata durch Serratusparese.
Pott-Trias: Bei der Spondylitis tuberculosa mit paraver- Betroffen ist der Nervus thoracicus longus
tebralem Abszess, Wirbelsäulenverkrümmung (Gibbus)
und Lähmung

Prader-Willi-Syndrom: Chromosomenanomalie mit


S
Minderwuchs und Skoliose
Sacroileitis condensans: (Syn.: Ileitis condensans, Ostitis
Preiser-Krankheit: Spontane aseptische Nekrose des condensans) Sklerosierungszone im Os ileum neben der
Kahnbeins Kreuzdarmbeinfuge. Ursache unbekannt, harmlos

Pronatio dolorosa: Schmerzhafte Pronationsbehinde- Sacrum acutum: Spitzsakrum. Fast horizontal stehendes
rung durch Einklemmung des Lig. anulare zwischen Os sacrum mit annähernd rechtem Winkel zur unteren
Capitulum humeri und Radiusköpfchen LWS

Pronator-teres-Syndrom: Krämpfe und Parästhesien Sacrum arcuatum: Bogensakrum. Dorsal konvexes Os


der radialen Finger durch Kompression des N. medianus sacrum, steht in Verlängerung der LWS-Linie
am Durchtritt durch den M. pronator teres
Saphenusnerven-Kompressionssyndrom: Syndrom im
Prune-Belly-Syndrom: Faltiges Abdomen – wie Trocken- Adduktorenkanal mit Schmerzen an der Innenseite von
pflaume – durch Aplasie der Bauchmuskeln + Anomalien Ober- und Unterschenkel
im Urogenitaltrakt
Schanz-Verband: Halswickel aus Watte und Binden bei
Pufferabsatz: Weicher Absatz, um den Fersenauftritt akutem Schiefhals und Zervikalsyndrom
abzufedern
Schede-Laufrad: Dreirad, auf dem sich Kinder sitzend
mit den Füßen abstoßend fortbewegen können, z.B. zur
Teilbelastung nach Hüftoperation
R
Schmetterlingsrolle: Schmetterlingsförmige Abrollhilfe
Radfahrerlähmung: Daumenballenmuskellähmung am Schuh bei Spreizfußbeschwerden
durch chronischen Druck gegen den peripheren Ast des
Nervus medianus Schneider Aufnahme der Hüfte: Konturaufnahme des
Femurkopfs im ventralen und dorsalen Anteil durch Kip-
Radspeichenhand: Gespreizte gleich lange Finger bei pen der Röntgenröhre um 30° bzw. Hüftbeugung
Chondrodystrophie
Sichelzellenanämie: Weite Knochenräume, Osteoporo-
Rhizomelie: Verkürzte Oberarme und Oberschenkel se, Fischwirbelbildung

Rigid-Spine-Syndrom: Kongenitale Myopathie mit zu- Sjögren-Syndrom: Polyarthritis mit Konjunktivitis, Par-
nehmender Flexionseinschränkung der Wirbelsäule otitis, Tränendrüsenentzündung und Schleimhautbefall

Rippstein-Aufnahme der Hüfte: Röntgenaufnahme der Skorbut: Vitamin-C-Mangel verursacht am Skelett sub-
Hüfte in 20° Abduktion und 90° Beugung zur Messung periostale Blutungen, Epiphysenablösungen und Oste-
des Antetorsionswinkels oporose
300 Raritätenlexikon

Sprungschanzenphänomen: Ausdruck für das knopf- Toeing in: Typisch Innenrotationsgang z.B. bei idiopathi-
förmige Vorspringen des Dornfortsatzes L5 bei der scher Coxa antetorta
Spondylolisthese L5/S1
Totenlade: Schalenförmige Sklerosierungen um einen
Stinkfuß: Pes olens; in der Orthopädensprechstun- osteomyelitischen Knochenherd
de leider keine Rarität. Behandlung nach K.L. Krämer:
Hydrotherapie Tourniquet-Syndrom: Nach Eröffnen der Blutleere bei
Extremitätenoperationen mit Blutdruckabfall, Pulsan-
Sulcus-ulnaris-Syndrom: Bei Flexion des Ellenbogens stieg, Azidose, Hypoxämie
an der ulnaren Handkante durch Kompression des
N. ulnaris im Sulcus N. ulnaris Tripelarthrodese: Versteifung des Talokalkaneal-, Talo-
navikular- und Kalkaneokuboidalgelenks
Supinatortunnel-Syndrom: Streckschwäche der Finger
durch Kompression des N. radialis beim Durchtritt durch Trommlerlähmung: Spontanriss der Sehne des Muscu-
den M. supinator lus extensor pollicis longus

Synbrachydaktylie: Missbildung mit Verkürzung der Turmschädel: Ergibt kombiniert mit Syndaktylien das
Finger und/oder Zehen, die noch dazu miteinander ver- Krankheitsbild der Akrozephalosyndaktylie
wachsen sind.

U
T
Ulnartunnel-Syndrom: Druckläsion des N. ulnaris im
Tapirschnauze: Lähmung des M. orbicularis oris führt präformierten Engpass am Handgelenk mit Hypästhesie
zur Schwellung der Oberlippe des Kleinfingers und Parese der Handbinnenmuskeln

Tatzenhand: Gleich lange Finger bei der Chondrodys- Ulrich-Turner-Syndrom: Fehlen eines X-Chromosoms
trophie mit Minderwuchs, Pterygium colli, Cubitus valgus und
verkürztem Mittelhandknochen IV
Thalassämie: Hämolytische Anämie verursacht u.a.
Osteoporose, Markraumerweiterung, Kortikalisver-
dünnung, Säbelbeine, Kyphoskoliose, Bürstenschädel,
mahagonibraune Farbe des Knochenmarks
W
Thiemann-Erkrankung: Spontane Osteonekrose an den Wilhelm-Operation bei Epicondylopathia radialis hu-
Phalangenköpfchen von Fingern und Zehen meri (Tennisellenbogen) mit Denervation der Gelenk-
äste des N. radialis und Desinsertion der radialen Exten-
Tibia vara infantum: Von Blount beschriebene spontane soren
Osteonekrose (oder enchondrale Dysostose) des media-
len metaphysären Tibiakopfes mit O-Bein. Im Gegensatz
zum Crus varum congenitum liegt der Scheitel weiter
proximal
X
Tietze-Syndrom: Unklare schmerzhafte Schwellungen Xanthom des Knochens: Nichtossifizierendes Fibrom
der Brustbein-Rippenübergänge der 2. bis 4. Rippe
Sachverzeichnis
303 A-B

Sachverzeichnis
Arrosionen 49 Atlasassimilation 145
Arteriographie 41 Aussenbandplastik, oberes
A Arthritis Sprunggelenk 263
– bakterielle 110–112 Aussenrotationsgang 19
Abschnürungen, amniotische 204 – Bechterew-Syndrom 118
Achillessehnenriss/-ruptur – eitrige (purulente) 110
266–267 – Ellenbogengelenk 204–205
Achillessehnenverlängerung, – fugax 118–119
B
Klumpfuß 276 – Handgelenk 207–208
Achillodynie 109, 266 – juvenile chronische 112 Bajonettstellung, Handgelenk 30
Achondroplasie – Lyme-Borreliose 111 Baker-Zyste 255
(Chondrodystrophie) 77–78 – psoriatica 118 Bandscheibendegeneration/-dis-
Achsenfehler 11, 27, 78 – purulenta 110 kose bzw. -prolaps-/protrusion
Adduktionskontraktur, Hüftgelenk – Reiter-Syndrom 118 27, 29, 154–157
15 – rheumatische 113, 116 – lumbale 169
Adoleszentenkyphose 137–138 – Röntgenbefund 50, 111 Bandscheibenlockerung 164
Ärzte anderer Fachrichtungen / – urica (Gicht) 82, 116, 117, 248 Bandverletzungen 127
Konsilien 43–44 Arthrodese 64, 116, 276 – Alterung 28
Aitken-Klassifikation, Epiphysen- Arthrographie 41 – Ersatz/Implantate 65, 67
verletzungen 125-126 Arthrogryposis (multiplex – Kniegelenk 255–256
akromioklavikulares Nebengelenk congenita) 23, 106 – Sprunggelenk, oberes 262–265
188 Arthropathie 34, 248 Bankart-Läsion 199
Akromioklavikular-(AC)-gelenk, – abakterielle 117 Bankart-Operation 201
Verletzungen 201 – monoartikuläre 116 Bechterew-Syndrom 23, 118,
Akupunktur 63 – neurogene 34, 248 149–151
Algodystrophie 127–128 – tabische 26, 34 Becken-Bein-Fuß-Gipsverband
Aluminiumoxidkeramik 65 Arthrorise 64 234
Amelie 75 Arthrose / Arthrosis 27, 30, 68, Becken- und Hüftbbereich
Amputationen, Prothesen 61 119–121, 235–236 – Abrissfrakturen 238
Anämie, chronischer Gelenk- – aktivierte 116 – Kartenherzform 79
rheumatismus 115 – Arthrosis deformans 27, 30, – Tendopathie 238
Anamnese 38 119–120, 126 Beckengürtelform, Muskeldystro-
Ankylose 23 – DIP-Gelenke 120–121 phie 108
– Arthritis, bakterielle 110 – Ellenbogengelenk 204–205 Beckenosteotomie nach Chiari
Antekurvation 11–12 – Handgelenk 207–208 bzw. Salter 225
Antiphlogistika 63 – Hüftgelenk 235–236 Beckenschiefstand 14
Aponeurosis plantaris 272 – latente 28 Beckenverformung, Rachitis 85
Apophysenausrisse 126 – Schultereckgelenk 201 Beckenvor-/-rückkippung 16–17
Apophysitis calcanei 33 Arthroskopie / arthroskopische Begleitarthritis 116, 118–119
arbeitsbedingte Schäden 68 Operationen 42, 64 Begutachtungsprobleme 69–70
Arbeitstherapie 59 Arthrotomie 64 – Achillessehne 267
Arlt-Reposition 201 Articulatio – Hüftdeformation 239
Armplexuslähmung, geburts- – talocalcanearis (subtalaris) 272 – Meniskuserkrankung 257
bedingte 34 – talocalcaneonavicularis 272 – Schultergelenkverletzung 202
Arnold-Chiari-Syndrom 145 Atlantookzipitalgelenk 143 – Wirbelsäulensyndrom 176–177
304 Sachverzeichnis

Behandlungsmethoden 54–71 Brustwirbelsäule (BWS), Collesfraktur 213


Bein, Längen-/Umfangsmessung Funktionsprüfung 135 Computertomographie (CT) 42
40 Bursitis Cotrel-Debousset-Operation 143
Beinlängendifferenz 14, 31, 221, – olecrani 110, 207 Coxa
239 – prepatellaris 110 – antetorta 8, 19, 220, 228
Beinverkürzungen – subacromialis bzw. -deltoidea – saltans 228, 238
– Beckenschiefstand 14 110 – valga 122, 220, 227
– funktionelle 13, 218 – trochanterica 110 – vara (congenita) 226–228
Bennett-Fraktur 214 Coxitis (s. Koxitis) 30, 112, 230,
Berufskrankheitenverordnung 234–235
(BKVO) 68 Crus
Berufsunfähigkeit 69
C – valgum 260
Beschäftigungstherapie 59 – varum (congenitum) 9, 26,
Beschleunigungsverletzung, Hals- C6-, C7- bzw. C8-Syndrom 159–161 260–261
wirbelsäule 175–176 Caput-collum-Diaphysen-Winkel Cubitus valgus/varus 30
Beugekontraktur (CCD) 218 Cushing-Syndrom 33
– Ellenbogengelenk 39 Caput-quadratum 85
– Hüfte 219 Caput-ulnae-Syndrom 113, 115
Beuge-Spreizbandage nach Catterall-Einteilung des M. Perthes
Bernau 224–225 228–230
D
Bewegungen 26 Centrum-Collum-Diaphysen
– geführte 57 (CCD-)-Winkel (CCD) 51 Dauerimplantate 65
– passive 54 Chemonukleolyse 43, 170–171 Daumendeformität 113
Bewegungsschiene, motor- Chiari-Technik, Beckenosteotomie Daumengrundgelenk, Subluxation
betriebene 54 225 214–215
Bewegungssegment 155 Chiropraxis (s. auch manuelle Daumensattelgelenk, Arthrose
Bewegungsstörungen Therapie) 62 209
– Extremität, obere 22 Chondroblastom (Codman-Tumor) Deformierungen 75
– Gelenke 23 93–95, 99 – lagebedingte, Hüfte 233
– neurogene 121–125 Chondrodystrophie (Achondro- – mono- und multiätiologische
– Rumpf 22–23 plasie) 77–78 76–77
Bewegungstherapie 55–57 Chondrokalzinose 117–118 – präarthrotische 31
Binde- und Stützgewebe, Alte- Chondrom 94, 100–101 – prädiskotische 31
rung/Degeneration 27–28 Chondromalazie, Patella 244 Degeneration(szeichen) 27–29
Biomaterialien 65 Chondromatose 95 – Röntgenaufnahmen 48–49
Biomechanik 10–27 Chondromyxoidfibrom 93 – Wirbelsäule 169
Bizepssehnensyndrom 196–198 Chondropathia patellae 36, Deviationswinkel 51
Blockwirbel 146 252–253 diabetische Neuropathie 34
Blutergelenk 119 Chondrosarkom 93, 101–102, 105 Digitus quintus superductus
– Knie 247 Chopart-Gelenklinie 271 (varus) 289
Bobath-Methode 58 Claudicatio intermittens spinalis DIP-Gelenke, Arthrose 120–121
– Zerebralparese, infantile 123 34 Diskographie 42–43
Bouchard-Arthrose 208 Clavus (Hühnerauge) 289 Diskose 29, 154
brauner Tumor 87–88, 101 Coalitio calcaneonaviculare 285 Dislokation, atlantale, anteriore
Brettsymptom, Hüftlendenstreck- Cobb-Winkel 51 bzw. atlantoaxiale 144
steife 173 Codman-Dreieck 102 Distorsion, oberes Sprunggelenk
Brodie-Abszess 91–92 Codman-Tumor (Chondroblastom) 262–265
Brustkyphose 136 93–95, 99, 102 Drehgleiten 164
Sachverzeichnis
305 C-G

Drehmann-Zeichen, Epiphysen- Epiphysenveletzung, Wachstums- Fibrosarkom 103, 105


lösung 36, 40, 232 stillstand 125 Fibula
Druckschäden, -stellen bzw. Epiphysiodese 246 – Defekt 76
-ulzera 34–35, 62 Epiphysiolysis capitis femoris – Fraktur 264
Duchenne-Erb-Lähmung 199 231–233 – Verkürzung 264
Duchenne-Hinken 20–21 – Drehmann-Zeichen 36, 232 Finger, schnellender 109, 211
Dupuytren-Kontraktur 212 – Wachstumsstillstand 125 – rheumatische Arthritis 113
Durchblutungsstörungen, Ergotherapie 59 Fischwirbel 79, 83
periphere 34, 62 Ermüdungsfrakturen 31, 126, 287 Flachrücken 136
Dysostosen, endochondrale 80 Erwerbsunfähigkeit 70 Flake-Fraktur 245
Dysplasie(n) 76 Ewing-Sarkom 93, 103–104, 105 Fragilitas osseum hereditaria 79
– epiphysäre, multiple 80 Exerzierknochen 107 Frakturen 125
Dysraphie, dorsale 123–124 Exostose(n) 94 – Fehlstellungen 30, 125
Dystrophie / Dystrophia – Amputation 62 – pathologische, idiopathische
– adiposogenitalis 32, 231 – kartilaginäre 93, 94 237
– Bandscheibengewebe 27 Extension 55 – Pseudarthrose 125
– musculorum progressiva 108 Extremität(en) – Sprunggelenk, oberes 262–265
– Längendifferenzen 12 Froschbauch, rachitischer 85–86
– Missbildungen 75 Funktionsstörungen 10–11,
– obere, Bewegungsstörungen 22 17–22
E Fuß 271–290
– anatomische Variationen
Echondrom, stammnahes 101–101 280–281
Einlagen 61, 276
F – Bänder 272
Ektromelie 75–76 – Deformitäten, angeborene
Elektromyographie 43 Facetten-Syndrom 169 273–281
Elektrotherapie 62 Fallhand 210 – entzündliche und degenerative
Ellenbogengelenk 39, 204–207 Familienanamnese 38 Veränderungen 283
– Arthritis / Arthrose 204–205 Faustschlusstest 181 – Knochenvorsprünge 285
– (Beuge-)Kontrakturen 39, 122, Fehlhaltung, ischiatische 167 – Nekrosen, aseptische 283
207 Fehlstellungen – neurogene Störungen,
Enchondrom 99 – Frakturen 30, 125 Lähmungsfolgen 285–286
– stammfernes 93, 94 – Handgelenk 212 Fußspitz-Kontraktur 122
– stammnahes 93, 99, 100–101 – traumatische 30
Endoprothesen (Gelenkersatz) – Wirbelfrakturen 31
65–66 Femoralisneuralgie 169
englische Krankheit 85–87 Femoropatellargelenkdysplasie,
G
Engpasssyndrome Wiberg-Klassifikation 252
– Hals/Thoraxübergang 181–182 Femurdefekte/-fehlstellungen Galeazzi-Fraktur 214
– neurovaskuläre 181–182 224, 239 Gangbildstörungen 17–22
Entlastungshaltungen, Ferse Ganglion 93
Bewegungsübung 55–56 – Schmerzen 285 – Baker-Zyste 255
Entwicklungsstörungen, – Valgusstellung 282 – intraossäres, subchondrales
generelle 77 – Varusstellung 30 98–99
Entzündungen 30–31, 49 Fersenbeinfraktur 286–287 Gargolysmus 77
Epicondylitis lateralis humeri 36, Fersensporn 285 Garr-Osteomyelitis, sklerosierende
109 Fibrom, nicht-ossifizierendes 93, 92
Epiphysenlösung 36, 231–233 96–97, 99 GdB (Grad der Behinderung) 69
306 Sachverzeichnis

Gehhilfen 22 – Knochen 99–100 – frühkindliche 219–226


Gelenkblutungen 33 Haglund-Ferse 33, 285 – kongenitale (angeborene) 36,
Gelenkchondromatose 95 Hallux 219–226
Gelenkempyem 110 – rigidus 288–289 – Koxarthrose 220
Gelenkerkrankungen 110–121 – valgus 287–288 – Ortolani-Zeichen 221
– degenerative 119–120 Halskrawatten 162 – Sekundärpfanne 220
– neuropathische 119 Halslordose 136 – traumatische/teratologische
Gelenkersatz (Endoprothese) Halswirbelsäule (HWS) 224
65–66 – Beschleunigungsverletzung – Weichteilveränderungen 220
Gelenkfehlstellungen 27, 29 175–176 – Zerebralparese, infantile 122
Gelenkkapselverletzungen 127 – Funktionsprüfung 134 Hüfte / Hüftgelenk (s. auch
Gelenkknorpel, Alterung 28 – Geburtsverletzung 198 Becken- und Hüftbereich) 218
Gelenkrheumatismus 112–116 Haltung(sstörungen) 17, 135–136 – Abduktions- / Adduktions-
Gelenkschädigung / -leiden – Neutral-Null-Stellung 39 Anspreiz-Kontraktur 15
– Immobilisation 121 Haltungstest nach Matthiaß 136 – Abrissfrakturen 238
– Inaktivität 121 Haltungstraining 57 – Arthrose 9
– neuropathische 119 Hammerzehe 289 – Beugekontraktur 219
Gelenkspalt, Verschmälerung 48 Hand / Handgelenk 30, 122, – Deformitäten
Gelenksteife, Hinken 21 207–208, 212, 215 – – Begutachtung 239
Gelenktuberkulose 111 – Arthritis / Arthrose 207–208 – – lagebedingte 233
Gelenkverschleiß 119–120 – Begutachtung 215 – Dysplasie, frühkindliche
Genu – Beugekontraktur 113, 122 219–226
– antecurvatum 246–247 – Fehlstellung 30, 212 – Erguss 218
– recurvatum 11, 21, 243–244, – Funktionsprüfung / -störungen – Neutral-Null-Methode 219
246–247 59, 208, 215 – schnappende / schnellende
– valgum 8 – neurogene Störungen 209–210 238
– varum 11 – rheumatische 113 – Verletzungen 238
Gerinnungsstörungen 33 – Tendinitis 210 Hüftendoprothese 65–66
Gestaltenwandel 8–10 Harnsäure 44 Hüfthinken 20–21
Gibbus 139 Harrington-Distraktionsstab 142 Hüftkopfkern 219, 222
Gicht (Arthritis urica) 32, 117, Harrington-Operation 143 Hüftkopflösung, jugendliche
248 Harrison-Furche 86 231–233
Glasknochen(krankheit) 78–79 Heberden-Arthrose 120–121, 208 Hüftkopfnekrose, idiopathische
Gliederstarre, angeborene 106 Hexenschuss 169 33
Gliedertaxe 69 Hilgenreiner-Linie 222 – des Erwachsenen 236–238
Gonarthrose 248–249 Hinken 19, 21 – kindliche 228–231
Gonitis 30, 247–248 Hippokrates-Reposition 201 Hüftlendenstrecksteife 173–174
Gracilissyndrom 109 Hirnschaden, frühkindlicher Hüftluxation 76, 225
Grad der Behinderung (GdB) 69 121–123 – angeborene 219–226
Granulom, eosinophiles 93, 99 Histiozytosis X 99 – traumatische 224
HLA-B27, Spondylitis ancylosans Hüftpfannendysplasie 76
44, 150 Hühneraugen (Clavus) 279, 289
Hochwuchs, eunuchoidaler 231 Hühnerbrust (Pectus carinatum)
H Hohlfuß 274, 279–280 77, 180–181
Hohmann-Mieder 60 – Rachitis 85–86
Hackenfuß 277–278 hormonelle Störungen 32 Hueter-Dreieck 205
Hackengang 22 Hüftdysplasie/-luxation 76, 225 Humeruskopf, Hochstand 195
Hämangiom 93 – doppelseitige 221 Humpeln 19, 21
Sachverzeichnis
307 H-K

Hungerosteopathie 32 – Lähmungsluxation 243


HWS-Schleudertrauma 175–176
K – Luxation, angeborene 246
HWS-Syndrom 28, 161 – Osteochondrosis dissecans,
Hyperkalziurie- und -ämie 88 Kahler-Syndrom 104–105, 174 König 253
Hyperparathyreoidismus 32 Kahnbein – Osteonekrose 254
Hyperphalangie 75 – Fraktur 212–215 Knieschule 57, 70–71
Hyperurikämie, Gicht 117 – Osteonekrose 283–285 Kniestreckapparat 243–244
– Pseudarthrose 214 Kniestrecksteife 23
Kalkaneussporn 285 Knochen / -erkrankungen
Kalzium 44 – akzessorischer 280
I Kapselbandläsionen 26, 30, 263 – Alterung 28
Kapselphlegmone, bakterielle – Brüchigkeit, abnorme 79
ICP (infantile Zerebralparese) Arthritis 110 – entzündliche 89–92
121–123 Karpaltunnelsyndrom 113, 115, – fibröse Knochendysplasie 93,
Immobilisation, Gelenkschädi- 211–212 98
gung 121 Kastenwirbel 150 – Hämangiom 99–100
Immobilisationsschaden 31 Kauda-Syndrom 169 – Hon-Hodgkin-Lymphom 104
immunpathologische Prozesse 32 Keilwirbel 31, 79, 83, 137, 146 – Infektion 91, 126
Impingement 194 Keramikimplantate 65 – metabolische 80–89
Implantate 50–51, 65 Kernspintomographie 44 – Metastasen 105
– Bruch 65, 67 Kielbrust 180–181 – Nekrosen, aseptische 33–34
– Lockerung 67 Kienböck-Syndrom 33, 208–209 – Neubildungen, Malig-
– Unverträglichkeiten 67 Kinderlähmung nitätskriterien 102
Impression, basiläre 145 – spastische 121–123 – Transplantation 64
Inaktivität, Gelenkschädigung – spinale 124–125 – Tumoren 92–105
121 Klauenzehe 289 – – benigne 99
Infektionsrisiko, Implantate 67 Klaviertastenphänomen 201 – – maligne 101–105
Innenrotationsgang 18–19 Klavikulafraktur 198 – – Einteilung 92–93
Insertionstendopathie 28, 31, Klippel-Feil-Syndrom 185 Knochendichte 47–48
109–110 Klippel-Trenaunay-Syndrom 76 – Messung (Osteodensitometrie),
Inspektion 38 Klumpfuß 23, 58, 76, 273–277 Osteoporose 83
Instabilität, posttraumatische – paralytischer 277 Knochenkerne 10
127 – Redression 275 Knochenneubildung,
Interphalangealgelenk, distales/ Klumpke-Lähmung 199 Malignitätskriterien 102
proximales (DIP/PIP) 208 Knickbein 11 Knochenumbaustörungen 80–89
Involutionsosteoporose 81 Knickfuß 8, 30, 264 Knochenverdichtung 47–48
Ischialgie 154, 166–171 Knickplattfuß 9, 281 Knochenverdünnung 47
Ischiasschmerzen, Paget-Syndrom Knie / Kniegelenk 122, 242–257 Knochenzement 65
89 – Arthrose / Arthropathie 9, 248 Knochenzyste
– Bandverletzungen 255–256 – aneurysmatische 93, 100
– Blutergelenk 247 – juvenile 93, 97–98
– degenerative Veränderungen – solitäre 97–98
J 248–254 Knöchel / Knöchelbereich, Verlet-
– Endoprothese 66 zungen und Verletzungsfolgen
Jaffé-Lichtenstein-Syndrom 98 – Entzündungen 247–248 262–267
– Hämarthros 255 Knopflochdeformität 113, 114
– Innenläsion / -innenbandläsion Köhler-Syndrom 33, 283–285
255–256 König-Syndrom 33, 253
308 Sachverzeichnis

Konsilien 43–44 Längenmessungen 40 – Lähmung 26


Kontinuitätsunterbrechung Lagerung 54 – Patella 244–246
50–51 Lagerungsdeformität, Kontraktur – rezidivierende 30
Kontrakturen 22, 23–25, 35, 62, 24 – Schultereckgelenk 201
106, 207 Lamellen, maligne 102 – traumatische 26
Kontrastmittelreaktion, Larsen-Syndrom 252 Luxationsfraktur, oberes Sprung-
Arteriographie 41 Lasègue-Zeichen 166 gelenk 264
Kopf-Hals-Übergang 143 Lauenstein-Aufnahme 49 LWS-Syndrom 28
Kopfnickerhämatom 198 Lauenstein-Lagerung, Epiphysen- Lyme-Borreliose, Arthritis 111
Kopfschmerzen, zervikale 161 lösung 232
Korbhenkelriss, Meniskus 250 Lehrlingsrücken 137–138
Korsett, orthopädisches 60 Lenden-Becken-Beinwinkel 16–17
Kortikalisdefekt, fibröser 96–97 Lendenlordose 136
M
Kosto-Klavikular-Syndrom 181 Lendenrippen 145
Koxarthrose 220, 235 Lendenwirbelsäule (LWS), Funk- Madelung-Deformität 75, 204
Koxitis / Coxitis 30, 230–234 tionsprüfung 135 Malleolarfrakturen 264
Krallenhand 210 Lendenwulst 76 manuelle Therapie / Chiropraktik
Krallenzehen 279, 289 Leukozytose, Gelenkrheumatis- 62, 169
Kraniotabes, Rachitis 85 mus, chronischer 115 Marschfraktur 31
Krankengymnastik (s. Physiothera- Ligamentum(-a) / Lig. Massage 62–63
pie) 55–58, 84, 115 – Lig. alaria 144 Massenverschiebungen, intra-
Kretinismus 33 – Lig. calcaneonaviculare 272 diskale 163
Kreuzbandverletzungen, alte – Lig. coracoacomiale, Resektion McRae-Linie 145
256 198 MdE (Minderung der
Kreuzschmerzen 164–166, 169 – Lig. plantare longum 272 Erwerbsfähigkeit) 69
Kryotherapie 57 – Lig. transversum 144 Medianuslähmung 210
Küntscher-Nagel 63 Lisfranc-Gelenklinie 271 medikamentöse Therapie 63
Kyphose 33, 136–139 Lobstein-Osteogenese 79 Ménard-Shenton-Linie, Hüft-
– Beschäftigungstherapie 59 Lockerung, Implantate 67 luxation, kongenitale 222
– posttraumatische 175 Looser-Umbauzonen, Rachitis 86 Meningomyelozelen (MMC)
Kyphoskoliose 140 Low-turn-over-Osteoporose 82 123–124
Lumbalgie 169 Meniskus / Meniskopathie 41,
Lumbalkyphose 16–17 249–252
Lumbalsyndrom 163–171 – Begutachtung 257
L – Flexionsorthese 170 – Degeneration 250
– lokales 164–166 – Diagnostik, Arthrographie 41
Labor 44 – pseudoradikuläres 165 – Zeichen 250–252
Lachmann-Test, Kreuzbandverlet- – Therapie 168 – Zyste (Baker-Zyste) 251–252
zungen 50, 256–257 Lumboischialgie 169 Meniskusganglion 252
Lähmungen lumbosakraler Übergang, Mennell-Test 40
– schlaffe / spastische 17 Variationen 145 Mennell-Zeichen, Spondylitis
– spastische, Krankengymnastik Lunatummalazie 31, 68, 205, ancylosans 150
58 208–209 Merke-Zeichen, Meniskusläsion
Lähmungsfolgen, Fuß, neurogene Luxation(en) 25–26 251
Störungen 285–286 – Formdifferenzierung, Störungen metabolische Störungen 32
Lähmungsklumpfuß 23 76 Metacarpophalangealgelenk
Lähmungsluxation 26, 224, 243 – habituelle 25, 126 (MCP) 208
Lähmungsspitzfuß 285 – Hüftgelenk 219 Metastasen, Knochen 46, 105
Sachverzeichnis
309 L-O

Mieder, orthopädische 60 Nebenschilddrüsenüberfunktion Osteochondrose / Osteochondro-


Migraine, cervicale 161 32 sis 29, 33–34, 68, 154, 156
Mikrotrauma 30–31 Nekrosen, aseptische, Fuß 283 – dissecans 33, 68, 205–206
Minderung der Erwerbsfähigkeit Neugeborenenkoxitis 234 – Kniegelenk (König-Syndrom)
(MdE) 69 neurogene Erkrankungen / 33, 253
Minderwuchs 32–33, 78–79 Störungen – Talusrolle 265
Minusbildungen 75 – Bewegungsorgane 121–125 Osteodensitometrie 83
Mobilisation 55 – Hand 209–210 Osteodystrophia
Monteggia-Fraktur 207 Neurom, Amputation 62 – deformans 88–89, 98
Morgensteife, Arthritis, rheuma- Neuropathie, diabetische 34 – fibrosa generalisata (Reckling-
tische 113 neurotrophische Störungen 34 hausen) 32, 87–88
Morgensteifigkeit, Gelenkrheuma- Neutral-Null-Stellung 39, 219 Osteofibrosis deformans, juveni-
tismus, chronischer 114 nichtoperative Therapie 54–63 lis 98
Moro-Reflex, Zerebralparese, Non-Hodgkin-Lymphom, Knochen Osteogenesis imperfecta 79
infantile 122 104 Osteoidosteom 93, 96, 99
Morquio, Louis 77 Nukleotomie, perkutane 171 Osteoklastom 93, 99, 101
Morquio-Syndrom 77 Osteolyse 49
Mottenfraß 102 Osteom 93, 95, 99
MRT (Magnetresonanztomo- Osteomalazie 50, 87, 145
gramm) 44
O Osteomyelitis 30, 62, 90–91
Mukopolysaccharidose 77 – hämatogene 90–91
Musculus-sternocleidomastoi- O-Bein 8–11, 29, 33, 40, – postoperative / posttrauma-
deus-Riss 198 246–247 tische 91
Muskelaktivität 26 Oberschenkel, Längenmessung – sclerosans 92
Muskelatrophie, Gelenkrheumatis- 40 – Tibia 261
mus, chronischer 115 Östrogene, Osteoporose 82 Osteonekrose 50, 246, 254,
Muskeldystrophie, Becken-/Schul- Okzipitalisneuralgie 158 283–285
tergürtelform 108 Okziputatlas 143 – spontane 33–34
Muskelerkrankungen 106–108 Omarthritis 30, 190–191 Osteophyten 49
Muskelkontrakturen 106–108 Omarthrose 190–191 Osteoporose 28, 33, 80–85, 88
Muskelkräftigung 55, 84 ontogenetosche Störungen, – aktivierte 81–82
Myelographie 45 Luxation 25 – alimentäre 82
Myelom, multiples 104–105 Operationen / operative Therapie – gelenknahe 114
Myogelose 106 63–68 – Knochendichtemessung 83
Myositis ossificans 106–107 – arthroskopische 42, 64 – kortisoninduzierte 82
Myotendinosen (Epikondy- – Komplikationen 67–68 – Krankengymnastik 84
lopathia, Tennisellenbogen) Orthesen 59–61 – metabolische 82
106, 109, 206–207 – degenerative Wirbelsäulener- – Östrogene 82
krankungen 169 – postklimakterische / Altersosteo-
– Skoliose 143 porose 80–81
Ortolani-Zeichen, Hüftdysplasie – primäre, idiopathische 80–81
N 221 – Prophylaxe 84–85
Osgood-Schlatter-Syndrom 254 – sekundäre 82–83
Nagel-Patella-Syndrom 245 Ossifikation, heterotope 106–107 – Therapie, medikamentöse 83
Narbenkontraktur 35 Ossifikationszentren 10 – Vertebroplastie 84
Narbenschiefhals 185 Osteoarthropathie, neurogene 34 – Wirbelverformungen 83
Nebennierenrindenüberfunk- Osteoblastom 96 Osteopsathyrose 79
tion 33 Osteochondrom 93, 94, 99 Osteosarkom 102–103, 105
310 Sachverzeichnis

Osteosynthese 63, 66 – planovalgus 281 Prothesen 61–62


Osteotomie 63 – planus congenitus 278–279 Protrusio acetabuli, idiopathische
Ostitis, deformans 88–89 – valgus 264 163, 233
Ott-Zeichen 135 – varus 264, 274 Pseudarthrose 64, 125, 214,
v. Pfändler-Syndrom 77 260–261
Pfannendachplastik, Hüftdysplasie Pseudogicht 32, 116, 117–118
226 Pseudospondylolisthese 147
P Pfaundler-Hurler-Syndrom 77–78 Psoriasis, Arthritis 118
Phantomschmerzen, Amputa- Pyrophosphatgicht 117–118
Paget-Syndrom 88–89, 145 tion 62
Paget-Wirbel 89 Phokomelie 75
Palpation 38–39 Phosphatase 44, 89
Panarthritis 113 Phosphor 44
Q
Pannenbeck, Gustav 67 Physiotherapie / Krankengymnas-
Panner-Syndrom 33, 205–206 tik 8, 55–58 Quengelverbände 54
Pannus, bakterielle Arthritis 110 – neurophysiologische Basis 57 Querschnittslähmungen 123, 169
Paratenonitis – Osteoporose 84 de Quervain-Tendovaginitis
– achillae (Paratendinitis) 266 – Rheuma 115 210–211
– crepitans 210–211 Pivot-shift-Test, Kreuzbandverlet-
Parathormon 88 zungen 40, 256–257
Patella 49, 76, 244–246 Plasmozytom 93, 104–105, 174
– bipartita 246 Plattfuß 278–279
R
– Chondromalazie 244 – Adipositas 32
– Fehlbildungen 246 – erworbener 281–283 Rachitis (englische Krankheit) 32,
– Fraktur, Stufenbildung 27 – posttraumatischer 30 85–87
– tanzende 245 – Schuheinlagen 283 – Remissionslinien 86
– Luxation 25, 26, 30, 76, 244–246 Plattwirbel, Osteoporose 83 – Vitamin-D-Mangel 32
– Verschiebeschmerz 36 Plexus brachialis, Geburtsverlet- Radialislähmung 210
Patellarsehnenriss/-ruptur 256 zung 198 radioulnare Synostose 204
Patellaspitzensyndrom 109 Plexuslähmung Radius-Fraktur 213
Pectoralis-minor-Syndrom 181 – obere (Duchenne-Erb) 199 Radiusdefekt 76
Pectus carinatum (Hühnerbrust) – traumatische 199 Radiusköpfchenluxation 204,
77, 180–181 – untere (Klumpke) 199 207
Periarthropathia humeroscapula- Plusbildungen 75 v. Recklinghausen-Syndrom
ris (PHS) 22, 58, 192–198 PNF (propriozeptive neuro- 87–88
– adhaesiva 58, 195–196 muskuläre Fazilitation) 56, 58, Redression 54, 275
– calcificans 194–195 142 Reflexdystrophie 34
– destructiva 196 Poliomyelitis 124–125 Rehabilitation 69
Perthes-Syndrom 33, 120, Polyarthritis 112–116 Reiter-Syndrom, Arthritis 118
228–231 Polyarthrose 120–121 Reiterknochen 107
Pes Polydaktylie 75, 280 Rekurvation 11–12
– adductus 274, 279 Polymyalgia rheumatica 108 Reposition 55
– calcaneovalgus 286 Postdiskotomiesyndrom (PDS) Retikulumzellsarkom 104, 105
– calcaneus 277–278 171 Retothelsarkom 93, 104
– equino-excav-adducto-varus Prävention 68 Retrolisthesis 164
274 Pressluftschaden 205 Rhabdomyom 108
– equinus 274, 285–286 Pressluftwerkzeuge, Schäden 68 Rhabdomyosarkom 108
– excavatus 274, 279–280 Probeexzision (PE) 45 Rhachischisis posterior 123–124
Sachverzeichnis
311 P-S

Rheuma Schubladen-Zeichen 40
– Arthritis, rheumatoide 113
S – Kreuzbandverletzungen
– Basistherapie 116 256–257
– Stadieneinteilung, radiologische Säuglingskoxitis 234 Schuhe, orthopädische 61
115 Säuglingsosteomyelitis 91, 224 Schuheinlagen 283
Rheumafaktoren 44, 114–115 Säuglingsskoliose 143 Schulter / Schultergelenk
Rheumaknoten, Gelenkrheumatis- Salter-Technik, Beckenosteotomie 188–190, 199–202
mus, chronischer 114 225 – Anatomie 188
rheumatisches Fieber 112–116 Satikstörungen, Sagittalebene – Begutachtung 202
Rheumatoid 118–119 16 – Luxation 30, 76, 188,
Rhizarthrose 209, 213 Saug-Spül-Drainage 90 199–200
Ribbing-Müller-Dysplasie, Schaukelfuß 278–279 – Reposition 201
epiphysäre 80 Scheibenmeniskus 252 – Verrenkung 199
Riesenwuchs Schenkelhalsfraktur 238 Schulterarm-Syndrom 161
– einseitiger 280–281 Schenkelhalswinkel (Centrum- Schulterblatthochstand 190
– hypophysärer 32 Collum-Diaphysen-Winkel) 51, Schultereckgelenk, Verletzungen
– partieller 75, 76 227–228 201
Riesenzelltumor 93, 101 Scherengang 18, 21 Schultereckgelenkarthrose 68
Rippenbuckel 76, 140 Scherenphänomen, Epiphysenlö- Schultereinsteifung, Beschäfti-
Rippstein-Aufnahme 228 sung 232 gungstherapie 59
Risser-Zeichen, Skoliosen Scheuermann-Krankheit 31, Schultergürtelform, Muskeldystro-
141–142 137–139 phie 108
Robbengliedrigkeit 75 Schiefhals 17, 184–185 Schulterpfannendysplasie 76
Röntgenaufnahmen 46–50 – akuter 158, 161, 184–185 Schultersteife 195–196
– Arthritis / Arthrose 50 – muskulärer 68, 106, 184 – Krankengymnastik 58
– Degenerationszeichen 48–49 Schiefwuchs 30 – posttraumatische 196
– in 2 Ebenen 48 Schienbein Schultertiefstand 76
– Entzündungen 49 – entzündliche Störungen 261 Schulz, Hugo 27
– Knochendefekte 50 – Pseudarthrose, angeborene Schwanenhalsdeformität
– Knochendichte 83 260–261 113–114
– Kontinuitätsunterbrechung – traumatisches 261–262 Schwindel, zervikaler 161
50–51 Schilddrüsenüberfunktion 33 Schwurhand 210
– Osteonekrose 50 Schilddrüsenunterfunktion 33 Sehnen / Sehnenerkrankungen
– Zirkulationsstörungen 49–50 Schipperkrankheit 175 108–110
Rosenkranz, rachitischer 85–86 Schlatter-Syndrom 33 – Alterung 28
Rotationsinstabilität 144 Schleimbeutelerkrankungen 110 – Ersatz 67
Rotatorenmanschette 188–189 Schleudertrauma 175–176 – oberes Sprunggelenk 265–267
Rotatorensehnendefekt- Schmerzhinken 20 – Ruptur 28, 115
arthropathie 191 Schmerzkontraktur 24 – Verletzungen, Spätfolgen 127
Rotatorensehnensyndrom Schmetterlingswirbel 146 Sehnenknoten 109
193–194 Schmorl-Knötchen, Scheuermann- Sehnenscheidenentzündungen
Rückenschule 57, 70–71 Krankheit 137 108–110, 210
Rumpf, Bewegungsstörungen Schmuckarme, Armamputierte Sehnenscheidenstenosen 109
22–23 62 Senkfuß 8
Rundrücken 136 schnellender Finger 109 Sequesterbildung 28
Schober-Zeichen 22, 40, 135 Sichelfuß 274, 279
Schonhaltung 17 Sinding-Larsen-Syndrom 246,
Schonhinken 20 254
312 Sachverzeichnis

Sinterungsfrakturen, Osteoporose Spondylose 29, 31, 154, 156 Sudeck-Syndrom 127–128,


84 Spongiosa, autologe 64, 66 212
Sitzbuckel 137 Spontanfrakturen 33 Supinationsbehinderung,
Sitzkyphose 85, 137 Sport 57 Beschäftigungstherapie 59
Skalenussyndrom 181 Sporttauglichkeitsuntersuchung Supinationsfuß 274
Skelett / Skelettsystem 68 Supraspinatussehne 189
– Entstehung von Skeletter- Spreizfuß 281–283 Supraspinatussehnensyndrom
krankungen 35 Spreizhose, Hüftdysplasie 224 109
– radiologische Symptome 47–51 Sprengel-Deformität 190 Syndaktylie 204, 280
– Szintigramm 46–47 Sprungbeinfraktur 286–287 Synostose, radioulnare 204
Skidaumen 214–215 Sprungbereitschaft, Zerebral- Synovektomie 64
Skoliose 14, 34, 40, 58, 68, 76, parese, infantile 122 Synovialom 93
122, 139–143 Sprunggelenk Synovialsarkom 254
– Beschäftigungstherapie 59 – oberes 262–267, 272 Synoviorthese 63
– Cobb-Winkel 51, 142 – unteres 272 Synovitis
– idiopathische 139, 141 – Versteifung 265 – pigmentierte, villonoduläre
– myopathische 139 Statik 10–26 254
– neuropathische 139 Statikstörungen, Röntgen- – transitorische 118
– Orthesen 143 aufnahmen 13–16 – villonodularis 254
– osteopathische 139 Steigbügelmuskeln, Fuß 272 Syringomyelie, Arthropathie 34
– posttraumatische 175 Steinmann-Zeichen 40, 251 Szintigramm, Skelettsystem
– Prävention 68 Steppergang 21 46–47
– strukturelle 15 Stieda-Schatten, Seitenband-
Sohlenabdruck, Fuß 273 läsion, Kniegelenk 256
Sonographie / Ultraschallunter- Still-Syndrom 112
suchung 45–46 Storchengang 21
T
soziale Orthopädie 68–71 Stoßwellenbehandlung, extrakor-
Spaltfuß und -hand 280 porale 63 Tabes dorsalis 119
spastischer Gang 21 Strahlenosteomyelitis 286 Talokruralgelenk 272
Spiculae 102 Streptokokkeninfektion, Polyar- Talusrolle, Osteochondrosis
Spina bifida 123–124, 146 thritis 112 dissecans 265
Spina ventosa, Gelenktuberkulose Stressfraktur 126, 287 Tarsaltunnelsyndrom 287
112 strukturelle Störungen 10–11 Tendinose 27
Spitzfuß 122, 274 Studentenellenbogen (Bursitis Tendovaginitis 109
Spitzfußkontraktur 13, 14 olecrani) 207 – de Quervain 210–211
Spondylarthritis Stumpfkrankheiten, Amputation – stenosans 109, 211
– ancylopoetica 118 62 Tennisellenbogen 31, 36
– enteropathische 119 Styloiditis Tenosynovitis 109, 113
Spondylitis 30, 168 – radii 109, 211 Tetraplegie, spastische 17, 18
– ancylosans 149–151 – ulnae 109 Therapie
– anterior migrans 152 subakromiales Nebengelenk 188 – manuelle 62, 169
– infektiöse 154 Subakromialsyndrom (SAS) – medikamentöse 63
– tuberculosa 112, 151–153 192–198 – operative 63–68
– unspezifische 154 – adhäsives 195–196 Thomas-Handgriff 40
Spondylolisthesis 147–149, – mit Kalkdepot 194–195 Thomas-Schiene 60, 230
164 Subluxationen, Schultereckgelenk Thoracic-outlet-Syndrom
Spondylolyse 147–149 201 181–182
Spondyloptose 147–149 Sudeck-Dystrophie 34, 127–128 Thorakalsyndrom 162–163
Sachverzeichnis
313 T-Z

thrombotische Syndrome, Unterschenkel 40, 260–262 Wirbelgleiten 147–149


Unterschenkel 262 Untersuchung 38–51 Wirbelkanalstenosen, lumbale
Tibiakopffrakturen 255 Unverträglichkeiten, Implantate 34, 172–173
Tibialis-anterior-Syndrom 262 67 Wirbelsäule / WS-Erkrankungen
Tinel-Hoffmann-Zeichen 211 Uratgicht 117 135–174
Tintenlöscherfuß 278–279 – Begutachtung 176–177
Tonnenwirbel 150 – Berufskrankheit 177
Torsionsfehler 12 – degenerative 29, 154–174
Torticollis (Schiefhals) 158–159,
V – Entwicklung 133–134
184–185 – entzündliche 149–154
Tossy-Klassifikation, Schulter- Valgusferse 273, 282 – Störungen 135–149
eckgelenk, Verletzungen 202 Varisierungs-Osteotomie, Hüftdys- – Tumoren 168, 174
Tragstrahl 271 plasie 226 – Untersuchung 134–135
Trainingsgeräte 58 Verhaltenstraining 57 – Verletzungen 174–176
Trauma 30 Verknöcherung, partielle 30 Wirbelverformungen, Osteopo-
Trendelenbug-Hinken 20 Verkürzungshinken 19–20 rose 83
Trichterbrust (Pectus excavatum) Vertebroplastie, Osteoporose 84 Wirk-e-Prinzip 40–41
180 Vibrationen 30 Wurzelsyndrom
Trochanter, major, femoris 110 Vitaminmangelkrankheiten 32 – lumbales 166–171
Tuberkulose, Arthritis 111–112 – Vitamin-C-Mangel 32 – thorakales 154
tumorähnliche Erkrankungen, – Vitamin-D-Mangel, Rachitis 32 – zervikales 160–161
Knochen 92–105 Vojta-Methode 58, 123
Tumoren Volkmann-Kontraktur 107–108
– Gelenktuberkulose Vorfußadduktion 274
(Tumor albus) 111 Vrolik-Osteogenese 79
X
– gutartige 93–100
Tumorgewebe, Blutungen 101 X-Bein 9, 11, 29, 32, 6–247
Tunnelaufnahme 49
W
Waaler-Rose-Test 115
Z
U Wachstumsschmerzen 8
Wachstumsstörungen, epiphysäre Zehendeformitäten 287–290
Überbelastungen 27 33 Zerebralparese, infantile (ICP)
Übergangswirbel 31, 145, 146, Wackelsteife 29 121–123
146 Wadenkneiftest 40 Zervikalbrachialgie / zervikobra-
Ulnarislähmung 210 Wadenschmerzen, krampfartige chiales Syndrom 154, 159,
Ultraschalluntersuchung / 34 161–162, 176
Sonographie 45–46 Weichteilausdehnung 102 Zervikalsyndrom 157–162
Ulzera, chronische, Fuß 286 Weichteiloperationen 63 zervikomedulläres Syndrom
Umfangsmessungen 40 Weichteilschädigungen 34–35 161–162
Umstellungosteotomie, Wiberg-Klassifikation, Femoropa- zervikothorakaler Übergang 145
Achsenfehlstellung 78 tellargelenkdysplasie 252 zervikozephales Syndrom 161
Unhappy triad, Knieinnen- Winddorn, Gelenktuberkulose Zirkulationsstörungen 33–34,
bandläsion 256 112 49–50
Unterarmpronations-Kontraktur Wirbelfehlbildungen 146 Zugreize 26
122 Wirbelfrakturen 31, 82 Zwerchsackhygrom 210

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