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Bündnis 90/Die Grünen

Niko Switek

Inhalt
1 Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
2 Programmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
3 Parteiorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
4 Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
5 Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

1 Gründung

In den 1960er-Jahren vollzog sich in den westlichen Industriestaaten ein tief grei-
fender gesellschaftlicher Wandel, durch den neben Pflicht- und Akzeptanzwerte
verstärkt der Wunsch nach Selbstentfaltung trat. Vor dem Hintergrund wachsenden
Wohlstands und einem Ausbau der Wohlfahrtsstaaten nahmen postmaterialistische
Einstellungen zu; Themen wie Ökologie, Gleichstellung der Geschlechter oder
Abrüstung gewannen an Relevanz. In Verbindung mit einem gestiegenen Anspruch
auf politische Partizipation äußerte sich das im Aktivismus der Studentenbewegung
und den Neuen Sozialen Bewegungen. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen
bildeten das Fundament für das Aufkommen einer neuen ökologisch-libertären
Parteienfamilie in den 1970er-Jahren.
In Deutschland befeuerte dabei besonders die polarisierte Auseinandersetzung
über die Atomenergie die Unterstützung für eine solche Partei (Kitschelt 1989).
Zunächst entstanden grüne Landesverbände mit engen Anbindungen an Bürgerini-
tiativen zu Fragen von Umwelt- und Naturschutz. Kurzzeitig dominierten konser-

N. Switek (*)
Jackson School of International Studies & Department of Political Science, University of
Washington, Seattle, Vereinigte Staaten
E-Mail: switek@uw.edu

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 142
U. Andersen et al. (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik
Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23666-3_13
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vative Gruppen, eine prominente Führungsfigur war der ehemalige CDU-Abge-


ordnete Herbert Gruhl (Mende 2011). Mit zunehmendem Erfolg und steigender
Sichtbarkeit engagierten sich linke Aktivisten aus der Studentenbewegung, den
zerfallenden K-Gruppen sowie aus pazifistischen und feministischen Gruppierungen
in der Partei (Raschke 1993). Neben den ersten parlamentarischen Vertretungen in
Landtagen war die Teilnahme an der ersten Direktwahl des Europaparlaments 1979
(unter dem Namen „Sonstige Politische Vereinigung/Die Grünen“) ein Kristallisati-
onspunkt der Parteiwerdung, da dieser Organisationszusammenhang den Vorläufer
der Bundespartei „Die Grünen“ bildete, die im Jahr danach formal gegründet wurde.
Die neue Partei positionierte sich als radikaler Außenseiter und generierte durch
ungewöhnliches Auftreten, einen alternativen Politikstil und das Aufgreifen neuer
Themenstellungen viel Aufmerksamkeit. 1983 gelang den Grünen erstmals der
Einzug in den Bundestag.

2 Programmatik

Aufgrund unterschiedlicher Hintergründe der in der Gründungsphase engagierten


Akteure fiel das inhaltliche Spektrum der neuen Partei breiter aus, als die mit dem
Parteinamen assoziierten ökologischen und umweltpolitischen Themen. Die Inte-
gration der heterogenen Positionen gestaltete sich schwierig: Anfängliche Versuche
über die Definition als progressive Kraft („Nicht rechts, nichts links, sondern vorne“)
verfingen nur bedingt und radikale, ökosozialistische Deutungsmuster traten hinzu
(Raschke 1993). Zugleich führte die hohe Autonomie der Landesverbände zu einer
starken Variation programmatischer Profile (radikaler und sozialistischer im Norden
und in den Stadtstaaten, gemäßigter und ökolibertärer im Süden).
Das erste Grundsatzprogramm stützte sich auf die bereits im Europawahlpro-
gramm enthaltenen vier Grundprinzipien: ökologisch, sozial, basisdemokratisch und
gewaltfrei. Ein roter Faden fehlte dem Dokument, der Text versammelte als Kom-
promisspapier katalogartig Interessen einzelner parteiinterner Gruppierungen.
Eine Mäßigung zeichnete sich 1986 im von der grünen Bundestagsfraktion
initiierten Umbauprogramm ab, in welchem reform-orientierte Maßnahmen eine
radikal-revolutionäre Rhetorik ersetzten. Es fand sich jedoch eine Spannung von
Skepsis gegenüber dem Staat auf der einen wie dem Wunsch nach umfassender
staatlicher Steuerung (z. B. bei Umweltschutz oder Umverteilung) auf der anderen
Seite.
Die nach der Wiedervereinigung im Rahmen der Fusion mit dem ostdeutschen
Bündnis 90 (daher der heutige Name) erarbeiteten politischen Grundsätze standen für
eine weitere Normalisierung und Etablierung. Regimekritiker und Bürgerrechtler aus
der ehemaligen DDR trugen zu einem positiveren Verständnis (rechts-)staatlicher
Institutionen bei und dämpften die Begeisterung für sozialistische Experimente.
Das zweite offizielle Grundsatzprogramm „Die Zukunft ist grün“ wurde 2002
auf einem Parteitag in Berlin verabschiedet. Die Erarbeitung parallel zur Regie-
rungsbeteiligung im Bund bedingte einen nüchternen und staatstragenden Ton, das
Programm bildete die Entwicklung von einer Protest- zu einer Reformpartei ab
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(Switek 2015). Zentral war ein „erweiterter Gerechtigkeitsbegriff“, wobei ökologi-


sche und soziale Fragen über die Ideen von Generationengerechtigkeit und Nach-
haltigkeit verhandelt wurden. Der innerhalb der Grünen umstrittene Begriff der
Freiheit – da häufig als marktliberal verstanden – fand sich als Selbstbestimmung
wieder. Erkennbar zeigte sich eine Aussöhnung mit marktwirtschaftlichen Logiken
(z. B. Anreize für umweltfreundliche Technologien). In der Finanzpolitik plädierten
die Grünen nun für Haushaltskonsolidierung und Schuldenabbau. Ein Kurswechsel
fand sich ebenfalls in der Verteidigungspolitik, wo die ehemals überzeugten Pazi-
fisten Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht mehr prinzipiell ausschlossen.
Analysen des grünen Programms zur Bundestagswahl 2017 platzierten die Partei
am progressiv-libertären Pol einer gesellschaftspolitischen bzw. kulturellen Kon-
fliktdimension sowie zwischen SPD und Linken auf einer soziökonomischen Achse
von freiem Markt und staatlicher Steuerung. Anders als noch 2013 standen 2017
ökologische Themen wieder stärker im Mittelpunkt (z. B. Abschaltung Kohlekraft-
werke, E-Mobilität, Agrarwende).
2018 startete ein neuer Grundsatzprogrammprozess, dem aufgrund der zeitglei-
chen personellen Erneuerung an der Parteispitze erkennbar Potenzial für weitrei-
chende Veränderungen zukommt.
Ohne Zweifel sind die Grünen eine Programmpartei, bei denen Programmpro-
zessen eine hervorgehobene Bedeutung zukommt. Mitgliederbeteiligung und Zahl
der Änderungsanträge fallen stets hoch aus, mehr noch als in anderen Parteien
versteht sich die Basis als Wächter über die Parteiprogrammatik.

3 Parteiorganisation

Die Wurzeln in den Neuen Sozialen Bewegungen, das Ideal der Basisdemokratie
und die Ablehnung etablierter Parteien führte dazu, dass die Formierung als
Parteiorganisation misstrauisch beäugt wurde. Entsprechend wiesen die frühen
Grünen viele organisatorische Besonderheiten auf, wie die kollektive Führung
durch geteilte Vorsitzendenämter, das Rotationsprinzip bei Abgeordnetenmanda-
ten, die Trennung von Amt und Mandat sowie die Begrenzung der Gehälter und
Diäten (Poguntke 1993). Ziel war es, die Herausbildung einer potenziell entkop-
pelten Elite und damit die Verwässerung programmatischer Ziele zu verhindern.
Die feministischen Wurzeln äußerten sich in einer strikten Quotierung aller Ämter
und Listen nach Geschlecht.
In der politischen Praxis gerieten diese Regeln jedoch unter Druck, die grüne
Parteigeschichte lässt sich auch als Abfolge von Organisationsdebatten und -refor-
men erzählen (die Trennung von Amt und Mandat wurde erst 2003 über eine
Urabstimmung gelockert). Die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit
brachte eine hochgradig informelle Strukturierung der Partei durch Flügel und
Strömungen hervor (Klein und Falter 2003, S. 52–70). Waren diese anfangs ideolo-
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gisch oder programmatisch fundiert und stark institutionalisiert (Realos vs. Fundis),
wandelten sie sich mit der Zeit zu loseren Netzwerken (Reformer vs. Regie-
rungslinke), die bei der Besetzung von Ämtern und Listen allerdings weiterhin eine
wichtige Rolle spielen.
Die Partei wird von zwei gleichberechtigten Vorsitzenden (seit Januar 2018
Annalena Baerbock und Robert Habeck) sowie vier weiteren Vorstandsmitgliedern
geführt, die auf zwei Jahre gewählt sind. Dem Vorstand steht ein 16-köpfiger Parteirat
als Beratungsgremium zur Seite, der Spitzenpolitiker aus allen Ebenen versammelt
(Vorsitzende und politischer Bundesgeschäftsführer sind qua Amt Mitglied). Obers-
tes Organ der grünen Partei ist die Bundesdelegiertenkonferenz, die in der Regel ein
bis zwei Mal im Jahr zusammentritt und deren 820, aus den Kreisverbänden entsandte
Delegierte über Programme und Satzung abstimmen, Parteiämter besetzen sowie die
Europawahlliste aufstellen. Daneben existiert als kleiner Parteitag der Länderrat, dem
neben Delegierten aus den Landesverbänden die Parteiratsmitglieder, Vertreter aus
Bundestag und Europaparlament sowie der Nachwuchsorganisation Grüne Jugend
und den thematisch gegliederten Bundesarbeitsgemeinschaften angehören. Für die
frauenpolitische Arbeit existiert ein eigener Bundesfrauenrat. Bündnis 90/Die Grünen
sind einflussreiches Mitglied der transnationalen europäischen Parteiorganisation
„European Greens“.
Historisch spielten neben der Parteiorganisation im engeren Sinne die Fraktionen
in Bund und Ländern eine bedeutsame Rolle, indem sie häufig als Motor der
programmatischen Entwicklung agierten und pragmatische Positionen in die Partei
trugen. Neben Parteizentrale und Bundestagsfraktion entwickelte sich mit der stei-
genden Zahl der Beteiligungen an Landesregierungen in den letzten Jahren ein
weiteres Machtzentrum: die informellen Abstimmungsrunden vor Bundesratssitzun-
gen. Die strategische Koordinierung einer Mehrebenenpartei im Föderalismus
bedingt, dass zentrale Fragen dort teilweise vorentschieden werden, wobei sich
aufgrund der Zusammensetzung eine Dominanz der Regierungsperspektive ergibt.
Nach einer anfänglichen Zurückhaltung vieler aus den Bewegungen stammen-
den Grünen-Sympathisanten hinsichtlich eines formalen Partei-Engagements
stiegen die Mitgliederzahlen der Grünen bis Ende der 1980er-Jahre steil an, wo
sie dann bei etwa 40.000 stagnierten. Die programmatische und organisatorische
Neuausrichtung nach dem verpassten Wiedereinzug in den Bundestag 1990 führ-
te durch einen Austritt vieler Radikalökologen zu sinkenden Zahlen, danach
wuchs die Mitgliederzahl bis zum Eintritt in die erste rot-grüne Bundesregierung
um fast 15.000 an. Ein zweiter Rückgang ergab sich aufgrund der Entscheidung
von Rot-Grün zum Einsatz der Bundeswehr im Kosovo-Konflikt, wodurch vor
allem Mitglieder mit pazifistischen Wurzeln der Partei den Rücken kehrten. Ab
2009 stiegen die Zahlen wieder, 2018 verfügen Bündnis 90/Die Grünen über
etwa 70.000 Mitglieder (nur etwa 7 % davon stammen aus den neuen Bundes-
ländern, ohne Berlin). Die Mitglieder sind im Vergleich zu anderen Parteien
tendenziell weiblicher und jünger und verfügen über einen hohen formalen
Bildungsgrad.
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4 Wahlen

Einen ersten Achtungserfolg erzielten die Grünen mit 3,2 Prozent bei der ersten
Europawahl 1979 (was ihnen allerdings keine Mandate einbrachte). Im selben Jahr
gelang im Oktober der Bremer Grünen Liste als erster grünen Landespartei knapp
mit 5,1 Prozent und vier Abgeordneten der Einzug in ein Landesparlament. Bei der
Bundestagswahl im Oktober 1980 kam man auf nur 1,2 Prozent, erst 1983 gelang
mit 5,6 Prozent der Sprung über die Fünfprozenthürde. Nach einem verbesserten
Ergebnis 1987 blieben die westdeutschen Grünen 1990 wieder unter 5 Prozent, so
dass nur die ostdeutschen Bündnis 90/Die Grünen mit acht Abgeordneten im
Bundestag vertreten waren. Dennoch schloss sich in den Bundesländern eine
Stärkephase der Partei an, Anfang der 1990er-Jahre waren die Grünen in 14 Landes-
parlamenten vertreten. In der Folge zeigten sich Schwierigkeiten in den neuen
Bundesländern, wo mehrfach der Einzug in die Parlamente verfehlt wurde. Auf
Bundesebene kam man nach dem geglückten Wiedereinzug 1994 bei der Wahl 1998
mit der SPD auf eine Mehrheit, deren Verteidigung – durch Zugewinne der Grünen –
2002 gelang. Die erfolgreichste Phase der Partei begann 2011, als die baden-würt-
tembergischen Grünen vor dem Hintergrund des Reaktorunglücks in Fukushima,
den Protesten gegen Stuttgart 21 und eines populären Spitzenkandidaten Winfried
Kretschmann bei der Landtagswahl knapp vor der SPD landeten und damit erstmals
als Seniorpartner einer Koalition einen grünen Ministerpräsidenten stellen konnten.
In den folgenden Jahren waren die Grünen in allen 16 Landesparlamenten vertreten
und die Zahl der Regierungsbeteiligungen stieg kontinuierlich an. Allerdings trans-
portierte sich diese Stärke nur bedingt auf die Bundesebene, wo man bei den Wahlen
2013 und 2017 zwischen 8 und 9 Prozent landete.
Zwei Entwicklungen spielten den Grünen in den letzten Jahren in die Hände:
Einerseits trieb ihnen die anhaltende Schwäche der SPD links-orientierte rot-grüne
Wähler zu; andererseits bilden die Grünen mit ihren auf Multi-Kulturalismus und
Vielfalt bezogenen Positionen den Gegenpol zur neu etablierten Alternative für
Deutschland, die auf nationalstaatliche Souveränität, traditionelle Werte sowie eine
geschlossene und homogene Gesellschaft setzt. Besonders deutlich manifestierte sich
das im Herbst 2018 bei den Landtagswahlen in Bayern (17,6 %) und Hessen (19,8 %),
wo die Grünen jeweils ihre besten Ergebnisse erzielten und damit beide Male die SPD
als zweitstärkste Kraft ablösten. Dabei profitierten die beiden Landesverbände von
ihren pragmatischen, ökolibertären und teilweise wertkonservativen Positionen,
wodurch sie auch in ländlichen Gebieten gute Ergebnisse erzielten.
Insgesamt sind die Hochburgen der Grünen weiterhin Groß- und Universitäts-
städte (das beste Zweitstimmenergebnis bei der Bundestagswahl 2017 erreichte man
in Freiburg mit 21,2 % vor Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg/Prenzlauer Berg Ost
mit 20,4 %). Grünen-Wähler sind in der Regel formal höher gebildet und stammen
überdurchschnittlich häufig aus dem öffentlichen Dienst und Dienstleistungsberu-
fen. Eine Konsequenz der weiterhin strikt angewandten Frauenquote ist die hohe
Attraktivität für Wählerinnen. Obwohl die Grünen inzwischen etablierter Teil des
Parteiensystems sind, kultivieren sie weiterhin ein alternatives und unangepasstes
Bild, wodurch sie auch bei jüngeren Wählern überdurchschnittlich gut abschneiden.
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5 Koalitionen

In ihrer Gründungsphase sahen sich die Grünen mit ihren radikalen Veränderungs-
ansprüchen als Teil der außerparlamentarischen Opposition. Einige parteiinterne
Strömungen verstanden die Bewegungen als Standbein und die parlamentarischen
Vertretungen als Spielbein, wobei letzteren die Rolle von Provokateuren zur Ent-
blößung der Machtorientierung der etablierten Parteien zukam. Dass man sich
dennoch partiell auf eine ernsthafte parlamentarische Arbeit einließ, führte zu einer
gewissen Mäßigung, zugleich erkannten die grünen Parlamentarier Einflusskanäle
und Gestaltungspotenziale. Hierdurch wuchs bei Teilen der Partei der Wunsch, den
Einfluss über Regierungsbeteiligungen zu potenzieren – allerdings war diese Posi-
tion in der Partei heftig umstritten, da manche die damit verbundene Kompromiss-
fähigkeit als Aufgabe der grünen Identität begriffen. Zugleich musste sich genauso
die SPD zur Zusammenarbeit mit den Grünen durchringen, was aufgrund des
unkonventionellen Politikstils der jungen Partei, deren intensiven Strömungskon-
flikten, sowie den Partizipationsforderungen der grünen Basis alles andere als leicht
fiel. Die ersten rot-grünen Koalitionsgespräche 1985 in Hessen führte man auf
Wunsch der Grünen noch öffentlich. Rot-grüne Landesregierungen waren anfangs
Konfliktbündnisse, die oft keine ganze Legislaturperiode überdauerten. Mit der Zeit
bildete sich ein rot-grünes Koalitionsmodell heraus, was die programmatische
Grundlage, die Verteilung der Ministerämter wie die Arbeitsweise umfasst. Aufbau-
end auf den Erfahrungen in den Bundesländern kam es 1998 zur ersten rot-grünen
Koalition auf Bundesebene, in der die Grünen drei Ministerien besetzten. Vor allem
der grüne Außenminister Joschka Fischer genoss hohe Popularität und beförderte
das realpolitische Profil der Partei. Die Zusammenarbeit wurde nach der Bundes-
tagswahl 2002 fortgesetzt und endete nach den vorgezogenen Neuwahlen 2005
aufgrund einer fehlenden rot-grünen Mehrheit. Auch wenn die Grünen danach an
keiner Bundesregierung mehr beteiligt waren, zeigte sich auf Länderebene eine
interessante Entwicklung: Durch die Etablierung der LINKEN nach 2005 gerieten
die Koalitionsroutinen unter Druck, da klassische Zweiparteienbündnisse oft keine
Mehrheit mehr erreichten. Die Grünen reagierten äußerst flexibel, indem sie Bünd-
nisse mit der Union eingingen, aber auch Dreierbündnisse mit CDU und FDP, SPD
und FDP sowie mit SPD und Linken realisierten (Switek 2015). Zwar scheiterten
diese Experimente anfangs (wie im Saarland oder in Hamburg), dennoch rückten die
Grünen dadurch in eine mittige Position mit Anschlussfähigkeit in beide Richtun-
gen. In Baden-Württemberg waren sie 2011 und wieder 2016 größte Partei in einer
Landesregierung, wodurch sie Zugriff auf das Amt des Ministerpräsidenten erhiel-
ten. In Sachsen-Anhalt stützten sie 2016 erstmals eine Koalition aus CDU und SPD,
die alleine nicht mehrheitsfähig waren.
Die Koalitionsflexibilität auf Länderebene bereitete die Partei selbst wie die
Öffentlichkeit auf die Bundestagswahl 2017 vor, nach welcher Union, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen mehrere Wochen intensiv über die Bildung einer gemein-
samen Regierung sondierten („Jamaika-Koalition“). Es existieren unterschiedliche
Deutungen, wie nah man einer Einigung war, bevor die Liberalen die Gespräche
beendeten. Die umfangreichen und detaillierten Sondierungspapiere verdeutlichen
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jedoch, dass ein solches Bündnis – in den 1980er-Jahren noch völlig undenkbar –
inzwischen eine realistische Option bildet, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Nach einem Höchststand 2017 von 11 Regierungsbeteiligungen in den Ländern
ging diese Zahl wieder leicht zurück, dennoch bilden die Koalitionen weiterhin ein
breites Spektrum an Konstellationen ab. Gerade die Balance zwischen den Strö-
mungen ist dabei ein Erfolgsrezept, da hierüber Anknüpfungspunkte nach links wie
rechts bestehen – fraglich ist aber, ob ein solcher Spagat auf Dauer gelingen kann.

6 Fazit

Die Grünen haben sich in den knapp vierzig Jahren seit ihrer Gründung umfassend
organisatorisch, programmatisch und personell gewandelt. Viele ihrer Themen,
anfangs als abseitig belächelt, sind inzwischen in der gesellschaftlichen Mitte ange-
kommen. Mit dem Wegfall des Atomkonflikts fehlt ihnen zwar ein wichtiges
mobilisierendes Element, die Partei bemühte sich aber, ihren grün-ökologischen
Markenkern für angrenzende Bereiche, wie Verbraucherschutz, Ernährung, Verkehr
oder Finanzpolitik anschlussfähig zu machen. Gleichzeitig betont man stets die
linken Wurzeln und versucht die Profilierung in Fragen sozialer Gerechtigkeit.
Dieser Dualismus ermöglichte eine äußerst erfolgreiche Koalitionsstrategie, birgt
aber zugleich Konfliktpotenzial. Die Integration der parteiinternen Strömungen, die
Balance der Spannung von Opposition und Regierungsbeteiligung sowie der Stärke
im Westen und Schwäche im Osten sind die großen Herausforderungen bei der
Formulierung des neuen Grundsatzprogramms, das zum vierzigjährigen Bestehen
der Partei 2020 vorliegen soll.

Literatur
Kitschelt, Herbert. 1989. The logics of party formation: Ecological politics in Belgium and West
Germany. Ithaca: Cornell University Press.
Klein, Markus, und Jürgen W. Falter. 2003. Der lange Weg der Grünen: eine Partei zwischen
Protest und Regierung. München: Beck.
Mende, Silke. 2011. Nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Eine Geschichte der Gründungs-
grünen. München: Oldenbourg.
Poguntke, Thomas. 1993. Alternative politics: The German Green Party. Edinburgh: Edinburgh
University Press.
Raschke, Joachim. 1993. Die Grünen: wie sie wurden, was sie sind. Frankfurt a. M.: Büchergilde
Gutenberg.
Switek, Niko. 2015. Bündnis 90/Die Grünen. Koalitionsentscheidungen in den Ländern. Baden-
Baden: Nomos.

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