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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Lettland zw ischen Dainas und I wanna


Zur Konstruktion der lettischen Nationalkultur im 19.
Jahrhundert

Diplomarbeit

Studiengang Kulturarbeit
im Fachbereich Architektur und Städtebau

an der Fachhochschule Potsdam

vorgelegt von:

Yvonne Chaddé
Wichertstr. 42
10439 Berlin

Berlin, im Januar 2004

Erster Gutachter:
Prof. Dr. Hermann Voesgen

Zweite Gutachterin:
Una Sedleniece

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Inhaltsverzeichnis

Einführung 4
1. Die kulturelle Konstruktion der Nation im 12
Wandel der europäischen Gesellschaft
1.1. Die Konstruktion der Nation 12
1.2. Die Konstruktion der Nationalkultur 17
1.3. Der lettische geschichtliche Kontext 23
1.4. Der Wandel der lettischen Gesellschaft im 27
19. Jahrhundert
2. Die nationale Bewegung in Lettland 36
2.1. Die Rolle der Jungletten bei der 36
Konstruktion des lettischen
Nationalbewusstseins
2.2. Die Modernisierung der lettischen Sprache 38
2.3. Die Rolle der Vereine 43
2.4. Die Produktion nationaler Literatur 44
2.5. Die Aufsplitterung der nationalen 46
Bewegung
3. Volkskultur 49
3.1. Die Entdeckung der Volkskultur als 49
nationale Kultur
3.2. Das wissenschaftliche Interesse an der 56
Volkskultur
3.2. Dainas 58
3.2.1 Formale Kennzeichen 59
3.2.2 Musikalische Kennzeichen 61
3.2.3 Funktionen der Dainas 62
3.2.4 Themen und inhaltliche Aspekte 64
3.3. Weitere Volksliedtypen 70
3.4. Die Sammlung und Veröffentlichung der 72
Dainas im 19. Jahrhundert insbesondere

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durch Krišjānis Barons


3.4.1 Die Baron’sche Dainasammlung 73
3.4.2 Barons Methode der Systematisierung 75
3.4.3 Die Nationalisierung der Dainas mit Hilfe 79
wissenschaftlicher Erkenntnisse
4. Fazit 85
4.1. Die nationalen Funktionen der Dainas 85
4.2. Die aktuelle lettische kulturelle Identität 88
4.3. Kritische Schlussbemerkungen 90
Literatur 91

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Einführung

Die Nationalstaaten sind Konstrukte der Moderne. Sie wurden


geschaffen, indem unterschiedliche gesellschaftliche Strukturen
vereinheitlicht wurden, um das effektive und geregelte Wirtschaften
ermöglichen zu können. Doch, was ist die Nation, für die der
Nationalstaat geschaffen wurde? Ist sie eine Gemeinschaft, die unter
bestimmten geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen
Bedingungen, gewachsen ist und welche unter diesen Bedingungen
einzigartig wurde? Liegt ihr Ursprung in längst vergangenen Zeiten,
denen man nicht mehr nachspüren kann? Oder bewahrt sie die
Geschichte um ihre Entstehung und ihre Entwicklung in bestimmten
kulturellen Formen, die nur ihr eigen sind? Und sind sich die
Mitglieder der Nation ihrer kulturellen Eigenart bewusst?
Wenn man nach dem kulturellen Substrat, welches die lettische
Nation ihr Eigen nennen kann, sucht, wird man auf Volkslieder
stoßen. Nicht, dass sich die lettische Nation kulturell nur über
Volkslieder identifiziere, aber es wird auffallen, dass in
landeskundlichen und populärgeschichtlichen Publikationen über die
lettische Republik, der Stellenwert der typisch lettischen Volkslieder,
seit dem 19. Jahrhundert als Dainas bekannt, im kulturellen
Bewusstsein der Letten hervorgehoben wird. „Diese Lieder bilden die
Grundlage der lettischen Identität und Singen wird zu einer
identifizierbaren Eigenschaft eines Letten“ (Freiberga in Bula 1999),
formuliert 1975 die jetzige lettische Staatspräsidentin Vaira Viėe-
Freiberga. Die Dainas gelten als das älteste kulturelle Denkmal
Lettlands überhaupt. Man kann lesen, dass es heute fast so viele
lettische Dainas wie Letten gäbe. Diese Erkenntnis resultiere daraus,

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dass im 19. Jahrhundert begonnen wurde, diese Lieder systematisch


zu sammeln. Dieses Unterfangen ist mit der Person Krišjānis Barons
(1835 – 1923) verbunden, der fast 218000 Lieder zu Lebzeiten, nach
Aufrufen, Volkslieder zu sammeln und einzuschicken, erhält und
diese in sechs Bänden „Latvju Dainas“ veröffentlicht. Die
Sammlungstätigkeit setzt sich bis heute unter der institutionellen
Führung des Archivs für Lettische Folklore fort. Sucht man das
singende Lettland auf einem anderen Weg, wird man bei dem
Eurovision Song Contest, dem Wettbewerb um den großen Preis des
europäischen Liedes, das Lied I wanna finden, was Lettland 2002
den ersten Platz einbrachte.

Kontext
Die Nationalstaaten in Osteuropa formen sich nach dem
Zusammenfall der Monarchien zum Ende des Ersten Weltkriegs. Es
ist ein Phänomen in Osteuropa, dass sich die Nationen alle im 19.
Jahrhundert bilden. Auf dem heutigen Gebiet Lettlands vollzieht sich
im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der europäischen
Industrialisierung, der Wandel der Gesellschaft. Ein lettisches
Bürgertum bildet sich heraus. Das Gebiet Lettlands befindet sich zum
einen in der Selbstverwaltung durch deutsche Ritterschaften und ist
andererseits an das russische Zarenreich angegliedert. Alle
politischen, bürgerlichen und adeligen kulturellen Sphären sind von
Deutschen besetzt. Der soziale Aufstieg für Letten bedeutet, dass sie
sich im Deutschen assimilieren müssen. Innerhalb der gebildeten
Schichten stellt sich ab den 1850er Jahren die Frage, ob die lettische
Kultur autonom werden könne, und ob die lettische Nation existiere.
Mit Hilfe kultureller Aktionen, die intellektuellen Schichten
durchführen, sollte die lettische Nation sichtbar werden und auf der
kulturellen und geschichtlichen Bühne erscheinen.
Vorraussetzung dieser Arbeit ist die Gegebenheit, dass die lettische
Nation, ebenso wie die Nationen West-, Mittel- und Osteuropas,
Ergebnisse eines Konstruktionsprozesses sind. Diese Arbeit verfolgt
die Konstruktion der lettischen Nation anhand bestimmter kultureller

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Formen im 19. Jahrhundert. Die Gestaltung der lettischen Nation


verläuft über die Gestaltung der lettischen Nationalkultur. Eine
besondere Rolle wird dabei den Dainas zuteil. Es ist die
Hauptannahme der Arbeit, dass die Dainas instrumentalisiert
werden, um die Grundlage der lettischen nationalen kulturellen
Identität zu bilden. Die Motivation für diese Untersuchungen ist der
Eindruck, dass die Dainas das natürliche Fundament der nationalen
Kultur und somit die natürliche Basis nationaler Identität für jeden
Letten darstellen.
Die konstruierten Nationen beruhen alle auf einem Mechanismus:
etwas Eigenes, das die Nation nach innen verbindet und nach außen
abgrenzt, zu betonen. Die Idee der Nation beruht auf der Annahme,
dass eine bestimmte Eigenheit, die eine Nation von der anderen
unterscheidet, durch bestimmte Merkmale nachgewiesen und
ausgedrückt werden kann. Fast jede Nation versucht, durch
bestimmte kulturelle Formen, geschichtliche Ereignisse oder
gemeinsame Sprache, ihre Existenz nachzuweisen. Je weiter sich
diese Existenz in die Vergangenheit verfolgen lässt, desto
glaubwürdiger ist sie bestätigt. Sodann kann die Forderung nach
politischer Selbstbestimmung in Form des Nationalstaates nach
außen gerechtfertigt werden. Nach innen muss gleichermaßen ein
Zugehörigkeitsgefühl zur Nation ausgebildet werden, so dass die
politischen und gesellschaftlichen Veränderungen von allen
Gesellschaftsteilen mitgetragen werden. Die Idee der Nation muss so
in das Bewusstsein der Menschen verpflanzt werden, dass sie ihnen
als etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches erwächst.
Sprache eignet sich besonders gut zur Ausbildung, eines nationalen
Zugehörigkeitsgefühls, da eine einheitliche Sprache durch
Verwaltung, Militär, Schulwesen, Presse und Literatur systematisch
verbreitet werden kann. Die Sprache entwickelt sich damit zu einem
wesentlichen Bereich nationaler Emanzipation.
Im Fall Lettlands sind die Gebiete der Administration, des
Schulwesens sowie des Militärs durch Deutsche besetzt. So bleiben
als einzige Handlungsfelder nationaler Bewusstseinsbildung,

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Publizistik und Literatur. Eine lettischsprachige Literatur und Presse,


die von Letten produziert wird, existiert bis Mitte des 19.
Jahrhunderts nicht. Auch die lettische Sprache wird zu diesem
Zeitpunkt den Anforderungen einer modernen Gesellschaft nicht
gerecht. Da aber in allen Gebieten des öffentlichen Lebens von den
nationalen Aktivisten lettische Autonomie erzielt werden soll, muss
die lettische Sprache modernisiert werden. Ebenso muss, um das
deutsche Kulturmonopol zu stürzen, lettische Schriftsprache
produziert werden. Die Etablierung lettischsprachiger Literatur
vollzieht sich in der lettischen Gesellschaft. Konkret: sie soll die neue
lettische Literatur - in der die nationalen Gedanken transportiert
werden - aufnehmen und unterstützen. Für einen Großteil der
lettischen Bevölkerung existiert jedoch keine Bindung an
Schriftkultur, da ihre gewohnheitsmäßige kulturelle Ausdrucksform in
der mündlich tradierten Volkskultur liegt. Es ist also erforderlich, die
kulturellen Präferenzen der lettischen Bevölkerung zu ändern: von
der mündlichen Bauern- und Volkskultur zur nationalen Schriftkultur.
Den Dainas wird in der nationalen Bewusstseinsbildung eine
tragende Rolle zuteil, die mehrere Funktionen erfüllen. Sie
integrieren die ländlichen Bevölkerungsteile in die moderne lettische
Gesellschaft. Sie avancieren zum Symbol für die Eigenständigkeit
der lettischen Kultur. Das Wesentliche dieser Prozesse, in dem sie
von der funktionalen bäuerlichen Volkskultur zur Grundlage lettischer
nationaler kultureller Identität erhoben werden, ist ihre schriftliche
Fixierung, der besonderes Augenmerk geschenkt werden muss.
Der Übergang von einer mündlichen zur verschriftlichten Tradition
manifestiert sich in der Bindung der eigentlichen, oralen Kulturgüter,
die nun dauerhaft, also schriftlich fixiert werden.
Ein solcher Wechsel ist erforderlich, um die kulturellen Präferenzen
der einfachen, ländlichen Bevölkerung zu ändern. Gleichzeitig wird
die bis dahin vorherrschende orale Kulturform, in eine schriftliche
integriert, die zur Basis der nationalen Autonomie wird.

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Im nationalen Kontext ist besonders die schriftliche Gestaltung und


die methodische Anordnung der Dainas, die K. Barons in seiner
Sammlung vornimmt, von Bedeutung.
Damit ist zum Ausgang des 19. Jahrhunderts eine „lettische
Geschichte“ nachgewiesen – die Dainas bringen Kunde
vergangenen lettischen Lebens dar. Ein Nachweis für die
Eigenständigkeit lettischer Kultur ist erbracht.
Dieser richtet sich hauptsächlich gegen die Dominanz der
Deutschen. Zum Kontext: in der deutschen Geschichtsschreibung ist
die These gängig, die Christianisierung des baltischen Raumes im
13. Jahrhundert und dessen anschließende Besiedelung, hätte die
barbarischen, wilden – kulturlosen – altlettischen Stämme kultiviert.
Dieser Anspruch auf eine „kulturelle Mission“ legitimiert das
Herrschaftssystem der deutsch-baltischen Ritterschaften. Mit den
Dainas wird also die behauptete Kulturlosigkeit widerlegt und damit
findet eine Aufwertung lettischer Sprache und bäuerlicher Kultur
statt.

Vorgehensweise
Im ersten Kapitel werden die theoretischen Vorraussetzungen, um
den Charakter der Konstruktion aller Nationen in Europa sichtbar zu
machen, dargelegt. Besonderes Augenmerk ist auf das deutsche
Modell der Nationsbildung zu richten, gekennzeichnet durch die
romantische Besinnung auf einen in der vorgeschichtlichen
Vergangenheit angesiedelten Volksbegriff, der den Begriff der
Nation überhaupt rechtfertigt. Anzumerken ist, dass besonders in der
Romantik alle Phänomene des Daseins auf die Natur als zentrales
Erklärungsmodell bezogen werden. Die Nation und ihr Volk werden
demnach als natürlich gewachsen begriffen. In der Romantik wird der
Kunst, im weitesten Sinne, eine umfassende Geltung anerkannt. Da
die Vereinigung aller Künste angestrebt wird und darin die
Wissenschaften einbezogen sind, werden kulturellen Erzeugnissen
geschichtlichen Wert zugesprochen.

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Des Weiteren werden Mechanismen der Nationalkultur und


Erklärungsmechanismen für die Bildung der Nation demonstriert. Der
Fokus ist hauptsächlich auf Osteuropa gerichtet und verdichtet sich
in Beispielen über Ungarn. Die kulturelle Einheit, ausgedrückt in
bestimmten kulturellen Symbolen und symbolischen Formen, ist das
Sinnbild für die natürlich gewachsene Gemeinschaft der Nation. Mit
diesen Ausführungen soll der Zusammenhang zwischen
Nationalkultur, Volkskultur, Geschichte und Sprache aufgedeckt
werden.
Im einführenden Teil zu Lettland wird ein Überblick über die
Geschichte seit dem Einbruch der deutschen Kultur Ende des 12.
Jahrhunderts gegeben. Dort beginnt für Lettland der offizielle Punkt
der Geschichtsschreibung - jedoch aus deutscher Perspektive
vorgenommen. Es ist für den anschließenden Rahmen meiner Arbeit
sehr wichtig, die Veränderungen der lettischen Gesellschaft im 19.
Jahrhundert sehr ausführlich zu benennen, da das 19. Jahrhundert
den Hintergrund meiner Untersuchungen zur systematischen
Gründung der lettischen Nationalkultur bildet. Das Spannungsfeld
der Herrschaftsverhältnisse, in dem die nationale Bewegung in den
1850er Jahren ansiedelt, soll damit aufgezeigt werden. Zudem wird
ein Bezug auf die ideengeschichtlichen Auswirkungen der Aufklärung
hergestellt. Die Frage nach der Geschichtlichkeit des Menschen in
der Aufklärung fördert die Sammlung ethnographischer Daten und
volkskultureller Erzeugnisse. Diese sind dem Entwurf eines eigenen
lettischen Geschichtsbildes nützlich.
Die Aktionen der Jungletten, die national gesinnten Aktivisten des 19.
Jahrhunderts, werden im zweiten Kapitel näher beleuchtet. Sie
erkennen, dass die lettische Sprache erneuert werden muss, um die
moderne lettische Gesellschaft auszubilden. Da die Aktionen an
bestimmte Personen gebunden sind, gehen die Untersuchungen von
diesen aus. Von den Instrumenten der Verbreitung wird sich dabei
auf die Presse konzentriert, die das Hauptwerkzeug der Neuletten
bildet.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Der Produktion der nationalen Literatur - epische, lyrische und


dramatische Werke -, wird in dieser Arbeit nur am Rande
Aufmerksamkeit geschenkt. Literatur ist zwar ein wichtiges
Instrument, um die nationale Idee in romantischer Verkleidung zu
präsentieren, aber diese Ausführungen hätten den Rahmen der
Arbeit gesprengt.
Ein Bezug zu den Bereichen des öffentlichen Lebens, zu denen den
Letten durch die Ausweitung der persönlichen Freiheiten Zugang
gewährt wird, findet in kulturellen Vereinen und massenwirksamen
Veranstaltungen statt. Dort werden die Praktiken der nationalen
Bewusstseinsbildung angewendet; dort besteht die einzige
Möglichkeit, politisch aktiv zu werden. Auf die Bedeutung anderer
Arten von Vereinigungen, wie wissenschaftlichen oder
wirtschaftlichen, wird hier nicht weiter eingegangen.
Die Verzweigung der lettischen Intelligenz und die Auswirkungen der
Ideen der Sozialdemokratie bilden den Abschluss dieses Kapitels.
Sie markieren auch zeitlich das Ende des 19. Jahrhunderts. Die
Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse unterstützt die
Ansicht, dass die Volkskultur dazu genutzt wird, die sozial
widersprüchliche Lage Ende des Jahrhunderts abzumildern. Indem
das Bild einer, in der Vergangenheit verwurzelten Gemeinschaft
gezeichnet wird, werden die sozialen Missstände auf eine nationale
Ebene gehoben und nach außen gerichtet.
Das dritte Kapitel wird mit einer Abhandlung über J.G. Herder
eingeläutet. Dem deutschen Romantiker Herder kommt eine
besondere Bedeutung zu, weil ihm die Aufwertung der Volkskultur
und der Sprache in Europa zugeschrieben wird. Mit der
Veröffentlichung lettischer Volkslieder erbringt Herder den Beweis
von der Existenz und der Qualität lettischer Kultur. Seine
Geschichtsphilosophie und Aufrufe zum Sammeln von
Folkloreliedern initiieren erstmals ein wissenschaftliches Interesse an
der Volkskultur. Probleme der Volksmusikforschung im Lichte
romantischer Sammelbestrebungen bilden die kritischen
Vorannahmen für meine Untersuchung lettischer Volkslieder und

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

deren Sammlung im 19. Jahrhundert. Es wird der Versuch


unternommen, das inhaltliche, formale und funktionale Wesen der
Dainas sowie ihre Themen zu bestimmen.
Letztere sollen mein Argument bestärken, dass die Dainas eine
poetische Sicht auf die Welt generieren und eben nicht genaues
Zeugnis von der Welt ablegen, wie oft propagiert. Im Abschnitt über
weitere Volksliedtypen des 19. Jahrhunderts in Lettland soll gezeigt
werden, dass die Dainas ein Produkt der Volksliedentwicklung zur
Zeit ihrer Fixierung, in einer Fülle weiterer Produkte eingebettet, sind.
Meine Ausführungen zur Baron’schen Sammlung sollen so
aufzeigen, wie durch den Prozess der Selektion, Bearbeitung,
Gestaltung und wissenschaftlichen Betrachtung die Dainas zur
Nationalkultur stilisiert werden und die Funktion erfüllen, die Existenz
der Nation zu belegen.
Das Schlusskapitel stellt das Fazit meiner Überlegungen auf. Mit I
wanna wird der Kontext der Arbeit knapp im Heute verortet. Daraus
ergibt sich eine Perspektive auf weitere Forschungsfelder.
Abschließend wird meine Methode einem kritischen Blick
unterworfen.

Methode
Trotz des im Titels „Lettland zwischen Dainas und I wanna“
aufgebauten Spannungsfeldes, das eine Diskussion der aktuellen
lettischen Nationalkultur erfordert, habe ich mich entschlossen, die
Konstruktion der Nationalkultur nur in seiner Entstehungsphase zu
erforschen. Der Bereich über das lettische Gewinnerlied des
Eurovision Song Contest wird dabei fast ausgeblendet. Ich gehe vom
Phänomen der Dainas aus und ziehe Rückschlüsse auf die
Nationalkultur. Ich musste, um das Phänomen zu verorten, die
geschichtlichen und gesellschaftlichen Umstände beleuchten, weil
ich denke, dass diese Umstände der Nationalkultur ihre bestimmte
Färbung gegeben haben. Sehr wichtig ist mir die Einbindung von
Ideen und Konzepten, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung
einhergehen. Dass ich die Methoden dieser Arbeiten mische, ist dem

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Umstand geschuldet, dass die Arbeit im Rahmen eines


Fachhochschulstudiums abgelegt wurde.

1. Die kulturelle Konstruktion der Nation im Wandel der


europäischen Gesellschaft

1.1. Die Konstruktion der Nation


Die kulturelle Idee der Nationen ist eng verzahnt mit der Erschaffung
von Nationalstaaten. Sie entwickelte sich im Kontext des Wandels
der europäischen Gesellschaft. Der ständisch-feudale und
absolutistische Staat1, das göttlich legitimierte monarchische
Eigentum (Negri/ Hardt 2002, 108), ist als Sicherung der feudalen
Gesellschaftsordnung und Produktionsverhältnisse bis zur Ablösung
durch den Nationalstaat die dominierende Staatsform in Europa. Mit
der Errichtung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, der Freisetzung
von neuen Produktivkräften und verstärkter Kapitalakkumulation,
entwickeln sich neue Bedingungen für die gesellschaftlichen
Machtverhältnisse. Die Übergangsphase von der feudal-
monarchischen Gesellschaftsordnung zur kapitalistisch-bürgerlichen
Ordnung ist bestimmt durch kapitalistische Produktionsverhältnisse
auf der einen und feudale Regierungsformen auf der anderen Seite.
Die kulturelle Idee der Nation als „ideale Abstraktion“ (Ebd. 2002,
108) des territorialen und gesellschaftlichen Körpers stabilisiert diese
Strukturen.
Der „Übergang von der feudalen Ordnung der Untergebenen
(subjectus) zur disziplinarischen Ordnung des Bürgers (cives)“ (Ebd.
2002, 109) gibt dem Konzept der Nation einen Gesellschaft
gestaltenden, zukunftsweisenden, aktiven Charakter. Damit
ermöglicht es die Identifikation des Einzelnen mit der (Idee der)
Nation und die Affirmation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse
(Ebd. 2002, 108f). Um die Herrschaftsverhältnisse dauerhaft zu
verändern, wird das Nationskonzept als ein politisches
1
Der Staat ist eine „Gesellschaftsordnung, durch die ein Personenverband (Volk) auf begrenztem
Gebiet durch hoheitl. Gestalt zur Wahrung gemeinsamer Güter verbunden“. In: (Brockhaus
Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden 1991, 13) (Bd. 21)

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Handlungsprogramm mit einer zukünftigen Perspektive entworfen


und durch die Annahme von gemeinsamen Merkmalen (Sprache,
Geschichte, Kultur) legitimiert. Das politische Ziel ist nach der
Französischen Revolution die Erlangung von politischer Souveränität
in Form des Nationalstaates („Nationalstaatenprinzip“).
Estel definiert Nation folgendermaßen: „Eine Nation ist eine
(zumindest teilweise geschlossen siedelnde) Bevölkerung, die eine
eigene, arbeitsteilige Gesellschaft auch modernen Zuschnitts bildet
oder bilden kann, und deren Angehörige sich mehrheitlich als eigene
ethnische oder historische, d.h. durch Gemeinsamkeit des
kollektiven, insbesondere: des politischen Schicksals begründete
Einheit verstehen; eine Einheit, die nach dem Verständnis ein
natürliches Recht auf Unabhängigkeit nach außen besitzt, und die
deshalb auch einen eigenen, den Nationalstaat errichten oder
behalten soll.“ (Estel 1994, 19)
Die historisch oder ethnisch begründete Einheit, in Form der
territorialen Bindung an eine Staatsnation, stellen zwei
Begründungsmotive der Nationalstaatenbildung in Europa dar. Die
Nationalstaatenbildung erfolgt in Europa anhand von drei Stadien:
Erstens die Umgestaltung einer absolutistischen Monarchie zum
Staat einer Nation mittels Revolution, wie zum Beispiel in Frankreich,
zweitens die Zusammenführung von Teilstaaten, wie es in
Deutschland der Fall ist, drittens die Bildung Nationalstaaten, welche
ethnisch heterogen zusammengesetzt sind, nach dem Zusammenfall
von Großstaaten in Osteuropa Ende des ersten Weltkrieges (Dribinš
1997, 23).
Nach dem „französischen Modell“, Nation als Willensgemeinschaft,
entspricht der Nationalstaat dem Ergebnis freiwilliger Beitrittsakte
seiner Bürger zum Staat, auf der Grundlage eines „sozialen
Vertrages“ (Giordano 2000, 386). Gleichheit bestehe als
Rechtsgleichheit der Bürger vor dem Gesetz und im gleichen Recht
aller, den Raum zu nutzen. Das Volk entspricht damit einem
„kollektiven Rechtssubjekt“ (Stölting 1994, 302). Rechtlich verankert
findet sich das Geburtsortprinzip bei der Vergabe der

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Staatsangehörigkeit (jus solis). Die Definition der Nation entspricht


subjektiven Kriterien, die kollektiv oder individuell wahrgenommen
werden (Estel 1994, 24; Hobesbawm 1991, 18). Nach diesem Modell
lässt sich die Unterschiedlichkeit miteinander lebender Personen für
ein Territorium erfassen. Das nationale Verständnis dieses Modells
impliziert eine Offenheit der Gesellschaft und die Möglichkeiten der
kulturellen Assimilation. Die Einheit entsteht auf willentlicher
Grundlage. Die Vernachlässigung des Ethnischen in der Betonung
der Anpassung kann die Unterdrückung kultureller Äußerungen von
Minderheiten zur Folge haben.
Das „deutsche Modell“ der Nationalstaatenbildung verweist im
Gegensatz dazu auf das Abstammungsprinzip (rechtlich verankert in
Deutschland ab 1913 als jus sanguinis) und die romantische
Prägung des Begriffes Volk bei Johann Gottfried Herder und der
deutschen Romantik.
Für die Definition des Begriffes Volk im Unterschied zur
überethnischen Definition des Begriffes Nation, treten nach Estel zu
den genannten Bedingungen noch Kriterien der „Zeugungs- und
Kulturgemeinschaft“ (Estel 1994, 18). Diese äußerten sich als ein
Bewusstsein einer Identität, die durch die ethnische Zugehörigkeit als
eigentümlich betrachtet wird, wie das Wissen um kulturelle
Eigenarten und gemeinsamen Abstammungsglaube, zumindest bei
den Macht- und Kultureliten (Ebd. 1994, 18).
Johann Gottfried Herder, Pfarrer und Schriftsteller, der in Anlehnung
an die Aufklärung in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts seine
Schriften „Abhandlungen über den Ursprung der Sprache“ (1772)
und „Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1774)
verfasst, entwickelt eine organische Geschichtsbetrachtung. Durch
eine Gleichsetzung des menschlichen mit dem kulturellen Dasein
wird eine Pluralität von Kulturen gegen den Kosmopolitismus der
Aufklärung postuliert. Jede Kultur bewahre „den Mittelpunkt seiner
Glückseligkeit in sich selbst“ (Herder [1774], in Bausinger 1999, 31)
und jedes Volk stelle eine einzigartige Einheit dar. Die irrationalen
Faktoren der Unterschiedlichkeit von Nationen, welche sich aus

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

dieser Vielzahl der Völker ergeben, bereiteten den Boden für


Spekulationen über „Volks- und Nationalgeist“, welchen Herder durch
die Volkspoesie vernimmt (Hartmann 2001, 20).
Dieser Volksgeist sei verankert in Leidenschaft und Gefühl, nicht in
Vernunft, und fände sich in Kunst, Tradition und Sprache2 (Wolf
1993, 341). Er sei Ausdruck der schöpferischen Kräfte, der im
gesamten Volk angelegten „starke[n] Kraft des Genies“ (Lotter 1998,
392). Volkspoesie in Herders Auffassung scheint von sozialen
Bedingungen gelöst (Bausinger 1999, 32). Die „romantische
Reduktion“ (Ebd. 1999, 31) des Begriffes Volk gilt Herder als
Synonym für die Aktivierung seelisch schöpferischer Kräfte, um die
Kunst der Gegenwart zu reformieren (Schwidtal 2001, 13), weniger
als ethnische oder ethno-biologische Kategorie. Als Träger des
Volksbegriffes fungiert die agrarische Bevölkerung, welcher eine
Einfachheit und Beständigkeit der gesellschaftlichen Ordnung aus
der Perspektive des Bürgertums zugewiesen wird, ebenso wie
Bürger und Handwerker, Bevölkerungsschichten, welche nicht in
Besitz der Herrschaft sind.
Mittels kultureller Zeugnisse, wie Volkslieder, Märchen und Sagen,
soll die Existenz des Volkes als ursprüngliche Gemeinschaft in vor-
geschichtliche Zeit verlegt werden.
Die deutsche Romantik übernimmt als Abkehr von der politischen
Realität, insbesondere die Enttäuschung über die mangelnde
Emanzipationskraft des deutschen Bürgertums in Deutschland, die
Idee des Volkes und dessen mythischen Ursprungs. Als Umkehrung
des Aufklärungskonzeptes sei der Ursprung besetzt mit Merkmalen
des Dunklen, Unbekannten, Irrationalen (Bausinger 1999, 39). Die
Mythologisierung des Ursprungs, den Bezug auf das Vergangene als
vollkommen, suggeriert eine geschichtliche Kontinuität, andererseits
werden die sozialen Widersprüche des 19. Jahrhunderts in einem

2
Wolf macht darauf aufmerksam, dass das Konzept des „Volksgeistes“ durch die Faszination des
deutschen Bildungsbürgertums an der griechischen Antike angeregt war, vornehmlich durch J. J.
Winckelmanns Propagierung des hellenistischen Volksgeistes („paideia“). In dieser Betrachtung wurde
Hellas als ganzheitliche, vollkommene Kultur wahrgenommen und diente als Vorbild für die deutsche
Kulturentwicklung. Wolf bezeichnet die „Leitidee eines ideellen Holismus“ (Wolf 1993, 341) als
konstitutiv für das Kulturverständnis deutscher Intellektueller des 19. Jahrhunderts.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

ahistorischen Erklärungsmodell harmonisiert. Der Begriff Volk wird


für die Idee der Nation grundlegend, dient nach der Meinung Hardts
und Negris jedoch nicht einer Vorstellung von Gemeinschaft im
demokratischen Sinne, sondern dazu, bürgerliche
Herrschaftsansprüche in Form nationaler Eigenstaatlichkeit zu
legitimieren, indem die Einheit des Volkes als gegeben dargestellt
würde (Negri/ Hardt 2002, 116). „Eine solche ursprüngliche
Vorstellung von Volk behauptet eine Identität, die das Bild der
Bevölkerung homogenisiert und reinigt, während sie gleichzeitig die
konstruktiven Interaktionen zwischen den Differenzen innerhalb der
Menge3 blockiert.“ (Ebd. 2002, 126)
Die Idee der Schicksalsgemeinschaft des deutschen Bürgertums, die
romantische und mythische Überhöhung deutscher Geschichte
gegen die Überfremdung durch die napoleonische Fremdherrschaft,
wird mit dem Konzept der Abstammungsgemeinschaft durch Ludwig
Jahn verkettet. Das Grundmotiv eines Ethnozentrismus hält Einzug
in den „bürgerlichen Kulturnationalismus“ (Kaschuba 1999, 26).
Im 19. Jahrhundert orientieren sich die Gebiete Osteuropas, die zum
Teil noch in monarchisch-feudale Systeme eingebunden sind und
sich in einer Rückständigkeit4 im Vergleich zu Westeuropa befinden,
an der nationalstaatlichen Entwicklung Westeuropas. Lettland wie
auch andere Regionen, favorisieren in der Argumentation für die
Gründung eigener Nationalstaaten, das deutsche Modell (Giordano
2000, 391; Stölting 1994, 310; Sundhaussen 1999, 648f.). Es ist die
Eigenheit Ost- und Mitteleuropas, dass sich dort die Nationen im 19.
Jahrhundert formen, die Nationalstaaten erst im 20. Jahrhundert. Die
Regionen in Osteuropa können sich nicht sofort aus den Klammern
der Monarchien lösen. Auch muss die Idee der Nation erst innerhalb
der Bevölkerung etabliert werden. In Lettland entwickelt sich diese
Idee erst mit der Lockerung der ständischen Ordnung und der damit

3
Menge sei nach Meinung der Autoren ein Beziehungsgeflecht von „Singularitäten“, heterogen, mit
inklusivem Verhältnis zu Außenstehenden (Negri/ Hardt 2002, 116).
4
Die Modernisierung/ Kapitalisierung der Gesellschaft und deren „bürgerliche Umgestaltung“ verläuft
inkonsequent (split up) aufgrund des Interessenszwiespalts zwischen den „herrschenden Klassen“ und
der „Volksmassen“, unter anderem bedingt durch die verspätete Aufhebung der Leibeigenschaft. (Hofer
1973, 252f)

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

verbundenen Möglichkeit der höheren Bildung. Die Intelligenz, die


sich damit aus der lettischen Bevölkerung bildet, erhält Zugang zu
national gesinnten Schriften der deutschen Philosophie. Das
ermöglicht ihr, diese auf Lettland anzuwenden.
Die gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert durch die
Industrialisierung und Errichtung der Nationalstaaten ergänzen
einander. Da sich die Form der Nationalstaaten als effektivste
Entsprechung zur marktwirtschaftlichen Entwicklung erweist, entsteht
in Europa eine Art Dominoeffekt, der mit der Gründung der
französischen und englischen Nationen einsetzt. Mit der
europäischen Nationalstaatenbildung im 19. Jahrhundert ist die
Bildung sozial größerer Gruppen, um mit der ökonomischen
Effektivität bereits bestehender Nationalstaaten (England und
Frankreich) konkurrieren zu können, verbunden.5 Durch die
Schaffung einer nationalen Identität, die einen größeren
Identifikationsraum gegenüber der statisch gebundenen regionalen
oder ständischen Identität bietet, ist eine stärkere Mobilisierung der
Bevölkerung, um die Industrialisierung als Arbeitskräfte zu
unterstützen, möglich. Im gleichen Sinne erscheinen die
gesellschaftlichen Veränderungen, wie Rationalisierungstendenzen,
soziale Ausdifferenzierung und verstärkte Landflucht unter Zuwachs
der Stadtbevölkerung, legitimierbar. (Norbert Reiter 1989, 32)
Mit der Konstruktion einer nationalen Identität gehen die
Möglichkeiten wirtschaftlicher Expansion, Stabilisierung von Märkten
und Herrschaftsverhältnissen einher.

1.2. Die Konstruktion der Nationalkultur


Im nationalen Diskurs im 19. Jahrhundert in Ost- und Mitteleuropa
erhält Kultur als Zugehörigkeitsmerkmal, Träger der Vergangenheit
und Repräsentant der Einheit der Nation symbolische Funktionen.

5
Produktionssteigerung als Ziel der Modernisierung der Gesellschaft verlangten Neuerungen,
territoriale Erweiterung des Wirtschaftsgebietes und erhöhte Mobilität der Gesellschaft. (Reiter 1989,
32-40)

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Die Konstruktion der Nationen in Mittel- und Osteuropa ist das


Ergebnis der Verschiebungen von politischen, sozialen und
ökonomischen Machtverhältnissen und Interessenskämpfen
(Niedermüller 2001, 169). Der politische Diskurs des Nationalen wird
zunehmend über die Idee der Nationalkultur ausgetragen. „Eine
Gesellschaft wird durch ein bestimmtes kulturelles Substrat zur
Nation, und die Nationalkultur ist das Mittel, mit dessen Hilfe sich
eine Gesellschaft mit „nationalem Sinn“ anreichert.“(Ebd. 2001, 169)
In Lettland formuliert sich im 19. Jahrhundert die Nation im Recht auf
kulturelle Autonomie. Das Bewusstsein für das kulturelle
Selbstbestimmungsrecht wird durch aufklärerisch gesinnte deutsche
Geistliche und durch das ethnographische Interesse an der
kulturellen Wesenheit der Völker initiiert. Das kulturelle lettische
Bewusstsein wächst mit der Kritik an der deutschen Obrigkeit. Diese
rechtfertigt ihre Herrschaft mit dem Argument, durch sie wären die
Letten überhaupt kultiviert worden. Diese Kultur definiert sich im 19.
Jahrhundert hauptsächlich als bürgerliche Hochkultur, zu der den
Letten durch die Standesordnung der Zugang verwehrt ist.
Die Idee von der Verbindung von Nation und Kultur, fußt auf
Auffassungen, dass Nationen anhand objektiver Merkmale6 oder
Merkmalskombinationen, wie die Gemeinsamkeit der Sprache, der
kulturellen Eigenart, der Geschichte oder des Territoriums bestimmt
und daher einzigartig seien, und dass die gemeinsame nationale
Geschichte und Zugehörigkeit zur Nation mittels Kultur dargestellt
werden sollte (Ebd. 2001, 169).
Eine kulturelle Einheit nach scheinbar objektiven Kriterien vermittelt
den Eindruck, eine Nation sei nicht nur anhand dieser Merkmale
bestimmbar, sondern auch zugleich Ergebnis dieser objektiven
Einflüsse. Das wird deutlich anhand von Konzepten aus der Antike,
die verlauten, eine Nation sei durch Faktoren wie Klima, Boden,
Nahrung geprägt (Estel 1994, 23). Des Weiteren seien Einheitlichkeit
und Einheit der Nation auch in Geschichte begründet, wobei nach
6
Diese Bestimmungskriterien sind nach Hobesbawm so unscharf, dass sie nur für bestimmte Gruppen
innerhalb von Nationalstaaten gelten und deshalb für nationalistische Propaganda und Programme
geeignet sind (Hobesbawm 1991, 16).

18
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

dem romantischen Modell diese Einheit in einer vergangenen Zeit


liege und in einem kollektiven Gedächtnis und dem Herderschen
Volksgeist fortwirke.
Die nationale Bewegung wird in Osteuropa zumeist durch die
kulturelle Intelligenz angeregt und findet ihre Resonanz innerhalb des
Bürgertums, welches politisches Emanzipationsinteresse mit der
Nationalbewegung verbindet (Stölting 1994, 307). Die Konstruktion
der Nationalkultur sei eine Aufgabe der Erschaffung des nationalen
kollektiven Gedächtnisses, welches sich eines Mythos erinnere. Der
Konstruktion widmen sich Wissenschaftler, Historiker, Dichter,
Schriftsteller und Künstler, Geistliche und Lehrer über die Organe der
Literatur, Kunst, Presse und Wissenschaft (Niedermüller 2001, 179f).
Das Konzept einer einheitlichen Nationalkultur und der damit
verbundene Glaube an die Homogenität eines kulturellen Raumes
verkörpern und repräsentieren den nationalen Gedanken
(Niedermüller 2001, 169). Mit diesem „Siebungsmechanismus“
(Giordano 2000, 385) der Ein- und Ausgrenzung können die
Selbstbestimmungsansprüche in Form des Nationalstaates nach
Außen artikuliert und nach Innen ein Bewusstsein der Zugehörigkeit
vermittelt werden.
Es findet ein Prozess der Selektion von kulturellen Gütern nach
Kriterien der Hochkultur und Sparte statt, welche die Nation
repräsentieren sollen. Diese werden verallgemeinernd als Kultur
zusammengefasst und einem kollektiven Subjekt zugerechnet (Estel
1994, 63). Das Kulturprodukt selbst verliert seine ursprüngliche
Funktion und Bedeutung und nimmt symbolischen Charakter an. Die
Disfunktionalisierung des Kulturgutes und seine Erhebung zu einem
symbolischen Wert ermöglicht eine soziale Trägergruppen
überdauernde Wirkung (Stölting 1994, 308).
Nach Niedermüller orientiert sich die Produktion von Nationalkultur in
Osteuropa an konkreten kulturellen Formen, an historischer
Vergangenheit und am so genannten Nationalcharakter. In der
Konstruktion der Nationalkultur ist ein Kulturbegriff prägend, der
Kultur als objektives Zeugnis und Produkt der Geschichte deutet -

19
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

verfasst in Schlüsselsymbolen, kollektiven Riten oder Mythen.


Ausgang ist die, in Anlehnung an den Volksbegriff der deutschen
Romantik entstandene These, dass sich eine bestimmte Wesenheit
der Völker aus Urzeiten und –umständen innerhalb kultureller
Formen bewahrt hätte (Niedermüller 2001, 176).
Die Verkörperung der Geschichte in nationalkulturellen Symbolen
erfolgt, nach Niedermüller, in Osteuropa aus zwei Intentionen. Für
die ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts, muss Geschichte
erfunden werden, um nationale Bestrebungen von
Bevölkerungsgruppen zu legitimieren. Diese kulturelle
Abgrenzungsfunktion richtet sich nach Außen. Die erfundene
ursprüngliche Kultur dient der Unterscheidung. Im letzten Drittel des
Jahrhunderts fungiert Nationalkultur als Identität und
Zugehörigkeitsmerkmal innerhalb der Gesellschaft, welche sich in
der Modernisierung und Organisation des Staates befindet.
Volkskultur als Grundlage der Nationalkultur wird favorisiert, um ein
kollektives Geschichtsgedächtnis zu erschaffen.
Folklore7, als durch Zeiten und Räume Tradiertes und in narrativer
oder ritueller Form Übermitteltes (Kaschuba 1999, 173), wird als
Volkskultur vom Bürgertum Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckt,
da sich das Bildungsideal der Aufklärung auch auf die bäuerlichen
Schichten ausweitet. Es folgt die Stilisierung und Stereotypisierung
der Volkskultur als ein „System ländlicher Relikte“ (Bausinger 1999,
193), als dauerhafte Grundlage aller Kultur. Folklore stiftet für die
Nationen, die keine eigene Geschichtsschreibung besitzen, aus
denen sich die Größe und Eigenart der Nation ableiten ließe,
Identität (Stölting 1994, 306).
Der idealisierte Zustand eines ursprünglichen Lebens, welcher der
Volkskultur zugeschrieben wird, kann anhand örtlicher Kultur
lokalisiert werden. Ästhetische Objekte dienen als Beweis der
Geschichte. Volkskultur wird mit Vorstellungen von bestimmten

7
Begriff wurde in England 1846 von William John Thoms erfunden und fungierte als „Leitbegriff“ im 19.
Jahrhundert (Kaschuba 1999, S. 173). Folklore erfasst „Glaubensvorstellungen und Bräuche“ und die
„Gesamtheit der Traditionen des (einfachen) Volkes“ in Form von zum Beispiel „Erzählungen, Lieder
und Sprichwörter“ (Bausinger 1999, 50).

20
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Tänzen, Bräuchen, Liedern verbunden. Sie wird reduziert auf die


„expressive Ebene“ und festgeschrieben als Ausdruck einer zeitlosen
und ursprünglichen Vergangenheit (Niedermüller 2001, 185). Die
praktische Vermittlung dieser volkstümlichen Kulturelemente festigt
wiederum eine Ansicht, dass nationale Zugehörigkeit und
ästhetisierte Volkskultur schon immer miteinander verbunden seien.
Die Rolle der kleinstädtischen und ländlichen Intelligenz, wie
beispielsweise Lehrer und Pfarrer, besteht in der organisierten
Umformung einer Folklore zu nationalen Zwecken. Folkloretexte
werden gesammelt, schriftlich fixiert und katalogisiert, Volkslieder
„moralisch einwandfrei“ in die Hochsprache übertragen und
Vereinsaktivitäten angeregt. So erfolgt ein Anschluss des örtlichen
Bewusstseins an das nationale und die emblematische Einbeziehung
der Folklore in die nationale Bewegung (Stölting 1994, 308).
Nach Hofer ist der Bezug der Nationalkultur auf die Volkskultur nicht
ausschließlich nur ein Programm zur Erschaffung einer nationalen
Geschichte. Sie ist nicht dient nicht nur Intellektuellen und
Bürgerlichen, sich die nationale Idee greifbar zu gestalten und zu
verorten in der als beständig idealisierten bäuerlichen Lebenswelt.
Die symbolische Umwertung der Volkskultur in nationale Embleme
dient auch dazu, die bäuerliche Gesellschaft in die komplexe
Gesellschaft einzufügen (Hofer 1973, 261). Dafür ist es nützlich,
diese Einbindung über kulturelle Symbolik zu artikulieren. Volkskultur
übernimmt die Rolle der Bewusstseinsbildung und Ausbildung eines
Selbstwertes des bäuerlichen Standes, der nicht mehr in die
materielle Enge der Ständeordnung gedrängt ist.
So kann die Kultur des Dorfes im 19. Jahrhundert zum Teil als
Produkt der Modernisierung gewertet werden, andererseits als
Zeugnis der bewahrten Tradition. Sie ist gestützt auf die traditionellen
Institutionen und Wertsysteme, und angeregt durch den gesteigerten
materiellen und kulturellen Verkehr, durch die Marktwirtschaft der
Bauern und deren Erneuerungs- und Unternehmenslust (Ebd. 1973,
260).

21
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Die kulturelle Entwicklung der bäuerlichen Bevölkerung ist


beeinflusst durch den Austausch mit der städtischen Bevölkerung
und eine gegenseitige Einflussnahme. In die Konstruktion einer
nationalen Kultur werden bäuerliche Elemente einbezogen, die
nationale Kultur wirkt über verschiedene Kanäle (Ebd. 1973, 255) auf
die Dörfer zurück. Die Entwicklung der Volkskultur im Einflussgebiet
der städtischen Kultur verläuft in drei Richtungen: Verbürgerlichung
oder Verstädterung, Erneuerung oder Betonung des Bäuerlichen und
Beibehaltung fronbäuerlicher Lebensformen (Ebd. 1973, 261).
Sprache, als Kulturträger und kommunikatives Mittel der
Wissensverbreitung (Hobesbawm 1991, 71) eignet sich zur
Homogenisierung und als Klassifizierungsmerkmal. Sie reguliert
Zugehörigkeit übersozial, bestimmt territoriale Grenzen und lässt
diese zur weiteren Bestimmung offen und ist konkret überprüfbar.
Innerhalb einer Sprachgruppe entwickle sich ein
Zugehörigkeitsgefühl, indem der Lebensführung, Tradition,
Abstammung oder Denkart als ebenfalls gleich abgeleitet werden
(Reiter 1989, 37).
„Wo es in der näheren Umgebung keine fremden Sprachen gibt, da
ist die eigene Sprache nicht so sehr ein Gruppenmerkmal, sondern
etwas, das allen Menschen gemeinsam ist wie zwei Beine.“
(Hobesbawm 1992, 71) Dieses Gefühl motiviere die Mobilität des
Einzelnen innerhalb der Grenzen dieses Sprachraums.
Die nationalen Bewegungen in Osteuropa entstehen innerhalb eines
Diskurses der Sprachen. Einsprachigkeit gilt als Voraussetzung der
Nation. Konflikte zwischen ethnischen Mehrheiten und Minderheiten
werden als Sprachkonflikte formuliert. Die Bedrohung der eigenen
Sprache ist Argument für die Befreiung von der Fremdherrschaft
(Stölting 1994, 302ff). Es erfolgt die Auswahl oder Setzung der
Landessprache auf der Grundlage von Dialekten oder Idiomen. In
der schriftlichen Fixierung wird diese Sprache mittels Grammatik,
Wörterbuch und Wortneuschöpfungen standardisiert. Die schriftliche
Fixierung garantiert den Anschein der Dauerhaftigkeit. Die
standardisierte Sprache wird systematisch verbreitet (Hobesbawm

22
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

1991, 74ff) über Administration, allgemeines Schulwesen und Militär,


populäre Literatur und Presse (Stölting 1994, 307).
In der Festlegung eines Territoriums durch Grenzen materialisiert
sich die Idee der Nation (Giordano 2000, 398). Der Rückgriff auf
territoriale Nationskonzepte kann als Errichtung einer mentalen
Konstante gegenüber geschichtlichen und gesellschaftlichen
Wandlungen gewertet werden, oder als idealistische Aufwertung
bäuerlichen, immobilen Lebens. Bauern dienen in der Konstruktion
nationaler Identität als „positive Referenzgruppe“ (Ebd. 2000, 403),
denen in romantischer Manier Authentizität und Natürlichkeit
zugesprochen wird, sowie eine tiefe räumliche Verbundenheit. Dies
entspricht einer symbolischen Aufwertung des Territoriums. Der
territoriale Status der Nation bürge für dessen Existenz und
Zukunftsfähigkeit (Ebd. 2000, 405).
Die Etablierung eines Gemeinschaftsgefühls in Form nationaler
Identität, erfordert dessen ständige Konstruktion und Rekonstruktion
in der Praxis. Die Praktiken der „Indoktrinierung“ (Reiter 1989, S. 36)
sind im Sinne Hobesbawms erfundene Traditionen und vermitteln
sich durch Schulbücher, Tänze oder Lieder oder mittels neuer
Symbole wie Nationalflagge oder Nationalhymne. Nach einer zweiten
Methode werden vorhandene Materialien für die Konstruktion eines
neuen Typs (Hobesbawm 1998, S. 104) modifiziert und
instrumentalisiert. Die Traditionen werden in einem Formalisierungs-
und Ritualisierungsprozess konstruiert und rekonstruiert, wobei sie
sich auf die Vergangenheit beziehen (Ebd. 1998, 102).

1.3. Der lettische geschichtliche Kontext


Lettland besteht aus den historischen und kulturellen Gebieten
Vidzeme, Kurzeme, Zemgale und Latgale auf einer Gesamtfläche
von 64589 Quadratkilometern und grenzt im Norden gegen Estland,
im Osten gegen Weißrussland und Russland, im Süden gegen
Litauen und wird im Westen von der Ostsee eingegrenzt. Am 18.
November 1918 ruft es seine Unabhängigkeit als Republik Lettland

23
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

aus und wird zwei Jahre später– als Nationalstaat – durch den
Völkerbund anerkannt. Bis 1934 herrscht eine parlamentarische
Demokratie, welche durch die Autokratie K. Ulmanis’, Präsident der
Bauernpartei abgelöst wird. Im Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt
wird Osteuropa unter Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt,
Lettland fällt an die Sowjetunion und wird ein Jahr darauf besetzt.
Zwischen 1941 und 1944 okkupiert das Naziregime das Gebiet
Lettlands unter den Plänen der Osterweiterung. 1944 folgt die
erneute Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion und seine
Einverleibung in die Räterepublik. Es folgen Zwangskollektivierungen
der Landwirtschaft, einhergehend mit Massendeportationen, wie
bereits 1941 und Industrialisierung, verbunden mit der Ansiedlung
von Arbeitskräften aus allen Teilen der UdSSR. Seit Mitte der 1980er
Jahren entwickeln die Umweltschutz- und Folklorebewegung
Mobilisierungskräfte, die in die so genannte Singende Revolution
münden. Die Unabhängigkeit der lettischen Republik wird 1990
proklamiert, die Staatlichkeit kann im August 1991 wieder hergestellt
werden. Teile der Verfassung von 1922 treten wieder in Kraft. Die
Republik Lettland ist Mitglied internationaler Organisationen und wird
2004 in die europäische Union aufgenommen.
Ende des 12. Jahrhunderts wird das Territorium um die
Flussmündung der Düna in die Ostsee von deutschen Kaufleuten
des Ost-West-Handels der Genossenschaft der Kaufmannshanse
entdeckt und nach dem dort angesiedelten Volksstamm der Liven
(Alt-Livland oder Livonia) benannt. Die Aufsegelung des heutigen
Gebiets von Lettland und Estland und Städtegründungen nach
lübischem oder hamburgischem Recht, insbesondere die Gründung
Rigas 1201 durch Bischof Albert von Bremen, finden statt
(Pistohlkors 1990, 12). Aus der Heidenmission des Papstes Innozenz
III. vom Jahr 1199 folgt die Christianisierung des Territoriums
Lettlands im 13. Jahrhundert sowie Estlands im 14. Jahrhundert
durch den Deutschen Orden. Der livländische Ordensstaat besteht
aus den Provinzen Estland, Livland und Kurland. Nach Pistohlkors
kommt es aufgrund der Missions- und Siedlungsbewegung und des

24
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Fernhandels unter Führung des Erzbischofs von Riga und des


deutschen Ordens, der sich auf eine adlige Vasallenschaft stützt,
rekrutiert aus der Schicht der deutschen Ministerialität (Ebd. 1990,
12), zu keiner Herrschaftsbildung indigener Bevölkerung. Die
Gewaltenmenge in Alt-Livland aus Orden, Erzbischof, Bischöfen und
Städten mündet in den Landtag der livländischen Föderation
(Krupnikow 1999, 128). Militärische Kämpfe zur Unterwerfung und
Bekehrung durch den deutschen Ordens bis Ende des 16.
Jahrhunderts errichten ein hegemoniales System der Fron- und
Arbeitspacht, welches lettische und estnische Gesindewirte in die
vollständige Abhängigkeit Adliger bringt, welche aus Westfalen und
Niedersachsen zugewandert und in Herrschaftsverbänden, später
Ritterschaften, organisiert sind (Pistohlkors 1990, 12). „Das
Wirtschaftssystem wurde auf dem flachen Lande bis über die Mitte
des 19. Jahrhunderts hinaus weitgehend von den Bauernwirten
getragen, die als Schollenpflichtige und Untertänige ihrerseits ein
wachsendes Heer von Landlosen befehligte – zunächst meist
jüngere Familienmitglieder, die in Badstuben oder Hintergebäuden
hausten. Mit eigenem Inventar mußten die Gesindewirte dafür
sorgen, daß Ackerbau und Viehwirtschaft auf dem Gutsland wie auf
dem Bauernhof einigermaßen funktionierten.“ (Ebd. 1990, 12f) Die
Struktur der Selbstverwaltung der deutschen Oberschicht funktioniert
bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Außenpolitisch vergrößert sich im
16. Jahrhundert die staatlich Abhängigkeit der Föderation durch die
erstarkenden Mächte Polens, Litauens und Russlands. Der
Ordensstaat wird 1525 säkularisiert (Geiss 2002, 198). Im
livländischen Krieg (1558-15618) Ivan Groznyjs zerbricht die
livländische Föderation. Der nördliche Teil (Estlands) wird 1561
schwedisch, im Süden Lettlands entstehen die Herzogtümer
Kurland9 und Semgallen, angegliedert an Polen, der Mittelteil behält
den Namen Livland und wird ebenfalls von Polen annektiert. Livland
wird 1692 ohne Lettgallen (Polnisch-Livland oder Inflanty) von
8
Das Ende des livländischen Krieges ist nach meinen Informationen verschieden datiert. Pistohlkors
setzt ihn 1561, Geiss und Krupnikow 1582 beziehungsweise 1883.
9
Kurland wird bis 1795 polnisches Lehnsherzogtum (Butenschön, 1992, 112).

25
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Schweden erobert. Die deutsche Oberschicht in Lettgallen wird


polnisiert. Russland erhält im Nordischen Krieg 1710 Livland, 1772
Lettgallen nach Polens erster Teilung, welches dem Gouvernement
von Vitebsk unterstellt wird. Nach der dritten Teilung Polens 1795
fällt Kurland unter russische Herrschaft. Die Bezeichnung deutsche
Ostseeprovinzen Russlands (Krupnikow 1999, 128) wird für Livland,
Estland und Kurland im 19. Jahrhundert gebräuchlich.
Ab 1522 setzt sich in den Städten die Reformation mit Fokus auf das
gelesene und gehörte Wort als Glaubensbasis und unter verstärkter
Hinwendung zur bäuerlichen Bevölkerung ab 1525 auch auf dem
Land durch (Pistohlkors 1990, 13). Frühe Bibelübersetzungen ins
Lettische und Estnische folgen. Bibellektüre, regelmäßiger
Katechismusunterricht und „Volksbildungsunterricht“10 (Ebd. 1990,
139) alphabetisieren bäuerliche Bevölkerungsschichten zu einem
hohen Grad11 und bereiten nach Pistohlkors die Grundlagen der
Emanzipationsbestrebungen der Bauern von der Ständeordnung.
Deutsche Pfarrer bilden einen prägnanten Kultureinfluss (Geiss
2002, 199). Lettgallen12, als Teil Polens, wird im Zuge der
Gegenreformation im 16. Jahrhundert katholisch. Innerhalb eines
Jahrhunderts sei die Bevölkerung rekatholisiert und des Lesens und
Schreibens mächtig (Ivanows 2001, 18). Die bäuerliche Bevölkerung
erhält „Heimunterricht” (Bukšs 1996, 208), welcher sie befähigt,
Katechismus und Gebetsbuch zu lesen. Im Unterschied zu den
protestantisch geprägten Gebieten Lettlands herrscht das
mittelalterliche Bildungsmonopol der Katholischen Kirche vor. In der
10
Eine Schulpflicht wurde in Livland im Zuge der Regelung der Bauernfrage im Landtag durch die
russische Regierung 1765 eingeführt.
11
Die Volkszählung 1897 in Russland bescheinigt eine „einigermaßen geläufige Lesefähigkeit“ in
Estland von 92%, in Livland von 95% (Pistohlkors 1990, 24), in Lettgallen von 47%-51% (Bukss 1996,
208).
12
Ich bin mir der Ungleichheiten oder Ungleichzeitigkeiten der historischen Entwicklung zwischen den
Provinzen und Lettgallen bewusst, kann sie aber nicht immer herausarbeiten, weil sich das Gros der
Literatur, welche ich einbezogen habe, auf die historischen Gebiete Liv-, Kur- und Estland beziehen.
Die Ausführungen von Bukšs zu Lettgallen unter den Kapiteln „Das politische Erwachen“ (Ebd.1996,
214) und „Das Erbe“ (Ebd.1996, 225) besitzen eher zuschreibenden als beschreibenden Charakter, um
dieser Region Lettlands völkische Eigenständigkeit zu attestieren.
Peter Krupnikow verweist auf die schon im 19. Jahrhundert bestehende Fülle von historiographischer
Literatur von Autoren unterschiedlichster politischer Anschauungen und nationaler Abstammung
(Krupnikow 1999, 132). Politisch intendierende und intendierte Geschichtsschreibung besteht auch im
20. Jahrhundert und scheint auch nicht mit Ende des politischen Blockdenkens zu verebben.
Geschichtsschreibung ist nach Kaschuba vergangene „Wirklichkeit“ in „Begriffen und Bildern heutigen
Denkens“ (Kaschuba 1995, 18), was als Diskursstrategie bedeuten kann, so genannte kollektive
Identitäten zu konstruieren, die sich durch Geschichte ihrer Selbst vergewissern und als kulturalistische
Strategie (Ebd. 1885, 17), Soziales als Ethnisches zu konzipieren.

26
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

(nicht-deutschen) Literatur, die sich auf Lettgallen bezieht, habe ich


verschiedene Hinweise gefunden, die einen Unterschied zwischen
den lutherisch geprägten Regionen Lettlands und dem katholischen
Lettgallen festschreiben (Bukšs 1996; Ivanovs 2002; Juško-Štekele
2002). Nach Bukšs beziehen sich diese Unterschiede weitgehend
auf den Einfluss polnisch katholischer Kultur, auf
Bildungsmöglichkeiten, wirtschaftliche Rückständigkeit, die um 40
Jahre zu den baltischen Provinzen verzögerte Aufhebung der
Leibeigenschaft, Sprache, russische Verwaltung, „Druckverbot“ und
russischsprachigen Unterricht (Bukšs 1996, 207).

1.4. Der Wandel der lettischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert


Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die Selbstverwaltung in den
baltischen Provinzen in der Hand der deutschen Ritterschaften. Die
wichtigsten lokalen Ämter, wie Kirchen- und Schulverwaltung und
Rechtspflege ist unter deren Aufsicht (bis 1889). Das Ständerecht
bestimmt über Eigentum sowie über Steuerprivilegien, Polizei, über
Körperstrafen, Fischerei-, Brau-, Jagd- Wegebau- und andere
adelige Vorrechte, Kirchen- und Patronatsrecht13 der immatrikulierten
Gutsbesitzer sowie das Dreiklassenwahlrecht in den Städten
(Pistohlkors 1990, 18). Die Amts- und Geschäftssprache ist deutsch
und nur auf unterster Gemeindeebene lettisch. Die ethnische
Zusammensetzung der Bevölkerung in den Provinzen ist heterogen.
Die Oberschicht der Gutsbesitzer und Verwalter in den Provinzen
bilden sich aus dem Adel, dem Bürgertum, dem Klerus und aus
Literaten14. Sie sind deutscher, schwedischer, russischer, polnischer,
englischer, französischer, irischer, schottischer adeliger oder
bürgerlicher Herkunft (Krupnikow 1999, 129). Die Mittelschicht
besteht aus meist deutschen Pächtern, Krügern, Müllern, Förstern
sowie einigen Handwerkern, welche in Gilden organisiert sind. Letten
und Esten bilden als die zahlenmäßig größte Bevölkerungsgruppe
die Unterschicht. Sie erledigen die Fronarbeit und sind tätig als
13
Der Gutsherr hatte das Recht einen Geistlichen zu bestimmen.
14
Als Literaten wurden jene Akademiker bezeichnet, die in der Phase des Aufbaus nach dem
Nordischen Krieg (1700 – 1721) ins Baltikum ziehen und oft als Hofmeister arbeiteten.

27
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Träger, Dienstleute, Hafenarbeiter und in wenigen Fällen als


Industriearbeiter (Rauch 1980, 571). In Lettgallen ist unter polnischer
Herrschaft ein Zuzug polnischen Adels und „bedrängte[r]
Altgläubige[r]“ (Krupnikow 1999, 129) zu verzeichnen. In Lettgallen
und Kurland siedeln Juden aus Polen und Ostpreußen; und im Zuge
der Industrialisierung kommen Arbeiter aus Russland, Polen und
Litauen in die größeren Städte. Als Beispiel für die ethische
Zusammensetzung einer lettischen Stadt dient das Riga der 20er
Jahre des letzten Jahrhunderts. Es existieren Schulen in neun
Sprachen: lettisch, deutsch, russisch, polnisch, litauisch, jiddisch,
hebräisch, estnisch und weißrussisch, Theater in vier, Presse und
Publizistik in sieben bis acht Sprachen (Ebd. 1999, 129f). Die
Verwendung des Begriffes „deutsch“ ist bis in das 19. Jahrhundert
nicht als nationale Herkunftsbezeichnung von Bedeutung, sondern
fungiert als soziale Kennzeichnung. In den Kategorien deutsch und
undeutsch werden die Menschen verschiedener Herkunft ihrer
Schicht zugewiesen. So gelten die Vertreter der unteren Schicht als
Undeutsche und Vertreter der führenden Schichten als Deutsche
(Lele-Rōzentāle 2001; Hobesbawm 1992, 62).
In den Jahren 1816 - 1819 wird in Liv-, Kur- und Estland die
Leibeigenschaft aufgehoben, welche eine persönliche Befreiung der
Bauern und Bildungsmöglichkeit für Letten (respektive Esten), jedoch
weitere wirtschaftliche Abhängigkeit durch die Einbehaltung des
Rechtes auf Grund und Boden, bedeuten. Die Änderung der
Rechtsgrundlage für Letten hat verschiedene Gründe. Von Seiten
der Ritterschaften soll dem staatlichen Zentralismus und politischen
Veränderungen in Russland ein Regionalismus auf Grundlage der
Ständeordnung (Pistohlkors 1990, 15) entgegengestellt werden,
welcher eine Reformpolitik einschließt, um die, von einer russischen
Bürokratie unabhängigen Selbstverwaltungsstrukturen modernisieren
und dadurch erhalten zu können. Aus wirtschaftlicher Perspektive
wird mit der Gefahr der technischen Rückständigkeit im Vergleich zu
Westeuropa und einer verbesserten agrarischen Infrastruktur durch
Einführung rationeller Wirtschaftsweise argumentiert (Ebd. 1990, 16).

28
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Es gibt Pläne, die lettischen Bauernvertreter in die Landtage


einzubeziehen. So sollen aufständischen Tendenzen in der
Unterschicht entgegengewirkt werden15.
Psychologische Voraussetzungen dafür schafft der
Paradigmenwechsel in der Epoche der Aufklärung: ein
wissenschaftliches Interesse am Menschen und seinen
Lebensumständen, die Geschichtlichkeit des Menschen, ein
universal geltender Bildungsanspruch sowie eine Herausbildung der
Öffentlichkeit und eine Verbreitung dieser Paradigmen durch
Geistliche, Studenten und Freimaurer in den Städten der
Ostseeprovinzen (Garleff 2001, 57). Dieser Paradigmenwechsel
schafft auch die Bedingungen dafür, dass die Letten von der
deutschen Bevölkerung als Nation und im humanistischen Sinn, als
Menschen wahrgenommen werden. Ihnen wird seitens deutscher
Intellektueller eine eigene Geschichte, Kultur sowie das Recht auf
Bildung zugestanden. Reiseberichte, Kritiken, und ethnographische
Aufzeichnungen, die durch das neue europäische Interesse am
Menschen über Lettland angefertigt werden, dienen später den
lettischen nationalen Aktivisten, die geschichtliche Existenz der
lettischen Nation zu belegen.
Neben der liberalistischen Gesinnung von Gutsbesitzern, welche
durch einzelne Vergabe von privaten Bauernrechten bereits Ende
des 18. Jahrhundert das Ende der Leibeigenschaft einläuten, werden
aufklärerische Werte durch publizistische Tätigkeiten Einzelner
verbreitet. Diese Autoren sind oftmals Angehörige des Klerus. Sie
stehen in einem regelmäßigen Kontakt zu Deutschland und sind als
Vermittler zwischen den lettischen bäuerlichen Schichten und der
Intelligenz tätig und sind so in der Lage, die europäischen Ideen der
Aufklärung auf die soziale Realität in Lettland zu übertragen (Lundin
1971, 48).

15
Im Jahr 1784 kommt es zu Unruhen der Bauern in Süd- und Nordlivland, welche gewaltsam
zurückgehalten werden. Grund für Unzufriedenheiten sind fehlendes Recht der Bauern, eine fehlende
Normierung der Arbeitsleistungen, Missbrauch der Hauszucht, öffentlicher Verkauf von Leibeigenen und
Ähnliches (Garleff 2001, 54).

29
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Garlieb Merkel (1769 – 1850), Sohn eines livländischen Pfarrers, der


als Kind der Züchtigung eines Bauern durch den Gutsbesitzer
beiwohnt (VīksniĦš 1971, 55), veröffentlicht 1776 in Leipzig mit „Die
Letten, vorzüglich in Livland, am Ende des philosophischen
Jahrhunderts“ eine Kritik an der Leibeigenschaft. Er stellt die
ständisch-feudale politische Ordnung mit dem Argument zur
Disposition, dass mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen
Verhältnisse ein Weg für die soziale und kulturelle Entwicklung
dieser Bevölkerungsschicht geebnet und mit Beibehaltung der
Zustände, die Gefahr einer Revolution heraufbeschworen würde.
Merkel stellt die Letten als historisch entstandene Gemeinschaft dar,
die zwanghaft in einen Stand gedrängt wird (Ebd. 2001, 44). Er setzt
- entgegen das weit verbreitete Geschichtskonzept der Deutschen,
welche die These von der kulturellen Missionierung der indigenen
Bevölkerung durch die Kreuzritter vertreten - seine
Geschichtsschreibung mit Darstellungen des Lebens vor der Zeit der
deutschen Eroberung im 13. Jahrhundert an, indem er sich auf
ethnographische und folkloristische Studien stützt, die er angefertigt
hat. Neben „Die Letten“, dienen Werke wie „Die Vorzeit Livlands“ und
die lettische Sage „Vanems Imanta“, die Nachrichten und Bilder über
die Geschichte, Ethnographie und die Sitten Lettlands enthielten, den
Vertretern der nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert als Fundus
für die Konstruktion einer nationalen Ideologie (Lāms 2001, 37).
Merkels „epochale Entdeckung der Letten und Esten als
eigenständige und gleichberechtigte Völker“ (Heeg 2001, 56), gilt als
Ausgang nationaler Emanzipationsbewegung. Nach dem Naturrecht
der Aufklärung seien die Menschen gleichberechtigt. Nach Schwidtal
kann „Die Letten“ als Merkels Entwurf einer nationalen Mythologie
gewertet werden, welche die Nationalbewegung der Letten emotional
stützen kann (Schwidtal 2001, 14). Merkel würde bis heute verehrt
als ein früher Begründer lettischer Eigenständigkeit (Pistohlkors
1990, 14). Lāms dagegen macht darauf aufmerksam, dass Merkel in
„Die Letten“ nicht die Nationswerdung der Letten im Sinn hat. Die
Letten dienten ihm als „Mittel und Objekt im Kampf um den

30
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Menschen und die Menschheit“, Russland gelte ihm als Vaterland


und Merkel nutze den Begriff Letten als Synonym für Bauern (Lāms
2001, 33f). Gotthard Friedrich Stender (1714 – 1796), Pastor in
Kurland, arbeitet als Vermittler zwischen deutschem Adel und
lettischer Volkskultur. Er gilt als Begründer der lettischen
Schriftsprache und verfasst Fibeln, Wörterbücher, Grammatik,
Lexika, Bücher über Geographie und Erdkunde (Seehaus 1986, 127)
in lettischer Sprache. Er betrachtet Schriftkultur als Weg in die
soziale Mündigkeit der Letten. Als weitere Kritiker an bestehenden
Verhältnissen gelten Pastor und Publizist Wilhelm Hupel (1737 –
1819) mit Berichten über Lebens-, Kultur- und Wirtschaftsumstände,
sowie Johann Georg Eisen (1717 – 1779), welcher als erster die
Verhältnisse der Leibeigenschaft öffentlich anprangert.
Der Dichter und Schriftsteller Johann Joseph Gotthard Otto
Rutenberg (1802 – 1864) verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie Merkel
in der Darstellung einer historischen Entwicklung der lettischen
Stämme seit dem Altertum. Die Entwicklung der lettischen Nation
belegt Rutenberg durch Hinzuziehen verschiedener Chronikberichte
und geschichtlicher Dokumente für sein Werk (Seehaus 1986, 30).
Er vertritt wie Merkel die These, dass die lettischen Stämme vor
Eroberung durch Schwert und Bibel eine zivilisierte Form von
kulturellem Entwicklungsstand, gemessen an damaligen Maßstäben
von Zivilisation und Barbarei, erreicht hatten. Sie hätten Ackerbau,
Vieh- und Bienenzucht betrieben, sich mit Jagd- und Fischfang
beschäftigt und mit Bernstein bis zum Adriatischen Meer gehandelt.
Er widerlegt die These, dass die Letten ohne Herkunft, also
geschichtslos, seien. Gemeinsam mit Merkel ist die Methode, den
Stand einer hohen kulturellen Entwicklung in eine vergangene Zeit zu
verlegen und zu urteilen, dass unter dem „Doppeljoch“ (Seehaus
1986, 32ff) der Geistlichkeit und Ritterschaften die kulturelle
Entwicklung stagniert sei, was die Letten „faul und schmutzig,
lügnerisch, tückisch und widerspenstig“ (Rutenberg in Seehaus
1986, 32) gemacht hätte.

31
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Mit der pietistischen Strömung wenden sich Geistliche im Baltikum


verstärkt der individuellen Seelsorge zu und errichten karikative
Einrichtungen. Zugleich sind sie bemüht, die ländliche Bevölkerung
zu bilden. Die Herrenhuter Brüdergemeinde, propagiert durch Graf
von Zinzensdorf (1700 – 1760), hat seit Mitte des 18. Jahrhunderts
besonders im Gebiet Vidzeme verstärkt Zulauf. Die Brüdergemeinde
hält ihre Gottesdienste in lettischer Sprache ab und nimmt sich der
Lage der leibeigenen Bauern an. Es bilden sich tatsächliche soziale
Gemeinden heraus, in denen ein kulturelles lettisches Leben
gefördert wird. Indem sie wahrgenommen werden, erhalten die
Bauern ein positives Bewusstsein ihres Standes.
Die Leibeigenschaft in Lettgallen wird mit der russischen
Bauernbefreiung 1861 aufgehoben und zieht umgehend ein so
genanntes Druckverbot (Bukšs 1996, 207), ein Verbot von Schrift
und Sprache, nach sich. Da der lettgallische Dialekt sich von der
lettischen Schriftsprache erheblich unterscheidet, hat die
(genehmigte) Verbreitung katholischer Bücher aus Kurland keinen
Erfolg. Ivanows und Bukšs erwähnen eine soziale Homogenität der
lettgallischen Bevölkerung, aufgrund ähnlicher wirtschaftlicher
Verhältnisse als Kleinbauern oder Arbeiter ohne Eigentum in einer
kapitalschwachen Region (Ebd. 1996, 214). Ivanows schreibt der
katholischen Kirche eine vereinigende Funktion im Zusammenleben
von Letten, Polen und Weißrussen zu (Ivanovs 2002, 19).
Zu einem „Leitmotiv des 19. Jahrhunderts“ (Rauch 1980, 571)
avanciert im 19. Jahrhundert die Idee des sozialen Aufstiegs unter
den Letten. Bis Mitte des Jahrhunderts gibt es für Letten nur die
Form der Aufstiegsassimilation. In Liv-, Kur- und Estland müssen die
Letten und Esten die deutsche Sprache annehmen, um zu Besitz
oder Bildung zu gelangen, in Lettgallen, übernehmen sie die
polnische Sprache. Aber auch unter der deutschen Bevölkerung gibt
es Fälle von Abstiegsassimilation (Krupnikow 1999, 129).
Agrarreformen in den 40er und 60er Jahren, als Sicherung
bäuerlichen Landbesitzes, erzeugen die wirtschaftlichen
Vorraussetzungen der sozialen Differenzierung der lettischen

32
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Bevölkerungsschichten. Nach Beendigung des Fronverhältnisses


stehen die Bauern mit den Gutsbesitzern in Pachtverhältnissen,
welche ähnlich willkürlich geregelt werden. Die Jahre 1839 – 41 und
1844 – 46 sind begleitet von Missernten und Hungersnot und
bäuerlichen Aufständen, aufgrund einer Übertrittsbewegung
(Laakmann 1924, 132) lettischer Bauern zur russisch-orthodoxen
Kirche16. In Folge eines Gerüchtes glauben sie, die Konversion wäre
Voraussetzung für unentgeltlichen Landerwerb im Inneren
Russlands. Mit den Agrarreformen findet ein Übergang zur
Geldpacht und zum Bauernlandverkauf statt, um einen ökonomisch
unabhängigen Stand bäuerlicher Eigentümer (Garleff 2001, 74) mit
dem Aufbau von Einzelbauernhöfen zu ermöglichen. Dieses
politische Ziel wird durch eine liberal gesinnte Partei unter Führung
von Hamilkar Baron Fölckersahm erst im Landtag, dann durch eine
Petersburger Kommission durchgesetzt. Weitere Freizügigkeiten sind
die Aufhebung der Hauszucht und die Emanzipation der
Bauerngemeinden vom Einfluss des Gutsbesitzers (Laakmann 1924,
135). Pistohlkors stellt heraus, dass einerseits die wirtschaftliche
Konkurrenzfähigkeit der neuen Bauern- und Gesindewirtschaften im
Vergleich zu den Gutswirtschaften höher wird, andererseits, dass die
Mehrheit der Landbevölkerung ohne Besitz und lohnabhängig
(Pistohlkors 1990, 19) bleibt. So verbessert sich mit den Reformen
nur die wirtschaftliche Lage einiger Weniger. Die sozialen
Verhältnisse sind nicht mehr ausschließlich an die nationalen
Unterschiede geknüpft. In die Konstruktion der Nation müssen also
auch die Bevölkerungsschichten eingebunden werden, für die sich
die Herrschaftsverhältnisse nur im Prinzip ändern. Mit den
Agrarreformen entsteht bis Ende des 19. Jahrhunderts ein Mittel- und
Großbauerntum mit eigenem Besitz, für das es von Interesse ist, sich
politisch zu emanzipieren. Es ist Ende des 19. Jahrhunderts in der
Lage, wirtschaftliche Macht auszuüben, es bleibt ihnen jedoch
weiterhin verwehrt, im öffentlichen Leben Einfluss zu nehmen.

16
Die Stellung der evangelisch-lutherischen Kirche als Landeskirche wird durch das Kirchengesetz von
1832 aufgehoben.

33
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Durch gesteigerte Absatzmöglichkeiten in den Städten und über die


Häfen und in Konkurrenz zu Großbetrieben deutschbaltischer
Eigentümer kann Produktivität und Einkommen wachsen, was den
Mitgliedern der Familien, die nicht den Betrieb erben, Schulbildung,
Fachausbildung und Universitätsstudium ermöglicht sowie
Aussichten auf Arbeitsplätze im urbanen Raum (Schlau 1990, 222)
und in Positionen der kleinstädtischen Intelligenz. Diese gebildeten
Letten werden die Schicht der urbanen und ländlichen Intellektuellen
bilden, die die nationale Bewusstseinsbildung initiiert und durchführt.
In den Provinzen folgt mit der wirtschaftlichen Modernisierung eine
Infrastrukturierung. Der wirtschaftliche Ausbau Lettgallens bleibt
jedoch mit der fehlenden Eisenbahnverbindung und durch fehlende
Unterstützung seitens der herrschenden Schichten zurück. Die
Verschiffung von agrarisch hergestellten Gütern ermöglicht der
Ausbau der Häfen Riga, Windau (Ventspils) und Libau (Liepaja) und
die Gründung dort ansässiger Werften. Damit werden die
Absatzmöglichkeiten der lettischen Bauern stark erhöht. Ihre
Wirtschaftsweise wird optimiert, weil sie sich über effektive
Landwirtschaftmethoden in der in Nordlivland neu gegründeten
„Baltischen Wochenschrift für Landwirtschaft, Gewerbefleiß und
Handel“ (Pistohlkors 1990, 20f) informieren können. Wissenschaftlich
begleitet wird die Modernisierung der Landwirtschaft durch die
Gründung einer landwirtschaftlichen Fakultät zum Beispiel am Rigaer
Polytechnikum17 und an der Universität Dorpat sowie durch die
Gründung von landwirtschaftlichen Vereinen. Die politische
Mitbestimmung der bäuerlichen Bevölkerung bleibt jedoch weiterhin
beschränkt auf die Ebenen der Landgemeinde und des
Kirchenspiels18. Der Ausbau eines Eisenbahnnetzes und eine
Eisenbahnverbindung zwischen den baltischen Städten und
Petersburg 1861 gelten als Motor der Industrialisierung ab der Mitte
des 19. Jahrhunderts. Besonders Riga aber auch Windau (Ventspils)

17
Das Rigaer Polytechnikum wird als „einzige technische Ausbildungsstätte Russlands“ (Garleff 2001,
70) 1862 von Rigaer Kaufleuten gegründet und hat neben mehreren Fakultäten eine Handelsabteilung.
In Folge der Industrialisierung werden Maschinenbau, Eisenbau und Chemie besonders gefördert.
18
Eine Mitentscheidung wird lettischen Bauern in Livland 1870 eingeräumt (Ebd. 2001, 74).

34
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

und Libau (Liepaja) entwickeln sich zu russischen Wirtschafts- und


Handelszentren, gefördert durch ausländische Kapitalinvestitionen in
Industriebetriebe, Hafenausbau und moderner Infrastruktur. Mit dem
gesteigerten Verkehr des Kapitals, verbreiten sich Wissen und
Informationen. Der Industrialisierung folgen ausländischen
Spezialisten und ländliche Bevölkerungsgruppen, die in den Fabriken
Arbeit finden. Die Städte vergrößern sich und die Bevölkerung wird
ethnisch durchmischt. Es entwickeln sich Textilindustrie, Tabak,
Metall- und Holzindustrie, Porzellanmanufakturen, Maschinen- und
Waggonfabriken. Die Absolventen des Polytechnikums sind an der
Infrastrukturierung maßgeblich beteiligt (Schlau 1990, 220).
Lettischen Arbeitern ist in der Industrie der soziale Aufstieg zu
Werkmeistern möglich. Bis 1914 ist die Industriewirtschaft mit
Großunternehmen und zahlreichen mittleren und kleineren Betrieben
voll ausgebaut (Garleff 2001, 76). In kurzer Zeit hat sich die
Gesellschaftsstruktur verändert: ein lettisches Besitz- und
Bildungsbürgertum und ein modernes Industrieproletariat (Krupnikow
1999, 130) entstehen, die nicht mehr an den bäuerlichen Stand und
dessen Bestimmungsfaktoren gebunden sind. Die Modernisierung
der lettischen Gesellschaft ist von einem Urbanisierungsprozess
begleitet. Noch immer wird den Letten keine kulturelle Autonomie
zugesprochen. Die Sphären des gesellschaftlichen Lebens sind
weiterhin gebunden an die deutsche Kulturhoheit aus der Zeit der
ständischen Ordnung. Unter den Letten erhöht sich das
Bildungsniveau. Die bäuerliche Ordnung diversifiziert sich und die
städtische und bäuerliche Kultur beginnen sich zu vermischen. Der
Prozess der Verbürgerlichung und Vergesellschaftung der
bäuerlichen Kultur, der damit einsetzt, ist immer noch an das
Paradigma gekoppelt, dass die Kultur der Städte und der urbanen
modernen Gesellschaft deutsch geprägt ist und kaum Möglichkeiten
bestehen, lettische Interessen auf den gesellschaftlichen Plattformen
zu äußern. Die lettische Bauernkultur ist funktional gebunden. Mit der
Bildung der ländlichen Bevölkerungsschichten könnte sich ihr
spezifischer Charakter ändern, da auch auf dem Land neue

35
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Techniken der Wissensvermittlung Einzug finden. Ebenso erfüllt


diese Bauernkultur nicht mehr die kulturellen Bedürfnisse der
Arbeiter und des Bürgertums. So besteht die Möglichkeit, dass sich
die ländlichen Bevölkerungsteile, für die sich wirtschaftlich nichts
ändert, von der modernisierten Gesellschaft abspalten. Die urbane
Bevölkerung hingegen, könnte sich die deutsche und europäische
Kultur aneignen oder Syntheseformen erschaffen. Sie könnte ebenso
eigenständige moderne lettische Kulturformen ausbilden.

2. Die nationale Bewegung in Lettland

2.1. Die Rolle der Jungletten bei der Konstruktion des lettischen
Nationalbewusstseins
Die sozialen und politischen Veränderungen in Lettland in den
Jahren 1850 – 1880 stehen in Wechselwirkung mit den Aktivitäten
einer Generation national gesinnter Intellektueller in den baltischen
Provinzen. Als Synonym für diese Vorgänge steht der Begriff
Nationales Erwachen. Von lettischen Intellektuellen, auch als
Neuletten oder Jungletten (jaunlatvieši) bezeichnet, welche in den
1850er Jahren universitäre Ausbildungen an der Universität Dorpat
(Tartu) auf den Gebieten der Geschichts-, Wirtschaft- und
Naturwissenschaften absolvieren, wird in den 1850er Jahren das
Konzept der Aufstiegsassimilation im Deutschen oder Russischen als
einzige Möglichkeit sozialer Mobilität und höherer Bildung, in Frage
gestellt. Als Gegenentwurf entwickeln sie Konzepte, welche eine auf
der lettischen Sprache und von lettischen Institutionen getragene
Kultur favorisieren. Sie stellen sich damit in Opposition zu der in der
Oberschicht gängigen Meinung, die lettische Sprache sei nicht
„literaturfähig“ (Butenschön 1992, 115). Sie beziehen das ethnisch
linguistische Konzept (Apals 1998, 31) deutscher Philosophen wie J.
G. Herder oder G. Fichte auf die lettische Situation. Ihre Ziele sind
die Propagierung eines lettischen Nationalbewusstseins in der sich
ausdifferenzierenden lettischen Gesellschaft, insbesondere innerhalb

36
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

des entstehenden Bildungsbürgertums und die, mit der deutschen


Sprache verbundene, kulturelle Hegemonie der deutsch-baltischen
Oberschicht zu stürzen.
Konkrete Aktivitäten der Jungletten sind die Etablierung einer
lettischen Publizistik und Presse, die Modernisierung der Sprache
und die Verbreitung der lettisch nationalen Idee, basierend auf der
Idee des Volkes sowie Reformvorschläge für das Bildungswesen. Mit
diesen Vorhaben sind die Namen Krišjānis Valdemārs (1825 – 1891),
Verleger, Juris Alunāns (1832 – 1864), Schriftsteller, Krišjānis Barons
(1835 – 1923), Journalist und Atis Kronvaldis (1837 – 1875), Lehrer,
verbunden.
Eine zweite Strömung mündet in die Gründung des Lettischen
Vereins (Rīgas Latviešu biedrība) 1868 in Riga.
Als Ergebnis dieser Periode steht die Grundlegung einer lettischen
Kultur auf Basis der lettischen Sprache und die Bewusstseinsbildung
der lettischen Bevölkerung, dass sie Letten seien. Die Vorstellung
der tradierten nationalen Vergangenheit wird innerhalb der
gebildeten Bevölkerungsschichten propagiert sowie die Idee eines
lettisch ethnischen Territorium und der Name Lettland. Die Neuletten
bilden, so Apals, ein nationales Bewusstsein aus und stellen sich
gegen, seit dem 18. Jahrhundert propagierte, Konzepte, die
Einwohner des Baltikums aufgrund kultureller, religiöser und
sprachlicher Einheitlichkeit zusammenzuschließen (Apals 1998, 31).
Lettland befindet sich im Einflussgebiet einer romantischen
Begeisterung für die Lebensweise und Kultur und die damit
verbundene Sprache der agrarischen Bevölkerung, wie sie im
deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts aufkommt. Neben Merkel
und Rutenberg, welche die Idee der Nation auf die lettische
Bevölkerung übertragen, indem sie ihre geschichtliche Entwicklung
darstellen, und Stender, welcher eine kulturelle Verwurzelung von
Letten in der Volkskultur ablehnt (Seehaus 1986, 27), gibt es Anfang
des 19. Jahrhunderts konkrete Aktivitäten von Baltendeutschen, die
sich aus dieser romantischen Begeisterung ableiten lassen.

37
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Auf dem Gebiet der Publizistik wird 1821 eine Zeitung in lettischer
Sprache „Latweeschu Awises“/ „Latviešu avīzes“ („Lettische
Nachrichten“) von Pastor Watson herausgegeben, ohne Beteiligung
von Letten. Auf dem Gebiet des Vereinswesens erfolgt 1824 die
Gründung der Lettisch-literarischen Gesellschaft in Mitau (Jelgava)
durch August von Bielenstein zum Schutz lettischer
Volksüberlieferungen (Garleff 2001, 77). Der Folklore, insbesondere
der Sammlung und Ausgabe von Volksliedern, wenden sich
deutsche Pastoren zu. Die Veröffentlichung von 238 lettischen
Volksliedern ermöglicht im Jahre 1807 der deutsche Pastor der
deutsch-lettischen Gemeinde in Ruien (Rūjiena) Gustav Bergmann,
welcher auch Nachwort und deutsche Übersetzung verfasst, sowie
eine zweite Publikation 1808 mit 249 Liedern. Im gleichen Jahr
erscheint die Sammlung von Friedrich Daniel Wahr mit 412
Liedtexten. Sir Walter Scott veröffentlicht Artikel und Übersetzungen
zur lettischen Volksliedtradition. Seit 1824 erscheinen im „Magazin
der Lettisch=literärischen Gesellschaft“ Aufsätze zur Thematik
lettischer Volkslieder (Scholz 1990, 159). 2854 Lieder publizierte
1844 der Pfarrer Büttner (Carpenter 1980, 20).
Trotz der Initiativen von Deutschbalten, ist das baltendeutsche
Interesse an der kulturellen Entwicklung der lettischen Gesellschaft
gering. Aina Blinkene zu Folge ist Bielenstein, Begründer der
Lettisch-literarischen Gesellschaft, der Meinung, die Entwicklung
lettischer Kultur sei nicht möglich und ein gebildeter Lette sei ein
Unding. Deutsche Pfarrer, in der Position der örtlichen Intelligenz und
als Vermittler von Wissen, vermeiden Bildungsmaßnahmen im
Bereich säkularen und aufgeklärten Wissens und halten den Zugang
zu Literatur, welche außerhalb von Bibel, Liederbuch, und
Katechismus liege für gefährlich (Blinkene 1985, 340ff).

2.2. Die Modernisierung der lettischen Sprache


Der Fokus der Junglettenbewegung auf die lettische Sprache ergibt
sich aus der Beschäftigung mit den Ideen der Aufklärung und der
humanistischen Bildung.

38
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Sprache kann als pädagogischer Bereich nationaler Ideologie


fungieren, indem sie dazu dient, die Idee der nationalen Einheit
mittels der Sprache über die Institutionen der Verwaltung, Bildung,
Militär und der Presse zu verbreiten. Über die Beschäftigung mit
Konzepten der nationalen Einheit und Diskussionen über die soziale
Situation in Lettland mit Ausblick auf erhöhte soziale Mobilität und
Ausdifferenzierung, avanciert die lettische Sprache zu einem
Hauptgebiet der Aktivitäten der Jungletten.
Sprache ist ein Instrument, das Bildungs- und kulturelle Niveau der
lettischen Bevölkerung zu heben, Zugänge zu akademischem
Wissen zu schaffen, dieses Wissen zu verbreiten und ein kulturelles
Selbstbewusstsein zu etablieren, die lettische Bevölkerung zu
intellektualisieren und säkularisieren als Voraussetzungen einer
modernen Gesellschaft (Blinkene 1985, 39).
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Großteil der
Schriftsprache in Lettland vorerst Latein, später Deutsch und
Russisch.
Lettisch existiert in drei Varianten: der lettischen Umgangssprache,
aufgefächert in verschiedene Dialekte, der Sprache der Folklore,
insbesondere der Volkslieder, und in Übersetzungen von kirchlicher
Literatur durch Pfarrer19. Letztere ist gekennzeichnet ist durch
christliche Begrifflichkeit und die Prinzipien der deutschen Sprache
(Huelmann 1996, 291; Blinkene 1985, 338).
Die lettische Sprache entspricht zu diesem Zeitpunkt nicht den
kommunikativen Anforderungen der modernen Gesellschaft. Ein
Mangel an Wortschatz, insbesondere wissenschaftlicher und
abstrakter Termini, an stilistischer Vielfalt, klarer grammatikalischer
Regeln erschwert eine Praxis, die den sozialen und politischen
Forderungen der Neuletten entspricht. Angestrebt werden eine
Gleichstellung der lettischen mit der deutsch-baltischen Bevölkerung
auf allen Gebieten, Reformen im Gerichts- und Schulwesen sowie

19
Das erste überlieferte Buch in lettischer Sprache ist wahrscheinlich der „Catechismus Catholicorum,
von Hl. Peter Kanisius verfasst und 1585 in Vilnius gedruckt. Der Druck von lettischen und lettgallischen
Büchern geht auf die Tätigkeit der Gesellschaft Jesu, seit 1582 in Lettland tätig, zurück. (Trufanovs
2001, 36)

39
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

das Recht an einer Mitbeteiligung innerhalb der Selbstverwaltung der


Provinzen und die Verwendung der lettischen Sprache im
Amtsbereich (Loit 1985, 70).
Die Erneuerung der Sprache durch die Jungletten erfolgt anhand der
russischen Sprache, die als Modell dient, und anhand der
Beschäftigung mit der lettischen Folklore.
„(…) the language of Latvian folklore revealed the versatility and the
subtlety of the Latvian language, the versatility of its expressive
means.” (Blinkene 1985, 339) Auf Basis der Folklore und der
Umgangssprache wird mit bewusster Abkehr von der bestehenden
Tradition der schriftlich fixierten Sprache eine Schriftsprache
entwickelt. Im Bereich der Linguistik ist der Name Juris Alunāns,
welcher in Dorpat Philosophie und Wirtschaft studiert und durch in
lettischer Sprache verfasste Lyrik bekannt wird, zu erwähnen. Er
widmet sich der Anreicherung des lettischen Vokabulars durch
Neologismen und Entlehnungen aus benachbarten Sprachen, der
Systematisierung der Wortbildung und Vereinheitlichung der
Rechtschreibung (Ebd. 1985, 340f). Für das Bildungswesen
engagiert sich Atis Kronvaldis, der Lehrerkonferenzen organisiert,
weil er erkennt, dass das tiefe Verständnis und die Kenntnis der
lettischen Sprache die Vorraussetzung schafft, in dieser Sprache in
allen Disziplinen zu unterrichten. Er erarbeitet Regeln für
Wortneuschöpfungen und erschafft konkrete und abstrakte Begriffe
des modernen Lebens, wie raksturs (Charakter), ėermenis (Körper)
oder zinātne (Wissenschaft) (Ebd. 1985, 342).
Die Sprache wird vorerst über Presse, Publizistik verbreitet und
indem Bibliotheken eingerichtet werden20.
Krišjānis Valdemārs, welcher in Dorpat „lettische Abende“ organisiert
hat, setzt sich für Bibliotheken ein, als auch für Veröffentlichung von
Büchern in lettischer Sprache. Er gilt als Begründer der lettischen
Publizistik. Zu den gedruckten Medien, die Valdemārs herausgibt,
gehören die Wochenzeitschrift „Mājas Viesis“ („Hausgast“) 1856 in
Riga und „Peterburgas Avizes“ („Petersburger Nachrichten“) in
20
Die Vereine sind ausgestattet mit Leihbibliotheken (Loit 1985, 73).

40
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Petersburg 1862 - 65 und die Zeitschrift „Sēta, Daba, Pasaule“ („Hof,


Natur, Welt“) von 1859 bis 1873. Jene werden genutzt, um
wissenschaftliche Aufsätze aus den Bereichen Wirtschaft,
Geschichte, Philosophie, Astronomie und Mathematik zu
veröffentlichen, um einen breiten Leserkreis anzusprechen (Ebd.
1985, 339f). Als Überblick über die Ergebnisse der Modernisierung
und Standardisierung lettischer Sprache kann das „Russisch-
Lettisch-Deutsche Wörterbuch“, zusammengestellt und veröffentlicht
von Valdemārs 1872, angesehen werden.
Blinkene stellt die Rolle der russischen Intelligenz im Tätigkeitsfeld
der Neuletten heraus. Petersburg wird nach Beendigung der Studien
in Dorpat als Agitationszentrum ausgewählt, um politisch freier
agieren zu können (Schmidt 1999, 117). Die russische Akademie der
Wissenschaften unterstützt organisatorisch und praktisch die
Sammlung von Folklorematerialien, insbesondere Volkslieder sowie
die ethnographischen Forschungen in den Provinzen. Das
Bildungsministerium unterstützt die Publikation des „Russisch-
Lettisch-Deutschen Wörterbuchs“ (Blinkene 1985, 339).
Sprache und nationale Bewegung sind auch in Lettgallen verbunden.
Lettgallen befindet sich direkt unter russischer Verwaltung, da es
dem Gouvernement Vitebsk zugeteilt ist. 1864 wird für den gesamten
Bildungsbereich die russische Sprache eingeführt. Lettgaller werden
nicht als Lehrer zugelassen. Voraus geht die Aufhebung der
Leibeigenschaft 1861 und das Schrift- und Sprachverbot (Bukšs
1996, 207) bis 1903. Das Nationale Erwachen in Lettgallen wird
durch lettgallische Priester, welche ein theologisches
Universitätsstudium absolvieren, initiiert. Ihr Anliegen ist es, Wissen
zu vermitteln, den Bildungsstand zu heben, um langfristig den
Wohlstand der Bevölkerung zu erhöhen und politische
Handlungsfähigkeit zu gewährleisten. Die Priester haben die
Aufgaben der Katechisierung und Volksbildung und organisieren,
soweit sie der nationalen Bewegung angehören, Bauernvereine,
wirtschaftliche Unternehmungen, Kurse und Vorlesungen. Sie
verbreiten Bücher und Zeitungen, die in lettgallischer Schrift verfasst

41
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

sind. Es entzündet sich Ende der 1880er Jahre der Sprachdiskurs im


Priesterseminar in Petersburg um das Recht, die lettgallische
Sprache in den Predigten zu verwenden und lettgallische Geistliche
in Lettgallen einzusetzen. Zum einen finden in Petersburg
Schulungen litauischer und polnischer Priester statt, welche
Lettgallen zugeteilt werden, zum anderen besteht Bedarf, diejenigen
Lettgaller zu betreuen, welche nach Petersburg ausgewandert sind.
Aufgrund des Sprachunterschieds haben diese keinen Kontakt zum
lettischen Leben in Petersburg. Mit diesem Konflikt ist der Name
Francis Trasuns verbunden, welcher versucht, die lettische
Schriftsprache in Lettgallen einzuführen und sich aktiv der Sammlung
lettgallischer Folklorematerialien widmet.
Nach der Gründung eines Lettgallischen Kulturvereins 1903 und der
Erlaubnis, Presse zu veröffentlichen, wird 1907 beschlossen, dafür
die lettgallische Mundart als Schriftsprache zu verwenden. Die
„Petersburger Rechtschreibung“ (Bukšs 1996, 211), als deren
Regelwerk, wird erstellt in Anlehnung an die lettische
Rechtschreibung. Die Schriftmedien erfüllen ähnliche aufklärerische
Funktionen wie in den Provinzen: Vermittlung praktischen Wissens
über Lebensfragen, Selbstorganisation und Wirtschaft sowie die
Ermunterung zu Bildung und politischer Agitation, um in den örtlichen
Institutionen tätig zu sein. Es entstehen die Zeitschriften des Klerus
„Sākla“ („Der Samen“) 1905 – 1906 und „Ausēklis“ („Der
Morgenstern“) 1905 - 1907, von Trasuns redigiert, und „Gaisma“
1905 – 1906 mit klarer politischer Richtung. Nikodems Rancans,
Redakteur des „Sākla“ tut sich zudem als Begründer von drei
Schulen in Lettgallen hervor, in denen lettgallisch gelehrt wird und als
Publizist agrarwirtschaftlicher Bücher. Des Weiteren gründet er den
Landwirtschaftlichen Verein Latgallens und organisiert regionale
Ausstellungen. Die Letgallische Intelligenz verzweigt sich mit ihrem
Anwachsen, es entstehen sowohl konservative als auch
fortschrittliche Strömungen. Letztere stehen unter dem Einfluss der
Geistlichkeit, erstere widmen sich den Belangen der Arbeiter.
Institutionell zeichnet sich diese Entwicklung an der Gründung eines

42
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

zweiten Kulturvereins „Gaisma“ („Das Licht“) und anhand der


Presseerzeugnisse: „Dryva“ 1908 - 1918, mit der Zielgruppe der
Bauernschaft und „Janunās ZiĦas“ („Neue Nachrichten“), die sich an
die Arbeiter richtet, ab.

2.3. Die Rolle der Vereine


Das Vereinswesen kann, nach Plakans, als Produkt der
gesellschaftlichen Entwicklung in Lettland gewertet werden (Plakans
1997, 133). Zum Vorteil für die Verbreitung nationaler Ideen sind die
Passverordnung von 1863 und das Recht auf lokale
Selbstbestimmung 1866, die der bäuerlichen Bevölkerung
Bewegungs- und Siedlungsfreiheit garantieren. Eine über-regionale
Organisation von Aktivitäten wird so ermöglicht. Um die
überregionale Wirksamkeit von Aktivitäten zu garantieren, ist
Organisation nötig. Vereinsorganisationen sind Spielfelder
zivilgesellschaftlichen Engagements und bereiten spielerisch die
Letten auf verantwortliches Handeln im öffentlichen Bereich vor (Loit
1985, 73). Neben zahlreichen Gründungen von ökonomischen,
wohltätigen, ideellen und wissenschaftlichen Vereinen in den 1870er
und 1880er Jahren in den Provinzen sind Gesangs-, Musik- und
Theatervereine von besonderer Bedeutung. Musik und Theater
haben einen höheren Aktivierungsgrad als Literatur und Kunst (Ebd.
1985, 76), weshalb sich nationale Gedanken in Amateurchören, -
orchestern und –theatergruppen multiplizieren, die von den Aktivisten
der Bewegung in den 1860er Jahren gegründet werden. Da
politische Vereine gesetzlich untersagt sind, fungieren sie als
Tarnorganisationen politischer Aktivitäten. Die Vereine veranstalten
regionale Sängerfeste, „Dziesmu svētki“ („Liederfeste“) genannt, und
Theateraufführungen. Mit dieser Entwicklung entstehen
dazugehörige Produkte, wie das Chorlied oder dramatische Literatur,
um in lettischer Sprache singen und spielen zu können.
Der lettische Verein wird im Zuge der Landflucht und Urbanisierung
1868 in Riga als Wohltätigkeitsverein zu Hilfe der Hunger leidenden
Esten gegründet als ein Zentrum nationalen Bestrebungen von

43
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Krišjānis Kalninš, Bernard Diriėis und Alexander Wäber/ nach


Laakmann von Diriėis und Besbardis (Laakmann 1924, 141). Die
Zeitung „Baltijas Vēstnesis“ („Der baltische Bote“) ist ihr Organ. Die
Eröffnung der Vereinsräumlichkeiten kann als Symbol für die
Änderung der bestehenden Ordnung (Lāms 2001, 35) gewertet
werden, da Letten in Riga bis dahin keine repräsentativen Räume
besitzen. Die Eröffnungsfeierlichkeiten fallen mit Merkels 100-
jährigem Todestag 1869 zusammen. Merkel ist der lettischen
Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, da „Die Letten“ erst
1903 in lettischer Sprache veröffentlicht wird, soll aber als Held, der
die lettische Geschichte ins Bewusstsein der Deutschen brachte,
inszeniert werden. Die Jungletten schöpfen aus dem Merkels Werk,
um das „Existenzrecht“ (Ebd. 2001, 34) der lettischen Nation zu
legitimieren, indem sie sich auf die Vergangenheit als lettische
Nation berufen21. Ein Merkelkult wird konstruiert, indem Merkel als
lettischer Held, durch seine nicht-lettische Herkunft beglaubigt,
systematisch in das lettische Bewusstsein eingeführt wird. Dazu
gehört die Verbreitung Merkels Konterfeit auf Flugblättern und die
Ausrichtung der Feierlichkeiten nach antikem Vorbild. In rituellen
Phasen - Trauermusik, Reden, Tänze, wird „der Untergang einer
Gottheit, deren Wiedergeburt in der lebendigen Natur sie feiern“
(Ebd. 2001, 35f) dargestellt und in mythischer Vorstellung damit das
untergegangene lettische Volk und seine Auferstehung zelebriert.
Die Bewusstmachung der lettischen Vergangenheit durch die Person
Merkels findet zudem nach dem gleichen dreigliedrigen Schema in
der feierlichen Eröffnung seiner Grabstätte, die eigens dafür
hergerichtet wird, und in der jährlichen rituellen Wiederholung der
Feiern, zu denen die Menschen Pilgerfahrten veranstalten, statt.
Die Mitgliederzahl des lettischen Vereins wächst im ersten Jahr auf
230 Mitglieder, zur Jahrhundertwende sind es einige Hunderte
(Plakans 1997, 134). Der Verein veranstaltet Vorlesungen,

21
Es ist Strategie der Jungletten, in ihren Publikationen mit Hilfe historischer Argumente politische
Forderungen und Ansichten zu rechtfertigen (Krupnikow 1999, 133). Historische Belege dienen auch
der Nationalkultur. Das Vorbild für die spätere lettische Nationalflagge wird nach der Livländischen
Reimchronik, in welcher eine im Kampf verwendete Fahne beschrieben wird, entworfen (Schmidt 1999,
119).

44
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Theaterveranstaltungen, Konzerte, veröffentlicht Bücher und


übernimmt die Organisation der nationalen Sängerfeste. Das erste
regionale Liederfest findet mit etwa 1000 Singenden 1964 in DikĜi
statt. Das erste gesamtlettische Liederfest wird 1873 ausgerichtet22,
nachdem die Sängerfestbewegung in Estland in ein erstes nationales
Sängerfest 1867 mündet, welches seitdem alle vier oder fünf Jahre
ausgerichtet wird. Dieses wird nach der Idee der deutschen
Schillerfeiern (Garleff 2001, 78) entwickelt. Die Form der Liederfeste
bietet das Potential, über Massenzusammenkünfte die Idee der
nationalen Einheit in die Regionen zu tragen, in denen lettisch
gesprochen wird, aber wo noch kein Bewusstsein für überregionale
gemeinsame Interessen entstanden ist. Zudem erregen die Feste
keinen Verdacht, da sie positiv von der deutschen Chorbewegung
bewertet werden.

2.4. Die Produktion nationaler Literatur


Die Produktion eines lettischen Nationalepos23 fördert die Ausbildung
eines nationalen Bewusstseins. Das Epos wird in Anlehnung an das
estnische Epos „Kalevipoeg“ als Collage (Knoll 2003 [2000], 5) aus
Sagenmotiven, Liedern und anderen Materialien der Volkskultur und
zu Hilfenahme geschichtlicher Daten von Andrejs Pumpurs, der 1867
zu den Jungletten stößt, verfasst, nachdem der designierte Autor
Auseklis („Morgenstern“) - Miėelis Krogzemis nach der
Zusammenstellung der Materialien stirbt. Für das Werk „Lāčplēsis,
Latvju tautas varonis“ („Lāčplēsis, ein lettischer Held des Volkes“)
zitiert der Autor inhaltlich und formal aus den Werken der
Weltliteratur. Eine formale volkstümliche Gestaltung des Epos’ nach
traditionellem Volkslied-Versmaß, wie sie der Autor des estnischen
Werkes F. R. Kreutzwald vornimmt, um sie in die bestehende
Nationalpoesie zu integrieren, ist weniger bedeutsam, als inhaltliche
Aspekte und das Vorhandensein des Epos’ an sich. In der lettischen

22
Es nehmen 34 Chöre aus Livland und 11 Chöre aus Kurland teil, das sind zusammen 1003 Sänger,
darunter 212 Frauen. Es werden neben dem vorwiegenden Repertoire aus geistlichen Liedern
sechzehn weltliche vorgetragen, davon fünf Volkslieder und elf Kunstlieder lettischer Komponisten.
23
Es gibt auch Versuche anderer Schriftsteller, in den 1890er Jahren Epen zu produzieren. (Kessler
2001, 464f)

45
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Geschichte fehlt das Ereignis, welches die Nation eint, als zentrales
Motiv, weshalb, so Knoll, die Handlung im 13. Jahrhundert angesetzt
wird. Das Szenario verfehdeter lettischer Stämme soll als
Aufforderung dienen, in der Zukunft Einigung herbeizuführen (Ebd.
2003 [2000], 6).
Eine Verbindung zwischen der tradierten Volkskultur und der
nationalen Kultur läßt sich in der Form des lettischen Theaters
erkennen. Volkstümliche Rituale, selbst auf rituelle Weise über die
Form der lettischen Volkslieder über Generationen tradiert, werden
im 19. Jahrhundert von den lettischen Dramatikern wie J. Alunāns, R.
Blaumanis, Aspazija und J. Rainis und A. Brigadere einbezogen. So
wird die Idee der Nation, dem lettischen Publikum fremd, mittels
Charaktere und Figuren der lettischen Mythologie verständlich
gemacht. Die symbolische Bedeutung der Charaktere und
Dialogformen kann sich so denen erschließen, die mit den Ritualen
und Inhalten der Volkskultur vertraut sind. Auf diese Weise können
soziale und politische Themen chiffriert vermittelt werden
(Straumanis 1971, 131). „Es ist die Sternstunde der lettischen
Literatur: Rūdolfs Blaumanis (1863 – 1908) etabliert in seinen
psychologisch präzisen Novellen Archetypen lettischen
Temperaments; auf Grundlage der inzwischen vorhandenen
Märchensammlungen von Ansis Lerhis-Puškaitis (1859 – 1903)
entwickeln Anna Brigadere (1861 – 1933) und Rainis ihre
Märchendramen und Kārlis Skalbe (1879 – 1945) seine
Kunstmärchen; der Neuromantiker Fricis Barda (1880 – 1919) vereint
in seinen Gedichten Elemente der Romantiker des 19. und der
Symbolisten des 20. Jahrhunderts (…).“ (Knoll 2000 [2003], 5f)
Janis Pliekšāns(1865 – 1929), der unter dem Namen Rainis
veröffentlicht, Chefredakteur der Zeitung der Sozialdemokraten
„Dienas lapa“, gilt als großer Sprachschöpfer (Schmidt 1999, 121),
Modernisierer der lettischen Sprache und Übersetzer. Die Faust-
Übersetzung von 1898 gilt als Beweis für die Literaturfähigkeit der
lettischen Sprache. Rainis verfasst 1914 das „erste Volkslied-Drama“

46
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

(Knoll 2001, 7) „Pūt vējiĦi“ („Dünawind“) sowie „Uguns un nakts“


(„Feuer und Nacht“), eine Adaption des Lāčplēsis-Motivs.

2.5. Die Aufsplitterung der nationalen Bewegung


In den 1880er und 1890er Jahren teilt sich die nationale Bewegung
auf. Eine nächste Generation lettischer Intellektueller findet in den
Ideen der Sozialdemokratie bessere Erklärungsmöglichkeiten für die
soziale und kulturelle Entwicklung in Lettland, als es das romantisch
gefärbte Erklärungsmodell der Altnationalen bietet. Die international
orientierte Arbeiterbewegung bietet indirekt eine Alternative zur
bürgerlichen Idee der Nation. Eine politische Entwicklung ab den
1870er Jahren stärkt jedoch die Idee der nationalen Einheit: die
kulturelle Bedrohung durch die Russifizierung der baltischen
Provinzen, die die russische Regierung plant.
1870 wird das deutsche Stadtrecht durch das russische ersetzt, was
die Beteiligung lettischer, estnischer und russischer
Immobilienbesitzer an den Kommunalwahlen 1877 ermöglicht. Mit
dem Regierungsantritt des russischen Zaren, Alexander III., 1881
verstärkt sich der russische Einfluss auf die Selbstverwaltungen in
den Ostseeprovinzen. Die Provinzen befinden sich seit dieser Zeit im
Wirkungsgebiet verstärkter Russifizierungsmaßnahmen. Die
gesamte Schulaufsicht und die Unterrichtsplanung werden dem
Ministerium für Volksaufklärung unterstellt, was einen Rückzug der
Ritterschaften aus der Verwaltung nach sich zieht. Die Erlernung der
russischen Sprache hat Priorität. Der gesamte Unterricht wird in
russischer Sprache abgehalten, russisch als Gerichtssprache
eingeführt, was einen Austausch der des Russischen unmächtigen
Beamten mit sich führt. Die Universität Dorpat wird russifiziert. Das
Polizeiwesen wird umgestaltet. (Laakmann 1924, 181)
Ziel der Russifizierungsmaßnahmen ist, neben der Vereitelung der
antizentralistischen Pläne der Ritterschaften, ein
Zugehörigkeitsgefühl zur „große[n] russische[n] Familie“ in den
Provinzen (Pistohlkors 1990, 19) auszubilden sowie die nicht-
russischer Gruppen an die russischen anzugleichen. Die

47
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Maßnahmen haben nur bedingte Wirksamkeit, da Ende der 1880er


Jahre die Idee der kulturellen Autonomie schon gefestigt ist (Ebd.
1990, 19). Jene Intellektuellen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts
die Staatsgründung vorbereiten, haben bereits die Volksschule
abgeschlossen und erleben nicht die russische Propaganda.
In den 1880er und 1890er Jahren erhöht sich die Zahl der lettischen
Intellektuellen. Damit geht eine Ausdifferenzierung von politischen
Zielen und Lagern einher (Zelče 1997, 5). Die deutsche
Sozialdemokratie übermittelt marxistisch gestimmte Schriften, welche
in der Rigaer Zeitung „Dienas Lapa“ („Tagesblatt“) seit 1886
erscheinen. Die Zeitung wird nach den Arbeiterstreiks von 1895
eingestellt.
Seitens Universitätsstudenten und Schriftstellern wird Kritik am
lettischen Verein, Sammelpunkt der „Altnationalen“ (Garleff 2001,
79), laut. Der Verein kümmere sich um die Interessen wohlhabender
Rigaer Familien und verdecke das Profitmotiv unter dem Mantel
nationalistischer Rhetorik (Plakans 1997, 134). Nationalismus sei
zum Etikett für die wirtschaftlichen Interessen des Besitzbürgertums
verkommen. 1891 veröffentlicht der Dichter Eduārds Veidenbaums
(1867 – 1892) mit Studenten der Universität Dorpat (Tartu) den
ersten Band eines mehrbändigen Werks „Pūrs“, in welchem Aufsätze
über zeitgenössische wissenschaftliche und öffentliche Debatten in
Westeuropa, wie beispielsweise zum Thema historischer
Materialismus oder Darwinismus, vorgestellt werden. Dadurch sollen
innerhalb der lettischen Gesellschaft Diskussionen über ihre
zukünftige Entwicklung angeregt werden. 1897 werden alle
Mitglieder der Linken in die „Neuen Strömung“ („jaunā strāva“)
integriert. Eine Internationalisierung der politischen Agitation ergibt
sich in Ansätzen durch die Knüpfung eines Netzwerkes mit
Sozialdemokraten im Ausland, besonders in Deutschland und
Österreich (Hiden/ Salmon 1992, 20).
Aus der Strömung spalten sich die lettische sozialistische Bewegung
als auch eine parlamentarischer Demokratie und nationalen
Interessen verpflichtete Bewegung (Plakans 1997, 118) ab. Konflikte

48
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

spitzen sich 1905 in einer revolutionären Krise zu. Auf dem Land
kommt es zu Demolierungen von 184 Gutshäusern und Vertreibung
oder Tötung der Insassen. In den Städten kommt es hingegen zu
Streikbewegungen; es werden Kongresse abgehalten, in denen die
Frage der regionalen Autonomie innerhalb eines sozialistischen
Russlands, wie es die lettische Sozialdemokratie fordert, diskutiert
wird. Die russische Regierung reagiert mit offiziellen
Zugeständnissen und militärischen Bestrafungsmaßnahmen, was
einen Großteil lettischer Intellektueller ins ausländische Exil zwingt.
Ergebnisse sind die Möglichkeit der lettischen Bevölkerung, ihre
nationalen Belange durch verschiedene Parteien in den Dumen zu
vertreten, Pressefreiheit und größere Eigenständigkeit im Schul- und
Bildungsbereich. (Pistohlkors 1990, 27)

3. Volkskultur

3.1. Die Entdeckung der Volkskultur als nationale Kultur


Die gesellschaftlichen Veränderungen in den baltischen Provinzen im
19. Jahrhundert verlaufen vor dem Hintergrund der europäischen
Entwicklungen der Modernisierung der Gesellschaften, dem Wechsel
von agrarwirtschaftlich-ländlich geprägter Bevölkerung zu industriell-
städtischer. Das lettische nationale Erwachen ist mit Bemühungen
verbunden, diesen Veränderungen durch die mit der
gesellschaftlichen Modernisierung korrespondierende
Modernisierung der lettischen Intelligenz gerecht zu werden. Das
kulturelle Programm der Aktivisten der nationalen Bewegung umfasst
die Entwicklung einer, allen Anforderungen der modernen
Gesellschaft gemäße Schriftsprache, eine auf Schriftsprache
basierende nationale Kultur, die Etablierung und Einbindung von
lettischen Leistungen in alle Gebiete intellektuellen Schaffens und die
Verankerung der Idee einer Schriftkultur in der lettischen
Gesellschaft. Ziel ist die Generierung eines nationalen Bewusstseins
(Plakans 1971, 51). Die Vorraussetzungen sind schwierig. In den

49
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Provinzen existieren kaum Institutionen, Intellektuelle auszubilden.


Die lettische Sprache erfüllt viele Funktionen für ihren literarischen
Gebrauch nicht. Auf den Gebieten moderner Wissenschaft fehlt die
lettische Beteiligung. Innerhalb des Bauerntums besteht keine
Bindung an literarisch geprägte Kultur. Diese Bindung ist jedoch
erforderlich, um den Intellektuellen Rückhalt zu bieten, wenn sie die
neue literarische Kultur im deutschen Umfeld etablieren wollten (Ebd.
1971, 51).
Unter diesen Voraussetzungen muss die Volkskultur in die neue
Schriftkultur eingebunden werden. Zwei Wege führen dahin. In den
literarischen Produkten können folkloristische Motive und Formen
integriert werden, um sie volkstümlich zu gestalten, wie die
Ausführungen zum Nationalepos und zum lettischen Theater
belegen. Der zweite Weg ist die Verschriftlichung der Volkskultur,
indem sie gesammelt und in Liedausgaben publiziert wird. Diese
Methode und damit zusammenhängende Faktoren der
Nationalisierung werden ausführlich beleuchtet.
Bevor die Sammlung der lettischen Volkskultur thematisiert wird,
werden zuerst die historischen Voraussetzungen dazu geklärt, als
auch die lettischen Dainas charakterisiert. Vor dem 18. Jahrhundert
wird die Volkskultur in den bürgerlichen und gebildeten Schichten
gemeinhin geächtet. Es besteht kein Interesse an ihren ästhetischen
Qualitäten, aus dem Grund, dass diese ihr einfach abgesprochen
werden. Das Volk sei kulturlos und ungebildet. Das Interesse an der
Volkskultur wird erst durch J. G. Herder Ende des 18. Jahrhunderts
initiiert, der in der Volkskultur den Ausdruck eines genuinen
schöpferischen Potentials vermutet. Diese kreative Kraft könne sich
belebend und korrigierend auf alle Bereiche der Literatur auswirken.
Herders Aufwertung der Kultur des Volkes schließt eine Aufwertung
der Sprache des Volkes ein. Die Volkskultur kann im nationalen
Fokus als Grundlage der Nationalkultur stilisiert werden, um
nationale Identität und kollektive Erinnerungen für Nationen ohne
eigene Geschichtsschreibung zu erschaffen. Sie kann ein
romantisches Reservat für nicht-bäuerliche Bevölkerungsgruppen

50
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

bilden oder den Zweck erfüllen, die bäuerliche Bevölkerung an die


moderne Gesellschaft anzugliedern und ihnen ein positives
Bewusstsein ihres Standes zu verleihen. Nationalisierter Folklore
liegt das Konzept, die volkskulturellen Objekte bewahren Geschichte
in veräußerter Form in sich, zugrunde. Die Erzeugnisse übermitteln
so die ursprüngliche Wesenheit des Volkes der Nation.
Herder stellt als Erster die Qualität der lettischen Volkskultur heraus
und sichert sozusagen dem lettischen Volk ein Existenzrecht als
Nation zu. Im zweiten Band seiner „Ideen einer Philosophie der
Geschichte der Menschheit“ berichtet er über friedliche lettische
Stämme, die unter das deutsche Joch der Knechtschaft gebracht
wurden, dessen Ende er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, in den
1770er Jahren noch nicht absieht. (Herder 1965, 273) Mit Herders
Aufruf, die Volkslieder zu sammeln, stellt sich ein
Paradigmenwechsel in der bürgerlichen Kulturauffassung ein. Das
Geschichtsbild Herders trägt die Argumentation dafür in sich, warum
die Volkslieder nationalen Wert haben. Herder ist der Erste, der die
lettischen Volkslieder ins Licht der Öffentlichkeit rückt, so dass sich
heute noch im Zusammenhang mit den Dainas darauf berufen
werden kann.
Johann Gottfried Herder betrachtet Geschichte als einen Prozess der
sich verbreitenden Humanität, der an materielle Lebensumstände
gekoppelt ist. Entgegen der Auffassung, alle Kulturen entwickelten
sich aus rationellen Gründen aus einem ursprünglichen Naturzustand
und befänden sich somit in einem vergleichbaren Stand kultureller
Entwicklung, spricht sich Herder aufgrund spezifischer
Lebensbedingungen der Völker und Gesellschaften gegen eine
Klassifikation anhand eurozentrischer Maßstäbe aus (Kaschuba
1999, 33). „So modifizieren sich die Nationen nach Ort, Zeit und
ihrem inneren Charakter; jede trägt das Ebenmaß ihrer
Vollkommenheit, unvergleichbar mit anderen in sich.“ (Herder 1989,
649) So unterscheide sich auch der Charakter der kulturellen
Ausdrücke der einzelnen Nationen. Die humanistische Richtung der
kulturellen Entwicklung sei bedingt durch die Zugehörigkeit aller

51
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Völker zu einer „Weltseele“ und „der Einen Menschenvernunft“ (Ebd.


1989, 652). Besondere Bedeutung misst Herder der Sprache bei. Er
vertritt die Auffassung, Sprache, die Fähigkeit in der Sprache zu
verstehen und zu erkennen, sei genetisch übermittelbar (Pagden
2002, 140). Mit dem Sprachwissen würde das soziale und kulturelle
Verständnis sowie die Möglichkeiten des gesellschaftlichen und
kognitiven Wandels von Generation zu Generation weitergereicht
(Ebd. 2002, 139). Das schließt eine pädagogische
Zweckbestimmung kultureller Formen ein. Nationalitäten können
damit als das Ergebnis über Jahrhunderte tradierter kultureller
Gewohnheiten verstanden werden (Ebd. 2002, 144).
In Volksliedern, welche für Herder ein „naives
Geschichtsbewußtsein“ (Kaschuba 1999, 33) vermitteln und
„redende Gemälde von den Empfindungen und Seharten“ (Herder in
Seehaus 1986, 37) der Menschen darstellen, spürt Herder ein
„authentisches Volk“ (Kaschuba 1999, 34) und die Existenz einer
schöpferischen genialen Kraft auf. Herder nähert sich seinem
Volksbegriff über die Bereiche der Kultur und Sprache an. Durch eine
Aufwertung der Sprache (Rathmann 1996, 56) wertet Herder
zugleich die Bereiche auf, in denen Sprache angewendet wird.
Herder ist von 1764 bis 1769 als Pfarrer und Lehrer an der
Domkirche beziehungsweise Domschule in Riga tätig. Sein Freund
und Mentor Johann Georg Hamann (1730 – 1788), als Hofmeister in
Livland, der eine Theorie der Sprache „als Subjekt und Objekt eines
schöpferischen Prozesses“ (Kreuzer 1998, 352) entwickelt, lernt
Herder 1763 kennen. Er macht ihn auf lettische Volkslieder
aufmerksam. Auf einer Reise durch Kur- und Livland hört Hamann
den Gesang der Bauern bei der Arbeit und erkennt in den Liedern
„Möglichkeiten großer Kunst“ (Schwidtal 2001, 12).
Die Volkslieder sind für Herder Produkte einer Tradition, die seit
Jahrhunderten fortbesteht, deren Elemente jedem bekannt seien,
was sie zu einem kollektiven geistigen Eigentum mache (Seehaus
1986, 35). Der ästhetische Wert der Volkslieder bestehe darin, dass
sie „Ausdruck des Empfindens“ (Herder in Seehaus 1986, 35) seien

52
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

und die Denk- und Wahrnehmungsweisen der Völker konzentrierten.


Zur Vervollständigung seiner Geschichtsphilosophie beginnt Herder
in der Rigaer Zeit volkskundliche und kulturgeschichtliche literarische
Quellen der Volkspoesie zu sammeln und somit aus dem „Archiv des
Volkes“ (Ebd. 1986, 36/ 37) eine Geschichtsforschung von innen zu
betreiben. Grundlegend ist Herders Prämisse, die Entstehung und
Überlieferung von Volkspoesie in kulturhistorischen Kategorien, das
heißt in den Umständen der Lebensweise und der sozialen
Verhältnisse zu betrachten. Den Wert der Volkslieder als historische
Quelle (Ebd. 1986, 37) betont er im zweiten Band der „Ideen zur
Philosophie der Geschichte der Menschheit“. Zur Veröffentlichung
seiner Sammlung von 1773 ruft Herder zur ethnographisch genauen
Aufzeichnung von Volksliedern auf24, nach welcher die
Geschichtsschreiber nach den Methoden der Naturkunde, also
positivistisch verfahren sollten, durch Darstellung und Schilderung
der „Sitten und Denkart“ (Ebd. 1986, 36) der Völker und Kulturen aus
sich selbst heraus. Er macht als einer der ersten auf die ästhetischen
Qualitäten lettischer Volkspoesie aufmerksam. Damit beweist Herder
in den Liedern einen kulturellen Wert. Diese Wertschätzung dient
fortan in der Kommunikation der nationalen Idee. Die nationalen
Aktivisten können mit Hilfe Herders den Deutschen den Beleg
erbringen, sie besitzen Kultur und dieses Kulturgut durch Sammlung
und Veröffentlichung verbreiten und unterstützen.
Von 79 lettischen Liedern, welche Herder in übersetzter Form durch
deutsche, in Riga ansässige Pastoren zugängliche werden,
veröffentlicht er 1778 in der Ausgabe der „Volkslieder“, welche 1807
unter dem Titel „Stimmen der Völker in Liedern“ erneut erscheinen,
sieben. Die methodische Gestaltung der Volksliedsammlung
verlagert zu Gunsten größerer Publikumswirksamkeit Herder 1776
auf ästhetische Schwerpunkte, was eine Umordnung

24
Herder ruft bereits 1767 nach seiner Lektüre der „Reliques of Ancient English Poetry“ und der
Dichtung James Macphersons, Nachdichtungen schottisch-gälischer überlieferter Motive, zum
Sammeln auf. Auch hier gibt er die Dokumentationsmethode vor: unverändert in der „Ursprache“ mit
Erklärungen und mit „Gesangsweise“ (Braun 1985, 6)

53
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

ethnographischer Gruppierungen zur Folge hat25 (Seehaus 1986,


37). Die Ungenauigkeit der Übersetzungen durch die Pastoren,
welche Herders Ansprüchen an eine genaue ethnographische
Arbeitsweise nicht entsprechen, wird erhöht, indem Herder die Lieder
nochmals überformt oder thematisch zusammenführt, um sie dem
einheimischen Kunstgeschmack anzugleichen.
Übersetzungsmängel, oberflächliche Recherche, Herders mangelnde
Sprachkenntnis und allgemein, das Fehlen einer Folkloristik für den
baltischen Sprachraum, bilden Kritikpunkte an der Herderschen
Volksliedausgabe (Seehaus 1986, 37ff). Der Aufruf, Wesens- und
Lebensart der Völker zu studieren, indem deren (Er-)Zeugnisse
unverfälscht dargestellt würden, scheint nicht an die eigene
Sammlung gerichtet; ästhetischer Genuss sei Herders Intention
(Ebd. 1986, 40; Bausinger 1999, 51). Seehaus merkt an, dass eben
dieser Genuss sich durch das Verständnis des Form- und
Inhaltszusammenhangs ergebe nicht nur aus Gefühl. „Lettische
Volkslieder sind nicht bloß eine Stimmung, eine Gefühlsäußerung.
Ihr Kern ist der in dieser Gefühlsäußerung eingebettete und sich
durch die Volksweisheit herauskristallisierte Gedanke.“ (Seehaus
1986, 40) Nach Huelmann, welche auf die Schwierigkeiten der
Übersetzung lettischer Volkslieder aufmerksam macht, sind diese
zum Teil auf das religiöse Verständnis der als Übersetzer tätigen
deutschen Pfarrer zurückzuführen, welche die lettische Bedeutung
religiöser Begriffe aus dem christlichen Kontext interpretieren und
zum anderen aus ihrem ästhetischen Verständnis die Form zu
korrigieren bestrebt sind (Huelmann 2001, 76, 81). Das bessere
Verständnis lettischer Volkslieder aus einem mehrere Lieder
umfassenden thematischen Korpus heraus ist zu dieser Zeit nicht
gegeben, da umfangreiche Sammlungen dieser, als auch ein

25
Die Veröffentlichung erster Volksliedsammlungen 1774 erscheint anonym. Es gibt kritische Stimmen
zur Idee der Sammlung von Seiten der Aufklärer A. Ludwig, G. Sulzer und F. Nicolai. Letzterer
veröffentlicht unter dem Pseudonym G. Wunderlich und D. Seuberlich eine Parodie mit dem Titel „Eyn
feyner kleyner Almanach Vol schönerr echterr lyblicherr Volsljder“ als Antwort auf Herders
Bemühungen. Die spätere Sammlung „Volkslieder“, welche 1778/ 79 erscheint mit 12 lettischen
Liedern, stellt einen methodischen Kompromiss dar und beinhaltet barocke Lyrik sowie Geschichten
von Claudius und Goethe. „Stimmen der Völker in Liedern“ erscheint posthum 1807. (Braun 1985, 6f;
Scholz 1990, 15)

54
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

umfassender Bestand an Wörterbüchern, Grammatiken und


ähnlichen Hilfsmitteln fehlen. Für die Vermittlung von Wissen an die
ländliche Bevölkerung durch die Pfarrer, ist die deutsche Kultur Maß
gebend. Nach Alfonsas Šešplaukis besteht Herders Bedeutung
darin, dass durch die Entdeckung der Volkspoesie im Baltikum, die
Erneuerung der deutschen Literatur in der Epoche des Sturm und
Drang beeinflusst sei, dass innerhalb der baltischen Länder ein
größeres Bewusstsein und damit einhergehend, eine Aufwertung der
Volkspoesie erreicht würden. Herders Wirken hätte somit indirekt
zum nationalen Erwachen im Baltikum beigetragen (Šešplaukis
1995, 76).
„Seine romantische Aufwertung mündlich aus mythisch-
vorgeschichtlicher Zeit überlieferter Volksstoffe ermöglicht die
nationalen Renaissance-Bewegungen in Mittelosteuropa, seine
Geschichtsphilosophie liefert die argumentative Basis für die
Emanzipation von Fremdherrschaft.“ (Schwidtal 2001, 13) Der
Verweis auf die Nation über die Existenz einer lebendigen,
verjüngenden Volkskultur, die in Herders Philosophie anklingt,
verdeckt jedoch den Umstand, dass die Volkskultur gerade in dieser
Form im Baltikum existiert, weil andere Formen der kulturellen
Entfaltung der im Baltikum lebenden Letten und Esten verhindert
werden. Sie besitzen durch ihre Bindung an die strenge
Ständeordnung keine anderen Ausdrucksmöglichkeiten außerhalb
der Genres der Volkskultur.
Herder, welcher als erster den Begriff Volk mit kulturellen
Phänomenen verbindet, erschafft den Begriff Volkslied nach
Montaignes „poësie populaire“ (Schwidtal 2001, 13) und kann als
Initiator der Volksliedforschung in der Volkskunde angesehen
werden. Die moderne Bedeutung des Begriffes „Volk“, im Lettischen
„tauta“, im Sinne von Nation wird von lettischen Pfarrern wie Jākobs
Lange (1711 – 1777) und Gotthard Stender und dessen Sohn
Alexander Stender (1744 – 1826) vorbereitet und durch
regelmäßigen Gebrauch in der Zeitung „Latviešu avīze“ seit 1822
propagiert. Herder stützt sich in seiner Volksliedsammlung auch auf

55
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Stenders „Neue vollständige lettische Grammatik“, die 1761 in


Braunschweig veröffentlicht wird. Diese enthält Proben von
Volksliedern, in denen „tautas“ als „Völker“ und „tautietis“ als
„Landsmann“ (Seehaus 1986, 39) übersetzt werden. Herder
übernimmt daher die Bedeutung des Wortes. Locher führt die vor-
moderne Bedeutung des Wortes „tautas“, welches selten in der
Singularform besteht, auf die Anwendung in der Baron’schen
Volksliedsammlung zurück: „Wir hören etwa aus dem Munde eines
Mädchens aus Liezēre: „Šogad man rozes zied/ vairāk baltas, ne
sarkanas, / šogad tautas tautas garām jāj, / citu gadu iekšā jās“
(BARONS 1922, 13 257, 3, 1 – 4: Liezēre in Livland) ‚Dieses Jahr
treiben mir die Rosen Blüten, weiße mehr als rote, dieses Jahr reiten
die tautas vorbei, ein anderes, da reiten sie herbei.’ Tautas sind die
zu Pferd heranreitenden Freiersleute – aus der Sicht des Mädchens,
das auf seinen Bräutigam wartet. Solche Burschen, häufig in der
Dreizahl, werden aber, einmal vor dem Haus des umwerbenden oder
umworbenen Mädchens, aus tautas, jetzt aus der Nähe als
Individuen wahrgenommen, zu tautieši oder je einzeln zu einem
tautietis.“26 (Locher 1999, 120)

3.2. Das wissenschaftliche Interesse an der Volkskultur


Die Volksliedforschung im 18. Jahrhundert entwickelt zwei Theorien
der Entstehung des Volksliedes: das Lied sei im Volk entstanden
(„Produktionstheorie“) oder das Lied sei Schöpfung eines Einzelnen,
sei aber im Volk verbreitet und umgeformt worden
(„Rezeptionstheorie“) (Dunkele 1984, 52). Damit korrespondieren die
Unterscheidungen „Volkslied“ - ein Lied, welches aus dem Volk
komme - und volkstümliches Lied, ein Lied, welches von einem
Gelehrten stamme und im Volk Fuß fasse (Braun 1985, 15f). „Dabei
spiele die Volksläufigkeit, die vom Sammler gar nicht überprüfbar sei,
keine Rolle.“ (Ebd. 1985, 16)

26
Die Redewendung „iet tautās“ („unter die Völker gehen“) hat die Bedeutung ‚verheiratet werden’
(Biezais 1970, 67).

56
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Heute ist die Volksmusikforschung durch zwei Leitperspektiven


eingegrenzt: die Definition des Forschungsfeldes von den Objekten
aus („Objektorientierter Bestimmungsansatz“) oder die Definition des
Forschungsfeldes von handelnden Subjekten ausgehend
(„Subjektorientierter Bestimmungsansatz“) (Schepping 2001, 588f).
Die Bestimmung vom Ansatz der Subjekte führt zurück zum Begriff
Volk in der soziologischen Kategorie als Träger der Musik. Die
Unschärfe und der Spekulationsrahmen des Volksbegriffes bleiben
dabei bestehen, da man sich innerhalb der Forschung noch nicht auf
eine eindeutige Definition, was das Volk sei, einigen konnte. Den
Bestimmungsansätzen ist gemein, dass sie den dynamischen
Charakter der Volksmusik zu erfassen versuchen, so dass eine
Reduktion auf den musikalischen Bereich des Folklorismus
vermieden wird. Kennzeichnend für den Folklorismus sind scheinbar
fixierte, unveränderbare musikalische und poetische Formen, die das
Wesen der Volkskultur ausmachen, sowie eine festgeschriebene
musikalische Praxis27. So wird vermittelt, dass die Volkskultur aus
einem bedrohten Zustand gerettet worden sei und heute nicht mehr
existiere, hätte man sie nicht fixiert. Volkskultur in diesem Sinne ist
immer ein Abbild einer bestimmten vergangenen Zeit, die beständig
reproduziert wird. Sie wird musealisiert, aber sie wird in diesem
Museum immer von Vergangenheitsexperten ins rechte Licht gerückt
und inszeniert.
Es existieren keine eindeutigen Bestimmungskategorien für
Volksmusik oder Volkslieder. Die Kriterien hängen von der Methode
der Erforschung, als auch von der kausalen Determiniertheit der
Forscher ab. Die allgemeine Auffassung von der gesellschaftlichen
Bedeutung der Volksliedforschung oder Sammlung und der
Zuschreibungsgehalt an die erforschten Objekte sind dem so
27
Die Unbestimmtheit der subjektiven musikalischen Durchführung trifft für M. P. Baumann als Merkmal
der Folklore zu. Da das Material in einen „andauernden Prozeß der wiederholten Neuschöpfung und
verändernden Re-interpretation“ (Baumann in Schepping 2001, 591) eingebettet sei, könne es
subjektiviert und daher selbst verändert und variiert werden. Tibbe versucht diesem Problem durch eine
Unterscheidung beizukommen: Folklore kann performativen Charakter besitzen und in erstarrter Form
als Konzertfolklore dargeboten werden oder funktional an Umgebung und Gemeinschaft geknüpft sein.
Sie sei Ausdrucksform der beherrschten Klasse und gekennzeichnet durch geringen
Reproduktionsaufwand. Somit entstehen Möglichkeiten der Ausweitung des Folklorebegriffes auf die
populäre Musik der Gegenwart. Wird Folklore als kulturelles Phänomen praktiziert, so trage sie
dynamische und realistische Züge (Tibbe 1981, 12ff).

57
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

genannten Zeitgeist unterworfen. Die Entwicklung von der


idealistischen Wahrnehmung des Volksliedes bei Herder bis zu einer
statistisch-deskriptiven Forschungsmethode ist geschichtlich geprägt
und Reflexion gesellschaftlicher Wahrnehmungen. Die Erforschung
und Sammlung der Volkslieder, also die Reflexion und schriftliche
Fixierung der Folklore, bilden eine Zäsur in der Entwicklung der
Volkskultur, weil sie neue Möglichkeiten der Funktion von Folklore
eröffnen und Folklorismus produzieren. Durch das aktive Eingreifen
der Sammler in die Übermittlungszusammenhänge der Volkskultur
werden diese Praktiken mitgestaltet und dahingehend erweitert, dass
sie Zugänge in moderne Kulturbereiche außerhalb der Volkskultur
finden, welche auf sie zurückwirken. Das historische Problem besteht
darin, dass in der Romantik das Paradigma der Sammler
vorherrscht, durch ihre Sammlungstätigkeit die Volkskultur vor dem
Aussterben zu bewahren und was sie echt und ursprünglich mache,
zu erhalten, ohne selbst in die Tradierungszusammenhänge
integriert zu sein. So ist es auch bei den Sammlern der lettischen
Volksmusik bis Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall. Daher binden
sie an die Kategorie des Echten und Ursprünglichen und somit
Bewahrenswerten, eigene Kriterien der Auswahl und des
ästhetischen Empfindens. Durch die Veröffentlichung der
Sammlungen wird ein „Katalog von Traditionen“ (Kaschuba 1999,
173) angeboten, auf welchen die Träger der Volkskultur unter dem
Eindruck, diese Kultur sei die wahre Volkskultur, zurückgreifen. Sie
erhalten damit die Vorlagen der Bewertung und richten eventuell ihre
eigene Tradierungspraxis nach den festgeschriebenen Mustern.
Zudem wird die Volkskultur durch Veröffentlichung in anderen
gesellschaftlichen Bereichen popularisiert. So wird Kultur produziert.
Wird Folklorismus aus wirtschaftlichen Interessen betrieben, so
richten sich die Betroffenen oft nach den Stereotypen, die von ihnen
in der Öffentlichkeit kursieren, wie es im Tourismus häufig der Fall
ist.

58
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

3.2. Dainas
Im Folgenden werden die Form, die Singpraxis, die gesellschaftliche
Funktion, die Themen und literarischen Ausdrucksformen der
Dainas, so wie sie überliefert und aufgeschrieben wurden, im Kontext
der Volkskultur charakterisiert. Darauf folgt ein kurzer Überblick über
die Geschichte und die Genres der lettischen Volkslieder. Dieser soll
veranschaulichen, dass es in der lettischen Volksmusik eine Vielzahl
von Liederformen gibt, aus denen die Dainas für die Repräsentation
der lettischen nationalen Kultur ausgewählt wurden.
Da keine umfangreichen Aufzeichnungen lettischer Volkslieder aus
der Zeit vor dem 19. Jahrhundert vorhanden sind, ist ihre bestehende
Gestalt als Endresultat einer langen Entwicklung zu bewerten
(Scholz 1990, 155). Die wahrscheinlich ältesten Lieder haben sich
als Vierzeiler herausgebildet28 und tragen die Bezeichnung „Dainas“
oder „tautas dziesmas“ („Volkslieder“). Der Begriff „Daina“ ist eine
dem litauischen Wort „dainos“ entlehnte Neuschöpfung durch Henrijs
Vīzendorfs, welche sich durch die Baron’schen Liedersammlung
eingebürgert hat (Scholz 1990, 165) und besitzt Ähnlichkeit mit dem
Verb „daiĦot“ („fröhlich sein, Lieder singen“) (Ebd. 1990, 165). 1894
verwendet Krišjānis Barons, der zusammen mit Vīzendorfs in den
Jahren 1894 bis 1915 acht Bände der lettischen Volkslieder
veröffentlicht, den Begriff für „klasikās tautas dziesmas“ („Klassische
Volkslieder“).
Die Vierzeiler bestehen aus zwei Strophen, die inhaltlich miteinander
in Beziehung stehen, oft verbunden durch das literarische Mittel des
Parallelismus. Ist die erste Strophe zumeist eine aphoristische
Betrachtung oder eine Lebensweisheit, eine Aussage, so bietet die
zweite Strophe dazu einen Vergleich aus Vorgängen in der Natur
oder in dem Lebensumfeld. Sie kann der ersten Aussage antithetisch
gegenüber stehen beziehungsweise deren Motivation liefern. Die
Funktionen der Strophen sind vertauschbar29.

28
Es existieren auch sechs-, acht- und zehnzeilige Lieder. Sie sind, so Scholz, Kontaminierungen aus
mehreren Vierzeilern oder aus deren Bruchteilen (Scholz 1990, 156).
29
Nach Erdmane ist die Handlung nach den Regeln des parallelismus membrorum folgendermaßen
strukturiert: Bilder von Naturobjekten sind in der ersten Hälfte des Liedes platziert, in der zweiten Hälfte

59
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

3.2.1 Formale Kennzeichen


Typisch für die vierzeiligen Lieder des lettischen Sprachraums ist die
weitgehend einheitliche Metrik. Metrische Hebungen fungieren als
Wortakzente und fallen oft mit der Betonung der ersten Silbe des
Wortes zusammen. Die Silbenlänge ist nicht ausschlaggebend. Die
Ähnlichkeit im Zeilenaufbau ist bedingt durch die Strenge des
Metrums; 95% der Lieder sind im trochäischen, 5% im daktylischen
Versmaß verfasst30. Die vierhebigen Verse, die durch eine Zäsur
nach der zweiten Hebung getrennt sind, sind reimlos. Reimklang
kann sich aus Alliterationen innerhalb eines Verses ergeben
(Seehaus 1986, 125). In der Regel kann ein Wort nicht über die
Zäsur hinaus verlängert werden. Wirksam werden Längen und
Kürzen, „mit ganz spezifischen Definitionen, was als lang oder kurz
gilt“ (Huelmann 2001, 82) beziehungsweise das Gesetz, dass die
Endsilbe eines doppelfüßigen viersilbigen Trochäus kurz, die
Endsilbe eines doppelfüßigen dreisilbigen Trochäus lang ist31. Das
Metrum kann mit Hilfe von Wortverlängerungen, beispielsweise
durch den Einsatz von Diminutivformen und Flickvokalen oder, indem
Worte ausgelassen oder durch Lautauslassung verkürzt werden,
eingehalten werden. Eine weitere Eigenart der lettischen Dainas ist
der Gebrauch von Verben in der Vergangenheitsform mit der
Bedeutung der Gegenwart (Seehaus 1986, 125). Der Vierzeiler als
typische Grundform der Dainas und dem zu Folge Kürze zum Prinzip
stilisiert wird, bedeuten, dass eine Verlaufsdarstellung von
Geschehnissen oder Handlungen schwierig ist. Die Lieder erhalten
dadurch oft einen aphoristischen Charakter (Scholz 1990, 434;
Seehaus 1986, 122).32 Weiterhin bestimmen die formale Kürze und

folgt ein Vergleich mit einem Ereignis aus dem menschlichen Leben (Erdmane 2000, 202; Scholz 1990,
434).
30
Trochäus: zweisilbig, die erste Silbe ist eine Hebung, die zweite eine Senkung; daktylisch: dreisilbig,
erste Silbe ist eine Hebung, letzten zwei Silben sind Senkungen.
31
„ … eine volle akatelektische (=unverkürzte) Dipodie [Doppelfuß] endet mit einer kurzen Silbe, eine
katalektische (=abgekürzte) mit einer langen Silbe …“ (Dunkele 1984, 64)
32
Viėe-Freiberga erklärt die Dainas als eine Art Momentaufnahme, die Konzentration auf ein Detail wie
ein Gegenstand oder eine Naturbeobachtung, aus ihrem zentrifugalen Charakter, begründet in der
Form der mündlichen Überlieferung. In schriftlich fixierter Literatur ließen sich im Gegensatz dazu viele
Details, eine epische Rahmenhandlung und eine Art Panoramaaufnahme erzeugen. (Viėe-Freiberga
1973, 32f)

60
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

die Regelhaftigkeit des Satzbaus die Auswahl der Worte. Die Worte
würden so gelenkt und die Gedanken konzentriert (Dunkele 1884,
75/ 146). Da die lettischen Dainas eine oral überlieferte Kulturform
darstellen, lässt sich die formale Homogenität und Länge der Lieder
darauf zurückführen, dass die Vorführenden aus ihrem Gedächtnis
repetierten. Die metrische und formale Ähnlichkeit der Lieder erlaubt
den Überlieferern auf der einen Seite, sie einfacher zu speichern und
neue Lieder zu erschaffen. Auf der anderen Seite erleichterte es den
Rezipienten, den Gehalt leichter aufzunehmen. In der
Kommunikation zwischen dem Produzenten, der einen Gedanken
oder eine Erfahrung mit poetischen Mitteln kodiert und dem
Rezipienten, der den Gehalt und Kern des Liedes enkodiert, haben
sich somit diejenigen literarischen Mittel herauskristallisiert, die dafür
kompatibel erscheinen. Betrachtet man die Dainas als die „Seele des
lettischen Volkes“ (Knoll 2003 [2000], 2) oder genauer, als ein Mittel
der Veräußerung von Wissen, das einem bestimmten Kulturkreis
eingegeben ist, so ergibt sich die Erfordernis, für die in den Prozess
Involvierten, den Kode verständlich zu gestalten.33
Die orale Kulturform wurde in der Romantik als Symbol einer
eigenständigen lettischen Kulturform gegenüber der deutsch
geprägten Schriftkultur betrachtet. Es wurde versucht, eine
bestimmte „ursprüngliche“ (Huelmann 1996, 284) Form zu bewahren,
die sich nicht nur gegen die Schriftkultur, sondern auch gegen
andere orale Kulturformen als den Letten eigen abgrenzen konnte.
Zu diesem Zweck wurden die Lieder schriftlich festgehalten, um
diese eigenständige Form zu erhalten, bevor sie sich vor dem
Hintergrund der veränderten bäuerlichen Lebensumstände
umwandeln würden.

33
Daher erfüllen literarische Mittel wie Vergleiche, Parallelismus, Epitheta oder Metaphern, Emphasen
und Miniaturisierungen den Zweck, ein Bild zu kreieren, welches von allen gleich gedeutet werden
kann. Aus diesen Gründen tauchen Bilder oder Motive immer wieder auf oder formen ein
Beziehungssystem (Metuzāle-Kangere 1999, 153). Die Bilder speisen sich aus einem gemeinsamen
Erfahrungshintergrund aller, weshalb oft eine Tätigkeit oder ein konkreter Gegenstand das Bild
bestimmen. Die Dainas können demzufolge als ein kodiertes System von Referenzen (Ebd. 1999, 157;
Viėe-Freiberga 1973, 34). Nach Metuzāle-Kangere ist ein Kennzeichen der Volkspoesie, immer wieder
auf die gleichen Muster und Regeln zurückzugreifen.

61
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

3.2.2 Musikalische Kennzeichen


Die Melodie der Dainas ist häufig auf die Länge der ersten zwei
Zeilen - einer Strophe - ausgerichtet. Über Wiederholung oder
Refrain kann der Text längeren Melodien angepasst werden
(Dunkele 1984, 29). Die musikwissenschaftliche Untersuchung (und
Sammlung34) der lettischen Volkslieder durch Andrejs Jurjāns
(Jurjānu Andrejs, 1894 – 192235) ergab zwei Typen der Melodik:
rezitative („teicamāmas dziesmas“), sprich textdominante Lieder mit
kleinräumigen (Boiko 1996, 160) Melodien im Sekunden- oder
Terzbereich, die eher gesprochen als gesungen werden und
singbare Lieder („dziedamās dziesmas“) mit sich entfaltender reicher
Melodie, oft in Strophen mit Kehrreimen zur Ausschmückung
gesungen36. Lange lettische Lieder, die in jüngerer Zeit entstanden
sind, lassen sich dem zweiten Typ zuordnen. Die lettischen Vierzeiler
gehören zum ‚rezitativen’ Typ oder zu Übergangsformen (Dunkele
1984, 98f). Nach der üblichen Vortragsweise trägt eine Vorsängerin
„teicāja“ („Sagerin“) oder saucēja“ („Ruferin“) die ersten vier, sechs
oder acht Takte in der oberen Stimme allein vor. Dann setzen die
„locītājas“ („die Variierenden“, nach „locīt“, „wiederholt biegen“,
„beugen“) ein, ein Chor, der die Melodie mit Variationen wiederholt,
begleitet von einem Chor Bordun37 haltender Sängerinnen, den
„vilcējas“ („Ziehenden“). Der Vortrag ist meist zweistimmig, das Ende
erklingt unisono. Das Begleitinstrument ist die „kokle“, ein
Saiteninstrument.

34
Jurjāns hat die lettische Volksmusikforschung begründet und ein Sammelwerk lettischer
Volksliedmelodien „Latviju tautas mūsikas materiāli“ („Materialien zur lettischen Volksmusik; 1894 –
1926) veröffentlicht. Weitere Melodien sind in der Sammlung des Komponisten Emilis Melngailis (1874
– 1954) „Latviju mūsikas folkloras materiāli“ (Materialien zur lettischen Musikfolklore; 1951 – 1953)
erschienen, sowie nach dem Krieg in einem mehrbändigen Werk „Latviešu tautas mūsika“ (Lettische
Volksmusik; 1958 – 1986) von Jēkabs VītoliĦš (1898 – 1977). Spätere Sammlungen sind an private und
öffentliche Dokumentationszentren in Lettland gebunden. (Boiko 1996, 159)
35
Dunkele gibt das Todesjahr mit 1926 an (Dunkele 1984, 98).
36
Der Begriff der rezitativen Lieder stammt vom Verb „teikt“ („sagen“) ab, der der singbaren, vom Verb
„dziedāt“ („singen“).
37
Der Bordun, eine „absolut horizontale Linie auf einem Rezitationston“ (Boiko 1996, 159), ist das
Langziehen des letzten Tones der Vorsängerin bis zum Liedende, meist im unteren Tonraum auf den
Vokalen „a“ oder „e“ oder auf dem Vokal der letzten Silbe.

62
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

3.2.3 Funktionen der Dainas


Die rezitativen Lieder werden oft im Freien aufgeführt und sind an
bestimmte soziale Funktionen gebunden. Nach Dunkele sind es
Lieder, welche an alte Rituale, Feste des Jahreszyklus und an
Kulthandlungen geknüpft sind, wie zum Beispiel „apdziedāšanas
dziesmas“ („Spottlieder“), die auf der Hochzeit, zur Taufe oder
anderen Familienfeiern gesungen werden und Arbeitslieder, die
einen großen Bereich im Korpus der Dainas einnehmen (Dunkele
1984, 98; Huelmann 1996, 284f/ 288). Die melodiereicheren Lieder
der Übergangsform finden Anwendung zu den Johannisfesten/
Sonnenwendfeiern oder im Frühling. Es sind Hirtenlieder,
Hochzeitslieder oder „Lieder der Mahlerinnen“ (Dunkele 1984, 99).
Boiko teilt die Funktion der Bordunlieder verschiedenen Regionen zu:
„Im südwestlichen Lettland sind Bordunlieder meist Hochzeits-,
Namengebungs-, Toten- und Frühlingslieder, im zentralen Lettland
sind es Hochzeits- und Erntehilfelieder, in den Gebieten am linken
Ufer der der Daugava (…) Hochzeits-, Mittwinter-, Frühlings- und
Johannislieder.“38 (Boiko 1996, 160)
In der zeitgenössischen Literatur über die Dainas werden zwei
Aspekte der Volkslieder betont: auf einer allgemeinen Ebene der
Folklore ist es die Funktion der Übermittlung von Grundhaltungen

38
Victor von Andrejanow (1857 – 1895), Dichter und Schriftsteller schreibt im Vorwort zu „Lettische
Volkslieder und Mythen“ von 1986, Folgendes: „Es [das Lied] hängt unzertrennlich mit Freud’ und Leid,
mit Lieb’ und Haß, mit jeder Art von Arbeit und Hantierung, mit Festen, besonderen Ereignissen, alten
Sitten und Gebräuchen zusammen. (…) Die Hochzeiten, die Kindertaufen, die Beerdigungen (…)
bestanden zum Teil aus einer Reihe höchst merkwürdiger, in urheidnische Zeit zurückweisende
Gebräuche, derer jeder von passenden Liedern begleitet werden mußte. Aber auch die
wochentäglichen Arbeiten und Verrichtungen konnten jederzeit durch entsprechende Lieder verklärt
werden. (…), wenn es überall zu sprießen und zu grünen beginnt, (…) – dann hebt ringsum das Jubeln,
Jauchzen und Jodeln, oder wie es heißt ‚Gawileeschana’ an, - fröhliche, neckische Lieder, von Hirten,
Mädchen, Kindern (…) Sommer, dessen Einleitung die Ligho-Gesänge bilden. Dann folgt die Mahd- und
Erntezeit mit all ihrer Emsigkeit und Mühe, begleitet von den Liedern der Arbeit. Im Spätherbst und
Winter aber, wenn sich der Schwerpunkt aller Tätigkeit in die schützenden vier Wände, ins Haus
verlegt, kommen die Abendunterhaltungen, die ‚Wakareeschana’, an die Reihe.“ (Andrejanow nach
Seehaus 1986, 50/ 51) 38 Bula betont wie Andrejanow den dramatischen Charakter der Volkslieder, da
sie bestimmte Rituale und Feste begleiteten, diese gliederten, organisierten und Handlungen erklärten
(Bula 1999). Im Bereich des persönlichen Lebens sind die „Hauptübergangsrituale“38 (Ebd. 1999) Taufe,
Hochzeit und Beerdigung bedeutsam. Übergangsriten“ sind kennzeichnend für die „alten traditionellen
Praktiken“ von bestimmten Gruppen im Unterschied zu „erfundenen Praktiken“ von
„Pseudogemeinschaften“ (Hobesbawm 1998, 110) Da den Liedern, soweit es von Verrichtung
bäuerlicher Arbeit handelt, oft eine Beschreibung der Tätigkeit, eines Werkzeugs oder Haustiers
eingefügt ist, wird auf diese Weise „das bäuerliche Alltagsleben ästhetisiert“ (Bula 1999). Bula macht
darauf aufmerksam, dass besonders der Beginn oder die Beendigung von wichtigen Arbeiten, „der
erste Tag der Viehweide, Martini, oder das Ende der Erntearbeiten im Herbst“ (Ebd. 1999) Anlässe zum
Singen böten.

63
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

und Wertvorstellungen, die in diesem Prozess der mündlichen


Tradierung wandlungsfähig und anpassungsfähig bleiben und eine
bestimmte Lebensanschauung poetisch darstellen39 auf einer
konkreteren Ebene ist es eine Begleitung und Kommentierung
bäuerlicher Alltagskultur, gebunden an die Bestimmungsfaktoren
bäuerlichen Lebens. Das Singen der Dainas erfüllt zudem den
Zweck, eine kulturelle Sphäre zu erschaffen und erhalten, die frei
vom Einfluss der Deutschen und vom Einfluss der Kirche ist
(Oberländer 2001, 236f).

3.2.4 Themen und inhaltliche Aspekte


„The subject matter of the Dainas includes the peasant’s daily
routine, his observations of the world around him, his love and
courtships, his sexual experiences and fantasies, his carousing,
drinking, and singing, his profound love for the native land, his family
life with its joy, heartbreaks, trials, The plight of orphans (a recurring
theme), the hatred of opression, the devastation of the war.“
(Carpenter 1980, 18) Es existiert eine Bandbreite der Themen aus
dem Bereich bäuerlichen Alltags und bäuerlicher
Lebensgewohnheiten. Der zentrale Handlungsrahmen der Lieder,
selbst, wenn Naturphänomene, konkrete Gegenstände oder
Begebenheiten aus der Tierwelt das zentrale Motiv bilden, ist der
menschliche Bereich (Huelmann 2001, 79).
Eine besondere Rolle des Erschaffens und der Überlieferung der
Dainas wird Frauen zuteil: bestimmte Themenbereiche wie Krieg

39
Für M. Knoll stellen die Dainas eine Akkumulation des „gesamte[n] schöpferische[n] Potential[s] des
Volkes, seine künstlerische, philosophische und mentale Energie (Knoll 2003 [2000], 1f) dar. Für
Seehaus enthalten die Lieder einen „ganze[n] Kodex der Ethik und Ästhetik des Volkes“ (Seehaus
1986, 122). Für Dunkele ist das Volkslied wie ein Sammelbecken für geschichtliche Erlebnisse wie
Christianisierung des Landes, seine Besiedelung durch Deutsche, katholische und protestantische
Einflüsse und die Aufklärungszeit. Die Lieder würden dadurch ständig umgeformt, vermischt und neu
geschöpft. (Dunkele 1984, 52). I. Ziedonis hebt den ethischen Aspekt lettischer Volkslieder heraus: they
„contain essential formulae for building one’s character“ (Ziedonis 2000, 3). Diese Aussagen betonen
den geschichtlichen und ethischen Wert der Dainas als universell. Die These, dass die kulturelle
Identität der Letten in den Dainas wurzele, wird durch diese Aussagen belegt. Gehe ich davon aus,
dass die Dainas für die Konstruktion einer kulturellen Identität instrumentalisiert wurden, arbeiten diese
Autoren dem Konstrukt zu. Der Einfluss der deutschen Kultur lässt sich anhand von Lehnwörtern
nachweisen, es lässt sich auch durch bestimmte Wörter in Liedvarianten mit der gleichen eine
thematische Aussage, nachweisen, dass ein Säkularisierungsprozess in Lettland stattfand (Biesais
1970). Bei Viėe-Freiberga fand ich auch ein Lied mit Bezug zur Pest (Viėe-Freiberga 1973, 42). Insoweit
ist die Aussage Dunkeles nachvollziehbar. Die Aussagen der anderen Autoren sind meiner Meinung
nach Zuschreibungen.

64
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

werden ausgeklammert oder nur durch das Motiv des Verlustes


dargestellt. Die Eingrenzung der Themenbereiche ist ein
Charakteristikum lettischer Volkslieder. Ein großer Teil der lettischen
Dainas widmet sich dem Arbeitsleben40: Pflügen, Heuernte,
Roggenernte, Flachs- und Hanfernte, Hüten des Viehs, Mahlen,
Spinnen, Weben, Waschen, Jagd, Fischerei. Es werden nur
Tätigkeiten aus dem bäuerlichen Leben thematisiert. Eine
konservative Tendenz zeigt sich in der thematischen
Kategorisierung: neue Lieder lassen sich in die vorhandenen
Kategorien einordnen, Modernisierungen, wie zum Beispiel soziale
und technische Entwicklungen, erscheinen nur am Rand. „… und so
kommt es, dass die Lieder nach wie vor ein Lebensbild
widerspiegeln, das eine einfach strukturierte, ausschließlich von
bäuerlichen Belangen geprägte Gesellschaft charakterisierte.“(Ebd.
1996, 302) Die Ordnung des Bestehenden, die in der sich
verändernden Gesellschaft einen „immer kleiner werdenden
Ausschnitt“ (Ebd. 1996, 285) beschreibt, hält Stellung gegen die
Unordnung der sich verändernden Welt.
Die Verrichtung der Arbeit selbst stellt den Ausgang der
Liedhandlung dar. Die konkrete Tätigkeit kann als Symbol eines
abstrakten Inhalts dienen: eine Lebenssituation wird angesprochen
und die affirmative oder negative Haltung des Singenden/ der
Singenden wird zum Ausdruck gebracht; die Tätigkeit steht in
Verbindung mit der sozialen Stellung des lyrischen Ichs oder einer
anderen Person oder impliziert eine soziale Konstellation. Die
Erwähnung des Arbeiters oder der Arbeiterin kann Informationen
über den sozialen Rang in der bäuerlichen Gemeinschaft enthalten:
verwaist, ledig, verheiratet, wohlhabend, arm. (Ebd. 1986, 278).
Die weibliche Wahrnehmung männlich dominierter Arbeiten wie
Pflügen oder Fischen – wobei Ersteres gesellschaftlich höher

40
Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass der Anteil der Arbeitslieder von mir überbewertet wird. „So
ist das Volkslied mit Arbeit und Kultus verflochten, aber auch mit Spiel und Tanz.“ (BērziĦš 1930, 294)
In der Zeit der lettischen SSR erfuhren die Arbeitslieder größere Aufmerksamkeit. In der in den 1980er
Jahren vorbereiteten akademischen Ausgabe lettischer Volkslieder sind die Lieder mit den Themen der
Arbeit „an erste Stelle gerückt“ (Kokare 1985, 509), da sie als eigentümlich erachtet werden: „weil bei
anderen Völkern die Arbeitslieder als eigene Gattung fast gar nicht erhalten geblieben sind“ (Ebd. 1985,
509).

65
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

angesehen ist41, als Zweiteres – beschreibt zugleich eine


(potentielle) soziale Beziehung der Mädchen oder Frauen zu den
Arbeitern. Huelmann betont den zentralen Stellenwert der Arbeit als
Charakter und Wesen bestimmend (Ebd. 1986, 288). Wird das
Arbeitsmaterial oder die Arbeitssituation erwähnt, kann
vorausgesetzt werden, dass der Rezipient über genaue Kenntnis der
Arbeitsumwelt verfügt, weshalb über die Benennung eines Details oft
kontextuelle Informationen transportiert werden.42 Die klare und
konkrete Sprache in den Dainas kann aus heutiger Sicht zu
Missinterpretationen beitragen, weil sich die Themen und
Handlungen der Lieder oft in metaphorischem Gewand auf
bestimmte Bereiche und Erscheinungen oder Redewendungen des
bäuerlichen Alltags beziehen (Viėe-Freiberga 1973).
Nach Huelmann geben die Dainas jedoch keine gesellschaftliche
Realität wider. Huelmann geht von der Wirkung – dem Effekt - der
Lieder auf den Zuhörer aus. Beschrieben sei nicht die konkrete
Wirklichkeit, sondern „eine bestimmte Sichtweise dieser konkreten
Wirklichkeit“ (Huelmann 1996, 287), vornehmlich eine weibliche
Sichtweise. „ …typisch ist gerade eine neutrale, emotionslose
Schilderung von Sachverhalten, die die Beurteilung dem Rezipienten
überläßt.“ (Ebd. 1996, 293) Die symbolische Bedeutung von
Sachverhalten erhebt den Text in eine Ebene, welche eine
emotionale Wirkung im Rezipienten erzielt. Diese ist intendiert, wird
aber nicht aufgezwungen. Das Gefühl bleibt dabei unausgedrückt.

41
„arājs, arējs, 1) der Pflüger (…); 2) der Landmann, der Bauer, im Volksliede oft durch zemes [der
Erde; Anmerkung des Autors] näher bestimmt (…); 3) das Dem. arājiĦš dient im Volksliede als
Bezeichnung des Verlobten, des Versorgers (…). arējs ist der Pflüger, der im gegebenen Moment
pflügt, arājs dagegen Landmann, dessen Lebensberuf der Ackerbau ist. arāji und arānieks heissen im
Pabbasch die landeinwärts lebenden Bauern im Gegensatz zu den Fischern.“ (K. Mühlenbachs Lettisch
– deutsches Wörterbuch 1923 – 1925, 140)
42
BērziĦš stellt heraus, das in der Benennung von konkreten und realen Gegenständen der das lyrische
Ich umgebenden Lebenswelt der besondere Zug der Subjektivität deutlich hervortritt. In der
Objektauswahl und der Betrachtung der Objekte spielt eine erfahrungsmäßige Vertrautheit eine Rolle;
die unmittelbare Umgebung findet in den Liedern Rücksicht (BērziĦš 1930, 295). Damit korrespondiert
die häufige Verwendung der Diminutive, welche Vertrautheit und emotionalen Zugewandtheit – Ein in
das Vertrauen des lyrischen Ichs eingebunden Sein - signalisieren als auch Über- und
Unterdimensionierungen. Insekten werden scheinbar in menschlichen Dimensionen betrachtet,
Mühlsteine werden zu kleinen grauen Steinen: „Nāc tu, māsiĦa, / ZirnekĜa meitiĦa / Palīdzi pūriĦu /
Piedarināt.“ „Come, little sister, / Little girl spider, / Help me to fill / My dower–chest.” ; “Pelēkais
akmentiĦ,/ Iesim abi spēlēties./ Gan es tevi iespēlēšu, / Baltu miltu kupenā.” “Come, little grey stone, /
Let us play with each other, / I shall soon play you under / A drift of white flour.” (Viėe-Freiberga 1973,
39f)

66
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Dies soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Die


Übersetzung und Deutung entstammt Frau Viėe-Freiberga (Viėe-
Freiberga 1973, 35):
Šuvu vienu linu kreklu,
Šuvu visu vasariĦu.
Dod, DieviĦi, tam kreklam
Pa prātam valkātāju.

„I sewed a single linen shirt,


All summer long I sewed it.
God, grant that this shirt
May go to a pleasing wearer.”

Die Tätigkeit des Hemden Nähens kann als gewöhnliche


Frauenhausarbeit gewertet werden, insbesondere für junge
Mädchen, welche so die Mitgift zusammenstellen. Nach Viėe-
Freiberga treffen in dem Bild das Moment der Kontrolle und das der
Ohnmacht aufeinander. Das Mädchen bestimmt die Handarbeit, es
liegt aber nicht in ihrer Macht, den zukünftigen Ehemann zu
bestimmen. Auf die damit verbundene tragische und unsichere
Situation und die Emotionen, des Mädchens, das einen Fremden
heiraten soll, muss der Rezipient selbst schließen.
Viele Liedinhalte sind mit mythologischen Vorstellungen durchwoben.
Die Figuren einer vor-christlichen Glaubenswelt tragen menschliche
Züge, besitzen menschliche Gewohnheiten und eine ähnliche
Umwelt, sind „anthromorphized figures“ (Ebd. 1973, 129), wie Viėe-
Freiberga an der Erscheinung des lettischen Gottes „dievs“ belegt.
Die religiösen Erfahrungen die sich in den Dainas ausdrücken,
lassen entweder auf die Funktion der mythologischen Motive, die
Erscheinungen in der Natur zu erklären, schließen. Sie können aber
auch als Epiphanie (Ebd. 1973, 132), den Glauben an konkrete
Manifestationen der göttlichen Präsenz in den Naturerscheinungen
und –vorgängen, gedeutet werden. Obwohl sich durch ihre
Manifestation in der Umwelt die göttlichen Figuren durch einen
konkreten Vergleich mit dem menschlichen Dasein verständlich
darstellen lassen und eine parallele überirdische Welt imaginiert

67
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

werden kann, stellen sie in den menschlichen Bereich übertragene


Prinzipien dar und konkretisieren abstrakte Ideen. Einerseits kann so
der Verlauf des Schicksals erklärt werden, andererseits wird eine
Moral vermittelt. „Übernatürliche Wesen sind im Bewußtsein des
Menschen ständig präsent und können helfend oder strafend
eingreifen. Ihr Wirken ist nicht willkürlich, sondern wesentlich vom
Menschen mitbestimmt – durch sein Verhalten, beispielsweise durch
die Art, wie er seinen Pflichten nachkommt.“ (Huelmann 1996, 292)
Ziedonis beschreibt, dass die lettische Sprache dem Sanskrit ähnlich
sei indem sie tiefe, philosophisch harmonische Bedeutungen in den
einzelnen Wörtern transportiere (Ziedonis 2000, 4). Die semantische
Vielschichtigkeit der Sprache drückt sich durch die Verbindung
konkreter und realer Phänomene mit übergeordneten Prinzipien und
Ideen aus43. Verbundenheit findet sich ebenso im stilistischen Mittel
des Parallelismus oder Vergleichs in den Dainas als auch, wie
Huelmann interpretiert, in der Kommunikation zwischen der
physischen und metaphysischen Sphäre der Erscheinungen
(Huelmann 1996, 292). Zudem stehe die „Lesart“, die Art und Weise,
den Text zu interpretieren, in einer „Tradition, die Zusammenhänge
sucht“ (Dahlerup 1999, 49).
Die Geschlossenheit des bäuerlichen Lebensumfeldes, in dem die
Vierzeiler erdichtet, gebraucht und auch aufgenommen werden,
erübrigt nach meiner Meinung den Bedarf an der Darstellung der

43
Matthias Knoll versucht die Schwierigkeiten, alle semantischen Ebenen in einem Liedtext zu erfassen,
darzustellen anhand des Vierzeilers: „Lēni, lēni DieviĦš brauca / No kalniĦa lejiĦāi, / Netraucēja ievas
ziedu, / Ne arāja kumeliĦu.“ Die wörtliche Übersetzung lautet: „Langsam, langsam fuhr Gottchen/ Vom
Bergchen ins Tälchen,/ Störte nicht die Blüte des Traubenkirschbaums,/ auch des Flügers Rößlein
nicht“ (Knoll 2003 [2000], 3). „Bei dem lettischen Gott DieviĦš – mitunter auch baltais DieviĦš (weißes
Gottchen) genannt – handelt es sich nicht um den allmächtigen Gottvater der Christen Dievs, sondern
um einen oft unter den Menschen weilenden, fast unscheinbaren gutherzigen Alten, zu dessen
Attributen u.a. ein komplettes Einsiedlergehöft gehört. Dennoch fährt er hier nicht mit einem Wagen
o.ä.; vielmehr ist braukt in diesem Fall mit einer Stimmung wie der eines Windhauchs konnotiert, der
durch die Zweige fährt; auch „herniedergleiten“ wäre ein einigermaßen stimmiges Bild. Zwar bedeutet
lēni durchaus langsam, aber auch „sanft, milde, sacht, leicht, weich, ruhig, gemach“ (…).kalniĦš und
lejiĦāi (…) stehen im Diminutiv; dennoch symbolisiert hier das Berglein die seelisch erfaßte kosmisch-
göttliche Himmelswelt, das Tälchen wiederum die trauten irdischen Gefilde. netraucēja, wörtlich störte
nicht, kann hier im Sinne von „ließ unbehelligt“ verstanden werden. Die ieva (Padus avium Mill.), die
zarte, weißblühende Vogel- oder Traubenkirsche, ist ein häufiges, oft besungenes Gewächs in Lettland.
(...) ieva gilt als Symbol für das weibliche Prinzip schlechthin, die Blüte des Gewächses ist Sinnbild für
Anmut und Schönheit der Frau. arājs, der Pflüger, ist kein gemeiner Landarbeiter, sondern in einer
durch die Landwirtschaft geprägten Kultur Symbol für das männliche Prinzip und seine weltgestaltende,
lebensbejahende Schaffenskraft. Sein Attribut ist das von dem tief in bäuerlicher Tradition verwurzelten
Letten innig geliebte und verehrte kumeliĦš (wörtlich Fohlenchen, jedoch Kosewort für ein
ausgewachsenes Pferd), ein Symbol für die dem Menschen bereitwillig dienende Kraft des Naturreichs“
(Ebd. 2003 [2000], 3)

68
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

„konkreten Lebenswirklichkeit“, wie sie vielleicht für die


volkskundliche und kulturhistorische Forschung von Interesse wäre.
Die Funktion der Dainas in der bäuerlichen Gemeinschaft, das Leben
zu reflektieren, kann den Anteil von emotional gefärbten Inhalten
erklären. Es liegt zudem in der Natur des, von Huelmann
angesprochenen, Effekts, auf die Gefühle der Rezipienten zu zielen.
Die Rolle der Frauen in der Tradierung und Erschaffung der Dainas
scheint gewichtig. Nach Knoll sind 60 - 70 % der Lieder von Frauen
erdacht (Knoll 2003 [2000], 3)44. Auch die Ausführung der rezitativen
Lieder mit Bordun ist „Privileg der Frauen“ (Boiko 1996, 160). Neben
der Möglichkeit sich auszudrücken, dient das Erlernen (durch Singen
oder Skandieren) und Wiedergeben der Lieder der Aufnahme und
Verbreitung von Wissen; es erfüllt pädagogische Zwecke. Die
Mädchen lernen die Lieder oft vor der Heirat und der Übersiedlung in
für sie fremde Gebiete. Die Lieder werden von der Mutter auf die
Tochter oder durch die Schwestern vererbt, oder durch Abhören bei
den Arbeiten und Festen. „Das Lied sagt: „dziesmas tinu kamolā“,
‚die Lieder sammelte ich zu einem Knäuel’ (oder „dziesmu vācelīte“,
‚im Liedkörbchen’), um sie später eines nach dem anderen
abzutrennen (…).“ (Dunkele 1984, 152)
Moralvorstellungen, welche in den lettischen Dainas transportiert
werden, äußern sich auch in so genannten „nerātnas dziesmas“
(„ungezogene Lieder“), welche sich durch sexuelle Anspielungen der
feinsinnigen oder der rohen und plumpen Art auszeichnen. Der
deutsche Historiograph P. Einhorn 1649 äußert sich zu den
Festlichkeiten einer Hochzeit, wobei ein „abscheulich viehisch und
schandlos Leben geführet“ (Einhorn in Huelmann 2001, 81) würde:
„Darnach werden solche unflätige / unzüchtige und leichtfertige
Lieder auff ihre Sprache gesungen Tag und Nacht ohn auffhören /
daß sie der Teuffel selbst nicht unflätiger / und schandloser
erdencken und fürbringen möchte.“ (Ebd. 2001, 81)

44
Ausnahmen bilden die Fischereilieder, die eine männliche oder neutrale Sicht des lyrischen Ichs
vermitteln (Huelmann 1996, 287).

69
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Für die lettgallischen Folklorematerialen ist, so Juško-Štekele ein


„polychronischer Charakter“ (Juško-Štekele 2002, 48)
kennzeichnend. „Groteske Bildlichkeit“ (Ebd. 2002, 48), Emphasen
physiologischer, naturalistischer oder gewalttätiger Elemente und
Elemente und Verbildlichungen christlicher Ethik und Moral treffen
aufeinander. Die Vielfalt und „Dialekte“ der Folklore seien Ergebnisse
des Ineinanderwirkens von der Folklore immanenten Regeln mit den
sich verändernden äußeren Faktoren wie Paradigmen der Zeit,
sozialer und ökonomischer Wandel, Migration oder die Katholische
Kirche. Die Gleichzeitigkeit von Elementen aus verschiedenen
Epochen, „a fantastic mixture of Christianity and ancient costums“
(Svenne in Juško-Štekele 2002, 49) ergibt sich aus der religiösen
Geschichte in Lettgallen. Nach einer Periode starker Gegensätze
zwischen Heidentum und Christentum, geprägt von Verfolgung und
gegenseitiger Gewalt (etwa vom 13. bis zum 15. Jahrhundert), tritt
eine Phase des Übergangs ein (vom 16. bis zum 18. Jahrhundert).
Heidnische Feiertage, Kalender und heilige Stätten werden übersetzt
in christliche Bedeutungen. „In the second half of the 19th century,
Latgale was a true Catholic land.” (Juško-Štekele 2002, 49) Nach
dem Widerstand der Bevölkerung wird die Folklore unterstützt oder
toleriert und in die Bildungsbestrebungen der Priester eingebunden.
J. MaciĜevičs veröffentlicht unter dem Einfluss der Ideen der
Aufklärung 1850 ein Buch, in welchem Gebräuche der Volkskultur
beschrieben, Elemente wie Aberglaube aber verurteilt werden.

3.3. Weitere Volksliedtypen


Die lettischen Vierzeiler haben sich nach F. Scholz im Laufe der Zeit
herausgebildet als Favorisierung einer nicht strophig gegliederten
Form. Es mag der Eindruck entstehen, dass nur diese Form
lettischer Volkslieder existiere, die sich relativ frei von fremden
Einflüssen entwickelt habe. Allerdings existieren neben den Dainas

70
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

weitere Typen von Volksliedern45: längere, strophig gegliederte, so


genannte „dziesmu virknes“ („Liederketten“). Sie bilden keinen
eigenen Typus, sondern erfüllen die Funktion, das Singen zu
verlängern. Zu diesem Zweck werden thematisch nahe stehende
Vierzeiler aneinandergereiht. Einen zweiten Typus stellen die
„ziĦăes“ (sprich: Singjes) dar. Es sind längere Lieder, lyroepisch mit
einer Erzählfabel, die nachweislich aus der Trivialliteratur stammt.
Diese Lieder haben oft eine sentimentale Note. Eine
Alternativbezeichnung ist „tautas romances“ („Volksromanzen“)
(Dunkele 1990, 33). Diese Bedeutung wird von G. F. Stender
mitgeprägt. Er attestiert in seiner Beschäftigung mit der lettischen
Sprache und Kultur im 18. Jahrhundert den Letten einen „durch die
Leibeigenschaft bedingten Mangel an Kultur“ (Stender in Scholz
1990, 158) und propagiert gemäß eines aufklärerischen Bildungs-
und Fortschrittsglaubens, die Ersetzung der „schamlosen alten
Volkslieder“ (Scholz 1990, 158) durch übersetzte europäische
Kunstlieder. Vor der Aufwertung des Folklorematerials in der
Romantik ist das lettische „dziesma“ oder „dziesmis“ („Lied“) als
„blēĦu dziesma“46 („albernes Lied“) geschmälert. Im 17. Jahrhundert
tritt mit der Bibelübersetzung verstärkt die Bekämpfung „heidnischer
Überbleibsel im Volksglauben“ (Dunkele 1990, 28) hinzu. Sicherlich
auch eine Intention Stenders. Der Erfolg der Herrenhuter
Brüdergemeinde in Vidzeme erstreckt sich auf die Übernahme
geistlicher Lieder im Alltagsgebrauch. Die weltlichen Lieder werden
gemeinhin als „ziĦăes“ bezeichnet. Die Übersetzungen Stenders, in
„einer den lettischen Volksliedern nahestehender Form verfaßt“
(Dunkele 1990, 28), werden populär; sie verbreiten sich und werden
nachgeahmt und erhalten die Bezeichnung „Jaunas ziĦăes“ („Neue
Singes“). Im 19. Jahrhundert wird für die alten Lieder der Herdersche
Begriff „tautas dziesmas“ („Volkslieder“) übernommen. Die
Bauernkultur wird im 19. Jahrhundert mit veränderten

45
Ich schließe aus meinen Ausführungen weitere Formen der gebundenen Poesie, die in Lettland
existieren, Märchen, Rätsel, Sprichwörter, Zauberformeln und andere aus.
46
Den Begriff verwendet 1638 Mancelius in seinem Wörterbuch „Lettus“ im Gegensatz zu „Dieva
dziesmas“ („Gotteslieder“) (Dunkele 1990, 27).

71
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

gesellschaftlichen Verhältnissen aufgelockert und gerät in das


Interessensgebiet national gesinnter Intellektueller. Das 19.
Jahrhundert markiert eine „Internationalisierung“ (Ebd. 1990, 30) von
Liedern. Neben den geistlichen Liedern, den Herrenhuter Liedern
und den „Jaunas ziĦăes“ werden in Liedausgaben Übersetzungen
fremdsprachiger Lieder und Kunstlieder propagiert. Das literarische
Lied entsteht und verzweigt sich in „das Lied in der Poesie, in der
Musik und im populären Genre“ (Ebd. 1990, 31).
Die Erörterung eines genuinen Typs lettischer Volkslieder fällt mit
einer durch den Volksliedforscher Kaspars Biezbārdis initiierten
Diskussion anlässlich des ersten lettischen Liederfestes 1873
zusammen. Biezbārdis gelangt zu der Auffassung, dass nicht „jedes
Lied, das im Volke gesungen wird“ (Biezbārdis in Dunkele 1990, 31)
ein Volkslied sei, sondern vornehmlich das „kurze vierzeilige Lied“
(Dunklele 1990, 31). Diese Meinung wird von K. Barons fortan geteilt.
Er etikettiert die Vierzeiler in seiner Ausgabe lettischer Volkslieder
mit „Dainas“. Dunkele ordnet das Volkslied zu Beginn des 20.
Jahrhunderts zwischen dem Populärlied und dem Kirchenlied an und
stellt die Dainas in eine Entwicklung vom „dziesma“, dem Volkslied
im 17. Jahrhundert über das „tautas dziesma“ (Volkslied) im 19.
Jahrhundert zum Daina, angesiedelt zwischen langen Liedern
(ziĦăes) und den Liedketten (dziesmu virknes), als Ergebnis einer
stärkeren Verzweigung im 18. und 19. Jahrhundert.

3.4. Die Sammlung und Veröffentlichung der Dainas im 19.


Jahrhundert insbesondere bei Krišjānis Barons
„Wer sich auf Lettland einläßt, sollte bei Barons und den Dainas
beginnen. Ihre Geschichte ist eine jener unendlichen Geschichten
des baltischen Raums, deren Anfänge sich in grauer Vorzeit
verlieren, deren Sujets ewig sind und deren vielfältige Wirkung weit
über die Gegenwart hinausreicht.“ (Butenschön 1992, 107)
Lettische Volkslieder werden seit dem 12. Jahrhundert vereinzelt
erwähnt. Das älteste bekannte Lied mit der Datierung 1584 ist aus
Aufzeichnungen eines Hexenprozesses entstanden. Aus dem Jahr

72
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

1632 stammt das älteste gedruckte Lied von Menius, Professor der
Universität in Tartu. Der Form und dem Typus nach entstammt es
einer mündlichen Überlieferung. Im Jahr 1610 äußert sich der
Chronist Dionysos Fabricius in der „Livonicae historiae compendiosa
series“ zur typischen Form und inhaltlichen Logik der lettischen
Vierzeiler. Die Veröffentlichungen einzelner Lieder erscheinen seit
dem 17. Jahrhundert.
Lettgallische Folklore wird in den Chroniken von Nestor, Novgorod
und in der „Livländischen Reimchronik“ vereinzelt erwähnt.
Sammlungstätigkeiten in den Jahren 1840 – 1880 werden durch
Vertreter der Aufklärung, als auch durch wissenschaftliche
Akademien initiiert. Zu ersteren gehören J. MaciĜevičs, G. Manteifels
und C. Plātere, zu den letzteren die Russische Geographische
Gesellschaft, die Moskauer Gesellschaft der Freunde der
Naturwissenschaften, der Anthropologie und der Ethnographie mit F.
Brīvzemnieks, die Krakower Akademie der Wissenschaften und die
Lettisch=Litärarische Gesellschaft A. Bielensteins. Zudem werden
handgeschriebene Sammlungen angefertigt. Eine nationalistische
Wendung nimmt die Folkloreforschung ab den 1880er Jahren an, als
sich durch höhere Bildung eine Schicht intellektueller Theologen in
Lettgallen ausbildet, zu denen F. Trasuns, J. VišĦevskis, P. SmeĜters
und andere gehören. SmeĜters Sammlungsergebnisse werden in
einem Buch „Tautas dzīsmsu, posoku, meikĜu un parunu voceleite“
veröffentlicht.

3.4.1 Die Baron’sche Dainasammlung


Die ersten Sammlungen werden seit Anfang des 19. Jahrhunderts
verlegt, diese mehren sich mit Verlauf des Jahrhunderts47 und

47
Wie schon erwähnt, veröffentlichen Pastor G. Bergmann (1749 – 1814) 1807 und 1808 mit der
„Sammlung ächt lettischer Sinngedichte“ und „Zweyte Sammlung lettischer Sinn- und Stehgreifs-
Gedichte“und zur gleichen Zeit Pastor F. D. Wahr (1771 – 1827) mit „Palzmareeschu Dseesmu
Krahjums“ („Eine Sammlung von Liedern der Leute von Palzmar“) lettische Lieder. J. G. Büttner (1779 –
1862), Pastor in Kabile, bringt 1844 eine Sammlung von 2854 Liedern heraus. 1868 publiziert der
Bibliothekar J. Sprogis in Vilnius 1857 lettische Lieder. Die erste Ausgabe von systematisch geordneten
und erforschten Liedern, stammt 1873 von J. Cimze (1814 – 1881) mit dem Titel „Dziesmu rota“
(Carpenter 1980, 20/ 21). A. Bielenstein publiziert 1874/ 75 zu dem Anlass des 50- jährigen Bestehens
der Lettisch=Literärischen Gesellschaft 4793 Lieder in den zugehörigen Periodika, als auch zwei
Aufsätze über das lettische Volkslied. Der Popularisierung lettischer Volkslieder zum Vorteil ist eine
Veröffentlichung des Journalisten A. Arons 1888 mit 2067 mit dem Titel „Muhsu Tautas dseesmas“

73
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

konzentrieren sich in der Ausgabe der von K. Barons48 und H.


Vīzendorfs49 systematisch geordneten und in sechs Bänden
zusammengefassten lettischen „Latwju Dainas“ zwischen 1994 und
1915 mit einem Gesamtumfang von 36000 Grundliedern und 182000
Varianten. Die erste Ausgabe der „Latwju Dainas. Chansons
nationales latviennes“, („Lettische Dainas. Die lettischen
Nationallieder“) welche 1894 in Jelgava (Mitau) erscheint, umfasst
35000 Originale und 182000 Varianten.
In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts vermehrt sich das Interesse
russischer akademischer Gesellschaften an Materialien
ethnographischer und geographischer Natur. 1866 wird ein
Wettbewerb durch die Moskauer Universitätsgesellschaft für
Naturkunde, Anthropologie und Ethnographie ausgeschrieben, einen
Bericht anzufertigen, der eine „ethnographischen Beschreibung eines
Volkes des russischen Kaiserreichs“ (Infantjevs 1990, 155) beinhalte.
K. Barons, Mathematiker und Astronom und seit dem Dorpater
Studium Aktivist der nationalen Bewegung um die Jungletten, hält
sich zu dieser Zeit in Petersburg als Redakteur der „Peterburgas
avīzes“ („Petersburger Nachrichten“) auf und wird durch K.
Valdemārs angeregt, am Wettbewerb teilzunehmen. Er leistet einen
Beitrag zur Erforschung der „Bibliographie historischer und
ethnographischer Quellen“ (Ebd. 1990, 155) mit dem Werk
„Verzeichnis der Artikel über die einheimischen Bewohner des zum
baltischen Meer angrenzenden Gebietes“50 , welches in den
Nachrichten der Geographischen Gesellschaft zu Petersburg
veröffentlicht wird. In den 70er und 80er Jahren nimmt Barons Teil an
der Forschungstätigkeit von Fricis Brīvzemnieks, der sich als Dichter,

(„Unsere Volkslieder“), veranlasst durch das 3. Liederfest. Näheres zur Sammlungsgeschichte findet
sich auf den Seiten 157 – 168 in Literaturen des Baltikums (1990) von Friedrich Scholz.
48
Barons ist die Erneuerung der lettischen Rechtschreibung auf Grundlage der tschechischen
Orthographie zu verdanken. Er modernisierte die Orthographie aus dem pragmatischen Ansinnen,
seine Sammlung in Moskau drucken zu lassen. Die Moskauer Druckereinen waren aber nicht mit
gothischen Buchstaben ausgestattet. (Infantjevs 1990, 156)
49
Henrijs Vīzendorfs/ Heinrich Wissendorf, eigentlich Indriėis Ėipparts, finanziert aus eigenen Mitteln
den Druck des Ersten Bandes der „Latvju Dainas“. Er betreibt „Studien zur Vorgeschichte, Mythologie
und Ethnographie Lettlands“ (Scholz 1990, 164) und setzt sich als Mitglied der Duma zum Beispiel
gegen das Druckverbot in Lettgallen durch und für
Reformen im Bibliotheks- und Schulwesen.
50
Der Aufsatz ist in russischer Sprache verfasst. Die Übersetzung konnte ich Boriss Infantjevs
entnehmen.

74
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Lehrer und Herausgeber von Sprichwörtern und Rätseln betätigt.


Brīvzemnieks wird 1869 von der Moskauer Gesellschaft der Freunde
der Naturwissenschaften, der Anthropologie und der Ethnographie
beauftragt, lettische Folkloretexte zu sammeln und unternimmt zu
diesem Zweck Exkursionen in Lettland 1869 und 1870. Er kann 1873
in kyrillischen Lettern 1118 Volkslieder veröffentlichen. In die
Sammeltätigkeit werden Barons als auch Mitstreiter von
Brīvzemnieks einbezogen. Das gesamte Material wird 1878 an
Barons, inzwischen Mitglied der Moskauer Gesellschaft für
Naturkunde, Anthropologie und Ethnographie, übergeben. Dieser
beginnt, alle handschriftlichen Materialen und über Druckerzeugnisse
zugängliche Texte systematisch zu ordnen und in einer Kartei
zusammenzufassen. Barons als auch Brīvzemnieks veröffentlichen
fortlaufend Aufrufe in Zeitungen, die lettischen Lieder zu sammeln
und einzuschicken. Barons erhält 218000 Lieder (Kokare 1985, 507).
Die Druckkosten ab dem zweiten Band übernimmt die Kaiserliche
Akademie. Das Werk verdient Anerkennung in der russischen
Presse.
E. Kokare beurteilt den Prozess der Sammlung der „Latvju Dainas“
als „Massenbewegung in der Erschließung, Erhaltung und
Weitergestaltung der Kultur des Volkes“ (Kokare 1985, 507), da er
zwar durch die Intelligenz angeregt, aber durch Einbeziehung der
gewöhnlichen Bevölkerung – „im Volk Hunderte“ (Ebd. 1985, 507) -
durchgeführt wird. Kokare führt dessen Wert als Kulturarbeit anhand
eines Dankesschreibens, von einer Sammlerin verfasst, an
Brīvzemnieks an: durch ihn sei sie ermutigt worden, „schreiben zu
lernen, damit auch sie ihr Liedgut einschicken könnte“ (Ebd. 1985,
507). Durch die Mobilisierung der Bevölkerung, indem die Bewohner
der ländlichen Gebiete in die „systematisch organisierte
Sammelarbeit“ (Loit 1985, 73) und Überlieferung der
Folklorematerialien seit den 1860er Jahren einbezogen werden, wird
die „Entwicklung eines Nationalbewusstseins“ (Ebd. 1985, 73)
verstärkt gefördert. Der Bewusstmachungsprozess kann noch

75
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

intensiviert werden durch die Veröffentlichung der


Sammlungsergebnisse in Volksausgaben.

3.4.2 Barons Methode der Systematisierung


Die wissenschaftliche Aufbereitung der Materialien stellt Barons vor
die Probleme der Klassifizierung und der Systematisierung der
zahlreichen Varianten eines Themas. Zu diesem Zweck studiert
Barons Konzepte der russischen, ukrainischen und weißrussischen
Volkskunde. Barons entwickelt ein Klassifizierungsprinzip von
Brīvzemnieks weiter, welches jener in dem 1861 erschienen Werk
„Historische Artikel aus russischer Literatur und Kunst“ (Übersetzung
Infantjevs) von Buslajevs entdeckt hatte und welches sich seiner
Meinung nach auf die lettischen Volkslieder anwenden ließe, wie es
bereits G. Büttner in seiner Sammlung zeigt (Scholz 1990, 165). In
diesem System sind die Lieder nach dem menschlichen Lebenslauf
angeordnet51. Die Umschreibung, welche Barons dafür im Vorwort
seiner „Latvju Dainas“ gebraucht, „Von der Wiege bis zum Grabe“
respektive „Von der Wiege bis zur Bahre“ ist eine oft verwendete
Redewendung in der populären und populärwissenschaftlichen
Literatur über lettische Volkspoesie52.
Bukajevs Prinzip wird dahingehend erweitert, dass Barons die Lieder
mit „nationalen und sozialen Erscheinungen“ (Infantjevs 1990, 157)
in Verbindung bringt. „Er zeigt dabei den Menschen nicht nur als
Familienmitglied, sondern auch als Mitglied der Gesellschaft; zeigt
auch seine Beziehungen zur Arbeit, zu den Gesellschaftsschichten
und dem Staat.“ (Kokare 1985, 508) Nach Kokare, zur Zeit der
Veröffentlichung des Aufsatzes Abgesandte der Akademie der
Wissenschaften der Lettischen SSR, ergebe sich die Baron’sche
51
Bei Frau Viėe-Viėe-Freiberga habe ich den Hinweis gefunden, dass eine zweite Kategorie der
Klassifizierung das kalendarische Jahr mit begangenen Feiern und Festlichkeiten darstellt. Sie schlägt
vor, diese Klassifizierung noch zu erweitern mit einer Kategorie, welche Arbeit und Tätigkeiten aus dem
bäuerlichen Umfeld beinhalteten sowie einer Kategorie über das Singen an sich. (Viėe-Freiberga 1973,
31) M. Knoll schlägt folgende Hauptkategorien vor: Erstens, „Das Dasein des Menschen „von der Wiege
zur Bahre““ (Knoll 2003 [2000], 2), Zweitens, der Jahreslauf, drittens, „der kosmisch-mythologische
Bereich“ (Ebd. 2003 [2000], 2). Einen guten Überblick über die thematischen Einteilungsversuche in
den Ausgaben lettischer Volkslieder bietet Dunkele. Sie fasst diese in drei zeitlich aufeinander folgene
Richtungen zusammen: „der Mensch, das Leben des Menschen und die Gemeinschaft im Zentrum“
(Dunkele 1984, 54).
52
M. Butenschön führt das „geniale Prinzip“ (Butenschön 1992, 110) auf Barons Bildung als
Mathematiker zurück.

76
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Anordnung aus dem „Wesen der Lieder“ (Ebd. 1985, 508), denn so
seien „Inhalt und Funktion der Lieder im jahrhundertelangen Leben
des Volkes“ (Kokare 1985, 508) widergespiegelt.53 Die thematischen
Bereiche sind in Abteilungen und Unterabteilungen gegliedert.
Letztere reihen sich in Abschnitte auf, deren Lieder nach den
Anfangswörtern alphabetisch geordnet sind. Barons verzeichnet
außerdem präzise die Herkunft der Lieder.
Indem Barons die Lieder in thematischen Gruppen entlang des
Lebenslaufes an ordnet, evoziert er das Bild, das Leben würde
wirklichkeitsgemäß beschrieben. Er suggeriert so, dass das lettische
Leben vollständig dargestellt würde, und attestiert den Liedern eine
universelle Geltung im lettischen Volksleben (Huelmann 1996, 289).
Diese Annahme lässt sich, so Huelmann nicht erhalten, weil das Bild
einer Wirklichkeit erst im Hörer oder Leser angeregt werde. Die
Rezipienten werden eingeladen, die Welt mit den Augen des Autors
wahrzunehmen und es werden Verbindungen zwischen Leser und
Autor hergestellt. Die Bilder sind abhängig von den Assoziationen
und dem Verständnis der Leser und deren Vorstellungskraft. „In a
sense, the song which is based in the poetic world view is not really
about anything, it cannot be said that it discloses the world, nor does
it add up to a statement or doctrine about the world.” (KrēsliĦš 1980,
230)
Nach den heutigen Ansprüchen an Ethnographie, weist die
Baron’sche Sammlung Mängel auf. Diese ergeben sich, so Scholz,
aus Barons romantischer Auffassung im Umgang mit den Liedern. Es
sind programmatische Bearbeitungen der Lieder, um sie zu
standardisieren und ein Bild von der typischen Gestalt der Dainas zu
produzieren. Barons verfährt nach der den damaligen Forschern
gängigen Methode: kraft des eigenen Urteilungsvermögen die
53
„Die Titel der Hauptabteilungen lauten in dem am Ende des 5. Bandes befindlichen Inhaltsverzeichnis
in deutscher Sprache folgendermaßen: I. Lieder und Gesang. II. Des Menschen Lebenslauf, Familie
und Verwandtschaft. III. Die Beschäftigungen des Menschen, Ackerbau und Gewerbe. (Diese Abteilung
umfaßt den größten Teil von Band I und die Bände II, III, 1-3 und weist unzählige Unterabteilungen auf.)
IV. Die gesellschaftliche Ordnung in weiteren Kreisen und die verschiedenen Stände. V. Die
internationale Lage; die Verteidigung des Vaterlandes und des Staates gegen äußere Feinde. VI. Die
Jahresfeste und andere Feiertage. VII. Mythische Lieder. Die Gottheiten des Himmels. Personification
und Vergötterung von Naturgegenständen und Naturerscheinungen. VIII. Abergläubische Gebräuche.
IX. Vermischtes. X. Anstößige, pikante und zotige Lieder, Rätsel, Sprüche und Redensarten.“ (Scholz
1990, 166)

77
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

„vollkommensten und schönsten Lieder“ (Scholz 1990, 166)


auszuwählen und zu entscheiden, „welche [Lieder] ursprüngliche
Einheiten bildeten oder welche Verse ursprünglich zu welchen
Liedern gehörten“ (Ebd. 1990, 166). Wie Barons selbst in der
Einleitung des ersten Bandes schreibt, sei er bestrebt gewesen, „den
räudigen Liedern die Räude auszutreiben, was bedeutet, dass
„anstößige Lieder“ aus Rücksicht vor dem Publikum aussortiert
werden54, „absichtlich gefälschte und in jüngerer Zeit verfaßte Lieder“
als auch „Lieder, die durch Nachfragen verdorben“ seien, nicht oder
bedingt Aufnahme finden (Barons in Scholz 1990, 165). Barons
standardisiert die Sprache der ihm vorliegenden Texte „ohne sich um
die phonetischen Eigentümlichkeiten des örtlichen Dialekts
besonders zu kümmern“ (Grinbergs 1967, 24/ 25). Neben
sprachlichen Veränderungen nimmt Barons Umgestaltungen vor,
damit die Lieder Barons Auffassung von der „Grundgestaltung“
(Kessler 2001, 459) des lettischen Volksliedes entsprächen55. Lieder
größeren Umfangs werden in Vierzeiler unterteilt, Liederreihen
werden zerpflückt, um die einzelnen Vierzeiler in verschiedenen
thematischen Abteilungen unterzubringen, Zeilen werden
hinzugefügt oder weggelassen (Scholz 1990, 166). Obwohl der
Eindruck entsteht, das gesamte lettische bäuerliche Leben sei
repräsentiert, sind die Lieder nur ein Ausschnitt der oralen
Kulturtradition aller Regionen Lettlands. Von 526 Kreisen die das
Gebiet Lettlands umfassen, reichen 218 Kreise keine Lieder ein
(Carpenter 1980, 22). Die Einteilung der Lieder in „Originallieder“ und
chronisch geordnete „Varianten“, welche Barons vornimmt, um die
Lieder zu klassifizieren, scheint ebenfalls willkürlich und unterliegt
wahrscheinlich ästhetischen Vorstellungen (Biezais 1970, 57).
Barons gibt keine Kennzeichen vor, welche die Lieder als
Grundtypen qualifizieren (Ebd. 1970, 57f).56 Folkloristisch

54
Die zotigen Lieder erscheinen erst mit Lockerung der Zensur während des ersten Weltkrieges in
einem separaten Band, versehen mit einem „mittels eines kleinen Schlüssels verschließbaren
Verschluß“ (Scholz 1990, 165)
55
Baron nimmt folgende Grundgestalt an: Eine „Strophe zu vier ungereimten Versen mit je vier
Hebungen und einer Dihärese nach dem Schema: x´x x´x / x´x x´x“ (Kessler 2001, 459)
56
Hinweise auf diese Einteilung erhielt Barons aus russischer (Kirejevsky) und ukrainischer
(Tschubinsky) Volkskunde (Infantjevs 1990, 157)

78
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

nachvollziehbar sei die Zuordnung der Lieder zu Liedtypen, nicht


jedoch die Bestimmung, welche Lieder „Originallieder“ seien und
welche Varianten57 dieser (Ebd. 1970, 58).
Das Typologisierungssystem, nach welchem sich „alle sprachlichen,
poetischen und inhaltlichen Schattierungen“ (Kokare 1985, 509)
rationell darstellen lassen, ermöglicht Barons eine wissenschaftliche
Perspektive auf die Lieder zu eröffnen, welche fortgesetzt wird durch
die Übernahme der Baron’schen Prinzipien in Liedsammlungen des
20. Jahrhunderts58. Die Kontinuität der Typisierungsprinzipien
ermöglicht es der Forschung, Lieder, die in jüngerer Zeit gesammelt
werden mit denen zu vergleichen, die Barons verwendet. Solch eine
Kontinuität ermöglicht es aber auch, die Zuschreibungen, die Barons
anhand seiner Klassifizierungsmethode und Gestaltung vornimmt,
beständig zu festigen, weil sie mit jeder neuen Veröffentlichung
reproduziert werden.

3.4.3 Die Nationalisierung der Dainas mit Hilfe


wissenschaftlicher Erkenntnisse
Barons kann mit Hilfe seiner Methode wissenschaftliche Schlüsse
aus den Dainas ziehen, die der nationalen Konstruktion zuarbeiten.
Oder anders betrachtet, die Ideen, die zur Zeit Barons über die
Beschaffenheit der Nation und der nationalen Kultur kursieren,
beeinflussen Barons wissenschaftliches Interesse an den Dainas.
Barons gelangt durch Vergleich mit slawischen Volksliedern zu der
Annahme, dass „sowohl lettische Volkslieder, als auch slavische,
keine Bruchstücke mythischer Heldengedichte seien, sondern
vollständig selbständige Kunsterzeugnisse“ (Infantjevs 1990, 157).
Das nationalromantische Interesse in Europa fördert in einigen
Ländern das Epos zutage. Epen, erzählende Dichtungen, dienen
57
Die Variierung eines Liedes sei nach A. Ozols auf seine Verbreitung zurückzuführen, welche
Veränderungen der Form, jedoch nicht der inhaltlichen Aussage mit sich brächten (Biezais 1970, 58).
„Es ist nur die Frage, wie groß die Veränderungen sind und welche Bedeutung sie haben.“ (Biezais
1970, 609) Biezais rät in der wissenschaftlichen Erforschung die einzelnen Lieder, Texte als
„selbständige Einheiten“ (Biezais 1970, 65) zu betrachten, deren Bedeutung sich jedoch aus einer
Vielzahl von so genannten „Varianten“ erschließen lasse.
58
Danach lassen sich Schlüsse auf die Lied- und Verbreitungsgeschichte ziehen. Schlussfolgerungen
betreffen die typologische Entwicklung, „Gesetzmäßigkeiten der Veränderungen der poetischen
Struktur“, das Liedareal, die Popularität des Liedes oder Entwicklungstendenzen der Dialekte (Kokare
1985, 509/ 511)

79
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

dazu, die Geschichte einer Nation oder eines Volkes zu belegen. Sie
wurden erschaffen, um von der Tat eines Helden zu berichten,
dessen Stärke und Mut in dieser Form gelobt und weiter getragen
wird. Sie handeln oft von Kriegen und Schlachten und haben, im
Vergleich zum privaten, nach Innen gerichteten poetischen Blick in
der Lyrik einen darstellenden, beschreibenden Blick auf das Außen.
Als Epen im 19. Jahrhundert in großen Teilen Europas geborgen
werden, werden Vermutungen angestellt, diese epischen Dichtungen
seien Fragmente von größeren Erzählungen. Indem Barons nun die
Dainas als eigenständige, lyrische Werke repräsentiert, kann er sie
klar der lettischen Nation und nicht einer anderen Nation, deren
Geschichte die Lieder vervollständigen, zuordnen. Der Beweis der
Eigenständigkeit ist im Kontext der nationalen Legitimation
bedeutsam. Die Eigenständigkeit der Nation demonstriert sich im
kulturellen Substrat der Dainas. Die kurze vierzeilige, prägnant
regelmäßige Form lettischer Dainas, vermag keine andere Nation
aufweisen. Sie sind der vollendete Ausdruck einer eigenen
kulturellen Entwicklung (Ebd. 1990, 157).
Die Eigenarten des lettischen Volksliedes, seine lyrische Form und
seine charakteristische Kürze, lassen sich unter dem Blickwinkel der
Romantik betrachten. Die subjektive Ichbezogenheit der lyrischen
Dichtung wird unter romantischen Parametern einer weiblichen
Sichtweise zugeschrieben. Diese Ansicht korrespondiert mit der weit
verbreiteten Auffassung, dass die Dainas hauptsächlich von Frauen
erdichtet wurden. Sie sind Ausdrücke einer gewissen
Wahrnehmungsweise der Welt, die kein direktes Abbild von der
Realität ergibt, sondern eine gewisse Stimmung vermittelt, die den
Blick des Rezipienten auf die Realität färben soll. Die Frauen
erdichteten nun Dainas, wenn sie ein gesellschaftliches Ereignis
besingen wollten, das ihr Innerstes berührt. Die Gabe der
Empfindsamkeit wird eben als weibliches Charakteristikum
festgelegt. Männern sei es eigen, Sachen und Ereignisse zu
beschreiben, weshalb ihr dichterisches Medium das Epos darstelle.
Männer ziehen in den Krieg und berichten von Heldentaten, Frauen

80
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

verarbeiten die Heldentaten, die durch andere Krieger direkt oder


indirekt an ihnen begangen werden, lyrisch. So seien im litauischen
Dainos, die den lettischen Dainas ähnlich sind, metaphorisch
verkleidete Hinweise auf die Vergewaltigungen der Frauen während
des Angriffes durch die Schweden zu finden (Maceina 1955, 31).
Frauen würden die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse, die
ihr Leben berühren, subjektivieren, also nach innen kehren und in
Form des Liedes wieder veräußern. Nach Maceina stellen also die
Volkslieder die objektivierte Seele des Volkes dar (Ebd. 1955, 7). Alle
geschichtlichen Ereignisse, die das Leben der Frauen tangierten,
würden so in die Lieder Eingang und später wieder in ihrer liedhaften
Form Zugang zur Gesellschaft finden, da das Volkslied integrierende
Funktionen besitzt. Die Romantik entdeckt das Private. Die Welt
würde nicht veräußert, anhand objektiver Erkenntnisse, sondern
durch eine Hinwendung nach Innen - in der Sphäre der Emotionen
und Empfindungen - erklärt und erkannt werden. Die Hinwendung
zum Lyrischen und die Entdeckung des Liedes als kulturelle
Ausdrucksform und geschichtliches Zeugnis, begleiten das
romantische Programm der Innerlichkeit. Aus diesem Grund wird
auch die Idee der Nation im Bewusstsein des Menschen verankert,
weil die private Wahrnehmung von der Nation, diese im Außen bilde.
Das Frauenbild der Romantik, das verantwortlich ist für die
Etikettierung der lyrischen Dichtung als weiblich, schreibt den Frauen
eine, von Natur aus gegebene, Hinwendung zur Nachtseite und zum
Dunklen zu. Die Frau trüge mit dem Bewusstsein, Leben gebären zu
können, auch das Bewusstsein, dass dieses Leben wieder ein Ende
hätte, tief in sich (Ebd. 1955, 38). In dieser Auffassung zeigt sich die
romantische Hinwendung zur Natur, als die Bestimmung über
Geburt, Wachstum und Tod, als auch die Vorstellung von einem
Ursprung, der nicht durch Wissen aufgehellt und aufgeklärt werden
könne. Das Lied, das die Frau kreiert, ist daher angereichert mit
einem intuitiven, natürlichen Wissen. Das Volkslied, das im Volk
mündlich überliefert wird, enthält somit geschichtliche Ereignisse und
Erlebnisse des Volkes, die in ihrer Erschaffung von der Frau

81
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

subjektiviert und durch ihre Anwendung in der Gesellschaft


fortlaufend gestaltet und erneuert werden. „Indem das Volk seine
Lieder singt, erweckt es seine Vergangenheit zu neuem Leben,
verbindet sie mit der Gegenwart und schafft sich somit das
Bewußtsein der Zeit, das zum Wesen der Geschichtlichkeit gehört.“
(Ebd. 1955, 39). Das Lied ist demnach ein geschichtlicher Faktor,
weil es die Vergangenheit und die Gegenwart verbindet. Das
Bewusstsein davon, dass Zeit in einer bestimmten Weise eine
Gemeinschaft von Menschen durch gemeinsame Ereignisse und
Erlebnisse produziert, bildet zugleich das Bewusstsein für die
Existenz dieser historischen Gemeinschaft aus.
Durch die Propagierung des Volksliedes als geschichtliches Zeugnis
werden so auch die geschichtliche Gemeinschaft und das Interesse
an der gemeinschaftlichen Vergangenheit propagiert.
Auch die erwähnte Annahme vom Universalismus der lettischen
Volkslieder wird weiterhin durch die wissenschaftliche Rezeption
verbreitet59. Aus den Liedern ließen sich vorhistorische Bräuche
ablesen, so Šmits (auch Schmidt) 1930. Inzwischen ist die zweite
Ausgabe der „Latvju Dainas“ erschienen, und die Wissenschaftler
der Zeit, unter ihnen Šmits, nehmen sich der Dainaforschung unter
den Bedingungen des freien lettischen Staates an. Einige
Forschungsergebnisse des 19. Jahrhunderts werden kritisch
betrachtet, die romantische Forschungsperspektive wird aber, um
Tradition zu erzeugen, nicht vollständig revidiert (Kessler 2001, 456).
Šmits versucht, anhand der in den Dainas benannten Gegenstände,
anhand der Baum- und Blumen- und Gemüsearten, der
Haushaltsutensilien, anhand des Bieres, der Währung, dem
Schmuck oder anhand von Verben, die bestimmte Tätigkeiten
kennzeichnen,60 in den „alten und echten Volksliedern“ (Schmidt

59
Im Großteil der sprachwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Literatur, die ich verwendet
habe, findet sich die Vollständigkeitsthese nicht. In der populären Literatur, insbesondere aus dem
Bereich der Tourismusführer, die Anfang der 1990er Jahre erscheinen, wird die These, das
menschliche Leben würde von Beginn bis Ende von den Liedern begleitet oder durch sie geschildert
häufig aufgestellt. (Henning 1995, 37; Marenbach 1997, 251; Bette – Wenngatz 1993, 38; Höh 1992,
352; Klemens 1992, 109)
60
„līst“, was „kriechen“ bedeutet: wenn im Daina „kriechen“ im Zusammenhang mit Betreten des
Hauses verwendet wird, so ließe das darauf schließen, dass die Oberschwelle niedrig und die
Unterschwelle zwei Balken hoch ist, der Eingang also klein. Ein mythischer Grund dafür wäre das

82
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

1930, 317) auf die „früheren Lebensumstände“ (Ebd. 1930, 317) der
Letten zu schließen. Dem voraus geht eine Auflistung von Zitaten
aus Otto Böckels „Psychologie der Volksdichtung“, die erwähnen,
wie gern und beharrlich der Lette singt. „Die grosse Menge der
lettischen Volkslieder mit ihren fast unzählbaren Varianten besingt
den ganzen Lebenslauf des Menschen von der Geburt bis zum
Grabe und schildert alte Sitten, Gebräuche und Lebensverhältnisse,
die längst entschwunden sind (…).“ (Ebd. 1930, 321) Sie seien in der
wissenschaftlichen Forschung vernachlässigt worden, „weil man ja
historische Erinnerungen hauptsächlich nur in epischen Liedern zu
finden glaubt“ (Ebd. 1930, 321).
Die nationale Geschichte, welche in der epischen Dichtung Zeugnis
ablegt, wird so verlagert in das Gesamtwerk der Volkslieder. In einer
1985 in der DDR verlegten Ausgabe übersetzter lettischer
Volkslieder regt der „Volksdichter der SSR“ (Seehaus 1985, 122)
Peters an, die Dainas als ein Epos zu betrachten. „Ordnet man
nämlich diesen reichen Liederschatz nach dem Ablauf des
menschlichen Lebens an, so verwandelt er sich in eine Erzählung
über den Menschen aus jenen fernen Tagen, als die Dainas
entstanden.“ (Peters in Seehaus 1985, 122f)
Indem Šmits die, in den Dainas erscheinenden Gegenstände
auflistet, soll nicht nur der Beweis, dass die Dainas das Leben
beschrieben, sondern auch der Beleg ihres historischen Datums
erbracht werden. Barons geht davon aus, dass die Dainas in
vorgeschichtlichen, also mythischen Zeiten entstanden sind. Er
vertritt die These, dass manche Dainas einem lettischen Urvolk
entstammen würden, wie ebenfalls deutsche Gelehrte wie J.
Lauterbach oder A. Bielenstein anhand der mythischen Inhalte der
Dainas belegten (Schmidt 1930, 313). Das entspricht noch den
Paradigmen der nationalen Romantik. Je älter das kulturelle Objekt
ist, desto stärker sei die Geschichtlichkeit der Nation nachgewiesen
worden. Die Auffassung von der mythischen Zeit, in der die Dainas

Abwehren von bösen Geistern, die von Wuchs klein waren und Probleme beim Übertreten der Schwelle
hätten und das Beschützen der Schicksalsgöttin Laima, welche sich gewöhnlich hinter der Schwelle
aufhielt (Schmidt 1930, 320)

83
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

geschöpft worden seien, arbeitet außerdem dem Bild einer


harmonischen Volksgemeinschaft, aus der sich die lettische Nation
formte, zu. Da die Dainas an die bäuerliche Kultur und Lebenswelt
geknüpft sind, könnten sich die Bauern als auch die
Stadtbevölkerung so auf einen Ursprungsmythos berufen. Dieser
Mythos könnte die emotionale Kraft erzeugen, für die Einigung der
Letten in Form des Nationalstaates in Zukunft zu kämpfen. Den
widrigen Lebensumständen würde mit dem Wissen von einer
harmonischen ursprünglichen Gemeinschaft getrotzt werden. Diese
These wird etwa bis zur Jahrhundertwende verfochten. Sie wird
jedoch von den Philologen der 1920er Jahre nicht mehr getragen.
Die mythischen Inhalte der Dainas bewiesen nur, dass die Mythen
selbst existierten und mittels der Dainas überliefert wurden. Durch
ihre mündliche Überlieferung seien sie also mit der Zeit auch
verändert worden und zeugten nicht mehr direkt von der
vorgeschichtlichen Zeit (Ebd. 1930, 315). Šmits unternimmt keinen
Versuch, dass Alter der Dainas zu erklären, er versucht jedoch, eine
Blütezeit ihrer Entstehung durch die Realia und Themen der Lieder
nachzuweisen. Er kommt zu dem Schluss, die Dainas wären
verstärkt zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert produziert worden
(Ebd. 1930, 315ff). Das arbeitet dem Paradigma zu, dass die
lettische Kultur durch die deutsche Herrschaft im Baltikum
unterdrückt wurde. Ab dem 16. Jahrhundert befinden sich die
lettischen Bauern in der Abhängigkeit der Leibeigenschaft. Mit der
Bestimmung einer Blütezeit davor impliziert Šmits, die
Leibeigenschaft hätte die kulturelle Entwicklung der Letten behindert.
Die deutschen Herrschaftsformen hätten die lettische
Kulturentwicklung stagnieren lassen.
Das Alter der Volkslieder ist wissenschaftlich nicht belegbar
(Oberländer 2001, 336). Der Bestimmung des Alters liegen heute
drei Annahmen zugrunde: Die Dainas seien erst zur Zeit ihrer
Aufzeichnung im 19. Jahrhundert entstanden. Diese These leuchtet
ein, da die Verschriftlichung ihrerseits selbst ein Zeitzeugnis darstellt.
Zudem wird in den Aufrufen, die Dainas zu sammeln, bereits ihre

84
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

nationale Bedeutung propagiert. Es hätte also der Nation durch das


Produzieren der Dainas zugearbeitet werden können. Eine zweite
These siedelt die Blütezeit ihrer Entstehung zwischen dem 13. und
dem 16. Jahrhundert an, so wie es in den 1920-er Jahren vermutet
wird. Barons und andere behaupteten, die Dainas entstammen der
Zeit vor dem 12. Jahrhundert, also aus der Zeit vor der Besetzung
des lettischen Gebietes durch den deutschen Orden.
Die Dainas stellen keine historische Quelle dar. Sie beziehen sich in
ihren Inhalten weder auf konkrete geschichtliche Ereignisse, noch
auf historische Personen (Ebd 2001, 336). Eine andere
Herangehensweise besteht darin, die Dainas nicht als
Geschichtsquelle, sondern als Zustandsdokumente zu betrachten.
Nach Nollendorfs können die Dainas selbst als ahistorisch
gekennzeichnet werden: das in den Liedern demonstrierte Leben
könne als örtlich gebunden und, als ob die Gegenwart lang gezogen
wäre, empfunden werden (Ebd. 2001, 236). Mit dieser Perspektive
kann sich ein Bildnis von der zeitlosen bäuerlichen Gemeinschaft
abzeichnen. Es ist aber gleichzeitig die Perspektive der poetischen
Wahrnehmung von der Welt, die das Daina festhält und für die
Zukunft generiert.
„Wenn das kleine lettische Volk mit seinen ungünstigen
ethnographischen Grenzen von seinen grossen Nachbarvölkern nicht
vollständig absorbiert worden ist, so hat es dieses gewissermaßen
auch seinen Volksliedern zu verdanken. Jedenfalls ist es nicht leicht,
eine andere Tatsache zu finden, die die Einigkeit des Volkes mehr
gefördert haben könnte.“ (Schmidt 1930, 313)

4. Fazit
4.1. Die nationalen Funktionen der Dainas
Es ist ein Kennzeichen der Volkskultur, auf äußere Faktoren zu
reagieren oder sich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Mit
der Industrialisierung und Verbürgerlichung der Gesellschaft, mit
ihrer Bildung und Nationalisierung verändert sich deren Charakter in

85
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts61. Die Lieder treten aus ihrer
Funktionsgebundenheit heraus und nehmen eine unterhaltende und
integrierende Funktion als Gesellschaftslieder in einer urbanisierten
Gesellschaft ein (Dunkele 1984, 145). Mit der Verbürgerlichung der
Volkslieder entstehen neue Genres. Diese Wandlung ist bedingt
durch die Popularisierung anderer Liedtypen, wie ziĦăes oder
Kunstlieder und dem wechselseitigen Einfluss zwischen den neuen
Typen und den bisherigen Volksliedtypen. Es ist anzunehmen, dass
mit der Ausformung und Differenzierung der populären Musik in
Lettland ab dem 19. Jahrhundert die heute als typisch erachtete
Grundgestalt der lettischen Dainas ein Ergebnis dieser
Spezialisierung darstellt. Die Standardisierung der Dainas wird
gefördert durch die Selektion und Systematisierung, die Sammler
und Herausgeber von Volksliedern vornehmen. Sie übertragen dabei
bestimmte romantisch geprägte ästhetische Vorstellungen auf die
Volkslieder. Die Beliebtheit bestimmter Lieder wird durch
Liedausgaben, durch Bearbeitungen für Chor und durch
Aufführungen bei Liederfesten unterstützt.
Die Volkslieder nehmen eine Ideen stiftende Funktion an, indem sie
in neuen Kulturformen reproduziert werden. Liedmotive werden
eingebettet, Kunstliederkomponisten und Dichter bedienen sich der
einfachen Mittel der Volkslieder, um sie den Volksliedern
anzugleichen, oder, wie es Herder intendierte, als „Korrektiv für die
Sprache und Formgebung der schönen Literatur“ (Kessler 2001,
443).
Die Funktion der Dainas für die bäuerliche Kultur wird mit der
Modernisierung der lettischen Gesellschaft zu einem großen Teil
obsolet. Folklore wird als Nationalkultur entdeckt und schriftlich
fixiert. Damit wird die Funktion der Wissenstradierung aufgehoben,

61
Ich gehe davon aus, dass diese Prozesse des Wandels nicht auf allen Ebenen und in allen Regionen
Lettlands mit derselben Dynamik verlaufen. Das Wirkungsgebiet der Städte ist größer als ihr territorialer
Umfang, Wandel ist abhängig vom Zugang zu Information und Kommunikation, davon, wie sehr das
Gebiet in die Infrastruktur des Landes eingebunden ist, die Mobilität der Ideen ist abhängig von der
Mobilität der Ideenträger und -verbreiter. Es ist von Bedeutung, wie tief die bisherigen Erfahrungen von
Wandel und Stabilität in der Wahrnehmung der Menschen wurzeln, welche persönlichen Auswirkungen
mit ihm zusammenhängen. Erhöht der Wandel den Wohlstand, so ist es wahrscheinlicher, dass er
mitgetragen wird, verringert er jenen, so kann es schnell in Konservativismus umschlagen.

86
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

zu Gunsten anderer Funktionen. Das den Volksliedern implizite


Wissen wird schriftlich fixiert und damit veräußert als Zeugnis der
Eigentümlichkeit eines bestimmten Kulturkreises. Damit fungieren die
Lieder als Identitätsangebot innerhalb des Kulturkreises, der durch
den gesellschaftlichen Wandel neu bestimmt ist oder konstruiert wird.
Mit der schriftlichen Fixierung der Volkskultur, nimmt diese
unveränderbare Gestalt an. Eine ihr nun obliegende Funktion ist die
Repräsentation einer lettischen Gemeinschaft, durch den Beweis
genuiner lettischer Kultur. Die Verschriftlichung dient dem Nachweis
dieser eigentümlichen Kultur. Kontinuität wird erzeugt durch die
wiederholte Fixierung in der Praxis: durch Lehrpläne, in
Folklorevereinen, durch konzertante Darbietungen, in
Liederausgaben oder in der „Alltagskultur“ (Bula 1999) – „in
Geburtstagskarten, in Hochzeits- und Todesanzeigen“ (Ebd. 1999).
Grundlegend ist der Mechanismus, dass eine Wechselwirksamkeit
zwischen nationaler Kultur und Volkskultur initiiert wird, einschließlich
der Einbindung der Bevölkerung in Sammlungsaktivitäten oder in
folkloristische Organisationen, der die Volkskultur beeinflusst durch
Vorgaben, was kulturell bewahrenswert und wertvoll sei. Somit wird
das bäuerliche Bewusstsein geformt.
Für die romantische Idee der Nation, die sich in einer nationalen
Kultur findet, ist der Blick in die Vergangenheit kennzeichnend. Um
diesen Anforderungen an eine nationale Kultur zu entsprechen,
nutzen die lettischen Intellektuellen die Dainas, da diese
Hauptbestandteil einer lettischsprachigen Kultur sind. Bevor sich die
Dainas in einen Austausch mit anderen europäischen Kulturformen
begeben, werden sie als Nationalkultur eingebunden und inszeniert.
Sie werden als kulturelle Besonderheit hervorgehoben. Die
Inszenierung besteht also darin, die Dainas in das nationale Licht zu
setzen. Es ist nicht klar nachzuweisen, ob diese kulturelle Eigenart
der lettischen Nation erst im 19. Jahrhundert produziert wird, oder ob
sie so zu sagen, gewachsen ist. Die Dainas stellen inzwischen
zumindest geschichtlich, ein kulturelles Zeugnis des 19.
Jahrhunderts dar und sind in ihrer heutigen Gestalt eigentümliche

87
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Kulturprodukte. Während der Zeit des nationalen Erwachens bis zur


Eigenstaatlichkeit Lettlands erfüllen sie die Funktionen, etwas
national Eigenständiges sowie eine Geschichte zu repräsentieren.
Heute bilden sie den Hintergrund einer kulturellen Identität. In der
dazwischen liegenden Zeit werden sie symbolisch genutzt. Während
der Zeit der staatlichen Unabhängigkeit soll ihre vollkommene,
lyrische Gestalt die Vollkommenheit der lettischen Republik sichtbar
machen. Während der Zeit der Lettischen SSR haben die Dainas die
Aufgabe, die Heterogenität der Völker der, in der Union
homogenisierten Staaten, zu beweisen. In der Exilbewegung bilden
die Dainas einen Halt für die Exilanten an eine sichere
Vergangenheit im unsicheren Zustand des Exils sowie einen
bestimmten Konsens an Erfahrung und kulturellem Verständnis.
Während der Periode der Singenden Revolution wird die nationale
kulturelle Identität der Letten durch das Singen der Dainas reaktiviert
und mobilisiert. Sie symbolisieren die Lebendigkeit der lettischen
Nation, vermitteln ein Zugehörigkeitsgefühl und verstärkten es noch
emotional.
Die Konstruktion der Nation ist die Reaktion auf europäische
Prozesse. Die Modernisierung der lettischen Gesellschaft ist Folge
und Phänomen der gesamteuropäischen Entwicklung. Sie ist
begleitet von einer Welle der kulturellen Produktion, insbesondere
auf dem Gebiet der Literatur. Als diskursive Form bleiben die Dainas
bestehen. Auf den Gebieten der Kultur, der Wissenschaft und der
Wirtschaft erfüllen sie weiterhin den Zweck, bestimmtes Wissen in
bestimmten Formen, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

4.2. Die aktuelle lettische kulturelle Identität


Als Grundlage der nationalen Identität wäre anzunehmen, dass in
allen kulturellen Äußerungen die Lettland vornimmt, um im
Bewusstsein der Europäer zu erscheinen, ein wenig Volkskultur zu
finden wäre. Der Auftritt, mit der Lettland den siebenundvierzigsten
Eurovision Song Contest 2002 gewinnt, zeugt davon jedoch nicht.

88
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Das Lied I wanna wird von der Sängerin Maria Naumova, die unter
dem Künstlernamen Marie N. auftritt, dargeboten. Das Moment der
Darbietung scheint Ausschlag gebend für ihren Sieg. Die 30-jährige
Sängerin gehört der russischsprachigen ethnischen Minderheit in
Lettland an und konnte bisher erfolgreich mehrere Tonträger - der
letzte enthält Interpretationen französischer Chansons -
veröffentlichen. Das Lied ist in einem tanzbaren
lateinamerikanischen Rhythmus verfasst. Naumova wird von
mehreren Tänzern begleitet und verwandelt so zu sagen während
ihres Auftritts ihre Identität. Sie trägt zu Beginn des Liedes einen
weißen Anzug und Hut, am Ende steht sie mit einem roten
Abendkleid auf der Bühne. Die Verwandlung erscheint sehr flüssig
und tänzelnd.
Die Ausbildung eines europäischen Bewusstseins über die
Funktionen der Europäischen Union als wirtschaftlicher und
politischer Verbund hinaus, vollzieht sich in erfundenen Traditionen
wie dem Europatag oder dem Eurovision Song Contest. Durch sie
können dem Bündnis emotionale Werte eingeschrieben werden. Die
Einigkeit der europäischen Nationen, die formal durch die
wirtschaftliche, politische und institutionelle Homogenisierung
produziert wird, kann durch das Moment des friedlichen Wettbewerbs
im Singen repräsentiert werden. Es präsentiert sich zudem die
kulturelle Vielfalt der europäischen Mitgliedsstaaten. Lettland erzeugt
durch seinen Auftritt 2002 nicht das Bild der, an die Volkskultur
gebundenen, nordischen, ländlichen Gemeinschaft. Durch die
Insignien des Pop vermittelt es Weltläufigkeit, Internationalität und
Offenheit für den Wandel.
Für die derzeitige Kommunikation Lettlands kurz vor dem Eintritt in
die Europäische Union stellt das nationalisierte Volkslied kein
Problem dar. Es befindet sich mitten in der Synthese aus dem
Lokalkolorit der kulturellen nationalen Identität und der globalen
Färbung des Pop, mit dem sich die ganze Welt identifizieren kann.
Das Bild der geschlossenen bäuerlichen Kultur in der Gestalt des
Liedes und der Singenden, das die Einheit und natürliche

89
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Gewachsenheit der Schicksalsgemeinschaft repräsentiert, ist unter


den bestimmten gesellschaftlichen Umständen Lettlands vor der
Nationalstaatenbildung wirksam. Als Symbol der Zugehörigkeit zur
lettischen Nation kann es in den Zeiten der nationalen kulturellen
Bedrohung mobilisiert werden. Derzeit wird in Lettland spielerisch mit
diesem Bild umgegangen, da die lettische Nation weltweit anerkannt
ist. Es besitzt einen gewissen Wert auf dem globalen Markt. Etwas
Eigenes wird unter der Vielfalt der kulturellen Produkte für das Außen
angeboten. Nach innen besitzt es einen Wiedererkennungseffekt.
Die Provinzialität, die hinter dem Bild der harmonischen Folklore
vermutete werden kann, wird durch genügend Internationalität à la I
wanna wieder aufgewogen. Das Problem, sich provinziell zu
verschließen, besteht für Lettland nicht. Die glokalisierte Form der
nationalen kulturellen Identität Lettlands wird von Ziedonis als eine
Synthese monologischer und dialogischer Werte (Ziedonis 2000, 2)
umschrieben.

4.3. Kritische Schlussbemerkungen


Wenn ich den Begriff Letten benutze, so meine ich die auf dem
heutigen Gebiet Lettlands lebenden Menschen ungeachtet ihrer
ethnischen oder sozialen Herkunft. Ich verwende diesen Begriff nicht
in seiner historischen Bedeutung. Auf die Unterschiede der
verschiedenen Regionen Lettlands nehme ich bis auf die Region
Lettgallen, soweit mir Literatur zur Verfügung stand, keine Rücksicht.
Der Genauigkeit bleibe ich damit insofern schuldig, dass ich mich
auch mit dem Phänomen der Homogenisierung von Institutionen und
Erfahrungen, welche die Moderne produziert, beschäftige und
gleichzeitig einen Eindruck der Einheitlichkeit verbreiten mag. In der
Geschichtsliteratur über das Baltikum gibt es zwei Strategien,
Gemeinsamkeiten und Unterschiede für diesen Raum festzulegen.
Die erste Strategie argumentiert mit der historisch bedingten
Gemeinsamkeit der Letten und Esten, die im so genannten
Einflussgebiet deutscher Kultur standen im Vergleich zu Litauen,
welches unter polnischem Einfluss stand. Die zweite Strategie

90
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

argumentiert vorgeschichtlich auf der Ebene der Sprache.


Demzufolge gehörten Litauer und Letten dem baltischen
Sprachzweig der indo-europäischen Sprachgruppe an, Esten sowie
zum Beispiel eine in Lettland lebende Minderheit, die Liven, zählen
zu der finno-ugrischen Sprachgruppe. Es liegt nahe, die Frage zu
erörtern, warum aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher
Gemeinsamkeiten die drei Nationen im Baltikum nicht eine Nation
beziehungsweise einen Nationalstaat gebildet hätten. Diese Frage
tangiere ich aber nicht. Ich komme nicht umher, die Begriffe Nation,
Volk, Letten, welche in ihrer bestimmten Bedeutungsmenge
konstruiert sind, zu verwenden. Einerseits weiß ich es nicht besser,
zum anderen aus Gründen der Bequemlichkeit.

Die Problematisierung ethnischer Unterschiede und die


Kulturalisierung sozialer Widersprüche, wie sie von W. Kaschuba
oder E. T. Hall als Diskursstrategien nachgewiesen werden, werden
nicht ausgeführt. Diese Diskurse sind Produkte der im letzten
Jahrhundert erschaffenen Konzepte der Nation und des Volkes. Aber
es obliegt dem Sachverständnis der Kulturwissenschaftler und
Ethnologen, sie ins rechte Licht zu stellen. Mit Kenntnis der
deutschen Vergangenheit wissen wir von der Funktionalisierung von
wissenschaftlichen Paradigmen. Fragen der Völkerkunde in
Verbindung mit der Biologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts,
mündeten in die Rassenleere und im Blut und Boden – Mythos der
Nationalsozialisten. Das echte Deutschtum wurde zum Objekt der
Wissenschaft. Es besteht die Gefahr, Diskurswissen durch
Verwissenschaftlichung zu legitimieren und damit die politische
Verwendungsfähigkeit dieses Wissens zu stärken. Insofern bin ich
mit dieser Arbeit ein Schreibtischtäter. Die Interpretationen und die
Auswahl der Materialien, die Deutung und Zusammenstellung der
Fakten für diese Arbeit folgten aus dem Wissens- und
Erkenntnisstand des Kulturarbeiters. Ich laufe Gefahr, in Unkenntnis
der Methoden der Wissenschaftsbereiche, die außerhalb des

91
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

Kulturarbeitereinzugsgebietes liegen, die falschen Schlüsse


gezogen, verallgemeinert oder nicht präzise gearbeitet zu haben.

Trotz ihrer Konstruiertheit sind Lettland, Letten, Volk und Nation


Begriffe, welche eine Wirklichkeit besitzen, da sie gebraucht werden;
sei es das Selbstverständnis der Medien, der politische Jargon, das
Lehrbuch im Geschichtsunterricht oder die Alltagssprache. Wenn in
den Geisteswissenschaften die Methode der Dekonstruktion, ein
Konstrukt in dessen einzelne Teile zu zerlegen und diese für sich
und in ihrer Funktion für das Konstrukt zu analysieren, geübt wird, so
mag diese Methode außerhalb der so genannten Intelligenz noch
keine Anwendung gefunden haben. Der Erfolg der Idee der Nation
liegt gerade im Selbstverständnis ihres Gebrauchs, in der
Inkorporierung in die Menschen. Ein Mittel die Nation auszubilden, ist
sie als Idee in das Bewusstsein der Menschen zu verpflanzen, so
dass sie selbstverständlich würde und bis in die Bereiche der
menschlichen Handlung erwachse. Der Erfolg lässt sich bestätigen.

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