Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Diplomarbeit
Studiengang Kulturarbeit
im Fachbereich Architektur und Städtebau
vorgelegt von:
Yvonne Chaddé
Wichertstr. 42
10439 Berlin
Erster Gutachter:
Prof. Dr. Hermann Voesgen
Zweite Gutachterin:
Una Sedleniece
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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna
Inhaltsverzeichnis
Einführung 4
1. Die kulturelle Konstruktion der Nation im 12
Wandel der europäischen Gesellschaft
1.1. Die Konstruktion der Nation 12
1.2. Die Konstruktion der Nationalkultur 17
1.3. Der lettische geschichtliche Kontext 23
1.4. Der Wandel der lettischen Gesellschaft im 27
19. Jahrhundert
2. Die nationale Bewegung in Lettland 36
2.1. Die Rolle der Jungletten bei der 36
Konstruktion des lettischen
Nationalbewusstseins
2.2. Die Modernisierung der lettischen Sprache 38
2.3. Die Rolle der Vereine 43
2.4. Die Produktion nationaler Literatur 44
2.5. Die Aufsplitterung der nationalen 46
Bewegung
3. Volkskultur 49
3.1. Die Entdeckung der Volkskultur als 49
nationale Kultur
3.2. Das wissenschaftliche Interesse an der 56
Volkskultur
3.2. Dainas 58
3.2.1 Formale Kennzeichen 59
3.2.2 Musikalische Kennzeichen 61
3.2.3 Funktionen der Dainas 62
3.2.4 Themen und inhaltliche Aspekte 64
3.3. Weitere Volksliedtypen 70
3.4. Die Sammlung und Veröffentlichung der 72
Dainas im 19. Jahrhundert insbesondere
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Einführung
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Kontext
Die Nationalstaaten in Osteuropa formen sich nach dem
Zusammenfall der Monarchien zum Ende des Ersten Weltkriegs. Es
ist ein Phänomen in Osteuropa, dass sich die Nationen alle im 19.
Jahrhundert bilden. Auf dem heutigen Gebiet Lettlands vollzieht sich
im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der europäischen
Industrialisierung, der Wandel der Gesellschaft. Ein lettisches
Bürgertum bildet sich heraus. Das Gebiet Lettlands befindet sich zum
einen in der Selbstverwaltung durch deutsche Ritterschaften und ist
andererseits an das russische Zarenreich angegliedert. Alle
politischen, bürgerlichen und adeligen kulturellen Sphären sind von
Deutschen besetzt. Der soziale Aufstieg für Letten bedeutet, dass sie
sich im Deutschen assimilieren müssen. Innerhalb der gebildeten
Schichten stellt sich ab den 1850er Jahren die Frage, ob die lettische
Kultur autonom werden könne, und ob die lettische Nation existiere.
Mit Hilfe kultureller Aktionen, die intellektuellen Schichten
durchführen, sollte die lettische Nation sichtbar werden und auf der
kulturellen und geschichtlichen Bühne erscheinen.
Vorraussetzung dieser Arbeit ist die Gegebenheit, dass die lettische
Nation, ebenso wie die Nationen West-, Mittel- und Osteuropas,
Ergebnisse eines Konstruktionsprozesses sind. Diese Arbeit verfolgt
die Konstruktion der lettischen Nation anhand bestimmter kultureller
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Vorgehensweise
Im ersten Kapitel werden die theoretischen Vorraussetzungen, um
den Charakter der Konstruktion aller Nationen in Europa sichtbar zu
machen, dargelegt. Besonderes Augenmerk ist auf das deutsche
Modell der Nationsbildung zu richten, gekennzeichnet durch die
romantische Besinnung auf einen in der vorgeschichtlichen
Vergangenheit angesiedelten Volksbegriff, der den Begriff der
Nation überhaupt rechtfertigt. Anzumerken ist, dass besonders in der
Romantik alle Phänomene des Daseins auf die Natur als zentrales
Erklärungsmodell bezogen werden. Die Nation und ihr Volk werden
demnach als natürlich gewachsen begriffen. In der Romantik wird der
Kunst, im weitesten Sinne, eine umfassende Geltung anerkannt. Da
die Vereinigung aller Künste angestrebt wird und darin die
Wissenschaften einbezogen sind, werden kulturellen Erzeugnissen
geschichtlichen Wert zugesprochen.
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Methode
Trotz des im Titels „Lettland zwischen Dainas und I wanna“
aufgebauten Spannungsfeldes, das eine Diskussion der aktuellen
lettischen Nationalkultur erfordert, habe ich mich entschlossen, die
Konstruktion der Nationalkultur nur in seiner Entstehungsphase zu
erforschen. Der Bereich über das lettische Gewinnerlied des
Eurovision Song Contest wird dabei fast ausgeblendet. Ich gehe vom
Phänomen der Dainas aus und ziehe Rückschlüsse auf die
Nationalkultur. Ich musste, um das Phänomen zu verorten, die
geschichtlichen und gesellschaftlichen Umstände beleuchten, weil
ich denke, dass diese Umstände der Nationalkultur ihre bestimmte
Färbung gegeben haben. Sehr wichtig ist mir die Einbindung von
Ideen und Konzepten, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung
einhergehen. Dass ich die Methoden dieser Arbeiten mische, ist dem
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Wolf macht darauf aufmerksam, dass das Konzept des „Volksgeistes“ durch die Faszination des
deutschen Bildungsbürgertums an der griechischen Antike angeregt war, vornehmlich durch J. J.
Winckelmanns Propagierung des hellenistischen Volksgeistes („paideia“). In dieser Betrachtung wurde
Hellas als ganzheitliche, vollkommene Kultur wahrgenommen und diente als Vorbild für die deutsche
Kulturentwicklung. Wolf bezeichnet die „Leitidee eines ideellen Holismus“ (Wolf 1993, 341) als
konstitutiv für das Kulturverständnis deutscher Intellektueller des 19. Jahrhunderts.
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Menge sei nach Meinung der Autoren ein Beziehungsgeflecht von „Singularitäten“, heterogen, mit
inklusivem Verhältnis zu Außenstehenden (Negri/ Hardt 2002, 116).
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Die Modernisierung/ Kapitalisierung der Gesellschaft und deren „bürgerliche Umgestaltung“ verläuft
inkonsequent (split up) aufgrund des Interessenszwiespalts zwischen den „herrschenden Klassen“ und
der „Volksmassen“, unter anderem bedingt durch die verspätete Aufhebung der Leibeigenschaft. (Hofer
1973, 252f)
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Produktionssteigerung als Ziel der Modernisierung der Gesellschaft verlangten Neuerungen,
territoriale Erweiterung des Wirtschaftsgebietes und erhöhte Mobilität der Gesellschaft. (Reiter 1989,
32-40)
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Begriff wurde in England 1846 von William John Thoms erfunden und fungierte als „Leitbegriff“ im 19.
Jahrhundert (Kaschuba 1999, S. 173). Folklore erfasst „Glaubensvorstellungen und Bräuche“ und die
„Gesamtheit der Traditionen des (einfachen) Volkes“ in Form von zum Beispiel „Erzählungen, Lieder
und Sprichwörter“ (Bausinger 1999, 50).
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aus und wird zwei Jahre später– als Nationalstaat – durch den
Völkerbund anerkannt. Bis 1934 herrscht eine parlamentarische
Demokratie, welche durch die Autokratie K. Ulmanis’, Präsident der
Bauernpartei abgelöst wird. Im Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt
wird Osteuropa unter Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt,
Lettland fällt an die Sowjetunion und wird ein Jahr darauf besetzt.
Zwischen 1941 und 1944 okkupiert das Naziregime das Gebiet
Lettlands unter den Plänen der Osterweiterung. 1944 folgt die
erneute Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion und seine
Einverleibung in die Räterepublik. Es folgen Zwangskollektivierungen
der Landwirtschaft, einhergehend mit Massendeportationen, wie
bereits 1941 und Industrialisierung, verbunden mit der Ansiedlung
von Arbeitskräften aus allen Teilen der UdSSR. Seit Mitte der 1980er
Jahren entwickeln die Umweltschutz- und Folklorebewegung
Mobilisierungskräfte, die in die so genannte Singende Revolution
münden. Die Unabhängigkeit der lettischen Republik wird 1990
proklamiert, die Staatlichkeit kann im August 1991 wieder hergestellt
werden. Teile der Verfassung von 1922 treten wieder in Kraft. Die
Republik Lettland ist Mitglied internationaler Organisationen und wird
2004 in die europäische Union aufgenommen.
Ende des 12. Jahrhunderts wird das Territorium um die
Flussmündung der Düna in die Ostsee von deutschen Kaufleuten
des Ost-West-Handels der Genossenschaft der Kaufmannshanse
entdeckt und nach dem dort angesiedelten Volksstamm der Liven
(Alt-Livland oder Livonia) benannt. Die Aufsegelung des heutigen
Gebiets von Lettland und Estland und Städtegründungen nach
lübischem oder hamburgischem Recht, insbesondere die Gründung
Rigas 1201 durch Bischof Albert von Bremen, finden statt
(Pistohlkors 1990, 12). Aus der Heidenmission des Papstes Innozenz
III. vom Jahr 1199 folgt die Christianisierung des Territoriums
Lettlands im 13. Jahrhundert sowie Estlands im 14. Jahrhundert
durch den Deutschen Orden. Der livländische Ordensstaat besteht
aus den Provinzen Estland, Livland und Kurland. Nach Pistohlkors
kommt es aufgrund der Missions- und Siedlungsbewegung und des
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Im Jahr 1784 kommt es zu Unruhen der Bauern in Süd- und Nordlivland, welche gewaltsam
zurückgehalten werden. Grund für Unzufriedenheiten sind fehlendes Recht der Bauern, eine fehlende
Normierung der Arbeitsleistungen, Missbrauch der Hauszucht, öffentlicher Verkauf von Leibeigenen und
Ähnliches (Garleff 2001, 54).
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Die Stellung der evangelisch-lutherischen Kirche als Landeskirche wird durch das Kirchengesetz von
1832 aufgehoben.
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Das Rigaer Polytechnikum wird als „einzige technische Ausbildungsstätte Russlands“ (Garleff 2001,
70) 1862 von Rigaer Kaufleuten gegründet und hat neben mehreren Fakultäten eine Handelsabteilung.
In Folge der Industrialisierung werden Maschinenbau, Eisenbau und Chemie besonders gefördert.
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Eine Mitentscheidung wird lettischen Bauern in Livland 1870 eingeräumt (Ebd. 2001, 74).
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2.1. Die Rolle der Jungletten bei der Konstruktion des lettischen
Nationalbewusstseins
Die sozialen und politischen Veränderungen in Lettland in den
Jahren 1850 – 1880 stehen in Wechselwirkung mit den Aktivitäten
einer Generation national gesinnter Intellektueller in den baltischen
Provinzen. Als Synonym für diese Vorgänge steht der Begriff
Nationales Erwachen. Von lettischen Intellektuellen, auch als
Neuletten oder Jungletten (jaunlatvieši) bezeichnet, welche in den
1850er Jahren universitäre Ausbildungen an der Universität Dorpat
(Tartu) auf den Gebieten der Geschichts-, Wirtschaft- und
Naturwissenschaften absolvieren, wird in den 1850er Jahren das
Konzept der Aufstiegsassimilation im Deutschen oder Russischen als
einzige Möglichkeit sozialer Mobilität und höherer Bildung, in Frage
gestellt. Als Gegenentwurf entwickeln sie Konzepte, welche eine auf
der lettischen Sprache und von lettischen Institutionen getragene
Kultur favorisieren. Sie stellen sich damit in Opposition zu der in der
Oberschicht gängigen Meinung, die lettische Sprache sei nicht
„literaturfähig“ (Butenschön 1992, 115). Sie beziehen das ethnisch
linguistische Konzept (Apals 1998, 31) deutscher Philosophen wie J.
G. Herder oder G. Fichte auf die lettische Situation. Ihre Ziele sind
die Propagierung eines lettischen Nationalbewusstseins in der sich
ausdifferenzierenden lettischen Gesellschaft, insbesondere innerhalb
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Auf dem Gebiet der Publizistik wird 1821 eine Zeitung in lettischer
Sprache „Latweeschu Awises“/ „Latviešu avīzes“ („Lettische
Nachrichten“) von Pastor Watson herausgegeben, ohne Beteiligung
von Letten. Auf dem Gebiet des Vereinswesens erfolgt 1824 die
Gründung der Lettisch-literarischen Gesellschaft in Mitau (Jelgava)
durch August von Bielenstein zum Schutz lettischer
Volksüberlieferungen (Garleff 2001, 77). Der Folklore, insbesondere
der Sammlung und Ausgabe von Volksliedern, wenden sich
deutsche Pastoren zu. Die Veröffentlichung von 238 lettischen
Volksliedern ermöglicht im Jahre 1807 der deutsche Pastor der
deutsch-lettischen Gemeinde in Ruien (Rūjiena) Gustav Bergmann,
welcher auch Nachwort und deutsche Übersetzung verfasst, sowie
eine zweite Publikation 1808 mit 249 Liedern. Im gleichen Jahr
erscheint die Sammlung von Friedrich Daniel Wahr mit 412
Liedtexten. Sir Walter Scott veröffentlicht Artikel und Übersetzungen
zur lettischen Volksliedtradition. Seit 1824 erscheinen im „Magazin
der Lettisch=literärischen Gesellschaft“ Aufsätze zur Thematik
lettischer Volkslieder (Scholz 1990, 159). 2854 Lieder publizierte
1844 der Pfarrer Büttner (Carpenter 1980, 20).
Trotz der Initiativen von Deutschbalten, ist das baltendeutsche
Interesse an der kulturellen Entwicklung der lettischen Gesellschaft
gering. Aina Blinkene zu Folge ist Bielenstein, Begründer der
Lettisch-literarischen Gesellschaft, der Meinung, die Entwicklung
lettischer Kultur sei nicht möglich und ein gebildeter Lette sei ein
Unding. Deutsche Pfarrer, in der Position der örtlichen Intelligenz und
als Vermittler von Wissen, vermeiden Bildungsmaßnahmen im
Bereich säkularen und aufgeklärten Wissens und halten den Zugang
zu Literatur, welche außerhalb von Bibel, Liederbuch, und
Katechismus liege für gefährlich (Blinkene 1985, 340ff).
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Das erste überlieferte Buch in lettischer Sprache ist wahrscheinlich der „Catechismus Catholicorum,
von Hl. Peter Kanisius verfasst und 1585 in Vilnius gedruckt. Der Druck von lettischen und lettgallischen
Büchern geht auf die Tätigkeit der Gesellschaft Jesu, seit 1582 in Lettland tätig, zurück. (Trufanovs
2001, 36)
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Es ist Strategie der Jungletten, in ihren Publikationen mit Hilfe historischer Argumente politische
Forderungen und Ansichten zu rechtfertigen (Krupnikow 1999, 133). Historische Belege dienen auch
der Nationalkultur. Das Vorbild für die spätere lettische Nationalflagge wird nach der Livländischen
Reimchronik, in welcher eine im Kampf verwendete Fahne beschrieben wird, entworfen (Schmidt 1999,
119).
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Es nehmen 34 Chöre aus Livland und 11 Chöre aus Kurland teil, das sind zusammen 1003 Sänger,
darunter 212 Frauen. Es werden neben dem vorwiegenden Repertoire aus geistlichen Liedern
sechzehn weltliche vorgetragen, davon fünf Volkslieder und elf Kunstlieder lettischer Komponisten.
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Es gibt auch Versuche anderer Schriftsteller, in den 1890er Jahren Epen zu produzieren. (Kessler
2001, 464f)
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Geschichte fehlt das Ereignis, welches die Nation eint, als zentrales
Motiv, weshalb, so Knoll, die Handlung im 13. Jahrhundert angesetzt
wird. Das Szenario verfehdeter lettischer Stämme soll als
Aufforderung dienen, in der Zukunft Einigung herbeizuführen (Ebd.
2003 [2000], 6).
Eine Verbindung zwischen der tradierten Volkskultur und der
nationalen Kultur läßt sich in der Form des lettischen Theaters
erkennen. Volkstümliche Rituale, selbst auf rituelle Weise über die
Form der lettischen Volkslieder über Generationen tradiert, werden
im 19. Jahrhundert von den lettischen Dramatikern wie J. Alunāns, R.
Blaumanis, Aspazija und J. Rainis und A. Brigadere einbezogen. So
wird die Idee der Nation, dem lettischen Publikum fremd, mittels
Charaktere und Figuren der lettischen Mythologie verständlich
gemacht. Die symbolische Bedeutung der Charaktere und
Dialogformen kann sich so denen erschließen, die mit den Ritualen
und Inhalten der Volkskultur vertraut sind. Auf diese Weise können
soziale und politische Themen chiffriert vermittelt werden
(Straumanis 1971, 131). „Es ist die Sternstunde der lettischen
Literatur: Rūdolfs Blaumanis (1863 – 1908) etabliert in seinen
psychologisch präzisen Novellen Archetypen lettischen
Temperaments; auf Grundlage der inzwischen vorhandenen
Märchensammlungen von Ansis Lerhis-Puškaitis (1859 – 1903)
entwickeln Anna Brigadere (1861 – 1933) und Rainis ihre
Märchendramen und Kārlis Skalbe (1879 – 1945) seine
Kunstmärchen; der Neuromantiker Fricis Barda (1880 – 1919) vereint
in seinen Gedichten Elemente der Romantiker des 19. und der
Symbolisten des 20. Jahrhunderts (…).“ (Knoll 2000 [2003], 5f)
Janis Pliekšāns(1865 – 1929), der unter dem Namen Rainis
veröffentlicht, Chefredakteur der Zeitung der Sozialdemokraten
„Dienas lapa“, gilt als großer Sprachschöpfer (Schmidt 1999, 121),
Modernisierer der lettischen Sprache und Übersetzer. Die Faust-
Übersetzung von 1898 gilt als Beweis für die Literaturfähigkeit der
lettischen Sprache. Rainis verfasst 1914 das „erste Volkslied-Drama“
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spitzen sich 1905 in einer revolutionären Krise zu. Auf dem Land
kommt es zu Demolierungen von 184 Gutshäusern und Vertreibung
oder Tötung der Insassen. In den Städten kommt es hingegen zu
Streikbewegungen; es werden Kongresse abgehalten, in denen die
Frage der regionalen Autonomie innerhalb eines sozialistischen
Russlands, wie es die lettische Sozialdemokratie fordert, diskutiert
wird. Die russische Regierung reagiert mit offiziellen
Zugeständnissen und militärischen Bestrafungsmaßnahmen, was
einen Großteil lettischer Intellektueller ins ausländische Exil zwingt.
Ergebnisse sind die Möglichkeit der lettischen Bevölkerung, ihre
nationalen Belange durch verschiedene Parteien in den Dumen zu
vertreten, Pressefreiheit und größere Eigenständigkeit im Schul- und
Bildungsbereich. (Pistohlkors 1990, 27)
3. Volkskultur
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Herder ruft bereits 1767 nach seiner Lektüre der „Reliques of Ancient English Poetry“ und der
Dichtung James Macphersons, Nachdichtungen schottisch-gälischer überlieferter Motive, zum
Sammeln auf. Auch hier gibt er die Dokumentationsmethode vor: unverändert in der „Ursprache“ mit
Erklärungen und mit „Gesangsweise“ (Braun 1985, 6)
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Die Veröffentlichung erster Volksliedsammlungen 1774 erscheint anonym. Es gibt kritische Stimmen
zur Idee der Sammlung von Seiten der Aufklärer A. Ludwig, G. Sulzer und F. Nicolai. Letzterer
veröffentlicht unter dem Pseudonym G. Wunderlich und D. Seuberlich eine Parodie mit dem Titel „Eyn
feyner kleyner Almanach Vol schönerr echterr lyblicherr Volsljder“ als Antwort auf Herders
Bemühungen. Die spätere Sammlung „Volkslieder“, welche 1778/ 79 erscheint mit 12 lettischen
Liedern, stellt einen methodischen Kompromiss dar und beinhaltet barocke Lyrik sowie Geschichten
von Claudius und Goethe. „Stimmen der Völker in Liedern“ erscheint posthum 1807. (Braun 1985, 6f;
Scholz 1990, 15)
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Die Redewendung „iet tautās“ („unter die Völker gehen“) hat die Bedeutung ‚verheiratet werden’
(Biezais 1970, 67).
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3.2. Dainas
Im Folgenden werden die Form, die Singpraxis, die gesellschaftliche
Funktion, die Themen und literarischen Ausdrucksformen der
Dainas, so wie sie überliefert und aufgeschrieben wurden, im Kontext
der Volkskultur charakterisiert. Darauf folgt ein kurzer Überblick über
die Geschichte und die Genres der lettischen Volkslieder. Dieser soll
veranschaulichen, dass es in der lettischen Volksmusik eine Vielzahl
von Liederformen gibt, aus denen die Dainas für die Repräsentation
der lettischen nationalen Kultur ausgewählt wurden.
Da keine umfangreichen Aufzeichnungen lettischer Volkslieder aus
der Zeit vor dem 19. Jahrhundert vorhanden sind, ist ihre bestehende
Gestalt als Endresultat einer langen Entwicklung zu bewerten
(Scholz 1990, 155). Die wahrscheinlich ältesten Lieder haben sich
als Vierzeiler herausgebildet28 und tragen die Bezeichnung „Dainas“
oder „tautas dziesmas“ („Volkslieder“). Der Begriff „Daina“ ist eine
dem litauischen Wort „dainos“ entlehnte Neuschöpfung durch Henrijs
Vīzendorfs, welche sich durch die Baron’schen Liedersammlung
eingebürgert hat (Scholz 1990, 165) und besitzt Ähnlichkeit mit dem
Verb „daiĦot“ („fröhlich sein, Lieder singen“) (Ebd. 1990, 165). 1894
verwendet Krišjānis Barons, der zusammen mit Vīzendorfs in den
Jahren 1894 bis 1915 acht Bände der lettischen Volkslieder
veröffentlicht, den Begriff für „klasikās tautas dziesmas“ („Klassische
Volkslieder“).
Die Vierzeiler bestehen aus zwei Strophen, die inhaltlich miteinander
in Beziehung stehen, oft verbunden durch das literarische Mittel des
Parallelismus. Ist die erste Strophe zumeist eine aphoristische
Betrachtung oder eine Lebensweisheit, eine Aussage, so bietet die
zweite Strophe dazu einen Vergleich aus Vorgängen in der Natur
oder in dem Lebensumfeld. Sie kann der ersten Aussage antithetisch
gegenüber stehen beziehungsweise deren Motivation liefern. Die
Funktionen der Strophen sind vertauschbar29.
28
Es existieren auch sechs-, acht- und zehnzeilige Lieder. Sie sind, so Scholz, Kontaminierungen aus
mehreren Vierzeilern oder aus deren Bruchteilen (Scholz 1990, 156).
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Nach Erdmane ist die Handlung nach den Regeln des parallelismus membrorum folgendermaßen
strukturiert: Bilder von Naturobjekten sind in der ersten Hälfte des Liedes platziert, in der zweiten Hälfte
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folgt ein Vergleich mit einem Ereignis aus dem menschlichen Leben (Erdmane 2000, 202; Scholz 1990,
434).
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Trochäus: zweisilbig, die erste Silbe ist eine Hebung, die zweite eine Senkung; daktylisch: dreisilbig,
erste Silbe ist eine Hebung, letzten zwei Silben sind Senkungen.
31
„ … eine volle akatelektische (=unverkürzte) Dipodie [Doppelfuß] endet mit einer kurzen Silbe, eine
katalektische (=abgekürzte) mit einer langen Silbe …“ (Dunkele 1984, 64)
32
Viėe-Freiberga erklärt die Dainas als eine Art Momentaufnahme, die Konzentration auf ein Detail wie
ein Gegenstand oder eine Naturbeobachtung, aus ihrem zentrifugalen Charakter, begründet in der
Form der mündlichen Überlieferung. In schriftlich fixierter Literatur ließen sich im Gegensatz dazu viele
Details, eine epische Rahmenhandlung und eine Art Panoramaaufnahme erzeugen. (Viėe-Freiberga
1973, 32f)
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die Regelhaftigkeit des Satzbaus die Auswahl der Worte. Die Worte
würden so gelenkt und die Gedanken konzentriert (Dunkele 1884,
75/ 146). Da die lettischen Dainas eine oral überlieferte Kulturform
darstellen, lässt sich die formale Homogenität und Länge der Lieder
darauf zurückführen, dass die Vorführenden aus ihrem Gedächtnis
repetierten. Die metrische und formale Ähnlichkeit der Lieder erlaubt
den Überlieferern auf der einen Seite, sie einfacher zu speichern und
neue Lieder zu erschaffen. Auf der anderen Seite erleichterte es den
Rezipienten, den Gehalt leichter aufzunehmen. In der
Kommunikation zwischen dem Produzenten, der einen Gedanken
oder eine Erfahrung mit poetischen Mitteln kodiert und dem
Rezipienten, der den Gehalt und Kern des Liedes enkodiert, haben
sich somit diejenigen literarischen Mittel herauskristallisiert, die dafür
kompatibel erscheinen. Betrachtet man die Dainas als die „Seele des
lettischen Volkes“ (Knoll 2003 [2000], 2) oder genauer, als ein Mittel
der Veräußerung von Wissen, das einem bestimmten Kulturkreis
eingegeben ist, so ergibt sich die Erfordernis, für die in den Prozess
Involvierten, den Kode verständlich zu gestalten.33
Die orale Kulturform wurde in der Romantik als Symbol einer
eigenständigen lettischen Kulturform gegenüber der deutsch
geprägten Schriftkultur betrachtet. Es wurde versucht, eine
bestimmte „ursprüngliche“ (Huelmann 1996, 284) Form zu bewahren,
die sich nicht nur gegen die Schriftkultur, sondern auch gegen
andere orale Kulturformen als den Letten eigen abgrenzen konnte.
Zu diesem Zweck wurden die Lieder schriftlich festgehalten, um
diese eigenständige Form zu erhalten, bevor sie sich vor dem
Hintergrund der veränderten bäuerlichen Lebensumstände
umwandeln würden.
33
Daher erfüllen literarische Mittel wie Vergleiche, Parallelismus, Epitheta oder Metaphern, Emphasen
und Miniaturisierungen den Zweck, ein Bild zu kreieren, welches von allen gleich gedeutet werden
kann. Aus diesen Gründen tauchen Bilder oder Motive immer wieder auf oder formen ein
Beziehungssystem (Metuzāle-Kangere 1999, 153). Die Bilder speisen sich aus einem gemeinsamen
Erfahrungshintergrund aller, weshalb oft eine Tätigkeit oder ein konkreter Gegenstand das Bild
bestimmen. Die Dainas können demzufolge als ein kodiertes System von Referenzen (Ebd. 1999, 157;
Viėe-Freiberga 1973, 34). Nach Metuzāle-Kangere ist ein Kennzeichen der Volkspoesie, immer wieder
auf die gleichen Muster und Regeln zurückzugreifen.
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34
Jurjāns hat die lettische Volksmusikforschung begründet und ein Sammelwerk lettischer
Volksliedmelodien „Latviju tautas mūsikas materiāli“ („Materialien zur lettischen Volksmusik; 1894 –
1926) veröffentlicht. Weitere Melodien sind in der Sammlung des Komponisten Emilis Melngailis (1874
– 1954) „Latviju mūsikas folkloras materiāli“ (Materialien zur lettischen Musikfolklore; 1951 – 1953)
erschienen, sowie nach dem Krieg in einem mehrbändigen Werk „Latviešu tautas mūsika“ (Lettische
Volksmusik; 1958 – 1986) von Jēkabs VītoliĦš (1898 – 1977). Spätere Sammlungen sind an private und
öffentliche Dokumentationszentren in Lettland gebunden. (Boiko 1996, 159)
35
Dunkele gibt das Todesjahr mit 1926 an (Dunkele 1984, 98).
36
Der Begriff der rezitativen Lieder stammt vom Verb „teikt“ („sagen“) ab, der der singbaren, vom Verb
„dziedāt“ („singen“).
37
Der Bordun, eine „absolut horizontale Linie auf einem Rezitationston“ (Boiko 1996, 159), ist das
Langziehen des letzten Tones der Vorsängerin bis zum Liedende, meist im unteren Tonraum auf den
Vokalen „a“ oder „e“ oder auf dem Vokal der letzten Silbe.
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38
Victor von Andrejanow (1857 – 1895), Dichter und Schriftsteller schreibt im Vorwort zu „Lettische
Volkslieder und Mythen“ von 1986, Folgendes: „Es [das Lied] hängt unzertrennlich mit Freud’ und Leid,
mit Lieb’ und Haß, mit jeder Art von Arbeit und Hantierung, mit Festen, besonderen Ereignissen, alten
Sitten und Gebräuchen zusammen. (…) Die Hochzeiten, die Kindertaufen, die Beerdigungen (…)
bestanden zum Teil aus einer Reihe höchst merkwürdiger, in urheidnische Zeit zurückweisende
Gebräuche, derer jeder von passenden Liedern begleitet werden mußte. Aber auch die
wochentäglichen Arbeiten und Verrichtungen konnten jederzeit durch entsprechende Lieder verklärt
werden. (…), wenn es überall zu sprießen und zu grünen beginnt, (…) – dann hebt ringsum das Jubeln,
Jauchzen und Jodeln, oder wie es heißt ‚Gawileeschana’ an, - fröhliche, neckische Lieder, von Hirten,
Mädchen, Kindern (…) Sommer, dessen Einleitung die Ligho-Gesänge bilden. Dann folgt die Mahd- und
Erntezeit mit all ihrer Emsigkeit und Mühe, begleitet von den Liedern der Arbeit. Im Spätherbst und
Winter aber, wenn sich der Schwerpunkt aller Tätigkeit in die schützenden vier Wände, ins Haus
verlegt, kommen die Abendunterhaltungen, die ‚Wakareeschana’, an die Reihe.“ (Andrejanow nach
Seehaus 1986, 50/ 51) 38 Bula betont wie Andrejanow den dramatischen Charakter der Volkslieder, da
sie bestimmte Rituale und Feste begleiteten, diese gliederten, organisierten und Handlungen erklärten
(Bula 1999). Im Bereich des persönlichen Lebens sind die „Hauptübergangsrituale“38 (Ebd. 1999) Taufe,
Hochzeit und Beerdigung bedeutsam. Übergangsriten“ sind kennzeichnend für die „alten traditionellen
Praktiken“ von bestimmten Gruppen im Unterschied zu „erfundenen Praktiken“ von
„Pseudogemeinschaften“ (Hobesbawm 1998, 110) Da den Liedern, soweit es von Verrichtung
bäuerlicher Arbeit handelt, oft eine Beschreibung der Tätigkeit, eines Werkzeugs oder Haustiers
eingefügt ist, wird auf diese Weise „das bäuerliche Alltagsleben ästhetisiert“ (Bula 1999). Bula macht
darauf aufmerksam, dass besonders der Beginn oder die Beendigung von wichtigen Arbeiten, „der
erste Tag der Viehweide, Martini, oder das Ende der Erntearbeiten im Herbst“ (Ebd. 1999) Anlässe zum
Singen böten.
63
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39
Für M. Knoll stellen die Dainas eine Akkumulation des „gesamte[n] schöpferische[n] Potential[s] des
Volkes, seine künstlerische, philosophische und mentale Energie (Knoll 2003 [2000], 1f) dar. Für
Seehaus enthalten die Lieder einen „ganze[n] Kodex der Ethik und Ästhetik des Volkes“ (Seehaus
1986, 122). Für Dunkele ist das Volkslied wie ein Sammelbecken für geschichtliche Erlebnisse wie
Christianisierung des Landes, seine Besiedelung durch Deutsche, katholische und protestantische
Einflüsse und die Aufklärungszeit. Die Lieder würden dadurch ständig umgeformt, vermischt und neu
geschöpft. (Dunkele 1984, 52). I. Ziedonis hebt den ethischen Aspekt lettischer Volkslieder heraus: they
„contain essential formulae for building one’s character“ (Ziedonis 2000, 3). Diese Aussagen betonen
den geschichtlichen und ethischen Wert der Dainas als universell. Die These, dass die kulturelle
Identität der Letten in den Dainas wurzele, wird durch diese Aussagen belegt. Gehe ich davon aus,
dass die Dainas für die Konstruktion einer kulturellen Identität instrumentalisiert wurden, arbeiten diese
Autoren dem Konstrukt zu. Der Einfluss der deutschen Kultur lässt sich anhand von Lehnwörtern
nachweisen, es lässt sich auch durch bestimmte Wörter in Liedvarianten mit der gleichen eine
thematische Aussage, nachweisen, dass ein Säkularisierungsprozess in Lettland stattfand (Biesais
1970). Bei Viėe-Freiberga fand ich auch ein Lied mit Bezug zur Pest (Viėe-Freiberga 1973, 42). Insoweit
ist die Aussage Dunkeles nachvollziehbar. Die Aussagen der anderen Autoren sind meiner Meinung
nach Zuschreibungen.
64
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna
40
Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass der Anteil der Arbeitslieder von mir überbewertet wird. „So
ist das Volkslied mit Arbeit und Kultus verflochten, aber auch mit Spiel und Tanz.“ (BērziĦš 1930, 294)
In der Zeit der lettischen SSR erfuhren die Arbeitslieder größere Aufmerksamkeit. In der in den 1980er
Jahren vorbereiteten akademischen Ausgabe lettischer Volkslieder sind die Lieder mit den Themen der
Arbeit „an erste Stelle gerückt“ (Kokare 1985, 509), da sie als eigentümlich erachtet werden: „weil bei
anderen Völkern die Arbeitslieder als eigene Gattung fast gar nicht erhalten geblieben sind“ (Ebd. 1985,
509).
65
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna
41
„arājs, arējs, 1) der Pflüger (…); 2) der Landmann, der Bauer, im Volksliede oft durch zemes [der
Erde; Anmerkung des Autors] näher bestimmt (…); 3) das Dem. arājiĦš dient im Volksliede als
Bezeichnung des Verlobten, des Versorgers (…). arējs ist der Pflüger, der im gegebenen Moment
pflügt, arājs dagegen Landmann, dessen Lebensberuf der Ackerbau ist. arāji und arānieks heissen im
Pabbasch die landeinwärts lebenden Bauern im Gegensatz zu den Fischern.“ (K. Mühlenbachs Lettisch
– deutsches Wörterbuch 1923 – 1925, 140)
42
BērziĦš stellt heraus, das in der Benennung von konkreten und realen Gegenständen der das lyrische
Ich umgebenden Lebenswelt der besondere Zug der Subjektivität deutlich hervortritt. In der
Objektauswahl und der Betrachtung der Objekte spielt eine erfahrungsmäßige Vertrautheit eine Rolle;
die unmittelbare Umgebung findet in den Liedern Rücksicht (BērziĦš 1930, 295). Damit korrespondiert
die häufige Verwendung der Diminutive, welche Vertrautheit und emotionalen Zugewandtheit – Ein in
das Vertrauen des lyrischen Ichs eingebunden Sein - signalisieren als auch Über- und
Unterdimensionierungen. Insekten werden scheinbar in menschlichen Dimensionen betrachtet,
Mühlsteine werden zu kleinen grauen Steinen: „Nāc tu, māsiĦa, / ZirnekĜa meitiĦa / Palīdzi pūriĦu /
Piedarināt.“ „Come, little sister, / Little girl spider, / Help me to fill / My dower–chest.” ; “Pelēkais
akmentiĦ,/ Iesim abi spēlēties./ Gan es tevi iespēlēšu, / Baltu miltu kupenā.” “Come, little grey stone, /
Let us play with each other, / I shall soon play you under / A drift of white flour.” (Viėe-Freiberga 1973,
39f)
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43
Matthias Knoll versucht die Schwierigkeiten, alle semantischen Ebenen in einem Liedtext zu erfassen,
darzustellen anhand des Vierzeilers: „Lēni, lēni DieviĦš brauca / No kalniĦa lejiĦāi, / Netraucēja ievas
ziedu, / Ne arāja kumeliĦu.“ Die wörtliche Übersetzung lautet: „Langsam, langsam fuhr Gottchen/ Vom
Bergchen ins Tälchen,/ Störte nicht die Blüte des Traubenkirschbaums,/ auch des Flügers Rößlein
nicht“ (Knoll 2003 [2000], 3). „Bei dem lettischen Gott DieviĦš – mitunter auch baltais DieviĦš (weißes
Gottchen) genannt – handelt es sich nicht um den allmächtigen Gottvater der Christen Dievs, sondern
um einen oft unter den Menschen weilenden, fast unscheinbaren gutherzigen Alten, zu dessen
Attributen u.a. ein komplettes Einsiedlergehöft gehört. Dennoch fährt er hier nicht mit einem Wagen
o.ä.; vielmehr ist braukt in diesem Fall mit einer Stimmung wie der eines Windhauchs konnotiert, der
durch die Zweige fährt; auch „herniedergleiten“ wäre ein einigermaßen stimmiges Bild. Zwar bedeutet
lēni durchaus langsam, aber auch „sanft, milde, sacht, leicht, weich, ruhig, gemach“ (…).kalniĦš und
lejiĦāi (…) stehen im Diminutiv; dennoch symbolisiert hier das Berglein die seelisch erfaßte kosmisch-
göttliche Himmelswelt, das Tälchen wiederum die trauten irdischen Gefilde. netraucēja, wörtlich störte
nicht, kann hier im Sinne von „ließ unbehelligt“ verstanden werden. Die ieva (Padus avium Mill.), die
zarte, weißblühende Vogel- oder Traubenkirsche, ist ein häufiges, oft besungenes Gewächs in Lettland.
(...) ieva gilt als Symbol für das weibliche Prinzip schlechthin, die Blüte des Gewächses ist Sinnbild für
Anmut und Schönheit der Frau. arājs, der Pflüger, ist kein gemeiner Landarbeiter, sondern in einer
durch die Landwirtschaft geprägten Kultur Symbol für das männliche Prinzip und seine weltgestaltende,
lebensbejahende Schaffenskraft. Sein Attribut ist das von dem tief in bäuerlicher Tradition verwurzelten
Letten innig geliebte und verehrte kumeliĦš (wörtlich Fohlenchen, jedoch Kosewort für ein
ausgewachsenes Pferd), ein Symbol für die dem Menschen bereitwillig dienende Kraft des Naturreichs“
(Ebd. 2003 [2000], 3)
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44
Ausnahmen bilden die Fischereilieder, die eine männliche oder neutrale Sicht des lyrischen Ichs
vermitteln (Huelmann 1996, 287).
69
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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna
45
Ich schließe aus meinen Ausführungen weitere Formen der gebundenen Poesie, die in Lettland
existieren, Märchen, Rätsel, Sprichwörter, Zauberformeln und andere aus.
46
Den Begriff verwendet 1638 Mancelius in seinem Wörterbuch „Lettus“ im Gegensatz zu „Dieva
dziesmas“ („Gotteslieder“) (Dunkele 1990, 27).
71
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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna
1632 stammt das älteste gedruckte Lied von Menius, Professor der
Universität in Tartu. Der Form und dem Typus nach entstammt es
einer mündlichen Überlieferung. Im Jahr 1610 äußert sich der
Chronist Dionysos Fabricius in der „Livonicae historiae compendiosa
series“ zur typischen Form und inhaltlichen Logik der lettischen
Vierzeiler. Die Veröffentlichungen einzelner Lieder erscheinen seit
dem 17. Jahrhundert.
Lettgallische Folklore wird in den Chroniken von Nestor, Novgorod
und in der „Livländischen Reimchronik“ vereinzelt erwähnt.
Sammlungstätigkeiten in den Jahren 1840 – 1880 werden durch
Vertreter der Aufklärung, als auch durch wissenschaftliche
Akademien initiiert. Zu ersteren gehören J. MaciĜevičs, G. Manteifels
und C. Plātere, zu den letzteren die Russische Geographische
Gesellschaft, die Moskauer Gesellschaft der Freunde der
Naturwissenschaften, der Anthropologie und der Ethnographie mit F.
Brīvzemnieks, die Krakower Akademie der Wissenschaften und die
Lettisch=Litärarische Gesellschaft A. Bielensteins. Zudem werden
handgeschriebene Sammlungen angefertigt. Eine nationalistische
Wendung nimmt die Folkloreforschung ab den 1880er Jahren an, als
sich durch höhere Bildung eine Schicht intellektueller Theologen in
Lettgallen ausbildet, zu denen F. Trasuns, J. VišĦevskis, P. SmeĜters
und andere gehören. SmeĜters Sammlungsergebnisse werden in
einem Buch „Tautas dzīsmsu, posoku, meikĜu un parunu voceleite“
veröffentlicht.
47
Wie schon erwähnt, veröffentlichen Pastor G. Bergmann (1749 – 1814) 1807 und 1808 mit der
„Sammlung ächt lettischer Sinngedichte“ und „Zweyte Sammlung lettischer Sinn- und Stehgreifs-
Gedichte“und zur gleichen Zeit Pastor F. D. Wahr (1771 – 1827) mit „Palzmareeschu Dseesmu
Krahjums“ („Eine Sammlung von Liedern der Leute von Palzmar“) lettische Lieder. J. G. Büttner (1779 –
1862), Pastor in Kabile, bringt 1844 eine Sammlung von 2854 Liedern heraus. 1868 publiziert der
Bibliothekar J. Sprogis in Vilnius 1857 lettische Lieder. Die erste Ausgabe von systematisch geordneten
und erforschten Liedern, stammt 1873 von J. Cimze (1814 – 1881) mit dem Titel „Dziesmu rota“
(Carpenter 1980, 20/ 21). A. Bielenstein publiziert 1874/ 75 zu dem Anlass des 50- jährigen Bestehens
der Lettisch=Literärischen Gesellschaft 4793 Lieder in den zugehörigen Periodika, als auch zwei
Aufsätze über das lettische Volkslied. Der Popularisierung lettischer Volkslieder zum Vorteil ist eine
Veröffentlichung des Journalisten A. Arons 1888 mit 2067 mit dem Titel „Muhsu Tautas dseesmas“
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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna
(„Unsere Volkslieder“), veranlasst durch das 3. Liederfest. Näheres zur Sammlungsgeschichte findet
sich auf den Seiten 157 – 168 in Literaturen des Baltikums (1990) von Friedrich Scholz.
48
Barons ist die Erneuerung der lettischen Rechtschreibung auf Grundlage der tschechischen
Orthographie zu verdanken. Er modernisierte die Orthographie aus dem pragmatischen Ansinnen,
seine Sammlung in Moskau drucken zu lassen. Die Moskauer Druckereinen waren aber nicht mit
gothischen Buchstaben ausgestattet. (Infantjevs 1990, 156)
49
Henrijs Vīzendorfs/ Heinrich Wissendorf, eigentlich Indriėis Ėipparts, finanziert aus eigenen Mitteln
den Druck des Ersten Bandes der „Latvju Dainas“. Er betreibt „Studien zur Vorgeschichte, Mythologie
und Ethnographie Lettlands“ (Scholz 1990, 164) und setzt sich als Mitglied der Duma zum Beispiel
gegen das Druckverbot in Lettgallen durch und für
Reformen im Bibliotheks- und Schulwesen.
50
Der Aufsatz ist in russischer Sprache verfasst. Die Übersetzung konnte ich Boriss Infantjevs
entnehmen.
74
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Anordnung aus dem „Wesen der Lieder“ (Ebd. 1985, 508), denn so
seien „Inhalt und Funktion der Lieder im jahrhundertelangen Leben
des Volkes“ (Kokare 1985, 508) widergespiegelt.53 Die thematischen
Bereiche sind in Abteilungen und Unterabteilungen gegliedert.
Letztere reihen sich in Abschnitte auf, deren Lieder nach den
Anfangswörtern alphabetisch geordnet sind. Barons verzeichnet
außerdem präzise die Herkunft der Lieder.
Indem Barons die Lieder in thematischen Gruppen entlang des
Lebenslaufes an ordnet, evoziert er das Bild, das Leben würde
wirklichkeitsgemäß beschrieben. Er suggeriert so, dass das lettische
Leben vollständig dargestellt würde, und attestiert den Liedern eine
universelle Geltung im lettischen Volksleben (Huelmann 1996, 289).
Diese Annahme lässt sich, so Huelmann nicht erhalten, weil das Bild
einer Wirklichkeit erst im Hörer oder Leser angeregt werde. Die
Rezipienten werden eingeladen, die Welt mit den Augen des Autors
wahrzunehmen und es werden Verbindungen zwischen Leser und
Autor hergestellt. Die Bilder sind abhängig von den Assoziationen
und dem Verständnis der Leser und deren Vorstellungskraft. „In a
sense, the song which is based in the poetic world view is not really
about anything, it cannot be said that it discloses the world, nor does
it add up to a statement or doctrine about the world.” (KrēsliĦš 1980,
230)
Nach den heutigen Ansprüchen an Ethnographie, weist die
Baron’sche Sammlung Mängel auf. Diese ergeben sich, so Scholz,
aus Barons romantischer Auffassung im Umgang mit den Liedern. Es
sind programmatische Bearbeitungen der Lieder, um sie zu
standardisieren und ein Bild von der typischen Gestalt der Dainas zu
produzieren. Barons verfährt nach der den damaligen Forschern
gängigen Methode: kraft des eigenen Urteilungsvermögen die
53
„Die Titel der Hauptabteilungen lauten in dem am Ende des 5. Bandes befindlichen Inhaltsverzeichnis
in deutscher Sprache folgendermaßen: I. Lieder und Gesang. II. Des Menschen Lebenslauf, Familie
und Verwandtschaft. III. Die Beschäftigungen des Menschen, Ackerbau und Gewerbe. (Diese Abteilung
umfaßt den größten Teil von Band I und die Bände II, III, 1-3 und weist unzählige Unterabteilungen auf.)
IV. Die gesellschaftliche Ordnung in weiteren Kreisen und die verschiedenen Stände. V. Die
internationale Lage; die Verteidigung des Vaterlandes und des Staates gegen äußere Feinde. VI. Die
Jahresfeste und andere Feiertage. VII. Mythische Lieder. Die Gottheiten des Himmels. Personification
und Vergötterung von Naturgegenständen und Naturerscheinungen. VIII. Abergläubische Gebräuche.
IX. Vermischtes. X. Anstößige, pikante und zotige Lieder, Rätsel, Sprüche und Redensarten.“ (Scholz
1990, 166)
77
Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna
54
Die zotigen Lieder erscheinen erst mit Lockerung der Zensur während des ersten Weltkrieges in
einem separaten Band, versehen mit einem „mittels eines kleinen Schlüssels verschließbaren
Verschluß“ (Scholz 1990, 165)
55
Baron nimmt folgende Grundgestalt an: Eine „Strophe zu vier ungereimten Versen mit je vier
Hebungen und einer Dihärese nach dem Schema: x´x x´x / x´x x´x“ (Kessler 2001, 459)
56
Hinweise auf diese Einteilung erhielt Barons aus russischer (Kirejevsky) und ukrainischer
(Tschubinsky) Volkskunde (Infantjevs 1990, 157)
78
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dazu, die Geschichte einer Nation oder eines Volkes zu belegen. Sie
wurden erschaffen, um von der Tat eines Helden zu berichten,
dessen Stärke und Mut in dieser Form gelobt und weiter getragen
wird. Sie handeln oft von Kriegen und Schlachten und haben, im
Vergleich zum privaten, nach Innen gerichteten poetischen Blick in
der Lyrik einen darstellenden, beschreibenden Blick auf das Außen.
Als Epen im 19. Jahrhundert in großen Teilen Europas geborgen
werden, werden Vermutungen angestellt, diese epischen Dichtungen
seien Fragmente von größeren Erzählungen. Indem Barons nun die
Dainas als eigenständige, lyrische Werke repräsentiert, kann er sie
klar der lettischen Nation und nicht einer anderen Nation, deren
Geschichte die Lieder vervollständigen, zuordnen. Der Beweis der
Eigenständigkeit ist im Kontext der nationalen Legitimation
bedeutsam. Die Eigenständigkeit der Nation demonstriert sich im
kulturellen Substrat der Dainas. Die kurze vierzeilige, prägnant
regelmäßige Form lettischer Dainas, vermag keine andere Nation
aufweisen. Sie sind der vollendete Ausdruck einer eigenen
kulturellen Entwicklung (Ebd. 1990, 157).
Die Eigenarten des lettischen Volksliedes, seine lyrische Form und
seine charakteristische Kürze, lassen sich unter dem Blickwinkel der
Romantik betrachten. Die subjektive Ichbezogenheit der lyrischen
Dichtung wird unter romantischen Parametern einer weiblichen
Sichtweise zugeschrieben. Diese Ansicht korrespondiert mit der weit
verbreiteten Auffassung, dass die Dainas hauptsächlich von Frauen
erdichtet wurden. Sie sind Ausdrücke einer gewissen
Wahrnehmungsweise der Welt, die kein direktes Abbild von der
Realität ergibt, sondern eine gewisse Stimmung vermittelt, die den
Blick des Rezipienten auf die Realität färben soll. Die Frauen
erdichteten nun Dainas, wenn sie ein gesellschaftliches Ereignis
besingen wollten, das ihr Innerstes berührt. Die Gabe der
Empfindsamkeit wird eben als weibliches Charakteristikum
festgelegt. Männern sei es eigen, Sachen und Ereignisse zu
beschreiben, weshalb ihr dichterisches Medium das Epos darstelle.
Männer ziehen in den Krieg und berichten von Heldentaten, Frauen
80
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Im Großteil der sprachwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Literatur, die ich verwendet
habe, findet sich die Vollständigkeitsthese nicht. In der populären Literatur, insbesondere aus dem
Bereich der Tourismusführer, die Anfang der 1990er Jahre erscheinen, wird die These, das
menschliche Leben würde von Beginn bis Ende von den Liedern begleitet oder durch sie geschildert
häufig aufgestellt. (Henning 1995, 37; Marenbach 1997, 251; Bette – Wenngatz 1993, 38; Höh 1992,
352; Klemens 1992, 109)
60
„līst“, was „kriechen“ bedeutet: wenn im Daina „kriechen“ im Zusammenhang mit Betreten des
Hauses verwendet wird, so ließe das darauf schließen, dass die Oberschwelle niedrig und die
Unterschwelle zwei Balken hoch ist, der Eingang also klein. Ein mythischer Grund dafür wäre das
82
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1930, 317) auf die „früheren Lebensumstände“ (Ebd. 1930, 317) der
Letten zu schließen. Dem voraus geht eine Auflistung von Zitaten
aus Otto Böckels „Psychologie der Volksdichtung“, die erwähnen,
wie gern und beharrlich der Lette singt. „Die grosse Menge der
lettischen Volkslieder mit ihren fast unzählbaren Varianten besingt
den ganzen Lebenslauf des Menschen von der Geburt bis zum
Grabe und schildert alte Sitten, Gebräuche und Lebensverhältnisse,
die längst entschwunden sind (…).“ (Ebd. 1930, 321) Sie seien in der
wissenschaftlichen Forschung vernachlässigt worden, „weil man ja
historische Erinnerungen hauptsächlich nur in epischen Liedern zu
finden glaubt“ (Ebd. 1930, 321).
Die nationale Geschichte, welche in der epischen Dichtung Zeugnis
ablegt, wird so verlagert in das Gesamtwerk der Volkslieder. In einer
1985 in der DDR verlegten Ausgabe übersetzter lettischer
Volkslieder regt der „Volksdichter der SSR“ (Seehaus 1985, 122)
Peters an, die Dainas als ein Epos zu betrachten. „Ordnet man
nämlich diesen reichen Liederschatz nach dem Ablauf des
menschlichen Lebens an, so verwandelt er sich in eine Erzählung
über den Menschen aus jenen fernen Tagen, als die Dainas
entstanden.“ (Peters in Seehaus 1985, 122f)
Indem Šmits die, in den Dainas erscheinenden Gegenstände
auflistet, soll nicht nur der Beweis, dass die Dainas das Leben
beschrieben, sondern auch der Beleg ihres historischen Datums
erbracht werden. Barons geht davon aus, dass die Dainas in
vorgeschichtlichen, also mythischen Zeiten entstanden sind. Er
vertritt die These, dass manche Dainas einem lettischen Urvolk
entstammen würden, wie ebenfalls deutsche Gelehrte wie J.
Lauterbach oder A. Bielenstein anhand der mythischen Inhalte der
Dainas belegten (Schmidt 1930, 313). Das entspricht noch den
Paradigmen der nationalen Romantik. Je älter das kulturelle Objekt
ist, desto stärker sei die Geschichtlichkeit der Nation nachgewiesen
worden. Die Auffassung von der mythischen Zeit, in der die Dainas
Abwehren von bösen Geistern, die von Wuchs klein waren und Probleme beim Übertreten der Schwelle
hätten und das Beschützen der Schicksalsgöttin Laima, welche sich gewöhnlich hinter der Schwelle
aufhielt (Schmidt 1930, 320)
83
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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna
4. Fazit
4.1. Die nationalen Funktionen der Dainas
Es ist ein Kennzeichen der Volkskultur, auf äußere Faktoren zu
reagieren oder sich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Mit
der Industrialisierung und Verbürgerlichung der Gesellschaft, mit
ihrer Bildung und Nationalisierung verändert sich deren Charakter in
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der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts61. Die Lieder treten aus ihrer
Funktionsgebundenheit heraus und nehmen eine unterhaltende und
integrierende Funktion als Gesellschaftslieder in einer urbanisierten
Gesellschaft ein (Dunkele 1984, 145). Mit der Verbürgerlichung der
Volkslieder entstehen neue Genres. Diese Wandlung ist bedingt
durch die Popularisierung anderer Liedtypen, wie ziĦăes oder
Kunstlieder und dem wechselseitigen Einfluss zwischen den neuen
Typen und den bisherigen Volksliedtypen. Es ist anzunehmen, dass
mit der Ausformung und Differenzierung der populären Musik in
Lettland ab dem 19. Jahrhundert die heute als typisch erachtete
Grundgestalt der lettischen Dainas ein Ergebnis dieser
Spezialisierung darstellt. Die Standardisierung der Dainas wird
gefördert durch die Selektion und Systematisierung, die Sammler
und Herausgeber von Volksliedern vornehmen. Sie übertragen dabei
bestimmte romantisch geprägte ästhetische Vorstellungen auf die
Volkslieder. Die Beliebtheit bestimmter Lieder wird durch
Liedausgaben, durch Bearbeitungen für Chor und durch
Aufführungen bei Liederfesten unterstützt.
Die Volkslieder nehmen eine Ideen stiftende Funktion an, indem sie
in neuen Kulturformen reproduziert werden. Liedmotive werden
eingebettet, Kunstliederkomponisten und Dichter bedienen sich der
einfachen Mittel der Volkslieder, um sie den Volksliedern
anzugleichen, oder, wie es Herder intendierte, als „Korrektiv für die
Sprache und Formgebung der schönen Literatur“ (Kessler 2001,
443).
Die Funktion der Dainas für die bäuerliche Kultur wird mit der
Modernisierung der lettischen Gesellschaft zu einem großen Teil
obsolet. Folklore wird als Nationalkultur entdeckt und schriftlich
fixiert. Damit wird die Funktion der Wissenstradierung aufgehoben,
61
Ich gehe davon aus, dass diese Prozesse des Wandels nicht auf allen Ebenen und in allen Regionen
Lettlands mit derselben Dynamik verlaufen. Das Wirkungsgebiet der Städte ist größer als ihr territorialer
Umfang, Wandel ist abhängig vom Zugang zu Information und Kommunikation, davon, wie sehr das
Gebiet in die Infrastruktur des Landes eingebunden ist, die Mobilität der Ideen ist abhängig von der
Mobilität der Ideenträger und -verbreiter. Es ist von Bedeutung, wie tief die bisherigen Erfahrungen von
Wandel und Stabilität in der Wahrnehmung der Menschen wurzeln, welche persönlichen Auswirkungen
mit ihm zusammenhängen. Erhöht der Wandel den Wohlstand, so ist es wahrscheinlicher, dass er
mitgetragen wird, verringert er jenen, so kann es schnell in Konservativismus umschlagen.
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Das Lied I wanna wird von der Sängerin Maria Naumova, die unter
dem Künstlernamen Marie N. auftritt, dargeboten. Das Moment der
Darbietung scheint Ausschlag gebend für ihren Sieg. Die 30-jährige
Sängerin gehört der russischsprachigen ethnischen Minderheit in
Lettland an und konnte bisher erfolgreich mehrere Tonträger - der
letzte enthält Interpretationen französischer Chansons -
veröffentlichen. Das Lied ist in einem tanzbaren
lateinamerikanischen Rhythmus verfasst. Naumova wird von
mehreren Tänzern begleitet und verwandelt so zu sagen während
ihres Auftritts ihre Identität. Sie trägt zu Beginn des Liedes einen
weißen Anzug und Hut, am Ende steht sie mit einem roten
Abendkleid auf der Bühne. Die Verwandlung erscheint sehr flüssig
und tänzelnd.
Die Ausbildung eines europäischen Bewusstseins über die
Funktionen der Europäischen Union als wirtschaftlicher und
politischer Verbund hinaus, vollzieht sich in erfundenen Traditionen
wie dem Europatag oder dem Eurovision Song Contest. Durch sie
können dem Bündnis emotionale Werte eingeschrieben werden. Die
Einigkeit der europäischen Nationen, die formal durch die
wirtschaftliche, politische und institutionelle Homogenisierung
produziert wird, kann durch das Moment des friedlichen Wettbewerbs
im Singen repräsentiert werden. Es präsentiert sich zudem die
kulturelle Vielfalt der europäischen Mitgliedsstaaten. Lettland erzeugt
durch seinen Auftritt 2002 nicht das Bild der, an die Volkskultur
gebundenen, nordischen, ländlichen Gemeinschaft. Durch die
Insignien des Pop vermittelt es Weltläufigkeit, Internationalität und
Offenheit für den Wandel.
Für die derzeitige Kommunikation Lettlands kurz vor dem Eintritt in
die Europäische Union stellt das nationalisierte Volkslied kein
Problem dar. Es befindet sich mitten in der Synthese aus dem
Lokalkolorit der kulturellen nationalen Identität und der globalen
Färbung des Pop, mit dem sich die ganze Welt identifizieren kann.
Das Bild der geschlossenen bäuerlichen Kultur in der Gestalt des
Liedes und der Singenden, das die Einheit und natürliche
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Literatur
Wissenschaftliche Literatur
G. Apals (1998): Einwirkung der Neuletten auf die Herausbildung der
lettischen Nation in 50er – 60er Jahren des 19. Jahrhunderts
(Zusammenfassung), in: Latvijas Arhīvi, 2/ 1998, Riga
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Populäre Literatur
P. Höh, R. Höh (1992): Baltikum Handbuch, Bielefeld
Weitere Quellen
D. Bula (1999-2001): Das lettische Volkslied, in:
http://www.latinst.lv/ger/volkslieder.htm (Stand: 23.09.03)
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