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PAPERS

ASSOCIAZIONE DELLE TALPE


ROSA-LUXEMBURG–STIFTUNG BREMEN (HRSG.)

STAATSFRAGEN
EINFÜHRUNGEN
IN DIE MATERIALISTISCHE
STAATSKRITIK
ROSA LUXEMBURG STIFTUNG
associazione delle talpe / Rosa Luxemburg Initiative Bremen (Hrsg.):

Staatsfragen
Einführungen in die materialistische Staatskritik
Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Associazione delle talpe:
Vorwort ........................................................................................................................................................... 2
Moritz Zeiler:
Staatsfragen. Die materialistische Staatskritik zwischen
der Renaissance klassischer �eorien und aktuellen Herausforderungen ............................................3

Materialistische �eorien über den Staat


Ingo Stützle:
Staatstheorien oder „BeckenrandschwimmerInnnen aller Länder, vereinigt euch!“ ....................... 10
Michael Heinrich:
Grenzen des ‚idealen Durchschnitts’.
Zum Verhältnis von Ökonomiekritik und Staatsanalyse bei Marx ..................................................... 18
Ingo Elbe:
(K)ein Staat zu machen?
Die sowjetische Rechts- und Staatsdebatte auf dem Weg zum adjektivischen Sozialismus ............ 24
John Kannankulam:
Zur westdeutschen Staatsableitungsdebatte der siebziger Jahre.
Hintergründe, Positionen, Kritiken. ......................................................................................................... 42
Ingo Stützle:
Von Stellungs- und Bewegungskriegen – Kämpfe in und um den Staat ............................................ 58
Birgit Sauer:
Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle Debatten ....................................................................... 66

Historische Transformationen des Staates


Heide Gerstenberger:
Der bürgerliche Staat.
Zehn �esen zur historischen Konstitution ............................................................................................ 79
John Kannankulam:
Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus ............................................................................................... 86
Heide Gerstenberger:
Staatsgewalt im globalen Kapitalismus ..................................................................................................... 93

Literaturempfehlungen .............................................................................................................................. 101


Associazione delle talpe

Vorwort

Hier gilt es, die Utopie, die viel geschmähte von der Assoziation der fern der befreiten Gesellscha� überwintern zu können und die
Freien und Gleichen aus der Verbotszone zu be�eien, in die interes- Waffen der Kritik für kün�ige Auseinandersetzungen scharf zu
sierte Ideologen der Ideenlosigkeit, die Vertreter der zweckrationalen halten. Dies ist umso wichtiger, da spontane Proteste alleine noch
Vernun�losigkeit sie gedrängt haben. Die Maulwurfsarbeit wird un- nie die gesellscha�lichen Verhältnisse emanzipatorisch verändert
tergründig und mühsam bleiben. (Johannes Agnoli 2000) haben und Geschichtslosigkeit, antiintellektuelle Ressentiments
und �eoriefeindlichkeit linke und linksradikale Bewegungen lei-
der immer wieder frühere (und vermeidbare) Fehler haben wieder-
Die kapitalistischen Verhältnisse und ihre staatliche Vermittlung holen lassen. Unter diesen Bedingungen ist die Perspektive einer
fordern nach wie vor eine emanzipatorische Kritik heraus – und staaten- und klassenlosen Gesellscha� eine schöne, aber auch ferne
das nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen Krise, sondern und ungewisse, also ist es für deren Freund_innen unerlässlich, sich
auch in Zeiten vermeintlicher kapitalistischer Normalität. Schließ- bis zu deren Au�ebung ein profundes Wissen der au�ebungswür-
lich sind die Krise wie auch die Prosperität und nicht zuletzt der digen Verhältnisse anzueignen. Hierzu kann die materialistische
Staat integrale Bestandteile kapitalistischer Totalität, so dass – ent- Staatskritik einen wichtigen Beitrag leisten.
gegen der gängigen (Lehr-)Meinungen, wie sie durch die Sozial- Die Beiträge in diesem Sammelband dokumentieren mehrere
wissenscha�en, die Wirtscha�swissenscha�en und den gesunden Diskussionsveranstaltungen, die wir in Kooperation mit der Rosa
Menschenverstand vertreten sind – die permanente Akkumulati- Luxemburg Initiative Bremen (RLI) zu Fragen materialistischer
on von Kapital und nicht der allgemeine Wohlstand als eigentliche Staatskritik in den Jahren 2007 bis 2009 organisiert haben. Er-
Triebkra� der kapitalistischen Weltgesellscha� identi�ziert wer- gänzt sind diese um einige weitere einführende Texte. Wir möch-
den kann. Mit einer emanzipatorischen Überwindung des Kapi- ten uns herzlich bei allen Autor_innen, der Redaktion der Zeit-
talismus würden auch der „Staat des Kapitals“ und seine Grenzen, schri� grundrisse, Günter �ien vom Damp�oot Verlag, Sabine
Kontrollen etc. obsolet werden. Die Idee einer staaten- und klassen- Berghahn vom Internetportal http://www.gender-politik-online.de
losen Gesellscha� hat daher nichts an ihrem Reiz verloren. Aber so der FU Berlin und Marion Schütrumpf von der Rosa Luxemburg
attraktiv ein postkapitalistischer „Verein freier Menschen“ (MEW Sti�ung für die angenehme und unkomplizierte Kooperation und
23, S. 92) ist, so fern ist seine Realisierung bei dem bescheidenen die Erlaubnis zum Nachdruck der bereits erschienenen Texte be-
gesellscha�lichen Ein�uss einer kapitalismus- und staatskritischen danken.
Linken momentan. Weder ein radikaler Reformismus, der den
Staat strategisch für emanzipatorische Veränderungen nutzen will, Literatur
noch dem Staat gegenüber distanzierte autonome Bewegungen ha-
ben über kurze historische Phasen hinaus größere Erfolge gefeiert. �eodor W. Adorno (1998): Minima Moralia. Re�exionen aus
Diese Erfahrungen gilt es für eine aktuelle staatskritische Praxis dem beschädigten Leben, Gesammelte Schri�en Bd. 4, Frankfurt
zu re�ektieren, um nicht frühere Fehler zu wiederholen und Illu- am Main.
sionen beizubehalten. Dabei bedarf es auch bei der profundesten Johannes Agnoli (2000): Die Transformation der Linken. Der
Analyse, der pointiertesten Kritik und der brillantesten Polemik lange Marsch von der Kritik des Politischen zum Glauben an den
an Geduld und Ironie, um Staat. Ein Versuch über dritte Wege, den Weltmarkt und die Aktu-
alität der Utopie, in: Die Zeit, 17. Februar 2000,
„weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohn- http://www.zeit.de/2000/08/200008.t-agnoli_.xml
macht sich dumm machen zu lassen.“ (Adorno 1998, S. 63). Karl Marx/Friedrich Engels (1990): Die deutsche Ideologie, MEW
3, Berlin.
Um ein weiteres beliebtes Zitat erneut zu strapazieren: Karl Marx (1972): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie.
Band 1, MEW 23, Berlin.
„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt
werden soll, ein Ideal, wonach sich die Wirklichkeit zu richten ha-
ben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung,
welche den jetzigen Zustand au�ebt.“ (MEW 3, S. 35)

Eine solche nach der Au�ebung des jetzigen Zustands strebende


staatskritische Bewegung sollte also nicht auf emanzipatorische
Veränderungen von staatlichen Institutionen zählen, sondern
realisieren, dass diese ausschließlich durch Selbstorganisation und
Selbstverwaltung erkämp� werden können. Die kollektive An-
eignung, Diskussion und Weiterentwicklung (staats-)kritischen
Wissens ist daher gewissermaßen Maulwurfsarbeit, um in Zeiten
2
Moritz Zeiler

Staatsfragen
Die materialistische Staatkritik zwischen der Renaissance
klassischer �eorien und aktuellen Herausforderungen

„Die Welt durch den Staat zu verändern: Dieses Paradigma �nden, sind gezwungen, sich dorthin aufzumachen, wo sie sich
hat das revolutionäre Denken seit mehr als einem Jahrhundert noch eine Chance erhoffen, ihre Arbeitskra� pro�tabel verkau-
dominiert. (...) Mehr als hundert Jahre lang wurde die revolu- fen zu können. Ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa
tionäre Begeisterung junger Menschen dahin gelenkt, eine Par- oder Nordamerika stehen meist fehlende Arbeitserlaubnisse und
tei zu gründen oder zu lernen mit Waffen umzugehen. Über Reisevisa sowie militärisch abgesicherte staatliche Grenzen im
hundert Jahre wurden die Träume derer, die eine menschliche Weg. Auch die Parteien und Bewegungen der Linken in all ihren
Welt wollten, bürokratisiert und militarisiert, all dies nur diversen Facetten agieren mit ihren Praktiken im Kontext des Staa-
zur Übernahme der Staatsmacht durch eine Regierung, die tes. Einerseits kritisieren sie dessen Ausschlussmechanismen1 und
anschließend des „Verrats“ an der Bewegung, die sie dahin ge- fordern Rechte, Repräsentation und Teilhabe an materiellen und
bracht hatte, bezichtigt werden konnte.“ (Holloway 2002, S. immateriellen Ressourcen wie Bildung 2. Andererseits ist linke und
21-23) linksradikale Praxis immer auch mit einem breiten Repertoire an
staatlichen Reaktionen konfrontiert, das beginnend von Befrie-
I. Die Staatsfrage stellen oder den Staat in Frage stellen? dung über die Integration ins parlamentarische Spektakel mittels
Parteien und Vereinen bis hin zu Repression und Verbot reicht.
Dem Staat begegnen wir in den unterschiedlichsten Gestalten: in Das etatistische Paradigma vom Staat als Terrain von Kämpfen
Rathäusern und Ministerien, in Schulen und Ämtern, aber auch und Adressat von Appellen teilen implizit wie explizit die meisten
in Form von überwiesenen Renten oder Bußgeldern, National�ag- Strömungen der Linken. Aber auch autonome Bewegungen, die
gen und Hymnen, Militärparaden und Passkontrollen. In den ka- weder den Staat reformieren noch übernehmen möchten und auch
pitalistischen Zentren gewähren Staaten ihren Staatsbürger_innen keine Forderungen an seine Institutionen stellen, sind dennoch mit
(noch) Renten und Versicherungen, damit auch all jene, an deren dem Staat konfrontiert: beispielsweise durch die Übernahme einer
Arbeitskra� kein Interesse besteht, zwar zuwenig für ein anstän- antifaschistischen Kritik an neonazistischen Strukturen durch die
diges Leben, aber auch zuviel zum sterben haben und nicht auf die rotgrüne Regierungskoalition und ihrem proklamierten „Aufstand
Idee kommen, gegen die kapitalistischen Verhältnisse zu rebellie- der Anständigen“ oder durch die Reglementierung und Repression
ren. Auch in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems ist gegenüber autonomer Praxis wie Demonstrationen oder Besetzun-
der Staat von Bedeutung: er hat zwar mangels bedeutender Steu- gen durch staatliche Behörden und Polizei. Die Interpretationen
ereinnahmen weniger zu verteilen als in den hochindustrialisierten des Staates variieren in der Linken von Idealisierung bis Dämoni-
Zentren, dafür bietet aber die staatliche Bürokratie die Chance auf sierung, die Perspektiven linker Praxis reichen von der Übernahme
Anstellung und Einkommen, welches sich bei Gelegenheit durch des Staates bis zu seiner Abschaffung.
Korruption, Beteiligung an Schmuggel von Bodenschätzen, Dro- Historisch waren in den staatskritischen Diskussionen vor allem
gen und Waffen noch au�essern lässt. Diejenigen, die keine Arbeit drei Tendenzen bedeutend, die auch heute noch Alltagsbewusst-
auf dem einheimischen Markt oder bei den staatlichen Behörden sein und -jargon der Linken prägen3:

1 Ein Beispiel für strukturellen Ausschluss ist das restriktive deutsche scha�licher Verhältnisse? / Kapitalismus und kapitalistische Staaten bzw.
Staatsbürger_innenrecht, welches Menschen aufgrund ihrer Herkun� die historische Transformation kapitalistischer Geopolitik. Die ersten
und fehlenden Papieren staatliche Leistungen wie Renten und Versiche- drei Stränge korrespondieren mit den hier vorgestellten Tendenzen mate-
rungen oder den Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen verwehrt rialistischer Staatskritik, die sich in unterschiedlicher Intensität im linken
und nur wenigen Migrant_innen Pässe gewährt - und das auch nur nach Alltagsbewusstsein und –jargon niederschlagen. Auch die in den 1970er
langen Fristen und einem strengen Einbürgerungsverfahren. Jahren vor allem in akademischen Kreisen geführte Ableitungsdebatte
2 Bereits amerikanische Revolutionär_innen formulierten im 18. Jahr- hat ein Echo in linksradikalen Gruppen und Bewegungen gefunden, wie
hundert die Forderung „no taxation without representation“. Konkrete beispielsweise aktuell die Broschüre des ...ums Ganze! Bündnisses „Staat,
Beispiele für den etatisitschen Charakter vieler sozialer Bewegungen wä- Weltmarkt und die Herrscha� der falschen Freiheit“ (...ums Ganze! 2009)
ren die antirassistische Forderung nach gleichen Rechten von Migrant_in- illustriert. Die wichtigen Impulse der �eorieproduktion zur historischen
nen oder die Kampagnen für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Bei- Dynamik kapitalistischer Geopolitik haben eine solche Resonanz in ka-
de Forderungen setzen den Staat als allgemeinen Souverän voraus, welcher pitalismuskritischen Bewegungen hingegen leider kaum erfahren. Diese
Rechte bzw. materielle Zuwendungen für seine Bürger_innen garantiert. kritischen Anregungen für materialistische Staatskritik werden in diesem
3 Nach Gerstenberger (2007) existieren „in der Geschichte kapitalismus- Aufsatz nicht weiter diskutiert, einige ihre zentralen �esen werden aber
kritischer �eorieproduktion vier große Stränge der Auseinandersetzung in den Beiträgen von Heide Gerstenberger in diesem Sammelband vorge-
mit dem Staat.“ (Gerstenberger 2007, S. 173). Im einzelnen drehen sich stellt.
diese Stränge um folgende Fragen: Staat im ...? / Kapitalistischer Staat als
bürgerlicher Staat? / Vom „bürgerlichen Staat“ zur „Verdichtung“ gesell-

3
Der Staat - ein Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrückten Rechtsform und die Staatsform aus der Warenform abzuleiten.
Klasse (Lenin) Ebenso wie Marx mit seiner Kritik der politischen Ökonomie keine
alternative Interpretation zu bisherigen liberalen �eorien formu-
Als erste Variante ist ein instrumenteller Staatsbegriff zu nennen, liert, sondern die zentralen Kategorien wie Ware, Wert, Arbeit und
der den Staat als Werkzeug der Herrschenden versteht, die damit Kapital analysieren und kritisieren will, so entwir� Paschukanis
ihre partikularen Interessen durchsetzen. 4 Während revolutionä- keine De�nition eines alternativen, sozialistischen Rechts gegenü-
re Bewegungen sich dieses Herrscha�sinstrument durch eine mili- ber bürgerlichen Rechtstheorien. In Kontrast zu den klassenreduk-
tante Konfrontation mit dem Staat und seinen Apparaten mit der tionistischen Staatstheorien von Engels und Lenin sucht Paschu-
Perspektive seiner militärischen Eroberung nach dem Vorbild der kanis eine Antwort auf die Frage nach der abstrakten, subjektlosen
Russischen Revolution aneignen wollen, um es anschließend durch Herrscha� des bürgerlichen Staates:
die Ersetzung des Herrscha�spersonals emanzipatorisch zu nutzen,
favorisiert die Sozialdemokratie eine reformistische Veränderung „... warum bleibt die Klassenherrscha� nicht das, was sie ist, das
der gesellscha�lichen Verhältnisse durch ihre Akzeptanz und Be- heißt die faktische Unterwerfung eines Teils der Bevölkerung unter
teiligung in staatlichen Institutionen und parlamentarischen Ver- die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen
mittlungslogiken wie der Teilnahme an Wahlen. Die populärste Herrscha� an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat
Variante des instrumentellen Staatsbegriffs vertritt wohl Lenin in des staatlichen Zwangs nicht als privater Apparat der herrschenden
seiner Schri� Staat und Revolution, in der er den Staat als „Werk- Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und
zeug der herrschenden Klasse“ zur Manipulation und Repression nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellscha� losge-
der beherrschten Klassen de�niert. Die personalisierte Interpre- lösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ (Paschukanis 2003, S.
tation von der Herrscha� einer kleinen bürgerlichen Klasse über 139)
die proletarischen Massen mittels Zwang und Manipulation hat
im zaristischen Russland eine gewisse historische Plausibilität, was Nach Paschukanis transformiert die gesellscha�liche Vermittlung
beispielsweise Korruption oder eine direkte staatliche Interventi- über das Kapitalverhältnis die bisherigen personalen Abhängig-
on im Sinne verschiedener Kapitalfraktionen angeht. Eine Analyse keitsverhältnisse des Feudalismus in unpersönliche, strukturelle
des bürgerlichen Staates „in seinem idealen Durchschnitt“ entspre- Zwangsverhältnisse. Die doppelte Freiheit der Menschen – frei
chend zu der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie „in ih- von persönlichen Abhängigkeiten und Zwängen, aber auch frei von
rem idealen Durchschnitt“ liefert die Leninsche Staatstheorie aber Grund und Boden – zwingt sie dazu, ihre Reproduktion statt wie
weniger. bislang durch Subsistenz nun durch den Verkauf ihrer Arbeitskra�
zu sichern. Indem sich die Menschen durch den Austausch von Wa-
„Mit der „instrumentellen“ Staatsauffassung ist ein grundsätzliches ren aufeinander beziehen, bedarf es ihrer gegenseitigen Anerken-
Problem verbunden: Sie unterschlägt die qualitative Differenz von nung als freie und gleiche Warenproduzent_innen und Privateigen-
vorbürgerlichen und bürgerlichen Gesellscha�sverhältnissen und tümer_innen. Das Recht garantiert den einzelnen Individuen ihre
betont allein die Spaltung der Gesellscha� in verschiedene Klassen. gegenseitige Anerkennung als Privateigentümer_innen und den
Worauf es aber für eine Analyse des Staates ankommt, ist die spezi- Schutz ihres Eigentums. Diese formelle rechtliche Gleichheit im-
�sche Form, in der sich diese Klassen aufeinander beziehen und ihr pliziert aber zugleich die Anerkennung materieller Ungleichheit in
Klassenverhältnis reproduzieren.“ (Heinrich 2004, S. 197) der kapitalistischen Klassengesellscha�. Als allgemeiner Souverän
garantiert der Staat mittels seines Gewaltmonopols das Recht sei-
Warenform und Rechtsform (Paschukanis) ner Staatsbürger_innen ebenso wie das Eigentum an Produktions-
mitteln. In seiner Funktion als „Staat des Kapitals“ (Agnoli 1995)
Die Formanalyse des Staates als eine weitere bedeutende Tendenz dient er der Garantie der Reproduktion kapitalistischer Verhält-
materialistischer Staatskritik hingegen untersucht eben genau die nisse im allgemeinen (was in konkreten Fällen auch den Interessen
spezi�sche Form von Herrscha� in kapitalistischen Gesellscha�en. einzelner Kapitalist_innen und Kapitalfraktionen widersprechen
Ausgehend von seiner Lektüre der Marxschen Kritik der politi- kann) und ist kein bloßes Instrument weniger mächtiger Mono-
schen Ökonomie versucht der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen polherrn. In den 1970er Jahren erfahren diese rechtstheoretischen
Paschukanis in den 1920ern die historischen Spezi�ka von Recht Überlegungen von Paschukanis in der westdeutschen Staatsablei-
und Staat zu analysieren. tungsdebatte als Teil einer neuen Marx-Lektüre ein comeback.

„Ähnlich wie der Reichtum der kapitalistischen Gesellscha� die Der Staat als materielle Verdichtung gesellscha�licher
Form einer ungeheuren Anhäufung von Waren annimmt, stellt Verhältnisse (Poulantzas)
sich die ganze Gesellscha� als eine unendliche Kette von Rechts-
verhältnissen dar.“ (Paschukanis 2003, S.84) Die dritte relevante staatskritische Tendenz markieren die Hege-
monietheorien des Staates, die vor allem auf Überlegungen von
Ausgehend von dieser Analogie versucht Paschukanis nun die italienischen Marxisten und Mitbegründers der Kommunistischen

4 Vgl. dazu Gerstenberger 2007, S. 173: „Rückblickend können wir die ches Wahlrecht für Männer, völliger Ausschluss von Frauen aus dem „body
theoretischen Mängel einer derartigen Konzeption konstatieren, im Er- politic“, Klassenjustiz, Kriminalisierung von Armen, Verbot von Gewerk-
fahrungshorizont der frühen Arbeiterbewegung musste sie als eine den scha�en sowie Einsatz von Militär und Stra�ustiz gegen Streikende, dies
realen Verhältnissen angemessene �eorie erscheinen. Denn auch nach alles machte deutlich, wer das Sagen hatte und über die Machtmittel ver-
dem Ende des Ancien Régime trat „Staat“ Arbeitern und Arbeiterinnen, fügte, die bestehende Vorherrscha� abzusichern.“
Gesellen, Mägden und Knechten als „Staat der Bürger“ entgegen. Unglei-

4
Partei Italiens, Antonio Gramsci, und später des griechisch-fran- nis und der Staatsableitungsdebatte �nden sich vor allem im Rah-
zösischen Marxisten Nicos Poulantzas basieren. Unter Hegemo- men einer Aneignung und Rekonstruktion der Marxschen Kritik
nie versteht Gramsci die Fähigkeit der herrschenden Klassen, ihre der politischen Ökonomie durch die Neue Marx-Lektüre 6. Dabei
Herrscha� gegenüber den beherrschten subalternen Klassen zu liegt der Fokus auf der abstrakten Analyse der Form des Staates und
legitimieren. Die Durchsetzung und Universalisierung der Inter- weniger auf seinen Transformationen und aktuellen Formationen,
essen der herrschenden Klassen durch einen „aktiven Konsens der die mit den Begriffen Postfordismus, Neoliberalismus und Globa-
Regierten“ (Gramsci, zitiert nach Stützle 2004, S.7) benötigt ne- lisierung beschrieben werden. Interventionen in soziale Kämpfe
ben repressiven Elementen immer auch konkreter materieller Zu- und Bewegungen werden in der Tradition des Pessimismus der
geständnisse. Der entwickelte bürgerliche Staat de�niert sich so für Kritischen �eorie hingegen eher selten thematisiert oder skeptisch
Gramsci als „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Nicos Poulantzas beurteilt. Während die Diskussionen um eine neue Marx-Lektüre
grei� diese hegemonietheoretischen Überlegungen auf und entwi- und damit verbunden auch die Auseinandersetzung um die Form
ckelt sie in seinem Werk Staatstheorie zu der �ese weiter von der des Staates und seiner Transformationen meist im akademischen
„materiellen Verdichtung eines Krä�everhältnisses zwischen Klas- Kontext verbleiben und Praxis dabei eher im Sinne von Kritik,
sen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezi�scher Au�lärung und Diskussion verstanden wird, so resultiert aus dem
Form ausdrückt.““ (Poulantzas 2002, S. 159). Aktionismus sozialer Bewegungen o�mals ein geringes Interesse
an Geschichte und �eorie. An einer ausformulierten Staatstheo-
II. Aktuelle Herausforderungen materialistischer Staatskritik rie fehlt es den meisten sozialen Bewegungen, neben Fragmenten
von Staatstheorie zeigt sich aber implizit in ihrer Praxis und ihren
„Der Staat ist ein Palast, in den man hineintritt, der aber kei- Proklamationen ihr Verständnis von Staatlichkeit.
nen Hinterausgang hat. Man kann in diesem Palast höchstens Vor allem nach den islamistischen Anschlägen des 11. September
nach oben kommen. Man kann sich in die Institutionen hin- und dem darauf folgenden „war on terror“ der Vereinigten Staaten
einbegeben, aber dann bleibt man drin. Viele fühlen sich da- und ihrer Alliierten erfahren antiimperialistische Argumentati-
bei glücklich. Das ist die Faszination der gesellscha�lichen, der onsmuster in der Antikriegsbewegung und in der globalisierungs-
bürgerlichen Machtverhältnisse. Eine Faszination allerdings, kritischen Bewegung der Bewegungen ein Revival 7. Einerseits
unter der wir im Grunde alle leiden.“ (Agnoli, in Burgmer werden klassische antiimperialistische Positionen tragischerweise
2002, S. 21) wieder diskussions- und konsensfähiger, wie die Unterstützung
der palästinensischen Intifada und des „irakischen Widerstands“
Auseinandersetzungen um materialistische Staatstheorien genie- keineswegs nur durch marginale Fraktionen der globalisierungsk-
ßen aktuell trotz einer gewissen Renaissance 5 nicht das Interesse, ritischen Bewegung zeigt (Vgl. Grigat 2004, sowie Wolter 2004)
dass sie in früheren Zeiten erfahren haben - wie beispielsweise die 8. Andererseits gibt es auch Bemühungen um eine theoretische
sehr intensiv geführte und rezipierte westdeutsche Staatsableitungs- Aktualisierung des Antiimperialismus 9. Weitere wichtige theore-
debatte in den 1970er Jahren. Ebenso wie die Marxsche Kritik der tische Referenzen sind in diesem Spektrum sozialer Bewegungen
politischen Ökonomie weder an den Universitäten noch innerhalb die staatstheoretischen Re�exionen von Gramsci und Poulantzas.
von sozialen Bewegungen und linken Parteien kaum mehr zum Aufgabe sozialer Bewegungen ist es dieser neogramscianischen Ar-
obligatorischen theoretischen Repertoire gehört, so wird auch die gumentation zufolge, die gegenwärtige neoliberale Hegemonie in
materialistische Staatskritik in ihren verschiedenen Facetten meist Frage zu stellen und perspektivisch eine emanzipatorische Gegen-
nur in kleinen Kreisen im Stile eines „Untergrundmarxismus“ ( Vgl. hegemonie zu entwickeln 10.
Elbe 2007) rekonstruiert. Referenzen auf die Texte von Paschuka-

5 So sind in den letzten Jahren Klassiker marxistischer Staatstheorie neu lem auf Internationalismus, Antiamerikanismus und Antiimperialismus
aufgelegt worden und es sind mehrere Sammelbände und Publikationen basiert.
zu Fragen materialistischer Staatstheorie erschienen. Siehe Bretthauer/ 8 Zur Kritik des Antiimperialismus vgl. Holloway 2002, S. 27: „Die
Gallas/Kannakulam/Stützle 2006; Buckel 2007; Buckel/Fischer-Les- Vorstellung gesellscha�lichen Wandels, der auf dem Staat basiert, geht
cano 2007; Hirsch 2005; Hirsch/Kannankulam/Wissel 2008; Kann- von der Idee aus, dass der Staat souverän ist, oder es sein sollte. Um die
akulam 2008; Paschukanis 2003; Poulantzas 2002; Salzborn 2009; Ten Gesellscha� durch den Staat zu verändern, ist dessen Souveränität unbe-
Brink 2008; Teschke 2007; Wissel 2007; Wissel/Wöhl 2008. dingt erforderlich, so dass der Kampf um gesellscha�liche Veränderung
6 Einen guten Überblick zu den Diskussionen der neuen Marx-Lektüre zum Kampf um die Verteidigung der Staatssouveränität wird. Der Kampf
bietet Elbe 2008. gegen das Kapital wird so zum antiimperialistischen Kampf gegen auslän-
7 Die globalisierungskritische Bewegung der Bewegung ist sicherlich sehr dische Herrscha�, in dem Nationalismus und Anti-Kapitalismus mitein-
heterogen und besitzt keine für alle Strömungen repräsentativen Spre- ander verschmelzen. Selbstbestimmung und Staatssouveränität werden
cher_innen oder Statuten. Während die linsradikale Fraktion eher durch durcheinandergebracht, obgleich tatsächlich die Existenz des Staates
spektakuläre Kostümierungen wie Pink-Silver oder die weißen Overalls selbst, als Form gesellscha�licher Verhältnisse, der absolute Gegensatz
der italienischen Tutte Bianche, massenmilitante Demonstrationen des zur Selbstbestimmung ist.“
Black Bloc und Aufsehen erregende Aktionen mediale Aufmerksamkeit 9 �eoretische Aktualisierungen antiimperialistischer Analysen liefern
erfährt und weniger durch ihre Texte und Erklärungen, so werden in der unter anderem Autoren wie Harvey, Panitch und Gindin. Eine gute Ein-
öffentlichen Debatte stärker die Publikationen und Parolen der mode- führung zu Imperialismustheorien bietet Heinrich 2006.
raten Globalisierungskritik registriert. Diese glänzen jedoch eher durch 10 Vgl. Cox 1993; Brand 2005, darin vor allem Ulrich Brand: Den Staat
ihren Pathos: „eine andere Welt ist möglich“ (attac) als durch analytische als soziales Verhältnis denken. Nicos Poulantzas und die Reformulierung
Brillanz. Dieses Faible für Pathos teilt auch die linksradikale Interventio- kritischer Internationaler Politischer Ökonomie, S.45-62. Eine Einfüh-
nistische Linke: „Ihre Zeit ist abgelaufen, unsere fängt an“ (Erklärung der rung in den Neogramscianismus bieten Bieler/Morton 2003. Zur Kritik
Interventionistischen Linken zu den Gipfelprotesten von Heiligendamm siehe Schneider 2004 und Minu 2004.
2007). Bei allen Differenzen bzgl. Positionen und Aktionsformen eint die
globalisierungskritische Bewegung doch ein diffuser Konsens, der vor al-

5
„Auf Grundlage der Gramsci-Rezeption folgen dann Analysen, mistische und personalisierende (Staats-)Vorstellungen verbunden:
nach denen die Neue Weltordnung als neoliberale Hegemonie ge- Die eine will den Staat unmittelbar als reines Werkzeug der öko-
fasst wird. Dabei wird unterschieden, ob sich diese Weltordnung nomisch herrschenden Klasse entlarven – um im Zirkelschluss die
unter der Führung des transnationalen Kapitals oder unter Vor- „richtige“ Anwendung dieses Instruments fürs „Allgemeinwohl“
herrscha� der USA durchsetzt. Seit dem Irakkrieg aber werden zu fordern. Die andere begrei� den Zustand der Welt primär als
die Internationalen Beziehungen auch in Auseinandersetzung mit Ergebnis individuellen Fehlverhaltens einzelner Kapitalisten und
neogramscianischen Modellen als US-amerikanischer Neoimpe- Politiker, die aus Gier, Korruptheit oder fehlendem Verantwor-
rialismus beschrieben. (...) viele linke Kritiker der gegenwärtigen tungssinn handeln. Spielarten dieser ideologischen Formen reichen
Weltordnung tendieren in der Auseinandersetzung mit neograms- vom Anti-Amerikanismus bis hin zum antisemitischen Stereotyp.“
cianischen Ansätzen oder in direktem Bezug auf Gramscis Hege- (... ums Ganze 2007) 11
moniebegriff für die Revitalisierung des Imperialismusbegriffs.“
(Schneider 2004, S. 35-37) Angesichts dieser theoretischen De�zite sozialer Bewegungen ist es
die Aufgabe einer materialistischen Staatstheorie, anknüpfend an
Neoliberale Hegemonie wird demnach meist als Dominanz der bisherige �eorien die gegenwärtigen Transformationsprozesse von
USA interpretiert. Verschiedenen gegenüber diesen oppositionell Staatlichkeit adäquat zu analysieren und mit diesen Analysen über
eingestellten Nationalstaaten (wie beispielsweise Venezuela unter den Mikrokosmos von akademischen Instituten und Diskussions-
Hugo Chavez) und Bewegungen wird so ein gegenhegemoniales zirkeln hinaus stärker in soziale Bewegungen zu intervenieren. Ak-
Potential zugeschrieben, über deren wenig emanzipatorisches Po- tuelle Entwicklungen des Staates könnten entgegen der �ese vom
tential aber meist geschwiegen. Souveränitätsverlust der Nationalstaaten durch die dämonisierte
Globalisierung eher als Restrukturierung und Transformation von
„Gegenhegemonie ist also nicht als Projekt zur Überwindung ka- Staatlichkeit bezeichnet werden (Hirsch/Jessop/Poulantzas 2001,
pitalistischer Verhältnisse misszuverstehen. Schon das Konzept der S.8-9) 12. Angesichts der idealistischen Vorstellung vieler Globa-
Hegemonie untersucht nicht gleichermaßen allgemeine Bedingun- lisierungskritiker_innen, der Staat habe dem Allgemeinwohl zu
gen der kapitalistischen Reproduktion (z.B. Grundkategorien wie dienen, woran die herrschenden Staatschef_innen bei den diversen
Arbeit, Kapital, Staat) und Gesetzmäßigkeiten (Wertgesetz) oder Gipfeltreffen stets erinnert werden, scheint also die Frage nach der
ihre spezi�sche Prägung in kapitalistischen Gesellscha�s- und Formanalyse des Staates und ihrer „Kritik der Sozialstaatsillusion“
Staatsformen. (...) Die Antizipation von Gegenhegemonie gliedert nach wie vor aktuell. Das gilt ebenso für all die Sozialdemokrat_
sich dann folgerichtig in eine Auseinandersetzung um verschiedene innen (die sich selbst häu�g lieber radikale Reformist_innen nen-
Kapitalismusvarianten und alternative Weltordnungen ein. Kein nen), die sich anlässlich der gegenwärtigen Krise vom „Staat des
Wunder, dass auch Europa so zu einem potentiellen Bündnispart- Kapitals“ (Agnoli) Verstaatlichung und Umverteilung wünschen,
ner erklärt wird. (...) Die Schiene der gegenwärtigen Hegemonie- obwohl sie im Gegensatz zu ihren historischen Vorläufer_innen
Diskussion endet dort, wo derzeit eigentlich die meisten sowieso momentan nur über eine sehr bescheidene Organisations- und Ver-
schon sind: Beim proeuropäischen Antiamerikanismus und in handlungsmacht verfügen, um solchen Forderungen Relevanz zu
der Affirmation alternativer kapitalistischer Projekte.“ (Schneider verleihen.
2004, S. 39) Die Kenntnis der verschiedenen materialistischen Staatstheorien
ist nach wie vor eine relevante Voraussetzung für eine fundierte
Neben direkten Bezügen auf antiimperialistische und hegemonie- Analyse gegenwärtiger kapitalistischer Produktions- und Repro-
theoretische Analysen dominieren in der globalisierungskritischen duktionsverhältnisse sowie ihrer staatlichen Vermittlung. Und
Bewegung häu�g personalisierende Interpretationen von Herr- einer gewissen theoretischen Re�exion über die herrschenden Ver-
scha� oder Vorstellungen vom Staat als Garant des Allgemein- hältnisse bedarf es, wollen diese emanzipatorisch verändert oder
wohls. Die Debatten um bedingungsloses Grundeinkommen, glo- gar aufgehoben werden. Spontaner Protest war schließlich noch nie
bale Rechte und Bewegungsfreiheit implizieren die Instanz eines ein guter Ratgeber emanzipatorischer Praxis. Vor allem die �esen
transnationalen Souveräns, welcher diese Forderungen durchset- der Staatsableitungsdebatte als auch der hegemonietheoretischen
zen und garantieren könnte - und vor allem Bewegungen, die diese Überlegungen bei Gramsci und Poulantzas bieten dafür wichtige
Rechte erkämpfen und auch verteidigen können. In gegenhegemo- Erkenntnisse. Konzentriert sich die Staatsableitungsdebatte vor al-
nialer Manier sollen diese Forderungen vorrangig Alternativen zur lem auf die Formanalyse des bürgerlichen Staates, so könnte deren
herrschenden staatlichen Vermittlung formulieren und diskutier- Verknüpfung mit hegemonietheoretischen Ansätzen eine aktuelle
bar machen, ohne dabei aber den Kontext von Staat und Recht zu Staatstheorie weiterentwickeln.
verlassen.
„Isoliert vom Ansatz einer Formanalyse des Staates bleibt das neo-
„Statt alternative Demokratie- und Rechtsmodelle zu er�nden, /gramscianische Paradigma aber unzureichend zur Erfassung der
sollte eine emanzipative Bewegung vielmehr erkennen, dass sich spezi�schen Form und Reproduktion bürgerlicher Herrscha�. Eine
Herrscha� und Ausbeutung im Kapitalismus nicht primär ent- systematische Verknüpfung beider �eorieebenen bleibt ein Desi-
gegen Recht und Demokratie sondern innerhalb dieser Formen derat marxistischer Forschung.“ (Elbe 2006) 13
vollziehen. (...) Zu allererst ist damit die klare Absage an ökono-

11 Zu einer ausführlichen Staatskritik des Bündnisses siehe ...ums Ganze allem um die Analyse hegemonialer Prozesse und das komplexe Verhältnis
2009. von Staat und „ziviler“ Gesellscha�. Bei Poulantzas steht die Bestimmung
12 Zu aktuellen Entwicklungen materialistischer Staatstheorie siehe auch des bürgerlichen Staates als widersprüchliche Form der Institutionalisie-
Hirsch 2004. rung von Klassenbeziehungen im Vordergrund. Beides spielte in der Staats-
13 Vgl. auch Hirsch 2002, S.22 : „Die Ansätze von Gramsci und Poulantzas ableitung überhaupt keine Rolle. Poulantzas erlebt heute vielleicht deshalb
können mit den Ergebnissen der Staatsableitung in einiger Hinsicht prä- ein Revival, weil sein Ansatz am ehesten geeignet ist, die Reformismusde-
zisiert und weiterentwickelt werden. Kurz gesagt, geht es bei Gramsci vor batte genauer zu führen, ohne Reformillusionen zu verfallen.“
6
III. Au�au der Textsammlung Engels schließlich jenen instrumentellen Staatsbegriff, der für den
Marxismus-Leninismus eine große Bedeutung erlangen sollte.
„Es ist bereits alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ Ingo Elbe zeigt in seinem Beitrag (K)ein Staat zu machen? Die
(Karl Valentin) sowjetische Debatte auf dem Weg zum adjektivischen Sozialismus, dass
Lenin in seiner Schri� Staat und Revolution die fragmentarischen
Die vorliegende Textsammlung ist eine Dokumentation von Überlegungen von Marx über den Staat verallgemeinert und
Referaten mehrer Veranstaltungen zum �ema materialistischer im Anschluss an Engels jenen instrumentellen Staatsbegriff
Staatskritik, welche in den letzten beiden Jahren von der Gruppe formuliert, welcher die Tradition des Marxismus-Leninismus
associazione delle talpe in Kooperation mit der Rosa Luxemburg entscheidend prägen sollte. Dagegen formuliert Paschukanis mit
Initiative Bremen organisiert wurden und die um weitere seinem juridischen Staatsbegriff, welcher die Kategorien Recht und
einführende Texte zu verschiedenen Tendenzen und Diskussionen Staat aus der Warenform ableitet, eine Kritik am instrumentellen
materialistischer Staatskritik ergänzt wurden. 14 Einige der Beiträge Staatsbegriff und Klassenreduktionismus von Lenin, welcher
dieser Textsammlung sind bereits in gleicher oder ähnlicher Form die staatliche Herrscha� allein als repressive Klassenherrscha�
in Zeitschri�en und Aufsatzsammlungen erschienen, lohnen aber versteht. Elbe stellt die zentralen Überlegungen von Paschukanis
dennoch einer erneuten Veröffentlichung und Lektüre. Die meisten zum Verhältnis von Warenform und Rechtsform ebenso wie
Texte sind daher keine Erstveröffentlichungen – wegen ihrem verschiedene Kritiken daran vor.
einführenden Charakter und den o� stolzen Buchpreisen, die auch Auf die staatstheoretischen Überlegungen von Paschukanis
staatskritische Publikationen schmücken, schadet eine erneuten beziehen sich in den 1970er Jahren verschiedene westdeutsche
Veröffentlichung keinesfalls, um Interesse an materialistischer Marxist_innen, die mit ihrer Kritik der „Sozialstaatsillusion“
Staatskritik wecken und zur Diskussion einladen. Im Anhang die Staatsableitungsdebatte um die Formbestimmung des
�nden sich weitere Literaturempfehlungen – auch zu Aspekten kapitalistischen Staates initiierten. Nach der Argumentation der
materialistischer Staatskritik, die in den vorliegenden Aufsätzen Formanalyse bedarf die Warenproduktion und –zirkulation der
nicht behandelt werden. Bei Bedarf wird die Textsammlung um gegenseitigen Anerkennung der warenproduzierenden Individuen
weitere Ausgaben ergänzt werden. als freie und gleiche Privateigentümer_innen. John Kannankulam
Zu Beginn liefert Ingo Stützle mit seinem Text Staatstheorien fasst in seinem Beitrag Zur westdeutschen Staatsableitungsdebatte
oder „Beckenrand-schwimmerInnen der Welt vereinigt euch!” einen der Siebziger Jahre. Hintergründe, Positionen, Kritiken die
Überblick über die verschiedenen �eorien des Staates. Dabei Diskussionen der Ableitungsdebatte zusammen und stellt ihre
skizziert er die Entwicklung der Staatstheorien von liberalen wesentlichen Resultate vor.
Vertragstheoretikern wie Hobbes, Locke und Rousseau über Hegel Konzentrieren sich Paschukanis’ Re�exionen über den Staat
und Marx hin zu sozialdemokratischen und kommunistischen als Rechtsform und die darauf referierende westdeutsche
Staatstheoretikern wie Engels, Lassalle, Lenin, Gramsci etc. Sein Staatsableitungsdebatte auf die rechtlichen Spezi�ka des
Beitrag endet mit der westdeutschen Ableitungsdebatte um die bürgerlichen Staates, so thematisieren verschiedene Autoren
Formbestimmung des Staates und den französischen Marxisten des Westlichen Marxismus (Siehe Anderson 1978) wie Antonio
Althusser und Poulantzas, welcher den Staat als gesellscha�liches Gramsci, Louis Althusser und Nicos Poulantzas mit dem
und umkämp�es Verhältnis de�niert. relationalen Staatsbegriff ihrer Hegemonietheorie die Relevanz
Michael Heinrich thematisiert in seinem Beitrag Die Grenzen des kollektiver Subjekte und gesellscha�licher Kämpfe für die
„idealen Durchschnitts“. Zum Verhältnis von Ökonomiekritik und Materialität des Staates. Ingo Stützle präsentiert in seinem Beitrag
Staatsanalyse bei Marx die Konsequenzen des fehlenden Buchs zum Von Stellungs- und Bewegungskriegen – Kämpfe in und um den
Staat bei Karl Marx. Marx wollte mit seiner Kritik der politischen Staat die zentralen �esen von Gramsci, Althusser und Poulantzas.
Ökonomie weder eine Analyse des Kapitalismus in einer bestimmten Anknüpfend an die hegemonietheoretischen Überlegungen von
historischen Epoche oder einer bestimmten Region formulieren, Gramsci und Althusser interpretiert Poulantzas in seinem zentralen
sondern die zentralen Begriffe und Dynamiken der kapitalistischen Werk Staatstheorie den Staat als
Produktionsweise in ihrem „idealen Durchschnitt“(MEW 25, S.
839) darstellen. Da er eine seiner Ökonomiekritik entsprechende „materielle Verdichtung eines Krä�everhältnisses zwischen Klassen
ähnlich umfassende und abstrakte Staatskritik nicht mehr realisieren und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezi�schen
konnte, �nden sich in seinen Werken lediglich fragmentarische Formen ausdrückt“ (Poulantzas 2002, S. 159).
Überlegungen zum Staat. So referieren marxistische �eorien
über den Staat auf einzelne Passagen im „Kapital“ und anderen Der Staat wird somit als Terrain diverser gesellscha�licher
Marxschen Schri�en wie seiner Analyse der Pariser Kommune „Der Widersprüche verstanden, das sich als Resultat sozialer Kämpfe in
Bürgerkrieg in Frankreich“, vor allem aber auf Friedrich Engels und einem dynamischen, undeterminierten Prozess in stets veränderter
dessen späte Schri�en „Anti-Dühring“ und speziell „Der Ursprung Form (re)formiert.
der Familie, des Privateigentums und des Staates“.(Heinrich 2004 Doch der Staat ist nicht nur Terrain antagonistischer
S. 193. Siehe auch MEW 13, S.7. Lenin formuliert im Anschluss an Klassenverhältnisse, sondern auch von Geschlechterverhältnissen.

14 Siehe en detail: Einführung in die materialistische Staats- com/2008/08/01/staat-und-globalisierung-zur-aktualitat-materialis-


kritik. Wochenendseminar mit Ingo Elbe http://associazione. tischer-staatskritik/ Krise, Staat und emanzipatorische Intervention.
wordpress.com/2008/08/01/einfuhrung-in-die-materialistische- Diskussionsveranstaltung mit Heide Gerstenberger und John Kannan-
staatstheorie-seminar/ Staat und Globalisierung. Zur Aktualität materi- kulam http://associazione.wordpress.com/2009/02/17/do26-03-09-
alistischer Staatskritik. Podiumsdiskussion und Tagesseminar mit Ingo krise-staat-und-emanzipatorische-intervention/#more-716
Elbe / Heide Gerstenberger / Ingo Stützle http://associazione.wordpress.

7
Die Ignoranz gegenüber patriarchalen Geschlechterverhältnissen Diese Entwicklungen bedeuten einerseits eine theoretische
teil(t)en viele traditionelle und auch undogmatische Marxist_innen Herausforderung, das Verhältnis kapitalistischer Ökonomie zu
mit dem liberalen und konservativen Mainstream. Ihnen galten Staat und Recht genauer zu de�nieren, andererseits praktische
Geschlechterverhältnisse lediglich als Nebenwiderspruch zum Konsequenzen in Form eingeschränkter Regulierungsmöglichkei
Hauptwiderspruch von Kapital und Arbeit und wurden meist nur ten des Staates.
als Fußnote in ihren theoretischen Schri�en abgehandelt. Birgit
Sauer liefert mit ihrem Beitrag Staat, Demokratie und Geschlecht
– aktuelle Debatten einen Überblick über die unterschiedlichen IV. Literaturangaben
feministischen Überlegungen zum Zusammenhang von Staat und
Geschlecht. Die Referenzen feministischer Staatsanalysen variieren Agnoli, Johannes (1995): Der Staat des Kapitals und weitere
enorm: sie reichen von liberalen und sozialdemokratischen bis zu Schri�en zur Kritik der Politik, Freiburg.
marxistischen Positionen, die sich einerseits auf den instrumentellen Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsappara-
Staatsbegriff des traditionellen Marxismus beziehen, andererseits te, Hamburg.
Poulantzas’ De�nition des Staates als soziales Verhältnis um die Anderson, Perry (1978): Über den Westlichen Marxismus,
Ebene der Geschlechterverhältnisse kritisch weiterentwickeln. Frankfurt am Main.
Dabei ergänzen feministische Staatstheorien nicht einfach bereits Bieler, Andreas/Morton, Adam David (2003): Neo-Gramscia-
existierende Staatstheorien lediglich um feministische Aspekte, nische Perspektiven, in: Schieder, Siegfried / Spindler, Manuela
sondern liefern wichtige Impulse zum Verständnis des patriarchalen (Hrsg.): �eorien internationaler Beziehungen, Opladen, S. 337-
Charakters des kapitalistischen Staates. 362.
Nach der Präsentation der verschiedenen theoretischen Tendenzen Blanke, Bernhard/Jürgens, Ulrich/Kastendiek, Hans (1974): Zur
materialistischer Staatstheorie folgen zum Abschluss mehrere neueren marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und
Texte zur historischen Entstehung und Transformation des Funktion des bürgerlichen Staates. Überlegungen zum Verhältnis
modernen kapitalistischen Staates. Heide Gerstenberger skizziert von Politik und Ökonomie. In: Prokla 14/ 15, S. 51-102.
in ihrem Beitrag Der bürgerliche Staat. Zeht �esen zur historischen Brand, Ulrich (2005): Gegen-Hegemonie. Perspektiven globalisie-
Konstitution den historischen Entstehungsprozess des modernen rungskritischer Strategien, Hamburg.
Staates. Mit der historischen Durchsetzung des Kapitalverhältnisses Bretthauer, Lars /Gallas, Alexander /Kannankulam, John /Stütz-
in der ursprünglichen Akkumulation transformierten sich die le, Ingo (2006): Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer
bisherigen personalen Abhängigkeitsverhältnisse des Feudalismus Staatstheorie, Hamburg.
in unpersönliche, strukturelle Zwangsverhältnisse die durch Buckel, Sonja (2007): Subjektiiverung und Kohäsion. Zur Rekon-
Recht vermittelt sind. Mit der Allgemeinheit des Rechts und der struktion einer materialistischen �eorie des Rechts, Weilerswist.
Souveränität vollendet sich im modernen bürgerlichen Staat die im Buckel, Sonja/Fischer-Lescano, Andreas (Hrsg.) (2007): Hege-
Ancien Regime begonnene Verallgemeinerung von Herrscha�. monie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellscha� und Politik im
John Kannankulam illustriert in seinem Beitrag Autoritärer Staatsverständnis Antonio Gramscis, Baden-Baden.
Etatismus im Neoliberalismus die Aktualität von Nicos Poulantzas Cox, Robert (1993): Gramsci, Hegemony and International
�ese vom autoritären Etatismus. Am Beispiel von Großbritannien Relations: An Essay in Method, in: Gill, Stephen (Ed.): Gramsci,
und der Bundesrepublik Deutschland zeichnet er nach, wie seit der Historical Materialism and International Relations, Cambridge,
Krise des Fordismus und dem Zusammenbruch des Bretton Woods S.49-66.
Systems mit seinen festen Wechselkursen der Staat neoliberal Elbe, Ingo (2003) : (K)ein Staat zu machen ...? Die sowjetische
restrukturiert wurde. Der autoritäre Etatismus ist dabei besonders Rechts- und Staatsdebatte auf dem Weg zum adjektivischen
durch den Abbau sozialstaatlicher Standards und dem Ausbau Sozialismus, http://www.rote-ruhr-uni.com/texte/elbe_marxis-
staatlicher Überwachung und Repression - Phänomene, die auch mus_und_recht.shtml.
gegenwärtig staatliches Krisenmanagement bestimmen und somit Elbe, Ingo (2006): �esen zu Staat und Hegemonie in der Linie
Kannankulams Charakterisierung des postfordistischen Staates als Gramsi – Poulantzas. http://www.rote-ruhr-uni.com/texte/elbe_
autoritären Etatismus anschaulich bestätigen. staat_hegemonie.shtml.
Heide Gerstenberger skizziert in ihrem Text Staatsgewalt im Elbe, Ingo (2007): Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen.
globalen Kapitalismus den Wandel von Souveränität. Die mit Lesarten der Marxschen �eorie, http://www.rote-ruhr-uni.
dem Westfälischen Frieden von 1648 etablierte europäische com/cms/Zwischen-Marx-Marxismus-und.html.
Staatenordnung, die auf dynastischer Souveränität basierte, Elbe, Ingo (2008): Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in
wandelte sich mit der Entstehung moderner bürgerlicher Staaten zu der Bundesrepublik seit 1965, Berlin.
nationaler Souveränität und aus bloßen Territorialstaaten wurden Gerstenberger, Heide (2006): Die subjektlose Gewalt. �eorie der
somit Nationalstaaten. Die unter dem Terminus Globalisierung Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster.
beschriebenen ökonomischen Transformationen der letzten Gerstenberger, Heide (2007): Fixierung und Entgrenzung. �eo-
Jahrzehnte - vor allem die zunehmende Internationalisierung retische Annäherungen an die politische Form des Kapitalismus,
von Märkten - haben auch staatliche Souveränität und Recht in: Prokla. Zeitschri� für kritische Sozialwissenscha� Nr. 147, Juni
verändert. So wurden Sphären geschaffen, in denen gewissermaßen 2007, S. 173-197.
„Kapitalismus pur“ herrscht, also von politischen Akteuren Gerstenberger, Heide (2008): Staatsgewalt im globalen Kapitalis-
staatliche Souveränität außer Kra� gesetzt wurden. mus, in: grundrisse. Zeitschri� für linke �eorie und Debatte Nr.
27, 2008, S. 8-17.
„Folglich gilt es, die zumeist stillschweigend getroffene Annahme, dass Gramsci, Antonio (1991 ff): Gefängnishe�e, Hamburg.
Kapitalismus nicht ohne kapitalistische Staatsgewalt funktionieren Grigat, Stephan (2004): Der Hass der Antiglobalisierungsbewe-
kann, präzisier zu fassen.“(Gerstenberger 2008, S. 16). gung auf Israel – eine Kritik der No-Globals und ihrer Kritiker,

8
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Ten Brink, Tobias (2008): Geopolitik. Geschichte und Gegenwart
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Teschke, Bruno (2007): Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und

9
Ingo Stützle

Staatstheorien
oder “BeckenrandschwimmerInnen der Welt vereinigt euch!”

„...und der Staat ist kein Traum, sondern bleibt wie mein Kis- Staat ohne Kapitalverhältnis. Aber weder das eine noch das andere
sen, ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen und Welt ver- sind vom Himmel gefallen, noch ein Ausgeburt einer intellektuel-
waltender Zustand, der sich durch mich und mich bewegt ...“ ler Leistung.
Blumfeld
Frühbürgerliche �eorie: Machiavelli
Bürgerliche Geschichtsschreibung hat es an sich, Begriffe, die aus
der modernen Verfasstheit der Gesellscha�sformation entsprin- Bürgerliche Staatstheorien re�ektieren einen gewissen Durchset-
gen, in die Vergangenheit zu projizieren und somit gesellscha�liche zungsgrad des Kapitalverhältnisses und die damit verbundenen
Verhältnisse zu naturalisieren. In linken Auseinandersetzungen Verhältnisse, die die Gesellscha� als solches strukturieren.
wurde dies bisher fast ausschließlich in Bezug auf Nation und Volk Der Kapitalismus fand u.a. seinen historischen Anfang in den ita-
ausführlicher diskutiert. Für viele weitere Begriffe des politischen lienische Stadtrepubliken, die mit ihrer Dominanz in der Region
Alltags wurde diese Auseinandersetzung bisher kaum geführt. So die feudalen Strukturen zersetzten. Wahrgenommen wurde die-
für den Begriff der „Arbeit“ und des „Staates“. ser Prozeß als Zerfall und Krise der gesellscha�lichen Ordnung.
Zu dieser Zeit formulierte Niccolo Machiavelli (1467-1527) ein
„In dem ersten Stein, den der Wilde auf die Bestie wir�, die er „Handbuch“ für politische Herrscha�: „il principe“. Machiavelli
verfolgt, in dem ersten Stock, den er ergrei�, um die Frucht nie- ist deshalb so interessant, weil bei ihm davon gesprochen werden
derzuziehn, die er nicht mit den Händen fassen kann, sehn wir die kann, dass Gesellscha� und Politik als voneinander relativ getrenn-
Aneignung eines Artikels zum Zweck der Erwerbung eines andren ten Sphären konzipiert sind. Die Politik tritt in Form der absolu-
und entdecken so - den Ursprung des Kapitals.“ ten Macht des Staates, die sich nicht nur aus sich selbst begründet,
sondern sich selbst zum Zweck hat, als Souveränität auf. Religiöse
Diese Bemerkung des englischen Ökonom Robert Torrens nimmt und mittelalterliche Weltvorstellungen werden aufgesprengt, keine
Marx zum Anlass, um, wie so o�, die moderne bürgerliche �eo- Heilserwartungen strukturieren die Gesellscha�sordnung und es
rie zu verhöhnen: „Aus jenem ersten Stock ist wahrscheinlich auch bedarf keines legitimatorischen Bezugs auf Gott mehr. Vielmehr
zu erklären, warum stock im Englischen synonym mit Kapital ist.“ versucht Machiavelli die politische Macht von Moral zu befreien.
(MEW Bd.23: 199, Fn 9) Für das bürgerliche Bewusstsein hat der Die Welt wird als machtstrukturierte Immanenz verstanden. Da
Mensch immer schon in Formen des Kapitalverhältnisses gewirt- Machiavellis’ Schri�en anwendungsorientierte Herrscha�spraxis
scha�et, gearbeitet und auch der Staat ist eigentlich immer schon da vermitteln will, geht er davon aus, dass die Prinzipien immer den
– eine dem Menschen natürliche Existenzweise. Nicht ohne Grund konkreten Umständen adäquat sein müssen. Fuchs und Löwe als
wurde Platons Politeia, geschrieben 387 Jahre v.u.Z., mit Titel „Der emblematische Tiergestalten verbildlichen die Herrscha�spraxis
Staat“ übersetzt. Betrachtet man das, was als „Staat“ bezeichnet von Gewalt und Zustimmung. Religion spielt hierbei für Machia-
wird, etwas genauer, so stellt man fest, dass es „für uns“ vielleicht velli als Herrscha�sinstrument für die Legitimation des Souveräns
ein Staat ist. Genaugenommen hat es aber mit all dem, was wir heu- eine zentrale Rolle. Eine theoretische Figur, die der Marxist Grams-
te als bürgerlichen Staat kennen, nichts zu tun. Bei Marx �ndet sich ci später wieder aufnehmen wird. Auch wenn der Fürst das besit-
im dritten Band des Kapitals die kluge und anregende Bemerkung, zende Bürgertum gegen fremde Mächte und den Papst organisieren
dass die Form der Ausbeutung, das Verhältnis der Eigentümer der soll, gibt es noch kein imaginiertes, mit Naturrechten ausgestatte-
Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten, die tes Volk als Souverän.
politische Form der Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnis-
se, kurz die spezi�sche „Staats“form bestimmt (vgl. MEW Bd.25: Vertragstheorien: Hobbes, Locke und seine Freunde
799f.).
Im Unterschied zu den mittelalterlichen Leibeigenen, die in ei- Den folgenden bürgerlichen Staatstheorien lag die Konstruktion
nem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu „ihrem“ Grund- von Gesellscha�sverträgen zugrunde, die wiederum auf erklä-
herrn standen, der dieses Verhältnis notfalls mittels eigener Gewalt rungsbedür�ige Voraussetzungen verweisen: Das gleichwertige
durchsetzte, treten die modernen LohnarbeiterInnen den Kapita- Individuum und das Individuum überhaupt. Es ist durchaus nicht
listInnen als formell freie und gleiche EigentümerInnen gegenüber. selbstverständlich, dass sich die Menschen als Subjekte verstehen
Die vereinzelten Einzelnen sind auf der einen Seite ökonomisch und obendrein als gleichberechtigte. Nicht nur in der Erkenntnis-
als PrivateigentümerInnen über das Geld und auf der anderen theorie und der �eologie, sondern auch in der Kunst wurde das In-
Seite politisch als StaatsbürgerIn mittels des Rechts Teil der Ge- dividuum entdeckt. Künstler begannen erstmals ihre Gemälde mit
sellscha�. Ökonomie und Politik stellen zwei relativ voneinander ihrem Namen zu signieren, die Möglichkeit der Erkenntnis wurde
getrennte Sphären dar, ohne steuerndes oder herrschendes Subjekt. in das Bewusstsein isolierter Subjekte verlegt und aus traditionel-
Dennoch sind beide „Sphären“ strukturell aufeinander verwiesen. len Normensystemen herausgelöst. Damit geht die theoretische
Kein Kapitalismus ohne bürgerlichen Staat und kein bürgerlicher Trennung von Körper und Geist einher, die erst wieder mit Mer-

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leau-Ponty und Foucault den Versuch der Au�ebung erfährt. Mit Katholiken und Atheisten keine Toleranz verdienten. Diese stell-
zunehmender Säkularisierung und Herausbildung des Kapitalis- ten die politische Herrscha� in Frage. Der Naturzustand bei Locke
mus – Handelskapital in Holland und Landwirtscha� in England ist in zwei Phasen unterteilt. In beiden haben die Menschen natür-
– entstand ein neues Subjekt: Der (männliche) Besitzindividualist. liche Rechte. Zum einen an sich als Person, zum anderen am Re-
Herausgelöst aus traditionellen Formen der Vergesellscha�ung sultat ihrer Arbeit: Die Arbeit entreißt das Bearbeitete der Natur
setzte eine „negative Vergesellscha�ung“ ein, als Bezug auf eine all- und überführt es in individuelles Privateigentum, wobei für Locke
gemeine Gewalt (Geld und politisch transformierte Form: Staat). klar ist, dass das Resultat fremder Arbeit immer dem Bourgeois ge-
Gesellscha� kommt, wie Ralf Dahrendorf es einmal formulierte, hört. Der Mensch wird naturalisiert als immer schon arbeitender
erst hinterher als ärgerliches Faktum ins Spiel. Privatbesitzer. Ebenso die soziale Ungleichheit. Die zweite Phase
Der erste, der eine Form des Gesellscha�svertrags formulierte, war des Naturzustands ist durch das Geld als stillschweigende Über-
�omas Hobbes (1588-1679). Vor dem Hintergrund des englischen einkun� geprägt, welche in der ersten noch nicht existiert. Erst
Bürgerkriegs und der Säkularisierung der Herrscha� stellten sich mit ihm kann das Resultat der Arbeit die Zeit überdauern und ist
für ihn zwei Probleme: Erstens die Bedingung der Möglichkeit von somit die Bedingung der Möglichkeit unbegrenzter Akkumulati-
Frieden, mit welchem, so Hobbes, erst Künste und Wirtscha�en on, die ohne Wertspeicher nicht möglich war. Im Geld sieht aber
möglich seien. Zweitens die Notwendigkeit einer legitimen weltli- Locke auch ein Zerstörungspotential, ein Motiv, dass sich seit den
chen Herrscha�, nachdem in England das aufstrebende Bürgertum Griechen hält. Das Privateigentum selbst ist zwieschlächtig. Zum
zusammen mit dem Königtum den Adel, aber auch die Kirche ent- einen ist es Grundlage von Freiheit und Gleichheit, auf der anderen
machtet hatte. Seite Ausgangspunkt der Konkurrenz, vermittelt über das Geld.
Die Grund�gur aller Gesellscha�stheorien ist ein imaginierter Die gnadenlosen Konkurrenz lässt das Eigentum wiederum prekär
Naturzustand und ein Vertrag der vereinzelten Einzelnen unter- werden. Hier kommt der Staat ins Spiel. Anders als bei Hobbes ha-
einander (Gesellscha�svertrag) oder mit der allgemeinen Gewalt ben bei Locke die Menschen bereits vor dem Gesellscha�svertrag
(Herrscha�svertrag). Bei Hobbes ist der Naturzustand konstruiert Rechte, die sie dem Staat in beschränktem Maße übertragen: Der
über die Gleichheit der Individuen im Selbsterhaltungstrieb als Staat soll im wesentlichen das Eigentum garantieren. Öffentliche
Konkurrenten. Ganz offensichtlich ist bei Hobbes der Bezug auf Gewalt soll sich nur auf gemeinsames Wohl der Besitzindividua-
das besitzende Bürgertum. In diesem Zustand der Konkurrenz ist listen erstrecken und keine weiteren Aufgaben übernehmen. Hier
jeder Mensch dem andern ein Wolf. Ein Verweis darauf, dass Hob- wird besonders deutlich, dass die bürgerlichen Verhältnisse be-
bes noch in feudalen Verhältnissen steckt, ist, dass nicht nur die reits gefestigter sind. Neben der Konkurrenz existiert bereits der
ökonomische Konkurrenz, sondern auch die Ruhmsucht als Kon- Staat als Bedrohung willkürlicher und „übermäßiger“ Eingriffe
�iktursache gewertet wird. Erst die Todesfurcht und das Bedürfnis in Eigentumsrechte. Deshalb ist Locke ein radikaler Kritiker der
nach einem angenehmeren Leben bringt die Menschen dazu, aus Monarchie, wenn auch kein Demokrat. Die Bourgeoisie soll die
ihrem „Naturzustand“ herauszutreten und mit Verstand zu re�ek- Staatsform selbst wählen können, ebenso wie sie das „Recht auf
tieren. Durch Naturalisierung dieses Zustandes ist eine Kritik der Revolution“ hat, wenn der Staat seinen (beschränkten) Aufgaben
Verhältnisse ausgeschlossen. Hobbes schließt daraus vielmehr die nicht nachkommt. Erstmals wird eine Gewaltenteilung gedacht.
Notwendigkeit einer allgemeinen Gewalt: „Verträge ohne Schwert Neben der Legislative, die die primäre Gewalt darstellt, soll es eine
sind bloße Worte“, so Hobbes. Der Staat ist aber nicht Vertragspart- Judikative, aber keine Exekutive geben.
ner, vielmehr geben die Menschen alle ihre Rechte an ihn ab, der Mit Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) erreicht die Diskussion
sich erst dadurch konstituiert. Vor dem Staat gibt es weder Recht, ein neues Re�exionsniveau und auch erstmals eine radikaldemo-
Eigentum, noch „gut“ und „böse“. Das einzige Recht ist das über kratische Wendung, die auch immer wieder in der Linken aufge-
das eigene Leben und damit – und hier ist Hobbes beinahe wieder nommen wurde. Aber auch er kommt nicht ohne imaginierten
fortschrittlich – auch das Recht zur Feigheit im Krieg: Deserti- Naturzustand aus. Im Gegensatz zu Hobbes geht er von einer völ-
on. Der Staat ist als geschaffener „sterblicher Gott“ immer Mittel, lig friedlichen und einträchtigen Menschennatur aus. Trotzdem
nicht Selbstzweck und seine „Künstlichkeit“, seine vom Menschen kommt Rousseau zu seinem berühmt gewordenen Befund: „Der
geschaffene Natur offensichtlich. Ist es dem Staat nicht möglich, Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten“. Mit dieser
das Leben der BürgerInnen zu garantieren, haben diese das Recht Ausgangsfeststellung verschiebt sich eine bis dato durchgehalte-
auf Widerstand. Mit der Unterscheidung von öffentlicher (Staat) ne �eoriegrammatik: Privateigentum ist aller Übel Anfang und
und privater (Eigentum) Sphäre, die sich bis heute hält, ist Hobbes gleichzeitig vom Menschen selbst in die Welt gesetzt. Damit wird
im eigentlichen Sinn der erste �eoretiker der bürgerlichen Gesell- Eigentum historisiert, in der gesellscha�lichen Ordnung verortet
scha�. und der scheinbaren Natürlichkeit entzogen. Ebenso gesellscha�-
Auch John Locke (1632-1704) rekurriert auf einen Naturzu- liche Ungleichheit. Ein verstärkter Legitimationsdruck der gesell-
stand. Allerdings vor einem anderen gesellscha�lichen Hinter- scha�lichen Stellungen wird freigesetzt. Weder Eigentum noch
grund. Das Bürgertum saß bereits fester im Sattel, kapitalistische Ungleichheit sind bei Rousseau einfach gegeben. Damit geht es
Warenproduktion, vertie�e gesellscha�liche Arbeitsteilung und ihm auch nicht mehr um einen Gesellscha�svertrag schlechthin,
Lohnarbeit waren durchgesetzt 1. Das Kapitalverhältnis und der sondern um einen gerechten. Es stellt sich für ihn die Frage, wie
„stumme Zwang der Verhältnisse“ (Marx) hatten persönliche Ab- der Mensch unter der Bedingung von Knechtscha� als „frei“ vorge-
hängigkeitsverhältnisse weitgehend abgelöst. Locke erkennt, dass stellt werden kann. Deshalb ist Rousseau auch einer der ersten, der
die Ware Lohnarbeit zirkuliert. Deren Eigentümer sind aber nur das Spannungsfeld problematisiert, das für jede weitere Diskussi-
Objekt der Handlung von Staat und Bourgeoisie. Prekär war im- on um Demokratie prägend sein wird: Der Widerspruch zwischen
mer noch die Form der weltlichen Herrscha�, weshalb für Locke einem abstrakten Allgemeinwohl und den Einzelinteressen der

1 Für viele �eoretiker dieser Zeit ist anzumerken, dass sie neben dem hier sogar den Artikel „Politische Ökonomie” in Diderots berühmter Enzyk-
referierten auch ausführlich zu anderen �emen arbeiteten, besonders der lopädie.
politischen Ökonomie. So: Locke, Montesquieu, etc. Rousseau schrieb
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Individuen und die damit verbundene Frage, wie Beherrschte und den Philosophie-Lehrstuhl rief, um die vermeintlichen Schäden,
Herrschende zusammenfallen können. Aber um es noch einmal die Hegels Philosophie verursacht hatte, wieder gut zu machen,
festzuhalten: Hier geht es nicht um den Menschen schlechthin. Par- zeigt, dass diese nicht im preußischen Staat aufgeht. Gleichzei-
tizipation und Demokratie sind noch kein Selbstzweck. Rousseau tig war sie Grundlage des sogenannten Linkshegelianismus und
ist ein au�lärerischer Denker in einer historischen Situation, in auch Ausgangspunkt Marx’ intellektueller Entwicklung. Karl
der die Bourgeoisie an Selbstbewusstsein gewinnt und die ersten Marx (1818-1883) sah in der offiziellen Auslegung Hegels, der bis
„organischen Intellektuellen“ (Gramsci) herausbildet 2. Rousseau zu seinem Tod auf die französische Revolution mit Sekt anstieß,
ist Sprachrohr des Kleinbürgertums und seine Kritik gilt dem Lu- nur eine Apologie des Bestehenden. Die Wirklichkeit wurde mit
xus und politischen Struktur des „Ancien Regime“. „Habenichtse“ der Vernun� versöhnt. Dem hielten die Junghegelianer entgegen,
werden als politische Subjekte nicht ernst genommen. Da Gemein- dass die Existenz sowohl des Staates als auch der gesellscha�lichen
wille und individueller Wille zusammenfallen müssen – was er Verhältnisse sich nicht mit der Vernun� decke. Vielmehr sei die
unter Selbstgesetzgebung versteht – darf es keine Parteien geben, Verwirklichung der Philosophie, also der Vernun�, die politische
keinen Kollektivwillen und keine Repräsentanzverhältnisse. All Aufgabe. Hier liegt die Grundlage des frühen Marxschen Denkens.
diese Formen würden die Souveränität zersetzen. Ein Anspruch, Der Modus war die Kritik: Religionskritik, Kritik der Politik und
der nur in einer Kleinstgemeinscha� zu verwirklichen sei. Diese des Staates. „Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen,
schwebt Rousseau auch immer vor: Eine politische Gemeinscha� die besondere Wirklichkeit an der Idee misst.“ (MEW Bd.40: 327)
von Kleinstproduzenten und Eigentumsbesitzern 3, weshalb er den Die �eoriematrix von Marx war der Widerspruch zwischen We-
Staat immer auch als politisches Subjekt, als souveräne Einheit ver- sen und Existenz, Idee und Wirklichkeit. Die Kritik sollte dazu
steht. Die Einheit von Einzelinteressen und Allgemeinwohl denkt dienen, den Wesensbegriffen einen realen Inhalt zu geben. In sei-
Rousseau, indem er einen immer schon tugendha�en Menschen nen frühen Jahren teilte er die an Hegel anknüpfende Vorstellung
voraussetzt 4. Obwohl bei Rousseau die Allgemeinheit nicht über eines über den Klassen stehenden, nur dem Allgemeininteresse ver-
alles grei�, gibt es kein Kriterium, wo diese zu enden hat. Denn wer p�ichteten Vernun�staats, in dem sich das Wesen des Menschen,
bestimmt, was Allgemeinwohl ist und welche Konsequenzen für die Freiheit, verwirklichen soll. Ganz euphorisch spricht er von der
die zu ziehen sind, die nicht „identisch“ sind? Für Atheisten wusste Demokratie als „das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“ (MEW
Rousseau bereits eine Antwort: die Todesstrafe. Mit Rousseau ver- Bd.1: 231). Die Entdeckung der Objektivität der gesellscha�lichen
ändert sich auch der Revolutionsbegriff: Während bei Locke noch Verhältnisse brachten Marx dazu, sich mit Ökonomie zu beschä�i-
Rechte durch eine Revolution erhalten werden sollen, ist hier die gen (Debatte um die Landesstände über das Holzdiebstahlgesetz).
Konnotation eindeutig darauf gelegt, etwas Neues zu schaffen. Damit setzte Marx’ erste große theoretische Krise ein. Die Ideen
Im Anschluss an Rousseaus normativer Grundlage verselbststän- mussten an der Wirklichkeit scheitern. Als Feuerbacherianer, als
digte sich unter Robbespiere in der französischen Revolution die welcher Marx sich nach dieser Krise verstand, sollte der Staat jetzt
Exekutive der Wohlfahrtsausschüsse. Die Vorstellung der Jacobi- nicht einfach die Verwirklichung der menschlichen Freiheit her-
ner einer guten Ordnung und Robbespieres Tugenddiskurs setzte beiführen, sondern die Verwirklichung des menschlichen Wesens.
den bekannten Terror gegen alles Nicht-Identische frei. Nicht ganz Marx’ Anthropologie (vor den �esen über Feuerbach) ging davon
zu unrecht hieß die Guillotine die „Sichel der Gleichheit“. aus, dass über die Reform des Bewusstseins das wirklich Vernünf-
Ein Grund, warum selbst begeisterte Anhänger der französischen tige hervorgebracht werden könnte. Später formuliert Marx es all-
Revolution wie Hegel das Verhältnis von Besonderem und Allge- gemeiner: Es müsse darum gehen, den Menschen von der Entfrem-
meinem neu denken mussten. Dreh- und Angelpunkt ist bei G. W. dung zu befreien.
F. Hegel (1770-1831) der Begriff der Freiheit. Das bedeutet, dass Für eine heutige Staatskritik ist außer dem Gestus der radikalen
das Besondere im Allgemeinen nicht verloren, sondern sich wieder- Kritik der bestehenden Verhältnisse nicht weiter daran anschließ-
�nden wird. Frühbürgerliches Denken unterschied nicht explizit bar - am ehesten noch in tagespolitischen Auseinandersetzungen,
zwischen Staat und Gesellscha�, auch wenn einige Anzeichen he- wobei auch hier nicht unmittelbar. Auch darf nicht der Fehler
rauszulesen waren (z.B. bei Machiavelli). Vertragstheorien stellen gemacht werden, für konkrete Situationen gefällte Urteile, die
vor Hegels theoretischer Matrix eine „Willensillusion“ dar. Bei He- Marx meist selbst revidierte, zu allgemein gültigen theoretischen
gel wird – nicht zuletzt aufgrund seiner Kenntnis der �eorie der Sätzen zu erheben. So reduzieren Marx und Engels im Manifest
politischen Ökonomie – der Staat klar als vermittelndes Prinzip der kommunistischen Partei die „moderne Staatsgewalt“ auf ei-
der bürgerlichen Gesellscha� eingeführt, als Sphäre der gegensei- nen „Ausschuss, der die gemeinscha�lichen Geschä�e der ganzen
tigen Anerkennung der konkurrierenden Individuen. Gleichzei- Bourgeoisklasse verwaltet“ (MEW Bd.4: 464), wobei sich darüber
tig wird diese abstrakte Form gesellscha�licher Allgemeinheit als streiten ließe, in wie weit der Begriff des „Ausschlusses“ wörtlich zu
Herrscha� des Weltgeistes verklärt. An diesem Punkt wird Marx verstehen ist oder vielmehr eine metaphorische Anspielung auf die
mit seiner Kritik ansetzen. Wohlfahrtsausschüsse in Frankreich ist.
In der Auseinandersetzung um den Staatsstreich vom Dezember
Vernun�staat und Klassenstaat – Staat als Subjekt oder In- 1851 in Frankreich zeigt sich eine Differenzierung des Bildes. Hier
strument: sozialistische Staatstheorien geht Marx in der Analyse der konkreten Verhältnisse von einem
Gleichgewicht sozialer Krä�e aus. Die Bourgeoisie verzichte, um
Der Hegelianismus als staatstragende Philosophie war intellek- ihre soziale Macht zu erhalten, auf die politische Macht. Dadurch
tueller Zeitgeist Preußens. Aber allein dass Friedrich Wilhelm verselbständige sich die Exekutive unter Louis Bonaparte als Dik-
IV. von Preußen den Hegel-Gegner Schelling nach Berlin auf tator. Eine Analyse, die die KPO als Folie für die Analyse des Fa-

2 Von einer bourgeoisen Klasse kann hier aber ebenso wenig die Rede sein 3 Eine Vorstellung, an die utopische Sozialisten wie zum Beispiel Proud-
wie von einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Beide sind Resultat der vollzo- hon, immer anknüp�en.
genen Revolution, nicht Voraussetzung (vgl. Gerstenberger 1990). 4 Diese rein normative Grundlage �ndet heute im Kommunitarismus
seine Fortsetzung.
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schismus heranzog. Bei der Analyse der Pariser Kommune (März dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt
bis Mai 1871) hebt er den historischen Verdienst hervor, die politi- die Verwaltung von Sachen“. (MEW Bd.20: 262)
sche Form der Klassenherrscha� zerschlagen zu haben. Hier taucht
auch der Begriff der „Diktatur des Proletariats“ auf, der in der Ge- Ausgeblendet wird die Frage nach der Organisationsform und da-
schichte des Marxismus als formelha�e Phrase tiefere theoretische mit das Problem, dass aus der Verwaltung selbst Herrscha� ent-
Re�exion ersetzt. Marx macht in seiner Auseinandersetzung die springen kann. Dies zeigte später Max Weber.
Unmittelbarkeit der Räte stark, die „endlich entdeckte politische
Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollzie- Sozialdemokratischer Vernun�staat, das Rad der Geschichte
hen konnte“ (MEW Bd.17: 342). Dies macht deutlich, dass Marx und Klassenkampf
eine einfache Übernahme des Staatsapparats ausschloss.
Im Kapital �nden sich nur sporadisch Äußerungen zum Staat, so Auf Ferdinand Lassalle (1825-1864), den Begründer der Deutschen
im achten Kapitel zur englischen Fabrikgesetzgebung zur gesetz- Sozialdemokratie, geht die Staatszentriertheit und der Umvertei-
lichen Verkürzung des Arbeitstages („erste bewusste und planmä- lungsdiskurs zurück, den schon Marx in der Kritik des Gothaer
ßige Rückwirkung der Gesellscha� auf die naturwüchsige Gestalt Programms kritisierte. Im sich noch nicht vollständig durchgesetz-
ihres Produktionsprozesses“ (MEW Bd.23: 504)) oder im 24. Ka- ten Kapitalismus wird Kritik an demselben, so auch bei Lassalle,
pitel zur Rolle staatlicher Zwangsgewalt bei der ursprünglichen aus vorkapitalistischen Vorstellung gespeist: Angegriffen werden
Akkumulation. Im dritten Band äußert sich Marx zu Staatspa- persönliche Herrscha�s- und Abhängigkeitsverhältnisse, ständische
pieren und darüber, aus welchem gesellscha�lichen Verhältnis die Schranken und unrechtmäßige Bereicherung 5. Dem Staat schreibt
spezi�sch politische Gestalt entspringt (vgl. MEW Bd.25: 799f.). Lassalle eine sittliche Natur, die „sittliche Idee des Arbeiterstandes“
In den “Grundrissen” �nden sich längere Passagen zur Rolle des zu, dessen Funktion es sei, zur Freiheit zu erziehen. Staatsmacht wird
Staates bei der Entwicklung der Infrastruktur eines Landes (vgl. so zum Metasubjekt des gesellscha�lichen Prozesses. Das parlamen-
MEW Bd.42: 437ff.). Zu einer zusammenhängenden Analyse des tarische Wahlrecht bezeichnet er als soziales und als Grundprinzip
bürgerlichen Staates kam es nicht mehr. Daran führen auch keine des demokratischen Kampfes.
eklektizistischen Zitatensammlungen vorbei, die der Linken im- Für Eduard Bernstein (1850-1932) war eine Abkehr von der Verelen-
mer wieder Selbstvergewisserung sti�en mussten. dungs- und Zusammenbruchstheorie von August Bebel (1840-1913)
Friedrich Engels (1820-1895), Marx’ langjähriger Freund, verfasste und Karl Kautsky (1854-1938) notwendig. Es dürfe nicht darum
gegen seinen eigenen Willen den Anti-Dühring, der später zu einer gehen, auf den großen „Kladderadatsch“ (Bebel) zu warten oder in
Art „marxistischen Bibel“ wurde. In dieser Schri� und in „Zum einen „revolutionärer Attentismus“ (Groh), wie Kautsky mit seinem
Ursprung der Familie“, die er nach Marx Tod schrieb, äußert er ökonomistischen Determinismus, zu verharren. Vielmehr müsse eine
sich expliziter zum Staat als Marx. Hier sind auch die verkürzten evolutionäre Gesellscha�sumwälzung statt�nden. Diese sei gerade
Vorstellung von Staat und Sozialismus im allgemeinen „der“ Ar- aufgrund der Stärke der ArbeiterInnenklasse möglich. Im Mittel-
beiterInnenbewegung und später von Lenin angelegt. Nach Engels punkt steht die immer weitergehende Demokratisierung und Teilha-
hat der Staat die Funktion, die Klassengegensätze im Zaum zu hal- be an der Gesellscha�. Dies sei über eine plurale demokratische Ge-
ten. Er sei Instrument der mächtigsten, ökonomisch herrschenden genmacht qua Stimmzettel und Selbstverwaltung zu erreichen. Die
Klasse, die mittelst ihm auch politisch herrschende Klasse wird von Marx vorgelegte Demokratiekritik, die Freiheit und Gleichheit
und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung gerade als Formprinzip des Kapitalismus dechiffriert, wird für Bern-
der unterdrückten Klasse. „So war der antike Staat vor allem Staat stein Medium und Mittel der Emanzipation.
der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung der Sklaven, wie der Feu- Rosa Luxemburg (1870-1919) dagegen formulierte eine �eorie des
dalstaat Organ des Adels zur Niederhaltung der leibeignen und Klassenkampfs. Nicht durch Wahlen, sondern durch die „Auswei-
hörigen Bauern und der moderne Repräsentativstaat Werkzeug tung und Radikalisierung der Massenkämpfe soll die etatistische In-
der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital“ (MEW Bd.21: tegration der Arbeiterbewegung noch einmal aufgebrochen werden
166f.) ist. Damit geht die Spezi�k des bürgerlichen Staates als „sub- und ein systemtranszendierender, kollektiver Lernprozess initiiert
jektlose Gewalt“ (Gerstenberger) verloren. Gleichzeitig müsse der werden.“ (Heidt 1998: 405) Gerade durch die Fokussierung auf die
Staat die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen politische Form (Staat) sei eine organisatorische und kämpferische
Produktionsweise aufrechterhalten, gegen alle Klassen als „ideeller Trennung in Partei und Gewerkscha� erfolgt. Das Parlament sei auch
Gesamtkapitalist“. Der Staat wird mit weiterer Vergesellscha�ung durch die Verallgemeinerung von politischen Beteilungsrechten kein
von Produktivkrä�en und Staatseigentum zum realen Gesamtka- Medium der Gesellscha�sveränderung, vielmehr Tribüne für klas-
pitalist: Ein Stichwort, das Lenin wieder aufnimmt. Bei Engels ist senbewusste Au�lärung der Massen. Im Mittelpunkt müsse – im
der Hauptwiderspruch der von gesellscha�licher Produktion und Gegensatz zu Lenins Vorstellungen – die proletarische Autonomie
privater Aneignung auf der Grundlage der juristischen Eigentums- der Bewegung und die Notwendigkeit der Überwindung von Staat-
verhältnisse, was sich in der marxistischen Tradition ab der Zwei- lichkeit in der neuen Gesellscha� stehen. Luxemburg betont hierbei
ten Internationalen durchhalten wird. „Das Proletariat ergrei� die immer den postpolitischen Charakter der sozialen Emanzipation.
Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in
Staatseigentum.“ (MEW Bd.20: 261) Mit dem Ende der Klassen Imperialismus, Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Re-
gibt es auch keinen Staat mehr. visionismus

„Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellscha�liche Verhältnisse Obwohl auch W. I. Lenin (1870-1924) in der bürgerlichen De-
wird auf einem Gebiete nach dem andern über�üssig und schlä� mokratie nichts anderes als einen Betrugscharakter zu erkennen

5 Ähnlich ging es auch vielen anarchistischen KritikerInnen wie Bakun-


in, Kropotkin, Proudhon u.a., trotz ihres Gespürs für sich verselbststän-
digende autoritäre Organisationsformen.

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glaubt, kommt er aufgrund seiner Analyse des konkreten Kapita- der einige Überlegungen von Hermann Heller (1891-1933) auf-
lismus zu anderen Einschätzungen in bezug auf den Staat: nämlich nahm. Der demokratische Verfassungsstaats wird hier verstanden
Imperialismus. Die �ese ist, dass Marx nur den Kapitalismus der als Wirkungseinheit der Kon�iktaustragung und -veränderung, als
Manufakturperiode und den Konkurrenzkapitalismus analysiert Einheit durch Repräsentanz der Interessensgegensätze. Das Ver-
hätte und erst Lenin den „gegenwärtigen“ Monopolkapitalismus ständnis eines „sozialistischen Rechtsstaates“ sollte eine gerechte
als das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus. Über die He- Ordnung der Wirtscha� und die Einschränkung des Privateigen-
rausbildung von Monopolen verwandele sich die freie Konkurrenz tums garantieren. Kapitalismus und Demokratie seien nicht ver-
in eine monopolistische Konkurrenz. Diese �ese war innerhalb einbar. Auch hier fand eine Reduzierung des Privatcharakters der
der Sozialdemokratie weitverbreitet und auch Lenin bezog sich in kapitalistischen Produktionsweise auf die juristischen Eigentums-
seinen Ausführungen wesentlich auf Rudolf Hilferdings’ (1877- verhältnisse statt.
1941) �ese des Monopolkapitals - wobei dieser von einem gerade-
zu automatischen Hinübergleiten zum Sozialismus ausging. Lenin „Die von der modernen Gesellscha� hervorgebrachten demokrati-
dagegen teilte zwar die Aussagen zu den strukturellen neuen Qua- schen Verkehrsformen werden in Widerspruch gesetzt zu der ihnen
litäten und damit neuen Voraussetzungen für einen Übergang zum vorausgehenden, der konstituierenden ökonomischen Basisstruk-
Sozialismus, hielt aber an einem gewaltsamen und revolutionären tur. In der Verkennung des inneren Zusammenhangs von politi-
Umsturz fest. In dieser Phase des monopolistischen Kapitalismus scher Freiheit und ökonomischer Zwangsgesetzlichkeit entsteht die
ist die Warenproduktion, „obwohl sie nach wie vor ‚herrscht’ und illusionäre Hoffnung, durch die Ausweitung der demokratischen
als Grundlage der gesamten Wirtscha� gilt, in Wirklichkeit bereits Diskursformen und Kontrollmöglichkeiten den Selbstlauf des
untergraben“. (LAW Bd.2: 666) An die Stelle des Wertgesetzes marktwirtscha�lichen Prozesses durchbrechen zu können.“ (Heidt
treten unmittelbare Herrscha�sverhältnisse und die damit verbun- 1998: 414)
dene Gewalt (ebd: 667) als Vermittlung der Reproduktion. Damit
verschmelze politische und ökonomische Macht in einer spezi�- Die �eorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus (StaMoKap)
schen Weise, die ein neues Verhältnis von Politik und Ökonomie schloss nach dem Zweiten Weltkrieg an Lenin an. Allerdings wur-
bedeute und eine Steuerungs- und Planungsmöglichkeit freisetze, de der Begriff erst auf einem Treffen der KPs 1960 in der UdSSR
die es zu erobern gilt. Nicht ohne Grund sah Lenin in der Deut- offiziell eingeführt und nach und nach Allgemeingut des Marxis-
schen Post der damaligen Zeit ein Vorbild für die sozialistische mus-Leninismus jeglicher Couleur. Auch in der Bundesrepublik
Wirtscha�. Dieser Neutralitätsgedanke der technischen Organisa- war es ein breites Spektrum, das sich affirmativ, wenn auch unter-
tion der Produktion spiegelt sich in der Vorstellung zum Staat wi- schiedlich auf diesen Ansatz bezog. Von der DKP und ihren Sym-
der. Im Anschluss an Engels Ausführungen ist für Lenin in “Staat pathisantInnen, über die Jungsozialisten bei der SPD bis hin zur
und Revolution” (1916) der Staat Werkzeug und Organ der Klas- akademischen Linken wie Jörg Huffschmid, Stichwortgeber in der
senherrscha�, unabhängig von seiner politischen Form. Re-Regulierungsdebatte und Mitbegründer von ATTAC Deutsch-
Der ambivalente Charakter der Leninschen �eorie resultiert dar- land (vgl. Huffschmid 1995). Selbst der Antonio Negri der siebzi-
aus, dass die Texte sich meist auf konkrete und strategische Hande- ger Jahre kann in gewisser Weise hier hinzugezählt werden, wobei
lungskontexte bezogen, die im Marxismus-Leninismus dagegen zu als Schlussfolgerung nicht die Eroberung des Staates, sondern mit
allgemeingültigen Formeln wurden. In aller erster Linie war Lenin dem Angriff auf das Herz des Staates zugleich das Gravitationsfeld
Revolutionstheoretiker. Erst mit der Notwendigkeit aus der Praxis der ganzen Gesellscha�sverhältnisse getroffen werden sollte. Nach
heraus machte sich Lenin Gedanken zum Verhältnis von Staat und dem Niedergang der westlichen KPs und dem Kollaps des realexis-
Revolution. Während er vor der Oktoberrevolution durchaus von tierenden Sozialismus sind weitere intensive Auseinandersetzungen
der Zerschlagung des Staates sprach, was er selbstkritisch als an- ausgeblieben. Wenn auch heute immer noch implizit Vorstellungen
archistische Entgleisung bezeichnete, rückte mit den praktischen des StaMoKap bei politischen Gruppen vorherrschen, ohne dass
Erfordernissen der instrumentelle Charakter in den Vordergrund: diese sie bewusst re�ektieren. Nicht nur die unterschiedlichste Aus-
legung, sondern auch dass die �eorie immer wieder modi�ziert
„Die Sozialisten treten für die Ausnutzung des modernen Staates wurde und werden musste, macht es schwierig, von einem kohären-
und seiner Institutionen im Kampf für die Befreiung der Arbeiter- ten Paradigma zu sprechen. Um an Lenins’ Konzeption der „Fäul-
klasse ein sowie für die Notwendigkeit, den Staat als die eigentüm- nis“ und des Niedergangs festhalten zu können, wurde von einer
liche Form des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus aus- immer noch anhaltenden allgemeinen Krise ausgegangen. Kurz:
zunutzen. Eine solche Übergangsform, ebenfalls ein Staat, ist die Mit der zunehmenden Monopolisierung kann der Kapitalismus
Diktatur des Proletariats.“ (LW Bd.23: 165f.) nur noch über politische Herrscha� aufrecht bzw. funktionsfähig
gehalten werden. Damit tritt der Staat als „ökonomische Potenz“
Die Debatten in der Weimarer Republik waren – nicht zuletzt auf auf. Es geht aber nicht einfach nur um die subjektive Steuerungsfä-
Grund des Drucks, den die Oktoberrevolution ausübte – geprägt higkeit des Staates, sondern um eine qualitativ neue Form der kapi-
von Kontroverse um die parlamentarische Demokratie und deren talistischen Regulierung und letztendlich um ein qualitativ neues
Integrationsleistung. Diese Debatten wurden nicht nur innerhalb Verhältnis von Ökonomie und Politik. Diese schreiben wieder die
der radikalen Linken geführt, sondern auch in sozialdemokrati- strukturellen Ausgangsbedingungen für politische Strategien vor:
schen und linksliberalen Kreisen, die besonders nach der Zerschla- Zum einen entstehen neue Bündnisformen, die sich allein in Op-
gung der ArbeiterInnenklasse im Nationalsozialismus zu Anfang position zu monopolistischen Kapitalien formieren (antimonopo-
der Bundesrepublik eine wesentliche Rolle spielte, da eine radikale listische Bündnisse), zum anderen ist in das neue Verhältnis von
Kritik des Parlamentarismus nicht mehr sozial verankert werden Ökonomie und Politik der Übergang zum Sozialismus bereits ein-
konnte. Stattdessen wurde die Hoffnung auf eine politische und geschrieben, da der staatsmonopolitische Kapitalismus ungewollt
soziale Transformation der Gesellscha� auf der Grundlage des und objektiv bereits die materielle Vorbereitung des Sozialismus
Grundgesetzes gesetzt. So bei Wolfgang Abendroth (1906-1985), leistet. Damit ist die Eroberung durch die Arbeiterklasse und sei-

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ne Instrumentalisierung für deren langfristige sozialistische Ziele werden. Nicht zuletzt die Frage, wie das Verhältnis von Rechts-
prinzipiell möglich. Mit der diskursiven Dominanz des Marxismus- staat/Sozialstaat und Klassenstaat zu fassen sei. Auch wenn kein
Leninismus wurden aus einigen strategisch-taktischen Aussagen „offizielles“ Ende der Debatte zu verzeichnen ist und die sehr in-
verschiedener Autoren ein kanonisiertes Dogmengebäude. Unklar tensiven Auseinandersetzungen sich kaum auf einen Nenner brin-
bleibt das Spezi�sche des kapitalistischen Klassenstaates gegenüber gen lassen, sind doch einige Ergebnisse der Debatte festzuhalten.
anderen „Staaten“ und damit die Begründung des Staates als einer Diese lassen sich allerdings auf einer sehr allgemeinen und abstrak-
Instanz neben und außerhalb der Gesellscha�. Des weiteren wird ten Ebene verorten. Damit sind sie aber nicht unwichtig, vielmehr
der bürgerlichen Wissenscha� die Trennung von Politik und Öko- beanspruchen sie aufgrund der Abstraktheit Allgemeingültigkeit
nomie, weil einfach vorausgesetzt reproduziert, die Vorstellungen für jeden Staat in einer kapitalistischen Gesellscha�: In einer Ge-
vom Staat als Instrument und einer voluntaristischen Vorstellung sellscha�, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht, ver-
staatlicher Macht Vorschub leistet, vorgeworfen. halten sich die Menschen als Warenbesitzer und damit als Privat-
eigentümer zueinander. Frei von persönlichen Abhängigkeits- und
Die Staatsableitungsdebatte Herrscha�sverhältnissen wird ihr Eigentum von einer dritten In-
stanz garantiert - dem Staat. Das betri� sowohl die Reproduktion
Die sogenannte Staatsableitungsdebatte begann Anfang der siebzi- der Ware Arbeitskra� als auch die private Verfügungsgewalt über
ger Jahre und ist Ausdruck sowohl des Beginns der ökonomischen Produktionsmittel. In diesem Sinne sind die WarenbesitzerInnen
Krise, als auch der sich transformierenden sozialen Bewegung nach als vereinzelte Einzelne vor der »subjektlosen Gewalt« frei und
dem Ende der Studentenrevolten. Nach dem Ende des ersten Welt- gleich. Klassenstaat ist dieser also nicht, weil er Instrument einer
kriegs setzte nicht nur in der BRD ein vermeintlich grenzenloses herrschenden Klasse ist, sondern gerade weil sich unter der Form
Wirtscha�swunder ein und die bürgerlichen Wirtscha�stheorie der Neutralität die Ungleichheit rechtmäßig reproduziert.
hatte „im keynesianischen Staat ihr Ei des Kolumbus entdeckt“ Analog zu der Vergesellscha�ung der privaten Warenbesitzer über
(Kostede 1976: 151). Nach dem scheinbaren Ende der Klassenge- den Markt in Bezug auf das Geld nehmen die isolierten Staatsbür-
sellscha� war die Verblüffung über die repressiven Qualitäten des gerInnen erst in Bezug auf den Staat eine Form von Gesellscha�-
bundesdeutschen Rechtsstaats und die Grenzen der staatlichen lichkeit an. In diese ist das „Allgemeininteresse“ „Freiheit und
Steuerungsfähigkeit im Zuge der Verschärfung der Krise groß. Die Gleichheit“ eingeschrieben - als ideologische Form. Herrscha�
Verschärfung der sozialen Kämpfe und das Ende der StudentIn- hat sich somit verdoppelt: sie ist einerseits ökonomische und an-
nenbewegung verschoben das politische Terrain. Die parlamenta- dererseits politische. In diesen Formen reproduziert sich das Ka-
rische Demokratie war in der Lage disziplinierend in die sozialen pitalverhältnis und mit ihm Herrscha� und Ausbeutung. Damit
Widersprüche einzugreifen. Selbst den Demokratietheorien, die ei- ist die Funktionsbestimmung des Staates, die kapitalistische Ak-
nen sukzessiven Übergang von der parlamentarischen Demokratie kumulation aufrecht zu erhalten, zugleich notwenige Grundlage
vorsahen (zum Beispiel Abendroth) waren mit der Notstandgesetz- seiner eigenen Existenzgrundlage: ausreichende Steuereinnahmen,
gebung und dem Ausbau der repressiven Herrscha�sinstrumente begrenzte Sozialausgaben und ein „stabiles“ Geld.
objektive Grenzen gesetzt 6. Erst in dieser Form entsteht so etwas wie ein allgemeines Interesse
des Kapitals, steht es doch als Klasse jenseits des Aushandlungs-
„Wo die staatlich garantierten Grenzen gesellscha�licher Kon- prozesses der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ und dem Diskurs ums
kurrenzen und Kämpfe nicht mehr zu erweitern waren, wo die „Allgemeinwohl“ in Konkurrenz zueinander. Dieses wird nicht
Grenzen überschritten wurden und – auf dem Hintergrund erster nur gegen, sondern auch mit der Zustimmung der ausgebeuteten
gravierender ökonomischer Krisen – militante Klassenkämpfe an- Klasse durchgesetzt, weshalb Johannes Agnoli davon spricht, dass
tizipierbar wurden und ihrer Entfaltung vorzubeugen war, war die eine wesentliche Funktion des Staates die Herstellung des Konsen-
Staatsgewalt zum Einschreiten gezwungen. Der Tanz der Staatsge- ses der Subalternen zu ihrer Ausbeutung ist (Agnoli 1975).
walt regt bekanntlich die Geister an. Jedenfalls war es – entgegen Mit dieser Formbestimmung wurde gezeigt, dass jeder Staat in
allem Anschein – nicht gelehriges wissenscha�liches Interesse, das einer kapitalistischen Gesellscha� immer „Staat des Kapitals“
erneut die Frage nach jenem dubiosen Charakter des bürgerlichen (Agnoli) ist. Damit ist er aber kein Instrument einer herrschen-
Staates stellen ließ.“ Kostede 1976: 153f.) den Klasse, sondern ein strukturelles Adäquanzverhältnis ist ge-
meint. Jeder naiven Variante des Reformismus wurde somit eine
Vor diesem gesellscha�lichen Hintergrund und der Abwesenheit Absage erteilt. Staatliche Politik muss sich innerhalb eines in die
einer Marxschen Staatstheorie, an der kritisch hätte angeschlossen gesellscha�liche Struktur eingeschriebenen „Handlungskorri-
werden können, wurden viele Fragestellungen mit einem politi- dors“ vollziehen. Damit kann über die Form Staat überhaupt kei-
schen Erkenntnisinteresse formuliert, die aber bald in sehr abstrak- ne grundlegende Transformation gesellscha�licher Verhältnisse
ten akademischen Debatten versanden sollten. Die Trennung von vollzogen werden. Über den Spielraum staatlicher Politik ist
Politik und Ökonomie (= Staat und Gesellscha�), die die Form ei- damit jedoch noch nichts ausgesagt. Deshalb versuchen Staats-
ner offiziellen, subjektlosen staatlichen Herrscha� annimmt, sollte theoretiker wie Joachim Hirsch die grundlegenden Überlegun-
nicht einfach hingenommen, sondern selbst als erklärungswürdig gen mit Ansätzen von Gramsci und Poulantzas fortzuschreiben.
erkannt werden. Eine Frage, die sich schon der sowjetische Rechts- Gleichzeitig entstanden aber auch Vorstellungen, zum Beispiel
theoretiker Paschukanis stellte. Auch die immer wiederkehrende bei der Marxistische Gruppe (MG) und dem heutigen Organ
Hoffnung innerhalb emanzipatorischer Bewegungen in den Staat „Gegenstandpunkt“, dass diese Formbestimmung des Politischen
als regulierende neutrale Instanz und Garant des Allgemeinwohls bereits die Durchsetzung, also konkrete Handlungen der Agen-
sollte als objektive Bewusstseinsform des Kapitalismus begründet ten, beschreibe.

6 Einen Überblick über links-sozialistische Demokratietheorien bis Ende


der achtziger Jahre bietet Demirović 1999

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Die Krise des Marxismus und seine Renaissance den realexistierenden Sozialismus zu sehen, in welchem der Staat,
entgegen allem Vorhersagen, keine Anstände machte, abzusterben.
1977 rief der französische Marxist Althusser ganz erfreut die „Krise Während also ersterer selbst unter dem Umstand, dass die Bour-
des Marxismus“ aus. Erfreut deshalb, weil er in der Krise die Mög- geoisie die politische Herrscha� verloren habe, fortbestehen könne
lichkeit sah, dass die theoretischen Grundlagen neu re�ektiert wer- wie in der Sowjetunion, sei die Staatmacht, „Ziel des politischen
den würden. Für die marxistische Staatstheorie war der nicht sich Klassenkampfes“ (Althusser 1973: 125), wechselnden politischen
vollziehende Absterbungsprozess des Staates in den realsozialisti- Krä�en „zugänglich“. Deshalb sei in revolutionärer Perspektive der
schen Ländern ein Dorn im Auge, war doch noch immer der Staat Apparat zu „zerschlagen“.
ein zentrales Moment für die revolutionäre Strategiediskussion Im Anschluss an Louis Althusser und den strukturalen Marxis-
innerhalb der westlichen KPs. Inzwischen war es innerhalb linker mus sind zwei theoretische Wege eingeschlagen worden. Diese sind
�eoriebildung zu einer kritischen Wiederaneignung der �eorie mit zwei �eoretikern verbunden: Zum einen mit dem Marxisten
des Leninisten Antonio Gramsci (1891-1937) gekommen. Neben Nicos Poulantzas, der erstmals versuchte, eine konsistente marxis-
der Kritik des Ökonomismus ging es Gramsci maßgeblich um die tische Staatstheorie zu formulieren, zum anderen mit Michel Fou-
Frage, warum es im Gegensatz zu Russland nicht zu einem revoluti- cault (1926-1984), der sich der Mikrophysik der Macht und Öko-
onären Umsturz der Verhältnisse im westlichen Europa kam. Dies nomie der Macht zuwandte.
machte er an den „modernen“ Strukturen der Gesellscha� fest, die Nicos Poulantzas (1936-1979) thematisiert den Staat als gesellscha�-
kein zentrales Machtzentrum wie das zaristische Russland haben. liches Verhältnis und holt ihn somit als „Instanz“ wieder zurück in
Diesen Umstand versucht er mit der analytischen Kategorie des die Gesellscha�. Ausgehend von einer Kritik an Althusser und Fou-
„erweiterten“ bzw. „integralen“ Staates zu fassen. Den Staat begrei� cault kommt er zu seiner berühmten Bestimmung des Staates als „als
er somit als Einheit einer societá civile („Zivilgesellscha�“) und ein sich selbstbegründendes Ganzes [...], wie auch [dem] ‚Kapital’, als
societá politica („politischen Gesellscha�“). Die Zivilgesellscha�, ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Krä�ever-
die nicht mit der neutralen Bedeutung, wie sie heute o� verwandt hältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat
wird, verwechselt werden darf, wird als „Ensemble der gemeinhin immer in spezi�scher Form ausdrückt.“ (Poulantzas 1978: 119). Die
‚privat’ genannten Organismen“ (GH Bd.7: 1502) verstanden, als Unterscheidung von repressiven und ideologischen Staatsapparaten
eine Sphäre, in der um Hegemonie gerungen wird. In der politi- nimmt Althusser zurück, da diese rein deskriptiven Charakter ha-
schen Gesellscha� wird die direkte Herrscha� im klassischen Sinn ben. Poulantzas führt zwei Gründe an, warum das Kategorienpaar
durchgesetzt und „die Disziplin derjenigen Gruppen gewährleistet, repressiv und ideologisch nicht grei�: Zum einen lösen sich ökono-
die weder aktiv noch passiv ‚zustimmen’“ (ebd.). Der Staat ist so- mische Funktionen in diesen Apparaten auf und werden unsichtbar
mit und damit auch die dahinterstehenden Klassen. Zum zweiten wird
„der gesamte Komplex praktischer und theoretischer Aktivitäten es kategorial unmöglich gemacht, dass Apparate sich verschieben und
[...], womit die führende Klasse ihre Herrscha� nicht nur recht- jeweils andere Funktionen übernehmen. Damit grenzt er sich von
fertigt und aufrechterhält, sondern es ihr auch gelingt, den aktiven zwei, hier bereits aufgeführten, Auffassungen ab: Zum einen von der
Konsens der Regierten zu erlangen“ (ebd.: 1726). Vorstellung des Staates als neutralem Instrument einer Klasse. Zum
anderen von der Sicht auf den Staat als „vernün�igem Subjekt“. Der
Diese aktive Zustimmung der Subalternen zu ihrer eigenen ge- ersten hält er die strukturelle Selektionsstrukturen entgegen, die in
sellscha�lichen Stellung vollzieht sich durch die Hegemonie als die Materialität des Staates eingeschrieben seien. Die Staatsform
„das Umkämp�e und das Medium des Kampfes“ (W.F.Haug). bevorzugt systematisch gesellscha�liche Gruppen gegenüber ande-
Diese konkrete Modalität staatlicher Macht durchzieht alle ge- ren. Diese Strukturen seien in der gesellscha�lichen Arbeitsteilung
sellscha�lichen Organisationen, institutionalisierte Formen und der kapitalistischen Produktionsweise eingelassen. Gegenüber dem
kulturelle sowie ethische Praktiken. Bevor es also um die Erobe- instrumentalistischen Kurzschluss unterscheidet er ähnlich wie Al-
rung der Staatsmacht in westlichen Gesellscha�en gehen könne, thusser Staatsapparate und Staatsmacht: die Staatsapparate können
so folgert der Leninist Gramsci, müsse es um den Kampf um und nicht auf die Staatsmacht reduziert werden, die im Kapitalismus die
die Sicherung der Hegemonie in der Zivilgesellscha� gehen. Der Bourgeoisie innehat. „Eine Veränderung der Staatsmacht allein trans-
„Bewegungskrieg“ müsse von einem „Stellungskrieg“ abgelöst wer- formiert die Materialität des Staatsapparates nicht.“ (ebd.: 121) Die-
den. Aber auch Gramsci, Kind seiner Zeit, bleibt in leninistischen ser Vorstellung kann Poulantzas also nur entgehen, weil er den Staat
Vorstellungen verha�et. Der Staat im engen Sinne wird weiterhin als eine soziale Beziehung begrei�, der deshalb keine Macht hat und
als eine neutrale Instanz begriffen, die, ist sie einmal über einen sie deshalb auch nicht ausüben kann. Vielmehr ist er durchzogen von
langatmigen Stellungskrieg erobert, einen „sittlichen Staat“ einer gesellscha�lichen (bei ihm meist Klassen-)Kämpfen, die sich in ihn
„regulierten Gesellscha�“ (GH Bd.4: 783) darstellt. in einer transformierten Weise einschreiben. Dieser Gedanke ist auch
Im Anschluss an Gramsci spricht Lous Althusser (1918-1990) ca. Ansatzpunkt feministischer Staatstheorien, die diesen nicht als einen
vierzig Jahre später von ideologischen und repressiven Staatsappara- „Männerbund“, sondern ebenfalls als eine gesellscha�liches Verhält-
ten und hebt damit die „Materialität“ der Ideologie bzw. Hegemo- nis auffassen – eine geschlechtsspezi�sche komplexe materielle Relati-
nie in Apparaten hervor. Während der letztere fast ausschließlich on (Demirović/Pühl 1997). Somit ist der Staat trotz seiner „relativen“
auf Gewalt beruhe, funktionieren die ersteren vornehmlich über Autonomie von den gesellscha�lichen Klassen als soziale Beziehung
die herrschende Ideologie – Hegemonie. Der Staat sei die Bedin- in die gesellscha�liche Verhältnisse „zurückgeholt“. Deshalb gibt es
gung der Möglichkeit, dass Teile der ideologischen Staatsapparate auch keine Materialität des Staates jenseits von Klassenverhältnissen
qua bürgerlich recht privat organisiert seien. Althusser stellt also und deren asymmetrischen gesellscha�lichen Krä�ekonstellation.
die Trennung von „öffentlich“ und „privat“ als solcher in Frage und Michel Foucault (1926-1984) dagegen, dem Poulantzas vorwir�,
stellt selbst deren umkämp�en Charakter heraus. In Bezug auf den dass er den Machtbegriff auf eine universelle, nicht weiter fundierte
Staat hebt Althusser die Differenz von Staatsapparat und Staats- Technik reduziere, versucht, ausgehend von spezi�schen Praktiken
macht hervor. Dies ist vor dem Hintergrund der Enttäuschung über und diffusen Formen von Machtbeziehungen den Staat zu ergrün-

16
den. Nicht im Staat oder gar im „Wesen“ des Staates sei die Macht Literatur:
konzentriert, sondern diese sei in allen sozialen Beziehungen allge-
genwärtig. Der Staat wird hier thematisiert als eine autonome Form Agnoli, Johannes (1975): Der Staat des Kapitals. „Zivilgesellscha�“ oder
der politischen Rationalität, die sich in politischen und Staatspro- bürgerliche Gesellscha�, in: derselbe (1995): Der Staat des Kapitals und
jekten manifestiert: zum Beispiel im Polizeistaat oder Sozialstaat. weitere Schri�en zur Kritik der Politik, Freiburg, 21 – 89.
Die Regierungs- oder Staatskunst kann somit konkret als diskursive Althusser, Louis (1973): Ideologie und ideologische Staatsapparate, in:
Praktik thematisiert und analysiert werden. Damit wird der Staat derselbe: Marxismus und Ideologie. Probleme der Marx-Interpretation,
nicht als ein den Subjekten äußerliches, sondern als sie gerade kon- Westberlin, 111 – 172.
stituierendes Moment gefasst. „Insgesamt ging es Foucault in seiner Butterwegge, Christoph (1977): Probleme marxistischer Staatsdiskussi-
Geschichte der Gouvernementalität um den Nachweis einer Ko-For- on, Köln
mierung von modernen souveränen Staaten und modernem autono- Demirović, Alex / Pühl, Katharina (1997) : Identitätspolitik und die
men Subjekt.“ (Lemke 2000: 33) Die Regierung ist somit die Transformation von Staatlichkeit : Geschlechterverhältnisse und Staat
als komplexe materielle Relation, in: Kreisky, Eva / Sauer, Birgit (Hg.)
„Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels deren man (1997): Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformati-
die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung [...] on, 38.Jg., SH 28 der PVS, Opladen, 220 – 240.
Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Demirović, Alex (1987): Nicos Poulantzas. Eine kritische Auseinander-
Lenkung der Menschen untereinander gewährleistet“ (Foucault n. setzung, Berlin
Lemke et.al.(2000): 7). Demirović, Alex (1997): Demokratie und Herrscha�. Aspekte kritischer
Gesellscha�stheorie, Münster
Damit wird der Begriff der Regierung Bindeglied von strategischen Esser, Josef (1975): Einführung in die materialistische Staatsanalyse,
Machtbeziehungen und Herrscha�szuständen. Frankfurt – New York
Gerstenberger, Heide (1990): Subjektlose Gewalt. �eorie der Entste-
Wie hältst Du es mit dem Staat? hung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster
Gramsci, Antonio: „Gefängnishe�e“, Hamburg/Berlin 1991ff. (9. Bd.),
Nachdem seit fast 20 Jahren kaum intensive Debatten um den Staat zit. GH
aus einer politisch-strategischen Absicht geführt wurden, werden mit Huffschmid, Jörg (1995): Weder toter Hund noch schlafender Löwe. Die
der zunehmenden Formulierung von Forderungen und Strategiebe- �eorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: spw, Zeitschri� für
stimmungen innerhalb der Linken Differenzen offensichtlich, die sich sozialistische Politik und Wirtscha�, He� 2/95
meist an der Debatte um „Reform“ oder „Revolution“ entzünden. Die Heidt, Elisabeth (1998): Staatstheorien: Politische Herrscha� und bür-
den Positionen zu Grunde liegenden Differenzen lassen sich jedoch mit gerliche Gesellscha�, in: Neumann, Franz (Hrsg.): Handbuch Politische
der Frage „Wie hältst Du es mit dem Staat?“ offen legen. Während eini- �eorien 1, Opladen, 381 – 446.
ge den Staat als Garanten eines „Allgemeinwohls“ begreifen, an dessen Hirsch, Joachim/ Reichelt, Helmut / Schäfer, Gerd (Hrsg.) (1974):
Adresse die an die Vernun� appellierenden Forderungen gerichtet wer- Marx, Karl /
den sollten, meinen die anderen, sich jenseits staatlicher Praktiken zu Engels, Friedrich: Staatstheorie; Materialien zur Rekonstruktion der
be�nden und erkennen in konkreten staatlichen Aktivitäten ein immer marxistischen Staatstheorie, Frankfurt/M. - Berlin – Wien
bereits bestehendes Interesse des Kapitals. Hirsch, Joachim (1995): Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demo-
Politische Beziehungen sind mehr als die Summe der ökonomischen kratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin – Amsterdam
Beziehungen und der Staat ist somit im umfassenden Sinn ein Gebilde, Jessop, Bob (1995): Der Staat im marxistischen Denken der Nachkriegs-
das komplexe soziale Verhältnisse ausdrückt. Das schließt Klassenver- zeit, in: spw, Zeitschri� für sozialistische Politik und Wirtscha�, He� 5/95
hältnisse, auf die Poulantzas seine Analyse beschränkt, ebenso ein wie Kostede, Norbert (1976): Die neuere marxistische Diskussion über den
Geschlechterverhältnisse. Damit der Staat aber nicht als ein form- und bürgerlichen Staat. Einführung – Kritik – Resultate, in: Gesellscha�.
lebloses Gebilde konzeptualisiert wird, besteht Poulantzas darauf, dass Beiträge zur Marxschen �eorie 8/9, Frankfurt/M., 150 – 198.
der Staat auf die Klassen eine formierende und organisierende Wirkung Lemke, �omas / Krasmann, Susanne / Bröckling, Ulrich (2000):
hat. Der Staat besitzt eine eigene Materialität, in welche sich die Kräf- Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine
teverhältnisse der Klassen einschreiben müssen. Die Form »Staat« ist Einleitung, in: dieselben (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart.
aber bei Poulantzas trotz aller Betonung einer »asymmetrischen Form« Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M., 7 – 40.
nichts anderes als ein Krä�everhältnis. Die Form „Staat“, so wie sie die Lemke, �omas (2000): Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien.
Staatsableitung versucht hat zu konzeptualisieren, ist theoretische Vo- Ein kritischer Überblick über die governmentality studies, in: Politische
raussetzung der konkreteren Bestimmung im Sinne Poulantzas. Wird Vierteljahresschri�, 41.Jg., H.1, 31 – 47.
diese Formbestimmung des Politischen nicht vorgenommen, läu� man Müller, Jens Christian / Reinfeldt, Sebastian / Schwatz, Richard /
Gefahr, diese allein in Krä�everhältnisse aufzulösen.Für eine politische Tuckfeld, Manon (1994): Der Staat in den Köpfen. Anschlüsse an Louis
Strategie müsste klar geworden sein, dass Emanzipation nicht über den Althusser und Nicos Poulantzas, Mainz
Staatapparat erreicht werden kann, da „Menschen nicht mittels Herr- Poulantzas, Nicos (1978): Staatstheorie – Politischer Überbau, Ideologie,
scha� und Zwang befreit werden können“ (Hirsch) und dass gleichzei- Sozialistische Demokratie, Hamburg
tig der Staat nicht einfach Herrscha�sinstrument einer herrschenden Rotermundt, Rainer (1997): Staat und Politik, Münster.
Klasse ist. Damit hat aber eine strategische Auslotung von politischen
Handlungsmöglichkeiten erst begonnen.

Der Text von Ingo Stützle: Staatstheorien oder „Beckenrandschwimme- www.grundrisse.net/grundrisse06/6staatstheorien.htm


rInnnen aller Länder, vereinigt euch!“ erschien erstmals in: grundrisse. Dank der freundlichen Genehmigung des Autoren und der Redaktion der
Zeitschri� für linke �eorie und Debatte Nr. 6, 2003, S. 27-38, http:// Zeitschri� grundrisse darf er hier erneut veröffentlicht werden.

17
Michael Heinrich

Die Grenzen des „idealen Durchschnitts“


Zum Verhältnis von Ökonomiekritik und Staatsanalyse bei Marx

Wie Marx am Ende des dritten „Kapital“-Bandes betonte, zielte Ökonomisch-philosophischen Manuskripte dar. Sie gehen von der Vor-
seine Darstellung auf die kapitalistische Produktionsweise in ih- stellung aus, dass die Menschen im Kapitalismus von ihrem mensch-
rem „idealen Durchschnitt“ (MEW 25, S. 839): nicht die konkrete lichen „Gattungswesen“ „entfremdet“ seien. In der am Ende seiner
Gestalt des englischen Kapitalismus in den 1860er Jahren war Ge- Arbeit an diesem Manuskript verfassten „Vorrede“ kündigte Marx
genstand seiner Analyse, sondern alles das, was notwendigerweise mehrere Broschüren an, welche „die Kritik des Rechts, der Moral,
zu einer voll entfalteten kapitalistischen Produktionsweise gehört. Politik etc.“ (MEGA I/2, S. 314) behandeln sollten.
Eine Analyse des bürgerlichen Staates auf einer ähnlich allgemei- Im Jahr 1845 verfasst Marx aber nicht solche Broschüren, sondern
nen Abstraktionsebene hat Marx allerdings nicht mehr unternom- die Feuerbachthesen und danach gemeinsam mit Engels die verschie-
men. Doch �nden sich bei ihm nicht nur Untersuchungen von kon- denen Manuskripte zur Deutschen Ideologie. Hier werden nicht nur
kreten staatlichen Zuständen, sondern auch eine ganze Reihe von die ehemaligen junghegelianischen Mitstreiter einer grundsätzlichen
recht grundsätzlichen staatstheoretischen Überlegungen. In den Kritik unterzogen, sondern auch der 1844 von Marx und Engels
Debatten des 20. Jahrhunderts, dienten diese Überlegungen gerne noch hoch geschätzte Ludwig Feuerbach. Statt einer weiteren Aus-
als Zitatensteinbruch für eine „marxistische“ Staatstheorie. Wel- arbeitung der 1844 begonnenen Ökonomiekritik folgt die Kritik der
chen Stellenwert die jeweiligen Äußerungen aber überhaupt haben, konzeptionellen Grundlagen der vormaligen Kritik. Rückblickend
wurde meistens nicht weiter diskutiert. Allenfalls unterschied man schreibt Marx 1859 im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökono-
zwischen den sehr frühen, in einem eher „philosophischen“ Kon- mie, es sei ihm und Engels darum gegangen „mit unserm ehemaligen
text stehenden Äußerungen und den späteren „materialistischen“ philosophischen Gewissen abzurechnen“ (MEW 13, S. 10). In der
Überlegungen. Nimmt man jedoch ernst, was Marx 1859 im Vor- Deutschen Ideologie kritisiert Marx die philosophische „Spekulation“
wort von Zur Kritik der politischen Ökonomie als seine grundlegen- (zu der er nun auch die Überlegungen über ein menschliches Wesen
de Einsicht beschreibt, dass rechnet) und betont die Notwendigkeit, mit den „wirkliche[n] Vo-
raussetzungen“ zu beginnen, nämlich den „wirklichen Individuen“
„Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu be- und ihren „materiellen Lebensbedingungen“. Immer wieder betont
greifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschli- er: „Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege
chen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhält- konstatierbar.“ (MEW 3, S. 20).
nissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Was Marx und Engels im sogenannten „Feuerbachkapitel“ der Deut-
Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen schen Ideologie vorlegten, galt sowohl im Rahmen des Marxismus-
‚bürgerliche Gesellscha�‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie Leninismus als auch in vielen, dem Marxismus-Leninismus kritisch
der bürgerlichen Gesellscha� in der politischen Ökonomie zu su- gegenüberstehenden Varianten des Marxismus als die erste, grund-
chen sei“ (MEW 13, S. 8), legende Formulierung von Marx‘ „materialistischer Geschichtsauf-
fassung“.2 Allerdings war dieses „Feuerbachkapitel“ ein aus Ma-
dann ist diese Einsicht auch auf die Entwicklung seiner eigenen nuskripten verschiedener Bearbeitungsstufen zusammengebau-tes
staatstheoretischen Äußerungen zu beziehen und zu fragen, in- Konstrukt der verschiedenen Editoren, die die Deutsche Ideologie
wieweit sich diese Äußerungen überhaupt einem entwickelten Ver- lange nach Marx’ Tod publizierten.3 Die im Marx-Engels-Jahrbuch
ständnis der politischen Ökonomie verdanken. 2003 erfolgte Veröffentlichung der Originalmanuskripte, in dem
Zustand, wie sie hinterlassen wurden,4 macht deutlich, dass Marx
I. und Engels die „idealistische Geschichtsauffassung“ der nachhegel-
schen Philosophie zwar überzeugend zu kritisieren wussten, dass ihr
Für die frühen „philosophischen“ Manuskripte, wie etwa die Kritik positiver Gegenentwurf aber noch weitgehend in methodischen Vo-
der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843) ist diese Frage leicht zu rüberlegungen stecken blieb. So heißt es über die Untersuchung der
beantworten: Marx arbeitet sich dort erst zur genannten Einsicht politischen Verhältnisse lediglich programmatisch:
durch, aus der dann die Beschä�igung mit der politischen Ökono-
mie resultierte.1 Den ersten Versuch einer kritischen Auseinander- „Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf eine be-
setzung mit der politischen Ökonomie stellen die 1844 entstandenen stimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten ge-

1 Einen neuen und interessanten Versuch das Marxsche Verständnis von 2 Eine grundsätzliche Kritik dieser verbreiteten Auffassung habe ich in
Staat und Demokratie ausgehend von dessen philosophischen Frühschrif- Heinrich (2004) formuliert.
ten (insbesondere der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und der 3 1932 erschien die Deutsche Ideologie sowohl im Rahmen der ersten
Judenfrage) zu verstehen, machte Jürgen Behre (2004). Dabei wird aller- MEGA, als auch in einer erheblich abweichenden von Siegfried Landshut
dings stillschweigend unterstellt, dass zentrale staatstheoretische Einsich- und Jakob Peter Mayer herausgegebenen Fassung.
ten auch ohne eine entfaltete Ökonomiekritik zu haben sind. 4 Auch die Darbietung im 1972 gedruckten Probeband der MEGA folgt
schon weitgehend diesem Prinzip, verzichtet aber noch nicht ganz auf
interpretierende editorische Eingriffe (vgl. dazu Marx-Engels-Jahrbuch
2003, S.17* ff.).
18
sellscha�lichen und politischen Verhältnisse ein. Die empirische angeben. Dies ist erst möglich, nachdem er den Warenfetisch ana-
Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der lysiert hat (vgl. dazu insbesondere MEW 23, S. 95 f.).
gesellscha�lichen und politischen Gliederung mit der Produktion Auf diesem weitgehend ricardianischen Ökonomieverständnis
empirisch und ohne alle Mysti�kation und Spekulation aufweisen.“ bauen dann auch Marx‘ Vorstellungen über Klassen und Staat
(MEW 3, S. 25). auf, wie er sie im Kommunistischen Manifest äußert. Dort ist die
Existenz der Klassen der selbstverständliche und unhinterfragte
Dass nicht nur die empirische Untersuchung, sondern auch die Ausgangspunkt der Analyse. Bereits der erste Satz des analytischen
theoretische Durchdringung der empirischen Ergebnisse erst am Teils konstatiert geradezu apodiktisch:
Anfang stand, wird deutlich, wenn man die zentrale inhaltliche
Bestimmung des Staates betrachtet, die in der Deutschen Ideologie „Die Geschichte aller bisherigen Gesellscha� ist die Geschichte von
vorgenommen wird. Ausgehend von einer gänzlich formunspezi�- Klassenkämpfen.“ (MEW 4, S. 462).
schen Auffassung der Arbeitsteilung wird ein notwendiger Wider-
spruch zwischen den besonderen und einzelnen Interessen auf der Klassen konstituieren hier die Gesellscha�; dass Klassen selbst etwas
ei-nen Seite und den gemeinscha�lichen Interessen auf der anderen Konstituiertes sind, ist Marx noch lange nicht klar. Ähnlich wie die
konstatiert, aus dem dann der „Staat“ (womit Marx zu dieser Zeit politische Ökonomie übernimmt Marx auch die Klassentheorie zu-
alle politischen Herrscha�sformen bezeichnete) begründet wird: nächst von bürgerlichen Wissenscha�lern. Vor allem französische
Historiker wie Guizot und �ierry hatten den Verlauf der Französi-
„... und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemein- schen Revolution als Ausdruck des Klassenkampfs analysiert. Offen
scha�lichen Interesses nimmt das gemeinscha�liche Interesse als räumt er in einem Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852 ein:
Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Ein-
zel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemein- „Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die Entwick-
scha�lichkeit, aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien- lung dieses Kampfs der Klassen und bürgerliche Ökonomen die öko-
und Stamm-Konglomerat vorhandenen Bänder...“ (MEW 3, S. 33). nomische Anatomie derselben dargestellt.“ (MEW 28, S.507 f.).

Dem ahistorischen Konzept der Arbeitsteilung entspricht eine ge- Für sich selbst beansprucht Marx (ganz analog zu seiner damali-
nauso ahistorische Vorstellung vom Staat. Damit soll nicht gesagt gen Kritik an der bürgerlichen Ökonomie) lediglich den Nachweis
werden, dass Marx dem Staat in der Deutschen Ideologie keine his- der historisch bloß vorübergehenden Existenz der Klassen gezeigt
torische Variabilität zugebilligt hätte, sondern dass sich diese Vari- zu haben (ebd.). Für die erstmals in der Einleitung von 1857 aus-
abilität lediglich als historische Ausgestaltung einer festen und un- gesprochene Einsicht, dass die Darstellung der kapitalistischen
veränderlichen Grundkonstellation ergibt, dem Widerspruch von Produktionsweise nicht mit der Bevölkerung und den Klassen be-
einzelnen und gemeinscha�lichen Interessen. Von der Einsicht, ginnen kann (vgl. MEW 42, S.34 f.), dass sich diese vielmehr als zu-
dass zwischen der kapitalistischen und allen vorkapitalistischen sammenfassendes Resultat der kategorialen Analyse erst ergeben,
Produktionsweisen ein ganz grundsätzlicher Unterschied besteht braucht Marx noch eine Weile. Im Kapital steht die Analyse der
und dass dieser Unterschied auch Konsequenzen für die politische Klassen dann auch nicht am Anfang, sondern am Ende: das letzte
Gliederung der Gemeinwesen hat, ist Marx in der Deutschen Ideo- Kapitel des dritten Bandes ist ihnen gewidmet, es bricht allerdings
logie noch ein ganzes Stück weit entfernt. nach eineinhalb Seiten ab.
Mit den Klassen wird im Kommunistischen Manifest auch umstands-
II. los das Klasseninteresse vorausgesetzt. Dass ein solches gemeinsames
Interesse auch der „herrschenden Klasse“ überhaupt erst konstitu-
Bei der Analyse der ökonomischen Verhältnisse verlässt sich Marx iert werden muss, ist für Marx hier noch kein Problem. Ihm geht es
in den nächsten Jahren weitgehend auf die �eorie Ricardos. Sie gleich um eine Instanz, die dieses gemeinsame Interesse umsetzt:
scheint für Marx das in der Deutschen Ideologie geforderte „empi-
rische Konstatieren“ fern von aller philosophischen „Spekulation“ „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemein-
geradezu vorbildlich umzusetzen. Im 1847 erschienenen Elend der scha�lichen Geschä�e der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“
Philosophie, werden die Einsichten Ricardos gegen Proudhon in (MEW 4, S.464).
Anschlag gebracht und von Marx in den höchsten Tönen gelobt.5
An den einzelnen Kategorien Ricardos und an seiner Analyse hat Genausowenig wie die Konstitution des Klasseninteresses re�ek-
Marx zu dieser Zeit nichts auszusetzen. Er kritisiert lediglich ganz tiert Marx in welchem Verhältnis dieser „Ausschuss“ zur Klasse
allgemein das unhistorische Vorgehen der bürgerlichen Ökonomie: steht. Er legt allerdings die Vorstellung nahe, dass sich die „Bour-
dass sie etwas historisch Vorübergehendes – die kapitalistische Pro- geoisklasse“ der Staatsgewalt ganz unmittelbar bemächtigt. In die-
duktionsweise – absolut setzt.6 Doch ist selbst diese Kritik noch selbe Richtung zielt auch eine weitere Aussage im Manifest:
beschränkt: Marx ist sich über diesen Ahistorismus zwar als Fak-
tum klar, warum es aber zu ihm kommt, kann er noch längst nicht „Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt

5 „Ricardo zeigt uns die wirkliche Bewegung der bürgerlichen Produk- erklärt, selbst diejenigen, welche im ersten Augenblick ihr zu widerspre-
tion, die den Wert konstituiert. Herr Proudhon abstrahiert von dieser chen scheinen...“ (MEW 4, S. 81 f.).
wirklichen Bewegung... Ricardos �eorie der Werte ist die wissenscha�li- 6 Vgl. etwa den Brief an Annenkow vom 28. Dezember 1846, wo vom
che Darlegung des gegenwärtigen ökonomischen Lebens; die Werttheorie „Irrtum der bürgerlichen Ökonomen“ die Rede ist, „die in diesen ökono-
des Herrn Proudhon ist die utopische Auslegung der �eorie Ricardos. mischen Kategorien ewige Gesetze sehen und nicht historische Gesetze,
Ricardo konstatiert die Wahrheit seiner Formel, indem er sie aus allen die nur für eine bestimmte historische Entwicklung, für eine bestimmte
wirtscha�lichen Vorgängen ableitet und auf diese Art alle Erscheinungen Entwicklung der Produktivkrä�e gelten“ (MEW 4, S. 552).

19
einer Klasse zur Unterdrückung einer andern.“ (MEW 4, S.482). und die Grundrisse. Diese Texte sind noch keine Entwürfe für den
Druck, es sind Forschungsmanuskripte, in denen sich Marx über
Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates scheint für Marx zu eine ganze Reihe von Fragen erst klar werden muss. Dabei sind die
dieser Zeit also darin zu bestehen, dass die bürgerliche Klasse den Lücken, gerade bei der Behandlung der grundlegenden Kategori-
Staat beherrscht und ihn ganz bewusst und gezielt für ihre eigenen en, noch ganz erheblich. In den Grundrissen weiß Marx z. B, noch
Klasseninteressen einsetzt. nichts vom Doppelcharakter Waren produzierender Arbeit, auch
taucht der Warenfetischismus noch nicht auf, allenfalls erste Ah-
III. nungen lassen sich im Text erkennen. Ebenso ist der Au�auplan
des Werkes noch keineswegs klar. Erst während der Arbeit an den
Im Jahr 1849 sieht sich Marx zur Emigration nach London gezwun- Grundrissen bildet sich der sogenannte 6-Bücher Plan heraus, wie
gen, wo er bis zu seinem Tode bleiben wird. Diese Emigration war er von Marx dann auch 1859 im Vorwort von Zur Kritik der poli-
nicht nur ein wichtiges biographischer Ereignis. Auch für die Ent- tischen Ökonomie der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Dieser Plan
wicklung seiner theoretischen Auffassungen markiert Marx‘ Über- sieht vor, nach drei Büchern über Kapital, Grundeigentum und
siedelung nach London einen tiefgreifenden Einschnitt. In London Lohnarbeit, welche „die ökonomischen Lebensbedingungen der
be�ndet sich Marx im Zentrum des damals am weitesten entwickel- drei großen Klassen“ (MEW 13, S. 7) behandeln sollen, drei Bücher
ten kapitalistischen Landes. Nicht nur gab es für die Beobachtung über Staat, auswärtigen Handel und Weltmarkt folgen zu lassen.
des Kapitalismus keinen besseren Ort. Darüberhinaus verfügte das Zwar �ndet sich in den Grundrissen keine Skizze dieses geplanten
Britische Museum auch über die damals beste und bei weitem um- Buches über den Staat, doch Marx wird sich zumindest über zwei
fangreichste Bibliothek mit ökonomischer Literatur. In dem bereits Punkte klar, die für die Analyse des Staates von zentraler Bedeu-
zitierten Vorwort von 1859 bemerkt Marx, dass er in London be- tung sind. Zum einen erkennt er klar, dass ein qualitativer Un-
schloss, mit seinen ökonomischen Studien „ganz von vorn wieder terschied zwischen der kapitalistischen Produktionsweise auf der
anzufangen“ (MEW 13, S.11). Marx nahm sich nun aber nicht nur einen Seite und allen vorkapitalistischen Produktionsweisen auf
erneut die Werke von Smith, Ricardo und vielen anderen Autoren der anderen Seite existiert. Die kapitalistische Produktionsweise
(die er zum Teil bis dahin noch gar nicht kannte) vor. Erst jetzt setzt setzt die rechtliche Freiheit und Gleichheit ihrer Akteure voraus,
auch eine Kritik an den Grundkategorien der bürgerlichen Ökono- die vorkapitalistischen Produktionsweisen die Ungleichheit und
mie ein. Marx beginnt erstmals an Ricardos Rententheorie und bald Unfreiheit der Mehrheit der unmittelbaren Produzenten; Politik
auch an dessen Geldtheorie zu zweifeln (vgl. seine Briefe an Engels und Ökonomie sind unter vorkapitalistischen Bedingungen noch
vom 7. Januar 1851 und vom 3. Februar 1851, MEW 27, S.157 ff., S. keine zwei unterschiedenen Sphären. Für vorkapitalistische Pro-
173 ff.). Später folgt die Kritik an der Werttheorie und schließlich an duktionsweisen sind persönliche Abhängigkeitsverhältnisse kon-
der methodischen Grundkonstruktion der bürgerlichen Ökonomie, stitutiv, für die voll ausgebildete kapitalistische Produktionsweise
die ihre Gesetze aus dem Wirken der Konkurrenz ableitet. Erst in sind persönli-che Abhängigkeitsverhältnisse dagegen nicht mehr
den 1850er Jahren geht Marx über eine bloß kritische Verwendung konstitutiv, obwohl sie durchaus noch vorkommen. Erst unter kapi-
der politischen Ökonomie hinaus und entwickelt in einem lang an- talistischen Bedingungen kann man von einer Trennung von Poli-
dauernden Prozess, eine wirkliche Kritik der politischen Ökonomie, tik und Ökonomie sprechen (vgl. zur historischen Herausbildung
d.h. eine Kritik ihrer kategorialen und methodischen Voraussetzun- der modernen Staatlichkeit unter diesen Aspekten Gerstenberger
gen. Ihre erste und noch längst nicht abgeschlossene Formulierung 2006). An die Stelle persönlicher Abhängigkeit tritt hier eine all-
erhält diese Kritik in der Einleitung von 1857 und den Grundrissen seitige sachliche Abhängigkeit, der nicht nur die beherrschte und
von 1857/58. ausgebeutete sondern auch die herrschende Klasse unterliegt. Das
Die 1850er Jahre markieren nicht nur einen Einschnitt für die He- hat dann auch Konsequenzen für die politische Form des Gemein-
rausbildung der Kritik der politischen Ökonomie, Marx setzt sich wesens: Dieses hat jetzt die formelle Gleichheit und Freiheit der
auch mit einer bis dahin nicht gekannten Intensität mit konkreten Bürger sowie deren Eigentum zu garantieren hat. Da die Mehrheit
historischen und politischen Entwicklungen in einzelnen Ländern der freien Bürger auch frei von Produktions- und Subsistenzmitteln
auseinander: 1849/50 schreibt er Die Klassenkämpfe in Frankreich ist, impliziert die vom Staat erzwungene wechselseitige Anerken-
1848-1850 und 1851/52 Der 18.te Brumaire des Louis Napoleon. In nung von Freiheit, Gleichheit und Eigentum zugleich Ausbeutung
beiden Schri�en analysiert er detailliert die Interessen und Strategi- und Klassenherrscha�.
en einzelner Klassenfraktionen und deren Verhältnis nicht allgemein Zum anderen stößt Marx auf eine zentrale Aufgabe des bürgerlichen
zum Staat sondern zu den einzelnen staatlichen Institutionen. Ihre Staates: er muss diejenigen Voraussetzungen der kapitalistischen
Fortsetzung �nden diese Studien vor allem in der 1854 entstande- Produktion bereit stellen, die von den Einzelkapitalen nicht bereit
nen Artikelserie Revolutionary Spain (die, wie der gerade erschie- gestellt werden können, weil deren Produktion nicht pro�tabel ist,
nene Band MEGA IV/12 zeigt, durch umfangreiche Exzerpte zur was Marx anhand des Wegebaus diskutiert (MEW 42, S.434 ff.).
Geschichte Spaniens vorbereitet wurden), in Marx‘ verschiedenen Dabei ist ihm auch klar, dass Umfang und Inhalt dieser vom Staat
Artikeln zur britischen Herrscha� in Indien sowie in den Artikeln bereit zu stellenden Voraussetzungen nicht ein für allemal gegeben
zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert. In diesen Unter- sind, sondern sich mit der Entwicklung und Entfaltung der kapita-
suchungen ganz unterschiedlicher konkreter Situationen wird deut- listischen Produktionsweise verändern.
lich, dass mit den recht grobschlächtigen Aussagen des Kommunisti- Auf der Grundlage der Grundrisse erscheint 1859 als Anfang der
schen Manifests zum Staat nicht allzu viel anzufangen ist. Realisierung des 6-Bücher Planes Zur Kritik der politischen Öko-
nomie. Erstes He�. Im Vorwort formuliert Marx ganz kurz jenes
IV. „allgemeine Resultat“ seiner Studien, das von späteren Generatio-
nen zum zentralen Dokument des „Historischen Materialismus“
1857 beginnt Marx schließlich mit der Ausarbeitung seiner lange (ein Begriff, den Marx nie benutzt hat) gemacht wurde. Dort �ndet
geplanten Ökonomiekritik. Es entstehen zunächst die Einleitung sich auch die o� zitierte Aussage, dass: die Produktionsverhältnisse

20
die „reale Basis“ bilden, über der sich „ein juristischer und politi- den 6-Bücher Plan nicht mehr umsetzen könne, er wird in der Folge
scher Überbau erhebt“ (MEW 13, S.8). Diese Rede von Basis und auch nie wieder erwähnt. Im Kapital ist nur noch recht unbestimmt
Überbau wirkte prägend für einen großen Teil der marxistischen von „speziellen“ Lehren, die „nicht in dieses Werk“ gehören, (MEW
Debatten im 20. Jahrhundert und wurde nicht selten überstrapa- 23, S.565, vgl. auch MEW 25, S. 627, 839) und von einer „etwaigen
ziert. So wurde häu�g argumentiert, dass die „Basis“ das einzig Ent- Fortsetzung“ (MEW 25, S. 120) die Rede.
scheidende sei, der „Überbau“ das bloß Abgeleitete, Unselbständi- Bemerkenswert ist allerdings die Ausnahme, die Marx hier macht:
ge. Dem wurde dann die „relative“ Selbständigkeit des Überbaus die Darstellung „des Verhältnisses der verschiednen Staatsformen zu
entgegengehalten und leidenscha�lich um das Ausmaß des Deter- den verschiednen ökonomischen Strukturen der Gesellscha�“ traut
miniertheit gestritten. So manche Debatte über „Basis“ und „Über- er den „anderen“ nicht zu. Warum dachte Marx, dass ausgerechnet
bau“ wäre einem aber vielleicht erspart geblieben, wenn der etwas diesen Punkt nur er selbst ausführen könnte? Wir können nur spe-
sarkastische Kommentar, den Marx dazu im Kapital geliefert hat, kulieren, aber es scheint mir nicht abwegig zu sein, dass der Grund
ernst genommen worden wäre. Dort schließt Marx die kurze Aus- darin liegt, dass hier ein zentraler Bereich der Formanalyse angespro-
einandersetzung mit einem Kritiker seiner im Vorwort von 1859 chen ist: Es geht um den Zusammenhang von ökonomischen und po-
gegebenen Skizze mit dem Satz: litischen Formen und die Formblindheit nicht nur der bürgerlichen
Ökonomen9, sondern auch der Sozialisten, war ihm durchaus klar.
„Andrerseits hat schon Don Quixote den Irrtum gebüßt, daß er die Ein anderer Aspekt, der anhand dieses Briefes deutlich wird, ist al-
fahrende Ritterscha� mit allen ökonomischen Formen der Gesell- lerdings nicht spekulativ. Marx spricht hier nicht vom „Staat“ (Sin-
scha� gleich verträglich wähnte.“ (MEW 23, S.96) gular) im Verhältnis zur ökonomischen Grundlage, sondern von
den „verschiednen Staatsformen“ (Plural). Neben die Analyse des
Die Komik, die sich jedem Leser des Romans von Cervantes sofort „Kapitals im Allgemeinen“ wollte er anscheinend keine (zumindest
erschließt, rührt gerade daher, dass die politischen und normativen keine besonders umfangreiche) �eorie des „Staats im Allgemei-
Vorstellungen, von denen Don Quixote ausgeht, so gar nicht mit den nen“ stellen, als entscheidend sah er hier eher die Formunterschiede
ökonomischen und sozialen Verhältnissen seiner Zeit zusammenpas- an. Vermutlich war dies keine bloß beiläu�ge Formulierung. Da
sen. Beim Verhältnis von „Basis“ und „Überbau“ geht es Marx nicht dies der erste Brief an den ihm bis dahin unbekannten Kugelmann
um die viel diskutierte Determinierung, sondern darum, dass die po- war, kann man davon ausgehen, dass Marx seine Worte durchaus
litischen Institutionen zu den ökonomischen Formen passen.7 mit Bedacht wählte.

V. VI.

Als direkte Fortsetzung des 1859 erschienenen ersten He�es seiner 1867 erschien schließlich der erste Band des Kapital, die Bände zwei
Kritik der politischen Ökonomie entsteht zwischen 1861 und 1863 und drei konnte Marx nicht mehr selbst veröffentlichen; sie wur-
Marx‘ umfangreichstes Manuskript. Noch während er an diesem den 1885 und 1894 von Engels auf der Grundlage von Marxschen
Manuskript arbeitet, entschließt sich Marx jedoch die Fortsetzung Manuskripten, die seit 1864/65 entstanden sind, herausgegeben.
als selbständiges Werk unter dem Titel „Das Kapital“ zu publizie- Diese drei Bände des Kapital umfassen weit mehr als nur den im
ren. Über dessen geplanten Inhalt schreibt Marx am 28. Dezember Brief an Kugelmann angekündigten Abschnitt über das „Kapital
1862 an Ludwig Kugelmann: im Allgemeinen“.10 Nicht nur geht es hier auch um Konkurrenz
und Kredit, auch wesentliche Teile des Stoffs, der im Rahmen des
„Es umfaßt in der Tat nur, was das dritte Kapitel der ersten Ab- 6-Bücher Plans ursprünglich für die Bücher über Grundeigentum
teilung bilden sollte, nämlich ‚Das Kapital im Allgemeinen‘. Es ist und Lohnarbeit vorgesehen war, wird behandelt. Insofern ist es
also nicht darin eingeschlossen die Konkurrenz der Kapitalien und plausibel, dass das Kapital, wie es Marx seit 1863 konzipierte, an die
das Kreditwesen. Was der Engländer ‚the principles of political eco- Stelle der ersten drei Bücher des 6-Bücher Plans getreten ist. Nicht
nomy‘ nennt, ist in diesem Band enthalten. Es ist die Quintessenz mit dem Kapital abgedeckt sind jedoch die drei letzten Bücher über
(zusammen mit dem ersten Teil), und die Entwicklung des Fol- Staat, Außenhandel und Weltmarkt.
genden (mit Ausnahme etwa des Verhältnisses der verschiedenen Allerdings wird die Existenz des Staates (genauso wie die des Welt-
Staats-formen zu den verschiednen ökonomischen Strukturen der marktes) stets vorausgesetzt. Doch wird Staat und Weltmarkt nicht
Gesellscha�) würde auch von an-dern auf Grundlage des Geliefer- systematisch entwickelt. Lediglich im Rahmen der Darstellung an-
ten leicht auszuführen sein.“ (MEW 30, S.639). derer Verhältnisse wird auf sie eingegangen, sofern dies notwendig
ist. Auf den Staat kommt Marx im ersten Band des Kapital vor al-
Das Kapital, wie Marx es hier skizziert, umfasste weniger als das im lem im 8. und im 13. Kapitel anhand der Fabrikgesetzgebung zu
Rahmen des 6-Bücher-Plans geplante Buch vom Kapital.8 Mit der sprechen.
„Entwicklung des Folgenden“ sind offensichtlich die fehlenden Teile Die Festsetzung eines Normalarbeitstages, um den es im 8. Kapitel
des Kapital-Buches sowie die übrigen fünf Bücher gemeint. Anschei- geht, sieht Marx als Resultat eines beständigen Kampfes zwischen
nend begann sich Marx an den Gedanken zu gewöhnen, dass er selbst Arbeiter- und Kapitalistenklasse. Der Staat verallgemeinert das

7 Es ist genau dieser Zusammenhang, den Marx in dem eingangs dieses schied vernachlässigen“ (MEW 23, S. 565).
Textes angeführten Zitat anspricht, dass „Rechtsverhältnisse und Staats- 10 Ob Marx in den Kapital-Manuskripten, die ab Mitte 1863 entstanden
formen ... in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln“. sind, konzeptionell überhaupt noch vom „Kapital im Allgemeinen“ aus-
8 Wie aus Marx Briefwechsel hervorgeht, sollte das Buch vom Kapital aus geht (die Bezeichnung verwendet er nach 1863 jedenfalls nicht mehr: we-
vier Abschnitten bestehen: Kapital im Allgemeinen, Konkurrenz, Kredit, der in Manuskripten noch in erläuternden Briefen), ist he�ig umstritten
Aktienkapital, vgl. dazu Heinrich (2006, S. 179 ff.). (vgl. dazu u.a. Heinrich 2006, S. 185 ff. und als Gegenposition Moseley
9 Über die „ökonomischen Kompendien“ schreibt er später im Kapital, 2007).
dass sie „mit ihrer brutalen Interessiertheit für den Stoff jeden Formunter-

21
Ergebnis dieses Kampfes in Form staatlicher Regelungen. Dabei stehen bleiben.12 Nach der oben zitierten Stelle aus dem Manuskript
ist der Staat aber weder der neutrale Dritte, noch einfach nur ein zum dritten Buch des Kapital betont Marx, dass „dieselbe ökonomi-
Instrument der Kapitalistenklasse. Vielmehr muss das kapitalis- sche Basis – dieselbe den Hauptbedingungen nach“ eine Vielzahl von
tische Gesamtinteresse an einer kontinuierlichen Ausbeutung der Variationen zeigen kann, „die nur durch Analyse dieser empirisch ge-
Arbeiterklasse, vom Staat gegen den Widerstand der Kapitalisten gebenen Umstände zu begreifen sind“ (MEW 25, S. 800). Dasselbe
durchgesetzt werden, die, angetrieben von der Konkurrenz, den gilt auch von der politischen Gestalt des Gemeinwesens.
Arbeitstag immer weiter ausdehnen und damit die Arbeitskra�
vorzeitig zerstören (MEW 23, S. 285 f.). Um die Kapitalverwertung VII.
langfristig sicher zu stellen, muss die Ausbeutung begrenzt werden.
Setzt der Staat so das kapitalistische Gesamtinteresse durch, verän- Der Großteil der marxistischen Staatsdiskussionen im 20. Jahrhun-
dert er damit auch die Kamp�edingungen der Arbeiterklasse: die dert knüp�e an diese form-analytischen Überlegungen von Marx
kapitalistischen Verhältnisse reifen heran, die Übergangsformen allerdings nicht an. In den Debatten des frühen 20. Jahrhundert
verschwinden und zugleich kann der Kampf gegen das Kapital ver- spielten vor allem zwei Werke eine wichtige Rolle: Marx‘ Schri� zur
allgemeinert werden (MEW 23, S.526). Pariser Kommune Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871) und Engels
Der formanalytische Ansatz, den Marx einer Untersuchung des Ver- Untersuchung Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und
hältnisses von Ökonomie und Politik zugrunde legt, kommt sehr des Staates (1884). Im Bürgerkrieg schrieb Marx über die Entwick-
deutlich in einer recht grundsätzlichen Bemerkung zum Ausdruck, lung der „Staatsmacht“ in Frankreich, sie
die sich im Manuskript zum dritten Buch des Kapital �ndet.
„erhielt mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt
„Die spezi�sche ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klas-
aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt sen-herrscha�.“ (MEW 17, S. 336).
das Herrscha�s- und Knechtscha�sverhältnis, wie es unmittelbar
aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestim- Diesen repressiven Charakter des Staates stellte auch Engels im
mend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Schlusskapitel seines Buches heraus. Die Existenz des Staates be-
Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen gründete Engels mit der Entwicklung der Klassengegensätze, die
selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine nur noch durch eine der Gesellscha� gegenüberstehende Gewalt im
politische Gestalt.“ (MEW 25, S.799) Zaum gehalten werden könnten. Doch sei der Staat nicht neutral,
er sei
Allein die Tatsache, dass sich Klassen gegenüberstehen und dass eine
Klasse die „herrschende“ ist, bedingt noch nicht die politische Form „in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden
des Gemeinwesens; es ist vielmehr die spezi�sche Formbestimmung Klasse, die vermittels seiner auch politisch herrschende Klasse
der Ausbeutung, welche die „politische Gestalt“ des Gemeinwesens wird.“ (MEW 21, S.166 f.)
bedingt. Aus dem Kontext dieser Bemerkung geht hervor, dass Marx
mit den unterschiedlichen ökonomischen Formen der Ausbeutung, Die Betonung des repressiven Charakters des Staates wurde von
die verschiedenen historischen Produktionsweisen, wie etwa die Lenin aufgenommen und später zum festen Bestandteil des Mar-
antike, auf Sklaverei beruhende, die feudale oder die kapitalistische xismus-Leninismus. In seiner 1917 entstandenen Schri� Staat und
Produktionsweise meint. Die kapitalistische Produktionsweise un- Revolution fasst Lenin den Staat ganz explizit als „Werkzeug“ der
terscheidet sich aber grundsätzlich von allen vorkapitalistischen, herrschenden Klasse auf. In einer revolutionären Situation, wo einem
da sie nicht auf persönlicher Unfreiheit und Ungleichheit beruht, der Staat in erster Linie als eine solche Gewaltmaschine begegnet,
sondern den rechtlich freien Arbeiter voraussetzt, der als formell ist, wie im Bürgerkrieg in Frankreich, die Konzentration auf diesen
Gleicher mit dem Kapitalisten einen Arbeitsvertrag abschließt. repressiven Charakter durchaus plausibel. Dass sie zur Analyse des
Der Schutz von Freiheit, Gleichheit und Eigentum wird zur ersten bürgerlichen Staates zu kurz grei�, wurde aber schon in den 1920er
Aufgabe des bürgerlichen Staates, wobei der Umfang des jeweiligen und 1930er Jahren sehr deutlich. Die beherrschten Klassen werden
Eigentums zu den bloß individuellen Besonderheiten der einzelnen nicht einfach nur durch die Androhung von Gewalt eingeschüch-
Bürger und Bürgerinnen gehört. Indem der Staat jedes Eigentum tert. Wie der Staat bzw. der „herrschende Block“ Zustimmung zu
schützt, ist diejenige Klasse, deren einziges Eigentum ihre Arbeits- seiner Politik organisiert, „Hegemonie“ erzielt, welche Rolle dabei
kra� ist, dazu gezwungen sich per Vertrag in ein ökonomisches Aus- die verschiedenen gesellscha�lichen Institutionen wie Schule, Kir-
beutungsverhältnis zu begeben. Es ist also gerade die formelle Neu- che und Wissenscha� spielen, wurde insbesondere von Gramsci in
tralität des Staates, durch welche die kapitalistische Ausbeutung seinen Gefängnishe�en untersucht. Gramscis Hegemoniekonzept
rechtlich abgesichert wird.11 Allerdings ist dabei vorausgesetzt, wurde nach dem zweiten Weltkrieg vor allem in den romanischen
dass sich eine Arbeiterklasse entwickelt hat, „die aus Erziehung, Ländern und im angelsächsischen Raum rezipiert und zum ge-radezu
Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise selbstverständlichen Bestandteil vieler staatstheoretischer Ansätze.
als selbstverständliches Naturgesetz anerkennt“. Nur unter dieser Althusser verallgemeinerte mit seiner Unterscheidung in „ideologi-
Bedingung genügt die „stumme Gewalt der ökonomischen Verhält- sche“ und „repressive“ Staatsapparate die beiden vorangegangenen
nisse“ zur Sicherstellung der Herrscha� des Kapitals (MEW 23, S. Schwerpunkte marxistischer Debatten. Nicos Poulantzas schließlich
765). stellte den �xen Charakter der Staatsapparate in Frage, er betonte,
Auf dieser allgemeinen Ebene kann die Analyse des Staates aber nicht dass sie stets umkämp� seien, den Staat charakterisierte er als „ma-

11 Daher bemerkt Marx auch sarkastisch, dass die „Sphäre der Zirkula- 12 In Heinrich (2007, Kapitel 11) gebe ich eine Zusammenfassung solcher
tion“ ein „wahres Eden der angebornen Menschenrechte“ sei (MEW 23, allgemeinen Aussagen über den bürgerlichen Staat.
S. 189).
22
terielle Verdichtung von Krä�everhältnissen zwischen Klassen und Literatur
Klassenfraktionen“ (Poulantzas 1978, S. 159).
Betrachtet man diese Diskussionslinie von Lenin über Gramsci zu Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate,
Althusser und Poulantzas, dann wurde zwar die einseitige, auf den Hamburg: VSA
repressiven Charakter des Staates ausgerichtete Perspektive über- Behre, Jürgen (2004): Volkssouveränität und Demokratie. Zur Kritik
wunden, die Herstellung von Konsens, die ideologische Anrufung staatszentrierter Demokratievorstellungen, Hamburg: VSA.
der Person und der umkämp�e Charakter staatlicher Institutionen Bretthauer, Lars; Gallas, Alexander; Kannankulam, John; Stützle, Ingo
thematisiert, die Marxsche Formanalyse blieb aber ausgeblendet.13 (Hrsg.) (2006): Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatsthe-
Von daher ist auch nicht weiter überraschend, dass zentrale, auf der orie, Hamburg: VSA.
Formanalyse au�auende Einsichten von Marx, wie etwa seine Fe- Gallas, Alexander (2006): „Das Kapital“ mit Poulantzas lesen. Form
tischismusanalyse (die sich nicht auf den Warenfetisch beschränkt, und Kampf in der Kritik der politischen Ökonomie, in: Bretthauer u.a.
sondern integraler Bestandteil der Kategorienentwicklung in den (Hrsg.), S. 101-119.
drei Bänden des Kapital ist und ihren Abschluss erst in der „Trini- Gerstenberger, Heide (2006): Die subjektlose Gewalt. �eorie der Ent-
tarischen Formel“ �ndet) für die genannten Autoren keine Rolle stehung der bürgerlichen Staatsgewalt, 2. Au�., Münster: Westfälisches
spielen. Damp�oot.
An die Marxsche Formanalyse knüp�e in der ersten Häl�e des 20. Gramsci, Antonio (1929-35): Gefängnishe�e. Kritische Gesamtausgabe,
Jahrhunderts lediglich Paschukanis (1929) an. In einer umfassenden 10 Bde, Hamburg: Argument, 1991-2002.
Weise wurde eine solche Anknüpfung in der westdeutschen „Staats- Heinrich, Michael (2004): Praxis und Fetischismus. Eine Anmerkung zu
ableitungsdebatte“ der 1970er Jahre versucht.14 .Allerdings blieb diese den Marxschen �esen über Feuerbach und ihrer Verwendung, in: Chris-
Debatte beim Versuch „den“ bürgerlichen Staat abzuleiten in zweierlei toph Engemann u.a. (Hrsg.), Gesellscha� als Verkehrung. Perspektiven
Hinsicht stecken: sie kam einerseits über den Versuch, Bestimmungen einer neuen Marx-Lektüre. Festschri� für Helmut Reichelt, Freiburg: ca
des bürgerlichen Staat im Allgemeinen zu �nden, kaum hinaus, und sie ira, S. 249-270.
setzte andererseits den in den 1970er Jahren nicht nur in Deutschland Heinrich, Michael (2006): Die Wissenscha� vom Wert. Die Marxsche
existierenden keynesianischen Wohlfahrtsstaat weitgehend mit „dem“ Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenscha�licher Revolution
entwickelten bürgerlichen Staat gleich: Der Tendenz nach wurde das, und klassischer Tradition, 4. Au�., Münster: Westfälisches Damp�oot.
was tatsächlich existierte (und was zum Teil, wie etwa die keynesiani- Heinrich, Michael (2007): Kritik der politischen Ökonomie. Eine Ein-
sche Wirtscha�spolitik, nur einige Jahre später wieder aufgegeben wur- führung, 5. Au�., Stuttgart: Schmetterling.
de), als notwendiger Bestandteil bürgerlicher Staatlichkeit „abgeleitet“. Hirsch, Joachim; Kannankulam, John (2006): Poulantzas und Formana-
Im Unterschied zu solchen Übertreibungen kommt es einerseits dar- lyse. Zum Verhältnis zweier Ansätze materialistischer Staatstheorie, in:
auf an, die Marxsche Formanalyse als Grundlage zu nutzen und die Bretthauer u.a. (Hrsg.), S. 65-81.
von Gramsci bis Poulantzas zu Tage geförderten Ergebnisse vor ihrem Internationale Marx Engels Sti�ung (Hrsg.) (2004): Marx-Engels Jahr-
Hintergrund zu diskutieren und auch zu kritisieren, andererseits dürfen buch 2003, Berlin: Akademie Verlag.
aber auch die Grenzen der Formanalyse nicht außer Betracht bleiben. Kostede, Norbert (1976): Die neuere marxistische Diskussion über den
Schon Marx stellte heraus, dass die „dialektische Form der Darstellung bürgerlichen Staat. Einführung – Kritik – Resultate, in: Gesellscha�. Bei-
nur richtig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt“ (MEGA II/2, S. 91).15 träge zur Marxschen �eorie 8/9, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.150-198.
Die Logik kategorialer Beziehungen, um die es in der „dialektischen Lenin, W. I. (1917): Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom
Form der Darstellung“ geht, zielt auf den „idealen Durchschnitt“ Staat und die Aufgaben des Proletari-ats in der Revolution, in: Lenin,
(MEW 25, S.839) der kapitalistischen Produktionsweise. Dieser idea- Werke Bd. 25, S.393-507.
le Durchschnitt ist nicht mit der empirischen Gestalt, der „wirklichen Marx; Karl; Engels, Friedrich (1972): Gesamtausgabe (MEGA) Probe-
Bewegung“ (ebd.) zu verwechseln. Bei den von Marx angesprochenen band, Berlin: Dietz Verlag.
Grenzen der dialektischen Darstellung geht es jedoch nicht einfach um Moseley, Fred (2007): Das Kapital im Allgemeinen und Konkurrenz der
irgendeine histori-che Ergänzung oder Konkretisierung jener dialek- vielen Kapitalien in der �eorie von Marx. Die quantitative Dimension,
tischen Entwicklung. Die Analyse der ökonomischen und politischen in: Internationale Marx Engels Sti�ung (Hrsg.), Marx-Engels Jahrbuch
Formen hat vielmehr selbst ihre eigenen Grenzen aufzuzeigen und zu 2006, Berlin: Akademie Verlag, S.81-117.
begründen, an welchen Punkten die Darstellung notwendigerweise (und Paschukanis, Eugen (1929): Allgemeine Rechtslehre und Marxismus.
nicht bloß als historische Illustration) in eine historische Betrachtung Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, Freiburg: ca ira 2003.
übergehen muss. Marx liefert solche Begründungen in Zusammen- Poulantzas, Nicos (1978): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie,
hang mit der Darstellung des Kampfs um den Arbeitstag sowie der „ur- Autoritärer Etatismus, Hamburg: VSA 2002.
sprünglichen Akkumulation“. Für die Diskussion des Staates steht die Wolf, Frieder Otto (2006): Marx‘ Konzept der ‚Grenzen der dialektischen
Debatte über die Beziehung der allgemeinen Formbestimmungen des Darstellung‘, in: Jan Hoff, Alexis Petrioli, Ingo Stützle, Frieder Otto Wolf
bürgerlichen Staates zu dem Verhältnis „der verschiedenen Staatsfor- (Hrsg.), Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie, Müns-
men zu den verschiednen ökonomischen Strukturen der Gesellscha�“ ter: Westfälisches Damp�oot.
(MEW 30, S. 639) aber erst am Anfang.

13 Das Verhältnis von Poulantzas zur Formanalyse diskutieren Hirsch/ Der Text von Michael Heinrich: Grenzen des ‚idealen Durchschnitts’. Zum
Kannankulam (2006) sowie Gallas (2006). Verhältnis von Ökonomiekritik und Staatsanalyse bei Marx erschien erst-
14 Kostede (1976) liefert ein Überblick über die bis dahin geführte De- mals in: Urs Lindner/Jörg Nowak/Pia Paust-Lassen (Hrsg.): Philosophie-
batte. ren unter anderen. Frieder Otto Wolf zum 65. Geburtstag, Münster 2009,
15 Anhand von drei instruktiven Beispielen werden diese Grenzen von
S. 212-225. Wir danken dem Autor und dem Verlag Westfälisches Dampf-
Frieder Otto Wolf (2006) diskutiert.
boot für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.

23
Ingo Elbe

(K)ein Staat zu machen?


Die sowjetische Debatte auf dem Weg zum adjektivischen Sozialismus

Johannes Agnoli hat einmal die Negation des Staates und seiner I. Traditionalistische Kritik des Klasseninhalts von Recht und
Verfassung als eines der für ihn unverzichtbaren Elemente der Staat (Lenin, Stutschka)
Marxschen �eorie bezeichnet. Diese Negation sei Marx’ „Erb-
scha�, die er auf dem Weg hinterlassen hat“, diese Erbscha� „müs- Lenins Betrachtungen über ‚Staat und Revolution’ sind für die Tra-
sen wir antreten“. 1 Der traditionelle Marxismus hat, als partei- dition des späteren sog. ‚Marxismus-Leninismus’ von entscheiden-
und staatsoffizieller, dieses Erbe ausgeschlagen und sich statt dessen der Bedeutung, auch wenn sich – wie noch zu zeigen sein wird – in
– vor dem Hintergrund hier nicht darzustellender spezi�scher der Stalinschen Endfassung der leninistischen Orthodoxie der Be-
Rezeptionsmuster 2, historischer Konstellationen und praktischer deutungsgehalt einiger Leninscher Begriffe stark verändern wird.
Zwangslagen – daran gemacht, aus den ‚exoterischen’ Schichten der Lenin begrei� den Staat zunächst als besonderen, von Herrscha�s-
Marxschen �eorie eine proletarische Weltanschauung zu basteln Spezialisten3 geführten Gewaltapparat, der in „besondere[n] For-
und seine theoretischen wie praktischen Bemühungen auf das ab- mationen bewaffneter Menschen“ besteht, „die Gefängnisse und
surde Projekt eines ‚adjektivischen Sozialismus’ zu konzentrieren. anderes zu ihrer Verfügung haben.“4 Als historische Bedingungen
Im Folgenden soll anhand ausgewählter Positionen der rechts- für die Besonderung eines derartigen Apparats gelten ihm einer-
und staatstheoretischen Debatte vor allem in der Sowjetunion die seits ein Produktivitätslevel, das ein Mehrprodukt ermöglicht,5
Entwicklung hin zu einer solchen Sozialismuskonzeption verfolgt andererseits die Entstehung eines „unversöhnlichen“6 Klassenan-
werden. Im Anschluss an Engels’ (wiederum Hegel entnommener) tagonismus, der die Gesellscha� „in Gruppen von Menschen“
Formel von der ‚Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit’ und an spaltet, „von denen die einen sich ständig die Arbeit der anderen
dessen Parallelisierung von Naturgesetzen und gesellscha�lichen aneignen können“. 7 Die Notwendigkeit staatlich regulierter Klas-
Prozessen lautet die Grundaussage dieses sozialtechnologischen senherrscha� wird nun ausschließlich aus dem ‚unversöhnlichen
Emanzipationskonzepts: ‚Die im Kapitalismus anarchisch und Klassengegensatz’ heraus begründet. Dieser scheint, folgt man
unkontrolliert wirkende gesellscha�liche Notwendigkeit wird, Lenins vagen Andeutungen, die Subalternen stets zu „Protest und
mittels des Marxismus als Wissenscha� von den objektiven Gesetz- Au�ehnung“ 8 zu veranlassen (Umsturz-Implikation), die ohne
mäßigkeiten in Natur und Gesellscha�, im Sozialismus planmäßig das staatliche Gewaltmonopol zur „’selbsttätige[n]’ Bewaffnung“
verwaltet und bewusst angewandt.’ Nicht das Verschwinden der ka- und schließlich zum „bewaffneten Kampf “ 9 der Klassen unterein-
pitalistischen Formbestimmungen, sondern ihre alternative Nut- ander führen würden. Der Staat wird so als Instrument der ökono-
zung, nicht die Dechiffrierung der Reichtums- und Zwangs-Formen misch herrschenden Klasse zur Niederhaltung der ausgebeuteten
als historisch-spezi�sche, sondern ihre Naturalisierung kennzeich- de�niert, 10 er ist, wie Engels, Lenins staatstheoretischer Hauptre-
nen den adjektivischen Sozialismus und seine ‚sozialistische po- ferenzpunkt, formuliert, „Staat der mächtigsten, ökonomisch herr-
litische Ökonomie’. Was mit Engels’ prämonetärer Werttheorie schenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende
beginnt und im absurden �eorem eines originär sozialistischen Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und
Wertgesetzes endet, das setzt sich auch auf rechts- und staatsthe- Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“ 11
oretischem Gebiet durch: Die Kritik der Politik wird - wie die der Hier fällt bereits die universalhistorische Ausrichtung dieses staats-
Ökonomie - in eine Affirmation derselben umgearbeitet. theoretischen Paradigmas auf, die die Konturen zentraler Begriffe
verwischen lässt: Insbesondere die Differenz zwischen direkt-ge-
waltförmiger Ent-/ Aneignung des Mehrprodukts und dessen spe-
zi�sch ökonomischer Ent-/ Aneignung sowie der Funktion mono-
polisierter physischer Gewaltsamkeit dabei geht verloren. Obwohl

1 Agnoli (1998), S. 220. Sp. 623), nur um Marx dann diese leninistische Version der vermeintli-
2 Vgl. dazu Elbe (2000). chen Marxschen Staatstheorie kritisch vorzuhalten und ihm den Verzicht
3 Vgl. Lenin (1963a), S. 464f. auf die „Einsatzmöglichkeiten“ von Motiven des klassischen bürgerlichen
4 Lenin (1960a), S. 401. Kontraktualismus zur Erklärung „erforderliche[r] Organisationsformen
5 Vgl. ebd., S. 469. eines zivilgesellscha�lichen Miteinanders“ (ebd.) anzukreiden. Wie im
6 Ebd., S. 402. letzten Kapitel gezeigt wurde, ist es Marx zufolge aber das gemeinsame In-
7Ebd., S. 465. teresse aller Warenbesitzer, ihren jeweiligen Privateigentümerstatus (auch
8 Ebd., S. 476. an Arbeitskra�!) mit den Verkehrformen des Warentauschs staatlich ga-
9 Beide Zitate: Ebd., S. 402. rantieren zu lassen. Dies ist aber ein Moment des konkraktualistischen
10 Vgl. ebd., S. 399, 403f. Legitimitätsmodells, an das Marx kritisch anknüp�, indem er es zugleich
11 Engels zit. nach ebd., S. 404. Noch im Jahr 2001 meint Hermann Klen- als anthropologisierte Variante historisch-spezi�scher und herrscha�lich
ner, Marx erkläre den Staat einseitig aus „strukturellen Antagonismen, also strukturierter Interessenlagen dechiffriert.
gerade nicht aus vermeintlicher Interessenhomogenität“ (Klenner (2001),
24
auch Lenin Formunterschiede von Klassenherrscha� kennt 12 dieser Form – der öffentlichen, mittels abstrakt-allgemeiner Geset-
und für den Kapitalismus die spezi�sche Gleichheit aller Bürger ze herrschenden, außerökonomischen Zwangsgewalt – entgehen.
vor dem Gesetz betont (ohne diese irgendwie zu erklären!), scheint Der Klassencharakter bürgerlicher Staat- und Gesetzlichkeit wird
ihm doch die Freiheit in der kapitalistischen Produktionsweise so auch konsequenterweise bloß unterstellt bzw. rein personalistisch
„immer ungefähr die gleiche“ zu sein, „die sie in den antiken grie- gedacht: Der Staat sei „durch tausenderlei Fäden mit der Bourgeoisie
chischen Republiken war: Freiheit für die Sklavenhalter.“ 13 Die verknüp�“. 22 Vor allem Korruption, informelle Ausschlussmecha-
spezi�sch vermittelte Form der Ausbeutung in der kapitalistischen nismen, unvollständige formale Partizipationschancen, Verelendung
Produktionsweise, in der physischer Zwang eine ganz andere Rolle des Proletariats und die „Erfahrungen eines jeden Arbeiters“ 23 mit
spielt als in der Antike, wird so wegdekretiert, bürgerliche Freiheit der offenen Repression des Staates gegenüber Streiks und Aufstän-
zum „Vorurteil[...]“ 14 irrealisiert, womit Lenin der frühen Ent- den des Proletariats sollen dies plausibilisieren. 24
zauberungsdiagnose von Marx und Engels aus dem ‚Kommunisti- Wieso dieser Klasseninhalt die Form (evtl. sogar demokratischer)
schen Manifest’ 15 folgt. Der Begriff Staat bzw. öffentliche Gewalt Rechtsstaatlichkeit annimmt, bleibt im Dunkeln. Diese reine Kon-
schließlich, den Lenin Engels entlehnt, ist zur Bezeichnung antiker zentration auf den Klasseninhalt 25 verdankt sich u.a. der völligen
und feudaler Herrscha�sformen höchst problematisch, da dort Ignoranz gegenüber den staatstheoretischen Implikationen der
trotz der partiellen Ausdifferenzierung von Herrscha�sfunktio- Marxschen Ökonomiekritik und dem empiristisch-historizisti-
nären und -apparaten weitgehend die Prinzipien personaler Herr- schen Ansatz 26 der Staatsherleitung. Charakteristisch dafür ist
scha� 16 sowie der Einheit von physischer Gewalt(-androhung) nicht nur der beständige Bezug auf Engels’ ethnologische Spekula-
und Ent-/ Aneignung von Produkten fremder Arbeit herrschen. tionen, statt auf Marx’ Ableitung der Wertformen, sondern vor al-
Von einem ‚staatlichen’ Gewaltmonopol, das einer entpolitisierten lem die Anknüpfung an ein Dokument des exoterischen Marx, sei-
‚Gesellscha�’ gegenüberstünde, kann hier keine Rede sein.17 ne Selbstre�exion über die Innovationen seines Ansatzes aus einem
Der Bezug von Herrscha� auf die Subalternen bleibt in Lenins ‚re- Brief an Joseph Weydemeyer vom 5.3.1852. Die Historisierung des
pressionshypothetischer’ 18 Konzeption rein äußerlich und gewalt- Klassenbegriffs, der ‚Nachweis’ eines notwendigen Übergangs des
förmig. 19 Die Subalternen werden dabei immer schon als mehr Klassenkampfs in die ‚Diktatur des Proletariats’ sowie deren Be-
oder weniger offene Feinde der gewaltsam aufrechterhaltenen Ord- stimmung als notwendiger Übergangsphase in die klassenlose Ge-
nung imaginiert. 20 Herrscha� selbst wird extrem personalistisch, sellscha� rechnet sich Marx dort als größte Verdienste an. 27 Für
als „Macht eines kleinen Häu�eins von Milliardären über die gan- Lenin ist damit der „Haupt- und Grundunterschied seiner [Marx’]
ze Gesellscha�“, 21 als direkte Verfügung einer Minderheit über Lehre von der Lehre der führenden und tiefsten Denker der Bour-
die Mehrarbeit der Massen und die Staatsgewalt gedacht. Für den geoisie“ 28 bezeichnet. Irrelevant scheint für Lenin zu sein, dass
strukturellen Zwang und die subjektlose Herrscha� des Kapitals, Marx diese Äußerungen vor der Ausarbeitung seiner Ökonomie-
in deren Rahmen auch die ‚Herrschenden’ immer nur heteronome kritik tat, diese sogar einen Rückfall hinter das Kritikprogramm
Dominanz ausüben können, ist in dieser Betrachtungsweise kein der ‚Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte’ von 1844 darstel-
systematischer Platz. len. Gegen diese frühe Selbsteinschätzung lassen sich z.B. die �e-
Dass Lenin den bürgerlichen Staat nicht als Staat des Kapitals, son- sen in den Briefen an Engels vom 24.8.1867 und 8.1.1868 ins Feld
dern der Kapitalisten begrei�, wird insbesondere anhand seiner ma- führen, in denen Marx von der Ableitung von Pro�t und Grund-
nipulationstheoretischen Erklärung des Klassencharakters bürger- rente aus dem Mehrwert, der Analyse des Doppelcharakters der
lich-demokratischer Staatsgewalt deutlich. Da Lenin es nirgendwo Arbeit und dem Nachweis des objektiven Scheins der Lohnform als
unternimmt, die spezi�sche Form staatlich regulierter Klassenherr- zentralen Punkten seines Werks spricht. 29 Nicht der formanaly-
scha� in der kapitalistischen Produktionsweise zu erklären, muss tische, sondern der soziologistisch-geschichtsphilosophische Marx
ihm auch der immanente Zusammenhang des Klasseninhalts mit interessiert Lenin also vornehmlich.

12 Vgl. Lenin (1960a), S. 473. rende Instanz gegenübersteht. Vgl. Foucault (1983).
13 Ebd., S. 474. 19 Vgl. Lenin (1960a), S. 477.
14 Lenin (1963a), S. 478. 20 Vgl. Lenin (1963a), S. 472.
15 Vgl. MEW 4, S. 465, 472. Dies zeigt sich v.a. anhand wörtlicher Be- 21 Vgl. ebd., S. 477. Was zunächst wie eine agitatorische Wendung klingt,
züge auf das ‚Manifest’ in Lenin (1963c), S. 396. Hier wird, sowohl von erhält im von Lenin mitbegründeten „StamoKap“-Ansatz theoretische
Marx/ Engels im Jahre 1848 als auch von Lenin später, kapitalistische Weihen: Substitution der anonymen Herrscha� des Wertgesetzes durch
Aneignung noch in Kategorien ‚direkter’ Ausbeutung gedeutet und diese die personale Herrscha� ‚einer Handvoll Monopolkapitalisten’ über die
direkte, ideell: unverblümte, Ausbeutung als Charakteristikum des mo- ganze Gesellscha�. Vgl. kritisch dazu Altvater/ u.a. (1976).
dernen Kapitalismus ausgemacht. Dies wird sich erst in Marx’ �eorie der 22 Lenin (1960a), S. 419.
Mysti�kationen des kapitalistischen Alltagslebens ändern, die Lenin aber 23 Ebd..
schlicht ignoriert hat. 24 Vgl. zu diesen Punkten Lenin (1959c), S. 245f., Lenin (1960a), S. 404f.,
16 Vgl. Hoffmann (1996), S. 532 (FN 9): „Personale Herrscha� meint 419, 437, 473ff. sowie Lenin (1963a), S. 473f., 477f.
[...] eine direkte, durch Gewalt aufrechterhaltene Herrscha�sbeziehung 25 Der auf ökonomischem Gebiet die Unfähigkeit früherer Linksricar-
zwischen Personen – im Unterschied zu einer ökonomisch (Kauf von dianer entspricht, den Zusammenhang zwischen dem Klasseninhalt der
Arbeitskra�) oder rechtlich (Herrscha� des Gesetzes) vermittelten Herr- Ausbeutung mit deren spezi�sch bürgerlicher Form, dem Austausch von
scha�sbeziehung.“ Gerstenberger ((1990), S. 500) konstatiert, dass es z.B. Äquivalenten, zu vermitteln. Vgl. dazu auch Arndt (1985), S. 90.
im Feudalismus „noch keine Sphäre der Herrscha� gab, die unabhängig 26 Vgl. Lenin (1960a), S. 419 und Lenin (1963a), S. 463.
von konkreten personalen Beziehungen existierte.“ 27 Vgl. MEW 28, S. 507f.
17 Vgl. Kostede (1980), S. 38ff. sowie Gerstenberger (1990), S. 497-532. 28 Lenin (1960a), S. 424.
18 Michel Foucault versteht darunter eine spezi�sche Auffassung der 29 Vgl. MEW 31, S. 326 und MEW 32, S. 11f.
Wirkungsweise von Macht, in der diese im Sinne eines auf den zentralis-
tischen Gewaltapparat gestützten ‚Verbots-Regimes’ konzipiert wird, das
den beherrschten äußerlich als beschränkende und Ohnmacht generie-

25
Die Konzentration auf den vermeintlich einzig wesentlichen Klas- Die proletarische Diktatur/ Demokratie bedient sich aber nicht
seninhalt bürgerlicher Herrscha�, die auch mit deren Bezeichnung einfach des bürgerlichen Staatsapparats, dieser wird vielmehr modi-
als ‚Diktatur der Bourgeoisie’ einhergeht, zeitigt nun auch Konse- �ziert oder, in Lenins Worten: „zerschlagen“. 38 Imperatives Man-
quenzen für Lenins Betrachtungen über die Rolle von Recht und dat von Abgeordneten, Absetzbarkeit aller Beamten und Richter,
Staat im Sozialismus. unentgeltliche Bildung, Einkommensgleichheit, Au�ebung der
Im Rahmen seines, sich weitgehend an Marx’ Darlegungen in der Trennung von Exekutive und Legislative, allgemeine Volksbewaff-
‚Kritik des Gothaer Programms’ orientierenden, Zwei-Phasen-Mo- nung, Veröffentlichung aller Regierungs- und Verwaltungsdekrete
dells sozialer Emanzipation (‚Sozialismus’ als Übergangsgesell- und Wahlrecht für die Mehrheit der Bevölkerung sollen an seine
scha� zum ‚Kommunismus’), begründet Lenin eine ‚Diktatur des Stelle treten. 39
Proletariats’ im Sozialismus mit deren politischer wie ökonomi- Dabei sind hinsichtlich der weiteren Entwicklung der sowjetischen
scher Notwendigkeit: Staatsdiskussion v.a. zwei Einschätzungen Lenins von Bedeutung:
• Der ‚proletarische Staat’, die Diktatur der Arbeiterklasse, ist ein
„Das Proletariat braucht die Staatsmacht, eine zentralistische Orga- Übergangsphänomen, das „sofort nach seinem Sieg beginnen wird
nisation der Macht, eine Organisation der Gewalt sowohl zur Un- abzusterben.“ 40 Ziel der Übergangsepoche ist es, die ökonomisch
terdrückung des Widerstands der Ausbeuter als auch zur Leitung bedingte Klassenspaltung aufzuheben und Selbstverwaltungsorga-
der ungeheuren Masse der Bevölkerung [...], um die sozialistische ne (Räte) an die Stelle besonderer Verwaltungs- und Zwangsappa-
Wirtscha� ‚in Gang zu bringen.’“ 30 rate zu setzen. Politisch soll die proletarische Diktatur sogar schon
kein besonderer Zwangsapparat mehr sein, weil die ‚Mehrheit des
Der kommunistischen Partei, einer nach dem Prinzip des ‚demo- Volkes’ es geradezu problemlos bewerkstelligen könne, die Minder-
kratischen Zentralismus’ 31 aufgebauten Kaderorganisation, ge- heit der konterrevolutionär Eingestellten niederzuhalten. 41 Da
bührt dabei die führende Rolle im hierarchisch-edukationistischen Lenin Demokratie in ihrer politischen Form aufgehen lässt, 42 er
Entwicklungskonzept Lenins: Die Avantgarde ‚erzieht’ das Prole- sie mit staatlicher Gewalt, formaler staatsbürgerlicher Gleichheit,
tariat, dieses die nichtproletarischen Bevölkerungsteile. 32 Gewaltenteilung und parlamentarisch-repräsentativem Prinzip
Über die Form dieser Herrscha� ist damit noch nicht viel ausge- (v.a. freies Mandat) in Verbindung bringt, 43 wird auch die Demo-
sagt. ‚Diktatur’ soll ja zunächst nur etwas über den Klasseninhalt kratie – wohlgemerkt nicht das Mehrheitsprinzip und repräsenta-
derselben aussagen, nämlich so viel wie: Eine Herrscha� zugunsten tive Organe per se - als absterbende Form bezeichnet.45 Während
des Proletariats, mit dem Endziel der Au�ebung aller Klassen. Der Aspekte der Pariser Kommune ‚politisch’ Lenins Vorbild sozialis-
sozioökonomisch intendierte ‚Inhaltsbegriff’ der Diktatur 33 wird tischer Vergesellscha�ung darstellen, freilich mit der entscheiden-
nun aber von Lenin tendenziell mit dem politischen Begriff der den Differenz eines mit dem Rätegedanken relativ unvermittelten
Diktatur, der eine bestimmte Regierungsform bezeichnet, konfun- zentralistischen Parteikonzepts, verfolgt er ‚ökonomisch’ ein an-
diert, wenn er Diktatur als „eine durch nichts beschränkte, durch deres Paradigma. Weil Lenin Verstaatlichung und Vergesellschaf-
keine Gesetze und absolut keine Regeln eingeengte, sich unmittel- tung der Produktionsmittel tendenziell gleichsetzt 46 und ihm
bar auf Gewalt stützende Macht“ 34 de�niert. Dieser Begriff soll schon der ‚Monopolkapitalismus’ als Epoche der Au�ösung der
auch ausdrücklich für die proletarische Diktatur gelten 35, die aber Herrscha� des Wertgesetzes gilt, stellen sich ihm ökonomisch die
zugleich als „proletarische Demokratie“,36 ’Demokratismus für die Institutionen des ‚staatsmonopolistischen Kapitalismus’, vor allem
Massen’, bezeichnet wird. Da Lenin Freiheit und demokratische der kaiserlich-deutsche ‚Kriegskommunismus’ und die taylorisier-
Freiheitsrechte in der bürgerlichen Gesellscha� im wesentlichen te Massenproduktion, als Vorbilder sozialistischen Wirtscha�ens
als Freiheit für die herrschende Klasse versteht, kann er auch für dar: Weitgehende staatliche Planung und eine direkte, nicht mehr
die sozialistische Gesellscha� problemlos formulieren: wertvermittelte Form gesellscha�licher Arbeitsteilung sowie eine
Vereinfachung administrativer Funktionen und dispositiver Tätig-
„Diktatur bedeutet nicht unbedingt die Au�ebung der Demo- keitsbereiche seien bereits im Kapitalismus feststellbar. 47 Somit
kratie für die Klasse, die diese Diktatur über die anderen Klassen könne Sozialismus schlicht als ein vom Proletariat in Dienst ge-
ausübt; sie bedeutet aber unbedingt die Au�ebung der Demokratie nommener Staatskapitalismus verstanden werden. 48
[...] für die Klasse, über welche [...] die Diktatur ausgeübt wird.“ 37 • Das (bürgerliche) Recht stirbt im Sozialismus zunächst nur hin-

30 Lenin (1960a), S. 416. tivs des nichtrepräsentierbaren Volkswillens bei Rousseau (vgl. Rousseau
31 Vgl. zum Begriff Lenin (1959b) sowie Johnstone (1995). 2005, S. 167): Alle paar Jahre hat das Volk die Freiheit der Wahl seiner
32 Vgl. Lenin (1960), S. 416. Zum Leninschen Parteikonzept vgl. Lenin ‚Verteter’, „dann lebt es wieder in Knechtscha�, ist es nichts“
(1958) sowie kritisch Schneider (1996), S. 105-110. 44 Vgl. Lenin (1960a), S. 437, 469.
33 Vgl. Lenin (1959c), S. 236. 45 Vgl. ebd., S. 469.
34 Lenin (1959a), S. 244; vgl. auch Lenin (1959c), S. 234, Lenin (1960a), 46 Vgl. u.a. Lenin (1963b), S. 459f. Siehe auch kritisch dazu Schneider
S. 416, 425, 467. (1996), S. 152-161.
35 Vgl. Lenin (1959c), S. 234. 47 Vgl. Lenin (1960a), S. 433, 439, 456, 488. Vgl. schon Engels, der die
36 Ebd., S. 247. Monopolkapitalismus-�esen vorwegnimmt (MEW 22, S. 232f.). Kri-
37 Ebd., S. 233. tisch zu Engels: Kittsteiner (1977), S. 44ff.
38 Lenin (1960a), S. 427. 48 Vgl. Lenin (1960b), S. 332: Deutschland im Jahre 1918 gilt ihm als
39 Vgl. ebd., S. 419, 412, 427, 430. „das ‚letzte Wort’ großkapitalistischer Technik und planmäßiger Orga-
40 Ebd., S. 419. nisation, die dem junkerlich-bürgerlichen Imperialismus unterstellt sind.
41 Vgl. ebd., S. 432, 477. Man lasse die hervorgehobenen Wörter aus, setze an Stelle des militäri-
42 Vgl. Schäfer (1994), S. 73. schen, junkerlichen, bürgerlichen, imperialistischen Staates ebenfalls einen
43 Vgl. zu diesen Punkten der Reihe nach: Lenin (1960a), S. 469, 486, 436, Staat, aber einen Staat von anderem sozialem Typus, mit anderem Klas-
435ff. Bei der Kritik der sog. ‚repräsentativen’ Demokratie (vgl. ebd., S. seninhalt, den Sowjetstaat, d.h. einen proletarischen Staat, und man wird
435) bedient sich Lenin deutlich des radikalrepublikanischen Kritikmo- die ganze Summe der Bedingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt“.

26
sichtlich des Privateigentums an den Produktionsmitteln ab. Kann werden auch im Kommunismus noch kollektive Entscheidungen
bereits vermeintlich durch die Verstaatlichung derselben die soziale getroffen, die nach dem Mehrheitsprinzip generiert werden. Auch
Gleichheit aller Akteure hinsichtlich des Eigentums an den Pro- Lenin verfällt nicht in den Glauben an eine völlig homogene Inter-
duktionsmitteln verwirklicht werden, 49 so muss aufgrund eines essenstruktur der von Staat und Kapital emanzipierten Individuen.
noch nicht ausreichenden Entwicklungsniveaus der Produktivkräf- Die in solchen Methoden der Entscheidungs�ndung implizierte
te 50 und der an die alte Gesellscha� gebundenen Gewohnheiten Unterordnung des Willens der Minderheit unter den der Mehrheit
der Menschen 51 ein Prinzip formaler Gleichheit und inhaltlicher soll seitens jener aber gewohnheitsmäßig, freiwillig und zwanglos
Ungleichheit 52 – das Leistungsprinzip der ‚Entlohnung’ nach der erfolgen. 61 „Ausschreitungen einzelner Personen“, 62 gelegentli-
individuellen Arbeitsleistung – hinsichtlich der Distribution der che Verletzungen gesellscha�licher Grundnormen, werde es aller-
Konsumtionsmittel unter die Gesellscha�smitglieder beibehalten dings auch im Kommunismus geben und sollen nach dem Prinzip
werden. Diese staatliche Distributionsnorm, die sich am spezi�sch des Selbstschutzes der Gesellscha� 63 auch repressiv unterbunden
ökonomischen Prinzip der äquivalenten Vergeltung orientieren soll, bzw. bestra� werden.
nennt Lenin, in Anknüpfung an Marx’ ’Kritik des Gothaer Pro-
gramms’, ‚bürgerliches Recht’ bzw. ‚bürgerlichen Rechtshorizont’. „Aber erstens bedarf es dazu [...] keines besonderen Unterdrü-
Dieses bürgerliche Prinzip wird nun, Lenin zufolge, dadurch ein ckungsapparates; das wird das bewaffnete Volk selbst mit der glei-
‚sozialistisches’, 53 indem es a) auf alle arbeitsfähigen Bürger ausge- chen Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit bewerkstelligen, mit
dehnt wird („Umwandlung aller Bürger in Arbeiter und Angestell- der eine beliebige Gruppe zivilisierter Menschen sogar in der heu-
te eines großen ‚Syndikats’, nämlich des ganzen Staates“) 54 und b) tigen Gesellscha� Raufende auseinander bringt oder eine Frau vor
vom Staat in Form der Feststellung prämonetärer Arbeitszeitquan- Gewalt schützt.“ 64
ta wie der Überwachung des Austauschs zwischen ihm und seinen
Angestellten nach Maßgabe dieser Mengen, ‚bewusst angewendet’ Zudem sei mit der Au�ebung von Klassenantagonismen und Elend
wird („Rechnungsführung und Kontrolle“ darüber, „dass [...] alle die Hauptursache dieser ‚Ausschreitungen’ beseitigt.
gleichermaßen arbeiten, das Maß der Arbeit richtig einhalten und Auf rechtstheoretischem Gebiet �ndet sich eine auf den Klassen-
gleichermaßen Lohn bekommen“). 55 Was Lenin hier schildert, ist inhalt fokussierte Position vor allem in Petr I. Stutschkas (zuerst
nichts anderes, als Proudhons paradoxe Stundenzettel-Vision, die 1921 veröffentlichtem) Werk ‚Die revolutionäre Rolle von Recht
rigide zentralstaatliche Planung notwendig impliziert – die von und Staat’.
Marx kritisierte „despotische Regierung der Produktion und Ver- In Analogie zu Lenins Staatskonzeption vertritt Stutschka eine
walterin der Distribution“.56 quasi-universalhistorische, für alle Klassengesellscha�en gelten-
Das Verteilungsprinzip in der Übergangsgesellscha� ist also, wie de Rechtsauffassung. Er intendiert eine „De�nition des gesamten
Lenin ausdrücklich betont, bürgerlich, durch seine Universalisie- Rechtes, sei es nun das ‚allgemeine’ bzw. bürgerliche, sei es das Feu-
rung aber zugleich sozialistisch. Er spricht damit unfreiwillig die dal- oder Sowjetrecht.“ 65 Recht wird von ihm dabei begriffen als
Radikalisierung bürgerlicher Prinzipien als das Wesen seines So- „’System [...] gesellscha�licher Verhältnisse, das den Interessen der
zialismuskonzepts aus. 57 Diese Paradoxie gilt auch für Lenins herrschenden Klasse entspricht und von ihrer organisierten Gewalt
Bestimmung des Charakters der Staatsgewalt im Sozialismus: Das aufrechterhalten wird.’“ 66 Die drei Elemente dieser De�nition
Fortbestehen des bürgerlichen Rechts setzt natürlich auch das ei- sollen im Folgenden näher betrachtet werden:
nes Staates voraus, „denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, der • Unter einem ‚System gesellscha�licher Verhältnisse’ versteht
imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen.“58 Stutschka vor allem eine Ordnung von Produktions- und Aus-
Nicht nur das bürgerliche Recht wird so im Sozialismus perpetu- tauschverhältnissen. 67 Diese werden zwar von Marx als vom
iert, „sondern sogar auch der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoi- „Willen unabhängige“ 68 charakterisiert, dürfen aber nicht als
sie!“ 59 „sachlich-dingliche[...]“ 69 begriffen werden, die dem Willen und
Ziel dieses ‚proletarischen bürgerlichen’ Rechts und Staats ist aller- Bewusstsein der Menschen abstrakt gegenübergestellt werden kön-
dings, Lenin zufolge, seine Selbstabschaffung, die Au�ebung jeg- nen. 70 Das Marxsche Diktum soll vielmehr die Vorgegebenheit,
licher Zwangsnormierung sozialen Verhaltens, nicht nur hinsicht- den emergenten Status, vielleicht auch die Verselbständigung der
lich der Produktion und Distribution von Gütern. 60 Allerdings kapitalistischen Produktionsverhältnisse betonen. So hängen diese

49 Vgl. Lenin (1960a), S. 476, 481, 486. 58 Lenin (1960a), S. 485.


50 Vgl. ebd., S. 481. 59 Ebd., S. 485.
51 Vgl. ebd., S. 481 und 483: Die Menschen seien noch mit der “Harther- 60 Vgl. ebd., S. 481, 483.
zigkeit eines Shylock [!] bedacht [...], nur ja nicht eine halbe Stunde länger 61 Vgl. ebd., S. 469f.
zu arbeiten als der andere“. 62Ebd., S. 478.
52 Vgl. ebd., S. 479. 63 Vgl. MEW 8, S. 508.
53 Vgl. ebd., S. 481: “’ [...] für das gleiche Quantum Arbeit das gleiche 64 Lenin (1960a), S. 478.
Quantum Produkte’ – auch dieses sozialistische Prinzip ist schon verwirk- 65 Stutschka (1969), S. 60. Vgl. auch ebd., S. 71f.
licht“. 66 Stutschka (1969), S. 65.
54 Ebd., S. 484; vgl. auch S. 488. 67 Vgl. ebd., S. 66, 102.
55 Ebd., S. 488. 68 MEW 13, S. 8.
56 MEW 42, S. 89. 69 Stutschka (1969), S. 104.
57 Marx kritisiert diese Konzeption bereits 1844 als „rohen [...] Kommu- 70 Diese für einen Leninisten erstaunliche Einsicht wird von Stutschkas
nismus“ (MEW 40, S. 534): „Die Gemeinscha� ist nur eine Gemeinscha� handelsüblichem Szientismus und Gesetzesfetischismus hinsichtlich des
der Arbeit und die Gleichheit des Salairs, den das gemeinscha�liche Kapi- historischen Materialismus konterkariert. Vgl. nur ebd., S. 109f., 125.
tal, die Gemeinscha� als der allgemeine Kapitalist, auszahlt.“ (MEW 40, 71 MEW 3, S. 311.
S. 535).

27
zwar „keineswegs von ihrem [der einzelnen Akteure] bloßen Wil- der jeweils gegebenen ökonomischen Verhältnisse, könnte weder
len ab[...]“, 71 sind aber als „zwischenmenschliche Beziehungen“ ein Gesetz unwirksam sein noch umgekehrt ein Gesetz eine vorher
72 immer auch zugleich Willensverhältnisse der Akteure. 73 Der nicht existierende Sozialbeziehung veranlassen (was insbesondere
rechtssoziologische Ansatz Stutschkas begrei� Rechtsverhältnisse für die Kategorie des revolutionären Rechts von Bedeutung ist).
vor diesem Hintergrund als (ökonomisch) situierte Willensverhält- • Die Nichtberücksichtigung des Klassencharakters des Rechts
nisse. Recht ist, diesem Ansatz zufolge, nicht durch sich selbst, in bringt der bürgerlichen Rechtstheorie den Vorwurf Stutschkas
einer reinen, überhistorischen Norm oder einem freien Willen, ein, sie begnüge sich mit „inhaltslosen Formeln“. 81 Mit Ausnah-
begründbar: Die ökonomischen Verhältnisse leisten als rechtlich me des Klasseninhalts seien allerdings auch alle Elemente seiner
regulierte zwar einen „Tribut an den Willen. Nirgendwo tritt er je- Rechtsde�nition schon „von bürgerlichen �eoretikern gefunden
doch als freier oder frei bestimmender Wille auf.“ 74 Entgegen nor- worden“.82 Wie bei Lenin ist es auch hier wieder einzig das Ab-
mativistischen und psychologistischen �eorien sucht Stutschka stellen auf den Klasseninhalt, das die differentia speci�ca des mar-
also den „Grundbegriff des Rechtes [...] im System konkreter Verhält- xistischen Ansatzes ausmachen soll. Wie Lenin rekurriert auch
nisse“ 75 und behauptet einen Primat des Rechts als Gesamtheit Stutschka dabei vor allem auf Marx’ ‚vorkritische’ Selbsteinschät-
der faktischen Rechtsverhältnisse vor dem Gesetz als Gesamtheit der zung aus dem Jahre 1852. 83 Deutlicher noch als Lenin betont er
staatlich �xierten und kodi�zierten Rechtsnormen. den vermeintlich revolutionär-systemgefährdenden Charakter des
Stutschka unterscheidet nun drei Formaspekte des Rechts: Klassenkampfs, wenn er behauptet
1. Die faktischen Rechtsverhältnisse, die ein Element der ökonomi-
schen Basis darstellen 76, als ‚konkrete Form’. , „dass Marx das Wesen der Klassenwidersprüche nicht in dem Ver-
2. Die „Zwangsnormen, die von der Staatsgewalt ausgehen und den such der einen Klasse, der anderen einen Teil ihrer Revenuen weg-
Rechtsbereich betreffen“, 77 als ‚abstrakte Form’, wobei ‚abstrakte zunehmen, sehen konnte. Kern des Klassenkampfes war für ihn die
Rechtsform’ hier nicht die (bürgerliche) Form des Rechts i.S. seiner Vernichtung der feindlichen Klasse selbst.“ 84
abstrakten Allgemeinheit meint, sondern einfach den abgeleiteten
und systematisierten Charakter der Rechtsnormen: In der ‚abstrak- Wie das Recht – über dessen spezi�sche Form der abstrakten All-
ten Rechtsform’ werden ‚faktisch geltende’ oder implizite Rechts- gemeinheit in der bürgerlichen Gesellscha� wir allenfalls Andeu-
normen nachträglich positiv-rechtlich �xiert. Diese zweite Form tungen erhalten 85 - den Interessen der herrschenden Klasse dient,
stellt nun einen institutionalisierten Überbaukomplex dar. wie und warum dieser Klasseninhalt jene Rechtsform annimmt,
3. Das Rechtsbewusstsein als ‚intuitive Form’, als „innere[s] darüber gibt Stutschka keinerlei Auskun�. Allenfalls kann die
psychologische[s] ‚Erlebnis’, das auf Grund eines gesellscha�lichen extreme Umsturz-Implikation seines Klassenkampf-Begriffs („per-
Verhältnisses im menschlichen Geist erzeugt wird und seinen Aus- manenter Bürgerkrieg“) 86 noch eine instrumentalistische Staats-
druck in der ‚Gerechtigkeit’, dem ‚inneren Rechtsbewusstsein’ oder auffassung im Leninschen Sinne plausibilisieren (Staat als „organi-
dem ‚Naturrecht’ [...] �ndet.“ 78 sierte Macht der herrschenden Klasse [...] zur Unterdrückung der
Zwar stellt Stutschka diese drei Formen in einen Ableitungszu- Mehrheit (d.h. der Besitzlosen)“). 87 Die ‚Erklärung’ des Klassen-
sammenhang: Weder kann das Recht aus sich heraus seine öko- charakters der drei Formaspekte des Rechts darf getrost als bloße
nomischen Inhalte schaffen (Primat der ökonomischen über die Unterstellung desselben bezeichnet werden. Er ergibt sich in Form
rechtlichen Verhältnisse in Form 1) noch kann die Rechtsnorm die 1 „bereits aus der Verteilung der Produktionsmittel als solcher und
Rechtswirklichkeit aus sich heraus bestimmen (Primat der Form 1 der dementsprechenden Rollenverteilung der Menschen zueinan-
über die Form 2) noch lässt sich das individuelle Rechtsbewusst- der.“ 88 In Form 2 aufgrund der ‚Tatsache’, dass Legislative, Exeku-
sein als Quelle eines intersubjektiven, ökonomisch fundierten und tive und Judikative „das Monopol der im Staat verkörperten Gewalt
staatlich gesicherten Phänomens wie des Rechts begreifen (Primat der [herrschenden] Klasse“ 89 bilden. In Form 3 schließlich aus der
der Formen 1 und 2 über die Form 3). Dennoch betont er gegen ei- Klassenbestimmtheit des Bewusstseins der Akteure. 90
nen ökonomistischen Reduktionismus, dass diese Formen, einmal Das Recht wie die bürgerliche Rechtswissenscha� versuchen aller-
hervorgebracht, eine relative Autonomie und eigene Wirkmächtig- dings, ihren Klasseninhalt „zu verbergen“. 91 Obwohl (auch) das
keit entwickeln, 79 sich somit auch Ungleichzeitigkeiten zwischen (bürgerliche) Recht „gerecht [...] nur für die herrschende Klasse“92
ihnen ergeben können. 80 Wäre das Recht bloße Widerspiegelung ist und das kapitalistische System einer Vergesellscha�ung über die

72 Stutschka (1969), S. 104. bar ist, muss sich Stutschka zu ihrer Stützung auf Marx’ und Engels’ ge-
73 Vgl. ebd., S. 104, 114f., 118. schichtsmetaphysische Dialektik von Proletariat und Bourgeoisie in der
74 Ebd., S. 118. ‚Heiligen Familie’ berufen. Vgl. Stutschka (1971), S. 437.
75 Ebd., S. 113. 85 Vgl. Stutschka (1969), S. 80, 104
76 Vgl. ebd., S. 112, 115f. 86 Ebd., S. 92
77 Ebd., S. 142. 87 Ebd., S. 70, 95
78 Ebd., S. 115. Den Begriff der intuitiven Rechtsform entlehnt Stutsch- 88 Ebd., S. 118
ka der psychologischen Rechtstheorie Petrazickis und Rejsners. Vgl. dazu 89 Ebd., S. 148. Vgl. auch Stutschkas manipulationstheoretischen Begriff
Reich (1969), S. 48-51. der Klassenjustiz in Stutschka (1971), S. 443.
79 Vgl. Stutschka (1969), S. 118. 90 Vgl. Stutschka (1969), S. 118.
80 Vgl. ebd., S. 164. 91 Ebd., S. 148; vgl. auch S. 145.
81 Ebd., S. 66; vgl. auch S. 70. 92 Ebd., S. 148.
82 Ebd., S. 66 93 Ebd., S. 80.
83 Vgl. ebd., S. 85 94 Ebd., S. 81.
84 Ebd., S. 88f. Da mit Marx’ ökonomiekritischer Analyse des Klassen- 95 Vgl. ebd., S. 12. Vgl. auch Stutschka (1971), S. 439.
kampfs im 8. Kapitel des ‚Kapital’ eine solche Auffassung nicht begründ- 96 Vgl. Stutschka (1969), S. 72, 177.

28
Vertragsform „dem Arbeiter keine Freiheit“ 93 bringt, „dominiert zialen Zweckdienlichkeit relativiert. 106
[in den Produktionsverhältnissen] der Schein über die Wirklich- Existiert so etwas wie ein positives proletarisches Recht, so muss
keit“, 94 ja dringt das bürgerliche Intuitivrecht sogar in die Köpfe auch die marxistische Rechtstheorie eine ‚konstruktiv’-sozialtech-
der Arbeiter ein. 95 Wie dies geschieht, welche Formbestimmun- nologische Funktion ausüben. Ihre Aufgabe besteht nun auch da-
gen der Klassenverhältnisse eine derartige ‚Verschleierung’ hervor- rin, zu klären, „wie die abstrakte Form am besten auf die konkrete,
bringen und welche realen Freiheitsspielräume sie über den bloßen d.h. wie das Gesetz auf die Wirklichkeit einwirken kann.“ 107 Sie
ideologischen Effekt hinaus haben, wird in Stutschkas inhalts�- wird als sozialistische politische Ökonomie und Rechtstheorie damit
xiertem Werk nicht thematisiert. zum verlängerten Arm der Partei als oberstem Sozialtechnologen,
• Der Zwangscharakter des Rechts stellt für Stutschkas, vom Pri- der sich aufgrund der „bewusst gewordenen Gesetze der Gesellscha�-
mat der ‚konkreten’ Rechtsverhältnisse wie des Zivilrechts 96 aus- sentwicklung“ 108 seine Ziele setzt und sie mittels adäquater, d.h.
gehenden, Ansatz ein besonderes Problem dar. Gegen eine norma- an den ‚gesetzmäßigen’ Verlauf der ökonomischen Entwicklung
tivistische Zwangstheorie des Rechts wird hier die �ese vertreten, angepasster, Gesetzgebungsmaßnahmen durchzusetzen bzw. zu
der Staat �xiere, systematisiere und garantiere zwar das Recht, beschleunigen trachtet. Die darin implizierte Freiheit ist nichts als
schaffe es aber nicht aus sich heraus,97 ja Recht verwirkliche sich das „Bewusstsein der Notwendigkeit“. 109
„gewöhnlich ohne Zwang, durch Übung, Beharrung, freiwillige Der noch bei Stutschka und vor allem Lenin zu beobachtende
Unterwerfung“ 98 und beinhalte sogar hinsichtlich der Frage der Staats- und Rechts- ‚Nihilismus’, das Festhalten an der Abster-
Verteilung von Gütern im Sozialismus eine von staatlicher Gewalt bethese, wird zwar erst bei Andreij Wyschinski, Josef Stalin und
relativ unabhängige „ökonomisch determinierte Gerechtigkeits- in der poststalinschen sowjetischen Rechts- und Staatstheorie voll-
lehre“. 99 ends durch eine neue Form von ‚Juristensozialismus’ 110 getilgt,
Diese Position wird aber nicht konsistent vertreten: Anlass ist Eu- was auch eine Abkehr vom rechtssoziologischen Ansatz zur Fol-
gen Paschukanis’ Vorwurf, der Begriff der konkreten Rechtsform ge haben wird, Anknüpfungspunkte dafür �nden sich allerdings
als gesellscha�liches Verhältnis sei zu unspezi�sch. Recht �guriere schon im hier kurz dargelegten traditionalistischen, auf den Klas-
darin „als alle Verhältnisse überhaupt“, 100 Stutschka sei nicht in seninhalt �xierten, universalhistorisch ausgerichteten Ansatz, der
der Lage, die Frage zu beantworten, „auf welche Weise sich die ge- nur noch die Adjektive vor den sozialen Formbestimmungen aus-
sellscha�lichen Verhältnisse in Rechtsinstitute verwandelten“.101 zuwechseln braucht, um legitimationswissenscha�lich kompatibel
Dieser begegnet der Kritik nun, indem er die staatliche Zwangs- zu werden.
gewalt zum rechtskonstituierenden Faktor erhebt, an dieser die
differentia speci�ca von Rechtsverhältnissen festmacht: „Das Plus II. Explikation rechts- und staatstheoretischer Gehalte der
[der rechtlichen gegenüber den sozialen Verhältnissen im allgemei- Marxschen Ökonomiekritik (Paschukanis)
nen] liegt in der organisierten, d.h. der staatlichen Macht der Klas-
se.“102 Wäre dies aber der Fall, könnte Stutschka nicht mehr von Zunächst aber muss ein Vertreter der frühen sowjetischen Rechts-
einem Primat konkreter Rechtsverhältnisse sprechen. theorie berücksichtigt werden, dessen Ansatz bis in die späten 60er
Hinsichtlich der Maßnahmen der ‚proletarischen Diktatur’ verein- Jahre hinein als einzigartig gelten darf.
deutigt Stutschka die bei Lenin noch eher unentschiedene Frage In seinem zuerst 1924 veröffentlichten Werk ‚Allgemeine Rechtsleh-
über deren Charakter: Er spricht nicht mehr vom bürgerlichen, re und Marxismus’ beansprucht Paschukanis, den paradigmatischen
sondern vom ‚proletarischen’ Recht im Sozialismus. Zwar sei die Bruch des Marxschen praktisch-kritischen oder gesellscha�stheore-
‚abstrakte Rechtsform’ nur eine abgeleitete, dennoch könne das tischen Materialismus mit ‚bürgerlich’-fetischistischen Deutungs-
Gesetz „auch schöpferisch sein. Es kann neue Verhältnisse erlau- mustern auf rechtstheoretischem Gebiet herauszuarbeiten. Analog
ben, begünstigen oder gar vorschreiben, wenigstens schon als Ein- zur Differenz zwischen politischer Ökonomie und Kritik derselben
zelerscheinungen bekannte Verhältnisse verallgemeinern.“ 103 lässt sich demnach zeigen, dass Marx, im Gegensatz zur Rechts-
Wie die Armengesetzgebung im Übergang zum Kapitalismus die bzw. politischen Philosophie, die Phänomene Recht und Staat selbst
enteigneten Produzenten in den Lohnarbeiter-Status zwingt oder zum Gegenstand einer ‚kritisch-genetischen’ Wissenscha� macht,
die Fabrikgesetzgebung im 19. Jahrhundert eine rechtliche Verwer- sie als gesellscha�liche Verhältnisse unter bestimmten Bedingun-
tungsschranke errichtet, dabei aus sozialen Interessen und Krä�e- gen dechiffriert, statt sie zu enthistorisieren: Geht es jenem um die
verhältnissen hervorgehende Forderungen gesamtgesellscha�lich Klärung der Frage, „kra� welcher Ursachen sich der Mensch als zoo-
verbindlich macht und durchsetzt, so müsse die Gesetzgebung auch logisches Individuum in ein juristisches Subjekt verwandelt“, so geht
im Rahmen der sozialistischen Revolution als wichtigstes Umge- diese „vom Rechtsverkehr als von einer fertigen, von vornherein ge-
staltungsinstrument verstanden werden. Das in diesem Prozess ge- gebenen Form aus.“ 111 Im ahistorischen kategorialen Rahmen der
nerierte ‚proletarische Recht’ tritt dabei als „ungeschminktes Klas- bürgerlichen Ansätze kann sich Rechtskritik zudem nur als Kon-
senrecht“ 104 der Übergangsphase auf, so wenn es Kapitalisten das frontation positiven Rechts mit dem (in der Vernun� oder Natur
Wahlrecht entzieht 105 oder das Zivilrecht hinsichtlich seiner so- fundierten) Rechtsbegriff vollziehen. Der Rechtsbegriff selbst ist

96 Vgl. Stutschka (1969), S. 72, 177. 106 Vgl. Stutschka (1969), S. 160 sowie Reich (1969), S. 47.
97 Vgl. ebd., S. 98. 107 Stutschka (1969), S. 173.
98 Ebd., S. 96. 108 Ebd., S. 109.
99 Reich (1969), S. 39. 109 Ebd., S. 125.
100 Paschukanis (1969), S. 58. 110 Zum Begriff vgl. den gleichnamigen Artikel von Kautsky und Engels
101 Paschukanis (1969), S. 58. in MEW 21, S. 491ff. sowie Reich (1969), S. 40-45.
102 Stutschka (1969), S. 167 (FN 8); vgl. auch S. 70. 111 Paschukanis (1969), S. 89.
103 Stutschka (1971), S. 445. 112 Maihofer (1992), S. 51. Eine solche Rechtsinhaltskritik �ndet sich
104 Ebd., S. 445. auch noch in den junghegelianischen Schri�en des frühen Marx. Vgl.
105 Vgl. Schultz (1972), Sp. 526. dazu Heinrich (1999), S. 88-93 sowie Böhm (1998), Kapitel 1.

29
dort „kein Objekt der Rechtskritik“. 112 che Kette von Rechtsverhältnissen“. 122 Dieses Prinzip der Rechts-
Rechts- und politische Philosophie sind also, Paschukanis zufolge, subjektivität, der freien, gleichen und zurechnungsfähigen Per-
als �eorien sozialer Verhältnisse in bestimmten Formen dem his- sönlichkeit, 123 ist kein bloßes ideologisches Betrugsmanöver der
torischen Materialismus als �eorie dieser Formen als (historisch- Bourgeoisie, als welches es bei Lenin meist erscheint, sondern reales
spezi�scher) Formen selbst radikal entgegengesetzt. Prinzip der Verrechtlichung menschlicher Beziehungen in der auf
Der Untertitel von Paschukanis’ Werk, „Versuch einer Kritik der universalisiertem Warentausch beruhenden kapitalistischen Pro-
juristischen Grundbegriffe“, ist bewusst an den des ‚Kapitals’ an- duktionsweise. 124 Tatsächlich stellen sich deren ökonomische
gelehnt. Kritik bedeutet für ihn Dechiffrierung und Kontextuali- Verhältnisse unter dem Aspekt der Übereinstimmung der Willen,
sierung der rechtlichen Form, die juristischen „Kategorien analy- der wechselseitigen Anerkennung als Freie und Gleiche, die nötig
sierend, ihre wirkliche Bedeutung dartun, d.h. [...], die historische ist, um ihre Produkte als Waren auszutauschen (und nicht etwa als
Bedingtheit der Rechtsform aufdecken.“ 113 Paschukanis will sich Güter bloß gewaltsam anzueignen), als Rechtsverhältnisse dar. 125
aber nicht mit der Dechiffrierung des Rechts als historisch-spezi�- Wie in solchen Ware-Geld-Beziehungen faktisch vom Gebrauchs-
scher Vergesellscha�ungsweise zufrieden geben. Wie Marx inten- wert der Waren abstrahiert wird, tritt in ihnen an die Stelle des
diert er zugleich die Beantwortung der Frage, wie diese Form ihre konkreten Individuums mit seinen mannigfaltigen Eigenscha�en
Verkennung als Form, ihre Deutung als allgemein-menschlich und die „Abstraktion des Menschen überhaupt“, 126 das Rechtssubjekt
natürlich, selbst spontan hervorbringt. als „Wertform des Menschen“. 127
Doch auch das, sich z.B. gegen die neukantianische Transzendenta- Das Recht nimmt auf dieser Grundlage seine spezi�sche abstrakt-
lisierung des Rechtsbegriffs wendende, traditionsmarxistisch-rechts- allgemeine Form der universellen Anwendbarkeit und Geltung
soziologische Paradigma verfällt Paschukanis’ Kritik. So wendet er ohne Ansehen der (konkreten) Person an. 128 In der zivilrechtlich
explizit gegen Stutschkas Rechtsde�nition ein, diese „deck[e] zwar fundierten Rechtsauffassung Paschukanis’ fallen damit die Form
den in den juristischen Formen beschlossenen Klasseninhalt auf, Recht und die bürgerliche Rechtsform zusammen: Nur der Kapi-
erklär[e] [...] aber nicht, warum dieser Inhalt eine solche Form an- talismus bringt „die am höchsten entwickelte, allseitigste und voll-
nimmt.“ 114 Im bisherigen marxistischen Rechtsdenken bleibt also endetste rechtliche Vermittlung“ 129 hervor. Nur „unentwickelte
„die rechtliche Regelung selbst [...] als Norm unanalysiert.“ 115 und rudimentäre Formen“ 130 derselben sind in vorkapitalisti-
Aber nicht nur ‚methodisch’, auch inhaltlich knüp� Paschukanis schen Produktionsweisen zu �nden. Im Feudalismus beispielsweise
an die Kritik der politischen Ökonomie an. Er versteht seine Dar- „wird jedes Recht nur als Zubehör eines gegebenen konkreten Sub-
legungen als Rekonstruktion der Marxschen �esen über den Zu- jekts oder einer begrenzten Gruppe von Subjekten gedacht.“ 131 Es
sammenhang von Warenform und Rechtsform. 116 existiert kein Recht im ‚ausgebildeten’ Sinne, sondern nur ein ‚Vor-
Ausgangspunkt seiner Bestimmung des Rechtsbegriffes ist weder, recht’, ein Privileg, das Mitgliedern einer (meist Verwandtscha�s-)
wie z.B. bei Kelsen, der „Begriff der Norm als äußeren autoritativen Gruppe gegenüber denen anderer Gruppen zuteil wird. Hier gibt
Gebots“ 117 noch, wie bei Stutschka, der Begriff des gesellscha�li- es nur Stadtbürger, Leibeigene, Belehnte, Grundherren usw., nicht
chen Verhältnisses überhaupt. 118 Auch die isolierte Charakteri- ‚den Staatsbürger’ oder gar ‚den Menschen’ als Träger von Freihei-
sierung als Willensverhältnis reicht ihm zur Erfassung des Rechts ten und Adressaten von P�ichten. 132
nicht aus. 119 Erst unter historisch-spezi�schen Vergesellschaf- Das Rechtsverhältnis bringt nun aber, wie das Tauschverhältnis,
tungsbedingungen der Arbeit nehmen gesellscha�liche Verhält- zugleich seine eigene Verkennung hervor. Die Notwendigkeit, mit
nisse rechtlichen Charakter an, so Paschukanis. 120 Die Willens- der der Mensch im Kapitalismus zum Rechtssubjekt wird, kann der
verhältnisse der Akteure erhalten eine juristische Form nur unter bereits im Warenfetischismus befangenen Vorstellung nur als Na-
der Bedingung des Austauschs von Waren. So wird z.B. nicht das turnotwendigkeit erscheinen. 133 „Von diesem Standpunkte aus ist
(Klassen-) Verhältnis zwischen Sklavenhalter und Sklave, sondern es dem Menschen als beseeltem und mit einem vernün�igen Wil-
erst das zwischen Kapitalist und doppelt freiem Lohnarbeiter in len ausgestatteten Wesen eigen, Rechtssubjekt zu sein.“ 134 Das ge-
der rechtlichen Form des Vertrags geregelt. 121 sellscha�liche Phänomen der „Herrscha�ssphäre, die die Form des
Der gesellscha�liche Zusammenhang stellt sich unter privat-ar- subjektiven Rechts angenommen hat“, 135 also Privatautonomie,
beitsteiligen Produktionsverhältnissen zugleich im Wert (der ‚Wer- exklusive Verfügung über Gegenstände als Eigentum und Gleich-
teigenscha�’ der Produkte) und im Recht (der ‚Subjekteigenscha�’ heit der Akteure, erscheint als Eigenscha� der Individuen als (‚zoo-
der Individuen dar), der ‚ungeheuren Warensammlung’, als welche logischer’) Individuen, wie der Wert als Sacheigenscha� der Waren
der Reichtum im Kapitalismus erscheint, entspricht eine „unendli- erscheint, womit der „Warenfetischismus [...] durch den Rechtsfe-

113 Paschukanis (1969), S. 37. 125 Vgl. ebd., S. 132: „Damit sich menschliche Arbeitsprodukte zueinan-
114 Ebd., S. 59. der verhalten können wie Werte, müssen sich Menschen zueinander ver-
115 Ebd., S. 26. halten wie unabhängige und gleiche Persönlichkeiten.“
116 Vgl. ebd., S. 10. 126 Ebd., S. 91.
117 Ebd., S. 72. 127 Bruhn (1994), S. 96.
118 Vgl. ebd., S. 58. 128 Vgl. Paschukanis (1969), S. 100.
119 Vgl. ebd., S. 57. Dieser Ausagng der Rechtsbestimmung von Wil- 129 Ebd., S. 16.
len schlechthin �ndet sich z.B. bei Hegel (1989), S. 46: „Der Boden des 130 Ebd., S. 16.
Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangs- 131 Ebd., S. 98.
punkt ist der Wille“. 132 Vgl. ebd., S. 98f.
120 Vgl. Paschukanis (1969), S. 53. 133 Vgl. ebd., S. 41.
121 Vgl. ebd., S. 88. 134 Ebd., S. 95.
122 Ebd., S. 60. 135 Ebd., S. 96.
123 Vgl. ebd., S. 11f. 136 Ebd., S. 60.
124 Vgl. ebd., S. 12.

30
tischismus ergänzt“ wird.136 schenden repräsentiert und eventuell auch gewaltsam durchsetzt.
Von dieser fehlenden Re�exion auf die (historische Spezi�tät) Ausgehend vom Warentausch lässt sich auch Paschukanis zufolge
warengesellscha�licher Fundiertheit des Menschen als Verträge auf die Notwendigkeit einer außerökonomischen, Recht setzen-
schließendes, privatautonomes Willenssubjekt, schließt Paschuka- den/ �xierenden (legislative Funktion) und garantierenden (exeku-
nis auf eine „allen bürgerlichen Rechtstheorien bewusst oder unbe- tive Funktion) Zwangsgewalt schließen. Er konstatiert, dass
wusst [...] [zugrundeliegende] naturrechtliche Doktrin.“ 137
Er intendiert dagegen eine Ideologiekritik der Rechtsvorstellungen „von zwei Tauschern auf dem Markte keiner das Tauschverhältnis
durch Vermittlung der klassischen Rechtskategorien mit der To- eigenmächtig regeln kann, sondern dass hierfür eine dritte Partei
talität warenförmiger Vergesellscha�ung. Diese Kritik impliziert erforderlich ist, die die von den Warenbesitzern als Eigentümer ein-
nicht nur den Versuch einer Historisierung der Rechtsform, son- ander gegenseitig zu gewährende Garantie verkörpert und dement-
dern auch eine Re�exion auf den Zusammenhang derselben mit ge- sprechend die Regeln des Verkehrs zwischen den Warenbesitzern
sellscha�licher Unfreiheit. Bereits auf der begrifflichen Ebene der personi�ziert.“ 140
einfachen Zirkulation ist die Konstituierung des Individuums zum
Rechtssubjekt durch die eigentümliche Dialektik privatautonomer Außerökonomisch ist die Gewalt, weil der Zwang, den sie auf die
Freiheit gekennzeichnet: Der Herrscha� des Menschen über die Rechtssubjekte ausübt, außerhalb der sachlichen Zwänge der Zir-
Sache, dem privatautonomen Eigentumsverhältnis, liegt die Herr- kulation (wechselseitige Abhängigkeit der Akteure in arbeitsteiliger
scha� der Ware über den Menschen zugrunde: Privatproduktion, objektive Reduktion von individuell-konkreter
Arbeit auf das gesellscha�liche Durchschnittsmaß abstrakter Ar-
„Nachdem er in eine sklavische Abhängigkeit von den hinter sei- beit, Zwang zum Verkauf der Arbeitskra� usw.) situiert ist und sein
nem Rücken in der Gestalt des Wertgesetzes entstehenden ökono- muss, damit von Zirkulation, also Austausch, noch die Rede sein
mischen Verhältnissen geraten ist, erhält das wirtscha�ende Sub- kann. 141 Die Aneignung darf also nicht selbst gewaltvermittelt
jekt, sozusagen als Entschädigung, nunmehr als juristisches Subjekt verlaufen, die Gewalt muss sich jenseits des Verfügungsbereichs der
eine seltene Gabe: den juristisch unterstellten Willen, der ihn unter einzelnen Warenhüter in einer gesonderten Instanz monopolisie-
den anderen Warenbesitzern [...] frei und gleich macht.“ 138 ren und die Gewaltsubstitution in der Ökonomie notfalls gewalt-
sam erzwingen.
Dieses Ineinander von Freiheit und Unfreiheit wird nun perpe- Die generelle Norm, das allgemeine Gesetz (im Gegensatz zum
tuiert und durch das von Gleichheit und Ungleichheit erweitert, Privileg im Feudalismus) 142 fungiert dabei als staatliches, den
wenn staatlich regulierte Klassenverhältnisse in die Betrachtung anonymen faktischen Rechtsverhältnissen der Zirkulationssphäre,
einbezogen werden. in der sich die Individuen nur als Repräsentanten gleichwertiger
Auch auf staatstheoretischem Gebiet formuliert Paschukanis als Waren aufeinander beziehen, adäquates Formprinzip: Staatliche
erster Marxist, gegen die auf den bloßen Klasseninhalt des (bür- Maßnahmen und Regeln müssen eine abstrakt-allgemeine Form
gerlichen) Staates abzielenden, instrumentalistischen Positionen annehmen, Gesetze ohne Ansehen der Person gelten. 143 Erst eine
Lenins, die Grundfrage einer Formanalyse des Staates: solche, durch Enteignung personalen Herrscha�sbesitzes gekenn-
zeichnete, mittels abstrakt-allgemeiner Normen sich vollziehen-
„ [...] warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als de Staatsmacht kann ‚öffentliche Gewalt’ genannt werden, „d.h.
privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spal- eine[...] Gewalt, die keinem im besonderen gehört, über allen steht
tet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersön- und sich an alle richtet.“ 145 Der konsequent öffentliche Charakter
lichen, von der Gesellscha� losgelösten Apparats der öffentlichen der Staatsgewalt – und damit die vollständige Diremtion von Poli-
Macht an?“ 139 tik und Ökonomie - ist daher aber auch an ein allgemeines Wahl-
recht gebunden, wie bereits Marx in ‚Zur Judenfrage’ darlegt .146
Nach Marx macht der Widerspruch zwischen Eigen- und Allge-
meininteresse im Prozess der Wertvergesellscha�ung eine beson- Traditioneller Marxismus (Lenin u.a.)
dere Instanz notwendig, die das gemeinsame Interesse der Tau- - personale soziale Vermittlung/ Herrscha�

137 Ebd., S. 42. Diese sich auf die Verdinglichung des subjektiven Rechts 143 Vgl. Gerstenberger (1990), S. 525f.
beziehende Fetischismus-Diagnose kann allerdings den Ansatz Hans Kel- 144 Paschukanis (1969), S. 126.
sens nur bedingt treffen. Vgl. dazu Harms (2000), S. 88f., 171. 145 Vgl. MEW 1, S. 353: „Der Zensus ist die letzte politische Form, das
Paschukanis (1969), S. 92. Privateigentum anzuerkennen. Dennoch ist mit der politischen Annulla-
138 Ebd., S. 120. tion des Privateigentums das Privateigentum nicht nur nicht aufgehoben,
139 Ebd., S. 130. sondern sogar vorausgesetzt. Der Staat hebt den Unterschied der Geburt,
140 Vgl. ebd., S. 123: „Der Tauschwert hört auf, Tauschwert zu sein, die des Standes, der Bildung, der Beschä�igung in seiner Weise auf, wenn er
Ware hört auf Ware zu sein, wenn die Tauschproportionen von einer au- Geburt, Stand, Bildung, Beschä�igung für unpolitische Unterschiede er-
ßerhalb der immanenten Gesetze des Marktes stehenden Autorität be- klärt, wenn er ohne Rücksicht auf diese Unterschiede jedes Glied des Vol-
stimmt werden.“ Vgl. auch Blanke/ u.a. (1975), S. 479 (Anm. 13). kes zum gleichmäßigen Teilnehmer der Volkssouveränität ausru�“. Vgl.
141 Vgl. Kittsteiner (1980), S. 199: „‘Recht’ ist im Feudalismus [...] nicht auch MEW 1, S. 326: „In der unbeschränkten sowohl aktiven als passiven
das Recht einer formalen Gleichheit vor dem Gesetz, sondern Recht ist ein Wahl hat die bürgerliche Gesellscha� sich erst wirklich zu der Abstraktion
konkretes Anrecht auf etwas, auf ein Privileg, einen Vorrang, eine Reve- von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen
nue, eine Nutzung.“ wesentlichen Dasein erhoben“.
142 Vgl. Paschukanis (1969), S. 97, 124 u.a. Vgl. auch Blanke/ u.a. (1975), 146 ‚Rechtsstaat’ bedeutet hier keinesfalls ‚parlamentarische Demokratie’.
S. 421. Diese ist aus der Warenform nicht ableitbar.

31
- Rechtsbestimmungen (Freiheit, Gleichheit) als Illusion versehenen Rechtsordnung.
- Staat als Instrument der ökonomisch Herrschenden/ Staat der Ein formelles Gesetz bzw. die ‚Rechts’norm als ausdifferenzierte,
Kapitalisten re�exiv organisierte Ordnung ist demnach noch lange kein wirk-
liches Recht:
Staatsableitung (Paschukanis) „Haben sich gewisse Verhältnisse tatsächlich gebildet, so heißt
- sachlich-anonyme soziale Vermittlung das, dass ein entsprechendes Recht entstanden ist; ist aber nur ein
- spezi�sch abstrakt-allgemeine Rechtsform (Realität der Anerken- Gesetz oder Dekret erlassen worden, aber kein entsprechendes Ver-
nung als Freier und Gleicher) hältnis in der Praxis entstanden, so ist wohl ein Versuch zur Schaf-
- spezi�sch abstrakt-allgemeine Form Staat (außerökonomische, öf- fung eines Rechts gemacht worden, aber ohne Erfolg.“ 152
fentliche Zwangsgewalt;generelle Norm als staatliches Formprin-
zip) Hier folgt Paschukanis durchaus den Ausführungen Stutschkas.
Im Verhältnis von objektivem („äußere[...] autoritäre[...] Rege-
So wie Freiheit und Gleichheit (das Prinzip der Rechtssubjekti- lung“) und subjektivem Recht („private[...] Autonomie“) 153
vität) in der einfachen Zirkulation reale Bestimmungen mensch- gebührt letzterem der Vorrang, da es im, von der staatlichen Re-
lichen Handelns darstellen, garantiert auch der Rechtsstaat 147 gulation unabhängigen, „materiellen Interesse“ 154 gründet. Die
tatsächlich „im Interesse aller am Rechtsverkehr Beteiligten“ mit- rechtliche Verp�ichtung unterscheidet sich zwar von der morali-
tels „einer objektiven unparteiischen Norm“ 148 die faktischen schen dadurch, dass sie als äußere Forderung an das Subjekt heran-
Anerkennungsverhältnisse der Warenbesitzer. Das bürgerliche (!) tritt, diese stellt aber zuerst eine „von einem konkreten Subjekt, das
Klassenverhältnis impliziert diese rechtsstaatliche Form notwen- zugleich [...] auch Träger eines entsprechenden materiellen Inter-
dig: „Insoweit das Ausbeutungsverhältnis formell als Verhältnis esses ist, ausgehende Forderung“ 155 dar. Das objektive Recht als
zwischen zwei ‚unabhängigen’ und ‚gleichen’ Warenbesitzern ver- staatliche Zwangsnorm regelt nur nachträglich den Verkehr zwi-
wirklicht wird [...], kann die politische Klassengewalt die Form schen vorstaatlich als Rechtssubjekte bestimmten Akteuren.
einer öffentlichen Gewalt annehmen.“ 149 Da sich die einfache Die „Idee der unbedingten Unterwerfung unter eine äußere norm-
Zirkulation als abstrakte Sphäre der kapitalistischen Produktions- setzende Autorität“ 156 ist, Paschukanis zufolge, dem Begriff der
verhältnisse entpuppt, Rechtsgleichheit und ‚freier Wille’, die spe- Rechtsform sogar vollkommen äußerlich. Der rechtliche Charak-
zi�sche Handlungsfreiheit der Vertragsschließenden, sich als Voll- ter von Normen wird einzig durch ihren Bezug auf privat-isolierte
zugsform von Ausbeutung und strukturellen Zwängen erweisen, Akteure hergestellt, die sich nur ‚indirekt’, über ‚gesellscha�liche
lässt sich leicht einsehen, wie die staatliche Garantie der faktischen Sachen’ aufeinander beziehen und dabei ausschließlich ihren eige-
Rechtsverhältnisse der einfachen Zirkulation zugleich eine Garan- nen Bedürfnissen folgen. 157 Je weiter sich ein soziales Verhältnis
tie der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsbedingung von diesen Bestimmungen entfernt, desto weniger kann ihm ein
schlechthin, des Klassenverhältnisses an der Arbeit, darstellt. Der Rechtscharakter zugebilligt werden: Ist z.B. das Verhältnis zwi-
Klassencharakter des bürgerlichen Staates erweist sich also prinzi- schen Arbeiter und Kapitalist ein nur vertraglich herzustellendes
piell nicht zuerst an der gewaltvermittelten Repression der Arbeiter zwischen privatautonomen Warenbesitzern, so kann das durch
und ihrer Organisationen oder an der Ein�ussnahme von Kapita- eine Zwangsnorm geregelte Verhältnis zwischen Sklavenhalter und
listen und ihren Verbänden auf die Politikformulierung, sondern Sklave kaum als Rechtsverhältnis bezeichnet werden. Hier haben
an der Garantie des Privateigentums, der Sicherung der Rechts- wir es nicht mit der wechselseitigen, freiwilligen Anerkennung,
gleichheit und Wahlfreiheit aller Individuen, der Verhinderung sondern der gewaltvermittelten Unterordnung eines Willens unter
physischer Gewalt im Tauschakt. Der „bürgerliche Staat kann ge- einen anderen zu tun. Ja, der Sklave gilt seinem Herrn als Werkzeug
rade als eine ‚neutrale’ Anstalt ein bestimmtes Klassen- und Herr- seiner Willkür, als „belebtes Besitztum“. 158 Je konsequenter also
scha�sverhältnis sichern.“ 150
Trotz dieser Hervorhebung der Form und Funktion bürgerlicher „das Prinzip der autoritären, jeden Hinweis auf einen gesonderten
Staatsgewalt äußert Paschukanis, ähnlich wie Stutschka, funda- autonomen Willen ausschließenden Regelung durchgeführt ist,
mentale Bedenken gegen eine Repressionstheorie des Rechts, die desto weniger Boden [bleibt] für die Anwendung der Kategorie des
den Aspekt der äußeren Zwangsnorm als dessen Grundzug unter- Rechts“. 159
stellt. 151 Paschukanis behauptet dagegen ein Primat der Rechts-
verhältnisse bzw. implizit im Alltagsleben praktizierten Rechts- Unklar bleibt, welchen darstellungsstrategischen Status Paschukanis’
norm vor der als Staatsgesetz kodi�zierten, mit Zwangsandrohung Äußerungen über ein ‚vorstaatliches’ Recht haben. Man kann ihm die-

147 ‚Rechtsstaat’ bedeutet hier keinesfalls ‚parlamentarische Demokratie’. 156 Ebd., S. 78.
Diese ist aus der Warenform nicht ableitbar. 157 Vgl. ebd., S. 77.
148 Beide Zitate: Paschukanis (1969), S. 124. 158 Aristoteles (1989), 1254a.
149 Ebd., S. 121. 159 Paschukanis (1969), S. 78. Vgl. auch Anatol Rappoports Formulie-
150 Heinrich (1999), S. 266. rung: „Der Gedanke der Gleichberechtigung ist, was das Recht kenn-
151 Vgl. als Beispiele für einen solchen Ansatz: Kelsen (1931), S. 464, 516 zeichnet.“ (Rappoport (1972), S. 151).
oder Wesel (1979), S. 235, 251.
152 Paschukanis (1969), S. 63.
153 Beide Zitate: Ebd., S. 73.
154 Ebd., S. 75.
155 Ebd., S. 145. Von daher stellt sich ihm auch das Privatrecht als „Proto-
typ der Rechtsform überhaupt“ dar (ebd.).

32
sen Mangel an metatheoretischer Re�exion unter dem Gesichtspunk Wertes, Kapitals, Pro�ts usw. bei dem Übergang zum entfalteten
historischer Fairness zwar nicht vorwerfen, doch bleibt damit die Frage Sozialismus nicht das Au�auchen neuer proletarischer Kategorien
offen, wie eine Darstellung des Rechts aussehen mag, die sich analog zur des Werts, Kapitals usw. bedeuten wird.“ 165
dialektischen Darstellung von Reichtumsformen positioniert. 160
Paschukanis zufolge offenbart sich nun eine grundlegende Diffe- III. Kritik an Paschukanis
renz zwischen Recht und technischer Regel. Besteht ersteres in der
Übereinstimmung der ‚autonomen’ Willen von privat-isolierten Im folgenden soll ein kursorischer Blick auf zwei charakteristische
Warensubjekten, so unterstellt letztere eine vorab koordinierte Ein- Kritikpunkte an Paschukanis’ Rechtsbegriff geworfen werden.
heit des Zwecks oder die (repressive) Unterordnung unter einen ein- 166
zigen Willen. 161 Die technische Regel dient in Form der Anwei-
sung oder Anleitung der Verwirklichung einer Zwecksetzung ohne • ‚Reduktion des Rechtsbegriffs’ (Radbruch):
Berücksichtigung eines anderen Willens. Sie bezieht sich entweder
manipulativ auf andere Akteure oder auf Sachen bzw. gegenständ- Gustav Radbruch würdigt zunächst Paschukanis’ Bestreben, entge-
liche Prozesse. Sie ist „kein Gesetz im formellen Sinne. Paschukanis gen den traditionsmarxistischen Versuchen, „den Rechtsinhalt auf
begrei� sie vielmehr als Wissen um Gesetzmäßigkeiten, die sich aus das Interesse der herrschenden Klassen oder den Rechtszwang auf
der Struktur technischer und sozialer Institutionen ergeben, und bestehende Machtverhältnisse zurückzuführen“, die „ökonomisch-
dessen Transformation zu Zweck-Mittel-Empfehlungen.“ 162 soziale Bedingtheit der Rechtsform selber“ 167 auszuweisen. Auch
Auch der Sozialismus zeichnet sich nach Paschukanis durch das der Entwicklung des Prinzips der Rechtssubjektivität aus dem Wa-
Absterben von Recht und Staat zugunsten der technischen Rege- rentausch folgt Radbruch zunächst weitgehend. 168
lung von Produktionsprozessen gemäß einem einheitlichen sozial Dennoch zeichnet sich, ihm zufolge, Paschukanis’ Ansatz durch
de�nierten Ziel aus. Grundlage dafür ist die Au�ebung antago- eine folgenschwere Reduktion des Rechtsbegriffs auf das individu-
nistischer ökonomischer Interessen und der selbstzweckha�en alistische Privatrecht der bürgerlichen Epoche aus: Recht entsteht
Kapitalverwertung. 163 In der sozialistischen Übergangsepoche nach Radbruch grundlegend qua Erfassung „aus der ökonomi-
existiert allerdings noch die rechtliche Form der Koordination ge- schen Sphäre emporsteigende[r]“ Interessen durch die universal-
sellscha�licher Produktionsprozesse. 164 Eine Charakterisierung historische „Kulturform der Allgemeinheit und Gleichheit“. 169
dieser Rechtsverhältnisse als ‚proletarische’ oder genuin sozialisti- Diese Transformation bewirkt zugleich eine sich verselbständigen-
sche, wie sie sich bei Lenin oder Stutschka �ndet, lehnt Paschukanis de Eigendynamik des Rechts, das damit zum relativ autonomen
jedoch kategorisch ab. Gemäß seiner radikalen Rechtsformkritik Machtfaktor und Gestaltungsinstrument gesellscha�licher Ver-
und Identi�zierung von Recht mit bürgerlichem Recht konstatiert hältnisse wird, schließlich durch seine Mediatisierung von Interes-
er gegen einen adjektivischen Sozialismus, der mittels einer positi- se und Gewalt in der (abstrakt-) allgemeinen Form als Stützpunkt
ven proletarischen Rechtslehre naturalisierte soziale Formen alter- und Schutzfunktion gerade für die Subalternen wirken kann. 170
nativ in Dienst nehmen will, dass das Wird eine partikulare Forderung der Herrschenden in Form eines
Rechtsanspruchs formuliert, kann dessen universelle Form zugleich
„Absterben gewisser Kategorien [...] des bürgerlichen Rechts [...] von den Beherrschten gegen den partikularen Inhalt in Anschlag
keineswegs ihre Ersetzung durch neue Kategorien des proletarischen gebracht werden. Diese können damit ein rationales Interesse an
Rechts [bedeutet], genau so wie das Absterben der Kategorien des der Verwirklichung eines von jenen gesetzten Rechts haben, womit

160 Lars Meyer versucht die Problematik Paschukanis’, den Rechtsbegriff dauerha� gehalten werden, daß also der identische Wille wirklich gilt?
vorstaatlich zu bestimmen, zugleich aber die Garantie des Rechts durch Analog dem Problem der Wertabstraktion und deren Vereinheitlichung in
staatliche Zwangsgewalt einbeziehen zu müssen, durch eine Parallelisie- der Preisform existiert das Problem der Rechtsabstraktion und deren Ver-
rung mit der begrifflichen Entfaltung einfacher zu komplexen, unselbstän- einheitlichung in der Rechtsform“ (S. 342). Zur Wirklichkeit des Rechts
diger zu selbständigen Formen des Werts in der dialektischen Darstellung kommt es „in den Akten der Kodi�zierung“ (S. 343).
kapitalistischer Reichtumsformen anzugehen. Damit wird eine objektthe- 161 Vgl. Paschukanis (1969), S. 55f., 78.
oretische Lücke gefüllt, die bei Paschukanis aus einer methodologischen 162 Harms (2000), S. 146.
Unklarheit über den Charakter dialektischer Darstellung von Reichtums- 163 Vgl. Paschukanis (1969), u.a. S. 34, 111f.
und Rechtsformen resultierte. Hier wie dort müsste dann der Begriff des 164 Paschukanis folgt in deren Begründung Marx’ ‚Kritik des Gothaer
Anfangs als Einfachem im Sinne eines Unterbestimmten und auf seine Programms’. Vgl. Paschukanis (1969), S. 34-36.
notwendigen Voraussetzungen hin zu Befragenden konzeptualisiert wer- 165 Ebd., S. 33.
den. Das „Prinzip des Rechts“ (Meyer (2004), S. 340) wird von Meyer ana- 166 Dabei kann nicht ansatzweise das gesamte Spektrum der Kritiken
log zu Marx und Paschukanis als im Austausch gesetztes privatautonomes an Paschukanis’ Werk berücksichtigt werden. Dennoch kreist eine Reihe
Willensverhältnis begriffen. Dieses gemeinsame Willensverhältnis nimmt von Stellungnahmen, wenn auch vor dem Hintergrund verschiedenster
die ‚faktische’ Rechtsform des Vertrages an, als Bindung der besonderen Rechtskonzeptionen, um die hier skizzierten Kritikpunkte ‚Rechtsnihi-
Willen. Dieser Begriff des abstrakten Rechts kann aber aufgrund der be- lismus’, ‚zivilrechtlicher Reduktionismus’ und ‚Zirkulationismus’. Eine
sonderen Interessenkonstellation der privatautonomen Produktionsein- Übersicht über die Paschukanis-Rezeption bietet Harms (2000).
heiten die Forderung der allgemeinen Geltung nicht einlösen. Das Rechts- 167 Beide Zitate: Radbruch (1930), S. 617f.
prinzip kann hier zwar „ohne Kodi�zierung formuliert werden, existiert 168 Vgl. ebd., S. 618.
damit jedoch notwendig bloß verschwindend“ (S. 356), wie der Wert jen- 169 Beide Zitate: Radbruch (1929), S. 77.
seits der Geldform und Kapitalform nur verschwindend existiert. Daher 170 Vgl. ebd., S. 76f.
ist die dem Rechtsprinzip angemessene Form, die der „Wirklichkeit der 171 Ebd., S. 77. Es ist allerdings bereits jetzt darauf hinzuweisen, dass die-
Allgemeinheit des Begriffs“ (S. 342) entspricht, nur durch gesetzliche Ko- se Bestimmungen ausschließlich für bürgerliches, abstrakt-allgemeines
di�zierung und staatliche Zwangsandrohung gegeben. Erst in der staatli- Recht gelten und von Radbruchs späterer Ausweitung des Rechtsbegriffs
chen generellen Norm des Gesetzes entspricht damit die Rechtsform dem konterkariert wird, ohne dass er diese generalisierenden Äußerungen zu-
Rechtsbegriff: „Unter welchen Bedingungen ist es möglich, daß Verträge rücknähme.

33
dem Klassenkampf eine juristische Form gegeben wird. Die poli- derruf. Gegenstand rechtlicher Regelungen ist das Individuum als
tischen Vertreter der Bourgeoisie unterliegen sogar einer List der ‚Kollektivmensch’: Das Recht „kennt [...] nicht mehr nur Personen,
juristischen Vernun�, denn „wer sich im eigenen Interesse auf eine sondern Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Arbeiter und Angestell-
[Rechts-]Idee berufen hat, [ist] genötigt [...], sie zu verwirklichen, te“, 185 es vollzieht eine Angleichung an den Rechtsinhalt, indem
auch wenn sie au�ört, ihm zu dienen.“ 171 es das ‚Klassenschicksal’ der Akteure berücksichtigt. Die Gerech-
Obwohl Radbruch Recht als Einheit verschiedenster Elemente be- tigkeitsidee des ‚sozialen Rechts’ ist keine begriffliche Abstraktion
grei�, die zueinander in einem widersprüchlichen Verhältnis ste- des äquivalenten Tauschs, 186 ist nicht kommutative, sondern dis-
hen (generalisierende Gerechtigkeit vs. individualisierende Zweck- tributive Gerechtigkeit:
mäßigkeit; Relativismus der Zwecksetzung vs. universelle Geltung
der Norm; positive Setzung mittels Willkür und Macht vs. überpo- „Ausgleichende Gerechtigkeit bedeutet die Forderung absolu-
sitive Gleichheitsidee), 172 gilt ihm der unableitbare, „absolute[...] ter Gleichheit beim Austausch von Leistungen, z.B. Gleichheit
Wert“ 173 der Gerechtigkeit als Gleichheit als „artbestimmende zwischen Arbeit und Lohn, Schade und Ersatz, [...]; austeilende
Idee des Rechts“, 174 denn „Recht ist nur, was der Gerechtigkeit zu Gerechtigkeit bedeutet die Forderung relativer Gleichheit in der
dienen wenigstens bezweckt“. 175 Gerechtigkeit fungiert also als Behandlung von Personen, Verteilung von Lasten und Vorteilen
formbestimmendes Element, als alleiniges Abgrenzungskriterium nach Tragfähigkeit und Bedürfnis, nach Schuld und Verdienst.
zwischen Recht und Nicht-/ Unrecht, während über den Charak- Dort ein Verhältnis zwischen zwei Personen, unter denen ein Aus-
ter der Rechtsinhalte Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit mit- tausch statt�ndet, hier ein Verhältnis mindestens zweier Personen
entscheiden. 176 zu einer dritten, die unter ihnen eine Verteilung vornimmt. Die
Im Gegensatz zu Paschukanis versteht Radbruch die Rechtsform ausgleichende Gerechtigkeit gilt für den Verkehr zwischen recht-
als überhistorische, transzendentale Rechtsidee. 177 Paschukanis lich gleichgeordneten, d.h. für das Privatrecht, die austeilende Ge-
gelingt es nun, Radbruch zufolge, nur, die historische Formung der rechtigkeit dagegen im Verhältnis der Über- und Unterordnung: im
Rechtsidee in der ‚liberalkapitalistischen’ Epoche zu erfassen. Er öffentlichen Recht.“ 187
glaube aber, damit die Rechtsform als solche soziologisch abgeleitet
zu haben, was ein Irrtum sei. Paschukanis’ zivilrechtlicher Redukti- Als gleiche Behandlung von Gleichen, ungleiche Behandlung von
onismus blendet demzufolge das Phänomen des öffentlichen Rechts Ungleichen, ist die ‚soziale’ Rechtsform für Radbruch nun gerade-
aus, sein ‚Rechtsnihilismus’ behauptet mit dem Untergang der ab- zu das Spezi�kum entwickelter sozialistischer Vergesellscha�ung,
strakt-allgemeinen Rechtsform des „individualistischen Zeitalters“ 188 die damit immer auch als staatlich regulierte gedacht werden
178 zu Unrecht ein Absterben der Rechtsform überhaupt. 179 muss.
Das individualistische Recht entspricht der ‚liberalen Phase’ des Radbruchs Kritik am zivilrechtlichen Reduktionismus Paschuka-
Kapitalismus, manifestiert sich im Zivilrecht und repräsentiert den nis’ tri� ein zentrales Problem in dessen Werk. Nicht nur bleibt
‚bürgerlichen Rechtshorizont’. Vorherrschend ist darin die Vor- in diesem der zunehmende Maßnahmecharakter von Gesetzen im
stellung des Privateigentums als Naturrecht und das reale Prinzip ‚organisierten’ Kapitalismus unterbelichtet, es wird auch die Frage
der exklusiven Verfügungsgewalt, der Abtrennung des Einzelnen nach dem Rechtscharakter dieser Gesetze nicht gestellt, da Recht
von der Gesellscha�. Das Individuum als unterschiedsloser, egois- primär als Willensverhältnis privatautonomer Warensubjekte auf-
tischer, isolierter Eigentümer gilt als Objekt rechtlicher Regelun- gefasst wird. Paschukanis scheint sogar wesentliche Aspekte des öf-
gen wie als Subjekt von Rechtsansprüchen. Das Rechtsverhältnis fentlichen Rechts mittels der Kategorie der technischen Regel per
nimmt die abstrakt-allgemeine Form der Geltung ohne Ansehen se aus dem Rechtsbegriff auszuschließen. 189
der Person an und abstrahiert von weiteren sozialen Bestimmun- Dennoch ist Radbruchs Kritikmodus nicht unfragwürdig. Zu-
gen als der des Wareneigners, damit auch von sozialer Ungleichheit. nächst wir� seine Ausweitung des Rechtsbegriffs immanente Pro-
180 Es herrscht das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit. 181 bleme auf: Der überpositive Rechtsbegriff, den er gegen die Rechts-
Paschukanis blendet nun aber die Rechtsform des „soziale[n] positivisten ins Feld führt, 190 konterkariert seine Äußerungen
Rechtszeitalter[s]“ 182 aus, die sich bereits im ‚organisierten’ Ka- über das Recht als Stützpunkt und Appellationsinstanz der Subal-
pitalismus und dessen öffentlichem Recht bzw. als Tendenz zur ternen, weil er sich weitgehend vom ‚individualistischen’ Recht und
„Publizierung des Privatrechts“ 183 ankündigt. Diese Form, deren seiner abstrakt-allgemeinen Form der Geltung ohne Ansehen der
Paradigmen das Arbeits- (‚Stützung sozial Ohnmächtiger’) und Person abgrenzt. Das distributive Gerechtigkeit („jedem das Seine“
Wirtscha�srecht (‚Beschränkung sozialer Übermacht’) 184 sind, ) 191 in den Mittelpunkt stellende Rechtskonzept kann für die vom
vertritt die Vorstellung der Sozialp�ichtigkeit des Eigentums und öffentlichen Recht als ‚Ungleiche’ Eingeteilten durchaus zynische
versteht Rechte prinzipiell als staatlich verliehene Rechte auf Wi- Konsequenzen haben und möglicherweise nicht mehr gegen einen

172 Vgl. Radbruch (1993b), S. 462-465. 181 Vgl. Radbruch (1993b), S. 462.
173 Ebd., S. 461. 182 Radbruch (1993c), S. 472.
174 Ebd., S. 462. 183 Radbruch (1930), S. 619.
175 Ebd., S. 462. Vgl. auch die bei Harms ((2000), S. 73, FN 345) zitierte 184 Vgl. Radbruch (1993d), S. 490.
‚Radbruchsche Formel’: „’[...] wo die Gleichheit [...] bei der Setzung posi- 185 Ebd., S. 488.
tiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur 186 Wie Paschukanis ((1969), S. 143) für die Gerechtigkeit schlechthin
‚unrichtiges Recht’, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.’“ unterstellt.
176 Vgl. Radbruch (1993b), S. 465. 187 Radbruch (1993b), S. 462.
177 Vgl. Radbruch (1993a), S. 453. 188 Vgl. Radbruch (1929), S. 79.
178 Ebd., S. 455. 189 Vgl. Harms (2000), S. 148.
179 Vgl. Radbruch (1930), S. 619. 190 Vgl. Radbruch (1993b), S. 460, 466.
180 Vgl. Radbruch (1993a), S. 455 und (1993d), S. 486f. 191 Ebd., S. 462.

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partikularen Inhalt gewendet werden, weil es diesem ja gerade ju- der der Nichtberücksichtigung der Produktionssphäre bei der
ristische Weihen verleiht. Schließlich kann auch distributive Ge- Rechtsbestimmung steht im Mittelpunkt von Oskar Negts und
rechtigkeit das Prinzip äquivalenter Leistung und Gegenleistung, Burkhard Tuschlings Auseinandersetzung mit Paschukanis. Dieser
das Radbruch einseitig der kommutativen Gerechtigkeit zuordnet, Kritik zufolge verortet Paschukanis den Gegenstand und die Quel-
zum (freilich staatlichen) Verteilungsprinzip erheben. Genau gegen le des Rechts „ausschließlich in der Zirkulation“. 198 Seine Rechts-
diese Form eines radikalisierten Leistungsprinzips, wie gegen den theorie ist damit nicht nur unfähig, den rechtlichen Überbau in
Gedanken staatlicher Zuteilung überhaupt, richtet sich Marx’ Kri- seiner relativen Autonomie zu erfassen, 199 sie verfängt sich auch
tik in den ‚Randglossen’ zum Gothaer Programm. in ein ‚krypto-naturrechtliches’ Argumentationsmuster, indem sie
Nicht nur vor diesem Hintergrund wirken Radbruchs Assoziati- das Recht von Verträge schließenden Einzelnen aus konzipiere, sein
onsketten ‚Privatrecht – ausgleichende Gerechtigkeit – bürgerli- Wesen im freien Vertrag zwischen unabhängigen Subjekten verorte.
cher Rechtshorizont’ vs. ‚öffentliches Recht – austeilende Gerech- 200 Paschukanis erklärt nicht die Differenz zwischen bürgerlichen
tigkeit – sozialistische Rechtsform’ naiv. Er geht sogar so weit, die und vorbürgerlichen Rechtsverhältnissen, weil er unterschiedslos
zunehmende ‚Publizierung des Privatrechts’ und die Tendenzen von der „Warenform für sich genommen“ 201 ausgeht. Diese exis-
eines fortschreitenden Staatsinterventionismus als „auf dem Wege tiert aber als marginales Verhältnis schon vor der kapitalistischen
vom Kapitalismus zum Sozialismus“ 192 liegend zu betrachten. Produktionsweise. Die Begründung für die Universalisierung der
Drei klassische Denkfehler der traditionellen Sozialdemokratie lie- Warenform und damit die „Ausbildung der Rechtsform zu einer
gen dieser Haltung zugrunde: allgemeinen und notwendigen Form“ 202 gesellscha�licher Verhält-
1. Die etatistische Tendenz der Identi�zierung von Verstaatlichung nisse bleibt Paschukanis schuldig.
und Sozialisierung der Eigentumsordnung. 193 Dies beruht, Negt zufolge, auf einem Missverständnis des syste-
2. Der vulgäre Evolutionismus, der damit bereits den Sozialismus matischen Stellenwerts der ersten drei Kapitel des ‚Kapital’, denen
im Kapitalismus ‚heranreifen’ sieht. So folgert Radbruch, „dass So- die Warenform-Rechtsform-�eorie wesentlich entnommen ist.
zialismus und Kapitalismus nicht durch eine revolutionäre Klu� Paschukanis isoliert die Bestimmungen der Warenbesitzer als freie
voneinander unterschiedene Gesellscha�szustände, sondern Bewe- und gleiche Eigentümer von ihren weiteren sozialen Formbestim-
gungen innerhalb der Gesellscha� sind, die als sozialistische Auf- mungen als klassenspezi�sche Produktionsagenten. Werden diese
wärtsbewegung und kapitalistische Abwärtsbewegung untrennbar berücksichtigt, wird nicht nur deutlich, dass sich erst auf Grund-
ineinanderge�ochten sind.“ 194 Diese Entwicklung gilt ihm als lage des kapitalistischen Klassenverhältnisses die Warenform zum
geschichtsphilosophisch verbürgte „Selbstverwirklichung einer charakteristischen Sozialverhältnis entwickelt, es lässt sich nur
überbewussten geschichtlichen Notwendigkeit“. 195 noch der „produktionsvermittelte[...] Austausch“ 203 zwischen
3. Die „undurchschaute Ambivalenz der [proletarischen] Rechtsfor- Lohnarbeitern und Kapitalisten als Grund der Rechtskonstitution
derungen und der Gesetzgebung des bürgerlichen Staates“, 196 die angeben:
die Erfolge der Arbeiterbewegung bei Erkämpfung sozialer Rechte
(z.B. des Normalarbeitstages, des Tarifsystems usw.) nicht in ihrer „Nicht alle Waren, auch nicht der durch Verträge vermittelte Wa-
systemstabilisierenden Funktion durchschaut und sie statt dessen renverkehr, sondern ausschließlich die Ware Arbeitskra� ist des-
als Schritt zur Überwindung des ‚bürgerlichen Rechtshorizonts’ halb Bezugspunkt der [...] Erklärung des Rechts.“ 204
feiert. Die Einsicht in die juristische Form des Klassenkampfs wird
damit zur Illusion der graduellen rechtsförmigen Überwindung der Demgemäß ist auch der Rechtsfetischismus nicht so sehr vom Wa-
kapitalistischen Produktionsweise. In diesem Zusammenhang lässt renfetisch, als vielmehr vom Fetischismus der Lohnform her zu be-
sich auch Radbruchs Stadienmodell kapitalistischer Entwicklung greifen. 205 Im Gegensatz zum quasi-‚naturrechtlichen’ Bezugssys-
bezweifeln. Von einer zunehmenden Substituierung des privaten tem Paschukanis’ werden so die „wechselseitigen Bedingungs- und
durch das öffentliche Recht kann keine Rede sein. Vielmehr set- Abhängigkeitsbeziehungen zwischen kapitalistisch organisierter
zen auch die von ihm als Paradigmen ‚sozialen Rechts’ angeführten Produktion und Recht“, 206 die Vermitteltheit der Rechtsverhält-
arbeits- und wirtscha�srechtlichen Maßnahmen das Privatrecht nisse durch die Totalität kapitalistischer Produktionsverhältnisse
ebenso voraus, wie sozialstaatliche Eingriffe das Privateigentum wie die systematische Kontamination des Rechts durch Herrscha�
nicht grundlegend in Frage stellen können 197, sondern gerade als und strukturelle Zwänge berücksichtigt.
konstitutiv für dessen Bestandssicherung gelten müssen. Im Unterschied zu Radbruchs Kritik steht hinter den Vorwürfen Negts
und Tuschlings kein konkurrierendes Rechtsverständnis, sondern eine
• ‚Zirkulations�xiertheit’ (Negt, Tuschling): bestimmte Deutung von Paschukanis’ Methodenverständnis.
Dem Warenform-Rechtsform-�eorem wird eine historizistische
Nicht der Vorwurf des Absehens vom öffentlichen Recht, sondern oder empiristische Reduktion auf ein Modell zweier Tauschender

192 Radbruch (1930), S. 619. 486ff.). Freilich geht es Negt et al. nicht, wie Kelsen, primär um die Beto-
193 Vgl. Radbruchs Andeutungen (1993d), S. 488f. nung des staatlichen Zwangscharakters des Rechts, als vielmehr um des-
194 Radbruch (1930), S. 619f. sen Klassenspezi�k und Beziehung auf ökonomische Zwänge.
195 Radbruch (1993d), S. 495. 201 Tuschling (1976), S. 14.
196 Negt (1975), S. 58. 202 Ebd.
197 Vgl. Blanke/ u.a. (1975), S. 429ff., 434ff. 203 Negt (1975), S. 50.
198 Tuschling (1976), S. 12. 204 Ebd., S. 52. Vgl. auch ebd., S. 48.
199 Vgl. Negt (1975), S. 47, Korsch (1969), S. Xf. sowie Poulantzas (1972), 205 Vgl. Negt (1975), S. 54f.
S. 181f. 206 Tuschling (1976), S. 14.
200 Damit wiederholt sich aus marxistischer Perspektive eine Kritik, 207 Vgl. Harms (2000), S. 121.
die schon Hans Kelsen an Paschukanis geübt hat (vgl. Kelsen (1931), S.

35
im Sinne der Fiktion ‚einfacher Warenproduktion’ 207 unter- ninismus (ML) in wesentlichen Punkten an die traditionsmarxisti-
stellt, damit eine naive Konzeptualisierung von Ware und Recht schen Positionen Lenins an. Dass es sich hierbei dennoch um eine
unter Absehung von deren repressiven Konstitutionsbedingungen. ‚Wende’ handelt, lässt sich sowohl mit theorieimmanenten Revisio-
Tatsächlich kann sich eine solche Interpretation auf uneindeutige nen als auch mit einem grundlegenden politpragmatischen Funkti-
methodologische Bemerkungen in ‚Allgemeine Rechtslehre und onswandel der Wissenscha� in der Sowjetunion begründen.
Marxismus’ beziehen, so, wenn dort z.B. von der Skizzierung der Vor dem Hintergrund des Scheiterns der Revolutionen im ‚Westen’
„Grundzüge der historischen und dialektischen Entwicklung der und der darau�in entstandenen Konzeption des Au�aus des So-
Rechtsform“ 208 die Rede ist. Dennoch ist Harms gegen Negt zialismus in einem – zumal ökonomisch unterentwickelten – Land
zuzustimmen, dass bei Paschukanis der Begriff der „Rechtssub- 215, werden inhaltliche Modi�kationen am Leninschen Paradig-
jektivität und der produktionsvermittelte Austausch [...] implizit ma der Staats- und Revolutionstheorie vorgenommen.
zusammen[fallen]“. 209 Trotz historizistischer Andeutungen lässt
sich ‚Allgemeine Rechtslehre und Marxismus’ nämlich in methodo- • Von der Absterbe- zur Ausdehnungsthese:
logischer Hinsicht als ‚verschwiegene Heterodoxie’ kennzeichnen:
Eine logische Rekonstruktion der Rechtsform aus der Warenform Die etatistischen Züge in Lenins Skizze der sozialistischen Über-
ist hier Programm. Demnach geht Paschukanis auch nicht von der gangsgesellscha� werden von Stalin zu einer neuen Konzeption
‚einfachen Warenproduktion’ aus, sondern legt seiner Analyse „die der Diktatur des Proletariats ausgebaut. Zwar will auch Lenin den
voll entwickelte Rechtsform zugrunde“ 210 und blendet deren Zu- Staat für den gesellscha�lichen Emanzipationsprozess instrumen-
sammenhang mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen, wie talisieren, er hält aber an der Zielvorgabe fest, dass dieser sofort
oben gezeigt, folglich keineswegs aus: Der „praktische Zweck der nach dem revolutionären Umsturz „beginnen wird abzusterben“,
rechtlichen Vermittlung“ besteht im „ungehinderte[n] Gang“ der 216 ja aufgrund seiner zunehmenden Verwandlung in ein Selbst-
kapitalistischen „Produktion und Reproduktion“. 211 Gegen den verwaltungsorgan der assoziierten Produzenten „eigentlich kein
Vorwurf der Zirkulations�xiertheit lässt sich mit Harms zusam- Staat mehr ist“. 217 Diese Position gilt in der stalinistischen Kon-
menfassend vorbringen: zeption des ML nun als ‚konterrevolutionär’. 218 Für Stalin wird

„Wenn die Rechtsbegriffe als Begriffe der Zirkulation erscheinen, „das Absterben des Staates [...] nicht durch Schwächung der Staats-
ist dies die spezi�sche Zirkulation der kapitalistischen Waren- macht erfolgen, sondern durch ihre maximale Verstärkung, die not-
produktion, nicht jedoch einer einfachen [...] Dies gilt ebenso für wendig ist, um die Überreste der sterbenden Klassen zu vernichten
die Begriffe Rechtssubjekt und Rechtsverhältnis. Er [Paschukanis] und die Verteidigung gegen die kapitalistische Umkreisung zu or-
versteht diese nicht als apriorische Begriffe, welche durch eine spezi- ganisieren“. 219
�sche Denkform des Rechts vorgegeben sind, sondern als Begriffe,
die sich nur in der Totalität des gesellscha�lichen Zusammenhangs Die Absterbethese Marx’ und Lenins ver�üchtigt sich damit zum
klären.“ 212 utopistischen Fernziel, ja zur Spintisiererei. 220

Schließlich fügt die Kritik der Zirkulations�xiertheit Paschukanis’ • ‚Verwirklichung’ der ersten Phase des Kommunismus:
Rechtsbegriff nichts hinzu. Auch sie muss die Zirkulationssphäre
als spezi�schen Ort der Rechtsgenese verstehen, da sie kein eta- Diese eigentümliche Pseudo-Dialektik, die mit der Rede�nition des
tistisches Zwangskonzept des Rechts vertritt. Eine Verortung des Inhalts der Diktatur des Proletariats verbunden ist, wird in Stalins
Rechts im unmittelbaren Produktionsprozess dagegen liefe auf eine Proklamation der Realisierung der ersten Phase des Kommunismus
�eorie der „personal gebundene[n] Funktionalität des Rechts“ im Jahre 1936 221 fortgeführt. Da er unter Sozialismus vor allem
213 hinaus, die dieses ohne Betrachtung seiner spezi�schen Form die Verstaatlichung der Produktionsmittel, 222 die Geltung des
„auf das Partikularinteresse der Kapitaleigner“ 214 zurückführen Leistungsprinzips und ein autoritäres Weisungssystem 223 zum
müsste. Zwecke technisch-ökonomischer Modernisierung versteht, erhält
diese Auffassung sogar eine gewisse Plausibilität. Nur widerspricht
IV. Die stalinistische Wende: Rechtstheorie als Sozialtechno- sie vollständig dem Leninschen Ansatz, der, wie Marx, den ‚Sozia-
logie (Stalin, Wyschinski) lismus’ als Übergangsphase zur staaten- und klassenlosen Weltgesell-
scha� begrei�. In dieser Übergangsphase werden die Überreste der
Tatsächlich knüp� der zur Doktrin ausgearbeitete Marxismus-Le- alten Gesellscha� sukzessive abgebaut und durch selbstbestimmte

208 Paschukanis (1969), S. 18. Vgl. auch ebd., S. 31. ski ((1953), S. 55) eine Lenin-Stelle zur Bestätigung dieser Stalinschen
209Harms (2000), S. 121. �ese zitiert, in der das genaue Gegenteil behauptet wird, nämlich das
210 Paschukanis (1969), S. 45. „’allmähliche Einschlafen des Staates nach der Expropriation der Bour-
211 Alle Zitate: Ebd., S. 16. Vgl. auch ebd., S. 10, 91f., 121, 123, 160. geoisie’“.
212 Harms (2000), S. 122. 220 Vgl. Perels (1975), S. 351.
213 Ebd., S. 123. 221 Vgl. Stalin (1979c), S. 183: „Unsere Sowjetgesellscha� hat erreicht,
214 Ebd., S. 124. dass sie den Sozialismus im wesentlichen schon verwirklicht, die sozialis-
215 Vgl. Stalin (1979a), S. 373ff. tische Gesellscha�sordnung errichtet, d.h., dass sie das verwirklicht hat,
216 Lenin (1960a), S. 419. was bei dem Marxisten sonst die erste oder untere Phase des Kommunis-
217 Ebd., S. 432. Vgl. auch S. 477. mus genannt wird. Also ist bei uns die erste Phase des Kommunismus, der
218 Vgl. Wyschinski (1953), S. 56f. Sozialismus, im wesentlichen bereits verwirklicht.“
219 Stalin (1979b), S. 170. Vgl. auch Paschukanis (1979a), S. 406 und 222 Vgl. Stalin (1979c), S. 178f. Vgl. auch Paschukanis (1979c), S. 414.
(1979b), S. 409. Es mutet schon unfreiwillig komisch an, wenn Wyschin- 223 Vgl. Paschukanis (1979a), S. 407.

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Formen der Vergesellscha�ung ersetzt, die den Formen ‚Klasse’ weitgehend fertig vor, doch erst in den Jahren 1929-31 wird er als
und ‚Staat’ grundlegend widersprechen sollen. Es stellt nun, wie ‚umfassende’ und ‚einheitliche Weltanschauung’ zur Staatsdoktrin
Vranicki darlegt, eine Paradoxie dar, eine solche Übergangsepoche erhoben. 233 Der Bruch noch mit den Debatten der 20er Jahre be-
verwirklichen zu wollen: Der Sozialismus ist steht aber keineswegs nur in der Tatsache, dass von nun an jeder
Intellektuelle verp�ichtet ist, sich affirmativ auf dieses Paradigma
„ein Übergang [...] im Sinne des Verschwindens der kapitalistischen zu beziehen. Nicht nur methodisch und politisch abweichende
Elemente [...] und der gleichzeitigen Entstehung und Entwicklung Positionen, auch konzeptive Ideologen des ML, wie die ‚Deborin-
der Momente des Kommunismus. Den Sozialismus kann man Gruppe’, werden nun öffentlich stigmatisiert und (wissenscha�s-
nicht verwirklichen, da er vom siegreichen Ende der Revolution an )politisch ausgeschaltet. Anhand des Modus der ‚Liquidierung
bis zum Kommunismus als solcher schon verwirklicht ist [...] Aber des Deborinismus’ lässt sich das spezi�sche Kernelement des ML
das, was sich dabei tatsächlich verwirklicht, ist seinem Ursprung aufweisen: Nicht inhaltliche Argumente gegen Deborin und seine
wie seinen Perspektiven nach nicht sozialistisch, sondern kommu- Schüler sind das Kriterium ihrer Verurteilung, sondern der Vor-
nistisch. Kurz, verwirklichter Sozialismus ist eine contradictio in wurf der ‚Entfernung vom politischen Leben und den Aufgaben
adjecto.“224 der Partei’. 234 Es wird die ‚Einheit von �eorie und Praxis’ im
Sinne der totalen 235 Subordination des wissenscha�lichen (und
• Gemeinwohlmysti�kation und Klassenbegriff: kulturellen) Feldes unter die staatlichen Weisungsbefugnisse der
Partei eingeklagt. ‚Partei-Lichkeit’, die affirmative Bezugnahme
Eine dritte entscheidende Modi�kation der Leninschen �eo- auf den sowjetischen Staat und die jeweilige Tagespolitik der KPd-
rie betri� die Fundamente seines Staats- und Klassenbegriffs. In SU (B) wird zum Kriterium der Un-/ Wahrheit intellektueller
Stalins ‚Kommentar’ zur neuen Sowjetverfassung von 1936, wie Positionen. Die „staatliche Produktionsweise“ 236 wird nun auch
in den zahlreichen Paraphrasierungen desselben, wird behauptet, in der �eorie eingeführt. Folglich fällt eine inhaltliche Kritik
die UdSSR bestehe nun, sozialstrukturell betrachtet, nur noch aus theoretischer Ansätze zugunsten ihrer äußerlichen Zuordnung zu
„zwei befreundeten Klassen, aus Arbeitern und Bauern“, 225 „de- vermeintlichen Klassen- oder Strömungsinteressen weg. In einem
ren Interessen einander nicht nur nicht feindlich gegenüberstehen, Satz: „Der Marxismus-Leninismus ist nichts anderes als die Staats-
sondern im Gegenteil miteinander harmonieren“. 226 Da Kapi- räson.“ 237 Auch Eugen Paschukanis wird sich von 1931 bis zu sei-
talisten und Grundeigentümer als Klassen ‚liquidiert’ seien, 227 nem Verschwinden 1937 dieser Räson unterwerfen und seine frü-
könne auch von einer „völlig neue[n], von Ausbeutung befreite[n] heren Ansichten ‚selbstkritisch’ vollends durch die vorherrschende
Arbeiterklasse“ 228 gesprochen werden. Die Verfassung verkörpere Stalin-Wyschinski-Doktrin ersetzen. 238
somit den einheitlichen Willen, das Gemeinwohl des gesamten ‚So- Die Ersetzung von Argumentation durch Denunziation kenn-
wjetvolkes’ 229 und der Staat könne als „Volksstaat“ 230 bezeich- zeichnet insbesondere die Texte des Chefanklägers bei den Mos-
net werden. Vor dem Hintergrund des Leninschen Staats- und kauer Prozessen (1936-38) und Hauptvertreters der stalinistischen
Klassenbegriffs stellen diese Konstruktionen reine Absurditäten Rechtsauffassung Andrej Wyschinski. Es soll im folgenden den-
dar: Eine Gesellscha� ohne ökonomische Ausbeutung ist für Le- noch versucht werden, inhaltliche Kriterien seiner Rechtsauffas-
nin nicht als Klassengesellscha� bestimmbar, der Staat ist für ihn sung zu skizzieren und sie den vorangegangenen Paradigmen zu
stets Ausdruck und Instrument von Klassenherrscha�. Der Begriff kontrastieren.
‚Klasse’ verliert somit in der Verwendungsweise des Leninisten Sta- Wyschinski de�niert Recht als „die Gesamtheit der Verhaltensre-
lin ebenso jeglichen Sinn wie der des Staates als ‚Ausdruck eines geln, die den Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und auf
einheitlichen Volkswillens nichtantagonistischer Klassen’. Da der gesetzgeberischem Wege festgelegt sind, sowie der Gebräuche und
ML nun aber keineswegs vollständig und explizit mit den Lenin- Regeln des Gemeinscha�slebens, die von der Staatsgewalt sanktio-
schen Formeln aus ‚Staat und Revolution’ bricht, ergeben sich abs- niert sind. Die Anwendung dieser Regeln wird durch die Zwangs-
truse theorieimmanente Inkonsistenzen, über deren Ursachen nur gewalt des Staates gewährleistet zwecks Sicherung, Festigung und
spekuliert werden kann. Entwicklung der gesellscha�lichen Verhältnisse und Zustände, die
Ein Zusammenhang mit dem Funktionswandel der Wissenscha� der herrschenden Klasse genehm und vorteilha� sind.“ 239 Diese
im ML kann aber kaum von der Hand gewiesen werden: Tatsäch- Rechtsauffassung ist sowohl durch die Fortsetzung spezi�scher
lich markiert dieser sogar das Kernelement der stalinistischen Elemente des Lenin-Stutschka-Paradigmas als auch durch einen
Wende in der �eorie. Im Rahmen der Modernisierungskonzep- radikalen Bruch mit dem noch von ihnen weitgehend geteilten
tion des ersten Fün�ahrplans, die eine staatlich dirigierte Hyper- rechtssoziologischen und –kritischen Ansatz gekennzeichnet:
industrialisierung und Zwangskollektivierung im Agrarsektor zum
Programm erhebt, wird der ML als spezi�sche Doktrin geboren. • Wyschinski abstrahiert weitgehend von ökonomisch-gesellscha�-
Zwar liegt deren theoretischer Korpus 232 – entwickelt u.a. von lichen Verhältnissen und vollkommen von der Frage nach der Form
Abram Deborin und Stalin selbst – bereits seit Mitte der 20er Jahre des Rechts. Er betrachtet eine voluntative Setzung der jeweils herr-

224 Vranicki (1974), S. 665. 233 Vgl. Labica (1986), S. 59.


225 Stalin (1979c), S. 185. 234 Vgl. ebd., S. 45-48, 63f.
226 Ebd., S. 194. 235 Vgl. ebd., S. 58f.
227 Vgl. ebd., S. 194. 236 Vgl. Schneider (1996), S. 209.
228 Ebd., S. 179. 237 Labica (1986), S. 57.
229Vgl. ebd., S. 185; Wyschinski (1953), S. 78 oder die Zitate bei Perels 238 Vgl. Paschukanis (1972) und (1979a-c) sowie kommentierend: Blanke
(1975), S. 343. (1979).
230 Paschukanis (1979b), S. 408. 239Wyschinski (1953), S. 76.
231 Vgl. Schneider (1996), S. 193ff. 240 Vgl. auch Stalin (1979c), S. 185.
232 Vgl. u.a. Labica (1986) sowie Elbe (2006).

37
schenden Klasse, nicht spezi�sche soziale Verhältnisse, als originä- Gemäß dieser Auffassung werden in der Sowjetunion zwischen
re Rechtsquelle. 240 Recht wird damit universalhistorisch auf den 1932 und 1940 noch die Au�ebung der Freizügigkeit und die
direkten Ausdruck eines partikularen Klassenwillens reduziert. Einführung direkter Zwangsarbeitsverhältnisse (z.B. durch das In-
• Es wird zudem ausschließlich von der staatlich �xierten, objek- landspass- und Arbeitspassbuch-System oder das System der staat-
tiven Rechtsordnung her gedacht - als Zwangsnorm. Damit stellt lichen Arbeitskrä�ereserven) 254 offen als „’mächtige Waffe[n] in
sich Wyschinski, gegen Paschukanis und Stutschka, implizit auf den Händen der proletarischen Diktatur, die es ihr ermöglich[en],
die Seite Kelsens. Dieser versteht unter einer Rechtsnorm zunächst die Bevölkerung zu kontrollieren und zu organisieren’“ bzw. als
ein „hypothetisches Urteil [...], das die spezi�sche Verknüpfung „’mächtige[...] Hebel zur Verstärkung der Arbeitsdisziplin’“ 255
eines bedingenden Tatbestandes mit einer bedingten Folge aus- gelobt.
drückt.“ 241 Im Gegensatz zum Naturgesetz („Wenn A ist, so muss
B sein“) 242 „sagt das Rechtsgesetz: wenn A ist, so soll B sein“. 243 • Auf Grundlage des Stalinschen �eorems der Ausdehnung der
Die an den bedingenden Tatbestand geknüp�e Folge ist dabei stets Staatstätigkeit im Sozialismus fordert Wyschinski eine „maximale
ein staatlicher Zwangsakt. Es ist für Kelsen allein dieser repressi- Stärkung des Sowjetrechts“. 256 Den Funktions- und Legitimati-
ve Charakter, der die Rechtsnorm von anderen Verhaltensregeln onsbedürfnissen der staatlichen Produktionsweise des Stalinismus
unterscheidet. 244 Nach Wyschinskis De�nition muss schließ- entsprechend werden die Absterbethese und der rechtskritische
lich, wie für Kelsen, „jeder Staat ein Rechtsstaat sein“, 245 da je- Ansatz nun als „schädliche[...] �eorie“, „Schmutz“ und „Hirnge-
des weitere Kriterium der Rechtsbestimmung, wie ‚Gerechtigkeit’ spinste“, die von „ausländische[n] Polizeiagenten und Spione[n]“
oder reziproke Anerkennung als Freie und Gleiche, wegfällt. 246 257 in die Welt gesetzt wurden, denunziert. Das sowjetische Recht
Eine Differenz zum normativistischen 247 Ansatz Kelsens besteht stirbt aber nicht nur nicht ab, es ist auch eine „Phantasterei“, 258 es
allerdings in Wyschinskis Insistieren auf dem klassenspezi�sch- als bürgerliches zu bezeichnen. Da dies aber unzweifelha� Marx’
partikularen Rechtsinhalt sowie dessen purem Voluntarismus 248. Auffassung ist, die in der sowjetischen Debatte zwar nur von Pa-
Wie Stutschka gilt auch diesem das Absehen vom Klasseninhalt als schukanis offensiv vertreten wird, aber noch bei Lenin andeutungs-
alleiniges Abgrenzungskriterium ‚bürgerlicher’ von ‚proletarischer’ weise zu �nden ist, muss Wyschinski wahre hermeneutische Kunst-
Rechtstheorie. 249 stücke vollbringen, um seine Auffassung durch einen Bezug auf die
‚Klassiker’ zu rechtfertigen. Neben hil�osen Wendungen wie, man
• Die Funktion des Rechts besteht für Wyschinski in der „Nie- könne „nicht im direkten Sinne des Wortes sagen [...], das Recht
derhaltung der Feinde des arbeitenden Volkes, der Erziehung un- der Übergangsphase sei bürgerliches Recht“, 259 versucht er es mit
gehorsamer Mitglieder der Gesellscha�, der Festigung der Staats- der Umdeutung der Marxschen �ese vom bürgerlichen Charakter
und Gesellscha�sdisziplin“ 250 sowie in der „Kontrolle seitens des Rechts im ‚Sozialismus’: Erstreckt sich diese Aussage bei Marx
[...] der [...] herrschenden Klasse über das Maß der Arbeit und des unzweifelha� auf die Rechtsform als solche, so reduziert Wyschinski
Verbrauchs.“ 251 Recht wird damit, wieder analog zu Kelsen, als die Kennzeichnung als bürgerlich auf spezi�sche Gesetze, die eine
Mittel bzw. Sozialtechnik zur Herbeiführung eines erwünschten erfolgreiche Revolution „am Tage nach der Machtergreifung“ 260
Zustands gegen die widerstrebenden Interessen der Gesellscha�s- noch gezwungen sei zu übernehmen. Nach „fünf, zehn, zwanzig
mitglieder begriffen 252: Jahren“ 261 verwandelten sich die Rechtsnormen aber in proletari-
sche, ereigne sich eine „Anfüllung mit sozialistischem Inhalt“. 262
„ [...] der erwünschte soziale Zustand wird dadurch herbeigeführt Ja für die UdSSR müsse geradezu ein „Triumph des Rechts und [...]
oder herbeizuführen gesucht, dass an das menschliche Verhalten, der Gesetzlichkeit“ 263 konstatiert werden, während im Monopol-
das das kontradiktorische Gegenteil dieses Zustandes bedeutet, ein kapitalismus, insbesondere im Faschismus, eine „Zerstörung“ bzw.
Zwangsakt [...] als Folge geknüp� wird.“ 253 ein „Verfaulen“ beider zu verzeichnen sei. 264

241 Kelsen (1931), S. 462. pitalistischen’ Epoche; vgl. Paschukanis 1969, S. 77f. Dieser Wandel des
242 Ebd., S. 463. Rechtsbegriffes, von einem, der eine abstrakt-allgemeine Norm, ausge-
243 Ebd., S. 463. hend von der Identität der Willen der Warenbesitzer impliziert, hin zu
244 Vgl. ebd., S. 464. einem Konzept der „technische(n) Rationalität“, die „ausschließlich den
245 Ebd., S. 516. Herrschenden zu Diensten steht“ (Kirchheimer (1984), S. 324), wird in
246 Vgl. Reich (1969), S. 26, 39. ähnlicher Weise von Vertretern der Frankfurter Schule kritisiert.
247 ‚Normativistisch’ meint in dieser, in der Rechtstheorie geläu�gen, 253 Kelsen (1931), S. 465. Vgl. auch ebd., S. 472.
Terminologie ‚von der objektiven Rechtsnorm ausgehend’, keinesfalls ei- 254 Vgl. Wielenga (2001), Sp. 1101 oder Lorenz (1976), S. 239, 245f.
nen moralphilosophischen Standpunkt. Kelsen lehnt denn auch – gegen 255 Kommentare aus der Izvestija, zitiert nach Wielenga (2001), Sp.
Radbruch – jede noch so „minimisierte Naturrechtstheorie“ ab (Kelsen 1101.
(1931), S. 460). 256 Wyschinski (1953), S. 72.
248 Kelsens Repressionstheorie des Rechts ist von einer platten Befehls- 257 Alle Zitate: Ebd., S. 60.
theorie bzw. einem puren Voluntarismus zu unterscheiden. Nicht der 258 Ebd., S. 60.
machtgestützte Wille des Gesetzgebers, sondern die in einer positiv vo- 259 Ebd., S. 74.
rausgesetzten Grundnorm fundierte Ermächtigung zur Zwangsnormset- 260 Ebd., S. 75.
zung sei der Geltungsgrund des Rechts. Diese Grundnorm wird weder aus 261 Ebd., S. 75.
Macht noch aus Gott oder Natur abgeleitet. Sie wird schlicht als vorhan- 262 Wyschinski (1972), S. 117.
den postuliert. Vgl. Kelsen (2008), S. 76ff. 263 Wyschinski (1953), S. 69.
249 Vgl. Wyschinski (1953), S. 63f., 76. 264 Ebd., S. 69. Vgl. auch (1972), S. 113, wo er davon spricht, dass die „fa-
250 Vgl. Wyschinski (1972), S. 113. schistische Bourgeoisie den Begriff von Recht und Gesetzlichkeit in den
251 Wyschinski (1953), S. 73. Schmutz zieht.“
252 Paschukanis begrei� diesen Ansatz als Ausdruck der ‚monopolka-

38
• Spätestens an diesem Punkt geht jede theoretische Konsistenz ver- Moralbegriffe im Frühwerk von Karl Marx, Bodenheim
loren. Offenbar verbindet Wyschinski an dieser Stelle mit ‚Recht’ Bruhn, Joachim (1994): Unmensch und Übermensch. Über
unausgewiesene normative Implikationen, die seinem repressions- Rassismus und Antisemitismus. In: ders.: Was deutsch ist. Zur
theoretischen Konzept zuwiderlaufen. Wenn Recht nichts ande- kritischen �eorie der Nation, Freiburg, S. 77-110
res als der in einer staatlichen Zwangsnorm materialisierte Klas- Chal�na, P.O. (1972): Das Verhältnis von Recht und Ökonomik.
senwille ist, dann muss auch der Faschismus als rechtsstaatliches In: N. Reich (Hg.): Marxistische und sozialistische Rechtstheorie,
System bezeichnet werden. Nur in diesem zynischen Sinn kann Ff/M., S. 129-142
auch Wyschinski 1938 die Sowjetunion als solches ausweisen. Ein Elbe, Ingo (2006): Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen.
weiterer gravierender immanenter Widerspruch tut sich auf, wenn Lesarten der Marxschen �eorie. In: J. Hoff/ A. Petrioli/ I. Stütz-
Wyschinski von einem einheitlichen und einmütigen Volkswillen le/ F.O. Wolf (Hg.): Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen
als „Quelle unseres sozialistischen Rechts“ 265 spricht, was dem Philosophie, Münster, S. 52-71
Zwangs- und Klassencharakter seines Rechtsbegriffs grundlegend Engels, Friedrich: Zur Kritik des sozialdemokratischen Program-
widerspricht. 266 mentwurfs 1891. In: MEW 22, S. 225-240
Es bleibt zu erwähnen, dass auch die poststalinsche sowjetische Engels, Friedrich/ Kautsky, Karl: Juristen-Sozialismus. In: MEW
Rechtstheorie nahezu vorbehaltlos an Wyschinskis Vorgaben 21, Berlin 81984, S. 491-509
anknüp�. 267 Die Marxsche Rechtskritik wird auch hier in eine Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum
„sozialtechnische Leitungswissenscha�“ 268 umgebogen. So gibt Wissen, Ff/M.
P.O. Chal�na, Mitarbeiterin des Instituts „Staat und Recht“ der Gerstenberger, Heide (1990): Die subjektlose Gewalt. �eorie der
Akademie der Wissenscha�en der UdSSR, zufolge die Marxsche Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster
�eorie ein „objektives Kriterium für die Beurteilung der ökono- Harms, Andreas (2000): Warenform und Rechtsform. Zur
mischen Effizienz einer Rechtsnorm“ 269 an die Hand. Die Logik Rechtstheorie von Eugen Paschukanis, Baden-Baden
des adjektivischen Sozialismus wird von der ökonomischen auf die Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1989): Grundlinien der Philo-
juristische Sphäre übertragen: Was im Kapitalismus blind und zu- sophie des Rechts, 2. Au�., Ff/M.
fällig wirkt, wird, unter Einsatz der ‚Universalwissenscha�’ ML, Heinrich, Michael (1999): Die Wissenscha� vom Wert. Die
alternativ genutzt und gefügig gemacht. Die Vergesellscha�ungs- Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissen-
form selbst bleibt unhinterfragt und unangetastet: scha�licher Revolution und klassischer Tradition, 2. überarb. und
erw. Au�., Münster
„Unter den Bedingungen des Sozialismus können die Rechtsfor- Hoffmann, Jürgen (1996): Politisches Handeln und gesellscha�-
men auf der Grundlage der Erkenntnis der Entwicklungsgesetze liche Struktur. Grundzüge deutscher Gesellscha�sgeschichte,
von Natur und Gesellscha� und der bewussten Nutzung ökono- Münster
mischer Gesetze ausgewählt und geschaffen werden. Die Lehre von Johnstone, Monty (1995): demokratischer Zentralismus. In: W.F.
Marx über die Rechtsform ökonomischer Verhältnisse, über die Haug (Hg.): Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus,
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265 Wyschinski (1953), S. 78. Hier führt sich das unbedingte Legitimationsbedürfnis ad absurdum.
266 Betont er doch an anderer Stelle: „Das Recht war niemals Ausdruck 267 Einen kritischen Überblick dazu bietet Perels (1975).
der sozialen Solidarität; es war immer Ausdruck der Herrscha�, Ausdruck 268 Ebd., S. 348.
nicht der Solidarität, sondern des Kampfes und der Widersprüche.“ (ebd., 269 Chal�na (1972), S. 134.
S. 76). Auch die Funktionsbestimmung und die Rede von einem Klassen- 270 Ebd., S. 142.
willen wollen bei einem ‚einmütigen Volkswillen’ nicht mehr einleuchten.

39
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Der Text von Ingo Elbe: (K)ein Staat zu machen? Die sowjetische
Rechts- und Staatsdebatte auf dem Weg zum adjektivischen Sozialis-
mus erschien erstmals unter:
http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/K-ein-Staat-zu-machen.html
Wir danken dem Autoren und der roten ruhr uni Bochum für die
freundliche Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung.

Ingo Elbe hat 2007 und 2008 in Bremen bei folgenden Veranstal-
tungen referiert:

Einführung in die materialistische Staatstheorie


Wochenendseminar am 10. - 11. März 2007
Siehe:
http://www.rosa-luxemburg.com/?p=73
http://associazione.wordpress.com/2008/08/01/einfuhrung-in-
die-materialistische-staatstheorie-seminar/

Staat und Globalisierung. Zur Aktualität materialistischer Staats-


kritik. (zusammen mit Heide Gerstenberger und Ingo Stützle)
Podiumsdiskussion am Freitag den 29. Februar 2008 und Tagesse-
minar am Samstag 1. März 2008
Siehe:
http://www.rosa-luxemburg.com/?p=120
http://www.rosa-luxemburg.com/?p=121
http://associazione.wordpress.com/2008/08/01/staat-und-globa-
lisierung-zur-aktualitat-materialistischer-staatskritik/

41
John Kannankulam

Zur westdeutschen Staatsableitungsdebatte der siebziger Jahre.


Hintergründe, Positionen, Kritiken.

Gut dreißig Jahre nach der Hochphase der bisweilen äußerst pole- den Konjunkturdelle daran, mit antizyklischer Wirtscha�s-steue-
misch geführten Staatsableitungsdebatte stellt sich die Frage, wo- rung bspw. in Form des „Stabilitätsgesetzes“ von 1967, den Kapi-
rum es damals überhaupt ging und was von dieser Debatte heute talismus zum weitgehend krisenfreien Motor von Wachstum und
noch brauchbar ist. Im folgenden Text möchte ich versuchen, mich Wohlstand zu machen (vgl. Kannankulam 2008, 166ff.). Im Zuge
diesen Fragen anzunähern. Hierzu will ich zum einen den zeithis- dieses wirtscha�spolitischen Paradigmenwechsels und dem damit
torischen, polit-ökonomischen Hintergrund dieser Debatte knapp verbundenen Steuerungsoptimismus wurde die „systematische wis-
rekonstruieren und zum anderen zentrale Ansätze darstellen. senscha�liche Erfas-sung staatlicher Funktionen und Instrumente
im ökonomischen Lebensprozeß in atembe-raubender Parforcejagd
Hintergründe der Debatte vorangetrieben“ da, so Norbert Kostede (1976, 151) „die bürgerli-
che Wirtscha�stheorie [...] im keynesianischen Staat ihr Ei des Ko-
Zentraler Hintergrund der damaligen, vor allem im akademisch- lumbus entdeckt“ hatte.
studentischen Millieu geführten Debatte war die Revolte von 1968 Entgegen diesem Glauben, der Krisenha�igkeit des Kapitalismus
und ihre Ausläufer in verschiedenerlei Organisationen und Diskus- mittels des steuernden Staates dauerha� entgegenwirken zu kön-
sionszirkeln. Die letztlich enttäuschte Hoffnung mit ’68 zu einem nen, ging es aus kritisch-marxistischer Sicht darum, nicht nur im
radikalen gesellscha�lichen Wechsel zu gelangen, machte deut- Kontext der realen Wirtscha�skrise, sondern auch theoretisch auf
lich, so Alex Demirović pointiert, dass der „Mangel einer �eorie der Grundlage der marxschen �eorie, nachzuweisen, dass derlei
des bürgerlichen Staates [...] von der Neuen Linken [...] nach dem sozialdemokratische Konzepte letztlich „illusorisch“ seien, da ih-
unmittelbaren Scheitern der 68er-Bewegung als entscheidender nen ein falsches, instrumentelles Staatsverständnis zugrundeliegt.
strategischer und theoretischer Mangel angesehen“ werden musste Das neben diesen theoretisch-politischen Erwägungen darüber hi-
(Demirović 2007, 13). Es wiederholte sich in gewisser Weise die Er- naus im Zuge der Studentenproteste und ihrer Ausläufer der „Tanz
fahrung der kommunistischen Linken nach dem Ersten Weltkrieg, der Staatsknüppel die Geister anregte“ (Kostede ebd., 153) ist si-
cherlich nicht auszuschließen.
„dass die demokratisch organisierte Herrscha� der westlichen In- Vor dieser hier nur knapp skizzierten Situation (ausführlicher:
dustrieländer gerade auf Grund ihrer großen Flexibilität sehr stabil Rudel 1981) machte man sich also daran, den bürgerlich-kapita-
ist und über enorme Möglichkeiten verfügt, einen ‚frontalen An- listischen Staat aus dem Kontext des marxschen �eoriegebäudes
griff’ (Gramsci) auf die Herrscha�szentren der Bourgeoisie aufzu- systematisch zu rekonstruieren, wozu Marx selbst bekanntlich ent-
fangen.“ (Ebd.) gegen seinen eigenen Plänen ja nicht mehr gekommen war. Ziel war
es letztlich zu begründen, weshalb der bürgerlich-kapitalistische
Neben dieser so pointiert damals wohl kaum allseits bewussten Pro- Staat keine neutrale Instanz ist, sondern grundlegend mit den kapi-
blematik, war es sicherlich auch die Erfahrung, dass entgegen dem talitischen Produktionsverhältnissen verwoben, weshalb auch alle
Wachstums- und Stabilitätsversprechen der Nachkriegsära mit der Ansinnen mit diesem Staat den Kapitalismus „zähmen“ zu wollen,
Krise 1966/67 und spätestens der von 1973 sich mit aller Deutlich- letztlich illusorisch seien, wie der die Debatte einleitende Aufsatz
keit abzeichnete, dass der Kapitalismus keinesfalls die „wundersa- von Wolfgang Müller und Christel Neusüß (1970) titelte.
me Maschine“ (Shon�eld 1965) geworden war, zu der ihn manche Bevor ich im folgenden zentrale Elemente und Positionen der da-
�eoretikerInnen schon fasziniert stilisiert hatten. Vor diesem maligen Debatte rekapituliere noch ein Wort zum Begriff der ‚Ab-
Hintergrund, der noch dazu mit der Berufung von einigen marxis- leitung’ – was ist damit gemeint?
tischen Wissenscha�lerInnen an die expandierenden Hochschulen Norbert Kostede (a.a.O., 156) formuliert die Antwort auf diese
einherging, ging es auch darum, der damaligen sozialdemokratisch- Frage wie folgt:
keynesianischen Steuerungseuphorie kritisch entgegenzutreten.
Hatten in der Bundesrepublik aufgrund des Ost-West-Kon�iktes „Wir können diesen schillernden Begriff (...) als begriffliche Ent-
und des Interesses vor allem der USA den Kapitalismus wieder zu wicklung politischer Grund-strukturen aus der ökonomischen For-
restituieren, keynesianische oder weitergehende kapitalismuskri- mation der bürgerlichen Gesellscha� ‚über-setz(en)’.“
tische Gesellscha�sentwürfe (Ahlener Programm der CDU von
1947; Sozialisierungs- und „Dritter Weg“ Vorstellungen innerhalb Auch wenn diese Formulierung dem damaligen Selbstanspruch
der SPD vor dem Godesberger Programm von 1959) entgegen den vieler ProtagonistInnen und auch dem damaligen Sprachduktus
Entwicklungen andernorts zunächst kaum eine Chance, war dies sicherlich entspricht, bleibt aus heutiger Sicht doch ein Unbehagen
mit dem Eintritt der SPD in die Große Koalition seit 1966 und der bestehen, wenn etwas aus „der ökonomischen Formation“ begriff-
sozialliberalen Koalition seit 1968 nunmehr deutlich anders. Un- lich entwickelt oder eben „abgeleitet“ werden soll. Noch deutlicher
ter Finanzminister Karl Schiller machte man sich unter der damals wird dieses Unbeha-gen, wenn etwa Gerd Rudel (1981, 12) schreibt,
als „Schock“ empfundenen, heute als kleine Krise zu betrachten- dass die marxistische �eorie „die wichtigsten Bestimmungsele-

42
mente politischer und gesellscha�licher Entwicklung in der ‚öko- kann, so Müller/Neusüß (4).Derartigen Auffassungen halten sie
nomischen Basis’ verortet“. in Anlehnung an Marx die Aussage entgegen, dass der bürgerliche
Was ist denn die ökonomische Basis oder die ökonomische Forma- Staat “das Resultat der entwickelten warenproduzierenden, also
tion der Gesellscha�, so ließe sich im Anschluss an diese Formu- der kapitalistischen Gesellscha� und ihrer auf dieser Form der Pro-
lierung fragen. Entgegen einer solchen Situierung innerhalb der duktion beruhenden Widersprüche sei, und daher auch eine durch
marxschen Basis-Überbau Metapher, die vielfach anzutreffen ist, diese Widersprüche geprägte Institution” (5). Damit ist besagt,
würde ich dafür plädieren, dass der etwas unglückliche Begriff der dass der Staat zum einen nicht schon immer existierte und zum
„Ableitung“ wenn dann dafür steht, dass die Frage der Produktion andern eben auch nicht neutral ist, sondern unmittelbar verknüp�
und Reproduktion von Gesellscha� zum Ausgangspunkt (gesell- mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellscha� und der sie durch-
scha�s-)wissenscha�licher Untersuchungen gemacht werden muss, ziehenden Widersprüche. Dies bedeutet auch, so Müller/Neusüß,
wie dies deutlich schon Marx und Engels in der Deutschen Ideolo- dass die revisionistische �ese des möglichen Umbaus der kapitalis-
gie (MEW 3, 20ff.) gefordert haben. Dies hiesse dann für unseren tischen Gesellscha� durch den Staat nicht nur die falschen Mittel
Zusammenhang, dass unter der Prämisse, dass die Grundlage von hierzu verfolgt, sondern hierin auch die Nichtwahrnehmung bzw.
Herrscha� in der Verfügung über die materiellen Bedingungen der Leugnung der grundlegenden Widersprüche der kapitalistischen
Produktion und über das Mehrprodukt liegt, die Frage wie dieses Produktionsweise zum Ausdruck kommt (5).
Mehrprodukt angeeignet wird, entscheidend für Form und Inhalt Vor diesem Hintergrund geht es den AutorInnen nicht um “eine
der politischen Herrscha� ist. Das heisst dann aber auch, dass die allgemeine marxistische Staatstheorie”, sondern
scheinbar rein „ökonomische“ Frage der Produktion immer schon
eine eminent politische ist und somit das Bild der „Basis“ auf der “um die Frage nach den spezi�schen Funktionen des Staates für die
ein nachgeordneter „Überbau“ ruht, letztlich in die Irre führt. So- Sicherung des Kapitalverwertungsprozesses im entwickelten Ka-
mit liesse sich das, was hinter dem Begriff der „Ableitung“ steht, pitalismus und um die Schranken dieser staatlichen Funktionen.”
vielleicht präziser mit der Frage umschreiben, theoretisch zu rekon- (7)
struieren, welche Bedingungen für die Existenz und die Reproduk-
tion kapitalistischer Produktionsverhältnisse gegeben sein müssen. Denn, so die Argumentation, für die “Entwicklung von (politi-
Oder genauer auf den Gegenstand der Staatsableitung bezogen ist schen, J.K.) Strategien ist es heute notwendig, Kriterien zu erhal-
die Frage ob und warum eine außerökonomische Zwangs-gewalt ten, wie weit die manipulativen Möglichkeiten des Staatsapparates
für die Existenz und Reproduktion der kapitalistischen Produkti- reichen, wo sie au�ören, wo sie neue Widersprüche hervorbringen,
onsweise notwen-dig ist und in welcher Weise jene Zwangsgewalt wo sie in kapitalistischer Form Elemente einer wirklichen Verge-
mit der kapitalistischen Produktionsweise in Verbindung steht. sellscha�ung der Produktion hervorbringen (...) usw.” (7)
Dementgegen gehen revisionistischen Positionen, so Müller/Neu-
Kritik der Sozialstaatsillusion süß, davon aus,

1970 veröffentlichten Wolfgang Müller und Christel Neusüß in “daß der Staat im Kapitalismus die Möglichkeit zu umfassender
der “Sozialistischen Politik” (SOPO) einen Aufsatz, der sich mit und bewußter Regulierung ökonomischer, gesellscha�licher und
der grundsätzlichen Frage beschä�igte, ob ein über den Staat be- politischer Prozesse hat.” (9)
triebener Umbau kapitalistischer Gesellscha�en möglich ist. Die-
ser Aufsatz stellte gewissermaßen den Beginn der Staatsableitungs- Eine solche Auffassung, die davon ausgeht, dass sich über die staat-
debatte dar. liche Sphäre durch Umverteilung des wachsenden staatlichen An-
Gedacht als Vorbereitung für die Untersuchung konkreter sozial- teils am Sozialprodukt die grundlegenden Widersprüche der kapi-
staatlicher Eingriffe in der Bundesrepublik, erachteten es die Au- talistischen Produktionsweise lösen lassen, muss notwendig davon
torInnen für notwendig, zunächst die diesen Eingriffen zugrunde- absehen, so Müller/Neusüß, dass das, was umverteilt werden soll,
liegenden theoretischen Prämissen systematisch zu beleuchten. Es unter bestimmten Bedingungen produziert wurde. Nicht begriffen
ergab sich, so Müller/Neusüß, die wird hierbei, dass die Distribution nur ein Moment im Kreislauf-
prozess des Kapitals ist; Eingriffe in die Distributionssphäre lassen
“Notwendigkeit, die Kategorien zur Bestimmung des Verhältnisses zunächst einmal die Produkti-onssphäre unangetastet, was darü-
von Kapitalverwertungsprozeß und bürgerlichem Staat zu klären, berhinaus abstrahiert von den “ökonomischen Gesetzmäßigkeiten
wobei sich vor allem die Auseinandersetzung mit revisionistischen der Reproduktion der kapitalistischen Gesellscha�” (13):
�eorien zu dieser Frage als notwendig erwies.” (4).
“Wie es für den von Lenin gegeißelten Ökonomismus typisch ist,
Eine entscheidende Grundannahme jener �eorien ist, dass sie den ökonomische Prozesse als letztlich die politische Sphäre determi-
Staat zum “Subjekt gesellscha�licher Änderung” erheben, aller- nierend anzusehen, so erscheint die konträre Spielart des Revisio-
dings, so Müller/Neusüß, kann eine solche Strategie nur dann für nismus als »Politizismus«, der die politischen Möglichkeiten des
erfolgreich erachtet werden, wenn “der Staat als ein »geheiligtes Staates gegenüber den ökonomischen Gesetzen verabsolutiert, in-
Gefäß« verstanden wird, in das man je nach der historischen Si- dem er die Totalität der kapitalistischen Gesellscha� säuberlich in
tuation einen kapitalistischen oder sozialistischen Inhalt einfüllen Sphären trennt, unter denen die politische hervorragt als diejenige,
kann” (5). In der Konsequenz beinhaltet eine solche Annahme in der wesentliche gesellscha�liche Veränderungen möglich seien,
auch die Ablehnung der Auffassung, ohne das an der ökonomischen Sphäre etwas wesentliches geändert
würde.” (10)
“daß die Au�ebung der kapitalistischen Produktionsweise nicht
durch den Staatsapparat, sondern allein von der revolutionären Ar- Entgegen der Sichtweise revisionistischer �eorien, die den Staat
beiterInnenklasse selbst vollzogen werden” als “selbständiges Wesen” losgelöst von der Produktion begreifen

43
(43), verweisen Müller/Neusüß mit Marx noch einmal darauf, gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwi-
dass die “Grundlage des bestehenden Staats, die bestehende Ge- schen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.” (MEW 23, 243)
sellscha�” ist, dieser somit aus den Widersprüchen dieser Gesell-
scha�sformation zu erklären ist und zwar in ihren jeweiligen his- Dem Kapitalisten stehen in seinem Trachten nach Mehrarbeit
torischen Erscheinungsformen (Kritik des Gothaer Programms, 28; grundsätzlich (idealtypisch voneinander getrennt) zwei Möglich-
Müller/Neusüß, 43). Dieses “Basis-Überbau”-�eorem noch weiter keiten offen: Zum einen kann er versuchen, den Arbeitstag mög-
ausführend, sprechen die AutorInnen im folgenden auch davon, lichst auszudehnen, die Arbeitskra� möglichst lange anzuwenden,
dass es nicht zufällig sei, dass Marx in den Planungsskizzen seiner was von Marx mit dem Terminus Schaffung des “ab-oluten Mehr-
Untersuchung der kapitalistischen Gesellscha� von einem “Grund- werts” belegt wurde. Zum andern kann er versuchen, bei einer
verhältnis” ausgehe, dem Kapitalverhältnis, und einmal festgelegten Dauer des Arbeitstages durch eine Produkti-
vitätssteigerung (Maschinen, Arbeitsabläufe etc.) die Arbeitskra�
“dass erst für eine etwaige Fortsetzung der Analyse dieser Basis effektiver anzuwenden, was für den Arbeiter eine Zunahme der In-
unter anderem auch ein Buch über den Staat vorgesehen war” (43, tensität des Arbeitsprozesses bedeutet und von Marx Produktion
Hervorhebung v. mir J.K.). des “relativen Mehrwerts” genannt wurde.
Diese Reihenfolge der Darstellung bei Marx erfolgte keinesfalls
Allerdings überschritt Marx, so die AutorInnen, in seiner allge- willkürlich, so Müller/Neusüß, “bis zur gesetzlichen Beschrän-
meinen Darstellung des “Kapitals im allgemeinen” hier und da kung des Arbeitstages ist die absolute Mehrwertproduktion die
auch schon diese Ebene zugunsten konkreterer Ausführungen, Hauptform” (44). Diese wird vom Kapital derart extensiv betrie-
um aus den “grundlegenden Widersprüchen des Arbeits- und Ver- ben, “daß das Eingreifen des Staates unvermeidlich wird”, wie es
wertungsprozesses bestimmte Formen (zu entwickeln), in denen direkt im Anschluss heißt. Allerdings erscheint der Staat in dieser
der bürgerliche Staat tätig wird” (43). Entsprechend wollen Mül- Entwicklung durchaus “janusgesichtig” (53): In den Zeiten der
ler/Neusüß exemplarisch Marx’ Darstellung der Entstehung und gewaltsamen Durchsetzung des Kapitalismus (sog. ursprüngliche
Durchsetzung der Fabrikgesetzgebung im ersten Band des Kapital Akkumulation) waren es vor allem staatliche Zwangsgesetze, die
als Entwicklung einer bestimmten staatlichen Funktion resümie- den Müßiggang bestra�en, Arbeitshäuser einrichteten und den Ar-
ren und charakterisieren (43). Es soll also, so die AutorInen weiter, beitstag insgesamt verlängerten (vgl. E.P. �ompson 1980, 48ff.),
die “Ableitung des »bestehenden Staates« aus der »bestehenden hierbei ist der Staat, so Müller/Neusüß “von der Kapitalistenklasse
Gesellscha�« an einem konkreten Beispiel vorgeführt werden, um unmittelbar als Instrument gebraucht” worden (45). Auf der ande-
zu zeigen, was Marx unter »Zusammenfassung der bürgerlichen ren Seite waren es staatliche Gesetze, die dem maßlosen Heißhun-
Gesellscha�« verstanden hat” (43, Hervorhebung von mir J.K.). ger des Kapitals nach Mehrarbeit Schranken setzten. Hierbei beto-
Den marxschen Gang der Argumentation – die Darstellungsweise nen Müller/Neusüß in ihrer Nachzeichnung des achten Kapitels
– im Kapital, Band 1 noch einmal darlegend 1, weisen die AutorIn- des Kapital Band I, dass es keinesfalls die überschauende Vernun�-
nen darauf hin, dass Marx zuvor die Grundkategorie der Ware in gabe des Staates war, die zu diesen Gesetzen führte, sondern dass
ihrer Dialektik Trägerin von Wert und Gebrauchswert zu sein ent- diese maßgeblich auf die Kämpfe und Auseinandersetzungen der
wickelte, und den durch den Übergang von der einfachen Zirkula- ArbeiterInnenklasse zurückzuführen sind, die dabei auch auf Frak-
tion des Geldes zu der des Kapitals und den darin liegenden quali- tionierungen und Spaltungen in der KapitalistInnenklasse bauen
tativen Umschlag in der Produktion herausarbeitete, mit der darin konnte und musste (51-52). Auch war dies kein linearer Prozess,
liegenden Tendenz des Heißhungers der KapitalistInenklasse nach wie sie herausstellen, sondern diese Kämpfe und Auseinanderset-
Mehrarbeit durch die ArbeiterInnenklasse. Entscheidend hierbei zungen waren von ständigen Rückschlägen und Unterbrechungen
ist die schon angedeutete eigentümliche Differenz der Ware Ar- gekennzeichnet (45ff.).
beitskra� in ihrem Wert, der ihr in Form von Lohn entrichtet wird, Die Antinomie zwischen der ArbeiterInnenklasse und der Bour-
der sich wie bei jeder anderen Ware auch aus dem Durchschnitt er- geoisie wird nach Marx durch die Gewalt entschieden; diese konsti-
gibt dessen, was es erfordert sie wieder herzustellen (Durchschnitt tuiert “zugleich den Staat in einem doppelten Charakter”, so Mül-
als historischer und moralischer Größe) und ihrem Gebrauchswert. ler/Neusüß (52). Auf der einen Seite werden die sozialpolitischen
Jener hat, wie schon dargestellt, die Eigenart in seiner Anwendung Funktionen erst durch den Kampf der ArbeiterInnenklasse durch-
mehr Wert zu erwirtscha�en, als für ihn in Form des Lohns veraus- gesetzt, die Existenz des Staates als “ideeller Gesamtkapitalist” und
gabt wurde. Der Kapitalist kau�e die Ware Arbeitskra� ja für die seine “scheinbar selbständige Instanz” wären anders nicht möglich
Dauer eines Tages, und wenn der Gegenwert dieser Ware bereits (53). Auf der anderen Seite “konstituieren diese Klassenkämp-
nach vier Stunden durch sie erwirtscha�et wurde, ist es dennoch fe immer auch die Arbeiter als Klasse im Sinne eines handelnden
durchaus rechtens, dass sie für weitere Stunden angewandt wird, Subjekts”, so Müller/Neusüß, in dieser Konstitution liegt zugleich
wenn der Arbeitstag bspw. mit 10 Stunden festgelegt wurde. Al- “auch die Tendenz zur Au�ebung des Kapitalverhältnisses und sei-
lerdings setzt sich die ArbeiterInnenklasse genauso rechtmäßig nes Staates”(53). Und
gegen die extensive Vernutzung ihrer einzigen Ware Arbeitskra�
zur Wehr, was die eigentümliche Antinomie der kapitalistischen “dieser Tendenz entspricht wiederum die militärische Unterdrü-
Produktionsweise darstellt: ckungsaufgabe des Staates. Wäre nicht die ArbeiterInnenklasse von
Zeit zu Zeit gezwungen, für ihr Recht als Warenverkäufer zu kämp-
“Es �ndet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide fen oder damit zu drohen; so wäre Polizei usw. über�üssig.” (53)

1 “Zunächst muß also wenigstens angedeutet werden, an welcher Stelle der


systematischen Entwick-lung des Kapitalbegriffs Marx auf die gesetzliche
Beschränkung des Arbeitstages zu sprechen kommt.” (43)

44
Das Kapital als Bedingung der Besonderung des Staates des Staates, ihre Zusammenfassung also in einer Institution, die ihr
selbst gegenüber äußerlich erscheint, die über ihr als »besondere
Unter dieser Zwischenüberschri� wird von den AutorInnen im Existenz« zu schweben scheint, ist deshalb notwendig, weil nur so
weiteren noch einmal unter Berufung auf Marx und Engels heraus- die Existenz der Gesellscha� (nämlich als kapitalistischer) über-
gestellt, dass der Staat haupt gewährleistet werden kann.” (57)

“weiter nichts als die Form der Organisation (ist), welche sich die Diskussion
Bourgeoisie sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseiti-
gen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendiger- Destruiert ist mit den Analysen Müller/Neusüß’ die Neutrali-
weise geben.” (Die Deutsche Ideologie, 62) tät des Staates, destruiert ist darüber hinaus die Autonomie und
daraus folgend die Steuerungsfähigkeit des Staates. Grundlage des
Es ist wichtig zu betonen, dass Staat und Kapital nach dieser bestehenden bürgerlichen Staates ist die bestehende kapitalistische
Analyse nicht in eins fallen und dass diese Gesellscha� dadurch Gesellscha�, so die AutorInnen im Anschluss an Marx, als solches
gekennzeichnet ist, dass sich neben ihr eine fremd und sachlich ist der Staat untrennbar mit ihren Widersprüchen verwoben und
gegenüberstehende “Form der Organisation” herausbildet, die die bleibt auf sie bezogen. Gebunden an diese Produktionsweise und
gesellscha�lichen Interessen zu vermitteln sucht. Müller/Neusüß deren “ökonomische Gesetze”, ist es eine systematische Unmög-
betonen, dass diese Besonderung auf der in sich widersprüchlichen lichkeit mit dem Staat die bestehenden gesellscha�lichen Verhält-
Basis der kapitalistischen Produktion statt�ndet, d.h. Produkt die- nisse radikal transformieren zu können. Der Staat konstituiert sich
ser widersprüchlichen Basis ist und darin eben nicht planmäßig in seinem “Doppelcharakter” aus der Antinomie der bürgerlich-
oder willkürlich geschaffen wurde (53). In dieser Besonderung des kapitalistischen Gesellscha� heraus; über die Konkurrenz und die
Staates neben Gesellscha� und Produktion ist letztlich auch die Klassenkämpfe konstituiert sich der Staat als “ideeller, �ktiver” Ge-
Ursache für die verkehrte Betrachtung des Staates als Subjekt ange- samtkapitalist der Gesellscha� und nur durch ihn ist der Zusam-
legt, wie Müller/Neusüß herausstellen. Der Staat ist letztlich nichts menhang der bestehenden Gesellscha� überhaupt möglich.
anderes als das Analogon zur verkehrten, fetischisierten Geldform, Problematisch an den Darlegungen von Müller/Neusüß ist jedoch,
wie sie aus der Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produkti- dass sie zwar betonen, dass die abstrakte Notwendigkeit des Staates
on erwächst (ibid.). Der Widerspruch, dass im Kapitalismus nicht sich durch konkrete Aktionen handelnder Subjekte, konkret durch
für die unmittelbaren Bedürfnisse der Gesellscha� produziert wird Klassenauseinandersetzungen hindurch, vermitteln muss. Aller-
– worüber man sich verständigen könnte – sondern blind für einen dings scheinen sie teilweise von dieser abstrakten Grenze der Pro-
abstrakten Markt, erzeugt die Notwendigkeit, dass die Nützlich- duktion konkrete gesellscha�liche Phänomene ableiten zu wollen,
keit der Waren, die sich erst ex post erweisen kann, einen relativ so etwa, wenn sie davon sprechen, das die
selbständigen Ausdruck in der Geldform erhält. Erst wenn sich die
Ware in Geld realisiert hat, hat sich ihre Nützlichkeit erwiesen. “besonderen juristischen und organisatorischen Formen des kapita-
Der gleiche Fetischismus, so Müller/Neusüß, ist bei der Form des listischen Produktionsprozesses (...) nichts anderes als der notwen-
Staates feststellbar, auch er wird in den “Robinsonaden” der bürger- dige Ausdruck für den Doppelcharakter des Produktionsprozesses
lichen �eorie naturalisiert bzw. als entstanden aus Vertrag- oder im Kapitalismus (sind)” (15)
Übereinkun� dargestellt, was verstellt, dass der Staat – ebenso wie
das Geld – die Form ist, die sich die Gesellscha� für die Realisie- oder an anderer Stelle polemisch konstatieren, dass revisionistische
rung ihrer gemeinsamen Interessen geben muss, da sie dies unter Positionen staatliche Maßnahmen als
den Bedingungen der Privatproduktion, Konkurrenz und dem
Zwang zur Pro�tmaximierung nicht unmittelbar tun kann (54). “bloß politische, also von politischen Machtverhältnissen und nicht
Entsprechend ist der Staat eben “ideeller”, �ktiver Gesamtkapita- von den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Reproduktion der
list und nicht reeller; “erst nachträglich und angesichts drohenden kapitalistischen Gesellscha� abhängig” (13)
Untergangs der Grundlage dieser Produktionsweise kann sich das
Interesse des Kapitals auf Erhaltung seiner Produktionsbasis durch- auffassen. Auch die im Anschluss an Marx diskutierte Frage des
setzen”, so die Argumentation (54). theoretischen Status bestimmter “Notwendigkeiten” für den Ka-
Und da der Staat dem Kapital als äußerliche Instanz au�ritt, der pitalismus lässt die AutorInnen, trotz aller Vorsicht, doch immer
die Eingriffe in die Kapitalverwertung über Zwangsgesetze geltend wieder in die offenstehende “funktionalistische Falle” abgleiten,
machen muss, muss diese Institution, so Müller/Neusüß, aus einer abstrakten Notwendigkeit (für den Bestand des Kapita-
lismus) konkrete Phänomene abzuleiten.
“mit Kontrollbefugnissen und einer wirklichen Sanktionsgewalt, Zunächst wird durchaus schlüssig die Frage aufgeworfen, wie es
kurz: mit einem ungeheuer wachsenden bürokratischen Zwangsap- trotz der Konkurrenz, die die
parat ausgerüstet sein.” (55)
“immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzel-
Abschließend halten die AutorInnen noch einmal fest, dass die He- nen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Gesetz der kapitalisti-
rausbildung und Existenz des Staates keinesfalls selbstverständlich schen Produktion geltend (macht)” (MEW 23, 282),
ist “- nicht einmal für Klassengesellscha�en.” (55) Die Herausbil-
dung des Staates ist mit der Entstehung des Privateigentums und dazu kommt, dieser Tendenz durch gesetzliche Beschränkungen
der Privatsphäre, als Kennzeichen der bürgerlichen Gesellscha�, Einhalt zu ge-bieten. Und diese Frage wird, wie schon dargelegt,
verknüp� (55ff.): durchaus schlüssig mit der Aussage von Marx beantwortet:

“Die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellscha� in der Form “Die Schöpfung eines Normalarbeitstags ist (...) das Produkt eines

45
langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen tatsächlicher oder drohender Klassenkämpfe durchgeführt.” (52,
Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse” (MEW 23, 313). Hervorhebung von mir, J.K.)

Dennoch gehen die AutorInnen in der Ausführung der vorher dar- Letztlich erscheint der Staat dann doch als neutrales bzw. vielmehr
gelegten Aussage von Marx, dass das Kapital “durch sein eigenes In- weises Subjekt, das die Notwendigkeiten für den Bestand kapita-
teresse auf einen Normalarbeitstag hingewiesen” (MEW 23, 277) listischer Gesellscha�en erkennt, diese allerdings erst durch Klas-
scheint, zu weit, wenn sie davon sprechen, das die senkämpfe durchsetzen kann für die Befriedung und Ausgleichung
der Gesellscha�.
“Erhaltung der kapitalistischen Produktionsweise selbst (...) die Auch die �ese der AutorInnen, dass die beschriebene Antinomie
Organisation der Arbeiter als Klasse (erfordert, [...] und von) die- “zugleich den Staat in einem doppelten Charakter (konstituiert)”
sem Punkt aus (...) sowohl die Entstehung sozialpolitischer Funk- (52) und “diese Klassenkämpfe immer auch die Arbeiter als Klasse
tionen des Staates wie die Ausbildung und die Anerkennung von im Sinne eines handelnden Subjekts (konstituieren)” (53), mit der
Gewerkscha�en wie auch die Entstehung des Reformismus in der daraus abgeleiteten Konsequenz, dass dem “auch die Tendenz zur
Arbeiterbewegung zu begreifen (ist)” (50). Au�ebung des Kapitalverhältnisses und seines Staates (entspricht)”
(Ibid., Hervorhebung von mir, J.K.), mutet angesichts der fakti-
Selbst wenn konzediert werden kann, dass die aus den Widerspruch schen historischen Entwicklung merkwürdig an. Ebenso wenn sie
von Lohnarbeit und Kapital sich ergebende Klassenorganisation weiter schreiben, dass
der ArbeiterInnen ex post betrachtet “die Erhaltung der kapitalis-
tischen Produktionsweise” sicherstellte, führt es de�nitiv zu weit, “dieser Tendenz wiederum die militärische Unterdrückungsaufga-
diese Organisierung aus einer Erfordernis für den Bestand des Ka- be des Staates (entspricht). Wäre nicht die Arbeiterklasse von Zeit
pitalismus erklären zu wollen, wie die Formulierung nahezulegen zu Zeit gezwungen, für ihr Recht als Warenverkäufer zu kämpfen
scheint. Und darüber hinaus, selbst wenn der letzte Aspekt anders oder damit zu drohen; so wäre Polizei usw. über�üssig.” (53)
verstanden würde, von “diesem Punkt aus (...die) Ausbildung und
Anerkennung (Hervorhebung von mir, J.K.) von Gewerkscha�en Hier scheint ein verschwörungstheoretisches Bild des Staates als
wie auch des Reformismus” begreifen zu wollen, ebenso wie die “Ausschuss der herrschenden Klassen” durch, dass in keiner Weise
Entstehung sozialpolitischer Funktionen des Staates. Es scheint die klassische Paschukanis-Frage beantworten kann, weshalb in der
sich mir, unter den bestehenden Konkurrenzverhältnissen und der bürgerlichen Gesellscha� Herrscha� diese Form der parlamentari-
damit verbundenen Kurzsichtigkeit der AkteurInnen, doch keines- schen Herrscha� annimmt, weshalb sie nicht einfach das bleibt was
falls der vorraussichtigen Planung zu verdanken, dass Gewerkschaf- sie ist: Klassenherrscha� (Paschukanis 1966, 119-20).
ten anerkannt wurden. Dies gilt selbst dann, wenn einzelnen Ver- Allerdings sprechen sie im Anschluss an Marx davon, was redlicher-
treter des Staatsapparates - das paradigmatischste Beispiel ist wohl weise auch gesagt werden muss, dass wenn bspw. die Durchsetzung
Bismarck 2 - diese Einsicht geläu�g sein sollte. Auch führt es mei- der einfachsten Hygienebedingungen im Kapitalismus durch ein
ner Ansicht nach zu weit, wenn Müller/Neusüß schreiben, dass “Zwangsgesetz von Staats wegen” (MEW 23, 506f.) aufgeherrscht
werden musste, dieser Prozess der “Au�errschung” und das ist
“die Wirkung all der hier aufgezählten Momente auf die Kampf- wichtig nochmal zu betonen, durch “Katastrophen und Auseinan-
kra� der Arbeiterklasse (...) immer vor dem Hintergrund zu sehen dersetzungen, Siege und Niederlagen vermittelt” (54) statt�ndet, ja
(ist), daß die Fabrikgesetzgebung im damaligen England einerseits diese Prozesse erst den “Sozial-” oder “Interventionsstaat” konsti-
notwendig war, um die Arbeiterrasse als Quelle der Kapitalverwer- tuieren. D.h. der Staat ist nicht mit weiser Voraussicht ausgestattet
tung zu erhalten, und daß sie andererseits dem Kapital auf seinem und setzt diese top-down durch, sondern diese Zwangsgesetze des
damaligen Entwicklungsstand erträglich war” (52). Staates sind Ausdruck der jedesmaligen (Neu-)Konstitution des
Staates aus den gesellscha�lichen Kämpfen und Auseinanderset-
Mag der letztgenannte Aspekt noch einsichtig sein, scheint mir die zungen heraus. Die Frage, die sich hieran anschließt, ist die nach
Einsicht in die Notwendigkeit bestimmter Schritte unter kapita- der “Eigenmacht” des Staates. Ist “er” in der Lage, “seine” Sicht
listischen Produktionsverhältnissen ein absolut fragwürdiges Indiz auch gegen die herrschenden Interessen durchzusetzen? Gibt es da-
für die Umsetzung staatlicher Politik zu sein. Was auch dadurch bei Grenzen und worin liegen diese? Oder ist es, da der Staat nicht
nicht relati-viert wird, dass die AutorInnen schreiben: über die Mittel der materiellen Produktion verfügt, unzulässig über
die Macht des Staates zu sprechen (vgl. Poulantzas 2002)?
“Jedoch ist hier vor der verbreiteten Auffassung zu warnen, der Mit Norbert Kostede (1976, 161) ist vorläu�g festzuhalten, dass
Staat greife als weiser Vertreter der Interessen des Kapitals in sein im Aufsatz von Müller/Neusüß alle �emen, die im folgenden die
unerschöp�iche Zaubertasche, um nach Belieben das Proletariat Staatsableitungsdebatte prägten, bereits aufgeworfen werden:
durch Sozialpolitik zu manipulieren.” (52).
- die Frage nach der Wirksamkeit und Reichweite staatlicher Ein-
Und direkt im Anschluss: griffe in den kapitalistischen Reproduktionsprozess;
“Die Schranken der sozialpolitischen Eingriffe des Staates sind eng - die Frage nach der Notwendigkeit der “Besonderung” des Staa-
gezogen, und selbst die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe tes;
möglichen Eingriffe (so weise sie an sich wären) werden im allgemei- - die Frage nach der Entstehung und Au�ösung von “falschem Be-
nen erst nach langwierigen Aus-einandersetzungen und angesichts wußtsein” über den Staat;

2 Den Müller/Neusüß auch exemplarisch hierbei anführen, vgl. S. 52,


Fußnote 158.

46
- die Frage nach dem Zusammenhang von Sozialstaat und Klassen- trächtig sind. Entsprechend heißt es weiter:
staat.
“Aus der kapitalistischen Form der Produktion ergibt sich also glei-
Kurzum, so Kostede, “die entscheidenden Fragen waren gestellt, chermaßen notwendig, daß die einzelnen Kapitale sich zum Ge-
beantwortet waren sie nicht.” (Ibid., 162) samtkapital in der Konkurrenz konstituieren und daß diese Konsti-
tuierung zur kapitalistischen Gesellscha� in Form der Konkurrenz
Elmar Altvater (1972): Zu Einigen Problemen des Staatsinter- allein gar nicht angelegt sein kann.” (7)
ventionismus
Da das Kapital auch in der Summe seiner Bewegungen bestimm-
Elmar Altvaters Aufsatz ist weniger als kritische Abgrenzung zu te Erfordernisse für seinen eigenen Bestand über die Konkurrenz
Müller/Neusüß zu ver-stehen, sondern als Betrachtung eines be- und den Zwang zur Pro�tmaximierung, entweder weil sie nicht
stimmten Bereiches staatlicher Steuerungspolitik. Altvater unter- pro�tträchtig sind, oder die Kosten zu hoch bzw. die Realisierung
sucht in seinem Aufsatz grundsätzlich die ökonomischen Funktio- der Pro�te im Verhältnis zum aufgewandten Kapital (Transport-
nen des bürgerlichen Staates. wege-Bau bspw.) nicht erbringen kann bzw. diese in einem zu un-
Ausgangspunkt der Altvaterschen Analyse des bürgerlichen Staates günstigen Kosten-Nutzen Verhältnis stehen, “bedarf (es) auf seiner
ist eine kritische Un-tersuchung der in jener Zeit stark propagierten Grundlage einer besonderen Einrichtung, die seinen Grenzen als
Politik des “Staatsinterventionismus”, mit der, als einer Art keyne- Kapital nicht unterworfen ist, deren Handeln also nicht von der
sianischer Steuerungspolitik, versucht werden sollte, den regelmä- Mehrwertproduktion be-stimmt ist”, so Altvater,
ßigen Krisenerscheinungen im Kapitalismus entgegenzuwirken.
Hierzu schreibt Altvater: “die in diesem Sinne eine besondere Einrichtung »neben und außer
der bürgerlichen Gesellscha�« (Die deutsche Ideologie, 62. Einfügg.
“Schon der Begriff des Staatsinterventionismus ist problematisch. v. mir, J.K.) ist, und die gleichzeitig auf der unangetasteten Grund-
Denn er impliziert in den gängigen Vorstellungen ein äußerliches lage des Kapitals den immanenten Notwendigkeiten nachkommt,
Verhältnis zwischen Gesellscha�, ihrer ökonomischen Struktur die das Kapital vernachlässigt.” (7)
und dem Staat. Er erweckt den Eindruck, als ob es sich im Verhält-
nis von Staat und Ökonomie um ein Verhältnis zwischen steuern- Allerdings geschieht dies, so die Argumentation weiter, nicht in
dem und reguliertem Subjekt handeln würde. In diesem Aufsatz einer widerspruchsfreien Weise. Die über die Konkurrenz vermit-
wird aber gerade versucht, eine solche Vorstellung zu kritisieren.” telte widersprüchliche Stellung der Einzelkapitale bleibt bestehen
(1, Her-vorhebung von mir, J.K.) und kann auch nicht vom Staat aufgehoben, sondern lediglich mo-
di�ziert werden (8). In diesem Sinne heißt es dann im Anschluss
Ausgehend von der “politischen Erfahrungstatsache”, das der Staat an Engels, der Staat könne nie-mals reeller sondern immer bloß
im Kapitalismus “Or-gan der Herrscha� des Kapitals über die “ideeller Gesamtkapitalist” sein (Anti-Dühring, 260). Summa
Lohnarbeiterklasse” (5) ist, will sich Altvater jedoch nicht diesem summarum:
besonderen Problem zuwenden, sondern Ausgangspunkt der Un-
ter-suchung sind die staatlichen “Aktionen auf die Einzelkapitale” “Der Staat nimmt also Funktionen zur Erhaltung der kapitalisti-
(5), was Altvaters Gesellscha�sbegriff systematisch und bewusst schen Gesellscha� wahr, und er kann sie gerade deshalb wahrneh-
auf diese beschränkt: men, weil er als besondere Institution neben und außer der bürgerli-
chen Gesellscha� den Notwendigkeiten der Mehrwertproduktion
“Entscheidend für unser Problem ist die Frage, in welcher Weise nicht unterworfen ist, wie das Einzelkapital (...)” (9).
die reale Zusammenfassung der aus vielen Ein-zelkapitalen beste-
henden Gesellscha� erfolgt und welche Bedeutung dabei dem Staat Die Frage, die sich für Altvater hieran anschließt ist, welches denn
zukommt.” (5, Hervorhebung von mir, J.K.) nun die Funktionen sind, die der Staat zur Erhaltung der kapitalis-
tischen Gesellscha� wahrnimmt. Systematisch identi�ziert Altva-
Die Besonderung des Staates in der bürgerlichen Gesellscha� ter hierbei vier Funktionen:

Hierbei bildet der Ausgangspunkt der Untersuchung bei Altvater 1) Die Herstellung allgemeiner materieller Produktionsbedingun-
im Anschluss an Rosdolsky (1968) die Ebene des “Kapitals im All- gen wie z.B. Infrastruktur.
gemeinen”. Dieses wiederum stellt deren “Zusammenfassung im 2) Die Setzung und Sicherung allgemeiner Rechtsverhältnisse, in
Sinne der realen Durchschnittsexistenz der vielen Einzelkapitale” denen die Beziehungen der Rechtssubjekte sich abspielen.
(6) dar, wenngleich auch nicht in bewusster Form. Das “Kapital im 3) Die Regulierung des Kon�ikts zwischen Lohnarbeit und Kapi-
Allgemeinen” entsteht, so Altvater im Anschluss an Marx, “hinter tal und gegebenenfalls der politischen Unerdrückung der Arbeite-
ihrem Rücken” aus der Bewegung der vielen Einzelkapitale in ihren rInnenklasse und dies nicht nur mit rechtlichen, sondern auch mit
Durchschnitt. Die Form, in der sich dieser Durchschnitt als Bewe- polizeilichen und militärischen Mitteln.
gung der Einzelkapitale durchsetzt, ist die der Konkurrenz, in ihr 4) Die Sicherung der Existenz und Expansion des nationalen Ge-
machen sich die “immanenten Zwangsgesetze der kapitalistischen samtkapitals auf dem Weltmarkt. (9)
Produktion geltend” (6). All diese Funktionen, so Altvater, “entwickeln sich auf der histo-
Entscheidend hierbei ist nun, dass sich aus der Logik dieser Bewe- rischen Grundlage der Kapitalakkumulation”, sie sind also keines-
gung und dem darin liegenden Zwang zur Pro�tmaximierung, als falls omnihistorisch (9).
kennzeichnendes Merkmal kapitalistischer Gesellscha�en, nicht
alle Funktionen, die für die Gesellscha� (der Einzelkapitale wohl-
gemerkt) nötig sind, erfüllt werden können, da sie nicht alle pro�t-

47
Diskussion Nachweis, daß etwas zu geschehen hat, ersetzt nicht den Nachweis
unter welchen allgemeinen Bedingungen überhaupt etwas geschehen
Mit Elmar Altvaters Aufsatz wurden zunächst einmal grundlegend kann.” (Ibid.)
die ökonomischen Funktionen des Staates für die miteinander in
der Konkurrenz liegenden Einzelkapitale herausgearbeitet. Jene Sybille von Flatow/Freerk Huisken (1973): Zum Problem der
sind aufgrund dieser Konkurrenzbedingungen nicht in der Lage, Ableitung des bürgerli-chen Staates. Die Ober�äche der bür-
für sie notwendige Faktoren wahrzunehmen bzw. umzusetzen. Die gerlichen Gesellscha�, der Staat und die allgemeinen Rahmen-
Konkurrenz ist hierbei die spezi�sche Form, die den gesellscha�- bedingungen der Produktion
lichen Zusammenhang der Einzelkapitale überhaupt erst herstellt
(vgl. Esser 1975, 143). Herausgearbeitet wurde somit, dass diese Im Anschluss an eine Kritik vorangegangener Versuche, den Staat
spezi�sche Produktionsweise aufgrund der ihr immanenten Wi- abzuleiten, versuchen Sybille v.Flatow und Freerk Huisken den
dersprüche - auf der Ebene der Einzelkapitale - nicht in der Lage hierbei ausgemachten De�ziten zu begegnen. So wenden sie sich
ist, sich selbst zu reproduzieren, sie setzt Funktionen voraus, die sie zunächst gegen die vielfach plattitüdenha�e Beschreibung des bür-
selbst nicht ohne weiteres erfüllen kann. Diese Funktionen bleiben ger-lichen Staates als Klassenstaat, wie er bei einigen marxistischen
somit dem neben und außer der bürgerlichen Gesellscha� stehen- �eoretikern vorherrscht, wonach bspw. alle sozialpolitischen
den Staat vorbehalten. Dieser ist, da sein Handeln nicht von der Funktionen lediglich Betrugs- und Verschleierungsmanöver des
Mehrwertproduktion bestimmt ist, zwar prinzipiell dazu in der Staates darstellen. Jenen bleibt
Lage, allerdings kann er die Widersprüche der Konkurrenz nicht
lösen, sondern lediglich modi�zieren. Denn die staatlichen Funkti- “(g)egenüber bürgerlichen Vorstellungen vom Staat als wesensmä-
onen entwickeln sich auf der Grundlage der Kapitalakkumulation ßig neutraler, allgemeinwohl- bzw. wohlfahrtsorientierter Instanz
und letztlich vermittelt über die Klassenauseinandersetzungen. (...) nur die Aussage, daß es sich bei solchen �eorien um pure Ver-
Zu kritisieren ist Altvaters Vorgehen im Hinblick darauf, sich le- schleierungen des wahren Kerns handele; vor der entscheidenden
diglich auf die Konkurrenz der Einzelkapitale zu beschränken, was Frage, wie es denn zu diesen bürgerlichen �eorien komme, muß
merkwürdig verkürzt anmutet. v.Flatow/Huisken stellen hierzu ein solcherart methodisch bestimmter Staatsbegriff kapitulieren.”
fest: (84)

“Der Staat erscheint daher bei Altvater präzise ge-sprochen nicht Auch kritische, gegen dieses simple Argumentationsschema gerich-
als »Lückenbüßer« der bürgerlichen Gesellscha�, sondern (- da die tete Ansätze wie die von Müller/Neusüß oder Altvater können,
Gesellscha� in der Altvaterschen Konstruktion um die Nichtkapi- wenn sie auch den “fortgeschrittensten Stand der Diskussion” (86)
talbesitzer »amputiert« wurde -) als »Zusatzorgan« des Gesamt- darstellen, v.Flatow/Huisken nicht so recht befriedigen. So sehen
kapitals.” (v.Flatow/Huisken 1973, 92) sie, wie schon dargestellt, Müller/Neusüß nicht in der Lage, den
Staat auch “positiv zu bestimmen” (86) und Altvater nicht in der
Durch diese Beschränkung ist Altvater nicht in der Lage, den Staat Lage, die “allgemeinen Bedingungen” (92) für die Entstehung der
aus den Strukturen der gesamten Klassengesellscha� herauszuar- abgeleiteten und systematisierten staatlichen Funktionen nachzu-
beiten. Heraus kommt ein Bild des Staates als “Ausschuss des Kapi- weisen.
tals”, der in dieser Funktion auch die Aufgabe hat, die ArbeiterIn- Ansatzweise die Erklärungsebene im Blick, auf die sich auch
nenklasse (gewaltsam) zu unterdrücken. Die Rolle und Funktion v.Flatow/Huisken in ihrem Ableitungsversuch beziehen, hatte das
der ausgebeuteten Klassen in der Konstitution des Staates kann hier nicht dargestellte Projekt Klassenanalyse (PKA). Jenes verwies
hierbei nicht in den Blick genommen werden. in seinem Versuch, die Verdopplung der bürgerlichen Gesellscha�
Als ein weiteres zeichnet sich Altvaters Ansatz durch einen gera- in Gesellscha� und Staat zu erklären auf die Kategorie der “gemein-
dezu exemplarischen Funktionalismus in der Argumentation aus: scha�lichen Aufgaben”, die in einer Gesellscha� zu lösen sind, die
der Staat, der sowieso schon besteht, grei� überall da ein, wo es den aus “gemeinscha�lichen Interessen” resultieren (87). Aufgrund des
in der Konkurrenz befangenen Kapitalen nicht möglich ist, etwas kapitalistischen Charakters der Gesellscha�lichkeit der Arbeit “als
zu tun, die Erfüllung der jeweiligen Funktion für den Bestand der vermittelte”, ist diese Gesellscha� nicht imstande ihre Probleme an-
Konkurrenz aber notwendig ist. Hierbei scheint der Staat zunächst ders als vermittelt über den Staat zu lösen, worin sich letztlich die
einmal mit “seherischen” Fähigkeiten ausgestattet zu sein, was auch Verdopplung der Gesellscha� in Gesellscha� und Staat begründet,
durch die im übrigen viel zu spät in die Argumentation eingebrachte so das PKA in der Darstellung von v.Flatow/Huisken (87).
�ese, wonach die staatlichen Eingriffe letztlich immer den Kämp- Nach v.Flatow/Huisken geht allerdings dadurch, dass das PKA
fen und Auseinandersetzungen in der Gesellscha� geschuldet sind, von einer “Gesellscha� der Privaten” spricht, und darin den Gesell-
nicht so recht revidiert wird. Auch hierzu v.Flatow/Huisken: scha�sbegriff aufgehen sieht, die Differenz von WarenbesitzerIn
und WarenproduzentIn verloren bzw. lässt sich nicht mehr hinrei-
“In eine das Funktionieren der bürgerlichen Gesellscha� erschwe- chend bestimmen (87, Fußnote 17). Letztlich verbleibt die Analyse
rende »Lücke« tritt - pointiert formuliert - einem deus ex machina auf der Ebene der einfachen Warenzirkulation, zugespitzt heißt es:
gleich die “Einrichtung” bürgerlicher Staat ein.” (v.Flatow/Huisken
1973, 92) “Die vorher vom Projekt Klassenanalyse entfalteten Besonderheiten
der beiden Kategorien von Warenbesitzern, solchen von Kapital und
Oder anders: solchen von Arbeitskra�, scheinen für die Staatsableitung folgenlos
zu bleiben. Es sein denn, die Privatheit der Gesellscha�smitglieder
“(...) mit dem Nachweis der Schwierigkeiten der Garantie und Her- umfasse das Privatinteresse der Lohnarbeiter und des Kapitals und
stellung be-stimmter Voraussetzungen der Produktion (ist) der diese Privatheit bzw. das aus ihr resultierende In-teresse lasse sich in
Schritt zu einer positiven Bestimmung noch nicht geleistet. Der irgendeiner Weise als gemeinsames Interesse fassen.” (88)

48
Woraus die Frage resultiert: Als leitende Fragestellung von v.Flatow/Huisken auf den Punkt
gebracht:
“Worin kann das gemeinsame Interesse dieser zwei verschiedenen
Gesellscha�sklassen angehörenden Privaten denn bestehen? Wo- “Von welchem Zusammenhang aus begründet sich die Notwen-
rin besteht das Allgemeine, worunter die besonderen Individu- digkeit der expliziten Verdopplung der Gesellscha� in Gesellscha�
en - und doch wohl jene, welche die Ware Arbeitskra� und jene, und Staat?” (94)
welche Produktionsmittel besitzen - gleichermaßen subsumierbar
scheinen?” (88) Jenen Punkt gilt es aus der marxschen Analyse der Bürgerlichen
Gesellscha� herauszuarbeiten. Die begriffliche Ebene der einfa-
Diese Frage suchen v.Flatow/Huisken folgendermaßen zu beant- chen Warenzirkulation scheint ein naheliegender Ansatzpunkt
worten: hierfür zu sein, so die AutorInnen. Von dieser Ebene ließe sich das
geforderte Gleichgelten ableiten, das dann im gemeinscha�lichen
“Die Qualität, welche alle Warenbesitzer (...) zu unterschiedslosen bzw. allgemeinen Interesse zum Ausdruck kommt, denn auf die-
privaten Individuen macht, ist ihr Gleichgelten im Austausch.” (88- ser Ebene müssen, da die Waren nach Marx nicht selbst zu Markte
89) gehen können, deren EigentümerInnen sich wechselseitig als Pri-
vateigentümerInnen anerkennen (95). Auf der Ebene der einfachen
Als Möglichkeit, gemeinsame Interessen aus dem Gleichgelten im Warenzirkulation, auf der nach Marx “Freiheit, Gleichheit, Eigen-
Austausch zu destillieren, deuten v.Flatow/Huisken die staatliche tum und Bentham” (MEW 23, 189) herrschen, lassen sich somit
Garantie der Aufrechterhaltung und Gewährleistung der Bedin- zwar gemeinsame Interessen der WarenbesitzerInnen feststellen,
gungen des Äquivalententausches an, was vom PKA allerdings da sich die HüterInnen der Waren wechselseitig als Privateigentü-
als Erklärung nicht herangezogen wird. Jenes sieht die gemeinsa- merInnen anerkennen. Es lassen sich jedoch noch nicht die aus der
men Interessen in den “all-gemeinen Rahmenbedingungen der kapitalistischen Form der Produktion resultierenden strukturellen
gesellscha�lichen Reproduktion” gegeben, die der Staat unter be- Ungleichheiten mitbegründen, da Gleichheit und Freiheit allein
stimmten Bedingungen “im Gegensatz zu den Interessen der Ar- auf die formellen Austauschakt bezogen bleiben, unter Absehung
beiterklasse” erfüllen muss (Projekt Klassenanalyse 1972, 130-31; der Eigentums- und Aneignungsverhältnisse (97). Was also formell
zit. in v.Flatow/Huisken, 89). Dies wird jedoch nicht vermittelt, als Gleichheit der WarenbesitzerInnen auf der Ebene der Waren-
“gemeinscha�liche Interessen”, die der Staat durchsetzen soll, und zirkulation oder Ober�äche der Gesellscha� erscheint, erweist
der Klassenantagonismus stehen unvermittelt nebeneinander, so sich bei genauerer Betrachtung als inhaltliche Ungleichheit, die
die Kritik (89).Aus all dem lässt sich für v.Flatow/Huisken eine sich auch beständig reproduziert und sogar ausweitet. Allerdings
spezielle Frage herausarbeiten: bildet diese Ober�äche der bürgerlichen Gesellscha� die einzige
zur Verfügung stehende Ebene für eine Analyse, sie ist die einzige
“Wie ist es logisch möglich, daß die Genese des bürgerlichen Staates Ebene, von der aus sich die hinter ihr liegenden Strukturen erken-
als »be-sondere Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesell- nen lassen; sie ist die reale erscheinende Ebene dieser Gesellscha�.
scha�« das Resultat der Artikulation der gemeinsamen Interessen v.Flatow/Huisken führen noch einmal Marx an:
aller Warenbesitzer an der Erle-digung gemeinscha�licher Aufga-
ben ist, wenn diese schließlich als allein im Interesse der herrschen- “Im Ganzen der vorhandenen bürgerlichen Gesellscha� erscheint
den Klasse, also den Besitzern der besonderen Ware Kapital (...) dieses Setzen als Preise und ihre Zirkulation etc. als der ober�äch-
liegenden Aufgaben gekennzeichnet werden.” (90) liche Prozeß, unter dem aber in der Tiefe ganz andere Prozesse vor-
gehen, in denen diese scheinbare Gleichheit und Freiheit der Indi-
Und direkt weiter heißt es: “ viduen verschwindet.” (Marx, Grundrisse, 159; Hervorhebung von
v.Flatow/Huisken, 99)
Und: Ausschließlich der Zirkulation soll es geschuldet sein, daß den
Besitzern der Ware Arbeitskra� bestimmte notwendige Aufgaben Jene Differenz hat die marxistische �eorie im Auge, entsprechend
(allgemeine Rahmenbedingungen der Produktion und Reproduk- formulieren v.Flatow/Huisken:
tion) als in ihrem Interesse liegende erscheinen, obwohl sie ihren
Interessen widersprechen?” (90) “Die zentrale �ese unserer Überlegungen läu� nun darauf hinaus,
daß erst von den Bestimmungen der Ober�äche der bürgerlichen
Intendiert ist von den AutorInnen eine “Übertragung” der marx- Gesellscha� aus sich jene Zusammenhänge ergeben, die es erlauben,
schen Vorgehensweise im Kapital auf die Problematik der Staatsab- das Wesen des bürgerlichen Staates in den Griff zu bekommen; und
leitung (94). Präzisiert bedeutet das, so v.Flatow/Huisken, dass es zwar in einer Weise, welche die in den diskutierten Staatsableitun-
weder ausreicht, gen enthaltenen Schwierigkeiten und Ungereimtheiten au�öst.”
(100)
“die in der Entwicklung des Kapitalbegriffs implizit enthaltenen
allgemeinen Voraussetzungen der Existenz des bürgerlichen Staa- Die Ober�äche der bürgerlichen Gesellscha�
tes zu benennen, noch ihn als Summe seiner faktischen Aktivitäten
konstituieren zu wollen, sondern es muß der methodische Ansatz- Auf der Ober�äche erscheinen unterschiedslos Arbeit, Boden und
punkt herausgefunden werden, von dem aus er als reale Existenz Kapital als Quellen von Wert. Für den jeweiligen Eigentümer bil-
notwendig wird: von dem aus – um eine Wendung von Marx aus ei- den sie insofern Revenuequellen, die durch ihr Zusammenwirken
nem anderen Zusammenhang aufzugreifen - »die innere Tendenz im Produktionsprozess in dem sie sich verwerten ihre Gleichran-
als äußerliche Notwendigkeit« im systematischen Entwicklungs- gigkeit ja für alle erkennbar beweisen (105). Unterscheidbar sind sie
gang zutage tritt.” (94) lediglich stofflich voneinander. Auf dieser Ebene erscheinen auch

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die BesitzerInnen der jeweiligen Revenuequellen als gleichrangige - Und aus dem Interesse an kontinuierlichem Fluss der Revenue
und unabhängige, wie v.Flatow/Huisken betonen (105). Und auf lässt sich das ge-meinsame Interesse am reibungslosen, krisenfreien
dieser Ebene erscheint ihr Zusammenwirken in der Produktion Funktionieren der Wirtscha� ableiten. (116-17)
auch als Ausdruck ihrer Freiheit, denn sie müssten es ja nicht tun.
Darüberhinaus gibt die jeweilige Revenuehöhe, die erwirtscha�et Neben diesen drei allgemeinen Interessen der Revenuequellen-Be-
wurde, auch Auskun� darüber, ob die frei getroffene Entscheidung sitzerInnen lässt sich aus der Analyse der Konkurrenzbeziehungen
auch die richtige gewesen ist. Dies alles vorausgesetzt lassen sich, so noch die Forderung nach gleichen Konkurrenzbedingungen hin-
v.Flatow/Huisken drei gleichgerichtete Interessenlinien der jewei- zufügen, so v.Flatow/Huisken (117-18). Diese vier Ebenen sind es,
ligen Revenuequellen-BesitzerInnen aus-machen: aus denen heraus v.Flatow/Huisken die geforderten “allgemeinen
Interessen” (118), jenseits der materiellen Ungleichheiten, hervor-
a) das Interesse an der Erhaltung der Revenuequelle selbst, gehen sehen. Im Anschluss heißt es:
b) das Interesse an möglichst hoher Revenue, (...)
c) das Interesse an kontinuierlichem Fluß der Revenue. (106) “Die Sphäre der Entstehung solcherart allgemeiner Interessen ist
die Sphäre, in der der bürgerliche Staat entstehen kann.” (118)
In der Verfolgung dieser bei allen Revenuequellen-BesitzerInnen
gleichen Interessen reproduziert sich auch jedesmal als Resultat die Allerdings können die PrivateigentümerInnen in ihrer Konkur-
Position der jeweiligen Klassen zueinander, denn: renz zueinander das allgemeine Interesse, dass sie mit den anderen
PrivateigentümerInnen verbindet, nur in der Form des jeweils be-
“In dem Interesse an Erhaltung der Revenuequelle und in der An- sonderen Interesses wahrnehmen und, so v.Flatow/Huisken, mit
erkennung der gegebenen Formen, mittels Austausch Revenue aus der Sicherung des einzelnen Privateigentums ist eben gerade nicht
einer Quelle zu ziehen, ist in dem Interesse der Sicherung des eige- das Privateigentum überhaupt gesichert (118-19). Auf diese Art
nen Eigentums zugleich die Anerkennung des anderen Eigentums und Weise lässt sich das allgemeine Interesse nicht realisieren, im
gegeben.” (107) Gegenteil, durch die Verfolgung der jeweiligen Privatinteressen in
ihrer “besonderen inhaltlichen Bestimmtheit” schließen sie sich
Durch die wechselseitige Bedingung der Anerkennung des jewei- “einander in der Bewegung der Konkurrenz aus.” (119) Sofern je-
ligen Eigentums reproduzieren sich im Zusammenwirken der Re- doch die Realisierung der allgemeinen Interessen
venuequellen-BesitzerInnen somit auch jedesmal die ungleichen
Eigentumsverhältnisse. Dies ist der Schlüsselpunkt, den v.Flatow/ “inhaltlich Mittel bzw. Voraussetzung der Verfolgung der jeweils
Huisken in den bisherigen Versuchen der Ableitung des Staates ver- besonderen sind, besteht die Notwendigkeit, die Inhalte jener allge-
missen. Auf dieser Ebene, so die Argumentation, lässt sich unter meinen Interessen in einer anderen als in der durch die Handlungs-
Beibehaltung und Berücksichtigung der Klassenunterschiede aus möglichkeiten der Privaten gegebenen Weise zu realisieren.” (118)
den gleichen Interessen der AkteurInnen in der Gesellscha� die
“Möglichkeit der Entfaltung des bürgerlichen Staates” (107) be- Aus dieser Unmöglichkeit als Private in der Konkurrenz auch die
gründen. Von diesem Standpunkt der Ober�äche der bürgerlichen von allen erforderten Konkurrenzvoraussetzungen herzustellen
Gesellscha� aus betrachtet, erscheinen alle drei Revenuequellen- bzw. durchzusetzen, begründet sich nun der Staat
BesitzerInnen als gleichrangig, ebenso wie ihre grundlegenden In-
teressen. Verwischt ist die materielle Ungleichheit, die es der einen “neben und außer der Gesellscha� der konkurrierenden Privaten
Gruppe von Reve-nuequellen-BesitzerInnen bloß belässt ihre ein- – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendig-
zige ihr zur Verfügung stehende Ware Arbeitskra� zu verkaufen. keit.” (121)
Strengenormen sind jene durch die Enteignung und (gewaltsame)
Loslösung von den Produktionsmitteln eigentumslos, wohingegen Dies ist das Resultat des Widerspruchs zwischen besonderem und
die anderen Revenuequellen-BesitzerInnen durch die Anwendung allgemeinem Interesse:
fremder Arbeitskra� ihr Eigentum beständig vermehren. Die for-
melle Gleichheit verschleiert die materielle Ungleichheit, sie ver- “Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen
wischt die Ausbeutung der Arbeitskra� als Lohnarbeit und lässt aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des
alle drei Faktoren als gleichermaßen wertbildend erscheinen. Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen
Aus diesen drei Interessenlagen muss nun allerdings, so v.Flatow/ Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm ob-
Huisken, ihr darin enthaltenes Gleichgelten “explizit die Form des liegt.” (121)
gemeinsamen und allgemeinen Interesses annehmen”, denn nur so
kann es die Qualität erreichen, “das Heraussetzen neuer (politi- Der Staat als Sphäre, der die Verwaltung der allgemeinen Interes-
scher) Formen aus den ökonomischen Beziehungen, in denen sie sen zugewiesen wird, hat allerdings keinesfalls auch immer die ma-
schon immer verborgen sind, zu begründen” (116). teriellen Möglichkeiten bzw. die Basis zur Ausführung derselben.
Diese allgemeinen Interessen lassen sich nun wie folgt spezi�zie- v.Flatow/Huisken betonen, dass die
ren:
“Verwaltung allgemeiner Interessen von Privateigentümern (...)
- Das Interesse an der Erhaltung der jeweiligen Revenuequelle zieht zunächst nichts anderes (bedeutet,) als die Konstituierung einer
das allgemeine Interesse auf Schutz und Sicherung des Privateigen- Form, in der man sich mit diesen Interessen beschä�igt.” (122)
tums vor den Zugriffen anderer nach sich. Was in der Folge bedeutet, so die Argumentation, dass die Grenze
- Das Interesse an möglichst hoher Revenue zieht das allgemeine zwischen der Sphäre der Staatlichkeit als Öffentlichkeit und dem
Interesse auf gleichmäßiges Wachsen des gesamten Produkten- Staat selbst verschwimmt (122). Die Frage, wo der Staat anfängt
werts, m.a.W.: auf gesichertes Wirtscha�swachstum nach sich. und wo die Gesellscha� au�ört, sei eine theoretische Frage, die von

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v.Flatow/Huisken in der Weise beantwortet wird, dass dort, “wo “Auf die Spitze getrieben, besagt diese Argumentation (v.Flatow/
ein Interesseninhalt (...) in sein legislatives Stadium tritt“ das Stadi- Huiskens, J.K.) nichts anderes, als daß sich die besondere Instanz
um der Staatsförmigkeit erreicht wird (122). Staat dem (falschen) Bewußtsein aller Klassenindividuen über ihre
gemeinsamen materiellen Interessen verdankt (...).”
Diskussion
Bernhard Blanke und Kollegen kritisieren an v.Flatow/Huisken
Der Anspruch von v.Flatow/Huisken ist es nicht gewesen, die kon- dass mit deren Versuch, die Verdopplung von Staat und Gesell-
kreten staatlichen Politiken abzuleiten. Vielmehr ging es ihnen scha� aus dem Widerspruch zwischen besonderem und allgemei-
darum, die allgemeine Ebene anzugeben, von der aus die Genese nem Interesse abzuleiten,
des Staates aus den gleichen Interessen der Akteure erklärbar wird.
Dies wurde mit den grundlegend gleichen Interessen der Revenue- “dieser Staat eine bereits funktionell vollkommen bestimmte Form
quellen-BesitzerInnen, wie es sich auf der Ober�äche der bürgerli- ist; der Staat ist gewissermaßen nur noch auf der Suche nach den
chen Gesellscha� darstellt, versucht zu leisten. Darüberhinaus ver- allgemeinen Interessen, die er zu realisieren hat.” (Blanke et al.
suchte ihr Ansatz der bei Altvater bemängelte �ese, dass es nicht 1974, 84)
genügt, den Staat aus abstrakten Notwendigkeiten zu bestimmen,
zu begegnen. Angegeben wurde eine Basis, von der aus, unter Bei- Auch wenn es richtig ist, so Blanke et al., dass konkrete Staats-
behaltung der Klassenunterschiede und der Komplexität der bür- funktionen sich nicht aus dem allgemeinen Kapitalbegriff ableiten
gerlich-kapitalistischen Gesellscha�, sich die Genese des Staates lassen, sehen sie bei v.Flatow/Huisken keine hinreichende Be-grün-
aus der gemeinsamen Interessenlage der unterschiedlichen Klassen dungsbasis für diese konkreten Funktionen gegeben. Dadurch, dass
begründen lässt. die Tätigkeiten des Staates aus dem “Begriff des allgemeinen Inter-
Die auf dieser Basis sich ergebenden konkreten staatlichen Politi- esses hervor(gehen), (...) sind sie ge-wissermaßen (...) nur noch die
ken sind nun nicht aus einem derartigen allgemeinen Prinzip ab- erscheinenden, historisch-realen Manifestationen des »Wesens«
leitbar, so die Argumentation, sie verweisen vielmehr auf die jeweils des bürgerlichen Staates.” (Ibid.) Hierdurch wird es für v.Flatow/
konkreten historischen gesellscha�lichen Verhältnisse bzw. die Huisken insbesondere unmöglich, so Blanke et al., Widersprüche
“ökonomischen Gesetzmäßigkeiten”. der Staatstätigkeit zu erklären (Ibid., 85).
Josef Esser (1975, 150) kritisiert an v.Flatow/Huisken, aber auch an Generell lässt sich mit Blanke et al. festhalten, dass bei allen bisher
Altvater, dass in deren Ableitungsversuchen die dargestellten Versuche, den Staat abzuleiten, als “Ableitungsresul-
tat” immer schon “der Staat” als vollkom-men bestimmte Form
“folgenschwere Implikation enthalten ist, (...) dass in der anarchis- herauskommt (Blanke et al., 88). Und dies als eine Form, die, so
tischen kapitalistischen Produktionsweise sich überhaupt so etwas Blanke et al.
wie (...) allgemeine Interessen de�nieren ließen.”
“nun ihrerseits mit einem Begriff vom Wesen des Staates gefaßt wird,
Denn wenn, so Esser weiter, der im Kern bereits alle Funktionen, Zuständigkeiten und Hand-
lungsmöglichkeiten des Staates bereits enthält.” (Ibid., 88-89)
“es für alle Privatpro-duzenten gemeinsame, bewußt wahrnehmba-
re und formulierbare und durch den Staat herstellbare allgemeine Hierdurch, so die Autoren bestechend, wird die Bestimmung der
Rahmenbedingungen bzw. allgemeine Interessen gäbe” (ibid.), “abgesonderten Form” nicht mehr re�ektiert und droht hierdurch
zur Floskel zu verkommen und, das ist entscheidend, der Nachweis
ist unterstellt, dass es einen Bereich innerhalb dieser Gesellscha�en der “Besonderung” wird weitgehend mit einer Ableitung des kon-
gibt, in dem das Wirken des Wertgesetzes außer Kra� gesetzt ist. kreten Staates verwechselt (Blanke et al., 61).
Denn Merkmal des Wertgesetzes ist es ja, dass sich die gesellscha�- Oder anders ausgedrückt, auf die entscheidende Frage, warum
liche Allgemeinheit nur hinter dem Rücken der Privatproduzenten Herrscha� unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen diese
herstellt (ibid.). besonderte Form scheinbar annehmen muss, wird keine Antwort
Schärfer formuliert erscheint es mir für einigermaßen konstruiert, gegeben,
die Genese des Staates aus den gleichen Interessen von AkteurIn-
nen innerhalb der bürgerlichen Gesellscha� begründen zu wollen. “sondern es wird bei der Erklärung auf den bereits existierenden
Die Genese, im strikten Wortsinne verstanden als Entstehung, des Staat zurückgegriffen, die Trennung von Politik und Ökonomie
bürgerlichen Staates lässt sich keinesfalls aus den bewussten Inter- wird also bereits voraus-gesetzt.” (Esser 1975, 150)
essen (wenngleich sie illusorisch sind) begründen, denn diese Ge-
sellscha�sformation ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie Bernhard Blanke, Ulrich Jürgens, Heinz Kastendiek: Das Ver-
ihre Vergesellscha�ungsformen unbewusst, hinter dem Rücken der hältnis von Politik und Ökonomie als Ausgangspunkt einer
AkteurInnen hervorbringt, wie mit Esser eben noch einmal festge- materialistischen Analyse des bürgerlichen Staates
halten wurde.
Problematisch in diesem Versuch der Ableitung des bürgerlichen Es gilt, so die Autoren in ihrem Beitrag zur Staatsableitungsdebat-
Staates bleibt die letztlich unscharfe Trennung zwischen der Basis der te, nach einem Marxsche Postulat, sich nicht “auf den Standpunkt
Illusionen bzgl. des bürgerlichen Staates, wie sie sich aus dem Verhar- der fertigen Phänomene” zu stellen, sondern “deren Notwendigkeit
ren auf der Ober�äche der bürgerlichen Gesellscha� ergeben und dem aus bestimmten Erfordernissen der kapitalistischen Gesellscha�
faktischen Standpunkt der AutorInnen. Dadurch, dass keine reelle (zu) begründen. “ (1974, 58) Diese Erfordernisse sind allgemein
Basis für die Genese des Staates angegeben wird, bleibt nur die Ober- von Marx im Kapital entwickelt worden und eine “Ableitung” des
�äche als Begründungsbasis be-stehen, was letztlich völlig unbefriedi- Staates hat hier anzusetzen (1975, 417).
gend ist. Mit Norbert Kostede (1976, 178) auf den Punkt gebracht: Auf Basis dieser theoretischen Voraussetzung formulieren die Au-

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toren ihre Untersuchungsfragen: nicht mehr zureichend beantwortet werden.” (1974, 63)

“Wie vermittelt sich die Herrscha� des Kapitals über den und im Dementgegen formulieren Blanke et al.:
Produktionsprozeß in die »Sphäre der Politik« und in die Institu-
tion Staat; wie ist das Verhältnis der Bourgeoisie als Klasse zu »ih- “Wir meinen, daß das Ziel: »den Staat« in systematischer Ana-
rem« Staat?” (1975, 416) lyse zu erklären, nur erreicht werden kann, wenn jeder vorgängige
Staatsbegriff aufgegeben wird, wenn Assoziationen und unmittel-
Woraus sich als weitere Frage ergibt: bar gegebene, aus der Empirie entstandenen Vorstellungen vom
»Staat« (...) nicht bereits als Prämissen in die Ausgangsfragen ein-
“Wie vermitteln sich die Aktionen der Arbeiter (worunter noch �ießen. Der »Staat« muß gewissermaßen erst einmal für die theo-
nicht mal die »Klasse für sich« zu verstehen ist) in die »Sphäre retische Rekonstruktion freigegeben werden.” (1974, 64)
der Politik«; verändern politische Siege der Arbeiterklasse (z.B.
in Wahlen) eine wie immer zu begreifende Qualität des Staates als Zu beantworten ist somit die von Eugen Paschukanis 1929 aufge-
Klassenstaat, so daß sich ein Funktionswandel des bürgerlichen worfene Frage:
Staates zum Instrument gesellscha�licher Veränderung zugunsten
der beherrschten Klasse herausbilden kann?” (1975, 416) “Warum bleibt die Klassenherrscha� nicht das, was sie ist, die fak-
tische Unterwerfung eines Teils der Bevölkerung unter die andere?
Generell erfasst der allgemeine Begriff des Kapitals, von dem wie Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrscha�
gesagt der Staat abzuleiten ist, “die allgemeinen Bewegungsgesetze an, oder - was dasselbe ist - warum wird der Apparat des staatlichen
und Zusammenhänge einer Gesellscha�sformation” (1975, 417), Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse ge-
die zum einen historisch vergänglich ist und zum anderen“durch schaffen, warum spaltet er sich von den letzteren ab und nimmt die
ganz bestimmte, notwendige Verhältnisse charakterisiert ist, wel- Form eines unpersönlichen, von der Gesellscha� losgelösten Appa-
che sie erst zu einer kapi-talistischen machen.” (Ibid.) Diese Verhält- rats der öffentlichen Macht an?” (Paschukanis 1966, 119/20)
nisse, so heißt es grundlegend weiter, erhalten “bestimmte Formen”
(Ibid.) Ware, Geld, Kapital, Lohnarbeit ebenso wie Waren- oder Die Antwort hierauf sehen die Autoren in der Warenform, wie sie
Geldkapital oder der Lohn als “Preis der Arbeit” stellen, so Blanke von Marx im Kapital entwickelt wurde. Dies ist allerdings bislang
et al., derartige For-men dar. Dies ausführend heißt es: nur marxistischen Rechtstheoretikern aufge-fallen, so die Autoren,
allerdings hat jene ein “vorgefaßter Staatsbegriff” (1974, 69) daran
“Im Begriff der Form ist sowohl das Grundproblem als auch das gehindert, diesen Faden weiterzuverfolgen. Diesen Faden wollen
wesentliche Charakteristikum historisch-materialistischer Metho- die Autoren wieder aufnehmen. Hierzu heißt es:
de ausgedrückt: die Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem
materiellen Prozeß der Produktion und Reproduktion des Lebens “Die Wertbewegung als sachlich-ökonomischer Vermittlungszu-
vergesellscha�eter Menschen und den Beziehungen zwischen die- sammenhang stellt als Form der ökonomischen Vergesellscha�ung
sen Menschen, die sich in diesem Prozeß der materiellen Reproduk- der Produzenten eine Art der von persönlicher, physischer Gewalt
tion konstituieren.” (1975, 417) freien Vergesellscha�ung dar. Die Vergesellscha�ungsform des
Tausches der ‘Gesellscha�lichkeitsindikator’ Preis und die Sankti-
Die Frage, die sich den Autoren nun stellt ist die, weshalb bestimm- onsinstanz Geld etablieren allerdings die Herrscha� des rein sachli-
te gesellscha�liche Beziehungen im Kapitalismus scheinbar nicht chen Zusammenhangs.” (1974, 70)
über die beschriebenen Formen der Vergesellscha�ung reguliert
werden können, weshalb die Warenform oder die Lohnform allei- Die Beziehung der Menschen in einer Warenzirkulationsgesell-
ne nicht imstande ist, die Reproduktion kapitalistischer Gesell- scha� ist nun wesentlich durch zwei Prinzipien strukturiert: Zum
scha�en zu leisten, sondern daneben ganz spezielle Formen wie die einen durch das Verhältnis der Dinge (Waren) zueinander; ihre
des Rechts oder der Politik entstehen müssen (1975, 419). Anders- jeweilige Tauschrelation, die sich von der Ober�äche der kapita-
herum besehen heißt das, so die Argumentation, das die Form des listi-schen Gesellscha� her betrachtet als rein sachliche (dingliche)
Rechts und der Politik zunächst einmal aus der kapitalistischen Relation darstellt. Hierin ist nur schwerlich erkennbar, dass die
Produktionsweise zu begründen sind, anstatt sie - wie in bürgerli- Wertrelation ein gesellscha�liches Verhältnis ist, das wie Marx auf-
chen �eorien - einfach als gegeben vorauszusetzen und sie a priori gezeigt hat, letztlich auf menschliche Arbeit als Quelle des Werts
mit bestimmten Fähigkeiten und funktionalen Bestimmungen zu zurückzuführen ist. Stattdessen erscheinen die gesellscha�lichen
versehen, die dann lediglich aufaddiert zu werden brauchen oder Verhältnisse verdinglicht und fetischisiert, schwer durchschaubar
deren Mangelha�igkeit dann beklagt wird. Allerdings stellen die spielen sich die Verhältnisse “hinter dem Rücken” der konkreten
Autoren diese Vorgehensweise, wie schon dargestellt, auch bei mar- Menschen ab.
xistischen Autoren fest. So heißt es: Dies verweist zum anderen darauf, dass die Waren, wie Marx es aus-
drückt, nicht selbst zu Markte gehen können, als ihre TrägerInnen
“Eine solche »Wesensbestimmung« schleicht sich auch in die mar- fungieren konkrete Menschen mit diversen Bedürfnissen. Unmit-
xistische Staatsdiskussion ein: indem der Staat vorgängig als das telbarer Zweck des Warentausches ist die Befriedigung dieser Be-
»Allgemeine« bestimmt wird, wird eine Generalkompetenz »des dürfnisse. Der Tauschakt setzt somit handelnde Menschen voraus,
Staates« festgestellt, »allge-meine Interessen« zu »verwalten«, wie Blanke et al. betonen, und konstituiert hierin eine Beziehung
die Widersprüche zu »regulieren«. Sind somit alle Funktionen dieser handelnden Menschen, wenn auch nur als “Zirkulationsa-
»des Staates« im Keime schon in seinem Wesen enthalten, so kön- genten” (1974, 71).
nen Fragen nach den Gründen von Staatsfunktionen, vor allem aber Diese Bezugnahme der Menschen aufeinander im Tauschverhält-
nach den Grenzen des Staates in der kapitalistischen Gesellscha� nis setzt, so die Argumentation, ihr prinzipielles Gleichgelten vo-

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raus. Die Tauschenden, so die Autoren, müssen als Voraussetzung konmischen Gewalt”: die Rechtssetzungs-funktion und die Absi-
eine “gleiche gesellscha�liche und formelle Qualität annehmen” cherung dieser Funktion, die “exekutive Funktion”, lassen sich aus
(ibid.). Logisch wie historisch ist jedoch ein Tauschverhältnis zwi- den Bedingungen und Bestimmungen des Warentausches begriff-
schen Ungleichen durchaus vor- bzw. feststellbar, allerdings liegt lich bzw. logisch ableiten. Allerdings, und das stellt die Differenz
dem Tauschverhältnis als Ausformung eines Vertragsverhältnisses und den Fortschritt zu den bisherigen Ableitungsversuchen dar,
grundsätzlich eine Gleichheitsannahme zugrunde, die, so abstrakt lässt sich aus der Bestimmung der Möglichkeit und Notwendigkeit
sie auch sein mag, auch nicht dadurch hinfällig wird, das faktisch einer Zwangsgewaltfunktion noch keine konkrete Struktur Staat
Ungleiche dieses Verhältnis miteinander eingehen. Hierzu Blanke ableiten (1974, 71; 1975, 421).
et al.: Dennoch, so die Autoren weiter, muss sich diese Zwangsgewalt,
wie auch immer sie konkret aussieht, soll sie der Warenform ad-
“Die gesellscha�liche Qualität (die dem Tauschverhältnis als zugrun- äquat sein, sich entsprechend dieser Formprinzipien verhalten:
deliegend angenommen wird, J.K.) ist die, einen Willen zu haben, aus dem doppelten Aspekt kapitalistischer warentauschender
der sich auf den Tauschakt und somit auf alle anderen Tauschsub- Gesellscha�en - Beziehung von Dingen und Beziehung von glei-
jekte bezieht. Diese Beziehung �ndet in der Form der gegenseitigen chen Willens- bzw. Rechtssubjekten - ergibt sich als notwendiges
Anerkennung als Privateigentümer, damit des Privateigentums als Komplement, so die Argumentation, die generelle Norm bzw. das
Grundrecht, und der Vertrags�eiheit ihren Ausdruck.” (1974, 71) allgemeine Gesetz als unpersönliche, allgemeine und öffentliche
Qualität für die Rechtsform als Zwangsinstanz (1974, 72). In der
Aus dem Faktum, dass der Tauschakt ein Willensakt von Men- Logik der Gleichheit und Gleichrangigkeit des Warentausches auf
schen ist, lässt sich als Voraussetzung schließen, dass dieser Akt sachlicher wie persönlicher Seite liegt es, dass die sanktionierende
handelnde, d.h. dazu fähige Menschen voraussetzt und in dem Instanz nicht auf Willkür oder Ungleichbehandlung beruhen darf;
Akt sich zugleich eine (grundlegende) Beziehung zwischen diesen beide Ebenen, sollen sie relativ dauerha� funktionieren, müssen
Menschen konstituiert. In dieser Beziehung der Menschen zuein- sich entsprechen. Auf seiten der Subjekte verlangt dies, so Blanke et
ander muss es, wiederum als logische Voraussetzung, einen ihnen al. erstens, dass sie sich diesem Zusammenhang gegenüber verhal-
allen gemeinsamen Bezugspunkt geben, von dem aus sich die Men- ten “wie einer Sache gegenüber” (1974, 73) und zweitens “sich die
schen aufeinander beziehen: dieser Bezugspunkt ist der Mensch als Imperative dieser Sache zueigen machen” (ibid.). Ihre bis hierher
Tauschsubjekt, wie Blanke et al. herausstellen (1974, 71). Wohinter geleistete “Ableitung” der Rechtssphäre - auch als Zwangsgewalt -
wiederum die Voraussetzung liegt, dass die Tauschenden eine glei- zu-sammenfassend heißt es:
che gesellscha�liche Qualität - einen (freien) Willen - haben, was
wechselseitig respektiert sein muss. Dies drückt sich aus in der ge- “Als erste Charakterisierung von Politik können wir jetzt Willens-
genseitigen Anerkennung als PrivateigentümerInnen, was bedingt, verhältnisse (Handlungen, »Interaktionen«) zwischen unabhän-
dass das Recht auf Privateigentum verbürgt ist. In der Folge, so die gigen, gleichen Rechtssubjekten identi�zieren, die der Form nach
Argumentation, wird aus dem dem Tauschverhältnis zugrundelie- Kämpfe um die Festlegung von Rech-ten, Streitigkeiten um Rechts-
genden Willensverhältnis ein System von Rechtsbeziehungen; die auslegung sind (die ja erst spät von der »politi-schen« Sphäre in den
Menschen erhalten die Form von Rechtssubjekten und die Bezie- separaten Apparat der Justiz verlegt wurden), deren Inhalt jedoch
hungen zwi-schen diesen Menschen werden, so Blanke et al. nach »ökonomischer Art« ist, d.h. durch die Bewegung der Produktion
Paschukanis, “willensmässige Be-ziehungen voneinander unabhän- und der Wertrealisierung gegeben sind.” (1974, 73)
giger, einander gleicher Einheiten, juristischer Subjekte.” (1974,
71). Zum Verhältnis von einfachem Warentausch zu kapitalisti-
Das Vertragsverhältnis, das die Rechtssubjekte im Tausch mitein- schem Warentausch.
ander eingehen, verweist schon, so die Autoren, auf die Zwangsför-
migkeit, die hinter diesem Verhältnis steht - pacta sunt servanda Auch wenn dieser Begründungszusammenhang, so die Autoren,
- wenngleich dies auch noch nicht auf eine den Subjekten fremd für die einfache aber auch intensive Warentauschgesellscha� ent-
gegenüberstehende Macht verweisen muss. Allerdings, so führen wickelt wurde, verschwindet dieser nicht mit der Entwicklung und
Blanke et al. aus, müs-sen mit der Ausweitung der Tauschbeziehun- Betrachtung komplexerer kapitalistischer Gesellscha�en. Vielmehr
gen und der zunehmenden Verrechtlichung die Regeln des Tausch- bilden die dargelegten abstrakten Kategorien des (einfachen) Wa-
verkehrs auch zunehmend verallgemeinert werden, rentausches die allge-meine Ober�äche der bürgerlichen Gesell-
scha�, wie sie exemplarisch von v.Flatow/Huisken bei ihrer Staats-
“damit die im Äquivalententausch gesetzte Notwendigkeit der ableitung zugrundegelegt wurde. So heißt es:
Gleichheit der Tauschbedingungen hergestellt wird. Die Durchset-
zung des Wertgesetzes konstituiert die Durchsetzung des Rechtsgeset- “Auch die Grundform von Politik: Kampf um Recht und um
zes.” (1974, 72) die Instanz, welche das Recht garantiert, die außerökonomische
Zwangsgewalt, ist auf der Basis der Klassenbeziehungen nicht eine
Folglich konstatieren die Autoren im Anschluss: bloße »Illusion«, sondern die Form, in der sich der im Rahmen
des Staates bleibende Klassenkampf politisch ausdrücken kann.”
“Aus dem Warenverhältnis als spezi�sche, verdinglichte Form des (1975, 422)
Zusammenhangs der gesellscha�lichen Arbeit ergibt sich somit Die durch die Rechtsform geschützten und gewährleisteten Be-
die Form des Rechts und des Rechtsverhältnisses als spezi�sche, ziehungen des Warentausches - Garantie des Rechts auf Privatei-
scheinbar abgehobene Form der Beziehung zwischen isolierten gentum, Anerkennung und Gleichheit der Rechtssubjekte in ih-
»Individuen«“. (Ibid.) ren Willens-, d.h. Freiheitshandlungen, allgemein gesprochen des
Aus diesem Argumentationsgang ergibt sich nach Blanke et al. ein Äquivalententausches (Gebot der Nichtübervorteilung) - führt
erster Anhaltspunkt für eine begriffliche Ableitung der “ausserö- unter kapitalistischen Produktionsbedingungen strukturell dazu,

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dass das Äquivalenzprinzip des Warentausches zwar der Form matorische Einbruchstelle des Klassenkampfes in die »Politik«.”
nach beibehalten wird. Dem Inhalt nach ist es jedoch so, dass für (1975, 426-27)
die dem Arbeiter einzig zur Verfügung stehende Ware, seine Ar-
beitskra�, durch den Lohn zwar formal durchaus gerechter Lohn Nach all diesen Darlegungen sehen die Autoren nun einen Punkt
gezahlt wird, darin zugleich aber auch die Differenz verschwindet, erreicht, in dem die “»Besonderung des Staates« im Kern entwi-
die der Kapitalist als Mehrwert einstreicht. Es ist, mit Marx, ein ckelt” ist. (1974, 79) Versucht wurde, eine relativ plausible Begrün-
Glück für den Kapitalisten, aber durchaus kein Unrecht gegen den dung für die Frage zu geben,
Arbeiter, dass dessen Ware Arbeitskra� als einzige in der Lage ist,
mehr Wert zu produzieren, als für ihren Erhalt not-wendig ist, “warum der Staat (als konkrete Struktur) im Kern eine allgemeine
kurz: was sie kostet. Zwangsgewalt darstellt, die auch dem einzelnen Bourgeois (...) ge-
Durch die rechtliche Gewährleistung des Privateigentums als Ba- genüber getrennte und neutrale Instanz ist, zugleich aber, und nur
sisrecht wird, systema-tisch betrachtet, so die Argumentation, min- durch diese Trennung, als rechtsgarantierende Zentralgewalt Klas-
destens zweierlei gewährleistet: sengewalt ist. Gerade um Klassengewalt zu sein, muß der Staat sich
von der herrschenden Klasse >besondern<.” (ibid.)
1) Das Recht, mit dem als Ware käu�ich erworbenem Privateigen-
tum grundsätzlich tun zu können, was man will. Diesen Ableitungsteil beschließend vergleichen Blanke et al. ihre
2) Das Recht insbesondere des Kapitals über das Ergebnis der Pro- Ergebnisse mit den bisherigen Versuchen, hierzu heißt es:
duktion frei verfü-gen zu können. (1975, 423)
“Mit unserer Analyse bis zu diesem Punkt scheint uns ein wesent-
Hierdurch werden die inhaltlich-strukturellen Ungleichheiten und liches Dilemma der neueren marxistischen Staatsdiskussion gelöst
Ausbeutungsverhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise zu sein. In dieser Diskussion ist es üblich geworden, in Anlehnung
durch die Rechtsform, vermittelt über das Recht auf Privateigen- an die Marxsche Hegelkritik von ei-nem »allgemeinen Begriff des
tum sanktioniert und abgesichert. Nach Blanke et al.: bürgerlichen Staates« auszugehen, der sich der Vorstellung von der
Zusammenfassung der in sich selbst zerrissenen bürgerlichen Ge-
“Von der Form des Rechts her ist dem ganzen keinerlei Funktions- sellscha� in der abgesonderten Form des Staates zusammenziehen
wandel (vom einfachen Warentausch zum kapitalistischen, J.K.) läßt.” (1975, 427-28)
anzusehen. Formal ist Eigentum = Eigentum (und auch das ist
keine »Illusion«! Die außerökonomische Zwangsgewalt schützt Dieser Begriff der Besonderung des Staats ist jedoch problematisch.
auch das Eigentumsrecht und der Arbeitskra�). Inhaltlich bedeu- So stellen Blanke et al fest:
tet jedoch der Schutz des Kapitaleigentums zugleich Schutz der
Herrscha� des Kapitals über die Lohnarbeit im Produktionsprozeß „Er verwischt den Unterschied zwischen der ökonomischen und
von Wert. Herrscha� hat sich jedoch selbst verdoppelt: in eine rein der politischen Bestimmtheit des bürgerlichen Subjekts und hebt
sachliche Form, näm-lich der Produktionsbedingungen (als Kapital) den Widerspruch zwischen »besonderen und allgemeinen Inte-
über die Produzenten einerseits (eine vorpolitische Herrscha�) und in ressen« vorschnell in einem - noch wesentlichen naturrechtlich
abstrakte, allgemeine, öffentliche Herrscha� (politische Herrscha�) - als legitime Herrscha�sordnung verstandenen Staatsbegriff auf.”
andererseits.” (1975, 423) (1975, 428)

Allerdings resultieren aus der inhaltlichen Ungleichheit im Pro- Aus der rechtlichen Sphäre mit der ihr zugrundeliegenden Gleich-
duktionsprozess Kon�ikte, die sich nicht ohne weiteres durch die heits- und Freiheitsannahmen erscheint, wie gezeigt, die Versöh-
formale Rechtsgleichheit ausgleichen lassen, so etwa die schon bei nung der diversen Interessen durch die rechts-garantierende (Sank-
Müller/Neusüß beschriebene Antinomie zwischen Lohnarbeit tionsgewalt) Staat durchaus möglich. Dies ist jedoch lediglich eine
und Kapital, wie sie sich im Kampf um den Normalarbeitstag dar- Anschauung, die der Ober�äche der bürgerlichen Gesellscha� ver-
stellt. Hierzu Blanke et al.: ha�et bleibt und die “darunter” liegenden “ökonomischen” Klas-
sendifferenzen und -kon�ikte nicht zu lösen vermag. Vielmehr wird
“Der Wert der Ware Arbeitskra� ist nicht in der gleichen Weise be- durch die Rechtsform dieser Widerspruch verdeckt bzw. auf ein
dingt wie der Wert der übrigen Waren. Alle anderen Waren stellen anderes Terrain gehoben, worin die wahre Quelle dieser Kon�ik-
nur ein bestimmtes Quantum vergegenständlichter Arbeit dar. Die te nicht mehr (unmittelbar) erkennbar ist. Rechtliche Gleichheit
Reproduktion der Ware Arbeitskra� ist aber der Lebensprozeß des und Freiheit bedeutet keinesfalls auch ökonomische und materielle
konkreten Menschen mit seinen konkreten Bedürfnissen. Um den Gleichheit und Freiheit. Und weiter zu einem zweiten Problem:
Wert der Ware Arbeitskra�, d.h. um das »notwendige Quantum
an Lebensmitteln« kann es immer nur den Kampf geben.” (1975, “Er schiebt dem Staat gewollt oder ungewollt eine Generalkom-
425) petenz zu, »all-gemeine Interessen« zu verwalten. Sind somit alle
möglichen Funktionen des Staates im Keime auch schon in seinem
Ein weiterer Aspekt auf den die Autoren hinweisen, ist der in dem »Wesen« enthalten, so können Fragen nach den Gründen und
bürgerlichen Recht auf “Freiheit und Gleichheit” liegende und über Grenzen von Staatsfunktionen in der kapitalistischen Gesellscha�
ihn hinausweisende Aspekt, der schon in der Antinomie gleicher nicht mehr zureichend beantwortet werden.” (1975, 428)
Rechte (Gleichheit) im Kampf um den Arbeitstag sichtbar wurde,
worin, wie bei Müller/Neusüß überemphatisch dargestellt, auch Dem halten die Autoren entgegen:
ein bewusstseinbildendes Moment für die unterdrückten Klassen
liegen kann (“Klasse für sich”). “Verstanden als Ansprüche kon- “Unser Vorgehen bestand darin, ausgehend von der gesellscha�li-
kreter Menschen (Menschenrechte) sind sie gewissermaßen legiti- chen Form der Ware in den Bestimmungen des Kapitals, als For-

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men gesellscha�licher Verhältnisse, all jene Momente aufzuzeigen, bestimmte Form des bürgerlichen Rechts.” (1976, 146, Anmerkung 11)
an denen Funktionen entstehen, die nicht innerhalb des (privaten) Beide Formen sind komplementär aufeinander bezogen, lassen sich
Reproduktionsprozesses verarbeitet werden konnten.” (1975, 428) aber keinesfalls voneinander “ableiten”, so Hirsch weiter (ibid.).
Weiterhin kritisiert Hirsch, dass das was bei Blanke et al. als
Ein weiteres Problem der Allgemeinheit ihrer Aussagen in den Rechtsform erscheint, in Wirklichkeit nicht anderes als das bürger-
Blick nehmend fassen die Autoren wie folgt: liche Privatrecht meint und das dieser

“Hier ergibt sich eine für die Staatsdiskussion u.E. wesentliche “Ausgangspunkt (...) zu der unhaltbaren �ese von einer durchgän-
Schwierigkeit: zwar haben wir bisher das innere Verhältnis zwi- gigen Rechtsförmigkeit der staatlichen Gewaltausübung (führt)”
schen Produktionsweise und einer ihrer Funktionen, die eine Orga- (ibid., 147)
nisation »neben und außer« der Parteien der Käufer und Verkäu-
fer bedingt, angegeben. Wir haben damit aber nicht den Staat, der Darüberhinaus lässt sich noch ein Argument Hirschs aus einem
nach unserem Verständnis eine Vielzahl von Verbindungen mit und anderen Zusammenhang gegen die Argumentation von Blanke et
Funktionen für den Reproduktionsprozeß besitzt.” (1974, 83) al. wenden. Gegen Engels’ Argumentation in der Ursprung der Fa-
milie gerichtet wendet Hirsch:
Dies ist ein Aspekt, der, wie Blanke et al. betonen, in den a priori-
schen Ansätzen, bei denen jene Funktionen ja von vornherein be- “Der Verzicht auf eine die Gesetzmäßigkeiten und den historischen
stehen nicht in den Blick genommen wird bzw. genommen werden Verlauf des kapitalistischen Akkumulations- Reproduktionsprozes-
kann. Von einer anderen Ebene her betrachtet verwechseln solche ses zum Ansatzpunkt nehmende Analyse führt bei Engels notwen-
Ansätze o�mals die allgemeine Formbestimmung kapitalistischer dig zu einer quasi verengt »klassentheoretischen« Bestimmung des
Gesellscha�en in ihrer Möglichkeit und Notwendigkeit mit den Staates, bei der der Staat als eine über der Gesellscha� stehende, den
konkreten Institutionen und Apparaten. Abstrakte und konkrete Klassenkon�ikt regulierende Macht erscheint.” (1973, 207)
Ebene werden hierbei systematisch verwechselt, woraus dann auch
der o�mals krude Funktionalismus resultiert. Ähnliches lässt sich auch gegen Blanke et al. richten. Auch bei ih-
nen erscheint die außerökonomische Zwangsgewalt zunächst von
Diskussion seiner “inhaltlichen” Bestimmung her “neutral”, der Klassencha-
rakter offenbart sich erst dadurch, dass diese Gewalt die strukturel-
Mit der Analyse von Blanke et al. ist mehrerlei geleistet. Zum ei- le Differenz zwischen Form und Inhalt dieser Rechtsverhältnisse
nen überwindet ihr Vorgehen, die bei den bisher dargelegten Ab- abstützt und sanktioniert. Der Klassencharakter ist somit ein nach-
leitungsversuchen dargelegte Tendenz, mit der Ableitung der not- träglicher.
wendig besonderen Instanz auch schon den konkreten Staat mit
all seinen empirisch au�istbaren Funktionen bestimmt zu haben. Schluss
Im Anschluss an die Analysen Eugen Paschukanis’ wird der Frage
nachgegangen, weshalb Herrscha� unter kapitalistischen Produk- Die in der Staatsableitungsdebatte verfolgte Frage war diejenige der
tionsverhältnissen überhaupt diese Form annehmen muss, und es Begründung des Auseinandertretens von Politik und Ökonomie
wird die Frage gestellt, weshalb die anderen Vergesellscha�ungsfor- im Kapitalismus und die daraus resultierenden Konsequenzen. In
men wie die Lohn- oder Warenform bspw. scheinbar nicht ausrei- der Kritik an revisionistischen und politizistischen �eorien wur-
chen, für die Reproduktion dieser Gesellscha�sformation. Aus der de grundlegend festgehalten, dass der Staat notwendig auf die Wi-
“Ableitung” dieser Form, wie sie sich als Voraussetzung für den Wa- dersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise bezogen
ren-tausch ergibt, sind auch schon die Grenzen des “Machbaren” bleibt und deshalb keineswegs als auto-nome oder neutrale Instanz
innerhalb dieser Gesellscha�en angedeutet: sowohl die außeröko- zu begreifen ist. Den Ansatzpunkt der Analyse sah man in den von
nomische Zwangsgewalt, als auch die ihr unterworfenen Subjekte Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie entwickelten Ka-
müssen sich der Form gemäß verhalten. Die Rechtsform dieser Ver- tegorien; wobei hervorgehoben wurde, dass Politik und Ökonomie
hältnisse erfordert die prinzipielle Gleichbehandlung aller, aus ihr letztlich Ausdruck gesellscha�licher Verhältnisse sind, die unter
ergibt sich die Notwendigkeit der allgemeinen Norm bzw. des allge- kapitalistischen Produktionsverhältnissen verdinglichte und feti-
meinen Gesetzes als Grundform. Auf seiten der Subjekte erfordert schisierte Formen annehmen müssen und als solche schwer durch-
dies, dass sie sich auf die außerökonomische Zwangsgewalt sachlich schaubar sind.
beziehen, sich ihr wie einer Sache gegenüber verhalten. Die Begrün- Müller/Neusüß versuchten dies anhand der historischen Ausei-
dung dieser Argumentation aus der Warenform und dem einfachen nandersetzung um den Arbeitstag zu erklären, wie Marx dies im
Warentausch wird mit der Her-ausbildung kapitalistischer Produk- achten Kapitel des ersten Band des Kapital dargelegt hatte; Altva-
tionsverhältnisse nicht hinfällig, auf der Ebene der Ober�äche der ter erklärte die Notwendigkeit des Staates und seine Gebundenheit
bürgerlichen Gesellscha� begegnen sich die Subjekte nach wie vor an das Kapital aus dem konkurrenzvermittelten Widerspruch, der
in dieser Weise, auch wenn hierbei die darunter liegenden ökono- zwischen einzelnen Kapi-talen und ihren Voraussetzungen besteht,
misch bestimmten Klassendifferenzen verdeckt werden. die sie selbst nicht erbringen können; von Flatow/Huisken versuch-
Joachim Hirsch kritisiert an Blanke et al. die Verwechslung der ten die Neutralität des Staates zu destruieren, indem sie den Staat
Ableitung der Ebene der Staatsform aus der Rechtsform, denn, so aus den Illusionen erklärten, wie sie sich an der Ober�äche der bür-
Hirsch, nicht gerlichen Gesellscha� ergeben und Blanke und Kollegen trennten
zuerst einmal die Bestimmung der außerökonomischen Zwangsge-
“die Rechtsform »erzeugt« die Form des Staates, sondern die Eigen- walt von der der Rechtsform als ihrer Voraussetzung, die sich wie-
tümlichkeit der kapitalistischen Reproduktion der Klassenverhältnisse derum aus den Voraussetzungen der Warenform ergibt, was die
erzeugt eine spezi�sche Formbestimmung der Klassengewalt und ihre Handlungsmöglichkeiten der außerökonomischen Zwangsgewalt

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einschränkt. Umwälzung der Wissen-scha�. MEW 20. Zitiert im Text als:
Als Essenz aus all dem lässt sich mit Bob Jessop festhalten, dass die Anti-Dühring.
Form bzw. die Besonderung des Staates die Funktion der Repro- Esser, Josef 1975: Einführung in die materialistische Staatsanaly-
duktion und „Kohäsion“ (Poulantzas 1980) von Gesellscha� pro- se. Frankfurt/M. u.a.
blematisiert (Jessop 1982, 135; Jessop 1990, 87, passim); darüber- Esser, Josef 1985: “Staat und Markt”, in: Fetscher, Iring; Münkler,
hinaus kann mit John Holloway und Sol Picciotto (1978, 26f., 29f.) Herfried (Hrsg.): Politikwissenscha�. Reinbeck, 201ff.
festgehalten werden, dass die Formanalyse die Voraussetzung und Flatow, Sybille v.; Huisken, Freerk 1973: “Zum Problem der Ab-
Bedingung für eine historisch-materialistische Analyse des Staates leitung des bürgerlichen Staates. Die Ober�äche der bürgerlichen
darstellt. Gesellscha�, der Staat und die allgemeinen Rahmenbedingungen
Was sich mit der Formanalyse als fortgeschrittenstem Ergebnis der der Produktion”, in: Probleme des Klassenkampfs (Prokla) 7.
Staatsableitungsdebatte allerdings nicht bestimmen lässt, ist, wie Gerstenberger, Heide 1977:”Zur �eorie des bürgerlichen Staates.
sich der Zwang zur Form (Hirsch 1994, 174) konkret umsetzt. In Der gegenwärtige Stand de Debatte”, in: Brandes, Volker (Hrsg.):
ihrer Abstraktheit blieb der Staatsableitungsdebatte o�mals nur der Handbücher zur Kritik der politischen Ökonomie. Band 5
Verweis auf die scheinbar blind wirkenden “ökonomischen Gesetz- – Staat. Frankfurt/M. u.a., 21-49.
mäßigkeiten”, die dafür sorgen, dass die “richtige” Politik gemacht Hennig, Eike; Hirsch, Joachim; Reichelt, Helmut und Schäfer,
wird. Auch wenn dies negiert wird, und die konkreten Politiken Gert (Hrsg.) 1974: Karl Marx/Friedrich Engels. Staatstheorie.
als Ergebnis von Klassenkämpfen begriffen werden, bleibt immer Materialien zur Rekonstruktion der marxistischen Staatstheorie.
noch unklar wie und warum sich bestimmte Klasseninteressen im Frankfurt/M. u.a.
Staat durchsetzen kön-nen und andere nicht (vgl. Gerstenberger Hirsch, Joachim 1973: “Elemente einer materialistischen Staats-
1977, 36, 44f., 47f.; Jessop 1990, 38). theorie”, in: v. Braunmühl, Claudia; Funken, Klaus; Cogoy, Ma-
Die Antworten auf diese Fragen ließen sich scheinbar innerhalb rio; Hirsch, Joachim: Probleme einer materialistischen Staatstheo-
dieser Debatte und ihren Kategorien nicht �nden, mögliche Lö- rie. Frankfurt/M., 199-266.
sungswege lieferten im Anschluss an Antonio Gramsci die Ansätze Hirsch, Joachim 1974: “Zum Problem einer Form- und Funk-
von Louis Althusser und Nicos Poulantzas, die hier nicht mehr dar- tionsbestimmung des bürgerlichen Staates”, in: Hennig, Eike;
gestellt werden können (vgl. Kannankulam 2000, 73ff.; Hirsch/ Hirsch, Joachim; Reichelt, Helmut und Schäfer, Gert (Hrsg.):
Kannankulam/Wissel 2008). Abschließend ist mit Jessop (1982, Karl Marx/Friedrich Engels. Staatstheorie. Materialien zur Re-
140) jedoch festzuhalten: konstruktion der marxistischen Staatstheorie. Frankfurt/M. u.a.,
CXXXIX-CLIII.
“It is correct to accuse different theorists (der Staatsableitungs- Hirsch, Joachim 1976: “Bemerkungen zum theoretischen Ansatz
debatte, J.K.) of attempting to absolutise their respective starting einer Analyse des bürgerlichen Staates”, in: Gesellscha�. Beiträge
points but wrong to overlook how collectively they have advanced zur Marxschen �eorie 8/9. Frank-furt/M., 99-149.
our understanding of the capitalist state.” Hirsch, Joachim 1977: “Kapitalreproduktion, Klassenauseinan-
dersetzungen und Wider-sprüche im Staatsapparat”, in: Brandes,
Volker (Hrsg.): Handbücher zur Kritik der po-litischen Ökono-
Literatur: mie. Band 5 – Staat. Frankfurt/M. u.a., 161-181.
Hirsch, Joachim 1983: “Nach der Staatsableitung”, in: Argument
Altvater, Elmar 1972: “Zu einigen Problemen des Staatsinterven- Sonderband 100. Ham-burg, 158-170.
tionismus”, in: Probleme des Klassenkampfs (Prokla) 3, 1-54. Hirsch, Joachim 1994: „Politische Form, Politische Institutionen
Blanke, Bernhard 1977: “Formen und Funktionswandel des und Staat“, in: Es-ser/Görg/Hirsch (Hg.): Politik, Insitutionen
politischen Systems in der bürgerlichen Gesellscha�”, in: Brandes, und Staat, Hamburg, 157-212.
Volker (Hrsg.): Handbücher zur Kritik der politischen Ökono- Hirsch, Joachim/Kannankulam, John/Wissel, Jens 2008: „Die
mie. Band 5 – Staat. Frankfurt/M. u.a., 121-160. Staatstheorie des ‚westlichen Marxismus’. Gramsci, Althusser,
Blanke, Bernhard; Jürgens, Ulrich; Kastendiek, Heinz 1974: “Zur Poulantzas und die sogenannte Staatsableitung“, in: Dies. (Hg.):
neueren marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und Der Staat der Bürgerlichen Gesellscha�. Zum Staatsverständnis
Funktion des bürgerlichen Staates. Überlegungen zum Verhält- von Karl Marx. Baden-Baden, 92-116.
nis von Politik und Ökonomie”, in: Probleme des Klassenkampfs Hochberger, Hunno 1974: “Probleme einer materialistischen
(Prokla)14/15, 51-102. Bestimmung des Staates”, in: Gesellscha�. Beiträge zur Marxschen
Blanke, Bernhard; Jürgens, Ulrich; Kastendiek, Heinz 1975: “Das �eorie 2. Frankfurt/M., 155-203.
Verhältnis von Politik und Ökonomie als Ausgangspunkt einer Holloway, John; Picciotto, Sol 1978: State and Capital. A Marxist
materialistischen Analyse des bürgerlichen Staates”, in: Blanke, Debate. London.
Bernhard; Jürgens, Ulrich; Kastendiek, Heinz: Kritik der Politi- Jessop, Bob 1982: �e Capitalist State. Marxist �eories and
schen Wissenscha� 2. Analysen von Politik und Ökonomie in der Methods. Oxford.
bürgerlichen Gesell-scha�. Frankfurt/M. u.a., 414-444. Jessop, Bob 1990: State theory. Putting capitalist states in their
Braunmühl, Claudia v.; Funken, Klaus; Cogoy, Mario; Hirsch, place. University Park, Pennsylvania.
Joachim 1973: Probleme einer materialistischen Staatstheorie. Kannankulam, John 2000: Zwischen Staatsableitung und struk-
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57
Ingo Stützle

Von Stellungs- und Bewegungskriegen


Kämpfe in und um den Staat. Eine Einführung in die materialistische Staatstheorie

„Und wo sind die Marschierer durch die Institutionen? Sie ha- Wirklichkeit nach bestimmten Vorstellungen von Staat ordnet,
ben sich angepasst oder sind gefeuert worden. Verändert haben auch wenn keine �eorie vom Staat zugrund liegt. Kurz: Eine vor-
sich nur die Marschierer, der Apparat dient der Reaktion wie begriffliche Auseinandersetzungen nach dem Motto „der Staat ist,
eh und je. Was wahrscheinlich das einzig Voraussehbare war. was er macht“ ist unmöglich.
Denn wer von innen an die Schaltstellen der Institutionen ge- Genau das ist der Einsatzpunkt für die theoretische Beschä�igun-
langen will, muss erst einmal die Aufgaben des Apparates erfül- gen mit der Form Staat und seinenFunktionen. Ein Überblick kann
len – und er muss sie besser erfüllen als andere. Die Genossen helfen, bestimmte Argumentationsmuster besser zu verstehen und
übersehen, dass der Staat ein Instrument mit ganz bestimmten schon bei ihren impliziten Voraussetzungen zu hinterfragen. Da-
Funktionen ist. Die Funktion des bürgerlichen Staates ist es mit ist die Auseinandersetzung mit Staatstheorien kein Glasperlen-
eben, die kapitalistische Gesellscha�sordnung zu schützen und spiel. Vielmehr ist sie notwendige theoretische Re�exion innerhalb
au�echtzuerhalten.“ (aus: Peter Paul Zahl: Die Glücklichen. emanzipatorischer Kämpfe.
Ein Schelmenroman, geschrieben zwischen 1973 und 1979) Im Folgenden wird anhand einiger weniger Beiträge ein Überblick
über materialistische Staatstheorie gegeben.2 Dabei werden den
Dem Staat begegnet man meist in der Form des Repressionsappa- Kämpfen, die immer wieder zu Brüchen mit bestimmten Traditio-
rats: Bei Castor-Transporten, auf Demos oder – wenn wir nicht nen führten, eine wesentliche Rolle zugesprochen. Die Geschichte
ganz boniert im gegenwärtigen Deutschland verharren – bei der- der �eorien sind weder die Geschichte kluger Köpfe, noch setzt
Niederschlagung von Revolten oder Revolutionen. Aber auch im sich einfach ein besseres Argument durch. Vielmehr zeugt ein-
Alltag – in der Ausbildung, auf dem Sozialamt oder bei Zwangs- Bruch mit einer �eorie immer auf Antinomien in der Praxis, die
diensten – begegnen wir „dem Staat“.1 Es scheint fast wie in der mit einem bestimmten Paradigma nicht mehr zu lösen bzw. zu den-
Geschichte von Hase und Igel. Der Hase kann noch so schnell lau- ken waren.3
fen - der Igel begrüßt ihn immer mit: „Bin schon da!“
Der Staat ist mit den herrschenden Verhältnissen tief verwoben 1. Der Staat: Der weiße Fleck der Marxschen �eorie
und strukturiert und limitiert das Terrain sozialer und gesellscha�-
licher Kämpfe auf allen Ebenen. Oder anders gesagt: Wer eine Bei Marx ist trotz allem, was uns in den letzten Jahrzehnten vorge-
emanzipatorische Politik entwickeln will kommt um grundlegende führt wurde, keine �eorie vom Staat zu �nden. Was zu �nden ist,
Überlegungen zum Staat nicht herum. ist eine „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ (MEW Bd.1: 201 –
Deshalb haben wir immer schon bestimmte Vorstellungen 333.), in der Marx einer wesensphilosophischen und idealistischen
darüber,was der Staat ist, welche Funktionen er hat und wie er zu Problematik verha�et bleibt, gleichzeitig als radikaler Demokrat
anderen gesellscha�lichen Momenten in Beziehung steht. Auch argumentiert. Der Staat als „höchste soziale Wirklichkeit des Men-
wenn er nicht explizit ins Feld geführt wird: Wenn der Krieg ge- schen“ (MEW Bd.1: 240) könne nur von der Demokratie eingelöst
gen den Irak darauf zurückgeführt wird, dass bestimmte Regie- werden. Diese Idee wird gegenüber der Wirklichkeit eingeklagt.
rungsfunktionäre in der Ölindustrie beschä�igt sind oder waren, Nur unter diesen Bedingungen könne, so Marx, die Wirklichkeit
so steckt dahinter die Vorstellung, dass bestimmte Einzelkapitale des Menschen seinem Wesen entsprechen. Außer dem radikalde-
unmittelbaren Ein�uss auf die Staatsregierung haben und die Re- mokratischen Anspruch ist für Überlegungen zum Staat hier aller-
gierungsgeschicke lenken. Wenn in der globalisierungskritischen dings nicht viel fruchtbar zu machen.4
Bewegung eingeklagt wird, dass der Staat endlich seiner Funktion Die propagandistische Schri�en, die ebenso zu �nden sind, sind
als Garant des Allgemeinwohls für alle BürgerInnennachkommen durch die Abgrenzung von ‚Anarchisten’ überdeterminiert. Wie
soll, dann wird dem Staat eine Funktion unterstellt, die es nur zu Proudhon glaubt über eine Reform des Geldsystems die kapitalis-
verwirklichen gilt: wenn nötig durch Druck von der Straße. tischen Produktionsverhältnisse zu ändern, sitzen die Anarchisten,
Das sind nur zwei Beispiel, die durchaus nicht unbekannt sind. so Marx, der Illusion auf, mit der Zerstörung des Staates die zen-
Das bedeutet, dass das politische Bewusstsein die gesellscha�liche trale Herrscha� beseitigen zu können. Hier verbleiben sie in der

1 Die arranca!-Redaktion (2002) hat das Verhältnis an mehreren Punk- das Geschlechterverhältnis gestaltende Kra� des Staats zu konstatieren ist
ten durchdiskutiert: Organisationsfrage, Existenzgeld, Staats-Antifa und und mit den dargestellten �eoremen das Geschlecht durchaus als konsti-
Globalisierungskritik. tutive Kategorie mitgedacht werden kann. Es sei auf die Artikel im He�
2 Einen Überblick mit Einbezug bürgerlicher �eorien habe ich an einer ebenso verwiesen wie auf Genetti (2001; 2002), Demirovic/Pühl (1998),
anderen Stelle gegeben (Stützle 2003). und Sauer (2001).
3 Hier sei auf die Geschlechtsblindheit der Staatstheorien hingewiesen, 4 Eine sehr gute Einführung in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie,
die in dieser kurzen Einführung nicht weiter behandelt werden kann, die alle drei Bände des Kapital behandelt und ein Kapitel zu Staat und
obwohl eine staatsstrukturierende Bedeutung des Geschlechts sowie eine Imperialismus umfasst bietet Heinrich (2004).

58
Realität vorbürgerlicher Vergesellscha�ungsformen, unmittelbarer tete. Dem gegenüber hatte Gramsci einen starken volutaristischen
und personaler Herrscha� verha�et. Demgegenüber geht es Marx Einschlag. Dieser Volutarismus drückt sich in dem o� zitierten
darum – wie beim Geld – die Ursache zu bekämpfen: die kapita- „Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Willens aus“
listische Produktionsverhältnisse und der ihr entsprechenden Ver- (u.a. GH 1: 136). Nicht ohne Grund bezeichnete er die Oktoberre-
kehrsformen. volution eine „Revolution gegen das ‚KAPITAL’“ (Gramsci 1917).
Weiter �nden sich von Marx jede Menge „journalistischer“ Arbei- Dort heißt es:
ten, die sich mit konkreten politischen Kon�ikten auseinanderset-
zen.5 Die Aussagen die dort getroffen werden, sind weder einfach Das marxistische Denken „stellt stets als den wichtigsten Faktor
aus dem analysierten Zusammenhang zu reißen, noch verallge- nicht die ökonomischen Tatsachen [...], sondern [...] die Menschen,
meinerbar. die sich zusammen�nden, sich untereinander verständigen [...] und
Erst mit dem theoretischen Bruch (Heinrich 1991) mit herrschen- ein kollektives soziales Wollen hervorbringen, die die ökonomischen
den Problematiken in Philosophie und der Politischen Ökonomie Tatbestände begreifen, bewerten und diese mit ihrem Wollen in
mit „Das Kapital“ (MEW Bde.23-25), werden ein paar Einsatz- Übereinstimmung bringen, bis dieses (Wollen) zur Triebkra� der
punkte für staatstheoretische Überlegungen sichtbar.6 Ökonomie, zum Modell der objektiven Realität wird“ (ebd.: 32).
Hierbei steht die Form der Politik im Mittelpunkt, die der subjekt-
losen Herrscha� des Kapitals als ‚subjektlose Gewalt’ (Gerstenber- Des weiteren rezipierte er die späten Briefe von Engels, in welchen
ger 1990) adäquat sein muss und deren Funktion es ist, die Vor- er sich gegen eine mechanische Auslegung der Metapher von Basis
aussetzungen zu garantieren, die der prozessierende Widerspruch und Überbau wendet und die �esen über Feuerbach, in welchen
zwischen Kapital und Arbeit nicht aus sich heraus herstellen kann: Praxis ein zentrales Moment für Erkenntnis zugesprochen wird.
Garantie der Lohnarbeiter als Lohnarbeiter (Sozialpolitik und Damit wendet sich Gramsci gegen den Ökonomismus und Deter-
Begrenzung des Arbeitstages), Garantie von Verwertungsvoraus- minismus der II. Internationalen, in welchen er bereits die Unzu-
setzungen wie Eigentum, Infrastruktur, Geldmünzung etc. (vgl. länglichkeiten für einen revolutionären Umsturz sieht. Weiter geht
Krätke 1998). Aber die von Marx immer wieder angedeutete, aber er davon aus, dass die �eorien zu unterkomplex für das westliche
nie durchgeführte Kritik der Politik (MEW Bd.3: 537; Bd.1: 379), Europa ist. Diesen Vorwurf sollte er spätestens nach dem Sieg des
ist nicht einfach aus vorhandenen Texten zu entziffern oder durch Faschismus weiter ausbauen. Ein wesentlicher Punkt war hier, dass
genaue Lektüre zu entdecken. Vielmehr muss das Marxsche Projekt dem Bewusstsein und den ‚Überbauten’ (Kultur etc.) nach Grams-
selbst durchgeführt werden.7 ci eine zu geringe Rolle eingeräumt wurde.8 Er trägt diesen Ge-
danken dadurch Rechnung, dass er die begriffliche Apparatur der
2. Gramsci – Die Kinderschuhe des „Westlicher Marxismus“ damaligen marxistischen �eorie erweitert und bereits bestehende
Begriffe inhaltlich reformuliert. Dabei hebt sich Gramsci von Le-
Für die heutigen Auseinandersetzungen gilt es dort anzusetzen, wo nin theoretisch und politisch ab – auch wenn sich Gramsci selbst
Re�exion revolutionärer Politik stattgefunden hat: Bei der theoreti- als sein glühender Verehrer begriff.
schen Verarbeitung der Oktoberrevolution und der Niederlage der Mit dem Begriff der Hegemonie erweiterte Gramsci den Begriff
revolutionären Prozesse in Westeuropa, d.h. bei Antonio Gramsci. des Staats. Hegemonie wird verstanden als die Fähigkeit der herr-
Antonio Gramsci (1891-1937) kann als ‚posthumer Autor’ bezeich- schenden Klasse, ihre Interessen dahingehend durchzusetzen, dass
net werden. Der faschistische Staatsanwalt erklärte beim Prozess sie von den subalternen Klassen als Allgemeininteressen anerkannt
gegen Gramsci, 18 Monate nach seiner Verha�ung Anfang Novem- werden und sich ein „aktiver Konsens der Regierten“ (vgl. GH 2:
ber 1926: „Für die nächsten zwanzig Jahre müssen wir verhindern, 411) in einem historischen Block materialisiert (s.u.). Damit ist die
dass dieses Gehirn funktioniert“ (n. Fiori 1979: 212). Das Gegen- eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend. Führend gegenüber an-
teil war der Fall. Gramsci hinterließ mit den Gefängnishe�en einen deren Klassen in einem Bündnis und herrschend gegenüber geg-
der innovativsten politischen Texte marxistischer Provenienz des nerischen Klassen. Die erste ist nach Gramsci die Bedingung der
20. Jahrhunderts. zweiteren Form der Herrscha� (GH 1: 101f.). Diese Form der He-
Andersons‘ Begriff des „westlichen Marxismus“ (Anderson 1978) gemonie als Grundlage des historischen Blocks bedarf eines realen,
�ndet bei Gramsci seinen Ausgangspunkt. Gramsci muss unter den materiellen Kompromisses und ist kein ideologischer Schein. Herr-
Faschisten die Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung am scha� ist also immer politisch, ökonomisch und ideologisch und
eigenen Leib erfahren und ist einer der ersten marxistischen Den- entsprechend sind Konsens und Hegemonie nicht nur innerhalb
ker, der sich das Scheitern aus der Unzulänglichkeit der �eorie des Machtblocks, sondern gesamtgesellscha�lich entscheidend.
selbst erklärt. Das Moment der Hegemonie ist also für Gramscis Staatsauffas-
Die Unzulänglichkeit tri� mehrere Punkte. Zum einen war die sung wesentlich (vgl. GH 6: 1239). Sie kann als Führung der im
II. Internationale stark von einem „revolutionärer Attentismus“ Staat dominanten Gruppen über andere Gesellscha�sgruppen,
(Groh) durchzogen, d.h. von einer abwartenden Haltung, die auf mit denen ein Konsens (über die Berechtigung des Bestehenden)
den großen und alles entscheidenden Kladderadasch (Bebel) war- geschlossen wird, verstanden werden.

5 „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (MEW Bd.8: 111 – 70er aufgegriffen werden (vgl. u.a. Kostede 1976; Rudel 1981: 97ff.). Einer
207) sowie „Bürgerkrieg in Frankreich“ (MEW Bd.17: 313 –365). Einige der wenigen, die sich heute noch positiv darauf beziehen sind Hirsch (u.a.
Überlegungen aus dem „achtzehnten Brumaire“ haben unter dem Begriff 2002) und Holloway (2002: 112ff.).
der Bonapartismustheorie in die Faschismustheorie Einzug gefunden: Die 7 Diese Aufgabe stellte sich immer wieder auf neue Johannes Agnoli (u.a.
Bourgeoisie gibt ihre politische Macht an einen Despoten ab, um ihre so- 1987; 1995)
ziale Macht zu sicher. 8 Für eine weitere Auseinandersetzungen mit politischen und historischen
6 Diese Punkte sollten in der sogenannten Staatsableitungsdebatte in den Kontext siehe Deppe (2003: 207ff.).

59
Der ‚Ort’ an welchem die sozialen Krä�e ‚wirken’ und um Hegemo- als auch in ihrer Wirkmächtigkeit und subjektive, praktische Mo-
nie ringen bezeichnet Gramsci als Zivilgesellscha�. Im Gegensatz mente zu verarbeiten. Strukturkon�ikte, so betont Gramsci werden
zum Begriff der ‚Zivilgesellscha�’, der gegenwärtig gep�egt wird, den Akteuren immer auf dem Terrain der Ideologie bewusst (GH
versteht Gramsci Zivilgesellscha� weder als neutrales Terrain, 6: 1264). Er schließt die beiden Momente zusammen, mit einem
noch als herrscha�sfrei. Die Zivilgesellscha� „ist keine vermitteln- aktiven und praktischen Vorzeichen, das, was er aktiven Konsens
de Instanz zwischen Gesellscha� und Staat, sondern stellt dessen nennt (s.o.). Die Ideologie materialisiert sich in Institutionen, einer
Erweiterung dar. Sie wird von Gramsci als Bereich der Ausübung ideologischen Struktur:
von Hegemonie verstanden, durch die eine soziale Gruppe für ihre
Herrscha� bei den Herrscha�sunterworfenen Zustimmung er- „(A)ll das, was die öffentliche Meinung direkt oder indirekt beein-
zeugt und auf diese Weise ihre Art der Lebensführung verallgemei- �usst oder beein�ussen kann, gehört zu ihr: die Bibliotheken, die
nert“ (Demirovic 1999: 20). Schulen, die Zirkel und Clubs unterschiedlicher Art, bis hin zur
Mit der Einführung des Begriffs Zivilgesellscha� werden zwei Architektur, zur Anlage der Straßen und zu den Namen derselben“
verschiedene Modalitäten staatlicher Macht unterschieden. Der (GH 2: 373).
integrale Staat, also der „erweiterte Staat“ („politische Gesellscha�
+ Zivilgesellscha�“; GH 4: 783) und der Staat im engeren Sinne, Der geschichtliche Block beschreibt diesen Zusammenschluss von
welcher mit Regierungsapparat und der politisch-juridischen Or- zuvor analytisch getrennten Momenten bzw. Funktionsweisen, eine
ganisation zusammenfällt. Staatsmacht, so Gramsci, beruht in Metapher für den Zusammenschluss, der quer zu den gesellscha�li-
westlichen kapitalistischen Gesellscha�en auf „Hegemonie, ge- chen Klassen verläu�, weil Widersprüche und Kon�ikte kleingear-
panzert mit Zwang“ (GH 4: 783). Damit ist es Gramsci möglich, beitet sind: materielle Zugeständnisse und Verallgemeinerungen
die Niederlage der Revolution in Westeuropa begrifflich zu fassen. von Partikularinteressen in Form von Ideologien und Alltagsvor-
Während in Russland noch ein Zentrum der Macht erstürmt wer- stellungen, bei dessen Ausarbeitung, Formulierung und Verbrei-
den konnte, konstatiert Gramsci für die westlichen Industriegesell- tung die Intellektuellen wesentlichen Anteil haben. Deshalb be-
scha�en nach dem ersten Weltkrieg: zeichnet Gramsci den Konsens, auf dem die Hegemonie beruht, als
Form des geschichtlichen Blocks (GH 6: 1228, 1249). Der Prozess
„(I)m Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellscha� ein der im geschichtlichen Block seinen Ausdruck �ndet und ein „ge-
richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man wisses Gleichgewicht“ (GH 7: 1567) herstellt, bezeichnet Gramsci
sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellscha�. Der Staat war als Katharsis (GH 6: 1259). Im Bewusstsein der Menschen arbeite
nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine sich die Struktur in die Superstruktur. Damit transformiert sich
robuste Kette von Festungen und Kasematten befand“ (GH4: das Objektive zum Subjektiven und die Notwendigkeit zur Frei-
874). heit. Bei den sozialen Auseinandersetzungen und den Kämpfen
um Verallgemeinerungen von Partikularinteressen ist Hegemonie
Diese „widerstandsfähige Struktur“ (GH 7: 1589) strukturiert die sowohl Voraussetzung als auch umkämp�es Resultat, sie ist „das
Bedingungen des Kampfesneu: Der Bewegungskrieg, der noch in Umkämp�e und das Medium des Kampfes“ zugleich (Haug 1985:
Gesellscha� möglich war, der keine ausgeprägte Zivilgesellscha� 174). Damit ist Gramsci im Stande, mehrere Fragen zu beantwor-
hatte, muss von einem Stellungskrieg abgelöst werden. Die ‚Stellun- ten, vor welche ihn die Niederlage der ArbeiterInnenbwegung ge-
gen’ in der Zivilgesellscha� müssten nach und nach eingenommen stellt haben.
werden (vgl. GH 2: 373). Dabei spielt der Begriff des Intellektu-
ellen eine zentrale Rolle – die Funktionäre der Superstruktur. Im 3. Die Krise des Marxismus und der Althusser-Effekt
Rahmen seiner Überlegungen kommt Gramsci immer wieder auf
Intellektuelle zurück. Gruppen oder Klassenfraktionen, die auf Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges strukturierten mehre
Grundlage einer Funktion in der ökonomischen Arbeitsteilung Entwicklung den Ausgangspunkt kommunistischer Politik in
entstehen, schaffen sich nach Gramsci ‚organisch’ eine Schicht von Westeuropa. Zum einen vollzog sich mit dem Beginn des kalten
Intellektuellen. Diese haben innerhalb dieser Arbeitsteilung die Krieges in rasanter Geschwindigkeit eine Restauration kapitalisti-
Funktion, Homogenität und Bewusstsein im gesellscha�lichen scher Verhältnisse. Gleichzeitig standen die etablierten kommunis-
und politischen Bereich herzustellen (GH 7: 1497). Obwohl für tischen Partein unter der Hegemonie der KPdSU und damit des
Gramsci Intellektuelle keine eigene Schicht oder Klasse darstel- Stalinismus. In Frankreich kamen weitere Momente hinzu. Die
len, ist der Bezug zur Produktion kein unmittelbarer, sondern in Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag der KPdSU traf bei der
unterschiedlichem Grad durch den Komplex der Superstrukturen KPF auf Widerstand und wurde lange verzögert. Gleichzeitig for-
vermittelt (GH 7: 1502). Die Beziehung zur Produktion ist struk- mulierte sie in Bezug auf die antikolonialen Kämpfe in Algerien
turiert nach der Funktion innerhalb der Superstruktur. Dabei un- keine klare Position. Die Stagnation der traditionellen Arbeite-
terscheidet Gramsci zwei Ebenen: rInnenbewegung traf somit auf der einen Seite auf nationale Be-
zum einen die Zivilgesellscha�, d.h. das Ensemble der gemeinhin freiungsbewegungen und einen aktivistischen Marxismus, der auf
privat genannter Organismen (hier wird Hegemonie organisiert) subjektives Handeln und revolutionäre Praxis setze, wie ihn zum
und zum anderen die der politischen Gesellscha� (hier wird direk- Bespiel Sartre vertrat. Die KPF öffnete sich erst spät in internen
te Herrscha� und Zwang über diejenigen ausgeübt, die weder aktiv Debatten mit einem Rückgriff auf den frühen und humanistischen
noch passiv zustimmen) (ebd.). Marx. Dies sollte der Einsatzpunkt für Althusser sein, der nicht wie
Mit dem Begriff des geschichtlichen Blocks versucht Gramsci Struk- andere Genossen der KPF „an die Lu� gesetzt“ wurde.9 Ohne die
tur, Superstruktur und Ideologie sowohl in ihrem Zusammenhang Geschichte der KPF und dem tief verankerten Stalinismus sind Al-

9 Das zeichnet ihn aber nicht gerade aus. Er beschränkte die Auseinan- Schüler dagegen, die die praktischen Konsequenzen zogen, brachen mit
dersetzung und Konfrontation meist auf das Gebiet der �eorie. Seine der KPF.

60
thussers Texte kaum zu verstehen. zählt Althusser zu den ISAs Parteien, Gewerkscha�en, Presse und
Althusser selbst hat dazu aufgefordert, seine Schri�en, die in einer kulturelle Institutionen. Einem repressiven Staatsapparat (RSA),
bestimmten „historischen Konjunktur entstanden“ und „Datum der im wesentlichen auf der Grundlage von Gewalt funktioniert,
und Stempel ihrer Geburt bis in ihre Variationen hinein“ tragen als stellt Althusser somit eine Vielzahl ideologischer Staatsapparate ge-
„philosophische Essays, deren Gegenstand theoretische Forschun- genüber, die auf der Grundlage von Ideologie funktionieren. Den
gen sind und deren Ziel es ist, in die existierende theoretisch-ideolo- Begriff der Hegemonie von Gramsci gibt Althusser zugunsten der
gische Situation einzugreifen, um gegengefährliche Tendenzen zu Ideologie auf, welche ihm zufolge aber nur in Form von Apparaten
reagieren“ zu lesen. “Es sind gleichzeitig Eingriffe in eine bestimmte und ihren Produktionsweisen existieren kann. Die scharfe Unter-
Lage“, also politische Eingriffe (Althusser 1965: 17, 11, 7).10 scheidung zwischen den Apparaten nimmt Althusser in soweit zu-
Althusser (1918 – 1990) ist wohl eher über den „Zeitgeist-Effekt“ rück, als dass er hervorhebt, dass es keine „reinen“ Apparate gebe,
bekannt, den er ab Anfang der 60er Jahre ausgelöste, als über sei- sondern die Unterscheidung auf der dominanten Funktionsweise
ne eigenen Schri�en. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU (1956) beruhe, also ob ein Apparat „in erster Linie“ (ebd.: 121) auf der
wendete sich Althusser gegen die allgemeine Tendenz Marx durch Grundlage von Gewalt oder Ideologie funktioniere. Weil es unter-
Hegel und den frühen und humanistischen Marx zu rehabilitieren. schiedliche Funktionsweisen sind, stehen sie miteinander im Kon-
Althusser setzte dagegen den Versuch, ohne alte Dogmen weiter �ikt und müssen hierarchisch organisiert sein.
zu konservieren, Marx mit Erkenntnissen aus Psychoanalyse und Die Trennung, die Gramsci noch in Hegelscher Manier zwischen
Strukturalismus erneut zu lesen.11 Dabei stand eine schulema- Staat und bürgerlicher Gesellscha� macht, nimmt Althusser in dem
chende Neulektüre des Kapitals im Mittelpunkt (Althusser 1977a; Sinne zurück, dass er betont, dass der Staat erst die Bedingung der
Althusser/Balibar 1972), sowie ideologie- und subjekttheoretische Möglichkeit ist, zwischen privaten und öffentlichen Institutionen
Arbeiten, die Gramscis Konzeption des Staates weiterentwickelte und Apparaten zu unterschieden. Weiter sei diese Unterscheidung
(Althusser 1977c).12 selbst eine bürgerliche, die dem bürgerlichen Recht innewohnt und
somit nicht unre�ektiert reproduziert werden sollte. Dies ermög-
I. Ideologie und ideologische Staatsapparate licht zugleich diese Grenze immer als umkämp�e zu denken.
Weiter ist es Althusser möglich, mit dem Begriff des Apparats die
In der „Anmerkung zu einer Untersuchung“, wie der programma- Differenz zu denken und nicht wie Gramsci einfach den Geltungs-
tische Aufsatz „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ von bereich des Staates ausdehnt. Für Althusser existiert keine substan-
Althusser unterschrieben ist, grei� Althusser die Ideen Gramscis tielle Verbindung zwischen den Apparaten, die damit den Staat
auf. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der (nicht nur) ideolo- ausmachen. Althusser denkt den Staat nicht wie Gramsci von sei-
gischen Reproduktion der kapitalistische Produktionsverhältnisse. ner Einheit – als integralen Staat – aus, sondern von der Differenz,
Wichtig ist ihm neben dem „Standpunkt der Reproduktion“ die d.h. von der eigenen Materialität und Funktionsweise der Appara-
relative Autonomie der Überbauten, zu dem in der marxistischen te. Das bedeutet zum einen, dass jeder ISA eine eigene Logik und
Orthodoxie auch der Staat gehört. Deshalb kann diese Schri�, wie Praxis hat und gleichzeitig die einzige Existenzform der Ideologie
viele andere bei Althusser als eine polit-theoretische Intervention darstellt. Die Funktion der ISA ist obligatorische Verhaltensweisen
bezeichnet werden: gegen den Ökonomismus und Dogmatismus hervorzubringen. Das konzipiert Althusser als Anrufung der Indi-
des kanonisierten Marxismus-Leninismus der westeuropäischen viduen als Subjekte. Mit der Anrufung durch die Apparate gibt es
KPs. Auch wenn er Gramsci für die Erweiterung des Staates als in- einen Subjekt-Effekt. Das Subjekt ‚ist’ indem es sich der Anrufung
tegralen Staat positiv hervorhebt, ist Althussers’ Konzeption mehr freiwillig unterwir� und den Ritualen etc. folgt. Gerade weil es sich
als eine Fortführung oder Präzisierung. als Subjekt glaubt, fühlt es sich als frei.
Nach Althusser ist es vor allem nötig, über die deskriptive Ebene des Auch die Parteien der ArbeiterInnenbewegung seien Moment der
Staates hinauszukommen. Die erste begriffliche Unterscheidung, ISA, aber hätten eine grundlegend andere Funktion: Die Ideologie
die er einführt ist die zwischen Staatsmacht und Staatsapparat der Arbeiterparteien rufen die Mitglieder als „Kämpfer-Subjekte“
(1977c: 117f.). Bei der Staatmacht gehe es im wesentlichen um den an (Althusser 1977b: 164). In der Partei werde die spontane Ideolo-
Besitz derselben. Auch wenn damit Ein�uss auf den Staatsapparat gie des Proletariats u.a. mit „objektiven Erkenntnissen“ verarbeitet
einher geht, ist dieser von der Macht relativ autonom. Ziel müs- (ebd.: 165). Die proletarische Ideologie „ist zwar eine Ideologie, denn
se daher immer die Zerschlagung des Apparats sein. Allerdings auf der Ebene der Massen funktioniert sie wie jede Ideologie (indem
kommt zu dem nach Althusser offensichtlich repressiven Moment sie die Subjekte anru�), aber sie ist gleichzeitig durchdrungen von
des Staatsapparats eine „andere Realität“ (ebd.: 119) des Staates: die historischer Erfahrung, die durch wissenscha�liche Prinzipien der
ideologischen Staatsapparate (ISA). Während der erste den Staats- Analyse erhellt werden“ (ebd.). Formal mag die Arbeiterpartei wie
chef, die Regierung und Verwaltung als Mittel der Exekutive, sowie alle anderen wirken. Real ist sie das nicht, weil sie anderen Spielre-
die Streitkrä�e, die Polizei, die Justiz, die Gerichte und ihre Organe geln folge (ebd.: 167). Gleichzeitig ist immer die Gefahr, die herr-
(Gefängnisse) umfasst, gehören Kirche, Schule, Familie und Justiz schenden Spielregeln zu übernehmen: „Das ‚Formale’ kann unter
zu den ideologischen Staatsapparaten, auch wenn ihr Funktion da- Einwirkung des Klassenkampfs also zum ‚Realen’ werden“ (ebd.).
rin weder aufgehen (Familie), noch allein auf Grundlage von Ideo-
logie, sondern auch von Repression funktionieren (Justiz). Weiter

10 Für eine detailliertere Auseinandersetzung zu den Hintergründen vgl. 12 Eine allgemeine Auseinandersetzung mit Althusser bietet der Sam-
Schoch (1980: 168ff., 190ff., 223ff., 242ff., 291ff.). melband von Böke et. al. (1994). Eine minutiöse Auseinandersetzung mit
11 Damit zogen Begriffe wie Überdetermination, Verschiebung, Verdich- seinen ideologie- und staatstheoretischen Überlegungen bietet Charim
tung und Instanzen in die theoretische Grammatik ein. (2002). Eine Einführung in die „Staatstheorie“ – auch bei Poulantzas
– bietet Müller et. al. (1994).

61
II. Krise des Marxismus Anfang der 60er Jahre kam der in Griechenland geborene Poulant-
zas (1936 – 1979) nach München, um zu promovieren. Wegen der
Während Althusser in IISA selbst von einer marxistischen Staats- dort noch sehr von nationalsozialistischen Ideen geprägten Atmos-
theorie spricht, tritt er im Rahmen einer Konferenz, die sich mit phäre siedelte er schon bald nach Paris über. War er zu dieser Zeit
der „Krise des Marxismus“ herumschlägt, die Flucht nach Vorne noch vom exististenzialistischen Marxismus Sartres geprägt, weil
an: dieser Handlung, Subjekt und soziale Auseinandersetzungen ins
Zentrum rückte, näherte er sich ab Mitte des Jahrzehnts den Po-
„Wir können es offen sagen: es gibt eigentlich keine tatsächliche sitionen Althussers an und entwickelt schließlich immer stärker ei-
‚marxistische Staatstheorie’“ (Althusser1978: 65). gene Positionen. Nach den Mairevolten von 1968 rezipierte er nicht
nur Schri�en, die die Frage von Massenbewegung und Kulturre-
Auch bei Gramsci sei es nicht mehr gewesen, als die Suche nach volution einbezogen, sondern beschä�igte sich auch mit anderen
Möglichkeiten zur Eroberung der Staatsmacht. Was war gesche- �eorien – vor allem mit den Arbeiten Foucaults.
hen? Die letzten Jahre drängte sich eine Diskussion um den Staat Im Gegensatz zu Althussers’ sind Poulantzas’ Arbeiten stärker von
geradezu auf. Der Staat war in den realsozialistischen Staaten alles strategische Fragestellungen durchzogen. Im Mittelpunkt stehen bei
andere als abgestorben und durch die Konfrontation mit dem sta- ihm immer wieder Klassenkämpfe in Bezug auf konkrete Staatlich-
linschen Erbe standen die kommunistischen Parteien – allen voran keit: im Faschismus, in Diktaturen oder in den parlamentarischen
die KPI und KPF – unter Legitimationsdruck. Nicht zuletzt auch Demokratien. Seine theoretische Anstrengung gilt vor allem letzte-
aufgrund der neuen sozialen Bewegungen, die die Form Partei als ren und der Frage nach einer adäquaten kommunistischen Praxis.
solche in Frage stellten. Die Frage nach Staat, Ideologie, Politik und Dies vor allem deshalb, weil er allen revolutionären Versuchen in
Organisation sei ein „toter Winkel“ (ebd.: 72) in der Marxschen Rechnung stellt, dass bürgerliche Freiheitsrechte beseitigt wurden
und marxistischen �eorie. Althusser kommt damit auf das theo- und diese für eine emanzipatorische Linke nicht leichtfertig zur
retische Programm von Marx zurück (s.o.): Disposition gestellt werden dür�en. Aber dieses Kriterium ist auch
für den Kampf in den westlichen Staaten deshalb wichtig, weil sei-
„Die Tatsache, dass der Staat bereits jetzt der Einsatzpunkt des [...] ner Meinung nach im Zuge der Herausbildung eines „autoritären
Klassenkampfes ist, bedeutet keineswegs, dass die Politik sich im Etatismus’ seit Mitte den 70er Jahren nicht nur Gesellscha�en zu-
Hinblick aus den Staat de�nieren kann. So wie Marx ‚Das Kapital’ nehmend durchstaatlicht werden, sondern sich die Macht von der
bewusst als ‚Kritik der Politischen Ökonomie’ konzipiert hat, müs- Legislative zur Exekutive verschiebe. Auch wenn er selbst eine Os-
sen wir dahin gelangen, das zu denken, was er nicht entwickelt hat: mose, eine viel ausgeprägtere Wechselbeziehung zwischen norma-
eine ‚Kritik der Politik’, wie sie von der Konzeption, der Ideologie len, demokratischen Elementen und den Ausnahme-Elementen der
und der Praxis der Bourgeoisie durchgesetzt wird.“ (ebd.: 73) staatlichen Funktionsweise konstatiert, lehnt er das �eorem der
‚Faschisierung’ für diesen Prozess ab (Poulantzas 1979: 129). Des
Der Staat sei damit keine abgetrennte Sphäre, sondern sei tief in weiteren sind bei Poulantzas die neuen soziale Bewegungen und die
die bürgerliche Gesellscha� eingedrungen: Geld, Recht, Ideologie, Krise der kommunistischen Parteien bereits viel stärker in der the-
repressive Apparate. Damit gehe aber die Gefahr einher, ökonomis- oretischen Ausarbeitung aufgearbeitet als bei Althusser. So ist ein
tischen und juristischen Illusionen aufzusitzen, die den Begriff der zentraler Vorwurf, dass die Konzeption der Organisationsform der
Politik verengen. Dafür seien politische Initiativen jenseits der Ar- Arbeiterparteien die Gesellscha� auf die Fabrik reduzieren würde
beiterbewegung wichtig, die das Verständnis von Politik erweitern (ebd.: 134). Poulantzas vollzog somit einen viel konsequenteren
(ebd.: 75). Gleichzeitig hält er aber an der Form der Partei und der Bruch mit dem immer noch verbreiteten marxistischen Dogmatis-
Zerschlagung des Staates fest, was nur mit der Unabhängigkeit der mus. Das lässt sich zum Beispiel auch an seiner Ablehnung zentraler
Partei vom Staat garantiert werden könne (ebd.: 76). Dabei kommt Begriffe wie Basis/Überbau oder „Diktatur des Proletariats“ able-
er Poulantzas (s.u.) schon recht nahe: sen.14 Während andere zeitgenössische �eoretiker noch versuch-
ten, die Begriffe durch eine inhaltliche Reformulierung zu retten,
„Die Zerschlagung des bürgerlichen Staates bedeutet nicht die Be- lehnt er sie als theoretische und politische Sackgassen ab.
seitigung jeder Spielregel, sondern die tiefgreifende Transformation
seiner Apparate, von denen einige beseitigt, andere neu geschaffen, Der Staat als materielle Verdichtung sozialer
aber alle revolutioniert werden“ (ebd.: 77). Krä�everhältnisse

4. Nicos Poulantzas – Staat als materielle Verdichtung sozialer Ausgangspunkt von Poulantzas’ Staatstheorie ist die Kritik an zwei
Krä�e grundlegenden und weit verbreiteten Vorstellungen: Der Staat als
Sache/Instrument und als Subjekt. Die letztere schreibt dem Staat
Während Althusser mit der Krise des Marxismus eine produktive eine eigene Rationalität zu oder konzipiert diesen als Träger und
Verarbeitung theoretischer De�zite erho�, hatte Nicos Poulantzas Durchsetzungsform der Vernun�. Damit glaubt Poulantzas nicht
(1936 – 1979) sich bereits daran gemacht, eine Staatstheorie aus- nur Hegel, sondern auch die Sozialdemokratie im Geiste von Las-
zuformulieren, die auf wesentliche Fragen eine Antwort darstellt salle, aber auch Max Weber im Sack zu haben. Eine größere Rolle
(Poulantzas 1978).13 spielen aber die Vorstellungen, die den Staat als neutrale Sache kon-

13 Poulantzas’ Staatstheorie war lange vergriffen und ist seit kurzem wie- 14 „Man kann nur gewinnen, wenn man dieser Konzeption (Basis/Über-
der in einer Neuau�age (2002) erhältlich. Eine kurze und dichte Einfüh- bau; IS) kein Vertrauen mehr schenkt; was mich betri�, so benutze ich
rung bietet Demirovic (1987). Wer sich grundlegend mit Poulantzas aus- sie bei der Analyse des Staates seit langem nicht mehr.“ (Poulantzas 1978:
einandersetzen will, kommt um das Buch von Jessop (1985) nicht herum. 14)

62
zipieren, deren Gebrauch nur vom Willen des Besitzers abhängig ermöglicht durch seine Abwesenheit die Konstitution einer auto-
ist. Der Staat kann somit theoretisch sowohl von der Bourgeoisie nom ökonomischen Sphäre. Dabei kommt der Politik gegenüber
als auch von der ArbeiterInnenklasse nach gut Dünken verwen- der Ökonomie ein Primat zu, da der Staat die zentrale Funktion
det werden. Diesem Kurzschluss entgeht Poulantzas, indem er des Kohäsionsfaktors zu erfüllen hat. Nur der kann die langfristige
im Anschluss an Althusser zwischen Staatsapparaten und Staats- Reproduktion der kapitalistischen Gesellscha� garantieren. Damit
macht unterscheidet. Der in materiellen Apparaten existierende sind die grundlegenden Widersprüche der kapitalistische Produk-
Staat könne nicht auf den Besitz der Staatsmacht reduziert werden. tionsweise und die Krisenha�igkeit nicht beseitigt, aber der Staat
Gleichzeitig lehnt er aber Althussers Vorstellung des Staatapparats stellt die Form dar, in der sich u.a. der zentrale Widerspruch von
als Festung ab: Kapital und Lohnarbeit bewegt. Die Beziehung zwischen Staat
und Ökonomie ist somit keine äußerliche und der Staat ist in allen
„Der Staat ist keine Festung, wie Althusser sagt, sondern die ‘ma- Kämpfen immer schon als Struktur anwesend.
teriell geronnene Gestalt der Krä�everhältnisse’ und er besitzt als Wie kann der Staat als Klassenstaat diese Funktion wahrnehmen?
solcher eine spezi�sche Substantialität.“ (Poulantzas 1979: 140) Hier kommt der Begriff der „relativen Autonomie“ ins Spiel. Der
Staat ist nach Poulantzas selbst das zentrales Feld (strategisches
Derart liest sich auch das zentrale �eorem von Poulantzas: Der Feld) der gesellscha�lichen Widersprüche. Er ist der „Ort“, an
kapitalistische Staat dürfe nicht begriffen werden dem von allen Klassen relativ unabhängig ein herrscha�sförmiges
Kompromissgleichgewicht organisiert wird. Dieser „Kompromiss“
„als ein sich selbstbegründendes Ganzes [...], sondern, wie auch das bezieht sich auf verschiedene Krä�e. Zum einen auf die zwischen
‚Kapital’, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung den Kapitalfraktionen selbst. Erst der Staat organisiert Poulantzas
eines Krä�everhältnisses zwischen Klassen und Klassen�aktionen, zufolge die Bourgeoisie als Klasse. Zuvor stehen sie in Konkurrenz
das sich im Staat immer in spezi�scher Form ausdrückt“ (Poulantzas zueinander. Diese stellt den Kompromiss auch ständig in Frage. Die
1978: 119). Widersprüche werden damit nicht bezeitigt, sonder erhalten eine
bestimmte Form. Diese Konstitution des Blocks an der Macht voll-
Der Staat ist somit ein Kampffeld, verkörpert in formierten Insti- zieht sich immer unter der Hegemonie einer Klassenfraktion. Je
tutionen. Lehnt Poulantzas die Vorstellung vom Staat als Instru- stärker die Widersprüche zwischen den Fraktionen ist, desto stär-
ment ab, dann darf er den Klassencharakter des Staates nicht über ker ist die Autonomie des Staates, die notwendig ist, den Kompro-
den Besitz der Staatsmacht erklären. Genauer: er muss ihn aus der miss zu organisieren. Aber nicht nur die Interessen der herrschen-
Struktur und der Materialität des Staates selbst erklären können, den Klasse sind Poulantzas zufolge im Staat präsent. Auch mit den
aus den eigenen Routinen und Formalstrukturen der staatlichen subalternen Klassen muss ein Kompromiss organisiert werden, der
Organisation. Gleichzeitig versucht Poulantzas dem Staat kein We- sich unter anderem in materiellen Zugeständnissen ausdrückt. Den
sen zuzuschreiben, sondern radikal aus der Immanenz von Macht- Subalternen gegenüber wirkt der Staat aber fragmentierend und
beziehungen zu erklären. Damit muss er das „strukturelles Gerüst“ spaltend. Zum einen organisiert der Staat den Ausschluss von den
des Staates erklären ohne gleichzeitig den Staat auf ein Krä�ever- Produktionsmitteln. Zum anderen setzt der Staat durch bestimmte
hältnis zu reduzieren (Poulantzas 1978: 121). Machttechniken – u.a. durch das Recht – ein Isolationseffekt frei
Nach Poulantzas ist dies mit der Ausdifferenzierung von Ökonomie und ru� den vereinzelten Einzelnen gleichzeitig als Nationalsubjek-
und Politik zu begründen, deren Ursache in den kapitalistischen te an und fasst sie über die Ideologie ‚Nation’ wieder zusammen.15
Produktionsverhältnissen und dem Ausschluss der Subalternen Die Kämpfe drücken sich aber nie unmittelbar im Staat aus. Die
von den Produktionsmitteln zu �nden ist, d.h. in den spezi�sch Vermittlung der Kämpfe denkt Poulantzas immer im Sinne einer
kapitalistischen Eigentums- und Besitzverhältnissen. In kapita- Repräsentation: etwas das vorhanden ist wird durch die Repräsen-
listischen Gesellscha�en bildet rechtlich garantierte Privateigen- tation politisch neu formatiert, d.h. modi�ziert, organisiert und
tumsverhältnisse und Konkurrenz unter den Marktteilnehmern damit erweitert.
die Voraussetzung für den über Geld vermittelte Warentausch, der Im Unterschied zur relativen Trennung von Staat und Ökonomie
die verallgemeinerte Form ökonomischen Interaktion darstellt. im Kapitalismus, ist die relative Autonomie gegenüber den Klassen
Arbeit ist zudem als Lohnarbeit organisiert, was die Existenz des ohne jede räumliche Dimension; sie ist keine gegenüber den Klassen,
doppelt ‚freien’ Lohnarbeiters voraussetzt: frei von Produktions- sondern „Resultat dessen, was sich im Staat abspielt“. (Poulantzas
mitteln, aber auch frei als Rechtsperson, die Verträge abschließen 1978: 125) Der Staat – sagt Poulantzas – ist kein „monolithischer
und ihre Arbeitskra� verkaufen kann. Damit sind direkte, persön- Block ohne Risse“ (ebd.: 122); er ist durch Klassenwidersprüche
liche Abhängigkeitsverhältnisse und die unmittelbare Anwendung gespalten, die Klassen sind in unterschiedlicher Weise in ihn ein-
der physischen Gewalt zur Organisation der gesellscha�lichen geschrieben. Und weiter:
Arbeitsteilung ausgeschlossen. Dies geht mit der Verrechtlichung
der Beziehungen und die Zentralisierung der Gewaltmittel bei ei- „Eine Veränderung des Krä�everhältnisses zwischen Klassen hat
ner vom System der Marktbeziehungen getrennten Instanz, dem sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie über-
Staat, als dem Garanten der Verträge und dem Monopolisten der trägt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der
legitimen Gewaltanwendung einher. Für Poulantzas ist dieser Zu- Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich
sammenhang immer eine wechselseitige Konstitution der beiden im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten
„Sphären“ oder wie Poulantzas es formuliert: der Staat ist durch entsprechender Form.“ (ebd.: 121)
seine Abwesenheit in der Ökonomie anwesend. Gerade der Staat

15 Die hier genannten „Formelemente“ des Staates sind ein paar von bei
Poulantzas vier angeführten Bespielen: Trennung von manueller und in-
tellektueller Arbeit, Individualisierung, Gesetz und Nation

63
Die unterschiedlichen Krä�e drücken somit auch in unterschied- sche Konstellation behandelt werden. So ist es geradezu erstaun-
lichem Gewicht und den Grenzlinien zwischen den Apparaten lich, dass weder Hardt und Negri (2002) noch Holloway (2002)
aus.16 auf Poulantzas eingehen, der als der erste und einzige gelten kann,
der versucht hat, eine Staatstheorie auszuformulieren. Holloway
Klassen und soziale Bewegungen versucht die Formen sozialer Verhältnisse, die im Kapitalismus als
Dingliche erscheinen, wie Geld, Waren oder den Staat in seinen
In allen bisherigen Ansätzen wurde der Staat im wesentlichen als Apparaten, vom Standpunkt der ständigen Herstellung zu denken.
Klassenstaat konzipiert. Aber bereits Althusser ist u.a. durch die Vom Begriff des Fetischs – der bei ihm ziemlich überzogen wird
Krise der KP und dem Au�ommen neuer sozialer Bewegungen - versucht er sich den Formen kritisch zu nähern. Staat ist bei ihm
gezwungen, weitere sozialen Krä�e wahrzunehmen. Auch hier ein Prozess der Formierung gesellscha�licher Verhältnisse, die die
ist Poulantzas mit seiner Kritik einen Schritt weiter. Er kritisiert, Reproduktion der kapitalistische Produktionsweise garantiert. Da-
dass die Arbeiterparteien organisatorisch derart aufgebaut sind, als mit entstehen zwei Sphären, die die gesellscha�lichen Kämpfe in
könne man die Gesellscha� auf die Fabrik reduzieren (Poulantzas getrennte und unterschiedliche Logiken der Bearbeitung kanalisie-
1979: 134). Demgegenüber hebt er in der Staatstheorie hervor, dass ren. „Der Staat ist ein Prozess der Staatswerdung gesellscha�lichen
die Klassenkämpfe kein Primat über den Staat hätten: Kon�ikts“ (ebd.: 114). Damit reproduziert aber jeder Kampf, der
sich auf die Eroberung der Staatsmacht oder überhaupt den Staat
„Die Machtbeziehungen erstrecken sich nicht ausschließlich auf als Orientierungspunkt (Stützpunkt) der Politik konzentriert, die
die Klassenbeziehungen, sie können ebenfalls über sie hinausgehen. Formen herrschender Politik. Die Differenzierungen, die Poulant-
Daraus folgt nicht, dass sie keinen Klassencharakter besäßen oder zas einführte, gehen mit dem Staat als monolithischer Block wieder
nichts mit politischer Herrscha� zu tun hätten, sondern dass sie verloren. Bei Hardt und Negri schlägt dagegen die Vorstellung des
nicht auf derselben Grundlage wie die gesellscha�liche Arbeitstei- Staats als Instrument immer dann durch, wenn das ‚Empire’ in sei-
lung in Klassen beruhen“. (Poulantzas 1978: 39f.) ner Durchsetzung Rückschläge erleiden muss. So verweist Negri im
Zusammenhang mit dem Irakkrieg auf die Interessen der „republi-
Explizit nennt er hier die Geschlechterverhältnisse, ohne jedoch im kanischen Gruppe“ um Bush. Auch stellen für ihn die globalen In-
weiteren genauer darauf einzugehen.17 Gleichzeitig betont er aber, stitutionen wie IWF und WTO einfach „Instrumente“ für TNCs
dass jede Macht immer einen Klassencharakter besitzt (ebd.: 40). dar (subtropen, Nr 23). Unabhängig davon, wie die �esen zu
Auch wenn er wie viele andere die Probleme erkennt, vor welche ‚Empire’ zu bewerten sind, sollten instrumentalistische Staatsvor-
die sozialen Bewegungen die politischen Parteien stellen, setzt er stellung, wie die seit Lenin tradiert werden, aus der theoretischen
nicht auf die Autonomie der Bewegungen. Gebe es keinen Moment Grammatik verbannt werden. Gerade hierfür können sich Diskus-
von politischer Verallgemeinerung, würde sich neokorporatistische sion umstaatstheoretische „Klassiker“ als nützlich erweisen.
Vorstellung breit machen und die Bewegungen wären schnell in der Aber auch die neuen Diskussionen um Foucaults Gouvernemen-
Sphäre des Staates eingeschlossen und für diesen eingespannt. talität sind recht geschichtsvergessen. Bei dem bereits erwähnten
Kongress, auf welchem Althusser seine �esen zur Krise des Mar-
„Ich halte es durchaus für notwendig, dass diese sozialen Bewe- xismus zur Diskussion stellte, also vor über 25 Jahren, wurde die
gungen eine reale Autonomie besitzen, aber zugleich müssen die Frage nach der Subjektivität eingeklagt.
Parteien der Linken in ihnen auf geeignete Weise präsent sein. Al-
lerdings macht gerade diese Forderung eine radikale Umwandelung „Die Vorstellung von der Macht als einer kompakten repressiven
eben dieser Parteien erforderlich, ob nun der sozialistischen oder Maschine ist ebenso unangemessen wie diejenige eine Raumes, den
der kommunistischen: in allen Punkten ihrer Strategie, in der Au- man besetzen, einnehmen oder mit dem Feind teilen kann. Diese
tonomie dieser Bewegungen viel mehr Raum zu lassen muss, ebenso Vorstellung treffen die heutigen Rationalitäten der Macht nicht, die
wie in ihren inneren Strukturen, die sich ganz erheblich demokra- weder eine reine Kontrollmaschine noch ein Raum ist, dem, an ein-
tisieren müssen, wie schließlich hinsichtlich ihrer Neigung zur ‘Arb fach besetzen kann, sondern ein engmaschiges Netz von Beziehun-
eitertümelei’(‘obrerismo’), die sie ganz einfach abstreifen müssen.“ gen, ein vielschichtiger Prozess, der tendenziell von der Kontrolle
(Poulantzas 1979: 135) zur Selbstkontrolle, zur Selbstregulierung und Selbstbeschränkung
der Subjekte übergeht, der sich aufgliedert und sich überall festsetzt
5. Ausblick und dabei immer mehr in die Individualität der Subjekte eingrei�.
So entstehen gesellscha�liche Beziehungen, in denen die Verhält-
Zusammenfassend ist festzustellen, dass materialistische Staatsthe- nisse von Wissen, die Kontrolle und Selbstkontrolle der Verhaltens-
orie kein kumulativer Erkenntnisprozess ist. Vielmehr wurde vor weisen immer mehr internalisiert und damit funktional zur Ratio-
dem Hintergrund konkreter Kämpfe und Verfasstheit kapitalisti- nalität der Macht werden.” (Rovatti 1979: 92f.)18
sche Produktionsweise Probleme emanzipatorischer Praxis bear-
beitet. Das bedeutet, dass zum einen die spezi�schen Erkenntnisse Für die weitere Debatte gilt also an vielen Punkten wieder anzuset-
nicht einfach verallgemeinert werden dürfen. Vielmehr sollten sie zen, an welchen die linke �eorieproduktion vor vielen Jahren ste-
in ihrer Besonderheit behandelt werden und immer nach ihren hen und stecken geblieben ist. Denn seit dem scheint sich nicht viel
Konstitutionsbedingungen und ihrer Verallgemeinerbarkeit hin bewegt zu haben. Aber vielleicht ist es auch wichtiger eine Form zu
befragt werden. Zum anderen sollten die verschiedenen Antworten �nden, in der die theoretischen Erfahrungen verarbeitet, vermittelt
nicht einfach als richtige Re�exionen für eine bestimmte histori- und weiter gegeben werden können.

16 Plastisch lässt sich zum Beispiel sagen, dass mit dem Übergang der He- 17 Hier setzen u.a. Demirovic/Pühl (1998) an.
gemonie des industriellen Kapitals zum Finanzkapital das Finanzministe- 18 Für den Versuch, Foucault für eine Staatstheorie fruchtbar zu machen
rium gegenüber dem Wirtscha�sministerium an Gewicht gewonnen hat. vgl. Jäger (1980) und Buci-Glucksmann (1982).

64
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Dieser Text ist eine erweiterte Fassung von: Ingo Stützle: Von Stel- kritik. (zusammen mit Ingo Elbe und Heide Gerstenberger)
lungs- und Bewegungskriegen – Kämpfe in und um den Staat, in: Podiumsdiskussion am Freitag den 29. Februar 2008 und Tagesse-
Fantomas, Nr. 5, 2004, S. 7-10, und wird hier dank der freundlichen minar am Samstag 1. März 2008
Genehmigung des Autors erneut veröffentlicht. Siehe:
http://www.rosa-luxemburg.com/?p=120
Ingo Stützle hat 2008 in Bremen be folgenden Veranstaltungen re- http://www.rosa-luxemburg.com/?p=121
feriert: http://associazione.wordpress.com/2008/08/01/staat-und-globa-
Staat und Globalisierung. Zur Aktualität materialistischer Staats- lisierung-zur-aktualitat-materialistischer-staatskritik/
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Birgit Sauer

Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle Debatten

1. Zum Zusammenhang von Staat und Demokratie. Eine ge- bruch des Staatssozialismus einen Konsens in der westlichen Welt,
schlechterkritische Einführung dass die liberale Demokratie zwar nicht optimal, aber doch die beste
Form sei, die Freiheit des Individuums zu garantieren. Andererseits
Die Kritik der Neuen Frauenbewegung entzündete sich in den sind Phänomene wie sinkende Wahlbeteiligung, fehlendes Vertrau-
1970er Jahren an der begrenzten Leistungsfähigkeit formaldemo- en in die politischen RepräsentantInnen und wachsende Unzufrie-
kratischer Institutionen für die Durchsetzung gleichberechtigter denheit mit der Leistungsfähigkeit (Performanz) demokratischer
Teilhabe von Männern und Frauen an allen gesellscha�lichen Res- Institutionen – die viel beklagte Politik- und Parteienverdrossen-
sourcen. Der Staat als “Hauptquartier” des Patriarchats und die heit – Indizien für ein Demokratiede�zit westlicher Staaten. Ein
Institutionen der “Realdemokratie” (Wolf-Dieter Narr) als Herr- gewachsener Beteiligungswille der BürgerInnen deutet aber darauf
scha�sinstitutionen, die Frauen marginalisierten und zu Klientin- hin, dass kein generell mangelndes Interesse an Politik existiert,
nen entmündigten. “Autonomie statt Institution” lautete deshalb sondern dass etablierte Politikformen verdrießlich machen. Ak-
das mobilisierende Motto der frühen bundesdeutschen Frauenbe- tuelle Demokratiekritik mündet deshalb in die Forderungen, die
wegung. Die “Er�ndung” feministischer Institutionen wurde im Re�exivität und Komplexität von politischen Entscheidungsver-
Bereich der Zivilgesellscha�, also jenseits etablierter politischer fahren zu erhöhen, um sowohl den gewachsenen Ansprüchen der
Institutionen wie Parteien und Gewerkscha�en, angesiedelt. Di- BürgerInnen nach Partizipation und Entscheidungsmacht gerecht
rekte politische “Einmischung” (Rossana Rossanda) und politische zu werden als auch die unterkomplexen Lösungen des Parteien-
Selbstvertretung in gleichberechtigten, nicht-hierarchischen Foren staats zu relativieren (Stichwort bürgerscha�liches Engagement;
galten als basisdemokratische Alternativen zur staatlichen Politik. vgl. Enquete-Kommission 2002).
Diese frauenbewegte Orientierung führte zu einer Art “Tabui- Die westlichen Demokratien geraten darüber hinaus durch inter-
sierung” des Staates und der “Formaldemokratie” in der deutsch- nationale Entwicklungen “unter Druck”. Aktuelle politische wie
sprachigen Frauenforschung, die in engem Zusammenhang mit auch politikwissenscha�liche Debatten um Staat und Demokratie
der frauenbewegten Praxis in den frühen 1980er Jahren entstand. zeichnen sich durch ein Vokabular des Übergangs, der politischen,
Untersuchungsfelder waren Arbeit, Familie, Bildung, Sozialisati- sozialen und ökonomischen Transformationen aus. Der Umbau
on und – zunächst vornehmlich in historischer Perspektive – das von Sozialstaatlichkeit und die Reduktion staatlicher Souveräni-
Recht (vgl. Gerhard 1981), nicht aber der Staat und demokratische tät im Zuge von Internationalisierung und Globalisierung legen
Institutionen. Zu Beginn der 1990er Jahre diagnostizierte deshalb die Vermutung nahe, dass sich die nationalstaatlich eingehegten
die Politologin Birgit Meyer (1992b: 63f.), dass der westdeutschen Verfahren und Legitimationsgrundlagen repräsentativer Demo-
Frauenforschung “eine feministische Demokratietheorie” feh- kratie grundlegend verändern. Die Transformation von (National-
le, ja dass das Verhältnis zwischen Feminismus und Demokratie )Staatlichkeit könnte einerseits eine Chance bieten, die nationale
“unhistorisch”, “herrscha�sdämonisierend”, “instrumentell” und Demokratie”erlahmung” auf internationaler Ebene zu beheben
“perspektivlos” sei. Schon einige Jahre zuvor hatte die kanadische (Stichwort “Global Governance”). Andererseits sehen SkeptikerIn-
Rechtswissenscha�lerin Catharine MacKinnon (1983: 635) mo- nen in der “Entgrenzung der Staatenwelt” und dem damit verbun-
niert, dass der Feminismus keine Staatstheorie habe. denen der Abbau sozialstaatlicher Sicherungen eine “Gefährdung
Diese Leerstellen der Frauenforschung erwiesen sich angesichts so- der Demokratie” (vgl. Brock 1998; Mahnkopf 1998).
zialer und politischer Veränderungen in den 1980er Jahren als pro- Die aktuellen Diskussionen um das vermeintliche “Ende” des
blematisch: Im Zuge der “partizipatorischen Revolution” durch die (National-)Staates (vgl. Held 1995: 95) lenken den politikwissen-
Neuen sozialen Bewegungen nahmen auch Frauen aktiv an Politik scha�lichen Blick unmittelbar auf den Zusammenhang von Staat
teil und wurden selbst in den Institutionen der Formaldemokratie und Demokratie. Dies ist aber in der Politikwissenscha� keine gän-
sichtbarer. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Teile der Frauenbewe- gige Sichtweise. Demokratie- und staatstheoretische Debatten der
gung seit Mitte der 1980er Jahre doppelstrategisch verfuhren und 1990er Jahre verliefen berührungslos parallel: Ulrich Rödel, Gün-
durch eine forcierte Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspo- ther Frankenberg und Helmuth Dubiel (1989) stießen am Ende
litik die staatlichen Institutionen für Frauen zu öffnen suchten. Seit der 1980er Jahre eine lebha�e demokratietheoretische Debatte im
Beginn der 1990er Jahren nahmen deshalb staats-, vor allem aber deutschsprachigen Raum an, doch der Staat war und ist kaum Ge-
demokratietheoretische Ansätze in der Geschlechterforschung eine genstand dieser Diskussionen. Dies liegt ohne Zweifel daran, dass
rasante Entwicklung (vgl. u.a. Young 1993; Phillips 1995; Yeatman die Politikwissenscha� die Kategorie Staat seit den 1970er Jahren
1996; Biester/Holland-Cunz/Sauer 1994, Holland-Cunz 1998; vernachlässigte und konzeptuell wenig entwickelte. Umgekehrt
Abels/Si� 1999; Squires 2001). In den aktuellen Diskussionen um aber ist die politikwissenscha�liche Rückkehr “des Staates” (vgl.
“Geschlechterdemokratie” (vgl. Weibblick 1997) manifestiert sich Almond 1988; Voigt 1993) seit den späten 1980er Jahren ebenso
dies in einer eigenen Begriffsbildung. wenig wie die Konzepte des Verhandlungs- und Netzwerkstaats
Demokratie ist heute freilich nicht nur bei Frauenforscherinnen mit demokratietheoretischen Überlegungen unterlegt.
“ins Gerede gekommen”. Einerseits gibt es nach dem Zusammen- Dieser Befund tri� auch auf die politikwissenscha�liche Ge-

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schlechterforschung zu: Die demokratietheoretische Orientierung geschlechtsblind wahrgenommenen Transformationen von (Nati-
an der Zivilgesellscha� blendete den Staat als Untersuchungs- und onal-)Staaten legen eine geschlechterkritische Auseinandersetzung
�eoriegegenstand aus. Kurzum: In dieser theoretischen Paralle- mit dem Staat nahe. Darüber hinaus hat eine Konzeptualisierung
laktion von Staats- und Demokratietheorien braucht es angesichts des Staates deshalb ihre feministische Berechtigung, weil es staat-
der nationalstaatlichen “Entbettung” von Demokratie eine wech- liche Frauen- und Gleichstellungspolitik zu evaluieren und im glo-
selseitige Konzeptualisierung. Denn die geschlechtssensible Arbeit balisierten Kontext zu überdenken gilt. Schließlich müssen auch
an der Kategorie “Staat” ist auch immer die Suche nach einer radi- internationale (Frauen-)Bewegungen jenseits der bipolaren Begriff-
kalen Staats- und Herrscha�skritik. lichkeiten Staat versus Zivilgesellscha� untersucht werden.
Ein geschlechtssensibles Staatskonzept sollte m.E. die paradoxe In-
2. Feministische Staatstheorien. Ein Überblick tegration von Frauen in den Staat erklären. Es sollte also einerseits
die Herrscha�lichkeit und die Maskulinität des Staates analytisch
Was ist nun “der” Staat? Wenn “Politik” einen Raum der Debatte verorten und andererseits seine “Frauenfreundlichkeit”, d.h. die
und gemeinsamen Handelns bezeichnet, so ist “Staat” der Raum Möglichkeiten des Staates zur Veränderung von Geschlechterver-
der verbindlichen Entscheidungen zur Aufrechterhaltung von ge- hältnissen, aufzeigen (vgl. Kulawik/Sauer 1996: 32f.). Ziel einer
sellscha�licher Ordnung. Der Staat ist dabei von anderen innen- feministischen Konzeptualisierung von Staatlichkeit ist es deshalb,
wie außenpolitischen Mächten vergleichsweise unabhängig (Souve- das “Geschlecht des Staates” sichtbar zu machen, d.h. die staat-
ränität). Der Staat ist zudem jene politische Gemeinscha�, in dem lich-institutionelle Hervorbringung von hierarchisierter Zweige-
die staatsbürgerlichen Rechte (Citizenship) realisiert werden kön- schlechtlichkeit zu analysieren, zu dekonstruieren und zu verän-
nen (vgl. Giddens 1985: 29). In der klassischen dreigliedrigen De�- dern.
nition ist der moderne (National-)Staat durch seine Territorialität,
sein Staatsgebiet, durch das Staatsvolk sowie durch die Staatsgewalt 2.1 Kurze Geschichte feministischer Staatsdebatten
bestimmt (vgl. für viele: Isensee 1985). Die Staatsgewalt ist die legi-
time Fähigkeit des Staates, Herrscha� über Menschen auszuüben. Die ersten soziologischen Analysen des “patriarchalen” Wohl-
Dazu sind dem Staat spezi�sche Mittel eigen – der Staatsapparat, fahrtsstaats im deutschsprachigen Raum widmeten sich in den
die Bürokratie, Gesetze, Geld und die BeamtInnen. Max Weber 1980er Jahren den Wirkungen sozialstaatlicher Maßnahmen (vgl.
(1980: 824) bezeichnete den Staat deshalb als einen “anstaltsmäßi- Kickbusch/Riedmüller 1984). Die geschlechterkritischen Revisi-
gen Herrscha�sverband”. Der Begriff “Staatlichkeit” hebt weniger onen des Politikfelds Sozialpolitik konnten zeigen, dass westliche
auf konkrete Formen wie National- oder Sozialstaat ab, sondern Sozialstaaten Wohlfahrt nicht geschlechtsneutral garantieren,
auf das Prinzip gesellscha�licher Ordnung und politischer Regu- sondern dass sozialstaatliche Leistungen die geschlechtsspezi�sche
lierung. Arbeitsteilung und mithin die soziale Ungleichheit zwischen Män-
Staatstheorien bieten weitere De�nitionen an (vgl. Held 1989; nern und Frauen zementieren. Der Wohlfahrtsstaat, eigentlich
Jänicke 1995): Der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel mit sozialen Ausgleichs- und Umverteilungsaufgaben betraut, hat
(1770-1831) de�nierte den Staat als “sittliche Idee”, Max Weber aktiv Anteil an der Perpetuierung der hierarchischen Geschlech-
bestimmte ihn nach seiner Struktur und Organisationsform (Bü- terordnung mit ihren ungleich verteilten Lebenschancen. Für diese
rokratie) (vgl. Weber 1980: 824f.). Der Staat wird darüber hinaus Frühphase der Frauenforschung lässt sich aber ein unterkomplexes
über seinen Zweck, z.B. als Rechts- und Sozialstaat, begriffen so- Staatskonzept diagnostizieren. Der Staat wurde als monolithischer
wie über seine Beziehung zur Gesellscha� – z.B. als Instrument Akteur mit einem deutlich ausmachbarem Interesse der Kontrol-
der herrschenden Klasse in den �eorien von Karl Marx (1818- le und Unterdrückung von Frauen gezeichnet (vgl. dazu kritisch
1883) und Friedrich Engels (1820-1895) oder als “gesellscha�li- Showstack Sassoon 1987: 17ff.).
ches Verhältnis” (Poulantzas 1978). Pluralistische Ansätze gehen �eoretisch unterfüttert wurde diese Staatssicht durch die Rezep-
in aller Regel von einem engen Staatsbegriff aus, der den Staat auf tion marxistischer Staatstheorien (vgl. Hartmann 1981). Der patri-
den bürokratischen Apparat bzw. auf die Regierung begrenzt (vgl. archale Staat habe die Funktion, kapitalistische Produktions- und
bspw. Evans/Rueschemeyer/Skocpol 1985). Sie fassen ihn zudem ungleiche Geschlechterverhältnisse aufrecht zu halten. Die “dual
als neutrale Instanz des gesellscha�lichen Interessenausgleichs system analysis” vertrat die �ese, der Staat müsse zwischen kapi-
und der Herstellung von Gemeinwohl, auch von Geschlechterge- talistischen und patriarchalen Interessen vermitteln und diese auf
rechtigkeit (vgl. z.B. Skocpol 1992) auf. Politikwissenscha�liche Kosten von Frauen durchsetzen (vgl. Eisenstein 1979). Die Ursache
Staatskonzepte beschreiben überdies die Genese und den Wandel patriarchaler Unterdrückung liege in der geschlechtsspezi�schen
des modernen Staates vom “Westfälischen Staat”, dem Idealtyp des Arbeitsteilung, die der Staat u.a. durch die patriarchal-kapitalisti-
Nationalstaates, über den “regulatorischen” Staat, den Sozialstaat sche Kleinfamilie garantiere (vgl. z.B. McIntosh 1978). Catharine
des 20. Jahrhunderts, hin zum “postmodernen” Staat, der dezent- MacKinnon griff am Ende der 1980er Jahre in ihren rechtswissen-
riert und entterritorialisiert die Form von “Governance” annimmt scha�lichen Arbeiten die marxistisch-feministische Perspektive
(Caporaso 1996: 34). auf und parallelisierte männliche und staatliche Herrscha�: “Male
Birgit Seemann (1996: 20) und Ursula Vogel (1998: 319) kon- Power is systemic. Coercive, legitimized, and epistemic, it is the re-
statierten noch in den 1990er Jahren, dass der Staat in feministi- gime” (MacKinnon 1989: 170).
schen Arbeiten eine “theoretische black-box” bzw. vergleichsweise Der liberal-feministische Strang feministischer Staatsanalysen
“unsichtbar” sei. Dennoch ist in der politikwissenscha�lichen der 1980er Jahre fokussierte demgegenüber zwar positiv auf den
Geschlechterforschung nicht unumstritten, ob es überhaupt einer Staat (vgl. Eisenstein 1981), basierte aber auch auf einem schlich-
Auseinandersetzung mit “dem” Staat bedarf, und ob nicht andere ten Staatsbegriff: Der Staat galt als neutraler Vermittler zwischen
Kategorien wie Regulierung, Bürokratie und Recht besser geeig- unterschiedlichen Interessen. Zwar sei der Staatsapparat von Män-
net seien, die Benachteiligung von Frauen in und durch den Staat nern besetzt gehalten, doch daraus wurde die Gegenstrategie gefol-
zu analysieren (vgl. z.B. Allen 1990: 22f.). Doch nicht zuletzt die gert: “Capture it back”. Die Öffnung staatlicher Institutionen für

67
Frauen wurde somit zu einer zentralen politischen Strategie, die aus auf einem “freien” Markt verkau� werden, sondern die Arbeiter er-
diesem Staatsansatz folgte. hielten garantierten staatlichen Schutz bei Unfall, Krankheit und
Im Unterschied zur (sozial-)staatskritischen Tradition der Frau- im Alter. Der schwedische Sozialwissenscha�ler Gösta Esping-An-
enforschung im deutschsprachigen Raum rückten angloamerika- dersen (1990) spricht deshalb von der “Dekommodi�zierung” der
nische und skandinavische Wissenscha�lerinnen (vgl. u.a. Hernes Arbeitskra�. Der sogenannte wohlfahrtsstaatliche Kompromiss
1987; Siim 1991; Franzway/Court/Connell 1989) die frauen- zwischen Arbeiterparteien, Gewerkscha�en, Arbeitgebern und
fördernden Aspekte wohlfahrtsstaatlicher Politik in den Vorder- staatlicher Administration sollte so den “Klassenkon�ikt”, nicht
grund. Anette Borchorst und Birte Siim (1987) konstatieren in aber den Geschlechterkon�ikt befrieden. Vom männlichen Fami-
ihrer Analyse des dänischen und schwedischen Sozialstaats eine lienernährer (“male breadwinner”) blieben nämlich alle anderen
Schwächung des “Familienpatriarchats” bei gleichzeitiger Stärkung Familienangehörigen abhängig; Ehefrauen besaßen nur abgelei-
des “öffentlichen Patriarchats”. Zwar geraten Frauen dadurch ten- tete soziale (anfänglich sogar politische) Rechte und Ansprüche.
denziell in Abhängigkeit von staatlichen Institutionen, doch sei Weibliche Lebenssituationen, d.h. Reproduktions- und “Care”-
diese öffentliche Abhängigkeit leichter politisier- und damit über- Arbeit, blieben aus sozialpolitischen Regulierungen zunächst aus-
windbar als die persönliche. “Starke” Sozialstaaten wie die skandi- geschlossen, weil Sozialpolitik nur an der Lohnarbeit ausgerichtet
navischen seien “frauenfreundlicher” als “schwache” Sozialstaaten, war. Erst später wurden die “Risiken” des weiblichen Lebens wie
da eine eigenständige soziale Sicherung von Frauen nicht nur die Mutterscha� sozialstaatlich abgesichert; freilich auch weiterhin im
soziale Gleichheit zwischen den Geschlechtern fördere, sondern Vergleich zur Erwerbsarbeit nur suboptimal.
Frauen auch die Chance eröffne, an der politischen De�nition und Die offensichtlichen Unterschiede zwischen den Sozialstaaten
Lösung von Problemen zu partizipieren, also den Staat zu gestalten wurden in der Geschlechterforschung der 1990er Jahre nicht nur
und zu verändern. als “frauenfeindlich” oder “-freundlich” konstatiert, sondern selbst
Die politikwissenscha�liche Frauenforschung hat die Geschlecht- zum Untersuchungsproblem gemacht. In kritischer Auseinander-
lichkeit des Staates auf den folgenden fünf Ebenen thematisiert: setzung mit Esping-Andersens (1990) Konzept des “Wohlfahrtska-
pitalismus” gerieten die institutionellen Arrangements und die Ak-
- Erstens wies Carole Pateman (1988) darauf hin, dass die liberale teure wohlfahrtsstaatlicher Regulierungen in den Blick (vgl. z.B.
Idee des Staates, seine Entstehung aus einem Gesellscha�svertrag, Orloff 1993): Wohlfahrtsregime – d.h. die Regulierungsmuster
nur die halbe Wahrheit ist. Dem Gesellscha�svertrag liege ein ver- des Verhältnisses von Markt, Staat und Familie – sind eingebettet
heimlichter Geschlechtervertrag zugrunde, der Frauen aus dem in länderspezi�sche Geschlechterregime, also die geschlechtsspezi-
Staatswesen ausschließt. Gabriele Wilde (2001: 122) prägte für �sche Arbeitsteilung, die Organisation der Kinderbetreuung oder
dieses ambivalente Konstrukt den Begriff der “Geschlechtsbürge- die Rolle von Frauen(-bewegungen) im politischen System. Westli-
rin”. che Sozialstaaten lassen sich dann beispielsweise in “schwache” Er-
- Zweitens wurde der Staat als Rechtssystem kritisch ins Visier ge- nährermodelle (Skandinavien), in “modi�zierte” (Frankreich) oder
nommen (vgl. Baer/Berghahn 1996; Berghahn 1993, 1997, 1999; “starke” (Deutschland, Österreich) (Langan/Ostner 1991: 306ff.)
Berghahn/Wilde 1996; Gerhard 1981, 1990). bzw. in ernährerzentrierte und in universalistische, d.h. auf indivi-
- Drittens gibt es eine Gruppe von Arbeiten über die Genese mo- dueller Staatsbürgerscha� basierende Modelle unterscheiden (vgl.
derner Nationalstaaten, die nachweisen, dass die damit verknüp�e Sainsbury 1996: 4).
“Universalisierung” von Staatsbürgerscha� partikular, d.h. männ-
liche Projekte und Projektionen, und das staatliche Gewaltmono- 2.3 Der Mythos vom staatlichen Gewaltmonopol
pol ein schierer Mythos waren (vgl. Rumpf 1995).
- Viertens betreffen staatliche Policies Frauen und Männer in un- Nationalstaaten zogen nicht nur Grenzen an ihren territorialen
terschiedlicher Weise. Politiken wirken wie geschlechtsselektive Rändern und exkludierten andere Ethnien von der Staatsbürger-
Filter. scha�; Grenzziehungen verliefen auch quer durch das Staatsvolk
- Fün�ens schließlich verweist die Geschlechtlichkeit des Staates selbst: Frauen waren zwar Staatsangehörige, fundamentale staats-
auf die Eingeschlechtlichkeit des Staatsapparates, auf die “männer- bürgerscha�liche Rechte wurden aber als Männerrechte fest ge-
bündische” Verfasstheit staatlicher Bürokratie (vgl. Kreisky 1994, schrieben (vgl. Lister 1997). Zum politischen Vollbürger und Wahl-
1995 a und b). Im folgenden sollen die elaboriertesten feministi- berechtigten taugten nur “Waffenfähige”, sprich Männer. Darüber
schen Konzeptualisierungen des Staates – Sozialstaat, Gewaltstaat, hinaus blieb das Zentralprojekt des modernen Staates – nämlich
Männerbund und Geschlechterverhältnis – skizziert werden, um die Monopolisierung der physischen Gewalt – geschlechtsspezi-
die Entwicklung und Kontroversen der geschlechtssensiblen Staats- �sch “unvollendet”. Das staatliche Gewaltmonopol ließ private
debatte zu vertiefen. männliche Gewaltoligopole be- bzw. entstehen. Moderne Staat-
lichkeit lässt sich in historischer Perspektive als ein geschlechts-
2.2 Die vergleichende feministische Wohlfahrtsstaatsdebatte spezi�sches Gewaltverhältnis begreifen. Der Staat delegierte nicht
nur die Verfügungsgewalt, sondern auch das Recht auf physische
Vergleichende feministische Wohlfahrtsstaatsanalysen der 1990er Gewaltanwendung gegenüber Familienangehörigen an den “Pater
Jahre (vgl. u.a. Kulawik 1999) richteten den Blick weniger auf die familias”, so dass Gewalt in der Familie bis in die jüngsten Jahre
Effekte von Sozialstaaten als auf ihre Funktionsweisen, ihre ge- eine staatlich tolerierte Gewaltform blieb. Die Soziologin Mecht-
schlechtsspezi�schen institutionellen Settings und politischen hild Rumpf (1995: 235) spricht deshalb vom “Mythos des staatli-
Aushandlungsprozesse. Die Gemeinsamkeit und Patriarchalität der chen Gewaltmonopols”.
Wohlfahrtsstaaten liegt in ihrer Erwerbszentrierung begründet. Wie kam es dazu? Die Idee staatlicher Souveränität war in Europa
Alle Sozialstaaten sind historisch zur Absicherung männlicher, or- seit dem 18. Jahrhundert unmittelbar mit der Idee des Gewaltmo-
ganisierbarer Interessen zum Schutz vor den Risiken der Erwerbs- nopols verbunden. Die Staatsbildungsprozesse waren kriegerische
arbeit entstanden. Die Arbeitskra� musste nicht mehr als “Ware” Abgrenzungsprozesse nach außen und Prozesse gewaltsamer Zen-

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tralisierung nach innen (vgl. Weber 1993: 6f.). Das Ergebnis dieses Bürokratische Institutionen, so ein gemeinsamer Nenner solcher
Zentralisierungsprozesses der Gewalt sollte Gewaltverzicht bzw. Konzeptualisierungen (vgl. Ferguson 1984; Kanter 1993; Pringle
Gewaltminimierung nach innen sein. Der Staat transformierte 1992), produzieren eine institutioneninterne, aber auch eine -ex-
Gewalt in Recht und versprach Sicherheit und “inneren Frieden” terne geschlechtliche Arbeitsteilung. Die unteren Ränge in Büro-
(�omas Hobbes). Doch das staatliche Gewaltmonopol entstand kratien sind “feminisiert”, d.h. mit Frauen besetzt und machtlos,
nicht nur in Auseinandersetzung mit den “Soldatenbanden”, son- die Führungsebenen sind hingegen “maskulinisiert”, d.h. von Män-
dern auch mit den “Haushalten” (Weber 1993: 6f.). Einerseits nern besetzt und “machtvoll”. So entsteht ein doppeltes System un-
bündelte der moderne Staat die Gewalt der “Soldatenbanden” und gleicher Geschlechterrepräsentation: Frauenbelange sind margina-
band sie an sich, andererseits dezentralisierte er Gewalt und dele- lisiert, und Frauen werden innerhalb staatlicher Bürokratien eher
gierte sie an die Hausväter. Damit war staatliche Stabilität doppelt dem reproduktiven Sektor zugeschrieben. “Frauenressorts” sind
abgesichert (vgl. Benhabib/Nicholson 1987): Das seiner Gewalt in peripher, “Männerressorts” sind zentral. Die männliche Struktur
der öffentlichen Sphäre enteignete männliche Subjekt erhielt von staatlicher Institutionen entsteht weiterhin aus der Kombination
der Amtsgewalt Verfügungs- und physische Gewalt im Privatbe- eines versachlichten, vermeintlich ent-emotionalisierten Regelsys-
reich übertragen (Rumpf 1994). So aber legitimierte der souveräne tems, des Senioritätsprinzips, persönlicher Netzwerke von Män-
Staat die Unsicherheit männlicher Gewaltoligopole. nern sowie eines spezi�schen “Denkstils” (Douglas 1991).
Der moderne entpersonalisierte Staat führte mithin das Projekt Das Konzept Männerbund im deutschsprachigen Raum zu einer
männlicher Dominanz und weiblicher Abhängigkeit fort und ließ politikwissenscha�lich brauchbaren Analysekategorie gemacht
männliche Herrscha� und Verfügungs”gewalt” über familiarisierte zu haben, ist das Verdienst Eva Kreiskys (vgl. 1994, 1995a und b).
Personen als sein Organisationsprinzip bestehen. Das Geschlech- Ihr reformulierter Männerbundbegriff will über ein “positionales”
terverhältnis blieb ein persönliches Herrscha�s-, Unterordnungs- Männlichkeitsverständnis hinaus staatlich-institutionellen Masku-
und Gewaltverhältnis. Zweigeschlechtlichkeit stellt somit einer- linismus als Organisationsstruktur konzeptualisieren. Der Begriff
seits die staatliche Illusion von Souveränität und Sicherheit her, zielt analytisch auf die im Staatsapparat historisch eingeschriebene
sie produziert aber andererseits Unsicherheit qua Geschlecht und “Männlichkeit als System” (Kreisky 1995a: 215): “Die staatlichen
entzieht familiarisierte Personen staatlicher Fürsorge und staatli- Institutionen sind also ihrer Provenienz nach nichts anderes als se-
chem Schutz. dimentierte männliche Interessen und Lebenserfahrungen.” (ebd.;
Auch der Rechtsstaat, der den Schutz des Individuums vor dem Hervorhebung im Original) Das “Bündische” moderner Staaten
Staat und seinen Organen ins Recht setzt, führte diese Tradition bzw. Demokratien bestehe nicht mehr in einer verschworenen
fort. Er ließ “staatsfreie” Zonen der Unsicherheit und Gewalt in je- Gemeinscha�, sondern im gemeinsamen Bezug auf hegemoniale
nem Raum bestehen, aus dem er sich vermeintlich zurückzog – der Männlichkeit (zum Begriff Connell 1996). Methodisch folgt aus
Privatheit der Familie. Die geschlechtsspezi�sche familiäre “Sicher- dem Männerbund-Ansatz eine “feministische Institutionenar-
heitslücke” wurde systematisch zum Passepartout für die politische chäologie”, die die “camou�ierte(n) Schichten männerbündischer
Reproduktion geschlechtsspezi�scher Herrscha�sverhältnisse, Strukturen” ins Bewusstsein hebt (Kreisky 1995b: 89).
denn der liberale Rechtsstaat verwehrte Frauen zunächst den Zu- Problematisch ist das Männerbundkonzept, das vielfach rezipiert,
gang zu demokratischer Partizipation und Selbstbestimmung; dies aber auch missinterpretiert wurde, dort, wo es davon ausgeht, dass
ist als eine notwendige Bedingung für Sicherheit und Schutz vor es jenseits des Politischen entstandene Interessen und gelebte Er-
Gewalt zu verstehen. fahrungen (von Männern) gibt, die sich dann im Staat “nieder-
schlagen”. Hier besteht die Gefahr essentialistischer Reduktion,
2.4 Der Staat als “Männerbund” der aber durch eine diskursive Erweiterung, d.h. durch das Konzept
der gegenseitigen Hervorbringung von Geschlecht, Staat und Insti-
Das Problem, wie denn die “Männlichkeit” des Staates konzep- tutionen, begegnet werden kann. Dies soll im folgenden Abschnitt
tuell zu fassen sei, ist bei weitem noch nicht erschöpfend geklärt. erläutert werden.
Die politikwissenscha�liche Geschlechterforschung hat auf der
Grundlage von Bürokratieforschung und Organisationssoziologie 2.5 Die Entstehung des Staates aus den Geschlechterverhält-
in der vergangenen Dekade das Verhältnis von Staat, Bürokratie nissen
und Männlichkeit präzisiert. Die “Männlichkeit” von staatlichen
Institutionen kann auf drei Ebenen bestimmt werden: Erstens als Der Staat der Jahrtausendwende ist widersprüchlicher geworden,
“positionale” (Lovenduski 1996: 5) bzw. “nominale” Männlichkeit seine hierarchische Zweigeschlechtlichkeit hat sich ausdifferen-
(Witz/Savage 1992: 37), als eine an den Männerquoten in staat- ziert. Deshalb sind totalisierende Konzepte von “den” staatlichen
lichen Institutionen, also am biologischen Geschlecht orientierte Institutionen – beispielsweise in Gegenüberstellung zur zivilgesell-
Größe. Die “Staats-Männlichkeit” aber allein an der “Bemannt- scha�lichen “Autonomie” – oder von “dem” patriarchalen Staat in
heit” des Staatsapparats festzumachen, wäre eine biologistische ihrem Erklärungs- und Analysepotenzial fragwürdig. Der Staat
Engführung. Deshalb wird “Staats-Männlichkeit” zweitens als kann folglich nicht mehr als “geschä�sführender Ausschuss” (Karl
eine Input- und Output-bezogenen “Policy-Geschlechtlichkeit” Marx/Friedrich Engels) der Männer, also nicht mehr als eine mo-
(Lovenduski 1996: 5) gefasst; Policies nehmen – wie die Sozial- nolithische Einrichtung begriffen werden, sondern muss als die
staatsanalyse zeigt –, spezi�sche Interessen auf, schmettern andere Verdichtung von sozialen Widersprüchen, auch des Geschlechter-
aber ab oder dethematisieren sie. Drittens ist davon eine “organi- widerspruchs, konzeptualisiert werden (vgl. Sauer 2001). Mit dem
sationelle” (ebd.) bzw. “substantielle Männlichkeit” (Witz/Savage von Poulantzas (1978) übernommenen Bild der “Verdichtung” soll
1992: 37) zu unterscheiden. Diese bezeichnet die Tatsache männ- deutlich werden, dass der Staat weder ein kohärenter Agent einer
lich de�nierter Regeln, Werte, Normen und Strukturen innerhalb spezi�schen gesellscha�lichen Gruppe – der Männer beispielswei-
staatlicher Institutionen. Was ist nun unter organisationeller oder se –, noch mit patriarchaler Intentionalität – Kontrolle von Frauen
“versachlichter” Männlichkeit (Sauer 2001: 54) zu verstehen? – ausgestattet ist (vgl. Pringle/Watson 1990). Er ist vielmehr eine

69
Arena politischer Praxen und Diskurse – also der (kollektiven) 3. Demokratie oder Androkratie? 1 Ansätze feministischer
Aktivität von Menschen (vgl. Watson 1990: 112; Demirovic/Pühl Demokratietheorie
1998).
Wenn der Staat eine vorgängige Geschlechterstruktur nicht ein- Sowohl liberale, aber auch radikale, partizipatorische oder sozia-
fach re�ektiert, sondern das Ergebnis “mächtiger” Netzwerke ist listische Demokratietheorien begreifen Geschlecht nicht als poli-
(Waylen: 1998: 7), dann ist er ein gegenüber Geschlechterverhält- tische Strukturkategorie. Sie perpetuieren damit aber die politische
nissen relativ autonomer Akteur, der eigene Interessen und Stra- Marginalisierung von Frauen, weil beispielsweise der “Demos”, das
tegien verfolgen kann, die patriarchalen Verhältnissen durchaus Volk, unbewusst noch immer männlich imaginiert werden kann.
widersprechen können. “Die Entstehung des Staates aus den Ge- – Der Begriff “Androkratie” (= Männerherrscha�) soll diese un-
schlechterverhältnissen” ist mithin staatstheoretisches Programm terschwellige Männerzentriertheit der Demokratie (= Volksherr-
(vgl. ausführlich Sauer 2001: 155ff.): Staatlichkeit entsteht aus Ge- scha�) zum Ausdruck bringen. Feministische Demokratietheorie
schlechterverhältnissen, und Zweigeschlechtlichkeit wird in unter- versteht sich deshalb als transformative �eorie, die auf die Verän-
schiedlichen Arenen und mit unterschiedlichen Mitteln im und derung tradierter androzentrischer Politikformen abzielt und beide
durch den Staat hervor gebracht. Anders gesagt: Geschlechter(un Geschlechter in Demokratietheorien einschreiben will.
)gleichheit im und durch den Staat ist das Ergebnis von Auseinan- Wer eine feministische Großtheorie der Demokratie erwartet, wird
dersetzungen zwischen sozialen Gruppen, von Männern und Frau- enttäuscht. Inzwischen existieren eine Vielzahl von Konzepten, die
en, also von sozialer Praxis. Staatlichkeit als Praxis von Menschen in der Kritik der “Androkratie” ähnliche Einschätzungen teilen, in
zu fassen, macht darüber hinaus deutlich, dass der Staat von den der Perspektivierung einer demokratischen geschlechtersensiblen
Menschen “gelebt” werden muss. Sein Ordnungsprinzip und Herr- Strategie und Alternative allerdings erheblich differieren. 2 Folgt
scha�sanspruch müssen den BürgerInnen selbstverständlich sein, man der Systematisierung Manfred G. Schmidts (1996: 189), las-
sie müssen in den Köpfen und Körpern sitzen – sonst kann Staat- sen sich standpunkt¬theoretische, diskursorientierte, differenz-
lichkeit nicht funktionieren. Gerade diese Perspektive birgt auch bezogene und republikanische feministische Demokratieansätze
die Möglichkeit, die Praxis der Veränderung ungleicher Staats- und 3 am ehesten den partizipativen Demokratietheorien zurechnen.
Geschlechterverhältnisse zu denken. Sie beleuchten Probleme des politischen Inputs – beispielsweise die
Neuere geschlechtssensible Ansätze fassen Staatlichkeit auch als Voraussetzungen für die Entwicklung zur Citoyenne oder die Er-
einen Diskurs: Wendy Brown (1992: 14, 17ff.) unterscheidet vier möglichung gleichberechtigter Partizipation und herrscha�sfreier
staatliche Machtdiskurse, die die Geschlechtlichkeit des Staates öffentlicher Debatte. Doch feministische Demokratietheorien
ausmachen: die liberal-rechtliche Dimension, die kapitalistische zielen nicht nur auf den partizipativen Aspekt, sondern verknüp-
Dimension, die prärogative, d.h. die Gewaltdimension und die fen Input-Aspekte mit dem institutionellen Setting politischer
bürokratische Dimension. Auch nach Nancy Fraser (1994: 240, Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse sowie dem Output,
268f.) ist der Staat in diskursiven Kämpfen bestrebt, “dialogische, der Leistungsfähigkeit, z.B. der “Frauenfreundlichkeit”, politi-
partizipatorische Prozesse der Bedürfnisinterpretation” durch scher Organe. Feministische Demokratietheorie leistet also einen
“monologische, administrative Prozesse” zu ersetzen und die All- Beitrag zur “re�exiven Wendung” der Demokratietheorie, indem
tagsbedürfnisse der BürgerInnen in administrative, juristische und sie den Zusammenhang von zivilgesellscha�licher und staatlicher
therapeutische Diskurse zu transformieren (ebd.: 224f.). Hegemo- Willensbildung zum Fokus ihrer Demokratisierungsüberlegungen
niale Staatsdiskurse präferieren im Kapitalismus beispielsweise macht (Schmalz-Bruns 1995). – Im folgenden möchte ich ausge-
männliche Lebensentwürfe – oder besser: Sie “normalisieren” er- wählte Aspekte feministischer Demokratietheorien skizzieren.
werbszentrierte Biographien und bevorzugen damit die erwerbsar-
beitende Gruppe von Menschen – im Gegensatz zu nicht-erwerbs- 3.1 Gleichheit und/oder Differenz
tätigen Menschen. Sie kreieren damit weibliche “Subjekte”: Frauen
werden nicht als Individuen, sondern im Kontext von Beziehun- Ausgangs- und Zielpunkt feministischer Demokratietheorie ist
gen – als Prostituierte, Ehefrauen, Mütter, Witwen und Töchter, das Problem, wie die Geschlechterdifferenz, also die sozial herge-
als Gefährtinnen – de�niert. Staat und Geschlecht sind also sich stellte Unterschiedlichkeit von Erfahrungen, Identitäten und In-
gegenseitig konstituierende Diskurse und Praxen. Staatlichkeit teressen, politisch sichtbar und repräsentierbar gemacht werden
zeichnet sich durch die Macht aus, Phänomene zu vergeschlecht- kann, ohne dass der Anspruch der Gleichheit preisgegeben wird.
lichen – und zwar in explizit geschlechtlicher oder in geschlechts- Differenz soll also nicht in Ungleichheit und politische Benach-
neutraler Weise. teiligung umschlagen (vgl. Maihofer 1998). Politische Differenz
meint in Demokratietheorien somit keine Zuschreibung, sondern
bildet ein Erkenntnisinstrument, um den männlichen Partikula-
rismus vermeintlicher Universalität sowie die Verengung und die
Abstraktheit eines entsexualisierten Individualismus sichtbar zu

1 Vgl. den Titel des von Elke Biester, Barbara Holland-Cunz und mir 3 Ohne auf Vollständigkeit bedacht zu sein, sind damit die wichtigsten An-
edierten Bandes über feministische Demokratietheorie (vgl. Biester/Hol- sätze benannt: Standpunkttheoretische Ansätze gehen von erfahrungsbe-
land-Cunz/Sauer 1994). dingten unterschiedlichen politischen Werten von Frauen und Männern
2 Eva-Maria Kenngott (1995) differenziert beispielsweise in standpunkt- aus, diskurstheoretische Konzepte orientieren sich an der Habermas’schen
theoretische Zugänge und in republikanische Modelle. Beate Rössler �eorie kommunikativer Öffentlichkeit, differenzbezogene Ansätze ste-
trennt die beiden grundsätzlich unterschiedlichen feministischen Strate- hen in postmoderner Tradition, während republikanische Ansätze sich
gien der “Gruppenrepräsentation” Iris Marion Youngs und gleicher demo- auf die Vorstellung einer distinkten Sphäre des Politischen berufen.
kratischer Partizipation von Anne Phillips (vgl. Rössler 1996: 281).

70
machen (vgl. Benhabib 1996: 5). Unter dem unschuldigen Rub- 3.2 StaatsbürgerInnenscha� und Citizenship
rum der “Geschlechtsneutralität” und des Universalismus wurde
Männlichkeit in der Moderne nämlich als eine zentrale politische “Citizenship”, der treffendere englische Begriff für den staatsbezo-
Form festgelegt (vgl. Phillips 1991: 5). Die Ignoranz gegenüber genen StaatsbürgerInnenscha�s-Begriff, bezeichnet zunächst den
dieser Art der Geschlechterdifferenz führt aber in einer hier- Status politischer Mitgliedscha� in einem Gemeinwesen sowie
archisierten zweigeschlechtlichen Gesellscha� zur politischen die daraus ableitbaren Rechte und Chancen, diese Rechte aktiv in
Unterrepräsentation und Benachteiligung von Frauen. Die Vor- Anspruch zu nehmen. Politikwissenscha�liche Geschlechterfor-
stellung des politischen Individuums “ohne Eigenscha�en” im- schung fragt nach den Ursachen dafür, weshalb Frauen trotz formal
pliziert beispielsweise eine vereinheitlichende Idee menschlicher gleicher politischer Rechte nur einen marginalisierten staatsbürger-
Bedürfnisse und Interessen, die in Wirklichkeit an der männli- lichen Status besitzen. Frauen können ihre politischen Rechte – wie
chen Lebens- und Arbeitsrealität orientiert sind. Dieser Univer- beispielsweise das aktive und passive Wahlrecht, politische Interes-
salisierungsmechanismus marginalisiert Gruppen, die nicht einer senformulierung und -bündelung sowie Teilnahme am politischen
implizit angenommenen männlichen Norm entsprechen. Entscheidungsprozess – nicht im gleichen Maße wie Männer rea-
Der Differenzgedanke verknüp� also politische mit sozialer lisieren. Dafür gibt es mehrere Ursachen: Erstens wirken die Zu-
Gleichheit: Nur wenn Frauen den Männern nicht gleich gemacht ständigkeit für Reproduktionsarbeiten und das dadurch reduzierte
werden, wenn beispielsweise die geschlechtsspezi�sche Arbeits- Zeitbudget als mächtige Barrieren politischen Engagements. Social
teilung politische Bedeutsamkeit und Relevanz erhält – so wie Citizenship als Bedingung politischer Partizipation wird Frauen
die Differenz zwischen Kapital und Arbeit in sozialstaatlichen nur reduziert gewährt. Zweitens sind neben der geschlechtsspezi-
Regulierungsformen “politisch” wurde –, ist die Voraussetzung �schen Arbeitsteilung auch die Arbeitsbedingungen im Berufsfeld
auch für politische Gleichheit von Männern und Frauen gegeben Politik mit der Lebensplanung von Frauen nicht kompatibel. Drit-
(vgl. Rowbotham 1986: 80f.). tens sind es schließlich die Strukturen von Parteien, die politisches
Feministische Demokratietheorien begeben sich mit der Idee der Engagement von Frauen und ihre staatsbürgerliche Vollmitglied-
Differenz allerdings auf schwieriges Terrain, besteht doch die Ge- scha� behindern. Darüber hinaus wirkt viertens das kulturelle
fahr, dass an die Stelle eines universell verbrämten männlichen Muster der unpolitischen und politisch desinteressierten Frau.
Partikularismus ein Partikularismus mit weiblichem Angesicht Doch nicht nur die politischen Strukturen und Institutionen der
tritt. Eine weitere Schwierigkeit des Differenzdenkens besteht Realdemokratie lassen einen zweitklassigen, feminisierten Citizen-
darin, wie der Geschlechterunterschied repräsentiert werden soll, ship-Status entstehen; die klassisch-liberale Vorstellung von Staats-
ohne dass es zu biologistischen Zuschreibungen weiblicher We- bürgerInnenscha� selbst ist zutiefst geschlechtsspezi�sch: Der
sensmerkmale (“weibliche Politik”) oder von essentialistischen Staatsbürgerstatus ist an männlich gedachten Lebens- und Politi-
Gruppenvorstellungen (“die” Frauen) kommt. Sowohl Stand- kerfahrungen orientiert. Historisch war es die Waffenfähigkeit, die
punkt- wie auch republikanische Feministinnen lösen dieses politische Staatsbürgerrechte verlieh: Carole Pateman (1992) hat
Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Differenz in un- gezeigt, dass politische Mitgliedscha� für Männer durch ihren Sta-
befriedigender Weise zu der einen bzw. zu der anderen Seite hin tus als Soldaten, für Frauen hingegen durch ihren Status als Mütter
auf: Der Standpunktfeminismus hebt darauf ab, die weibliche gekennzeichnet war. Nur jene Personen aber, die als bereit und in
Andersartigkeit – aus den sozialen Erfahrungen von Frauen resul- der Lage galten, den Staat mit der Waffe zu verteidigen – davon
tierende “andere” Bedürfnisse und Werte – in den Raum des Po- waren die nicht-waffenfähigen Frauen und anderen Staaten ver-
litischen zu integrieren (so z.B. Hartsock 1984; vgl. dazu Mans- p�ichtete Personen, also Nicht-Staatsangehörige, ausgeschlossen –,
bridge 1996: 121). Auf diese Weise könne das politische System wurden zum politischen Gemeinwesen gerechnet und erhielten das
feminisiert bzw. von seinen maskulinen Zügen befreit werden. Recht auf politische Mitwirkung.
Republikanische Feministinnen argumentieren demgegenüber, Mit der historischen Ausdehnung ziviler, politischer und sozialer
dass das Politische eine Sphäre mit eigenen Gesetzen und eige- Staatsbürgerscha� auf immer mehr Personengruppen eines politi-
ner Dignität bilde, die nicht mit privaten Erfahrungen vermischt schen Gemeinwesens (vgl. Marshall 1992) ist zwar der Gedanke der
werden dürfe. Mary Dietz beispielsweise sieht die Gefahr der Ko- “Universalisierung” von Citizenship verknüp�, doch produziert
lonisierung von Öffentlichkeit durch die Integration “privater” gerade die Idee eines universellen, für alle gleich gültigen Staats-
Tugenden in den politischen Raum (vgl. Dietz 1992: 75; ähnlich: bürgerstatus politische Ungleichheit, da weitere maskulinistische
Holland-Cunz 1994). Auch Eva-Maria Kenngott pocht auf das Grundannahmen politischer Staatsbürgerscha� keineswegs besei-
“universalistische Universum” gegenüber einer “weiblichen Diffe- tigt wurden.
renz” (Kenngott 1995: 352). Hierfür seien zwei Beispiele genannt: Erstens wird der vermeintlich
Birgt nun das vorausgesetzte weibliche Wesen der Standpunkt- geschlechtslose Staatsbürger als Nutzen maximierendes und “ratio-
theorie die Gefahr einer Essentialisierung von Weiblichkeit sowie nal” agierendes, d.h. allein im Sinne seiner Interessenrealisierung
einer Subsumtion aller Frauen unter eine “virtuelle Gesamtfrau”, entscheidendes, unabhängiges Individuum gedacht. Der Aktiv-
so ignoriert die hierarchisch polarisierende Sicht des feministi- bürger ist mithin von jeglichen sozialen Bezügen und Kontexten
schen Republikanismus die politischen Konsequenzen von Ge- entkoppelt. Die Negation von “Abhängigkeit” aber, die eigentlich
schlechterungleichheit und vertie� damit die Spaltung zwischen als Condition humaine begriffen werden muss, ist eine männliche
Öffentlichkeit und Privatheit. Die feministische �ematisierung Fiktion, die darauf basiert, dass es ein Komplement gibt – nämlich
von Differenz sollte m.E. vornehmlich als heuristisches Moment die abhängige und deshalb öffentlichkeits- und politik-untaugliche
begriffen werden. Die institutionelle Umsetzung einer politischen Frau. Zweitens werden Interessen im Citizenship-Konzept als ge-
Geschlechterdifferenz muss sich des Spannungsverhältnisses zum geben gefasst; sie werden nur repräsentiert bzw. durchgesetzt. Diese
Gleichheitsanspruch sowie der Gefahr der essentialisierenden essentialisierende Interessen-Idee setzt nun aber genau jene Bedürf-
Festschreibung stets bewusst sein. Nur so kann der maskulinisti- nisse, die dem männlichen Individuum zu eigen sind – nämlich
schen Geschlechterindifferenz begegnet werden. ökonomische Interessen in einer von der Privatheit geschiedenen

71
Sphäre – als universale Interessen voraus. Demgegenüber ist die “mangelnde Interesse” von Frauen an der Politik entpuppt sich so-
Herausbildung von Interessen selbst als ein zutiefst politischer und mit als Effekt des “Männerberufs” Politik (vgl. z.B. Molitor 1992;
geschlechtsspezi�scher Prozess zu sehen, der durch gegebene staats- Sauer 1994; Hoecker 1995; Meyer 1997).
bürgerliche Rechte – insbesondere durch den Wahlakt – überhaupt Das feministische Partizipationsverständnis hat nun zwei Bezugs-
kein politisches Gewicht erhält. punkte: Zum einen die Steigerung der Partizipationschancen für
Politische und soziale Staatsbürgerscha� hängen also, wie bereits Frauen innerhalb repräsentativer Institutionen und zum anderen
T.H. Marshall (1992) herausarbeitete, unmittelbar zusammen. Die das basis- bzw. versammlungsdemokratische Ideal der Frauenbe-
Bestimmung des politischen Status sollte mithin die Geschlechter- wegung jenseits etablierter Politikstrukturen. Feministische De-
differenz einbeziehen. Eine notwendige, wenn auch nicht hinrei- mokratietheorie fordert deshalb erstens neben formal-rechtlichen
chende Voraussetzung für eine antipatriarchale �eorie des Staats- Partizipationschancen wie Quoten auch die strukturelle Ermögli-
bürgers (vgl. u.a. Yeatman 1996) impliziert die Konzeptualisierung chung von Partizipation wie beispielsweise bessere Bildungs- und
der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung. Politisch formuliert: Aufstiegsoptionen, aber auch die Verfügung über materielle Res-
Volle StaatsbürgerInnenscha� für Frauen ist nur durch die Über- sourcen (vgl. Lang 1998: 109). Mit dem frauenbewegten Politik-
windung der Arbeits- und der Sphärentrennung zwischen öffent- Ideal ist zweitens ein normativer, nicht-instrumenteller Partizi-
lich und privat möglich. pationsbegriff verbunden: Partizipation wird im Gegensatz zur
rituellen Vergewisserung staatlich-administrativer Institutionen in
3.3 Partizipation Wahlen und im Unterschied zur bloß interessenorientierten Beein-
�ussung der politischen Entscheidungsträger als Teilnahme am po-
Das konventionelle Partizipationsverhalten von Frauen und Män- litischen Gemeinwesen mit dem Ziel einer gerechteren Gesellscha�
nern hat sich seit den 1980er Jahren sukzessive angepasst, so dass konzipiert. Partizipation als Kern von Bürgerscha�lichkeit soll ein
heute von einem grundsätzlichen “Gender gap” in der Häu�gkeit gemeinsamer, interaktiver Lernprozess sein. Die aktive Schaffung
politischer Teilnahme kaum noch die Rede sein kann (vgl. Westle von Orten und Zeiten für politische Beteiligung wäre mithin eine
2001: 2). Längst kann man Frauen nicht mehr als die “schlechteren Conditio sine qua non für die Citoyenne – und auch den Citoyen.
Demokratinnen” bezeichnen (kritisch: Meyer 1992a). Allerdings
bleiben geschlechtsspezi�sche Unterschiede bestehen, beispielswei- 3.4 Repräsentation
se in der Form politischer Partizipation: Männer beteiligen sich
stärker an öffentlichen politischen Diskussionen und in der Partei- Entgegen der Vorstellung, dass die geringe politische Repräsentanz
politik, während in der Gruppe der sogenannten jüngeren “Initia- von Frauen auf ihrer geringeren Partizipationsneigung basiert,
tiven” (bis 42 Jahren), die in Bürgerbewegungen aktiv sind, Frauen arbeitete die politikwissenscha�liche Geschlechterforschung die
gleich, wenn nicht gar überrepräsentiert sind (vgl. Plasser/Ulram direkten und indirekten strukturellen Repräsentationsverhin-
2002). Dieser Befund führt zur �ese, dass Frauen möglicherwei- derungen heraus. Die “Parteien¬systemthese” besagt, dass die
se ein “anderes” Verständnis von Politik besitzen (vgl. dazu Meyer Personalrekrutierungsmuster der Parteien die größte Barriere für
1992a). eine geschlechtergerechte Repräsentation sind (vgl. Höcker 1987;
Im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts hat sich eine Lovenduski/Norris 1993; Schöler-Macher 1994; Meyer 1997).
weitere Geschlechterdifferenz in bezug auf die Wahlpräferenz her- Männliche Seilscha�en oder die “Verhinderungsstrategien” der po-
ausgebildet: Frauen wählen in den meisten westlichen Industriestaa- litischen Insider gegenüber den politischen Outsidern (weiblichen
ten “linker” als Männer, weil die linken, i.e. sozialdemo¬kratischen Geschlechts) bilden neben der Besetzung von Wahllisten 4 und
und grün-alternativen Parteien die gestiegenen Emanzipationsan- innerparteilichen Aufstiegsmechanismen die höchsten Barrieren
sprüche und die veränderten Werte und Normen von Frauen besser für weibliche Repräsentation. Auch Wahlsysteme können zu direk-
aufgreifen und repräsentieren (vgl. Inglehart/Norris 2000: 442, ten Diskriminierungsstrukturen werden (Wahlsystemthese). For-
454). schungsergebnisse zeigen, dass das Verhältniswahlrecht die Chan-
Nach wie vor aber existieren signi�kante Unterschiede der Ge- cen von Frauen auf ein politisches Mandat erhöht, während das
schlechter im “Politik¬interesse”: Frauen äußern ein deutlich ge- Mehrheitswahlrecht ihre Chancen mindert (Personalisierung).
ringeres Interesse an der Politik (vgl. Westle 2001: 3). Freilich ist Der Demokratietheoretiker Giovanni Sartori (1997: 40) bezeichnet
damit die Frage, warum Frauen geringeres Politikinteresse bekun- nun das Repräsentationsprinzip überhaupt als die “Achillesferse”
den, noch nicht geklärt. Die feministische Politikwissenscha� fragt der Demokratie. Und in der Tat sind mit dem Repräsentationsge-
deshalb, ob die politische Partizipation von Frauen ein Problem ist danken fundamentale De�zite westlicher Demokratien verknüp�:
oder ob Frauen mit der spezi�schen Ausformung politischer Parti- Das Prinzip der Repräsentation überlässt politische Entscheidun-
zipation ein Problem haben. gen einer kleinen Elite und damit häu�g dem Machtkalkül von
Feministische Demokratiekritik setzt in der Folge primär an den Parteien. Darüber hinaus verengt die Idee der Repräsentation den
fehlenden partizipativen Möglichkeiten für Frauen an: Partizipati- partizipativen Gedanken: Der Souverän kann nur Personalent-
on ist in repräsentativen Demokratien auf turnusmäßig verknappte scheidungen treffen, ein generelles Selbstregierungsrecht ist ihm
Momente der Wahl politischer RepräsentantInnen reduziert. Die- entzogen.
ser Modus der Wahl ermöglicht aber keine angemessene Reprä- Aus feministischer Perspektive stellt sich das Repräsentationspro-
sentation von Frauen in politischen Entscheidungspositionen und blem folgendermaßen: Die über gewählte Repräsentanten nur mit-
ist keine Garantie dafür, dass “Frauenthemen” von den gewählten telbare Möglichkeit der Entscheidung erzeugt Verluste auf Kosten
RepräsentantInnen auf die politische Agenda gesetzt werden. Das von Frauen. Der Repräsentationsprozess ist ein Herrscha�smecha-

4 Lovenduski und Norris (1993) sprechen hier vom “gender gerrymander”,


von einer geschlechtsspezi�schen Verzerrung ähnlich wie die Wahlkreis-
manipulation.

72
nismus, weil er gegenüber der Vielheit der Bedürfnis- und Inter- sentieren gelte, zu verabschieden (vgl. Phillips 1993: 4). Wie könn-
essenlagen selektiv und exklusiv ist: Der Prozess des Sprechens für te dann eine differenzdemokratische Perspektive aussehen, die we-
jemanden ist ein Herrscha�smechanismus. Repräsentations- und der Partikularität und Gruppendifferenz negiert, noch vor ihnen
Wahlverfahren setzen eher (männliche) Partikularinteressen durch, kapituliert? Die Antwort auf diese Frage kann nur eine sein, die
als dass sie Universalität und Chancengleichheit realisieren helfen. die Balance zwischen Partikularität und Universalität, zwischen
Demokratisch-repräsentative Verfahren übertragen herrschenden Gruppenidentität und öffentlich-politischer Identität, zwischen
Gruppen Macht, marginalisieren zugleich stimmlose Gruppen und Gruppeninteressen und einem wie auch immer gearteten Gemein-
kaschieren aber diesen Herrscha�smechanismus mit dem Mantel wohl 6 halten kann (vgl. Phillips 1993: 5). So gilt es gewissermaßen
der Universalität (vgl. Phillips 1994: 105). die Spannung zwischen einer Identitätspolitik, die möglicherweise
Politikpraktisch wir� nun die Repräsentationskritik erhebliche ihre eigenen Ausschließungsmechanismen produziert, und dem
Probleme auf, die auch in der feministischen Debatte keineswegs Ausschluss von Frauen beispielsweise durch das Repräsentations-
geklärt sind. So geht das Spiegelmodell der Repräsentation davon prinzip auszuhalten und ihn immer wieder kommunikativ aufzu-
aus, dass die RepräsentantInnen den Repräsentierten möglichst lösen.
ähnlich sein müssen, dass Frauen also nur von Frauen repräsentiert Anne Phillips versucht, diese Spannung mit ihrem Konzept einer
werden können (vgl. Pitkin 1972: 80f.). Dieses Modell birgt aber “Politik der Präsenz”, die weder separatistisch noch essentialis-
die Gefahr eines kruden Biologismus und einer identitären Vorstel- tisch sei, auf Dauer zu stellen (vgl. Phillips 1996: 142). Pluralität
lung von “Frausein”. So ist füglich zu bezweifeln, dass Frauen qua und Differenz sind in der liberalen �eorie nur auf der Ebene der
Biologie besser in der Lage sind, typische, sich aus der geschlechts- Ideen, Meinungen und Präferenzen denkbar (“politics of ideas”),
spezi�schen Arbeitsteilung ergebende Interessenlagen von Frauen aber alle Differenzen, die aus unterschiedlichen Erfahrungen her-
zu repräsentieren, als sensibilisierte und antipatriarchal politisier- rühren (“politics of presence”) sind nicht konzeptualisierbar und
te Männer. Ein anderes Repräsentationskonzept umfasst deshalb repräsentierbar und werden mithin ausgeschlossen (vgl. ebd.: 140).
eine Handlungsdimension, d.h. Repräsentieren heißt nicht nur Politischer Exklusion qua Repräsentation könne deshalb begegnet
widerspiegeln, sondern für jemanden handeln (vgl. ebd.). Auf der werden, wenn “Ideen” und “Erfahrung” nicht separiert werden (vgl.
Grundlage relativer individueller Autonomie und eines Vertrau- ebd.: 141): Die Politik der Präsenz repräsentiert nicht nur Interes-
ensverhältnisses zwischen Repräsentierten und Repräsentierenden sen und Ideen, sondern Menschen.
wird Repräsentation als ein kommunikativer Prozess, in dem Dif- Phillips plädiert deshalb für ein transitorisches Modell politischer
ferenzen ausgehandelt werden können, begriffen. Repräsentation von Geschlechterdifferenz, nämlich von Mecha-
Iris Marion Youngs (1993) Modell der “Gruppenrepräsentation” nismen zur Integration von Frauen in politische Institutionen (vgl.
stellt dem androzentrischen Universalismus einen korrigieren- Phillips 1991: 7). Sie schlägt vor, die Idee der Gruppenrepräsentati-
den und transformierenden Mechanismus an die Seite. Politische on (qualitative Repräsentation) fallen zu lassen und unter Repräsen-
Gleichheit könne nur dann realisiert werden, wenn es Mechanis- tation zunächst nur die Erhöhung des Frauenanteils in politischen
men der Repräsentation von Gruppenunterschieden gebe. Young Gremien – die Präsenz und Sichtbarkeit von Frauen (quantitative
schlägt deshalb Verfahren der politischen Selbstorganisation und Repräsentation) – zu verstehen. Quotenregelungen in Parteien und
Selbstrepräsentation von marginalisierten Gruppen, ihre öffentli- politischen Institutionen bieten zwar keine befriedigende Balance
che Finanzierung sowie ein Vetorecht für solche Gruppen vor allem zwischen einer Politik der Ideen und einer Politik der Präsenz, sie
bei Politiken, die sie in besonderer Weise betreffen, vor. Ziel einer repräsentieren aber dennoch Differenz durch Präsenz (vgl. Phillips
Politik der Gruppenrepräsentation ist es, den Input von marginali- 1996: 146f.).
sierten Gruppen in den Politikprozess zu stärken (vgl. ebd.: 279). Die Frage nach geschlechtergerechter Repräsentation kann dann
Die Identitätspolitiken sozialer Bewegungen in den 1970er und auch als Frage nach der Responsivität und Verantwortlichkeit von
1980er Jahren waren Versuche, eine solche Gruppenrepräsentati- Regierungen und politischen Institutionen für Frauen bzw. Ge-
on zu etablieren, die Frauenbewegung der Versuch, eine politische schlechterfragen formuliert werden (vgl. Sawer 2000: 364). Neben
Gruppe “Frau” zu bilden und zu repräsentieren. In den 1990er der Erhöhung der quantitativen Repräsentation muss die Erhöhung
Jahren wurden die problematischen Seiten eines solchen Reprä- frauenpolitischer Responsivität, d.h. die gezielte Bearbeitung von
sentationsgedankens diskutiert: Identitätspolitik impliziert Ho- “Frauenthemen”, angestrebt werden.
mogenisierungen von Frauen 5 und formuliert Ansprüche, die die
Verschiedenartigkeit feministischer Gruppen ebenso planieren wie 3.5 Öffentlichkeit und Zivilgesellscha�
die repräsentativen Institutionen (vgl. Cohen 1996: 187f.). Das
Sprechen von einem kollektiven “Wir” und einer einheitlichen Privatheit und Öffentlichkeit sind im politikwissenscha�lichen
Kategorie “Frau” wurde als Herrscha�sform entlarvt (vgl. Phillips Sprachgebrauch Komplementärbegriffe oder “korrespondierende
1994: 105). Fluchtpunkte” (Hauser 1987: 53). Die Kritik der �ktiven Trennung
Anne Phillips kommt deshalb zum Ergebnis, dass das Prinzip der zwischen öffentlicher und privater Sphäre war einer der Ausgangs-
Gruppenrepräsentation dem Problem von “Demokratie und Diffe- punkte der Neuen Frauenbewegung und politikwissenscha�licher
renz” zwar besser begegnen könne als repräsentative Institutionen, Geschlechterkritik. Das Motto “Das Private ist politisch” war ein
dass es das Repräsentationsproblem aber keineswegs zufriedenstel- bewusster Tabubruch der Politisierung des Privaten und der Ent-
lend löst (vgl. Phillips 1993: 14; Phillips 1994: 106). Sie schlägt vor, grenzung des Politischen (vgl. für viele Rosenberger 1998: 128f.).
sich von der Vorstellung einer homogenen Einheit, die es zu reprä- Mit dieser Provokation sollte die Begrenztheit des modernen Po-

5 Insbesondere Lesben und Schwarze Frauen spürten diesen exkludieren- vidualisierten Einzelinteressen sich gleichsam automatisch ein Gemein-
den Homogenitätsdruck. wohl herausbilde, fehlgeschlagen ist, kann dies nicht heißen, die Idee eines
6Auch wenn die klassisch-liberale Vorstellung, dass aus autonomen, indi- Gemeinwohls insgesamt ad acta zu legen.

73
litikbegriffs und sein Potential, Frauen der Privatheit zuzuordnen bedded journalism” macht darüber hinaus die Zwänge öffentlich-
und zu exkludieren, sichtbar werden. journalistischer Debatten sichtbar. Dass sich “Frauenthemen” für
Die Trennung und geschlechtshierarchische Kodierung der beiden Personalisierung von Politik, aber auch für die Indienststellung von
gesellscha�lichen Sphären wurden als der zentrale patriarchale Öffentlichkeit für staatliche Zwecke durchaus eignen, zeigte sich
Herrscha�smodus erkannt. Eine Reihe von Konventionen, Regeln nicht zuletzt bei der Berichterstattung über die Situation von Frau-
und Institutionen ordnen Frauen der Privatheit, Männer hingegen en in Afghanistan kurz vor dem Krieg: Sie wurden zur Legitimie-
der Öffentlichkeit und der Politik zu (vgl. Sauer 2001). Zwar ist rung des Krieges als Opfer präsentiert.
diese Trennung durchaus als Errungenscha� des bürgerlich-libera- Andererseits zeigt die Debatte um das “Bedrohungspotential” von
len Rechtsstaates zu verstehen, der die Intimsphäre des Bürgers und Frauen in der politischen Öffentlichkeit (ausgelöst vom FAZ-He-
– wenn auch in geringerem Maße – der Bürgerin vor staatlichen rausgeber Frank Schirrmacher 2003) 8, dass die Sichtbarkeit von
Eingriffen schützt, doch blieb sie eine geschlechtsspezi�sche Fik- Frauen in der Medien- bzw. politischen Öffentlichkeit der Bundes-
tion: Die Bürgerin wurde beispielsweise durch Abtreibungsgesetze republik eine – zumindest – bemerkenswerte ist: Die “intimisier-
bis in die Gebärmutter hinein unter der Maßgabe bevölkerungspo- te” (Medien-)Öffentlichkeit wird �ugs Frauen angelastet, um die
litischer Räson kontrolliert. Gleichzeitig wurden aber all jene Be- Stillstellung von politischer Debatte nicht grundsätzlich debattie-
ziehungen zur Privatheit erklärt, die dem öffentlichen Diskurs ent- ren zu müssen. Mit der Schaffung gleicher Zugangsmöglichkeiten
zogen bleiben sollten: Die Regelung der familiären Arbeitsteilung zur politischenÖffentlichkeit ist also die strukturelle androzentri-
gilt beispielsweise als “Privatangelegenheit” der Ehepartner, obwohl sche Selektivität des öffentlich-politischen Kommunikationsraums
die Freistellung der (Ehe-)Männer von Reproduktions- und Haus- nicht beseitigt. Dazu bedarf es einer grundsätzlichen Korrektur
arbeiten durch ehe- und arbeitsrechtliche Regelungen (Stichwort: der maskulinistischen Einschlussregeln. Dies soll im folgenden ver-
Familienernährermodell) politisch-öffentlich abgesichert ist. deutlicht werden.
Historisch war die “Geburt bürgerlicher Öffentlichkeit” bzw. der Öffentlichkeit und Zivilgesellscha� wurden in den 1990er Jahren
Zivilgesellscha� (Lang 1995: 88) als Bereich jenseits von Staat und zu Zentralbegriffen einer normativen demokratietheoretischen
Markt eine maskuline Selbstgeburt. Bürgerliche Öffentlichkeit Debatte. Jürgen Habermas’ De�nition von Öffentlichkeit bzw.
war exklusiv, der Zugang war nicht “öffentlich” im Sinne von all- Zivilgesellscha� als eine Sphäre jenseits von Familie, Markt und
gemein, sondern an Besitz und Status geknüp�. Frauen blieben qua Staat, die gleichsam zwischen den gesellscha�lichen Bedürfnissen
Familien-Status ausgeschlossen. Mit der Privatheit als Gegenpol und dem Staat vermittelt (Habermas 1990: 46), wurde leitend für
zur Öffentlichkeit wurde ein politisch entleertes, naturalisiertes die aktuellen demokratietheoretischen Interventionen. Demokra-
und machtloses Terrain jenseits des Staates und ohne Handlungs- tisches Ziel ist angesichts der Durchdringung von Öffentlichkeit
potenzial in bezug auf den Staat geschaffen, in dem ganz spezi�sche und Gesellscha�, der “Kolonisierung”, eine Re-Politisierung der
Arten von Beziehungen, Werthaltungen und Verhaltensweisen zu- staatlich stillgestellten politischen Sphäre.
hause sein sollten, nämlich Freundscha�, familiäre Bande, Liebe Doch auch Öffentlichkeit und Zivilgesellscha� in diesem empha-
und Sexualität. tischen Sinne sind nicht herrscha�sfrei: (Staatliche) Herrscha�
Feministische Öffentlichkeitskritik zielt in doppelter Weise auf die entsteht vielmehr im männlich dominierten öffentlich-kommu-
Exklusivität dieser männerzentrierten Öffentlichkeit: Sie nimmt nikativen, zivilgesellscha�lichen Bereich. Feministischer Demo-
die Ausschlussmechanismen für Frauen in den Blick, sie dekons- kratietheorie geht es deshalb darum, wie ein diskursives Modell
truiert aber auch die maskulinistischen Einschlussregeln. Begrei� politischer Öffentlichkeit, das nach universalistischen Prinzipien
man politische Öffentlichkeit als jenen Raum, in dem über ge- verfährt, mit der Artikulation, der Anerkennung und dem Schutz
sellscha�liche Belange kommuniziert wird – sei es in politischen von Partikularität, von Differenz verknüp� werden kann (vgl. Co-
Institutionen oder in den Medien –, so wird deutlich, dass diese hen 1996: 188). Dazu gehört erstens die Rekonzeptualisierung von
Öffentlichkeit im eigentlichen Sinne des Wortes “bemannt” ist: An “Privatheit”. Privatheit wird als körperliche und psychische Inte-
den Schaltstellen öffentlicher Kommunikation sitzen Männer, die grität verstanden, die wiederum die Bedingung für die Integration
Deutungs- und Kommunikationsmacht von Frauen hingegen ist “privater” Angelegenheiten in eine diversi�zierte Öffentlichkeit
gering. Auch wenn Frauen zunehmend Zugang zu den politischen ist (vgl. ebd.: 207). Zweitens kann, so Iris Marion Young, ein ge-
Infotainment-Formaten des Fernsehens �nden und sie die “ein�uß- schlechtersensibles Modell der “kommunikativen Demokratie” ra-
reichsten politischen Vermittlungsinstanzen des Fernsehens” sind tionale Kommunikation nicht nur auf Sprachakte begrenzen. Ein
(Schirrmacher 2003: 33, Hervorhebung B.S.), kann von einer “Fe- rationaler Diskurs muss auch Emotionalität, Gestik und Mimik in
minisierung” politischer Öffentlichkeit im Sinne von Geschlechts- Betracht ziehen: “Greeting” (hö�iche Anerkennung), “rhetoric”
sensibilität oder von frauenpolitischem Agenda-Setting und me- (die Anerkennung, der Situiertheit, der Bezogenheit der Redner
dienpolitischer Entscheidungsmacht bei weitem keine Rede sein.7 aufeinander) und “storytelling” (Narrative und Geschichten) sind
Die Medien Fernsehen und Hörfunk unterliegen zunehmend einer Elemente, die eine kritisch-kommunikative Öffentlichkeit neben
Ökonomie der Aufmerksamkeit, die Quotenziele (selbstredend dem Argument als zentrales Element politischer Debatte benötigt
nicht Frauen-, sondern ZuschauerInnen- und HörerInnenquoten) (vgl. Young 1996: 129ff.).
erfüllen und öffentliche Debatten über Politik mit Unterhaltungs- Sabine Lang (1998) fasst die Bedingungen für eine demokratische,
wert bzw. “human touch” verkaufen muss. Das Unwort des “em- Frauen inkludierende Öffentlichkeit folgendermaßen zusammen:

7 Eine Zeitungs-Analyse des bundesdeutschen Wahlkampfs 2002, die ich Geschichte einzigartige “Akkumulation weiblicher Macht” in den Medi-
gemeinsam mit Sabine Lang durchführte, zeigt die geringe Durchlässig- en aus: “Eine Telefonistin, ein Kindermädchen, eine Schauspielerin und
keit der Medien selbst in politischen Hochzeiten für Frauenthemen und Schri�stellerin und eine Stewardess de�nieren das Land.” Namentlich
für Politikerinnen (Lang/Sauer 2002). erwähnt Schirrmacher u.a. Sabine Christiansen, Sandra Maischberger,
8 Unter der Überschri� “Männerdämmerung” löste Schirrmacher im Anne Will, Liz Mohn und Friede Springer.
Juli 2003 eine kleine Debatte im deutschen Feuilleton über die in der

74
Es bedarf der “Institutionalisierung von diskursiven Praktiken von litische Kompromisse birgt Chancen für die “Zähmung” von so-
Kommunikation, die mit einer entschleunigten und radikalen Ver- wohl ungerechten Markt- wie exkludierenden Staatsverhältnissen
fahrenstechnik, in der nicht nur rationale, sondern auch affektive und mithin Freiheitsgewinne auch für Frauen – auch wenn diese
Äußerungen ihren Platz haben” sowie der “Verknüpfung diskur- Kompromisse häu�g herrscha�lich geprägt sind –. Was heißt dies
siver Kommunikation mit Handlung, die unter anderem auch die nun für die post-nationale Form politischer Debatte und Willens-
materiellen Chancen auf Transformation von Kommunikation in bildung, die unter dem Begriff “Global Governance” �rmiert?
politische Entscheidungsprozesse beinhaltet”. Die institutionellen In Governance-Strukturen wird das staatliche De�nitions- und
Konsequenzen des deliberativen Modells sind indes nicht nur in Entscheidungsmonopol relativiert, so dass damit die Hoffnung
der feministischen Debatte noch Desiderate. Hubertus Buchstein auf nicht-hierarchische, kooperative bzw. heterarchische Formen
(1996: 319f.) stellt folgende institutionellen Lösungen zusammen: von Politik verknüp� ist. Zieht man die sozialen Grundlagen von
Erstens die “deliberative Umdeutung” bereits bestehender repräsen- Global Governance in Betracht, so wird deutlich, dass Staatlichkeit
tativer Institutionen, zweitens eine “assoziationspolitische Moder- auf dem Wege ihrer Postnationalisierung auf internationaler Ebene
nisierung der Demokratie” (Sekundärbürgerscha�) und drittens restrukturiert wird, d.h. die “überholte” Form des Nationalstaats
eine deliberative Einschreibung in direktdemokratische Verfahren wird in einem neuen Staats-Kompromiss von Global Governance
(Primärbürgerscha�). aufgehoben – eine Form von Staatlichkeit, die freilich nach wie vor
Fazit: Öffentlichkeit entsteht in Diskursen, in denen um Interes- herrscha�lich und patriarchal ist. Die größere Sichtbarkeit und Re-
sen-Hegemonie gerungen wird und wo feministische Gegendiskur- präsentation von Frauen in internationalen “Governance”-Struktu-
se nur durch die Transformation der politischen Regulierung eine ren wie beispielsweise der UNO ist kein hinreichender Beleg dafür,
Chance erhalten. Eine Feminisierung von Öffentlichkeit beginnt dass ungleiche und diskriminierende Geschlechterverhältnisse
damit, “challenging unexamined normative dualisms as between überwunden werden. Die Idee des “Regierens ohne Regierung”
justice and the good life, norms and values, interests and needs, (governance without government) als post-nationale Demokra-
from the standpoint of their gender context and subtext” (Ben- tieform zu idealisieren, wäre also zu kurz gegriffen: Governance
habib 1998a: 92). Öffentlichkeit ist also nicht als ein Ort wie das sind neuartige Formen der Artikulation sozialer Machtverhältnisse
Parlament, die Straße oder eine Zeitung zu konzipieren, denn dann – also auch von Geschlechterverhältnissen – in einer entgrenzten
wären private Orte per de�nitionem exkludiert. Öffentlichkeit ist Welt (vgl. Sauer 2003). Freilich: Auch der internationalisierte Staat
vielmehr jener Raum, wo Macht und Herrscha� thematisiert und der Global Governance ist ein umkämp�es Terrain, und auch im
kritisiert werden. Öffentlichkeit bezeichnet die “Möglichkeits- derzeitigen “Zwang” zur Veränderung nationaler Demokratien lie-
struktur” politischen Handelns. Diese Möglichkeit ergibt sich in gen Handlungschancen für frauenpolitische Akteure. Damit die-
unterschiedlichen sozialen Räumen: am Arbeitsplatz, in der Fami- ses Terrain eine Arena geschlechterdemokratischer Praxis werden
lie, in der “Privatheit”. kann, müssen in den Kompromissbildungsprozessen Formen von
Die Kommunikationswissenscha�lerin Elisabeth Klaus unternahm geschlechtergerechter Partizipation, Artikulation und Repräsenta-
jüngst den Versuch, der tradierten Dichotomie von Öffentlichkeit tion, aber auch des Zugangs zu adäquaten Ressourcen aktiv einge-
und Privatheit ein neues geschlechtersensibles Öffentlichkeitskon- schrieben werden.
zept entgegenzusetzen, das auch das Handeln im sogenannten Pri-
vaten als Öffentlichkeit anzuerkennen in der Lage ist. Sie begrei� Literatur
Öffentlichkeit als Diskussions- und Verständigungsprozess, in und
durch den gesellscha�¬liche Wirklichkeitskonstruktionen verhan- Abels, Gabriele/Si�, Stefanie (Hg.) 1999: Demokratie als Projekt.
delt werden (vgl. Klaus 1998: 100). Feministische Kritik an der Universalisierung einer Herrscha�sform,
Die Wiederherstellung bzw. Dynamisierung von Öffentlichkeit Frankfurt/M./New York: Campus.
bedarf also der Re-Integration beider Sphären. Nur so ist die zivil- Allen, Judith 1990: Does Feminism Need a �eory of “�e State”? In:
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schen öffentlich und privat abheben. Vielleicht nicht mehr unter Teresa Kulawik/Birgit Sauer (Hg.): Der halbierte Staat. Grundlagen
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Der Text von Sauer, Birgit: Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle
Debatten erschien erstmals unter http://web.fu-berlin.de/gpo/birgit_sau-
er.htm und darf dank der freundlichen Genehmigung der Autorin und des
Internetportals gender...politik...online hier erneut veröffentlicht werden.

78
Heide Gerstenberger

Der bürgerliche Staat.


Zehn �esen zur historischen Konstitution einer
spezi�schen Form moderner Staatsgewalt.

Im Zentrum meiner Forschungen zur historischen Konstitution Mein eigener Ansatz richtete sich insbesondere gegen funktiona-
bürgerlicher Staatsgewalt (1990/2006) stand ein sehr ins einzelne listische Erklärungsansätze, theoretische Konzeptionen also, in
gehender Vergleich der unterschiedlichen Entwicklungen in En- denen sozialer, religiöser, wirtscha�licher, herrscha�licher und
gland und Frankreich, vor allem also die Frage, warum personale kultureller Praxis nur die Rolle zufällt, längerfristigen Entwick-
Herrscha� in Frankreich trotz aller vorherigen Veränderungen lungsgesetzen zum Durchbruch zu verhelfen. Sie lassen sich in zwei
nicht durch Reformen beseitigt werden konnte, sondern dafür das Großgruppen unterteilen: zum einen in Erklärungsansätze, die
Drama der Revolution erforderlich war, und warum in England sich – mit welcher Berechtigung auch immer, - auf Marx beziehen,
eine ganz andere Entwicklung möglich wurde, eine Revolutio- zum anderen in Ansätze, die sich – die Berechtigung sei wiederum
nierung der Strukturen, die sich über mehr als zwei Jahrhunderte dahingestellt – auf die Arbeiten von Max Weber stützen.
hinzog. Für diese Entwicklung hatte das Drama der Revolution im Zunächst der marxistische Strukturfunktionalismus. Es gibt ihn
Jahre 1649 eine weit geringere Bedeutung als vielfach angenommen in zwei Versionen. Die erste unterstellt eine überhistorisch wirk-
wurde. Auf die Ergebnisse dieser vergleichenden Analyse werde ich same Dynamik der Produktivkra�entwicklung, die zweite eine
im Folgenden nur am Rande eingehen. Statt dessen werde ich mich überhistorisch wirksame Dynamik von Klassenkon�ikten. Bezo-
darauf konzentrieren, die historische Konstitution bürgerlicher gen auf den Staat mündete die �ese von der überhistorisch wirk-
Staatsgewalt in wenigen �esen zusammen zu fassen. Vorab jedoch samen Dynamik der Produktivkrä�e in die �ese, dass bürgerliche
soll das theoretische Konzept, das dieser Analyse zugrunde liegt, Staatsgewalt als notwendige Anpassung der politischen Form an
durch Hinweise auf alternative Ansätze verdeutlicht werden den Stand der Produktivkrä�e zustande kam. Kurzgefasst: Kapita-
lismus als historische Voraussetzung bürgerlicher Staatsgewalt. Da
I. Erklärungsansätzen, die es zu vermeiden gilt. diese �ese in aktuellen Debatten nicht mehr präsent ist, kann ihre
Kritik kurz ausfallen. Während Karl Marx in der kapitalistischen
Zahlreiche Forschungen zum „state-making“ in Europa kon- Konkurrenz eine strukturelle Notwendigkeit für die Entwicklung
zentrieren sich auf Deskription. Im Zentrum stehen zumeist die von Produktivkrä�en angelegt sah, gibt es für vor- und nicht-ka-
Durchsetzung der Steuerhoheit, die langsame Modernisierung von pitalistische Gesellscha�en keine derartige theoretische Begrün-
Verwaltung und Militär und die allmähliche Herstellung formaler dung. Das heißt nicht, dass es nicht zu technischen Entwicklungen
Rechtsstaatlichkeit. Hervorragende Beispiele dieser Forschungs- gekommen wäre, wohl aber, dass diese nicht als Ausdruck einer sich
richtung sind etwa die Arbeiten von Charles Tilly und seinen Co- notwendig durchsetzenden überhistorisch Dynamik interpretiert
Autoren in dem 1975 erschienen Sammelband über „�e Formati- werden dürfen. Während diese �ese den Zusammenbruch des Re-
on of National States in Western Europe,“ eine neuere Ausprägung alsozialismus nicht überdauert hat, ist die Annahme einer überhis-
sehe ich zum Beispiel in der Geschichte des Französischen Staates torischen Wirksamkeit von Klassenkämpfen nach wie vor präsent.
von Pierre Rosanvallon (1990/2000) oder auch in der „Geschich- Sie war bekanntlich Basis der sog. sozialen Interpretation sowohl
te der Staatsgewalt“ von Wolfgang Reinhard (1999). Generelles der Englischen als auch der Französischen Revolution. Lassen wir
Kennzeichen solcher Arbeiten ist eine Konzentration auf die Ent- beiseite, dass der Terminus „class“ zumindest im Englischen sehr
wicklung von Institutionen. Rückblickend wirken die beschriebe- viel kavaliersmäßiger gebraucht wird als im Deutschen, so bleibt
nen Entwicklungen als stringente Fortsetzungen früherer Formen, doch bestehen, dass dezidierte Klassentheoretiker mit dem Ter-
und das sind sie auch. Doch wird damit Chronologie als Kausalität minus immer das Konzept eines grundlegenden Gegensatzes von
missverstanden und ausgeblendet, dass in jeder historischen Situa- Ausbeutung und Aneignung verbinden, zusätzlich allerdings auch
tion zwar bestimmte Entwicklungen durch vorhergehende Struk- die Vorstellung, dass dieser Gegensatz zur Ausbildung gesellscha�-
turformungen ausgeschlossen wurden, soziale, politische, wirt- lich-politischer Großgruppen führt, die ihn austragen. Selbst für
scha�liche Praxis aber dennoch nicht auf eine einzige Alternative kapitalistische Gesellscha�en ist das Konzept einer Klassenana-
beschränkt war. Wären andere Alternativen realisiert worden, wür- lyse, die soziale Großgruppen unterstellt, nicht sinnvoll nutzbar
den auch sie uns im Rückblick als folgerichtig erscheinen. Ebenso (Balibar 1984), für ständische und vorständische Gesellscha�en ist
wenig kann der Hinweis auf international ähnliche Entwicklungen es falsch. Ein Stand ist eben keine Klasse, sondern ein Ausschnitt
bereits als Erklärung gelten. Gegenüber derartigen Versuchen, em- aus einer herrscha�lich regulierten sozialen Hierarchie. Zudem ba-
pirische Gesetzmäßigkeiten als Kausalität zu interpretierten, hat sierten mögliche Akkumulationsstrategien für Herren im Feuda-
Max Weber – er hatte dabei die „Historische Schule“ im Blick - zu lismus und im Ancien Régime eben nicht nur auf den Praktiken der
Recht betont, sie dür�en nur als Material für eine dann erst noch Abpressung von Resultaten der Produktion und des Handels, son-
zu leistende wissenscha�liche Bearbeitung verstanden werden. dern auch auf der Beteiligung am Krieg (ökonomisch gesehen also
(1922/1982, 133) am Raub), ferner auf dem Nießnutz an fürstlicher Herrscha�, nicht

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zuletzt auch auf Heiratsstrategien. Diesen Strukturen der Akku- „Gehäuse der Hörigkeit“, vor dem ihm graute.
mulation waren auch erfolgreiche Stadtbürger mehr oder minder Die Frage der Konstitution des modernen Staates beschä�igte
integriert. Denn jedes Handelsprivileg war insoweit eine Form des Weber ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzung
Nießnutzes an fürstlichem Herrscha�sbesitz als es – herrscha�lich des okzidentalen Rationalismus. Im einzelnen untersuchte er die
sanktioniert – die Nichtprivilegierten von gewissen Akkumulati- Herausbildung der modernen Bürokratie und des formalen Rechts,
onschancen ausschloss. sowie – als Grundlage beider – die Monopolisierung der Gewalt
Zwischen Angehörigen unterschiedlicher Stände, zwischen Stadt- durch den rationalen Krieg. Was Max Weber nicht diskutiert, ist
bürgern und Adligen, zwischen der Gentry und dem Hochadel in die Bedeutung der staatlichen Organisation für den Gesamtzusam-
England oder dem Robenadel und dem Schwertadel in Frankreich, menhang der Gesellscha�, weil er diesen Gesamtzusammenhang
gab es vielfältige Kon�ikte. Soweit es sich dabei um ökonomische im Rahmen seines handlungstheoretischen Ansatzes weder behan-
Kon�ikte handelte, ging es um den Zugang zu Amtsgewalt, um die deln will noch kann.
Formen und die Reichweite von Privilegien, um die Aneignung von Weber konstruiert den Idealtypus einer Entwicklung, die er als kul-
Gerichtsgewalt oder von Steuerpacht: um Konkurrenzverhältnisse turbedeutend beurteilt. Beides, die Konstruktion und die Beurtei-
also, nicht aber um Auseinandersetzungen über die Auspressung lung legt er offen. ( 1922/1982, 205 und passim) Bei Hans Ulrich
von Mehrprodukt, nicht um Klassenverhältnisse. Wohl gab es sol- Wehler, einem Autor, der sich mehrfach explizit auf Max Weber
che Verhältnisse in Europa sowohl in jenen Zeiten, die zumeist als berufen hat, �nden sich Weber’sche Analysen dann aber als Teilstü-
Feudalismus bezeichnet werden, als auch in der Epoche des Ancien cke einer realhistorischen Gesamtdarstellung wieder, ohne dass ihr
Régime. Derartige Kon�ikte konnten zu erheblichen Veränderun- theoretischer Stellenwert mit re�ektiert würde. So wird in Wehlers
gen der Herrscha�spraxis führen, besonders deutlich etwa in Eng- Gesellscha�sgeschichte die Herausbildung moderner Bürokratie
land in den Jahrzehnten nach der großen Pest, als die Herren des mit der Herausbildung des modernen Staates gleichgesetzt. Das
Leutemangels wegen ihr Monopol auf Boden nicht ebenso nutzen legt nahe, die Entmachtung von Fürsten, die Abschaffung der Pa-
konnten wie zuvor. Aufs Ganze gesehen aber waren diese Kon�ikte trimonialgerichtsbarkeit sowie des – in deutschen Fürstentümern
im Rahmen von Klassenbeziehungen der Konkurrenz um das Ei- zugegebenermaßen vergleichsweise wenig verbreiteten – privaten
gentum oder den Nießnutz an Herrscha� integriert. Sie bildeten Eigentums an Amtsgewalt habe sich verwaltungstechnisch erle-
nicht das Zentrum der historischen Dynamik – und zwar deshalb digen lassen. In Einzelfällen tri� das tatsächlich zu, aufs Ganze
nicht, weil – von Ausnahmen abgesehen - personale Herrscha� ein gesehen aber unterschlägt solche Beschreibung den revolutionären
zentrales Instrument der Aneignung war. Bruch zwischen personaler und entpersonalisierter Herrscha�.
Das Ergebnis der Konkurrenz um Herrscha�sbeteiligung, sei es Weil sie in den letzten Jahren zu erheblichem Ein�uss gelangte, sei
in Form eines Amtes oder mehrerer Ämter, sei es in der Form ei- hier noch auf eine weitere Konzeption verwiesen. Michael Mann
nes Privilegs oder mehrerer Privilegien, war eine wichtige Voraus- (1986; 1991 & 1993) erzählt die Geschichte der Machtverhältnisse
setzung für die Chancen der Aneignung, für Strategien also, die seit ihren Anfängen als eine Geschichte der jeweiligen Überlappung
Klassentheoretiker als Klassenkampf bezeichnen. Nur nebenbei sei gesellscha�lich-räumlicher Netzwerke. (Seine Terminologie). Für
bemerkt, dass sich die Gleichsetzung von Stand und Klasse nicht ihn gibt es – und zwar seit jeher – ideologische, ökonomische, mili-
nur bei Marxisten �ndet, sondern auch bei einigen ihrer dezidier- tärische und politische Beziehungen. Diesem IEMP Komplex folgt
testen Gegner. So etwa immer wieder in Hans Ulrich Wehlers Ge- Mann durch die Geschichte. Gesellscha�en gibt es für ihn nicht,
sellscha�sgeschichte. (1987) auch nicht die Frage, ob Religion (bei Mann „Ideologie“) sinnvoll
Nun also Strukturfunktionalismus im Anschluss an Max Weber. In schon immer als ein von der sonstigen Praxis des Lebens gesondertes
gewisser Weise gehören alle modernisierungstheoretischen Ansät- Netzwerk zu denken ist oder ob vorkapitalistische Machtverhält-
ze zu diesem Komplex, auch wenn ihnen die theoretische Herkun� nisse zureichend erfasst werden, wenn Ökonomie als gesonderter
o� nicht mehr anzusehen ist, alle Konzeptionen also, die unterstel- Bereich gedacht wird. Was immer an der Analyse von Karl Polanyi
len, aus der Herstellung bestimmter struktureller Vorbedingungen auszusetzen ist, und tatsächlich sind die meisten seiner Hinweise auf
beziehungsweise der Beseitigung von Hindernissen, wie etwa dem konkrete historische Prozesse ja nicht haltbar, seine beharrliche Beto-
Hindernis des Sozialismus, entfalteten sich mit Notwendigkeit Ent- nung des Unterschieds zwischen ökonomischen Praktiken, die allen
wicklungen, wie sie für die ersten Nationalstaaten und Industriege- anderen Praktiken integriert waren, embedded wie Polanyi in einer
sellscha�en zu konstatieren sind. In Programmen für die Transfor- glücklichen Formulierung schrieb (1944/1995), sollte nicht einfach
mation realsozialistischer Gesellscha�en waren diese theoretischen beiseite geschoben werden. Denn eine Analyse langfristiger Ent-
Fehlschlüsse ebenso präsent wie sie es bis heute in den Strukturan- wicklungsprozesse verlangt die Analyse der in den unterschiedlichen
passungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds sind. historischen Epochen jeweils spezi�schen historischen Dynamik.
Max Weber sind diese Konzeptionen nicht anzulasten, allerdings
gibt es auch bei ihm eine Wendung zur Geschichtsphilosophie, die II. Historische Voraussetzungen für die Möglichkeit der Kon-
strukturfunktionalen Interpretationen Vorschub leistet. Webers stitution bürgerlicher Staatsgewalt.
theoretisches Interesse galt der Durchsetzung des okzidentalen Ra-
tionalismus. Den Beginn dieses Prozesses erklärt er aus den kon- �ese I:
kreten Handlungen gesellscha�licher Trägergruppen, der Gruppe
der Juristen vor allem. Die Geburt des okzidentalen „Staats“ ebenso Ein Zeitalter, das sich im Anschluss an einen berühmten Buchtitel
wie der okzidentalen „Kirchen“ – beides setzt Max Weber in seiner von Georges Duby als das Zeitalter der Krieger und Bauern kenn-
Schri� zur Religionssoziologie noch in Anführungszeichen – sei zeichnen ließe (1973/1977), gab es nicht nur in Europa. (Besonders
Juristenwerk gewesen. (1920/1963, 272). Einmal etabliert, gerät viele Ähnlichkeiten wurden zwischen dem europäischen und dem
Max Weber die Rationalität dann allerdings zu einem selbsttätigen japanischen Feudalismus entdeckt.) Aber nur in Europa entwickel-
Steuerungsparameter des historischen Prozesses, der sich– losgelöst ten sich strukturelle Voraussetzungen für die Entfaltung von Stra-
von Interessen und Trägergruppen – durchsetzt - bis hin zu jenem tegien, die schließlich zur Ausbildung bürgerlicher Staatsgewalt

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führten. Doch auch in Europa entstanden diese Voraussetzungen �ese III:
noch nicht in feudalen Verhältnissen, sondern erst in jener Epo-
che, deren allgemeine Merkmale ich im Terminus Ancien Régime Neben der Konstitution von Ständen, ich habe mich hier auf Hin-
zusammen fasse. Was den Feudalismus anlangt, so halte ich es mit weise für die Herausbildung des Adelsstandes beschränkt, ist die
dem großen englischen Historiker, Frederic William Maitland, der zunehmende Fiskalisierung von Herrscha�spraxis ein weiteres
einmal sagte, der Feudalismus sei in England nicht durch Wilhelm Merkmal von Gesellscha�en des Ancien Régime. Fürsten, die sich
den Eroberer, sondern durch einen Historiker des 17. Jahrhunderts Söldner heuern wollten, brauchten Geldmittel, Vasallen, die aus Le-
eingeführt worden, womit er sagen wollte, jene Pyramiden von hen erbliches Eigentum machen wollten, mussten darauf dringen,
Verp�ichtungen, Treue und Schutz, die sich nachlesen lassen, sei- dass die Lehensp�ichten auch von kranken und weiblichen Nach-
en kaum je real gewesen.(1920, V) Nichtsdestoweniger lassen sich kommen erfüllt werden konnten. Das förderte die Bereitscha� von
deutliche Unterschiede zwischen den Formen und der Praxis von Herren, die Umwandlung bäuerlicher P�ichten in Abgaben zu
Herrscha� in der gemeinhin als Feudalismus bezeichneten Epoche akzeptieren. Gelegentlich zwangen sie diese Umwandlung Bauern
und dem Ancien Régime ausmachen. Die Ursachen des Übergangs auch gegen deren Willen auf.
diskutiere ich hier nicht, wohl aber die wichtigsten Strukturmerk- An dieser Stelle ist – gewissermaßen en passant – darauf hinzu-
male von Gesellscha�en des Typus Ancien Régime. weisen, dass die Monetarisierung vieler Abhängigkeits- und Aus-
beutungsverhältnisse in Gesellscha�en des Ancien Régime zwar im
�ese II. Laufe der Zeit zunahm, ihr Ausmaß aber dennoch geringer blieb,
als früher o� angenommen. Vor allem aber: die damaligen Prozesse
Das erste dieser Strukturmerkmale ist die Herausbildung eines der Monetarisierung waren nicht Auswirkungen einer eigenständi-
Zusammenhangs, der uns berechtigt, vom Terminus „Gesell- gen ökonomischen Dynamik, die – einmal in Gang gesetzt – sich
scha�“ Gebrauch zu machen. Ergab sich Einheit im Feudalismus von selbst verbreiterte und beschleunigte. Bäuerliche Wirtscha�en
überwiegend durch Kirche, den Mythos des Königtums und das – diese Erkenntnis des russischen Ökonomen A.V. Chayanov ist
verallgemeinerte Selbstverständnis von Kriegern, die sich zu Her- inzwischen Allgemeingut in den Agrarwissenscha�en – entwi-
ren machten, so wurde sie im Ancien Régime zunehmend durch ckeln aus sich selbst heraus keine Tendenz zur Marktorientierung
die Praxis einer fürstlichen Herrscha� konstituiert, die sich nicht und damit Monetarisierung. In aller Regel wird ihnen eine solche
mehr nur auf Vasallen, sondern insgesamt auf Untertanen bezog Orientierung aufgezwungen. In Gesellscha�en des Ancien Régime
- besonders früh und besonders deutlich war dies im Common Law geschah dies vor allem durch den Zwang, sich die Mittel für Abga-
von England der Fall. Im Zusammenhang verallgemeinerter fürst- ben und Steuern zu beschaffen. Die Dynamik der Monetarisierung
licher Herrscha� wurden aus mächtigen Herren die Angehörigen ergab sich in erster Linie aus der Fiskalisierung von Herrscha�, sei
eines Standes, einer Gruppierung also, deren Status herrscha�lich es der Monetarisierung bäuerlicher P�ichten oder auch der ritter-
de�niert wurde und deren Macht dadurch (zumindest teilweise) lichen Verp�ichtung zum Militärdienst. Der zeitweise blühende
den Charakter eines Privilegs annahm. Dieser Wandel ist wich- Fernhandel schuf keine Marktgesellscha�en, auch dies eine Er-
tig. Wenn es in manchen Gegenden Frankreichs noch bis zur Re- kenntnis, auf der Karl Polanyi zu Recht insistiert.
volution eine seigneuriale Gerichtsgewalt gab, deren Ausmaß ihre
Eigner durch die weithin sichtbare Aufstellung eines Galgens auf �ese IV:
ihren Besitzungen kund taten, so handelte es sich eben nicht mehr
um feudale Herrscha�, nicht mehr um Immunität, sondern um ein Im Zentrum zunehmender Fiskalisierung steht die Einführung
Privileg im Rahmen verallgemeinerter königlicher Herrscha�. von Steuern. Überall setzte die Stabilisierung der Ergebnisse be-
Die Basis erstarkender Fürstengewalt waren die Anforderungen waffneter Konkurrenz voraus, dass in ständige oder potentielle
und die Resultate bewaffneter Auseinandersetzungen um Herr- bewaffnete Gewalt investiert werden konnte und Fürsten in der
scha� und damit zugleich um Aneignung. Ihre – zunächst eher Lage waren, mächtige und weniger mächtige Adlige durch direk-
zufälligen – Resultate hatten auch über die Konstitution der herr- te Zahlungen oder durch lukrative Ämter an sich zu binden. Jo-
schenden Stände entschieden. Verfügten Könige, wie die Könige seph Schumpeter verstand die Herausbildung des Steuerstaates als
von England im Mittelalter, nicht nur dem Anspruch nach, son- Geburt des modernen Staates, dabei allerdings verkennend, dass
dern auch faktisch über Lehensgewalt, so kam es sehr schnell zur Steuern zunächst nicht etwa einen „Staatsapparat“ �nanzierten,
Ausbildung allgemeiner Adelsforderungen im Hinblick auf die der niemand gehörte, sondern zentralisierte personale Herrscha�.
Forderungen ihres Lehnsherren (Lehensgefälle und verp�ichtende Sie war ein Instrument der Aneignung. An ihren Resultaten eben-
Beratung) Das bekannteste Resultat einer solchen Auseinanderset- so wie an ihrer Praxis mussten Fürsten, die tatsächlich regieren
zung ist die Magna Charta. Doch verhinderte die faktische Wirk- wollten, ein�ussreiche Individuen bzw. Familien beteiligen. Denn
samkeit königlicher Lehensherrscha� eine dauerha�e Herrscha�s- ebenso wie ihre mächtigen Untertanen brauchten auch Fürsten im
konkurrenz zwischen Krone und Adel. In England war dies umso Ancien Régime eine Klientel. Anhängerscha� erwarben sie durch
weniger der Fall, als dort auch die Bischöfe Vasallen der Könige und direkte Zahlungen, vor allem aber durch die Verleihung von Amts-
damit der Königsherrscha� integriert waren. gewalt. Ämter waren nicht nur Möglichkeiten der Aneignung,
Anders in jenen Gebieten, in denen der König von Frankreich sondern auch wichtige Stufen des sozialen Aufstiegs. In Frankreich
zwar Vasallen hatte, zunächst aber keine faktische Macht. Hier entwickelte sich ein zweiter Adelsstand aus Amtsinhabern, viele
entwickelten sich viele unterschiedliche Adelsstände, und ver- von ihnen aus dem Stadtbürgertum stammend. In England bestä-
allgemeinerte Königsherrscha� musste dann über Jahrhunderte tigte die Verleihung bestimmter Ämter den Zugang zur Gentry und
hinweg gegen den Adel durchgesetzt werden. Dieser Prozeß dien- den sozialen Aufstieg innerhalb des (dort rechtlich nicht �xierten)
te Norbert Elias als allgemeines Muster für den historischen Pro- zweiten Adelsstandes. Dennoch handelte es sich je nach Amt auch
zeß der Zivilisation. um erhebliche Einnahmequellen. Sporteln und sonstige Einnah-
men galten als legal, wenn auch nicht bei allen als legitim. Zwar

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wurden Auswüchse kritisiert und manchmal sogar verurteilt, aber und Krieg immer mehr Ämter geschaffen und verkau� wurden, so
die grundsätzliche Kritik an der privaten Nutzung von Amtsgewalt begrenzte dies den Ertrag aus den bereits vorhandenen Ämtern. In
entstand erst im Zusammenhang einer grundsätzlichen Kritik an England gab es zwar auch einen mehr oder minder offenen Markt
den Strukturen des Ancien Régime. Überspitzt ließe sich sagen, ein für den Erwerb von Amtsgewalt, doch blieb die Zahl einträglicher
Element bürgerlicher Revolutionen ist die Verurteilung früherer Ämter hier vergleichsweise begrenzt. Die strukturelle Grenze für
Herrscha�spraxis als Korruption. Tatsächlich wurden Forderun- Aufstiegsstrategien erwuchs in England vor allem aus der Konkur-
gen nach grundlegenden Veränderungen in England zu Beginn des renz um Marktprivilegien. Die Praxis Karls I, Privilegien (zum Bei-
19. Jahrhunderts unter diesem Schlagwort erhoben: in einer Kam- spiel für die Produktion von Seife) an die „Freunde der Königin“,
pagne gegen die Old Corruption. will sagen: an Katholiken, zu vergeben, hat all jene aufgebracht, die
ihrerseits auf Privilegien ho�en. In allen Gesellscha�en des Anci-
�ese V: en Régime stießen lange praktizierte Aufstiegsstrategien im Laufe
der Zeit an strukturelle Grenzen. Anders gesagt: Oben wurde es
In allen Gesellscha�en vom Strukturtyp Ancien Régime setzte eng, im Verlauf des Ancien Régime immer enger. Und erst in dieser
Aufstieg Wohlstand voraus, für den Aufstieg in den Adel blieb aber Situation richtete sich Kritik nicht mehr nur auf eine bestimmte
durchgängig die Quelle des Reichtums entscheidend. Auch wenn Art und Weise der Privilegienvergabe samt Ämterbesetzung, son-
Familien des hohen Adels auf die eine oder andere Weise an neuen dern auf das Privilegienwesen insgesamt. Anders gesagt: die Trä-
Formen der Akkumulation beteiligt waren, für Neuzugänge blieb gergruppen des Fernhandels und der nichtagrarischen Produktion
die Ächtung der Einkommen aus Kommerz oder Manufaktur lange waren nicht per se Trägergruppen für die Durchsetzung des Kapi-
bestehen. Manche sagen, das Ende des Ancien Régime von England talismus. Denn Erfolg im Fernhandel und in der nichtagrarischen
sei mit der ersten Nobilitierung eines Brauereibesitzers besiegelt Produktion basierte ja gerade auf dem weitgehenden Ausschluss
worden. (F.M.L.�ompson, 1963, 293) Aber nicht nur durch den von Konkurrenz. Dass sich Herrscha� aus Kommerz und Produk-
Einkauf in Grundbesitz integrierten sich Stadtbürger in die soziale tion heraushalten und Amtsgewalt nicht zu privater Aneignung
Hierarchie des Ancien Régime. Auch ihre städtischen Aneignungs- genutzt werden solle, forderten vor allem jene, die zu kurz und zu
formen waren den herrschenden Strukturen integriert, erforderten spät kamen, darunter auch Gesellen, die kaum eine Chance sahen,
sie doch korporative oder individuelle Privilegierung, mithin eine je Meister zu werden.
herrscha�lich sanktionierte Chance auf Gewinn.
In Europa hatten Städte - seit Max Weber ist dies Allgemeingut �ese VI:
- einen welthistorisch spezi�schen Charakter. Nirgendwo sonst
entwickelten sie sich zu Rechtssubjekten. Die Chance, Stadtfrei- Bis zum Ende des Ancien Régime blieb der personale Charakter von
heiten durchzusetzen und auszunutzen variierte von Fürstentum Herrscha� erhalten. Noch unmittelbar vor der Revolution konnten
zu Fürstentum. In England etwa, wo es kaum grundsätzliche Herr- französische Könige im sog. «lit de justice», durch ihre persönliche
scha�skonkurrenz zwischen Krone und Adel gab, war diese Chan- Anwesenheit in ihrem höchsten Gericht also, jedem Gesetz gegen
ce gering. Generell aber gilt: Städte waren im Ancien Régime nicht den Widerstand des «parlement» formale Geltung verschaffen.
durchgängig schon Brutstätten des Kapitalismus und Stadtbürger Dennoch wurde das Ausmaß der königlichen Prärogative im Laufe
waren keine Kapitalisten in spe. Sie wollten – eigentlich ist das eine der Zeit nicht nur faktisch, sondern in vieler Hinsicht auch formal
Banalität – in genau der Gesellscha� vorankommen, in der sie leb- begrenzt: durch rechtliche Regeln, deren Verletzung sich Könige
ten. Das heißt, sie bemühten sich um den Erwerb und den Erhalt nur noch bedingt erlauben konnten.
von Privilegien und nutzten die Möglichkeiten der Heiratsstrate- Im Laufe der Zeit richteten sich Forderungen aber nicht mehr nur
gien. Sofern ihnen dies möglich war, eigneten sie sich die Attribute auf die Beschränkung königlicher Willkür, vielmehr entwickelte
eines adligen Lebens an. Das reichte von den Toiletten der Frauen sich das Konzept einer ganz und gar herrscha�sfreien Sphäre. Vie-
über den Verzehr von Wild bis hin zu jener letzten groß angelegten le haben unterstellt, im Zentrum dieser neuen Konzeption habe
Strategie in Großbritannien, deren Erfolg dazu führte, dass sich die Forderung nach einer herrscha�sfreien Sphäre des Marktes ge-
wohlhabende Männer in englischen Städten als Gentlemen und standen. Das ist – trotz des langen Kampfes um die Anerkennung
ihre Frauen als Ladies titulieren ließen. Diese Vermassung eines von Privateigentum – aber nicht der Fall. Statt dessen erhielt das
Adelsattributs bedeutete, dass Familien am untersten Ende der Konzept einer herrscha�sfreien Sphäre seine wichtigste Prägung
sozialen Hierarchie des Landadels, deren Familienvorstände zuvor in jenen Herrscha�skrisen, die durch die Reformation ausgelöst
schon als plain gentlemen gegolten hatten, auf die Stufe von Stadt- wurden. Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Reformati-
bürgern herabsanken. Auch in anderen Gesellscha�en des Ancien on ging es bekanntlich um Kirche, aber keineswegs immer um die
Régime träumte manch ein Stadtbürger vom Aufstieg in den Adel, Praxis des rechten Glaubens. Dennoch erwuchs aus diesen Kämp-
ein Traum, dessen Verwirklichung damals noch «en famille» ver- fen auch der Anspruch, sich die eigene Glaubenspraxis nicht länger
folgt wurde. durch fürstliche Herrscha� vorschreiben zu lassen, und dies nicht
Von diesen Bestrebungen gab es Ausnahmen. Bis zum 18. Jahrhun- nur bei Angehörigen der jeweiligen Diaspora, sondern auch bei
dert waren sie aber eher selten, jedenfalls – trotz einer wachsenden Angehörigen der in einem Herrscha�sbereich offiziell geltenden
Kritik am schmarotzenden Adel – noch nicht strukturentschei- Konfession. In vielen Regionen kam es zur Ausbildung einer neu-
dend. Doch erwuchsen den etablierten Strategien des Aufstiegs en Gemeindefrömmigkeit, in katholischen Gebieten blühte in den
materielle Grenzen. Die Physiokraten hatten sich bemüht, sie der Gemeinden die Marienverehrung, in protestantischen entstanden
französischen Krone zu verdeutlichen: Wenn die Ausweitung des Praktiken einer individuellen und gemeinscha�lichen Sorge um
zentralisierten Aneignungsapparates dazu führte, dass die Bauern einen gottwohlgefälligen Lebenswandel. So sehr es sich bei diesen
aufgrund ständig erhöhter Steuern kein Saatgetreide mehr zurück Entwicklungen um lokale Prozesse handelte, um religiöse Praxis
halten konnten, so gefährdete dies die materielle Reproduktion des unter Menschen also, die sich kannten, so sind die Jahre der Re-
gesamten Königreichs. Wenn zur Beschaffung von Mitteln für Hof formation doch auch die Geburtsstunde einer überlokalen Öffent-

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lichkeit. An dieser Öffentlichkeit waren Menschen unterschiedli- heute an diesen Vorgang so sehr gewöhnt, dass er uns nicht mehr
cher Stände beteiligt. bewusst ist – eine gewisse Abstraktionsleistung voraus. Interessen
In England hat die Krone selbst diese öffentliche Debatte über sind eine Interpretation der eigenen Lebensumstände, für welche
Herrscha� und Glauben dann schließlich auf einen besonderen ganz konkrete Momente, wie etwa Emotionen, außer Betracht blei-
Höhepunkt getrieben. Als der König 1640 jedem Adligen Englands ben. Es werden gewissermaßen jene Beschwernisse und Wünsche
einzeln befahl, sich mit Bewaffneten zum Krieg gegen Schottland destilliert, die Individuen mit anderen, ihnen o� unbekannten,
einzu�nden, damit dort das 1637 verordnete Gebetsbuch gegen Individuen teilen. Denn Interessen sind auf Realisierung gerichtet.
widerständige Adlige und Gemeindegeistliche durchgesetzt werde, Damit sie zustande kommen kann, ist eine gewisse Verallgemeine-
kam die Armee zwar zustande, aber auf ihrem Weg nach Norden rung bestimmter Lebenslagen vorausgesetzt, dazuhin aber auch die
zerstörten Soldaten Symbole der herrscha�lich verordneten Glau- Entstehung von Diskursen über diese Lebenslagen und das Bedürf-
benspraxis. Durch die Einberufung der Armee förderte die Krone nis, sie zu verändern.
landesweite Debatten über die Legitimität von Herrscha�. In einer Im Ancien Régime gab es eine lange Tradition der lokalen Konstitu-
Flut von Petitionen wurde 1640 die „Beseitigung von Mißständen“ tion und Vertretung von korporativen Interessen. Die Konstitution
gefordert. überlokaler Interessen wurde durch die Praxis überlokaler Herr-
Nicht nur in England, wo das Personal der Kirche traditionell auch scha� provoziert. Sofern eine überlokale Öffentlichkeit entstand,
für königliche Herrscha�spraxis genutzt worden war, sondern in in der sich Menschen bewusst wurden, dass sie gemeinsame Inte-
allen Fürstentümern, die von der Reformation erfasst wurden, kam ressen gegen Auswirkungen verallgemeinerter Fürstenherrscha�
es zu einer weiteren strukturellen Veränderung. Nach der Refor- hatten, waren damit Voraussetzungen für deren Revolutionierung
mation sahen sich Fürsten zunehmend gedrängt, ihre Untertanen geschaffen. In England, das wurde oben bereits angedeutet, ent-
tatsächlich zu regieren. Denn mit der Entstehung mindestens zwei- stand eine solche herrscha�skritische Öffentlichkeit in den Ausei-
er großer Glaubensrichtungen war die bislang selbstverständliche nandersetzungen um Glaubenspraxis. In Frankreich entstand diese
Berechtigung der Kirchen, Alltagsverhalten zu regulieren und Situation durch die Einführung der Provinz-Departments- und
Abweichungen zu sanktionieren, erschüttert worden. Gute Ord- Munizipalversammlungen im Jahre 1787. Rolf Reichardt hat ihre
nung musste nun erstmals auch außertheologisch gedacht werden. Bedeutung für die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit,
Weltlicher Herrscha� erwuchs daraus der Anspruch, moralische die nicht mehr auf Amtsträger und sonstige Beteiligte an Klientel-
Instanz für die Gesellscha� zu sein. Ohne die Reformation ist He- gruppen beschränkt war, sehr genau beschrieben. (1978) Aus der
gels Staatstheorie nicht denkbar. Kampagne für eine besser Vertretung des Dritten Standes in den
Mit der Sorge um einen frommen Lebenswandel veränderte sich Generalständen erwuchs dann eine überlokale politische Öffent-
auch das Verständnis von Familie. Alle besitz- und erbrechtlichen lichkeit: die Bewegungsform der Revolution.
Problemkomplexe blieben bestehen, aber Hausandachten und ähn-
liche Formen der Glaubenpraxis schufen einen privaten, sprich: �ese VIII:
herrscha�sfreien Raum. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wuchs die-
ser privaten Sphäre eine zusätzliche De�nition zu. Mit der Entde- Bürgerliche Revolutionen waren Prozesse der Enteignung von per-
ckung des Sexualwesens Mensch wurde das eheliche Schlafzimmer sonaler Herrscha�, von Amtseigentum und von Privilegien. Damit
zum räumlichen Zentrum der Privatsphäre – dies freilich nicht für verloren die Mittel der Herrscha� ihren Charakter als Instrumente
Menschen, deren materielle Lebensbedingungen den räumlichen von Aneignung. Wurden sie dazu – außerhalb der zugestandenen
Rückzug unmöglich machten. Grenzen – doch genutzt, handelte es sich fortan, darauf wurde be-
reits verwiesen - um Korruption. Aus dieser Reduktion von Herr-
�ese VII: scha� auf Politik folgte die Emanzipation des Marktes und damit
die Konstitution struktureller Voraussetzungen für die Dominanz
Schließlich entstand im Ancien Régime die Konzeption des Inter- kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Die Konstitution bürger-
esses. Der Terminus ist älter. Im Mittelalter bezeichnete er Zinsen licher Staatsgewalt hat diese Entwicklung ermöglicht, aber nicht
oder Beteiligungen, zum Beispiel an einem Schiff. Im 17. und 18. Jh. unmittelbar zur Folge gehabt. Überall schufen bürgerliche Revo-
erhielt das Konzept des Interesses dann aber eine ganz neue Bedeu- lutionen Marktgesellscha�en, aber nicht überall dominierte in die-
tung. Es wurde zum Ausdruck der Erkenntnis, dass menschliches sen Gesellscha�en kapitalistische Produktion. In Frankreich etwa
Verhalten – wenn auch nur in Grenzen –kalkulierbar ist. Bis dahin gab es zwar vor der Revolution – wie auch in anderen Gesellschaf-
hatte man sich keine andere Garantie für kalkulierbares Verhalten ten des Ancien Régime – kapitalistische Produktionsverhältnisse.
vorstellen können als einheitliche Glaubenspraxis – jeder Anders- Doch sollte es noch annähernd hundert Jahre dauern, bis sie die
gläubige galt in allen Lebensbereichen als unsicherer Kantonist Wirtscha� dominierten. Auch Jahrzehnte nach der Revolution in-
– jetzt wurde unterstellt, dass Individuen, wenn denn erst einmal vestierten Kapitalbesitzer in Frankreich eher in Staatspapiere als in
die Leidenscha�en der Krieger hintangestellt würden, in aller Re- Produktion. Die bäuerliche Produktion wurde zwar nach und nach
gel bestrebt sind, ihre materiellen Lebensumstände zu sichern und mehr oder minder in den Markt integriert, agrarische Produkti-
zu verbessern. Albert O. Hirschmann hat diesen Prozeß im einzel- on deshalb aber noch nicht kapitalistisch organisiert. Anders in
nen verfolgt. Sein schönes Buch trägt den Untertitel „Politische England. Dort war die Ausbreitung des Kapitalismus bereits weit
Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg.“ (1977/1980) gediehen während viele Elemente personaler Herrscha� noch an-
Seine Analyse der Ideengeschichte ist jedoch zu ergänzen: Die dauerten.
Konzeption des Interesses macht nur Sinn, wenn Interessen nicht
als bloße Re�exe materieller Lebenslagen verstanden werden, also �ese IX:
gewissermaßen als jene „objektiven Interesse“, die in der Geschich-
te sozialistischer Bewegungen eine so unheilvolle Rolle gespielt Die Besonderheit bürgerlicher Staatsgewalt erwuchs aus ihrer spezi-
haben. Vielmehr setzt die Konstitution von Interessen – wir sind �schen Vorgeschichte. Bereits 1964 hat Reinhard Bendix gegen mo-

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dernisierungstheoretischen Strukturfunktionalismus eingewandt, Beseitigung sollte diese Gleichheit weder für Frauen, noch für Skla-
die spezi�schen historischen Konstitutionszusammenhänge mo- ven gelten, und in gewisser Weise wurden auch all jene, die man in
derner Nationalstaaten seien längerfristig wirksam geblieben. Vier der ersten Häl�e des 19. Jhs. zu den „gefährlichen Klassen“ zählte,
Jahrzehnte später ist diese Einsicht zu präzisieren. Es gibt heute vie- von der natürlichen Gemeinscha� der Freien und Gleichen ausge-
le moderne Staaten in kapitalistisch produzierenden Gesellscha�en schlossen.
mit formal ähnlichen Institutionen wie sie zunächst in Europa und Das Ende dieser Phase lässt sich als Übergang von der durch Eigen-
in europäischen Siedlungskolonien entwickelt wurden. Doch sind tum und Status begrenzten politischen Nation, the political nation
dies eben keine bürgerlichen Staaten. Manche dieser politischen wie es im Englischen lange hieß, zur nationalen politischen Öffent-
Organisationen werden inzwischen nicht mehr nur in Papieren lichkeit bezeichnen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die
des Pentagon, sondern auch in breiteren Diskursen als failed states Aneignung staatlicher Souveränität durch das Volk nun nicht mehr
bezeichnet - was ihre formale Geltung als souveräne Staaten nicht nur gefordert und verkündet, sondern längerfristig erfolgreich re-
ausschließt. In einer der besten Untersuchungen zu dieser �ema- klamiert wurde. Diese Veränderung - und damit das Ende der bür-
tik, sie bezieht sich auf Staaten südlich der Sahara, stellen Patrick gerlichen Form moderner Staatsgewalt – hat vier Ursachen:
Chabal und Jean-Pascal Daloz fest, in Afrika sei es bislang nicht Die Erfolge der Organisation von Arbeiterinnen- und Arbeiter-
zu einer Institutionalisierung des Staates gekommen, nicht zu ei- interessen; Die Schaffung realer Grundlagen für das Konzept der
ner Ausbildung von öffentlicher Gewalt also, weil der Staat bislang Nation, darunter zum einen allgemeine Gesetze, Schulp�icht und
nicht von der Gesellscha� emanzipiert sei (1999). Wir könnten Militärdienst, zum anderen die staatlich verordnete Solidarität un-
ergänzen: Auch dort, wo moderne Staatsgewalt tatsächlich insti- ter Fremden, welche der Entwicklung von Sozialstaatlichkeit zu-
tutionalisiert wurde, funktioniert sie anders als in Gesellscha�en, grunde liegt. (Ewald 1986/1993) Drittens jene Emanzipationsbe-
in denen es eine lange Praxis der Konstitution und Vertretung von wegungen, die sich erfolgreich gegen ihren politischen Ausschluss
Interessen gab. Das war nicht nur in Kolonialstaaten, sondern auch aufgrund von Geschlecht, Sklavenstatus, Religion und Rasse rich-
in realsozialistischen Gesellscha�en, in denen Interessen durch die teten. Und viertens schließlich die organisatorischen und ideologi-
Partei bestimmt und zugeschrieben wurden, nicht der Fall. schen Anforderungen zweier Weltkriege.
Im Resultat hat dieser lange Prozesses dazu geführt, dass sich Poli-
Zusammengefasst: Bürgerliche Staaten entstanden nur dort, wo tik in jenen modernen Staaten, die aus bürgerlicher Staaten erwach-
moderne Staatsgewalt im Kampf gegen die Herrscha�sformen sen sind, gegenüber einer nationalen Gesamtheit legitimieren muß.
des Ancien Régime durchgesetzt wurde. In abgewandelter Form Dieser Anforderung konnten sich seither auch Diktaturen nicht
gilt dieser Konstitutionszusammenhang auch dort, wo aus Europa entziehen. Werden freie Wahlen und Parlamentarismus beseitigt,
stammende Siedler ihre Unabhängigkeit gegen europäische Kolo- so geschieht dies immer mit der Begründung, auf diese Weise, den
nialmächte ausfochten. „wahren“ Interessen des ganzen Volkes besser zum Durchbruch zu
verhelfen.
�ese X: Manche fassen die veränderte Basis staatlicher Politik im Termi-
nus „Massendemokratie“, Eric Hobsbawm spricht von einer Trans-
Am Prozeß der bürgerlichen Revolution und damit an der Konsti- formation des Nationalismus (1990), ich selbst vorläu�g von der
tution bürgerlicher Formen von Staatsgewalt waren viele beteiligt, Transformation bürgerlicher Staaten in moderne Nationalstaaten.
zunächst aber sicherten sich Bürger – darunter auch Bürger mit ad-
ligen Namen und Restbeständen früherer Vorrechte – den größten
Nutzen aus der veröffentlichten Staatsgewalt. Banal gesprochen: Literatur
mit der Beseitigung personalen Eigentums an den Herrscha�sap-
paraten gerieten die Instrumente öffentlicher Gewalt in die kollek- Ich beschränke mich auf Veröffentlichungen, die im Text angespro-
tive Verfügungsgewalt des Bürgertums. Bürger pro�tierten nicht chen sind. Sehr ausführliche bibliographische Angaben �nden sich in
nur von der Freisetzung des Marktes aus Herrscha�, sondern sie Gerstenberger 1990/2006
begrenzten auch erfolgreich den Zugang von Nicht-Bürgern zur
politischen Öffentlichkeit, sei es durch die ökonomische Domi- Balibar, Etienne, (1984): L’ idée d’une politique des classes chez
nanz des Marktes für Medien, sei es durch Beschränkungen ak- Marx; in: temps modernes, No 451, S. 1357-1496
tiven und passiven Wahlrechts, sei es durch die Kriminalisierung Bendix, Reinhard (1964/2005): Nation-Building and Citizen-
spontaner Formen politischer Öffentlichkeit. Der Strukturwandel Ship: Studies of our Changing Social Order, (Transaction Publica-
der Öffentlichkeit setzte sehr viel früher ein als Jürgen Habermas tion) New York
unterstellt.(1962/1990) Überall begleitete er bereits die Auseinan- Chabal, Patrick & Daloz, Jean-Pascal, (1999): Africa Works. Dis-
dersetzungen um die Reichweite des revolutionären Wandels. Aus- order as political instrument, (James Curry) Oxford
druck seiner erfolgreichen Begrenzung waren neue Privilegien. Chaianov, A.V. (1925/1986): On the �eory of Peasant Economy,
Waren Privilegien im Ancien Régime vielfach an Korporationen hrsg. von Daniel �orner & Basile Kerblay & R.E.F. Smith, (Univ.
und/oder Familien gebunden gewesen, so erwuchs aus der Emanzi- of Wisconsin Press) Homewood
pation des Interesses aus dieser Welt der Privilegien die Möglichkeit Duby, Georges (1973/1977): Krieger und Bauern. Die Entwick-
geschlechtsspezi�scher Privilegien. Indem Männer die öffentliche lung von Wirtscha� und Gesellscha� im frühen Mittelalter,
Existenzweise der Individualität als ein geschlechtsspezi�sches Pri- (Syndikat) Frankfurt am Main
vileg reklamierten, auf diese Weise die Denkmodi des Geburtsadels Elias, Norbert, (1969/ 1977): Über den Prozeß der Zivilisation, 2
in die neue Welt hinüberrettend, verwiesen sie weibliche Individu- Bde, (suhrkamp taschenbuch wissenscha�) Frankfurt am Main
alität ins Private. Ewald, François (1986/1993) Der Vorsorgestaat (edition suhr-
Im Kampf gegen das Ancien Régime war ständischen Vorrechten kamp), Frankfurt am Main
naturrechtliche Gleichheit entgegen gehalten worden, nach seiner Gerstenberger, Heide (1990/2006): Die subjektlose Gewalt.

84
�eorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt (Westfälisches
Damp�oot) Münster
Habermas, Jürgen, (1962/1990): Strukturwandel der Öffentlich-
keit (suhrkamp taschenbuch wissenscha�) Frankfurt am Main
Hirschman, Albert O. (1977/1980): Leidenscha�en und Interes-
sen. Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, (Suhrkamp)
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Hobsbawm, Eric, (1990): Nations and Nationalism since 1780:
programme, myth, reality, (Cambridge Univ. Press) Cambridge
Maitland, Frederic William, (1908/1963): �e Constitutional
History of England, (Cambridge Univ. Press) Cambridge
Mann, Michael, (1986; 1991 &1993): Geschiche der Macht, 2
Bde, (Campus) Frankfurt am Main
Polanyi, Karl, (1944/1995): �e Great Transition. Politische und
ökonomische Ursprünge von Gesellscha�en und Wirtscha�ssys-
temen, (Suhrkamp) Frankfurt/Main
Rosanvallon, Pierre (1990/2000): Der Staat in Frankreich von
1789 bis heute, (Westfälisches Damp�oot) Münster
Reichardt, Rolf, (1978): Die revolutionäre Wirkung der Reform
der Provinzialverwaltungen in Frankreich 1787-1791; in: Ernst
Hinrichs & Eberhard Schmitt & Rudolf Vierhaus, Hg. (1978):
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& Ruprecht) Göttingen, S. 66- 123
Reinhard, Wolfgang (1999): Geschichte der Staatsgewalt. Eine
vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen
bis zur Gegenwart, (C.H.Beck) München
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abgedruckt in: Rudolf Hickel, Hrsg., (1976) Rudolf Goldscheid/
Joseph Schumpeter: Die Finanzkrise des Steuerstaates, (edition
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ziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, (Paul Siebeck, J.C.B.
Mohr), Tübingen
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scha�slehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, (Paul Siebeck,
J.C.B. Mohr), Tübingen
Wehler, Hans-Ulrich (1987): Deutsche Gesellscha�sgeschichte,
hier relevant Bd. I und II, (C. H. Beck) München

Zu historischen Konstitution des bürgerlichen Staates hat Heide


Gerstenberger inBremen am 1. März 2008 referiert. Siehe:

http://www.rosa-luxemburg.com/?p=121
http://www.associazione.wordpress.com/2008/08/01/staat-und-
globalisierung-zur-aktualität-materialistischer-staatskritik/

85
John Kannankulam

Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus

Im folgenden Beitrag möchte ich der Plausibilität und möglichen den Verfall der Institutionen der politischen Demokratie sowie [zu]
aktuellen Relevanz eines staatstheoretischen Konzepts von Nicos drakonischen und vielfältigen Einschränkungen der sogenannten
Poulantzas nachgehen. Poulantzas sah aus den Krisenprozessen ›formalen‹ Freiheiten, die man erst wirklich schätzen lernt, wenn
der siebziger Jahre eine neue Staatsform entstehen: den autoritä- sie einem genommen werden.” (2002, 232)
ren Etatismus. Hierzu werde ich nach einer knappen Skizzierung
der zentralen theoretischen Elemente des autoritären Etatismus Begründet ist dieser Prozess darin, dass in der ökonomischen Kri-
nachzeichnen, ob und wie sich diese Elemente historisch und im se ab Mitte der siebziger Jahre der fordistisch-keynesianische Staat
Vergleich zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik plau- seine antizyklischen Krisensteuerungspolitiken verstärkt, diese
sibilisieren lassen. Besonderes Augenmerk möchte ich in diesem aber aufgrund von strukturellen Problemen bzw. sich wandelnden
Zusammenhang auf den von Poulantzas vernachlässigten Umbau Krä�everhältnissen “ins Leere” laufen (vgl. Schroeder 1984). Ein
der internationalen Finanzarchitektur im Zuge des Zusammen- klassisches Beispiel dafür ist der Versuch einer staatlich vermittel-
bruchs des Bretton Woods-Systems und den damit verbundenen ten Einbindung der ArbeiterInnen während eines Krisenzyklus`,
Aufstieg des Neoliberalismus legen, um abschließend der Frage der was letztlich v.a. ein Einfrieren der Löhne bedeutete. Vermittelt
Relevanz dieses Konzepts im Lichte aktueller Veränderungsprozes- über korporatistische Arrangements (in der BRD bspw. die Kon-
se der parlamentarisch-bürgerlichen Demokratie nachzugehen, wie zertierte Aktion), die vielfach am parlamentarischen Verfahren
sie derzeit vielfach diskutiert werden. vorbei agierten, gelang es den v.a. sozialdemokratischen Regierun-
gen in jener Zeit scheinbar tatsächlich steuernd und antizyklisch
1. Verfall der Demokratie: Autoritärer Etatismus in den ökonomischen Krisenprozess einzugreifen. So konnte die
ArbeiterInnenklasse unter den sich abzeichnenden Krisenbedin-
Unter dieser bedeutungsschweren Überschri� identi�ziert Pou- gungen mit diesen korporatistischen Maßnahmen zunächst darauf
lantzas Ende der siebziger Jahre das Herannahen einer neuen verp�ichtet werden, sich auf langfristige Tarifverträge einzulassen
Staatsform, deren vier grundlegende Merkmale sich wie folgt zu- (Ambrosius 1989, 61). Die
sammenfassen lassen (vgl. auch Jessop 2006, 56-57):
“Fluktuation ging zurück, der Krankenstand wurde abgebaut, die
1.) eine Machtverschiebung weg von der (parlamentarischen) Le- Arbeitsdisziplin verbesserte sich, die Mobilitätsbereitscha� war
gislative hin zur Exekutive, bei der sich die Macht gewissermaßen größer als zuvor. Außerdem stieg die Kapazitätsauslastung, durch
konzentriert und die einhergeht mit einer Verschiebung (und Ver- Mehrschichtbetrieb wurde die Arbeitszeit ausgedehnt und die Kos-
selbständigung) der Dominanzen innerhalb des staatsapparativen ten des konstanten Kapitals wurden so gesenkt” (Altvater/Hübner
Gefüges insgesamt, 1988, 17).
2.) einen Prozess der zunehmenden Verschmelzung zwischen der
Legislative, der Exekutive und der Jurisdiktion bei gleichzeitigem Das Problem, das in der Folge jedoch sichtbar wurde, war, dass es
Verfall der Funktion des Gesetzes, im Zuge der ökonomischen Krise klassischerweise zu in�ationären
3.) einen Funktionsverlust der politischen Parteien als zentralen Tendenzen kam, die zusammen mit den faktischen Lohnstopps
Organen der Herstellung gesellscha�licher Hegemonie und als massive Einbußen auf Seiten der ArbeiterInnenklasse bedeuteten,
Vermittlungsglieder des politischen Dialogs zwischen Verwaltung, die kaum mehr zu vermitteln waren. Wilde Streiks waren vielfach
Regierung und Wahlvolk, die Folge, die unter den Bedingungen von Vollbeschä�igung in
4.) eine zunehmende Verlagerung dieser Vermittlung hin zu par- jener Zeit die staatlich ausgehandelten Arrangements o�mals mit
allel operierenden Machtnetzen, die die offiziellen und formalen Erfolg unterminierten (Schroeder 1984, 28ff.; Roth 1974).
Wege demokratischer Willensbildung und Partizipation umgehen Aber auch auf Seiten des Kapitals zeigte sich, dass dieses nicht ge-
und sich zusehends ausweiten. willt war, sich den etatistisch-keynesianischen Arrangements ohne
weiteres zu unterwerfen, v.a. wenn diese bedeuteten, dass die Arbei-
Dass es hierzu kommt, begründet sich nach Poulantzas darin, dass terInnen vielfach höhere Löhne erfolgreich durchsetzen konnten.
die Krisenprozesse der siebziger Jahre sich nicht allein auf ›ökono- So nutzten die davon pro�tierenden Kapitalfraktionen die Mittel
mische‹ Prozesse beschränken, sondern insgesamt enorme Auswir- antizyklischer staatlicher Investitionspolitik letztlich dazu, in neue
kungen auf die “Situation unserer Gesellscha�en mit demokrati- Produktionstechnologien zu investieren, statt neue Arbeitsplät-
schen Regierungsformen” haben (Poulantzas 2002, 231). In diesen ze zu schaffen. Die “keynesianische Rechnung”, die hinter dieser
Gesellscha�en kommt es durch das staatlichen Wirtscha�spolitik stand, war letztlich

“gesteigerte [...] Ansichreißen sämtlicher Bereiche des ökonomisch- “ohne den Wirt der kapitalistischen Marktkrä�e gemacht: Die Un-
gesellscha�lichen Lebens durch den Staat [zu einem] einschneiden- ternehmer nahmen die Investitionssubventionen gern mit, indem

86
sie Investitionen vorzogen, die sie sowieso hätten realisieren müs- der Währung, nur gestoppt werden, wenn der Preis in der Zeit, also
sen. Aber sie schufen keine neuen Arbeitsplätze, weil auch damals der Zins, angehoben wird.” Das so genannte ›Trilemma‹ in diesem
schon die Investitionen vor allem der Rationalisierung dienten.” System besteht darin, dass ein stabiler Wechselkurs nicht gleichzei-
(Altvater/Hübner 1988, 25) tig mit einer unabhängigen Geldpolitik und einem freien Kapital-
verkehr zu haben ist.
Und auch die in jener Zeit massiv einsetzende Internationalisie-
rung der Produktion ist ein zentraler Ausdruck davon, wie jene Freie Wechselkurse haben somit eine Auswirkung auf den Preis des
Kapitalfraktionen – unter den Bedingungen erschöp�er Produk- Geldes in der Zeit, den Zins. Für das Verhältnis von Gläubigern und
tivitätsreserven innerhalb des atlantischen Fordismus insgesamt – Schuldnern bedeutet dies, dass sich auf Seiten der Schuldner der
versuchten, den korporatistisch-keynesianischen Arrangements zu Zwang zur “erwerbswirtscha�lichen Rationalität” (Max Weber),
entkommen (Fröbel et al. 1977, Aglietta 1979, Poulantzas 1973). die an sich ein Produktivitätsmerkmal des Kapitalismus darstellt,
Der fordistisch-keynesianische Staat, nun von zwei Seiten unter nunmehr wandelt. Investitionen in produktives Kapital, v.a. über
Druck gesetzt, verstärkte in dieser Situation seinen exekutiv-eta- Schulden (vor-)�nanziert, können sich u.U. nicht mehr lohnen.
tistischen Modus noch um ein Weiteres. Die staatlich-exekutiven Denn bei freien Wechselkursen ist es seitens der Zentralbanken
Eingriffe richteten sich nun in autoritärer Weise v.a. gegen die reni- ›rational‹, einer etwaigen Abwertung der eigenen Währung durch
tenten und undisziplinierten ArbeiterInnen (Schroeder 1984, 41ff., eine Hochzinspolitik entgegenzuwirken. Und zu hohe Zinsen füh-
176ff.; Roth 1974). Gleichzeitig geriet durch die nunmehr immer ren, zumal wenn sie über der Rentabilität produktiver Investitionen
deutlicher feststellbare Offensive neoliberaler Finanzfraktionen, oder der Wachstumsrate des Sozialprodukts liegen, dazu, dass die
ausgehend v.a. von den USA, und der damit verbundenen erneuten ›Bedienung‹ der Schulden aus der produktiven Masse getätigt wer-
Liberalisierung der Finanzmärkte das keynesianische Paradigma den muss und das Wachstum somit zurückgeht. Die ›Logik‹ der
immer mehr in die Krise (Helleiner 1996; Kannankulam 2008). hohen Zinsen bei freien Wechselkursen ergibt sich noch aus einem
Letztgenannter Aspekt ist bei Poulantzas merkwürdig unterbe- weiteren Aspekt: die Möglichkeit der durch die Liberalisierung
lichtet, was wohl z.T. zeithistorisch bedingt ist. Nach meinem Ver- gegebenen schnellen Mobilisierung von Geldkapital. Droht der
ständnis – und hier sind die Analysen Poulantzas’ über ihn hinaus Wertverlust einer Währung, gibt es für die Geldvermögensbesitzer
zu treiben – war die Liberalisierung der Finanzmärkte im Zuge des die Möglichkeit, ihr Geldvermögen in eine stabilere Währung ein-
Zusammenbruchs des Bretton Woods-Systems �xer Wechselkurse zutauschen. Aufgrund dieser latent drohenden Dynamik be�nden
jedoch eine entscheidende ›äußere Klammer‹, die zur Entstehung sich die Währungen in einem ständigen Stabilitätswettlauf mit-
des autoritären Etatismus beitrug. Denn mit der Freigabe der Wech- einander. Dies einmal in Gang gesetzt, konkurrieren die Geldver-
selkurse gerieten die fordistisch-keynesianischen Nationalstaaten mögensbesitzer um die günstigsten Anlagemöglichkeiten, die nun
in einen währungspolitischen Stabilitätswettbewerb, der letztlich nicht (mehr) im produktiven Sektor liegen. Dem entspricht auf der
mit dazu beitrug, dass der fordistische Klassenkompromiss und die einen Seite eine drastische Ausweitung und Diversi�zierung von
damit einhergehenden Konzessionen an die subalternen Klassen Finanzierungsinstrumenten, die auf der anderen Seite Ausdruck
nicht mehr aufrechterhaltbar war (Helleiner 1996, 167; Hirsch davon sind, dass bei hohen Zinsen die Aufnahme eines Kredits ein
1995). Die damit verbundenen Konsequenzen möchte ich im fol- zunehmendes Risiko in sich birgt.
genden kurz skizzieren. Diesem Prozess steht eine gestiegene Schuldenlast gegenüber, denn
auch hier ist festzuhalten, dass einem Gläubiger notwendig ein
2. Zur Systematik liberalisierter Währungsmärkte Schuldner gegenübersteht bzw. entspricht. Das heißt salopp ausge-
drückt nichts anderes, als dass die Geld-Zinsgewinne des einen die
Idealtypisch besehen bringt die Abkopplung des Geldes vom Gold- Schulden des anderen sind.
standard eine entscheidende Veränderung der Funktion des Geldes Unter den Bedingungen einer Hochzinspolitik ist es – wie darge-
mit sich. Ist das Geld durch den Goldstandard noch an eine reale stellt – zum einen nicht lohnenswert und zum andern, wenn dies
Ware und produktive Größe (durch menschliche Arbeit hergestell- über die Aufnahme von Schulden erfolgt risikoha�, in produktive
tes Material) gekoppelt, ist mit der Au�ebung dieser Kopplung – Sektoren zu investieren. Dies bedeutet für die jeweiligen National-
wie es im Zuge der Liberalisierung der siebziger Jahre geschah – die ökonomien ein Rückgang des Bruttoinlandsproduktes. Für nati-
Wertfundierung nur rein monetär möglich (Candeias 2004, 107). onalstaatliche Wirtscha�s- und Finanzpolitik stellt sich dies u.a.
Elmar Altvater betont in diesem Zusammenhang “die Unverzicht- dar als Rückgang der aus dem produktiven Sektor erwirtscha�eten
barkeit der Zentralbank als einer politischen Institution, die nun Gewinne und somit v6n Steuereinnahmen. Um dies auszugleichen,
institutionelle Regeln der Geldmengensteuerung in Bezug auf die bestehen wiederum idealtypisch zwei Möglichkeiten: Zum einen
Leistungen der Arbeit entwickeln muss, weil die neutrale Bindung die Aufnahme von Schulden, was sich aber unter dem Zwang zur
an die durch Arbeit produzierte Metallmenge nicht mehr existiert” Stabilität verbietet, oder aber zum anderen die Umverteilung der
(Altvater 1987, 100). Wichtigstes Ziel dieses nun strukturell do- Schulden nach ›unten‹ durch eine Erhöhung des relativen oder ab-
minanten Staatsapparates ist es, die Geldmenge im Verhältnis zur soluten Mehrwerts und/oder einer Senkung der Löhne der Lohn-
Nachfrage knapp zu halten, damit der Wert des Geldes zeitlich arbeitenden.
gegen In�ation und räumlich in der Währungskonkurrenz stabil Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf fassen die sich aus dem darge-
gehalten wird. stellten ergebenden Konsequenzen für die gesellscha�lichen Kräf-
Geld hat, so Altvater/Mahnkopf (2002, 160), teverhältnisse und die relative Autonomie des Staates und seiner
Handlungsfähigkeit wie folgt zusammen:
“einen Preis in der Zeit, das ist der Zins, und einen Preis im Raum,
das ist der Wechselkurs. Beide sind nicht unabhängig voneinander. “Die Verstaatlichung der Schulden und die mit obigem Schema an-
Bei freiem Geld- und Kapitalverkehr und voller Konvertibilität der gedeutete Veränderung der Akkumulationsregimes haben aber eine
Währungen kann ein Preisverfall im Raum, also die Abwertung weitere Folge: Der Druck auf die Organisationen der Arbeit steigt,

87
sich mit einem geringeren Anteil des BIP [Bruttoinlandsprodukts, listischen Typs, gewarnt. So beklagt ein Leitartikel der Frankfurter
J.K.] zufriedenzugeben, um die Renditeansprüche der großen Geld- Allgemeinen Zeitung vom 31.5.1980 (zit. in Saage 1983, 92), dass
vermögen erfüllen und zugleich die realen Investitionen stimulieren die
zu können. Sollten sich die Gewerkscha�en auf dieses Ansinnen,
das allenthalben als der ökonomischen Weisheit unwiderlegbarer “persönliche Verweigerung und die parasitäre Inanspruchnahme
Aus�uss präsentiert wird, einlassen, haben sie gleich an zwei Fron- der Leistungen anderer [...] seit langem an den Grundlagen staat-
ten verloren: Sie müssen sich auf eine Stagnation oder gar Senkung licher Gemeinscha� [nagt]. [...] aus einer bedrohten Gefahrenge-
der Reallöhne und auf jeden Fall auf eine Umverteilung zu Gunsten meinscha� wurde ein Wohlfahrtsstaat, aus diesem ein sozialer
des Kapitals einlassen, und sie können sicher sein, dass der so geför- Wohlfahrts- und Fürsorgestaat. Er vermag keine Loyalitäten zu
derte weitere Anstieg von Geldvermögen, die ja quantitativ immer schaffen. Man hat an ihn nur Forderungen zu Lasten der anderen.”
weiter steigende Renditeansprüche generieren, die Krisenha�igkeit
des globalen Finanzsystems enorm steigern.” (2002, 173) – Ein Zustand, der in diesem Artikel schlicht als “Dekadenz” be-
zeichnet wird (ebd.). Dieser ›Dekadenz‹ auf Seiten derjenigen, die
Vor dieser Krä�ekonstellation oblag es den v.a. sozialdemokrati- parasitär die Leistungen anderer annähmen, stehe die ›Unregier-
schen Regierungen in den siebziger Jahren, eine monetaristisch- barkeit‹ dieser Gesellscha� durch den Staat gegenüber. Infolge der
angebotsorientierte, d.h. der Preisstabilität verp�ichtete Wirt- zunehmenden Bereitscha� der Bürger, den Staat bzw. die Gesell-
scha�s- und Finanzpolitik einzuleiten und damit den letzten Rest scha� für die individuellen Lebensumstände verantwortlich zu ma-
an Unterstützung durch die ArbeiterInnenklasse zu verspielen. chen, so das Lamento, gerieten die Institutionen der Konkurrenz-
Die eingangs genannten vier Tendenzen der Machtverschiebung Demokratie in Widersprüche, die sie selbst nicht lösen könnten.
weg von der Legislative hin zur Exekutive, der zunehmenden Ver- So zwinge die Konkurrenz um Wählerstimmen die Parteien und
schmelzung zwischen der Legislative, der Exekutive und der Juris- Verbände dazu, widersprüchliche Positionen einzunehmen. Aus
diktion, dem Funktionsverlust der politischen Parteien und der diesem Zwang, den Wählerstimmen entgegenzukommen, würden
zunehmenden Verlagerung dieser Vermittlung hin zu parallel ope- dann vorrangig Einkommens- und Konsuminteressen berücksich-
rierenden Machtnetzen, begründen sich also darin, dass der fordis- tigt, so Peter Graf Kielmansegg (1977, 129; zit. in Saage 1983, 99),
tisch-keynesianische Staat in der Krise der siebziger Jahre einerseits obleich “viele Probleme nur zu Lasten des individuell verfügbaren
seinen etatistisch-exekutiven Eingriffsmodus verstärkt, dies ande- Einkommens, des individuellen Konsums gelöst werden können”.
rerseits jedoch angesichts zunehmender Streiks und gesellscha�li- Und unter dem Zwang, in der Konkurrenz-Demokratie die Inte-
cher Auseinandersetzungen ohne die hegemoniale Einbindung der ressen des Volkes zu berücksichtigen, das “im politischen Alltag
subalternen Klassen vor sich geht. als ein Konglomerat organisierter Interessen au�ritt”, stünden die
Parteien unter dem Zwang, Reformen einzuleiten, “die in der Regel
3. Britische und deutsche Perspektive im Vergleich das Gegenteil dessen bewirken, was sie erreichen sollen”, so Saage
kritisch paraphrasierend (Saage 1983, 101). Doch nicht nur dies:
Im Zuge des Zusammenbruchs des Bretton Woods-Systems kam es Um sich den Wählern verständlich machen zu können, so Graf
also zu einem ökonomischen Paradigmenwechsel, der letztlich die Kielmansegg weiter, würden politische Diskussionen auf einem
Hegemonie- und Legitimitätskrise des fordistischen Staates noch niedrigeren Rationalitätsniveau statt�nden, als es der tatsächlichen
verschär�e und zuspitzte. In dieser Situation war es nun nicht, Problemlage angemessen sei.
wie Poulantzas erho�e, die politische Linke, die davon pro�tierte
– auch wenn die Situation zu jener Zeit angesichts zunehmend mi- “Und schließlich erhöhten sich angesichts der Anspruchshaltung
litanter Auseinandersetzungen dies durchaus nicht unplausibel er- der Wählerscha� die Staatsausgaben, obwohl für entsprechende
scheinen ließ –, sondern die neoliberale und neokonservative Rech- Einnahmen nicht gesorgt werden könne.” (Saage 1983, 99-100)
te, die sich erfolgreich aus den Krisenprozessen rekonstituierte.
Margaret �atchers Offensive inmitten des Winter of Discontent Die an die Erfüllung der Ansprüche dieser “organisierten Inter-
von 1979 – bei dem die ArbeiterInnen über mehrere Monate streik- essen” gekoppelte Zustimmung zur Ordnung der Bundesrepublik
ten, was von der britischen Boulevard-Presse drastisch inszeniert war gewährleistet, “solange ›ein zur jährlichen Umverteilungs-
wurde, z.B. mit Bildern von in Alufolie eingewickelten Patienten ernte reifendes Wirtscha�swachstum‹ sie befriedigte” (so Rüdi-
in Krankenhäusern, da infolge des Streiks keine saubere Bettwä- ger Altmann in der FAZ vom 8.7.1978; zit. in Saage 1983, 100).
sche mehr zur Verfügung stand oder von sich türmenden Särgen, Angesichts chronischer Arbeitslosigkeit, der Investitionsschwäche
da auch die Totengräber von Liverpool ihre Arbeit verweigerten – der Unternehmen und der hohen Verschuldung der öffentlichen
sollte unter dem Diktum des “Strong State and the Free Economy” Haushalte sei die Grenze des Sozialstaats erreicht. Und unter dieser
(Gamble 1994) den zentralen Bezugspunkt neoliberal-neokonser- Voraussetzung kann, so Saage die damalige Debatte wiedergebend,
vativer Politiken ab Ende der siebziger Jahre darstellen. “sowohl Legalität als auch Legitimität des Systems der Bundesre-
Interessant hierbei ist, dass sich die Krisenanalyse konservativ-ne- publik sich auf einen Ausnahmezustand zubewegen. Die Krise der
oliberaler Provenienz mit derjenigen von Poulantzas in zentralen Legalität sei absehbar” (Saage 1983, 101). Die Gefahr, die daraus
Punkten auffallend gleicht: Auch von konservativ-neoliberaler Sei- zu resultieren drohe, sei die zunehmende Verstrickung der parla-
te wurde festgestellt, dass der Staat zunehmend handlungsunfähig mentarischen Abgeordneten in das “Magnetfeld der Bürokratie”,
werde, da er zu viele Interessen gleichzeitig berücksichtige. Auch die dabei als “Verschiebebahnhof ” der auf normalem, parlamenta-
auf dieser Seite wurde in diesem Zusammenhang von einer Legi- rischem Wege nicht mehr bewältigbaren Probleme fungiere. Die
timitätskrise des bürgerlich-demokratischen Staates gesprochen, Folgen, so Saage, weiter paraphrasierend,
in der sich die Bürokratie und deren Spitzen immer mehr Macht
aneigne und immer mehr Verfahren an sich reiße. Und auch hier “lassen nicht auf sich warten: Die Abgeordneten müssen um ihre
wurde vor der Gefahr einer autoritären Lösung, allerdings sozia- Basis fürchten; ihre Entfremdung vom Bürger eröffnet Bürgerini-

88
tiativen Chancen, ›die Partei gegen die Parteien nehmen‹“ (Alt- Regierungen der achtziger Jahre durchaus lautstark den Rückbau
mann a.a.O. zit. in ebd.). des Staates predigten, sich dieser keineswegs aus allen gesellscha�-
lichen Bereichen gleichermaßen zurückzog; nicht alles wurde dem
Eine Beschreibung der Krisenverstärkungsspirale des fordistisch- Tribunal des Marktes übereignet. Zog sich der konservativ-neolibe-
keynesianischen Wohlfahrtsstaates, die derjenigen von Poulantzas rale Staat v.a. aus den Bereichen der sozialen Fürsorge zurück (vgl.
in erstaunlicher Weise ähnelt. Die Vorschläge zur Behebung die- Borchert 1995, 212), rüstete dieser Staat auf repressiver Seite enorm
ser Krisenphänomene sind jedoch denen Poulantzas – wie kaum auf. Vor allem in den Bereichen Innere Sicherheit und Militär kann
anders zu vermuten war – diametral entgegengesetzt: Nicht der keineswegs von einem Rückzug des Staates gesprochen werden.
Au�ruch zum demokratischen Sozialismus mit einem mehr an Ein Bereich, in dem dieser Widerspruch zwischen Rhetorik und
Demokratie ist hier die Lösung, sondern die Demokratie als sol- Realität augenfällig wurde, ist derjenige der Arbeitsmarktpolitik.
che wird als problematisch denunziert. Die Lösungsstrategie, die- In Großbritannien wurde hier schon früh der Wandel vom Welfare
sen Missstand zu beheben, dür�e heute hinlänglich bekannt sein: zum Workfare vollzogen. Staatliche Leistungen bei Arbeitslosig-
Mehr Markt und den Staat nur noch da, wo es unabdingbar ist, und keit gab es nach und nach nur noch, wenn die betroffenen Subjek-
wo er nötig ist, um mehr Markt einzuführen. Hierdurch würden te – v.a. jüngere Arbeitslose – sich mehrwöchigen Trainings- und
dann endlich die Leistungsträger der Gesellscha� wieder belohnt sonstigen Disziplinierungsmaßnahmen unterwarfen (Peck 2000;
und diejenigen, die durch ihr Anspruchsdenken sich auf Kosten Jessop 2003). Dass dieser Wandel nur einen vordergründigen
der Gesellscha� auszuruhen gedenken, würden wieder gezwun- Rückzug des Staates bedeutete, wird deutlich, wenn man sich die
gen, sich dem Leistungsprinzip zu unterwerfen. Das Tribunal des enormen Summen anschaut, die diese Programme kosteten. Von
Marktes als Allheilmittel. den staatlichen Überwachungs- und Verwaltungsaufwendungen
Wie man am Beispiel Großbritannien sehen konnte, legte sich die hierfür ganz zu schweigen.
Regierung �atcher enorm ins Zeug, dieser Ideologie auch Taten Waren die konservativen Regierungen anfänglich und angesichts
folgen zu lassen: Privatisierung verstaatlichter Betriebe war die des realen und zu erwartenden gesellscha�lichen Widerstandes
Maxime, korporatistische Arrangements und gewerkscha�liche noch zurückhaltend, lässt sich dies von den sozialdemokratischen
Machtbasen wurden zerschlagen und es wurde versucht regiona- Regierungen in Großbritannien und der BRD ab Ende der Neun-
le Widerstandszentren auszuschalten (Gamble 1994, Jessop et al. ziger Jahre nicht sagen. In Großbritannien knüp�e Tony Blair im
1988, Jessop 1996). innerparteilichen Machtkampf zwischen Old und New Labour in
In der BRD erfolgte dieser Prozess unter Helmut Kohl eher schlei- Bonapartistischer Manier seine Person an den Ausbau der Work-
chend: Hier wurden – auch weil die Krisenphänomene sich nicht fare-Maßnahmen (Evans/Cerny 2004; Shaw 1996). Und in der
symbolträchtig wie im Winter of Discontent zuspitzten und Kohl BRD nutzte die Regierung Schröder die Gunst der Stunde, sprich:
zunächst durch das innerparlamentarische Misstrauensvotum an einen Skandal bei der Bundesanstalt für Arbeit dazu, eine außer-
die Macht kam – lange noch die korporatistischen Arrangements parlamentarische Kommission unter der Leitung eines Autokon-
beibehalten, und man sah sich auch lange noch dem fordistischen zernmanagers einzusetzen, die den bis dahin drastischsten Umbau
Politikparadigma verp�ichtet (vgl. Esser 1990, Jessop 1986). Die der bundesdeutschen Arbeitslosenpolitik nach 1945 ausarbeitete
einmalige Chance für einen radikaleren Umbau ergab sich durch (Blancke/Schmid 2003).
die deutsche Wiedervereinigung: Jens Borchert spricht davon, dass Was bei der Implementierung dieser Maßnahmen auffällt, und hier
man ohne Übertreibung behaupten kann, dass der Kurs, der auf kommt wieder der autoritäre Etatismus ins Spiel, ist, dass diese exe-
diesem Gebiet von der Regierung Kohl eingeschlagen wurde, mit kutiv ›von oben‹ gegen enorme Widerstände in der Bevölkerung
einiger zeitlicher Verzögerung auf den nordamerikanischen Ver- durchgesetzt wurden und dass für deren Durchsetzung auch Wi-
schuldungspfad eingeschwenkt ist (Borchert 1995, 203). Ähnlich derstände innerhalb der (sozialdemokratischen) Parteien ausge-
wie in den USA unter Reagan wurde somit die Politik der leeren, schaltet wurden – was deren Bedeutungsverlust in den Augen der
geplünderten Kassen in der BRD unter Kohl dazu benutzt, einen WählerInnenscha� um ein Weiteres verstärkt haben dür�e.
drastischen haushaltspolitischen Kurswechsel einzuleiten. Hier- Darüber hinaus ist das Verfahren, wie diese Maßnahmen in der
durch wurde eine steuerstaatliche Politik begünstigt, durch die BRD in Gang gesetzt wurden, in gewisser Weise ein autoritär-eta-
die Kosten für die Bürger – sprich die Steuern und Sozialabgaben tistisches Paradebeispiel dafür, wie unter Schröder ein paralleles,
– stetig erhöht und gleichzeitig die sozialstaatlichen Leistungen ab- vom normalen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren abge-
gebaut wurden (ebd.). koppeltes Expertengremium im Zusammenspiel mit der Exeku-
Die deutsche Wiedervereinigung eröffnete somit der Regierung tive autoritative Maßnahmen gegen die subalternen Klassen und
Kohl die Möglichkeit, zentrale Pfeiler des bundesdeutschen Wohl- Widerstände in der Partei erfolgreich durchsetzen konnte (vgl.
fahrtsstaates zu schleifen und die Krä�everhältnisse zu verschie- Butterwegge 2002, Candeias 2004a). Was dabei deutlich wird,
ben. ist, dass der autoritäre Etatismus als Politikmodus auch mit dem
Machtantritt der konservativen Parteien ab Anfang der achtziger
4. Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus Jahre nicht zu einem Ende gekommen ist. Auch für diese Regierun-
gen erwiesen sich die relativen Verselbständigungsprozesse staat-
Ohne an dieser Stelle weiter auf die Details eingehen zu wollen, lich-exekutiver Apparate und die Struktur und Existenz paralleler
stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob mit dem Macht- Machtnetzwerke als außerordentlich nützlich und notwendig, um
antritt der konservativ-neoliberalen Regierungen der autoritäre ihre politischen Ziele durchzusetzen. Im Einklang mit der oben
Etatismus nicht zu einem Ende gekommen war, da diese Regierun- skizzierten konservativen Ideologie ging es ja gerade darum, die
gen ja weniger Staat und mehr Markt zum Programm erhoben hat- Exekutive zu stärken und die laut neoliberalem Credo überborden-
ten? Denn somit wäre ja der Etatismus als grundlegendes Merkmal de Berücksichtigung subalterner Interessen drastisch zurückzubau-
hinfällig geworden. en. Alle möglicherweise aufgekommenen Hoffnungen, dass es mit
Feststellbar ist jedoch, dass, auch wenn die konservativ-neoliberalen dem Machtantritt der sozialdemokratischen Regierungen zu einem

89
Ende des autoritär etatistischen Konservativismus kommen würde, lich, nämlich wenn man sich aktuelle Debatten zu Demokratie und
haben sich schnell als verfehlt erwiesen. Die sozialdemokratischen neuere staatstheoretische Konzeptionen ansieht. Konstatiert wird
Parteien haben angesichts der nun auch global immer deutlicher hier ein
gewandelten Krä�everhältnisse und des konsolidierten Neolibe-
ralismus auch innerparteilich einen deutlichen Wandel vollzogen “Zuwachs der Staatsaufgaben einerseits und eine [...] durch interne
(Candeias 2004, 332; Kannankulam 2007). Fraktionierung abnehmende Steuerungsfähigkeit des politischen
Aus der Perspektive der Neo-Gramscianischen Kritik der Inter- Systems und Steuerbarkeit gesellscha�licher Subsysteme anderer-
nationalen Politischen Ökonomie kristallisierte sich aus diesen seits” (Schmalz-Bruns 1995, 28).
Prozessen ein “disziplinierender Neoliberalismus” und als dessen
politisch-rechtliche Dimension ein “neuer Konstitutionalismus” Dies hat Auswirkungen auf die bestehenden Demokratien insofern
heraus. Diese v.a. von Stephen Gill entwickelten Begriffe stellen – so könnte man die Debatte paraphrasieren –, als dass zum einen
somit das transnationale Pendant zu den von Poulantzas für die die vom Staat zu lösenden gesellscha�lichen Probleme immer unü-
in der Krise der fordistischen Nationalstaaten identi�zierten Ten- bersichtlicher werden, was zum anderen den Demos in seiner Präfe-
denzen zur Herausbildung des autoritären Etatismus dar. Hiernach renzbildung und Wahlentscheidung zu überfordern droht.
etablierte sich im Zuge der Krisen der siebziger Jahre u.a. durch die Die Bandbreite der “Lösungsvorschläge” zur Behebung dieses Mis-
am “Washington Consensus” beteiligten Institutionen (Gill 2000, standes, der sich auch und vor allem in den Globalisierungspro-
5) ein global wirksames System heraus, dessen Ziel die weltweite zessen begründet, ist kaum noch zu überschauen. Pickt man sich
Etablierung einer in zehn Zielen benannten ökonomischen Ord- jedoch bspw. die Argumentation von Fritz W. Scharpf heraus, – der
nung und Disziplin ist. darauf hinweist, dass Demokratie vor diesem Hintergrund nicht
Neben dem Internationalen Währungsfond, dem General Agree- nur hinsichtlich ihrer Input-Seite zu betrachten ist, also danach,
ment on Trade and Tariffs und der Gruppe der sieben führenden wer wie am Zustandekommen gesellscha�licher Entscheidungen
Industrieländer als zentralen Regimen, gelten aus dieser Perspekti- beteiligt ist (Herrscha� durch das Volk), sondern dass Demokra-
ve auch die regionalen Prozesse ökonomischer Integration wie die tie eben auch hinsichtlich ihrer Output-Seite zu betrachten ist, der
Europäische Union, die North American Free Trade Association “Herrscha� für das Volk” –, so �ndet sich im Anschluss an diese
oder die Association of Southeast Asian Nations als Ausdruck und Unterscheidung die Feststellung, dass diejenigen politischen Sys-
Stützen des neoliberal-monetaristisch ausgerichteten “Neuen Kon- teme, die stärker Output-orientiert sind, in denen die Macht also
stitutionalismus”, der konzentrierter ist,

“die Vernetzung des globalen Kapitals und die Intensivierung der “handlungsfähiger und damit jedenfalls dann potentiell problem-
Marktdisziplin und damit die Kommodi�zierung von Sozialbe- lösungsfähiger [sind], wenn eine gemeinwohlorientierte Politik
ziehungen vorantreibt” (Bieling/Deppe 1996, 733; vgl. Gill 1992; die Abkehr vom Status quo erfordert, während machtverteilende
1995a). Systeme gerade damit besondere Schwierigkeiten haben.” (Scharpf
2004).
Gekoppelt an diesen Prozess der transnationalen Etablierung und
Durchsetzung des Neoliberalismus ist ein multidimensionaler Um- In dieser zunächst einmal nur konstatierenden Aussage steckt bei
bau der bestehenden Gesellscha�sordnungen. Jener beschränkt näherem Hinsehen jedoch mehr als eine bloße Feststellung. Denn
sich nicht auf die institutionelle transnationale Ebene: auch wenn damit die Form

“In the last two decades there has been a global shi� towards a sys- “der Neo-Arkanpolitik [Geheimpolitik, J.K.], die gegenwärtig in
tem more based upon the politics of supremacy and subordination, den diversen Ausschüssen, Konsensrunden und Regierungskom-
a disciplinary politics which works at micro levels of everyday life.” missionen praktiziert wird” (Lösch 2004, 127),
(Gill 1995, 26)
keine hinlängliche demokratische Legitimation beanspruchen
Bezogen auf die staatliche Ebene koppelten sich diese Prozesse mit kann, ist sie vor dem Hintergrund der Scharpf ’schen Unterschei-
den ›hinter‹ ihr stehenden veränderten (internationalen) Krä�e- dung doch zumindest vom Ergebnis her zu rechtfertigen. Insofern
verhältnissen an eine Neukon�guration der Staatsapparate, verwundert es nicht, wenn z.B. für Romano Prodi

“d.h. die Aufwertung von relativ eng an den Weltmarkt gekoppel- “die Effizienz der Aktion der europäischen Institutionen die
ten Staatsapparaten (Finanzministerien, Zentralbanken etc.) und Hauptquelle ihrer Legitimität” ist (Rede vor dem Europaparlament
die Subordination von Ministerien für Beschä�igung und soziale am 15.02.2000).
Sicherheit” (Bieling/Deppe ebd.; vgl. Gill 1995a, 82).
Warum sollte das, was für die notorisch Input-demokratiede�zitä-
Prozesse, die somit aus der Perspektive der Neo-Gramscianischen re EU gilt, nicht auch auf nationaler Ebene gelten? Denn wie sonst
Kritik der Internationalen Politischen Ökonomie das erfassen, was lässt sich bspw. die Hartz-Kommission und die allzu �xe Umset-
Poulantzas für den kriseninduzierten Umbau der fordistischen Na- zung der dort beschlossenen Maßnahmen rechtfertigen?
tionalstaaten dargelegt hatte. Feststellbar ist, dass das, was für Poulantzas Mitte der siebziger
Jahre Gegenstand deutlicher Kritik war und was er als ein Kern-
5. Aktuelle Fragen der Demokratie element des autoritären Etatismus identi�zierte, nicht aus den ak-
tuellen Politikprozessen verschwunden ist, sondern im Gegenteil
Dass der autoritäre Etatismus auch im Neoliberalismus nicht zu ei- derzeit seine ideologische Rechtfertigung erfährt.
nem Ende gekommen ist, wird noch in einem anderen Aspekt deut- Kernelemente des autoritären Etatismus fügen sich somit faktisch

90
und ideologisch in den derzeitigen neoliberalen Umbau der Gesell- Literatur
scha�en.
Bettina Lösch weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Aglietta, Michel (1979): A �eory of Capitalist Regulation: �e
auch in rein prozeduralen Konzeptionen deliberativer Demokratie U.S. Experience. London.
die — (1987): Sachzwang Weltmarkt. Hamburg.
— /Hübner, Kurt (1988): “Das Geld einer mittleren Hegemoni-
“’nicht-organisierte Öffentlichkeit’, wie die Sphäre der Zivilge- almacht. Kleiner Streifzug durch die ökonomische Geschichte der
sellscha� auch genannt wird [...] zwar in den demokratischen Be- BRD”, in: Prokla 73, 6-36.
ratungsprozess eingebunden [wird, ...] jedoch auf eine Zulieferer- — /Mahnkopf, Birgit (2002): Grenzen der Globalisierung. Öko-
funktion zu den etablierten politischen Institutionen beschränkt nomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellscha�. Münster, 5.
[bleibt].” (2004, 256) Au�age.
Ambrosius, Gerold (1989): “Das Wirtscha�ssystem”, in: Benz,
Diese Perspektive der Zulieferfunktion und die Rechtfertigung der Wolfgang (Hg.): Die Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-
autoritär-etatistischen parallelen Machtnetzwerke und Kommissi- land. Band 2: Wirtscha�. Frankfurt/Main, 11-81.
onen �ndet sich auch in aktuellen staatstheoretischen Konzepten Benz, Arthur (1998): Postparlamentarische Demokratie? Demo-
wie dem ›kooperativen Staat‹ oder der ›postparlamentarischen kratische Legitimation im kooperativen Staat, in: Greven,
Demokratie‹ wieder (vgl. Benz 1998). Michael �. (Hg.): Demokratie – eine Kultur des Westens? Opla-
Denn durch die Tatsache, so Arthur Benz, dass der Staat mit ge- den, 201-222.
sellscha�lichen Akteuren in Kooperationsverhältnissen steht – so- Bieling, Hans-Jürgen/Deppe, Frank (1996): “Gramscianismus in
mit also das Bild vom Leviathan bzw. des hierarchisch steuernden der Internationalen Politischen Ökonomie. Eine Problemskizze”,
Staates hinfällig geworden sei –, veränderten sich die Bedingungen in: Das Argument 217, 729-740.
staatlicher Steuerung (Benz 1998, 90). Benz stellt zwar fest, dass Blancke, Susanne/Schmid, Josef (2003): “Bilanz der Bundesre-
vielfach bezweifelt wird, ob die Auslagerung von Entscheidungen gierung Schröder im Bereich der Arbeitsmarktpolitik 1998-2002:
aus den Parlamenten in Verhandlungssysteme als demokratisch be- Ansätze zu einer doppelten Wende”, in: Egle/Ostheim/Zohln-
zeichnet werden kann (ebd., 93). Dies hält ihn aber nicht davon höfer (Hg.): Das Rot-Grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung
ab, festzuhalten, dass solche Kooperationsprozesse, einmal gege- Schröder 1998-2002. Wiesbaden, 215-238.
ben, nur dann effektiv sind, wenn die Zahl der Teilnehmer klein Borchert, Jens (1995): Die Konservative Transformation des
ist, und dass erst wenn die Verhandlungspartner nicht mehr den Wohlfahrtsstaates: Großbritannien, Kanada, die USA und
Darstellungszwängen öffentlicher Beratungen unterliegen, sich die Deutschland im Vergleich. Frankfurt/Main u.a.
produktive Eigendynamik unmittelbarer Kommunikation ent- Busch, Andreas (1991): “Die Deutsch-Deutsche Währungsunion:
falten kann (ebd., 95-6). Kurzum: Effektive Verhandlungen sind Politisches Votum trotz ökonomischer Bedenken”, in: Liebert/
notwendigerweise exklusiv und �nden in kleinen Zirkeln und am Merkel (Hg.): Die Politik zur Deutschen Einheit. Opladen, 185-
besten hinter verschlossener Tür statt. 207.
Auch wenn derlei Argumente vielfach als demokratisch mangel- Butterwegge, Christoph (2002): “Neokorporatismus oder Neoli-
ha� oder nur unter dem Verdikt des “wenn es faktisch schon so ist beralismus bei Rot-Grün? Bilanz der Sozialpolitik seit 1998.”, in:
– dann müssten konsequenterweise auch diese oder jene Bedingun- Z. Zeitschri� für Marxistische Erneuerung 49.
gen für höchstmögliche Effizienz gegeben sein”, geäußert werden, Candeias, Mario (2004): Neoliberalismus – Hochtechnologie
weisen sie doch darauf hin, dass eben das, was Poulantzas als auto- – Hegemonie: Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen
ritäre Entwicklung für die Krise der siebziger Jahre identi�zierte, Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik. Hamburg: Argu-
sich gewissermaßen auf Dauer gestellt hat und heute mit den da- ment.
zugehörigen theoretischen Weihen versehen wird. Die genannten — (2004a): “Erziehung der Arbeitskrä�e. Rekommodi�zierung
Kernelemente des autoritären Etatismus sind nicht von der Bild�ä- der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat.”, in: UTOPIE
che verschwunden, sondern kleiden sich heute unter neoliberalen kreativ 165/166, 589-601.
Vorzeichen in neues Gewand. Demirović, Alex (1997): Demokratie und Herrscha�. Münster.
Umso wichtiger ist es, sich solcherlei Entwicklungen und ihren ide- Deutsche Bundesbank (1998): Geschä�sbericht. Frankfurt/Main.
ologischen Apologeten auch mit theoretischer Kritik entgegenzu- http://www.bundesbank.de (Zugriff 04/2008)
stellen. Denn Poulantzas Diktum, dass die Geschichte selbst — (2006): Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010. Drucksache
16/2301. Berlin.
“uns bis heute kein gelungenes Experiment des demokratischen http://dip.bundestag.de/btd/16/023/1602301.pdf (Zugriff
Wegs zum Sozialismus gegeben hat”, ist zwar weiterhin gültig, gül- 04/2008)
tig ist aber auch seine Aussage, dass der “Sozialismus demokratisch Esser, Josef (1990): Das Wunder lässt auf sich warten – 10 Jahre
oder gar nicht sein wird” (2002, 294). “�atcher Revolution”. Teil I und II, in: Links Nr. 237 und 239.
Evans, Mark/Cerny, Philip G. (2004): “New Labour”, Globalisie-
Das beinhaltet auch, über das begrenzte historische Niveau der rung und Sozialpolitik, in: Lütz, Susanne/Czada, Roland (Hg.):
kapitalistischen Arbeitsteilung hinauszugehen, so dass die “asso- Wohlfahrtsstaat – Transformation und Perspektiven. Wiesbaden,
ziierten Individuen auch über die Art und die Verteilung der ge- 207-230.
sellscha�lichen Tätigkeiten und Kooperation entscheiden, also Fröbel, Folker/Heinrichs, Jürgen/Kreye, Otto (1977): Die Neue
über die Arbeitsteilung selbst”, so Alex Demirović (1997, 20). Dies Internationale Arbeitsteilung: Strukturelle Arbeitslosigkeit in den
könnte ein lohnenswertes Ziel sein. Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungslän-
der. Hamburg.
Gamble, Andrew (1994): �e Free Economy and the Strong State.

91
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Der Text von John Kannankulam: Autoritärer Etatismus im Neoli- John Kannankulam hat 2009 zu folgendem �ema in Bremen re-
beralismus erschien erstmals in: Jens Wissel/Stefanie Wöhl (Hrsg.): feriert:
Staatstheorien vor neuen Herausforderungen. Analyse und Kritik,
Münster 2008, S. 145-165. Dank der freundlichen Genehmigung Krise, Staat und emanzipatorische Intervention
des Autors und des Verlags Westfälisches Damp�oot darf er hier er- Diskussionsveranstaltung mit Heide Gerstenberger und John Kan-
neut veröffentlicht werden. nankulam am Donnerstag, 26. März 2009
Siehe:
http://www.rosa-luxemburg.com/?p=222
http://associazione.wordpress.com/2009/02/17/do26-03-09-kri-
se-staat-und-emanzipatorische-intervention/

92
Heide Gerstenberger

Staatsgewalt im globalen Kapitalismus

Die Globalisierung nationalstaatlicher Souveränität mung zwischen alten und neuen Staaten sei nicht auf die prinzipi-
elle Gleichstellung im internationalen Recht begrenzt. Vielmehr sei
Von wenigen Ausnahmen und der Hohen See abgesehen, gehört durch die Transformation der Staaten von Industriegesellscha�en
heute jedes Gebiet der Erde zu einem souveränen Staat oder ist ein zu Wettbewerbsstaaten (Hirsch), will sagen zur Unterordnung von
sogenanntes abhängiges Gebiet eines solchen Staates.1 Diese Auf- Politik unter Bedingungen internationaler wirtscha�licher Kon-
teilung der Welt unter souveräne Nationalstaaten ist das Resultat kurrenz, die Souveränität aller Staaten erheblich beschränkt wor-
eines historischen Prozesses, der seinen Ausgang im 17. Jahrhun- den. Auf diese Weise wurde der Unterschied zwischen der Staats-
dert in Europa hatte und seither zweimal auf grundlegende Wei- gewalt in ökonomisch und politisch führenden Gesellscha�en und
se verändert wurde. Als die ersten souveränen Territorialstaaten Staatsgewalt in ökonomisch und politisch kaum international kon-
entstanden, waren sie ein Produkt langer und verheerender eu- kurrenzfähigen Gesellscha�en gewissermaßen für analytisch ne-
ropäischer Kriege. Um Herrscha� zu stabilisieren, entschlossen bensächlich erklärt. Inzwischen wird deutlicher wahrgenommen,
sich die in Münster (Westfalen) versammelten Fürsten 1648, den dass insbesondere die postkolonialen Staaten in der Sub-Sahara
status quo dadurch zu stabilisieren, dass sie sich gegenseitig die ihre Souveränität lediglich „unter Vormundscha�“ (Mbembe) aus-
Herrscha� über das jeweils eroberte bzw. verteidigte Territorium üben können. Die fundamentale Ungleichheit zwischen rechtlich
samt den darin lebenden Menschen zugestanden. Souveränität ent- gleichgestellten souveränen Nationalstaaten ist ein Merkmal des
stand als dynastische Souveränität. (Teschke, 2003/2007). Erst als globalisierten Kapitalismus.
Fürsten ihrer Herrscha�skompetenzen enteignet wurden, wurde
aus der Fürstensouveränität die Volkssouveränität und aus bloßen Die Internationalisierung von Märkten
Territorialstaaten wurden Nationalstaaten. Bei dieser Konstitu-
tion von Souveränität durch Machtpolitik gegenüber aktuellen In der Entwicklung des Weltmarktes gibt es drei Wellen verstärkter
sowie potentiellen äußeren sowie inneren Konkurrenten ist es bis Internationalisierung. Die erste begann im 16. Jahrhundert, als von
zur Gründung der UNO geblieben. 2 Seither wird Souveränität Europa aus vermehrt Fernhandel betrieben und überseeische Ge-
auf Vorschlag des Sicherheitsrates von der Generalversammlung biete in Beschlag genommen wurden. Die zweite Welle verstärkter
der Mitgliedsstaaten verliehen – und zwar nicht auf der Basis ei- Internationalisierung setzte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahr-
ner nach innen und außen durchgesetzten Machtposition, sondern hunderts ein. Erneut handelte es sich vor allem um merkantile Ver-
im Namen des völkerrechtlichen Prinzips des Rechtes aller Völker �echtungen, jetzt allerdings waren Kolonien in die Strukturen ka-
auf Selbstbestimmung. Dieses Prinzip wurde und wird aber sehr pitalistischer Produktion und Distribution auf eine Art und Weise
selektiv ausgelegt. Die Ausnahme vom generellen Verbot der Ge- integriert, welche die potentielle Entwicklung einer eigenen indus-
waltanwendung ist nämlich nur Bevölkerungen zugestanden wor- triellen Produktion verhinderte und sie langfristig auf die Rolle des
den, über welche eine Kolonialmacht herrschte. Das internationale Exporteurs von Rohstoffen und Agrarprodukten festlegte.(Giraud,
Recht verwehrt nicht nur anderen Staaten, sondern auch Bevöl- 1996, 135 u. passim) Im Jahre 1913 hatte der Anteil der Weltpro-
kerungsgruppen innerhalb der neuen Nationalstaaten das Recht, duktion, der international gehandelt wurde, ein Ausmaß erreicht,
die von der UNO verliehene Souveränität in Frage zu stellen. Mit das erst Anfang der 1970er Jahre wieder erzielt werden sollte. Dieser
der Anerkennung der Unabhängigkeit früherer Kolonien wurden Sachverhalt macht exemplarisch deutlich, dass Kapitalismus zwar
deshalb zugleich jene „Völker“ geschaffen, denen nun Souveränität immer schon eine Tendenz zur Erweiterung und damit zur Inter-
verliehen wurde. Die weltweite Verbreitung der rechtlichen und nationalisierung eigen war, dass diese Tendenz aber nicht mit einer
administrativen Formen des Nationalstaates ist ein Element jener sich quasi naturgesetzlich durchsetzenden Dynamik der Interna-
Entwicklung, für die sich inzwischen der Terminus „Globalisie- tionalisierung verwechselt werden darf. Politische Entscheidungen
rung“ eingebürgert hat. haben im 20. Jahrhundert die Internationalisierung ökonomischer
In der ersten Phase der Diskussion über Globalisierung, also in Prozesse über Jahrzehnte nicht nur zum Stillstand gebracht, son-
den 1990er Jahren, wurde vielfach angenommen, die Übereinstim- dern sogar zurück geschraubt. Und politische Entscheidungen wa-

1 Im südchinesischen Meer liegen die winzigen Archipele Paracelsus und 2 Eine erste Abweichung von dieser machtpolitischen Konstitution sou-
Spratleys. Mehrere Staaten erheben Ansprüche, vorläu�g sind die Ar- veräner Nationalstaaten erfolgte 1919, als die Siegermächte des Ersten
chipele jedoch gewissermaßen staatenlos. (Chemillier- Gendreau, 1996) Weltkrieges jenen politischen Gebilden, die aus der Zerschlagung des Ös-
Auch ein kleines, zwischen Kuweit, Irak und Saudi Arabien gelegenes Ge- terreichisch-Ungarischen Reiches hervorgingen, staatliche Souveränität
biet gehört zu keinem Staat, sondern wird als „neutrale Zone“ bezeichnet. zugestanden.
Trotz aller neuerdings vermehrt erhobener Besitzansprüche gelten vorläu-
�g auch noch die Arktis und die Antarktis als gemeinsames Eigentum der
Menschheit.
93
ren es auch, die Mitte der 1970er Jahre die dritte Welle verstärkter Dollar, musste Dollar aber nach wie vor zum festgelegten Satz in
Internationalisierung in Gang setzten. Gold konvertieren. Die Situation verschlechterte sich zusätzlich,
Zwar gab es bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Stra- weil die Förderung von Gold nicht in dem Maße stieg, wie das
tegien zur Liberalisierung des internationalen Handels, und die 1944 unterstellt worden war. Bereits in den 1960er Jahren kam es
Regierungen der USA haben das Recht auf Selbstbestimmung auch zur Herausbildung des sog. Euro-Dollar-Marktes, einer Ent-
kolonisierter Bevölkerungen nicht nur aus humanitären Gründen wicklung, die als Vorläuferin des heute immensen Offshore Systems
nachdrücklich vertreten, sondern auch, weil sie Zugang zu Märkten zu werten ist. Viele US Firmen transferierten damals ihre auslän-
gewinnen wollten, die ihnen aufgrund der Dominanz von Koloni- dischen Gewinne nicht zurück in die USA, sondern deponierten
almächten bisher weitgehend verschlossen gewesen waren. Den- sie in europäischen, insbesondere britischen Banken. Die Banken
noch: der große Umbruch der Weltwirtscha� erfolgte erst Mitte arbeiteten mit diesen sog. Eurodollars – und zwar zu Bedingungen,
der 1970er Jahre. Er war ein Produkt der wirtscha�lichen Krise in die - weil es sich nicht um die heimische Währung handelte - nicht
den westlichen Industriegesellscha�en. den heimischen Kredit- und Mindestreserveregelungen unterlagen.
Erste Anzeichen dieser Krise gab es in den späten 1960er, frühen Um einer möglichen Einfrierung von Guthaben in den USA vor-
1970er Jahren, als sich die Nachkriegskonjunktur ihrem Ende zu- zubeugen, gingen auch immer mehr ölproduzierende Länder, ging
neigte und Produktivitätsreserven nahezu ausgeschöp� waren. Es insbesondere die UdSSR dazu über, die in Dollar erhaltenen Erlöse
gab damals keine grundlegend neue Technologie, in deren Nutzung für Öl nicht in den USA, sondern in Europa zu deponieren. Da-
hätte investiert werden können, und Auslandsinvestitionen waren mit entwickelte sich ein internationaler Kapitalmarkt außerhalb
noch vergleichsweise selten. In der vorhergehenden Phase der Voll- der nationalen Regulierungen. Heute spricht man noch immer von
beschä�igung hatten Gewerkscha�en in den Industriegesellschaf- Euro-Dollar-Geschä�en, doch sind damit alle Geschä�e gemeint,
ten an Verhandlungsmacht gewonnen uns beträchtliche Lohner- die mit einer Fremdwährung getätigt werden. Historisch bedeute-
höhungen durchsetzen können. Der Kalte Krieg provozierte zwei te die Entwicklung des Euro-Dollarmarktes eine Schwächung der
Belastungen für die Staatshaushalte: erhebliche Ausgaben für Rüs- Wirkungsweise des Systems von Bretton Woods von den Rändern
tung und gleichzeitig wachsende Ausgaben für Sozialleistungen. her. Denn mit Euro-Dollar-Geschä�en ließen sich die Kapitalver-
Das westliche System sollte ja nicht nur militärisch, sondern auch kehrskontrollen – bei Duldung der jeweils zuständigen Regierun-
materiell und ideologisch verteidigt werden. In dieser Situation gen – zumindest teilweise umgehen.
eines pro�t squeeze waren Kapitaleigner zunehmend auf der Suche Es waren allerdings weniger die Euro-Dollar-Märkte als vielmehr
nach lukrativen Anlagemöglichkeiten. Sie wurden ihnen geliefert, die veränderte Handelsbilanz der USA mit der Bundesrepublik
als es in der zweiten Häl�e der 1970er Jahre möglich wurde, in gro- einerseits und Japan andererseits, die zum Ende des Systems von
ßem Maßstab in Finanzmärkte zu investieren. Diese Möglichkeit Bretton Woods führte. Durch den Aufschwung dieser beiden
ergab sich aus dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems Wirtscha�en kam es zu immer mehr Dollarreserven in den jewei-
von Bretton Woods. ligen Nationalbanken. Die US Zentralbank sah sich nicht mehr in
Geschaffen worden war dieses System 1944. Das damals in dem der Lage, sie auf Verlangen in Gold zu konvertieren. 1971 kündig-
kleinen neu-englischen Ort Bretton Woods beschlossene Abkom- te die Regierung der USA an, in Zukun� seien Dollar nicht mehr
men sollte eine erneute Weltwährungskrise dadurch verhindern, frei in Gold konvertierbar. 1973 kündigte sie das Abkommen von
dass feste Wechselkurse im Verhältnis zum Dollar und folglich Bretton Woods endgültig auf. Damit endeten die festen Wechsel-
auch zu den anderen beteiligten Währungen eingerichtet wurden. kurse. Folglich konnte jetzt auf Wechselkursänderungen spekuliert
Um kurzfristige Schwierigkeiten bei der Beibehaltung der Wech- werden. Durch diese politische Entscheidung eröffneten sich ganz
selkurse zu überwinden, wurde der Internationale Währungsfond neue Möglichkeiten der spekulativen Investition auf dem Markt
(IWF) gegründet, in den Mitgliedsländer Einlagen zahlten, auf die für Währungen. Dagegen bedeutete die Freigabe der Wechselkur-
notfalls zurück gegriffen werden konnte. Falls das nicht ausreichte, se für alle, die Güter entweder exportierten oder importierten, ein
konnte beim IWF auch die Genehmigung zu geringfügigen Ab- erhebliches Risiko. Um das Risiko einer Veränderung der Geldwer-
und Aufwertungen einer nationalen Währung beantragt werden. te zwischen dem Abschluss eines Vertrages und der tatsächlichen
Über Jahrzehnte hinweg waren die Wechselkurse aber nahezu Transaktion abzuschwächen, wurde das Finanzinstrument der
vollständig stabil. Entgegen der Einwände vor allem des Vertreters Wechselkurssicherungsgeschä�e genutzt. Bald wurden die dafür
der britischen Regierung, John Maynard Keynes, wurde in Bretton entwickelten Finanzprodukte aber nicht mehr nur im Zusammen-
Woods der Dollar als internationale Leitwährung etabliert und hang von Gütertransaktionen gehandelt, sondern als eine neue Art
festgelegt, dass die USA Anforderungen von ausländischen Staats- von Spekulationsobjekten angeboten. Inzwischen übertri� der
banken, ihre Dollarguthaben in Gold umzutauschen, nachkommen Handel mit derartigen Finanzprodukten den Handel mit Währun-
würden. Für 35 Dollar sollte 1 Unze Gold ausbezahlt werden. 1944 gen zum Zwecke des Warenaustauschs um ein Vielfaches.
konnte sich kaum jemand vorstellen, dass die Goldvorräte der USA Weil Kapitaleigner ein Interesse hatten, die Möglichkeiten der In-
einmal nicht mehr ausreichen könnten, solchen Umtausch regel- vestition in Finanzmärkte wahrzunehmen, forderten sie die Au�e-
mäßig vorzunehmen. Eben dies ist dann aber doch eingetreten. Im bung der bislang geltenden Kapitalverkehrsbeschränkungen. Aus-
Kalten Krieg zahlten die USA erhebliche Beträge an Entwicklungs- gehend von den USA und der Schweiz hat eine Regierung nach der
hilfe an Regierungen in Entwicklungsländern, die dazu dienen soll- anderen dieser Forderung in den Jahren nach 1974 entsprochen.3
ten, eine Orientierung dieser Regierungen auf die Sowjetunion zu Die wachsende Bedeutung der Finanzmärkte wurde weiter geför-
verhindern. Faktisch haben diese Zahlungen in vielen Ländern ein dert, als die ölproduzierenden Staaten, die sich in der OPEC zu-
System der ausländischen Alimentierung lokaler Führungskrä�e sammengeschlossen hatten, in den Jahren 1973 und 1974 den Preis
etabliert. Um die Kosten für den Vietnam Krieg aufzubringen, ließ für Rohöl um insgesamt ein Vierfaches erhöhten. Das verteuerte
die Regierung der USA Geld drucken. Damit entwertete sie den die Produktion und den Transport von Gütern. In vielen Konzer-

3 Österreich erst 2001

94
nen erfolgte eine vermehrte Orientierung auf Investitionen in den Maße, wie sie beispielsweise in der Bundesrepublik in den 1960er
Finanzmarkt. Vollbeschä�igung war Vergangenheit. Die ökonomi- Jahren praktiziert wurde, ist heute nicht mehr möglich. Diese Ver-
sche Dominanz der Finanzmärkte, wichtigstes Unterscheidungs- engung des politischen Spielraums ist eine Einschränkungen staat-
merkmal dieser dritten Welle der Internationalisierung gegenüber licher Souveränität, die auch die Industriegesellscha�en tri�. Sie
vorhergehenden Wellen, wurde erleichtert, weil sich nahezu gleich- reicht nicht so weit wie die Einschränkungen, die viele Entwick-
zeitig die Kommunikationstechnik entwickelte, die internationale lungsländer in der Form der sog. Konditionalitäten akzeptieren
Finanztransaktionen nahezu ohne Zeitverlust ermöglichte. mussten, wenn sie beim IWF um Kredite nachsuchten, ist aber
Der Beginn jener Epoche, für die sich der Terminus „Globalisie- dennoch beträchtlich.
rung“ eingebürgert hat, ist also ziemlich genau auf die Mitte der Gleiches gilt für Maßnahmen zur Sicherung des Standorts für
1970er Jahre zu datieren. Angestoßen durch ökonomische Krisen, Güterproduktion und Dienstleistungen. Seit die Kommunikati-
steht ihre konkrete Entwicklung doch in engem Zusammenhang onstechnologie die Organisation von Produktionsketten und von
mit politischen Entscheidungen. Im politischen mainstream wurde Dienstleistungen ermöglicht, die in unterschiedlichen Ländern
und wird dieser Zusammenhang allerdings geleugnet und statt des- angesiedelt sind, gibt es in vielen Bereichen faktisch einen globalen
sen behauptet, es handle sich um eine unausweichliche Entwick- Arbeitsmarkt. Damit hat der Einsatz souveräner Regulierungskom-
lung, der sich politische und gesellscha�liche Krä�e nicht entgegen petenz zur Abschottung des nationalen Arbeitsmarktes erheblich
stemmen könnten. Vielmehr sei es jetzt erforderlich, die nationale an Wirkung verloren. Heute besteht die wichtigste Wirkung dieser
Wirtscha� international konkurrenzfähig zu machen. Vielen galt nach wie vor betriebenen Politik darin, dass sie immer wieder von
und gilt Konkurrenz seither nicht mehr nur als ein Mittel wirt- Neuem ein Reservoir an Arbeitskrä�en scha�, die – weil sie ohne
scha�licher Aktivität, sondern als die unausweichliche Zielsetzung gültige Papiere sind - besonders schlecht bezahlt und besonders
von Gesellscha�en. Die Verteidigung des Wirtscha�sstandorts hart ausgebeutet werden können. Während internationale Insti-
wurde zur nahezu ausschließlichen Leitlinie von Politik. Sonstige tutionen wie der IWF, das GATT und inzwischen die WTO die
politische Programme, wie etwa Brandts „Mehr Demokratie wa- Öffnung der nationalen Grenzen für den Güterverkehr und den
gen“ oder auch Kennedy’s „New Frontier“ galten als Konzepte, die Kapitalverkehr vorangetrieben haben und neuerdings vereinzelt
angesichts der Dynamik globaler Konkurrenz wie Träumereien sogar die bisherigen Ausnahmen angreifen, die sich Regierungen
wirkten. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde diese von Industriegesellscha�en vorbehalten hatten, ist die rechtliche
kapitalistische Welt, in der das Prinzip der Konkurrenz zum po- und militärische Abschottung gegen unkontrollierte Arbeitsmig-
litischen Leitmotiv erhoben worden war, nahezu global. Die Not- ration die Regel geblieben. Die Möglichkeit einer Verlagerung von
wendigkeit zur Verteidigung anderer Ziele, wie die Absicherung Produktion und von Dienstleistungen ins Ausland hat die Konkur-
und Erweiterung sozialer und liberaler Grundrechte, die durch die renz um einen Arbeitsplatz, der ein Auskommen sichert, dennoch
Konfrontation zwischen den Blöcken immer wieder erzwungen in erheblichem Maße globalisiert. Es ist diese Entwicklung, die der
worden war, ent�el. Politik immer wieder von Neuem Nationalismus zuführt und da-
Die grundlegende Veränderung der Weltwirtscha� ist durch politi- mit zugleich eine ideologische Aufrüstung nationaler Einheit.
sche Entscheidungen herbeigeführt worden. Von der Entscheidung Was bislang angeführt wurde, sind jene Veränderungen der Staats-
für den Krieg in Vietnam und den immer neuen Entscheidungen gewalt in industriell führenden Gesellscha�en, für die Joachim
zugunsten einer Korrumpierung von Führungskrä�en in Entwick- Hirsch den Terminus „Wettbewerbsstaaten“ geprägt hat. Es han-
lungsländern, bis zum Verzicht auf die Schaffung eines neuen Welt- delt sich zusammengefasst um die verstärkte Orientierung nationa-
währungssystem, das nicht auf dem Dollar als Leitwährung basiert ler Politik an internationaler ökonomischer Konkurrenzfähigkeit.
hätte und der anschließenden Au�ebung von Kapitalverkehrsbe- Konkret bedeutet dies, dass Regierungen bestrebt sind, Kapital
schränkungen handelte es sich nicht um Entwicklungen, die ohne dadurch im Land zu halten, dass Kapitaleignern immer neue Mög-
Alternative gewesen wären. (Huffschmid, 2002, 124-127) Mit ih- lichkeiten der Pro�tproduktion geboten werden und immer neue
ren Folgen sind heute allerdings tatsächlich alle Staaten konfron- Möglichkeiten, die erzielten Pro�te möglichst ungeschmälert zu er-
tiert. Solange nicht neue internationale Stabilität geschaffen wird, halten. Im Zentrum dieser Politik stehen die Strategie der Deregu-
ist politisch nur der Spielraum umstritten, den es für nationale Po- lierung von Arbeitsbedingungen, vor allem also der Aufweichung
litik auch unter den gegenwärtigen Bedingungen gibt. von Kündigungsschutz, sowie der Senkung von Steuern und Abga-
Eine der zentralen Folgen frei �ottierender Wechselkurse ist die ben, die von Unternehmen zu entrichten sind. Da die Krise überall
Notwendigkeit, die nationale Währung zu stabilisieren.4 Denn die eine Schwächung von Gewerkscha�en bewirkte, wurden in allen
Liberalisierung der Kapitalmärkte hat alle nationalen Währungen Industriegesellscha�en Errungenscha�en, welche Arbeitskrä�e im
zueinander in Konkurrenz gesetzt. Devisen werden seither nicht Laufe von hundert Jahren und vor allem in den drei Jahrzehnten
mehr nur – und sogar nur noch zu einem kleinen Teil - gekau�, nach dem Zweiten Weltkrieg erkämp� hatten, zurück geschraubt.
um ausländische Waren bezahlen zu können, sondern weil sie heute Gleichzeitig wurde die Verringerung der von Unternehmen zu ent-
selbst Anlageobjekte sind. Das Ausmaß der Stabilisierungspolitik, richtenden Steuern zum allgemein gängigen Mittel der Standort-
das die Europäischen Zentralbank verfolgt, wird von linken Öko- konkurrenz.
nomen kritisiert, dass die Möglichkeiten der Staatsverschuldung Neben der Internationalisierung von Märkten, auf denen legal mit
unter den neuen Bedingungen eingeschränkt sind, wird nicht be- Gütern, Arbeitskra� und Finanzprodukten gehandelt wird, ist die
stritten. Nach wie vor werden von Kritikern der aktuellen Politik aktuelle Epoche der Internationalisierung auch durch die verstärk-
Investitionsprogramme zur Schaffung von Arbeitsplätzen gefor- te Entwicklung illegaler Marktbeziehungen geprägt. Der illegale
dert, aber eine Kredit�nanzierung von Sozialpolitik in dem selben Handel mit Waffen und Diamanten, mit Drogen, Frauen, Kindern

4 Bis vor kurzem konnten sich die USA diesem Erfordernis weitgehend
entziehen.
95
und mit Organen, illegale Müllgeschä�e sowie international orga- Zur politischen Ökonomie der Globalisierung
nisierte Piraterie ist mit Hilfe der Kommunikationstechnologie
sehr viel problemloser zu organisieren als in früheren Zeiten und Die Entwicklung des Kapitalismus war nie unabhängig von Poli-
zahlreiche Offshore Finanz-Zentren erleichtern heute die „Wä- tik, doch unterscheiden sich seine historischen Phasen durch die
sche“ illegal erworbenen Geldes. (Masciando, Hg. 2004)Vielfach jeweilige Dominanz bestimmter Politiken. Für die aktuelle Phase
wird die Globalisierung illegaler Aneignung als Resultat einer ist der Verzicht auf die Errichtung eines neuen und verbesserten
Vereinigung von Verbrechersyndikaten unterschiedlicher Natio- Weltwährungssystems samt der Freigabe des Kapitalverkehrs prä-
nalität interpretiert, wobei besonders gerne auf das 1993 in Prag gend geworden. Und seit der Rentabilitätskrise in den 1970er Jah-
durchgeführte „Gipfeltreffen“ zwischen russischen und italieni- ren dominieren die - zumeist als neoliberal bezeichneten - Politiken
schen Gruppierungen verwiesen wird, aber auch auf Kontakte zur Senkung staatlich regulierter Lasten auf Pro�te und zur staat-
zwischen chinesischen Triaden und kolumbianischen Kartellen lich vermittelten Eröffnung neuer Anlagemöglichkeiten. Die Pro-
oder nigerianischen Drogendealern. Derartige Verbindungen gibt �tproduktion – und damit die Sicherung des nationalen Standorts
es, doch ist der Zusammenhang zwischen illegaler Aneignung und - soll durch die Senkung von Umsatzsteuern und durch die Aufwei-
Staatsgewalt unzutreffend analysiert, wenn unterstellt wird, Staats- chung historisch erkämp�er Arbeiterinnen- und Arbeiterrechte er-
gewalt sehe sich heute generell durch die Aktivitäten international leichtert werden. Im europäischen Rechtsraum wird dieser Prozeß
agierender „organisierter Kriminalität“ bedroht.5 Doch geht die neuerdings durch den Europäischen Gerichtshof vorangetrieben.
verbreitete Vorstellung, das international organisierte Verbrechen In zwei Entscheidungen6 hat der EuGH die Auffassung vertreten,
agiere entweder in einem mehr oder minder staatsfreien Raum oder wenn Grundrechte mit den in der Union geltenden wirtscha�li-
habe die öffentliche Gewalt in manchen Staaten in einem regel- chen Grundfreiheiten (wie etwa der Niederlassungsfreiheit) kol-
rechten Würgegriff, weitgehend an der Realität vorbei. Die „große lidierten, müsse abgewogen werden, ob im Einzelfall dem Schutz
Narration“ des transnationalen Verbrechens hält der empirischen der Grundfreiheiten der Vorzug zu geben sei. In einer Entschei-
Analyse vor allem deshalb nur unzureichend Stand, weil illegale dung vom 8. April 2008 wurde das Recht deutscher Gebietskör-
Aktivitäten in vielen Staaten heute ein Element der Staatstätigkeit perscha�en, öffentliche Ausschreibungen an Mindeststandards zu
sind. (Bayart, 2004, 98) Für Georgien – und in vorsichtiger Zu- koppeln, mit Hinweis auf die Dienstleistungsfreiheit bestritten.7
rückhaltung auch für andere postsozialistische Gesellscha�en – Der Grundrechtsbestand der Mitgliedsstaaten wird somit wirt-
entwickelt Barbara Christophe die �ese, dass die Vorstellung von scha�lichen Zielsetzungen untergeordnet. Sofern der historisch
einer Kolonialisierung der Staatsgewalt durch unabhängige gesell- durchgesetzte Bestand an Grundrechten als ein zentrales Element
scha�liche Akteure scheitern muß, wenn es sich um Gesellscha�en der Staatsgewalt in einigen der Mitgliedsstaaten angesehen wird,
handelt, die „eigentlich nur noch als staatliche Veranstaltungen beobachten wir hier ein Vordringen neoliberaler Strategien, die den
existieren.“ (2005, 65) Ganz entsprechend betonen Jean-François historisch geformten Kern des Rechtssystems und damit der Staats-
Bayart, Stephen Ellis und Béatrice Hibou (1997/1999), dass die gewalt betreffen.
neuen Möglichkeiten illegaler Aneignung, welche Globalisierung Die Zielsetzung, neue Möglichkeiten der pro�tablen Anlage von
und Privatisierung eröffnet haben, ganz überwiegend durch mehr Kapital zu eröffnen, hat eine Welle der Privatisierungen zuvor öf-
oder minder stabile Allianzen zwischen politischen und kriminel- fentlicher Dienstleistungen in Gang gesetzt. Privatisiert wurden
len Eliten genutzt werden. In einigen Staaten der Sub-Sahara sei und werden vielerorts Eisenbahnen, die Versorgung mit Elektrizi-
diese Zusammenarbeit derart eng, dass von einer Kriminalisierung tät und Wasser sowie der Zugang zu Bildung. Zunehmend re-pri-
des Staates gesprochen werden müsse. Nicht die jeweiligen natio- vatisiert werden Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Ver-
nalen Gesellscha�en, wohl aber der Zugang zu Märkten ist hier in sorgung im Alter. David Harvey bezeichnet diese Strategien als die
erheblichem Maße „staatlich veranstaltet“, weshalb denn auch die „Enteignung“ erworbener Ansprüche. (2005, Kap.4)
politisch bestimmte Abschöpfung über die Wirkungsweise ökono- Während das beschriebene Vordringen neoliberaler Strategien in
mischer Konkurrenz dominiert. Auch wenn derartige Erscheinun- den verfassungsmäßig abgesicherten Bestand der Grundrechte für
gen nur für ganz spezi�sche Staaten zutreffen, so ist kriminalisierte Europa gilt, ist das Vordringen dieser Strategien in den Kernbereich
Staatsgewalt heute doch nur vordergründig ein lediglich nationales des staatlichen Gewaltmonopols ein weltweites Phänomen. Private
Phänomen, vielmehr handelt es sich um Entwicklungen, die aufs Angebote von Sicherheit im Sinne von security sind ebenso wenig
Engste mit Prozessen der Globalisierung verwoben sind. In zahl- neu wie die Tendenz privater Sicherheitskrä�e, sich polizeiliche
reichen Ländern, die über global nachgefragte Bodenschätze ver- Kompetenzen anzumaßen. Neu ist allerdings, dass die Angebote
fügen, waren und sind große ausländische Konzerne an der Her- privater Sicherheits�rmen vielerorts an die Stelle staatlicher Bereit-
stellung und Aufrechterhaltung von Strukturen der Korruption stellung von Sicherheit getreten sind. Wenn private Firmen geheu-
beteiligt. Zudem hat erst die Duldung der Entstehung von Offshore ert werden, um die Sicherheit in bestimmten Wohnvierteln sowie
Finanz-Zentren durch Regierungen von Industriegesellscha�en in den heimischen und ausländischen Niederlassungen von Unter-
die „Wäsche“ illegal erworbenen Geldes in einem historisch bislang nehmen zu gewährleisten, so besteht immer auch die Gefahr, dass
unbekannten Maße erleichtert. Gewaltmitteln genutzt werden, deren Einsatz Privaten untersagt

5 Heiner Busch hat dargelegt, dass sich der Terminus „organisierte Kri- mehr in erster Linie um die Au�lärung einzelner Stra�aten, sondern um
minalität“ in Europa im Zusammenhang einer bestimmten, in den letzten die Aushebung international organisierter Banden gehen. (ibid, 32)
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelten Polizeistrategie durchge- 6 Es handelt sich um die Entscheidungen Viking vom 11.12. 2007 und die
setzt hat. Überwiegend auf den Drogenhandel konzentriert, dominiert in Entscheidung Laval vom 18.12. 2007.
den europäischen kriminalpolitischen Debatten nicht mehr die Vorstel- 7 Konkret ging es im Fall Rüffert um die Bedingung, dass auch ausländi-
lung vom klassischen Berufsverbrecher, sondern der Stra�äter als homo sche Bewerber zusagen sollten, tarifrechtlich ausgehandelte Mindestlöhne
oeconomicus. Es solle nicht mehr um die kleinen Fische, sondern um die zu bezahlen.
großen Geschä�emacher gehen (1999, 30 und passim) Es solle auch nicht

96
ist. Was aber, wenn Regierungen das Vordringen des Marktes in das tär�rmen (Silverstein, 2000, Kap. 4; Singer, 2003, Teil II), in jedem
Zentrum des staatlichen Gewaltmonopols vertraglich absichern? Fall bedeutet ein solcher Einsatz eine Verquickung politischer Ent-
Vor allem in den USA, inzwischen aber auch bereits in Europa, scheidung und politischer Verantwortung mit den Bedingungen
sind einzelne Gefängnisse beziehungsweise bestimmte Aufgaben der Produktion von Pro�t im Sicherheits- und Kriegsgewerbe.
in Gefängnissen privatisiert. Derartige Privatisierung prägt die Art Damit wird aber das ohnehin kritische Verhältnis zwischen Militär
und Weise, in der das Gewaltmonopols des Staates zur Anwendung und Polizei auf der einen und Staatsgewalt auf der anderen Seite
kommt. Das Ziel der Resozialisierung, in Gefängnissen ohnehin zusätzlich prekär. Tatsächlich lässt sich die Art und Wese der An-
kaum zu erreichen, wird den Erfordernissen einer gewinnbringen- wendung des staatlichen Gewaltpotentials auch im Falle der aus-
den Organisierung des Strafvollzugs geopfert. schließlichen Nutzung staatlichen Personals nie vollständig vorab
Während manche Anbieter von Sicherheit lediglich lokal agieren, bestimmen, sondern lediglich nachträglich kontrollieren. Denn
handelt es sich bei Unternehmen, die nicht nur security, sondern zur Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben muß diesem Per-
regelrechte Militärdienstleistungen anbieten, um global players. sonal eine gewisse Autonomie zugestanden werden. Im Falle des
Kaum eine andere Branche hat in den 1990er Jahren derartige Zu- Militärs ist diese Autonomie heute durch internationale Abkom-
wächse erzielt. Dieses Wachstum war sowohl angebots- als auch men über die Rechte von Gefangenen und von Nicht-Kombatanten
nachfragegetrieben. Das Angebot an quali�ziertem Personal er- eingeschränkt. Übertretungen werden im Prinzip durch Kriegsge-
wuchs aus dem Ende des Kalten Krieges und des Apartheid-Sys- richte untersucht und abgeurteilt. Angestellte privater Unterneh-
tems in Südafrika. Nachfrage kam und kommt überwiegend, aber men unterliegen aber keiner Kriegsgerichtsbarkeit. Und während
keineswegs ausschließlich, aus den USA und aus Entwicklungs- einerseits darauf hingewiesen wird, dass sie womöglich weniger
ländern. (Singer, 2003, I.4.) Manchmal heuern Regierungen Aus- grausam sind, weil sie nicht aus politischen oder religiösen Motiven
bildungs- und Sicherheitsspezialisten an, vielfach beau�ragen sie töten, gibt es inzwischen mannigfache Beispiele, nicht zuletzt aus
Söldner mit der Sicherung ausländischer Niederlassungen, gele- dem Einsatz der Angestellten der Firma Blackwater im Irak, dass
gentlich leasen sie ganze Waffengattungen. Nicht selten bezahlen sie ihren Marktwert zu sichern suchen, indem sie ihre Wirksamkeit
sie mit dem potentiellen Wohlstand ihres Landes, zum Beispiel mit ohne Rücksicht auf irgendwelche Schutzrechte nachweisen.
Schürfrechten. Anders als die Privatisierung von Gefängnissen, Als besonderer Vorzug privater Militärdienstleister erweist sich
tri� die Zulassung eines Marktes für Militärdienstleistungen den schließlich die Möglichkeit, sie ohne Zustimmung von Parlamen-
Kern der Staatsgewalt. ten und damit ohne Information der Öffentlichkeit einzusetzen.
Hier handelt es sich nämlich nicht mehr nur darum, dass von öko- Regierungen der USA haben diesen Vorzug genutzt, indem sie
nomisch interessierter Seite Ein�uss auf staatliche Entscheidungen privates Militär für den Krieg gegen Drogen in Südamerika ver-
ausgeübt wird. Selbst wenn dem Militär eines Staates ausdrücklich p�ichteten. Weil auf diese Weise nicht das Leben von US-ameri-
die Aufgabe zugewiesen wird, für einen „gesunden Freihandel“ kanischen Soldaten riskiert wird, erspart sich die Regierung eine
(healthy �ee trade) Sorge zu tragen, wie dies für die Streitkrä�e öffentliche Debatte über die Legitimität solcher Einsätze.9 Die be-
der USA seit dem Ende des Kalten Krieges und seit 1999 auch für reits erprobten ebenso wie die möglichen Nutzungen privater Mi-
die NATO gilt,8 so verbleibt der Einsatz des staatlichen Gewalt- litärdienstleistungen schwächen nicht das staatliche Gewaltmono-
potentials in der Hoheit des Staates. Formal gilt dies auch, wenn pol, sie schwächen aber die Möglichkeit nationaler demokratischer
Verträge mit Anbietern von Sicherheits�rmen und Militärdiensten sowie internationaler Kontrollen.
geschlossen werden, doch wird der tatsächliche Einsatz des Gewalt- Wenn sich eine Regierung (oder auch eine Rebellengruppe, die eine
potentials dann sowohl durch Erwägungen der Konkurrenz mit Regierung bekämp�10) auf dem globalen Markt Gewaltpotential
anderen Anbietern als auch durch das Bestreben gesteuert, zukünf- bescha�, geschieht dies in Form eines Vertrages. Damit ist eine
tige Nachfrage zu sichern. (Scahill, 2007, Kap. 10 u. passim) Be- spezi�sche Entwicklung der jüngsten Phase des Kapitalismus, die
wirkt der Markt für Militärdienstleistungen in hochentwickelten Kontraktualisierung, bis in den Kernbereich der Staatsgewalt, das
Industriegesellscha�en, dass die parlamentarische Kontrolle von staatliche Gewaltmonopol, vorgedrungen. In Anlehnung an eine
Militäreinsätzen zumindest eingeschränkt, wenn nicht sogar ganz Formulierung des zeitweise für Afrika zuständigen Vertreters der
ausgehebelt wird, ermöglicht er Regierungen, die über geringes mi- Firma „Elf “ lassen sich derartige Vereinbarungen als „Verträge über
litärisches Potential verfügen, eine schleunige Aufrüstung. So en- Souveränität“ bezeichnen.11 Verträge zwischen Regierungen und
gagierte etwa die Regierung von Sierra Leone 1995 die damals noch privaten Unternehmen bzw. Vereinigungen sind nicht neu. Die
in Südafrika stationierte Firma „Executive Outcomes“ und bezahlte Vergabe von Privilegien an Handelsgesellscha�en, die Kolonial-
die immensen Kosten mit Schürfrechten (Bendrath 1999); 1998 mächte gegen Zahlungen verliehen, waren ein zentrales Element
leaste die äthiopische Regierungen für den Grenzkon�ikt mit Erit- früher Handelspolitik. Anders als früher können heute in vielen
rea eine gesamte Lu�waffe einschließlich der Piloten, Mechaniker Fällen jedoch die privaten Vertragspartner die Bedingungen dik-
und des Bodenpersonals. Ähnlich verfuhr die Regierung des Sudan tieren.12
im Jahre 2002. Unbeschadet der im einzelnen unterschiedlichen Bei Verträgen handelt es sich prinzipiell um Regulierungen, die
Wirkung solcher inzwischen zahlreichen Einsätze privater Mili- zeitweise Stabilität und damit Kalkulierbarkeit herstellen sollen.

8 Im April 1999 wurde die NATO, zuvor eine Organisation zur Vertei- unterlaufen.
digung des territorialen Bestandes der Mitgliedsstaaten, in ein militäri- 10 Die großen Anbieter von Militärdienstleistungen betonen regelmäßig,
sches Bündnis umgeformt, das überall auf der Welt gegen die potentielle dass sie nur Verträge mit legitimierten Regierungen schließen. In konkre-
Gefährdung ökonomischer, politischer und ökologischer Interessen der ten Kon�ikten war und ist aber häu�g privates Militär auf beiden Seiten
Mitgliedsstaaten eingesetzt werden soll. im Einsatz.
9 Ein weiterer Vorzug – vorläu�g scheint er noch nicht genutzt zu wer- 11 Die Formulierung �el im Zusammenhang eines Korruptionsprozesses,
den – besteht in der Möglichkeit, Abkommen über den Verzicht auf den in welchem der konzernintern als „Monsieur Africain“ bezeichnete Ange-
Einsatz bestimmter Waffen durch Verträge mit privaten Unternehmen zu stellte aussage. (Le Monde, 25.10.1999)

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Das gilt auch für Verträge, die zwischen souveränen Staaten ge- den vielen Schlichtungsverfahren der siebziger und achtziger Jahre
schlossen werden. Obwohl diese Staaten im internationalen Recht entwickelt. Die daran Beteiligten entwickelten im Laufe der Zeit
als Gleiche gelten, können es sich manche Staaten eher leisten, be- Formulierungen, die potentielle Kon�ikte möglichst schon vorab
stimmten Verträgen nicht beizutreten bzw. bestimmte Konventio- verhindern oder doch regeln sollen. Die Wirkungskra� dieser Ver-
nen nicht zu rati�zieren. Ein besonders eklatanter Fall der Ausnut- träge basiert nicht nur auf keinem Gesetzbuch, sondern auch auf
zung einer solchen Machtposition liegt in der Weigerung der USA keiner Doktrin. Sie wird ausschließlich durch praktische Nützlich-
vor, den Vertrag von Rom zur Errichtung eines Internationalen keit legitimiert. (Dezalay & Garth, passim) Solche Verträge bleiben
Strafgerichtshofes zu rati�zieren. Von wenigen Ausnahmen abge- in der Regel gültig, so lange es ein gegenseitiges Interesse an ihrer
sehen – dazu zählen insbesondere das Streitschlichtungsverfah- Fortsetzung gibt.13 Diese Prozesse der Kontraktualisierung sind
ren der WTO und die Hafenstaatskontrolle – sind Verletzungen Ausdruck der ungleichen territorialen Reichweite kapitalistischer
von Verträgen zwischen Staaten faktisch aber kaum exekutierbar. Verwertungsprozesse und staatlicher Sanktionsgewalt.
Deshalb hängt das Ausmaß der Veränderungen, die mittels global Im Unterschied zu dieser Herauslösung der Funktionsweise des
governance erreichbar sind, davon ab, ob ökonomisch, politisch globalen Kapitalismus aus nationalen Regulierungen des Marktes
und militärisch mächtige Staaten bereit sind, sich den Vertragsbe- handelt es sich beim Offshore-Komplex um staatlich verfügte Aus-
stimmungen zu fügen. Trotz dieser Begrenzungen hat sich in den nahmen von der Allgemeinheit der Gesetze in einem nationalen
Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg eine erhebliche Internati- Rechtsraum. In den letzten Jahrzehnten sind immer mehr Staaten
onalisierung von Staatsgewalt vollzogen. dazu übergegangen, aus ökonomischen Erwägungen gesonderte
Andererseits ist auch eine neue Art der Emanzipation von Staatsge- Rechtsräume - gewissermaßen Inseln im Territorium des nationalen
walt zu konstatieren. Denn privatrechtliche Verträge zwischen Ver- Rechts - zu schaffen. Offshore Strukturen für Finanzdienstleistun-
tragspartnern unterschiedlicher Staatsangehörigkeit werden heute gen gibt es auch mitten in westlichen Industriegesellscha�en, vor
zunehmend unabhängig von staatlicher Sanktionsgewalt geschlos- allem in der Londoner City. Das macht bereits deutlich, was Vertre-
sen. Das erklärt sich aus dem Fehlen einer internationalen Instanz ter des Internationalen Rechts für alle Offshore Strukturen beto-
zur Entscheidung privater Rechtsstreitigkeiten. Im Kon�iktfall nen: Obwohl sie vielfach auf Inseln oder in besonders abgeteilten,
müssen sich Kontrahenten deshalb an ein nationales Gericht wen- manchmal sogar eingezäunten Gebieten angesiedelt sind, handelt
den. Weil das – insbesondere für den ausländischen Vertragspartner es sich nicht um Territorien, sondern um Rechtsräume. (Hampton
- umständlich und o� sehr langwierig ist, nutzen Vertragspartner 1996) Regierungen souveräner Staaten beschließen Ausnahmen
im internationalen Handel heute überwiegend Schlichter. Diese vom nationalen Recht, von denen Nicht-Staatsbürger pro�tieren
Praxis hat sich in den letzten Jahrzehnten weltweit verbreitet. Sie können. Diese besonderen Bedingungen bieten sie auf dem Welt-
hat auch eine markante Veränderung erfahren. markt an. Anders gesagt, sie vermarkten die Tatsache, dass Souve-
Als sich – gefördert durch die Internationale Handelskammer in ränität nicht nur genutzt werden kann, um nationale Rechtsgleich-
Paris - das Schlichtungswesen zunächst verbreitete, einigten sich heit durchzusetzen, sondern auch, um auf solche Durchsetzung zu
Vertragspartner häu�g darauf, im Falle eines Kon�iktes prominen- verzichten. (Gerstenberger/Welke 2005) Im wesentlichen haben
te französische oder Schweizer Rechtsprofessoren als Schlichter zu wir es mit drei Formen von Offshore Strukturen zu tun:
bestellen. Diese Schlichter bedienten sich zur Kennzeichnung ihrer
Praxis der alten Bezeichnung lex mercatoria. In der frühen Neuzeit - mit freien Wirtscha�szonen, international in der Regel als Export
waren damit die Verfahrensregeln bezeichnet worden, die sich un- Processing Zones bezeichnet,
ter Fernhandelskau�euten herausbildeten. Jetzt schlichteten Pro- - mit dem Angebot von Schiffsregistern, die es ermöglichen, Schiffe
fessoren Rechtskon�ikte zwischen privaten Vertragspartnern, aber unter sehr günstigen Bedingungen unter der Flagge des betreffen-
auch zwischen Regierungen und Unternehmen nach der Maßgabe den Staates fahren zu lassen und Seeleute legal überall auf der Welt
dessen, was sie persönlich für aktuell geltende Rechtsbräuche im zu besonders niedrigen Heuern einstellen zu lassen und schließlich
Weltmarkt erachteten. Die Legitimation der Verfahren basierte - Offshore Finanzzentren.
ausschließlich auf der Reputation der Schlichter. Mit der raschen
Entwicklung der Schlichtungspraxis drängten U.S.-amerikanische Alle diese Formen gibt es in sehr unterschiedlichen Ausprägungen.
Kanzleien auf den wachsenden Markt. Seither wird zunehmend Leben manche Offshore Finanzzentren überwiegend von Finanz-
darauf verzichtet, sich im Falle einer gescheiterten Schlichtung an dienstleistungen, so andere vor allem von der Möglichkeit, illegal
ein nationales Gericht zu wenden. In der aktuellen Praxis werden erworbenes Geld zu waschen, lassen manche Flaggenstaaten inzwi-
für den Kon�iktfall zwar nach wie vor Schlichtungsverfahren vor- schen die Einhaltung internationaler Vorschri�en auf den Schiffen
gesehen, im Zentrum steht jetzt aber die Praxis der Aushandlung ihrer Flotten kontrollieren, so werben andere mehr oder minder of-
komplizierter vertraglicher Regelwerke. Diese Praxis hat sich aus fen mit dem Verzicht auf solche Kontrollen. Und Regierungen, die

12 Mit dem in den 1990er Jahren von der OECD (Organisation für Ent- Pro�tproduktion, zum Beispiel im Bereich des Umweltrechts, geändert
wicklung und Zusammenarbeit) vorbereiteten Multinationalen Abkom- hätten. Das MAI wurde durch eine internationale Kampagne verhindert,
men über Investitionen war geplant, international agierende Unternehmen seine Zielsetzungen wurden aber nicht aufgegeben. Inzwischen sind sie in
und Regierungen auch rechtlich auf die gleiche Stufe zu stellen. Dieses Ab- einigen bilateralen Abkommen, –so etwa im Nordamerikanischen Frei-
kommen - abgekürzt MAI - sollte Regierungen nicht nur dazu zwingen, handelsabkommen – verwirklicht.
ausländische Investoren genau so zu behandeln wie einheimische, sondern 13 Wird ein Schiedsspruch nicht akzeptiert, können nach wie vor natio-
Investoren auch berechtigen, Staaten vor Schiedsgerichten zu verklagen, nale Gerichte angerufen werden. Manche Fachleute betonen deshalb, dass
wenn sie die Bedingungen für Investitionen änderten. Souveräne Staats- die internationale Schiedsgerichtsbarkeit weiterhin nationaler Justizho-
gewalt wäre ganz allgemein zum Vertragspartner für privates Kapital her- heit integriert bleibt. Formal tri� dies zu, faktisch ist es weitgehend ohne
abgestu� worden und Staaten hätten Schadensersatz zahlen müssen, wenn Bedeutung.
sich aufgrund demokratischer Entscheidungen die Bedingungen für die

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Export Processing Zones einrichten, akzeptieren zumeist nach wie über nationale Souveränität, vielfach auch über die institutionellen
vor, dass die dort investierenden Firmen keine Vereinigungsfreiheit Formen, die zuerst in bürgerlichen Gesellscha�en entstanden sind,
einräumen und auch andere Arbeitsrechte verletzen. dennoch gibt es heute zahlreiche kapitalistische Gesellscha�en, in
Trotz inzwischen durchgesetzter Kontrollen und Verbesserungen denen der Staatsapparat vor allem als Institution zur privaten Be-
haben wir im Rechtsraum Offshore nach wie vor einen Bereich vor reicherung fungiert, in denen folglich politische Konkurrenz und
uns, in dem Kapitalismus pur herrscht. Staatsgewalt ist hier ledig- nicht ökonomische Konkurrenz über die Chancen der Aneignung
lich eine rechtliche Fiktion. (Picciotto 1999) Formal konstituiert entscheidet. Wer sich angesichts derartiger Erscheinungen nicht
wird er durch die Vermarktung nationaler Souveränität, zusätzlich auf das Argument zurück ziehen will, dass es sich um den Ausdruck
aber auch durch die Duldung, ja sogar Förderung durch Regierun- eines noch nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozesses handelt,
gen entwickelter Industriegesellscha�en. Viele der Offshore Finanz- muß noch einmal neu über die Form kapitalistischer Staatsgewalt
zentren sind on shore geplant worden, und der Entwicklung einer nachdenken. Das haben wir noch vor uns.
weltweiten Steuervermeidungsindustrie wurde ebenso wenig Ein-
halt geboten wie der Praxis der Aus�aggung. In der Phase des welt- Literatur
wirtscha�lichen Umbruchs waren Regierungen ganz überwiegend
bestrebt, Kapital am Standort zu halten. Die Praxis der Umgehung Azzellini, Dario & Kanzleiter, Hg., (2003) Das Unternehmen
heimischer Steuer- und Sozialgesetze und heimischer Löhne wurde Krieg, (Assoziation A) Berlin & Hamburg & Göttingen
akzeptiert, weil diese als Behinderung der Durchsetzung auf dem Bayart, Jean-François & Ellis, Stephen & Hibou, Béatrice, (1999,
Weltmarkt angesehen, Auseinandersetzungen mit den zuvor er- franz. 1997) �e Criminalization of the State in Africa, (James
starkten Gewerkscha�en und anderen sozialen Krä�en aber noch Curry & Indiana Univ. Press) Oxford & Bloomington, Ind.
nicht gewagt wurden. Inzwischen hat sich nicht nur für die Schiff- Bayart, Jean-François, (2004) Le Crime Transnational et la For-
fahrt gezeigt, dass sich die Standards, die Offshore geboten werden, mation de l’État; in: Politique A�icaine, Nr. 93, 93-104
schnell als internationaler Maßstab durchsetzen. Insgesamt hat Bendrath, Ralf, (1999) Waffen gegen Minen; Junge World
der Offshore Komplex erheblich zur Dynamik der Deregulierungs- 05/1999 (http//:www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world_
konkurrenz zwischen den Nationalstaaten beigetragen. Das wurde 99/05/20b.htm)
möglich, weil Souveränität nicht nur Basis für Regulierungen ist, Buckel, Sonja (2007) Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekon-
sondern eben auch das Recht der Nichtregulierung umfasst. Auf struktion einer materialistischen �eorie des Rechts, (Velbrück
diese Weise wurde nationale Souveränität aber gewissermaßen zu Wissenscha�) Weilerswist
einer Handelsware. Busch, Heiner, (1999) Polizeiliche Drogenbekämpfung – eine
internationale Verstrickung, (Westf. Damp�oot) Münster
Schlußfolgerungen? Chemillier- Gendreau, Monique (1996), La Souveraineté sur les
archipels Paracels et Spratleys, (L’Harmattan) Paris
In allen kapitalistischen Staaten ist das staatliche Monopol legitimer Christophe, Barbara, (2005) Metamorphosen des Leviathan in ei-
Gewaltsamkeit rechtlich durchgesetzt, folglich auch die Berechti- ner post-sozialistischen Gesellscha�. Georgiens Provinz zwischen
gung zur zwangsweisen Sanktionierung rechtlicher Regulierung. Fassaden der Anarchie und regulativer Allmacht, (transcript)
Im Kern solcher Regulierung steht in kapitalistischen Gesellschaf- Bielefeld
ten der Schutz des Privateigentums. Da in diesen Gesellscha�en Dezalay, Yves & Garth, Dryant G., (1996) Dealing in Virtue.
die Arbeitskra� eine Ware ist, fällt das Eigentum an dieser Ware International Commercial Arbitration and the Construction of
formal ebenso unter den staatlichen Schutz des Privateigentums an International Legal Order, (Univ. of Chicago Press) Chicago &
wie Eigentum an Kapital und Boden. Insofern konstituiert Staat London
Gleichheit. Diese Gleichheit steht aber im Widerspruch zur funda- Gerstenberger, Heide & Welke, Ulrich (2005) Wie nationale
mentalen Ungleichheit in den Produktionsverhältnissen. In eben Souveränität zu Markte getragen wird; in: Prokla, 35. Jg., Nr. 2, S.
diesem Widerspruch besteht die zuerst von Hegel und dann von 225-246
Marx konstatierte Trennung von Staat und Gesellscha�. Marxisti- Giraud, Pierre-Noël, (1996) L’inégalité du monde. Économie du
sche Rechts- und Staatstheoretiker sowie –theoretikerinnen haben monde contemporain, (Éd.Gallimard) Paris
immer wieder dargelegt, dass es eben dieser Widerspruch ist, der Hampton, Mark ( 1996) Creating Spaces. �e Political Economy
den Staat zu einem Element kapitalistischer sozialer Beziehungen of Island Offshore Finance Centres: �e Case of Jersey; in: Geo-
macht, weil er auf diese Weise als neutraler Repräsentant der Allge- graphische Zeitschri�, Bd. 84, S. 103-113
meinheit in Erscheinung treten und die bestehenden Verhältnisse Harvey, David, ( 2005, Engl. 2003) Der neue Imperialismus,
folglich stabilisieren kann. (vgl. z.Bs. Hirsch 2005; Buckel 2007) (VSA) Hamburg
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte fordert die theoretischen Hirsch, Joachim, (1998) Vom Sicherheitsstaat zum nationalen
Konzepte der kapitalistischen Rechts- und Staatsform in doppel- Wettbewerbsstaat, (ID Verlag) Berlin
ter Weise heraus. Zum einen haben politische Entscheidungen be- Hirsch, Joachim, (2005) Materialistische Staatstheorie. Trans-
wirkt, dass die Bereiche, in denen gewissermaßen „Kapitalismus formationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems, (VSA)
pur“ herrscht, erheblich an Bedeutung gewonnen haben. Folglich Hamburg
gilt es, die zumeist stillschweigend getroffene Annahme, dass Ka- Huffschmid, Jörg (2002, 2. Au�.) Politische Ökonomie der Fi-
pitalismus nicht ohne kapitalistische Staatsgewalt funktionieren nanzmärkte, (VSA) Hamburg
kann, präzisier zu fassen. Zum anderen wird zunehmend deutlich, Masciando, Donato, Hg., (2004) Global Financial Crime.
dass im globalisierten Kapitalismus nicht mehr nur wie in einer Terrorism, Monealaundering and Offshore Centres, (Ashgate)
früheren Phase der Entwicklung kapitalistische und nicht-kapita- Aldershot, Hants, England
listische Gesellscha�en miteinander verwoben sind, sondern sehr Mbembe, Achille (2001) On the Postcolony, (Univ. of Calif.
unterschiedliche kapitalistische Gesellscha�en. Sie alle verfügen Press) Berkeley usw.

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die Entstehung des modernen Staatensystems, (Westf. Dampf-
boot) Münster

Der Text von Heide Gerstenberger: Staatsgewalt im globalen Ka- Heide Gerstenberger hat in Bremen 2008 und 2009 zu bei folgen-
pitalismus erschien erstmals in: grundrisse. Zeitschri� für linke den Veranstaltungen referiert:
�eorie und Debatte, Nr. 27, 2008, S. 8-17, http://www.grundris-
se.net/grundrisse27/staatsgewaltImGlobalenKapitalismus.htm Staat und Globalisierung. Zur Aktualität materialistischer Staats-
Dank der freundlichen Genehmigung der Autorin und der Redak- kritik. (zusammen mit Ingo Elbe und Ingo Stützle)
tion der Zeitschri� grundrisse wird er hier erneut veröffentlicht Podiumsdiskussion am Freitag den 29. Februar 2008 und Tagesse-
minar am Samstag 1. März 2008
Siehe:
http://www.rosa-luxemburg.com/?p=120
http://www.rosa-luxemburg.com/?p=121
http://associazione.wordpress.com/2008/08/01/staat-und-globa-
lisierung-zur-aktualitat-materialistischer-staatskritik/

Krise, Staat und emanzipatorische Intervention


Diskussionsveranstaltung mit Heide Gerstenberger und John
Kannankulam am Donnerstag, 26. März 2009
Siehe:
http://www.rosa-luxemburg.com/?p=222
http://associazione.wordpress.com/2009/02/17/do26-03-09-kri-
se-staat-und-emanzipatorische-intervention/
100
Literaturempfehlungen

Die folgenden Texte dienen als weiterführende Literaturempfehlun- (2008): Der Staat der Bürgerlichen Gesellscha�. Zum Staatsver-
gen zu �esen und Fragen materialistischer Staatskritik. Die Auswahl ständnis von Karl Marx, Baden-Baden.
ist grob nach verschiedenen theoretischen Tendenzen und historischen Reichelt, Helmut (1974): Zur Staatstheorie im Frühwerk von
Phasen gegliedert; sie erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Marx und Engels, in: Henning, Eike/Hirsch, Joachim/Reichelt,
Helmut/Schäfer, Gert (Hrsg.): Materialien zur Rekonstruktion
der marxistischen Staatstheorie, Frankfurt am Main.
Überblick über die marxistischen Debatten zu Staat und Reichelt, Helmut (2008): Zum Verhältnis von Staat und Gesell-
Recht scha� im Marxschen Frühwerk, in: Hirsch, Joachim/Kannanku-
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