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Gustaverl, Gott und Heil'ger Geist
Mahler, Gustav (1860-1911)

Beim allerersten schnöden Blick auf Gustavs Geburtsdatum scheint der gute
Junge nicht mehr so recht zur Riege der Vor-, Voll- und Pseudoromantiker zu
gehören: Er hat immerhin schon in unser Jatrhundert hineingeschnuppert und ist
somit ein Moderner, pfui Teufel. Manche Musikwissenschaftler behaupten, er
habe sämtlichen Zwölfendern und -tonern den Weg nicht nur geebnet, sondern
persönlich kopfsteingepflastert. Das macht dem Musikliebhaber (dem mit Gehör
statt Rechenschieber) vor der klanglichen Begegnung mit Freund Mahler natur-
gemäß etwas Angst. Wie erleichtert ist der Hörer dann aber, wenn er staft der
erwarteten Kakophonie in c-Durffolfwie-auch-immer richtige Musik geboten
bekommt, zwar keine sehr schöne, aber doch Musik! Noch dazu ganz überra-
schend altmodisches Zeugs, wie man es ga.r nicht zu hoffen gewagt hätte. Mit
Mühe hat der Nichts-Gutes-Ahnende sein Gehör in die vermeintlich angemesse-
ne Schräglage gebracht, um dann glücklich festzustellen, daß Mahler durchaus
ohne Ohrenstöpsel zu ertragen ist - von der ersten bis zur letzten Syzrphonie kein
einziges >Kako<! Auch die Kindertotenlieder sind wirklich allerliebst. Nicht zu
vergessen Des Knaben Wunderhorn in das Mahlers Gustav zu Lebzeiten lange
und ausgiebig zu stoßen pflegte, zum Ruhm und zur Ehre des Allerhöchsten. Also
seiner selbst.
Uberhaupt gibt es eine Unmenge musikalischer und sonstwie krimineller Ele-
mente, die Mahler untrennbar mit seinen geistigen Ahnen wie Mozart, Beethoven
und Co. verbinden. Seine letzten Worte auf dem Totenbett, sehnsüchtig dahinge-
haucht, waren laut Ehefrau Alma >Mozartl! Mozartl!<; demnach müssen die bei-
den sich trotz des Altersunterschieds recht intim gekannt haben. Auch Ludwig van
hat ihn ausgiebigst inspiriert, zugegeben nicht bei seinen Werken, sondern bei sei-
nen Wiener Wohnungswechseln: Hätte Beethoven seinerzeit eine Broschüre fiir
notleidende Untermieter mit Klavier herausgegeben, wdre Gustav sein gelehrig-
ster Abonnent geworden. An die zwanzigmal ist er während seiner Studienzeit
umgezogen, hatte jedoch aus Beethovens Schicksal gelemt - er ließ sich nicht von
den Wirtsleuten quälen, sondern kam ihnen in dieser Beziehung zuvor, wo er nur
konnte. Gern erinnerten sich jene Vermieter, die ihn bzw. seinen Aufenthalt zu
überleben die Gnade genossen, an die von ihm morgens und abends zubereiteten
Kartoffeln in Knoblauchsauce, welche jedermann zu Tränen rührten, an sein
allnächtliches stundenlanges Geklimpere (er hatte wohlweislich beim Einzug das
Pianoforte verschwiegen) sowie an die Dutzende von kleinen Klavierschülern, die

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er in seinem zimmer und in seinem Zorn windelweich klopfte. Doch das meisto
hatte Gustav offenbar mit seinem vorgänger Haydn gemein. wieder ist nicht von
Musik die Rede, sondem von dem Menschen hinter ihr - obwohl das so auch nicht
stimmt: Haydn bheb pro forma ein menschliches Wesen; Matrler war von klein
auf ein Gott.
Nun mag mancher Ungläubige stutzen. Zwar glbt es, zumal in der Musikwelt,
des öfteren gottgleiche Geschöpfe. Doch ein Höheres Wesen, das sich praktisch
ausschließlich von Knoblauch emährt? Das erscheint uns eigenfämlich. Lasset
uns andererseits bedenken, daß Jesus selbst sowie seine Jünger pausenlos bestia-
lisch gestunken haben müssen, was zu iluet Z,eit, an ihrem Ort aber niemandem
aufEel! Der Körper ist nur eine äußere Hülle ... und Ernährung Glücksache.
Unter Mahlers Zeitgenossen jedenfalls herrschte eine beeindruckende, ja bei-
nahe erschreckende gedankliche Übereinstimmung dahingehend, daß Gustav kei-
nesfalls ein >Mensch< gewesen sein kann. Die Tendenz schwebte entweder hoch
zu >Gott< oder nieder zu >Dämon<; dazwischen gab es absolut keine Meinungs-
äußerungen. Wir müssen uns das ungefithr so vorstellen wie bei einer Eiskunst-
lauf-Jury (die allerdings ausnahmsweise weder bestochen noch sonstwie gespon-
sert wurde). Die Preisrichter/innen haben aber nur zwei Täfelchen zur Verfügung,
von denen sie eines in die Luft halten. Das repräsentative Ergebnis lautet: >Hei-
land, Christus< (Ehefrau Alma, die nach diesem Gott noch zwei andere geheiratet
hat); >reiner Engel<< (Anton Bruckner, dem der junge Mahler regelmäßig Back-
henderln spendierte); >>Auserwählter, genialischer<< (ein gewisser Siegfried Lipi-
ner, der sich stets so betont zurückhielt); >ein Vulkan, lebende Musik!< (Hermine
Spieß, eine jener Sängerinnen, mit denen der Gott kein Verhiiltnis unterhielt); >Er
hat den Zorn der Gerechten!<< (der vergreiste Komponist Ferenc Erkel, kurz F.
Erkel, den niemand sonst hören wollte); >Engelsgleicher!< (immerhin Peter
Tschaikowskij); >Gott der südlichen Zonen<< (allgemeiner Zeitungsjargon);
>>unser Lenker, unser Heil, die Seele unserer Kunst etc. etc.< (Baßbariton Weide-
mann, kurz bevor er in einem Meer von Tldnen absoff); >göttlicher Freund, Papst
unter Päpsten, der Gigant, der Größte< (Romain Rolland) und schließlich ein
gewisser Gerhart Hauptmann: >>fJnser musikalischer Schutzpatron!<< Dies sind
nattirlich nur die gemöl|igt wohlwollenden Aussagen, wie man sich denken kann.
Ihnen stehen andere gegenüber, wohlgemerkt nicht entgegen: >>Ein Dämon ...
seine Erscheinung ist wirklich teuflisch<< (Intendant Pollini, und der mußte es wis-
sen, denn der hat ihn engagiert!); >doch dieser Teufel auch, er war von Gott!<
(Paul Stefan, Jugendfreund, dem die Verbindung der Extreme doch tatsächlich
geglückt ist). Andere Teufelsanbeter Mahlers unterstreichen mit ihren Beschrei-
bungen zudem die Tätsache, daß Mahler noch immer in der Tradition der Roman-
tiker stand, ob er wollte oder nicht. In diesem Zusammenhang muß wieder einmal
der arme E.T.A. Hoffmann herhalten, der schon von Weber und Schumann so aus-

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giebig mißbraucht wurde. Immer setzte man den Mann bloß als ldeenlieferanten
ein, ohne angemessen den Umstand zu würdigen, daß er doch selbst einen ver-
dammt guten Komponisten abgab. Naja, vielleicht hätte er eben nicht so viel abge-
ben sollen. Jedenfalls gehörte es eine Znitlang geradezu zum guten Ton für alle
kleinen, mißgestalteten und verhutzelten Kapellmeister, mit den Schauerfiguren
Hoffmarurs in einen Topf geworfen zu werden, einen Goldenen: >... bleich,
mager, klein von Gestalt, länglichen Gesichts, bedeutende Augen hinter Bril-
lengläsem, eine gerade so interessante, dämonische, einschüchtemde Inkarnation
des Kapellmeisters Kreisler ... Mahler erschien mir in Antlitz und Gebaren als
Genie und Dämon: das Leben selbst war plötzlich romantisch geworden.<< Also
sprach Bruno Walter, seines Zeichens Mahlers Korrepetitor zu jener Zeit, und das
war ihm noch immer nicht genug: >Fußstampfen, Stehenbleiben, wieder Vor-
wärtsstlirmen - alles bestätigte und verstärkte den Eindruck der Dämonie, und ich
hätte mich kaum gewundert, wenn er nach der Verabschiedung, immer schneller
ausschreitend, mir plötzlich als Geier davongeflogen wäre wie der Archivarius
Lindhorst dem Studenten Anselmus in Hoffmanns Goldenem Topf... Putzigerwei-
se nahm Claude Debussy Mahler ganz ähnlich wahr, fühlte sich jedoch durch ihn
an eine verbreitete Karikatur von Jacques Offenbach erinnert, die letzteren als
dünnbeinige Spinne mit einem Geierkopf zeigte. Nun sind Offenbach und E.T.A.
spätestens durch H offinanns Er zählun g e n vnfr ennbar miteinander verschweißt.
Dieser Tatbestand beweist uns dreierlei: 1. Mahler war ein durch und durch
romantischer Geier der Musik, auch ohne Spinnenbeine. 2. Die Begriffs- und
Phantasiewelt der Romantiker scheint entgegen weitverbreiteten Vorstellungen
mehr als begrenzt gewesen zu sein, zumal 3. die wenigen tonangebenden Roman-
tiker alle untereinander verwandt und verschwägert und die Folgen dieser Inzucht
nach einiger Zeitbeim besten Willen nicht mehr zu übersehen waren. Bliebe die
Frage offen, ob die Kapellmeister sich damals mit Absicht alle auf Geier trimm-
ten, um dem Klischee des Individual-Dämonen voll zu entsprechen ...
Mindestens eine Sache jedoch gibt es, die den Mahler Gustav vollkommen von
der Masse der anderen Götter und Teufel unterscheidet. Während beispielsweise
Haydn erst mühsam herausfinden mußte, wie sein Lebensweg vonstatten gehen
sollte (genaugenommen erst nachdem die Sache mit der Gottwerdung gelaufen
war, also im hohen Alter), wußte Mahler schon als holdes, kleines, geierköpfiges
Knäblein, was dereinst aus ihm erwachsen sollte. Laut trompetete der Achtjähri-
ge seinen Berufswunsch hinaus in die Welt - doch nicht etwa Kindergeschwafel
wie >>Wenn ich groß bin, möchte ich ein Wunderkind werden<< oder ähnlichen
Schnickschnack. Nein, der >extrem hirnweiche< (Originalton Klavierlehrer
Brosch) Bengel verkündete selbstbewußt: >Ich will Märtyrer werden!<< Mit Beto-
nung auf >will< noch dazu. Mahlers frtih ausgeklügelter Plan war nur allzu klar:
Leiden und leiden lassen galt ihm fortan als Devise. Zwar hatte die Umwelt seit

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seiner Geburt unter Mahler gelitten, doch nun sollte die Passionsgeschichte ango-
messene Form und Richtung nehmen. Selbstversländlich war die Familie gegen
diesen Berufswunsch, weil man selbst als gründlicher und pflichtbewußter Voll-
zeirMärtyrer niemals angemessen bezalrlt wird, was ja schließlich irgendwie in
der Natw der Sache liegt. Aber noch bevor die Familie des Knaben sich über sei-
nen Ausspruch zu entrüsten die Gelegenheit bekam, besorgte dies mit Inbrunst
Klavierlehrer Brosch, wenn auch aus gänzlich anderen Erwägungen heraus. Dem
Matrler Gustav fehlten die körperlichen Voraussetzungen für besagte Karrierel
-
Zwar war er klein, zart, mage\ krumm und schief aber für ein gottgef?illiges
Märtyrertum reichte es keineswegs aus, Klassenschwächster zu sein und dauernd
verdroschen zu werden. Dem Gustav fehlte etwas Grundsätzliches an einer nicht
weiter bezeichneten Stelle; nicht so viel, daß er als Dauersopran hätte gelten kön-
nen, doch gerade genug, um ihn sowohl von den kleinen Mädchen draußen im
Freien als auch von den kleinen Buben in seiner Klasse zu unterscheiden. Lehrer
Brosch war halt eine gestrenge, ehrliche Christenhaut; Schüler Mahler hatte nicht
mal eine. In einer Schule voller Protestanten, die bekanntlich keine richtigen Chri-
sten sind und schon gar keine Märtyrer, hätte der Herr lrhrer den Gustav womög-
lich gewäihren lassen oder zumindest mit einem Hinweis auf den zweiten Bil-
dungsweg für Märtyrer vertröstet. Doch hier, im mährischen Provinzkaff lglau,
pochte das katholische Herz Österreichs, und den meisten schien sonnenklar, daß
nur ein Katholik wirklich göttlich zu leiden imstande war. Nun hatte aber Mahler
in seiner frühreifen, dämonisch-hinterhältigen Art sämtliche möglichen Schach-
züge der Schulleitung vorausberechnet und in seine teuflische Strategie mit ein-
bezogen. Daß Lehrer Brosch zum Direktor seiner Bildungsanstalt eilen würde, mit
der Bitte um Mahlers Bestrafung für solche Blasphemie, verstand sich von selbst.
Was von der Entscheidung des Direktors abhing, war nur die Art des Martyriurns.
a) Angenommen, der Prinzipal verurteilte ihn zu den von Brosch vorgeschlagenen
>zehn Tagen verschärften Karzer mit streckenweisem Nahrungsentzug<, hatte
Matrler sofort gewonnen. Ein zu leichter Sieg, und glücklicherweise kam es zur
subtileren Form b): Der Direktor fand die Idee des Knaben weise und erleuchtet;
Mahler sei ein Muster für Tirgendhaftigkeit und Moral (zumal er nicht einmal ein
Christenverschnitt war) und verdiene es, vor seinen Klassenkameraden belobigt
zu werden. Gesagt, getan, und so bezog Gustav für den Rest seiner Schulzeit
wegen seines angekündigten Märtyrertums regelmäißig Klassenkeile. Die anderen
Jungs - die mit Haut an der richtigen Stelle - verprügelten ihn wegen seiner däm-
lichen Heiligkeit, die er gar nicht besatS, und machten ihn zu dem Märtyrer, der er
gar nicht sein durfte. Schachmatt in drei Zid.gen: Gustav kriegte immer seinen Wil-
len, und der kleine dämonische Geier lachte sich heimlich ins Fäustchen. Obiger
Vorfall ward zur Keimzelle seines Wirkens.
Wie aus besagter Episode unschwer zu erkennen ist, wal Gustav nicht automa-

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tisch zum Leiden geboren; er sah lediglich sofort jede Möglichkeit, die sich ihm
bot. Und zwar für sich und andere, denn ein echt biblischer Märtyrer, Prophet,
Heiland undsoweiter behält seine wunderbaren Anlagen schließlich nicht für sich
wie ein hergelaufener, religionsloser Egoist. Besonders die Kinderlein hatten es
dem selbst noch kleinen Gustav, der er mangels Wachstum zeitlebens bleiben soll-
te, von Herzen angetan. Bevor Gustav in seine erste wirkliche Machtposition vor-
drang - auch als Kapellmeister blieb man zwar >Radfahrer<, doch ein wendiger
Radfatrer kann jeden Brummi-Lenker mühelos kopfüber die Böschung hinunter-
treiben, wenn er das für wahr und gerecht hält! -, verfolgte er konsequent einen
Iritspruch, oder musikalisch gesehen sein Leitmotiv: Schlage niemals Menschen,
die gröJ3er sind als du, und auch keine Kinder, solange die Eltern dabeisitzen.Die-
ser Maxime gehorchte er bedingungslos, als er bei sich zu Haus Klavierstunden
gab. Er war acht Jahre alt, somit ein Novize in der Ausübung seiner soeben ent-
deckten Märtyrerberufung und dementsprechend brandheiß auf den neuen Job.
Brandheiß waren auch die Schläge, die er seinen ersten Opfem, kleineren Nach-
barskindem, zu ihrem Besten angedeihen ließ. Daß Mahler sich >a Göld< für seine
eigene musikalische Fortbildung verdienen wollte, erscheint dabei unerheblich;
wichtig war für ihn in erster Linie - zumindest laut Ehefrau Alma -, den widerli-
chen Viecherln kraft seiner Unterweisung >zu einem höheren Sein zu verhelfen,
damit ihnen Erlösung zuteil werde<<. Das versuchte Gustav buchstäblich aus Lei-
beskrdften und wurde selbstversländlich gründlich mißverstanden. Die dummen
Bälger flehten ihre Eltern um Erlösung von dem Bösen auf der nachbarlichen Kla-
vierbank an und fanden prompt Gehör. Ganz ?ihnlich ging es wenig später dem
siebzehnjährigen Studiosus Mahler, dessen pädagogische Methoden sich im Laufe
det Zeit nicht in Qualität, sondem Quantität verändert hatten. Die Kinder flohen
nicht mehr einzeln, sondern in Heerscharen vor dem götterzomentbrarurten Wüte-
rich, der seine feurigen Blitze auf sie herniederfahren ließ. Als dann in ähnlichen
Mengen deren Eltern bei ihm aufkreuzten, um ihn des Sadismus zu beschuldigen,
sah er sich unverstanden und in seiner Märtyrerrolle vollauf bestätigt. Wir sind uns
natärlich darüber im klaren, daß solche Vorwürfe aus der Luft gegriffen waren:
Erstens kann ein genialer Musikschaffender niemals ein Sadist sein; zweitens
weifi man doch, daß Eltem zu jener Zeit der staatlich sanktionierten Schulprügel
extrem empfindlich in Sachen Kindesmißhandlung reagierten, viel überffiebener
als heutzutage. Die Durchschnittsfamilie hatte eben nur ein Dutzend Ableger
vorrätig und zeigte sich entsprechend erbost, wenn mal einer davon am Piano zu
Bruch ging.
Dieses leidige Problem mit der Erleuchtung der von Natur aus dummen,
unwürdigen Menschheit sollte sich wie eine brennende Lunte durch Mahlers
gesarntes Leben ziehen; nur die Vorzeichen änderten sich etwas. Das obenge-
nannte Motto entfiel, als der Prophet auf der passenden Machtstufe angelangt war

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und seine Untergebenen nicht länger nach Mami, Papi oder ihrem Agenten schrei-
en konnten, auf daß ihnen Beistand gegen den Gott-Satan zuteil werde, der doch
nur sein Bestes wollte. Zärtlich nannte Gustav seine ihm anvertrauten wehrlosen
Schäfchen, also Sänger und Orchester, >das Musikantengesindel<; das Ensemble
der Wiener Oper war für Gustav den Grundgütigen ein >Stall< voll >hochnobler
Viecher, die aber abgesungen sind und schnellstens verschwinden müssen<. Den
Abdecker machte er persönlich nur allzu gern, allerdings nicht ohne die armen
Tiere um der Läuterung ihrer Seelen willen vorher noch ein wenig zu quälen. Er
persönlich verglich diesen Akt der Reinigung übrigens weniger mit einer Augias-
Stallausmistung ä la Herkules denn mit einer notwendig gewordenen göttlichen
>Sintflut< ... Nun, ein Herkules war der kleine Mahlerische Schmachtlappen
tatsächlich nicht. Um so erstaunlicher erscheinen darum die auff?illigen Parallelen
zum Kraftprotz Händel, der ja ebenfalls Herren und Damen des Orchesters zu ver-
prügeln pflegte. Anders als jener Vorgänger, welcher seine Opfer mit einem Fin-
ger hochhob und in diverse Ecken schleuderte, muß sich Mahler auf folgende
Methode verlegt haben, die sich betreffs des Größenunterschieds als die einzig
plausible erweist: Im vollen Bewußtsein seinerAllmacht (von der er selbst wußte,
daß sie göttlichen, die anderen glaubten, daß sie fürstlichen Ursprungs sei) befahl
er dem jeweiligen Opfer, ihn hochzuheben bzw. ihm eine Leiter aus der Requisi-
te zu beschaffen, damit er zumindest mit göttlich ausgestreckter Hand die Ohr-
watschen des Schuldigen zu erreichen imstande war. Und die Hascherln taten, wie
ihnen von tief unten geheißen; sie ließen sich von einem Männchen vertrimmen,
welches sie glatt hätten zertreten können, wenn sie nicht stets teuflisch auf der Hut
gewesen wären ... Die singende Dulderin Hermine Kittel sagte dazu nur: >>Genies
sind launisch, und wenn's hart kommt, sind sie wie Bestien. Aber man muß sie
unterstützen und sie's tun lassen, auch wenn's uns Schmerz bereitet.<< Das sah sie
völlig richtig, denn garantiert taten dem Gustav die Schläge viel mehr weh als
dem Vieh - bei seinen zartenHandgelenken.
Will man bestimmen, ob der Mahler Gustav ein Gott des Alten oder des Neuen
Testamentes war, erkennt man ziemlich schnell, daß er, bedingt durch den Verlauf
seines weltlichen Lebens, beide verkörperte; außerdem spielte er diverse Randfi-
guren wie Gustav den Täufer, den Posaunisten von Jericho, Moses mit den Geset-
zestafeln, bei der Teilung des Roten Meeres und vieles mehr. Er war der Gott
Jahwe, der keinen anderen neben sich duldete: Als ein gewisser Claude Debussy
ihn besuchte, freute sich Gott Gustav über solche Reverenz seitens dieses seines
>absoluten Jüngers<; Debussy klärte ihn etwas befremdet über das Mißverständnis
auf und ward augenblicklich zu einem größenwahnsinnigen Spinner. Zugleich war
Gustav die Heilige Dreifaltigkeit der Neuzeit. Ach was, >dreifaltig< - Gustav
brachte es auf noch viel mehr Falten. Einmal, wahrscheinlich im Zustande fortge-
schrittener Weihrauchvergiftung, rief er aus: >>Alma, stell' dir vor, was mir soeben

r5l
pessiert ist: Ich konnte für einen Augenblick in mindestens sieben Dimensionen
lebenl< Dies stimmt mit einer friiheren Beobachtung seiner selbst überein, als er
Freund Bruno Walter schrieb: >>Ich würde mich manchmal gar nicht wundern,
wenn ich plötzlich einen neuen Körper an mir bemerken würde.<< Erkenntnis-
mäßig befand sich Mahler schon geraume Zeit im >Transobjektiven<. Dagegen
erwog er kurz vor seinem Ableben, welches er eigentlich immer als den Zweck
jedes Daseins betrachtet hatte, zur Ordnung der Bakterien-Einzeller überzutreten,
um durch sofortige Zellteilung dem Hinscheiden zu entgehen. Das alles muß uns
jedoch nicht beunruhigen - der Mahler Gustav war trotzdem keineswegs plem-
plem, wie böse Zungen behaupteten. Das hat er sogar mit Brief und Siegel von
Sigmund Freud persönlich bestätigt erhalten. Sigi, der doch nun wirklich bei
jedem zahlenden Patienten irgend etwas feststellen konnte, diagnostizierte bei
Freund Mahler lediglich einen Mutterkomplex< (obwohl Mah-
'verschwommenen
ler ihm erzählte, wie der lüsterne Vater in Gustaverls Beisein über die Mutter her-
gefallen war, noch dazu während eines ihrer Herzanfülle!). Mahler muß so goff-
oder aber dämonengleich auf Sigmund gewirkt haben, daß letzterer ihm nach
einer einzigen Sitzung die Absolution erteilte und ihn mit einer Auflage von drei
Vaterunsern zurück nach Hause und zu seinerAlma mater schickte - welcher Sig-
mund übrigens auf einer Party, quasi im Vorbeilaufen, einen lihnlich verschwom-
menen Vaterkomplex bescheinigt hatte.
Bei der Erwähnung von Vatemnsern mag man zunächst stutzen. Schließlich
wissen wir, daß Klein-Gustav das einzige Schnittböhnchen in seiner katholischen
Schulklasse besaß, also aus einem ordentlichen jüdischen Hause stammte, wo der
Vater zwar nicht unbedingt die Mutter, wohl aber den Sabbat ehrte, besonders
donnerstags. Die Großmutter, ihres Zeichens Familienoberhaupt, hatte als Mitgift
einstens eine Hausiererkiepe und ein Pianino geerbt. Statt die ehrwürdige Kunst
des Hausierens zu erlernen, biß sich Gustav bereits im Krabbelalter an dem Kla-
vierchen fest sowie an jedem, der ihn davon losmachen wollte. Also erklärte sich
der Vater einverstanden, ihn ein Wunderkind werden zu lassen (die Tradition war
offenbar einfach nicht totzukriegen). S2imtliche Klavierlehrer waren >vem-rchte<
Katholiken, und bald schien Sohnemann >gewissenlos entwurzelt<. Der Rabbi
schlug verschiedene Schulwechsel vor sowie den Aufenthalt bei der gottesfürch-
tigen Familie Grünfeld, wo aus dem Knaben schon etwas Rechtes werden sollte.
Mit Hilfe der dort für Kostgänger praktizierten Trenndiät (Trennung des Hungri-
gen von jeder Form von Kalorien und Vitaminen) wurde aus Gustav dann auch
bald ein wandelndes Skelett, noch dazu eines ohne Kleider auf den Rippen.
Gustav sah's gelassen, denn all dies stellte immerhin eine weitere wichtige Spros-
se auf der Märtyrerleiter dar. Mit fünfzehn Lenzen wurde er Schüler des Wiener
Konservatoriums, und von da an wal's um sein Judenfum mehr oder weniger
geschehen. Bald traf er dort nämlich auf seinen - neben Richard Wagner - musi-

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kalisch-geistigen Oberguru: Anton Bruckner. Kaum über fünfzig, wirkte Bruckner
auf die Mehrzahl seiner Zeitgenossen bereits so ungeheuer ... abgeklärt, daß man
ihn nicht mehr für voll nahm. Nur ein winziges Fähnlein von Aufrechten, welches
es über sich brachte, seinen einschläfemdenVorlesungen und Symphonien zu lau-
schen, weil es danach Freibier gab, scharte sich regelmäßig um den Unglückli
chen. Fiir Mahlers Gustav wuchs Bruckner im Handumdrehen zu einem >Musik-
heiligen< heran, denn der Kleine merkte instinktiv, daß Bruckner und er zu gut für
diese schnöde Welt waren. Während aus Bruckner jedoch nicht mehr viel zu
machen war, beschloß Gustav, mindestens für zwei zu leiden und damit welt-
berühmt zu werden. Wenn er in den Himmel käme, so pflegte er zu sagen, würden
ihn dereinst zwei Irute dort erwarten: Bruckner, sein Vater, und Wagner, >die
Erscheinung höchster Glorie<. Damals wußte er demnach noch nicht, daß er selbst
da droben zum Chef avancieren sollte.
Und bevor das überhaupt geschehen konnte, mußte erst einmal ein ordentlicher
Christ aus ihm werden. Also mit anderen Worten ein Erzkatholik wie Papa Bruck-
ner, der (wie der Zufall so spielt) als erklärter Antisemit galt. Tatsächlich verän-
derte sich der junge Mahler recht einschneidend unter der Anleitung seines Zieh-
vaters; man kann sogar davon ausgehen, daß ihm durch die himmlische Fürbitte
des engelsfrorrmen Mentors gewisse Körperpartien wieder nachwuchsen. Laut
Aussage seines engen Freundes Wolf ließ er das Teil des Anstoßes während des
Regenerationsprozesses zumindest nie das Licht der schnöden Welt erblicken:
>>Ich kenne nur zwei Menschen, die so keusch wie der lieb'e Gott sind: Anton
Bruckner und Gustav Mahler!< Das Nachwachsen muß dann allerdings doch eini-
ge Zeit in Anspruch genommen haben, denn erst mit siebenunddreißig Jahren ließ
Gustav sich vollständig taufen. Ganz böse Zangenmeinten damals, sein scheinbar
plötzlicher Anfall von Katholizität sei darauf zurückzuführen, daß nur ein Katho-
le den Thronsessel der Wiener Hofoper erben könne, und Wien sei schließlich eine
Messe wert usw. usw. Mahlers Freunden fielen spontan all die durch und durch
katholischen Dinge wieder ein, die der Gustav zeitlebens getrieben hatte, beson-
ders nachdem Mahler sie wieder und wieder daran erinnert hatte. Freund Löhr
schrieb: >Aus all Deinen Schilderungen geht doch eindeutig hervor, daß Du seit
Jahren nichts anderes als ein Katholik bist!< Bloß Gustavs Schwester Justine
nannte ihn einen Verräter. Später, als sie seine Haushälterin wurde, rächte sie sich
fürchterlich an ihm, indem sie ihn in den finanziellen Ruin trieb: Sie machte die-
sem abtrännigen Möchtegem-Goi weis, daß man nur mit Hummer, Lachs und
Kaviar wahrhaft koscher kochen könne. Sei's drum - Mahler hatte sich vom alt-
testamentarischen Jahwe zum neumodischen Christengott gemausert, noch dazu
mitten in Wien.
Bezüglich der Mahlerschen Enthaltsamkeit gingen die Meinungen schon zu
Lebzeiten des Heiligen recht weit auseinander. Es stimmt, daß der junge Gustav

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unter der Anleitung des fern von ihm weilenden Gottes Wagner beschloß, Vegeta-
rier zu werden. Außerdem belegte er einen Femkurs in Zen-Buddhismus und ftihl-
te sich nach eigenem Bekunden >>in der allgemeinen Mönchshaltung denkbarst
wohl<<. GattinAlma schwor zudem sämtliche Meineide, ihr Gustav sei rnit immer-
hin einundvierzig JZihrchen unbefleckt in die Ehe gegangen, doch muß ihr Ur-
teilsvermögen leider etwas angezweifelt werden. Mahlers Jugendfreund,Krzyza-
nowski nannte ihn einen >priapischen Asketen<, was auf Deutsch >Schweineprie-
ster< bedeutet; Guido Adler lobte ihn als einen glänzenden Schauspieler: >>Er setzt
die Maske des Biedermannes, des Asketen auf und treibt im Geheimen seine
Späßchen mit allerhand Schönen ...<< Aber wer weiß - vielleicht ist ihm auch sein
Jungfernhäutchen regelmlißig wieder nachgewachsen, und geistig-sittlich haben
die Frauen ihm seine Moral eh nie untergraben können. Heute würden wir sagen,
Mahler steckte seine ganze unterdrückte Libido in sein musikalisches Werk, denn
daß ein mächtiges erotisches Feuer in ihm tobte, welches ihn innerlich verbrann-
te, war seiner Umwelt bewußt, sogar dem Papa Bruckner, wenn auch nur ganz ver-
schwommen. Mahler satr das anders, wesentlich edler und gottgleicher: Seiner
engen, übrigens nach einer stürmischen Affäre soeben abgelegten Freundin Anna
von Mildenburg erklärte er das wahre Wesen seines musikalischen Schaffens.
Liebe sei für ihn nur die Liebe Gottes zur Schöpfung, und einzig diese Liebe
drücke er in seinen Werken aus. Daß er während des Komponierens ein Instrument
sei, auf dem das Universum spiele, und er nur wiedergebe, was ihm imAustausch
mit dem Höheren offenbart worden sei, kommentierte Anna nicht unzutreffend als
>sensationellen Quatsch<. Nicht das ganze Universum hatte nämlich während der
Monate zuvor auf diesem Instrument gespielt, sondem Anna, und sie hatte ihm
eine Menge neuer Griffe beigebracht. Jetzt wollte er plötzlich nicht mehr sie hei-
raten, wie er es ihr angeblich versprochen hatte, sondern so ein doofes, obskures
Weltall mit einem >Höheren< drin.
Selbstverständlich brauchen wir dieser Dame keine Aufmerksamkeit zu schen-
ken, denn sie war nur eine Frau, nicht vertraut mit den Mächten der Schöpfung,
und obendrein eine verschmähte Buhlin, die sich bestimmt bloß rächen wollte.
Auch die Thtsache, daß bereits vor ihr zwei Weibsbilder auf Einhaltung des Mah-
lerschen Eheversprechens gepocht und zu diesem Zweck sogar schwanger vor den
Kadi gelaufen waren, darf uns nicht in unserem Glauben an die Reinheit des Gott-
Genies irremachen. All diese unerquicklichen VorfZille gingen im Endeffekt auf
die Machenschaften des >Bayreuther Drachen< zurück - auf die Wagner-Witwe
Cosima, die mit allen Mitteln Gustavs Berufung an die Wiener Oper verhindem
wollte. Diese Furie konnte Juden nicht ausstehen, und katholische wenn möglich
noch weniger. Und so setzte das intrigante Luder alles daran, mit Rosa Papier
Mablers Karriere zu zerstören. Nein, das ist kein Druclcfehler. Rosa Papier war
nicht Cosimas parfümiertes Spezial-Büttenschreibmaterial für konspirative Brie-

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fe, sondern ihre Busenfreundin - eine Wiener Kammersängerin, die schon einmal
unter Mahler zu singen das zweifelhafte Vergnügen genossen hatte. Sie gehörte
nicht zu jenen Viechern, die sich sang- und klaglos schlachten ließen, im Gegen-
teil. In ihrem Zorn wurde das Weib zur Rosa Papier-Tigerin. Cosima, Rosa Papier
und ihre Vasallen erreichten es nach Jahren der völligen moralischen Untergra-
bung Wiens, welches immer schon stark unterhöhlt war, daß Mahler seinen klei-
nen Hut nahm und die lausige Stelle des Chefs der Metropolitan Opera in New
York antreten mußte. Dieser miese Job bedeutete drei Monate Arbeit im Jahr und
ein Gehalt, welches das wienerische lediglich um das knapp Zehnfache überstieg;
entsprechend verzweifelt gebärdete sich das Opfer der Drachenlady. Was bedeute-
te es schon, daß Mahler bereits seit geraumer Zeit mitjener Neuen Welt für ihn,
den Neuen Gott, geliebäugelt hatte? Er war ein armes, unschuldiges Wesen, des-
sen göttliche Liebe die blöden Weiber nicht verstanden. Amold Schönberg hinge-
gen verstand thn - der wollte am liebsten den ganzen Wiener Westbahnhof mit
einem Trauerflor auslegen lassen, zum feierlichen Geleit des Messias, >damit der
Märtyrer würdig der vemrchtesten aller Welten entschreite<<. Ein kleiner roter
Läufer tat es letztendlich auch.
Angesichts dieser Behandlung scheint es nur zu verständlich, daß Gustav sich
manchmal in die Gesellschaft wahrhaft Gleichgesinnter wie etwa die des Hans
von Bülow zurückgesehnt haben muß. Gemeint ist jener Bülow, auf den sein
Nachfahr Loriot zu Recht so stolz ist, weil er sich von Richard Wagner einst sein
Ehegespons entführen ließ, dessen er wahrscheinlich sowieso nicht mehr bedurf-
te. Zugegeben, als der noch junge, unbekannte Gustav Herrn von Bülow um
Unterweisung und spirituelle Leitung anflehte (>... und wenn ich das Lehrgeld
mit Blut bezahlen sollte!<<), ignorierte ihn der gute Mann. Doch selbst das Rote
Kreuz hat Zeiten, in denen es Geldspenden frischem Blut vorzieht; davon abgese-
hen hatte Mahler nicht spezifiziert, mit wessen Blut er bezahlen wollte, und man
hatte ihn schon des öfteren einen >böhmisch-jüdischen Vampir< geheißen ... Spä-
ter, als Mahler und Bülow, nunmehr gleichrangige Dirigenten, in den ersten Ham-
burger Häusem ihre Stäbchen schwangen, beteten die beiden sich gegenseitig an.
Bülow kam mit einem Lorbeerkranz angewackelt und meinte: >So nähert sich
Jupiter Apoll!< Wir wissen nicht, wen er damit gemeint haben kann, denn wenn
das Hutzelmännlein Gustav Apoll gewesen sein soll, war Bülow der Kaiser von
China, und das entspricht mit Sicherheit nicht den Gegebenheiten. Als kleines
Dankeschön für das Kränzchen empfahl Mahler den Leuten, zu Bülows Konzer-
ten zu >wallfabrten wie zu einem Heiligtum<. Noch niedlicher war Gustavs Geste
bei Bülows Einäscherung, als er hinter der Ume herstiefelte und das Ding die
ganzeZnit mit einem Palmzweig bewedelte. So was nennt man walne Liebe, näm-
lich die von einem Gott zum andern.
Begräbnisse, insbesondere Einäscherungen waren es denn auch, die den ruhe-

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losen >Feuergeist<, der stets >in Flammen stand< und >in Ekstase sich selbst zu ver-
brennen schien<, zu seinen kompositorischen Höchstleistungen beflügelten. Aus-
gerechnet der Tod von Bruder Ernst brachte den Dreikäsehoch Gustav an die No-
tenschreiberei. Wer jetzt an einen Schuldkomplex glaubt, weil Gustav Klein-Em-
stel Klavierunterricht erteilte und Emstel dabei den Geist aufgab, sieht sich ge-
täuscht: Ernst war - genau wie später Ehefrau Alma - schon zu groß, um sich be-
reitwillig verprügeln zu lassen. Trotzdem hatte ihn der Gustav von Herzen lieb.
Gustaverls von Geburt an morbide Ader pochte beim Anblick des toten Brüder-
chens urplötzlich mit ungewohnter Heftigkeit und wies dem derart Begeisterten
seinen mit Leichen aller Art gepflasterten Weg. Prompt versuchte sich der Knabe
an einer Oper, Arbeitstitel >Herzog Ernst von Schwaben<, und wdlnend der Kom-
position des Dings sah er nach eigenen Angaben dauemd Gespenster, Leierka-
stenmänner und tote Emste, nämlich den von Schwaben und sein eigen Brüder-
lein.
Von nun an verlegte er sich auf zwei Spezialgebiete: Leichenbegängnisse und
andere Naturschönheiten. Beide Gebiete verknüpfte er auf das heftigste und inten-
sivste, bis selbst seine Kritiker kaum noch kapierten, ob er gerade einen tieftrau-
rigen Sonnenaufgang oder Regenbogen oder aber eine fröhliche Verwesung in
Noten packte. Sein erklärtes Opus t hieß bezeichnenderweise >Das klagende
Lied<. Es klingt in der Tat außerordentlich herzig und weist Mahler als den hirn-
weichen Dulder aus, den schon Klavierlehrer Brosch in ihm sah. Die unverwech-
selbare Kombination von Erdenfreuden, kauenden Würmern und Landschafts-
idyllen, bei welcher lediglich die Identifizierung der Reihenfolge Rätsel aufgibt,
wurde sehr früh Gustavs Markenzeichen. Die Kindertotenlieder fallen hierbei
zwar durch ihren Titel auf, stellen aber insgesamt kaum etwas Besonderes dar:
Gestorben wurde bei Mahler andauernd und ausgiebig. Tote Kinder bieten eben
eine willkommenere Angriffsfläche für den sie verhackstückenden Künstler. Ern-
stel beispielsweise hatte hervorragendes emotionales Rohmaterial für den Kom-
ponisten abgegeben, der wie kein zweiter vorher oder nachher seine intim-per-
sönlichen Erlebnisse in sein Musikgewebe einflocht, was er selbst stets nach-
drücklich betonte. Was immer Mahler erlitt, denn er litt ja ständig irgendwie,
wurde bei ihm zu Musik und zwang seine Umwelt erbarmungslos zum Mitleiden.
Und das Glück des passionierten Märtyrers blieb Gustav treu: Als während eines
Landurlaubs eines seiner Kinder an Diphtherie dahinsiechte und starb - es muß
Tochter Maria Anna gewesen sein, obgleich der liebende Vater sie scheinbar nur
>das ältere Kind< nannte, um sie von der Schwester (= >jüngeres Kind<) zu unter-
scheiden -, diente es ihm sogleich als Inspiration. Da das ältere Kind laut ärztli-
cher Diagnose eh schon so gut wie hin war, lohnte es sich nicht weiter, an seinem
Bett zu sitzen; der gramverzehrte Erzeuget zog es also vor, sich in sein Studier-
stübchen zurückzuziehen, sichjede Störung zu verbitten (insbesondere den durch

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Röcheln und ähnliche Krankheitsgeräusche verursachten Lärm) und schnellstenß
anzufangen, von dem geliebten Kinde durch Komponieren >im Inneren Abschiod
zu nehmen<. Das nennt man Verarbeitung von durchlebtem Leid in der Kunst - in
solcher Perfektion kriegt das nur ein Auserwählter zustande.
Abgesehen von dieser Methode der Siechen- und Leichenverwertung, welche
Alma (die doch gewissermaßen die Mutter des sterbenden älteren Kindes war)
ihtes Gatten >Passion von Maiernigg< nannte, benutzte Gustav durchaus auch
lebende Objekte für seine Kunst. In seinem Urlaubsort Steinbach richtete er sich
eine winzige Unterkunft ein, das sogenannte Komponierhäusl, welchem die Fami-
lie femzubleiben hatte. Dort schrieb er vormittags jene Noten nieder, welche er
auf Feld und Flur aufgeklaubt und gehortet hatte. Ganz recht: Der Mahler Gustav
gehörte, zumindest bei der Beschaffung von Noten, zur eigenwilligen Spezies der
Jäger und Sammler! Sein Häuschen hatte nämlich eine Hintertür, und durch diese
schlüpfte der Gott unerkannt ins Freie, um auf Bergen und in Wäldem umherzu-
streifen und >in einer Art keckem Raub< seine musikalischen >Entwürfe davonzu-
tragen<. Mit anderen Worten: Er pflückte kein Edelweiß, sondern rupfte Noten-
schlüsselblümchent Bedenken wir in diesem Zusammenhang, daß alle Welt ihn
entweder als Gottheit oder Dämon betrachtete und daß Bruno Walter, der ihn wohl
am besten kannte, aufgrund seiner geheimnisvollen, wild-elementaren Naturver-
bundenheit gar den Wald- und Wiesengott Pan in Gustav satr ... Da geht uns doch
ein Licht auf. Die Tatsache, daß in Mahlers gesamtem Werk das Seelenwirken des
Universums direkt neben dem profansten Naturzeugs steht, und zwar gänzlich
ungeordnet, willkürlich neben- und übereinandergetürmt, klotzig >wie der Mont-
blanc< (Debussy) - das bedeutet nichts anderes, als daß Mahler tatsächlich Gott
undDämon in seiner kleinen Person verkörperte. Die Kritiker sprachen bei seiner
achten Symphonie, zu deren Uraufführung über tausend Miwirkende zugegen
waren, nicht umsonst von einem >Pandämonium< ...
Das bedeutet allerdings auch, daß Mahler trotz seines Drahtes zu überirdischen
Mächten grundsätzlich immer auf in der Natur bereits vorhandene Bausteine zu-
rückzugreifen gezwungen war - seien dies nun Kinderseelen, die der grause Dä-
mon den Verröchelnden entriß bzw. als eine Art Ghul auf Friedhöfen ausgrub,
oder simple Massenversammlungen von raunzenden, maunzenden Waldtieren,
Daß er sämtliche Töne unmittelbar der konkreten Natur um ihn entnahm, gab Gu-
stav schließlich bereitwilligst zu. Die Verarbeitung, die sodann im Dämonen-
Komponierhäusl erfolgte, erwies sich als durchaus angemessen, d.h. grobschläch-
tig, großklotzig und -kotzig. Der Gott Pan klebte alles so zusammen, wie er's ge-
rade in die Finger bekam. Kein Wunder, daß er für den Vorreiter der Zwölfton-
barbaren gehalten wurde. Erstens kannten die auch keine Gnade, und zweitens
fand Schönberg beinahe bestätigten Gerüchten gemäß eines Tages Pans Flöte mit
den zwölf Löchern in seinem Gepäck - als Erbteil des Gottes sozusagen.

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Mahler wußte tiber seine eigene ldentität nicht immer so ganz Bescheid; wer
zoitweise in sieben Dimensionen herumschwebt, während das Universum auf ihm
spielt, kann da schon leicht durcheinandergeraten. Deshalb glaubte er stets, er sei
vom streng-katholischen Heiligen Geist erleuchtet und nicht etwa von irgendei-
nem Natur-Manitu. Wenn ihm beim Komponieren geistig etwas finster zumute
ward, fand er, wie er es nannte, ein >Lichtlein<, welches ihm als >suchendem Men-
schen< half, gegen Dunkel und Donnergetöse der Welt anzukommen. Dieses
Lichtlein war für ihn während der Zeit im Komponierhäusl enonn wichtig. Es
erschien ihm während der Schöpfung seiner ersten Symphonien. Wenn wir nun
bedenken, daß das Häusl etwa zwanzig Meter von der Pension entfernt war und
womöglich ein Herzchen in der Tür aufwies, können wir die wahre Bedeutung des
Lichtleins begreifen. Darmolmännchen Mahler wdre ohne diesen Leitstern aufge-
schmissen gewesen. Manche Freunde seiner Musik hätten auch gern so eine Fun-
zel gehabt. Gustavs Ergüsse sind ohne jeden Wegweiser in dunkler Musiknacht so
schwer verdaulich ...
Auf das berühmte Lichtlein blieb jedoch nicht ewig Verlaß. Die vielen musika-
lischen Beerdigungen - ob er sie nun Totenklagen, Funöbre-Themen oder sonst-
wie nannte - müssen an der Kerze mit der Zeit mächtig gezelut haben. Nur gut,
daß er das Häusl später auch im Dunkeln fand. Der Heilige Geist fand es nicht
mehr so auf Anhieb. Ein Herr Busoni stellte fest, daß >der musikalische Heilige
Geist bei Mahler nicht mehr senkrecht von oben herabschießt, sondem von links
oder von rechts kommt<. Das deutet auf schwerwiegende Orientierungsprobleme
hin. Doch das Dämonische, Mahlers angeborener Feuergeist, wußte immer, wo es
lang ging. Willem Mengelberg meinte zu Gustavs sechster Symphonie: >Ich habe
das Gefähl, meiner eigenen Zersetntngbeizuwohnen<<; es gebe nichts Imposante-
res als >>diese musikalischen Fieberkurven, mit denen man jedes Krematorium
dekorieren müßte<<. Ein Riesenkompliment an Mahler, der Feuerbestattungen
doch so liebte.
Doch dieses dauernde Spiel mit dem Feuer wurde ihm zum Verh2ingnis. Trotz
seiner pathologischen Angst vor dem Schreiben einer neunten Symphonie konnte
der Brandstifter nicht mehr mit dem Zündeln aufhören, sondern stieß immer drei-
ster in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Mahler wul3te, daß
kein Komponist die neunte Symphonie überleben konnte, obwohl sein Hausarzt
das als Ausgeburt eines Hypochondergehirns abtat: Beethoven hatte es nicht
geschafft; Schubert und Bruckner waren über der >magischen Neunzahl< gestor-
ben. Die Erklärung lag auf der Hand. Schönberg sagt das so: >>Die eine Neunte
geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe ... Es scheint, die Neunte ist
eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muß fort.< Völlig logische Sache, das, und
deshalb hatte Mahler auch eine verfluchte Angst vor seiner Neunten. Also galt es,
das klassische Komponistenschicksal zu überlisten! Mahler kam denn auch eine

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exzellente Idee, die um ein Haar funktioniert hätte. Er dachte nur in die falscho
Richtung. Wir müssen uns die Sache folgendermaßen vorstellen: Die Amerikanor
bauen niemals Wolkenkratzer mit einem dreizehnten Stockwerk darin. Auf das
zwölfte folgt unmittelbar das vierzehnte, und wenn jemand blöd genug ist, sich
von seinem Makler eine Wohnung in der dreizehnten Etage aufschwatzen zu las-
sen, kann er die zu seinem Schlüssel passende Wohnung lange suchen. Wer an den
Wolken kratzen will, muß der dem Universum innewohnenden Zahlensymbolik
den nötigen Tribut zollen. Genauso hätte es Mahler auch machen müssen, und es
ist unbegreiflich, daß gerade er, der mehrmals Amerika bereist hatte, den Trick nie
durchschaute. Aber schließlich war er der auserwählte Märtyrer, und dieser Kelch
sollte nicht an ihm vorübergehen, ob er nun Durst hatte oder nicht. Das Glilck
bzw. Pech des Dulders Hiob verfolgte Mahler - ihn, den einst französische Pla-
katdrucker nicht aus Versehen, sondern aus Vorsehung zu >Gustav Malheur<
gestempelt hatten!
Gustavs Versuch ging wie gesagt in die umgekehrte Richtung. Anstatt nach der
Achten gleich die Zehnte zu schreiben, wobei man aus der nichtexistenten Neun-
ten später eine absolut rausch- und geräuschfreie CD hätte machen können, setz-
te es sich der Dussel in den Kopf, eine Symphonie ohne Nummer zu fabizieren,
der er nur einen Namen geben wollte: Das von der Erde<. Die kriegte er auch
'Lied
fertig, obschon unter unsäglichen Qualen und Angsten. >>Verfluchte Geistermu-
sik!<< nannte er das Zeug, denn die jeder anständigen Neunten eigentümlichen
Schöpfungsgesetze kamen hier durchaus zur Wirkung. Und er schaffte es sogar,
eine weitere Symphonie zu schreiben ... Doch der vermeintliche Triumph über
das Schicksal wurde sein Untergang. Er war überzeugt, mit der >nominellen Neun-
ten< habe er bereits seine zehnte Symphonie abgeschlossen; nun könne er - unver-
wundbar gleichsam - geffost die >Elfte< angehen. Daß das nicht klappen konnte,
sehen wir sofort an unserem Wolkenkratzerbeispiel. Niemand baut ein Penthouse
zwischen den zwölften und vierzehnten Stock, damit letzterer zvr nominellen
dreizehnten Etage ausgebaut werden kann. Oder so ähnlich. Im Endeffekt würde
das Penthouse samt Dachgarten plattgequetscht. Und genau das passierte Gustav.
Somit sind wir Sterblichen in der Deutung des Seins keinen Schritt weiterge-
kommen. >Vielleicht wdren die Rätsel dieser Welt gelöst<<, schreibt Schönberg,
>>wenn einer von denen, die sie wissen, die Zelnte schriebe. Und das soll wohl
nicht so sein.<< Nun, warten wir's ab. Uns steht schließlich noch ein Haufen Musik
bevor ...

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