Sie sind auf Seite 1von 20

Inhalt

• Vorwort (Pietro Archiati) S. 3


• Rudolf Steiner: «Ahriman» kommt! S. 4
Rudolf Steiner Der Ursprung unserer Kultur liegt im vorchristlichen Heidentum S. 4 // Eine
Urweisheit hat vom Osten bis Griechenland die Jahrtausende vor Christus geprägt –
«Ahriman» kommt! eine Weisheit ohne gesonderten moralischen Impuls S. 6 // Diese Urweisheit brachte
Luzifer durch seine einmalige Inkarnation im Osten Anfang des 3. Jahrtausends vor
Christus S. 9 // Am Anfang des 3. Jahrtausends nach Christus soll geschehen im
Sein Wirken kann jeder durchschauen Westen die einmalige Inkarnation Ahrimans. Wichtig ist es für den Menschen zu
durchschauen, auf welche Weise Ahriman sein Kommen vorbereitet. S. 10 // Der
Ein Vortrag in Dornach/Schweiz am 1. November 1919 Materialismus der Wissenschaft ist eine Machination Ahrimans S. 13 // Ebenso die
Hinordnung des ganzen Lebens auf den Erwerb materieller Güter S. 14 // Eine dritte
Machination ist der Nationalismus, sowie jede Spaltung der Menschen in Meinungen
und Parteien S. 17 // Das Betonen einer vermeintlich schlichten, in Wirklichkeit
einseitigen Auffassung der Evangelien erzeugt nur eine Halluzination von dem Chris-
tus und trägt zum Erfolg Ahrimans am meisten bei S. 19 // Materialismus und illusi-
onärer Spiritualismus fördern sich gegenseitig S. 25 // Der Vertrag zwischen Luzifer
und Ahriman: In den Mägen wirken nur Instinkte, in den Köpfen die herzlosen
«Konservenbüchsen», das heißt Bibliotheken und Akten S. 26 // Durch das ernsthaf-
te Erarbeiten einer Geisteswissenschaft besiegt der Mensch Ahriman, der besonders
durch Statistiken und Zahlen wirkt S. 29
• Nachwort S. 32
• Über Rudolf Steiner S. 40

2
Vorwort Rudolf Steiner
«Ahriman» wird in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners die geistige «Ahriman» kommt!
Macht genannt, die dem Menschen eine materialistische Weltauffassung Meine lieben Freunde! Wenn jetzt, in dieser Zeit, gerade von geisteswis-
und Lebensweise nahe legt. Das Wort geht zurück auf die persische Kultur senschaftlicher Seite her über soziale Fragen gesprochen wird, so beruht
Zarathustras. Er ist der Mephisto in Goethes Faust; in den Evangelien wird das ja, wie ich Ihnen übrigens von den verschiedensten Gesichtspunkten
er «Satanas» genannt. her schon auseinandergesetzt habe, wahrhaftig nicht auf irgendeiner sub-
Ahriman soll sich laut Rudolf Steiner am Anfang des 3. Jahrtausends jektiven Maxime, auf irgendeinem subjektiven Antrieb, sondern es beruht
inkarnieren oder verkörpern – dies geschieht nur einmal in der gesamten auf einer Beobachtung der Entwicklung der Menschheit, auf der Beobach-
Entwicklung von Erde und Mensch. Er bereitet sein «Kommen» durch tung desjenigen, was die Entwicklungskräfte der Menschheit gerade für
verschiedene Kulturströmungen vor. Diese sollen ihm möglichst viel Erfolg unsere Zeit enthalten, wozu sie uns in der Gegenwart und für die nächste
bescheren. Das erste Gebot gegenüber seinen Machinationen ist für den Zukunft besonders auffordern.
freien Menschen das Durchschauen, als Voraussetzung für das Handeln. Es muss schon gesagt werden, dass die tieferen Impulse desjenigen zu
Im christlichen Evangelium fragen beim «Jüngsten Gericht» die Men- enthüllen, was eigentlich für die gegenwärtige Menschheitsentwicklung
schen, die das Wirken des Bösen nicht durchschaut, die es verschlafen in Betracht kommt, eine etwas unbequeme Sache ist, denn man ist in der
haben: Wo, wann ist dies alles geschehen? Und sie hören als Antwort: In Gegenwart nicht allzu geneigt, auf diese Dinge einzugehen. Man ist in der
der täglichen Begegnung «mit dem Geringsten» der Menschen, im Alltag, Gegenwart nicht allzu geneigt, die Dinge, auf die es ankommt, mit wirk-
geschieht immer und überall Menschliches oder Widermenschliches. Das lichem, tiefstem Ernst zu betrachten. Aber unsere Zeit erfordert gegenüber
Zweite geschieht von selbst, wann immer der Mensch nicht wachsam ist, den Angelegenheiten der Menschheit einen wirklichen, gründlichen Ernst.
wenn er nicht bewusst und willentlich das Gute vollbringt. Sie erfordert namentlich das Sichfreimachen von ganz bestimmten Vor-
Pietro Archiati urteilen und namentlich Vorempfindungen.
3 4
Ich möchte Ihnen nun heute einige Gesichtspunkte angeben, die in die Nun wissen Sie ja vor allen Dingen eines: In der gewöhnlichen Geschichte
Lage versetzen, die Dinge, über die wir oft gesprochen haben, von einem wird dasjenige, was als Kultur, als Zivilisation unter den Menschen war
tieferen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Da werden wir schon wieder über die damals bekannte Welt hin, als das «Heidnische» bezeichnet. Wie
eben den Blick richten müssen über einen etwas größeren Menschheits- eine Oase setzte sich in diese heidnische Kultur hinein dasjenige, was das
zusammenhang. Jüdisch-Hebräische ist, das als Vorbereitung des Christentums aufgefasst
Wir unterscheiden ja klar denjenigen Zeitraum, in dem wir als in unserer werden muss. Aber wenn wir absehen von dem, was ganz anderer Natur als
karmischen Gegenwart leben, so von den anderen Zeiträumen, dass wir ihn die übrige damalige Kultur als das Judentum sich hineinsetzte in das Vor-
beginnen lassen in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Und wir nennen diesen, christliche, so können wir den Blick richten auf das über die Zivilisation
wie Sie ja wissen, den fünften nachatlantischen Zeitraum. Wir trennen ihn hingehende Heidentum.
ab von demjenigen Zeitraum, der damals sein Ende gefunden hat und be-
gonnen hat im achten vorchristlichen Jahrhundert, den wir den griechisch- Was ist das Eigentümliche dieser alten heidnischen Kultur? Das Eigentümli-
lateinischen Zeitraum nennen nach den Bevölkerungen, die seine Kultur che dieser alten heidnischen Kultur ist eine Kultur des Hineinschauens in die
getragen haben. Und dann, was voranging, das bezeichnen wir als den Dinge und Vorgänge der Welt. Wenn auch dasjenige, was der alte Heide wie-
ägyptisch-chaldäischen Zeitraum. dergab von seinem Wissen über die Welt, das herausgeströmt war aus den
Wenn man nun den ägyptisch-chaldäischen Zeitraum ins Auge fasst – ins alten Mysterien, wenn das auch für die heutige «gescheite» Welt einen mythi-
Seelenauge selbstverständlich –, dann findet man schon, dass die gewöhn- schen Charakter hat, einen Bildcharakter hat, so muss doch gesagt werden,
liche Geschichtsbetrachtung gar sehr versagt. Man kommt nicht sehr weit dass alles dasjenige, was an solchen Bildern auf die Nachwelt gekommen ist,
zurück, selbst wenn man die erschlossenen chaldäischen und ägyptischen entstammt tiefen Einblicken in das Wesen der Dinge und Vorgänge.
Überlieferungen ins Auge fasst, man kommt mit der äußerlichen Geschichte Man braucht sich nur zu erinnern übersinnlicher Weistümer, die wir
nicht sehr weit zurück in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Aber versuchten aus den verschiedenen Gebieten dieser alten Zeit für die Gegen-
verstehen kann man dasjenige, was für die Gegenwart bedeutsam ist, doch wart bloßzulegen, und man wird schon sehen, dass man es zu tun hat mit
auch nur, wenn man gerade diesen dritten nachatlantischen Zeitraum aus einer Urweisheit, die den Grund alles Denkens, alles Empfindens, alles
seinen besonderen Eigentümlichkeiten heraus richtig versteht. Fühlens der alten Völker bildet.
5 6
Ein gewisser Nachklang dieser Urweisheit, eine Tradition, die diese gab, dass er drinnensteht im ganzen Kosmos. Der Mensch, der hier auf der
Urweisheit in sich schloss, war ja für gewisse Geheimgesellschaften auch Erde stand und herumwandelte, er fühlte sich nicht nur zusammengesetzt
in einer gedeihlichen Form bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, auch noch aus den Stoffen und Kräften, die außer ihm im irdischen Leben, die im
bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts vorhanden. Im 19. Jahrhundert ist das mineralischen, im tierischen, im pflanzlichen Reich vorhanden sind. Der
mehr oder weniger versiegt, und dasjenige, was geblieben ist, ist gestellt Mensch fühlte, wie die Kräfte in ihn hereinspielten, die in den Sternen und
worden in den Dienst einzelner Gruppen, namentlich einzelner Nationali- Sonnen kreisten und so weiter.
täten. Und es kann heute dasjenige, was in den gewöhnlichen Geheim- Der Mensch fühlte sich als ein Glied des ganzen Kosmos und er fühlte
gesellschaften vorhanden ist, nicht mehr ein ersprießliches, mit Echtheit nicht nur abstrakt etwa, wie er ein Bild des ganzen Kosmos sei, sondern er
überliefertes altes heidnisches Weisheitsgut genannt werden. bekam Anhaltspunkte aus seinen Mysterien heraus, wie er zum Handeln,
Dieses heidnische Weisheitsgut, es hat eine bestimmte Eigenschaft, die zu seinem ganzen Verhalten vorzuschreiten habe im Sinne des Sternen-
man nie aus dem Auge verlieren darf, wenn man verstehen will, um was es laufes. Dasjenige, was alte Sternenweisheit war, war ja keineswegs jene
sich eigentlich handelt. Es ist eine Eigenschaft, wegen welcher sich gerade rechnerische Astrologie, welche heute die Menschen für etwas halten, son-
hineinstellen musste wie eine Oase in diesen Strom der alten heidnischen dern es war jene alte Sternenweisheit etwas, was von den Leitern der alten
Weisheit die kleinere Strömung, das Judentum, das dann das Christentum heidnischen Mysterien so gefasst wurde, dass da von diesen Mysterien
vorbereitete. herauskommen konnten wirkliche Antriebe für das Handeln, für das Ver-
Wenn man richtig erkennt die alte heidnische Kultur, findet man über- halten des einzelnen Menschen.
all: Sie enthält hehre, große Weistümer, ungeheuer tief in das Wesen der Der Mensch wusste sich gewissermaßen geborgen im ganzen Kosmos,
Dinge Hineinschürfendes. Aber diese heidnischen Weistümer, sie enthalten nicht nur durch eine allgemeine Weisheit, sondern was er vom Morgen bis
keinen eigentlichen sittlichen Antrieb für das menschliche Handeln. zum Abend an einem Tag des Jahres zu tun hatte, das lasen ihm ab und
Man brauchte gewissermaßen diese sittlichen Antriebe für das Handeln gaben ihm als Direktiven diejenigen, die er anerkannte als die Initiierten in
der Menschen nicht, denn ungleich demjenigen, was heute als Wissen, als den Mysterien. Aber es war nicht zu gewinnen aus all dem, was da die Initi-
Erkenntnis unter den Menschen figuriert, war diese alte heidnische Weis- ierten ablasen aus den Mysterien für die chaldäische, für die ägyptische
heit etwas, was dem Menschen wirklich das Gefühl und die Empfindung Weisheit, irgendein moralischer Antrieb für die Menschheit. Der eigent-
7 8
liche moralische Antrieb für die Menschheit wurde erst durch das Juden- gotha, die Inkarnation des Christus in dem Menschen Jesus von Nazareth
tum vorbereitet, dann durch das Christentum ausgebildet. gegeben hat, dass es gegeben hat eine wirkliche Inkarnation des Luzifer im
3. vorchristlichen Jahrtausend in Asien. Und ein großer Teil der alten Kul-
Und die Frage muss entstehen, meine lieben Freunde: Woher kommt es tur ist eben inspiriert von der Seite her, die nur bezeichnet werden kann als
denn, dass die gloriose alte heidnische Weisheit, die zum Beispiel ja noch in eine irdische Inkarnation Luzifers in einem Menschen, der in Fleisch und
dem Griechentum eine künstlerische und philosophische Blüte schönster Art Blut gelebt hat.
trug, woher kommt es denn, dass diese keinen moralischen Impuls hatte? Sehen Sie, es wurde ja sogar das Christentum, das Mysterium von
Würden wir allerdings weiter zurückgehen, hinter das 3. Jahrtausend Golgotha, als es unter den Menschen sich abspielte, zuerst so gefasst, wie
der vorchristlichen Zeit, so würden wir finden, dass mit dem Weisheits- die Menschen es fassen konnten durch dasjenige, was sie aus der alten
impuls zugleich ein moralischer Impuls kommt und dass das durchaus so luziferischen Weisheit bekommen konnten. Die Einseitigkeit der aber sonst
ist, wie ich es hier schon auseinandergesetzt habe, dass in dem Weisheits- außerordentlich tiefsinnigen Gnosis rührt davon her, dass eben über die
impuls zugleich dasjenige enthalten war, was die alten Menschen als ihre alte Welt diese Luziferinkarnation ging. Man versteht nicht richtig die
Moral, als ihr Ethos brauchten. Aber ein besonderes Ethos, ein besonderer volle Bedeutung des Mysteriums von Golgotha, wenn man nicht weiß,
moralischer Impuls, wie er dann mit dem Christentum kam, war der heid- dass ihm nicht ganz dreitausend Jahre vorangegangen ist eine Luzifer-
nischen Weisheit als solcher nicht eigen. Warum? inkarnation.
Aus dem Grunde, weil inspiriert war für die Jahrtausende, die unmittel- Um zu dieser Luziferinspiration hinzuzufügen, was diese Luziferinspi-
bar dem Christentum vorangingen, diese heidnische Weisheit von einer ration aus der Einseitigkeit herausholt, kam die Christus-Inkarnation. Und
Stelle weit in Asien drüben, aber inspiriert von einer sehr merkwürdigen damit kam dasjenige, was nun den menschheitlichen Erziehungsimpuls
Wesenheit: inspiriert von der im 3. vorchristlichen Jahrtausend wirklich in bildet für die Entwicklung der europäischen Zivilisation und ihres ameri-
Asien drüben, im Osten, inkarnierten Wesenheit des Luzifer. kanischen Anhangs.
Und zu dem Mancherlei, das wir kennengelernt haben über die Mensch-
heitsentwicklung, ist es notwendig, dass wir auch die Erkenntnis hinzu- Aber seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, seit in der Menschheitsentwicklung
fügen, meine lieben Freunde, dass ebenso, wie es die Inkarnation von Gol- entstanden ist der Antrieb vorzugsweise zur Individualitäts-, zur Persönlich-
9 10
keitsentwicklung, liegen in dieser Entwicklung auch die Kräfte, die eine neue ihnen erkennen können eine Vorbereitung für die fleischliche Inkarnation
Inkarnation eines übersinnlichen Wesens wiederum vorbereiten. des Ahriman.
Und ebenso wie es gegeben hat eine fleischliche Inkarnation Luzifers, Nur dadurch werden die Menschen die rechte Stellung finden können,
wie es gegeben hat eine fleischliche Inkarnation des Christus, so wird, ehe dass sie erkennen: In dieser oder jener Tatsachenreihe, die der menschli-
auch nur ein Teil des 3. Jahrtausends der nachchristlichen Zeit abgelaufen chen Entwicklung angehört, da muss man erkennen, wie Ahriman vorberei-
sein wird, wird es geben im Westen eine wirkliche Inkarnation Ahrimans, tet sein irdisches Dasein. Und heute ist es an der Zeit, dass einzelne Men-
Ahriman im Fleische. schen wissen, was von den Vorgängen, die um sie herum sich abspielen,
Dieser Inkarnation Ahrimans im Fleisch kann nicht etwa die Erden- Machinationen Ahrimans sind, um womöglich ihm zum Vorteil seine dem-
menschheit entgehen. Die wird kommen. Es handelt sich nur darum, dass nächstige irdische Inkarnation vorzubereiten.*
die Erdenmenschheit ihre richtige Stellung finden muss zu dieser ahrimani- Am günstigsten würde es ja zweifellos für Ahriman sein, wenn er es
schen Erdeninkarnation. dahin brächte, dass die weitaus größte Anzahl der Menschen keine Ahnung
In all dem, was auf diese Art vorgeht, wo sich solche Inkarnationen vor- hätte von dem, was eigentlich zur Begünstigung seines Daseins hinführen
bereiten, muss gesehen werden etwas, was nach und nach immer in der könnte, wenn die weitaus größte Anzahl der Menschen so dahinleben würde,
Menschheitsentwicklung hinführt zu solchen Inkarnationen. Solch eine dass diese Vorbereitungen für die Ahrimaninkarnation abliefen, aber die
Wesenheit wie Ahriman, die sich eine gewisse Zeit nach der unsrigen hier Menschen sie für etwas Gutes, Fortschrittliches, der Menschheitsentwick-
auf der Erde in der westlichen Welt inkarnieren will, eine solche Wesenheit lung Angemessenes hielten.
bereitet ihre Inkarnation vor. Eine solche Wesenheit wie Ahriman, die auf
der Erde inkarniert werden will, lenkt gewisse Kräfte der menschheitlichen *
Das Klonen, das erst in der letzten Zeit durch die Gentechnologie möglich geworden ist,
Entwicklung so, dass sie dieser Wesenheit zu ganz besonderem Vorteil hängt zweifellos mit der Absicht Ahrimans zusammen, «im Fleische» wirksam zu werden.
gereichen. Durch Klonen wird nur das Physische – das Fleisch – verdoppelt, nicht das Menschen-Ich,
Und schlimm wäre eigentlich dieses, meine lieben Freunde: Wenn die der individuelle Geist des Menschen. Individuum heißt lateinisch: unteilbar, untrennbar.
Ahrimans Bestreben muss dahin gehen, einen Körper von sich «besessen» zu machen, der
Menschen schlafend dahinleben würden und gewisse Erscheinungen, die möglichst wenig nach einem individuellen Menschengeist strukturiert worden ist, der ihm
im Menschenleben vor sich gehen, nicht so nehmen würden, dass sie in keinen Widerstand bietet.
11 12
Wenn sich gewissermaßen Ahriman in eine schlafende Menschheit Das ist es, was aber Ahriman zugunsten seiner irdischen Inkarnation ganz
hereinschleichen könnte, dann würde ihm das am allerangenehmsten sein. besonders vermeiden möchte. Er möchte gewissermaßen die Menschen so
Deshalb müssen diejenigen Ereignisse aufgezeigt werden, in denen Ahri- stark in der Dumpfheit erhalten, dass sie nur das Mathematische der Astro-
man arbeitet für seine künftige Inkarnation. nomie begreifen. Daher verführt er viele Menschen dazu, ihre bekannte
Abneigung gegen das Wissen vom Geist und von der Seele des Weltalls
Sehen Sie, eine derjenigen Entwicklungstatsachen, in denen, ich möchte geltend zu machen. Aber das ist nur eine von den verführerischen Kräften,
sagen, deutlich zu vernehmen ist der Impuls des Ahriman, das ist die Ver- die gewissermaßen Ahriman in die Seele der Menschen hineingießt.
breitung des Glaubens unter der Menschheit, dass man durch jene mecha-
nisch-mathematische Erfassung des Weltalls, welche gekommen ist durch Eine andere von diesen verführerischen Kräften des Ahriman hängt ja
den Galileismus, den Kopernikanismus und so weiter, wirklich verstehen natürlich für seine Inkarnation – aber er arbeitet in entsprechender Weise
könne dasjenige, was da draußen im Kosmos sich abspielt. mit den Luziferkräften zusammen – mit Luzifer, möchte ich sagen, zusam-
Deshalb muss ja so streng von anthroposophisch orientierter Geistes- men. Eine andere Art ist diese, dass möglichst viel unter den Menschen eine
wissenschaft betont werden, dass man Geist und Seele suchen muss im Kos- gewisse Stimmung erhalten werden könne, die heute sehr, sehr verbreitet
mos, nicht bloß dasjenige, was der Galileismus, der Kopernikanismus suchen ist: Dass es eigentlich genügt für das öffentliche Leben, wenn man dafür
als Mathematik, Mechanik, so wie wenn die Welt eine große Maschine wäre. sorgt, dass die Menschen wirtschaftlich zufriedengestellt werden.
Es würde sein die Verführung Ahrimans, wenn die Menschen stehen bleiben Man berührt dabei einen Punkt, den der moderne Mensch oftmals nicht
dabei, nur die Umlaufzeiten der Gestirne zu berechnen, nur Astrophysik zu gern zugibt. Sehen Sie, für eine wirkliche Erkenntnis des Geistes und der
studieren, um hinterher auf die stofflichen Zusammensetzungen der Himmels- Seele bietet ja eigentlich die heutige offizielle Wissenschaft gar nichts mehr.
körper zu kommen, worauf die Menschen heute so stolz sind – von einem Denn die Methoden, die man in den heutigen offiziellen Wissenschaften hat,
gewissen Gesichtspunkt her mit Recht stolz sind. taugen nur dazu, die äußere Natur vom Menschen aufzufassen.
Aber es würde schlimm sein, wenn nicht entgegengehalten würde diesem Aber denken Sie sich nur, wie verächtlich eigentlich so ein Durch-
Galileismus, dem Kopernikanismus dasjenige, was man wissen kann über schnittsbürger der Gegenwart hinblickt auf alles dasjenige, was ihm idealis-
die Durchseelung des Kosmos, über die Durchgeistigung des Kosmos. tisch vorkommt, was ihm wie ein Weg, auf irgendeine Art wie ein Weg
13 14
ins Geistige hinein vorkommt! Er fragt doch im Grunde genommen immer Und schließlich alles dasjenige, was wirklich nützlich ist an Erkenntnis,
wiederum: Ja, was bringt das ein? Was trägt das für irdische Güter? das soll doch eine Vorbereitung dazu sein – wenn auch die Menschen es
Er lässt seine Söhne im Gymnasium ausbilden – ist vielleicht selber im sich nicht immer eingestehen, aber es ist im öffentlichen Leben so –, das
Gymnasium oder in einer anderen Anstalt ausgebildet –, er lässt sie an einer soll doch eine Vorbereitung dazu sein, um die Essensmöglichkeiten herbei-
Universität oder an einer anderen Hochschule ausbilden. Allein, all das dient zuführen.
eigentlich nur dazu, um die Grundlagen für einen Beruf abzugeben, das heißt, Ja, sehen Sie, es ist ein merkwürdiger Irrtum, dem sich gerade auf die-
um im Leben eben die materiellen Güter, die ihn ernähren, zu schaffen. sem Gebiet eben die Menschen der Gegenwart hingeben. Sie glauben, den
Überblicken Sie einmal das, was berührt wird, wenn man gerade diese Geist könne man doch nicht essen. Und sehen Sie, die Menschen, die dies
Frage ins Auge fasst: Wie viele Menschen bewerten heute eigentlich gar sagen, das sind diejenigen, die den Geist essen! Denn in demselben Maße,
nicht mehr den Geist um des Geistes willen, die Seele um der Seele willen? in dem man es ablehnt, irgendetwas Geistiges in sich aufzunehmen, das als
Sehen Sie, solche Menschen nehmen nur das auf, was ihnen vom öffent- Geistiges aufgenommen wird, in demselben Maße verzehrt man mit jedem
lichen Erkenntnisleben als nützlich gepriesen wird. Bissen, den man materiell durch den Mund in den Magen führt, verzehrt
Sehen Sie, da muss man eine sehr wichtige, geheimnisvolle Tatsache man das Geistige und befördert es auf einen anderen Weg, als es gehen
der heutigen Menschheit eigentlich schon zum Bewusstsein bringen.* So sollte zum Heil der Menschheit.*
ein richtiger Durchschnittsbürger der Gegenwart, der von morgens bis
abends vielleicht ganz fleißig in seinem Kontor ist, dann die bekannten
*
«Abendformalitäten» durchmacht – na, Sie kennen ja die ganze Geschichte –, Dieser geistige Vorgang wird im Johannes-Evangelium geisteswissenschaftlich genau dar-
gestellt. Judas als Verräter ist jeder Mensch, insoweit er Geld, Macht und Besitz anstrebt. Er
der will sich nicht sehr gerne herbeilassen, solche «Allotria» mitzumachen, verrät den Geist, indem er ihn im Dienst des Erwerbs von materiellen Gütern missbraucht –
wie sie etwa in der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft vor- statt umgekehrt alles Materielle als Werkzeug für den Geist zu gebrauchen. Christus reicht
gebracht werden – nicht wahr, durchaus will er das nicht. Es erscheint ihm beim Abendmahl dem Judas den Bissen zum Essen, und die mit materialistischer Gesinnung
als etwas Unnötiges, denn er denkt: Das kann man doch nicht essen! vollzogene Ernährung macht den Judas zum «Geistesfresser». Der griechische Urtext sagt
wörtlich: «Und nach dem Bissen» – dem Bissen folgend – «trat der Satanas in jenen hinein.»
(Joh. 13,27). Satanas ist im Evangelium, wie im Vorwort erwähnt, dieselbe geistige Macht,
*
Siehe Nachwort auf S. 32 die in der Geisteswissenschaft Ahriman genannt wird.
15 16
Ich glaube, meine lieben Freunde, dass sich viele Europäer etwas auf ihre bringt, das fördert zu gleicher Zeit Ahrimans Impulse. Und man sollte
Zivilisation zugute tun werden dann, wenn sie sagen können: Wir sind doch eigentlich Ahrimans Stimme vernehmen in dem, was heute so vielfach als
keine Menschenfresser! Aber Seelenfresser und Geistesfresser, das sind die ein neues Ideal über die Erde hin ausgesprochen wird: Befreiung der Völker,
Europäer mit ihrem amerikanischen Anhang. Das geistlos verzehrte Mate- selbst der kleinsten, und so weiter.
rielle bedeutet ein Hingeleiten des Geistes auf einen Abweg. Die Zeiten sind vorüber, in denen das Blut entscheidet. Und konserviert
Es ist schwierig, diese Dinge der Menschheit zu sagen. Denn fassen Sie man solch ein Altes, meine lieben Freunde, dann fördert man dasjenige,
nur richtig, in welcher Weise eigentlich vieles von der heutigen Kultur was Ahriman gefördert haben will.
charakterisiert werden muss, wenn man diese Tatsache weiß! Und den Men- Ebenso fördert man dasjenige, was Ahriman gefördert haben will,
schen in einem solchen seelen- und geistesfresserischen Zustand zu erhalten, wenn man dasjenige nicht energisch zurückweist, was ich ja hier schon
das ist einer der Impulse Ahrimans, um seine Inkarnation zu fördern. öfter charakterisiert habe, indem ich Ihnen gezeigt habe: Heute gibt es
Je mehr es gelingen würde, die Menschen aufzurütteln, dass sie nicht Menschen mit den verschiedensten Parteimeinungen und Partei-Lebens-
bloß wirtschaften im materiellen Sinn, sondern ebenso wie das Wirtschafts- auffassungen. Man kann die eine so gut beweisen wie die andere! Sie kön-
leben als ein Glied des sozialen Organismus das selbständige freie Geistes- nen ebenso gut beweisen dasjenige, was irgendeine sozialistische Partei
leben betrachten, das den wirklichen Geist hat, in demselben Maße wür- vertritt, was eine antisozialistische Partei vertritt, mit gleich guten Gründen,
den die Menschen erwarten die Inkarnation Ahrimans so, dass sie eine die dann die Menschen in Anspruch nehmen.
menschheitsgemäße Stellung zu dieser Inkarnation würden einnehmen kön- Sehen die Menschen nicht ein, dass diese Beweisart so weit an der Ober-
nen. fläche des Daseins liegt, dass man eben das Nein und das Ja zugleich be-
weisen kann mit unserer gegenwärtigen Intelligenz, die für die Naturwissen-
Eine andere Strömung in unserem jetzigen Leben, die Ahriman fördert, um schaft sehr brauchbar ist, die aber für eine andere Erkenntnis unbrauchbar
seine eigene Inkarnation zu befördern, das ist diese, die heute so deutlich ist, sehen die Menschen nicht ein, dass diese Intelligenz an der Oberfläche
hervortritt in dem so genannten nationalen Prinzip. liegt, die unserer Wissenschaft so große Dienste leistet – dann, dann wer-
Alles dasjenige, was die Menschen spalten kann in Menschengruppen, den sie diese Intelligenz anwenden auf dasjenige, was soziales Leben ist,
was sie entfernt von dem Verständnis über die Erde hin, was sie auseinander auf dasjenige, was geistiges Leben ist.
17 18
Dann werden sie das Entgegengesetzteste beweisen, der eine dies, der
andere das. Und da man beides beweisen kann, so werden sie übergehen zu
Hass und Erbitterung, die wir ja genügend in unserer Zeit finden. Das alles
sind wiederum Dinge, die Ahriman fördern will zur Förderung seiner eige-
nen Erdeninkarnation.

Und eines, meine lieben Freunde, ist, was ganz besonders Ahriman dienen
wird zur Förderung seiner Erdeninkarnation: Das ist die einseitige Auffas-
sung des Evangeliums selbst.
Sie wissen ja, wie nötig geworden ist in unserer Zeit die Vertiefung der
Evangelien in geisteswissenschaftlichem Sinn. Sie wissen aber auch, wie Klartextnachschrift
heute noch die Gesinnung über die Erde verbreitet ist, man soll die Evan-
gelien nicht geistig vertiefen, man soll sich nicht darauf einlassen, dieses
oder jenes aus einer wirklichen Erkenntnis des Geistes des Kosmos über
die Evangelien zu sagen. Schlicht hinnehmen die Evangelien, die Evan-
gelien nehmen so, wie sie sich heute den Menschen darbieten.
Ich will gar nicht heute davon sprechen, dass sich die wahren Evangelien
gar nicht darbieten, denn das, was heute die Menschen aus den Ursprachen als
Übersetzungen der Evangelien haben, sind nicht die Evangelien. Aber darauf
will ich gar nicht eingehen, sondern ich will nur die tiefer liegende Tatsache
vor Sie hinstellen, die darin besteht, dass wenn man sich nur «schlicht» –
so wie es die meisten Bekenntnisse und Sekten heute wollen –, dass wenn
man sich nur «schlicht», wie die Leute meinen, aber eigentlich bequem in
19 20
Wirklichkeit, hineinfindet in die Evangelien, dass man dadurch nicht zu
einer wirklichen Christus-Auffassung kommen kann.
Man ist in der Zeit, als das Mysterium von Golgotha sich abgespielt hat,
und einige Jahrhunderte nachher, zu einer Auffassung des realen Christen-
tums gekommen, weil man dasjenige, was überliefert war, fassen konnte mit
Hilfe der heidnischen, luziferischen Weisheit. Diese heidnisch-luziferische
Weisheit ist zurückgegangen. Und dasjenige, was heute die Menschen aus
Bekenntnissen und Sekten heraus in den Evangelien finden, das führt sie
nicht zum realen Christus, den wir suchen durch unsere Geisteswissenschaft,
sondern das führt sie zu einer Illusion oder höchstens zu einer Halluzination
Klartextnachschrift von dem Christus.
Meine lieben Freunde! Man kann nicht durch die Evangelien zu dem
wirklichen Christus kommen, wenn man diese Evangelien nicht geistes-
wissenschaftlich durchdringt. Man kann durch die Evangelien nur bis zu
einer Halluzination der weltgeschichtlichen Erscheinung des Christus kom-
men.
Das hat sich übrigens gründlich auch gezeigt in der Theologie der neue-
sten Zeit. Warum liebt es denn diese Theologie der neuesten Zeit so sehr,
von dem «schlichten Mann aus Nazareth» zu sprechen und den Christus
eigentlich nur als den Jesus von Nazareth aufzufassen, der etwas hinausragt
über die anderen geschichtlichen Größen? Weil man verloren hat die Mög-
lichkeit, zum realen Christus zu kommen, und weil dasjenige, was die
Menschen aus den Evangelien gewonnen haben, lediglich bis zu einer
21 22
Halluzination, bis zu etwas Illusionsartigem kommt. Sie können nicht Johannes- oder auf das Lukas-Evangelium schwören als auf seinen wort-
wirklich ergreifen die Realität des Christus durch die Evangelien, sondern wörtlichen Inhalt –, was Sie bei solchen Sekten erleben, ist eine Art Wahn-
nur eine halluzinatorische oder illusorische Vorstellung. Das haben die idee-Bildung, eine Art Dämmerung, Umdämmerung des Bewusstseins. Bei
Menschen auch gefasst. umdämmerten Bewusstseinen, die sich gerade durch die Evangelien, die
Denken Sie, wie viele Theologen davon reden, dass der Paulus vor Da- man nicht geistig vertieft, herausbilden würden, würden sich Menschen
maskus nur eine Vision gehabt hat. Sie kommen darauf, dass eigentlich durch ergeben, die am besten dazu dienen würden, dass Ahriman seine Inkarnation
die Evangelien nur zu gewinnen ist eine Halluzination, eine Vision – nicht als vorbereiten könnte, sodass die Menschen ganz in seinem Sinn zu ihm
etwas Falsches, aber es ist eigentlich nur ein inneres Erleben, es ist kein Zu- einstmals stehen würden.
sammengehen mit der Realität des Christuswesens. Ich nenne das nicht «hal- Sehen Sie, meine lieben Freunde: wiederum eine unbequeme Wahrheit
luzinatorisch» mit dem Nebengeschmack, dass es unwahr ist oder erträumt für die Menschen der Gegenwart. Es leben die Menschen in ihren Konfes-
ist, sondern ich will nur charakterisieren, dass eben in derselben Art erfasst sionen und sagen: Wir brauchen nicht irgendetwas wie eine Anthropo-
wird die Christuswesenheit, wie eine Halluzination innerlich erfasst wird. sophie, denn wir bleiben bei dem schlichten Evangelium. Aus Bescheiden-
Wenn nun die Menschen dabei stehenbleiben könnten, nicht zu dem heit, sagen die Leute, bleiben sie bei dem schlichten Evangelium. In Wahr-
wirklichen Christus vorzudringen, sondern nur vorzudringen zu der Hallu- heit ist es die furchtbarste Anmaßung, die nur zu denken ist.
zination des Christus, dann würde am meisten Ahriman seine Zwecke ge- Denn diese Anmaßung besteht darin, dass jeder, der nichts weiter tut,
fördert finden. als dass er geboren ist und dasjenige, was herauswirbelt an Ideen aus seinem
Man hat schließlich nur gegen dieses Prinzip, die Evangelien allein zu Blut, dass er das anwendet, um scheinbar wortwörtlich das Evangelium zu
nehmen, gearbeitet, indem man vier Evangelien, von vier verschiedenen nehmen, dass er sich hermacht, über dasjenige, was als Weisheitsgut erar-
Gesichtspunkten aus, hingestellt hat, um sie doch nicht, diese vier Evange- beitet ist, abzuurteilen. Die «schlichtesten» Menschen sind meistens die
lien – die, wie wir ja oft gesehen haben, sich widersprechen äußerlich –, hochmütigsten, gerade auf religiösem Gebiet. Aber dasjenige, was in
nun einzeln wörtlich, wortwörtlich zu nehmen. Betracht kommt, das ist, dass diejenigen am meisten die Inkarnation des
Aber es ist eine große Gefahr, ein einzelnes Evangelium wortwörtlich Ahriman vorbereiten, die vor den Menschen immer wiederum predigen: Ihr
zu nehmen. Das, was sie bei dem Ausbilden von Sekten – die auf das braucht nichts, als im Evangelium zu lesen.
23 24
Und merkwürdig, die zwei Parteien arbeiten sich in die Hände, wenn sie nehmen wollen, wie es heute oftmals angedeutet wird im so genannten
auch sehr, sehr verschieden voneinander sind: diejenigen, die ich früher schlichten Verständnis. Viel schlichter ist dasjenige, was wirklich in den
eben bezeichnet habe als Seelenfresser, Geistesfresser, und diejenigen, Geist der Dinge hineindringen will und auch die Evangelien selber vom
welche in der zuletzt charakterisierten Weise durch das bloße Aufgehen Gesichtspunkt des Geistes her verstehen will.
im Wörtlichen der Evangelien die Inkarnation des Ahriman fördern. Die
beiden arbeiten sich furchtbar in die Hände. Sehen Sie, ich habe gesagt: Zusammenwirken werden Ahriman und Luzi-
Denn würde nichts sich geltend machen als die Weltanschauung auf der fer ja immer. Es handelt sich nur darum, welcher gewissermaßen für das
einen Seite der Seelen- und Geistesfresser, auf der anderen Seite der Be- Bewusstsein der Menschen die Obermacht in einem bestimmten Zeitalter
kenntnischristen, die nicht auf die Tiefen des Evangeliums eingehen wollen, erhält. Es war eine stark luziferische Kultur, diejenige, die bis über das
dann würde Ahriman alle Menschen zu Ahrimanern machen können auf Mysterium von Golgotha der Zeit nach hereinging, von der Inkarnation des
der Erde. Dasjenige, was heute vielfach im positiven Christentum der äußeren Luzifer in China im 3. vorchristlichen Jahrtausend. Von da strahlte vieles
Welt verbreitet wird, das ist eine Vorbereitung für die Inkarnation des aus, was besonders stark wirkte bis in die ersten christlichen Jahrhunderte
Ahriman. Und aus gar manchem, was mit der Anmaßung auftritt, die Ver- herein, aber auch noch in unserer Zeit wirkt.
tretung der rechtgläubigen Kirche zu sein, sollte man heute eigentlich hö- Nun aber sehen Sie: In unserer Zeit ist es jetzt so, dass weil bevorsteht
ren eine Vorbereitung des Werkes des Ahriman. eine Inkarnation des Ahriman im 3. Jahrtausend, gewissermaßen Luzifers
Denn die Dinge, meine lieben Freunde, sind heute nicht so, wie die Spuren mehr unsichtbar werden und Ahrimans Wirken in solchen Dingen,
Menschen sie wortwörtlich sagen. Die Menschen leben heute, wie ich wie ich sie Ihnen heute angeführt habe, besonders deutlich seinen Spuren
oftmals auseinandergesetzt habe, eben viel zu sehr in Worten. Wir haben nach wahrnehmbar ist.
gar sehr nötig, von den Worten weg in die Dinge einzudringen. Heute ist es Ahriman, meine lieben Freunde, hat gewissermaßen mit Luzifer einen
wirklich so, dass das Wort gewissermaßen die Menschen von dem wirk- Vertrag geschlossen, den ich so bezeichnen möchte: «Ich, Ahriman, finde
lichen Wesen der Dinge trennt. es besonders günstig» – so sagte Ahriman zu Luzifer –, «für mich die
Und am meisten trennen sich die Menschen von dem wirklichen Wesen, ‹Konservenbüchsen› in Anspruch zu nehmen. Dir überlasse ich die Mägen,
wenn sie die alten Urkunden, zu denen auch die Evangelien gehören, so wenn du es mir nur überlässt, die Mägen in Dämmerung zu wiegen, re-
25 26
spektive die Bewusstseine der Menschen in Bezug auf den Magen in Däm- was da in den Bibliotheken drinnen modert, konserviert ist. Diese «Kon-
merung zu wiegen.» servenbüchsen der Weisheit», das ist dasjenige, was ein besonders gutes
Sie müssen nur richtig verstehen, was ich damit meine. In Dämmerung Förderungsmittel für Ahriman ist. Die Art, wie das getrieben wird, aber
über den Magen sind diejenigen Menschen, die ich eben als Seelenfresser auch vieles andere, was ähnlich ist, was in die Welt gesetzt wird, aber
und als Geistesfresser bezeichnet habe. Denn sie führen direkt der luziferi- eigentlich nur einen Sinn hat, wenn sich die Menschen dafür interessieren –
schen Strömung dasjenige zu, was – wenn sie nicht in ihrer Menschheit sondern das eigentlich nur in einer von den Menschen getrennten Weise
Spirituelles tragen – sie ihrem Magen zuführen. Durch den Magen geht das vorhanden ist –, es ist auf allen Gebieten.
ungeistig Gegessene und Getrunkene zu Luzifer hin. Denken Sie doch nur einmal – wenn man dazu veranlagt wäre, man
Und mit den «Konservenbüchsen», was meine ich denn eigentlich, meine könnte ja verzweifeln –, denken Sie, man hat einen Prozess, nicht wahr, da
lieben Freunde? Mit den Konservenbüchsen meine ich die Bibliotheken muss man sich einen Advokaten nehmen. Dieser Advokat, der führt den
und Ähnliches, wo diejenigen Wissenschaften aufbewahrt sind, die man Prozess. Na ja, dann kommen immer die Zeiten, wo man mit dem Advo-
zwar treibt, die man aber nicht eigentlich mit seinem wirklichen Interesse katen verhandeln muss. Dann häufen sich immer mehr und mehr die
verfolgt, die nicht bei den Menschen leben, sondern in Büchern, die in den Papiere, die hat er in einer Mappe drin. Aber wenn man dann mit ihm redet,
Bibliotheken stehen. hat er keine Ahnung von dem Zusammenhang. Er weiß nichts, er schlägt
Sehen Sie sich an diese Wissenschaft, die abseits von den Menschen ge- auf und auf und es kommt nichts dabei heraus. Er hat keinen Zusammen-
trieben wird! Viele Bücher stehen überall in den Bibliotheken drinnen. Jeder hang mit seinen Akten. Da ist eine Aktenmappe, da ist die nächste Akten-
Student muss schon anfangen, wenn er das Doktorat macht, eine gelehrte mappe, die Akten wachsen. Aber das Interesse ist ganz und gar nicht vor-
Abhandlung zu machen. Dann werden diese in möglichst viele Bibliothe- handen.
ken hineingestellt. Dann kommt wiederum eine gelehrte Abhandlung, wenn Es ist zum Verzweifeln, wenn man mit den Fachleuten, die so irgendwie
der Betreffende in irgendeine Stellung hineinrücken will. Aber auch sonst die Dinge machen, wenn man mit denen wirklich zu tun hat. Sie sind ganz
schreiben und schreiben und schreiben die Menschen heute. Aber gelesen und gar außer Verbindung mit dem, wissen nichts davon in Wirklichkeit,
wird das wenigste von dem, was heute geschrieben wird. Nur wenn die denn alles steht in den Akten. Das sind die «kleinen Konservenbüchsen»,
Menschen sich vorbereiten müssen für das oder jenes, dann zitieren sie das, die Bibliotheken sind die «großen Konservenbüchsen» von Geist und Seele.
27 28
Da wird alles «konserviert». Aber die Menschen wollen es nicht mit sich soll durch den Kopf, das soll umsonst drauf sein, das soll insbesondere in
vereinen, wollen es nicht mit ihrem Interesse durchdringen. den allerwichtigsten Dingen des Lebens umsonst drauf sein!
Alle diese Dinge sind sehr wichtig zu beachten, und es ist sehr wichtig,
Und schließlich entsteht gerade daraus ja auch jene Stimmung in der neueren sie zu beachten. Denn man sieht, wenn man sie beachtet, wie großen Ernst
Zeit, welche gar nicht hineinlassen möchte in das Weltanschauungsbekennt- man aufwenden muss gegenüber dem gegenwärtigen Menschenleben, und
nis dasjenige, ja, wozu schon etwas Kopf notwendig ist – nicht wahr, es ist wie notwendig es ist, zu lernen selbst von den Illusionen, die von den
ja Kopf notwendig, um etwas zu verstehen! Die Menschen möchten das Evangelien ausgehen können, wie die Menschen gegenwärtig die Illusionen
Bekenntnis, die Weltanschauung, bloß auf das Herz zurückführen. lieben.
Gewiss muss es auf das Herz zurückgeführt werden, aber so, wie die Mit der Art von Wissen, das die Menschen heute oftmals anstreben, ist
Menschen gegenwärtig oftmals über das religiöse Bekenntnis sprechen, das nicht Wahrheit zu erreichen. Sehen Sie, die Menschen finden es heute sehr
kommt mir so vor wie dasjenige, was mit einem Sprichwort getroffen wer- sicher, wenn sie mit Zahlen rechnen, statistisch die Dinge der Welt zu be-
den soll, das viel in der Gegend angewendet wurde, wo ich meine Jugend weisen. Mit der Statistik und mit den Zahlen hat Ahriman ganz besonders
verlebt habe. Da wurde gesagt: «Dös mit der Liab, dös is a ganz besundre leichtes Spiel.
Sach. Wann mr se kauft, so kaft ma eigentli nur s’Heaz, und de Kobf griagt Denn er ist ganz besonders froh, meine lieben Freunde, wenn ein Ge-
ma umasunst drauf.» Also: Mit der Liebe wäre es eine ganz besondere lehrter heute der Menschheit klarmacht: Auf dem Balkan muss es so und so
Sache. Wenn man sie kaufe, so kaufe man nur das Herz, und den Kopf aussehen, denn da leben zum Beispiel in Mazedonien so viele Griechen, so
kriege man umsonst dazu! viele Serben, so viele Bulgaren. Gegen Zahlen lässt sich nichts machen,
So ungefähr, sehen Sie, soll ja auch die Stimmung sein für dasjenige, was denn die Menschen glauben an Zahlen. Und Ahriman macht mit den Zah-
die Menschen heute gern als Inhalt ihrer Weltanschauung aufnehmen. Sie len, an die die Menschen glauben, seine Rechnung in dem Sinne, wie ich es
möchten alles ohne Anstrengung des Kopfes aufnehmen durch das Herz, Ihnen heute erklärt habe.
wie sie sagen, das allerdings ohne Kopf nicht schlägt, aber durch das man Man kommt nur nachher dahinter, wie «sicher» diese Zahlen sind. Zah-
gut aufnehmen kann, wenn man eigentlich den Magen meint. Und dann len «beweisen» ganz bestimmt für den Menschen – aber wenn man nicht
soll dasjenige, sehen Sie, was eigentlich in der Menschheit geleistet werden stehenbleibt bei dem, was in den Büchern steht, wo bewiesen wird, sondern
29 30
wenn man nachsieht, so merkt man oftmals: Ja, in diesen Statistiken drin,
sagen wir zum Beispiel in den mazedonischen, da ist angeführt ein Vater, Nachwort
der ist Grieche, ein Sohn, der ist Serbe, und ein anderer Sohn ist Bulgare: In der diesem Text zugrunde liegenden Ausgabe von Marie Steiner finden sich in
Also steht der Vater bei den Griechen, der eine Sohn bei den Serben und dem Satz: «Sehen Sie, da muss man eine sehr wichtige, geheimnisvolle Tatsache
der andere bei den Bulgaren. Wie das zugeht, dass in derselben Familie der der heutigen Menschheit eigentlich schon zum Bewusstsein bringen.» drei Unter-
eine Grieche ist, der andere ein Serbe und der Dritte ein Bulgare und wie schiede zu der Fassung der Rudolf Steiner Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 191 (1989),
das in die Zahlen hineingeht – das ist dasjenige, was wirklich zur Wahrheit S. 201. Mir scheint es wichtig, einige symptomatologische Bemerkungen daran
anzuknüpfen, um auf den Geist hinzuweisen, der sich in diesen Veränderungen
führt, nicht das Aufnehmen der Zahlen, mit dem sich die Menschen heute
äußert. Der Satz lautet in der Gesamtausgabe: «Da muss man sich eine sehr wichtige,
so befriedigen. geheimnisvolle Tatsache der heutigen Menschheit schon eigentlich zum Bewusstsein
Denn die Zahlen sind dasjenige, durch das die Menschen in einer Rich- bringen.»
tung verführt werden durch Ahriman, durch die er am besten seine Rech- Durch die Einschiebung von «sich» ändert sich der Sinn gravierend. In der frühe-
nung findet für seine künftige Inkarnation im 3. Jahrtausend.* ren Fassung geht es um etwas, was man «der heutigen Menschheit» – nicht nur
«sich» selbst – zum Bewusstsein bringen muss. Die Geisteswissenschaft hat die Auf-
gabe, das Wirken Ahrimans der ganzen Menschheit bewusst zu machen. Mit dem
Einfügen von «sich» hat man gleich einen weltfremden Menschen vor sich, der in
seinem Kämmerlein sich von der übrigen Menschheit absondert, sich alles Mögliche
bewusst macht, sich den anderen Menschen weit vorangeschritten dünkt. Das kann in
ihm nur die Überzeugung verstärken, dass mit der unverständigen Menschheit nichts
zu machen ist, dass die Geisteswissenschaft am eigenen oder sozialen Leben nichts
ändern kann, weshalb sich auch erübrigt, sich für sie einzusetzen.
Auch die Umstellung von «eigentlich schon» in «schon eigentlich» stellt eine
*
Der Vortrag endet mit folgenden praktischen Bemerkungen: «Davon wollen wir dann
Abschwächung dar, die dem Geist entspricht, der im Satz ohne «sich» etwas ge-
morgen weitersprechen. Morgen wird also wiederum um 5 Uhr eine öffentliche eurythmische sehen hat, was korrigiert werden muss. Und das Weglassen von «Sehen Sie»
Vorstellung sein und in der üblichen Weise nach einer Esspause wird dann um ein Viertel schwächt Steiners Aussage noch weiter. Mit «Sehen Sie» wird die moralische
oder halb nach acht Uhr der Vortrag morgen sein.» Seite der Aufgabe betont: Steiner stellt sie gleichsam als persönliche Bitte vor
31 32
seine Zuhörer hin, sie mögen ihm in dieser gemeinsamen Aufgabe zur Seite stehen. macht eines unmissverständlich klar: Es gehört wesentlich zum Geist seiner Geistes-
Durch das Weglassen von «Sehen Sie», das Einfügen von «sich» und die Umstel- wissenschaft, dass alles von ihm Hervorgebrachte als Eigentum der ganzen Mensch-
lung in «schon eigentlich» wird aus einer dringenden Menschheitsaufgabe eine heit betrachtet wird, dass es allen Menschen gleichermaßen gehört. Im Vortrag vom
rein intellektuelle Angelegenheit gemacht. Dieser Fall ist symptomatisch für etwas, 25. April 1919 sagte er: «Der Mensch verdankt das, was er schaffen kann aus seinen
was an zahlreichen Stellen in der Gesamtausgabe vorkommt. Ich habe es öfters Fähigkeiten, der menschlichen Sozietät, der menschlichen sozialen Ordnung. Es ge-
«bürgerliche Zähmung der Geisteswissenschaft» genannt, im Vergleich zu der hört einem in Wahrheit nicht. ... Dreißig Jahre nach dem Tod gehört das geistige
«klerikalen Zähmung», welche die Kirchen dem Geist des Christentums haben Eigentum der gesamten Menschheit. Jeder kann dreißig Jahre nach meinem Tod
angedeihen lassen. drucken, was ich hervorgebracht habe; man kann es in beliebiger Weise verwenden,
Sollte die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung als Herausgeber der Gesamtaus- und das ist recht. Ich wäre sogar einverstanden, wenn noch mehr Rechte wären auf
gabe entgegnen, dass es irgendeine Klartextübertragung gibt – oder ein Steno- diesem Gebiet.» (Rudolf Steiner, Mut zur Freiheit, Archiati Verlag 2004, S. 34).
gramm –, wo das fragliche «sich» vorkommt, so werden sich hoffentlich genügend Marie Steiner bekam von Rudolf Steiner die Aufgabe anvertraut, alles von ihm
Menschen finden, die sagen: Das gescheite Einfügen eines nicht vorhandenen Hervorgebrachte möglichst zügig und in der bestmöglichen Form der Menschheit
«sich» ist eher zu erklären als das uneinsichtige Tilgen oder Übersehen eines vor- zu übergeben, der es gehört. Um Fälschungen zu vermeiden, musste man damals
handenen. anstreben, vor dem Ablauf der Urheberrechte alles zu veröffentlichen (beim Tod
In diesem Zusammenhang fühle ich mich verpflichtet, dem Leser mitzuteilen, Rudolf Steiners waren es 30 Jahre, später wurden es 70).
dass die mehrmalige Bitte des Archiati Verlags um Einsichtnahme in Klartextüber- Zeitgleich mit dem Ablauf der Autorenrechte Rudolf Steiners 1995 entstand in
tragungen mit der folgenden Begründung abgelehnt worden ist: «Unveröffentlichte der Menschheit durch das so genannte World Wide Web (WWW) eine ganz neue
Dokumente dürfen weder kopiert noch versendet werden» (siehe «Rudolf Steiner Lage im Hinblick auf die Aufgabe, das von Rudolf Steiner Hervorgebrachte der
Nachlassverwaltung – Archiati Verlag, Ein Briefwechsel», E-Mail vom 18.2.2004, Menschheit zu übergeben. Es ist möglich geworden, beinahe unbegrenzt viele Texte
unter www.steinerforum.de). Dies, obwohl die Inhalte der Klartextübertragungen ohne viel Aufwand allen Menschen auf der Erde zugänglich zu machen.
sowie alles von Rudolf Steiner Hervorgebrachte 70 Jahre nach seinem Tod dem Dies kehrt die Aufgabenstellung der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung gerade-
heute bestehenden Gesetz zufolge Eigentum der ganzen Menschheit (Gemeingut) zu um: Um das von Rudolf Steiner Hervorgebrachte der Menschheit zu übergeben,
geworden sind. muss man alle vorhandenen Unterlagen im Internet allen Menschen zur Verfügung
Ich habe die Überzeugung, dass es das Recht aller Menschen ist, im Internet stellen. Gleichzeitig ist dies die einzige Art geworden, Fälschungen auszuschließen,
einen direkten, nicht diskriminierenden Zugang zu allem von Rudolf Steiner weil alle Menschen unmittelbar die Möglichkeit hätten, eine Fälschung umgehend
Hervorgebrachten zu erhalten, wo dies ohne viel Aufwand möglich ist. Er selbst als solche zu erkennen. Eine Fälschung ist nur unter der Voraussetzung möglich,

33 34
dass sie nicht von allen Menschen als solche ohne weiteres erkannt werden vorhandenen Talenten der freie Umgang mit den Quellen der Anthroposophie
kann. Bevor es das WWW gab, war der einzig mögliche Schutz vor Fälschung die verwehrt wird, was sich als tragische Behinderung für die Verbreitung der Anthro-
«beglaubigte» Veröffentlichung – was dem Leser einen «Glauben» nicht nur an posophie auswirkt. Im Geist des Christentums und der Geisteswissenschaft Rudolf
die Glaubwürdigkeit, sondern auch an die redaktionelle Begabung des Herausge- Steiners wird umgekehrt alles Mögliche getan, um die Urteilsfähigkeit jedes Ein-
bers abverlangte. zelnen zu fördern, und dies kann man nur, indem man ihm alle möglichen Grund-
Wenn von einem Vortrag Steiners mehrere Unterlagen (Hörernotizen, Steno- lagen zur eigenen Urteilsbildung zur Verfügung stellt.
gramme usw.) vorliegen, war es vor dem Entstehen des WWW nicht möglich, alle Wenn Klartextübertragungen, Stenogramme, Notizbucheintragungen, Hörer-
Unterlagen allen Menschen zur Verfügung zu stellen. Der einzige Ersatz war, eine notizen usw. unzugänglich gehalten werden – wie das bis jetzt weitgehend der Fall
einheitliche Redaktion zu machen. Mit dem WWW ist ein allgemeiner Zugang ist – wiederholt sich, was die katholische Kirche mit den Evangelien über Jahrhun-
möglich geworden. Wenn man den Menschen die Wahrnehmung aller vorhandenen derte hinweg auch wegen angeblicher Gefahr der Fälschung oder des Missbrauchs
Unterlagen weiterhin vorenthält, geschieht dies nicht mehr, weil es nicht anders gemacht hat. Dieser Monopolanspruch hat ihr ermöglicht, ihre Interpretation der
geht, sondern weil man nicht anders will. Den an Steiner interessierten Menschen Evangelien vor dem Urteil der Menschen zu schützen und sie als einzig authentische
mag weniger interessieren, was ein kluger Kopf aus verschiedenen Unterlagen oder orthodoxe durchzusetzen. Das Verwehren eines allgemeinen Zugangs zu den
gemacht hat, als die Unterlagen selbst – nicht zuletzt, weil diese allein ihm ermög- Stenogrammen und Klartextübertragungen der Vorträge Rudolf Steiners ist heute
lichen, sich auch über die größere oder geringere Begabung eines Redakteurs ein sogar moralisch bedenklicher noch als im Fall der katholischen Kirche, weil in
eigenes Urteil zu bilden. vergangenen Jahrhunderten eine allgemeine und prinzipielle Zugänglichkeit gar
Und wenn die Nachlassverwaltung den Menschen weiterhin die Möglichkeit nicht möglich war und die Urteilsfähigkeit und der Freiheitssinn des Einzelnen nicht
verweigert, die Qualität der Arbeit ihrer Herausgeber und Redakteure nachzuvoll- so ausgeprägt war wie heute.
ziehen und zu prüfen, so kommt die Anthroposophie in der Menschheit nur weiter, Auf der Webseite http://www.rudolf-steiner.com/Archivberichte.167.0.html redet
wenn es genügend Menschen gibt, die sich die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung von der «legitimen Ungeduld, den krypti-
zum Bewusstsein bringen: Wenige Menschen machen ein Privateigentum aus dem schen Stenografie-Zeichen auf den Grund zu kommen» desjenigen, der «eine
von Rudolf Steiner Hervorgebrachten, sie zwingen die Leser durch ihren Mono- optimale Textgestalt» eines Bandes der Gesamtausgabe hergestellt haben soll.
polanspruch auf die Texte Rudolf Steiners, ihre alternativlose redaktionelle Leis- Warum wird nicht den Menschen die Möglichkeit gegeben, sich durch eigene
tung zu kaufen und machen es obendrein unmöglich, die Qualität ihrer Leistung zu Wahrnehmung des Stenogramms ein eigenes Urteil über die Qualität dieser Leistung
beurteilen, weil sie den heute möglichen unbeschwerten Zugang zu den Unterlagen zu bilden? Warum sollen sie es wie Kinder der Autorität glauben müssen, dass
verwehren. Aber das Erschütterndste ist die Tatsache, dass allen in der Menschheit diese Leistung «optimal» ist? Warum wird allen anderen im selben Fach begabten

35 36
Menschen die Möglichkeit verwehrt, der Menschheit und der Anthroposophie führt, gilt nicht weniger für den Anspruch auf Privateigentum und Monopol an
zugute, sich auch an diesem Stenogramm zu versuchen? Indem die Nachlassver- dem, was er hervorgebracht hat. Ohne Veröffentlichung der dazugehörigen Klartext-
waltung das Stenogramm als ihr privates Eigentum behandelt und als einzige übertragungen, der Notizbucheintragungen usw. kann eine Gesamtausgabe nicht
Autorität entscheidet, wer eine Redaktion machen darf und wer nicht, handelt sie als vollständig, geschweige denn als wissenschaftlich betrachtet werden.
nicht anders als die katholische Kirche. Unter www.steinerforum.de können alle, auch die kleinsten redaktionellen Ent-
Dieses Privateigentum-Denken mag das moderne Bürgertum in Ordnung finden, scheidungen der hier gedruckten Fassung von jedem nachvollzogen werden. Ich
mit dem Geist der Anthroposophie und des Christentums hat es nichts zu tun. Für kann mich nur freuen, wenn andere für manche schwierige Stellen noch bessere
diesen Geist ist es eine Usurpation, eine Unterschlagung, wenn ein kostbares Gut Lösungen finden: Im freien Geistesleben kann eine Vielfalt, auch in der Interpreta-
der Menschheit vorenthalten wird. Die Menschen werden an den Glauben an die tion und in der Redaktion von Texten Rudolf Steiners, für die Verbreitung der
Autorität verwiesen, die aus der Machtposition des Privateigentums und des Mono- Geisteswissenschaft nur von Vorteil sein. Und ich bin dankbar, wenn jemand, der
polanspruchs entscheidet, wer für die Redaktion begabt sein soll und wer sie durch- bei mir Fehler findet, mich darauf aufmerksam macht, da jeder am besten durch
führen darf. Die Möglichkeit, die Gediegenheit der Entscheidungen zu prüfen, wird Korrigieren seiner eigenen Fehler weiterkommt.
ihnen vorenthalten. Diese Bemerkungen sind symptomatologisch, das heißt sehr ernst gemeint. Et-
Martin Luther war der Überzeugung, dass im christlichen Geist die Evangelien was scheinbar Unbedeutendes – ein einzelner kurzer Satz! – kann unter Umständen
Eigentum aller Menschen sind, dass alle Menschen das Recht haben, für eine eigene viel besser als tausend abstrakte Erörterungen den Geist erfassen, der sich darin
Urteilsbildung einen direkten Zugang zu den Quellen zu erhalten. Und er meinte symptomatisch äußert. Mit diesen Bemerkungen geht es mir um den Geist und die
damit nicht den Zugang zu irgendeiner von der Autorität der Kirche beglaubigten Aufgabe der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners in der heutigen Menschheit, Geist
Edition dieser Texte, sondern zu den ursprünglichen Quellen, zu allem, wozu die und Aufgabe, die gerade in einem solchen Satz – aber ohne «sich»! – einen schö-
Kirche selbst Zugang hat. Wer den allgemeinen Zugang zu den ursprünglichen nen Ausdruck finden:
Quellen der Anthroposophie erschwert oder sogar verwehrt, ist bewusstseinsmäßig
heute nicht einmal so weit wie Martin Luther – ein halbes Jahrtausend später! «Sehen Sie, da muss man eine sehr wichtige, geheimnisvolle Tatsache
In dem Maße, in dem das von Rudolf Steiner Hervorgebrachte nicht allen Men- der heutigen Menschheit eigentlich schon zum Bewusstsein bringen.»
schen uneingeschränkt zugänglich gemacht wird, droht selbst die so genannte
«Gesamtausgabe», selbst das Rudolf Steiner Archiv zu dem zu werden, was Rudolf Zu dieser Bewusstseinsbildung «der heutigen Menschheit» möchte ich zusam-
Steiner in diesem Vortrag «Konservenbüchsen der Weisheit» nennt. Was Rudolf men mit dem Archiati Verlag nach Kräften beitragen.
Steiner in diesem Vortrag über das Wirken Ahrimans durch den Materialismus aus- Pietro Archiati

37 38
Rudolf Steiner (1861-1925) hat die moderne Natur-
wissenschaft durch eine umfassende Wissenschaft des
Übersinnlich-Geistigen ergänzt. Seine «Anthroposophie»
ist in der heutigen Kultur eine einzigartige Herausfor-
derung zur Überwindung des Materialismus, dieser leid-
vollen Sackgasse der Menschheitsentwicklung.
Steiners Geisteswissenschaft ist keine bloße Theorie.
Ihre Fruchtbarkeit zeigt sie vor allem in der Erneuerung
aller Bereiche des Lebens: der Erziehung, der Medizin, der Kunst, der Re-
ligion, der Landwirtschaft, bis hin zu jener gesunden Dreigliederung des
ganzen sozialen Organismus, in der Kultur, Rechtsleben und Wirtschaft
sich genügend unabhängig voneinander entfalten können.
Von der etablierten Kultur ist Rudolf Steiner bis heute im Wesentlichen
ignoriert worden. Dies vielleicht deshalb, weil viele Menschen vor der
Wahl zwischen Macht und Menschlichkeit, zwischen Geld und Geist, zu-
rückschrecken. In dieser Wahl liegt jene innere Erfahrung der Freiheit, die
vor zweitausend Jahren allen Menschen möglich gemacht wurde und die
nur zu einer zunehmenden Scheidung der Geister in der Menschheit führen
kann.
Die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners kann weder ein elitäres noch
ein Massenphänomen sein: Einerseits kann nur der einzelne Mensch in
seiner Freiheit dazu Stellung nehmen und sie ergreifen, andrerseits kann
dieser Einzelne in allen Schichten der Gesellschaft und in allen Völkern
und Religionen der Menschheit seine Wurzeln haben.

39 40

Das könnte Ihnen auch gefallen