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Wie ist die Idee entstanden, den Nachlaß Nonos in einem eigenen Archiv zu
sammeln
Gleich nach dem Tod von Gigi mußten wir die Wohnung verlassen, in der er
während der letzten Jahre gelebt hat. Bevor wir seine ganzen Sachen in Kisten
und Schachteln gepackt haben, haben wir die Bücher alle auf dem Computer
registriert und auch seine übrigen Papiere und Sachen so gut wie möglich
geordnet, um zu wissen, was wir haben. Danach wurde das alles zwei Jahre
lang aufgehoben - teils zuhause, aber ein grosser Teil davon freundlicherweise
in der Fondazione Cini. Im Jahr 1992 habe ich die zwei wunderschönen Räume
auf der Giudecca gefunden und beschlossen, das gesamte Material dort in
einem Archiv aufzubewahren. Wir hatten vorher natürlich auch Anfragen von
anderen Institutionen, die sich für den Nachlaß interessiert haben. Aber in
Venedig haben alle Freunde und Musiker mir geraten, die Sachen nicht
wegzugeben. Also haben wir - Serena, Silvia und ich - uns dazu entschlossen,
sie in einer privaten Form hier zu behalten.
Schaut man sich den enormen Umfang dieses Nachlasses an, kann man nur
feststellen, daß den Mitarbeitern viel Arbeit bevorsteht: Sämtliche Skizzen und
Manuskripte sollen farbig kopiert, die Bücher richtig geordnet, Briefe sortiert,
Programmhefte, Rezensionen und Presseberichte gesammelt und zugänglich
gemacht werden und so weiter. Wann soll diese Arbeit abgeschlossen sein?
Zuerst dachten wir, es dauert drei Jahre. Aber wie alles in der Welt ist es
schließlich eine Geldfrage. Wir haben bisher wenig Geld bekommen für unsere
Projekte, und man kann nicht alles von freiwilligen Hilfskräften leisten lassen,
obwohl die Leute, die umsonst und mit großem persönlichen Enthusiasmus an
die Dinge herangehen, vielleicht sogar besser arbeiten als Angestellte dies tun
würden. Ich glaube, die Bibliothek könnte man leicht in sechs Monaten ordnen.
Aber es dauert sehr lang, die Kopien von den Manuskripten zu machen, und wir
wollen gerade das nicht überhasten, weil wir es sehr genau machen möchten.
Wir wollen die Originale in der Bank lassen und sie nicht mehr herausnehmen
müssen, und das heißt, daß jede Kopie sehr gut kontrolliert werden muß, ob
alles drauf ist, was auf dem Original ist - manchmal ist es sogar mehr, weil die
Farben der Originale verblassen. Wir gehen von der Idee aus, daß wir die Werke
von Nono studieren wollen, damit sie nicht nur wissenschaftlich besser bekannt
sein können, sondern damit man auch bessere Aufführungen haben kann ...
denn das Wichtigste bei der Musik ist ja die Aufführung, die Werke zu hören.
Wir hatten gehört, daß der «Diario polacco '58» in Essen aufgeführt werden
sollte, vom WDR unter Zoltán Peskó, und ich hab gefragt: Wo bekommt ihr das
Tonband her? Da haben alle gemeint: Was für ein Tonband? Und da hab ich
gesagt: Ich erinnere mich ganz genau, daß Gigi bei der nächsten Aufführung
nach der Uraufführung ein Tonband dazugegeben hat, und daß er, nachdem er
diese Aufführung gehört hatte, gesagt hat: Ja, so soll es sein, jetzt ist das Werk
wirklich fertig. Aber es wußte niemand etwas davon. Der Verlag Schott hatte
auch mit dem Orchestermaterial kein Tonband geliefert. Zum Glück hatten wir
aber im Archiv eine Aufnahme von einer Aufführung mit diesem Tonband, und
wir fanden dann auch das Originaltonband, das für diese benutzt wurde. Dazu
muß man wissen, daß uns Alvise Vidolin beim Umzug Nonos gesamte
Tonbänder auf DAT überspielt hat. Und da gibt es nicht nur Aufnahmen der
fertigen Werke, sondern auch Arbeitsfassungen der elektronischen
Kompositionen, beispielsweise auch die Bänder, auf denen Pollini das Material
eingespielt hat, das dann in "...sofferte onde serene..." im Tonband verarbeitet
wurde. Als es klar war, daß das Band zum «Diario polacco '58» existierte in
unserem Besitz ist, haben unsere Mitarbeiter Veniero Rizzardi und Stefano
Bassanese das Band restauriert, gereinigt, das weitere Material gesucht, das zu
dieser Aufführung gehört, etwa die //47// überarbeitete Partitur, in der viele
Änderungen vorgenommen wurden, besonders Pausen und Tempi. So wurde
also durch die Arbeit des Archivio Nono eine neue Aufführungspartitur
hergestellt, in der die elektronischen Einspielungen notiert sind und auch die
Veränderungen, die in dieser letzten Version vorgenommen wurden. Wir hoffen
natürlich, daß Schott jetzt eine neue Partitur davon machen wird. Solche
Ergebnisse sind für uns sehr wichtig. [3]
Dieses Projekt zeigt, wie enorm wichtig es ist, die Werke aufzuarbeiten, deren
Aufführbarkeit bisher daran scheiterte, daß Nono die endgültige Fassung nie
richtig fixiert hat, was ja beispielsweise auch auf «A floresta e jovem é cheia de
vida» zutrifft. Ich erinnere mich, daß das Stück vor zwei Jahren im Rahmen des
Festivals "Zeitfluss 93" unter grösseren Schwierigkeiten realisiert wurde.
Das Problem besteht ja auch darin, daß Nono viele Sachen nicht endgültig oder
erst im Lauf der Arbeit fixiert hat. Um seinen Intentionen möglichst gerecht zu
werden, ist man hier auf mündliche Informationen jener Leute angewiesen, die
mit ihm zusammengearbeitet haben.
Interview mit dem Klarinettisten William O. Smith, gemacht, der mit Gigi
bereits am Anfang der Konzeption von «A floresta» zusammengearbeitet hat. Er
hat sich im vergangenen Jahr die Klarinettenstimme angeschaut und konnte
dort auch noch viele Änderungen und Korrekturen machen. Und er hat uns
darüber berichtet, wie sie gearbeitet haben, wie genau alles festgelegt wurde.
Und das ist sehr interessant. Denn die Leute, die in den letzten Jahren mit Nono
gearbeitet haben, sprechen immer viel von Improvisation, als ob er sie sehr frei
gelassen hätte in den Aufführungen. Ich glaube, daß dies so nicht wahr ist,
auch nicht bei den letzten Werken. Ich glaube, er hat in den Proben viel Freiheit
gelassen und dann immer fixiert und ausgesucht: das möchte ich, auch
während der Aufführung. Und ich bin ganz sicher, daß das immer gleich war bei
ihm, das war sein Charakter. Die Freiheiten waren letztendlich sehr genau
festgelegt. Das sieht man auch in einem Film über «A floresta», in dem Nono
über seine Arbeit spricht. [4] Da sagt er: "Also in der Vorarbeit, da
improvisieren wir sehr viel, aber dann lege ich alles fest und schreibe es in die
Partitur, und es muß genauso sein." Und das finde ich sehr wichtig, weil der
Vorwand der Freiheit eine wunderbare Ausrede ist, um schlechte Aufführungen
zu machen und zu spielen, was man will...
Das beste Beispiel für ein Stück, das im Nachhinein nicht mehr rekonstruierbar
ist, ist ja die 1987 in Paris uraufgeführte Komposition «Decouvir la subversion»,
zu der es nicht genug Material gibt, um eine Partitur davon anzufertigen. [5]
Genau, aber das war natürlich auch eine Frage der Zeit, weil das Stück nur
einmal aufgeführt wurde und danach keine Möglichkeit mehr bestand, es
nochmal zu machen, um dann auch den Notentext festzulegen... Zum Glück
haben wir das Komitee für die Herausgabe der Werke Luigi Nonos beim Verlag
Ricordi, indem solche Dinge ausführlich besprochen werden: Es sind alles Leute,
mit denen Gigi zusammengearbeitet hat. Aber natürlich gibt es da auch
verschiedene Meinungen. Man muß einerseits die persönlichen Ideen dieser
Leute respektieren, aber dann auch die Skizzen und anderes berücksichtigen,
was wir mit unserer Arbeit im Archiv herausfinden können, etwa durch Briefe
oder persönliche Berichte. So müssen wir zu einer richtigen Schlußfolgerung
kommen, und ich glaube, darauf kommt es an.
Das Archiv steht im Prinzip jedem offen, der sein Wissen über das Werk Nonos
vertiefen möchte. Nach Vereinbarung besteht die Möglichkeit, die von uns
verwahrten Reproduktionen - also Fotokopien, Fotografien, Ton- und
Videoaufnahmen - zu konsultieren. Es kommen erfreulicherweise immer wieder
Privatleute vorbei, die sich mit Nonos Musik näher bekannt machen wollen,
//48// was uns sehr freut und natürlich sehr wichtig ist. Studierende, die ein
Forschungsthema bearbeiten wollen und sich daher meist für ein bestimmtes
Werk interessieren, werden gebeten, uns eine kurze Beschreibung ihres
© 2000 by Stefan Drees; Abdruck - auch auszugsweise - nur in Rücksprache mit dem Autor
Anmerkungen:
[2] Über Projekte und Aufgaben des Archivs unterrichtet ausführlich die bei
Ricordi erschienene Broschüre "Archivio Luigi Nono". [Zurück]
[3] In der Tat ist ein Vergleich der beiden Fassungen des «Diario polacco '58»
sehr aufschlußreich (vergleiche dazu Stefano Bassanese und Veniero Rizzardi:
Zur Realisierung der «Composizione per orchestra n. 2 - Diario polacco '58», in:
Musik der Zeit. Weltmusiktage 95. Klangkörper. Spaces. Programmheft, hrsg.
vom Westdeutschen Rundfunk, Köln 1995, S. 31-33). Nonos einschneidende
Eingriffe in den Notentext - eine Änderung der Metronomangaben zugunsten
der häufigen Verlangsamung des Tempos und die Unterbrechung des
musikalischen Verlaufs durch Einfügung von insgesamt 38 Fermaten -
zersplittern das ohnehin schon aus kontrastreichen Fragmenten aufgebaute
Werk noch weiter. Der wesentliche Unterschied zwischen der Urfassung und der
überarbeiteten Version von 1965 besteht allerdings in der nachträglichen
Hinzufügung eines Tonbands. Dieses enthält 13 teils äußerst kurze musikalische
Episoden, die fast alle einem Rundfunkmitschnitt der Komposition von 1959
entstammen und zum Teil nachbearbeitet wurden. Einzig die vorletzte und mit
über einer Minute Dauer längste Episode basiert auf Materialien, die Nono Mitte
der 60er Jahre im elektronischen Studio für seine Bühnenmusik zu «Die
Ermittlung» von Peter Weiss erarbeitete, und die auch die Grundlage für sein
[4] Es handelt sich dabei um einen 1968 im Auftrag des WDR Köln produzierten
Film mit dem Titel «Der Wald ist jung und voller Leben... Die Entstehung einer
Komposition von Luigi Nono», der über die Entstehung von «A floresta» und die
in diesem Zusammenhang durchgeführten Stimmexperimente mit den
Schauspielern des "Living Theatre" sowie die Entstehung der Tonbänder
unterrichtet. [Zurück]