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Avicenna ist 1037 gestorben und etwa hundertzwanzig Jahre später wurden

seine wichtigsten Traktate {das Traktat Über die Seele und die Metaphysik) schon
aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt. Es lohnt sich, eben die Umstände,
unter welchen dieser schnelle Übergang von einem Kulturgebiet zum anderen
möglich war, zu bedenken. Glücklicherweise weiß man durch einen Dedikations-
brief des Ibn Daoud, welcher Anlaß zur Übersetzung der Schrift Über die Seele ge-
führt hat 1• Man entnimmt diesem Dokument, daß der ErzbischofJohann von To-
ledo, der von 1152 bis 1166 die geistliche Verantwortung über die kirchliche Pro-
vinz ausübte, Ibn Daoud, der sich einen jüdischen Philosophen nennt, gebeten
hat, diese Übersetzung zu verfertigen. Während drei Jahrhunderten Toledo
dem Islam unterworfen und der berühmte Dom wurde in eine Moschee umge-
wandelt. Im Jahre 1085 wurde die Stadt durch Alphonsus den Sechsten erobert:
um diese Zeit war die Bevölkerung aus Islamiten, Juden und arabisierten Christen
oder Mozarabern zusammengesetzt. Bei der Reconquista ist ein Teil der islamiti-
schen Bevölkerung geflohen, die anderen sind bei den Christen geblieben, und
wurden mudejares, Abtrünnige genannt2• Als also der Erzbischof Ibn Daoud ge-
beten hat, eine lateinische Übersetzung des Traktats Avicennas Über die Seele zu
verfassen, stand Toledo nicht mehr unter islamitischer Herrschaft. Was hat denn
den Erzbischof dazu bewogen, gerade die Schrift eines islamitischen Philosophen
ins Lateinische übersetzen zu lassen? Eine derartige Frage sollte man auch bezüg-
lich der Metaphysik-Übersetzung3, die um dieselbe Zeit in Toledo verfertigt wurde,

1 A vicenna Latinus. Liber de Anima seu Sextus de Naturalibus, I-II-III. Edition critique de Ia traduction
latine medievale par S. Van Riet. Introduction sur Ia doctrine psychologique d' A vicenne par G. Ver-
beke. Louvain-Leiden, 1972, S. 3-4.
2 Avicenna Latinus. Liber de Anima, I-II-III, S. 92*-93*.
3 Über die Verfertigung dieser Metaphysik-Übersetzung hat man nur wenig Auskünfte. Der vollstän-
dige lateinische Text wurde in fünfundzwanzig Handschriften aufbewahrt; überdies gibt es in eini-
gen Codices Fragmente dieser mittelalterlichen Übersetzung. Zwei Übersetzer werden in diesen Do-
kumenten erwähnt: Gerhard von Cremona und Dominicus Gundisalvi. Man kann wohl kaum be-
haupten, daß die Rolle des letzteren dieselbe gewesen sei wie bei der Übersetzung des De Anima·
Traktats. Man weiß auch nicht genau, in welchem Maße Gerhard von Cremona daran beteiligt war.
(A vicenna Latinus. Liber de philosophia prima sive scientia divina, I-IV. Edition critique de Ia traduc-
tion latine medievale par S. Van Riet. Introduction doctrinale par G. Verbeke. Louvain-Leiden,
1977, 5.123*-125*.)

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