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STEFAN SONDEREGGER, ZÜRICH

FRIEDRICH NIETZSCHE UND DIE SPRACHE


Eine sprachwissenschaftliche Skizze
Friedrich Nietzsches Verhältnis zur Sprache ist ein so ursprüngliches, ja
urtümliches, daß er selbst zu einem der großen Sprachschöpfer und Wort-
bildner des späten 19. Jahrhunderts geworden ist. Es mag deshalb als loh-
nend erscheinen, einige Gesichtspunkte von Nietzsches Sprache und Ausein-
andersetzung mit der Sprache auf der Grundlage der neuen kritischen Ge-
samtausgabe von Giorgio Colli umd Mazzino Montinari neu zu überdenken.
Wir wollen versuchen, einige Hauptzüge von Nietzsches Sprache sozusagen
in Form einer Skizze einzufangen.1
Nietzsches Aussagen über Sprache und Sprachliches lassen sich in fol-
gende Bereiche einteilen:
1. Einige wenige Äußerungen zur Sprachkritik und Sprachskepsis. Sie
stehen in Nietzsches sprachgewaltigem Werk mehr am Rande. Immerhin
geht es um die Einsicht, daß jede Sprache als etwas schon Geformtes dem
Menschen, der in sie hineingestellt wird, keine absolute Freiheit im Geistigen
zubilligen kann. So heißt es in der ,Morgenröthe' I Nr. 47 (V, l, 149) „Die
Worte liegen uns im Wege!" Noch deutlicher spricht Nietzsche von der
Sprache und den Vorurteilen, „auf denen die Sprache aufgebaut ist", die
„uns vielfach in der Ergründung innerer Vorgänge und Triebe hinderlich"
sind (Mil Nr. 115 = V, l, 105). Entsprechend heißt es in ,Menschliches,
Allzumenschliches' II, 2 Nr. 55 (IV, 3, 215) „ G e f a h r der S p r a c h e
für die g e i s t i g e F r e i h e i t . — Jedes Wort ist ein Vorurtheil."
Der Superlativismus der Sprache zeige zu wenig Diiferenzierungen im See-
lischen. Das sogenannte Ich ist von allem Anfang an durch die Sprache vor-
belastet (V, l, 106). So wird die Sprache zur „vermeintlichen Wissenschaft"
(MA I Nr. 11 = IV, 2, 26), in der „der Mensch eine eigene Welt neben die
andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die
übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu
machen". Bedeutung und Gefahr der in der Sprachwissenschaft so genann-
ten Zwischenwelt der Sprache leuchten hier auf. Für Nietzsche ist dabei die
1
Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe. Berlin (Walter de Gruyter) 1967 ff. Wir
zitieren so weit als möglich nach dieser Ausgabe.
Zur Literatur über die Sprache Nietzsches vgl. neuerdings die grundlegende Arbeit
zum Wortschatz von Manfred Kaempfert, Säkularisation und neue Heiligkeit. Reli-
giöse und religionsbezogene Sprache bei Friedrich Nietzsche (Philologische Studien und
Quellen 61), Berlin 1971 (daselbst S. 499—515 Literaturverzeichnis).
2 Stefan Sonderegger

Sprache „die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft" (IV, 2, 27).
Aber der Glaube an die durch die Sprache gefundene Wahrheit, der auf
dem Glauben an die Sprache beruht, ist trügerisch. Die Sprache ist undeut-
lich geworden, besonders was die Umgrenzung der Begriffe angeht (V, l,
497), und doch bedeutet das Unlogische in der Sprache eine natürliche
Kraftquelle (vgl. IV, 2, 392). Audi das Problem einer Universalsprache als
Ziel aller Sprachwissenschaft wird in einem nachgelassenen Fragment vom
Sommer 1876 angetönt (IV, 2, 401): „Dann wäre der europäische Univer-
salmensch da. Wozu dann noch das fürchterliche Sprachen lernen!" (vgl.
auch IV, 2, 44). Das Jauchzen des erkennenden Menschen, von dem Nietz-
sche spricht (IV, 2, 485), liegt jenseits der Sprache. Die Vorrede zu ,Mensdi-
liches, Allzumenschliches IP beginnt mit dem Satz: „Man soll nur reden, wo
man nicht schweigen darf; und nur von dem reden, was man ü b e r w u n -
d e n hat..." Ganz ähnlich schließt Ludwig Wittgensteins ,Tractatus
logico-philosophicus' (1921): „Er (welcher mich versteht) muß diese Sätze
überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Wovon man nicht sprechen
kann, darüber muß man schweigen."2
2. Das Ringen um die wahre Philologie. Dieses Problem hat Nietzsche
vom Anfang bis zum Schluß seines Schaffens bewegt — wir verweisen auf
die diesbezüglichen Darlegungen von Maria Bindschedler.3 Audi wenn
Nietzsches philologisches Gelehrtentum im späten Rückblick für ihn selbst
nur ein Durchgangsstadium war — ein notwendiges freilich, wie er aus-
drücklich betont (VI, 3, 319), so ist er stets, bis zuletzt, ein Stück weit
Philologe geblieben: insoweit nämlich, als es ihm immer wieder um das
wahre Textverständnis ging (man vergleiche die späten Nachlaßstellen vom
Frühjahr 1888 VIII, 3, 250/254). An den Philosophen rügt er in einem
nachgelassenen Fragment 1876/77, sie hätten „nicht gelernt o r d e n t l i c h
z u l e s e n und zu interpretieren, die Philosophen unterschätzen die
Schwierigkeit wirklich zu verstehen, was einer gesagt hat und wenden ihre
Sorgfalt nicht dahin" (IV, 2, 507). Im anscheinend zwiespältigen Verhältnis
Nietzsches zur Philologie wird man seine positive Einstellung zur Philologie
als hohe Kunst des Lesen-Lernens (etwa IV, 2, 428) von der vernichtenden
Kritik an dem, was die Philologen als Erzieher und kleinliche Interpreten
daraus gemacht haben, unterscheiden müssen. Einige wenige Bemerkungen
2
Zur Problematik dieses Bereiches von Ziff. l vgl. neuerdings Nietzsche-Studien, Inter-
nationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, hsg. von Mazzino Montinari, Wolf-
gang Müller-Lauter, Heinz Wenzel, Bd. l, Berlin — New York 1972: daselbst Josef
Simon, Grammatik und Wahrheit S. l—26 und Karl Schlechta, Nietzsche über den
Glauben an die Grammatik S. 353—358.
8
Maria Bindschedler, Nietzsche und die poetische Lüge (Philosophische Forschungen,
N. F., hsg. von Karl Jaspers, Vol. 5), Basel 1954, bes. Kapitel l ,Das philologische
Ideal* S. 16—25.
Friedrich Nietzsche und die Sprache 3

zur Sprachwissenschaft schließen sich dem Philologischen an: so sieht Nietz-


sche in der etymologischen Forschung eine Möglichkeit, die Entwicklungs-
geschichte der moralischen Begriffe aufzuzeigen (VI, 2, 303) und dadurch
dem Philosophen für das Problem der Rangordnung der Werte vorzuarbei-
ten. Nietzsches Stellung zwischen Philosophie und Philologie zeigt sich in
seiner sprachlichen Meisterschaft der Begriffsumschreibung. Nur selten ver-
mittelt er scharf umrissene Definitionen im philosophischen Sinn — aber er
ist der Meister philologisch umschreibender Bestimmungen vor allem im
Bereich des Seelischen, mit dem Sinn für sprachliche Nuancen. Man ver-
gleiche eine Stelle wie die folgende aus den nachgelassenen Fragmenten
1876/77 (IV, 2, 460): „Die Resignation besteht darin, daß der Mensch die
starke Anspannung aller Sehnen seines Denkens und Fühlens aufgiebt und
sie in einen Zustand zurückversetzt, wo sein Denken und Fühlen gewohn-
heitsmäßig und mechanisch wird. Dieses Nachlassen ist mit einer Lust ver-
bunden und die mechanische Bewegung ist wenigstens ohne Unlust." Nicht
selten tritt an Stelle einer definierenden Umschreibung ein Bild, wie zum
Beispiel an folgender Stelle aus den Sprüchen und Pfeilen der ,Götzen-
dämmerung' (Nr. 31, VI, 3, 58): „Der getretene Wurm krümmt sich. So ist
es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu
werden. In der Sprache der Moral: D e m u t h. —" Umschreibung, Be-
schreibung, Bild — ein Verfahren Nietzsches zur Begriffsbestimmung, ein-
prägsamer als jede Definition, für die es im Grunde steht.
3. Ein ganzer, großer Komplex von Äußerungen um das Phänomen
des Sprachstils, der sich — von seinen Äußerungen über seinen eigenen Stil
abgesehen, die wir unter Punkt 4 behandeln — etwa in die folgenden
Gruppen aufgliedern läßt:
3.1. Der Sprachstil bestimmter Kulturkreise
3.2. Der Sprachstil bestimmter Persönlichkeiten
3.3. Der Stil bestimmter sprachlicher Figuren oder Redeweisen
Wir können hier die über Nietzsches ganzes Werk verstreuten dies-
bezüglichen Beobachtungen nicht im einzelnen besprechen — es sind Hun-
(derte von Stellen. Alles in allem sind sie letztlich Auseinandersetzung in
vorbildhafter Ausrichtung oder scharfer Ablehnung auf dem Weg zu seinem
(eigenen Stil und dessen Begründung. Als größere Grundkomponenten er-
scheinen immer wieder Redestil (z. B. IV, 3, 240), Kunst der Rede (z. B. IV,
2, 449), Rhythmik der Prosa (z. B. VI, 2, 197), Periode (z. B. IV, 2, 166 bis
167, 169), Aphorismus und Sentenz (z.B. VI, 3, 147; IV, 3, 82) sowie
römischer und griechischer Prosastil (z. B. VI, 3, 148 usw.). Auf weite Strek-
ken verläuft Nietzsches Auseinandersetzung mit Zeitgenossen und Gestalten
der Geistesgeschichte über ihren Stil, den er — positiv oder negativ — zu
charakterisieren weiß. Vom Schatz deutscher Prosa bleibt für Nietzsche nur
4 Stefan Sonderegger

weniges (IV, 3, 237; vgl. auidi VIII, 3, 446): er nennt neben Goethe und
Eckermanns ,Gesprädien mitt Goethe' nur Liditenbergs ,Aphorismen', das
erste Buch von Jung-Stillings ,Lebensgesdiichtec, Adalbert Stifters ,Nach-
sommerc und Gottfried Kellers ,Leute von Seldwylac ausdrücklich. Anderes
tritt außerdem dazu, doch stecht es nicht mehr im Zentrum oder wird nur mit
Vorbehalten genannt, wie z. <B. Alexander von Humboldt (IV, 2, 562), von
dem er sagt: „Die Mängel dees Stils geben ihm bisweilen seinen Reiz." Die
dunkle, übertriebene oder kkapperdürre deutsche Prosa stellt Nietzsche der
Helligkeit und zierlichen Besstimmtheit der französischen Prosa gegenüber
(IV, 3, 285). In seiner monurmentalistisdien Betrachtungsweise ist Nietzsche
ein Meister einer nicht streengphilologischen Stilkritik geworden. Diese
Komponente durchzieht sein ganzes Werk.
4. Die Äußerungen Niettzsches über seinen eigenen Stil, vor allem im
Abschnitt ,Warum ich so gutte Bücher schreibe' seiner Schrift ,Ecce homo'
(VI, 3, 296 ff.), wo er sich einlleitend mit den Rezensionen über seine Werke,
unter anderem durch Josef Viktor Widmann und dessen Freund Karl
Spitteler in der Berner Tageszeitung ,Der Bundc auseinandersetzt (vgl.
dazu auch VIII, 3, 346), umi dann vor allem in Abschnitt 4 seine eigene
Kunst des Stils kurz zu umreiißen (VI, 3, 302). Hier spricht er unter ande-»
rem von der „Kunst des g r O) ß e n Rhythmus", und sein Stil heißt für ihn
„der g r o ß e Stil der Periocdik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und
Nieder von sublimer, von übermenschlicher, Leidenschaft", vor allem im
Rückblick auf den ,Zarathustrrac, wo Prosa und Poesie zusammenfallen. An
anderer Stelle spricht Nietzsdhe davon, daß „der große Stil entsteht, wenn
das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt" (IV, 3, 234: MA II,
2, 96). Dazu treten einige weiitere Stellen, etwa über seine Verankerung im
römischen Stil (VIII, 3, 435 umd VI, 3, 148), wo er sich auf Sallust, Horaz
und Petronius bezieht, und diann vor allem die Selbstcharakterisierung in
einem nachgelassenen Fragmeent von 1876 „Mein Styl hat eine gewisse
wollüstige Gedrängtheit" (IVf, 2, 387). Diesbezügliche Belege ließen sich
natürlich noch vermehren. Enttscheidend bleibt Nietzsches eigenes Bewußt-
sein, einen neuen großen Prossastil, einen deutschen Dithyrambus (vgl. VI,
3, 303) begründet zu haben, deen freilich seine Rezensenten zunächst nur als
„höhere Stilübung" — so Karrl Spitteler (VI, 3, 297) — und ähnlich ver-
standen. Man wird sagen dürffen: sie waren durch die neue Form so sehr
schockiert, daß sie Einheit vom Form und Inhalt, das heißt Nietzsches stili-
stische wie begriff liehe Umwertung noch nicht zu begreifen vermochten.
Aphorismus und Sentenz gehöören außerdem zu Nietzsches selbstgefühlter
Meisterschaft (VI, 3,147).
5. Einige wenige Bemerktungen zur Sprachpflege, die wiederum sehr
eng mit Nietzsches Bemühungeen um den Stil zusammenhängen. Hier sind
Friedridi Nietzsche und die Sprache 5

einige direkte Beobachtungen zur Typologie des deutschen Konjunktivs zu


nennen (IV, l, 358—359), vor allem der Satz „Der C o n j u n k t i v des
P r ä s e n s unterscheidet sich so vom Indikativ, daß der Indicativ ein
Wissen, der Conjunktiv ein Glauben ausdrückt" (a. a. O. 359). Er steht in
den Fragmenten vom Frühling 1876, wo sich weitere geradezu spradi-
pflegerische Bemerkungen zum sogenannten guten Stil finden, z. T. mit Be-
obachtungen des regionalen Sprachgebrauchs, etwa der deutschen Schweiz,
vermischt. Auch in der Stellungnahme zu Richard Wagners Sprache klingt
Sprachpflegerisches mit, etwa in den Nachgelassenen Fragmenten vom Som-
mer 1875 (IV, l, 307): „Wagner leidet an der Entartung und Schwächung
unserer Sprache, an den Sünden und Verlotterungen früherer Jahrhunderte,
an den Hülfszeitwörtern, den vielfältigen Verlusten und Verstümmelungen
der Casusbezeichnungen, an dem schwerfälligen Partikelwesen unserer
Syntax ..." (usw.). David Friedridi Strauss schließlich weist Nietzsche eine
ganze Reihe sprachlich-stilistischer Fehler und Unzulänglichkeiten nach (III,
l, 223 ff.). Außerdem sind einige Stellen in ,Menschliches, Allzumensdilichesc
II hier zu nennen, etwa „ S c h r e i b t e i n f a c h und n ü t z l i c h "
(IV, 3, 236), ferner die Stellungnahme gegen Sprachneuerer (IV, 3, 247),
die sich nur im Neuern oder Altertümeln ergehen, aber nicht gleichzeitig
Meister des einfachen Stils sind usw. Denn Nietzsches sprachliche Neuerun-
gen sind aus der Sprache seiner Zeit und Gegenwart heraus vollzogen, auch
wenn sie in eine Sprachzukunft hineingeführt haben, wie ihre Nachwirkung
deutlich macht: vor allem fehlt ihnen jede Antiquiertheit und jeder
Purismus.
Stellen wir anschließend die Frage nach dem stilistischen Verfahren
Nietzsches, die Frage, wie meistert Nietzsche eigentlich die Sprache, was
macht seinen Stil über die große säkularisierende Umwertungs- und Um-
wortungsbewegung hinaus aus, von der er so erfüllt ist und die er in allen
Registern beherrscht.4 Hier dürfen vor allem die folgenden Stichwörter
genannt werden: Periode, Antithese, Aphorismus und Sentenz, sowie Titel-
technik — oft genug völlig ineinander verwoben. Wir wählen zur näheren
Betrachtung von Nietzsches Stilmöglichkeiten einen Text aus dem Neunten
Hauptstück der Schrift Jenseits von Gut und Böse' (VI, 2, 247—249,
Nr. 295), 1885 entstanden und 1886 erschienen. Der Abschnitt ist so typisch
für Nietzsche, daß er ihn selbst — auszugsweise — in den nachgelassenen
Schriften 1888/89 noch einmal aufnimmt: im sechsten und letzten Stück der
kleinen Schrift ,Warum ich so gute Bücher schreibe' (VI, 3, 305—306), wo es
heißt: „Um einen Begriff von mir als Psychologen zu geben, nehme ich ein
curioses Stück Psychologie, das in Jenseits von Gut und Böse' vorkommt, —

4
Vgl. dazu besonders Manfred Kaempfert a. a. O. (Anna. 1).
6 Stefan Sonderegger

ich verbiete übrigens jede Muthmassung darüber, wen idi an dieser Stelle
^beschreibe." Und dann folgt das Selbstzitat des folgenden Stückes bis zu
seinem ersten Drittel. Der Text lautet (VI, 2, 247—249, Nr. 295) — am
Rand Zeilen- und Satzzählung —:
(Satz 1) Das Genie des Herzens, wie es jener grosse Verborgene hat, der
Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, des-
sen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen
weiss, welcher nicht ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in
5 dem nicht eine Rücksicht und Falte der Lockung läge, zu dessen
Meisterschaft es gehört, dass er zu scheinen versteht — und
nicht Das, was er ist, sondern was Denen, die ihm folgen, ein
Zwang m e h r ist, um sich immer näher an ihn zu drängen, um
ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen: — das Genie
10 des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen
macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und
ihnen ein neues Verlangen zu kosten giebt, — still zu liegen wie
ein Spiegel, dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele —;
das Genie des Herzens, das die tölpische und überrasche Hand
15 zögern und zierlicher greifen lehrt; das den verborgenen und
vergessenen Schatz, den Tropfen Güte und süsser Geistigkeit
unter trübem dickem Eise erräth und eine Wünsdielruthe für
jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker vielen Schlamms
und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens, von dessen
20 Berührung Jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und über-
rascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt,
sondern reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen,
von einem Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer
vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoff-
25 nungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und
Strömens, voll neuen Unwillens und Zurückströmens ... aber
(Satz 2) was thue ich, meine Freunde? Von wem rede ich zu euch? Ver-
gass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal seinen Namen
(Satz 3) nannte? Es sei denn, dass ihr nicht schon von selbst erriethet,
30 wer dieser fragwürdige Geist und Gott ist, der in solcher Weise
(Satz 4) g e l o b t sein will. Wie es nämlich einem Jeden ergeht, der von
Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so
sind auch mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister
über den Weg gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben
35 sprach, und dieser immer wieder, kein Geringerer nämlich, als
der Gott D i o n y s o s , jener grosse Zweideutige und Ver-
sucher-Gott, dem ich einstmals, wie ihr wisst, in aller Heimlich-
Friedrich Nietzsche und die Sprache 7

keit und Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht habe — als der


Letzte, wie mir scheint, der ihm ein O p f e r dargebracht hat:
40 denn ich fand Keinen, der es verstanden hätte, was ich damals
(Satz 5) that. Inzwischen lernte ich Vieles, Allzuvieles über die Philoso-
phie dieses Gottes hinzu, und, wie gesagt, von Mund zu Mund,
— ich, der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos:
und ich dürfte wohl endlich einmal damit anfangen, euch, mei-
45 nen Freunden, ein Wenig, so weit es mir erlaubt ist, von dieser
(Satz 6) Philosophie zu kosten zu geben? Mit halber Stimme, wie billig:
(Satz 7) denn es handelt sich dabei um mancherlei Heimliches, Neues,
Fremdes, Wunderliches, Unheimliches. Schon dass Dionysos ein
Philosoph ist, und dass also auch Götter philosophiren, scheint
50 mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich ist und die viel-
leicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen möchte, —
unter euch, meine Freunde, hat sie schon weniger gegen sich, es
sei denn, dass sie zu spät und nicht zur rechten Stunde kommt:
denn ihr glaubt heute ungern, wie man mir verrathen hat, an
55 Gott und Götter. Vielleicht auch, dass ich in der Freimüthigkeit
(Satz 8) meiner Erzählung weiter gehn muss, als den strengen Gewohn-
(Satz 9) heiten eurer Ohren immer liebsam ist? Gewisslich gieng der ge-
nannte Gott bei dergleichen Zwiegesprächen weiter, sehr viel
(Satz 10) weiter, und war immer um viele Schritte mir voraus ... Ja ich
60 würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach Menschenbrauch schöne
feierliche Prunk- und Tugendnamen beizulegen, viel Rühmens
von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner gewagten
Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen
(Satz 11) haben. Aber mit all diesem ehrwürdigen Plunder und Prunk
65 weiss ein soldier Gott nichts anzufangen. „Behalte dies, würde
(Satz 12) er sagen, für dich und deines Gleichen und wer sonst es nöthig
(Satz 13) hat! Ich — habe keinen Grund, meine Blösse zu decken!" —
(Satz 14) Man erräth: es fehlt dieser Art von Gottheit und Philosophen
(Satz 15) vielleicht an Scham? — So sagte er einmal: „unter Umständen
70 liebe ich den Menschen — und dabei spielte er auf Ariadne an,
die zugegen war —: der Mensch ist mir ein angenehmes tapferes
erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen hat, es
(Satz 16) findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut:
ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe
75 und ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist." — „Stärker,
(Satz 17) böser und tiefer?" fragte ich erschreckt. „Ja, sagte er noch Ein
(Satz 18) Mal, stärker, böser und tiefer; auch schöner" — und dazu
lächelte der Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln,
8 Stefan Sonderegger

(Satz 19) wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man
80 sieht hier zugleich: es fehlt dieser Gottheit nicht nur an
Scham —; und es giebt überhaupt gute Gründe dafür, zu muth-
maassen, dass in einigen Stücken die Götter insgesammt bei uns
(Satz 20) Menschen in die Schule gehn könnten. Wir Menschen sind —
menschlicher...
Wie so oft bei Nietzsche, geschieht es auch hier: der Leser oder Hörer
sieht sich mitten hineingestellt in einen Vortragsstil von übermächtiger
Fülle, den er in seiner Mischung von Mentalistischem und Musikalischem
erst zu begreifen hat. Musikalisch formulierte und farbig gemalte Gedan-
ken könnte man in Anlehnung an Nietzsche selbst sagen, man vergleiche den
Anfang des diesem Text unmittelbar folgenden Schlußabschnittes von Jen-
seits von Gut und Böse (VI, 2, 249, Nr. 296): „Ach, was seid ihr doch, ihr
meine geschriebenen und gemalten Gedanken!" Zunächst ist es das persön-
liche Angesprodien-Sein, das uns in Nietzsches Text auffallen muß, die kur-
zen Einschübe des Redners, der seine Hörer unmittelbar anspricht. Und so
werden wir als Hörer oder Leser selbst die Erlebenden, die Leidenden, die
Überraschten oder Erstaunten, die Lachenden und Berauschten. Der Inhalt
des in sich geschlossenen Stückes ließe sich etwa folgendermaßen umreißen:
Das Genie des Herzens als wesenhafte Eigenschaft des Dionysos und in all
seinen Wirkungen, des Dichters und Philosophen Nietzsche Begegnung mit
dem Gott und die Erkenntnis über ihn, das Wesen des Dionysos, der Gott
und Philosoph und seine ewige Wiederkehr im Menschen, die Götter und
die Menschen. Es ist nicht vermessen zu sagen, daß Nietzsche sich in diesem
Stück über Dionysos hinaus selbst porträtiert, was gerade durch das oben
genannte Selbstzitat (VI, 3, 305—306) mit der eindringlichen minatio über
jede Mutmaßung darüber deutlich wird. Ein Stück Eigenpsychologie wird
hier vermittelt — Nietzsche selbst als Träger des Dionysischen. Das fingierte
Gespräch mit dem Gott ist ein Gespräch mit sich selbst — lose Gedanken
auf ein Selbstbildnis hin, in der für Nietzsche so typischen sprachlichen
Formung von Periode, rhetorischer Frage, kurzem Gespräch, ausholender
Schilderung und abschließender Sentenz. Wir wollen versuchen, die einzel-
nen Stilmittel des Textes etwas näher zu bestimmen.
Voran steht die Periode. Damit beginnt auch unser Textabschnitt. Der
erste Satz ist nichts anderes als eine große Periode im antiken Sinn, die aus
vier Teilen (I, II, III, IV) besteht, deren jeder durch den sich erneuernden
Ausruf „Das Genie des Herzens" eingeleitet wird. Am Schluß der Periode
steht eine rhetorische Frage mit dem persönlichen Bezug auf den Hörer
„ . . . aber was thue ich, meine Freunde?", die dann im zweiten und dritten
Satz gleich wiederholt wird und den Übergang zur Nennung des Dionysos
im folgenden bildet. Es lohnt sich, diese typische Periode genauer zu unter-
Friedrich Nietzsche und die Sprache 9

suchen. Eine Zergliederung läßt sidi wie folgt vornehmen (in Klammern die
vorausgehenden grammatikalischen Hinweise):
Teil I (Elliptischer Hauptsatz in einer dem Ausruf nahen Form) Das
Genie des Herzens, / (Vergleichsnebensatz) wie es jener große
Verborgene hat, / (Apposition, weitere Ausführung des großen
Verborgenen) der Versucher-Gott und geborene Rattenfänger
der Gewissen, / (Relativsatz 1: nähere Bestimmung des Ver-
sucher-Gottes und Rattenfängers der Gewissen) dessen Stimme
bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiß, / (Relativ-
satz 2: weitere Beschreibung des Versucher-Gottes) welcher nicht
ein Wort sagt, (Verdichtung) nicht einen Blick blickt, (Relativ-
satz 2 a, dem Relativsatz 2 untergeordnet) in dem (Beziehungs-
wort ist der maskuline Blick und das neutrale Wort) nicht eine
Rücksicht und Falte der Lockung läge, / (Relativsatz 3: dritte
nähere Beschreibung des Versucher-Gottes) zu dessen (scilicet
Versucher-Gott) Meisterschaft es gehört, / (Folgesatz, die Wir-
kung oder die Folge der Meisterschaft) daß er zu scheinen ver-
steht — / (Objektssatz in Parenthese: Inhalt des Scheinens) und
nicht das, / (Relativsatz 3 a: Inhalt dessen was er nicht scheint)
was er ist (sc. versteht er zu scheinen), sondern das, / (Relativ-
satz 3 b: Inhalt dessen was der Gott scheint) was denen, / (Rela-
tivsatz 3 c: Bestimmung der von des Gottes Scheinen Beein-
druckten) die ihm folgen, / (Weiterführung von Relativsatz 3 c)
ein Zwang mehr ist, (Finalsatz) um sich näher an ihn zu drän-
gen, (gleichgeordneter Finalsatz) um ihm immer innerlicher und
gründlicher zu folgen (:)
Dazu lautet vergleichsweise die parataktische Übertragung:
Das Genie des Herzens. So hat es jener große Verborgene, der
Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen. Seine
Stimme weiß hinabzusteigen bis in die Unterwelt jeder Seele. Er
sagt nicht ein Wort, er blickt nicht einen Blick ohne eine Rück-
sicht und Falte der Lockung darin. Es gehört zu seiner Meister-
schaft, nicht das zu scheinen, was er ist. Er scheint den ihm Fol-
genden vielmehr das, was ihnen ein Zwang mehr ist, sich näher
an ihn zu drängen und ihm immer innerlicher und gründlicher
zu folgen.
Teil II (Elliptischer Hauptsatz) — das Genie des Herzens, / (Relativ-
satz 1) das alles Laute und Selbstgefällige verstummen macht
und horchen lehrt, / (Relativsatz 2, nebengeordnet) das die
rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten
gibt, / — (Objektssatz in Parenthese: Inhalt des neuen Verlan-
10 Stefan Sonderegger

gens, nämlich) still zu liegen wie ein Spiegel, / (Absichtssatz:


Absicht des Stilliegens) daß sich der tiefe Himmel auf ihnen
(sc. Seelen) spiegele (Wortspiel) —;
Parataktische Übertragung:
Das Genie des Herzens. Es macht alles Laute und Selbstgefällige
verstummen und lehrt es horchen. Es glättet die rauhen Seelen
und gibt ihnen ein neues Verlangen zu kosten. Nämlich still zu
liegen wie ein Spiegel.
Teil III So spiegelt sich dann der Himmel auf ihnen.
Das Genie des Herzens (elliptischer Hauptsatz), / (Relativ-
satz 1) das die tölpische und überrasche Hand zögern und zier-
licher greifen lehrt, / (Relativsatz 2, nebengeordnet) das den
verborgenen und vergessenen Schatz, (Apposition) den Tropfen
Güte und süßer Geistigkeit unter trübem dicken Eise errät und
(Weiterführung des Relativsatzes 2, sc. das) eine Wünschelrute
für jedes Korn Goldes ist, / (Relativsatz 2 a, untergeordnet dem
Relativsatz 2) welches (sc. das Korn Gold) lange im Kerker
vielen Schlammes und Sandes begraben lag;
Parataktische Übertragung:
Das Genie des Herzens. Es lehrt die tölpische und überrasche
Hand zögern und zierlicher greifen. Es errät den verborgenen
und vergessenen Schatz, den Tropfen Güte und süßer Geistig-
keit unter trübem, dickem Eise. Es ist eine Wünschelrute für je-
des Korn Goldes, welches lange im Kerker vielen Schlammes und
Sandes begraben lag.
Teil IV (Elliptischer Hauptsatz) das Genie des Herzens, / (Relativ-
satz 1) von dessen Berührung jeder reicher fortgeht, (Apposi-
tion l zu jeder) nicht wie von fremdem Gute beglückt und be-
drückt, (Apposition 2 zu jeder) sondern reicher an sich selber,
sich neuer als zuvor, (Steigerung) aufgebrochen, von einem Tau-
winde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärt-
licher zerbrechlicher zerbrochener, (Apposition 3 zu jeder) aber
voll Hoffnungen, / (Relativsatz 2 untergeordnet Apposition 3
von Relativsatz 1) die noch keinen Namen haben, (Weiterfüh-
rung von Apposition 3) voll neuen Willens und Strömens, voll
neuen Unwillens und Zurückströmens — (selbständiger, aber an-
gefügter Fragesatz) aber was tue ich (Frage), meine Freunde
(direkter Anruf)?
(Auf die parataktische Umschreibung können wir verzichten)
Die Periode ist ein antikes Element. Damit hebt nicht selten eine Rede
an, wir denken etwa an die dritte Philippika des Demosthenes. Eine
Friedridi Nietzsche und die Sprache H

Periode bedarf, um noch übersehen werden zu können, um im Vortrag ge-


meistert zu werden, einer schärfsten Gliederung, in deren Dienst auch die
Satzzeichen als Vertrags- oder Lesehilfen genommen werden (Strichpunkt,
Gedankenstrich). Nietzsche spricht sich über die Periode in Jenseits von
Gut und Bösec im Abschnitt ,Völker und Vaterländer' aus (VI, 2, 198):
„Eine Periode ist, im Sinne der Alten, vor Allem ein physiologisches Gan-
zes, insofern sie von Einem Athem zusammengefasst wird. Solche Perioden,
wie sie bei Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zwei Mal schwellend und
zwei Mal absinkend und alles innerhalb Eines Athemzugs: das sind Genüsse
für a n t i k e Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwie-
rige im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eigenen Schulung zu schät-
zen wussten!" Audi unsere Periode schwillt zweimal auf und sinkt zweimal
ab. Sie ist sogar symmetrisch gebaut, eine unverkennbare raffinierte Sym-
metrie wohnt ihr inne, insofern entspricht sie genau der von Nietzsche in
Anlehnung an die antike Rhetorik formulierten Theorie. Wir halten den
Befund in Form einer Tabelle fest:
Teil I 4 Stufen der Steigerung (Vergleichssatz, Relativsätze 1/2/3)
+ angehängter Objektssatz.
lang
Einschub mit nicht (in der 3. Stufe)
Komparativformen des Adj. (im angehängten Obj.satz)
Abschluß: Bild der Bewegung (drängen und folgen)
Das Dynamische
Teil II 2 je zweigliedrige Stufen der Steigerung
+ nachgehängter Objektssatz
kurz
kein Einschub mit nicht
keine Komperativformen
Abschluß: Bild der Ruhe (das Stilliegen)
Das Statische
Teil III 2 je zweigliedrige Stufen der Steigerung
— das Lernen des zierlichen Greifens und Zögerns
— das Erraten und Wünschelrute-Sein
+ nachgehängter Relativsatz
kurz
kein Einschub mit nicht
keine Komperativformen
Abschluß: Bild der Ruhe (das Begraben-Liegen)
Das Statische
Teil IV 4 (vielgliedrige) Stufen der Steigerung (— von dessen .. . / —
nicht / — sondern / — aber)
12 Stefan Sonderegger

+ angehängte rhetorische Frage


lang
Einschub mit nicht (2. Stufe)
Komperativformen des Adj. (in 1. und 3. Stufe)
Abschluß: Bild der Bewegung (Strömen und Zurückströmen)
Das Dynamische
Die ganze Periode hat, wie die Tabelle zeigt, den Grundrhythmus
-L ^ v -L, was sich mit einem vergrößerten Mittelteil eines asklepiadeischen
Verses vergleichen ließe — sozusagen in die Prosa der Periode transponiert.
Viermal ein kurzer Hauptsatz, viermal folgt darauf eine wogende Flut von
Nebensätzen. Der Hauptsatz wird aber dabei nicht etwa zerdrückt, er
bleibt vielmehr der tragende Pfeiler des Ganzen: die viermalige Anapher
schützt ihn vor der Uberspülung durch die Wogen der Füllung. Der Bau ist
innerlich begründet. „Das Genie des Herzens", diese lyrische Wiederholung,
läßt immer wieder die eine intendierte Grundstimmung aufklingen und
bewahrt sie so vor dem Zerfließen.5
Hat uns die besprochene Periode stilistische Treppen und Gradationen
im besonderen vor Augen geführt, so tut es der Text im allgemeinen. Der
Dichter trägt (26/27) dreimal die Frage vor „Aber was thue ich? Von wem
rede ich? Vergass ich midi soweit?" „Vieles" steigert sich zu „allzuvieles"
(41), „einmal" zu „endlich einmal" (44). Es heißt „die Götter insgesamt"
(82), „Weiter, sehr viel weiter" (58) wird begleitet von der Vorstellung des
Vorausseins „und war immer um viele Schritte mir voraus". Zuweilen wer-
den Begriff und Oberbegriff aneinandergereiht, wie in „zu spät und nicht
zur rechten Stunde", da die unrechte Stunde sowohl zu früh und zu spät
sein kann, also Oberbegriff ist.
Steigernde Funktion haben auch die Doppelpaare und Freiheiten, wie
wir sie zum Teil bei der Alliteration wiederfinden. Dazu gehört, daß Adjek-
tive, nur wenn sie typisch sind, allein stehen, sonst zu zweiem oder dreien
auftreten: „innerlicher und gründlicher" (9), „begnadet und überrascht"
(20), wobei das Partizip mehr Abgeschlossenheit vermittelt, „anrgeweht und
ausgehorcht" (23) und so weiter. Um dabei der Überladung z:u entgehen,
verbindet Nietzsche zwei Haupttypen:
1. ein Substantiv + 2—3 Adjektive: „unter trübem dickem Eiise", „den ver-
borgenen und vergessenen Schatz".
2. zwei Substantive + l Adjektiv (oder Pronomen): „vielenn Schlammes
und Sandes"; „dieser (Pronomen) fragwürdige Geist und Gott"; „der
letzte Jünger und Eingeweihte".

• Vgl. Emit Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Züridi 1946, 32.


Friedrich Nietzsche und die Sprache 13

Dreiheiten wie „Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe" (61) sind so


häufig — aber auch als Adjektive, Satzteile usf. —, daß man sie geradezu
als Wirkung des Intellectus ardietypus ansehen kann, der nach C. G. Jung6
auch als Ordner von Segens- und Fluchformeln oder Lobpreisungen wirk-
sam wird. Das sind schon Anhaltspunkte zu einer Zahlenmystik, die bei
Nietzsche ebenso mitspielt, man denke an die „Drei Bösen", die „Siebente
Einsamkeit" (Gedicht ,Die Sonne sinkt*) oder „Die Sieben Siegel" (Zara-
thustra).
Sogar die Pause, dargestellt durch den Gedankenstrich, steht im Dien-
ste der Steigerung. „Wir Menschen sind —" man horcht auf, Erwartung
stellt sich ein — „menschlicher". Das hat man nicht erwartet. Sonst drückt
die Pause Besinnung aus (26), oder sie ist bloß Trennung von Vorhergehen-
dem, weil etwas Neues kommt (67), Vorbereitung eines Überganges von der
Rede zum Lächeln (77), Verstärkung der impulsiven Abwehr (67 „Idi —
habe keinen Grund, meine Blöße zu decken") durch Betonung des Wortes
unmittelbar vor dem Innehalten. Auch die Pause gehört zum Redestil. Im
Schreibstil schaltet der Leser je nach Verständnis oder Ermüdungsgrad
selbst Pausen ein.
Wir dürfen wohl bemerken, daß Nietzsches Sprache superlativistisdi
ist. Im Tempo kennzeichnet das die Beschleunigung, im Inhalt die Zu-
spitzung, Verdichtung, seltener Ausweitung, Übertragung auf Größeres.
Ein Vergleich mit Luther drängt sich auf. Bei aller Gegensätzlichkeit be-
zeichnet Nietzsche in Jenseits von Gut und Bösee die Bibel als bisher bestes
deutsches Buch, dem es kraft seiner Sprache beschieden war, in deutsche
Herzen hineinzuwachsen (VI, 2, 199, vgl. ferner über Luther etwa V, l, 78).
Nun eignet: Luther wie Nietzsche eine ungeheure Kennerschaft des Wortes.
Luther wählt seine Ausdrücke ebenso unter dem Gesichtspunkt der Anschau-
lichkeit und Bildlichkeit auf ein neues Verstehen hin. Seine Sprache ist
superlativistisdi. Für „der Mund redet" (os loquitur) setzt er „der Mund
geht über",, für „Stachel im Fleisch" (Alte Bibeln, Emser) „Pfahl", für
„Stifter odier Mehrer des Heils" „Herzöge der Seligkeit". Der berühmt
gewordene Fall „Allein der Glaube", aus dem der ganze sola fide Stand-
punkt des Protestantismus erwachsen ist, hängt damit zusammen. Luther
kommt es auf den innern Sinn an, der als Interpretation in den Text der
Übersetzung einmündet. Ein ganz ähnliches sprachliches Bild bietet Nietz-
sche. Und ear hat mit Luther die ungeheure Selbstverantwortlidikeit gemein-
sam, das hinaufziehende Pathos, bis ins Sprachliche hinein. Innerhalb des
Protestantismus ist Nietzsche nodi einmal ein Protestierender, gegen das
moralisieremde Christentum seiner Zeit: aus dem Christentum heraus gegen
6
C. G. Juaig;, Symbolik des Geistes, Zürich 1948, 374.
14 Stefan Sonderegger

dieses, so hat er sich selbst verstanden. Der Dichter soll Wegweiser für die
Zukunft sein. Die monumentalische Geschichtsbetrachtung gehört in diesen
Zusammenhang. Der ganze Kult des Wählens, des nur So-Seins, des vor-
nehmen Menschen und des Herrenmenschen hat für Nietzsche einen hinauf-
ziehenden Zug, man vergleiche dazu die Erklärung des Ausdrucks Über-
mensch in ,Ecce homoc durch Nietzsche selbst (VI, 3, 298). Das kommt auch
im großen Stil zur Geltung: als Superlativismus, Klimax, Steigerung und
Periode vor allem.
V" Nietzsches Stil ist vor allem nominal. Steigern läßt sich die Sprache vor
allem mit den Nomina. Auch die immer wiederkehrende Ellipse „Das Genie
des Herzens" ist nominal — ohne jede persönliche Ergänzung. Eine andere
Ellipse findet sich, nebenbei bemerkt, 80 ff.: „es fehlt dieser Gottheit nicht
nur an Scham —;", nun fehlt das ganze Glied mit „sondern auch" — „und
es gibt überhaupt gute Gründe dafür..." ist schon die Folgerung aus dem
„nicht nur" und dem unterschlagenen „sondern auch". Der Vorsatz „man
sieht hier zugleich" bezieht sich ebenso auf zwei Glieder, wenn auch nur
deren eines ausgeführt ist. Das ist nicht etwa Nachlässigkeit. Das ist be-
wußtes Wissen um die Wirkung, eine Art komplexen Stilverfahrens, die
einzelnes zu überspringen wagt. So eilt Nietzsche manchmal sprachlich vor-
aus, nimmt er vorweg. Er beugt der Ermüdung des Zuhörers immer wieder
entschieden vor. Überhaupt verbindet „es fehlt dieser Gottheit nicht nur an
Scham" (80 if.) das weit vorausgehende „es fehlt dieser Art von Gott-
heit ... vielleicht an Scham?" (68 f.). So ist über die Episode des Gesprächs
(67—75) die Verbindung wieder hergestellt. Die Zeitwörter dagegen wir-
ken eher farblos und wenig herausstellend: „verstehen zu" (6), „wissen zu"
(3), „lehren" (15), „erraten" (68/29), „man sieht" (79). Zum Zeitwort
„Lächeln" tritt als Eigentliches des Satzes das „halkyonisdie Lächeln" (78),
zum „Blicken" der „Blick" (4). Nomina sind gegenständlicher, dichter, Ru-
hepunkte in der Bewegung. In der figura etymologica verdichten sie die Vor-
stellung erst recht.
Was den Gebrauch von Parataxe und Hypotaxe angeht, zeigt sich eine
ziemliche gleichmäßige Verteilung in unserem Text. Statistisch gesehen wäre
die Verteilung so:
Hypotaxe: Sätze l ( l—27) Parataxe: Sätze 2 (27)
3—8 (27—56) 9—19 (57—84)
19 II (81—83) 20 (83—84)
Die Sprache ist weder ausgesprochen hypotaktisch noch parataktisch.
Sie ist beides, im Sinne eines ausgewogenen Verhältnisses nämlich. Die An-
wendungsmöglichkeiten beider Satzbauformen lassen sich über diesen Text
hinaus für Nietzsche vielleicht so formulieren:
Friedrich Nietzsche und die Sprache 15

Hypotaxe Parataxe
Der Gedanke legt einen weiten Der gedankliche Weg ist schon zu-
Weg zurück rückgelegt. Es handelt sich nur
Weg, Aufstieg, Auseinander- noch um das Resultat, die Endfor-
setzung, Ziel, Höhe, Gipfel. mulierung oder eine Zwisdien-
Der Einwand frage,
(„vorausgesetzt daß, wenn über- Ergebnis
haupt, es sei denn, daß") Das, was herauskommt
Das beginnende Antasten einer bis Die schlagende Formel
dahin unverbrüchlichen Wahrheit. Pointe
Das Ausholen zum Schlag, vorbe- Schlußstein
reitende Handlungen, ausführliche Der Durchbruch zu etwas Neuem
Vorbereitung Stil der These
Stil der Periode („Meine fünf Neins")
Das Auf und Ab Stil des Setzens
Das Gewoge Schlag auf Schlag
Die Explosion
Erst im Wechsel beider Möglichkeiten, in ihrer richtigen und überzeu-
genden Verwendung erreicht Nietzsche seinen großen Stil. Das hängt mit
seiner An zusammen, einen Text überhaupt einzuleiten:
1. Nietzsche beginnt mit einem Einwand. Er setzt (gemäß unserer Liste) die
Hypotaxe.
„Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist..." (VI, 2, 3)
„Nachdem ich lange genug ..." (VI, 2, 11)
Der Dichter überwindet zunächst etwas.
2. Der Text beginnt mit einem Ausruf. Der Dichter beschreibt. Er holt weit
aus zu einer buntvielfältigen Schilderung. Hypotaxe und Parataxe sind
möglich.
»Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedan-
ken!" (VI, 2, 249) (Parataxe)
„Das Genie des Herzens ..." (oben 1—26) (VI, 2, 247) (Hypotaxe)
3. Der Anfang aus einem Gegensatz heraus, ein Pfeil, eine Überraschung.
Nietzsche beginnt mit etwas völlig Unerwartetem. Nur Parataxe ist
möglich.
„Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh" (Zarathustra I Vom
freien Tode, VI, l, 89).
„Es gibt Gegner der Philosophie" (Geburt der Tragödie)
„Der Nihilismus steht vor der Tür". „Woher kommt uns dieser unheim-
lichste aller Gäste?" (Der Wille zur Macht) Mit einem solchen Anfang
zieht Nietzsche den Leser sofort und überraschend mitten hinein in seine
Auseinandersetzung.
16 Stefan Sonderegger

Ganz ähnlich sind Nietzsches Schlußworte. »Wir Menschen sind —


menschlicher" (VI, 2, 249) ist die prägnant-nachdenkliche Sdilußsentenz,
das was nach dem langen Auf und Ab herauskommt. Sie kann nur paratak-
tisch sein. Sonst müßte am Schluß der Hypotaxe schon eine ganz deutliche
Pointe stehen. Nicht nur Abschnitte, wie der von uns gewählte, weisen die
beschriebene Endgestaltung auf, auch ganze Werke. Wer erinnert sich nicht
an die Schlußsätze des ,Willens zur Machtc: „Diese Welt ist der Wille zur
Macht" — und nun das Abschließendste, jede Einsprache von vornherein
verbietende — „und nichts außerdem". Dann die Anwendung des Allge-
meinen auf das Einzelne, der persönliche Bezug: „Und auch ihr selbst seid
dieser Wille zur Macht, und nichts außerdem".
Wie schwer es ist, solche Formeln und Sentenzen, die Durdisdilagskraft
haben sollen, zu prägen, davon erzählt eine Nachlaßstelle:
„Wer in der deutschen Sprache Sentenzen bildet, hat die Schwierigkeit,
daß sie am Ende nicht scharf und streng abgeschliffen werden können, son-
dern daß die Hilfszeitwörter hinterdrein stürzen wie Schutt und Gerumpel
einem rollenden Steine". Nietzsches Leistung in Sentenz und Formel be-
steht darin, der rollende Stein zu sein ohne diesen Schutt und dieses Ge-
rumpel. Nietzsches Prosa dürfen wir als im hohen Grade rhythmisch an-
sprechen. Vom Verse trennt diese Prosa, daß die Zeitspannen unregelmäßig
wiederkehren, daß Zwischenteile von verschiedener Dauer eingelegt sind,
daß der Verfasser einstweilen verhalten bleibt, um dann plötzlich unver-
mutet loszubrechen. Nietzsche scheint uns auf die ungebundene Rede ange-
wandt genau das zu vollziehen, was man in der altgermanisdien Dichtung
den Bogenstil nennt, jene Erscheinung, welche die geordneten, abgewogenen,
regelmäßig wiederkehrenden Zeitspannen durchbricht. Der Satz beginnt zu
überborden, „reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von
einem Tauwind angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher
zerbrechlicher zerbrochener, aber voll..." (21—25), er drängt über das
Maß hinaus. Der Bogenstil ist eine dehnbare Größe. Bewegtheit und Vor-
wärtsdringen sind seine Eigenschaften. Er springt um mit dem Tempo, ver-
schiebt, beschleunigt, retardiert. Der Bogenstil gestattet ein weiteres Aus-
holen — und wie weit holt der erste Satz aus! —, er gewährt einen rasdien
Anlauf, ein Zusammenziehen einer Anzahl von Wörtern oder Silben, die
man einfach um jeden Preis noch hineinbringen will: „denn es handelt sich
dabei um mancherlei" (47), das sind elf Silben überstürzt hingeworfen, als
Vorlauf sozusagen, jetzt aber beginnen Rhythmus und Betonung „Heim-
liches, Neues, Fremdes ..." (47—48). Aus diesem Gesichtspunkt heraus, be-
zogen auf die Prosa und mit besonderem Augenmerk auf Tempo und Dyna-
mik, schlagen wir vor, Nietzsches Stil als modernen Bogenstil zu bezeidinen.
Der Rhythmus ist es nicht allein, der uns in diesem Text das Auf und Ab
Friedrich Nietzsche und die Sprache 17

fühlen macht, sondern auch ein weiterer Zug, der für Nietzsche besonders
charakteristisch isc: die Antithesen. „Voll neuen Willens und Strömens" (25)
wird abgelöst durch „voll neuen Unwillens und Zurückströmens". Das
„Heimliche" kommt über das „Neue, Fremde, Wunderliche" bis zum „Un-
heimlichen" (47—48), wobei das Heimliche allerdings eher das Verborgene,
den Fremden Verschlossene ist als das heimisch Vertraute, wie der Dichter
auch „in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht" (37—38) seine Erstlinge, die
ihm vielleicht selbst etwas unheimlich vorkommen im Vergleich zur gemüt-
lich-satten bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit und seiner Wissenschafts-
gefährten, dem Gotte darbringt. „Aufgebrochen" ist das Gegenteil von „be-
drückt" (21/22), der Druck ist gelöst, zersprengt; am Schluß des Textes wer-
den Götter und Menschen einander gegenüber gestellt, das Genie des Her-
zens am Anfang bewirkt eine Umwandlung ins Gegenteil: „das alles Laute
...verstummen macht..., das die rauhen Seelen glättet" (10—11), die
„tölpische und überrasche Hand" lernt „zögern und zierlicher greifen"
(15 f.). Die Antithese ist eine Funktion der Vergleicfaung. Bei Nietzsche be-
deutet sie selten das dualistische Entweder-ÖHeir^"3aBn natürlich, wenn er
mit seiner ganzen Anschauung gegen eine andere zu Felde zieht, so das
letzte Wort von Ecce homo (VI, 3, 372) „Hat man mich verstanden? —
D i o n y s o s g e g e n den G e k r e u z i g t e n . . . " , oder wenn er der
christlichen beziehungsweise einer ändern ihm nicht gemäßen Möglichkeit
eine neue eigene entgegenstellt, wie die Fernstenliebe der Nächstenliebe.
Steht aber die Antithese innerhalb der Möglichkeiten Nietzsches selbst, so
ist sie immer Ergänzung, ein Sowohl-als-Auch. Die Philosophie des Gottes
Dionysos, von der er uns sprechen will (44/45), ist heimlich und unheimlich
zugleich, ,Zarathustrac ist ein Buch für Alle und Keinen, die Berührung mit
dem Genie des Herzens gibt neuen Willen und neues Strömen, aber ebenso
neuen Unwillen und neues Zurückströmen (25 f.), also Weg und Weg zu-
rück. Die Antithese, die im Grunde ein Gleiches ausdrückt, finden wir bei
Hugo von Hofmannsthal im Magier, wenn er von ihm sagt, „Ihm war
nichts nah und fern, nichts klein und groß" oder „Allem nah, allem fern".
Über die Geburt der Tragödie äußert Nietzsche später, sie sei „undeutlich
allzudeutlich". Eine solche Antithese gabelt das Negative ein, die Geburt
der Tragödie hat also kein Mittelmaß von Deutlichkeit. Im ersten Abschnitt ~
von ,Völker und Vaterländer* (aus Jenseits von Gut und Böse') sagt Nietz-
sehe nach der weit ausholenden Beschreibung des Meistersingervorspiels von
Richard Wagner (VI, 2, 188): „Diese Art von Musik drückt am besten aus,
was ich von den Deutschen halte: sie sind von Vorgestern und von Über-
morgen" (das ist die Eingabelung mit den positiven gegensätzlichen Extre-
men), „ s i e h a b e m n o c h kein H e u t e " (das ist das in der Mitte lie-
gende eingegabelte Negative). Von der Antithese kommt Nietzsche zur These.
18 Stefan Sonderegger

Gegensatzpaare hängen mit Wortspielen zusammen. Ein Wortspiel er-


gibt sich dann, wenn mit demselben Wortstamm oder Wortmaterial ganz
verschiedene Dinge gesagt werden. Heimlich-unheimlich grenzt schon an die
Sphäre des Wortspiels. „Zerbrechlicher zerbrochener" (24) geht aus von
der Anlage, der Möglichkeit des Zerbrediens und landet auf vollzogener
Stufe. Das ist ein Spiel mit der Form und dem Bedeutungsinhalt, ein Spiel
des Klanges und des Sinnes. So verbindet sich Klangverwandtschaft mit
Bedeutungsunterscfaied^ „Wir Menschen sind — menschlicher" vollziehreme
überraschende innere Beziehung, ebenso „der Mensch ist... ein ... erfinde-
risches Tier..., es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht" (71—73).
Mit Vorliebe bringt unser Text die Verbindung eines Zeitwortes mit einem
Objekt des gleichen Wortstamms, den sogenannten Akkusativ des inner n
Objekts „Wort sagt, Blick blickt" (4), „Namen nannte" (28), den auch die
lateinische Sprache kennt (vitam vivere, cursum currere), Hugo von Hof-
mannsthal verwendet ihn etwa „beim Denken schöner Gedanken" (Märchen
der 672. Nacht). Wir sehen hinter diesen Wortspielen die Tendenz einer dia-
lektischen Trennung. Im Menschen liegt ja schon, daß er menschlich ist, im
Blicken schon der Blick. Aber diese Formulierung läßt uns dessen sicher
gewahr werden. Ironische Bedeutung hat ein Wortspiel wie das folgende,
als Parodie auf Evangelist gedacht: „Ich bin ein f r o h e r B o t s c h a f -
t e r " („Warum ich ein Schicksal bin" aus ,Ecce homoc, VI, 3, 364).
Unser Text zeichnet sich aus durch eine ungeheure Vielfalt des Wort-
schatzes und der Vergleiche. Zu des Dichters Wortkunst rechnen wir es, daß
aus der gewaltigen Wortmasse einzelne Ausdrücke als wesentliche Gehalts-
punkte hervorragen. Am Anfang ist es „das Genie des Herzens", ein Aus-
druck, den Nietzsche offenbar sonst nicht gebraucht. Damit wird eine Eigen-
schaft des Gottes Dionysos bezeichnet, die im ersten Satz zur Genüge be-
schrieben ist, eine sublime sympathische Gabe. Genie wird nicht als Person,
Träger verwendet, sondern als ingenium, Eigenschaft, Gabe. Dieses Genie
des Herzens ist aber nur Vorspiel. Zu den Ausdrücken, die im Text mehr-
mals wiederkehren, gehören Gott und Dionysos. „Versucher-Gott" ist drei-
mal geradezu_symmetrisAi^n^^au^am Anfang (2), in der Mitte (37) und
am Schluß (78), während Dionysos auch nur dreimal, aber ausschließlich im
mittleren Teil des Textes erscheint, einmal als Träger einer ganzen langen
Zuspitzung (36), wo es denn auch in Sperrdruck steht. Derartiges Beginnen
ist nicht zufällig. Unser Text dreht sich um Dionysos. Seine Eckpfeiler sind
mit dem Erscheinen und Ausklingen des Wortes „Versucher-Gott" (2/7S)
gezeichnet, so wie die Morgensonne am Anfang und Ende des ,Zarathustra*
leuchtet, in der Mitte aber stehen Dionysos und Versucher-Gott miteinander
(36—37). In ständiger Variation zieht „Gott" durch den Text: diese Gott-
heit (80), ein solcher Gott (65), der genannte Gott (57—58), dieser fragwür-
Friedrich Nietzsche und die Sprache 19

dige Gott (29) usw. Nietzsche ist Philologe. Unter den Philologen ist er der
Eigenartigste, Schöpferischste, eine Ausnahme. Kennerschaft des Wortes ist
ein unmittelbarer Teil seiner Philologie. Die Wortkunst geht so weit, daß
Wiederholungen am falschen Ort vermieden werden. Der Nebensatz mit
„daß" (6) wird sogleich durch „um zu" (9/10) abgelöst. Das Relativprono-
men welcher erscheint nie zweimal hintereinander: „welcher nicht ein
Wort sagt... (auf den Versucher-Gott bezogen), in dem nicht... (auf das
Wort bezogen)" (4). „Eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich ist und die
vielleicht gerade unter Philosophen..." (50—51) gibt eine feine Differen-
zierung und schützt den Zuhörer vor Ermüdung.
Zum Hervorheben gehört auch der Sperrdruck. Doch scheint er uns wie
die Interpunktion nicht viel mehr als ein rednerisches Hilfsmittel für den
Vortragenden zu sein. Zu sehr ist Nietzsches Stil ein Redestil und kein
Schreibstil (er äußert sich darüber in demselben Werk, dem unser Text ent-
stammt), als daß wir Satzzeichen und Druckanordnung zu hoch werteten.
Der Sperrdruck ist nur noch ein Anhängsel, ein Behelf und unbedeutend im V
Vergleich zur Stellung des Wortes im Satz. Sie allein entscheidet ja, welches
Wort letzten Endes über das andere rage, welches Symbol den Vorrang vor
den ändern habe. In Nietzsches Werdegang erscheint der Sperrdruck an-
fänglich häufig, dann immer seltener. Unser Text zeigt ihn viermal: dreimal
in nur satzbegrenzter Funktion (8 „ein Zwang m e h r " / 30 „in solcher
Weise g e l o b t " / 39 „ O p f e r " ) . Das vierte Mal zeigt der Sperrdruck
(damit man es auch richtig lese!) Höhepunkt einer ganzen langen Zuspit-
zung an (35 „ D i o n y s o s " ) .
Die Adjektive haben einen heraushebenden Zug, der „geborene Rat- /)?
tenfänger" (2), „gewagte Redlichkeit" (62), das „halkyonisdie Lächeln"
(78), ein Won, worauf wir noch zurückkommen werden, die „bezaubernde
Artigkeit" (79). Der „Tropfen süßer Geistigkeit" (16) zeigt anschaulich
eine abstrake Vorstellung in den Aggregatzustand des Flüssigen verwan-
delt unter Beigabe einer Geschmacksempfindung, ein Beispiel der seit der
Romantik vielgerühmten Synästhesie. Adjektive stehen allein, wenn sie $f
besonders typisch sind. Sonst begleiten sie ein Substantiv zu zweit und zu
dritt. Dann haben sie ergänzenden und steigernden Charakter. Hervor-
hebende Nomina sind „Wünschelrute (17)7T>Rattenfänger""(2J> »Rücksicht
und Falte der Lockung" (5). Nietzsche wirkt sprachbildend oder -erneuernd.
Vom Geist der Schwere reden wir heute noch (vgl. etwa Binding, Reitvor-
schrift für die Geliebte), Hinterweltler sind uns ein Begriff geworden. Ge-
wisse Wendungen wie „gewißlich" (57), „viel Rühmens machen" (61/63)
wirken archaisch. Das Spradiniveau wird dadurch gehoben. Durch Nietz-
sche sind Ausdrücke wieder lebendig geworden (halkyonisch) oder neu ge-
schaffen (Umwertung). Er versteht es, verblüffende Zusammensetzungen zu
20 Stefan Sonderegger

bilden, die ein Neues auszudrücken vermögen. Davon fände sich in seinem
Werk eine ganze Liste. Wir erwähnen nur Versucher-Gott (Text), Sonnen-
vereinsamung (Ecce homo), Bildungsphilister, Löwenmusik (an Peter
Gast), Gewissensblutegel (Zarathustra). Poetisch wirkt die Wortstellung
„und war immer um viele Schritte mir voraus". Auch setzt ein neuer Neben-
satz mit Ausnahme ganz kleiner Einschubstücke nicht ein, bevor der voran-
gehende Satz zu Ende geführt ist, z. B. „Korn Goldes ist, welches begraben
lag" gegenüber „Korn Goldes, welches begraben lag, ist" (17/18). So ver-
neidet die J^rache Aufeinanderfolgen von zwei Verbalformen. Eine solche
Kunst und Kennerschaft des Wortes hat bei aller HeräusHeBung des Typi-
schen und Einmaligen weitesten Raum für die Anspielung. Die Erstlinge,
die der Dichter dem Gott dargebracht hat (38), sind Zeugnis davon. Mit
Ariadne, auf die der Gott anspielt (68), hebt ein ganzer Doppelbezug an,
den wir etwas beleuchten möchten. Zunächst ist einmal klar, daß sich der
Ausspruch „unter Umständen liebe ich den Menschen" auch auf Ariadne
bezieht, denn es heißt ja „und dabei spielte er (scilicet Dionysos) auf
Ariadne an, die zugegen war", zudem wissen wir aus der griechischen
Mythologie, daß Dionysos Ariadne liebte und zu seiner Gattin erhob. Aber
der folgende Passus „der Mensch ist mir ein angenehmes tapferes erfinde-
risches Tier..., es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht" (71—73)
bezieht sich immer noch auf die kluge Ariadne, die dem von ihr geliebten
Theseus, der sie zwar später auf Naxos im Stiche läßt, einen Wollknäuel
mitgibt, durch den er sich aus dem Labyrinth des Minotauros auf Kreta
wieder herausfindet. Deshalb ist der Mensch (und Ariadne) ein erfinderi-
sches Tier, das sich in allen Labyrinthen noch zurechtfindet. Eine ganze
Mythologie steckt da imJEÜntsrgrund. Aber noch vielgründiger liegt der
Fall bei dem Zauberwort halkyonisdi (78), hier auf das Lächeln des Ver-
sucher-Gottes geprägt, sonst etwa als „halkyonische Selbstbegnügsamkeit"
oder „Wir Halkyonier" (Fall Wagner) erscheinend. Wie aber kommt es,
daß ein Wort aus der Meereisvogelsphäre dem Lächeln des Dionysos Inhalt
gibt? Alkyone (attisch Halkyone), die Gemahlin des Keyx, wurde, als sie
ihren auf einer Seefahrt ertrunkenen Gatten ans Land gespült sah, wie die-
ser in einen Eisvogel (= Alkyon) verwandelt. Während ihrer Brutzeit ließ
Zeus vierzehn Tage lang die Winde ruhen, damit ihre Eier nicht von den
Wogen fortgespült würden. Seither wird das Wort halkyonisdi schon im
Humanismus und bei Wieland (Lukianübersetzung) im Anschluß an die
halkyonischen Tage gebraucht. Bei Nietzsche spielt aber unserer Auffassung
nach noch viel mehr mit. Auch Dionysos, auf dessen Lächeln das Wort in
unserm Text geht, ist wie Alkyone ein Verwandelter. Dadurch daß ihn
Apollo zum Teilhaber des delphischen Orakels macht — eine Tatsache, die
Nietzsche zeit seines Lebens beschäftigt hat — wird er vom Rauschgott
Friedrich Nietzsche und die Sprache 21

zum zweideutig-unbewegterxürakelgott umgestaltet. Ihm gehören die Win-


termonate, das ist der Bezug zum Meereisvogel. Halkyonisch ist das Lächeln
eines Verwandelten, der in erhabener Ruhe während der Wintermonate
Gott des delphischen Orakels ist, ohne daß er dabei sein ursprüngliches
Wesen völlig abgelegt hätte. „Und dazu lächelte der Gott mit seinem
halkyonisdien Lächeln" (78): man ruht sich rhythmisch auf diesem halkyo-
nisdi geradezu aus. Das Wort erscheint später, in ,Ecce homoc (1889),
noch einmal mit Bezug auf Zarathustra, und auch dort leitet es zu Dionysos
hin (VI, 3, 342): „Das Halkyonisdie, die leichten Füße, die Allgegenwart
von Bosheit und Übermuth und was sonst Alles typisch ist für den Typus
Zarathustra ist nie geträumt worden als wesentlich zur Größe." ^*
Was wäre unser Text ohne seine ^Steigerungen und Wortreihen? *
„Heimliches Neues Fremdes Wunderliches Unheimliches" (47—48) ist eine '
asyndetische Wortreihe, wie eine Treppe, auf der jede Stufe anders ist. „Der
Mensch ist mir ein angenehmes tapferes erfinderisches Tier" (71—72), Jugr
gehören die drei Adjektive so sehr zusammen, daß sogarjdas Komma fehlt.
Üi^asyndetisHi^^erbindung entbehrt ~3er Ku305eziehung auf das vorher-
gehende Glied, wie es sonst durch das polysyndetische „und" geschieht.
Damit wirkt jede Untervorstellung stärker für sich, es ergibt sich eine Ver-
dichtung und Steigerung. Wir würden auf unserer Treppe gleichsam jeden
zweiten Tritt auslassen. „Stärker, böser und tiefer; auch schöner": die Drei-
heit ergänzt sich zur Quaternität, formal ist es ein Mittelweg zwischen
Asyndeton und Polysyndeton. Dieser Text ist überhaupt eine Gradation.
Steigerung bedeutetj^sj^un^
ist NiveaugeSuag». Alles Falbe und Laue wird verworfen. Kein Ausdruck
ist stark genug, ein intensiviertes Leben auszudrücken. „Sei wenigstens mein
Feind" sagt Nietzsche dem, der nicht sein Freund sein will: weil er wesent-
licheres, bejahendes Leben fordert, selbst in der Ablehnung.
Wir nannten schon zu Beginn der sprachlichen Textanalyse Nietzsches
Vermögen des unmittelbaren Hörerbezugs, das persönliche Ansprechen, ja
Hineinziehen in sein Anliegen. Vom Zwiegespräch Nietzsches mit sich selbst
— er Nietzsche und er Dionysos, Spielart seines eigenen Seins — gelangt
der Verfasser zum ^Zwiegesprädi^mit dem Hörer. Das zeigt sich in den
vielen Stellen des direkten Rede- oder Vortragsstils: Stellen von der Art
„wie ihr wisst" (37), „meine Freunde" (27), „euch, meine Freunde" (44/52)
sprechen dafür. Nicht genug. Der Dichterphilosoph führt uns eigenstes
Erleben vor, läßt uns unmittelbar daran teilnehmen. Er hat die Erstlinge,
das sind seine Frühwerke, insbesondere die „Geburt der Tragödie" (1872)
dem Gott Dionysos dargebracht (37). Ihn, den letzten Jünger und Ein-
geweihten (42) ehrt der Gott eines persönlichen Umgangs (65—75), der
Gott begegnet ihm immer wieder (33—34), wie Nietzsche auch Zarathustra
22 Stefan Sonderegger

oftmals begegnet. Nur eigenes Erleben macht Eindruck. Nur was als per-
sönliches Vorkommnis und Erleiden dargestellt ist, wird wahr, auch dann,
wenn es erfunden wäre. So bezieht uns Nietzsche mit hinein in diesen Kreis.
Über „meine Freunde" hinaus spricht er von „uns Menschen" (82), nicht
von den Menschen, formuliert er „Wir Menschen sind — menschlicher" (83),
nicht die Menschen. Damit sind schon Zuhörer und Dichter in eine Gemein-
schaft genommen, ist der Abstand, die Distanz zwischen dem Eingeweihten
(42) und uns beinahe überbrückt. Der Dichter kennt auch die Rücksicht auf
den Zuhörer — wir sagen absichtlich nicht Leser, weil Nietzsches Sprache
vor allen Dingen ein Redestil ist, der mehr zum Sprechen oder Vortragen
drängt, als zum stillen Lesen —: er räumt ein „so weit es mir erlaubt ist"
(45), er interessiert sich für seinen Hörer, denkt sich in ihn hinein „denn ihr
glaubt heute ungern, wie man mir verraten hat, an Gott und Götter"
(54—55). Aus dieser Rücksicht und Berechnung heraus schließt er den lang-
atmigen ersten Satz (l—26) ab: „aber was thue ich, meine Freunde?" Das
Persönliche bedeutet: der Dichter wandelt wie der Gott Dionysos unter uns.
Wir werden geführt in jeder Beziehung, einmal beschenkt, dann fordert
man von uns, wir müssen mitgehen, eine heischende, heimlich winkende und
versuchende Gebärde lockt uns, bis zum halkyonischen Lächeln des Ver-
sucher-Gottes Dionysos, in dem sich Nietzsche selbst erblickt. Der Dichter
erlebt und wir erleben. Beides hat in den Stil Eingang gefunden. „Meine
Freunde" ist das des Demosthenes, nur denkbar im
Redestil. Im Schreibstil heißt es „der geneigte Leser" und dergleichen mehr.
So aber wird das Abstrakteste konkret, farbig und bunt, die Begriffe erschei-
nen gleichsam personifiziert. Dazu bedarf es aber einer Sprache, die mit den
allerfeinsten Mitteln schafft. Sie muß eine Klangwirkung erzielen und das
Entscheidende von vornherein zusammennehmen. Das eine vollzieht Nietz-
sche mit der Assonanz, das andere mit dem Stabreim. Ganze lange Satzteile
weisen einen ausgeprägten stilisierten Vokalismus auf: „Das Genie des Her-
zens, wie es jener große Verborgene hat, der Versucher-Gott und geborene
Rattenfänger der Gewissen". Oder verschiedene Wörter bilden einen enge-
ren Zusammenhang kraft ihres Gleichklanges „Korn Goldes" (18),
„Schlamms und Sandes begraben lag" (18), „und war immer um viele
Schritte mir voraus" (59), wobei das Beispiel zeigt, wie die dunklen
Vokale die Umrahmung bilden, die hellen aber in der Mitte sind, dies alles
in einem ganz einfachen und gewöhnlichen Satz, aber bewußt so gesetzt.
Zuweilen kommt es zum Homoioteleuton, in „nicht eine Rücksicht" (5)
und „beglückt und bedrückt" (21). Am allerdeutlichsten weist diese Klang-
erscheinung der Nebensatz auf „still zu liegen wie ein Spiegel, daß sich der
tiefe Himmel auf ihnen spiegele" (12—13). Dazu kommen die vielen
stabenden Verbindungen wie „Geist und Gott" (30), „Plunder und Prunk"
Friedrich Nietzsche und die Sprache 23

(64), derer sich Nietzsche auch sonst, besonders in der Titelgebimg („Völker
und Vaterländer", „Zucht und Züchtung") bedient.
Wir fassen die stilistischen Hauptmerkmale des ausgewählten Nietz-
sche-Textes kurz zusammen. Es sind in folgender Gewichtung:
1. die Periode aus antikem Vorbild, gekonnt und gemeistert,
— als solche auf- und absteigend, auf- und abklingend in ihrer innerlich
bewegten Ruhe
— in kontrastiver Verbindung mit vorausgehenden oder nachfolgenden
Kurzsätzen bis zur abschließenden Sentenz
2. überhaupt die Elemente des Vortragsstiles rhetorischer Ausrichtung,
äußerlich durdi eine sehr selbständige, freie Satzzeichensetzung und
rhythmisch bedingte Hervorhebung durch den Sperrdruck kenntlich ge-
macht, nicht ohne Berechnung bisweilen
3. das persönliche Ansprechen des Hörers, der seinerseits den Leser schon
längst hinter sich gelassen hat — ein Frage- und Antwortspiel, geführtes
Gespräch möchte man sagen, mit allen Überraschungen durch den, wel-
cher es führt
4. damit direkt verbunden die deutlichen Elemente der Sprechsprache, in
der wissenschaftlichen Sprache des 19. Jahrhunderts selten genug —
sprechsprachliche Diktion in der Philosophie ohne jede Langeweile in der
Stilisierung auf einen schwerfälligen Dialog hin
5. und doch wiederum stilisiert mit den Mitteln des Deutschen aus seiner
Geschichte heraus: Stabreimgruppen und Assonanzen, verbunden mit
überraschenden, bisweilen schockierenden figurae etymologicae, die erst
recht Schall und Sinngewalt vereinen
6. die Meisterschaft einer rhythmisch stilisierten Wortstellung, die dabei
nie altertümelnd wirkt, trotz ihrer Ungewöhnlichkeiten im einzelnen,
mehr Getragenheit ausstrahlend als Verfremdung, und voller asyndeti-
scher Verbindungen, die deutlichen Beschleunigungscharakter innerhalb
des rhythmischen Verweilens aufweisen
7. der Reichtum des Wortschatzes in Neubildung, Zusammensetzung und
manchmal weit her geholtem Fremdwort, voller blitzlichtiger Assozia-
tionen und inmitten eines semantischen Skalierens begriffen
8. expressive Gradation, das heißt Steigerung des Ausdrucks bis zum Super-
lativismus
9. so daß man von hier aus Nietzsches Stil als eine Art modernen Bogenstils
bezeichnen darf.
Nachdem wir nun lange genug die Einzelerscheinungen unseres Textes
durchgegangen haben, drängt es uns, zu einem Gesamtbild zu kommen. Ist
24 Stefan Sonderegger

es überhaupt möglich, Nietzsches stilistische Vielfalt, ein solches Netz von


Kunstgriffen unter einen Bogen zu spannen? Nietzsches Stil muß aus seiner
Gestalt selbst verstanden werden.
Anlaß zu einer Gesamtdeutung gibt uns indirekt der Text selbst. Grei-
fen wir einmal zu den Erstlingen, von denen er spricht, die er dem Gott
Dionysos dargebracht hat (37). Unter diesen Erstlingen, Vorstufen zur
Geburt der Tragödie, greifen wir der Deutlichkeit halber den Aufsatz ,Die
Dionysische Weltanschauung' (3. Jahresgabe der Ges. der Freunde des
Nietzsche-Archivs, Vorstufen zur Geburt der Tragödie III, Leipzig 1928)
heraus. Dieser Aufsatz ist im Sommer 1870 entstanden und vom Verfasser
zunächst nur für sich niedergeschrieben worden (wie im Nachwort unter
Hinweis auf einen Brief an Gersdorff bemerkt wird). Also durchaus ein
Erstling im Sinne unseres Textes: „in aller Heimlichkeit und Ehr-
furcht" (37).
Nietzsche führt da unter anderem folgendes aus, Gedanken die nicht
nur in diesem Frühwerk anzutreffen sind, sondern sogar im Willen zur
Macht wiederkehren (im Abschnitt ,Zucht und Züchtung'): Die Griechen
haben als Doppelquell ihrer Kunst zwei Gottheiten aufgestellt, Apollo und
Dionysos. Im Bereich der Kunst repräsentieren sie Stilgegensätze, die in der
antiken Tragödie verschmolzen werden. Traum und Rausch sind die beiden
Wonnegefühle des Daseins. Apollo ist Kunstgott, Sonnen- und Lichtgott,
Gott des schönen Scheins, der wahren Erkenntnis. Ihn ehrt maßvolle Be-
grenzung und Freiheit von wilderen Regungen. Weisheit und Ruhe, Son-
nenkraft und Weihe des schönen Scheins sind ihm zugeordnet. Dionysos ist
das Spiel mit dem Rausch, die Verzückung, gesteigert durch Frühlingstrieb
und narkotische Getränke. Die Gewalt des Generell-Menschlichen und des
Allgemein-Natürlichen bricht hervor. Alle ständischen Begrenzungen ver-
schwinden, ein Bund von Mensch zu Mensch wird eingegangen. Der Mensch
ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden (die klare Bewußtheit
fehlt), er wandelt verzückt und erhoben wie die Götter. Die Kunstgewalt
der Natur offenbart sich.
Die apollinische Kunst fordert das Maß. Maß ist gleich Schönheit,
gleich Grenze des schönen Scheins. Die Wahrheit wird verschleiert.
ist die ständige Warnung. Da dringt in die Kunst des schönen Scheins
und der Begrenzung auf einmal der ekstatische Ton der Dionysosfeiern ein,
das Übermaß an Natur in Lust und Leid und Erkenntnis. Aber dieses Über-
maß enthüllt sich als Wahrheit.
Dennoch ist dieses Eindringen des Dionysos in die apollinische Kunst
Absicht des e i n e n Willens, den dionysischen Elementen in der eigenen
apollinischen Schöpfung Einlaß zu geben. Apollo macht Dionysos zum Teil-
Friedrich Nietzsche und die Sprache 25

haber (Geburt des tragischen Gedankens). So muß das Entsetzliche und


Absurde des Daseins in Vorstellungen umgewandelt werden, in denen sich
leben läßt. Das Erhabene ist künstlerische Bändigung des Entsetzlichen, das
Lächerliche die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Daraus
vereinigt sich ein Kunstwerk, das den Rausch nachahmt, das mit dem
Rausche spielt. Das Erhabene und Lächerliche, wie sie eine Überwindung
des Entsetzlichen und Absurden sind, gehen einen Schritt über die Welt des
schönen Scheins (= apollinische Kunst) hinaus. Das Erhabene und das
Lächerliche decken sich nicht mehr (wie noch das Entsetzliche und das
Absurde) mit der Wahrheit, sie sind ebenso Umschleierung derselben, die
aber durchsichtiger ist als die Schönheit ( = apollinisches Maß allein). So
kommen sich Apollo und Dionysos auf halbem Wege entgegen. Ihre Ver-
einigung ist eine Mittelwelt zwischen Schönheit und Wahrheit, über die
Schönheit hinausgehend und doch die Wahrheit nicht suchend. Es ist also
das Streben nach Wahrscheinlichkeit, nach dem Symbol als dem Zeichen der
Wahrheit. Die Wahrheit wird jetzt symbolisiert. Apollo hält Dionysos zu-
sammen, gibt ihm das Leuchtende, die Form. Die Fortentwicklung der
Kunst ist an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen ge-
bunden.
Soweit die Darlegungen aus ,Die Dionysische Weltanschauung' in
Kürze zusammengefaßt. Diese Ausführungen lassen sich zum Teil auf
Nietzsches Stil selbst übertragen. Zunächst sagt Nietzsche, daß Apollo und
Dionysos innerhalb der Kunst Stilgegensätze sind. Sie sind es auch innerhalb
der Sprachkunst. Nietzsche bezeichnet etwa den Dialog innerhalb der
klassisch-griechischen Tragödie als apollinischen, das Chorlied als dionysi-
schen Teil. Das Dionysische nun scheidet sich durch die Umwandlung,
welche es durch Apollo erfährt, in das Erhabene und Lächerliche. Was ist
das im Sprachlichen anderes als Pathos und Ironie, zwei Bestandteile, die
beide zum dionysischen Element von Nietzsches Stil gehören, die uns bei
Nietzsche auf Schritt und Tritt begegnen. Die Ironie gehört in gleicher
Weise zum Dionysischen wie das Pathos. Diese Zwiespältigkeit zeigt sich
schmerzlich in den Dionysosdithyramben. Die von Nietzsche mitbestimmten
späteren literarischen Gestalten nehmen zum Teil nur eines der beiden Ele-
mente mit: der Kreis um Stefan George das Pathos, Thomas Mann das
Satirische, die Ironie, die er mit einer psychologischen Satzstrategie verbin-
det. Nietzsches Stil ist als Ganzheit gesehen überhaupt nur aus dem Zusam-
menfluß des Apollinischen mit dem Dionysischen denkbar. Welches von
beiden das Primäre ist, diese Frage scheint uns müßig. Nietzsche selbst sieht
und schildert an verschiedenen Orten beide Wege. Von Dionysos aus war
seine Wesenheit die erste, ein Urgrund gleichsam (Nietzsche sagt das Asiati-
sche), der sich bändigen ließ und in das Apollinische eindrang, um gefügte
26 Stefan Sonderegger

Form zur ferneren Sicherung seines Bestandes zu erlangen. Von Delphi aus
war das Dionysische eine relativ späte Erscheinung, die — einen farbig-
bewegteren Inhalt sich zu sichern — aufgenommen wurde unter bewußter
Umformung und Umdeutung, ein Prozeß des Ungefährlich-Machens. Das
Dionysische in seinem rauschhaften Durchmessen aller Höhen und Tiefen
hat keinen ausschließenden Charakter, jede Abgrenzung fehlt. Daß Nietz-
sches Antithesen — wie wir zu zeigen versuchten — vorwiegend ein So-
wohl-als-Auch bedeuten, vorwiegend ergänzender Artung sind, ist Zeichen
der dionysischen Unbegrenztheit von Gegensatz zu Gegensatz innerhalb des
bejahenden Lebens. Die Gradationen, die Häufung der Ausdrücke, das
riesige Gewoge sind dionysisch, das Verwenden von konkreten Wörtern,
auch der persönlich leidende Zug, wenn auch das Dionysische über das Per-
sönliche hinausgreift. „Absolut persönlich, so allein wirds wahr" sagt der
Dichter in einer Bewertung über den Willen zur Macht (Nachlaß „Das voll-
kommene Buch"): er fordert und erfüllt im Stil eine teilweise Überwindung
der Schönheit zugunsten der Wahrheit.
Dionysisch ist die Verwendung von Hypotaxe u n d Parataxe, von
Stabreimverbindungen u n d Assonanz. Das Dionysische hätte zwar den
Drang zur Einheit, aber ohne das Apollinische zerflösse es wie eine Flüssig-
keit ohne Gefäß. Apollinisch ist, daß sich aus dem Gewoge eine symme-
trische Ordnung herauskristallisiert, der Bogen über dem Ganzen. Formel,
zusammenhaltende Sentenz, das Herausheben, die in sich geschlossenen Stu-
fen innerhalb der Steigerung: das ist für Nietzsche apollinisch. Der große
Stil besteht darin, daß Nietzsche alles in allem verbindet, daß er nicht ein-
fach Einzeldinge in vielleicht hübscher Abwechslung aneinanderreiht. Der
große Stil ist für Nietzsche ein Wertbegriff. Er ist für ihn der dem vor-
nehmen Menschen gemäße Ausdruck. Nietzsches Stil ist an die Duplizität
des Apollinischen und Dionysischen geknüpft, in der Vereinigung der bei-
den großen antiken Stilgegensätze. Durchaus im Sinne der antiken Rhetorik
wird das alte Ideal der Darstellung großer oder großgeschauter Dinge
durch das genus grande sichtbar.
Nietzsches Sprache ist in der Stilgeschichte des philosophischen Aus-
drucks zweifellos ein Sonderfall. Gewiß — auch jeder Philosoph hat seine
eigene Sprache gefunden. Aber Friedrich Nietzsches Sprache entfernt sich,
ähnlich wie später Martin Heideggers Sprache, viel weiter von der ver-
gleichbaren philosophischen Sprache des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts.
Nun kann man die Sprache der Philosophie nicht einfach mit der Wissen-
schaftssprache gleichsetzen, aber eine Nähe und Verbindung dahin bleibt
doch meistens bestehen. Bei Nietzsche wird der Abstand viel größer. Sche-
matisch ausgedrückt etwa so:
Friedrich Nietzsche und die Sprache 27

Sprache -> Friedrich «- - Wissenschafts- ·«—> Sprache der


der Dichtung Nietzsche spräche Philosophie
Luthers *
Bibelsprache
Ein nur gerade stichwortartig anzudeutender Vergleich mit Hegel
dürfte lohnend sein. Wir stellen dabei — vorläufig formuliert — folgendes
fest:
Nietzsche Hegel
Profilierung auf den Satzanfang Profilierung auf den Satzschluß hin
und/oder Satzschluß hin
stark rhythmische Periode ohne nüchtern trockene, wenig rhythmi-
streng logische Konsequenz sche Periode in streng logischer
Gliederung
völlig ungleichmäßige Satzlänge relativ gleichmäßige Satzlänge
Meister des kurzen prägnanten Meister der streng gedanklichen
Setzens wie der ausholenden, Entwicklung und Durchdringung
fast lyrischen Periode
viele sprechsprachliche Elemente keine sprechsprachlichen Elemente
von Assoziation zu Assoziation von Erläuterung zu Erläuterung
oder von Pointe zu Pointe verlau- verlaufend, in strenger, jedoch
fend, wobei der eigentliche Sinn komplexer Sinngebung begriffen
oft nur angedeutet oder sogar be-
wußt verschwiegen wird oder ver-
dunkelt bleibt
Vorbild: Luther und die Antike Vorbild: Kant
Titeltechnik eigener Prägnanz Paragraphierung oder begriffliche
Titelsetzung
Sprache im Widerspruch Sprache als Gedankenerfüllung7
Jedenfalls ist Nietzsches Sprache nicht aus der philosophischen Tradi-
tion erwachsen: zu sehr ist sie Empfindungssprache, zu sehr bricht bei
Nietzsche das Rhetorisch-Dichterische immer wieder auf, und in diesem
Sinne hat er auch seine eigene Sprache gefunden, von der er im Versuch
einer Selbstkritik in der zweiten Ausgabe der Geburt der Tragödie (III, l,
13) spricht. Es ist eine Sprache mit dem Sinn für das Dichterische wie für
das Psychologische, für Nuancen und Pointen, und wie oft steht sie im Be-
zugsfeld von Berechnung, Versuchung und von eigenwilligem Setzen bis ins
Heilige hinein, ein Nebeneinander von Sakralsprache und beißender Kritik.
7
Vgl. etwa Henri Lauener, Die Sprache in der Philosophie Hegels, mit besonderer
Berücksichtigung der Aesthetik, Diss. Bern 1962; Manfred Züfle, Prosa der Welt. Die
Sprache Hegels, Diss. Zürich, Einsiedeln 1968.
28 Stefan Sonderegger

Und dabei soll es ein Stil sein, der das „Denken der Gedanken" nicht mehr
sichtbar macht (vgl. IV, 2, 165, Nr. 188, ,Denker als Stilisten'). Hegels
Sprache ist für Nietzsche demgegenüber geradezu blaß. So sagt er selbst:
„Bei Hegel ist alles nichtswürdiges Grau, bei Heine electrisches Farbenspiel,
das aber die Augen eben so fürchterlich angreift, als jenes Grau sie ab-
stumpft. Hegel als Stilist ist ein factor, Heine ein Farceur." (IV, l, 357,
Nachgelassenes Fragment von 1876).
Noch eines bleibt bei Nietzsche zu bedenken: seine Meisterschaft
sprachlicher Gestaltung des Seelischen in Prosa — wir sehen dabei von sei-
nen Gedichten ab. Warum sind es immer wieder die beiden Bereiche Psycho-
logie und Musik, die ihn sprachlich-besdireibend locken? Natur- und Bild-
beschreibungen treten dabei eher zurück, von Ausnahmen abgesehen, beson-
ders von einigen ergreifenden Sonnen- oder Gebirgsschilderungen, besonders
im ,Zarathustrac. Das Psychologische, dem er so feinfühlig, ja übersensibel
gegenübersteht, reizt ihn zu den besten dichterisch-wissenschaftlichen Um-
grenzungen, beinahe möchte man sagen Definitionen seelischer Zustände.
Die Musik ist ihm Anlaß zu ausholend-analysierender Beschreibung auf
einen Typus — z. B. des Deutschen — hin, — oder des Südländers (vgl.
z.B. IV, 2, 489; IV, 3, 7; VI, 3, 289; VI, 2, 187—188). Sprache erscheint
dabei als geistig im Wort faßbares, weil semantisdi einigermaßen klar aus-
drückbares Medium für eine völkerpsychologische Typologie. Insofern mün-
det Nietzsches Musikbeschreibung in die Psychologie ein. Übrigens sagt
Nietzsche selbst „Daß aus meinen Schriften ein P s y c h o l o g e redet, der
nicht seines Gleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter
Leser gelangt — ein Leser, wie ich ihn verdiene, der midi liest, wie gute alte
Philologen ihren Horaz lasen." (VI, 3, 303 Ecce homo, Warum ich so gute
Bücher schreibe 5). Und am Schluß der Schrift ,Nietzsche contra Wagner*
von 1889 steht, vor dem Epilog, der Abschnitt „Der Psycholog nimmt das
Wort" (VI, 3,431).
Wir wollen unsere Darlegungen zur Sprache Nietzsches — zum Teil
ausgreifend — in zehn Punkten zusammenfassen:
1. Nietzsche reflektiert in seinen Werken verhältnismäßig wenig über das
eigentliche Wesen der Sprache, aber außerordentlich viel über Fragen
des Sprachstils. Dabei gelingen ihm einige glänzende Charakterisierun-
gen im Sinne der stilistischen Einordnung einzelner Persönlichkeiten
oder Stilbereiche, aber durchaus auf eine monumentalistisdie Weltlitera-
turbetrachtung hin profiliert.
2. Nietzsches eigener Sprachstil ist weit entfernt von der eigentlichen
Wissenschaftssprache seiner Zeit, die er nicht selten mit scharfen Worten
geißelt. Vielmehr verwendet Nietzsche einen hymnisch-rhetorischen
Periodenstil, vermischt mit Aphorismen und Sentenzen, der sich weit-
Friedrich Nietzsche und die Sprache 29

gehend in Wissenschafts- und Kulturkritik erfüllt, gespickt mit allge-


mein wissenschaftlichen Fachausdrücken, die ständig relativiert werden.
Und bei allem ist Nietzsche sehr fremdwortoff en.
3. Für den strengen Wissenschaftsstil, auch im Sinne der systematischen
Philosophie, fehlt es Nietzsches Sprache an begrifflicher Schärfe. Zu
sehr gerät er immer wieder ins Sprachspiel, in jenes semantisdie Skalie-
ren, das per se Feind jeder Definition sein muß. Und doch geschieht es
im Hinblick auf eine neue Durchleuchtung der Sprachinhalte.
4. Nietzsches sprachlich-stilistische Anschlußpunkte sind, wie er selbst an
verschiedenen Stellen seines Werkes oft mehrfach betont hat, antiker
Sentenzen- und Periodenstil, Luthers Gewaltdonner und ein merkwür-
dig lustvolles Barockempfinden, verbunden mit dem Sinn für Nuancen,
wie es eine Spätzeit charakterisiert.
5. So hält Nietzsche eine neuhumanistische Mitte, völlig klassikfern, zwi-
schen Barock und Antike, mit der europäischen Feinfühli^keit des spä-
ten 19. Jahrhunderts. So schafft er eine neue geistige Spielsprache im
Prosabereich, von einsam gewollter, ja manchmal verkrampfter Ernst-
haftigkeit, trotz ihrer lustvoll-heiteren Züge, das Ironische aber mehr
ins bitter Sarkastische hinübergezogen. Dennoch humanistisch weil an
der Antike orientiert, römisch dem Willen nach, doch allzuoft ohne
römische Kürze und Klarheit, vielmehr unwillentlich ins Griechische
übergleitend, ohne sich dessen bewußt zu sein.
6. Auch von der Sprache her geht es Nietzsche um ein Ringen um eine
neue deutsche Möglichkeit, inmitten der von ihm selbst so schonungslos
gekennzeichneten Unmöglichkeiten des Deutschen und der Deutschen.
Man könnte sagen: um einen neuen europäischen Stil in deutscher
Sprache.
7. Nietzsches Texte sind
— einerseits erschütternde Rufe aus einsamer Rhetorik heraus (darin
liegt ein Stück seiner Tragik: nach Aufgabe der Professur in Basel
fehlt ihm das, was die Rhetorik unmittelbar nötig hat, der Partner
— wie oft hat er sich darüber beklagt)
— anderseits musikalisch komponierte Gedankenreihungen oder Be-
schreibungen mit überdeutlicher Zuspitzung in den Anfangs- und
Schlußteilen der so ausgezeichneten Abschnitte.
8. Größe und Gefahr der Musik bis ins Sprachliche hinein — sprachlich ge-
meistert, sprachlich geschildert, und zwischenhinein die schrillen Töne
schonungsloser Entlarvung des Schönen auf ein abzulehnendes Grund-
motiv hin, mehr und mehr mit psychologischer Tendenz, bis zur Völ-
kerpsychologie hin, und doch voller Skepsis im einzelnen. Sprache aus
30 Stefan Sonderegger

der Musik heraus verstanden und Musik ins Sprachliche transponiert —


und dabei gleichzeitig transparent gemacht, bis zur Entlarvung. Ein
merkwürdiges Doppelverhältnis ohne wirkliche Mitte.
9. Neben die musikalische Grundkomponente tritt die philologische. Zeit
seines Lebens hat sich Nietzsche immer als echter Philologe gefühlt und
fühlen dürfen, als Philologe mit künstlerischer Intuition. Als solcher
geriet er in den schroffen Gegensatz zu der damals herrschenden klas-
sisch-erzieherischen Altphilologie. Diese philologische Grundkompo-
nente ist der eigentliche Ausgangspunkt von Nietzsches Beschäftigung
mit Sprachlichem, mit Texten aus antiken wie aus modernen Sprachen.
Es ist ein philologisches Philosophieren oder eine philosophierende Philo-
logie, mit sprachmelodischen wie sprachkritischen Einschlägen, voller
Entwürfe zu einer philosophisch ausgerichteten Kulturgeschichte, die
gleichzeitig Kulturkritik wurde. Ein merkwürdiges Zusammenfinden
von Musikalität, philologisch-rhetorischem Diditertum und philosophie-
render Kulturkritik zeichnet Nietzsches Sprache aus, mit dem Redneri-
schen des einsamen Rufers wie dem Musikalischen des abgefallenen
Wagnerianers, der sich als eigentlicher Entlarver romantischer und
spätromantischer Musik gibt, und sich dabei gleichzeitig von Bizet ver-
führen läßt. Über den Fall Wagner ist Nietzsche eigentlich nie hinaus-
gekommen, auch nicht durch das Medium der Sprache.
10. Theoretisch ließe sich Nietzsches Sprache auf zwei Grundaussagen
reduzieren, von denen er andeutungsweise selbst gesprochen hat (VI, 3,
343): auf ein heiliges Ja und ein zerschmetterndes Nein. Oder anders
ausgedrückt: auf philosophische Gesetzgebung und vernichtende Ent-
larvung von Moral und falsch verstandener Kultur. Zu beidem ist seinö
Sprache da, und zu beidem ist sie fähig. So heißt es im Sechsten Haupt-
stück ,Wir Gelehrten" seines Werkes Jenseits von Gut und Bösec (VI, 2,
149): „ D i e e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n a b e r s i n d
B e f e h l e n d e und G e s e t z g e b e r : sie sagen so soll es sein!"
(usw.)
So kann man abschließend zu Nietzsches Sprache sagen: Es ist die
Sprache eines philosophischen Gesetzgebers mit philologisch-rhetorischen
Mitteln. Griechisch-römische Antike, Luthers Bibelsprache und eine weitere,
gelegentlich anklingende deutsche Tradition, Lustvoll-Barockes mit einge-
schlossen, aber auch der „Erdgeruch der deutschen Sprache aus Instinkt"
des Goetheschen Faust (VIII, 3, 446, Fragment von 1888), sind in die
Sprache des 19. Jahrhunderts hineingenommen und gleichzeitig durch die
Persönlichkeit Nietzsches um- und neugeformt worden, am Vorabend des
Aufbruchs der modernen Psychologie. So wird Nietzsche zum eigentlichen
Ereignis der deutschen Prosa des späten 19. Jahrhunderts.

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