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Sprache „die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft" (IV, 2, 27).
Aber der Glaube an die durch die Sprache gefundene Wahrheit, der auf
dem Glauben an die Sprache beruht, ist trügerisch. Die Sprache ist undeut-
lich geworden, besonders was die Umgrenzung der Begriffe angeht (V, l,
497), und doch bedeutet das Unlogische in der Sprache eine natürliche
Kraftquelle (vgl. IV, 2, 392). Audi das Problem einer Universalsprache als
Ziel aller Sprachwissenschaft wird in einem nachgelassenen Fragment vom
Sommer 1876 angetönt (IV, 2, 401): „Dann wäre der europäische Univer-
salmensch da. Wozu dann noch das fürchterliche Sprachen lernen!" (vgl.
auch IV, 2, 44). Das Jauchzen des erkennenden Menschen, von dem Nietz-
sche spricht (IV, 2, 485), liegt jenseits der Sprache. Die Vorrede zu ,Mensdi-
liches, Allzumenschliches IP beginnt mit dem Satz: „Man soll nur reden, wo
man nicht schweigen darf; und nur von dem reden, was man ü b e r w u n -
d e n hat..." Ganz ähnlich schließt Ludwig Wittgensteins ,Tractatus
logico-philosophicus' (1921): „Er (welcher mich versteht) muß diese Sätze
überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Wovon man nicht sprechen
kann, darüber muß man schweigen."2
2. Das Ringen um die wahre Philologie. Dieses Problem hat Nietzsche
vom Anfang bis zum Schluß seines Schaffens bewegt — wir verweisen auf
die diesbezüglichen Darlegungen von Maria Bindschedler.3 Audi wenn
Nietzsches philologisches Gelehrtentum im späten Rückblick für ihn selbst
nur ein Durchgangsstadium war — ein notwendiges freilich, wie er aus-
drücklich betont (VI, 3, 319), so ist er stets, bis zuletzt, ein Stück weit
Philologe geblieben: insoweit nämlich, als es ihm immer wieder um das
wahre Textverständnis ging (man vergleiche die späten Nachlaßstellen vom
Frühjahr 1888 VIII, 3, 250/254). An den Philosophen rügt er in einem
nachgelassenen Fragment 1876/77, sie hätten „nicht gelernt o r d e n t l i c h
z u l e s e n und zu interpretieren, die Philosophen unterschätzen die
Schwierigkeit wirklich zu verstehen, was einer gesagt hat und wenden ihre
Sorgfalt nicht dahin" (IV, 2, 507). Im anscheinend zwiespältigen Verhältnis
Nietzsches zur Philologie wird man seine positive Einstellung zur Philologie
als hohe Kunst des Lesen-Lernens (etwa IV, 2, 428) von der vernichtenden
Kritik an dem, was die Philologen als Erzieher und kleinliche Interpreten
daraus gemacht haben, unterscheiden müssen. Einige wenige Bemerkungen
2
Zur Problematik dieses Bereiches von Ziff. l vgl. neuerdings Nietzsche-Studien, Inter-
nationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, hsg. von Mazzino Montinari, Wolf-
gang Müller-Lauter, Heinz Wenzel, Bd. l, Berlin — New York 1972: daselbst Josef
Simon, Grammatik und Wahrheit S. l—26 und Karl Schlechta, Nietzsche über den
Glauben an die Grammatik S. 353—358.
8
Maria Bindschedler, Nietzsche und die poetische Lüge (Philosophische Forschungen,
N. F., hsg. von Karl Jaspers, Vol. 5), Basel 1954, bes. Kapitel l ,Das philologische
Ideal* S. 16—25.
Friedrich Nietzsche und die Sprache 3
weniges (IV, 3, 237; vgl. auidi VIII, 3, 446): er nennt neben Goethe und
Eckermanns ,Gesprädien mitt Goethe' nur Liditenbergs ,Aphorismen', das
erste Buch von Jung-Stillings ,Lebensgesdiichtec, Adalbert Stifters ,Nach-
sommerc und Gottfried Kellers ,Leute von Seldwylac ausdrücklich. Anderes
tritt außerdem dazu, doch stecht es nicht mehr im Zentrum oder wird nur mit
Vorbehalten genannt, wie z. <B. Alexander von Humboldt (IV, 2, 562), von
dem er sagt: „Die Mängel dees Stils geben ihm bisweilen seinen Reiz." Die
dunkle, übertriebene oder kkapperdürre deutsche Prosa stellt Nietzsche der
Helligkeit und zierlichen Besstimmtheit der französischen Prosa gegenüber
(IV, 3, 285). In seiner monurmentalistisdien Betrachtungsweise ist Nietzsche
ein Meister einer nicht streengphilologischen Stilkritik geworden. Diese
Komponente durchzieht sein ganzes Werk.
4. Die Äußerungen Niettzsches über seinen eigenen Stil, vor allem im
Abschnitt ,Warum ich so gutte Bücher schreibe' seiner Schrift ,Ecce homo'
(VI, 3, 296 ff.), wo er sich einlleitend mit den Rezensionen über seine Werke,
unter anderem durch Josef Viktor Widmann und dessen Freund Karl
Spitteler in der Berner Tageszeitung ,Der Bundc auseinandersetzt (vgl.
dazu auch VIII, 3, 346), umi dann vor allem in Abschnitt 4 seine eigene
Kunst des Stils kurz zu umreiißen (VI, 3, 302). Hier spricht er unter ande-»
rem von der „Kunst des g r O) ß e n Rhythmus", und sein Stil heißt für ihn
„der g r o ß e Stil der Periocdik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und
Nieder von sublimer, von übermenschlicher, Leidenschaft", vor allem im
Rückblick auf den ,Zarathustrrac, wo Prosa und Poesie zusammenfallen. An
anderer Stelle spricht Nietzsdhe davon, daß „der große Stil entsteht, wenn
das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt" (IV, 3, 234: MA II,
2, 96). Dazu treten einige weiitere Stellen, etwa über seine Verankerung im
römischen Stil (VIII, 3, 435 umd VI, 3, 148), wo er sich auf Sallust, Horaz
und Petronius bezieht, und diann vor allem die Selbstcharakterisierung in
einem nachgelassenen Fragmeent von 1876 „Mein Styl hat eine gewisse
wollüstige Gedrängtheit" (IVf, 2, 387). Diesbezügliche Belege ließen sich
natürlich noch vermehren. Enttscheidend bleibt Nietzsches eigenes Bewußt-
sein, einen neuen großen Prossastil, einen deutschen Dithyrambus (vgl. VI,
3, 303) begründet zu haben, deen freilich seine Rezensenten zunächst nur als
„höhere Stilübung" — so Karrl Spitteler (VI, 3, 297) — und ähnlich ver-
standen. Man wird sagen dürffen: sie waren durch die neue Form so sehr
schockiert, daß sie Einheit vom Form und Inhalt, das heißt Nietzsches stili-
stische wie begriff liehe Umwertung noch nicht zu begreifen vermochten.
Aphorismus und Sentenz gehöören außerdem zu Nietzsches selbstgefühlter
Meisterschaft (VI, 3,147).
5. Einige wenige Bemerktungen zur Sprachpflege, die wiederum sehr
eng mit Nietzsches Bemühungeen um den Stil zusammenhängen. Hier sind
Friedridi Nietzsche und die Sprache 5
4
Vgl. dazu besonders Manfred Kaempfert a. a. O. (Anna. 1).
6 Stefan Sonderegger
ich verbiete übrigens jede Muthmassung darüber, wen idi an dieser Stelle
^beschreibe." Und dann folgt das Selbstzitat des folgenden Stückes bis zu
seinem ersten Drittel. Der Text lautet (VI, 2, 247—249, Nr. 295) — am
Rand Zeilen- und Satzzählung —:
(Satz 1) Das Genie des Herzens, wie es jener grosse Verborgene hat, der
Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, des-
sen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen
weiss, welcher nicht ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in
5 dem nicht eine Rücksicht und Falte der Lockung läge, zu dessen
Meisterschaft es gehört, dass er zu scheinen versteht — und
nicht Das, was er ist, sondern was Denen, die ihm folgen, ein
Zwang m e h r ist, um sich immer näher an ihn zu drängen, um
ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen: — das Genie
10 des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen
macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und
ihnen ein neues Verlangen zu kosten giebt, — still zu liegen wie
ein Spiegel, dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele —;
das Genie des Herzens, das die tölpische und überrasche Hand
15 zögern und zierlicher greifen lehrt; das den verborgenen und
vergessenen Schatz, den Tropfen Güte und süsser Geistigkeit
unter trübem dickem Eise erräth und eine Wünsdielruthe für
jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker vielen Schlamms
und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens, von dessen
20 Berührung Jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und über-
rascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt,
sondern reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen,
von einem Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer
vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoff-
25 nungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und
Strömens, voll neuen Unwillens und Zurückströmens ... aber
(Satz 2) was thue ich, meine Freunde? Von wem rede ich zu euch? Ver-
gass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal seinen Namen
(Satz 3) nannte? Es sei denn, dass ihr nicht schon von selbst erriethet,
30 wer dieser fragwürdige Geist und Gott ist, der in solcher Weise
(Satz 4) g e l o b t sein will. Wie es nämlich einem Jeden ergeht, der von
Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so
sind auch mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister
über den Weg gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben
35 sprach, und dieser immer wieder, kein Geringerer nämlich, als
der Gott D i o n y s o s , jener grosse Zweideutige und Ver-
sucher-Gott, dem ich einstmals, wie ihr wisst, in aller Heimlich-
Friedrich Nietzsche und die Sprache 7
(Satz 19) wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man
80 sieht hier zugleich: es fehlt dieser Gottheit nicht nur an
Scham —; und es giebt überhaupt gute Gründe dafür, zu muth-
maassen, dass in einigen Stücken die Götter insgesammt bei uns
(Satz 20) Menschen in die Schule gehn könnten. Wir Menschen sind —
menschlicher...
Wie so oft bei Nietzsche, geschieht es auch hier: der Leser oder Hörer
sieht sich mitten hineingestellt in einen Vortragsstil von übermächtiger
Fülle, den er in seiner Mischung von Mentalistischem und Musikalischem
erst zu begreifen hat. Musikalisch formulierte und farbig gemalte Gedan-
ken könnte man in Anlehnung an Nietzsche selbst sagen, man vergleiche den
Anfang des diesem Text unmittelbar folgenden Schlußabschnittes von Jen-
seits von Gut und Böse (VI, 2, 249, Nr. 296): „Ach, was seid ihr doch, ihr
meine geschriebenen und gemalten Gedanken!" Zunächst ist es das persön-
liche Angesprodien-Sein, das uns in Nietzsches Text auffallen muß, die kur-
zen Einschübe des Redners, der seine Hörer unmittelbar anspricht. Und so
werden wir als Hörer oder Leser selbst die Erlebenden, die Leidenden, die
Überraschten oder Erstaunten, die Lachenden und Berauschten. Der Inhalt
des in sich geschlossenen Stückes ließe sich etwa folgendermaßen umreißen:
Das Genie des Herzens als wesenhafte Eigenschaft des Dionysos und in all
seinen Wirkungen, des Dichters und Philosophen Nietzsche Begegnung mit
dem Gott und die Erkenntnis über ihn, das Wesen des Dionysos, der Gott
und Philosoph und seine ewige Wiederkehr im Menschen, die Götter und
die Menschen. Es ist nicht vermessen zu sagen, daß Nietzsche sich in diesem
Stück über Dionysos hinaus selbst porträtiert, was gerade durch das oben
genannte Selbstzitat (VI, 3, 305—306) mit der eindringlichen minatio über
jede Mutmaßung darüber deutlich wird. Ein Stück Eigenpsychologie wird
hier vermittelt — Nietzsche selbst als Träger des Dionysischen. Das fingierte
Gespräch mit dem Gott ist ein Gespräch mit sich selbst — lose Gedanken
auf ein Selbstbildnis hin, in der für Nietzsche so typischen sprachlichen
Formung von Periode, rhetorischer Frage, kurzem Gespräch, ausholender
Schilderung und abschließender Sentenz. Wir wollen versuchen, die einzel-
nen Stilmittel des Textes etwas näher zu bestimmen.
Voran steht die Periode. Damit beginnt auch unser Textabschnitt. Der
erste Satz ist nichts anderes als eine große Periode im antiken Sinn, die aus
vier Teilen (I, II, III, IV) besteht, deren jeder durch den sich erneuernden
Ausruf „Das Genie des Herzens" eingeleitet wird. Am Schluß der Periode
steht eine rhetorische Frage mit dem persönlichen Bezug auf den Hörer
„ . . . aber was thue ich, meine Freunde?", die dann im zweiten und dritten
Satz gleich wiederholt wird und den Übergang zur Nennung des Dionysos
im folgenden bildet. Es lohnt sich, diese typische Periode genauer zu unter-
Friedrich Nietzsche und die Sprache 9
suchen. Eine Zergliederung läßt sidi wie folgt vornehmen (in Klammern die
vorausgehenden grammatikalischen Hinweise):
Teil I (Elliptischer Hauptsatz in einer dem Ausruf nahen Form) Das
Genie des Herzens, / (Vergleichsnebensatz) wie es jener große
Verborgene hat, / (Apposition, weitere Ausführung des großen
Verborgenen) der Versucher-Gott und geborene Rattenfänger
der Gewissen, / (Relativsatz 1: nähere Bestimmung des Ver-
sucher-Gottes und Rattenfängers der Gewissen) dessen Stimme
bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiß, / (Relativ-
satz 2: weitere Beschreibung des Versucher-Gottes) welcher nicht
ein Wort sagt, (Verdichtung) nicht einen Blick blickt, (Relativ-
satz 2 a, dem Relativsatz 2 untergeordnet) in dem (Beziehungs-
wort ist der maskuline Blick und das neutrale Wort) nicht eine
Rücksicht und Falte der Lockung läge, / (Relativsatz 3: dritte
nähere Beschreibung des Versucher-Gottes) zu dessen (scilicet
Versucher-Gott) Meisterschaft es gehört, / (Folgesatz, die Wir-
kung oder die Folge der Meisterschaft) daß er zu scheinen ver-
steht — / (Objektssatz in Parenthese: Inhalt des Scheinens) und
nicht das, / (Relativsatz 3 a: Inhalt dessen was er nicht scheint)
was er ist (sc. versteht er zu scheinen), sondern das, / (Relativ-
satz 3 b: Inhalt dessen was der Gott scheint) was denen, / (Rela-
tivsatz 3 c: Bestimmung der von des Gottes Scheinen Beein-
druckten) die ihm folgen, / (Weiterführung von Relativsatz 3 c)
ein Zwang mehr ist, (Finalsatz) um sich näher an ihn zu drän-
gen, (gleichgeordneter Finalsatz) um ihm immer innerlicher und
gründlicher zu folgen (:)
Dazu lautet vergleichsweise die parataktische Übertragung:
Das Genie des Herzens. So hat es jener große Verborgene, der
Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen. Seine
Stimme weiß hinabzusteigen bis in die Unterwelt jeder Seele. Er
sagt nicht ein Wort, er blickt nicht einen Blick ohne eine Rück-
sicht und Falte der Lockung darin. Es gehört zu seiner Meister-
schaft, nicht das zu scheinen, was er ist. Er scheint den ihm Fol-
genden vielmehr das, was ihnen ein Zwang mehr ist, sich näher
an ihn zu drängen und ihm immer innerlicher und gründlicher
zu folgen.
Teil II (Elliptischer Hauptsatz) — das Genie des Herzens, / (Relativ-
satz 1) das alles Laute und Selbstgefällige verstummen macht
und horchen lehrt, / (Relativsatz 2, nebengeordnet) das die
rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten
gibt, / — (Objektssatz in Parenthese: Inhalt des neuen Verlan-
10 Stefan Sonderegger
dieses, so hat er sich selbst verstanden. Der Dichter soll Wegweiser für die
Zukunft sein. Die monumentalische Geschichtsbetrachtung gehört in diesen
Zusammenhang. Der ganze Kult des Wählens, des nur So-Seins, des vor-
nehmen Menschen und des Herrenmenschen hat für Nietzsche einen hinauf-
ziehenden Zug, man vergleiche dazu die Erklärung des Ausdrucks Über-
mensch in ,Ecce homoc durch Nietzsche selbst (VI, 3, 298). Das kommt auch
im großen Stil zur Geltung: als Superlativismus, Klimax, Steigerung und
Periode vor allem.
V" Nietzsches Stil ist vor allem nominal. Steigern läßt sich die Sprache vor
allem mit den Nomina. Auch die immer wiederkehrende Ellipse „Das Genie
des Herzens" ist nominal — ohne jede persönliche Ergänzung. Eine andere
Ellipse findet sich, nebenbei bemerkt, 80 ff.: „es fehlt dieser Gottheit nicht
nur an Scham —;", nun fehlt das ganze Glied mit „sondern auch" — „und
es gibt überhaupt gute Gründe dafür..." ist schon die Folgerung aus dem
„nicht nur" und dem unterschlagenen „sondern auch". Der Vorsatz „man
sieht hier zugleich" bezieht sich ebenso auf zwei Glieder, wenn auch nur
deren eines ausgeführt ist. Das ist nicht etwa Nachlässigkeit. Das ist be-
wußtes Wissen um die Wirkung, eine Art komplexen Stilverfahrens, die
einzelnes zu überspringen wagt. So eilt Nietzsche manchmal sprachlich vor-
aus, nimmt er vorweg. Er beugt der Ermüdung des Zuhörers immer wieder
entschieden vor. Überhaupt verbindet „es fehlt dieser Gottheit nicht nur an
Scham" (80 if.) das weit vorausgehende „es fehlt dieser Art von Gott-
heit ... vielleicht an Scham?" (68 f.). So ist über die Episode des Gesprächs
(67—75) die Verbindung wieder hergestellt. Die Zeitwörter dagegen wir-
ken eher farblos und wenig herausstellend: „verstehen zu" (6), „wissen zu"
(3), „lehren" (15), „erraten" (68/29), „man sieht" (79). Zum Zeitwort
„Lächeln" tritt als Eigentliches des Satzes das „halkyonisdie Lächeln" (78),
zum „Blicken" der „Blick" (4). Nomina sind gegenständlicher, dichter, Ru-
hepunkte in der Bewegung. In der figura etymologica verdichten sie die Vor-
stellung erst recht.
Was den Gebrauch von Parataxe und Hypotaxe angeht, zeigt sich eine
ziemliche gleichmäßige Verteilung in unserem Text. Statistisch gesehen wäre
die Verteilung so:
Hypotaxe: Sätze l ( l—27) Parataxe: Sätze 2 (27)
3—8 (27—56) 9—19 (57—84)
19 II (81—83) 20 (83—84)
Die Sprache ist weder ausgesprochen hypotaktisch noch parataktisch.
Sie ist beides, im Sinne eines ausgewogenen Verhältnisses nämlich. Die An-
wendungsmöglichkeiten beider Satzbauformen lassen sich über diesen Text
hinaus für Nietzsche vielleicht so formulieren:
Friedrich Nietzsche und die Sprache 15
Hypotaxe Parataxe
Der Gedanke legt einen weiten Der gedankliche Weg ist schon zu-
Weg zurück rückgelegt. Es handelt sich nur
Weg, Aufstieg, Auseinander- noch um das Resultat, die Endfor-
setzung, Ziel, Höhe, Gipfel. mulierung oder eine Zwisdien-
Der Einwand frage,
(„vorausgesetzt daß, wenn über- Ergebnis
haupt, es sei denn, daß") Das, was herauskommt
Das beginnende Antasten einer bis Die schlagende Formel
dahin unverbrüchlichen Wahrheit. Pointe
Das Ausholen zum Schlag, vorbe- Schlußstein
reitende Handlungen, ausführliche Der Durchbruch zu etwas Neuem
Vorbereitung Stil der These
Stil der Periode („Meine fünf Neins")
Das Auf und Ab Stil des Setzens
Das Gewoge Schlag auf Schlag
Die Explosion
Erst im Wechsel beider Möglichkeiten, in ihrer richtigen und überzeu-
genden Verwendung erreicht Nietzsche seinen großen Stil. Das hängt mit
seiner An zusammen, einen Text überhaupt einzuleiten:
1. Nietzsche beginnt mit einem Einwand. Er setzt (gemäß unserer Liste) die
Hypotaxe.
„Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist..." (VI, 2, 3)
„Nachdem ich lange genug ..." (VI, 2, 11)
Der Dichter überwindet zunächst etwas.
2. Der Text beginnt mit einem Ausruf. Der Dichter beschreibt. Er holt weit
aus zu einer buntvielfältigen Schilderung. Hypotaxe und Parataxe sind
möglich.
»Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedan-
ken!" (VI, 2, 249) (Parataxe)
„Das Genie des Herzens ..." (oben 1—26) (VI, 2, 247) (Hypotaxe)
3. Der Anfang aus einem Gegensatz heraus, ein Pfeil, eine Überraschung.
Nietzsche beginnt mit etwas völlig Unerwartetem. Nur Parataxe ist
möglich.
„Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh" (Zarathustra I Vom
freien Tode, VI, l, 89).
„Es gibt Gegner der Philosophie" (Geburt der Tragödie)
„Der Nihilismus steht vor der Tür". „Woher kommt uns dieser unheim-
lichste aller Gäste?" (Der Wille zur Macht) Mit einem solchen Anfang
zieht Nietzsche den Leser sofort und überraschend mitten hinein in seine
Auseinandersetzung.
16 Stefan Sonderegger
fühlen macht, sondern auch ein weiterer Zug, der für Nietzsche besonders
charakteristisch isc: die Antithesen. „Voll neuen Willens und Strömens" (25)
wird abgelöst durch „voll neuen Unwillens und Zurückströmens". Das
„Heimliche" kommt über das „Neue, Fremde, Wunderliche" bis zum „Un-
heimlichen" (47—48), wobei das Heimliche allerdings eher das Verborgene,
den Fremden Verschlossene ist als das heimisch Vertraute, wie der Dichter
auch „in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht" (37—38) seine Erstlinge, die
ihm vielleicht selbst etwas unheimlich vorkommen im Vergleich zur gemüt-
lich-satten bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit und seiner Wissenschafts-
gefährten, dem Gotte darbringt. „Aufgebrochen" ist das Gegenteil von „be-
drückt" (21/22), der Druck ist gelöst, zersprengt; am Schluß des Textes wer-
den Götter und Menschen einander gegenüber gestellt, das Genie des Her-
zens am Anfang bewirkt eine Umwandlung ins Gegenteil: „das alles Laute
...verstummen macht..., das die rauhen Seelen glättet" (10—11), die
„tölpische und überrasche Hand" lernt „zögern und zierlicher greifen"
(15 f.). Die Antithese ist eine Funktion der Vergleicfaung. Bei Nietzsche be-
deutet sie selten das dualistische Entweder-ÖHeir^"3aBn natürlich, wenn er
mit seiner ganzen Anschauung gegen eine andere zu Felde zieht, so das
letzte Wort von Ecce homo (VI, 3, 372) „Hat man mich verstanden? —
D i o n y s o s g e g e n den G e k r e u z i g t e n . . . " , oder wenn er der
christlichen beziehungsweise einer ändern ihm nicht gemäßen Möglichkeit
eine neue eigene entgegenstellt, wie die Fernstenliebe der Nächstenliebe.
Steht aber die Antithese innerhalb der Möglichkeiten Nietzsches selbst, so
ist sie immer Ergänzung, ein Sowohl-als-Auch. Die Philosophie des Gottes
Dionysos, von der er uns sprechen will (44/45), ist heimlich und unheimlich
zugleich, ,Zarathustrac ist ein Buch für Alle und Keinen, die Berührung mit
dem Genie des Herzens gibt neuen Willen und neues Strömen, aber ebenso
neuen Unwillen und neues Zurückströmen (25 f.), also Weg und Weg zu-
rück. Die Antithese, die im Grunde ein Gleiches ausdrückt, finden wir bei
Hugo von Hofmannsthal im Magier, wenn er von ihm sagt, „Ihm war
nichts nah und fern, nichts klein und groß" oder „Allem nah, allem fern".
Über die Geburt der Tragödie äußert Nietzsche später, sie sei „undeutlich
allzudeutlich". Eine solche Antithese gabelt das Negative ein, die Geburt
der Tragödie hat also kein Mittelmaß von Deutlichkeit. Im ersten Abschnitt ~
von ,Völker und Vaterländer* (aus Jenseits von Gut und Böse') sagt Nietz-
sehe nach der weit ausholenden Beschreibung des Meistersingervorspiels von
Richard Wagner (VI, 2, 188): „Diese Art von Musik drückt am besten aus,
was ich von den Deutschen halte: sie sind von Vorgestern und von Über-
morgen" (das ist die Eingabelung mit den positiven gegensätzlichen Extre-
men), „ s i e h a b e m n o c h kein H e u t e " (das ist das in der Mitte lie-
gende eingegabelte Negative). Von der Antithese kommt Nietzsche zur These.
18 Stefan Sonderegger
dige Gott (29) usw. Nietzsche ist Philologe. Unter den Philologen ist er der
Eigenartigste, Schöpferischste, eine Ausnahme. Kennerschaft des Wortes ist
ein unmittelbarer Teil seiner Philologie. Die Wortkunst geht so weit, daß
Wiederholungen am falschen Ort vermieden werden. Der Nebensatz mit
„daß" (6) wird sogleich durch „um zu" (9/10) abgelöst. Das Relativprono-
men welcher erscheint nie zweimal hintereinander: „welcher nicht ein
Wort sagt... (auf den Versucher-Gott bezogen), in dem nicht... (auf das
Wort bezogen)" (4). „Eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich ist und die
vielleicht gerade unter Philosophen..." (50—51) gibt eine feine Differen-
zierung und schützt den Zuhörer vor Ermüdung.
Zum Hervorheben gehört auch der Sperrdruck. Doch scheint er uns wie
die Interpunktion nicht viel mehr als ein rednerisches Hilfsmittel für den
Vortragenden zu sein. Zu sehr ist Nietzsches Stil ein Redestil und kein
Schreibstil (er äußert sich darüber in demselben Werk, dem unser Text ent-
stammt), als daß wir Satzzeichen und Druckanordnung zu hoch werteten.
Der Sperrdruck ist nur noch ein Anhängsel, ein Behelf und unbedeutend im V
Vergleich zur Stellung des Wortes im Satz. Sie allein entscheidet ja, welches
Wort letzten Endes über das andere rage, welches Symbol den Vorrang vor
den ändern habe. In Nietzsches Werdegang erscheint der Sperrdruck an-
fänglich häufig, dann immer seltener. Unser Text zeigt ihn viermal: dreimal
in nur satzbegrenzter Funktion (8 „ein Zwang m e h r " / 30 „in solcher
Weise g e l o b t " / 39 „ O p f e r " ) . Das vierte Mal zeigt der Sperrdruck
(damit man es auch richtig lese!) Höhepunkt einer ganzen langen Zuspit-
zung an (35 „ D i o n y s o s " ) .
Die Adjektive haben einen heraushebenden Zug, der „geborene Rat- /)?
tenfänger" (2), „gewagte Redlichkeit" (62), das „halkyonisdie Lächeln"
(78), ein Won, worauf wir noch zurückkommen werden, die „bezaubernde
Artigkeit" (79). Der „Tropfen süßer Geistigkeit" (16) zeigt anschaulich
eine abstrake Vorstellung in den Aggregatzustand des Flüssigen verwan-
delt unter Beigabe einer Geschmacksempfindung, ein Beispiel der seit der
Romantik vielgerühmten Synästhesie. Adjektive stehen allein, wenn sie $f
besonders typisch sind. Sonst begleiten sie ein Substantiv zu zweit und zu
dritt. Dann haben sie ergänzenden und steigernden Charakter. Hervor-
hebende Nomina sind „Wünschelrute (17)7T>Rattenfänger""(2J> »Rücksicht
und Falte der Lockung" (5). Nietzsche wirkt sprachbildend oder -erneuernd.
Vom Geist der Schwere reden wir heute noch (vgl. etwa Binding, Reitvor-
schrift für die Geliebte), Hinterweltler sind uns ein Begriff geworden. Ge-
wisse Wendungen wie „gewißlich" (57), „viel Rühmens machen" (61/63)
wirken archaisch. Das Spradiniveau wird dadurch gehoben. Durch Nietz-
sche sind Ausdrücke wieder lebendig geworden (halkyonisch) oder neu ge-
schaffen (Umwertung). Er versteht es, verblüffende Zusammensetzungen zu
20 Stefan Sonderegger
bilden, die ein Neues auszudrücken vermögen. Davon fände sich in seinem
Werk eine ganze Liste. Wir erwähnen nur Versucher-Gott (Text), Sonnen-
vereinsamung (Ecce homo), Bildungsphilister, Löwenmusik (an Peter
Gast), Gewissensblutegel (Zarathustra). Poetisch wirkt die Wortstellung
„und war immer um viele Schritte mir voraus". Auch setzt ein neuer Neben-
satz mit Ausnahme ganz kleiner Einschubstücke nicht ein, bevor der voran-
gehende Satz zu Ende geführt ist, z. B. „Korn Goldes ist, welches begraben
lag" gegenüber „Korn Goldes, welches begraben lag, ist" (17/18). So ver-
neidet die J^rache Aufeinanderfolgen von zwei Verbalformen. Eine solche
Kunst und Kennerschaft des Wortes hat bei aller HeräusHeBung des Typi-
schen und Einmaligen weitesten Raum für die Anspielung. Die Erstlinge,
die der Dichter dem Gott dargebracht hat (38), sind Zeugnis davon. Mit
Ariadne, auf die der Gott anspielt (68), hebt ein ganzer Doppelbezug an,
den wir etwas beleuchten möchten. Zunächst ist einmal klar, daß sich der
Ausspruch „unter Umständen liebe ich den Menschen" auch auf Ariadne
bezieht, denn es heißt ja „und dabei spielte er (scilicet Dionysos) auf
Ariadne an, die zugegen war", zudem wissen wir aus der griechischen
Mythologie, daß Dionysos Ariadne liebte und zu seiner Gattin erhob. Aber
der folgende Passus „der Mensch ist mir ein angenehmes tapferes erfinde-
risches Tier..., es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht" (71—73)
bezieht sich immer noch auf die kluge Ariadne, die dem von ihr geliebten
Theseus, der sie zwar später auf Naxos im Stiche läßt, einen Wollknäuel
mitgibt, durch den er sich aus dem Labyrinth des Minotauros auf Kreta
wieder herausfindet. Deshalb ist der Mensch (und Ariadne) ein erfinderi-
sches Tier, das sich in allen Labyrinthen noch zurechtfindet. Eine ganze
Mythologie steckt da imJEÜntsrgrund. Aber noch vielgründiger liegt der
Fall bei dem Zauberwort halkyonisdi (78), hier auf das Lächeln des Ver-
sucher-Gottes geprägt, sonst etwa als „halkyonische Selbstbegnügsamkeit"
oder „Wir Halkyonier" (Fall Wagner) erscheinend. Wie aber kommt es,
daß ein Wort aus der Meereisvogelsphäre dem Lächeln des Dionysos Inhalt
gibt? Alkyone (attisch Halkyone), die Gemahlin des Keyx, wurde, als sie
ihren auf einer Seefahrt ertrunkenen Gatten ans Land gespült sah, wie die-
ser in einen Eisvogel (= Alkyon) verwandelt. Während ihrer Brutzeit ließ
Zeus vierzehn Tage lang die Winde ruhen, damit ihre Eier nicht von den
Wogen fortgespült würden. Seither wird das Wort halkyonisdi schon im
Humanismus und bei Wieland (Lukianübersetzung) im Anschluß an die
halkyonischen Tage gebraucht. Bei Nietzsche spielt aber unserer Auffassung
nach noch viel mehr mit. Auch Dionysos, auf dessen Lächeln das Wort in
unserm Text geht, ist wie Alkyone ein Verwandelter. Dadurch daß ihn
Apollo zum Teilhaber des delphischen Orakels macht — eine Tatsache, die
Nietzsche zeit seines Lebens beschäftigt hat — wird er vom Rauschgott
Friedrich Nietzsche und die Sprache 21
oftmals begegnet. Nur eigenes Erleben macht Eindruck. Nur was als per-
sönliches Vorkommnis und Erleiden dargestellt ist, wird wahr, auch dann,
wenn es erfunden wäre. So bezieht uns Nietzsche mit hinein in diesen Kreis.
Über „meine Freunde" hinaus spricht er von „uns Menschen" (82), nicht
von den Menschen, formuliert er „Wir Menschen sind — menschlicher" (83),
nicht die Menschen. Damit sind schon Zuhörer und Dichter in eine Gemein-
schaft genommen, ist der Abstand, die Distanz zwischen dem Eingeweihten
(42) und uns beinahe überbrückt. Der Dichter kennt auch die Rücksicht auf
den Zuhörer — wir sagen absichtlich nicht Leser, weil Nietzsches Sprache
vor allen Dingen ein Redestil ist, der mehr zum Sprechen oder Vortragen
drängt, als zum stillen Lesen —: er räumt ein „so weit es mir erlaubt ist"
(45), er interessiert sich für seinen Hörer, denkt sich in ihn hinein „denn ihr
glaubt heute ungern, wie man mir verraten hat, an Gott und Götter"
(54—55). Aus dieser Rücksicht und Berechnung heraus schließt er den lang-
atmigen ersten Satz (l—26) ab: „aber was thue ich, meine Freunde?" Das
Persönliche bedeutet: der Dichter wandelt wie der Gott Dionysos unter uns.
Wir werden geführt in jeder Beziehung, einmal beschenkt, dann fordert
man von uns, wir müssen mitgehen, eine heischende, heimlich winkende und
versuchende Gebärde lockt uns, bis zum halkyonischen Lächeln des Ver-
sucher-Gottes Dionysos, in dem sich Nietzsche selbst erblickt. Der Dichter
erlebt und wir erleben. Beides hat in den Stil Eingang gefunden. „Meine
Freunde" ist das des Demosthenes, nur denkbar im
Redestil. Im Schreibstil heißt es „der geneigte Leser" und dergleichen mehr.
So aber wird das Abstrakteste konkret, farbig und bunt, die Begriffe erschei-
nen gleichsam personifiziert. Dazu bedarf es aber einer Sprache, die mit den
allerfeinsten Mitteln schafft. Sie muß eine Klangwirkung erzielen und das
Entscheidende von vornherein zusammennehmen. Das eine vollzieht Nietz-
sche mit der Assonanz, das andere mit dem Stabreim. Ganze lange Satzteile
weisen einen ausgeprägten stilisierten Vokalismus auf: „Das Genie des Her-
zens, wie es jener große Verborgene hat, der Versucher-Gott und geborene
Rattenfänger der Gewissen". Oder verschiedene Wörter bilden einen enge-
ren Zusammenhang kraft ihres Gleichklanges „Korn Goldes" (18),
„Schlamms und Sandes begraben lag" (18), „und war immer um viele
Schritte mir voraus" (59), wobei das Beispiel zeigt, wie die dunklen
Vokale die Umrahmung bilden, die hellen aber in der Mitte sind, dies alles
in einem ganz einfachen und gewöhnlichen Satz, aber bewußt so gesetzt.
Zuweilen kommt es zum Homoioteleuton, in „nicht eine Rücksicht" (5)
und „beglückt und bedrückt" (21). Am allerdeutlichsten weist diese Klang-
erscheinung der Nebensatz auf „still zu liegen wie ein Spiegel, daß sich der
tiefe Himmel auf ihnen spiegele" (12—13). Dazu kommen die vielen
stabenden Verbindungen wie „Geist und Gott" (30), „Plunder und Prunk"
Friedrich Nietzsche und die Sprache 23
(64), derer sich Nietzsche auch sonst, besonders in der Titelgebimg („Völker
und Vaterländer", „Zucht und Züchtung") bedient.
Wir fassen die stilistischen Hauptmerkmale des ausgewählten Nietz-
sche-Textes kurz zusammen. Es sind in folgender Gewichtung:
1. die Periode aus antikem Vorbild, gekonnt und gemeistert,
— als solche auf- und absteigend, auf- und abklingend in ihrer innerlich
bewegten Ruhe
— in kontrastiver Verbindung mit vorausgehenden oder nachfolgenden
Kurzsätzen bis zur abschließenden Sentenz
2. überhaupt die Elemente des Vortragsstiles rhetorischer Ausrichtung,
äußerlich durdi eine sehr selbständige, freie Satzzeichensetzung und
rhythmisch bedingte Hervorhebung durch den Sperrdruck kenntlich ge-
macht, nicht ohne Berechnung bisweilen
3. das persönliche Ansprechen des Hörers, der seinerseits den Leser schon
längst hinter sich gelassen hat — ein Frage- und Antwortspiel, geführtes
Gespräch möchte man sagen, mit allen Überraschungen durch den, wel-
cher es führt
4. damit direkt verbunden die deutlichen Elemente der Sprechsprache, in
der wissenschaftlichen Sprache des 19. Jahrhunderts selten genug —
sprechsprachliche Diktion in der Philosophie ohne jede Langeweile in der
Stilisierung auf einen schwerfälligen Dialog hin
5. und doch wiederum stilisiert mit den Mitteln des Deutschen aus seiner
Geschichte heraus: Stabreimgruppen und Assonanzen, verbunden mit
überraschenden, bisweilen schockierenden figurae etymologicae, die erst
recht Schall und Sinngewalt vereinen
6. die Meisterschaft einer rhythmisch stilisierten Wortstellung, die dabei
nie altertümelnd wirkt, trotz ihrer Ungewöhnlichkeiten im einzelnen,
mehr Getragenheit ausstrahlend als Verfremdung, und voller asyndeti-
scher Verbindungen, die deutlichen Beschleunigungscharakter innerhalb
des rhythmischen Verweilens aufweisen
7. der Reichtum des Wortschatzes in Neubildung, Zusammensetzung und
manchmal weit her geholtem Fremdwort, voller blitzlichtiger Assozia-
tionen und inmitten eines semantischen Skalierens begriffen
8. expressive Gradation, das heißt Steigerung des Ausdrucks bis zum Super-
lativismus
9. so daß man von hier aus Nietzsches Stil als eine Art modernen Bogenstils
bezeichnen darf.
Nachdem wir nun lange genug die Einzelerscheinungen unseres Textes
durchgegangen haben, drängt es uns, zu einem Gesamtbild zu kommen. Ist
24 Stefan Sonderegger
Form zur ferneren Sicherung seines Bestandes zu erlangen. Von Delphi aus
war das Dionysische eine relativ späte Erscheinung, die — einen farbig-
bewegteren Inhalt sich zu sichern — aufgenommen wurde unter bewußter
Umformung und Umdeutung, ein Prozeß des Ungefährlich-Machens. Das
Dionysische in seinem rauschhaften Durchmessen aller Höhen und Tiefen
hat keinen ausschließenden Charakter, jede Abgrenzung fehlt. Daß Nietz-
sches Antithesen — wie wir zu zeigen versuchten — vorwiegend ein So-
wohl-als-Auch bedeuten, vorwiegend ergänzender Artung sind, ist Zeichen
der dionysischen Unbegrenztheit von Gegensatz zu Gegensatz innerhalb des
bejahenden Lebens. Die Gradationen, die Häufung der Ausdrücke, das
riesige Gewoge sind dionysisch, das Verwenden von konkreten Wörtern,
auch der persönlich leidende Zug, wenn auch das Dionysische über das Per-
sönliche hinausgreift. „Absolut persönlich, so allein wirds wahr" sagt der
Dichter in einer Bewertung über den Willen zur Macht (Nachlaß „Das voll-
kommene Buch"): er fordert und erfüllt im Stil eine teilweise Überwindung
der Schönheit zugunsten der Wahrheit.
Dionysisch ist die Verwendung von Hypotaxe u n d Parataxe, von
Stabreimverbindungen u n d Assonanz. Das Dionysische hätte zwar den
Drang zur Einheit, aber ohne das Apollinische zerflösse es wie eine Flüssig-
keit ohne Gefäß. Apollinisch ist, daß sich aus dem Gewoge eine symme-
trische Ordnung herauskristallisiert, der Bogen über dem Ganzen. Formel,
zusammenhaltende Sentenz, das Herausheben, die in sich geschlossenen Stu-
fen innerhalb der Steigerung: das ist für Nietzsche apollinisch. Der große
Stil besteht darin, daß Nietzsche alles in allem verbindet, daß er nicht ein-
fach Einzeldinge in vielleicht hübscher Abwechslung aneinanderreiht. Der
große Stil ist für Nietzsche ein Wertbegriff. Er ist für ihn der dem vor-
nehmen Menschen gemäße Ausdruck. Nietzsches Stil ist an die Duplizität
des Apollinischen und Dionysischen geknüpft, in der Vereinigung der bei-
den großen antiken Stilgegensätze. Durchaus im Sinne der antiken Rhetorik
wird das alte Ideal der Darstellung großer oder großgeschauter Dinge
durch das genus grande sichtbar.
Nietzsches Sprache ist in der Stilgeschichte des philosophischen Aus-
drucks zweifellos ein Sonderfall. Gewiß — auch jeder Philosoph hat seine
eigene Sprache gefunden. Aber Friedrich Nietzsches Sprache entfernt sich,
ähnlich wie später Martin Heideggers Sprache, viel weiter von der ver-
gleichbaren philosophischen Sprache des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts.
Nun kann man die Sprache der Philosophie nicht einfach mit der Wissen-
schaftssprache gleichsetzen, aber eine Nähe und Verbindung dahin bleibt
doch meistens bestehen. Bei Nietzsche wird der Abstand viel größer. Sche-
matisch ausgedrückt etwa so:
Friedrich Nietzsche und die Sprache 27
Und dabei soll es ein Stil sein, der das „Denken der Gedanken" nicht mehr
sichtbar macht (vgl. IV, 2, 165, Nr. 188, ,Denker als Stilisten'). Hegels
Sprache ist für Nietzsche demgegenüber geradezu blaß. So sagt er selbst:
„Bei Hegel ist alles nichtswürdiges Grau, bei Heine electrisches Farbenspiel,
das aber die Augen eben so fürchterlich angreift, als jenes Grau sie ab-
stumpft. Hegel als Stilist ist ein factor, Heine ein Farceur." (IV, l, 357,
Nachgelassenes Fragment von 1876).
Noch eines bleibt bei Nietzsche zu bedenken: seine Meisterschaft
sprachlicher Gestaltung des Seelischen in Prosa — wir sehen dabei von sei-
nen Gedichten ab. Warum sind es immer wieder die beiden Bereiche Psycho-
logie und Musik, die ihn sprachlich-besdireibend locken? Natur- und Bild-
beschreibungen treten dabei eher zurück, von Ausnahmen abgesehen, beson-
ders von einigen ergreifenden Sonnen- oder Gebirgsschilderungen, besonders
im ,Zarathustrac. Das Psychologische, dem er so feinfühlig, ja übersensibel
gegenübersteht, reizt ihn zu den besten dichterisch-wissenschaftlichen Um-
grenzungen, beinahe möchte man sagen Definitionen seelischer Zustände.
Die Musik ist ihm Anlaß zu ausholend-analysierender Beschreibung auf
einen Typus — z. B. des Deutschen — hin, — oder des Südländers (vgl.
z.B. IV, 2, 489; IV, 3, 7; VI, 3, 289; VI, 2, 187—188). Sprache erscheint
dabei als geistig im Wort faßbares, weil semantisdi einigermaßen klar aus-
drückbares Medium für eine völkerpsychologische Typologie. Insofern mün-
det Nietzsches Musikbeschreibung in die Psychologie ein. Übrigens sagt
Nietzsche selbst „Daß aus meinen Schriften ein P s y c h o l o g e redet, der
nicht seines Gleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter
Leser gelangt — ein Leser, wie ich ihn verdiene, der midi liest, wie gute alte
Philologen ihren Horaz lasen." (VI, 3, 303 Ecce homo, Warum ich so gute
Bücher schreibe 5). Und am Schluß der Schrift ,Nietzsche contra Wagner*
von 1889 steht, vor dem Epilog, der Abschnitt „Der Psycholog nimmt das
Wort" (VI, 3,431).
Wir wollen unsere Darlegungen zur Sprache Nietzsches — zum Teil
ausgreifend — in zehn Punkten zusammenfassen:
1. Nietzsche reflektiert in seinen Werken verhältnismäßig wenig über das
eigentliche Wesen der Sprache, aber außerordentlich viel über Fragen
des Sprachstils. Dabei gelingen ihm einige glänzende Charakterisierun-
gen im Sinne der stilistischen Einordnung einzelner Persönlichkeiten
oder Stilbereiche, aber durchaus auf eine monumentalistisdie Weltlitera-
turbetrachtung hin profiliert.
2. Nietzsches eigener Sprachstil ist weit entfernt von der eigentlichen
Wissenschaftssprache seiner Zeit, die er nicht selten mit scharfen Worten
geißelt. Vielmehr verwendet Nietzsche einen hymnisch-rhetorischen
Periodenstil, vermischt mit Aphorismen und Sentenzen, der sich weit-
Friedrich Nietzsche und die Sprache 29