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Zahlen sagen wenig über wirkliche Fähigkeiten aus

von Anya Robert


Wozu brauchen wir Schule? Klar, um unseren Kindern Lesen, Schreiben
und Rechnen beizubringen. Aber besonders wichtig ist Schule, um Kinder
auf das Leben als berufstätige Erwachsene vorzubereiten, die in unserer
hektischen, sich ständig wandelnden Welt klar kommen.

5 Helfen Noten dabei? Teilweise. In unserem Schulsystem dienen sie dazu, den
Lernstand zu kontrollieren. Jede Woche werden die Schüler mit zahlreichen
Arbeiten, Tests und Abfragen traktiert, sie hecheln von Klausur zu Klausur. Was
dabei zählt, ist möglichst effektives Auswendiglernen auf den Termin der Arbeit
hin. Noten zeigen sehr deutlich, ob ein Schüler in diesem Büffelmarathon
10 mithalten kann.
Allerdings sagen sie nichts darüber, ob dieser Schüler später zurecht kommen
wird in einer Welt, in der man häufige Job- und Standortwechsel verkraften
muss, in der die Renten schon lange nicht mehr sicher sind und in der große
Anpassungsfähigkeit und Kreativität gefragt sind, genauso wie eine dicke
15 Portion Eigenverantwortlichkeit. Noten sagen nichts über tatsächliche Intelligenz
oder gar über das Sozialverhalten.

Um mit dieser "neuen" Arbeitswelt klar zu kommen, wäre eine andere Art von
Schule nützlicher. Eine, die den Kindern hilft, ihre Fähigkeiten zu entdecken,
diese zu fördern. Eine, die ihr Selbstvertrauen und eine Stehaufmännchen-
20 Mentalität stärkt. Dabei hilft es wenig, einem Schüler zu vermitteln "du bist eine
Deutsch-Niete und sportlich hapert es bei dir auch gewaltig".

Schlechte Noten erzeugen Stress und bremsen schon bei kleinen Kindern den
Willen, Neues zu lernen, sich in ein unbekanntes Thema hineinzuknien und aus
eigener Kraft eine Lösung herauszuknobeln. Auf einem Lösungsweg, den

25 Schulbücher und Lehrer womöglich gar nicht vorhergesehen haben. Schlechte


Noten entmutigen nur.

Individuelle Beurteilungen sind viel besser geeignet, die Motivation aufrecht zu


erhalten. Kinder haben einen angeborenen Willen, Neues zu lernen, den
Erwachsenen nachzueifern, sich ständig auszuprobieren und zu verbessern.
30 Wenn man sieht, wie unermüdlich Kleinkinder beim Laufen- und Sprechenlernen
sind, trotz zahlloser Rückschläge, dann versteht man, wie stark der Wille und die
angeborene Motivation zum Lernen in jedem Menschen ist.
Diesen Willen muss Schule sich zunutze machen. Mit Noten töten wir dieses
Neugier-Potential und machen Schüler zu willenlosen Auswendiglernmaschinen.
35 "Arbeite noch mehr an den Rechenschritten im Tausender-Zahlenraum, du hast
dich im letzten Halbjahr schon deutlich verbessert" klingt motivierend,
"Mathematik: 4" tut das nicht.

Wer eine Regelschule durchlaufen hat, muss zugeben, dass er oft schon wenige
Jahre nach dem Schulabschluss den größten Teil des gepaukten Stoffs
40 vergessen hat und ihn auch nicht für den Alltag nutzt. Man hat nur für die
jeweilige Klassenarbeit gelernt.

Schüler einer Schulform, die auf individuelle Beurteilungen setzt und auf Text-
Zeugnisse, kennen ihre Stärken und Schwächen genau, sind im ständigen
Dialog mit den Lehrern. Anstatt blind Klausuren auszufüllen und alles sofort

45 wieder zu vergessen, stecken sie sich ihre Ziele in Absprache mit den Lehrern,
erhalten Motivation anstatt einer seelenlosen Beurteilungs-Ziffer.

Fazit: Schulnoten sind in unserem maroden Schulsystem eine Notwendigkeit,


um den Lernstand zu dokumentieren. Sie taugen aber nicht dazu, um aus
unseren Kindern selbstverantworliche und zukunftsfitte Leistungserbringer in
einer unsteten Berufswelt zu machen.
50

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Textanalyse:

A. Schreiben Sie eine Zusammenfassung des Textes (ca. 50 Wörter)

B. Erklären Sie, wie Sie diesen Text im Unterricht methodisch-didaktisch


anwenden würden.
Gehen Sie unter anderem auf folgende Punkte ein:
• Niveau, für das Sie den Text angemessen finden.
Begründen Sie Ihre Entscheidung.
• Lexikalische und grammatikalische Aspekte
• Landeskundliche Aspekte
• Für den Unterricht geeignete Aufgaben

C. Umschreiben Sie folgende Wörter oder Ausdrücke aus dem Text oder
finden Sie ein entsprechendes Synonym:

1) sie hecheln von Klausur zu Klausur (Zeile 7)

2) eine Stehaufmännchen-Mentalität (Z 19)

3) nachzueifern (Z 29)

4) Rückschläge (Z 31)

5) gepaukten ( 39)

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