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BERNHARD TAURECK, TÜBINGEN

MACHT, UND NICHT GEWALT


Ein anderer Weg zum Verständnis Nietzsches
Karl Ulmer zum sechzigsten Geburtstag

Viele der neueren Versuche philosophischer Auseinandersetzung mit


Nietzsche folgen wissentlich oder unwissentlich M. Heideggers Satz über
Nietzsche1. Dieser Satz besagt, Nietzsche wolle als der jüngste Metaphysiker
der Subjektivität das Sem in die Gewalt des seiner selbst absolut gewissen
Ich bringen und scheitere deshalb, weil das Sein der sich wollenden und sich
denkenden Gewißheit des Ich in dem Maß verschlossen bleibe, als das Ich
sich seiner gewiß ist2.
1
Als Beiträge zum philosophischen Verständnis Nietzsches, die unwillentlich Heideggers
Deutung bestätigen, sind vor allem zu nennen: £. Heftrieb, Nietzsches Philosophie.
Identität von Welt und Nichts. Frankfurt (1962); W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine
Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie. Berlin 1971; ders.,
Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht. In: Nietzsche-Studien 3, 1974; P. Köster, Der
sterbliche Gott. Nietzsches Entwurf übermenschlicher Größe. Meisenheim 1972. Der
hier vertretene Ansatz kommt der Auslegung von Müller-Lauter am nächsten (vgl.
unten Kap. VI). — Die Arbeit „Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung" (Berlin
und New York 1972) von H. Röttges stellt sich der Auseinandersetzung mit Heidegger
insofern nicht, .als sie die mittlere Periode Nietzsches vor allem zum Thema macht und
den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr nicht in angemessener Weise behan-
delt und beurteilt. Ausführlicher geäußert zu den genannten Arbeiten habe ich midi in
ihren Besprechungen: 1. Perspektiven in Heideggers Nietzsdie^Bild. Erscheint im näch-
sten Wiener Jahrb. f. Phil. 2. Nietzsches Aufklärung und ihr Schatten. In: Wiener
Jahrb. f. Phil. 1973. 3. Das Buch von Müller-Lauter in: Wissenschaft und Weltbild 3,
1972. 4. Der Tod Gottes — Der Gott der Toten. In: Nietzsche-Studien 4, 1975.
2
Diese Bewertung hat Heidegger nicht ausdrücklich als solchen Satz ausgesprochen,
sondern sie an verschiedenen Stellen seiner Schriften durchblicken lassen. Ohne Nietz-
sches Namen zu nennen, heißt es einmal: „Schließlich wird auch das Sein selbst, sobald
der Wille in sein äußerstes Unwesen kommt, zu einem bloßen ,Wert* * (Überwindung
der Metaphysik. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 21959, S. 77). An anderer
Stelle schreibt er: „Alles Werten ist, auch wo positiv wertet, eine Subjektivierüng. Es
läßt das Seiende nicht: sein, sondern das Werten läßt das Seiende lediglich als das
Objekt seines Tuns — gelten* (Brief über den ,Humanismusc. In: Wegmarken. Frank-
furt 1967, S. 179). Und, mit der Nennung von Nietzsches Willen zur Macht: „der
Mensch ist in die Idiheit des ego cpgito aufgestanden. Mit diesem Aufstand wird alles
Seiende zum Gegenstand. Das Seiende wird als das Objektive in die Immanenz der
Subjektivität hinein getrunken. Der Horizont leuchtet nicht mehr von sich aus. Er ist
30 Bernhard Taureck

Was Heidegger damit festhält und Nietzsche entgegen zu entdecken


scheint, wurde aber bereits von diesem selbst entdeckt imd ursprünglicher
erfahren. Es ist deshalb an der Zeit, in der philosophischen Auslegung Nietz-
sches die Heideggersdie Aburteilung seines Denkens unbeschadet des Vor-
ranges des Seins vor allem endlichen Seienden zu revidieren. Der von Nietz-
sche und Heidegger gemeinsam verfolgten Sache kann auf diese Weise am
besten gedient werden. Die folgenden Überlegungen sind eine erste Skizze
einer solchen Revision. Sie beanspruchen keine doxographisdie Vollständig-
keit hinsichtlich Nietzsches, sondern bemühen sich um eine Erörterung des
Begriffszusammenhanges der Macht und des Willens.

II
Was ist Nietzsches Einsicht? Es gibt eine Möglichkeit, diese Frage nicht
unrichtig zu beantworten und dennoch an Nietzsche vorbeizureden. Abge-
sehen von den vielen möglichen untergeordneten Angaben zu dieser Frage,
etwa der psychologischen Relativierung der Transzendentalien, der biologi-
schen Auffassung übersinnlicher Verhältnisse usw., kann man Nietzsche den
Entdecker des Nihilismus nennen. Niemals zuvor wurde die geistige Situa-
tion der Welt so hart und folgerichtig als Schwund aller bisherigen Wert-
haftigkeit, als Nihilismus, bestimmt. In Nietzsche spricht sich unsere Epoche
insofern ursprünglich aus, als jetzt mit der Bewertung alles Bisherigen und
dem Bisherigen alles Wertens gebrochen wird. Indem aber das Brechen selbst
Dauer erhält, entsteht eine verneinende Bejahung des Überlieferten oder
ein dauernder Betrug, d. h. das Vorgeben, Wahrheit interessiere nicht, wäh-
rend Interesse nur an solchen Negationen, in welcher Weise auch immer, be-
steht. Gegen diesen inzwischen Gewohnheit gewordenen Selbstbetrug läßt
sich nicht ankämpfen. Er kann nicht wahrhaben wollen, daß Nietzsche den
Nihilismus nur deshalb entdeckt hat, weil er zuvor das Untergehen von
Gegensätzen im absoluten Ganzen der Welt oder das Übel und den Schmerz
als Modus der Gottheit erfuhr.
Diese Erfahrung ist seine Einsicht und sein Pathos. Und so wie dieses
sich nicht nachahmen läßt, kann jene nicht unmittelbar gewonnen und er-
zwungen werden. Gegen sie sammelt sich daher die Wut einer Zeit, deren
Triumph der pausenlose Wissenszuwachs von Erfahrungswissenschaften und
deren Leidenschaft die Identifikation der Freiheit mit der Gleichheit ist. Die
einmal erfahrene Einsicht ist aber, wenn sie wirklich das Vorstellen einmal
ausgefüllt hat, nicht nur bereits durch ihren Inhalt der Opposition gegen
jenes Werten und gegen jene Leidenschaft enthoben, sondern verliert das

nur noch der in Wertsetzungen des Willens zur Macht gesetzte Gesichtspunkt" (Nieti-
sches Wort ,Gott ist tot'. In: Holzwege. Frankfurt 41963, S. 241).
Macht, und nicht Gewalt 31

Private und kehrt wieder oder ist schon Wiederholung in ihrem Auftreten.
In der Wiederholung zeigt sich das Neue3. Was v llig neu scheint, ist Wieder-
holung und was sich wiederholt, ist neu. Platon vollzieht den Schritt von
jenem Satz des Protagoras πάντων χρημάτων μέτρον ανθρωπον (Theait. 152 a)
in die Einsicht θεός πάντων χρημάτων μέτρον (Nomoi Δ, 716 C). Sie wieder-
holt sich neu bei Augustinus in der Abkehr von liberum arbitrium und kehrt
neu in Martin Luthers Einsicht wieder, dem servum arbitrium. Nietzsches
dionysische Welt au erhalb der Gegens tze des Guten und des B sen ist
dagegen v llig neu und zugleich Wiederholung derselben Einsicht des Ver-
schwindens aller endlichen Standpunkte4. Und schlie lich ist das Neue an
M. Heideggers „Kehre" von der Transzendentalit t des endlichen Daseins
zu der des Seins Wiederholung jener Einsicht. —
Gut und B se sind in Nietzsches Einsicht keine absolut entgegengesetz-
ten Wirklichkeiten, sondern „complement re Wertbegriffe"5 des Lebens, in
welchem „Liebe und Ha , Dankbarkeit und Rache, G te und Zorn, Ja-thun
und Nein-thun zu einander" geh ren (ibd.). Verkehrt wird diese Wechsel-
bedingung, wenn ein Gutes f r sich existieren soll: der moralische Gott.
Solche abstrakte Gottheit ist keine. Der „Tod Gottes" bedeutet deshalb:
„eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt" (VII, 3, S. 354, Nr. 13).
Der lebendige Gott dagegen ist: „Gott, gedacht als das Freigewordensein
von der Moral, die ganze F lle der Lebensgegens tze in sich dr ngend und
sie in g ttlicher Qual erl send, rechtfertigend9. — Gott als das Jenseits, das
Oberhalb der erb rmlichen Eckensteher-Moral von ,Gut und B sec" (VIII,
2, S. 247, Nr. 203). Der moralische Gott, der zuerst als die gute Gottheit
Ahura Mazda in der Lehre Zoroasters aufgetreten war, weicht dem abso-
luten G ttlichen, in dem das B se, aber nicht als abstractum gegen das Gute,

8
Wie sehr Nietzsches Einsicht des Dionysischen und, philosophisch, der Macht, Neuheit
in einer Wiederholung ist, geht aus einer Untersuchung von D. Bremer hervor, der der
Nachweis gelungen ist, da Nietzsches Begriff des Dionysischen als Willens zur Macht
gar nicht so sehr dem antiken Dionysos-Mythos, als vielmehr Platons £ρως entspricht
und dies nicht zuletzt in der Einheit von Schaffen und Zerst ren (vgl. D. Bremer,
Nietzsches Dionysos und Platons Eros. In: Apophoreta. F r Uvo Holscher zum 60. Ge-
burtstag. Bonn 1975, S. 21—72, bes. 50 f.).
4
ber Luther hei t es einmal, er habe den Willen zur Macht „in seiner sch chternsten
Form« gedacht (KGW VIII, 2, S. 76, Nr. 135). Nietzsche war sich ferner der Verwandt-
schaft seiner Verwerfung der Moral mit der evangelischen Insuffizienzlehre bewu t:
„Alle tieferen Menschen sind darin einm thig — es kommt Luthern Augustin Paulus
zum Bewu tsein —, da unsere Moralit t und deren Ereignisse nicht mit unserem
bewu ten Willen sich decken — kurz, da die Erkl rung aus Zweckabsichten nicht
reicht (KGW VIII, l, S. 20, Nr. 55).
5
KGW VIII, 3, S. 267, Nr. 113. — Im weiteren Text werden die Zitatnachweise in
Klammern gegeben. F r den Nachla 1884—1889 nach den Abteilungen VII und VIII
der KGW, wobei sidi die Sigle „KGW" er brigt. F r die von Nietzsche selbst edierten
Schriften wird hier die dreib ndige Aufgabe von K. Schlechta verwendet.
32 Bernhard Taureck

ist. Nietzsche wählt deshalb den Namen des persischen Religionsstifters, um


den Ursprung von Gut und Böse zu wiederholen und ;^s im Ursprung zu
verändern: „man hätte midi fragen sollen, was gerade in meinem Munde,
im Munde des ersten Immoralisten der Name Zarathustra bedeutet: denn
was die ungeheure Einzigkeit jenes Persers in der Geschichte ausmacht, ist
gerade dazu das Gegenteil. Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und
des Bösen des eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn ... Zara-
thustra schuf diesen verhängnisvollen .Irrtum, die Moral: folglich muß er
auch der erste sein, der ihn erkennt .,. Die Selbstüberwindung der Moral
aus Wahrhaftigkeit ... das bedeutet in meinem Munde der Name Zara-
thustra" (EH, Warum idi ein Schicksal bin, Nr. 3, SA Bd. 2, S. 1153 f.)6-
Nietzsches Lehre im Namen Zarathustras wird gewöhnlich als Atheis-
mus verstanden in der Gewohnheit jener Beurteilung, Nietzsche sei der Ent-
decker des Nihilismus. Das Gegenteil ist wahr, aber es verbirgt sich. Fol-
gende Andeutung spielt auf die Verborgenheit an: „Nochmals gesagt: wie
viele neue Götter sind noch möglich! -*— Zarathustra selbst freilich ist bloß
ein alter Atheist. Man verstehe ihn redit! Zarathustra sagt zwar, er würde —;
aber Zarathustra wird nicht.. .* (VIII, 3, S. 324, Nr. 4).
Die Einsicht und die Erfahrung der von ihm dionysisch genannten
Welt besaß Nietzsche bereits in seinem ersten Werk, also lange vor seinem
Versuch, sie mit dem Willen zur Macht als Prinzip begrifflich einzuholen. ( ,
In dem Maß wie dieser Versuch undurchführbar wird, tritt sie immer wie-
der bis in den letzten Notizen des Nachlasses hervor. Sie läßt sich durch
keine Auslegung und durch kein noch so vollständiges Belegen mit Zitaten
aus allen drei Perioden seines Werkes plausibel machen, weil sie den Wert
der Plausibilität nicht gelten läßt. Deshalb steht sie in Gefahr, vom Ver-
stand als Unsinn abgedrängt zu werden. Viel mehr als Nietzsches Einsicht
ist ihre Wiederholung bei Heidegger dieser Gefahr ausgesetzt. „Mit dem
Heilen zumal erscheint in der Lichtung des Seins das Böse. Dessen Wesen
besteht nicht in der bloßen Schlechtigkeit des menschlichen Handelns, son-
dern es beruht im Bösartigen des Grimmes. Beides, das Heile und das Grim-
mige, können jedoch im Sein nur wesen, insofern das Sein selber das Strit-
tige ist" (Brief über den Humanismus, a.a.O., S. 189). Im Gegensatz zu
Nietzsche verbindet Heidegger im allgemeinen und in diesen zentralen Sät-
zen seines späteren Denkens dichterische und begriffliche Worte in wissen-
schaftlicher Form, während Nietzsche im allgemeinen beide Elemente didh-

6
Auf Zoroaster anspielend, sagt Zarathustra selbst bei Nietzsdie: „ ,Wahrheit reden und
gut mit Bogen und Pfeil verkehren? — so dünkte es jenem Volk zugleich lieb und
schwer, aus dem mein Name kommt — der .Name, welcher mir zugleich lieb und
schwer ist* (Also sprach Zarathustra, Erster.Teil. .Von tausend und einem Ziele,
a. a. O., S. 322). . .
Macht, und nicht Gewalt 33

terisdi verbindet, dort aber, wo er seine philosophische Grundeihsidht phi-


losophisch auslegt, auch eine philosophische Sprache findet. Heideggers
Gedanke tritt dem verständigen Denken scheinbar selbst als Verständigkeit
entgegen und erntet deshalb ganz schutzlos dessen „Kritik", während die
Kritik Nietzsche ein Recht auf das Dichterische zugestehen muß.
Aber das Dichterische der dionysischen Welt ist nicht ein Sagen von
Niditwirklichem, sondern Nietzsches Einsicht des Dionysischen bedeutet
Religion, sofern Religion Befreiung durch unmittelbare Bindung ist. Die
Unmittelbarkeit der Religion bringt die Befreiung in einen absoluten Ge-
gensatz zu dem, wovon sie den Menschen losgerissen hat. Religion als Be-
freiung von absoluten Gegensätzen ist Bildung von absoluten Gegensätzen.
Nur in dieser Bildung ist sie Befreiung, nämlich freies Erfassen und freies
Setzen des Gegensatzes im Unterschied zum unwissenden Beherrschtwerden
durch ihn außerhalb der Religion. Die religiöse Bildung absoluter Gegen-
sätze ist ferner der Grund des Unterganges jeweiliger Religionen, nämlich
in der Form der Ersetzung vorgefundener Gegensätze durch ihre Bildung.
Die unmittelbaren Gegensätze erweisen sich nur als unmittelbar ersetzte,
d. h. als dasselbe wovon die Religion befreien wollte.
Nietzsches Einsicht der göttlichen dionysischen Welt schließt diesen
gesamten Umfang des Religiösen auf. Die Befreiung von den moralischen
Gegensätzen des Guten und des Bösen wäre keine, wenn es kein Böses gäbe.
Vielmehr tritt es jetzt deutlich hervor. Es ist das Beharren und Podien auf
der einfachen Verschiedenheit von Gut und Böse. Nietzsche erfährt sich in
der Beurteilung dieses Bösen zeitweise in größter Nähe zu Jesus. „Jesus sagte
zu den Juden: ,das Gesetz war für die Knechte — liebt Gott, wie ich ihn
liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an!c —" (JGB,
SA, Bd. 2, S. 638, Nr. 164). Das Christentum ist selbst nichts anderes als die
Einsicht des Dionysischen: „der ,Vater* und der ,Sohnc: letzterer drückt den
Eintritt in jenen Gesammtverklärungs-zustand aller Dinge aus, erster ist
eben dieser" (VIII, 2, S.397), Nr.355), Deshalb deutet Nietzsche den
Kreuzestod als Symbol des Kampfes gegen das moralisch Gute: „den Guten
und Gerechten sah einer einmal ins Herz, der da sprach: ,es sind die Phari-
säer/ Aber man verstand ihn nicht. Die Guten und Gerechten selber durf-
ten ihn nicht verstehen: ihr Geist ist eingefangen in ihr gutes Gewissen. Die
Dummheit der Guten ist unergründlich klug. Das aber ist die Wahrheit:
Die Guten müssen Pharisäer sein — sie haben keine Wahl! Die Guten müs-
sen den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend erfindet! Das ist die Wahr-
heit!" (Za III, SA, Bd. 2, S. 458).
Diese großen, im Christentum so seltenen, eigener religiöser Erfah-
rung erwachsenen Urteile über das Christentum verschwinden jedoch in der
Dialektik des Religiösen, der drohenden Unbedingtheit des von der abso-
34 Bernhard Taureck

luten Befreiung bewirkten neuen Gegensatzes. Dieser neue Gegensatz ist die
dionysische Einsicht gegen die Rache. Das Böse heißt für Nietzsche Rache.
Sie ist der Urheber der Moral (VIII, 3, S. 112, Nr. 135 und S. 113, Nr. 137)
und aller bisherigen Werte überhaupt (VIII, 3, S. 219 f., Nr. 30; vgl. auch
Za II, Von den Taranteln, a. a. O., S. 357)7. In der herkömmlichen Vorstel-
lung ist Rache Gerechtigkeit, die sich ungerechter Mittel bedient. Moral und
Recht sind für dieses Verständnis gegeben, aber für sich unabhängig gegen
die Rache. Nietzsche weitet dagegen den Begriff der Rache so, daß die Auto-
nomie der Moral und des Rechtes nicht bestehen, sondern selbst schon ein
Werk der Rache sind. Rache ist Setzung von Gerechtigkeit auf ungerechtem
Weg: da es keine einfache Moral und Gerechtigkeit gibt, bedient sich alle Mo-
ralität und Gerechtigkeit ihres Gegenteiles als Mittel. Folglich ist die Moral
Rache.
Die religiöse Substanz von Nietzsches Einsicht in die Welt jenseits der
einfachen Trennung von Gut und Böse manifestiert sich in dem Satz über
die Erlösung, die der bei ihm wiederkehrende Zarathustra bringen will:
„Denn daß der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke
zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern" (Za II,
Von den Taranteln, a. a. O. S. 357). Die Rache, von deren Schmutz Gott
selbst gereinigt werden müsse (VIII, 3, S. 219, Nr. 30), erfindet, wegen des
Leidens der mit ihrem Los Unzufriedenen, die Begriffe der Schuld, der Ver-
antwortung und des Willens. Sie verschafft sich also die Möglichkeit der
Strafe. Alles Tun wird auf Absicht zurückgeführt und kann scheinbar ge-
recht vergolten werden, während in Wirklichkeit weder Absichtlichkeit noch
Verantwortlichkeit besteht. Wille und Moralität sind Fälschungen und bei-
des zusammen, Moral und das fälschende Tim, ist die Rache.
So tritt an die Stelle der einfachen Abstraktion von Gut und Böse der
Gegensatz der dionysischen Weltsicht gegen die Rache. Dieser neue Gegen-
satz hebt die Befreiung von jenem auf. Denn Nietzsche bildet einen abso-
luten Gegensatz, der deshalb unmittelbar keiner mehr ist. Sollen Moral und
Wille von der Rache gemacht worden sein, so kann ebensogut gesagt wer-
den, das Beharren auf der Niditmorälität in moralisch-religiöser Absicht ist
Rache, Gerechtigkeit mit ungerechten Mitteln. Aus der Erlösung von der
Rache wird so bei Nietzsche Rache an der Rache. Die religiöse Einsicht des
Dionysischen erlischt; es kommt zu den bekannten unzähligen Beschimpfun-
gen der Moralität und des Christentums8.
7
Heidegger sagt einmal sehr schön im Anschluß an dieses Zitat: »Wie seltsam und wie
befremdlich für die gängige Meinung, die man sich über die Philosophie Nietzsches
zurecht gemacht hat. Gilt Nietzsche nicht als der Antreiber zum Willen zur Macht, zur
Gewaltpolitik und zum Krieg, zur Raserei der ,blonden Bestie* ?" (Wer ist Nietzsches
Zarathustra? In: Vortrage und Aufsätze. ?1959, S. 110).
8
Über die Aporien seiner Wendung gegen das Christentum vgl. meinen Aufsatz „Nihi-
Macht, und nicht Gewalt 35

Nietzsches Einsicht des Dionysischen wird hierdurch aber nicht unwirk-


lich und unwahr, sondern sie kann als religiöse Befreiung durch unmittel-
bare Bindung sich gar nicht anderswo als zwischen den Grenzen des unmit-
telbar vorgefundenen und des unmittelbar gesetzten Gegensatzes erstrecken.
Sie erlischt deshalb nur dort, wo Nietzsche sich polemisch auf den gesetzten
absoluten Gegensatz der Rache einläßt. Heidegger hat diese Polemik ver-
mieden, dafür aber seine Nietzsche wiederholende Einsicht in die absolute
Verquickung des Guten und des Bösen nur abstrakt und andeutend ausge-
sprochen, während Nietzsche sie ganz ausmißt.

III
Es trifft also nicht zu, daß Heideggers Gedanke des Seins jenseits werten-
der Subjektivität vor ihm nicht gedacht wurde, sondern Nietzsches Einsicht
hat das was Heidegger andeutet, bereits ursprünglicher ausgeführt, nämlich
die Auflösung der einfachen Trennung des Guten und des Bösen in nicht-
begrifflicher Weise9.
Nietzsche hat seine religiöse Einsicht in seinem Spätwerk philosophisch
einzuholen versucht. Sein Begriff der dionysischen Welt ist der Wille zur
Macht. Dieser Begriff ist spekulativ und philosophisch gemeint und darf
deshalb nicht mit Machthunger oder Machtgier verwechselt werden10. Daher
ist er zunächst nicht aus dem Wollen, sondern aus der Macht zu verstehen.
Die alltägliche Vorstellung von der Macht hält Macht für die Herr-
schaft von Endlichem über Endliches. Einer befiehlt, und andere gehorchen;
einige widersetzen sich und werden gezwungen. Oder der Mensch unter-
wirft sich Kräfte der Natur; er bemächtigt sich ihrer. Solche Beziehungen
der Herrschaft von Endlichem heißen fälschlich Macht. Sie heißen richtiger
Gewalt. Der Unterschied von Macht und Gewalt zeigt sich in der gewöhn-
lichen Ansicht so, daß, wer über anderes Macht ausüben will, zuvor sich
selbst beherrschen muß. Insofern wäre die eigene Beherrschung und Stärke
Macht im Unterschied zur Gewalt, der Beherrschung von anderem. Aber was
ist dann die Macht selbst? Die Meinung sagt: die eigene Beherrschung ist
z.B. Herrschaft des Geistes über den Leib: „iiostra omnis vis in animo et
corpore sita est: animi imperio, corporis servitio magis utimur" (Sallust)*
lismus und Christentum. Ein Beitrag zur philosophischen Klärung von Nietzsches Ver-
hältnis zum Christentum". In: Wissenschaft und Weltbild 2, 1973.
Heidegger bekennt sidi im Humanismus-Brief, wo er das im Sein erscheinende Böse
ausspricht, zu einem nichtbegrifflichen Denken, „das strenger ist als das begriffliche"
(a. a. O., S. 187).
10
„Man kann das, was Ursache dafür ist, daß es überhaupt Entwicklung gibt, nicht selbst
wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als
, werdend* verstehen wollen, noch weniger als geworden ... der Wille zur Macht kann
nicht geworden sein" (VIII, 2, S» 259, Nr. 29; die Punkte sind von Nietzsche gesetzt).
36 Bernhard Taureck

Die Meinung stellt also die Macht selbst wieder als Gewalt — als Herrschaft
des endlichen animus über das corpus — vor und gelangt( zu keinem Begriff
der Macht.
Audi Nietzsches Vorstellung der Macht zeigt nirgendwo einen deut-
lichen Begriff der Macht, wenigstens nicht unmittelbar. Deshalb muß die
Auslegung auch hier wieder Hinweise auf Verborgenes suchen und ihnen
nachgehen. Ein solcher Hinweis liegt in der Bezeichnung derjenigen Sache,
die am deutlichsten Macht repräsentiert. Sie heißt bei Nietzsche: Gott. »Gott
die höchste Macht — das genügt!" (VIII, 2, S. 173 f., Nr. 90). Damit weist
Nietzsche in einen entscheidenden Zusammenhang der Metaphysik zurück,
den er, wie in seiner ursprünglichen Einsicht des Dionysischen, neu wieder-
holt.
Es sind Spinoza, Descartes und Leibniz gewesen, die den Begriff Gottes
als Macht bestimmen und dabei Aufschluß über das Wesen der Macht
geben11. Für Spinoza ist Gott causa süi (Eth. I, Dem. zu Prop. 34) und diese
ist dasjenige, „cuius essentia involvit existentiam" (I, Def. 1). Gott also ist
das Verhältnis von Wesen und Dasein und als solches ist er Macht. Der ent-
scheidende Satz steht etwas versteckt in dem Scholiüm zum elften Lehrsatz:
„Nam quum posse existere potentia sit, sequitur, quo plus realitatis alicuius
rei naturae competit, eo plus virium a se habere, ut existat; adeoque ens
absolute infinitum sive Deum infinitam absolute potentiam existendi a se
habere, qui propterea absolute existet." Macht heißt im Lateinischen hier:
potentia. Ihre Worterklärung ist das „dasein können" (posse existere), und
ihr Begriff ist die Beziehung von Wesen (essentia) und Dasein (existentia).
Gott ist deshalb vollkommene Macht, weil aus seinem Wesen sein Dasein
folgt, wobei Macht überhaupt die Verknüpfung von Dasein und Wesen be-
deutet. Entsprechend sagt Descartes, wenn gewöhnlich das Dasein nicht aus
dem Wesen folge, so doch bei Gott wegen dessen Macht (Ausg. Adam und
Tannery Bd. 7, S. 119). Die Macht ist selbst dieses Folgen. Leibniz schreibt
in § 48 der Monadologie: „II y a en Dieu la Puissance, qui est la source de
tout". Im Entwurf hatte es anstelle von „la source de tout" genauer gehei-
ßen „la source de Pexistence". Die Macht ist Quelle, Ursprung des Daseins.
Daher hat kein Endliches, als solches, d. h. als nicht durch sich oder durch
sein Wesen Existierendes, Macht weder über sich noch über anderes. Es ist
deshalb immer eine Aufgabe der Philosophie gewesen, den gebräuchlichen
Begriff der Macht aufzulösen. Schon Platon nimmt diese Aufgabe ernst. Das
griechische Wort für Macht ist: . Seihe vom Lateinischen vermittelte
Verdeutschung lautet: Prinzip. Es bedeutet im Griechischen, wie das deut-

^ Vgl. zu dieser Entwicklung des Begriffes der Macht auch meine Schrift „Das Schicksal
der philosophischen Konstruktion". Wien und München 1975, S. 235 ff.
Macht, und nicht Gewalt 37

sehe ,Machtc, sowohl endliches Verfügen über etwas, als auch Prinzip oder
Ursprung. Nach dem allgemeinen Wesen der Tugenden gefragt, antwortet
der Sophist Menon dem Sokrates in Platons Dialog „Menon" einmal: „Was
soll es dehn anderes sein als über die Menschen zu herrschen?" (Menon 73 c).
Sokrates erwidert, es könne nicht die Tugend, d. h. das eigentümliche Gute
eines Sklaven oder eines Kindes sein, über den Herren oder die Eltern zu
herrschen ( ). Sokrates und Platon weisen auf diese anschauliche Weise
vordergründig einen Definitionsfehler eines Sophisten zurück, hintergrün-
dig aber zielt die Widerlegung auf die Zerstörung der Vorstellung der
als Herrschaft des Endlichen.
Am meisten durchzieht die Philosophie Hegels die Tendenz, die Macht
von ihrer landläufigen Vorstellung gereinigt zu denken. Der bei Spinoza,
Leibniz und Descartes noch nicht recht ausgeführte Begriff der Macht wird
bei ihm ungleich differenzierter entfaltet.
Die Macht von Menschen über Menschen entwickelt er in der „Phäno-
menologie des Geistes"* und der Enzyklopädie als Beziehung von nur be-
gehrenden Menschen, die noch nicht selbstbewußt wollen und wissen und
die durch die Beziehung der Gewalt frei werden, so daß die Beziehung der
Gewalt sich auflöst und sich als scheinbare Macht erweist. Der Herr hat die
Macht über Leben und Tod des Sklaven (Hegel sagt „Knecht")12, weil die-
ser noch von der Vorstellung selbständiger Gegenstände außer ihm be-
herrscht ist. So kann der Herr ihn beherrschen, indem er ihn die Dinge für
seinen Genuß bearbeiten läßt. Beide sind von Trieb und Begierde bestimmt,
aber die Begierde des Herren richtet sich zugleich auf den Sklaven, während
dieser noch ganz an den Gegenständen haftet. Die Begierde zerstört ihren
Gegenstand im Genuß und greift dann wieder nach neuen Dingen. So ver-
langt der Herr vom Sklaven beständige Arbeit für seine Begierde und droht
ihm zugleich beständig seine eigene Zerstörung an. Die Begierde des Herren
gegen den Sklaven ist auf dessen Seite die Furcht vor der eigenen Vernich-
tung. Wegen dieser Furcht aber arbeitet er, und indem er arbeitet, verändert
sich sein Verhältnis zu den Gegenständen. Sie werden nicht mehr rastlos
verzehrt und wieder vorgefunden oder vorgefunden und wieder verzehrt,
sondern erhalten durch die Arbeit eine durch den Sklaven selbst geschaffene
Beständigkeit. Das Bewußtsein des Sklaven, das vorher nur Begierde und
Furcht gewesen ist, hat sich jetzt von beidem an sich befreit und damit an
sich auch von der bloß auf Begierde beruhenden Gewalt des Herren: Die
Sklaverei als Macht ist keine Macht, sondern sich selbst aufhebende Gewalt.
1?
K. Ulmer hat mündlich immer wieder treffend hervorgehoben, daß Hegel mit dem
„Knecht* den Sklaven meint. „Knecht* ruft die Vorstellung eines frei gewählten
Arbeitsverhältnisses hervor. *
38 Bernhard Taureck

Neben dieser inzwischen fast populär gewordenen Demonstration ent-


wickelt Hegel den Begriff der Macht in seiner Logik. Es ist in konsequenter
Weiterführung Spinozas die Substanz, die absolute Macht bedeutet. Sub-
stanz ist nicht, wie die Verstandesmetaphysik wollte und wie man heute der
gesamten Philosophie in tiefster Unkenntnis gern vorwirft, beharrliches Sein
im Wechsel der Akzidenzien, sondern Sein als Verhältnis des Seienden. Denn
als beharrliches Sein wäre sie, sagt Hegel, entweder eine bestimmte Wirk-
lichkeit oder etwas Mögliches jenseits der Akzidenzien; mögliches Sein und
wirkliches Sein sind aber gerade die Bestimmungen der Akzidentalität.
Folglich wäre die Substanz als beharrliches Sein selbst nur ein Akzidenz
(Logik II, Ausg. Lasson, S. 187). Die Akzidenzien sind das Endliche, das
entsteht und vergeht, möglich ist und wirklich wird oder wirklich ist und
möglich wird oder aus seinem Wesen in das Dasein tritt und aus dem Da-
sein in das Wesen zurückkommt. Sie sind nur in diesem Wechsel des Auf-
gehens und Untergehens oder des Schaffens und des Zerstörens. Ihr Auf-
gehen und ihr Untergehen ist die Tätigkeit der Substanz, die schafft und JH
zerstört und im Zerstören schafft und im Schaffen zerstört (ibd.). So sind die {!
Akzidenzien in ihrem Begriff ein absoluter Zusammenhang von Dasein und
Wesen, nämlich als Einheit des Schaffens und des Zerstörens. Diese Einheit
ist aber weder ein Akzidenz für sich — das wäre die erwähnte Selbstbeherr-
schung als Macht —, noch ein Verhältnis zu anderen Akzidenzien, was Ge-
walt wäre. „Die Akzidenzien als solche... haben keine Macht übereinander"
(a.a.O., S. 187). Macht hätte eines über sich, wenn es sich setzen könnte
ohne unterzugehen, oder über anderes, wenn es Zerstören könnte ohne selbst
zerstört zu werden. Die Substanz ist daher die absolute Macht als absolutes
Schaffen und Zerstören oder als Dasein und Wesen ewig im Verhältnis
beziehende Einheit beider. —
Gegen diesen schweren reinen Begriff der Macht besteht seit immer und
gegenwärtig wieder zunehmend die entgegengesetzte Vorstellung von Macht,
die Gewalt bedeutet. Macht als Herrschen und Verfügen von Endlichem
über Endliches.wird als Folge ursprünglicher Gewalt aufgefaßt und Macht
aus Gewalt hergeleitet und nicht umgekehrt Gewalt aus Macht13. Erst wenn

18
Heidegger gelangt zu seinem Satz über Nietzsche durch eine Verkennung und durch
einen Mangel an Einsicht in den Begriff der Macht. Die Verkennung liegt darin, daß er
bemerkt, der Wille zur Macht sei Nietzsches Wort für die Essenz und die ewige Wie-
derkehr sein Terminus für die Existenz. Die Beziehung beider Begriffe Nietzsches sei
bei Nietzsche deshalb unklar, weil das Verhältnis von Existenz und Essenz in der
Metaphysik unklar gewesen sei (Nietzsches Wort ,Gott ist tot*, a. a. O., S, 219 f.). Da-
gegen ist zu bemerken, daß der metaphysische Begriff der Macht nichts anderes als die
Beziehung selbst von Existenz und Essenz als absolutes Verhältnis gewesen ist. W. Mül-
ler-Lauter, der gegen Heidegger das Verhältnis von Essenz und Existenz im Willen zur
Macht selbst erblickt (Nietzsches Lehre vom Willen zur Madbit, a.a.O.), ist deshalb
Macht, und nicht Gewalt 39

eine Kraft eine andere überwältigt hat, übt sie Macht aus; z. B. erst wenn
eine Gruppe in einem Volk die übrigen Bewohner einschüchtert, bedroht
und schließlich zwingt, dann fällt ihr irgendwann die Regierung zu: die
Gewalt ist Grundlage der Macht. Gegen den entgegengesetzten philosophi-
schen Begriff der Macht wendet sich deshalb diese Selbstgewißheit ebenso
wie gegen die Einsicht Nietzsches in das absolute Aufgelöstsein endlicher
Wertungen. Ihre Anschauung könnte die Mechanik, der einer trägen Masse
von außen verliehene Impuls, sein. Aber bereits in der mechanischen Physik
gilt das Gegenteil. Das dritte Axiom Newtons, die Gleichheit von Aktion
und Reaktion, besagt unbegrifflieh Gleichheit der Kräfte und nicht Ungleich-
heit im Sinne des Überwältigens oder Überwältigtwerdens. Der Begriff
schließlich der Kraft, auf den sich die Lehre von der Macht als Gewalt offen-
bar berufen könnte, ist ein gegenseitiges Hervorrufen ihrer Äußerung14.

zuzustimmen. — Der Mangel von Heideggers Einsicht in den Begriff der Macht besteht
darin, daß er Nietzsches Bestimmungen des Willens zur Macht einerseits bloß para-
phrasiert, ohne sie philosophisch zu prüfen und andererseits den Willen zur Macht als
Gipfel der Subjektivität verurteilt, die das Sein nicht als von ihr unabhängig Be-
stehendes denke, sondern es nur als durch sie selbst Gesetztes vorstelle. Eine derartige
Paraphrase lautet an einer Stelle: „Eigentliches Wollen ist nicht ein Von-sich-weg,
wohl aber ein Über-sich-hinweg, wobei in diesem sich-Uberholen der Wille den Wol-
lenden gerade auffängt und in sich mit hineinnimmt und verwandelt. Von-sidi-weg-
wollen ist daher im Grunde ein Nichtwollen. Wo dagegen der Überfluß und die Fülle,
d. h. das sich entfaltende Offenbaren des Wesens sich selbst unter das Gesetz des Ein-
fachen bringt, will das Wollen sich selbst in seinem Wesen, ist Wille. Dieser Wille ist
Wille zur Macht; denn Macht ist nicht Zwang und nicht Gewalt. Echte Macht ist noch
nicht dort, wo sie sich nur aus der Gegenwirkung gegen das noch-nicht-Bewältigte auf-
recht halten muß. Macht ist erst, wo die Einfachheit der Ruhe waltet, durch die das
Gegensätzliche in der Einheit der Bogenspannung eines Joches aufbewahrt, d. h. ver-
klärt wird" (Nietzsche I, Pfullingen, S. 161). Heidegger hält so zwar eine Verschieden-
heit von Macht und Gewalt fest, aber was Wille und was Macht ist, kann man hieraus
nicht entnehmen. Nietzsches Bestimmung einer Selbstübermächtigung des Wollens und
dieser als Macht wird als sädihaltiger Gedanke akzeptiert und paraphrasiert (vgl.
auch Nietzsche II, S. 263 ff.). Es wird unten gezeigt, daß dies nicht Nietzsches Gedanke
der Macht und des Willens gewesen ist. — Daß Heidegger die Grundbestimmimgen
Nietzsches nur paraphrasiert und in ihrem scheinbaren und unmittelbaren Sinn akzep-
tiert hat, rächt sidi in seinem Satz über Nietzsche: „der Mensch ist in die Ichheit des
ego cogito aufgestanden. Mit diesem Aufstand wird alles Seiende zum Gegenstand.
Das Seiende wird als das Objektive in die Immanenz der Subjektivität hinein getrun-
ken. Der Horizont leuchtet nicht mehr von sich aus. Er ist nur der in den Wertsetzun-
gen des Willens zur Macht gesetzte Gesichtspunkt" (Nietzsches Wort ,Gott ist tot',
a. a. O., S. 241). Abgesehen davon, daß Nietzsches Einsicht des Dionysischen und
Heideggers Vorstellung dasselbe meinen und daß ferner -r- wie unten gezeigt wird —
die Subjektivität des Willens zur Macht bloß die des Triebes ist, enthält diese Bewer-
tung Nietzsches den Obersatz, der Wille zur Macht sei Gewalt, nämlich eine solche,
die das Sein in die Bahn der cogitatio zwingen wolle.
14
Vgl. hierzu Hegels begriffliche Fassung des Newtonschen Kraftbegriffes (Logik II, Ausg.
Lasson, Hamburg 1966, S. 144—150), Zur Erläuterung und Auslegung des Kapitels bei
Hegel s. meine Schrift „Mathematische und transzendentale Identität. Philosophische
40 Bernhard Taureck

Vertritt nun Nietzsche ebenfalls eine Lehre von der Macht als Gewalt
des Endlichen? Offenbar, denn ständig erscheinen in seinen Notizen über
den Willen zur Macht Formulierungen, die das Überwältigen, die Gewalt
einer Kraft über andere Kräfte, bezeichnen sollen. Die Auslegung scheint so
gar keine andere Wahl zu haben, als seine Vorstellung von Macht in dem
Sinn der Gewalt zu deuten. Aber schon die Formel „Wille zur Macht" sei-
nes zentralen Begriffes hätte diesen Deutungsversuch fragwürdig machen
müssen. Ginge es Nietzsche um Gewalt, so wäre diese Formel falsch gewählt.
Sie müßte dann „Macht des Willens* (als genitivus subjectivus) lauten —
ein Unterschied, von dem es lächerlich zu behaupten wäre, Nietzsche habe
ihn außer acht gelassen. Liest man „Wille zur Macht" als „Madit des Wil-
lens", so vereinfacht man die Wendung „Wille zur Macht", macht sie noch
unbestimmter und rätselhafter als sie bereits ist und verhindert ihre weitere
Klärung.
Es geht hierbei nicht um Worte, sondern um den Wert oder Unwert
der Nietzscheschen Philosophie. Würde er nämlich Macht auf Gewalt grün-
den, dann wären die gegen ihn erhobenen moralischen Einwände philoso-
phisch betrachtet berechtigt. Diese Einwände besagen, Nietzsche möchte an
die Stelle moralischer und sittlicher Verhältnisse einen Krieg aller verschie-
denen Mächte erblicken, d. h. einen Naturzustand, den es als solchen nicht
gebe und dessen Vorstellung von dem Dasein des Rechtes und der Gerechtig-
keit willkürlich abstrahiere.
Nietzsche wäre ferner, wenn er Macht nur als Mittel der Gewalt gel-
ten ließe, bloß ein Popularphilösoph ohne einen Begriff der Macht und nicht
mehr als ein Ideologe für totalitäre Politik.

IV
Eine spekulative Auslegung des Willens zur Macht, die auf den meta-
physischen Begriff der Macht vor Nietzsche zurückgeht, verläuft zunächst
anscheinend ergebnislos. Und der andere Zugang zur Sache, der Begriff des
Willens, scheint von vornherein versperrt zu sein, weil Nietzsche immer
wieder behauptet: „Das Nachdenken über ,Freiheit und Unfreiheit des Wil-
lens* hat mich zu einer Lösung dieses Problems geführt, die man sieh gründ-
licher und abschließender gar nicht denken kann — nämlich zur Beseitigung
des Problems, vermöge der erlangten Einsicht: es gibt gar keinen Willen,
weder einen freien noch einen unfreien" (VII, 2, S. 275, Nr. 1). Es gibt kei-
nen Willen und, nach dem Obigen, keine Macht. ,Wille zur Macht' wäre
dann kein Begriff, sondern eine Metapher.

Untersuchungen über den Identitätsbegriff der mathematischen Logik, sowie bei Schel-
ling und Hegel«. Wien und München 1973, S. 104—110.
Macht, und nicht Gewalt 41

Nietzsche hat diese Negation des Willens in „Jenseits von Gut und
Böse* Nr. 19 und den Parallelstellen im Nachlaß begründet15. An dieser
Begründung läßt sich zeigen, daß die Negation des Willens zugunsten der
Macht geschehen soll. — „Ein Mensch, der will —, befiehlt einem Etwas in
sich, das gehorcht, oder von dem er glaubt daß es gehorchen wird ... Und
weil in den allermeisten Fallen nur gewollt wird, wo auch die Wirkung des
Befehls, der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich
der Anschein in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit der
Wirkung gäbe" (VII, 3, S. 334 f., Nr. 8). Wollen tritt im Zusammenhang
von Befehlen und Gehorchen auf. Die Einheit oder Gleichzeitigkeit von
Befehl und Gehorsam ist Wille, oder richtiger, ist nicht Wille nach dem ge-
wöhnlichen Verständnis dieses Wortes. Nach dem gewöhnlichen Verständ-
nis, dem „Volks-Vorurtheil* (ibd., S. 336 und JGB Nr. 19, SA, Bd. 2, S. 581)
über den Willen bedeutet Wille nur: Befehl. Wer will, befiehlt und wer be-
fiehlt, will. Es trifft wohl meistens zu, daß dem befehlenden ,Idi will etwas*
das etwas folgt, aber die Beziehung des Befehlens und des Gehorsams ist
wegen dieser Gewohnheit nicht Notwendigkeit. Die gewöhnliche Ansicht
aber behauptet diese Notwendigkeit. Aus der Einheit und Gleichheit von
Befehl und Gehorsam madit sie eine Gleichheit nur des Befehles, die Wille
genannt wird. Diesen Willen, sagt Nietzsche, gibt es nicht. Es gibt nicht die
Notwendigkeit des Überganges von der identischen Bestimmung des ,Idi
will etwas* zur identischen Bestimmung dieses etwas. Das ,Ich will* ist selbst
nicht notwendig: es hat selbst keinen Vorrang vor dem etwas, auf das es
gerichtet ist. Dieser Vorrang ist ein „ Volks-Vorurtheil", und der Sinn dieses
Vorurteils ist die Beherrschung von etwas außer dem Willen durch den Wil-
len. Ein solches Verhältnis des einseitigen Verfügens aber ist das der Ge-
walt im Gegensatz zur Macht. Nietzsches Satz, es gebe keinen Willen, ist
deshalb nicht etwa eine Verneinung der traditionellen Lehre vom Willen,
sondern eine Verneinung der Gewalt und der Begründung der Macht durch
Gewalt.
Nietzsche lehrt nicht eine Ersetzung der Macht durch Gewalt und da-
mit das Gegenteil der bisherigen Philosophie, sondern in seiner Negation
der Macht als identischer Spontaneität des ,Idi will* greift er, ohne es aus-
drücklich zu sagen und auch ohne es immer deutlich zu wissen, die alte Auf-
gabe der Philosophie, die Widerlegung und Auflösung einer durch Gewalt
begründeten Macht, wieder auf. Aber wenn man dies zugesteht, so bleibt
dennoch der Ort Nietzsches innerhalb der Überlieferung unbestimmt; es
fehlt der Bezug und die Vergleichung mit dem Problem des Willensbegriffes
vor ihm. Man verweist in diesem Zusammenhang auf Schopenhauer. Gegen
15
VII, 2, S. 123, Nr. 436; VII, 3, S. 334^-336, Nr. 8; VIII, 2, S. 296, Nr. 114.
42 Bernhard Tauredt

Schopenhauers Satz, der Wille sei das einzig Bekannte, richtet sich der Ab-
schnitt 19 von „Jenseits von Gut und Böse* sowie die Paj-allelstelle (VII, 3,
Nr. 8) ausdrücklich. Aber es ist bloß eine Gegenwendung. Von der Bedeu-
tung Schopenhauers, die hier nur eine negative Beziehung Nietzsches zur
Überlieferung ausdrückt, ist unten noch zu reden. Die positive Beziehung ist
jedoch eine bisher noch nicht bedachte Nähe zum Begriff des Willens bei
Hegel.
Beide wenden sich gegen eine Gleichsetzung des Willens mit der Identi-
tät des ,Idi willc. Nicht die Allgemeinheit des Ich ohne einen besonderen
Inhalt der Tätigkeit sei Wille, sagt Hegel, sondern die Verknüpfung der
Allgemeinheit mit der Besonderheit. Während Kant und Fichte die unbe-
stimmte Allgemeinheit des Ich bereits als Willen verstanden hätten, sei es
die entscheidende philosophische Aufgabe gewesen, von dieser Abstraktion
freizukommen (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 6, Anm.). Der
Wille ist weder ein gleiches allgemeines Vermögen zu handeln, noch beson-
dere Handlung, sondern die Verknüpfung beider, die Hegel gemäß seiner
Logik Einzelheit nennt. Diese Einzelheit ist ein anderer des Begriffes der
Macht bei Hegel. In der gewöhnlichen, formälisierten Logik ist die Einzel-
heit ein Drittes neben dem Allgemeinen und Besonderen und läßt sich for-
mal nicht von dem allgemeinen Urteil S a P (bzw. negativ S e P) unterschei-
den und interessiert den Logikkalkül nicht; Mit dem übrigbleibenden Allge-
meinen und Besonderen herrscht dann ein Reflexionsgegensatz, in welchem
das Besondere Negation des Allgemeinen ist. Hegel löst diesen Gegensatz
dadurch auf, daß das Einzelne das Besondere negiert und so das Allgemeine
im Besonderen wiederherstellt oder beide in sich reflektiert (Enzyklopädie
§ 163 und Logik II, a. a. O., S. 260 und 262). Das Allgemeine ist also nicht
Substanz und Macht und das Besondere Akzidenz, so daß der Wille als sol-
ches Allgemeines Macht wäre über das Gewollte, sondern der Wille ist die
Einzelheit (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 7). Dieser Begriff des
Willens ist ebenso eine Auflösung seiner gewöhnlichen Vorstellung wie
Nietzsches Darlegung, der Wille sei nicht Befehl. Für Hegel gibt es ebenso-
wenig einen Willen wie für Nietzsche. Die Bestimmtheit, die er in der ge-
wöhnlichen Vorstellung als reines Vermögen der Handlung als Befehlendes
hat, verschwindet. Als Einzelheit ist er „das Neutrale, aber unendliche be-
fruchtete, der Urkeim alles Daseins", der „in sich die Bestimmungen und
Zwecke enthält und sie nur aus sidh. hervorbringt" (Grundlinien der Philo-
sophie des Rechts, § 12, Anm.).
Nietzsche besitzt nicht den Begriff der spekulativen Einzelheit, nodi
überhaupt annähernd so differenzierte Begriffe wie Hegel. Trotzdem inten-
diert er mit der Einheit des Befehlens und des Gehordiens denselben Sach-
verhalt wie Hegel, die Auflösung der Illusion eines für sich Macht besitzen-
Macht, und nicht Gewalt 43

den Willensvermögens. Die Schwierigkeit, in die beide auf diesem Wege


geraten, ist deshalb, wie sich noch zeigen wird, die gleiche. —
Wenn das Gehorchen keine notwendige Folge des Befehlens ist, so
kann „Wille zur Macht" nicht bedeuten, daß der Wille diese Folge notwen-
dig wolle. Macht, die das wollende Befehlen als solches nicht ist, gewinnt es
nicht in der befehlsausführenden Handlung: Nietzsche behauptet nicht eine
Macht des Willens. Macht ist vielmehr die Einheit des Befehlens und Ge-
horchens, aber als von dem wollenden Befehlen nicht bewirkte Einheit. Sie
ist die Verknüpfung des Wesens oder der Möglichkeit, nämlich des Befehles
als Absicht, mit dem Dasein als Ausführung und Gehorchen. Aus dem
Wesen, der Absicht des Befehles, folgt nicht das Dasein als Gehorchen. Der
Erfolg des wollenden Befehlens ist zufällig und die Macht als Einheit des
Befehlens und des Gehorsams ist das Zufällige. Das Zufällige ist nicht ein
Verhältnis der Häufigkeit des Erfolges zum Mißerfolg, sondern Nietzsche
deutet vielmehr, wenn er den Gehorsam oder die Wirkung des Gewollten
und Beabsichtigten nicht notwendig nennt (s. o.), eine Zufälligkeit des be-
fehlenden Wollens in jedem Fall an. Eine solche notwendige Zufälligkeit ist
das Schicksal der Spontaneität des ,Idht will etwasc.
Das befehlende Wollen ist bei sich selbst anfangende Identität, die setzt,
was noch nicht wirklich ist. Wirklich wird der gesetzte Inhalt aber nicht
durch das Beabsichtigen, sondern durch das Handeln, in welchem das Wol-
len sich selbst zu dem Inhalt macht. Damit aber verliert es seine Sponta-
neität und unterliegt den Bestimmungen des Inhaltes und dem Zusammen-
hang des Wirklichen. Dieser Verlust der Spontaneität geschieht immer;
Erfolg oder Mißerfolg eines Vorsatzes sind dagegen gleichgültige und zu-
fällige Bewertungen. Ihre Zufälligkeit ist aber nur die Zufälligkeit der
Sache selber. Zufällig heißt etwas, dessen Existenz unwesentlich ist, weil sie
vollständig bedingt ist. Das gleiche Geburtsdatum zweier Menschen ist eine
Zufälligkeit, d.h. ein bedeutungsloser Umstand in einer Kette anderer
Gründe und Umstände. Zugleich ist aber das, Zufällige das Nichtbedingte.
Weshalb zwei bestimmte Menschen am selben Tag zur Welt kommen, läßt
sich nicht begründen. Die Gründe und Bedingungen dieses Faktums sind
keine dieser bestimmten Tatsache. Dementsprechend ist das wollende Befeh-
len zufällig, weil es sowohl nichtbedingte, bei sich selbst anfangende Spon-
taneität ist, als auch ein Inhalt, der von einer endlosen Reihe anderer Inhalte
bedingt ist. Die Zufälligkeit ist beides, identische Nichtbedingtheit und
ebenso verschwindendes Bedingtsein. Sie ist deshalb dasselbe wie die Macht,
d.h. jene von Hegel gedachte Einheit des Schaffens und Zerstörens. Die
identische Nichtbedingtheit des Zufälligen verschwindet im Bedingtsein,
aber das Bedingtsein des Zufälligen ist ebenso Niditbedingtsein.
44 Bernhard Taureck

Dieser in der Erörterung des Willens an den erwähnten Stellen von


Nietzsche angedeutete Zusammenhang ist es, um den £arathustra immer
wieder kreist und mit dem Nietzsche die religiöse Einsicht der Auflösung
der einfachen Trennung von Gut und Böse begrifflich einzuholen scheint:
„Denn alle Dinge sind getauft am Borne der Ewigkeit und jenseits von Gut
und Böse. ... ein Segen ist es und kein Lästern^ wenn ich lehre: ,Uber allen
Dingen steht der Himmel Zufall... O Himmel über mir ... — daß du mir
ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle —* (Za III, Vor Sonnen-Aufgang,
a. a. O., S. 416). Der Zufall ist so das Ewige, Himmlische und Göttliche, das
nicht untergeht und in dem alles Aufgehende versinkt und alles Versinkende
aufgeht. Er ist die Macht, die Zusammenfügung des sich Widersprechenden
des Wollens, der Unbedingtheit des Wesens und Befehles und der Bedingt-
heit der Ausführung und des Daseins.
„Und wie die Welt auseinanderrollte, so rollt sie wieder in Ringen
zusammen, als das Werden des Guten durch das Böse, als das Werden der
Zwecke aus dem Zufalle (Za I, Von der Nächstenliebe, a. a. O., S. 325). Alle
Zwecke, alle Spontaneität des beabsichtigten, befehlenden ,Idi will etwasc
verschwinden im Dasein, das aber nicht bloßes Zerstören, sondern als Zu-
fälligkeit ebenso Schaffen ist, so daß der bei sich anfangende Zweck nicht im
Zufälligen untergeht, sondern daß das Anfangen bei sich bereits ein Werk
der Zufälligkeit ist: Die Zwecke werden aus dem Zufall.
So hat das befehlende Wollen keine Macht, sondern ist selbst nur ein
Aufscheinen in der ewigen Zufälligkeit oder der Macht. — Dies ist der
höchste philosophische Ausblick in Nietzsches religiöser Einsicht, wie um-
gekehrt gesagt werden kann, das Verschwinden der einfadien Trennung von
Gut und Böse sei die religiöse Substanz von Nietzsches philosophischer Ein-
sicht in das Wesen der Macht. Es kommt nicht darauf an, diesen Ausblick
mit schneller Kritik sogleich wieder zu verstellen, sondern ihn nachzudenken
und nadizuerfahren, um auf diese Weise an diesem Ort den Wendepunkt
zu erfassen, der in der religiösen Einsicht ihr Gegensatz gegen die Rache
gewesen ist.
Der problematische Gegensatz ist hier die Spontaneität des Willens
gegen ihre Relativierung in der Zufälligkeit. Es ist die Präposition „zur*
der Formel ,Wille zur Machtc, der das Problem knapp andeutet, nämlich
den Vorrang der befehlenden Spontaneität: Der Wille hat den Vorrang, so
daß von ihm aus zur Macht gelangt wird. Die Macht oder Zufälligkeit ist
nicht aus einem positiven Begriff des Willens entwickelt, sondern ist sein
bloßes Verschwinden. Zugleich haftet Nietzsche deshalb an der Identität
des ,Idi will', und die Zufälligkeit ist dessen Entgegengesetztes. Entspre-
chend sagt Zarathustra: „Alles ,Es warc ist... ein grauser Zufall — bis der
schaffende Wille dazu sagt: ,Aber so will ich es! So werde idi's wollen!*"
Macht, und nicht Gewalt 45

(Za II, Von der Erlösung, a.a.O., S.395). Die mannigfaltige, bedingte
Wirklichkeit steht dem bei sich anfangenden ,Idi willc als Zufälligkeit ent-
gegen, die für den Willen ,graus* ist, weil der Wille in ihr verschwindet. In-
dem aber der Wille die Zufälligkeit selber will, ist er der „Erlöser des Zu-
falls* (Za III, Von alten und neuen Tafeln, Nr. 3, a. a. O., S. 445). Der
Zufall wird bejaht und gewollt und der Wille erlöst sich von ihm, indem er
ihn will. Aber eben dieses Bejahen hat mit dem mächtigen wirklichen Zufall
nichts zu tun, sondern nur mit sich selbst. Mit dem bejahenden Wollen des
Zufalles dehnt sich der Wille nicht auf das ihm entgegenstehende Zufällige
aus, sondern bleibt bei sich selbst und statt der Zufälligkeit, die Macht ist,
besteht ein äußerliches und ungleiches Verhältnis des Willens und des Da-
seins, das deshalb nicht Macht ist, so daß es entweder Macht oder Zufällig-
keit gibt, aber keinen Willen oder wollende Spontaneität, aber keine Macht.
Der Abschnitt 230 von „Jenseits von Gut und Böse", der die Worte
„Zufall" und „Macht" nicht enthält, zeigt vielleicht am besten, wie weit
Nietzsche in diese Antinomie verstrickt ist, einerseits Macht zu setzen und
den Willen preiszugeben, andererseits an dem Willen festzuhalten und den
Begriff der Macht zu verlieren.
Dieser Abschnitt läßt sich nach seiner Argumentation in folgende drei
Sätze aufgliedern: 1. Es gibt nur Natur und diese ist Herrschaft des Zufalles.
2. Der Wille ist Aneignung der Natur und Herrschaft über sie. 3. Der Wille
ist nicht Aneignung, sondern Täuschung über die Natur. Diese Sätze bleiben
unvereinbar. Der zweite Satz besagt, der Wille sei für sich Macht oder Macht
durch Gewalt gegen die Natur. Gegen diese Auffassung der Macht als Ge-
walt ist der Abschnitt jedoch in Wahrheit gerichtet. Es gehe darum, den
Menschen „zurückzuübersetzen in die Natur" und ihn von den metaphysi-
schen Wertungen, daß er mehr als Natur sei, zu befreien: Der Wille hat
keine Macht als Gewalt über die Natur. Aber es gibt Willen. Der Wille ist
auf Aneignung gerichtet, aber diese ist nur Täuschung. So ist der Wille
„Abschließung" (a. a. O., S. 695) gegen das einzige und eigentliche Sein, die
natürliche Zufälligkeit. Abgeschlossen gegen diese ist aber weder diese nodi
das Wollen Macht, sondern beide stehen in einem äußerlichen Reflexions-
verhältnis.
Es kann aber auch gesagt werden, die Zufälligkeit gegen das identische
Befehlen existiere für dieses Wollen nur als entgegengesetztes Wollen. Aber
Nietzsche sagt richtig, daß diese Entgegensetzung nur scheinbar ist (a. a. O.,
S. 695). Die Aneignung, der der Wille zur Abschließung und zur Täuschung
entgegensteht, ist nur Schein. Der Wille zur Aneignung ist Wille zum Schein.
Und umgekehrt ist der Wille der Abschließung Aneignung als Täuschung.
Das Aneignen täuscht und das Täuschen eignet an. So ist die Aneignung nur
Beziehung der identischen Spontaneität auf sich selbst. Der Wille bleibt
46 Bernhard Taureck

abstrakt bei sich selbst. Seine Einwirkung auf das Dasein ist Schein und
Täuschung, und die Täuschung ist sein Bestehen und seine Identität mit sich
oder Aneignung nur seiner selbst.
Das andere Extrem zu dem bei sich seienden Willen ist sein absolutes
Verschwinden, das Beisidisein der Natur als „homo natura" (a. a. O., S. 696).
Zu dieser Natur zurückzukehren ist, wenn überhaupt, durch den täuschend
aneignenden Willen unmöglich.
V
Der Begriff der Macht kann als absolute Zufälligkeit, als Widerspruch
von Bedingtsein und Nichtbedingtsein alles Endlichen gedacht werden, aber
nicht durch einen Begriff des Willens. Der Wille, der in der Zufälligkeit nur
ein Aufscheinen, nur das Moment des Nichtbedingtseins ist, kann entweder
nur geleugnet oder als bei sich verharrende Spontaneität vorgestellt werden,
die in äußerem Verhältnis gegen den Zufäll steht. Es wurde deutlich, daß
Nietzsche beides tut, sowohl den Willen leugnet, als auch das Reflexions-
verhältnis des Willens setzt.
Das so entstehende Problem beruht nicht auf irgendeinem korrigier-
baren Fehler Nietzsches. Vielmehr zeigt es den noch immer gegenwärtigen
Stand des philosophischen Begreifens des Willens an. — Die bisher unbe-
achtete Nähe von Nietzsches Willensvorstellung zum Willensbegriff Hegels
wurde angegeben16. Der Gedanke an Hegel mag jedoch gerade an dieser
Stelle eine dialektische Lösung des Problemes nahelegen, zu der Nietzsche
nicht gelangt ist, d.h. eine Dialektik wechselseitiger Durchdringung des
Willens und des Zufalles. Es ist nicht wirklich bekannt, daß gerade Hegel
eine solche unbestimmte Dialektik nicht ausführt. Vielmehr bleibt bei ihm
das genannte Problem ungelöst.
Für Hegel stellt sich das Problem des Willens als Gegensatz des Selbst-
bewußtseins, das seiner bei sich selbst gewiß ist und des Bewußtseins, das das
andere als es selbst als das Wahre weiß. Seine fragwürdige Lösung sich
gegenseitig anerkennender Menschen, die sich selber als Gewissen verstehen
in der „Phänomenologie des Geistes", kann hier nicht dargelegt werden.
Wir beschränken uns auf einige Bemerkungen zu dem Kernstück seiner Ge-
danken über unser Thema, die das Kapitel „Die Idee des Guten" der Logik
enthält (Logik II, a. a. O., S. 477—483).
16
In einer Bemerkung des Nachlasses stellt sich Nietzsche an Hegels Seite als dessen
komplementärer Philosoph: „HegePs gothische Himmelstürmerei .... Versuch, eine Art
von Vernunft in die Entwicklung zu bringen: — ich am entgegengesetzten Punkte, sehe
in der Logik selber noch eine Art von Unvernunft und Zufall. Wir (sie!) bemühen uns
zu begreifen, wie bei der allergrößten Unvernunft, nämlich ganz ohne Vernunft die
Entwicklung bis herauf zum Menschen vor sich gegangen ist" (VII, 2, S. 251, Nr. 388).
Macht, und nicht Gewalt 47

Das selbstbewußte Wollen ist in sidht und für sich vollendet und zeigt
sich als Handlung als solches. Das Gute, das es zunächst in subjektiver Ein-
zelheit ist, tritt in das Dasein und ist an sich Einheit des Selbstbewußtseins
und des Bewußtseins, Subjekt-Objekt. Als Handlung aber ist das Wollen
Verhältnis zur Objektivität. Dieses Verhältnis ist der Zweck, der zwischen
Subjekt und Objekt das Mittel setzt. Das Mittel ist deshalb eine doppelte
Bestimmung und Beziehung: Beziehung des subjektiven Zweckes auf das
Objekt und Beziehung des Objektes auf Objekte. Der Zweck läßt die Ge-
genstände sich aufeinander beziehen, indem sie mit dem Mittel, das Gegen-
stand ist, bearbeitet werden und eignet sich das Objekt als Mittel unmittel-
bar an. In beiden Verhältnissen bleibt das Objekt aber immer auch Objekt,
so daß jeder erreichte Zweck dem subjektiven Wollen wieder als Objekt
gegenübersteht und wiederum zum Mittel gemacht werden kann usw. ins
Endlose. Hegel unterscheidet diese endliche Zwecktätigkeit (a. a. O., S. 401 f.)
von dem allgemeinen Begriff dieses Verhältnisses, das Macht bedeutet (En-
zyklopädie, § 209 und Zusatz). Nicht der subjektive Zweck bemächtigt sich
der Gegenstände — das wäre wiederum nur Macht als Gewalt —, sondern
das Verhältnis der Subjektivität und Objektivität läßt die Bemächtigung
des Objektes nur dann zu, wenn das Objekt zugleich als Objekt hervortritt,
nämlich in der Bestimmung des Mittels als Beziehung von Objekt zu Objekt.
Der subjektive Zweck kann sich ein Objekt als Mittel nur aneignen, wenn
oder weil das Objekt als Objekt sich darin zu sich selbst verhält. Die Macht
ist somit hier das Subjekt-Objekt, das Hervortreten beider für sich in ihrer
Einheit.
Wie Nietzsches Einsicht der Macht als Zufälligkeit wird diese der
Zwecktätigkeit überhaupt verliehene begriffliche Fassung dem eigentlichen
Wollen jedoch nicht gerecht. Das Wollen, wie es Hegel als in sich für sich
vollendetes Selbstbewußtsein des Guten auffaßt, ist zwar mehr als abstrakte
identische Spontaneität. Es ist das Subjekt-Objekt oder die Macht als Sub-
jekt. Deshalb steht ihm die Macht als Finsternis des Zufalles und des Bösen
entgegen (a. a. O., S. 480 f.). Anders gesprochen: Die Macht hört auf, Macht
zu sein, sofern das Subjekt-Objekt subjektiv ist. Wie Nietzsche entwickelt
Hegel die Macht ohne Subjektivität und Willen, nämlich die Substanz (s. o.
unter III) und das Wollen ohne Macht. Das Wollen bleibt ohne Macht
gerade durch den Gedanken, der die Einheit des Wollens mit der Kontingenz
außer ihm demonstrieren soll. Dieser Gedanke ist die Erinnerung des Er-
kennens oder des Bewußtseins für das Selbstbewußtsein, nämlich das Wissen,
daß das Dasein außer dem Subjekt für das Subjekt das Wahre ist, so daß
das subjektive Subjekt-Objekt in der scheinbaren Finsternis außer ihm sein
eigenes Licht erblickt. Diese Versöhnung des Wollens mit der Macht wider-
spricht Hegels eigener Bestimmung des Erkennens, das analytisches Erken-
48 Bernhard Taureck

nen, d. h. abstrakte Identität von Erkennen und Gegenstand gegeneinander,


und synthetisches Erkennen ist, d. h. Vereinheitlichung des Mannigfaltigen
(a. a. O., S. 444 und 450) und dabei immer in äußerlichem und endlichem
Verhältnis zur Objektivität steht. Dieses endliche Erkennen vermag das
Wollen nicht mit der Macht zu versöhnen, sondern kann den Gegensatz nur
noch vertiefen, weil auch es ihn erzeugt. -
Hegel sagt in diesem Zusammenhang einmal, wir leben in der Täu-
schung, daß das Gute noch nicht ausgeführt und deshalb erst zu schaffen sei.
Diese Täuschung mache die Idee oder das Gute aber selbst und hebe sie zu-
gleich wieder auf (Enz., §212, Zusatz). Die Bedeutung des entwickelten
Willens zur Aneignung und zur Täuschung bei Nietzsche ist dementspre-
chend: Nicht daß der Zweck nicht ausgeführt sei, ist die Täuschung, sondern
Täuschung ist, er sei ausgeführt; die Aneignung ist Täuschung, daß ange-
eignet wird. Ohne Kenntnis der soeben entwickelten Begriffe Hegels schließt
Nietzsche denselben Sachverhalt des Willens auf und dieselbe ungelöste
Problematik. Denn es macht keinen Unterschied, ob die Idee den Willen
täuscht (Hegel) oder der Wille die Idee (Nietzsche). In jedem Fall bleiben
Wollen und Macht geschieden. Daß diese Trennung auf Täuschung beruhe,
bedeutet nicht ihr Verschwinden, sondern ihr Beharren, weil das Täuschen ]'
Äußerung der. identischen Spontaneität des ,Ich will* ist und an diese gebun-
den bleibt.
Nietzsche hat versucht, durch Bilder diese Trennung des Wollens von
der Macht aufzuheben. Sein „Also sprach Zaräthustra" bildet eigentlich
nichts anderes als eine mannigfaltige Variation dieses Themas und dieses
Versuches. Das Gleichnis der ersten Rede Zarathustras „Von den drei Ver-
wandlungen" enthält eine Befreiung des Wollens von dem Sollen, eine
Metamophose des Geistes vom Kamel zum Löwen. Der Löwe bedeutet rei-
nes freies Wollen, das aber keine neuen Werte zu schaffen vermag (a. a. O.,
S. 294). Es ist befehlende Spontaneität, die bei sich selbst bleibt ohne Macht.
Erst indem der Löwe zum Kind wird, will sich der Wille, d. h. verschwindet
als abstrakte bloße Spontaneität. Die Fülle der Charakterisierungen dieses
Zustandes, „Unschuld", „Vergessen", „Neubeginnen", „Spiel", „ein aus sich
rollendes Rad", „eine erste Bewegung", „ein heiliges Ja-sagen" soll im
Gleichnis die philosophisch unaufgelöste Antinomie der Macht ohne Willen
und des Willens ohne Macht auflösen. Diese Auflösung bleibt aber, gerade
durch die Unscharfe des Bildes in seiner Mannigfaltigkeit, auch im Gleich-
nis ein Sollen.
Noch unglaubwürdiger ist derselbe Versuch mit Hilfe der Schönheit.
Das Schöne kann nicht gewollt werden, sondern tritt auf, sofern der Wille
nicht will. Das Auftreten der Schönheit soll Macht sein: „Wenn die Macht
gnädig wird und herabkommt ins Sichtbare: Schönheit heiße ich solches
Macht, und nicht Gewalt 49

Herabkommen" (Za II, Von den Erhabenen, S. 374). Die Macht ohne Wil-
len ist etwas Höheres als der Wille ohne Macht, sofern sie nicht einfaches
Schaffen und Zerstören ist, sondern sich für die Anschauung zeigt. Es bleibt
dabei offen, ob und inwiefern Schönheit Macht ist. Jene Antinomie wird
deshalb nicht gehoben. Von dieser Stelle aus führt im übrigen ein Weg zu
Nietzsches Ästhetik, die hier nicht verfolgt werden kann*7.
Schließlich ist auch die ewige Wiederkehr des Gleichen die Zufälligkeit
oder Macht selbst ohne Willen. Die ewige Wiederkehr ist ein anderer Aus-
druck für die Macht als absoluter Zufälligkeit, in der, was untergeht, auf-
geht und was aufgeht, untergeht, so daß alles ebenso bleibt wie verschwin-
det oder in der der Widerspruch des Zufälligen, die Gleichheit von Bedingt-
sein und Unbedingtsein, herrscht. Als solcher löst deshalb der Gedanke der
ewigen Wiederkehr den Gegensatz des Willens ohne Macht und der Mächt
ohne Willen nicht, eben weil er selbst nur die Macht ohne Willen bezeichnet
und in keinem Begriff des Wollens ein fundamentum in re besitzt.

VI
Der Wille soll eine Erfindung derer sein, die sich rächen wollen für ihr
Dasein. Zweitens gibt es keinen Willen, sondern nur Macht, denn Wille
wäre Gewalt. Wie die Rache schließlich der Einsicht des Dionysischen abso-
lut entgegenstand, so gerät der Wille in einen absoluten Gegensatz zu .der
Macht. Die Formel „Wille zur Macht", die man nicht als Macht des Willens
mißdeuten darf, bezeichnet genau diesen Gegensatz und die Entschlossenheit
Nietzsches, weder das eine, die Macht, noch das andere, das Wollen, preis-

17
Nietzsches Bemerkungen zur Ästhetik bestätigen die hier entwickelte Auslegung des
Willens zur Macht. Die Schönheit, die die Kunst den Dingen verleiht, kommt diesen
an sich und in Wahrheit nicht zu (VIII, 2, S. 221, Nr. 167). Die Wahrheit aber ist die
sinnlose oder absolut zufällige Welt gegen die Subjektivität des Wollens. Über sie
betrügt die Kunst (VIII, 3, S. 318, Nr. 3), und die Weise des Auffassens der Welt in
der lügenden Kunst ist der Rausdi (VIII, 3, S. 148, Nr. 170). Weil Wollen und Madit
in einem antinomischen Verhältnis stehen und weil dagegen die Kunst die Zufälligkeit
der Macht ohne Wollen verklärt, kann Nietzsche sagen: „wir haben die Kunst, damit
wir nicht an der Wahrheit zu Gründe gehen" (VIII, 3, S. 296, Nr. 40). Ohne die Kunst
wäre der Mensch der Antinomie des Wollens ohne Macht und der Macht ohne Willen
preisgegeben. Dieses Preisgegebensein bestünde darin, daß die Macht zur Gewalt erklärt
würde, so daß das Wollen ohne Macht sich einer machtlosen Zufälligkeit gegenüber
sähe, zu der sein Verhältnis Gewalt wäre. Deshalb kann er sagen: „ ,Sdiönheitc ist des-
. halb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegen-
sätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetzes;
außerdem ohne Spannung: -*· daß keine Gewalt mehr noth thut ..." (VIII, l, S. 266,
Nr. 3). Die Überwindung der Antinomie der Macht und des Wollens ist aber Lüge und
bleibt deshalb an sich auf cler Seite des Wollens ohne Macht. Der Satz über die Ret-
tung vor der Wahrheit durch, die Kunst muß deshalb zugleich so gelesen werden, daß
wir die Kunst haben, Weil wir an der Wahrheit bereits zugrunde gegangen sind.
50 Bernhard Taureck

zugeben. Diese Bemühung hat ihn auf einen anderen Weg geführt, der sich
nur im Hinblick auf die dargelegte Antinomie des Wollens ohne Madit und
der Macht ohne Wollen verstehen läßt. Es ist der Weg, an 'die Stelle des Wil-
lens den Trieb zu setzen.
Durch den Trieb läßt sich das Wollen mit der Macht verknüpfen. Einige
Bemerkungen sollen dies zeigen. Bei Nietzsche ünden sich hierzu keine aus-
drücklichen Reflexionen, ebensowenig wie bei dem Begriff der Macht. Sie
liegen aber der Sache nach seinen Gedanken zugrunde und ermöglichen des-
halb deren begriffliche Auslegung. — Trieb bedeutet einfaches Streben und
einfache Gleichheit mit sich in seinem Gegenteil. Das Streben ist Tendenz
nach Befriedigung und aus der Befriedigung entsteht wieder dasselbe Stre-
ben. Trieb ist beides, Streben und Befriedigung in einfacher Einheit. Das
Streben oder die Tendenz ist in ihrem Gegenteil, der Befriedigung, in wel-
cher sie erlischt, bei sich, wie umgekehrt die Befriedigung mit der Bewegung
des Strebens gleich ist. Eines entsteht aus dem änderen, ist mit dem anderen
gleich und an ihm selbst das andere. Das Streben tendiert zum Erlöschen in
der Befriedigung, und die Befriedigung ist Ursprung und Schaffen des Stre-
bens. Dieser Zusammenhang des Gegenteiles seiner selbst besteht aber nur in
der Einfachheit. Nur als einfache Befriedigung und einfaches Streben kehrt
der Trieb zu sich zurück. Der Wille ist demgegenüber mannigfaltiges Stre-
ben, dessen Befriedigung in Zweck und Mittel das Prinzip der Unbestimmt-
heit und Mannigfaltigkeit enthält: jeder erreichte Zweck kann Mittel eines
anderen Zweckes werden. Der Trieb dagegen ist einfach und seine Befriedi-
gung nur am gleichartigen Gegenstand möglich. Die Mannigfaltigkeit des
Triebes ist deshalb für den Trieb äußerlich, d. h. eine Verschiedenheit ver-
schiedener Triebe, die sich verdrängen und die verdrängt werden.
Indem die Triebe gegenwärtig sind und verschwinden und ständig im
Auftreten und Abtreten sind, können sie als Akzidenzen der Substanz auf-
gefaßt werden. Sie verdrängen sich und werden ebenso verdrängt. Sie haben
keine Gewalt übereinander, sondern finden sich in die Gegenwart versetzt.
Kein Trieb will einen anderen verdrängen, sondern er ist ein solches Ver-<
drängen. Aber nicht nur nach außen ist der Trieb von der Macht beherrscht,
sondern in seiner Einfachheit selbst, in der einfachen Gleichheit mit sich in
seinem Gegenteil. Die Macht ist selbst diese Beziehung, sofern sie Einheit
des Aufgehens und Untergehens ist, d. h. der Wechsel von Streben und Be-
friedigung. Der Wille ist mannigfaltiges Streben und darin die Allgemein-
heit aller besonderen Zwecke. Deshalb bedeutet er gegen die Kontingenz des
Mannigfaltigen Spontaneität, die nicht selbst im Auftreten und Verschwin-
den steht und die somit nicht ein Aufscheinen der Macht ist. Die Sponta-
neität des Triebes dagegen, die Tendenz des Strebens, läßt sich als solches
Aufscheinen denken, d. h. als ein Dasein, das in seinem Verschwinden ist.
Macht, und nicht Gewalt 51

Bei Nietzsche wird dieser Zusammenhang nicht ausdrücklich. „Unser


Intellekt, unser Wille, ebenso unsere Empfindungen sind abhängig von
unseren Wertschätzungen: die entsprechen unseren Trieben und deren
Existenzbedingungen. Unsere Triebe sind reduzierbar auf den Willen zur
Macht. Der Wille zur Macht ist das letzte Faktum, zu dem wir hinunter-
kommen" (VII, 3, S. 393, Nn 61). Der Wille soll hiermit durch Triebe er-
setzt werden. Triebe sind das Ursprünglichere. Die Triebe aber lassen sich
auf den Willen zur Macht zurückführen. Die beiden hierbei unverständ-
lichen Bestimmungen sind erstens, daß das Ursprünglichere als der Wille
doch wiederum Wille sein soll und zweitens daß die Vielheit der Triebe an
sich Einheit des einen Willens zur Macht bedeuten soll. Der Sachverhalt
klärt sich auf, sobald der Trieb als Erscheinung der Macht verstanden wird.
Der Wille zur Macht ist dann nicht ein Trieb der Triebe oder ein allgemeiner
Wille, der alle Triebe in sich auflöst, sondern er bezeichnet das Wesen der
Triebe, die Einheit von Entstehen und Vergehen. Nietzsche hat deshalb auch
gar nicht auf der Formel „Wille zur Macht" insistiert. Er sagt nämlich auch
„Trieb nach Macht" (VIII, l, S. 14, Nr. 33) oder „Wille zur Lust" (VIII, 3,
S. 320, Nr. 16) dafür und bezeichnet so den Charakter des Triebes. Denn
auch die Bezeichnung „Wille zur Lust" meint notwendig den sich befriedi-
genden Trieb und zeigt die Verwendung von „Wille" als Trieb.
Hier liegt auch der Grund und die Berechtigung von W. Müller-Lauters
Auslegung, die mit einer großen Fülle von Textbelegen gezeigt hat, daß der
„Wille zur Macht" nicht ein einfacher, gleicher und allgemeiner Grundwille
ist18. An der Stelle des Willens zur Macht erblickt Müller-Lauter eine Man-
nigfaltigkeit von Machtquanten, deren Gefüge eine ständige Veränderung
ist. Müller-Lauter hat sich bewußt auf eine immanente Entwicklung von
Nietzsches eigenem Verständnis des Willens zur Macht beschränkt. Der hier
gekennzeichnete Zusammenhang des Triebes und der Macht erlaubt, über
eine immanente Betrachtung hinaus, die Aussage, daß Nietzsches Terminus
des Quantums Macht die Macht als Trieb bezeichnen soll. Der Trieb ist
Quantum in seiner Einfachheit und Macht in seinem Dasein als Verdrän-
gung, d. h. daß das Verdrängtwerden ebenso zu seiner Bestimmung gehört
wie sein Auftreten, das einen anderen Trieb verdrängt. Die Quantität ist
Kategorie der Gleichartigkeit, die sowohl Kontinuität wie Diskretion be-
deutet, d. h. ein Dasein vieler Eins, die ebenso verschieden wie gleich sind.
Das „Eins" eines Triebes wird durch ein anderes „Eins" verdrängt, aber der
Verlust der Grenze oder der Gegenwart eines Triebes gehört zu seiner Be-
stimmung. Seine Vorstellung als Quantität enthält allgemein das Verschwin-
den des diskreten Quantums in der Kontinuität des Quantitativen. — Die
18
VgL oben Anm. l.
52 Bernhard Taureck

wirkliche Bestimmtheit des Triebes als einfacher Gleidiheit mit sich in sei-
nem Gegenteil in der Bewegtheit des Strebens und der Befriedigung und die
darin beruhende Macht wird freilich durch die Fixierung des Triebes als
Quantum nicht angemessen erfaßt, eben weil die Bewegtheit durch die
Quantität nicht gedacht werden kann. Welchen Umfang und welche Funk-
tion die quantitative Deutung der Macht bei Nietzsche besitzt, soll hier
unerörtert bleiben. Es kam hier nur auf das dem Schaffen und Zerstören der
Macht analoge Verhältnis in der Quantität, der Diskretion und Kontinui-
tät, an. —
Mit Hilfe des Triebes wird schließlich audi die ewige Wiederkehr denk-
bar. Während dieser Gedanke im Wollen kein fundämentum in re fand,
sondern gegen es Macht ohne Willen bezeichnet, ist der Trieb an sich selbst
beständiger Wechsel des Selben: „Lust will sich selber, will Ewigkeit, will
Wiederkunft, will Älles-sich-ewig-gleidi. ... Lust will aller Dinge Ewigkeit,
will tiefe, tiefe Ewigkeitl" (Za IV, Das trunkne Lied, S. 556 und 557).

VII
Nietzsches Ersetzung des Willens durch den Trieb bildet sein unheil-
volles Erbe A. Schopenhauers. Schopenhauer hat die spekulative Problema-
tik des Willens wie sie die Philosophie des deutschen Idealismus bedacht
hatte, nicht mehr verstanden und dadurch unterboten, daß er mit dem Wil-
len nichts anderes als die Vorstellung des Triebes verbinden konnte19. Mit
19
Schopenhauer schreibt: „Wir haben dieses den Kern und das ansich jedes Dinges aus-
machende Streben als das selbe und nämliche erkannt, was in uns, wo es sich am deut-
lichsten ... manifestiert, Wille heißt. Wir nennen dann seine Hemmung durch ein
Hinderniß, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hin-
gegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück" (Die Welt als Wille und
Vorstellung I, Wiesbaden 1949, § 56, S. 365). Und: „Alle Befriedigung, oder was man
gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus
nie positiv. Es ist nicht eine ursprünglich und von selbst auf uns kommende Beglückung,
sondern muß immer Befriedigung eines Wunsches seyn. Denn Wunsch, d. h. Mangel ist
die vorhergehende Bedingung jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der
Wunsch und folglich der Genuß auf (ibd. § 58, S. 376). Und: „Das Grundthema aller
mannigfaltigen Willensakte ist die Befriedigung der Bedürfnisse, welche vom Daseyn
des Leibes in seiner Gesundheit unzertrennlich sind, schon in ihm ihren Ausdruck
haben und sich zurückführen lassen auf Erhaltung des Individuums und Fortpflanzung
des Geschlechts" (ibd. § 60, S. 385). — Heidegger bemerkt mit Recht — allerdings ohne
dies näher zu zeigen —, daß Nietzsche dem deutschen Idealismus näher stehe als
Schopenhauer (Nietzsche I, a. a. O., S. 74 f.). — Die Bedeutung von Schopenhauers
Einfluß auf Nietzsche ist neuerdings von J. Sälaquarda wieder erschlossen worden
. (J. Sälaquarda, Der Antichrist. In: Nietzsche-Studien, Bd. 2 1973). — Schopenhauer
hat allerdings das servum arbitrium M. Luthers wiederentdedkt (a. a. O., S. 480 f<).
Sein in sich dissoziiertes Denken erlaubt aber keine wirklich spekulative Ausführung
dieses Gedankens. Der deutsche Idealismus, der um diese Ausführung gerungen hat,
hat umgekehrt die Bezüge zu Luthers philosophischem Gedanken unnötig verschleiert.
Macht, und nicht Gewalt 53

seinem Gedanken der Macht ist Nietzsche dieser Simplifizierung überlegen,


so daß er, wie demonstriert wurde, den von Hegel erschlossenen Problem-
zusammenhang des Willens wieder erreicht. Nietzsche hat auch immer wie-
der die Sdiopenhauersche Reduktion des Willens auf den Trieb erkannt und
getadelt. „, Die Welt als Wille und Vorstellung* — ins Enge und Persön-
liche, ins Schopenhauer'sche zurückübersetzt: ,die Welt als Geschlechts-Trieb
und Beschaulichkeit^ (VIII, l, S. 40, Nr. 148). Und: „Schopenhauers
Grundmißverständnis des Willens (wie als ob Begierde, Instinkt, Trieb das
Wesentliche am Willen sei) ..." (VIII, 2, S. 99, Nr. 169). Und: „Sdiopen-
hauer sagte ,Wille*; aber nichts ist charakteristischer für seine Philosophie,
als daß der Wille in ihr fehlt« (ibd. S. 105, Nr. 178).
Nietzsche weicht der von ihm selbst erschlossenen Antinomie aus, ent-
weder Willen ohne Macht oder Macht ohne Willen zu erhalten, indem er
den Willen als Trieb versteht. Weil er weiß, daß Schopenhauer diese Reduk-
tion durchführte und daß sie eine Verfälschung darstellt, versucht er dem
Willen oder dem Trieb zur Macht eine andere Bedeutung zu verleihen als
der Begriff des Triebes enthält. Diese Bedeutung ist die Steigerung oder das
Wachstum. Der Wille zur Macht ist Streben nach Gewinn von Macht; das
Wollen des Willens zur Macht ist Wachstum der Macht20. Der Wille ist nicht
zunächst ohne Macht und gewinnt als solcher überhaupt erst Macht, sondern
er ist in ihr und steht zu ihr in dem leeren Verhältnis der Mehrung. Für die
Macht ist der Zuwachs eine unwesentliche Bestimmung oder bloß jene
Analogie in der Kontinuität und Diskretion des Quantums zu dem Schaffen
und Zerstören der Substanz. Aber wie für die Macht das Wachstum un-
wesentlich ist, ebenso ist es für das in ihr tätige Streben. Dieses Streben ist
als solches in ihr nur ein Aufscheinen des Maditzusammenhanges, der Ein-
heit des Strebens mit seinem Erlöschen. Dieser einfachen Einheit, die Trieb
ist, ist die Intensität der Begierde und der Befriedigung unwesentlich, inso-
fern der Trieb einfache Bestimmtheit bleibt. Der Trieb wird nicht zum Wil-
len durch Mehrung der Intensität seiner Begierde und Befriedigung. So
bleibt Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, sofern sie der von ihr selbst
erschlossenen Antinomie der Macht ohne Willen und des Willens ohne Macht
ausweichen will, eine Reduktion des Willens auf den Trieb — eine Reduk-
tion, von der Nietzsche, wie seine Zurückweisung Schopenhauers zeigt, weiß,
daß sie unzulänglich ist. —
Die Revision von Heideggers Sicht und Bewertung Nietzsches ist da-
mit an dieser Stelle abgeschlossen. Es ist noch ausdrücklich über den Vorwurf

?0
Zu Belegen und weiterer Ausführung dieser Bestimmung vgl. meine Schriften „Das
Schicksal der philosophischen Konstruktion" und „Nihilismus und Christentum*,
(a· a. O.). >
54 Bernhard Taureck

der Übersteigerung der Subjektivität zu reden. Dieses Urteil wird dadurch


ungültig, daß Nietzsche die Subjektivität gar nicht in ihrem Äußersten,
Wollen, faßt und diesem etwa absolute Macht verleihen will, sondern sich
auf etwas viel Geringeres* den Trieb nämlich, beschränkt. Und diese Be-
mühung geschieht nicht, weil er den Menschen als Tier sehen möchte, son-
dern weil sein einziges großes Bemühen war, Macht zu denken, in der alle
Werte und alles Wertsetzen aufgeht und untergeht und dergegenüber das
endliche Wollen eine schlechthin machtlose Eitelkeit ist. Die Aporien dieser
philosophischen Bemühung schränken Nietzsches Einsicht nicht auf die reli-
giöse Erfahrung des Versdiwindens einer einfadien Trennung von Gut und
Böse und den absoluten Gegensatz dieser Erfahrung gegen die Rache ein.
Auch wird Nietzsches Denken durch beide Aporien nicht falsch, eben
weil philosophisches Denken nicht richtig ist, sondern wahr und unwider-
legbar. Abgelöst freilich von dem Gedankenzusammenhang verkehren diese
Aporien den Gedanken der Macht in Unsinn. Das Bewußtsein der Macht
als Unsinn lebt aber von der Gewalt im Rausch einer Weltherrschaft der
Technik und der alle Unterschiede ausmerzenden Gleichheit. Philosophie
wird unbeirrbar in der Erkenntnis solcher Aporien deren Auflösung erwar-
ten. Anders wird sie von dem Wahn, daß Macht aus Gewalt folge, nicht
befreien.

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