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Was drin ist für dich: Verstehen, wieso wir zu moralischem Fortschritt fähig sind.

Was haben die Bankenkrise, die drohende Klimakatastrophe und der weltweite Wiederaufstieg
von nationalistischen Ideen gemeinsam? Eines gewiss: Sie spalten die Menschen in Lager, die
sich zum Teil unversöhnlich gegenüberstehen. Manchmal möchte man glauben, sie lebten nicht
mehr auf derselben Welt. Undenkbar scheint, dass sie wieder zusammenfinden und das
Richtige tun, um die Krisen der Gegenwart zu bewältigen. Wir stecken also tief in einer
Wertekrise. Da drängt die Frage: Bewegen wir uns in unserer moralischen Entwicklung zurück?

Diese Blinks sollen dir neue Hoffnung geben. Sie zeigen dir, dass wir sehr wohl zu moralischem
Fortschritt fähig sind. Und dass ihn paradoxerweise gerade Krisen vorantreiben. Dieser
Fortschritt hat aber eine Voraussetzung: universale Werte, die für die gesamte Menschheit
gelten und die sich nicht verhandeln lassen. Sie sind der gemeinsame Boden, auf dem wir alle
stehen. Die folgenden Blinks erklären dir die philosophische Grundlage dieser Idee.

Außerdem erfährst du,

1.wieso Populisten gern kulturrelativistisch argumentieren,


2.weshalb die Coronakrise den moralischen Fortschritt fördern könnte und
3.warum es die Kategorien Gut und Böse nicht nur in Hollywoodfilmen gibt.

Wir erreichen moralischen Fortschritt, indem wir neue Erkenntnisse umsetzen.

Erinnerst du dich noch an die Staatsaffäre um Jan Böhmermann? Der Komiker hatte 2016 den
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in seinem sogenannten Schmähgedicht unter
anderem als „Ziegenficker“ bezeichnet, woraufhin dieser ihn anzeigte. Kannst du dir vorstellen,
inwiefern dies zu moralischem Fortschritt für uns alle geführt haben könnte? Die Anwälte
Erdoğans verklagten Böhmermann nicht einfach wegen Beleidigung. Sie beriefen sich in ihrer
Anklage auf Paragraf 103 des deutschen Strafgesetzbuches. Er sieht vor, dass
„Majestätsbeleidigung“ härter als die Beleidigung eines normalen Staatsbürgers bestraft werden
kann. Um genauer zu sein: Er sah es vor. Mittlerweile, im Jahr 2020, existiert er nicht mehr.

Manchmal sind Gesetze einfach nicht mehr zeitgemäß. Wir empfinden ein Gesetz etwa dann
als veraltet, wenn es nicht mehr mit unseren Werten übereinstimmt – es passt dann nicht mehr
in unseren Werterahmen. So war es zum Beispiel auch nicht mehr mit unseren Werten
vereinbar, homosexuellen Menschen die Heirat zu versagen.

Unser Werterahmen verändert sich, allgemein gesagt, indem wir etwas dazulernen oder
erkennen. Viele Dinge, die in vergangenen Zeiten als unmoralisch galten, sehen wir heute –
zum Beispiel aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse – als moralisch neutral an. So auch die
gleichgeschlechtliche Liebe. Wir haben nämlich inzwischen gelernt, dass Homosexualität keine
Krankheit oder Störung ist und auch im Tierreich vorkommt. Außerdem haben wir uns in großen
Teilen von der Bibel als moralischem Grundgerüst verabschiedet, weswegen wir
Homosexualität nicht mehr als Sünde ansehen.
Unser Werterahmen verschiebt sich. Deshalb ist es auch die Aufgabe des Gesetzgebers,
Gesetze zu überarbeiten. Dass wir neue Erkenntnisse haben, führt zu neuen Werten, und wenn
diese dann gesetzlich festgehalten werden, ist das ein moralischer Fortschritt.

Wir dürfen Böhmermann also dankbar sein – er hat mit seinem auf den ersten Blick
fragwürdigen Vergleich den moralischen Fortschritt gefördert. Denn der Vorfall bescherte
unserem Strafgesetzbuch ein lange überfälliges Update. Oder findest du es etwa noch als
zeitgemäß, Majestätsbeleidigung unter besonders harte Strafe zu stellen? Immerhin lautet einer
unserer zentralen Werte, dass alle Menschen gleich sind, vor dem Gesetz und überhaupt.
Letztere Einsicht führte auch schon zu einem viel größeren moralischen Fortschritt: die
Abschaffung der Sklaverei.

Moralischer Fortschritt geschieht also dann, wenn wir neue Erkenntnisse darüber gewinnen,
was wir tun und was wir lassen sollten. Doch dazu müssen wir zuerst sogenannte moralische
Tatsachen aufdecken, die zuvor verborgen waren. Moralische Tatsachen? Was es mit diesen
auf sich hat, erfährst du im nächsten Blink.

Es gibt nicht nur moralische Meinungen, es gibt auch moralische Tatsachen.

Darf man seine Kinder schlagen? Höchstwahrscheinlich wirst du diese Frage mit Nein
beantworten – und das unabhängig davon, ob du selbst Kinder hast und wie deine Kindheit
verlief. Wahrscheinlich würdest du selbst dann mit Nein antworten, wenn dir jemand zeigen
könnte, dass zwei, drei Schläge pro Monat zu, sagen wir, „mehr Zielstrebigkeit“ führen würden.
Oder?

Wenn du so denkst, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass wir vor einiger Zeit eine neue
moralische Tatsache entdeckt haben: dass es schlecht ist, Kinder zu schlagen, um sie zu mehr
Disziplin zu erziehen, auch dann, wenn die Bestrafung angeblich „gut gemeint“ ist. Solche
moralischen Tatsachen gelten universell, das heißt unabhängig von unserer Kultur sowie der
historischen Phase, in der wir leben.

Nun könntest du denken: Moment mal! Denn vielleicht hat dir dein Großvater erzählt, wie er
während seiner Schulzeit bereits für kleinste Vergehen das Lineal vom Lehrer auf die Finger
bekam. Sind also moralische Tatsachen nicht doch abhängig von der Zeit, in der Menschen
gelebt haben? Das würde bedeuten, dass sie eben nicht universell gültig wären. Somit wäre
dann der Grundsatz, keine Kinder zu schlagen, eine bloße moralische Meinung und keine
Tatsache.

So einfach ist es jedoch nicht. Moralische Tatsachen gelten gewissermaßen auch rückwirkend.
So war es auch schon vor hundert Jahren moralisch falsch, Kinder durch körperliche
Züchtigungen zu „guten Erwachsenen“ zu erziehen. Genauso wie es bereits zu Zeiten, als wir
noch in Höhlen hausten, moralisch falsch war, andere zu vergewaltigen.
Dass es zum Beispiel nicht gut sein kann, Kinder zu schlagen, mag bereits lange im
Unterbewusstsein des Menschen verankert gewesen sein. Doch die ganze Tragweite der
körperlichen Züchtigung kam erst zum Vorschein, als wir mehr über die psychosozialen Folgen
der Gewalt gegen Kinder erfuhren. Die moralische Tatsache existierte also bereits, wir mussten
sie nur erst aus dem Verborgenen ans Tageslicht holen.

Dass wir uns täuschen können, heißt also nicht, dass es keine universellen moralischen
Tatsachen gibt. Umgekehrt – und das mag etwas paradox klingen – zeigt der Fakt, dass wir uns
täuschen können, dass es Wahrheit gibt. Denn wenn man danebenliegen kann, muss es etwas
Wahres und Richtiges geben.

Wie hängen moralische Tatsachen nun mit moralischem Fortschritt zusammen? Ganz einfach:
Moralischen Fortschritt erzielen wir, indem wir neue moralische Tatsachen erkennen, die zuvor
verdeckt waren. Moralische Tatsachen sind somit die Voraussetzung für moralischen Fortschritt.

Moralische Selbstverständlichkeiten sind die Grundlage für moralische Tatsachen.

Dürfen wir Babys quälen? Was für eine Frage! Doch so blöd ist sie nicht. Denn dass es
moralische Tatsachen gibt, sehen wir am deutlichsten an den sogenannten moralischen
Selbstverständlichkeiten. So würde wohl weder ein Deutscher oder Italiener noch ein Russe,
Amerikaner oder Chinese dem Gebot widersprechen, dass wir keine Neugeborenen quälen
sollten.

Derartige Selbstverständlichkeiten machen die Mehrzahl der moralischen Tatsachen aus, und
sind die Grundlage dafür, dass wir neue entdecken können. Es gibt mehr Gemeinsamkeiten bei
moralischen Überzeugungen, als wir denken. Wir übersehen häufig die von allen Kulturen
geteilten Werte, da wir uns auf die Unterschiede fokussieren, die wir bei anderen wahrnehmen.

Nun magst du vielleicht glauben, dass es theoretisch durchaus viele moralische


Selbstverständlichkeiten gibt, die wir über alle Kulturen hinweg teilen. Aber der Alltag sieht doch
anders aus. Hielten wir uns etwa an die moralische Tatsache, dass jeder Mensch den gleichen
Wert hat, gäbe es keinen Rassismus mehr. Wenn wir aber diese moralische
Selbstverständlichkeit akzeptiert haben, wie können wir dann gleichzeitig Arbeitsbedingungen
erlauben, die an Sklaverei grenzen? Denk nur an die Zumutungen, die Schlachthausmitarbeiter
erdulden müssen und die während der Coronakrise verstärkt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit
gelangten!

Warum also nehmen wir ihre Ausbeutung hin oder auch den Rassismus, den ausländische
Niedriglöhner in anderen Branchen erfahren? Das hängt, salopp gesagt, damit zusammen, dass
wir nicht perfekt sind. Nur weil wir eine moralische Tatsache aufgedeckt haben, heißt das nicht,
dass sie sich etwa in unserer Gesetzgebung widerspiegelt. Obwohl es moralische Tatsachen
gibt, gelingt uns immer nur die Annäherung an richtiges moralisches Handeln.
Das moralisch richtige Verhalten zu finden bleibt dabei stets ein Prozess. Nicht nur erreichen wir
nie sein Ende, wir sind auch zu moralischem Rückschritt fähig. Zeiten des Rückschritts können
wir als Wertekrise bezeichnen. Bereits aufgedeckte moralische Tatsachen erscheinen hier
wieder verdeckt. Zum Beispiel durch Propaganda und Fake News – sie verdunkeln den Blick
auf objektive Wahrheiten.

Dass wir uns in einer Wertekrise befinden, in der moralische Tatsachen verstellt sind, ist uns
spätestens seit der Finanzkrise von 2008 bewusst. Sie hat gezeigt, dass wir in einer
Gesellschaft leben, in der für Reiche – in diesem Fall vor allem Banker – andere Regeln und
Gesetze gelten als für Normalverbraucher. Der Politik gelingt es außerdem nicht, etwas gegen
die auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich zu tun. Und Lobbyinteressen von
Ölunternehmen stehen Klimaschutzgesetzen im Weg. Kurz: Wir leben in einem moralisch
dunklen Zeitalter. Und dann erfasste uns im Frühjahr 2020 auch noch die Covid-19-Pandemie.
Doch interessanterweise bieten gerade Krisen Chancen auf moralischen Fortschritt.

Die Coronakrise bietet uns eine Chance auf moralischen Fortschritt.

Die Covid-19-Pandemie, die im Frühjahr 2020 auch den europäischen Kontinent erfasste, war
für die meisten von uns ein Schock. Sie überstieg alles, was wir in der Wohlstandsgesellschaft
je erlebt hatten. Gleichzeitig traten während der Krise aber auch so klar wie lange nicht mehr
die Konturen dessen zutage, wer wir sind und wer wir sein wollen. So hat uns die Coronakrise
beispielsweise klargemacht, dass menschliche Kontakte unmöglich zu ersetzen sind.

Dadurch, dass sie uns hilft, uns über unseren Status als Menschen klar zu werden, könnte die
Coronakrise auch den so dringend benötigten moralischen Fortschritt vorantreiben. In Krisen
treten uns generell moralische Missstände besonders deutlich vor Augen. So gewinnen wir
gerade in schweren Zeiten einen Blick für neue moralische Tatsachen.

Die Krise machte uns etwa eine moralische Tatsache bewusst, die wir im Neoliberalismus aus
dem Sichtfeld verloren haben: dass Gesundheit ein Menschenrecht ist, das wir nicht nur
proklamieren, sondern auch umsetzen sollten. Uns wurde von heute auf morgen klar, welche
Konsequenzen ein Gesundheitssystem haben kann, das viel zu sehr am Profit orientiert ist.

Wir sahen die Folgen dieser Fehlentwicklung zum Beispiel, als italienische Ärztinnen und Ärzte
Menschen auf Krankenhausfluren aussortieren mussten, weil in den kaputtgesparten
Krankenhäusern nicht genügend Kapazitäten zur Verfügung standen. Dass wir im angeblich so
fortschrittlichen Europa in Friedenszeiten eine solche sogenannte Triage anwenden mussten,
führt uns diesen moralischen Missstand klar vor Augen.

Die Coronakrise zeigte uns zur selben Zeit aber auch, dass es durchaus möglich ist,
ökonomisch harte und moralisch richtige Entscheidungen zu treffen. Auf einmal war es
beispielsweise möglich, die kapitalistische Logik für kurze Zeit aus den Angeln zu heben und
das moralisch Richtige zu tun: die Wirtschaft herunterzufahren, um Menschenleben zu retten.
So forderte etwa der französische Präsident Emmanuel Macron, dass wir unsere
Gesundheitssysteme nicht dem freien Markt überlassen dürfen. Dabei hatte er kurz zuvor noch
viel daran gesetzt, Frankreichs Wirtschaft liberaler zu machen. Macron erkannte dann aber
doch den moralischen Missstand, was ihn zum Umdenken brachte.

Eine Lehre können wir also aus der Coronakrise ziehen: Es ist möglich, moralische Probleme in
einer Kooperation von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zu lösen. In jeder Krise liegt auch die
Chance auf moralischen Fortschritt.

Der Werterelativismus behauptet, es gebe keine universellen Werte, sondern nur


Meinungen​.

Nun gibt es auch Menschen, die argumentieren, Werte hätten keinen inhärenten
Wahrheitsgehalt, sondern seien je nach Kultur richtig oder falsch. Andere Länder haben eben
andere Sitten.

Die Philosophie bezeichnet diese Haltung als Werterelativismus. Er geht davon aus, dass jede
Kultur ihr eigenes Wertesystem besitze. Dessen Werte könnten innerhalb einer Kultur richtig, in
einer anderen jedoch falsch sein. Man könne immer nur von seinem Standpunkt aus und nicht
universell argumentieren. Wenn also ein konservativer Russe von Moskau aus die Freiheit, die
liberale Demokratien ihren Bürgern erlauben, für dekadent hält, dann hat er für den
Werterelativisten genauso recht wie ein Schwede, der die Demokratie genau für diese Freiheit
liebt.

Gern wird diese Art von Kulturrelativismus zu populistischen Zwecken genutzt. So impliziert das
obere Beispiel ja, dass Menschen mit russischem und schwedischem Hintergrund, wenn sie
auch beide für sich genommen richtig liegen, aufgrund ihrer unterschiedlichen
Wertevorstellungen nicht harmonieren könnten.

So ist der Werterelativismus auch ein beliebtes Mittel, um Populismus zu begründen. Mit exakt
diesem Argument möchten etwa auch Neurechte belegen, dass Islam und Christentum nicht
vereinbar seien. Als Beweis wird dann beispielsweise herangezogen, dass der Koran zu Gewalt
auffordere, was nicht mit unserem Grundgesetz zu vereinbaren sei. Dass dies nicht aufgeht,
sehen wir daran, dass auch die Bibel niemals mit unserem Grundgesetz vereinbar wäre, denn
auch darin wird Gewalt als Mittel moralisch legitimiert.

Einen Schritt weiter als die Relativisten gehen die sogenannten Wertenihilisten. Sie denken, es
gebe überhaupt keine Werte, sondern nur Strategien, mit denen Gruppen oder Kulturen sich
Vorteile gegenüber anderen Gruppen oder Kulturen verschafften. Für Wertenihilisten gibt es
kein Streben nach Wahrheit und keinen moralischen Fortschritt, sondern immer nur neue Mittel
und Wege, Macht zu behalten oder an die Macht zu kommen.

Die Konsequenz aus beiden Denkrichtung ist dieselbe. Sie lautet: Es gibt nur Meinungen und
nichts absolut Wahres oder absolut Falsches. Gut und Böse sind dann immer nur relativ zu
einer Kultur zu sehen. Doch träfe dies zu, würde es auch bedeuten, dass es keine moralischen
Tatsachen gäbe. Schließlich wäre niemand unabhängig genug, um zu entscheiden, welches der
verschiedenen Wertesysteme nun richtig läge.

Denn jeder, der eine Entscheidung darüber treffen wollte, welche Werte universal seien, täte
dies immer nur aus seiner eigenen, kulturell verzerrten Perspektive. Der konservative Russe
und der liberale Schwede wären somit von Grunde auf voneinander getrennt.

Es existieren moralische Werte, die allerorts und in allen Zeiten gültig sind​.

So unterschiedlich Kulturen auf den ersten Blick auch sein mögen: Es herrscht eine viel größere
Einigkeit in moralischen Fragen, als Werterelativisten behaupten. Es gibt Werte, die für alle
Menschen gelten.

Überall dort, wo Menschen über Moral nachgedacht haben, kamen sie darauf, Handlungen in
drei moralische Kategorien einzuteilen: gut, böse und neutral. Diese drei Kategorien
funktionieren wie ein Kompass, anhand dessen wir moralisch urteilen können.

Stellen wir uns eine Situation vor, die moralisch aufgeladen ist: Auf dem Münchner Oktoberfest
setzt sich eine Gruppe Japaner neben eine bayerische Tischgesellschaft. Wenn die Bayern den
japanischen Gästen beim Bestellen des richtigen Bieres helfen, ist das aus moralischer Sicht
nicht nur erlaubt, sondern sogar lobenswert. Und wenn eine Person aus ihrer Gruppe einen der
Touristen belästigt, ist es moralisch geboten, dazwischenzugehen. Nun stellen wir uns vor, das
Oktoberfest fände nicht in München statt, sondern in China: In diesem Fall würden exakt
dieselben moralischen Bedingungen gelten!

Es finden sich keine Orte, an denen sich moralische Überzeugungen wirklich fundamental
voneinander unterscheiden – auch wenn Werterelativisten dies behaupten. Ansonsten könnten
wir gar nicht miteinander kommunizieren.

Nun gibt es aber den Verdacht der Werterelativisten, hinter universellen moralischen Werten
steckten immer nur die Interessen einzelner Gruppen. Selbst die Werte der Französischen
Revolution – also Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit – seien in Wirklichkeit nichts anderes als
eurozentristische Werte, mit denen man seine moralische Überlegenheit zur Schau stellen
wolle. Sie hätten auch als Strategie gedient, um Europas koloniale Eroberungen zu
rechtfertigen.

Ein schwaches Argument. Denn universale Werte wie Freiheit und Gleichheit gelten nicht erst
seit der Französischen Revolution. Sie sind weder eine moderne noch eine europäische
Erfindung.​ Es wäre absurd anzunehmen, indigene Bevölkerungen hätten niemals moralische
Ansprüche erhoben, die für alle Menschen gelten.

Moralische Tatsachen wie Brüderlichkeit und Gleichheit verlieren nicht an Richtigkeit und
werden nicht zu eurozentristischen Ideen, nur weil es Europa nach der Französischen
Revolution nicht gelang, diese Werte auch tatsächlich umzusetzen. So ist es ein Fehlschluss,
die Werte zu diskreditieren – die Werte an sich und das Fehlverhalten Europas als
Kolonialmacht sind zwei unterschiedliche Dinge.

Wir brauchen ein neues Menschenbild für die Zukunft.

Ob „Me Too“ oder „Black Lives Matter“, wir erleben heute weltweit viele
Gerechtigkeitsbewegungen. Auf den ersten Blick erscheinen diese als absolut sinnvoll, um
moralischen Fortschritt zu erzielen, da sie sich für erstrebenswerte Ziele wie die
Gleichberechtigung von Frauen und Schwarzen einsetzen. Allerdings ist ihre
Herangehensweise falsch. Denn diese identitätspolitischen Bewegungen gehen vom
Werterelativismus aus.

Wir wissen, dass Menschenrassen nicht existieren: Es gibt für sie keinen wissenschaftlichen
Beleg. Daher kann auch es keine moralischen Tatsachen geben, die uns sagen, wie eine faire
Behandlung von verschiedenen Rassen aussehen würde. Dennoch klassifizieren
identitätspolitische Bewegungen nach Rassen. Sie leiten etwa aus der Diskriminierung, die
schwarze Menschen in der Vergangenheit erfahren haben, die Regel ab, sie zukünftig zu
bevorzugen.

So forderte ein Autor in der New York Times, sogenannte Blind Auditions abzuschaffen, um so
die New Yorker Philharmoniker diverser zu machen. Derartige Ideen sind allerdings ein
rassistischer Zirkelschluss. Denn auch wenn wir Menschen positiv diskriminieren, halten wir
damit den Rassismus aufrecht – und verhindern so echten moralischen Fortschritt. Wir müssen
daher die Identitätspolitik im Sinne eines Universalismus überwinden. Wir können dies nur
schaffen, wenn wir uns an universelle Werte halten. Nur dann gelingt uns echter moralischer
Fortschritt.

Der bessere Weg bestünde darin, einerseits eine Erinnerungskultur zu schaffen, die
vergangene Diskriminierung berücksichtigt. Und andererseits alles daranzusetzen, das gesamte
Denkmuster des Rassismus zu diskreditieren und letztlich zu entfernen. Was uns die Forschung
lehrt, muss nur politisch umgesetzt werden.

Dasselbe gilt für die Gleichstellung von Frauen. Natürlich ist es ein moralischer Makel, dass
eine Frau in unserer Gesellschaft für die gleiche Arbeit im Durchschnitt schlechter bezahlt wird
als ein Mann. Allerdings ist es keine gute Lösung, Frauen deswegen zukünftig automatisch
bessere Jobs oder höhere Gehälter zukommen zu lassen. Derartige Lösungen halten moralisch
problematische Strukturen – die ungleiche Behandlung – nur unnötig aufrecht. Wir müssen
stattdessen versuchen, Ungleichstellungen zu verhindern.

Identitäres Denken hält uns moralisch zurück, denn selbst wenn wir Gruppen positiv
diskriminieren, halten wir Strukturen aufrecht, in denen wir die einen gegenüber den anderen
benachteiligen.

Wir dürfen moralische Werte nicht mehr den ökonomischen unterordnen​.


Genauso wenig wie uns die Identitätspolitik zu echtem moralischem Fortschritt führt, wird dies
der Neoliberalismus für uns erledigen. An ihn binden sich durchaus Erwartungen: Glaubt man
der neoliberalen Idee, dann stellen sich Fortschritt und Wohlstand automatisch ein, wenn wir
möglichst viele Entscheidungen den Märkten überlassen.

Im neoliberalen Denken ordnen wir unsere moralischen Werte ökonomischen unter. Darunter
leidet unter anderem die Umwelt. Aber auch wir, die wir uns in einem Hamsterrad befinden. Von
diesem Denken müssen wir uns lösen. Wir müssen die Idee, mit immer mehr
Wirtschaftswachstum immer mehr Wohlstand schaffen, endlich aufgeben.

Dass die neoliberale Marktlogik nicht aufgeht, hat uns nicht zuletzt die Coronakrise gezeigt. So
wird der deutsche Staat aufgrund der Covid-19-Pandemie höchstwahrscheinlich mehr in die
Rettung der Wirtschaft stecken müssen, als ein Gesundheitssystem kostet, das nicht der
Profitlogik unterworfen ist. Denn ein weniger kaputtgespartes Gesundheitssystem ist im
Krisenfall nicht so schnell überlastet – mit der positiven Folge, dass man das gesellschaftliche
und wirtschaftliche Leben nicht so stark herunterfahren muss.

Noch mehr zerfällt die neoliberale Idee, wenn man bedenkt, dass wir mit dem fortlaufenden
Wirtschaftswachstum unsere Ökosysteme so sehr zerstören, dass ihre Reparatur weit mehr
Geld kosten wird, als das Wachstum erwirtschaften konnte. Unser aktuelles System richtet mehr
Schaden an, als es Wert schafft. Die Covid-19-Pandemie, die die kapitalistische Logik im
Frühjahr 2020 zumindest kurzzeitig anhielt, könnte daher auch zu einer Art Ideentrainingscamp
für unsere Zukunft werden. Es liegt jetzt an uns, neue Vorstellungen von einem moralisch
besseren Leben zu entwickeln und ihre Umsetzung in die Wege zu leiten.

Es wäre beispielsweise möglich, eine nachhaltigere Neuauflage der sozialen Marktwirtschaft zu


entwickeln, die die Lücke einnimmt – und das, ohne letztlich weniger Wohlstand zu haben.​ Wir
müssen dazu jedoch erkennen, dass Wohlstand nicht bedeutet, maßlos immer neue Güter zu
erzeugen und uns dabei selbst in den Burn-out zu führen.

Zusammenfassung

Die Kernaussage dieser Blinks ist:

Es gibt nicht nur moralische Meinungen, es gibt auch moralische Tatsachen. Indem wir neue
moralische Tatsachen, die zuvor verdeckt waren, erkennen, erzielen wir moralischen Fortschritt.
Die Coronakrise bietet – wie Krisen im Allgemeinen – eine Chance auf solchen Fortschritt. Sie
hat uns gezeigt, was lange Zeit verstellt schien: Wer wir sind und wer wir sein wollen.

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Wir sind gespannt und freuen uns zu hören, wie dir unsere Blinks gefallen! Schreib einfach eine
E-Mail an remember@blinkist.com mit Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten als Betreff und
teile deine Gedanken mit uns.

Zum Weiterlesen: Warum es die Welt nicht gibt von Markus Gabriel

Falls du jetzt noch vom Philosophen Markus Gabriel erfahren möchtest, wieso es die Welt nicht
gibt, dafür aber Einhörner, dann sei gespannt: In den Blinks zu seinem Buch Warum es die Welt
nicht gibt (2013) geht es um alles, das Ganze und den gesamten Rest. Wenn dir das
widersprüchlich erscheint, bist du schon mittendrin im Thema. Wir werden sehen, warum es das
Ganze, nämlich die Welt, nicht gibt, dafür aber alles andere.

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