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Initiative Sozialistisches Forum

Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution


Analyse und Polemiken

1999 * 300 Seiten * 12, 50 €


ISBN: 3- 924627-17-7

Inhalt

Zuvor: ,Konstruktive’ Kritik und Lüge

Kapitalistische Vergesellschaftung
Freizeitpark oder Knast?

Aktualität und Notwendigkeit des Kommunismus


Ein Gespenst geht um in Europa
Nationaler Wahn
Die Kritik zur Krise radikalisieren!
Wege aus Krise und Massenarbeitslosigkeit: Recht auf Arbeit? Recht auf Faulheit?

Staatskritik
FdGo

Der Staatskapitalismus – das Trauma der Revolution


Abschaffung des Staates: Thesen zum Verhältnis von marxistischer und anarchistischer Staatskritik

Linker Antisemitismus

Antizionismus – ein neuer Antisemitismus von links


Ulrike Meinhof, Stalin und die Juden: Die (neue) Linke als Trauerspiel
Auschwitz, ein deutscher Familienkrach

Psychologisierung der Politik


Staatsbürger, Volksgenosse

Die Entstehung der Psychokratie aus dem Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft
Schönheit und Heimtücke des sozialdemokratischen Charakters
Grüner Junge
Groß, Deutsch und Tot

Das ÖkoPax-Kartell
„Quer zur Klassenlage“

Grünalternative Utopien
Welche Friedensbewegung für welchen Frieden?
Friedensbewegung oder antimilitaristische Opposition?

Intellektuelle und Politik


Kurzer Lehrgang, langer Marsch

Die Zukunft der SDS-Veteranen


Das Erbe von ‘68
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ISF
Konstruktive Kritik und Lüge
Aus: Initiative Sozialistisches Forum,
Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 7 - 9

Ich bin Deutscher, also bin ich. Mögen anderswo unversöhnliche Interessen aufeinanderprallen –
in Deutschland kabbeln sich Gesinnungen um die bloße Form ihrer vorab schon ausgemachten
höheren Einheit. Hier herrscht nicht der Kampf der zu Ideologien nur raffinierten ökonomischen
Zwecke, hier herrscht der Streit der Weltanschauungen. Hier hat die (öffentliche) Meinung vom
(privaten) Interesse als ihrem relativen Rationalitätskriterium sich emanzipiert und wird zu dem,
was sie an ihrem Begriffe immer schon war: unerbittlicher und gnadenloser Wahn. Was anderswo
als abseitige Marotte und Tick sein touristisch ausbeutbares Dasein fristet, als Folklore und Stam-
mesritual, ist hier Nationalcharakter. Was sonst im Winkel sich auslebt, steht hier im Rampenlicht.
Anderswo als geistige Knechtsnatur belächelt und als nützlicher Idiot der großen Politik von
Staatswegen alimentiert, formt hier der „gesunde Menschenverstand“ die Welt nach seinem Bilde.
Der Satz, Gerechtigkeit müsse sein, ginge auch die Welt darüber zugrunde, konnte nur in Deutsch-
land geschrieben und in die Praxis umgesetzt werden. Gesinnung, die Wut auf Sinn, ist die deut-
sche Form von Meinung, die sich über jeden Einspruch erhaben weiß, die jedweden Einwand nur
dazu benutzt, sich eitel als Nabel der Welt zu empfinden. Die Welt ist Anschauungssache, bloßer
Spiegel des Subjekts.
Anderswo mag die bürgerliche Gesellschaft von Zeit zu Zeit ihren sozialen. Widerspruch
vertraglich schlichten wollen und den Versuch unternehmen, den Antagonismus im Kompromiß
zu vertagen, aufzuheben und auf die lange Bank zu schieben. Anderswo findet die Akkumulati-
onsgesellschaft zu einem Gleichgewicht der Klassenkräfte, zu einer, wenn auch prekären, Balance
der Ökonomie der Arbeit und der des Kapitals. Anderswo gibt es Parteien – in Deutschland gibt es
Volksparteien. Ihre Mitglieder sind nicht Parteigänger besonderer Zwecke, sondern sie vertreten
das Allgemeine als ihren besonderen Zweck. Das Besondere, Einzelne, das Individuum befindet
sich nicht im Gegensatz zum Allgemeinen; es muß sich mit diesem noch vermitteln. Das Besonde-
re ist unmittelbar Glied des Allgemeinen. Das Individuum weiß sich vorab als organischer Teil
eines Ganzen, des Volkes. Und es benimmt sich auch so, erfüllt die ihm angewiesene Funktion,
leistet seinen Dienst.
Anderswo gibt es bürgerliche Gesellschaft, die sich (noch) nicht nach ihrem Begriffe ent-
faltet hat – in Deutschland herrscht eine oberflächlich parlamentarisierte Volksgemeinschaft.
Volksgemeinschaft, die negative Aufhebung der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, hat
den Gegensatz des egoistischen Privatbürgers zum uneigennützigen Staatsbürger hinter sich gelas-
sen. Hätten Ameisen wirklich einen Staat, dann wäre es einer, der das Sein des Einzelnen für den
Staat zur Existenzberechtigung des Einzelnen nur überhaupt erhebt. Soziale Funktion und Anthro-
pologie sind identifiziert, genauer: Die soziale Funktion hat sich in die Subjektivität hineingearbei-
tet und das Subjekt maschinisiert. Zweite Natur gibt sich als erste, Volk, die dumpfe Zusammen-
rottung alles Bodenständigen, als Gesellschaft.
Da das Öffentliche als besondere Sphäre der Abstraktion vom Interesse nur formal be-
steht, ist das Private substantiell öffentlich. Das Öffentliche ist nur eine andere Präsentationsform
des Privaten. Helmut Kohl lügt daher die Wahrheit wenn er sagt: „Alles, was im Privatleben wich-
tig ist, gilt auch für den Staat und in der Politik.“ Und: „ Geborgenheit, Wärme, Mitmenschlichkeit
in der Familie wie auch in der Nachbarschaft – das ist Heimat.“ Geborgen im Uterus des Volkes,
eingehüllt in die Schmusedecke der Nation ist der Mensch nicht der Wolf des Menschen, sondern
Zwischenmensch unter Mitmenschen. Heimat ist, wo Staat ist, wo die unmittelbar tierischen und
leiblichen Bestimmungen des Menschen, sein familiäres Dasein, zum Ausdruck kommen.
Noch die Opposition hat Teil am deutschen Gemeinschaftswahn. Wo der Staat als über-
dimensionale Familie auftritt, da gilt es schon als Alternative, ihn zur Wohngemeinschaft refor-
mieren zu wollen. Nicht mehr der autoritäre Rechthaber soll Vati sein, sondern ein guter Kumpel;
nicht mehr auf dem Unterschied von Mein und Dein soll er herumreiten, sondern im Kollektiv
Pferde stehlen. Die Alternativen verlängern so den Nationalcharakter: Nicht minder energisch als
von Staatswegen die konstruktive, wird unter den Abweichlern die solidarische Kritik abverlangt.
Kritik soll vorab schon Einverständnis mit dem Kritisierten demonstrieren. Nicht soll sie das Vor-
handensein gemeinsamer Zwecke prüfen, sondern die Gemeinschaftlichkeit vor jedem besonderen
Zweck bestätigen. Der Stil offizieller und konstruktiver Kritik – die ausgewogene Festrede, die
sorgsam Für und Wider, Einerseits und Andererseits notiert und bilanziert, um schließlich den
Gegenstand zu würdigen, d.h. seinen Nachruf zu verlesen – bezweckt das Erlebnis der Gemein-
samkeit. Nicht anders die sogenannte solidarische. Die materialistische Pointe eines Kabaretts, in
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dem sich solidarisch auf arisch reimt, liegt darin, daß sie es nicht bezweckt, Verhältnissen auf die
Finger, sondern Menschen auf die Schulter zu klopfen, dem Volksgenossen seine Anerkennung
auszudrücken. Die zur solidarischen kastrierte Kritik soll zur Krücke kollektiver Identität herhal-
ten. Nicht auf ihre Wahrheit, auf ihren Nutzen wird sie verhört. Der Angriff des Nutzens auf die
Kritik, vorzugsweise eingeleitet durch die Aufforderung, man solle nicht so abstrakt und abgeho-
ben daherreden, sondern endlich konkret werden, mündet in den Persilschein für das Interesse, das
ihm Gemäße sich auszusuchen. Das Verhör auf den Nutzen vermag sich jede weitere Begründung
zu ersparen, es ist sich selbst evident und ein einfaches Gebot alternativen Menschenverstandes.
Auf Einfachheit getrimmt, vielleicht gar noch mit Lenins Kindervers „Die Wahrheit ist konkret“
aufgepäppelt, verwirft das Interesse alles andere als Sophisterei, als bloßes Spiel mit Worten, de-
nen es an Tiefe mangele. Die nicht durch Attribute relativierte Kritik gilt als ebenso intellektuali-
stisch wie die solidarische als authentisch, gefühlsecht und dem Kollektiv sprachlos verbunden.
Diese Sprachlosigkeit ist es, die der Forderung nach solidarischer Kritik ihren gewalthei-
schenden und repressiven Charakter verleiht. Hegel schreibt über den gesunden Menschenvers-
tand: „Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft ist er gegen den, der nicht
übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe
in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Das
Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses
sich mitteilen zu können.“
Im trotzigen Beharren auf dem Gefühl, oder alternativ, der Identität, ist das eine nur aus-
gesprochen: Du bist nichts, Dein Volk ist alles.

Januar 1987
1

ISF
Freizeitpark oder Knast?
Aus: Initiative Sozialistisches Forum,
Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 11 - 12

Amüsement oder Grauen? Spielfilm oder Wirklichkeit? Freizeitpark oder Knast? Die Frage, was
denn diese Gesellschaft eigentlich darstelle, ist zum Rätsel geworden. Ist das Zuchthaus die Wahr-
heit des umtriebigen bürgerlichen Alltagslebens? Ist Stammheim das brutale ‚Wesen’, die Fußgän-
gerzone im samstäglichen Kaufrausch nur eine ,Erscheinung’ der bürgerlichen Gesellschaft? Oder
ist der Kampf im Untergrund nicht gar ein ergiebigeres Vergnügen als die entnervenden Rituale
des oberflächlichen Zeitvertreibs? Wie kam denn Peter Paul Zahl zu der Ansicht, „die beste Selb-
sterfahrungsgruppe ist die bewaffnete Einheit“ der Stadtguerilleros? Was bedeutet es, wenn, wie
der Spiegel berichtet, die beste Überlebenschance eines Siemens-Managers darin besteht, alle
Disziplin und Ordnung, die ihn nach oben gebracht hat, zu vergessen und wie ein Stadtstreicher
sich zu kleiden und zu benehmen? Gibt es noch einen wirklichen Unterschied zwischen dem
Glauben an Gott und der Hoffnung auf Befreiung?
Es scheint, der Unterschied ums Ganze, der „Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und
Kapital“, habe sich in den einfachen Gegensatz feindlicher Temperamente verflüchtigt. Wo die
Melancholiker und Sanguiniker ihrer Natur gemäß ,links’ stehen und die eher phlegmatischen und
cholerischen Charaktere eben ,rechts’, da wird das Kampfgeschrei früherer Klassenkämpfe zur
weinerlichen Impertinenz notorischer Rechthaber. Ob Baader/Meinhof einst oder heute Helmut
Kohl: Was läßt sich gegen Meinungen und Taten eines Menschen noch einwenden, wenn man ihn
verstanden, sich mit polizeilichen oder therapeutischen Mitteln in seinen Charakter ,eingefühlt’
hat?
Der Wunsch, das Rätsel zu lösen und die Frage nach dem „Wesen“ der Gesellschaft doch,
so oder so, auf Biegen und Brechen zu entscheiden, ist so naheliegend, wie er außer der Sache
liegt. Das bürgerliche Grauen besteht gerade in seiner Ununterscheidbarkeit vom Amüsement, im
objektiven Nihilismus des Sozialen und Politischen: Anything goes, but it doesn’t matter. Der
öffentliche Nihilismus, der Grundwert sagt und Grundbuch meint, läßt sich nicht von einer Oppo-
sition sprengen, die meint, Grundwerte durch kritischen Hinweis auf Sachwerte durchschauen und
aushebeln zu können. Kritik verkommt so zur Verdoppelung des Kritisierten; ihr Gehalt ist nicht
Opposition, sondern unverlangter Beweis von Loyalität.
Dagegen gilt es, die Wahrheit des staatsbürgerlichen Zynismus zur Kenntnis zu nehmen.
Obwohl er, etwa, in der Fassung des Volksgemeinschaftsphilosophen Carl Schmitt, nicht weiß,
warum er die Wahrheit spricht – und daher mit der Wahrheit lügt –, hat er doch recht: Die Chan-
cen des Sozialismus sind etwa so groß wie die eines Igels, gesund und munter über die Autobahn
zu kommen. Carl Schmitt jedenfalls meint: „Wenn die innere Rationalisierung und Regularität der
technisch durchorganisierten Welt restlos durchgesetzt ist, dann ist der Partisan nicht einmal mehr
ein Störer. Dann verschwindet er einfach von selbst im reibungslosen Vollzug technisch-
funktionalistischer Abläufe, nicht anders, wie ein Hund von der Autobahn verschwindet. Für eine
technisch eingestellte Phantasie ist er dann kaum noch ein verkehrspolizeiliches und im übrigen
weder ein philosophisches, noch ein moralisches oder juristisches Problem.“
Herrschaft braust in der Daimler-Karosse über das Widerständige hinweg. Niemand, der
wirklich noch schuldig wäre, sitzt am Steuer. In der Bürokratie hat sich Herrschaft verniemandet,
ist unbekannt verzogen. Über Ausbeutung läßt sich, wie über Herrschaft, nur sagen, daß sie ge-
schieht. Aber dies bedeutet nichts und niemandem etwas.
Kritik hat sich auf das Niveau dieser Gegenwart zu begeben. Will sie nicht, durch die wie
aus der Pistole geschossene Utopie, den reibungslosen Vollzug des Sozialen noch himmelblau
anstreichen, dann hat sie zuallererst mit dem Wunsch zu brechen, das gesellschaftliche Rätsel im
Hauruck-Verfahren zu lösen: Brechen muß Aufklärung mit dem Röntgenblick, der ihr den
,Schein’ aufs ,Wesen’ durchschauen hilft, brechen auch mit der politischen Spielform des radioak-
tiven Blicks, der ,Vermittlung von Theorie und Praxis’. Sie hat die Geistlosigkeit einer auf den
Hund gekommenen Linken, die sich wie in Trance an den Paradiesen auf der anderen Seite der
Autobahn berauscht, und der es darum geht, endlich den ersten Schritt zu tun, Paroli zu bieten.
Dies zu tun, wird Aufklärung zur Kritik, deren erstes Resultat wie deren Prämisse in nichts weiter
besteht als der These, die Kritische Theorie eines Horkheimer oder Adorno habe nur den einen und
wesentlichen Nachteil: Daß ihre Dialektik nicht weit genug ins Negative getrieben ist, um dem
objektiven Nihilismus der Gegenwart gerecht werden zu können. So erweist sich die Geistlosigkeit
der Linken als automatisierte Form herkömmlicher Geisterseherei: ihr Blick aufs Wesen bestärkt
das Unwesen, ihre Antwort aufs soziale Rätsel wird, ob theoretisch oder praktisch, zur revolutio-
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när gemeinten Subjektmagie. Es hilft nichts, außer den Verhältnissen weiterhin ihre Melodie vor-
zuspielen - auch wenn keiner die Katzenmusik mehr hören mag.

Oktober 1986
1

ISF
Aktualität und Notwendigkeit des Kommunismus

Aus: Initiative Sozialistisches Forum, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken, Freiburg: ça ira 1990, S. 13 – 19.

Kommunismus ist der Traum allseitiger Emanzipation des Menschen, die Sehnsucht nach dem
Ende aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein unterdrücktes und beherrschtes, ein jämmerli-
ches Wesen ist. Er ist der Traum von einer Sache, zu der nicht nur der Begriff, sondern die soziale
Kraft, die ihn mittels revolutionärer Praxis ins Werk setzen könnte, abhanden gekommen ist. Aber
die aktuelle Unmöglichkeit des Kommunismus ist nur dem Philister ein Beweis gegen seine Not-
wendigkeit.
Kommunismus bezeichnet die grundlegende Voraussetzung dafür, daß die Gesellschaft
sich zum Besseren wendet und daß es mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse der Aus-
beutung und des Unrechts aufzuheben, endlich ein Ende hat. Kommunismus ist zuallererst die
Produktion der gesellschaftlichen Verkehrsform selber.
Eines der wesentlichen Prinzipien des Kommunismus, worin er sich von jedem Sozial-
demokratismus oder ökologischen Reformismus unterscheidet, besteht darin, daß die Unterschiede
des Kopfes und der intellektuellen Fähigkeiten keine Unterschiede der Bedürfnisse bedingen; daß
also der falsche, auf unsere falschen Verhältnisse gegründete Satz: Jedem nach seiner Leistung,
jedem nach seinen Fähigkeiten, sofern er sich auf die Berechtigung zum Genuß bezieht, umge-
wandelt werden muß in den Satz: Jedem nach seinem Bedürfnis. Es ist das zentrale Prinzip des
Kommunismus, daß die Verschiedenheit in den Tätigkeiten und Fähigkeiten keine Ungleichheit,
kein Vorrecht des Besitzes und Genusses begründen kann. Der Kommunismus setzt einem Zu-
stand das gerechte Ende, dem Hunger kein Grund zur Produktion darstellt und das Bedürfnis kei-
nen Anlaß, es anders als nach Maßgabe des Geldbeutels zu befriedigen. Kommunismus ist Gleich-
heit ohne Gleichschaltung, Freiheit ohne Gesetz, ohne despotische Unterscheidung von ,wahren’
und ‚falschen’ Bedürfnissen. Kapitalismus ist Diktatur über die Bedürfnisse, Kommunismus Dik-
tatur der Bedürfnisse über die Produktion.
Der Kommunismus gründet diese Forderung in der Kritik des Kapitals und der Arbeit. Er
fordert die Aufhebung des Kapitals und der individuellen Aneignung des gesellschaftlichen Reich-
tums, er ist die Forderung nach Abschaffung der Arbeit und nach Durchsetzung des Rechts auf
Faulheit. Er ist nicht, wie die Volksmeinung im Verein mit der Praxis des realen Staatssozialismus
glauben macht, die bessere Verwaltung der Arbeit und die Gerechtigkeit allein in der Verteilung
der Produkte. Freiheit ist nicht kapitalistische oder realsozialistische Verwandlung der Gesellschaft
in eine Fabrik. Arbeit ist Zwang, nicht erstes Bedürfnis. Der Kommunismus klagt nicht das Recht
auf Arbeit ein, sondern die Abschaffung der Arbeit. Er führt nicht den Kampf für den allgemeinen
Arbeitszwang, sondern für die Verallgemeinerung von Luxus und für die Befreiung von Arbeit
und Ökonomie. Kommunismus ist nichts anderes als der durchgeführte gesellschaftliche Genuß.
Der Kommunismus erheischt sich nicht zu wissen, was ,dem Menschen’ gut tut. Was aus
der eigentlichen Menschennatur’ das Rechte wäre, ist ihm gleichgültig. Ihm genügt das Wissen um
die Praxis der Abschaffung der sozial organisierten Verhinderung des Glücks. Daher verfügt der
Kommunismus nicht über ein Patentrezept zur Herstellung des guten, wahren, schönen Men-
schen’; er weiß nicht, was, der Mensch’ ist und was er sein sollte. Den ,Sinn des Lebens’ überläßt
er gratis den Pfaffen und begnügt sich damit, die Unmenschlichkeit zu denunzieren. Der Mensch
ist dem Kommunismus egal, weil es ihm um die Menschen geht.
Das kommunistische Prinzip, daß die Verschiedenheit der Tätigkeiten, ob in der Fabrik
oder im Büro, ob als Müllmann oder als Professor, keinen Unterschied im Recht auf Genuß und
Faulheit rechtfertigen kann, ist keine Anthropologie, sondern einfaches Resultat dessen, daß es
Menschen sind, die arbeiten. Die Wahrheit des Kommunismus ist einfach: Das Schwierige ist nur,
ihn zu verwirklichen.
Die Kritik der repressiven Gleichheit aller, wie sie hergestellt wird durch die Diktatur des
Kapitals, gründet darin, daß nicht einzusehen ist, daß die Freiheit des Einzelnen nur so weit rei-
chen soll wie er sein Bedürfnis in Nachfrage übersetzen kann. Die kapitalistische Freiheit ist nur
eine höhere Form der Diktatur des Sortiments.
Die Ökonomie des Kommunismus ist die Ökonomie der Zeit, einer Zeit, deren Verausga-
bung nicht abstrakt in Geld und Wert, sondern konkret am Nutzen der erzeugten Gebrauchswerte
gemessen wird.
Die Ökonomie der Zeit will nicht den Zwang zur Rationalisierung, sondern die Transpa-
renz der Ökonomie für die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums. Die Einsparung dient
nicht der Profitakkumulation, sondern der Befreiung zur konkreten Praxis. Es ist nicht einzusehen,
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warum die Lebenszeit des einen mehr wert sein soll als die des anderen, wo doch das Leben selber,
'wert’-los ist, sich nicht in Geld messen läßt, sondern einzig nach dem subjektiven und individuel-
len Bedürfnis. Ob es vernünftig ist, den ,Sinn des Lebens’ darin zu sehen, in der Badewanne Kri-
minalromane zu lesen, Skat zu spielen, zu saufen und zu vögeln – diese Frage ist selber sinnlos.
Der Kommunismus geht davon aus, daß die Menschen keinen Lebenssinn brauchen, sondern ein
angenehmes Leben. Der Kommunismus kritisiert nicht das mühelose Einkommen ohne Arbeit,
sondern fordert es für alle.
Der Kommunismus opponiert gegen die Fetische von Kapital und Staat, von Arbeit und
Natur. Die Glaubenssätze des Liberalismus und der Sozialdemokratie, das Kruzifix der Konserva-
tiven oder der Ökologen interessiert ihn nur als Maßstab gesellschaftlicher Verblendung. Die
kommunistische Gleichheit ist nicht die Gleichheit vor dem Geld, nicht die vor dem Gesetz, nicht
die Gleichheit der Unterordnung unter den Zwang, das Leben zu verdienen oder es in stumpfer
Harmonie mit der Natur zu fristen.
Im Unterschied zum sozialdemokratischen Staats- wie zum staatssozialistischen Arbeits-
fetischismus ist der Kommunismus die Kritik der Verstaatsbürgerlichung wie der Proletarisierung
der Menschheit. Nicht Befreiung durch den Staat, sondern Befreiung vom Staat als der Abschaf-
fung des gesellschaftlichen Gewaltapparates ist sein Programm. Das sozialdemokratische Hobby,
den Staat durch Legalität, Demokratisierung, Parlamentarismus zu dressieren, den Leviathan als
Haustier zu halten, ist dem Kommunismus grober Unfug: Wem es nicht um die Aufhebung der
Staatsform, sondern um die Verbesserung der Regierungsform geht, wer Reform oder Revolution
im Austausch der Eliten enden läßt, erliegt der Illusion des Legalismus und produziert, wie in
Chile 1973, seinen eigenen Untergang. Die blinde Hoffnung, eine Mehrheit im Parlament garantie-
re gesellschaftlichen Wandel, übersieht, daß Souveränität bedeutet, über den Ausnahmezustand zu
entscheiden, nicht aber, diesen parlamentarisch zu verwalten.
In anderer Gestalt verstärkt der Staatsfetisch die liberalen oder konservativen Halluzina-
tionen vom Markt als einem Ort ausgleichender Gerechtigkeit in der Politik. Aber, wie dem Staats-
reformer die Doppelnatur des Staates, Rechts- oder Sozialstaat zu sein, ein Buch mit sieben Sie-
geln ist, so ist dem Bürger seine eigene Ökonomie ein Rätsel. Die Bewegungsgesetze seiner Öko-
nomie sind ihm ein größeres Mysterium als den Katholiken das Wunder der Blutverflüssigung,
und astrologische Konjunkturberatung ist längst zuverlässiger als das Jahresgutachten des Sach-
verständigenrates und daher auch beim Finanzamt als normale Betriebsausgabe steuerlich absetz-
bar. Der Bürger fürchtet zwar die Plan-Wirtschaft wie der Teufel das Weihwasser – steht er aber
vor der Pleite, dann schämt er sich nicht, umstandslos nach dem ,starken Staat’ zu rufen.
Im Unterschied zum ökologischen Naturfetischismus schließlich bezweckt der Kommu-
nismus nicht die Verwandlung der Menschen in Asketen und Landschaftsschützer oder gar die
Bekämpfung des Menschen als eines Schädlings und Parasiten im ökologischen Kreislauf, sondern
er kritisiert das Denken von der Natur als einer Ware, als einer scheinbar kostenlosen Vorausset-
zung der Kapitalproduktion.
Kommunismus ist die Kritik der Herrschaft von Menschen über Menschen, Kritik der
Unterordnung und Ausbeutung, die ihren Kern wie die Quelle ihrer ständigen Erneuerung und
Reproduktion im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital findet. Der Kapitalismus ist das Integral
all jener Herrschaftsformen, all jener Methoden der Verwandlung des Menschen in einen leibli-
chen Behälter der Arbeitskraft, in einen mit der Fähigkeit zu arbeiten begabten lebenden Leich-
nam, die die bisherige Geschichte hervorgebracht hat. Das Kapital hat sich die überkommenen
Formen der Ausbeutung angeeignet und – vom Patriarchat bis hin zur Sklaverei und Zwangsarbeit
– in die Bedingungen seiner eigenen Existenz verwandelt. Die losgelassene Produktion um des -
Profits willen, die end- und zwecklose Selbstverwertung des Kapitals reproduziert beständig alle
vergangenen Formen von Herrschaft.
Jeder kapitalistische Fortschritt ist einer mehr in den Abgrund hinein. Die Dialektik der
kapitalistischen Entwicklung hat erwiesen, daß der systemsprengende, mit der Befreiung der Ar-
beiterklasse das Ende aller Klassenherrschaft bewirkende Antagonismus von Lohnarbeit und Kapi-
tal auf einen einfachen, innersystematischen Gegensatz zurückgedreht wird – wenn der historische
Moment proletarischer Revolution verpaßt ist. Der Klassenkampf wird zum Motor der kapitalisti-
schen Akkumulation; er mutiert zum einfachen Element der Systemdynamik. Die Arbeiterklasse
verwandelt sich in den Stand der zeitweilig mit produktiven Funktionen betrauten Staatsbürger,
deren ökonomische oder politische Bewegungen dem Kapital die Existenzbedingungen aufzwin-
gen. Denn das Kapital, das als eine mit eigenem Willen begabte Einheit gar nicht existiert und nur
als die Summe privater, bornierter Einzelkapitale in der Konkurrenz sich bewegt, tendiert zur Rui-
nierung seiner Lebensquelle, der lebendigen Arbeit. Erst die kollektive Aktion der Lohnarbeiter
für tariflichen oder gesetzlichen Schutz zwingt ihm die Bedingungen seiner Selbsterhaltung auf.
So vielfältig die Aktionen – für Arbeitszeitbegrenzungen, für Existenzminimum, für soziale Siche-
rung usw. – sind, so einfältig ist ihr objektives Ergebnis: Ermächtigung des Staates, als Gesamtka-
pitalist die allgemeinen kapitalistischen Geschäftsbedingungen zu ratifizieren.
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Das Kapital reproduziert sich über seinen nur vermeintlichen Widerspruch und es bestä-
tigt sich darin traurig die Wahrheit der Marxschen Analyse, nach der die Interessen des Kapitals
und der Lohnarbeit zwei Seiten eines und desselben Verhältnisses sind. „Die eine bedingt die an-
dere, wie der Wucherer und der Verschwender sich gegenseitig bedingen,“ Der Klassenkampf ist
die auf Grundlage der Monetarisierung und Verrechtlichung der Bedürfnisse funktionierende,
innere Logik und Lebenskraft der Ausbeutungsverhältnisse. Seine offiziellen Verwalter, die Ge-
werkschaften, handeln mit der Arbeitskraft so, wie andere Monopolkonzerne mit Kühlschränken
oder Kanonen.
Die eigentlich antagonistische Dialektik herrscht zwischen ,Natur’ als der Grundlage
menschlicher Gesellschaft überhaupt und ihrer kapitalistisch ins Werk gesetzten profitablen Zer-
störung. Das Kapital untergräbt so die mögliche Freiheit. Die Gesellschaft, zum Block formiert,
konfrontiert sich mit der Natur und führt den Krieg der blinden Selbsterhaltung bis aufs Messer.
An der Natur zerstört sie sich schließlich selbst; die Verwüstung des Planeten geht Hand in Hand
mit der Verwüstung des Menschen und seiner Fähigkeit, den gesellschaftlichen Reichtum revolu-
tionär sich anzueignen und vom Krieg zur Allianz mit der Natur überzugehen.
Die Wahrheit dieses Naturbegriffes ist das Maß der Unwahrheit ökologisch inspirierter
Politik. Die Wahrheit, daß der Stoff allen gesellschaftlichen Reichtums Naturstoff und die mensch-
liche Arbeit nicht den Urheber, sondern nur die Formung und Aneignung dieses Reichtums dar-
stellt, die Wahrheit also, daß Natur die Bedingung von Gesellschaft überhaupt ist und Gesellschaft
also Teil der Natur – diese Erkenntnis wird zu der ökologischen Lüge, die Unterjochung der Natur
sei das Werk einer klassenlosen Gesellschaft von sechzig Millionen losgelassenen Egoisten, die
bei sich selbst mit dem Naturschutz anzufangen hätten. Naturbeherrschung ist unmöglich ohne
Menschenbeherrschung, die produktive Zerstörung der Natur hat die Beherrschung der menschli-
chen Natur zur Voraussetzung. Naturzerstörung setzt Menschenzerstörung, ihre Verwandlung in
lebende Leichname voraus – und denen ist es auch folglich herzlich egal, ob sie nach der Mecha-
nei am Fließband noch im sauren Regen nach Hause gehen müssen.
In der ökologisch inspirierten Politik wird das Leben zur Mystifizierung des Lebens, ihr
wird das bloße Überleben zum Sinn des Lebens selber. Die Verschleierung beginnt mit der Illusi-
on, der gesellschaftliche Krieg gegen die Natur sei ohne die Klassenspaltung der Gesellschaft,
ohne die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, ohne Herrschaft und Ausbeutung wirk-
lich möglich. Sie setzt an den Resultaten an, ohne je bis zu den Ursachen vorzustoßen.
Die Wahrheit der allgemeinen Bedrohung der Gattung Mensch wird der ökologisch inspi-
rierten Politik zur Unwahrheit eines übergreifenden Interesses am Erhalt der Gattung. Darin wie-
derholt dieses Denken alle Fetische der bürgerlichen Gesellschaft. Ökologie, als politische Praxis
betrachtet, ist eine Art negativer Liberalismus, der sich zur autonomen politischen Bewegung or-
ganisiert hat und im Appell zur Lebensreform, zur Geistrevolution ohne Klassenkampf, seinen
natürlichen politischen Ausdruck findet: ,Gemeinnutz geht vor Eigennutz’.
Mit der Hegemonie der grünen Politik über die kümmerlichen Restbestände sozialrevolu-
tionärer Opposition hat sich die Tyrannei des Ge-dächtnisverlusts und des notorisch guten, aber
unbelehrbaren Willens -1968 für einen historischen Augenblick erschüttert – erneut etabliert. Rea-
le Emanzipation durch Aufhebung der Klassengesellschaft ist ausgetauscht durch die halluzinierte
Allgemeinheit eines Gattungsinteresses am Überleben. ,ÖkoPax’ – das Kartell der Oberstudienrä-
te, frustrierten Gewerkschafter, Tierschützer, ,,wirklichen’ Sozialdemokraten, der abgehalfterten
Sozialisten, die „an Marx nicht mehr glauben“, aber nicht fragen, ob dieser Glaube jemals vernünf-
tig war, der Menschen guten Willens also, die überhaupt nur irgendeinen Glauben glauben wollen
und einen Sinn dazu – diese Einheitsfront der freundlichen Idealisten mit unverkennbar völki-
schem Einschlag hat die Aufhebung revolutionärer Politik in liebesduselige Caritas vollbracht.
Die fiktive Klassenlosigkeit des ökologischen Interesses spiegelt nur die negative Klas-
senlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft selber, die Aufhebung der Arbeiterklasse auf dem Bo-
den und mit den Mitteln der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Zustand, der die Spitze der Ent-
fremdung, die Veralltäglichung der Barbarei bezeichnet, ist der Ökologie Gelegenheit, die allge-
meine Menschheitsverbrüderung zu feiern. Ökologie ist Liberalismus ohne das geheime Wissen
um seine Hinfälligkeit: frisch, fromm, fröhlich, unfrei.
Fiktionierte Klassenlosigkeit ist das fraglose Fundament des ökologischen Neo-
Liberalismus und bestimmt Denken wie Politik seiner Hauptfraktionen. An die Stelle der liberalen
Gleichheit im Markt, der konservativen oder sozialdemokratischen vor Staat und Gesetz tritt die
vor der Natur. Staatsbornierte Realpolitik, die dem fatalen Traum vom Parlament als Zentrum von
Herrschaft anhängt, oder völkisch inspirierter, mit dem therapeutischen Okkultismus verschwister-
ter Fundamentalismus: Die Strömungen der „Grünen“ wiederholen die ältesten bürgerlichen Ma-
rotten, als seien sie originell und wahr. Die ,Neuen Sozialen Bewegungen’, die wähnen, sich quer
zur Klassenlage zu formieren und das Allgemeine zu vertreten, d.h. die Lobby der ungeborenen
Robbenbabies und des deutschen Waldes zu sein, sind ein Symptom der Stabilität von Herrschaft –
nicht Therapie, sondern Teil des Übels, nicht Ende der Verwandlung der Menschen in Lohnarbei-
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ter, sondern dessen Radikalisierung vom gesellschaftlichen zum natürlichen Charakter.


Demgegenüber ist die Aktualität des Kommunismus paradox. Die Notwendigkeit der Re-
volution befindet sich im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer Möglichkeit. Der kategori-
sche Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknech-
tetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, ist zum bloßen Traum einer Sache geworden,
die niemand mehr begreifen mag. Die Aktualität der Forderung „Jedem nach seinem Bedürfnis“ –
realisierbar nur durch die Aufhebung der Lohnarbeit, durch das Recht auf Faulheit – ist im offizi-
ellen wie alternativen Bewußtsein der Gegenwart nur ein sympathischer Anachronismus. Die bür-
gerliche Gesellschaft hat den Kommunismus ins Museum gestellt; der Klassenkampf ist beendet,
ohne ausgekämpft zu sein, und dieses negative Ende wirkt fort in der unendlichen Geschichte von
Menschenbeherrschung und Naturzerstörung. Im blinden Wahn gegen das konkrete Leben wütet
die bürgerliche Gesellschaft, die sich ihrer Macht sicher ist.
Aber die Aktualität des Kommunismus behauptet sich in der Wahrheit, daß es keine Er-
mächtigung ist, das Falsche zu tun, nur weil das Richtige nicht, noch nicht gehen mag. Der Kom-
munismus, daran gehindert, von der theoretischen in die praktische Kritik von Kapital und Staat
umzuschlagen und die Waffe der Kritik mit der Kritik der Waffen zu vertauschen, findet seine
unfreiwillige Praxis in der Denunziation des Falschen.

November 1985
www.isf-freiburg.org 1

Initiative Sozialistisches Forum


Ein Gespenst geht um in Europa

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analyse und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 20 – 29

Ungewiß, ob das Gespenst des Kommunismus immer noch umgeht in Europa. Sicher jedoch, daß
die herrschenden Mächte höchstens im Traum noch vor ihm erschrecken. Mit den Jahren ist es
zum Gespenst eines Gespenstes geworden. Sein fadenscheiniges Leben verdankt sich der Erinne-
rung und den Archivaren vergangener Revolten. Die ,blauen Bände' von Marx und die Hekto-
Literatur der Kommentare, Anmerkungen und Interpretationen zumal, die ihm noch Asyl gewäh-
ren, muffeln nach Altersheim und Intensivstation. Lenin, im Kreml einbalsamiert, ist der Gegen-
wart so fern wie die Mumien der Pharaonen. Man weiß noch nicht einmal, ob es die lebenden
Großmeister der Theorie als lebendige Personen überhaupt gibt: Unter dem Namen Habermas
etwa vermutet man eher eine gigantische Textverarbeitungsmaschine mit automatischem Problem-
lösungsspeicher, der die Summe der möglichen Fragen und Antworten zu immer neuen Argumen-
ten kombiniert. Die „Kritik der Waffen“, die die „Waffe der Kritik“ ersetzen sollte, ist dem Mas-
senbombardement mit Zitaten gewichen; der Klassenkampf ist ersetzt durch die Verbunkerung im
Stollensystem der konkurrierenden akademischen Theorien. Die einzige Chance des Gespenstes
liegt darin, mit der Zeit zu gehen und sich in einen lebenden Leichnam, einen Roboter zu verwan-
deln.

Geisterstunde

Dabei hat das Gespenst des Kommunismus bessere Zeiten erleben dürfen. Es war nicht immer so,
daß die Gegenwart den kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der
Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes und verächtliches Wesen ist, zum blo-
ßen Traum einer Sache hat verkommen lassen, die keiner mehr begreifen mag. Es war nicht immer
so, daß die Forderung Jedem nach seinem Bedürfnis' dem offiziellen und dem alternativen Be-
wußtsein als ein sympathischer Anachronismus erschien. Und es war schließlich nicht immer so,
daß sich die Notwendigkeit der Revolution im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer Mög-
lichkeit befand.
Gleichwohl: Das moderne Bewußtsein behandelt den Kommunismus wie der aufgeklärte
Amerikaner Hiram B. Otis das „Gespenst von Canterville“ in Oscar Wildes gleichnamiger Erzäh-
lung. Lord Canterville muß sein Schloß verkaufen, will aber den amerikanischen Gesandten nicht
betrügen und weist ihn auf das Gespenst hin. Der aber folgt dem pragmatischen Motto, daß nicht
sein kann, was nicht sein darf: „Mylord“, antwortet der Gesandte, „ich bin der Meinung, daß,
wenn es Gespenster gäbe, wir es binnen kurzer Zeit daheim in einem unserer Museen oder als
Wandertruppensehenswürdigkeit haben würden.“ „Ich fürchte, das Gespenst existiert tatsächlich“,
sagt Lord Canterville lächelnd, „obwohl es den Lockkünsten ihrer geschäftstüchtigen Impressarios
noch nicht gefolgt ist. Drei Jahrhunderte hindurch, seit fünfzehnhundertvierundachzig genauer
gesagt, hat man darum gewußt, und es erschien immer, bevor einer unserer Familienangehörigen
stirbt.“ – „Nun, das macht der Hausarzt auch so“, entgegnete der Gesandte, „Gespenster, verehrter
Herr, gibt es nicht, und ich glaube kaum, daß zugunsten der englischen Aristokratie die Naturge-
setze aufgehoben werden können.“
In der Folge muß die Hausfrau den Blutstropfen, die das Gespenst im Wohnzimmer hin-
terläßt, mit einem Patent-Fleckentferner made in USA zuleibe rücken. Aber es hilft alles nichts. Es
helfen nicht die nächtens ausgelegten Stolperdrähte der automatischen Alarmanlage und es hilft
nicht, das Ächzen und Stöhnen ,materialistisch’ auf offene Fenster und schlecht geölte Türangeln
zurückzuführen. Das Gespenst lebt und will versöhnt werden.
Nicht anders als durch die Abschaffung der ,Naturgesetze' der kapitalistischen Gesell-
schaft, durch das Ende von Herrschaft und Ausbeutung, ist dem Gespenst des Kommunismus zum
gerechten Ende und in die Grube zu verhelfen.

Aktualität des Kommunismus

In dem Maße, in dem sich der Kommunismus zum Gespenst vergeistigt, wird Europa, wird das
,Abendland', und Deutschland voran, zum Spukhaus. Das erst recht macht es notwendig, nicht
mehr von der ,Alternative‘ zu schwafeln, sondern der Alternative ihren angestammten Namen zu

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rückzugeben., Vergebliche Liebesmüh' an einer Leiche?


Es ist natürlich schwer, ein Wort wieder in den Mund zu nehmen, das nach Gulag und Pol
Pot, nach Mao- und anderem Stalinismus riecht, nach Kadaver schmeckt und von vornherein nach
Illusion und Pleite, nach November 1918 und Chile 1973 aussieht. Mit so etwas möchte man gar
nicht erst bekannt werden.
Aber die Gesellschaft wird heimgesucht nicht nur von Ausbeutung und Herrschaft, son-
dern auch von ihrer Opposition, die ihr Gedächtnis und ihren Verstand verloren hat. Die Parolen
und die Rhetorik, die das kritische Denken ersetzen, sind so leer und gedankenlos wie die Gesell-
schaft selbst, die sie hervorgebracht hat. Die ,Neuen Sozialen Bewegungen' und ihre politische
Lobby, die GRÜNEN, haben die soziale Emanzipation heruntergebracht auf das Recht, Minister-
posten besetzen zu dürfen, an der Staatsmacht teilzuhaben und der Polizei das allerneueste Was-
serwerfermodell zu bewilligen. Die ,Neuen Sozialen Bewegungen' wollen dem Staat nichts mehr
antun. Befreiung löst sich auf in allgemeine Leutseligkeit, in die Phrase des „Allen wohl und nie-
mandem wehe“ und die Forderung nach „mehr Menschlichkeit“. Das Dogma der GRÜNEN, nicht
links, nicht rechts, sondern vorne zu sein, zerbricht an der Realität der kapitalistischen Krise. Es
erweist sich als die neueste Version des alten Kleinbürgertraums von Überparteilichkeit und
,Gemeinnutz geht vor Eigennutz’. Die GRÜNEN, 1979 mit der Illusion angetreten, „Natur als
Politik“ zu treiben, verenden als kleinbürgerlich-linkssozialdemokratische Partei mit deutlich völ-
kisch-lebensreformerischem Einschlag. Am Ende der Illusion, „quer zur Klassenlage“ die allge-
meinmenschlichen Interessen zu politisieren, steht die grüne Partei da als alternative Variante der
Freien Demokraten, als das ,Zünglein an der Waage', das ihrer Klientel, im Machtpoker hinter
verschlossener Tür gewieft und mit allen Wassern gewaschen, zur Staatssubvention verhilft. Die
grüne Misere zeigt: Das Bedürfnis nach der ,konkreten Utopie’ ist noch lange kein Beweis von
deren objektiver Möglichkeit, viel eher ein Argument gegen den, der dies schöne Bedürfnis see-
lisch sein eigen nennen möchte. In der Sucht nach ,Sinn' und .Hoffnung' wird an den Haaren her-
beigezogen, was noch keine Glatze hat: Blinde Zuversicht stopft in sich hinein, was immer serviert
wird. Hauptsache Hoffnung!
Das blamable Ende dieser ,Alternative’ ist nicht nur absehbar – es vollzieht sich mit un-
geahnter Geschwindigkeit. Es geht deshalb darum, der Alternative ihren guten Namen zurückzu-
geben.

Vernunft und Revolution

Darf es ein bißchen Foucault mehr sein? Oder lieber gleich eine deftige Prise Nietzsche? Was ist
vernünftiger: Mit der Oma im Hühnerstall Motorrad zu fahren oder bei Hertie die Scheiben einzu-
schlagen? Was macht vernünftiger: Die Lektüre des Marxschen „Kapital“ oder das intensive Stu-
dium von Brösel-Comics? Was ist der sinnvollere Weg zur Emanzipation: Zuerst die ‚Politik in
erster Person’ und dann die Selbsterfahrungsgruppe – oder umgekehrt? Was unterscheidet eine
rabiate Aktion deutscher Zahnärzte von pazifistischen Mahnwachen vor Kasernentoren - außer der
Kleinigkeit, daß Zahnärzte für mehr als nur ihr ,Überleben’ eintreten und daher auch radikaler und
selbstbewußter vorgehen? Was trennt noch das Beamtenheimstättenwerk von der Roten-Armee-
Fraktion – außer der Freiheit der Staatsdiener, das Brett vorm Kopf den schwedischen Gardinen
vorzuziehen? Was hält schließlich die Frauenbewegung davon ab, wirklich eine Unterabteilung
des Müttergenesungswerks zu werden, dessen unbezahlte Avantgarde sie schon ist? Die gesell-
schaftliche Entwicklung treibt in den objektiven Nihilismus, in die völlige Gleich-Gültigkeit aller
Werte. Scheinbar unmöglich, mit den Mitteln der Vernunft Emanzipation von Repression zu un-
terscheiden und Revolution von der Verewigung von Herrschaft. Der Pluralismus, die Herrschafts-
ideologie der freien demokratischen Grundordnung, hat sich von der Ideologie zur Wirklichkeit
emanzipiert: Jede Aussage verschwindet im Strudel bloßer Meinung und degeneriert zur reinen
Ansichtssache. Heute gilt: Die Menschen haben irgend etwas im Kopf – aber was das sein mag:
die Marxsche Kritik des Kapitals und der Entfremdung oder der wüsteste Irrationalismus, darüber
entscheidet nicht das Denken der Menschen, sondern der bloße Zufall ihrer Psychologie und Bio-
graphie. Die Menschen ziehen sich ihre Weltanschauung zu wie frühjahrs den Heuschnupfen oder
winters die Grippe. Die Gleichgültigkeit der Meinungen, die sich auf ihre Wahrheit nicht mehr
befragen lassen wollen, bedeutet die Unerheblichkeit dieser Meinungen für den Fortgang des ge-
sellschaftlichen Getriebes.
Die kapitalistische Vergesellschaftung ist subjektlos geworden; Herrschaft im strengen
Sinne hat weder Name noch Adresse. Die bürgerliche Gesellschaft bewahrheitet den therapeuti-
schen Wahn, sie sei das bloße Netzwerk menschlicher Leidenschaften und Intentionen. Die Funk-
tionäre protestieren nach Feierabend und ,als Menschen’ gegen das Unheil, das sie werktags an-
richten helfen. Die Gesellschaft zerfällt, nach dem Vorbild der USA, in einander heillos wider-
streitende Interessensgruppen, Lobbys und Sekten: Wer wollte noch einen vernünftigen Grund
dafür angeben wollen, die eine Interessentenfraktion einer anderen vorzuziehen? Wer wollte noch

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ernsthaft behaupten, es sei fortschrittlicher', sich auf die Seite der Gewerkschaften zu schlagen als
auf die von BMW oder General Motors? Wo doch deren einziger Unterschied darin besteht, daß
die einen lebendige Menschen zu Kartellpreisen verhökern, die anderen Automobile?
Kritiker der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich auf Vernunft berufen, sind allenfalls
noch die, die sich insgeheim längst einzugestehen haben, daß sie außer dem Kritisieren etwas Ver-
nünftiges nicht gelernt und daher die vorgebliche ‚allgemeine Angelegenheit’ zu ihrer speziellen
Erwerbsquelle gemacht haben. So ist das entschiedene Eintreten fürs ‚Interesse’ längst zum Fin-
gerzeig dafür geworden, daß die Sache selbst unter dem Niveau der Vernunft überhaupt liegt. Wer
am lautesten nach Revolution schreit, der gerät am verdientesten in den Verdacht, er fordere nur
die Ausweitung der Sozialhilfe auf die höchsteigene Person. Wer am ehesten für ,Autonomie’
eintritt, der sucht wahrscheinlich längst nach der besten Methode, sich selbständig zu machen. Der
soziale Mechanismus, der subjektive Vernunft verknüpfen sollte, hat sich zur Bewegungsform
einer falschen Einheit von individueller Selbsterhaltung um jeden Preis und allgemeiner Unver-
nunft verwandelt.

Marxismus und Interesse

Der Faden ist gerissen: Keine Theorie vermag mehr, den Ausfall einer objektiven Dynamik der
Revolution in den kapitalistischen Metropolen wettzumachen. Und keine Praxis ist noch imstande,
aus sich heraus die vernünftige Allgemeinheit ihres Interesses hervorzubringen.
Betrachten wir die einzige Philosophie, die – heute noch formal gültig, wenngleich sozial
ausgehöhlt -, den Zusammenhang von Vernunft, Interesse und Revolution zu denken vermochte:
die marxistische. Nach Marx fällt die Emanzipation der lohnarbeitenden Klassen unmittelbar mit
der allgemein-menschlichen Emanzipation in eins. Das subjektive Interesse der Lohnarbeit an der
Steigerung ihres Anteils am gesellschaftlichen Reichtum galt als die nur subjektive Form eines
ganz anderen Inhalts. Hinter dem Klassenkampf um den Lohn verbarg sich der objektive Wider-
spruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der dem subjektiven Interesse die
Form aufprägte und den Inhalt verlieh. Auf dem objektiven, aber gesellschaftlich unbewußten
Terrain marschierte die allgemeine Vernunft als das wahre Interesse aller, den gesellschaftlichen
Reichtum als Genuß sich anzueignen. Die objektive Dynamik sollte das subjektive Interesse zwin-
gen, wider Willen sich in die Sprache der Vernunft zu übersetzen. Nur daher konnte die Befreiung
der Arbeiterklasse als die Abschaffung der Klassenherrschaft überhaupt und nicht als Errichtung
neuer Herrschaft gedacht werden.
Das Begründungsproblem ist deutlich: Es versteht sich, daß keine wie immer geartete
Theorie oder Aufklärung imstande wäre, Vernunft aus sich heraus zu erzeugen und den gesell-
schaftlichen Subjekten zu ,vermitteln’. Ist keine Vernunft in der Sache selber, d.h. in der Gesell-
schaft, dann kann auch Theorie keine erzeugen. Theorie kann objektive Vernunft als bewußt vor-
handene nur artikulieren, nicht aber produzieren. Dies anders zu sehen, hieße, den Subjekten die
Fähigkeit zum ,Lernprozeß’ zu unterstellen, in einer Gesellschaft, die die reflexhaft reagierende
Momentanpersönlichkeit gerade zu ihrer Voraussetzung hat. Nimmt man die Forderung, theoreti-
sche Aufklärung habe aus sich heraus den Sinn zu erzeugen, ernst, dann wird das Problem der
Revolution auf Didaktik und Pädagogik heruntergebracht. Revolution wird zum
,Vermittlungsproblem'. Gerade aus dieser Sicht ließ Marx den Begriff der Theorie auch nicht zu
und wählte den der Kritik. Diese habe im Reich der Gedanken jene Bedeutung zu vollziehen, die
der Kommunismus „als praktische Bewegung, die den gegebenen Zustand aufhebt“ im Reich der
Wirklichkeit, als Krise, vollzieht.
Diese formale Struktur der Begründung bleibt gültig auch dann, wenn ihr der soziale In-
halt entzogen ist. Dieser Inhalt – nach Marx die Arbeit – garantierte im klassischen Modell des
Marxismus die letztendliche Vereinigung von Form und Inhalt, von revolutionärer Arbeiterklasse
und gesellschaftlichem Reichtum zum vernünftigen Leben. Der Marxismus verstand sich so als die
Einheit von Revolutionstheorie und Theorie der kapitalistischen Entwicklung. Er verdolmetschte
das eine in das andere, übersetzte die Kapital-Logik in die Arbeits-Logik: „Produktion um der
Produktion willen heißt nichts anderes als Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, also
Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck“. Und: „Die Vernunft hat
immer existiert, nur nicht immer in vernünftiger Form. Der Kritiker kann also aus den eigenen
Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck
entwickeln“.
Damit allerdings ist es vorbei. Die revolutionäre Übersetzung des materiellen Interesses
in die allgemeine Emanzipation ist blockiert. Im Osten verendete die Revolution im hierarchischen
Staatskapitalismus, während die Arbeiterklasse im Westen auf den Stand der zeitweilig mit pro-
duktiven Funktionen betrauten Staatsbürger heruntergebracht wurde. Gerade in Deutschland ist
das Programm der „Entproletarisierung mit kapitalistischen Mitteln“ (so Walther Rathenau, AEG-
Vorstand 1918) gelungen.

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Der dialektische Materialismus kann diese Entwicklung allenfalls noch erklären. ändern
kann er sie – zumal im Rahmen einer Kapital- und Revolutionstheorie – nicht mehr. Die Kritik der
bürgerlichen Gesellschaft hat sich der Suche nach dem revolutionären Subjekt ebenso zu enthalten
wie dem Verdacht entgegenzuwirken, es ginge ihr um die Wiederaufrichtung eines irgendwie
gearteten Theorie-Praxis-Verhältnisses.
Andernfalls ergeht es ihr wie dem radikalsten Teil derer, die sich, wie gebrochen auch
immer, in Theorie und Praxis auf den dialektischen Materialismus noch berufen: den Autonomen.
Wider Willen verdoppeln sie die bürgerliche Ideologie, es käme auf den Menschen an – worin die
Misere gerade besteht.

Die Autonomen und die Autonomie

Die Autonomen praktizieren revolutionäre Politik im Stande der objektiven Unmöglichkeit dieser
Politik – ein Paradox, das nicht mehr vernünftig gelöst, sondern einzig im Rückgriff auf eine Art
revolutionären Existentialismus übersprungen werden kann. Politik wird zur Frage nach der mora-
lischen Qualität eines Individuums: die Moral soll die Kluft zwischen Notwendigkeit und Mög-
lichkeit überbrücken. Dem korrespondiert eine bestimmte Weise, den Zusammenhang von Hege-
monie und Gewalt, von Konsens und Repression in der bürgerlichen Gesellschaft zu denken.
Es scheint, als hinge die Stabilität des bürgerlichen Staates nur am dünnen, aber eisernen
Faden der Gewalt, an der Geschicklichkeit der Trilateralen Kommission zur globalen Koordination
der Strategie des Kapitals und der ,Counterinsurgency’. Folgerichtig werden die hegemonialen und
ideologischen Formen der Stabilisierung, wenn überhaupt, nur als ,Manipulation’ wahrgenommen.
Ein notwendiger, aus der Gesellschaft erwachsender Zusammenhang von Staat und Gesellschaft
ist undenkbar.
Folgerichtig nähert sich der autonome Standpunkt dem bürgerlichen an: Beiden erscheint
Gesellschaft oder das Volk in strikter Opposition zum Staat sich zu befinden. Der Staat okkupiert
die Gesellschaft. Konsequent kann dann in einer Erklärung der RAF über „Guerilla, Widerstand,
Antiimperialistische Front“ (Mai 1982) über den ,Deutschen Herbst’ verlautbart werden, die Gue-
rilla habe den Staat gezwungen, „zum reinen starken Staat zu werden“, und damit habe sich der
„dünne ideologische Faden zwischen Staat und Gesellschaft“ bis zum Zerreißen gespannt. Diese
Einschätzung gibt den Grundakkord, der auch die Einschätzung jener dominiert, die Guerilla nicht
als illegale Kampftruppe, sondern als ,guerilla diffusa’ nach Art umherschweifender Rebellen
betreiben möchten. Omnipräsent, aber unfaßbar; militant, aber lebenslustig – die Verschmelzung
von Lebensgefühl, Moral und Politik multipliziert die Gespenster. Das Papier der Autonomie-
Redaktion: „Der heiße Herbst und die Krisenpolitik des Regimes“ witterte allerorts einen „strate-
gischen Plan des Regimes“, dem es „vom Klassenstandpunkt aus“, der ein archimedischer Punkt
zu sein scheint, zu begegnen gelte. Das Papier der „Revolutionären Zellen“ über: „Krieg, Krise,
Friedensbewegung“ empfahl gar, „die Zeitbombe, die jedes Herz sein könnte“, zu zünden und
„eigene Strukturen von Subversion und Illegalität zu schaffen, um unberechenbar, unfaßbar, unbe-
siegbar zu bleiben“ und eines Tages gegen „das imperialistische Projekt die Klassenfrage“ zu
stellen. Das autonome Weltbild bildet so eine kuriose Mixtur aus Vulgärleninismus in der Staats-
frage, aus radikalsozialdemokratischem Arbeitsfetischismus aus der Zeit um 1900 und aus lebens-
philosophischem Moralin. Sogar die RAF kennt wie jeder gutbürgerliche Therapeut letztlich nur
das Ziel der „Wiederherstellung der vollen Dimension des Menschen"; als ob es dies jemals an-
derswo als in den religiösen Wahngebilden gegeben hätte. Der Rückgriff auf Moral soll jene ver-
nünftige Allgemeinheit des revolutionären Interesses halluzinieren, die aus der Kritik der Gesell-
schaft nicht mehr zu gewinnen ist.
Die Redaktion der Autonomie zieht die letzten Konsequenzen, die im Rahmen einer Ein-
heit von Kapital- und Revolutionstheorie überhaupt nur möglich sind:

„Eine politische Linie, die auf den Umsturz dieser Gesellschaft zielt, (...) bleibt notwendig minoritär. Sie
kann sich nicht an einer dominanten Arbeiterklasse orientieren (...) und sie muß sich doch eines sozialen
Bezugspunktes versichern, wenn sie nicht die Rolle einer fünften Kolonne spielen will, die im Herzen der
Bestie zuschlägt (...). Dies würde zum terroristischen Nihilismus führen. Ebensowenig darf sie sich in ei-
ne ,Randgruppenstrategie' abdrängen lassen, die letztlich auf sozialarbeiterische Befriedung hinausläuft
(...). Sondern sie muß sich zwischen diesen Polen bewegen.“

Und weiter: Bis zur Bildung der revolutionären Organisation

„bleibt der metropolitane Widerschein des Weltproletariats eine Bezugsgröße für revolutionäres Handeln,
welche zunächst moralisch zu antizipieren ist.“

Der Versuch, diese moralische Antizipation revolutionärer Subjektivität analytisch einzuholen, das
Bemühen, gegen ,High Tech’ und ,Fast Food’ das Andere noch ausfindig zu machen, mündet,

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neben aller Wahrheit der Analyse im Detail, in revolutionäre Romantik. Zu recht wird gezeigt, wie
sehr der Marxsche Begriff der Klasse diese nur insoweit begreift, wie die Arbeiterklasse auf der
Grundlage des Kapitals selber, als variables Kapital, schon konstituiert worden ist.
Zu recht wird der darauf basierende bolschewistische und sozialdemokratische Begriff
der Revolution als die bloße Verlängerung des Kapitals mit proletarischen Mitteln analysiert und
abgewiesen. Und ebenso hellsichtig erscheint die Analyse der Verschrottung der Menschen durch
Arbeit als letzter Zweck des Kapitals.
Aber bei dieser Analyse bleibt es unter dem Zwang des Primats, Theorie und Praxis zu
vermitteln, nicht. Der Denunziation muß das Positive, auf das man sich berufen muß, die vernünf-
tige Allgemeinheit, auf dem Fuß folgen. Wurde eben noch festgestellt, „daß nach Auschwitz das
Leben als ethischer Komplex zerfällt“, so soll doch gleich darauf „die ferne Ahnung“, daß das
„Leben etwas anderes ist als Arbeit und Konsum“, die treibende Kraft der Umwälzung stiften.

Theorie und Praxis: Das Ende einer Illusion

An einer Mauer der Universität hat ein Student seinen Frust auf Beton gebracht: „Theorie = Ona-
nie“. Immerhin, so könnte man antworten, besser als gar kein Spaß. Aber dahinter steckt die trau-
rige Tatsache, daß der Marxismus als sog. wissenschaftlicher Sozialismus von den Akademikern
nur akzeptiert wurde, weil er dem Einzelnen die Superwissenschaft versprach und damit die Chan-
ce, im universitären ,zwanglosen Zwang des besseren Argumentes’ seinen Mann zu stehen, seine
Diplome zu kassieren und gleichwohl das schöne Bewußtsein nach Hause zu tragen, etwas für den
Fortschritt des Wahren, Guten und Schönen unternommen zu haben. Heute garantiert der wissen-
schaftliche Sozialismus nur noch Verdruß und keinerlei Aussicht auf Reformarbeit mit Pensions-
anspruch mehr.
Gleichwohl hat sich im interessierten Publikum die Gemeinschaftskundeweisheit gehal-
ten, bei Marx ginge es irgendwie um die ,Vermittlung von Theorie und Praxis’, oder gar um das
Umsetzen von Begriffen in die Wirklichkeit. Diese Vorstellung speist sich – neben der Ansicht,
Kritik sei gleichsam die zweite Stufe eines vorgängigen und neutralen ,Verständnisses’ – aus der
Vorstellung von der Gesellschaft als einem chemischen Prozeß. Gesellschaft soll – nach Art einer
Kohlenwasserstoffverbindung erst analysiert und das Ergebnis dann praktisch angewandt werden.
Wie aber kann eine Kohlenwasserstoffverbindung kritisiert werden?
Das Problem, die bürgerliche Gesellschaft zu kritisieren, nähert sich zweifellos dem Pro-
blem, mit der anorganischen Chemie nicht einverstanden zu sein, und damit der bloßen Willkür
des ,Nein-Sagens’, die dem Wahn verwandt ist. Das aber ist keine innertheoretische Schwierigkeit
einer wie immer verstandenen Philosophie, sondern Ausdruck der gesellschaftlichen Misere selbst:
Es drückt sich hierin aus, daß Gesellschaft sich zur zweiten Natur verhärtet, die die Menschen als
lebende Leichname sich anverwandelt, die wiederum, dem Gebot der Selbsterhaltung um jeden
Preis folgend, die allgemeine Selbstabschaffung organisieren.
Dem Wunsch zum Selbstmord ist vernünftig nicht zu widersprechen. Hier versagt jedes
Argument, hierin liegt der letzte Rest einer, wenn auch negativen, Freiheit. Dem Selbstmörder
wäre nur die Frage zu stellen, ob er, seinen Entschluß begründend, nicht nur sagt, was er weiß,
sondern auch weiß, was er sagt. Diese Frage zu stellen – das ist und bleibt die Aufgabe des kom-
munistischen Gespenstes. Kritik, die darauf beharrt, daß es noch lange kein Grund ist, das Falsche
zu tun, nur weil das Richtige nicht gehen mag, spricht gleichsam aus dem Jenseits, vom Stand-
punkt des Endes her. Was sie zu antizipieren vermag, ist weder das ,gute Leben’ noch vernünftige
Allgemeinheit, sondern einzig das Ende der Möglichkeit, die Frage danach überhaupt stellen zu
können.

Oktober 1985

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1

ISF
Nationaler Wahn
Über die Antiquiertheit des Vaterlandes und den Antiquitätenhandel der Linken

Aus: Initiative Sozialistisches Forum


Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 30 – 49.

„Deutschland dem deutschen Volk!“


KPD/ML1

Wer den vom Zeitgeist geforderten Absprung von den Prämissen linker Politik bis heute noch
nicht geschafft hat, ist, statt in revolutionäre, in vom Gegner berechenbar gewordene Politikformen
verfallen.2 Besonders die Politik der radikal sich nennenden Linken erschöpft sich darin, jedes
schlimme, für bürgerliche Gesellschaften jedoch alltägliche Ereignis im Brustton puritanischer
Sittenwächter als Ausdruck tiefster moralischer Abgründe zu denunzieren. Allein die Höhe, von
der aus sie auf die sittliche Unreife der anderen Fraktionen der Linken herabschauen kann, gilt ihr
als Gradmesser von Radikalität.3 Und so bleibt es, wie es immer schon war: Sobald die Wirklich-
keit sich gegen die ideologischen Scheuklappen durchgesetzt haben wird, spalten sich die Fraktio-
nen der Linken in die, die von ihrer oppositionellen Haltung die Nase voll haben, weil sie sehen,
wie der Kapitalismus jedesmal, egal ob mit oder ohne sie, auch die schlimmste Krise bewältigt,
und in die, die zwar weitermachen, aber durch Form und Inhalt ihrer ehemaligen Kämpfe desa-
vouiert sind.4 Und so sollte es nicht verwundern, daß angesichts der aktuellen und der drohenden
Wahlerfolge der Nationalisten die übriggebliebene Linke sich aufscheuchen läßt wie ein Hühner-
haufen, über dessen Ineffizienz die Rechte nicht einmal mehr lachen kann.
Es gibt ein Axiom bürgerlicher Vergesellschaftung, dessen Problematisierung auch die
Linke erfolgreich tabuisiert. Es lautet: Jeder Mensch hat eine Nationalität.5 Selbst wenn Linke
aufgrund beliebiger Anlässe bezichtigt werden, vaterlandslose Gesellen zu sein: Dieser Vorwurf
ist, wie die Geschichte unzählige Male erwiesen hat, völlig aus der Luft gegriffen. Denn dieser
Linken ging es nie um die Destruktion der Nationalität als einer politischen Kategorie, sondern
immer um die Verwirklichung ihres Ideals von Nationalität6: Deutsche Linke sehen sich dement-
sprechend als Repräsentanten des anständigen, des ,anderen Deutschlands'. Danach, ob es ein
Deutschland überhaupt geben kann, das nicht in der Kontinuität des Dritten Reiches steht, wird gar
nicht erst gefragt – die ideelle Evidenz subjektiver Vorstellungen wird umstandslos in die Mög-
lichkeit objektiver Existenz übersetzt.
Daß ein Mensch, bevor er als Mensch gesellschaftlich existiert, eine Nationalität zu haben
hat, gilt Linken wie Rechten als Naturgesetz. Daß sich aus dieser Existenzbedingung andere Diffe-
renzierungen als bloß egalitär-formale – nämlich hierarchisch-inhaltliche – ergeben, ist dagegen
ein Gesetz, dessen Unerbittlichkeit der des mathematisch-logischen Gesetzesbegriffes gleich-
kommt. Links wie rechts müht man sich schon seit Jahrzehnten damit ab, die Phrase von der na-
tionalen Identität der Deutschen (und anderer Volksstämme) zu füllen. Doch wie bei allen Ausein-
andersetzungen um richtige Inhalte geht es auch hier um die sich durch den Streit hindurch entfal-
tenden (Denk-)Formen. Sind diese konstituiert, dann ist dafür gesorgt, daß sich nur die Inhalte
verwirklichen können, denen jeder Stachel genommen ist. Mit der fraglosen Akzeptanz der natio-
nalen Identität als einem Apriori von Gesellschaftlichkeit sitzt die Linke einer Logik auf, die sich
gegen all ihre gesellschaftskritischen Intentionen kehren wird: Ihre auf ‚nationalistische Auswüch-
se' oder ,bürgerlichen Nationalismus' beschränkte Kritik gießt Öl in das Getriebe der kapitalisti-
schen Reproduktion.
Der deutsche Linke hält sich, aller leidvollen Erfahrungen auf diesem Gebiet zum Trotz,
immer noch für den besseren Deutschen. Die Frage kann nicht sein, mit welchem Recht, sondern
die: Kann es Deutsche geben, die deutscher sind als ein deutscher Faschist? Wer sich als denkfä-
higer Mensch auf diesen Wettbewerb einläßt, ist für antikapitalistische Politik verloren.

Anmerkungen
1
Dies ist der Titel der „Erklärung des ZK der KPD/ML zur nationalen Frage“, in: Der Weg der
Partei. Theoretisches Organ der KPD/ML, Nr. l, Februar 1974.
2
Wer in Bezug auf überholte Politikformen nur an die Strategie des bewaffneten Kampfes denkt,
übersieht die Antiquiertheit seiner eigenen Politik von vornherein.
3
Je radikaler eine Fraktion der Linken sich gibt, umso versessener ist sie auf die scheinbare Un-
2

mittelbarkeit der Empirie. Da muß dann der alltäglichste Vorfall bürgerlicher Repression die ab-
grundtiefe Schlechtigkeit des imperialistischen Weltsystems beweisen. Wer darauf verweist, daß
es neben diesem Vorfall unzählige ebenso schlimme und in jeder Hinsicht zu verurteilende
Verbrechen dieses Systems gibt, ist ein Spalter. Der Verdacht drängt sich auf, daß diese Radikalen
sich insgeheim gar nicht sicher sind, ob sie wirklich gegen das kapitalistische System kämpfen,
denn sonst wüßten sie, daß der Kapitalismus entweder deshalb zu bekämpfen ist, weil er Kapita-
lismus ist – oder nicht er selbst, sondern nur seine empirischen Folgen: Dafür aber ist ihrem Wesen
nach die Sozialdemokratie (auch wo sie sich Kommunistische Partei nennt) zuständig.
4
Deshalb besteht z.B. zwischen Joschka Fischers .Ökologischem Kapitalismus' und Eber-
mann/Tramperts ,Radikaler Linken' nur ein sozialpsychologischer Unterschied. Und nur schwer
erträglich sind Linke, die in aller Unschuld feststellen, daß sie das auf ihnen lastende Verbot leid
seien, sich als Linke nicht auch als Deutsche begreifen zu dürfen. Diese tun geradewegs so, als
hätte die Linke irgendwann in ihrer Geschichte eine artikulierte, auch nur in Teilbereichen der
Linken konsensfähige, antinationalistische Haltung eingenommen. Das Gegenteil ist der Fall.
Wenn Matthias Horx etwa das Tabu in der Linken beklagt, sich als Deutscher fühlen zu dürfen,
ohne gleich als Nationalist zu gelten, so trifft er vielleicht ein in seiner Szene vorherrschendes
diffuses Gefühl, das ursprünglich einmal auf dem schlechten Gewissen beruht haben dürfte, daß
man dort, wo man sich als ,Nach 68er' organisierte, noch genauso deutsch dachte und handelte wie
die Väter und weit davon entfernt war, das väterliche Erbe wirklich, d.h. auch in seinen Formen
zerstören zu wollen. Statt sich aber nun dieses schlechten Gewissens zu entledigen, indem man
dem Nationalismus an die Wurzel geht, rechtfertigt man sich heutzutage mit dem Bekenntnis, nun
einmal nichts dafür zu können, Deutscher zu sein, und baut dieses nahtlos in die gerade angesagte
Lebensform mit ein – wie um damit erneut zu beweisen, daß auch die Verwechslung von Politik
und Lebensform in diesen Kreisen (die bis zu den Autonomen reichen) nicht davor schützt, alle
Wendungen der bürgerlichen Politik, wenn auch mit einiger Zeitverzögerung und ,im kleinen',
nachzuvollziehen.
5
Für Linke, die angesichts der östlich der Elbe ausgebrochenen Begeisterung für ‚unsere' BRD mit
feuchten Augen in die Nationalhymne einstimmen, kann sogar Verständnis aufgebracht werden –
wie es verständlich ist, das System, das seiner Bevölkerung Bananen zu kaufen erlaubt, für etwas
Tolles zu halten. In den Sozialisationstheorien (wie in jeder Theorie) steckt ein wahrer Kern: Wer
allseits mit der Zuschreibung konfrontiert wird, Deutscher zu sein, schreibt dies zwangsläufig
seinem Selbst als Wesensmerkmal zu – es sei denn, er korrigiert sich durch den Gebrauch seines
Verstandes. Die Kritik lebt von der nicht weiter konkretisierbaren Hoffnung, daß der Verstand
auch der deutsch gewordenen Linken zu einer solchen Korrektur noch fähig ist.
6
Was ,Links-Sein' heißt, läßt sich nicht positiv bestimmen. Daß diese Abstraktion, abgesehen von
der Definitionsmacht, die die Rechte politisch hier zweifellos besitzt, dennoch Realität ist, zeigt
sich immer dann, wenn eine Fraktion der Linken, die sich sonst als Inbegriff all dessen sieht, was
,Links-Sein' konkret auszeichnen soll, an ‚gemeinsame', allgemein-linke Ideale und Ziele appel-
liert: Nämlich immer dann, wenn sie mit dem Rücken zur Wand steht. Die Kritik kann den Begriff
,links' nicht konkreter fassen als dies die Linke (in ihrer Gesamtheit gesehen) aus ihrem Selbstver-
ständnis heraus vermag. Wenn eine linke Fraktion nun behaupten sollte, sie sei (weil sie sich als
.internationalistisch' verstehe – als ob der Internationalismus nicht die Existenz der verschiedenen
Nationalismen zur Voraussetzung hätte) von der Kritik am Begriff der nationalen Identität nicht
betroffen, dann ist das glatt geschwindelt.

I. System und Individuum

Soziographisch betrachtet, sind bürgerliche Gesellschaften durch eine Dreiteilung gekennzeichnet.


Ein Teil profitiert (und arbeitet nicht), ein Teil arbeitet (und profitiert nicht) und der andere Teil
will profitieren oder wenigstens arbeiten, darf aber beides nicht. Jeder Teil ist auf die Existenz der
anderen angewiesen. Für Bewegung in den Teilbereichen und zwischen ihnen sorgt die Angst:
Vordergründig die, von einem übergeordneten Bereich in den darunter liegenden zu fallen. Letzt-
lich die, in diesem ,Spiel' nicht mehr mitmachen zu dürfen und akzeptieren zu müssen, was man
jenseits aller narzißtischen Selbsttäuschungen in Wirklichkeit ist: Das atomisierte, gegen alle ande-
ren abgeschlossene Individuum ohne wirklichen Zugang zur allein selig machenden Welt des Ka-
pitals.
Die empirische Verteilung der Individuen auf die einzelnen Stufen der Hierarchie ist nur
im nachhinein zu ermitteln und deshalb nur von historischer Bedeutung. Ob der eine Teil mal ein,
mal 10, der andere einmal 50, einmal zwei Prozent der Bevölkerung ausmacht, ob und wie oft eine
Person von einem Teil in den anderen gewechselt ist, oder wieviele Personen dies im Jahre X
getan haben oder wahrscheinlich tun werden und ob gar alle drei Teile sich in einer Person finden
3

lassen und in welcher Verteilung: Das ,Spiel' bleibt das gleiche und seine einzelnen Elemente sind,
in welcher Verteilung auch immer, präsent.1
Das Grundproblem bürgerlicher Vergesellschaftung ist: Mindestens zwei Drittel der Be-
völkerung müssen in die gesellschaftlichen Prozesse tagtäglich neu integriert werden – denn der
auf kapitalistische Weise erwirtschaftete Reichtum kann nie so verteilt werden, daß deutlich mehr
als ein Zehntel der Bevölkerung in den Genuß kommt, zu den nicht-arbeitenden Profiteuren des
Systems zu gehören, welche aufgrund ihrer Interessenlage mit dem Kapitalismus ohne Einschrän-
kung einverstanden sein könnten. Was bringt jenen Rest der Bevölkerung dazu, in den vernunft-
widrigen, weil aussichtslosen Wettbewerb darum einzusteigen, zu denen gehören zu wollen, die
,es geschafft haben’? Was z.B. bringt einen 100-Meter-Läufer dazu, sich mit tausend anderen unter
dem abstrakt gesetzten Aspekt vergleichen, wer der Schnellste dieser Tausend ist, obwohl ihm
schon eine naive Wahrscheinlichkeitsrechnung die Gewißheit verschaffen könnte, daß er nicht der
strahlende Sieger, sondern nur die Staffage (logisch die ,conditio sine qua non') abgibt für den
einen, der schließlich das Rennen machen wird? Man weiß zwar: einer wird gewinnen. Man weiß
außerdem: das Spiel hört nicht auf, Lotto wird jeden Mittwoch und jeden Samstag neu gespielt.
Von der praktischen Vernunft aus betrachtet kann der Gewinner aber immer nur der andere sein.
Der Kampf der Individuen gegeneinander um ein äußerst knappes Gut: den Sieg, die
höchste Macht, den größten Profit etc. verlangt nach einer allgemein akzeptierten Regel, nach
einem Konsens, der einem auch dann noch freundlich zu lächeln erlaubt, wenn die Macht der Lo-
gik sich gegen die intendierten Inhalte durchgesetzt hat. Wie aber werden die Bürger in ein System
integriert, das ihnen gemäß seines formalen Aufbaus nicht erfüllen kann, was sie sich dennoch alle
innigst wünschen – nämlich zu den Profiteuren zu gehören, die das Arbeiten (und die Suche nach
Arbeit erst recht) nicht nötig haben?
Diese Integration vollzieht sich nicht, wie Konsens- und Pluralismustheorien es behaup-
ten, als (vertragsähnliche) Vereinbarung freier und gleicher Individuen, sondern vor dem Hinter-
grund, daß es in der heutigen Welt die Möglichkeit gar nicht gibt, sich anders als in den Formen,
durch die hindurch sich das Kapital reproduziert, auszudrücken. Individuum und Bürger wird der
Mensch in einer bürgerlichen Gesellschaft erst, insoweit er durch die gesellschaftlichen Zwänge
hindurch gelernt hat, es anzuerkennen, daß sich seine (vom Prinzip her: freien) Entscheidungen im
Rahmen der gegebenen Grundordnung bewegen müssen. Er wird zum Bürger, soweit er fähig ist
(und sich darauf beschränkt), zwischen Waschmittel ,A' und Waschmittel ,B' seine souveräne
Wahl zu treffen. So bescheiden diese Souveränität ihrer Qualität nach auch ist, für das Individuum
hat sie eine ihrer Nichtigkeit umgekehrt proportionale Bedeutung: Die Zugehörigkeit zum System
hat existenzielle Dimension. Entweder mitmachen, also Bürger sein, oder (sozialer) Tod. Tertium
non datur.
Neben anderen wie Religion oder Erziehung benennt der Begriff der nationalen Identität
die entscheidende Form, mittels der die Individuen in das System kapitalistischer Ausbeutung
integriert werden.

Anmerkung
l
Soziologie, Psychologie und Volkswirtschaftslehre, die Gesellschaftswissenschaften generell,
sind als Disziplinen zu verstehen, die wegen ihres empirisch-analytischen Ausgangspunktes ihren
Gegenstand, die Verflechtung von Individuum und Gesellschaft, gar nicht erfassen können, und
deshalb der Eigengesetzlichkeit der intersubjektiven Prozesse immer nur hinterherhinken.

II. Gesellschaft und Nation

Ein kleinerer (manchmal, wie im Augenblick, auch wachsender) Teil der Bürger der entwickelten
kapitalistischen Staaten ist bloßes Objekt von Sozialarbeit. In Bezug auf den größeren Teil der
Gesellschaft geht es darum, durch die Konstituierung einer zweiten Natur am Menschen die Nach-
frage nach Waren so zu steuern, daß das für den Kapitalismus existenznotwendige Marktspiel von
(knappem) Angebot und (das Angebot übersteigender) Nachfrage immer wieder neu in Gang
kommt. Die in diesem ,Spiel' sich konstituierende, dem Individuum permanent unter die Nase
geriebene Drohung, einmal dem Teil anzugehören, der sich die Waren, die die zweite Natur bedie-
nen, nicht mehr leisten kann, erzeugt – in Verkettung mit archaischen ,Urängsten' – das Grundbe-
dürfnis, sich von den Konjunkturen des (Arbeits-) Marktes und der Moden freizumachen, und sich
als jemanden zu begreifen, der unwiderruflich einer überindividuellen, sinnstiftenden Lebensge-
meinschaft von Natur aus angehört. Vom Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft ver-
spricht sich der Bürger die Befriedigung seiner Sehnsucht nach Schutz vor den praktischen Konse-
quenzen seines objektiven Tuns: Auch hier also ist die bürgerliche Gesellschaft – wie im Tausch-
verkehr generell – ein Kreislauf, in dem sich beständig befriedigen will, was zuvor als Bedürfnis
4

erzeugt worden ist. Der Begriff der Nation suggeriert einen Fixpunkt, auf den dieser Kreislauf sich
positiv beziehen kann.
Das bürgerliche Selbstverständnis gründet sich sowohl auf das Prinzip der Gleichheit als
auch auf das der Konkurrenz; wobei die Gleichheit formal gefaßt ist: Nur vor dem Souverän (dem
Gesetz, dem Führer) oder dem (Soldaten-)Tod ist jeder gleich – und vor dem Geld, so er welches
hat. In der Praxis dagegen geht es darum, zu den Siegern zu gehören, also Ungleichheit herzustel-
len. Gegen die sich im alltäglichen Konkurrenzkampf zwangsläufig herausbildende Hierarchie der
(mehr oder weniger) Erfolgreichen konstituiert sich die Nation als das Prinzip, in dem sich die
Gleichheit trotzdem zur Geltung bringen kann – als Ideologie: Jeder Deutsche ist als Deutscher
jedem anderen Deutschen gleich – und hat die gleichen Rechte. Mittels und in der Gewißheit, eine
nationale Identität zu besitzen, fängt der Bürger die Frustrationen, die ihm der Alltag zufügen muß,
weil viele berufen, doch wenige nur auserwählt sind, wieder auf. Der Satz: Wir sind doch alle
Deutsche, ändert zwar nichts an einer nach Vermögen, Prestige und Macht geordneten Gesell-
schaft, erzeugt aber das Gefühl, jenseits aller Streitereien existiere ein Hafen, in dem man jeder
zeit sicher an Land gehen kann und in dem auch der Vorstandssprecher der Deutschen Bank nicht
mehr gilt als man selbst.
Was für den einzelnen Bürger gilt, gilt für seine zur Nation aggregierte Gesamtheit eben-
so. Und wie die Unternehmen auf dem Weltmarkt - trotz ihrer strukturellen Identität und Aus-
tauschbarkeit – einen erbitterten Krieg gegeneinander führen, so ergeht es den Nationen in der
Politik: Gleichheit – und gerade die im sog. ,Recht auf nationale Selbstbestimmung' – gibt es nur
der Form nach; um als Nation praktisch existieren zu können, muß um eine Vorrangstellung im
Verhältnis der Nationen untereinander gekämpft werden. Die Verankerung der nationalen Identität
im Gefühlshaushalt des Staatsbürgers diszipliniert ihn für den Kampf um den Sieg im Krieg der
Identitäten (Nationen, Völker, Armeen, Konzerne) gegeneinander. Wer ja sagt zur Notwendigkeit
nationaler Identität, sagt ja zur Politik, die, mit welchen Mitteln auch immer, zum Zweck der In-
karnation dieses Abstraktums verfolgt werden muß.
In diese Systemlogik verfängt sich vor allem die Gefühlswelt des Bürgers, dem es ver-
wehrt bleibt, zu den vom Handarbeitszwang befreiten Nutznießern der kapitalistischen Form der
Vergesellschaftung zu gehören. Ob links, ob rechts: Er verpflichtet sich auf das existierende politi-
sche System und wird doch den Eindruck nicht los, etwas Besonderes zu sein: Nämlich als Teil
einer auserwählten Einheit niemand anderes als er selbst. Dieser Nutzeffekt ist zudem kostenlos,
denn praktisch bedeutet das Bewußtsein, zu einer überindividuellen Einheit, zu einem Kollektiv,
zu einer Gemeinschaft zu gehören, zunächst nichts anderes, als so weiter leben zu können, wie
bisher: Nur nicht in bedrohlich erscheinender Vereinzelung, sondern in einer durch den Schutz
einer Kollektivzugehörigkeit gesicherten Ordnung.
Der schwerwiegende Nachteil, den der Begriff der Nation seiner Natur nach hat, bleibt
jedoch bestehen: Die Nation manifestiert sich allein in der Vorstellung (und im Gefühlshaushalt)
der Individuen. Empirisch existiert sie bestenfalls in der Form von Schützenvereinen oder im Ver-
ein Deutscher Schäferhundebesitzer. Die bürgerliche Gesellschaft ist deshalb beständig auf der
Suche nach der Substanz, in der sich ihr Streben nach nationaler Identität ,endgültig' verwirklichen
kann.

III. Staat und Geld

Die Institution, die über die Einheit der Gesellschaft wacht und die die Zugehörigkeit der Bürger
zur überindividuellen Gemeinschaft verwaltungsmäßig regelt, ist der Staat. Deshalb ist er der erste
Adressat des Strebens der Bürger nach emotionalen Einheitserlebnissen: Er soll neben der materi-
ellen, durch Militär, Polizei, Justiz und Bürokratie garantierten Einheit der Gesellschaft auch dafür
sorgen, daß sich die kulturelle Vereinheitlichung der Gesellschaft zur ,nationalen Identität' ver-
dichten kann. Der Staat ist jedoch, vor allem anderen, Ausdruck der kapitalistischen Reproduktion
– er sorgt dafür, daß die Bedrohung der Individuen mit dem Ausschluß aus dem Sozialsystem
aufrecht erhalten bleibt.1 Das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat gestaltet sich wie das des
Arbeiters zur Fabrik: Zu systemkonformem Verhalten (zur Einhaltung der Gesetze oder zum Ar-
beiten) muß der Mensch, solange er sich noch einen Rest an Differenz zur Maschine bewahrt hat,
auf irgendeine Weise gezwungen werden. Dieser mit dem Staat untrennbar verbundene Zwangs-
charakter ,stört' die Harmonie, die sich im Begriff der Nation verwirklichen will. Der Staat also ist
zwar der nächstliegende Adressat für die Forderung nach Erhalt und Ausbau der nationalen Identi-
tät, die Nation aber kann im Staat – unter den Bedingungen bürgerlicher Demokratie jedenfalls -
nie je wirklich aufgehen.2
Für die Einheit der kapitalistischen Welt konstitutiv ist der Staat, entgegen seinem Selbst-
verständnis und seinem Erscheinungsbild, sowieso nicht. Vielmehr ist es die das Geld konstituie-
rende Wertform, die die kapitalistische als eine einheitliche Welt erscheinen läßt – und auch kon-
5

stitutiv ist für die im Kapitalismus fortdauernde Existenz und Geltung der genetisch auf vorbürger-
liche Gesellschaften bezogenen Form Staat. Die Wertform aber kann (wie sich an der Notwendig-
keit staatlicher Organisation der bürgerlichen Gesellschaft zeigt) nicht zugleich auch als Repräsen-
tant ihrer Einheit – als der Souverän – in Erscheinung treten: Sie hat keinen Willen, der die bür-
gerlichen Rechte in Kraft setzen und ihre Einhaltung garantieren könnte. Um zum Brennpunkt der
Gefühlswelt aller Bürger avancieren zu können, ist von einer solchen, allgemein akzeptierten Ein-
heit darüberhinaus verlangt, daß sich vor allem die in ihr wiedererkennen und spiegeln können, die
die Reproduktion der Gesellschaft durch ihre Arbeitskraft gewährleisten. Aber wie es denen
schwerfällt, sich mit dem Staat zu identifizieren, die schlechte Erfahrungen mit seinen Organen
gemacht haben, so fällt es all denen naturgemäß schwer, ihr Selbst im Geld zu positivieren, die
keines haben. Auch weil die bürgerliche Gesellschaft den Mangel an Vermögen bei einer Vielzahl
ihrer Bürger aus den verschiedensten Gründen gar nicht abstellen darf – sie braucht z.B. immer
eine Reservearmee aus Leuten, die, um an Geld zu kommen, im Wortsinne auch über Leichen
gehen – ist sie auf ein allgemeines, spezifisch kulturelles Identifikationsobjekt, das für die Integra-
tion der Individuen in das ihnen äußerliche System sorgt, unbedingt angewiesen: Und diese Identi-
tät ist, symbolisch vorgestellt im Deutschlandlied, Bundesflagge und deutschem Geier, die Nation.
Nationale Identität also ist der Name für einen Prozeß, in dem sich die durch das Kapital
(die Wertform) gestiftete, im Geld repräsentierte und vom Staat garantierte abstrakte Einheit kapi-
talistischer Reproduktion der Gesellschaft in die ,konkrete', den Gefühlshaushalt des Bürgers zu-
sammenhaltende Ordnung übersetzt. Auf diese Weise avanciert die Nation zu einem Über-Ich
zweiten Grades: zum Gewissen der zweiten Natur. Wer sich als Repräsentant des Willens der Na-
tion auszuweisen weiß, der besitzt die Souveränität, den gemeinsamen Willen aller Staatsbürger
auszudrücken und damit die Macht, seine Entscheidungen, vermittelt über die Staatsorgane, ge-
samtgesellschaftlich durchzusetzen: Der Begriff der Nation selbst bleibt jedoch ein leeres Gedan-
kending und ohne Substanz.

Anmerkungen
1
Dies ist die vornehmste Aufgabe der (als Teil der Staatlichkeit der Gesellschaft zu verstehenden)
Justiz: Doch auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen ist diese Drohung evident. Der
Obdachlose, der Drogenabhängige, der in seiner Wohnung dahinvegetierende Rentner: Ohne die
exemplarische, konkret-empirische Realisation dieser, dem im System aufgehobenen Individuum
ansonsten nur abstrakt vermittelbaren Bedrohung, ist – wofür die Diskussion um die Arbeitspro-
duktivität in der DDR ein aktuelles Beispiel ist – der arbeitende Teil der Bevölkerung auf Dauer
nicht bei der Stange zu halten. Nebenbei bemerkt: Der depravierte, deklassierte und desintegrierte
Mensch ist das Gegenteil eines revolutionären Potentials – er ist vielmehr Garant dafür, daß das
potentiell revolutionäre Subjekt ein Subjekt ,in potentialis' bleibt.
2
Diese sich systembedingt ständig reproduzierende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit
des Staatshandelns macht sich der rechte Agitator, sei er Führer einer belanglosen Sekte, sei er
einflußreicher Populist wie früher Strauß oder heute Schönhuber, zunutze: Der Demagoge be-
schwört die unmittelbare Einheit von Gesellschaft und Staat, verspricht, für den Fall, daß die Bür-
ger ihm alle Macht übertragen, die Erfüllung von Sehnsüchten, ohne daß diese den ,Umweg' über
Markt, Geld und parlamentarischen ‚Hickhack' nehmen müßten. Der nationalistische (oder faschi-
stische) Agitator stellt die Synthese zwischen subjektiver Befindlichkeit und objektiver, kapitallo-
gischer Notwendigkeit her – gegen den Strich der kapitalistischen Form der Vergesellschaftung,
die auf Markt, Geld und Ausgleich der konkurrierenden Interessen nicht verzichten kann, ohne als
Kapitalismus zugrunde zu gehen. Er agitiert für die negative Aufhebung der Vermittlungen der
bürgerlichen Gesellschaft in unmittelbare Herrschaft, für positive Barbarei. Den Demagogen gibt
es, weil und solange es diese Kluft, d.h. die bürgerliche Gesellschaft, gibt. Wer von Schönhuber
redet, der darf von Weizsäcker und Willy Brandt nicht schweigen – von Gorbatschow erst recht
nicht.

IV. Bürger und Politik

Die Reaktion der Linken auf die Politik der nationalistischen Rechten erschöpft sich darin, den
Bürger über die dem Nationalismus zugrundeliegenden, auf Ausbeutung und imperialistischer
Aggression basierenden, materiellen Interessen aufklären zu wollen. Sie weist nach, daß, wer sich
auf national-bornierte Krisenlösungsstrategien einläßt, langfristig seinen Bedürfnissen und morali-
schen Ansprüchen zuwiderhandelt. Das stimmt – doch dem Bürger ist diese Wahrheit der allerletz-
te Grund, seine latent immer vorhandene nationalistische Grundeinstellung aufzugeben und sie
nicht dann manifest werden zu lassen, wenn irgendein Tropfen das Faß zum Überlaufen bringt.
Die Argumente, die ihn von fremdenfeindlichen und sonstigen Exzessen abhalten sollen – etwa die
6

Erläuterung der Tatsache, daß seine Existenzweise ebenso wie die absolute Höhe der Mittel, die er
zur Reproduktion seines Lebens zur Verfügung hat, von der Existenz all der anderen Nationen und
eines durch alle Nationalstaaten hindurch wirkenden freien Weltmarktes (für alle Waren: Güter,
Geld und Arbeitskräfte) abhängig ist – treffen nie die Sache, um die es ihm geht: seinen Gefühls-
haushalt. Mit vernünftigen Gründen, auf welche Fakten sie sich auch stützen mögen, ist sein der
Unmittelbarkeit verpflichtetes Denken und Fühlen ebensowenig zu ändern wie mit noch so eviden-
ten historischen Beispielen.1
Das Dilemma wiederholt sich, wenn die Linke die Bürger über die Heuchelei der rechten
Populisten informieren will. Daß diese öffentlich Wasser predigen, heimlich aber Wein trinken, ist
so offensichtlich, daß sich daran keiner wirklich stört. Gerade der, der sich dieser Heuchelei ent-
zieht, macht sich unter Bürgern sofort als ,Linker', d.h. als Asket und Spielverderber, verdächtig.
Indem der Aufklärer nachweist, daß, wer die populistische Rechte unterstützt, gegen seine
materiellen Interessen handelt, also ein Idiot ist2, übersieht er, daß es das Prinzip der bürgerlich-
parlamentarischen Form der Vergesellschaftung ist, langfristige mit kurzfristigen und besondere
mit allgemeinen Interessen in der Balance zu halten. Denn derjenige, der seine unmittelbaren Be-
dürfnisse dem allgemeinen Wohl unterordnet, muß darauf verzichten, seine aktuellen Bedürfnisse
zu befriedigen. Wer dagegen ganz egoistisch nach allem greift, was er gerade kriegen kann, han-
delt – und dies ist nicht erst seit der Diskussion ökologischer Probleme allgemein bekannt -, not-
wendigerweise gegen seine im Allgemeinwohl repräsentierten Interessen. Die bürgerliche Demo-
kratie – und das ist ihr strategisches Plus gegenüber jeder stalinistischen, ökologischen oder son-
stigen Diktatur – überläßt die Entscheidung für oder gegen das allgemeine Wohl ganz bewußt
jedem einzelnen. In irgendeiner Weise ist man, egal wie man sich verhält, gerade weil es diese
Entscheidungsfreiheit gibt, in einer bürgerlichen Demokratie immer der Dumme. Dummheit ist
somit ein konstitutives und deshalb von keiner Aufklärung zu beseitigendes Moment kapitalisti-
scher Reproduktion.
In einer kapitalistischen Gesellschaft müssen sich alle Bedürfnisse, damit sie befriedigt
werden können, wertförmig ausdrücken. Zu einem systemfunktionalen Ausgleich gebracht werden
die divergierenden Interessen der Bürger in der Vermittlung durch die Wertform. Im Kapitalismus
ist es unmöglich, Inhalte zu verwirklichen, ohne diese in die existierenden ökonomischen, politi-
schen, ästhetischen und nicht zuletzt ideologischen, die Wertform in sich aufhebenden Formen zu
gießen. Verweigert man sich diesen Formierungen, so macht man sich zum Trottel wie einer, der
in den Supermarkt geht und an der Kasse mit Knöpfen bezahlen will. Genau das nun ist der Ein-
druck, den die Schönhuber beklatschenden Kleinbürger auf den politisch aufgeklärten Intellektuel-
len machen.3
Diesem Intellektuellen fällt die Aufgabe zu, die Rationalität des einzelnen Bürgers in die
allgemeine Rationalität einer Gesellschaft zu verwandeln (und umgekehrt), in der sich das Ge-
meinwohl dadurch erzeugen soll, daß jeder nach seiner Façon glücklich werden darf. Gegen diese
Verpflanzung der Rationalität des Marktes in den Kopf rebelliert der Geist der meisten Bürger von
,Natur' aus – und deswegen sind Intellektuelle (das abstrakte Denken generell) den Bürgern so
suspekt wie sonst nur noch die, die auf ihrem Geld sitzen, und davon leben, es ihnen zu leihen. Der
Bürger, der gar nichts anderes will, als als ein Wesen zu agieren, das allein dem Reiz-Reflex-
Schema folgt (die Konstruktion solcher ,Naturen' ist im übrigen das Ziel aller Pädagogik), verlangt
nach einfachen Wahrheiten, die dem Motto zu folgen haben: Ja oder nein, ein Drittes gibt es nicht.
Er verlangt nach ontologischen, nach einfachsten Zuschreibungen (z.B.: Wer Ausländer ist, der ...;
von Natur aus schlechten Charakter hat, wer ...), verlangt also nach ,Wahrheiten', die an der Wirk-
lichkeit der bürgerlichen Welt, die sich durch ein Drittes (das Transzendentalsubjekt) hindurch
synthetisiert, eklatant vorbeigehen. Was über einfachste kausale Bezüge hinausgeht („Wer nicht
arbeitet, soll auch nicht essen“; „Die Asylanten sind Ursache für die Kriminalität“; „Wenn Gott die
Welt nicht erschaffen hat, wer denn dann?“) gilt ihm als intellektuelles Geschwätz. Auf diese Wei-
se schützt er sich vor der Zerfaserung seines Ichs in das ihm bodenlos erscheinende Nichts der
reinen, inhaltslosen, transzendentalen – und dennoch existierenden Form. Indem der Aufklärer
diesen Selbstschutz als irrational kritisiert, erfüllt er die ihm gesellschaftlich zugewiesene Rolle,
die sich verirrenden Schafe in das System der kapitalistischen Rationalität zurückzutreiben.
Der vom Wunsch nach Einfachheit und Unmittelbarkeit in den Beziehungen von Bedarf
und Befriedigung erfüllte ,Normalbürger' kann noch weniger als ein priviligierter Kopfarbeiter
begreifen, warum er auf den verschiedenen Märkten sich als Verkäufer ’mal so – als Käufer dage-
gen genau anders herum verhalten muß. Es muß seine freiheitlich-emotionale Grundordnung
durcheinanderbringen, daß er jedem potentiellen Käufer seiner Ware (verkaufe er nun Zeitungen,
Versicherungen oder ,nur' seine Arbeitskraft) mit ausgesuchter Freundlichkeit begegnen muß,
während er denselben, käme er als Verkäufer, wie einen Hausierer oder Bettler abfertigen würde.
Diese seiner seelischen Struktur widersprechende Gegensätzlichkeit der ihm abverlangten Rollen,
die sein Gefühlsleben alltäglich aushaken muß, bilden eine ständige Bedrohung seines Selbstge-
fühls.4 Diese Bedrohungen und die aus ihnen resultierenden Ängste bestärken ihn wiederum in
7

seiner Sucht nach einfachen, Ordnung versprechenden Antworten. Weil solche – auf dem Boden
einer parlamentarischen Demokratie – nicht zu haben sind, muß er schließlich den Urschrei los
werden, daß ihn die ,unnötige' Kompliziertheit der bürgerlichen Welt kolossal anstinkt. Irgendwas
(oder irgendwer) muß für eine überschaubare Ordnung im Chaos seiner Wahrnehmungen sorgen –
und so wählt er, wenn er es ungestraft darf, die sogenannten .Republikaner'. Ansonsten tobt er sich
weiterhin am Stammtisch aus – oder im Verein, am Tresen oder sonstwo.5

Anmerkungen
l
Die auch noch so drastische Darstellung der Leiden, die der Deutsche in der Folge seiner chauvi-
nistischen Ausbrüche etwa 1870, 1914, 1933 für keine wertvollere Gegenleistung in Kauf nehmen
mußte als die, in einigen wenigen Momenten in dem Gefühl schwelgen zu dürfen, im Brennpunkt
der Geschichte zu stehen, hat ihn nie davon abbringen können, dasselbe unter denselben (oder
auch anderen) Bedingungen immer wieder noch einmal zu tun.
2
Das will der Aufklärer natürlich nicht gesagt haben, aber es ist die logische Prämisse seiner Ar-
gumentation.
3
Die Form, der das Verhalten dieser Bürger widerspricht und deren Verletzung diese Bürger ,so
dumm aussehen läßt’, kann aber auch der linke Intellektuelle selten genug fassen, ohne in mystizi-
stische Pseudokonkretionen zu versinken. Sie ist auch ihm ein Rätsel, ist so geheimnisumwittert
wie dem Volkswirtschaftler die Genesis des Geldes und seine Rolle im Reproduktionsprozeß bür-
gerlicher Gesellschaften.
4
Die meist nicht gerade preiswerte Erlernung von Psychotechniken ist ein vor allem vom intellek-
tuellen Mittelstand ausgehender Versuch, diese Schizophrenie des bürgerlichen Charakters so
zuzurichten, daß die daraus resultierenden Konflikte sich – wo, worin und mit welchen Folgen
auch immer – ausagieren können.
5
Die Übergänge vom Normalbürger zum Kleinbürger oder zum linken und rechten Intellektuellen
sind fließend. Diese Zuordnungen sind empirisch und kausal nicht auf wirkliche Personen fixierbar
(denn die schlüpfen am Tag mehrmals in jede dieser Rollen), sondern können nur als logische
(notwendige) Folgen der Existenz der kapitalistischen Reproduktion dargestellt werden.

V. Projektion und Identität

Der ,Normalbürger' reduziert die unüberschaubare Vielzahl möglicher Kombinationen von Zwek-
ken und Mitteln innerhalb der gesellschaftlichen, durch das Wertgesetz garantierten Vermittlung
von zahlungsfähigem Bedarf und warenförmiger Befriedigung auf eine einzige, einfache Bezie-
hung – die dazu noch auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft nicht verwirklichbar ist: die
unmittelbare, unter Ausschluß des Wertgesetzes sich vollziehende Erfüllung seiner Wünsche.1 Das
sich in diesem Mißverhältnis zwischen subjektivem Wollen und objektiver Möglichkeit konstituie-
rende Realitätsbewußtsein ist die zwischen der inneren und äußeren Welt errichtete Barrikade, an
der die Wahrnehmungen gefiltert und so lange gedreht und gewendet werden, bis sie in das Welt-
bild des Bürgers passen. Dem aufgeklärten Intellektuellen erscheint diese Barrikade als die pure
Dummheit.
Nicht nur, weil diese Einpassung der äußeren Welt in die innere (trotz oder wegen der of-
fensichtlichen Realitätsferne dieses Denkens) so bruchlos funktioniert, fühlt der Bürger sich in
seiner – offen zur Schau gestellten2 – Dummheit sauwohl und will auch gar nicht schlauer werden.
Sie schützt ihn auch vor dem eigenen Verstand, der, einmal seinen Fähigkeiten entsprechend ge-
nutzt, ihn zwingen könnte, die ganze Absurdität seiner Lebenssituation zu erkennen und ein ge-
sundes Mißtrauen gegen seine Identifikationsobjekte (den Kaufzwang, das Deutsch-Sein, das Ver-
einswesen, den Betrieb), zu entwickeln. Seine Dummheit verhilft ihm außerdem dazu, den Reich-
tum nicht als das Ergebnis des freien Warenverkehrs erkennen zu müssen: Besitz ist in seinen
Augen – auch wenn er in seinen Sonntagsreden von der freien Marktwirtschaft schwärmt – im
Grunde immer nur das Resultat von Raub, Krieg und Übervorteilung wie der Profit das Ergebnis
von Wucher und Preisaufschlag ist3. Und so begreift er das politische Geschehen nach dem Vor-
bild seiner ökonomischen Verblendung. Wo er gegen das ihm Fremde: die Kriminellen, die Kom-
munisten, die Ausländer, die sexuell ,Anormalen'4 geifert, spricht er in Wirklichkeit allein von sich
selbst – und zwar den Vorgängen in sich, die er aus seinem bewußten Sein zu verbannen versucht.
Aufgrund der Erfahrungen, die er im Kampf mit seiner inneren Welt gewonnen hat, kann er dem
mit seinen Projektionen belasteten Feind Praktiken unterstellen, die in Wahrheit er gegen ihn aus-
zuleben ersehnt und die er dann anwendet, wenn er die Macht dazu bekommt – mit der Entschul-
digung, er sei seinem Gegner nur zuvor gekommen: Notwehr ist immer ein Grund, offensiv zu
werden. Der Feind ist das imaginäre Wesen, in das alles, was in der bürgerlichen Seele widerstrei-
8

tet und dem bürgerlichen Verstand als das ,Böse', ‚Fremde' und ‚Andersartige' gilt, hineinprojiziert
wird. Weder vernünftige Argumente noch dem Weltbild des Bürgers widersprechende Fakten
vermögen gegen die Evidenz seiner Reduktionen etwas auszurichten.
Das imaginierte Böse muß einmal Wirklichkeit werden – denn sonst droht der politische
Nutzen verloren zu gehen, den diese Disposition des bürgerlichen Charakters für die Politik der
Rechten bringt. Es ist wie in der katholischen Theologie: Der Teufel wäre für alle Menschen längst
eine Witzfigur, wenn es der Kirche nicht immer wieder gelänge, ihn empirisch zu verorten. Der
Faschist mit seiner offen zur Schau gestellten Aggressivität und Brutalität verspricht am glaub-
würdigsten, die kleinbürgerlichen Imaginationen in Faktizität zu verwandeln. Indem sie die Pro-
jektionen des Selbst in das Wesen wirklicher Menschen übersetzen konnten, erlangten die deut-
schen Faschisten ihre Macht, setzten die den Deutschen eingepflanzte Brutalität auf dem Abstrak-
tionsniveau gesellschaftlich frei, das die industrielle Gesellschaft damals besaß – und verbanden
diese abstrakte Brutalität zusätzlich mit all den bei ihren Volksgenossen noch vorhandenen tieri-
schen Instinkten.
Wer es trotzdem wagen sollte, die Sucht des gerade den feudalen Abhängigkeitsverhält-
nissen entwachsenen Bürgers nach nationaler Identität als ein von Grund auf asoziales Bedürfnis
zu bezeichnen und wer die Sehnsucht nach Wiederherstellung des geschichtlich längst verlorenen
Urvertrauens, das diesem Fetisch das Futter gibt, illegitim nennt – u.a. darum, weil dieses Verlan-
gen, wie der Wunsch nach dem ewigen Leben, schlicht unerfüllbar ist -, der wird von rechts bis
links als Spinner oder Volksverräter gebrandmarkt.5

Anmerkungen
1
Dem entspricht die Sucht des Bürgers, sei er nun wissenschaftlich arbeitender Intellektueller oder
,Normalbürger', alle relationalen Bestimmungen (Kapital/Geld/Ich/Gefühl) als – logisch dem Satz
der Identität unterworfene – Dinge zu behandeln. Der Gewinn an Eindeutigkeit geht auf Kosten
der Erkenntnis, denn eine als Ding gefaßte Beziehung zerstört die Beziehung selbst natürlich nicht,
macht sie aber unsichtbar und fatal. Das Verhältnis zwischen Dingen ist und bleibt (selbst in der
Figur des infiniten Regresses) eine nicht wieder als Ding erfaßbare Relation – die, selbst wenn sie,
wie das Geld, als (nach Marx: „sinnlich-übersinnliches“) Ding erscheinen muß, nicht ohne Er-
kenntnisverlust in Gegenständlichkeit/Körperlichkeit überführbar ist. Das Post-Foucault'sche Ge-
fasel vom ,Verschwinden des Subjekts' affirmiert nur diesen Prozeß der Verdinglichung wie die
Systemtheorien à la Luhmann oder die Negation des Individuellen (zugunsten der völkischen Iden-
tität im Führer) in der philosophischen Linie Heidegger/Schmitt/Jünger/Benn/Theweleit, anstatt
diese Logik als Logik des Kapitals zu denunzieren.
2
Die Dummheit erscheint natürlich nicht unter ihrem wirklichen Namen – sie versinnbildlicht sich
vielmehr in einem Verhalten, das beständig darauf aus ist, das ,Gesicht zu wahren' und sich darauf
trainiert, Unsicherheit nicht nach außen dringen zu lassen – bis sie auch an sich selbst nicht mehr
wahrgenommen wird. Sie offenbart sich in einer Attitüde, die nicht zuläßt, auch einmal von etwas
keine Ahnung oder keine Meinung zu haben. Typisch für letzteres ist dann die Verwechslung von
Meinen d.h. 'Für gut Halten' mit Wirklichkeit.
3
Dem Bürger gilt also, in der für ihn charakteristischen Verkehrung der wirklichen Verhältnisse,
als Ideologie, was Realität ist: (vorgetäuschter) Schein ist ihm der gerechte Tausch als (in Wirk-
lichkeit: notwendiger) Rahmen der Verwertung des Werts. Weil den Marxisten in der Nachfolge
von Engels schleierhaft bleibt, warum die auf dem gerechten Tausch basierende Kapitalgesell-
schaft dennoch eine Ausbeutergesellschaft ist (obwohl Marx sich in seiner Wertformanalyse ver-
zweifelt bemüht hat, genau dies darzustellen), ziehen sie sich in ihr moralisches Hinterland zurück
– und unterscheiden sich vom Bürger nicht mehr darin, daß sie die Wahrheit sagen, sondern nur
noch dadurch, das sie das Falsche, was jener nur insgeheim denkt, auch aussprechen: Daß Profit
nur erzielbar ist, wenn im Kreislauf des Geldes irgendwo irgendeiner übers Ohr gehauen wird (der
Arbeiter, der Sozialhilfeempfänger, der Bürger der Dritten Welt etc.). Kapitalistische Ausbeutung
konstituiert sich aber nicht im Tausch (auch nicht dann, wenn Arbeitskraft gegen Geld getauscht
wird), sondern in der Fabrik als dem Ort, in dem die konkrete, lebendige Zeit in die abstrakte, tote
und, als allgemein-gleiche: wertbildende Zeit verwandelt wird.
4
Die Synthese all dieser Feindbilder ist der Jude. Er muß – weit über seine bloße ,Sündenbock-'
oder ‚Ventil-Funktion' hinaus, den erst ideell-ideologischen und dann reell-praktischen Gegner als
Feind abgeben, der bis aufs Messer bekämpft gehört. Die Aufklärung über den als bloßes Vorurteil
gründlich mißverstandenen Antisemitismus ist deswegen so chancenlos, weil die ihm einzig an-
gemessene und die allein gegen ihn wirksame Kraft die Revolution wäre.
5
Zugegeben sei, daß das politische Erstarken der nationalistischen Rechten mit dem aktuellen
(politisch erzeugten) Mangel an Arbeitsplätzen und Wohnraum durchaus in unmittelbarem Zu-
sammenhang steht. Mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohnraum würde jedoch das struk-
9

turell bedingte Potential der Rechten – wie dies in der BRD bisher der Fall war – nur überdeckt, so
daß es (wahrscheinlich) empirisch nicht in der Form eines Wählerpotentials erscheinen würde. Die
Rekonstruktion der Kritik der Politischen Ökonomie könnte die Bedingungen klären, wie sich
dieses Wechselspiel zwischen Ökonomie (Verknappung oder Vermehrung der Arbeitsplätze und
des Wohnraums) und Politik (Ein- oder Ausgrenzen der Rechten in das oder aus dem politischen
System) als reaktives Changieren zwischen den Polen blind wirkender Marktgesetzlichkeit und
politisch bewußt gestalteter Planung organisiert. Diese Kritik aber mißversteht sich von Grund auf,
wenn sie sich als Baustein einer Strategie gegen rechts begreift.

VI. Volk und Führer

Die dem kapitalistischen Verwertungsprozeß adäquate Form der Organisation des Politischen ist
der demokratische Pluralismus – wie der Liberalismus die der bürgerlichen Vergesellschaftung
adäquate Ideologie ist. Die gegenseitige Anerkennung der Käufer und Verkäufer als freie Personen
mit gleichen Rechten und Pflichten und die Garantie dieser Art Freiheit und Gleichheit durch den
Staat sind die Voraussetzung für die Existenz der politischen Ökonomie des Kapitals. Jeder ord-
nungspolitisch orientierte Politiker weiß jedoch von Haus aus, daß die Demokratie gelegentlich in
Blut gebadet werden muß. Der heute existierende Normalzustand im Verhältnis von Staat und
Politik – der bloß symbolische Bezug des Handelns der politischen Charaktermasken auf die öko-
nomische und staatspolizeiliche Realität – ist nicht für die Ewigkeit gemacht. In die Selbstrepro-
duktion der politischen Ökonomie ist die Tendenz zur Selbstblockade gleichsam eingebaut.1 Diese
würde das Gesamtsystem zum Einsturz bringen, wenn nicht von Zeit zu Zeit eine Instanz, die sich
dieser Tendenz zu entziehen vermag, die Ordnung wiederherstellen würde. Sobald sich die Selbst-
reproduktion totgelaufen hat, ist eine von außen kommende Entscheidung gefordert: der Souverän,
dessen Entscheidung die Karten neu mischt.
Der diktatorische Staat, auch der faschistische, ist in der BRD Option – nicht Wirklich-
keit. Wir leben in einer Phase der politischen Normalisierung einer kapitalistisch verfaßten Gesell-
schaft.2 Mit dem Einzug nationalistisch-konservativer Kleinbürger in die Parlamente zieht die
BRD ihre politische Bilanz: Nach Wirtschaftswunder und keynesianischer Steuerungseuphorie
gibt die Kapitalgesellschaft sich mit der Konstitution einer vom christdemokratischen Lager orga-
nisatorisch unabhängigen und ideologisch mehr und mehr autarken, nämlich völkischen Rechten
einen der aktuellen Bandbreite ihrer politischen Optionen entsprechenden Ausdruck. Das Verhält-
nis von Politik und Ökonomie in der BRD soll, so die offen vorgetragene Absicht aller politischen
Akteure bis weit in das sozialdemokratische Lager hinein, nicht mehr durch das Ereignis des Fa-
schismus belastet sein.
Der Zerfall der antiautoritären Bewegung Anfang der siebziger Jahre, dann die Friedens-
bewegung, der Psychoboom und die Ökologiebewegung, jetzt die sogenannten ‚Republikaner' sind
historische Stationen einer Normalisierung3, die es mit sich bringt, daß die verschiedensten Ent-
hemmungsstrategien sich immer offener artikulieren, weiter ausbreiten und miteinander verketten.
So verschieden sie auch wirken und angreifen, es geht in diesen Strategien immer um dasselbe:
Die Aufhebung der durch den Verstand erzwungenen Kontrolle des Innen- und Trieberlebens
zugunsten ideologisch kostümierter Rauscherlebnisse.4
Mit der Pluralität und der damit verbundenen gegenseitigen Tolerierung der verschiede-
nen Strategien zur Aufhebung der Ich-Kontrolle ist es dann vorbei, wenn sich das Verhältnis von
Bürger und Nation in das des Volkes zu seinem Führer zu transformieren droht. Diese Transforma-
tion, die von Repräsentation auf Identität umschaltet und die Vernunft durch Unmittelbarkeit er-
setzt, kann sich vollziehen, sobald sich das Allgemein-Gleiche aller kollektiven Räusche sinnlich
als etwas Dauerhaftes darzustellen vermag, als ein substanzielles Wesen, das auch dann noch als
Identifikationsobjekt verfügbar ist, wenn das eigentliche Rauscherlebnis sich verflüchtigt hat. Ein
Abstraktum kann zwar, wie nicht nur die Geschichte des Begriffes der nationalen Identität, son-
dern auch die des Gottesbegriffes zeigt5, zum Identifikationsobjekt der Individuen werden: Sich in
einem, ideologisch aus dem Nichts hervorgezauberten bloßen Namen wiederzuerkennen, ist aber
zu instabil, als daß damit die ideologische Identität der Gesellschaft auch in ihrer Krise gesichert
werden könnte. Eine charismatische Person dagegen ist der ideale Ort allseits akzeptierter Allge-
meinheit: Sie ist aus Fleisch und Blut wie du und ich, hat ähnliche Macken und ist dennoch der
Repräsentant all dessen, was ,uns' vereint.
Im Normalzustand der bürgerlichen Gesellschaft konkurrieren noch viele Personen um
die Anerkennung als Verkörperung der Einheit, die alle Staatsbürger zu einem ideologischen
Block zusammenschweißt und sie als Ganzes repräsentiert. Hier entfaltet sich, von diesen Führern
in spe weitgehend unabhängig, der Begriff der nationalen Identität, durch den hindurch die Indivi-
duen ihr Identifikationsobjekt in einen abstrakt leeren Raum hineinprojizieren – wobei es jedem
selbst überlassen bleibt, zu entscheiden, worin sich die nationale Identität für ihn persönlich mate-
10

rialisiert: ob in der Sprache, einem Territorium, in der Tradition, in der staatlichen Organisation, in
einer Partei oder Person oder in einem inter nationalen Konzern. Jedes dieser (realen) Abstrakta
will jedoch beim Wort genommen werden, will sich von seiner Existenz als bloß subjektive Inkar-
nation des höchsten Allgemeinen emanzipieren und sich als allgemeingültige Einheit objektivie-
ren.6 Eine Grenze, vor der diese Konkretisierung des Allgemein-Gleichen haltmachen könnte, gibt
es nicht: Alles, was sich als Außen zeigt, kann, wofür der deutsche Faschismus den historischen
Beweis erbracht hat, einverleibt, d.h. vernichtet werden. Der kommende Führer ist in jedem Identi-
fikationsobjekt, so unscheinbar und harmlos es scheint, immer schon anwesend.7
Der Nationalsozialismus war die verwirklichte reine Form des Kapitals, war das verwirk-
lichte Ideal bürgerlicher Vergesellschaftung, war die deutsche Antizipation der internationalen
Tendenz des Kapitals, war die Aufhebung des den bürgerlichen Normalzustand kennzeichnenden,
komplizierten Wechselspiels zwischen Markt- und Produktionslogik, des Spiegelspiels zwischen
linker und rechter Politik, zwischen Bourgeois und Citoyen. Rechte und Linke gemeinsam ver-
schließen vor dieser Konsequenz ihres der Form nach gemeinsamen Ideals einer reinen, ‚identi-
schen’ Welt die Augen. War Auschwitz für die einen ein Ausrutscher der deutschen Geschichte, so
bemühen die anderen, wenn sie diese Vernichtung als die über alle anderen Verbrechen hinausge-
hende Besonderheit des deutschen Faschismus überhaupt registrieren, in zynischer Weise ökono-
mische Kategorien, um sich die Erkenntnis vom Leib zu halten, daß der Faschismus das verwirk-
lichte Resultat auch ihrer, der bürgerlichen Vergesellschaftung zu verdankenden Denkform ist.
Wer Reinheit erstrebt, schließt das Fremde, Heimatlose, Zufällige, Kranke zwangsläufig aus – und
vernichtet es, sobald sein Reinheitswahn praktisch wird.
Nationale Identität ist vernünftig nicht zu definieren. Wer sich trotzdem zur Notwendig-
keit nationaler Identität bekennt, kann den Nationalismus sogenannte’ Republikaner' nur als ge-
fährlichen Auswuchs einer an sich richtigen Sache begreifen und erzeugt damit genau das, was er
kritisiert: den Nationalismus.8 Eine Nation ohne Nationalisten ist genauso ein Unding wie eine
Religion ohne Fundamentalisten und Inquisitoren und schon deshalb nicht zu haben. Wer an ein
Nationalgefühl appelliert, wer es einklagt, vermißt oder fördert, auch indem er, wenn er vor dem
Fernseher bei einem ,harmlosen' Fußballspiel der bundesrepublikanischen Auswahlmannschaft in
der ,Wir'-Form redet oder denkt, bindet sich an die Nation und verpflichtet sich damit auf die kapi-
talistische Form der Vergesellschaftung – und ihre ,zeitweise' Aufhebung in den Führerstaat.

Anmerkungen

1
Der tendenzielle Fall der Profitrate entfaltet seine Wirkung auch dann, wenn die marxistischen
Ökonomen (und die anderen Marxisten erst recht) ihn nicht mehr wahrnehmen.
2
Kapitalistische Normalität ist jedoch kein Zustand, der zur Beruhigung Anlaß geben könnte. Die
Vorstellung vieler Linker, man müsse, um zum permanenten Kampf zu motivieren, diese bürgerli-
che Gesellschaft immer von ihren Extremen aus denunzieren, muß irgendwann in das Gegenteil
des damit bezweckten umschlagen, in Defaitismus. Jede Ausnahme ist natürlich in der Regel
schon angelegt – aber nicht die Ausnahme ist das Schlimme, von der aus sich der Charakter der
Regel erst einschätzen ließe, sondern die Regel selbst ist der Fehler.
3
Das, was zur Zeit in den staatskapitalistischen Ländern passiert, hat so wenig mit Revolution zu
tun wie die Einführung der Planwirtschaft in der DDR. Vielmehr handelt es sich um kapitalistische
Normalisierungsprozesse: Da die zentrale Wirtschaftslenkung sich als kontraproduktiv erwies, die
ideologischen Phrasen dem Dümmsten als solche durchschaubar waren und die herrschende Kaste
nie eine andere Basis für ihre Legitimität hatte als die Macht des Stasi, wird, sobald die Nomenkla-
tura sich als unfähig erweist, ihre Macht aufrechtzuerhalten, das Verbot des Privateigentums an
Produktionsmitteln (das Außenhandelsmonopol, die politische Bestimmung des Geldwertes) zu-
rückgenommen und es erscheint offen, was seit der Oktoberrevolution – unter der Phraseologie
des Marxismus-Leninismus versteckt – immer schon der Fall war: Daß diese Staaten kapitalistisch
formierte Gesellschaften waren, die sich nun ihres Ausnahmezustandes (in dem – überwiegend –
verstaatlichte Organe und nicht private Eigentümer über die Produktionsfaktoren verfügt haben)
entledigen.
4
In diesen Rauschzuständen wird die Loslösung und Befreiung von der im Alltag permanent ge-
spürten existenziellen Angst sinnlich erfahren. Wie jeder Heroinsüchtige zu Beginn seiner Sucht in
der Vorstellung lebt, er wäre dem Normalbürger dank seiner Rauscherfahrungen himmelweit über-
legen, so entwickelt der sittsame Normalbürger Omnipotenzphantasien, wenn er den Satz heraus-
trompeten kann: Ich bin Deutscher! Über die innere Logik dieses Satzes macht er sich genausowe-
nig Gedanken wie der berauschte Junkie über seine gesundheitliche Zukunft; genausowenig wie
der Antiimp, der Autonome oder Internationalist, der zur Unterstützung des nationalen Befrei-
ungskampfes in XY aufruft. „Deutsch-Sein“ und „Unterstützung von“ meint hier die Konstitution
ein- und derselben Form: Die Verpflichtung auf eine kollektive Identität, auf einen nicht weiter
11

begründbaren Standpunkt – nach innen wie nach außen und ohne Vermittlung. Die Rechte und die
Linke reproduziert auf diese Weise gleichermaßen die praktisch folgenlose Selbstzufriedenheit in
einem der Rationalität nicht mehr zugänglichen unmittelbaren Gewissen. Ich bin Deutscher. Ich
bin Unterstützer. Ich bin... Und Hauptsache: Ich bin nicht irgendjemand, auf den es eigentlich gar
nicht ankommt.
5
Das gilt natürlich auch für alle anderen identitätsstiftenden Abstraktionen: Von der Heimat, dem
Geburtsort, dessen Region (,Dreyeckland') bis hin zum Fußballverein einer Stadt, mit dem man
sich auch dann noch identifiziert, wenn alle empirischen Daten, die diesen Verein einmal zu einem
Identifikationsobjekt gemacht haben, ausgetauscht worden sind.
6
Das ist die Funktion der Ideologie, die mehr und etwas wesentlich anderes ist als ein unzutref-
fender und falscher Gedanke.
7
Das kritisch gemeinte Gerede von einer sich in immer kleinere Einheiten ausdifferenzierenden
Welt übersieht, daß diese Weltsicht (die der Evidenz der sinnlichen Erfahrung auf den Leim geht),
die Existenz eines vereinheitlichenden Allgemeinen logisch voraussetzt, das das in der Verschie-
denheit allgemein Gleiche repräsentiert. Verschiedenheit kann nur wahrnehmen, wer weiß, wovon
das Verschiedene unterschieden ist. Die Diagnose unüberschaubarer Komplexität wird bei Jürgen
Habermas deshalb auch mit dem eilfertigen Angebot ihrer Überwindung in eine hinreichend be-
kannte Einheit gekoppelt, wenn er eine ,Neue Unübersichtlichkeit' konstatiert kurz nachdem er als
Herausgeber zweier Bände, deren Beiträge unter dem Titel „Stichworte zur ,Geistigen Situation
der Zeit“' sich um die Kategorien Kultur und Nation drehen, tätig geworden ist.
8
Dasselbe gilt selbstverständlich erst recht für den, der die Wahlerfolge der sogenannten Republi-
kaner' darauf zurückführt, daß die Linke den Nationalismus der Bürger nicht ausreichend bedient
habe. (Die SPD verpackt dieses Argument perfiderweise noch in die Form einer Selbstkritik, um
dann scholastisch zwischen friedfertiger und übertriebener Vaterlandsliebe, zwischen Patriotismus
und Chauvinismus zu unterscheiden. Trotz aller Equilibristik allerdings gilt: „Right or wrong – my
country“. Und was den Engländern (von wem bloß?) erlaubt ist, das kann man den Deutschen
doch nicht vorenthalten!)

Januar 1990
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Initiative Sozialistisches Forum


Die Kritik zur Krise radikalisieren!
Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analyse und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 50 – 62

Obwohl mit dem Marxismus keine Revolution mehr zu machen ist, läßt sich mit den Marxi-
sten-Leninisten sehr wohl noch Staat machen. Der Widerspruch zwischen dem auf Null sin-
kenden Emanzipationswert des Marxismus als einer revolutionären Theorie und dem steigen-
den staatspolitischen Wert seiner Protagonisten ist nur einer auf den ersten Blick. Zwischen
beiden Seiten besteht eine notwendige Relation. Denn im gleichen Maße, in dem sich der Be-
griff des Kapitals gesellschaftspraktisch realisiert und somit der revolutionsträchtige Unter-
schied zwischen dem Kapital als einer Produktionsweise und dem Kapitalismus als einer Ge-
sellschaftsformation aufgehoben wird, steigt die Notwendigkeit der Verschmelzung von Politik
und Ökonomie, steigen somit die politischen Chancen derjenigen Parteien, die unter dem Titel
des Sozialismus den Staatskapitalismus anstreben. Inmitten der politischen Krise wird daher
ein Projekt zunehmend attraktiver, das den ‘Staat des ganzen Volkes’, wie er dem Programm
der KPdSU zufolge in der Sowjetunion realisiert ist, anstrebt. Programm und Form dieser sozi-
aldemokratischen Parteien und ihres extremen linken Flügels, den Parteikommunisten, zielen
auf den Wandel des Staates aus einem nur ideellen in einen endlich reellen Gesamtkapitalisten.
Wird diese Diagnose blamiert dadurch, daß sie nur für die nationalrevolutionären Be-
wegungen der Peripherie und diejenigen kapitalistischen Länder wie Spanien, Frankreich,
Italien gilt, die allesamt noch mit dem Bleigewicht kleinbäuerlicher, nur formell kapitalisti-
scher Produktion zu kämpfen haben, nicht aber für die ältesten und fortgeschrittensten kapitali-
stischen Länder wie die BRD, England und die USA? Denn gerade hier ist doch das sozialde-
mokratische Zeitalter am Ende, hat Keynes ausgeträumt, agiert der Staat neoliberal und stärkt
das Kapital auf eine andere als regulierende Weise. Wie erklärt es sich also, daß dort, wo, wie
in England, mit der historisch frühesten bürgerlichen Vergesellschaftung oder, wie in den
USA, mit der ‘reinsten’, weil ohne die historische Voraussetzung des Feudalismus beginnen-
den Vergesellschaftung oder, wie in der BRD, wo der Faschismus eben diese ‘Reinheit’ kapita-
listischer Vergesellschaftung nachträglich schuf, die Kapitalisierung der Gesellschaft einerseits
am weitesten fortgeschritten ist, andererseits von einem Machtgewinn klassisch proletarischer
– d.h. heute staatskapitalistischer – Politik nicht die Rede sein kann?
Am Beispiel Deutschlands läßt sich dieser Frage genauer nachgehen. Deutschland, bis
1933 „das klassische Land der Ungleichzeitigkeit“ (Ernst Bloch), bietet heute ein Bild stromli-
nienförmiger kapitalistischer ‘Modernität’. Nirgends, nur in den USA, ist der Weg in die „Auf-
hebung des Kapitals auf seiner eigenen Grundlage“ (Marx), d.h. in die Barbarei, weiter be-
schritten. Aus dem Land mit der stärksten kommunistischen Bewegung nach Rußland und
China ist es zu dem mit einer der schwächsten, gleichwohl noch vor den USA rangierenden
geworden. Dies abrupte Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland läßt sich nicht aus Ade-
nauer-Reaktion und Teilung erklären, es geht auf den durch den Faschismus erzwungenen
Übergang zu einer reinen kapitalistischen Vergesellschaftung zurück. Reine Kapitalbewegung,
die nichts prinzipiell außer ihr stehendes mehr kennt, setzt aus sich heraus keine revolutionäre
Kraft im klassischen Sinne mehr frei.
Daß das industriell fortgeschrittenere Land dem unterentwickelten seine eigene Zu-
kunft zeige, dieser klassische Satz von Marx hat noch eine Nebenbedeutung, die besagt, daß
mit dem Grade der Kapitalisierung die Chancen des Sozialismus sinken. Die USA sind die
Zukunft der BRD, wie die BRD den noch ungleichzeitigen Ländern ihre eigene Zukunft zeigt.
Zugleich sind zwei Formen einer nicht widersprüchlichen, nicht zur Revolution treibenden,
obwohl kapitalistischen Vergesellschaftung möglich: Die von Anbeginn ‘reine’ amerikanische
und die gewaltsam erzwungene deutsche Form. Der eingangs aufgezeigte Widerspruch löst
sich daher auf: Die Verschmelzung von Politik und Ökonomie, wie sie das staatskapitalistische
Projekt in den noch ungleichzeitigen Ländern anstrebt, kann nur dort Realität werden, wo das
politische Subjekt dieser Transformation nicht Arbeiterklasse heißt, sondern Logik des Kapi-
tals. Wie das Ziel der sich am Staatskapitalismus orientierenden Parteien dauerhaft nur um den
Preis der historischen Liquidierung der Arbeiterklasse als eines revolutionären Subjekts mög-
lich ist und daher auch von ihr selbst nicht realisiert werden kann (dies ist wohl der zentrale

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Grund der Sterilität und revolutionären Impotenz der Parteien der Kommunistischen Interna-
tionale gewesen, wie sie seit 1928 immer deutlicher geworden ist), so nimmt die Verschmel-
zung von Politik und Ökonomie, wo sie gelingt, nicht die Form einer äußerlich rechtlichen,
enorm intensivierten Verschränkung beider an, sondern die einer tendenziellen Aufhebung des
Rechts als einer getrennt von der Produktion politisch zu erstellenden Produktionsgarantie. Das
Kapital als Produktionsweise und Gesellschaft zugleich garantiert sich zunehmend selbst, be-
darf nicht mehr einer außerhalb des Kapitals liegenden Vermittlung.
Das Unglück der nach 1968 erstmals in Deutschland massenhaft einsetzenden Diskus-
sion um Marx und den Marxismus war es, den Widerspruch zwischen der unerhörten Intensität
der erreichten kapitalistischen Vergesellschaftung und dem totalen Ausfall der im System des
klassischen Marxismus zu erwartenden proletarischen Alternative als einen nur theoretischen
und daher theoretisch auflösbaren Widerspruch anzusehen und nicht als das reale, praktische
Problem des Endes der Ungleichzeitigkeit und der realen Koexistenz beider Seiten des eben
nur scheinbaren Widerspruchs. Ideologisch ausgedrückt hat sich dies in der Polarisierung zwi-
schen der ‘Kritischen Theorie’ der Frankfurter Schule und den Bemühungen um die ‘Rekon-
struktion’ eines ‘authentischen’ Marxismus. Ging die kritische Theorie vom Stillstand und
Ende der revolutionären Dialektik aus, ohne ihre Frage auch ökonomie- und klassentheoretisch
zu stellen, so suchte die Rekonstruktion des Marxismus nach einem neuen Verständnis der
Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, ohne sich um die Formen der ideologischen Ver-
gesellschaftung zu kümmern. Ganz außerhalb dieses Konflikts stand und steht der Parteikom-
munismus klassischer Prägung: Er verkörpert noch heute, anachronistisch, aber hartnäckig,
steril, aber penetrant, den Bewußtseinsstand von etwa 1925, ist bloßes Überbleibsel.
Im Ergebnis der Theoriedebatte der Studentenbewegung verfehlte die Kritik ihren
Gegenstand und blieb weit unter dem erreichten Niveau kapitalistischer Vergesellschaftung. In
der Wendung zum Proletariat kam im maoistischen Gründungsfieber nach 1969 die Wahrheit
zu ihrem Recht, daß die Revolution nur möglich ist als eine der Produzenten; ebenso die Er-
kenntnis der spontaneistischen Bewegung, daß den unmittelbaren Produzenten des gesell-
schaftlichen Reichtums alle Voraussetzungen eines revolutionären und emanzipativen Bewußt-
seins fehlten – daß der Inhalt der Revolution nur die Revolution radikaler Bedürfnisse sein
könne. Beide Fraktionen besaßen einen Teil der Wahrheit; sie wurde aber in ihrer Zerrissenheit
notwendig abstrakt, untauglich zum Begriff der Wirklichkeit und zum revolutionären Eingriff.
Der Gegensatz beider Anschauungen führte zum Bankrott des politischen Projekts der Studen-
tenbewegung.
Hat auch die gesellschaftliche Entwicklung diesen Gegensatz mittlerweile entpoliti-
siert und in den Bereich akademischer Nachhutgefechte spätsozialisierter Anhänger der Stu-
dentenbewegung verbannt, so ist doch das theoretische wie praktische Dilemma dessen, was
einst der Marxismus sich nannte, geblieben. Betrachtet man die Praxis der ‘Neuen Sozialen
Bewegungen’, so sind, obwohl ihre Erfolge endlich die seit dem KPD-Verbot von 1956 beste-
hende fugendichte Abschottung der Staatsparteien aufgebrochen haben, die alten Fragen immer
noch interessanter als die neuen Antworten. Keine noch so radikalisierte Mittelstandsbewegung
wird den Übergang von der Naturalisierung des Menschen zur Humanisierung der Natur finden
können.
Die ‘Krise des Marxismus’ ist zentriert um den Begriff der Kritik, nicht um das Pro-
blem einer ‘Vermittlung’ von Theorie und Praxis, was immer schon unterstellt, Theorie als
Katechismus fix und fertiger, bloß anzueignender Sätze habe die Wirklichkeit fraglos im Griff.
Das marxistische Wissen gerinnt zur Weltanschauung, die marxistische Politik zum bloß nach-
trabenden Kommentar der gesellschaftlichen Entwicklung, wenn Theorie als außer der Welt
hockende Wahrheit begriffen wird, unfähig, in eine andere Krise als die reiner Anwendung
gestürzt zu werden.
Es kann nicht die Aufgabe sein, der Welt aus ihren Träumen eine neue Gesellschaft zu
entwickeln, sondern es gilt anzuerkennen, daß sie längst in Albträume umgeschlagen sind,
deren Zerstörung durch die Kritik zu organisieren ist. Eingeladen sind alle, die mithelfen wol-
len, die Kritik zur Krise zu radikalisieren. Es ist nicht der Zweck der Kritik, der deutschen
Ideologie zum Bewußtsein ihrer ökonomisch ableitbaren Notwendigkeit zu verhelfen, es ist
nicht die Arbeit der Kritik, die Kapitalisierung der Gesellschaft als sozialismusträchtige ‘Ver-
gesellschaftung der Produktion’ zu rechtfertigen, und es kann nicht die Absicht der Kritik sein,
das richtige Bewußtsein unwahrer Zustände um die Erfahrung seiner Krise und Destruktion
caritativ betrügen zu wollen. Einen Begriff und eine Praxis der Kritik gilt es zu entwickeln, der
das marxistische Projekt vom Trugbild einer Revolution durch Klassenkampf befreit und es für
die Revolution zur Abschaffung der Klassen selbst tauglich macht.

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„Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehen unter dem Niveau der Geschichte, sie sind
unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik, wie der Verbrecher, der unterm Niveau
der Humanität steht, ein Gegenstand des Scharfrichters bleibt. Mit ihnen im Kampf ist die Kritik kei-
ne Leidenschaft des Kopfes, sondern der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein anatomisches Messer, sie
ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist der Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will. (...)
Die Kritik für sich bedarf nicht der Selbstverständigung mit diesem Gegenstand, denn sie ist mit ihm
im reinen. Sie gibt sich nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel. Ihr wesentliches Pa-
thos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation. (...) Es handelt sich darum, den
Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und der Resignation zu gönnen. Man muß den
wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt,
die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert. (...) Man muß das Volk vor sich selbst
erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.“(Karl Marx, 1844)

Der letzte Grund der praktischen Unaufhebbarkeit der deutschen Zustände liegt in der Fähig-
keit der Deutschen, ihr Elend nicht sich vergällen zu lassen und es vielmehr noch zu genießen.
Diesen einzig noch kostenlosen Genuß ergreifen sie um so gieriger, als er zugleich das einzige
Laster ist, zu dessen Exzeß es der Korruption nicht eigens noch bedürfte. Gerade aus der Tat-
sache, auch einmal etwas ohne direkte materielle Interessiertheit tun zu dürfen, ziehen sie das
notorisch gute Gewissen, mit dem sie ihre materiellen Interessen verfolgen. Da insgeheim
immer schon gewußt wird, worüber die Kritik das deutsche Bewußtsein ins Stolpern zu bringen
gedenkt, ist es gegen die Kritik immun. Das Wissen der Kritik trifft dieses Bewußtsein nicht
und erschüttert es nicht, sondern trägt als Bewußtmachung des inneren Eigentums der kritisier-
ten Zustände zu derem stabilen Selbstbewußtsein noch bei. Nie läßt so gut sich sündigen, wie
wenn man von der Beichte kommt, und nie einträglicher, stellt man sich den Ablaßzettel aufs
eigene Konto aus.
Um so sicherer vermag das deutsche Bewußtsein daher aufzutreten, steigert es sich
zum Selbstbewußtsein all der Schandtaten, die immer noch ihm vorzuhalten das anachronisti-
sche Geschäft der Kritik ausmacht. Immer schon weiter auf dem Weg in die Barbarei vorange-
schritten, als die Kritik auch nur zu ahnen sich traut, bezichtigt es diese zu Recht der weltfrem-
den Infantilität und der humanisierenden Utopie. Die Kritik ist daher das Sorgenkind des deut-
schen Kollektivs und wird entsprechend behandelt, schmälert sie doch jenseits der Toleranz-
grenze durch ihr unbelehrbares Nörgeln und Beharren letztlich dessen Selbstgenuß. Wird unab-
lässig auf den vergangenen Untaten deutscher Geschichte beharrt, schlägt auch das anfangs
selbstbewußte Schuldgeständnis in Langeweile um. Über sich selbst aufgeklärt, vermag es sein
Geschäft noch effektiver zu betreiben und rechnet sich das Schuldbekenntnis zynisch als öf-
fentliche Anerkennung seiner Kraft und Wirksamkeit zu. Noch die Schuld ist sein ureigenes
Produkt, die es von Kritik nicht gegen sich wenden läßt.
Zwischen das Bewußtsein ihres Elends und ihre Praxis geschäftstüchtiger Verelen-
dung lassen die Deutschen sich keinen Keil treiben. Gegen ‘Miesmacher’ und ‘Querulanten’
immer schon gefeit, entsteht in dieser symbiotischen Verbindung von Sein und Bewußtsein
keine Lücke, die sich zur Krise des Ganzen erweitern ließe. Wie sich Deutschland nach
Auschwitz lieber zur deutschen Kollektivschuld bekannte als aufs deutsche Kollektiv zu ver-
zichten, so bestärkt die Kritik, wo sie sich als bloß informierende Aufklärung tarnt, noch den
Vorgeschmack auf neue Greuel, die sich als Notwehr gegen die beständige Nörgelei rechtferti-
gen werden. Kritik als nur informierende Aufklärung, die anstrebt, das Volk vor sich selber
erschrecken zu lassen durch Vorführung der von ihm ausgegrenzten Folgen seiner Praxis, ver-
mittelt ihm nur die zum Schrecken anderer werdende Courage und das Selbstvertrauen der
Gemeinschaft, ihren Mitgliedern, komme, was da wolle, bis zum bitteren Ende beizustehen.
Die Aufklärung über seine Niedertracht versteht das deutsche Volk nur als den freundlichen
Hinweis, sich das nächste Mal nicht ertappen zu lassen.
Es ist das Unglück dieser Form von Kritik, das deutsche Bewußtsein mittels der
durch es unterdrückten Tatsachen anzugreifen. Wirkung wird erhofft nach dem Muster von
Gegenüberstellung im Kriminalverfahren: Der Täter werde schon, im Angesicht des unverhofft
überlebenden Opfers, erschüttert genug sein, das Geständnis abzulegen. Sollen die Folgen
eines Tuns zum Beweismittel gegen den Urheber werden, so ist immer schon unterstellt, der
Täter habe das so gar nicht wollen können. Marxismus als solcherlei Kritik bringt eilfertig
Gesellschaftstheoretisches zur Entlastung herbei, verweist auf objektive Umstände usw. Weil
die Kritik nicht die Struktur des deutschen Bewußtseins zum Gegenstand sich nimmt, vermag
dieses pluralistisch noch der ekligsten Tatsachen sich anzubequemen, ohne belehrt zu sein.
Kritik gerät zum bloß korrektiven Kommentar dessen, was sowieso schon der Fall ist. Als
kritischer Kommentar unwahrer Verhältnisse rechtfertigt Kritik noch ihren Gegenstand, indem

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sie ihn als einen notwendigen erklärt, nicht aber der Notwendigkeit selbst als Ideologie zur
Krise verhilft. Gerade ihre Spekulation aufs Geständnis offenbart ihr mangelndes Selbstver-
trauen; Gerechtigkeit dagegen wäre nur als kategorisches Urteil zu erhoffen.
Das deutsche Elend ist so nicht zuletzt die Verelendung seiner Kritik. Weil die Kritik
unter dem Niveau der deutschen Gesellschaft operiert, können die Deutschen im Jenseits der
Kritik manövrieren. Wie sie den Deutschen daher einerseits den Selbstgenuß verödet, so pro-
voziert sie andererseits durch ihre endlose Geduld und widerliche Hofferei deren Willen, der
Langeweile durch die Produktion neuer Gegenstände des Genusses zu entfliehen. Die Uner-
reichbarkeit des Gegenstandes für die Kritik der immer bloß hinterhertrabenden Information
schlägt um in die Krise der Kritik, die ihre Lösung in der Überflüssigkeit der Kritik findet.
Kritik par excellence, die ihren Gegenstand im Akt der Erklärung zugleich zerstört
und es daher nicht nötig hat, sich schizoid in Theorie und Praxis zu zerlegen, beraubt ihn seines
Notwendigkeitscharakters vor der Folie der historischen Möglichkeit des Bruchs mit negativer
Vergesellschaftung. Dies ist zugleich der Gehalt eines Marxismus, der seiner selbst sicher
genug ist, um sich nicht an eine ‘objektive Logik der Produktivkräfte’ fesseln zu müssen in
dem falschen Glauben, es handele sich um eine den Sieg verbürgende Rückversicherung mit
der List historischer Vernunft. Im Gegenteil: Diese Rückversicherung, die ihren Höhepunkt im
extremen linken Flügel der Sozialdemokratie, im Parteikommunismus findet, macht Marxis-
mus als auf Revolution provozierende Kritik selbst überflüssig. Er ratifiziert dies noch, vermag
er nicht einmal seine eigene Überflüssigkeit materialistisch zu erklären – und das heißt längst
vor seiner von Staats wegen erklärten Überflüssigkeit fürs repressive Kollektiv. Seine Nutzlo-
sigkeit gibt sich zu Protokoll in der gängigen Definition, die ‘Krise des Marxismus’ bestünde
im Bruch der Vermittlung von Theorie und Praxis. Anerkannt und gestanden wird so, Marxis-
mus könne nicht die Krise selbst sein. Der Erfindungsreichtum und die zoologische Vielfalt der
Sektenmarotten speist sich aus eben dem saturierten Bewußtsein, das der immer aufs Neue
mißglückenden Vermittlung nur neue Hilfstruppen zu werben gedenkt. Der Kurzschluß zwi-
schen Theorie und Praxis verbiegt Kritik zum bloßen Instrument, setzt nichts aufs Spiel und
verkommt zu informativer Aufklärung mittels bürokratischer Organisation. Der Marxismus als
Krise dagegen betreibt Kritik als Denunziation und legt die historische Chance der freien As-
soziation offen.
Soweit der Marxismus daher als eine Theorie existiert, vegetiert er als Gegenstand
von Professoren, als Kathedersozialismus. Dessen Erklärung und ‘Ableitung’ der Gesellschaft
verhilft dem Marxismus als Theorie zum Bewußtsein seiner bürgerlichen Notwendigkeit. Seine
Aufklärung über das Wesen der Gesellschaft erlaubt ihren Erscheinungen das Fortleben. Wie
der Kathedersozialismus aus der Logik des Kapitals, die als Fortschritt auszuloben er nicht
müde wird, die Garantie seiner eigenen Endlosigkeit zieht, so zieht das ideologische Selbstbe-
wußtsein des Kapitals aus dem Kathedersozialismus die letzte noch unkorrumpierte Gewißheit
seiner historischen Legitimität. Seine Arbeit besteht darin, die Welt zu interpretieren, deren
Veränderung er nicht mehr zu begründen vermag. Als theoretische Praxis liegt sein Heil im
Abwarten und er findet sich daher als das Gewissen einer der Spielarten linker Sozialdemokra-
tie wieder, in Trotzkismus, Stalinismus oder im maoisierten Marxismus-Leninismus. Gemein-
sam ist es ihnen, den revolutionären Optimismus nicht aus dem Zustand der Klasse, sondern
aus der objektiven Logik der Verhältnisse, unter denen sie agiert, abzuleiten. „In seinem impe-
rialistischen Stadium führt der Kapitalismus bis dicht an die allseitige Vergesellschaftung der
Produktion, er zieht die Kapitalisten gewissermaßen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in
eine neue Gesellschaftsordnung hinein“, schrieb W. I. Lenin 1916 und verriet, welches Subjekt
die Hoffnung auf Emanzipation hier verbürgt. Der Aberglaube an derlei ‘List der Vernunft’ hat
den Materialismus in Idealismus verwandelt, der von Erfahrung notorisch unbelehrbar bleibt.
Arbeit sans phrase gilt dem Kathedersozialismus nicht als Skandal, sondern als Aufforderung,
Arbeitsbeschaffungsprogramme auszuarbeiten, wie ihm auch die Krise des Staates nur zum
Anlaß taugt, die Ideale der abstrakten Demokratie gegen ihre praktische Erniedrigung durch
die Souveränität auszuspielen. Wo Marxismus als Theorie und Wissenschaft Aufklärung der
Gesellschaft über ihre Antagonismen bezweckt, ist er zum Selbstbewußtsein falscher Verge-
sellschaftung geworden. Da er die Gesellschaft zum Objekt der Aufklärung erhebt, kennt er
kein reales, praktisches Subjekt der Veränderung mehr. Da er nicht an der Logik der Verwer-
tung des Werts als dem dynamischen Prinzip der Verdinglichung ansetzt, wird er selbst zum
verdinglichten Bewußtsein, das seine Höchstform dort erreicht, wo er es vermag, die Bewe-
gung des Werts durch Konjunktur und Krise hindurch statistisch genau zu verfolgen und aus
der Ungerechtigkeit der Verteilung des Bruttosozialprodukts die Existenz seines liebsten Kin-
des, des ‘Grundwiderspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital’, schlüssig nachzuweisen. Da er

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es auf Mark und Pfennig genau wissen will, geht ihn die Kritik des Geldes nichts mehr an. Wie
der Alltagsverstand dieses Marxismus in der Ökonomie begraben liegt, die er nicht abschaffen,
sondern rationalisieren möchte, so flieht sein sonntäglich philosophisches Bewußtsein in die
‘Grundgesetze der Dialektik’, die er als handliches Werkzeug und Passepartout mißbrauchen,
nicht aber an sich selbst realisieren möchte. Als Theorie ist Marxismus Teil der deutschen
Ideologie geworden, deren ‘soziales Gewissen’ er in seiner extremsten Form verkörpert.
Soweit Marxismus noch als Moment einer Praxis fortwest, betätigt er sich als Vertei-
lungsagentur theoretischer Erkenntnisse in kleiner Münze für jedermann. Umgetrieben davon,
nur ja verständlich und populär zu sein, bringt er den Opfern seiner Agitation als Einstandsge-
schenk die Erklärung ihrer Unschuld als der nur zu kurz gekommenen Objekte der Vergesell-
schaftung. Konsequent betrachtet er den Arbeiter nicht als potentiell revolutionäres Subjekt,
sondern als Sozialfall und ökonomisch unterprivilegierten Staatsbürger. Vornehmlich agitiert
er für die ‘Befreiung der Arbeit’, d.h. für die Anerkennung des produktiven Nutzens von Arbeit
überhaupt für und durch die Gesellschaft. Allererst wird dem Arbeiter attestiert, Arbeit an sich
und ohne Rücksicht auf ihren Gebrauchswert sei Legitimation für linke Politik genug. Da ‘Ar-
beitersein’ schon Arbeit genug mit sich bringt, darf die Erkenntnis ihres fatalen Charakters
nicht ihrerseits Arbeit bedeuten, nicht zur Krise der psychischen Selbstverstümmelung führen,
die nötig ist, um Arbeiter zu bleiben. Fixiert darauf, dem Arbeiter als bloßem Objekt der Ver-
gesellschaftung zum Stolz auf seine produktive Funktion zu verhelfen, fordert der Marxist als
Praktiker die Einheit der werktätigen Klasse zur Verewigung der Arbeit. Er bewegt er sich
daher meist auf dem linken Flügel der Gewerkschaften.
Oft genug jedoch hat er den Kontakt zur Produktion längst verloren und ist zum Hob-
by von Menschen geworden, die außer der Kontinuität ihrer Biographie nichts mehr zu verlie-
ren haben. Ihr spezielles Anliegen zielt haarscharf an Aufklärung vorbei auf den Gewinn von
‘Glaubwürdigkeit’ als Person und Repräsentant einer Idee, die zu verleiblichen sie die Ehre
haben. Dem Volk die Aufklärung zu bringen, heißt daher, sich zu ihm in ein intimes Verhältnis
zu setzen und möglichst überall dort präsent zu sein, wo das Volk en masse sich ergeht. Um die
Kollision zu vermeiden, kehrt man die angenehmen, sog. ‘konkret utopischen’ Seiten des Mar-
xismus heraus und findet sich daher vorzugsweise in ökologischen und pazifistischen Bewe-
gungen wieder, wo es nichts ausmacht, wenn ein netter Mensch mit ehrenwerten Absichten
unbedingt den Glauben sich bewahren möchte, sein Dabeisein sei alles für den Erfolg der Re-
volution. Der Verzicht auf die marxistisch angeleitete Aktion schlägt sich in umso größerem
Aktionismus nieder, einer atemlosen Hektik in Permanenz, die noch dafür gelobt werden will,
daß sie aus Zeitmangel nie und nimmer in der Lage ist, allererst die Bedingungen der Aktion
sich zu erklären. Soweit der Marxismus noch als Moment von politischer Praxis besteht, stellt
er den aktivistischen Flügel und ‘Kohlenträger’ jener desperaten ‘Neuen Sozialen Bewegun-
gen’ dar, bei denen er mittun darf, weil jeder seine Uneigennützigkeit als die Hilflosigkeit
durchschaut, etwas anderes zu wollen als das Vorgegebene, nur eben intensiver.

„Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demon-
striert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die
Wurzel für den Menschen aber ist der Mensch selbst.“(Marx)

Diese Strategie darf heute, soll nicht das Theorie-Praxis-Problem in seiner fadesten Gestalt, als
Organisationsdebatte, wieder aufgerollt werden, nicht mehr verstanden werden als sei die Wur-
zel (und daher auch der Rettungsgrund noch der absurdesten und inhumansten Formen von
Vergesellschaftung) der Mensch selber. Subjekt der Verhältnisse ist gerade nicht er, sondern
das Kapital als selbstbewußter Motor einer Höllenmaschine, die als menschliche Geschichte an
der gesellschaftlichen Oberfläche nur erscheint, als einzig existierendes Subjekt, als automati-
sches und selbstreproduktives. In einer solchen Struktur ist Realität geworden, was Marx noch
in der Hoffnung als ‘Charaktermaske’ denunzierte, in Wirklichkeit verhalte es sich anders: Der
Mensch ist zur leiblich-personalen Tarnung einer Funktionsstelle des sozialen Getriebes ge-
worden, die seinen unerheblichen Charakter, seine besondere Individualität nicht nur einfach
versteckt, sondern in sich aufgesogen hat. Wo das Humane noch aufzutreten scheint, fungiert
es als Ornament einer sekundären, ideologischen Humanisierung, die, wie in der Warenästhe-
tik, einzig in der Beschleunigung des Umsatzes ihren Sinn findet.
Kritik als bloß informierende Aufklärung, die darauf spekuliert, in Wirklichkeit ver-
halte es sich hinter dem ideologischen Schleier ganz anders und die also dazu aufruft, den kapi-
talistischen (Verwertungs-)Schein auf sein eigentlich menschliches (Arbeits-)Wesen zu durch-
schauen, arbeitet nur mit an der sekundären Humanisierung des real gewordenen ‘Scheins’. Die
Versicherung, ‘in letzter Instanz’ käme alles zu einem guten Ende, die sich auf den Ursprung

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der Gesellschaftsverhältnisse beruft, ist trost- und hilflos geworden vor deren unbestrittener
Geltung. Die Spekulation beruft sich theoretisch auf den zum materialistischen Märchen ge-
wordenen ‘Doppelcharakter’ der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Menschen machen ihre
Geschichte selber, aber unter vorgefundenen Umständen, weiß die Legende. Im 19. Jahrhun-
dert mag sie einen real existierenden, zur Revolution drängenden Widerspruch ausgedrückt
haben, sie heute noch nachzubeten, bedeutet nur, einen Grabstein mehr auf die historische
Dialektik zu setzen. Wo Marxismus sein Heil noch immer in den ‘Doppelcharakter’ setzt, ge-
steht er nur den Wunsch ein, die Geschichte mit dem 29.Januar 1933 für beendet zu erklären.
Das trotzige „Andererseits!“, aus dem er seine Kraft zieht, hat sich zur quasi-
religiösen Gegenwelt von Traditionsvereinen verflüchtigt, die folgerichtig die revolutionäre
Chance nicht mehr aus Realanalysen zu gewinnen vermögen und in ihrer Not zur scholasti-
schen Exegese heiliger Texte greifen, die ihre Aura aus der verschollenen Möglichkeit ihrer
revolutionären Wirkung beziehen.
Erst in einer weiteren Fassung kann das Problem gestellt und sodann als Arbeitspro-
gramm zur Wiederbelebung marxistischer Kritik als Krise verstanden werden. Denn hinter der
rein organisationstechnischen, auf Kautsky und Lenin zurückgehenden Fassung der Frage als
einer der Vermittlung von Theorie und Praxis steht die der Vermittlung von gesellschaftlichem
Sein und Bewußtsein. Während die traditionelle Form des Problems letztlich nicht haushalten
kann ohne die zu schlechter Metaphysik verkommene Wesenszuweisung an die Arbeiterklasse,
sie sei das identische Subjekt-Objekt der Geschichte, muß die kritische Fassung davon ausge-
hen, daß sich gerade im proletarischen Bewußtsein, sei’s im alltäglichen, sei’s im explizit
‘klassenkämpferischen’, das gesellschaftliche Sein längst zum positivistischen Bewußtsein
versteinert hat, das Geschichte weder machen will noch wird, noch kann.

„Eingezwängt in seine extrem arbeitsteilige und sein ganzes Leben bestimmende Arbeitsfunktion, die
nur nach einem empiristisch rationalisierten Plan ablaufen kann und allen Resten von Phantasie, nai-
vem Schein und erotischer Lust eine radikale Absage erteilt, deshalb auch abgetrennt von jeglicher
Grundlage des ‘Verstehens’ und ‘Begreifens’ der verborgenen Wahrheit, bildet der Arbeiter geradezu
die Verkörperung des Positivisten.“(Leo Kofler) An das Bewußtsein und die Bedürfnisse des Arbei-
ters ‘anknüpfen’ zu wollen, bedeutet nur die Festigung dieses Positivismus und seine Legitimation.

Daher kann der Marxismus weder direkt als eine Theorie massenwirksam werden noch als
radikal-humanistische Philosophie. Ersteres hieße zudem, einen wissenschaftlichen Diskurs für
einen revolutionären, auf die Einheit von geistiger und körperlicher Arbeit zielenden, aus-
zugeben; letzteres würde im Rückgriff auf Anthropologie und die Lehre von den ‘wahren Be-
dürfnissen’ nur die Verwarenförmigung der Bedürfnisse und ihre Repression fördern.
Kritik als Krise muß darauf zielen, die Vermittlung von Sein und Bewußtsein nach
besten Kräften zu blockieren und die nahtlose Übersetzung der Gebote des produktiven Appa-
rates in die Zwecke des menschlichen Bewußtseins zu behindern. Kritik als Krise heißt, die
Einsicht in die kapitalistische Vergesellschaftung und die materialistische Erklärung der Ver-
hältnisse unmittelbar als die Denunziation des erkennenden Individuums zu organisieren. Die
Kritik, angeleitet von dem Wissen darum, daß es einmal anders hätte werden können, hat, ori-
entiert an der Erinnerung und dem Eingedenken vergangener Möglichkeiten der Emanzipation,
ihre geballte Traurigkeit zu wenden gegen die als Subjekte nur fingierten Individuen. Auszu-
gehen ist vom Diktum Theodor W. Adornos, zumeist sei es eine Unverschämtheit, wenn Men-
schen sich erdreisteten, „Ich“ zu sagen. Die Menschen sind zu befragen, ob sie auch im Mo-
ment ihrer durch Kritik ermöglichten Distanz vom produktiven Zwangsautomatismus und im
Augenblick der Durchsichtigkeit ihrer Subjektivität als sozialer Halluzination bereit sind, nega-
tive Vergesellschaftung als ihre gewolltermaßen eigene sich zuzurechnen. Kritik, die zur Krise
der falschen und unheimlichen Intimität mit dem entfremdeten Alltag führt und die Zerstörung
der Zutraulichkeit zur Verdinglichung organisiert, vermag, nach dem Modell von Katharsis,
einem Blick auf die Chance des Abtuns der Entfremdung durch Revolution die Bahn zu bre-
chen. Nur durch Blockade der Vermittlung, die Einsamkeit und Spielraum schafft, vermag sie
den Individuen eine Ahnung materialer Subjektivität zu geben. Es ist daher nicht ihre Aufgabe,
‘konstruktiv’ zu sein.
Die Kritik hat zum vielleicht doch noch möglichen Aufbruch zu rufen, dessen Un-
möglichkeit nur durch die Unterlassungsschuld, durch Kritik sich nicht ergreifen zu lassen,
erwiesen werden kann. Wie die Kritik ihre Chance in der planmäßigen Erzeugung von Ekel vor
dem eigenen Mittun sucht und nicht im Vorgaukeln der Möglichkeit, ein Besseres zu finden,
ohne zuvor das Alte gelassen zu haben, so liegt ihre Hoffnung darin, daß es noch nicht zu spät
sei, die Probe aufs Exempel zu wagen. Der Gehalt des Marxschen Diktums liegt daher heute in

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folgendem: Die Kritik ist vielleicht noch fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie sich am
Menschen demonstriert, und sie tut dies, indem sie seine Krise herbeiführt. Radikal sein, das
heißt daher, die Sache, zu der der Mensch gemacht worden ist, an der Wurzel zu fassen. Die
Wurzel des verdinglichten Menschen aber ist der Mensch, der es, trotz der durch Kritik ermög-
lichten Distanz und geistigen Abkoppelung, nicht unterläßt, das mögliche ganz Andere, die
Revolution, zu unterlassen.
Die Kritik, wo sie als Krise auftritt, vermag es nicht, sich pädagogisch zu gerieren und
zu leugnen, daß auch die Erzieher erzogen werden müssen. Sie arbeitet allerdings nach dem
Modell therapeutischer Kritik und hat zuallererst die Bedingungen einer emanzipatorischen
Dialektik zu produzieren. Da sie zugleich nicht bezwecken kann, hinter dem verdinglichten
einen ‘wahren’ Menschen zu entdecken, den es zum Bewußtsein seiner ursprünglichen ‘Eigent-
lichkeit’ zu führen gälte, sondern es auf die freie Einsicht des Individuums in seine gesell-
schaftlich längst organisierte, nur noch nicht vollstreckte Überflüssigkeit anlegt, fällt es ihr
nicht schwer, ihre Hilflosigkeit in Fragen der ‘Praxis’ zuzugestehen. Sie maßt sich nicht an,
‘anzuleiten’ und Perspektiven zu formulieren, da unabsehbar ist, welchen Weg die revolutionä-
re Initiative beschreiten wird, sind ihre Bedingungen erst einmal produziert. Denn auf den
ersten Blick ist kaum auszumachen, worin denn der Unterschied besteht zwischen der gesell-
schaftlich organisierten Überflüssigkeit des Individuums, der Nutzlosigkeit des konkreten Ein-
zelnen, und jener individuell nur definierbaren Selbstentwertung des Einzelnen für die Zwecke
des Apparats. Erst daraus erwüchse jenes Übermaß an revolutionärem Willen, das zur Probe
aufs Exempel unabdingbar ist. Wenn dem Arbeitslosen, mit dem Zynismus des Sozialstaates,
in letzter Konsequenz der Selbstmord ans Herz gelegt wird, so wäre dies vom eigenen freien
Willen zu unterscheiden, sich für die Zwecke des Apparats unbrauchbar zu machen, sich selbst
zu humanisieren und sich die Anderen zum emanzipativen Gebrauchswert anzueignen. Die
Kritik kann diesen Unterschied nur therapeutisch suggerieren, nicht aber garantieren. Denn

„der Erfolg hängt in erster Linie von der Intensität des Schuldgefühls ab, welcher die Therapie oft
keine Gegenkraft von gleicher Größe entgegenstellen kann. Vielleicht auch davon, ob die Person des
Analytikers es zuläßt, daß sie vom Kranken an die Stelle seines Ich-Ideals gesetzt werde, womit die
Versuchung verbunden ist, gegen den Kranken die Rolle des Propheten, Seelenretters, Heilands zu
spielen. Da die Regeln der Analyse einer solchen Verwendung der ärztlichen Persönlichkeit entschie-
den widerstreben, ist ehrlich zuzugeben, daß hier eine neue Schranke für die Wirkung der Analyse
gegeben ist, die ja krankhafte Reaktionen nicht unmöglich machen, sondern dem Ich des Kranken die
Freiheit schaffen soll, sich so oder anders zu entscheiden.“(Sigmund Freud)

Der Ausgang einer Kritik, die von der bloß informierenden Aufklärung zur Krise sich zu ent-
wickeln hat, ist mindest ebenso ungewiß wie es sicher zu vermuten steht, daß es sich mit der
Alternative ‘Sozialismus oder Barbarei’ nicht mehr fifty/fifty verhält. Das Unwahrscheinliche
muß unternommen werden, solange es nicht endgültig zum Unmöglichen geworden ist. Ihr
Risiko liegt in der nur praktisch zu erweisenden Sinnlosigkeit ihrer arbeitsnotwendigen Unter-
stellung, die Objekte der Kritik sehnten insgeheim sich nach moralischer Kompetenz und sub-
jektiver Urheberschaft ihrer eigenen Geschicke. So lange gilt: „Je unmöglicher der Kommu-
nismus wird, desto verzweifelter gilt es, für ihn einzutreten.“ (Max Horkheimer)

Zuerst in:
Initiative Sozialistisches Forum
30. Januar. Materialistisches Gedenken zum 50. Jahrestag der faschistischen Diktatur
Freiburg 1983, S. 75 - 87

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Initiative Sozialistisches Forum


Wege aus Krise und Massenarbeitslosigkeit:
Recht auf Arbeit? Recht auf Faulheit!

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analyse und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 63 – 65

Es jammert in den Boulevardblättern und Gewerkschaftsgazetten; es stöhnt auf den Soziolo-


gentagen und in den evangelischen Bildungswerken; es verschafft Parlamentskommissionen
und alternativen Realpolitikern Arbeit: Das jüngste Kind der Sinnkrise, die ,Krise der Arbeits-
gesellschaft’, verspricht ein voller Erfolg zu werden.
Was bleibt, wenn der Gesellschaft ,die Arbeit’ ausgeht? Was sollen die Überflüssigen
mit sich anfangen, wenn sie nicht einmal mehr zur Produktion von Schund benötigt werden?
Worin soll der Sinn des Lebens noch liegen, wenn nicht in Lohntüte und Stechuhr? Was soll
geschehen, wenn die Menschen selber als die Wegwerfprodukte behandelt werden, die sie
bislang bloß herstellten? Worin soll der Wert des Lebens bestehen, wenn nicht in der Verwer-
tung des Lebens? Worin sein Sinn, wenn nicht im baren Unsinn der produzierten Waren?
Die Arbeitslosenstatistik ist das Russisch-Roulette der arbeitenden Klassen. Das
Nürnberger Orakel bezeichnet den genauen Index der Überproduktion von Leben wie die
Frankfurter Börse den der Überproduktion von Butter, Steinkohle und Volkswagen. Arbeitslo-
senversicherung und Sozialhilfe, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und andere Beschäftigungs-
therapien sind der Versuch, das produktiv ausbeutbare Leben auf die hohe Kante zu legen:
Spare in der Zeit – so hast du in der Not? Die Gesellschaft hortet ihr Humankapital. Doch:
Jeder weiß insgeheim, daß es dem überflüssigen Leben ergehen wird, wie den Agrarüberschüs-
sen der EG, wie den Tomaten und Äpfeln.
Weil jeder weiß, daß er nach dem Stand der Technik überflüssig wäre, solange um der
Produktion willen und des Profits wegen produziert wird, empfindet jeder seinen Erwerb als
verkappte Arbeitslosenunterstützung, als etwas vom gesellschaftlichen Gesamtprodukt zur
Erhaltung der Verhältnisse zuliebe willkürlich und auf Widerruf abgezweigtes. Dahinter steht
die Wahrheit, daß seit Auschwitz das moderne Leben im Spannungsverhältnis von aktiver
Sterbehilfe und finalem Rettungsschuß pendelt. Das der Arbeit geschuldete Leben ist von der
Vernichtung durch Arbeit, von der produktiven Verschrottung des Lebens kaum noch unter-
scheidbar.
Diese Ununterscheidbarkeit von Vernichtung und Produktion enthüllt die Rede von
der ,Arbeitsgesellschaft’ als den Zynismus, die Opfer hätten sich ihr Schicksal selber zuzu-
schreiben: Als sei es ,die Arbeit’, die der Gesellschaft das Gesetz gebe. Hinter der freundlichen
Aufforderung, der Arbeit um jeden Preis neuen Sinn zu verleihen, steckt, kaum verkappt, die
Drohung der Arbeitslager. Sinn, wo er denn sein muß, wird notfalls dekretiert.
Daß die Opfer sich den Schuh anziehen und selber noch das Recht auf Arbeit einfor-
dern, das gibt der Sache den letzten Schliff und macht den Zynismus, die Menschen seien die
Autoren ihrer Vergesellschaftung, zur negativen Wahrheit. In der Forderung des Rechts auf
Arbeit setzen die Abhängigen sich selber als das Kapital, das doch ihre Existenz unter das
Gesetz des Verschwindens setzt. Die Gewerkschaften und linken Sozialdemokraten geben mit
dieser Forderung zu erkennen, daß sie mit der Ware Arbeitskraft ihren Handel treiben wie
andere Kartelle und Konzerne mit Kühlschränken und Schuhwichse. ,Die Arbeit’ ist die leben-
dige Form des Kapitals.
Die Arbeiterbewegung betreibt die Opposition gegen die Verwertung als die Bedin-
gung des reibungslosen Fortgangs der Verwertung. ,Recht auf Arbeit’, gar als Kampf um
,Befreiung der Arbeit’, ist der Versuch der Verewigung des Kapitals mit proletarischen Mit-
teln, ist das Bestreben der gewerkschaftlich organisierten Facharbeiterklasse, dem Privatkapital
die Interessen des Humankapitals aufzuzwingen, um es darüber zu Staatskapital zu reformie-
ren. Im Recht auf Arbeit steckt die Pflicht zur Arbeit, das System des allgemeinen Arbeits-
zwanges, der, im nur unwesentlichen Unterschied zur bürgerlichen Liberalität des Marktes,
durch die staatliche Autorität und Kommando vollstreckt wird. Indem die Arbeiterbewegung
an den Staat appelliert, gar die Verstaatlichung fordert, radikalisiert sie sich nicht, sondern

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spielt den Teufel gegen den Beelzebub aus.


Es kommt nicht auf die Befreiung der Arbeit an, sondern auf die Abschaffung der Ar-
beit. Es geht nicht um das Recht auf Arbeit, sondern um das allgemeine Verbot der Arbeit. Die
Kritik der Arbeit ist die Bedingung eines emanzipativen Auswegs aus Krise und Massenar-
beitslosigkeit. Es geht deshalb nicht darum,

„die famosen ,Menschenrechte’ zu verlangen, die nur die Rechte der kapitalistischen Ausbeutung
sind, nicht darum, das ,Recht auf Arbeit’ zu proklamieren, das nur das Recht auf Elend ist, sondern
darum, ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu
arbeiten.“(Paul Lafargue, 1883)

Im Gerede über die ,Krise der Arbeitsgesellschaft’ bahnt sich die Wiedergeburt der Deutschen
Arbeitsfront an. ,Gemeinnutz geht vor Eigennutz’ – unter dieser urdeutschen Parole sammeln
sich die Offiziellen und ihre ,Alternativen’ zur großen Sinngebung. Die Arbeit, im System von
,High tech’ und ,Fast food’ langsam ans Ende gebracht, soll für die großen
,Gemeinschaftsaufgaben’ staatlich alimentiert werden. Die Zwangsverpflichtung der Sozialhil-
feempfänger korrespondiert aufs glücklichste mit den alternativen Strebungen, noch die Liebe
zur ,Beziehungsarbeit’, daher zur gesellschaftlich nützlichen Arbeit zu erklären und mit einem
,garantierten Mindesteinkommen’ oder einem ,Soziallohn’ zu bezahlen.

November 1985

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ISF
Wehrhafte Demokratie, freiheitlicher Staat
Aus: Initiative Sozialistisches Forum,
Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 67 - 70

„Gewiß, die Demokratie ist eine schlechte, immerhin aber die beste aller möglichen Staatsfor-
men“: Nichts anderes als dieses erste Gebot von Gemeinschaftskunde haben die Feierlichkeiten
zum vierzigsten Jahrestag des freiheitlichsten Staates, der das deutsche Volk je verwalten und
regieren durfte, als der Weisheit allerletzten Schluß ausgelobt. Das Grundgesetz hat den Staat
demokratisch in Höchstform gebracht und in dem Maße, in dem die bürgerliche Öffentlichkeit das
gegen ihren Willen von den Alliierten angeordnete pluralistische Arrangement der politischen
Alltagsgeschäfte als mit Abstand kleinstes Übel abfeiern darf, ist sie geradezu verpflichtet, die
fraglose Legitimität des souveränen Staates als ihr höchstes Glück anzuerkennen. Erst das schein-
bar vorstaatliche Menschenrecht, seine unmaßgebliche Meinung frei von der Leber weg zu Proto-
koll zu geben, erhebt die blöd staatsbürgerliche Pflicht, den Anordnungen der Maßgeblichen Folge
zu leisten, zum demokratischen Genuß. Gerade weil den deutschen Demokraten von heute die
bürgerliche Freiheit als bloß abgeleitetes Resultat der Einsicht in die politische Notwendigkeit
erscheint, erweisen sie sich als die legitimen Nachfolger und legalen Erben der Volksgenossen von
damals, denen die bedingungslose Gefolgschaft als absolute Voraussetzung der schrankenlos agie-
renden Volksgemeinschaft so unmittelbar einleuchtete. Die Tugenden des demokratischen Relati-
vismus, Toleranz und Kompromiß, die Bereitschaft also, bis zur völligen Gleichgültigkeit gegen
Wahrheitsansprüche nicht alles so dogmatisch sehen zu wollen, sind weniger das krasse Gegenteil
der Laster des völkischen Absolutismus als vielmehr ihre sonntägliche Seite. Der mündige Bürger
ist seinem Doppelgänger, dem plebiszitären Stimmvieh, so sehr verwandt und verschwägert, daß
er sich unmöglich in diesem seinem Spiegelbild zu erkennen vermag. Dieser Verkennung wegen
vertragen sich demokratisches Pathos und nüchterne Anerkennung der Notwendigkeit von ,Staat
an sich' auch so überaus gut miteinander.
„One man – one vote“: Der nationalsozialistische Staat, der das Volk wie einen Mann mit
Führers Stimme sprechen ließ, die seinen politischen Willen als übersinnliche Einflüsterung der
völkischen Vorsehung verkündete, und die postbarbarische Demokratie, die ihren Staatswillen als
das blanke Rechenresultat von Minderheit und Mehrheit sich eingeben läßt, das die Vielfalt der
Gesichtspunkte und Meinungen nur quantitativ zu bewerten vorgibt, liegen so wenig auseinander,
daß die Kanzlerdemokratie permanent genötigt ist, den ,Führerstaat' als ihre formelle Basis und
materielle Prämisse vehement zu leugnen. Das macht: Noch nicht einmal das Bürgertum, dessen
bewußtes Produkt der Nationalsozialismus, gemäß dem marxistisch-leninistischen Dogma, gewe-
sen sein soll, ist in der Lage, die Liquidierung seiner ureigenen Öffentlichkeit als Notwendigkeit
genau der kapitalistischen Produktionsweise zu erkennen, der sie vorsteht. So sehr die Bourgeoisie
den Nazismus ökonomisch brauchen mußte, so sehr mußte und muß er ihr geistig über den Hori-
zont und politisch gegen den Strich gehen. Die intime Feindschaft, die die Bundesrepublik zum
Dritten Reich als einem ,Unrechtsstaat' unterhält, speist sich aus der herzlichen Bekanntschaft des
Sozialstaates von heute mit den Institutionen zur Aufmöbelung der Arbeitskraft durch Freude. So
stellt sich die bundesdeutsche Gesellschaft dar als eine demokratisierte Volksgemeinschaft, die
zum Liberalismus genötigt wurde und die ihre heimliche Wut darüber pünktlich zum Jubiläum an
ihren letzten Jakobinern ausagiert, indem sie sie zum Hungerstreik aus Notwehr zwingt. Die
Volksgemeinschaft ist der kommunikativ beschwiegene soziale Inhalt der pluralistischen Demo-
kratie. Nicht anders ist zu erklären, warum gerade die Wehrlosigkeit der Gefangenen ihre Aggres-
sionen auf sich zieht, nicht anders auch der merkwürdige Umstand, daß hierzulande ausgerechnet
vierzigjährige Jubiläen festlich begangen werden: Seit dieser Rhythmus für Staatsakte in Mode
kam, seit der Versöhnung von Bitburg bis zum Vierzigsten der ,Reichskristallnacht', scheint die
Absicht im Spiel gewesen zu sein, dadurch etwas vom Gehalt der französischen Revolution für die
FdGO zu erschwindeln, daß man ihren Geburtstag in zeitlicher Nähe des 200. Jahrestages emanzi-
pativer Gewalt begeht. Der Glanz der Guillotine soll die Einsicht blenden, daß dieser Staat sich
auch dem Einsatz von Zyklon B verdankt. So führt eine ,Volks- und Schulausgabe' des Grundge-
setzes aus den fünfziger Jahren aus:
„Die innere Bereitschaft, sich dem Willen der Mehrheit unterzuordnen, setzt eine Haltung
voraus, die in den demokratischen Spielregeln nicht ein Mittel sieht, selbst zur Macht zu kommen
und den Gegner zu unterdrücken, sondern die Verbundenheit aller Glieder des Gemeinwesens als
die wertvollste und schöpferische Grundlage des Staatslebens erkennt. Nur aus dieser Haltung ist
Opposition fruchtbar. (...) Je stärker in einer Demokratie das Gemeinschaftsgefühl entwickelt ist,
um so weniger bedarf es der Austragung der Gegensätze durch die Härte des Mehrheitsentscheids.
2

In den Verfassungen sucht man vergeblich Vorschriften über die Volksgemeinschaft, ihre Förde-
rung und ihr Wirken. Diese – vielleicht wichtigste – Seite des Staatslebens entzieht sich jeder
Rechtssetzung.“ Um so weniger muß die Volksgemeinschaft noch gesetzlich erlassen werden, als
sie längst gewalttätig durchgesetzt worden ist; um so mehr kann die demokratische Öffentlichkeit
den autoritären Staat verfluchen, je dankbarer sie auf seinen sozialen Resultaten aufbaut und je
selbstbewußter sie in der Rede von ,uns Deutschen' dessen Vokabular repetiert. Die Anerkennung
des legitimen Monopols, das der Staat auf die physische Gewaltsamkeit besitzt, fällt desto freudi-
ger aus, je mehr die Deutschen sich daran erinnern, daß dies Monopol das gerade Gegenteil eines
angemaßten Privilegs darstellt. Der demokratische Geist, der sonst so gegen Ausnahmen von der
Regel ist, macht hier selber eine, weil er ahnt, daß die nazistiscke Demokratisierung und Kollekti-
vierung der Gewalt zum Monopol des deutschen Volkes gegen andere über dessen Kräfte eigent-
lich immer schon ging.
Solch pragmatisches Kalkül und derlei fadenscheiniger Eigennutz hindern freilich nicht
daran, das Gewaltmonopol als einen Fortschritt von Humanität und Sittlichkeit zu bewerben. Der
Staat wird als eine An Staubsauger höherer Güte angepriesen, der die menschlich-
allzumenschliche Neigung zur Aggression aus dem Alltag zieht und sie in konzentrierter Form auf
die Gesellschaft als freundliche Aufforderung zu guter Nachbarschaft einwirken läßt. Interessiert
unterschlägt die Reklame ihren Auftrag, die politische Dialektik von sozialer Befriedung nach
innen und politischer Handlungsfähigkeit nach außen zu beschleunigen. Die politische Agitation
gegen das private Faustrecht, die demagogische Frage danach, wie es denn wäre, wenn jeder je-
dem an die Gurgel könne, hat mittlerweile auch die ÖkoPax-Opposition vom Wert des staatlich
repräsentierten ,Gemeinschaftsgefühls' überzeugt. Zwar reden die grünen Lautsprecher noch nicht
vom Staat als Volksgemeinschaftsaufgabe, aber immerhin schon, frisch, wie sie aus dem demokra-
tisch-theoretischen Seminar, und fröhlich, wie sie aus der soziologischen Vorlesung in die Partei-
vorstände kommen, vom ,ökologischen Ordnungsfaktor hochkomplexer Gesellschaften'. So hat
sich die wehrhafte Demokratie grüne Verfassungspatrioten angelacht und der freiheitlichste Staat
ökologische Polizisten.
Artikel 20 des Grundgesetzes bestimmt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Jahre-
lang hielten es Linke für progressiv, die Frage zu stellen, wo sie denn aber hinginge. Jetzt hat der
Staat den Grünen geantwortet, die es nicht mehr verstehen wollen: Weil alle Macht von den zum
Volk zusammengerotteten Menschen ausgeht, geht sie auch als konsequent völkische Staatsgewalt
gegen die Fremden. Der grüne Legalismus wie die Ordnungsliebe der Republikaner sind so, jeder
auf seine Art, das beste Geburtstagsgeschenk und ein wirklicher Grund zum Feiern.

März 1989
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Initiative Sozialistisches Forum


Staatskapitalismus – das Trauma der Revolution

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analyse und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 71 - 86

l.

Was die französische Revolution für das Bürgertum, das ist die russische für die Linke: Ideal und
Schreckbild zugleich. Für die einen ist sie der verwirklichte Traum von einer erfolgreichen soziali-
stischen Eroberung der Macht, für die anderen zeigt sich in ihr der praktisch vollzogene Verlust
des Willens zur Emanzipation. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Das revolutionäre Rußland
proklamierte gegen diese abstrakten Menschenrechte der Besitzbürger die praktischen Rechte der
Produzenten: Land, Brot, Arbeit, Frieden. Und wollte auf diesem Wege die unerfüllt gebliebenen
Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft erst noch wirklich einlösen.
Wie jede bloß politische Revolution erlag auch die russische der fatalen Dialektik der
Macht. Schon der Jakobinismus war genötigt, die Humanität der Parole von ,Liberté, Egalité, Fra-
ternité’ in den Zynismus von Infanterie, Kavallerie und Artillerie zu übersetzen. Dies nicht aus
purer Böswilligkeit: In Politik transformiert und als Staatlichkeit auf den Begriff gebracht, natura-
lisiert nicht nur das humanistische Ideal von einer natürlich gegebenen Gleichheit den konkreten
Menschen zwangsläufig zum bloßen Material und Rohstoff für Herrschaft – jedes abstrakte Ideal
ist die Währung für das, was in der Münze konkreter Repression in Umlauf gebracht wird. Und so
haben weder die französische, noch die russische Revolution das Individuum befreit: Sie haben die
Menschen vielmehr in Staatsbürger umgeformt.
In der auf die modernen ,Großen Revolutionen’ folgenden terroristischen Gleichschaltung
offenbart sich die gesellschaftliche Wahrheit jeder Utopie von allgemeiner Gleichheit (egal, ob
nun die auf dem Markt, die vor dem Gesetz, oder eine vor der Natur gemeint sein soll): Allgemei-
ne Gleichheit kann immer nur gelten ,ohne Ansehen der Person’. Und wie das Ideal allgemeiner
Gleichheit sich nur in Form von Gleich-Schaltung politisch verwirklichen (und staatlich garantie-
ren) läßt, so kann aus der praktischen Realisierung der Forderung nach allgemeinen Freiheitsrech-
ten nicht die Freiheit des einzelnen Menschen resultieren. Schon im Schicksal der Forderung nach
Gewerbefreiheit zeigt sich, daß mit ihr nicht das gemeint gewesen sein kann, was sich die Massen-
basis der Revolution unter ihr vorstellen mußte: Die Revolution brachte eben nicht die Freiheit
vom Zwang zum Gewerbe. Vielmehr ist durch die bürgerlichen Revolutionen hindurch die kapita-
listische Warenwirtschaft zum gesellschaftlich organisierten Schicksal geworden. Was als Freiheit
vom Gewerbe eingeklagt wurde, erwies sich sehr schnell als der in der Folge der bürgerlichen
Revolutionen institutionalisierte Zwang, überhaupt ein Gewerbe, und gleichgültig welches, aus-
üben zu müssen. Gesellschaftlich dechiffriert liest sich die Erklärung der Menschenrechte als die
gewaltsam garantierte Verpflichtung zur kapitalistischen Produktion.
Die Revolution war liquidiert, als die Revolutionäre an die Macht kamen. Wie Robespi-
erre und St. Just in Frankreich, so erging es Lenin und Trotzki in Rußland. Die Revolution gegen
den Staat transformierte sich in eine bloße Regierungsübernahme; angetreten, Souveränität zu
zerstören, konnten die Bolschewiki sich nur behaupten, indem sie Souveränität intensivierten.
Unter dem historischen Zwang, die Einheit der staatlichen Gewalt erhalten, oder aber die eroberte
Macht an die Weißen abgeben zu müssen, organisierte die Sowjetmacht nicht die Befreiung von
der Arbeit, sondern den Arbeitszwang. Das sozialistische Ideal der gesellschaftlichen Gleichheit
aller vor dem naturgegebenen Zwang, sein Leben reproduzieren zu müssen, erwies sich, zur Poli-
tik erhoben, als die Naturalisierung des Menschen zum lebendigen Behälter von Arbeitskraft.
„Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ – die sozialistische Kritik am Lotterleben und Mü-
ßiggang, am erpreßten Zinseszinsleben der parasitären Kapitalisten erwies sich im Gefolge der
russischen Revolution als Fortsetzung des Kapitalismus mit anderen Mitteln.

2.

An der Oktoberrevolution fasziniert das Paradox, daß der Leninismus die politische Revolution im
Widerspruch zu seiner Theorie hat erfolgreich durchführen können – die soziale Revolution aber
gerade deshalb verlieren und unterdrücken mußte, weil er auf diesem Feld seine theoretischen
Vorgaben adäquat in die Praxis hat umsetzen können. Nicht nur weil der Leninismus sich vor den
Aprilthesen Lenins ganz orthodox-kautskyanisch eine sozialistische Revolution in einem kapitali-

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stisch unterentwickelten Land wie Rußland gar nicht vorstellen konnte – gewinnen konnten die
Bolschewiki die politische Macht nur, weil sie diese in ihrem konkreten Handeln als ein Instru-
ment begriffen, das jedem beliebigen Interesse dienstbar zu machen ist. Für die Bolschewiki wie
für jeden anderen Bürger handelt politisch erfolgreich der, der mit dem geringstmöglichen Auf-
wand an eingesetzten Mitteln ein Höchstmaß an Ertrag realisiert. Die Möglichkeit aber, überhaupt
in diesem Sinne souverän handeln zu können, widerspricht eklatant der leninistischen Vorstellung
von Bewußtsein, die dieses anders denn als mechanistischen Reflex auf gesellschaftlich (und phy-
siologisch) gegebene Situationen gar nicht denken kann. Der Begriff der Souveränität kommt, sei
es als ein psychologischer, im Individuum verankerter, oder als ein gesellschaftlicher, von der
Verkehrsform der Menschen untereinander erzeugter, im Theoriengebäude des Marxismus-
Leninismus nicht vor. Indem die Leninisten in Rußland zur Eroberung der politischen Macht an-
traten, taten sie etwas, was sie von ihrer Theorie her gar nicht hätten tun dürfen. (Bis mindestens
zum April 1917 war es auch für alle bolschewistischen Sozialdemokraten noch eine Selbstver-
ständlichkeit, daß die Rolle des Geburtshelfers der kommunistischen Gesellschaft nur in den wei-
ter entwickelten kapitalistischen Staaten des Westens sinnvoll auszufüllen war.)
Was theoretisch als siegreiche List der Vernunft erscheinen könnte, erweist sich histo-
risch als Bankrotterklärung. Schon in der von ihnen gewählten Form des Aufstandes (im filmreifen
Sturm aufs Winterpalais erst recht) erlagen die Bolschewiki der bürgerlichen Ideologie, daß, wer
das Sagen hat, auch den Gebrauch und die Verwendung der Macht zu bestimmen vermag. Die
Formel der Macht wurde als Multiplikation des Willens zur Macht mit den zu ihrer Eroberung
nötigen Gewaltmitteln kalkuliert – wie auch der Sozialismus als einfache Addition von Sowjet-
macht plus Stromerzeugung berechnet wurde. Der Versuch, die Menschen von ihrer Bestimmung,
Charaktermasken des Kapitals werden zu müssen, zu befreien, mündete mit der Institutionalisie-
rung der Sowjetmacht ein in ihre Formierung zu Handlangern sich verbürokratisierender Souverä-
nität.
Die Diktatur des Proletariats wurde zu einer Diktatur der Partei über das Proletariat – und
zerstörte so die sozialen Gehalte der Revolution. Die Partei gibt vor, den Staat als das Exekutivbü-
ro der arbeitenden Klassen zu organisieren – und je besser ihr dies gelingt, umso mehr organisiert
sie darin gleichzeitig die Diktatur der abstrakten Arbeit über die empirischen Produzenten. Der
Arbeiter gilt auch ,drüben’ nur als die leibliche Verkörperung von Arbeit, einer Arbeit, die in ihrer
Abstraktion von jeder qualitativ bestimmten Tätigkeit zu etwas anderem als dem, Quelle von Ka-
pital und Profit zu sein, gar nicht dienen kann. Das Mißverständnis bezüglich dieser Grundlage
kapitalistischer Produktion führte zur Kapitulation vor den Gesetzen kapitalistischer Vergesell-
schaftung: in der Ökonomie wie in der Politik. Die praktisch-politische Probe auf die These, die
Macht ließe sich zu ihrer eigenen Abschaffung mißbrauchen, führte zu nichts anderem als zu ihrer
Potenzierung. Der Souverän läßt sich nicht ungestraft zum bloßen Notar oder Sekretär erniedrigen.
Ebenso wie die These, kapitalistische Vergesellschaftung führe durch eigene Logik zu ihrem Ge-
genteil, also zum Kommunismus, praktisch gewendet, nicht zum Kommunismus, sondern in die
Barbarei eines sich aus sich selbst reproduzierenden Systems führt, genauso resultiert aus einer
theoretischen Erniedrigung des Souveräns dessen praktische Inkarnation zum neuen Gott: und sei
es als ,Die Partei’. In der Tat: Die Oktoberrevolution war Geburtshilfe – die Frage ist nur, für wen
und für was.

3.

Die Gesellschaftstheorie des Marxismus-Leninismus ist juristisch – nicht kritisch. Die Enteignung
des Kapitalisten soll zur Liquidation des Kapitalismus führen. Die Besitzübertragung an den Staat
als dem Gesamtproletarier soll den Charakter der Produktion fundamental ändern. Aber das Ent-
eignungsdekret befiehlt nur die Ausweitung der Fabrik auf die Gesamtgesellschaft. Die Revolution
gegen die Kapitalisten ist eine Revolution fürs Kapital. Revolution im marxistisch-leninistischen
Sinne hat nie mehr bedeutet als eine Revolution für die Entfaltung des durch die bürgerlich-
egoistischen Interessen bloß verdeckten wahren Wesen des Staates als dem natürlichen Repräsen-
tanten einer vom Prinzip her als vernünftig angesehenen Planung. Und Revolution ist auch den
Leninisten heute nichts weiter als ein Aufstand gegen den Markt als dem schlechten Schein und
für die Fabrik als dem guten Wesen.
Das Wesen des Staates ist, wie das der Fabrik, die rational-abstrakte Verplanung des em-
pirisch Konkreten für etwas abstrakt Allgemeines. Nur weil die bourgeoisen Interessen den Plan-
Staat zu ihrem Vorteil monopolisieren, ihn zum Exekutivausschuß ihrer Herrschaft verfremden
und gegen die objektiven sozialen Bedürfnisse okkupiert halten, ergibt sich dem Leninisten die
Notwendigkeit zur Revolution. Was der Bolschewismus unter Ökonomie versteht, zeigt Lenins
Wort vom Kapitalisten als einem für den Fortgang der Produktion eigentlich überflüssigen Cou-
ponabschneider. Die Ökonomie ist den Leninisten nicht mehr als der nicht weiter hintergehbare
Ort der Aneignung von Natur. Ihrem Wesen nach sei Ökonomie Arbeit und daher Formung der

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Natur für die Befriedigung von Bedürfnissen. Im Kapitalismus werde das Wesen von der Oberflä-
che noch verdeckt. Solange noch der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und
privater Aneignung bestehe, würden die Güter zwar als Gebrauchswerte hergestellt, auf dem
Markt jedoch als Waren, als Tauschwerte gehandelt. Verantwortlich dafür, daß das Produkt sich
zur Ware verfremde, sei also nicht die Arbeit selbst, sondern der Rechtstitel des Kapitalisten auf
die Ergebnisse der Produktion.
Der Begriff von Macht als einem Ding, das man erwerben und besitzen kann wie jede an-
dere Ware auch, ist der politische Reflex der ökonomischen Verdinglichung, ist Reflex auf die
Wahrheit, daß die Dynamik des Kapitals nicht auf eine ,entfremdete’ Beziehung der Menschen
untereinander zu reduzieren ist, sondern als die Bewegungsform einer Sache mit eigener Geltung
und Geschichte begriffen werden muß. Verdinglichung erzeugt sich nicht in der Entgleisung eini-
ger ansonsten selbstbewußt arbeitender Subjekte, sondern systematisch im Tauschverkehr, also im
Gebrauch des Geldes als dem konkret-empirischen Ausdruck abstrakter Vergesellschaftung durch
den Wert. In der im Geld erscheinenden Widersprüchlichkeit – einerseits bloßes Mittel für einen
außer ihm existierenden Zweck (einem autonom formulierten Bedürfnis), andererseits und gleich-
zeitig aber auch sich selbst alleiniger Zweck (in seiner Bestimmung als Ort der Verwertung des
Werts) zu sein – zeigt sich das Wesen kapitalistischer Vergesellschaftung: Vergesellschaftung
findet statt, indem sie sich negiert. Jedes Subjekt entscheidet frei, also souverän über seine Einsät-
ze in Politik, Ökonomie und Kultur – heraus aber kommt nicht das Chaos divergierender Interes-
sen, sondern die Einheit der Gesellschaft als einer kapitalistischen. Der Zusammenhalt der bürger-
lichen Gesellschaft, ihre Synthesis zum begrifflich überhaupt erst faßbaren Ganzen verdankt sich
einer Verkehrung: Der Verkehrung individueller, je konkret nur zu bestimmender Gebrauchswerte
in eine allumfassende, abstrakte Einheitlichkeit.
Nur weil sie schon in der Fabrik als Waren produziert worden sind (von Produzenten, die
ihre empirische Konkretheit als Ware zu verkaufen und damit auch gezwungen sind, von sich
selbst zu abstrahieren), können die kapitalistisch erzeugten Güter auch als Waren überhaupt erst
getauscht werden. Wert bildet sich nicht erst auf dem Markt – die ,Kontrolle’ und auch die
,Abschaffung’ der Marktgesetze kann am kapitalistischen Charakter der Produktion kein Jota än-
dern. Der Markt ist lediglich ein möglicher Ort für die Realisation des Werts unter anderen – der
staatlich gesteuerte Plan ist solch ein anderer, möglicher Ort. Hinter dem Warencharakter einer
Sache also lauert nicht ihr wirklicher Gebrauchswert, sondern immer nur die Suche nach dem
optimalen Ort der Verwertung des in der Produktion erzeugten Werts. Dies ist und bleibt Grund
und Zweck aller kapitalistischen Produktionsweisen – und nicht die Brauchbarkeit einer Sache für
irgend jemanden.

4.

Das Einzelkapital subsumiert sich die Arbeitskraft des Arbeiters unmittelbar – je niedriger dessen
Lohn, umso größer der Gewinn für den Kapitalisten. Gegen die gesamtgesellschaftlichen Auswir-
kungen dieses Handelns ist das Einzelkapital bekanntlich blind. Um die durch das dauernde Chan-
gieren zwischen der Republik des Marktes und der Despotie der Fabrik resultierende Krisenhaftig-
keit der bürgerlichen Gesellschaft bewältigen zu können, muß – neben den sonstigen
,Gemeinschaftsaufgaben’: Polizei, Militär, Recht etc. – auch die Arbeitskraft gesamtgesellschaft-
lich verwaltet werden, d.h. an der Lohnarbeit muß auch noch das Moment ihrer formellen Freiheit
– das ist die Freiheit des Arbeiters, seine Arbeitskraft verkaufen oder verhungern zu müssen –
beseitigt werden. Durchgesetzt werden muß dies, wie sich historisch gezeigt hat, weniger gegen
den massiven Widerstand der organisierten Arbeiterklasse als vielmehr gegen den Widerstand der
einzelnen Kapitalisten. Obwohl die innere Konkurrenz gegen den Willen der Einzelkapitale poli-
tisch ausgeschaltet wird, bringt sich das Kapital, durch den Staat hindurch, auf diese Weise erst auf
seinen Begriff: Es wird zum alles durchdringenden Subjekt der gesellschaftlichen Reproduktion.
Mit der durch den Staat vermittelten totalen Subsumtion der Arbeitskraft transformiert sich die
kapitalistische Ökonomie der Sachen in die der Menschen. Das Ergebnis der Oktoberrevolution
ist, daß sich mit der Sowjetunion diese menschenökonomische Form des Kapitalismus erstmals
realisieren konnte.
Staatskapitalismus, wie er in der Sowjetunion funktioniert, bedeutet, daß die als Fabrik
organisierte Gesellschaft Konkurrenz nur als äußerliches Schicksal bzw. als Weltmarkt kennt. Im
Innern herrscht die Ökonomie des politischen Gebrauchswerts. Es ist eine stoffliche Ökonomie,
eine Ökonomie der Versorgung, der Zuteilung, der Bewirtschaftung und Rationierung nach Maß-
gabe dessen, was das politische Zentrum bedarf. Es ist zugleich eine Ökonomie des strukturellen
Mangels, eine im Kern statische, auf einfache Reproduktion bedachte Wirtschaft, die die Imperati-
ve der Weltmarktkonkurrenz vermittelt über die Souveränitätsnöte ihrer politischen Vorstände
erfährt. Dieser Staatskapitalismus hat, abseits aller nicht zu übersehenden Gegensätze, schließlich
wahrgemacht, wovon die vielfältigen sozial- und planstaatlichen Politiken des Westens immer

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geträumt haben: Die Verwandlung der Gesamtgesellschaft in ein einheitlich agierendes National-
kapital. Der Bolschewismus hat damit am bürgerlichen Staat nicht nur dessen Bestimmung, ideel-
ler Gesamtkapitalist zu sein, zur Geltung gebracht, sondern darüberhinaus eine weitere seiner Be-
stimmungen erstmals realisiert: Die, daß der Staat auch ideeller Gesamtproletarier werden muß,
wenn es dem Kapitalismus gelingen soll, die Arbeitskraft als Humankapital gesamtgesellschaftlich
bewirtschaften zu können.
Das ökonomische Modell des nominalsozialistischen Staatskapitalismus findet sich in der
deutschen Kriegswirtschaft von 1914-18. Die Sozialdemokraten aller Couleur waren fasziniert von
der Kraft des damaligen Deutschen Reiches, ,Bedarfswirtschaft’ treiben zu können. Sie waren
fasziniert von der sich hier ausweisenden Fähigkeit der Politik, den Primat über die Ökonomie zu
behaupten und gegen die Irrationalität des Marktes die Rationalität des Plans durchsetzen zu kön-
nen. Für Lenin war Sozialismus die Fortführung dieses staatskapitalistischen Monopols: „Der
Sozialismus ist nichts anderes als das staatskapitalistische Monopol, das zum Nutzen des ganzen
Volkes angewandt wird und insofern aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein.“ In „Staat
und Revolution“ führt Lenin 1917 aus:

„Alle Bürger werden zu Angestellten und Arbeitern eines das ganze Volk umfassenden Syndikats. Alles
handelt sich darum, daß sie gleichermaßen arbeiten, das Maß der Arbeit richtig beachten und den glei-
chen Lohn bekommen. Die ganze Gesellschaft wird ein Kontor und eine Fabrik mit gleicher Arbeit, und
gleicher Bezahlung sein.“

Die Macht soll verschwinden, indem sie auf die Gesellschaft zerstäubt wird. Zugleich aber ist vom
,Maß der Arbeit’ und vom daraus abzuleitenden gleichen, also gerechten Lohn die Rede. Damit ist
unmittelbar schon gesetzt, daß es, weil der Markt als Regulativ ausfällt, die Aufgabe einer geson-
derten Instanz zu sein hat, das Maß zu definieren, über das die eine Arbeit mit einer anderen ver-
glichen werden kann. Dieses Maß kann nicht von den Arbeitenden selber festgesetzt werden; wie
jede abstrakte Gerechtigkeit sich nur durch ein allgemeines ,Drittes’ (das Recht, den Richter, die
Moral) hindurch konkretisieren kann, so erfordert die staatskapitalistische Bestimmung des ge-
rechten Maßes der Arbeit ,Kompetenz’, ,sachliche Neutralität’, also: Bürokratie.
Die Bürokratie ersetzt nicht nur den Markt: Sie definiert offensichtlich den gerechten
Lohn auch gemäß derselben Kriterien, nach denen im kapitalistischen Westen der Markt das ,Maß
der Arbeit’ bestimmt. Einerseits also herrscht im Verhältnis Lohn und Leistung das kapitalistische
Prinzip des Tausches gleicher Werte und damit das Gesetz der Bezahlung nach Maßgabe der zur
Reproduktion der Arbeitskraft nötigen Lebensmittel. Andererseits ist die marktförmige Veröffent-
lichung des Wertgesetzes politisch untersagt und die Arbeiter gelten als Mitglieder einer Anstalt,
deren Existenzberechtigung sich in der Garantie der Subsistenz ihrer Insassen beweisen muß. Vor
diesem Grundwiderspruch bewegt sich die gesellschaftliche Reproduktion der sowjetischen Ge-
sellschaft seit ihrer Entstehung vor siebzig Jahren.

5.

Die Analyse der Ökonomie der Sowjetgesellschaft klärt hinreichend, daß hier nicht der Kapitalis-
mus erschüttert wurde, sondern nur die Verfügungsgewalt über den gesellschaftlichen Reichtum
von einer Klasse (den Kapitalisten) auf ein abstrakt-reales Gebilde übergegangen ist: die Partei.
Daß sich hier erfüllt hat, was von jeher der Wunschtraum aller Sozialdemokraten gewesen ist: die
Organisierung der Gesellschaft nach dem Muster sozialdemokratischer Vereinsmeierei.
So wie die Jakobiner die Ideale der Bourgeoisie nicht verraten haben, sondern sie nur
konsequenter als ihre Mitbürger verwirklichten, so stellt der Bolschewismus nicht die revolutionä-
re Überwindung des sozialdemokratischen Reformismus dar, sondern dessen aktivistische linke
Variante. Weder als Politiker und erst recht nicht als Philosoph hat Lenin den Marxismus auf das
Niveau einer Kritik des Kapitals im imperialistischen Zeitalter gebracht, sondern lediglich die
sozialdemokratische Ideologie der Vorkriegszeit konsequent zu Ende gedacht. Indem er sie wirk-
lich ernstnahm und ihre Philosophie zum System erhob, wuchs er über Kautsky und Bebel hinaus.
Und so konnte er zum Führer der ersten sozialdemokratischen Revolution in der Geschichte wer-
den.
Wie die Sozialdemokratie in der Nachfolge von Engels modelt der Marxismus-
Leninismus die bei Marx durchaus enthaltenen materialistischen Elemente einer fundamentalen
Kritik bürgerlicher Vergesellschaftung zu einer Wissenschaft um, die sich staatlich anwenden läßt.
Im Unterschied zur Tradition bürgerlicher Aufklärung ist das Ziel der gedanklichen Anstrengun-
gen des Marxismus-Leninismus aber nicht, die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit auszuloten
– ihr Ziel ist die Ableitung des konkret-individuellen Denkens aus möglichst einem einzigen all-
gemeinen Gesetz. Die Abweichung des Bewußtseins von seiner Bestimmung, objektive Wirklich-
keit fotografisch abzubilden, kann dementsprechend nur als Krankheit und böser Wille verstanden

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werden – womit bei Lenin schon die ideologische Struktur der späteren stalinistischen Agentenpa-
ranoia vorweggenommen wird. (Wessen diese Paranoia fähig ist, zeigte sich auf schaurig-
anschauliche Art etwa in den Moskauer Prozessen, z.B. anhand der Selbstbezichtigungen Bucha-
rins.) Das Prinzip des leninistischen, wissenschaftlichen Materialismus ist dasselbe wie das des
wissenschaftlichen Denkens überhaupt: Seine erkenntnistheoretisch äußerst problematischen Prä-
missen werden praktisch gelöst (wie schon weiland Alexander mit dem gordischen Knoten ver-
fuhr) – und man meint dann naiverweise, die Probleme ebenfalls vom Tisch zu haben.
Von der Erkenntnistheorie über die Theorie der Entstehung von Klassenbewußtsein, von
der Parteitheorie bis zur Organisationstheorie: Die erkenntnistheoretischen Dilemmata, in die sich
der Leninismus verwickelte, waren auf der Basis der vulgärmaterialistischen Ideologie des geisti-
gen Vaters aller Bolschewiki (Plechanov) nicht zu lösen. Sie konnten nur mit einem Sprung aus
den sich im Kreise drehenden Zirkelschlüssen heraus ,gelöst’, d.h., sie konnten nur praktisch über-
wunden werden – wobei zu beachten ist, daß der wissenschaftliche Materialismus in seinem Ablei-
tungswahn unerklärliche historische oder systemtranszendierende Sprünge gar nicht kennt: Denn
alles Geschehen hat gefälligst die Wirkung einer Ursache zu sein. Das Resultat dieser gegen die
eigene Theorie erzwungenen Sprünge war zwar, daß durch sie der für jede Revolution notwendige
Enthusiasmus, anders als von den Menschewiki, nicht behindert wurde; ein Enthusiasmus, der nur
entstehen kann, wo nach reflexiver Konsistenz einfach nicht mehr gefragt, sondern, schlicht und
einfach, nur noch gehandelt wird. Aber Resultat dieser Revolution war nicht das Verschwinden der
ursprünglichen Probleme – vor allem auch das heute immer noch zentrale Problem, die Fortexi-
stenz kapitalistischer Barbarei, ist nicht beseitigt worden. Das Resultat des Handelns der Bolsche-
wiki war ebenfalls nicht, trotz erfolgreich durchgeführter Revolution – die im übrigen einen sol-
chen, vom Leninismus gar nicht erklärbaren Sprung darstellt – die Revolutionierung der kapitali-
stischen Reproduktionsverhältnisse: Das Resultat war die Konzentrierung und Intensivierung der
Macht hin auf ein einheitliches Zentrum – wenn diese Macht sich auch, anders als im Zarismus,
nicht auf eine merkantilistische, vorbürgerliche, sondern auf eine kapitalistisch, planstaatlich ver-
faßte Effizienz ausrichtete.
Der Bolschewismus begreift seine Probleme, wie die restliche Sozialdemokratie auch,
immer nur als Probleme richtiger Vermittlung: Die Partei soll zwischen empirischem und notwen-
digem Bewußtsein ,vermitteln’, an beidem als Brücke teilhaben und zugleich in ihrer Synthese
aufheben. Diese Vulgärdialektik kann das Problem der Entstehung von Klassenbewußtsein nur als
Beantwortung der Organisationsfrage begreifen. Von unten kommende Empirie und von oben
kommende Transzendenz sollen sich in der Partei vereinheitlichen. Es ist der demokratische Zen-
tralismus, der sich hier als die Technik anbietet, den Pluralismus der Willensbildung von unten mit
der notwendigen Einheit der Entscheidung von oben zu ‚vermitteln’. Der Marxismus-Leninismus
erhebt somit zur spezifisch sozialistischen Form von Politik, was sich, wenn auch viel effizienter,
in der Gestalt des Parlamentarismus längst vorfindet: Die Übersetzung der eigensüchtigen Interes-
sen des Privatmannes in die gemeinnützige Orientierung des Staatsbürgers. Aber wie dem westli-
chen Parlamentarismus bleibt auch seiner östlichen Variante das Geheimnis dieser Übersetzung
verschlossen. Und so bleibt nur – auch wenn dies dem marxistisch-leninistischen Materialismus
widerspricht, denn dieser müßte hier eine subjektiv nicht beeinflußbare Gesetzlichkeit am Werke
sehen – Vermittlung als Resultat von Machtkämpfen unter Fraktionen bzw. Parteiführern, als
Konkurrenz unter an sich gleichberechtigten Theorien oder als die Verifikation des darwinisti-
schen Grundsatzes zu begreifen, daß schließlich doch nur der Stärkere siegt – und nicht, wie der
Geschichtsdeterminismus unterstellt, das kommunistische Paradies zwangsläufiges Resultat der
Menschheitsgeschichte ist. Es ist dieser, in jedem extremen Objektivismus immer schon mit ange-
legte extreme Subjektivismus, in dem sich die politischen Individuen auch im real existierenden
Sozialismus als die Charaktermasken des Souveräns zu bewähren haben. Lenins berühmtes
,Testament’, in dem er vor der Beförderung Stalins zum Generalsekretär warnte, ist nicht nur ein
Dokument seiner prophetischen Fähigkeiten. Es dokumentiert darüber hinaus, daß es auch Lenin
um nichts anderes ging als um die Beantwortung der Frage, ob bestimmte Individuen integer ge-
nug sind, ihnen die Ausübung des objektiven Zwangscharakter der Souveränität auch anvertrauen
zu dürfen. Moralisiert und zum Willensverhältnis zurechtgestutzt, wird Politik wie im bürgerlichen
Zustand erst zum Konsens-, und dann zum Gewaltproblem. Die Form Politik dagegen ist den Bol-
schewiki nie ein Problem gewesen.

6.

Die einzige kommunistische Möglichkeit der Vermittlung von Ökonomie und Politik, die einzige
Möglichkeit also, zu einer Synthese kommen zu können, die das empirische Klassenbewußtsein
mit der naturgemäß nur abstrakt gegebenen Notwendigkeit vermittelt, die aktuell existierenden
Formen von Vergesellschaftung überwinden zu müssen, ist die Sprengung ihres Vermittelt-Seins.
Der Dualismus von Staat und Gesellschaft kann nicht durch die Ekstase der Politik aufgehoben

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werden, sondern einzig durch eine neue Form der gesellschaftlichen Synthese, die die Wertform
als die real gegebene Vermittlung aller Dualismen aufsprengt und gleichzeitig in der Lage ist, eine
neue, eine nicht auf Ausbeutung und Verdinglichung beruhende Vergesellschaftung zu garantie-
ren.
Es versteht sich, daß der Bolschewismus mit den bisher praktizierten Formen solcher Re-
volutionierung der gegebenen gesellschaftlichen Verkehrsformen nichts anfangen kann. Die Okto-
berrevolution aber war, wie zum ersten Mal die Pariser Kommune, ein Ort, in dem sich die Räte
als Selbstorganisation der Produzenten herausbildeten, ein Ort also für die Verwirklichung einer
gesellschaftlichen Verkehrsform, in der der Gegensatz von Organisation und Spontaneität, von
Theorie und Praxis, von Möglichkeit und Notwendigkeit in einer neuen Synthesis aufgehoben
wurde. Die Räte traten auch in der Oktoberrevolution als die Überwindung der Leninschen Zirkel
auf – als Sabotage der Gegensätze, die der Bolschewismus nur formell auszugleichen bestrebt war.
In ihrem Verhalten zu den Räten manifestierte sich das von vornherein bloß instrumentelle Ver-
hältnis der Bolschewiki gegenüber der sozialen Revolution.
Man mag die Frage, ob Trotzki ein anderes Verhältnis zu den Räten hatte als Lenin, die-
ser ein wiederum anderes als Stalin, etc. pp., wie auch die Frage, ob die Liquidierung der Räte
durch die Bolschewiki (einschließlich Radek und Trotzki) ein zwar moralisch verwerflicher, aber
politisch unausweichlicher Schritt, oder aber die notwendige Konsequenz aus einer falschen politi-
schen Theorie war, weiterhin kontrovers diskutieren – wenn dies in dem Bewußtsein geschieht,
daß diese Kontroverse den Rahmen der gegebenen Souveränität schon von der Voraussetzung her
nicht sprengen kann. So wichtig es ist, die Entscheidungssituationen und gegebenen Handlungs-
spielräume – die nicht nur von der politisch-militärischen Situation, sondern ebensogut auch von
dem ideologischen Sozialdemokratismus der Bolschewiki begrenzt waren – zu rekonstruieren: Die
Beschäftigung mit der Oktoberrevolution darf in der fleißigen Aneinanderreihung von allerlei
Ereignissen nicht aufgehen. An ihr wäre vielmehr zu lernen, daß, wer A sagt, eben auch B zu wol-
len hat, daß, wer den Leninismus für eine revolutionäre Theorie hält (und nicht für die konsequen-
tere Variante einer sozialdemokratischen Politik in einer gegebenen revolutionären Situation) ge-
gen den Stalinismus (außer moralischen Unverbindlichkeiten) keine Argumente vorzubringen hat.
Die Frage allerdings, ob es immer so kommen muß, daß die Revolutionäre eines nicht allzu fernen
Tages ihre eigene Revolution zu Grabe zu tragen haben, ist eine Frage, die in die persönliche Ver-
antwortung jedes einzelnen fällt, der von Revolution auch heute noch redet. An der Oktoberrevolu-
tion kann und muß diskutiert werden, ob es Situationen geben kann, in denen sich Momente der
Freiheit zeigen, Momente also, die sich nicht auf gegebene Umstände reduzieren lassen.
Notwendig ist auf jeden Fall der Bruch mit dem Marxismus-Leninismus, ein Bruch, der
nicht bloß auf einem Wechsel in den Moden oder auf schlichtem Vergessen beruhen darf, sondern
durch eine Kritik herbeizuführen ist, die trotz der aktuellen Unmöglichkeit der Revolution ihrer
Notwendigkeit nicht abschwört. Hinzu kommen muß der Bruch mit allen Vorstellungen im Den-
ken der sozialen Opposition, als sei die Planwirtschaft die Grundlage kommunistischer Produkti-
onsweise – wie es für die meisten heutigen Anarchisten noch einen Bruch mit den althergebrach-
ten Inhalten ihres Denkens erfordern dürfte, die Vorstellung aufzugeben, als sei der Kommunis-
mus nichts weiter als freie Marktwirtschaft ohne Staat. Aufzugeben wäre endlich die Phrase der
Einheit von Theorie und Praxis – denn in ihr lebt bloß die maostalinistische Vergangenheit der
heutigen linken Intelligenz fort, eine Vergangenheit, die sich bruchlos in das Expertentum der
Grünen Partei hat übersetzen lassen. Die Phrase von der durch die Theorie angeleiteten Praxis lebt,
heute wie damals, vom verblendeten Gedanken, es ließe sich ein wahrer Begriff einer an sich ne-
gativen Sache formulieren. Darüber verkommt der Begriff zur bloßen Widerspiegelung der Sache
selbst und die Praxis wird, ob sie es will oder nicht, zum Schwur aufs Kapital. Dieser Linken ist es
seit 68 nie um etwas anderes gegangen als um die Aufrechterhaltung ihrer durch die gegebene
gesellschaftliche Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit garantierten Privilegien. Dagegen
bleibt die Oktoberrevolution unsere Angelegenheit: als unerledigter, in den Räten sich ausdrük-
kender Vorschein einer Einheit des Vielen ohne Zwang.

7.

Die Oktoberrevolution bleibt unsere Angelegenheit um so mehr, als hier im Westen der russische
Staatskapitalismus immer wieder dazu herhalten muß, die These zu belegen, die bürgerliche Ge-
sellschaft sei zwar zugegebenermaßen eine ziemlich schlechte, aber doch, wie sich historisch vor
allem am Stalinismus zeige, die Beste aller realisierbaren Gesellschaftsformen – denn der Mensch
sei von Natur aus schwach und bestechlich und brauche nun einmal den Souverän, der ihm sagt,
wo er lang zu gehen hat. Und der demokratische Parlamentarismus sei die Staatsform, in der den
Individuen die weitestgehenden Souveränitätsrechte zugestanden würden. Mehr sei schon aus
anthropologischen Gründen unmöglich.
Die Gegenüberstellung – Demokratie hier, Totalitarismus dort – beweist dagegen nur er-

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neut, wie wenig der Bürger auch noch nach der Erfahrung des Faschismus imstande ist, zu begrei-
fen, daß der immergleiche soziale Inhalt seiner Herrschaft verschiedene Formen erzeugt – neben
der demokratischen die bonapartistische, die faschistische und eben auch die staatskapitalistische.
Der westliche Bürger klagt am Sowjetsystem an, was, wie der Faschismus, eine logische Möglich-
keit der Gestaltung seiner sozialen Beziehungen unter anderen ist. An der Sowjetunion hat er aus-
zusetzen, daß die Greuel der ursprünglichen Akkumulation, die terroristische Einübung der Ar-
beitsmoral, die Disziplinierungen des Denkens und Fühlens der Individuen, die Vertreibung der
Bauern, der Entzug ihrer Lebensgrundlagen und ihre gleichzeitige Zusammenpferchung zum Indu-
strieproletariat dort im zivilisierten 20. Jahrhundert und als bewußtes politisches Programm durch-
geführt wurde. Auszusetzen hat er, was geschah, um ein Nationalkapital zu erzeugen, das mit dem
seinen konkurrieren kann, und was mit Methoden geschah, die den Bürgern hier zumindest aus
ihrer eigenen Geschichte her geläufig sein sollten. Und nicht nur historisch: Im restlichen Dreivier-
tel der Welt werden diese Methoden auch heute noch anschaulich angewandt und sind von keinem
anderem als den Bürgern hier im Westen zu verantworten. Es ist nicht nur unredlich, sondern
schlicht Heuchelei, wenn dieser Bürger sich für unschuldig erklärt, weil sich bei uns die soziale
Synthesis spontan als stummer Zwang der Verhältnisse Geltung verschafft – während im Staatska-
pitalismus es der ausdrücklichen Anordnung bedarf, um die Einheitlichkeit der Gesellschaft zu
reproduzieren und damit, anders als im Westen, auch die wirklich wichtigen politischen Entschei-
dungen – und damit die Schuldzuweisungen – personifizierbar bleiben.

8.

Die nun siebzigjährige Debatte in der Sowjetunion um die angemessenen materiellen Stimuli für
individuell erbrachte Leistungen zeigt, worin das Dilemma der staatskapitalistischen Ökonomie
liegt: Der die Marktmechanismen ersetzende Anreiz für eine qualitativ und quantitativ optimale
Warenproduktion ist noch nicht gefunden. Dies zeigt sich nicht nur in der auch im Osten so oft
beklagten Unfähigkeit der Ökonomie zu technologischer Innovation auf anderen Gebieten als dem
militärischem: Jede Produktion lebt von der informellen Kooperation der Produzenten, lebt davon,
daß diese Produzenten mehr wissen, als sie zur Verrichtung ihrer Arbeit unmittelbar wissen müs-
sen. Die immer umfassender und detaillierter werdenden Planvorgaben wollen sich dieses Wissens
bemächtigen, es für die Produktion unmittelbar nutzen und ihm auf diese Weise seine für die Bü-
rokratien gefährliche Dynamik nehmen. Was auf dem kapitalistischen Markt automatisch ge-
schieht – insbesondere die Definition dessen, was als Gebrauchswert zu gelten hat – das bedarf im
Osten eines Kommandos. Aber je konkreter diese Kommandos werden, je mehr bedürfen sie ge-
nau des nicht reglementierbaren Wissens, das sie sich eigentlich gefügig machen wollten: Denn,
würden alle Anordnungen wortgetreu befolgt, der Betrieb wäre sofort lahmgelegt. Die planwirt-
schaftlichen Kommandos reproduzieren den Teufel, der im Detail steckt. Und so wird man noch
eine Zeitlang weiter über Autos mit Panzerplattenkarosserie, Kühlschränke im Familiengrabformat
und Klos aus Chromstahl spotten können – dies nicht nur hier, sondern vor allem im Osten selbst.
Als (von vornherein aussichtslose) Strategie, diese Mißwirtschaft in den Griff zu bekommen, wird
den Bürokraten auch künftig nichts anderes einfallen als weiter in jedem Betrieb einen Helden der
Arbeit zu küren.
Im Osten noch mehr als im Westen muß, was der Mechanismus der Ökonomie aus sich
selbst heraus nicht zu leisten vermag, durch die außerökonomische politische Gewalt ausgeglichen
werden. Die Verwaltung geht daher periodisch von der nüchternen, durch die Sache gebotenen
Anordnung zur Zwangsmaßnahme über. Als herrschende Kaste rekrutiert sie sich im Osten vor
allem durch den Nachweis des angehenden Bürokraten, daß er in seinem Bereich erfolgreich an
der Subsumtion der sozialen Beziehungen gearbeitet hat. Diese Bürokratie betätigt sich im ständi-
gen Ausbau des Staatsapparates als ihres kollektiven Hebels zur Sicherung ihrer Macht. Die Dia-
lektik dieses Staates hat Stalin 1930 so zusammengefaßt: „Höchste Entwicklung der Staatsmacht
zur Vorbereitung der Bedingungen für das Absterben der Staatsmacht.“ Der Staatskapitalismus ist
bestimmt durch die Politisierung aller sozialen Beziehungen und durch die Aufsaugung der Ge-
sellschaft durch die Bürokratie – es erfordert nicht viel prophetische Gabe, vorauszusehen, daß wir
auf den Zeitpunkt, an dem der von Stalin prognostizierte Umschlag des Staates in seine eigene
Destruktion noch lange werden warten dürfen. Mit dem berühmten ,Umschlag von Quantität in
Qualität’ war es noch nie weit her; weder in der Philosophie des dialektischen Materialismus noch
in seiner Politik.
Zu diesem Staatskapitalismus gibt es, so scheint es, seit Gorbatschow eine Alternative.
Worin diese Alternative besteht, hat er im Januar 1987 ausgeführt:

„Die Vorurteile gegenüber der Ware-Geld-Beziehungen und der Wirkung des Wertgesetzes, die oftmals
auch dem Sozialismus als wesensfremd hingestellt wurden, führten zu willkürlichen Methoden in der
Wirtschaft, zur Unterschätzung der wirtschaftlichen Rechnungsführung, zu ‚Gleichmacherei’ in der Ent-

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lohnung. Sie verursachten subjektivistisches Herangehen in der Preisbildung, Störungen der Geldzirkula-
tion sowie Vernachlässigung der Regelung von Angebot und Nachfrage.“

Der Versuch des Staatskapitalismus, sich selbst auf einen keynesianistischen Planstaat zu reduzie-
ren und einzig durch den Gebrauch von Geld und Recht das zur Reproduktion der Macht erforder-
liche ökonomische Resultat zu erwirtschaften, dürfte seine Grenze freilich darin finden, daß es
unter der Herrschaft des losgelassenen Wertgesetzes kein Abonnement bestimmter Personen oder
Parteien auf die Macht geben kann. Kann es wirklich, siebzig Jahre nach der bewaffneten Revolu-
tion für den Staatskapitalismus, in der Sowjetunion eine Bewegung hin zum bürgerlichen Parla-
mentarismus geben? Und wenn, was wäre damit für die Menschen dort gewonnen? Und was be-
deutete dies für das Ziel der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise überhaupt?

***

Statt Spätkapitalismus Postmoderne: Indem sie der Frage nach einer Gesellschaft im kommunisti-
schen Jenseits des Kapitals den Laufpaß gab, hat sich auch das, was so um das Jahr 1980 herum
von der ehemals Neuen Linken noch übrig geblieben war, von der Geschichte verabschiedet. Weil
ihr der Name nicht mehr paßte, der zu sehr nach Archipel Gulag roch, hat sie zugleich die Sache
selbst mit fallengelassen. Wie verquer auch immer die jahrelang fanatisch geführte Diskussion um
den ,Charakter der Sowjetunion’ war – in der Frage, ob in der Sowjetunion der Sozialismus real
existiert, ob die Sowjetunion als Übergangsgesellschaft, als bürokratisch deformierter Arbeiterstaat
oder als sozialimperialistisches System aufzufassen sei, zeigte sich doch immer auch die Einsicht
in die Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft als der, in der das kapitalistisch immer Gleiche
ewig wiederkehrt. An der Kritik der Sowjetunion wurde der unbedingte Dissens mit dem ,freien
Westen’ unmittelbar deutlich gemacht. Im Nachweis des Charakters des Marxismus-Leninismus
als einer Herrschafts- und Legitimationswissenschaft fand das Bedürfnis nach revolutionärer Kri-
tik am Kapital seinen Ausdruck. Seitdem an der Sowjetunion nur noch die Menschenrechte inter-
essieren, wurde auch im Westen der Friede mit dem Staat geschlossen, und seit Gorbatschows
neuen Rüstungsprogrammen entwickeln weite Teile der ehemaligen Friedensbewegung ein gera-
dezu libidinöses Verhältnis zum sowjetischen Staat.
Die Neue Linke hat die Bürgerweisheit wahrgemacht, daß, wer mit zwanzig nicht Kom-
munist ist, kein Herz hat, wer es aber mit dreißig Jahren immer noch ist, keinen Verstand besitzt.
Nach der Wendung von der revolutionären zur Alternativbewegung wußte sie der antikommunisti-
schen Agitation mit dem falschen Beispiel Sowjetunion nichts mehr entgegenzusetzen. Wer zuvor
an der konkreten Utopie Ernst Blochs und an der notorischen Hofferei aus blinder Zuversicht sich
nicht satthören konnte, der nahm plötzlich Abschied, als man ihm vom gleichen Autor den Satz
„Ubi Lenin, ibi Jerusalem“ unter die Nase rieb. Wer mit Marx auf keinen grünen Zweig kam, der
avancierte durch Marx-Töterei: „Köchin und Menschenfresser“. Der erschwindelte Beweis, Marx
sei schuld am Gulag, diente nur dazu, die Köchin bis zum St. Nimmerleinstag von der Leitung der
allgemeinen Angelegenheit auszuschließen. Die Postmoderne, das ist das aufgeregte Einverständ-
nis damit, wie der Spätkapitalismus tagtäglich aufs Neue die Möglichkeit der Freiheit untergräbt.

Oktober 1987

© ça ira-verlag 1990
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Initiative Sozialistisches Forum


Abschaffung des Staates
Thesen zum Verhältnis von anarchistischer und marxistischer Staatskritik

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analyse und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 87 – 104

1.

Marx beweist nichts gegen Bakunin, Kropotkin widerlegt nicht Lenin, Engels ist kein Argument
gegen Proudhon und der spanische Anarchismus der Jahre 1936/37 ist nicht die Alternative zur
Russischen Revolution von 1917.

2.

Für eine Staatskritik in revolutionärer Absicht sind die anarchistischen wie marxistischen Theorien
über den Staat gleichermaßen unerheblich und belanglos, d.h. nur Gegenstände von historischem
Interesse. Das Bestreben, Marx gegen Bakunin auszuspielen, beweist nur, daß der Kritiker noch
unter dem Niveau der Verhältnisse agiert, die er doch überwinden möchte. Das Beharren auf Ba-
kunin als Alternative zum autoritären Sozialismus’ ist ein Kapitel revolutionärer Romantik.

3.

Die Linke denkt klassisch die Gesellschaft in der Perspektive von ökonomischer Krise und Zu-
sammenbruch. Sie denkt die Ökonomie als das zentrale Verhältnis der Ausbeutung, das den Staat
strukturiert und aus dem er sich ,ableitet’. Der Staat ist ein leerer, wesenloser Effekt der Produkti-
on. Als wesenloser Staat gilt er – wäre er nur demokratischer Staat, also dem ,Einfluß’ der herr-
schenden Klassen entzogen – als das neutrale Instrument krisenfreier Planung und Verwaltung der
Produktion. Die ,linke Utopie’ träumt den Staat als den Ort bewußter Selbstorganisation der Ge-
sellschaft, als Verwaltung ohne Herrschaft.

4.

Ebenso klassisch betrachtet die Rechte die Gesellschaft in der Perspektive von politischer Krise
und Staatsstreich. Sie denkt die Ökonomie als das an sich selbst neutrale Mittel der Bedarfsdek-
kung, die, wäre sie nur entformalisiert und entpolitisiert, den Staat auf das reine Mittel der Garan-
tie gewaltfreier Tauschakte auf dem Markt reduzieren würde. Die Ökonomie, wäre sie wahrhaft
nach ihrem Wesen, der freien Konkurrenz, organisiert, würde sich vom Staat als dem Ort des juri-
stischen Privilegs emanzipieren. Die ,rechte Utopie’ träumt die Gesellschaft ohne Staat.

5.

,Die Linke’ und ,die Rechte’ sind das Spiegelspiel der Politik. Es ist die objektive Paradoxie der
bürgerlichen Gesellschaft, daß die linke Vorstellung vom politischen Prozeß – Addition der staats-
bürgerlichen Einzelwillen zum Inhalt der Souveränität im Akt demokratischer Wahl – exakt nega-
tiv und daher genau komplementär zur rechten Vorstellung vom ökonomischen Prozeß sich ver-
hält: Addition der individuellen Nachfrage auf dem Markt zum Bestimmungsgrund der Produkti-
on.

6.

Das Spiegelspiel der Politik ist der Prozeß der Verschmelzung von Legalität und Legitimität zur
Souveränität. Der Bourgeois tritt an gegen den Citoyen und der Citoyen strebt danach, den egoisti-
schen Bürger der Konkurrenz in sich aufzuheben und zu vernichten. In diesem Verhältnis erzeugt
jeder beständig sein Gegenteil. Dieses Verhältnis selbst ist die Reproduktion der Souveränität.

7.

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Ökonomie und Politik, Gesellschaft und Staat, Ausbeutung und Autorität sind die extremen Ab-
strakta dieses Spiegelspiels, der Versuch, das eine aus dem anderen ,abzuleiten’ und auf den
,Ursprung’ zu reduzieren. Staatskritik in revolutionärer Absicht hätte zuallererst die Bedingung der
Möglichkeit dessen zu denken, über den gleichen Gegenstand – Staat – das eine und das andere
oder das eine gegen das andere auszusagen. Wie kann etwas gedacht werden, das sich der logi-
schen Regel des ,ausgeschlossenen Dritten’ nicht fügt?

8.

Die historischen Gestalten anarchistischer und marxistischer Staatstheorie haben das bürgerliche
Spiegelspiel der Politik in den Reihen der Opposition nur wiederholt und damit die Hegemonie der
objektiven bürgerlichen Denkformen noch über ihre Opposition bewiesen.

9.

Der Anarchismus ist seiner historischen Gestalt nach der ins äußerste getriebene Liberalismus, der
Versuch, den Bourgeois vom Citoyen zu befreien. Er ist der Radikal-Liberalismus der Bürger,
Kleinbauern und Handwerker, die ihre Produktion ohne Lohnarbeit organisieren und den Staat nur
als Kommando, Befehl und allgemeine Steuererhebung ohne Nutzen erfahren. Die .Gesellschaft
ohne Staat’ ist der ins Politische gewendete Traum des nicht-kapitalistischen Privateigentums, der
Logik des Privateigentums zu entkommen ohne dieses auch aufzuheben.

Erläuterung

Der Staat erscheint gegenüber der Gesellschaft als das reine Kommando und die bloße anordnende
Autorität in den Gesellschaften ohne kapitalistische Vergesellschaftung und ohne allgemeines
Wahlrecht. Es ist kein Zufall, daß der konsequente Anarchismus eines Bakunin oder Kropotkin im
zaristischen Rußland entstand. Hier bestand keine Balance einer gesellschaftlich erzeugten Hege-
monie, eines Konsenses von unten mit den Imperativen der Staatsgewalt. Daß die Gesellschafts-
mitglieder den Staat wollen müssen, war einer Gesellschaft, deren Mitglieder nicht Bürger waren,
sondern Objekte der Feudalgewalt, undenkbar – oder die reine, anarchistische Utopie.
Kropotkin setzte folgerichtig der absolutistischen Willkür die Utopie der freien Vereinba-
rung entgegen. Er wies nach, daß die Regierung im gesellschaftlichen Leben nur die gesellschaft-
liche Spontaneität einengt und hemmt. Das Kommando ist der Tod der Initiative. In der „Erobe-
rung des Brotes“ schreibt er:

„Die Menschheit sucht sich von jeder Art Herrschaft zu befreien und ihre Organisationsbedürfnisse durch
freie Vereinbarung zwischen den Individuen und Gruppen mit gleichen Zielen zu befriedigen. Unabhän-
gigkeit der kleinsten territorialen Einheit wird ein dringendes Bedürfnis; gemeinsame Übereinkunft er-
setzt das Gesetz und regelt, über die Grenzen hinweg, die partikularen Interessen in Hinsicht auf ein ge-
meinsames Ziel. Alles, was früher als Funktion der Regierung angesehen wurde, ist heute in Frage ge-
stellt: man arrangiert sich leichter und besser ohne deren Intervention. (...) Wir gelangen zu dem Schluß,
daß die Menschheit dahin tendiert, die Tätigkeit der Regierungen auf Null zu reduzieren, d.h. den Staat,
diese Personifikation der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung und des Monopols, abzuschaffen.“

Er setzt dagegen die „aus freier Vereinbarung und privater Initiative hervorgegangene, völlig spon-
tane Bewegung“.
Aber hinter dem Ideal der Mündigkeit ist unschwer die bürgerliche Autonomie, seinen
Willen nur im gleichen Maße abzutreten, als ein Vertrag angemessenen Nutzen garantiert, zu er-
kennen. Kropotkins Beispiele der spontanen Initiative sind ebenso rührend wie lächerlich: Beispie-
le freier Vereinbarung sind der Weltpostverein, die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft, die Ei-
senbahnen und schließlich das ökonomische Kartellwesen! Eben jene vertragsförmigen Organisa-
tionen, in denen die bürgerliche Gesellschaft sich selbst organisiert, in denen sie ihren Willen be-
kundet, vom Staat beherrscht zu werden, sind Kropotkin die menschliche, anthropologische Uto-
pie.
Überhaupt vermag es der historische Anarchismus nicht, ohne positive Anthropologie
auszukommen. Der Mensch ist seiner Natur nach das freie, denkende, aufrührerische Wesen. Ba-
kunin, in Bezug auf die ,freie Vereinbarung’ weniger naiv als Kropotkin, vermag daher die Revo-
lution nur in der Moral zu begründen, in der existentiellen Lage des ,Revolté’. Freiheit entsteht aus
Entscheidung, aus dem ,acte gratuit’ der Verweigerung, die nach ihrem Nutzen nicht fragt und
durch die Tat für ihren Willen Zeugnis ablegt.1 Aber auch diese existentialistische Begründung der

1
Vgl. Peter Heintz, Anarchismus und Gegenwart, Berlin 3.Aufl. 1985, S.18f. und 58f.

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Abschaffung des Staates vermag einen logischen Zusammenhang von Gesellschaft und Staat nicht
zu denken. Staat erscheint gänzlich als das, was er auch ist; das Spiegelspiel geht weiter:

„Es ist offenbar, daß alle sog. allgemeinen Interessen der Gesellschaft, die der Staat angeblich vertritt, ei-
ne Abstraktion, eine Fiktion bilden und der Staat gleichsam eine große Schlächterei und ein ungeheurer
Friedhof ist’’,

schreibt Bakunin 1871 in dem Aufsatz „Die Kommune von Paris und der Staatsbegriff“. Und wei-
ter: Das gesellschaftliche Elend gründet „im Prinzip und in der Tatsache einer jeden Regierung“.
Der Anarchismus organisiert eine „antipolitische Macht“ zur radikalen „Verneinung des Staates“,
zur Abschaffung „jener ganz formellen, vom Staat aufgezwungenen, zugemessenen und reglemen-
tierten Freiheit“.
Ein Zusammenhang, aus dem die Mitglieder einer Gesellschaft im vernünftigen Verfolg
ihrer ökonomischen Interessen die staatliche Autorität als die Ergänzung und Bedingung ihres
Interesses wollen müssen, ist dem Anarchismus bis heute undenkbar geblieben. Auch neuere Ver-
suche, Anarchismus als Praxis zur Abschaffung des Staates zu denken, verbleiben im traditionel-
len Schema. Zeugnis dafür ist das „Jahrbuch für gewaltfreie und libertäre Aktion, Politik und Kul-
tur. Wege des Ungehorsams“.
Die etwa von S. Münster in seinem Aufsatz „Exterminismus und Revolution“ versuchte
Wiederbeatmung eines „bakunistischen Begriffs von Freiheit“ (S. 23) klingt nicht zufällig nach
dem bürgerlichen Ahnherren des Vertragsbegriffes, I. Kant. Münster schreibt, der bakunistische
Freiheitsbegriff bestünde in der

„Forderung des Sittengesetzes, so zu handeln, daß der Handelnde in seine Handlung auch dann einwilli-
gen könnte, wenn er die Interessen derer abwägt, die von seiner Handlung betroffen sind.“

Letztlich bleibt nur die unbegründete Hoffnung, die Verhältnisse des 19Jahrhunderts wiederkehren
zu sehen: In den ,Neuen Sozialen Bewegungen’ deute sich an, daß

„der gemeinsame Bezugspunkt zwischen Staat und Bürger brüchig wird. Auf einem neuen historischen
Niveau wiederholt sich so etwas, was dem historischen Anarchismus die Kraft gegeben hat: Der Staat
war äußerlich, Zwang, er hatte in der bäuerlichen, handwerklichen Produktion keine Funktion, er kam
von außen und nahm mit Gewalt Rekruten und Steuern, er schützte die, die einen Eigentumstitel hatten,
während die Arbeit ohne sie gemacht wurde.“ (S. 35)

Nicht zufällig schreibt Münster den ,Neuen Sozialen Bewegungen’ zu, was nach Ansicht der RAF
Ergebnis des Terrors ist. Über die Schleyer-Entführung 1977 heißt es in deren Erklärung „Guerilla,
antiimperialistische Front und Widerstand“ (1983), der Staat sei gezwungen worden,

„zum reinen starken Staat zu werden, jede auch nur kritische Geste niederzuwalzen und sich als unent-
rinnbarer Apparat der Gesellschaft bis in die feinsten Verästelungen gegenüberzustellen.“2

Auch wenn man nicht, wie das bürgerliche Vorurteil, Anarchismus und Terror für zwei Seiten der
gleichen Medaille hält, so ist doch die Übereinstimmung frappant: Als das Subjekt von Opposition
und Revolution kann nur, wie schon bei Kropotkin und Bakunin, „die Gesellschaft“, „das Volk“
oder gar, in äußerster Konkretion, „die Menschen“ benannt werden.
Der dem Anarchismus konstitutive Ausfall einer Klassenanalyse der bürgerlichen Gesell-
schaft rächt sich. Es wird systematisch unmöglich, den Begriff des Staates zu entwickeln. Dies
zeigt instruktiv der Aufsatz von Bernd Ulrich/Stefan Saathoff über „Ziviler Ungehorsam – ein
deutsches Trauma“ im gleichen Band der „Wege des Ungehorsams“. Auf dem Wege immanenter
Kritik der bürgerlichen Demokratietheorie versuchen sie, „einen Standpunkt außerhalb der Theorie
bürgerlicher Demokratie“ (S. 100) aufzufinden. Sie zeigen auf, daß es letztlich keinen demokratie-
theoretisch begründbaren Widerstand gegen die im formellen Sinne legal ausgeübte Staatsgewalt
geben kann. Aber gleichwohl muß sich der notwendige Widerstand auf ein allgemein als vernünf-
tig anerkanntes Prinzip berufen können, soll nicht reine Willkür das Resultat der Kritik sein. Als
Geltungsbedingung der Mehrheitsregel formell legaler Entscheidung bezeichnen sie die ‚Reversi-
bilität’: Soll das Prinzip der Volkssouveränität gelten, dann ist das Handeln einer legal gewählten
Regierung auf jene Entscheidungen beschränkt, die von der nächsten Regierung rückgängig ge-
macht werden können. Daher sind Entscheidungen über Kernenergie und Atomkrieg undemokrati-
sche Entscheidungen, gegen die es das Widerstandsrecht gibt.
Sie schreiben: „die Vernichtung eines Volkes ist der Extremfall der Vernichtung seiner
Rechte“ (S. 112) und glauben, so ein materielles Kriterium der Demokratie gegen die Formalde-

2
Texte der RAF, S. 600.

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mokratie ins Feld geführt zu haben. „Überlebensprobleme sind in der Demokratietheorie nicht
vorgesehen“ (S. 114) – aber merkwürdig ist, daß sie, was genauso gut ginge, diesen Fall nicht an
einem Individuum, sondern am ,Volk’ durchexerzieren. Auch für den ,Staatsbürger in Uniform’
gilt, daß die gegen seinen individuellen Willen gefällte Entscheidung für den konventionellen
Krieg – der nach Saathoff/Ulrich die Mehrheitsregel nicht außer Kraft setzt – für ihn irreversible
Folgen haben kann: Ist er tot, kann er bei der nächsten Wahl den Krieg nicht beenden. Oder an-
ders: Dem Staat die Entscheidung über Krieg und Frieden zu bestreiten wäre auch über die Frage
möglich gewesen, warum dieser Staat das Recht haben soll, über jene Menschen auf seinem Terri-
torium irreversible Entscheidungen zu verhängen, die noch nicht einmal staatsbürgerliche Qualität
haben, also kein Wahlrecht besitzen: Ausländer, Minderjährige etc.
Saathoff/Ulrich behandeln die Demokratie nicht als Staatsform. Daher ist ihr Wider-
standskriterium genauso willkürlich wie irgendein anderes. Nach allen, unbestreitbar angemesse-
nen, Einwänden gegen die Rechtsstaatstheorie von Habermas et al. verfallen sie doch wieder auf
den liberalen Glauben, nicht die Demokratie selber könne am Krieg schuld sein, sondern nur ein
„demokratisches Defizit“, ein „Zuwenig an Demokratie“ (S. 114). Dies aber ist die alte Lösung
Kants, der den Krieg einzig aus der willkürlichen Dezision absoluter Souveränität erklären konnte:
Ein Publikum freier und gleicher Staatsbürger, versammelt im Parlament als einzigem Ort legiti-
mer und legaler Dezision, könne seiner Konstitution nach den Krieg nicht beschließen. („Zum
ewigen Frieden“)
Der Widerstand gegen den Staat ist daher letztlich Widerstand für den Staat: Handeln für
die völlige Subsumtion der Exekutive unter das Parlament, Opposition gegen den Krieg als eines
Ergebnisses illegalen Einflusses privilegierter Gruppen (Rüstungsindustrie) auf die Politik. Der
„Geist der Freiheit“ kämpft gegen „das äußere Hindernis einer sich selbst mißverstehenden Regie-
rung.“ („Was ist Aufklärung“)
Das Modell ,Gesellschaft gegen Staat’ kann den Staat nur als grundlose Autorität denken.
Konsequent mündet der moderne Anarchismus in revolutionärem Liberalismus, wie St. Jansson
seinen Artikel im „Jahrbuch“ resümiert. Aus der bloßen Tatsache: „Die Verfassung kann ihre
Funktion als Legitimationsquelle bürgerlicher Staatlichkeit nur behalten, wenn darin die Interessen
der Gesellschaft miteinbegriffen sind“ (S. 129), aus der Tatsache, daß es eben jenen notwendigen
Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft, Staat und Recht doch gibt, den der historische
Anarchismus stets geleugnet hat – daraus wird gefolgert, dieses Interesse sei im Gegensatz zum
Staat als der unkontrollierten Gewalt schon das emanzipative, vernünftige und allgemeine Interes-
se.
Als ‚revolutionärer Liberalismus’ mündet der moderne Anarchismus darin, sich gegen
das System auf die Seite der Lebenswelt zu schlagen – ganz im Sinne der Kommunikationstheorie
des Jürgen Habermas.3 Der Anarchismus findet seine Praxis darin, alles, was der „Kolonisierung
der Lebenswelt“ (S. 10) widerstreitet, als anarchistisch zu interpretieren. Über eine andere Praxis
als jene, als einzige politische Strömung die Phrasen der ,Neuen Sozialen Bewegungen’ auch wirk-
lich ernst zu nehmen, etwa „Leben gegen Gewalt“ zu setzen, kann nicht mehr verfügt werden. Das
einleitende, grundlegend gemeinte Vorwort der „Wege des Ungehorsams“ bringt dies u.a. auf die
Formel: „Betroffenheit gegen ,Allgemeininteressen’ = Staat“ (S.15). Wie aber soll in einer Gesell-
schaft, für die der Selbstwiderspruch von Gesellschaft und Staat, von Bourgeois und Citoyen kon-
stitutiv ist, die die Souveränität als ein dynamisches Verhältnis organisiert, zwischen alltäglichem
Widerstand etwa des Beamtenbundes gegen Stellenkürzung und revolutionärer Praxis noch unter-
schieden werden?
In der theoretischen Unmöglichkeit, diese Frage im Horizont des Anarchismus begründ-
bar zu entscheiden, spiegelt sich insbesondere die Verschmelzung des klassischen Anarchismus
eines Bakunin mit dem zivilen Ungehorsam nach Gandhi und H.D. Thoreau. Anarchismus wird
zur Frage der Moral, die es verbietet, das Ziel-Mittel-Verhältnis pragmatisch zu denken: Der
Kampf gegen die Gewalt, der aufgrund der objektiven Struktur der Souveränität immer die Milita-
risierung der Opposition erzwingt, kann nur als ,gewaltfreier’ organisiert werden, soll nicht das
Ziel diskreditiert werden. Das „Jahrbuch“ drängt das Problem konsequent in die Fußnote:

„Die Haltungen, die wir brauchen, um nicht unterzugehen und um die herrschenden Strukturen wirksam
zu bekämpfen, und die Haltungen, die einer freien Gesellschaft entsprechen, sind grundlegend verschie-
den. Wir können aus diesem Dilemma nicht entkommen.“ (S.18, Fußnote 16)

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust. Das „Jahrbuch“ mündet im Staatstheoretischen dort,
wo es anzufangen hätte: Bei der Frage, wie sich dies „Dilemma“ zwischen Moral und Politik,
zwischen Recht und Gewalt, zwischen dem, was einer lieber lassen sollte und dem, was derselbe zu

3
Vgl. Stefan Breuer; Die Depotenzierung der Kritischen Theorie. Über J. Habermas, in: Ders.; Aspekte
totaler Vergesellschaftung, Freiburg, 1985, S.52 ff.

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tun gezwungen ist, überhaupt konstituiert. Der Anarchismus verbleibt innerhalb dieses Dilemmas,
indem er eine Staaststheorie überhaupt versucht.

10.

Als radikaler Liberalismus will der Anarchismus die bürgerliche Gesellschaft ohne die kapitalisti-
sche Vergesellschaftung, von der er daher auch keinen Begriff entwickelt. Die ,Gesellschaft ohne
Staat’ ist der Traum, bürgerliche Hegemonie ohne Zwang, Konsens des Marktes ohne Despotie der
Fabrik herzustellen. Der immanente Zusammenhang von Demokratie und Despotie, die Notwen-
digkeit der Despotie für das Funktionieren der Demokratie bleibt Geheimnis. Der Anarchismus
will die politische Form der bürgerlichen Gesellschaft ohne ihren sozialen Inhalt.

11.

Gleichwohl: Als prinzipieller Einspruch gegen Befehl, Gehorsam, Disziplin und Autorität sowie
im prinzipiellen Beharren darauf, die bürgerliche Gesellschaft als letztlich nach dem Muster der
Kaserne zu kritisieren, ist der Anarchismus die halbe Staatskritik. Indem er aber den Staat aus
diesem Prinzip der Autorität und Willkür ableitet, wird er zur Staatstheorie, wird die Revolution
durch das Spiegelspiel der bürgerlichen Gesellschaft paralysiert. Marxismus wäre die andere Hälf-
te dieser Staatskritik, indem er die Autorität auf ihre soziale Konstitution hin untersucht und diese
in einer prinzipiellen Analyse des Klassencharakters der bürgerlichen Gesellschaft fundiert. Indem
er jedoch den Staat aus dem Kapital ‚ableitet’, wird auch Marxismus zur Theorie und stiftet die
Denkbarkeit eines vernünftigen Gebrauchs der Staatsgewalt. Wer den Staat .ableitet’, der hat ihn
als einen theoretisierbaren – und d.h. ,an sich selbst’ vernünftigen – Gegenstand schon legitimiert.

Erläuterung

Das Halbe wird zum Ganzen nicht durch Addition. Darin liegt der Irrtum aller Versuche, etwa
Blochs, dem um stalinistische Staatsextase verkürzten Marxismus den spanischen Anarchismus
aufzupfropfen oder gar, wie W. Harich, einen „Kommunismus im Geiste der Kaufhausbrandstif-
tung“, zu fordern. Bloch hält, trotz der Frage, ob sich der Marxismus im Stalinismus „zur Kennt-
lichkeit oder zur Unkenntlichkeit“ verändert habe, daran fest, diese Frage nur „treuen Marxisten“
vorzulegen.4 Ebenso bleibt Bakunins Versuch, die Kritik der Autorität um die des Kapitals zu
ergänzen, ganz äußerlich und nur verbal.5 Letztlich gelangen alle Versuche der Addition nicht über
das Lippenbekenntnis hinaus, Anarchismus und Marxismus hätten die letztlich gleichen Ziele und
nur verschiedene Mittel – das aber war auch schon der Standpunkt Stalins.6

12.

Der Marxismus ist seiner historischen Gestalt nach zum Ausdruck der Verewigung des Kapitals
mit proletarischen Mitteln geworden. So ist er wenig mehr als die Ideologie der gewerkschaftlich
organisierten Facharbeiterklasse, die dem Privatkapital die Reproduktionsinteressen des Human-
kapitals aufzwingen will, um es darüber zu Staatskapital zu transformieren. Als Ideologie der Ar-
beit ist er die Ideologie des variablen Kapitals, des Werts in lebendiger Form. Als Politik ist Mar-
xismus der Aufstand gegen das ,mühelose Einkommen’, die Rebellion gegen den für die Produkti-
on unnützen Kapitalisten, der nur den Eigentumstitel und damit das Recht auf den Zins besitzt.
Letztlich ist dem Marxismus das Kapital für die Produktion so äußerlich wie dem Anarchismus der
Staat für die Gesellschaft. Der Gebrauchswert der Produktion scheint diesem Marxismus durch die
allumfassende Logik der Arbeit letztlich ebenso garantiert, wie dem Anarchismus das gesellschaft-
liche Bedürfnis nach Freiheit trotz aller Staatsüberformung im Letzten eindeutig. Was für den
Anarchismus ,das Volk’ oder ,die Gesellschaft’ ist – Fetisch vernünftiger Allgemeinheit – ist dem
Marxismus die Arbeit. Der sog. ,Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital’ reproduziert das
Kapital in anderer Potenz.

13.

Als Politik des Staates gilt dem Marxismus daher die Verallgemeinerung der Arbeit als der Prozeß
der Aufhebung von Herrschaft. Wenn sich das Kapital im Verfolg seiner eigenen (Arbeits-)Logik
auf reines Recht reduziert, auf das Privateigentum als die äußerliche Garantie der Abschöpfung

4
Traub/Wieser; Gespräche mit Ernst Bloch, Ffm 1975, S. 21
5
Vgl. die Einleitung von H. Stuke zu: Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie, Ffm/Wien 1972
6
Stalin, Anarchismus oder Sozialismus? In: Werke Bd. l S.257ff.

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des Mehrprodukts und dessen geregelte Verteilung an die Klasse der Eigentümer, dann ist Revolu-
tion als Federstrich der Aufhebung dieses Rechts zugleich die Abschaffung des Staates als Klas-
senstaat, seine Überführung ins neutrale Instrument der Verteilung von Gebrauchswerten. Das
gegen das Kapital gesetzte ,Recht auf Arbeit’ schlägt um in allgemeinen Arbeitszwang. Der „so-
ziale Arbeiterstaat“ (K. Kautsky) ist der Arbeitsstaat, der ideelle Gesamtlohnarbeiter, wie er unmit-
telbar mit dem ,ideellen Gesamtkapitalisten’ identisch geworden ist, d.h. ,Staat des ganzen Volkes’
(KPdSU) oder zu werden strebt, d.h. ,Sozialstaat’. Indem der Marxismus von der Krise her die
Gesellschaft denkt, erhebt er den Staat als das Muster von Planung, Organisation und Bewußtsein
zum Instrument der Revolution.

Erläuterung

Im Verhältnis zur sozialen Funktion, die der Marxismus ausgeübt hat, ist der Versuch, seinen
,authentischen Gehalt’ zu ‚rekonstruieren’ (das Hobby der akademischen Revolte von 68) oder den
,späten’ Marx des ‚Kapitals’ gegen den Marx der Frühschriften einzutauschen (das Hobby pro-
gressiver Pfaffen und linker Sozialdemokraten) ein intellektuelles Spaßvergnügen.
Der Marxismus hat den Staat stets im Rahmen einer positiven, ins politische nur verdop-
pelten Metaphysik der Arbeit gedacht – vom frühesten Marx bis zum spätesten Engels. Sit venia
verbo: Marx war schon immer ein mindest 90%iger Kautskyaner und, daher, Leninist. „Arbeit als
der Selbsterzeugungsprozeß des Menschen“ (Ökonomisch-Philosophische Manuskripte) setzt
jenes Verhältnis von Wesen und Erscheinung, von Grund und Begründetem, das, indem es Ablei-
tungsverhältnisse stiftet, Vernunft als emanzipatorische letztlich garantieren soll: Das ‚Prinzip
Arbeit’ ist ein Idealismus von der Statur des Hegelschen Weltgeistes.
Schon in der Marxschen „Kritik des Hegelschen Staatsrechtes“ ist vorgeprägt, was sich
später zur ,Diktatur des Proletariates’ auswachsen sollte: „Der Staat ist der Mittler zwischen dem
Menschen und der Freiheit des Menschen“ (MEW l, S. 353). Indem sich der Bourgeois verdoppelt,
sich in den egoistischen und den allgemeinen Menschen, den Citoyen, auseinanderlegt, provoziert
er den Rückschlag des Allgemeinen ins Besondere und schafft, „indem sich der konkrete Mensch
den abstrakten Staatsbürger aneignet“ (ebd., S. 370), auch die objektiven Bedingungen der Revo-
lution. Die marxistische Staatstheorie ist die Theoretisierung dieser Verdoppelung: Das Privatei-
gentum als juristischer Ausschluß der Produzenten von der Aneignung ihres Produktes ist nur der
ökonomische Aspekt des Zensuswahlrechtes als des Ausschlusses der Nicht-Besitzenden von der
demokratischen Abstimmung über die Inhalte der Souveränität. Fällt das Zensuswahlrecht, dann
kann von Staatswegen das Privateigentum zur Disposition gestellt werden. In diesem Sinne heißt
es etwa in den Frankreichschriften:

„Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution besteht dann: Die Klassen, deren gesellschaftli-
che Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimm-
recht in den Besitz der politischen Macht“ (MEW 7, S.43).

Die Theorie der Republik ist die ins Politische gewendete Theorie der Aktiengesellschaft – die
Anonymisierung der Verfügung durch Wegfall des Zensus wie der Personalunion von Eigentum
und Direktion ist schon der Wegfall der Herrschaft. „Das namenlose Reich der Republik“ (MEW
7, S.58) ist als anonymes auch das herrschaftslose, zumindest virtuell, d.h. solange, bis die politi-
schen Bestimmungen der Freiheit ins Ökonomische hinab ausgedehnt sind, der Staatsbürger auch
zum ,Wirtschaftsbürger’ geworden ist.
Der Staat, in der berühmten Formel von Engels als ,ideeller Gesamtkapitalist’ gedacht,
geht restlos auf in der rationalen Garantie der Eigentumstitel, ist bloßer Exponent der Garantie der
Abschöpfung des Mehrproduktes – ohne das geringste Eigenleben.
Es ist diese positive, aus der Arbeitsdialektik von Subjekt und Objekt, von Wesen und Er-
scheinung, von Entäußerung und Aneignung gefolgerte Philosophie, die den Sozialismus als wis-
senschaftlichen Sozialismus’ auszeichnet. Als positive Philosophie des Wesens ist er eine rationa-
lisierte Form schlechter Metaphysik. Denn „Arbeitsmetaphysik und Aneignung fremder Arbeit
sind komplementär.“7
Marxistische Staatstheorie als die Arbeitsmetaphysik auf politischem Terrain begreift
Empirie als Erscheinung, den Protest der Erscheinung gegen das Wesen als Irrationalismus. Sie
leistet damit der repressiven Aneignung des Besonderen durch das Allgemeine Vorschub. Nicolai
Bucharin:

„(Es bedeutet) z.B. die allgemeine Arbeitspflicht im System des Staatskapitalismus eine Knechtung der
Arbeitermassen, dagegen im System der proletarischen Diktatur ist sie nichts anderes als die Selbstorga-
nisation der Arbeit durch die Massen; alle Formen des staatlichen Zwangs stellen bei der staatskapitalisti-

7
Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 29f

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schen Struktur eine Pression dar, die den Ausbeutungsprozeß sichert, ausdehnt und vertieft, während der
staatliche Zwang bei der proletarischen Diktatur eine Methode des Aufbaus der kommunistischen Gesell-
schaft darstellt. Kurzum, die funktionelle Gegensätzlichkeit der formal ähnlichen Erscheinungen wird to-
tal bestimmt durch die funktionelle Gegensätzlichkeit der Organisationssysteme, durch deren entgegen-
gesetzte Klassencharakteristik.“8

Dialektik von Wesen und Erscheinung ist als negative Dialektik, als gedanklicher Nachvollzug der
Anverwandlung der Erscheinung ans Wesen allein möglich. Andernfalls verfällt sie der Metaphy-
sik, deren Opfer – das Schicksal Bucharins beweist es nachdrücklich – selbst das Recht auf Protest
verloren haben.
Oder anders: Marxismus als positive Bestimmung des Wesens der Arbeit, dem das Kapi-
tal, die „Produktion um der Produktion willen nichts anderes (heißt) als Entwicklung der mensch-
lichen Produktivkräfte, also Entwicklung der menschlichen Natur als Selbstzweck“ (MEW 26.2, S.
111), ist die Affirmation des Kapitals wider Willen.

14.

Der Marxismus denkt das Politische als eine Potenz des ökonomischen Antagonismus der Ausbeu-
tung. Der Anarchismus denkt das Ökonomische als eine Potenz des politischen Antagonismus der
Herrschaft. Aber beide begreifen ihren Gegenstand unter Kategorien des Dualismus: Die Ökono-
mie erscheint als Kuddelmuddel des Einerseits der Ausbeutung und des Andererseits der
,Vergesellschaftung der Arbeit’; die Politik erscheint als Mischmasch von sowohl staatlicher Auto-
rität als auch gesellschaftlicher Hegemonie und Freiheit. Theorie ergibt sich zwanglos aus der
Reduktion des Dualismus auf ein Verhältnis von Wesen und Erscheinung.

15.

Marx und Bakunin liegen als die Urväter dieses Modells im Lager der Opposition unter dem Ni-
veau ihres Gegenstandes, indem sie unter dem Niveau der Hegeischen Staatsphilosophie verblei-
ben. In ihrer konstitutionellen Unfähigkeit, das Wesen als die Bedingung der Möglichkeit dessen
zu fassen, einen Gegenstand überhaupt unter den Kategorien des Dualismus zu begreifen und
daher über ihn sowohl wahr als auch falsch sprechen zu können, können sie es zugleich als ein
Unwesen nicht denken.

Erläuterung

Marx und Bakunin sind Schüler und Kritiker Hegels, indem sie ihm nachweisen, daß die Versöh-
nung von Staat und Gesellschaft im System der „Rechtsphilosophie“ nicht gelingen kann. Baku-
nins berühmtes Diktum: „Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“ ergibt sich
daraus, daß er die Hegelsche ,Negation der Negation’ der bürgerlichen Gesellschaft durch den
Staat nicht mitvollzieht, bei der ,einfachen Negation’ stehen bleibt und meint, die Abschaffung des
Staates entbinde die Gesellschaft als eine der Freiheit unmittelbar. Das Eigentum fällt mit der
staatlichen Garantie des Erbrechtes. In der Garantie dieses Rechtes jedoch war der Staat zugleich
die äußere Usurpation des Sozialen, das eigenlogisch den Staat schon überschritten hatte. Bakunin
unterstellt Hegel, er könne die Versöhnung von Staat und Gesellschaft nur als Gewalt und daher
als eine gegen den Bürger denken. Er hat Recht im ersten, aber irrt im zweiten.
Marx führt den Nachweis, daß Hegel die Versöhnung von Citoyen und Bourgeois nur il-
lusorisch denken kann, daß dieser Versöhnung im realen gesellschaftlichen Leben nichts entspricht
als die bürgerliche Schizophrenie selber. Der Bourgeois wird zum Citoyen allein durch die völlige
Abstraktion vom sozialen Leben, durch „Transsubstantiation“ (MEW l, S. 280). Die menschliche
Allgemeinheit des Citoyen verbirgt nur die Allgemeinheit der selbstsüchtigen Interessen des Bour-
geois. Marx unterstellt Hegel, das Allgemeine sei gar nicht das wahre Allgemeine, da ihm keine
besondere Existenz zukomme. Er hat Recht im ersten, aber irrt im zweiten.
Es ist charakteristisch, daß die Marxsche Hegelkritik noch vor dem Übergang Hegels von
den Bestimmungen der innergesellschaftlichen zu den Bestimmungen der zwischenstaatlichen
Souveränität Halt macht. Seine Hegel-Kritik geht bis § 313; Hegel aber gibt in §328 die Versöh-
nung von Citoyen und Bourgeois als eine reale und also negative. Der Soldat ist die reale Einheit,
er ist Beispiel

„des feindseligsten und dabei persönlichsten Handelns gegen Individuen bei vollkommen gleichgültiger,
ja guter Gesinnung gegen sie als Individuen.“9

8
Nicolai Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode (1920), Reinbek 1970, S.117f.
9
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Ffm 1969, § 328.

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Die unmittelbare Aufopferung der Individualität für den Staatszweck ist die reale, mit Gewalt und
mit Zustimmung des Bürgers (cf. Hegel über Patriotismus) vollzogene Synthese von Staat und
bürgerlicher Gesellschaft, von Politik und Moral, von Citoyen und Bourgeois.10
Indem Hegel die Bewegung der Sache ‚Souveränität’ selbst verfolgt, ist ihm die Synthese
des Besonderen und des Allgemeinen nur als eine negative möglich. Das Wesen, das Hegel als ein
affirmatives doch begründen wollte, entlarvt sich als Unwesen. Damit ist „Hegel der metaphysi-
sche Denker des Kapitals“ (Krahl).

16.

Negative Dialektik kann das Wesen als Unwesen denken. Es ist dies Bedingung dafür, einen Ge-
genstand als dualistischen zu begreifen. Der Staat ist weder Recht noch Gewalt, er ist Recht und
Gewalt, Hegemonie durch Zwang und Konsens durch Polizei. Als Souveränität ist er die Bedin-
gung dafür, am Staat überhaupt Recht und Gewalt unterscheiden zu können. Der Begriff der Sou-
veränität verweist auf die negative Dialektik des Wertes. Diese aber kann weder von marxistischer
noch anarchistischer Staatstheorie gedacht werden.

17.

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. (...) Er steht außerhalb der normal
geltenden Rechtsordnung und gehört ihr doch an, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob
die Verfassung in toto suspendiert werden kann. (...) Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das
Recht kraft seines Selbsterhaltungsrechtes. (...) Die Ausnahme erklärt das Allgemeine und sich
selbst; kann man sie nicht erklären, so kann man auch das Allgemeine nicht erklären.“11

18.

Das Subjekt der Souveränität ist nicht theoretisierbar. Aber davon, es zu kritisieren, hängt in Sa-
chen Staat alles weitere ab. Das Subjekt der Souveränität ist subjektlos, aber es ist dasjenige, das
die letztlich verbindliche Entscheidung gewaltförmig trifft. Es hat keine gegenständliche Form,
aber es vergegenständlicht sich stets in einer Situation der „Gefährdung der Existenz des Staates“
(Schmitt). Wo der Souverän auftaucht, ist unabsehbar und jeder Staatstheorie verschlossen – und
doch ist er die Bedingung, überhaupt Staatstheorie treiben zu können. Er gehört der Legalordnung
an, steht aber als Legitimität über und neben ihr.

Erläuterung

Die Souveränität bezieht praktisch jenen „Standpunkt außerhalb der bürgerlichen Demokratie“,
den Saathoff/Ulrich (vgl. These 9) aus immanenter Kritik dieser Theorie in einem emanzipativen
Sinne beziehen wollen. In diesem Bedürfnis ist gesehen, aber nicht formuliert, daß der Sturz der
Souveränität immer nur durch die Konstitution eines Gegen-Souveräns möglich ist. Dies ist der
rationelle Kern der Formel von der ,Diktatur des Proletariats’, zieht man einmal die soziologische
Bestimmung des Subjektes der Gegen-Souveränität und den darin implizierten Leninismus ab. In
diesem Sinne ist auch die Bestimmung von Friedrich Engels über das ,Absterben des Staates’ zu
verstehen: Tritt der Staat einmal als das wirklich Allgemeine auf, dann ist er zugleich als Staat
schon das Besondere und damit Obsolete. Daraus wäre das Problem revolutionärer Organisation
zu entwickeln.

19.

Die Souveränität ist dasjenige Verhältnis, das, als Bedingung dafür, den Staat unter den Dualismus
von Recht und Gewalt setzen zu können, der Grundregel der Theorie – dem Satz vom ausge-
schlossenen Dritten – nicht gehorcht. Zwischen Staat und Kapital kann daher ein Verhältnis der
Ableitung nicht bestehen, vielmehr: Die Souveränität ist das politische Verhältnis des Kapitals wie
das Kapital nur das ökonomische Verhältnis der Souveränität ist. Zwischen ihnen besteht das
Verhältnis der Verdoppelung und Komplementarität: Die ökonomische Synthesis bedarf der politi-
schen, die politische der ökonomischen. Die Verdoppelung des Ökonomischen in Tauschwert und

10
Zu der Bestimmung dieses Widerspruchs und seiner negativen Synthese vgl. ISF; Die Entstehung der
Psychokratie aus dem Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft, in diesem Band.
11
Carl Schmitt; Politische Theologie, Vier Kapitel zum Begriff der Souveränität

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Gebrauchswert, ihre Synthese durch den Wert, ist und erzwingt die Verdoppelung des Politischen
in die Bestimmungen von Citoyen und Bourgeois, ihre Synthese durch die Souveränität.

Erläuterung

Daher ist die Frage, ob der Staat das Kapital qua Erbrecht schafft oder das Kapital den Staat, nicht
nur überflüssig, sondern hirnrissig. Die bürgerliche Gesellschaft suspendiert die Frage nach dem
Verhältnis von Ursprung und Geltung. Der Streit zwischen Anarchismus und Marxismus stellt sich
dar als Streit zwischen Geschichte und Logik, ohne zu bemerken, daß dieses Verhältnis selber nur
im Rahmen einer negativen Dialektik – als selbst schon Konstituiertes – gedacht werden kann.
Folgerichtig unterstellen beide Systeme eine Notwendigkeit des historischen Ablaufes, wo es doch
ein historischer Unfall war, der Staat und Kapital, Geschichte und Logik etc. überhaupt erst in ein
Verhältnis setzte.12

20.

Den Staat unter den Gegensatz von Recht und Gewalt zu setzen, das verlängert die Setzung des
Ökonomischen in den Gegensatz der ,Republik des Marktes’ und der ,Despotie der Fabrik’. Jenes
Verhältnis, das Republik und Despotie als die zwei Seiten einer Medaille stiftet, ist zugleich die
synthetische Instanz bürgerlicher Vergesellschaftung, der Wert. Es ist dieses Wesen, das Negative
Dialektik als das Unwesen denkt. Der Wert ist die ökonomische Bedingung dessen, die Politik als
Spiegelspiel betreiben zu können.

„Der Souverän (...) zentriert die Konkurrenz der Wahrheiten, so daß tatsächlich keine ausbrechen kann, son-
dern beiträgt, das Spiel durch den Widerspruch zu reproduzieren.“13

„(Es zeigt sich) die Albernheit der Sozialisten (namentlich der französischen, die den Sozialismus als Realisa-
tion der von der französischen Revolution ausgesprochenen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft nachweisen
wollen), die demonstrieren, daß der Austausch, der Tauschwert etc. ursprünglich (in der Zeit) oder ihrem
Begriff nach ein System der Freiheit und Gleichheit aller sind, aber verfälscht durch das Geld, Kapital etc. (...)
Ihnen ist zu antworten: (...) daß, was ihnen in der näheren Entwicklung des Systems als störend entgegentritt,
ihm immanente Störungen sind, eben die Verwirklichung der Freiheit und Gleichheit, die sich ausweisen als
Ungleichheit und Unfreiheit. (...) Was die Herren von den bürgerlichen Apologeten unterscheidet, ist auf der
einen Seite das Gefühl der Widersprüche, die das System einschließt; auf der andern Seite der Utopismus, den
notwendigen Unterschied zwischen der realen und idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu
begreifen und daher das überflüssige Geschäft vornehmen wollen, den ideellen Ausdruck selbst wieder reali-
sieren zu wollen, da er in der Tat nur das Lichtbild dieser Realität ist.“14

21.

Die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie gibt – als negative Dialektik des Unwesens ver-
standen – die Begriffe der Kritik der Souveränität in der Kritik des Geldes vor. Das Geld ist mit
den Mitteln der Vernunft ebenso unverständlich wie die Souveränität. Es ist die sinnliche Verge-
genständlichung der abstrakten Synthesis der Gesellschaft durch den Wert. Das Geld ist die Be-
dingung der Einheit von äußerster Subjektivität (Bedürfnis, Nachfrage) und extremer Allgemein-
heit (Markt, Angebot) ebenso wie die Souveränität die Bedingung der Einheit von Willkür, Ge-
walt, Autorität, Legitimität einerseits, von Kalkulierbarkeit, Recht, Legalität andererseits darstellt.

22.

Daher kann es eine Theorie der Souveränität ebensowenig geben wie eine des Geldes und der
Wertform. Die Wahrheit über den Staat als eines falschen Verhältnisses ist die Abschaffung des
Staates ebenso, wie die theoretische Wahrheit über das Kapital nur die praktische Aufhebung des
Kapitals sein kann. Dieses materialistische Paradox reproduziert ex negativo die Form bürgerlicher
Vergesellschaftung, indem sie es auf die Spitze treibt. In Sachen Staat ebenso wie in Sachen Kapi-
tal kann es ein Verhältnis von Theorie und Praxis nicht geben, sondern nur eines von Kritik und
Krise, von Denunziation der ideellen Formen der Vergesellschaftung in der Hoffnung, deren reale
Formen in die Krise zu treiben.

12
Vgl. Wolfgang Pohrt, Vernunft und Geschichte bei Marx, in: G. Schweppenhäuser (Hg.): Krise und Kritik.
Zur Aktualität der Marxschen Theorie, Lüneburg 1983, S. 5-15
13
A. Demirović, Philosophie und Staat, in: Das Argument Nr. 152, S. 562
14
Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin, S. 160

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Erläuterung

Das „Jahrbuch Wege des Ungehorsams“ hängt ganz dem Theorie-Praxis-Verhältnis an und es ist
daher folgerichtig, daß es in ,Theorie’ wie ,Praxis’ unter dem Niveau der Verhältnisse bleibt. Es
geht ihm darum, die „Bearbeitung eines Theoriedefizits“ (S. 4) einzuleiten, als sei es möglich,
theoretische Begriffe wie Kohlensäcke aufzufüllen und umzulagern. Hinter der Rede vom
,Theoriedefizit’ steckt stets – und da stehen die Jahrbuchautoren nicht alleine – die Vorstellung,
,Wahrheit’ ließe sich innertheoretisch erzeugen, d.h. letztlich auf Konsens reduzieren. Im Ergebnis
bleibt dann wenig mehr als der Praxis, d.h. den ,Neuen Sozialen Bewegungen’ einen anderen Sinn
zu unterstellen, d.h. sie bloß zu interpretieren. Im Resultat führt dies zu links-kritischem Positivis-
mus in Theorie und Praxis.

23.

Die Hoffnung, durch Kritik die Krise zu provozieren, ist durch nichts begründbar. Marxismus, als
negative Dialektik des Unwesens verstanden, vermag ebensowenig das Subjekt der Revolution
anzugeben wie der historische Anarchismus Bakunins. Als Kritik ist er strikter Anti-Utopismus,
die gerade deshalb der Utopie im Schweigen die Treue hält. Die Berufung auf ein positives All-
gemeines ist der Kritik versagt, da Allgemeinheit als gesellschaftlich nur negativ mögliche selber
das Aufzuhebende darstellt. Kritik ist die Provokation darauf, daß die gesellschaftlichen Individu-
en die Resultate ihrer Vergesellschaftung sich als die Resultate ihres Willens nicht zurechnen kön-
nen – also die kontrafaktische Unterstellung dessen, daß es außerhalb des Spiegelspiels von Citoy-
en und Bourgeois ein Anderes noch geben könne. Kritik ist Negation der ideellen Formen der
Vergesellschaftung als Provokation und ungedeckter Wechsel auf die praktische Negation ihrer
realen Formen. Daher der reinste Voluntarismus.

Erläuterung

Der objektive Zustand der Gesellschaft ist der Nihilismus, d.h. die Gleich-Gültigkeit aller Werte
als objektives Resultat bürgerlicher Vergesellschaftung.15 Marxens Kritik an Bakunin, dieser kön-
ne Revolution nur als den reinsten, Voluntarismus’ denken16, ist daher ebenso wahr wie falsch:
Anders als der reine, auf nichts als den Willen begründete Akt ist Revolution nicht mehr denkbar –
damit ist sie aber überhaupt als eine vernünftige nicht denkbar. Es ist ebenso vernünftig, im Hüh-
nerstall Motorrad zu fahren wie einen revolutionären Verein aufzumachen – die Gründe subjekti-
ver Pathologie, das eine zu tun oder das andere zu lassen, sind nicht wahrheitsfähig.

24.

Die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft kann sich nur aus der Differenz von Ausnahme und Regel
herleiten. Sie muß als Synopse von Kapital- und Staatskritik arbeiten, die das eine im anderen
denkt und zugleich aus der doppelten Perspektive von ökonomischer Krise und politischem Staats-
streich. Der Protest gegen Autorität und Kommando ist auf seinen kritischen Gehalt gegen die
bürgerliche Hegemonie ebenso zu befragen wie die Opposition gegen Ausbeutung darauf, ob sie
nicht einzig danach strebt, die .Anarchie des Marktes’ gegen die .planmäßige Produktion in der
Fabrik’ auszuspielen. Kritik hat die Arbeit zu leisten, die Reproduktion des Spiegelspiels durch die
Opposition zu unterbinden, soll die Therapie das Übel nicht nur ins Unaufhebbare verlängern.

25.

Als gewalttätige Garantie der Legalität des Marktes garantiert der Staat die Legitimität der Despo-
tie der Fabrik ebenso, wie das Kapital in seiner Oberfläche als Republik des Marktes die Legitimi-
tät der bürgerlichen Legalordnung erzeugt und reproduziert. Der soziale Gehalt der bürgerlichen
Legalität, die Ausbeutung, ist der politische Gehalt der staatlichen Legitimität: Hierarchie, Befehl,
Kommando. Das eine ist ohne das andere nicht aufhebbar, das eine ist zugleich nur durch das an-
dere.

26.

Damit fällt die historische Scheidung und Gegnerschaft zwischen ‚Anarchismus’ und
,Marxismus’. Anarchie als Freiheit ohne Gewalt ist unmittelbar nur denkbar im Sozialismus als

15
Vgl. Stefan Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechtes, Opladen 1983
16
Marx, Randglossen zu Staatlichkeit und Anarchie, in: MEW 18

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Gewalt gegen die Freiheit zum Gewerbe.

Dezember 1985

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Initiative Sozialistisches Forum


Antizionismus – ein neuer Antisemitismus von links
Für eine andere Palästinasolidarität

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken,
Freiburg: ça ira 1990, S. 106 - 118

Die Solidarität mit dem Aufstand der Palästinenser gegen die Militärdiktatur in den von Israel
besetzten Gebieten sowie die Solidarität mit dem Protest der Israelis palästinensischer Herkunft
gegen ihre Diskriminierung sind eine Notwendigkeit des linken Internationalismus. Allerdings
treibt sie unter deutschen Linken merkwürdige Blüten.
Wir haben den bestimmten Verdacht, daß die unter der Parole des Antizionismus or-
ganisierte Solidaritätsarbeit weniger um der Palästinenser willen geschieht, als vielmehr der
günstigen Gelegenheit wegen, antisemitische Gefühle und Absichten unter politischer Bemän-
telung endlich ausleben zu können.
Unmittelbarer Anlaß dieser traurigen Feststellung ist ein in Freiburg unter der Hand
kursierendes „Kampfblatt für den Aufstand“ mit dem Titel: „Immer rebellieren“. Unter der
Überschrift „Das zionistische Staatengebilde ‘Israel’ muß verschwinden!“ verbreitet das Blatt
die trübe These einer Wesensgleichheit von Zionismus und Faschismus und die Autoren be-
haupten, Nazis und israelische Staatengründer hätten bei der Vertreibung der Palästinenser
Hand in Hand gearbeitet. Der von Faschisten oft geäußerte Satz, die Juden sollten Hitler doch
dankbar sein, kehrt hier in antiimperialistischer Aufmachung wieder.
Wie kommen deutsche ,Linke’ dazu, einem israelischen Staat die Vernichtung anzu-
drohen? Warum soll Israel der einzige Staat sein, der ausradiert gehört? Wie kommt es zu einer
Forderung, die man noch keinen Antiimperialisten etwa in bezug auf den Irak und die Kurden
hat verlautbaren hören? Sonst fordert der empörte Antiimperialist den Sturz der Regierung, den
radikalen Wandel der Politik usw. – wenn es um Israel geht, dann soll allein die Tilgung von
der Landkarte helfen. Wie das? Woher kommt das besondere Engagement in Sachen
,Antizionismus’?
Man hat sich daran gewöhnt, die sog. ,Antiimperialisten’ bzw. die Freunde des be-
waffneten Kampfes von der Revolution so reden zu hören wie die Blinden vom Regenbogen
und die Tauben von der ‘Internationalen’. Man darf sich nicht daran gewöhnen, wenn sich nun
antiimperialistischer Verfolgungswahn und Verschwörungspsychose an denen sich ausleben,
die knapp davonkamen. Man hat sich daran gewöhnen müssen, daß der antiimperialistische
Habitus aus Schützengraben- und Frontromantik, aus Chauvinismus und Intellektuellenhaß
zusammengeflickt wurde. Dies sind die klassischen ideologischen und psychologischen For-
men reaktionärer Gesinnung. Jetzt verdichten sie sich zum Antisemitismus und haben darin ihr
ideales Objekt gefunden. Daran darf man sich nicht gewöhnen.
Bislang konnte man annehmen, es sei für Linke selbstverständlich, gegen Judenhaß
einzutreten. Bislang war daher der Schlachtruf „Die Juden sind unser Unglück“ einzig und
allein in Nazipostillen zu lesen. Jetzt scheint die ,Wende’ auch nach links ausgeschlagen zu
haben. Wo aber der gewendete Konservative zum rabiaten Deutschnationalen wird, da wird der
gewendete Linke zum Stalinisten und ergänzt das Arsenal seiner revolutionären Phrasen um
die Parole des ,Antizionismus’. Wir stellen daher fest:

Nicht jeder, der gegen das Kapital agiert, ist deshalb schon links.

Die intellektuelle Verwahrlosung der Linken hat dazu geführt, daß das marxistische Vokabular
zur Rechtfertigung eines jeden beliebigen Schwachsinns herhalten muß. Davon lebt auch die
revolutionär sich gebende Rede vom ,Antizionismus’. Man darf sich aber vom rebellischen
Wortgeklingel nichts vormachen lassen.
Auch Adolf Hitler war gegen das ,Kapital’. Auch er war ein ,Antikapitalist’ von ho-
hen Graden, der stets starke Worte gegen das „raffende Kapital“ fand, das die Schaffer und
Malocher ums Beste brachte. In „Mein Kampf“ agiert er gegen die dekadenten Bürger, gegen
die „Pfeffersäcke“ und ihre „egoistische Interessensvertretung“, gegen die Spekulanten und

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gegen den Wucher. Und als Verkörperung der Spekulation erschien der Jude, der Geldgierige
schlechthin, dessen intellektuelle Fraktion zuvor das Volk mit ihren „abstrakten“, „blutleeren“
und „abgehobenen“ Reden um das Beste gebracht und seine „nationale Identität“ zersetzt hatte.
Es sind diese Elemente eines schiefen und verlogenen ,Antikapitalismus’, die auch der
,antizionistischen’ Agitation von heute zur Legitimation dienen. Mit dem Unterschied nur, daß
der moderne Antisemitismus, der Judenhaß nach Auschwitz, vor allem als Antizionismus sich
artikulieren muß. Nach Wesen, Ziel und Methode mit dem Antisemitismus identisch, richtet
der Antizionismus sein Augenmerk auf den Judenstaat. Wie dem Judenhasser die bloße Exi-
stenz des Juden ein Ärgernis ist, so dem Antizionisten die bloße Existenz Israels. Aber gehen
wir ins Einzelne der Argumente von „Immer Rebellieren“:

Es wird behauptet...

...“‘Israel’“ sei ein „zionistisches Staatengebilde“.

Wir fragen:

Seit wann ist es unter Linken legitim, von Israel so zu reden wie Reaktionäre von der sog.
,DDR’? Die scheinbar polemische Formel will suggerieren, dieser Staat sei ein ,künstliches’
Produkt – im Unterschied wohl zu ,organischen’ Staaten wie Syrien oder Saudi-Arabien. Darin
lebt die antisemitische Zwangsvorstellung vom ,wurzellosen Volk’ weiter, von Ahasver, dem
,ewig wandernden Juden’, der nicht aus Blut und Boden schafft, sondern immer nur Machwer-
ke, Konstrukte, ‚Gebilde’ zuwege bringt. Die infame Wendung vom ,Gebilde’ bezweckt, der
Wahnidee Futter zu geben, noch nicht einmal einen ordentlichen Staat, einen Staat des ganzen
Volkes, brächten die Juden zuwege. Israel sei nur die Verkörperung einer Ideologie, eben des
,Zionismus’, eines abstrakten Gedankens also, der sich den Boden Palästinas einverleibt habe.
Die Vernichtungsphantasie speist sich aus dem Haß des Organischen gegen das Abstrakte, aus
der Wut des Konkreten gegen den Geist: Es sind die Liquidationswünsche von Blut und Boden
an Aufklärung und Vernunft.

Es wird behauptet...

... Israel verstehe sich als „Staat aller Juden“.

Wir fragen:

Was wäre denn schlimm daran, wenn’s so wäre? Wie ist denn der Zusammenhang zwischen
der Tatsache, daß es Israel gibt, und jener, daß es seit 1945 kaum noch Pogrome gegeben hat?
Lag denn nicht die Leichtigkeit der Ausgrenzung erst aus dem rechtlichen, dann aus dem wirk-
lichen Leben auch daran, daß kein Staat die Juden beschützte? Hatte Andrej Gromyko etwa
Unrecht, als er zur Begründung der sowjetischen Unterstützung für die Gründung Israels 1948
vor der UNO genau so argumentierte? Was können die Juden dafür, daß im imperialistischen
Zeitalter der Mensch gar nichts, der Staatsbürger aber immerhin etwas gilt? Warum sollen in
einer Zeit, in der gilt: „Völker wollen Befreiung und Nationalstaat“ (frei nach Mao) gerade die
Juden keinen haben? Der Zionismus ist die nationale und politische Emanzipationsbewegung
der Juden, deren konkreter Ausdruck der Staat Israel ist – und weil dies so ist, entlarvt sich die
jedem Antizionisten geläufige Unterscheidung von bösen Zionisten und guten Juden als Lip-
penbekenntnis, als bloßer Vorwand. Die guten Juden sollen immer die sein, die nicht in Israel
leben – aber können sie nicht allein deshalb anderwärts aushalten, weil sie wissen, daß es eine
Alternative gibt, daß ihnen jederzeit ein israelischer Paß zusteht?

Es wird behauptet...

... Zionisten und Faschisten hätten bei der Vernichtung der Juden kooperiert
– und daraus ergäbe sich die Einheit ihres Wesens: Zwei Seiten einer Medaille.

Wir fragen:

Seit wann ist es unter ,Linken’ gängig, den Begriff des Faschismus mittels einiger wüst zu-
sammengemanschter Fakten zu entwickeln? Die genannten Daten und Fakten sind im Einzel-

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nen unbestreitbar: Tatsächlich haben die Nazis zu Beginn ihrer Herrschaft die Auswanderung
nach Palästina gefördert und tatsächlich haben sie sich der Judenräte als eines ihrer Mittel be-
dient, die Selektion reibungslos durchzuführen. Aber diese Fakten sprechen im Ganzen für das
genaue Gegenteil der antizionistischen Behauptung. Am Gebrauch der Fakten wird das Wesen
und die Methode des modernen Antisemitismus deutlich:

Über die ,antizionistische’ Methode

Da dem Antisemiten der Jude durch seine bloße Existenz schon schuldig ist, kommt es auf die
Fakten eigentlich gar nicht an. Die dümmste Lüge ist gerade gut genug, Fakten sollen nicht
einen Beweis antreten – sie sollen die längst vorgefaßte Meinung bloß illustrieren und akzepta-
bel machen. Das Beweisziel steht fest, bevor noch irgendein Faktum bekannt ist. So wird die
Geschichte erzählt, Goebbels habe zum Gedenken der ,Auswanderung’ deutscher Juden nach
Palästina „eine Medaille anfertigen lassen, die auf der einen Seite das Hakenkreuz, auf der
anderen Seite den Davidstern zeigte“. Das stimmt – aber was beweist es? Der abgeleitete
Schluß ist so falsch, daß noch nicht einmal das Gegenteil wahr ist. Zum Beispiel:
Wer sich nur flüchtig mit der Geschichte Palästinas befaßt, dem ist die Politik des re-
ligiösen und politischen Führers der palästinensischen Nationalbewegung in den 30er und 40er
Jahren, Hadsch Amin el-Husseinis, des Muftis von Jerusalem, bekannt. Um 1930 schon führte
die Jugendbewegung seiner „Palästinensisch Arabischen Partei“ den Namen „Nazi-Scouts“,
orientierte sich an der SA und gab Flugblätter mit Hakenkreuz heraus. Husseini führte einen
regen Briefwechsel mit Heinrich Himmler und dem Auswärtigen Amt, er bot den Nazis an,
einen palästinensischen Beitrag zur Endlösung zu leisten. Auf seinen Kundgebungen wurde der
Führer bejubelt. 1941 floh er nach Berlin, wo er mit den Faschisten kollaborierte, wo er im
Kontakt mit Eichmann versuchte, die Auswanderung nach Palästina zu stoppen. Regelmäßig
hielt er antisemitische Reden im deutschen Rundfunk. Auf seine Veranlassung wurden gar
islamische Freiwilligenverbände der SS aufgestellt. 1945 entkam Husseini, dem wohl das
Nürnberger Tribunal sicher gewesen wäre, nach Kairo, wo er als Führer der palästinensischen
Bewegung begrüßt wurde. Als am 1. Oktober 1948 der palästinensische Nationalrat in Gaza
zusammentrat, führte Husseini den Vorsitz und wurde Präsident der Exilregierung.
Soweit die ,Fakten’. Wollte man die antizionistische Methode auf die Geschichte Hus-
seinis anwenden, dann könnte man schließen, daß der palästinensische Widerstand zu Zeiten
der Gründung Israels faschistisch gewesen sei. Zumindest wird aus den ,Fakten’ verständlich,
warum Ben Gurion bereit war, mit jedem anderen zu verhandeln als mit Husseini.
Davon ist in keiner der antizionistischen Schriften die Rede und auch nicht in den
Quellen, aus denen sie ihre Erkenntnisse abschreiben:

Die Quellen des Antizionismus

Das antiimperialistische „Kampfblatt für den Aufstand“ bezieht sein Wissen aus „Al Karamah.
Zeitschrift für die Solidarität mit dem Kampf der arabischen Völker und dem der drei Konti-
nente“. Hier findet sich ein längerer Artikel „Zionismus und Faschismus – Zwei Seiten einer
Medaille“. Es ist eine Art Protokoll einer „Pressekonferenz des Antizionistischen Komitees der
sowjetischen Öffentlichkeit“ vom Oktober 1984. Natürlich erklären die Redner zu Beginn und
zu Ende ihrer Suada „mit aller Bestimmtheit, (nie würden sie) ein Gleichheitszeichen zwischen
den Begriffen Zionist und Jude gesetzt haben oder setzen“. Das gehört zum Spiel: Für die
Großzügigkeit beim Umgang mit Begriffen entschädigt man sich im gnadenlosen Umgang mit
Menschen.
Das „Antizionistische Komitee“ wittert überall die zionistische Weltverschwörung,
die zeitgemäße Fassung des alten „Weltjudentums“. Die Juden sind an allem schuld, so z.B.
daran, daß in den 30er Jahren die „Einheitsfront des Kampfes gegen den Faschismus“ ge-
schwächt wurde, an der Stalin energisch mittels der Moskauer Prozesse arbeitete. Usw. usf.
Drehen wir auch hier die Methode um: Als Ribbentrop, Hitlers Außenminister, im
August 1939 nach Moskau fuhr, um den Hitler-Stalin-Pakt zu unterzeichnen, war der Rote
Platz von Hakenkreuzfahnen geschmückt und eine Kapelle der Roten Armee spielte das Horst-
Wessel-Lied. Stalins Außenminister Molotow hielt eine Lobrede auf das „friedliebende
Deutschland“ und meinte: „Man kann die Ideologie des Hitlerismus, wie auch jedes anderen
ideologischen Systems, anerkennen oder ablehnen, das ist eine Sache der politischen Anschau-
ungen. Doch wird jedermann anerkennen, daß man eine Ideologie nicht durch Gewalt vernich-
ten kann.“

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Faschismus ist also eine Meinungssache. Die Nazis warfen die Rede Molotows über
den Stellungen der französischen Armee ab – sind also realer Sozialismus à la Stalin und Fa-
schismus „zwei Seiten einer Medaille“? Natürlich kommt dies dem „Antizionistischen Komi-
tee“ nicht in den Sinn. Es ist eine Vereinigung antisemitischer Slawophiler, heute in der So-
wjetunion auch als Gruppe „Pamjat“ bekannt, die Stalin dafür lobt, daß er dem Juden Trotzki
den Garaus bereitete.
Dies sind die Methoden und die Quellen des antiimperialistischen ,Antizionismus’,
wie er in Teilen der Solidaritätsbewegung vertreten wird.

Das Resultat steht im voraus schon fest:

Anti-Zionismus = Anti-Faschismus

Das heißt nichts anderes als:

Weil der moderne Antisemitismus nach Lage der Dinge genötigt ist, als Antizionismus aufzu-
treten, wiederholt er an Israel das altbekannte Schema der Projektion auf den Juden: Was man
selber will, wozu man aber vorläufig unfähig ist, das wird den Juden als Absicht und Tat unter-
stellt. Daraus erklärt sich die Behauptung des „Kampfblatts für den Aufstand“, die arroganten
und elitären Juden begriffen sich als „auserwähltes Volk“, an dessen Wesen die Welt genesen
soll. Die Juden sollen es sein, die die Gleichheit verweigern, während der Antisemit sich selber
für den Nabel der Welt hält, aber niemand ihm Beachtung und Anerkennung gewährt. In der
Denunziation, die Juden seien elitär, kommt zu Tage, man selber sei zu Höherem berufen. Der
Antisemit will die Welt seinem Wahn praktisch unterordnen, aber diese Welt spielt nicht mit.
Daher muß den Juden als geheime Natur ihres Wesens unterschoben werden, was der Antise-
mit selber erstrebt. Sie haben, was er will. Sie verhindern, daß er es bekommt: nationale Identi-
tät, Gemeinschaft im Volk, fraglose Einheit als Eigenschaft von Natur und Rasse. Die von ihrer
Gesellschaft um den Verstand gebrachten und atomisierten Einzelnen sehnen sich nach ihrem
Untergang und ihrer Verschmelzung im repressiven Kollektiv, das endlich Ruhe, Ordnung und
Übersicht schafft. Was diesem Verlangen entgegentritt, wird exemplarisch im Pogrom vernich-
tet.
Zur Projektion gesellt sich ebenso logisch wie legitimatorisch der Verfolgungswahn,
die politische Paranoia. Wer sich in Vernichtungsangst einmal hineingesteigert hat, der
braucht im weiteren um Begründungen für Notwehr nicht verlegen sein. Der Antisemit fühlt
sich beständig in der Defensive, belauert von unheimlichen Mächten, die zu allem fähig sind.
Die Juden sind ihm die Gegenrasse (Hitler). Sie sind das bucklig Männchen, das immer schon
da ist, wo man selber erst hin will, gegen das es keine Chancengleichheit gibt. Der moderne
Antisemitismus ist so ein Judenhaß nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz: Er wird ihnen
Auschwitz nie verzeihen und nie ihnen vergeben, daß sie ihn um den Gegenstand seiner Sehn-
sucht, um die Volksgemeinschaft, gebracht haben. In allem, was nationale Identität verhindert,
wittert der Antisemit die Sabotage der ,Gegenrasse’. Was er aufbaut, das reißt sie nieder; was
er bejaht, das verneint sie; wo er sich bekennt, da bekrittelt sie und negiert. Der Antisemit
wähnt sich verfolgt vom „Dämon des ewigen Verneinens“ (Rosenberg), vom Geist der Kritik,
der ihm das Leben sauer macht. So lügt sich die Mordlust zur Notwehr um und rechtfertigt ihre
Vernichtungslust durch Vernichtungsangst.
Projektion und Paranoia beherrschen die Lebenslügen des Antizionismus. Am Kampf
der Palästinenser glauben sie, ihr Objekt gefunden zu haben. In einem Flugblatt „Die Verteidi-
gung der Lager liegt auf dem Weg nach Palästina“ heißt es: Die Imperialisten und Zionisten
„zerstören die sozialen Zusammenhänge der Menschen und vertreiben sie von Land und Bo-
den. Damit vernichten sie ihre Würde und Identität. Die völlige Entwurzelung und die Einglie-
derung in den Verwertungsprozeß der Herrschenden bedingen und garantieren sich gegensei-
tig.“
Damit gehe die „Identität als Volk“ verloren. Hier geht es nicht um die Palästinenser,
die wohl schon vor der israelischen Staatsgründung Lohnarbeit und Kapital kannten, die sich
von anderem auch ernährten als von „Land und Boden“. Hier ist die antisemitische Projektion
an der Arbeit: Was einem im Leben laufend in die Quere kommt, die ebenso abstrakte wie
überaus wirksame Macht Kapital, wird auf die ,entwurzelten’ Mächte von Geist und Geld re-
duziert und in der Gestalt der Juden personalisiert. Dem Antisemiten ist der Mensch eine
Pflanze.

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Wir erklären daher,

daß der antisemitische Verfolgungswahn die wirkliche Motivation des Antizionismus aus-
macht. Auschwitz darf er nicht erinnern, will er doch mit dem Vorwurf, Israel sei faschistisch,
die Juden als Urheber ihrer eigenen Vernichtung hinstellen können. So raffiniert sollen sie
gewesen sein und alles nur, um den Identitäts- und Gemeinschaftssüchtigen eins auszuwischen.
Das ist die Logik des Antisemitismus, gegen die mit Argumenten wohl kaum etwas auszurich-
ten ist. Während die anderen Völker eine Art Bonus und Gutschrift erhalten, der sie in der
Staatspolitik nicht aufgehen läßt, der ihnen die Staatspolitik nicht restlos als ihren eigenen
Willen zuschreibt, während also ,normalerweise’ die Agitation zwischen Volk und Staat einen
kleinen Unterschied macht, darf dies für Israel und für die Juden nicht gelten. „Der zionistische
Staat dient als Werkzeug für die Durchsetzung dieser (imperialistischen) Herrschaftsinteres-
sen“, sekundiert ein Flugblatt, das zu Veranstaltungen der Freiburger Nahostgruppe aufruft und
folgert, es gelte, „den Zionismus als Ausdruck des Imperialismus zu zerschlagen“ und das
„zionistische Gebilde“ zu vernichten.

Wir fragen:

Wann werden die Antiimperialisten die „Protokolle der Weisen von Zion“ zur offiziellen Schu-
lungsgrundlage erklären? Wann werden sie erkennen, daß diese Protokolle, ein Machwerk der
zaristischen Geheimpolizei, die objektive Theorie ihres Denkens ist?

Es wird weiterhin behauptet ...

... Israel sei ein faschistisches Regime: „Die demokratische Maske des Regimes sitzt schief.
Die häßliche Fratze des Faschismus kommt zum Vorschein“.

Wir fragen:

Was soll das für ein Faschismus sein, in dem Hunderttausende gegen das Besatzungsregime
demonstrieren, in dem die KP legal ist, in dem arabische Israelis ins Parlament gewählt wer-
den? Etwa ein parlamentarischer Faschismus?

Es wird behauptet...

... daß Israel faschistisch sei, käme besonders an der Bewegung des Rabbi Kahane zum Aus-
druck.

Wir fragen:

Was ist das für ein Faschismusbegriff, dem es schon gar nicht auf den Widerspruch ankommt,
die Nazis als einerseits längst Herrschende, andererseits als kleine Bewegung darzustellen?
Den Autoren ist der Faschismus immer schon überall präsent, bevor er überhaupt nur irgendwo
auftritt – und wenn er dann auftritt, bestätigt er nur, daß er immer schon da war. Aber dem
Antisemitismus kommt es auf einen Widerspruch mehr oder weniger nicht an, er hat kein Ge-
wissen und kein Gedächtnis, sondern ein Interesse.

Es wird behauptet...

... Israel betreibe in den besetzten Gebieten eine Vernichtungspolitik.

Wir fragen:

Gibt es im Gaza-Streifen ein neues Treblinka? Wo auf der Westbank ist Sobibor?
Liegt Auschwitz auf den Golanhöhen?

Wir erklären:

Die Unfähigkeit, zwischen den Repressionsmaßnahmen Israels einerseits und der Ausrottungs-
politik des deutschen Faschismus andererseits zu unterscheiden, ist mehr als nur eine Dumm-

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heit. Die arabischen Staaten haben Israel nie anerkannt, folglich befindet sich Israel im Krieg.
Ein Staat ohne Anerkennung ist genausoweit souverän, soweit seine bewaffnete Macht reicht
und soweit er seine strategischen Grenzen sichern und ausbauen kann. Innerhalb dieser fatalen
Logik bewegt sich Israels Politik ganz im Rahmen dessen, was sich noch jeder bürgerlich-
demokratische Staat mittels Ausnahmerecht erlauben kann. Es ist ein ganz normaler bewaffne-
ter Nationalismus. Aber der Antiimperialismus muß dies faschistisch nennen, weil er Vorwän-
de zum Kampf auf Leben und Tod sucht. Es versteht sich, daß Leute, denen beim millionenfa-
chen Massaker in Kambodscha nie der Faschismus einfiel, auch nicht auf die einfache Idee
dessen kommen, wofür die Solidaritätsbewegung einzutreten hätte: Für die Anerkennung der
PLO durch Israel, für die Anerkennung Israels durch die PLO und die arabischen Staaten.
Aber die Unterscheidungsfähigkeit der Antiimperialisten ist von der Qualität eines Amokläu-
fers. Seine Unfähigkeit ist nicht Zufall, nicht Irrtum, nicht Unwissen – sie ist Methode.

Die Methode des Antiimperialismus ...

ist politisierender Verfolgungswahn nach der Methode „Schwein oder Mensch: ein Drittes gibt
es nicht“ (Holger Meins). Was Meins im Hungerstreik unter Todesdrohung schrieb, das ist
denen, die in Freiheit sind und ohne Genossen im Knast keinen Genuß im Kampf haben mö-
gen, zur Propagandaparole verkommen. Das Problem ist aber: Auch die ,Schweine’ sehen wie
Menschen aus; sie grunzen nicht, sie reden. Der antiimperialistische Mensch lebt in der perma-
nenten Gefahr, von Schweinen in Menschenhaut hinters Licht geführt zu werden.
Es muß also ein Kriterium her, um Untermenschen vom antiimperialistischen Men-
schen zu unterscheiden. Die Begeisterung für den ,Anti-Zionismus’ speist sich daraus, endlich
einen pseudo-linken Vorwand gefunden zu haben, nach Rasse und Blut zu fahnden. Der Anti-
imperialismus schafft sich seine Juden. Wer sich schon in der BRD nicht erklären kann, warum
die Leute hinter den Schandtaten ihrer Regierung stehen, wer schon hier nichts besseres weiß
als überall Manipulation und Verrat zu wittern – wer also schon in der BRD überall Verschwö-
rung sieht, der hat an Israel endlich die Gelegenheit, sich abzureagieren.

Die Methode des Antiimperialismus ...

mündet in der objektiven Solidarität mit den Deutschnationalen, die die Vernichtungspolitik
der Nazis als bloßen Betriebsunfall abtun wollen. Wer im antiimperialistischen Slang vom
Faschismus redet, der sollte auch vom Kapitalismus schweigen. Der Begriff des Faschismus ist
erst vom Ende her, von Auschwitz, zu begreifen und nicht als einfache Steigerung des
,Grundwiderspruchs von Kapital und Lohnarbeit’. Dies aber tun die Antiimperialisten in
schlechter Tradition und Harmonie mit der stalinistischen Komintern und der Rede Dimitroffs
von 1935: Faschismus wird zur besonders tyrannischen Herrschaft, Auschwitz zum besonders
grausigen Pogrom. Die Unfähigkeit zum dialektischen Faschismusbegriff, der Unwille, der
Opfer als sinnloser Opfer wirklich eingedenk zu sein, das daraus folgende permanente Gequas-
sel von der ,Faschisierung’ lähmt die Linke geistig längst bevor sie praktisch geschlagen ist.
Das Schweigen über Auschwitz setzt die Antiimperialisten mit der „Nationalzeitung“ ins rech-
te Verhältnis. Was das „Kampfblatt für den Aufstand“ vorbringt, ist vom Schlage der Argu-
mente eines Nolte oder Hillgruber.

Die Propaganda des Antiimperialismus...

besteht praktisch in der Intrige und ideologisch in der Verbreitung von Gerüchten: Es wird
schon etwas hängen bleiben. Wir wissen nicht, wer dieses Blättchen geschrieben hat, wollen es
auch nicht wissen – aber wir stellen fest: Die Anonymität der Autoren, die sich als sehr gefähr-
lich und subversiv einschätzen, die ihre Verleumdungen unter dem Deckmantel von Konspira-
tion verbreiten, die den Eindruck erwecken wollen, es sei revolutionär, Nazi-Argumente zu
drucken, und es sei gefährlich, gegen die Juden etwas zu sagen – diese Heimlichtuerei ist blo-
ßer Vorwand und Inszenierung, Mittel ihrer Propaganda. Wir wissen auch nicht, wer dieses
Schmierblatt wo und in welcher Auflage verbreitet. Es mag sein, daß einer allein es geschrie-
ben hat. Es mag auch sein, daß selbst unter Antiimperialisten diese Auffassungen marginal
sind. Aber darum gebt es nicht: Wie etwas nicht dadurch wahr wird, daß alle es glauben, so
sind Lügen auch nicht dadurch widerlegbar, daß nur einer sie glaubt.

(Bewaffneter) Linksnationalismus, Antisemitismus, Palästina

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Die Antiimperialisten leisten der Sache der Palästinenser einen Bärendienst. Nicht mit ihnen
sind sie solidarisch, sondern mit ihnen nur als Paradeexemplaren des bewaffneten Kampfes für
die ,nationale Identität’. Unter Imperialismus verstehen sie nur Fremdherrschaft. Daher geht es
ihnen auch nicht um Freiheit und Recht für Palästina, sondern einzig um die gute Gelegenheit,
jetzt, wo der Aufstand aktuell ist, ihren politisch notdürftig kaschierten Antisemitismus unter
die Leute zu bringen.
Das hat Geschichte. Wie es am Anfang des bewaffneten Kampfes nicht, wie in Italien,
gegen die Fabrikgesellschaft, sondern gegen die Kaufhäuser ging, so ging es gleich darauf
gegen die Verkörperung des Wuchers, nicht gegen die Institution der Ausbeutung. Pünktlich
zum Jahrestag der Reichskristallnacht 1969 verübte eine Vorläufergruppe des „2. Juni“ einen
Brandanschlag auf eine Synagoge in Westberlin. Die Juden wurden für den Sechs-Tage-Krieg
Israels in Sippenhaft genommen. In dieser fatalen Logik lag es auch, daß Westdeutsche unter
jenen palästinensischen Guerilleros waren, die 1976 bei der Flugzeugentführung nach Entebbe
israelische Staatsbürger und jüdische Passagiere anderer Nationalität selektierten und als Gei-
seln nahmen.
Auch die Denunziation Israels als faschistisch gehört seit Ulrike Meinhof zum ideolo-
gischen Repertoire der Antiimperialisten. Unter der Parole „Die Rote Armee aufbauen!“ war in
der Erklärung der RAF zur „Aktion des Schwarzen September“ und der Strategie des antiimpe-
rialistischen Kampfes schon 1972 von „Israels Nazi-Faschismus“ die Rede. Seit den Anfängen
der RAF hat sich die Verschwörungstheorie immer wieder, ideologisch und praktisch, zum
Antisemitismus von links verdichtet. Die französische Schwesterorganisation der RAF, die
„Action Directe“ unternahm 1982 unter dem Vorwand des Protestes gegen die israelische Li-
banon-Invasion Anschläge auf koschere Restaurants in Paris – im antizionistischen Weltbild ist
jeder Jude auch unmittelbar mit seinem Leben für Israel haftbar.
Beim Umschlag der Palästina-Solidarität in antiimperialistischen Antisemitismus
handelt es sich nicht um ein Freiburger Lokalkuriosum, sondern um eine bundesweite Tendenz
innerhalb dieser Bewegung. Als der Kommunistische Bund sich weigerte, den Aufruf zu einer
Palästina-Demonstration Mitte Januar 1987 in Hamburg zu unterschreiben, erklärte er: „Im
Aufruf wird bewußt vermieden, den Staat Israel zu erwähnen, der ... das Selbstbestimmungs-
recht von 3,3 Millionen jüdischen Israelis verkörpert. Stattdessen ist lediglich die Rede von
einem zionistischen Gebilde“‘. Der KB folgert, dahinter könnten sich „abenteuerliche Lö-
sungsvorschläge verbergen, bei denen die jüdische Bevölkerung Israels irgendwann, irgendwie
und irgendwohin ,verschwindet’“. Bewußt spiele der Aufruf mit Zweideutigkeiten und verbrei-
te eine Kauf-nicht-bei-Juden-Stimmung.
Es ist diese Stimmung, die nun auch in Freiburg umgeht. Dafür ist „Immer rebellie-
ren“ in seiner gefährlichen Armseligkeit ebenso Indiz wie die Flugblätter der Freiburger Nah-
ostgruppe. In ihren Stellungnahmen - etwa zur Palästina-Demonstration vom 10. .Februar –
findet sich die ganze Litanei des Antizionismus im Stil von „Immer rebellieren“. Daß im Re-
pertoire allein der explizite Faschismusvorwurf fehlt, darf als eine taktische Sprachregelung
bewertet werden. Die Nahostgruppe fordert die Zerschlagung des „illegalen Gebildes“ Israel
und fügt als Lippenbekenntnis dazu, die Juden seien nicht gemeint. Der formellen Distanzie-
rung folgt prompt die Behauptung, hierzulande sei es unsäglich „schwierig, Antizionist zu sein,
zum einen, weil dieser Begriff heute auch von neonazistischen Gruppen als Synonym für Anti-
semitismus mißbraucht wird und zum anderen, weil die beiden Begriffe bewußt von der politi-
schen Reaktion vertauscht werden.“
Daß Linksnationalisten mit Nazis um Begriffe streiten und Heimat für radikal halten
ist nicht neu. Man kennt dies aus der ,linken Deutschlanddiskussion’; und es ist ein altes Erbe
der maostalinistischen Bewegung, den Rechten die ,nationale Frage’ wegzunehmen, Daß es
aber schwierig und gefährlich sei, etwas gegen die Juden zu sagen, weil Herrschaft sie schützt,
indem sie die Begriffe ,vertauscht’, das gehört zu den Stereotypen antisemitischer Agitation:
Die Juden sind überall, auch und gerade in der Presse. Alles hat ,das System’ in der Hand - das
Wahre und Echte, ,Land und Boden’ werden dazu mißbraucht, getauscht zu werden.
Es versteht sich, daß die Freunde eines rabiaten Linksnationalismus jede Debatte dar-
über totschweigen und verhindern wollen. Zu sehr müssen sie mit den Neonazis um deren
Parolen kämpfen, als daß sie mit Zwischenfragen sich noch aufhalten ließen. Als anläßlich der
Premiere des neuen Filmes der Medienwerkstatt „Projekt Arthur“ in der Gießereihalle die Rede
auf Entebbe kam, vertrat eine der grauen Eminenzen des Freiburger Antizionismus denn auch
die Auffassung, über Selektion könne nur reden, wer dabei gewesen sei. So reden die Nazis
von Auschwitz auch: Wenn niemand mehr lebt, dann gibt es auch nichts zu reden.

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Es hat dem linken Internationalismus – von den Aufstandsbewegungen der 3.Welt


ganz zu schweigen – noch nie genutzt, seine Träume und Hoffnungen in den Befreiungsnatio-
nalismus anderer Völker hineinzuprojezieren. Während es aber in der Vietnam-Solidarität
wenigstens noch die Hoffnung auf Emanzipation war, müssen nun der gewendeten Linken die
Palästinenser als Stellvertreter eines neuen Antisemitismus herhalten. Linke Solidarität mit
Antisemiten darf es nicht geben, auch wenn deren Parolen von ferne an revolutionäre Theorie
erinnern (sollen).

Es gibt eine Grenze. Hier ist sie.

Wir fordern daher Öffentlichkeit. Wir fordern die Nahostgruppe auf, sich zu erklären.
Wir fordern, daß sich die Antiimperialisten dieser Kritik stelle
und sie in Zukunft gegenstandslos werden lassen.

Februar 1988

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► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 1

Initiative Sozialistisches Forum


Ulrike Meinhof, Stalin und die Juden
Die (Neue) Linke als Trauerspiel

Aus: Initiative Sozialistisches Forum,


Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution
Analysen und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 119 - 166

Im Juli 1967 schrieb Ulrike Meinhof einen Kommentar zum Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel
und den arabischen Staaten. Unter der Überschrift: „Drei Freunde Israels“ begründete sie im Leit-
artikel des Monatsmagazins „Konkret“, warum allein die Sympathie der europäischen Linken
„unbeirrbar“, „rational“ und „ehrlich“ sei: „Es gibt für die europäische Linke keinen Grund, ihre
Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben, sie reicht in die Gegenwart hinein und schließt den
Staat Israel mit ein.“ Das Bewußtsein von der Geschichte unterscheide die Linke vom Kartell der
bloßen Interessenten und bürgerlichen Philosemiten. Während es dem US-Imperialismus einzig
um die strategische Funktion Israels im Nahen Osten gehe und seine Unterstützung daher bloßer
Reflex der politischen Konjunktur sei, ginge es der Linken bei aller Kritik der Funktion in erster
Linie um die Unabhängigkeit der Existenz Israels. Noch perfider seien die Sympathien des Philo-
semitismus aus dem Hause Springer. Der BILD-Zeitung werde der Sechs-Tage-Krieg zum Beweis
der gelungenen bürgerlichen Verbesserung der Juden. Die Vernichtungspolitik der Nationalsozia-
listen rechtfertige sich, so die implizite Suggestion, vom Resultat her als brachiale Form wohlmei-
nender Pädagogik: Anders hätten es die Juden wohl kaum von ihrer freischwebenden Funktion als
Vermittler von Ideen und Waren zu bodenständigen Produzenten und wehrhaften Soldaten ge-
bracht. Für das, was die Rechte unter dem jüdischen Lernprozeß verstand, fand Ulrike Meinhof
das Resümee: „Hätte man die Juden, anstatt sie zu vergasen, mit an den Ural genommen, der zwei-
te Weltkrieg wäre anders ausgegangen.“
Während also die falschen Freunde Israels ihre Sympathien vom künftigen Wohlverhalten
abhängig machen, sei die linke Solidarität bedingungslos und unabhängig vom politischen Kräfte-
verhältnis: „(...) die Politik der westeuropäischen Linken könnte nicht araberfreundlich im Sinne
der Araber sein, müßte ihnen den Verzicht auf Palästina abverlangen, die Bereitschaft zur Koexi-
stenz mit Israel.“1 1967 war es der (Neuen) Linken noch möglich, Israel seiner Funktion wegen zu
kritisieren ohne sein Existenzrecht zu negieren. Von heute her fällt vor allem die unverkrampfte
Haltung auf, mit der Meinhof ihre Argumente entwickelt. Zwanglos souffliert sie die Kategorien
marxistischer Polit-Ökonomie mit militantem Humanismus und radikalem historischen Eingeden-
ken. Der internationalistischen Linken verstand es sich von selbst, daß der Staat Israel weniger aus
der Perspektive Theodor Herzls sich erklärt als vielmehr aus der Vernichtungspolitik Adolf Hit-
lers, daß also Israel weniger ein ’zionistisches Staatengebilde’ ist, sondern allererst ein Asyl der
Davongekommenen und Überlebenden. Israel wurde von Auschwitz her begriffen, nicht vom
Basler Zionistenkongreß.
Wenige Jahre später war dieser ebenso radikale wie nüchterne Standpunkt vergessen, als
wäre er nie gewesen. Unter dem zunehmenden und selbsterzeugten Zwang, politische Identität
ausbilden zu wollen, machte sich soziale und historische Amnesie breit. Heute hat die revolutionär
sich gebärdende geschichtslose Unschuld an Israel einen neuen Universalfeind gefunden und am
,Zionismus’ einen ideologischen Passepartout. Mit zunehmender Leidenschaft polemisiert sie
gegen den „Juden-Terror“2, verkündet die Auffassung, „der Staat Israel (verkörpere) nicht das
Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes“3 und agitiert gegen das Existenzrecht Israels, das
einzig ein „zionistisches Staatengebilde“4 sei.
Auch Ulrike Meinhof und die Rote Armee Fraktion machten den Schwenk vom Interna-
tionalismus zum neuen Befreiungsnationalismus mit. 1972, anläßlich der Gefangennahme der
1
Ulrike Marie Meinhof; Drei Freunde Israels, zuerst in: Konkret 7/1967, zitiert nach: Dies.; Die Würde des
Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken, Berlin 1980, S. l00 ff.
2
„Der Juden Terror“, in: MSZ – Gegen die Kosten der Freiheit 2/88, S.33-36. Vgl. auch den Artikel „Der
Antisemitismus der Marxistischen Gruppe“, in: Arbeiterkampf Nr. 282 v. 4.5.87, S. 35
3
„Der Staat Israel verkörpert nicht das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes. Stellungnahme zur
Erklärung des KB zur Nichtteilnahme an der Palästina-Demonstration in Hamburg“, in: Arbeiterkampf
Nr.291 v. 8.2.88, S.37 f.
4
So z.B. die Flugblätter der Freiburger Nahost-Gruppe: „Die Verteidigung der Lager liegt auf dem Weg nach
Palästina“ und: „Der Zionismus und der Volksaufstand in Palästina“.
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 2

israelischen Olympiamannschaft durch ein palästinensisches Kommando in München und des


Massakers von Fürstenfeldbruck, erklärte die RAF, Moshe Dayan sei der „Himmler Israels“, dort
herrsche ein „Moshe-Dayan-Faschismus“ und der Staat Israel habe „seine Sportler verheizt wie die
Nazis die Juden - Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik“5.
Aus den Juden, so tönte es plötzlich von links, seien die modernen Faschisten geworden,
die Palästinenser seien die Juden der Juden usw. Plötzlich hatte die Linke die Front gewechselt: Im
Maße, wie die maoistische Parole „Völker wollen Befreiung“ Anklang fand, riß eine neue Begei-
sterung für Volk, Nation, Staat ein und im gleichen Maße trat antizionistische Agitation an die
Stelle sozialistischer Kritik. Es war dies ein Prozeß, der ziemlich alle Fraktionen der ehemals anti-
autoritären Bewegung ergriff, die Stadtguerilla ebenso wie die unzähligen maostalinistischen Auf-
bauorganisationen.
Auch vor den Spontis machte die neue Geschichtslosigkeit nicht halt. Ein Beispiel ist die
in Berlin erscheinende Untergrundpostille AGIT 883, das damals in einer Auflage von nahezu
20.000 Exemplaren erschien. Als die Gruppe „Tupamaros Westberlin“ – ein Vorläufer des,,2.Juni“
- pünktlich zum Jahrestag der Reichskristallnacht einen Brandanschlag auf das jüdische Gemein-
dehaus in Westberlin verübte und damit, nach dem Prinzip von Sippenhaft, jeden Juden für die
Politik Israels haftbar machte, erklärte sie in AGIT 883 vom 13.11.69:
„Die israelischen Gefängnisse, in denen nach Zeugenaussagen entkommener Freiheits-
kämpfer Gestapo-Polizeimethoden angewandt werden, sind überfüllt. (...) Wieder einmal weiß die
deutsche Öffentlichkeit von nichts. Springer läßt sich in Tel Aviv mit Ehrendoktorwürden behän-
gen und baut Moshe Dayan zum Volkshelden à la Rommel auf. (...) Am 31. Jahrestag der faschi-
stischen Kristallnacht wurden in Westberlin mehrere jüdische Mahnmale mit ,Shalom und Na-
palm’ und ,E1 Fatah’ beschmiert. Im jüdischen Gemeindehaus wurde eine Brandbombe deponiert.
Beide Aktionen sind nicht mehr als rechtsradikale Auswüchse zu diffamieren, sondern sie sind ein
entscheidendes Bindeglied internationaler sozialistischer Solidarität. Das bisherige Verharren der
Linken in theoretischer Lähmung bei der Verarbeitung des Nahost-Konfliktes ist Produkt des deut-
schen Bewußtseins: ,Wir haben eben die Juden vergast und müssen die Juden vor einem neuen
Völkermord bewahren’. Die neurotische historische Aufarbeitung der geschichtlichen Nichtbe-
rechtigung eines israelischen Staates überwindet nicht diesen hilflosen Antifaschismus. Der wahre
Antifaschismus ist die klare und einfache Solidarisierung mit den kämpfenden Feddayin.“6
Bommi Baumann, der noch Jahre später in seinem Kultbuch „Wie alles anfing“ das Flug-
blatt abdruckte und lobte7, und mit ihm die anderen „Tupamaros Westberlin“ (u.a. Dieter Kunzel-
mann, Georg von Rauch und Tommy Weißbecker), kamen gar nicht auf die Idee, es mit ihrer „in-
ternationalen sozialistischen Solidarität“ bei einer israelischen Botschaft zu versuchen. Die Aktion
bezeugte vielmehr das neue antiimperialistische Bewußtsein, daß die Juden als Kollektiv dort
schuld seien, wo es einem Volk dreckig geht. Der spontaneistischen Version des bewaffneten
Kampfes war von Anfang an ausgemacht, daß Israel ein unrechtmäßiger Staat sei und daß Unrecht
per se als Faschismus zu denunzieren und zu bekämpfen sei.
Nachdem im folgenden Heft von AGIT 883 versucht wurde, den anti-autoritären Terrori-
sten die wirkliche Sachlage zu erklären, antwortete die neue antisemitische Unschuld aus dem
Untergrund in Gestalt Dieter Kunzelmanns. Er gab vor, aus Amman zu schreiben: „Hier ist alles
sehr einfach. Der Feind ist deutlich. Seine Waffen sind sichtbar. (...) Was hier alles so einfach
macht, ist der Kampf. Wenn wir den Kampf nicht aufnehmen, sind wir verloren. Diese Erkenntnis
ist sehr konkret. (...) Eines steht fest: Palästina ist für die BRD und Europa das, was für die Ami’s
Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum? DER JUDENKNACKS.“ Und
weiter: „Wenn wir endlich gelernt haben, die faschistische Ideologie des Zionismus zu begreifen,
werden wir nicht mehr zögern, unseren simplen Philosemitismus zu ersetzen durch die klare und
eindeutige Solidarität mit Al-Fatah, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von
gestern und heute und seine Folgen aufgenommen hat.“8
Kein Drittes sollte es noch geben zwischen „simplem Philosemitismus“ und antiimperia-
listischem Antisemitismus. Der „Judenknacks“ galt nun als Ausdruck von Neurose und als „hilflo-
ser Antifaschismus“. Einer Linken, der schon die Notstandsgesetzgebung als Wiederkehr des Na-
tionalsozialismus erschienen war und nicht als normale Politik einer bürgerlichen Demokratie, die
sich die Mittel ihrer Souveränität zurechtlegt, wurde Faschismus zum Synonym für das ,Unrecht’
schlechthin. Moral, das Bedürfnis nach vorbehaltloser Identifikation und restloser Transparenz,
5
RAF; Die Aktion des Schwarzen September in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes
(Nov.1972), in: GNN (Hg); Ausgewählte Dokumente zur Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland ./. Rote
Armee Fraktion, Köln 1987, S.31 ff., hier S. 38
6
Zitiert nach Tilman Fichter, Der Staat Israel und die neue Linke in Deutschland, in: Karlheinz Schnei-
der/Nikolaus Simon (Hg); Solidarität und deutsche Geschichte. Die Linke zwischen Antisemitismus und Isra-
elkritik, Berlin 1985, S.81-98, hier S. 94
7
Bommi Baumann; Wie alles anfing, Duisburg 31986, S. 79 f.
8
Zitiert nach Fichter; a.a.O., S. 95
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 3

traten an die Stelle des 1968 weniger erworbenen als vielmehr ermöglichten dialektischen Be-
wußtseins. Wo die Philosemiten von rechts den Israelis den Lernerfolg aus Auschwitz bescheinig-
ten, da wußten die neuen Antisemiten von links gerade dessen Ausbleiben zu beanstanden. Im
genauen Maße, in dem die Neue Linke ganz von vorne, d.h. spätestens mit dem 29. Januar 1933,
anfangen wollte, verdrängte sie Auschwitz und behandelte die Massenvernichtung bestenfalls als
Metapher des äußersten Unrechts und als bloßes Symbol für existentielle Bedrohung. Darin ver-
längerte sie bewußtlos den spontanen Antisemitismus der bürgerlichen Gesellschaft, dessen
Grundannahme heute darin besteht, die Vernichtung müsse sich doch irgendwie gelohnt haben,
müsse einen Sinn gehabt haben. Vegetativ wird der Standpunkt des christlichen Antijudaismus zur
allseits geteilten Geschäftsgrundlage. Auf die Frage, „wie man nach Auschwitz noch Theologie
betreiben kann“, antwortete der evangelische Reichsbruderrat schon 1948 mit dem „Darmstädter
Wort“: „Daß Gott nicht mit sich spotten läßt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns
zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem auch
allein ihr Heil steht.“9 Die Linke behandelte die Frage, wie man nach Auschwitz noch Revolution
machen kann, zunehmend nach dem theologischen Schema.
Wenn, wie die RAF 1972 konstatierte, „der Imperialismus sein faschistisches Wesen nur
(vorzeigt), wenn er auf Widerstand stößt“10, dann, so die theologisch-revolutionäre Folgerung,
gehört Auschwitz nicht zum Begriff des Faschismus, weil es dort einen Widerstand nicht gab. Der
ausbleibende Widerstand bezeugt, daß bei den Juden die ,Mahnung’ nicht ankam. Sie bekehren
sich nicht zur Revolution und sind deshalb Fleisch vom Fleische des „Dritten Reiches von gestern
und heute“ (Kunzelmann). Getreu dieser fatalen Logik eines moralisierenden Existenzialismus
(,Wo die Gefahr wächst, wächst das Rettende auch’) erfanden große Teile der Linken den Antise-
mitismus deshalb von Neuem, weil Auschwitz so gar nichts gefruchtet hatte, weil die Juden trotz
aller Opfer keine besseren und gar revolutionären Menschen geworden waren, sondern sich in
Israel als ganz normale nationalistische Staatsbürger organisiert hatten.
Diese als Philosemitismus so scheinbar menschenfreundliche Haltung schlug in der mitt-
lerweile grün gewordenen Linken anläßlich der israelischen Invasion des Libanon 1982 endgültig
um. Ein „Grüner Kalender“ meinte 1983 unter der Überschrift „Israel, die Mörderbande“: „Ange-
sichts der zionistischen Greueltaten verblassen jedoch die Nazigreuel und die neonazistischen
Schmierereien, und nicht nur ich frage mich, wann den Juden ein Denkzettel verpaßt wird, der sie
aufhören läßt, ihre Mitmenschen zu ermorden (...).“11 Damals ließ „die tageszeitung“ vom „umge-
kehrten Holocaust“ schreiben und offenbarte damit, was es mit ihrem Untertitel „taz überregional“
auf sich hat: Zusammenaddiertes Stammesbewußtsein von Alemannen, Friesen und Heimatver-
triebenen. In Leserbriefen war davon die Rede, Israel bereite die „Endlösung der Palästinenserfra-
ge“ vor, usw.: Derlei Belege könnten endlos ausgeführt werden und wer meint, das sei willkürlich
aus dem Zusammenhang gerissen, kann in Henrik M. Broders Aufsätzen und in seinem Buch „Der
Ewige Antisemit“ nachschlagen.12
Woher kommt die Gleichsetzung Israels mit Nazideutschland? Was hat es für gesell-
schaftliche, sozialpsychologische und ideologische Gründe, den „hilflosen Antifaschismus“ ausge-
rechnet mit Antizionismus kurieren zu wollen? Warum muß sich der moderne Antisemitismus
hauptsächlich als Antizionismus artikulieren?
Es ist offenkundig, daß es dieser Sorte „Antifaschismus“ überhaupt nicht um Solidarität
mit den Palästinensern geht. Deren Kampf ist den Antizionisten bloßer Vorwand und bloße Gele-
genheit zur Propaganda. Deshalb geht es im Folgenden auch nicht um die aktuelle Lage in Palästi-
na oder um die Geschichte des jetzt eskalierenden Konfliktes, sondern um die Ideologiekritik des-
sen, was deutsch gewordene Linke in diesen Kampf und in diesen Konflikt hineinprojizieren.
Noch der Versuch, dieser Kritik eine Art Eintrittskarte in Gestalt vorgängiger Betrachtung der
Lage in Israel und Palästina verschaffen zu wollen, gibt der antizionistischen Lüge Futter, an der
Projektion müsse doch irgendetwas dran sein. Der sozialistische Internationalismus betrachtet den
Konflikt in der Perspektive der notwendigen gegenseitigen Anerkennung der PLO durch Israel,
Israels durch die arabischen Staaten und durch die PLO. Der Befreiungsnationalismus, wie er unter
Freunden des bewaffneten Kampfes und anderen Antiimperialisten handelsüblich ist, solidarisiert
sich dagegen vorbehaltlos mit dem palästinensischen Nationalismus und kennt gute und schlechte
,Völker’. Der Ideologiekritik am antiimperialistischen Antizionismus geht es nicht um die Mei-
nung, sondern um die Bedeutung, nicht um die Absicht, sondern um das Ergebnis und die Funkti-
9
Zitiert nach Karl-Alfred Odin; Wie kann man nach Auschwitz noch Theologie treiben? Eine Tagung im
Konfessionskundlichen Institut, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 1.3.88
10
RAF; a.a.O., S. 33
11
Zitiert nach Eike Geisel; Alle sind Sieger. Die Wiedergutwerdung der Deutschen, in: Ders.; Lastenaus-
gleich, Umschuldung, Berlin 1984, S. 21
12
Henryk M. Broder, Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt
1986. Vgl. auch ders.; Antizionismus – Antisemitismus von links?, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Par-
lament, B24/76 v. 12.6.76 und ders.; Linke Tabus, Berlin 1976, S. 38-78
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 4

on des Antizionismus.
Internationale Solidarität also als Vorwand – für was? Es fällt auf, daß in der Gleichset-
zung Israels mit Nazideutschland das nationalsozialistische Bild der Realität seitenverkehrt repro-
duziert wird.
Damals war die Rede von der jüdischen Weltverschwörung, der „goldenen Internationa-
le“, die sich gleichermaßen hinter den Kapitalisten und hinter den Kommunisten versteckt, sich
ihrer als Mittel zum Teutozid bedient und gleichermaßen in der Wall Street und im Kreml zu Hau-
se sein kann, weil die Juden an sich heimatlos und ,wurzellos’ seien. Der Faschismus projizierte
auf die Juden, was er selber plante; ihnen wurde als Absicht unterstellt, was die Nazis gerade or-
ganisierten. Die Deutschwerdung des Menschen veranstaltete sich als Entmenschung der Juden. In
einem NS-Flugblatt von 1941 zur Einführung des Judensterns heißt es: „Achtzig Millionen hoch-
stehende, fleißige, anständige deutsche Frauen und Männer sollen ausgerottet werden. Das ist die
Forderung, die der amerikanische Jude Theodore Nathan Kaufmann, Präsident der amerikanischen
Friedensvereinigung, als Sprecher des Weltjudentums in seinem Buch ,Germany must perish’
offen erhebt. (...) Daß der grauenvolle Plan des Weltjudentums (...) niemals Wirklichkeit wird,
dafür sorgt die deutsche Wehrmacht.“13
Damals sprach sich die nazistische Aggression als die reine Notwehr aus: Verhindert
werden sollte, was die „Weltplutokratie“ angeblich mit der proletarischen Nation Deutschland
vorhatte. Heute erscheint in der Gleichsetzung und in der Rede von der „faschistischen Ideologie
des Zionismus“ umgekehrt das, was die Deutschen bereits getan haben. Wiederum eine Projektion
– aber diesmal nicht zur Legitimation von Notwehr und daher im Voraus, sondern zur Bereinigung
von Geschichte. Die Juden werden wiedergutgemacht und der deutschen Volksgemeinschaft ange-
schlossen: Wenn selbst die beschönigend als Opfer oder gar Kinder der Opfer titulierten Israelis zu
Nazis geworden sind, dann kann es damals so einzigartig und außergewöhnlich nicht hergegangen
sein. Wie die Rechten den Vergleich nach hinten ziehen - bekanntlich’ haben ja die Engländer das
concentration camp erfunden – da ziehen nun Linke den Vergleich nach vorne - ,bekanntlich’
haben ja die Israelis die Lager einfach nachgemacht. Die durchaus verschiedene Intention läuft
aufs gleiche Resultat hinaus – auf die Wiedervereinigung der deutsch gewordenen Linken, wahl-
weise der sich entdeutschenden Rechten, mit ihrer Geschichte. Wo es Ernst Nolte u.a. darum geht,
mit der These der Vergleichbarkeit „die Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren an einem
permanenten Status des Herausgehoben- und Privilegiertseins“14 zu kritisieren und so den rechten
Philosemitismus abzubauen – da geht es einem gestandenen Antizionisten wie Karam Khella dar-
um, den „entnazten Nazis“15 etwa des Kommunistischen Bundes das neurotische Schuldgefühl zu
nehmen, ihnen die Differenzierung von ,Antizionismus’ und Antisemitismus’ beizubringen und so
nach und nach einen linken Antisemitismus aufzubauen. Von verschiedenen Richtungen arbeitet
man sich in antagonistischer Kooperation zum gleichen Ergebnis vor und es steht zu vermuten,
daß man sich im Zeichen entsorgter Schuldgefühle auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einer
,nationalen Identität’ begegnen wird, die dann jede Fraktion nach Maßgabe der Bedürfnisse ihrer
jeweiligen Klientel wahlweise links und antiimperialistisch oder rechts und nationalrevolutionär
verkaufen kann.
Unter der Etikette des Antizionismus kommt die Rehabilitierung Deutschlands durch
Linke zu ihrem ebenso trostlosen wie allerdings konsequenten Ende: Der Antizionismus ist so eine
Art Abglanz des Historikerstreits durch die revolutionäre Unschuld. Das chronisch gute Gewissen
dieser Ausgabe von Antiimperialismus beruft sich umstandslos auf Yassir Arafat, der ja, als Be-
freiungsnationalist, nur recht haben kann, wenn er erklärt: „Die Nazis haben keine Menschen le-
bend begraben, den Leuten nicht die Knochen gebrochen und keine schwangeren Frauen umge-
bracht.“16 Was aus der Perspektive Arafats bestenfalls verständlich, darum aber noch lange nicht
richtig ist, das wird deutschen Linken zum Persilschein: Im Konflikt der Nationalismen beziehen
sie umstandslos Partei fürs gute Volk und machen sich nichts draus, wenn der gleiche Arafat einen
Waldheim für seinen mutigen Widerstand gegen die Verleumdungen der „zionistischen Weltpres-
se“17 lobt.
Der Gleichsetzung Israels mit Nazideutschland ging der alternativ betriebene Rollen-
tausch der Deutschen mit den Juden voraus. Jahrelang galten die Deutschen als die wirklichen

13
Zitiert nach Leon Brandt; Menschen ohne Schatten. Juden zwischen Untergrund und Untergang 1938 bis
1945, Berlin 1984, S. 55
14
Ernst Nolte; Vergangenheit, die nicht vergehen will, zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6.6.86,
zitiert nach: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsoziali-
stischen Judenvernichtung, München 1987, S. 41
15
Karam Khella; Der Imperialismus sitzt in den Köpfen der Linken. Oder: Warum die entnazten Nazis Israel
unterstutzen und die Solidarität mit dem palästinensischen Volk verweigern, in: Arbeiterkampf Nr. 292
v.7.3.88, S. 32
16
Frankfurter Rundschau v. 20.2.88, S. 1.
17
Pflasterstrand v. Januar 88
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 5

Opfer. Ökopazifistisch wurde die Rede vom ,Holocaust’ zur linken Gesinnungsbrosche, wurde der
Holocaust zum ebenso abstrakten wie unmittelbar verfügbaren Gleitmittel politischer Identitätsfin-
dung. Noch die letzte Bürgerinitiative gegen Straßenbau stellte Schilder auf wie jenes in Freiburg-
Ebnet: „Hier werden unschuldige Menschen vergast“; und noch die letzte Aktionsgruppe für Frie-
den und Gewaltlosigkeit wußte genau, daß der „atomare Holocaust“ droht. Während Alice
Schwarzer die Frauen zu den Juden von heute erklärte, hefteten sich um Amt und Würde gebrachte
linke Lehrer den gelben Stern mit der Aufschrift „Opfer des Berufsverbots“ ans Revers. Man er-
klärte sich zum Opfer und die gleichen Leute, die den Faschismus für vergangene deutsche Stein-
zeit hielten, wußten merkwürdig genau über die Pershing II und ihren Bunkerbrechkoeffizienten
Bescheid. Man halluzinierte sich regelrecht in einen Angstrausch hinein und suchte verzweifelt
nach irgendeinem Stimulanz, das die Menschen durch alle Fassaden des Konsums und der Mani-
pulation hindurch zur widerständigen Gemeinschaft brächte.
Die Suche nach einer ,Identität’, die man dem Teutozid entgegensetzen konnte, grassierte
und je mehr man sich als Opfer halluzinierte, desto mächtiger wurde der Traum einer Sache, von
der man dann nur noch den Begriff brauchte, um sie wirklich zu haben: nationale Identität.18 Jetzt
ist es heraus und der ökopazifistische Mittelstand gesteht freudig, was er damals nicht einmal ah-
nen wollte. Alfred Mechtersheimer offenbart sich: „Für mich war immer klar (...): Eigentlich geht
es nicht um eine Raketendiskussion, sondern um die deutsche Frage.“19
Der Antiimperialismus vollzieht mit der PLO als der Projektionsfläche seiner eigenen
Begeisterung für Volk und Heimat nur nach, was ihm die bürgerliche Friedensbewegung am Bei-
spiel Pershing vorexerzierte. Hier darf man wieder vom Volk reden und somit endlich zum Eigent-
lichen kommen. Ein Flugblatt der Freiburger Nahost-Gruppe spricht wie selbstverständlich von
der „Identität im Volk“, von der „nationalen Identität“ – vorerst noch in Palästina – und kritisiert
die israelische Politik in gut völkisch-deutscher Manier: „(Die Imperialisten) zerstören die sozialen
Zusammenhänge der Menschen und vertreiben sie von Land und Boden. Damit vernichten sie ihre
Würde und Identität. Die völlige Entwurzelung und die Eingliederung in den Verwertungsprozeß
der Herrschenden bedingen (...) sich gegenseitig.“20 Dem Antiimperialisten ist der Mensch – sieht
man vom Vorwand Palästina einmal ab – eine Pflanze mit Standortschutz und die Gesellschaft ein
Biotop, oder eben: Heimat. Lange wird es wohl nicht mehr dauern, bis auch sie ihren Mechters-
heimer finden.
Die Palästinenser sind die bloße Gelegenheit für die antiimperialistische Suche nach na-
tionaler Identität, die eben in Deutschland – Nolte, Hillgruber, Stürmer machen es vor – ohne die
Relativierung von Auschwitz zum bloßen Symbol menschlich-allzumenschlicher Grausamkeit
nicht zu haben ist, ein Nationalismus, der notgedrungen antisemitische Parolen bedient. Es ist dann
nur allzu konsequent, daß sich in antizionistischen Texten nirgends auch nur die harmloseste Kri-
tik am Nationalismus der PLO findet. Nirgends findet sich etwa eine Kritik des Artikels 4 der
immer noch gültigen Nationalcharta der PLO vom Juli 1968, die heute noch gilt, und in der es
heißt: „Die palästinensische Identität ist ein echtes, essentielles und angeborenes Charakteristikum;
sie wird von den Eltern auf die Kinder übertragen.“21 Es ist dies eine Definition von Identität als
Erbkrankheit, aus der sich ein Begriff von Volk ableiten läßt, der auch dem Schlesierverband keine
Schande machen würde. Ein Antiimperialismus, dem dies nicht zum Problem wird, läßt schon
durchblicken, daß er unter ’Imperialismus’ bestenfalls Fremdherrschaft verstehen möchte und so
den Kampf für den mit sich identischen, rassisch homogenen Volkskörper zu legitimieren gedenkt.
1967 hatte die BRD-Linke einen sympathischen Geburtsfehler: Sie begann nicht nur zu
ahnen, wohin sie wollte, sondern wußte überdies genau, woher sie kam. Heute will sie nicht mehr
wissen, daß sie im Hause des Henkers lebt und verlangt daher nach nationaler Identität und poli-
tisch auf radikal getünchter Volksgemeinschaft. Mit Argumenten und Gründen ist dies Bedürfnis
wohl kaum widerlegbar – es geht hier nicht um Reflexion, sondern um Interesse. „Wer Antisemit
ist, nimmt die Argumente, die ihm gerade am nächsten sind. Wenn er keine findet, wird es ihn
auch nicht bekehren. (...) Wenn es keine Juden gäbe, müßten die Antisemiten sie erfinden“,
schrieb Hermann Bahr schon 1894.22
Diesem Bedürfnis beizukommen, ist eine Machtfrage, keine der Diskussion. Über den
Antisemitismus läßt sich nicht im strengen Sinne diskutieren, darüber kann man sich nicht verein-
baren, keine Mehrheitsbeschlüsse fassen und keinen Konsens herstellen. Der Antisemitismus ist
eine absolute Grenze der Kommunikationsgemeinschaft und keine wie immer geartete Erklärung,
18
Vgl. Initiative Sozialistisches Forum (Hg); Frieden – Je näher man hinschaut, desto fremder schaut es
zurück. Zur Kritik einer deutschen Friedensbewegung, Freiburg 1984
19
Zitiert nach Bruno Schoch; Türöffner für andere, in: Links. Sozialistische Zeitung Nr. 212, November 1987,
S. 11.
20
Flugblatt „Die Verteidigung der Lager ...“, a.a.O. (Fn. 4)
21
Zitiert nach Susann Heenen-Wolf; Erez Palästina. Juden und Palästinenser im Konflikt um ein Land,
Frankfurt 1987, S. 147
22
Zitiert nach Paul W. Massing; Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1986, S. 109
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 6

keine noch so feinfühlige, gar therapeutische Kritik des antisemitischen Subjekts, keine noch so
raffinierte soziologische Ableitung vermag den Skandal zum Verständnis zu verfälschen. „Der
Bekehrungsversuch am Antisemiten ist im Grunde ein Widerspruch in sich. Dessen muß jedes
Unternehmen heute eingedenk sein, das Verständigung sich zum Ziele setzt. Es richtet sich, von
den schon Gewonnenen, die der Ermutigung bedürfen, an solche, denen es im Grunde mit der
Wahrheit ernst ist.“23
Nur in diesem Sinne sollen im folgenden einige derjenigen politischen Ideologien darge-
stellt und kritisiert werden, die die Linke in den Jahren nach 1968 als revolutionär mißverstehen
wollte und in deren Gewand sie sich in Richtung des nun manifest werdenden neuen Antisemitis-
mus von links, der als Antizionismus auftritt, vorarbeitete. Alle diese Strategeme sind ohne die
Rezeption des Marxismus-Leninismus durch große Teile der Studentenbewegung und ohne ihren
daraus abgeleiteten Versuch, die kommunistischen Politiken der 20er Jahre erneut aufzuführen,
nicht zu verstehen. Der Marxismus-Leninismus ist die proletarische Ideologie bürgerlicher Revo-
lutionäre. Sein Grunddogma, die Arbeiterklasse sei aus eigener Logik nur zu einem reformisti-
schen Bewußtsein fähig, übte auf die linken Intellektuellen seinen besonderen Reiz deswegen aus,
da der ,wissenschaftliche Sozialismus’ als Arbeit klassenverräterischer Akademiker dem proletari-
schen Bewußtsein von außen imputiert, „in die Klasse hineingetragen“ werden sollte. Trotz revo-
lutionärer Praxis gab so der Marxismus-Leninismus den Intellektuellen die Garantie, in der Tei-
lung von planender und ausführender Arbeit, in der Trennung von geistiger und körperlicher Ar-
beit ihren Rang in der Hierarchie zu behalten oder gar diesen Rang erst zu erobern. Der objektive
Korpus des Klassenbewußtseins sollte durch die Partei mit dem proletarischen Spontanbewußtsein
vermittelt werden – eine Vermittlungsleistung, die nur als quasi-staatliche Arbeit zu organisieren
war. Die Revolutionäre betrachteten sich als Volksstaat im Untergrund – das Ergebnis 1917 war
denn auch danach: Staatskapitalismus, der, allen Aussagen der Marxschen Kritik der Politischen
Ökonomie zuwider, sein Credo in der Idee fand, man müsse das ,Wertgesetz’ endlich einmal rich-
tig anwenden.24
In diesem Sinne ist auch die leninistische Behandlung der Nationalitätenfrage zu verste-
hen und insbesondere die gängige Rede vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, die heute noch
unter Antiimperialisten zur säuberlichen Trennung eines schlechten (metropolitanen) von einem
guten (peripheren) Nationalismus dient. Der Leninsche proletarische Internationalismus war be-
strebt, zugleich als Anwalt des wahren Nationalismus aufzutreten und kannte zwei revolutionäre
Subjekte, die durch die Partei zur Einheit vermittelt werden sollten: Klasse und Volk. Das Recht
auf Selbstbestimmung der Nationen ist nicht zu denken ohne den ausgemachten Idealismus, der
Staat, zumindest der revolutionäre, könne realer Ausdruck des Willens seiner Angehörigen sein. In
dieser Rede trafen sich der demokratische Bourgeois Wilson und der revolutionäre Jakobiner Le-
nin – und auch Theodor Herzl sollte sich in seinem Buch: „Der Judenstaat“ darauf berufen. Der
Doppelcharakter revolutionärer Subjektivität im Leninismus ist zugleich Ausdruck des Doppelcha-
rakters der russischen Revolution: Als Janus schaut sie zu den westeuropäischen Arbeiterklassen
und zu den östlichen, peripheren Volksmassen zugleich.
Der ’Sozialismus in einem Land’ ist der konsequente Ausdruck dieser Verdopplung: Ein-
heit von Sozialismus und Nation, nationaler Sozialismus, Staatssozialismus, der sich einbildet, die
Ideologie des politischen Verhältnisses endlich wahrgemacht zu haben und so den Staat zum
„Staat des ganzen Volkes“ (Programm der KPdSU) befreit zu haben. Schon 1917 und danach war
diese Konstruktion in der Arbeiterbewegung bestritten worden: Rosa Luxemburg nannte das „fa-
mose Selbstbestimmungsrecht der Nationen (...) eine hohle kleinbürgerliche Phraseologie und
Humbug“, kritisierte den revolutionären Gebrauch der „nationalistischen Phrase“ – und auch die
Gruppe der Proletarischen Antibolschewisten um Anton Pannekoek und Hermann Gorter führte
diese Kritik.25
Es ist symptomatisch für die proletarische Wende der antiautoritären Bewegung, daß sie
diese Kritiken – die gerade erst dem stalinistisch und faschistisch produzierten Vergessen entrissen
worden waren – nie systematisch zur Kenntnis nahm. Der Wunsch nach einer Revolutionsmecha-
nik war übermächtig und nebenbei hatten die Kritiken Luxemburgs und Pannekoeks den Nachteil,
daß sie nicht der Leninschen autoritären Auffassung vom Klassenbewußtsein verpflichtet waren.
Sehen wir zu, wie sich die Linke, vermittelt über das Leninsche Selbstbestimmungsrecht
der Nationen, den Antizionismus einhandelte, der, zuerst revolutionär gemeinte Phrase, kurz da-
nach umschlug in die Rede von Volk und Staat. Was ist denn eine Nation, was sind ihre wesentli-
23
Max Horkheimer; Über die deutschen Juden (1961), in: Ders.; Gesammelte Schriften Band 8, Frankfurt
1985, S.173
24
Vgl. Initiative Sozialistisches Forum; Der Staatskapitalismus – das Trauma der Revolution, in diesem Band
25
Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands; Die Gegensätze zwischen Luxemburg und Lenin, (1935),
in: Dies.; Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung und andere Schriften, hrsg. v. Gott-
fried Mergner, Reinbek b. Hamburg 1971, S. 168 ff. Vgl. auch dies.; Thesen über den Bolschewismus, (1934),
Berlin o.J.
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 7

chen Kriterien, wie steht die Nation zum Staat, und was macht erst ein Volk zur Nation? Was für
ein Problem bewegt etwa die antizionistische „Autonome Nahost-Gruppe Hamburg“, wenn sie den
Juden den Charakter, Nation zu sein, bestreitet und damit zugleich das Recht der Israelis auf ihren
Staat? Die Nahost-Gruppe Hamburg meint, die „Zerstörung des zionistischen Staatsgebildes“ sei
unabdingbar und begründet ihren Standpunkt wie folgt:
„Die grundlegende Frage, ob die Juden ein Volk sind, d.h. ein nationales Recht beanspru-
chen können, hat für die palästinensische nationale Revolution eine grundsätzliche Bedeutung.
Eine klare Beantwortung dieser Frage war für die palästinensischen Revolutionäre eine Vorausset-
zung, um das Programm der national-demokratischen Revolution festlegen zu können, genauso
wie sie für uns selbst eine Voraussetzung ist, um dieses Programm überhaupt zu verstehen. Die
Antwort auf diese Frage ist im Artikel 20 der Nationalcharta von 1968 eindeutig festgelegt: ,(...)
Die auf den historischen und religiösen Verbindungen der Juden mit Palästina gegründeten An-
sprüche sind mit den historischen Fakten ebenso unvereinbar wie mit einer richtigen Auffassung
der Voraussetzungen für eine Staatsbildung.’ Warum die Juden die Voraussetzung für eine Staats-
bildung nicht erfüllen, wird durch die nachfolgenden Sätze begründet: ,Das Judentum als Religion
ist keine Nationalität mit eigenständiger Existenz. Des weiteren stellen die Juden kein eigenes
Volk mit eigener Selbständigkeit dar, vielmehr sind sie Bürger des Staates, dem sie angehören.’
„Mit anderen Worten: Im befreiten Palästina soll den Juden kein nationales Recht zugestanden
werden. Die bürgerlichen Freiheiten, die sie dann genießen werden, können ihre Assimilation nur
erleichtern und fördern.“26
Das konsequente Resultat dieser Argumentation besteht in der Behauptung, daß „der
Staat Israel nicht das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes verkörpert“27, daher ein „ille-
gales Gebilde“28 darstelle, daher unter die Auspizien der Verwirklichung von Recht vernichtet
gehört. Die Geschichte der Staatsgründungen erscheint hier als die Geschichte der Realisierung
von Recht. Lassen wir vorerst den autonomen Zynismus einmal bei Seite und erregen uns nicht
über die revolutionäre Unschuld der These, die Juden seien „Bürger des Staates, dem sie angehö-
ren“. Dem autonomen und antiimperialistischen Weltbild erscheint der legitime Staat als Inkarna-
tion von Recht – Staaten haben offenkundig den schönen Auftrag, die Rechte des Subjekts Volk zu
realisieren. Dieses Volk hat homogen zu sein, d.h. es muß eigenständig sein, will es ‚nationale
Rechte’ geltend machen. Wenn ein Volk glaubt, diese Qualifikationen erfüllen zu können, hat es
sich an das autonome Katasteramt in Hamburg oder Freiburg zu wenden, das alles sorgfältig prüft
und dann, wenn alle „Voraussetzungen für eine Staatsbildung“ vorliegen, die jeweilige Staats-
gründung genehmigt. Man hat sich dieses Verfahren wohl so vorzustellen, als ginge es um eine
Kneipenlizenz oder einen BAFöG-Antrag. Die Naivität dieser Auffassung entspricht derjenigen
der bürgerlichen Theorien über den Gesellschafts-, den Staatsgründungsvertrag; von der Gewalt,
die immer nötig war, souveräne Staaten zu installieren, findet sich weder im Leninschen Selbstbe-
stimmungsrecht noch in seinen bürgerlichen Vorläufern eine Spur. ,Alle Gewalt geht vom Volke
aus’ – der bürgerliche Idealismus leugnet konsequent, daß es ohne eine ursprüngliche politische
Akkumulation29 ohne ein Gründungsverbrechen ganz und gar unmöglich ist, überhaupt nur zwi-
schen Gewalt und Recht unterscheiden zu können. Niemand hat ein Recht auf Staat, der nicht die
Gewalt dazu mobilisieren kann; die Staatsgewalt ist sich in dieser Frage die letzte, die sich selbst
begründende Instanz also, gegen die mit rechtlichen Mitteln kein Einspruch und keine Revision
mehr möglich ist. Die Frage, ob Israel zu Recht ein Staat ist, ist durch die Staatsgründung längst
entschieden und somit gegenstandslos. Dieses Recht anders als durch Gewalt zu bestreiten ist
allein durch linksromantische und letztlich völkische Spekulation über Religion, Herkunft, Spra-
che etc. möglich: Die Juden sind Bürger des Staates, dem sie angehören, d.h. in diesem Fall eben
des israelischen Staates. Oder anders: Wenn schon nicht dadurch, daß die Juden von den Nazis und
gegen ihren Willen zum Volk gemacht worden sind, so sind sie spätestens durch die Gründung des
Staates Israel zur Nation geworden.
Der autonome und antiimperialistische Standpunkt in Sachen Selbstbestimmungsrecht
setzt, obwohl er sie verschweigt, immer schon eine über den Staaten stehende Instanz voraus, eine
letzte Instanz also, die die Fähigkeit und die Macht zur Anerkennung im Recht und zur Garantie
dieses Rechts fraglos besitzt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt – der autonome
Romantizismus dagegen meint, beim Streit gleicher Rechte habe derjenige zu siegen, der den
Nachweis führen kann, für ein „eigenständiges Volk“ zu sprechen. Der Streit um die Frage, was
denn ein Volk als Volk ausmacht, kommt in letzter Instanz wiederum ohne einen mindest diskre-
ten Rassismus nicht aus. Das ,Erbgut’ nimmt dann die funktionale Stelle der letzten Instanz ein;

26
Stellungnahme der Autonomen Nahost-Gruppe Hamburg; in: Arbeiterkampf Nr.291 v. 8.2.88, S.36 f., hier
S. 37
27
Vgl. Fn. 3
28
Vgl. Fn. 4
29
Louis Althusser; Die Einsamkeit Machiavellis, in: Ders.; Schriften 2, Hamburg 1987, S.ll-32
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 8

aber in völliger Ohnmacht.


Wie gesagt: Die Rede vom Selbstbestimmungsrecht setzt immer schon eine über dem
Recht als Bedingung des Rechts stehende Instanz voraus. Wären die Autonomen und Antiimperia-
listen einer wissenschaftlichen Kritik zugänglich, ginge es ihnen also um die Wahrheit, nicht um
Interesse, dann müßte man ihnen auch nicht die Grundlagen ihrer eigenen Theorie erklären.
J. W. Stalin hat diese Theorie 1913 in seiner Schrift „Marxismus und nationale Frage“
gegeben, und es ist diese Schrift, die den marxistisch-leninistischen Standpunkt zu diesem Thema
bis heute gültig formuliert (mit Lenins höchstem Segen übrigens). Stalin untersucht hier die Theo-
rie der österreichischen Sozialdemokratie in der Nationalitätenfrage, die Schriften Otto Bauers,
Karl Renners und Josef Strassers. Er kann dies, weil der österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat
die gleichen Probleme stellt wie der russisch-zaristische: Wie kann die übergreifende Souveränität
bewahrt und revolutionär angeeignet werden, wie kann verhindert werden, daß die Souveränität
durch die Konkurrenz der internen Nationalismen zerstört wird, wie kann der Sozialismus den
Nationalismus paralysieren oder sich seiner gar bedienen? Stalin untersucht nun, wie die Austro-
marxisten den Begriff der Nation auffassen. Seine Frage: „Was ist eine Nation?“30 kann von vorn-
herein die Unterscheidung zwischen „nationaler Gemeinschaft“ und „Staatsgemeinschaft“ voraus-
setzen: Die dritte Instanz, die Souveränität, die zwischen gleichen Rechten zu entscheiden vermag,
ist ja immer schon präsent und es ist daher kein Zufall, daß die stalinistische Argumentation der
Kasuistik eines juristischen Beweisverfahrens ähnelt. Es geht nur um die Frage, welche internen
Nationen der Staatsgemeinschaft des Rechtes für teilhaftig erklärt werden können, von der Souve-
ränität anerkannt zu werden. Stalin kann die für ihn selbstverständliche Basis seiner Argumentati-
on als evident setzen, weil die Macht zur Anerkennung der Nationen offenkundig präsent ist. Er
erörtert nun die austromarxistischen Autoren, entwickelt die Widersprüche und kritisiert den sub-
jektiven Nationbegriff etwa Otto Bauers, der von der Sprache ausgeht. Bauer schreibt: „Ist es die
Gemeinschaft der Sprache, die die Menschen zu einer Nation vereint? Aber Engländer und Iren
(...) sprechen dieselbe Sprache und sind darum noch nicht ein Volk; die Juden haben keine ge-
meinsame Sprache und sind darum doch eine Nation.“31
Nach und nach geht an den Bauerschen Definitionsversuchen auf, daß kein wie immer
geartetes intersubjektives Kriterium – weder Herkunft, noch Religion, weder Sprache, noch Kultur
– zum objektiven Kriterium erklärt werden kann. Keine vorstaatliche Allgemeinheit kann genau
jene Verbindlichkeit erlangen, die einer staatlich gesetzten Allgemeinheit allein zukommt: Zwi-
schen den diversen Kriterien und ihrer Geltung steht immer der Akt der Staatsgründung. Bauer,
der das Problem noch nicht einmal im Sinne der Stalinschen stillschweigenden Voraussetzungen
kennen mag, gelangt daher konsequent zu einem psychologischen Begriff der Nation: „Die Nation
ist die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Cha-raktergemeinschaft verknüpften
Menschen.“32 Damit wird Nation zu einer in das subjektive Belieben des Individuums gestellten
Qualität: Zu einer Nation gehören nur die, die sich selber für zugehörig erklären. Nationalität ist
damit zur Privatsache geworden wie die Religion im säkularen Zeitalter – die Nation wird zur
„alltäglichen Volksabstimmung“33.
Die politische Konsequenz Bauers ergibt sich zwanglos: Der Vielvölkerstaat soll durch
die „national-kulturelle Autonomie“ gekittet werden. Die übers gesamte Territorium verstreuten
Nationalitäten erklären, in wiederholbarer Abstimmung, ihre Zugehörigkeit zum jeweiligen natio-
nalen Verband, der die Gemeinsamkeiten repräsentiert und organisiert. Damit mag sich Stalin
nicht anfreunden, er wittert die Tendenz zum Föderalismus, zur Dezentralisierung. Er sucht nach
einem objektiven Nationbegriff und findet ihn durch die Kombination aller von den Austromarxi-
sten angesprochenen Merkmale: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft
von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des
Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen We-
sensart.“34 Stalin betont die Unverzichtbarkeit aller dieser Bestimmungen. Erst zur Gänze erfüllt,
konstituieren sie die Nation: „Es muß hervorgehoben werden, daß keines dieser angeführten
Merkmale für sich, einzeln genommen, zur Begriffsbestimmung der Nation ausreicht. Mehr noch:
Fehlt nur eines dieser Merkmale, so hört die Nation auf, eine Nation zu sein. (...) Nur das Vorhan-
densein aller Merkmale zusammen ergibt eine Nation.“35
So aberwitzig es ist, anzunehmen, einzelne empirische Definitionen ergäben in ihrer Ad-
dition einen politischen oder gar philosophischen Begriff – ebenso aberwitzig wie der Glaube, die
30
J. W. Stalin; Marxismus und nationale Frage, (1913), in: Ders.; Werke Bd.2, (1907-1913), Dortmund 1976,
S.266-333, hier S. 269
31
Zitiert nach Stalin; a.a.O., S. 273
32
Zitiert nach ebd.; S. 274
33
Dies ist die Konsequenz des subjektiven Nationbegriffes, wie sie Ernest Renan 1882 in seiner Schrift:
„Was ist eine Nation?“ vertreten hat – vgl. Elie Kedourie; Nationalismus, München 1971, S. 83
34
Stalin; a.a.O., S. 272
35
Ebd
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 9

Aufzählung aller Funktionen des Geldes ergäbe seinen Begriff – so effektiv und praktisch ist das
Stalinsche Resultat. Über den Aspekt des Territoriums hat er doch wieder die bereits als Staat
konstituierte Nation hineingeschmuggelt, deren Konstitution zur Einheit er doch gerade untersu-
chen wollte: Territorium ist nicht denkbar ohne Grenze, ohne Exclusivität – was die Grenze kon-
stituiert, ist gerade der Souverän36. Die Schwierigkeit liegt also in der Sache selber, sie ist eine
dialektische Angelegenheit, der auf rational-definitorischem Weg ebensowenig beizukommen ist
wie anderen Phänomenen kapitalistischer Vergesellschaftung: Die Souveränität begründet sich aus
sich selber, aus Gewalt, und ist nicht, wie die Definitionen vorgeben wollen, ein abgeleitetes Re-
sultat empirisch auftretender Bestimmungen.37
Sehen wir nun zu, wie der Stalinsche Nationbegriff zwangsläufig in Antizionismus um-
schlägt, wobei allerdings bemerkt werden muß, daß dieser Antizionismus erst einmal nicht des
Antisemitismus zu verdächtigen wäre – erst das Fortwesen seiner Inhalte nach 1945 erfüllt, gerade
in der deutschen Linken, diesen Tatbestand.38
Das große Problem des Stalinschen objektiven Nationbegriffes sind nun – und das Zitat
aus Otto Bauer deutet es bereits an – die Juden. Da sie kein einheitliches Territorium bewohnen,
trifft zwar der Bauersche, nicht aber der Stalinsche Begriff auf sie zu. Es ist nicht übertrieben, zu
behaupten, daß der gesamte Text Stalins, der zur Grundlage der marxistisch-leninistischen Be-
handlung der Nationalitätenfrage avancierte, den Begriff der Nation letztlich ex negativo zu den
Juden entwickelt und einzig dem fraktionellen Zweck gewidmet ist, die Übernahme der austro-
marxistischen Theorie durch die jüdisch-sozialistische Arbeiterbewegung, den „Bund“, zu be-
kämpfen. Das aus dem objektiven Nationbegriff folgende Recht auf Selbstbestimmung setzt ein
territorial organisiertes Kollektiv voraus; es ist ein Recht, das dem jüdischen Sozialismus aus-
drücklich bestritten werden soll. Stalin schreibt:
„Bauer spricht von den Juden als Nation, obgleich sie ,keine gemeinsame Sprache’ haben,
aber von was für einer ‚Schicksalsgemeinschaft’ und nationalen Verbundenheit kann, sagen wir,
bei den georgischen, daghestanischen, russischen und amerikanischen Juden die Rede sein, die
voneinander gänzlich getrennt sind, auf verschiedenen Territorien leben und verschiedene Spra-
chen sprechen? Die erwähnten Juden führen zweifellos mit den Georgiern, Russen und Amerika-
nern ein gemeinsames wirtschaftliches und politisches Leben, in einer gemeinsamen Kulturatmo-
sphäre mit ihnen; dies muß zwangsläufig ihrem Nationalcharakter seinen Stempel aufdrücken;
wenn ihnen etwas gemeinsames verblieben ist, so ist es die Religion, die gemeinsame Abstam-
mung und gewisse Überreste eines Nationalcharakters. Das alles steht außer Zweifel. Wie kann
man aber ernstlich behaupten wollen, daß verknöcherte religiöse Riten und sich verflüchtigende
psychologische Überreste auf das .Schicksal’ der erwähnten Juden stärker einwirken als das leben-
dige sozialökonomische und kulturelle Milieu, worin sie leben? Aber nur unter dieser Vorausset-
zung kann man ja von den Juden schlechthin als einer einheitlichen Nation sprechen. Worin aber
unterscheidet sich denn die Nation Bauers von dem mystischen und sich selbst genügenden
,Nationalgeist’ der Spiritualisten? Bauer reißt eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem ‚Unter-
scheidungsmerkmal’ der Nation (dem Nationalcharakter) und den ‚Bedingungen’ ihres Lebens auf,
indem er sie voneinander trennt. Was ist denn aber der Nationalcharakter anderes als die Wider-
spiegelung der Lebensbedingungen, als ein Niederschlag von Eindrücken, die aus dem Milieu,
worin die Menschen leben, aufgenommen werden? Wie kann man sich allein auf den Nationalcha-
rakter beschränken, und ihn von dem Boden, der ihn erzeugt hat, absondern und trennen? (...)
Bauers Standpunkt, der die Nation mit dem Nationalcharakter identifiziert, löst die Nation von
ihrem Boden los und verwandelt sie in eine selbstgenügsame, in eine unsichtbare Kraft. Es ergibt
sich nicht eine Nation, die lebt und wirkt, sondern etwas Mystisches, Ungreifbares und Jenseitiges.
Denn, wie gesagt, was für eine jüdische Nation ist das, (...) deren Mitglieder einander nicht verste-
hen, (...), in verschiedenen Teilen des Erdballs leben, einander niemals sehen, niemals, weder im
Frieden noch im Krieg, gemeinsam vorgehen werden?“39
Nicht zuletzt an den Juden gewinnt Stalin seinen Nationbegriff. Nun könnte gefragt wer-
den, ob nicht die Bauersche ,Schicksalsgemeinschaft’ als Gemeinschaft der Verfolgung begriffen
werden muß. Zumindest aber ist deutlich, daß selbst die geltend gemachten Kriterien – auf deren
Grundlage die modernen Antizionisten das Existenzrecht Israels bestreiten wollen – für den Staat
und die Nation Israel gelten. Ihr Antizionismus hat offensichtlich andere Gründe, kommt aber mit

36
Vgl. Stefan Breuer, Nationalstaat und pouvoir constituant bei Sieyes und Carl Schmitt, in: Ders.; Aspekte
totaler Vergesellschaftung, Freiburg 1985, S. 176-198 und Dan Diner; Israel in Palästina. Über Tausch und
Gewalt im Vorderen Orient, Königstein 1980, S. 87 f.
37
Vgl. in diesem Band: Abschaffung des Staates. Über das Verhältnis von marxistischer und anarchistischer
Staatskritik
38
Vgl. Joachim Heydorn; Judentum und Antisemitismus, in: Ders.; Konsequenzen der Geschichte. Politische
Beiträge 1946-1974, Frankfurt 1981, S.274-320 und Heinz Brandt; Die deutsche Linke ist nicht antisemitisch;
schlimmer: sie ist philo-kremlistisch, in: Schneider/Simon 1985 (Fn. 6), S. 99-120
39
Stalin; a.a.O., S.274 ff. (unsere Hervorhebung)
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 10

Stalin darin überein, daß der Zionismus, wie es in der entsprechenden Anmerkung zur Stalin-
Werkausgabe heißt, als „reaktionär-nationalistische Strömung, die ihre Anhänger unter der jüdi-
schen Bourgeoisie, der Intelligenz und den rückständigsten Schichten der jüdischen Arbeiter“40
findet, gilt. Stalin kritisiert den sozialistisch-jüdischen „Bund“ gerade deshalb, weil er mit dem
Zionismus kollaboriere. (Die Substanz des Vorwurfs kann hier nicht analysiert werden; es soll nur
darauf verwiesen werden, daß Stalin selber um 1930 mit dem Projekt des Staates Birobidjan den
Versuch einer „nationalen Lösung der Judenfrage“ unternimmt, der allerdings mehr einem Ghetto
gleicht und nicht lange besteht.41) Stalin wirft dem „Bund“ Separatismus vor: Der Versuch, eine
längst in alle Winde zerstreute Nation wie die jüdische aufrechtzuerhalten, könne nur in Spaltung
münden, in „Desorganisation der Arbeiterbewegung“ und „Demoralisation in den Reihen der So-
zialdemokratie.“42
Stalin hält den Versuch, für die Juden ein Recht auf national-kulturelle Selbständigkeit zu
reklamieren, auch deshalb für reaktionär, weil er der objektiven, zum Sozialismus drängenden
Logik des Kapitals entgegenstünde. Die Juden sind zur Assimilation bestimmt und die Bewegung
des Kapitals ist zugleich die Erfüllung dieser Bestimmung. Der Kapitalismus, so Stalin, ist die
automatische Lösung der „Judenfrage“: „Kurzum: Die jüdische Nation hört auf zu existieren – für
wen sollte man also die nationale Autonomie fordern? Die Juden werden assimiliert. (...) Die Sa-
che ist vor allem die, daß die Juden keine mit der Scholle verbundene breite stabile Schicht haben,
die auf natürliche Weise die Nation nicht nur als ihr Gerippe, sondern auch als ‚nationalen’ Markt
zusammenhält. (...) Als nationale Minderheiten in fremdnationale eingesprenkelt, bedienen die
Juden somit vernehmliche ,fremde’ Nationen, sei es als Industrielle und Händler, sei es als Ange-
hörige freier Berufe, wobei sie sich naturgemäß den ,fremden Nationen’ in der Sprache usw. an-
passen. Alles dies führt infolge der zunehmenden Durcheinanderwürfelung der Nationalitäten, die
den entwickelten Formen des Kapitalismus eigen ist, zur Assimilation der Juden. (...) Das aber ist
ein objektiver Prozeß. Subjektiv, in den Köpfen der Juden, ruft er eine Reaktion hervor und wirft
die Frage einer Garantie der Rechte der nationalen Minderheit, einer Garantie gegen die Assimila-
tion auf.“43 Und Stalin zitiert einen Bolschewisten, der einem „Liquidator“ vom „Bund“ vorhält,
sein auf national-kulturelle Autonomie zielender Antrag sei „(...) rein nationalistischer Natur. Man
verlangt von uns eine rein offensive Maßnahme zur Stützung selbst derjenigen Nationalitäten, die
im Aussterben begriffen sind.“44
Kurzum: Die Juden werden assimiliert – gefragt werden müssen sie nicht, und, wenn sie
nicht einverstanden sein sollten, handelt es sich um eine falsche, weil subjektive Widerspiegelung
des objektiv auf Sozialismus zielenden Geschichtsprozesses. Wir wollen hier nicht in die Diskus-
sion der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie einsteigen und auch nicht den Kapitalbegriff
des Marxismus-Leninismus diskutieren – diese Fragen sind zur Genüge behandelt, mit dem Er-
gebnis, daß die Erkenntnistheorie nur eine mit nach Marx klingender Phraseologie aufgefütterte
frühbürgerliche Milieutheorie darstellt, die den Begriff der Ideologie nach dem Muster von Religi-
on und Priesterbetrug mißverstehen muß45 und mit dem weiteren Ergebnis, daß die Kapitaltheorie
des Marxismus-Leninismus gar keine Kapitalkritik enthält, eine reine Zirkulationstheorie ist und
den ’Rationalismus’ der Fabrik gegen den ,Irrationalismus’ der Marktanarchie ausspielt.46 All dies
gehört in eine Kritik des Marxismus-Leninismus als der Theorie einer ungleichzeitigen bürgerlich-
demokratischen, mit jakobinischen Mitteln durchgeführten Revolution, deren Resultat als Staats-
kapitalismus zu bezeichnen wäre. Aber weil die marxistisch-leninistische Theorie mit nur der
Zirkulation geschuldeten Begriffen arbeitet, darum ist sie genötigt, die Rede vom bodenlosen Volk
zu bedienen und den Juden den Mangel einer „Scholle“ vorzuwerfen: Schemata, die zum antisemi-
tischen Diskurs gehören. Stalin hat – wie die gesamte zeitgenössische Sozialdemokratie (dazu
unten) – vom modernen Antisemitismus nichts begriffen, ihn vielmehr unter die feudale Gesell-
schaft rubriziert. Sein völliges Mißverständnis kapitalistischer Vergesellschaftung ist schon in dem
Vorwurf an Otto Bauer sichtbar, dieser verwandle den Begriff der Nation „in eine selbstgenügsa-
me, unsichtbare Kraft“: Darin streift er den dialektischen Begriff der Souveränität, aber nur, um
ihn zugunsten vermeintlicher Konkretion sogleich als „etwas Mystisches, Unangreifbares und
Jenseitiges“ wieder der Rubrik „Spiritualismus“ zuzuordnen. Der Marxismus-Leninismus kannte
zwei revolutionäre Subjekte – Klasse und Volk -, weil er im Begriffe war, eine Revolution im

40
Ebd., Anmerkung 131, S. 364
41
Vgl. Jakob Taut; Judenfrage und Zionismus, Frankfurt 1986, S.236; Isaac Deutscher, Die ungelöste Juden-
frage. Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus, Berlin 1977, S.35 ff sowie Edmund Silberner, Kom-
munisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Opladen 1983
42
Stalin; a.a.O., S. 315
43
Ebd., S.303 ff. (unsere Hervorhebung)
44
Ebd., S. 325
45
Vgl. Anton Pannekoek; Lenin als Philosoph, Frankfurt 1967
46
Vgl. Winfried Thaa; Herrschaft als Versachlichung. Wertabstraktion, Arbeitsteilung und Bürokratie in den
nachkapitalistischen Gesellschaften sowjetischen Typs, Frankfurt 1983
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 11

Sinne der als exemplarisch gesehenen deutschen von 1848/49 zu organisieren, also eine Revoluti-
on, die, als permanente Revolution i.S. des Kommunistischen Manifestes, nationale und soziale
Befreiung verbindet. Einer mechanistischen Geschichtsphilosophie anhängend, wird die Nation-
werdung als unabdingbar bürgerliche Revolution verstanden, die die Binnenwirtschaft entwickelt,
den Feudalismus zerstört und derart die ökonomische Basis der sozialen Revolution legt. Darin
kann die abstrakte Gleichheit aller vor dem Recht – d.h. die Homogenität eines alle Klassen über-
greifenden Volkes – nicht zum Problem werden, weil Sozialismus darin zu bestehen scheint, diese
abstrakte Gleichheit aus einer Ideologie zu einer Wirklichkeit werden zu lassen und die Gleichheit
aller im Recht zur Gleichheit aller vor den Bedingungen ihrer Reproduktion zu radikalisieren.
Das aus dem nationalen Aspekt abgeleitete ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker’ ist eine
rein antifeudale Parole und zielt auf die Installation genau jenes politischen Mechanismus, der die
Ermittlung des ,Willens eines Volkes’ objektiv erst ermöglicht: Die Herrschaft eines Parlamenta-
rismus auf der Basis des (letztendlich) zensusfreien, allgemeinen und gleichen Wahlrechts. In
diesem bürgerlichen Sinne kann es eine andere als rein formelle, nämlich abstrakt gleiche und
juristische Definition der Zugehörigkeit zum Volk nicht geben: Staatsbürger ist, wer innerhalb der
Grenzen lebt. Weder bei Marx und schon gar nicht bei den Marxisten wird nun gesehen, daß Volk
und Klasse nicht im Kontinuum eines revolutionären Prozesses stehen, sondern, je länger, desto
intensiver, einander diametral ausschließen. Das Bürgertum selber ist genötigt, im genauen Maße,
in dem die (auch schon relative) Einheit des antifeudalen Kampfes zerfällt, den rein formellen
Charakter von Staatsbürgerlichkeit aufzugeben und nach anderen, tendenziell rassistischen, min-
dest romantischen Formeln jener Einheit zu suchen, die staatlich dargestellt werden soll. In diesem
Prozeß wird die gerade eröffnete Assimilation schon wieder in Frage gestellt; der historische Mo-
ment des Privatisierens von Sprache und Herkunft, von Kultur und Religion vergeht, die politische
Abstraktion von allen ökonomischen und sonstigen Bestimmungen, die das entwickelte bürgerli-
che Rechtsverhältnis an den konkret doch verschiedenen Individuen vornimmt, schlägt um in eine
neue Konkretion, die nichts anderes nun zu Bedingungen der Staatsbürgerlichkeit erhebt als eben
jene, nun repolitisierten Momente von Sprache, Herkunft usw. Es ist dieser Prozeß, der die Assi-
milation der Juden gleich doppelt in Frage stellt: einerseits als staatsbürgerliche, andererseits als
ökonomische Emanzipation. Nation und Kapital werden zu Götzen, die nichts neben sich mehr
dulden. Die bürgerliche Regression, die den eben eröffneten menschenrechtlichen Universalismus
zurücknimmt und ihn als staatsbürgerlichen Nationalismus sowohl politisch und ökonomisch er-
füllt wie emanzipativ verleugnet, trifft die Juden gleich doppelt. Vom Standpunkt der Nation er-
scheinen sie als grenzübergreifendes Kollektiv, vom Standpunkt des sich etablierenden Kapitals
als unproduktive Agenten der Zirkulation. Der Nationalstaat grenzt sich nach außen ab und denun-
ziert den ,Kosmopolitismus’, die Nationalökonomie grenzt sich nach innen ab und denunziert den
die Waren nur vermittelnden ,Parasitismus’. Schon Hegel – der vehement für die Emanzipation
eintritt und dessen Schüler 1819 in Heidelberg bewaffnet gegen deutsche Pogromisten vorgehen47
– warnt die Juden vor der universalistischen Geringschätzung des Nationalstaats. Zwar, und dies
gegen die Judenfeinde, gilt von den Juden, „daß sie zuallererst Menschen sind und daß dies nicht
nur eine flache, abstrakte Qualität ist, sondern daß darin liegt, daß durch die zugestandenen bürger-
lichen Rechte vielmehr das Selbstgefühl, als rechtliche Personen in der bürgerlichen Gesellschaft
zu gelten, und aus diesem unendlichen, von allem anderen freien Wurzel die verlangte Ausglei-
chung der Denkungsart und Gesinnung zustande kommt.“48
Würde der Staat ihnen die Emanzipation verweigern, so hätte er insoweit formell Recht,
als die Juden sich als Volk, nicht nur als Religion verstünden – materiell jedoch würde er prinzi-
pialistisch gegen seine eigene Idee verstoßen, die ihn verpflichtet, die Realisierung des Prinzips als
Prozeß zu verstehen und ins Werk zu setzen: Homogenität, „Ausgleichung der Denkungsart“.
Einheitlichkeit der Gesinnung wird von Staatswegen „verlangt“; die staatsbürgerliche Abstraktion
von den quasi-naturwüchsigen Bestimmungen des Menschen durch Herkunft und Sprache er-
scheint in einem als Berechtigung wie als Verpflichtung. Daraus folgt: „Es gehört zur Bildung,
dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine
Person aufgefaßt werde, worin alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht
weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist. Dies Bewußtsein, dem der Gedanke
gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit – nur dann mangelhaft, wenn es etwa als Kosmopolitismus
sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen.“49
Was der Staat nach innen gewährt, das verweigert er nach außen. Die Anerkennung als
gleiches Subjekt im gesellschaftlichen Binnenverhältnis verläuft einzig über die Anerkennung des

47
Detlev Claussen; Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitis-
mus, Frankfurt 1987, S. 210
48
G. W. F. Hegel; Grundlinien der Philosophie des Rechts (§ 268), S. 421, in: Ders.; Werke in zwanzig Bän-
den, Bd. 7, Frankfurt 1970
49
Ebd., (§ 209
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 12

Souveräns, dem nach außen nicht Recht, sondern Macht zur letzten Instanz werden muß. Die ob-
jektive Illusion des bürgerlichen Naturrechts, das annimmt, den Staat einzig aus dem Gesell-
schaftsvertrag abgeleitet und konstituiert zu haben, wird an der systematischen Unmöglichkeit
eines auf dem gleichen Naturrecht basierenden Völkerrechts zur Ideologie. Am Verhältnis der
Staaten untereinander wiederholt sich der im Vertrag scheinbar suspendierte Naturzustand. Die
internationale Politik, die eine dritte, eine höhere Instanz zur Garantie der Rechte nicht kennt,
macht sichtbar, daß der Satz, zwischen gleichen Rechten entscheide die Gewalt, schon der Grund-
satz des innergesellschaftlichen Vertrages war: Damit es gleiche Rechte geben kann, muß die Ge-
walt zum Monopol erhoben sein und muß das Gründungsverbrechen, das der Vertrag ex post als
ungeschehen behauptet, vollzogen sein. Die „Form der Allgemeinheit“ (Hegel) hat die Gewalt
zum Inhalt. Der Widerspruch, die universal geltenden Menschenrechte doch als nur national gel-
tende Staatsbürgerrechte installiert zu haben (wie er das internationale Verhältnis dominiert), wie-
derholt und verschärft sich in dem Widerspruch, das abstrakt allgemeine Staatsbürgerrecht doch
nur als die Rechtsform der Subjektivität des Wertes, Kapital, organisiert zu haben (wie er das na-
tionale Verhältnis dominiert). Krieg und Revolution, nationale und soziale Frage dementieren den
bürgerlichen Universalismus. Als rein abstrakte Identität von Identität und Nicht-Identität, als
Bedingung der Einheit von Recht und Macht, von Gesetz und Ausnahme, vermag sich die Souve-
ränität weder zu erhalten noch zu legitimieren. Jean Bodin hatte die Souveränität strikt naturrecht-
lich als die Einheit im Widerspruch definiert und ausgeführt, es läge „in der Natur der Sache, daß
man sich selbst kein Gesetz geben kann und sich nicht befehlen kann, was vom eigenen Willen
abhängt.“50 Dieser frühbürgerliche Begriff entsprach der politischen Abstraktion: Souveränität trat
auf als ebenso reiner wie abstrakter Wille zur Selbsterhaltung, der sich aus seinen eigenen Voraus-
setzungen, d.h. als „selbstgenügsame Kraft“ (Stalin) konstituierte und legitimierte. Auf die gleich
doppelte Ideologie- und Praxiskritik der Souveränität durch Krieg und Bürgerkrieg antwortet das
politische Verhältnis durch die Repolitisierung der bürgerlich-revolutionär privatisierten Bestim-
mungen der Individuen. Die Zugehörigkeit zum Staat hat an sich mehr zu erweisen als am Wohn-
ort innerhalb der Grenzen. Exemplarisch vollzieht diese Repolitisierung sich unter den Bedingun-
gen ‚verspäteter Nation’, in den Nationen ohne Staat. Nation, die schon am Begriff ihrer selbst den
Naturzusammenhang der Individuen mehr weggeschoben als aufgehoben hatte, schlägt um in
Volk, virtuell in Volksgemeinschaft, die sich aufmacht, die „verlangte Ausgleichung“ (Hegel)
durch mehr als nur freundlichen Ratschlag, durch Kommando, herzustellen. Volk ohne Staat ist
Staat ohne Volk, Staat auf der Suche nach jenem Gewaltpotential, das zum Gründungsverbrechen
fähig ist. Souveränität kehrt wieder nicht als dem Anspruch nach rational konstruierte, sondern als
Naturkategorie, als außergesellschaftliche Substanz, die durch Gesellschaft wahrzumachen ist.
Souveränität leitet sich nicht länger mehr ab aus der unbewußt wirkenden Dialektik der Individu-
en, die das Allgemeine, deren Selbstbewußtsein als Souverän sich setzt, darstellt, sondern ist
selbstgesetzte, autonom konstituierte Allgemeinheit, die sich die Individuen subsumiert. In Fichtes
„Reden an die deutsche Nation“ spricht sich der neue Zusammenhang aus: „(Es geht darum), die
Deutschen zu einer Gesamtheit zu bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und be-
lebt sei durch dieselbe Angelegenheit. (Diese neue Erziehung) vernichtete die Freiheit des Willens
gänzlich und brächte dagegen strenge Notwendigkeit der Entschließungen und die Unmöglichkeit
des Entgegengesetzten in dem Willen hervor (...), wer ein solches festes Wollen hat, der will, was
er will, für alle Ewigkeit, und er kann in keinem möglichen Falle anders wollen, denn also, wie er
eben will; für ihn ist die Freiheit des Willens vernichtet und aufgegangen in der Notwendigkeit.“51
Das (deutsche) Volk erhält die Insignien der Souveränität. Die empirisch gegebenen, mit
freiem Willen ausgestatteten Individuen bringen zugleich, qua Kollektivität, die abstrakte Einheit
der blanken Notwendigkeit hervor. Volk ist gedoppelt, ein sinnlich-übersinnliches Ding, die in der
Natur der Gemeinschaft an sich schon liegende Synthese und somit eben das Dritte, das die Ge-
samtheit ausmacht. Das Festhalten am Besonderen, die Resistenz gegen die Allgemeinheit wird
zur Volksfeindschaft. Fichte: „Aber ihnen (den Juden) Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich we-
nigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzu-
setzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich
wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schik-
ken.“52
Die „allgemeine Person“ Hegels, „worin alle identisch sind“, garantiert die allgemeine
Gleichheit der Einzelnen nur insoweit, als sie über ein Drittes vergleichbar gemacht werden. Die
Gleichheit ist keine Leistung ihrer selbst, kein Akt reziproker und freier Anerkennung auch der
Differenz, sondern Vergleichung als Funktion kapitalistischer Vergesellschaftung. Nicht die „Ein-
heit des Vielen ohne Zwang“ (Adorno) liegt in der Entwicklungslogik der Vergleichung, sondern

50
Jean Bodin; Über den Staat (1583), Stuttgart 1976, S. 25
51
Zitiert nach Kedourie; a.a.O., S. 86
52
Zitiert nach Claussen; a.a.O., S. 120
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 13

die Identität aller als der bloßen Charaktermasken der Verwertung, die Identifizierung aller als die
Personen, durch die hindurch ein Anderes sich ausspricht. Es ist diese Identifizierung des Ver-
schiedenen durch den sich selbst verwertenden Wert, die in der marxistisch-leninistischen Ge-
schichtsphilosophie als die zu überbietende und zu radikalisierende Logik der Gesellschaft er-
scheint und durch sie vollendet werden soll. Die bürgerliche Gleichheit erscheint als bloß ideologi-
sche und rein formelle, als Form ohne Inhalt also, die revolutionär verwirklicht werden soll. Dies
ist der Kerngedanke des Zwei-Phasen-Modells vom Sozialismus/Kommunismus, wie in der Öko-
nomie, so auch in der Politik. Ökonomisch wird die erste Phase des Kommunismus, der Sozialis-
mus, als endliche Herstellung der bürgerlichen Ideologie von der Äquivalenz von Lohn und Lei-
stung qualifiziert: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“. Die Herrschaft der
abstrakten Arbeit wird nicht gebrochen, sondern verfestigt: „Wer nicht arbeite, soll auch nicht
essen.“53 Politisch erscheint der Sozialismus als die Bewahrheitung der bürgerlichen Idee, der
Staat sei der wahre Repräsentant gesellschaftlicher Allgemeinheit. Es geht nicht um die Aufhe-
bung der Trennung von citoyen und bourgeois, es geht vielmehr um die Totalisierung des citoyen
und die Annihilierung des bourgeois. Die Ausweitung des Staates bereite, so die Ideologie des
Marxismus-Leninismus, das Absterben des Staates vor: Sind alle, Köchin inclusive, im Staat, dann
kann es nach der Logik von DIAMAT/HISTO-MAT genausowenig mehr Staat geben, wie Wasser
nach Erhitzung auf hundert Grad seinen flüssigen Aggregatzustand bewahren kann. Der Umschlag
von Quantität in Qualität soll das Absterben des Staates als Resultat allgemeiner Verstaatlichung
bewirken. Die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft hat sich im Marxismus-Leninismus zu einer
neuen Sozialphysik verdichtet, zu einer technologischen Praxis und avanciert, wie Stalin im „Kur-
zen Lehrgang“ ausführen ließ, „zu einer genauso exakten Wissenschaft (...) wie, sagen wir, die
Biologie, zu einer Wissenschaft, die imstande ist, die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft in der
Praxis auszunutzen.“54
Es ist dieses Modell, das auch den Stalinschen Nationenbegriff beherrscht, das die Dia-
lektik von nationaler und sozialer Befreiung inaugurieren soll. Das ,Selbstbestimmungsrecht der
Völker’, das ein Recht auf Staatsgründung darstellt, kann so als revolutionäre Forderung gelten
und in das demokratische Minimalprogramm der Revolution aufgenommen werden, weil die Nati-
onwerdung unter den Voraussetzungen des Sozialismus rangiert. „Jeder bürgerliche Nationalis-
mus“, schreibt Lenin, „hat einen allgemeinen demokratischen Inhalt, der sich gegen die Unter-
drückung richtet, und diesen Inhalt unterstützen wir unbedingt.“55 Dieser Logik gemäß kaschiert
das nationalrevolutionäre Subjekt Volk immer schon das sozialrevolutionäre Subjekt Arbeiterklas-
se: Volk und Klasse bilden ein einziges revolutionäres Kontinuum, der Kampf für die Nation
schlägt um in die neue Qualität Klassenkampf.
Innerhalb des revolutionären Kontinuums ist zwar für die Russen als Russen etc. pp.,
nicht aber für die Juden als Juden Platz. Der marxistisch leninistischen Geschichtsphilosophie sind
die Juden als Juden im gleich doppelten Sinne ein historisches Überbleibsel; wie ihre politische
Existenz durch den Prozeß der Nationalstaatsbildung als eine seperate aufgehoben wird, so auch
ihre ökonomische Existenz durch die kapitalistisch stimulierte Assimilation. Ebensowenig jedoch
wie die Juden in der ökonomischen Beziehung von Herr und Knecht aufgehen56, sowenig gehen
sie es in der politischen Beziehung von unterdrücktem und unterdrückendem Volk. Auf eine
merkwürdige Weise stehen sie quer zu den Schemata von Nationalismus und Klassenkampf: We-
der Volk noch Klasse und doch von beidem unbestimmbar etwas. Diese Unbestimmbarkeit wird
zum blinden Fleck der Geschichtsmechanik. In seiner Polemik gegen den „Bund“ führt Stalin aus:
„Der organisatorische Föderalismus birgt Elemente der Zersetzung und des Separatismus.“ (...)
„Es bleibt ihm auch eigentlich kein anderer Weg. Allein schon seine Existenz als exterritoriale
Organisation treibt ihn auf die Bahn des Separatismus. Der ,Bund’ hat kein geschlossenes be-
stimmtes Territorium, er betätigt sich auf ‚fremden’ Territorien, während die mit ihm in Fühlung
stehenden sozialdemokratischen Parteien (...) internationale Territorialkollektive sind. Das aber
führt dazu, daß jede Erweiterung dieser Kollektive eine ,Einbuße’ für den ,Bund’, eine Einengung
seines Tätigkeitsfeldes bedeutet. Von zwei Dingen eins: Entweder muß sich die gesamte Sozial-
demokratie Rußlands nach den Grundsätzen des nationalen Föderalismus umstellen – und dann
erhält der ,Bund’ die Möglichkeit, sich das jüdische Proletariat ,zu sichern’, oder aber das interna-
tionale Territorialprinzip dieser Kollektive bleibt in Kraft – und dann stellt sich der ,Bund’ nach
den Grundsätzen der Internationalität um.“57
Was für die Christen der Teufel darstellt, das ist für den Bolschewiken Bakunin, und es
53
J. W. Stalin; Geschichte der KPdSU(B). Kurzer Lehrgang, S. 159, in: Ders.; Werke Bd. 15, Dortmund
1976. Vgl. Max Horkheimer; Autoritärer Staat, (1942), in: Ders., Gesellschaft im Übergang, Frankfurt 1972,
S.13-35
54
Stalin; Geschichte ..., a.a.O., S. 144
55
Zitiert nach Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands; a.a.O., S. 170
56
Claussen; a.a.O., S.114
57
Stalin; Marxismus ..., a.a.O., S. 311 f.
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 14

verwundert nicht, das sein Name im Zusammenhang föderalistischer Zersetzung der Einheit fällt.58
Der Internationalismus ä la Stalin ist ein übergreifender, ein totalisierter Nationalismus; die Ein-
heit, die er erstrebt, enthält nicht die freie Assoziation der Individuen, sondern vielmehr die addier-
ten staatlich organisierten „Territorialkollektive“. Homogenisierung und Zentralismus ergänzen
sich. Die Juden, qua historischer Existenz Staatsbürger vieler Länder, Weltbürger gar, gelten dem
Stalinismus als freischwebende Kosmopoliten, die sich der politischen Homogenisierung verwei-
gern. Internationalismus, der doch, seinem dialektischen Begriff gemäß, den Kosmopolitismus, der
den Juden zum Nachteil gereichte, endlich wahr zu machen hätte und, als Befreiung von der
dumpf-bäurischen Gebundenheit an die Scholle, ein internationales Heimatrecht inmitten des
gesellschaftlichen Reichtums zu erkämpfen hätte, verkommt zur „Idiotie des Landlebens“ (Marx)
auf höherer Stufe; Weltgewandtheit erscheint den im sozialistischen Vaterlande Gebliebenden,
genauer: Festgehaltenen, als unredliche Form, ihr Leben zu fristen.
Die in den sowjetischen Gesellschaften gängige Hetze gegen den Kosmopolitismus, ge-
gen die unmittelbare, nicht erst staatlich als Zwangszusammenhang vermittelte Internationalität
des Individuums, findet in der Polemik gegen den Zionismus seinen klassischen Gegenstand, sein
klassisches Opfer: die Juden. Diese Geschichte darf hier als bekannt vorausgesetzt werden: Sie
reicht von Stalins Polemiken gegen die linke Opposition, in denen zwar nie von Juden, aber stets
von „wurzellosen Kosmopoliten“59 die Rede war, über den Moskauer Ärzteprozeß von 1952 bis
hin zur antisemitischen Agitation in Polen 1968 und der Begründung für die Invasion in der CSSR,
Dubceks Kulturminister Arthur Goldstücker sei Teil einer zionistischen Weltverschwörung gewe-
sen60. Der sowjetische und realsozialistische Antisemitismus, der sich stets als Antizionismus
artikuliert, wird von Staatswegen als jederzeit probates Mittel zur Abwehr sozialistischer, grenz-
übergreifender Öffentlichkeit in petto gehalten. Ein Beispiel dafür ist das „Antizionistische Komi-
tee der sowjetischen Öffentlichkeit“61, dessen Verlautbarungen, resümierbar in dem Satz, Zionis-
mus sei gleich Faschismus, auch in deutschsprachigen Organen der Antiimperialisten nachge-
druckt werden.
Der moderne Antisemitismus nimmt verschiedene Formen an, die die jeweils geltenden
Strukturen der Vergesellschaftung reflektieren. In den staatskapitalistischen Gesellschaften er-
scheint der Antisemitismus als Kampf gegen den Kosmopolitismus; seine politische Semantik hat
die Verteidigung der qua Grenze und nationaler Homogenität installierten Staatlichkeit zum Inhalt.
„Der internationale Zionismus ist der Feind aller Völker, aller nationalen Gruppen und Nationen“,
heißt es in einer 1969 in der UdSSR erschienenen Broschüre mit dem Titel „Vorsicht: Zionis-
mus!“62. Der Antisemitismus ist eines der ideologischen Instrumente des ..Staates des ganzen Vol-
kes’, der seine absolute politische Kontrolle über die Gesellschaft damit zu rechtfertigen sucht, daß
die Repressionstechniker wenigstens dem eigenen Volk angehören. Die Propaganda gegen den
,wurzellosen’ Kosmopolitismus soll unterstreichen, daß es ein Vorteil sei, wenn Herrschaft wenig-
stens von Angehörigen des eigenen ,internationalen Territorialkollektivs’ ausgeübt wird. Während
dem Realsozialismus am Juden vor allem die Staatenlosigkeit aufstößt, erscheint der Antisemitis-
mus in den kapitalistischen Gesellschaften als kapitalimmanenter Antikapitalismus. Seine Rhetorik
ist bestimmt von der Aversion gegen Geist und Geld. Er tritt auf als kulturkritischer Appell zur
Geistrevolution, zum Allgemeinen ,Umdenken’, das endlich dem Sein die Priorität über den Sinn
des Habens einräumen soll.
Die westdeutsche Linke hat sich durch die Übernahme des Marxismus-Leninismus im
maostalinistischen Gründungsfieber nach 1969 auch den ’proletarischen Internationalismus’ bol-
schewistischer Prägung eingehandelt und sich in diesem Kontext die Parole von der Ergänzung
und Erweiterung des Antiimperialismus durch Antizionismus zugezogen. Der Versuch, abermals
die Dialektik von nationaler und sozialer Befreiung anzustoßen, mündete konsequent in der Wie-
derentdeckung der ,nationalen Frage’ von links. Die KPD/AO von Semler und Horlemann machte
hier den Anfang, indem sie die Parole der revolutionären Vaterlandsverteidigung ausgab. Sie
prangerte den sog. ‚Defaitismus’ der Bourgeoisie an und behauptete, die Verteidigungsbereitschaft
der Bundeswehr werde von der Hardthöhe her systematisch untergraben. Mit der Parole: „Für ein
freies und wiedervereinigtes sozialistisches Deutschland“ sollte der nationale Ausverkauf an die
Supermächte beendet und den kalten Kriegern das Recht auf die Alleinvertretung der Nation strei-
tig gemacht werden. Die KPD/AO war bestrebt, die nationalistische Polemik der Weimarer KPD

58
Ebd., S. 300
59
Deutscher; a.a.O., S. 58
60
Silberner; a.a.O.
61
Pressekonferenz des Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit; Verbrecherische Allianz
des Zionismus und Nazismus, in: Al Karamah. Zeitschrift für die Solidarität mit dem Kampf der arabischen
Völker und dem der drei Kontinente Nr. 3, 1986, S. 18-25. Vgl. auch Fans Yahia, Die Zionisten und Nazi-
Deutschland (Palestine Essays 47), Düsseldorf 1978 und Hans-Jürgen Bitten, Zionismus und Antisemitismus,
Duisburg 1983
62
Silberner; a.a.O., S. 209
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 15

aufzufrischen, so wie sie in Karl Radeks „Schlageter-Rede“ von 192363 oder im „Programm der
nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ von 193064 zum Ausdruck gekommen
war. Was schon die Rätekommunisten am kommunistischen Nationalismus zu bemängeln hatten –
„Man hat die Arbeiter selber zu Faschisten erzogen, indem man zehn Jahre mit Hitler um den
,wirklichen’ Nationalismus konkurrierte“65 – traf auch dieses Mal zu.
Die studentischen Revolutionäre betätigten sich als Türöffner für andere und ihr Versuch,
von links am ,Nationalismus’ anzuknüpfen, machte die Behandlung der nationalen Frage wieder
hoffähig. Der Höhepunkt dieser Entwicklung, der zugleich die Fahndung nach einer neuen
,nationalen Identität’ stimulierte und der Ökopax-Bewegung die Stichworte gab, war der Versuch,
erneut den Nationalbolschewismus zu erfinden. Exemplarisch hierfür ist eine Antwort des Natio-
nalrevolutionärs Henning Eichberg auf einen Artikel von Rudi Dutschke, der im Oktober 1978
unter der Überschrift „Zur nationalen Frage“ in der Postille „das da - Avanti!“ erschien. Dutschke
hatte geschrieben: „Meine These lautet: Die beiden deutschen Fragmente (...) sind die Grundlage
der Festigung des Status quo der politisch-ökonomischen Machtzonen des kapitalistischen Impe-
rialismus made in USA und des Imperialismus der allgemeinen Staatssklaverei Rußlands.“
Deutschland als unschuldiges Opfer mußte zum Exerzierfeld der Supermächte herhalten – ein
Bild, das später die Friedensbewegung aufnahm. Weder Kapitalismus noch Staatskapitalismus
hätten, so Dutschkes These, eigentlich ein Fundament in Deutschland. Da die Systemgrenze der
beiden Imperialismen mitten durchs Land verlaufe, ergäbe sich die Gelegenheit einer revolutionä-
ren Bewegung, die zugleich das nationale Interesse vertreten könne: Einheit Deutschlands sei
zugleich revolutionär.
Darauf antwortete Eichberg: „Der Inhalt der nationalen Frage blieb für die Marxisten das
nationale Interesse. Das aber geht am Kern der Sache vorbei. Der Kern der nationalen Frage ist die
nationale Identität. Nationales Interesse – das heißt: Infrastruktur ausbauen, sich industrialisieren,
zur Verteidigung rüsten, sich Land und Rohstoffe aneignen, kurz: Haben-wollen. Nationale Identi-
tät ist etwas ganz anderes: Sich kollektiv seiner selbst vergewissern, bei sich selbst zu Hause sein.
Das ist es, was die Studentenbewegung (neu) entdeckt hat: Wir wollen nicht mehr haben, sondern
sein. Anders leben, uns unserer selbst vergewissern gegen die Entfremdung, bei uns selbst zu Hau-
se sein, identisch sein – das war und ist die revolutionäre Alternative gegen die Gesellschaft des
Hastewas – Bistewas. Die Identitätsfrage führt notwendig zur nationalen Identität, zur nationalen
Frage. Gerade darum ist sie revolutionär. Bei der nationalen Frage geht es also nicht primär um
das Interesse, sondern um die nationale Identität. Sind wir Deutsche oder ,BRD-Bürger’ amerika-
nisierter Sprache und mit ITT-Bewußtsein? Identität oder Entfremdung, das ist der neue Hauptwi-
derspruch, Imperialismus oder unser Volk. (...) Nationalismus ist also nicht alt, sondern neu. Er
kommt auf uns zu in dem Maße, in dem in den Metropolen die Entfremdung um sich greift. Er ist
Teil eines Prozesses, in dem die Völker sich selbst zum Subjekt der Geschichte machen – gegen
Dynastien, Konzerne und Bürokraten.“66
„Haben oder Sein“: Es liegt in der Natur der Sache, daß mit Gründen nicht mehr ent-
schieden werden kann, ob es sich bei dieser Alternative um eine sozial- oder um eine nationalrevo-
lutionäre Fragestellung handelt. Der Begriff der Entfremdung muß als allgemein brauchbare Chif-
fre für diffuses Unbehagen herhalten. Die Linke hat den Begriff solange seiner ökonomischen und
politischen Implikationen beraubt, bis der Kampf gegen die Entfremdung zur Parole einer Bewe-
gung von Heimatvertriebenen im eigenen Land taugte. Wer von Entfremdung spricht, bekämpft
das Fremde, um so, in der aggressiven Wendung gegen die Segnungen der „Wodka-Cola-
Gesellschaft“, die Einheit im Kollektiv, Heimat, zu finden. Links von der Mitte kam so ein neuer
Jargon der Eigentlichkeit auf, der sein Zentrum nicht mehr, wie noch in der deutschen Existenzi-
alphilosophie Heideggers, im Kult des Opfers findet, sondern, als Resultat der Psychologisierung
von Politik und Gesellschaft, im Götzendienst der Identität. Freilich läuft es auf dasselbe heraus.
Der kulturrevolutionäre Impetus von 1968, schon zuvor von den Spontis zur aufmüpfigen Lebens-
reformbewegung verdünnt, kommt in der Geistrevolution zu seinem logisch notwendigen Ende
und Resultat. Es erwies sich, daß nicht der Kampf gegen die Ausbeutung den Nerv der Bewegung
ausmachte, sondern der Trieb zur Selbstverwirklichung. Konnte jahrelang außer dem Bedürfnis
nach politischer Identität kein vernünftiger Grund für Widerspruch und Opposition mehr beige-
bracht werden, vollzieht sich nun der Umschlag in eine soziale Amnesie67, die keine Klassen und
Individuen als Subjekte mehr kennt, sondern nur noch – Volk. Schon im Verlangen nach politi-
63
Hermann Weber (Hg); Der deutsche Kommunismus 1915-1945, Köln 1973, S.142-147
64
Lothar Berthold/Emst Diehl (Hg); Revolutionäre deutsche Parteiprogramme. Vom Kommunistischen Mani-
fest zum Programm des Sozialismus, Berlin 1967, S. 119-128
65
Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands; a.a.O, S. 175
66
Zitiert nach Peter Brandt/Herbert Amman (Hg); Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deut-
schen Einheit seit 1945, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 350 f.
67
Vgl. Rüssel Jacoby; Soziale Amnesie. Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing, Frank-
furt 1980
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 16

scher Identität und in der quengelnden Rede von der ,Politik in der ersten Person’ regte sich die
angstvolle Ahnung, daß es mit der Substanz dieses Ich nicht allzuweit her sein kann. Mit dem Ich
war kein Staat zu machen. Je aufgeregter die Identität eingeklagt wurde, desto stärker bemühte
man sich um einen Rückhalt bei den stärkeren Bataillonen. Anstelle der Kritik eines Gesellschafts-
zustandes, der es zur Unverschämtheit gemacht hatte, „Ich“ zu sagen, trat die neue Schamlosigkeit
der Rede vom Wir. Hans-Jürgen Krahl hatte dem antiautoritären Bewußtsein eine tiefe Sehnsucht
abgemerkt, Freiheit nicht als historischen Prozeß, sondern als eine „dezisionistische Eigentumska-
tegorie“ zu betrachten. Die gesellschaftliche Unfähigkeit zur Freiheit geriet zur individuellen
Selbst-Befreiung: „Die kleinbürgerlichen Dispositionen des antiautoritären Bewußtseins behandeln
das Reich der Freiheit als privates Kleineigentum, (...) gleichsam orientiert an der Vorstellung vom
Besitzrecht der ersten Landnahme.“68
Freiheit wurde zur Goldader, auf der jeder zuerst seinen Claim einschlagen wollte. Der
internationalistische Revolutionsversuch versackte in allgemeiner Goldrauschstimmung, im En-
thusiasmus einer Pioniergeneration, die die individuelle Aufhebung der Grenzen mit ihrer Ab-
schaffung interessiert verwechselte. Der Aufbruch, angestachelt vom Traum des Neuanfangs auf
jungfräulichem Boden, erfüllte sich in der Wiederkehr des Gleichen, in der selbstorganisierten
Wiederholung und Reprise genau dessen, wovor der Treck über die Grenzen der repressiven Tole-
ranz retten sollte. Der leere Voluntarismus des parzellierten Bewußtseins fand im neuen Land
nichts vor als den horror vacui der bürgerlichen Normalexistenz und schlug folgerichtig um in den
desto entschiedeneren Versuch, der Selbstverwirklichung endlich Beine zu machen, dem Selbst
eine Substanz einzuverleiben, Wurzeln im Mutterboden zu schlagen und ihren Nährwert sich ein-
zusaugen. Intellektuelle, denen man lange genug und leider nicht umsonst vorgeworfen hatte
,,blutleere’, .abgehobene’ und gar ,parasitäre’ Kritiker zu sein, begriffen nun die bürgerliche Pole-
mik so, wie sie auch gemeint war: als Bewährungshilfe. Sie akzeptierten die Wiedereingliederung
und zahlten den Vertrauensvorschuß auf Heller und Pfennig damit zurück, daß sie die revolutionä-
re Utopie des Endes der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen als Aufforderung zur
Pflanzwerdung des Menschen und zur Einordnung in den allgemeinen Stoffwechsel interpretier-
ten. War es den Hinterbänklern des Protests schon längst geläufig, das, wußte man sonst auch
nichts, das Teach-in der Forderung, „doch endlich konkret zu werden“ und bis dahin das Rauchen
einzustellen, stärker beipflichten würde als der gelungensten Marx-Exegese, so griff der Lernpro-
zeß nun auf die Vorredner über. Freilich konnten die Theoretiker den Zug aufs Land, den die Al-
ternativbewegung begonnen hatte, nicht mitmachen; sie mußten ihr symbolisches Kapital verteidi-
gen. Ihre Landnahme war nicht die praktische mit Pflug, Forke und Misthaufen, sie war die ideo-
logische. Die intellektuelle Landnahme ging nicht auf die banale Ackerkrume hinaus; die Intellek-
tuellen wollten sich vielmehr die ideologische Repräsentanz von Boden überhaupt, Heimat, als
Monopol unter den Nagel reißen. Hätten sie nur im Allgäu ihre Öko-Milch gebuttert, wären sie nur
wirklich auf die Kultivierung der seelischen Parzelle aus gewesen und hätten sich in Encounter-
Gruppen langsam um den Verstand geredet – die Angelegenheit wäre trotz all ihrer Tristesse doch
so harmlos ausgegangen wie das Hornberger Schießen, das Monte-Verita-Projekt oder, bestenfalls,
wie Jonestown/Guyana. So aber bedurfte es jener nervenaufreibenden Bloch-Debatte der ausge-
henden 70er Jahre, deren geheimer Auftrag es war, die Utopie so zu konkretisieren, daß sie vom
herrschenden falschen Zustand kaum noch zu unterscheiden war. Die Quintessenz dieser Diskus-
sionen wurde Verpflichtung und Auftrag zugleich: Heimat ist dort, wo noch keiner war – also dort,
wo wir alle herkommen, aus Deutschland. In der Bloch-Debatte trimmte die Linke sich fit für den
Salto mortale über die nationale Latte und demonstrierte von nun an ihr Recht auf die Nation mit
Argumenten, die allesamt nur beweisen sollten, das die vaterlandslosen Gesellen von 1968 erst-
klassige Patrioten geworden waren.
Die Aneignung des Marxismus-Leninismus durch die zerfallende antiautoritäre Bewe-
gung war so im doppelten Sinne fatal und bereitete den neuen Antisemitismus von links gleich
zweifach vor: Zum einen über die ,nationale Frage’, die zwangsläufig Kriterien nationaler Homo-
genität aufstellen mußte, um zur Identitätsfindung des Kollektivs taugen zu können, zum anderen
über den aus dem Marxismus-Leninismus importierten Faschismusbegriff, der Auschwitz syste-
matisch nicht zur Kenntnis nahm und daher nie einen adäquaten Zugang zur Kritik des Antisemi-
tismus entwickeln konnte. Wie der stalinistische Nationalismus die Wiederversöhnung der Linken
mit ihrer Nation mit dem Zuckerbrot der revolutionären Phrase vorbereitete, so erlaubte der stali-
nistische Faschismusbegriff es in einem, die Opfer zu verdrängen und Faschismus zur allzeit berei-
ten Peitsche hohler Politisierung zuzubereiten.
Die Linke hat Auschwitz nie zur Kenntnis genommen und wo sie es doch tat, hat sie den
Massenmord als Ergebnis ökonomischer Rationalität im Nachhinein so gerechtfertigt, wie es noch
der sophistischste Apologet des Kapitals nicht vermöchte. Darin rächte es sich, daß ihre Theorie

68
Hans-Jürgen Krahl; Zur Dialektik des antiautoritären Bewußtseins, in: Ders., Konstitution und Klassen-
kampf, Frankfurt 1971, S. 307
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 17

des Faschismus nur bis 1935 reichte und weiter nichts enthielt als jenen gemeinplätzlichen Kanon
der Orthodoxie, den bereits Georgi Dimitroff auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen
Internationale ausgeführt hatte: „Der Faschismus an der Macht ist (...) die offene, terroristische
Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Fi-
nanzkapitals.“69 Vom Antisemitismus war weder bei Dimitroff noch auch später die Rede; er er-
schien, wenn überhaupt, als ein verschwindendes, für den Nationalsozialismus nicht konstitutives
Moment, als rhetorisches Ornament, das den eigentlichen sozialen Auftrag der Nazis demagogisch
verhüllen sollte. Der Begriff der Ideologie wurde vorschnell auf den der Manipulation und Propa-
ganda reduzierten Begriff der kapitalistischen Produktionsweise, der sich in der Fixierung aufs
Finanzkapital aussprach. Der Parteikommunismus trat derart auf nicht als kritisch-proletarisches
Bewußtsein der Totalität, sondern als affirmativ-lohnarbeiterisches Bewußtsein der Produktion als
jener eigentlichen und tiefsten Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, aus der alles weitere
zwanglos als ,Überbau’ sich ableiten ließe. Paradox wiederholte das zeitgenössische Bewußtsein
der Arbeiterbewegung in seiner rigiden Trennung von Produktion und Zirkulation genau jene Rede
vom ,schaffenden’ und ,raffenden’ Kapital, mit dem die Nazis reüssierten. Das Kapital tauchte in
derlei Definitionsversuchen nicht als soziales und prozessierendes Verhältnis auf, nicht als dialek-
tische Einheit von Ökonomie und Politik, von Produktion und Reproduktion, sondern als ein Ding,
als bewußter Plan und Verschwörung einer soziologisch ausmachbaren Kapitalistengang, zu deren
Analyse einzig absurde, ihre Hilflosigkeit schon eingestehende Steigerungsformen herhalten konn-
ten. Am Faschismus interessierte nur das Verhältnis äußerster Intensität der Macht, das, als bol-
schewisierte List der Vernunft noch im Negativen, den Kommunisten die weitere Analyse schon
ersparen würde – die „offene Diktatur“ werde, so Dimitroffs Unterstellung, auch zur „offensichtli-
chen Diktatur“ umschlagen und die Ideologie hätte sich so gleichsam von selber erledigt. In ex-
tremster Verkehrung lege der Faschismus sein Wesen bloß und mache den ideologischen Schein
auf eben dieses Wesen, die blanke Gewalt, das nackte Interesse, durchschaubar. Die Logik des
Kapitals wurde kommunistisch zu ihrem eigenen Ideologiekritiker befördert. (Es ist diese Kon-
struktion, die 1968 in weite Kreise der Studentenbewegung zum Notnagel der Revolutionstheorie
wurde und die immer noch die Freunde des bewaffneten Kampfes dazu beflügelt, die Aufklärung
der Massen sich als einfaches Resultat der herbeigebombten Offensichtlichkeit des faschistischen
Systemwesens zu erwarten. Der Faschismusbegriff der RAF war der paradoxen Logik des ,je
schlimmer, desto besser’ von Anfang an verpflichtet70). Die Arbeit der Kritik verließ sich so auf
die Selbstentlarvung des Systems, verstand sich als deren Organ, das dem objektiven Sozialprozeß
zur Sprache verhalf. Ihr spezieller Einsatz konnte allein darin bestehen, an die als pseudo-
sozialistisch mißverstandenen antisemitischen Polemiken des Nazismus gegen das ‚raffende’ Ka-
pital ebenso ‚anzuknüpfen’, wie es schon zuvor am Begriff der Nation unternommen worden war.
In der Opposition gegen das arbeitslose Einkommen schien die Revolution sich, ihrer selbst noch
unbewußt, zu verstecken. So konnte sich Ruth Fischer, Mitglied des ZK der KPD im gleichen Jahr
1923, in dem Karl Radek seine Lobrede auf Schlageter hielt ,,ideologiekritisch’ zum Antisemitis-
mus verhalten, indem sie ausführte: „Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer
gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht
weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so.
Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren,
wie stehen sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner (...)?“71
Die kommunistische Kritik verstand die Geld- und Spekulationsphobie der Nazis als logi-
sche Vorstufe und als Durchgangsphase eines danach die Verhältnisse des Privateigentums gene-
rell in Frage stellenden Bewußtseins. Die Aversion gegen die Börse als dem Inbegriff unberechtig-
ter, weil arbeitsloser Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums allein auf der Grund-
lage juristischer Titel, werde qua eigener Logik in die Kritik des Privateigentums überhaupt um-
schlagen. Bliebe die bloße Zirkulationskritik ihrer unbewußt immer schon antikapitalistischen
Intention inne, so werde sie von der Kritik des Wuchers als der wundersamen Selbstvermehrung
des Geldes voranschreiten zur Kritik der Produktion als jenes Ortes, der die Selbstvermehrung des
Geldes als Selbstverwertung der Arbeit in den entfremdeten Formen des Privateigentums materia-
listisch durchschaubar machen. Der radikal ernst genommene Affekt gegen die Börse könne erst in
der Opposition gegen das Gesamtkapital zum Selbstbewußtsein seines Zweckes gelangen. Die
attraktive Macht der Parole von der ‚Volksgemeinschaft’ erschien so der konkreten Utopie des
sozialistischen Kollektivs ebenso geschuldet wie, vorläufig72, entwendet zu sein. Die Volksge-

69
Georgi Dimitroff; Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Komintern im Kampf für die Ein-
heit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. Bericht auf dem VII. Weltkongreß der Komintern, (2.8.1935),
in: Ders.; Ausgewählte Schriften 1933-1945, Verlag Rote Fahne o.J.,o.O., S. 97
70
Kollektiv RAF; Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa, S.60 f.
71
Silberner; a.a.O., S. 268
72
Zur Kritik vgl. Shannee Marx; Die Grenze der Schuld, Opladen 1987, S. 116 ff., (am Beispiel Ernst Bloch)
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 18

meinschaft galt als die schlechte Karikatur einer kommunistischen Gesellschaft, die nicht dauer-
haft um das Verlangen nach dem Original zu betrügen vermochte.
In der metaphysischen Reduktion des Antisemitismus auf den ökonomischen Ursprung,
die Selbstentfremdung der Arbeit, entging dem Grundwiderspruchsmarxismus das spezifisch Neue
der nationalsozialistisch renovierten völkischen Programmatik73. Die nazistische Polemik gegen
das ’Judenkapital’ war weniger einem interessierten Ablenkungsmanöver vom ,deutschen’ Kapital
geschuldet, als vielmehr der Inauguration eines zum Begriff der Klasse antagonistischen Prinzips
politischer Vergesellschaftung und Synthesis, dem Begriff der Rasse. Am Judenkapital interessier-
te den Nazi nicht das Kapital, sondern der Jude. In der Konstruktion der Rasse als einer ebenso
unsichtbaren wie doch konkret wirksamen Macht kopierten die Nazis zwar formell die Arbeitsme-
taphysik des Marxismus, aber nur, indem sie diese überboten und noch den Marxismus selbst unter
den vom rassischen Grundwiderspruch abgeleiteten Formen rangieren ließen. Der Antisemitismus
diente der Integration der Arbeiterklasse in den nationalen Saat, indem er nachweisen wollte, das
die Entzweiung von Klasse und Nation zwar der Erscheinung halber auf den Gegensatz von Arbeit
und Luxus, von Produktion und Geld sich zurückführen ließe, daß aber der erscheinende Wider-
spruch einem ganz anderen Wesen als dem kapitalistischen geschuldet sei. Nicht der Widerspruch
von Lohnarbeit und Kapital, sondern der von Produktion nur überhaupt einerseits und von arbeits-
loser Aneignung durch Geld andererseits sei der fundamentale und noch über den marxistischen
Widerspruch übergreifende, diesen determinierende Antagonismus. Der ‚nationale Sozialismus’
nahm die Zirkulationskritik und den Produktivismus der Arbeiterbewegung in sich auf, immuni-
sierte sie zumindest. Erst der zersetzenden Kraft der jüdischen sozialistischen Intelligenz sei die
Entfremdung der Arbeit von ihrer Nation zu verdanken, erst sie habe die nationale Arbeiterschaft
zur internationalistischen Arbeiterklasse entfremdet. Rasse wurde so zum noch unter dem Niveau
von Klasse liegenden tiefsten Prinzip von Homogenität und Identität, zum Fundament, auf dem
alle Widersprüche zur Einheit sich fügen sollten. Was dem traditionellen Marxismus der II. und
III. Internationale trotz Marxens Kapitalkritik und dank Kautskys populärer Marx-Darstellung
Geheimnis blieb, die notwendig marktförmig nur darstellbare Werteigenschaft der fabrikmäßig
hergestellten Gebrauchswerte, das verkörperte und biologisierte der Nazismus in der Gestalt der
Juden. Wo der Marxismus der zwanziger Jahre die Verwandlung des gesellschaftlich produzierten
Gebrauchswertes in den nur privat und nur durch Geld anzueignenden Tauschwert nicht mehr
ökonomiekritisch, sondern nurmehr aus dem juristischen Titel auf das Privateigentum an den Pro-
duktionsmitteln erklären und damit letztlich aus dem Willen der herrschenden Klasse74 verstehen
konnte, da nahm der Nazismus die marxistische Pseudo-Kritik beim Wort und fundamentierte den
,Willen’ zur Ausbeutung biologisch. Er sprach damit seine Zwecke aus: die Befreiung des Ge-
brauchswertes vom Tauschwert durch die zirkulative Revolution, die Aufhebung des Kapitals auf
der Grundlage des Kapitals.
In seinem Aufsatz: „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffas-
sung“ hatte Herbert Marcuse schon dem völkischen Denken das Ziel einer barbarischen Revoluti-
on abgemerkt: „Allerdings finden sich im heroisch-völkischen Realismus auch häufig heftige Aus-
fälle gegen den kapitalistischen Ungeist, gegen den Bürger und seine Profitgier, usw. Aber da die
Wirtschaftsordnung, die den Bürger möglich macht, in ihren Grundlagen erhalten bleibt, richten
sich solche Ausfälle immer nur gegen eine bestimmte Gestalt des Bürgers (den Typus des kleinen
und ‚kleinlichen’ Händlertums) und gegen eine bestimmte Gestalt des Kapitalismus (repräsentiert
durch den Typus der freien Konkurrenz selbständiger Einzelkapitalisten), – nie aber gegen die
ökonomischen Funktionen des Bürgers in der kapitalistischen Produktionsordnung. (...) Die neue
Wirtschaftsordnung schmäht den .Händler’ und feiert den .genialen Wirtschaftsführer’: Dadurch
wird nur verdeckt, daß sie die ökonomischen Funktionen des Bürgers unangetastet läßt. (...) Die
klassenlose Gesellschaft also ist das Ziel, aber die klassenlose Gesellschaft auf der Basis und im
Rahmen – der bestehenden Klassengesellschaft.“75
Im Zusammenhang der zirkulativen Pseudo-Revolution gegen das Kapital wurde der An-
tisemitismus zu mehr als einer ,Ideologie’ im geläufigen Sinne von Demagogie, Propaganda oder
Manipulation; er wurde zum objektiven Ausdruck dessen, was die Nazis planten und wozu sie
durch die spezifische Gestalt und Logik der kapitalistischen Krise nach 1929 ebenso gezwungen
waren wie ermächtigt wurden: Barbarische antikapitalistische Revolution als Ausrottung jener, die
exemplarisch standen für die Einheit von revolutionärer Kritik und ökonomischer Krise, exempla-
risch für den Zusammenhang der Anarchie des Marktes mit der revolutionären Aneignung der
Produktion. Handel, Zirkulation, Geld, Wucher, ökonomische Vermittlung: Was zwischen Produk-

73
Vgl. George L. Masse; Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus,
Königstein 1979
74
Vgl. Christel Neusüß; Imperialismus und Weltmarktbewegung des Kapitals, Erlangen 1972
75
Herbert Marcuse; Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, in: Ders.; Kultur
und Gesellschaft l, Frankfurt 1965, S. 24 f. und 35
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tion und Konsumtion stand, erschien den Nazis nicht als ein Moment der Kapitalakkumulation,
sondern als die Ursache der Störung, wenn nicht: Sabotage, jener ideologisch immer schon präexi-
stenten Harmonie von Naturaneignung und Befriedigung nichts als natürlicher Bedürfnisse. Die
entfremdende Vermittlung, die Anti-Natur schlechthin, sollte durch Vernichtung der zum Wesen
von Vermittlung nur überhaupt stilisierten Juden geheilt, der organische Inhalt der Ware von der
ihm willkürlich übergestülpten Tauschwertform befreit werden. Die Nazis traten an, die objektive
Ideologie des Kapitalverhältnisses wahrzumachen und es auf weiter nichts als auf den ideologisch
erscheinenden Zusammenhang der ,Produktionsfaktoren’ von Grund und Boden, von Arbeit und
Eigentum auch praktisch zu reduzieren. Befreiung des Gebrauchswertes vom Apercu seiner
Tauschbarkeit, Warenproduktion ohne Zirkulation, unmittelbare Identität von Produktion und
Konsumtion durch Versklavung des Arbeiters einerseits, durch Rationalisierung andererseits,
Verwandlung des doppelt freien Lohnarbeiters in den doppelt unfreien Zwangsarbeiter: Das nazi-
stische Programm wurde ebenso möglich wie notwendig durch jene Gestalt der Krise, die einer-
seits die Unfähigkeit der Bourgeoisie radikalisierte, noch irgend in den überkommenen politischen
und institutionellen Formen an die Bedingungen des Erhalts des des kapitalistischen Gesamtsy-
stems heranzureichen, die andererseits die gespaltene Arbeiterklasse derartig paralysierte, daß sie
unfähig war, ihre Rolle als dialektischer Impulsgeber kapitalimmanenter Renovation des Verhält-
nisses so zu spielen, wie sie es historisch im Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion
getan hatte. Das Kapitalverhältnis wurde derart gleich doppelt gesprengt.
„Die Interessen des Kapitals und die Interessen der Arbeiter sind dieselben“, hatte Marx
dies Verhältnis beschrieben. Und dies bedeute: „Kapital und Lohnarbeit sind nur zwei Seiten eines
und desselben Verhältnisses. Die eine bedingt die andere, wie der Wucherer und der Verschwen-
der sich wechselseitig bedingen.“76 Die dialektische Synthesis im Widerspruch war liquidiert:
Wucherer und Verschwender gingen aneinander und zusammen bankrott; vereinigten sich in der
einerseits praktischen Ermächtigung, andererseits passiven Duldung des zum Manager des Ge-
samtverhältnisses sich aufschwingenden Konkursverwalters. Die ökonomisch unmögliche Synthe-
sis mußte politisch reinstalliert werden auf der Basis des ökonomischen Zusammenbruchs. Aller
sowohl externen wie internen ökonomischen Rationalitätskriterien beraubt, organisierte der Kon-
kursverwalter den Rückfall in die Formen der ursprünglichen Akkumulation nach außen wie nach
innen. Die unmittelbare Entbindung der Gewalt, der zur Regel werdende Ausnahmezustand, eska-
lierte ihrer verrückten Logik gemäß im Krieg nach außen, im Terror nach innen und in der Ver-
nichtung der Juden. Der ökonomische Zusammenbruch war durch die äußerste Konzentration der
politischen Gewalt zwar vorerst überspielt worden, aber nur um den Preis der Verwandlung des
Staates zum reellen Gesamtkapitalisten, zur einzigen Bürgschaft des Systems nur überhaupt. Der
Unfähigkeit des Systems, sich zu politisieren und die Synthese durch den stummen Zwang ihrer
Verhältnisse ebenso zu erzwingen wie zu legitimieren, wurde durch die Ökonomisierung der Poli-
tik gekontert, die die Synthese durch ausgesprochene Gewalt anordnete. Hatte die Abkopplung
vom Weltmarkt das Kapital zwar von der externen ökonomischen Konkurrenz befreit, so doch nur
um den Preis des auf die Spitze getriebenen Antagonismus der Nationalstaaten. Die als Palliativ
gegen den Weltmarkt gesetzte, aber nur scheinbar selbstgenügsame Autarkie war die ökonomische
Programmierung auf den Raubkrieg. Der gewaltförmig suspendierte Tausch zog die Ekstase der
unmittelbaren Aneignung ohne jedes Äquivalent notwendig nach sich. Hatte die Abkoppelung der
politisch stimulierten Produktion militärischer und staatlicher Gebrauchswerte vom internen Markt
die Kapitalisten zwar vom unmittelbar drohenden Ruin befreit, so doch nur um den Preis ihrer
desto unwiderruflicheren Anbindung an den System gewordenen Bankrott. Die durch Wechsel auf
den erst noch zu gewinnenden Raubkrieg finanzierte Konjunktur erwies sich als die gigantischste
Spekulation der Geschichte, als Verwandlung jeder einzelnen ökonomischen Transaktion in einen
spekulativen Akt. Hatte die Abkopplung des Kapitals von der Konkurrenz der organisierten Lohn-
arbeit die Mehrwertrate zwar gewaltig erhöht, so doch nur um den Preis des langsamen Ruins der
produktiven Arbeit durch Überausbeutung. Die Reduktion des Lohnarbeiters auf den Arbeitsskla-
ven verbilligte die Entstehungskosten des arbeitenden Individuums zu Lasten der Investition in die
Reproduktion des Gesamtarbeiters. Hatte der Rückfall in die Methoden der ursprünglichen Akku-
mulation im Verhältnis von Arbeiter und Kapitalist die Profitrate enorm in die Höhe schnellen
lassen, so doch nur um den Preis ihrer endgültigen Stabilisierung gegen Kapital und Arbeit durch
das Mittel des Terrors; durch resolute Androhung von Terror einerseits gegen die Repräsentanten
des Kapitals, die den Nazismus als besonders drastische Form des Keynesianismus mißverstehen
wollten und die daher auf die Restitution des inneren Marktes wie auf das Ende der staatlichen
Spekulation mit jeweils ihrem Kapital drängten – durch rigide Praktizierung des Terrors gegen
jene politisch außer Kurs gesetzten Exponenten und Kader der Arbeiterklasse andererseits, die den
Nazismus als besonders drastische Durchgangsphase zur Revolution mißverstehen wollten und die
daher den Versuch unternahmen, die zur Rationalisierungsfrage gewordene Lohnfrage unmittelbar

76
Karl Marx; Lohnarbeit und Kapital, Berlin 1982, S. 35
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 20

zu politisieren. Die gewaltförmig unterbrochene Vermittlung von Lohnarbeit und Kapital erforder-
te die Permanenz des Terrors, die Totalisierung des Zwangs.
Anfangs zur bloß sozialtechnischen Suspension der Zirkulationssphäre erfordert, eskalier-
te sich die Gewalt als neue Vermittlung von der bloßen Suspendierung zur Liquidation der in Ge-
stalt der Juden als der Produktion ebenso äußerlichen und fremden wie notwendigen und imma-
nenten halluzinierten Zirkulation. Die negative Einheit aller ,Arier’ vor dem Terror, die volksge-
meinschaftliche Homogenität der produktiven Funktionäre, bestätigte und betätigte sich als positi-
ve Privilegierung der ,Arier’ vor der völligen Vernichtung der rassenbiologisch selektionierten und
unproduktiven Zirkulationäre. Nach innen wie nach außen zehrte so das nazistische System von
jener Nicht-Identität, die es mit Gewalt hervorbrachte und mit Gewalt, ob militärisch oder konzen-
trationär, vernichtete.
Die barbarische Revolution der Nazis brach mit der dialektisch vermittelten Rationalität
des Kapitalismus und konstruierte die neue Gesellschaft nicht als mindest stationäre, womöglich
dynamisch sich erweiternde Einheit von Produktion und Reproduktion, sondern als strukturell
defizitäre, die sich auf der Jagd nach ihrer Existenzgarantie als kapitalistische stets weiter hinab in
den Grund bohren mußte. Der Zwangsautomatismus der produktiven Volksgemeinschaft, einmal
als negative Akkumulation installiert, konnte nur von außen gebrochen werden: Wie er die Pro-
duktion von der Fesselung durch die Märkte befreite, so befreite er, als prinzipiell endloser Raub-
krieg, das kriegerische Verhältnis vom Primat der Politik. Kein subjektiver Zweck, auch nicht der
der Kapitalisten, konnte dieser objektiven und konstitutionellen Unfähigkeit des nazistischen Sy-
stems zur einfachen oder gar erweiterten Reproduktion begegnen oder gar an sie, sei es praktisch
oder nur intellektuell, heranreichen. Noch die marxistischen Versuche, im Nachhinein eine „Öko-
nomie der Endlösung“77 zu konstruieren und den Massenmord auf die verstehbare Logik der Pro-
fitmaximierung zuzurichten, in der es zu jedem Mittel einen Zweck gibt und in der jeder Zweck zu
seinen Mitteln sich verhält, scheitern an jener vollkommenen Differenz von Handlung und System,
von subjektivem Zweck und objektivem Resultat, die der Nazismus installierte. Es gab die
,Ökonomie der Endlösung’, aber der Zweck der Endlösung war kein Mittel der Ökonomie. Die
Krise des Kapitalismus hatte eine Gesellschaft entbunden, die mit den Mitteln und Implikationen
der Kritik der Politischen Ökonomie zwar noch beschreibbar, nicht aber mehr kritisierbar war, eine
Gesellschaft, die zwar kapitalistisches Resultat war, aber einen gänzlich neuen, nicht mehr in den
auf Kriterien von Zweck und Mittel basierenden Unterscheidungen von ,rational’ und ,irrational’
zu begreifenden Prozeß auf die Bahn gebracht hat.78 Noch die dialektischen klassischen Theorien
über den Faschismus etwa eines August Thalheimer oder eines Alfred Sohn-Rethel - „Die Faschi-
stenpartei ist der Knecht der Bourgeoisie, aber nur in dem Verhältnis, daß sie über der Bourgeoisie
im Sattel sitzt und diese mit Sporen und Kandarre ihre eigene Bahn reitet“79 - blieben demgegen-
über defizitär. Zwar konstatierten sie ebenso angemessen wie folgenlos die nazistische Negation
des gesamten politischen bürgerlichen Überbaus im Interesse gerade der bürgerlichen Klasse, zwar
analysierten sie die daraus entstehende Differenz zwischen dem Konkursverwalter und jenen, die
ihn als ihren Agenten angeblich nicht nur beauftragt hatten, sondern weiterhin am Zügel führten,
zwar wandten sie sich gegen den durchsichtigen propagandistischen Zweck der Dimitroffschen
These, aber die konstitutive Funktion des Antisemitismus für die ebenso barbarische wie schiefe,
für die ebenso nur zirkulative wie trotzdem wirkliche Revolution der Nazis blieb auch hier der
blinde Fleck.
Was der historischen Linken in all ihren politisch wirksamen Fraktionen das Geheimnis
blieb, das wurde der Neuen Linken trotz der Analysen der „Dialektik der Aufklärung“ erst recht
zum Mirakel. Indem sie nach 1968 mehrheitlich Faschismustheorie in den schon 1933 widerlegten
Begriffen trieb, offenbarte sie zwar ihr durchaus ehrenwertes Anliegen, Hitler im Nachhinein doch
noch besiegen zu wollen, aber auch zugleich ihre allerdings unentschuldbare Unfähigkeit, das
nicht Wiedergutzumachende: Auschwitz, zu erinnern. Was Hitler überhaupt für die nachfaschisti-
sche bürgerliche Gesellschaft bedeutete, ein Betriebsunfall, das bedeutete nun Auschwitz für die
Linke. Das schon eingangs zitierte Dokument der RAF von 1972 ist, weit über die zum bewaffne-
ten Kampf entschlossene Linke hinaus, exemplarisch für die Art und Weise, wie die organisierten
Erbschleicher der antiautoritären Revolte den Zusammenhang von Nazismus und Antisemitismus
sich vorstellten: „Raffgierig wie die Kapitalistenklasse – besonders in Deutschland – nun einmal

77
Vgl. Susanne Heim/Götz Aly; Die Ökonomie der ,Endlösung’, in: Beiträge zur nationalsozialistischen
Gesundheits- und Sozialpolitik Bd.5, Berlin 1988
78
Vgl. Dan Diner, Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit der Massenvernich-
tung, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Bd.2, Frankfurt 1987 und Christoph Türcke; Darüber
schweigen alle. Tabu und Antinomie in der neuen Debatte um das Dritte Reich, in: Ders.; Gewalt und Tabu.
Philosophische Grenzgänge, Lüneburg 1987
79
Alfred Sohn-Rethel; Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus, Frankfurt 1973, S.77. Vgl.
Ulrich Enderwitz; Der revolutionäre Staat – Das Paradox der bürgerlichen Gesellschaft, in: Notizbuch 4.
Faschismus, Literatur und bürgerlicher Staat, hrsg. v. Ilse Bindseil/Ulrich Enderwitz, Berlin 1981
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 21

ist, wollte sie (...) unter unreifen Bedingungen schon haben, was sie später sowieso gekriegt hätte.
Fickrig ging sie das Bündnis mit dem alten absterbenden Kleinbürgertum ein (und) lud sich dessen
irrationalen Antisemitismus auf den Hals.“80 Die Kapitalisten sind hier die wahren und einzigen
Bakunisten. Moralisch verderbt und habgierig bis zur Besinnungslosigkeit können sie es nicht
abwarten, bis die Verhältnisse ,reif' sind, und wollen daher die objektive Logik ihrer eigenen Pro-
duktionsweise von rechts überholen: eine Klasse von Voluntaristen. Der Antisemitismus gilt als
Ideologie einer ungleichzeitigen, zwar noch existenten, aber eigentlich schon längst obsoleten
Schicht, die nicht zum Klassensystem des entfalteten Kapitalismus gehört. Derart soziologisch
reduziert, kann Antisemitismus keine dem Kapitalismus originäre Form des ideologischen Be-
wußtseins sein und erledigt sich daher mit dem natürlichen Lauf der Dinge wie von selber.
Auschwitz – wovon, wie gezeigt, überhaupt nur in der Polemik gegen „Israels Nazi-Faschismus“
die Rede ist – erscheint als historischer Atavismus, als verunglückte Konzession eines übereifrigen
Kapitals an seine kleinbürgerliche Massenbasis. Bruchlos bestimmt sich das Maß dessen, was als
,rational’ oder ,irrational’ zu gelten hat, aus dem fürs Kapital völlig transparenten und bewußten
Verhältnis eines jeden Mittels zum absolut profitablen Zweck. Die sozialistisch sich gerierende
Sozialkritik spricht aus dem Kopf des Kapitals. In der revolutionären Phrase von 1968 ff. kehrt so
jener Modus der Kritik am Antisemitismus wieder, den August Bebel schon 1893 für die attentisti-
schen Bedürfnisse der Sozialdemokratie erfunden hatte. Was auch immer geschehen mag – es geht
vorwärts; die geduldig ausgehaltenen Widrigkeiten des Kapitalismus sind in Wahrheit die pädago-
gischen Anstalten des Sozialismus. Der Sozialismus, der sich als Zweck der Menschheitgeschichte
weiß, begreift und konstruiert das Kapital als sein Mittel: „Die Sozialdemokratie bekämpft den
Antisemitismus als eine gegen die natürliche Entwicklung der Gesellschaft gerichtete Bewegung,
die jedoch trotz ihres reaktionären Charakters und wider ihres Willens schließlich revolutionär
wirkt, weil die von dem Antisemitismus gegen die jüdischen Kapitalisten aufgehetzten kleinbür-
gerlichen und kleinbäuerlichen Schichten zu der Erkenntnis kommen müssen, daß nicht bloß der
jüdische Kapitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind ist und daß nur die Ver-
wirklichung des Sozialismus sie aus ihrem Elende befreien kann.“81
Dogmatisch hält die Kritik daran fest, alles sei kritikfähig, weil alles, wie verquer auch
immer, der ,natürlichen Entwicklung’ vom Ameisenstaat zum Sozialstaat verpflichtet sei. Was
wirklich ist, ist immer auch revolutionär, mag auch das progressive Wesen bisweilen durchaus
regressive Gesichtszüge tragen. Die idealistische List der Vernunft hat sozialdemokratisch zur
Logik der gesellschaftlichen Arbeit sich kostümiert und hält sich der Mühe des Garderobenwech-
sels halber schon für deren materialistisches Gegenteil. Die Gesellschaft des Kapitals erscheint als
Maskenball der Erscheinungen, in deren Getümmel einzig der Sozialist kraft des Zauberstabes
seiner Methode die wirklichen Namen der Teilnehmer immer schon im Voraus bestimmen kann.
Noch dort, wo die sozialdemokratische Resolution unterstellt, zum Antisemitismus bedürfe es
einer konkreten Erfahrung im Umgang mit Juden, hat sie selber am Kritisierten teil: Es müsse
doch, wie immer ideologisch instrumentalisiert oder durch egoistisches Interesse gebrochen, am
Affekt gegen die Juden etwas dran sein – von nichts kommt nichts. „Der jüdische Geist“, so kom-
mentiert das Parteiblatt „Vorwärts“, “ist der Geist des Kapitalismus – keineswegs in dem Sinne,
daß jeder Jude Kapitalist sei, sondern in dem, daß jeder Kapitalist Jude sei.“82 Der Versuch, den
Antisemitismus zu erklären, endete in seiner halbherzigen Rechtfertigung als entweder psycholo-
gisch verständliches Vorurteil oder soziologisch, klassenanalytisch, rekonstruierbares Interesse. Im
Geist des Habens, im Interesse der Selbstvermehrung des Geldes durch Wucher und Übervortei-
lung, erschien der Sozialdemokratie, die selber vom Kapital keine andere Vorstellung sich machen
konnte als die durchaus frühsozialistisch naturrechtliche der organisierten Prellerei um den ‚ge-
rechten Lohn’, das System der bürgerlichen Gesellschaft auf den Begriff gebracht. Der ,jüdische
Geist’ der Ungleichheit und Bereicherung habe die christlich gewesene, sozialdemokratisch wie-
derherzustellende Gesellschaft der Solidarität zerstört. Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft
stellte derart sich dar als Verstoß gegen ein a priori existierendes Gebot der Natur, als Verstoß
gegen das Gebot der Gleichheit, während sie doch auf nichts anderem aufbaute als auf dem ge-
rechten Tausch von Waren und Menschen nach Maßgabe ihres Wertes.
Der Wucher, eine durchaus vorkapitalistische Form der Bereicherung, erschien so als das
erscheinende und jedermann evidente Prinzip des Kapitalismus überhaupt und die antikapitalisti-
sche Erfahrung ließ sich, pars pro toto, ebenso am ostelbischen Viehjuden wie an den Hochöfen
der Firma Krupp gewinnen. Im sozialdemokratischen Weltbild, an dessen unendlicher Kopie die
Linke bis heute sich übt und erbaut, ließ sich die wertförmig gesetzte Realabstraktion von Natur
zum bloß brauchbaren Rohstoff ebensowenig kritisch verstehen wie die paradoxe Realisierung

80
RAF; Die Aktion des Schwarzen September ..., a.a.O., S. 37
81
Zitiert nach: Iring Fetscher (Hg); Marxisten gegen Antisemitismus, Hamburg 1974, S. 58 f.
82
Zitiert nach: Gerard Bensussan; Die Judenfrage in den Marxismen, in: Das Argument Nr.167, Berlin 1988,
S.78
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 22

gerade des Naturrechts als der abstrakten Gleichheit ohne Ansehen der Person und ihrer Bedürf-
nisse durch die kapitalistische Gesellschaft. Notwendig flüchtete sich die Begriffslosigkeit ins
verdinglichte Denken, in die ebenso agitatorisch aufgeregte wie hilflos revolutionäre Darstellung
und Denunziation der zum Ausfluß und zur Vergegenständlichung von ,Geist’ stilisierten Verhält-
nisse als Resultat des bewußten Handelns konkreter Personen. So übte sich die Linke avant la
lettre der ,Kolonisierung der Lebenswelt durchs System’ in der Reduktion des Übels auf die Ok-
kupation der Natur durch den Geist. Verdinglichung, ihrer immanent gesellschaftlichen Genesis
nach undurchschaut, kehrte zurück als extra- und antigesellschaftliche Verschwörung.
Die Denunziation des abstrakten Kalküls als Attentat auf das konkrete, bodenständige
Leben vermochte schon die Vorläufer der Nazis, die Völkischen, allemal besser zu arrangieren als
die Linke. Sie kehrten das Ideal einer nur am Gebrauchswert orientierten agrarischen Produkti-
onsweise gegen die Stadt als den Inbegriff des zirkulativen Kalküls, der abstrakten Rechenhaftig-
keit; überdies verkörperte sie den Gegensatz der Produktionsweisen physiognomisch. Die Völki-
schen konstruierten so die Grundlagen des nazistischen Rassismus. In Oswald Spenglers Bestseller
„Der Untergang des Abendlandes“ (1923) wird das Bodenlose zum Typus: „Was den Weltstadt-
menschen unfähig macht, auf einem anderen als einem künstlichen Boden zu leben, ist das Zu-
rücktreten des kosmischen Taktes in seinem Leben, während die Spannungen des Wachseins im-
mer gefährlicher werden. Man vergesse nicht, daß in einem Mikrokosmos die tierhafte Seite, das
Wachsein, zum pflanzlichen Dasein hinzutritt, nichtumgekehrt. Takt und Spannung, Blut und
Geist, Schicksal und Kausalitätsverhalten sich wie das blühende Land zur versteinerten Stadt, wie
etwas, das für sich da ist, zu einem anderen, das von ihm abhängt. Spannung ohne den kosmischen
Takt, der sie durchseelt, ist der Übergang zum Nichts. Aber Zivilisation ist nichts als Spannung.
Die Köpfe aller zivilisierten Menschen werden ausschließlich von dem Ausdruck der schärfsten
Spannung beherrscht. Intelligenz ist nichts als die Fähigkeit zu angespanntem Verstehen. Diese
Köpfe sind in fast jeder Kultur der Typus ihres ,letzten Menschen’. Man vergleiche damit Bauern-
köpfe, wenn sie im Straßengewühl der Großstadt auftauchen. Der Weg von der bäuerlichen Klug-
heit – der Schlauheit, dem Mutterwitz, dem Instinkt, die wie bei allen klugen Tieren auf gefühltem
Takt beruhen – über den städtischen Geist zur weltstädtischen Intelligenz (...) läßt sich auch als die
beständige Abnahme des Schicksalsgefühls und die hemmungslose Zunahme des Bedürfnisses
nach Kausalität bezeichnen. Intelligenz ist der Ersatz unbewußter Lebenserfahrung durch eine
meisterhafte Übung im Denken, etwas Fleischloses. Die intelligenten Gesichter aller Rassen sind
einander ähnlich. Es ist die Rasse selber, die in ihnen zurücktritt. Je weniger ein Gefühl für das
Notwendige und das Selbstverständnis des Daseins herrscht, (...) desto mehr wird die Angst des
Wachseins kausal gestillt. Daher die Gleichsetzung von Wissen und Bewußtheit und der Ersatz des
religiösen Mythos durch den kausalen: die wissenschaftliche Theorie. Daher das abstrakte Geld
als die reine Kausalität des wirtschaftlichen Lebens im Gegensatz zum landlichen Güterverkehr,
der Takt ist und nicht ein System von Spannungen.“83 Und weiter: „Die Heraufkunft des Cäsaris-
mus bricht die Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demokratie. Nach einem lan-
gen Triumph der weltstädtischen Wirtschaft und ihrer Interessen über die politische Gestaltungs-
kraft erweist sich die politische Seite des Lebens doch als stärker. Das Schwert siegt über das
Geld, der Herrenwille unterwirft sich wieder den Willen zur Beute. Nennt man jene Mächte des
Geldes Kapitalismus (zu dem die Interessenpolitik der Arbeiterparteien auch gehört, denn sie wol-
len die Geldwerte nicht überwinden, sondern besitzen), und Sozialismus den Willen, über alle
Klassengrenzen hinaus eine mächtige politisch-wirtschaftliche Ordnung ins Leben zurufen (...), so
ist das zugleich ein Ringen zwischen Geld und Recht.(...) Das Geld wird nur vom Blut überwältigt
und aufgehoben.“84
Während jedoch das völkische Denken die naturale und geldfreie Produktion einzig in
Ackerbau und Viehzucht verwirklicht sah, sich daher auch eine prinzipielle Aversion gegen den
„Satanismus der Maschine“85 leisten konnte, bezog das nazistische Programm auch die industrielle
Arbeit in das System der Gebrauchswertproduktion mit ein. Sein Affekt geht nicht allein gegen das
Geld als dem abstrakten Gegensatz zum Bedürfnis, sondern er gilt der Zirkulation schlechthin als
der Entfremdung vom Bedürfnis. Während die Völkischen am Geld das Quantifizierende, das
,Entseelende’ des Kalküls auszusetzen haben, kritisieren die Nazis das Geld als die neue Seele
aller Dinge, den Umschlag des Gegenprinzips in eine neue Qualität. Wo die Völkischen – ganz
wie ihre späteren Adepten Herbert Gruhl und Rudolf Bahro – von außen, vom transzendentalen
Standpunkt wahlweise äußerer und innerer Natur, gegen den Sozialpakt von Big Business, Big
Labour und Big Money agitieren, da unterscheiden die Nazis im Inneren der Produktion. Wie sie
am Kapitalisten den im Auftrag der Volksgemeinschaft tätigen Produktionsbeamten vom Pfeffer-

83
Oswald Spengler; Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Mün-
chen 1972, S. 677 f.
84
ebd., S. 1193 f.
85
ebd., S. 1191
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 23

sack und Spekulanten trennen, so trennen sie am Arbeiter den nützlichen Volksgenossen vom
proletarischen Ideologen. Der Nationalsozialismus artikuliert seine klassenübergreifende Politik
aus der gesellschaftlichen Produktion heraus, nicht abstrakt-archaisch gegen diese. Die Verwand-
lung der bürgerlich-konkurrierenden Gesellschaft in die barbarisch-monolithische Volksgemein-
schaft vermag derart, anders als die bürgerlich-nationale Reaktion, alle, auch die proletarischen,
Sozialatome mit einzubegreifen, sofern sie sich restlos dem Prinzip der Selbsterhaltung verpflich-
ten und bereit sind, sich zum Kollektiv des Raubkrieges zu homogenisieren.
Konsequent geht der Antisemitismus der Nazis über den Judenhaß der Völkischen hinaus
und radikalisiert ihn. Der Jude erscheint nun nicht mehr allein als die Verkörperung des Geldes,
sondern überdies als Inkarnation schlechthin der sowohl abstrahierenden wie konkretisierenden
Kraft des Kapitals. Wo die Völkischen am abstrakten Gleich um Gleich des Tauschverhältnisses
sich empören, da stilisiert der Nazi die Juden noch obendrein als die Schöpfer jener Ungleichheit,
die der formellen Gleichheit des Tausches vorgeht und ihr materiell zugrunde liegt. Nicht als unbe-
rechtigte Aneignung durch Wucher denunziert er das jüdische Wesen, sondern als Akkumulation
und Profit, nicht als Überschuß und Privileg, sondern als Mehrwert und System. In pervers-
paradoxer Verkehrung gilt die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen als durch die Aus-
beutung der deutschen durch die jüdische Gegen-Rasse fundiert. Die quasi-natürliche Vergesell-
schaftung durchs Kapital erscheint als quasi-natürliche Vergesellschaftung durch die Juden. Ihr
Wesen, Dialektik, soll es sein, das die Gleichheit des Tausches ebenso logisch benötigt wie dialek-
tisch und produktiv negiert, das also in einem die Verwirklichung wie den Verstoß gegen die Lo-
gik beinhaltet und dessen verschiedene Formen doch immer nur Formen ein und desselben Inhal-
tes sein können: Negativität. So schreibt Alfred Rosenberg in seiner Nazi-Bibel: „Der Mythos des
20. Jahrhunderts“, es verhielte sich so, „daß die äußere Vielförmigkeit des Judentums keinen Wi-
derspruch zu seiner inneren Einheit bildet, sondern – so merkwürdig das klingen mag – seine Be-
dingung. (...) Mit diesen Worten ist das Wichtigste über das Judentum gesagt. Aus dem Dämon
des ewigen Verneinens entspringt (...) jene innere Unmöglichkeit, ja zu sagen zu den Schöpfungen
Europas, jene immerwährende Bekämpfung (...) im Dienste eines gestaltenlosen Anarchismus.“86
Die immerwährende Negation als Prozeß der positiven Einheit erscheint als Ausfluß eines über-
greifenden synthetischen Wesens, dessen Zusammenhalt vorab durch Natur garantiert ist.
,Gestaltlosigkeit’ und Verkörperung in einem: Der mysteriöse Charakter der sozialen Vermittlung
des Kapitals wird zum Rassencharakter der Juden rationalisiert. Damit wird der Antisemitismus
gnadenlos und systematisch, er wird zum Wahn, der sich wirklich macht, er radikalisiert sich zum
„Antisemitismus der Vernunft“87, der über das Pogrom hinausgeht und sich der kalten Systematik
administratativer und technisch-produktiver Vernunft anverwandelt.
Der Antisemitismus ist somit nicht eine äußerliche Form, sondern der notwendige Inhalt
einer nazistischen Revolution, deren Auftrag wie deren Wesen darin besteht, das Kapital auf dem
Boden und mit den Mitteln des Kapitals zu liquidieren. Die Verwirklichung der klassenlosen
Volksgemeinschaft nicht durch die Aufhebung, sondern durch die Vernichtung der Klassen, be-
durfte ihrer exemplarischen Bestätigung in der Vernichtung der zum Prinzip von Kommunismus
wie Kapitalismus halluzinierten Juden. Auschwitz war die Tat, die 1933 unwiderruflich machen
sollte; die Garantie des durch die deutsche Methode, Revolution zu machen, eingeschlagenen
,dritten Weges’. Die Vernichtung der Juden läßt sich nicht als irrationales Aperçu oder als Entglei-
sung im Profitschlachtplan der Kapitalisten erklären, sondern sie erklärt sich als notwendiges Sti-
mulans und Motor der barbarischen Synthese eines an sich selber bankrott gegangenen Kapitalis-
mus.
Daß vom Faschismus schweigen soll, wer vom Kapitalismus nicht reden mag, stimmt.
Aber wer vom Faschismus redet und von Auschwitz schweigt, der lügt.

***

Es ist das Besondere des Antisemitismus nach Auschwitz, daß er ein Antisemitismus ohne Juden
ist. Sein Weiterleben als jederzeit verfügbares ,Ticket’, als überall fungible Planke des ideologi-
schen Bewußtseins88, beweist, daß er weit über das Vorurteil hinaus der strukturelle Kitt der
zwangsdemokratisierten Volksgemeinschaft geblieben ist. Weil es hierzulande keine Juden mehr
gibt, muß der kollektive Jude, der Judenstaat, als Vorwand herhalten. Noch jede naive Rede, die
zur Ablehnung eines Arguments weiter nichts vorzubringen weiß, hier ginge es aber ,abstrakt’ und

86
Alfred Rosenberg; Der Mythos des 20. Jahrhunderts, München 1934, S. 462 f.
87
Adolf Hitler; Brief an Adolf Gmelich v. 16.9.1919, zitiert nach: Detlev Claussen; Vom Judenhaß zum Anti-
semitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 192
88
Theodor W. Adorno/Max Horkheimer; Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1968, S. 192 ff.
► ISF, Meinhof, Stalin und die Juden, aus: ISF, Ende des Sozialismus, ça ira 1990 ► 24 / 24

,abgehoben’ her, lebt vom antisemitischen Haß auf Geist und Geld, auf Vernunft und Internationa-
lismus. Es ist der völkische Referenzboden, der diese Rede erst plausibel macht, der ihren durch-
schlagenden Klang ermöglicht.
In ihren besten Momenten wollte die Linke keine deutsche Linke sein. In ihren wenigen
hellen Momenten erkannte sie daher, daß revolutionärer Internationalismus nicht als Steigerung
und Veredelung eines wie immer verstandenen Erbes an deutscher Nation und ihren, sei es auch
humanistisch reflektierten, Sorgen und Nöten zu haben ist, sondern nur als Kosmopolitismus und
Weltläufigkeit. Nerv dieses Bewußtseins war die Kritische Theorie und ihr Niedergang gibt den
Pegel seines Verschwindens. Mittlerweile kann Dialektik wieder als Sophistik verschrieen werden
und das Beharren auf Vernunft als fruchtlose Haarspalterei. Denken gilt, wie schon beim letzten
Untergang des Abendlandes, als das Gift des Lebens, als Verschmutzung des Lebenswelt und
Verunreinigung des ,Eigentlichen’.
Je näher aber der Deutsche seinem Eigentlichen kommt, desto aggressiver spricht sein
Haß gegen jene sich aus, die angeblich immer schon sind, was man selbst erst werden will: Clan-
mitglied, und die angeblich längst schon haben, was einem selber noch fehlt: Gemeinschaft. Die
zum Ausdruck eines ebenso mystischen wie positiven Wesens zurecht gemachte jüdische Identität
gibt dann das Urbild des deutschen Ideals ab, das sich nur, im nutzbringenden Unterschied zu den
Juden, nicht im unfreiwilligen Opfer, sondern als bewußte Tat verwirklichen soll.
Es ist dieser Antisemitismus ohne Juden, der nun, unter den Parolen der politischen Iden-
tität, des revolutionären Nationalismus und des stalinistischen Antifaschismus, sein Objekt an
Israel gefunden hat und sich, einstweilen, als Antizionismus ausspricht. Hinter der Meinung, Israel
sei nichts weiter als ein „staatlich organisiertes Einsatzkommando des US-Imperialismus“, verbirgt
sich, notdürftig auf links frisiert, die faschistische Idee, die Juden seien sowieso zur Staatsgrün-
dung unfähig und wo sie doch einen wollten, da nicht, um Nation zu werden, sondern als eine
„Organisationszentrale ihrer internationalen Weltbegaunerei.“89
Die Kampagne gegen das „zionistische Staatengebilde“ beweist nur, wie schnell die
Sucht nach politischer Identität umschlägt in soziale und historische Amnesie. Gedächtnisverlust
ist die erste Voraussetzung dafür, ganz von Neuem mit dem alten Programm anzufangen.

Mai 1988

89
Adolf Hitler; Mein Kampf, München 1936, S. 356
www.isf-freiburg.org 1

Initiative Sozialistisches Forum


Auschwitz, ein deutscher Familienkrach
Wider die dialektische Aufbereitung des Antisemitismus von links.
Eine Anti-Kritik

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken,
Freiburg: ça ira 1990, S. 167 – 174

Nichts, auch nicht ein materielles Unrecht, bringt einen deutschen Linken mehr auf die Palme
als der leiseste Schatten des Verdachts, es werde mit zweierlei Maß gemessen. Die Vermutung,
für den „Zionismus“ würden Ausnahmen gemacht, Privilegien geschaffen und Extrawürste
gebraten, die noch nicht einmal „dem Juden als Menschen“ zustehen, erregt seinen natürlichen
Sinn für die Gerechtigkeit. Daß ausgerechnet Israel seitens der Weltöffentlichkeit die Scheuß-
lichkeiten nachgesehen werden, die ein geordnetes Gemeinwesen eben so mit sich bringt, das
stimuliert sein Rechtsempfinden. Ganz ohne Ansehen der Person natürlich, möchte er doch bei
der Exekution des Rechts ein Wörtchen mitzureden haben.
Nichts bringt einen Linken daher hierzulande mehr in Rage als der Eindruck, man
glaube ihm nicht schon aufs bloße Wort hin, die Ahnung also, seiner Kritik würden einfach
schon deshalb besondere Maßstäbe angelegt, weil er ein Deutscher ist. Mit einer Zwangsläu-
figkeit jedoch, die sich mit der Gewalt eines Naturgesetzes hinter dem Rücken des ehrlichen
Maklers durchzusetzen scheint, schlägt der empörte Versuch, dieser Zumutung sich zu erweh-
ren und den Einwand geltend zu machen, dafür könne man schließlich und erstens nichts, weil
man sich seine Eltern eben nicht aussuchen kann, und zweitens und überhaupt schon gar nichts,
weil man mittlerweile den Laufstall gegen den Klassenkampf eingetauscht hat, mit erschrek-
kender Regelmäßigkeit in das beleidigte Bekenntnis um, man könne auch nichts dagegen.
Damit mischt sich in den Protest gegen die Befürchtung, den Israelis werde es gestat-
tet, gleicher als gleich zu sein, die klammheimliche Genugtuung über den daraus zu ziehenden
dialektischen Umkehrschluß, man müsse schon wirklich etwas ganz besonderes darstellen,
wenn man derart diskriminiert wird. Es ist eben dieser falsche Zungenschlag, diese Mischung
aus lautstarkem Protest gegen die Verletzung von Recht und Billigkeit und klammheimlicher
Befriedigung, was ihn zur Flucht nach vorn treibt und seinem Engagement fürs Prinzipielle die
überschnappende Schärfe gibt.
Am Beispiel des Artikels „Antizionismus = Antisemitismus? Bemerkungen zum
Flugblatt der ISF“, den Jü.We. im Heft 150 der „blätter des iz3w“ veröffentlicht hat, läßt sich
dieser Doppelcharakter, der einerseits links sein will und andererseits eine Heimat haben muß,
studieren. Denn gelegentlich der nicht eben neuen und schon gar nicht originellen Behauptung,
Nationalismus könne in Deutschland, auch wenn er im Zusammenhang einer ,Dialektik von
nationaler und sozialer Befreiung’ als revolutionärer Hebel anempfohlen wird, in letzter In-
stanz ohne antisemitischen Jargon geistig nicht haushalten, hat er die Witterung des Privilegs
aufgenommen. Zu Fahndungszwecken setzt er sich in aller Unschuld eine Binde auf und meint,
das mache ihn zu Justitia.
In dieser Rolle macht ihn weniger der wirklich erhobene Vorwurf nervös als vielmehr
der Gedanke, daß, wenn zwei das gleiche tun, dies noch lange nicht dasselbe sein muß. „Viel-
leicht“, so meint er, „ist es der ISF noch gar nicht aufgefallen: Aber es gibt kein Recht auf
Besatzung. Besatzung ist Unrecht, ob sie nun israelisch, deutsch, französisch oder wie auch
immer heißt“. Zum Begriff des Rechts gehört, daß es eine universale Kategorie von räumlich
und zeitlich unbegrenzter Geltung zu sein hat. Was dem Prinzip zufolge allgemein und unbe-
dingt ist, das hat auch in der Wirklichkeit zu sein, denn sonst fehlte dem Recht etwas an seinem
Begriff. Das Recht setzt sich also unbedingt selbst und hat mit der Macht nichts gemein. Dies
unbedingte Prinzip hat für Jü.We. den Vorteil, etwa die Okkupation Polens, der halben Sowjet-
union und eines Gutteils vom Rest der Welt durch Nazi-Deutschland genau so vorbehaltlos und
entschieden verurteilen zu können wie die Besetzung ganz Palästinas durch Israel. Was aber
vom Standpunkt des Rechts gleichermaßen unrecht ist und daher verfolgt gehört, das muß auch
wirklich das genau gleiche Unrecht sein. Damit hat sich das schöne Prinzip den von Jü.We.
beredt beschwiegenen Nachteil eingehandelt, die Besatzung Nazi-Deutschlands durch die Anti-
Hitler-Koalition als blankes Unrecht zu entlarven. So gesehen, mögen die Alliierten allerhand

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gute Gründe für ihr Vorgehen gehabt haben, waren aber im Unrecht. Mit dem Dogma vom
unteilbaren Recht hat Jü.We. es in gut antizionistischer Manier dahin gebracht, Israel mit Nazi-
Deutschland vergleichen zu können, Begin neben Hitler auf die Nürnberger Anklagebank zu
setzen und es obendrein noch der Roten Armee anzukreiden, daß sie den Nazis nicht lange mit
rechtsphilosophischen Argumenten gekommen ist, sondern gleich mit Stalin-Orgeln.
Mit dem Recht kommt man also nicht allzuweit, allemal aber ans Ziel Jü.We.’s. Ob-
wohl es auf der Hand liegt, daß Jü.We. von den deutschnationalen Konsequenzen seines Prin-
zips nichts weiß und nichts wissen will, wahrscheinlich sogar beleidigt tun wird, wenn man sie
ihm sagt – so wendet er sie doch ganz spontan schon im nächsten Schritt des Indizienprozesses
an. Weil in Jü.We.’s Vorstellung das Recht das Allgemeine ist, darum muß im Gegenzug die
Geschichte etwas besonderes und überhaupt eine ziemlich relative Angelegenheit sein. Der
Idealismus des Rechts kippt, so abrupt wie konsequent, in sein genaues Gegenteil um und er-
scheint als Relativismus der Geschichte, den Jü.We., weil es jetzt zur Sache geht, für einen
Materialismus hält.
Diese materialistische Seele des Doppelcharakters hält dafür, daß, „das Besondere der
palästinensischen Geschichte ja nicht Antisemitismus oder Holocaust heißt“. Auf einmal dür-
fen Maßstäbe, die nicht im Lebensraum verwurzelt sind, die ihm aufgepfropft wurden, allein
schon deshalb nicht benutzt werden, weil, was dem einen sein Deutschlandlied, dem anderen
die Internationale ist. Weil das ganz „Besondere“ viel mehr die „Negation palästinensischer
Existenz überhaupt“ darstellt, könne die Frage allein vom Standpunkt des „Rechts des palästi-
nensischen Volkes“ beantwortet werden. Der Doppelcharakter potenziert sich: Wie es zwei
verschiedene Rechte gibt, das ganz allgemeine und das ganz konkrete, völkische, so gibt es
auch zwei ganz verschiedene Geschichten, die einander noch nicht einmal von Ferne bekannt
sein sollen. Und wie die Geschichte sich in Lokalhistörchen verliert und spaltet, so spaltet sich
auch das Subjekt des Rechts in erstens den Menschen überhaupt und in zweitens das Volk.
Wessen historisch „Besonderes“ ist nun aber der sogenannte Holocaust, wer ist für ihn
zuständig? Und wer hat daher das Recht darauf, ihn zu „bewältigen“? Offenkundig allein der-
jenige, der entweder den abstrakten Rechts- oder den konkreten Volksstandpunkt bezieht. Oder
anders: Nur der, dem die außerordentliche Gnade zuteil wird, dieser Alternative dadurch zu
entfliehen, daß er einem ganz besonderen Volk angehört, dessen Qualität es ist, nicht Recht zu
haben, sondern im Recht zu sein. Zwar attestiert Jü.We. den Juden, irgendwie ein Mittelding
zwischen vielen Menschen und einem Volk zu sein, aber die Vermittlung, aus der das Recht
auf „Bewältigung“ folgen würde, stellen sie nicht dar – und mögen sie auch für ihre Kandidatur
auf diesen Posten mit dem gerade bei Antizionisten verhaßten, weil beneideten Slogan vom
,auserwählten Volk’ noch so viel Reklame machen. Nein, vielmehr bilden die Juden eine ob-
skure „Völkergemeinschaft“, eine zwielichtige Zusammenrottung von Menschen, die schon
deshalb nicht Schiedsrichter in eigener Sache sein kann, weil sie trotz Auschwitz die Lektion
nicht lernen will, daß einer bloßen „Völkergemeinschaft“ nicht zusteht, ein ganzes „Volk“ zu
unterdrücken und über die man sich deshalb als aufrechter deutscher Linker einfach nur wun-
dern kann. Ebensowenig wie der Holocaust also mit der Geschichte Palästinas zu tun hat, eben-
sowenig ist er das „Besondere“ der jüdischen Geschichte. Es versteht sich daher, daß die Juden
ihre Geschichte gar nichts angeht, „bestenfalls (!) noch ein psychologisches Trauma“ darstellt,
und daher in ihren Händen nur zur zionistischen Propaganda taugt.
Vom Zweifel darüber eingegeben, ob man mit der Sprache schon heraus kann, läßt die
verdruckste Rede von der „Völkergemeinschaft“ augenzwinkernd doch durchblicken, was
gemeint ist: Die Juden sind die Faschisten von heute, und weil im genauen Gegensatz dazu die
Deutschen aus Auschwitz gelernt haben, daß die Volksgemeinschaft nichts bringt, haben diese
sich als Musterschüler nicht nur das Recht erworben, Auschwitz als ihre ganz besondere Ange-
legenheit zu betrachten, sondern auch das daraus Abzuleitende, im Kampf einer „Völkerge-
meinschaft“ gegen ein „Volk“ die Rolle eines unparteiischen Dritten einzunehmen.
Auschwitz ist also eine Angelegenheit, in die sich ein deutscher Linker von den Juden
nicht dreinzureden lassen braucht; weder von den „Juden als Menschen“ noch vom Staate
Israel, der unsere „Schuldgefühle“ geschickt zu nutzen weiß, und, unter anderem mittels der
ISF, versucht, „anderen seine Komplexe aufzuhängen“. Wo es auserwählte Juden und elitäre
Kritiker allenfalls zum „Komplex“ bringen, da leistet sich ein deutscher Linker ein „Schuldge-
fühl“. Er ist der eigentlich Leidtragende, der gutwillige Chaot, der zum Dank für seinen antifa-
schistischen Eifer noch die SA vorgehalten kriegt und sich deshalb zum Beweis des Gegenteils
von Heiner Geißler und Ernst Nolte einen Begriff von Faschismus vorgeben läßt, über den man
derart gut streiten kann, daß man sich im Laufe der Zeit immer näher kommt: Auschwitz, ein
deutscher Familienkrach, wie er überall und alle Tage vorkommen kann. Denn so definitiv

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kann es Sn den Lagern schon deshalb nicht hergegangen sein, weil die Opfer zu Tätern wurden
und folglich überlebt haben.
Weil der deutsche Linke ein Familientier geblieben ist, kann er sich die Geschichte
nur als die ewige Wiederkehr des Gleichen vorstellen, als permanenten Rollentausch beim
Piesacken und gestichelt werden, in dem mal der eine, mal der andere das Sagen hat, und mal
der eine die Rolle des Opfers, mal der andere den Part des Henkers gibt. Wie unter Brüdern
und Schwestern nichts unverzeihlich ist, so ist in diesem Ohnsorgtheater auch nichts unwieder-
bringlich und endgültig. Und egal was passiert: Mag einmal die Hand aus den falschen Grün-
den zu locker gesessen haben, den Richtigen traf es allemal. So legt sich Jü.We. der Gedanke
nah, am Beispiel von Juden und Deutschen, von Israelis und Palästinensern lasse sich illustrie-
ren, „daß aus früheren Unterdrückten Unterdrücker und Henker geworden sind“. Überhaupt
ließe sich, suggeriert Jü.We. anhand israelischer Staatsgründungsterroristen à la Begin die
These beweisen, daß die Nazis zum Teil den richtigen Leuten, wenn auch aus falschen Grün-
den, den Garaus bereitet haben. An diesem Punkt angelangt, erreicht die deutsche Dialektik
ihre Höchstform. An der Volksgemeinschaft kann nicht alles falsch gewesen sein, wenn es
wenigstens einen der Zionisten erwischt hat, „die ja nicht erst heute wahre (!) Terroristen, Un-
terdrücker, Rassisten sind“.
Der „Mut den Israelis gegenüber“, den Jü.We. der ISF als Manko vorhält, hat seine
Feuertaufe in dem Moment bestanden, in dem es zur internationalistischen Pflicht gehört, mit
bestem Wissen und Gewissen in antisemitistischem Jargon sich deshalb zu üben, weil er end-
lich, qua „Zionismus“, seine sachliche Berechtigung gefunden habe. Die gelungene – weil
vorab schon entschiedene – „Negation der Negation“ des Schuldgefühls beweist sich in der
Unvoreingenommenheit, mit der auch den Nazis einmal rechtgegeben werden darf. In dieser
Logik, an deren Resultaten Jü.We. noch zu knabbern hat, liegt es, wenn es die Freiburger Nah-
ostgruppe in einem Flugblatt beklagt, es sei so schwierig, gegen den Zionismus zu agitieren,
„weil dieser Begriff heute auch von neonazistischen Gruppen als Synonym für Antisemitismus
mißbraucht wird“. (Für Kenner sei angemerkt, daß es sich bei dem Versuch, mit den Nazis um
deren Begriffe zu rangeln, um die Dialektik von subjektivem Meinen und objektivem Denken
handelt.) In dieser Logik liegt es auch, daß die Linke den Repräsentanten der Rechte des palä-
stinensischen Volkes zuzujubeln hat, wenn diese Waldheim ermuntern, der Presse- und Ver-
leumdungskampagne des internationalen Zionismus zu widerstehen. Und in dieser Logik liegt
es erst recht, dem Kritiker, der sich in der Funktion des Schiedsrichters zwischen zwei Nationa-
lismen nicht wohlfühlen mag, der „elitären Arroganz“ zu bezichtigen.
Die Wiedervereinigung der Linken mit ihrer Nation vollzieht sich in dem Maße, in
dem sie ihren „Judenknacks“ (Dieter Kunzelmann) therapiert, sich den Vorwurf ,abgehoben’
zu sein und ,abstrakt’ daherzureden, zu eigen macht und überhaupt langsam begreift, daß sich
auch ein Mensch mit prinzipiellen Ansprüchen im Alltagsleben nach der Decke zu strecken
hat. Wird die Vorstellung, Auschwitz sei ein besonders rabiater Fall von Gewalt in der Ehe,
zum Vorurteil, dann kann der Kritiker nur ein Nörgler und Meckerer sein, einer dem nichts gut
genug ist und der es sich herausnimmt, die schmutzige Wasche in aller Öffentlichkeit zu wa-
schen. Wer sich, wenn er auch als das schwarze Schaf immer noch dazugehört, für was Besse-
res und Besonderes hält, dem geht es nicht mehr um Wahrheit und Prinzip, sondern um seinen
egoistischen Vorteil. Schon sein Dünkel, gleicher als gleich sein zu wollen, demonstriert schla-
gend, wie wenig es ihm um die Wahrheit, die nur im Kollektiv zu haben ist, zu tun ist, sondern
vielmehr um die Befriedigung seiner Selbstsucht. Wer schon aus der Reihe tanzen muß und als
fürs Kollektiv „unnütze Esser“, wie die Nahostgruppe sekundiert, straflos bleiben will, der hat
mindest die Klappe zu halten. Ernst Nolte hat diese unheimliche Begeisterung für die Egalität
so formuliert:

„Alle Schuldvorwürfe gegen die ‚Deutschen’, die von Deutschen kommen, sind unaufrichtig, da die
Ankläger sich selbst oder die Gruppe, die sie vertreten, nicht einbeziehen und im Grunde bloß den al-
ten Gegnern den entscheidenden Schlag versetzen wollen.“1

Wer sich nicht anklagt, der hat sich schon entschuldigt.


Am Ende seiner Bemühungen um das Recht im Allgemeinen und die Geschichte im
Besonderen findet der linke Doppelcharakter seinen Frieden in der naheliegenden Erkenntnis,
daß, wer nicht mitmacht, auch nicht mitreden darf, und daß er selbst als Ausnahme die Regel
zu unterschreiben hat, der er die Möglichkeit seines Widerspruchs, das heißt seine Existenz,
verdankt. Zwanzig Jahre nach der Studentenbewegung fühlt er sich so als Spätheimkehrer und

1
Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: Historikerstreit, München/Zürich 1987, S. 41

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stellt dem Gegner von damals die Expertise aus, es sei auch zu seinem eigenen Besten gewe-
sen, jene besserwisserische Überheblichkeit und Arroganz abdressiert zu bekommen.
Freilich, der Gewinn, den er aus seinen Umwegen nach Hause bringt, ist auch für die
Nation nicht zu unterschätzen. Haben die Bemühungen um die Vermittlung von Idealismus
und Materialismus doch ergeben, daß die Rolle des auserwählten Volkes, das zu alles und
jedem seine Meinung sagen darf, ohne der Propaganda verdächtig zu sein, denjenigen gebührt,
die der Wahrheit so restlos anhängen, daß sie noch am Antisemitismus etwas dialektisch Auf-
hebbares finden können. Da man mit dem linken Deutschen über alles reden darf, springt im
Gegenzug das Zertifikat heraus, es müsse am Gesagten auch etwas dran sein, mindest ein An-
satz. Der Ansatz etwa, die feinsinnige Unterscheidung zwischen dem ,Zionismus als Weltan-
schauung’ und den Juden als Menschen’, die vor Auschwitz zum Programm des revolutionären
Marxismus gehörte, sei danach für linke Deutsche noch möglich, stellt den wahlweise antiim-
perialistisch oder staatspolitisch brauchbaren Persilschein aus, den Rest der Menschheit den
Maximen dessen zu unterwerfen, was man in Deutschland zu ,Recht als Recht’ und zu
,Unrecht als Unrecht’ erkennt.
Wie perfide und nützlich zugleich die Unterscheidung von ,Zionist’ und Jude’ ist,
zeigt Jü.We.’s Pointe. Sie besteht darin, daß seine Ausführungen über Recht und Geschichte in
der Anklage münden, man habe, „das berechtigte Recht der Juden auf eine Heimstatt“ unter
dem Druck israelischer Propaganda mit „diesem zionistischen Gebilde“ einfach gleichgesetzt.
Der Idealismus des absoluten Rechts erweist sich als die bloße Spiegelfechterei, die nötig war,
um im Durchgang durch allerhand subtil Deutsches endlich den Begriff des berechtigten
Rechts zu erzeugen. Die Idee mußte sich an Deutschland beflecken, um sich als eine typisch
deutsche Idee in ihrer Reinheit selbst zu erkennen. Vielleicht aber verhält es sich mit Israel
doch so, daß die Juden genug davon hatten, die Entscheidung darüber, welches ihrer Rechte
der deutschen Volksgemeinschaft als ein „berechtigtes Recht“ gelten darf, vom Wohlwollen
und Geschmack anderer und insbesondere vom Vertrauen in die Rechtsfindung deutscher Lin-
ker abhängig zu machen. Denn mit der linken Vorstellung vom Recht scheint es heute gerade
so weit her zu sein, wie 1933 mit ihrer Macht, diesem Recht auch zur Geltung zu verhelfen.
Ein Mißtrauen, das um so gerechtfertigter ist, als sich diese Linke im antiimperialistischen
Kampf gegen die Fremdherrschaft noch im Nachhinein auf den Standpunkt der arabischen
Staaten zum UN-Teilungsbeschluß stellt, der in einem Atemzug das „allgemeine Recht“ der
Juden akzeptierte und doch zugleich mittels seiner Armee ihnen die Frage zu bedenken gab,
warum es denn ausgerechnet hier sein müsse.
Die Juden haben kein Recht darauf, in Deutschland zu leben, weil es kein Unrecht
sein kann und kein Rechtsverstoß, zu atmen, was ja irgendwo geschehen muß und darum über-
all geschehen kann. Aber die deutsche Linke behandelt Mord und Vertreibung als Rechtsfrage
und kommt daher zu dem Schluß, daß sich das Recht aus dem Boden, der Tatsache also, der
erste gewesen zu sein, ableitet. Nichts anders drückt die Phrase vom berechtigten Recht aus
und genau aus diesem Grund schreit diese Linke Alarm, wenn einmal eine Ausnahme von der
Regel gemacht wird: Wenn die Palästinenser sich nicht als die besseren linken Deutschen er-
weisen würden, dann wäre es wieder einmal vorbei mit dem Recht auf Scholle und Heimat und
auch mit der famosen Dialektik von nationaler und sozialer Befreiung. Zum Glück hat der
palästinensische Aufstand Wichtigeres zu tun, als deutsche Rechtsbegriffe zu beweisen.
Im übrigen sind wir leider erst heute der Meinung, der Jean Amery schon 1969 war,
als er schrieb:

„Der Antisemitismus (ist) im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus enthalten wie das Gewitter in der
Wolke. (...) Der Augenblick einer Revision und neuen geistigen Selbstreinigung der Linken ist ge-
kommen; denn sie ist es, die dem Antisemitismus eine ehrlose dialektische Ehrbarkeit zurückgibt. Die
Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtischs mit den Barrikaden ist wider die Natur.“2

Januar 1989

2
Jean Amery, Widersprüche, München/Wien 1972, S. 244/249

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Initiative Sozialistisches Forum


Psychologisierung der Politik

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken,
Freiburg: ça ira 1990, S. 175 – 178

Geschichte wiederholt sich nicht, und trotzdem passiert immer das gleiche: Gedrillt im
,Historikerstreit’, umgetrieben von der Sucht nach ,nationaler Identität’ und aufgestachelt vom
,deutschen Exodus’ aus einer Staatssklaverei, die nicht mehr am Nil, sondern jenseits der Elbe
liegt, scheint das Verhältnis, das die bürgerliche Öffentlichkeit zu Schönhuber, dem völkischen
Demagogen, pflegt, nichts anderes darzustellen als eine fadenscheinige Reprise genau jener
ebenso innig verzückten wie zutiefst befremdeten Beziehung, die sie zu Hitler immer noch
unterhält, dem national-sozialistischen Führer. Was sie unter Abwägung aller Umstände und
für den Notfall nur begrüßen kann, das verabscheut sie doch im Prinzip aufrichtig. Was sie an
Hitler, dem Staatsmann, zumindest versteht, das geht ihr bei Hitler, dem Teppich beiß er, auf
jeden Fall über den Horizont. Weil sie gegen ,gesunden’ Nationalismus gar nichts einzuwenden
hat, eben darum bringt sie dessen ,Übersteigerung’ zum krankhaften Chauvinismus durch
Schönhubers ,knalldeutsche Truppe’ auf die Palme. Was der bürgerlichen Gesellschaft einer-
seits die reinste Badekur und Medizin bedeutet, das fürchtet sie doch andererseits als das pure
Gift. So steht sie ihrem größten Führer aller Zeiten merkwürdig gespalten und eindeutig schi-
zophren gegenüber. Einerseits verteufelt sie den Mann Hitler als gerissenen Massenpsycholo-
gen und gnadenlosen Verführer, der an niedrigste Instinkte und urige Ressentiments appellier-
te. Nach dieser Seite vermag sie sich als unschuldiges Opfer zu genießen, das nicht wußte, wie
ihm geschah, dem ausgerechnet seine ehrliche Absicht und vorbehaltlose Naivität zum Nach-
teil ausschlugen. Aber sie verteufelt ihn so energisch, daß man schon merkt, wie gewaltig sie
ihn eigentlich anhimmelt. Denn andererseits betrachtet die bürgerliche Gesellschaft Hitler als
einen dummen August und nützlichen Idioten, der unfreiwillig und als bewußtloses Werkzeug
einer demokratischen List der Vernunft an den gesellschaftlichen Fundamenten unserer
,modernen Industriegesellschaft’ zementierte, die mindest so modern ist wie ihr Vorläufer
archaisch und die daher weder Klassen noch Volksgenossen mehr kennen mag, sondern nur
noch Menschen und Staatsbürger. So gesehen erlebt sie sich als legitimen Nutznießer des Na-
zismus, dessen Opfergang und zeitweilig erzwungene Selbstverleugnung auf eine derart ein-
trägliche Weise wiedergutgemacht wurden, daß nur von Vorsehung und höherer Gerechtigkeit
noch die Rede sein kann.
Im Resultat erscheint so als Geschenk des Himmels, was doch als Methode nur die
Ausgeburt der Hölle sein kann. Faszination und Grauen halten sich allemal die Waage, von der
nicht gewußt werden kann, worauf sie geeicht ist. Nichts anderes als der Versuch, hier ein für
alle Mal ins Reine zu kommen und endlich Bilanz zu ziehen, treibt die Nation und ihre repu-
blikanische Avantgarde um. Nichts anderes war der Treibsatz des Historikerhändels um die
,Vergleichbarkeit’ von Hitler mit Dschingis Khan, mit Stalin, mit Napoleon, mit Bismarck, mit
Pol Pot. Daß der Versuch, Nutzen und Nachteil des Nazismus für die bürgerliche Gesellschaft
zu kalkulieren, seiner Natur nach ausgehen muß wie das Hornberger Schießen – das stachelt
erst den Ehrgeiz und dann die Wut noch an. Im Verhältnis von ehrlichem Eifer und im voraus
garantierter Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens spiegelt sich die abstruse Dialektik einer
bürgerlichen Gesellschaft, deren Linke nicht wissen kann, was ihre Rechte doch tun muß. Der
Fanatismus, um jeden Preis den Vergleich noch dort zu ziehen, wo die Maßeinheit, das Dritte
des Vergleichs, geheim ist und geheim bleiben muß, gibt den exakten Pegel der Verdrängung
an und beweist überdies, wie es um das Verhältnis von Intention und Resultat in dieser Gesell-
schaft notwendig bestellt sein muß.
Denn soweit die bürgerliche Gesellschaft als nichts anderes sich vorkommt denn als
horizontal gewobenes Netzwerk verhandelnder und Handel treibender Subjekte, als Gewebe
freier und gleicher Willen, genau so weit versteht sie den Staat als einen wesentlich parlamen-
tarischen Apparat. Hier gilt ihr der Staat als Instrument und geschäftsführender Ausschuß.
Derart auf Demokratie als das ,Selbstbestimmungsrecht des Volkes’ eingestimmt, kann ihr das
Procedere als eine höchst formale Angelegenheit erscheinen. Wie die Gesellschaft hier, liberal,

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als Summe der Individuen auftritt, so ermittelt die Wahl ihr wahres Interesse als das ihrer quan-
titativen Mehrheit. Aus dem Blickwinkel der Staatsbürger ist der Staat des Führers ein Unding
der Herrschaft, ein Widerspruch in sich und ein Unrechtsstaat, eine Ausnahme, die mit der
Normalität nicht einmal von ferne bekannt ist. Aber insofern eben diese bürgerliche Gesell-
schaft nichts anderes ist als ein hochgradig arbeitsteiliger, auf der Spaltung von geistiger und
körperlicher Arbeit beruhender Zwangszusammenhang zur gesellschaftlichen Reproduktion
des Lebens, insofern muß sie sich mißverstehen als Nation, als Volk und organisches Ganzes
und insofern begreift sie den Staat als wesentlich autoritäres Hirn, das vorab weiß, was dem
bewußtlos werkelnden Ganzen frommt. Hier gilt ihr der Staat als Inkarnation und als Wesen
eigener Qualität, als Nationalstaat, der vor jedem formal demokratischen Procedere immer
schon seinen eigentlichen und materialen Inhalt hat. Wo die Gesellschaft so, als Natur Zusam-
menhang und daher autoritär, auftritt, da erscheint die Wahrheit mit dem Interesse der Mehr-
heit als nur höchst zufällig verwandt. Aus dem Blickwinkel der Volksgenossen, die, jeder an
seinem Platz, das Ganze am Leben halten, erscheint der Staat des Führers als gesellschaftliche
Offenbarung und als Volksstaat, als Staat, der seinem Begriff auch praktisch gerecht wird, und
als Ausnahme, die den Inbegriff der Regel stellt. So muß, was dem Bürger als einem, der seine
Haut auf den Markt trägt, als politische Antinatur schlechthin erscheint, ihm doch, wenn er sie
danach in die Fabrik tragen muß, als ökonomische Natur par excellence vorkommen. Freier
Wille und Naturzwang, Markt und Produktion, Konkurrenz um die Aneignung der Waren ei-
nerseits und Kooperation zu ihrer Erzeugung als unschuldig-natürliche Güter andererseits – die
Vermittlung bleibt Staatsbürgern und Volksgenossen gleichermaßen das Geheimnis, obwohl
sie doch, Verwertung des Kapitals um jeden Preis, im Geld praktisch erscheint, und obwohl sie
immerhin, Selbsterhaltung der Autorität zu allen Kosten, als Souveränität im Ernstfall prak-
tisch durchgreift.
Weil die bürgerliche Gesellschaft bei ihrem Versuch, Nutzen und Nachteil des Na-
zismus auf einen Nenner zu bringen, den Zähler nicht kennt und nicht weiß, auf wessen Konto
hier Soll und Haben immer genau aufgehen, darum gerät sie immer dann, wenn sie an ihren
Führer erinnert wird, schier aus dem Häuschen, und man weiß nicht so genau, ob aus panik-
treibender Angst oder freudiger Erwartung. Weil sie bei ihrem Versuch, mit der völkischen
Demagogie Schönhubers zu konkurrieren, nie genau wissen kann, welche Dosis Nationalismus
gerade angebracht und ob daher eine deftige Polemik gegen das den Deutschen von den Alli-
ierten auf gezwungene „Fellachentum“ (Egon Bahr) geboten ist oder Nationalismus doch lieber
als Geschmacksfrage behandelt werden sollte – „Zu einer Nation gehört, wer sich dazu be-
kennt, solange er sich dazu bekennt“ (Erhard Eppler) –, darum bringt sie sich so oder so und
jedenfalls an den Rand der Erschöpfung und nervlichen Zerrüttung, aus der sie dann nur noch
erlöst werden will. Und weil sie bei ihrem Versuch, der autoritären Vergewaltigung zu entge-
hen, so oder so auf Nummer sicher gehen will, weiß sie immer noch nicht, ob sie Schönhubers
Erfolge als ihre ureigenen behandeln möchte, sie unter der Rubrik ,Normalisierung der BRD zu
einem Land, das so demokratisch ist, daß sie sich sogar eine richtige Rechte leistet’ registrieren
und daher „Freiheit für die Feinde der Freiheit“ fordern soll, oder ob sie nicht lieber selbst mit
dem formalen Demokratismus ein Ende macht und der Restauration der BRD in Deutschland
nach dem Motto „ Faschismus darf nicht wählbar sein“ oder „Keine Freiheit für die Feinde der
Freiheit“ zuvorkommt. Eines aber hat Schönhuber immerhin allen klargemacht: Die Deutschen
sind wieder wer, sie wissen bloß noch nicht, was.

September 1989

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1
Initiative Sozialistisches Forum
Die Entstehung der Psychokratie aus dem Selbstwiderspruch
der bürgerlichen Gesellschaft
Aus: Initiative Sozialistisches Forum, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken, Freiburg: ça ira 1990, S. 179 – 203.

„Das Individuum ist substantiell und real;


die Gesellschaft ist lediglich ein Bezugsgeflecht“.
Bhagwan Shreee Rajneesh

„Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch


zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde“.
Karl Marx

Die Dialektik kapitalistischer Vergesellschaftung, die den Menschen als egoistischen Bourgeois
und als an Vernunft und wahrem Gemeinwohl interessierten Citoyen zugleich setzt, drängt nach
ihrer Selbstaufhebung. Die sich anbahnende repressive Versöhnung von Gesellschaft und Staat,
von Privatmann und Staatsbürger, zielt auf neue Unmittelbarkeit. Am Ende der Emanzipation aus
der Unterjochung durch Natur droht die nicht weniger grausame Versklavung durch die zur zwei-
ten Natur werdende Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft dementiert das Versprechen ihres
historischen Kampfes gegen den Feudalismus, sie revidiert das Versprechen der Aufhebung von
Herrschaft durch den Verein freier Bürger: Nur das Ende persönlicher Willkür soll gemeint gewe-
sen sein. Fortschritt bestünde so einzig in der Anonymisierung von Herrschaft, in ihrer Verwand-
lung in ‘Sachnotwendigkeiten’ der gesellschaftlichen Reproduktion. Herrschaft würde so nur auf-
gehoben, um sie zu verewigen. Selbst der Tyrannenmord schüfe keine Freiheit mehr, sondern nur
den Austausch des Herrschaftspersonals. Ein neuer Naturzustand stünde am Ende von ‘Gleichheit,
Freiheit, Brüderlichkeit’. Der begeisterte Skeptiker der bürgerlichen Revolution, Jean-Jacques
Rousseau, hat früh antizipiert, worin die Dialektik der Selbsterhaltung, die den Ausbruch aus dem
Naturgefängnis ermöglichte, enden kann: „Der immer rege Bürger schwitzt, hastet und quält sich
auf der Suche nach immer mühsameren Beschäftigungen unaufhörlich. Bis zu Tode arbeitet er, ja
er rennt ihm sogar entgegen, nur um sein Leben bestreiten zu können, oder er verzichtet auf das
Leben, um die Unsterblichkeit zu erlangen“1 Anstelle des guten Lebens, das Arbeit ermöglichen
sollte, tritt endlose Arbeit noch ohne Hoffnung auf Heimzahlung durchs Jenseits; anstatt Luxus
und Genuß zu verallgemeinern, zerstört die losgelassene Produktion die Fähigkeit, Genuß und
Barbarei zu unterscheiden: Selbsterhaltung ohne Selbst verwandelt die Menschen in lebende
Leichname, die die Funktionsstellen des produktiven Apparates nur bekleiden, nicht aber diesen
bestimmen. Die prinzipielle Oberflüssigkeit der Einzelnen fürs Resultat der Produktion läßt unter
ihnen das Recht des Stärkeren wiederauferstehen: „Hier ist alles auf das alleinige Recht des Stär-
keren zurückgeworfen und folglich auf einen neuen Naturzustand, aber ganz verschieden von dem,
mit dem wir begonnen haben“. Die bürgerliche Gesellschaft realisiert wirkliche Freiheit, schreibt
Rousseau, aber nur als negative: „Hier werden alle Einzelnen wieder gleich, weil sie nichts sind“.2
Repressive Gleichheit hebt den Unterschied zwischen Privatmann und Staatsbürger auf,
eine Gleichschaltung, die deren Verhältnis nicht allein umkehrt, es vielmehr gänzlich überschrei-
tet: „Statt daß die Subjekte sich in der allgemeinen Angelegenheit vergegenständlichen“, so hatte
Marx das Staatsrecht Hegels kritisiert, „läßt Hegel die ‘allgemeine Angelegenheit’ zum ‘Subjekt’
kommen. Die Subjekte bedürfen nicht der ‘allgemeinen Angelegenheit’ als ihrer wahren Angele-
genheit, sondern die allgemeine Angelegenheit bedarf der Subjekte zu ihrer formellen Existenz“.3
Der Staat, der Verein der freien Bürger ist nicht deren Mittel zum Zweck des guten Lebens, son-
dern der Staatszweck, wie er von der Staatsbürokratie formuliert wird, bedarf der Bürger als seines
Mittels, seine Pläne aus der Amtsstube in die Wirklichkeit zu setzen. Damit ist der Staatsbürger
nur der lebendige Agent, die empirische Existenz der Staatsidee. Sie stellt Wahrheit und Allge-

1
Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter
den Menschen, in: ders., Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755, Hamburg 1978,
S.265
2
Rousseau, A.a.O., S.261. Vgl. Lucio Colletti, Rousseau: Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders.,
Marxismus und Dialektik, Frankfurt/Berlin/Wien 1977, S.78 ff.
3
Karl Marx, Kritik des Hegeischen Staatsrechts, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Berlin 1956ff, Bd. l, S.249
2
meinheit nur formell dar und degradiert das Individuum materiell auf das belebte Instrument, das
den Staatszweck praktisch werden läßt. Was Marx an Hegel im Interesse wahrer Allgemeinheit
kritisierte, das realisiert sich in der unmittelbaren und praktischen Setzung unwahrer Allgemein-
heit: Identität von Gesellschaft und Individuum. Die Nicht-Identität des Menschen mit sich selbst,
wie sie in der Trennung von Bourgeois und Citoyen als Chance zur Emanzipation von Natur sich
ausdrückte, findet ihre Auflösung in der Identität von Privatmann und Staatsbürger: Als bornierter
und egoistischer Einzelner ist der Mensch zugleich schon die gelungene Verkörperung allgemeiner
Vernunft, die nur den verschwindenden Mangel an sich hat, eine bloß instrumentelle, kapitalisti-
sche Vernunft zu sein. „Das vereinzelte Individuum, das reine Subjekt der Selbsterhaltung, ver-
körpert, im absoluten Gegensatz zur Gesellschaft, deren innerstes Prinzip“.4
Der Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft ist gedoppelt; er prozessiert auf
ökonomischem wie politischem Terrain und hebt in seiner Entwicklung die Vermittlungen von
Politik und Ökonomie, von Individuum und Gesellschaft in neuer Unmittelbarkeit auf. Neue Un-
mittelbarkeit als Identität von kapitalistischer Produktion und bürgerlicher Gesellschaft setzt das
Kapital als das „reelle Gemeinwesen“.5 Wie das Kapital die gesellschaftliche Arbeit als die ab-
strakte Möglichkeit der Freiheit setzt, so die Republik das Gemeinwesen als die abstrakte Mög-
lichkeit der freien Assoziation. Wie die historischen Bedingungen, unter denen das Kapital eman-
zipatorischen Gebrauchswert, nicht nur konsumierbare Produkte setzt, historisch vergänglich sind,
so auch die, unter denen die bürgerliche Republik den Menschen als einen solchen, nicht als Agen-
ten selbstloser Selbsterhaltung ermöglichen kann.

Vor dem Ende der bürgerlichen Schizophrenie

Wie auf ökonomischer Ebene am Beginn kapitalistischer Vergesellschaftung der Doppelcharakter


der Arbeit darin besteht, einerseits die Produktion konkret nützlicher Gebrauchswerte zu sein,
deren stoffliche Qualität naturverbunden ist, andererseits Produktion von Waren als der Verkörpe-
rung des abstrakten Werts und als die Mittel der Realisierung des Profits, so besteht auf politischer
Ebene der Doppelcharakter des Menschen darin, einerseits belebte Natur zu sein, Bourgeois, der
die Gesetze der Warennatur als seinen Naturinstinkt exekutiert6, und andererseits Staatsbürger,
Citoyen, dessen privates Handeln dem Gesetz allgemeiner Wohlfahrt genügen soll. Als Staatsbür-
ger und Person ist er das Produkt des Rechtes, das ihn ebenso nach Maßgabe der formellen
Gleichheit aller im Recht zum politischen Subjekt der Souveränität erhebt, wie ihn zugleich die
Herrschaft des Warentausches nach Maßgabe der materiellen Gleichschaltung aller vor dem
Tauschwert zum lebendigen Anhängsel und Subaltern der kapitalistischen Produktion erniedrigt.
Vor dem Übergang des Kapitals von der formellen zur reellen Subsumtion der gesell-
schaftlichen Produktion unter die endlose Selbstverwertung des Werts kann der Doppelcharakter
des Menschen homolog zu dem der Arbeit und der Ware gedacht werden: das Humane ist die
eigentliche Substanz der Staatsbürgerlichkeit, wie die praktische Reduktion des Menschen auf den
egoistischen Bourgeois nur die pervertierte Form des Humanen darstellt, die es annimmt, um den
Menschen aus der Verfallenheit an Natur zu befreien. Die abstrakte Staatsbürgerlichkeit stellt
einen Begriff objektiver Möglichkeit von Emanzipation dar, bedeutet sie doch die Befreiung aus
jenen Formen naturwüchsiger Gemeinschaft, die nur den ebenso sturen wie stummen Naturzwang
in die menschliche Gesellschaft hinein verlängern. Mit der Verwandlung der Familienmitglieder,
Leibeigenen und Hörigen in Staatsbürger ist die freie Assoziation der Produzenten als eine histori-
sche, durch sozialistische Revolution nur zu nutzende Chance einer anders als nur formellen Frei-
heit gesetzt. Die Setzung der Warenbesitzer als Rechtspersonen stellt die gegen den konkreten
Willen der Individuen erzwungene Humanisierung ihres wechselseitigen Bezuges dar. „Obwohl
das Individuum A Bedürfnis fühlt nach der Ware des Individuums B, bemächtigt es sich derselben
nicht mit Gewalt, noch vice versa, sondern sie erkennen sich wechselseitig an als Eigentümer, als
Personen, deren Willen ihre Waren durchdringt. Danach kommt hier zunächst das juristische Mo-
ment der Person herein und der Freiheit, soweit sie daran enthalten ist“.7 Im rechtlich geregelten

4
Theodor W. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in ders., Soziologische Schriften l,
Frankfurt 1979, S.55
5
Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1974, S.430. Zum Begriff
des reellen Gemeinwesens vgl. auch Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, Frankfurt 1976, S.200 f.
6
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Ber-
lin 1973 (MEW 23), S.101
7
Marx, Grundrisse, S.155. Andererseits verhüllt das Tauschverhältnis den zugrundeliegenden Produktions-
prozeß nicht nur, sondern dient der Reproduktion seiner Voraussetzungen, der beständigen Trennung der
Produzenten von den Produktionsmitteln. Die Rechtsförmigkeit vermittelt „den betrügenden Schein einer
Transaktion, eines Kontrakts zwischen gleichberechtigten und sich gleich frei gegenüberstehenden Warenbe-
sitzern“ auch dann, wenn es um Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft geht: „Dieses einleitende Verhältnis
erscheint ... selbst als immanentes Moment der in der kapitalistischen Produktion produzierten Herrschaft der
3
Tausch erscheint die Freiheit abstrakt enthalten, denn die Individuen degradieren einander zwar
auf die Mittel ihrer Selbsterhaltung, erkennen dadurch jedoch implizit an, daß die eigene Selbster-
haltung nur als die des anderen zugleich möglich ist: „Das heißt, das gemeinschaftliche Interesse,
was als Motiv des Gesamtaktes erscheint, ist zwar als fact von beiden Seiten anerkannt, aber als
solches ist es nicht Motiv, sondern geht sozusagen nur hinter dem Rücken der in sich selbst reflek-
tierten Sonderinteressen, dem Einzelinteresse im Gegensatz zu dem des anderen vor“.8 Zwar stellt
das allgemeine Interesse nur die „Allgemeinheit der selbstsüchtigen Interessen“9 dar, aber als ein
allgemeines ist es zugleich abstrakte Möglichkeit konkreter Aneignung des humanen Interesses.
Der politische Doppelcharakter des Menschen drückt sich in der Schwierigkeit des klassi-
schen bürgerlichen Staatsrechts aus, seine gleichzeitige Existenz als Souverän und Subjekt des
Staates einerseits, als subalternes Objekt der Staatsbürokratie andrerseits zu begreifen, ohne auf
das Fundament dieses Widerspruchs zu rekurrieren. So weist etwa der führende bürgerlich-
demokratische Staatsrechtler des wilhelminischen Deutschland, Georg Jellinek, der Versammlung
der Menschen im Staat „eine doppelte Funktion“ zu, sofern der Staat die Form der demokratischen
Republik annimmt: „Das Volk gehört dem Staate als dem Subjekt der Staatsgewalt an, wir nennen
es (...) das Volk in seiner subjektiven Qualität. Sodann aber ist das Volk in andrer Eigenschaft
Gegenstand staatlicher Tätigkeit, Volk als Objekt“. Das Volk ist Subjekt und Objekt in unmittelba-
rer Identität; wie es in seiner Eigenschaft als Souverän aus freiwillig „Koordinierten“ besteht, so
aus „Subordinierten“ unterm Blickwinkel der Staatsgewalt. „Der Staat ist zugleich genossenschaft-
licher wie herrschaftlicher Verband“, schreibt Jellinek10 und erklärt sich diese Ambivalenz nach
dem Muster zeitlich beschränkter Delegation, aus der praktischen Unmöglichkeit der Verwandlung
der Gesamtgesellschaft in ein Parlament in Permanenz. Der Versuch, die Identität auch materiell
zu fundieren und politische Herrschaft als Ausdruck freiwilliger Selbstbeherrschung der Souverä-
ne durch sich selber auszulegen, scheitert, und die bürgerliche Staatsrechtslehre vermag das Volk
als den Souverän nur in der juristischen Sekunde des Wahlaktes als wirklichen Souverän zu fingie-
ren. Die Souveränität dauert nicht länger als das Einwerfen des Wahlzettels in Anspruch nimmt.
Die Unentschiedenheit des klassischen bürgerlichen Staatsrechts vorm Problem der Re-
publik reflektiert, daß das Recht neben der funktionalen Garantie des freien und gerechten Tau-
sches als der Form, die die kapitalistische Ausbeutung und Mehrwertproduktion notwendig an-
nimmt11, auch Momente des emanzipierten Gattungswesens enthält. Nur daher kann Marx es zur
konkreten Utopie erklären, daß „der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in
sich zurücknimmt“12, um sich die nur abstrakte Freiheit auch konkret anzueignen. Die nur politi-
sche Emanzipation, die es allen Menschen, dem Millionär wie dem Bettler, verwehrt, winters in
geheizten öffentlichen Bibliotheken zu nächtigen, besitzt – virtuell – einen emanzipativen Aspekt.
Das Leiden als eines an der Gesellschaft ist, anders als das unter Natur, aufhebbar: die Vermittlun-
gen sind der potentielle Hebel dieser Aufhebung. Als die „Reduktion des Menschen einerseits auf
das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische, unabhängige Individuum, anderer-
seits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person“13 demonstriert die Republik den Selbstwi-
derspruch des Menschen unter der Herrschaft des Kapitals, eine menschliche Substanz zwar zu
besitzen, aber nur als gesellschaftliche Möglichkeit, der Konkurrent zu sein, aber nur als seine
historisch vergängliche Form.
Die Republik verabsolutiert diesen Widerspruch ins äußerste Extrem. Sie ermöglicht die
politische Herrschaft des Kapitals nur unter der Bedingung des allgemeinen Wahlrechts und
„zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den
feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst in
Frage stellen, von den einen verlangt sie, daß sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozia-
len fort-, von den anderen, daß sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückge-
hen“14, ein Selbstwiderspruch der Republik, der nur drei Lösungen zuläßt: Diktatur einer charisma-
tischen Persönlichkeit als das Resultat der Klassenkämpfe in Frankreich nach 1848 oder der in
Deutschland vor 1933 einerseits, Herrschaft der in den Räten der ‘Commune’ von 1871 zur wirkli-
chen Selbstverwaltung radikalisierten Souveränität der Produzenten andrerseits. Als dritte Lösung
und perverse Vermittlung von Diktatur und Selbstverwaltung erweist sich der moderne kapitalisti-

gegenständlichen Arbeit über die lebendige“ (Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses,
Frankfurt 1974, S.88).
8
Marx, Grundrisse, S.155
9
Ebd.
10
Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Dritte Auflage unter Verwertung des handschriftlichen Nachlasses
durchgesehen und ergänzt von Walter Jellinek, Berlin 1914, S.406 ff.
11
Vgl. Burkhard Tuschling, Rechtsform und Produktionsverhältnisse. Zur materialistischen Theorie des
Rechtsstaates, Frankfurt 1976
12
) Karl Marx, Zur Judenfrage, in: MEW l, S.370
13
Ebd.
14
Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW 7, S. 43.
4
sche Staat: er bricht mit dem Liberalismus, dessen politisches Wesen in der Verweigerung des
Wahlrechts für die eigentumslosen Massen bestand und realisiert das allgemeine Wahlrecht, aber
nur, um die durchs allgemeine Wahlrecht gesetzte Emanzipation des Staates von unkalkulierbarer,
durch die Willkür konkreter Personen bezeichnete Gewalt als die Anonymisierung der Gewalt neu
zu organisieren. Und er bricht zugleich dem Wunsch nach Selbstverwaltung den Stachel, indem er
die Anonymität und Subjektlosigkeit von Herrschaft als ihre gänzliche Abwesenheit erscheinen
läßt. Das Verschwinden der Herrschaft im modernen kapitalistischen Staat, der doch zugleich zum
Zwecke der Souveränität nach außen und innen, für Krieg und Bürgerkrieg, über das Monopol der
bewaffneten Gewalt verfügt, ist die Geschichte der Hegemonie, der Wattierung der Gewalt durch
die spontane Zustimmung der Subalternen und Ausgebeuteten, an deren logischen Ende die Psy-
chokratie als freiwillige Selbstverwaltung der Ausbeutung durch die Ausgebeuteten als auch sozia-
le Wirklichkeit stehen kann. Der moderne kapitalistische Staat ist, als „integraler Staat“ (Antonio
Gramsci)15, die Versöhnung von Hegemonie und Gewalt, von spontanem Konsens und imperativi-
scher Anordnung. Er ist dies seinem logischen Begriffe nach: die konkrete Utopie kapitalistischer
Herrschaft zielt auf den nur mehr gelegentlichen symbolischen Gebrauch zu pädagogischen Zwek-
ken. Die manifeste Gewalt ersetzt sich durch die Mikrophysik der Macht, die Bündelung von Kon-
senstechnologie und sanftem Zwang, die den Subalternen noch das Bewußtsein eines Unterschie-
des zwischen „denen da oben – wir hier unten“ austreiben möchte. Herrschaft wird über der Ge-
sellschaft zerstäubt, delegiert und säuberlich unterteilt. Am Ende löste Herrschaft sich auf in das in
Permanenz tagende Parlament von 60 Millionen souveränen und absoluten deutschen Monarchen
und die Zerstörung der Duodezfürstentümer durch die französische Revolution wäre mehr als nur
umsonst gewesen. Der Liberalismus, dem sich schon stets die privaten Laster wie von selbst zum
allgemeinen Nutzen addierten, hätte sich gesellschaftlich bewahrheitet. Es stimmte dann, was sich
der Kulturkonservativismus nur erhofft: „Die Gesellschaft wird mehr und mehr zu einem Gedan-
kennetz, zu einer Art Phantasiebild, das wir als gesellschaftliche Konstruktion zu verwirklichen
trachten“.16
Dieser Zustand vollendeter Hegemonie gliche, als die von der Subalternen wirklich ge-
glaubte und als negative und wirklich vorhandene Identität des materiellen Interesses mit seiner
politischen Vertretung, einer Karikatur des Kommunismus, zumindest seiner rohen, staatskapitali-
stischen Erscheinungsform. Wird doch im rohen Kommunismus die Gleichheit aller vor der Arbeit
ebenso abstrakt gesetzt wie in der bürgerlichen Republik die Gleichheit aller vor dem Gesetz. „Die
Bestimmung des Arbeiters wird nicht aufgehoben, sondern auf alle Menschen ausgedehnt“, und
der staatskapitalistische Kommunismus ist so nicht die Aufhebung, sondern die „Verallgemeine-
rung und Vollendung“ des Privateigentums: „Die Gemeinschaft ist nur eine Gemeinschaft der
Arbeit und der Gleichheit des Salairs, den das gemeinschaftliche Kapital, die Gemeinschaft als der
allgemeine Kapitalist, auszahlt“.17 Die staatskapitalistische Karikatur auf den Kommunismus
gleicht dem privatkapitalistischen Original so sehr, daß die Menschen zu Recht die Mühe scheuen,
das Original gegen die Karikatur einzutauschen.
Hegemonie verlängerte die juristische Sekunde der fingierten Souveränität der Subalter-
nen zur gesellschaftlichen Ewigkeit und schafft der Fiktion ein materielles Fundament. Wo eine
Fiktion zur sozialen Wirklichkeit wird, da kann es anders als okkult gar nicht hergehen. „Eine
Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen,
deren jedes aber im Geheimen sich davon auszunehmen bereit ist, so zu ordnen und ihre Verfas-
sung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegenstreben, diese
einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob
sie keine solchen bösen Gesinnungen hätten“, das erachtete Immanuel Kant als die Hauptleistung
jener wundertätigen ‘unsichtbaren Hand’, die „selbst einem Volk von Teufeln“ den Effekt der
privaten Laster und Egoismen zum allgemeinen Nutzen ordnen könne18. Die Metaphysik des „Als
ob“ wird hegemonial zur Sozialtechnologie des sozialen Okkultismus umgeschmolzen; der „Spiri-
tualismus des Staates“ erhebt die „wirkliche Geistlosigkeit des Staates zum kategorischen Impera-
tiv“19. Die Unterstellung, ein jedes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft habe (ex post) so ge-
handelt, „Als ob“ sein Handeln aus einem allgemeinen Gesetz (ex ante) bestimmt worden sei, wird
zur Realität im gleichen Maße, in dem die gesellschaftliche Synthesis nicht mehr im Nachhinein,
d. h. im Austausch der privat erzeugten Produkte auf dem Markt sich herstellt (formelle Subsumti-

15
Vgl. Christine Buci-Glucksmann, Gramsci und der Staat, Köln 1981
16
Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit, Frankfurt 1979, S.
181
17
Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW-Ergänzungsband l, Berlin 1973, S.534 f.
18
Immanuel Kant, Werke. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1970, Bd. 9, S. 224
19
Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, S.249 und 248
5
on), sondern bereits in den unmittelbaren Produktionsprozeß eingeht (reelle Subsumtion)20. Der
Okkultismus des „Als ob“ wiederholt nur auf der politischen Ebene, was in der Ökonomie schon
geschah: Die Materialisierung eines ganz und gar unsinnlichen, abstrakten und unempirischen
sozialen Verhältnisses in einem empirischen, sinnlich erfahrbaren und konkreten Ding, im Geld,
einem merkwürdigen „sinnlich-übersinnlichen Ding“21. Das politische Verhältnis, das die Subal-
ternen als die wirklichen Souveräne und Subjekte des Staates glaubhaft fingiert, ist dem ökonomi-
schen, das die Produktion der Tauschwerte zur unmittelbar gesellschaftlichen Produktion werden
läßt, homolog und ist daher selber nur in spirituell-okkulten Begriffen noch faßbar. Was hier ge-
schieht, ist einerseits so völlig unvernünftig und andrerseits so handgreiflich wirklich, daß der
Kopf dies zu Recht nicht fassen mag.
Ein längeres Zitat aus der Marxschen „Kritik des Hegeischen Staatsrechtes“ sei gestattet,
um die Implikationen dieses Verhältnisses realer Abstraktion, die durch Paraphrase an Schärfe und
Klarheit nur verlieren könnten, aufzuzeigen. Marx geht von eben der Frage aus, die Immanuel
Kant mit der ‘unsichtbaren Hand’ beantwortete: Wie kann das konkrete Individuum den abstrakten
Standpunkt der Staatsbürgerlichkeit erlangen? Nur durch eben jene im Resultat negativen Verge-
sellschaftung praktisch gewordene atheistische Theologie der unsichtbaren Hand, die im Vergleich
mit dem Aberglauben ans Jüngste Gericht den schönen Vorteil hat, ihren Gottesbeweis tagtäglich
führen zu können: „Dieser politische Akt ist eine völlige Transsubstantion. In ihm muß sich die
bürgerliche Gesellschaft völlig von sich als bürgerliche Gesellschaft, als Privatstand lossagen, eine
Partie seines Wesens geltend machen, die mit der wirklichen bürgerlichen Existenz seines Wesens
nicht nur keine Gemeinschaft hat, sondern ihr direkt gegenübersteht. Am Einzelnen erscheint hier,
was das allgemeine Gesetz ist. Bürgerliche Gesellschaft und Staat sind getrennt. Also ist auch der
Staatsbürger und der Bürger, das Mitglied der bürgerliche Gesellschaft getrennt. Er muß also eine
wesentliche Diremption mit sich selbst vornehmen (...) Um also als wirklicher Staatsbürger sich
zu verhalten (...), muß er aus seiner bürgerlichen Wirksamkeit heraustreten, von ihr abstrahieren,
von dieser ganzen Organisation in seine Individualität sich zurückziehen; denn die einzige Exi-
stenz, die er für sein Staatsbürgertum findet, ist seine pure, blanke Individualität, denn die Exi-
stenz des Staates als Regierung ist ohne ihn fertig und seine Existenz in der bürgerlichen Gesell-
schaft ist ohne den Staat fertig. Nur im Widerspruch mit diesen einzig vorhandenen Gemeinschaf-
ten, nur als Individuum, kann er Staatsbürger sein (...) (Daher) muß seine wirkliche Organisation,
das wirkliche bürgerliche Leben, als nichtvorhanden gesetzt werden (...) Die Trennung der bürger-
lichen Gesellschaft und des politischen Staates erscheint notwendig als eine Trennung des politi-
schen Bürgers, des Staatsbürgers, von der bürgerlichen Gesellschaft, von seiner eigenen wirkli-
chen, empirischen Wirklichkeit, denn als Staatsidealist ist er ein ganz anderes, von seiner Wirk-
lichkeit verschiedenes, unterschiedenes, entgegengesetztes Wesen (...) Der Bürger muß seinem
Stand, die bürgerliche Gesellschaft, den Privatstand, von sich abtun, um zu der politischen Bedeu-
tung und Wirksamkeit zu kommen; denn eben dieser Stand steht zwischen dem Individuum und
dem politischen Staat“.22
Damit der Mensch als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zum Faktor werden kann,
der politisch zählt und sich zu Wahlstimmen, zu Mehrheit und Minderheit addieren kann, muß er
sein soziales Alltagsleben als nichtig erachten und zum Staatsidealisten werden, indem er von
seiner „gemeinschaftlichen Existenz“ praktisch abstrahiert. Wie auf ökonomischer Ebene der
Doppelcharakter der Arbeit aufgehoben und der Produzent aus dem Co-Subjekt der Produktion,
das er in der Manufaktur und den frühen Stadien der Mechanisierung der Produktion noch ist, zu
einem lebendigen Anhängsel der Maschinerie – der Objektivierung des Werts in der unmittelbaren
Produktion degradiert wird, so auch auf der politischen Ebene: der politische Akt, mittels dessen
nur das Individuum den Standpunkt gesellschaftlicher Allgemeinheit erreichen kann und den Marx
in objektiver Ermangelung eines vernünftigen Begriffes für ein unvernünftiges Verhältnis mit
einem theologischen ‘Begriff belegt, ist eine Realabstraktion par excellence. Als die im religiösen
Meßopfer sich okkult vollziehende Verwandlung der Substanz von Brot und Wein in Leib und
Blut des Herrn Jesu Christ bezeichnet die „Transsubstantion“ die durchgeführte Einheit des Alltäg-
lichen mit dem Spirituellen mit dem Unterschied nur, daß das Spirituelle in der politischen Realab-
straktion auch Wirklichkeit besitzt. Es zeigt sich hierin, daß alle Kritik bei der Kritik der Theologie
nicht nur beginnt, sondern, im Zustand der zur zweiten Natur mutierenden Gesellschaft, dort auch
endet.
Die Realabstraktion, die der Staatsbürger an sich selbst als einem Menschen und Mitglied

20
Vgl. Klaus-Dieter Oetzel, Wertabstraktion und Erfahrung, Frankfurt/New York 1976, v.a. S.158ff. und
Stefan Breuer, Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei
Herbert Marcuse, v.a. S. 146 ff.
21
Marx, Das Kapital, S.105ff. Der Fetischcharakter des Geldes beweist seine Macht z.B. dadurch, daß die
Leute in den Wald gehen und sagen, hier wachse Geld.
22
Marx, Kritik des Hegeischen Staatsrechts, S.281
6
der Gesellschaft vornimmt, weitet sich über den unmittelbaren Akt der demokratischen Wahl hin-
aus auf das Alltagsleben aus und schießt zurück in den Grund, aus dem ihre Notwendigkeit ent-
stand. Der Bürger bedurfte des Staates als des ideellen Gesamtkapitalisten, weil anders als mittels
einer zwischen den einzelkapitalistischen Interessen vermittelnden und also (systemimmanent)
neutralen Schiedsrichterinstanz die allgemeinen Reproduktionsbedingungen des Kapitalismus als
der Form gesellschaftlicher Produktion nicht herzustellen waren. Er mußte von seinem besonderen
Geschäftsinteresse absehen lernen, um sein allgemeines Interesse an der Einhaltung der Ge-
schäftsordnung durchzusetzen; es mußte ihm im eigenen Interesse beigebracht werden, daß der
Weg zur Vergoldung der eigenen Nase auch über die Konjunktur des Konkurrenten verläuft. Aus
der bloßen Form gesellschaftlicher Produktion wird nach der Eigenlogik der Realabstraktion nun
ihr Inhalt, und das Kapital übersetzt sich in das reelle Gemeinwesen, das einen Unterschied zwi-
schen dem allgemeinen und dem besonderen Interesse nicht mehr zulassen mag. Was im Unter-
schied zwischen der sozialen und der politischen Herrschaft des Bürgertums – ein Unterschied, der
den Bürger den 18. Brumaire 1850 und den 30. Januar 1933 prächtig überleben ließ – angelegt
war, das radikalisiert sich in der demokratischen Republik: Der Bürger verliert die Herrschaft im
eigenen Haus und wird zum Anachronismus, zum Neandertaler seiner eigenen Ökonomie. Dem
Verlust der politischen Herrschaft, die durchs Zensurwahlrecht garantiert war, folgt der Verlust
seiner sozialen Herrschaft auf dem Fuße. Das Kapital emanzipiert sich von seinem Eigentümer,
organisiert sich als Aktiengesellschaft und degradiert den selbstherrlichen Kapitalisten der Grün-
derjahre zum müßigen Rentner und für den Gedeih von Zins und Zinseszins überflüssigen Lebe-
mann. Das Bürgertum stirbt den sozialen Tod und verschwindet im gleichen Maße, in dem das
Kapital seinen Geburtshelfer für überflüssig erklärt.23 Dem korrespondiert die negative Aufhebung
der Arbeiterklasse: Wo der Geburtshelfer überflüssig geworden ist, da herrscht das ewige Leben,
und die Totengräber, die sich das Kapital in der Analyse des „Kommunistischen Manifests“ in
Gestalt des Proletariats noch selber erzeugen sollte, werden selbst zu Toten auf Urlaub, deren ge-
sellschaftliche Überflüssigkeit im Prinzip schon feststeht und die sich einstweilen noch an Arbeits-
losengeld, Sozialhilfe oder anderen, nur wenig größeren Zuwendungen in Form von Lohn und
Gehalt delektieren dürfen.
Die Atomisierung der Individuen, die die Realabstraktion auf dem politischen Feld her-
vorbringt und die im Vergleich zur naturwüchsigen Familie und zur dörflichen Gemeinschaft ei-
nen ungedeckten Wechsel auf die zukünftige Freiheit bedeutete, endet in der Gesellschaft als einer
Gummizelle, in der die Individuen wie die Atome im Reaktor herumgewirbelt werden, heillos
miteinander kollidieren und dadurch die zum Betrieb der Zelle nötigen Energie erzeugen. Inmitten
der unaufhebbar werdenden Unfreiheit scheint die durchgeführte Freiheit zu herrschen. Das Men-
schenbild, das die diversen ‘humanistischen’ Therapietechniken den Individuen einbläuen wollen,
ist der Reflex der sich anbahnenden völligen Fundierung von Herrschaft in menschlicher Sponta-
neität. Dem gilt das pseudo-religiöse Credo des Erfinders der Gestalttherapie, Fritz Perls: „Ich tu,
was ich tu; und du tust, was du tust. Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu
leben. Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach meinen zu leben. Du bist du, und ich bin ich.
Und wenn wir uns zufällig finden – wunderbar. Wenn nicht, kann man auch nichts machen“.24
Freiheit als Zufall, Liebe als blinder Zusammenstoß, Spontaneität als entobjektivierte Zusamen-
hangslosigkeit – der Selbstwiderspruch, der den Bürger einerseits „ordentlicher Staatsbürger“,
andrerseits „wildes Tier“ (Gustave le Bon)25 sein ließ, ist aufgehoben und der neue Mensch kann
sich als tollwütiger Staatsbürger und ordentliches Raubtier zugleich aufführen, kann sowohl in der
Konkurrenz wie auch vor seinem Gewissen bestehen. Er lebt im Jenseits der bürgerlichen Schizo-
phrenie, die darin bestand, was man tun mußte, besser lassen zu sollen.

Der „innere Maschinist“ des Arbeiters und seine staatsbürgerliche Verbesserung

Was am Bürger sich vollzieht, das begann und vollendet sich am Arbeiter, an den unmittelbaren
Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums. Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals
zerstörte zwar Unfreiheit und Hörigkeit, aber nur um den Preis der gleichzeitigen Zerstörung jener
relativen Sicherheit und paternalistischen Fürsorge, die den Produzenten als sprechfähigen Ar-
beitswerkzeugen von Wert immerhin zukam. Das Kapital spedierte sie in die Freiheit, aber nur, um
sie als materiell unfreie und von den Produktionsmitteln ihres Lebens getrennte Lohnarbeiter pro-
duktiv ausbeuten zu können. Der bürgerliche Selbstwiderspruch vertieft sich im proletarischen
noch: wo der Bürger zwischen Altruismus und Egoismus schwankt, die Caritas und den Weltwäh-

23
Vgl. Rainer Rilling, Das vergessene Bürgertum, in: Das Argument Nr. 131 (24. Jg. 1982), S.34 ff.
24
Zitiert nach Francoise Castel, Robert Castel, Anne Lowell: Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und
Vermarktung von Psychowaren in den USA, Frankfurt 1982, S.293
25
Zitiert nach Richard Sennett, Die Tyrannei der Intimität. Verfall und Ende des Öffentlichen Lebens, Frank-
furt 1983, S.337
7
rungsfond zugleich im Seelchen spürt, und mit der linken Hand sentimental gewährt, was er mit
der rechten doppelt und dreifach brutal einstreicht, da hat der Arbeiter nur eine Wahl. Es steht ihm
frei, sich zwischen dem kollektiven Egoismus der Gewerkschaften und dem individuellen zu ent-
scheiden, den die Arbeitgeber ihm ans Herz legt.
Der bürgerliche Selbstwiderspruch erscheint, wenn die politische Vergesellschaftung die
Form der demokratischen Republik annimmt, als der zwischen materieller Interessiertheit und
abstrakt gesetztem allgemeinem Gattungsinteresse. Der proletarische Selbstwiderspruch ist von
vorneherein aufs Ökonomische reduziert und die Versubjektivierung jener Widersprüche, die der
Kreislauf des Kapitals als Reproduktionsprozeß aus sich heraussetzt. Der Arbeiter verkörpert den
Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion, wobei der Akt des Konsums der Produktion
als ein notwendiges Übel erscheint: anders als durch wirklichen Konsum der Waren kann sich der
in ihnen enthaltene Wert (noch) nicht realisieren. Im Widerspruch zwischen Produzent und Kon-
sument exekutiert das gesellschaftliche Gesamtkapital seinen eigenen Widerspruch am produkti-
ven Arbeiter. Es besteht darin, den Arbeiter, der – einzelbetrieblich gesehen – einen mehrwert-
schaffenden Unkostenfaktor darstellt, gleichwohl ernähren zu müssen, ihn auszuhalten auch des-
halb, um die Realisierung des Mehrwerts in der Konsumtion zu ermöglichen. Am Gegensatz des
Arbeiters als unnützem Fresser, dessen einziger wesentlicher Nachteil darin besteht, noch kein
Roboter zu sein und nicht 25 Stunden am Tag aus lauter Lebensfreude schaffen zu können einer-
seits, der Funktion des Arbeiters andrerseits als eines nützlichen Fressers, der sich im Konsum die
Arbeitskraft in eigener Regie erhält und dazu seinen Lohn in völlig freier Wahl zwischen Produk-
ten, die allesamt nur Waren sind, ausgeben muß – daran hatte das Kapital im Krisenwettlauf der
Unterkonsumtion mit der Überakkumulation seine liebe Not.
Verliefe die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft nach den Interessen der Kapitali-
sten, dann wäre das Kapital als ein gesellschaftliches Verhältnis längst bankrott. Denn diese Inter-
essen zielen auf die totale Unterordnung des Arbeiters unter die Produktion: Zustände, wie sie
noch 1840 in Manchester herrschten, wären an der Tagesordnung. Damals erreichten die Angehö-
rigen der Arbeiterklasse ein Durchschnittsalter von 17 Jahren26. Das Interesse des Kapitalisten zielt
auf produktive Verschrottung des Menschen durch Arbeit und wie das geht, das zeigt ein Blick auf
die Ghettos von Singapur, Hongkong oder Sao Paulo. Das Kapital ruiniert die menschliche Ar-
beitskraft und damit in der Tendenz sich selber.
Die Rettung des Kapitals erkämpften seine formalen Antagonisten, die formell freien
Lohnarbeiter, die sich für den kollektiven Egoismus entschieden. Die Gewerkschaften als die
„Verkaufskartelle der Ware Arbeitskraft“27 begannen mit Lohnarbeitern zu handeln, wie andere
Kartelle mit Kühlschränken oder Badewannen. Ihr historischer Kampf zwang dem Kapitalismus
die Bedingungen seiner eigenen Existenz auf, setzte die Beschränkung der Arbeitszeit als Garantie
des Erhalts der Menschen als Arbeiter und Soldaten durch. Die Anerkennung der Dialektik, daß
das Kapital als gesellschaftliche Produktionsweise nur durch den systematischen Verstoß gegen
die Interessen der konkreten Kapitalisten gerettet werden kann, war nicht Resultat bürgerlich-
allgemeiner Vernunft, sondern Ergebnis materiellen Zwanges. Nicht das Parlament, die proletari-
schen Organisationen waren es, die dem an sich machtlosen kapitalistischen Imperativ: Systemer-
halt, zu sozialer Wirklichkeit verhalfen. Das Parlament hatte zu ratifizieren, was es, hätte der Libe-
ralismus recht, aus der kollektiven bürgerlichen Vernunft und nur seinem Gewissen verantwort-
lich, hätte produzieren müssen. Aber aus sich heraus vermag das Kapital nicht die Allgemeinheit
seiner Reproduktionsbedingungen zu setzen; der Wegfall der gewerkschaftlichen Gegenkraft treibt
es in den Ruin, aus dem es, – der Faschismus hat es erwiesen – nur die Flucht nach vorne in den
prinzipiell endlosen Raubkrieg antreten kann und die Flucht zurück an den Ursprung der ursprüng-
lichen Akkumulation: Verlängerung des Arbeitstages an die Todesgrenze28.
Der Sozialstaat als Erweiterung des bürgerlichen zum modernen kapitalistischen Staat
sucht die Kluft dieses Widerspruchs zu überbrücken. In der Krise widersetzt er sich (relativ gese-
hen) den Forderungen der Kapitalisten, bzw. vollzieht sie mit zeitlicher Verzögerung, um die
Rahmenbedingungen der künftigen Konjunktur zu wahren.29 Die Anerkennung der Gewerkschaft
als Tarifpartner respektiert ihr Monopol an der Ware Arbeitskraft, die Setzung des Arbeitsrechtes
drückt die gesamtkapitalistische Funktion des Erhalts der formellen Freiheit dieser Ware aus und
die Erweiterung des allgemeinen Wahlrechts auf die besitzlosen Klassen anerkennt das Recht der

26
E.P. Thompson, The Making of The English Working Class, Harmondsworth 1979, S.365
27
Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, Frankfurt 1973, S.480. Vgl. Manfred Faßler, Der Weg zum „roten“
Obrigkeitsstaat? Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Feudalismus und bürgerlicher Gegenrevolution,
Gießen 1977, S.188ff. und Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, Frankfurt 1967, S.17ff.
28
Marx, Das Kapital, Bd. l, S.741ff. und Alfred Sohn-Rethel, Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen
Faschismus, Frankfurt 1973
29
Vgl. Wolfgang Müller/Christel Neusüß, Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und
Kapital, in: Probleme des Klassenkampfs, Sonderheft l, Juni 1971, S.7-10
8
Arbeiter, über die Bedingungen ihrer Ausbeutung ein wenig verhandelt zu können, auch auf der
Ebene des ideellen Gesamtkapitalisten.
Gleichwohl prozessiert der Selbstwiderspruch des Einzelkapitals weiter. Mit jedem Über-
gang zu prinzipiell neuen Produktionsmethoden stellt sich erneut das Problem, wie der Arbeiter an
den Betrieb zu binden ist, wie seine betriebspezifische Qualifikation, die eine Investition ins varia-
ble Kapital darstellt, dem Betrieb auf Dauer oder solange wie nötig erhalten werden kann. Es stellt
sich das Problem, wie dem Arbeiter beigebracht werden kann, daß er sich selbst als das Humanka-
pital, das er ist, auch pfleglich behandelt. Denn die ökonomische Bestimmung des Proletariats,
vom Co-Subjekt der Produktion auf das belebte Anhängsel der objektiv gewordenen Maschinerie
heruntergebracht zu werden, stellt sich dem Proletariat als einer Klasse als Schicksal dar, dem
formell freien einzelnen Arbeiter aber nicht. Er kann wählen. Und im Angesicht neuer, arbeitsin-
tensiverer Produktionsmethoden entscheidet er regelmäßig für das „Recht auf Faulheit“30, für den
blauen Montag, für Wein, Weib, Gesang und die angenehmen Banalitäten des Alltagslebens. Jeder
Übergang auf ein neues ökonomisches Niveau, ob von der Manufaktur zur Fabrik, ob vom Hand-
werk zum Fließband, erfordert eine völlige Umorganisierung der „moralischen Ökonomie“ der
arbeitenden Klasse. Wie ihr im Übergang zum Fließband die affektive Besetzung von Produkt und
Produktion ausgetrieben und protestantischer Puritanismus anstelle des vorherigen Hedonismus
(der einer der Armut war) eingeimpft werden muß, so im Übergang vom Fließband zur computeri-
sierten Produktion die affektive Besetzung des Produktionsmittels, die zwanghafte Triebfixierung,
nicht vom Gerät zu lassen, bis das Programm funktioniert.
Die Wahlmöglichkeit des Arbeiters ergibt sich aus der Ungleichzeitigkeit der technologi-
schen Innovation. Sie einzuschränken und Betriebstreue herzustellen, ist daher, von Krupp bis
Ford, das Problem der avancierten Industrien. Die frühen Versuche bestehen in der Setzung mate-
rieller Stimuli, die zugleich, da mit ihrem Entzug wirkungsvoll gedroht werden kann, Zwangsmit-
tel darstellen: so die Werkswohnungen der Krupp, Ford & Co., die schon aussahen wie künftige
Arbeitslager und deren Reglement Alkoholismus, Vielweiberei und andere Laster durch die Lust
an Basteln, Kleintierzucht und Kirchgang ersetzen wollte. 31 All dies sind Formen, die Reprodukti-
on der Ware Arbeitskraft in ihrer Freizeit nach den Normen der Produktion zu organisieren. Das
Kapital drängt nach der Subsumtion des Arbeiters, nach der faktischen Aufhebung seiner formel-
len Freiheit.
Damit soll die Qualifikation des einzelnen endgültig zum Betriebseigentum werden. Hen-
ry Ford etwa mußte allein 1913 für die Besetzung von 16.000 Arbeitsplätzen 53.000 Einstellungen
vornehmen, die Kosten für die Anlernung waren enorm, obwohl diese höchstens eine Woche dau-
erte. Die Rationalisierung drohte an sich selbst zu scheitern: „Bisherige Erfahrungen gelten bei uns
nicht. (Die Ungelernten) lernen ihre Aufgabe innerhalb weniger Stunden und Tage“32, beschrieb
Ford dies System. Der profitable Vorteil, die Arbeit auf wenige routinisierte Handgriffe zu redu-
zieren, geriet in Gefahr, vom hinhaltenden proletarischen Widerstand gegen die Zerstörung ihrer
moralischen Ökonomie, gegen die Entwertung ihrer Fähigkeiten und damit ihres bisherigen Le-
bensstiles, selber gegen Null gedrückt zu werden. Da auch materielle Stimuli, bessere Löhne und
betriebliche Altersversorgung, nicht den Effekt ergaben, sowohl die Fluktuation zu unterbinden
wie auch die Effektivität der Arbeit zu steigern, mußte der direkte Zugriff auf die interne psychi-
sche Konstitution des Arbeiters, auf seine Arbeitsmotivation unternommen werden. Das Kapital
suchte die Arbeitskraft auf eben die Maschine herunterzubringen, die sie ihrer ökonomischen
Funktion nach längst zu sein hat. Dieser Versuch impliziert die Verallgemeinerung der Fabrik auf
die Gesamtgesellschaft und damit die Setzung einer kapitaladäquaten Form von Subjektivität. Sie
hat dem Begriff zu entsprechen, den sich die Arbeitsphysiologie vom arbeitenden Menschen
macht. Die sieht ihn vom Standpunkt der Geschäftsführung als einen mehrachsigen Gelenken und
dreidimensional agierenden Greifapparaten ausgestatteten produktiven Apparat: „In seiner Eigen-
schaft als ein Element in einem Kontrollsystem muß ein Mensch als eine Kette betrachtet werden,
die aus den folgenden Teilen besteht: 1) Sensoren, 2) einem Rechensystem, das auf der Grundlage
vorangegangener Erfahrungen reagiert, 3) einem Vergrößerungssystem – den Enden der Bewe-
gungsnerven und Muskeln, 4) mechanischen Verbindungen, mit denen die Muskelarbeit äußerlich
feststellbare Wirkungen erzeugt“.33 Der Mensch ist hier reine Naturkraft, von der ein Bild wie in
der Anatomie herrscht, mit dem Unterschied nur, daß die Sektion eine bei lebendigem Leibe ist

30
Vgl. Ernst Benz, Das Recht auf Faulheit oder die friedliche Beendigung des Klassenkampfes. Lafargue-
Studien, Stuttgart 1974 und E.P. Thompson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: ders., Ple-
beische Kultur und moralische Ökonomie, Frankfurt/Berlin/Wien 1980, S.34-65
31
Vgl. A. Brandenburg/J. Materna, Zum Aufbruch in die Fabrikgesellschaft: Arbeitersiedlungen in: Archiv
für die Geschichte der Arbeit und des Widerstands, H. 1/1980, S.35-50
32
Henry Ford, zitiert nach Jakob Walcher, Ford oder Marx. Die praktische Lösung der sozialen Frage. Berlin
1925, S.46
33
Henry Braverman, Die Arbeit im Produktionsprozeß, Frankfurt/New York 1977, S.141
9
und die sie vorbereitende Dressur mit jedem Arbeitstag von neuem beginnt.
Die Nagelprobe auf dies Kalkül wird am ersten Punkt, den Sensoren, genommen. Der
Mensch ist nicht objektiv, nimmt nicht das wahr, was man verlangt, man hat ihm das Hören und
Sehen beizubringen, bis es ihm vergeht. Die Vivisektion hat daher mit der Veränderung der Wahr-
nehmung zu beginnen, bis sie ihren Blickwinkel („in seiner Eigenschaft als ... betrachtet“) in die
Totale ausdehnt und sich um einen Unterschied zwischen „Rolle“ und „Mensch“ nicht mehr zu
kümmern braucht. Mit F.W. Taylor beginnt „ein eingehendes Studium der Motive, welche die
Arbeiter in ihrem Tun beeinflussen“. Denn obgleich die Menschen auf den ersten Blick einen
Kosmos von Unterschieden darstellen, können sie wissenschaftlich auf einfache Exemplare der
Gattung Mensch, auf die millionenfachen Duplikate des alten Adam reduziert werden. Eine Re-
duktion, die erst dann zur Zufriedenheit gelingt, wenn sich der einzelne Arbeiter zum Betrieb ver-
hält wie die einzelne Arbeitsameise zur Königin: treu bis in die Selbstaufopferung. Die Schwierig-
keit liegt nur darin, daß die Reduktion „an einem so komplexen Organismus, wie es der Mensch
ist, vorgenommen werden muß“34. Sie ist zugleich eine Realabstraktion, an deren Ende der Arbei-
ter auch wirklich die Biomaschine ist, die er sein soll: belebtes Material, das keinen Unterschied
mehr erkennen kann zwischen seiner objektiven Arbeitssituation. Die Arbeitspsychologie organi-
siert den Blick ins zu funktionalisierende Subjekt.
Es gilt, den „Thomas-Effekt“ zu beherrschen, um auch die Restbestände proletarischer
Subjektivität im Arbeitsprozeß dort, wo .er vom Verwertungsprozeß sich noch unterscheiden läßt,
auszumerzen und das Kommando der Direktion mit der Kunst behutsamer Konsenstechnologie
reibungsfrei und restlos durchzusetzen. Improvisation und informelle Kommunikation der Arbei-
tenden untereinander: sie gilt es in den Griff zu bekommen. Sie sind die (negativen) Vetorechte
der Arbeiter: kein Betrieb könnte produzieren, ohne mit Aussicht auf Erfolg auf ihre Kunst zur
Improvisation zu bauen, ein nach Vorschrift durchgeführter Arbeitsdienst käme der Sabotage
gleich. Aber andrerseits ist Improvisation eine Funktion genau der informellen Kommunikation
abseits der offiziellen Befehlswege, die Leistungszurückhaltung und Akkordbremse erst möglich
und wirklich machen35. Leistungszurückhaltung bedeutet implizit, daß der Arbeiter sich vor restlo-
ser Verausgabung schützt, um sich den lebenslangen Genuß seiner Arbeitsfähigkeit zu erhalten,
sich vor Überarbeit zu drücken, um sein Arbeitsleben, das in der BRD nur ein Drittel der Beschäf-
tigten gesund übersteht, möglichst auszudehnen. Hier liegt eine der sozialen Wurzeln der Gewerk-
schaftsbewegung und zugleich das tiefste Fundament des Sozialstaats, der noch unterm Keller des
Privatkapitals residiert. Der „Thomas-Effekt“ bedeutet den Bruch mit dem satten und statischen
Objektivismus F. W. Taylors und enthält die Anerkennung dessen, daß die Reduktion mit mate-
rieller Brachialgewalt allein nicht zum Zuge kommt und den Arbeiter zwar dem Betrieb annektiert,
die Arbeit selbst aber nicht im gewünschten Maße effektiviert. Es besagt, daß auch jene Faktoren
der Arbeitssituation verhaltenssteuernd sind, die sich als wissenschaftlich nicht objektivierbar
erweisen, und daß Situationen in ihren Folgen real sind, wenn die Menschen sie kollektiv für real
erklären. Es geht nun darum, sich arbeitswissenschaftlich in ihre Motivation einzuschleichen und
eine Veränderung ihres Handels durch Veränderung nicht der Verhältnisse, sondern ihrer Wahr-
nehmung zu organisieren. Psychotechnik bietet sich an, wie einer ihrer neueren Propheten, Kurt
Lewin, schreibt, als „eins der besten Mittel, die Dimensionen zu verändern, in denen die Wahr-
nehmung stattfindet. Es ist wahrscheinlich richtig, wenn man sagt: die Handlung eines Menschen
hängt direkt von der Art ab, in der er die Situation auffaßt“36.
Die Maschinisierung des Subjekts beginnt mit der Kontrolle der Seelenmaschine und des
diese Maschine nach außen repräsentierenden Individuums. „In gewissem Sinne ist es beim Men-
schen wie bei einer Dampfmaschine, von der ein zusammengesetztes Triebwerk abhängt. Je nach
dem Zustande der Heizung kann ihre lebendige Kraft hoch steigen oder tief sinken; aber im nor-
malen Gange kann weder das eine noch das andere plötzlich eintreten; wohl aber kann dadurch,
daß man hier ein Ventil willkürlich auf oder zudreht, bald dieser, bald jener Teil der Maschine neu
in Gang kommen und dafür ein anderer in Ruhe übergehen. Es ist nur der Unterschied, daß bei
unserer organischen Maschine der Maschinist nicht außer–, sondern innerhalb derselben sitzt“,
schreibt schon 1860 der Urvater der Psychophysik in Deutschland, Gustav Fechner.37 Die moderne
Arbeitspsychologie erkennt, daß sich auch der „innere Maschinist“ gewerkschaftlich organisiert

34
Frederick Winslow Taylor, Die Grundsätze der wissenschaftlichen Betriebsführung (1919), München 1983,
S.128
35
Vgl. J.A.C. Brown, Psychologie der industriellen Leistung, Reinbek 1956, Ralf Dahrendorf, Industrie- und
Betriebssoziologie, Berlin 1956, S.67f. und E. Lössl, Die betriebliche Personalorganisation und ihre psycho-
logischen Probleme, in: Handbuch der Psychologie, Bd. 9: Betriebspsychologie, Göttingen 1970, S.441-493
und H. Stirn, Die Arbeitsgruppe, in: Ebd., S.494-520
36
Kurt Lewin, Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik, Bad Nau-
heim 1953, S.200f.
37
G.Th. Fechner, Elemente der Psychophysik I. Leipzig 1960, zitiert nach Arnold Schmieder, Wege der
Sozialtechnologie. Skizzen zu einer Kritik, in: Psychologie und Gesellschaftskritik, 8. Jg. 1984, H.3, S.111
10
hat und setzt nicht, wie noch Taylor, beim isolierten einzelnen an, sondern bei der Arbeitsgruppe,
beim Team, und empfiehlt Methoden der „Humanisierung der Arbeit“, wie „Job enrichment“ oder
„Job enlargement“, um die Psychodynamik der Kleingruppe für die Produktion zu nutzen. Aber
der Arbeitswissenschaft bedeutet die Tatsache, daß der Mensch weder allein noch vom Brot lebt,
nicht, den sozialen Atomismus der bürgerlichen Gesellschaft in Frage zu stellen. Ihr Credo, daß
die Menschen „keine isolierten, beziehungslosen Einzelmenschen sind, sondern soziale Wesen, die
auch als solche behandelt werden sollten“38, zielt auf die Fundierung des Atomismus. Ideologie
und Praxis der „Gruppe“ wird angedreht, um neben der Objektivität der Produktion einen Schein
sekundärer Humanisierung zu erzeugen; das Zwangsverhältnis tüncht sich humanitär. Das perma-
nente Gerede vom Menschen betreibt die Entmenschlichung. Die Gemeinschaft, die synthetisch im
„Team“ erzeugt werden soll, ist keine naturwüchsige, sondern nur die Miniaturausgabe einer Ge-
sellschaft, die zur zweiten Natur mutiert. Der Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft, der
dem Bürger nur im quasi-religiösen Akt der „Transsubstantion“ (Marx), d. h. nur schizophren
lösbar war, löst sich am Arbeiter: in der Vergemeinschaftung der Arbeit erfährt er ein Leben jen-
seits der Dualität von formeller Freiheit und materieller Unfreiheit. Die Arbeitspsychologie ist das
materielle Fundament der kommenden Psychokratie.
Nichts ist dieser angewandten Psychologie wichtiger als die „Kommunikation“, wenig
liegt ihr mehr am Herzen als die „Anerkennung des Wertes der Arbeit“. Die soziale Wirklichkeit
ihres Ziels, die Arbeit als eine „quasi-gesprächstherapeutische Situation“ (Carl Rogers) zu organi-
sieren, wäre freiwillige Selbstverwaltung der Ausbeutung. Die Betriebspsychologie macht die
Erkenntnis zur Technologie, „daß die vom Vorgesetzten kommunizierte Wertschätzung und Ak-
zeptierung im Zusammenhang stehen mit Motivation, Zufriedenheit und Arbeitsleistung ihrer
Untergebenen sowie dem Ausmaß der Krankmeldungen und Kündigungen“. Die „Philosophie der
Zwischenmenschlichkeit“, die heute in den Encountergruppen als Freizeitspaß konsumiert wird,
hat ihre historischen Wurzeln in den Problemen des kapitalistischen Umgangs mit der Arbeitskraft.
Sie weiß, „daß Leistungssteigerung in Betrieben immer dann eintraten, wenn die Arbeiter eine
persönliche, freundliche Behandlung erlebten und sich in ihrer Arbeit gewürdigt sahen“39. Die
fingierte Menschenfreundlichkeit hat sich in den Bilanzen niederzuschlagen. Ein freundliches
Wort kostet nichts oder nur das Gehalt eines Psychologen – aber was nichts kostet, das erspart
Kosten und ist daher alles andre als nichts.
Glück bedeutet dieser Sorte hinterhältiger Menschenfreundlichkeit nur die gelungene
Kompensation der in der Arbeit erfahrenen Leiden; deren völliges Verschwinden aus dem subjek-
tiven Bewußtsein wäre die Ekstase dieses Glücks. Die Arbeitspsychologie erfüllt eine grundlegen-
de Reproduktionsbedingung des Systems: Die Abschiebung der Verdrängung objektiver Probleme,
die sich das Kapital mit dem Fortgang seiner Akkumulation selber schafft, ins „Subsystem Persön-
lichkeit“. Das System wird in dem Maße handlungsfähiger, indem es die Menschen in die Zwangs-
jacke steckt und verniemandet. So schreibt der mittlerweile bei zur „Codierung von Liebe“ voran-
geschrittene Betriebswirt und Systemtheoretiker Niklas Luhmann: „Vor allem ‘innere’ Tatsachen:
Einstellung, Gefühle und Absichten werden (wenn das Spiel gelingt, d. Verf.) mit der geforderten
Rolle auf einen Nenner gebracht ... und wenn die erlebten Probleme auf diese Weise verständlich
interpretiert werden können, festigt sich dadurch unmittelbar die Situations- und Rollenauslegung.
Erklärungen, die die Beteiligten ihren Problemen und Konflikten geben, laufen daher nicht ohne
Grund auf falsche Verallgemeinerungen hinaus: Sie lenken von den eigentlichen Grundlagen des
Übels in der dominierenden formalen Struktur ab und dirigieren die Vorwürfe ins Persönliche und
Moralische, wo sie ohne Konsequenzen verhallen. So kann die formale Rolle als konsistent er-
scheinen, weil die durch sie ausgelösten Probleme anderswo absorbiert werden“.40 Was ist, das ist!
Die Individuen zu „falschen Verallgemeinerungen“ zu bewegen, das bedeutet die Verlängerung
des „Hier und Jetzt“ der Produktion in die soziale Ewigkeit, denn Erfahrung, die einzig richtig zu
verallgemeinern verstünde, braucht genau jene Fähigkeit zum Gedächtnis, zur Erinnerung, die ihre
Reduktion aufs blanke und nur aktuelle Erlebnis liquidiert. Die Ablenkung ins „Persönliche und
Moralische“, die auf den Korridoren jedes Arbeitsamtes ihren Erfolg lautstark feiert, tankt die
Kraft zur Umleitung unmittelbar in der Produktion: den Arbeitslosen geschieht im Zweifel am
Sinn ihres Lebens und an ihrer Fähigkeit, sich das Leben zu verdienen, nichts, was sie nicht zuvor
im Betrieb, in der vom Chef kommunizierten Anerkennung ihrer Arbeit, genießen durften.
Die Psychologisierung der Arbeit stellt den Motor der Psychologisierung einer Gesell-

38
F. Roethlisberger, Die Hawthorne-Experimente, in: F. Fürstenberger (Hg.), Industriesoziologie I, Neuwied
und Berlin 1966, S.111, zitiert nach A. Schmieder, A.a.O., S.117. Vgl. auch Christa Perabo, Humanisierung
der Arbeit. Ein Fall sozialdemokratischer Reformpolitik, Gießen 1979
39
Frauke Teegen, Gesprächspsychotherapeutische Elemente in quasitherapeutischen Interaktionssituationen,
in: Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (Hg.): Die klientenzentrierte Gesprächspsy-
chotherapie, München 1975, S.212ff.
40
Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 51 ff..
11
schaft dar, die im Begriff ist, den Unterschied zwischen Kapital und Kapitalismus als einen histo-
rischen Tatsache, die sie nichts mehr angeht, endgültig zu überwinden. Hier werden die Anforde-
rungen der Produktion ans Subjekt als die Frage an den Arbeiter gestellt, ob denn dieser ihnen
aufgrund seiner Veranlagung, seines Temperaments und seiner psychischen Konstitution, die
schließlich seine Privatsache darstellten, überhaupt gewachsen sei. Das zunehmende Verlangen
nach Therapie für gesunde und normale Durchschnittsbürger erscheint so als das Resultat einer
gelingenden Ausweitung der Betriebspsychologie auf das in seiner Freizeit für die Arbeit sich
reproduzierende Subjekt. Die Therapien der ‘humanistischen Psychologie’ nach Erich Fromm,
Karen Horney, Carl Rogers u. v. a. sind nur zu verstehen als die auch außerbetriebliche Anwen-
dung der Betriebswirtschaftslehre und speziell der Arbeitspsychologie. Niklas Luhmann: „Die
zahlreichen Methoden des verständnisvollen, ‘psychiatrischen’ Führungsstils haben zu einem
breiten Zugriff auf die Motivationslage des arbeitenden Menschen geführt. In ihnen hat sich eine
vielseitige Motivationstechnik entfaltet“.41 Es ist dieser psychiatrische Führungsstil, den sich die
Menschen in den Encountergruppen freiwillig antun. Der Gegensatz von öffentlichem und priva-
tem Leben schießt zur negativen Einheit zusammen und es ist kaum noch zu unterscheiden „zwi-
schen der erzwungenen Freundlichkeit bei der Arbeit und dem spontanen Ausdruck echter Freund-
lichkeit außerhalb der Dienstzeit“42. Emotionale Wärme und spontane Herzlichkeit, die unter den
Zwischenmenschen längst zum Alltag geworden sind, beschreiben so die physiognomisch gelun-
gene Mimikry der Individuen ans Kapital.
Auf der geglaubten Lüge, auf den Menschen käme es im Stande seiner Überflüssigkeit
erst recht an, baut ihre Bewahrheitung auf; Rationalisierung und Automatisierung der Produktion
setzen den Menschen als notwendiges Übel voraus, zu dem in der Zwischenzeit sich human ver-
halten werden muß, soll das Kalkül aufgehen. Die Gruppendynamik wiederholt auf betrieblicher
Ebene, was auf gesellschaftlicher durch die Gewerkschaften bereits gelang: die Nutzung des kapi-
talistisch produzierten Elends als Triebkraft einer falschen Vergesellschaftung, einer „Ablenkung“,
die im Betrieb ‘en detail’ nur wiederholt wird. Als gesellschaftliches Organisationsideal tritt die
„Philosophie der Zwischenmenschlichkeit“ folgerichtig als „Philosophie der sozialdemokratischen
Arbeiterbewegung auf. Ihr ging es stets nicht um die Abschaffung der Lohnarbeit, sondern um ihre
‘Anerkennung’ durch die Honoratioren und Direktoren.
„Die Vorstellung, die Gesellschaft ließe sich mit psychotherapeutischen Mitteln verän-
dern, ist klar reformistisch und entspricht auf psychologischem Gebiet der politischen Praxis der
heutigen Sozialdemokratie“43, bemerkt Emilio Modena über Horst-Eberhard Richters Buch „Die
Gruppe – Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien“. Er übersieht dabei
nur zweierlei: daß zum einen die Zuordnung der Psychotherapie zum Reformismus nichts gegen
ihre Wirksamkeit beweist und zum zweiten, daß diese Praxis keineswegs erst der heutigen Sozial-
demokratie auf den Leib geschneidert ist. Politisch drückt sich das psychotherapeutische Ord-
nungsideal in jenen Theorien eines pazifizierten „Weißen Kapitalismus“ (heute heißen sie die
Theorie der „Industriegesellschaft“) aus, die die Sozialdemokratie bereits am Ausgang des Ersten
Weltkrieges, aus lauter Ehrfurcht vor den hohen Löhnen, die Ford zahlen mußte, um seine Arbeiter
zu halten, übernahm. Kurt Lewin war damals einer der Theoretiker dieser friedlichen Lösung des
sozialen Konflikts, die er am Ende des Zweiten Weltkrieges als Psycho-Trainer an amerikanischen
Managerschulen praktizieren half. Seine Biographie stellt den sachlogischen Zusammenhang von
Taylorismus, Sozialreformismus, Psychotherapie und modernem therapeutischen Okkultismus
exemplarisch vor: 1962 war er bei der Gründung der Okkultzentrale von Esalen/Kalifornien mit
der ‘crème de la crème’ der Psychowarenhersteller anwesend.44 In einer arbeitswissenschaftlichen
Schrift von 1920 über die „Sozialisierung des Taylorsystems“ empfahl er die „Psychologisierung
der Arbeitsmethoden“ im Interesse eines Ausgleichs der Interessen von Produktion und Konsumti-
on45 und schloß sich den Auffassungen Taylors an, die Interessen von Kapital und Arbeit seien an
sich identisch. Denn wenn es nur gelänge, mit arbeitspsychologischen Mitteln (bei der Berufswahl
oder der Eignungsprüfung etwa) die „Entwicklung eines jeden einzelnen zur höchsten Stufe der
Verwertung seiner Fähigkeiten“46 zu beschleunigen, dann wäre allen gedient: dem Kapital, das den
Arbeiter besser verwerten könnte, und dem Arbeiter, weil er vom Gewinn eine Kleinigkeit abha-

41
Ders., Systembegriff und Zweckrationalität, Frankfurt 1977, S.131ff.
42
David Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters,
Reinbek 1968, S.279
43
Emilio Modena, Marxismus, Freudismus, Psychoanalyse, in: Psychoanalyse, 1. Jg. 1980, H.3, S.226
44
Robert Castel, Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung von Psychowaren in den USA,
Frankfurt 1982, S.303
45
Kurt Lewin, Die Sozialisierung des Taylorsystems. Eine grundsätzliche Untersuchung zur Arbeits- und
Berufspsychologie, (Praktischer Sozialismus Bd. 4, hrsg. von Karl Korsch), Berlin-Fichtenau 1920
46
F.W. Taylor, A.a.O., S.7. Zum „weißen Kapitalismus“ vgl. auch Peter Hinrichs, Um die Seele des Arbei-
ters. Industrie- und Betriebssoziologie in Deutschland, Köln 1981, S.188ff. und Angelika Ebbinghaus, Arbei-
ter und Arbeitswissenschaft. Zur Entstehung der „wissenschaftlichen Betriebsführung“, Opladen 1984
12
ben darf.
Die Anwendung psychotechnischer Methoden, die von der Sozialdemokratie politisch
repräsentiert wird, drängt nach der Umarbeitung der Gesellschaft in ein großes verhaltenswissen-
schaftliches Psycho-Laboratorium, in dem sodann und folgenlos noch „Mehr Menschlichkeit“
geübt werden darf. Historisch scheint die sozialdemokratische Verkennung der Funktion moderner
Arbeitswissenschaft leicht erklärlich: Von den drei Gründen, die in den USA nach 1940 und aus-
gelöst durch die Politik des „New Deal“ zur Psychologisierung der Ökonomie führten, war nach
1918 in Deutschland nur einer sichtbar: der Versuch, den Arbeitern die gerade gewonnene Position
als gleiche Staatsbürger durch die kompensatorische Anwendung psychologischer Techniken zu
unterlaufen. Dem konnte die sozialdemokratische Kapitalismustheorie, der noch ein Spekulant
großen Formats wie Hugo Stinnes (wenn auch, natürlich, „unbewußt“) an der Konzentration des
Kapitals und damit an der Vorbereitung der sozialistischen Planwirtschaft arbeitete, gelassen ent-
gegensehen. Alles würde den lachenden Erben zufallen. Die anderen Gründe hätten die von Kurt
Lewin und vielen anderen behauptete prinzipielle Neutralität der Arbeitspsychologie schon eher in
Frage gestellt. Das amerikanische „Human Relation Movement“ begann mit den Studien Elton
Mayos über die Arbeiter der Hawthorne-Werke und ging sogleich auf Managementschulung und
Werbepsychologie über. Die Konzerne waren derart gewachsen, daß die notwendige Kontrolle als
bürokratische unmöglich wurde; die Kunst der Delegation, der Schaffung von Verantwortlichkeit
und Produktenthusiasmus in den unteren Verwaltungsstäben wurde zur Notwendigkeit. Zugleich
warf das „Marketing“ neue Probleme auf, die durch den Griff der „Geheimen Verführer nach dem
Unbewußten in Jedermann“ (Vance Packard) lösbar schienen: die Formung des kaufkräftigen
Bedürfnisses nach den Bedürfnissen der Produktion.47
Aber das sozialdemokratische Interesse an einer psychologischen Gesellschaft speiste
sich überdies aus dem Wunsch, dem Wert der Arbeit zur Anerkennung zu verhelfen, die „Wirt-
schaftdemokratie“ als die politische Form dieser Anerkennung und als Radikalisierung der Staats-
bürgerlichkeit hinunter in die Ökonomie durchzusetzen.48 Die Verbesserung des Arbeiters zum
Staatsbürger sollte derart seine Befreiung als Arbeiter einleiten. Die SPD als die Partei des arbei-
tenden Volkes wurde zur Volkspartei, die ihre Aufgabe im politischen System, das praktische
Absehen der Arbeiter von ihrer Klassenlage (d. h.: die „Transsubstantion“) zu organisieren, gewis-
senhaft ins Werk setzte. War der Sozialismus wirklich „nicht Aufhebung, sondern Veredelung des
Staates“, wie es der Staatsrechtler Hermann Heller prosaisch ausdrückte, dann „kommt der Arbei-
ter dem Sozialismus um so näher, je näher er dem Staate kommt“49. Die Durchstaatlichung aller
Lebensbereiche bedeutete dann die Sozialisierung auf dem Marsch, von unten gefordert durch die
dem Kapital innewohnende Tendenz nach Vergesellschaftung, von oben im Interesse der Arbeiter
ermöglicht durch eine sozialdemokratische Regierungsmacht.
Damit wird die Subsumtion unters Kapital, der der Arbeiter betrieblich ausgesetzt ist, im
politischen Raum verdoppelt. Die Politik der Volkspartei arbeitet an der Aufhebung, bzw. Refunk-
tionalisierung der Formen proletarischer Kollektivität für den kapitalistischen Produktionsprozeß
und es wird deutlich, daß der isolierte Arbeiter nicht nur der historische Ausgangspunkt der Partei,
sondern auch ihr historisches Resultat ist. „Partei, Staat, Kapital reproduzieren auf diese Weise
fortwährend die Grundlagen ihrer Existenz“.50 Aber als Staatsbürger kommt der Arbeiter zu spät,
um den bürgerlichen Selbstwiderspruch als emanzipatorische Chance zu erleben. Sein Weg zur
Gleichberechtigung trifft sich mit dem Rückzug des Bürgertums vom historischen Versprechen
allgemeiner Emanzipation auf halber Strecke in der negativen Gleichheit aller vor den Zwangsge-
boten des produktiven Apparates. Die Dialektik der Selbsterhaltung führt den Bürger wie den
Arbeiter zur Selbstverwertung. Verstaatsbürgerlichung der Arbeiterklasse, ihre Verwandlung in
den Stand der zeitweilig mit produktiven Aufgaben betrauten Staatsbürger einerseits, kapitalisti-
sche Aufhebung des Bürgertums als einer anders als kultursoziologisch definierbaren Klasse in der
Anonymität des vom personifizierten Kapital befreiten Kapitals der Aktiengesellschaften andrer-
seits greifen ineinander und entfalten in ihrer Verknüpfung eine ungeahnte Produktivität. Eine
soziale Produktivität, die zur Psychokratie als der durchgeführten Hegemonie drängt und das Ideal
von Staat und Kapital, eine Politik ohne Politik, mit den freundlichen Zwangswerkzeugen der
Sozialtechnologie ins Werk setzt. Die kapitalistische Kulturrevolution erzwingt den sozialen Au-
tismus als den ihr gemäßen subjektiven Habitus. Dann würde die individualanarchistische Utopie

47
Vgl. im einzelnen Ted Bartell, The human relations ideology: an analysis of the social origins of a belief
System, in: Human Relations, Bd. 29/1976, S.737-749
48
Vgl. Manfred Faßler, A.a.O.
49
Hermann Heller, Sozialismus und Nation, Berlin 1925, S.68
50
Emilio Modugno, Arbeiterautonomie und Partei. Das Proletariat zwischen Staat und bürgerlicher Gesell-
schaft, in: C. Pozzoli (Hg.), Jahrbuch Arbeiterbewegung 3: Die Linke in der Sozialdemokratie, Frankfurt
1975, S. 308. Vgl. Johannes Agnoli, Wahlkampf und sozialer Konflikt, in: Wolf-Dieter Narr (Hg.), Auf dem
Weg zum Einparteienstaat, Opladen 1977, S.213-241
13
Max Stirners auf perverse Weise doch noch wahr: „Nur dann kann der Pauperismus gehoben wer-
den, wenn Ich als Ich Mich verwerte, wenn ich Mir selber Wert gebe und meinen Preis selber
mache“.51 Mehr als ihr Leben und ihr „ich selbst“ besäßen die Menschen dann nicht mehr. Und
was im Überfluß vorhanden ist, hat nur Inflationswert und verkauft sich zu Dumpingpreisen.

51
Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum. Hrsg. von Ahlrich Meyer, Stuttgart 1972, S.282
www.isf-freiburg.org 1

Initiative Sozialistisches Forum


Schönheit und Heimtücke des sozialdemokratischen Charakters
Aus: Initiative Sozialistisches Forum, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken, Freiburg: ça ira 1990, S. 204 - 221

„Arbeit ist die Religion des Sozialismus.“


Friedrich Ebert, 1918

„Ich wehre mich dagegen, mangelndes Verständnis


für den Weltuntergang zu haben.“
Helmut Schmidt, 1980

Der Versuch, die praktisch-handgreifliche Existenz eines einfachen logischen Widerspruches,


eines ,Einerseits/Andererseits’ zu illustrieren, mündet notwendig in eine Betrachtung der deut-
schen Sozialdemokratie, denn sie scheint Einheit und Bewegungsform eines solchen krassen Ant-
agonismus zugleich zu sein.
Denn einerseits ist die SPD die reinste Jahrmarktpartei, die vieles bringt und daher jedem
etwas, eine Partei, bei der nur das eine absolut zu erwarten steht: daß sie für jede Überraschung gut
ist. Gestern noch die Schmidt-Partei, die Partei des feldwebelhaften Expertentums in allen Ange-
legenheiten des ,Modell Deutschland’, die Partei der Kanalarbeiter, die sogar unter dem Titel „De-
mokratische Sozialisten“ die Abspaltung einer SPD/ML zu provozieren vermochte und damit den
Beweis erbringen konnte, daß sogar für Sozialdemokraten Grenzen des noch Erträglichen existie-
ren – heute schon wieder die Partei Willy Brandts, der es gar gelingt, den hessischen GRÜNEN
die Unterschrift unter sozialdemokratische Parteitagsbeschlüsse abzuhandeln und dies noch als
politisches Opfer darzustellen. Und außerdem ist sie die Partei des „Arbeitskreises für Arbeitneh-
merfragen“, der resolut, als läge Godesberg in der Türkei, die Vergesellschaftung der Stahlindu-
strie fordert und sich dafür vom Klassenfeind prompt den Verdacht einhandelt, wieder zur „neo-
marxistischen linken Protestpartei“1 geworden zu sein. Einerseits also ist die SPD ein wahres Cha-
mäleon, ein Kapitel politischer Zoologie, die Partei ständiger Erneuerung, der man gerne glauben
möchte, ihr bildungspolitisches Ziel – das ,lebenslängliche Lernen’ – zumindest für sich selbst
wahrgemacht zu haben.
Aber andererseits ist die Sozialdemokratie eben die Partei des deutschen Elends par ex-
cellence, betrachtet man deutsche Geschichte einmal unter dem Aspekt der notwendigen Emanzi-
pation. Ihre Politik erst würzt diese Geschichte mit dem Aroma altersschwacher Vergeblichkeit,
matter Wiederkehr des Immer-wieder-Gleichen und macht diese Geschichte damit auch wirklich
zu dem, was man sich in universitären Seminaren unter ihr vorstellt: ein Altersheim, einen toten
und tödlichen Gegenstand, der gerade dazu noch taugt, anderen gründlich die Lebendigkeit auszu-
treiben. Die „historische Mission“ der Sozialdemokratie und der von ihr lizensierten Arbeiterklas-
se (wenn es denn so etwas je gab), war nicht Befreiung der Arbeiterklasse, sondern die höchst
wirksame Propaganda der Wahrheit, in Deutschland sei Revolution der Mühe nicht wert. Anderer-
seits also ist die SPD jene Partei, der das ,lebenslange Lernen’ nur bedeutet, den Kampf gegen das
Vergessen dieser traurigen Wahrheit in immer neuen Verkleidungen aufzuführen.
Was also logisch unmöglich erscheint, die lebenslange Verheiratung haarsträubender Wi-
dersprüche, das ist der Sozialdemokratie die reinste Alltagsarbeit. Bunteste Sensation vor den
Kulissen grandioser Tristesse aufzuführen, der Langeweile einen grauen Clown zu zeugen, das
sind der SPD keine Widersprüche.
Man versteht das nicht angemessen, diskutiert man dieses Phänomen nur auf der Ebene
von Geschichte, Theorie der Gesellschaft, Staat, Ökonomie und Politik. Das Phänomen SPD kann
nur als Effekt des Marktes, des Kaufens und Verkaufens begriffen werden, d.h. auf der Ebene von
Warenästhetik2. Sogleich drängt sich ein Vergleich auf, der mehr als nur eine Analogie ist: Daß
nämlich der politische Marktwert der SPD den gleichen Gesetzen unterliegt wie der ökonomische
Marktwert einer beliebigen Ware. Hier gilt: „Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein
Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Na-

1
Vgl. Wolfgang Fritz Haag; Kritik der Warenästhetik, Frankfurt 1977
2
Karl Marx; Das Kapital, Bd. l, MEW 23, S.49
www.isf-freiburg.org 2

tur dieser Bedürfnisse, ob sie z.B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der
Sache.“3
Welches Bedürfnis der Phantasie befriedigt die Ware Sozialdemokratie auf dem politi-
schen Markt? Wie erzeugt diese Ware das Bedürfnis, konsumiert zu werden, wie schleicht sie sich
in die Bedürfnisse des Konsumenten (des Wählers, des Parteimitgliedes etc.) ein? Worin besteht
die spezifische Modernität dieser Ware?
Offenkundig ist die SPD eine lebendige Ware, die noch den Anstand zu wahren weiß.
Am 13.9.1939 notiert der Raumfahrer Ijon Tichy in sein Tagebuch: „Symingtons Schwager ken-
nengelernt, Bourroughgs. Der erzeugt redende Verpackungen. Produzenten von heute haben selt-
same Sorgen: Die Verpackung darf nur in Worten mit dem Konsumenten anbändeln und ihm die
Qualität der Ware empfehlen, nicht jedoch ihn an den Kleidern zerren.“4 Diese mühsam gebremste
Aufdringlichkeit ist es, die auch die Ware SPD auszeichnet: Sie tut so, als sei sie uneigennützig,
gemeinnützig, wird nie pampig und wahrt, im Gegensatz zur konservativen Konkurrenz (Ladenhü-
ter müssen sich ins Zeug legen), die Contenance. Aus dieser Beobachtung erhellt, daß in Sachen
SPD Form und Inhalt eine besondere Beziehung eingehen, daß gar die Form zum Inhalt wird. Das
Medium ist bereits die Botschaft. Als Partei, deren wesentliches Anliegen es, in den Worten Georg
Lebers, ist, „eine feste innere Beziehung des Bürgers zu seinem Staat zu stiften“ und „das innere
Gleichgewicht des Bürgers“ zu festigen5, ist sie die Partei der kleinen Leute, die außer ihrem An-
stand nichts besitzen, der Menschen wie Du und Ich, die Partei der Zwischenmenschen. Ihr Credo
– „mehr Menschlichkeit wagen“6 – ist der sehnlichste Wunsch derer, die, obwohl an den unteren
Enden der gesellschaftlichen Hierarchie plaziert, über zuviel aristokratisches Feingefühl verfügen,
ihre Rechte, die ihnen von Geburt zustehen, auch noch aggressiv einzufordern.
Wie der politökonomische Sinn der Ware, die immer einfallsreicher den Kunden um-
schmeichelt und hinter raffinierter Warenästhetik den Ruin ihres trivialen Gebrauchswertes ver-
steckt, in der Zerstörung des historischen Gebrauchswertes von Gesellschaft besteht, so auch die
ökonomische Funktion sozialdemokratischer Politware: Hinter dieser Jahrmarktpartei, die über
alles, also auch über den Generalstreik, mit sich reden läßt, steckt die endgültige Unmöglichkeit,
Politik emanzipativ sich anzueignen.
Allerdings: Die Formel „dahinter versteckt sich etwas“ ist ebenso praktisch wie falsch,
eine folgenlose Verbalentlarvung, die sich um die Erkenntnis zu betrügen wünscht, daß die SPD
nicht trotz, sondern mittels der Zerstörung des gesellschaftlichen Gebrauchswertes ihr Publikum
bei der Stange hält – und wenn es auch nur der,30%-Turm’ sein sollte. Hier wird die Allerwelts-
weisheit, die Menschheit wolle betrogen werden, praktisch wahr: Die Wähler-Kundschaft verlangt
nach dem Betrug als dem einzigen Amüsement veröffentlichter Politik und genießt in der gleich
mitgelieferten Entlarvung des Betrugs die legitime Überheblichkeit, es wieder einmal gewußt zu
haben: „Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution.“.7 So gilt von der
SPD dasselbe, was Hans-Magnus Enzensberger der BILD-Zeitung attestiert hat: Daß nämlich
jedwede Aufklärung über ihr ,Wesen’ (hier: ,Faschismus’, dort: Reformismus’) von vornherein
vergeblich ist, „weil es nichts zu sagen gibt, was nicht alle schon wüßten“. Was nicht nur für die
Parteifunktionäre gilt, sondern vor allem für die Mitglieder und Wähler, „deren Zynismus hinter
dem der Macher nicht zurücksteht. Ihre selbstverschuldete Unmündigkeit erwartet keinen Befrei-
er.“8 Als Unterschied wäre nur anzugeben: Während die BILD-Zeitung den Betrug als zynische
Ware verkauft, organisiert ihn die SPD als quasi-gesprächstherapeutische Situation, als Irrtum, wie
er unter Menschen nur allzumenschlich ist, als Übermaß guten Willens.9
Diese Beschaffenheit der Sozialdemokratie verlangt ein neues Verhältnis der Kritik zu ih-
rem Gegenstand. Es stimmt zwar nach wie vor, daß, wie Ulrich Sonnemann in seinen „Vorstudien
zur Sabotage des Schicksals“ schreibt, die SPD nicht verstanden werden kann, „wenn man nicht
eingesehen hat, daß sie an Stalin schon so urheberrechtlich beteiligt gewesen ist wie an Hitler.“10
Aber solch historisches Begreifen der Sozialdemokratie verhilft noch nicht zum Verständnis der

3
Stanislaw Lern; Der futurologische Kongreß. Aus Ijon Tichys Erinnerungen, Frankfurt 1974,
S.83
4
Georg Leber; Vom Frieden, München 1980, S. 109 und S. 91
5
Eine vom Pietcong erfundene Wahlparole der baden-württembergischen SPD im Wahlkampf
1980
6
Karl Kraus; Sprüche und Widersprüche, Frankfurt 1984, S. 75
7
Hans-Magnus Enzensberger, Der Triumph der BILD-Zeitung oder die Katastrophe der Presse-
freiheit, in: Merkur, H.420 (Sept 1983), S. 651 f.
8
Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge; Geschichte und Eigensinn, Frankfurt 1981, S.1125
9
Ulrich Sonnemann; Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals, Frankfurt
1981, S.107. Siehe auch Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Düsseldorf 1974. „Die III.
Internationale ist die Wahrheit der II.“
10
Peter Glotz; Die Beweglichkeit des Tankers, München 1982, S. 88
www.isf-freiburg.org 3

SPD als der, wie Peter Glotz meint, „historisch am wenigsten (!) korrumpierten Kraft“11, und nur
dazu, für dieses unbestimmte ,etwas weniger’ doch wieder einen moralischen Bonus zu vergeben.
Allein schon für ihre frappante Ehrlichkeit: Die SPD ist eine Partei, die über ein solches Übermaß
guten Willens verfügt, daß ihr die auf dem Fuß folgende Erschütterung über die praktischen Er-
gebnisse ihres guten Willens als zumindest subjektiv aufrichtig abzunehmen ist.
Aber gerade dieses Verhältnis von Moral und Praxis ist Resultat der Zerstörung des Ge-
brauchswertes von Gesellschaft. Die beständige Inszenierung moralischer Beweggründe ist von
den Folgen des so geleiteten Handelns derart gründlich abgekoppelt, daß das eine gar nichts gegen
das andere beweist. Die Kritik vermag sich also nicht mehr auf den Widerspruch zwischen Intenti-
on und Resultat zu stützen, der Wille erfährt im Ergebnis nicht länger seinen Skandal und seine
Blamage.
Auch besagt es gar nichts gegen die unbestrittene Geltung eines als falsch erkennbaren
Gegenstandes, diese auf ihre Geschichte zurückzuführen und , im Wissen um die Gründe der Exi-
stenz der SPD als einer sog. „bürgerlichen Arbeiterpartei“, diese des Betruges an den vorgeblich
eigentlichen’ Arbeiterinteressen anzuklagen, wie es unter Traditionslinken, die meist die Partei-
tagsprotokolle der Sozialdemokraten besser kennen als diese selber, immer noch zum guten Ton
gehört.
Kritik, die politisch wirksam sein will, kann nicht mehr in der einfachen Verlängerung hi-
storisch oder soziologisch kritischen Wissens auf das aktuelle politisch-moralische Feld bestehen.
Als solche Verlängerung wäre sie nicht Mittel sozialistischer Politik und Aufklärung, nicht kriti-
sche Denunziation, sondern ungewollte Apologie ihres Gegenstandes. Die Kritik muß im Bewußt-
sein der Gründe der Geltung ihres Gegenstandes zur Ethnologie werden, da sie ihren Adressaten
als vernunftfähiges Subjekt nicht zu unterstellen vermag. Der sozialdemokratische Charakter steht
der Kritik so nah und so fern wie die Regentänze der Hopi-Indianer. Als Bewußtseinsform negati-
ver Vergesellschaftung ist der sozialdemokratische Charakter nur in dieser Zuspitzung der Kritik
noch zugänglich, zumindest für sie noch begreifbar. Die Kritik verfährt archäologisch und schürft
nach dem letzten Quentchen Subjektivität, das erst ihr Vorgehen rechtfertigen könnte.
Es steht zu vermuten, daß die Eleganz des sozialdemokratischen Charakters, seine beson-
dere Raffinesse in der Beschwörung des guten Willens und seiner ehrlichen Absichten, nur die
Kehrseite einer tiefsitzenden Angst vor den Folgen einer insgeheim doch als Möglichkeit erahnten
sprengenden Einsicht in die falschen Verhältnisse darstellt. Um dieser Vermutung vor einer syste-
matischen Rekonstruktion des sozialdemokratischen Charakters ein erstes Indiz zu geben, sei aus
Max Horkheimers „Notizen“, aus dem Abschnitt über „Politik und Publikum“ zitiert:
„Indem sie nun die Sache dem Publikum und gar nicht mehr dieses der Sache gleichma-
chen wollen, wird die bloße Anpassung zur Sache selbst. (...) Hinter der Selbsttäuschung aber
verbirgt sich der bloße Wille zur Selbstperpetuierung, der disziplinlose Hunger auf box office oder
Wahlerfolge: die Machtgier, verbunden mit der maßlosen, nicht zuletzt aus Schuldgefühl über das
zu ihrem Leidwesen nicht ganz verdrängbare aufklärerische Erbe stammenden Angst, bedingt den
katastrophalen Mangel an Phantasie. Die Angst der deutschen Sozialdemokratie, bewußt und un-
bewußt, durchherrscht ihre tapfere Geschichte von jenem Bebel an, der den Schießprügel auf die
Schulter nehmen wollte, über die Bewilligung der Kriegskredite für unseren Kaiser, über den Or-
ganisator .der weißen Heeresverbände, Noske, dem die SA noch zu Dank verpflichtet war, über
den Minister Braun, der die Polizei des demokratischen Staates, wenn auch schweren Herzens,
gegen die Handlanger der Braunen einzusetzen sich versagte, über Severing, den Gesetzestreuen,
den Mahner der zum Schutz der Republik bereiten Arbeiter, daß sie nicht versuchten, das Hitler-
reich gewaltsam abzuwenden, als es noch Zeit war, von allen jenen sittenstrengen und gewissen-
haften Kleinbeamten bis zu ihrem Inbegriff, Herrn Ollenhauer. Ein Produkt der Angst vor dem
Gedanken, der den Dingen an die Wurzel gehen könnte, ließ dieser Vorsitzende der Opposition,
um seinen Wählern nahe zu sein, sich von seinem eigenen Propagandaapparat bestätigen, daß sein
Gesicht vom Intellekt nicht durchfurcht sei, und das stimmt für seine Politik.“12
Besonders zu verweisen ist auf Horkheimers scharfen Blick dafür, daß die Sozialdemo-
kratie zwar stets die bürgerliche Staatsräson vertritt, aber eben nur gequält und „schweren Her-
zens“, „gewissenhaft“ und besonders eifrig, aber ohne innere Überzeugung.
Moralischer Exhibitionismus als Mittel der Politik, öffentliche Zurschaustellung innerer
Beweggründe – dieser Politikstil, der der Staatsräson mittels einer sekundären Humanisierung der
Gewaltverhältnisse sich durchsetzen hilft, ist direkt auf die sozialdemokratische Staatsauffassung
der Weimarer Zeit gegründet.13 Hier kam der Arbeiter dem Sozialismus in genau dem Maße näher,

11
Max Horkheimer; Notizen 1950 bis 1969, Frankfurt 1974, S. 23
12
Vgl. Willy Huhn; Etatismus – Kriegssozialismus – Nationalsozialismus in der Literatur der
deutschen Sozialdemokratie, in: Neue Kritik, H. 55/56 (1970), S.67-111
13
Carl Rogers; Encounter-Gruppen. Das Erlebnis menschlicher Begegnung, Frankfurt 1984,
S.148f. Die parlamentarische Demokratie, auf dem allgemeinen Wahlrecht basierend, bedeutet für
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als er bereit war, sich zu verstaatlichen. Dem Staat gegenüber – als der vorgeblichen Inkarnation
gesellschaftlicher Vernunft – war der Arbeiter als ökonomisches Triebwesen stets schon defizitär
und mußte politisch dadurch im Zaum gehalten werden, daß die sozialdemokratische Staats- oder
Oppositionsmacht ihr innerstes Fühlen und Leiden, ihr „schweres Herz“, nach außen kehrte. Diese
bereits in Weimar sich anbahnende Psychologisierung der Politik, diese Verwandlung des öffentli-
chen Raumes in eine „quasi-gesprächstherapeutische Situation“ (Carl Rogers)14, in der nicht nach
Kriterien von Interesse und Wahrheit des Denkens, vielmehr nach denen der Authentizität und
Spontaneität des Fühlens geurteilt wird, brachte der Reformismus im Zeichen von Nachfaschismus
und Keynesianismus zu ihrem konsequenten Ende, zur „Politik ohne Politik“15 und zur Aufhebung
der Politik in Psychologie.
Der ideologische Vater dieser Vollendung war Kurt Schumacher. Trat er noch für den
Sozialismus ein, so doch nur in dem Sinne, daß er annahm, nur noch er könne den Staat vor der
Ökonomie retten und ihn zu seiner ganzen, ,an sich’ vorhandenen Größe und Herrlichkeit führen.
Daher verbot sich aber zugleich der Klassenkampf, daher mußte die in ihm tendenziell gesetzte
Aufhebung der Trennung von Politik und Ökonomie, von öffentlich und privat, verbarrikadiert
werden. An die Stelle der wirklichen Aufhebung der Trennungen trat ihre nur politisch-
therapeutisch suggerierte, an die Stelle der revolutionären Vereinigung von Arbeit und Leben
deren repressive Verschmelzung. Es wird nun zu zeigen sein, wie recht Schumacher damit hatte.
Denn „aus seiner Sicht war es notwendig“, schreibt Willy Brandt, „die traditionelle Fassade des
Klassenkampfs ,von oben’ zu geißeln, (er) hielt es aber für richtig, den alten Klassen-Terminus aus
dem politischen Vokabular der SPD zu entfernen und entschied sich für den Begriff des politi-
schen Kampfes aller Schaffenden’.“16
Im Zusammenhang einer Kritik der unter Linken handelsüblichen Auffassung von der
SPD als einer Partei mit Doppelcharakter, als einer sogenannten ‚bürgerlichen Arbeiterpartei’,
kann gezeigt werden, warum Schumachers Rede vom „Kampf aller Schaffenden“ das Richtige
über falsche Verhältnisse sagen konnte, inwiefern also die Psychologisierung der Politik keine
ausgebuffte Propagandamethode darstellt, sondern nur die angemessene ,Widerspiegelung’ einer
grundlegenden Transformation der kapitalistischen Gesellschaft. Was dann vom sozialdemokrati-
schen ,Doppelcharakter’ bleibt, ist nur das ewige Wechselbad seiner Heimtücke einerseits, der
diese relativierenden Schönheit und Eleganz, mittels derer sie glaubhaft ins Werk gesetzt wird,
andererseits.
Der sozialdemokratische Charakter ist (im Gegensatz zum konservativen, der den archai-
schen darstellt) die modernistische Bewußtseinsform negativer Vergesellschaftung. Gerade ihr
Modernismus ist es, der zeigt, wie ungerecht es hergeht, wenn es sich die Sozialdemokratie jahr-
zehntelang gefallen lassen mußte, von ihren sozialistischen Kritikern der Erbschleicherei am revo-
lutionären Subjekt bezichtigt zu werden. Zwei Rechtswege beschritt die Linke, um die Rückerstat-
tung der Arbeiterklasse an ihren eigentlichen Eigentümer, die Revolution, zu erwirken. „Zum
einen klagte sie vor der Instanz des ,Klasseninteresses’ mit Argumenten, die unterstellten, hinter
jedem braven Lohnarbeiter, der gewissenhaft seinem Tagwerk nachgeht, verberge sich ein klas-
senbewußter Prolet und hinter jeder Gewerkschaft daher eine kämpferische Interessenorganisation
aller Ausgebeuteten. Gängige Anklagepunkte wie Revisionismus’, Reformismus’ und
,Legalismus’ bezogen ihre schlagende Kraft durch den impliziten Bezug auf eine Eigentlichkeit
der Arbeiterklasse, wie sie als objektives gesellschaftliches Verhältnis beständig von jenem be-
rühmtberüchtigten Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital reproduziert würde. Zusam-
mengefaßt wurde diese These in der Formel der SPD als einer zwar bürgerlichen’, immerhin aber
,Arbeiterpartei’. Zum anderen und letztinstanzlich klagte die Linke vor der Geschichte, dem Welt-
gericht. Solange der Kapitalismus existiere, treibe der noch im Keller des Grundwiderspruchs
sitzende Widerspruch von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, von Produktiv-

die Staatsform Analoges wie der Übergang vom Privatkapital zum Aktienkapital für die Produkti-
on: In beiden Fällen abstrahiert Herrschaft von nur persönlicher Willkür, emanzipiert sich vom
empirischen Handeln soziologisch ortbarer Klassen und wird darüber selbst abstrakt. Das politi-
sche Wesen der Bourgeoisie besteht nicht in der parlamentarischen Republik, sondern in der
Wahlrechtsverweigerung (Vgl. Leo Kofler; Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Neu-
wied und Berlin, 7.Aufl. 1979, S.306f.). Im Staat des allgemeinen Wahlrechts entwickelt sich
„Politik ohne Politik“ (Robert Castel, Psychoanalyse und gesellschaftliche Macht, Kronberg
1974), die psychologisierte Politik, zum hegemonialen Element.
14
Robert Castel; Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychoware in
den USA, Frankfurt 1982, S.318. Vgl. Murray Edelmann; Politik als Ritual. Die symbolische Funk-
tion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt/New York 1976
15
Willy Brandt; Der Auftrag des demokratischen Sozialismus. Zum 20. Todestag von Kurt Schu-
macher, Bonn/Bad Godesberg 1972, S. 12
16
Thesen des Zentralkomitees der SED zum Karl-Marx-Jahr, Berlin 1982
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kräften und Produktionsverhältnissen also, immer wieder die objektive Notwendigkeit revolutionä-
rer Veränderung hervor.17
Diese Kritik hatte ein unverschämt gutes Gewissen, erlaubte doch die ,Entlarvung’ und
,Demaskierung’ – die Wortwahl deutet schon glückliche Auflösung und Theaterdonner an – die
Entdeckung einer geheimen Wahrheit hinter der sozialdemokratischen Wirklichkeit. Die so ver-
standene kritische Zerstörung des Scheins, Arbeiterinteressen seien gut aufgehoben bei der Sozial-
demokratie, diente den linken Kritikern als der archimedische Punkt, an dem sie, half nur die Krise
etwas nach, den revolutionären Hebel anzusetzen gedachten.
Aber der ,Schein’ ist zum ,Wesen’ geworden und mit dieser Kritik ist es vorbei, historisch
wie aktuell. Hinter der Larve ist gar nichts mehr, hinter der Maske gibt es nichts anderes mehr zu
entdecken: Charakter und Charaktermaske, Eigentlichkeit und ökonomische Funktion sind un-
unterscheidbar verschmolzen. Die Widersprüche des Kapitals sind, zumindest als antagonistische
und zur Revolution treibende, aufgehoben. Wie der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital
als (tendenziell) revolutionärer liquidiert ist durch die totale Okkupation der Lohnarbeit durch das
Kapital, derzufolge die lebendige Arbeit nun auch gesellschaftlich zu dem wurde, was sie ihrer
ökonomischen Form nach immer schon war: variables Kapital18, so auch, mit der Herausbildung
der „technischen Wertform“19, der Widerspruch von Produktivkraft und Produktionsverhältnis:
Die gesellschaftliche Synthesis wird nicht mehr nur über den Markt, sondern, zugleich und vor-
rangig, über die Produktion hergestellt.
Damit gerät auch die Dialektik der Sozialdemokratie, schon für die Weimarer Zeit nur mit
Mühe noch nachzuweisen, an ihr Ende. Aus der ‚bürgerlichen Arbeiterpartei’ von einst ist eine
produktivistische Staatsbürgerpartei geworden.20 Ihre Attraktivität liegt, im Gegensatz zur CDU,
nur darin, daß sie ein größeres Augenmerk auf den Schutz der zur Kapitalakkumulation nötigen
menschlichen Ressourcen der Gesellschaft wirft. Daher ist sie aber auch die Partei der ökonomi-
schen Konjunktur -wie die CDU als die Partei der Krise dann das Staatswesen regiert, wenn nicht
Nachschub und pflegliche Wartung des Humankapitals, sondern Förderung der ‚Investitionsnei-
gung’ und Stabilisierung der Profitrate gefragt sind.
Die Kritiker des Reformismus’ beweisen mit ihrer Kritik nur noch die Modernität der So-
zialdemokratie und die Antiquiertheit des Sozialismus und Kommunismus. Aus dem Sozialismus,
der seinen Grund in der objektiven historischen Notwendigkeit der Emanzipation fand, ist ein
Delirium intellektueller Kleingruppen und machtbesoffener Funktionäre geworden.
Die Sozialdemokratie hat über die linke Kritik gesiegt, indem sie sie gegenstandslos
machte. Gerade indem sie half, die Wahrheit des Marxismus als der Theorie der kapitalistischen
Entwicklung zu beweisen, hat sie den Marxismus als die Theorie der Revolution widerlegt. Von
einer Emanzipationstheorie hat sie den Marxismus auf das reduziert, was Eduard Bernstein im
Revisionismusstreit noch vermißte: ein „Handbuch der praktischen Volkswirtschaft“21. Die „Auf-
hebung des Kapitals in seinen eigenen Grenzen“, das Ende des Kapitals auf dem Boden des Kapi-
tals, von dem Marx im „Kapital“ spricht, hat sich realisiert in der Setzung des Kapitals als des
einzig noch reellen Gemeinwesens. Indem es die Wirklichkeit seinem Begriff unterordnet, liqui-
diert es die Differenz zwischen sich selbst und der Gesellschaft, hebt den Unterschied zwischen
Kapital und Kapitalismus auf und konstituiert die Gesellschaft neu als Resultat wie Prämisse der
Selbstverwertung des Werts. Im Zuge seiner Totalisierung hat es nichts außer sich gelassen, von
dem aus der Gegenangriff zu führen wäre. Die Anrufung von Natur und Bedürfnis sind nur Aus-
druck der Hilflosigkeit der Kritiker, doch noch objektive Hebel von Veränderung in der Gesell-
schaft zu entdecken.22
Der politische Überbau der so entstandenen eindimensionalen Gesellschaft war der Stütz-
punkt, von dem aus die Sozialdemokratie – in Antizipation der realen Entwicklung – parallel zur
Zerstörung des Gebrauchswerts nun die Zerstörung des konkreten Menschen durch den abstrakten
Staatsbürger betrieb. Die parlamentarische Demokratie, für die sie eintrat, ist nur die politische
Form der durch die Wertabstraktion erzwungenen Kapitalisierung der Gesellschaft.23 Die Befrei-
ung durch das Recht, die Emanzipation des Arbeiters in der Form des Rechts, des formellen

17
Wolfgang Pohrt; Theorie des Gebrauchswerts, Frankfurt 1976 S. 74 f
18
Klaus Dieter Oetzel; Wertabstraktion und Erfahrung, Frankfurt/New York 1978, S. 186f
19
Vgl. Christine Buci-Glucksmann; Der sozialdemokratische Staat. Die Keynesianisierurig der
Gesellschaft, Hamburg 1982, S. 88
20
Eduard Bernstein; Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie,
Bonn/Bad Godesberg 1977, S. 270
21
Vgl. Stefan Breuer; Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und
Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt 1977
22
Burkhard Tuschling; Rechtsform und Produktionsverhältnisse. Zur materialistischen Theorie
des Rechtsstaates, Frankfurt 1976
23
Rosa Luxemburg; Sozialreform oder Revolution? In: Werke I/l, S.431
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Rechts, dessen Formalität zugleich sein Inhalt ist, schlug um in die Zerstörung der emanzipativen
Chance durch das Recht. Wie das Kapital den Arbeiter unter den Wert und dessen rastlose Bewe-
gung subsumierte und ihn auf das (durch die Computerisierung auch noch ersetzbare) psychische
Sensorium der Maschinerie degradierte, so der bürgerliche Staat unter die alleinige Herrschaft des
abstrakten Gesetzes. Wie der Gebrauchswert nur noch eine Erscheinung des Wertes darstellt, so
der konkrete Mensch nur noch einen Ausdruck abstrakter Staatsbürgerlichkeit. Auschwitz zeigt,
wie total diese Struktur geworden ist: Die Ermordung der Juden begann mit dem Entzug der
Staatsbürgerschaft. Und das heißt nur, daß es außerhalb des Gesetzes ein Recht auf Leben nicht
gibt. Das Gesetz schützt nicht das Leben, es erschafft es erst.
Wenn jedoch die Herrschaft des Gesetzes so allgemein geworden ist wie die Herrschaft
des Wertes, dann versagt eine sozialistische Kritik der Sozialdemokratie, wie sie Rosa Luxemburg
noch 1899 an Eduard Bernstein üben konnte, als sie schrieb: „(...) die Tatsache der Ausbeutung
beruht nicht auf einer gesetzlichen Bestimmung, sondern auf der rein wirtschaftlichen Tatsache,
daß die Arbeitskraft als Ware auftritt, die unter anderem die angenehme Eigenschaft besitzt, Wert,
und zwar mehr Wert zu produzieren, als sie selbst vertilgt. Mit einem Wort, alle Grundverhältnisse
der kapitalistischen Klassenherrschaft lassen sich durch gesetzliche Reformen auf bürgerlicher
Basis deshalb nicht umgestalten, weil sie weder durch bürgerliche Gesetze herbeigeführt (wurden)
noch die Gestalt von solchen Gesetzen erhalten.“24
Das stimmte, solange die Gesetze wenig mehr als Polizeiverordnungen, Handels- und
Gewerberecht umfaßten. Als in der Folge dem Arbeiter die Reproduktion seiner Arbeitskraft als
einem Privatmann nicht mehr möglich war, wurde die Produktion des Menschen als Arbeiter und
seine Erhaltung zur Staatsaufgabe. Der Staat als die Oberaufsicht über die gesellschaftlichen Vor-
aussetzungen der Produktion hat für die Verfügbarkeit der Arbeitsarmee unter allen nur denkbaren
Gesichtspunkten zu sorgen, von der Sozialisation bis hin zur Qualifikation, von der Anlieferung
bis zur Entsorgung. Damit bildet sich die Arbeitskraft nicht mehr naturwüchsig auf dem Boden der
Gesellschaft zur vermarktungsfähigen Ware heran, sondern wird in das Subjekt nach Maßgabe des
abstrakten Gesetzes hineinkonstruiert25. Es entsteht, was der sozialdemokratische Wirtschaftsmini-
ster Rudolf Wissel schon 1920 realistisch und also brutal die „Menschenökonomie“26, die planmä-
ßige Bewirtschaftung des gesellschaftlichen Humankapitals, nannte.
Die rationelle Bewirtschaftung dieser Arbeitsarmee, ihre Hege und Pflege, ist der Ort, an
dem sich die Interessen von Lohnarbeit und Kapital erst trafen und dann identisch wurden.27 Im
gleichen Maße, in dem der Arbeiter seitens des Staates als bürgerliches Rechtssubjekt anerkannt
wird, kann er anderes als Rechtssubjekt auch nicht mehr sein. Über die Staatsbürgerlichkeit hi-
nausweisende Verhaltensweisen und Bedürfnisse werden von Staats wegen in der Art beseitigt, in
der Charlie Chaplin seinen Koffer packt.
Zusammengefaßt handelt es sich also um die Neuzusammensetzung der Gesellschaft nach
Maßgabe der Wertabstraktion und mit den Mitteln des abstrakten Gesetzes. Dies hat zur Konse-
quenz nicht nur die Liquidation des revolutionären Subjekts, d.h. die Umwandlung der Arbeiter-
klasse in den Stand der mit produktiver Arbeit zeitweilig betrauten Staatsbürger, sondern zugleich
die Abschaffung gesellschaftlicher Transzendenz und der Möglichkeit einer konkreten, mit der
gesellschaftlichen Logik verbündeten Utopie. Eduard Bernstein schrieb, für die Sozialdemokratie
sei Demokratie nicht Mittel zum Zweck des Sozialismus, sondern Mittel und Zweck, Weg und
Ziel, Erfüllung und Utopie zugleich. Diese Demokratie, die gleichsam nur ein Subjekt hat (näm-
lich sich selbst), ist der politische Ausdruck der Bewegung des Werts. Als Staatsbürger avanciert
der einzelne zum Subjekt der Souveränität, aber nur, indem er eine „völlige Trans-substantiation“
(Marx)28 vollzieht: Die Abstraktion vom Konkreten nämlich, das Absehen von seiner materiellen
Situierung als der kapitalistischen Reproduktion subalternes Wesen. „Die einzige Existenz, die er
für sein Staatsbürgertum findet, ist seine pure, blanke Individualität. (...) Als Staatsidealist ist er
ein ganz anderes, von seiner Wirklichkeit verschiedenes, unterschiedenes, entgegengesetztes We-
sen.“29
In der ,Transsubstantiation’ vollzieht sich am Menschen ein der Warenabstraktion homo-

24
Buci-Glucksmann; a.a.O., S.124
25
Rudolf Wissel Die Planwirtschaft. Vortrag gehalten vor dem Arbeiterrat Groß-Hamburg am 11.
Januar 1920, Hamburg 1920
26
Bernhard Blanke; Sozialdemokratie und Gesellschaftskrise. Hypothesen zu einer sozialwissen-
schaftlichen Reformismustheorie, in: W. Luthard (Hg.); Sozialdemokratische Arbeiterbewegung in
der Weimarer Republik, Frankfurt 1978, S. 380 ff.
27
Karl Marx; Kritik des Hegeischen Staatsrechts, in: MEW l, S. 280
28
Ebd., S.281. Vgl. Enzo Modugno; Arbeiterautonomie und Partei. Das Proletariat zwischen Staat
und bürgerlicher Gesellschaft, in: Claudio Pozzoli (Hg.); Jahrbuch Arbeiterbewegung 3, Frankfurt
1975, S. 284 ff
29
Karl Marx; Kapital I, a.a.O., S.169
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loger Prozeß: Die Dialektik von Gebrauchs- und Tauschwert. Wie die Wertabstraktion in den
Grund zurückschlägt und sich als technologische Wertform’ materialisiert, so auch die
,Transsubstantiation’: In der Umwandlung der Arbeiterklasse in die mit produktiver Tätigkeit
beauftragten Staatsbürger wird der Staatsidealismus (der sonst seinen Ort nur in der Fiktion der
juristischen Sekunde’ der im Wahlakt ausgeübten Souveränität findet) von der Form zum Inhalt
selbst, schlägt in den privatbürgerlichen Grund zurück und materialisiert sich, indem er die materi-
elle Produktion zur Staatsfunktion wandelt. Der Wert, der im Prozeß seiner Selbstverwertung
beständig seine Formen abstreift und wechselt, der von der Waren- über die Geld- in die Kapital-
form sich bewegt, verwandelt sich in ein „autonomes Subjekt“30 und wird mit sich selbst identisch.
Die Staatsbürgerlichkeit als Wertform des Menschen hat zum Ergebnis, die revolutionäre Dialek-
tik der Politik, die sich aus dem Widerspruch des konkreten Menschen speiste, einerseits die „Wa-
re Arbeitskraft“ vorzustellen und als solche dem Wert Untertan zu sein, andererseits, als Teil der
Republik, diese in Richtung gattungsmäßiger Egalität zu transzendieren31, stillzulegen und, analog
zum gewerkschaftlichen Kampf in der Ökonomie, zur Bewegungsform, zur Modernisierungsin-
stanz des Systems selbst umzuschmelzen. Damit gerät revolutionäre Dialektik, die sich – ökono-
misch wie politisch – von Nicht-Identität und vom Widerstand gegen den Begriffsimperialismus
speiste, an ihr Ende: Der Begriff wird zur Sache selber. Kapitalisierung der ökonomischen Repro-
duktion und Parlamentarisierung der politischen Produktionsgarantie sind einander ergänzende,
sich wechselseitig forcierende Momente der Emanzipation des Werts vom Gebrauchswert.32
Die historische Funktion der Sozialdemokratie in diesem Prozeß war - neben ihrem Ein-
treten für die parlamentarische Demokratie als der Form klassenloser Herrschaft33 im Kampf ge-
gen den ,Obrigkeitsstaat’ – das Umschmelzen der gesellschaftlichen Utopie der Arbeiterbewe-
gung34 in Forderungen des Rechts. Aus revolutionärer Politik wurde Rechtspolitik – am Ende
wirken die gesellschaftlichen Widersprüche, entantagonisiert, in den Formen des Rechts auf die
Gesellschaft zurück als Energie ihrer, allfälligen Modernisierung.
Abstrakte Staatsbürgerlichkeit, die Wertform des Menschen, wird als Befreiung von
Willkür, als Befreiung zur Berechenbarkeit der Staatsaktion (zumindest was den Bereich des un-
mittelbar ökonomischen Rechts angeht – in der Außenpolitik herrscht prinzipiell der Ausnahmezu-
stand35) von der Sozialdemokratie positiv akzentuiert. Am Ende dieses Weges steht dann der Satz
des Godesberger Programmes, der Arbeiter, „der einst das bloße Ausbeutungsobjekt der herr-
schenden Klasse war, hat jetzt seinen Platz als Staatsbürger mit anerkannten gleichen Rechten und
Pflichten eingenommen“36. Die Illusion des gleichen Tausches von Ware Arbeitskraft gegen Lohn
in der Ökonomie (Forderung nach dem gerechten’ Lohn) verlängert sich in die Politik als Illusion
des gleichen Verhältnisses von Rechten und Pflichten (,Gleichberechtigung’). Ist der Arbeiter zum
staatsbürgerlichen Subjekt emanzipiert, bleibt einzig, die Staatsbürgerlichkeit unmittelbar ökono-
misch geltend zu machen. In den Worten des Godesberger Programms: „Der Arbeitnehmer muß
aus einem Wirtschaftsuntertan zu einem Wirtschaftsbürger werden“37, so wie er als Mensch aus
einem Untertanen zum Staatsbürger geworden ist. Die politische Wertform des Menschen fundiert
sich ökonomisch – es kommt, wie neuere industriesoziologische Studien feststellen, zu einer auch
durch die ökonomische Krise nicht mehr in Frage zu stellenden „Verbeamtung des Arbeiterbe-
wußtseins“38. Ein Bewußtsein, das nur eines weiß: Die Arbeiter haben keinerlei Grund mehr, sich

30
Marx bindet die abstrakte Staatsform in ähnlicher Weise an die Gattung als ihr transzendieren-
des Moment wie die „Produktion um der Produktion willen“ (MEW 26.2.,S. 111): In der Republik
ist die selbstbewußte Gattung virtuell gesetzt und harrt ihrer subjektiven Aneignung – dies der
Inhalt der Hegel-Kritik in Sachen Staat. Das erhellt, warum Marx den staatstheoretischen Band 6
des Kapital niemals schreiben konnte.
31
Damit erhält die Debatte um die Republik als die dem Kapitalismus ,angemessene’ Staatsform
ein über das theoretische Willkürkonstrukt der Kräfteverhältnisse, des Klassengleichgewichtes etc.
hinausweisendes Fundament. Aussagen über die Staatsform des Faschismus als Staatsform des
negativ sich aufhebenden Kapitalismus werden, ohne länger Agententheorien bemühen zu müssen,
materialistisch möglich.
32
Vgl. Manfred Faßler; Der Weg zum ,roten’ Obrigkeitsstaat? Die Sozialdemokratie zwischen
Feudalismus und bürgerlicher Gegenrevolution, Gießen 1977
33
Vgl. Cora Stephan; „Genossen, laßt euch nicht von der Geduld hinreißen!“ Aus der Urgeschich-
te der Soziademokratie 1862-1878, Frankfurt 1977
34
G.W.F. Hegel; Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 330 ff.
35
Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom A. O.
Parteitag der SPD in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959, Bonn 1959, S. 26
36
Ebd., S. 18
37
Esser/W. Fach/W. Väth; Krisenregulierung. Zur politischen Durchsetzung ökonomischer Zwän-
ge, Frankfurt 1983, S.206f.
38
Vgl. Gramscis Analyse der Gewerkschaften als des Verkaufskartells der Ware Arbeitskraft, in:
www.isf-freiburg.org 8

als die ,einzig produktive Klasse’ aufzuspielen, das Kapital selber ist produktiv geworden und
weist, vermittelt über den Staat, dem einzelnen ökonomischen Subjekt die Arbeit als zeitweilige
Funktion zu.
Das Bewußtsein der Staatsbürgerlichkeit ist Ideologie im klassischen Verstande: notwen-
dig falsches Bewußtsein. Mit dem kleinen Unterschied allerdings, daß die ökonomischen Formen,
die es widerspiegelt, nicht mehr die Formen eines ihnen fremden Inhalts sind und daher ein Unter-
schied von Ideologie und Wirklichkeit nicht existiert. Die sozialdemokratische Phrase der
,Wirtschaftsbürgerlichkeit’ besagt daher ganz zu recht, daß der Arbeiter als ökonomischer Staats-
bürger zu einem Organ geworden ist, durch das hindurch das Kapital seine Zwecke verfolgt – auch
außerhalb der Sphäre der unmittelbaren ökonomischen Produktion mittels der Gewerkschaften39
und mittels der Sozialdemokratie.
Die Annexion des Arbeiters durch das Kapital kann daher auch nicht mehr von einer Kri-
tik erreicht werden, die daran erinnert, einmal sei es ganz anders gewesen und ,eigentlich’ sei es
auch heute noch so. Aus dieser Wirklichkeit führt nach Art der klassischen marxistischen Kritik,
durch das In-Gang-Halten der Basis-Überbau-Gebetsmühle, kein Weg hinaus, höchstens noch
tiefer hinein. Das zeigt nicht zuletzt das Schicksal der einzig erfolgreichen sozialdemokratischen
Revolution, das der russischen von 1917. Beide Flügel erstrebten den „Staat des ganzen Volkes“40,
dessen sowjetische Realität der Staatskapitalismus darstellt.
Negative Vergesellschaftung produziert ihre eigenen, genuinen Formen der Subjektivität,
deren modernistische Variante der sozialdemokratische Charakter darstellt. Es sind dies keine der
Tendenz nach autonomen Formen von Subjektivität (so die Unterstellung etwa Herbert Marcuses),
sondern, als der subjektive Ausdruck der zum Produktionsapparat zusammengeschlossenen Gesell-
schaft, zugleich die Formen ihrer sekundären Humanisierung. Sekundäre Humanisierung erzeugt
neben dem Gemeinwesen eine Art Subjekteffekt, eine Scheinwelt menschlicher Freiheit und Ver-
antwortung, in der dem Menschen, ist er nur guten Willens, alles möglich ist, gerade weil ihm
nichts mehr möglich ist.41 Subjektivität, die als reale, als tatsächliche Urheberschaft und Zure-
chenbarkeit der Biographie des Individuums ans Individuum, keinen gesellschaftlichen Ort hat,
erscheint fingiert in den Projektionen der Innerlichkeit, in den Halluzinationen des Narzißmus, im
aussichtslosen (aber zumindest amüsanten) Lebenskampf der dem Wert unterworfenen Menschen
um jene .Identität’, die sie längst schon haben.
Nicht zufällig wird daher in einem Gesellschaftszustand, dem der einzelne eine höchst
überflüssige Angelegenheit darstellt, sobald der Apparat seiner nicht mehr oder überhaupt nicht
bedarf, nichts wichtiger als die Einforderung von immer noch ,mehr Menschlichkeit’. Die Art, wie
diese Parole von der Sozialdemokratie politisch ritualisiert wird, macht gerade die besondere
Schönheit wie die erlesene Heimtücke des sozialdemokratischen Charakters aus. Die Parole drückt
nur die legitime Forderung aus, die gemeinschaftliche Existenz als noch lebende Leichname nicht
durch unnötige Gehässigkeit sich zu erschweren, erhebt also den Anspruch auf Genuß des letzten

A. Gramsci; Philosophie der Praxis, Frankfurt 1967


39
Boris Meissner; Das Parteiprogramm der KPDSU 1903-1961. Vgl. insbesondere S.171: „Die
Diktatur des Proletariats drückt die Interessen nicht nur der Arbeiterklasse, sondern des ganzen
schaffenden Volkes aus, ihr Hauptinhalt ist nicht Gewalt, sondern das Schaffen...“ Schöner hat das
auch die SPD nach der Novemberrevolution’ nicht zu formulieren gewußt und wollte in ihrem
Görlitzer Programm von 1921 nichts anderes, als ,das schaffende Volk’ im Kampf gegen Luxus,
Wucher, Spekulation und sekundäre Konsumausbeutung zur ,Volksgemeinschaft’ vereinen.
40
Wenn, was Virginia Woolf von sich sagte – „Ich bin zwanzig Leute auf einmal“ – wirklich im
‚Neuen Sozialisationstypus’ gesellschaftlich wahr geworden ist, dann wird die Einheit des Men-
schen nur noch formal-passiv durch das eine Körpergefängnis, das er trägt, hergestellt. Die losge-
lassenen Wünsche führen zur Selbstblockade, nichts ist mehr möglich, weil alles zugleich möglich
ist. In ihrem Roman Orlando komplizierte sich das Gewimmel noch, da jeder der zwanzig Innen-
menschen in etwa drei Zeiten zugleich existiert. Es ist dann noch schwerer, „die sechzig oder sieb-
zig Zeiten, welche gleichzeitig in jedem normalen menschlichen Organismus ticken, zu synchroni-
sieren“ (Zit. nach Gisela von Wysocki; Weiblichkeit und Modernität bei Virginia Woolf, Frankfurt
1982, S.64 und 54). Der Narzißmus als die „protestantische Ethik von heute“ (Sennett; Tyrannei
der Intimität, S.373f), der, wie sein Vorgänger, auf die unmäßige Vermehrung der Menschheit
verzichtet und lieber mit seinen Bedürfnissen kopuliert, sie multipliziert, ist die Fortsetzung des
Produktions- in den Konsumtionscharakter: Wenn mich die Überbevölkerung meines Innenraumes
blockiert, dann kann ich nur meditieren, hoffend, daß die Kerle sich tottrampeln und die Stärksten
überleben und unterdessen darauf warten, daß andere meine materiellen Bedürfnisse decken, weil
sie anerkennen, daß hier auch Warten schon enorm viel Arbeit ist.
41
Das ist der Unterschied zum konservativen Charakter, dem das, aufgrund eines spezifischen
katholischen Schamgefühls, eher peinlich wäre – auch aus Angst, Gottespotenz sich anzumaßen.
In Sachen negativer Vergesellschaftung wird dann doch lieber Natur herbeizitiert.
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noch realisierbaren Menschenrechtes, des ,pursuit of happiness’. In der schönen Botschaft, letzt-
lich käme es auf den einzelnen (der wir alle sind) noch an – verbreitet sowohl von Alltagsökolo-
gen, deren Gedanken ganz von der Sorge um die penible Trennung von rotem, grünem und wei-
ßem Glasmüll okkupiert sind, wie auch von Sozialdemokraten, die die Auffassung vertreten, in der
Krise käme es auf den verstärkten Konsum an und der Aufschwung des Gemeinwesens beginne
mit der Anschaffung eines neuen Wohnzimmers – lebt in pervertierter Form immer noch jenes
Grunddogma klassischer Sozialdemokratie fort, ,in letzter Instanz’ bestimme doch die Ökonomie
den Gang der Menschheitsgeschichte, zum Guten wie zum Schlechten. Dies galt, solange es außer
der Ökonomie noch etwas anderes gab als Freizeit. Wo es nur noch Ökonomie gibt, ist das Ge-
brabbel vom Menschen nur die Begleitmusik zur voranschreitenden Praxis nicht einer okkulten
Entfremdung des Menschen von sich selber, sondern seiner gänzlichen Abschaffung.
Die Formen der Halluzination von Subjektivität sind ebenso vielfältig wie ihr Zweck der
sekundären Humanisierung eindeutig. Die Palette beginnt mit den Bhagwan-Sekten, deren Mit-
glieder ihre psychische Versaftung physisch irgendwie überlebt haben und reicht bis zu seiner
eigentlich politischen Form, dem sozialdemokratischen Charakter. Der sozialdemokratische Cha-
rakter ist mithin kein individuell-pathologischer Zustand, der therapeutisch noch heilbar wäre,
sondern Symptom gesellschaftlicher ,Pathologie’. Er zeigt den genauen Ort an, in dem das not-
wendig richtige Bewußtsein falscher Vergesellschaftung sich noch überbietet und in dieser enthu-
siastischen Übersteigerung zum Chauvinismus seiner selbst kommt. Der sozialdemokratische
Charakter ist jene Form, in der sich negative Vergesellschaftung noch als ihre eigene Reklame
vorstellt, jene Form, die die gesellschaftlichen Charaktermasken erklären läßt, sie selbst seien als
moralische Personen für alles tatsächlich verantwortlich. Er rechnet sich negative Vergesellschaf-
tung, deren authentisches Produkt er ist, als eigene Tat und eigene Schöpfung zu und will dafür
noch öffentlich gelobt werden.42
Der Erklärungswert des hier entwickelten Ansatzes ergibt sich unter anderem daraus, daß
so jenes eigenartige Schwanken der Sozialdemokratie zwischen dem Enthusiasmus der Staatspo-
tenz (,mehr Demokratie wagen’) und dem Kleinmut des ,Machbaren’ und ,sachlich Angemesse-
nen’ verständlich wird43: Es ist dies alles andere als ein Widerspruch, es ist die Bewegungsform
ein und desselben Verhältnisses. Es ist dieser nicht widersprüchliche Mechanismus, der sich aus-
spricht, wenn etwa die Grundwertkommission der SPD kürzlich ihr Publikum befragte, „ob eine
Fortsetzung des Weges der Industriegesellschaft ohne entscheidende Korrekturen noch zu den
humanen Zielen führen kann, um derentwillen wir ihn eingeschlagen haben“44.
Der Kreis schließt sich. Noch der historische Beginn der Jndustriegesellschaft’, jene ur-
sprüngliche kapitalistische Akkumulation also, „die in die Annalen der Menschheit eingeschrieben
ist mit Zügen von Blut und Feuer“45, war alles andere als Gewalt, war Volksentscheid nach der
demokratischen Methode, in der die Schweizer über das Frauenwahlrecht oder die Höchstge-
schwindigkeit auf Autobahnen abstimmen. Die Opfer rechnen sich ihre Hinrichtung als Ausdruck
ihres freien Willens zu, erklären sich verantwortlich für die kommende Katastrophe, die schon
darin besteht, daß alles, in geordneten Bahnen, so weiter geht, wie es ,ursprünglich’ angefangen
hat.
Aufklärung, selbst wenn sie denn Mittel und Wege finden könnte, die Verhältnisse se-
kundärer Humanisierung wirkungsvoll zu denunzieren, kann, auch wenn sie zur Selbstkritik ihrer
Adressaten sich radikalisierte, angesichts der Stabilität der Kapitalverhältnisse, nur die Demokra-
tisierung, nur die basisnahe Selbstverwaltung des Henkeramtes bewirken. Der gesellschaftliche
Rahmen macht Freiheit nur noch als die Wahl zwischen „aktiver Sterbehilfe und finalem Ret-
tungsschuß“46 vorstellbar: Jonestown oder Stammheim, Selbstabschaffung oder Fremdabschaf-
fung. Auch die Kritik, die nicht bloß auf die disputierliche Widerlegung, sondern auf die prakti-
sche Vernichtung von Herrschaft zielt – und diese in der Denunziation vorwegnimmt – muß aner-
kennen, daß der „kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“47 kein gesellschaftli-
ches Fundament besitzt. Als sie das noch zu haben glaubte, war Kritik „keine Leidenschaft des

42
Was Analysen, die sich in akademischer Sachlichkeit üben und daher mit niemandem intim
werden wollen, ein Geheimnis bleiben muß. Vgl. etwa Georg Vobruba; Keynesianismus als politi-
sches Prinzip. Zur Theorie des instrumentellen Gesellschaftsbildes, in: Ders.; Politik mit dem
Wohlfahrtsstaat, Frankfurt 1983. Wie das ,instrumentelle Gesellschaftsbild’ zur konkreten Motiva-
tion politischer Funktionäre werden kann, bleibt geheim
43
Frankfurter Rundschau v. 27.2.1982
44
Karl Marx; Das Kapital, Bd. l., a a O., S.743
45
Wolfgang Pohrt; Ausverkauf. Von der Endlösung zu ihrer Alternative, Berlin 1980
46
Karl Marx; Zur Kritik der Hegeischen Rechtphilosophie. Einleitung, a.a.O.; S.385
47
Ebd., S.380
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Kopfes, sondern der Kopf der Leidenschaft“48, war sie das Vertrauen darauf, „daß das Falsche,
einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist“49. Dies Vertrau-
en ist pathologisch geworden, die Kritik entlarvt sich als eine Form der Halluzination von Subjek-
tivität unter anderen. Die pädagogisch-sanfte, auf ,Vermittlung’ bedachte Kritik jedenfalls, die
sich, im Verschweigen ihrer Pathologie, zumindest im Lager der Menschen guten Willens in Op-
position hoffähig zu machen gedenkt, betrügt _diese noch um die Erkenntnis, wie es um ihre Sa-
che wirklich bestellt ist und würde ihnen nur blinde Zuversicht (freilich ein gutes Futter für Prag-
matiker) andrehen. Diese Selbstkritik der Kritik ist zugleich das Letzte, was sich einer falschen
Gesellschaft noch in denunziativer Absicht vorrechnen ließe: Daß sie, im Zuge ihrer Totalisierung,
auch noch die Chance, einen Index des Richtigen aufzustellen, in ihrem Nihilismus ertränkt.
An der Sozialdemokratie als der „Partei des maßvollen Fortschritts im Rahmen der Ge-
setze“ (Jaroslav Hasek) zeigt sich, daß der grundlegende Mangel an Konstruktivität, den die Prag-
matiker – in Ermangelung eines anderen Bedürfnisses als dem der ,Praxis’ – der Kritik vorzuwer-
fen belieben, gerade ihren größten Vorzug darstellt. Denn sie erlaubt es, auch einem Sozialdemo-
kraten einmal recht zu geben, ohne ihn im nächsten Atemzug, ideologiekritisch, des Verrates (an
den Arbeitern, an der historischen Wahrheit, am Sozialismus etc.) zu überführen. 1925 schrieb der
sozialdemokratische Staatstheoretiker Hermann Heller: „Sozialismus ist nicht Aufhebung, sondern
Veredlung des Staates. Der Arbeiter kommt dem Sozialismus umso näher, je näher er dem Staate
kommt.“50 Das ist nichts als die Wahrheit, geworden.

August 1984

48
Adorno; Kritik, in: Ders.; Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt 1980, S.19 50
49
Hermann Heller; Sozialismus und Nation, Berlin 1925, S.68
50
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Initiative Sozialistisches Forum


Grüner Junge
Joschka Fischers Beitrag zur Psychologisierung der Macht

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken,
Freiburg: ça ira 1990, S. 232 – 229

„Liebes Tagebuch! Keiner versteht mich – außer dir!“: So beginnen die geheimen Bekenntnis-
se frischverliebter Teenager. Not kennt kein Gebot und greift zum literarischen Ausdruck. Das
haltlose Stammeln ins Angesicht der Angebeteten schlägt sich in um so redseligerer Prosa
nieder. Ist die überschwengliche Begeisterung fürs andere Geschlecht und für die eigene Ge-
fühlstiefe dann abgeheilt, treten Mode und Fußball erneut in ihre angestammten Rechte ein und
beschlagnahmen den Seelenhaushalt. Gegen Toni Schumachers stramme Wade hat der Schlaf-
zimmerblick der nunmehr Angetrauten keine Chance. Wenn alles Zittern und Bangen der fälli-
gen Rate gilt, gerät das Tagebuch notwendig ins Abseits. Fortan muß es sein Leben im Winkel
fristen, irgendwo hinter den laufenden Metern von Bertelsmann verstaut. Was zur intimen
Aussprache nicht mehr taugt, hält jetzt als ein sorgsam für den ultimativen Ehekrach in Reser-
ve gehaltener Beweis dafür her, daß es nichts Besonderes und gar keine Kunst darstellt, seinen
Liebesschmerz so zu orchestrieren wie Danella und Konsalik: Nicht an der Fähigkeit hapert es,
nur am Willen.
Der gesellschaftssanitäre Effekt dieser Entwertung des Tagebuchs ist beachtlich. Er
besteht einerseits in einer gewissen Verknappung des Angebots an Selbstverständigungstexten
und Betroffenheitsliteratur. Otto Normalschreiber überläßt das Terrain den Poeten und den
Politikern. Werden herzergreifende Geständnisse ohnehin so berufsmäßig und inflationär abge-
sondert wie von Joschka Fischer dem „Spiegel“ gebeichtete: „Ich ertappe mich dabei, wie ich
Sehnsucht nach mir selbst bekomme“, dann mag der Leser zwar selber seiner Entfremdung
nachschmachten – sie eigens aufzuschreiben lohnt der Mühe nicht mehr und bringt nur den
Rüffel des Therapeuten wegen dilettantischer Selbstverarztung ein. Andererseits stiftet die
rechtzeitig eingetretene Langeweile am Tagebuch das Band zwischen den Generationen. Die
Kinder und Enkel, die den ererbten Krempel rasch noch auf die Alternative: Flohmarkt oder
Sperrmüll, mustern, dürfen sich beim Querlesen des Altpapiers besinnlich nach dem Ewig-
menschlichen fragen und ob ,das Mensch’ je gescheit wird – allerdings nur unter der Voraus-
setzung, daß die Ahnung, der Alte sei immer schon ein Kindskopf gewesen, keine späteren
Belegstücke findet als eben die aus der Pubertät.
Daß im Erwachsenenalter die Leidenschaft zum Selbstausdruck normalerweise
schwindet, trägt unbewußt der Tatsache Rechnung, daß man nichts mehr erleben kann, ohne es
prompt auf den Leisten der Phrase zu spannen. Mag die Liebe noch so schön sein, ihr literari-
scher Reflex wird zum geraden Gegenteil. Das Verstummen erkennt die traurige Wahrheit an,
daß bereits am scheinbar privaten Gefühl selbst etwas sein muß, das den Gemeinplatz als seine
notwendige Sprachform erzwingt. Keineswegs ist es daher ein Mangel an Wortschatz und
Sprachgewalt alleine, der zum Überdruß am Tagebuch führt. Vielmehr bewahrt sich der sub-
jektive Ekel im Schweigen vor der unausweichlichen Enteignung des Gefühls durch die platte
Floskel.
Seit Jahren ist Joschka Fischers Schaffen als Politiker und Autor der entschiedenen
Opposition gegen den geheimen Ekel an der Phrase gewidmet. Hätte sein Engagement mit der
vor zehn Jahren schon in den „Materialien gegen die Fabrikgesellschaft“ gedruckten Lebens-
klage ein Bewenden gehabt, gäbe es keinen besonderen Grund zur Kritik. Damals veröffent-
lichte die „Autonomie“ unter der Überschrift „Befreiung und Militanz. Vorstoß in primitivere
Zeiten“ die erste Folge der jetzt im Spiegel in der Rubrik „Lust am Regieren“ fortgesetzten
Serie. 1977, im Alter von 28 Jahren am gerade noch duldbaren äußersten Rand der Adoleszenz
angelangt, ließ Fischer verlauten, etwas fehle ihm noch um seine „revolutionäre Identität“
komplett einzurichten und es sich darin behaglich zu machen: Den Klassenkampf gegen den
„Kapitalismus in uns“ habe er zwar weisungsgemäß aufgenommen, zum letzten Gefecht aber
brauchte es eine „irre Sensibilität“. Die Produktion des Gewünschten erwies sich als relativ
einfach zu bewerkstelligen. Fischer verschraubte kurzerhand die damals unter Spontis handels-

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übliche Kritik an den „Meisterdenkern“ (André Glucksmann) mit den heute zum alternativen
Menschenverstand gewordenen Bedenken gegen die „Männerphantasien“ (Klaus Theweleit),
und stabilisierte sein Gesellenstück schließlich mit einem Zweikomponentenkleber aus Ökolo-
gie und Feminismus. Das verblüffende Ergebnis: Man müsse nun endlich jenen Weg einschla-
gen, „der sich für die Frauen als so irre produktiv erwiesen habe: Die Revolutionierung des
Alltags“ oder anders: „Unsere Revolution kann auf das Gegenständlichwerden von Utopien in
unserem Alltag nicht verzichten“. Der sprachlich verschlampte Protest verbarg das Dilemma,
daß die Befreiung von der Militanz in selber noch der revolutionären Phrase geschuldeten
Begriffen ausgedrückt werden mußte.
Es bedurfte noch des ganzen Fundus des Frankfurter Sponti-Jargons, um das an sich
banale Resultat der ersten Tagebuchlieferung zu rechtfertigen: „Die Entdeckung und Befriedi-
gung meiner Bedürfnisse.“(Autonomie 5/1977) Am Sprachbombast Fischers geht, von heute
her gesehen, auf, daß er sich damals gefühlt haben muß wie Kolumbus: die Revolution ge-
sucht, den Alltag in der WG-Küche gefunden.
Was eine Jugendsünde ist, merkt man erst, wenn sie chronisch wird. Was dem Halb-
starken als irgendwie abweichlerische Umgangsform erscheint, wird dem gealterten, nun be-
rufsmäßigen „Freak“ (Fischer über Fischer) zum patentierten Markenzeichen. Was dem aufbe-
gehrenden Ministranten naheliegt, die feierliche Entdeckung des Selbst, das wird dem Minister
zur zweiten Natur und gerät zur Reklametechnik. Am 9. Februar 1987 etwa schreibt Fischer
dem „Spiegel“ ins Tagebuch: „Ich bin mit Vorurteilen über die Beamtenschaft hierhergekom-
men – mein ganzes Leben als Freak erklärt sich aus dem eisernen Berufswunsch meiner Mut-
ter, mich unbedingt zum pensionsberechtigten Beamten machen zu wollen -und gehe eines
Besseren belehrt.“ Am Eingeständnis, Bürokraten seien in Wirklichkeit nicht die böswilligen
Monster, für die der um seinen Strafzettel zankende Parksünder sie erklärt, geht das Wesen der
undogmatischen Haltung Fischers noch nicht auf. Jeder andere, würde ihm nur die Gelegenheit
geboten, mit der Bußgeldbehörde einen zu trinken, wäre ebenso vom Vorurteil kuriert. Die
Überraschung besteht auch nicht darin, daß nach dem Abtun des Vorurteils über die Beamten
nicht endlich die Kritik der sozialen Funktion der Verwaltung einsetzt. Dieser Punkt leitet sich
umstandslos aus Fischers realpolitisch-ökolibertärer Gesinnung her. Was daran verblüfft, ist,
daß vom dialektischen Bewußtsein der Mutter, die wohl ahnte, daß man heutzutage nur durch
Protest ein gemachter Mann werden kann, so gar nichts auf den Sohn gekommen sein soll.
Vom mütterlichen Materialismus ist Joschka nur Bauernschläue geblieben, die ihm eingibt,
seinen Milieuschaden als angeboren, unabänderlich und besonderen Vorzug seiner Person
auszugeben.
Der bürgerliche Staatsmann veröffentlicht auch deshalb keine Tagebücher, weil er
nicht zugeben mag, daß nicht er, sondern seine listige Erzeugerin beschloß, er solle Politiker
werden. Er begreift sich als Staatsorgan, nicht als Muttersöhnchen. Das bloße Protokoll des
politischen Lebens, das die Geschicke des Staates als reine Improvisation, als geschäftiges
Durchwursteln von Tag zu Tag und die persönliche ,Ausstrahlung’ der Machtverwalter als
abseitige Macke erscheinen läßt, ist nicht seine Sache. Dieses Geschäft überläßt er den Partei-
geschäftsführern und den politischen Lehrlingen und verfaßt anstelle eines Tagebuches seine
Memoiren.
Die Memoiren haben ihren Gehalt daran, daß der Staatsmann den alltäglichen Poli-
tikbetrieb als jene Form begreift, in der sich, dem Betrieb selbst unbewußt, die Souveränität
des Staates verwirklicht. Der Grund, aus dem die Memoiren zur Naivität des Tagebuchs unfä-
hig sind, die Ursache, aus der die politische Autobiographie daher beständig zwischen Schick-
salsergebenheit und Zynismus schwankt, liegt darin, daß der Staatsmann sich selbst als die
Charaktermaske und das menschliche Material des Staatszweckes begreift. Im Gegensatz zu
der seit Peter Glotz’ „Innenausstattung der Macht“ aufgekommenen Politikergeneration ent-
steht bei der Lektüre der Erinnerungen etwa eines Heinrich Brünings oder Konrad Adenauers
nie der Verdacht, die Politik geschehe nur um der Selbstfindung und des Tagebuchs willen. Im
Tagebuch des politischen Managers und des Lehrlings bleibt der bloße Materialcharakter des
Politikerlebens roh und undurchdrungen liegen; eine konturlose Lebensmasse, die erst im me-
chanischen Verfließen der Zeit ihre Einheit findet und deren literarischer Ausdruck glauben
macht, außer dieser rein formalen Einheit gebe es keine andere. Die Politik löst sich auf in eine
endlose Kette von Verhandlungen, Abmachungen, Gesprächen und Kompromissen, zerfällt in
diplomatische Schachzüge und trickreich konstruierte Verwaltungsfallen. Was der blinde Mo-
loch allein zuläßt, ist das Weitermachen, der Kampf um das, wie Joschka Fischer es nennt,
„politische Überleben“ (21.3.86), die Angst vor dem „politischen Selbstmord“ (24.10.86) und
die Furcht, langsam um den „politischen Verstand“ (8.5.86) gebracht zu werden.

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Verständlich, daß in diesem Chaos vor allem der Wunsch gedeiht, endlich einen Men-
schen zu finden, mit dem frank und frei gesprochen werden kann. Das Heilmittel der Politik ist
der ehrliche Dialog, die aufrichtige Kommunikation. Allein der Glaube an die Macht des Kon-
senses als Therapeutikum läßt den Sisyphuskampf gegen das Mißverständnis noch aushaken.
Wie die Idee der Politik in der Anwendung des Gesetzes „gegen Jedermann“ (28.10.85) und
ohne Ausnahme besteht, so ihre Realität in einer Unmasse von Leuten, die davon keinen blas-
sen Schimmer haben. Es wimmelt von jesuitischen Charakteren, die „mit spitzfindiger Juristen-
logik um die politischen Probleme wie die Katze um den heißen Brei herumstreichen“
(6.12.85), Menschen, die „eigentlich keine Minister sind, sie nur spielen“ (2.12.86), verlotterte
Gestalten, deren „politische und moralische Maßlosigkeit“ (15.12.85) unerträglich ist, schließ-
lich eine Menge Hasardeure, die „Politik mit Mogeln verwechseln“ (6.12.85) – eine wahre
Hölle, ein Tanzboden „politischer Affentänze“ um den „Götzen der Taktik“ (6.12.85), der
seine teuflische Apotheose in der „Klassenidiotie der Unternehmer“ (28.10.85) findet. All das
bringt Fischer so weit um die „politische Rationalität“, daß er am Ende in die Theorie des
Staatsmonopolistischen Kapitalismus flüchtet (19.1.1987).
Trotz des Sündenfalls unter die Politiker, die nichts anderes tun als die Idee der Politik
zu blamieren, kann Fischer relativ gelassen bleiben, hat er doch einen untrüglichen Kompaß,
um die allgemeine Richtung dieses Wirrwarrs auszumachen: seinen „politischen Instinkt“ –
sein mütterliches Erbteil. Es sind gerade die vom Bewußtsein nicht angekränkelten, die natür-
lich-tierischen Anteile, die ihn dahin flüchten lassen, wo er die Witterung ehrlicher Kommuni-
kation aufnimmt: In der Gestalt Holger Börners erkennt er die Abschlagzahlung auf die wahre
Idee des Politischen, ein Stück ganzheitlich verleiblichter, vergegenständlichter Utopie. Hier ist
ein Mensch, dem das gesprochene Wort gilt, ein Politiker, der „durch den ganzen Menschen“
(30.12.1985) wirkt, der sogar, muß er eine Beschädigung seines „ureigensten Staatsverständ-
nisses“ (2.12.1985) erleiden, eine Identitätskrise bekommt.
Die Idee des Politischen hat es schwer, der politische Raum wird andauernd von
„fremdgesteuerten Interessen“ (2.12.1985) belagert. So geht es eben zu in der Politik: Zwar
weiß die politische Klasse genau, welche Funktion all die disparaten „politischen Kulturen,
Staatsverständnisse, Traditionen“ (30.12.85) tatsächlich haben, den verschiedener Duftnoten
im Angebot einer Monopolparfümerie nämlich. Über den Pluralismus der „Staatsverständnis-
se“ erst reproduziert sich die Einheit der Staatsräson. Seinen Kabinettskollegen zuzwinkernd
bedient der Politiker die „jeweilige Konvention“ (12.12.1985), weiß aber ganz genau, daß es
darauf nicht ankommt. Fischers gewerblich ausgestellte Nonchalance etwa erzeugt nur die im
übergeordneten Interesse des Politikbetriebes nötige Markentreue der Kundschaft. Daher kann
auch die telegene Vereidigung eines „Uraltspontis“ ohne Straßenkampfbekleidung nicht abge-
hen; aber nachher: „Nie wieder Turnschuhe“ (11.12.85). Indem die politische Klasse den Be-
dürfnissen des Publikums genüge tut, verleidet sie zugleich die Entfremdung vom Politischen.
So gesteht der Ministerpräsident seinem Lehrling in einer traurigen Stunde, Fischer „wisse ja,
wir seien beide abhängig von Interessen und nicht immer frei in unseren Entscheidungen“
(7.2.87). Beim Verwalten der Staatsräson ergeben sich „Unabhängigkeit“ und „Freiheit“, d.h.
die sachbezogene Überparteilichkeit des Politikers wie von selber – nur weil das Publikum so
konventionell ist, geht gelegentlich etwas schief. Die dadurch erzwungene formelle Pause der
Staatsräson dient dem Wahlkampf und daher der Wiederauffrischung der Geruchssinne der
wahlberechtigten Öffentlichkeit.
Im Stellungskrieg gegen die Sabotage des Politischen, in der dreifachen Abwehr der
Entfremdung durch die politischen Laiendarsteller, die Öffentlichkeit und schließlich die Ver-
waltung, wird der politische Lehrling notwendig zum Pluralisten; der Staatsmann erblickt da-
gegen m diesem Durcheinander die Form des Politischen, die Mechanik der politischen Ein-
heit. Der heranwachsende bürgerliche Politiker glaubt ehrlich, der Staat sei die Summe seiner
Teile und das Staatshandeln die Resultate aller in der Formulierung des Staatswillens einge-
gangenen Wählerstimmen. Politik als Beruf ist auch daher für den Lehrling wesentlich Kom-
munikation. Gelänge es nur, den Konsens herbeizureden, der die Teile zum Ganzen fügen soll,
dann, so die Illusion des politischen Subjekts, würde die Verwaltung schon kuschen und wirk-
lich zum technischen Mittel der politischen Zwecke werden. Er kann nicht bemerken, daß die
Souveränität gerade im Dualismus von politischem Wollen und rechtlich kodifiziertem Ver-
waltungshandeln immer schon besteht. Er denkt, von ihm erst hinge sie ab. Er will sie aus sich
heraus schöpfen, es fehlt ihm etwas und er artikuliert das Manko als „Demokratielücke“ (Otto
Schily), als mangelnde Einigkeit der politischen Klasse zur Unterwerfung der Verwaltung.
Immer aufs neue kämpft er daher um die Kongruenz von ,Sachkompetenz’ und politischem
Willen’, um die Übereinstimmung von objektiver Machbarkeit und politischer Durchsetzbar-

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keit.
Es ist dieser Dualismus, der den Fetischcharakter der Politik ausmacht. Unbegreiflich,
wie aus dem einfachen Gegensatz je die Synthese des Politischen entstehen könnte, gäbe es
nicht etwas, was die Einheit ebenso notwendig herstellt, wie zugleich vorm Bewußtsein des
Politikers (und des Publikums) notwendig verschleiert: Der Gegensatz von Kompetenz und
Willen, artikuliert auch als Widerspruch von ,Gesinnungs- vs. Verantwortungsethik’, führt
zurück auf das Geld, das im Ökonomischen jene mysteriöse „Transsubstantiation“ (Marx) des
ungeheuren Pluralismus der Wünsche, Absichten und Geschmäcker in die Kapitalakkumulati-
on leistet. Das Dritte, das die Einheit der formalen Gegensätze im Politischen garantiert, ist die
Souveränität, die Wertform der Politik. In ideologischer Verkehrung ist dies auch dem politi-
schen Bewußtsein geläufig. Fischer artikuliert sein Projekt als Kampf der Realität gegen die
Ideologie. Sein Leben war schon zu Sponti-Zeiten der Kampf „Fundis gegen Realos“, gegen
die „Übermacht der Ideologie, gegen rote Zahlen und für die Begrenztheit einer Mark“
(21.11.85). Das Geld gibt das Vorbild einer so mysteriös wie wirklich funktionierenden Ein-
heit.
An den Widersprüchen der Politik erfährt der politische Lehrling, daß die Einheit auf
lange Sicht zwar durch die Kommunikation als regulativer Idee hergestellt werden kann, daß
aber vorerst er selber es ist, der die einzige Garantie des Gelingens bietet. Da er die stets schon
fix und fertige Souveränität nur in ideologischer Verkehrung begreifen kann, begreift er sie gar
nicht und erklärt sich selbst zur immer schon vorhandenen Synthese. Vor seinem Bewußtsein
sind Gesinnung und Verantwortung, Werturteil und Sachkompetenz, Intention und Resultat
immer schon identisch. An die Stelle der Souveränität, die er nun bedient, tritt so in der Refle-
xion des Tagebuchs das Ich des Politikers, seine politische Identität’ als das einzige, was inmit-
ten der Roßtäuschereien des politischen „Pferdehandels“ (2.12.1985) Orientierung bietet. Das
Kalkül auf die eigene Person und ihre Ansprüche, denen die Treue gehalten werden muß, bietet
die letzte Chance, das Chaos des politischen Materials zu ordnen.
Im Begriff der politischen Identität schießen Staatsräson und Wahlkampf zusammen.
Das politische Subjekt agitiert mit seinem Leiden an der Politik, stellt sich selber als einen
Betroffenen hin, der sich mit allen Fasern seiner Persönlichkeit gegen die Enteignung durch
den Staat wehrt. Das Leiden an der Enteignung legitimiert den „politischen Willen“ (23.5.86),
der die Enteignung betreibt; die Neigung führt ihr Schattenboxen gegen die Pflicht. „Der erste
grüne Umweltminister muß ganz einfach gegen dieses atomare Wahnsinnsprojekt mitdemon-
strieren“, notiert Fischer über eine Reise nach Wackersdorf am 14.12.85. Er muß, weil er sich
symbolisch von Jo Leinen abzugrenzen hat und dann die „jeweilige Konvention“, hier die
Grünen, bedienen muß. Aber „als dann alle miteinander aufbrechen zur illegalen Bauplatzbe-
setzung, da schlurft der Minister wehmütig von dannen. Das ist nun vorbei. Und auf der Fahrt
zurück, als uns Hundertschaft um Hundertschaft, Wasserwerfer um Wasserwerfer mit zucken-
dem Blaulicht durch den Nebel entgegenkommen, da fühle ich mich wie ein alter Hund, der
das Jagdhorn hört, aber nicht mehr zur Jagd darf. Wir fahren schnell weg, bevor wir m unseren
Gefühlen rückfällig werden.“
Im Bewußtsein seiner sicheren Niederlage kämpft das Gefühl gegen den Verstand. Es
nimmt den Kampf überhaupt nur auf, um die unausweichliche Tragödie der reinen Empfindung
für jedermann sichtbar und nachvollziehbar in Szene zu setzen. „Parteinahme, Kampf, Leiden-
schaft sind das Element des Politikers“, schreibt Max Weber in „Politik als Beruf“, das Medi-
um, in dem er den Schein erzeugt, Politik und Staat seien nichts als die reinen Mittel menschli-
cher Zwecke.
Diese Methode verbindet den Lehrling und den Staatsmann. Wo aber der Staatsmann
sich ihrer souverän bedient, da nimmt Joschka Fischer die Methode für den Zweck. Was in den
Memoiren als selbstbewußter Zynismus erscheint, kommt im Tagebuch als verquaster Mora-
lismus vor. Es ist Joschka Fischers Verdienst, bewiesen zu haben, daß auch das Gefühlsleben
eines notorischen grünen Jungen staatspolitisch zu verwerten ist.

Herbst 1986

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Initiative Sozialistisches Forum


Groß, deutsch und tot
Vom Nutzen und Nachteil der Staatstrauer für das politische Leben
Noch ein Nachruf auf Franz Josef Strauß

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken,
Freiburg: ça ira 1990, S. 230 - 237

Der Staat zeigt Flagge und hißt Gefühle: Ein bayrischer Metzgersohn, der fließend Griechisch
sprach, etwas von der Demokratie in Südafrika und einiges von Flugzeugen verstand, der Mao
und das Oktoberfest besuchte, der aber trotzdem noch Gelegenheiten genug fand, sich fürs
Gemeinwohl stark zu machen, hat das Zeitliche gesegnet. Spät, aber doch noch: Man muß noch
lange kein Menschenfeind sein, um auf die Idee zu kommen, daß Strauß sich längst überlebt
hatte, und es allerhöchste Eisenbahn wurde. Ende gut, alles gut? Zwar läuft die politische Ver-
wertung des abgelebten Staatskörpers auf vollen Touren, aber in die Begeisterung über den
Menschen Franz Josef mischt sich doch die Enttäuschung über den unheimlich schwachen
Abgang des Politikers Strauß. Zwar mag man mit den Christlich-Sozialen des Glaubens sein, er
habe sich „im Dienst für andere und das Vaterland verzehrt“ (Süddeutsche Zeitung v. 5.10.).
Aber soll nicht diese heroische Phrase darüber hinwegtäuschen, daß der Mann einfach einging
wie eine Primel, statt, wie es sich gehört hätte, sein letztes Gefecht zu finden? Ist es gerecht,
daß unter der Obhut barmherziger Brüder friedlich verdämmern durfte, wer vielleicht lieber im
Kugelhagel der bewaffneten Genossen hätte fallen sollen? Was, so der festtagsvermiesende
geheime Zweifel links von der Mitte, was ist schon ein Kreislaufkollaps gegen eine Komman-
doaktion der RAF? Und was eine Landpartie gegen ein Volksgefängnis? Buback, Ponto,
Schleyer – es war wieder nur einmal Phrasendrescherei: der nächste war eben nicht der Bayer.
Über die Parteiungen hinweg, ob Freund oder Feind, egal, ob man, links, Strauß für einen
Scharfmacher oder ganz rechts für einen Weichspüler hielt, regt sich die dumpfe Ahnung wirk-
licher geschichtlicher Tragik und also der bohrende Verdacht, hier sei einer um seinen Tod
betrogen worden. Soll, wer vom Naturell wie von Amts wegen, ein Feind war, zum politischen
Gegner’, mit dem einfach nur nicht gut Kirschen essen war, verharmlost werden dürfen? Müß-
te, wer den Linksradikalen von der APO vorhielt, sie benähmen sich wie „Tiere, auf die die
Anwendung der von Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist“, nicht selber tierisch
Angst vor dem Tod haben? Und schließlich: Hat, wer dafür Propaganda machte, daß „die De-
mokratie gelegentlich in Blut gebadet werden muß“, nicht einen Anspruch darauf, daß die
Staatstrauer nicht einfach nur empfohlen wird und im übrigen schulfrei ist, sondern auch, wie
anläßlich Hanns Martin Schleyers, Betroffenheit – inclusive Trauermiene und Strammstehen –
per Kündigungsandrohung durchgesetzt wird?
Es sind diese Fragen, die nicht nur altgedienten Hassern dieses „Radikalen im öffent-
lichen Dienst“ die Stimmung versalzen, sondern auch staatstragenderen Gemütern die Feier zur
Pflichtübung verkommen lassen. Nicht nur die, die ihm im Leben spinnefeind waren, sind
daher über seinen Tod sturzbetroffen. Während in der ganzen Republik nur Walter Fritz aus
München wirklich trauert („Es ist schrecklich. Das muß man erst verarbeiten. Ich habe als sein
Imitator ja irgendwie in seinem Schatten gelebt. Als ich vor einiger Zeit einen Schlaganfall
erlitt, hat mir Strauß einen sehr netten Brief geschrieben. Da hat er noch gesagt, er werde sich
bemühen, möglichst lange gesund zu bleiben, damit ich weiterhin etwas zu tun habe.“ (Süd-
deutsche Zeitung v. 4.10.), während also die Nachäffer das Original überlebt haben, müssen die
bürgerliche Öffentlichkeit und ihr Staat sich auf die etwas blasse Formel einigen, daß Strauß
groß war und deutsch, und jetzt eben tot ist. Damit gilt es, das Beste anzurichten, d.h. einen
zünftigen

Leichenschmaus.

In der Natur der Sache liegt es, daß ein politisierendes Mannsbild vom Schlage Strauß, dessen
Lebensmaxime der deutsche Taufspruch „Dankbar rückwärts, mutig vorwärts, gläubig auf-
wärts“ (Süddeutsche Zeitung v. 5.10.) war, nicht so leicht unter die Erde gebracht werden
kann. Einerseits, und im allgemeinen, ist das Hinscheiden eines Repräsentanten immer eine

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Messe wert, andererseits besteht in diesem besonderen Fall die Gefahr, daß der Leichen-
schmaus im Halse stecken bleibt und im Wege der Zwangsernährung verabreicht werden muß.
Denn zum einen haben die Verwalter von Volkes Stimme allemal die verdammte Pflicht, sich
die Mühe ansehen zu lassen, die es ihnen macht, vor lauter Ergriffenheit über den fürs Ge-
meinwesen eingetretenen Schaden nicht die Sprache zu verlieren, zum anderen aber nagt der
Ärger, daß sie der Tote ums Eigentliche geprellt hat. Das Leichenbegängnis des Mannes, dem
eine „Stimme der Betroffenheit“ aus München bescheinigt, er sei „innerhalb dieser anonymen
Politikerkaste ein Vollblutmensch“ (Süddeutsche Zeitung v. 4.10.) gewesen, droht zum 08/15-
Ritual zu werden, wenn der durchschnittliche Politikerpöbel sich aussprechen darf. In dieser
Situation muß das, was alle sowieso schon denken, auf eine ganz besondere und unverwech-
selbare Weise gesagt werden – ein Fall also für Richard Weizsäcker. Wer hätte besser auf
evangelischen Kirchentagen die Kunst gelernt, nicht nur immer genau der Meinung von Peter
Neubert (52), Angestellter aus Freiburg, zu sein („Das wird jetzt ganz schön langweilig ohne
ihn“, Bild v. 4.10.), sondern sie überdies mit dem originellen Beileidstelegramm von Martin
Gammer (22), Soldat aus Ludwigsburg: „Ein toller Politiker“ (ebd.) zu einem geistreichen
Humanismus zu verrühren. Weizsäcker wird die Doppelbödigkeit des Wörtchens ,toll’ nicht
nur glatt vergessen, sondern seinen beredt beschwiegenen Hintersinn zum eigentlichen Lehr-
plan der Feier erheben. Die Botschaft wird ans Publikum zu bringen sein, daß zu einer kühl
kalkulierenden und berechenbaren Staatsräson der zum Staatlichkeitswahn überschnappende,
leicht hysterische Zug eines Strauß so organisch gehörte wie einst Plüsch zu Plum. Mangels
Gelegenheit, das Versagen der inneren Organe einer von außen organisierten Sabotage anzu-
hängen, feiert die politische Öffentlichkeit die Einheitsfront ihres gesunden Menschenverstan-
des mit dessen staatlicher Avantgarde ab. Noch der falsche Tod des Politikers ist Anlaß zum
Schwur auf die Notwendigkeit von Politik nur überhaupt; der Abgang eines Vertreters taugt
immer zur öffentlichen Probe auf die Unabdingbarkeit von Stellvertretung als solcher. Das
macht: Nirgends feiert sich der Staat lieber als im Angesicht von Leichen. Es ist gerade die
Vergänglichkeit des Menschen, die die Ewigkeit der Macht aufs Erbaulichste unterstreichen
soll. Wenn der Staat die Strecke bläst und zum Bodycount schreitet, demonstriert er die Ent-
schlossenheit, die Ideologie seiner selbst wahrzulügen, wonach Ordnung von Anbeginn war
und in Ewigkeit sein wird. Der Satz, daß ein Deutscher ein Mensch ist, der keine Lüge aus-
sprechen kann, ohne sie noch selber zu glauben, bestätigt sich wieder einmal, wenn der Präsi-
dent des bayrischen Landtages zum wahren Unglück erklärt, daß selbst Strauß, der doch von
Amts wegen an der Unsterblichkeit der Herrschaft teilhatte, nicht in den rechtsstaatlichen Ge-
nuß kommt, auch vor dem Tod gleicher als gleich zu sein und vielmehr wie die erstbeste Je-
dermannskreatur seinen Abschied nehmen muß: Strauß habe „schier Übermenschliches gelei-
stet“, und daher sei der Gedanke, daß FJS, dem eine scheinbar unerschöpfliche Vitalität zu
eigen war, nicht mehr unter uns ist, immer noch unfaßbar (Süddeutsche Zeitung v. 6.10.). Der
kleine, aber folgenreiche Unterschied von Wesen und Schein, d.h. „zwischen Politikern und
gewöhnlichen Sterblichen“ (Die Welt v. 6.10.) ist im Selbstbewußtsein der politischen Über-
menschen derartig gewaltig, daß schon eine enorme Masse Mensch massakriert werden muß,
damit die Gefühle auf Hochtouren kommen. Würde die Sozialrentnerin von nebenan eine
,scheinbar unerschöpfliche Vitalität’ an den Tag legen, wäre das nur ein Grund mehr zu weite-
ren Überlegungen über die Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Aber auch wenn der
Staatsbürger, wie in Ramstein, gleich dutzendweise alle Viere von sich streckt, klingen die
amtlichen Beileidsbekundungen irgendwie jenseitig, schal und verbraucht. In der fertig ge-
stanzten Durchschnittsandacht für die ,Opfer’ von Weltkrieg und Straßenverkehr klopft sich
die politische Klasse vielmehr dafür auf die Schulter, daß viele durchschnittliche und tote Indi-
viduen noch lange nicht die Drüsenleistung für einen exemplarischen verschiedenen Politiker
erfordern. Von Herzen kommt die Andacht erst, wenn ein so „blutvoller Mensch“ (Mannhei-
mer Morgen v. 3.10.) wie Strauß so leichenblaß daliegt, als sei er eine zeitweilige Leihgabe aus
dem Kabinett der Madame Tussaud. Daß die Freizeitmenschen von Ramstein blutig zur Ader
gelassen werden, ist irgendwie ganz in Ordnung, während es bei einem „praktizierenden Ka-
tholiken“ (Frankfurter Allgemeine v. 4.10), einem „Humanisten im wahrsten (!) Sinne des
Wortes“ (Die Welt v. 5.10.) und überhaupt einem politischen Arbeitstier und „Urgestein“ (Bild
v. 4.10.) par excellence letztlich eine Unverschämtheit und wider die Natur ist, einen Kreislauf
zu haben. Die Beschämung darüber, daß der politische Geist zur Ewigkeit willig, das bürgerli-
che Fleisch aber ziemlich schwach ist, rührt an den Nerv der Staatstrauer: Ebenso unbewußt
wie ehrlich spricht sich darin die objektive Ideologie aus, beim Verhältnis von bürgerlicher
Gesellschaft und Staat handle es sich im Kern um das von Natur und Geist. Im genauen Maße,
in dem die gesellschaftliche Produktion eine Funktion des Kapitals ist, der Ausbeutung des

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Menschen durch den Menschen dient und also verkehrt ist, kann sie auch nur in dieser Verkeh-
rung, d.h. als Ausdruck der menschlichen Natur und als Herrschaft von Übermenschen über
Menschen, weniger begriffen als vielmehr nachgeplappert werden. Der daraus gesellschafts-
notwendig folgende Gegensatz von ökonomischem Egoismus und politischer Gemeinwohlori-
entierung, vulgo von Trieb und Vernunft, ist es, den der Staat an seinen Kadavern in der Rede
von Masse und Persönlichkeit heiligspricht. Macht macht weniger sinnlich als vielmehr über-
sinnlich: „Das Übermaß an Willen, Gefühl und Kraft“, das der Bild-Zeitung (5.10.) an Strauß
aufgefallen sein will, und die beeindruckende „Summe von Eigenschaften, die Strauß schon als
jungen Mann fast unheimlich machte“ (ebd.), soll, und darin sind sich die Kretins von der Bild-
Zeitung mit dem gehobenen Feuilleton für Deutschlehrer und Akademiker einig, aus seiner
Natur als „Olympier“ und „Titan“ (Zeit v. 7.10.) resultieren, daraus, daß er eine „starke Persön-
lichkeit“ war und überhaupt ein „Intellektueller“ (Frankfurter Allgemeine v. 4.10.).
Die Metaphysik der Macht veredelt die Menschen, die es beruflich mit ihr zu tun
kriegen, salbt sie mit dem Hl. Geist der Staatsräson und benutzt ihre Leiblichkeit als die blöd-
natürliche Absteige, in der er sich zeitweilig niederläßt. Der egoistische Triebtäter, dem die
Ehre seiner Politisierung widerfährt, der zum „Politiker durch und durch“ (Welt v. 4.10.) mu-
tiert, erhält im Gegenzug zur Gnadenwahl die Pflicht zugesprochen, „die Gründungsidee der
BRD zu verkörpern“ (Bild v. 4.10.). Vom Staat zwangsrekrutiert, erfährt er das Schicksal als
innere Berufung und unbedingten Auftrag, den logischen und praktischen Widersprüchen einer
staatsmännischen Existenz als gemeinwohlorientiertes Geistwesen ein Schnippchen zu schla-
gen. Strauß, eigentlich „ein philosophisches, ein den Menschen freundlich gesonnenes“ (Bild
v. 4.10.) Wesen mit Hang zur Grübelei, mußte gerade deshalb „ein Machtmensch“ werden. „Er
hatte Geschichte studiert und hegte keinen Zweifel, daß die Macht abstoßend, gefährlich, nütz-
lich und unentbehrlich ist.“ (Frankfurter Allgemeine v. 4.10.) Die Macht ist die Einheit der sich
nach Maßgabe der Vernunft ausschließenden Gegensätze und gerade deshalb über jeden Zwei-
fel erhaben. Als ein „Gewissen unseres Staates“ (Bild v. 4.10.) einerseits verpflichtet zu sein,
aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen, und doch andererseits für sich als darunter
leidenden Gefühlsmenschen Reklame zu treiben – diese leicht schizophren anmutende Fähig-
keit ist es dem Staat wert, den Bundesadler rauszuhängen und qualifizierte Franz Josef Strauß
zu seiner Karriere als unverwechselbare

Charaktermaske.

Die Wandlung des Menschen zum Politiker erscheint aus dem Blickwinkel der Staatsraison als
bloßes Gesellenstück; die Zulassungsvoraussetzung zu höheren Führungsposten besteht in der
Meisterprüfung darauf, ob es dem Politiker gelingt, auch wieder glaubwürdig die Rolle des
Menschen wie du und ich zu spielen. Der ins Individuum wie der Teufel in die arme Seele
hineingefahrene Staatszweck hat menschliche Qualitäten zu beweisen, soll die belebte Staatsat-
trappe ihren Zweck auch wirklich erfüllen. Die Kunst der Politik besteht in der Hexerei, die
unbedingte Autorität auf reine Freundlichkeit und Kundendienst am Nächsten zu schminken,
mit dem Resultat, daß der demokratisch organisierte Zwangsapparat als ein menschliches
Netzwerk und große Encountergruppe erscheint. Wie geht das: Einerseits ein Staatsmann mit
„Mut zu unpopulären Entscheidungen“ (Süddeutsche Zeitung v. 4.10.) zu sein, d.h. „politische
Leidenschaft“ (Frankfurter Allgemeine v. 4.10.) zu besitzen, und andererseits als „ein Mann
des Volkes“ (Bild v. 4.10.) zu gelten, also als „Mann von äußerer Grobheit und innerem Fein-
gefühl“ (Frankfurter Allgemeine v. 4.10.)? Wie muß es im Seelenleben eines Doppelcharakters
hergehen, damit nicht am Ende ein chaotisches Durcheinander, ein Tausendköpfler, der nicht
weiß, wo ihm welcher Kopf steht und der es allen recht machen will, herauskommt, sondern
ein „Mann der Versöhnung“ (Kardinal Ratzinger, Welt v. 5.10.)? Vor allem muß er an Allem
und Jedem ordentlich Anteil nehmen und gleichzeitig auf Durchzug schalten können. Er hat die
absolute Kommunikation zu sein, reine Schaltstelle und Vermittlung, ein Nichts also, das alles
in sich hineinsaugt und sich in diesem paradoxen Akt als das Ganze erweist. „Vielleicht“,
meint einer von Strauß’ Kofferträgern, „charakterisiert es die Größe der Person von FJS am
besten, daß er mit gleichem Engagement mit Staatsmännern, Kirchenfürsten und Industriellen
wie mit dem sogenannten einfachen Mann auf der Straße sprechen konnte.“ (Frankfurter All-
gemeine v. 6.10.) Zur chamäleonhaften Anpassung ans jeweilige Objekt der Staatsreklame ist
imstande, wer in einem die Selbstlosigkeit in Person darstellt und zugleich das totale Interesse
vertritt, das die bürgerlichen Egoismen immer schon und vorab in sich enthält – das Interesse
der Souveränität an unbedingter Selbsterhaltung, die nur durch die Reproduktion des Kapitals
hindurch zu haben ist. Die absolute Kommunikationsfähigkeit mit Allen über nichts ist derart

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die Rückseite eines ebenso absoluten Autismus, eines endlosen Palavers mit sich selbst über
alles und jedes. Diese geschlossene Anstalt feiert sich als offene Gesellschaft; ihre immer rück-
sichtsloser bekundete Entschlossenheit zur Kommunikation gibt den genauen Pegel der schon
erreichten Autarkie und Isolation. Die politische Charaktermaske Strauß konnte über alles
sprechen, weil es dazu nur der geringen Anstrengung bedurfte, sich mit sich selber zu unterhal-
ten. Das dem Leichnam von der demokratischen Presse attestierte Persönlichkeitsprofil deutet
schon an, daß Strauß eine perfekte Gesellschaft in der Hirnschale herumtrug: In einer Person
war er „Intellektueller“ und „Machtpolitiker“, „Einser-Abiturient“ und „Bierzelt-Demagoge“,
„Pragmatiker“ und „Radikaler“, „Ideologe“ und „Bürokrat“, „Gründungsvater“ und „Adenau-
er-Sohn“, „Steuermann“ und „Baumeister“, „Philosoph“ und „Deutscher“, „Humanist“ und
„Pflichtmensch“, „Anwalt aller Deutschen“ und „Ökonom“, ein „Helfer in der Not“ und ein
„Sinnstifter“, ein „Katholik“ und obendrein, wie um die Maß der sich nie und nimmer auf die
Füße tretenden Widersprüche voll zu machen, ein „Denker“. Als reichte diese Truppe noch
nicht aus, um ordentlich Staat zu machen, sollen dem Politiker Strauß noch alle erdenklichen
Gefühls- und Seelenzustände zu eigen gewesen sein, so daß eine Psychologie der Gattung
Mensch nur anhand der Betrachtung dieses einen Exemplars werden könnte – mit der Aus-
nahme nur einer Psychologie des Selbstmords. Dieser ungeheure innere Reichtum vermittelt
weitere Aufklärung über den wesensmäßigen Unterschied zwischen der Ramsteiner Dutzend-
feier und dem Münchener Staatsbegräbnis: Die gescheiterte Landpartie forderte einfach mehr
Opfer als der ganze Flugtag. Die Geschäftsordnung der staatstragenden Betroffenheit soll die
Angst bewältigen, die die Gesellschaft der Interessenten regelmäßig beim Tod des allgemeinen
Menschen überfällt; seine Sterblichkeit ist ihnen ebenso unvorstellbar und außer der Welt wie
die Idee der Abschaffung eines gesellschaftlichen Verhältnisses, in dem alle Wege wie früher
nach Rom so heute zum Staat führen. Die geheime Frohbotschaft hinter all den Leichenbitter-
mienen – Strauß ist tot, es lebe der Staat! – stößt deshalb auch im Lager des politischen Ge-
gners, der das gerade Gegenteil eines sozialen Feindes ist, der vielmehr erst Kompagnon wer-
den und dann alleinige Prokura haben möchte, auf offene Ohren.
Mag auch die Dynamik des politischen Alltagshändels die bürgerliche Wahrheit bis-
weilen verdeckt haben, daß der Streit um die Besetzung der Regierung die Existenz eines
schlagkräftigen Staatswesens voraussetzt, so wird es dem Publikum spätestens beim Deutsch-
landlied schmerzlich bewußt werden, daß Strauß erst in zweiter Linie ein Parteipolitiker war.
„Trotz unterschiedlicher Standpunkte genoß seine politische Kompetenz bei den Gewerkschaf-
ten große Wertschätzung“, läßt der DGB verlauten (Süddeutsche Zeitung v. 5.10.) und hat
damit zugleich erklärt, daß die politische Meinung nur eine Geschmacksfrage ist, über die man
sich trefflich streiten mag, die aber im gleichen Moment zum bloßen Ballast wird, in dem es
um den Staat als solchen geht. Trotz verschiedener Kritikpunkte, behaupten die GRÜNEN,
habe sie vor allem der etwas „eigenwillige Politikstil“ und das „obrigkeitsstaatliche Politikver-
ständnis“ (Süddeutsche Zeitung v. 4.10.) an Strauß verstört. Hätte er nicht, so Antje Vollmer,
„zu früh“ (Welt v. 5.10.) abgedankt, so wäre bestimmt Gelegenheit gewesen, die Sache auszu-
diskutieren und ein Konsens-Dissens-Papier über den richtigen Gebrauch des Staates zu erar-
beiten. Eigentlich ist es schade um einen Politiker, an dem selbst seine Opposition außer der
Fähigkeit, ins Fettnäpfchen zu treten und einer gewissen Neigung zu deutschnationaler Pole-
mik nichts auszusetzen hat. Auch wenn die Öffentlichkeit Strauß unter der Rubrik

Toter Hund

abbuchen wird – als Staatsmann war er eine überaus lohnende Investition, die sich mit Zins-
und Zinseszins rentierte. „Oft ließ Strauß das Richtige wider Willen in hellerem Licht erstrah-
len. So gesehen war er für die demokratische Entwicklung unbezahlbar“ (Zeit v. 7.10.) Aber
die genauere Berechnung des Nutzens von Strauß für das Gedeihen der Staatsmacht gehört zur
Arbeit der Historiker – im politischen Geschäft ist nichts so langweilig wie die Programme von
vorgestern und nichts so kalt wie die Leichen von gestern, weil nichts so aufregend sein soll
wie die Politik von heute.

Oktober 1988

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ISF
Das ÖkoPax-Kartell
Aus: Initiative Sozialistisches Forum,
Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 239 - 241

„Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit,
sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humani-
tät, sondern an ihren Egoismus und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von
ihrem Vorteil“: Als am Ausgang des 18. Jahrhunderts der Aufklärer Adam Smith den ökonomi-
schen Katechismus des aufsteigenden Bürgertums erließ, konnte er nicht ahnen, wie sehr es einmal
den alternativen Enkeln des absteigenden Kleinbürgertums zum handgreiflichen Vorteil gereichen
sollte, nichts anderes als nur ihre Bedürfnisse im Munde zuführen. Adam Smith sprach das Para-
doxon der bürgerlichen Gesellschaft aus, in dem es die Alternativen behaglich sich eingerichtet
haben. Das obskure soziale Verhältnis, das Vergesellschaftung einzig als ihre Negation zuläßt, ist
ein metaphysisches, ein quasi-religiöses, eines, das seine Synthesis und seine Einheit nur als Wir-
ken einer 'unsichtbaren Hand' sich deuten kann. Erst indem der Einzelne von sich selbst als bedürf-
tigem Naturwesen einerseits, als in der Arbeitsteilung tätigem Sozialwesen andererseits praktisch
abstrahiert, vermag er als Marktgänger den Vorteil herauszuschlagen, der die Befriedigung seiner
Bedürfnisse immer schon beinhalten soll. Mißlingt sie, so liegt die Schuld immer beim Indivi-
duum, in seinem Mangel, die Abstraktion energisch genug zu vollziehen. Darin lag einmal der
Skandal und die Linke trieb „Kritik der politischen Ökonomie“, um sich und anderen zu erklären,
warum es am mysteriösen Sozialzusammenhang nichts zu verstehen, sondern etwas zu verändern
gab. Aufklärung war intendiert, nicht Verbraucherberatung; Kritik sollte getrieben werden, nicht
Reklame und Kommunikationsforschung.
Aber die Kritik des Kapitals ließ sich ohne die Kritik der Politik nicht konsequent artiku-
lieren. Wer vom Profit spricht, der hat das Pech, von der Macht nicht schweigen zu können. Noch
im Slang der bolschewistischen Antike, sogar in der Panzerkreuzer-Rhetorik von 'Klassenkampf'
und ,Diktatur des Proletariats', verbarg sich so, wie unterirdisch auch immer, die bestimmte Ah-
nung vom realen Zusammenhang.
Als dann im Herbst 1977 die Macht sprach, mußte künftig auch vom Profit geschwiegen
werden. Davon besessen, jedes Wissen mit der inquisitorischen Frage „Was tun?“ zu gängeln und
auf den praktischen Nutzeffekt zu verhören, verging der Linken schockartig das Bewußtsein. Was
gefährlich wurde, daher unnütz war, das mußte überdies noch der Unwahrheit überführt werden.
Die Fahndung nach den Sympathisanten wurde langfristig durch die Beteuerung gekontert, man
habe, nur aus uneigennützigem Lernprozeß natürlich, vom Proletariat längst Abschied genommen
und ihm den Laufpaß gegeben. Aus der Revolution wurde ein Beitrag zur politischen Kultur und
aus dem Sozialismus eine Alternative, d.h. eine Geschmacksfrage, über die man sich unterhalten,
nicht aber streiten kann. Bewegungen “quer zur Klassenlage“ wurden Mode. Was am Beginn als
Fortführung des alten Radikalismus auf höherem Niveau sich ausgab – die Kritik nicht nur der
Warenform der Produkte, sondern ihres schlechten Gebrauchswertes – geriet zur Legitimation, von
der Trennung von Freizeit und Arbeit nichts mehr wissen zu wollen. Die Forderung „Anders pro-
duzieren“ meinte nur, die Malocher sollten endlich auch die Bedürfnisse des gehobenen, aber nicht
so zahlungsfähigen Mittelstands befriedigen.
„Quer zur Klassenlage“ stellte den Persilschein aus, als Mensch und weiter nichts sich be-
troffen zu zeigen. Alle sprachen von ihren Bedürfnissen zu ihrem Vorteil. Alternativ wurde zum
geschützten Markenzeichen, Selbstverwaltung zur besten Reklame und der Handel mit orientali-
schem Plunder geschah im höheren Auftrag. Aber die Alternativen hatten Pech. Sie übersahen, daß
die permanente Predigt der ökonomischen Selbstverwirklichung auf eigene Faust keine Garantie
auf die entdeckte Marktlücke verschafft. Nachdem die Überlebensbewegungen für den Frieden
und gegen das Atom das Bewußtsein ausreichend imprägniert hatten, übernahmen kapitalkräftige-
re Vereine den Kundendienst am Zeitgeist. Die Anpassung an den herrschenden Dialekt war in
Wort und Tat so weit gediehen, daß sie als besonders bezahlte Arbeit überflüssig wurde. Die grüne
Partei übernahm den politischen Part, die anthroposophischen Vollwertkonzerne den ökonomi-
schen.
Jede Bewegung hat ihren Überbau, der sich auch dann noch ein Weilchen fortschleppt,
wenn die Basis schlappmacht. Daher ergeht es den außerparlamentarisch institutionalisierten Al-
ternativen heute so, wie es den K-Gruppen in den Jahren 1977-1980 geschah: Zuerst denkt der
Ladenhüter, von der eigenen Qualität zutiefst überzeugt, die Nachfrage werde schon wieder anzie-
hen, dann gibt er Preisnachlaß, schließlich wirft er sich in den Ramsch, um wenigstens die Porto-
kosten herauszukriegen. Ganz regulär machen die Alternativen Bankrott. Die Kritik an der alterna-
tiven Wirtschaft, jahrelang tauben Ohren gepredigt, vollzieht sich so, wie sie nicht gemeint war:
2

als Pleite. Um den Konkurs doch noch abzuwenden, verwandelt sich das alternative Lager zur
Spendenkampagne in Permanenz, zur quengelnden Wegelagerei um Alimente. Es geht ums künst-
liche Beatmen von Ansprüchen, vor deren Fadenscheinigkeit das Publikum betreten schweigt.
Ohne Bürger und Bürgen, die sich die Sozialhilfe für den im jugendlichen Leichtsinn linker Hand
gezeugten alternativen Wechselbalg abluchsen lassen, ginge dem betrieblichen Weitermachen um
jeden Preis täglich das Schmieröl aus. Die ÖkoBank als rationalisierter Angsttrieb um die Prämie
geprellter Anwärter ist so die höchste und letzte Form dessen, was die Alternativen unter der Ein-
heit von Theorie und Praxis sich vorstellen können.

September 1987
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Initiative Sozialistisches Forum


Grünalternative Utopien
Eine Kritik

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken,
Freiburg: ça ira 1990, S. 242 – 247

Seit Anfang der 80er Jahre, seit die GRÜNEN sich auf den kurzen Marsch in die Verstaatli-
chung begaben und die Alternativen ihre Nischen zu besonders exquisiten Markenartikeln
kommerzialisierten, spricht man von den grünalternativen Utopien nur noch im süffisant parlie-
renden Jargon der Spiegel-Journaille. So ernst hat man es dann doch nicht gemeint mit der
Utopie. Im Bewußtsein der Protagonisten dieser Bewegung stellt sich dieser Entpuppungspro-
zeß in etwa nach Art des sozialdemokratischen Merkspruchs dar: „Wer mit zwanzig kein
Kommunist ist, hat kein Herz – wer es mit vierzig immer noch ist, keinen Verstand.“ Besten-
falls für Sonntagsreden oder fundamentalistische Quengelei eignen sich die großen Projekte
von damals noch.
Nun wäre es freilich ganz verfehlt, wollte man die Utopien der 70er Jahre gegen die
heutige Realpolitik ausspielen, käme dies doch der an der Sozialdemokratie bis zum geht nicht
mehr durchgekauten Verratsthese gleich. Die gestrigen Utopien sind nicht verraten worden; sie
wurden realisiert und zwar sowohl inhaltlich als auch der Form nach. Im heutigen Resultat
entpuppen sich die Grünalternativen als das, was sie immer schon waren, eben eine Alternati-
ve, ein Exemplar im politischen Warensortiment, aus dem der mündige Bürger das zu ihm
Passende auszuwählen hat. Der Warencharakter, der die politische Wahlfreiheit zum Auswahl-
zwang aus einem vorgegebenen Angebot stempelt, haftete bereits den grünalternativen Utopien
an.
Die konkrete Utopie, wird sie so pragmatisch verstanden wie in den abstrakt vorgeleb-
ten gesellschaftlichen Modellen – sei es in Wohngemeinschaften, Alternativbetrieben o.a. –
gibt sich als Werbestrategie zu erkennen, die aufgrund unzureichender Finanzmittel gezwun-
gen ist, neue Wege zu beschreiten und das menschliche Kapital in noch nie dagewesener Weise
ins Marketing einzubeziehen. Beschränkt sich die Werbung traditionell darauf, mit einem
Stück Seife imaginär auch ein weibliches Starmodell zu verkaufen, so wird in den grünalterna-
tiven Vorlebeprojekten eine ganze Lebensform zur Ware. Kann das Starmodell nach vollende-
ten Dreharbeiten zum Werbespot getrost nach Hause und seine eigenen Wege gehen, so sieht
sich der Alternative tags und zuweilen auch nachts eingespannt in einen Reklamefeldzug, in
dem er sein Tun und Lassen zum Exempel fürs Publikum zu stilisieren hat. Daß derartige Ge-
waltmärsche das variable Kapital in kürzester Zeit verschleißen, zeigen nicht zuletzt die Sui-
zidfälle in den Alternativbetrieben. Missionstätigkeit für eine abstrakte Idee ging immer schon
aufs Konto des Einzelnen.
Bereits eine sprachkritische Überlegung zur Selbstbezeichnung ,Alternative’ macht
dies deutlich. ,Alternative’ ist zunächst einmal ein formaler Auswahlbegriff, der über den In-
halt der jeweiligen Alternative gar nichts aussagt: Omo ist eine Alternative zu Persil ebenso
wie Persil eine Alternative zu Omo. Als solche Marktkategorie bezeichnet ,Alternative’ das
auswählende Subjekt als das formal frei sich entscheidende Käufersubjekt, dessen Naturbasis
oder Leben dabei in keinster Weise in Anschlag kommt. Formal aber sollte die Alternative
gerade nicht sein. Vielmehr sollte sie die emphatische, totale Alternative sein, in genau dem
Sinn, daß sie die Auswahl gar nicht mehr zuläßt, das Subjekt vielmehr auf Gedeih und Verderb
auf diese Alternative par excellence, die totalitäre Alternative, festschreibt. Die Liquidation der
Marktfreiheit bei weiterhin bestehender Gültigkeit der Marktkategorien realisiert sich dann als
vermittlungslose, daher abstrakte Identifizierung von Abstrakt-Allgemeinem und Einzelnem,
die – das zeigt die Figur vom toten Soldaten in Hegels Rechtsphilosophie – nur im Tod des
Einzelnen gelingen kann; sei es in der totalen Unterwerfung, sei es im physischen Tode. Wenn
eine ganze Lebensform zur totalen Ware wird, dann geht es dem Einzelnen an den Kragen.
Es ist diese Zwitterstellung der ,Alternative’ als einerseits formaler Marktkategorie,
andererseits materialer Totalkategorie, die es den Schaustellern dieser exklusiven Ware erlaub-
te, sich einerseits den sogenannten Herrschenden Verhältnissen’ entkommen zu wähnen, ande-
rerseits aber frisch fröhlich an deren Instandbesetzung zu werkeln. In der Rede von der Anti-

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parteien-Partei fand dieser affirmierende Widerspruch in die GRÜNEN Eingang und heute
stehen die Frauen bei den GRÜNEN -und nicht nur dort – für die Scheinutopie des ganz Ande-
ren im Immergleichen.1
Die Alternativbewegung war ein groß angelegtes Selbsttäuschungsmanöver, mit dem
eines der Zerfallsprodukte der 68er-Revolte sich einen Weg nach vorn in die grünalternativ
renovierte kapitalistische Gesellschaft bahnte.
Zeigen so schon die gesellschaftlichen Formbestimmungen der ,Alternative’ deren
Vorreiterrolle im Prozeß der totalen Wertvergesellschaftung, so kann die Materialanalyse der
damit zusammenhängenden Utopien dieses Urteil nur bestätigen. Inspiriert durch die System-
analysen des Jesuitenprofessors Illich und die Subsidiaritätsmaxime der katholischen Sozial-
lehre, verbrämt mit ein bißchen protestantischem Entfremdungsgefasel und untermalt von
ökologischer Katastrophenangst, wurde als zentrales Kriterium der Gesellschaftskritik die
Zahl, das abstrakte Größenmaß, in Umlauf gebracht. Auf einmal war alles zu groß, zu weitläu-
fig, zu komplex, zu unübersichtlich, kurz: nicht nach menschlichem Maß. Was dabei als
,menschlich’ angesehen wurde, entsprang entweder eigenem Gutdünken oder aber gruppenthe-
rapeutischen Forschungsergebnissen über das Sozialverhalten mehr oder weniger narzißtischer
Charaktere.
Für Otto Ulrich etwa, einen vielgelesenen Autor jener Zeit, sollte eine Basisgruppe
„nicht mehr als 15 Personen umfassen, da sonst die Anzahl der möglichen Beziehungen unter-
einander zu groß wird.“2 Zu groß für wen, für welche Zwecke? Woher eigentlich die traum-
wandlerische Sicherheit im Umgang mit anthropologischen Wesensbestimmungen. Wie
kommt man dazu, die Unfähigkeit des heutigen Durchschnittsneurotikers, vielfältige Subjekt-
und Objektbeziehungen zu provozieren, mir nichts dir nichts als absoluten Bezugspunkt einer
Gesellschaftsutopie zu setzen? Woher die bürokratische Akribie, alles in Zahlen zu fassen?
Kaum anders ist es zu erklären, als daß diesem platten Positivismus der heillose Wille
zur Positivität, zur konstruktiven Mitarbeit, zum einverständigen Mitmachen zugrundeliegt.
Wie sonst wäre einsichtig, warum die Kritik am Nihilismus des Kapitals nicht auf die Kritik
des frühen Horkheimer und späten Adorno, oder auf die Kritik des Urvaters des italienischen
Operaismus, auf die Kritik Raniero Panzieris an der kapitalistischen Fabrikorganisation zu-
rückgriff. Von kritischer Marxlektüre wollten die Alternativen nie etwas wissen. Stattdessen
wurde der Popanz eines Marxismus aufgebaut, der in dieser Primitivität noch nicht einmal bei
Lenin, bestenfalls in DDR-Lehrbüchern oder den Unterrichtsmaterialien der Bundeszentrale für
politische Bildung zu finden ist. Die Alternativbewegung machte tabula rasa mit allem, was
um ’68 herum an kritischer Theorie des Kapitals erarbeitet worden war. Zurück blieb ein ver-
wüstetes Feld, auf dem die positivistische Alternativsoziologie ihre ungenießbaren Trocken-
früchte kultivierte.
Die grünalternativen Utopien lesen sich wie ein Maßnahmenkatalog zur Modernisie-
rung der kapitalistischen Gesellschaft. Allen voran der Faible für kleine, überschaubare Einhei-
ten. Seit den großen Streiks der Massenarbeiter an den Montagebändern verwendet das Mana-
gement einen Großteil seiner Energie auf die Wiederherstellung kleiner Produktionseinheiten.
Durch die Installation pseudo-autonom verwalteter Qualitätszirkel wird versucht, das zu pro-
vozieren, was die Grünalternativen als das non plus ultra, von Autonomie preisen: engagierte
Mitarbeit, Kreativität und eigenverantwortliches Handeln. Daher sind ehemalige Alternativbe-
triebler bei aufgeklärten Managern auch gern gesehene Mitarbeiter. Wer einmal seine Fähigkeit
bewiesen hat, von der Pieke auf und autodidaktisch, mit persönlichem Einsatz und schier gren-
zenlosem Arbeitseifer, sich eine Marktlücke zu erkämpfen, von dem kann mit Recht ange-
nommen werden, er werde alles ihm Mögliche zum Wohle des Betriebes beitragen.
Das Gegenargument, es ginge bei der Schaffung kleiner Einheiten gerade um die Ab-
schaffung von Herrschaft, geht aus zweierlei Gründen ins Leere. Erstens überführt sich der
angebliche Zweck der Abschaffung von Herrschaft seiner Unwahrheit schon immanent, da in
diesen Utopien alle wesentlichen Daseinsbestimmungen der kapitalistischen Gesellschaft -
Geld, Staat und Recht – beibehalten werden. Der Affekt gegen die Megamaschine – ein Topos
aus der konservativen Kulturkritik der 20er Jahre – zielt nicht auf die Abschaffung von Hetero-

1
Otto Ulrich; Weltniveau. In der Sackgasse des Industriesystems, Berlin 1979, S. 120.
2
Diesen Zusammenhang zwischen Reklame, Ökologie und weiblicher Subjektivität stellt prägnant her-
aus: Ilse Bindseil; Zur Fabrikation weiblicher Subjektivität, in: Theorien weiblicher Subjektivität, Ffm
1985, S. 21-49; und die Fortführung dieses Essays unter dem Titel: „Typisch weiblich“. Notizen zur
gesellschaftlichen Weiblichkeit und zur neuen Weiblichkeit der Gesellschaft, in: Ilse Bindseil/Ulrich
Enderwitz; Der Wahnsinn der Wirklichkeit, Dülmen-Hiddingsel 1987, S. 16-38.

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nomie, sondern beklagt einzig die Anonymität moderner Herrschaft. Die Psychotechnik der
Überschaubarkeit möchte Autorität wieder so paternalistisch-heimelig machen, wie sie in der
Großfamilie und im kleinen Handwerksbetrieb traditionell immer schon war. Alles andere,
zumal das Pochen auf den guten Willen und der noblen Intention ist Selbstbetrug und Augen-
wischerei. Die Wahrheit über die Alternativutopien findet sich im Bericht „Zukunftsperspekti-
ven gesellschaftlicher Entwicklungen“, den die Landesregierung Baden-Württemberg bei
Herrn Lübbe in Auftrag gegeben hat. Sie sind Teil der „Versöhnungsgesellschaft“ des Herrn
Späth. Und deshalb war es auch kein Verrat, als die Herren Fischer und Schmidt laut über eine
mögliche Zusammenarbeit mit der CDU nachdachten. Und zweitens, praktisch gesehen, zieht
dieses Gegenargument nicht, weil sich in der Realität der Alternativbetriebe, vermittelt über
den Marktdruck, der anfängliche Familiensinn rasch bricht und, wie die Erfahrung zeigt, dem
Einerlei eines modernen Betriebes Platz macht.
Es war wohl Herr Fischer, der die 68er-Bewegung für die GRÜNEN reklamierte, und
er hat damit sicherlich nicht ganz unrecht. Bei Krahl allerdings findet sich schon die Kritik an
dem, was sich einmal zur Alternativbewegung und grünen Partei realisieren sollte. In einem
Artikelentwurf für die Zeitschrift Neue Kritik von 1969 mit dem Titel: Zur Dialektik des anti-
autoritären Bewußtseins, bezeichnet Krahl dieses Phänomen als das „Asozialitätssyndrom des
antiautoritären Bewußtseins“3. Er analysiert die Entstehung dieses Syndroms als Resultat der
„Emanzipation von der funktionalistisch zerschlissenen bildungsbürgerlichen Liberalität einer-
seits und dem fehlenden Hintergrund einer existierenden proletarischen Organisation“ (KK
304) andererseits. Da die produktiv Tätigen die Revolution partout nicht machen wollten – und
daß sie das nicht wollten, kann man der Studentenbewegung wahrhaftig nicht vorrechnen – da
die Proletarier also nicht wollten, fiel die Intellektuellenbewegung ins Leere. Aus dieser gesell-
schaftlichen Haltlosigkeit, die im übrigen mit dem Übergang zum kommunikativen Kapitalis-
mus „ la Habermas zum allgemeinen gesellschaftlichen Schicksal wird, aus dieser Haltlosigkeit
des Intellektuellen im Ausgang aus aktionistischer Praxis folgt ein „Schwund an Totalitätsbe-
wußtsein“ (KK305) und ein von Krahl noch als „zeitweilig“ eingestufter „Theoriezerfall“
(ebd.). Einher damit geht eine Praxisform, die den Gesetzen der ersten Landnahme gehorcht.
Krahl schreibt:

„Der losgelassene Emanzipationsegoismus will auf die Mühsal und Qual des politischen Kampfes,
auf die geschichtliche Langfristigkeit m der Entwicklung einer Sozialrevolutionären Massenbasis (...)
verzichten und gleichwohl das künftige Reich der Freiheit hie et nunc für sich empirisch usurpieren.
Die kleinbürgerlichen Dispositionen des antiautoritären Bewußtseins behandeln das Reich der Frei-
heit als privates Kleineigentum (dem entsprach die Ideologie der Freiräume), gleichsam orientiert an
der Vorstellung vom Besitzrecht der ersten Landnahme.“ (KK 306)

Diese äußerst hellsichtige Interpretation unmittelbar zeitgenössischer Ereignisse realisierte sich


später in der, wie Krahl sagt, „sektiererischen und unmittelbarkeitsideologischen Verdingli-
chung der Organisationsform“ (KK 305), in den diversen Proletariatszuschreibungen, in der
Usurpation des Öffentlichen durch das Private, d.h. in der „Politik in 1. Person“, für die Herr
Fischer zunächst als Obersponti und dann als Umweltminister Probe saß, in der Projektion von
Abstraktem auf Konkretes durch die Reduktion von Kapitalkritik auf Industrialismus- und
Zivilisationskritik und der damit einhergehenden Eroberung alternativer Marktpositionen.
Bürgerlicher Geist und bürgerliches Geschäft verstanden sich schon immer prächtig.
Vorfaschistischer Gedankenabraum war keineswegs abwesend. Durch die small-is-
beautiful-Utopien geistert der unheimliche Wunsch nach völkischer Einheit, nach persönlicher
Autorität, dem einzig die abstrakte Autorität der Großorganisation ein Horror ist und der daher
zur Unmittelbarkeit des Stammeslebens zurück will. Man zeichne nur die abenteuerliche, aber
nicht unlogische Entwicklung des Herrn Bahro nach: Vom Einiger der westdeutschen Linken,
über den Mitbegründer der GRÜNEN, zum Kommunebewegten, Spiritualisten, Geistrevolutio-
när und völkischen Theoretiker, der in seinem bislang letzten Buch: „Die Logik der Rettung“,
am Nationalsozialismus nur noch Manöverkritik zu üben weiß.
All dem liegt der verhängnisvolle Wunsch zugrunde, in einer abstrakten Gesellschaft
unbedingt etwas Konkretes haben zu wollen, und da die herrschenden Konkretionen nun eben
einmal kapitalistische Abstraktionen sind, kann der Inhalt des aufs vermeintlich Konkrete ge-
henden Bewußtseins auch nur dieses kapitalistisch formbestimmte Material haben. In dieser

3
Hans-Jürgen Krahl, Zur Dialektik des antiautoritären Bewußtseins, in: Ders., Konstitution und Klassen-
kampf, Frankfurt, S. 303. Im folgenden Text als „KK“ abgekürzt.

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merkwürdigen Verkehrung besteht das Geheimnis des gesellschaftlichen Erfolgs der Grünal-
ternativen und ihrer Wunschvorstellungen: Sie gingen aufs konkret Unmittelbare und trieben
genau damit die Totalisierung kapitalistischer Vergesellschaftung voran. Sie wollten das Leben
unmittelbar revolutionieren und machten es mit Haut und Haaren zur Ware, derart, daß man
heute gar nicht mehr genau weiß, ob das Leben zur Ware geworden oder ob die Ware zu spon-
tan sprühendem Leben erwacht ist. So authentisch-autonom kommt die alternative Heterono-
mie daher, daß sie von einschmeichelnder Reklame nicht zu unterscheiden ist. Ihr Jargon der
Betroffenheit mag sich aus katholischer Caritas und traditioneller bürgerlicher Philanthropie
herleiten, er ist aber ungleich zeitgemäßer als diese, da er nicht mehr in den Poren der Gesell-
schaft haust, sondern deren Selbstverständnis als Kommunikationsgemeinschaft zum Ausdruck
bringt.

Winter 1987

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Initiative Sozialistisches Forum


Welche Friedensbewegung für welchen Frieden?

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken,
Freiburg: ça ira 1990, S. 248 – 251

Ich bin der Sieg mein Vater war der Krieg der Friede
Ist mein lieber Sohn der gleicht meinem Vater schon.
Erich Fried

Im Herbst 1983 hat die deutsche Friedensbewegung erneut bewiesen, daß, wer für den Frieden
eintritt, deswegen noch lange nichts gegen den Krieg und seine Vorbereitung unternehmen
muß. Das Engagement für den Frieden ist mit dem gegen den Krieg nicht identisch; der Appell
an die Regierung, sie möge doch Frieden stiften, führt nicht über den Appell hinaus zum Wi-
derstand. Nichts zeigt dies deutlicher als die ungeheure Diskrepanz zwischen den massenhaf-
ten, millionenfach besuchten Demonstrationen und den von Kriminalisierung bedrohten Wi-
derstandsaktionen antimilitaristischer Gruppen. Der Zustand der deutschen Friedensbewegung
ergibt sich aus dem einfachen Vergleich zwischen der Menschenkette von Ulm nach Stuttgart
und der Blockade der Frankfurter Pershing-Depots im Dezember 1983. Dort die Hunderttau-
sende, mühevoll nach Schwäbisch-Sibirien gekarrten Pazifisten, die, aus Hubschraubern von
Polizei und Bundesgrenzschutz übersichtlich ins Fernsehen gerückt, das Glück verbundener
Gemeinschaft genossen und warteten, daß der Funke der Erlösung von Hand zu Hand über-
springe wie der Heilige Geist – hier ein paar Hundert, die nicht das Wochenende abwarten
mußten, um etwas Freizeit für den Frieden abzuzweigen. Dort das breite Bündnis, die Volks-
front für den Frieden, die, nach Art des neudeutschen Wilhelminismus, keine Parteien mehr
kannte, sondern nur noch Notwehr für das Überleben – hier der Versuch, erst einmal ein Leben
zu erkämpfen, dessen Verlängerung überhaupt lohnt. Einerseits eine kuriose Mischung aus
Kirchentagen, Fastenaktionen und „Fünf Minuten für den Frieden“, die es nahelegt anzuneh-
men, noch jeder grobe Unfug finde Zustimmung, wird er nur im Namen des Friedens verbro-
chen – andererseits die isolierten Bemühungen, den Zusammenhang von bürgerlicher Gesell-
schaft und Krieg aufzuzeigen und, wie bei der Springer-Blockade in Hamburg, zum Gegen-
stand der Aktion zu machen. „In diesem Gegensatz erwies sich die offizielle Friedensbewe-
gung als die größte außerparlamentarische Behördenberatung der deutschen Geschichte, als die
Fortsetzung der Sozialdemokratie mit anderen Mitteln.
Allein daß sich die Bewegung am Engagement für den Frieden auskristallisierte und
nicht in der Opposition gegen den bundesdeutschen Militarismus, gibt zu denken und läßt dar-
auf schließen, die Bewegung sei integraler Bestandteil des Übels, für dessen Therapie sie sich
ausgibt, und daher mehr ein Anzeichen kommender Kriege als deren Opposition.
An die Stelle Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts trat eine obskure Mischung aus
Gottergebenheit und Kreuzzugsmentalität, aus Gandhi und lutherischer Heilsarmee. An die
Stelle der Kritik militärischer Hierarchie und der Verschleuderung gesellschaftlichen Reich-
tums für die politischen Zwecke staatlicher Souveränität setzte der Pazifismus das Bemühen
um eine rein ‘defensive’ Militärpolitik ohne ‘atomares Teufelszeug’ und den Kampf für den
inneren Frieden als der vorgeblichen Bedingung des äußeren. Dem widerspricht nur scheinbar,
daß der NATO-Doppelbeschluß nicht als Resultat eines neuen Verhältnisses von Politik und
Gewalt interpretiert wurde, das den durch Weltmarktkrise und schleichenden Hegemoniever-
lust der USA gewandelten Bedürfnissen der kapitalistischen Metropolen besser entspricht als
die Politik der (auf Europa begrenzten) Entspannung und des Wandels durch Handel, sondern
als irrationales Spiel mit der Apokalypse. Daß die Angst vor ‘Euroshima’ gerade in einem
Land ausbrach, dem die Vernichtung durch Arbeit, Auschwitz, die erträglichen Voraussetzun-
gen von Wirtschaftswunder und Konsumkultur herstellte, ist nur das hervorstechendste Zeug-
nis des Leidens an der „Sinnkrise“, die, noch in den siebziger Jahren heiß umstritten, sich in
der Friedensbewegung die Mittel ihrer Therapie bereitlegte. Der Wunsch, immer so weiter zu
machen wie bisher und trotzdem das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Wärme nicht zu
kurz kommen zu lassen, fand in der Opposition gegen die Raketen seine gelungene Synthese.
Eine Synthese, die Summe und Übersteigerung all jener Phänomene zunehmenden gesell-
schaftlichen Wahnsinns ist, die sich in den Mystizismen von Teilen der Frauenbewegung, in

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den lebensphilosophischen und neoromantischen Ideologien der Ökologiebewegung und den


Lebensreformversuchen der Alternativen bereits angedeutet hatten. Die Pershings und Cruise
Missiles boten sich als integraler Fetisch und absolute Verkörperung der omnipotenten Bedro-
hung des Lebens durch den Tod geradezu an, begreifbar nicht mit den Mitteln kritischer Theo-
rie der Gesellschaft, sondern einzig mit Hilfe der gerade in Deutschland seit den zwanziger
Jahren in der Luft liegenden irrationalistischen Lebensphilosophie. Nichts aber paßt zur pazifi-
stischen Wiedergeburt Deutschlands als einiger Gefühlsgemeinschaft besser als die Moderni-
sierung und Effektivierung seiner Gewaltmittel. Die Angst vor der Apokalypse betreibt die
sozialpsychologische Vorbereitung der Deutschen auf das sich bereits anbahnende, zunehmend
auch direkt militärische Engagement der BRD im Rahmen der NATO. Wenn es dann einmal
konventionell losgeht, wird sich die Friedensbewegung darüber freuen, noch einmal vom Äu-
ßersten, von der atomaren Vernichtung, verschont worden zu sein.
Es wird sich dann erweisen, wie recht Helmut Kohl hatte, als er, mitten im ‘heißen
Herbst’, feststellte: „In der Tat: Alle Deutschen wollen Frieden; wir sind alle eine große ge-
meinsame Friedensbewegung“ (Frankfurter Rundschau, 5.10.1983). Eine Bewegung, die die
Utopien des Friedens positiv ausmalt, anstatt die konkreten Ursachen kapitalistisch organisier-
ten Unfriedens zu benennen, stärkt nur den allgemeinen Friedenswillen, der die notwendige
Grundlage der konkreten Friedensfähigkeit darstellt, die die NATO tagtäglich ins Werk setzt.
Denn das Engagement für die Erhaltung des Friedens in Mitteleuropa setzt schon voraus, daß
dieser wirklich einer sei und nicht nur der längste Waffenstillstand der Geschichte, und identi-
fiziert sich somit mit der bundesdeutschen Gesellschaft, wie sie leibt und lebt.
Was heißt denn schon Frieden? Der Seelenfriede herrscht, wenn einer sich mit seiner
Misere endgültig angefreundet hat. Der Hausfriede herrscht, wenn die Instandbesetzer zwangs-
geräumt sind und die Polizei nach getaner Arbeit müde die Festnahmen des Tages zählt. Der
‘innere Friede’ herrscht, wenn alle ihre Steuern für die Bundeswehr noch zu niedrig finden. Für
die USA herrscht der Hausfriede, wenn die Bettler im ‘Hinterhof’ endlich Ruhe geben, sich
nicht mehr von ihrem Elend aufwiegeln lassen. Für die USA herrscht der Weltfriede, wenn ihr
Hausfriede nicht nur in Südamerika herrscht. Also dann, wenn die Sowjetunion davon über-
zeugt werden kann, daß sie mit ihrem Anspruch auf gleiches Recht für alle Supermächte zu
hoch gestapelt hat. Es ist das Ziel dieser Oberzeugungsarbeit, der Sowjetunion jenen Platz in
der Weltpolitik zuzuweisen, der ihr zusteht: den Platz einer leidlich geduldeten Regionalmacht
unter amerikanischer Hegemonie. Jede Hausfrau weiß, wie schwierig Erziehung sein kann: Sie
will nur das Beste, aber der Bengel gibt es ihr nicht. Da hilft nur eines: Die Kunst, alle Mittel
anzuwenden – Zuckerbrot und Peitsche. Je näher man den Frieden anschaut, desto befremdli-
cher schaut die ‘pax americana’ zurück.
Und je näher man die Friedensbewegung betrachtet, desto deutlicher wird ihr einigen-
des Band, der neue deutsche Nationalismus, der die logische Rückseite des Lebenskampfes
darstellt. Der Kampf für nichts als das bloße Oberleben begreift die Menschen einzig als Mit-
glieder der Gattung, über die Klassen hinweg, und daher als ökologisches Biotop und Nation,
als Schicksalsgemeinschaft. Ob Joschka Fischer feststellt, es sei der Existenzgrund der Grünen,
daß es „in der Bundesrepublik ein nationales Identitätsproblem gibt“ (Spiegel, 27.3.84) oder
Peter Glotz für die Sozialdemokratie eine Politik des „linken Patriotismus“ (Spiegel, 26.3.84)
fordert – die Nation ist zum Bezugsrahmen pazifistischer Politik geworden, die Emanzipation
des Individuums daher erledigt. Es geht um den Frieden der Nation, nicht um die Befreiung des
Menschen von Herrschaft und Entfremdung. Anzunehmen, Nationalismus ließe pazifistisch
sich benutzen, ignoriert die Erfahrung deutscher Geschichte wie das Wissen kritischer Theorie
und arbeitet somit an der Verlängerung einer Geschichte, deren Katastrophe es ist, daß sie
immer so weiter geht.
Es gilt, gegen einen Pazifismus, der Herrschaft modernisieren, nicht aber so gründlich
abschaffen will, wie diese längst es verdient hat, einen sozialistischen Antimilitarismus zu
entwickeln, der sich der Geschichte bewußt ist. An dessen Anfang steht die Kritik dessen, was
der traurige Fall ist – der deutschen Friedensbewegung. Diese Kritik weiß nicht, ob es besser
wird, wenn es anders wird, aber sie weiß, daß es anders werde muß, soll es je besser werden.

Januar 1984

Zuerst in:
Initiative Sozialistisches Forum, Friede – je näher man hinschaut desto fremder schaut es zu-
rück. Zur Kritik einer deutschen Friedensbewegung, Freiburg (ça ira – Verlag 1984), S. 9 – 12

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Initiative Sozialistisches Forum


Friedensbewegung oder antimilitaristische Opposition?

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken,
Freiburg: ça ira 1990, S. 252 – 263

Ist die deutsche Friedensbewegung schon heruntergekommen zu einer außerparlamentarischen


Bürgerinitiative, die nichts anderes im Schilde führt, als diesen unseren Staat bei der Fahndung
nach dem Gemeinwohl bestmöglich zu unterstützen? Oder war sie nie etwas anderes als eine
Massenbewegung mündiger Staatsbürger, aufgeklärter Steuerzahler und kritischer Wähler?
Was gegenwärtig als Friedensbewegung auftritt, betätigt sich nicht als die antimilitaristische
Opposition, die nötig wäre, sondern als Exorzismus des kritischen Bewußtseins und Abtrei-
bung des Gedächtnisses davon, daß es einmal eine Neue Linke gab, die den Staat nicht besser
beraten, sondern abschaffen wollte, die Entfremdung nicht erträglicher polstern wollte, sondern
aufheben. Weil sie nicht weiß, was sie nach dem Stand des historischen Augenblicks sogar und
gerade in Deutschland immerhin wissen könnte, wissen müßte, hat sich die Friedensbewegung
zur komödiantenhaften Wiederholung der Fürstenberatung des 18. Jahrhunderts entwickelt:
Abermals gilt der Politiker und Staatsmann als Mensch guten Willens wie Du und Ich, der –
irren ist menschlich – zum guten Zweck nicht die rechten Mittel findet, und nicht als die „Cha-
raktermaske“ (Marx), die er ist.
Immerhin hat die Friedensbewegung eines bereits erreicht: die ,Sinnkrise’, von der zur
Zeit der sog. ‚Jugendbewegung’ 1980/81 jeder dialogfähige Staatsmann verständnisvoll zu
berichten wußte, ist gelöst. Die Bewegung ist längst von der Erkenntnis, daß noch so viel Farb-
fernseher und Tiefkühltruhen allein die Herzen nicht warm machen und daß VW-Fahren nicht
der Sinn des Lebens sein kann, zur praktischen Therapie der Nation fortgeschritten. Sie ist
konstruktiv geworden noch bevor sie es gelernt hat zu kritisieren. Sie hat in Deutschland die
Lust am besseren Staat geweckt und den neuen Patriotismus als Lösung der Sinnkrise auf den
politischen Markt geworfen, einfach dadurch, daß sie nicht zu verstehen vorgab, warum, wenn
denn die Supermächte schon einen ,Schießplatz’ brauchen, Deutschland der gerechte Ort wäre.
Durch die aufgeregte Angst vor der nuklearen Volksabtreibung hat sie den Deutschen das Be-
wußtsein wiedergegeben, eine große Überlebenskampfgemeinschaft zu bilden.
Mittlerweile ist es wieder schick geworden, vom Mai 1945 als der ,Niederlage
Deutschlands’ zu sprechen. Wie man aber spricht, so wird man schließlich. Was bedeutet es
also, wenn der linke Humanist Helmut Gollwitzer der Regierung „Landesverrat“ vorwirft, weil
sie „unser Land ausgeliefert hat, damit eine fremde Regierung es benutzen kann“? Wohin führt
das, wenn Heinrich Albertz meint, Patriotismus sei „doch nichts Schlimmes“ und bedeute
nichts weiter, „als daß man für seinen unmittelbaren Mitmenschen – ohne die anderen zu ver-
gessen – aber zunächst für ihn, Vorsorge zu treffen hat“ ? Was sagt es über den Charakter der
Friedensbewegung aus, wenn Franz Alt ihr in Massenauflagen unwidersprochen als wichtigstes
Motiv die Angst davor nachsagen kann, daß es nach dem Atomkrieg „weder Regierende noch
Regierte gibt“?
Was engagierte Friedensbewegte als taktische Raffinesse sich ausgedacht haben mö-
gen – den Appell an Volk und Nation – wird im Resultat, weil es die gesellschaftliche Wirk-
lichkeit leugnet, die eine nachfaschistische ist, zur Heilung Deutschlands vom Trauma des
,Zusammenbruchs’, zur Ermächtigung für eine ,Platz an der Sonne’-Politik, die dann, wenn der
Krieg nur ja konventionell geführt wird und der Umweltschaden daher sich in Grenzen hält,
„die legitimen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik“ (Franz Alt) auch am Persischen Golf
verteidigen darf, weil auch ein ,Leopard’ noch mit Benzin fährt und nicht mit billigerem Atom-
strom. Wer dies für so unrealistisch hält, sollte prüfen, ob sein Gedächtnis noch ein Jahr zu-
rückreicht: Noch im Februar 1982 erlebte England die größte Friedensdemonstration – gegen
den Atomkrieg. Vier Wochen später, als der Protest gegen einen wirklichen Krieg – Falkland –
gefordert war, wagten sich in London kaum 3000 auf die Straße – unter massivem Polizei-
schutz. Muß der Krieg mindest atomar sein, damit ein Grund da ist, für den Frieden einzutre-
ten? Oder heißt Frieden eben nur – Überleben der Nation? Und dann mit all den Mitteln, die

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das ,Prinzip Leben’ gebietet?

Freiheit zur Gewalt

Die Friedensbewegung verweigert das kritische Nachdenken über sich selbst. Dies rächt sich.
Nicht zufällig kann eine zur Selbstkritik unwillige Scheinopposition nur Argumente mobilisie-
ren, die die herrschende Ideologie in kleiner Münze noch einmal ans Volk verteilt. Ein Beispiel
ist der Begriff der ,Gewaltfreiheit’. Er bezeichnete ursprünglich die politische Strategie soziali-
stisch-anarchokommunistischer Gruppen um die Zeitschrift „Graswurzelrevolution“, die sich
in der Nachfolge eines solch ausgewachsenen Bürgerschrecks wie Michail Bakunin begreifen.
Aber jetzt ist er in aller Munde und gegen den Willen der Urheber zur Totschlagparole gegen
jede politische Aktion geworden, die die formale Legalität überschreitet. Was ist passiert? Mit
Sicherheit ist etwa Ernst Breit, Vorsitzender des DGB, nicht in die Freiburger „Gewaltfreie
Aktionsgruppe“ eingetreten, wenn er sagt: „Die Antwort des DGB auf die politische, militäri-
sche und soziale Herausforderung, die der Bundesrepublik in diesem Herbst bevorsteht, lautet:
Frieden, Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit.“
Gebraucht die offizielle Politik den Begriff der Gewaltfreiheit so ungeniert wie den
der FDGO, dann ist dies das Ergebnis eines ideologischen Kampfes, an dessen Ende die Politik
sich die Begriffe ihrer Opposition aneignet, und die Opposition damit enteignet. Die Geschich-
te der Enteignung dieses Oppositionsbegriffes gibt einen Vorgeschmack auf das, was die Frie-
densbewegung nicht wahrhaben möchte: daß sie mit ihrer Argumentation, vielleicht ungewollt,
das bestärkt, dem zu opponieren sie vorgibt.
Allerdings: Nach der Enteignung des Begriffes ,Gewaltfreiheit’ läßt sich jetzt erken-
nen, wie gut sein objektiver Sinn zur herrschenden Politik paßt. Denn wie der gleichgelagerte
Fall der im Grundgesetz garantierten Gewerbefreiheit eben nicht die Freiheit vom Gewerbe,
sondern die Freiheit (und den Zwang) zum Gewerbe beinhaltet, so bedeutet auch die Gewalt-
freiheit nicht die Befreiung von Gewalt, sondern die Ermächtigung und die Freiheit, Gewalt
auszuüben. Es ist also gerecht, wenn sich der Bundesminister für Angriff und Verteidigung,
Manfred Wörner, einen Gewaltfreien nennt. Er ist wirklich einer.
Aber auch vor der Friedensbewegung macht der objektive Sinn der ,Gewaltfreiheit’
nicht halt. Gerade das tröstliche Ende des Himmelfahrtskommandos ,Fasten für den Frieden’
hat gezeigt, in welchem Sinn das Fasten „der höchste Ausdruck gewaltfreier Aktion“ (Mahat-
ma Gandhi) ist: Der Staatsbürger droht mit dem Selbstmord und gebraucht diese Drohung als
Aufforderung an den Staat, doch am freiwilligen Leiden seiner Patrioten einzusehen, wie sehr
er sich am eigentlichen Staatszweck, dem Gemeinwohl, versündigt hat. Die Legitimation des
Staatsbürgers, überhaupt irgendeine Forderung zu erheben, obwohl er durch die allgemeinen
und freien Wahlen die Macht, die von ihm ausgeht, ohne Wiederkehr abgetreten hat, erwächst
ihm durch die Verinnerlichung und bedingungslose Anerkennung der Gewalt. Indem er mit
dem Selbstmord droht, bestätigt der Staatsbürger seinem Staat das Recht, über Leichen zu
gehen.
Nur weil er bereit ist, sich selbst zu vernichten, entsteht ihm ein Recht auf Kritik. Die
Friedensbewegung hat nicht zuletzt durch ihren Beifall zu dieser Aktion gezeigt, in welch er-
schreckendem Ausmaß sie nicht antimilitaristische Opposition ist, sondern eben – Scheinoppo-
sition. Und noch die Kritiker attestieren dem ,Fasten für den Frieden’ ein hohes Maß persönli-
cher ,Glaubwürdigkeit’, worauf es den Fastenden ja gerade ankam.
Mit jedem Tag, den die real existierende Friedensbewegung ins Land geht, stellt sich
drängender die Alternative: Sozialismus oder Barbarei? Wofür eintreten? Wofür: Für die kon-
krete Utopie des freiheitlichen Rätekommunismus, dessen historische Möglichkeit sich – nega-
tiv – in der zunehmenden Barbarisierung der gesellschaftlichen Beziehungen zeigt - oder gegen
die nukleare Abschaffung des Status quo? Wofür noch kämpfen? Für eine Revolution, die so
gründlich und radikal ist, wie es sich der Kapitalismus längst verdient hätte, ginge es noch mit
rechten Dingen zu – oder für das Überleben, dem es gleichgültig ist, wie und wovon einer lebt?
Gewitztere Vertreter der Friedensbewegung erklären diese Alternative für falsch und
antworten: „Es muß alles radikal umgewälzt werden, wenn wir wollen, daß alles so bleibt, wie
es ist.“ (Rudolf Bahro) Aber dieser frischfröhliche Konservatismus, der sich zur Agitation des
bürgerlichen Lagers, das ja angeblich auch nur aus Menschen besteht, die feinsinnige Unter-
scheidung von Strukturkonservativen und Wertkonservativen erfunden hat, vergißt, was die
historische Stunde geschlagen hat: Heute ist das Maximalprogramm einer Revolution für den
Sozialismus längst zum unabdingbaren Minimalprogramm geworden. Und daher bedarf es
auch nicht einer Friedensbewegung, sondern einer antimilitaristischen Opposition.

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Zudem findet sich in Deutschland kaum noch einer, der nicht zur Friedensbewegung
gehört. Es ist verdächtig, wenn vor dem Frieden alle gleich sein sollen, weil er nur noch Men-
schen und keine Parteien mehr kennt. Zu schnell und schmerzlos hat die Friedensbewegung
jene Mehrheit von 75% der Bevölkerung erobert, die Meinungsforscher ihr erfragt haben, als
daß wirklich geglaubt werden könnte, diese Mehrheit sei neben einer für den Frieden (was sie
in Deutschland immer war, wie u.a. die Jahre innigster Volksgemeinschaft 1914 und 1933
beweisen) auch eine Mehrheit gegen den Krieg und seine Vorbereitung.

Zur deutschen Volksfront für den Frieden gehören mittlerweile:

DIE CHRISTDEMOKRATEN:

Bundeskanzler Kohl hat auf einer Wahlkundgebung in Fulda erst kürzlich völlig zu recht be-
tont, daß

„alle Deutschen, die die Geschichte begriffen und die Lektion gelernt haben, alle Deutschen, die bei
klaren Sinnen sind, Mitglieder einer großen Friedensbewegung sind.“

Es ist klar, daß es für einen Deutschen nur eine Lektion gibt, die er aus der Geschichte lernen
möchte: Nämlich die, nie wieder so treu auf verlorenem Posten zu stehen gegen die rote Flut
wie im Frühjahr 1945. Die Deutschen sind die größte Friedensbewegung aller Zeiten und die
Bundeswehr ist ihre Avantgarde, die stahlgepanzerte Verkörperung deutscher Gewaltfreiheit.
Nur Friedrich Zimmermann meint noch, ,gewaltfrei’ in dem Sinn mißverstehen zu müssen, den
er ursprünglich hatte: als Aufforderung zur antimilitaristischen Aktion.

DIE SOZIALDEMOKRATEN:

Sie haben schon immer gewußt, daß die wesentliche Voraussetzung des ,Modells Deutschland’
der ,innere Friede* ist, und möchten sich politisch dafür auszahlen lassen, daß sie ihn nur aus
Verantwortung fürs Ganze nicht zerstörten, was sie - ,alle Räder stehen still, wenn Dein starker
Arm es will’ – glauben tun zu können. Damit haben sie aber die Rechnung ohne den DGB
aufgemacht und zu recht nimmt es niemand ernst, wenn Helmut Schmidt damit droht, auf den
,Klassenkampf von Oben’ mit der Volkspartei von unten eines Tages zu antworten. Die Sozi-
aldemokraten haben längst erreicht, was andere noch anstreben: Den Frieden glaubwürdig
vorzuleben, um den anderen ein überzeugendes Beispiel zu sein. Gerade weil sie den äußeren
Frieden anstreben, können sie vernünftigerweise nicht den ,inneren Frieden’ gefährden.
Daraus ergibt sich zwingend die denkwürdige Argumentation des Oppositionschefs,
Hans-Jochen Vogel:

„Es muß (...) abgewogen werden, ob das, was der Nato unter den gegebenen Bedingungen durch die
Dislozierung von Mittelstreckenraketen an politischer Potenz zuwachsen wurde, nicht durch den Ver-
lust an Akzeptanz und durch die tiefen Risse, die der Meinungsstreit über die Stationierung in unse-
rem Volk hervorgerufen hat und noch hervorrufen wird, in einem Maße zunichte gemacht wird, daß
am Ende nicht eine Stärkung, sondern eine politische Schwächung des Bündnisses stehen würde.“

Das ist wahrhaft staatsmännisch gedacht und genau die Sorte Opposition, die die Regierung
Kohl/Genscher so bitter nötig hat. Das ist ein Beispiel dafür, wie es gelingt, Friedensfähigkeit
und Friedenswillen glücklich zu vereinen. Die politische Potenz’, deren Grundlage die ökono-
mische und deren bewaffneter Flügel die militärische ist, ist der Sozialdemokratie die Mühe
wert, die Gesamtrechnung aufzumachen. Und die ergibt eben: Ruhe an der Heimatfront ist die
erste Kriegsbedingung, mit der man nicht unbedarft spekulieren darf. Gemein wäre es, Vogel
zu unterstellen, ihn plage das ,Novembertrauma’ Adolf Hitlers – er möchte nur die Sozialde-
mokratie davor bewahren, erneut das Opfer einer Dolchstoßlegende zu werden. Gerade daher
tritt er für eine „politische Potenz“ der Nato ein, die es erlaubt, endlich die Gewerbefreiheit
weltweit auch „im deutschen Interesse“ herzustellen.
Vogel ist ehrlich genug zu sagen, wo für die SPD die Impotenz der Friedensbewegung
aufhört – und das ist zufällig genau dort, wo die antimilitaristische Opposition anzufangen
hätte:

„Das Bündnis und unsere Zugehörigkeit zum Bündnis stehen für uns nicht zur Diskussion und erst
recht nicht zur Disposition.“

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Daher wird noch in der pazifistischen Wende, die die Sozialdemokratie nach dem 6. März
eingeleitet hat, der ,Nach’rüstung nur ein moderates „Nein“ entgegengesetzt, nicht aber Wider-
stand. Der Offenburger Parteitag der baden-württembergischen SPD hat die Linie vorgegeben
– der Eppler-Flügel war schon immer sensibel fürs Publikumswirksame: Das entschiedene
Nein zur Nachrüstung beinhaltet nicht den Aufruf zur Massenaktion und der zivile Ungehor-
sam wird in die „Gewissensentscheidung“ der Genossen gestellt. So darf der Sozialdemokrat
im Vorfeld der Partei auf eigene Rechnung handeln und die Partei entscheidet, ob und wann er
genügend Vertrauenskapital akkumuliert hat, das sie dann einstreicht.

DER DEUTSCHE GEWERKSCHAFTSBUND:

Jeder weiß, daß die Gewerkschaften schon immer zur Friedensbewegung gehört haben, beson-
ders im August 1914. Daran hat sich nichts geändert, denn die Gewerkschaft weiß, was der
Kapitalismus eigentlich braucht: den freien Welthandel. Und dessen Bedingung ist der Friede.
Indem sich die Gewerkschaft also für den Frieden einsetzt, erkämpft sie gegen die Kapitalisten
die Voraussetzungen des Kapitalismus – und das ist der gemäßigte soziale Fortschritt im Rah-
men der Gesetze, von dem auch die Arbeiter etwas abhaben dürfen. Natürlich geht das nicht
ohne den ,inneren Frieden’.
Wodurch haben die Gewerkschaften bis 1918 den ,inneren Frieden’ bewahren helfen?
Zum Beispiel dadurch, daß sie die Auszahlung von Streikgeldern einstellten und das schöne
Geld an die Kriegerwitwen auszahlten, damit in der Heimat keine Unruhe entstand. Carl Legi-
en, entfernter Amtsvorgänger von Ernst Breit, schrieb 1915 über den gewerkschaftseigenen
Friedensidealismus:

„Was die gewerkschaftlichen Organisationen in der Kriegszeit geleistet haben, geschah nicht mit
Rücksicht auf Dank oder Anerkennung. Es war einfache Pflichterfüllung im Interesse des Ganzen. Ih-
ren Charakter haben sie und brauchen sie nicht zu ändern. Wollte sie diesen aufgeben, so müßten sie
sich selbst aufgeben. (...) (Sie haben daher) die Streikunterstützung während der Kriegszeit aufgeho-
ben und damit bekundet, daß von ihrer Seite eine Störung des Wirtschaftslebens nicht erfolgen soll-
te.“

Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat bereits erkannt, daß Deutschland in einer Vorkriegszeit
sich befindet und beginnt erneut, für die Witwen der Mitglieder zu sparen, um ihnen, in der
Tradition von über hundert Jahren deutscher Arbeiterbewegung, soziale Absicherung zu garan-
tieren. Oder wie sonst ist es zu erklären, daß die Gewerkschaften für die Werftbesetzer in Ham-
burg und Bremen keine müde Mark übrig haben?
Wenn daher Ernst Breit in einem Besinnungsaufsatz über sein Verhältnis zur Frie-
densbewegung schreibt, die „Gewaltfreiheit ist für den DGB ein Prinzip und keine Frage der
Taktik“, so ist ihm unbedingt zu glauben. Denn

„die politische Herausforderung besteht vor allem darin, zu verhindern, daß die Auseinandersetzun-
gen um die Sicherung des militärischen Friedens politischen Unfrieden bis hin zur Anwendung von
Gewalt gegen Personen und Sachen stiften. Die Friedensbewegung wird sich vor allem auch daran
messen lassen müssen, ob sie der Gefahr entgeht, mit den Mitteln, die sie anwendet, ihre Ziele zu ver-
raten.“

Wie es Gewalt gegen Personen ist, Eigentümern ihr Eigentum kurzfristig zu entwenden, so ist
es Gewalt gegen Sachen, mit einer Werft, die Kriegsschiffe produzieren soll, auch einmal et-
was Nützliches herstellen zu wollen. Als legitimer Teil der deutschen Friedensbewegung weiß
der DGB, wie Ziele und Mittel ins rechte Verhältnis zu setzen sind: Nur wer sich immer beim
,Interesse des Ganzen’ aufhält, kann nichts falsch machen.

DIE KIRCHEN:

Wo es ums nur innerweltliche Überleben geht, da können, schon aus Gründen der Konkurrenz,
die Kirchen nicht weit sein. Zwar sind beide Amtskirchen immer noch nicht bereit, die These
aufzugeben, der Friede ließe sich sowohl in der Bundeswehr, als auch mit Kriegsdienstverwei-
gerung anstreben – aber das macht nichts, ist doch die Friedensbewegung schon froh genug,
wenn der Papst (Gott sei Dank?) gegen die nukleare Abtreibung ganzer Völker zu Felde zieht.
Es macht auch nichts, wenn die Amtskirchen ganz undogmatisch über die Bekenntnisse hin-

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weg dem Martin Luther anhängen, der schrieb:

„Aufruhr hat keine Vernunft. (...) Darum ist auch kein Aufruhr recht, wie rechte Sache er immer ha-
ben mag, und folgt allezeit mehr Schadens denn Besserung daraus, damit erfüllt wird das Sprichwort:
Aus Übel wird Ärgeres. Derhalben ist die Obrigkeit und das Schwert eingesetzt, zu strafen die Bösen
und zu schützen die Frommen, daß Aufruhr verhütet werde, wie sagt Sankt Paulus Rom. 13,lff. und 1.
Petr. 2,13f.“

Daher sind die Amtskirchen für die Friedensbewegung und für die Gewaltfreiheit, d.h. für das
unbedingte Staatsmonopol an der Gewalt. Der Staat kann so viele ins Jenseits spedieren, wie er
mag, und verliert doch nicht die Seligkeit, arbeitet er doch, wenn er den inneren Frieden
schützt, in höherem Auftrag. Für gewaltlüsterne Individuen ist anderer Rat und Trost bestimmt.
Die Deutsche Bischofskonferenz verteilt ihn gratis:

„Wenn das Ziel hier, innerhalb der Geschichte liegt, wenn ich es machen kann, dann gibt es keine
letzten Maßstäbe mehr, die mir irgendein Mittel verbieten. Am Anfang der Gewalt steht so immer je-
ne Überheblichkeit des Menschen, der glaubt mit eigener Kraft sein Ziel erreichen zu können. (...)
Solcher Hochmut und solcher Wahn erwecken einen Rausch und eine Radikalität, die vor nichts zu-
rückschrecken.“

Es ist egal, daß diese Warnung vor selbstbestimmter Emanzipation und vor dem Rausch der
Freiheit nicht einer der zahllosen Deklarationen der Amtskirchen zum Frieden entnommen ist,
sondern einer Erklärung über „Die Ursachen des Terrorismus“ von 1978. Tatsächlich trifft sie
auf alle zu, die ihr Schicksal in eigene Hände nehmen wollen. Die Friedensbewegung genießt
das gerechte Vertrauen der Amtskirchen und läßt sie auf eine Heilsarmee ungeahnter Glau-
bensstärke hoffen.

DIE GRÜNEN ...

... sind bekanntlich keine Partei, sondern deren drei. Die Partei von Bhagwan-Bahro produziert
Fundamentalkritik, die die Partei von Bastian, Hasenclever und Kretschmann dringend braucht,
um ihre Realpolitik zu begründen, mit der sie wiederum versucht, die Partei von Ebermann am
Opposition-Treiben zu hindern. Von den Grünen ist wenig mehr zu erwarten als die permanen-
te Veröffentlichung der Widersprüche, die zwischen Friedensbewegung und antimilitaristischer
Opposition notwendig auftreten. Ob die Grünen Teil der Friedensbewegung sind oder nicht, ist
noch nicht endgültig entschieden und hängt unter anderem davon ab, ob sie ihren gewaltfreien
Aktivisten Gerd Bastian, der so gewaltfrei ist wie viele andre Ex-Generäle und sich um die
Würde der noch berufstätigen Kollegen so sorgt, wie es manche Hilfsgemeinschaft auf Gegen-
seitigkeit nicht tut, daran hindert, das Vaterland durch „rein defensive“ Panzerabwehrhub-
schrauber noch besser zu verteidigen.

DIE PARTEIKOMMUNISTEN ...

... haben in Deutschland zum erstenmal seit dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen In-
ternationale von 1935 das Glück, eine richtige Volksfront zu erleben – leider fünfzig Jahre zu
spät und leider die falsche. Die DKP ist der ideelle Gesamtapologet der Friedensbewegung, ist
sie doch der Meinung, niemand bedrohe den Frieden außer den „reaktionärsten, chauvinistisch-
sten, am meisten imperialistischen Elementen des Finanzkapitals“. Imperialistisch, imperiali-
stischer, am imperialistischsten - außer vielleicht fünfzig Leuten an den „Schalthebeln der
Macht“ wollen alle den Frieden, zu dem es ihnen nur an der Einheit als politischem Mittel
fehlt. Als Vertreterin des Kultus der großen Zahl und eines abstrakten Demonstrationsgigan-
tismus lebt sie in der Friedensbewegung im leidlich geduldeten Konkubinat mit Sozialdemo-
kraten und Klerikalen. Ihr Motto: Die Vergangenheit ändert sich ständig, aber die Zukunft
bleibt stets gewiß.

DIE NEUE LINKE ...

... hat es gegeben, als die Menschen noch gute Gründe brauchten, um sich zu politisieren. Sie
ist schon fast zum Märchen geworden und war in dem Augenblick zu Ende, als sich die Men-
schen nicht mehr selbst verändern, sondern selbsterfahren wollten. Bescheidene Reste treiben
in der Friedensbewegung als Latzhosenrevolutionäre ihr Unwesen und fordern so laut persönli-

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che Betroffenheit, daß jeder merkt, wie wenig sie außer einer Politik der ersten Person (Singu-
lar) noch angeht. Obwohl es die NEUE LINKE nicht mehr gibt (ihr Mythos wird mit Hilfe des
„Sozialistischen Büros“ verwaltet), hängt die Zukunft antimilitaristischer Opposition von ihr
ab. Sicher ist nur: Ohne das eine auch nicht das andere.

Volksfront für den Frieden?

Wäre es noch schick, Marcuse zu lesen, um auch mal etwas anderes zu erfahren als immer nur
sich selbst, könnte man die Frage finden:

„Dient nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe, die das Menschengeschlecht auslöschen
könnte, dazu, gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen? Die Anstrengungen,
eine solche Katastrophe zu verhindern, überschatten die Suche nach ihren Ursachen in der gegenwär-
tigen Industriegesellschaft.“

Die Friedensbewegung hat dies negativ beantwortet und könnte nicht einmal mehr die Frage
verstehen. Dem gebannt auf die Bombe fixierten Blick wird die Bombe zum Fetisch, zum
Ding, das scheinoppositionell vergötzt wird. Dieser Fetischismus des Bewußtseins, dem die
Produktion über der Angst vorm Produkt gleichgültig wird, ist das einigende Band zwischen
den so heftig im Streit liegenden Fraktionen der deutschen Volksfront für den Frieden. Verges-
sen, oder besser: Nicht gewußt werden will, daß die Industrie in erster Linie nicht Waffen für
die Kriege produziert, sondern Kriege für den Einsatz der Waffen. Nicht gewußt werden soll,
daß Waffenproduktion die ideale Produktion des Kapitalismus ist: Ökonomisch hat die Bombe
die gleiche Funktion wie eine Frühstückssemmel – ihr Konsum geschieht nur als unmittelbarer
sofortiger Verbrauch, das Bedürfnis wird neu erzeugt im Augenblick seiner Befriedigung.
Angst ist auf widersprüchliche Weise das Einigende der Friedensbewegung. Deren
staatstragender Teil produziert und verteilt, was ihr scheinoppositioneller, bestenfalls regie-
rungsverdrossener Teil als Suchtmittel und letzten Beweis eines ,Hoppla, wir leben noch’-
Gefühls genüßlich verbraucht. So bilden sie im Widerspruch eine unzertrennbare Einheit, eine
Einheit wie die von Lohnarbeit und Kapital, wie die von Verschwender und Wucherer. Man
kann nicht eine Seite aufheben, ohne das gesamte Verhältnis aufzuheben.
Weil sie dem Fetischismus erlegen ist, steht die Friedensbewegung vor der Kaserne,
vor dem großen Fabriktor und will nicht wissen, was drinnen vor sich geht. Ein Nicht-Wissen,
das die Angst vor der Bombe durch aufgeregten Pseudo-Aktivismus und aberwitzige Angst-
triebe sogenannter ‚politischer Phantasie’ folgenreich befestigt.
Nichts unternimmt daher die Friedensbewegung, um die antimilitaristische Soldaten-
bewegung, an deren Ende nicht zufällig ihr eigener Anfang steht, neu zu beleben. Nicht das
geringste tut sie, um den Kadavergehorsam, den widerlichen Drill, die Unterordnung und die
repressiv-schwüle Kameraderie, die in den Kasernen nach wie vor herrschen, und die herrschen
werden, solange Menschen als organisierte Totschlägerbande kaserniert werden, aufzubrechen.
Dies ist alles andere als Zufall, sondern Zeichen – Zeichen dafür, wie eine Friedensbewegung,
die es prima findet, daß pensionierte Generäle entweder das Gewissen plagt oder die „Alterna-
tive Sicherheitspolitik“ mit den herrschenden Verhältnissen ihren Frieden schon gemacht hat.
Wer den Militärapparat nur anders verwenden möchte, wie Gerd Bastian, Horst Afheldt und
Alfred Mechtersheimer, der muß natürlich darauf achten, daß der Apparat intakt bleibt, funk-
tioniert und nicht der Schlendrian einreißt. Der wäre nämlich der Anfang von Wehrkraftzerset-
zung’. Aber was im Strafgesetzbuch steht, ist für eine Bewegung Tabu, die nicht zersetzen,
sondern mit deutschen Menschen Frieden schaffen möchte.
Wie vor der Kaserne, so vor der Fabrik. Hierarchie, Entfremdung, Ausbeutung – das
ist dem neuen Mittelstand kein Thema. Es interessiert ihn nicht, wer ihnen und unter welchen
Bedingungen die Pensionen erarbeitet, solange sie hoffen können, m Frieden sie zu verzehren.
Wo der neue Mittelstand etwas von Ökonomie gehört hat, da gerade so viel, wie im Wirt-
schaftsfeuilleton seines Leib- und Magenblattes „Die Zeit“ zu lesen steht: In der Krise erfordert
das Gemeinwohl das Ende der „Anspruchsinflation“, das Opfer, die Askese gegen’s nur leib-
lich-weltliche Bedürfnis.
Opfer: Wo die Alten noch in Arbeitervierteln Groschen fürs Winterhilfswerk sammel-
ten, da schmücken sich die Jungen zum Zeichen, daß sie auf Neubeginn und Aufruf nur warten,
mit violetten Halstüchern. Rosa Luxemburg ist tot und die Latzhosenrevolutionäre haben sie
noch einmal beerdigt – in Deutschland ist nur die Barbarei fähig zur Wiederkehr.
So ist die deutsche Friedensbewegung nicht nur ein zuverlässiger, weil geistloser An-
zeiger einer sich zum Ende neigenden Vorkriegszeit. Als Menetekel des kommenden Krieges

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ist sie zugleich Element und Motor der sozialpsychologischen Einstimmung der Gesellschaft
auf den Krieg und damit der Herstellung des inneren Friedens als notwendiger Bedingung des
Krieges nach außen. An den skurrilen Formen ihres Pseudo-Aktivismus ist das Voranschreiten
in die Katastrophe ablesbar.
Der Zustand und das Ziel einer Oppositionsbewegung, wenn denn die für den Frieden
als solche durchgehen soll, ist eines der wichtigsten Indizien für den Zustand einer Gesellschaft
und ihrer Tendenzen. In der überreichen Formenvielfalt der Angsttriebe, des verwirrenden
Reichtums der Eingebungen aufgeregter Überlebensphantasie ist deutlicher nichts zu lesen als
der immer unwiderstehlicher werdende Wunsch nach einer
klaren, autoritär gefällten und durchgesetzten, zweifelsfreien Feinderklärung. Nichts
wird die Angst schneller beseitigen als der Feind, wenn er nur feststeht. So war es zwischen
dem 3. und dem 5. August 1914: Schlagartig war die deutsche Gesellschaft auf Jahre thera-
piert. Und man muß nicht erst den überraschenden Erfolg eines geschäftstüchtigen Seelenver-
käufers wie Bhagwan, der Therapie gleich als Lebensform vermarktet, heranziehen, um den
enormen Therapiebedarf der deutschen Seele zu bemerken – ein genauer Blick auf die Frie-
densbewegung genügt. Es wäre nicht ungerecht, wenn einer sagen würde: „Ich bin in der Frie-
densbewegung, weil mir bislang keine Therapie geholfen hat.“
Karl Marx zufolge ist die Kritik der Religion der Anfang aller Kritik. Hier bildet das
in kapitalistischen Zuständen befangene Bewußtsein seine extremste, entfremdetste Form aus.
Von hier müsse – so Marx um 184= - zur Kritik von Staat, Recht und Ökonomie fortgeschrit-
ten werden. Betrachtet man die zunehmende Klerikalisierung der Friedensbewegung, so zeigt
sich, daß noch nicht einmal mit der Kritik der Religion begonnen worden ist.

Oktober 1983

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ISF
Kurzer Lehrgang, langer Marsch
Aus: Initiative Sozialistisches Forum,
Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 265 - 267

„Spare in der Zeit, so hast Du in der Not!“: Von heute her betrachtet entsteht der bestimmte Ver-
dacht, die ganze Studentenbewegung sei nur erfunden worden, um die Wahrheit von Sparkassen-
reklame zu illustrieren. Die Revolte war ein voller Erfolg – vor allem für die ’68er. Daß heute von
ihnen gesprochen wird, wie zu Zeiten der Reichsgründung 1871 von den ’48ern, ist Zeichen ihres
Durchbruchs zum geschützten Markenzeichen, zum Patent. Das Engagement hat sich doppelt und
dreifach gelohnt, und das damals mühsam im ,Kurzen Lehrgang’ zusammengekratzte politische
Kapital zahlt sich nun den Überbleibseln der Bewegung mit dem Zins und Zinseszins der politi-
schen Glaubwürdigkeit heim. Im Rückblick erscheint die Bewegung als ein gewaltiger Intensiv-
kurs im Einmaleins von Public Relations, Kommunikationstechnik und politischem Management.
Was mittlerweile wie von selber läuft, mußte damals mühsam improvisiert werden: Überblick,
Mut zur Lücke und Lust am Risiko waren gefragt, Qualifikationen also, die akademische wie poli-
tische Karrieren begründeten. Wer es in der antiautoritären Bewegung nicht geschafft hatte, das
Mobilisieren und Agitieren aus dem Effeff zu lernen oder, wahlweise, das irgendwie links gemein-
te Begatten wissenschaftlicher Ansätze mit Marxismus als Superwissenschaft zur zweiten Natur
sich zu machen, der hatte in Politik und Wissenschaft schlechte Karten und mußte linker Lehrer
werden. Wer dann auch noch die nächste Gelegenheit verstreichen ließ, wem es nicht gelang, auf
der schiefen Bahn der Neuen Sozialen Bewegungen herunter zur Grünen Partei einen Vorsprung
im Rekrutieren und Politisieren zu ergattern, dem erging es schon schlechter: Die alternative Päd-
agogik war mit Pensionsberechtigten schon überfüllt; die alternative Ökonomie mußte die Ausbeu-
tung selber organisieren.
Wer auf dem Langen Marsch in die Gründung der Anti-Parteien-Partei nicht schlappma-
chen wollte, der mußte zäh sein wie eine Basisgruppensitzung, schnell wie ein Stadtindianer und
hart wie ein Lokalfunktionär vom KBW. Übrig blieb, wer kein Jota an politischer Identität und
vom Lernprozeß nachgab. Die Elite, die nun die Führung übernahm, hatte zur Genüge bewiesen,
daß ihr das politische Erweckungserlebnis von ’68 nicht äußeres Schicksal war, sondern innere
Berufung. Darin kommt die Dialektik des antiautoritären Bewußtseins an ihr logisches Ende: Sie
hat zu einer neuen politischen Unschuld sich vermittelt und tritt nun mit dem naiven Charme un-
mittelbarer Menschenfreundlichkeit auf. Die ,Politik in erster Person’ vollendet sich im Berufspo-
litiker, dem nichts über sich selber geht. Gleichwohl muß ein Rest innerer Distanz vorhanden sein,
eine Art von Lausbubenhumor, der glauben machen soll, die Politik geschähe um höherer Zwecke
willen und sei doch so bierernst nicht gemeint. Unnachahmlich beherrscht diese Kunst wohl nur
Daniel Cohn-Bendit, der süffisant einen anderen Kulturrevolutionär von damals mit der Frage
hätschelt: „Und Du kämpfst nicht mehr gegen den Staat?“, ein „Du“, das auf der Zunge zergeht.
Der Befragte, Jerry Rubin, Autor des Revolt-Bestsellers „Do it“, muß mit der Wahrheit herausrük-
ken: „Nein, nicht mehr. Das hat sich erübrigt, das ist der verkehrte Kampf. Der Staat, das muß ich
jetzt selber werden, natürlich nicht ich persönlich: wir alle. Alle aus der 60er-Generation, die heute
die Massen der 80er Jahre ausmachen. Die beste und einzige Weise, heute den Staat zu bekämpfen,
ist, sich an seine Stelle zu setzen. Und wir sind zahlreich genug, wir, die Bänker, Ärzte, Zahnärzte,
Unternehmer – der Staat, das sind wir. Warum soll man denn gegen sich selbst kämpfen?“ Darin
besteht die Kunst der politischen Kommunikation: Das Programm der zur Partei erhobenen katho-
lischen Landjugend, der man selber anhängt, aus anderen herauszukitzeln, ohne selber dafür haft-
bar gemacht werden zu können.
Der antiautoritär geschulte moderne Berufspolitiker hat gelernt, eine klare Massenlinie
durchzuhalten und sich doch nie unwiderruflich festzulegen. Er ist flexibel, weiß zwischen Stand-
bein und Spielbein zu unterscheiden und läßt sich nie auf dem falschen Fuß erwischen. Wahlweise
spielt er die Ansprüche von früher gegen die grüne Wirklichkeit von heute aus und dann wieder
die Partei gegen die Bewegung. Er selber etabliert sich so als die allumfassende Vermittlung, die,
kraft der Spontaneität seiner Person, die Extreme zusammenhält. Auf Widersprüche kommt es ihm
dabei nicht an, denn seine Biographie hält den ganzen Kladderadatsch zusammen, fügt es zur Iden-
tität. 1968 war man gegen die Notstandsgesetze und denunzierte den Staat als faschistisch, heute
bastelt man an Gesetzesentwürfen und lobt den Parlamentarismus über den grünen Klee. Aber nur
unter Vorbehalten, natürlich. So meint ein grüner Fraktionssprecher im bayrischen Landtag:
„Schließt man eine revolutionäre Veränderung in mittelfristiger Zeitplanung aus, werden wir uns
auch über die Zeitperspektive, die wir uns angesichts der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen
einräumen können, Gedanken machen.“ „Man“ schließt aus und „wir“ machen uns Gedanken.
2

Zum Beispiel darüber: „Wir haben keinen Anlaß, über die Defizite staatlichen Handelns und die
Korruptheit der Regierenden hinwegzusehen. (...) Es hieße aber das Kind mit dem Bade ausschüt-
ten, wollte man aus diesem Grunde in der heutigen Zeit den Staat als solchen total ablehnen.“ Bei
aller Kritik im einzelnen – in bezug aufs Ganze muß es doch konstruktiv und pragmatisch herge-
hen. Erst durch Kritik erhält das Mitmachen um jeden Preis seine höheren Weihen. Der politisie-
rende Narzißmus begreift den ,Staat als solchen’ als überdimensioniertes Ich, als die Idee und das
Wesen der Wirklichkeit. Abstrahiert von Macht und Herrschaft, erscheint der Staat als Leviathan,
als Zusammensetzung von Menschen und als nichts als die reine Kommunikation. Staat tritt auf als
menschliches Netzwerk. In der Vorstellung vom ,Staat als solchem’ resümiert sich der Begriff des
politischen Fortschritts als Herrschaft der total werdenden Abstraktion. Das berühmte Diktum
„Der Staat bin ich“ des Ludwig XIV. wird auf höherer Ebene wieder wahrgemacht, eine Bewe-
gung negativer Dialektik, die im nachhinein die bürgerlichen Revolutionen als unnötige Aufre-
gung und viel Geschrei um nichts denunziert. Der Absolutismus von einst wird als kollektiver
Narzißmus, als Psychokratie und Selbstverwaltung der Subalternen reproduziert. Die gelernte
Seelenentsorgerin Antje Vollmer hat im Namen der Erben von ‘68 das Resümee dieser Entwick-
lung gezogen. Im Bundestag führte sie aus, „der Staat (sei) nämlich nichts von den Individuen
Abgehobenes, ein kollektives Grundböses, sondern der Staat sind wir“.
Nach zwanzig Jahren ‘68 haben die antiautoritären Jugendsünden von einst zum demo-
kratischen Altersstarrsinn von heute sich versteinert. Die Erben werden über alles mit sich reden
lassen, weil sie nicht vorhaben, irgendetwas anderes als immer nur sich selbst begreifen zu wollen.
Ihr Wille zur Macht, den die Protestbewegung noch in der Nörgelfrage nach dem „Was tun?“ sich
geheimhalten mußte, hat zur Wiedervereinigung mit Deutschland beigetragen. Zwanzig Jahre 68
sind schon einen Sedanstag wert.

März 1988
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Initiative Sozialistisches Forum


Die Zukunft der SDS-Veteranen
Ein Offenes Wort an den „Prima Klima“-Kongreß, Frankfurt, im November 1986

Aus:
ISF, Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution.
Analysen und Polemiken,
Freiburg: ça ira 1990, S. 268 – 278

„Ach, zum Ziele kam, was nie gestartet.


Aber war es so nicht überhaupt?“

Ein Spießer, wer immer nur bierernst herumläuft! Spaß muß sein! Erst recht dann, wenn die
Sache, um die es doch geht, alle Argumente der Moral für sich in Anspruch nimmt. Wer auch
einmal über sich zu lachen versteht, der wirkt auf Anhieb sympathisch und gilt als netter Kerl.
Gerät die Selbstbespöttelung jedoch zum Dauerzustand, so drängt sich die Vermutung auf, sie
sei nur eine besonders ausgefuchste Variante von Reklame; Werbung also, die augenzwinkernd
ihr Interesse durchblicken läßt und dem Kunden neben dem Glück des Verbrauchs die Freude
gleich mitliefert, den Verkäufer durchschaut zu haben.
Verhärtet sich der ironische Kampf wider den tierischen Ernst zur zweiten Natur,
dann liegt gar der Verdacht nahe, das narzistische Amüsement solle nur verbergen, daß längst
keiner mehr weiß und keiner mehr wissen will, was einmal zum Gelächter den Anlaß gab. Euer
Kongreß, öffentlich als SDS-Veteranentreffen ausgelobt, lädt zum Sarkasmus ein. Euer Aufruf
„An die Teilnehmer des Marsches durch die Institutionen“1 macht dem Düsseldorfer
Kom(m)ödchen glatt Konkurrenz.
Gleichwohl: Eure Versammlung als Veteranentreff abzutun – das ginge Euch auf den
Leim. Provoziert doch Euer Aufruf Sarkasmus nur, um den Kritiker als rabiaten, ums Vergnü-
gen geprellten Konsumenten abschütteln zu können. Schließlich ist – und da habt Ihr ganz
recht – selber schuld, wer auf Reklame noch hereinfällt. Wer sich darüber aufregen mag, der ist
selber ein Veteran. Bloße Manöverkritik ist die beste Methode, am Mythos zu polieren. Die
Kritik also, Ihr hättet Eure Sedansfeier unwürdig inszeniert, fällt auf Euch herein. Es mag zwar
schwerfallen, den Kongreßtitel „Prima Klima“ nicht zum Anlaß eines ebenso herzhaften wie
gehässigen Gelächters herhalten zu lassen. Aber es gibt doch Grund genug, jener Sache nach-
zuforschen, deren Verlust Euch noch nicht einmal so traurig werden ließ, daß Euch die Phrasen
von der ,Utopie’ und der politischen Identität’ endlich nicht mehr über die Lippen kämen.
Helmut Schauer, offenkundig der Spiritus rector dieser Versammlung, hat sich die
Mühe gemacht, diese Arbeit zu unterstützen. Sein Artikel „Linke Politik – linke Bewegungen:
Nichts geht mehr?“2 versammelt in wahrhaft beeindruckender Weise all die Fetische, denen Ihr
– ob nostalgisch, ob sarkastisch oder ironisch – immer noch anhängt; Götzen, um die Ihr her-
umscharwenzelt wie ums goldene Kalb: Ohne also zu bemerken, daß Ihr eine Sorte Politik
anhimmelt, die den Kehricht der Geschichte darstellt. Eure ‚politische Identität’ gibt Euch ein,
den Sinnstifter und Heilsbringer zu spielen – aber Ihr seid nur Leichenfledderer, die das Tote
nicht begraben sein lassen können.
Aber der Reihe nach. Beginnen wir mit einem heiklen Punkt nicht nur in Schauers Ar-
tikel, sondern in Eurer (und unserer) Geschichte:
Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, sich des Kampfes und der Gedanken
Verstorbener zu vergewissern. Aber beim Erinnern und Innehalten macht mehr noch als an-
derswo der Ton die Musik. Schauers Gedenkrede für Fritz Lamm und Henry Jakobi verschlägt
es vor Bewunderung fast die Sprache: Die Rede ist von „beispielhafter Solidarität“, „heroi-

1
Vgl. den Protokollband von Helmut Schauer (Hg.); Prima Klima. Wider den Zeitgeist: Erste gnadenlose
Generaldebatte zur endgültigen Klärung aller unzeitgemäßen Fragen (21.-23.11.1986 in Frank-
furt/Main), Hamburg 1987. – Schon die gewollte Nähe zur Sprechblasensprache der gängigen „Marx für
Anfänger“-Comics, verrät, welches Klima in Frankfurt aufgezogen war: Schon wieder der Zeitgeist, der,
das wußte Goethe im Gegensatz zu Schauer, „der Herren eigener Geist“ ist. (Faust)
2
Sozialismus; H.9/1986

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schem Opfer“, „ungebrochener politischer Widerstandskraft“, „Bewahrung politischer Traditi-


on“ und dergleichen mehr. Davon, was derlei soldatische Ideale schon angerichtet haben, ist
ebensowenig die Rede wie davon, ob es legitim ist, die Not Fritz Lamms zur Tugend einer
irgendwie erneuerten Linken aufzuwerten. Kommt es nicht, heute zumindest, viel eher auf
Subversivität als auf Opferbereitschaft an, geht es nicht um Kritik statt um bedingungslose
Solidarität, wäre nicht taktischer Rückzug anstelle eines hohlen Widerstandspathos ange-
bracht? Kommt es wirklich darauf an, den Wahn von der ‚politischen Identität’ wahrzumachen
oder nicht vielmehr darauf, diese Identität zu kritisieren? Wenn Lamm und Jacobi als Beispiele
für kritisches Engagement vorgestellt werden, dann muß zumindest gefragt werden, ob sie ein
Beispiel geben oder Revolution machen wollten. Das sind nämlich zwei Paar Stiefel. Schauer
entscheidet sich fürs erste, greift in pastorale Stimmlagen und stiftet Symbole zur gefälligen
Identifikation. Wir erinnern uns noch gut an die emphatische Geste Rudi Dutschkes am Grab
von Holger Meins: „Holger, der Kampf geht weiter!“ Alle waren zutiefst ergriffen, gerührt und
vom politisch-moralischen Gehalt des Symbols fest überzeugt. Aber spätestens der ,Deutsche
Herbst’ 1977 zeigte, wie leer der Gehalt der Geste (getrennt marschieren, vereint schlagen)
war. Zeit wird es daher, mit der Einsicht ernst zu machen, daß der Symbolismus die Kritik
erschlägt, daß Symbole – auf eine mal mehr, mal weniger plumpe Weise – emotionale Vehikel
sind. Praktisch, schon durch seinen inflationären Gebrauch, gesteht der Symbolismus jenen
Tatbestand ein, an dem er leidet: Daß es außer dem psychischen Mehrwert, der aus der Funk-
tionalisierung der Toten erwachsen soll, weiter keine Gründe mehr zu geben scheint, gegen die
bürgerliche Gesellschaft sich stark zu machen.
Aber Schauer greift nicht zum Pathos als einem Notnagel seiner politischen Ratlosig-
keit. Das Symbol ist nicht der Notausgang, sondern der rote Teppich seines Denkens: „Wir
sind Zeugen eines gewaltigen Kulturkampfes auf Leben und Tod, und die sozialistische Linke
steht ziemlich ratlos da.“ Nachdem er dargestellt hat, was ihm an den Apokalyptikern aufstößt:
Sie hätten keine Hoffnung (was aber historisch wie aktuell daneben liegt, denn ihre Hoffnung
ist eben: der Untergang), strapaziert er selber die Metapher vom Untergang. Die Hölle wird in
den düstersten Farben gemalt, damit der Himmel der Utopie im schönsten Sonnenschein
strahlt. Das Gerede von der kommenden Katastrophe soll nur als Lustverstärker dazu dienen,
die verrammelten Türen der Utopie aufzusprengen. Bleibt nur zu hoffen, daß die Besucher
dieses Kongresses mittlerweile Ideologiekritik genug getrieben haben, um unmittelbar einzuse-
hen, woher die Phrase vom endgültigen „Kulturkampf auf Leben und Tod“ kommt: Aus genau
der Lebensphilosophie, die nicht beerbt, sondern als in der Luft liegende Seinsbestimmung
zum Opfer, zum Dienst und zur Hingabe, kritisiert gehört.
Fahren wir fort: Was für einen Vorschlag hat Schauer zu machen? Wie kann die Linke
das letzte Gefecht auf Leben und Tod für sich entscheiden? Wie vermag sie ihrer „identitätsbe-
drohenden“ Krise zu entkommen? Mit dem nervtötenden nun schon Jahre dauernden Gerede
von der ,Krise des Marxismus’ braucht man sich nicht aufzuhalten. Der Marxismus ist nämlich
keine ,Theorie der kapitalistischen Entwicklung’ und braucht daher nicht, was einmal Eure
liebste philosophische Betätigung war, Rekonstruiert’ zu werden. Er leistet ganz einfach Kritik
und ist daher so lange ,in der Krise’, solange das Kapital noch der Motor der gesellschaftlichen
Reproduktion ist. Ist das Kapital nicht mehr dieser Motor, dann mag der Sozialismus zwar
gesiegt haben, der ,Marxismus’ jedoch ist schlicht überflüssig und braucht keinen mehr die
schlaflosen Nächte seines Studiums zu kosten. Es liegt in der paradoxen Dialektik des Mar-
xismus, zuerst in der Krise und danach unnütz zu sein. Wer das nicht so sehen mag, der hat den
Marxismus auf eine identitätsfördernde Weltanschauung heruntergebracht und, aus unerfindli-
chen Gründen, den Kathedersozialismus der kathedralen Seinsmetaphysik vorgezogen.
Was also tun? Schauer zufolge muß die Linke ihren „Gedächtnisverlust“ bekämpfen,
um zu klarem Verstand zu kommen. Es gehe um die „Verteidigung der linken Tradition“, de-
ren Zentrum und „Focus“ Rosa Luxemburg sei. In der Erinnerung an Luxemburg vermag der
„revolutionäre Geist“ zu erscheinen und aufständisches Fleisch zu werden. Der Gedanke ist so
plausibel wie er sinnlos ist und so sinnig wie das, was Schauer seit ’68 betrieben hat: Nämlich
in irgendwelchen Gewerkschaftsgremien den Mund sich fusselig zu reden. Und er ist so sinn-
los, wie die bedeutungslose Identifikation der studentenbewegten Linken mit irgendeiner histo-
rischen Fraktion sozialistischer Politik. Warum ausgerechnet Luxemburg pur als Medizin in
der Krise? Haben uns Bakunin, Pannekoek, Korsch nichts zu sagen? Gibt es an Leo Trotzki gar
nichts zu erben? Und Marx: Wurde da nicht allerhand ,überlesen’? Und gar Adorno: Soll der
wirklich nur der Karrierefußschemel von Habermas gewesen sein? Und schließlich: Wenn es
wirklich um „Leben und Tod“ geht – warum nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben?
Warum also nicht Stalin als einer, der in Sachen Öko- und Überlebensdiktatur einiges zu sagen

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hat?
Unbekümmert löffelt Schauer ein Süppchen, das längst angebrannt ist. Von den Klas-
sikern wäre allerhand zu lernen – nur was vernünftigerweise an ihnen gelernt werden kann,
vermag durch keine noch so freundliche Identifikation bestimmt werden. Was wir aus der Ge-
schichte des SDS lernen, ist die Erkenntnis der Sinnlosigkeit der Anstrengung, Tradition zur
Gegenwart verlängern zu wollen; die Überflüssigkeit des Unterfangens, mit Gründen der Ge-
schichte aktuelle Gegner überzeugen oder gar „erledigen“ (Marx) zu können. Es ist das alte
Lied: Jeder Einzelne weiß von sich um die Unvernunft solcher Identifikation, aber im Kollektiv
wird der Einzelne nicht klüger, sondern dümmer und will das Kollektiv, das von seinem Ent-
schlüsse, es zu konstituieren, allein abhängt, als eine selbständige Macht über sich installieren,
als ein Wesen, das in sich selbst ruht und die Einzelnen teilhaben läßt. Das darin steckende
Selbstmißtrauen des Einzelnen, sein diskreter Argwohn und sein Verdacht, zum Engagement
bestimmten ihn andere als vernünftige Gründe, sollen durch die Tradition beschwichtigt und
verharmlost, nicht aber aufgeklärt werden.
„Tradition“, schreibt Schauer, müsse „gebildet“ werden. Aber jeder weiß, daß der
Versuch, Tradition zum Gegenstand politischer Technik und Manipulation zu machen, im
offenen Wahn endet. Schalmeienkapelle und ,Roter Wedding’, Junge Pioniere, Mao-Poster und
,Rot-Front’ – ist es das, was Euch fehlt? Wer Tradition zur Propagandawissenschaft erheben
will, der öffnet dem Realitätsverlust Tür und Tor, der gesteht ein, das er mitschuldig ist an den
Schimären der absoluten Ohnmacht à la RAF. Euer Aufruf lädt dazu ein, die Schlechten ins
Kröpfchen und die Guten ins Köpfchen zu stecken: Es soll die Frage besprochen werden, „von
welchen Traditionen wir Abschied nehmen müssen“. Es soll diskutiert werden, wie Ihr noch
einen „Beitrag zur politischen Kultur liefern“ könnt, der die „Tradition bewahrt und kritisch
erneuert“. Kultur! Kultur! Ihr habt wohl zuviel Habermas und Weizsäcker gelesen, Euer Ge-
dächtnisverlust fängt da schon an, wo Ihr mit dem Passepartout politische Kultur den Skandal
dessen zukleistert, was Ihr früher als bürgerliche Öffentlichkeit denunzieren wolltet. Ihr wollt
gar einen „Beitrag“ zu dieser Kultur leisten – und habt damit schon durchblicken lassen, die
Konservativen würfen Euch nur allzurecht Euern ,freischwebenden Status’, Eure
,Wurzellosigkeit' und ,Abstraktheit’ vor. Die Sucht, in eine lebendige „Tradition“ Euch einzu-
ordnen, gibt noch Euren ärgsten Kritikern recht: Was sie Euch ankreiden wollen, das empfindet
Ihr gehorsamst als einen wirklichen Mangel.
Per aspera ad astra! Wo derart leidenschaftlich in Gräbern gefahndet wird, da darf der
Doppelgänger der Tradition, die Hoffnung, nicht fehlen. Hoffnung aber ist kein ,Prinzip’ oder
sie ist nicht Hoffnung, sondern notorische Hofferei. Hoffnung (ob nun als ,konkrete’ plakatiert
oder nicht) verlängert den identitätsstiftenden Symbolismus ins Zukünftige. Was gestern rich-
tig war, das kann heute nicht falsch sein; abermals soll einer politischen Orientierung, die sich
zwar auf Ressentiment, nicht aber auf die Gegenwart der Vernunft beziehen kann, der Marsch
geblasen werden. Wie Ihr mit Tradition umspringt, so auch mit Hoffnung: Wie der Gestalter
eines Kaufhausschaufensters, der weiß, wo den potentiellen Kunden das Bedürfnis drückt. Die
besten Seiten werden ins Licht gerückt, damit dem Kunden das Wasser im Munde zusammen-
läuft und er so spontan zur Börse greift wie dem Pawlowschen Hund der Speichel fließt. Es
mag Euer Geheimnis bleiben, warum Eure Podiumsdiskussion zum Thema „Ende der Uto-
pie?“ ausgerechnet von Leuten vorbereitet wird, die in Wort und Tat beweisen, daß sie Hoff-
nung übergenug haben. Hauptsache Warenhaus; dazu vermögen auch Tilman Fichter, der seine
Utopie in den neuen SPD-Grundsatzprogrammentwurf hat einarbeiten dürfen, oder Antje Voll-
mer, die für Bloch die Pastoralstimme hat, beizutragen. Nehmt nicht übel – aber im Vergleich
mit der unter Euch grassierenden Hoffnungsmanie mutet der treudumme Glaube der verbliche-
nen Marxorthodoxie an den unausweichlichen Übergang ins sozialistische Paradies geradezu
vernünftig an. Ihr mißbraucht die Utopie, um Euch im Dunkeln heimzuleuchten: Schauer zitiert
dazu einen Gewerkschaftskollegen: „Wer das Ziel nicht sucht, muß auch den Weg nicht fin-
den.“ Und zitiert obendrein noch Michael Schneider mit dem Satz: „Nur wer ohne Hoffnung
lebt, lebt angenehm.“ Was um Marxens Willen haben Schauer & Co. eigentlich gegen das
angenehme Leben? Außer, das es den Sinn für’s Höhere verdirbt? In der Polemik gegen das
angenehme Leben steckt die durchaus religiöse Botschaft, daß, wer das Gute, wer den Sozia-
lismus will, allererst durch die Bereitschaft zum Opfer unter Beweis zu stellen hat, daß er des
Sozialismus auch würdig ist.
Der nähere Sinn des geforderten Opfers ist – und da nimmt der Gewerkschaftssekretär
Schauer allen Mut zusammen – die Revolution; Umsturz von Staat und Ökonomie zur Errich-
tung einer Gesellschaft, die sich getreu dem Prinzip ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten – jedem
nach seinen Bedürfnissen’ organisiert. Revolution fordert der Gewerkschaftsfunktionär u.a.

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gegen seinen eigenen Verein, hat der doch ,gleichen Lohn für gleiche Leistung’ auf sein Panier
gesetzt. Man darf gespannt sein: Das Ziel, die Revolution, ist definiert – und damit auch der
Weg, „die Erneuerung des sozialistischen Programms“. Dieser Vorschlag ist zwar nicht beson-
ders originell, was nichts macht, denn auf Originalität kommt es durchaus nicht mehr an. Was
Schauer und der „Aufruf“ in puncto „Erneuerung des sozialistischen Programms“ aber zu sa-
gen haben, ist aber genau in dem Maße wahr und richtig, wie es in der Natur jedes Gemein-
platzes liegt, immer wahr und immer richtig zu sein.
Hatte Schauer, der kommunistischen Maxime zum Trotz, schon die Gewerkschaftskri-
tik unterschlagen, so erspart er sich nun, in der Annäherung an’s „sozialistische Programm“,
gleich noch die Staatskritik. Er fragt, „inwieweit fordern die Möglichkeiten und alsbald auch
die Wirklichkeit der Informationsnetze demokratische Planung, womöglich in konkreten Ge-
brauchswerten, heraus?“ Eine ziemlich spannende Frage, womöglich. Aber noch spannender
die Frage, ob zur „Verwirklichung dieser Möglichkeit“ die Mühen der Revolution auf sich
genommen werden müssen oder ob es nicht genügen würde, die in Frankfurt rundumerneuerten
sozialistischen Programmatiker zur Erfindung neuer Computer und zur Beschleunigung des
technologischen Fortschritts anzuhalten: „Ein wirklich neuer technischer Schritt ist mehr wert
als zehn sozialistische Programme!“ Wozu also noch Revolution, wenn es wieder der Kapita-
lismus selber sein soll, der das sozialistische Programm erfüllt? Tatsächlich: Schauers Revolu-
tion ist etwa so sinnig wie eine Massendemonstration zur Herbeiführung der nächsten Sonnen-
finsternis. Und dann noch „demokratische Planung“, zudem, als besonderes Bonbon, in „kon-
kreten Gebrauchswerten“! Was mag das wohl bedeuten? Wie anders soll „demokratische Pla-
nung“ möglich sein als im Wege der Abstraktion von den konkreten Fähigkeiten und Bedürf-
nissen der Individuen? Was anders heißt „demokratische Planung“ als staatliche Verwaltung,
als Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit? Wie kommen im sozialistischen Weltbild
Schauers die Mehrheiten dazu, von den konkreten Bedürfnissen der Minderheiten abzusehen
und sich dazu legitimatorisch auf den demokratischen Formalismus zu berufen? Hat Schauer
etwa – aller „Staatsableitung der 68er Bewegung zum Trotz“ – noch immer nicht begriffen,
daß Demokratie eine Staatsform3 darstellt?
„Lange Haare – kurzer Verstand“, hatte man der Studentenbewegung von Rechts ent-
gegengepöbelt. Die Haare sind, nicht nur aus Gründen der Mode, gefallen. Zum Ausgleich ist
der Verstand geschrumpft. Schauer führt exemplarisch das vor, was der linke Intellektuelle
partout nicht lassen mag. Was Oskar nicht gelernt hat, lernt Helmut nimmermehr: Der linke
Intellektuelle kann und will sich anders denn als Vermittler nicht begreifen. Beliebige Ziele
vermittelt er umstandslos mit jedem Weg, jeder Theorie wird zu einer Praxis verholten, in jeder
noch so phantastischen Idee erkennt er verlockende Möglichkeiten. Es gehört zu seiner Kunst
als Vermittler, allen Anschein der Mühe um die sozialistische Sache zu erwecken, aber nur, um
sich die Arbeit der Kritik zu ersparen. Erinnert schon der „Aufruf“ von ferne an den Prospekt
einer ökologisch-alternativen Encounter-Gruppe, so stellt Schauer das Wesen intellektueller
Vermittlung näher wie folgt fest: Der Würzburger Umwelttag habe ihm die „eindrucksvolle
Substanz umweltpolitischer Aktivitäten demonstriert“. An dieser „Substanz“ zu bemängeln sei
nur, daß sie „eine diffuse Mischung (?) fundamentalistischer, moralischer und pragmatisch-
naturwissenschaftlicher Positionen (darstelle), während die Ansätze zur Selbstreflexion der
gesellschaftlichen Durchsetzungsbedingungen der proklamierten Ziele schmal (seien).“
Obwohl Schauer an der ökologischen „Substanz“ zu bekritteln weiß, sie sei in Wahr-
heit eine ziemlich trübe „Mischung“, kritisiert er die „Substanz“ überhaupt nicht und weist nur
mit der gönnerhaften Miene des Polit-Strategen darauf hin, das trübe Wesen reflektiere nicht
genügend darüber, wie es seinem Unwesen zur Erscheinung verhelfen kann. Statt heilfroh
darüber zu sein, daß den Umweltschützern zur Realisierung ihres Wahns, der Mensch sei der
Schädling, die praktischen Mittel einstweilen noch fehlen, macht der linke Intellektuelle die
Leute noch darauf aufmerksam, sie hätten sich nicht genug Gedanken um’s probate Unkraut-
Ex gemacht.

3
Vgl. Karl Marx; Kritische Randglossen zum ,Artikel eines Preußen’, in: MEW l, S.401. Weiterhin:
Johannes Agnoli; Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik, Frei-
burg (ça ira Verl.) 1990. Agnoli war schon während der Vorbereitungsphase dieses „SDS-
Veteranenkongresses“ (Badische Zeitung v. 26.11.86) der große Abwesende und der Buhmann. Wer an
der radikalen Vernunft festhält, muß sich von den Verwaltern des Mythos den Vorwurf gefallen lassen, er
sei, eben deshalb, anarchistisch – die .Veteranen’ sprangen mit Agnoli um, wie sie es, unter der Ägide
von Habermas, mit Adorno schon lange tun: Wer sich nicht mit allen anderen doch noch vom Schlechten
überzeugen läßt, erleidet die Rache der ‚Verführten’. Siehe z.B.: Gewaltmonopol und Demokratie. Ein
Gespräch mit Ulrich K. Preuß und Otto Schily, in: Freibeuter Nr. 28/1986, S.47 ff. (Vgl. auch Fn. 5).

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Stocksauer wird der linke Intellektuelle, macht man ihn darauf aufmerksam, er ge-
brauche seinen Kopf und den gesamten Apparat des begrifflichen Denkens nur dazu, das ideell
zu verdoppeln, was das Geld in der Ökonomie praktisch vollzieht. Wie das Geld aus jedem
Gebrauchswert den inwendigen Wert als die Abstraktion vom Gebrauchswert herausspringen
läßt, so sprengt der linke Theoretiker aus jeder x-beliebigen Praxis, sofern sie nur gut gemeint
ist, das allgemeine Ideal, den Fortschritt, die Humanität als das eigentliche Anliegen dieser
Praxis heraus – mag sie selbst auch nichts davon wissen. Die Reduktion der nur in Beziehung
auf konkrete Bedürfnisse bestimmbaren Gebrauchswerte auf ein praktisch in den Gebrauchs-
wert hineingepreßtes, abstraktes und gleiches Maß, die das Geld an den Dingen wenn nicht
vollzieht, so doch zum Ausdruck bringt – diese Reduktion verdoppelt der linke Intellektuelle
im Bereich der gesellschaftlichen Praxis und ihrer Ideologien. Aus der theoretischen Redukti-
on, im geisterseherischen Blick aufs unmittelbare Wesen bekennt er seinen Zweck: Es geht ihm
um die Verwirklichung allgemeiner Ideale, um allseits geteilte Werte, um die hehre Moral.
Demokratie steht als Ideal gegen ihre praktische Verfassung, Kritik kehrt sich im Namen höhe-
rer und wahrerer Allgemeinheit gegen die schnöde Wirklichkeit. Dem linken Theoretiker ist es
um die Vermittlung von Idee und Wirklichkeit zu tun – gerade so, als sei die Trennung von Idee
und Wirklichkeit etwas anderes als die dialektische Form ihrer praktischen Einheit in der kapi-
talistischen Gesellschaft. Die Differenz von Theorie und Praxis, von Idee und Wirklichkeit, ist
die praktische Form ihrer Identität. Es kommt also nicht darauf an, Theorie und Praxis zu ver-
mitteln, sondern ihre Identität gesellschaftlich, d.h. revolutionär zu sprengen. Oder, wo dies
einstweilen und ,mangels Masse’ nicht gehen mag, diese Identität zu kritisieren.
Umständlich begründet der linke Theoretiker nur, was alle sowieso schon wollen.
Darin gleicht er einem Gärtner, der bei strömendem Regen Blumen gießt. Seinen ganzen Ehr-
geiz setzt er darein, das real schon vermittelte noch einmal zu vermitteln. Es will ihm nicht in
den Kopf, daß das Ergebnis dieser Tätigkeit nur die Produktion neuer Fetische sein kann. Um-
standslos schließt er von der Intention, von seinem „revolutionären Geist“, aufs Resultat und
bestärkt so ungefragt die wirkliche Geistlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft.
Das Programm des Kongresses ist ein beredtes Zeugnis dieses Vermittlungswahns:
Ein Sammelsurium linker Prominenz, das seit Jahren mit der Frage „Ende der Utopie?“ von
Podium zu Podium hechelt und selten mehr zu sagen wußte, als zur weiteren Fahndung nach
der Utopie aufzufordern. Wieso ihnen die Potenz zugetraut wird, sie könnten ihre Vermitt-
lungsbemühungen abermals aneinander begatten, bleibt zwar schleierhaft – das Ergebnis ihres
ehrlichen Willens jedenfalls wird dann am Sonntag ab 10 Uhr zu bewundern sein. Dabei steht
das Ergebnis jetzt schon fest: Es ist die Frage „Kann es einen neuen Sozialismus geben? Was
kommt nach dem traditionellen Konzept?“ Im Ergebnis wird der Kongress so ziemlich alles in
Frage dargestellt haben außer der Notwendigkeit, Theorie und Praxis zu vermitteln.
Aber genug damit. Werden wir positiv: Wäre es nicht eine gute Idee, wenn sich die
hier Versammelten irgendwann zwischen dem „Ende der Utopie?“ und der „Zukunft des Kapi-
talismus!“ die Zeit nähmen, (noch) einmal über das Problem der Vermittlung nachzudenken?
Und wäre es nicht eine noch bessere Idee, wenn die hier Versammelten zu diesem Zweck ihr
Schielen auf die ,breite Öffentlichkeit’, die Beteuerung ihrer ,Betroffenheit’ sowieso und den
Wunsch, zwischen großer Politik und Alltagsleben eine Brücke zu bauen erst recht, einmal
beiseite ließen? Wozu natürlich auch gehören würde, die ,Massen’, die ,Arbeiterklasse’, und,
wie es so anheimelnd heißt, die ,Neuen sozialen Bewegungen’ erst einmal sein zu lassen, was
sie eben heute sind: das bloße Objekt der durch Eure bisherige Politik nur verdoppelten Selbst-
vermittlung der kapitalistischen Reproduktion. Es mag die eine oder der andere unter Euch
sein, die oder der sich dann eines Marxschen Diktums erinnert, das in etwa so lautet: Aufgabe
des Intellektuellen kann es nicht sein, den Menschen beizubringen, was sie zu tun oder zu las-
sen haben, Aufgabe des Intellektuellen kann es nur sein, den Menschen zu zeigen, was sie zu
tun gezwungen sein werden, wenn sie nicht mehr wollen, daß die ganze alte Scheiße so weiter-
geht.4 Aufgabe wäre es also, das bißchen Zeit, das die Gesellschaft, unfreiwillig, für die Arbeit
des kritischen Denkens übrig gelassen hat, dazu zu nutzen, der Gesellschaft ohne Rücksicht auf
standpunktlogische Parteilichkeit oder praktischen Nutzen ihre Melodie vorzuspielen.
Und warum eigentlich nicht dort ,anknüpfen’, wo Ihr schon einmal angefangen hattet?
Zur Erinnerung: Bei einigen unter Euch hatte es angefangen mit der Lektüre von Johannes
Agnolis und Peter Brückners „Transformation der Demokratie“. Aufregen wollen wir uns nicht
darüber, daß der Bote zwanzig Jahre später, bei Eurem letztjährigen Treffen in Berlin, für die

4
Dies ist der kategorische Imperativ der Intellektuellen.

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Botschaft verantwortlich gemacht und übelst denunziert werden konnte.5 Aber vielleicht mag
bei dieser Erinnerung doch die eine oder der andere einsehen, daß es nicht unsere Aufgabe sein
kann, unsere Zeit damit zu verschwenden, Hoffnung wie Konfetti unters Volk zu streuen, den
Leuten die Psyche mit politischer Identität’ zu möblieren und den Menschen gottgefällige Iden-
tifikation zu ermöglichen. Daß es also nicht unsere Arbeit sein kann, einerseits den politischen
Subjektivismus im Namen der ,Betroffenheit’ zu organisieren und dann zum Ausgleich und
andererseits die ,unwissenden Massen’ an den objektiven Idealen linker Intelligenz teilhaben zu
lassen.6
Aufgabe des Intellektuellen ist es, die Wahrheit zu sagen – und die Wahrheit nicht als
eine positive, die man glauben mag oder auch nicht, sondern als die traurige und negative, die
sie nun einmal ist: Diese Wahrheit ist unter anderem die, daß Vermittlung immer eine durch
das Kapital hindurch ist. Zwingend folgt daraus, daß dieser Tatbestand nicht zu theoretisieren,
sondern zu kritisieren ist. Es folgt weiter, daß die Verhältnisse, unter denen der Mensch ein
geknechtetes und ausgebeutetes Wesen ist, nur durch die Revolution zu beseitigen sind. Es
folgt überdies, daß, solange die Individuen keine Anstalten dazu machen, diesen Akt aus ihrem
eigenen freien Willen zu vollziehen, keine noch so ausgebuffte revolutionäre Pädagogik, hieße
sie nun Übergangsprogramm, radikaler Reformismus, Ökologie oder sonstwie, diese Individu-
en dazu verführen kann, praktisch zu werden. Der Sozialismus ist keine Taktik und die Revolu-
tion ist keine Salami. Dies mag traurig sein. Aber die Trauer darüber, daß das Richtige nicht
und noch nicht gehen mag, ist noch lange keine Ermächtigung und kein Persilschein dafür, das
garantiert Falsche zu tun, d.h., dem Mythos Futter und dem Fetisch Nahrung zu geben. Kein
Grund also, einen Utopie-Cocktail à la Schauer anzurühren; kein Grund also, weiterhin mit
saisonal aufgemotzten Ladenhütern hausieren zu gehen.
Eure Aufgabe wäre es, der fixen Idee den Laufpaß zu geben, der Weg in die freie Ge-
sellschaft freier Individuen ließe sich irgendwie intellektuell antizipieren, strategisch inszenie-
ren oder politisch motivieren; dafür gibt es keine Wissenschaft und dafür darf es auch keine
geben.
Hört also auf damit, Verpackungskünstler zu sein, hört auf damit, Euch als „Beitrag
zur politischen Kultur“ zu verkaufen, die, das weiß sogar Jürgen Habermas, nur die „kritische
Ergänzung der Staatsräson“ darstellt; hört auf damit, über die Gesellschaft zu räsonieren, über
Eure verlorene Jugend zu lamentieren, Eure Identität zu reparieren und fangt an zu kritisieren.
Fangt damit an, die Wahrheit über Euch als Vermittler zu begreifen. Ohne das Bewußtsein
dieser elementaren Basis kritischen Denkens lohnt es sich nicht, auch nur ein Sterbenswörtchen
vom „Neuanfang“ zu verlieren. Begreift an Euch selber: Die Arbeit der Zerstörung und der
Abschaffung ist eine produktive Arbeit.

Oktober 1986

5
Vgl. Wolfgang Kraushaar, Autoritärer Staat und antiautoritäre Bewegung, in: 1999. Zeitschrift für
Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Nr.3/1987, S.76-105
6
Weil die Intellektuellen nichts lieber tun, als über die ‚Vermittlung’, die sie selber immer schon sind, zu
debattieren, war die ‚Organisationsfrage’ stets ihr liebstes Steckenpferd.

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1

ISF
Das Erbe von ’68
Über die Notwendigkeit, einen Mythos zu begraben

Aus: Initiative Sozialistisches Forum,


Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken
Freiburg: ça ira 1990, S. 279 – 302.

1.

Der Anfang der 60er Jahre in den spätkapitalistischen Gesellschaften einsetzende Wandel der
kulturellen Wertvorstellungen wurde von der studentischen Protestbewegung radikalisiert. Das
Resultat dieser Kulturrevolution wird heute in der Bundesrepublik von der Partei der GRÜNEN als
Erbmasse politisch ausgeschlachtet und verwertet.
Seit es die GRÜNEN gibt, kann die nach '68 allseits betriebene Geistersuche nach dem
revolutionären Subjekt als erfolgreich abgeschlossen gelten. Und seit der intellektuelle Mittelstand
mit der ,Natur' und dem ,Leben' ein Bündnis schließen und die 5 %-Hürde überspringen konnte, ist
den Völkern aller Länder die Perspektive ihrer Befreiung erschlossen. Weder in einem Staat des
real existierenden Sozialismus, noch im Sozialismus überhaupt, sondern vielmehr in der Natur und
in den Menschen selbst blinkt seitdem das Leuchtfeuer der konkreten Utopie.
Schon einige Monate nach dem legendären Pariser Mai zeigte Daniel Cohn-Bendit, wo es
künftig langzugehen habe: „Schau dir die ausdruckslosen Gesichter der Leute an und sage dir: das
Wichtigste ist noch nicht gesagt worden, weil es noch gefunden werden muß. Also handle! Suche
ein neues Verhältnis zu deiner Freundin, liebe anders, sage nein zur Familie.“ Und: „Beginne,
nicht für die anderen, sondern mit den anderen, für dich selbst, hier und jetzt mit der Revolution.“1
Bevor auch die anderen 68er so ein- und hellsichtig werden konnten, mußten sie ihre Er-
lebnisse erst noch theoretisch verarbeiten. Selbstkritisch wurde sehr schnell entdeckt, daß dem
Protest der gesellschaftliche Unterbau gefehlt hatte. Die naheliegendste Konsequenz dieser Er-
kenntnis wurde zum Programm des intellektuellen Überbaus für das nächste Jahrzehnt. Gesucht,
beschwört und bearbeitet wurde das revolutionäre Subjekt – Dieses Subjekt, das da seiner Befrei-
ung harren sollte, aber wurde von jedem anders definiert: Luden die einen das Alltagsleben – vom
Geschlechtsverkehr über das Kindererziehen bis hin zur Auflösung der Familie – mit revolutionä-
rem Sendungsbewußtsein auf und entdeckten in den Slogans „Die Phantasie an die Macht“ oder
„Alles ist politisch“ den programmatischen Kern der wahren Revolution, so mühten sich die ande-
ren, in historisch-logischer Analyse den Arbeiter empirisch auszumachen, dem die Entwicklung
eines revolutionären Klassenbewußtseins noch zuzutrauen sei. Und wieder andere fragten sich, ob
nicht die Völker der dritten (oder auch zweiten) Welt in ihrem Kampf gegen den Imperialismus in
den Rang des revolutionären Subjekts der Metropole erhoben werden könnten. Trotz all der hier
betriebenen kleinkarierten Scholastik, über die zu lachen heute zum guten Ton gehört, bleibt fest-
zustellen, daß, vom Resultat her gesehen, von den 68ern Bedeutendes und Bleibendes geleistet
worden ist, worüber nur der die Nase rümpfen kann, der vom Mief der 50er und 60er Jahre nichts
wissen mag.
Bei allen Unterschieden im einzelnen: Nicht nur im Ziel war man sich einig, auch den
verschiedenen Formen, in denen die 68er ihre theoretischen Erkenntnisse in die Praxis umsetzten,
lag eine gemeinsame Prämisse zugrunde. Das allgemein anerkannte Instrument, mit dessen Hilfe
dem Subjekt zum Bewußtsein seiner geschichtsmächtigen Subjektivität und zum Bewußtsein sei-
ner Unterdrückung verhelfen werden sollte, war die Pädagogik. Nicht ohne tieferen Grund, denn
mit der Ausweitung und Restrukturierung des Bildungssektors wurden in den siebziger Jahren die
vorangegangenen kulturellen Transformationen institutionalisiert. Was lag näher, als die dem Re-
formeifer der sozialliberalen Koalition zu verdankende Stellung als Lehrer, Sozialarbeiter oder
Therapeut auszunutzen und mit diesem Hebel die allgemeine Emanzipation der Menschen Wirk-
lichkeit werden zu lassen, frei nach Oskar Negt: „Nicht Berufsrevolutionäre, sondern Revolutionä-
re im Beruf.“ Auch die Agitatoren der Avantgardeparteien und die Propagandisten der Tat konnten
sich nie von der Vorstellung lösen, daß der Erfolg der Revolution vor allem von der Wahl der
didaktischen Mittel abhängig ist. Es gibt keinen Bundesbürger unter 35 und nur wenige ältere,
deren Biographie nicht von mindestens einem dieser bildungspolitischen Aspekte der 68er-
Revolten beeinflußt worden ist.
1
Gabriel und Daniel Cohn-Bendit; Linksradikalismus – Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunis-
mus, Reinbek b. Hamburg 1968, S. 273
2

Mit den GRÜNEN hat die pädagogische Übersetzung kultureller Veränderungen in poli-
tische Symbolik ihren Höhepunkt gefunden. Gegen die hier akkumulierte Macht pädagogisch-
propagandistischen Sachverstandes hätte keine K-Gruppe eine Chance gehabt – auch dann nicht,
wenn eine von ihnen objektiv noch stärker gewesen wäre als sie sich subjektiv je gefühlt hat. Und
so ersetzten schließlich auch die übriggebliebenen Avantgardisten, als sie in den GRÜNEN auf-
gingen, das Gespenst der Arbeiterklasse durch den Spuk der Natur.
Alle Welt spricht vom Scheitern der 68er. Diese sind aber weder an ihren ,Fehlern' noch
an der Gegenwehr des damals so genannten ,Establishments' gescheitert. Erst recht nicht am, ’Ver-
rat’ derer, die den Marsch durch die Institutionen antraten, weil sie Ernst machen wollten mit der
Politik von '68 und es leid waren, nur noch unterhaltsame Shows abzuziehen. Auch keiner anderen
Fraktion gelang es, über den mittelständisch-intellektuellen Schatten zu springen und den Mythos
zu durchbrechen, 1968 oder danach sei ein Stück antikapitalistischer Geschichte geschrieben wor-
den. Und selbst dort, wo endlos über Kapitalismus und Marxismus geredet und geschrieben wor-
den ist, hat man immer nur nach einem Begriff von Arbeit – und nicht nach einem vom Kapital
gesucht. Wenn also im Zusammenhang von 68 überhaupt von einem Scheitern gesprochen werden
kann, dann nur in der Hinsicht, daß sich hier eine Kulturrevolte antikapitalistisch mißverstanden
hat und schließlich an der Realität der kapitalistischen Form der Vergesellschaftung gescheitert ist.
Von einem endgültigen Scheitern kann so lange nicht gesprochen werden, wie dieses Mißver-
ständnis im Denken und Handeln derer, die sich ,links' nennen, reproduziert wird – auch und gera-
de dort, wo dieser Linken alles, was mit 68 zu tun hat, zu einem Negativ-Symbol geworden ist.
Aus einem Mißverständnis heraus hat die Linke einen Mythos geschaffen, der heute von
den GRÜNEN beerbt und verwaltet wird. Weil die GRÜNEN den Fetisch Arbeit durch den Fe-
tisch der Natur ersetzt haben, ist es nur konsequent, wenn sie mit dem Mythos auch seine Schulden
übernehmen. Das Erbe des kleinen Vermögens, das nach 68 erarbeitet worden ist – nämlich die
weitgehend stumm gebliebene Ahnung davon, was es heißt, in einer kapitalistischen Gesellschaft
zu leben –, treten sie von vornherein nicht an.
Verabschieden wir den Mythos von 68, indem wir ihn sich selbst oder denen überlassen,
die sich ohne ihn Politik nicht mehr vorstellen können. Wenden wir uns den wichtigen Dingen zu:
dem Vermögen. Und das führt uns mitten in die Kategorien der Kritik der Politischen Ökonomie.

2.

Nach Marx ist es Art des Denkens, sich das Konkrete anzueignen, es also als ein geistig Konkretes
zu reproduzieren, die, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen. Die Abstraktion, von der aus
im folgenden zum Konkreten aufgestiegen werden soll, ist die auf den ersten Blick unproblema-
tisch erscheinende Selbstverständlichkeit, daß der gemeinsame Nenner aller Proteste, also auch der
der Studenten von 68, der ist, daß diese Proteste die je konkreten Bedürfnisse der Protestierenden
zum Ausdruck bringen und deren Befriedigung einklagen sollen. Und für linke Politik, ob nun in
einer Revolte oder in Zeiten gesellschaftspolitischer Stabilität, gilt generell die nicht mehr kritisier-
te Prämisse, daß Politik sich an den konkreten Bedürfnissen der Menschen zu orientieren hat.
Diese Bedürfnisse gilt es zu verallgemeinern und möglichst einheitlich (Stichwort: Stärke durch
Solidarität) gegen den Staat bzw. gegen die ,Unternehmer' durchzusetzen. Die konkreten, besonde-
ren Bedürfnisse einzelner Menschen (aggregiert zum Bedarf bestimmter Schichten oder Klassen)
sind Dreh- und Angelpunkt linker Politik und sollen zu solchen Verallgemeinerungen wie Recht
auf Arbeit, Recht auf Freiheit, Recht auf Wohnung, Recht auf Autonomie zusammengefaßt wer-
den. Die Zusammenfassung je individueller, besonderer Bedürfnisse zu Universalien erscheint
problemlos, kann doch ohne Berufung auf verallgemeinerbare Bedürfnisse gar keine effektive und
überhaupt sinnvolle Politik betrieben werden.
Charakteristisch für die Form, in der sich in bürgerlichen Gesellschaften die Bedürfnisbe-
friedigung der Individuen zu vollziehen hat, ist, daß hier die Regeln zweier Sphären zu befolgen
sind: die des Marktes und die der Politik (bzw. des Rechts).
Das Bemerkenswerte an der Zirkulationssphäre ist, daß es gleichgültig ist, welche Be-
dürfnisse in ihr befriedigt werden – wenn nur eine zentrale Bedingung erfüllt ist: Nur der kann
seine Träume erfüllen, der das nötige Kleingeld dafür hat. Abgesehen von dieser Bedingung aber
ist der Markt das Eldorado von Freiheit und Gleichheit: Keiner kann gezwungen werden zu kaufen
und zu verkaufen und jeder Warenbesitzer gilt als Person des gleichen Rechts und als Subjekt
dieser Freiheit. Wer nur genug Geld in der Tasche hat, findet auf dem Markt noch für jedes Be-
dürfnis ein Angebot.
Damit, daß der Markt nur kaufkräftige Bedürfnisse befriedigen kann, sind eine Reihe von
Voraussetzungen gleich mitgesetzt: Unter anderem, wie die Marxsche Wertformanalyse zeigt, die,
daß es zwischen dem Bedürfnis und dem Geld, das zu seiner Befriedigung notwendig ist, nicht nur
die alltäglich im Supermarkt erfahrbare äußerliche Beziehung gibt. In ihr erweist sich, daß sich
Menschen, die im Kapitalismus mit aller Gewalt gezwungen werden, sich über Geld und Märkte
3

auszutauschen, schon in ihrer Bedürfnisartikulation einer vorbewußten Formierung und Diszipli-


nierung ihrer Gefühle, Wünsche und Gedanken unterwerfen. Der so disziplinierte Mensch akzep-
tiert tagtäglich von neuem ohne jedes Unbehagen die Geltung der folgenden, an sich völlig unsin-
nigen Gleichung: Daß nämlich das Bedürfnis des einen nach zwei Äpfeln in irgendeiner Hinsicht
genau dasselbe sein kann wie das Bedürfnis eines anderen nach fünf Birnen. Die den Geldverkehr
konstituierende Wertform verlangt nach einer Denkform, die das substantiell Ungleiche (zwei
verschiedene Bedürfnisse) über ein Drittes (letztlich-empirisch: das Geld) in eins zu setzen ver-
mag. Aus dieser gesellschaftlich organisierten vereinheitlichenden Disziplinierung einer an sich
chaotischen Vielfalt erzeugt sich die Existenz gesellschaftlicher Objektivität: Sei es in der Form
der als allgemein anerkannten Geltung des Geldes, sei es in der Form der als allgemein anerkann-
ten Geltung der vom Parlament oder sonstwem beschlossenen Gesetze, sei es in der Form der als
allgemein als geltend anerkannten Kriterien für wissenschaftliches Denken.
Jeder Ausdruck eines Bedürfnisses, soll er gesellschaftlich anerkannt werden, oder, an-
ders ausgedrückt, das Verständnis für das Bedürfnis eines anderen Menschen, setzt die Identifi-
zierbarkeit dieses Bedürfnisses als eines in Raum und Zeit abgrenzbaren Ereignisses voraus. Diese
Prämisse macht das Ereignis zugleich quantifizierbar, übersetzbar in eine ,mehr oder weniger-
Relation' und ist, vom Prinzip her, auch von anderen Individuen, wenn anfangs auch nur rein gei-
stig, reproduzierbar. Damit sind die Bedingungen für die Befriedigung des so formierten Bedürf-
nisses auch angebbar – und somit vom Prinzip her auch technisch produzierbar. Wer etwa meint,
er könne zwei Eindrücke miteinander in einer Verhältnismäßigkeit beispielsweise von mehr oder
weniger Freude oder einem besseren oder schlechteren Gefallen an einer Sache miteinander in
Beziehung setzen, der schon ist auf dem besten Wege, seine Gefühle als Dinge zu behandeln und
zu einem nützlichen Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. Würden wir diesen individuell-
psychologischen Konstitutionsprozeß gesellschaftlich akzeptierter Artikulation individueller Be-
sonderheiten hier weiterverfolgen, indem wir etwa die Kategorien des ökonomischen Nutzens ins
Spiel brächten, so landeten wir schließlich bei der Warenform als der für die bürgerlichen Repro-
duktionsverhältnisse zentralen Kategorie.
Daß das Geld schon lange, bevor es als Preis einer Ware erscheint, tief in die Köpfe und
Herzen der am Marktgeschehen Beteiligten eingedrungen ist, ist der Linken, trotz all ihrer Marx-
lektüre, nie aufgegangen. Erst seit Foucault Marx in den Köpfen der Studenten ablöste, ist das
Thema zumindest angesprochen worden. Und den GRÜNEN, wie allen denen, die Marx für ein
Fossil aus vorsintflutlichen Zeiten halten, und die deshalb auf eine Marxlektüre von vornherein
verzichten, ist die Formierung des Denkens noch vor jeder Bedürfnisartikulation erst recht kein
Problem. Daher werden Alternativbetriebe und natürlich auch eine Ökobank gegründet, wird Ein-
heitslohn und Existenzminimum gefordert, um nach nur kurzer Zeit immer wieder die konservati-
ve Klage zu führen, daß, obwohl alles so schön bedürfnisorientiert und inhaltlich geplant gewesen
war, das Geld sogar den Charakter der Autonomen und Alternativen verdirbt.

3.

Selbst dem hartnäckigsten Liberalen ist mittlerweile aufgegangen, daß der Markt allein den gesell-
schaftlichen Bedarf nicht vollständig befriedigen kann. Der Politik nun soll die Funktion zufallen,
dafür zu sorgen, daß zumindest die elementaren Bedürfnisse auch der geld- und besitzlosen
Staatsbürger gestillt werden. Denn daß jemand hungert, das allein wäre für einen Unternehmer der
letzte Grund, auch nur eine müde Mark in die Produktion von Gebrauchsgütern zu investieren.
Der Politik geht es neben dieser, politologisch gesprochen, sozialstaatlichen Aufgabe aber
noch um mehr. Denn in der politischen Sphäre soll sich entscheiden, welche Bedürfnisse als legi-
time gelten dürfen und daher befriedigt werden und welche nicht, z.B. weil ihre Erfüllung dem
Allgemeinwohl schaden könnte. Es ist evident: Die Entscheidung zwischen legitim und illegitim
ist eine inhaltliche, also qualitative Angelegenheit, etwas, was dem Markt, der sich nach rein for-
malen Kriterien organisiert, fremd ist. Die Politik also vergesellschaftet diejenigen Bedürfnisse,
die der Markt nicht aus sich heraus befriedigen kann und transformiert sie derart, daß sie quantita-
tiv, d.h. geldförmig ausgedrückt und nach Maßgabe allgemein anerkannter Gesetze vom Markt
befriedigt werden können. Wie gut die Politik ihre Funktion (trotz oder gerade wegen all ihrer
Krisen) erfüllt, ist allgemein bekannt: Die Klaviatur, die dem Staat zur Verfügung steht, um be-
rechtigte von unberechtigten Bedürfnissen unterscheiden zu können, reicht von Integration und
Ausgrenzung über das, Teile und Herrsche' bis zum Einsatz des Polizei- und Militärapparats, der
dafür zu sorgen hat, daß sich jeder auch- an die Spielregeln hält, in denen Bedürfnisse zu artikulie-
ren und zu befriedigen sind.
Bemerkenswert am derart konstituierten bürgerlichen Staat ist, daß dieser von seinen
Spielregeln immer wieder behauptet, sie hätten gar keinen konkret bestimmten Inhalt, sie wären
,reine Form', die Voraussetzung dafür ist, daß die Bedürfnisse der Individuen in Freiheit und
Gleichheit und zum Nutzen aller überhaupt erst befriedigt werden können. Und in der Tat: Nur
4

solange er den Bürgern das Vertrauen darein vermitteln kann, sich strikt an die Trennung von
Form und Inhalt zu halten (und sich nur um den Erhalt des Staats als solchen zu kümmern), erhält
nicht nur der demokratisch-parlamentarische Staat seine Legitimität.
Der Staatsbürger – und der, dessen Herz links schlägt, ganz besonders – verlangt vom
Staat geradezu, nicht mehr als den Rahmen zur Verfügung zu stellen, in dem sich die unterschied-
lichsten Interessen verwirklichen können, verlangt also vom Staat (wie jeder Liberale auch), blo-
ßer Garant für die Weiterexistenz der bestehenden Form der Vergesellschaftung zu sein – um die
Inhalte würden sich die Staatsbürger dann in eigener Verantwortlichkeit schon selber kümmern.
Diese Form ist jedoch dieselbe, in der der Markt sich gleichgültig gegen irgendwelche konkreten
Bedürfnisse verhält. Obwohl aufgrund der inhaltlichen Dilemmata des Marktes legitimiert (und
existierend), gründet sich der bürgerliche Staat nicht auf irgendeinen konkreten Inhalt, sondern,
wie die Regeln des Marktgeschehens auch, allein auf formelle Abstraktion. Auf einen Punkt ge-
bracht: Staat und Markt sind Realabstraktionen; sie existieren wirklich, ohne jedoch empirisch
greifbar zu sein. Sie existieren als das sich fortdauernd reproduzierende Rätsel, wie sich etwas in
Existenz setzen kann, indem es von jeder Konkretheit und Inhaltlichkeit abstrahiert.
Ebensowenig wie die Bedeutung des Geldes für die Ökonomie hat die Linke die Funktion
des Staates im Reproduktionsgefüge kapitalistischer Gesellschaften erfaßt. Dieses Unverständnis
spiegelt sich im Verhältnis der Linken zur bürgerlichen Verfassung. Keine Fraktion, so staats-
feindlich sie sich auch gebärden mag, verzichtet darauf, den Staat auf die Einhaltung der Verfas-
sungsgebote zu verklagen. Die Verfassung wird als vom Bürgertum nicht eingelöstes Versprechen
angesehen, die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Allgemeinwohl inhaltlich zu verwirklichen,
obwohl diese Verallgemeinerungen etwas anderes als die Freiheit und Gleichheit innerhalb der
existierenden Form gesellschaftlicher Reproduktion nie bedeutet haben und logisch gar nicht be-
deuten konnten.
Das Grundgesetz der BRD hat gegenüber anderen Verfassungen entwickelter kapitalisti-
scher Staaten den einzigen Vorteil, daß es diese Form/Inhalt-Paradoxie der bürgerlichen Gesell-
schaft relativ klar benennt und zwar gleich in seinem ersten Artikel, wo es um die Unantastbarkeit
der Würde eines jedes Individuums geht. Alles, was diesem uneingeschränkt zu bejahenden Satz
nun folgt, ist die Aufhebung dieses Satzes gemäß dem Prinzip: Die Würde des Menschen ist an-
tastbar, wenn ...2
Indem die einen die Ideale der Freiheit, der Gleichheit und des Allgemeinwohls als im
existierenden Staat optimal garantiert erachten – und die anderen, die Linken also, dagegenhalten,
diese Ideale seien erst noch zu verwirklichen, pendelt die Politik der bürgerlichen Staaten zwi-
schen links und rechts, zwischen progressiv und reaktionär, zwischen Realisten und Idealisten hin
und her, wobei die inhaltlichen Interessengegensätze zwar immer wieder betont werden, alle Kon-
trahenten aber sich von vornherein einer allgemein-gleichen Formierung unterwerfen, deren Sinn
und Zweck ihnen stets verborgen bleibt.
Die Linke hat laufend neue Bedürfnisse entdeckt, aggregiert, symbolisiert und verallge-
meinert, die dann, sobald sie den Segen des Staates erhalten hatten, vom Kapital profitabel befrie-
digt worden sind. Wenn es diese Linke auch augenblicklich nicht mehr gibt, die bürgerliche Ge-
sellschaft wird sie erneut erfinden, sobald die GRÜNEN als Partei das Zeitliche gesegnet haben
wird.

4.

Den um die Definition des wahren Gemeinwohls streitenden Rechten und Linken ist nun nicht nur
der ihnen unbewußt bleibende Bezug ihres Denkens und Handelns auf die reine Form des Marktes
gemeinsam, sondern auch, daß sie in ihren politischen Strategien davon abstrahieren, welchem
Prozeß überhaupt die Waren, um deren Aufteilung sie letztlich streiten, ihre Existenz verdanken.
Beiden gemeinsam ist deshalb weiterhin das von ihnen ungelöste Rätsel, wie sich das Objekt aller
Begierden, das Geld also, überhaupt konstituiert. Wie mysteriös dieser Prozeß sich den Kontrahen-
ten immer noch darstellt, das zeigt ein kurzer Blick in ein beliebiges Lehrbuch der Volkswirt-
schaftslehre – sei es von Samuelson oder Altvater. Und genau hier ist das Verdienst, das einem
Teil der Studentenbewegung – und zwar genau dem Teil, der heute am meisten diskreditiert ist,
nämlich den sog. K-Grüpplern – zuzuerkennen ist. Für einen historischen Moment gelang es ih-
nen, die Sphären des Ökonomischen und Politischen auf ihren Grund zu durchschauen – sie waren
dem Sinn des Umweges der Befriedigung des individuellen Bedarfs über die gesellschaftlich orga-
nisierte Abstraktion von den tatsächlichen Bedürfnissen auf der Spur.
Auf dieser, von den Studenten nach 68 offengelegten Ebene der Warenproduktion, durch
die hindurch die Sphären Markt und Politik sich erst konstituieren, ist allerdings auch das Haupt-
problem zu lokalisieren, das den Teil der studentischen Linken plagte, der die Arbeiterklasse als

2
Vgl. Karl Marx; Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, in: MEW 7, S. 9-107
5

revolutionäres Subjekt wiederentdeckt hatte. Denn diese sahen sich gezwungen, die Kluft zu über-
brücken, die sich aus ihrer Existenz als Angehörige des intellektuellen Mittelstandes, die sich für
revolutionär hielten, zu den Arbeitern, die allein die Revolution machen konnten, ergab. Der Kopf,
d.h. die studentische Linke, mußte seine Trennung von der produzierenden Hand überwinden. Das
Hauptproblem der studentischen Linken war daher die Überwindung der Trennung des Kopfes als
dem schon revolutionären Außen der kapitalistischen Produktion zur Hand, ihrem noch nicht revo-
lutionären Innen.
Angemerkt sei hier, daß es natürlich schon 68 und danach, so wie dies heute bei den
GRÜNEN insgesamt der Fall ist, immer wieder den Versuch gab, sich mit dem Problem des Ver-
hältnisses der Kopf- zur Handarbeit gar nicht erst zu befassen. Dort beschäftigte man sich dann
lieber mit dem Verhältnis des Kopfes zum Bauch und forderte die Überwindung dieser Trennung.
Zur Kritik genügt der Hinweis, daß die Trennung von Kopf- und Handarbeit ein objektiv gesell-
schaftliches Problem darstellt, während es nicht viel gedankliche Anstrengung erfordert zu erken-
nen, was passiert, wenn die Trennung von Kopf und Bauch nicht nur subjektiv empfunden, son-
dern objektiv vollzogen wird.

5.

Wenden wir uns zuerst dem zu, was den Kopf, also das Denken auszeichnet. Das Denken sieht
zwangsläufig die Welt, wie das Individuum sich selbst denkt: als Einheit. Wo der Kopf Trennun-
gen sieht, die er einer Einheit nicht unterordnen kann, dort gilt es zu erklären, zu vermitteln, zu
analysieren, zu forschen – bis eine Einheit gefunden werden kann, die das vorher als getrennt und
unvermittelt Erschienene synthetisiert. Das Bedürfnis nach Einheitlichkeit aller Erscheinungen,
nach Ordnung also, ist jedem auf Folgerichtigkeit ausgerichteten Denken unmittelbar immanent.
Und mit den Universitäten hat sich unsere Gesellschaft den Markt geschaffen, auf dem sich das
Wechselspiel von Angebot und Nachfrage nach dem Erklärungsansatz, der die größtmögliche
Einheitlichkeit verspricht, funktional organisiert. Der, dem die Einheitlichkeit noch ein Problem
ist, wendet sich an seinen Lehrer oder Therapeuten, der ihm seine Einheit solange zu vermitteln
sucht, bis der Schüler selbst sich zum Lehrer berufen fühlt. Pädagogik und Therapie sind dem
Denken in synthetisierenden Kategorien innerstes Bedürfnis. Und auch der Avantgardeanspruch ist
seit altersher dem synthetisierenden Denken immanent. Wer überzeugt ist, die allem übergeordnete
Einheit zu kennen, der fühlt sich unmittelbar aufgerufen, jeden, der diese Einheit nicht wahrhaben
oder sie nicht als die Seinige anerkennen will, dazu zu bringen, auch für sich genau diese Wahrheit
zu bezeugen. Wo zwei verschiedene Welten aufeinanderprallen, entsteht eine Trennung, die über-
brückt werden muß, um die von der Vernunft gebotene Einheit wiederherzustellen – wenn es denn
sein muß, auch mit Gewalt.
Aus der Logik des synthetisierenden Denkens begründet sich unmittelbar, warum die
68er vor allem Lehrer, Therapeuten oder Sozialarbeiter werden mußten.3 Sie wähnten sich im
Besitz des Wissens darum, wie sich das Rätsel der kapitalistischen Synthesis lösen ließe – und
mußten ihre jeweilige Lösung nur noch denen vermitteln, die noch nicht an ihr teilhatten. Bei den
GRÜNEN und den Naturschützern angelangt, vermitteln sie ihre Wahrheiten der Form nach auch
heute noch – selbst wenn sie mittlerweile nicht mehr wissen, welche Wahrheit sie ursprünglich
einmal vermitteln wollten. Und so fassen sie ihr unstillbares Verlangen nach Einheitlichkeit im
Denken in so inhaltsleere, abstrakte Worthülsen wie Frieden, Leben und Natur. Der studentische
Intellektuelle der Jahre unmittelbar nach 68 entdeckte, als er den realen Schein der Warenzirkula-
tion durchstieß, die Arbeit als die treibende und konstituierende Kraft der gesellschaftlichen Re-
produktion. Er entdeckte die Arbeit als die vereinheitlichende Kraft der kapitalistischen Welt.
(Wie Marx in seiner Wertformanalyse zeigt, ist es natürlich nicht die Arbeit, die diese Synthesis
besorgt, sondern die Wertform – aber das ist ein anderes Kapitel in der an Fehlinterpretationen so
reichen Theoriegeschichte der Linken. Der einzige Marxist, der hier auf dem richtigen Wege ist,
ist Alfred Sohn-Rethel.4) Der sozialistische Student meinte nun, in der Fabrik auf einen Arbeiter
zu treffen, der noch nicht begriffen habe, daß die ihm unabhängig gegenüberstehende Welt des
Kapitals ,in Wirklichkeit' nichts anderes ist als das Resultat seiner täglich verausgabten Arbeit.
Diesem Arbeiter sollte also vermittelt werden, daß er ,das Kapital', also das, was er in den Vorstel-
lungen des Studenten als sein von ihm abgetrenntes, ihm entfremdetes Außen betrachten mußte
,,in Wirklichkeit' als das Innen seiner Arbeit zu begreifen habe. Wenn der Arbeiter nur so denke
wie der Intellektuelle, dann würde dieser Arbeiter die Brocken hinschmeißen und der Kapitalismus
– das wäre in der Tat die logische Folge dieser Aktion – wäre am Ende.

3
Vgl. Ulrich Enderwitz; Die Republik frißt ihre Kinder. Studentenbewegung und Hochschulreform in der
BRD, Berlin 1986. Sowie: Ilse Bindseils Rezension in: ISF (Hg.); Kritik und Krise, Heft l, S.27 f.
4
Alfred Sohn-Rethel; Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frank-
furt/Main 1970. Außerdem: Ders.; Soziologische Theorie der Erkenntnis, Frankfurt 1985.
6

Das Problem, mit dem diese studentische Linke sich konfrontiert sah, und das sie als sol-
ches nie wahrnehmen wollte, war: Dieser vom den Studenten beständig agitierte Arbeiter hatte
seinen Kopf schon längst entdeckt (und gebraucht), er wußte deshalb längst, daß es seine Arbeit
ist, die das Kapital, die Kapitalisten und deren Manager, den Staat und seine Bürokraten reprodu-
ziert – und daß es vor allem seine Arbeit war, die den Studenten erst das Studium ermöglichte.
Nur: Das Wissen ist eine Sache – die gesellschaftliche Praxis aber eine ganz andere.

6.

Warum nur, so die alles entscheidende Frage, eignet sich der Arbeiter das, was er produziert, nicht
einfach an – warum wird er trotz seines Wissens um die Einheit der Welt, die – in seinen Augen –
seine Arbeit stiftet, nicht revolutionär? Warum nur läßt er sich in jedem Tarifkonflikt seinen objek-
tiven Klasseninteressen zum Hohn übers Ohr hauen? Zur Beantwortung dieser Frage waren die
Studenten (einschließlich der mit ihnen verbündeten Professoren) sehr schnell mit einer Vielzahl
raffinierter Manipulationstheorien bei der Hand, was insofern nahe lag, als man ja schon 68 –
Stichwort Bild-Zeitung und Springer-Presse5 – von einer solchen Manipulationstheorie ausgegan-
gen war. Doch die Lösung dieses Problems ist einfacher, für den revolutionären intellektuellen
Kopf allerdings nur schwer nachvollziehbar:
Unter kapitalistischen Bedingungen vollzieht sich die Tätigkeit dessen, der in einer Fa-
brik (oder sonstwo) produktive, lebendige Arbeit verausgabt, unabhängig vom Denken und Fühlen
seiner Person. Die Arbeitsleistung in einem kapitalistischen Betrieb steht dem, der sie leistet, in
einer ihm entäußerten Objektivität gegenüber. Das, was eine gegen Lohn arbeitende Person denkt,
fühlt und hofft steht zu dem, was ihre Hände während der Arbeit tun, nur in einer zum (Re-) Pro-
duktionsprozeß völlig bedeutungslosen Beziehung. Jede Identifikation des bürgerlichen Indivi-
duums mit dem von ihm Produzierten ist nichts als bloße Konstruktion von Sinn, sie ist subjektive,
allein vom Bewußtsein in die Sache hineininterpretierte Einheitlichkeit, ist Synthetisierung, die
dem Bedürfnis des Kopfes nach Einheitlichkeit (Verständnis/Erklärung) folgt, die aber die objek-
tive Welt des Kapitals nicht erfaßt. Die Antwort also ist: Solange der Arbeiter arbeitet, reprodu-
ziert sich das Kapitalverhältnis automatisch neu. Andersherum: Erst wenn der Arbeiter aufhört zu
arbeiten, zerstört sich das Kapital – dann aber auch der Arbeiter sich als Arbeiter – und mit dieser
Zerstörung fällt der gesamte gesellschaftliche Reproduktionsprozeß in sich zusammen.
Die Einheit von Arbeiter und Arbeit, von der die Linke nie abgegangen ist, existiert unter
kapitalistischen Produktionsbedingungen objektiv nicht. Obwohl die studentische Linke noch bis
Ende der siebziger Jahre Marx gelesen hat – verstanden hat die Wertformanalyse kaum einer. Wo
Marx die abstrakte Arbeit in aller Schärfe von der konkreten trennt (um dieses Auseinanderfallen
von konkreter, individuell-tätiger Person einerseits, abstrakten, allgemein geltenden Umständen
andererseits beschreiben zu können), dort las man immer, die abstrakte Arbeit sei das Resultat
bzw. das Produkt der konkreten. Abstrakte und konkrete Arbeit haben aber miteinander nicht mehr
gemein als das die eine die andere zur abstrakten Voraussetzung hat: Es gibt hier keine Subordina-
tion, keine Beziehung von Ursache und Wirkung, nichts, was einem synthetisierenden Denken
Nahrung geben könnte. Das Getrennt-Sein ist das Reale – alle Kausalität im Verhältnis des Ge-
trennten zueinander ist subjektive Konstruktion. Anstatt also die Marxsche Analyse materialistisch
als die kritische Darstellung des wirklichen Skandals der bürgerlichen Gesellschaft zu begreifen,
hat man ihren Gegenstand streng idealistisch zu einem Problem folgerichtigen Denkens verbogen.

7.

Auszugehen ist also nicht von der Einheit der Welt – auszugehen ist von der realen Trennung: Die
ständige Reproduktion der Trennung des Arbeiters in eine bedürftige, mit allen Menschenrechten
ausgestattete Person, und eine dem Kommando der Fabrik unterworfene bloße Quelle von Wert ist
die Grundbedingung für das Funktionieren kapitalistischer Reproduktion. Der berühmt-berüchtigte
Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit läßt sich also nicht auf einen bloß soziologischen Inter-
essengegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeitern reduzieren, sondern das Verhältnis von Kapi-
tal und Arbeit ist Widerspruch in einem streng logischen Sinne: An ein und demselben Ort, näm-
lich in der Person des Arbeiters, ist sowohl das eine, die Konkretheit der Verausgabung von Ar-
beitskraft als auch sein Anderes, die Abstraktion gerade von dieser Konkretheit (eine Abstraktion,
die ,Arbeit' in ,Wert' transformiert) zeitgleich präsent. Obwohl in der Person des Arbeiters vereint,
existieren Arbeit und Kapital je für sich, d.h. als eine Trennung, der keine Einheit, keine Kausalität
zugrundeliegt, die Trennung ist, ohne daß ihr ein Sinn, eine Vernünftigkeit unterstellt werden
kann. Wer diesem Verhältnis eine reale Synthese unterstellt, der verbaut sich das Verständnis der
kapitalistischen Wirklichkeit und geht an der wirklichen Bedeutung des Problems vorbei, das sich

5
Vgl. u.a. Autorenkollektiv; Der Untergang der BILD-Zeitung, Berlin 1968
7

mit der Trennung von Kopf- und Handarbeit stellt.


Zusammengefaßt: Den Lohnarbeiter als die Einheit von Person und Warenproduzenten
sieht nur der, dem eine andere als Sichtweise auf die gesellschaftliche Realität als eine moralisie-
rende über den Horizont geht.
Es ist gerade die Leistung von Marx, die ihn zu den bedeutenden Philosophen zählen läßt,
daß er das Kapital nicht als Humanist analysiert hat, der seine Parteinahme für die Sache der Ar-
beiter mit weiter nichts begründen kann, als damit, daß er eben für das Gute und gegen das Böse
ist, sondern als von subjektiven Vorlieben, Interessen oder Wünschen unbeeinflußter Kritiker. So
konnte Marx erkennen, daß die Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen die konkrete Lebendig-
keit des Arbeiters nur als abstrakte Bedingung der Entstehung von Wert voraussetzt; daß also das
Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit kein moralisches, sondern zuallererst ein logisches ist, dessen
Resultat in einer notwendigerweise falschen gesellschaftlichen Praxis besteht.
Aus der Person Arbeiter wird Arbeit herausgepreßt und als solche Arbeit wird sie unmit-
telbar verdoppelt in die konkret erfahrbare Tätigkeit und die Abstraktion von der Konkretheit die-
ser Tätigkeit. Arbeit im Kapitalismus ist daher, so konkret sie auch beobachtet werden kann, im-
mer schon abstrakte Arbeit. Nostalgisch gesprochen: Mit dem Drücken der Stechuhr ist der Akt
der Verkehrung der Lebendigkeit des Arbeiters in eine leere Abstraktion dieser Lebendigkeit für 8
Stunden unwiderruflich vollzogen.
Die Studenten entdeckten den Arbeiter als das revolutionäre Subjekt der bürgerlichen Ge-
sellschaft erneut und eigneten sich die historischen Symbole proletarischen Klassenbewußtseins an
(die ’Internationale', die rote Fahne und die Schalmeienkapellen). Was sie auch ungestraft durften,
denn diese Symbole waren für die Arbeiter schon einfach deshalb längst bedeutungslos geworden,
weil ihnen keine gesellschaftliche Realität mehr entsprach – und auf diese muß jetzt noch einge-
gangen werden.

8.

Es macht einen Unterschied, ob die Trennung der Person von ihrer Tätigkeit, die Trennung von
Kopf und Hand, in einer das physische Überleben der Arbeiter als Klasse bedrohenden Situation
erlebt wird oder unter den Bedingungen wie schlecht auch immer verrechtlichter individueller
Lohnarbeit, unter Bedingungen also, die auch der Student als Jobber kennenlernt. So wenig ein
Student allein wegen der während seiner Ferienarbeit bei Daimler-Benz gemachten Erfahrungen
revolutionär werden wird, sondern weil er den Kapitalismus ablehnt, so wenig (und so viel) wird
der heutige Lohnarbeiter aufgrund einer miesen Arbeitssituation zum Revolutionär – es sind sub-
jektive, individuell-biographische Gründe und Erfahrungen, die ihn gegen die Kapitalisten auf-
bringen, nicht objektive, in der Logik der Sache selbst liegende Gründe. Nur daraus ließe sich aber
die historisch-logische Notwendigkeit der Revolution ableiten, denn subjektive Gründe sind ihrer
Natur nach beliebig austauschbar und daher für die Grundlegung der Revolutionstheorie ihrer
Voraussetzung nach ungeeignet.
Die Trennung von Kopf und Hand wird zum unausweichlichen Grund der Revolution nur
unter der Voraussetzung, daß die Arbeiter als Klasse einer absoluten Verelendung ausgesetzt sind;
unter der Voraussetzung also, daß der Lebendigkeit der Arbeiterklasse gesamtgesellschaftlich kein
Raum mehr offen ist, ihre elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Und erst in solch einer revolu-
tionären Situation zerstören die Arbeiter die Abstraktheit der Arbeit und nur dann zerstören sie das
soziale Gefüge kapitalistischer Reproduktion. Zerstörung ist hier wörtlich zu nehmen - denn die
Einheit von Kopf und Hand hat zum Resultat nicht das auf Erden verwirklichte Paradies. Im Ge-
genteil. In dieser Vereinheitlichung konstituiert sich zunächst einmal rein gar nichts Positives –
diese Synthese enthält zunächst nichts weiter als ein gewaltiges Zerstörungspotential. Und doch ist
darin allein aber auch die abstrakte Bedingung der Möglichkeit einer sich auf Vernunft begrün-
denden Welt enthalten.
Nicht im quasi-natürlichen Interessengegensatz zum Kapitalisten also liegt das revolutio-
näre Potential des Arbeiters begründet, sondern darin, daß die Verweigerung der Arbeit in einer
revolutionären Situation (und nur in ihr) gleichzeitig die Objektivität der Verhältnisse zerstört. Mit
der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise entsteht die einmalige historische Situati-
on, daß es in der Hand einer (über die wesenslogische Bestimmung hinaus auch noch durch empi-
risch-soziologische Gemeinsamkeiten synthetisierten) gesellschaftlichen Gruppe liegt, das gesell-
schaftliche Gesamtgefüge zerstören zu können. (Mittlerweile gibt es neben den Arbeitern natürlich
weitere, und zwar solche, die nicht ,nur' die Verhältnisse, sondern die Welt insgesamt zerstören
können, aber das ist hier ohne Belang). Diese historische Sonderstellung allein machte die Arbeiter
für Marx interessant. (Nicht, wie einige unverbesserliche, in der Nachfolge von Engels stehende
Humanisten meinen, die über den frühen Marx nie hinausgekommen sind, „die Lage der arbeiten-
den Klasse in England“ um 1845.)
Marx ging davon aus, daß die Logik des Kapitalismus die Kapitalisten dazu zwingt, die
8

Arbeiter derart verelenden zu lassen, daß sie als Klasse vor die Alternative gestellt werden, zu
arbeiten und trotzdem nicht leben zu können oder nicht zu arbeiten und auf andere Weise zu ver-
suchen, sich vor dem Untergang zu bewahren; und sich damit in einer Lage befinden, die sie, ob
sie es individuell wollen oder nicht, dazu zwingt, mit den Grundlagen der Kapitalreproduktion
auch die Grundlagen ihrer Existenz als Arbeiter zu zerstören.
Immer dort, wo es um die Sicherung von Arbeitsplätzen, die Erhöhung von Lohn, die
Verbesserung von Arbeitssituationen, die verantwortliche Beteiligung an unternehmerischen Ent-
scheidungen, also um das sog. Konfliktpotential dieser Gesellschaft geht, verbleibt dieser Konflikt
als bloßer Interessengegensatz von vornherein in den Sphären von Markt und Politik und regelt
sich hier – ohne die Fortexistenz des Kapitalismus als der grundlegenden Formbestimmung der
bürgerlichen Gesellschaft in Frage zu stellen. Deshalb hat das, was die Arbeiter dachten, was sie
wollten, vielleicht den Soziologen und Ökonomen Marx interessiert – nicht aber den Philosophen
und Kritiker. In diesem Sinne für den revolutionären Prozeß belanglos waren für ihn auch die
Gewerkschaften und die Arbeiterparteien, mittels derer die Arbeiter ihre konkrete Not unter kapi-
talistischen Bedingungen erträglicher gestalten müssen. Marx ging davon aus, daß die Revolution
über diese, der Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse entspringenden bürgerlichen Institutio-
nen hinwegfegen würde. Ansonsten bleiben diese Bedürfnisse, egal in welcher Radikalität sie sich
artikulieren, weiterhin Motor der Kapitalreproduktion und das Kapital bleibt das sich beständig aus
sich selbst reproduzierende, automatische Subjekt.

9.

Der Produktionsprozeß also ist der Ort, in dem sich die Form konstituiert, in der sich die gesell-
schaftliche Reproduktion vollzieht. Das Dilemma jedes heutigen Revolutionärs ist: Diejenigen, die
aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung im Reproduktionsgefüge dazu prädestiniert sind, die
Revolution zu vollziehen, müßten dies, seit der absoluten Verelendung der Arbeiter in den entwik-
kelten kapitalistischen Staaten durch die Mobilisierung der verschiedensten Kräfte (Ausbeutung
der Dritten Welt; Automatisierung; Weltkriege; technologische Revolutionen etc.) entgegenge-
steuert werden konnte, gegen ihr eigenes materielles Interesse tun. Dies zeigt sich z.B. immer
dann, wenn es um den Erhalt von Arbeitsplätzen geht (,revolutionsstrategisch gesehen eine eindeu-
tig reaktionäre Forderung). Selbstverständlich gibt es nicht nur unter Bürgern, die ehrenamtlich der
Caritas beispringen, sondern auch unter Arbeitern Altruisten – diese Selbstlosigkeit jedoch von
einer ganzen Klasse zu verlangen, wie es bei den Studenten nach 68 der Fall war, zeugt von reich-
lich übertriebener Naivität.
Die Aufgabe der Kommunisten unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts, also die
Aufgabe derer, die, wie die Studenten der 68er-Generation, eindeutig als Kopfarbeiter anzusehen
sind, war nach Marx doppelt bestimmt: Einmal sollten sie den Arbeitern zeigen, was sie, um zu
überleben, zu tun gezwungen sein werden, zum anderen sollten die Kommunisten den revoltieren-
den Arbeitern ihre Individualität entfalten helfen, auf daß das unter bürgerlichen Austauschver-
hältnissen bloßes Versprechen gebliebene Postulat der Vernunft – ein freies, auf Individualität
gegründetes gesellschaftliches Leben für jeden – eingelöst werden kann. Die praktisch gewendete
und nicht nur im Denken vorausgesetzte Vereinigung von Kopf und Hand ist die Bedingung der
Möglichkeit, die Umstände der Produktion selbst zu bestimmen. Die individuellen Bedürfnisse
lassen sich, und dies ist das Resultat der „Kritik der Politischen Ökonomie“ von Marx, auch dort,
wo der Wert als verallgemeinernde und vergesellschaftende Instanz zwischen Produktion, Markt
und Politik ausgeschaltet ist, gesellschaftlich befriedigen – und zwar ohne daß, wie die konservati-
ve Reaktion im Verein mit dem Sozialdemokratismus aller Schattierungen polemisiert, die Ver-
wandlung der gesamten Gesellschaft in eine einzige Fabrik oder die Unterstellung eines kollektivi-
stischen oder gemeinschaftsdusseligen Urkommunismus nötig wäre.
Das „Kommunistische Manifest“ mit seiner emphatischen Vision einer Einheit von
Kommunisten und Arbeitern über alle Parteien hinweg mag von einer falschen Beurteilung selbst
der Möglichkeit einer Revolution im 19. Jahrhundert ausgehen. Auf jeden Fall ist die Geschichte
über die Voraussetzungen, auf denen das „Kommunistische Manifest“ beruhte, hinweggegangen.
Nicht, wie Marx prognostizierte, der Mittelstand wurde proletarisiert, sondern die Arbeiter sind in
ihrem Denken und Fühlen, in ihrer Art und Weise, Bedürfnisse formulieren und befriedigen zu
können, zu gleichberechtigten Bürgern, zu Staatsbürgern geworden. Zwar ist die Lohnarbeit ver-
allgemeinert worden – nicht aber die Proletarisierung und die damit verbundene Verelendung
dessen, der die lebendige, produktive Arbeit verausgabt.
Die bürgerliche Gesellschaft entdeckte den Arbeiter als Konsumenten, entdeckte ihn als
einen Bedürftigen, der, wenn er seine Bedürfnisse nur innerhalb kapitalistisch gesetzter Austausch-
und Politikverhältnisse befriedigt, Werte nicht nur schafft, sondern ihnen auch zu ihrer Realisation
als Profit verhilft. Und die Arbeiter taten nichts lieber als das, was jeder Bürger und Student für
sich als die schiere Selbstverständlichkeit betrachtet: Sich im hier und jetzt so gut es geht einzu-
9

richten, im Gegen- und Miteinander seine Individualität zu entdecken – und nicht als selbst- und
bewußtloses Element eines Klassenganzen durch die Gegend zu laufen - und bei Wertheim das
Kaufen zum Erlebnis werden zu lassen, um sich im Konsum (wo auch sonst?), wie jeder andere
Bürger auch, selbst zu verwirklichen. Er hat keinen Grund, die bürgerliche Gesellschaft als die ihm
feindlich gegenüberstehende Welt zu begreifen, vielmehr jeden, sich in ihr einzurichten.
Das, was man den ,Verrat’ der Arbeiterparteien an der Arbeiterklasse genannt hat, ist des-
halb das Gegenteil gewesen. Angetreten, die Lage der arbeitenden Klassen zu verbessern, haben
die Arbeiterparteien dieses Ziel erreicht. Wo sich Arbeiterparteien in ihrer Interessenvertretungs-
politik als revolutionär verstanden haben, haben sie sich schlicht mißverstanden. Diese sich revo-
lutionär (miß-)verstehenden Arbeiterparteien – und dies gilt für die Revolutionäre der K-Gruppen
genauso -, diese Vertreter der proletarischen Interessen haben immer geglaubt, Unmögliches for-
dern zu müssen, um den Arbeitern die Grenzen anschaulich vorführen zu können, innerhalb derer
kapitalistisch formierte Bedürfnisbefriedigung allein möglich sei. Sie hatten die Hoffnung, die
bürgerliche Gesellschaft auf diesem Wege in eine Legitimationskrise stürzen zukönnen, aus der
dann, mehr oder weniger nahtlos, der Kommunismus hervorginge. Doch der Kapitalismus hat all
diesen Parteien gezeigt, und zeigt es den Fundamentalisten bei den GRÜNEN heute noch einmal,
daß es für ihn immer einen Weg gibt, aus dem Unmöglichen das Mögliche und für ihn Nützliche
zu machen – und dies ohne ein Zentrum, das den ganzen Prozeß steuert. Denn – und dies macht
die Überlegenheit der kapitalistischen Form gesellschaftlichen Reproduktion über alle anderen aus
– die Verwandlung des eigentlich für ihn nicht mehr tragbaren in etwas für seine Reproduktion
Notwendiges ist ein sich selbst regulierender Prozeß: Von keinem gewollt, von allen getragen und
von den meisten akzeptiert. Je mehr sich dieses System differenziert, umso mehr bindet es auch
den schon längst disziplinierten Kopf des Lohnarbeiters in den Produktionsprozeß ein, so daß die
Trennung von Kopf und Hand auch noch die letzten Reste revolutionsmotivierender Dynamik
verliert. Das System vermittelt so seinen Elementen (den Staatsbürgern, d.h. den Konsumenten
und Produzenten in einer Person) die Gewißheit, kraft eigener Kompetenz souverän über ihre Ent-
scheidungen zu verfügen. Wo es nur im tiefsten Inneren ,eigentlich' zufriedene, selbstbewußte
Souveräne gibt, dort hat der Revolutionär von Natur aus nichts mehr zu bestellen. Wieso sollte ein
Souverän auch gegen sich selbst revoltieren? Und solange dieser Prozeß sich nicht rückwärts ent-
wickelt – eine politische Forderung nach Verelendung des Arbeiters ist blanker Zynismus – ist
eine an den Bedürfnissen der Bürger (positiv oder negativ) ansetzende und zugleich antikapitalisti-
sche Politik unmöglich geworden.
Die Trennung von Kopf und Hand existiert, dieser historischen Entwicklung zum Trotz,
auch heute weiter fort. Kopf, Bauch und Herz des Lohnarbeiters bleiben dem Kapital bloße Stör-
faktoren des ansonsten reibungslos ablaufenden Produktionsprozesses. Und selbstverständlich
entstehen auch heute Werte weiterhin nur als Resultat der Ausbeutung des Arbeiters in der Fabrik
– die Verausgabung seiner konkreten Lebendigkeit und ihre Umwandlung in allgemein-gleiche,
abstrakte Arbeitsquanta ist weiterhin Voraussetzung für Warenproduktion überhaupt. (Diese Le-
bendigkeit läßt sich möglicherweise einmal industriell produzieren: Aber sobald sich Lebendigkeit
künstlich erzeugen läßt, ist dem Prozeß der Unterbietung des Preises für die Ausbeutung dieser
Lebendigkeit keine Grenze mehr gesetzt, und das heißt, daß industriell erzeugte Lebendigkeit nicht
wertbildend sein kann). Der Augenschein, daß es immer schwieriger wird, Hand- von Kopfarbeit
(oder ‚produktive' von ,unproduktiver' Arbeit) empirisch-sinnlich trennen zu können, ist, wie jeder
erste Blick, kein Argument gegen die Fortdauer der Trennung von Hand und Kopf als Grundlage
kapitalistisch betriebener Produktion. Es kommt ja auch keiner auf die Idee zu bestreiten, daß im
Wasser Sauerstoffatome enthalten sind, nur weil er die Sauerstoffatome im Wasser nicht unmittel-
bar entdecken kann.
Auch im Spätkapitalismus bleibt die lebendige produktive Arbeit Quelle allen Reichtums,
selbst wenn empirisch nicht mehr anzugeben ist, wer, wann, wo und wie diese wertbildende leben-
dige Handarbeit verausgabt. Und gerade weil jeder fest daran glaubt, daß er in der Arbeit, in der
Politik, im Konsum ein selbstbestimmtes, souveränes Subjekt ist: Das Kapital verkehrt diese Sub-
jektivität weiterhin in die Objektivität seiner Existenz und macht sich so, durch die Individuen
hindurch, zum Souverän der bürgerlichen Gesellschaft. Wo der Widerspruch zwischen Kapital und
Arbeit durch die Einbindung des proletarischen Kopfes in die bürgerliche Welt des Staates und des
Marktes überlagert wird, verschwindet dieser Widerspruch hinter dem bloßen Interessengegensatz.
Die Revolution bleibt zwar weiterhin so möglich wie sie weiterhin die blanke Notwendigkeit ist.
Aber sie ist, anders als Marx das noch sah, nicht mehr absehbar, die Hoffnung auf irgendeine hi-
storische oder logische Zwangsläufigkeit ist auf Sand gebaut.

10.

Anfangs galt der Studentenbewegung die „Bild-Zeitung“ als das Symbol der entfremdeten Kon-
sumgesellschaft, deren manipulative Mechanismen die allgemeine Emanzipation der Menschen
10

verhinderte. Pars pro toto Springer stand dafür, wie, an den Faschismus nahtlos anschließend, der
autoritäre Charakter der Westdeutschen geformt worden war. Als die Energie des Protestes ver-
braucht war, merkten die Studenten nicht nur, daß seine gesellschaftliche Basis viel zu schmal
gewesen war, sondern auch, daß die Härte der Wand, gegen die man gelaufen war, mit dem Mani-
pulationstheorem nicht hinreichend erklärt werden konnte.
Als sich bei der Suche nach der Grundlage der Kapitalmacht herausstellte, daß auch das
Klassenbewußtsein der Arbeiter zu einem imaginären Symbol geworden war, wurden die alten
Manipulationstheoreme wieder aufgewärmt – wenn auch in unzähligen und neuen Varianten. An-
gesichts der Schwäche der Bewegung wurde “’68“ selbst zum Symbol, dessen Realitätsgehalt
seiner wirklichen Bedeutung umgekehrt proportional ist. 68 war, die Spatzen pfeifen es von den
Dächern – aber deshalb ist die Melodie nicht die falsche – nichts weiter als der von einer kleinen
gesellschaftlichen Gruppe ins Politische gewendete Ausdruck neuer Strategien der Kulturindustrie.
,Vom analen zum oralen Charakter': Die Popmusik, die Hippies, die Drogenszene, die Änderungen
im Sexual- und Familienverhalten drücken diese kulturellen Veränderungen genauer aus als die
Politik der 68er und ihrer Nachfolger.
Wer an den Ereignissen beteiligt war, hat viel Lärm um nichts gemacht. Selbst wenn alle
das Gegenteil glaubten: Das Kapitalverhältnis ist durch diese Revolten und die ihr folgenden Ak-
tionen zu keinem Augenblick in die Krise geführt worden. Wenn die Studenten auf das Kapital-
verhältnis überhaupt einen Einfluß hatten, dann den, daß die Einbindung des Bildungssektors in
die ökonomische Reproduktion durch die Proteste gefördert wurde. Oder auch den, daß der Poli-
zeiapparat lernte, wie mit neuen sozialen Bewegungen fertig zu werden ist. Um Mißverständnissen
zu begegnen: Diese Stärkung kann den Studenten natürlich nicht zum Vorwurf gemacht werden,
denn es ist das Schicksal jedes gescheiterten Protestes, daß der Gegner aus der Auseinanderset-
zung gestärkt hervorgeht. Deshalb hat bisher noch niemand auf Widerstand verzichtet und wird es
auch hoffentlich künftig nicht tun.
Der gängige Vorwurf gegen die Kritik, ihre ,Elaborate' entbehrten jeder konkreten Nütz-
lichkeit und bewirkten weiter nichts als die Schwächung des Widerstands, ist ebenso populär wie
unwahr6: Widerstand, wie er sich in Revolten wie der von 68 ausdrückt, läßt sich nicht planen,
vorausberechnen und von einem Zentrum steuern. Revolten fallen zwar nicht vom Himmel, sie
sind kein Schicksal, aber plan- und berechenbar sind sie deshalb noch lange nicht. Theorie, die
sich über diese Wahrheit hinwegsetzt, kann sich ihre Wahrheit nur anmaßen. Was eine Reflexion
auf die herrschende Wirklichkeit dagegen leisten kann, ist, den Handelnden die Kategorien vorzu-
führen, innerhalb derer sich ihr Handeln bewegt - ,Theorie' könnte so z.B. die Wahrheit zur Dar-
stellung bringen, daß eine an konkreten Interessen ansetzende Politik nicht schon aus sich selbst
heraus eine antikapitalistische sein kann.
Der SDS, der vor '68 wenig mehr war als ein heterogener Diskussionszirkel mit negativer
Fixierung auf die SPD7, ist das beste Beispiel dafür, wie die, denen von außen und im nachhinein
eine treibende und führende Rolle zugeschrieben wird, bald gar nicht mehr anders können, als sich
diese Rolle schließlich selbst zuzuschreiben. Daraus entsteht dann der Mythos, als sei die Entste-
hung einer sozialen Bewegung das Resultat der bewußten Kleinarbeit einiger durch die richtige
Theorie angeleiteter Kader. Diese Fehleinschätzung führt dann in der Nachfolge (und als späte
Rache) einer gescheiterten Rebellion zu dem Glauben, als müsse man die nächste Rebellion nur
konsequenter und besser vorbereiten, um sie erfolgreicher fuhren zu können. So entsteht nicht
zuletzt die fixe Idee, die Menschen könnten pädagogisch, also künstlich, zur Revolution motiviert
werden. Die Möglichkeit, daß auch der heutige Kapitalismus noch in revolutionäre Situationen
geraten kann und die durch keine revolutionstheoretische Vernunft zu begründende Hoffnung, daß
die beständige Denunziation des Falschen schließlich doch noch das Richtige möglich werden
läßt: Dies ist das eine. Und zur Ehrenrettung der akademischen Linken sei gesagt, daß eine nicht
revolutionstheoretisch mißverstandene Arbeit an der Analyse der aktuellen Krisentendenzen im
Kapitalverhältnis durchaus ihren Wert hat. Das Wissen um diese Krisen hat für die Revolution
selbst, und vor allem den Weg dorthin, allerdings keine Bedeutung, ebensowenig wie der Wunsch,
transzendentale Erfahrungen machen zu wollen. Jede menschliche Erfahrung dürfte zwar in ir-
gendeiner Weise einer Revolution, so sie denn einmal kommt, von Nutzen sein – aber wie und in
welcher Verknüpfung: Das kann vernünftig nicht vorweggenommen werden. Gleichwohl: Eine
Revolutionsstrategie zu konzipieren, die mit pädagogisierenden, vereinheitlichenden Parolen und
moralischen Imperativen eine revolutionäre Situation erzeugen zu können glaubt – das ist nicht nur
das andere, das ist, dies hat sich nach 68 wiederholt gezeigt, das eindeutig Falsche.

6
Vgl. Theodor W. Adorno; Kritik, in: Ders.; Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/Main,
3.Aufl., S.10-19
7
Die beste affirmative Darstellung: Tilman Fichter, SDS und SPD. Parteilichkeit jenseits der Partei, Opladen
1988
11

11.

Heute wird zwar, was 68 betrifft, allerorten „Gott ist tot“ gerufen. Doch dies zeigt nur, daß der
Rufer noch in der Fixierung auf Gott befangen ist und es nicht vermag, die Welt zu denken, ohne
Gott zum Zentrum dieses Denkens zu machen. Solche Fixierungen auf falsche Zentren bewirken
nichts weiter, als daß alle Welt glaubt, man könne durch einen einfachen Vorzeichenwechsel aus
etwas Falschem auf das Richtige schließen. Es stellt sich meist sehr schnell heraus, daß der Vor-
zeichenwechsel nichts verändert, sondern nur das öde Immergleiche verlängert. Wer die Welt nur
unter der Verdopplung von Gott und Nicht-Gott, Sein oder Nicht-Sein betrachten kann, mag der
Wirklichkeit absolutistisch synthetisierter Gesellschaften gerecht werden: der kapitalistischen wird
er es nicht.
In der Nachfolge von 68 sind eine Vielzahl solch verkehrter Verdopplungen entstanden,
die suggerierten, die Entscheidung für das eine und gegen das andere sei der goldene Weg in das
nachkapitalistische Paradies. Revolution und Reform, Spontaneität und Organisation, Theorie und
Praxis, Idealismus und Materialismus, Lustprinzip und Lustenthaltung, Gewaltfreiheit und Ge-
waltanwendung, Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen, Gebrauchswert- und
Tauschwertorientierung: Die Liste ließe sich ins Unendliche verlängern. Ein Beispiel mag genü-
gen, um zu zeigen, wie ein solches Denken in verkehrten Verdopplungen dazu führt, daß nicht das
Richtige getan, sondern das Falsche zementiert wird, wenn man bloß die Vorzeichen vertauscht:
Oskar Negt hat in seinem zu Recht für die theoretische Diskussion des Stalinismus zentralen Auf-
satz8 genau die Mechanismen beschrieben, die den Marxismus in den realsozialistischen Staaten
seines kritischen Gehalts beraubten und zu einer bloßen Legitimationswissenschaft der herrschen-
den Bürokratie funktionalisierten. Genau dasselbe droht dem Marxismus aber auch dort, wo Marx,
gegen den Strich der arbeitswertorientierten Ideologen, d.h., salopp ausgedrückt,
,,gebrauchswertorientiert' gewendet wird. Wenn also das „Kapital“ so gelesen wird, als könne es
irgendeiner Interessenvertretungspolitik unter kapitalistischen Bedingungen den kategorialen Be-
zug liefern, so, als könne eine auf Marx sich berufende Interpretation der Welt zu einem identitäts-
stiftenden Begriff von Politik taugen: Denn die Verallgemeinerung individuell je besonderer Be-
dürfnisse und die Projektion dieser Verallgemeinerung in den politischen Raum bürgerlicher Ge-
sellschaften ist der Beginn der Vergesellschaftung dieser Bedürfnisse durch das Kapital – zumin-
dest seit die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt auf unabsehbare Zeit ausgefallen ist. Ob
diese Verallgemeinerungen explizit oder implizit auf dem Boden marxistischer oder sonstwelcher
Theorien vorgenommen werden: Das ist dem Kapital herzlichst egal. Die sich in Symbolen verall-
gemeinernde Gebrauchswertorientierung, zu der der Mensch im Kapitalismus gezwungen ist – ob
es nun um sein nacktes Überleben, oder darum geht, ausdifferenzierte Bedürfnisse zu befriedigen –
diese nicht nur von außen aufgezwungene, sondern für den Menschen existenznotwendige Orien-
tierung seines gesellschaftlichen Verhaltens macht ihn gleichzeitig zu einem bloßen Gebrauchs-
wert für das Kapital. Das Absehen von dieser profanen Wahrheit ist nicht das einzige, was die
heutigen GRÜNEN mit den Spontis in der Nachfolge von 68 gemeinsam haben.
Die Irrtümer, die schon die 68er von ihren Vorläufern übernommen haben, werden immer
genau dann wiederholt, wenn die Aversion gegen die negative Kritik von ihr verlangt, was jeder
Strumpffabrikant von seinem Klinkenputzer verlangt, nämlich daß man sich, um erfolgreicher zu
sein als die Konkurrenz, nur noch konsequenter als bisher auf die Bedürfnisse der Menschen be-
ziehen muß. Als ob diese 68er, egal welcher Fraktion sie angehört haben, sich nicht auf alle nur
denkbaren Betroffenheiten, Bedürfnisse, Hoffnungen gestürzt hätten wie der Teufel auf die arme
Seele: Seien es die der Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Völker gewesen oder auch die ei-
genen. Wer sein Denken von Interessen und Bedürfnissen leiten läßt, hat immer den richtigen
Standpunkt. Seine Wahrheit ist aber durch nichts weiter zu begründen, als durch die kindische,
wenn auch souveräne Wiederholung des einen Satzes: Ich will aber. Das Vertrackte ist nur, daß,
wo mehrere richtige Standpunkte aufeinanderprallen, immer die Gewalt entscheidet – und daß der
Ort dieses Aufeinandertreffens eben nicht parlamentarisch-idealistisch aufzulösen ist in eine herr-
schaftsfreie Kommunikation.9
Unter dem Diktat der gegenwärtigen kapitalistischen Reproduktionsbedingungen führt
die Formulierung von Übergangsforderungen, d.h. eine verallgemeinernde, sich auf sog. gemein-
same Interessen berufende Vertretungspolitik daher nicht aus dem Kapitalismus heraus, sondern
immer tiefer in ihn hinein. Das heißt natürlich nicht, auf eine wirkungsvolle Vertretung seiner
Interessen verzichten zu sollen – das heißt aber anzuerkennen, daß die Vertretung eigener oder

8
Oskar Negt; Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischen Philosophie, in:
Bucharin/Deborin; Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, Frankfurt 1974, S.
7-49
9
Vgl. Stefan Breuer, Die Depotenzierung der Kritischen Theorie. Über Jürgen Habermas' „Theorie des kom-
munikativen Handelns“, in: Ders.; Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg 1985, S.52-66
12

fremder Interessen und revolutionäre Politik zwei Paar Stiefel sind. Das bedeutet weiterhin die
Anerkennung, daß man die Anleitung zum richtigen und guten Handeln zu seinem und dem allge-
meinen Wohl denen überläßt, die dafür bezahlt werden: den Pfarrern also und den vom Staat dafür
gesponserten Parlamentariern; und nicht vom Kritiker der bestehenden Verhältnisse darüberhi-
naus, daß er gefälligst die Wahrheit zu sagen hat, auch noch verlangt, er solle einem den goldenen
Tip geben, wie man hier am besten über die Runden kommt. Die marxistische Kritik ist kein
,wissenschaftlicher Sozialismus' und deshalb unfähig, sich auf das Niveau ,todsicherer Lottosy-
steme' zu begeben.
Zwar ist es blanker Zynismus, dem, der gerade von der Staatsgewalt zusammengeschla-
gen worden ist, die Weisheit mit auf den Weg zu geben, er solle mit dem Kampf aufhören, der
doch nur immer tiefer in die Scheiße hineinführe: Nur sollte dieser Kämpfer nicht meinen, er habe
durch die Tatsache, daß er zusammengeschlagen worden ist, das Recht erworben, seine theoreti-
schen Verallgemeinerungen als eine Wahrheit zu handeln, unter die andere Bedürfnisse und Inter-
essen zum Zwecke irgendeines übergeordneten, revolutionären Ziels subsumiert werden könnten.10
Das Kämpfen, das Handeln – das ist das eine; die Übersetzung dieser Kämpfe, ihre Ver-
mittlung in eine allumfassende Theorie oder Utopie, die sich als Weg aus dem Elend des Kapitals
begreift – das ist das gänzlich andere. Solche Theorien geben der schlechten Wirklichkeit einen
Sinn, der angesichts der objektiven Unsinnigkeit der existierenden kapitalistischen Reproduktions-
verhältnisse nicht hinreichend begründet werden kann.
Die Revolution ist nicht mehr das zwangsläufige Resultat der Menschheitsgeschichte,
sondern kann – sollten die objektiven Bedingungen denn doch einmal eintreten – nur die bewußte
Tat der Individuen sein, die die Revolution auch wollen – aus welchen Gründen auch immer, aus
welchen Schichten und Klassen sie auch immer stammen, welcher Bedürfnisse und Interessen
wegen sie sich auch immer für die antikapitalistische Revolution entscheiden. Man wird sich damit
abfinden müssen, daß wir die Befriedigung unserer Bedürfnisse auf irgendeine verallgemeinernde
und politisierende Weise im Hier und Jetzt organisieren müssen – daß wir aber demgegenüber
gleichzeitig die platte Wahrheit anzuerkennen haben, daß der Kapitalismus nur dann gestürzt wer-
den kann, wenn am richtigen Ort, zur richtigen Zeit das Richtige getan wird und daß es keinen
theoretisch hinreichend begründbaren Weg gibt, im voraus herauszufinden, was dieses Richtige
ist.
Aufgabe der Kritik ist es, in der Denunziation des Falschen diesen Gegensatz zwischen
konkret-aktueller Unmöglichkeit und abstrakter Notwendigkeit der Revolution immer wieder neu
zu aktualisieren und immer wieder vor allem dann in Erinnerung zu rufen, wenn irgendjemand
meinen sollte, er könne diesen Widerspruch schon unter kapitalistischen Bedingungen in die eine
oder andere Richtung auflösen – also entweder behauptet, die Revolutionierung sei aktuell mög-
lich, etwa indem man schon mal bei sich selber anfängt, oder nach der anderen Richtung hin mit
der Behauptung auflöst, die Revolution sei, da es uns allen doch so gut gehe, gar nicht mehr not-
wendig. Solange die Revolution sich nicht tatsächlich-praktisch vollzieht, kann die Aufgabe des
Intellektuellen nur darin bestehen, zum Kampf gegen das synthetisierende Denken aufzurufen,
gegen es bedingungslos auf der Würde jedes Einzeldings zu pochen und jedes Antasten dieser
Würde zu denunzieren, wo es nur geht. Es gilt, jedes Denken darin zu kritisieren, daß es, solange
es der Form nach in synthetisierenden Kategorien verbleibt, nichts weiter ist als der bewußtlose
gedankliche Reflex auf die Synthesis der Welt als einer kapitalistischen.

Dezember 1985

10
Vgl. Joachim Bruhn; Randale und Revolution. Das ,Konzept Stadtguerilla' und die Gewaltmythen der
Antiimperialisten und Autonomen, in: Klaus Hartung u. a., Die alte Straßenverkehrsordnung. Dokumente der
RAF, Berlin 1986, S. 157-174

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