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https://doi.org/10.1515/9783110722840-009
422 Gisela Bezzel-Dischner, 27. April 1967 289
Gisela Bezzel-Dischner
Frankfurt, Hans-Thoma-Str. 11
»Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.
Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjek-
tivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.« (27)¹
Dieser Satz aus der »Negativen Dialektik« zeigt, in welcher Weise die in der Se-
minarstunde aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Skepsis und Speku-
lation zu diskutieren ist.
Leiden, das als negative Objektivität definiert wird, gibt der abstrakten Gestalt
des Hegelschen Widerspruches ein reales Gesicht: das der gesellschaftlichen
Antinomien. Hegel behält recht, wenn er gegen den abstrakten Skeptizismus jene
Philosophie ausspielt, die »das Skeptische als ein Moment in sich enthält, näm-
lich als das Dialektische.«²[*1] Auf den Begriff der – solch abstrakten Skeptizis-
mus transzendierenden – Spekulation kann nicht verzichtet werden. Nur ist diese
nicht als das »Positiv-Vernünftige«, wie es Hegel definiert,³ zu akzeptieren. Bei
Hegel wird das Resultat, eben als Resultat das Positive. Gegen diese Form des
»Spekulativen oder Positiv-Vernünftigen«, das den Widerspruch zum Positiven
verklärt, richtet sich negative Dialektik.
Es gilt, die bestimmte Negation in der Auseinandersetzung mit der Gesell-
schaft zu entfalten und den Widerspruch, vorwärtstreibendes Moment der Dia-
lektik, nicht wie Hegel zur absoluten Bewegung zu ontologisieren.
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S. 27; vgl. GS, Bd. 6, S. 29.
»Wenn übrigens der Skeptizismus noch heutzutage häufig als ein unwiderstehlicher Feind alles
positiven Wissens überhaupt und somit auch der Philosophie, insofern es bei dieser um positive
Erkenntnis zu tun ist, betrachtet wird, so ist dagegen zu bemerken, daß es in der Tat bloß das
endliche, abstrakt verständige Denken ist, welches den Skeptizismus zu fürchten hat und dem-
selben nicht zu widerstehen vermag, wohingegen die Philosophie das Skeptische als ein Moment
in sich enthält, nämlich als das Dialektische.« (HW, Bd. 8, S. 176)
»Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entge-
gensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist.«
(Ebd.)
290 Negative Dialektik [I]
»Mit dem Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben,
das Aufklärung von dem positivistischen Zerfall unterscheidet, dem er sie zu-
rechnet. Indem er freilich das gewußte Resultat des gesamten Prozesses der Ne-
gation: die Totalität in System und Geschichte, schließlich doch zum Absoluten
machte, verstieß er gegen das Verbot und verfiel selbst der Mythologie.«⁴[*2]
Professor Horkheimer wies darauf hin, daß bei Hegel der Begriff selbst, auch der
des Widerspruchs, ein Subjektives bleibt.
Weil aber, entgegen der Identitätsthese, in negativer Dialektik der Gegenstand
im Begriff nicht aufgeht – allerdings der Begriff auch nicht zum bloßen nomi-
nalistischen Zeichen depraviert wird –, kann der Widerspruch an sich selbst nicht
positive Identität werden wie bei Hegel, sondern er ist »Index der Unwahrheit von
Identität« (15)⁵.
Negative Dialektik als »sich vollziehender Skeptizismus« im Gegensatz zum
»sich vollbringenden Skeptizismus« bei Hegel,⁶ der ein Ziel intendiert, bleibt
nicht abstrakte Negation, sondern hält sich als bestimmte Negation an die be-
stimmten Erscheinungsformen der Gesellschaft, deren Antagonismen sie auf-
deckt. Indem sie das Leiden am Bestehenden artikuliert, läuft sie nicht Gefahr,
sich zum absoluten Widerspruch zu verhärten. Negation ist, wie Professor Hork-
heimer betonte, immer streng an dem von Menschen vermittelten, veränderbaren
gesellschaftlichen Zusammenhang zu vollziehen.
Die Hegelsche Kritik jener Form von Skeptizismus, die bei abstrakter Negation
stehenbleibt, kann negative Dialektik nicht berühren, die als »sich vollziehender
Skeptizismus« den Satz von der Objektivität des Widerspruchs an der Objektivität
des gesellschaftlichen Zwangs, dem das Subjekt ausgeliefert ist, im Vollzug ve-
rifiziert und nicht ein Vollbrachtes anstrebt. Sie wird also bestimmte Negation
ohne den Umschlag in die Unwahrheit des Positiven: Die bestimmte Negation
wird in negativer Dialektik immer wieder neu, das heißt, sie ist in keiner Weise
vordefiniert wie die bestimmte Negation bei Hegel, die doch abstrakte Negation
bleibt, weil sie sich dem Begrifflosen, Nichtidentischen, Besonderen nicht aus-
setzt, sondern sich seiner im Begriff versichert.
Von der bürgerlichen Skepsis andererseits, »die der Relativismus als Doktrin
verkörpert« (45⁷)⁸, unterscheidet sich negative Dialektik durch den zwar negativ
evozierten, darum jedoch nicht weniger emphatischen Wahrheitsanspruch; sie
orientiert sich weder am Relativismus noch am Absolutismus »nicht, indem sie
eine mittlere Position zwischen beiden aufsucht, sondern durch die Extreme
hindurch, die an der eigenen Idee ihrer Unwahrheit zu überführen sind.« (43 f.)⁹
Indem der Begriff der Vermittlung ernst genommen wird, versucht negative Dia-
lektik dem einheitsheischenden Identitätsdenken Widerstand zu leisten.
»Die Wendung zum Nichtidentischen bewährt sich in ihrer Durchführung«
(155).¹⁰ Weder wird das Nichtidentische dem Begriff gewaltsam einverleibt und
ihm gleichgemacht noch als das unerhebliche »Besondere« ausgeschlossen.
Deshalb kann es keine festen logisch bestimmten Kategorien geben, diese können
nur, wie Professor Adorno erläuterte, »als notwendige Momente im Geflecht der
Erfahrung« gezeigt werden; die Dignität von Kategorien wird vielmehr der
»Konstellation« (162 ff.) zugesprochen,¹¹ in der sich das Kategoriale nur noch als
Moment bewährt, das nicht länger vom Nichtidentischen getrennt und verabso-
lutiert werden kann.
Entscheidend für diese – allem Apriorischen,Vorgeordneten widerstehende –
Intention scheinen mir Begriffe wie »Entfaltung« (25)¹², »Prozeß« (164)¹³, »Voll-
zug« (36 f.)¹⁴, »Verlauf« (26, 114)¹⁵, »Durchführung« (155) etc. zu sein, die ihre
Analoga in moderner Kunsttheorie haben.
Die »plötzlichen Erkenntnisse« kommen weder aus dem Nichts noch aus dem
Ewigen; sie leuchten, wie die Joyceschen Epiphanien, in Augenblicken auf, die
den eingeschliffenen Bewußtseinszusammenhang durchbrechen.
Philosophie ist nicht abzuspeisen mit Theoremen, die ihr wesentliches Interesse ihr ausreden
wollen, anstatt es, sei es auch durchs Nein, zu befriedigen. Das haben die Gegenbewegungen gegen
Kant seit dem neunzehnten Jahrhundert gespürt, freilich stets wieder durch Obskurantismus kom-
promittiert. Der Widerstand der Philosophie aber bedarf der Entfaltung. (Adorno, Negative Dia-
lektik, a. a.O. [s. Anm. 1], S. 25; vgl. GS, Bd. 6, S. 27)
Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich auf-
speichert. Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte,
hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch
einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer sondern eine Nummernkombination. (Adorno, Ne-
gative Dialektik, a. a.O. [s. Anm. 1], S. 163 f.; vgl. GS, Bd. 6, S. 165 f.)
Hegel hatte gegen die Erkenntnistheorie eingewandt, man werde nur vom Schmieden Schmied,
im Vollzug der Erkenntnis an dem ihr Widerstrebenden, gleichsam Atheoretischen. […] Der Gedanke,
der nichts positiv hypostasieren darf außerhalb des dialektischen Vollzugs, schießt über den Ge-
genstand hinaus, mit dem eins zu sein er nicht länger vortäuscht; er wird unabhängiger als in der
Konzeption seiner Absolutheit, in der das Souveräne und das Willfährige sich vermengen, eines vom
anderen in sich abhängig. (Adorno, Negative Dialektik, a. a.O. [s. Anm. 1], S. 36 f.; vgl. GS, Bd. 6,
S. 38 f.)
Auch Musik, und wohl jegliche Kunst, findet den Impuls, der jeweils den ersten Takt beseelt,
nicht sogleich erfüllt, sondern erst im artikulierten Verlauf. (Adorno, Negative Dialektik, a. a.O. [s.
Anm. 1], S. 25 f.; vgl. GS, Bd. 6, S. 27 f.) – Nichtig ist der unmittelbare Ausdruck des Unausdrück-
baren; wo sein Ausdruck trug, wie in großer Musik, war sein Siegel das Entgleitende und Ver-
gängliche, und er haftete am Verlauf, nicht am hindeutenden Das ist es. Der Gedanke, der das
Unausdrückbare denken will durch Preisgabe des Gedankens, verfälscht es zu dem, was er am
wenigsten möchte, dem Unding eines schlechthin abstrakten Objekts. (Adorno, Negative Dialektik,
a. a.O. [s. Anm. 1], S. 114; vgl. GS, Bd. 6, S. 116)
D. i. HJu, Bd. 8.
Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente, Amsterdam 1947.
423 Bernd Moldenhauer, 11. Mai 1967 293
Vgl.Vilfredo Pareto, Allgemeine Soziologie [1916], bes. von Hans Wolfram Gerhard, übers. und
eingel. von Carl Brinkmann, Tübingen 1955, S. 221– 224.
Der entsprechende Referatstext wurde nicht aufgefunden.
»Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch
die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zi-
vilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chine-
sischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren
zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich
anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei
sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach
ihrem eigenen Bilde.« (MEW, Bd. 4, S. 466)
Vermutlich eine Anspielung auf die VIII. »Geschichtsphilosophische These« Benjamins: »Die
Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben,
die Regel ist.Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird
294 Negative Dialektik [I]
uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen;
und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen
Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer hi-
storischen Norm begegnen. – Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwan-
zigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer
Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu
halten ist.« (BGS, Bd. I·2, S. 697)
423 Bernd Moldenhauer, 11. Mai 1967 295
Bernd Moldenhauer²²
Unterschrift.
296 Negative Dialektik [I]
Philosophisches Hauptseminar
Protokoll²³ der Sitzung vom 15. Juni 1967
Die Intention Wohlfarths ist es wohl ebenso wie die Adornos, Kritik am Ratio-
nalismus in seiner heutigen Gestalt zu üben und das zu retten, was er im un-
aufhaltsamen Fortschreiten immer mehr verhindert: das Glück der Menschen.²⁴
Doch können die Wohlfarthschen Thesen, gerade in dem Kontext der Nega-
tiven Dialektik, nicht unwidersprochen hingenommen werden. Es scheint sich in
ihnen eine Position abzuzeichnen, die von der Adornos wohl zu unterscheiden ist,
nämlich letztlich undialektisch Glück und ratio gegeneinander auszuspielen und
damit in einen Irrationalismus zu fallen. Der Verdacht, daß Wohlfahrt mit einigen
Formulierungen in bedenkliche Nähe zu Heidegger gerate, darf nicht als eine
böswillige Unterstellung falscher Prämissen oder Verzerrung des Zusammen-
hangs mißverstanden werden. Er wurde wohl geäußert aus der Besorgnis, daß
hier eine bloße Reaktion auf den Rationalismus vorliege, die sich ihres Charakters
als Reaktion nicht bewußt ist, und sich darin wiederhole, was aus der Geschichte
der Philosophie hinlänglich bekannt ist: wie berechtigte Kritik an der bloß par-
tikularen Rationalität in abstrakte Negation der ratio mündet. Ist es aus der
Perspektive dessen, der Kenntnis der ideologischen Ausbeutung irrationalisti-
scher Philosopheme hat, verantwortbar, eine Forderung auszusprechen wie die,
man müsse wagen, in den Abgrund zu springen?²⁵ Zwar verliert ein wahrer Ge-
danke nichts von seiner Wahrheit durch den Hinweis darauf, daß er mißver-
Die Verfasserin des Sitzungsprotokolls schickt einen Durchlag desselben an Horkheimer nach
Montagnola, begleitet von den Worten: »Sehr geehrter Herr Professor Horkheimer, / gestatten Sie,
daß ich Ihnen – auf die Veranlassung von Prof. Adorno hin – einen Durchschlag des Protokolls
der Seminarsitzung schicke, an der Sie teilgenommen haben. Ich glaube, daß ich im Namen des
ganzen Seminars spreche, wenn ich die Bitte hinzufüge, Sie mögen doch möglichst oft nach
Frankfurt kommen. / Helga Pesel.« (Archivzentrum Na 1, 902) – Horkheimer antwortet am 8. Juli
1967: »Sehr geehrtes Fräulein Pesel, / Nur ein Wort des Dankes für Ihr sehr schönes Protokoll der
Sitzung des Seminars vom 15. Juni. Ich habe mich ganz aufrichtig gefreut, nicht zuletzt auch mit
den begleitenden Worten. / Die im letzten Abschnitt angeschlagenen Themen sind so aktuell, daß
wir im nächsten Semester einmal eine eigene Sitzung darauf verwenden sollten. / Mit vielen
Grüßen / Ihr« (ebd.).
Irving Wohlfarth, »Zwei Thesen«, ebd.
So im Referat.
424 Helga Pesel, 15. Juni 1967 297
standen oder propagandistisch genutzt werden könnte. Das wäre gegen den
Einwand, wie er vorgebracht wurde, zu sagen. Aber ist es überhaupt wahr, daß der
Abgrund die Rettung sein kann? Kann ich, nachdem der Abgrund des Unbe-
wußten ständig mobilisiert wird, um aus der Welt eine Hölle zu machen, ihn noch
unbefangen für den Himmel in Anspruch nehmen?
Wenn in der Negativen Dialektik alle Kraft aufgeboten wird, um durch den
Begriff über den Begriff hinauszugelangen, so scheint dagegen in den Thesen
Wohlfarths der Vorschlag zu liegen, die Begriffe wegzuwerfen und zu sehen, was
danach noch übrig bleibt.
Wohl ist die Einsicht richtig, daß das Chaos des Mannigfaltigen der Er-
kenntnistheorie »zugleich Schrecken und Produkt des schwachen Ichs ist«
(Thesen S. 2), vom Denken selbst als sein Widerpart aufgerichtet; so daß identi-
fizierende ratio nachträglich verschlingen kann, was sie sich vorher als Fraß zu-
bereitete. Was Adorno den »paranoischen Eifer der bürgerlichen Philosophie«
nennt, »nichts zu dulden als sie selbst, und es mit aller List der Vernunft zu
verfolgen« (Negative Dialektik S. 31)²⁶, resultiert eben daraus. Aber es spiegelt
doch jede Erkenntnistheorie, wie immer auch verzerrt oder verkürzt, den Prozeß
wider, der die Menschheit aus der Naturverfallenheit herausführte. Das Chaos des
Mannigfaltigen ist nicht nur eine Projektion des identifizierenden Subjekts und
insofern dessen eigenes Produkt, das nur weganalysiert werden müßte, damit die
Welt korrigiert würde; sondern es ist, bezogen auf die Genesis von Kultur,
durchaus real. Das Ich denke, das alle unsere Vorstellungen soll begleiten kön-
nen,²⁷ ist Resultat der Anstrengung, die aus dem Naturzustand völliger Indifferenz
eine begriffliche Welt machte, wie schwach auch immer die Position von Vernunft
bis heute sein mag. Das Wahnhafte, das zumindest als Tendenz an allen philo-
sophischen Systemen sich aufzeigen ließe, hat seinen Grund wohl in eben dieser
schwachen Position von Vernunft, die alles begründen soll und doch sich selbst
nicht aus dem Naturzusammenhang zu lösen vermag.Vernunft spreizt sich auf als
das Absolute und ist doch bloß eine partikulare, die das Ganze, das sie zu setzen
vermeint, nicht erreicht. Partikulare Rationalität bedeutet die Irrationalität des
Große Philosophie war vom paranoischen Eifer begleitet, nichts zu dulden als sie selbst, und es
mit aller List ihrer Vernunft zu verfolgen, während es vor der Verfolgung weiter stets sich zurückzieht.
Der geringste Rest von Nichtidentität genügte, die Identität, total ihrem Begriff nach, zu demen-
tieren. (Adorno, Negative Dialektik, a. a.O. [s. Anm. 1], S. 31; vgl. GS, Bd. 6, S. 33)
»Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in
mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die
Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vor-
stellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung.« (KW, Bd. III, S. 136
[B 131 f.])
298 Negative Dialektik [I]
Ganzen, und Vernunft muß ohnmächtig bleiben, solange sie dessen sich nicht
besinnt.
Wenn geäußert wurde, daß in solcher Selbstreflexion des Denkens man ohne
die Psychoanalyse nicht auskomme,²⁸ so ist dem zuzustimmen. Philosophie an
dieser Stelle den Vorwurf des Psychologismus zu machen, ist nicht gerechtfertigt,
weil Psychoanalyse ihr spezifisches Interesse jenseits von Psychologie hat. Etwa
die für die Selbstbesinnung der ratio wesentliche Einsicht in den Zwangscha-
rakter des Systems wäre ohne die Erkenntnisse der Psychoanalyse schwerlich
begrifflich zu fixieren. Vorgeworfen wird Wohlfarth allerdings zu Recht, daß er in
dem Aufklärungsprozeß der Vernunft über sich selbst dem Unbewußten der
Psychoanalyse Schlüsselcharakter gibt. Der Sprung in den Abgrund des ins Un-
bewußte Verdrängten soll die Rettung sein. Kontrovers ist keineswegs die Inten-
tion: daß es alleine darauf ankomme, den partikularen Fortschritt und damit die
fortschreitende Irrationalität aufzuhalten und Fortschritt zu einem von Vernunft
zu machen.
Die notwendige Selbstreflexion von Vernunft hätte zu erkennen, daß ratio als
bloß quantifizierende schon entstellt ist, daß ihre qualitativen, unterscheidenden
Momente im Zuge ihres Fortschritts untergegangen, in quantitative aufgelöst
worden sind, und sie hätte zu versuchen, sich wieder in ein Verhältnis zum
Qualitativen zu bringen.
Ohne Zweifel hat die entstellte ratio die Individuen geprägt, und die schlechte
Realität steht in einem Kausalverhältnis zu dem von Verdrängtem vollen und
deshalb beängstigend irrationalen Unbewußten. Aber es tut zunächst gut, die
Begriffe zu klären: Das Unbewußte enthält nicht nur Verdrängtes, sondern
Triebregungen überhaupt, gleichgültig, welches Schicksal sie erleiden; und Triebe
sind allererst eine Naturkategorie. Insofern ist für die Irrationalität des Unbe-
wußten nicht Vernunft allein verantwortlich. Sublimierung des Triebes und Ver-
drängung spielen gleicherweise im Unbewußten sich ab, d. h., nur ihre Äußerung
wird bewußt. Wenn auch Freud kein immanent psychologisches Kriterium zur
Unterscheidung von Sublimierung und Verdrängung gibt, sondern die Differenz
sich an einem Äußerlichen, der Kultur, erweist, kann man doch wenigstens sagen,
daß im sublimierten Trieb nichts von Verdrängung ist. Er findet seine, wenn auch
nicht ursprüngliche Befriedigung, während der verdrängte Trieb aufgestaut wird
infolge der Befriedigungsversagung und zu unkontrollierbaren Reaktionsbildun-
gen neigt. Bei der Verdrängung sowohl als auch bei der Sublimation werden die
Menschen um die volle Triebbefriedigung betrogen. Allerdings gilt auch das
Umgekehrte: Volle und unmittelbare Befriedigung des Triebes ist ebenso ein Trug,
weil der umgekehrte Schluß nicht zulässig ist. Wie die Psychoanalyse lehrt,
schafft erst der Triebaufschub überhaupt die Fähigkeit, Lust und Unlust zu un-
terscheiden. Lust und Verbot sind voneinander abhängig, und im Verbot steckt die
ganze Kultur. Zeigt Freud im »Unbehagen in der Kultur« den Preis an Triebverzicht
auf, der für die Kulturleistungen dargebracht wurde und ständig weiter gezahlt
werden muß,²⁹ so ist dagegen zu fragen, ob er notwendig so hoch ist. Ist nicht der
Zustand einer versöhnten Gesellschaft denkbar, die keinen Triebverzicht fordert,
den Trieb aber auch nicht als blinden, irrationalen entläßt, sondern in der der
freigesetzte Trieb konvergiert mit einer mündigen ratio.
Es schien die kühne These Wohlfarths, über die traditionellen Begriffe von
Rationalität und Irrationalität hinauszugehen. Aber sie erwies sich beim näheren
Zusehen als ein bloßes Gegeneinanderstellen der Begriffe, ein Spiel mit der
Sprache. Das jenseits der ratio Stehende soll erreicht werden im Traum, der dem
Verdrängten zur Sprache verhelfe. Aber der Traum ist ein Verbündeter der
schlechten Realität, über die hinauszugelangen wäre. Er ist Flucht vor der Realität
und – wenn er glücklich ist – deren vorgetäuschte Bewältigung, psychische Ar-
beit, die dem Realitätsprinzip unterstellt ist; das Erlösende allerdings schlicht,
weil er Spannungszustände aufhebt. Aber weder kann der Traum für das Lust-
prinzip allein einstehen, noch gar Bände der Logik aufwiegen.
Wohl könnte man Freud nachweisen, daß er die Sphäre des Irrationalen mit
einem ganz rationalistischen, ökonomischen Denkmodell einzufangen sucht und
ihr damit nicht gerecht wird; daß er mit der Kategorisierung der psychischen
Abläufe Rationalität in die wesentlich irrationalen Vorgänge notwendig hinein-
trägt. Wenn am Freudschen Rationalismus kritisiert werden muß, daß die psy-
chischen Vorgänge weit differenzierter sind, als sie sich mit dessen Mitteln dar-
stellen lassen, so besteht doch zumindest die Verpflichtung, der Psychoanalyse
entlehnte termini so differenziert zu verwenden, wie sie an Ort und Stelle gemeint
sind. Kritik an der Unzulänglichkeit von Begriffen darf nicht, wie es in den Thesen
allem Anschein nach geschieht, stillschweigend zu deren Ersatz durch die Me-
tapher führen; das wäre unreflektierte Reaktion.
Nicht zu leugnen ist, daß zwangsläufig jedem Begriff etwas Metaphorisches
anhaftet, weil er nicht das Besondere, das er subsumiert, ausspricht, sondern nur
dessen allgemeines Bild, ein Schema. Es wäre an der Philosophie, eben diese
Freud schreibt, es sei »unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Trieb-
verzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung
oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese ›Kulturversagung‹ be-
herrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die
Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben.« (FGW, Bd. XIV, S. 457)
300 Negative Dialektik [I]
Bei Klages heißt es etwa: »Aus und vorbei ist es mit den Indianern, vorbei mit den Urbe-
wohnern Australiens, vorbei mit allen besten der polynesischen Stämme; die tapfersten Neger-
völker widerstreben und erliegen der ›Zivilisation‹; und soeben erlebten wir es, daß Europa
gleichmütig zusah, wie sein letztes Urvolk, die Albaner, die ›Adlersöhne‹, die ihren Stamm bis auf
die sagenhaften ›Pelasger‹ zurückführen, von den Serben zu Tausenden und Abertausenden
planmäßig umgebracht wurden. – Wir täuschten uns nicht, als wir den ›Fortschritt‹ leerer
Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt.
Unter den Vorwänden von ›Nutzen‹, ›wirtschaftlicher Entwicklung‹, ›Kultur‹ geht er in Wahrheit
auf Vernichtung des Lebens aus.« (Ludwig Klages, Mensch und Erde. Zehn Abhandlungen [1920],
5. Aufl., Stuttgart 1956 [Kröners Taschenausgabe; 242], S. 12)
Vgl. André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus 1924, in: André Breton, Die Manifeste des
Surrealismus, übers. von Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 9 – 43.
425 Udo Riechmann, 29. Juni 1967 301
»Die relativen Identitäten des gesunden Menschenverstands, die ganz, wie sie erscheinen, in
ihrer beschränkten Form auf Absolutheit Anspruch machen, werden Zufälligkeiten für die phi-
losophische Reflexion.« (HW, Bd. 2, S. 31)
»Wenn für den gesunden Menschenverstand nur die vernichtende Seite der Spekulation er-
scheint, so erscheint ihm auch dies Vernichten nicht in seinem ganzen Umfang. Wenn er diesen
Umfang fassen könnte, so hielte er sie nicht für seine Gegnerin; denn die Spekulation fordert in
ihrer höchsten Synthese des Bewußten und Bewußtlosen auch die Vernichtung des Bewußtseins
selbst, und die Vernunft versenkt damit ihr Reflektieren der absoluten Identität und ihr Wissen
und sich selbst in ihren eigenen Abgrund, und in dieser Nacht der bloßen Reflexion und des
räsonierenden Verstandes, die der Mittag des Lebens ist, können sich beide begegnen.« (Ebd.,
S. 35)
Adorno, Negative Dialektik, a. a.O. (s. Anm. 1), S. 41; vgl. GS, Bd. 6, S. 43.
302 Negative Dialektik [I]
Der mittlere, sich einfühlende Kunstverständige, der Mann mit Geschmack ist zumindest heute
und wahrscheinlich schon stets in Gefahr, die Kunstwerke zu verfehlen, indem er sie zu Projektionen
seiner Zufälligkeit erniedrigt, anstatt ihrer objektiven Disziplin sich zu unterwerfen, Valéry bietet den
fast einzigartigen Fall des zweiten Typus, dessen, der vom Kunstwerk durchs métier, den präzisen
Arbeitsprozeß weiß, in dem aber dieser Prozeß sogleich so glücklich sich reflektiert, daß er in die
theoretische Einsicht umschlägt, in jene gute Allgemeinheit, die nicht das Besondere fortläßt, son-
dern es in sich bewahrt und es aus der Kraft der eigenen Bewegung ins Verbindliche treibt. Er
philosophiert nicht über Kunst, sondern durchbricht, im gleichsam fensterlosen Vollzug des Ge-
staltens selber, die Blindheit des Artefakts. (GS, Bd. 11, S. 117)
425 Udo Riechmann, 29. Juni 1967 303
vergleicht,³⁶ kommt nicht ohne Schäden davon. Die ratio, wie sie sich in der
Neuzeit als Inbegriff quantifizierenden und kalkulierenden Denkens herausge-
bildet hat, abstrahiert von den Qualitäten der einzelnen Gegenstände. Das von
Leibniz definierte substitutionslogische Identitätsprinzip eadem sunt, quorum
unum potest substitui altere salva veritate,³⁷ entspricht dem gegen die qualitativen
Gebrauchswerte gleichgültigen Austauschverhältnis der Waren untereinander.
Gleichwohl enthält die ratio, insofern ihr Begriff den des analytischen Verstandes
enthält, das qualitative Moment der differenzierenden Analyse ununterschiede-
ner Identität. Erst »die Thätigkeit des Scheidens«, »die Kraft und die Arbeit des
Verstandes«³⁸[*3] ermöglichen es, »das Sein zu fixieren und es gegen den Über-
gang (ins Nichts) zu bewahren«³⁹[*4], es qualitativ zu bestimmen. Der analytische
Verstand differenziert zwar das zuvor Ungeschiedene, aber indem er die Momente
aus dem Zusammenhang herauslöst, in dem sie sich allererst konstituieren, fixiert
er sie auf abstrakte, gegeneinander indifferente Positionen. Der Eskamotion der
qualitativen Eigenschaft der Gegenstände, ihrer Gebrauchswerte durch eine bloß
quantitative, zurichtende ratio wäre zu begegnen nicht mit Irrationalität, sondern
mit einer verstärkten Konzentration der ratio auf die einzelnen Dinge. Die Irra-
tionalität des Systems ist die einer bornierten Rationalität.
»Wissenschaftliche Theorien sind allgemeine Sätze. Sie sind, wie jede Darstellung, Symbole,
Zeichensysteme.Wir halten es aber nicht für zweckmäßig, den Gegensatz zwischen ihnen und den
besonderen oder ›konkreten‹ Sätzen durch die Bemerkung zu kennzeichnen, Theorien seien nur
symbolische Formeln oder Schemata: auch die ›konkretesten‹ Sätze sind ja nichts anderes.
[Absatz] Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um ›die Welt‹ einzufangen – sie zu ratio-
nalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir arbeiten daran, die Maschen enger zu machen.«
(Karl R. Popper, Logik der Forschung [1935 (recte: 1934)], 2. Aufl., Tübingen 1966 [Die Einheit der
Gesellschaftswissenschaften. Studien in den Grenzbereichen der Wirtschafts- und Sozialwis-
senschaften; 4], S. 31)
»Quae eadem sunt, eorum unum alteri substitui potest salva veritate […]« (Gottfried Wilhelm
Leibniz, Demonstratio axiomatum de identitate ac diversitate [1686], in: Gottfried Wilhelm
Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften und der Akademie für Wissenschaften in Göttingen, 6. Reihe, Bd. 4, Teil A, hrsg.
von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, bearb. von Heinrich Schepers, Martin
Schneider, Gerhard Biller, Ursula Franke und Herma Kliege-Biller, Berlin 1999, S. 814 f.; hier:
S. 815).
»Die Tätigkeit des Scheidens ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten
und größten oder vielmehr der absoluten Macht.« (HW, Bd. 3, S. 36)
»Wenn der Gegensatz in dieser Unmittelbarkeit als Sein und Nichts ausgedrückt ist, so scheint
es als zu auffallend, daß er nichtig sei, als daß man nicht versuchen sollte, das Sein zu fixieren
und es gegen den Übergang zu bewahren. Das Nachdenken muß in dieser Hinsicht darauf ver-
fallen, für das Sein eine feste Bestimmung aufzusuchen, durch welche es von dem Nichts un-
terschieden wäre.« (HW, Bd. 8, S. 186)
304 Negative Dialektik [I]
[*1] Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philoso-
phie, Hamburg 1962,⁴⁰ S. 21 ff.
[*2] T.W. Adorno, Der Artist als Statthalter, in Noten zur Literatur, Frankfurt 1958⁴¹
[*3] Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952,⁴² S. 29
[*4] Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Hamburg 1959,⁴³
S. 107
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems
der Philosophie, in Beziehung auf Reinhold’s Beyträge zur leichtern Übersicht des Zustands der
Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, 1. Heft [1801], Hamburg 1962 (Philoso-
phische Bibliothek; 62a); vgl. HW, Bd. 2, S. 7– 138.
Vgl. Theodor W. Adorno, Der Artist als Statthalter [1953], in: Theodor W. Adorno, Noten zur
Literatur, Berlin und Frankfurt a. M. 1958, S. 173 – 193; vgl. GS, Bd. 11, S. 114– 126.
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes [1807], in: Georg Wilhelm
Friedrich Hegel, Sämtliche Werke. Neue kritische Ausgabe, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Bd.V,
6. Aufl., Hamburg 1952 (Philosophische Bibliothek; 114).
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im
Grundrisse (1830), 6. Aufl., hrsg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg 1959 (Phi-
losophische Bibliothek; 33).
426 Rolf Wiggershaus, 6. Juli 1967 305
Über der Frage, wieweit bei Sartre von Dispensation der Transzendenz die Rede
sein könne und was bei ihm Transzendenz heiße, entstand eine Diskussion über
die Differenz zwischen Sartre und Heidegger und über beider Beziehung zu
Fichte.
Die Veränderung, die von »Das Sein und das Nichts« bis zur »Kritik der
dialektischen Vernunft« eingetreten ist,⁴⁴ ließe sich als solche Dispensation der
Transzendenz verstehen. Diese bedeutet bei Heidegger den Übertritt des Seins ins
Seiende als ein subjektloses Geschehen. Das Sein ereignet sich; und was sich
ereignet, ist sanktioniert. Dem ist die absolute Spontaneität bei Sartre analog, die
in der Entscheidung ihre Freiheit manifestiert; und die Aktion, wie sie ausfällt, ist
als solche sanktioniert.
Daß Sartre solche absolute Spontaneität dem empirischen Subjekt zuordnet,
führte auf den Zusammenhang mit Fichte. Daß ein nicht zu sich selbst gekom-
mener Nominalismus solche Zuordnung ermöglicht, führte auf die Differenz zu
Heidegger.
Bei Heidegger wird Existenzialphilosophie zu Fundamentalontologie. Seins-
verständnis muß aus dem Sein erklärt werden. Dasein schlägt ins Sein um. Der
konsequent durchgeführte Nominalismus führt auf reine Vermittlung, subjekt-
loses Ereignis.
Bei Sartre steht der Insistenz auf eine mögliche Ontologie zutiefst ein extre-
mer Nominalismus gegenüber. Freiheit soll aus der absoluten Spontaneität des
Subjekts erklärt werden.Weil diese ans empirische Subjekt gebunden bleibt, steht
es unvermittelt da. Der Nominalismus kommt nicht zu sich selbst. Demgegenüber
bleibt deshalb die Insistenz auf mögliche Ontologie unreflektiert. Im Gegensatz zu
Heidegger wird auf diese bei Sartre immer mehr verzichtet.
Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts.Versuch einer phänomenologischen Ontologie
[1943], hrsg. und übers. von Justus Streller, Hamburg 1952, sowie Jean-Paul Sartre, Kritik der
dialektischen Vernunft, 1. Bd., Theorie der gesellschaftlichen Praxis [1960], übers. von Traugott
König, Reinbek bei Hamburg 1967.
306 Negative Dialektik [I]
keit und neuerlichem Formalismus, bei Heidegger zur reinen Vermittlung und
einem neuen Nominalismus. Bei Heidegger stiftet das Sein als Geschick alles,
selbst was die Individuen denken. Bei Sartre führt das vorhegelsche Moment
abstrakter Identität zur Unmöglichkeit jeder Entscheidung von Gut und Böse.
Abstrakte Moralität und allzu konkrete Sittlichkeit konvergieren ebenso gut wie
Andenken des reinen Seins und Stummwerden des Seienden.
In der Diskussion über Namen und Tradition – orientiert am Verhältnis von
Benjamin und Adorno, Adorno und Heidegger – ging es um jene der Wahrheit
zugehörigen Momente, die dem Positivismus Anathema sind. In Momenten wie
der Rhetorik, sofern sie den konstitutiven Charakter der Darstellung für die
Wahrheit herausheben, liegt Entscheidendes für den Gehalt. Durch sie soll ins
Denken formal jenes Moment der Objektivität – nämlich Gesellschaft – eingehen,
das die gängige Wissenschaftslogik außer Kraft setzt. Die Philosophie ist nicht
unmittelbar des Namens mächtig. Angesichts der Unversöhntheit würde das den
Verlust verbergen, der zur Konstellation von Begriffen nötigt. Deshalb wird sie in
die gesamte Problematik der Philosophie hineingerissen.
Das folgt ebenfalls aus der Reflexion der Tradition, um diese zu entgiften.
Nicht so sehr die Traditionsbedingtheit überhaupt des Denkens ist gemeint, als
daß Denken der bloßen Form nach Tradition in sich hat, von ihr konstituiert ist.
Denken, in dessen Form sich vergangene Inhalte niedergeschlagen haben, muß
reflektiert werden. Nur dann kann seine Zugerüstetheit gelockert werden, um über
Tradition hinauszugehen. Andernfalls, durch Zusammenziehen auf einen di-
mensionslosen Punkt, verfällt es gerade der Tradition. Indem es von der Zeit
abstrahiert, folgt es deren Zug.
Damit begann der Übergang zu jenen Teilen, die sich mit Heidegger be-
schäftigen.⁴⁵ Dessen Philosophie ist mit dem Anspruch auf absoluten Neubeginn
verknüpft. Das soll dank der Geschichtlichkeit des Denkens möglich sein, das im
Sein gründet. Damit wird aber zugleich die ganze Tradition absolut gesetzt. Ver-
gessen angesichts des Seienden konserviert das Vergangene. Das geschichtslose
Denken wird abhängig von seiner konservierten Tradition. Das Hinausgehen über
Tradition wird zum Rückgang in den Mythos.
Vgl. den Teil Verhältnis zur Ontologie (GS, Bd. 6, S. 67– 136) mit den Abschnitten Das ontolo-
gische Bedürfnis (ebd., S. 69 – 103) sowie Sein und Existenz (ebd., S. 104– 136).