Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Juni 1971
Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at http://www.jstor.org/page/
info/about/policies/terms.jsp
JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content
in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship.
For more information about JSTOR, please contact support@jstor.org.
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Zeitschrift für Theologie
und Kirche.
http://www.jstor.org
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Lutherund der Anbruch der Neuzeitנ
Gerhard Ebeling
Hegel die Reformation »die Alles verklärende Sonne, die auf jene
brechenden Tage, dem die Nacht weicht, hat als Ausdruck für einen tiefen
Umbruch der Zeiten eine lange Geschichte 3. An sie sei jetzt bloß andeu
tungsweise erinnert und nur so weit, wie das Verständnis der Reforma
Daß nach einer Zeit ägyptischer Finsternis durch Luthers Wort und
Wirken das Licht des Evangeliums wieder aufgegangen sei, stellt im Zeit
1 für Lutherforschung am
Vortrag auf dem Vierten Internationalen Kongreß
22. August 1971 in St.Louis/Miss., USA. Die dort vorgetragene englische Fassung
wird in einem Kongreßbericht publiziert, der in USA erscheinen wird. Die hier
veröffentlichte deutsche Fassung lag Gastvorlesungen in Wien und Fribourg zu
gründe.
3 Ich zitiere soweit nicht anders nach der Jubiläumsaus
Hegel, angegeben,
gäbe von H.Glockner: 11, 519.
3 Rom 13, 12.
Vgl. die eschatologische Verwendung
1 Schon in Melanchthons Leichenrede 22. Februar 1546, CR
auf Luther vom
XI, 728: Lutherus veram et necessariam doctrinam patefecit. Fuisse enim tene
bras in Doctrina de poenitentia densissimas, manifestum est. In deutscher Über
Martin Luther und die Reformation im Urteil des deut
Setzung bei E. W. Zeeden,
sehen Luthertums II, 1952, 3. Ferner besonders Matthias Flacius Illyricus, Eccle
siastica historia, Cent. II Praef. (Zeeden II, 46): ... tempora quidem Germanici
prophetae Martini Lutheri, cuius voce ac ministerio lux Evangelii quasi e tenebris
revocata est, propemodum Apostolorum aetati respondent. J.F. von
Aegyptiacis
der Straß (sub presidio J. C. Dannhaueri), Memoria Thaumasiandri Lutheri, 1661,
1 f (Zeeden II, 125 f): Lux haec preciosissima, post Christi in coelos ascensionem ...
ministerio Apostolorum et Apostolicorum virorum ore et calamo per totum mun
dum clarissime diffusa fuit. Sed dormientibus hominibus sub Antichrist! tyrannide
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
186 Gerhard Ebeling
Statt auf das öffentliche Kundwerden des Evangeliums kann das Bild
wort übrigens auch auf die innere Erleuchtung bezogen werden, die
aspekt neben anderen. Und ferner: In dem Prozeß des Geistes, der zum
(heu quanta miseria) obscurata est. ... Obducto itaque his rebus pessimis Ecclesiae
coelo, tenebrae erant crassae, non quidem penitus lux Evangelii interierat, nec
tarnen etiam ita fulsit, ut diem esse quis dicere posset et non nisi raro tenues
emisit radios. ... Misertus igitur est Deus Ecclesiae suae, Papali tyrannide pressae,
et votis et gemitibus piorum exoratus Heroem Christianum ... excitavit, qui doc
trinam Evangelii a variis corruptelis ita repurgavit, ut piis novam lucem exoriri
videretur. Heros ille fuit Martinus Lutherus... Vgl. Zeeden II, 43. 66; ferner
15. 20. 24.
5 J. Lutherus defensus. Das ist / Gründliche dessen /
Müller, Wiederlegung
was die Bäpstler D. Lutheri Person fürwerffen, (1634) 1645, 250f (Zeeden II,
11 δ f):
113 f) »Also sehen wir am Tage / daß es Liecht worden sey [gemeintist die Luther
widerfahrene Erleuchtung] / ob wir gleich die Minut nicht wissen / wann das
Liecht vollkommen worden sey. Also thut auch nicht vonnöthen / daß wir genaw
müssen wissen / welch Jahr und Tag Lutherus vollkommen sey erleuchtet wor
den ...«
6 Im Unterschied zu dem
vielerörterten ist die
Begriff Geisteswissenschaften
Geschichte des Wortes »Geistesgeschichte« (»geistesgeschichtlich«), das sich m.W.
bei Hegel nicht findet, bisher, soviel mir bekannt ist, kaum untersucht worden.
Es handelt sich offensichtlich um eine innerhalb Metho
geisteswissenschaftlicher
dik erfolgte Verengung zu einem partialen Geschichtsaspekt. Vgl. ζ. Β. H. Rickerts
kritische Abgrenzung dagegen, daß »man sich einseitig an der sog. >Geistesge
schichte < im Gegensatz zur politischen oder zur Wirtschaftsgeschichte orientiert«
(Die Grenzen
der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einlei
tung in die historischen Wissenschaften, 1929®, 591). Vgl. auch die häufige Un
terscheidung von Kirchen- oder Theologiegeschichte und (allgemeiner) Geistes
geschichte.
'
11, 524.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 187
Doch auch dort, wo das Urteil über die Reformation schroff ins Gegen
teil umschlägt, bei Jacob Burckhardt10 und Friedrich Nietzsche11 und
deren Gefolge, wird daran festgehalten, den Anbruch der Neuzeit als
wird die Rolle der Reformation dabei nun ganz anders eingeschätzt.
»Wäre Luther verbrannt worden wie Huß«, so meinte Nietzsche, dann
wäre »die Morgenröte der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit
sance der Aufgang einer neuen Zeit bereits in vollem Gange gewesen
sei13.
nur den scharfen Kontrast von Finsternis und Licht, sondern erlaubt
Dämmerung kündigt das Ende der Nacht Em, die Morgenröte den Sonnen
aufgang. Und dieser wiederum ist nur der Beginn des Tages, an dem die
alles verklärende Sonne ihren Lauf nimmt und ihr Werk verrichtet.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
188 Gerhard Ebeling
und Neuzeit. Das Licht des Evangeliums mag von immer neuen Ver
gültigen. Und ebenso verbindet sich mit dem Licht der Vernunft die
sei auf halbem Wege stehengeblieben, habe sich sogar reaktionär wieder
14 Der Hinweis auf Prophezeiungen, die sich in Luther erfüllt haben sollen
(vgl. z.B. Zeeden II, 12. 63—66. 98), lenkt zwar gerade von der historisch-geneti
sehen Fragestellung ab, die jener Zeit ohnehin völlig fern lag. Durch Äußerungen
über Tauler, Huß, von Staupitz u.a. hatte Luther einige, freilich sehr subjektiv
gefärbte Andeutungen in dieser Hinsicht gemacht.
15 Vor allem in der Vorrede zu Band I der Opera Latina der Wittenberger
1545:
Ausgabe,Ausgabe, WA 54; 179, 22ff 183, 21 ff (= Β0Α 4; 421, 26ff 425, 21 ff).
16 Z.B. Thomas Hochverursachte Schutzrede...
Müntzer, (1524) (in: Thomas
Müntzer, Politische Schriften, mit Kommentar hg. v. C.Hinrichs, 1950), 101, 545f
vgl. 97, 479-481 (= Thomas Müntzer, Schriften und Briefe. Krit. Gesamtausgabe,
hg. v. G.Franz, 1968, 542f, 27f vgl. 340, 14—16). Die Angaben verdanke ich
Reinhard Schwarz. Vgl. ferner W. Schaufele, Das missionarische Bewußtsein
und Wirken der Täufer (Beiträge zur Gesch. u. Lehre d. Ref. Kirche 21), 1966,
43-48.
17
Vgl. Zeeden II, 4 (Melanchthon). 104 (E. Willich). 129f (J. Μ. A. Musäus).
157f (V.L. Frhr. V.Seckendorf). 186. 188f. 191 (Ph.J.Spener). 218-222 (G.Ar
nold).
48 Zeeden 198-200
II, (Ph.J.Spener).
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 189
in bezug auf die Wertung von Luthers Person haben sich dann in und
2. Hegel
sich im strengen Sinne allerdings erst für Hegel. Die Vorbedingung dafür
die innere Bewegung des Geschehens achtet und deshalb alles in seiner
Eindruck ist darum der, hier werde auf Grund einer dogmatischen Vor
Zum Mittelalter wie zur Neuzeit hin laufen eng ineinander verschlun
und Beziehungen. Hegel erkennt wohl, daß das
gen positive negative
der Subjektivität nicht einfach durch die Reformation aufgebracht
Prinzip
wrurde 22. Zu der am Ende des Mittelalters, die der alles ver
Morgenröte
klärenden Sonne voraufging, gehören all die bekannten Erscheinungen,
die erkennen lassen, daß der Mensch wieder Zutrauen zu sich selbst und
13 ZThK 69/2
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
190 Gerhard Ebeling
Hegel erst der reformatorische Glaube die wahre Legitimation, damit aber
auch die kritische Norm für diejenige Bewegung vom Mittelalter zur Neu
zeit, die an sich ohne die Reformation im Gange ist, sich aber ohne die
Dessen Verderbnis hat nach Hegel darin ihre Ursache, daß die Präsenz
des Ewigen in der Welt, die Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen
— das wie er mit einer änigmatischen Formel — veräußer
»Dieses«, sagt25
licht worden ist26. Aberglaube, äußere Autorität, Askese und Verdingli
chung der Heilsmittel sind die Symptome27. Als prägnanteste Erschei
nungen nennt er die Anbetung der Hostie und das Verlangen nach dem
Besitz des heiligen Landes, insbesondere des heiligen Grabes, das dann
aber als erobertes leeres Grab ein Enttäuschungserlebnis hervorrief und
damit die Peripetie des Mittelalters auslöste 28. Hegel wäre jedoch völlig
mißverstanden, wenn man ihn bestrebt sähe, die Verknüpfung des Welt
liehen und Ewigen aufzulösen, während es ihm gerade um den rechten
Ort und die rechte Art dieser Verknüpfung geht29. Darin weiß sich Hegel,
24
19, 255: »Dieß Gelten des Subjektiven hat nun jetzt einer höheren Bewäh
rung und der höchsten Bewährung bedurft, um vollkommen legitimirt zu seyn,
und sogar zur absoluten Pflicht zu werden; und um diese Bewährung erhalten
zu können, hat es aufgefaßt werden müssen in seiner reinsten Gestalt. Die
höchste Bewährung des Princips ist nun die religiöse Bewährung: so daß dieß
Princip der eigenen Geistigkeit, der eigenen Selbstständigkeit erkannt wird in der
Beziehung auf Gott und zu Gott; dann ist es durch die Religion geheiligt. Die
bloße Subjektivität, bloße Freiheit des Menschen, daß er einen Willen hat, und
damit dieß oder jenes treibt, berechtigt noch nicht; der barbarische Wille, der sich
nur mit subjektiven Zwecken erfüllt, die nicht vor der Vernunft Bestand haben,
ist nicht berechtigt.«256: »So ist hier das Princip der Subjektivität, der reinen
Beziehung auf mich,die Freiheit, nicht nur anerkannt: sondern es ist schlechthin
gefordert, daß es nur darauf ankomme im Kultus, in der Religion. Dieß ist die
höchste Bewährung des Princips, daß dasselbe nun vor Gott gelte, nur der Glaube
des eigenen Herzens, die Überwindung des eigenen Herzens nöthig sey; damit ist
denn dieß Princip der christlichen Freiheit erst aufgestellt, und zum Bewußtseyn,
zum wahrhaften Bewußtseyn gebracht worden.«
25 Über das »Dieses« als konkreten Inhalt unmittelbarer Gewißheit des »Jetzt«
und »Hier«: 2, 81-92. In religiöser Hinsicht: 11, 494-499. 520-523.
26
19, 265.
"
11, 520 f.
28
11, 494-499.
28 1 9 26 6: »Das
, Princip der inneren Versöhnung des Geistes war an sich die
Idee des Christenthums, aber selbst wieder entfernt, nur äußerlich, als Zerrissen
heit, unversöhnt. Wir sehen die Langsamkeit des Weltgeistes, diese Äußerlichkeit
zu überwinden. Er höhlt das Innere - der die äußere
aus, Schein, Gestalt, bleibt
noch; aber zuletzt ist sie eine leere Hülse, die neue Gestalt bricht hervor.«
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 191
als Anwalt des christlichen Glaubens in der Neuzeit, mit Luther eins:
»Luther's einfache Lehre ist, daß das Dieses, die unendliche Subjectivi
tat, d.i. die wahrhafte Geistigkeit, Christus, auf keine Art in äußerlicher
Weise gegenwärtig und wirklich ist, sondern als Geistiges überhaupt nur
es also, »daß der Mensch in Verhältniß zu Gott stehe, und ... seine Fröm
migkeit und die Hoffnung seiner Seligkeit und Alles dergleichen erfor
dere, daß sein Herz, sein Innerstes dabei sey. ... Der Mensch selbst müsse
Buße, Reue an ihm selbst in seinem Herzen thun, und sein Herz müsse
Art. Der Geist tritt nicht gleich in der Vollendung auf33. Wie sich nach
den Anfängen des Christentums erst allmählich die kirchüche Lehre aus
bildete, so entsprechend hier: Die Freiheit des Geistes begann mit Luther,
aber nur im Kerne und bedurfte darum in der Folgezeit der Explikation 34.
Sie blieb zunächst auf das religiöse Gebiet beschränkt35. Es galt jedoch,
dieses Prinzip dann auch in die Welt hineinzubilden und vor allem den
sagt die lutherische Kirche, daß sie nur der heilige Geist bewirkt, d.h. eine Ge
wißheit, die nicht dem Individuum nach seiner particularen Besonderheit, son
dern nach seinem Wesen zukommt.«
32
11, 524.
33
11, 532.
31
19, 254f.
35 1 9 2 5 8: »Dieß innerhalb der Religion, da
, Princip nun ist zuerst aufgefaßt
durch hat es seine absolute Berechtigung erhalten, ist aber zunächst nur in Be
ziehung auf religiöse Gegenstände gesetzt erschienen; es ist noch nicht ausgedehnt
auf die weitere Entwicklung des subjektiven Princips selbst.« 11, 532: »Die Ver
Gottes mit der Welt war zunächst noch in abstracter Form, noch nicht zu
söhnung
einem Systeme der sittlichen Welt entwickelt.«
י. ,11
8524 Ebd. 526: »Doch war zu einer politischen Umgestaltung, als Con
Sequenz der kirchlichen Reformation, die Welt damals noch nicht reif.«
13*
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
192 Gerhard Ebeling
was in der Reformation schon da und was in ihr noch nicht da ist; daß die
Neuzeit mit Recht über die Reformation hinausgeht und doch, recht ver
standen, nichts anderes sein kann als eine Ausführung des Vermächtnisses
der Reformation.
Hier hegt allerdings auch die Ursache von Konflikten zwischen der Neu
zeit und der empirischen Gestalt des Protestantismus. Der religiöse Inhalt
etwas Äußerliches und Fremdes, anstatt daß er spekulativ auf seine Wahr
heit hin erfaßt wurde. Dadurch kam in die geistige Freiheit der Keim
preis, bei welcher der Inhalt geistlos wird40. Beide Erscheinungen, Pietis
mus und rationale Bibelwissenschaft, die gemeinhin als Zeichen des
blieben ist.
3.3. Troeltsch
י3 .258
,19
33 1 9 25 9.
,
33 53 2f.
11,
40 1 9 »Ein anderes und unrichtiges
261: Verhalten zu dem Inhalt ist, denselben
,
äußerlich zu nehmen, z.B. nach dem großen neuen Princip der Exegese, daß die
Schriften des neuen Testaments behandelt werden sollen, wie ein griechischer oder
lateinischer und anderer Schriftsteller, kritisch, philologisch, historisch. Das we
sentliche Verhalten des Geistes ist nur für den Geist. Und es ist ein verkehrtes
Beginnen einer störrischen Exegese, auf solche äußerliche philologische Weise die
Wahrheit der christlichen Religion zu erweisen, wie dieß die Orthodoxie gethan
hat; der Inhalt wird so geistlos.«
41 Mit dieser deute ich an, wie sich Troeltschs historische
Bezeichnung Frage
Stellung, vor allem durch Aufnahme der sozialgeschichtlichen Aspekte, zu einer
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 193
großen Tradition der Kirche einige Glaubensinhalt gab den Reformatoren die
heroische Kraft, Apparat und Disziplin der Kurie abzuschütteln und kirchenbil
dend zu wirken. Aber zugleich muß es doch dabei bleiben: dieser Zusammenhang
religiöser Begriffe ist nicht der Ausgang des Dogma, das )Ende des alten dogmati
sehen Christentums< ..., sondern hat dieses überall zu seiner notwendigen Vor
aussetzung. Er steht und fällt selbst mit dem Dogma. Ja sogar das mönchische,
franziskanische religiöse Ideal muß als die Voraussetzung für die Lehre von der
Sünde und von dem Unvermögen zum Guten angesehen werden. In dem Maße,
in welchem die Erbsündenlehre von dieser dualistisch motivierten Unterlage los
gelöst wurde, mußte sie zu einer ganz unhaltbaren Darstellung der Erfahrungen
über die Menschennatur greifen.« Vgl. Bornkamm (s.o. Anm. 8), 100-103.
31L-323; v.Loewenich (s.o. Anm. 8), 48-55; E.-W.Kohls, Das Bild, der Refor
mation bei Wilhelm Dilthey, Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch (NZSTh 11,
1969, 269-291).
48 Lehrbuch der Dogmengeschichte III, 19325, 809: »Die
(1889) Reformation,
wie sie sich in dem Christenthum Luther's darstellt, ist ... in vieler Hinsicht eine
eine mittelalterliche auf ihren
altkatholische, resp. auch Erscheinung, dagegen
religiösen Kern beurtheilt, ist sie es nicht, vielmehr Wiederherstellung des pauli
nischen Christenthums im Geiste einer neuen Zeit.« 810f: »Es ist eine ganz ein
seitige, ja sträflich abstracte Betrachtung Luther's, die in ihm den Mann der neuen
Zeit, den Helden eines heraufsteigenden Zeitalters oder den Schöpfer des moder
nen Geistes feiert.« Bornkamm (s.o. Anm. 8), 83f. 290-297; v.Loewenich
Vgl.
Anm. Harnack and Troeltsch. Two Historical Theo
(s.o. 8), 118-129; W.Pauck,
logians, 1968; Kohls (s.o. Anm. 42), 278-285.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
194 Gerhard Ebeling
Wie Hegels Auffassung dahin vereinfacht wurde, Luther sei der Ban
man jedoch bei beiden auf die Nuancen, so rücken sie einander näher.
Bereits bei Hegel zeichnen sich die Problemstrukturen ab, die dann, mit
viel reicherer geschichtlicher Anschauung gefüllt und darum wesentlich
Mittelalter zur Neuzeit, wobei sich beide der innersten Intention Luthers
ihnen sind die neuen religiösen Impulse und deren Rolle im Umbruch
der Zeiten wohl zu unterscheiden. Und endlich: Hegel wie Troeltsch
sind sich auch der Ambivalenz der Reformation und deren geschichtlicher
Auswirkung bewußt, des Zwielichts von Schon und Nochnicht, der wider
kapselung.
Dennoch hat sich die Sicht bei Troeltsch44 unverkennbar verändert.
Obwohl mit Hegel letztlich einig in dem Zielgedanken einer Integration
von Religion und Philosophie45, erhebt er doch im Unterschied zu ihm
nicht den Anspruch, die notwendige Explikation der Idee nachzuzeichnen,
sondern beschränkt sich darauf, rein erfahrungsimmanent das ungemein
komplizierte Verhältnis der aufeinanderfolgenden und sich ineinander
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Lutlier und der Anbruch der Neuzeit 195
Das antithetische Verhältnis der Neuzeit zum Mittelalter war für Hegel
liehen Prinzips, das sich mit dem Bewegungsziel des Weltgeistes selbst
deckt. Für Troeltsch hingegen sind die Wesenszüge der Neuzeit als sol
Relativismus,
barungswahrheitbarungswahrheit gegen asketische Ausrichtung auf das Jen
48
Bed., 7.
47 Eine exakt
chronologisch vorgehende Untersuchung dessen, wie Troeltsch
bei der geschichtlichen Einordnung der Reformation die Akzente und Nuancen
verändert und unter welchen Einflüssen dies geschieht, wäre in Anbetracht der
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
196 Gerhard Ebeling
liehen sind die beiden Hauptprinzipien der Moderne ®1. Nicht daß Troeltsch
Aber er ist tief davon durchdrungen, daß die Gestaltung des religiösen Le
bens in der modernen Welt ein äußerst dunkles Problem darstellt 52. So hat
bruchs zur Neuzeit kann das Mittelalter nun doch als »der mächtige
alles Lebens« 53 werden.
Mutterschoß westeuropäischen gewertet
Den positiven Anteil Luthers und der Reformation an der Entstehung
der Neuzeit hatte schon Hegel auf den religiösen Aspekt beschränkt.
Doch weil ihm die Neuzeit mit der Idee des Christentums untrennbar
verbunden schien, hatte für ihn der religiöse Faktor bei der Genesis der
Hegel das protestantische Prinzip, wie es für die Neuzeit relevant ist,
" 250.
IV,
2י 435.
Prot.,
53 433.
Prot.,
34 »Es ist damit nicht gesagt, daß alle israelitisch-christlichen
16: Kräfte
Bed.,
des religiösen Lebens wurzellos geworden seien. Aber so, wie sie die Erlösungs
anstalt der autoritativen, für das Jenseits erziehenden und disziplinierenden Kirche
zu begründen vermochten, sind sie allerdings außerordentlich matt und schwach
geworden. Sie können keine kirchliche Kultur mehr erzeugen und tragen.« 30:
»...von einer Wirkung des Protestantismus zur Herbeiführung der modernen
Kultur kann nur in bezug auf die verschiedenen Gruppen des Altprotestantismus
die Rede sein, während der Neuprotestantismus selbst ein Bestandteil der moder
nen Kultur und von ihr tiefgreifend beeinflußt ist.« IV, 215: »In Wahrheit ist
die neue Religion der Gnade, des Glaubens und der Erwählung eine ungeheure
Vereinfachung der Religion, eine gründliche und Verpersön
Verinnerlichung
lichung, eineWiedereinsaugung des Moralismus in die religiöse Idee; es bedurfte
nur der Ablösung von dem scholastischen Weltbild, von den christologisch-trini
tarischen Dogmen, von der übernatürlichen Offenbartheit der Schrift und von der
anthropomorphen Gottesidee, um daraus die ganze Welt heutiger religiöser In
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 197
phetentum und dem Christentum entstammt59. Das sind aber nur unter
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
198 Gerhard Ebeling
mus für die moderne Welt in der Tat schöpferisch geworden ist, betrifft
dasjenige Gebiet, auf dem die Moderne von sich aus Mangel leidet, näm
lieh die Religiosität60. Unter diesem Aspekt verschiebt sich bei Troeltsch
die Fragestellung: von dem, was die Neuzeit konstituiert, zu dem, wessen
sie bedarf; von der Einwirkung des Protestantismus auf die Neuzeit zur
Einwirkung der Neuzeit auf den Protestantismus. Das erste, weil nach
Troeltsch die Moderne sich selbst nicht genügen kann, sondern einer
unterliegen, sondern sich mit dem neuen zu amalgamieren, und zwar viel stärker
zu amalgamieren, als das auf seine Weise auch der Katholizismus in der Kultur der
ziehung gerade seine religiöse Kraft und Grundidee zu dem religiösen Wesen des
modernen Geistes steht, ob dieses, wie es auch in der Gegenwart seine relative
Unabhängigkeit von den einzelnen Kulturgestaltungen besitzt, in ihm wesentlich
wurzelt und von ihm bestimmt ist. Die Frage nach seiner Bedeutung für die Ent
stehung der modernen Welt fällt nicht zusammen mit der nach seiner Bedeutung
für die der modernen Kultur. Denn diese ist nicht identisch mit dem in ihr sich
aufringenden religiösen Leben. Es bleibt die letzte Frage die nach dem Verhältnis
der protestantischen Religiosität zur modernen Religion, zu der mit der modernen
Kulturwelt zusammenhängenden, aber in ihr nicht erschöpften Religion.« IV,
206206
f: »In England haben Locke und der Deismus, in Frankreich Rousseaus Men
schenrechte und Gefühlsreligion, in Deutschland die mit Leibniz, Lessing und
Kant eröffnete deutsche Religionsphilosophie eine neue Religiosität nicht aus sich
begründet, aber von sich aus bedingt und zur Einfügung in ein neues Bild der
Dinge und in ein neues Ideal der Gesellschaft und Kultur genötigt. Alles das ist
nicht ohne den Protestantismus geschehen, negativ überhaupt durch Zerbre
chung des Kirchentums ermöglicht und positiv aus vielen Lebenssäften des Pro
testantismus genährt, aber nach andern Seiten hin von den Nachwirkungen der
Renaissance und des Humanismus und von dem konfessionell gänzlich unherühr
ten Geiste der neuen Philosophie aufgebaut. So gesehen erscheint der Protestan
tismus als Vorbedingung und Anreger einer neuen, spezifisch modernen, jeden
falls von dem Kirchenwunder und altchristlichen Dogma gelösten Religiosität.«
61 Troeltsch hält es (Bed., 92) für einen »geschichtlichen Erfahrungssatz«,
»daß ohne religiöse Grundlage, ohne Metaphysik und Ethik, ein einheitlicher
und starker Kulturgeist unmöglich ist«. »So wird man auch rein tatsächlich sagen
dürfen, daß die Religion der modernen Welt wesentlich vom Protestantismus
bestimmt ist und daß hierin seine stärkste historische Bedeutung liegt. Freilich
ist es kein einheitlicher Protestantismus. Es ist ein tief und innerlich gewandelter
...« Vgl. auch Troeltschs Urteil über die geschichtliche der drei
Abhängigkeit
neuen Gewalten (der modernen Naturwissenschaft, der von daher verwandelten
Philosophie und des neuen politischen Systems nationaler Großstaaten) von den
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Lutlier und der Anbruch der Neuzeit 199
stantismus nicht von sich aus der Moderne zu einer ihr gemäßen Religion
verhelfen kann, ohne selber unter dem Einfluß der Neuzeit eine tief
von ihm her, erschließt sich überhaupt erst, was bereits bei Luther und
der Reformation an Ideen verborgen war, die in die Neuzeit weisen, die
Mittelalters) und über das bleibende Angewiesensein auf diese, IV, 205: »Dieses
Neue hängt nun aber mit den alten Urgewalten nicht bloß überall näher oder
lungen auszuwirken fortfahren, sondern auch mit den neuen modernen Elemen
ten die verschiedenartigsten Verbindungen eingehen und Gegensätze hervor
rufen.«
62 50: »...von einer Wirkung des Protestantismus zur Herbeiführung
Bed.,
der modernen Kultur kann nur in bezug auf die verschiedenen Gruppen des Alt
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
200 Gerhard Ebeling
in gewisser Weise von diesem Urteil aus. Obschon auch bei ihm das Neue
in das Mittelalterliche verwoben ist, ragt er doch »in die Region des Zeit
Geist« in Luther und dem Geist der Moderne fixieren soll67, erinnert
an das Prinzip der Subjektivität, das nach Hegel durch Luther zum ent
Entleerung von allem dogmatischen Gehalt, wie Hegel sagen würde, auf
gewaltsamer Luther auf die Seite der Neuzeit zu ziehen, als es Hegel getan
hat.
liehen Schöpfungen aufblühen und abwelken und neuen Platz machen, sondern
in dem Sinne, daß ihr ganzes inneres Wesen sich aus dieser
Zwischenstellung
erklärt und das Alte und Neue eigentümlich und unwiederholbar verbunden in
sich trägt. Nicht ihre Vergänglichkeit, von der ja bis jetzt gar nicht die Rede
sein kann, sondern ihre widerspruchsvolle innere Zusammengesetztheit
bedeutet
also der Ausdruck )Übergangserscheinung«:.« Ferner IV, 251.
68
IV, 231: »... diese Charakterisierung als Übergangsgebilde gilt nur vom pro
testantischen Kirchentum, genauer gesagt vom orthodoxen Altprotestantismus.
Sie gilt nicht von dem Manne, der den Ausgangspunkt und Sammelpunkt aller
dieser Kräfte bildet, von Luther selbst. Wenigstens kann sie von ihm nur sehr
viel eingeschränkter gelten. Er ragt... in die Region des Zeitlosen und Allgemein
Menschlichen hinein, ... durch die Ursprünglichkeit und Kraft seines religiösen
Erlebnisses.«
"
Bed., 20ff; IV, 220.
68 12f: »Eine absolut überindividuelle nur eine so un
Bed., Bindung bringt
geheure Macht wie der Glaube an eine unmittelbare supranaturale göttliche
Offenbarung hervor, wie sie der Katholizismus besaß...« Hier wäre allerdings
zu fragen, wie sich für Troeltsch zum Individualismus »die Region des Zeit
losen und Allgemein-Menschlichen« (s.o. Anm. 66) verhält.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 201
alter scheinen nun Luther und die Reformation nur noch am Rande
Geistes der Neuzeit. Daneben setzten sich allerdings innerhalb der Theo
Doch würden wir unserer nicht gerecht, wenn wir uns die Stra
Aufgabe
weiterer Besinnung ersparen wollten.
paze
Es am Thema und dessen Geschick, daß es sehr allgemeiner Re
liegt
flexionen bedarf, um zu machen, wo und wie die Detailarbeit
ausfindig
an Texten - dieses lohnende Geschäft im Umgang mit Ge
eigentlich
schichte - neu einsetzen muß, um die unseres Problems zu för
Klärung
dem.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
202 Gerhard Ebeling
Ich gehe von folgender Beobachtung aus: Je mehr wir zum Zentrum
von Luthers Theologie vorstoßen, desto mehr verstärkt sich der Ein
1י
Vgl. dazu z.B. die bekannte Äußerung in den Schmalkaldischen Artikeln,
WA 50; 245, 1 - 247, 4 (BSLK 455, 16 - 456, 18).
2י
IV, 236.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 205
und man unter dem Mittelalterlichen schon das Moderne und unter dem
ander steht, sondern einander durchdringt, ist doch auf diese Weise dem
Mit dieser Überlegung befänden wir uns auf schlechtem Wege, wenn
wußtseins als Formel für das Beieinander von Wandelbarem und Bestän
Scheidung zwischen Schale und Kern, Form und Inhalt. Die Intention
denen der theologisch relevante Inhalt unberührt wäre, so daß sich beides
als Formal- und Materialaspekt voneinander sondern ließe. Allerdings
fächert sich der Umgang mit Geschichte notwendig in eine Vielzahl von
heit zu schaffen, wäre beides nötig: die Sache der Theologie auf ihre Be
3י
Belege s. bei Bornkamm (s.o. Anm. 8), 75.
4י Eine und histo
E.H.Erikson, Der junge Mann Luther. psychoanalytische
rische Studie, 1958, 9. 53. 236. 238. 278f.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
204 Gerhard Ebeling
blem werden. Das ist ein Symptom für den geschichtlichen Rang der
Person Luthers und für die sachliche Relevanz seines Werkes. Und es
liefert die Erklärung dafür, warum eine Behandlung des Themas »Luther
und der Anbruch der Neuzeit« sich dem Ansturm der allgemeinen Pro
2.2.2.
Das Wesen von Geschichtszusammenhang
Leiden, alles Erfahren und Äußern, alles Betrachten und Planen, alles
sich darin zum Gedanken und zum Gespräch, zum Verstehen und zur
Wirkung auf die Geschichte, so daß Wort zur Tat wird und Tat zum Wort,
aber Sprache sich auch institutionalisiert und Institutionen zu Mitteln der
daß, was einst gedacht und gesprochen, erfahren und entschieden worden
ist, sich in anderer Situation neu zur Geltung bringt und so in vermittelter
Weise auf Geschichte einwirkt.
lung als der Genesis von Gestaltwandel. Auch die der Überliefe
Aspekte
rungs- und Wirkungsgeschichte sind hier einbezogen, sofern sie ebenfalls
zur Erhellung geschichtlicher Genesis Doch bilden sie zugleich
beitragen.
die Brücke zu dem Gegenwartsinteresse. Bewußt oder unbewußt schwingt
dies Gegenwartsinteresse zwar in allem historischen Interesse mit. Es
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 205
bedarf. Nur dann freilich kann aus dem Umgang mit der Geschichte eine
»Luther und der Anbruch der Neuzeit« - damit kann nach Luther in
seiner historisch umrissenen Gestalt gefragt sein, nach Werden und Ent
geltend? Die Fäden zum Mittelalter hin, die früher wenig beachtet waren,
werden heute mehr und mehr registriert, sind freilich kaum in gleichem
zeit auf Luther in der Forschung vernachlässigt, weil man sich hier schon
Heren: Wie verhält sich die Modernität von Via moderna und Devotio
auf den hin, den Luther zum Anbruch und Fortgang der Neuzeit
Beitrag
leistete: durch - oder aber auch - von
Beschleunigung Verlangsamung
die ohnehin im Gange waren, durch neue Erkenntnisse,
Entwicklungen,
die sich in zukunftsträchtige Geschichtskräfte umsetzten, oder auch durch
14 ZThK 69/2
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
206 Gerhard Ebeling■
geschichte Luthers bis in die Gegenwart hinein fortsetzt. Damit stellt sich
dann aber auch der vorhin angedeutete Umschlag in die Dominanz des
Gegenwartsinteresses ein, in die Frage nach dem, was Luther nun nicht
mehr bloß zum einstigen Entstehen der Neuzeit, sondern dazu beiträgt,
sie gegenwärtig zu bestehen.
Wenn unser Thema derartig umfassend alle Saiten des Interesses an
der Geschichte zum Schwingen bringt, dann läßt die kritische Besinnung
auf die bisherige geistesgeschichtliche Behandlungsweise fragen, ob diese
denn offen und weit genug gehandhabt wurde. Auf die heute nächstlie
allerdings nicht näher eintreten. Hat man dabei die Verengung zu einem
absolutierten Partialaspektvor Augen, über dem die Beziehung zu anderen
Ausweitung in die Kultur- und Sozialgeschichte hinein, daß und wie hier
Das Recht ist unbestreitbar, die Geschichte auf Epochen hin zu unter
19, 266.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 207
Jeweils ein Jahrhundert als Periode zu nehmen, ist ein praktisches Ver
fahren, das den Vorteil völlig neutraler Bezeichnung hat und, mit chro
die Art der Verschmelzung von Christentum und Kultur kritischer Inter
Welteroberung.
Daran nimmt Luther zweifellos eine hochkomplizierte Zwi
gemessen,
ein: Mit dem Mittelalter seiner Herkunft nach eng verbun
schenstellungschenstellung
befand er sich doch mit ihm seiner eigenen Wandlung tiefer
den, infolge
im Streit als irgendein anderer; und zwar gerade deshalb, weil er mit dem
14*
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
208208 Gerhard Ebeling
Herzstück des Mittelalters so vertraut war, daß er eben hier, anstatt bloß
Morgenröte der Neuzeit dagegen, soweit sie sich schon zeigte, war er nicht
so sehr selber erfüllt als vielmehr bloß von außen beschienen, und zwar
je tiefer er auch nach dieser Seite hin Em das Innerste dessen rührte, was
ein Zeitalter bestimmt, war er dem Gange der Neuzeit in gewisser Hin
befand.
Daß hier ein Sowohl-Als-auch durchaus bejaht und dann doch in ein
haupt letztlich eine Geschichtsperiode? Welcher Art ist das, was sie eint?
Nach üblicher Auffassung ist sie gewissermaßen eine in sich geschlossene
Monade — um einmal diesen von Leibniz in tri
metaphysischen Begriff
vialisierter Fassung76 zu entlehnen und auf das Geschichtsproblem anzu
wenden -, und zwar eine Monade, die durch ein Prinzip bestimmt ist.
Die idealistische Zurückführung komplexer geschichtlicher Größen auf
Prinzipien, die sich in ihnen verwirklichen, ist zwar längst einer beschei
deneren pragmatischen Anschauung gewichen. Dennoch verraten der
76
Vgl. Ε. Heintel, Die beiden Labyrinthe der Philosophie. Systemtheoretische
Betrachtungen zur Fundamentalphilosophie des abendländischen Denkens I,
1968, 59.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 209
wäre dies etwa an dem anhaltenden Ringen um die in sich differente Ein
verordnete Streit gehört, geht nicht zuletzt daraus hervor, daß jedes Zeit
liehe Leben und den Bestand der Welt betreffen, könnte man sagen: Ein
Damit hängt aufs engste zusammen, daß kein Zeitalter sich selbst ge
gen, die es nicht selbst hervorgebracht hat und mit denen es sich ausein
wie es mit ihnen umgeht. Ferner in die Zukunft hinein: Weil nie am
ten. Und endlich transzendiert jedes Zeitalter seine eigene konkrete Zeit
in die Zeitlichkeit als solche hinein. Jederzeit ist die Menschheit mit der
Problematik von Werden und Vergehen, von Leben und Sterben, von
verlorener und erfüllter Zeit konfrontiert, mit Grundfragen des Mensch
seins also, die zwar keineswegs ihrer Explikation nach zeitlos immer die
vorgerufen werden.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
210 Gerhard Ebeling
ich mich auf die für unsern Problembereich von Troeltsch gebrauchte
liehen Antworten, die Luther darauf gegeben habe, ferner auf Arnold
Toynbees historische Kategorien challenge und response sowie auf Paul Til
lichs theologische Methode der Korrelation", durch die er die Fragen
aus der Situation und die Antworten aus der Botschaft aufeinander be
zieht. Nur muß kritisch dazu bemerkt werden: Die neue Antwort ver
ändert auch die Fragestellung bzw. setzt schon eine Veränderung der
4.4.4.
Korrektur der bisherigen Handhabung geistesgeschichtlicher
Einordnung Luthers
Zum ersten: Die Erfahrung von Befreiung, die für den vom
Übergang
Mittelalter zur Neuzeit so charakteristisch ist, erzeugte begreiflicherweise
die Faszination einer rein antithetischen der Zeitalter zueinan
Beziehung
der. Und die Suggestivkraft der hat diesen Ein
Periodenbezeichnungen
druck verfestigt. Trotz allem, was daran ist, stellt ein Zeitalter
richtig
einen viel komplexeren Sachverhalt dar, wenn man sich von der Vorstel
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 211
Welt als eine vergangene Möglichkeit ausschließt, wird doch dieses Nein
verzichten kann.
vollzog sich in ihm selbst ein Umbruchprozeß, dessen Pole nicht einfach
anderseits die Zukunft der Neuzeit, in die hinein das reformatorische Ver
diert. Eben dies befähigte ihn zur Kritik nach beiden Seiten. Das wesen
haft Christliche brachte er neu zur Sprache und entdeckte, daß es gerade
verhinderte zugleich, daß der Anbruch der Neuzeit, der als ein unmittel
bares Hervorgehen aus dem Mittelalter begonnen hatte, sich etwa weiter
zeit antreten. Weil nicht identisch mit der im Vergehen begriffenen Zeit,
war er zu einer Konfrontation mit dem neuen Zeitalter imstande, deren
die mittelalterliche Gestalt des Christentums von sich aus nicht fähig ge
wesen wäre. Es war, mit einem schönen Ausdruck Hegels, die »unend
liehe Elastizität« des Christentums 8י, welche die Möglichkeit schuf, auf
die neue Zeit einzugehen, ohne ihr zu verfallen. Wie sehr diese Möglich
keit war und wie vielfältig ihre Realisierung auch mißglückte,
gefährdet
davon zeugt die Geschichte von Alt- und Neuprotestantismus.
Zum dritten: Wird die Betrachtungsweise im
geistesgeschichtliche
Sinne jener und Differenzierung, wie ich sie nur andeuten
Öffnung
konnte, so entfällt die törichte Konkurrenz mit dem theologi
korrigiert,
sehen Interesse. Der Erfassung des theologisch relevanten
angemessenen
11, 514.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
212 Gerhard Ebeling
gegen ihre Verengung selbstkritisch zur Wehr setzt. Daß damit der theo
erst recht ihr unterworfen wäre. Vielmehr ist es ein lebendiges Wort
logische verkehrt wird. Dies weiter zu erörtern, wäre Sache einer Funda
mentaltheologie.
III.III.III.
Ausblick auf eine entsprechende Interpretationsaufgabe
Meine Behandlung des Themas »Luther und der Anbruch der Neuzeit«
wird als weitschweifend und allzu erscheinen. Mir selbst
hochgreifend
drängt sich freilich der Eindruck auf, ich sei allzu sehr bei einer wohl
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions
Luther und der Anbruch der Neuzeit 215
viel sinnenfälliger, tut sich der tiefe Graben auf, der Luthers Sünden
nicht bloß bagatellisiert, sondern jedes Verständnis für das, was überhaupt
mit Sünde gemeint sei, verloren zu haben scheint. Es wäre nun aber zu
zugehen, weil auf deren Ursachen treffender einzugehen vermag als die
thers zur Neuzeit ihren spezifischen Charakter, ob man nun das Neuzeit
liehe bei Luther in der Idee der Personalität oder in der Idee der Freiheit
begründet sieht. Ohne das rechte Verständnis von Sünde versinkt die
läuft heute wieder eine schlechte Anpassung an die Neuzeit hinaus. Das
bedeutet aber nicht nur Verrat an Luther, sondern auch Verrat an der
Neuzeit.
This content downloaded from 216.165.126.139 on Tue, 03 Nov 2015 17:43:14 UTC
All use subject to JSTOR Terms and Conditions