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Zum Stück
Valery Tscheplanowa Njurka

Sebastian Blomberg
Njurka, das Kind von Dascha und Gleb Armee der Weißen, den Feinden der Gleb Tschumalow
Tschumalow, erinnert an die Toten und Sowjetrevolution. Der Apparat des Ge-
die Lebenden einer fernen Revolution. nossen Badjin plant die Neue Ökonomi-

Nach drei Jahren Bürgerkrieg kehrt Re-


gimentskommissar Gleb Tschumalow in
sche Politik, die nach dem Ausbleiben
der Revolution in Deutschland das wirt-
schaftliche Überleben Sowjetrusslands
Bibiana Beglau Dascha Tschumalowa

seine Heimat zurück wie in eine frem-


de Welt. Die Zementfabrik, in der er als
Schlosser gearbeitet hat, scheint dem
sichern soll. Gleb Tschumalow gelingt
es im Kampf gegen die Parteibürokra-
tie, die nötigen Papiere für das Werk zu
Aurel Manthei Badjin

Verfall preisgegeben und die revoluti-


onären Träume und Visionen zerrinnen
besorgen. Die Zementproduktion kann
beginnen, da verhungert Njurka im Kin- Lukas Turtur Sergej Iwagin

im Kampf der Massen um das alltägliche derheim.


Überleben. Tschumalows Frau Dascha
organisiert die Frauen und besteht auch Polja Mechowa und Sergej Iwagin ge-
Genija Rykova Polja Mechowa

Paul Wolff-Plottegg
privat auf Veränderung. Das Besitzden- raten in die erste Säuberungswelle des Kleist
ken und die Abhängigkeit von Frau und Parteiapparats. Sie werden aus der Par- Chor
Studierende der
Mann sind abgeschafft. Nach Jahren tei ausgeschlossen. Die revolutionären Otto-Falckenberg-Schule
des illegalen Kampfes opfert Dascha ihr Massen funktionieren im Gleichschritt
Götz Argus
und der Theaterakademie
Tschibis August Everding
Zuhause und die Familie ihrer revoluti- der Diktatur. Die Utopie „Keiner oder
Lena Eikenbusch
onären Aufgabe. Das gemeinsame Kind alle“ wird aufgegeben. Es beginnt die

Robert Niemann
Jonas Grundner-Culemann
Njurka lebt im Kinderheim. Selektion. Makar, Thomas Hauser
Dmitri Iwagin Ines Hollinger
Lukas Hupfeld
Vor der Revolution wurde Tschumalow Tschumalows Ringen um die Fortset- Johanna Küsters
von dem bürgerlichen Ingenieur Kleist zung der Revolution gleicht dem KAMPF James Newton
gemeinsam mit drei anderen Kom- DES HERAKLES MIT DER HYDRA: ein lei- Klara Pfeiffer
Philipp Reinhardt
munisten an die Polizei verraten. Er denschaftliches Gefecht des verletzli-
überlebte als Einziger Gefängnis und chen Körpers mit den alten und neuen Zement Anna Sophie Schindler
Benjamin Schroeder
Folter. Nun steht er seinem Feind Ideen. von heiner müller Jeff Wilbusch
gegenüber und darf sich nicht rä-
chen, denn der Ingenieur mit seinen Regie Dimiter Gotscheff
Bühne + Kostüme Ezio Toffolutti
Kenntnissen und Erfahrungen wird für Musik Sandy LopiČiĆ
den Wiederaufbau der Zementfabrik Licht gerrit jurda
gebraucht. Dramaturgie Andrea Koschwitz

Regieassistenz Katrin Plötner Bühnenmeister Armin Schäl, Fred Wulf


Die jungen Revolutionäre Polja Me- Bühnenbildassistenz Bärbel Kober Beleuchtungsmeister Fabian Meenen
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chowa und Sergej Iwagin widmen sich


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Kostümassistenz Marina Felix Stellwerk Thomas Keller


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voller Euphorie der Revolution. Polja Regiepraktikum Nikolas Felix Darnstädt Ton Michael Gottfried
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Regiehospitanz Klemens Hegen requisite Gerhard Lange, Stefan Reti


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hat als junge Frau in der Roten Armee Bühnenbildhospitanz Ann-Kathrin Bernstetter maske Gisela Dlugos, Leonard Putzgruber,
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gekämpft und Sergej Iwagin sich von kostümpraktikum Anna Brandstätter Susanna Thullen
Dramaturgiepraktikum Carolin Hartwich Garderobe Cornelia Eisgruber,
seinen bürgerlichen Eltern losgesagt.
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Ngozi Unamba-Oparah, Rita Werdich


Iwagins Bruder Dmitri kämpft für die Inspizienz Susanne K. Backes
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Soufflage Anna Dormbach


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Sebastian
Blomberg
, Bibiana
Beglau

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B egl
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, Bib
berg
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Immer den gleichen Stein den immer gleichen Heiner Müllers „Zement“ und
die Erinnerung an
eine vergessene Revolution
Berg hinaufwälzen. Das Gewicht des Steins zu-
nehmend, die Arbeitskraft abnehmend mit der
Steigung. Patt vor dem Gipfel. Wettlauf mit Man muss die zu entkommen. Andererseits dürften die Kommentartexte
keinesfalls vom Stückablauf isoliert werden, ‚man muss die
Szenen so hinkriegen, dass auf solche Texte gewartet wird‘

dem Stein, der vielmal schneller den Berg he- Toten ausgraben, (Heiner Müller). In der Uraufführungsinszenierung 1973 am
Berliner Ensemble (Regie: Ruth Berghaus) hat ein Ober-

rabrollt als der Arbeitende ihn den Berg hin- wieder und wieder schüler, der einer Probe beiwohnen durfte, die Wirkung
dieser Einlagen mit den Worten beschrieben: ‚Als ob wir
anfingen, laut zu denken.‘ Im Kontext andersartiger gesell-

aufgewälzt hat. Das Gewicht des Steins relativ (Heiner Müller)

In seinem Buch „Masse und Macht“ beschreibt Elias Ca-


schaftlicher Voraussetzungen verhalten sich diese mytho-
logischen Grundsituationen in zwei Richtungen produktiv,

zunehmend, die Arbeitskraft relativ abnehmend


nämlich wie an das Stück angeschlossene Aggregate, die
netti das Ritual der Klage am Beispiel der „Klagemeute“, den Text sowohl mit Energie versorgen als auch umgekehrt
die sich als „Haufen der Sterbenden und Toten“ um einen von ihm mit Bedeutung aufgeladen werden – dramatur-
mit der Steigung. Das Gewicht des Steins abso- „zu Unrecht umgekommenen“ bilden:
„Es mag genügen, hier zu bemerken, dass der
gische Instrumente, um zeitübergreifende Sinnfragen an
entscheidenden Punkten der Handlung ins Bild zu setzen
dichte Haufen von Lebenden, absichtlich und gewaltsam
lut abnehmend mit jeder Bergaufbewegung. Die herbeigeführt, nicht weniger wichtig ist als der Haufen der
Toten. Wenn uns die letzteren vertrauter vorkommen, so
und auf diese Weise die Weite eines Bedeutungshorizon-
tes sinnlich erkennbar zu machen, der sich allein aus der
Dramenhandlung nicht ohne weiteres erschließt.“ (Jan-
Arbeitskraft absolut zunehmend mit jedem Ar- hängt das damit zusammen, dass er im Laufe der Geschich-
te ungeheuerliche Ausmaße angenommen hat. Es muss ei-
Christoph Hauschild)

beitsgang (den Stein bergauf wälzen, vor neben


nem oft so erscheinen, als ob die Menschen in größerer
Anzahl sich nur noch als Tote ganz nahe kämen.“
Im Theaterstück „Zement“, das Heiner Müller An- Drama
hinter dem Stein her bergab laufen). Hoffnung fang der 1970er Jahre im Auftrag des Berliner Ensembles
geschrieben hat, begegnen uns Geschichten und Konflikte Die Toten warten
und Enttäuschung. Rundung des Steins. Gegen- einer Zeit, die uns ferner als die der antiken Tragödien zu
sein scheinen. Die Ereignisse der Revolution in Sowjetruss-
land sind heute fast völlig in Vergessenheit geraten. In den auf der Gegenschräge
seitige Abnutzung von Mann Stein Berg. Bis zu Schulen werden sie nicht gelehrt und Filme und Romane
über die Zeit gibt es kaum. Manchmal halten sie
dem geträumten Höhepunkt: Entlassung des Heiner Müller, geboren 1929 in Sachsen, ge-
storben 1996 in Berlin, hat den russischen Revolutionsro-
eine Hand ins Licht
Steins vom erreichten Gipfel in den jenseitigen
man „Zement“ von Fjodor Gladkow zum ersten Mal 1949
gelesen. Bereits seit dem ersten Lesen des Romans
dachte Heiner Müller daran, daraus ein Theaterstück Als lebten sie. Bis sie
Abgrund. Oder bis zum gefürchteten Endpunkt zu machen. Ein späterer Plan aus den fünfziger Jahren
enthielt die Idee „der Verzahnung von Antiken- sich ganz zurückziehen
der Kraft vor dem nicht mehr erreichbaren Motiven“ mit dem „Zement“-Stoff.

In ihr gewohntes Dun-


Gipfel. Oder bis zu dem denkbaren Nullpunkt: Antike Mythen
kel das uns leuchtet.
niemand bewegt auf einer Fläche nichts. „Auf der Suche nach poetischen Bildern von den neu-
en Verhältnissen der Menschen greift Müller zu überlie-
(Heiner Müller)

STEIN SCHERE PAPIER ferten, mythologischen Darstellungen, die den neuen


Erfahrungen ähnlich und ihnen zugleich unähnlich sind,

die sie spiegeln und gleichzeitig neuartig beleuchten.
STEIN SCHLEIFT SCHERE SCHERE Die von Müller verwendeten mythologischen Ge-
schichten über die Rache des Achilles, die Befreiung des
Gladkows Roman „Zement“

SCHNEIDET PAPIER PAPIER SCHLÄGT STEIN. Prometheus, den Kindsmord der Medea und den Kampf
des Herakles mit der Hydra geben eine Vielzahl von Mög-
„Gladkows Roman „Zement“, 1926 in Sowjetrussland und
1927 mit großem Erfolg in deutscher Übersetzung in
lichkeiten der Interpretation, die dem Stück seine histori- Deutschland erschienen, erzählt von Beziehungen zwi-
sche und philosophische Tiefe verleihen. Im Gespräch mit schen Männern und Frauen, Revolutionsbefürwortern und
Horst Laube hat Müller 1975 erklärt, die der europäischen Revolutionsgegnern, bürgerlicher Intelligenz und Arbei-
Mythengeschichte entnommenen Intermedien hätten ihm tern, und von den Konflikten, die sie bewegen. Zugleich
(Heiner Müller) zum einen die Möglichkeit eröffnet, den festgelegten Dialog liefert Gladkow einen Bericht über die Härte und schier
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unglaubliche Überlebenskraft in der von Bürgerkrieg, In-
tervention und Blockade verwüsteten jungen Sowjetuni-
Proben Valer y
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on, als der Hunger zum Alltag weiter Bevölkerungskreise Im Mittelpunkt der Probenarbeit stand die Sprache Heiner
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gehörte. Die Handlung umfasst die Jahre 1920/21, die Zeit Müllers. Die Sprache und die Stille, die sich zum Beispiel
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des Übergangs vom Kriegskommunismus (rigide staatliche am Anfang des Stücks in der Ohnmacht des Chors der Ar-
Kontrolle aller Betriebe, Pflichtablieferungen von Getreide beiter der Zementfabrik äußert. „Müller ist die Quelle, die
und Futterpflanzen) zur Neuen Ökonomischen Politik (Dul- mich zu einer anderen Körpersprache zwingt. Das kann
dung der Existenz von privaten Produktions- und Handels- man nur über Rituale machen. Das sind gehauene Wor-
betrieben) als Konsequenz der ökonomischen Rückstän- te, die über einen gehauenen Körper kommen müssen.“
digkeit und des Ausbleibens der sozialistischen Revolution (Dimiter Gotscheff) Die Bewegung, der Atem, das erste
in Deutschland.“ (Jan-Christoph Hauschild) Wort, der Gesang! Der Regisseur und seine Schauspieler
suchten nach Möglichkeiten, die großen antiken Textblö-
cke, die eine Brücke von der Antike über Sowjetrussland
Utopie hin zur Gegenwart schlagen, aufleben zu lassen. Die Suche
nach „plastischen Übersetzungen der Szenen, die nicht im
Nach der Berliner „Zement“-Uraufführung schrieb Heiner Dialog stecken bleiben“. Die Szene Kleist und Tschumalow
Müller folgende Anmerkung: „Das Stück handelt nicht von zum Beispiel gedacht als „Tanz“.
Milieu, sondern von Revolution, es geht nicht um Ethno- Regisseur Dimiter Gotscheff erzählte auf der Probe
logie, sondern auf (sozialistische) Integration aus, die Rus- eine Anekdote: „Es gibt einen Bericht darüber, dass Lenin
sische Revolution hat nicht nur Noworossisk, sondern die kurz nach Beginn der Revolution mit seinem Politbüro zu-
Welt verändert. Dekor und Kostüm sollen nicht Milieu zei- sammentrifft und dort plötzlich wie verrückt zu tanzen und
gen, sondern den Entwurf der Welt, in der wir leben. (…) singen anfängt. Er hört auf und sagt: Wir haben heute den
Die Besetzung, was die Rollen der Kommunisten angeht, 91. Tag der Revolution, die Französische Revolution hat-
so jung wie möglich: sie haben mehr vor als hinter sich.“ te nur 90 Tage. Die Abschaffung des Privateigentums hat
Müller, dem die „Arbeit am antiken Mythos immer die Französische Revolution nicht beinhaltet, die Russi-
Arbeit an der Geschichte“ war, hat eine große menschliche sche aber schon. Das ist ein gewaltiger Schritt in eine neue
Tragödie geschrieben. Die archaische Sprache der Figuren, Richtung.“ Doch um welchen Preis? Gottscheff: „Jede der
die Intensität der Bilder und Visionen provoziert gleicher- Figuren hat eine Wunde. Denn diese neue Welt kostet et-
maßen Fremdheit und Nähe. was und hinterlässt ihre Spuren.“ Njurka, die Tochter von
Auf die Frage seiner Schauspieler, ob das Stück Dascha und Gleb Tschumalow, verhungert im Kinderheim.
nicht von uns zu weit entfernt und unbekannt geworden Der junge Soldat Makar wird erschossen. Polja und Iwagin
ist, antwortete Regisseur Dimiter Gotscheff auf einer Probe: werden aus der Partei ausgeschlossen. „Die Blüten der Re-
„Was heißt unbekannt? Durch dein Alter vielleicht. Es ist volution wurden hier ermordet. Die Revolution frisst ihre
aber doch nicht unbekannt, dass da ein gesellschaftli- eigenen Kinder.“
cher Entwurf geträumt und entworfen wurde. Das ist der
Grund, warum ich Müller ausgesucht habe: weil ich mich
selbst entfernt habe von dem Entwurf, weil ich selbst
Fett angesetzt habe. (…) Müller greift in eine Zeit, die mit
unserem geopolitischen Raum wenig zu tun hat: Revolution,
Utopien. Ein kurzer Augenblick der Menschheit, wo ein ur- Was man braucht ist
Zukunft und nicht
alter Traum gelebt und selbst zunichte gemacht worden ist.“

„Wenn das Proletariat für sich allein lebt, ergibt sich der
Kommunismus ganz von selber. (...) Aus dem Gras kam der
Lebensdunst der Gräser und Ähren, dort lebten Roggen die Ewigkeit des
Augenblicks. Man
Lukas Turtur +
und wuchernde Melde, ohne einander zu schaden, eng Chor
umschlungen und eines das andere schützend, niemand
hatte sie gesät, niemand störte sie, aber der Herbst würde
kommen, und das Proletariat würde sich Brennnesseln in
die Suppe tun, würde Roggen zusammen mit Weizen und
muss die Toten aus-
Melde für die winterliche Ernährung sammeln; tiefer in der
Steppe wuchsen selbstständig Sonnenblumen (...). Wenn
er die verwucherte Steppe betrachtete, sagte er immer,
graben, wieder und
dass sie jetzt auch eine Internationale der Gräser und Blu-
men sei, was allen Armen reichlich Nahrung sichere ohne
wieder, denn nur
die Einmischung von Arbeit und Ausbeutung. Daran sahen
[sie], dass die Natur nun darauf verzichtete, den Menschen aus ihnen kann man
Zukunft beziehen.
durch Arbeit zu unterdrücken, und dem besitzlosen Es-
ser von selbst alles Nahrhafte und Notwendige schenkte.“
(Andrej Platonow: „Tschewengur. Die Wanderung mit offe-
nem Herzen.“) (Heiner Müller)
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Genija Rykova, Robert Niemann, Sebastian Blomberg, Lukas Turtur + Chor

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HERAKLES
von Heiner Müller

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ange glaubte er noch den Wald zu durchschreiten, in dem
betäubend warmen Wind, der von allen Seiten zu wehen
schien und die Bäume wie Schlangen bewegte, in der immer
gleichen Dämmerung der kaum sichtbaren Blutspur auf
dem gleichmäßig schwankenden Boden nach, allein in die
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ielleicht machte nur noch die Benennung einen Wald aus
und alle andern Merkmale waren schon lange zufällig und
auswechselbar geworden, auch das Tier, das zu schlachten
er diese vorläufig noch Wald benannte Gegebenheit durch-
schritt, das zu tötende Monstrum, das die Zeit in ein Exkre-

ODER
Schlacht mit dem Tier. In den ersten Tagen und Nächten, ment im Raum verwandelt hatte, war nur noch die Benen-
oder waren es nur Stunden, wie konnte er die Zeit mes- nung von etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen
sen ohne Himmel, fragte er sich noch manchmal, was unter aus einem alten Buch. Nur er, der Unbenannte, war sich
dem Boden sein mochte, der unter seinen Schritten Wellen selber gleichgeblieben auf seinem langen schweißtreiben-
schlug so dass er zu atmen schien, wie dünn die Haut über den Gang in die Schlacht. Oder war auch, was auf seinen
dem unbekannten Unten und wie lange sie ihn heraushal- Beinen über den zunehmend schneller tanzenden Boden
ten würde aus den Eingeweiden der Welt. Wenn er vorsich- ging, schon ein andrer als er. Er dachte noch darüber nach,
tiger auftrat, schien es ihm, als ob der Boden, von dem er als der Wald ihn wieder in den Griff nahm. Die Gegebenheit
geglaubt hatte, dass er seinem Gewicht nachgäbe, seinem studierte sein Skelett, Zahl, Stärke, Anordnung, Funktion

DIE
Fuß entgegenkam, ihn sogar, mit einer saugenden Bewe- der Knochen, die Verbindung der Gelenke. Die Opera-
gung, anzog. Auch hatte er das deutliche Gefühl, dass seine tion war schmerzhaft. Er hatte Mühe, nicht zu schreien.
Füße schwerer wurden. Er zählte die Möglichkeiten. 1) Seine Er warf sich nach vorn in einen schnellen Spurt aus der
Füße wurden schwerer und der Boden saugte seine Füße an. Umklammerung. Er wußte, nie war er schneller gelaufen.
2) Er fühlte seine Füße schwerer werden, weil der Boden Er kam keinen Schritt weit, der Wald hielt das Tempo, er
sie ansaugte. 3) Er hatte den Eindruck, dass der Boden sei- blieb in der Klammer, die sich jetzt um ihn zusammenzog
ne Füße ansaugte, weil sie schwerer wurden. Die Fragen und seine Eingeweide aufeinanderpresste, seine Knochen
beschäftigten ihn eine Zeit (Jahre Stunden Minuten) lang. aneinanderrieb, wie lange konnte er den Druck aushalten,
Er fand die Antwort in dem zunehmenden Schwindelge- und begriff, in der aufsteigenden Panik: Der Wald war das
fühl, das der konzentrisch wehende Wind ihm verursach- Tier, lange schon war der Wald, den zu durchschreiten er
te: Seine Füße wurden nicht schwerer, der Boden saugte geglaubt hatte, das Tier gewesen, das ihn trug im Tempo
seine Füße nicht an. Das eine wie das andere war eine Sin- seiner Schritte, die Bodenwellen seine Atemzüge und der
nestäuschung, durch seinen fallenden Blutdruck bedingt. Wind sein Atem, die Spur, der er gefolgt war, sein eigenes
Das beruhigte ihn und er ging schneller. Oder glaubte er Blut, von dem der Wald, der das Tier war, seit wann, wieviel
nur schneller zu gehn. Als der Wind zunahm, wurde er häu- Blut hat ein Mensch, seine Proben nahm; und dass er es
figer an Gesicht Hals Händen von Bäumen und Ästen ge- immer gewusst hatte, nur nicht mit Namen. Etwas wie ein
streift. Die Berührung war zunächst eher angenehm, ein Blitz ohne Anfang und Ende beschrieb mit seinen Blutbah-
Streicheln oder als prüften sie, wenn auch oberflächlich nen und Nervensträngen einen weißglühenden Stromkreis.

HYDRA
und ohne besonderes Interesse, die Beschaffenheit seiner Er hörte sich lachen, als der Schmerz die Kontrolle seiner
Haut. Dann schien der Wald dichter zu wachsen, die Art Körperfunktionen übernahm. Es klang wie Erleichterung:
der Berührung änderte sich, aus dem Streicheln wurde ein kein Gedanke mehr, das war die Schlacht. Sich den Bewe-
Abmessen. Wie beim Schneider, dachte er, als die Äste sei- gungen des Feindes anpassen. Ihnen ausweichen. Ihnen
nen Kopf umspannten, dann den Hals, die Brust, die Taille zuvorkommen. Ihnen begegnen. Sich anpassen und nicht
usw., sogar an seinem Schritt schien der Wald interessiert anpassen. Sich durch Nichtanpassen anpassen. Angreifend
zu sein, bis sie ihn von Kopf bis Fuß Maß genommen hatten. ausweichen. Ausweichend angreifen. Dem ersten Schlag
Das Automatische des Ablaufs irritierte ihn. Wer oder was Griff Stoß Stich zuvorkommen und dem zweiten auswei-
lenkte die Bewegungen dieser Bäume, Äste oder was im- chen. Umgekehrt. Die Reihenfolge ändern und nicht än-
mer da an seiner Hutnummer Kragenweite Schuhgröße in- dern. Dem Angriff begegnen mit gleicher und (oder) andrer
teressiert war. Konnte dieser Wald, der keinem der Wälder Bewegung. Geduld des Messers und Gewalt der Beile. Er
glich, die er gekannt, „durchschritten“ hatte, überhaupt hatte seine Hände nie gezählt. Er brauchte sie auch jetzt
noch ein Wald genannt werden. Vielleicht war er selber nicht zu zählen. Überall wo immer wenn er sie brauchte,
schon zu lange unterwegs, eine Erdzeit zu lange, und Wäl- verrichteten sie seine Arbeit, Fäuste bei Bedarf, die Finger
der überhaupt waren nur mehr was dieser Wald war. einzeln verwendbar, die Nägel gesondert, die Kanten aus
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dem Ellbogen. Seine Füße hielten den im Aufstand gegen immer neu auf seine kleinsten Bauteile zurückgeführt,
die Gravitation zunehmend schneller rotierenden Boden sich immer neu zusammensetzend aus seinen Trümmern in
fest, die Personalunion von Feind und Schlachtfeld, den dauerndem Wiederaufbau, manchmal setzte er sich falsch
Schoß der ihn behalten wollte. Die alte Gleichung. Jeder zusammen, linke Hand an rechten Arm, Hüftknochen an
Schoß, in den er irgendwie geraten war, wollte irgendwann Oberarmknochen, in der Eile oder aus Zerstreutheit oder
sein Grab sein. Und das alte Lied. ACH BLEIB BEI MIR UND verwirrt von den Stimmen, die ihm ins Ohr sangen, Chöre
GEH NICHT FORT AN MEINEM HERZEN IST DER SCHÖN- von Stimmen
STE ORT. Skandiert vom Knacken seiner Halswirbel im BLEIB IM RAHMEN LASS DAMPF AB GIB AUF oder weil es ihm
mütterlichen Würgegriff. TOD DEN MÜTTERN. Seine Zähne langweilig war, immer die gleiche Hand am gleichen Arm
erinnerten sich an die Zeit vor dem Messer. Im Gewirr der immerwachsende Fangarme Schrumpfköpfe Stehkragen zu
Fangarme, die von rotierenden Messern und Beilen nicht, kappen, die Stümpfe zum Stehen bringen, Säulen aus Blut;
der rotierenden Messer und Beile, die von Fangarmen manchmal verzögerte er seinen Wiederaufbau, gierig war-
nicht, der Messer Beile Fangarme, die von explodierenden tend auf die gänzliche Vernichtung mit Hoffnung auf das
Minengürteln Bombenteppichen Leuchtreklamen Bakteri- Nichts, die unendliche Pause, oder aus Angst vor dem Sieg,
enkulturen nicht, der Messer Beile Fangarme Minengürtel der nur durch die gänzliche Vernichtung des Tieres erkämpft
Bombenteppiche Leuchtreklamen Bakterienkulturen, die werden konnte, das sein Aufenthalt war, außer dem viel-
von seinen eigenen Händen Füßen Zähnen nicht zu unter- leicht das Nichts schon auf ihn wartete oder auf niemand;
scheiden waren in dem vorläufig Schlacht benannten Zeit- in dem weißen Schweigen, das den Beginn der Endrunde
raum aus Blut Gallert Fleisch, so dass für Schläge gegen ankündigte, lernte er den immer andern Bauplan der Ma-
die Eigensubstanz, die ihm gelegentlich unterliefen, der schine lesen, die er war aufhörte zu sein anders wieder war
Schmerz beziehungsweise die plötzliche Steigerung der mit jedem Blick Griff Schritt, und dass er ihn dachte änder-
pausenlosen Schmerzen in das nicht mehr Wahrnehmba- te schrieb mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode.
re sein einziges Barometer war, in dauernder Vernichtung

Valery Tscheplanowa

So sprach der Adler,


als er an dem Pfeil der ihn durchbohrte,
das Gefieder sah:
So sind wir keinem anderen erlegen
als unsrer eigenen Schwinge.
(Heiner Müller, Erinnerung an einen Staat)

RESIDENZTHEATER Spielzeit 2012/2013 INTENDANT Martin Kušej GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR Holger von Berg TECHNISCHER DIREKTOR
Aufführungsrechte henschel SCHAUSPIEL Thomas Bautenbacher KOSTÜMDIREKTORIN Elisabeth Rauner KÜNSTLERISCHER DIREKTOR Roland Spohr
Theaterverlag Berlin CHEFDRAMATURG Sebastian Huber PRESSE- U. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Sabine Rüter TECHNIK Klaus Hammer,
Textnachweis Heiner Müller: Werke 1 Gedichte, Natascha Nouak WERKSTÄTTEN Michael Brousek AUSSTATTUNG Anneliese Neudecker BELEUCHTUNG/VIDEO
Werke 2 Prosa, Werke 4 Stücke 2, Werke 5 Stücke 3, Tobias Löffler TON Michael Gottfried REQUISITE Dirk Meisterjahn PRODUKTIONSLEITUNG KOSTÜM Enke Burghardt
1998/ 2002 DAMENSCHNEIDEREI Gabriele Behne, Petra Noack HERRENSCHNEIDEREI Carsten Zeitler, Aaron Schilling MASKE
Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht, 1992 Andreas Mouth GARDEROBE Cornelia Faltenbacher SCHREINEREI Stefan Baumgartner SCHLOSSEREI Ferdinand
Andrej Platonow: Tschewengur. Die Wanderung mit Kout MALERSAAL Achim Paggen TAPEZIERWERKSTATT Peter Sowada HYDRAULIK Karl Daiberl GALERIE Christian
offenem Herzen. Aus dem Russischen von Renate Unger TRANSPORT Harald Pfähler BÜHNENREINIGUNG Adriana Elia
Landa, 1990
Elias Canetti: Masse und Macht, 1987
Jan-Christoph Hauschild: Heiner Müller oder Das Prinzip des Zweifel, 2003
Zitate von Dimiter Gotscheff, Probenotate von Carolin Hartwich
Redaktion Andrea Koschwitz Mitarbeit Carolin Hartwich PROBENFotos Armin Smailovic
GESTALTUNG Herburg Weiland, München DRUCKEREI Weber Offset
HERAUSGEBER Bayerisches Staatsschauspiel, Max-Joseph-Platz 1, 80539 München
www. r e s i d e n z t h e at e r .de

Wir stecken bis zum


Hals im Kapitalismus
Und Morgen wird
gemacht aus Jetzt und Hier.
(Gleb Tschumalow)

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