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SEITE: 3 | APR 3, 2022

Weser Kurier Digital GmbH

„Alle Aussteiger leben in zwei Welten“


Thema

Herr Weingarten, Sie sind in der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft der Satmarer in den
USA aufgewachsen und haben sich im Erwachsenenalter davon gelöst. Warum haben Sie diese
sehr persönliche Geschichte in einem Buch erzählt?
Akiva Weingarten: Es gibt zwei Gründe dafür. Ich wollte den Menschen, die nicht wissen,
was das bedeutet, schildern, wie es ist, in so einer Gemeinde aufzuwachsen. Und ich möchte,
dass Menschen, die aus einer solchen Gemeinschaft aussteigen wollen, wissen, dass sie nicht
alleine sind.
Sie schildern Ihr Aufwachsen, als wäre es in einem luftdicht abgeschlossenen
Raum passiert. Völlig abgeschottet von der Moderne und dem gesellschaftlichen
Leben um Sie herum, mit 365 Verboten und 248 Geboten, archaischen Regeln
und Verhaltensweisen, die strikt befolgt werden müssen. Wie ist das
auszuhalten?
Wenn man so aufwächst, kennt man nichts anderes. Es ist Normalität, Alltag. Für viele
Menschen ist es auch einfach, wenn alles klar geregelt ist. Man muss nicht weiter über
irgendetwas nachdenken, das hat schon jemand für einen erledigt.
Und es ist wirklich nichts durchgedrungen in Ihre Welt aus Bereichen wie
Popkultur, Sport oder Lifestyle? Immerhin schildern Sie, dass Sie als
Jugendlicher begonnen haben zu zweifeln.
Nein, man lebt ja tatsächlich nur theoretisch in einer westlich geprägten Gesellschaft, praktisch
ist das ein Getto. Wir haben nicht mitbekommen, was um uns herum passiert ist, und wir
hatten auch keinen Zugang und keine Verbindung dazu. Wir haben auch nicht darüber
nachgedacht, wie es für die anderen sein könnte. Wir haben uns als Zentrum des Universums
gesehen.
Als Zentrum des Universums?
Ja. Die Erzählung ist folgende: Alles in der Welt passiert nur für uns, alle Nicht-Juden sind
dazu da, uns zu dienen. Wenn der Messias kommen wird, werden alle Juden nicht-jüdische
Sklaven haben. Deren Wünsche und Gefühle sind uns egal. Das ist eine sehr rassistische
Einstellung. Aber das reflektieren die Satmarer nicht so. Wenn Sie meine Eltern fragen würden,
ob sie rassistisch sind, würden sie antworten: überhaupt nicht. Das ist etwas, was mir
manchmal hilft nachzuvollziehen, wie Rassisten ticken können. Böse Menschen denken nicht,
dass sie böse sind. Natürlich sind nicht alle Ultraorthodoxen böse – aber sie leben heute noch
so wie im 18. Jahrhundert, und da wäre diese Einstellung nicht so ungewöhnlich gewesen.
Sie sind als junger Mann nach Israel gegangen und haben festgestellt, dass die
große Mehrheit der Juden in einem jüdischen Staat nicht ultraorthodox lebt,
sondern ​liberal oder sogar säkular. Inwieweit hat das Ihre Zweifel befördert?
Es gibt eine sehr berühmte Rede, die ein ultraorthodoxer Rabbi gehalten hat und in der er sagt:
„Ihr Juden, die ihr Kaninchen esst, was seid ihr für Juden?“ Das heißt, diejenigen, die das tun,
halten die Regeln der Thora nicht ein und können sich deshalb nicht Juden nennen. Das hat
einen großen Aufschrei in Israel zur Folge gehabt und eine Diskussion darüber, ob das
Judentum wirklich vor allem auf die Befolgung strenger Regeln und bestimmter Rituale
begrenzt ist. Oder ist das Judentum nicht viel reicher?
Für die Ultraorthodoxen steht diese Frage nicht zur Debatte, oder?
Die Ultraorthodoxen würden sagen, dass ausschließlich die Regeln zählen. Selbst Rabbiner aus
diesen Kreisen, mit denen ich heute noch in Verbindung bin, sagen zu allen anderen Varianten:
Na ja, ihr macht Kultur-Judentum.
Sie haben herausgefunden aus dem ultraorthodoxen Judentum. Die Kapitel, in
denen Sie Ihre Loslösung beschreiben, klingen, als wäre das erst einmal ein
freier Fall in ein tiefes Loch gewesen – war das so?
Es gab Zeiten, in denen ich sehr depressiv war; ich hatte viele schwierige Monate. Aber ich bin
ein sehr positiver Mensch, und ich konnte diese schlimme Situation hinter mir lassen. Das ist
nichts Neues für mich. Ich war vorher auch in einer schlimmen Situation, auch meine Ehe in
Israel war beispielsweise sehr unglücklich. Und ich nehme an, dass ich auch wieder in nicht so
optimale Lagen geraten werde. Aber ich bleibe immer zuversichtlich. Generell ging es mir nach
meinem Ausstieg gut. Ich habe viel Spaß gehabt.
Zunächst haben Sie sich komplett abgewandt vom Judentum. Warum?
Weil für mich nur diese eine, sehr strenge Variante existierte. Ich konnte mir etwas anderes gar
nicht vorstellen, so sehr steckte ich drin in den Denkweisen dieser Sekte, in die ich
hineingeboren worden war. Ich musste mich damit auseinandersetzen, was Judentum im 21.
Jahrhundert sein kann, wie Juden ihren Glauben außerhalb der ultraorthodoxen Welt
praktizieren und wo ich hineinpasse.
Wo haben Sie Ihren Platz gefunden?
In einem Zwischenbereich. Alle Aussteiger leben zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite sind
uns liberale Werte, wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Ablehnung von Rassismus
oder die Gleichheit aller Menschen wichtig. Auf der anderen Seite bleiben viele Traditionen, mit
denen wir aufgewachsen sind, prägend. Wir versuchen, das zu vermischen. Ich bin in einem
Interview für einen amerikanischen Podcast mal gefragt worden, ob ich Dinge vermisse. Meine
Antwort lautete: Ja, und diese Dinge nehme ich mit.
Welche sind das?
Es sind bestimmte Rituale, Melodien, Mahlzeiten, Kleider – Dinge, die Spaß machen und die
uns innerlich bewegen. Das können auch Gedanken oder bestimmte Geschichten sein. Die
Frage dabei ist immer: Wie wichtig ist Gott für das Judentum? Ich bin damit aufgewachsen,
dass wir alles, was wir tun, nur tun, weil es diesen bestimmten Gott gibt. Ich formuliere das mit
Absicht so, weil es innerhalb des Judentums unterschiedliche Ideen gibt, wie man sich Gott
vorstellen kann. Mir wurde nur eine Art beigebracht; aber was passiert, wenn ich meinen
Glauben an diesen Gott verliere?
Sie finden im Vorwort zu Ihrem Buch eine sehr drastische Formulierung dafür:
„Mein Vergewaltiger, den die Gemeinschaft Gott nannte“.
Ich weiß, dass das Wort „Vergewaltiger“ bei den Menschen eine sehr starke Reaktion
hervorruft. Tatsächlich habe ich mit meinem Lektor diskutiert; er wollte das streichen. Aber es
ist genau das, was ich meine. Es gibt Menschen, die die Gemeinde verlassen haben und an
einem schweren Trauma leiden. Das sagen mir auch unsere nicht-jüdischen Psychologen und
Therapeuten, die in unserer Anlaufstelle für Aussteiger, die ich in Dresden mitgegründet habe,
tätig sind. Die Identität dieser Menschen ist grundlegend erschüttert worden: Sie haben sich
verbunden gefühlt mit etwas Größerem, ihr Leben lang. Und das ist nun infrage gestellt.
Sie haben für sich eine Lösung gefunden. Sie sprechen von einer
„Gebrauchsanweisung“, bei der die Regeln für den Menschen da sein sollen. Wie
ist das zu verstehen?
Religion ist meiner Ansicht nach generell nicht dazu da, dass Menschen ihr dienen, sondern
umgekehrt. Es gibt so viele Schriften jüdischer Gelehrter aus vielen Jahrhunderten, daraus
können wir einiges lernen. Wir sind frei zu entscheiden, was wir annehmen wollen und was
nicht.
Das heißt: Dogmen jeglicher Art erteilen Sie eine Absage. Aber wie liberal kann
eine Religion sein, ohne beliebig zu werden?
Oh, das ist sehr schwer zu beantworten. Interessanterweise war eine der stärksten Drohungen,
die Ultraorthodoxe im 18. Jahrhundert gegenüber Liberalen äußerten, folgende: Sobald ihr
irgendetwas ändert, werdet ihr verschwinden. Jetzt sind schon ein paar Jahrhunderte
vergangen, und die liberalen Juden sind nicht nur immer noch da. Sie stellen die überwiegende
Mehrheit des Judentums.
Eigentlich ist der Spruch, wenn man etwas ändert, werde man verschwinden,
weniger eine Drohung an andere denn ein Eingeständnis der Angst, das eigene,
festgezurrte Lebensmodell könnte auseinanderbrechen, oder?
Genau. Wir reden oft über diese Themen, als gehe es nur um religiöse Fragen, und das ist auch
gut so. Aber oft geht es einfach nur um Geld und Macht, auch, wenn das theologisch verbrämt
wird.
Schaut man sich die Geschichte der beiden anderen monotheistischen
Weltreligionen Christentum und Islam an, ist es da ja auch nicht anders.
Das ist auch der Eindruck, den ich habe, wenn ich mich regelmäßig zum Austausch mit
katholischen Priestern und evangelischen Pfarrern treffe. Die Streitigkeiten innerhalb der
jüdischen Gemeinden in Deutschland drehen sich nicht um inhaltliche Dinge, sondern um
Machtfragen. Das tut mir wirklich weh. Wenn ich mich darüber aufrege, dann lächeln die
anderen immer und meinen, bei den Christen sei das nicht besser.
Sie haben eine Organisation in Dresden gegründet, Besht Yeshiva, die sich um
diejenigen kümmert, die raus wollen aus ultraorthodoxen Gemeinden. Wie viele
trauen sich, auszusteigen?
Wenn wir das weltweit betrachten, dann sind es Tausende. In Deutschland gibt es nur eine
verschwindend geringe Zahl an Juden, die ultraorthodox leben. Ich würde schätzen, das sind
nicht mehr als 50 bis 100. Schon die Anzahl der orthodox Lebenden ist ja gering in den
jüdischen Gemeinden, die würde ich deutschlandweit auf 500 bis allerhöchstens 1000 schätzen
– bei 100.000 Juden, die in den Gemeinden angemeldet sind. In Israel gibt es genaue Zahlen,
weil die Regierung eine Statistik führt. Dort sind es zehn bis 15 Prozent der Ultraorthodoxen in
jedem Schuljahr, die sich abwenden von ihrer Gemeinschaft. Es werden immer mehr, und
übrigens steigen auch viele Frauen aus, was vor einigen Jahren noch nicht der Fall war. Das ist
ein sehr gutes Zeichen. Die, die sich dazu entscheiden, brauchen viel Hilfe. Wer nach
Deutschland kommt, der kann sich daher an Besht Yeshiva wenden.
Wie helfen Sie mit Ihrer Organisation?
Es geht um alle Dinge, die das tägliche Leben betreffen, wirklich alle, von der Arbeits- über die
Wohnungssuche, Behördengänge und so weiter. Aber auch um die schon erwähnte
psychologische Unterstützung. Denn wenn man aussteigt, kann man sehr viel verlieren, das
Halt bietet – das soziale Umfeld, die Familie, die Arbeit. Und klar ist auch: Wir können uns
äußerlich anpassen, wir können arbeiten, studieren, wir können Freundschaften schließen und
Beziehungen eingehen. Aber wir werden niemals so ganz zu einer westlichen Gesellschaft
gehören können.
Warum nicht?
Ich sage Aussteigern immer, dass sie sich nicht andere Aussteiger als Partner wählen sollen,
weil es so kompliziert für Ex-Ultraorthodoxe ist, sich zu integrieren. Da ist es besser, einen
Partner zu haben, der sich auskennt und einen stützen kann. Damit man irgendwann ein
normales Leben führen kann.
Das Gespräch führte Iris Hetscher.
INFO
Akiva Weingarten: Ultraorthodox – mein Weg. Gütersloher Verlagshaus. 256
Seiten, 20 €.
ZUR PERSON
Akiva Weingarten
wurde 1984 in New York geboren und wuchs mit zehn Geschwistern in der ultraorthodoxen
Gemeinschaft der Satmarer Chassidim auf. Er wurde Rabbiner, lebte in Israel und wandte sich
vom ultraorthodoxen Judentum ab, als er fast 30 Jahre alt war und zog nach Berlin. Heute ist
er Rabbiner in Dresden und Basel und bezeichnet sich als liberal-chassidisch.

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