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HANS-MICHAEL BERNHARDT

»Die Juden sind unser Unglück!«


Strukturen eines Feindbildes im deutschen Kaiserreich

I
Der in den ersten Jahren des deutschen Kaiserreichs auftretende »moderne
Antisemitismus«! prägte ein höchst wirksames Feindbild, das im Mittel-
punkt dieser Studie steht, die sich insofern nicht allgemein mit dem Antise-
mitismus befaßt, sondern systematisieren will, welche traditionellen Motive
das Feindbild »der Jude« transformierte, welche konstitutiven Elemente es
aufwies und was zur Radikalisierung antijüdischer Einstellungen beitrug.
Zur Rekonstruktion der Strukturen des Feindbildes werden vier Veröffent-
lichungen von Exponenten antisemitischer Ideologien aus der Entstehungs-
phase des modernen Antisemitismus - den Autoren der »Kreuzzeitung«,
von Wilhelm Marr, Adolf Stoecker und Heinrich v. Treitschke - herangezo-
gen2, deren aufsehenerregende antijüdische Ausfälle, bereits für ihre Zeitge-
nossen erkennbar, Maßstäbe setzten. Als Protagonisten des Antisemitismus
sind sie von der Forschung hinlänglich betrachtet worden, doch kommt
man wohl auch dann nicht an ihnen vorbei, wenn auf eine Systematik von
Feindbildstrukturen abgestellt werden soll. Was veranlaßte sie, anti jüdische
Ressentiments aufzugreifen, zu bündeln und zu radikalisieren? Welche cha-
rakteristischen Strukturen wies ihr Feindbild auf? Und was gab den Aus-
schlag, es zu einem festen Bestandteil der politischen Kultur des Kaiserreichs
werden zu lassen?
Grundlage der Studie ist die Annahme, daß Extremsituationen - heftige
gesellschaftliche Umbrüche, Krisen, Kriege oder Katastrophen - die Iden-
tität von Individuen oder von gesellschaftlichen Gruppen so stark in Frage
stellen können, daß die Fähigkeit zur Ausbalancierung und Entschärfung
vereinfachender Schemata der Informationsverarbeitung verloren gehen
kann.3 Die Konsequenz ist eine extrem verzerrende, durch anderslautende
Erfahrungen nicht mehr korrigierbare Wahrnehmungsstruktur. Feindbilder
versprechen dann eine Stabilisierung und Aufwertung der eigenen Person
1 Einen guten Überblick zu Literatur und Forschungsstand gibt Helmut Berding, Moderner
Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988.
2 Vgl. bes. Detlev Claussen, Vom Judenhaß zum Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1988; Walter
Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a.M. 1988; Jacob Katz, Vom
Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700- 1933, München 1989, S. 253 - 280.
3 Vgl. die einleitenden theoretischen Überlegungen des Sammelbandes.

25

:,_,--
oder Gruppe und gewinnen durch ihre identitätssti"ft
ende w·
, msoan · Ine untergangsangst« reagierten.9 In einer Art Belagerungsmentalität fühlten
hOhe Durchschlagskraft: Je abstoßender der »Feind« u Irkung e· Ie sie sich ständig von inneren und äußeren Feinden bedroht, so daß nicht in-
Welt, de< ,nan sich seibSI ,uordnet. uehende, ct· tegrierte Minderheiten wie die Juden zur Zielscheibe allgemeiner Ängste
II wurden. Man glaubte, die Juden hätten sich mit dem äußeren Feind ver-
schworen und seien -war der nicht sichtbar - mit dem Teufel im Bunde. Vor
s seit dem Hochmittelalter in der christlich-ab d diesem Hintergrund konnte die Judenfeindschaft in einem vielschichtigen
d f indscha gab e
ft . . en -
Ju en e haft Sie mng in starkem Maß auf die Kirche zurück 41 Prozeß dauerhaft in die Volkskulturen eingehen: Das negativeJudenbild der
randischen Gese 11 sc . o· .
d ormodernen religiös motiVIertenJudenfeindschaft stand
. m
Neuzeit hatte eine lange Vorgeschichte.1° »Der Jude« wurde zum »Urblld des
Mittelpunkt er vGottesmordes' den die . Juden angeblich
. durch Hostien Anderen« und des Fremden, so daß man die »Neigung zahlreicher Menschen
der Vorwur des
f , . . . . -
.. d Ritualmorde symbolisch an chnstlichen Kindern ständi zur Perversion ihrer Beziehung zu nicht völlig »konformen« Mitmenschen«
schandung un . . . . g wohl mit Recht als »die tiefste Wurzel des Judenhasses« 11 bezeichnet hat.
. d h n trachteten. Weil sie sich der chnstlichen Heilsbotschaft
zu wie er oIe . . Der Wandel von einer ständischen Agrargesellschaft in eine Industriege-
. t n sollte man ihnen die »Verworfenheit« ihrer Taten auf ewig
verwe1ger e , . sellschaft im 19. Jahrhundert beeinflußte die tradierten Vorurteile gegen-
äußerlich ansehen.s Diskriminierende Sondergesetze von Kuche und Staat 6
bewirkten, daß die jüdischen Minderheiten eine verachtete und oft gefähr- über Juden beträchtlich, ließ sie aber, trotz aller Ansätze zur Integration
dete Existenz am Rande der christlichen Ständegesellschaft führen mußten. divergierender Kräfte und Gruppen der vormodernen Gesellschaft, hart-
zur Vergiftung der Beziehungen von Nicht-Juden und Juden trugen auch näckig weiterwirken: »Mit der Muttermilch möchte ich sagen, haben wir
alle ein Vorurteil gegen [dieJuden] eingesogen. Alles was verwerflich ist, was
wirtschaftliche Spannungen bei. Die erzwungene Spezialisierung der Juden
verächtlich ist, alle diese Attribute eines Ganzen, setzt man zusammen, und
auf den Handelssektor und die Geldleihe wirkten besonders herabsetzend,
dieses Ganze ist eben der Jude.«12 Juden eigneten sich als Zielscheibe der Un-
weil der Handel in der vormodernen Welt als unproduktiv und als unehrlich
zufriedenheit, weil sie in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung als Sozial-
galt. In einer ganz überwiegend agrarisch orientierten Gesellschaft mußte
gruppe weiterhin Besonderheiten aufwiesen13 und in einer charakteristischen
die Beschränkung der Erwerbstätigkeit der Juden auf die Zirkulationssphäre Nähe zu den Einrichtungen der Modemel4 wahrgenommen wurden. Weil
außerhalb ständischer Institutionen das Verhältnis zu Nicht-Juden nach- ihnen innerhalb zweier Generationen ein nicht für möglich gehaltener so-
haltig belasten. Sie ließ Juden zum »bevorzugten Objekt gewalttätiger Be- zialer Aufstieg gelang15, kann es kaum verwundern, daß ihre Erfolgsge-
gierden«7 werden und gab religiös motivierter Ausgrenzung eine wirtschaft- schichte in der Mehrheitsgesellschaft eine besondere Sichtbarkeitl6 besaß.
liche Dimension. Auch auf kultureller Ebene kam es zu Spannungen, weil
die christliche Gesellschaft spezifische jüdische Eigenarten nicht tolerierte, 9 Vgl. Jean Delumeau, Angst im Abendland, 2 Bde., Reinbek b. Hamburg 1985.
10 Vgl. bes. Stefan Rohrbacher/Michaei Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdlscher
sondern anfeindete. Juden wurden von ihrer christlichen Umgebung als Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek b. Hamburg, 1989; Reinhard Rürup, The Tor-
Fre~de angesehen, verachtet und als Herausforderung empfunden, weil sie tuous and Thomy Path to Legal Equality, In: Leo Baeck Institute Yearbook, 31, 1986, pp. 3-33.
an 1~ren Speisegesetzen festhielten, eine eigene Sprache sprachen, ein unter- 11 Helmut Krausnick, Judenverfolgung, in: Hans Buchheim/Martin Broszat/Hans-Adolf]acob-
son/Helmut Krausnick (Hrsg.), Anatomie des SS-Staates, 2 Bde., München 1984 4 , Bd. 2, S. 235.
scheidbares äußeres Erscheinungsbild hatten und sich als auserwähltes 12 Abg. Joh. Friedrich Bauer, 7. Mai 1846, bayer. II. Kammer, 9 Bde., S. 156, zit . n . Relnhard
Volk betrachteten. Judenheit und Christenheit sind deshalb auch als »Kon- Rürup, Emanzipation und Krise, in: Werner E. Mosse/Amold Paucker (HISg.), Juden im Wil-
fr?ntationskulturen« bezeichnet worden.S Nachhaltig belastend wirkten helminischen Deutschland 1890- 1914, Tübingen 1976, S. 30.
13 Juden waren erzwungenermaßen besser auf marktwirtschaftliche Wirtschaftsformen vorbe-
Wirtschaftliche p0 IT
h ' 1 h e und weltanschauliche Krisen seit dem 14. Ja h r-
isc reitet und aufgrund dieser Startvorteile besonders erfolgreich in den expandierenden Wirt-
undert' auf die d"e 1 ch nst · 1·1ehen Kulturträger mit einer extremen »Welt· schaftsbereichen Handel und Industrie. Vgl. bes. Jacob Toury, Soziale und politische Ge-
4 Vgl. lsmar Elbogen/Ele schichte der Juden in Deutschland 1847 - 1871, Düsseldorf 1977; Monika Richarz (Hrsg.),
a.M. 1988 bes S onore st erling, Die Geschichte der Juden in Deutschland, Frankfurt 1
Jüdisches Leben In Deutschland, 3 Bde., Stuttgart 1976 ff.; Werner E. Mosse, Die Juden in
S ' · · 25 -116 1
Vgl. Katz, Vorurteil s 27 · 3 ·t Wirtschaft und Gesellschaft, In: Mosse/Paucker (Hrsg.),Juden 1890-1914.
in der Geschicht M:. - 0; ErnS t Schulin/Bernd Martin (Hrsg.) Die Juden als Minderhet 1 14 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866. Bürgerwelt und starker Staat,
6 Vgl. Rau! H'Ib e, . unchen 1981. , ' München 1987, bes. S. 248- 255.
V t erg, Die Vernichtu d 15 Vgl. Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands, Tübingen 1968; Richarz
gl. Claussen,Judenhaß S ng er europäischen Juden, Berlin 1982, S. 11- 27.
Vgl. Arnos Funk . ' . 7 - 46. 1 (Hrsg.), Jüdisches Leben.
WOIfgang Beck (Hrsg)enS tem ' Juden
. J ' Ch rtS· t en und Muslime. Religiöse Polemik im Mittelalter, in·· 16 Vgl. Rürup, Emanzipation und Krise, bes. S. 42 -49.
Sau! Fne· dlander
.. u.a ·M", 0 te uden m · der europäischen Geschichte Sieben Vorlesungen von (
26 ., unchen 1992, S. 33 - 50. . 27
t
nschluß an die moderne Leistungsgesells h
. d n die den A . . c aft
"or allelll bei ene , . zu Symbolfiguren emer ungehebten neuen Z . chende Weltsicht war es dann auch nicht schwer, die neuen Lebensverhält-
v, wurden sie . . eit
nicht schafften, . b stehen eines Negativbildes waren auch Belastu . nisse mit einem Vorherrschen jüdischer Existenz zu verwechseln.
fü das Weiter e . n-
Wesentlich r »deutschen Weg« ihrer Gleichstellung ergaben!? Auffälligkeiten in der äußeren Erscheinung, erbärmliche und unsaubere
gen, die . s1•eh aus dem. 'eler Zeitgenossen d'1e u"b er11e . ferte "vorstellung ,d'so
Kleidung, andere Barttracht, die »Räuber- und Geheimsprache Jiddisch«2I
. . Bewußtsein VI . . , re
daß sich 1rn fr d und minderwertig, mit neuen Inhalten füllte n· hatten über viele Jahrhunderte hinweg Abneigung und Abwehr in der
. anders, em . .. . • re
Juden seien . delnder gesellschafthcher Verhaltmsse war ein sich christlichen Gesellschaft hervorgerufen und das Minderwertigkeits-Motiv
uenz sich wan „
geprägt. Der im Blickfeld der Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts liegende
Konseq . Judenbild1 nicht aber dessen Auflosung. Einen Er'
d des negatives • • n- Vorgang der Verbürgerlichung der Juden hatte diese äußeren Anknüpfungs-
wan e1n . E twicklungsprozeß vermittelt der zeitgenössische E
drllck von diesem n . r- punkte eines Negativbildes nahezu zum Verschwinden gebracht. Doch
Freytags »Soll und Haben «. 18 Freytag war kem Antisemit
folgsrornan Gustav p· . , auch für die moderne Staatsbürgergesellschaft blieb die Folie der überliefer-
. Bedenken mit einer zentralen 1gur semes Romans Veitel
hatte aber keine , .. .. . . . , ten Minderwertigkeitsvorstellung weiterhin aktuell. Sie wurde nun benutzt,
. . . Wandel begriffenen antiJud1schen Vorurteile semer Zeit aufzu-
Itzig, um den Juden gerade den Zugang zu bisher nicht zugänglichen gesell-
. dieundlill
zu literarisieren19: das fr emdl"an d"rsch e, off enbar orientalische ·
schaftlichen Bereichen, wie Freytag ihren sozialen Aufstieg beschrieben hat;
greifen
„ ß ( •tze Backenknochen«); das raffgierige . . un d b et rugerisc .. · h e Wesen
1 te, zum Vorwurf zu machen. Auch Richard Wagners 1850 anonym veröf-
das Juden um den wohlverdienten Schlaf des Gere~hten_ brachte (»die Spe- fentlichter Aufsatz »DasJudenthum in der Musik« stellte diesen Gedanken
culation war eine der schönsten«); der unbarmherzige Wille, andere um des in den Mittelpunkt.22 Juden könnten wohl, so Wagner, durch Taufe oder
eigenen Vorteils willen zu ruinieren (»die eisige Kälte seiner Forderungen«); Assimilierung äußerlich ihre Herkunft verwischen; das Unglück aber sei,
das bedrohliche Eindringen in bisher verschlossene gesellschaftliche Berei- daß ihre Emanzipation dazu geführt habe, Minderwertigkeit und fehlende
che (»Wie ein Gespenst verfolgte er [den] arme[n] Teufel von Rittergutsbe- schöpferische Kraft in der Kunst zum vorherrschenden Prinzip zu machen.
sitzer«); der gewissenlose Mißbrauch von Recht und Gesetz zum eigenen Durch die Juden erlange die kommerzielle Seite in der Musik immer grö-
Vorteil (»nach vielen Winkelzügen«). ßere Bedeutung und verdränge das Wahre und Schöne.
Gemeinsamer Nenner des modifizierten, neuen Negativbildes war die Der Hinweis auf das fremdländische Äußere eines Juden in Freytags Ro-
Distanz zur vormodernen, christlichen Judenfeindschaft. Die Judenheit man war Anspielung auf ein weiteres Grundmotiv tradierter Judenfeind-
wurde nicht mehr als lästige Randgruppe begriffen und war, aus christlicher schaft: das Fremden-Motiv. In der Überlieferung war es religiös hergeleitet
Sicht, nicht länger der Antichrist schlechthin. Wenn Freytag Juden mit worden, indem man auf die strikte Weigerung der Juden anspielte, die
grenzenlosem Eigennutz, Habgier und Schacher in Verbindung brachte, war christliche Heilsbotschaft anzunehmen. Man betonte ihre strenge Bindung
das zunächst eine Anspielung auf das aus spätmittelalterlicher Zeit stam- an die Tradition mit Speisegesetzen, Sabbatruhe und der Hoffnung auf
Rückkehr nach Palästina, ihre angebliche Ruhe- und Heimatlosigkeit sowie
~ende Wucherer-Motiv, das die Vorstellung beinhaltete, Juden bereicherten
ihr Festhalten an nicht-seßhaften Berufen.Juden galten als Fremde, im stän-
sich prinzipiell auf Kosten anderer und brächten diese um die Früchte ihrer
dischen Sinne als Volk im Volke, jedoch mehr mit einem verächtlichen als
ehrlichen Arbeit. Als sich aber dieJudenheit im Verlauf des 19. Jahrhunderts
feindseligen Unterton.23 Vor dem Hintergrund der bürgerlichen Freiheits-
verbürgerlichte und ihre Selbstisolierung überwand und damit ihren ge-
sellschaftliche St d . und Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts verschwand das Fremden-
n an ort grundlegend veränderte bekam das tradierte Motiv nun keineswegs, sondern wurde umgedeutet und gleichsam moder-
Wucherer-Motiv · ' . em . st
. . emen anderen Stellenwert. Wirtschaftsformen, die nisiert. Nun konnte die Judenheit in aggressiver Weise als ethnischer
ran d
trumstand1ge Praxis waren, wurden in der modernen Gesellschaft »zum Zen· Fremdkörper in einer sich zusammenschließenden Nation mißverstanden
11
tet wua der gesellschaftl'ic her Beziehungen«20•
· was einst als »jüdisch« verac h· werden, dem es grundsätzlich an Loyalität gegenüber den Deutschen fehle.
r e, war nun beh h . , .
Marginalie errsc ende Wutschafts- und Lebensform, was emS t 21 Vgl. Shulamlt Volkov, Die Verbürgerlichung der Juden in Deutschland. Eigenart und Para-
17 Vgl. Rüru E
, war nun.
dom·mieren
· d. Fur.. eme
. vorurteilsbehaftete, verem · fa- digma, ln:Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19.Jahrhundert, 3 Bde., München 1988, Bd. 2,
18 P, manzipatlon und A ·
Gustav Freytag, Soll und Hab nti_se1:1itismus, Frankfurt a.M: 1987, S. 93 - 119.
s. 343-371.
22 Richard Wagner, DasJudenthum In der Musik, Leipzig 1869.
hg im Jahr 1855. en, Leipzig 1903; Zitate S. 316 - 319. Das Buch erschien erst ma·
19 Ebct.,S.316-319 23 Vgl. Jacob Katz, A State within a State. The Hlstory of an antisemitic Slogan, in: ders., Zur
20 Cl · Assimilation und Emanzipation der Juden, Darmstadt 1982, S. 124 - 153.
aussen, Judenhaß, S. 28.
28 29
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•-'riiiil
. w· kung von Freytags Romankl"war mit dem Negativbild eines
Die 1r
.
J .,ugtö> he,g,!elteten antljüdi>chen Re»ent1ments wa,en we!te<~ln wt,k·
. s nicht hinreichend zu er aren: »Der Roman soll d Uden sam, auch die Angst vor der »jüdischen Geldmacht« war nicht neu.31 sie hatte
aller d mg .. . k . as deut
wo es in seiner Tucht1g elt zu finden ist näml· h sehe bereits eine der »Nachtseite[n] der JudenemanzJpation" geblldet ; neu aber
Vo a sUchen , . . . , ic bei .
lk ·td schrieb Freytag schon auf die Titelseite seines Roma seiner war, daß sich die Gegner der Judenemanzipation mit der ersten fundamen-
Ar e1 «, . ns. Er w01
b talen Krise der liberal-bürgerlichen Gesellschaft und der konservativen
o enbar das aufstrebende deutsche .. Wutschaftsbürgertum
. pos·t·
1 1v von d
lte
ff wende 1878/79 nicht mehr resigniert auf verlorenem Posten, sondern 1.m
eg enwelt ,·üdischer Geschaftsprakt1ken abheben. Veitel Itzig, d er Juder
G
stand Anton Wohlfahrt - nomen est omen - gegenüber, dem ehrliche e, »Aufwind« sahen, nicht mehr als Außenseiter, sondern als Tell einer unwi-
fleißigen und aufstrebenden deutschen Kaufmann. Mit dem Ne . _n, derstehlichen, unter konservativem Vorzeichen stehenden Gegenbewegung
'ld24 d · h fü' d gativb1Jd zur Modeme, mit der Folge, daß die neue Welle der Judenfeindschaft eine
trastierte ein positives
. Se lbstb 1 , as sIC r . en
.. Leser hervorragenct
kon Identifikation eignete und durchaus zur Identltatsfindung ta durchschlagende Kraft entwickelte. Antisemitische Vorstellungen bekamen
zur · 25 · usender für ihre Anhänger die Funktion einer Weltanschauung, die vorgab, auf alle
Deutscher mehrerer .Leser-Generationen beigetragen haben dürfte. bedrängenden Fragen oder vermeintlichen Fehlentwicklungen eine Antwort
zu haben.32 Dies offenbarte die Schwierigkeit vieler Zeitgenossen, dle bis da-
III
hin nicht bekannte, von Krisen begleitete Dynamik ihrer Epoche angemes-
Die in den 187Oer Jahren im Deutschen Kaiserreich entstehende neue Weil sen zu verarbeiten. Weil der moderne Antisemitismus vielfältig gekoppelt
der Judenfeindschaft reflektierte die veränderte Stellung der Juden in Staa~ war mit Störungen der modernen Gesellschaft und an eine manifeste, ant'l-
und Gesellschaft.26 Der moderne Antisemitismus richtete sich vor allem ge- modeme Stimmung anknüpfte, erzielte er ein~ außerordentliche Breiten-
gen die rechtliche Gleichstrllung der Juden und radikalisierte aggressiv die und Tiefenwirkung. Als politisch eigenständige Bewegung war er erfolglos;
tradierte Voreingenommenheit. Trägerschichten waren Gruppen, die sich über Verbände und Interessengruppen aber, die für den politischen Willens-
durch die strukturell offene Gesellschaft existentiell herausgefordert und bildungsprozeß im Kaiserreich von überragender Bedeutung waren, durch-
benachteiligt fühlten.27 Gemeinsamer Nenner der verschiedenen antijüdi- drang er ausgangs des 19. Jahrhunderts nachhaltig die wilhelminische
schen Strömungen war die behauptete schädliche Vorherrschaft der Juden Gesellschaft, deren demokratische Kräfte zu schwach waren, ihn wirksam
in Wirtschaft, Politik und Kultur.28 Juden galten als Verkörperung derbe- z~ bekämpfen. Er begann, ein anderes Gesicht zu zeigen, war nicht länger
drohlich empfundenen modernen Welt_29 Sie wurden nicht als Indivi- em spektakuläres Randphänomen, sondern auf fast allen Ebenen der Ge-
duen, sondern verzerrt als übermächtige, bedrohliche und für die deutsche sellschaft alltäglich. Er entwickelte sich zu einer überparteilichen Gesell-
Nation schädliche Gruppe wahrgenommen, der man in sozialdarwinistischer schaftsströmung, die als soziale Norm keiner besonderen Rechtfertigung
~ehr bedurfte. 33 Diese qualitative Bedeutungsverschiebung des Antisemi-
Zuspitzung unveränderliche, negative Rasseeigenschaften zuzuweisen be-
tismus der 189Oer Jahre ist bislang in der Forschung nicht hinreichend
gann. Die Exponenten des modernen Antisemitismus betonten die Distanz
n~c~vollzogen worden und legt nahe, zwischen den ersten beiden antise-
zur vormodernen, »mittelalterlichen« Judenfeindschaft, wollten zeitgemäß
mit~schen Wellen des Kaiserreichs eine deutlichere Zäsur zu setzen.34
sein und schon durch die Wahl des Begriffs »Antisemitismus« die Rationa- _Die nach~altige Wirtschaftskrise seit 1873 war auslösendes Moment für
lität ihrer Motive betonen.30 Gewiß, die in der Gesellschaft tief verankerten, die Herausbildung des modernen Antisemitismus.35 Nach Jahrzehnten der
24 Die konstitutive Verknüpfung von Selbst- und Fremddefinition in Hinblick auf die deutsche
Nation ist untersucht worden bei Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien1918 zum 31 Vgl. Rainer Erb/Werner Bergmann, Die Nachtseite der Jude . ·
1792 gegen die Integration der Juden 1780- 1860, Berlin 1989 Sneman21patl~n. Der Widerstand
nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich - ' del vom traditionellen Judenhaß zum mode n . , ._5_4. Die Studie datiert den Wan-
Stuttgart 1992. erste Hälfte des 19. Jahrhunderts vor r en Ant1sem1t1smus in Deutschland auf die
25 1893 e rsc h',en » soll und Haben« bereits in der 40., 1903 in der 59. Auflage.
R"
32 Jochmann, Struktur und Funktion, s. 459 _ 4 60 . Rüru . .
26 urup, Emanzipation und Krise S 42 33 Vgl. ShulamitVolkov,Jüdisches Leben und A~tis P'.;'1'an21pat1on und Antisemitismus, S. 115.
27 Rüru P, • .
Emanzipation und ' · ·
Antisemitismus S 133· vgl auch Werner Jochmann, Struktur und chen 1990, S. 13 -36; Klemens Fe Iden Die Üb e:1 ,smus ,m 19. und 20.Jahrhundert, Mün-
28 Funktion des d t h
Vgl n· h eu sc en . . .
Antisem1t1smus ' ·
in: ' ·
Mosse/Paucker (Hrsg.), Juden, S. 3 89 4 78 ·
- zlaie Norm durch die bürgerliche Ge~ellschaf~r:;a mehdesnd antisemitischen Stereotyps als so-
delberg 1963. eutsc la s (1875 - 1900), phil. Diss., Hei-
V · Th,c arz (Hrsg.), Jüdisches Leben Bd. 2 S. 35 _ 38
g1 omas N· ' ' · he Ge-
29 schichte s ipperdey, Das Problem der Minderheit: die Juden, in: ders., Deutsc 34 Vgl. die folgende Studie dieses Bandes
30 , · 24 8-255. 35 Vgl. Hans Rosenberg, Große Depressi~n und ßismarckzeit, Berlin 1967, S. 58 - 7 7.
Vgl. zur Begriffsge h' h in· 1Otto
Brunner u G sc. ,c te Thomas Nipperdey/Reinhard Rürup, Antisemitismus, 1 · ien
.a., esch1chtl' h G llt'sch-sOZ a
Sprache in Deutschla ,c e rundbegriffe. Historisches Lexikon zur po 31
nd ' Stu ttgart 1972, Bd. l, S. 129 - 153.
30
Prosperität, den mit .ihr verbundenen. spekulativen Erwartun
allgemeinen Hochstimmung seit der Nationalstaatsgrü gen und d
Dieser politische Hintergrund schuf einen völJig neuen Resonanzboden für
plötzliche Kriseneinbruch schockierend
. und desillusi onrerend
~dung Wirkte der er antisemitische Ausfälle, so daß die neue judenfeindliche Welle ihr Stigma
durch wirtschaftliche und soziale Spannungen
. , die mr·t d em st' verscha" rft einbüßte, eine Sache des „dummen Kerls«4 1, des Pöbels und der Straße zu
Umbau der Gesellschaft zusammenhmgen. Eine tiefgreife ruktureUen sein, sie wurde gesellschafts- und hoffähig. Diese bereits von
42 den Zeitgenos-
tende Krisenstimmung kam auf, die in keinem Verhältnis z:de und anha1. sen wahrgenommene neue Qualität der Judenfeindschaft dokumentierte,
und sich zu einer allgemeinen Identitätskrise auswuchs Inm _Anlaß stand daß beachtliche Teile der Eliten des Kaiserreichs begannen, Felndbllder aus-
. l Z ·t . . diesem K1·
neigten vre e er genossen zu emer verzerrenden Wahrneh nna zubilden oder mitzutragen.
lichkeit, zu aggressiver Intoleranz, zu phantastischen Verscmhu~g der Wirk.
. worung IV
»Wahnvorstellungen«.3 6 Vorurterle wurden gebündelt und radikal' . s- Und
· Für Aufsehen sorgte 1875 eine zunächst anonym erscheinende Artikelserie
Ausdruck eines Denkens, das die Gesellschaft polarisierte u d . isiert, in der »Neuen Preussischen Zeitung« (»Kreuzzeitung«), dem Hauptorgan
feinde« und »Reichstreue« teilte. Nicht fähig, sich grundleg~n~:»Reichs- des preußischen Konservatismus: »Die Aera Blelchröder- Delbrück- Camp-
tisch zu öffnen, abweichende Lebensformen als Bereicherung z bemo~a-
. u egre1fen hausen und die neue deutsche Wirtschaftspolitlk«.43 Wegen ihres Erfolges
und Kultur als leben . d rgen . Austausch, als Auseinandersetzung
. mit. dem erschienen die fünf Artikel auch als Sonderdruck. Verfasser war Franz Perrot,
Fremden zu begreifen, neigte das Deutsche Kaiserreich zum Freund-Fe· offenbar gemeinsam und in Absprache mit führenden konservativen Krei-
. Kl rma
' . l er Aggress10nen
· md- sen. 44 Hintergrund des publizistischen Vorstoßes war die Selbsteinschät-
D en k en. Em sozia entstand, das aggressiv innere
Homogenität erwartete und gefährlich für nicht-integrierte Bevölkerun s- zung konservativer Kräfte, sich politisch hoffnungslos In der Defensive zu
befinden. Die Wahlen 1874 wurden verloren, die liberale Seite dagegen war
gruppen wurde: für Katholiken, Polen, Sozialisten und - Juden.37 Ausgan!s-
Gewinner, verfügte über die absolute Mehrheit im Reichstag und war In der
punkt der in mehreren Wellen auftretenden antisemitischen Bewegung der Koalition mit Bismarck dominierende politische Kraft. Bel vielen Konserva-
18 70er Jahre war Berlin. Der neue J udenhaß fand zunächst seinen Ausdruck tiven hatte sich die Stimmung verbreitet, ihre Zelt sei abgelaufen, obgleich
in einer Serie antijüdischer Schriften und Veröffentlichungen, die um 1880 kein Zweifel daran bestehen konnte, daß der nach wie vor im MiUtär, der
und 1892/93- nach Auslaufen der Sozialistengesetze- ihre Höhepunkte hatte. Bürokratie und am Hofe tonangebende preußische Konservatismus ein un-
Allein in der Bismarckzeit entstanden rund 500 derartige Publikationen.38 erschütterliches Monopol auf die wichtigsten Schaltstellen der Macht be-
Die anti jüdische Publizistik Mitte der 1870er Jahre spielte sich auf dem Hin- hauptete. Weil es dem Konservatismus aber an einer breiten sozialen Basis
tergrund eines Richtungskampfes zwischen dem bis dahin dominierenden fehlte, verstärkte die Krise seit 1873 noch das Gefühl, die traditionelle Vor-
Liberalismus und dem Konservatismus ab.39 Die Diskreditierung liberaler machtstellung unwiderruflich eingebüßt zu haben. Andererseits waren libe-
Wirtschaftsgesetzgebung durch die anhaltende Krise führte zum Auseinan- rale Politik und Gesetzgebung, wie sie in jenen Jahren Bismarcks liberale
derbrechen dieser »Koalition« so daß die Dominanz des Liberalismus ge- Minister Delbrück und Camphausen repräsentierten, durch die schwere
stoppt wurde und er schließli~h auch seine politische »Farbe« wechs~lt:~ 41 A_ugust Bebe! nahm in seiner Wertung der neuen Judenfeindschaft Mitte der 1870er Jahre
Seit der politischen Wende 1878/79 war er nicht mehr »regierende Partei«. diese Formel vom •Sozialismus des dummen Kerls• auf, vertrat selbst aber einen anderen
Standpunkt; vgl. August Bebe!, in: Hermann Bahr, Der Antisemitismus. Ein internationales
tl en wende kurz Interview, hrsg. v. Hermann Greive, Könlgstein{fs. 1979, S. 24.
42 Diese hatte wohl auc~ Theodor Mommsen im Auge, wenn er vom .Kappzaum der Scham•
36 Hans Rosenberg gebrauchte diesen Begriff im Zusammenhang der konserva : von 1873.
nd sprach, _der_b1s zu'. pohnschen Wende 1878/79 die gesellschaftlichen Eliten daran gehindert
nach der Reichsgründung: »In recht weitgehendem Maße war die Tre penode tehenden
. . . z einen hervors h_atte, steh_öffentlich mit diesen Positionen zu identifizieren; vgl. Theodor Mommsen, Auch
1896 em zu Wahnvorstellungen neigendes Zeitalter der Neurose. u s Klassen· und em _Wort uber unser Judenthum, in: Walter Boehllch (Hrsg.), Der Berliner Antisemitlsmus-
Merkmalen gehören die groteske Angst vor den ,Roten, und dem ,Umsturz,, der
stretl, Frankfurt a.M. 1988, S. 222.
Judenhaß [... ].«; Rosenberg, Depression, S. 56-57. 19886 bes. S. 96· 43 Neue ~eussische Zeitung (•Kreuzzeitung• ), Die Aera Bleichröder - Delbrück _ Camphausen
37 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871- 1918, Göttingen 1 ~ltisrnus im u~d dte neue deutsche ,Wirtschaftspolitik, Nr. 148 - 152, 29. 6. bis 3. 7. 1875; alle folgenden
118; Rürup, Emanzipation und Krise, S. 27 - 41; Hans-Günter Zmarzllk, Ant se Zitate aus _Nr. 148; gegrundet 1848, vertrat die Zeitung die extreme Rechte des preußischen
270
Deutschen Kaiserreich 1871-1918, In: Schulln (Hrsg.), Juden, S. 249- · Konservatismus.
9 44 \lgl. Peter G. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und
38 Vgl. Felden, Übernahme. M 1986 s.1-3 ·
39 Vgl. Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfur~i 984, be;, s. 224 • Osterretch 1867 - 1914, Gütersloh 1966, S. 78; Katz, Vorurteil, S. 260-262.
40 Vgl. Relnhard
. Rürup, Deutschland im 19.Jahrhundert, 1815- 1871, Göttlnge
D r deutsche Llberalls· 8 1 33
225; Helnnch A. Winkier, Vom linken zum rechten Nationalismus. e 8 Heft 1, s. 5 -2 ·
197
mus in der Krise von 1878/79, In: Geschichte und Gesellschaft, 4. Jg., '
32
IT. 3-.\qaq. ~it 1816. die eigentliche Ursache für die anhaltende Kr_ise ausgemacht zu haben un~
BBBMSH.
die vorgeblich zerstörerischen Kräfte des Freihandels, der Gewerbefreiheit
d Freizügigkeit beim Namen nennen zu können. Auf der Suche nach Ver-
~~twortlichen richtete sich der Blick des Verfassers nicht zufällig auf„eine
bestimmte Person in der Umgebung des Reichskanzlers, auf Bleichroder;
JatlrifdJ--•morij\ifd)r1 llodjtnb\atl.
f.)no.utgrgrbcn 110n Dr. 3. e1t1. dieser war »mosaischen Glaubens « und »regierender Banquier« und wurde
Al 34. Vmt !!t'i::l~~~a:~~1°' l ll-21. l.!lugujt l875 . als der »intellectuelle Urheber«, das heißt als der eigentliche Kopf einer ver-
').l[na ·;?[l(ridu·ö&,r. fehlten Politik bezeichnet.46 An dieser Sichtweise war durchaus etwas Wah-
res. Bleichröder spielte eine wichtige Rolle; er gehörte zu den großen jüdi-
schen Bankiersfamilien, war Direktor der wichtigsten Berliner (Privat-) Bank
und Bismarcks Finanzberater in staatlichen und privaten Angelegenheiten,
galt weithin als Symbolfigur jüdischer »Geldmacht«. 47 Dem Verfasser ging
es aber offensichtlich nicht nur um die Feststellung von Tatsachen. Wie vie-
Titelblatt des satirischen Wochen- le andere sah auch er in Bleichröder den Protagonisten eines aufsehenerre-
blattes Die Bremse vom 21. August 1875, genden Aufstiegs der Juden, verstieg sich aber zu der Behauptung, in Bleich-
aus: Eduard Fuchs, die Juden in der Kari- röder den Exponenten einer politisch einflußreichen, verschworenen, im
katur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, Hintergrund die Fäden ziehenden Bevölkerungsgruppe identifizieren zu
,,Dir -gtri4•1TI1•"•1' (ti iledl"
Pt au llt Al•1t•tl11r. München 1921, S. 163.
'gll,C lt!Jrr ifl 1•4 lu !Q:rtd" können. Bleichröder war Jude: Das reichte 1875 offenbar bereits aus, um in
~U 1Ut'9t ~•IJn(.. riat. Die Zeitschrift nahm mit ihrem der Öffentlichkeit glaubhaft auf die stereotype Gleichsetzung von »Jude«
sl•• (djailnl P:••••• wid da Titel Bezug auf eine aufsehenerregende und »Geldmacht« setzen zu können, ohne sich mit dieser Vorstellung ins
t'1••adt ... ,,,....,tt;
Artikelserie in der Konservativen
-glal
illit
~tnf.. •ft laat lldj ltaaf
politische Abseits zu manövrieren: »Wenn zugleich die Geld- und Wirth-
bn ttr alr 1•t f••nL Kreuzzeitung, die Bismarcks jüdischen
Finanzberater v. Bleichröder attackierte. schaftspolitik des deutschen Reiches immer den Eindruck von Judenpolitik
(d.h. von und für Juden betriebener Politik und Gesetzgebung) machte, so
Wirtschaftsflaute so stark in Frage gestellt worden, daß die Konservativen ist dies sehr erklärlich, da der intellectuelle Urheber dieser Politik, v. Bleich-
erstmals die echte Chance zur Schwächung des politischen Gegners und zu röder, selbst ein Jude ist.«48 Ganz im Gegenteil schien eine solche Sicht-
einer Wende im Reich sahen. Die Bedeutung der »Aera-Artikel« lag darin, weise doch gerade die Chance zu bieten, aus einer Defensivposition heraus-
daß mit ihnen zur Erreichung eines politischen Ziels erstmalig die »anti- zukommen. Indem die Vormachtstellung des Liberalismus im Bündnis mit
jüdische Karte« gespielt wurde. Indem Perrot die in seinen Augen diskre- Bismarck zur »jüdischen Geldmacht« und »Judenpolitik« dämonisiert wur-
ditierte Wirtschafts- und Finanzpolitik vor allem mit dem Einfluß von de, sollte der Liberalismus wirkungsvoll diffamiert und geschwächt werden
Bismarcks jüdischem Finanzberater Bleichröder in Verbindung brachte, denn_ unter Konservativen galten die Juden allgemein als die »Avantgard~
49
war der verhängnisvolle Verdacht in die Politik eingebracht worden, alle der Li~eralen«. Juden der Vorherrschaft in der Wirtschaft zu bezichtigen,
fragwürdigen und beunruhigenden Zeiterscheinungen hingen mit dem war Mitte der 1870er Jahre allerdings nicht mehr ganz neu .so Neu war sich
schädlichen Einfluß reicher Juden zusammen. :on einer öffen_tlich vorgebrachten Furcht vor der universellen jüdi;chen
Geldmacht« die Verbesserung einer politischen Position erhoffen zu kön-
Zunächst sprach Perrot die Wirtschaftskrise an. Tief saß die Verbitterung
über die entstandene Lage, ein Nährboden für Überzeichnungen und Ver- 46 Ebd.
schwörungstheorien: »Selten, vielleicht niemals vorher in der Weltgeschich- 47 ~g~;rltz Stern, Gold und Elsen. Bismarck und sein Bankier Bleichräder, Reinbek b. Hamburg
te, ist eine Zeitperiode für eine großartig angelegte National-Wirthschafts- 48 Kreuzzeitung, Nr. 148.
politik günstiger gewesen [.. .] und vielleicht niemals ist ein großer Moment 49 Jochmann, Struktur und Funktion S 404
[... ] vollständiger verpfuscht worden. «45 Die Konservativen gaben nun vor, SO Vgl. Otto Glagau, Der Börsen- und' G~ünd~ngsschwinde.l · B
zig 1877. Ci lagau prägte das Schlagwort »Die soziale Fra '~ erlin, 2 Bde., Berlin 1876/Leip-
45 Kreuzzeitung, Nr.148. clamlt dle Angste des Mitte lstandes in einer ung . gle ist die Judenfrage « und bündelte
eme in w rkungsvollen Fo rmel.
34
;) .........__
35
. k E" J denknecht«· die Ursache der Misere: »Eine jüdische . Anfeindungen das Motiv der jüdischen Vorherrschaft in Presse und
nen. Blsmarc : » 1n u ' . . . . . . seinen . d" ·t lt
..
Verse h worung« - das war der Kern dieses Femdb1ldes.. Emma! m die Pohtik • hstag hinzu. Die Angst vor dem politischen Abseits, 1e verzwe1 e e
• b rac ht , begann es , eine Eigendynamik zu .entwickeln. und zum. .Politi- Rec d " B''
emge Wut über einen unverdienten, politischen Machtverlust hat~en 1e. un-
kum zu werden, indem es nachhaltig zur Vergiftung des mnenpol!tischen delung und Radikalisierung von Vorurteilen bewirkt un~ . sie zu e1~em
Klimas beitrug. schließlich war nicht mehr eindeutig auszumachen, wie- Feindbild verdichtet, das zentrale gesellschaftliche und poht1sche Bere1ch.e
weit ihre Urheber selbst davon erfaßt waren. Paradoxerweise scheint also ge- umfaßte, ein außerordentliches Furchtpotential aufwies und »den Juden«
rade die Demokratisierung des politischen Willensbildungsprozesses Feind- attackierte, aber »den Liberalen « meinte.
bildern neue Wirkungsfelder eröffnet zu haben.
Die Verbitterung über die hoffnungslose Situation des eigenen Lagers verlei- V
tete Perrot zu weiteren extremen Verzerrungen der Wirklichkeit. Ausgangs- Bis zur Veröffentlichung seiner antisemitischen Schrift: »Der Sieg desJuden-
punkt war wieder die Bezugnahme auf allgemein bekannte Umstände: die thums über das Germanenthum. Vom nicht-confessionellen Standpunkt
herausragende politische Rolle Eduard Laskers und Ludwig Bambergers als aus betrachtet«53, die noch im Erscheinungsjahr elf Auflagen erreichte, war
führende Vertreter des Liberalismus im Reichstag: »Dazu kommt, daß unsere Wilhelm Marr ein erfolgloser, liberaler Autor gewesen.54 Im selben Jahr aber
Mitbürger semitischer Race und mosaischen Glaubens zugleich die intellec- wurde er bereits zur entscheidenden Figur bei der Gründung der »Antisemi-
tuelle Führung der Gesetzgebung in unseren Vertretungskörpern übernom- ten-Liga«, die in ihrem Namen das sich überall durchsetzende Schlagwort
men haben[ ... ]. [Die Juden sind] die eigentlichen Führer der sogenannten vom »Antisemitismus« aufgriff.55 Der Titel seiner Schrift war ein eindeutiger
,national-liberalen, Majorität des Reichstages [... ] wir werden zur Zeit von Hinweis, daß Marr die »Judenfrage« - nicht länger emanzipatorisch, son-
den Juden eigentlich regiert.«51 Indem Perrot aber Symbolfiguren der Libe- dern antisemitisch gestellt - als Kernproblem der Gegenwart betrachtete.
ralen in der Öffentlichkeit gleichsam wieder als Juden kenntlich machte Alle Übel der Gesellschaft wollte er dem negativen Einfluß der Judenzuge-
und wie Angehörige einer verschworenen Gruppe behandelte, entfaltete er schrieben wissen und prägte damit ein neues, für die kommenden Jahr-
ein weiteres zentrales Element seines Feindbildes: Die Juden hätten die zehnte sehr folgenreiches Politikkonzept. Schon im Vorwort stellte er in
Schaltstellen der Macht im Staat besetzt und kontrollierten insgeheim Re- scharfer Weise den Gedanken einer tödlichen Bedrohung der Gesellschaft
gierung und Parlament. Liberale Politik und Gesetzgebung wurden damit durch die Juden in den Mittelpunkt. Sie wurden nicht mehr als m inderwer-
zur »Judenpolitik« stilisiert. Dieses verzerrte Bild entwickelte das konserva- tige und verachtete Menschen am Rande der Gesellschaft, sondern als eine
tive Lager bezeichnenderweise in dem Augenblick, als es die eigene politi- beunruhigende und mächtige, im Zentrum der Gesellschaft stehende Grup-
sche Ohnmacht am schmerzhaftesten empfand. Obwohl die allgemeine pe wahrgenommen. Das alte Bild stimmte nicht mehr, sie seien gar nicht so
Krise vor allem den Liberalismus schwer angeschlagen hatte, war es bisher marginal, wie bisher angenommen: Sie seien eine Macht, eine »Weltmacht«!
nicht gelungen, ihn entscheidend zurückzuwerfen. In dieser Situation war Früher habe man sie verachtet, nun aber mußte man sie fürchten : »Ange-
die Wahrnehmung der Juden als einer übermächtigen Gruppe nur der ver- griffen sind die Juden und das Judenthum schon unzählige Male [.. .]. Zu
zerrte Reflex auf die Führungsrolle des verhaßten Liberalismus. Wie bedroh- dem [... ] Eingeständnis, daß Israel eine Weltmacht ersten Ranges geworden
lich der Verfasser die Lage empfand, ging aus der Aufforderung an die Leser ist, hat es unser Dünkel nicht gebracht. Wir haben wohl die Juden, aber -
hervor, gegen die liberale Ära »mobil« zu machen, in der bisher eine »durch uns selbst nicht erkannt.«56 Marrs Botschaft an seine Leser war offenbar Aus-
und durch jüdisch-börsenpolitische Presse [...] jede Aufklärung verhin- druck einer hochgradigen inneren Verunsicherung und machte einen Men-
dere. « Das Stillschweigen über die einflußreiche Stellung der Juden müsse schen sichtbar, den Angst umtrieb, der sich gelähmt, mit dem Rücken zur
aufhören, da diese nicht wünschten, »daß das von ihnen regierte deutsche :"7and wähnte, »unterjocht« und »besiegt«, wobei er die knapp 500 000 Juden
Publikum die hinter den Kulissen hergehenden goldenen Drahtseile bemerke, m Deutschland gleich zu »Millionen Juden« vervielfachte: »Es muß te [... ]
,
mittels welcher der sehr geschickt angelegte Mechanismus der bestehen- 53 Wllhelm Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germ an enthum . Vo m nicht con fess ionel-
den Geldregierung gehandhabt wird.«52 Perrot wollte ein Zeichen setzen, le n Sta ndpun kt aus betrachtet, Bern 1879' .
5 4 Vgl. Moshe Zimmerma n n, Wilhelm Ma rr. The patria rch o f Anti-Sem itism New York 1986·
um das konservative Lager wieder in die Offensive zu bringen und fügte
Putzer, Antisemitismus, S. 48 - SO; Katz, Vomrteil, S. 267 - 269. ' '
51 Kreuzzeitung, Nr. 148. 55 Vgl. An m . 30.
52 Ebd. 56 Marr, Der Sieg, S. 3.
L
36 37
endlich einmal die Thatsache [... ] eingestanden werden, daß wir die Besie _
ten, die Unterjochten sind[ ... ] ich habe ausgesprochen, was Millionen Jude~ ,-..,c~ .,.. "i #~
im Stillen denken. Dem Semitismus gehört die Weltherrschaft.«57 Marr rea. Der
gierte in dämonisierender Weise auf den für viele so unbegreiflichen Tatbe-
stand einer emanzipierten Judenheit, die auf vielfältige Weise, in Vereinen Sieg des Judenthums
........
,.G,r.. - . -. ~l"ti.. Jll ••r • J•~ ..... rno,:,,.~
Klubs und Lesegesellschaften, in Restaurants, der Oper und in Theatern zu~
äußerlich ununterscheidbaren Teil der bürgerlichen Gesellschaft geworden ~ms ·l irfi uom ·i eui
Germanenthum.
war. Immer wieder sprach Marr seine Leser direkt an und konfrontierte sie lill'. ilb. Md)mrd)lru.
mit dem Gedanken, daß die rechtliche Gleichstell~ng von den Juden l\1111'll6trll
v-
mißbraucht worden sei, um eine» Fremdherrschaft in den Parlamenten« an-
nicht conh11lon1ll1n Stand,unkt 1111
zutreten, sich zu »Dictatoren der Staatsfinanzen« aufzuschwingen, als »Ge- betrachtet
setzgeber und Richter« zu fungieren und die Presse »zu beherrschen«.ss
Marr wollte eine neue, »nicht-confessionelle« Perspektive einnehmen und VV'. Marr.
erklärte die religiös motivierte Judenfeindschaft für »hirnverbrannt« und r.-n-.,
»blödsinnig«. 59 Ihm war bewußt, daß christliche Motive als mittelalter- A.a~•• A•n••--
licher Rückgriff betrachtet und daher nicht mehr ernst genommen worden
.lt\lfl'ltb QOl'II .
wären. Religiös motivierte Ablehnung der Juden habe jahrhundertelang nur
i,oi,
der Selbsttäuschung gedient. In Wahrheit gehe es um »das Ringen der Völ-
ker gegen die[ ... ] Verjudung der Gesellschaft, als ein Kampfum's Dasein«60;
'ftd•I tn Jl.•lllr•lllf... • l\M\.. dlu1 tUull .-.•f1!1
J\IIK • • 111.• Jl••PIHlr&k M ,
Rud.olpll
.....
1879.
fW11uit
»Der germanische Staat zersetzt sich [...] in rapidester Weise.«61 Als Zeitge-
nossen einer liberal beeinflußten, sich säkularisierenden Welt verblaßten
für Antisemiten wie Marr die Muster des tradierten christlichen Judenhas-
ses. Ethnische Zugehörigkeit wurde für die Charakterisierung der Judenheit
wichtiger als Konfession. Vor dem Hintergrund einer fragwürdigen, aber
tlula11 b. !Dt. <i!d,ul1<, fl!nlln 0., <ed,lojipla- 4.
ständig zunehmenden Biologisierung gesellschaftlicher Prozesse bildete sich
eine scharf akzentuierte Vorstellung von der rassischen Andersartigkeit der lllleuucmcntt-fllnl1'1un1 llllf
Juden heraus. Sie wertete das alte Vorurteil von einer spezifisch jüdischen ~JHt lll al)rlJ rit1\
Physiognomie auf, indem es ihm den Anschein von Wissenschaftlichkeit ~••1tlPlflll-f1tltlfd)t1 llltd)111~l•II.
und damit von Glaubwürdigkeit verlieh. Das stereotype Bild von der krum- ~in~igcl! nntionnlcl!
un'b ont\\emiti\dje3
men Nase, dem dunklen, fettigen Haar und den sinnlichen Lippen eignete )ffiillblntt.
sich in seiner rassistischen Zuspitzung dazu, Ängste vor überlegener sexueller ,l>u 111 o,i fl i frti•f nI it i fdJ,, imilc\cntliit, 1 ~ummtt 11011
Potenz und hemmungslosem Triebverhalten einer fremden, jüdischen Rasse
~a\kstin\eMhr beruu~a.llJntlv\lti\ 1 1/1 bil 2 tiOQtTI ~oiio 111il
---
lCl~lni~en ~Uu{\mtioncn.
zu wecken.62 »Der Jude« war damit nicht mehr assimilierbar, ein Fremdkör- f11r bao ~ab,
•n\l ~l'o O.aadat Z tJlt.
\lrti.J 50 \lftuu\gt
57 Ebd., S. 48.
ftlttliu.
58 Marr, zit.n. Katz, Vorurteil, S. 268. Uuln~ u111 .M. 3(\ul)r,
1'.,06,ilolwlnl! •I.
59 Marr, Der Sieg, S. 8.
60 Ebd.,S.3.
61 Ebd., S. 45.
62 Über den Zusammenhang von körperlichen Merkmalen und der Herausbildung von Stereo- \
typen vgl. Sander L. Gilman, Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der
westlichen Kultur, Reinbek b. Hamburg 1992; Rainer Erb, Die Wahrnehmung der Physlogno• 1 Judenfeindliche Schriften der 1880er Jahre.
mie der Juden: Die Nase, in: Heinrich Pleticha (Hrsg.), Das Bild des Juden In der Volks- und
Allein in der Bismarckzeit entstanden rund 500 antisemitische Publikationen .
Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945, Würzburg 1985, S. 107 - 126.
1
38 39
1
L
per, ein Feind, dessen animalische Kraft ebenso gefährlich wie »gemein-
mung mit naturgesetzlichen Prozessen sah.66 Marr stellte rassistische Mo-
schaftsfremd« erschien. Sozialdarwinistische und antisemitische Ideologien
tive ins Zentrum seines Feindbildes: »Der Jude« war der »Andersartige«, der
gingen eine folgenreiche Verbindung ein. Die Vorstellung von Weltge.
wegen unveränderlicher und bedrohlicher Eigenschaften für immer ausge-
schichte als einem antagonistischen Kampf zwischen Völkern und Rassen grenzt werden konnte.67 Wer so über dieJudenheit schrieb, hatte eine Welt-
zog sich wie ein roter Faden durch Marrs Schrift. »Es ist wie im Krieg«, be- anschauung, die sich die Rettung der eigenen Welt nur durch die Zerstörung
schrieb er die Lage.63 In einer Art moderner Weltuntergangsangst steigerte und Vernichtung von »Feinden« vorstellen konnte.
er sich in Vorstellungen eines endzeitlichen Kampfes »wir oder sie« hinein.
Die geschichtliche Selbstbehauptung der jüdischen Minderheiten in der VI
Diaspora wurde zu einem Beweis für besondere rassische Eigenschaften ver- Adolf Stoecker war Pastor der evangelischen Kirche und brachte es als einer
dreht. Wegen ihres überlegenen und bedrohlichen Sondercharakters erklär- der Hofprediger am Dom in Berlin zu hohem Ansehen bei Hofe. Konserva-
te Marr in seinem Zerrbild von Weltgeschichte die Juden zum Feind aller tiv in seiner Gesinnung, trat er auch als hervorragender politischer Redner
68
Deutschen: »Kein Triumphator der Alt- und Neuzeit kann sich solcher[ .. .] an die Öffentlichkeit und wurde ein erfolgreicher anti jüdischer Agitator.
Erfolge rühmen, als der letzte Schacherjude, der an der Straßenecke auf dem Den Hintergrund seines politischen Auftretens bildeten Befürchtungen des
Karren Band feilbietet- Ohne Schwertstreich [... ] ist das Judenthum heute konservativ-protestantischen Lagers, seine einflußreiche Stellung in der Ge-
der social-politische Dictator Deutschlands geworden [... ].«64; »Wir sind die sellschaft dauerhaft zu verlieren.69 Im Zeitalter des allgemeinen Wahlrechts
Besiegten und es ist ganz in der Ordnung, daß der Sieger >Vae victis, ruft.«65 mußte eine gesellschaftliche Machtstellung auch eine breite soziale Basis
Marrs Vorstellung vom übermächtigen Judentum stand ein Selbstbild haben und im Kampf um Wählerstimmen behauptet werden. Stoecker war
vollständiger eigener Ohnmacht gegenüber. Ihm erschien die Lage als hoff- überzeugt, daß der Konservatismus eine aktive Sozialpolitik betreiben müs-
nungslos. Er sah sich und die Gesellschaft am Ende, ließ sich aber nicht ab- se, um seine Stellung halten und der organisierten Arbeiterbewegung das
halten, die Unzufriedenen der Gesellschaft gegen die angebliche Judenherr- Wasser abgraben zu können. Er gründete die »Christlich-Soziale Arbeiter-
schaft zu mobilisieren. Seine apokalyptische Weltsicht, die den Niedergang partei«, die allerdings bei Arbeitern erfolglos blieb. Anklang fand Stoecker
der vormodernen, ständisch verfaßten Welt als Weltuntergang mißverstand, mit seiner in »Christlich-Soziale Partei« umbenannten Organisation dagegen
hatte ihren Hintergrund in der weit verbreiteten, überzogenen Krisenstim- beim gewerblichen Mittelstand, den unteren Angestellten und Beamten so-
mung. Unter den »Verlierern« einer Gesellschaft im Umbruch verstärkten wie der akademischen Jugend.70 Im Mittelstand stieß ein antijüdisches
sich die Gefühle der Verunsicherung und Verbitterung. Besonders kleinbür- Feindbild auf große Resonanz. Erstmalig war eine konservative Kraft außer-
gerlichen Bevölkerungsschichten machte die Konkurrenzgesellschaft zu halb des traditionellen konservativen Lagers erfolgreich - und sie war es,
schaffen, in der sich scheinbar nur der wirtschaftlich Stärkere behauptete. weil sie antisemitisch war.
Konkurrenz forderte zu großen Leistungen heraus, verlangte dem Individu- Unter Stoeckers Reden zur »Judenfrage« gibt die Rede in der Berliner Bock-
um aber ein ungleich selbstverantwortlicheres Leben ab, als es die ständisch brauerei von 1883 einen guten Einblick in den Prozeß der Vermittlung eines
verfaßte Gesellschaft getan hatte. Wer nicht mithalten konnte, interpretierte Feindbildes.71 Stoecker ging zu Beginn seiner Rede auf Vorfälle im Landtag
das gesellschaftliche Leben leicht als »Kampf ums Dasein«. Er wurde anfäl- ein, wo ein jüdischer Abgeordneter in einer persönlichen Erklärung- auf die
66 Mit dem sich Im Übergang zum 20. Jahrhundert ausbreitenden völkischen Denken gewann
lig für eine Verkennung der Realitäten und rechnete sich wie Marr zu den die Unbarmherzigkeit gegenüber Minderheiten und Außenseitergruppen eine neue Qualität.
Verlierern, so daß auch hochgradig verzerrende Weltbilder wie der Rassis- Wer sich im Sinne eines modernen, wissenschaftlichen Denkens als Vollstrecker der Natur-
mus Verbreitung fanden. Die Identifikation mit einer starken Rasse befrie- gesetze begriff, hatte ein weltanschauliches Koordinatensystem, das das »Ausmerzen« und
Vernichten von nicht-konformen Bevölkerungsgruppen zum »Schutz« des eigenen Volkes
digte das Bedürfnis nach Wiederaufrichtung eines verlorenen Selbstwert- mit einschloß. Inhumanität entstand nicht nur aus einer Ablehnung der Modeme heraus,
gefühls. Als vermeintliches Opfer war es gedanklich kein großer Schritt, ein sondern war auch deren Tell.
Recht auf gewaltsamen Widerstand zu beanspruchen. Moralische Bedenken 67 Vgl. auch Eugen Dührlng, Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage, Karlsruhe/
konnten leicht außer acht gelassen werden, weil man sich in Übereinstirn- Leipzig 18812.
68 Vgl. Pulzer, Antisemitismus, S. 79 - 83; Katz, Vorurteil, S. 269 - 270.
63 Marr, Der Sieg. 69 Vgl. Massing, Vorgeschichte, S. 26 - 27.
64 Marr, Der Sieg, S. 23. 70 Bei Stern, Bleichröder, S. 704, findet sich ein entsprechender Nachweis.
71 Adolf Stoecker, Christlich-Sozial. Reden und Aufsätze, Berlin 18902.
65 Ebd., S. 30.
41
40
es nach der Gesc h a„ftsordnung keine Gegenrede gab - die antisemitische
f Be.
aus einen eigenen Vorteil zu ziehen. Das wollte das Publikum offensichtlich
wegung angegn'ffen hatte · Damit habe er - so Stoecker
. - Ver ahrensregeln
auch hören, wie den emotionalen Reaktionen zu entnehmen ist. Die raff-
der Par1amen t sdeb atte zu persönlichen Zwecken mißbraucht
. .. .und der Volks-
vertretung Schaden zugefügt: »So etwas thut man 1m anstand1gen parlamen- gierigen, die unproduktiven Juden seien es, die die wirklich »schaffenden«
Hände um die Früchte ihrer redlichen Arbeit brächten. Hinter dieser Vor-
tarischen Leben nicht, man mißbraucht das letzte Wort, das man hat, nicht,
stellung stand das gegen kapitalistische Gewinnformen gerichtete Credo
um Menschen zu beleidigen, die sich nicht wehren können. (Bravo!)
eines vorindustriellen Denkhorizonts, das das »geheiligte«, alttestament-
Deutsch ist das nicht, aber jüdisch, meine Herren, jüdisch ist das. (Lebhafter,
liche Prinzip verteidigte, der Mensch müsse sich im Schweiße seines Ange-
andauernder Beifall.)«72 Der demagogische Beginn seiner Rede legte einen
sichts nähren. Die Nachkommen der Ghettobewohner, die ehemaligen
Teil von Stoeckers stereotyper Wahrnehmungsstruktur frei. Deutscher Red-
Hausierer, Trödler und »Luftmenschen«: wie anders war ihr sozialer Auf-
lichkeit und Anständigkeit standen bei ihm jüdische Durchtriebenheit und
stieg zu erklären als damit, daß sie - die doch selbst keine produktive Arbeit
Eigennutz gegenüber. In ihrer kontrastiven Verwendung wurden diese Cha-
leisteten - ihren Erfolg auf Kosten anderer gründeten? »Der Jude« schädige
rakterisierungen als nationale Stereotypen im Sinne spezifischer, unver-
durch seine parasitäre Existenz das nationale Wohl und nutze seine beherr-
änderbarer Volkscharaktere gebraucht. »Der Deutsche« war anständig, »der
schende Stellung an der Börse, den Banken und im Handel, um sich an dem
Jude« dagegen durchtrieben. Den Zeitgenossen war der angesprochene
zu bereichern, was andere erarbeiteten. Diesen »Feind« zu schlagen, ver-
Vorfall mit großer Wahrscheinlichkeit bis dahin - schon wegen seiner ge-
sprach Stoecker, war das geeignete Mittel, die Welt wieder in Ordnung zu
ringen Bedeutung - gar nicht aufgefallen. Auffällig wurde die Sache erst, als bringen und den althergebrachten Werten den angestammten Platz im
Stoecker auf die jüdische Herkunft oder Konfession anspielte. Indem er das Leben zurückzugeben.
parlamentarische Auftreten eines Abgeordneten als »jüdisch« wertete, mach- Ein weiteres Element in Stoeckers Freund-Feind-Denken war, Juden dem
te er ihn vor aller Augen wieder zum Juden, zum Paria. Ein Stück Integration Verdacht auszusetzen, keine zuverlässigen, keine »guten« Deutschen zu sein.
wurde wieder rückgängig gemacht. Das Eingehen auf vorgeblich skrupello- Im Verlauf seiner Rede sprach er daher dem schon erwähnten jüdischen Ab-
sen »jüdischen« Eigennutz erinnerte die überwiegend mittelständischen geordneten grundsätzlich die Legitimation ab, sich kritisch in der Öffent-
Zuhörer an Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit, die ihnen in jenen lichkeit zu äußern: »Ich denke mir, Herr Straßmann hat in letzter Zeit so
Jahren sehr vertraut waren. Neue Herstellungsmethoden in der Wirtschaft, einige Angelegenheiten seiner Glaubensgenossen vor Augen gehabt (leb-
wie die Verfahren zur Massenproduktion, oder neue Vertriebstechniken, wie hafte Zustimmung). Da sind z.B. in Mühlhausen im Elsaß einige 20 be-
der Großhandel und später das Warenhaus, waren eine bedrohliche Heraus- strafte Subjekte, darunter nur zwei Christen, die anderen Juden, die haben
forderung für die traditionelle Handwerker- und Einzelhandelsmentalität. sich in der schamlosesten Weise vom Militärdienst gedrückt, hat vielleicht
Auch der »neue« Mittelstand der Angestellten war wegen fehlender Aussich- Herr Straßmann an diese Subjekte gedacht?«74 Juden dem Verdacht der
ten auf eine selbständige berufliche Zukunft tief verunsichert. Akademiker Illoyalität auszusetzen, spielte auf alte, tiefliegende Erinnerungen an vor-
fürchteten um ihren vormals als sicher geltenden Status.73 In diesen Schich- moderne Zeiten an, in denen Juden der christlichen Ständegesellschaft
ten war das Unverständnis gegenüber dem raschen gesellschaftlichen Wandel fremd und unheimlich waren. Ihre Brisanz aber erhielten solche Anspie-
am größten; hier war die Verbitterung, zu den Leidtragenden der Entwick- lungen in einer Situation, in der die eben zusammengeschlossene Nation
lung zu gehören, am nachhaltigsten; hier galten noch die vorindustriellen dem Druck von Wirtschafts- und Modernitätskrisen ausgesetzt war. Viele
Wertvorstellungen von redlicher, produktiver Arbeit; hier war die Enttäu- Menschen wollten oder konnten unter diesen Umständen anderslautende
schung allgemein, unverschuldet um den sozialen Status fürchten zu müs- Erfahrungen oder Informationen nicht mehr an sich heranlassen. Für
sen. Die Disposition für eine überzogen selektive, durch anderslautende Stoecker und seine Zuhörer spielte nur eine untergeordnete Rolle, wie es
Erfahrungen nicht mehr korrigierbare Wahrnehmung der Realität wuchs sich in Wirklichkeit mit der Beziehung von Juden zum Militärdienst ver-
beträchtlich. Und Stoecker lieferte für diese Wahrnehmungsstruktur eine hielt. Sofern nur immer wieder aufgenommen wurde, was ins Weltbild
passende Folie: Es sei »jüdisch«, andere in Abhängigkeit zu bringen und dar- paßte, wuchs auch die Bereitschaft, Halbwahrheiten, Überspitzungen und
,
72 Stoecker, Christlich-Sozial, S. 428. Verdrehungen für die Wirklichkeit zu halten. Der Mechanismus der Selbst-
73 Vgl. Rosenberg, Große Depression; Norbert Kampe, Studenten und •Judenfrage« Im Deut-
schen Kaiserreich, Göttingen 1988.
74 Stoecker, Christlich-Sozial, S. 429.
42
43
L
regulierung und Ausbalancierung vorurteilsbeladener Wahrnehmung war Nationen bis auf's Blut reizen; wir haben unsern Mitbürgern immer gesagt:
außer Kraft. Die Juden als illoyale Deutsche, als Menschen ohne Vaterland: Bleibt streng auf dem gesetzlichen Weg, aber hört nicht auf, mit aller Ener-
das war der Kern dieser feindseligen Redesequenz, gut geeignet, vom Publi- gie diesen Greuelzustand zu bekämpfen.«77 Oft kam es im Zusammenhang
kum aufgenommen zu werden, das sich selbst zur anderen Seite rechnete seiner Versammlungsreden zu kleineren Ausschreitungen gegen Juden.
zu den »guten« Deutschen! Diese Resistenz gegen rationale Argument~ Auch wenn er zur Gewalt nicht direkt aufrief, so wurde doch deutlich, daß
hatte schon Th. Mommsen erkannt: »Sie täuschen sich, wenn Sie glauben Stoeckers dämonisierendes Feindbild Gewalt prinzipiell legitimierte. Bereits
daß man da überhaupt mit Vernunft etwas machen kann[ ... ]. Was ich Ihne~ die christliche Judenfeindschaft hatte Gewaltanwendung mit eingeschlos-
sagen könnte [... ] sind doch immer nur Gründe, logische und sittliche sen, um Juden für ihre »gottesmörderische Tat« zur Rechenschaft zu ziehen.
Argumente. Darauf hört doch kein Antisemit.« 75 Die gleiche Folie schien auch Stoecker auf sein Judenbild zu legen. Sie seien
Selten unterließ es Stoecker, in seinen Reden die zeitgenössischen anti- schuld an der Strangulierung der deutschen Nation, suggerierte er seinen
jüdischen Stereotypen zusammenzutragen und zu bündeln. Durch bestän- Zuhörern, selber schuld, wenn sich gewaltsamer Widerstand unter den Op-
dige Wiederholung bekamen sie zusätzliche Durchschlagskraft und kon- fern regte!
trastierten auffällig mit den positiven mittelständischen Wertvorstellungen
VII
eines ehrlichen, tugendhaften, produktiven und gottesfürchtigen Lebens:
»Wir wollen nicht, daß diese halbe Million Juden in Deutschland unser Volk Die aufsehenerregenden Erfolge der Berliner Antisemitenbewegung waren
in Mark und Bein vernichte und uns in unserem äußeren Wohlstand und in der äußere Anlaß für den im Kaiserreich in hohem Ansehen stehenden
unseren sittlichen Grundlagen verwirre und zerrütte. (Bravo!). [... ]wir wer- Historiker und Publizisten Heinrich v. Treitschke, 1879 in den von ihm
den nicht ruhen, auf alle diese Subjekte, auf alle die Bankerotte und Schwin- herausgegebenen »Preußischen Jahrbüchern« einen Artikel mit dem Titel
deleien, Gründungen und Betrügereien[ ...] so lange aufmerksam zu machen, »UnsereAussichten« 7B zu veröffentlichen. Die Publikation hatte besonders in
bis unser deutsches Volk [... ] sich erhebt, um die jüdische Herrschaft, die den gebildeten Bevölkerungskreisen eine beträchtliche Wirkung und löste
Herrschaft des elenden Mammons, zugleich die Herrschaft des gemeinen in Berlin den sogenannten Antisemitismusstreit aus, der Treitschke zu wei-
Unglaubens, von sich abzuwerfen, bis daß es seine Freiheit wiedergewinnt, teren Beiträgen veranlaßte.79 Kennzeichnend für die Veröffentlichungen
wie sie dem deutschen Volk geziemt (Anhaltender Beifall).«76 »Jüdische Herr- Treitschkes war sein Vorwurf an die Juden, sie schadeten durch das Festhal-
schaft«, »gemeiner Unglaube«, »Vernichtung des deutschen Volkes«, »Wohl- ten an ihren Eigenarten der deutschen Nation. Ohne ihre Emanzipation
stand und sittliche Grundlagen zerrütten«: Stoecker steigerte die zentralen ausdrücklich in Frage zu stellen, forderte er von ihnen, sich im Interesse na-
wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Motive des modernen Antise- tionaler Homogenität grundlegend zu ändern und den Deutschen vollstän-
mitismus zu einem manifesten Feindbild. Zentral war der Gedanke von der dig anzupassen. Treitschke bestritt später nachdrücklich, Antisemit zu sein;
Schaden bringenden jüdischen Machtstellung, gegen die im existentiellen indem er aber mit dem Prestige des einflußreichen Gelehrten die Berech-
Eigeninteresse, aus Gründen des Überlebens mobil gemacht werden müsse. tigung antijüdischer Vorbehalte unterstrich, trug er wesentlich bei, dem
Stoecker dämonisierte die emanzipierteJudenheit zu einer »Herrschaft des Antisemitismus den »Kappzaum der Scham« zu nehmen. Die im Titel des
elenden Mammons«, eine Vorstellung, die den namenlosen Ängsten vieler ersten Artikels aufgeworfene Frage nach »Unsere[n] Aussichten« beantwor-
tete Treitschke sinngemäß mit düster, betrüblich und bedrohlich. Während
Menschen einen Namen gab. Auf der Suche nach einem einfachen Begriff,
nach einer Zauberformel für den »Ungeist«, der die äußere Wohlfahrt wie er diese Aussicht zunächst im Zusammenhang einer außenpolitischen Ana-
lyse konstatierte, bezog er sie dann auch auf innenpolitische Vorgänge. Für
die inneren Werte der Nation zu zerstören schien, fand man in »dem Juden«
Treitschke hatte die Antisemitenbewegung offensichtlich ihre Berechti-
das vermeintliche Böse, das auf furchterregende Weise auf allen Ebenen des
gung. Er identifizierte sich mit ihr als einer »natürlichen Reaction des ger-
Lebens seine zerstörerische Macht entfaltete.
Ganz geheuer schien Stoecker die Wirkung seiner Auftritte aber nicht ge-
77 Ebd., S. 431.
wesen zu sein: »Wir sind nicht schuld, die Nationen sind nicht schuld, wenn 78 Heinrich v. Treitschke, Unsere Aussichten, In: Preußische Jahrbücher 1879, zit. n. Boehlich
sie sich gegen die Juden erheben, sondern die Juden sind schuld, weil sie die (Hrsg.), Antisemitismusstreit, S. 7 - 14; ders., Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, ebd.,
s. 79-92.
75 Zit. n. Bahr, Antisemitismus, S. 27. 79 Vgl. Katz, Vorurteil, 270; Boehlich (Hrsg.), Antisemitismusstreit, S. 239 - 266.
76 Stoecker, Christlich-Sozial, S. 429 f.
1
44 45
mamsc . h en "vo lksgefühls gegen ein fremdes Element«: . »der Instinct der . h schlicht und recht als Deutsche fühlen«8 5 , die Minderheit sollte
den, s1c
Massen h a t [... l el· ne schwere Gefahr, einen
. hochbedenkhchen
. Schaden des sein wie die Mehrheit. .. .
deutschen Lebens richtig erkannt; [... ] ich behaupte, ?aß m neuester Zeit I Blickfeld einer überzogenen, extrem uberze1chnenden Wertung der Be-
ein gefährlicher Geist der Überhebung in jüdi_schen Kreisen e_rwacht ist, daß o:::ierheiten jüdischer Gruppenexistenz lag zunächst ihr vergleichs~eise
die Einwirkung des Judentums auf unser nationales Leben sich neuerdings ~öherer Grad an Urbanität. Die großen, in bürgerlichen Vierteln we1t~e-
vielfach schädlich zeigt.«80 Die schwere innere Krise kurz nach der Natio- hend unter sich bleibenden jüdischen Bevölkerungsgruppen in Berlm,
nalstaatsbildung hatte viele Menschen tief getroffen und verunsichert. Die Frankfurt am Main, Hamburg und anderen Städten schienen zu beweisen,
mühsam zusammengeschlossene Nation schien in Gefahr, sich unter dem daß sie weiterhin als fest geschlossene, vielfältig miteinander verbundene,
Druck gesellschaftlicher Konflikte wieder aufzuspalten. Die Gleichzeitigkeit •a verschworene Gemeinschaft außerhalb der deutschen Nation zu leben
von Staatsgründung und Krise bewirkte einen allgemeinen Identitätsver- ~edachten. Ein gewachse~er, enger '.nnerer Zu~ammenhalt ~er Juden, zu-
lust.SI Was bei Treitschke von dem Hochgefühl der Reichsgründung noch rückgehend auf eine gememsame Le1densgesch1chte und gleiche kulturelle
verblieben war, zeigte seine kleinlaute Bemerkung: »Unsere Gesittung ist wurzeln, war auch unter den Marktbeziehungen einer Konkurrenzgesell-
jung; uns fehlt noch in unserem ganzen Sein der nationale Stil, der instinc- schaft eine naheliegende und zweckmäßige Verhaltensweise, wurde aber als
tive Stolz, die durchgebildete Eigenart.«82 Nach dem Sieg über die äußeren bedrohiicher Wettbewerbsnachteil für Nicht-Juden und damit als überle-
»Feinde« folgte der Katzenjammer über die Heterogenität der »verspäteten gene jüdische Machtstellung mißverstanden. In diesem Sinne erschien es
Nation«. Die innere Lage wurde als instabil empfunden. Wirtschaftsdepres- Treitschke nur natürlich, daß sich mit der Antisemitenbewegung Wider-
sion, Gegensätze unter den Einzelstaaten, eine nicht-integrierte Arbeiter- stand in der Nation gegen gefährliche, divergierende Tendenzen regte. Wie
bewegung und künstlich beschworene ethnische Konflikte verstärkten die er wünschten sich viele Liberale, die mit der Reichsgründung zu Anhängern
Gefühle der Verunsicherung, so daß Menschen wie Treitschke wohl glauben nationaler Machtpolitik umgeschwenkt waren, die Nation als »monoli-
mochten, die »ganze Welt sei aus den Fugen geraten«83. Treitschke reagierte thischen Block«86, als geschlossene, nationale Gemeinschaft. In diesem
daher auch aggressiv auf Zeiterscheinungen, die er als ursächlich für die Konzept eines starken Staates gab es keinen Platz für die Anerkennung eines
Schwächung der deutschen Nation ansah. Jede vermeintliche Abweichung Eigenrechts von Minderheiten. Der »Cultus der Nationalität«87 konnte eine
von der »nationalen Norm« wurde heftig attackiert. Juden hatten für Men- eigene Gruppenidentität von Minderheiten nicht gelten lassen88 und hätte
schen mit seiner Wahrnehmungsstruktur eine hohe Sichtbarkeit. Ohne den eine »offene Gesellschaft« als Schwäche empfunden. Ein in Teilen fehlent-
erfolgreichen Prozeß ihrer Assimilation zur Kenntnis nehmen zu wollen, wickeltes deutsches Nationalbewußtsein zielte aggressiv auf innere Einheit
verzerrte Treitschke das Fortwirken einer jüdischen Gruppenidentität84 durch Ausgrenzung und ließ den Gedanken nicht aufkommen, abweichende
auch nach der rechtlichen Gleichstellung in eine bedrohliche Energie der Lebensformen oder Eigenarten von Minderheiten als kulturelle Bereiche-
Juden, sich weiterhin der deutschen Nation zu entziehen. Hätte ihre Sonder- rung anzusehen und zu respektieren-89 Seinem Charakter nach war dieser
existenz in voremanzipatorischer Zeit keinen Schaden anrichten können, Nationalismus »manichäisch«. Er attackierte aggressiv das Nicht-Gleiche
so wirke sich nun das Festhalten an ihren Eigenarten unter den Bedingun- führte Feldzüge im Sinne von Zwangsassimilierung und Zwangsgermanisie~
gen der Gleichstellung in hohem Maße schädlich für Deutschland aus. Wer rung und übertrug dabei den Haß gegenüber äußeren Feinden auf das was
sich der deutschen Nation nicht vollständig unter- und einordnete, befand er im Innern als fremd oder fremdartig empfand.90 '
Treitschke, schwäche Deutschland. Die Juden sollten daher »Deutsche wer-
85 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 10.
80 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 9 - 10. 86 Ebd., S. 25 7.
81 Rürup, Antisemitismus und Krise, S. 112. 87 Ludwig Bamberger, Deutschthum und Judenthum, in: Boehlich (Hrsg.) Antisemitismus-
82 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 13. streit, S. 159. '
83 Zmarzlik, Antisemitismus, In: Schulin, Juden als Minderheit, S. 256. 88 !~lbS t ein Llnksllber~ler wie Theodor Mommsen forderte von den Juden die Aufgabe Ihrer
84 Vgl. zur Frage des innerjüdischen Identitätswandels und den Problemen einer modernen B genart als »Preis« für den »Eintritt in eine große Nation»; vgl. Mommsen, Judenthum In:
jüdischen Existenz In Deutschland bes. Michael A. Meyer, Jüdisch e Identität In der Modeme, oehhch (Hrsg.), Antisemitismusstreit S 227 '
Frankfurt a.M. 1992; Marion Kaplan, The Maklng of the Jewlsh Mlddle-Class . Warnen, Fam- 89 VI Z · . . ' . .
gh. marzhk, Antlsem1tlsmus; Eva Reichmann, Flucht in den Haß Die Ursachen der deut
ily„and ldentity in Imperial Germany, New York 1991; Relnhard JHlrup, Integration und lden- ~c e ~lu d enkatastrophe, Frankfurt a.M. 19622 ; Norbert Elias, Stud.ien über die Oeutschen-
t,tat: Probleme der jüdischen Sozialgeschichte In Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, In: 90 ran · rt a.M. 1990. '

Jahrbuch 1989. Berliner Wissenschaftliche Gesellschaft, s. 93 - 108. ßamberger, Deutschthum, S. 158 - 159.
46
47
!! 1
Treitschke begann nun in seiner Schrift grundsätzlich zu problemat·ISJe. . . allem auf jüdische Schwindelunternehmen zurückzuführen.94 In ei-
ren , daß Juden überhaupt integrierbar seien. Vor allem aufgrund ihrer Re11-. ...
nächsten Schritt beklagte der Gelehrte den kommerziellen Geist semer
gion hatte er zweifel an ihrer Loyalität als Staatsbürger. Seit den aufgeklärt. ne7und verstieg sich zu der Behauptung, der ihm unangenehme, »schnöde
1
liberalen Reformern galt die jüdische Religion unter Nicht-Juden als finstere ~ terialismus unserer Tage« sei auf die Judenheit als Folge ihrer neuen, ein-
Ausgeburt des Mittelalters: »Während alles von der Zeit bewegt wird und fl:ßreichen gesellschaftlichen Stellung zurückzuführen. Treitschke ent-
ihrer Entwicklung und Umgestaltung unterliegt, bietet der Jude allein der- uppte sich damit als Anhän~er ei~er vorm?derne~, vorlndustriell_e n ~elt,
selben Trotz, steht gleichsam als ein versteinert lebendes Bild einer vergan. ~ie er durch »jüdischen Geschaftsge1st« »erstlckt« wahnte. Offenbar m emem
genen Zeit unveränderlich unter uns und wird hierdurch, wie alles was der Gefühl großer Bedrängnis steigerte er sich in eine Vorstellung hinein, die
Zeit entgegen ist, widerlich.« 91 Die Thora wurde als »versteinerte« Gesetzes- Teile der jüdischen Bevölkerungsgruppe zu »dem Juden« reduzierte, der
religion betrachtet, die keine moralische Entscheidungsfreiheit zuließ und rundsätzlich zum Schaden seiner Nachbarn agiere: »aber unbestreitbar hat
damit mit einer modernen Existenz nicht zu vereinbaren war. Treitschke !as Semitenthum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-
radikalisierte dieses Vorurteil von der »veralteten« jüdischen Religion der- Unwesens einen großen Antheil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden
art92, daß er Juden - nicht in einem engen rechtlichen, wohl aber weiteren Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrach-
kulturellen Sinne - für nicht integrierbar hielt und sie als einen bedroh'. tet und die alte gemüthliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken
liehen Fremdkörper der Nation wahrnahm. Die Selbstdefinition moderner droht; in tausend deutscher Dörfer sitzt der Jude, der seine Nachbarn wu-
Juden im Kaiserreich als »deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens«, die chernd auskauft.«95 Treitschke gehörte zu denen, die die Säkularisierung der
zugleich mit dem Verzicht auf die traditionelle jüdische Sonderexistenz den Gesellschaft als jüdische Strategie fehldeuteten, den Staat zu »entchrist-
Anspruch dokumentierte, an der jüdischen Religion festzuhalten, faßte lichen«, um sich mehr Einfluß zu verschaffen. Wie er fühlten sich viele Zeit-
Treitschke als strikte Weigerung auf, sich der deutschen Kultur und Gesell- genossen durch die Auswüchse der Modeme beunruhigt und bedroht, die
schaft anzugleichen. Aus seinen Ausführungen war die nachhaltige Furcht sie kulturpessimistisch als »Tanz um das goldene Kalb« werteten und für die
herauszulesen, daß die in seiner Zeit unübersehbaren Säkularisierungsten- sie vor allem die Juden verantwortlich machten.96
denzen zu einem Niedergang und »Zerfall« der ganzen Gesellschaft führen Den Abschluß des hier näher untersuchten Treitschke-Textes bildete der
könnten: »christlicher Geist lebt in allen gesunden Institutionen unseres Rückgriff auf das Minderwertigkeitsmotiv, indem er künstlerisch tätige Ju-
Staates und unserer Gesellschaft. Das Judentum dagegen ist die National- den als »semitische Talente dritten Ranges« abqualifizierte.97 Man hat
religion eines uns fremden Stammes, seinem Wesen nach mehr zur Abwehr Treitschkes antisemitischen Ausbruch mit gekränkter Eitelkeit, mit persön-
als zur Bekehrung geeignet[ ... ]. Man stelle sich nur vor, daß die Hälfte un- lichen Motiven in Verbindung gebracht.98 Es ist gut möglich, daß sie der
seres Volkes sich vom Christentum lossagte: die deutsche Nation müßte zer- extremen Steigerung seiner antijüdischen Affekte die Schubkraft lieferten;
fallen. Alles was wir deutsch nennen, ginge in Trümmer.«93 Untergangsangst eine hinreichende Erklärung für die Entstehung eines Feindbildes stellt sie
aber disponierte Treitschke, die Juden für die weitverbreitetete »Gottlosig- damit aber noch nicht dar. Treitschkes Hinweis auf den »schnöden Materia-
keit« und »Entchristlichung« der Welt verantwortlich und damit zu Projek- lismus« gibt möglicherweise einen besseren Ansatz, sein Denken zu analy-
tionsflächen seiner existentiellen Unruhe zu machen. Wie groß die Versu- sieren. Tiefe Betroffenheit des Bildungsbürgers über die Werteverschiebung
chung war, aus dem Gefühl der Bedrohungsangst heraus zu überzeichnen in einer Wirtschaftsgesellschaft ist herauszulesen. Treitschke gehörte zu
und zu dämonisieren, zeigte die in seinen weiteren Ausführungen sichtbar denen, die den »Triumpf des Geldes«99 nicht akzeptierten und Bildung als
werdende Steigerung des Unbehagens. Zunächst griff Treitschke auf die seit eine soziale Auszeichnung betrachteten, geboren aus »reiner« Liebe zum
Mitte der 1870er Jahre kursierende Unterstellung zurück, der Gründerkrach Wahren, Guten und Schönen. Er glaubte an die »Aristokratie der Bildung«,
91 Motive zum württembergischen Gesetzentwurf »Über die öffentlichen Verhältnisse der
94 Vgl. Anm. so.
Israeliten«: Württ. II . Kammer, 1824, 4. außerordentl. Beilagenheft, S. 97, zit. n. Rürup, Anti· 95 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 11.
96 Vgl. zum Komplex antimoderner Tendenzen bes. Fritz Stern, Kulturpessimismus als poli-
semitismus, S. 30. Darauf weist auch Michael A. Meyer hin: ders., Soll und kann eine »an•
tische Gefahr, Bern 1973; Rürup, Antisemitismus und Krise, S. SO - S1.
tiquierte« Religion modern werden?, in: Beck (Hrsg.), Juden, S. 67 - 85. 97 Treitschke, Unsere Aussichten S 11
92 Vgl. Michael A. Meyer, Religion, S. 84. Meyer kommt zu dem Schluß, daß die jüdische Rell·
,
98 Vgl. Boehllch (Hrsg.), Antisem'itism~sstreit, S. 262 - 265.
gion in Deutschland nie eine Chance erhielt, als gleichwertige Religion anerkannt zu werden.
93 Treitschke, Bemerkungen, S. 88 - 89.
99 Pulzer, Antisemitismus, s. 31.
49
48
so daß er Schwierigkeiten hatte, seine Zeit richtig zu verstehen, und von de ·kali"siert und politisch wirksam gemacht wurden sie von des-
d
Angst gepeinigt wurde, daß »der naive Glaube an die unfehlbare sittlich; ve~ dichtet,
. rt ra modernitätsfeindlichen
1
Bevölkerungsschichten der 1870er
onentle
d en, Jahre, deren Angste
oer ·· eine Selbstk~rrektur ·ihrer ve~zerren den
Macht der ,Bildung«<100 dauerhaft zerstört werden könnte. Hier wurde der
Prozeß einer allmählichen Demokratisierung der Kultur völlig fehlinterpre. un 188hmung nachhaltig blockierten. Gememsamer Nenner ihres Den-
tiert, der dazu führte, daß Wissenschaft und Kunst nicht länger ausschließ. Wahrne di·e behauptete Schaden bringende, illegitime Machtstellung der
kens war . Der Jude herrscht«. 106 Früher waren die Juden verachtet - nun
lieh einer privilegierten, exklusiven Schicht vorbehalten blieben.101 Bildung
Juden.
fürchtete »
man sie. Ein Feindbild mit hohem Furchtpotent1al .
entstand, das
allein war nicht länger das einzige Statussymbol des Bürgertums, mit dem es
sich über andere Schichten erhob. Angesichts der Ambivalenz und Brüchig- . t rke Tendenz zur Durchdringung aller Wahrnehmungsebenen, zur
eines a
keit der bürgerlichen Gesellschaft befiel nun viele Zeitgenossen Angst vor Entgrenzung aufwies. Die rechtlic~e .Gleic_hstellu~g sei von den Juden Im
»grundstürzenden« Kräften 102, und vor allem Gebildete und Gelehrte ge- S •nen zum Aufbau einer unrechtmaß1gen, ihnen mcht zustehenden Macht-
langten zu der Auffassung, die Kultur könne untergehen. Tatsächlich aber s!nung mißbraucht worden. Die neue Stellung der Juden wirke nun wie ein
fürchteten sie für sich einen Statusverlust, der ursächlich für eine weit ver- »Gift« in der Gesellschaft. Sie wurde zur »Vorherrschaft«, »Diktatur« oder
breitete pessimistische und modernitätsfeindliche Geisteshaltung wurde. auch »Weltmacht« verzerrt, besonders im Zusammenhang mit Presse, Han-
Auf diese Weise wäre besser zu erklären, warum Treitschke den gesellschaft- del und Banken. Was viele Juden charakterisierte - sich eher und radikaler
lichen Standortwechsel der Juden zu einem bedrohlichen »Machtergrei- von ihrer vormodernen Existenz zu lösen, innovativere, »tauglichere und
fungsprozeß« verzerrte:»[ ... ] über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr zwingendere Mittel in wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und künstle-
aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar [sie!] strebsamer rischer Leistung einzusetzen«lD7 -, war in der nichtjüdischen Umwelt des
hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder der- Kaiserreichs in weiten Teilen besonders unerwünscht und wurde als »zerset-
einst Börsen und Zeitungen beherrschen sollen [... J.«103 »Bis in die Kreise zend« und »zerstörerisch« angefeindet, weil man in den Traditionen des
der höchsten Bildung hinauf[ ... ] ertönt es heute wie aus einem Munde: die christlichen Staates stärker verhaftet war und sich gegen schnelle Verände-
Juden sind unser Unglück!«l04 Dieser Ausruf, den Treitschke geschickt an- rungen wehrte. Man verdammte die Juden als Symbole oder Vorreiter der
deren in den Mund legte, faßte das Feindbild formelhaft zusammen. Alle neuen Zeit und dämonisierte sie zu einer erdrückenden und bedrohlichen
Fehlentwicklungen in der Gesellschaft, behauptete Treitschke, ließen sich Macht. Der Ruf: »Die Juden sind unser Unglück!« faßte die modernitäts-
auf einen einzigen Begriff bringen: die Juden. Sie seien die Wurzel allen feindliche Spitze des Feindbildes formelhaft zusammen. Mit der Vorstellung
Übels. »Die Juden sind unser Unglück!« wurde zu einer Art Zauberformel, von einer furchteinflößenden jüdischen Machtstellung korrespondierte die
die die unangenehmen Seiten einer komplizierten Welt auf einen einfachen, Annahme, die Judenheit sei eine verschworene und nur auf ihren eigenen
aber inhumanen Nenner brachte. Sie hatte verführerische Kraft für alle, die Vorteil bedachte Gruppe, die im Hintergrund die Fäden ziehe. Diesen an-
über die Modeme beunruhigt waren und sich gegen eine Entwicklung auf- geblich untereinander auf Gedeih und Verderb verbundenen Juden fühlte
lehnten, für die die Juden gar nicht ursächlich waren. 105 man sich in einer Welt ohne feste Bindungen, in einer Leistungs- und Kon-
kurrenzgesellschaft hoffnungslos unterlegen, wähnte sich in einer Abwehr-
VIII und Notwehrsituation und zeichnete ein Bild eigener Ohnmacht, des ge-
Die Motive des Feindbildes »Der Jude« hatte der moderne Antisemitismus s~llschaftlichen Niedergangs oder des Weitendes. Aus dieser Perspektive
nicht selbst hervorgebracht. Sie waren bei der Herausbildung der bürgerli- gmg es um alles oder nichts, das heißt um das eigene Überleben, so daß es
chen Gesellschaft in einem Prozeß der Wandlung traditioneller antijü- grundsätzlich gerechtfertigt schien, als »Verfolgter« mit allen Mitteln gegen
discher Einstellungen geprägt worden. Zu einem manifesten Feindbild den »Feind« vorzugehen.
Die Einzelmotive der überlieferten Judenfeindschaft: Wucherer- Minder-
100 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 7. wertigkeits-
101 Vgl. Jochmann, Struktur und Funktion, S. 403 - 405; Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum Im . . un d Frem d enmotlv . wurden durch das moderne antijüdische '
19. Jahrhundert, 3 Bde., München 1988, bes. Bd. !, S. 11 - 78. Fem~~ild transformiert und radikalisiert. Man bezog sich auf Elemente der
102 Die •Rote Gefahr« war ein weiteres, manifestes Feindbild des Kaiserreichs. Reahtat stellte s· b · ·
, 1e a er m emen anderen Zusammenhang, verallgemeinerte
103 Treitschke, Unsere Aussichten, S. 9.
104 Ebd., S.13. 106
1 So
M formulierte
J .. . • 1850; vgl. Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, S. 220.
R· W agner bereits
105 Jochmann, Struktur und Funktion, S. 459 - 460. 07 eyer, ud1sche Identität, S. 116.
so 51
in unzulässiger Weise und gab ihnen eine dämonisierende, entgrenzende
Dimension: Aus dem Wucherer-Motiv wurde die Vorstellung von »dem
Juden« als dem »Unproduktiven« abgeleitet, der grundsätzlich auf Kosten

~
l
1

ti-TheSO ,edurlert,, so d•ß von eine< kühl kalkulierenden, pdmä, Jnstru-


A:~tellen Verwendung von Feindbildern keine Rede mehr sein konnte.
;orin aber bestand die integrative Wirkung? M_arr hatte in dem_ Vorwort zu
anderer lebe, zu körperlicher Arbeit nicht fähig und nicht bereit sei, sich einer Schrift den zentralen Gedanken formuhert, daß es weniger um die
eigennützig, betrügerisch und skrupellos bereichere und den Geschäftssinn ;uden gehe als vielmehr um »~ns selber«. Tatsächli~h sol~te in einer extrem
zum Maßstab aller Dinge gemacht habe. Nichts habe mehr seinen ange- verunsicherten Gesellschaft die Gegenwelt des Bosen eme neue Identität
stammten Wert, alles aber seinen Preis. Damit zerstöre »er« alle Lebens- stiften. Die Ausgrenzung und der Ausschluß negativer, feindlicher Prinzi-
werte und ruiniere die Wohlfahrt der deutschen Nation. Aus dem Minder- pien konstituierten _zug~eich ~ie neuen positiven Prinzipie~ de~ eigenen
wertigkeits-Motiv wurde die Vorstellung von der ethnischen »Andersartig- Welt.HO Darin lag die e1genthche Durchschlagskraft des Femdb1ldes »der
keit« der Juden abgeleitet. Man sah in der Judenheit jetzt eine andere Rasse Jude«. Es modellierte den gemeinsamen Feind derjenigen, die sich eine neue
mit unveränderlich negativen Eigenschaften. Weil man ihr durch die recht- Identität als starke nationale oder völkische Gemeinschaft wünschten, und
liche Gleichstellung völlig neue Wirkungs- und Einflußmöglichkeiten gege- spielte damit eine wichtige Rolle bei der Bestimmung eines Selbstbildes der
ben habe, stehe sie im Begriff, die für die deutsche Nation konstitutiven Deutschen im Kaiserreich. Es ermöglichte vielen den bequemen Rückzug
Werte und Traditionen unwiderruflich zu zerstören. Fehlende schöpferische aus der unüberschaubaren Komplexität der Modeme in eine harmonische,
Fähigkeiten aufgrund rassischer Minderwertigkeit kompensierten die Juden übersichtliche und berechenbare Scheinwelt. Weitsichtig hatte bereits 1880
angeblich durch ein Übermaß an reproduzierender, kritischer und zerset- Ludwig Bamberger, liberaler jüdischer Politiker und Beteiligter im »Berliner
zender Kraft zum Schaden ihrer nichtjüdischen Umgebung.108 Das tradierte Antisemitismusstreit«, darauf verwiesen, daß der »Cultus der Nationalität«
Fremden-Motiv führte im Zeitalter eines übersteigerten Nationalismus zur bei der Suche vieler Deutscher nach einem neuen Selbstverständnis einen
Vorstellung von »dem Juden« als dem »Nicht-Deutschen«. Die Einschätzung besonderen Stellenwert habe. Er berge »mehr als jeder andere« die Versu-
der Juden als Volk im Volke, als Staat im Staate, als wurzel- und heimatlos chung in sich, durch Haß auf »das Fremdartige« im Äußeren wie im Innern
hatte erst in der Zeit der Nationalstaatsbildung einen aggressiven und be- des Staates eine eigene Identität zu suchen mit der Konsequenz: »Je mehr
drohlichen Akzent, weil man nun glauben mochte, die Juden unterminier- Haß, desto mehrTugend!«Ill
ten durch die Bewahrung ihrer Gruppenidentität die deutsche Nation, die Und die Betroffenen selbst? Das Feindbild des modernen Antisemitismus
ihre Kraft vor allem aus ihrer Homogenität schöpfe. Juden wurden verdäch- war für sie nicht folgenlos; es hinterließ Spuren bei den Juden. In der vor-
tigt, prinzipiell illoyale Deutsche zu sein, und mit Begriffen »kosmopo- modernen Welt hatten alle Anfeindungen und Verfolgungen die traditio-
litisch« oder »Goldene Internationale« nicht nur ausgegrenzt, sondern zu nelle jüdische Identität als auserwähltes, über die Welt zerstreutes und auf
einer universellen feindlichen Macht erklärt. Rückkehr ins »Gelobte Land« hoffendes Volk nicht in Frage stellen können.
In der Kampagne der »Kreuzzeitung« überwog noch die Instrumentalisie- Im postemanzipatorischen Zeitalter aber hinterließ die neue Welle der An-
rung eines Feindbildes, um politische Gegner wirkungsvoll zu diffamieren; feindungen unter den deutschen Juden eine »zwiespältige Wirkung«.11 2 Das
Feindbilder können daher auch als zentral für die Technik der »negativen Weiterbestehen von Ablehnung traf sie »bis ins Mark«ll3, weil ihre neue,
Integration«l09 angesehen werden, die in der modernen deutschen Politik moderne, nicht-religiöse, nicht-nationale Identität in besonderer Weise auf
eine große Rolle spielte. Die anderen Beispiele aber verdeutlichten, daß das den Idealen der Aufklärung mit ihrem Versprechen der Gleichheit beruhte.
Feindbild »der Jude« eine andere Funktion erhielt: Es charakterisierte höchst Die deutschen Juden glaubten mehrheitlich, daß die für sie charakteristi-
verschiedene gesellschaftliche Gruppen, indem es alle Ebenen der Wahr- sche außergewöhnliche Identifikation mit dem humanistischen deutschen
nehmung und Informationsverarbeitung durchdrang und ihre Weitsicht Bildungsideal über kurz oder lang zu einem dauerhaften Miteinander von
auf einen starren, rational nicht korrigierbaren Gegensatz von These und
llO Vgl. z.B. !ring Fetscher, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland, in:
108 Vgl. Renate Schäfer, Zur Geschichte des Wortes »Zersetzen•, In : Zeltschr. f. deutsche Wortfor- H. Huss/ A. Schröder (Hrsg.), Antisemitismus. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft,
schung 18, 1962 (N. F.), S. 41 -80; Alex Bein, »TheJcwlsh Parasit•. Notes on the Semantlcs of Frankfurt a.M. 1965, S. 24, und Shulamlt Volkov,Jüdisches Leben, S. 62.
the Jewish Problem with Special Reference to Germany, In : Leo Baeck Institute Yearbook, 9, 11 Alle Zitate Bamberger, Deutschthum, S. 159.
1964, pp. 3 - 40. 12 Vgl. Meyer, Jüdische Identität S 48-82
109 Vgl. Wehler, Kaiserreich, bes. S. 105 - 141. 113 Ebcl., S. 51. ' . .
52 53
J...__
Juden und Nichtjuden führen werde 114, so daß das erneute Auftreten fe·
. Ind.
seliger Zurückweisungen um so schmerzlicher und schockierender Wirke
mußte. Die Grundprinzipien der strukturell offenen bürgerlichen GeseI~
schaft schienen verletzt, wenn Juden weiterhin massiv abgestoßen wurden.
Manche Betroffenen reagierten mit Verunsicherung, mit ständiger Besor _
nis, die ihr inneres Gleichgewicht störte, entwickelten Angst vor Zurüct
weisung, wurden überempfindlich gegenüber Auffälligkeiten der jüdischen
Sozialgruppens, fühlten sich minderwertig und brachten möglicherweise
auch das Phänomen des jüdischen Selbsthasses hervor, das Juden dazu be-
wegte, sich selbst ihre Herkunft zu verübeln. 116 Andererseits kann wohl
nicht übersehen werden, daß das Feindbild des modernen Antisemitismus
offenbar auch zur Stärkung und Differenzierung jüdischer Identität in
Deutschland beigetragen hat, die von der Gründung des Centralvereins _
seinem Selbstverständnis nach ein Zusammenschluß deutscher Staatsbür-
ger jüdischen Glaubens - bis hin zur Bewegung des Zionismus reichte, die
von ihren Anhängern als notwendige Konsequenz einer mißglückten
Emanzipation angesehen wurde.117 Insgesamt bot der berechenbare, stabile
Rahmen des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates der großen Mehrheit der
deutschen Judenheit zweifellos viele Entwicklungs- und Identifikations-
möglichkeiten - ungeachtet weiterbestehender Diskriminierungen in Ver-
waltung, Universität und Militär. Erst als staatliche Instanzen 1916 mit der
sogenannten Judenzählung im deutschen Heer eine offen judenfeindliche
Haltung einnahmen, zeichnete sich für die Betroffenen eine völlig neue,
äußerst beunruhigende Perspektive ab.

114 Vgl Mosse Jüdische Intellektuelle, bes. S. 19 - 72. Seine Thesen erkr· aren d ie r des
' besondere Be-
troffenhei; deutscher Juden, in dem neuerlichen Feindbild gleichsam mit der Nega wn
klassisch-humanistischen Bildungsideals konfrontiert zu wer~en. . . ts- Frei-
115 Vgl Kaplan Jewish Middle-Class. Kaplan zeigt auf der Ebene emes spez1fisch~n ~e~a d~r Be-
zei~- und H~ushaltsverhaltens, wie Feindbilder in die persönlichen Lebens ereic e
troffenen hineinwirkten. - b gene
116 Vgl. neuerdings Sander L. Gilman, Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die ver or
Sprache der Juden, Frankfurt a.M . 1993 - . r modernen Lösung
117 Theodor Herz) analysierte in seiner Schrift: Der Judenstaat. Vehrsuch em~ der zu Fremden in
· · 1896, s . 29 - 30: »Nur der Haß mac .te uns wie
der Judenfrage, Le1pz1g .
·
unserer eigenen Umgebung, und nur er macht uns wieder zu emer Nat10n.«

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