Sie sind auf Seite 1von 7

Die Bedeutung der Faszien in der manuellen

Therapie
Robert Schleip, München

A.T. Still sah in den Faszien den wich- präzise Abgrenzung zwischen geformten nicht nur feine Kapillargefäße, sondern
tigsten und faszinierendsten Aspekt und ungeformten Formen ist daher oft auch die Grundmatrix mit deren intersti-
des lebendigen Körpers: schwierig. Im Folgenden bezieht sich der tiellen Flüssigkeit, die eine grundlegende
„Die Seele des Menschen mit all ihren Begriff Faszien deshalb auf alle Formen Rolle für Stoffwechsel- und Immun-Regu-
Strömen puren Lebenssaftes scheint in von straffen faserigen Bindegewebe beim lation besitzt. Eine therapeutische Beein-
den Faszien des Körpers zu fließen. (…) Menschen (N 2). flussung dieser Grundsubstanz kann
Ich kenne keinen Teil des Körpers, der daher weitreichende gesundheitliche
es den Faszien als Forschungsfeld gleich Auswirkungen haben (Pischinger 1998).
tun kann. Ich glaube, dass sich beim Funktionen Diese Funktionen hat das Fasziengewebe
Studium der Faszien mehr reichhaltige auch mit anderen Formen von Bindege-
und goldene Einsichten auftun werden, Faszien bestehen hauptsächlich aus webe gemeinsam. Die darüber hinaus
als bei irgend einem anderen Aspekt des einem dichten Netz von Kollagenfasern gehenden mechanischen Stütz- und Ver-
Körpers“ (Still 1899). (plus in geringeren Maße elastische und bindungsfunktionen sind jedoch bei den
Nicht nur in der Osteopathie sondern retikuläre Fasern), aus Fibroblasten und Faszien besonders ausgeprägt. Wie kräftig
auch in anderen Formen manueller anderen Zellen, sowie aus einer was- sich ein Faszienelement ausbildet, hängt
Therapie rückt die gezielte Beeinflus- serbindenden Grundsubstanz. Faszien wesentlich von den regelmäßig darauf
sung der Faszien zunehmend in den bilden ein nahezu omnipräsentes Netz-
Vordergrund. werk aus derben Bindegewebs-Hüllen,
-Strängen und –Schichten, das den Kör-
per vielverzweigt durchdringt, umhüllt

U
nter dem Begriff Faszien werden und in unzählige Beutel und Unterbeutel
verschiedene Arten von faserigem verpackt. Dadurch erfüllt es eine wich-
Bindegewebe zusammengefasst. tige Schutzfunktion durch die Bildung
Ob lockeres Bindegewebe oder geordnetes von Barrieren gegen ein Eindringen von
Bindegewebe auch als „Faszien“ verstan- Fremdkörpern. Einer mindestens ebenso
den werden, hängt vom jeweiligen Autor wichtigen Abwehrfunktion dienen die
ab (Friedlin 2003). Ligamente sind häufig phagozytierenden Zellen, die sich als Teil
lokale Verdickungen von umfassenderen des Immunsystems im Fasziengewebe
flächigen Faszien. Auch die Übergän- befinden. In den Faszien befinden sich
ge von umhüllender Muskelfaszie zur ferner zahlreiche Transportwege mit
Sehne sind meist kontinuierlich. Eine einer Ernährungsfunktion. Dazu gehören
N 1 Tensegrity-Modell.

Zusammenfassung Summary Résumé


Faszien üben nicht nur Stütz- und The importance of fasciae La signification des fascias dans
Verbindungsfunktionen aus. Die in in manual therapy la thérapie manuelle
ihnen enthaltenen Rezeptoren machen Fasciae not only have a supporting Les fascias n’ont pas seulement de fonc-
sie zu einem wichtigen Sinnesorgan. and connecting function. Due to their tions de soutènement et de connection.
Ihre Durchtrittstellen stimmen oft receptors, they are important sensory A cause de leurs récepteurs, ils sont
mit Akupunkturpunkten überein. organs. Their points of passage often de plus un important organe des sens.
Faszien enthalten kontraktile Zellen correspond to acupuncture points. Leurs points de passage s’accordent
und stehen in Wechselwirkung mit Fasciae contain contractile cells and souvent avec les points d’acupuncture.
dem Vegetativum, so dass über deren interact with the vegetative nervous Les fascias contiennent des cellules
Behandlung auf Letzteres eingewirkt system and thus their treatment can be contractiles et se trouvent dans une
werden kann. effected via the latter. action réciproque avec le système
neuro-végétatif de façon qu’on puisse
l’influencer en traitant les fascias.

10 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, (1) 2004; Hippokrates Verlag


Einfluss der
mesenchymales lamelläres Manipulation auf die
embryonales Faszien
gallertiges Pigment- Paoletti, Rolf, Barral und andere namhaf-
gewebe te Autoren gehen von der Annahme aus,
dass Faszien auf eine geeignete Mani-
pulation mit Gewebe-Entspannung ant-
retikuläres zelliges worten können. Oft spürt der Behandler
Binde- einen solchen Release ganz unmittelbar
gewebe während einer Faszientechnik, was daher
weißes netzförmiges auch als unmittelbare Faszienplastizität
bezeichnet wird. Traditionellerweise
Fettgewebe wird diese Plastizität mit dem viskoelas-
tischen Belastungsverhalten des Gewebes
braunes erklärt. Bindegewebe ist wie Butter eine
kolloidale Substanz, welche ihren Aggre-
Kapseln gatzustand bei Zufuhr mechanischer oder
lockeres Wärme-Energie zu einer flüssigeren Form
ungeformt verändern kann. Für lang andauernde
faseriges mechanische Einwirkungen wurde dieses

DO · Focus
Faszien auch als Thixotropie bezeichnete Konzept
straffes mehrfach bestätigt. Ob es auch hinsicht-
lich der kurzzeitigen Druckeinwirkun-
gen im Rahmen eines therapeutischen
Bindegewebe Sehnen
hyalines Manipulationsgriffes gilt, ist hingegen
umstritten.
Zur Klärung ist ein Blick in die biomecha-
geformt Bänder nische Literatur zum viskoelastischen
Knorpelgewebe elastisches
Verhalten verschiedener Ligamente hilf-
reich. N 3 zeigt die typischen 4 Phasen
Aponeu- von derben faserigem Bindegewebe unter
kollagen-
faseriges
rosen kurzzeitiger Belastung. Im Matrixbelas-
tungsbereich (Zone A) steigt mit zuneh-
mender Dehnung der Widerstand kaum
Knochengewebe an. Man nimmt jedoch an, dass in diesem
und Zahnzement unteren Bereich vorübergehende wasser-
lösliche Crosslinks im Bindegewebe, die
durch Immobilität entstanden sind, gelöst 11
Zahnbein werden können, so wie dies auch bei
normalen aktiven Bewegungen der Fall
ist. Die einzelnen Kollagenfasern werden
N2 Faszienformen. hier aus ihrer Wellenform in die Länge
gestreckt, jedoch noch nicht gedehnt. Der
nun folgende Kollagenbelastungsbereich
einwirkenden Belastungskräften ab. Die Eine solche Struktur ist durch ein vielver- (Zone B) ist durch einen linearen Anstieg
Festigkeit der faszialen Muskelhülle hat zweigtes kontinuierliches Netzwerk an der Widerstandstärke gekennzeichnet.
nachweislich einen signifikanten Einfluss Spannungs-Verbindungen gekennzeich- Erst im sog. Creep-Bereich (Zone C)
auf das Ausmaß der effektiven Muskel- net, welches Form und Belastungsver- kommt es nach einiger Zeit zu einer all-
kraft (Garfin 1981). halten eines Körpers wesentlicher beein- mählichen plastischen Verformung der
Einige Autoren sprechen daher auch von flusst als die darin befindlichen Festkörper Kollagenfasern. Dies ist bei einer Deh-
den Faszien als dem „Organ der Form“ (Myers 2001). Dieses Verständnismodell nung um 1–1,5% der Fall. Laut neueren
(Varela & Frenk 1987, Rolf 1997). In bietet eine wohltuende Alternative oder Erkenntnissen tritt dieser Creep-Effekt
neuerer Zeit wird das Fasziennetz auch Ergänzung zur klassischen Denkweise jedoch erst nach wesentlich längeren
zunehmend als eine architektonische von tragender „Wirbelsäule“ und dem Wirkzeiten ein als in einer manualthera-
Tensegrity Struktur gesehen (N 1). Skelett als Stützapparat. peutischen Sitzung üblich, nämlich erst
nach 16 Stunden (Dölken 2002). Bei einer
noch stärkeren Dehnung (Zone D) kommt

DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, (1) 2004; Hippokrates Verlag


es schließlich zu einer klaren Traumati- Grundsubstanz ist denkbar. Hierbei soll- Faszien als Sinnesorgan
sierung des Gewebes. Eine Gewebedeh- te jedoch der Faktor Zeit kritisch berück-
nung um 3–8% bewirkt hier eine Gewe- sichtigt werden. Die Halblebenszeit von Faszien sind jedoch sehr zahlreich mit
beverformung, die jedoch mit Faserrissen nicht traumatisierten Kollagen beträgt Mechanorezeptoren bestückt, also mit
und entzündlichen Prozessen einherge- 200–500 Tage, die der Grundsubstanz sensorischen Nervenendigungen, die auf
hen. Dehnungen um mehr als 10% führen 1,7–7 Tage. Beide Austausch-Zeiten eine mechanische Druck- oder Zugbelas-
zu einem Komplettversagen des Gewe- erscheinen daher als zu langsam, um mit tung reagieren. Leider war dieser Aspekt
bes. piezoelektrischem Verhalten die unmit- durch den starken Einfluss biomecha-
Um mit einer kurzzeitigen therapeu- telbaren Veränderungen während einer nischer Denkmodelle in der manuellen
tischen Manipulation eine bleibende Behandlung zu erklären. Für die lang- Medizin stark vernachlässigt worden.
Verlängerung zu bewirken, bedarf es laut fristigen Auswirkungen ist hingegen ein Dabei hatte schon A.T. Still die sensori-
dieser Belastungstests einer Dehnung Beitrag dieses Effekts durchaus denkbar. sche Rolle der Faszien betont:
um 3–8%, was mit zumindest minimalen Um das Dehnungsverhalten von straffem „Wenn man mit den Faszien arbeitet,
Faserrissen und entzündlichen Prozessen Bindewebe am lebenden Menschen zu behandelt man die Zweigstellen des
begleitet ist. Für ein 18mm breites Stück untersuchen, wurde in den letzten Jahren Gehirns; und nach den allgemeinen
des distalen Traktus iliotibialis bedeu- eine spezielle hochempfindliche Ultra- Geschäftsregeln haben die Zweigstellen
tet das z.B. mindestens die einer 60 kg schall-Diagnostik entwickelt. Bisher wur- gewöhnlich die gleichen Eigenschaften
entsprechende Zugbelastung (bei bei den hiermit die Sehnen von Tibialis Ante- wie die Zentrale. Also warum sollte man
paraspinalen Ligamenten sind es 24 kg), rior und Gastrocnemius untersucht. Die die Faszien nicht mit dem gleichen Maß an
um eine plastische Dehnung zu erzielen. darin gefundenen Werte des viskoelasti- Respekt behandeln wie das Gehirn selbst“
Während bei ruckartigen Manipulations- schen Verhaltens stimmen im Wesentli- (Still 1899).
Techniken mitunter solche Kräfte entste- chen mit den oben besprochenen Werten Auch Versuche des Autors mit Faszi-
hen, ist dies bei den ruhigeren Techniken, aus in-vitro-Studien überein (Maganaris en-Manipulationen an teil- und voll-
die in der Faszienarbeit eher verbreitet 2002). Schwind, Barral und andere narkotisierten Patienten (mit ähnlich
sind, hingegen kaum der Fall. moderne Autoren vermuten allerdings limitierten Ergebnissen im Sinne einer
Nun darf man mit Recht einwenden, dass einen ausschlaggebenden Beitrag der Gewebereaktion wie bei frischem Tier-
biomechanische Dehnungstests an totem elastischen Fasern zur plastischen Gewe- fleisch) bestätigten die Vermutung, dass
Gewebe nicht ohne Weiteres auf das Ver- beantwort bei der osteopathischen Arbeit die sensorisch-neurale Komponente der
halten am lebenden Körper übertragbar an solchen faszialen Strukturen, die mehr Faszien eine ausschlaggebendere Rolle
sind. Als zusätzlicher Aspekt, der mög- Elastin beinhalten, als die bisher unter- bei der Faszienarbeit spielt, als dies in
licherweise die Reaktion der Faszien am suchten Unterschenkelsehnen. Elastische vielen biomechanischen Erklärungsmo-
Lebenden beeinflusst, wird von Oschman Fasern beginnen ab einer Dehnung von dellen realisiert wird.
und anderen betont, dass Bindegewebe 150% sich plastisch zu verformen. Vom
als flüssiger Kristall gesehen werden Ligamentum flavum, dem Ligamentum Die intrafaszialen
kann, in dem durch Druck geringe elek- nuchae und einigen anderen Bändern ist Mechanorezeptoren
trische Ladungen erzeugt werden können. bekannt, dass sie signifikante Anteile an Tabelle 1 gibt einen Überblick über
Diese auch als Piezoelektrizität bezeich- elastischen Fasern enthalten. Es erscheint die vier verschiedenen intrafaszialen
nete Eigenschaft könnte einen Einfluss jedoch fraglich, ob diese Fasern um 150% Mechanorezeptoren (O 1).
auf die Aktivität der Fibroblasten haben, gedehnt werden können, ohne vorher die Golgi-Rezeptoren sind am bekann-
welche die Dichte und Anordnung der hierzu parallel gelagerten Kollagenfasern testen. Man findet diese nicht nur als
intrafaszialen Kollagenfasern regulieren. desselben Gewebes über deren 10%ige Golgi-Sehnen-Organe an myotendinösen
Auch ein Einfluss auf die Produktion der Dehnungskapazität hinaus zu belasten. Übergängen (inkl. den Endbereichen
Weitere Ultraschall-Studien werden hier von Aponeurosen), sondern auch in zahl-
möglicherweise bald Aufschluss geben. reichen anderen faszialen Geweben wie
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass den Gelenkkapseln und den Ligamenten
laut bisherigen Forschungen die begrenz- peripherer Gelenke. Golgi-Rezeptoren
ten Zeit- und Kraftverhältnisse der meis- sind über das Rückenmark reflektorisch
ten manualtherapeutischen Interventio- so verknüpft, dass deren Stimulation
nen nicht ausreichen dürften, um eine üblicherweise zu einer Tonus-Senkung
unmittelbare plastische Verformung von damit verbundenen quergestreiften
der Faszien auf der Grundlage von visko- Muskelfasern führt. Es wurde daher
elastischen oder auch piezoelektrischen vermutet, dass myofasziale Arbeit Golgi-
Anpassungsreaktionen zu bewirken. Rezeptoren stimuliert, was zu einer
Entspannung lokaler Muskulatur führt,
die dann wiederum für den Behandler
als „Gewebeentspannung“ spürbar sei.
Dieses Konzept musste jedoch revidiert
N 3 Derbes faseriges Bindegewebe werden, da es sich zeigte, dass Golgi-
unter kurzzeitiger Belastung. Sehnen-Organe nicht durch passive Deh-

12 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, (1) 2004; Hippokrates Verlag


O 1: Fasziale Mechano-Rezeptoren

Rezeptor Lokalisation Sensitivität Therapeutische


Wirkung

Golgi » Muskel-Sehnen- » Golgi-Sehnenorgan: nur bei Muskel- » Muskuläre Tonussenkung


Übergang anspannung
» Propriozeption
» Ligamente peripherer Gelenke » Andere Golgi Rezeptoren: sehr kräftige
Dehnreize
» Gelenkkapseln

Typ I b

Pacini » Muskel-Sehnen- » Druckwechsel » Propriozeption


u. Paciniform Übergang

» tiefe Kapselschichten

» spinale Ligamente

» einhüllende Muskelfaszien

Typ II FA

Ruffini » Ligamente peripherer Gelenke » Bei wechselndem als auch anhaltendem » Propriozeption
Druck.
» äußere Kapselschichten » Sympathikus-
» Speziell empfindsam für Tangentialbelas- Inhibition
» Dura mater u. andere auf regelmäßige tungen
Dehnung angelegte fasziale Gewebe

DO · Focus
Typ II SA

Freie » Häufigster Rezeptor. » 50% mit hoher u. 50% mit niedriger » Modulation der Schmerzschwelle
Nervenenden Vorkommen fast überall Reizschwelle.
» Propriozeption
» Besonders zahlreich im Periosteum. » Typ III nur bei Druckwechsel. Typ IV
auch bei anhaltendem Druck » Vegetativum

Typ III & IV

nungen stimuliert werden, sondern nur gen manualtherapeutischen Techniken Ruffini-Rezeptoren haben eine geringe
bei aktiver muskulärer Kontraktion. Dies der Fall ist) wirksam ist. Reizschwelle, sind jedoch sehr langsam
beruht auf der seriellen Anordnung der Pacini-Rezeptoren (und die funktionell adaptierend, was bedeutet, dass man sie
Golgi-Sehnen-Organe mit den damit ver- ähnlichen paciniformen Rezeptoren) auch mit ruhigeren Griffen stimulieren
bundenen Muskelfasern. Passive Dehnun- haben oft eine sehr geringe Reizschwelle. kann. Für Manualtherapeuten ist die Tat- 13
gen werden so zuerst von dem wesentlich Sie sind rasch adaptierend, was bedeutet, sache wertvoll, dass diese Rezeptoren für
nachgiebigeren Muskelgewebe aufgefan- dass sie bei ruhigeren Griffen nicht sti- tangentiale Dehnungen besonders emp-
gen, so dass die verbleibende Zugwirkung muliert werden, sondern nur bei vibrato- fänglich sind und dass deren Stimulation
an den Sehnen-Organen deren hohe rischen, ruckartigen oder schaukelnden offenbar zu einer Senkung der Sympathi-
Reizschwelle nicht überschreitet (Leder- Behandlungstechniken. Sie dienen dem kus-Aktivität führt (Kruger 1987, van den
man 1997). 90% der Golgi-Rezeptoren Körper als propriozeptives Feedback Berg & Capri 1999). Die oft weit über das
liegen jedoch außerhalb der Sehnen. Es und können mit dieser Intention auch Behandlungsgebiet reichende Wirkung
ist möglich, dass diese Rezeptoren bei therapeutisch genutzt werden. Diese von langsam-schmelzenden Faszientech-
passiven Manipulationen (bei denen der recht großen Sinneszellen befinden sich niken (z.B. nach Rolf, Schwind, Paoletti)
Patient also nicht dagegen anspannt) in allen Arten faszialen Gewebes, vor könnte auf einer gezielten Nutzung der
stimuliert werden. Allerdings scheint allem in den tendinösen Bereichen myo- Ruffini-Rezeptoren beruhen. Ruffini-
die Reizschwelle von Golgi-Rezeptoren faszialer Übergänge, in tieferen Schichten Rezeptoren befinden sich in allen Arten
allgemein recht hoch zu liegen. Es ist von Gelenkkapseln, in den Ligamenten von faszialem Gewebe, ganz besonders
daher wahrscheinlich, dass eine Nutzung der Wirbelsäule, im Periosteum, sowie jedoch in solchen, die auf eine häufige
des muskelentspannenden Golgi-Reflex- in einhüllenden Muskelfaszien wie der große Dehnung angelegt sind, wie bei-
bogens in der therapeutischen Arbeit nur Palmar-, Plantar-, Krural-, Antebrachial-, spielsweise in der Dura mater, der Faszia
bei äußerst kräftigen Manipulationen Abdominal-, Masseter-Faszie oder der thoracolumbalis, den äußeren Schichten
oder bei gleichzeitiger muskulärer Kon- Fascia lata. von Gelenkkapseln, der tiefen Dorsalfas-
traktion des Patienten (wie dies bei eini- zie der Hand, sowie in den Ligamenten

DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, (1) 2004; Hippokrates Verlag


peripherer Gelenke. Am Kniegelenk myeliniert sind. Als sehr dünne Neurone norezeptoren dienten, können sich so zu
finden sich Ruffini-Rezeptoren beispiels- sind Typ III- und IV-Afferenzen wesentlich hochempfindlichen reinen Schmerzre-
weise gehäuft an den anterioren und pos- langsamer als die Typ 1- und 2-Fasern; zeptoren verändern. Bei der therapeuti-
terioren Ligamenten und Kapsel-Anteilen, sie terminieren im interstitiellen Raum. schen Arbeit ist daher der umgekehrte
während die Pacini-Rezeptoren vermehrt Früher wurden diese freien Nervenen- Vorgang, also eine Re-Sensitivierung für
an der medialen und lateralen Seite ange- den als eindeutige Schmerzrezeptoren nicht bedrohliche mechanische Stimuli,
siedelt sind. abgehandelt. Zutreffend ist, dass einige oft von Interesse.
Freie Nervenenden sind die vermutlich dieser freien Nervenenden Nozi-, Chemo-
am meisten unterschätzten Rezeptoren oder Thermorezeptoren sind; viele davon
im menschlichen Körper. Dies liegt an gelten auch als multimodal. Detailliertere Faszienlinien als
deren kleinen Größe sowie deren außer- Studien haben jedoch ergeben, dass die Akupunktur-Meridiane
ordentlichen räumlichen und physiolo- Mehrheit der freien Nervenenden ganz
gischen Komplexität. Dieses verborgene oder teilweise als Mechanorezeptoren Die oberflächliche Schicht der umhül-
Netzwerk kleinster Rezeptoren scheint funktionieren, wobei 50% hierfür eine lenden Muskelfaszien ist an bestimmten
vom Körper mit einer besonders wichti- hohe Reizschwelle haben, also nur auf Stellen von einer Trias aus Vene, Arterie
gen Bedeutung bedacht zu sein, denn es kräftige mechanische Einwirkungen rea- und Nerv perforiert. Bereits 1995 konnte
findet sich in fast allen Körpergeweben gieren. Die andere Hälfte hat hingegen Heine zeigen, dass die Mehrheit (82%)
und übertrifft zahlenmäßig alle anderen eine niedrige Reizschwelle und spricht dieser faszialen Durchtrittsstellen topo-
Rezeptoren des Körpers um ein Vielfa- auch auf geringfügige Druckeinwirkungen graphisch identisch mit traditionellen
ches. (Für die meisten Menschen ist es – wie etwa Bestreichung mit einem Pinsel chinesischen Akupunkturpunkten ist.
überraschend zu erfahren, dass unser – an (Mitchell & Schmidt 1977). Zumin- Eine neuere Studie von Langevin demons-
reichhaltigstes Sinnesorgan nicht die dest für die Faszien der Kiefermuskulatur trierte, dass die meisten Akupunktur-
Augen, Ohren, Haut, Gleichgewichtsor- wurde nachgewiesen, dass diese Rezep- punkte sich entlang faszialer Linien
gan usw. sind, sondern unsere Muskeln toren auf leichte Gelenksveränderungen befinden, die durch die Verknüpfung der
mit deren Faszien. Aus ihnen empfängt sowie geringfügige Fasziendehnungen Oberflächenfaszie mit in die Tiefe rei-
unser Zentralnervensystem die größte ansprechen, und damit offenbar auch chenden faszialen Septen gekennzeichnet
Anzahl an sensorischen Neuronen. Nur propriozeptive Rückmeldungs-Funktio- sind (N 4).
20% dieser Neurone stammen jedoch nen erfüllen (Sakada 1974). Langevin zeigte auch, dass die in der
von Muskelspindeln, Golgi-, Pacini- und Interessant an diesen freien Nervenenden klassischen Akupunktur wichtige Na-
Ruffini-Rezeptoren; der viermal so große ist einerseits, dass sie offenbar als Fühler deldrehung mit einer Verzwirbelung
Rest hingegen kommt von den freien des vegetativen Nervensystems genutzt faszialer Membranen einhergeht. Diese
Nervenenden). werden (und so oft unmittelbare Auswir- Verzwirbelung scheint umso wirksamer
Ein Teil dieser zu freien Nervenenden kungen auf die Regulation von Kreislauf zu sein, je größer deren fasziale Flä-
führenden Neurone ist myeliniert, man und Atmung haben). Andererseits wird chenwirkung ist, was natürlich entlang
spricht hier von Typ-III-Afferenzen. Der deren Funktion und Reizschwelle auch faszialer Verzweigungslinien besonders
überwiegende Teil ist jedoch unmyeli- sehr stark durch Neurotransmitter modu- begünstigt ist.
niert (Typ IV). Beide Neuronen-Typen liert. Freie Nervenenden, die ursprünglich Eine wesentliche Wirkungsebene der
enden in freien Nervenenden, welche hauptsächlich als propriozeptive Mecha- Akupunktur scheint mit der Stimulation
intrafaszialer Rezeptoren zusammen zu
hängen, speziell mit den oben erwähn-
ten freien Nervenendigungen. Langevin
zeigte auf, wie durch mechanische Sti-
mulation dieser Rezeptoren langfristige
Veränderungen bezüglich Genexpression
und Protheinsynthese sowie eine Modifi-
kation der Grundmatrix ausgelöst werden
können. Auch die Auswirkung zukünf-
tiger Stimulationen dieser Rezeptoren
durch Körperbewegungen kann dadurch
neu eingestellt werden (Langevin 2002).
Es erscheint plausibel, dass diese Wir-
kungen nicht auf reine Nadelstimulation
der faszialen Rezeptoren beschränkt
sind, sondern auch bei manuellen Sti-
mulationen auftreten, die einen ähnlich
„penetranten“ Charakter haben. Eine
detaillierte Kenntnis der faszialen Ketten
N 4 Verknüpfung der Oberflächenfaszie mit in die Tiefe reichende fasziale erscheint sowohl für Akupunkteure wie
Septen. Manualtherapeuten von Vorteil.

14 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, (1) 2004; Hippokrates Verlag


Aktive Faszien- eine aktive Gewebekontraktion handelt.
Eine ähnliche Kontraktionsfähigkeit ist
Kontraktion von Darmgewebe in vitro bekannt. Daher
postulierte Yahia, dass innerhalb der von
Nach einem der aufwändigsten Belas- seinem Team untersuchten Faszien kon-
tungstests menschlicher Faszien veröf- traktile Zellen existieren, die sich wie die
fentlichte Yahia 1993 eine bemerkens- glatten Muskelzellen des Darmgewebes
werte Entdeckung: Wenn die Fascia tho- verhalten.
racolumbalis (mit der diese Untersuchung Wenige Jahre später wurde die Existenz
ausschließlich durchgeführt wurde) in solcher intrafaszialen kontraktilen Mus-
vitro mehrmals isometrisch gedehnt wird, kelzellen histologisch verifiziert. Staube-
nimmt deren Widerstandskraft nach sand, der an der Universität Freiburg die
einer Weile deutlich zu (N 5). Sorgfältig Faszia cruris elektronenmikroskopisch
recherchierte Kontrollen bestätigten, studierte, dokumentierte darin das wie- N 6 Bild einer intrafaszialen glatten
dass es sich hierbei offensichtlich um derholte Vorkommen einzelner glatter Muskelzelle (dunkler Körper im unte-
Muskelzellen (N 5). Zusätzlich fand er ein ren Bildteil, Aufnahme mittels Elektro-
reichhaltiges Vorkommen von faszialen nen-Mikrofotografie). Darüber liegend
Nervenfasern, die vermutlich motorische und von rechts kommend sieht man
weiterhin die sensible Endstrecke eines
Endigungen des sympathischen Nerven-
sensorischen Neurons, welches zu einer
systems darstellen. Er verdeutlichte, wie freien Nervenendigung (Typ IV) gehört.
die in den Faszien sehr häufige sche-
rengitterartige Anordnung der Kollagen-

DO · Focus
fasern es auch einer relativ geringen
Anzahl von Muskelzellen ermöglicht,
eine signifikante Kontraktionswirkung zu Robustheit des Bewegungsapparates
haben. Die spezielle Morphologie glatter herstellen, ohne dadurch wesentlich an
Muskelzellen befähigt diese zu langan- Energie und Ausdauer zu verlieren.
dauernden Kontraktionen mit zwar klei-
N 5 Der Dehnungswiderstand der ner Amplitude jedoch großer Kraft und
Fascia thoracolumbalis nimmt zwi- geringem Energieverbrauch. Offenbar Faszien und
schen wiederholten isometrischen
Dehnungen deutlich zu. Hier ist das
erlauben solche faszialen Muskelzellen Vegetativum
dem Organismus eine Faszien-Vorspan-
Verhalten in einer Ringer-Nährlösung
dargestellt mit 30 Minuten Ruhezeit nung über das vegetative Nervensystem Über Ruffini-Rezeptoren und freie
zwischen der ersten und zweiten und zu regulieren. So kann er etwa in sympa- Nervenendigungen beeinflussen faszi-
1 Stunde zwischen der zweiten und thikotonen (Kampf-Flucht orientierten) ale Stimulationen direkt das vegetative
dritten Dehnung. Zuständen eine höhere Spannung und Nervensystem. Umgekehrt kann beim

������������������������������������������������
Anzeige
15
���������������������������������� �
�����������������������������
������������������������
������������� ������������ ����������
� � � � � � � � � ��� � ������������������������
��������� �����������������������
������������������
����������
�����������������������

����������������������
�������������������������

����������
��������������������������������
����������������������������

�������

� � �� ������������������������� ��������������
������������
����� ��������������
�������������������������������
��� �������������� ���� ��������������
��������������������� �������������������

DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, (1) 2004; Hippokrates Verlag


Vorhandensein faszialer glatter Muskel- sant sein, der anhand des Kniegelenkes ment-Release“ vom Behandler erlebt bzw.
zellen das Vegetativum die Spannung der demonstrierte, dass eine Stimulation missinterpretiert wird.
Faszien modulieren. Faszien scheinen ligamentärer Mechanorezeptoren zwar A.T. Still scheint recht gehabt zu haben
daher nicht nur Spiegel des Vegetativums zu keiner wesentlichen Änderung der mit seiner Vorhersage „daß sich beim
zu sein, sondern auch ein wichtiges Tor, Alpha-Motoneurone führt, jedoch zu Studium der Faszien mehr reichhaltige und
um mittels manueller Therapie auf das einer deutlichen Einflussnahme auf das goldene Einsichten auftun werden, als bei
gesamte vegetative System zu wirken. Gamma-Tonusregulations-System (das irgend einem anderen Aspekt des Körpers“.
Die Regulation der glattmuskulären Fas- extrapyramidale Gamma-System wird In der Hoffnung auf weitere derartige
zienspannung geschieht wahrscheinlich häufig in Zusammenhang gebracht mit Einsichten führt der Autor deshalb im
auf ähnlichem Wege wie bei anderen der unbewussten Steuerung der Hinter- Rahmen einer Dissertation gegenwärtig
glatten Muskelzellen im Körper, näm- grundspannung der tonischen Körperhal- eine wissenschaftliche Forschung über
lich über das vegetative Nervensystem tungs-Muskulatur). fasziale Kontraktilität, intrafasziale glat-
sowie über vasokonstriktorische Sub- Für die viszerale Osteopathie ist zu te Muskelzellen und deren Innervation
stanzen wie CO2. Es gibt einen direkten erwarten, dass eine gezielte Erforschung beim Menschen durch. Für die freundli-
Zusammenhang zwischen niedrigen der engen Wechselwirkungen zwischen che Unterstützung hierbei sei der Anato-
CO2-Werten und einer Tonuserhöhung Faszien und Vegetativum wertvolle the- mischen Anstalt der Ludwig-Maximilians-
glatter Muskelzellen, etwa bei chroni- oretische und praktische Weiterentwick- Universität München herzlich gedankt.
scher Hyperventilation bzw. respirato- lungen bewirken wird. An Tierversuchen
rischer Alkalinität (Chaitow et al. 2002). wurde bereits gezeigt, dass tiefer, lang-
Möglicherweise betrifft eine solche samer Druck auf die Bauchregion eine &
Literatur auf Anfrage bei der Redaktion.
Tonuserhöhung nicht nur die Muskulatur allgemeine parasympathische Reaktion
von Lungen und Bauchorganen, sondern auslöst (Folkow 1962). Von einigen
Bildnachweise:
auch die allgemeine Faszienspannung im viszeralen Bändern ist schon seit Län- N 1 Schwind, P.: Faszien- und Membrantechnik. Else-
Körper. Sowohl bei Fibromyalgie als auch gerem eine reichhaltige Präsenz glatter vier, Urban & Fischer; München 2003
N 2, 3 van den Berg, F.: Angewandte Physiologie.
beim chronischen Müdigkeitssyndrom ist Muskulatur bekannt (z.B. Lig. teres uteri, Thieme, Stuttgart 1999
bekannt, dass die Betroffenen oft chroni- Lig. cardinale, Lig. ovarii lata, Lig. Treitz, N 4 Langevin, H.M. et al.: Relationship of Acupunc-
ture points and meridians to connective tissue
sche Hyperventilatoren sind. Ein besse- periurethrales Bindegewebe). Anderer- points. The Anatomical Record (New Anat.) 269;
res Verständnis und besserer Nutzung seits könnte auch eine Stimulation von Wiley-Liss, Hoboken, New Jersey, USA, 2002
der Faszien-Vegetativum Verbindung Mechanorezeptoren in Ligamenten, die N 5 Yahia, L.H. et al.: Viscal elastic properties of the
human lumbodorsal fascia. J. Biomed. Eng. 15 (9)
könnte hier möglicherweise Fortschritte kaum glatte Muskelzellen besitzen, zu 425–429, 1993
bewirken. einer Entspannung von benachbarter N 6 Staubesand, J., Li, Y.: Zum Feinbau der Fascia
cruris mit besonderer Berücksichtigung epi- und
Für die parietale Osteopathie dürften Organmuskulatur oder quergestreifter intrafaszialer Nerven. Manuelle Medizin 34 (1996)
die Befunde von Johannsson interes- Muskulatur führen, was dann als „Liga- 196–200.

������������������������ � ����������� � ������ ���� � ������ �


Anzeige

����� ���������������
���������������
�����
������������
������������������
�����������������
������� ���������
����������
����
������������
�������
�����������
������� �������������� ����������
���������
��������

������������������ ���������������� ����������������


��������������������������� ������������� ����������������������
�������������� ����������������������� �����������������������������
�������������������� ������������������� �����������������������
����������������������� ����������������������� ������������������
������������������ ������������������

������������������������������������������������������������
�����������������������������������������������������������

16 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, (1) 2004; Hippokrates Verlag

Das könnte Ihnen auch gefallen