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Das gesollte Wollen

Diana Lindner

Das gesollte Wollen


Identitätskonstruktion zwischen
Anspruchs- und Leistungs-
individualismus
Diana Lindner Bernhard Schmidt
Oldenburg, DeutschlandVoestalpine Langenhagen, Deutschland
Linz, Österreich

Zugl. Dissertation an der Universität Bremen, 2012

Gefördert von der Universität Oldenburg (Fakultät für Bildungs- und Sozialwissen-
schaften)

ISBN 978-3-531-19192-8 ISBN 978-3-531-19193-5 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-531-19193-5

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Einmal wissen dieses bleibt für immer
Ist nicht Rausch der schon die Nach verklagt
Ist nicht Farbenschmelz noch Kerzenschimmer
Von dem Grau des Morgens längst verjagt

Einmal fassen tief im Blute fühlen


Dies ist mein und es ist nur durch dich
Nicht die Stirne mehr am Fenster kühlen
Dran ein Nebel schwer vorüber strich

Einmal wirklich fassen und nie wieder


alles geben müssen, was man hält
Klagt ein Vogel? Ach, auch mein Gefieder
Nässt der Regen flieg ich durch die Welt

Einmal fassen tief im Blute fühlen


Dies ist mein und es ist nur durch dich
Klagt ein Vogel? Ach, auch mein Gefieder
Nässt der Regen flieg ich durch die Welt.

(Text: Hildegard Maria Rauchfuß)


Inhalt

Einleitung .............................................................................................................. 11
Fragestellung ......................................................................................................... 14
Gliederung und Aufbau der Darstellung ........................................................... 16

1 Individualisierung und Optionenvielfalt ................................................................ 19


1.1 Die Entdeckung des Individuums als Grundlage für
Individualisierungsprozesse ........................................................................ 21
1.2 Individualisierungsschübe ........................................................................... 23
1.2.1 Individualisierung als Wechselverhältnis von
gesellschaftlichen und individuellen Forderungen ........................ 30
1.3 Die klassische Individualisierungstheorie ................................................. 32
1.4 Die moderne Individualisierungstheorie ................................................... 37
1.4.1 Empirische Überprüfung der Beckschen
Individualisierungsthese ................................................................... 41
1.4.2 Handlungstheoretische Lücke in der
Individualisierungstheorie ................................................................ 47
1.5 Umgang mit Optionenvielfalt – Grundlage für eine
handlungstheoretische Fundierung ............................................................ 51
1.5.1 Optionenvielfaltbedingungen und die Entwicklung von
Identität .............................................................................................. 53
1.5.2 Selbstverwirklichung und Zielsetzungsstrategien.......................... 55
1.6 Theoretischer Zugang für die Erklärung individualisierter
Handlungslogik............................................................................................. 58

2 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie ...................................... 67


2.1 Der Begriff des Anspruchs ......................................................................... 68
2.2 Ansprüche im Rahmen von Selbstverwirklichung................................... 71
2.2.1 Ansprüche als entwicklungsbasierte Seinsforderungen................ 73
2.2.2 Ansprüche als Ressourcenforderungen .......................................... 78
2.2.3 Ansprüche als motivationsbasierte Leistungsansprüche .............. 83
2.3 Die Steigerungsdynamik von Ansprüchen durch soziale Vergleiche .... 86
2.4 Überforderung durch Anspruchshaltungen – normative
Anspruchsdiskussion ................................................................................... 90
8 Inhalt

2.5 Sozialtheoretische Zusammenschau auf Selbstverwirklichung durch


Ansprüche ..................................................................................................... 95

3 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung .......................... 101


3.1 Der Identitätsbegriff als soziales Konstrukt ........................................... 102
3.1.1 Identität als Ergebnis von Interaktionen ..................................... 105
3.1.2 Identitätsbestimmung als eigeninitiativer Akt ............................. 109
3.1.3 Patchwork-Identität als Folge von Optionenvielfalt .................. 113
3.2 Identitätsentwicklung unter individualisierten Bedingungen ............... 116
3.2.1 Identitätsentwicklung mittels Ansprüchen .................................. 118
3.3 Anerkennung – Grundlegung für anspruchsgeleitete
Identitätsentwicklung................................................................................. 119
3.3.1 Anerkennungsverhältnisse in der Moderne ................................. 121
3.3.2 Anerkennung von Ansprüchen als Identitätsstabilisatoren ....... 127
3.4 Stabilisierung von entwicklungsbasierten Seinsforderungen
durch das Anerkennungsverhältnis Liebe und emotionale
Wertschätzung ............................................................................................ 130
3.5 Stabilisierung von Ressourcenforderungen durch das
Anerkennungsverhältnis Recht ................................................................ 140
3.6 Stabilisierung von motivationsbasierten Leistungssprüchen
durch das Anerkennungsverhältnis positionale Wertschätzung .......... 147
3.7 Anerkennung von Ansprüchen und ihre Steigerungsdynamik ............ 153
3.8 Identitätsorganisierende Wechselwirkungen durch
Anerkennungsgewichtung ......................................................................... 155
3.9 Gesellschaftstheoretische Gesamtbetrachtung einer
anspruchsgeleiteten Identitätsentwicklung ............................................. 157

4 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus........ 163


4.1 Vorläufer des aktuellen Leistungsindividualismus ................................. 164
4.2 Wandel des Leistungsbegriffs ................................................................... 167
4.3 Individuelle Leistungsansprüche oder Forderungen nach Leistung? .. 169
4.3.1 Selbstverwirklichung im Beruf ...................................................... 170
4.3.2 Selbststeuerung als Forderung ....................................................... 174
4.4 Subjektmodelle zum Leistungsindividualismus ...................................... 179
4.4.1 Bröcklings Ansatz zur Selbstrationalisierung............................... 179
4.4.2 Reckwitz` Konzept des hybriden Subjekts .................................. 182
4.5 Anerkennungsmechanismen im Leistungsindividualismus .................. 186
4.5.1 Leistungsindividualismus und positionale Wertschätzung ........ 187
4.5.2 Leistungsindividualismus im Rahmen von
Ressourcenforderungen.................................................................. 192
4.5.3 Leistungsindividualismus im Rahmen von Intimbeziehungen.. 197
Inhalt 9

4.6 Zusammenfassende Betrachtung ............................................................. 205

5 Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen ................ 209

Literatur .................................................................................................................... 221


Einleitung

Zu keiner Zeit der soziologischen Theoriebildung wurden gesellschaftliche Verän-


derungen und deren Auswirkungen auf die individuelle Lebensgestaltung so umfas-
send diskutiert wie während des Individualisierungsdiskurses. Die hier thematisier-
ten tiefgreifenden strukturellen Umwälzungen waren äußerst öffentlichkeitswirksam
und führten zu kritischen Gesellschaftsdiagnosen mit oftmals feuilletonistischem
Charakter, die den Normen- und Sittenverfall, soziale Kälte, einen ausgeprägten
Egoismus und den Verlust von Bindungsfähigkeit herauf beschworen. Individuali-
sierung war lange Zeit das Modethema, vor allem für individualismuskritische Geis-
ter. Dies wurde zusätzlich durch die Einschätzung zweier Sozialforscher verstärkt,
die bereits 1993 ein Ende des Individualismus mit der Begründung ausriefen, dass
sich derartige Kulturen grundsätzlich selbst zerstören und deshalb immer wieder
von gemeinschaftsorientierten Kulturen abgelöst werden (vgl. Miegel/Wahl 1993).
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der globalen Finanzkrise verschmelzen
diese Argumente aktuell mit einer umfassenden Kapitalismuskritik und zeichnen ein
noch negativeres Bild von gewinnmaximierenden, konsumorientierten und kühl
kalkulierenden Individuen. All diese Argumentationen setzen das individualisierte,
autonom handelnde Individuum voraus, ohne die tatsächlich wirksamen Bedingun-
gen für sein Handeln zu erfassen. Dies war lange Zeit Aufgabe der Individualisie-
rungstheorie.
Die Phase der Hochkonjunktur der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der
Individualisierungsthese ist jedoch seit einigen Jahren vorbei. Explizit theoretische
Systematisierungsversuche liegen nunmehr 10 Jahre zurück (vgl. Junge 2002; Schro-
er 2000). Zu komplex schienen die dort zusammengetragenen Elemente von gesell-
schaftlichen Veränderungen und neuen individuellen Anforderungen, als dass sie in
einem theoretischen Modell gebündelt werden könnten. Die Ambivalenz zwischen
der Erzeugung individueller Freiräume und der Forderung nach ihrer Nutzung zeigt
sich in derart vielen Wechselwirkungen, dass eine Weiterverfolgung der theoreti-
schen Konzeptualisierung nicht praktikabel erschien. Dies bescheinigt auch ein
gerade erschienener Sammelband mit dem Titel „Individualisierungen“ (Ber-
ger/Hitzler 2010), in dem sowohl die zusammengetragenen theoretischen als auch
empirischen Befunde Beleg für die Schwierigkeit sind, von Individualisierung als
einem einheitlichen Phänomen zu sprechen, das den Individuen insgesamt mehr
Freiheiten einräumt, aber auch mehr Handlungsdruck erzeugt.

D. Lindner, Das gesollte Wollen, DOI 10.1007/978-3-531-19193-5_1,


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12 Einleitung

Ein anderer Sammelband mit dem Titel „Handeln unter Unsicherheit“ (Böh-
le/Weihrich 2009) legt offen, dass die Individualisierungsthese bisher vor allem auf
handlungstheoretischer Ebene diffus und erklärungsarm bleibt. Der Urheber der
modernen Individualisierungsthese, Ulrich Beck, kritisiert an bestehenden hand-
lungstheoretischen Erklärungen, dass sie sich nicht „der ontologischen Unsi-
cherheit“ (Beck 2007: 347) stellen, durch die das individuelle Handeln geprägt ist,
sondern sich stattdessen auf Gewinnmaximierung konzentriert. Er selbst hat sich
von Anfang an eher auf die objektiven Veränderungen konzentriert und die theore-
tische Ausarbeitung auf handlungstheoretischer Ebene vernachlässigt. „Individuali-
sierung (meint) ein makrosoziologisches Phänomen, das sich möglicherweise – aber
eben vielleicht auch nicht – in Einstellungsveränderungen individueller Personen
niederschlägt.“ (Beck 2008: 303). Empirische Beiträge der letzten Jahre zur Indivi-
dualisierung argumentieren aber grundsätzlich aus der Perspektive einer veränderten
Einstellung von Personen unter individualisierten Bedingungen. In den Beiträgen ist
beispielsweise von einer Individualisierung des Rechts, des Unterrichts, der Ge-
sundheit oder der Mediennutzung die Rede. Hierbei geht es um eine allgemeine
Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten von Personen. Dies zeigt, dass
in vielen gesellschaftlichen Bereichen mit einem nunmehr durch immer differen-
ziertere Bedürfnisse gekennzeichneten Individuum gerechnet wird.
Sucht man nach einer übergreifenden Perspektive auf die sich im Handeln aus-
drückende Individualisierung, dann ist das fordernde, Ansprüche stellende Indivi-
duum ein Bezugspunkt. So sehr der sich durch Individualisierung tatsächlich erge-
bene erweiterte Handlungsspielraum für alle Gesellschaftsmitglieder in Zweifel
gezogen wird, so einig scheint man sich darin zu sein, dass die Ansprüche der Indi-
viduen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen gestiegen sind.

„Das, worüber die Bürger der demokratischen Staaten heute am besten Bescheid wissen, sind – ihre
Ansprüche. Anspruch auf Wohlergehen und Rechtsansprüche auf alle erdenklichen Mittel zu die-
sem Wohlergehen, das im Wesentlichen materiell definiert wird, bestimmen die Haltung des einzel-
nen gegenüber seinem Staat. Nicht nur den Staat aber sieht diese Gesellschaft als den Adressaten
ihrer Forderungen: auch zwischen den Bürgern selbst hat sich Anspruchsdenken breitgemacht.“
(Höhler 1979: 7).

Aus diesem grundlegenden Kennzeichen von Individualisierung wurde aber zu


keiner Zeit eine theoretische Konsequenz gezogen. Dabei bietet diese Perspektive
die Möglichkeit, eine Verhältnisbestimmung von Individuum und Gesellschaft unter
individualisierten Bedingungen zu entwickeln. Betrachtet man den Individualisie-
rungsprozess insgesamt als eine Zunahme von individuellen Ansprüchen, deren
Erfüllung zum gesellschaftlichen Programm geworden ist, dann erscheint die Prob-
lematik der Ambivalenz von Freisetzung und neuartigen Handlungsbeschränkungen
in einem neuen Licht. Denn Ansprüche zu stellen heißt nicht nur, sich aktiv auf die
Welt zu beziehen, sondern auch das eigene Leben einem bewussten Gestaltungs-
Einleitung 13

willen zu unterwerfen. Im „Anspruchstellen“ zeigt sich die Emanzipation von einer


im klassischen Sinne verstandenen Normorientierung und spiegelt damit die Frei-
setzungsdynamiken der Individualisierung wider. Ansprüche dienen der Vermittlung
von Zielen und regeln den Grad der Zufriedenheit. Im Formulieren von Ansprü-
chen wird das Individuum deshalb in seiner Autonomie sichtbar. Anspruchstellende
Individuen präsentieren ihr Potential und zeigen die Richtung des Selbstverwirkli-
chungsstrebens an. Ansprüche sind demnach sowohl Element der Selbststeuerung
als auch Sprachrohr nach außen. Kurz: Ansprüche bilden die Grundlage für Hand-
lungen unter individualisierten Bedingungen.
Auf gesellschaftlicher Ebene erzeugen sie so einen Anspruchsdruck, der die In-
stitutionen und Organisationen zu veränderten Sichtweisen zwingt. Dieser Druck
nimmt umso mehr zu, je wohlstandsorientierter eine Gesellschaft ist. Auf der
Grundlage hinreichend gedeckter Grund- und Sicherheitsbedürfnisse werden An-
sprüche auf Selbstverwirklichung laut. Je mehr Individuen Möglichkeiten für die
individuelle Gestaltung des eigenen Lebens wahrnehmen, desto häufiger werden sie
genutzt. Die Konsequenz zeigt sich in erster Linie in einer Lockerung verhaltensre-
gulierender Normen und darauf folgend in einer Erweiterung individueller Rechte
im Rahmen gesetzlicher Änderungen.
Diese Dynamiken individueller Freisetzungsmechanismen werden erst mit der
Perspektive eines fordernden Individuums verständlich, das sich selbst verwirk-
lichen will. Die Anspruchshaltung drückt ein Drängen nach Veränderung aus und
fördert auf kollektiver Handlungsebene die weitergehende Individualisierung der
Gesellschaft. Tatsächlich war die deutsche Gesellschaft während der 1980er und
1990er Jahre durch die Zielsetzung der Anspruchsgerechtigkeit gekennzeichnet.
Dass es seit der Jahrtausendwende mit der „Agenda 2010“ zu einem politischen
Richtungswechsel und so zur Forderung nach einer leistungsgerechten Gesellschaft
kam, belegt den kollektiv erzeugten Anspruchsdruck, der vor allem auf sozialstaatli-
cher Ebene so groß geworden ist, dass die Begrenzung der Ansprüche vonnöten
wurde. Unabhängig davon, dass dieser allgemeine Sozialabbau für Viele bedeutete,
sich aufgrund mangelnder finanzieller Absicherung nicht mehr mit Fragen der
Selbstverwirklichung beschäftigen zu können, zeigt diese politisch angestoßene,
großflächige Beschneidung von Ansprüchen, wie wichtig diese für die Vorstellung
eines erfüllten Lebens sind. Eine Gesellschaft, die sich die Erfüllung hochindividua-
lisierter Ansprüche auf die Fahnen geschrieben hat, kann schwer zurückrudern und
Anspruchsbeschneidungen dauerhaft legitimieren. Individuelle Ansprüche und der
gesellschaftliche Umgang mit ihnen spiegeln deshalb in besonderer Weise die Me-
chanismen des Individualisierungsprozesses.
14 Einleitung

Fragestellung

Die Fragestellung der vorliegenden Arbeit setzt an der Tatsache an, dass der Indivi-
dualisierungstheorie eine handlungstheoretische Fundierung fehlt. Die Beiträge
klären nicht über Prozesse der Handlungswahlen auf und stellen keine Verbindun-
gen zwischen ihnen und der sozialen Situation her. Die Auswirkungen individuali-
sierter Bedingungen auf das Handeln der Individuen werden allgemein unter dem
Stichwort Individuation zusammengefasst. Individuation beschreibt die Entwick-
lung von Individuen, die sich gegen traditionelle Werte und Normen in der Gesell-
schaft als Einzelwesen positionieren und dabei zur Verwirklichung ihrer Individua-
lität gelangen. Die Individualisierungstheorie benutzt zur Erklärung dieser Mecha-
nismen Konzepte wie Enttraditionalisierung, Auflösung von Klassenidentitäten,
Wertepluralismus und Pluralisierung von Lebensstilen, ohne aufzudecken, wie Indi-
viduen Ziele verfolgen und daraufhin diese Individuationseffekte erzeugen. Es
fehlen also theoretische Beiträge, die die Makro- und Mikroperspektiven des Indivi-
dualisierungsprozesses miteinander verbinden.
Dabei ist ein zentrales Merkmal der individualisierten Handlungen, dass immer
mehr Entscheidungen getroffen werden müssen. Peter Gross hat diese Thematik
unter dem Titel „Multioptionsgesellschaft“ (vgl. Gross 1994) zeitdiagnostisch be-
schrieben und das Problem der Orientierungslosigkeit des sich permanent entschei-
den müssenden Individuums in den Mittelpunkt gerückt. Die besonderen Rahmen-
bedingungen des Entscheidens unter individualisierten Bedingungen sind nicht
einfach die Vielzahl der zur Verfügung stehenden Optionen, sondern auch die For-
derung eigene Zielsetzungen und Lebensvorstellungen auszubilden und diese bei-
zubehalten. Solche Entscheidungen sind identitätsprägend und bilden somit den
Verlauf der Individuation ab. Die aktuellen Ansätze zur Identitätsbildung machen
diese Zusammenhänge zwischen Individualisierung und Zielsetzungsdynamiken zur
Basis der Entwicklung von Identitäten (vgl. Hitzler/Honer 1994). Den Individuen
geht es nicht mehr so sehr um die Antwort auf die Frage „Wer oder was bin ich?“
sondern um die Klärung der Frage „Wer oder was will ich sein?“. Aus diesen Me-
chanismen folgt der Verlust an Stabilität und der Umgang mit einer sich ständig im
Entwurf befindenden und an Zielsetzungen orientierenden Identität. Allerdings
erfolgte auch hier keine systematische Verknüpfung zwischen der Optionenvielfalt,
der Möglichkeit eigene Ziele zu verfolgen und den Auswirkungen auf die Identitäts-
entwicklung.
Im Zuge der Betrachtung einzelner zur Verfügung stehenden Optionen soll
deshalb in der vorliegenden Arbeit in einem ersten Schritt ein Mechanismus expli-
ziert werden, der klären kann, wie die Auswahl von Optionen erfolgt. Der hierzu
verfolgte Ansatz geht davon aus, dass Anspruchshaltungen die Wahl von Hand-
lungsalternativen im Rahmen von Identitätsentwicklung steuern. Sie wirken als
Handlungsantrieb und geben als Zielsetzungen die Richtung der angestrebten Iden-
Einleitung 15

tität an. Hierdurch wird die Veränderung der individualisierten Handlungslogik


erstmals in einem theoretischen Sinne deutlich gemacht.
In einem nächsten Schritt sollen die Auswirkungen dieser anspruchsgeleiteten
Wahl von Optionen auf die Identität untersucht werden. Dabei wird davon aus-
gegangen, dass Ansprüche als Forderungen geäußert werden müssen, damit sie
erfüllt werden. Das bedeutet, dass sie nach Anerkennung verlangen. Dies ist der
zweite Aspekt des Anspruchs. Um Aussagen über die Auswirkungen dieses indi-
vidualisierten Anspruchshandelns auf die Identität treffen zu können, ist demnach
eine Betrachtung der Anerkennungsmechanismen vonnöten.
Die Frage nach einer so gearteten Identitätsentwicklung wird hier mit einem
anerkennungstheoretischen Zugang beantwortet. Anerkennung wird also im Zu-
sammenhang mit Anspruchshaltungen betrachtet. Durch die Untersuchung von
Anerkennungsbeziehungen können unterschiedliche Einflussnahmen auf den Um-
gang mit Ansprüchen und deren Wirkung auf die Identitätsentwicklung offen gelegt
werden. Damit kann gezeigt werden, auf welche Weise das individuelle Anspruchs-
denken mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen unter individualisierten Bedin-
gungen verschmilzt. Mit diesem Ansatz ist es nunmehr möglich, die beiden Erklä-
rungsebenen der Individualisierungstheorie miteinander zu verbinden. Dahinter
steht die Auffassung, dass sich erst in der Auseinandersetzung mit den spezifischen
Anerkennungsmechanismen zeigt, was eigentlich gemeint ist, wenn die Individua-
lisierungstheoretiker davon sprechen, dass das Wollen der Individuen zu einer ge-
sellschaftlichen Soll-Norm gemacht wurde. Aber erst mit dem durch die Analyse
der Anerkennungsbeziehungen offen gelegten Integrationsprinzip lässt sich der
Grad der Verschränkung von Ansprüchen und Soll-Normen wirklich zeigen.
Darüber hinaus verspricht dieser Ansatz einen weiteren Zusammenhang erklä-
ren zu können. Aktuell lassen sich Zeitdiagnosen finden, die von einer Einschrän-
kung der durch Ansprüche gewonnenen Autonomie ausgehen und dabei neue Ab-
hängigkeitsverhältnisse thematisieren. Hierzu gehört vor allem der Diskurs um eine
Verbreitung der Ökonomisierung bzw. der Rationalisierung der Lebensführung, die
durch die neuen Anforderungen aus der Arbeitswelt entstanden sind (vgl. Bröckling
2007; Pongratz/Voß 2003; Reckwitz 2006). Hier scheint sich Individualisierung
durch den Grad der Einflussnahme neuer Soll-Normen auf das individuelle Wollen
zuzuspitzen. Die Diskussion schließt an das Pauschalargument Ulrich Becks an,
wonach neue autonomieeinschränkende Abhängigkeitsverhältnisse ebenfalls ein
Kennzeichen der Individualisierung darstellen.
Im Rahmen dieser Arbeit werden diese Ansätze insgesamt unter der Perspek-
tive des neuen kulturellen Leitbildes des Leistungs- bzw. Erfolgsindividualismus
diskutiert und dem Integrationsprinzip des zuvor geltenden Anspruchsindividualis-
mus gegenübergestellt. Vor dem Hintergrund dieser veränderten Rahmenbedingun-
gen ist es ebenfalls wichtig, den Zusammenhang zwischen individuellem An-
spruchsdenken und den Elementen neuer gesellschaftlicher Einflussnahmen zu
16 Einleitung

untersuchen und der Frage nachzugehen, welche Auswirkungen dies auf die Identi-
tätsentwicklung der Individuen hat. Empirische Bezugspunkte sind dabei wiederum
die Anerkennungsbeziehungen, die darauf untersucht werden, inwiefern sie das
anspruchsgeleitete Handeln verändern.
Insgesamt widmet sich die vorliegende Arbeit den Zusammenhängen zwischen
Anspruchshaltungen, den Möglichkeiten zur Herstellung einer individuellen Identi-
tät und Fragen nach Veränderungen der sozialen Integrationsmechanismen, die
allgemein als individualisierte Bedingungen bezeichnet werden. Theoretisch bezieht
die Arbeit Stellung zwischen der Individualisierungstheorie, den modernen Ansät-
zen einer Theorie der Identitätsentwicklung, der Anerkennungstheorie und den
Zeitdiagnosen über neue Tendenzen des Leistungsindividualismus. Die Verbindung
aller Ansätze mit dem Konzept des Anspruchs zu einer handlungstheoretischen
Fundierung von Individualisierungsprozessen stellt den wesentlichen Ertrag dieser
Arbeit dar.

Gliederung und Aufbau der Darstellung

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil dient der Auseinandersetzung
mit dem Verlauf des Individualisierungsprozesses. Zu Beginn des ersten Kapitels
wird ein kurzer historischer Überblick über den bisherigen Verlauf von Individuali-
sierung anhand unterschiedlicher Individualisierungsschübe gegeben. Dieser dient
der Nachzeichnung kontinuierlicher Freisetzungsmechanismen der Individuen
unter konkreten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die in der modernen Indi-
vidualisierungstheorie meist implizit gesetzt werden. Daran anschließend wird, aus-
gehend von klassischen Individualisierungstheorieansätzen, die Becksche Indivi-
dualisierungsthese in ihren Grundaussagen präsentiert. Darüber hinaus werden
empirische Ansätze zur Überprüfung seiner Annahmen diskutiert, um so die hand-
lungstheoretische Lücke in dieser Theoriedebatte offen zu legen und daran an-
schließend den für diese Arbeit gewählten Analyseansatz vorzustellen. Hierbei wird
das Vorhandensein von Optionenvielfalt als allgemeine Rahmenbedingung für indi-
vidualisiertes Handeln herausgearbeitet.
Das zweite Kapitel dient der Entwicklung des Anspruchskonzepts, das den
Umgang mit dieser Optionenvielfalt klären soll. Hierzu wird die Entstehung von
Ansprüchen aus einer sozialtheoretischen Perspektive plausibel gemacht. Dabei
wird zwischen drei unterschiedlichen Funktionen von Ansprüchen unterschieden:
den Seinsforderungen, den Ressourcenforderungen und den Leistungsansprüchen.
Darüber hinaus wird die Frage nach der Steigerungsdynamik von Ansprüchen an-
hand des sozialen Vergleichsmechanismus diskutiert.
Das dritte Kapitel konzentriert sich auf die Analyse der Folgen von sozial prä-
sentierten Ansprüchen. Dabei wird die Funktion von Ansprüchen für die Identi-
Einleitung 17

tätsbildung auf Grundlage von Anerkennungsbeziehungen aus einer gesellschafts-


theoretischen Perspektive erläutert. Der einleitende Überblick über den Begriff der
modernen Identität und seine soziologische Theoretisierung orientiert sich an
George Herbert Meads (vgl. Mead 1973) Identitätskonzept, dem der Differenzie-
rungstheorie (vgl. Luhmann 1995) und dem Patchwork-Identitätsansatz von Heiner
Keupp (vgl. Keupp 2002). Daran anschließend wird ein Anerkennungskonzept
entwickelt, das der Beantwortung der Frage dient, wie Ansprüche unter individuali-
sierten Bedingungen handlungsleitend werden, da eine wesentliche Voraussetzung
für die Identitätsentwicklung die Identifikation mit Ansprüchen ist. Hierzu werden
entsprechend den drei zuvor ausgearbeiteten Anspruchsformen drei Anerken-
nungskontexte genauer betrachtet. Diese sind in Anlehnung an die Unterscheidung
von Axel Honneth: positionale, rechtliche und emotionale Wertschätzung. Auf
diese Weise wird mit theoretischen und empirischen Argumenten die Anerkennung
von Ansprüchen unter individualisierten Bedingungen als Funktion für die Iden-
titätsstabilisierung herausgearbeitet. Hierzu wird das Integrationsprinzip des An-
spruchsindividualismus zugrunde gelegt, weshalb die Argumentation über die all-
gemeine Honnethsche sozialphilosophische Betrachtung der Funktion von Aner-
kennung hinausgeht. Das Kapitel schließt mit einer Gesamtbetrachtung über die
Zusammenhänge zwischen Selbstverwirklichung, Anspruchsentwicklung, Anerken-
nung und Identitätsstabilisierung.
Im vierten Kapitel wird mit einer zeitdiagnostischen Perspektive nach neuen
Tendenzen in diesen Anerkennungsbeziehungen geforscht. Mit dem kulturellen
Leitbild des Leistungsindividualismus ändern sich die Bedingungen für Anspruchs-
haltungen und das damit verbundene Selbstverwirklichungsstreben der Individuen.
Hierbei wird wiederum anhand der in Kapitel drei entwickelten Anerkennungsmodi
nach empirischen Belegen für Veränderungen gesucht. Im Mittelpunkt stehen die
Zunahme von Fremdforderungen und die Vermischung mit Selbstansprüchen und
die damit verbundenen Gefährdungslagen für Identitätsentwicklung.
Den Abschluss bildet eine zusammenfassende und die veränderten gesellschaft-
lichen Bedingungen berücksichtigende Betrachtung der anspruchsgeleiteten Identi-
tätsentwicklung, aus der Ansatzpunkte für die empirische Überprüfung der erarbei-
teten theoretischen Zusammenhänge abgeleitet werden.
1 Individualisierung und Optionenvielfalt
„Wenn man nicht weiß, was morgen sein
wird, ist jede Zukunft möglich.“
(Antoine Vumilia Muhindo)

Individualisierung ist ein historischer Prozess, der den gesamten Vorgang der Indi-
viduierung des Menschen beschreibt. Der Individualisierungsprozess bildet die
Freisetzung des Einzelwesens aus der Allgemeinheit ab und thematisiert Verände-
rungen, die sich in den Definitionen von Individuum, Individualität und Identität
spiegeln. Die Bezeichnung des Menschen als Individuum, dessen Identität sich
durch individuelle Eigenschaften auszeichnet, resultiert so gesehen im Individuali-
sierungsprozess.
Das Individuum ist dabei durch seine Unteilbarkeit bestimmt. Der Begriff des
Individuums kennzeichnet den Wandel der Definition durch Merkmalsbestim-
mungen, welche die Gemeinsamkeiten mit anderen betonen, zu einer Hervorhe-
bung der Unterschiede. Wird in der Soziologie von einem Individuum gesprochen,
so stellt man die Besonderheit des Einzelnen in Abgrenzung zur Allgemeinheit
heraus.
Individualität kennzeichnet darüber hinaus die Einzigartigkeit bestimmter Ei-
genschaften eines Individuums im Vergleich zu anderen, während sich in der Iden-
tität allmählich das Bewusstsein einer „Sich-Selbst-Gleichheit“ auf Grundlage die-
ser individuellen Merkmale entwickelt. Diese Entwicklung hat sich in unterschiedli-
chen Schüben vollzogen und die Theoretiker gehen davon aus, dass Individuali-
sierung „historisch als Ergebnis der gesellschaftlichen Mobilisierung der Indivi-
duen, (...), stark an Gewicht zugenommen [hat, D.L.]“ (Kohli 1988: 35). Die ersten
soziologischen Abhandlungen zu diesem Prozess sind bereits von Georg Simmel
(1890) und Emile Durkheim (1893) verfasst worden und fallen mit der Entstehung
der Industriegesellschaft zusammen.
Von einer wirklichen theoretischen Thematisierung der Individualisierung wird
aber erst seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ (1986) gesprochen. Seine Thesen
hatten lange Zeit in der soziologischen Forschungslandschaft Konjunktur. Die
Analysen bezeichnen vor allem die gesellschaftlichen Veränderungen in Deutsch-
land seit den 1950er Jahren als Individualisierung und stellen Unterschiede zur
Charakteristik vorheriger gesellschaftlicher Strukturen heraus. „Schlicht gesagt,
meint ‚Individualisierung‘: den Zerfall industriegesellschaftlicher Selbstverständ-
lichkeiten sowie den Zwang, ohne Selbstverständlichkeit für sich selbst und mitei-
nander neue ‚Selbstverständlichkeiten‘ zu finden und erfinden.“ (Beck 1993: 151).
Im Zuge der Auseinandersetzung mit diesen Veränderungen wurde deutlich,
dass Individualisierung ein komplexer und ambivalenter Prozess ist, bei dem eine

D. Lindner, Das gesollte Wollen, DOI 10.1007/978-3-531-19193-5_2,


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20 Individualisierung und Optionenvielfalt

Vielzahl struktureller Entwicklungen ineinander greifen und der sich in einer Er-
weiterung von Handlungsspielräumen für die individuelle Lebensgestaltung aus-
drückt. Daraus wurde die Zunahme von Selbstverwirklichungsbestrebungen aller
Gesellschaftsmitglieder abgeleitet, wobei mit dieser Eigenverantwortlichkeit für die
eigene Lebensgestaltung wiederum neuartige Beschränkungen verbunden sind.
Dies führt insgesamt dazu, dass sich Individualisierung durch eine Doppeldeutig-
keit von Chancen und Risiken auszeichnet.
Ohne hier bereits auf die einzelnen Ausarbeitungen der Individualisierungs-
theoretiker einzugehen, kann festgestellt werden, dass sich sowohl die klassischen
als auch die modernen Individualisierungstheoretiker in ihren Analysen stets auf
aktuelle Entwicklungen der deutschen Gesellschaft konzentriert haben, um Indi-
vidualisierungsprozesse aufzudecken. Die Veränderungen, welche durch die Indi-
vidualisierungsschübe ausgelöst werden, können aber nur im Vergleich mit vorhe-
rigen Entwicklungsständen erfasst werden (Burkart 1993: 189). Eine systematische
Bezugnahme auf die historische Entwicklungsgeschichte der Entstehung des Indi-
viduums in Deutschland findet dabei kaum statt, so dass eine Bewertung des Gra-
des der tatsächlichen Freisetzungsmechanismen nicht leicht fällt. Die Ansätze zur
modernen Individualisierungstheorie zeichnen darüber hinaus oft ein Zerrbild der
traditionalen Gesellschaft, „(…) in der es nur strukturelle Abhängigkeiten und
soziale Kontrolle gab“ (ebd.). Des Weiteren lassen sich durchaus ganz aktuelle Ent-
wicklungen finden, die in unterschiedlichen zeitdiagnostischen Beiträgen, wie z.B.
über die Ökonomisierung (Pongratz/Voß 2003; Bröckling 2007) thematisiert wer-
den. Sie beschreiben Individualisierung überwiegend als Risiko, weil sie eine zu-
nehmende Fremdbestimmung der Individuen wahrnehmen. Diese aktuellen Er-
kenntnisse sind allerdings noch nicht in den Diskurs über Individualisierung einge-
bettet worden (vgl. Böhle/Weihrich 2009).
Deshalb ist es nötig, Individualisierung vorab als einen historischen Entwick-
lungsprozess nachzuzeichnen und mit diesen aktuellen Entwicklungen zu verbin-
den, bevor in eine Auseinandersetzung mit einzelnen Thesen zu den Veränderun-
gen innerhalb der unterschiedlichen Individualisierungsschübe eingestiegen wird.
Zu diesem Zweck forscht diese Arbeit zum einen nach Ursprüngen eines individu-
ellen Bewusstseins, und zum anderen werden insgesamt vier entscheidende „Indi-
vidualisierungsschübe“ (Elias 1997) identifiziert und in ihren Besonderheiten grob
skizziert.1 Ziel dieser Darstellung ist es, die jeweils wirksamen Freisetzungsme-
chanismen der Individuen und deren Folgen für die individuelle Lebensführung
bzw. für die Beschreibung einer individuellen Identität herauszustellen, um auf
diesem Fundament die verfügbaren Individualisierungstheorien auf ihren theoreti-
schen Erklärungsgehalt hin zu befragen.

1 Eine umfassende Darstellung der komplexen Zusammenhänge des Individualisierungsprozesses


vor der Thematisierung in den klassischen soziologischen Beiträgen findet sich z.B. bei R. van
Dülmen (1997, 2001)
Individualisierung und Optionenvielfalt 21

1.1 Die Entdeckung des Individuums

Der Individualisierungsprozess findet seinen Anfang in der Bewusstmachung von


Individualität, die eine Grenze zwischen dem eigenen Ich und dem Anderen mar-
kiert. Der Beginn der Thematisierung dieser Veränderung wird oft auf das Zeitalter
der Renaissance datiert (vgl. van Dülmen 1997). In der Malerei wurde zu dieser
Zeit das Einzelwesen in Form von Portraits aus der Allgemeinheit herausgehoben
(vgl. Burckhardt 1930; Elias 1997). Aber auch das Aufkommen des Selbstberichts
im Rahmen des Tagebuchschreibens oder des Verfassens von Autobiografien wird
als Ausdruck eines zunehmenden Ich-Bewusstseins verstanden.
Aus Perspektive der Religionsgeschichte entwickelt sich das individuelle Be-
wusstsein aus der Abgrenzung zum göttlichen Bewusstsein (vgl. Ohlig 2001). Die
Selbstbezogenheit der Menschen erwuchs aus der ursprünglichen Bezogenheit zu
Gott und fällt mit der Entstehung einzelner Gesellschaften zusammen, so dass die
„(…) Religionsgeschichte (...) Individualisierungsprozesse spiegelt, die über mehr
als zwei Millionen Jahre nur ganz allmählich verliefen und erst in den Hochkultu-
ren ab 3.000 v.Chr. festere Konturen zeigten.“ (Ohlig 2001: 11). Die eigentlichen,
d.h. entwicklungsgeschichtlich bedeutsamen Individualisierungsschübe lassen sich
anhand der Genese des Christentums aufzeigen.
Die Erweckung der christlichen Seele wird besonders anschaulich in den Be-
kenntnissen des Augustinus dokumentiert. Der Mensch tritt in eine Beziehung zu
Gott, wobei er sich selbst als Ich und Gott als Du erfährt. Als Abbild des Schöp-
fers wird er zu einer unvollständigen und damit sündigen Existenz. „Der Christ als
Sünder, der sein natürliches Wesen verlor, wird Mensch in einem geschichtlich-
einmaligen Sinn.“ (Jauss 1988: 242). Mit dieser Entdeckung des eigenen individu-
ellen Ichs und des davon getrennten göttlichen Dus geht ein Bewusstsein von
Handlungsautonomie einher, bei dem Gott als Wegweiser zu einem sittlich guten
Leben fungiert und an dem die Qualität der eigenen Taten gemessen wird. Das
christliche Ich, das mit jeder Tat Gott näher zu kommen sucht, ist folglich erstmals
als Subjekt zu verstehen. Es orientiert sich bei der Handlungswahl an religiösen
Pflichten und kann nur auf dieser Grundlage entscheiden, welche Handlungen als
richtig zu bewerten sind. Handlungen sind demnach dann als falsch zu bewerten,
wenn sie gegen religiöse Regeln verstoßen. Die nicht Gott gemäße Handlung, die
als bestrafenswerte Sünde gilt, wird an den Taten von einzelnen christlichen Sub-
jekten verdeutlicht. „Die lateinische Konzentration der christlichen Sache auf
Schuld und Rechtfertigung lenkt den Blick zwangsläufig auf das Individuum, das ja
die Schuld höchstpersönlich und – seit Augustinus – auch durch die Erbsünde auf
sich geladen hat.“ (Ohlig 2001:15).
Im sündigen Abweichen hebt sich der Einzelne aus der Masse der konform
Handelnden ab. Das Herausstellen der individuellen Handlung diente folglich dem
Zweck einer durch Gott gerechtfertigten Korrektur. Somit ist der Beginn der Frei-
22 Individualisierung und Optionenvielfalt

setzung des Individuums mit einer Disziplinierung zum „richtigen“ Verhalten


verbunden (vgl. van Dülmen 1997). Dabei ging es „(…) weniger um die Sünde als
um den Sünder, weniger um die Verfehlung als um die Absicht, weniger um die
Buße als um die Reue – eine Subjektivierung, eine Verinnerlichung des geistigen
Lebens (…).“ (Feistner 1996: 14). Der damit verbundene Appell an die individuelle
Verantwortung, die über das Gewissen und die Reue gesteuert war, bekam im 12.
Jahrhundert ein wesentlich stärkeres Gewicht.

„In einer Welt, in der Religiosität keine Privatangelegenheit, sondern eine grundlegende soziale
Lebensform darstellte, musste die zur Erforschung des Gewissens nötige Beschäftigung mit dem
eigenen Ich, sobald sie einmal für alle Gläubigen zur regelmäßigen Pflicht geworden war, ganz ge-
nerell eine Steigerung des Individualitätsgefühls mit sich bringen.“ (Dinzelbacher 2001: 41).

Die christliche Seele war demnach „als Einzelwesen immer zugleich Allegorie des
Allgemeinen...“ (Jauss 1988: 245).
Der Protestantismus betonte diese Tendenz noch stärker und machte erstmals
Eigenverantwortlichkeit und Gewissensfreiheit zu wichtigen Bestandteilen des
menschlichen Selbstverständnisses. Die Praktizierung des Glaubens wurde in Folge
einer erodierenden Vermittlungsfunktion durch die Kirche allmählich zur Privatsa-
che. Der Mensch war aufgefordert, sich einer ständigen Selbstschau zu unterzie-
hen, um sich der von Gott geforderten Sittlichkeit zu nähern. Jeder gläubige
Mensch galt dabei als berufen und musste sich dieser Berufung durch seine Taten
als würdig erweisen (vgl. Junge 2002: 34f.). Diese Haltung verknüpfte sich zugleich
mit einem allgemeinen Arbeitsethos und so stieg vor dem Hintergrund des Stre-
bens nach Sittlichkeit das eigennützige Gewinnstreben im Bereich des Handels an.
Um diese Tendenzen eines aufkeimenden negativen Individualismus einzudäm-
men, wurde die Orientierung am Gemeinwohl vermehrt als Tugend präsentiert
(vgl. Vollhardt 2001: 224f.). Luther hat durch seine Schriften über Geiz und Hab-
sucht wesentlich dazu beigetragen, dass eigennütziges Verhalten als Sünde dekla-
riert werden konnte.
Im Gegensatz dazu hat der Mediziner Bernard de Mandeville in der „Bienenfa-
bel“ (1714) Eigennutz als Grundlage menschlichen Handelns anerkannt. „Im Sinne
der neuzeitlichen Anthropologie bestimmte Mandeville den Trieb zur Selbsterhal-
tung als ein Naturgesetz, dem der Mensch auf allen gesellschaftlichen Entwick-
lungsstufen unterworfen bleibt.“ (Vollhardt 2001: 230). Er argumentierte mit der
Vorstellung, dass Individuen, selbst wenn sie im Sinne der Allgemeinheit handeln,
nur nach Bestätigung für ihr eigenes Selbstwertgefühl suchen. Dies wird dann als
Kriterium zur Unterscheidung zwischen gottlosen und den von Gott Auserwählten
benutzt. Nur

„(…) die von ‚Gott geweihten Christen‘ sind (...) dazu fähig, den Instinkt der Selbstliebe in sich
abzutöten, wodurch sie aber nicht mehr in den ‚natürlichen Verhältnissen‘ leben, unter denen sich
Individualisierung und Optionenvielfalt 23

Menschen zivilisieren und für die paradoxerweise gilt, dass aus privaten Lastern öffentliche Wohl-
taten folgen.“ (Vollhardt 2001: 232).

Mandeville zeigte damit, dass die Individuen gerade durch diesen ihnen innewoh-
nenden Eigennutz berechenbarer werden und dadurch auch besser gesteuert wer-
den können. Diese Vorstellung bildete den Ausgangspunkt für eine Entwicklung,
bei der die Entdeckung der Individualität und Selbstverantwortung in umfassende
Maßnahmen der normativen Regelung des Verhaltens mündete. „Um feststellen zu
können, wer unter den Lebenden zur Schar der Auserwählten gehörte, waren Kri-
terien erforderlich, die es jedem ermöglichten, sich seines persönlichen Gnaden-
standes zu versichern.“ (Veith 2001: 110).
Neben der Gemeinwohlorientierung wurde im Protestantismus Arbeit als Kri-
terium für die Bestimmung eines sündenfreien Lebens definiert. Luther hat Arbeit
als „höchsten Inhalt der sittlichen Selbstbetätigung“ bezeichnet und der Reformer
Johann Calvin verband mit Arbeit die Aufgabe der Erlangung von „Heilsgewiss-
heit“ (Grabas 2001: 336). Mit der Festlegung dieser Verflechtung von Sittlichkeit
mit Tüchtigkeit verbanden sich die Anforderungen der religiösen Pflichterfüllung
mit immer konkreteren individuellen Handlungen, wodurch die „richtige“ private
Lebensführung insgesamt zu einem Garanten für ein sündenfreies Leben wurde
und damit zur Seligkeit führen konnte. Dies spiegelt sich in der Entwicklung von
Benimmbüchern, wie z.B. „Über den Umgang mit Menschen“ von Adolph Frei-
herr von Knigge (Knigge 1788). Dem individuellen Handeln werden auf diese
Weise weitere, die Gemeinschaft unterstützende Regeln als Tugenden zugeschrie-
ben. Hierzu gehört auch die Ausbildung einer stabilen psychischen Struktur und
kontrollierter Affekte, um das Individuum in eine Normenstruktur einzupassen
und Orientierung für das tägliche Leben zu geben (vgl. Junge 2002: 33f).
Diese kurze historische Darstellung der Entwicklung eines individuellen Be-
wusstseins anhand religionsgeschichtlicher Aspekte verdeutlicht, dass der Beginn
der Individualisierung von starken normativen Reglementierungen begleitet war. In
seiner Einzigartigkeit war der Mensch unvollkommen. Allerdings kann festgehalten
werden, dass das Individuum erstmals im Protestantismus als ein sich selbst reflek-
tierender, eigenverantwortlicher und eigeninitiativ handelnder Akteur in einem
positiven Sinne aus der Allgemeinheit herausgehoben wurde, was dem heutigen
Verständnis eines Individuums nahe kommt.

1.2 Individualisierungsschübe

Eine wirkliche Bewusstmachung der individuellen Autonomie setzt aber erst all-
mählich im 17. Jahrhundert mit dem Zeitalter der Aufklärung ein. Dieses ist mit
der Ausbreitung bürgerlicher Wertideen verbunden, wodurch Individualisierung
24 Individualisierung und Optionenvielfalt

einen wesentlichen Schritt vorangetrieben wird. Freiheit und innere Unabhängig-


keit lösen das Individuum Stück für Stück aus der kirchlichen Fremdbestimmung.
Selbstverwirklichung soll nun nicht mehr aus Pflichterfüllung und religiösen Ge-
boten erlangt werden, sondern aus Bildung und Selbsterziehung. Das Ich wird zum
Zentralbegriff,

„(…) indem einerseits das ganze Dasein als schöpferische Vorstellung des bewussten Ich auftritt,
andererseits die Persönlichkeit doch erst zur Aufgabe wird, das Durchsetzen des reinen Ich oder
auch der Individualität als der absolute sittliche Anspruch, ja als das metaphysische Weltziel er-
scheint.“ (Simmel 1987: 153).

Trotzdem werden die Taten und Fähigkeiten des Individuums der Befolgung all-
gemeiner Gesetze untergeordnet. Wichtig wird nun die Freiwilligkeit, mit der sich
Individuen gesellschaftlichen Regeln beugen. „Was die Privatleute als solche den-
ken und tun, soll in keiner Weise durch soziale Zwänge induziert sein, sondern
ganz ihren allgemein menschlichen Dispositionen und ihrer individuellen Eigen-
verantwortung (…) entspringen.“ (Reitz 2003: 17). Diese Sichtweise führte insge-
samt am Ende des 18. Jahrhunderts zur Durchsetzung der Meinung, dass nur das
individuelle Subjekt mit seinen Idealen für das Wohl der Gemeinschaft, die Gesell-
schaft auf Dauer stabilisieren und gesellschaftliche Ordnung herstellen kann (vgl.
Veith 2001: 35).
Willhelm von Humboldt baute diese Vorstellung vom autonomen Individuum
weiter aus. Autonomie wird durch ihn zum Selbstzweck. Er vertritt in seinen Wer-
ken die These vom ursprünglichen Ich, das sich jeder Einflussnahme von außen
entzieht. Dieser individuelle Kern ermöglicht subjektive Freiheit und das höchste
Ziel des Menschen ist die Entfaltung und Bündelung all seiner Fähigkeiten.

„Das Individuum wird als einmaliges, einzigartiges, am Ich bewusst werdendes, als Mensch reali-
siertes Weltverhältnis begriffen; und die Welt ist eben das, was im Individuum selbsttätig zur Dar-
stellung gebracht wird. Seitdem ist es unmöglich, das Individuum als Teil eines Ganzen, als Teil
der Gesellschaft aufzufassen. Was immer das Individuum aus sich selbst macht und wie immer
Gesellschaft dabei mitspielt: es hat seinen Standort in sich selbst und außerhalb der Gesellschaft.“
(Luhmann 1993: 212).

Insgesamt schlägt sich die durch das Bürgertum entwickelte Form von Individua-
lismus in einem partikularistischen Verständnis des Individuums nieder, das auf
Selbsterziehung und innere Unabhängigkeit zielt (vgl. Hardtwig 1984: 31).
Am Anfang des 20. Jahrhunderts, zu Beginn der Entwicklung einer kapitalisti-
schen Gesellschaftsform, münden diese Prozesse in einen zweiten Individualisie-
rungsschub, der vor allem durch die Industrialisierung hervorgerufen wird (vgl.
Junge 2002: 38). Der eintretende Rationalisierungsprozess leitet eine Entwertung
der religiös geprägten Welt ein und nimmt dem Einzelnen den Glauben an ein
schicksalhaft vorbestimmtes Leben. Während sich Individuation bis jetzt vor allem
Individualisierung und Optionenvielfalt 25

durch Bildung und Arbeit innerhalb ständischer Schranken vollzieht, lockert sich
mit Zunahme der Säkularisierung diese Begrenzung und führt die Autonomie des
Einzelnen darauf zurück, aus eigenem Antrieb nach etwas zu streben und Ansprü-
che zu äußern.

„Das Christentum hat seine Gläubigkeit als Empfänger eines Heilszuspruches definiert; dies
schloss das Anspruchsdenken aus. Seit der mündige Mensch seine Geschicke in die eigene Hand
genommen hat, sind Heilsversprechen und Gnadenzuspruch dem Anspruch des Menschen gewi-
chen.“ (Höhler 1979: 63f.).

Mit der Industrialisierung entstand die marktvermittelte und auf Einkommen fi-
xierte Lohnarbeit und mit ihr eine Konzentration auf Leistung. Die Bestrebungen
des Bürgertums führten zu einer Befreiung des Marktes von ständischen und staat-
lichen Regulierungen (vgl. Lepsius 1987: 89). Aus dieser Struktur erwächst der
Wunsch nach sozialem Aufstieg und ermöglicht die Ablösung aus Statuspositionen,
die bisher durch die Geburt festgeschrieben waren (vgl. Grabas 2001: 331). Mit
diesem Stellenwert von Arbeit erhöht sich auch die Konkurrenz. Somit hatte Ar-
beit fortan ein noch größeres identitätsstiftendes Potential als zu Zeiten des Protes-
tantismus. Arbeit, Leistung und Selbstverwirklichung gehören von nun an zu-
sammen.
Diese Entwicklungsprozesse gehen nach dem zweiten Weltkrieg in eine dritte
Individualisierungsphase über, die den Zeitraum der 1950er Jahre bis zum Ende
der 1980er Jahre der BRD umfasst. Mit dem Wirtschaftswunder wurde ein Mas-
senwohlstand erreicht, auf dessen Grundlage Selbstverwirklichung für immer mehr
Menschen möglich wurde. Auf diesem Fundament an Möglichkeiten und Sicher-
heiten beginnt sich der Individualisierungsprozess in der Hinsicht zu verstärken,
dass die Forderungen, die das Individuum für sich und seine persönliche Selbst-
verwirklichung äußert, zum politischen Programm werden. Individualisierung wird
hier zu einer aktiven Befreiung und drückt sich in der zunehmenden Infragestel-
lung traditioneller Orientierungen aus.
Diese Freisetzung kann auf mehreren Ebenen beobachtet werden und lässt
sich in den Bemühungen der 1968er Bewegung und ihrem Aufbegehren gegen
gesellschaftliche Konventionen und institutionelle Normierung ablesen. Vor dem
Hintergrund der unaufgearbeiteten Erfahrungen der älteren Generation mit dem
autoritären Regime des NS-Zeit entwickelte sich eine Generation, die jegliche Au-
torität, sei es innerhalb der Politik, in den Betrieben oder Schulen und Hochschu-
len hinterfragte (vgl. Reichardt 2008: 76). In Verbindung damit steht ein grundle-
gender Wandel von der Haltung einer beruflichen Pflichterfüllung zur Freizeitori-
entierung, einer Zunahme an Bildungspartizipation auch von bildungsferneren
Schichten und ein neues Interesse an politischer Partizipation. Die neue Freizeito-
rientierung drückt sich in einem neuen Konsumverhalten aus. Die 1960er Jahre
26 Individualisierung und Optionenvielfalt

brachten eine Konsumwelle in den Bereichen Verkehr, Reisen und Wohnen hervor
und markierten den Wandel zum Wohlstand (vgl. ebd.: 75).
Die Kritik der 1968er Bewegung mündete insgesamt in erweiterten Autono-
miespielräumen und einer vergrößerten Selbstbestimmung des Lebens und steht
damit für einen Wertewandel von einer materialistischen zu einer postmaterialisti-
schen Haltung (vgl. Inglehart 1977). Dieser Wandel drückte sich z.B. in veränder-
ten Erziehungsidealen aus, bei denen Gehorsam und Unterordnung zugunsten von
Selbstständigkeit und freiem Willen verdrängt wurden (vgl. Klages 1985). Auf ge-
sellschaftlicher Ebene war diese Entwicklung von einer weiteren umfassenden Sä-
kularisierung begleitet. Die Kirchenmitgliedschaften sanken in den Jahren von 1963
bis 1973 kontinuierlich ab (vgl. Pittkowski 1990: 172f.). Darüber hinaus gewannen
nichteheliche Lebensgemeinschaften zunehmend an Akzeptanz. Es kam zu einem
Wandel der Sexualmoral, dem sich auch die Schwulenbewegung anschloss und zur
Durchsetzung alternativer Lebensstile – vor allem in den höheren Bildungsschich-
ten – führte. Gleichzeitig wurde die Emanzipation der Frau durch die Frau-
enbewegung vorangetrieben, die viele Freiheiten z.B. die Abschaffung des §218
und die Gleichstellung im Ehe- und Familienrecht erkämpfte (vgl. Reichardt 2008:
80). Zusätzlich erweiterten sich die Möglichkeiten für sozialen Aufstieg enorm
durch die Bildungsexpansion, die in den 1970er Jahren durch Schul- und Hoch-
schulreformen möglich gemacht wurde. Durch Bildung konnten neue Wege der
Zielerreichung eingeschlagen werden, die über Schichtgrenzen hinausgingen. Die
Chancen auf eine bessere gesellschaftliche Position standen dadurch wesentlich
besser.
Darüber hinaus begleitete eine Reihe rechtlicher Sicherungssysteme diese Indi-
vidualisierungswelle auf sozialstaatlicher Ebene. Es kam unter anderem zur Einfüh-
rung des Kinder- und Erziehungsgeldes, der Sozialhilfe und der betrieblichen Al-
tersvorsorge. Der wohlfahrtsstaatlich regulierte kapitalistische Staat entwickelte sich
zu einem mehr Chancengleichheit ermöglichenden Vorsorgestaat (vgl. ebd.: 85).
Trotz des 1974 durch die Erdölkrise ausgelösten wirtschaftlichen Abschwungs
trugen die Selbstverwirklichungsansprüche der Bürger in der Bundesrepublik keine
nachhaltigen Schäden davon. Vielmehr löste sie eine Erneuerung der Arbeits-
marktpolitik aus, wodurch der Wachstumskurs bis zur zweiten Erdölkrise 1980
weiter verfolgt werden konnte. Danach stieg die Arbeitslosenzahl jedoch in kurzer
Zeit – bis 1985 – auf über zwei Millionen an und das Beschäftigungsniveau fiel
überproportional stark ab. Man sprach in der Bundesrepublik von einer Zwei-
Drittel-Gesellschaft und musste sich mit dem Umstand von Dauerarbeitslosigkeit
und prekären Beschäftigungsverhältnissen auseinandersetzen (vgl. Fach 2008: 102).
Diese Entwicklungen führten allmählich weg von einem auf Sicherheit und Indivi-
dualismus fußendem Gesellschaftsmodell und bewirkten einen Einstellungswandel
von einer Anspruchs- zu einer Leistungsgerechtigkeit.
Individualisierung und Optionenvielfalt 27

Der vierte und bisher letzte Individualisierungsschub entwickelt sich aus den
Folgen der neoliberalen Wende und umfasst den Zeitraum ab den 1990er Jahren
bis heute. Er drückt sich einerseits in weiter steigenden Selbstverwirklichungsopti-
onen aus, die zu einer neuen Form der strategischen Planung des Lebens geführt
haben, anderseits in einer Verschmelzung dieses Freiheitsempfindens mit neuen
strukturell bedingten Begrenzungen. Der Neoliberalismus ging von politischer
Seite vor allem mit einem Abbau von Sicherheiten für Arbeitnehmer im berufli-
chen Bereich sowie einer grundsätzlichen Neuorganisation des Sozialstaates einher
und führte zur Steigerung der individuell wahrgenommenen Risiken (vgl. Butter-
wegge/Lösch/Ptak 2007).
Die neue Form von Individualisierung zeigt sich zuerst am deutlichsten im Be-
reich der beruflichen Tätigkeiten. Hier ist in den letzten beiden Jahrzehnten ein
tiefgreifender struktureller Wandel zu beobachten. Die produzierenden, material-
bezogenen Tätigkeiten wurden von informationsverarbeitenden, wissensbasierten
Arbeitsformen abgelöst. Innerhalb der „kreativen Berufe“ (vgl. Florida 2002) zeig-
ten sich neue Selbstverwirklichungstendenzen, bei denen es zu einer erneuten Ver-
zahnung von Individualisierung mit dem Leistungsethos kam. Arbeitnehmer erhiel-
ten mehr Möglichkeiten zur Selbständigkeit und Eigeninitiative. Die Arbeitszeiten
wurden flexibler gestaltet und führten zu steigenden privaten Koordinationsanfor-
derungen im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

„Die Kreative Klasse ist die normensetzende Klasse unserer Zeit. Aber ihre Normen sind anders:
Individualität, Selbstausdruck und Offenheit für Verschiedenartigkeit werden der Homogenität,
Konformität und dem ‚Fitting in‘ vorgezogen, die für das Zeitalter der Organisationen kennzeich-
nend waren.“ (Goehler 2006: 115).

Es handelt sich um diejenigen, die aus der Optionenvielfalt ihren Profit ziehen,
indem sie aus der Unsicherheit ein Leben im Ungebundensein machen (vgl. Frie-
be/Lobo 2006). Sie reagieren mit eigenen Strategien auf die Globalisierung und
Flexibilisierung des Marktes.
Im Laufe der letzten Jahre führte diese Entwicklung zu einer wachsenden Ver-
schränkung von Individualismus und marktwirtschaftlichem Erfolgsethos, was in
der soziologischen Literatur unter dem Stichwort Ökonomisierung diskutiert wird.
Diese Dynamiken drücken sich darin aus, dass es bei der Bewertung von Leistun-
gen und beruflichen Zielsetzungen zu einer wachsenden Orientierung am wirt-
schaftlichen Nutzen kommt. Dies führt zu einer Begrenzung beruflich verankerter
Selbstverwirklichungsstrategien durch wirtschaftliche Erfolgskriterien.

„Die Freiheit des Individuums, eigenständig Ziele festzulegen, und geeignete Wege ihrer Umset-
zung zu suchen, ist beschränkt auf die Sphäre des Marktes, in der es sich als Marktteilnehmer zwi-
schen der Rolle als Konsument und Produzent bewegen kann.“ (Butterwegge/Lösch/Ptak 2007:
58).
28 Individualisierung und Optionenvielfalt

Vor diesem Hintergrund verstärkt sich wiederum das Konkurrenzverhalten der


Individuen untereinander, deren Selbstverwirklichungsbestrebungen sich nunmehr
am Prinzip Erfolg durch Leistung orientierten. Bis Mitte der 1980er Jahre war
sozialer Aufstieg noch eng an Bildungstitel gekoppelt, verlor aber seitdem kontinu-
ierlich an symbolischem Wert.

„Mit dem relativen Bedeutungsverlust von Bildungstiteln verschiebt sich gleichzeitig der Maßstab,
der an Bildungstitel selbst angelegt wird. Nicht mehr der bloße Besitz, sondern der ökonomische
Umsetzungserfolg, das, was an monetären Profiten aus dem Titel herausgeschlagen wurde, liefert
nunmehr den Rohstoff für die augenblicklichen symbolischen Auseinandersetzungen.“ (Krae-
mer/Bittlingmayer 2001: 325).

Im Zuge dieser Entwicklungen erhöht sich der Grad an Mobilität weiter – vor
allem für die Individuen der mittleren und höheren Schichten – und führt zu häu-
figeren beruflich bedingten Wohnortswechseln und damit verbunden zu sozialen
Netzwerkwechseln bzw. -neueinbindungen. Es treffen immer unterschiedlichere
Individuen aufeinander. Insgesamt erhöht sich die Verunsicherung und es entwi-
ckelt sich Zukunftsangst, die dazu führt, dass immer zielstrebiger an Lebensent-
würfen gebastelt wird, um die Risiken zu mindern. Individualisierung drückt sich
auf dieser Grundlage neuer Unsicherheiten immer häufiger in der Attitüde der
Selbstverbesserung aus, wodurch Selbstverwirklichung sich auch immer häufiger an
Kriterien der Nützlichkeit und des Erfolges ausrichtet (vgl. Honneth 2005).
Diese neue Strategisierung des Lebens zeigt sich darüber hinaus in einer verän-
derten Einstellung zur Erziehung von Kindern, bei der die Förderung möglicher
Talente immer früher beginnt und sich vor allem in mittleren und höheren Bil-
dungsschichten zu einem regelrechten Talentmanagement entwickelt. Die Kinder
werden wesentlich früher und gezielter an die Auseinandersetzung mit den eigenen
Fähigkeiten und dem Ernstnehmen der eigenen Talente herangeführt. Das schlug
sich 2007 in der Verabschiedung des Kinderbildungsgesetztes in Nordrhein-
Westfahlen nieder, in dem eine gezieltere, intensivere und individuelle Förderung
als Erziehungsaufgabe für die Kindergärten gefordert wird (vgl. Breuksch/Engel-
berg 2009: 67). Das führt dazu, dass Kinder immer früher erwachsene Verhaltens-
weisen, wie Affektkontrolle, Disziplin und Autonomie an den Tag legen (vgl.
Buchmann 1989; Elias 1987; Fölling-Albers/Hopf 1995).
Darüber hinaus zeigen sich aktuell immer stärker werdende Tendenzen zur
Selbstexpertisierung, die vor allem durch die Nutzung des Internets möglich ge-
macht wurde. Auf diese Weise treten die Individuen mit veränderten Vor-
aussetzungen in ein Gespräch mit Experten wie Ärzten, Anwälten, Lehrern, Erzie-
hern, Therapeuten usw. Das ursprüngliche Laien-Experten Gespräch verändert
sich und erfordert auf Seiten der bisherigen Experten eine neue Form der Recht-
fertigung für das professionelle Handeln. Dadurch entwickeln sich diese Bezie-
hungen zu Dienstleistungsbeziehungen, bei denen die Laien als kritische Konsu-
Individualisierung und Optionenvielfalt 29

menten die angebotenen Dienstleistungen prüfen und auf ihre Qualität hin beurtei-
len (vgl. Meuser 2005).
In dieser Phase der Individualisierung nutzen die Individuen verstärkt Mög-
lichkeiten des Internets zur Selbstinszenierung, wodurch es einen wichtigen Platz in
der Identitätsentwicklung einnimmt. So kann man sich einer Online-Gemeinschaft
präsentieren und bewirkt auf diese Weise eine verstärkte Auseinandersetzung mit
dem eigenen Selbst. Was in herkömmlichen Interaktionsbeziehungen immer nur
ausschnitthaft gelingt, kann hier entweder zu einem Ganzen zusammengefügt
werden oder neue Facetten der Persönlichkeit zum Ausdruck bringen. Der Um-
gang damit findet vor allem bei Jugendlichen auf einer spielerischen Ebene statt.
Dabei werden Phantasien präsentiert, die die Jugendlichen selbst nicht so ernst
nehmen oder zur Verwirklichung bringen wollen (Mienert 2008: 84). Neben der
klassischen Profilierung auf diversen Social-Network-Seiten oder privat genutzten
Homepages können die unterschiedlichsten, meist kreativen Aspekte präsentiert
werden. Die angebotenen Plattformen werden für das Verfassen von Video-
tagebüchern und Bloggs, aber auch für das Hochladen von privat aufgenommener
Musik, Zeichnungen, Photos etc. genutzt, wodurch diese Beschäftigungen einen
künstlerischen Anspruch bekommen. Die Möglichkeiten, Anerkennung für diese
kreativen Tätigkeiten zu bekommen, sind groß und hängen wiederum von der
Intensität des Werbebemühens des Nutzers ab. So kann es nicht zuletzt zum Auf-
bau eines Images kommen, mit dem sich Geld verdienen lässt. Die Möglichkeiten
Berühmtheit zu erlangen, sind dabei vielfältig, beispielsweise bei journalistisch
arbeitenden Bloggern oder Inszenierungen unterschiedlicher Art auf Youtube.
Die hier skizzierten vier Phasen der Individualisierung zeigen die Entwicklung
von einem Gesellschaftsmitglied, das anfangs anhand seiner Schuldfähigkeit zu
einem Individuum gemacht wird und dessen Eigenschaften in immer umfangrei-
cherem Maße ernst genommen werden. Die Darstellung der Individualisierung
beginnt demnach mit der Perspektive auf Individualität unter Berücksichtigung von
gesellschaftlich oder religiös initiierten Verhaltensmodifikationen, die der Sicherung
gesellschaftlicher Ordnung dienen. Erst zu Zeiten der Aufklärung und unter dem
Einfluss des Bürgertums wird es zu einem Individuum, das selbstbewusst nach
einem selbstbestimmten Leben verlangt und sich sozialen Zwängen zunehmend
entzieht. Historisch gesehen befindet es sich seit der Entwicklung zur Wohlstands-
gesellschaft auf dem Weg zur kontinuierlichen Ausweitung seiner Autonomie, was
sich gleichzeitig in einer Zunahme individueller Selbstverantwortung in früher
rechtlich geregelten Bereichen ausdrückt. Für das Individuum ist „(…) eine Unzahl
von Dingen, die früher rechtlich oder durch soziale Normierung geregelt waren,
individuell entscheidbar geworden und in die Sphäre rechtsfreier und gesellschaft-
lich unverpflichteter Privatheit gerückt.“ (Klages 2002: 15).
Momentan ist Individualisierung durch neue gesellschaftliche Zwänge gekenn-
zeichnet, die für viele in erster Linie marktwirtschaftliche Zwänge sind. Sie
30 Individualisierung und Optionenvielfalt

schränkt die zuvor erarbeitete Autonomie der Individuen wieder ein, wobei dies
nicht unbedingt wahrgenommen wird, weil die Zwänge unter dem Deckmantel der
Eigenverantwortlichkeit an die Individuen herangetragen werden.
Das grundlegende Kennzeichnen des hier nachgezeichneten Individuations-
prozesses kann vor diesem Hintergrund nun folgendermaßen definiert werden:

„Individualität bzw. Bewusstsein von der eigenen Person ist keine Naturanlage, sondern das Pro-
dukt einer sozialen ‚Erziehung‘, wobei die zunächst äußerlichen Normen in einem längeren Pro-
zess, der nicht auf die frühe Neuzeit beschränkt blieb, alle sozialen Schichten erfasste und nicht
ohne Brüche verlief, ‚verinnerlicht‘ wurden.“ (Faulstich-Wieland 2000: 36).

Dabei hängt es davon ab, welche Normen im Sinne eines kulturellen Leitbildes
aktuell Geltung besitzen. Um zu verstehen, welche Konsequenzen dies für das
Bewusstsein von Individualität bei den einzelnen Individuen hat, müssen diese
Leitbilder Berücksichtigung in der Analyse finden. Der Zusammenhang zwischen
Autonomie und individueller Lebensführung ist im Rahmen der Aufklärung ent-
standen, weshalb die aktuellen Entwicklungen auch erst als eine Einschränkung der
autonomen Lebensführung beschrieben werden können. Der Individualisierungs-
prozess kann insgesamt als ein Prozess bezeichnet werden, bei dem die Individuen
zwischen Befreiungsstrategien und gesellschaftlichen Beschränkungsmaßnahmen
hin- und herpendeln.

1.2.1 Individualisierung als Wechselverhältnis von gesellschaftlichen und individuellen


Forderungen

Neben diesem Verständnis von Individualisierung als sozialer Erziehung kann mit
einer abstrakteren Perspektive ein anderes Bindeglied offen gelegt werden. Die
einzelnen Individualisierungsschübe lassen sich in Phasen einteilen, die entweder
stärker durch individuelle Forderungen oder durch gesellschaftliche Forderungen
geprägt sind. Gleichzeitig beeinflussen sich beide auf jeweils eigentümliche Weise
und kennzeichnen eine grundsätzliche Ambivalenz zwischen Selbst- und Fremdbe-
stimmung innerhalb des Individualisierungsprozesses. Die Darstellung der Ent-
wicklung des individuellen Bewusstseins und den darauf einsetzenden Individuali-
sierungsschüben zeigt, dass der Mensch nur deshalb zum Individuum wurde, weil
Forderungen an ihn gestellt wurden. Aus christlicher Perspektive wurde das Indivi-
duum zu einem aus der Masse aufscheinenden Subjekt mit einem eigenen Gewis-
sen, einer eigenen Moral, an das im Namen Gottes appelliert werden konnte. Indi-
viduum zu sein, hieß zu wissen, dass man für seine Taten selbst verantwortlich war
und dass man für Abweichungen von gängigen Normen und Sitten bestraft wurde.
So entwickelte sich allmählich eine Vorstellung von Selbstverantwortung, die sich
in Taten ausdrückte. Diese wurden anhand unterschiedlicher Kriterien als sittlich
Individualisierung und Optionenvielfalt 31

gut oder sündhaft bezeichnet. Dies erzeugte einen Sozialisationseffekt, der die
Handlungsmotive der Individuen allmählich veränderte. „Was viele ursprünglich
unterließen, weil es verboten war, mieden sie später mehr oder weniger aus freien
Stücken. Die anerzogene Einsicht in das richtige gesellschaftliche Verhalten steu-
erte das eigene Leben.“ (Faulstich-Wieland 2000: 62).
Der Wandel zu einer wirklichen Autonomie der Lebensführung zeigt sich spä-
ter darin, selbst Forderungen zu stellen, die der eigenen Selbstverwirklichung die-
nen. Dies war aber wiederum nur möglich durch die Verklammerung mit Normen
des protestantischen Arbeitsethos und des in der Industrialisierung aufkommenden
Kapitalismus. Individuen, die sich durch Leistung voneinander abgrenzten, kurbel-
ten die Wirtschaft an und gründeten ihr Streben nach Individuation weiterhin auf
gesellschaftlich nützliche Prinzipien. „Deshalb ist der Identitätsdiskurs historisch
ein Diskurs des Bürgertums, auch ein protestantischer Diskurs, ein Diskurs des
Abweichens – und er meint doch nur (An)Passung.“ (Nassehi 2004a: 32).
Erst im dritten Individualisierungsschub drückten sich Forderungen nach
Selbstverwirklichung in der Art aus, dass Freiheiten auf breiter gesellschaftlicher
Ebene für die Lebensführung errungen wurden.

„Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, gegen die Dominanz der Gesellschaft den Anspruch
des Individuums auf eigenes Denken und Handeln zu erheben. Die Geschichte der Individualisie-
rung ist der unmerkliche Kampf, gegenüber kollektiven Verpflichtungen und traditionellen Orien-
tierungen individuelle Vorstellungen von den richtigen Zielen und Mitteln des Handelns durchzu-
setzen.“ (Abels 2006: 45).

Dies war nur auf Grundlage einer Wohlstandsgesellschaft möglich. Auf diesem
Boden kam es zu einem tiefgreifenden Wertewandel. „Trotzdem die Individualität
erst auf einem bestimmten Niveau der sozialen Differenzierung möglich wird und
somit die Gesellschaft erst die Entfaltung der Individualität möglich macht, wird
diese vor allem ‚gegen’ die Gesellschaft gewonnen und behauptet.“ (Lenz 1998:
208).
Gleichzeitig verkoppelt sich Selbstverwirklichung zu dieser Zeit aber auch mit
Konsumhandlungen, die den Individuen zwar mehr Möglichkeiten zum Ausdruck
ihrer Individualität versprachen, aber ebenfalls wirtschaftlich gesehen nützlich
waren. Die Förderung eines individualisierten Konsums durch Werbung und der
damit einhergehenden Verschmelzung von individueller Selbstverwirklichung und
Konsum ist vor allem von Seiten der kritischen Theorie als Einschränkung wirkli-
cher Autonomie betrachtet worden, da es so zur Entwicklung von falschen, d.h.
passenden Bedürfnissen komme (vgl. Horkheimer/Adorno 1947). Auch hier zei-
gen sich Tendenzen für eine Verschmelzung von gesellschaftlichen und individu-
ellen Forderungen.
Das heutige individualisierte Individuum ist nun mit Forderungen konfron-
tiert, die sich aus sozialstaatlichen und marktwirtschaftlichen Zwängen ergeben.
32 Individualisierung und Optionenvielfalt

Allerdings verkompliziert sich die Ambivalenz zwischen Freisetzung und Be-


schränkung hier derart, als die Erfüllung dieser neuen Soll-Normen nur über den
Umweg des selbst Gewollten gelingen kann und muss. Hierbei ist Individualität
bereits Grundlage jeglicher Inbezugsetzung von Individuum und Gesellschaft. Das
Individuum soll sich eigeninitiativ um seine Selbstverwirklichung sorgen und dabei
erfolgreich sein. Äußere Zwänge werden infolgedessen zu inneren Handlungszwän-
gen umdefiniert. Diese Mechanismen kennzeichnen eine neue Qualität von Indivi-
dualisierung, die im Rahmen der Individualisierungstheorie noch nicht thematisiert
wurde. Die genauen Zusammenhänge ergeben sich erst durch die Perspektive des
unter diesen Bedingungen handelnden Individuums, das sich mit seinen Ansprü-
chen selbst verwirklicht.
Aus dieser Perspektive ist Individualisierung also ein Prozess, der eine Ent-
wicklungslinie von Ansprüchen zeigt. Zuerst entstehen Ansprüche religiöser oder
später gesellschaftlicher Institutionen an das Individuum. Daraufhin setzt eine
Phase ein, in der individuelle Ansprüche an die Außenwelt gerichtet werden, die
Ausdruck einer autonomen Selbstverwirklichung sind. Aktuell finden sich wieder
Tendenzen gesellschaftlicher Ansprüche an das Leistungs- und Erfolgsstreben der
Individuen.
Bevor mit dieser Perspektive weitergearbeitet wird, um die Entwicklung indi-
vidueller Ansprüche unter den Bedingungen der Individualisierung theoretisch zu
fassen, sollen im Folgenden die soziologischen Individualisierungstheorien darauf-
hin untersucht werden, welche Erklärungen sie für den Individualisierungsprozess
gefunden haben, d.h. welche Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Struk-
turveränderungen und individuellem Handeln aufgedeckt wurden. Dazu wird zum
einen ein Blick auf klassische Individualisierungstheoretiker geworfen, die sich vor
allem mit dem hier dargestellten zweiten Individualisierungsschub auseinander-
setzten und zum anderen auf die moderne Theorie zur Individualisierung, die ihren
Fokus auf den dritten Individualisierungsschub legt.

1.3 Die klassische Individualisierungstheorie

Die Thematisierung des zweiten Individualisierungsschubes als gesellschaftlichem


Modernisierungsprozess beschäftigte Theoretiker Ende des 19. Jahrhunderts und
Anfang des 20. Jahrhunderts. Wie dargestellt, geschah dies vor dem Hintergrund
des Wandels zur Industriegesellschaft, durch den eine Vielzahl von Änderungen im
Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sichtbar wurden. Klassische soziologi-
sche Ansätze2 dieser Zeit konzentrierten sich insgesamt auf die Erfassung der

2 Flavia Kippele hat in ihrer Auseinandersetzung mit Individualisierungsprozessen die Ansätze von
Karl Marx und Friedrich Engels, Ferdinand Tönnies, Emile Durkheim, Max Weber, Georg Sim-
Individualisierung und Optionenvielfalt 33

nachlassenden Prägekraft gesellschaftlicher Normen und die Analyse der sich auf
dieser Grundlage veränderten zwischenmenschlichen Beziehungsformen. Im Mit-
telpunkt steht die Vorstellung, dass die Beziehungen sachlicher, unverbindlicher,
äußerlicher und allgemein ferner geworden sind. Darüber hinaus stellen die Theo-
retiker mehr Selbstverantwortung des Einzelnen bei seinen Handlungen und eine
gestiegene Eigeninitiative fest. Des Weiteren wird der Verlust traditioneller hand-
lungsleitender Wertorientierungen als Ursache dafür angesehen, dass die gesell-
schaftliche Kontrolle der individuellen Handlungen abnahm.
Die Bewertungen des so betrachteten Individualisierungsprozesses können als
positiv, negativ oder ambivalent eingestuft werden (vgl. Schroer 2000). Vertreter
der positiven Bewertung unter den Klassikern sind sowohl Ferdinand Tönnies als
auch Emile Durkheim. Negativ betrachten Karl Marx und Max Weber die Indivi-
dualisierung. Georg Simmel und Norbert Elias bewerten die Auswirkungen von
Individualisierung als ambivalent. Beispielhaft für die drei Deutungen werden hier
nur die Positionen von Durkheim, Weber und Simmel dargestellt.
Emile Durkheim betrachtet als erster Soziologe systematisch Individualisie-
rungsprozesse in der französischen Gesellschaft. Individualisierung zeigt sich für
ihn vor allem in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die aus dem Wandel von
einer segmentären zu einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft resultiert (vgl.
Durkheim 1977). In dieser Gesellschaftsform wird es möglich, dass Funktionen
sich ausdifferenzieren und Individuen in verschiedener Weise in die Gesellschaft
integriert werden. Der Einzelne ist mit der Gesellschaft auf eine andere Art ver-
knüpft als früher. Er wird beweglicher und autonomer. Im Aufeinandertreffen
machen die Individuen Erfahrungen der Unterschiedlichkeit. Die Kenntnis anderer
Lebensformen wird somit erweitert, Anerkennungsverhältnisse verändern sich und
brechen auch traditionelle Wertsysteme auf (vgl. van Dülmen 2001: 3). Auf diese
Weise ändert sich das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Soziale
Kontrollmechanismen verschieben sich zugunsten der Akzeptanz individueller Un-
terschiede. Gefordert ist nicht mehr die Gleichheit aller Bürger, sondern eine ar-
beitsteilige Vielfalt (vgl. Kippele 1998). Dieser Wandel der sozialen Normen fördert
die Verschiedenartigkeit der Individuen weiter und die Gefahr von Sinnverlust und
anomischen Zuständen wächst.
Aus der Perspektive der Individuen wird deshalb die Solidarität zum Problem,
da die Gemeinsamkeiten der Gesellschaftsmitglieder im Denken und Handeln
verloren gehen. Die Arbeitsteilung fördert das Bewusstsein, dass zwar jeder auf
sich selbst gestellt ist, zugleich aber eine Funktion innerhalb der Gesellschaft er-
füllt. Durkheim sieht hier einen Wandel von einer mechanischen, auf Ähnlichkei-
ten beruhenden, zu einer organischen Solidarität der Individualität. Diese neue

mel und Norbert Elias genauer untersucht und sie als klassische Individualisierungstheorie zu-
sammengefasst (Kippele 1998).
34 Individualisierung und Optionenvielfalt

Form der Solidarität ergibt sich aus den Erfahrungen der Arbeitsteilung und beein-
flusst die Handlungsmoral der Individuen auf Grundlage neuer Verbundenheits-
und Abhängigkeitserfahrungen. Diese Solidarität stellt sich nach Durkheim aber
nicht wie selbstverständlich ein, sondern muss gesetzlich geregelt werden und be-
hält deshalb etwas Künstliches.
Insgesamt betrachtet Durkheim die Individualisierung als einen Prozess, der
sowohl Autonomie als auch die Abhängigkeiten der Individuen untereinander
erhöht. „Tatsächlich hängt einerseits jeder umso enger von der Gesellschaft ab, je
geteilter die Arbeit ist, und andererseits ist die Tätigkeit eines jeden umso persönli-
cher, je spezieller sie ist.“ (Durkheim 1977: 183).
Die Antriebskraft der Individualisierung sieht er aufgrund seiner Fokussierung
in den Auswirkungen der Arbeitsteilung und des sich daraufhin ergebenen Prob-
lems sozialer Ordnung und nicht im individuellen Streben nach Autonomie. Indivi-
dualisierung „(…) ist allerdings keine individuelle Leistung, sondern eine gesell-
schaftliche. Die Gesellschaft sieht und behandelt das Individuum anders.“ (Durk-
heim 1967: 129).3 Seine Betrachtung der Individualisierung kann trotz der Berück-
sichtigung der Gefahr der Anomie deshalb als positiv gelten, weil Durkheim von
einer wirklichen Freisetzung der Individuen ausgeht, auf die der Staat mit einer
veränderten Sorge um das Individuum reagiert.
Max Weber hat Individualisierung als Folge des Rationalisierungsprozesses be-
trachtet und sieht sie vor allem kritisch (vgl. Weber 1988). Individualisierung drückt
sich in seiner Darstellung vorrangig in veränderten Beziehungsformen der Indivi-
duen aus. Die gesellschaftlichen Strukturen bewirken eine Versachlichung der
Beziehungen. Die Individuen treten als isolierte Wirtschaftssubjekte in Erschei-
nung und ihr Handeln ist stärker am eigenen Nutzen ausgerichtet. Gleichzeitig
verschieben sich ehemals institutionell verankerte Kontrollmechanismen zu einer
neuen Form der Selbstkontrolle. Diese bewirkt eine freiwillige Bedürfnisunterdrü-
ckung und Selbstbeschränkung. Da Rationalisierung zu einer Herauslösung aus
gemeinschaftlichen Bindungen geführt hat, mündet Individualisierung zum einen in
einer Zunahme an empfundener Einsamkeit, und zum anderen in einer Zunahme
an berechenbarem und zweckmäßigem Verhalten.

„Aus den sozialen Einrichtungen der kollektiven Daseinsfürsorge ist (…) ein ‚stahlhartes Gehäuse‘
geworden, in dem gesellschaftlicher Zwang in den vielfältigen Formen ökonomischer Marktprinzi-
pien, bürokratischer Herrschaft, anonymer Normen und selbstbindender Pflichten in Erscheinung
tritt.“ (Veith 2001: 111).

3 Ferdinand Tönnies hat dagegen die Dynamik der Individualisierung eher dem individuellen
Streben nach Autonomie zugeschrieben. Er führte deshalb den Begriff Individualismus ein (vgl.
Tönnies 1935).
Individualisierung und Optionenvielfalt 35

Die Webersche Lesart einer individualisierten Gesellschaft sieht eine Vielzahl zu-
sammengesetzter isolierter, allenfalls in Zweckverbindungen gefangener Indivi-
duen.
Die komplexeste Ausarbeitung zu den Anfängen der Individualisierung hat
Georg Simmel vorgelegt. Er betrachtete die Auswirkungen als einen ambivalenten
Prozess der Herauslösung und Neubildung sozialer Beziehungen. Diese sind jetzt
persönlicher, da zahlenmäßig weniger, aber auch einseitiger und lockerer (vgl.
Simmel 1992). Die Selbstverantwortung erhöht sich, weil das Individuum einer
geringeren sozialen Kontrolle ausgesetzt ist. Es kommt gleichzeitig zu einem stär-
keren Erleben des Ichs, das durch mehr Handlungsspielräume gekennzeichnet ist.
Simmel erfasst die Freisetzungsmechanismen am konsequentesten in seinem indivi-
duellen Gesetz, das er in Abgrenzung zu Immanuel Kants „kategorischem Impera-
tiv“ formuliert (vgl. Simmel 1987). Es soll begründen, dass die sittliche individuelle
Handlung nicht einfach den Sollensvorschriften einer Allgemeinheit entspringt,
sondern den Kern der Tugend im Individuum selbst findet. Damit versucht er als
Einziger zu dieser Zeit, die neu entstandene Autonomie als wirkliche Freisetzung
des Individuums von gesellschaftlichen Zwängen theoretisch zu begründen. Des-
halb wird sein Ansatz hier etwas ausführlicher dargestellt.
In seiner Perspektive richten sich individuelle Handlungen nicht an einem äu-
ßeren Ideal, sondern an einem eigenen, inneren Wollen aus (vgl. Simmel 1987:
175). Er geht dabei davon aus, dass einzelne Handlungsinhalte, wenn sie auf
Grundlage äußerer Sittlichkeitsattribute beurteilt werden, nicht erklären können,
warum diese ethische Einzelhandlung immer ethisch sei und damit Allgemeingül-
tigkeit besitze. Was in einem Fall als ethisch beurteilt werden kann, muss auf den
nächsten nicht zutreffen. Daraus ergibt sich für ihn die Schlussfolgerung, dass es
kein allgemeines Gesetz für sittliche Handlungen gibt, sondern ein individuelles.
Dieses individuelle Gesetz betont den Aspekt, dass ein äußerliches Sollen zual-
lererst ein individuelles Wollen werden muss, damit eine Handlung als sittlich be-
urteilt werden kann. Simmel gesteht damit dem Individuum zu, selbst entscheiden
zu können, ob es seiner Handlung eine ethische Grundlage gibt. Er begründet
diese These damit, dass dem Gesamt allen Tuns nur vom jeweiligen Individuum
her ein Sinnzusammenhang zugeschrieben werden kann. „Ihren inneren, wirklich
zuverlässigen Sinn zeigt die einzelne Tat nur in der Totalität des Lebenszusammen-
hangs.“ (ebd.: 190). So gesehen ist jede individuelle Tat ein Ausschnitt aus einem
Ganzen, in dem sich aber vom Individuum aus betrachtet, die Ganzheit seiner
Person ausdrückt. Gleichzeitig verwirklicht sich mit jeder Handlung ein Sollen, da
über jedem Lebenslauf ein „Soseinwollen“ schwebt. Der Lebenslauf als Ganzes
betrachtet, ist die Verwirklichung dieses Ideals. Das „(...) Leben muss schon ur-
sprünglich auch unter der Kategorie des Sollens ablaufen (...) Oder anders ausge-
drückt: das jeweilige Sollen ist eine Funktion des totalen Lebens der individuellen
Persönlichkeit.“ (ebd.: 204).
36 Individualisierung und Optionenvielfalt

Bei seiner weiteren Analyse berücksichtigt er auch Einflüsse der Umwelt, die
auf die Entwicklung zur sittlichen Handlung einwirken. Der Mensch wird – histo-
risch betrachtet – dadurch zum Bürger eines Staates und handelt automatisch nach
Prämissen, die mit dieser Rolle verbunden sind. „Alles was ihn umgibt und was er
von je erlebt hat, die stärksten Triebe seines Naturells wie die flüchtigsten Eindrü-
cke – alles dies formt an jenem flutenden Leben der Persönlichkeit, und aus alle-
dem wächst, wie eine Wirklichkeit, ein Sollen.“ (ebd.: 219).
Das handelnde Individuum wird mit den Forderungen und Pflichten eines
Staatsbürgers konfrontiert, die das sittlich Gesollte ausdrücken. Aber letzthin ent-
scheidet sich die Frage des Wirkens dieser Pflichten daran, ob diese mit dem indi-
viduellen Charakter der Person verschmelzen und dadurch zu einem selbstver-
ständlichen Wollen werden.
Aus diesem Zusammenhang leitet Simmel seine Definition von Individualität
ab. Individualität ist nicht Einzigartigkeit, sondern die Eigenart, wie sich das indivi-
duelle Wollen im Laufe eines Lebens entwickelt. Mit der Realisation der Individua-
lität kann das Individuelle aus dem Bereich des Subjektiven enthoben werden.
„Besteht einmal ein bestimmt individualisiertes Leben, so ist auch sein ideales Sol-
len als ein objektiv gültiges da, derart, dass wahre und irrige Vorstellungen darüber
sowohl von seinem Subjekte wie von anderen Subjekten gefasst werden können.“
(ebd.: 217). So wird dann das individuelle Leben in seinem Gesamt zu einem ob-
jektiv ethischen Sollen, wodurch sich Subjektivität und Objektivität gegenseitig
durchdringen.
Simmel hat auf Grundlage eines neuen Autonomieverständnisses eine Theorie
der komplexen Verschmelzung von Sollen und Wollen für die Erklärung individu-
eller Handlungen unter individualisierten Bedingungen erarbeitet. Weder Durkheim
noch Weber haben diese Zusammenhänge so umfassend dargestellt. Bei ihnen ist
Individualisierung entweder Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen oder eine
Zunahme an erzwungener Selbstkontrolle.
In der vorangestellten Zusammenfassung der unterschiedlichen Individualisie-
rungsprozesse wurde bereits deutlich, dass sich die im zweiten Individualisierungs-
schub wahrgenommene Tendenz eines Anstiegs individueller Ansprüche im dritten
Individualisierungsschub weiter verstärkt. Der mit dem dritten Individualisierungs-
schub beschriebene Wandel zu einem anspruchstellenden Individuum, das sich
einem gesellschaftlichen Sollen nur noch unterordnet, wenn es dies selbst für rich-
tig hält, bildet deshalb in der modernen Individualisierungstheorie die Grundlage
für die Erklärung einer sich weiter ausdehnenden Individualisierung seit Entwick-
lung der Wohlstandsgesellschaft.
Individualisierung und Optionenvielfalt 37

1.4 Die moderne Individualisierungstheorie

Die moderne Individualisierungstheorie beginnt 1986 mit einer deskriptiven Dar-


stellung des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses seit 1945 von Ulrich Beck (vgl.
Beck 1986). Beck zeichnete in seinem Buch „Risikogesellschaft“ einen umfassen-
den Individualisierungsschub nach, der sich in vieldimensionalen Freisetzungsme-
chanismen des Individuums aus übergeordneten Strukturen zeigt, den Verlust
traditioneller Sicherheiten hervorhebt und neue Formen der sozialen Einbindun-
gen. Beck beobachtete vor mehr als zwanzig Jahren ein Brüchigwerden aller Bau-
elemente der alten Gesellschaftsform.

„Das Koordinatensystem, in dem das Leben und Denken der industriellen Moderne befestigt ist,
die Achsen von Familie und Beruf, Glaube an Wissenschaft und Fortschritt gerät ins Wanken, und
es entsteht ein neues Zwielicht von Chancen und Risiken (...).“ (ebd.: 20). Diese Veränderungsme-
chanismen werden zu drei Dimensionen zusammengefasst. „Herauslösung aus historisch vorgege-
ben Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusam-
menhänge ‚Freisetzungsdimension‘), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Hand-
lungswissen, Glauben und leitende Normen (‚Entzauberungsdimension‘) und – womit die Bedeu-
tung des Begriffs gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung
(‚Kontroll- bzw. Reintegrationsfunktion‘).“ (ebd.: 206; Hervorhebungen im Original).

Die Freisetzungsmechanismen beschreiben die Herauslösung aus der traditionellen


Sozialform der Klassenstrukturen und zeigen sich im Verlust familialer, beruflicher
und kultureller Bindungen (vgl. Beck 1994: 48). So entstehen Freiräume im sozialen
wie rechtlichen Raum, neue Lebensformen und Sozialbeziehungen und eine Spal-
tung in Kultur und Gegenkultur, was zur Folge hat, dass ständisch geprägte Klas-
senstrukturen für die Lebensführung der Menschen an Bedeutung verlieren (vgl.
ebd.: 51). Diese Freisetzungstendenzen zeigen sich vor allem im Wandel der weib-
lichen Normalbiographie. Frauen beginnen im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen
Entwicklung ihre Existenz durch Arbeit selbst zu sichern, und definieren sich da-
mit in Abgrenzung zur Familie als Einzelperson. Die früher aus ökonomischen
Gründen vollzogene Heirat ist plötzlich kein Muss mehr. Gleichzeitig zeigt die
ständig steigende Scheidungsrate, dass Ehen keine Zwangsgemeinschaften, son-
dern Wahlverwandtschaften geworden sind (vgl. Beck 1986: 208; Beck-Gernsheim
1994b: 123). Durch die Entwicklung unterschiedlicher sozialstaatlicher Sicherungs-
systeme wie Altersrenten, dem Versicherungssystem und Sozialhilfeleistungen
kommt es zum weiteren Abbau von Abhängigkeiten, die sich vorher aus der exis-
tenzsichernden Funktion der Familie ergeben haben (vgl. Leisering 1997).

„Insoweit der Staat Individuen zu Empfängern seiner Gaben macht und nicht die Familien, zu de-
nen sie gehören, wird es wahrscheinlicher, dass Jugendliche mit Ausbildungsbeihilfen ihre Familien
verlassen, dass größere Haushalte in mehrere Generationen sich aufspalten, dass erwerbstätige
Verheiratete sich scheiden lassen.“ (Mayer/Müller 1994: 265ff).
38 Individualisierung und Optionenvielfalt

Darüber hinaus identifizierte Beck Freisetzungsvorgänge innerhalb des Berufsle-


bens. Dazu gehörten die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeit und die Dezentra-
lisierung des Arbeitsortes. In Verbindung mit industriellen Rationalisierungsprozes-
sen kam es zu neuen Formen von Unterbeschäftigungen wie Teilzeitarbeit und
Leiharbeit (Beck 1986: 234). Die so entstandenen Beschäftigungsunsicherheiten
waren deshalb ebenfalls ein Kennzeichen der Freisetzungsdimension. Diese Ar-
beitsmarktindividualisierung war des Weiteren durch Veränderungen im Bereich
der Bildung, Mobilität und Konkurrenz gekennzeichnet (vgl. Beck 1994: 47).
Durch Bildung wurden Selbstreflexionsprozesse in Gang gesetzt, die traditionelle
Denkweisen und Orientierungen verdrängten. Die Erlangung von Bildungsgraden
wurde zu einem schichtübergreifenden Selektionskriterium, was zur Folge hatte,
dass sich eine umfassende individuelle Aufstiegsorientierung etablierte. Berufliche
Mobilität aber auch Arbeitsplatz- und Ortsmobilität sind als weitere Faktoren zu
nennen, welche die individuellen Lebenswege dynamisierten und von traditionellen
Wegen abkoppelten (vgl. ebd.). Auf Grundlage von Gleichheit und der damit ver-
bundenen Austauschbarkeit von Qualifikationen entwickelte sich Konkurrenz auf
dem Arbeitsmarkt. Daraus entstand auch allmählich der Zwang, die Einzigartigkeit
der eigenen Leistungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt zu inszenieren.

„Bildung, Mobilität und Konkurrenz sind nun keineswegs unabhängig voneinander, sondern er-
gänzen und überlagern sich: erst in ihrem Zusammenwirken lösen sie den besonderen Individuali-
sierungsschub aus, der in den vergangenen drei Jahrzehnten in Gang gesetzt wurde.“ (ebd.: 48).

Die Entzauberungsdimension beschreibt in Anlehnung an die von Max Weber


analysierten Rationalisierungsvorgänge den Verlust kollektiv verbindlicher Sinnge-
bungssysteme. Dadurch verlieren die Individuen Gewissheiten, die sie vor allem im
religiösen Glauben, in Normen und allgemein gesichertem Handlungswissen ge-
funden haben (Beck 1986: 206). Insgesamt stehen Werte und Orientierungen zur
freien Wahl. Entzauberung ist zusätzlich ein Prozess der Intellektualisierung, weil
die Individuen die Grundsätze ihrer Überzeugungen rechtfertigen müssen. Gleich-
zeitig haben sie die Aufgabe, sich selbst als das zu bestimmen, was sie sein wollen.
Auf dieser Grundlage entstehen sogenannte Pluralisierungen, d.h. vor allem unter-
schiedliche Lebensverläufe, aber auch symbolische Wirklichkeiten.
Die Kontroll- und Reintegrationsdimension beschreibt neue Formen sozialer
Einbindung, die sich aus veränderten institutionellen Rahmenbedingungen, aber
auch durch Konjunkturen und Moden ergeben. Im Einzelnen nennt Beck instituti-
onelle Veränderungen des Bildungssystems, des Arbeitsmarktes und sozialer Siche-
rungssysteme.

„Ständisch geprägte, klassenkulturelle oder familiale Lebenslaufrhythmen werden überlagert oder


ersetzt durch institutionelle Lebenslaufmuster: Eintritt und Austritt aus dem Bildungssystem, Ein-
tritt und Austritt aus der Erwerbsarbeit, sozialpolitische Fixierungen des Rentenalters und dies so-
Individualisierung und Optionenvielfalt 39

wohl im Längsschnitt des Lebenslaufes (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Pensionierung und Al-
ter) als auch im täglichen Zeitrhythmus und Zeithaushalt (Abstimmung von Familien-, Bildungs-
und Berufsexistenz).“ (Beck 1986: 211f.).

Becks Anspruch nach lassen sich mit Hilfe der Individualisierungstheorie zum
einen die Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft aus der Sicht des Indi-
viduums analysieren und zum anderen aufzeigen, wie „tradierte Sinn- und Hand-
lungseinheiten fragwürdig (...)“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 29) werden. Die
Konflikte leiten sich aus der Verbindung von Freisetzung und Entzauberung ab.
Auf einer abstrakteren Betrachtungsebene ist Freisetzung gleichbedeutend mit
einer Zunahme von Handlungsoptionen. Mit der Entzauberungsdimension geht
gleichzeitig eine Überforderung einher, die zur Orientierungslosigkeit führt.

„In erweiterten Optionsspielräumen wächst der individuell abzuarbeitende Entscheidungsbedarf.


Sein Milieu nimmt dem Einzelnen nicht einmal mehr die biographisch folgenreichsten Entschei-
dungen ab: welche Schule man besucht, welchen Beruf man wählt, welche Beziehungen man ein-
geht, ob und wann man heiratet, Kinder bekommt (...)“ (Habermas 1994: 443).

Die Gefahr der Orientierungslosigkeit kann, wie Beck vermerkt, durch neue Stan-
dardisierungen eingedämmt werden, weil durch sie Entscheidungen für oder gegen
bestimmte Optionen leichter fallen.
Darüber hinaus ist die Größe der Handlungsspielräume zusätzlich durch öko-
nomische Restriktionen begrenzt, weil die Möglichkeit der Nutzung von Hand-
lungsoptionen an die Verfügbarkeit von Ressourcen gekoppelt ist (vgl. Beck/Beck-
Gernhsheim 1993: 182; Beck 1995: 192). Dadurch wird auch eingeräumt, dass
Individualisierung nicht heißt, dass für alle Gesellschaftsschichten gleich große
Möglichkeitsspielräume bereit stehen.4 Das bedeutet jedoch im selben Schritt, dass
die von den Individuen hervorgebrachten Individualisierungseffekte, d.h. neue
soziokultureller Gemeinsamkeiten sich auf diese Restriktionen zurückführen lassen.
Beck führt hier selbst an, dass sich individualisierte Vergemeinschaftungen auf der
Grundlage unterschiedlicher Einkommens- und Qualifikationsstufen und den
individuellen Suchbewegungen der Individuen entwickeln, die von den Erwartun-
gen auf ein eigenes Leben angetrieben werden (vgl. Beck 1994: 45).
Eine weitere Konfliktlinie ergibt sich aus der Ambivalenz zwischen Chance
und Risiko der Individualisierung. Individualisierung gilt nicht nur als Angebot,
sondern wird den Individuen auch abverlangt. „Die Menschen sind zur Individuali-
sierung verdammt. Individualisierung ist ein Zwang (…).“ (Beck/Beck-Gernsheim

4
 Geert Hofstede konnte bereits 1980 in einer ländervergleichenden Studie einen Zusammenhang
zwischen Individualismus und Wohlstand herausarbeiten (vgl. Hofstede 1980: 229f.). In Wohl-
standsgesellschaften neigen die Individuen eher zum Individualismus als in ärmeren Gesellschaf-
ten.
40 Individualisierung und Optionenvielfalt

1994: 14).5 Bei Beck ist das Individuum insgesamt mit folgenden Anforderungen
konfrontiert:

„Gefordert ist ein aktives Handlungsmodell des Alltags, dass das Ich zum Zentrum hat, ihm Hand-
lungschancen zuweist und eröffnet und es auf diese Weise erlaubt, die aufbrechenden Gestaltungs-
und Entscheidungsmöglichkeiten in Bezug auf den eigenen Lebenslauf sinnvoll kleinzuarbeiten.
Dies bedeutet, dass hier (...) für die Zwecke des eigenen Überlebens ein ichzentriertes Weltbild entwi-
ckelt werden muss, dass das Verhältnis von Ich und Gesellschaft sozusagen auf den Kopf stellt
und für die Zwecke der individuellen Lebenslaufgestaltung handhabbar denkt und macht. (...) Für
den einzelnen sind die ihn determinierenden institutionellen Lagen nicht mehr nur Ereignisse und
Verhältnisse, die über ihn hereinbrechen, sondern mindestens auch Konsequenzen der von ihm selbst ge-
troffenen Entscheidungen, die er als solche sehen und verarbeiten muss." (Beck 1986: 217f.; Hervorhe-
bungen im Original).

Das theoretische Selbstverständnis des Individualisierungsansatzes liegt in der


Verbindung von mikro- und makrosoziologischen Fragestellungen. Beck unter-
scheidet auf analytischer Ebene zwischen objektiver Lebenslage und individuellem
Bewusstsein, wobei er in „Risikogesellschaft“ und auch in weiteren Arbeiten (Beck
2008) der Analyse veränderter objektiver Bedingungen den Vorrang gibt und dabei
ein Individuum beschreibt, das mit einem „Anspruch auf ein eigenes Leben“ (Beck
1994: 46) Perspektiven auf die „persönlich-biographische Lebensführung“ (ebd.)
selbst entwickelt und umsetzt, ohne diese Beobachtungen systematisch aus den
objektiven Bedingungen abzuleiten. Aber er konstatiert, dass die Zusammenhänge
des individuellen Handelns mit den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen eine
eigene Realität bilden, die Ansatzpunkte zum Verlauf der Lebensbedingungen im
Westen Deutschlands der Nachkriegszeit liefern (vgl. ebd.: 46).
Die beschriebenen Freisetzungsmechanismen, die das Individuum zum Hand-
lungszentrum machen, das im Umgang mit seinen „Chancen, Gefahren und Unsi-
cherheiten der Biographie (...) selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden
und bearbeitet werden [muss, D.L].“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 15) zeigen, dass
für die Individualisierungstheoretiker objektive Veränderungen der Ausgangspunkt
sind. In den Analysen wird davon ausgegangen, dass Individualisierung von den
Individuen erfahren6 und nicht erzeugt wird, was dazu führt, dass man die objekti-
ven Bedingungen als zentrale Variablen in den Mittelpunkt rückt (Beck 1986: 207).
Die Folgen der Individualisierung für die individuelle Lebensführung will Beck
nicht abschätzen. „Viele assoziieren mit Individualisierung Individuation gleich

5 Diese Doppeldeutigkeit ist bereits von Talcott Parsons ausgearbeitet worden (Parsons 1961;
Parsons 1974). Sein Begriff des institutionalisierten Individualismus betont schon in den 1960er
Jahren den Verpflichtungsaspekt einer Individualisierung durch veränderte institutionelle Rah-
menbedingungen. Hierdurch wird das Streben nach Selbstverwirklichung zu einem wichtigen Teil
der Gesellschaft. Den Individuen kommt die Aufgabe zu, selbstverantwortlich ihre eigenen Ziele
zu verfolgen (Parsons 1974: 321).
6 Monika Wohlrab-Sahr bezeichnet Individualisierung in diesem Sinne als einen Zurechnungsmo-
dus und nicht als ein Handlungsresultat einzelner Individuen (vgl. Wohlrab-Sahr 1997).
Individualisierung und Optionenvielfalt 41

Personwerdung gleich Einmaligkeit gleich Emanzipation. Das mag zutreffen. Viel-


leicht aber auch das Gegenteil.“ (Beck 1986: 207).
Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Wandlungsprozesse ist an dem theo-
retischen Ansatz von Beck häufig bemängelt worden, dass die zusammengeführten
Veränderungsmechanismen nicht präzise ausgearbeitet sind und vor allem nicht
empirisch belegt wurden (vgl. Burkart 1993; Esser 1987; Joas 1989; Friedrichs 199;
Mackensen 1988; Zinn 2001a). Dies ist sicher als ein typisches Merkmal von Zeit-
diagnosen im Allgemeinen.

„Derartige Zeitdiagnosen lassen meist durchaus gemischte Gefühle zurück. Einerseits scheint man
durch sie einen interessanten Tatbestand zumindest begrifflich gut ge- oder vielleicht sogar erfasst
zu haben, andererseits ist man von einer adäquaten Erklärung des Tatbestandes im normalerweise
darunter verstandenen Sinne einer ursächlichen Zurückführung auf bestimmte allgemeine Ge-
setzmäßigkeiten, die selbst wiederum empirischen Gehalt besitzen, noch deutlich entfernt. Die
meisten dieser modernitätstheoretischen Betrachtungen sind vor dem Hintergrund wissenschafts-
theoretischer Standards wohl nur als Reformulierungen des interessierenden Sachverhalts selbst in
einem bestimmten theoretischen Jargon zu betrachten.“ (Hill/Kopp 1999: 15).

Für die empirische Forschung stellt die Individualisierungsthese deshalb eine He-
rausforderung dar. Bei Beck „werden Ursachen, Beschreibungen und Folgen in
einer vermeintlichen Definition vermengt“ (Friedrichs 1998: 34), weshalb seine
Thesen schwer zu überprüfen sind. Aufgrund der Komplexität von Veränderungen
auf der Makro-Ebene und der Vernachlässigung von individuellen Vorgängen der
Sinnzuschreibungen auf der Mikro-Ebene und der zahlreichen impliziten Zusatz-
annahmen über die Zusammenhänge beider Ebenen scheint Individualisierung als
Vergesellschaftungsprozess empirisch nicht überprüfbar. Aus diesem Grund schlug
Flavia Kippele schon 1998 für die weitere Arbeit mit dem Phänomen Individuali-
sierung vor: „Individualisierung ist von Anfang an ein ambivalenter Prozess gewe-
sen. Man sollte sich von einem pauschalen Individualisierungsbegriff lösen und
sich auf die Analyse der verschiedenen Dimensionen konzentrieren.“ (Kippele
1998: 11).
Im Folgenden sollen deshalb vorliegende empirische Untersuchungsergebnisse
vor allem daraufhin überprüft werden, ob und wie die Verbindung von objektiver
und individueller Individualisierung hergestellt wurde und welche Daten zu einem
veränderten Handeln von Individuen unter individualisierten Bedingungen vorlie-
gen.

1.4.1 Empirische Überprüfung der Beckschen Individualisierungsthese

Der Begriff Individualisierung ist in zahlreichen Studien und Analysen in einzelne


analytische Dimensionen aufgeteilt worden. Diese Ansätze versuchen, die von
42 Individualisierung und Optionenvielfalt

Beck zusammengetragenen Veränderungsmechanismen in einzelne Kausalzusam-


menhänge aufzuspalten und empirisch zu überprüfen.
Zu den auf Makro-Ebene argumentierenden Studien gehört in erster Linie die
Überprüfung der Beckschen Freisetzungsdimension. Die Perspektive ist dabei eine
sozialstrukturanalytische. Dazu zählen vor allem die Analysen zu sozialstrukturellen
Differenzierungsprozessen von Peter A. Berger (vgl. Berger 1986, 1987). Peter A.
Berger beschreibt Individualisierung als „(…) ein immer deutlicheres Auseinan-
dertreten systematisch-marktvermittelter (‚Erwerbsklasse’) und soziokulturell-,
‚lebensweltlicher’ (‚Stand’) Vergesellschaftungsweisen und Integrationsmechanis-
men (...)“ (Berger 1987: 63). Er argumentiert mit einem sozioökonomischen Blick-
winkel und erforscht die Differenzierungsbedingungen der individualisierten Ge-
sellschaft. Seiner Definition von Individualisierung zufolge laufen makrosoziale
Veränderungen und individuelle Verhaltensweisen immer mehr auseinander. Er
kommt mittels statistischer Analysen zu dem Schluss, dass sich für die Bundesre-
publik kein einheitliches Strukturbild finden lasse. Weder befinde man sich in einer
klassengesellschaftlichen Struktur noch in einer neuen Ständegesellschaft. Die
Situation sei demnach „historisch offen“. (Berger 1986: 254).
Hörning und Michailow erweitern den Individualisierungsbegriff von Berger
zu einer soziokulturellen Perspektive und finden im Gegensatz zu ihm neue For-
men sozialer Einbindung. Individualisierung ist hier eine „zunehmende, stärkere
Differenzierung von Personen gegenüber sozialen Systemen (...).“ (Hörning/Mi-
chailow 1990: 508). Individualisierung ist durch veränderte Integrationsmecha-
nismen gekennzeichnet, „die sich auf soziokultureller Ebene nicht länger um den
Beruf zentrieren“ (ebd.). Die

„(…) Entkopplung systemintegrativer und sozialintegrativer Wirksamkeit nimmt zu, so dass sozi-
okulturelle Differenzierungen an Bedeutung gewinnen und die Determinationskraft sozialstruktu-
reller Bindungen auf die spezifische Ausformung von Bewusstsein und Lebensführung der Gesell-
schaftsmitglieder abnimmt.“ (ebd.: 504f.).

Die Autoren erfassen diese Veränderungen vor allem mit dem Begriff des Lebens-
stils. Lebensstile treten an die Stelle von Klassenstrukturen und stellen ihre eigene
Ebene der Wirklichkeitskonstruktion dar. Deshalb lässt sich die soziale Einbindung
nicht mehr mit sozioökonomischen Variablen, sondern mit der kulturellen Lebens-
stilsemantik beschreiben.
Dies führte zu einem erweiterten Diskurs über die Pluralisierung von Lebens-
stilen (vgl. Dangschat 1994; Hörning/Michailow/Gerhard 1990; Hradil 1987; Si-
monson 2004; Zapf 1987). Inwiefern die Entwicklung von Lebensstilen theoretisch
an individuelle Handlungen oder an objektive Strukturveränderungen angebunden
werden können, bleibt weiterhin unklar (vgl. Hörning/Michailow/Gerhard 1990:
33ff). Sozialstrukturell besehen, bilden Lebensstile die Meso-Ebene der Erklärung
von Individualisierungsprozessen und damit eine Struktur sui generis ab, die bei
Individualisierung und Optionenvielfalt 43

der Analyse getrennt von Mikro- und Makroeinflüssen zu untersuchen sei. Dies
führt allerdings in der Debatte um das Auseinanderfallen von individuellen Hand-
lungslogiken und strukturellen Mechanismen nicht weiter, da das Problem lediglich
auf eine andere Ebene verlagert wird. Dirk Wieland kritisiert an der Lebensstilfor-
schung deshalb die unzureichende theoretische Untermauerung, die zur mangeln-
den Stringenz in der Ableitung von Lebensstildefinitionen aus Individualisierungs-
bedingungen führt.
„Die zumeist weder hinterfragte noch konkretisierte Bezugnahme auf das Becksche Individualisie-
rungstheorem erscheint jedenfalls nicht ausreichend, um die konkretisierten massiven Verände-
rungen nicht nur beschreiben, sondern auch erklären zu können. Schon wenn es an die konkrete
Definition von Lebensstilgruppen oder sozialen Milieus geht, werden die Modelle rasch tautolo-
gisch, Definitionskriterien und herauspräparierte Merkmalsausprägungen sind praktisch identisch
und den so erzielten Ergebnissen haftet häufig der Makel der Beliebigkeit an.“ (Wieland 2004: 17).

Darüber hinaus existieren Studien, die sich der Entstehung von Statusunsicherhei-
ten widmen (vgl. Berger 1996; Kohler 2005), verstärkt auf die Aspekte sozialer
Ungleichheit im Rahmen der Individualisierung abzielen (vgl. Diewald 2004) oder
das Wahlverhalten in Abhängigkeit der Individualisierung betrachten (vgl. Quandt
2008; Schnell/Kohler 1995). In anderen Untersuchungen wird die These der Frei-
setzung auf eine nachlassende Bindungs-, und Prägekraft durch Religion (vgl. Jago-
dzinski 1998) und einer Deinstitutionalisierung von Familie (vgl. Tyrell 1988; Peu-
ckert 2008) ausgeweitet. Es finden sich aber auch Untersuchungen über die Verän-
derungen von solidarischen Beziehungen (vgl. Posner 2002) und über die Individu-
alisierung von Lebensläufen (vgl. Berger/Sopp 1995; Weymann 1989).
Alle Ansätze verbindet, trotz der Eingrenzung des Analysefokus, die Untersu-
chung der lediglich objektiven Veränderungen der Individualisierung. Die subjek-
tive Deutungsebene wird vernachlässigt. Es lässt sich deshalb feststellen, dass alle
Ansätze auf allgemeiner Ebene mit strukturellen Veränderungsprozessen argumen-
tieren und darauf aufbauend beschreiben, welche Auswirkungen sich für das Indi-
viduum ableiten lassen, wobei letztlich „(...) die zentralen Thesen der meisten Au-
toren darauf hinauslaufen zu behaupten, die Stärke des Zusammenhangs von sozi-
oökonomischen Lagebedingungen und diesen korrespondierenden Verhal-
tensweisen habe abgenommen.“ (Wahl 2003: 26). Die Wahrnehmung des Indivi-
duums sowie seine Handlungsorientierungen finden hier keine Berücksichtigung.
Im Rahmen des Wertewandeldiskurses wird dagegen die Erklärung von einer
Zunahme von Handlungsoptionen vom Individuum aus entwickelt (vgl. Gensicke
2002 u. 2006; Inglehart 1998; Klages 1985). Kernthese des Diskurses ist, die Indi-
vidualisierung führe zu einer Abnahme von Pflicht- und Akzeptanzwerten und zu
einer Zunahme von Selbstentfaltungswerten (vgl. Klages 1985). Pflicht- und Ak-
zeptanzwerte sind konventionelle Wertvorstellungen, die das Handeln auf gesell-
schaftliche Nützlichkeit ausrichten und damit Stabilität und Ordnung in einer Ge-
sellschaft erzeugen, dafür aber individuelle Selbstentfaltung hemmen. Pflichtwert-
44 Individualisierung und Optionenvielfalt

orientierte Personen handeln eher konform mit gesamtgesellschaftlichen Normen.


Sie bringen

„(…) eine Verbindung zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und Notwendigkeiten und
dem ‚Selbstkonzept’ der Menschen dadurch zustande, dass sie die Menschen zur persönlichen
Identifizierung mit ‚Tugenden’ veranlassen, welche gleichzeitig ‚sozialintegrative’ Wirkungen ha-
ben.“ (Klages 1985: 26).

Diese Personen ordnen sich eher durch die Erfüllung von externen Anforderungen
in die Gesellschaft ein, als durch das Verfolgen eigener intrinsischer Lebensinteres-
sen.
Selbstentfaltung entspringt dann denjenigen Handlungsleitlinien, die sich von
gesellschaftlichen Funktionsanforderungen lösen und Handlungsstrategien erzeu-
gen, die der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und der Erlangung individueller
Ziele dienen. Selbstentfaltungswerte drücken sich daraufhin in individuellen An-
sprüchen aus, die gesellschaftliche Institutionen unter Druck setzen und zu Verän-
derungen in der Umgangsweise mit den Individuen führen (vgl. Klages 1985).
Empirisch konnte eine Zunahme von Selbstentfaltungswerten für die 1960er Jahre
bestätigt werden. Damit einher ging jedoch kein Absinken der Pflicht- und Akzep-
tanzwerte. Vielmehr lassen sich in den späten 1980er Jahren am häufigsten Misch-
formen finden, die mit dem Typ des „Aktiven Realisten“ bezeichnet werden (Kla-
ges/Gensicke 2002).
Des Weiteren wird argumentiert, dass die Übernahme von gruppen- und
schichtspezifischen Werten in stärkerem Maße selbst entschieden werden kann.
Soziale Milieus haben die Funktion der Wertselektion, wodurch es zur Reproduk-
tion nur bestimmter Werte kommt. Wertepluralismus entsteht aufgrund der Tatsa-
che, dass Individuen aus sozialen Wertegemeinschaften freigesetzt werden. Indivi-
duelle Entscheidungszwänge entstehen nun nicht mehr durch internalisierte Werte,
die durch die Herkunft bestimmt sind, sondern durch „situative Zufälle und Selbs-
treflexion“ (Lau 1988: 224). Dadurch bestimmen die derzeitige Lebenslage und
selbstgewählte Gemeinschaften die Gültigkeit von Werten, die das Handeln in
einer konkreten Situation anleiten. „Werte verlieren die Funktion feststehender,
selbstverständlicher Bezugspunkte der Handlungsbeurteilung und Verhaltensorien-
tierung und werden damit zu Versatzstücken situativer Deutung und Selbstverge-
wisserung.“ (Lau 1988: 227).
Handlungswahlen werden auf Grundlage des Wertepluralismusdiskurses dem-
nach situativ unter Rekurs auf persönliche Zielvorstellungen und unter Einfluss der
derzeitigen Bezugsgruppe getroffen. Es ist jedoch nicht klar, welche Bedingungen
konkret dafür verantwortlich sein sollen, dass das „Normale“ als Leitfaden für die
Lebensführung der Mehrzahl der Individuen wegbricht. Markus Schroer kritisiert
an solchen Interpretationen die zu starke Fokussierung auf die Beschreibung des
Individualisierung und Optionenvielfalt 45

Verlusts von Werten, ohne sich auf die konkreten individuellen Strategien des
Umgangs mit den Auswirkungen zu konzentrieren.

„Statt sich am kommunitaristischen Trauergesang über die verlorenen Werte und die Auflösung
überschaubarer Gemeinschaften zu beteiligen, sollte es die Aufgabe der Soziologie sein, die Berei-
che in Augenschein zu nehmen, in denen mehr Alternativen und Wahlmöglichkeiten zu herrschen
scheinen, und ein größeres Gespür für die Felder zu entwickeln, in denen nach wie vor große Ab-
hängigkeiten bestehen bzw. neue sich entwickeln.“ (Schroer 2001: 445).

Die mikrosoziologische Perspektive auf Veränderungen der Lebensführung, die im


weiteren Verlauf der Individualisierungsdebatte im Rahmen der empirischen Le-
benslaufforschung7 konkretisiert wurde, beschreibt die Voraussetzungen für den
individuellen Umgang mit normativen und institutionellen Vorgaben. Hier lassen
sich Ansätze finden, bei denen die subjektiven Orientierungen der Akteure in den
Mittelpunkt der Analyse gerückt werden, womit damit das Ziel verbunden ist, Um-
gangsweisen mit sozialstrukturellen Rahmenbedingungen zu spezifizieren (vgl.
Baethge et al. 1988; Geissler/Oechsle 1996; Heinz et al. 1991; Lenz 1988; Mayer
1991; Witzel/Kühn 2000).
Der Lebenslauf ist in dieser Deutung einerseits durch Destandardisierung im
Sinne einer Abkehr von der Normalbiographie (vgl. Heinz 2002; Kohli 1985; 1986,
2003; Konietzka/Huinink 2003; Scherger 2007; Siebers 1996) und andererseits
durch Deinstitutionalisierung im Sinne einer Verringerung des Einflusses von In-
stitutionen (vgl. Held 1986; Levy 1996; Kohli 2003) gekennzeichnet. Empirische
Untersuchungen zeigen, dass die Individuen vor dem Hintergrund dieser Bedin-
gungen eine biographische Selbststeuerungskompetenz entwickelt haben. Damit ist
die Fähigkeit gemeint, „(...) sich selbst durch das eigene Leben zu bewegen und die
verschiedenen Lebensbereiche durch eine eigene Strukturierungsleistung zu ver-
mitteln und aufeinander zu beziehen.“ (Geissler/Oechsle 1994: 141).
Das Individuum handelt auf der Grundlage eines eigenen Lebensentwurfs, der
zwar immer an institutionellen Vorgaben orientiert bleibt, aber dennoch ein indivi-
dueller ist. Gleichzeitig hängt diese Planung davon ab, dass Handlungsalternativen
wahrgenommen, priorisiert und bewertet werden. Eine empirische Untersuchung
über das biographische Handeln im Rahmen der Familienplanung betont diesen
Zusammenhang und stellt die Zunahme an Planungsunsicherheiten unter individu-
alisierten Bedingungen heraus (vgl. Scherger 2007). Günter Burkart und Martin
Kohli fanden in ihrer Untersuchung von 1992 (vgl. Burkart/Kohli 1992) heraus,
dass die Individualisierungstendenzen in Partnerschaften erheblich zwischen den
Schichten schwanken. Die größten Individualisierungstendenzen ließen sich im
städtisch-akademischen Milieu finden.

7 Hier sind vor allem die zahlreichen Projekte aus dem Sonderforschungsbereich 186 „Statuspassa-
gen und Risikolagen im Lebensverlauf“, die an der Universität Bremen 1988-2001 durchgeführt
wurden, zu nennen.
46 Individualisierung und Optionenvielfalt

Eine Studie zu berufsbiographischem Handeln (vgl. Heinz et al. 1991) ver-


suchte durch eine qualitative und quantitative Panelbefragung typische Verlaufs-
muster berufsbiographischer Handlungen zu identifizieren, um sie systematisch auf
strukturelle Veränderungen des Arbeitsmarktes zu beziehen. Die Ergebnisse zeig-
ten auf der Ebene der personalen Individualisierung durch einen Vergleich biogra-
phischer Muster in Bezug auf Aspirationen, Realisierungen und Bilanzen von
Handlungen, dass die Biographiegestaltung von Kontext, Ressourcen und biogra-
phischer Prioritätensetzung abhängt. Eine Korrelation von Handlungsresultaten
und allgemeinen Handlungsorientierungen wurde nicht festgestellt. Die Erkenntnis,
die aus diesem Analyseergebnis gezogen werden kann, führt zurück auf das bereits
angesprochene Komplexitätsproblem: „Zwischen allgemeinen Orientierungen und
der Praxis von Akteuren besteht kein eindeutiges Zuordnungsverhältnis. (...) Diese
werden durch zusätzliche Faktoren (etwa die Ressourcenlage, die Situation und
Situationsdefinition des Akteurs u.Ä.) vermittelt“ (ebd.: 318f). Dies ist programma-
tisch für die Analysen, die unter dem Label Individualisierungsforschung entstan-
den sind.
Um Aussagen über die Handlungslogik individualisierter Praktiken machen zu
können, reicht es nicht aus, lediglich Handlungsresultate oder allgemeine Hand-
lungsorientierungen zu untersuchen (vgl. Zinn 2001b: 319). Dies wird oftmals nicht
berücksichtigt. Problematisch ist dabei vor allem die unzureichende Auseinander-
setzung mit Handlungslogiken, die sich aus objektiven Individualisierungsbedin-
gungen ergeben. Diese Handlungslogiken schlagen sich in veränderten Sinnset-
zungspraktiken nieder und führen in Abhängigkeit davon zu unterschiedlichen
Handlungsresultaten. So fließen oftmals empirisch nicht überprüfbare Zusatzan-
nahmen in die Operationalisierung ein, die häufig auf Basis von Einzelfällen er-
mittelt werden. Da Individualisierungsprozesse, wenn sie sich im Handeln der
Individuen widerspiegeln sollen, wahrgenommen und verarbeitet werden müssen,
beziehen sich die Zusatzannahmen auf „(…) das Verhältnis zwischen Handlungs-
orientierungen, Deutungsmustern und Handlungsresultaten (...) sowie zwischen
sozialen Strukturen und individuellem Handeln (...).“ (Zinn 2001b: 281).
Diese Zusatzannahmen werden dafür genutzt die sozialstrukturellen Daten zu
plausibilisieren. So wird von Handlungsresultaten der Makro-Ebene auf die indivi-
duellen Deutungsmuster der Mikro-Ebene geschlossen. Gleichzeitig werden allge-
meine Semantiken, wie das Streben nach Selbstverwirklichung, und gesellschaftli-
che Strukturveränderungen wie z.B. zunehmende Scheidungsraten in ein eindeuti-
ges Entsprechungsverhältnis gesetzt (vgl. Zinn 2001b: 281).
Dabei können die Deutungsmuster, die in den Analysen oft unterstellt werden,
durchaus je nach Situation unterschiedliche Ausprägungen haben. Die Individuen
haben die Möglichkeit, ihre Position entweder im Hinblick auf Autonomie zu in-
terpretieren und sich so in ihren Handlungen von gesellschaftlichen Vorgaben zu
emanzipieren. Sie können ihre Handlungen aber auch weiterhin in Abhängigkeit
Individualisierung und Optionenvielfalt 47

von gesellschaftlichen Zwängen planen, weil sie keine Handlungsalternativen


wahrnehmen. Diese individuellen Wahrnehmungen unterscheiden sich auch hin-
sichtlich der sozialen Kontexte, in denen Individuen handeln. So kann im Rahmen
der Freizeitgestaltung oder innerhalb der Partnerschaft ein anderes Autonomiever-
ständnis vorherrschen, als es im Kontext beruflicher Zusammenhänge besteht.
Welche Interpretation in welchem Kontext Gültigkeit besitzt, kann nur empirisch
aus Perspektive der jeweils individuell wirksamen Deutungen entschieden werden.
Deshalb ist die Überprüfung von Individualisierungseffekten auf der Makroebene
nur auf Grundlage qualitativ erfasster Deutungsmuster der Mikroebene sinnvoll
(vgl. Zinn 2001a).
Diese Schwierigkeiten bei der Operationalisierung von Individualisierung zei-
gen, dass es weiterhin einer theoretischen Konkretisierung der Zusammenhänge
von individualisierten Bedingungen, individuellen Deutungsmustern und den dar-
aus folgenden Handlungen bedarf.

1.4.2 Handlungstheoretische Lücke in der Individualisierungstheorie

Wie gezeigt werden konnte, ist eine konkrete Überprüfung des Zusammenhangs
zwischen individuellen Handlungslogiken und strukturellen Veränderungen bisher
nicht umfassend gelungen.

„Viele Schwierigkeiten im Rahmen des Individualisierungsdiskurses können auf Unterschiede bei


der Konzeptionalisierung zentraler soziologischer Problemstellungen zurückgeführt werden. Das
betrifft zum einen die Frage nach dem Verhältnis von Akteur und Struktur oder genauer: von Indi-
viduen, Institutionen und Sozialstruktur. Zum anderen gilt es für die Frage nach dem Zusammenhang
von Sozialstruktur und Semantik oder auf der Ebene von Individuen: von Handlungsresultaten und
subjektiven Deutungen.“ (Zinn 2001a: 4; Hervorhebungen im Original).

Die Ausarbeitung der konkreten Zusammenhänge auf empirischer Ebene kann


also nur gelingen, wenn auf theoretischer Ebene klar gestellt wird, mit welchen
analytischen Instrumenten diese Verbindung zwischen Mikro- und Makro-Ebene
der Individualisierung hergestellt werden kann. Vor allem an der theoretischen
Verknüpfung zwischen objektiven Veränderungen und subjektiven Sinnsetzungs-
mechanismen ist bisher kaum gearbeitet worden (vgl. Zinn 2001a).
Hier stellt sich die Frage, ob diese theoretische Diskussion nicht dadurch vo-
rangetrieben werden kann, dass man bei der Suche nach der Verbindung zwischen
Mikro- und Makro-Ebene eine etwas abstraktere Haltung einnimmt, um damit die
vielen Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung, die ja letztendlich lediglich ein-
zelne Dimensionen der Individualisierung erfassen, zu bündeln. Betrachtet man
nämlich die unterschiedlichen Beiträge zur Individualisierung aus der Vogelper-
spektive, kann folgendes herausgestellt werden: Unabhängig von schichtspezifische
48 Individualisierung und Optionenvielfalt

Schwankungen, wird davon ausgegangen, dass individualisierte Bedingungen sich


den Individuen durch einen Anstieg von Handlungsoptionen offenbaren. Dies
ergibt sich aus dem direkten Vergleich mit vormodernen Gesellschaften. Individu-
alisierte Gesellschaften zeichnen sich demnach durch das Vorhandensein mehrerer
gleichattraktiver Handlungsoptionen aus, während es in der Vergangenheit nur eine
war, die zu wählen möglich oder attraktiv war (vgl. Jagodzinski/Quand 1997).
Optionen können dabei allgemein verstanden werden als „(…) in sozialen Si-
tuationen gegebene Wahlmöglichkeiten, Alternativen des Handelns. (...) Optionen
sind die je spezifische Kombination von Anrechten und Angebot." (Dahrendorf
1994: 421f.). Sie präsentieren sich also als Handlungsrechte, die zu neuen Freihei-
ten in der Lebensgestaltung führen und als Handlungsangebote, die die Möglich-
keiten der Lebensgestaltung insgesamt erweitern. Ergänzend muss hinzugefügt
werden, dass auch Deutungsangebote als Optionen zu verstehen sind. Sie ergeben
sich aus dem Wegfall vormaliger Gewissheiten über sozial geteilte Normen, Werte
und Glauben und stehen nun zur Wahl. Beides erlaubt eine individuellere Lebens-
führung. Eine Folge dieser so verstandenen Optionenvielfalt ist die Entstehung
zukunftsoffener Lebensläufe. Sie ergibt sich daraus, dass mit der Zunahme an
Handlungsalternativen die Lebensplanung nicht mehr in einem normalbiographi-
schen Sinn vollzogen wird.

„Der Mensch wird (…) zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum homo optionis. Leben, Tod, Ge-
schlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird
sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muss, einmal zu Optionen zerschellt, ent-
schieden werden.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994c: 16f).8

Die Auswirkungen dieser Optionenvielfalt zeigen sich an neuartigen Entschei-


dungsproblematiken (Dimbath 2003). Die Individuen müssen Entscheidungen in
Situationen der Unsicherheit treffen, das heißt ohne Rückgriff auf festgeschriebene
Wert- und Normalitätsvorstellungen. Der Umgang mit Handlungsalternativen
zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass mehr Entscheidungen getroffen wer-
den müssen als dies vor der Individualisierung der Fall war.

„In erweiterten Optionsspielräumen und Entscheidungszwängen wächst der individuell abzuar-


beitende Handlungsbedarf, es werden Abstimmungs-, Koordinations-, und Integrationsleistungen
nötig. Die Individuen müssen, um nicht zu scheitern, langfristig planen und den Umständen sich
anpassen können, müssen organisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen,
Niederlagen einstecken und neue Anfänge versuchen. Sie brauchen Initiative, Zähigkeit, Flexibili-
tät und Frustrationstoleranz.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 14f.).

8 Dieser Aspekt ist in der gesellschaftstheoretischen Erweiterung der Individualisierungsthese - im


Rahmen der Theorie der reflexiven Moderne - thematisiert worden (vgl. Beck/Bonß/Lau 2004).
Individualisierung und Optionenvielfalt 49

Aus diesem vermehrten Entscheidungsdruck wird auch ein neuer Grad an Eigen-
verantwortung abgeleitet. Eine individualisierte Gesellschaft zeichnet sich demnach
auch dadurch aus, dass „Systemprobleme (…) in persönliches Versagen umgewan-
delt“ (Beck 1986: 118) werden. Damit ist ein neuer Rechtfertigungsdruck verbun-
den, sowohl für die getroffenen Entscheidungen als auch für die Nicht-Entschei-
dungen. Die Individuen müssen damit rechnen, ihre Prioritätensetzung, die sich
vor allem in lebenslaufbezogenen Entscheidungen ausdrückt, begründen zu müs-
sen.
Individualisierung zeichnet sich auf handlungstheoretischer Ebene also durch
folgende Merkmale aus: Auf Grundlage von Optionenvielfalt müssen mehr Ent-
scheidungen getroffen werden, was unter zunehmenden Druck geschieht. Außer-
dem muss das Individuum die Konsequenzen dieser Entscheidungen selbst tragen
und den Sinn bestimmter Entscheidungen begründen. Darüber hinaus lässt sich
jedoch keine Systematisierung des Entscheidungshandelns der Theoriebildung
finden und es bleibt offen, auf welcher Grundlage die Individuen ihre Wahl tref-
fen.9
Bei genauerer Betrachtung ist aber die eigentliche Sinnsetzungsproblematik,
der Entscheidung eine Handlungsoption zu wählen, vorgelagert. Dies betrifft die
Tatsache, dass Optionen erst aufgrund spezifischer Bewertungen überhaupt zu
Handlungsrechten, Handlungsangeboten und Deutungsangeboten werden. Die
Individualisierungstheoretiker gehen dabei davon aus, dass den freigesetzten Indi-
viduen durch den Verlust allgemein verbindlicher Wertsysteme „keine anderen
Kriterien zur Verfügung als die eigenen Präferenzen“ (Habermas 1992: 238) zur
Verfügung stehen. Gleichzeitig wird aber angenommen, dass diese Präferenzen mit
steigender Optionenzahl unsicherer werden, weshalb die Individuen wieder Hilfs-
mittel nutzen, um überhaupt Optionen wählen zu können. Beck deutet das mit
dem Hinweis auf die Gefahr einer zunehmenden Außensteuerung an. Hierdurch
wird das Individuum zum „Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und
Märkten“ (Beck 1986: 211). Man bekommt an dieser Stelle und vor dem Hinter-
grund der dargestellten Beschreibung der individualisierten Handlungslogik, den
Eindruck, als ob die Präferenzsetzungen zwar als Voraussetzung für individuali-
siertes Handeln betrachtet werden, aber letztendlich doch wieder nicht beim Um-
gang mit Optionenvielfalt taugen. Es scheint, dass Beck sich hier allzu schnell mit
dem Hinweis auf Orientierungshilfen aus der Affäre zieht, deshalb soll im Folgen-
den der Präferenzsetzungsproblematik etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt
werden.

9 Versuche, eine handlungstheoretische Fundierung der Individualisierungsthese zu entwickeln,


finden sich in dem Band „Handeln unter Unsicherheit“ von Fritz Böhle und Margit Weihrich (vgl.
Böhle/Weihrich 2009). Hierbei wird vor allem aus Rational Choice Perspektive argumentiert. Ul-
rich Beck hat an diesen Ansätzen jedoch kritisiert, dass sie das Grundproblem der individualisier-
ten Handlungslogik nicht zu lösen vermag: Den Umgang mit ontologischer Unsicherheit.
50 Individualisierung und Optionenvielfalt

Die Präferenzen, die der Bewertung von Handlungsoptionen zugrunde liegen,


lassen sich genauer bestimmen. Der Begriff wird im Rahmen der rationalen Ent-
scheidungstheorie benutzt, um erklären zu können, welcher Handlungsalternative
die Individuen auf Basis eines Kosten-Nutzen-Vergleichs den Vorzug geben. Diese
Definition greift zur Grundlegung einer individualisierten Handlungslogik freilich
zu kurz, da die Bestimmung einer präferenzorientierten Bewertung hierbei berück-
sichtigen muss, dass diese sich aus bisherigen Erfahrungen, situativen Bedingungen
und angestrebten Zielen zusammensetzt. Der Einfluss bisheriger Erfahrungen auf
das Handeln beschreibt dabei im Allgemeinen die Sozialisationsbedingungen. Die
situativen Bedingungen können vielfältiger Art sein. Sie reichen vom momentanen
lebensgeschichtlichen Entwicklungsstand bis hin zur Verfügbarkeit von Ressour-
cen. Vor allem die Verfügbarkeit von Ressourcen ist hierbei entscheidend, da sie
ganz grundlegend Einfluss darauf nimmt, wie groß die Zahl der Optionen für die
Individuen tatsächlich ist. Darüber hinaus wird die Wahrnehmung von Optionen
durch spezifische Zielsetzungen beeinflusst. Dabei ergibt sich die Möglichkeit
eigene Zielsetzungen auszubilden und sein Leben danach auszurichten, aus der
Zukunftsoffenheit von Lebensläufen. Für die Individuen, die sich mit verfügbaren
Optionen auseinandersetzen, geht es unter individualisierten Bedingungen nun vor
allem darum, eine Zukunft zu entwerfen und zur Grundlage des aktuellen Han-
delns zu machen. Nur so wird die eigene Lebensgeschichte als planbar empfunden
(vgl. Schimank 2002: 83; Schroer 2006: 41).
So erfolgen die Bewertungen von Optionen also vor dem Hintergrund bisheri-
ger Erfahrungen, situativer Bedingungen, wozu vor allem die Ressourcenverfüg-
barkeit gehört und der Zielsetzungen, wobei die Entwicklung von Zielsetzungen
das eigentliche Handlungsproblem in der individualisierten Handlungslogik dar-
stellt, weil die Individuen unter individualisierten Bedingungen nicht handeln kön-
nen. Dieser an den Zielsetzungen ausgerichtete Bewertungsprozess stellt jedenfalls
den eigentlichen Sinnsetzungsvorgang unter individualisierten Bedingungen dar
und es kann auf dieser Grundlage aus Sicht des Individuums erklärt werden, wa-
rum nur bestimmte Optionen für das Individuum relevant sind.
Es scheint deshalb lohnenswert, sich den Fragen nach einer Theorie über die
Handlungslogiken unter individualisierten Bedingungen in Abhängigkeit von den
Zielsetzungsmechanismen zu nähern, da sich so der tatsächliche Freiheitsgrad in
der Auseinandersetzung mit Optionen zeigt. Ein theoretischer Zugang dieser Art
liegt derzeit nicht vor.10 Der Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von

10 Abgesehen von dem Artikel von Jürgen Friedrichs (vgl. Friedrichs 1998) und den aktuellen Bei-
trägen im Band von Böhle/Weihrich 2009, in dem die Becksche Individualisierungsthese in eine
Rational Choice Handlungstheorie eingebettet wird. Allerdings wird hier das Problem der man-
gelnden Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung zwar aufgedeckt, aber letztendlich nicht
gelöst. Während Friedrichs davon ausgeht, dass Optionen wahrgenommen werden müssen, weil
Individualisierung und Optionenvielfalt 51

Optionenvielfalt, ihrer individuellen Bewertung und der letztendlichen Auswahl


von Optionen wird im Folgenden näher ausgeführt, um den Zugang zu der im
zweiten Kapitel zu entwickelnden handlungstheoretischen Fundierung der Indivi-
dualisierungstheorie offen zu legen.

1.5 Umgang mit Optionenvielfalt – Grundlage für eine


handlungstheoretische Fundierung

Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Optionen, verstanden als Handlungs-
rechte, Handlungsangebote und Deutungsangebote auf der Grundlage von Zielset-
zungen bewertet werden und damit die Wahl steuern, ist es erforderlich die Mög-
lichkeiten im Umgang mit Optionen genauer in Augenschein zu nehmen. Im Rah-
men der Individualisierungstheorie wurden hierzu keine systematischen Überle-
gungen angestellt, da es dort lediglich darum ging zu zeigen, dass Optionen zuge-
nommen haben und dass die Individuen wählen müssen. Eine phänomenologische
Betrachtung von Optionen kann hierzu wertvolle Impulse geben.
Reinhold Esterbauer hat in seinem Werk „Anspruch und Entscheidung“ (vgl.
Esterbauer 2002) eine Phänomenologie der Entscheidung erarbeitet, in der es um
das Problem des Umgangs mit und der Wahrnehmung von Optionen geht. Ester-
bauers Analyse dient zwar schwerpunktmäßig der Beschreibung von Heiligenerfah-
rungen, allerdings enthält sein Werk eine erfahrungstheoretische Konzeption von
Wirklichkeit, die hier auf allgemeine Bedingungen der Optionenvielfalt übertragen
werden soll. Esterbauers Ausgangspunkt ist, den Anstoß individueller Erfahrungen
aus einer Störung des Alltags abzuleiten. Das Individuum wird von der Wirklichkeit
angesprochen und kann nur so zu Erfahrungen über sich selbst in Auseinanderset-
zung mit der Wirklichkeit kommen. Esterbauer fasst dies mit dem Begriff des Ans-
pruchs und meint damit im wörtlichen Sinne „angesprochen werden“.
Abgesehen von habitualisiertem Routinehandeln ist Handeln immer Antwort
auf eine solche Störung. „Wirklichkeit kann sich so aufdrängen, dass eine Antwort
unausweichlich ist, sei es, dass man dem Anspruch nachkommt, sei es, dass man
sich ihm verweigert.“ (Esterbauer 2002: 214). Damit sind Unterbrechungen des
Alltags gemeint, die sich als Infragestellen bisheriger eingespielter Handlungsab-
läufe äußern (vgl. ebd.: 214). Das Individuum nimmt also veränderte Bedingungen
wahr, die es zu einer neuen Situationsdefinition veranlassen. Diese bewirkt, wenn
nicht zwingend Neuorientierung, so doch zumindest einen Selbstvergewisserungs-
vorgang im Sinne der eigeninitiativen Herstellung der inneren Ordnung. „Solche
Antwort in Vergewisserung oder Neuorientierung erweist sich also als Aufgabe,

sich ansonsten keine Überforderung ergeben kann, wird bei Böhle/Weihrich von Instabilitäten
innerhalb der Präferenzsetzungen im Umgang mit Optionen ausgegangen.
52 Individualisierung und Optionenvielfalt

vor die der Anspruch der Wirklichkeit die erfahrene Person stellt. Aufgegeben ist
eine Antwort auf den Anspruch, dessen man sich nicht entziehen kann.“ (Ester-
bauer 2002: 215).
Damit wird deutlich, dass die Störung der Person durch die Wirklichkeit jegli-
che Form von Aktivierung umfasst. Diese Störungen sind vielfältig und nehmen
unter individualisierten Bedingungen zu. Dem Individuum erscheinen sie als Mög-
lichkeiten zu Handeln. Das Individuum muss sich deshalb mit den unterschiedli-
chen Optionen auseinandersetzen. Dabei beabsichtigt es, die Störung des Alltags
abzustellen und wieder Stabilität zu erzeugen. Diese erreicht das Individuum ent-
weder durch Ignorieren der Option oder mittels einer durch die Option angesto-
ßene Neuordnung.
Das Ignorieren der Option kann dabei auf zweierlei Arten erfolgen. Die Op-
tion kann zum einen registriert und für die eigenen Handlungspläne als irrelevant
betrachtet werden. Ignorieren kann aber auch bedeuten, dass es zu einer entschie-
denen Zurückweisung von Optionen kommt. Dieses Ignorieren löst dann einen
Abgrenzungsvorgang aus. Das Individuum kann sich so bewusst einer Option ver-
schließen oder sie verdrängen, aber auch dies ist eine Reaktion, welche die wahrge-
nommene Option ausgelöst hat. In beiden Fällen hat die Option also eine Ent-
scheidung bewirkt.
Neben dem Ignorieren und dem damit verbundenen Abgrenzen und Verdrän-
gen von Optionen gibt es auch unterschiedliche Möglichkeiten der Aneignung.
Diese erfolgen entweder direkt über einen Identifikationsprozess oder über Um-
formungen der Option zu einer passenderen.

„Selbst die Übernahme einer von vielen gewählten Lebensform braucht das Moment der Aneig-
nung. Sonst wird die übernommene Lebensform nie die eigene, mit der sich die wählende Person
auch identifiziert. (...) Solche Identifikation ist durch den Anspruch und ihren Ernst gefordert.“
(Esterbauer 2002: 241).

Damit zeigt sich, dass die Aneignung ein wesentlicher Schritt zur Klärung des
Umgangs mit Optionen unter individualisierten Bedingungen darstellt. „Dadurch,
dass der Mensch sich Dinge aktiv zueigen machen kann, gelangt er zur Selbstän-
digkeit.“ (Ritsert 1981: 295). Eine Option muss zur individuell eigenen Möglichkeit
werden. Diese Umgangsweisen führen dazu, dass durch Neuentdeckung oder auch
Verwerfung bestimmter Lebensmotive die Lebensläufe immer wieder verändert
werden oder vom Individuum immer wieder stabilisiert werden müssen.
Darüber hinaus zeichnen sich Optionen vor allem dadurch aus, dass sie nicht
verschwinden, auch wenn die Individuen sie ignorieren.11 Hinzu kommt, dass zwi-
schen der Option und der Antwort durch das Individuum immer eine Kluft bleibt,

11 Das ist eine Eigenschaft, die Peter Gross in seiner Zeitdiagnose der „Multioptionsgesellschaft“ in
den Mittelpunkt seiner Betrachtung rückt.
Individualisierung und Optionenvielfalt 53

weil die Störung zwar eine Handlung fordert, aber nicht klarstellt, welche Handlung
angemessen ist (vgl. ebd.: 242). Optionen werden auch von Person zu Person un-
terschiedlich wahrgenommen. Deshalb fallen die Reaktionen darauf verschiedenar-
tig aus.

„Zum einen bestimmt die Person in ihrer individuellen Eigenart mit, wie der Anspruch bei ihr an-
kommt und so seine Konkretheit und seinen individuellen Charakter erhält. Zum anderen ent-
scheidet die Person, wie sie ihr Leben gestalten will, und prägt so die Art der Antwort mit.“ (ebd.:
237).

Hier zeigt sich, dass Esterbauer ebenfalls den Umstand berücksichtigt, dass sowohl
spezifische sozialisatorische Prägungen als auch die individuellen Zielsetzungen im
Wesentlichen die Wahl von Optionen steuern. Die Prägungen werden dabei jedoch
nur aus den Erfahrungen mit Optionen abgeleitet. „Schon Gelungenes oder durch
Erfahrung Bestätigtes wird von der betroffenen Person als tragend für das eigene
Leben akzeptiert werden, während hingegen das Misslungene oder die Formen,
deren Erprobung gescheitert ist, ersetzt werden sollen.“ (ebd.: 242). Hier bleiben
jene Kräfte, die die Wahrnehmung von Optionen von vornherein beeinflussen, wie
z.B. der Bildungsstand oder die Schichtzugehörigkeit außen vor. Esterbauer argu-
mentiert mit der Haltung, dass Individuen immer schon versucht haben, bestimmte
Optionen zu nutzen. Erst die Erfahrung des Scheiterns bringt die Einsicht, dass
bestimmte Optionen für die Gestaltung des Lebens nicht mehr genutzt werden
können. Er übersieht hier, dass es aufgrund der Prägungen jedoch zu einem spezi-
fischen Ignorieren von Optionen kommt, weshalb die Individuen mit ihnen auch
keine Erfahrungen machen können.
Insgesamt ist diese Konzeptionalisierung der Umgangsweise mit Optionen ei-
ne wertvolle Erweiterung und soll hier als Grundlage für eine handlungstheoreti-
sche Betrachtung dienen. Optionen werden also im Folgenden als Störungen des
Alltags verstanden. Der Umgang mit ihnen ist durch spezifische sozialisatorische
Prägungen und individuelle Zielsetzungen beeinflusst. Der Umgang erfordert dar-
über hinaus immer eine Bewertung und die Individuen können Optionen ignorie-
ren oder zurückweisen oder übernehmen. Wenn sie als Handlungsmöglichkeit
relevant werden, ist die Voraussetzung dafür jedoch, dass das Individuum sich mit
dieser Option identifiziert.
Im Folgenden geht es nun aber zuerst einmal darum, die Zielsetzungen, die
den Umgang mit Optionen regeln, genauer zu fassen.

1.5.1 Optionenvielfaltbedingungen und die Entwicklung von Identität

Mit dem Ziel der Entwicklung einer individualisierten Handlungslogik muss her-
ausgestellt werden, wie die Zielsetzungsmechanismen näher gefasst werden kön-
54 Individualisierung und Optionenvielfalt

nen. Auch dafür scheint es lohnenswert, mit einer abstrakteren Haltung zu einer
allgemeinen Funktionsbestimmung dieser Zielsetzungen zu kommen. In der Defi-
nition von Individualisierung, die am Anfang des Kapitels vorgestellt wurde, mün-
det Individualisierung in einer zunehmenden Betonung der Individualität des Men-
schen und drückt sich darauf aufbauend in einer veränderten Identität aus. Dies
wird aus dem Umstand abgeleitet, dass die Freisetzungs- und Entzauberungsdi-
mension der Individualisierung dazu führt, dass Identitäten nicht mehr festge-
schrieben sind und von den Individuen selbst hergestellt werden müssen. Aus der
Perspektive des Handelnden ist dies also das grundlegende Ziel des Umgangs mit
Optionenvielfalt. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern die Individualisierungsthe-
oretiker sich den Besonderheiten dieser Identitätsentwicklung gewidmet haben.
Ulrich Beck nimmt weder in „Risikogesellschaft“ noch später eine Bestimmung
einer veränderten Identität vor.
Zur Unterscheidung von zwei grundsätzlich verschiedenen Dimensionen der
Identitätsbildung, findet sich bei anderen Theoretikern die Gegenüberstellung von
persönlicher und sozialer oder Ich- und Wir-Identität (vgl. Lohauß 1995). Damit
einher geht die Vorstellung von der Individuation des Menschen. Sie lässt eine Un-
terscheidung zwischen persönlicher und sozialer Identität wichtig werden. Indivi-
duation beschreibt die Ablösung der persönlichen von der sozialen Identität in
dem Sinne, dass die Ich-Werdung entgegen gesellschaftlichen Rollenvorstellungen
zum Selbstzweck wird. Diese Veränderung wird unter dem Begriff „individuali-
sierte Identität“ (Taylor 1994: 17) gebündelt. Darüber hinaus wird Identitätsbildung
als lebenslänglicher Entwicklungsprozess beschrieben (vgl. Behringer 1998). Auf
Grundlage wahrgenommener erweiterter Handlungsoptionen bestimmt das Indivi-
duum sich als veränderliches Wesen.
Zur Kennzeichnung dessen benutzen Individualisierungstheoretiker oft den
Begriff der Identitätsarbeit (vgl. Cohen/Taylor 1977). Sie sehen darin, entspre-
chend der Doppeldeutigkeit der Individualisierung, nicht nur ein Bedürfnis der
Individuen nach Selbstbestimmung, sondern auch eine Anforderung: Identitätsbil-
dung ist „(...) eine normative Forderung, die Eigenschaften, die mich einmalig
machen, als Identitätskriterien zu betonen, zu entwickeln und herauszuarbeiten.“
(Frey/Haußer 1987a: 9).
Die gleiche Doppeldeutigkeit spiegelt sich auch in dem Begriff der Bastelbio-
graphie, der von Beck und Beck-Gernsheim immer wieder benutzt wird. Vor allem
wird betont, dass die Bastelbiographie immer auch von dem Risiko des Scheiterns
bedroht ist und so zu einer „Bruchbiographie“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 13)
werden kann. Es geht hier aber wiederum nur darum, diese Gefahr zu benennen,
deren Bedingungen aber nicht weiter zu erforschen.
Auf handlungstheoretischer Ebene ist die Verfügbarkeit von Optionenvielfalt
die Grundlage für Veränderungsmöglichkeiten der individuellen Entwicklung. In
den Beiträgen zur Individualisierungstheorie wird der Zusammenhang zwischen
Individualisierung und Optionenvielfalt 55

Optionenvielfalt und einer offenen Identitätsentwicklung zwar problematisiert,


aber in ihrem Verlauf nicht erklärt. Unklar bleibt auch hier, wie die Auswahl von
Optionen im Rahmen einer offenen Identitätsentwicklung erfolgt und welche Kri-
terien auf Seiten des Individuums dabei eine Rolle spielen.
Mit Hilfe der ausgearbeiteten Zusammenhänge zur individualisierten Hand-
lungslogik kann die Identitätsarbeit bereits näher bestimmt werden. Grundlage für
die Entwicklung von Identität ist unter individualisierten Bedingungen neben den
individuellen Präferenzen und den bisherigen Erfahrungen mit Optionen auch die
Fähigkeit zur Aneignung von Optionen. Damit zeigt sich die neue Problematik,
dass Identitätsentwicklung davon abhängt, inwiefern die Individuen in der Lage
sind, sich mit bestimmten Optionen zu identifizieren. Identitätsbedrohungen ent-
stehen demzufolge dann, wenn die eigenen Präferenzen unsicher werden oder
Optionen nicht in Verbindung mit eigenen Zielsetzungen gebracht werden.
Um diese Mechanismen besser nachzuvollziehen, ist es nötig die Perspektive
auf diese Zusammenhänge zu verschieben. Da der Begriff der Identitätsbildung
immer auf das Ergebnis der hier herausgearbeiteten Probleme abzielt, scheint ein
anderes Konzept zur Beschreibung ihres Verlaufs besser geeignet zu sein. Das
Gesamt an Handlungen, die unter individualisierten Bedingungen zum Zweck der
Identitätsbildung durchgeführt werden, kann eher mit dem Begriff der Selbstver-
wirklichung gefasst werden. Sie bildet insofern den Prozess der identitätserzeugen-
den Entwicklungsschritte ab, als dass der Umgang mit Optionen auf Grundlage
eigener Zielsetzungen beobachtet werden kann. Selbstverwirklichung wird inner-
halb der Individualisierungsdebatte als Leitbild verwendet, ist aber nicht systema-
tisch zu einem allgemeinen Handlungsmotiv ausgearbeitet worden. Als rein de-
skriptiver Begriff kann er die Nutzung von Handlungsstrategien unter Bedingun-
gen der Optionenvielfalt nicht umfassend erklären. Es mangelt auch hier an einer
Handlungstheorie zum Umgang mit Optionenvielfalt, die nicht auf der Erörterung
von Handlungsmotiven stehen bleibt, sondern ebenfalls erklärt, wie diese sich in
Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen ausbilden und verändern.
Im Folgenden sollen deshalb andere Begriffsbestimmungen daraufhin unter-
sucht werden, inwiefern sie bei der Suche nach Konkretisierungen hinsichtlich der
Zielsetzungsmechanismen, die das selbstverwirklichende Handeln vorantreiben,
behilflich sein können.

1.5.2 Selbstverwirklichung und Zielsetzungsstrategien

Der Gedanke der Selbstverwirklichung wurde ursprünglich im Rahmen des Deut-


schen Idealismus als wissenschaftlicher Terminus eingeführt. Selbstverwirklichung
hatte vor allem bei Kant wie auch bei Hegel eine moralische Dimension und diente
56 Individualisierung und Optionenvielfalt

der Verwirklichung eines Ideals. Ziel war der vernunftbegabte Umgang mit Frei-
heit.
Im Zuge der Entwicklung der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert wurde Selbst-
verwirklichung erneut als Thema aufgegriffen (vgl. Paulus 1994). Während Sig-
mund Freud davon ausging, dass das Unterbewusste stärkste Triebkraft des Lebens
ist, verlagerte sich der Blick im Zuge der Weiterentwicklung der Psychoanalyse auf
ein Selbst, das sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann und in seiner Ent-
wicklung offen ist. Darüber hinaus wurde Selbstverwirklichung erstmals von Kurt
Goldstein als die Verwirklichung von Fähigkeiten definiert. (vgl. Goldstein 1947).
Er stellt das Schöpferische, Kreative und Spontane des Individuums in den Mit-
telpunkt und leitet daraus den Drang nach Selbstverwirklichung ab. Die in den
1950er Jahren aufkommende humanistische Psychologie führte diese Vorstellung
weiter. „Unter günstigen Umweltbedingungen kommt es zur Entfaltung individu-
eller Motive und Kompetenzen und zu einer vertieften Selbst-Bewusstwerdung.“
(Nolting/Paulus 1999: 166).
Carl Rogers hat darauf aufbauend einen allgemeinen Ansatz entwickelt, der
Selbstverwirklichung zum Kern der individuellen Entwicklung macht.

„Ob man dies eine Tendenz zur Entfaltung, einen Drang zu Selbstaktualisierung oder eine sich
vorwärtsentwickelnde Gerichtetheit nennt, es handelt sich um die Haupttriebfelder des Lebens
(…) Es ist der Drang, der sich in allem organischen und menschlichen Leben zeigt: sich auszu-
weiten, auszudehnen, zu entwickeln, autonom zu werden, zu reifen; die Tendenz, alle Fähigkeiten
des Organismus in dem Maße auszudrücken und zu aktivieren, in dem solche Aktivierung den Or-
ganismus sich entfalten lässt oder das Selbst steigert.“ (Rogers 1985: 49).

Selbstverwirklichung hat hier zwei Dimensionen. Zum einen die Suche nach per-
sönlicher Entfaltung, was man als Selbstbestimmung fassen kann. Und zum ande-
ren die Selbstüberschreitung.
Diese Dimensionen rekurrieren auf unterschiedliche Elemente. Die Selbstbe-
stimmung konzentriert sich auf eine Autonomisierung des Selbst. Grundlegend ist
hierfür die Wahrnehmung von Handlungsspielräumen, die als Möglichkeiten für
eine Erweiterung der persönlichen Entwicklung gelesen werden. Selbstüberschrei-
tung arbeitet mit der Zukunft des Selbst als das Noch-möglich-Werdende, bei dem
zukünftige Entwicklungsschritte als eine Verbesserung des momentanen Ist-Zu-
stands entworfen werden. Ein Problem der Definition von Selbstverwirklichung
besteht allerdings darin, dass kein Ideal festgelegt werden kann, das einem vollstän-
dig selbstverwirklichten Leben entspricht. Es lässt sich kein Endzustand bestim-
men, was dazu führt, dass Selbstverwirklichung immer weiter getrieben wird. In der
Psychologie wird das Streben nach Selbstverwirklichung deshalb als idealtypisch für
psychische Gesundheit betrachtet. An diesem Aspekt setzen die Therapiekonzepte
an. Sie orientieren sich an der Vorstellung, dass Menschen, die nicht nach Selbst-
verwirklichung streben, krank seien (vgl. Illouz 2006: 72).
Individualisierung und Optionenvielfalt 57

Darauf aufbauend definiert Abraham Maslow Selbstverwirklichung in seinem


motivationspsychologischen Ansatz ebenfalls als den Drang, seine Umwelt nach
seinen eigenen Zielen zu gestalten, die eigenen Anlagen zu entwickeln und seine
Vorstellungen durchzusetzen (vgl. Maslow 1977: 88). Selbstverwirklichung setzt
auch in seiner Vorstellung immer die Überschreitung des bisher Gewordenen zum
Ziel und dient der Verwirklichung eines inneren Kerns.
Die kritische Theorie argumentiert demgegenüber, dass Selbstverwirklichung
nur dann erfolgreich sein kann, wenn ihr keine Entfremdung durch gesellschaftli-
che Erwartungen zugrunde liegt. Es werden demnach „falsche Bedürfnisse“ ausge-
bildet, die z.B. durch Konsum befriedigt werden (vgl. Marcuse 1967). Es stellt sich
jedoch die Frage, wie eine selbstbestimmte Selbstverwirklichung theoretisch erfasst
werden und wie man diese von Fremdbestimmungseinflüssen getrennt bestimmen
kann.
Nach Maslow gehört das Scheitern im gleichen Maße zur Selbstverwirklichung
wie das Erreichen aller selbst gesteckten Ziele. Damit kommt eine weitere Dimen-
sion hinzu, die bereits bei Esterbauer als Voraussetzung für die Auseinanderset-
zung mit Optionen eingeführt wurde. Selbstverwirklichungsstreben orientiert sich
an seinem möglichen Ergebnis. Angestrebt wird nur das, was Erfolg verspricht.
Dies stellt eine weitere Ligatur beim Umgang mit Optionen dar. Die Bestimmung
dessen, was Erfolg versprechend ist, kann nur unter Rekurs auf vergangene Erfah-
rungen geschehen. Dies erfolgt durch einen selbstreflexiven Vorgang der Selbst-
vergewisserung. Die Selbstvergewisserung orientiert sich am bisherigen identitäts-
geschichtlichen Entwicklungsstand und legt in Abhängigkeit davon einen mögli-
chen Kann-Zustand der Entwicklung fest. Ob dieser erreicht wird, ist unsicher,
aber der Erfolg mit anderen Zielsetzungen gibt Sicherheit für diese Form der Wei-
terentwicklung. Selbstverwirklichung schreitet also immer auf der Grundlage des
bereits Gewordenseins voran. Der Umgang mit Optionen ist somit eingeschränkt.
Damit ist eine weitere Besonderheit verbunden, die sich aus der Betrachtung
des Strebens nach Selbstverwirklichung ergibt. Die Erarbeitung von Zielsetzungen,
welche die Wahl bestimmter Optionen steuert, wird für die Selbstdarstellung eben-
falls ein wichtiger Aspekt. Die Selbstdarstellung hat sich unter individualisierten
Bedingungen insofern verändert, als dass in ihr die Individualität der Person stärker
herausgestellt wird.12 Individualisierte Bedingungen erfordern die Präsentation der
Einzigartigkeit jenseits sozialer Erwartungshaltungen. In diese veränderte Form der
Selbstdarstellungen müssen Zielsetzungen einfließen, da sich nur so erkennen lässt,
wie sich die Individuen ihr Leben vorstellen. Nur dadurch wird für die anderen die
individuelle Ausgestaltung der Selbstverwirklichung ersichtlich. Und für die Indivi-
duen ergibt sich so die Möglichkeit einer Selbstvergewisserung.

12 Dies steht im Gegensatz zu der Vorstellung von Erving Goffman, der sich auf die Selbstdarstel-
lung als Rollenverhalten konzentriert hat (vgl. Goffman 1988).
58 Individualisierung und Optionenvielfalt

Mit dieser Erweiterung der Bestimmung von Selbstverwirklichung als Zielset-


zungsprozess wird verständlich, dass die Bewertung von Optionenvielfalt im We-
sentlichen von den Zielen der Selbstverwirklichung gesteuert wird. Die drei Ele-
mente der Selbstverwirklichung, d.h. die Selbstbestimmung, Selbstvergewisserung
und Selbstüberschreitung erlauben weitere Annäherungen an die Problematik des
Umgangs mit Optionenvielfalt. Die drei Elemente müssen notwendig zusammen
wirken, um Selbstverwirklichung zu realisieren. Optionenvielfalt ist der Hand-
lungskontext, unter dem Selbstverwirklichung stattfinden kann. Selbstverwirkli-
chung heißt insgesamt, dass sich das Individuum als Handlungszentrum begreift
und sich aktiv und selbstreflexiv mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten
zur Lebensgestaltung auseinandersetzt. Das Individuum lebt mit konkreten Er-
wartungen an die Gestaltung des eigenen Lebens, orientiert sich dabei an den bis-
herigen Erfolgen und lässt dies in seine Selbstdarstellung einfließen.
Dieser Ansatz für eine handlungstheoretische Fundierung der Individualisie-
rungstheorie, der den Umgang mit Optionen im Rahmen von Selbstverwirklichung
als Zielsetzungsprozess klären hilft, soll im Folgenden in eine Analyseperspektive
einfließen, die es ermöglicht, die Handlungslogik unter individualisierten Bedin-
gungen zu beschreiben.

1.6 Theoretischer Zugang für die Erklärung individualisierter


Handlungslogik

Die in den vorherigen Abschnitten erarbeiteten Zugänge zu einer handlungstheo-


retischen Fundierung der Individualisierung zeigten, dass die Zielsetzungsmecha-
nismen der Individuen nur unzureichend in den Theoriekonzepten der Individuali-
sierungsdebatte thematisiert werden. Das hierbei zutage tretende Hauptproblem
besteht in der mangelnden Erklärung der Zusammenhänge zwischen einer objektiv
vorhandenen Optionenvielfalt, ihrer subjektiven Wahrnehmung und Bewertung
sowie den daraus folgenden Handlungslogiken.13
Bisher konnte gezeigt werden, dass ein Erklärungsansatz zum Umgang mit
Handlungsalternativen nicht ohne die Berücksichtigung der Folgen für die Identi-
tätsbildung auskommt. Die Entscheidungen, welche die Individuen hinsichtlich der
Wahl von Optionen treffen, sind Teil eines lebenslang andauernden Prozesses der
Identitätsentwicklung. Zur näheren Klärung dieser Entscheidungsproblematik
konnte mit dem Konzept der Selbstverwirklichung ein Ansatz erarbeitet werden,
der zeigt, dass die Optionenwahl von einer speziellen Zielsetzungsstrategie ab-

13 In den aktuellen Ausarbeitungen im Rahmen der Reflexiven Modernisierungstheorie verschieben


sich die Erklärungsansätze zu Unsicherheiten beim Handlungserfolg. Nicht die Unsicherheit über
Optionenvielfalt ist hier ausschlaggebend, sondern die Erfassung der Realisierungschancen von
Zielsetzungen angesichts wegbrechender Sicherheiten.
Individualisierung und Optionenvielfalt 59

hängt, die als Teil einer individualisierten Handlungslogik betrachtet werden muss.
Ihre theoretische Konzeptionalisierung ist Ziel der folgenden Ausführungen. Dazu
bedarf es der näheren Klärung einiger Grundlagen für theoretische Erklärungs-
möglichkeiten von Handlungsstrategien unter Berücksichtigung ihrer sozialen
Einbettung.
Die klassischen soziologischen Theorieperspektiven können in handlungs- und
systemtheoretische Zugänge unterteilt werden. Sie gehen im Großen und Ganzen
auf die von Max Weber vorgenommene analytische Trennung zwischen verstehen-
der und erklärender Soziologie zurück (vgl. Weber 1925). Weber legte bekanntlich
als erster den Unterschied zwischen dem Sinnverstehen von individuellen Hand-
lungsantrieben und dem ursächlichen Erklären der Folgen von individuellen Hand-
lungen auf kollektiver Ebene fest. Er unterscheidet dabei zwischen einem bloßen
Verhalten und einem Handeln, das einen subjektiv gemeinten Sinn verfolgt. Han-
deln ist damit durch eine spezifische Handlungsmotivation gekennzeichnet.
Zur näheren Klärung dieser Handlungsmotivationen unterschied Weber be-
kanntlich vier Handlungstypen, die für die Weiterentwicklung der soziologischen
Handlungstheorie wesentlich waren. Dazu gehört das zweckrationale, das wertra-
tionale, das traditionale und das affektuelle Handeln (Weber 1925: 12ff). Unter dem
zweckrationalen Handeln versteht man das Anstreben eines bestmöglichen Hand-
lungsergebnisses unter Berücksichtigung der Wahl der dafür geeignetesten Mittel.
Das wertrationale Handeln verfolgt keinen bestimmten Zweck. Es hat einen Ei-
genwert und wird auf Grundlage von Geboten und Forderungen ohne Rücksicht
auf die Folgen durchgeführt. Weber nennt als Gebote „Pflicht, Würde, Schönheit,
religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘“ (Weber 1925: 12).
Diesem Handeln liegt eine moralische Bewertung zugrunde, die nicht nur der Er-
füllung gesellschaftlich vorgegebener Normen dient, sondern eine vom Akteur
selbst gesetzte Handlungsnorm sein kann (Etzrodt 2006: 263f.). Das traditionale
Handeln bezeichnet Weber als nicht-sinnhaftes Handeln, da ihm keine Motivation
zugrunde liegt und das deshalb als Habitualisierung vollzogen wird. Es ist demnach
ein Handeln, das aus Gewohnheit durchgeführt wird und keiner Reflexion mehr
bedarf. Das affektuelle Handeln beinhaltet zwei Komponenten. Zum einen das
bloße Reagieren auf äußere Reize und zum anderen das emotional begründete
Handeln. Nach Weber steht dieser Handlungstyp an der Grenze zum bloßen Ver-
halten. Handeln ist es nur, wenn ihm ein gewisser Grad an Reflexion zugrunde
liegt, auch wenn das Handeln spontan geschieht.
In Anlehnung an Weber entwickelte Alfred Schütz eine Erweiterung der hand-
lungstheoretischen Grundlegung der verstehenden Soziologie. Er postuliert ebenso
wie Weber, dass jeder soziale Gegenstand auf menschliche Handlungsmotive zu-
rückgeführt werden muss, um verstanden werden zu können (vgl. Schütz 1972:
11f.). Schütz` Sozialtheorie beginnt deshalb mit der Rekonstruktion subjektiver
Handlungsgründe. Er unterscheidet Zielsetzungs- (Um-zu) und Begründungs-
60 Individualisierung und Optionenvielfalt

(Weil-) Motive (vgl. ebd.: 15). Die Um-Zu-Motive ergeben sich aus der Auseinan-
dersetzung mit geplanten Handlungsvollzügen. Sie beschreiben die Erwartung, die
mit dem Durchführen einer bestimmten Handlung verbunden ist. Die Weil-Motive
rekurrieren auf Erfahrungen mit bereits durchgeführten Handlungen. Sie können
also nur rückwirkend erfasst werden und dienen der Begründung einer Handlung,
die entweder nichts mit den tatsächlichen Gründen der Handlung zu tun haben
oder auf die „echten“ Weil-Motive verweisen. Das Verstehen von dem so kon-
zipierten sinnhaften Handeln soll auf idealtypischem Wege erfasst werden, d.h.,
„(…) um es zu verstehen, genügt es, typische Motive von typischen Akteuren zu
finden, welche das Handeln als ein typisches solches erklären, das aus einer typi-
schen Situation entstand.“ (ebd.: 14). Aufgrund dieser Objektivierung von subjekti-
ven Handlungsgründen wird das Verstehen von sozialen Gegenständen und Pro-
zessen möglich.
Diese Herangehensweise an die Analyse individueller Handlungen unter Rück-
griff auf individuelle Handlungsmotive spiegelt sich in den unterschiedlichen
Handlungstheorien der Soziologie. Klassischerweise werden Individuen entweder
als rationale oder normorientierte Akteure betrachtet, um die Durchführung von
Handlungen zu verstehen. Darüber hinaus finden sich Theoriezugänge, die als
grundlegende Handlungsmotivation die Identitätsbehauptung oder die Emotiona-
lität betrachten (vgl. Schimank 2000).
Ausgehend von der Unterscheidung dieser vier Handlungstypen stellt sich in
der Soziologie das Problem der Handlungsbedingungen und der Handlungsfolgen.
Die Handlungsbedingungen sind soziale Einflüsse, welche die Handlungswahlen
situativ rahmen. Die Handlungsfolgen beschreiben die Effekte individuellen Han-
delns auf der kollektiven Handlungsebene. Da für die hier verfolgte handlungsthe-
oretische Fundierung der Individualisierungstheorie lediglich die Mikroebene rele-
vant ist, wird neben der Erarbeitung des Zusammenhangs von Handlungsmotiva-
tion und Handlungsbedingung, nur die Konzeptionalisierung von individuellen
Handlungsfolgen erfasst.
Hartmut Esser hat diese Zusammenhänge in Auseinandersetzung mit dem
Konzept der analytisch-nomologischen Erklärung von Carl Hempel und Paul Op-
penheim (vgl. Hempel/Oppenheim 1948) und der Hypothese der “Achieving
Society“ von David McClelland (vgl. McClelland 1961: 47ff) zu einem Grundmo-
dell der soziologischen Erklärung ausgearbeitet (vgl. Esser 1993: 98). Es geht dabei
bekanntlich um die Klärung des Kausalitätsverhältnisses zwischen sozialen Situati-
onen und kollektivem Explanandum. Dies geschieht in erster Linie durch die Ana-
lyse der von einem Akteur vollzogenen Handlungen, denn „Akteure treffen aktiv
Handlungsentscheidungen unter strukturellen Bedingungen“ (Kron 2005: 319).
Esser nennt dies die Vertiefung der soziologischen Erklärung.
Individualisierung und Optionenvielfalt 61

„Selbst wenn es (…) makro-soziologischen Gesetze in hinreichender Verlässlichkeit und Allge-


meinheit gäbe, müssten die gesellschaftlichen Prozesse ohne die Vertiefung auf die Mikroebene
der Akteure und des sozialen Handelns ‚unverständlich‘ bleiben. Ein ‚Verstehen‘ ist bei der An-
wendung akteurfreier, rein-makro-soziologischer Gesetze grundsätzlich nicht möglich.“ (Esser
1993: 102; Hervorhebungen im Original).

Dabei werden die subjektiven Motive und Erwartungsstrukturen der Akteure als
Randbedingungen empirisch erhoben und für das Erklären von allgemeinen sozia-
len Vorgängen genutzt.
Die Randbedingungen fasst Esser unter der Logik der Situation zusammen. Sie
bestimmen den sozialen Rahmen, in dem sich Akteure für ihre Handlungen ent-
scheiden. Handeln findet immer in sozialen Situationen statt, in denen strukturelle
Bedingungen wirksam werden. Sie können die Handlungsoptionen erweitern oder
beschränken. Wichtig ist dabei aber, dass die Akteure diese Bedingungen jeweils
auf eine bestimmte Art wahrnehmen und mit daran ausgerichteten Handlungen
reagieren. Die Logik der Situation kann deshalb nicht auf allgemeiner Ebene theo-
retisch erfasst werden, weil immer unterschiedliche strukturelle Rahmenbedingun-
gen spezifische Handlungswahlen erzeugen (vgl. Schimank 2000: 25).
Die Auswahl einer Handlung auf Grundlage dieser Randbedingungen nennt
Esser die Logik der Selektion (vgl. Esser 1993). Er benutzt zur Erklärung den Rati-
onal-Choice-Ansatz. Der Kern rationalen Handelns wird folgendermaßen bezeich-
net: „Strebe nach Dingen, die möglich und zuträglich sind; und meide ein Handeln,
das undurchführbar und/oder schädlich ist.“ (Esser 1999: 257). Der rational han-
delnde Akteur führt, wie bereits erwähnt, bei der Auswahl seiner Handlungsoptio-
nen eine Kosten-Nutzen-Analyse durch und schätzt den Gewinn seiner Hand-
lungsfolgen ein. Durchgeführt wird dann jene Handlung, die mit der größten
Wahrscheinlichkeit einen Gewinn verspricht. Esser ist der Meinung, dass die ratio-
nale Handlungstheorie als Erklärung für alle Handlungen genutzt werden kann.
Selbst wenn die Auseinandersetzung mit einer Situation auf irrationalem Weg er-
folgt, ist die Wahl der Handlung stets rational, weil das Individuum immer die für
sich günstigste Handlungswahl trifft (vgl. ebd.: 204).
Darüber hinaus führt Esser in seinem Modell eine weitere Möglichkeit der
Vermittlung zwischen Mikro- und Makroebene ein. Ihm ging es vorrangig um die
Ungenauigkeit bei der Bestimmung der Handlungsperspektive, die oft schon eine
kollektive Komponente beinhaltet.14 Diese Komponente nennt er die Mesoebene

14 Wie z.B. bei der Rekapitulation von Max Webers Studie „Die Protestantische Ethik und der Geist
des Kapitalismus“, die David McClelland in das berühmte Badewannenmodell übersetzte (vgl.
McClelland 1961: 47ff.). Auf der Mikroebene ist der gesamte Bereich der familialen Sozialisation
festgehalten, um die Vermittlung kapitalistischer Werthaltungen aus protestantischen Familien ab-
zuleiten. Die Sozialisation ist genau genommen kein wirklich mikrotheoretischer Aspekt, da es
sich hier um Interaktionssysteme handelt, die mehrere Akteure einschließt. Es ließe sich aus dem
Sozialisationsaspekt noch eine Ebene tiefer gehen, um das Handeln der einzelnen Akteure zu ana-
lysieren.
62 Individualisierung und Optionenvielfalt

der soziologischen Erklärung. Die Mesoebene beschreibt soziale Gebilde, die ganz
allgemein als Interaktionssysteme bezeichnet werden, welche wiederum in weitere
umfassendere Systeme eingebunden sind. Sie unterstehen genau wie Einzelakteure
den Einflüssen der sozialen Bedingungen, unterscheiden sich aber als Gesamtheit
von den Handlungen der einzelnen Akteure. Dies kann „als aggregierte Folge des
situationsorientierten Handelns von Akteuren“ (Esser 1993: 112) erklärt werden.
Soziale Gebilde sind demnach komplexer und können nur verstanden werden,
wenn die Handlungsweisen der einzelnen Akteure nachvollzogen worden sind.
Für die hier angestrebte Mikrofundierung der Individualisierungstheorie sind
soziale Gebilde als Einflussfaktoren auf der Mesoebene relevant. Dabei werden sie
im Folgenden als Interaktionszusammenhänge verstanden, in welche die Indivi-
duen eingebettet sind. Ihre Entstehung, die sich aus der Logik der Aggregation
ergibt, ist hier nicht relevant. Die Einbindung in solche Interaktionszusammen-
hänge hat Einfluss auf die Deutung der Realität und die Handlungsmotive der
Individuen. Jeffrey Alexander kennzeichnet die beiden Aspekte des Handelns als
Interpretation und Strategisierung (Alexander 1993: 210). Handeln ist immer bei-
des. Interpretation setzt sich dabei aus Typisierungen und Erfindungen zusammen.
Typisierungen sind durch Sozialisation und damit durch Interaktion verinnerlichte
Klassifikationsschemata. Gleichzeitig findet ein Prozess der Veränderung der Rea-
lität statt. Da „(...) jede nachfolgende Repräsentation der Realität eine vergangene
Generalisierung mit einem neuen Objekt in Kontakt bringen muss, entsteht immer
etwas Andersartiges, wird in jedem nachfolgenden Begreifen der Realität etwas
Neues erfunden.“ (ebd.: 210). Interpretation mit ihren beiden Momenten der Typi-
sierung und Erfindung dient der Reduktion von realweltweltlicher Komplexität
und ermöglicht damit erst ein Verstehen der Welt. Strategisierung zielt auf das
bewusste Einwirken in die Welt ab. Beides vollzieht sich innerhalb sozialer Ge-
bilde.
Mit dem Ansatz von Alexander kann die hier angestrebte Mikrofundierung ge-
nauer gefasst werden. Die soziale Situation wird als Interaktionszusammenhang
konzipiert, der die Handlungsmotive der Individuen direkt beeinflusst. Diese Inter-
aktionszusammenhänge bilden den Rahmen, in dem sich Optionenvielfalt dem
Individuum präsentiert. Darüber hinaus wirken diese Interaktionszusammenhänge
auf die Logik der Selektion. Als Logik der Selektion wird in der hier erarbeiteten
Theorie nicht die Durchführung einer Handlung im klassischen Sinne betrachten,
sondern die Zielsetzungen bzw. Motivationen, die im Rahmen der Selbstverwirkli-
chung entwickelt wurden. Für die Logik der Aggregation wird vorausgesetzt, dass
die Zielsetzungen als solche präsentiert werden müssen und die Erfahrungen mit
den so gesammelten Rückmeldungen in eine bestimmte Ordnung gebracht werden
müssen. Mit dieser Präsentation der Zielsetzungen, macht das Individuum sich
demnach von Anerkennungsleistungen abhängig. Insofern nehmen soziale Aner-
kennungsakte Einfluss auf die Identitätsbildung. In dem erzeugten Zusammenwir-
Individualisierung und Optionenvielfalt 63

ken der individuellen Zielsetzungen mit der Absicht einer Identitätsstabilisierung ist
dieser Schritt als ein intraindividueller Akt der Bewertung dieser Anerkennungsakte
zu verstehen. Er mündet in einer Stabilisierung der Identität. Mit dieser Definition
einer Mikrofundierung kann geklärt werden, welche Zielsetzungen dem Umgang
von Optionen zugrunde liegen und welche Anerkennungsmechanismen zu einer
Stabilisierung der präsentierten Zielsetzungen im Rahmen der Identitätsbildung
führen.
Analog zu Essers Mikro-Makro-Modell, ergeben sich für die handlungstheore-
tische Fundierung von Individualisierung folgende Zusammenhänge auf der Mik-
roebene des Handelns:

Optionenvielfalt Identitätsbildung
Indirekter Effekt

Interaktions- Anerkennungs-
zusammenhänge beziehungen

Zielsetzung Auswahl von


Handlungstheorie Optionen

Die hier beibehaltene Zwei-Ebenen Darstellung entspricht genau genommen einer


Mikro-Mikro-Fundierung, da die untere Ebene unterhalb der Handlungsebene
liegt. Um erklären zu können wie individualisierte Bedingungen erzeugt werden,
muss eine Mikrofundierung zum Zusammenhang zwischen Optionenvielfalt und
Identitätsbildung erarbeitet werden. Die Mikrofundierung soll zum einen klären,
wie unter Bedingungen der Optionenvielfalt, durch die Einbindung in Interakti-
onszusammenhänge die Auswahlmechanismen von Optionen (Zielsetzungen)
beschrieben werden können. Dabei geht es darum, unterschiedliche Zielsetzungen
in idealtypischer Weise herauszuarbeiten. Der zweite Schritt ist die Vorstellung der
eigentlichen Handlungstheorie, d.h. des Zusammenhangs von spezifischer Zielset-
zung und der Auswahl von Optionen.
Der dritte Schritt ist die Klärung des Zusammenhangs zwischen ausgewählten
Optionen und Identitätsbildung über die Auseinandersetzung mit Formen sozialer
Anerkennung. Dieser Schritt entspricht also nicht der Ausarbeitung des Zusam-
menhangs zwischen dem Zusammenwirken der Akteure und der Erzeugung indi-
vidualisierter Verhältnisse, sondern einer intraindividuellen Logik der Aggregation.
Diese Aggregation wird durch die Analyse der Anerkennungsverhältnisse abgebil-
det und verbindet die Ebene der Selbstdarstellung mittels Zielsetzungen (Hand-
lung) und die Identitätsbildung als Ziel der Selbstverwirklichung (Effekt). Die An-
erkennung, welche die Individuen für die Präsentation einzelner Zielsetzungen
bekommen, beeinflussen die Struktur der Identität. Gleichzeitig wirken sie bei der
64 Individualisierung und Optionenvielfalt

nächsten Wahl von Optionen als indirekter Sozialisationseffekt mit, so dass die
Logik der Situation nicht nur durch Bedingungen der Optionenvielfalt, sondern
auch durch die Lerneffekte der Anerkennung hinsichtlich der Identitätsbildung
geprägt ist.
Damit sind die Elemente für die hier zu entwickelnde Theorie zusammenget-
ragen worden. Der Umgang mit Optionenvielfalt wird als Problem auf handlungs-
theoretischer Ebene geklärt. Das zentrale Vorhaben der Analyse liegt darin, die
Zielsetzungsstrategien herauszuarbeiten, durch welche die Wahl von Hand-
lungsoptionen verstanden werden kann. Die Zielsetzungen entwickeln sich unter
Berücksichtigung der sozialen Situationsbedingungen, d.h. durch die Einbindung in
Interaktionszusammenhänge. In einem nächsten Schritt leiten sie das Handeln
unter individualisierten Bedingungen an und spiegeln so das Streben nach Selbst-
verwirklichung mit dem Ziel der Identitätsbildung wieder. Damit kennzeichnet die
individualisierte Handlungstheorie zwei soziale Aspekte der sozialen Situationen:
die Ausbildung von Zielsetzungsstrategien vor dem Hintergrund allgemeiner Opti-
onenvielfalt und die Stabilisierung sozial präsentierter Zielsetzungen durch Aner-
kennungsmechanismen.
Der Einfluss der sozialen Gebilde auf die Zielsetzungen und die Identitätsbil-
dung kann dabei unterschiedlich erfasst werden. Die Reichweite hängt von der
Theorieperspektive ab. Es macht demnach einen Unterschied, ob die soziale Situa-
tionsdefinition vor dem Hintergrund einer Zeitdiagnose, einer Gesellschaftstheorie
oder einer Sozialtheorie erfolgt.
Eine Zeitdiagnose ist durch eine Perspektive gekennzeichnet, bei der ein As-
pekt zum Ankerpunkt der Analyse diverser Zusammenhänge ausgearbeitet wird.
Auf die Art bringt die Soziologie in Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaft-
lichen Entwicklungen kontinuierlich neue Erklärungsansätze hervor. Zu den be-
rühmtesten in den letzten 20 Jahren gehören, wie bereits erwähnt, die Zeitdiagnose
der Risiko- (vgl. Beck 1986), der Erlebnis- (vgl. Schulze 1992), und der Multiopti-
onsgesellschaft (vgl. Gros 1994). Sie stellen den jeweils gewählten Gesellschaftsbe-
griff in Verbindung mit neuen Mechanismen der Wechselwirkung zwischen struk-
turellen Veränderungen und individuellen Handlungsfreiheiten und -zwängen. Sie
zeichnen sich deshalb vor allem durch eine kritische Betrachtung zukünftiger ge-
sellschaftlicher Entwicklungen aus. Insgesamt sind sie eindimensional in ihrer ana-
lytischen Perspektive, können aber gerade durch die Konzentration auf ein Erklä-
rungselement interessante Abhängigkeiten zwischen Handeln und Struktur offenle-
gen.
Gesellschaftstheorien arbeiten dagegen mit komplexeren Erklärungsmodellen.
Sie haben den Anspruch eine umfassende Gesellschaftsanalyse zu entwerfen. Sie
wollen also nicht nur aktuell wirksame Einflussmechanismen auf das individuelle
Handeln untersuchen, sondern das Funktionieren ganzer Gesellschaften erklären.
Dabei richtet sich ihr Hauptaugenmerk auf die moderne Gesellschaft und konzent-
Individualisierung und Optionenvielfalt 65

riert sich auf ihre Produkte, wie z.B. das Verhältnis von Individuum und Gesell-
schaft, die soziale Ungleichheit und die Mechanismen der Modernisierung. Grund-
legend für eine Gesellschaftstheorie ist die Herausarbeitung der historischen Be-
sonderheiten der zu untersuchenden Gesellschaft. Als Gesellschaftstheorien kön-
nen die Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas, die struktur-funk-
tionale Theorie von Parsons, die Theorie der Strukturierung von Giddens und die
Habitus-Feld-Theorie von Bourdieu bezeichnet werden.
Sozialtheorien beanspruchen dagegen überhistorische Gültigkeit und dienen
vor allem der Klärung grundlegender Begriffe wie z.B. Handeln und Ordnung (vgl.
Joas/Knöbl 2004: 37). Der Abstraktionsgrad ist hier am größten. Beabsichtigt wird
die Beschreibung von Phänomenen, die auf jede Art der Sozialität bezogen werden
können (vgl. Lindemann 2005: 45). Die bekanntesten sozialtheoretischen Ansätze
sind die von Max Weber, Talcott Parsons, Niklas Luhmann und Hartmut Esser.
Oft enthalten jedoch auch Gesellschaftstheorien sozialtheoretische Erklärungsele-
mente.
Da Zielsetzungen in dieser Arbeit als neues Handlungsmotiv herausgearbeitet
werden, erfolgt die Argumentation auf einer sozialtheoretischen Ebene, d.h. ohne
eine Spezifikation des indirekten Einflusses durch Erfahrungen mit sozialer Aner-
kennung in der Logik der Situation. Vorausgesetzt wird dabei lediglich eine Situa-
tion der Optionenvielfalt, die sich den Individuen als Störung des Alltags präsentie-
ren und damit eine Interpretation der Situation verlangen. Diese sind geprägt durch
eine Strategisierung, in deren Rahmen konkrete handlungsleitende Zielsetzungen
für die Bewertung und Aneignung der Option relevant werden. Dies entspricht der
Logik der Selektion. Das Ziel der sozialtheoretischen Auseinandersetzung besteht
in der Klärung der Frage, welcher Art diese Zielsetzungsstrategien sein können, um
Handeln unter Bedingungen der Optionenvielfalt anzuleiten sowie die Wahl be-
stimmter Optionen plausibel zu machen.
Der so verstandene Handlungsantrieb wird in einem nächsten Schritt auf ge-
sellschaftstheoretischer Ebene konkretisiert. Dabei geht es vor allem darum, die
Einflüsse gesellschaftlicher Strukturen auf die Stabilisierung dieser Zielsetzungen
zu erfassen. Hierbei wird plausibel gemacht, dass die Zielsetzungen im Rahmen des
selbstverwirklichenden Umgangs mit Optionenvielfalt in erster Linie dazu dienen,
Identität zu stabilisieren. Dies geschieht nach soziologischem Verständnis in einem
sozialen Raum. Voraussetzung dafür ist die Präsentation der Zielsetzungen. Die
daraufhin einsetzenden Rückmeldungen werden hier als Akte der Anerkennung
erfasst. Sie sind Effekte der Einbettung in soziale Interaktionszusammenhänge, die
als Meso-Ebene von Esser und Alexander beschrieben wurden. Die Vermittlung
von Anerkennung stabilisiert die Strategien durch positive Rückmeldungen. Beab-
sichtigt wird also eine Beleuchtung der unterschiedlichen Anerkennungsakte der
geäußerten Zielsetzungen im Hinblick auf ihre identitätsstabilisierende Wirkung,
um damit die Logik der intraindividuellen Aggregation zu erfassen. Die Wirkmacht
66 Individualisierung und Optionenvielfalt

der Anerkennung wird dabei vor dem Hintergrund von kulturellen Leitbildern der
Moderne konzeptionalisiert.
Auf Grundlage der zuvor ausgearbeiteten Individualisierungsschübe soll ab-
schließend eine Konkretisierung der sozialen Einflussfaktoren für den aktuellen
Individualisierungsschub vorgenommen werden. Hierzu wird auf zeitdiagnosti-
scher Ebene argumentiert. Dabei werden veränderte Kennzeichen der Logik der
Situation im Sinne eines aktuellen kulturellen Leitbildes herausgearbeitet, wodurch
Veränderungen in der Umgangsweise mit Zielsetzungsstrategien aufgezeigt werden
können. Diese werden darüber hinaus im Hinblick auf sich ebenfalls verändernde
Anerkennungsverhältnisse untersucht, woraus Einflussfaktoren für eine veränderte
Identitätsbildung abgeleitet werden. Gleichzeitig wird hier plausibel gemacht, wie
durch diese neuen Anerkennungsverhältnisse wiederum die Ausbildung neuer
Zielsetzungen beeinflusst wird. Damit wird der zweite Aspekt der sozialen Situa-
tion auf zeitdiagnostischer Ebene genauer gefasst.
Insgesamt kann mit diesem Ansatz die handlungstheoretische Lücke der Indi-
vidualisierungstheorie geschlossen werden. Wobei mit einer sozialtheoretischen
Fundierung grundsätzlicher Zielsetzungsstrategien ebenfalls eine Erweiterung bis-
heriger handlungstheoretischer Konzeptionen erreicht wird, da diese Zielsetzungen
als allgemeiner Handlungsantrieb gefasst werden. Sie sind grundlegender als die
spezifischen Handlungsmotive z.B. eines rational handelnden oder normenorien-
tierten Akteurs. Darüber hinaus stellt die anerkennungstheoretische Untersuchung
der im Rahmen der Selbstverwirklichung präsentierten Zielsetzungen eine Neue-
rung im Bereich der Anerkennungstheorie dar, da hierzu erstmals vor dem Hinter-
grund konkreter Situationsbedingungen argumentiert wird. Bisher wurden Aner-
kennungsbeziehungen mit einem sozialtheoretischen bzw. -philosophischen Fokus
analysiert, d.h. ohne Ausarbeitung der konkreten Inhalte der Anerkennungsbezie-
hungen.
2 Anspruchshaltungen als
Selbstverwirklichungsstrategie

„Im Leben gibt es nur zwei Tragödien. Die eine ist,


nicht zu bekommen, was man möchte und die
andere ist, es zu bekommen.“
(Oscar Wilde)

Der Umgang mit Optionenvielfalt wird für die Erklärung des Selbstverwirkli-
chungsstrebens der Individuen zu einem theoretischen Problem. Was von den Indi-
vidualisierungstheoretikern sporadisch als Spagat zwischen Chance und Risiko und
einer dazwischen liegenden Dramatik alltäglicher individueller Entscheidungsfrei-
heiten bezeichnet wird, ist aus sozialtheoretischer Perspektive eine wesentlich
grundsätzlichere Problematik. Hierbei geht es um die Klärung der Frage, welche
Zielsetzungsstrategien die Wahl von Optionen steuern und wie deren Ausbildung
im Rahmen von Selbstverwirklichung im Einzelnen verläuft. Dazu bedarf es be-
grifflicher Bestimmungen, in denen die Zielsetzungen als Handlungsmotiv unter
sozialen Situationsbedingungen greifbar werden.
Dieses Kapitel beschäftigt sich daher mit einer näheren Bestimmung des Um-
gangs mit Optionenvielfalt. Dabei geht es insbesondere um folgende Fragen: Auf
welcher Grundlage wählt das Individuum verfügbare Optionen aus? Wie werden
daraus handlungsleitende Zielsetzungen? Zur Beantwortung dessen werden An-
spruchshaltungen als Zielsetzungen bestimmt. Sie sind Grundlage der Bewertung
von Optionen und drücken sich in Forderungen aus, die bereits im vorherigen
Kapitel als Kennzeichen der Individualisierung herausgestellt wurden.
Gesellschaften, die von Ansprüchen erhebenden Individuen geprägt sind, ha-
ben im Hinblick auf Freiheit und Autonomie den Höhepunkt ihrer individualisti-
schen Entwicklung erreicht. Eine Gesellschaft, welche die Ansprüche ihrer Bürger
ernst nimmt, macht deren Selbstbestimmung zum Programm und ermöglicht
Selbstverwirklichung in seinem allumfassenden Sinn. Ansprüche stellen souveräne
Individuen mit Blick auf ihre eigene Zukunft. „Der Anspruch ist nicht Dank und
Dienst am Vorhandenen, sondern Griff ins selbstbestimmte Morgen.“ (Deichsel
1985: 23). Mit diesem Ausgangspunkt ist eine nähere Bestimmung des Anspruchs,
seiner Funktion für das Individuum und Ausdrucksweise auf gesellschaftlicher
Ebene ein vielversprechender Weg, um die Logik zwischen Optionenvielfalt und
Optionenwahl sozialtheoretisch zu beleuchten.
Erste Anregungen dazu liefert Niklas Luhmann mit seinem Konzept einer an-
spruchsgeleiteten Identitätsentwicklung. Er arbeitete aus, dass Anspruchshaltungen
auf handlungstheoretischer Ebene die Zielsetzungsdynamik zwischen verfügbarer

D. Lindner, Das gesollte Wollen, DOI 10.1007/978-3-531-19193-5_3,


© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
68 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

Optionenvielfalt und Selbstverwirklichung abbilden können (vgl. Luhmann 1993,


1995). Darüber hinaus werden Ansprüche als Forderungen an die Gesellschaft bei
Helmut Klages und Willi Herbert (vgl. Herbert 1992; Klages 1992) thematisiert und
in den Kontext einer individualisierten Gesellschaftsform gestellt. Ein dritter Ansatz
zu Ansprüchen findet sich demgegenüber in der Motivationspsychologie, wo An-
sprüche als Bewertungsmaßstab des individuellen Leistungsstrebens verstanden
werden (vgl. Hoppe 1930; Lewin et al. 1944).
Diese Ansätze werden als Ausgangspunkte genutzt, um Ansprüche hinsichtlich
ihrer Funktion als Handlungsmotivation für die Wahl von Optionen sozialtheore-
tisch zu definieren. Dazu wird der Anspruch einer Begriffsbestimmung unterzogen
und als Forderung entlang seiner Funktionen und Ausdrucksweisen für die Erläute-
rung von Selbstverwirklichung konzeptionalisiert. Ziel ist es, unterschiedliche For-
men von Anspruchshaltungen theoretisch herauszuarbeiten und zu definieren auf
welche Weise sie das Streben nach Selbstverwirklichung anleiten.
Darüber hinaus erfolgt am Ende des Kapitels eine Auseinandersetzung mit den
Mechanismen der Steigerung von Ansprüchen als psychischer Drang auf der Basis
von sozialen Vergleichen einerseits und als Überforderung von Individuen und
Gesellschaften andererseits. Vor allem letzteres wird im Rahmen von normativ
vorgehenden Argumentationen herausgestellt. Hinweise finden sich bei Klages und
Herbert, die im Anspruchsindividualismus ein gesellschaftliches Problem sehen, da
er zur Überforderung staatlicher Leistungen führe. Peter Gross sieht dagegen im
Kontext einer Multioptionsgesellschaft eine kognitive Überforderung der Indivi-
duen durch Ansprüche (vgl. Gross 1994).

2.1 Der Begriff des Anspruchs

Die umgangssprachliche Konnotation des Wortes Anspruch entspringt der Bewer-


tung eines Tuns. Eine Tat kann als anspruchsvoll bewertet werden und schreibt
ihrem Urheber damit überdurchschnittliche Anstrengungen und Leistungen zu. So
ist z.B. ein anspruchsvolles Musik- oder Theaterstück oder ein Kunstwerk ein qua-
litativ hochwertiges, ein niveauvolles und damit forderndes Werk. Im Gegensatz
dazu wird eine Tätigkeit, aber auch eine Person, als anspruchslos bezeichnet, wenn
sie als schlicht und unprätentiös wahrgenommen wird. Darüber hinaus ist in dem
Begriff Inanspruchnahme Anspruch als eine Tätigkeit enthalten und meint damit,
von etwas Gebrauch zu machen bzw. etwas nutzen. Laut Duden umfasst der Be-
griff des Anspruchs drei Ebenen: den Bereich der Prätention, der Forderung und
des Anrechts bzw. der Berechtigung. Diese Elemente finden sich auch in der wis-
senschaftlichen Verwendungsweise des Begriffs wieder.
In den Rechtswissenschaften ist der Begriff des Anspruchs als Forderung etab-
liert. Das Bürgerliche Gesetzbuch definiert einen Anspruch als „das Recht, von
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 69

einem anderem ein Tun oder Unterlassen zu verlangen“ (nach § 194 I BGB). Es
handelt sich also um Forderungen, die sich an jemand anderen richten und über
deren Berechtigung jeweils durch eine entsprechende Prüfung der Rechtslage ent-
schieden wird. Ein Anspruch ist somit eine durch den Rechtsentscheid legitimierte
Forderung.
In der ursprünglich psychologischen Verwendungsweise ist ein Anspruch eine
Leistungsmotivation. Hierbei wird der Anspruch als Prätention definiert. Ansprüche
sind als rein kognitive Zielsetzungsmechanismen beschrieben. Diese Zielsetzung
entsteht auf Grundlage von antizipierten Handlungsfolgen, wobei die Vermeidung
von Misserfolg als Antrieb herausgestellt wird. Dadurch erhält das individuelle Leis-
tungsstreben einen subjektiven Antrieb, der gleichzeitig als Bewertungsgrundlage
dient und so das Erfolgs- und Misserfolgserleben beeinflusst (vgl. Hoppe 1930).
In der soziologischen Literatur werden Anspruchshaltungen eher bedürfnisthe-
oretisch konzeptionalisiert. Ansprüche entspringen individuellen Wünschen und
äußern sich in Forderungen (vgl. Gehrmann 1985; Herbert 1992; Klages 1992;
Luhmann 1995). Durch diese Definition wird die Verwendung des Begriffs vor
allem im Hinblick auf die unscharfe Abgrenzung zur Erwartungshaltung problema-
tisch. Beide enthalten eine gewisse Zielsetzungsdynamik, doch lassen sie sich bei
näherer Betrachtung voneinander unterscheiden. „Erwartungen sind zunächst
nichts weiter als gedankliche Assoziationen über einen selektiven Zusammenhang
zwischen Ereignissen und Sachverhalten aller Art.“ (Esser 2000: 69). Sie werden
aufgebaut, um zukünftige Entwicklungen abzuschätzen und sind deshalb eine psy-
chische Vorwegnahme des Eintretens eines bestimmten Zielzustandes (vgl. Heck-
hausen 2006: 128). Sie dienen so gesehen der Abschätzung von Handlungsfolgen.
„In der Regel bezieht sich eine Erwartung auf den wahrgenommenen Zusammen-
hang zwischen der eigenen Handlung und den sich daran anschließenden Ereignis-
sen, die für den Handelnden einen positiven oder negativen Wert darstellen.“
(Schmalt/Heckhausen 1985: 82).
Erwartungen sind also für das Individuum ein Element zur Analyse von Hand-
lungskonsequenzen, die sich aus ihrer Antizipation ermitteln lassen. Werden diese
Erwartungen mit der Realität konfrontiert, führen sie demzufolge zu einer Enttäu-
schung oder zu einer Bestätigung für die Richtigkeit der eigenen Handlung. Eine
Erwartungshaltung kann aber auch in Bezug auf einen Zielzustand aufgebaut wer-
den, der das eigene Zutun unberücksichtigt lässt und sich nur auf äußere Bege-
benheiten oder auf die Handlungen anderer bezieht (vgl. Heckhausen/Heckhausen
2006: 128). Sie ist damit eine nichtbewertende Wahrnehmung. Eine Erwartung kann
somit

„(...) auf eine eher unspezifische und allgemeine, mit Hoffnungen und Befürchtungen durchsetzte
Zukunftswahrnehmung und -einschätzung abzielen. (...) Man ‚erwartet’ einerseits im Sinne einer
subjektiven Zukunftswahrnehmung, dass gewisse Ereignisse, Entwicklungen eintreten werden. An-
70 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

dererseits ‚erwartet’ man im Sinne einer Forderung von einer Person oder Institution, dass etwas
getan wird.“ (Herbert 1983: 3).

Daraus wird ersichtlich, dass der Begriff Erwartung zwei weitere Aspekte beinhaltet.
Günter Wiswede teilt diese beiden Dimensionen in antizipative und normative
Erwartungen. Eine antizipative Erwartung ist z.B. die Hoffnung auf schönes Wetter
oder Glück. Eine normative Erwartung wäre z.B. die Erwartung an mehr Leistung
bezogen auf eine berufliche Position beispielsweise, wie sie auch in der Rollentheo-
rie Anwendung findet.

„Wenn auch beide Erwartungstypen analytisch streng voneinander getrennt werden müssen, sind in
den meisten Fällen doch antizipative und normative Erwartungen miteinander verknüpft, indem
meist solche Sachverhalte antizipiert werden, die einer sozialen Regelung unterliegen.“ (Wiswede
1980: 119).

In Luhmanns Rechtssoziologie findet sich eine ähnliche Einteilung in kognitive


und normative Erwartungen (vgl. Luhmann 1972). Er betont dabei jedoch den
Einfluss auf den Umgang mit Erwartungsenttäuschungen. Man hat nach einer ent-
täuschten Erwartung immer die Möglichkeit sie aufzugeben oder an ihr festzuhal-
ten. Kommt es also zu einer Anpassung an die Realität und damit zu einem Auf-
geben der Erwartungen, dann hat man es mit kognitiven Erwartungen zu tun. Im
anderen Fall liegen normative Erwartungen zugrunde. Kognitive Erwartungen sind
demnach lernbereit und normative lernunwillig (vgl. Luhmann 1984: 437). Beide
Formen der Erwartungen werden von Luhmann aus den im Recht verankerten
Verhaltensnormierungen betrachtet. So gesehen werden sie in der Kommunikation
mit anderen unterstellt, aber nicht explizit kommuniziert und bleiben somit rein
kognitiv. Festzuhalten bleibt hier: Erwartungen können jederzeit wieder verändert
werden und nehmen Enttäuschungen deshalb hin (vgl. Geller 1994: 24).
„Erwartungen bilden ist eine Primitivtechnik schlechthin. Sie kann nahezu voraussetzungslos ge-
handhabt werden. Sie setzt nicht voraus, dass man weiß (oder gar: beschreiben kann), wer man ist,
und auch nicht, dass man sich in der Umwelt auskennt. Man kann eine Erwartung ansetzen, ohne
die Welt zu kennen – auf gut Glück hin.“ (Luhmann 1984: 363).

Der Unterschied zum Anspruch lässt sich zu allen drei Elementen von Erwartun-
gen bestimmen. Zum einen kommen Erwartungen ohne konkreten Handlungsvoll-
zug aus. Sie umfassen zwar – genau wie Ansprüche – das Moment der Analyse
möglicher Konsequenzen und deren Bewertung, münden aber nicht in Forderun-
gen. Erwartungen sind, auch wenn sie normativer Art sind, ein rein kognitives Ele-
ment. Sie müssen nicht kommuniziert werden, was bei Ansprüchen zwingend ist.
Deshalb können Erwartungen zwar Enttäuschungen hervorrufen, sie sind aber
nicht so stark an den Handlungsvollzug gebunden, als dass sie Enttäuschungen
entgegenwirken könnten. Ansprüche bezeichnen im Gegensatz dazu ganz konkrete
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 71

Forderungen. Sie sind verdichtete Erwartungen und im Gegensatz zu ihnen nicht


rein kognitiv, sondern emotional, wertend und entspringen Wünschen.
Ein Anspruch ist gleichzeitig die Vorwegnahme eines Zielzustandes, der Han-
deln erfordert und damit eine „Prätention, die sich auf etwas erstreckt“ (Waldenfels
1998: 43). Ansprüche sind deshalb subjektive Zielsetzungen, die der Handlung vo-
rausgehen. Sie sind zukunftsgerichtet unter dem Aspekt der Vorausnahme von
Handlungsfolgen und deren Bewertung. Gleichzeitig entspringen Ansprüche einer
Auseinandersetzung mit dem Selbst, im Sinne von Fähigkeiten, Wünschen sowie
Eigenschaften und rekurrieren damit auf die Identität.
Letztendlich wird der Anspruch als Forderung kommuniziert und somit sozial
sichtbar. „Mit dem Anspruch befinden wir uns im Bereich des aktuell Artikulier-
ten.“ (Weber 1978: 108). Ansprüche verlangen danach von anderen wahrgenommen
zu werden. Sie erfordern eine Reaktion des Gegenübers. Gleichzeitig sind sie auf die
Abschätzung ihrer Erfüllungsmöglichkeiten angewiesen und orientieren sich dabei
entweder an dem Glauben an Berechtigung, wie im Recht definiert oder an der
eigenen Leistungsorientierung, wie die Motivationspsychologen, herausgestellt ha-
ben. Ansprüche lassen sich dementsprechend insgesamt bestimmen als die „ent-
schiedene Nichtakzeptanz bestimmter Erwartungsenttäuschungen“ (Schimank
2002: 284).
Mit dieser Abgrenzung zum Erwartungsbegriff wird deutlich, dass alle anfangs
unterschiedenen Aspekte des Anspruchsbegriffs – Prätention, Forderung und Be-
rechtigung – auch in der wissenschaftlichen Verwendungsweise enthalten sind. Mit
dem Ziel einer sozialtheoretischen Bestimmung des Anspruchs als Bewertungs-
grundlage für die Wahl von Optionen und die Äußerung von Forderungen lassen
sich unterschiedliche Funktionen und Bedingungen der Anspruchsbildung vonei-
nander unterscheiden. Diese Dimensionen sollen nun für die Konzeptualisierung
von Selbstverwirklichung auf sozialtheoretischer Ebene näher beleuchtet werden.

2.2 Ansprüche im Rahmen von Selbstverwirklichung

Für die hier verfolgte sozialtheoretische Bestimmung soll unterschieden werden


zwischen der Analyse der Ausbildung von Ansprüchen als einer Zielsetzung unter
Bedingungen der Optionenvielfalt und der Analyse der Äußerung von Ansprüchen
als Forderung. Zur näheren Bestimmung der Verwendung dieses Begriffes werden
die beiden Ebenen der Anspruchsbildung und der Anspruchsformulierung analy-
tisch getrennt. Die Anspruchsbildung wird dabei als ein Bewusstseinsphänomen im
Sinne einer Zielsetzungsstrategie auf sozialtheoretischer Ebene entwickelt und die
Anspruchsformulierung als kommunikatives Phänomen im Sinne einer Forderung
auf gesellschaftstheoretischer Ebene im nächsten Kapitel betrachtet.
72 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

Grundlegend für die folgende Argumentation ist die Vorstellung, dass Ansprü-
che einen Sondierungsmechanismus darstellen, der die Selbstverwirklichung als
Ganzes anleitet. Ansprüche entwickeln sich vor dem Hintergrund der Zukunftsof-
fenheit des Lebens und erfüllen den Zweck der Selbstbindung. Damit machen sie
Selbstverwirklichung erst möglich. Infolgedessen wirken sie im Dickicht der Vielfalt
an Handlungsrechten, Handlungsangeboten und Deutungsangeboten als Sondie-
rungselement und beschränken die Wahrnehmung. Durch den Rekurs auf den aktu-
ellen Stand der Selbstverwirklichung, d.h. unter Berücksichtigung der sozialisatori-
schen Prägung und den bisher unternommenen Entwicklungsschritten, werden nur
bestimmte Optionen als Handlungs- bzw. Deutungsmöglichkeiten für die Zukunft
ermittelt. Die Aneignung von und die Identifikation mit Optionen erfolgt daraufhin
über die Einbindung in Ansprüche. Infolgedessen leiten sie als Zielsetzung das
Selbstverwirklichungsstreben an. In diesem Sinne sind Ansprüche die Bewertungs-
grundlage vorhandener Optionen und fungieren als Zielsetzungsstrategie und sind
damit ein Mechanismus der Optionsaneignung. Gleichzeitig dienen Ansprüche
hierbei der Erarbeitung einer Zukunftsperspektive und erzeugen damit Selbstbin-
dung im Rahmen der Selbstverwirklichung.
Vor diesem Hintergrund können auf der Bewusstseinsebene an dieser Stelle be-
reits drei Funktionen von Ansprüchen voneinander unterschieden werden. Ein
bewusstseinsbasierter Aspekt des Anspruchs entspringt, wie bereits in der Begriffs-
definition angeklungen, der bedürfnistheoretischen Betrachtung. Hierbei geht es um
die Ausbildung von Wünschen, aufgrund dessen Optionen bewertet und angeeignet
werden und dann in Ansprüchen als Forderung münden. Diese Forderungen bezie-
hen sich auf Ressourcen und Leistungen, wobei in diesem Kapitel nur diejenigen
berücksichtigt werden sollen, die für die Selbstverwirklichung benötigt werden. Mit
der bedürfnistheoretischen Argumentation ist die Annahme eines Berechtigungs-
glaubens verbunden. Dieser entwickelt sich für die Individuen auf Grundlage der
Auseinandersetzung mit Rechten. Die konkrete Ausformung dieses Berechtigungs-
glaubens muss deshalb auf gesellschaftstheoretischer Ebene untersucht werden. Die
individualisierte Gesellschaft ist hierauf aufbauend durch eine kontinuierliche Aus-
weitung individueller Rechte gekennzeichnet, weshalb das Anspruchsdenken gerade
in dieser Sphäre gehäuft auftritt.
Ein zweiter Aspekt der Anspruchsbildung, der für die Erklärung von Selbstver-
wirklichung wichtig ist, kann aus der vorgestellten motivationspsychologischen
Perspektive abgeleitet werden. Hierbei wird mehr Betonung auf die Antriebsfunk-
tion von Anspruchshaltungen gelegt. Die Thematisierung dessen findet im Rahmen
von Leistungsforderungen statt, die die Individuen Ansprüche an sich selbst richten.
Die Motivation für einen solchen Selbstanspruch ist eine intrinsische Leistungsfor-
derung. Diese Art der Selbstansprüche sind leistungsbasierte Zielsetzungen, die
nicht auf eine äußere Berechtigungsgrundlage angewiesen sind. Im Rahmen des
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 73

Selbstverwirklichungsstrebens zeigen sie an, welche Leistungen das Individuum von


sich selbst fordert, um erfolgreich Selbstverwirklichung betreiben zu können.
Davon abgrenzend kann eine dritte Form von Ansprüchen definiert werden,
die eher entwicklungspsychologisch fundiert ist. Auch dies sind Ansprüche, welche
die Individuen an sich selbst richten. Sie beschreiben jene Ansprüche, die auf ganz
allgemeiner und grundlegender Ebene das Selbstverwirklichungshandeln organisie-
ren. Sie geben an, was man als Mensch sein will, d.h. wohin man sich ganz grundle-
gend entwickeln will. Im Gegensatz zu Leistungsforderungen sind sie deshalb eher
als Seinsforderungen zu bezeichnen.
Damit lassen sich drei Formen von Ansprüchen unterscheiden: Ansprüche als
bedürfnisbasierte Forderungen, als motivationsbasierte Leistungsansprüche und als
entwicklungsbasierte Seinsforderungen. Sie beschreiben das individuelle Wollen auf
den folgenden drei Ebenen: etwas sein zu wollen, etwas haben zu wollen und etwas
erreichen zu wollen. Im Folgenden sollen diese drei Perspektiven im Hinblick auf
die Bildung von Anspruchshaltungen näher beleuchtet werden.

2.2.1 Ansprüche als entwicklungsbasierte Seinsforderungen

Wie bereits im vorherigen Abschnitt angedeutet, vollzieht sich die Ausbildung von
Ansprüchen in der Auseinandersetzung mit verfügbaren Optionen, der eigenen
Identität und der Bewertung von Erfüllungsmöglichkeiten. Im Folgenden soll es
nun um die nähere Bestimmung der dritten Funktion von Ansprüchen für das Indi-
viduum und sein Selbstverwirklichungshandeln gehen. In erster Linie fungieren
Ansprüche hier als kognitive Orientierungshilfe im Umgang mit Optionenvielfalt
unter der Perspektive der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten und -wünsche. Diese
Form der Anspruchshaltungen ist in der soziologischen Literatur nur am Rande
diskutiert worden. In vielen individualisierungstheoretischen Arbeiten stecken aller-
dings Hinweise, die bei näherer Betrachtung diese Art der Selbstansprüche zum
Thema haben. Mit Sicht auf das Individuum als Handlungszentrum, das Selbstrefle-
xion betreibt und eigeninitiativ seine Biographie gestaltet, argumentieren die Auto-
ren letztendlich mit internen Selbstansprüchen, die beschreiben, was das Indivi-
duum sein will, ohne dies genauer zu benennen.
In der vorliegenden Arbeit wurden als Voraussetzungen für eine handlungsthe-
oretische Fundierung der Individualisierungstheorie die Wahrnehmung von und
eine spezifische Umgangsweise mit Optionen bestimmt. Die Ausbildung von Seins-
forderungen ergibt sich aus der bereits von den Individualisierungstheoretikern
herausgestellten Problematik einer zukunftsoffenen Identität. Optionen werden von
den Individuen gewählt, um die eigene Identität zu gestalten. Diesen Ausgangs-
punkt wählt auch Niklas Luhmann für seine Perspektive auf Anspruchshaltungen
und ihre Funktion für Selbstverwirklichung. Für ihn sind moderne Gesellschaften
74 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

dadurch gekennzeichnet, dass die Individuen eine individuelle Identität entwickeln


müssen (vgl. Luhmann 1995).
Das Bewusstsein einer Individualität, d.h. unverwechselbaren Einzigartigkeit ist
dabei grundlegend für die Identität der Individuen. Aus Luhmanns systemtheoreti-
scher Perspektive münden Reflexionen über die Bestimmung der Identität in mo-
dernen Gesellschaften immer in Differenzerfahrungen und dem Ziel der Herstel-
lung von Individualität.15 Das Kernargument lautet, dass die Suche nach Identität
immer ins Leere führt, weil das Individuum sich nur in Differenzen bestimmen
kann. Wesentlich ist dabei die Differenz zu anderen. Die Bestimmung der eigenen
unverwechselbaren Eigenschaften erfolgt also in Abgrenzung zu den Eigenschaften
anderer Personen. In der Reflexion über diese Differenzen macht das Individuum
aber letztendlich die Erfahrung, dass die eigene Individualität keine wirkliche ist, da
alle Bestandteile der eigenen Person bereits bei anderen vorhanden sind. Das Indi-
viduum erfährt sich als „copierte Existenz“ (Luhmann 1995: 136) auf dessen
Grundlage die Bestimmung von Individualität nicht möglich ist.
Luhmann leitet aus dieser Erkenntnis zwei Vorgehensweisen ab, die dem Indi-
viduum zur Verfügung stehen, um dieser – für das in individualisierten Gesell-
schaften notwendige Individualitätsbewusstsein – unbefriedigenden Erkenntnis zu
entkommen. Zum einen kann es ein Leben als „Homme Copie“ führen. Dieser
Entscheidung liegt die Akzeptanz zugrunde, die eigene Identität nur aus dem Ko-
pieren von anderen zu entwickeln. Die andere Strategie ist die Aufspaltung in ver-
schiedene Selbste, wodurch die individuelle Selbstdefinition durch Teilbarkeit defi-
niert wird (vgl. Luhmann 1993: 221ff). Beide Strategien führen jedoch zu weiteren
Problemen bei der Bestimmung der eigenen Identität, die an dieser Stelle aber nicht
genauer ausgeführt werden müssen.
Luhmann leitet aus dieser Problematik eine erfolgversprechendere Lösungs-
strategie für die Erzeugung einer individuellen Identität ab. Sie besteht seiner An-
sicht nach darin, die Herstellung von Differenz zum Programm zu machen, d.h.
sich auf die Möglichkeiten des Anderssein Könnens zu konzentrieren. Das Indivi-
duum bestimmt sich durch das, was es noch nicht ist, aber werden kann, und er-
zeugt so ein Individualitätsbewusstsein (vgl. Luhmann 1995: 225).
Diese Abgrenzung findet in einem Anspruch ihre Realisation. Aus der zu vor-
modernen Gesellschaften passenden Selbstbeschreibung von Identität „Ich bin, was
ich bin“, die sich aufgrund der qua Geburt festgeschriebenen sozialen Eigenschaf-
ten einer Person ergab, wird in individualisierten Gesellschaften die Haltung „Ich
bin, was ich nicht bin, aber was ich werden will“ wichtig. Individualisierte Gesell-
schaften, welche die Erzeugung einer individuellen Identität erfordern, führen damit
zu einer Veränderung in der Bestimmung dessen, was Identität ist. Identität ist

15 Dass Individualitätsherstellung überhaupt zur eigenen Aufgabe wird, ist Folge ihrer gesellschaftli-
chen Exklusion (vgl. Luhmann 1993). Individualität hat in gesellschaftlichen Funktionssystemen
keine Aufgabe zu erfüllen und spielt deshalb nur in psychischen Systemen eine Rolle.
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 75

damit immer das noch zu Erreichende (Luhmann 1995: 134).16 Die heute unbefrie-
digende Reflexionsidentität wird durch eine Anspruchsindividualität ersetzt. Damit
hat Luhmann analytisch eine klarere Konsequenz aus dem Vorhandensein von
Optionenvielfalt gezogen und geht mit seinem Konzept über die Deskription der
Identitätsarbeit der Individualisierungstheoretiker hinaus.
In der Ermittlung des Anders-Sein-Könnens stecken die Abgrenzung vom
Momentanen und ein Vorgriff auf das noch Kommende. Hier zeigt sich die eigent-
liche Funktion des Anspruchs als Zielsetzungsdimension. Das Individuum ermittelt
Veränderungsmöglichkeiten für sich selbst, wählt diese und schreibt sie in einem
Anspruch fest. Individualität wird aus einem durch Selbstreflexion erkundeten Ist-
Zustand und in ihrer Überschreitung zu einem Soll-Zustand wieder fassbar. Luh-
mann leitet daraus eine veränderte Selbstbeschreibung ab. Mit dem Anspruch wer-
den Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung ergriffen. „Im Geltendmachen eines
Anspruchs orientiert es sich an einer Differenz zwischen dem, was momentan be-
steht und dem, was sein soll, hergestellt werden soll, erreicht werden soll; und es
kann sich dann mit seinem Anspruch identifizieren.“ (Luhmann 1995: 134).
Der Umgang mit den auf diesem Weg ermittelten Möglichkeiten ist Bestandteil
der sogenannten Mentalisierungsfähigkeit des Individuums. Mentalisierung meint in
der Sozialpsychologie den „Prozess, durch den wir erkennen, dass unser Geist un-
sere Wahrnehmung vermittelt.“ (Fonagy et al. 2004: 10). Als mentaler Zustand
werden alle geistig-seelischen Befindlichkeiten wie Gefühle, Wünsche oder Über-
zeugungen bezeichnet. Mentalisierung meint das Inbeziehungsetzen von inneren
Zuständen und Handlungsantrieben oder -ergebnissen.
Problematisch an wird Luhmanns Konzeption dann aber deshalb, weil er zwi-
schen Zielsetzungen und Forderungen unterscheidet. Nur Forderungen sind bei
Luhmann Ansprüche. Zielsetzungen dienen dem Abbau der Ist/-Soll-Differenz und
Forderungen dem Abbau der Selbstsystem/Umwelt Differenz. Der Abbau der
Selbstsystem/Umwelt-Differenz folgt der Semantik der Erfüllung/Nichterfüllung.
Dieser Abbau der Selbstsystem/Umwelt-Differenz erfolgt durch an die Umwelt
gerichtete Forderungen. „Ansprüche leben davon, dass man sie nicht selbst negie-
ren muss. Sie sind nach außen adressiert und werden dort abgelehnt oder doch in
ihre Grenzen verwiesen.“ (Luhmann 1993: 244). Nur durch diese Erfüllung oder
Nichterfüllung von Ansprüchen kann das Individuum Erfahrungen über sich selbst
machen. Luhmann geht sogar noch einen Schritt weiter und sagt, dass das Streben
nach Selbstverwirklichung nur im Fremdanspruch existent ist, denn sobald ein
Anspruch erfüllt wurde, löst sich die Differenzerfahrung zwischen System- und
Umwelt auf. In Luhmanns Logik müsste dann sofort ein neuer Anspruch zum Ab-

16 Luhmann vertritt die Auffassung, dass sein Konzept des Anspruchsindividualismus stärker mit
dem gesellschaftlichen Leben verklammert zu sein scheint als das herkömmliche Konzept des
Identitätsindividualismus (vgl. Luhmann 1993: 251f.). Er beklagt aber auch, dass hierfür kein spezi-
fisch soziologischer Begriff entwickelt wurde.
76 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

bau der System-Umwelt-Differenz ausgebildet werden, denn jede Festschreibung


zerstört die Individualität einer Identität. Für Luhmann lässt sich so gesehen nur im
Bestehen der Anspruchshaltung überhaupt kognitive Entlastung erreichen. Gleich-
zeitig ist es aber leicht, Ansprüche auszubilden, weil in der funktional differenzier-
ten Gesellschaft innerhalb der einzelnen Teilsysteme ständig Schablonen für Ans-
pruchshaltungen hergestellt werden, um den Individuen die Orientierung bei der
Suche nach ihren Interessen zu erleichtern und zu begrenzen (vgl. Luhmann 1995:
140). „Insofern setzt diese Form für Individualisierung wohlfahrtsstaatliche Kondi-
tionierungen, organisierte Arbeit, Recht und Geld als sensible Instrumente des Ab-
tastens von Möglichkeiten voraus.“ (Luhmann 1993: 244).
Die Zielsetzungen, die die Individuen im Rahmen ihrer Selbstverwirklichung
ausbilden und dem Ist/Soll-Differenzabbau dienen, werden im Gegensatz zu For-
derungen mit der Semantik Erfolg/Misserfolg beschrieben. Luhmann fasst diese
Zielstrebungen insgesamt als Karrierestreben und grenzt sie gegen sein Konzept
von nur nach außen gerichteten Ansprüchen ab (vgl. ebd.: 230). Unter Karriere fast
Luhmann nicht nur die berufliche Laufbahn, sondern alle möglichen Verläufe in-
nerhalb eines Lebens. Die Karriere kennzeichnet einen Ablauf von aufeinander
aufbauenden Ereignissen. Ein Ereignis ist immer Voraussetzung für ein weiteres.
Dadurch entsteht Kontingenz und das Individuum kann so Individualität als Soll-
Zustand artikulieren. Der Verlauf der Karriere hängt von externen und internen
Faktoren ab. Zu den externen zählt Luhmann das Glück. Der interne Faktor ist
Leistung. Die Kombination beider Faktoren führt zur Unsicherheit bei der Planung
der Karriere. Hinzu kommt die Abhängigkeit von Erfolgen und Misserfolgen bei
den Karrierebemühungen. „Die Karriere produziert eine Semantik von Leistung mit
dem Differenzschema Erfolg/Misserfolg und entsprechenden Zurechnungsverfah-
ren auf interne und externe Ursachen.“ (ebd.: 236). Daraus schließt Luhmann:
„Karrieren und Ansprüche sind und bleiben unterschiedliche Formen der Asym-
metrisierung von Individualität. (…) Man kann Ansprüche auf alles haben, nur
nicht auf die Karriere. Und umgekehrt liegt in der Sequenz von positiven und nega-
tiven Erfahrungen mit eigenen Ansprüchen noch keine Karriere.“ (ebd.: 230).
Die hier vorgenommene Trennung zwischen Anspruch und Karriere ist aller-
dings nicht schlüssig, da auch Ansprüche zur Herstellung der Ist/Soll-Differenz
benutzt werden können und dabei nicht in der Vorstellung einer Karriere münden.
Diese Engführung ergibt sich aus der strikt differenzierungstheoretischen Perspek-
tive. Luhmann bietet damit zwar eine theoretische Perspektive auf die Entstehung
von Zielsetzungsansprüchen und ihrer entlastenden Funktion bei der Suche nach
Individualität an. Er unterstellt aber zugleich, dass Erfahrungen mit Ansprüchen
nur mit ihrer Erfüllung und Nichterfüllung im Kontext der Sys-
tem/Umweltdifferenz einhergehen. Da ein Anspruch aber von sich aus auf die
Zukunft gerichtet ist, dient er gleichzeitig dem Abbau von Vorher/Nachher-Diffe-
renzen. Das schließt Luhmann aber ausdrücklich aus. Ansprüche werden in seiner
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 77

Theorie nur deshalb ausgebildet, um von anderen erfüllt zu werden. Sie dienen
dazu, Erfahrungen über sich zu sammeln und haben so keinen selbstverpflichten-
den Charakter, können damit also nicht an sich selbst adressiert werden, um die
Zukunft zu planen. Dies ist für die Entwicklung der Identität aber Grundvorausset-
zung. Die Individuen müssen sich hier quasi selbst in die Pflicht nehmen, nach
bestimmten Dingen zu streben. Sie sind Anspruchsstelleende und Ansprucherfül-
lende zugleich.
Vor diesem Hintergrund kann diese Form des Anspruchs als Seinsforderung
bezeichnet werden, die vor allem als Selbstforderung an die eigene Person adressiert
wird. Daraus folgt, dass die Luhmannsche Trennung des Anspruchs und der Karri-
ere mit ihrer Leistungs- und Erfolgs- bzw. Misserfolgssemantik hier nicht aufrecht-
erhalten wird. Es ist zwar einzusehen, dass ein Anspruch auf eine Karriere als Folge
von aufeinander aufbauenden Ereignissen nicht möglich ist, da durch das Moment
des Glücks ein Risiko besteht, das man mit seinen Ansprüchen nicht aufheben
kann. Allerdings können Ansprüche als Zielsetzung auch als Überschreitung des
bisher Erreichten wirksam werden ohne dass damit gleich eine ganze Karrierevor-
stellung abgebildet wird. Die Auseinandersetzung mit den selbst gesetzten Ziel-
vorgaben entspringt aber demselben Prinzip des Abbaus der Vorher/Nachher-Dif-
ferenzen. Diese werden in der Selbstforderung aufgelöst und dann als Zielsetzung
für die Selbstverwirklichung handlungsleitend.
Damit ist ein anderer Aspekt verbunden, der die Folgen einer anspruchsgelei-
teten Identitätsbildung beschreibt. Das Individuum muss sich mit einem Anspruch
identifizieren, bevor es sich mit diesem zum Zweck der Anerkennung an die Um-
welt wendet, d.h. in diesem Fall, sich anderen gegenüber mit seinen Ansprüchen als
selbstverwirklichende Person präsentiert. Ein so verstandener Anspruch steuert die
Wahl von Optionen. Ignoriert werden dadurch immer jene Optionen, die nicht zu
den eigenen Zielsetzungen passen. Dabei berücksichtigt das Individuum seine bis-
herigen Erfahrungen, bewertet seine Fähigkeiten und Potentiale. Nach der Wahl
einer Option muss jedoch eine Aneignung erfolgen. So wird die Option als An-
spruch für die Entwicklung der Identität handlungsleitend. Was die Individuen aus
den gewählten Optionen tatsächlich machen, wird erst in ihren präsentierten Ans-
prüchen ersichtlich. Ansprüche stellen demnach keine bloße Übernahme von gesell-
schaftlichen Identifikationsangeboten dar, sondern sind Ergebnis einer bewertenden
Auseinandersetzung. Dieses Selbstbindungsmoment, das nur durch diese Form der
Identifikation mit einem Anspruch entsteht, wird bei Luhmann nicht berücksichtigt.
Bei Luhmann hat der Umgang mit Ansprüchen insgesamt etwas Spielerisches, im
Sinne eines Versuch- und Irrtumspiels zwischen Individuum und Gesellschaft, bei
dem die Identifikation zwar genannt, aber bei der Definition der anspruchsgeleite-
ten Identitätsentwicklung keine Rolle mehr spielt. Damit unterscheidet sich der
Umgang mit Ansprüchen letztendlich nicht mehr von Erwartungen, da sie hier nur
ein Abarbeiten an Erfüllungen und Nichterfüllungen beschreiben. Die Selbstbin-
78 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

dung stellt aber unter der Bedingung der Optionenvielfalt den wichtigsten Stabilisie-
rungsfaktor für Identitätsentwicklung dar. Nur so kann eine offene Identität durch
den Anspruch „etwas werden zu wollen“, beschrieben werden.
Diese Form der Selbstverpflichtung im Rahmen der Identitätsentwicklung wird
auch von Uwe Schimank als Kennzeichen moderner Identitätsentwicklung themati-
siert. Er trennt die handlungsleitende Zielsetzungsdimension der Selbstforderung in
zwei Bereiche. Zum einen gibt es den evaluativen Selbstanspruch (Schimank 2000:
123). In ihm drücken sich insgesamt die Vorstellungen darüber aus, wie eine Person
sein und leben will. Diese gehen in gewisse Selbstverpflichtungen über, die das
Handeln entlang konkreter Zielsetzungen anleiten. Diese Selbstansprüche sind
formulierte Lebensziele, die sich in der kognitiven Überschreitung des momentanen
Ist-Zustands ausdrücken. Ergänzt werden die evaluativen Selbstansprüche durch
„normative Selbstansprüche“ (ebd.: 124). Sie sind selbst gesetzte Sollensvorgaben,
„deren Nichteinhaltung die betreffende Person als Scheitern des eigenen Lebens
begreifen würde.“ (ebd.: 124). Dabei können gesellschaftliche Erwartungen in diese
Selbstansprüche einfließen, sie können aber auch abgelöst von ihnen auf rein indi-
viduelle Zielsetzungen zurückgehen.
Zusammenfassend sei an dieser Stelle festgehalten, dass Ansprüche als allge-
meine Zielsetzungen auf kognitiver Ebene auf Grundlage vorhandener Hand-
lungsoptionen in einer spezifischen Auseinandersetzung mit verfügbaren Optionen
und mit bisher gemachten Erfahrungen entstehen. Sie werden ausgelöst durch Dif-
ferenzerfahrungen, die sich daraus ergeben, dass unter Bedingung der Optionen-
vielfalt, Identität als offen definiert wird und die daraufhin entstehenden Selbstver-
wirklichungsbestrebungen durch einen selbstreflexiven Ist-Soll-Vergleich angesto-
ßen werden. Die so entstehenden Zielsetzungen steuern dann wiederum die Wahl
von Optionen und haben darüber hinaus die Funktion der Selbstbindung, weil sie
klar stellen, was im Rahmen der Selbstverwirklichung angestrebt werden soll.

2.2.2 Ansprüche als Ressourcenforderungen

Der zweite Aspekt der Anspruchsbildung im Rahmen des Selbstverwirklichungs-


strebens wird als Ressourcenforderung konzipiert. Hierbei wird Luhmanns Ge-
danke eines an die Umwelt adressierten Anspruchs zugrunde gelegt. Gleichzeitig
verweist dieser Aspekt der Anspruchsbildung aber auch auf einen Berechtigungs-
glauben. Dadurch verlagert sich der Blick auf den Zusammenhang zwischen An-
sprüchen und ihren institutionellen Grundlegungen und thematisiert gesellschaftli-
che Maßnahmen der sogenannten Optionenvorsorge. Dahinter steht die Auffas-
sung, dass die Individuen nicht aus eigener Kraft über die wahrgenommenen Opti-
onen verfügen. Welche Optionen zur Wahl stehen, auf welche also ein Anspruch
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 79

erhoben werden kann, sind somit politisch-institutionellen und ökonomischen Ur-


sprungs (vgl. Grözinger/Maschke/Offe 2006: 38).
Dabei lassen sich zwei Formen unterscheiden, die als Ressourcenforderungen
ihren Ausdruck finden. Als Grundlage für das Streben nach Selbstverwirklichung
können neben materiellen auch immaterielle Ressourcen fungieren. Beide können
geistig-kultureller oder auch ideeller Natur sein. Damit sind so unterschiedliche
Aspekte wie Sozialleistungen, Konsumgüter, Bildung, Freiheit, Selbstbestimmung,
soziale Anerkennung etc. gemeint.
Die theoretische Basis für diese Form von Ansprüchen ist eine bedürfnistheo-
retische. Zur Ausbildung eines solchen Anspruchs kommt es infolge der Wahrneh-
mung eines konkreten Bedürfnisdefizits, das auf Befriedigung drängt. Diese An-
sprüche sind somit zukunftsbezogene Bedürfnisbefriedigungswünsche eines In-
dividuums, die sich auf bestimmte Lebens- und Erfahrungsbereiche beziehen (vgl.
Campbell/Converse/Rodgers 1976: 173ff.). Das Individuum braucht bestimmte
Güter und staatliche Leistungen, um das eigene Leben selbstbestimmt konstruieren
zu können. Dazu gehören Regelungen wie ein allgemeiner Rechtsschutz, Gesund-
heits- und Altersvorsorge, Unterstützungsleistungen bei der Kindererziehung, Aus-
bildung, Arbeitslosigkeit etc. Die so verstandene Optionenverfügbarkeit als Hand-
lungsrecht fußt auf einer allgemeinen Grundwahrnehmung: Der „(...) Glaube, die
Annahme des Betreffenden, dass diese Ansprüche berechtigt sind und ihm die
Einlösung des Wunschziels gerechterweise zusteht (...).“ (Herbert 1983: 4).
Die grundlegendste Form der Legitimierung dieser Berechtigung findet sich auf
gesetzlicher Ebene und ist in den Menschenrechten verankert. Auf der Ebene des
Nationalstaates sind dies die Bürgerrechte. Für die Konkretisierung ihrer Funktion
bei der Ausbildung eines Berechtigungsglaubens spielt Thomas Marshalls Ausar-
beitung zu Bürgerrechten und zum Wohlfahrtsstaat eine zentrale Rolle. Seine
Grundaussage lautet, dass mit der Erlangung des Staatsbürgerstatus eine grundsätz-
liche Gleichheit zwischen den Bürgern verbunden ist und somit zum Abbau von
Klassendifferenzen führt. Diese Gleichheit ergibt sich aus der Ausstattung mit
Rechten (vgl. Marshall 1992: 39). „Staatsbürgerrechte verleihen einen Status, mit
dem all jene ausgestattet sind, die volle Mitglieder einer Gemeinschaft sind. Alle, die
diesen Status innehaben, sind hinsichtlich der Rechte und Pflichten, mit denen der
Status verknüpft ist, gleich.“ (ebd.: 53). Marshall argumentiert mit der Umkehrung
von individuellen Pflichten zu unterschiedlichen Rechten anhand von drei Logiken:
erstens der individuellen Logik der Freiheit der Person, der Redefreiheit, Gedanken-
und Glaubensfreiheit, der Freiheit des Eigentums usw., zweitens der politischen Lo-
gik, wozu die Partizipation an politischer Macht im Sinne der Wählerschaft zählt
und drittens die soziale Logik, wozu vor allem das Recht auf ein Mindestmaß an
wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit gehört.
80 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

Die Gewährung sozialer Rechte bedeutet demnach

„(…) soziale Rechte auf die Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu haben, ein
‚gesellschaftliches’ nach den jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäben anerkennenswertes Leben zu
leben – die Mittel zur Verwirklichung ‚liberaler’ und ‚demokratischer’ Rechte zu haben“ (Forst
1996: 215).

Mit diesen Rechten sind bestimmte Pflichten verbunden. Zu ihnen zählt Marshall
im Konkreten die Zahlung von Steuern und Versicherungsbeiträgen und im Allge-
meinen, ein guter Bürger zu sein, der sein Möglichstes tut, um die soziale Wohlfahrt
abzusichern.
Das Prinzip der Wohlfahrt wird von Marshall als gesetzliches, soziales und mo-
ralisches Recht konzipiert. Im engeren Sinne bezieht sich Wohlfahrt auf bestimmte
Zahlungen oder Dienstleistungen und stellt eine Verbindung zwischen „materiellen
Mitteln und immateriellen Zielen“ (Marshall 1992: 95) her. Grundlage dieses Wohl-
fahrtskonzeptes ist die Armenfürsorge und die Sozialversicherung sowie – auf
Dienstleistungsebene – die Bildung und Gesundheit.
Diese Grundsicherung auf Bürgerrechts- und Wohlfahrtsebene stellt die Basis
für die Entwicklung des Leitbildes der Anspruchsgerechtigkeit dar. In dieser Sicht
auf die individuelle Anspruchshaltung bündelt sich also einerseits die Perspektive
des autonomen Individuums, das sich mit seinen Ansprüchen von den gesellschaft-
lichen Erwartungen emanzipiert, und andererseits eine Argumentation über die
Grenzen der anspruchsgeleiteten Selbstverwirklichung.
Für die hier verfolgte Funktionsbestimmung von Ressourcenforderungen im
Rahmen von Selbstverwirklichung können die Bürgerrechte und Wohlfahrtsrege-
lungen weiter spezifiziert werden. Die Bürgerrechte stellen eher eine Basis für die
ideelle und immaterielle Selbstverwirklichung dar, während wohlfahrtsstaatliche
Regelungen als Grundlage für die materielle Selbstverwirklichung zu betrachten
sind.
Ansprüche, die auf ideeller Ebene im Kontext der Ausweitung um Selbstbe-
stimmung entstehen, entwickeln sich vor allem in Folge von Kämpfen um rechtli-
che Anerkennung. Hierzu zählen alle Bemühungen von gesellschaftlichen Rand-
gruppen, die für die Ausweitung ihrer Autonomie mit ihren Ansprüchen sozial in
Erscheinung treten. Aus individualisierungstheoretischer Sicht dient dies der Aus-
weitung des Berechtigungsglaubens. Grundlage dafür ist die Feststellung einer wie
auch immer gearteten Diskriminierung, die sich aus dem Vergleich mit einer als
privilegiert wahrgenommenen Gruppe ergibt. Die grundlegende Form dieser ideel-
len Ebene der Selbstverwirklichung basiert auf Rechten in Bezug auf Bildung.
Ansprüche, die auf materieller Ebene der Selbstverwirklichung dienen, gründen
auf wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen wie z.B. Eingriffen in die Einkommensver-
teilung und Dienstleistungen im Rahmen der Gesundheitsversorgung, des Arbeits-
markts und des Wohnungswesens.
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 81

Alle drei Aspekte führen insgesamt dazu, dass der Einzelne als ein selbstver-
antwortlicher Träger von Ansprüchen, Rechten und Pflichten definiert wird (Kohli
1985). Formuliert er Ansprüche, ist er am Höhepunkt der Selbstbestimmung ange-
langt. Durch Anspruchsformulierungen dieser Art wird Selbstverwirklichung sozial
sichtbar, weil sie als konkrete Forderung an jemanden adressiert werden. Das Indi-
viduum tritt in eine andere Beziehung zur Gesellschaft, da es Ressourcen für sich
fordert. Artikulierte Forderungen können an alle gesellschaftlichen Teilbereiche
gerichtet werden. Die wichtigsten Bereiche sind Bildungsansprüche, Arbeits- und
Einkommensansprüche sowie Sozialansprüche, da sie als Grundpfeiler der indivi-
duellen Selbstverwirklichung fungieren. Sie werden deshalb in Wohlstandsgesell-
schaften, in denen die Grundsicherung des Lebens nicht mehr problematisiert wer-
den muss, zu einem Aspekt der Selbstverwirklichung und auf unterschiedlichen
Ebenen der Lebensplanung zu einem Mechanismus, der die persönliche Weiterent-
wicklung konkretisiert.
Aus differenzierungstheoretischer Sicht wird das Ausmaß der Ressourcenforde-
rungen mit dem Konzept der Publikumsrollen erfasst und soll hier herangezogen
werden, um die Art ihrer Ausprägung näher zu fassen (vgl. Burzan et al. 2008). Als
Publikumsrollen werden alle Formen des teilsystemischen Leistungsempfangs be-
zeichnet. Diese zur Verfügung gestellten Leistungen dienen der Inklusion und si-
chern die Teilhabe an den jeweiligen Sozialsystemen. Diese Publikumsrollen sind
auf allen Ebenen zu finden, z.B. im Bereich des Konsums, der Intimbeziehungen,
der Bildung, der Kunst oder der Religion. Die Publikumsrolle beschreibt hier z.B.
die Partizipation an Radio, Fernsehen oder Zeitungen, am Theater, Kino oder Kon-
zerten. Sie bezieht sich auf Wähler im Bereich der Politik, Patienten im Bereich der
Gesundheit, Schüler und Studenten im Bereich der Bildung. Kennzeichnend für
eine Publikumsrolle ist die aktive Forderung nach Leistungen. Der Rolleninhaber
bestimmt hierbei auf Grundlage seiner Bedürfnisse sowohl den Zeitpunkt als auch
Dauer und Frequenz der Leistungen (vgl. ebd.: 30). Dies kann ebenso indirekt er-
folgen, wie z.B. die Partizipation an Massenmedien dazu dient, Informationen aus
Wissenschaft, Kultur, Politik, Sport usw. zu bekommen. Am häufigsten werden im
Bereich des Konsums oder der Medien Leistungen gefordert, während Forderungen
an das Gesundheits- oder Rechtssystem im Vergleich seltener artikuliert werden.
Die Art der so gefassten Inklusion durch Leistungsempfang bestimmt wesentlich
die Lebensbedingungen und damit das Ausmaß der Selbstverwirklichung mit.
Selbstverwirklichung hängt somit insgesamt

„(...) am wirtschaftlich vermittelten Einkommen, an Bildungskarrieren, an gesundheitlicher Versor-


gung, an massenmedialer Informiertheit, an Rechtssicherheit, am wissenschaftlichen Fortschritt, an
Unterhaltung und Denkanstößen durch Kunst und nicht zuletzt auch am militärisch gesicherten
Frieden.“ (Schimank 2005: 311).
82 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

Diesen hier beispielhaft aufgezeigten Dimensionen von Ressourcenforderungen


liegt die Wahrnehmung von Bedürfniserfüllungsdefiziten zugrunde. Dabei ver-
gleicht das Individuum seine Ansprüche mit aktuellen und mit weiteren verfügbaren
Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten. Diese Möglichkeiten ergeben sich aus der
Wahrnehmung von gesellschaftlich verfügbaren Angeboten, auf die man ein An-
recht zu haben glaubt.17 Der Anspruch auf bestimmte Ressourcen entwickelt sich
hier also auch auf der Grundlage des von Luhmann beschriebenen Ist-Soll-Ver-
gleichs. Hinzu kommt eine Abwägung von eigenen Bedürfnissen und den sich bie-
tenden Möglichkeiten der Erfüllung auf Grundlage eines Berechtigungsglaubens.
Hierin drückt sich der Vorgriff auf einen Sollzustand aus. Dieser kann dazu dienen,
sich für die Bereitstellung benötigter Ressourcen oder Rechte einzusetzen. Hierbei
zeigt sich im ressourcenfordernden Anspruch wiederum die Nichtakzeptanz von
Erwartungsenttäuschungen (vgl. Schimank 2002: 284).
Nachdem diese Ansprüche ausgebildet wurden, treten sie als konkrete Forde-
rung sozial in Erscheinung. Dazu ist, wie bereits erläutert, die Grundvoraussetzung,
dass sie sich an einen bestimmten Adressaten richten. Dieser wird so gezwungen,
sich mit den individuellen Forderungen auseinanderzusetzen. Die geäußerten An-
sprüche sind dann Forderungen nach Ressourcen oder Leistungen, die für die Be-
friedigung der Bedürfnisse benötigt werden. Der Grad der Befriedigungswirkung
hängt logischerweise davon ab, ob die angemeldeten Ansprüche auch anerkannt
werden (vgl. Herbert 1992: 205). Die Nichtanerkennung führt zu einer Bedürfnisbe-
friedigungsfrustration und damit zur Begrenzung von Selbstverwirklichung. Diese
Mechanismen werden im nächsten Kapitel auf gesellschaftstheoretischer Ebene
weiter diskutiert. Wichtig ist hier zunächst einmal nur, dass diese Erfahrungen mit
Anspruchsanmeldungen die Ausbildung neuer Ansprüche beeinflussen.
Damit ist die zweite Funktion von Ansprüchen als Ressourcenforderung in ih-
ren Grundeigenschaften definiert. Ansprüche werden im Rahmen der Selbstver-
wirklichung als Forderung nach Rechten und Leistungen an Vertreter der Umwelt
gerichtet. Sie entwickeln sich vor dem Hintergrund eines Glaubens an deren Be-
rechtigung und auf Grundlage eines Bedürfnisses, das durch den Vergleich mit
anderen zur Wahrnehmung eines Bedürfniserfüllungsdefizits führt. Diese Form der
Anspruchshaltung ist wesentlicher Antriebsfaktor für die individuelle Autonomie,
die im Rahmen der Selbstverwirklichung als Forderung erstritten wird.

17 Luhmann nennt diese Angebote, wie bereits dargestellt, „Anspruchsschablonen“ (Luhmann 1995:
140)
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 83

2.2.3 Ansprüche als motivationsbasierte Leistungsansprüche

Diese Form des Anspruchs entspringt keinen Zielsetzungen, die das Werden der
Person thematisieren oder Bedürfnissen, die kennzeichnen, was man haben will,
sondern einer spezifischen Leistungsmotivation. Diese Art der leistungsbasierten
Selbstansprüche wird im Folgenden als an sich selbst gerichtete Leistungsforderun-
gen verstanden. Es handelt sich hierbei um Ansprüche, welche die eigene Leistungs-
fähigkeit betreffen und in der Leistungsmotivation auf vielerlei Art ihren Ausdruck
finden. Sie sind von selbstreflexiv erzeugten „kognitiven Selbsteinschätzungen“
(Schimank 2000: 125) gesteuert. „Diese betreffen die Fähigkeiten und Möglichkei-
ten einer Person, ihren evaluativen und normativen Selbstansprüchen gerecht zu
werden, sowie ihr faktisches So-Sein im Vergleich zum Sein-Wollen und Sein-Sol-
len.“ (ebd.). Sowohl Leistungsfähigkeit als auch -motivation sind dabei von Kon-
textbedingungen wie Gelegenheiten und Möglichkeiten beeinflusst.
Mit diesem Aspekt haben sich die Motivationspsychologen beschäftigt. In den
„Erwartungs-mal-Wert-Theorien“ wird mit dem sogenannten Konzept des An-
spruchsniveaus (vgl. Atkinson 1964; Heckhausen/Heckhausen 2006; Hoppe 1930;
Jones/Gerard 1967; Kirsch 1970; Lewin et al. 1944) gearbeitet, um das interne Ziel-
setzungsverhalten von Individuen und dessen Dynamik genauer erforschen zu
können. Es dient der Analyse des durch eine bestimmte Art von Leistungsmotiva-
tion geprägten Entscheidungsverhaltens. Geklärt werden soll, wie die Entscheidung
für eine als individuell angemessen empfundene Leistungsforderung getroffen wird.
Ferdinand Hoppe hat sich in seiner Studie „Erfolg und Misserfolg“ von 1930
mit diesen Fragen auseinandergesetzt.18 Sein vorrangiges Interesse galt der Dynamik
individueller Bewertungskriterien von Eigenleistungen. Er geht zwar genauso wie
die ressourcenbasierten Anspruchstheoretiker davon aus, dass Handlungen auf-
grund von Bedürfnissen durchgeführt werden, konzentriert sich aber auf die Hand-
lungsresultate. Handlungen können in Abhängigkeit vom Bedürfnis befriedigend
oder sättigend sein. Beiden ist gemeinsam, dass sie nach Beendigung zu einer Ent-
spannung eines vor der Handlung bestehenden Spannungssystems führen. Der
Unterschied besteht darin, dass sich bei einer Sättigungserfahrung eine Abneigung
gegenüber der Wiederholung einstellt, während bei einer Befriedigungserfahrung die
Tendenz zur Wiederholung gegeben ist.
Die Motivation für die Fortführung einer Handlung erlangt das Individuum
demnach aus den Erfahrungen. Diese Erfahrungen werden nach Hoppe nicht nach
dem emotionspsychologischen „Lust-Unlust Prinzip“ (vgl. Wundt 1910) als befrie-
digend oder sättigend kategorisiert, sondern in Abhängigkeit von Erfolgs- und
Misserfolgserlebnissen. Sättigung stellt sich dann ein, wenn eine Reihe von Misser-
folgserlebnissen gemacht wurde. Befriedigung dagegen in Verbindung mit Er-

18 Die Studie stellt Ergebnisse aus einer Reihe experimenteller Untersuchungen vor.
84 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

folgserfahrungen. In Abhängigkeit vom Erfolg kommt es zur Neigung der Fortfüh-


rung von befriedigenden und infolge eines Misserfolgs zu einer Abneigung gegen-
über der Fortführung von sättigenden Handlungen. Ziel jeder Handlung ist somit,
Erfolg zu haben und Misserfolg zu vermeiden. Das Fortführen der Handlung ist
durch eine neue Zielsetzung gekennzeichnet, die allerdings an das frühere Ziel ge-
koppelt ist. „Die spontane Wiederaufnahme nach Befriedigung bedeutet keine ei-
gentliche Wiederholung, sondern psychologisch: Beginnen einer neuen Aufgabe mit
einem anderen Ziel.“ (Hoppe 1930: 46).
Aus psychologischer Perspektive beurteilen die Individuen ihre Leistungen
selbst nach eigenen Kriterien. Diese Bewertungskriterien orientieren sich an der
bisher erreichten Leistung und der selbst bewerteten Zieldiskrepanz und damit
nicht an objektiven Schwierigkeitsgraden einer Aufgabe.

„Eine Person geht immer mit gewissen Ansprüchen an die Arbeit, die sich im Verlaufe der Hand-
lung ändern können. Die Gesamtheit dieser mit jeder Leistung sich verschiebenden, bald unbe-
stimmteren, bald präziseren Erwartungen, Zielsetzungen oder Ansprüchen an die zukünftige eigene
Leistung wird Anspruchsniveau genannt.“ (Hoppe 1930: 48).

Es bezeichnet dabei „den für ein Individuum charakteristischen Gütegrad, bezogen


auf die erreichte Leistungsfähigkeit der für die Selbstbewertung eines erzielten
Handlungsresultats entscheidend ist.“ (Heckhausen 2006: 128).
Erweitert wurde diese Vorstellung durch die Berücksichtigung des Einflusses
von Vorerfahrungen (vgl. Frank 1935: 119). Die Wahrnehmung von Erfolgs- oder
Misserfolgserlebnissen ist an das Anspruchsniveau des persönlichen Leistungsziels
gekoppelt. Ob die Erfüllung einer Aufgabe als Erfolg oder Misserfolg gewertet
wird, hängt davon ab, ob das Anspruchsniveau über- oder unterschritten wurde. Bei
Leistungen, die über dem eigenen Anspruchsniveau liegen, stellen sich Erfolgser-
lebnisse ein. Erzielt eine Person eine Leistung, die unter dem eigenen Anspruchsni-
veau liegt, dann wird diese Leistung als Misserfolg gewertet. Wiederum bewirken
wiederholte Erfolge eine Steigerung und wiederholte Misserfolge eine Senkung des
Anspruchsniveaus, wobei die Intensität des erlebten Erfolges bzw. Misserfolges
ebenfalls davon abhängt, wie weit der Erfolg oder Misserfolg vom Anspruchsniveau
entfernt ist (vgl. Jucknat 1987). Ist ein gewisser Standard erst einmal erreicht, dann
setzt sich das Individuum ein höheres Ziel und bewertet die neu erzielten Leistun-
gen mit einem anderen Maßstab. Dadurch verändert sich das Erfolgs- oder Misser-
folgserleben kontinuierlich in Abhängigkeit von der dynamischen Anspruchsni-
veauentwicklung und damit auch die Tendenz, Handlungen weiterzuführen oder
abzubrechen (vgl. Lewin et al. 1944).
Damit legen die Psychologen ein Konzept vor, das erlaubt, die Ausbildung von
Leistungsansprüchen auf intrinsische Bewertungskriterien zurückzuführen. Aus
soziologischer Perspektive müssen aber auch soziale Einflüsse berücksichtigt wer-
den, um Leistungsansprüche als Antrieb für Selbstverwirklichungsstreben zu be-
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 85

trachten. Dabei sind vor allem sozialisationsbedingte Effekte wichtig. Auch in psy-
chologischen Studien mit entwicklungspsychologischer Perspektive sind diese Ein-
flüsse nachgewiesen worden (vgl. Heckhausen 1972; Holodynski 1992). Sie prägen
das Anspruchsniveau auf indirekte Weise und drücken sich in den Eigenbewertun-
gen der Leistungen aus. So entwickelt sich die Leistungsmotivation in Abhängigkeit
von sozialen Bewertungsvorgängen, die bereits in der Kindheit Einfluss auf die
leistungsorientierte Selbstbewertung nehmen. Des Weiteren wird auch das Erfolgs-
oder Misserfolgserleben von sozialen Bewertungsprozessen der Umwelt beeinflusst.
Leistungsbewertung wird in allen sozialen Bereichen vorgenommen, wozu vor allem
die Schule und der Beruf gezählt werden können. Aber auch Bewertungen von
Leistungen durch Familie und Freunde nehmen Einfluss. Diese Form der Anerken-
nung kann den beschriebenen Mechanismus einer Senkung oder Erhöhung des
Anspruchsniveaus auch umkehren. Bei Ablehnung bzw. Nichtanerkennung kann
das Anspruchsniveau gleich bleiben oder sogar höher geschraubt werden, obwohl
es zu einer Senkung des Anspruchsniveaus führen müsste, da ihm ein Misserfolgs-
erlebnis zugrunde liegt. Aber die Bestätigung durch andere, dass eine erbrachte
Leistung wirklich als schlecht zu bewerten ist, führt nicht selten zu dem Bestreben,
das nächste Mal eine bessere Leistung zu erbringen.
Ein anderer Umgang mit Bewertungsvorgängen aus der Umwelt, lässt sich mit
dem von Hoppe herausgearbeiteten „Ich-Niveau“ (Hoppe 1930: 154) erklären. Das
Ich-Niveau beschreibt das Selbstbewusstsein des Individuums. Dieses drückt sich in
seinen Zielsetzungen bzw. Ansprüchen aus. So erklärt Hoppe auch, dass überhaupt
eine Dynamik im Anspruchsniveau zu beobachten ist. Die Misserfolgsvermeidungs-
strategie hängt mit dem Wunsch zusammen, das Ich-Niveau möglichst hoch zu
halten. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass das Individuum gleichzeitig ein sozi-
ales Wesen ist und sich mit einem hohen Ich-Niveau in Abgrenzung zu anderen
besser stellen will. Auf diese Weise kommen Ansprüche aus rein psychologischen
Gründen nie zur Ruhe, da die Individuen ein höheres Ziel notwendig brauchen.
Das Selbstbewusstsein wird mit einem hohen Leistungsstandard hoch gehalten. Aus
diesem Grund kann es auch zu Umdeutungen von Misserfolgen kommen, was sich
z.B. darin ausdrückt, die Ursachen dafür den äußeren Umständen zuzuschreiben.
Der Misserfolg wird vom Individuum selbst nicht anerkannt und führt in Verbin-
dung mit dem Antrieb, das falsche Urteil revidieren zu wollen, zu einer Erhöhung
des Anspruchsniveaus.
Diese Konzeption von leistungsbasierten Selbstansprüchen ist für die Be-
schreibung der Zielsetzungsmechanismen im Rahmen der Selbstverwirklichung
ebenfalls bedeutsam. Das Streben nach bestimmten Eigenleistungen steuert wiede-
rum die Wahl von bestimmten Optionen, wie z.B. die Erlangung von Bildungsab-
schlüssen oder den Wechsel von Berufspositionen. Durch das Anspruchsniveau
dieser Selbstansprüche wird nur eine bestimmte Zahl von Optionen tatsächlich als
Option wahrgenommen. Gleichzeitig klärt diese Form des Selbstanspruchs auch
86 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

darüber auf, in welchem Ausmaß eigeninitiativ an den Lebensläufen gearbeitet wird.


Durch das Konzept dieses Selbstanspruchs kann erst offen gelegt werden, wie es
unter Bedingungen der Optionenvielfalt zu einem Streben nach Selbstverwirkli-
chung im Sinne von Leistungsmotivation kommt.
Damit kann gezeigt werden, dass motivationsbasierte Leistungsansprüche, ne-
ben den entwicklungsbasierten Seinsforderungen und Ressourcenforderungen eine
weitere Ausdrucksmöglichkeit des Strebens nach Selbstverwirklichung in der indivi-
dualisierten Gesellschaft darstellen. Sie können aber auch an entwicklungsbasierte
Seinsforderungen gebunden sein und fungieren im Rahmen dessen als Konkretisie-
rung der für das Streben nach einem bestimmten Selbstbild zu erbringenden Leis-
tungen. Das wäre im Rahmen des Anspruchs auf berufliche Karriere der Fall. Die
Zielsetzung Karriere erfordert bestimmte Leistungen. Jede Leistung, die im Rahmen
dessen erbracht wird, wird als Weg zum Ziel gedeutet.

2.3 Die Steigerungsdynamik von Ansprüchen durch soziale Vergleiche

Mit Hoppes Theorie über die Entwicklung des Anspruchsniveaus ist eine grundle-
gende psychologische Komponente für die Erklärung von Anspruchserhöhungen
eingeführt worden. Hoppe konnte zeigen, dass die Befriedigungswirkung einer
Leistung an die Erfolgserfahrung gekoppelt ist. Ansprüche bilden sich, wie bereits
verdeutlicht, demnach auf der Grundlage vergangener Erfolgserfahrungen aus und
verbinden gleichzeitig zukünftige Zielsetzungen mit ihnen. Das Anspruchsniveau
zeigt an, dass das Erstrebenswerte durch das bisher Erreichte angetrieben und ge-
steuert wird. Welche Handlungsoptionen überhaupt wahrgenommen werden, wird
durch die Höhe des Anspruchsniveaus angeleitet. Dieser Einfluss des Anspruchsni-
veaus greift nicht nur bei der Ausbildung von Selbstansprüchen, sondern bei allen
Seinsforderungen und Ressourcenforderungen.
Hierbei ist wesentlich, dass das Anspruchsniveau selbst einer Bewertung unter-
zogen wird. Dabei wirkt sich ein weiterer Effekt der Individualisierung aus. Durch
das Aufeinandertreffen von immer unterschiedlicheren Lebensentwürfen, entstehen
Anregungen für die individuelle Wahrnehmung von Optionenvielfalt. In der inter-
aktiven Auseinandersetzung werden so Möglichkeiten der Lebensführung und da-
mit der Selbstverwirklichung präsentiert und bewertet. Dies erfolgt auf Grundlage
von präsentierten Zielsetzungen, Leistungen, Handlungen und Wünschen anderer
Individuen. Diese Präsentation wird auf vielfältige Weise vermittelt, neben der ech-
ten Interaktion mit anderen Individuen, wirken hier vor allem medial bekannt ge-
machte Lebensentwürfe als Vergleichsmaßstab. Aus diesem Vergleich kann sich
eine Anpassung des eigenen Anspruchsniveaus ergeben.
Diese Einflussnahme wird in der Diskussion um soziale Vergleiche thematisiert
(vgl. Festinger 1954, Trommsdorf 1994). Im Rahmen einer Optionenvielfalt bie-
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 87

tenden Gesellschaft haben soziale Vergleiche einen Validierungscharakter bei der


Bestimmung dessen, was als erstrebenswert gelten kann. Um „(...) die ‚Richtigkeit’
von Erwartungen und darauf aufbauender Entscheidungen abzusichern, versuchen
Menschen ihr eigenes Urteil an dem von anderen Menschen zu validieren. Dazu
werden soziale Vergleiche vorgenommen.“ (Trommsdorff 1994: 48). Der Vergleich
mit anderen hat eine orientierende Funktion und dient der Weiterentwicklung des
Individuums. „Die Differenzierung gegen andere Wesen ist es, was unsere Tätigkeit
großenteils herausfordert und bestimmt; auf die Beobachtung ihrer Verschieden-
heiten sind wir angewiesen, wenn wir sie benutzen und die richtige Stellung unter
ihnen einnehmen wollen.“ (Simmel 1917: 39).
Um zu zeigen, wie das Anspruchsniveau in allen drei hier ausgearbeiteten Be-
reichen kontinuierlich durch soziale Vergleiche steigt, sind die Überlegungen von
Leon Festinger eine wichtige Hilfe (Festinger 1954). Er unterteilt die Form der
individuellen Selbstbestimmung insgesamt in drei Aspekte. Selbstbestimmung setzt
sich bei ihm aus Selbst-Einschätzung, Selbst-Aufwertung, Selbst-Verbesserung
zusammen. Die Selbsteinschätzung dient der Bewertung eigener Fähigkeiten und
Meinungen, die Selbstaufwertung, der Erlangung einer positiven Beurteilung der
eigenen Fähigkeiten und die Selbstverbesserung der Inspiration für Weiterentwick-
lung (vgl. Festinger 1954: 117ff.). Diese Aspekte können die Mechanismen der
Anspruchsausbildung auf Grundlage von sozialen Vergleichen fassen und lassen
sich zur Klärung der Steigerungsdynamik heranziehen.
Ausgehend von Luhmanns Vorstellung, dass Zielsetzungsansprüche sich durch
Differenzerfahrungen entwickeln, kann nun näher geklärt werden, wie dies genau
vor dem Hintergrund eines konkreten Anspruchsniveaus verläuft. Dabei zeigt sich,
dass Differenzerfahrungen nicht zufällig gemacht werden, sondern sich aus einem
bewusst und eigeninitiativ initiierten Vergleich ergeben. Die Validierung der eigenen
Zielsetzungen erfolgt also durch die aktive Auseinandersetzung mit den Zielsetzun-
gen der anderen. Es kommt jedoch nicht zu einer Ausbildung irgendwie anders
gearteter Zielsetzungen, sondern zur Ausbildung von als besser bewerteten Zielset-
zungen. Damit ist nicht gemeint, dass eine verbesserte Zielsetzung als die des Ver-
gleichssubjekts angestrebt wird, sondern eine verbesserte im Hinblick auf die bisher
geltende. Die Vergleichssubjekte sucht sich das Individuum dabei auf Grundlage
eines spezifischen Anspruchsniveaus der eigenen Zielsetzungen. Der Vergleich
führt dann daraufhin entweder zur Bestätigung, dass das Anspruchsniveau hoch
genug oder eben zu niedrig ist. Das lässt sich durch den Vergleich mit anderen
hinsichtlich der Qualität des Strebens nach Selbstverwirklichung fassen.
Stellt ein Individuum in der Interaktion mit anderen fest, dass es selbst einen
hohen Anspruch z.B. an ein erfülltes Leben hat, während das Vergleichssubjekt
durch seine präsentierten Zielsetzungen zeigt, dass es niedrigere Maßstäbe dafür
hat, dann fungiert dies als Erfolgserlebnis bzw. als Bestätigung dafür, dass das ei-
gene Streben nach Selbstverwirklichung richtig verläuft. Dies kommt einer Selbst-
88 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

Aufwertung gleich. Beim Vergleich mit einem Individuum, das sich dagegen höhere
Ziele z.B. hinsichtlich einer autonomen Lebensführung gesetzt hat, wird dieser
Vergleich als Misserfolgserlebnis gewertet, da festgestellt wird, dass die eigenen
Zielsetzungen damit nicht mithalten können. Daraufhin kann es zu einer Erhöhung
des Anspruchsniveaus kommen, was gleichbedeutend mit einer Selbstverbesserung
ist.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, die niedrigere Qualität der eigenen An-
sprüche abgrenzend zu dem besseren Vergleichssubjekt zu rechtfertigen, indem z.B.
betont wird, dass dem anderen bessere Bedingungen für die Ausbildung höherer
Zielsetzungen gegeben sind. Dies ist dann der Mechanismus des Schutzes des von
Hoppe beschriebenen Ich-Niveaus durch die Verschiebung der Verantwortung auf
äußere Umstände. Das eigene Anspruchsniveau bleibt hierbei gleich, weil die Be-
dingungen für eine Erhöhung nicht gegeben sind. Die Darstellung dieser Ver-
gleichsmechanismen zeigt, wie hoch der Grad an Reflexionsarbeit unter Bedingun-
gen der Optionenvielfalt ist, um überhaupt zur Ausbildung einer Zielsetzung zu
kommen. Gleichzeitig zeigt dieser Vorgang des Vergleichens die Dynamik, die der
Ausbildung und Veränderung von Zielsetzungen in individualisierten Bedingungen
zugrunde liegt.
Die gleichen Mechanismen des sozialen Vergleichs können bei Leistungsan-
sprüchen im Rahmen der Selbstverwirklichung beobachtet werden. Hierbei geht es
ebenfalls auf Grundlage eines bestimmten Anspruchsniveaus in erster Linie um die
Validierung von „richtigen“ Selbsteinschätzungen, aber auch um die Selbstaufwer-
tung und Selbstverbesserung. Der Vergleich mit anderen erfolgt hier zum Zweck
der Bewertung der eigenen Leistung. Die Fremdbewertung der eigenen Leistung ist
zwar in vielen Bereichen an objektive Beurteilungskriterien gekoppelt und schlägt
sich vor allem in der Benotung von Leistung nieder, doch kann sie auch auf subjek-
tiven Vergleichen beruhen (vgl. Festinger 1954: 120).
Hierbei werden die Vergleichssubjekte aber wiederum nicht willkürlich gewählt.
Das Individuum wählt als Vergleichssubjekte z.B. Arbeitskollegen nach bestimmten
Kriterien aus.19 Auf Grundlage eines immer hoch gehaltenen Ich-Niveaus vergleicht
das Individuum als Mitglied einer sozialen Gemeinschaft seine Leistungen mit de-
nen der Anderen und passt seine je nach Relevanz und Ähnlichkeit der Bezugs-
gruppe an (vgl. Goethals/Darley 1977, Miller 1977). Bei der Evaluierung der eige-
nen Leistungen können sich die Individuen an besser gestellten oder schlechter
gestellten Personen orientieren. Hierdurch wird entschieden, ob es zu einer Selbst-
Aufwertung oder einer Selbst-Verbesserung kommt. Der Vergleich mit Personen,
die selbst schlechtere Leistungen erbracht haben, führt hier wieder zu einem Er-
folgserleben und fungiert als Selbstbestätigung. Die Höhe des Anspruchsniveaus

19 Diese Zusammenhänge sind in der klassischen soziologischen Bezugsgruppentheorie (Merton/Kitt


1950; Merton/Rossi 1949) und der Erweiterung in der Theorie der sozialen Vergleichsprozesse
(vgl. Suls/Wills 1991) analysiert worden.
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 89

wird als angemessen bestätigt, weil die eigenen Leistungen besser sind. Dies kommt
einer Erhöhung des Selbstwerts gleich (vgl. Mares/Cantor 1992). Der Vergleich mit
Personen besserer Leistung führt zu einem Misserfolgserleben. Das eigene An-
spruchsniveau wird dadurch erhöht oder wiederum aufgrund von Rechtfertigung
durch externe Bedingungen beibehalten.
Bei Ressourcenforderungen wirken sich soziale Vergleiche so aus, dass Anre-
gungen für eigene Bedürfnisdefizite entstehen und so Ansprüche formen. Mit der
Grundlage der Anspruchsgerechtigkeit als Legitimation, kommt es durch soziale
Vergleiche zu einer Auseinandersetzung mit der Angemessenheit der Höhe der
eigenen Bedürfnisse. Hierbei kommt es jedoch häufiger zu einer Höherorientierung,
da durch das bloße Vorhandensein von besser Gestellten ein Gefühl des Bedürf-
niserfüllungsdefizits entsteht. „Die Person vergleicht das je eigene Niveau der An-
spruchsrealisierung mit den Niveaus anderer, wobei sie geflissentlich schlechter
Gestellte übersieht und besser Gestellte zum Maßstab für das, was ihr selbst zu-
steht, erhebt.“ (Schimank 2005: 312). Hier wirkt sich eine wahrgenommene soziale
Ungleichheit als beständiger Antrieb aus.
Mit dieser Argumentation zeigt sich, dass in individualisierten Gesellschaften
der Vergleich mit anderen notwendig ist, um über die Angemessenheit der eigenen
Ansprüche, sei es als Seinsforderung, Ressourcenforderung oder Leistungsanspruch,
urteilen zu können. Dies ist Folge der Freisetzungs- und Entzauberungsfunktion,
die Ulrich Beck beschrieben hat. Diesem Vergleich liegt das Bewusstsein eines aktu-
ellen Anspruchsniveaus zugrunde. Damit wird deutlich, dass Vergleichssubjekte
eigeninitiativ ausgewählt werden. Ob der Vergleich mit Personen, die selbst höhere
Ansprüche oder niedrige Ansprüche haben, durchgeführt wird, hängt mit psychi-
schen Mechanismen zusammen. Grundsätzlich sind für die Validierung von Zielset-
zungen und Leistungsansprüchen beide Verhaltensweisen wichtig. Die Bestätigung
der Angemessenheit der Höhe des eigenen Anspruchsniveaus kommt einer Selbst-
Aufwertung gleich und die Bestätigung eines zu niedrigen Anspruchsniveaus mün-
det im Bedürfnis nach Selbst-Verbesserung. Lediglich bei den Vergleichen auf Res-
sourcenforderungsebene führt der Vergleich zu einem Wunsch nach Selbst-Verbes-
serung und damit zur Erhöhung des Anspruchsniveaus. Dies ist aber nur durch
rechtliche Rahmenbedingungen innerhalb individualisierter Gesellschaften zu erklä-
ren, die im nächsten Abschnitt noch näher ausgeführt werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Steigerungsdynamik von An-
sprüchen so lange erhalten bleibt, wie in der eigenen Wahrnehmung Andere mehr
erreicht haben, bessere Leistungen erbringen oder mehr besitzen. Darüber hinaus
hängt die beständige Steigung des Anspruchsniveaus jedoch auch von Anerken-
nungsmechanismen ab, die als Reaktion auf die Artikulation bzw. Präsentation der
Ansprüche Einfluss ausübt. Diese Dimension wird im nächsten Kapitel ausführlich
dargestellt.
90 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

Im Folgenden soll zunächst die Darstellung der Überforderungstendenzen ei-


ner so gearteten anspruchsgeleiteten Selbstverwirklichung erfolgen.

2.4 Überforderung durch Anspruchshaltungen – normative


Anspruchsdiskussion

Die bisherigen Ausführungen zeigten, dass Anspruchshaltungen aufgrund psycho-


logischer Vergleichsmechanismen tendenziell steigen. In der soziologischen Litera-
tur mit zeitdiagnostischem Fokus werden aber auch soziale Ursachen für die Steige-
rung von Ansprüchen diskutiert. Dabei kann unterschieden werden zwischen An-
sätzen zu einer gesellschaftlichen Überforderung durch individuelle Ansprüche und
Ansätzen zu einer individuellen Überforderung durch Ansprüche vor dem Hinter-
grund der Optionenvielfalt.
Die Thematisierung von Anspruchsdruck als gesellschaftlichem Problem fand
in der Soziologie im Rahmen unterschiedlicher Ansätze statt. Unter ihnen befinden
sich zeitdiagnostische Analysen, die Ansprüche zum Kernelement der Beziehung
zwischen Individuen und gesellschaftlichen Teilsystemen machen (vgl. Höhler 1979,
Gehrmann 1985, Deichsel 1985). Ausgangspunkt dafür sind die Entwicklungen in
Deutschland seit der Industrialisierung, wo durch Lohnarbeit Ansprüche auf sozia-
len Aufstieg entstanden. Diese Ansprüche steigerten sich mit den Folgen des Wirt-
schaftswunders und dem damit erzeugten Massenwohlstand immer weiter.
Die Diskussion beginnt Ende der 1970er Jahre mit einer normativen Sicht auf
die sich individualisierenden Individuen und ihren Forderungen an den Staat (vgl.
Höhler 1979). Die Zeitdiagnose der Anspruchsgesellschaft von Gertrud Höhler
betont dabei z.B. die Maßlosigkeit der Freiheitsforderungen. „Der Anspruch wird
zur Zauberformel: Ansprüche regeln unser Verhältnis zum Glück, zur Freiheit, zum
Recht. Die Inflation der Ansprüche überwuchert unseren Einsatzwillen für alle
diese Güter.“ (ebd.: 19). Das Anspruchsdenken geht in dieser Auffassung mit dem
Wunsch nach sozialem Aufstieg und einem gleichzeitigem Verlust von Einsatzwil-
len in allen sozialen Bereichen einher und läuft im zwischenmenschlichen Bereich
jeder Form von Toleranz und Nächstenliebe zuwider. Letztendlich zieht das An-
sprüche stellende Individuum aus seinen Forderungen, die überwiegend materieller
Natur sind, kein Glück und in diesem Sinne stellt das massenhafte Anspruchsden-
ken auch eine Gefahr für die weitere gesellschaftliche Entwicklung dar. In dieser
Argumentation steckt eine normative Haltung, die sich in der Forderung nach Mä-
ßigung der individuellen Anspruchshaltungen ausdrückt.
Der Überschreitungscharakter, der sich aus dem Vorhandensein von Optionen
und den sozialen Vergleichsmechanismen ergibt, führt dagegen zu kognitiven Über-
forderungen bei den Individuen. Peter Gross führt in seiner „Multioptionsgesell-
schaft“ ebenfalls eine normative Diskussion über diese kognitive Überforderung auf
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 91

Grundlage des Zusammenhangs zwischen Ansprüchen und Optionenvielfalt (vgl.


Gross 1994). Ihm geht es vor allem um den Nachweis der Dramatik der Überforde-
rung. Diese entspringt der individuellen Wahrnehmung eines multiplen Options-
raums und der gleichzeitigen Signalisierung einer Anspruchsgerechtigkeit, durch
welche die Forderungen legitimiert werden. Beides zusammen führt zu einem un-
endlichen Wollen nach Mehr und damit zu einer kognitiven Überforderung. Gross
geht davon aus, dass in allen gesellschaftlichen Bereichen eine Steigerung von Opti-
onen und eine Steigerung der Teilhabe an ihnen zu beobachten ist. Dabei gibt es für
alle die Garantie, zumindest zu einem minimalen Anteil aus den verfügbaren Opti-
onen wählen zu können. Dies nennt er das Dreipunkteprogramm der Moderne.
Gross definiert Optionen deshalb „als prinzipiell realisierbare Handlungsmöglich-
keiten“ (ebd.: 26), die das Individuum unter einen permanenten Realisierungsdruck
stellen. Sein Hauptanliegen ist es zu zeigen, dass überall alles zur Wahl steht. „Räu-
me, Zeiten, Sozialitäten zerfallen in Wahlmöglichkeiten: Quartiere, Gemeinden,
Städte, Nationen, Kontinente werden genauso wahlmöglich wie Religionen, Eth-
nien, Milieus, Freund- und Nachbarschaften.“ (ebd.: 41). An der Verbreitung dieses
Programms sind Medien, Werbung und Politiker beteiligt. Sie sorgen dafür, dass das
Abstrakte konkret wird und stoßen damit ein Denken in Möglichkeiten an.
Die Dramatik ergibt sich daraus, dass nach jeder Entscheidung für eine Option
immer noch viele weitere Optionen zur Verfügung stehen. Sie können zu einem
späteren Zeitpunkt realisiert werden und bleiben dadurch kognitiv präsent. So ent-
steht das unendliche Begehren nach Mehr. Dem Denken in Möglichkeiten werden
von keiner Seite Einschränkungen auferlegt. Diese fehlenden Einschränkungen
werden Gross‘ Auffassung nach unter dem Begriff der Entobligationierung gefasst.
Mit der Steigerung von Optionen geht der Verlust von Selbstverständlichkeiten,
Traditionen und Verbindlichkeiten einher und kehrt als Wahlmöglichkeit wieder
zurück. Damit ist eine Freiheit verbunden, die an keine Grenzen mehr stößt (ebd.:
72ff). Für das wählende Individuum bedeutet dies, immer wieder auf sich selbst
zurückgeworfen zu werden. Dabei weiß es weder, was es will noch soll. Im Denken
bleibt alles möglich. Der ständige Vergleich mit dem Gewordenen und dem Mögli-
chen fordert heraus und führt dazu, dass die Individuen sich ständig in ihren Ver-
wirklichungsphantasien überschreiten. Gleichzeitig wird ihnen signalisiert, das Recht
zu haben, diese Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Dies hat zur Folge, dass alle
Selbstbeschränkungsversuche scheitern, was zu unendlichen erdachten und immer
auch realisierbaren Erlebniswelten führt, die letztendlich in einer Zerreibung indivi-
dueller Identitäten mündet.
Auswege aus diesem „Mehrwillen“-Prinzip sieht Gross einerseits im Verzicht
auf das Wollen. Dies funktioniert allerdings nur, wenn sich Verzichtforderungen
durch alle Lebensregionen ziehen. Diese Lösung sei jedoch kaum möglich, da das
Mehrwillen-Prinzip in ein Fortschrittsprogramm eingebunden ist, dass zwischen
„Individualisierung und Egalisierung, Differenzierung und Differenzminderung,
92 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

Steigerung der individuellen Handlungsmöglichkeit und Steigerung der Teilhabe an


den eröffneten Handlungsmöglichkeiten“ (ebd.: 399) hin- und herpendelt und so
eine endlose Dynamik entfaltet. In ihr steckt der Glaube an die Verbesserungswür-
digkeit von allem Gegebenen. Gemeint sind Differenzen zwischen Menschen, Le-
bensstilen, Gesellschaften, Kulturen, Kontinenten und – vor allem – Wirklichkeit
und Möglichkeit (ebd.: 363). Die Inklusionsprogrammatik ist in erster Linie eine
politische Forderung nach einer Einebnung unterschiedlicher Verwirklichungsmög-
lichkeiten, die zu Egalisierung, Differenzminderung und letztendlich zu mehr Teil-
habe führen soll. Dass diese Programmatik voraussetzungsvoller ist als von Gross
beschrieben, wird klar, wenn die Mechanismen der Inklusionsprogrammatik näher
beleuchtet werden.
Willi Herbert beschreibt diese nicht nur als politische Aufgabe, sondern defi-
niert grundsätzlich unterschiedliche Vertreter, die individuelle Bedürfnisse wahr-
nehmen und in deren Namen als Ansprüche artikulieren. „Verschiedene Verbreiter
der öffentlichen Meinung wie Politik, Verbände und Werbung entdecken neue
Bedürfnisse bzw. machen den Bürger auf bislang vernachlässigte, nicht erkannte
oder von ihm selbst zurückgestellte Bedürfnisse aufmerksam.“ (Herbert 1992: 206).
Er betont aber auch, dass besonders die Politik und ihre Vertreter im Wesentlichen
dafür verantwortlich sind, dass sogenannte „Bedürfnisspannungen“ (ebd.) häufiger
publik gemacht werden und dadurch Anspruchsdruck erzeugen. Durch das demo-
kratische Mehrparteiensystem werden immer mehr unbefriedigte Bedürfnisse in-
strumentalisiert, um sich Wählerstimmen zu sichern. „Durch diesen Prozess wird
ein Klima geschaffen, das die stetige Anspruchsstellung erleichtert, weil legitimiert
und somit eine Forderungsspirale im politischen Raum in Gang setzt.“ (ebd.:207).
Ein weiterer Mechanismus ergibt sich aus der Vermehrung von Interessenverbän-
den. Benachteiligte Gruppen finden hier ein Sprachrohr, das ihnen die Anerken-
nung bisher nicht erfüllter Ansprüche ermöglicht. Als drittes Prinzip erwähnt Her-
bert die Verrechtlichung. Schadensersatzansprüche sind durch ausgeweitete Rechts-
schutzmaßnahmen und immer differenziertere gesetzliche Regelungen enorm ge-
stiegen. Dadurch würden lediglich latente Bedürfnisse, die keiner akuten Notlage
entspringen, wahrgenommen, wodurch weitere Artikulationen gefördert werden
(vgl. ebd.: 211).
Der vierte Aspekt betrifft die Wohlfahrtsmehrung. Durch die enge Zusammen-
arbeit wohlfahrtsstaatlicher Eliten wie Staat, Ökonomie und Sozialpolitik, ist die
Versorgung mit sozialen Leistungen perfektioniert worden. Der fünfte Mechanis-
mus ist der Zusammenbruch traditionaler Netze, mit dem Herbert das Umdefinie-
ren ursprünglich individueller Verantwortlichkeit in soziale Verantwortlichkeit
meint.20 Diese wird so zur Aufgabe des Staates, wodurch die Kompetenzen kleine-

20 Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der Individualisierungsthese von Ulrich Beck interessant.
Bei Beck ist das Verhältnis genau andersherum. Es entsteht eine Erhöhung individueller Verant-
wortung und ein Abbau gesellschaftlicher Verantwortung.
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 93

rer Gemeinschaften, wie die Familie geschwächt werden. Herbert sieht darin einen
Verlust von Pflichtbewusstsein in Bezug auf die Familie. Indem der Staat z.B. für
die Altersvorsorge aufkommt, baut er Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den
Generationen ab. Ein sechster Punkt ist das Mitnahmeverhalten der Bürger. „Der
Bürger erbringt Vorleistungen im Wege steuerlicher Belastungen oder automati-
scher Versicherungsabgaben und er kann dafür Gegenleistungen erwarten.“ (ebd.:
220). Problematisch ist die Höhe der geforderten Gegenleistungen. Sie gründet auf
dem Prinzip des Eigennutzes, das in vielen Bereichen (siehe Verrechtlichung) be-
lohnt wird und damit sozial bindende Normen schwächt. Als siebten Aspekt nennt
er die staatliche Aufgabenerfüllung. Hiermit ist der Zusammenhang zwischen Er-
füllung von Ansprüchen und deren Befriedigungswirkung gemeint.
Diese sozialen Mechanismen der Anspruchssteigerung im Rahmen von Res-
sourcenforderungen führen zu einem weiteren Prinzip, das mit der Mehrung der
Anspruchshaltungen verbunden ist. Es entsteht allmählich eine Inflation im Hin-
blick auf die Befriedigungswirkung, die durch Ansprüche ermöglicht wird. Die
ständige Erfüllung von Ansprüchen führt zu einer kontinuierlichen Steigerung der
Ansprüche.21 Dies wird als Anspruchsinflation bezeichnet. Die Dynamik entwickelt
sich demzufolge in Abhängigkeit davon, ob individuelle Bedürfnisse in Form von
Ansprüchen befriedigt wurden und ob damit ein Erfolgserleben verbunden war. „Je
größer die Diskrepanz bei diesem subjektiven Ist-Soll-Vergleich ausfällt, desto stär-
ker ist die aus dieser Bedürfnisspannung resultierende Unzufriedenheit.“ (Herbert
1983: 4). Diesen Zusammenhang zeigt das Konzept der „Anspruchsspirale“ auf
(vgl. Herder-Dorneich/Schulle 1983). Diese zeigt sich vor allem an der Inanspruch-
nahme sozialstaatlicher Leistungen.

„Es (…) entsteht eine verhängnisvolle Spirale: die Abhängigkeit breiter Bevölkerungskreise von der
sozialstaatlichen Zuteilung schafft zentralisierte Großorganisationen, die gemäß ihres Eigeninteres-
ses expandieren, dabei die Abhängigkeiten ausweiten und intensivieren: damit aber entsteht wiede-
rum neue Nachfrage nach sozialstaatlicher Organisation.“ (Prätorius 1980: 221).

Aber auch bei der Zurückweisung von Ansprüchen kommt es laut Herbert zu kei-
ner Senkung des Anspruchsniveaus. Wenn die geforderten Ressourcen nicht zur
Verfügung gestellt werden können, kommt es zu einer Bedürfnisbefriedigungsfrust-
ration. Das Unterschreiten einmal befriedigter Anspruchsniveaus lässt die Indivi-
duen an ihren Ansprüchen festhalten, weil ihr Vorhandensein ihnen dadurch noch
einmal ins Bewusstsein gerückt wird (vgl. Schimank 2005: 313). Durch diesen nega-
tiven Zusammenhang lässt sich statt einer Anspruchsreduktion, die letztendlich

21 Dieser Aspekt wird auch im Bereich der Konsumsoziologie deutlich. Das Streben nach einem
bestimmten Konsumstandard kommt durch ständig neue Angebote und soziale Vergleichsmecha-
nismen nie zur Ruhe (vgl. Wiswede 1973).
94 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

durch eine Bedürfnisbefriedigungsfrustration entstehen sollte, eine Anspruchsstei-


gerung beobachten.
Peter Gross sieht einen realistischen Ausweg aus den Steigerungsmechanismen
von allen hier vorgestellten Anspruchsformen in der Akzeptanz von Differenzen.
Damit meint er den Loslösungsprozess von der Vervollkommnungsvorstellung.
Dagegen kann gehalten werden, dass eine solche Haltung die Gefahr mit sich
bringt, bestehende Ungleichheiten zu akzeptieren. Deshalb müssen, obwohl überall
die gleiche Dynamik zu beobachten ist, unterschiedliche Rezepte für die Anspruchs-
reduktion gefunden werden (Gross 1994: 404). Laut Gross wäre auf individueller
Seite, ein kognitives Verbleiben im Ist-Zustand möglich. Dadurch entkäme man der
andauernden Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit und würde sich
ganz auf die Gegenwart konzentrieren. Damit einher geht die Akzeptanz von allen
Formen des Andersseins. „Aus dem Sich-Einlassen und dem Belassen von Unter-
schieden, aus der Anerkennung von Differenz resultiert eine Umstellung vom Pri-
mat der Zukunft auf das Primat der Gegenwart.“ (ebd.: 405). Aus dieser Haltung
würde sich dann ein Desinteresse an der ewigen Steigerungsdynamik ergeben und
damit Druck aus dem Leben nehmen. Für diejenigen Individuen, die an der Multi-
optionsgesellschaft nicht partizipieren können, soll das Hoffen auf eine Verbesse-
rung jedoch weiterhin bestehen bleiben. Damit entgeht Gross einer Pauschalisie-
rung des Abbaus der überall präsenten Fortschrittsidee. Die Schlechter gestellten
der Gesellschaft sollen weiterhin Ansprüche anmelden und die Politik soll für diese
Personen das Teilhabeprojekt aufrechterhalten, ohne auf den gleichzeitigen totalen
Differenzabbau zu setzen. Aber ob dies eine realistische Perspektive ist, ist ange-
sichts des im vorigen Abschnitt diskutierten psychischen Drangs nach Selbst-Ver-
besserung und dem sozialen Vergleich, anzuzweifeln.
Mit dieser Darstellung konnte insgesamt jedoch gezeigt werden, dass eine an-
spruchsgeleitete Identitätsbildung Risiken birgt, die sich auf das Prinzip der Steige-
rungsdynamik von Ansprüchen zurückführen lassen. Die Überforderung gesell-
schaftlicher Teilsysteme durch – die überwiegend als Ressourcenforderungen – ge-
äußerten Ansprüche hat ihre Ursache im Prinzip der politisch erzeugten Ans-
pruchsmehrung. Ansprüche sind hier das Integrationsprinzip moderner Gesell-
schaften, das gleichsam durch die Steigerungsdynamik in seine Schranken verwiesen
wird. Diese Mechanismen fallen mit dem Übergang vom dritten zum vierten Indi-
vidualisierungsschub zusammen. Die kognitive Überforderung durch das An-
spruchsdenken gründet auf einer so verstandenen Multioptionsgesellschaft und
birgt die Gefahr eines Verlusts an Orientierung und damit einer zersplitterten Iden-
tität. Inwiefern dies tatsächlich der Fall ist, ist eine empirische Frage. Im Rahmen
dieser Arbeit werden die Überforderungen jedoch im vierten Kapitel vor dem Hin-
tergrund des vierten Individualisierungsschubes anhand einer empirisch orientierten
Auseinandersetzung mit Anerkennungsbeziehungen noch genauer diskutiert.
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 95

2.5 Sozialtheoretische Zusammenschau auf Selbstverwirklichung durch


Ansprüche

Die im ersten Kapitel herausgestellte handlungstheoretische Lücke in der Individu-


alisierungstheorie bezog sich auf eine mangelnde Spezifizierung der individuellen
Sinnsetzungspraktiken. Zur Erarbeitung einer solchen Mikrofundierung wurde
argumentiert, dass die Wahl von Optionen im Rahmen der Selbstverwirklichung
einer individuellen Bewertung bedarf, die sich an den eigenen Zielvorstellungen
orientiert. Die Ausbildung von Zielsetzungen wird in einer individualisierten Gesell-
schaft notwendig, da Lebensläufe nicht mehr durch normative Rahmungen be-
grenzt werden und Identitäten damit offen sind.
Ausgehend von der Herleitung eines durch die Zunahme an individuellen An-
sprüchen gekennzeichneten dritten Individualisierungsschubes, sollten die sich darin
ausdrückenden Zielsetzungsmechanismen als Kennzeichen der Selbstverwirkli-
chung näher gefasst werden. Da Ansprüche aus dem Vergleich eines Ist-Zustandes
und eines möglichen Kann-Zustandes entstehen und zugleich in sozial präsentierten
Forderungen münden, sind sie geeignet, diese Zielsetzungen abzubilden und wur-
den als Bewertungsgrundlage für die Wahl von Optionen betrachtet. Zur näheren
Bestimmung der Eigenschaften von Anspruchshaltungen wurden sie zu einem
allgemeinen Zielsetzungsmechanismus im Rahmen der Selbstverwirklichung ausge-
baut. Grundlage für die Ausbildung von Ansprüchen bildet das Vorhandensein von
mehreren Handlungsoptionen für die Gestaltung des eigenen Lebens. Ansprüche
sind hierbei ein Sondierungselement beim Abgleich zwischen eigenen Zielvorstel-
lungen und wahrgenommenen Verwirklichungsmöglichkeiten und wirken so gese-
hen als interner Antriebskatalysator, der regelt, welche der verfügbaren Optionen
den eigenen Zielvorstellungen zuträglich sind.
In Auseinandersetzung mit Ausarbeitungen anderer Autoren zum Thema An-
sprüche wurden für die Konkretisierung der Zielsetzungen drei Funktionen von
Ansprüchen herausgearbeitet, um die Wahl von Optionen zu beschreiben. Dazu
sind entwicklungsbasierte Seinsforderungen, Ressourcenforderungen und motivati-
onsbasierte Leistungsansprüche getrennt voneinander betrachtet worden.
Die entwicklungsbasierten Seinsforderungen spezifizieren im Rahmen von
Selbstverwirklichung das Entwicklungspotential in Abhängigkeit von verfügbaren
Möglichkeiten auf allgemeiner Ebene. Grundlage für diese Funktionsbestimmung
war die Ausarbeitung von Luhmann zum Zusammenhang zwischen Ansprüchen
und der Herstellung einer individuellen Identität (vgl. Luhmann 1993, 1995). Opti-
onenvielfalt führt hier zu einer Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der
Erzeugung von Individualität. Dabei ist das vorrangige Ziel, die Abgrenzung zu
anderen. Mit Luhmann konnte deutlich gemacht werden, dass durch die Ausbildung
eines Anspruches die Individualität aufrechterhalten werden kann. Als entwick-
lungsbasierte Seinsforderung beschreibt der Anspruch so insgesamt die in der
96 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie

Selbstverwirklichung angestrebte Entwicklung. Dazu gehören z.B. Ziele hinsichtlich


einer beruflichen Karriere, der Familienplanung oder auch das Streben nach größt-
möglicher Freiheit. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzungen werden dann ver-
fügbare Optionen bewertet, wodurch dem Individuum tatsächlich nur noch die zu
diesen Zielsetzungen passenden Optionen zur Wahl stehen.
Eine weitere Funktion von Ansprüchen wurde als Ressourcenforderung her-
ausgearbeitet. Dabei waren die Arbeiten zur Anspruchsgesellschaft grundlegend
(vgl. Gehrmann 1985, Herbert 1992, Klages 1992). Ressourcenforderungen sind
nach außen gerichtete Ansprüche und erfordern die Bereitstellung von Leistungen,
Rechten oder Gütern. Die Wahrnehmung einer so verstandenen Optionenvielfalt ist
dabei zusätzlich von dem Glauben an die Berechtigung der Ansprüche beeinflusst.
Diese wird durch rechtliche Grundlagen geregelt. Ressourcenforderungen, die im
Rahmen der Selbstverwirklichung ausgebildet und geäußert werden, entwickeln sich
auf der Grundlage von Bedürfnissen, d.h. aus der Wahrnehmung eines Mangelzu-
stands. Dies hat zur Folge, dass eine Nichtbereitstellung geforderter Ressourcen zu
Bedürfnisbefriedigungsfrustrationen führen. Gleichzeitig wird durch das Vorhan-
densein konkreter Bedürfnisse der Optionenraum begrenzt, wodurch nur be-
stimmte Ressourcen gefordert werden.
Eine dritte Funktion des Anspruchs bezieht sich auf das Streben nach Leistun-
gen. Leistungsforderungen, welche die Individuen an sich selbst richten und damit
ihre Vorstellungen von Selbstverwirklichung steuern und formen, sind motivati-
onstheoretisch begründet. Ansatzpunkte wurden in der psychologischen Erwar-
tungs-Mal-Wert-Theorie gefunden (vgl. Hoppe 1930; Lewin et al. 1944). Motivati-
onsbasierte Leistungsansprüche, die im Rahmen von Selbstverwirklichung ausgebil-
det werden, fußen auf kognitiven Selbsteinschätzungen und bilden insgesamt das
Leistungsstreben ab. Auf Grundlage spezifischer Selbstansprüche werden verfüg-
bare Optionen dahingehend bewertet, dass sie das eigene Anspruchsniveau dieser
Zielsetzungen nicht unterschreiten. Mit dieser Form des Leistungsstrebens kann
plausibel gemacht werden, wie Selbstverwirklichung durch Leistungsmotivation
angetrieben wird.
Damit wäre noch die Fragen zu klären, ob die Individuen alle drei Ansprüche
notwendig brauchen und wenn ja, wie diese miteinander in Beziehung stehen. Zur
ersten Frage lässt sich sagen, dass die Individuen nicht alle Ansprüche brauchen, um
Selbstverwirklichung betreiben zu können. Es lässt sich auch eine Selbstverwirkli-
chung denken, die nur in einem der drei Wollensbereiche verläuft. Es ist also eine
Selbstverwirklichung ohne allgemeine Seinsforderungen denkbar, wenn sie sich an
den eigenen Leistungsansprüchen abarbeitet oder an Ressourcenforderungen. Am
schwersten wird jedoch auf Ressourcenforderungen zu verzichten sein. Damit wür-
de man der Luhmannschen Argumentation folgen, die darauf abzielte, zu zeigen,
dass Ressourcenforderungen die einfachste Möglichkeit sind, sich um die eigene
Selbstverwirklichung zu kümmern, weil ihnen immer eine direkte Reaktion durch
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 97

Vertreter der Umwelt folgt. Dadurch kann Selbstverwirklichung grundsätzlich als


erfolgreich oder nicht erfolgreich bewertet werden. Aber schon um zu diesem Urteil
zu kommen, bedarf es der Einbettung der Ressourcenforderungen in entwicklungs-
basierte Seinsforderungen.
Damit wäre bereits zur zweiten Frage zum Verhältnis der Ansprüche zueinan-
der übergeleitet. Die drei Formen von Anspruchshaltungen können sich im Rah-
men des Entwurfs spezifischer Selbstverwirklichungspläne gegenseitig beeinflussen,
d.h. Erfahrungen mit einer Art von Ansprüchen können sich auf die anderen beiden
auswirken. Die einfachste Vorstellung hierbei wäre, dass Seinsforderungen die
Grundlage bilden, aus denen dann Ressourcenforderungen und Leistungsansprüche
erwachsen. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass sich mit der Änderung allge-
meiner Zielsetzungen auch die Art der Ressourcenforderungen und der Leistungs-
ansprüche verändern. Es ist aber auch denkbar, dass von Ressourcenforderungen
die eigentliche Triebkraft innerhalb einer Selbstverwirklichungskonzeption ausgeht,
denen dann Seinsforderungen und Leistungsansprüche untergeordnet sind und auf
Grundlage von Erfolgs- und Misserfolgserfahrungen angepasst werden. Das gleiche
gilt für Leistungsansprüche. Die Analyse der genauen Beziehung der drei Ansprü-
che ist damit eine empirische Frage, die auf der Basis von Einzelfällen zu ermitteln
wäre.
Aus dieser Konzeption einer anspruchsgeleiteten Identitätsentwicklung wurden
weitere Kennzeichen für die Bestimmung von Ansprüchen als Bewertungsgrund-
lage für die Wahl von Optionen abgeleitet. Es ist argumentiert worden, dass alle
Ansprüche durch eine Steigerungsdynamik gekennzeichnet sind. Auch dies ist als
besonderes Merkmal des dritten Individualisierungsschubes herausgestellt worden.
Die sozialtheoretische Bestimmung belegte diese Beobachtung damit, dass Ansprü-
che allgemein die Tendenz haben, immer weiter zu steigen. „Dieser unaufhörlichen
Anspruchssteigerung liegen psychische und soziale Mechanismen zugrunde.“
(Schimank 2005: 312). Die psychologische Motivationslehre beschreibt diesen Me-
chanismus mit dem Begriff des Anspruchsniveaus und meint das ständige sich
Überschreiten Müssen und der nie lang anhaltenden Zufriedenheit mit dem Status
Quo. Die Theorie sozialer Vergleiche ergänzt diese Perspektive durch den Validie-
rungszwang der eigenen Wünsche, Ziele und Leistungen, der sich über den Ver-
gleich mit anderen erreichen lässt. Dieser wird besonders wichtig auf der Grundlage
einer individualisierten Gesellschaftsform, wo Handlungswissen im Allgemeinen
verloren geht und Selbstverwirklichung mit eigenen Relevanzsetzungen gesteuert
werden muss. Darüber hinaus werden vor dem Hintergrund einer organisierten
Optionenfürsorge durch Recht, Politik, Vereine usw. ständig neue Bedürfnisse
offen gelegt und deren Befriedigung eingefordert, so dass auch hier ein Grund für
den Steigerungsmechanismus von Anspruchshaltungen zu sehen ist.
Insgesamt führt dies zur Tendenz einer Formulierung immer neuer Seinsforde-
rungen, kontinuierlicher Forderungen von Ressourcen und immer höherer Leis-
98 Anspruchshaltungen als Sellbstverwirklichunggsstrategie

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e Beschneiddung von Ansp prüchen gekennzeichnet ist.
Diiese Zusammenhänge lassen sich nun in deer folgenden Übersicht
Ü darsttellen:

Optionenvielffalt

för- för- för-


dert dert dert

Bedürfnissse Differenz Motivation


M

führt führt führt


zur zur zum

Ressourcenn- Seinsforderung Leistungsan-


L
forderungg spruch

mündet mündet mündet


im im im

Erfolg A
Anspruchsniveau Misserfolgg
erhöht das senkt das

steu-
ert

W
Wahl von Optio
onen

Bissher ist die so


ozialtheoretischhe Bestimmunng von Ansprü üchen als Ziellsetzung
bei derr Bewertung vonv Optionen stehengeblieb ben. Mit der vorangegangeneen Dar-
stellungg des Umganggs mit Optioneenvielfalt musss jedoch eine weitere
w Umganngsweise
mit Op ptionen aus handlungstheo
h oretischer Perrspektive näheer bestimmt w werden.
Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie 99

Dieser Aspekt ist in Ansätzen bereits bei der Darstellung der Zielsetzungsansprüche
aufgeführt worden. Bei der handlungstheoretischen Fundierung geht es nicht nur
um Klärung der Wahl von Optionen als Logik der Selektion, sondern auch um ihre
Aneignung. Hierin unterscheidet sich die in dieser Arbeit entwickelte handlungsthe-
oretische Logik von herkömmlichen Handlungsentscheidungen. Handeln kann
unter diesem Fokus nicht nur als reines Entscheidungshandeln verstanden werden.
Um Selbstverwirklichung als Entwicklungsprozess der Identität zu beschreiben, ist
die Aneignung von Optionen im Rahmen einer der drei Formen von Ansprüchen
nötig. Dadurch kommt es zu einer Identifikation. Die Identifikation mit einer Op-
tion im Anspruch ist dabei der Akt der Selbstbindung, der im Rahmen der Selbst-
verwirklichung nötig ist, um Identität zu erzeugen. Im Anspruch können die zu-
künftigen Möglichkeiten des Handelns zu Selbstverwirklichungsperspektiven defi-
niert werden, um damit der Identität Gestalt zu geben. Erst damit kann geklärt
werden, welche Sinnsetzungen nötig sind, um mit einer offenen Identität umgehen
zu können. Die Möglichkeit der Identifikation mit einer Option als Zielsetzung
hängt dabei jedoch von spezifischen Anerkennungsleistungen ab, die auf gesell-
schaftstheoretischer Ebene diskutiert werden müssen. Dies wird Aufgabe des fol-
genden Kapitels sein.
3 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und
Anerkennung
„Gingen wir richtig in der Annahme
dass die Vereinzelung verzweifelt?
Dass die verinnerlichten Sichten
stets an Verkörperungen scheitern?“
(Gustav)

Im Zuge der Auseinandersetzung mit den handlungstheoretischen Grundlagen der


Individualisierungstheorie wurde der Schluss gezogen, dass Selbstverwirklichung
und Identität getrennt voneinander betrachtet werden müssen. Selbstverwirklichung
wurde als das Aktivitätsmoment definiert, in dem die unterschiedlichen Ziele als
Ansprüche abgebildet werden können.
Im Kapitel zwei wurden diese Zielsetzungen in drei Anspruchshaltungen aus-
differenziert und als grundlegender Antrieb für Selbstverwirklichung eingeführt.
Dabei wurde bereits die Unterscheidung von Anspruchsbildungen als ein kognitiver
Prozess und Anspruchsformulierung als ein sozialer Prozess entwickelt. Während
der kognitive Anspruchsbildungsprozess bisher nur auf Grundlage verfügbarer
Optionen konzipiert wurde, geht es nun, auf gesellschaftstheoretischer Ebene, um
den Zusammenhang zwischen geäußerten Anspruchshaltungen und ihrer Einbet-
tung in eine soziale Situation. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Anerkennung,
die durch die Formulierung von Ansprüchen gefordert wird. Als Seinsforderung
benötigt der Anspruch eine Legitimierung durch andere Individuen, als Ressourcen-
forderung bedarf es der Bereitstellung der geforderten Leistung, und der Leistungs-
anspruch hängt von der Bewertung anderer ab.
Neben diesen Einflüssen auf die Anspruchsäußerungen ist es vonnöten, die
Umgangsweisen mit den so gemachten Erfahrungen genauer zu beleuchten. Damit
sollen die identitätsstabilisierenden Effekte erforscht werden, welche die Anerken-
nung auslöst. Im vorliegenden Kapitel werden deshalb die Folgen einer anspruchs-
geleiteten Selbstverwirklichung weiter ausgearbeitet. Dazu ist es erforderlich, zu
Beginn die gesellschaftstheoretischen Bedingungen der Identitätsbildung zu disku-
tieren, um anschließend auf die einzelnen Anerkennungselemente und deren Zu-
sammenspiel mit den unterschiedlichen Ansprüchen einzugehen. Dieses Kapitel
bezieht sich gesellschaftstheoretisch gesehen allgemein auf die Vorstellung einer
funktional-differenzierten Gesellschaft. Die Darstellung der Anerkennungsbezie-
hungen fokussiert jedoch konkret auf die Phase des Anspruchsindividualismus, d.h.
bis zum Ende der 1980er Jahre fokussiert, da hierbei aktuell gültige Leitbilder be-
rücksichtigt werden sollen.

D. Lindner, Das gesollte Wollen, DOI 10.1007/978-3-531-19193-5_4,


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102 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

3.1 Der Identitätsbegriff als soziales Konstrukt

Die Diskussion um Identitätsentwicklung im Zeitalter der Individualisierung prägt


die theoretische und empirische Forschungslandschaft seit nunmehr dreißig Jahren.
Das Problem der Wechselwirkung zwischen dem Individuum und den unterschied-
lichen gesellschaftlichen Bereichen eröffnete vielfältige Perspektiven auf die Theorie
der Identitätsentwicklung – auch außerhalb der Individualisierungsdebatte – wes-
halb der Begriff der Identität uneinheitlich verwendet wird (vgl. Frey/Haußer
1987b; Keupp/Höfer 1997; Marquard/Stierle 1979; Hettlage/Vogt 2000; Wil-
lems/Hahn 1999).
Die soziologische Bestimmung von Identität erfolgt oftmals unter Berücksich-
tigung philosophischer Konzepte. Hierbei bietet vor allem der Ansatz von Gott-
fried Wilhelm Leibniz ein erstes Definitionskriterium. Leibniz argumentierte im
Sinne der Logik, dass Individuen aus einer nichtwiederholbaren Kombination aus
Eigenschaften zusammengesetzt sind. Das sogenannte „Prinzip der Ununterscheid-
barkeit des Identischen“ besagt, dass ein Ding x, dieselben Eigenschaften hat wie
ein Ding y, wenn x mit y identisch ist. Wenn also x identisch mit y ist, muss jede
Eigenschaft, die x hat, auch eine Eigenschaft von y sein. Um zeigen zu können, dass
x und y unterschiedlich sind, muss lediglich nachgewiesen werden, dass x eine Ei-
genschaft hat, die y fehlt. Daraus leitet Leibniz den Grundsatz ab, dass jeder Ge-
genstand bzw. jedes Individuum mit sich selbst identisch sei. Identität ist in diesem
Sinne als ein Prädikat zu verstehen, dass die Funktion hat, ein Ding von einem
anderen gleicher Art unterscheiden zu können. (vgl. Henrich 1979: 135).
Dieses Modell von Identität wurde von John Locke weiter spezifiziert, indem
er die Identität von Personen als einen Bewusstseinsakt definierte. In dem Essay
„An essay concerning human understanding“ von 1694 wird bereits die Verklam-
merung von Individuum und Gesellschaft eingeleitet (vgl. Locke 1975: 328ff). Iden-
tität setzt sich bei ihm aus zwei Elementen zusammen, die später von Paul Ricoeur
als „idem“ und „ipse“ benannt werden (vgl. Ricoeur 1996: 173ff). Das Element der
idem-Identität, bezieht sich auf die Selbigkeit der Person. Sie ermöglicht, sich selbst
dauerhaft durch die Erinnerung als „derselbe“ oder „dieselbe“ wahrzunehmen, also
als mit sich selbst identisch. Die ipse-Identität hingegen bezeichnet die Fähigkeit zur
Bestimmung der Selbstheit. Diese wird aus der Abgrenzung von allen anderen ab-
gleitet. Das Verständnis einer so erzeugten individuellen Selbstheit ist aber bis in die
1970er Jahre hinein nicht weiter thematisiert worden, da es erst mit der auf gesell-
schaftlichem Wohlstand basierten Individualisierung augenscheinlich zu einem
Problem für die breite Masse der Bevölkerung wurde.22

22 Obwohl erste Tendenzen einer Wandlung zu individuellen Identitäten sich bereits Ende des 19.
Jahrhunderts finden lassen (vgl. Bühler 1934).
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 103

In der Psychologie wird Identität seit Ende des 19. Jahrhunderts mittels einer
sozialen Perspektive konzeptualisiert. Die Begriffsbestimmung geht auf William
James zurück. Er markierte 1890 in „Principles of psychology“ den Anfang einer
umfassenden Identitätstheorie. In einem Abschnitt über das Selbstbewusstsein
stellte er die These auf, dass das menschliche Bewusstsein seiner selbst aus Erfah-
rungen hervorgehe, welche es im Umgang mit sozialen und sächlichen Gegenstän-
den macht. Identität besitzt also auch hier zwei Dimensionen, die James als Selbst
und soziales Selbst bezeichnet. Das soziale Selbst setzt sich aus der Summe der
Anerkennungen, die das Individuum durch andere bekommt, zusammen. Das
Selbst ist demgegenüber der überdauernde Teil und meint das Gesamt an Beziehun-
gen, in denen aktuell gewonnene Vorstellungen über sich selbst mit den unmittelbar
vorausgehenden in Zusammenhang stehen (vgl. James 1950: 400).
Der Entwicklungspsychologe Erik Erikson hat in den 1950er Jahren einen dar-
über hinausgehenden Identitätsbegriff entworfen, der die soziale Komponente
stärker in den Mittelpunkt rückt. Grundlegend ist hier die Vorstellung, dass die
psychische Stabilität, in die eine gesunde Identitätsentwicklung mündet, sich aus der
Versöhnung zwischen individuellen Bedürfnissen und sozialen Erwartungen ergibt.
Erikson setzt ebenfalls voraus, dass Identität nur durch die Anerkennung der sozia-
len Umwelt aufrechterhalten werden kann. Die Eingliederung eines Individuums in
eine Gruppe ist dabei von zentraler Bedeutung für die Ausbildung eines starken
Ichs und für die Sicherung seiner Identität (vgl. Erikson 1966: 51). Damit wird die
Suche nach Identität als ein aktiver zwischenmenschlicher Aushandlungsprozess
konzeptualisiert. Erikson ging des Weiteren davon aus, dass die Ich-Identitätssuche
mit dem Abschluss der Adoleszenz, nach Durchlaufen des Sozialisationsprozesses
endet. An diesem Punkt fügen sich die einzelnen Identitätsfragmente zu einem
leistungsfähigen Ganzen zusammen (vgl. Erikson 1966: 122). Der Jugendliche
schlägt nun eine „Laufbahn“ ein, bei der er eine Auswahl aus möglichen Identifika-
tionen treffen, und in der er sich für soziale Rollen entscheiden muss, um seine
Identität zu stabilisieren (vgl. Erikson 1966: 123).
Im Zusammenhang damit geht Erikson auf Identitätsdiffusionen ein, die ein-
treten können, wenn sich das Individuum gleichzeitig vor divergierende Erwartun-
gen gestellt sieht. Dies kann in äußerster Konsequenz zu einer Zersplitterung des
Selbstbildes führen, zu „(...) ein(em) Verlust der Mitte, ein(em) Gefühl der Verwir-
rung und in schweren Fällen die Furcht vor völliger Auflösung“ (Erikson 1966:
154). Diese Diffusionen drücken sich auf unterschiedliche Weise aus: mangelnde
Beziehungsfähigkeit als Folge einer latenten Identitätsschwäche, Empfinden großer
Zeitbedrängnis und akuter Störungen der Leistungsfähigkeit (vgl. Erikson 1966:
156ff). Erikson konstatiert aber auch, dass die Identität nicht verloren geht, wenn
der Sozialisationsprozess zur Ausbildung einer gefestigten Struktur geführt hat.
Damit ist allerdings die Auffassung verbunden,
104 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

„(…) dass Individuen vor allzu divergierenden Anforderungen möglichst bewahrt werden, gesell-
schaftliche Veränderungen sich nicht zu schnell vollziehen und eingenommene soziale Rollen nicht
durch äußere Umstände ein gar zu abruptes Ende finden, damit die Identitätsstruktur des Individu-
ums nicht überfordert wird.“ (Krappmann 1982: 91).

Dieses Konzept klammert aktuelle Identitätsprobleme aus. Unter individualisierten


Bedingungen kommt es in sehr starkem Maße zu divergierenden Erwartungsstruk-
turen und ein allgemein beschleunigter sozialer Wandel führt zu immer wiederkeh-
renden Diffusionen.
James E. Marcia konnte in einer empirischen Studie in Anlehnung an Eriksons
Identitätsmodell zeigen, dass sich die Diffussionserfahrungen von Erwachsenen seit
den 1980er Jahren immer mehr erhöht haben (vgl. Marcia 1993). Diese Diffusion
nennt er kulturell adaptiv und meint damit die Anpassung an eine gesellschaftliche
Unverbindlichkeit, die zu einer Flexibilisierung der Nutzung von Optionen führt.
„Marcia normalisiert damit den Begriff der Diffusion. Er bezeichnet nun nicht
mehr ein katastrophales Scheitern, sondern ein Identitätsresultat, das in manchen
Schattierungen gar funktional sein mag.“ (Keupp 2002: 82). Im weiteren Verlauf der
Identitätsforschung ist das daraus resultierende Konzept einer lebenslang wirksa-
men Identitätskonstruktion immer wieder empirisch bestätigt worden (vgl. Haußer
1997).
Diese Ansätze sind von der Soziologie aufgegriffen worden, wobei aus dieser
Perspektive vor allem das Problem der Verschränkung von Selbstheit und Selbigkeit
in den Mittelpunkt rückt (vgl. Mead 1973, Parsons 1968). Das Ziel von Identitätser-
zeugung ist in diesem Verständnis die Herstellung einer Stimmigkeit zwischen der
eigenen Persönlichkeit und der Handlungsfähigkeit in Bezug auf die Außenwelt (vgl.
Keupp 2002: 86). Diese Außenwelt gliedert sich in unterschiedliche soziale Kon-
texte auf. Die Kontextabhängigkeit der Identitätsentwicklung wird mit spezielleren
Identitätskonzepten wie nationale Identität, kollektive Identität, soziale Identität,
kulturelle Identität, ethnische Identität, religiöse Identität gekennzeichnet. Diesen
Konzeptionen stehen eher mikrosoziologische Konzepte der Ich-Identität oder
persönlichen Identität gegenüber.
Gertrud Nunner-Winkler unterteilt auf dieser Grundlage die Bestimmungskrite-
rien für die Identität eines Individuums in drei Ebenen: physisch raum-zeitliche
Ebene, sozialstrukturelle Ebene, universalistisch/individualistische Ebene (vgl.
Nunner-Winkler 1985). Zur physisch raum-zeitlichen Ebene gehören die Bestim-
mung der Nämlichkeit des Körpers und die Konstruierbarkeit eines Lebenslaufs.
Sozialstrukturelle Merkmale der Identitätsbestimmung beziehen sich auf Verhal-
tenskonsistenzen. „Gefordert ist nicht die völlige Gleichheit des Verhaltens, son-
dern nur seine Zurechenbarkeit zu einem einheitlichen Muster, wobei die soziale
Rolle den Prototyp eines solchen einheitsstiftenden Deutungsmuster darstellt.“
(Nunner-Winkler 1985: 466). Universalistisch/individualistische Kriterien beziehen
sich ebenfalls auf Verhaltenskonsistenz, allerdings nicht im Bereich der Rollennorm,
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 105

sondern innerhalb übergeordneter Moralprinzipien bzw. als „(...) Orientierung an


anderen zentralen Werten (wie etwa Erkenntnis, Schönheit, religiöse Einsicht), [die,
D.L.] dem Individuum das Gefühl innerer Einheitlichkeit und Kontinuität zu ver-
mitteln vermöchte.“ (ebd.: 467). Diesen drei außenperspektivischen Kriterien ent-
sprechen innenperspektivische Kriterien. Dabei geht Nunner-Winkler von einer
entwicklungssoziologischen Perspektive aus. „Auf die natürliche leibgebundene
Identität des Kindes folgt die Rollenidentität und schließlich Ich-Identität.“ (ebd.:
467). So ergibt sich eine Vorstellung von Identität, die mit gesellschaftlichen Er-
wartungen verschränkt ist.
Nunner-Winkler hat damit unterschiedliche Ebenen der Wechselwirkung zwi-
schen Individuum und Gesellschaft im Hinblick auf Identitätsentwicklung zusam-
mengetragen. Identitätsentwicklung vollzieht sich entlang von sozialen Rollenmus-
tern und Wertsystemen und mündet im Endeffekt in einer Ich-Identität. Diese ist
jedoch im Gegensatz zu Eriksons Konzept keine stabile Größe. Vielmehr muss sie
in sozialen Interaktionen immer wieder hergestellt werden (vgl. Nunner-Winkler
1983: 152). Diese interaktionistische Perspektive ist eine genuin soziologische und
wird in unterschiedlichen theoretischen Konzepten zur Identitätsbildung mehr oder
weniger als zentraler sozialer Mechanismus betrachtet und soll im Folgenden näher
beschrieben werden.

3.1.1 Identität als Ergebnis von Interaktionen

Eine Interaktion wird gemeinhin als zwischenmenschlicher face to face Aushand-


lungsprozesses bezeichnet. Im symbolischen Interaktionismus bilden Interaktionen
den sozialen Rahmen, in dem sich die Entwicklung eines Individuums vollzieht.
George Herbert Mead entwarf ein Modell von Interaktion, bei dem „ein Indivi-
duum durch sein Handeln einen Auslöserreiz für die Reaktion eines anderen Indivi-
duums“ (Mead 1973: 210) bietet. Die symbolische Interaktion ist dabei eine Weiter-
entwicklung der ursprünglichen gestenvermittelten Interaktion. Während letztere
Ereignisse darstellen, die körperliche Reaktionen auslösen, werden erstere als Zei-
chen für etwas genommen. Die Geste „drückt auch den Gedanken eines Individu-
ums aus.“ (ebd.: 84).
Die Grundgedanken des symbolischen Interaktionismus lassen sich in folgen-
den Prämissen zusammenfassen. 1. Menschen handeln Dingen gegenüber auf der
Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen. 2. Die Bedeutung
solcher Dinge wird aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen
eingeht, abgeleitet oder entsteht aus ihr. 3. Diese Bedeutungen werden in einem
interpretativen Prozess gehandhabt und verändert (vgl. Blumer 1973: 81). Bedeu-
tungen sind also keine psychologischen Elemente des Individuums, sondern entwi-
ckeln sich als soziales Produkt aus Interaktionen. Sie werden durch wechselseitige
106 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

Aktivitäten von den Interaktionspartnern selbst hergestellt, so dass alle Verhaltens-


weisen, Strukturen und Gegenstände erst durch gemeinsame Interpretationen eine
soziale Bedeutung erhalten. Deshalb begreifen die Vertreter des symbolischen In-
teraktionismus soziales Handeln als intentional, also als „Bemühung, einen Sinnge-
halt zu verwirklichen.“ (Krappmann 1982: 21).
Nach Mead vollzieht sich auch die Herstellung von Identität im Bereich der so-
zialen Beziehungen. Er geht dabei in Anlehnung an William James davon aus, dass
Individuen auf soziale Beziehungen angewiesen sind und nur dadurch Identität
aufbauen können. Diese wird im Rahmen von Interaktionen präsentiert. Das Aus-
maß der Präsentation wird durch den gesellschaftlichen Kontext bestimmt. Indivi-
duen besitzen demnach verschiedene Identitäten, die je nach Kommunikationsin-
halt (z.B. Diskussion über Politik oder Religion) geäußert werden. Andere Teile
bleiben unausgesprochen und sind deshalb außerhalb der Kommunikation und
damit sozial nicht vorhanden. Zu dieser Aussage gelangt Mead deshalb, weil er als
Grundvoraussetzung für Identitätsbildung die Fähigkeit, sich selbst als Objekt be-
trachten zu können, herausarbeitet. Dies ist nur im Raum der Sprache möglich. Was
also nicht kommuniziert wird, ist momentan nicht existent. Der Verlust von Iden-
tität entsteht nach Mead dann, wenn das Individuum in der Lage ist, alles zu verges-
sen, was mit einer bestimmten Tätigkeit verbunden ist.
Die Interaktionspartner, die dem Einzelnen die Identität bestätigen, werden
von Mead als „generalized others“ bezeichnet. Die Interaktion ist dabei wesentlich
von den Erwartungen der beteiligten Interaktionspartner gekennzeichnet. Ego anti-
zipiert die Erwartungen des Gegenübers, die es in Bezug auf das Verhalten von Ego
hegen könnte. Darüber hinaus antizipiert Ego auch Haltungen gegenüber konkreten
gesellschaftlichen Aufgaben. Als Mitglied einer Gruppe nimmt Ego auch die Ein-
stellungen der Gruppe zu diesen Aufgaben der Gruppe an. „Der Einzelne erarbeitet
sie sich, indem er die Haltungen bestimmter anderer Individuen im Hinblick auf
ihre organisierten gesellschaftlichen Auswirkungen und Implikationen weiter orga-
nisiert und dann verallgemeinert.“ (Mead 1973: 201). Es bildet sich ein Muster all-
gemeiner Erwartungen, die der Einzelne dann auch sich selbst gegenüber einzuneh-
men lernt. Erst dadurch entwickelt das Individuum seine vollständige Identität, weil
nur so der gesamtgesellschaftliche Prozess als bestimmender Faktor in das Verhal-
ten des Einzelnen eintritt (ebd.: 198).
Mead ist daran gelegen, zu zeigen, dass in der sozialen Kontrolle, die sich aus
der Antizipation der Erwartungen innerhalb der Gruppe ergibt, auch ein gesell-
schaftlicher Einfluss gegeben ist. Er argumentiert deshalb, dass das Denken, das
jeder Handlung vorausgeht, nur durch die Übernahme der Haltung der generali-
sierten Anderen möglich wird. „Das Wesen der Identität, ist (…) kognitiv. Es liegt
in der nach innen verlegten Übermittlung von Gesten, die das Denken ausmacht
oder in deren Rahmen Denken oder Reflexion abläuft.“ (ebd.: 216).
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 107

Im Rahmen der zwischenmenschlichen Kommunikation wird so eine Identität


erzeugt, in der die Gesellschaft direkt und indirekt enthalten ist. Direkt beeinflusst
wird das Individuum durch die Gruppe und deren Überzeugungen, wie beispiels-
weise ein Unternehmen oder eine Partei, bei denen die Mitglieder direkt miteinan-
der verbunden sind. Die indirekte Beeinflussung findet durch gesellschaftliche Klas-
sen statt, weil die Mitglieder dort nur eine abstrakte funktionale Einheit darstellen
(vgl. ebd.: 199f.). Die so verinnerlichten Haltungen führen zu angemessenen Reak-
tionen auf „bestimmte gemeinsame Dinge“ (ebd.: 205). In ihrer Gesamtheit erzeu-
gen sie die Struktur der Identität.

„Wenn wir eine Identität erlangen, erlangen wir auch ein bestimmtes Verhalten, einen bestimmten
gesellschaftlichen Prozess, der die wechselseitige Beeinflussung verschiedener Individuen voraus-
setzt und gleichzeitig impliziert, dass die einzelnen Individuen irgendeiner kooperativen Tätigkeit
nachgehen. In diesem Prozess kann sich eine Identität entwickeln.“ (ebd.: 208).

Zur genaueren Bestimmung der Identität trennt Mead zwei Phasen der Entwicklung
voneinander. Das ME und das I. Das ME meint die verinnerlichte Organisation der
Einstellungen und Verhaltensweisen der verallgemeinerten Anderen. Es ist die
Identität, derer man sich bewusst ist. Den anderen Aspekt der Identität beschreibt
Mead als den Teil der Handlung. Er nennt es das I. Mead fasst darunter die einzig-
artige, spontane und kreative und damit unvorhersehbare Reaktionen des Selbst auf
Einflüsse durch die Umwelt (vgl. Mead 1973: 175). Das I ist dabei als Reaktion in
der Situation zu verstehen. Diese ergibt sich aus den verinnerlichten Erfahrungen
und Haltungen der generalisierten Anderen, birgt aber immer auch das Element des
Neuen und der Freiheit. „Das ‚me’ (…) erlegt also einerseits dem ‚I’ Einschränkun-
gen auf, andererseits gibt es jedoch für das ‚I’ keinen anderen Weg als über dieses
‚me’, um sich in seiner Besonderheit verständlich zu machen.“ (Krappmann 1982:
59). Das lässt sich damit erklären, dass Mead das I als Drang nach Besonderheit
versteht. Diese Haltung ist unter individualisierten Bedingungen als das Streben
nach Einzigartigkeit gefasst worden. So beeinflusst das I das Me durch Überschrei-
tungen verinnerlichter Normalitätsvorstellungen und verändert es immer wieder
(vgl. Mead 1980: 240).
Im I kommen demnach Abweichungen in dem Sinn zustande, dass im Dialog
Veränderungen von gesellschaftlichen Werten erzeugt werden.
„Der Dialog setzt voraus, dass der Einzelne nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht hat, zu
der Gemeinschaft zu sprechen, deren Mitglied er ist, um jene Veränderungen herbeizuführen, die
durch das Zusammenspiel der Individuen zustande kommen. Das ist die Art und Weise, in der sich
Gesellschaft weiterentwickelt: durch eine wechselseitige Beeinflussung, wie sie sich dort vollzieht,
wo eine Person etwas zu Ende denkt.“ (ebd.: 211).

Es wird erst nach dem Vollzug der Handlung als Erfahrung greifbar und kann im
Gedächtnis abgespeichert werden. Sobald dies geschehen ist, ist es Teil der Identität
108 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

und damit des ME. Die Identität des Individuums ergibt sich aus der Struktur, in
die das I die Me’s bringt und führt so zu ihrer kontinuierlichen Veränderung. Mit
dieser Auffassung von Identitätsbildung war Mead der erste Theoretiker, der das
Streben nach ständiger Veränderung zum Hauptantrieb gemacht hat.
Identität wird aber gleichzeitig auch als ein Prozess erfasst, der von einer gewis-
sen Stabilität gekennzeichnet ist. Diese Stabilität ergibt sich bei Mead aus seiner
funktionalistischen Vorstellung einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. Er geht
davon aus, dass die Verinnerlichung der Haltungen der generalisierten Anderen
grundsätzlich unproblematisch verläuft. Vor allem enthält seine Theorie die Mög-
lichkeit der Verallgemeinerung von Haltungen, die es dem Individuum möglich
macht, einen gesellschaftlichen Prozess wahrzunehmen, aus dem es seine Hand-
lungsprinzipien ableiten kann.
Überträgt man diese Theorie auf eine individualisierte Gesellschaftsform, in der
Individuen als Handlungszentren unter unsicheren Bedingungen handeln müssen,
stellt sich die Frage nach möglichen Dissonanzen bei der Übernahme von Haltun-
gen. Inwieweit ist es einem individualisierten Ich noch möglich, eine Gruppenhal-
tung zu verinnerlichen oder von da aus auf ein gesellschaftliches Wertsystem zu
abstrahieren? Die Uneinheitlichkeit von Situationsdeutungen erschwert die Erfas-
sung von allgemeinen Haltungen. Die Unsicherheiten sind größer geworden, da
Handeln sich aufgrund des Wertepluralismus nicht mehr an klaren wertbasierten
Regelmäßigkeiten orientieren kann.
Damit sind weitere Veränderungen verbunden. Selbstverwirklichung schließt
den freiwilligen Wechsel von Gruppenzugehörigkeiten ein, so dass die Identifika-
tion in einer Gruppe nur solange betrieben werden muss, wie sie dem Einzelnen
noch etwas bedeutet. Er kann sich aus vielen Zusammenhängen wieder herauslösen
und sich in andere Gruppen integrieren. In Meadscher Sprache gesprochen, kann
das Me nicht mehr diese Form von organisierter Grundlage für Identitätsbildung
bieten, wenn das I auf immer individuellere Haltungen reagieren muss. Damit kann
auch nicht mehr auf die generalisierten Anderen abstrahiert werden. Der Rahmen,
der durch das Me gegeben ist, steht nicht mehr fest, da es den „gemeinsamen Le-
bensprozess seitens aller Mitglieder der Gesellschaft“ (ebd.: 231) nicht mehr gibt.
Erwartungssicherheit muss heute in vielen Situationen mühsam selbst hergestellt
werden.
Identität vollzieht sich demnach in der kritischen Auseinandersetzung mit den
verschiedenen Erwartungen der Interaktionspartner, bei der ein gewisses Maß an
Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse gewährleistet ist. Dies setzt die Kennt-
nis der Erwartungen voraus, die aber unter individualisierten Bedingungen selbst
Teil der interaktiven Aushandlung ist. Meads Konzeptualisierung lässt sich unter
solchen Bedingungen schwer aufrechterhalten. Vielmehr wird ein Identitätsbegriff
benötigt, der versucht „(…) dem Erfordernis Raum zu geben, kreativ die Normen,
unter denen Interaktionen stattfinden, zu verändern. Dieses kritische Potential des
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 109

Individuums zieht seine Kraft aus der strukturellen Notwendigkeit, nicht überein-
stimmende Normen negierend zu überschreiten.“ (Krappmann 1982: 209).

3.1.2 Identitätsbestimmung als eigeninitiativer Akt

Die identitätstheoretischen Aspekte der Differenzierungstheorie tragen zu einer


Konkretisierung der Vorstellung von Identitätsentwicklung in individualisierten
Gesellschaften bei. Hintergrund ist dabei die Frage nach der Integration von Indivi-
duen unter der Annahme einer sich in Teilsysteme aufspaltenden Gesellschaft.
Niklas Luhmann betont, dass in der stratifikatorischen Gesellschaft die Personen
noch durch Inklusion gekennzeichnet waren, d.h. sie sind noch als Gesellschafts-
mitglieder durch Zuschreibungen zu konkreten Positionen in hierarchisch zueinan-
der stehenden Schichten in die Gesellschaft integriert worden. Mit dem Übergang in
eine Gesellschaft, die durch funktionale Ausdifferenzierung in unterschiedliche
soziale Systeme beschrieben wird, ist die Person nicht mehr als Ganzes in die Ge-
sellschaft eingebunden, sondern mittels ihrer Funktionen in mehrere Teilsysteme.
„Während in vormodernen Gesellschaften die Individualität des einzelnen durch die
soziale Positionierung in ein Segment bzw. einen Stand umfassend bestimmt war, ist
diese soziale Einordnung des ganzen Menschen in der modernen Gesellschaft ob-
solet geworden.“ (Hillebrandt 1999: 247).
Dabei werden Personen durch Kommunikation Teil der verschiedenen gesell-
schaftlichen Teilsysteme. Die Inklusion erfolgt entlang der Funktionen, die die
Person für das Teilsystem erfüllt. Funktionen sind als Erwartungen in Rollen ge-
bündelt und Individuen bestehen aus Rollen. Durch die Verknüpfung der Differen-
zierungstheorie mit rollentheoretischen Vorstellungen existiert „(...) ein intermediä-
res Konzept, welches das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft unter dem
Gesichtspunkt der Vermittlung sozialen Handelns mit den strukturellen und funkti-
onalen Bedingungen und Erfordernissen sozialer Systeme thematisiert.“ (Grie-
se/Nikles/Rülcker 1977: 12).
Die einzelnen Teilsysteme des Gesellschaftssystems, welche die Personen parti-
ell in die Gesellschaft integrieren, bilden unterschiedliche Erwartungsstrukturen aus,
die sich als Verhaltensanforderungen an Personen, die bestimmte Positionen in ei-
nem Teilsystem einnehmen, in Rollen bündeln. „Soziale Rollen bezeichnen Ansprü-
che der Gesellschaft an die Träger von Positionen.“ (Dahrendorf 1965: 26). Diese
Ansprüche sind von Teilsystem zu Teilsystem und damit von Position zu Position
unterschiedlich, so dass die Personen verschiedene Rollen einnehmen. „Die sozialen
Rollen, die an die Positionen gebunden sind, sind kollektiver Natur, (...). Von der
Gesellschaft aus betrachtet sind sie Phänomene normativer Spezialisierung und
sichern das funktionale Zusammenspiel der Positionen im Rahmen der jeweiligen
Sozialstruktur ab.“ (Griese/Nikles/Rülcker 1977: 23). Soziales Handeln ist hier
110 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

immer Handeln in Rollen. „Das soziale Handeln, das den anderen betrifft, betrifft
den anderen nicht als den reinen anderen, sondern als jemand, der eine konkrete,
rollen-gebundene, soziale Existenz hat.“ (Luckmann 1979: 598).
Deshalb kann die so verstandene Anerkennung der Identität keine individuelle
Ganzheit der Selbstvergewisserung hervorbringen. Die Person ist als Teil eines
Systems immer nur ausschnitthaft beschreibbar. Mit der Verschiedenartigkeit der
rollenspezifischen Bestätigung der sozialen Identitäten nimmt die Verschiedenartig-
keit der Ich-Identitäten zu (vgl. Schimank 2002: 30). Differenzierungstheoretisch
hat dies zur Folge, dass innerhalb des Gesellschaftssystems Einzigartigkeit im Er-
gebnis der interaktiven Vergewisserung nur in der Einmaligkeit der Rollenkombina-
tion jedes Individuums bestehen kann (vgl. Luhmann 1995: 131).
Mit zunehmender Systemdifferenzierung kommt es zu einer Auflösung der
schichtmäßigen Rollenfestlegung. Die Erwartungen, die sich in Rollen bündeln,
werden allgemeingültiger und sind in immer geringerem Maße vordefiniert. Die
Ausgestaltung des Rollenhandelns kann somit flexibler erfolgen. Es bleibt mehr
Raum für individuelle Interessen und Bedürfnisse der die Rolle ausübenden Perso-
nen (vgl. Schimank 2002: 238f.). Das bedeutet aber auch, dass die Identifizierung
mit diesen Erwartungsstrukturen erschwert wird und Identität über diese Rollener-
wartungen hinaus entwickelt werden muss. Je mehr Rollenflexibilität, desto mehr
Eigenleistung ist bei der Identitätsbildung erforderlich.
Damit ist in der funktional differenzierten Gesellschaft ein Raum geschaffen,
den man als Raum individueller Freiheit bezeichnen kann. Die Gesellschaft hat kein
Interesse daran, „(…) wie das Individuum, das den Leerraum nutzt, den die Gesell-
schaft ihm lässt, ein sinnvolles, den öffentlich proklamierten Ansprüchen genügen-
des Verhältnis zu sich selbst finden kann.“ (Luhmann 1997: 805). Die moderne
Gesellschaft bietet demzufolge der Ganzheit des Menschen „(…) keinen Ort mehr,
wo er als gesellschaftliches Wesen existieren kann.“ (Luhmann 1993: 158). Die
Selbstvergewisserung einer individuellen Identität, die ein Akt sein muss, der eine
Ganzheit herstellt, findet demnach außerhalb aller gesellschaftlichen Teilsysteme
statt. „Das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch
Exklusion definiert werden.“ (Luhmann 1993: 158). Identitätserzeugung ist damit
ein Vorgang, der als Exklusionsindividualität bezeichnet wird (vgl. Luhmann 1993,
Nassehi 1999, Schimank 2002, Nassehi 2003).
Aus differenzierungstheoretischer Perspektive ist diese Exklusion deshalb nö-
tig, weil die in Teilsystemen handelnden Individuen als psychische Systeme be-
trachtet werden. Psychische Systeme unterscheiden sich aufgrund ihrer Unteilbar-
keit von anderen Systemen. Durch diese Unteilbarkeit können Individuen nicht
partiell in andere Systeme inkludiert werden. „Genau diese wörtlich verstandene
Individualität wird unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung aus der
Gesellschaft exkludiert, weil diese Individualität keinen unverrückbaren Platz in der
Gesellschaftsstruktur mehr finden kann.“ (Hillebrandt 1999: 247). Das was das
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 111

Individuum zur Bildung der eigenen Identität, d.h. zur Selbstvergewisserung seiner
Individualität benötigt, muss es selbst jenseits der Funktionssysteme als Eigenleis-
tung erbringen. Identitätsherstellung wird somit zu einer individuellen Angelegen-
heit.
Auf Funktionssystemebene entstehen wiederum Erwartungshaltungen, die die
Individualität der Person mit einbeziehen, weil die Systeme nicht operativ geschlos-
sen sind und ein Individuum benötigen, das sich gegen die Fragmentierung durch
Differenzierung wehren kann (vgl. Nassehi 2004b: 112). Die Differenzierungstheo-
rie berücksichtigt deshalb eine zunehmende Verfärbung gesellschaftlicher Rollen-
vorgaben durch individuelle Merkmale. Kommt es also zu Interaktionen zwischen
Personen,

„(…) werden Erwartungen auch durch die Eigenschaften der personalen Systeme geprägt. Man er-
wartet vom anderen und sich selbst bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die das Verhalten und
Handeln steuern. Die in organisierten Sozialsystemen definierten Erwartungen werden im Lichte
dieser persönlichen Merkmale interpretiert.“ (Geller 1994: 12).

Individuation ist deshalb ein Vorgang, der sich in den unterschiedlichen Einflüssen
der Persönlichkeit auf das Handeln in Rollen ausdrückt. „Erwartungen an Personen
in Positionen, also Rollen, ergeben sich durch Kombination von formalen Regeln
mit Persönlichkeitstypen.“ (Geller 1994: 76). Diese Erwartung an eine individuelle
Identität dient dazu,

„(…) die Differenz von Dividualität im Inklusionsbereich und Individualität im Exklusionsbereich


handhabbar zu machen, und sie (...) [muss, D.L.] dazu dienen, den exkludierten Bereich der Teil-
habe des Individuums am sozialen Verkehr so stabil zu halten, dass die Erwartungen im Inklusi-
onsbereich erfüllt werden können.“ (Nassehi 1999: 118).

Damit entsteht wiederum allmählich ein Druck, Individualitätsidentität aufzubauen,


um Erwartungssicherheiten im Bereich der teilsystemischen Kommunikation zu
ermöglichen. Die Personen tragen die Last intersystemischer Vermittlungsleistun-
gen, da sie die Verbindungen zwischen den Handlungskontexten herstellen müssen
(vgl. Renn 2002: 250). Identitäten entwickeln sich hier auf Basis eines übersystemi-
schen Selbstkonstruktionsmechanismus. Hierdurch wird Sinn in der Art organisiert,
dass das Individuum Erfahrungen aus den Handlungen in Teilsystemen sortiert und
im Hinblick auf sich als Person interpretiert. Das Individuum „(...) muss seine Iden-
tität finden und deklarieren, damit sein Verhalten in dieser nur für ihn geltenden
Konstellation an Hand seiner individuellen Person für andere wieder erwartbar
gemacht werden kann.“ (Luhmann 1995: 132). Die Funktion der Exklusionsindivi-
dualität geht somit weiter als die rollengebundene Identität, da ein Selbstbild, das
sich nur auf das einzelne Rollenhandeln bezieht, auch nur auf Funktionen rekurrie-
ren kann, die in einem Teilsystem zu erbringen sind.
112 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

Diese differenzierungstheoretischen Grundannahmen über Exklusionsindivi-


dualität haben Auswirkungen auf die Vorstellung von der Entwicklung einer indivi-
duellen Identität. Mit Annahme der Theorie funktionaler Differenzierung können
sich Individuen in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft als Umwelt zu
sich und zu anderen wahrnehmen. Grundlage dafür ist die Fähigkeit, ein Bewusst-
sein von sich selbst zu haben. Das bedeutet, sich selbst als Objekt betrachten zu
können. Dies kann nur dadurch erzeugt werden, dass man sich an die gesellschaftli-
chen Verhaltensanforderungen hält. Der Einzelne bringt sich in den Erfahrungsbe-
reich der anderen Identitäten, auf die er reagiert. Identitätsaufbau wird als sozialer
Vorgang beschrieben, der in der Kommunikation mit anderen als Abgrenzungsvor-
gang aufscheint. Nach Annahme der Differenzierungstheoretiker kann Identität nur
da aufgebaut werden und besteht nur da, wo soziale Systeme und psychische Sys-
teme, die grundsätzlich durch andere Strukturmerkmale gekennzeichnet sind, ein-
ander begegnen. Diese findet im Interaktionssystem statt (vgl. Geller 1994: 11). Die
Differenzierungstheoretiker gehen deshalb davon aus, dass Identität nur dort pro-
duziert und reproduziert wird, wo Interaktionen mit anderen Personen stattfinden,
und damit nur im Bereich der Interaktion durch Andere bestätigt werden kann.
Bei diesem Vorgang stößt die Suche nach Identität ins Leere, weil sie sich nur
als Differenz zu sich selbst erfassen kann.
„Und so stoßen wir beim Nachspüren nach Identität eben nicht auf Einheit, nicht auf Stabilitäten
und festgelegte Merkmale, sondern auf Differenz. Alle sozialen Anlässe, bei denen Identität auf-
scheint, sind Anlässe der Abgrenzung, der Differenz zu anderen Möglichkeiten. Identitäten entstehen
erst dann, wenn wir auf andere Möglichkeiten stoßen.“ (Nassehi 2004a: 31).

Dies bedeutet für die Analyse der Identitätsarbeit in letzter Konsequenz: „Im stren-
gen Sinne gibt es keine Identitäten, sondern sie sind das Ergebnis von Praktiken –
und es sind dann diese Praktiken selbst, die soziologisch von Interesse sind, nicht
nur deren Ergebnisse.“ (Nassehi 2004a: 37).
Die Differenzierungstheorie bleibt an diesem Punkt stehen, weil sie zwar aus
gesellschaftlichen Strukturanforderungen ableiten kann, welche Bedingungen für
das Individuum und die Herstellung von individueller Identität gegeben sind, aber
sie widmet sich nicht den individuellen Herstellungsakten dieser Identität als eigen-
initiativer Leistung. Die sich hier zeigende mangelnde handlungstheoretische Fun-
dierung wurde deshalb des Öfteren kritisiert (vgl. Renn 2002). Vor allem bleibt beim
Ansatz der funktionalen Differenzierung unklar, wie die Individuen beim Streben
nach Individualität, beim Aufbau einer alles bündelnden und über teilsystemische
Rollenanforderungen hinausgehenden individuellen Identität vorgehen. Mit dieser
Perspektive wird die Erzeugung der Identität unter individualisierten Bedingungen,
in denen sich die Herstellungsakte weiter verkomplizieren, problematisch.
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 113

„Die Komplexität moderner kommunikativer Arenen multipliziert nun die Kontexte der Selbstbe-
hauptung in beiden Hinsichten (kommunikative Aussage über das Selbst und Durchhaltung dieses
Selbst), führt aber nicht zur Auflösung der individuellen Einheit der Identität. Sie gibt der Identität
eine andere Funktion und delegiert diese an die Personen (...) [und, D.L.] führt zur Ausweitung der
sozialen Resonanz für transitorische, pragmatisch ausagierte, individuelle Selbstverhältnisse.“ (Renn
2002: 238).

Deshalb ist eine Erweiterung des Identitätsverständnisses, das auf Differenzerfah-


rungen beruht, vonnöten. Diese lässt sich aus dem Vorgang der selbstreflexiven
Auseinandersetzung mit bisherigen individuellen Entwicklungsschritten und zu-
künftigen Möglichkeiten ableiten. Dieser Differenzvorgang wird als temporaler Ver-
gleich bezeichnet.
„Ein solcher Vergleich besteht in einer Fokussierung auf Entwicklungsabläufe. Dabei laufen Ver-
gleiche zwischen mindestens zwei Zeitpunkten ab. Diese Zeitpunkte können in der Vergangenheit
liegen, eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen oder aber auch über
Vergangenheit und/oder Gegenwart bis in die Zukunft hinein antizipativ fortgesetzt werden.“
(Kanning 1997: 43).

Diese Aspekte sind Kern der Theorie der Identitätsentwicklung von Heiner Keupp.

3.1.3 Patchwork-Identität als Folge von Optionenvielfalt

Keupps Analysen stützen sich auf empirische Daten über Individuen und deren
Identitätskonstruktionsleistungen unter individualisierten Bedingungen, die im
Rahmen eines SFB Teilprojekts zu „Reflexiver Modernisierung“ erhoben wurden
(vgl. Keupp 2002).
Als Psychologe geht er bei seiner Definition von Identität zwar vom Indivi-
duum als Konstrukteur der eigenen Identität aus, weitet diese aber zu einer spezi-
fisch soziologischen Perspektive aus, bei der das Ziel von Identitätsentwicklung eine
„Passung zwischen innerer und äußerer Welt“ (Keupp 2002: 7) ist. Keupp bestimmt
Identität damit über die Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt. Er geht dabei
von der Ambivalenz der Optionenvielfalt und dem Streben nach Selbstverwirkli-
chung als Chance und Risiko aus. Die damit einhergehende Suche nach Identität ist
eine aktive Leistung des Individuums, weil es sich für das, was es sein will, immer
wieder neu entscheiden kann. Deshalb geht es Keupp nicht um das Resultat dieser
Leistung, „(…) sondern um die Konstatierung von Zwischenergebnissen, von
flüchtigen Positionsbestimmungen auf einem Weg.“ (ebd.: 83). Auf diese Weise
ermittelt er individuelle Identitätsprojekte, die unter Rückgriff auf bestimmte Iden-
titätsstrategien und Ressourcen umgesetzt werden.
So entsteht ein Bild von alltäglicher Identitätsarbeit, deren Herstellungsprozess
näher beleuchtet werden sollte. Keupp arbeitet hier zwei Grundelemente heraus:
114 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

Zum einen, dass Identitätsarbeit eine kontinuierliche Verknüpfung von Erfahrun-


gen in zeitlicher, lebensweltlicher und inhaltlicher Hinsicht darstellt. Das Indivi-
duum muss die Wahrnehmung seiner selbst ständig ordnen. Neue Erfahrungen
werden in die bereits bestehenden eingeordnet, wodurch Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft der Identität miteinander verknüpft werden. Der Einbezug der Zu-
kunftsperspektive hat dabei ein besonderes Konfliktpotential, weil damit Zielset-
zungen im Rahmen von Identitätsprojekten entwickelt werden können, mit denen
das bisher Erreichte überschritten werden soll. Dies ist die zeitliche Perspektive von
Identitätsarbeit. Des Weiteren ordnet das Individuum Selbsterfahrungen aus ein-
zelnen lebensweltlichen Bezügen einander zu. Damit sind rollenbezogene Wahr-
nehmungen, wie z.B. Ich als Lebenspartner, Ich als Vater, Ich als Angestellter ge-
meint. Identitätsarbeit bedeutet, diese unterschiedlichen Erfahrungen aufeinander
zu beziehen. Um zu einem vollständigen Bild von sich selbst zu kommen, müssen
diese einzelnen Selbsterfahrungen unter dem Aspekt der Ähnlichkeit und Unter-
schiedlichkeit sortiert werden. Das Individuum ordnet die neuen Eindrücke nach
dem Prinzip der Passung oder der Abweichung zum bereits Bestehenden.
Das zweite Grundelement besagt, dass sich Identitätsarbeit als interaktionisti-
scher Aushandlungsprozess mit der gesellschaftlichen Umwelt darstellt. Keupp stellt
hier zwei Probleme heraus, durch die seine Theorie über die anderen Ansätze hi-
nausgeht und wichtige Elemente über die Vermittlungsprozesse zwischen Indivi-
duen benennt. Zum einen behandelt er Ressourcen als Grundlage für den Identi-
tätsprozess. Wobei Ressourcen hier zum einen persönliche und zum anderen von
der Umwelt zur Verfügung gestellte meint. Die Verfügbarkeit von Ressourcen ist
die wichtigste Grundlage, auf der Identitätsarbeit stattfindet. Keupp unterscheidet
zwischen den tatsächlich, objektiv vorhandenen Ressourcen und denen, die vom
Individuum wahrgenommen werden. Zur genaueren Bestimmung dieses Elements
greift er auf Bourdieus Kapitaltheorie zurück, um die ungleiche Verteilung der Res-
sourcen in sozioökonomischer Hinsicht zu berücksichtigen. Damit werden die für
Identitätsarbeit wichtigen Ressourcen in ökonomische, kulturelle und soziale Di-
mensionen aufgespalten. Diese Ressourcen werden auf zwei Arten transferiert. Zum
einen ist es möglich eine Kapitalsorte in eine andere zu verwandeln. Soziale Kon-
takte können beispielsweise dafür genutzt werden materielle Ressourcen zu erlangen
(vgl. ebd.: 202). Zum anderen werden die Kapitalien von äußeren zu inneren und
damit identitätsrelevanten Ressourcen. Für diesen Transfer ermittelt Keupp drei
Übersetzungskategorien: den Optionsraum, die subjektive Relevanzstruktur und die
Bewältigungsressource. Der Optionsraum ist durch die Verfügbarkeit der verschie-
denen Kapitalien geformt, die für die Realisierung eines Identitätsprojektes benötigt
werden. Die subjektive Relevanzstruktur steuert die Wahrnehmung der Hand-
lungsoptionen im Sinne von sozialisierten Werthaltungen und entscheidet damit
über die Wahl der unterschiedlichen Perspektiven auf Identitätsentwicklung. Bewäl-
tigungsressourcen sind demzufolge all jene problemlösenden Maßnahmen, die das
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 115

Individuum im Falle einer Identitätskrise oder bei Spannungen im Aushandlungs-


prozess von Identität ergreifen kann (vgl. ebd.: 203).
Der zweite Problembereich bezeichnet den interindividuellen und intraindivi-
duellen Verlauf des Aushandlungsprozesses von Identität. (vgl. ebd.: 190f.). Identi-
tät entwickelt sich in sozialen Beziehungen im Rahmen von Anerkennungsmecha-
nismen. Für Keupp sind es sowohl die direkten Interaktionen mit dem Gegenüber
als auch Interaktionen auf kollektiver Ebene, in denen die Identitätskonstruktion
verläuft. Wie bereits verdeutlicht, vollzieht sich Identitätsarbeit mit dem Ziel der
Passung zwischen Individuum und Umwelt, wobei sich bei Keupp nicht die Vor-
stellung eines stabilen Gleichgewichts dahinter verbirgt. „Weder handelt es sich um
eine einfache Dichotomie von Passung und Nicht-Passung, noch sucht das Subjekt
in seiner Identitätsarbeit ein spannungsfreies Gleichgewicht.“ (ebd.: 196). Gemeint
ist damit, dass Individuen im Rahmen von Selbstthematisierungen mit eigenen
positiven Bewertungen die negativen sozialen Bewertungen relativieren können. Sie
passen sich also nicht einfach an die Maßstäbe der Umwelt an, sondern sind mit der
Fähigkeit ausgestattet, Spannungen auszuhalten und sich selbst Anerkennung zu
verschaffen, um keinen Identitätsverlust in Kauf zu nehmen.
Der Aushandlungsprozess wird durch Selbstnarrationen gesteuert, durch die
das Erlebte organisiert wird. „Die narrativen Strukturen sind keine Eigenschöpfung
des Individuums, sondern im sozialen Kontext verankert und von ihm beeinflusst,
so dass ihre Genese und ihre Veränderung in einem komplexen Prozess der Kon-
struktion sozialer Wirklichkeit stattfinden.“ (ebd.: 208). In der Narration sind die
Handlungen des Individuums mit den antizipierten Handlungen der Anderen ver-
woben und fordern somit immer auch die Bestätigung vom Gegenüber. Die Selbst-
erzählung wird gleichzeitig von den eingesetzten sprachlichen Mitteln sowie medial
und machtvermittelten Erzählstrategien beeinflusst (ebd.: 216).
Das Ergebnis dieser Identitätsarbeit ist eine Aufspaltung in mehrere Identitäts-
teile. „Die Lebenskontexte der einzelnen sind so dynamisch, disparat und unter-
schiedlich, dass sie notwendig in jede Untersuchung einbezogen werden müssen.
Die naheliegende Konsequenz für Identitätsforschung ist die analytische Unter-
scheidung von Teilidentitäten in einzelnen Lebenswelten.“ (ebd.: 76). Dies führt zu
einem

„(...) Mosaik an Erfahrungsbausteinen, die auf die Zukunft gerichtet sind (Entwürfe, Projekte), so-
wie solche, die eher der Vergangenheit angehören (realisierte oder/und gescheiterte Identitätspro-
jekte, aufgegebene Identitätsentwürfe). Und eine Teilidentität enthält auch die, zumindest für eine
bestimmte Lebensphase gültigen, Standards einer Teilidentität.“ (ebd.: 219).

Diese Standards sind nach Keupp ebenso inkohärent geordnet wie die Teilidentitä-
ten selbst. Mit dieser Auffassung von Identität versucht Keupp zu begründen, dass
es zu Ambivalenzen in der Gewichtung der Teilidentitäten kommen kann. Auf diese
Art entstehen so genannte dominierende Teilidentitäten, die für das Individuum zu
116 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

einem bestimmten Zeitpunkt mehr Relevanz haben und ihm mehr Sicherheit ver-
mitteln als andere Teilidentitäten.
Allerdings bleibt Keupp an dieser Stelle stehen und untersucht nicht den ge-
nauen Zusammenhang zwischen narrativer Selbstdarstellung, die aus den Teiliden-
titäten heraus erfolgt und den konkreten kontextspezifischen Anerkennungsbezie-
hungen, die diese stabilisieren. Aber seine Theorie enthält wesentliche Aspekte, die
für die hier verfolgte Plausibilisierung einer anspruchsgeleiteten Identitätsbildung
unter individualisierten Bedingungen wichtig sind. Dazu gehört der Gedanke der
Ressourcen als Voraussetzung für Identitätsentwicklung, die von der Relevanz-
struktur abhängige Wahrnehmung der verfügbaren Optionen und die Selbstnarra-
tion, in der Anspruchshaltungen zum Ausdruck gebracht werden und nach Aner-
kennung verlangen. Diese Aspekte sind in der sozialtheoretischen Betrachtung von
Anspruchshaltungen als Antrieb für Selbstverwirklichung bereits enthalten und
werden nun im Hinblick auf ihre Funktion für Identitätsbildung konkretisiert.

3.2 Identitätsentwicklung unter individualisierten Bedingungen

In allen hier vorgestellten Ansätzen zeigt sich ein Verständnis von Identität, das
Identitätsbildung als einen Prozess betrachtet. Identität ist veränderbar und dadurch
keine Eigenschaft einer Person im Sinne eines dauerhaften Besitzes. Sie ist ein „Zu-
stand, der nicht einfach da ist, sondern von der Person in bewusster Selbstreflexion
hergestellt, ja erarbeitet werden muss.“ (Frey/Haußer 1987a: 11). Die Grundlage
dafür ist eine funktional differenzierte Gesellschaft, welche die schichtmäßige Fest-
legung von Identität zu Gunsten einer an Fähigkeiten orientierten Zurechnung
obsolet werden lässt. Mit der Ausdifferenzierung in gesellschaftliche Teilsysteme, in
die das Individuum nach funktionalen Kriterien inkludiert wird und sich in Rollen-
segmente aufteilt, wird Identitätsherstellung zu einer Eigenanforderung. Identität ist
von Selbstvergewisserungsvorgängen abhängig, welche die rollenbezogene Auftei-
lung in einen eigenen Zusammenhang bringt. Auslöser für Selbstvergewisserungs-
vorgänge sind Differenzerfahrungen zwischen dem bisherigen Selbstbild und situa-
tiv hervorgerufenen Widersprüchlichkeiten.23 Diese Differenzerfahrungen entstehen
nicht nur durch solche Ist-Vergleiche, sondern auch durch temporale Vergleiche
möglich (vgl. Albert 1977). Ziel ist dabei die Erzeugung einer individuellen Identität,
die sich einerseits aus der Abgrenzung zu anderen Vergleichssubjekten ergibt und
andererseits aus der Auseinandersetzung mit der bisherigen eigenen Identität. Um

23 Dieser Mechanismus ist vergleichbar mit dem in Abschnitt 1.5.1 vorgestellten Ansatz zur Erklä-
rung des Umgangs mit Optionenvielfalt. Allerdings wird im Rahmen der hier entwickelten Identi-
tätstheorie nicht nur die Zukunftsperspektive der möglichen Selbstverwirklichung betrachtet, son-
dern auch die Auseinandersetzung mit dem bisherigen Entwicklungsstand eines Individuums. Aus
diesem Grund werden die Differenzerfahrungen jetzt etwas weiter gefasst.
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 117

das dafür nötige positive Selbstbild herzustellen, kann das Individuum wahrge-
nommene Diskrepanzen durch die Überschreitung der bisherigen Identität in die
mögliche Zukunft aufheben. Dies ist nur in einer individualisierten Gesellschaft
möglich, die sich vor allem durch die Verfügbarkeit unterschiedlicher Optionen und
die Erosion des Normalbiographiekonzepts auszeichnet und damit die Zukunftsof-
fenheit des Lebenslaufs impliziert.
Grundlage für eine so geartete Identitätsstabilisierung bildet, wie Heiner Keupp
herausgestellt hat, die narrative Selbstpräsentation. Diese hat sich in doppelter Wei-
se verändert. Zum einen ist die Präsentation aufgrund des veränderten Zurech-
nungsmodus wesentlich stärker als in stratifikatorischen Gesellschaften an die Dar-
stellung individueller Eigenschaften und Fähigkeiten gebunden. Gleichzeitig werden
in der Selbstdarstellung stärker Zielsetzungen zum Ausdruck gebracht. Durch sie
kann gezeigt werden, dass zur Identitätsentwicklung immer auch das Überschreiten
des momentanen Entwicklungsstandes gehört. Die präsentierten Zielsetzungen
drücken das Potential für die Verwirklichung der Individualität aus. Deshalb fallen
Identitätsbildung und das Streben nach Einzigartigkeit in der Selbstdarstellung zu-
sammen.
Die Selbstdarstellung orientiert sich an den bisherigen Erfahrungen. Die hier
verfolgte Argumentation geht davon aus, dass Erfahrungen durch Rückmeldungen
des Interaktionspartners zu den präsentierten Eigenschaften gesammelt werden.
Diese Konsistenz formt sich auf der Grundlage eines zu diesem Zeitpunkt aktuellen
Selbstbildes. Um dieses aufrechterhalten zu können, ist eine Auseinandersetzung
mit den interaktiv erzeugten Rückmeldungen unerlässlich. Die Organisation von
Erfahrungen mit auf die Zukunft gerichteten Zielsetzungen geschieht auf kognitiver
Ebene. Die Auseinandersetzung dient der Sinnerzeugung und ist von Keupp als
Anerkennungsgewichtung bezeichnet worden. Die Individuen schreiben den Erfah-
rungen mit Anderen unterschiedliche Bedeutungen zu. Gleichzeitig können sie sich
von bestimmten, für das eigene Selbstbild nachteiligen, Rückmeldungen distanzie-
ren. Dieser Prozess der Selbstanerkennung ist unkommunizierbar. Er zeigt sich erst
als Ergebnis in der nächsten Narration.24
Diese Vorstellung der Identitätsentwicklung kann weiter konkretisiert werden.
Dafür ist die Berücksichtigung der Selbstpräsentation mittels der drei Arten von
Anspruchshaltungen wesentlich und wird im Folgenden ausgearbeitet.

24 Dieser Auffassung ist auch Georg Simmel, der mit seinem Individualitäts-Apriori davon ausgeht,
dass die qualitative Individualität, die Einzigartigkeit des Individuums aufgrund der Nichtkommu-
nizierbarkeit auch nicht beobachtbar ist. Sie ist nur in dem Sinne einer Selbstbeschreibung be-
obachtbar. (vgl. Simmel 1992)
118 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

3.2.1 Identitätsentwicklung mittels Ansprüchen

Bisher sind Anspruchshaltungen als Antrieb der Selbstverwirklichung auf sozialthe-


oretischer Ebene diskutiert worden. Sie haben ganz allgemein die Funktion der
Bewertung von Optionen und führen zur Selbstbindung im Rahmen der Selbstver-
wirklichung. Die Identifikation mit Optionen als Voraussetzung von Anspruchsbil-
dungen wurde bereits in Abschnitt 1.5.1 erläutert. Ansprüche wurden als essentielle
Antriebskraft für die persönliche Entwicklung hergeleitet. Darüber hinaus dienen
sie der Stabilisierung der Identität.
Wie bereits erklärt, ist Prozesshaftigkeit das Kernelement von Identität. An-
spruchshaltungen bilden diesen Prozess ab. Denn über Anspruchshaltungen setzt
sich das Individuum mit dem vergangenen, gegenwärtigen und einem möglichen
zukünftigen Entwicklungsstand auseinander. Dies setzt voraus, dass Anspruchs-
haltungen präsentiert werden. „Das Leben muss im Sinne einer narrativen Darstel-
lung begriffen werden, mit der ich mir einerseits verständlich machen kann, wie ich
das geworden bin, was ich bin, und andererseits entwerfe, was ich werden will.“
(Harböck 2006: 89).
Für das hier verfolgte Modell einer Identitätskonstruktion mittels Anspruchs-
haltungen ist diese Selbstpräsentation von essentieller Bedeutung, da sie erst ermög-
licht, Handlungen als selbstverwirklichend zu identifizieren. Der Anspruch ist bis
zur Präsentation nur eine handlungsleitende Möglichkeit, aber noch kein Bestandteil
des eigenen Selbst. Das Individuum präsentiert sich mit Ansprüchen als „souverä-
nes Subjekt“, das fähig ist, mit der vorhandenen Optionenvielfalt umzugehen und
sich mit dem Ziel der Autonomie und Selbstverwirklichung Ziele zu setzen. Gleich-
zeitig dient dies der Abgrenzung gegen jedwede passive Erfüllung von wahrge-
nommenen Erwartungshaltungen. Diese Konzeption eines präsentierten An-
spruchsindividualismus bedeutet des Weiteren, dass die Individuen sich mittels
Ansprüchen voneinander abgrenzen und sich ihrer Einzigartigkeit versichern.
Konkret erfolgt die zu diesem Zweck erbrachte Selbstpräsentation in Form der
drei grundlegenden Anspruchshaltungen – Zielsetzungen, Ressourcenforderungen
und motivationsbasierte Leistungsansprüche. Ziel ist dabei ihre Anerkennung. „Die
Möglichkeit der Verwirklichung von individueller Autonomie [hängt, D.L.] für das
einzelne Subjekt von der Voraussetzung ab (...), durch die Erfahrung sozialer Aner-
kennung ein intaktes Selbstverhältnis entwickeln zu können.“ (Honneth 2003: 213).
Die Präsentation der Ansprüche erfolgt jedoch jeweils in bestimmten sozialen Kon-
texten und orientiert sich an den kontextabhängigen Situationsdefinitionen, d.h. den
Logiken und Möglichkeiten spezifischer Interaktionszusammenhänge.
Ressourcenforderungen verlangen nach der Bereitstellung von Gütern und
werden deshalb in institutionellen Kontexten präsentiert. Sie orientieren sich an
Optionen für Autonomiezuwachs und finden ihre Bestätigung auf sehr direktem
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 119

Wege. Die Forderung wird geäußert und dabei an einen institutionellen Vertreter
gerichtet und führt entweder zur Anerkennung oder Missachtung.
Individuelle Seinsforderungen werden dagegen vorwiegend in persönlichen Be-
ziehungskontexten präsentiert. Sie bilden die Voraussetzung für die Möglichkeit,
individuelle Veränderungspotentiale überhaupt zu identifizieren und so handlungs-
leitend werden zu lassen. Die Anerkennung erfolgt hier auf der Grundlage einer
interaktiven Aushandlung, deren Grundelement Vertrauen ist. Daraus entsteht
Erwartungssicherheit: Der Präsentierende kann sicher sein, dass sein Anspruch vom
Gegenüber ernst genommen wird und dessen Aushandlung durch gegenseitiges
Wohlwollen gekennzeichnet ist.
Obwohl Leistungsansprüche unabhängig von Erwartungen entwickelt werden,
erfolgt auch ihre Präsentation auf Grundlage des Wunsches nach Anerkennung.
Zum Zweck der Identitätsstabilisierung werden sie aus dem Bedürfnis heraus prä-
sentiert, dass die individuellen Fähigkeiten und das individuelle Leistungspotential
von anderen wahrgenommen werden. Dies kann auch in persönlichen Beziehungs-
kontexten erfolgen. Für die Identitätsstabilisierung ist es jedoch wichtiger, sie in
organisationalen Kontexten, d.h. vor allem im Berufskontext zu präsentieren. Die
hier eingeforderte Anerkennung ist ein wesentlicher Aspekt der Selbstverwirkli-
chung durch Leistung. Gleichzeitig fungiert sie als Voraussetzung für soziale Positi-
onierung.25
Auf alle Anspruchsformulierungen wird also kontextspezifisch mit Anerken-
nung oder Missachtung reagiert, wodurch die Identifikation mit ihnen ermöglicht
oder erschwert wird.
Zur näheren Klärung dieses Aspekts werden im Folgenden die grundlegenden
Anerkennungsmechanismen vorgestellt, die bereits angedeutet wurden. Aus der
genaueren Betrachtung des Verlaufs ergibt sich am Ende eine neue Perspektive auf
die Mechanismen der Identitätskonstruktion.

3.3 Anerkennung – Grundlegung für anspruchsgeleitete


Identitätsentwicklung

Anerkennung bringt sowohl sprachliche als auch symbolische Achtung von Perso-
nen zum Ausdruck und ermöglicht eine positive Selbstbeziehung (vgl. Heck 2003:
213). Zur genaueren Bestimmung der Wirksamkeit von Anerkennungsmechanismen
lassen sich zwei Formen von Anerkennung unterscheiden: intersubjektive und in-

25 Die Zunahme der Möglichkeiten zur Präsentation von eigenen Leistungsansprüchen, die über die
festgesetzten Kriterien der berufsbezogenen Rollenanforderungen hinausgehen, haben die Interak-
tionisten mit dem Konzept des Role-Making (vgl. Turner 1962: 22) bereits als grundlegend für
Identitätsentwicklung in modernen Gesellschaften herausgearbeitet.
120 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

stitutionelle. Während erstere in sozialen Interaktionen zwischen Individuen ausge-


handelt wird, ist letztere eine eher indirekte, oftmals rechtliche oder moralische
Form der Anerkennung und führt zu einer Erweiterung der individuellen Autono-
mie, wie z.B. durch grundrechtliche Veränderungen oder sozialstaatliche Sicherun-
gen. Autonomie ist die Grundlage für die moderne Vorstellung von Selbstverwirkli-
chungsbestrebungen. Während Grundrechte Selbstachtung ermöglichen und erst
darüber zu einer Selbstbeschreibung führen, in der Selbstverwirklichung überhaupt
als Freiheit wahrgenommen werden kann, dient die Anerkennung auf der intersub-
jektiven Ebene der alltäglichen Stabilisierung von Identität.
Diese beiden Aspekte von Anerkennung sind erstmals bei Georg Wilhelm
Friedlich Hegel ausgearbeitet worden (vgl. Hegel 1969, 1970, 2002). Hegel unter-
scheidet in der „Phänomenologie des Geistes“ im Kapitel über die Entwicklung des
Selbstbewusstseins zwischen Anerkennen und Anerkennung. Er verfolgt darin das
Ziel, die Entwicklung eines individuellen Selbstbewusstseins, auf eine reziproke
Intersubjektivität zu gründen (vgl. Hegel 1970: 118ff). Das Anerkennen drückt sich
am elementarsten in der Beziehung zwischen einem Subjekt und mindestens einem
anderen Subjekt aus. Das Subjekt wird in seinen Eigentümlichkeiten von einem
anderen bestätigt und damit anerkannt. Das hier wirksame affektive Anerkennungs-
verhältnis gründet auf Liebe und Empathie und bezieht sich auf die Familie (vgl.
Hegel 2002: 5). Davon getrennt ist die kognitiv formelle Anerkennensebene zwi-
schen einem Subjekt und der bürgerlichen Gesellschaft. Hierbei geht es um die
Anerkennung als Rechtsperson, die sich in vertraglich geregelten Rechtsansprüchen
manifestiert (vgl. Hegel 1970: 151). Die dritte Form des Anerkennens des Subjekts
ist diejenige, welche von einer Allgemeinheit, dem Staat, anerkennt wird (vgl. Hegel
1969: 231). Dieses solidarische Anerkennungsverhältnis führt zu einer affektiven
Bindung des Subjekts gegenüber einer sittlichen Gemeinschaft und wird so zu ei-
nem konkreten Allgemeinen.
Diesen Aspekt der Anerkennung fasst Hegel in seinem Konzept über den
Kampf um Anerkennung zusammen. Hierunter bündelt er alle Strategien der
Selbstbehauptung, die sich als Akte der Aneignung ausdrücken. Gemeint ist insbe-
sondere die Inbesitznahme materieller Lebensbedingungen. „Dadurch, dass der
Mensch sich Dinge aktiv zueigen machen kann, gelangt er zur Selbständigkeit.“
(Ritsert 1981: 295). Diese Form der Selbstbehauptung muss sich immer gegen an-
dere Individuen durchsetzten. Weil das Individuum sich Dinge aneignet und andere
damit von der Inbesitznahme ausschließt, entsteht eine Gegensätzlichkeit zwischen
den Individuen. Diese Gegensätzlichkeit wird über materielle Besitzansprüche und
nicht über den reinen Konflikt des Wollens vermittelt.

„Der Kampf um Anerkennung entwickelt sich nach der Realphilosophie in einer Situation, in der
die Ansprüche des einen durch den anderen ausgeschlossen werden. Einzelheit ist hier nur in dem
Sinn ‚innerlich allgemein‘ reflexiv, dass sie vermittelt über die Inbesitznahme der Dingwelt zur
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 121

Selbstbehauptung gelangen will. Aber dieser Versuch schneidet den anderen von dem ab, was „sein
Besitz werden könnte.“ (Ritsert 1981: 297).

Der Aneignende weiß jedoch um die Möglichkeit, dass der aktuell Ausgeschlossene
ebenso eine Chance zur Aneignung hat, und erkennt darin die Selbständigkeit des
Anderen mit an. Diese Gegenseitigkeit mündet in der Anerkennung des einzelnen
Willens, der in seiner Selbstbezogenheit erst dadurch allgemein wird.
Aus diesen Wechselwirkungen leitet Hegel die Vorstellung einer dialektischen
Vermittlung von Individualität und Allgemeinheit ab, die sich auf den drei Ebenen
des Verhältnisses des Selbst zu anderen vollzieht. Hegels Vorstellung von der Art
und Weise der Anerkennungsbeziehungen beeinflusst bis heute die soziologische
Sichtweise von Identität. Anerkennung gilt in ihren unterschiedlichen Formen als
unentbehrlich für die Entwicklung des individuellen Selbstbewusstseins.
Diese anerkennungstheoretische Grundlegung wird im Folgenden auf die Me-
chanismen in der funktional-differenzierten modernen Gesellschaft übertragen.

3.3.1 Anerkennungsverhältnisse in der Moderne

Der Hauptvertreter anerkennungstheoretischer Überlegungen unter den Bedingun-


gen moderner Gesellschaften ist Axel Honneth (Honneth 2002, 2003, 2005; Hon-
neth/Fraser 2003). Eine wesentliche Dynamik der gesellschaftlichen Ausdifferenzie-
rung wird von Honneth in Anlehnung an Hegels Konzeption und George Herbert
Meads26 Ansatz aus dem Kampf der Individuen um Anerkennung abgeleitet. In
Bezug auf Meads Unterscheidung zwischen I und ME konzentriert er sich auf den
Antrieb für die Nutzung von unterschiedlichen Identitätsmöglichkeiten. Anerken-
nung wird für die Erweiterung der individuellen Autonomie oder der persönlichen
Selbstverwirklichung erkämpft.
Darüber hinaus kommt es aufgrund von Missachtungserfahrungen zu einem
Kampf um Anerkennung. Beides führt langfristig zu einer Veränderung gesell-
schaftlicher Strukturen. Die Entwicklung von der vormodernen zur pluralistischen
Gesellschaft wird unter dem Gesichtspunkt sich wandelnder Anerkennungsverhält-
nisse erklärbar (Honneth 2003: 148). „In jeder geschichtlichen Epoche stocken sich
die individuellen Vorgriffe auf erweiterte Anerkennungsverhältnisse erneut zu ei-
nem System von normativen Ansprüchen auf, deren Abfolge die gesellschaftliche

26 Anerkennung meint bei Mead lediglich den wechselseitigen Akt der Perspektivenübernahme und
wirft somit die Frage nach dem Einfluss von konkreten Handlungen auf die Entwicklung eines
Selbstverhältnisses nicht auf. Honneth kritisiert deshalb 2003 im Nachwort seines Werkes an
Mead: „Der Naturalismus seines Ansatzes ist gewissermaßen zu stark, als dass es möglich wäre, die
Anerkennung als ein habitualisiertes Verhalten zu begreifen, das sich in einem historisch gewach-
senen Raum moralischer Gründe vollzieht.“ (Honneth 2003: 313).
122 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

Entwicklung insgesamt zu einer permanenten Anpassung an den Prozess der fort-


schreitenden Individuierung zwingt.“ (Honneth 2003: 135).
Anerkennung erhält das Individuum in individualisierten Gesellschaften heute
nicht mehr automatisch in Abhängigkeit von der durch Geburt geregelten Zuge-
hörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse. Ehre, Achtung oder Wertschätzung
müssen durch Taten erworben werden. Somit verläuft Anerkennung aus sozial-
struktureller Perspektive nicht mehr asymmetrisch, sondern grundsätzlich symmet-
risch, d.h. sie kann und muss in der modernen Gesellschaft prinzipiell von jedem
errungen werden (vgl. Honneth 2003: 209f.). Grundlage dafür ist das mit dem zwei-
ten Individualisierungsschub einsetzende Leistungsprinzip. Seitdem gehören Leis-
tung und Selbstverwirklichung zusammen und die Anerkennung der individuellen
Fähigkeiten und Leistungen wird für die Entwicklung eines stabilen Selbstbildes
unabdingbar. „Dieser ‚Zwang‘ verändert das Gut der Anerkennung und die Struktur
ihrer Verhältnisse. Die Suche nach Anerkennung wird zu einem Problem des je-
weiligen Individuums.“ (Heck 2003: 30).
Die Anerkennungsmechanismen sind des Weiteren vielfältiger und dynami-
scher geworden. Es kommt zu einer schrittweisen Ausweitung der Anerken-
nungsbeziehungen, die sich in der Moderne in erster Linie in einer programmati-
schen Berücksichtigung individueller Autonomieansprüche ausdrücken. „Die syste-
matische Erweiterung von Anerkennungsbeziehungen gelingt nur, wenn die er-
kämpften Errungenschaften institutionell abgesichert werden. Die Bürger müssten
sowohl als autonome und individuierte Subjekte wie auch als soziale Wesen aner-
kannt werden.“ (Zürcher 1998: 168).
Honneth hat die modernen Formen der intersubjektiven und institutionellen
Anerkennung auf sozialphilosophischer Ebene zusammengetragen (vgl. Honneth
2003). Er benutzt denselben Ausgangspunkt wie Hegel: Individuen benötigen An-
erkennung auf unterschiedlichen Ebenen sowie in verschiedenen Formen, um zu
einem angemessenen Selbstverständnis zu gelangen. Auf diesem Weg erstellt er eine
Kategorisierung von drei unterschiedlichen Anerkennungsebenen: Liebe, Recht und
Solidarität (vgl. Honneth 2003: 148ff).
Liebe als Anerkennungssystem beschreibt eine affektive und symmetrische Ide-
albeziehung und betont die Singularität der Person. Sie ist eine Form der Anerken-
nung, die intersubjektiv ausgehandelt wird. Honneth fasst darunter alle Primärbe-
ziehungen und meint damit sowohl Eltern-Kind als auch erotische Beziehungen
und Freundschaften, also all jene Verbindungen, die auf starken intersubjektiven
Gefühlsbindungen beruhen (vgl. Honneth 2003: 153). Grundlegend für diese emo-
tionalen Anerkennungsbeziehungen ist die Befriedigung des Bedürfnisses nach
Zugehörigkeit. Für diese Form der Anerkennungsbeziehung ist das Wissen um die
gegenseitige Abhängigkeit ausschlaggebend. Der Andere orientiert sich an den Be-
dürfnissen des geliebten Menschen und vergibt Anerkennung, indem er diese be-
friedigt. Durch die auf Liebe fußende Zuwendung wird die Selbständigkeit und
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 123

Individualität bejaht und schafft dadurch Selbstvertrauen. Liebe ist somit eine durch
wechselseitige Anerkennung gebrochene Symbiose. Diese Symbiose mündet in der
Anerkennung des Anderen als unabhängiges Wesen mit eigenen Ansprüchen bei
gleichzeitiger Betonung der Verbundenheit. Liebe „bezeichnet (...) den doppelten
Vorgang einer gleichzeitigen Freigabe und emotionalen Bindung der anderen Per-
son; nicht eine kognitive Respektierung, sondern eine durch Zuwendung begleitete,
ja unterstützte Bejahung von Selbstständigkeit ist gemeint.“ (ebd.: 173).
Das Individuum gelangt dadurch überhaupt erst in der Liebe zu derjenigen in-
neren Freiheit, „die ihm die Artikulation seiner eigenen Bedürfnisse erlaubt.“ (ebd.:
172). Damit Anerkennung in dieser Form gelingen kann, müssen die Partner das
Spannungsverhältnis zwischen Selbstaufgabe (für die Bedürfnisse des anderen) und
Selbstbehauptung (der eigenen Bedürfnisse) ständig neu aushandeln (vgl. ebd.: 154).
Dies wird unter individualisierten Bedingungen zu einem zentralen Problem – vor
allem in Intimbeziehungen.
Die moralische Anerkennung ist eine zweite Form der Anerkennung, die Hon-
neth herausstellt. Sie ist institutionell verankert und kann durch das Rechtssystem
moderner Gesellschaften als rationaler Anspruch auf Gleichberechtigung sowie
Anerkennung von Zugehörigkeit bestimmt werden. Sie betont im Gegensatz zu
traditionalen Gesellschaftsformen die Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder. In
diesem Sinne beruht Anerkennung auf der Haltung einer universalistischen Gültig-
keit individueller Rechte, wozu Honneth in erster Linie die Grundrechte zählt. Dies
ist die wichtigste Grundlage für die Integration von Personen in ein Gesellschafts-
system. Als Staatsbürgern wird allen Personen Autonomie zugeschrieben, welche
sicherstellt, dass alle die gleichen Chancen zur Selbstverwirklichung haben (vgl.
Kneip 2004: 43). Diese Grundlegung der freien Selbstbestimmung wird, wie auch
schon in Abschnitt 2.2.2 dargestellt, durch die Gewährung sozialer und demokrati-
scher Rechte ermöglicht. So wird durch moralische Anerkennung die Einhaltung
der Grundnormen Fairness, Solidarität und Gerechtigkeit und die Teilnahme am
politischen Willensprozess sichergestellt (vgl. Kaletta 2008: 93). Honneth zieht
daraus den Schluss,

„(…) dass ein Subjekt sich in der Erfahrung rechtlicher Anerkennung als eine Person zu betrachten
vermag, die mit allen anderen Mitgliedern ihres Gemeinwesens die Eigenschaften teilt, die zur Teil-
nahme an einer diskursiven Willensbildung befähigen; und die Möglichkeit, sich in derartiger Weise
positiv auf sich selbst zu beziehen, können wir ,Selbstachtung‘ nennen.“ (Honneth 2003:195).

Dies ist vor allem durch die öffentliche Wirksamkeit der moralischen Anerken-
nung möglich. Sie fungiert dabei in erster Linie als symbolische Anerkennung. Dies
reicht aus, um die grundlegende Erfahrung der Gleichheit zu erzeugen, kann aber
für die Individuen zum Auslöser eines Kampfes um Anerkennung führen, wenn die
tatsächliche Anerkennung das symbolische Versprechen nicht einlöst.
124 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

In individualisierten Gesellschaften ergibt sich aus dieser Diskrepanz oft ein


Antrieb für den Kampf um die Ausweitung individueller Rechte. Ausgangspunkt
dafür ist die Wahrnehmung einer Ungerechtigkeit, die sich vor allem aus der Dis-
krepanz zwischen einer nur symbolischen und tatsächlichen Anerkennung ergibt.
Die betroffenen Personen oder Gruppen begründen diese Wahrnehmung mit einer
Ungleichverteilung von Rechten und Pflichten. „Das Erleben, solidarisch und somit
gerecht behandelt zu werden, basiert somit auf den Erwartungen eines Menschen
darüber, welche Rechte und Pflichten er und andere Gesellschaftsmitglieder erfüllen
müssen.“ (Kaletta 2008: 95). Da die Ausgestaltung der Verteilung von Rechten und
Pflichten durch politische Entscheidungen bestimmt wird, werden die Erfahrungen
von Ungerechtigkeit an politische Vertreter herangetragen, um einen Wandel her-
beizuführen. Die so verstandenen Ansprüche erwachsen aus den aktuell gültigen
Wertvorstellungen, die aufgrund des stetigen Wandels dieser Werte zu kontinuierli-
chen Dynamiken in der Festlegung individueller Rechte führen. Kennzeichen indi-
vidualisierter Gesellschaften ist deshalb die stetige Erweiterung individueller Rechte.
Die dritte Form der Anerkennung – die Solidarität oder auch soziale Wert-
schätzung – ist auf die Eigenschaften bezogen, welche die Unterschiede zwischen
den Gesellschaftsmitgliedern betonen (vgl. Honneth 2003: 297). Durch Wertschät-
zung werden zugleich Integration und Differenzierung geschaffen. Den Orientie-
rungsrahmen für die zu vergebende Anerkennung bilden ethische Werte, anhand
derer gemessen werden kann, wer wie viel zur Erfüllung gesellschaftlicher Zielvor-
gaben beigetragen hat (vgl. ebd.: 198). Diese Anerkennungsform bezieht sich so
gesehen auf die besonderen Eigenschaften der Individuen, die in Leistungen mün-
den. Dadurch werden Unterschiede zwischen den Individuen sichtbar. Hier zeigt
sich noch einmal der symmetrische Charakter der Anerkennungsbeziehungen in der
Moderne. Die Orientierung sozialer Wertschätzung an der individuellen Leistung
führt, wie schon im Anerkennungssystem Recht, zu einer Ausweitung des Gleich-
heitspostulats. Jeder hat damit die Chance einen gesellschaftlich wertvollen Beitrag
durch seine individuellen Leistungen zu erbringen.
Honneths allgemeine Definition zum Anerkennungsverhältnis Wertschätzung
ist von Barbara Kaletta erweitert worden (vgl. Kaletta 2008: 48ff). Sie spezifiziert die
sozialphilosophische Theorie der Anerkennung dahingehend, dass eine klarere
empirische Erfassung der Anerkennungsmechanismen möglich wird. Aufgrund
ihres gesellschaftsintegrierenden Charakters bezeichnet Kaletta diese Anerkennung
als positionale Wertschätzung (vgl. Kaletta 2008: 73). Sie wird in erster Linie auf
Basis von sozialen Positionen vergeben und bezieht sich auf Leistungen, die für die
Erfüllung positionsbedingter Pflichten erwartet werden. Die Verteilung von Aner-
kennung folgt hier gesellschaftlich geteilten Wertvorstellungen und drückt sich in
der öffentlichen Meinung aus.
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 125

„Die ,öffentliche Meinung‘ kann darüber hinaus von Einzelpersonen aufgenommen und in alltägli-
chen Interaktionen als Grundlage der Anerkennung bestimmter sozialer Positionen herangezogen
werden, wobei in diesem Falle einzelne Individuen die Quelle der Anerkennung sind.“ (Kaletta
2008: 79).

Barbara Kaletta nimmt in ihrer weitergehenden Auseinandersetzung mit Anerken-


nung zur Erfassung der positionalen Wertschätzungsmechanismen eine Einschrän-
kung hinsichtlich der Definition sozialer Position vor. Sie konzentriert sich auf
Fähigkeiten und Leistungen, die im Rahmen einer bestimmten beruflichen Position
anerkannt werden. Die Anerkennung, die hier vergeben wird, ist zum einen grup-
penbezogen, weil sie nicht auf Personen, welche die Position bekleiden, rekurriert,
sondern auf die Position an sich. Von diesen kollektivierenden Anerkennungsfor-
men lassen sich individualisierende positionale Anerkennungsformen unterscheiden.
Dazu zählen Anerkennungsmechanismen, welche sich auf die individuellen Kom-
petenzen des Positionsinhabers beziehen (vgl. ebd.: 79). Sie sind als Wertschätzung
zu verstehen, weil sie Eigenschaften als wertvoll herausstellen und damit würdigen.
Trotzdem bleiben die individuellen Leistungen der Individuen mit dieser Be-
trachtung weiterhin an das Berufsprestige und den gesellschaftlichen Nutzen ge-
koppelt. Vor dem Hintergrund spezifischer gesellschaftlich geteilter Werte lassen
sich auch Unterscheidungen hinsichtlich der Leistungen treffen, die als wertvoll
anerkannt werden, aber keinen gesellschaftlichen Nutzen haben. Der Leistungs-
wettbewerb kann solche Leistungen trotzdem als hervorragend identifizieren, was
zum Beispiel beim Sport der Fall ist. Des Weiteren gibt es Leistungen, deren Krea-
tivität belohnt wird und bei denen die Anerkennung nicht leistungsbezogen, son-
dern eher an intellektuellen Fähigkeiten ausgerichtet ist. Dieses Anerkennungsver-
hältnis greift besonders im Kontext von Kunst, Wissenschaft und Philosophie (vgl.
Laitinen 2002: 471f.).
Insgesamt hängt die Glaubwürdigkeit der geleisteten Anerkennungen davon ab,
dass sie nicht nur symbolisch ausgesprochen wird, sondern einen Handlungscha-
rakter besitzt. Anerkennung muss demnach in einer „Haltung, einer handlungswirk-
sam gewordenen Einstellung“ (Honneth 2003: 319) ausgedrückt werden. Es macht
demzufolge für die Identitätsbestimmung des Individuums einen Unterschied, ob
eine symbolische Anerkennung auf rechtliche Ebene z. B. hinsichtlich der Freiheit
der Religionsausübung vorliegt oder eine im alltäglichen Umgang miteinander aus-
gesprochene Wertschätzung der religiösen Ansichten erfolgt.
Die erfolgreiche Wahrnehmung der in allen Bereichen ausgesprochenen Aner-
kennung hängt darüber hinaus von ihrer Intensität ab. Bei der emotionalen Aner-
kennung kommt es auf das WIE der Anerkennung an. Bei der positionalen Wert-
schätzung allerdings bestimmt die Frage nach der Öffentlichkeit bzw. Privatheit die
Intensität (vgl. Kaletta 2008: 83).
126 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

„Das bedeutet, die Intensität der vergebenen Anerkennung variiert damit, ob sie in einem privaten
Rahmen unter Ausschluss von Beobachtern praktiziert wird oder demgegenüber in einem öffentli-
chen Kontext, in dem die anerkennende Handlung für eine Vielzahl von Personen sichtbar ist
(…).“ (ebd.: 83).

Problematisch an diesen Definitionen der Anerkennungsmechanismen ist jedoch


der Grad ihrer Allgemeinheit. Was konkret als wertvoll bezeichnet wird, ist, genau
wie das Recht, eine geschichtlich variable Größe. „Ihre gesellschaftliche Reichweite
und das Maß ihrer Symmetrie hängen dann vom Grad der Pluralisierung des sozial
definierten Werthorizonts ebenso ab wie vom Charakter der darin ausgezeichneten
Persönlichkeitsideale.“ (Honneth 2003: 198). Mit der Annahme eines Werteplu-
ralismus für die Zeit der Moderne ist Anerkennung auch daran beteiligt, Individuali-
sierung zu verwirklichen.

„Alles an der neuen, individualisierten Anerkennungsordnung hängt mithin nun davon ab, wie jener
allgemeine Werthorizont bestimmt ist, der zugleich für verschiedene Arten der Selbstverwirkli-
chung offen sein soll, andererseits aber auch noch als ein übergreifendes System der Wertschätzung
dienen können muss.“ (ebd.: 205).

Als Grundkonsens gilt dabei, dass sich das normative Niveau der Anerkennungs-
verhältnisse kontinuierlich steigert. Damit ist gemeint, dass einmal gesicherte Rechte
nicht ohne weiteres wieder verloren gehen. Das dahinter stehende und vor allem
während des dritten Individualisierungsschubes gültige kulturelle Leitbild ist deshalb
die Anspruchsgerechtigkeit. Aber diese

„(…) abstrakt gewordenen Leitideen geben so wenig schon ein allgemeingültiges Bezugssystem ab,
in dem der soziale Wert bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten zu messen wäre, dass sie immer
erst durch kulturelle Zusatzdeutungen konkretisiert werden müssen, um Anwendung in dieser
Sphäre der Anerkennung zu finden; daher bemisst sich der Wert, der den verschiedenen Formen
der Selbstverwirklichung zuerkannt wird, aber auch bereits die Art, wie die entsprechenden Eigen-
schaften und Fähigkeiten definiert werden, grundsätzlich an den Interpretationen, die historisch je-
weils von den gesellschaftlichen Zielsetzungen vorherrschen.“ (Honneth 2003: 205).

Damit sind alle relevanten Elemente für eine konkrete Untersuchung der drei Aner-
kennungsbeziehungen zusammengetragen worden. In Erweiterung zu Honneths
sozialphilosophischem Ansatz muss erstens durch eine wertspezifische Untersu-
chung gezeigt werden, wie es im Anerkennungsverhältnis Liebe unter individuali-
sierten Bedingungen überhaupt zu einer Herstellung von Gemeinsamkeit kommt.
Vor diesem Hintergrund kann diskutiert werden, wie die emotionale Wertschätzung
von Anspruchshaltungen konkret verläuft. In der moralischen Anerkennung ist
zweitens die Annahme einer kontinuierlichen Steigerung individueller Rechte auf
Grundlage sich wandelnder Werte und daraus erwachsener Ansprüche Vorausset-
zung für die Analyse der Anerkennungsbeziehungen. Das Anerkennungsverhältnis
Wertschätzung wird drittens durch die Überlegungen Kalettas über die Analyse
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 127

positionaler Anerkennung wertspezifisch konkretisiert. Die Konzentration auf An-


erkennung von Leistungsansprüchen in Berufspositionen ermöglicht eine kontext-
spezifische Betrachtung der gesellschaftstheoretisch relevanten Werthaltungen zu
Leistungen und Fähigkeiten, die beruflicher Anerkennung zugrunde liegen.
Bevor die Untersuchung des Zusammenhangs von Wertpluralisierung und den
sich daraus ergebenen Auswirkungen auf die Identitätsbildung in der Moderne
erfolgt, müssen einige Überlegungen zu der speziellen Form der Anerkennung von
Ansprüchen angestellt werden.

3.3.2 Anerkennung von Ansprüchen als Identitätsstabilisatoren

Um diese Analyseperspektive auf die Mechanismen der Anerkennung von Ansprü-


chen übertragen zu können, muss die Funktion der Anerkennung für die Identitäts-
stabilisierung des Individuums etwas genauer gefasst werden. Dazu sollte geklärt
werden, wie der Akt der Anerkennung bei einer Festschreibung von Zielsetzungen,
Ressourcenforderungen und leistungsbasierten Selbstansprüchen verläuft. Darüber
hinaus sollte die Eigenleistung des Anerkannten Berücksichtigung finden, um die
beiden Aspekte der Identifikation mit Ansprüchen ins Blickfeld der Analyse zu
rücken.
Zur näheren Beschreibung der Vorgehensweise von Anerkennung werden zwei
Eigenschaften des Anerkennungsaktes näher bestimmt. Anerkennung kann als
„Attribution“ oder als „Antwort“ verstanden werden (vgl. Laitinen/Ikäheimo
2007). Das Attributionsmodell geht davon aus, dass Anerkennung ein produktiver
und bejahender Akt des Herausstellens neuer Fähigkeiten und Eigenschaften der
Individuen ist. Hierbei werden dem Individuum Eigenschaften zugeschrieben,
wodurch ihm ein gewisser Status verliehen wird. Arto Laitinen unterscheidet insge-
samt drei Formen der potentiellen Eigenschaften, die durch Anerkennung zu Fakti-
zitäten gemacht werden. Zum einen die Würde und der Wert einer Person. Zum
anderen die Leistungen und Verdienste von Personen. Und schließlich die Wichtig-
keit einer Person (vgl. Laitinen 2002: 467).
Während die erste Anerkennungsdimension allen Personen gleichermaßen zu-
kommt, da sie bürgerrechtlich verankert ist, lassen sich die anderen beiden Formen
aus der Relation zu anderen Personen bestimmen. Leistungen und Wichtigkeit sind
also ungleich verteilt. Erst anhand dieser Unterscheidung kann Anerkennung über-
haupt von Missachtung unterschieden werden. Die Grundlage für diese Unterschei-
dung ergibt sich aus den Fragen danach, ob die Person nützlich für die Gesellschaft
ist. Der Nutzen wird aus der Profession der Person abgeleitet. Des Weiteren kann
eine Person durch eigenmotivierte Leistungen herausstechen oder durch besondere
Eigenschaften wie z.B. Besonnenheit oder Tugendhaftigkeit. Damit wird die prakti-
128 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

sche Herstellung von Selbstachtung durch Anerkennung auf der Grundlage von
Leistungen und Eigenschaften gefasst.
Im Gegensatz dazu geht es im Antwortmodell darum, dass Anerkennung be-
reits vorhandene Fähigkeiten öffentlich bekundet (vgl. Laitinen 2002; Honneth
2003). Dieses Anerkennungsmodell funktioniert nur als Reproduktion oder Aktuali-
sierung von bereits Bestehendem. Die Attribuierung schafft demgegenüber durch
die Hervorhebung etwas Neues. Das Individuum muss diese Eigenschaften nicht
notwendig schon besitzen. Hier wird davon ausgegangen, dass Anerkennung Po-
tentiale in Faktizitäten verwandelt (Honneth 2003: 327).
Die Anerkennung von Ansprüchen entspricht der Logik nach eher dem oben
beschriebenen Attribuierungsvorgang, weil hier präsentierte Ansprüche durch An-
erkennung hervorgehoben und den Individuen als Eigenschaften zugeschrieben
werden. Dem Ansatz von Laitinen mangelt es jedoch an Bezugnahmen auf die
Notwendigkeit der Reziprozität von Anerkennung. In dem Attributionsmodell von
Laitinen fehlen auf Seiten des Anerkannten Kriterien der Beurteilung der Angemes-
senheit dieser Zuschreibungen. In seinem Modell spielt es keine Rolle, inwiefern die
Zuschreibung gerechtfertigt ist. Sobald sie zu Stande kommt, besitzt die Person
diese Fähigkeiten. Auch wird nicht klargestellt, dass die Individuen sich sozial prä-
sentieren müssen, um Anerkennung zu bekommen.
Für die Stabilisierung einer anspruchsgeleiteten Identität ist es wichtig, die An-
erkennung im Hinblick auf geäußerte Ansprüche zu betrachten. Wie bereits in Ab-
schnitt 3.2. angedeutet, ist Selbstpräsentation die entscheidende Bedingung für eine
gelingende Identitätsstabilisierung mittels Ansprüchen. Die Selbstpräsentation von
Ansprüchen zeigt dabei das „mögliche Selbst“ (Greve 2000: 20) eines Individuums.
Sie dient dem Zweck Anerkennung für das eigene Potential zu bekommen. Der Akt
der Anerkennung macht aus einem präsentierten Sein-Wollen ein Sein. Dies ist
Voraussetzung dafür, sich mit seinen Ansprüchen dauerhaft identifizieren bzw.
weiterhin Selbstverwirklichung betreiben zu können.

„In unseren anerkennenden Haltungen reagieren wir angemessen auf evaluative Eigenschaften, die
menschliche Subjekte nach Maßgabe unserer Lebenswelt vorgängig schon besitzen, über die sie
freilich nur dann aktuell verfügen können, wenn sie sich mit ihnen dank der Erfahrung jener Aner-
kennung auch identifizieren können.“ (Honneth 2003: 327).

Das ermöglicht die Anerkennung von Ressourcenforderungen am direktesten. Mit


der Bereitstellung der geforderten Ressourcen wird Selbstverwirklichung ermöglicht
und hilft bei der Stabilisierung von Identität. Durch die Berücksichtigung rechtlicher
Ansprüche werden Personen anhand ihrer Eigenschaften als wertvolle Mitglieder
der Gesellschaft integriert. Die Anerkennung präsentierter Zielsetzungen in persön-
lichen Beziehungen befähigt zur Weiterverfolgung dieser Ziele auf der Basis einer
grundsätzlichen Unterstützung. Die Anerkennung von Leistungsansprüchen dient
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 129

der Herausstellung der Besonderheit und erlaubt die Abgrenzung gegenüber ande-
ren.
Sowohl im Rahmen der intersubjektiven als auch der institutionellen Anerken-
nung müssen die spezifischen Inhalte und Referenzen immer wieder neu ausge-
handelt werden (vgl. Wagner 2004: 64). Unklar ist, wie sich die Interaktionspartner
anerkennenswerte Leistungen oder Fähigkeiten vorstellen und welche Auswirkun-
gen das auf die Gestalt der Anerkennungsbeziehungen hat. Grundlage für eine
eingehende Betrachtung der Anerkennung von Anspruchshaltungen muss deshalb,
wie bereits im vorherigen Abschnitt verdeutlicht, das jeweils gültige Wertsystem
sein.
Zur endgültigen Identifikation muss es jedoch in einem nächsten Schritt zur
Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Erfahrungen kommen, da die Aner-
kennung von Ansprüchen kontextspezifisch verläuft. Nur so kann die Identität
insgesamt stabilisiert werden. Hierbei werden, wie bereits dargestellt, Bewertungen
und Gewichtungen der Anerkennungs- oder Missachtungserfahrungen und Relati-
vierungen durch Selbstanerkennung vorgenommen. Durch diese Auseinanderset-
zung werden die Erfahrungen zu einem Bestandteil der Identität oder als nicht
relevant eingestuft.
Die Prozesse dieser Gesamtbewertung der unterschiedlichen enwicklungsba-
sierten Seinsforderungen, Ressourcenforderungen und motivationsbezogenen Leis-
tungsansprüchen sind vergleichbar mit der Logik der Teilidentitäten. Das Zu-
sammenspiel der einzelnen Bedeutungseinheiten wird nur durch die sinnkonstituie-
renden Gewichtungs- und Selbstanerkennungsvorgänge des Individuums möglich.
Gleichzeitig geht die hier erarbeitete Konzeption der Identitätsstabilisierung durch
Ansprüche über diese Vorstellung hinaus, da hierfür kontextabhängige Formen von
Anerkennung Berücksichtigung finden.
Im ersten Schritt werden im Folgenden die Anerkennungsverhältnisse für alle
drei Anspruchshaltungen einer wertspezifischen Betrachtung unterzogen. Ziel ist
die Herausarbeitung der spezifischen Stabilisierungsmomente zwischen Seinsforde-
rungen und Liebe bzw. emotionaler Wertschätzung, Leistungsansprüchen und posi-
tionaler Wertschätzung sowie Ressourcenforderungen und rechtlicher Anerken-
nung. Dazu werden die Eigenschaften zum Zeitpunkt des während des dritten
Individualisierungsschubes geltenden Anspruchsindividualismus mittels theoreti-
scher und empirischer Belege herausgearbeitet. Damit können die von Honneth auf
allgemein sozialphilosophischer Ebene ausgearbeiteten Anerkennungsbeziehungen
konkretisiert werden.
In einem zweiten Schritt werden die individuellen Möglichkeiten zum Umgang
mit der Anerkennung vorgestellt. So kann für die Bestimmung des Verlaufs einer
anspruchsgeleiteten Identitätsentwicklung ein Zusammenhang zwischen der sozia-
len Präsentation von Ansprüchen, ihrer Anerkennung in spezifischen, von kulturel-
len Leitbildern geprägten Beziehungen hergestellt werden.
130 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

3.4 Stabilisierung von Seinsforderungen durch das Anerkennungsverhältnis


Liebe und emotionale Wertschätzung

Ansprüche, die als allgemeine selbstverwirklichende Zielsetzungen handlungsleitend


sein sollen, bedürfen einer spezifischen Form von Anerkennung. Diese kann dabei
in unterschiedlichen Kontexten stattfinden und wird auf unterschiedliche Weise
vollzogen. Im Folgenden werden die grundlegendsten Anerkennungsverhältnisse
Liebe und emotionale Wertschätzung im Rahmen von Partnerschaften und Freund-
schaften in Bezug auf ihre Stabilisierungsfunktion untersucht.
Diese Beziehungen zählen zu denjenigen persönlichen Beziehungen, die nicht
als funktionale, rollenspezifische Kontakte beschreibbar sind, sondern durch solche,
die sich an der Individualität der Person orientieren und auch nur dadurch bestehen.
Bereits Georg Simmel betonte, dass der Träger eines intimen Verhältnisses nicht ihr
Inhalt sei, sondern der individuell-exklusive Teil jeder Person (vgl. Simmel 1992:
105).

„Das personale Moment in sozialen Beziehungen kann nicht extensiviert, sondern nur intensiviert
werden. Es werden (...) Beziehungen ermöglicht, in denen mehr individuelle, einzigartige Eigen-
schaften der Person oder schließlich prinzipiell alle Eigenschaften einer individuellen Person be-
deutsam werden.“ (Luhmann 1982: 14).

In der Regel sind lediglich Beziehungen zur Familie, zum Partner und engen Freun-
den durch diese Eigenschaften gekennzeichnet, weil diese Beziehungen vertrauens-
voll genug sind, um Raum für die Präsentation von prinzipiell allen individuellen
Zielsetzungen zu geben.
Leopold von Wiese bestimmt das Paar als den kleinsten aller Gruppentypen,
das persönlichste unter allen Gebilden, dessen Funktion gerade darin bestehe, der
Individualität Spielraum zu gewähren (vgl. von Wiese 1924). Aus phänomenologi-
scher Perspektive wird darüber hinaus sogar davon ausgegangen, dass die Einheit
des Menschen als Subjekt nicht nur in der Ich-Form, sondern auch in der Wir-Form
besteht, d.h.

„(…) in dieser Form des Bewusstseins erfasst der Mensch nicht Seinesgleichen als Objekt, weiß
und erkennt auch den anderen nicht nur objektiv als ‚Ebenfalls-Subjekt’ (= Du), sondern bezieht
ihn mit-subjektiv (identifizierend) auf der Aktivseite seiner eigenen Subjektivität in den Erlebnis-
oder Bewusstseinsvorgang mit ein.“ (Geiger 1959: 22).

Wenn die Orientierung an der Individualität Grundelement einer intimen persönli-


chen Beziehung ist, dann hängt ihr Aufbau nicht nur davon ab, dass durch die Be-
ziehung Vertrauen hergestellt werden muss, sondern auch davon, inwiefern die
Individuen in der Lage sind, ihre individuellen Eigenschaften und Zielsetzungen als
solche zu präsentieren. „Ob eine persönliche Beziehung als intim angesehen werden
kann oder nicht, entscheidet sich an der Frage, wie viele Facetten seines Selbst- und
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 131

Weltbildes ein Individuum bereit ist, einem anderen Individuum zu offenbaren.“


(Daub 1996: 64). Dies ist eine erste Voraussetzung für die wertspezifische Betrach-
tung dieses Anerkennungsverhältnisses. Sie wurde bei Axel Honneth nicht als Prob-
lem herausgestellt.
Vor diesem Hintergrund geht es in Partnerschaften in erster Linie darum, die
Individualität des jeweils anderen kennenzulernen und darauf aufbauend eine Be-
ziehung zu konstruieren. Diese Beziehung ist dann ein Wir-Subjekt, das nur aus den
Individualitäten beider Personen besteht. Diese Eigenschaft kennzeichnet Paarbe-
ziehungen seit Entstehung des romantischen Ideals der Liebesbeziehung.

„Individualismus negiert die Relevanz von Herkunft und Rang in sozialen Interaktionen. Im mo-
dernen Europa wurde die Kraft der Liebe zumindest teilweise an ihrer Fähigkeit gemessen, Klas-
sendifferenzen zu überbrücken. Liebe und Individualismus waren folglich Verbündete. Auch wenn
der Liebende seine Liebe mit Hilfe einer vorgefertigten Formel beteuert, liebt er seine Geliebte als
Individuum; er liebt nicht allgemeine Eigenschaften, wie sie sie mit anderen Frauen teilt.“ (Holmes
1987: 36).

Paarbeziehungen werden so zu einem Ort, an dem sich die Partner mit ihren einzig-
artigen Eigenschaften präsentieren. Sie sind darüber hinaus dadurch gekennzeich-
net, die Erfüllung der Bedürfnisse des anderen vor die eigenen Bedürfnisse zu stel-
len. Jeder Partner erhält die Berechtigung für Anspruchshaltungen, die seine Indivi-
dualität bestätigen und seine Selbstverwirklichung konkretisieren. „Der andere ist
für den Liebenden immer die bedeutendere Welt, die, die mehr zählt als jede andere
sonst. (...) Der Liebende findet im anderen die Gegenlage einer Welt, an der er sein
Handeln orientieren und sich vergewissern kann, für sich selbst bedeutungsvoll zu
leben.“ (Dux 1994: 108).
Voraussetzung dafür ist jedoch die Erarbeitung grundlegender Gemeinsamkei-
ten. Diese müssen von den Individuen interaktiv selbst hergestellt werden. Die
dabei zu beobachtenden Mechanismen haben sich im Zuge zunehmender Individu-
alisierung gewandelt und werden nun für die Zeit des Anspruchsindividualismus
nachgezeichnet.
Eine erste genauere Betrachtung der erforderlichen Konstruktionsleistungen
haben Peter L. Berger und Hansfried Keller in den 1960er Jahren in einem wissens-
soziologischen Artikel „Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit“ vorge-
nommen (vgl. Berger/Keller 1965). Die Ehe wird dabei als nomosbildendes In-
strument betrachtet. Sie ist ein Ordnungsgefüge, in dem die Partner ihr Leben als
sinnvoll empfinden (vgl. ebd.: 220). Die Autoren wollen darüber Aufschluss geben,
wie diese Wirklichkeit, die für die Einzelnen bedeutsam ist, geschaffen, erhalten und
modifiziert wird. Dabei gehen sie von der Mead´schen Grundannahme aus, dass die
Individuen sich die Welt, in der sie leben, immer wieder interaktiv bestätigen müs-
sen. „Die Plausibilität und Stabilität der als gesellschaftlich verstandenen Welt hän-
gen von der Stärke und Kontinuität signifikanter Beziehungen ab, die fortwährend
132 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

ein Gespräch über diese Welt ermöglichen.“ (ebd.: 222). Berger und Keller stellen in
diesem Zusammenhang die These auf, dass die Ehe im Bereich signifikanter Bezie-
hungen einen privilegierten Status einnimmt. Allerdings lassen sich diese Erkennt-
nisse ebenso auf nichteheliche Lebensgemeinschaften übertragen, solange sie über
einen gewissen Zeitraum Bestand haben.
In Partnerschaften treffen zwei Fremde aufeinander, die sich in ihr neu definie-
ren. Sie entstammen unterschiedlichen Gesprächsbereichen und teilen noch keine
gemeinsame Vergangenheit (vgl. ebd.: 223). Gerade diese Fremdheit hat zur Folge,
dass die Partner sich unter größtem Einsatz eine gemeinsame Welt schaffen müs-
sen, in der jeder seinen Platz für Individuation hat. Daraus folgt, dass in der Part-
nerschaft

„(…) alle Handlungen des einen Partners im Bezug zu denen des anderen entworfen werden (müs-
sen). (...) Der andere ist in fast allen Sinnhorizonten des Alltagslebens gegenwärtig. Obendrein
nimmt die Identität einen anderen Charakter an, sie muss ständig an der des Partners ausgerichtet
werden – und sie wird daher auch von den Mitmenschen häufig und bezeichnenderweise als der
Identität des anderen symbiotisch zugeordnet begriffen.“ (ebd.: 226).

Mit diesem Prozess des aufeinander Abstimmens der Handlungen der beiden Part-
ner wird eine neue gemeinsame Wirklichkeit kreiert, wodurch erst die Vorausset-
zungen für die Individuationsbestrebungen der Partner geschaffen werden. Dazu
erarbeiten sich die Partner einen gemeinsamen Sinnhorizont. Dieser Sinnhorizont
dient dazu, die Vergangenheit beider Partner neu zu interpretieren. Insgesamt haben
Partnerschaften deshalb stabilisierenden Charakter, weil die Selbstdefinitionen, die
in den Interaktionen mit dem Ehepartner stattfinden, sich konkretisieren. Waren die
Partner vorher in ihren Überzeugungen nicht festgelegt, so erzeugt die Interaktion
nun Druck, sich klar zu entscheiden, sich als etwas zu definieren, wodurch für beide
Partner eine verlässliche Welt geformt wird (vgl. ebd.: 229). Dies ist die wichtigste
Grundlage für die Präsentation von Zielsetzungen.
Diese neue Realität ist laut Berger/Keller instabil, weshalb Paare zur Unterstüt-
zung ihrer Wirklichkeitskonstruktion durch andere bestätigt werden müssen. „Das
Paar schließt sich den Gruppen, die seine Eigendefinition und die der Welt stützen,
an und vermeidet jene, die diese Definition schwächen.“ (ebd.: 227). Damit dehnt
sich die Kraft der Definition der neuen gemeinsamen Realität aus. Sie hat somit
über die Interaktionen in der Partnerschaft hinaus Bestand und wirkt noch stärker
auf die Neudefinition der ehemaligen eigenen Realität ein. Auf diese Weise kommt
es zur Schaffung einer gemeinsamen Vergangenheit, aber auch zu einer Projektion
auf die Zukunft. Dadurch „werden Möglichkeiten zu Faktizitäten“ (ebd.: 230) bzw.
Optionen zu individuellen Zielsetzungen. Hiermit ist ein erster Aspekt dieses Aner-
kennungsverhältnisses herausgestellt, durch den eine Identifikation mit Zielsetzun-
gen möglich wird.
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 133

Dies hat des Weiteren zur Folge, dass die gemeinsam hergestellte Realität von
beiden Partnern als Entdeckung wahrgenommen wird. Sie entdecken sich selbst
und die „Welt, ‚wie sie wirklich ist’, ‚was sie wirklich glauben’, ‚was sie wirklich von
diesem und jenem halten’ und ‚schon immer gehalten haben’.“ (ebd.: 230). Die
Partnerschaft legt damit die Richtung, in die Selbstverwirklichung in Form von
Zielsetzungen getrieben werden soll, fest. Die Partner erzeugen ihre eigene Welt
durch Interaktion und betten ihre Selbstverwirklichungsbestrebungen erst in diese
Welt ein. Sie sind also von vornherein an der Welt des Partners orientiert und neh-
men in Abhängigkeit davon Gestalt an.
Für diese zukünftig handlungsleitenden Konstruktionsleistungen hat Alois
Hahn den Begriff der Konsensfiktionen geprägt (vgl. Hahn 1983). In kritischer
Distanz zu der Berger/Keller Studie betont er, dass sowohl Verlauf als auch das
Ergebnis des Aushandlungsprozesses auf Diskrepanzen und den sogenannten Kon-
sensfiktionen beruhen und berücksichtigt damit stärker die Probleme der Herstel-
lung von Gemeinsamkeit unter individualisierten Bedingungen. Das Ziel einer Ehe
bzw. Partnerschaft sieht Hahn genau wie Berger/Keller darin, einen Konsens für
die Gesamtheit aller Lebensvollzüge zu schaffen. Allerdings argumentiert er gegen
die Auffassung, die ursprünglichen Diskrepanzen in den Erfahrungsbereichen der
Partner seien diesen auch tatsächlich bewusst und würden daraufhin Schritt für
Schritt in einen gemeinsamen Erfahrungsbereich umdefiniert. Begründet wird dies
hier mit der Liebessemantik, die nach Hahn aber nicht ausreiche, um die Wahrneh-
mung einer Übereinstimmung zu rechtfertigen. Vielmehr vermittle der Konsens das
Gefühl, in vielen wichtigen Aspekten tatsächlich übereinzustimmen (vgl. ebd.: 215).
Die Befragung von 300 Eheleuten zeigte: Den Partnern ist nicht nur ein hohes
Ausmaß an Konsens wichtig, sie gehen davon aus, dass dieser Konsens tatsächlich
vorhanden ist. Auch sinkt der Anspruch auf Einigkeit nicht mit der Dauer der Ehe.
Hiermit zeigt sich, dass es sich bei den geschaffenen gemeinsamen Wirklich-
keitskonstruktionen weder um einen bewusst vorangetriebenen Vorgang handelt,
noch dass eine tatsächliche Gemeinsamkeit dafür nötig ist. Dies wird in den Ergeb-
nissen vor allem anhand der Häufigkeit von Fehlannahmen bezüglich gemeinsamer
Erinnerungen oder der Eigenschaften und Motive des Partners deutlich (vgl. ebd.:
222). Diese für die Stabilität der Beziehung notwendigen Konsensfiktionen werden
umso wichtiger, wenn ein tatsächlicher Konsens nicht existiert. Die Wichtigkeit der
fiktiven Übereinstimmung zeigt sich, wenn Paare einen Realitätsschock erleben,
sofern sich die Konsensfiktionen aufzulösen beginnen. Hahn fand durch seine
Studie heraus, dass im Falle eines nicht mehr vorhandenen Konsenses in wichtigen
Aspekten der Beziehung, die Mehrheit der Befragten die Beziehung nicht weiterfüh-
ren würde.
Beide Studien nehmen auf Wirklichkeitskonstruktionen in Ehen Bezug. Diese
zeichnen sich durch eine gewisse Dauer und damit Stabilität aus. Die angenommene
Bindungskraft von gemeinsamer Realität kann erst auf dieser Grundlage ihre Wir-
134 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

kung entfalten. Die heute beobachtbaren Paarbeziehungen sind aber gerade durch
den Verlust von Stabilität gekennzeichnet, was sich vor allem an der seit den 1960er
Jahren drastisch gestiegenen Scheidungsrate zeigt. Die Stabilität geht, wie bereits in
Kapitel eins verdeutlicht, durch das zunehmende Individualisierungsstreben verlo-
ren. Die Herstellung von dauerhafter Gemeinsamkeit wird zum Problem (vgl. Na-
ve-Herz et al. 1990; Scheller 1992; Schulz/Tüchler 1983). „Es ist kennzeichnend,
dass sich die Partner in unserer Gesellschaft nicht scheiden lassen, weil die Ehe
ihnen unwichtig geworden ist, sondern weil die Ehe so wichtig ist, dass sie sich
nicht mit weniger als einer völlig zufriedenstellenden Übereinstimmung mit dem
jeweiligen Partner begnügen wollen.“ (Berger/Keller 1965: 234). Damit zeigt sich,
dass ein weitere Aspekt von intimen Anerkennungsbeziehungen die Ansprüche
sind, die an die Partner gestellt werden. Sie sind Ausdruck einer veränderten Hal-
tung zur Funktion des Partners hinsichtlich der Stabilisierung und Unterstützung
der eigenen Zielsetzungen.
Eine der wenigen Untersuchungen aus der Zeit des Anspruchsindividualismus
über die gültigen Forderungen an eine zufriedenstellende Ehe ist die qualitative
Studie von Gitta Scheller (vgl. 1992). Scheller versucht Bedingungen des Eheschei-
dungsrisikos zusammenzutragen. Sie geht davon aus, dass die seit Mitte der 1960er
Jahre angestiegene Zahl der Ehescheidungen durch veränderte Ansprüche an die
Ehe erklärt werden können. Die Hauptthese lautet, dass

„(…) aufgrund gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen (…) mit der Neuen Frauenbewegung und
mit der Bildungsexpansion, (...) zu vermuten [wäre, D.L]), dass sich die Ansprüche an die Ehe und
die Bedeutung der Ehe derart gewandelt haben, dass Ansprüche eher unbefriedigt bleiben oder un-
befriedigte Ansprüche eher zur Scheidung führen.“ (Scheller 1992: 11).

Die Studie analysiert auf der Basis von 50 leitfadengestützten Interviews, Gründe,
die zum Scheitern der Ehe und damit zur Scheidung führen. In Anlehnung an Kla-
ges Analyse geht Scheller davon aus, dass der Wandel von Pflicht- zu Selbstentfal-
tungswerten zu veränderten subjektiven Auffassungen von Ehe und deren Funktion
für den Einzelnen geführt hat. Anspruchshaltungen, die sich im Bereich der Ehe
verändert haben, sind zum einen emotionale und materielle und zum anderen sexu-
elle Ansprüche. Emotionale Ansprüche meinen „Ansprüche nach Kommunikation,
nach Unterstützung und Beistand sowie nach Verständnis.“ (ebd.: 12). Die Studie
geht von einer Steigerung emotionaler Ansprüche aus, da eheliche Beziehungen
dem psychischen Bedürfnis nach Geborgenheit und Schutz gerecht werden müssen.
Die Wichtigkeit dieser Ansprüche zeigt sich daran, dass bei Nichterfüllung der An-
spruchshaltungen die Ehe häufig aufgelöst wird (vgl. Schulz/Tüchler 1983).27
27
Dieses Konfliktfeld wird auch zu späteren Zeitpunkten in zahlreichen Untersuchungen belegt.
Beispielsweise Riehl-Emde/Frei/Willi 1994, Hahlweg 1995, Klann/Hahlweg/Heinrichs 2002,
Damm 2004, wo mangelnde bzw. unbefriedigende Kommunikation als Hauptgrund für Eheprob-
leme angeführt wird.
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 135

Die Ergebnisse der Studie zeigten im Einzelnen, dass vor allem bei älteren
Frauen eine vorherrschende Pflichtwertorientierung dazu führt, dass die Ehe auf-
recht erhalten wird, auch wenn es zu anhaltenden Frustrationen bei emotionalen
und materiellen Ansprüchen kommt. Diese Frauen nehmen sich zurück, ordnen
sich den Ansprüchen des Mannes unter und betrachten die Ehe eher als ein Muss
(vgl. ebd.: 121). Jüngere Frauen dieser Zeit entscheiden sich demgegenüber öfter für
die Auflösung der Ehe, wenn eigene emotionale und auch materielle Ansprüche
nicht befriedigt werden. Sie zeigen auch eine veränderte Einstellung zur Sexualität.
Diese gehört für sie nicht mehr nur in den Bereich der ehelichen Pflicht, sondern
wird ebenfalls zu einem Bereich, in dem eigene Ansprüche formuliert werden. (ebd.:
123, 151).
Die intensivere Selbstentfaltungsorientierung führte bei jüngeren Frauen wäh-
rend des dritten Individualisierungsschubes insgesamt zu höheren Ansprüchen
hinsichtlich der Gleichberechtigung und Autonomiebestrebungen. Sie standen im
Gegensatz zu den Ansprüchen von Männern, die Ende der 1980er Jahre noch ver-
stärkt auf Unterordnung und Unterstützung im Haushalt setzten. „In allen Fällen
bringt der Wertorientierungswechsel Frauen in einen schärferen Widerspruch zu
den Ansprüchen ihrer Partner, entstehen größere Diskrepanzen zwischen den An-
sprüchen der Ehepartner.“ (ebd.: S. 191).
Die Studie hat gezeigt, dass es gerade bei Frauen zwischen 25 und 39 Jahren
durch Studium und Berufstätigkeit unter den Bedingungen des Anspruchsindividu-
alismus zu Wertverschiebungen gekommen ist, welche allgemein zu mehr Selbstbe-
wusstsein und Selbstständigkeit geführt haben und sich in veränderten Ansprüchen
an den Ehepartner ausdrücken. „Ebenso lässt sich feststellen, dass diesem Wandel
von fast allen Frauen ein Einfluss auf Konflikthäufigkeit und Bestand ihrer Ehe
zugeschrieben wird.“ (ebd.: 191). Auch geschiedene Männer bestätigten in der Un-
tersuchung, dass Konflikte durch erhöhte Anspruchshaltungen der Frauen entstan-
den, denen die Männer nicht gerecht werden konnten oder wollten. Im Gegensatz
dazu zeigte ein Teil der verheirateten Männer bereits ein höheres Maß an Aufge-
schlossenheit gegenüber den Autonomiebestrebungen der Frauen.

„Sie traten stärker für die Gleichberechtigung der Frau in der Ehe ein, verbanden mit ihrer Ehe den
Wunsch nach Geborgenheit, berichteten über eine eigene Partizipation an den häuslichen Aufga-
ben. Im Unterschied zu den geschiedenen waren die verheirateten Männer außerdem bereit, den
Ansprüchen ihrer Frauen Raum zu geben und zuweilen auf die Verwirklichung der eigenen zu ver-
zichten.“ (ebd.: 216).

Scheller kam 1992 zu dem Schluss, dass das Risiko einer Ehescheidung dann ge-
mindert wird, wenn Männer mehr auf die veränderten Selbstentfaltungsansprüche
der Frau eingehen, was allerdings auch umgekehrt für die Frauen gelten muss. Re-
ziproke Bedürfnisbefriedigung wird zu einem Garanten für eine stabile Ehe ausge-
arbeitet (vgl. ebd.: 216). Damit zeigt sich, dass die gegenseitige Orientierung an
136 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

Bedürfnissen, die Honneth als Grundvoraussetzung für dieses Anerkennungsver-


hältnis herausgearbeitet hat, zum Problem in der individualisierten Gesellschaft
wird.
Ehen als lebenslanges Partnerschaftsmodell, wie Hahn, Berger und Keller sie
beschreiben, werden zur Zeit des Anspruchsindividualismus immer häufiger die
Ausnahme als die Regel. Seit den 1960er Jahren

„(…) ist die Dominanz der Kernfamilie als einzige kulturell verbindliche Norm aufgehoben. Selbst
wenn die Kernfamilie weiterhin eine strukturelle Vorherrschaft beansprucht, haben andere Lebens-
formen – vor allem nicht-eheliche Lebensgemeinschaften, Alleinlebende, Ein-Eltern-Familien und
kinderlose Ehepaare – quantitativ an Bedeutung gewonnen.“ (Chopra/Scheller 1992: 52, vgl. von
Trotha 1990).

Hans Jellouschek prägte in diesem Zusammenhang den Begriff „Single Paare“ (Jel-
louschek 1992: 141).28
Wie verändert sich der Einfluss der Partner auf die Ausbildung und Aufrecht-
erhaltung selbstverwirklichender Zielsetzungen innerhalb kurzfristigerer Beziehun-
gen?

„Im Zuge der funktionalen Spezialisierung unserer Gesellschaft ist dem System ‚Ehe‘ und ,Familie‘
die Bildung und Erhaltung von Humanvermögen‘ zugeschrieben (...) (worden, und D.L). So kann
im Hinblick auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft betont werden, dass von ihr nicht die
Nachwuchssicherung, aber ebenso ‚die psychische und physische Regeneration und Stabilisierung
ihrer Mitglieder‘ erwartet wird.“ (Nave-Herz 1999: 38ff, 2004: 111).

Wobei allerdings beachtet werden muss, dass das Konzept der nichtehelichen Le-
bensgemeinschaft keineswegs die Institution Ehe ablöst. Nichteheliche Lebensge-
meinschaften traten und treten mehrheitlich in der Phase der Postadoleszenz auf.

„Diese Lebensphase ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von neuen Erfahrungen, und zum Teil
daraus resultierend auch durch ‚Entwicklungsschübe‘. Hierdurch ist einerseits das Bedürfnis nach
partnerschaftlicher Nähe besonders erwünscht, aber andererseits – wegen der noch „offenen Zu-
kunft“ – werden flexiblere und zeitlich unverbindlichere Partnerschaften, wie die Nichtehelichen
Lebensgemeinschaften, gewählt bzw. bevorzugt.“ (Nave-Herz 2004: 111).

Nichteheliche Partnerschaften sind demnach an der Gegenwart orientiert und Ehe-


schließungen an der Zukunft. Gleichzeitig kommt ihnen dadurch ein höherer Grad
an Identitätsstiftung als Ehen zu. Ehen müssen weniger an individuellen Identitäts-

28 Martin Diewald hat in einer Auswertung des sozioökonomischen Panels den Wandel der Unter-
stützungserwartungen bei den unterschiedlichen Paarformen untersucht. Eine geringere Un-
terstützungserwartung ist nur bei Paaren zu beobachten, die räumlich getrennt leben. Verheirate
und nichtverheiratete zusammenlebende Paare nennen in ähnlichen Anteilen den Partner als wich-
tigsten Unterstützer, während nicht zusammenlebende Paare nur halb so oft den Partner als wich-
tigste Person erwähnen (vgl. Diewald 1993: 285).
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 137

herstellungsakten mitwirken, sondern mehr an der Herstellung von Gemeinsamkeit


als Zukunftsprojekt (vgl. Nave-Herz 2004: 111f.).
Diese Art der funktionalen Neustrukturierung von Partnerschaften hat Andrea
Leupold bereits 1983 erfasst. Sie beschreibt Partnerschaft und die romantische
Liebe als zwei unterschiedliche Formen der Codierung. Liebe und Partnerschaft
haben als zwei kommunikative Elemente von Paarbeziehungen strukturell unter-
schiedliche Funktionen. Während Liebe dazu dient, die Beziehung trotz großer
Veränderungen im Alltagsleben konstant zu halten, dient die partnerschaftliche
Kommunikation eher dazu, problemlösend zu wirken. „Je mehr sich die sogenannte
romantische Liebe zum einzig legitimen Heiratsgrund durchsetzte, wurde der An-
spruch betont, den instrumentellen Charakter gegen das Ideal von Partnerschaft,
gegenseitiger emotioneller Unterstützung usw. einzutauschen.“ (Nave-Herz 1999:
41).
Leupold geht davon aus, dass sich in der Moderne die partnerschaftliche
Kommunikationsstruktur im Gegensatz zur Liebe intensiviert hat. Der Grund liegt
in den erhöhten Anforderungen bei der Aushandlung von Selbstverwirklichungsan-
sprüchen.

„Während romantische Liebe im Übergang vom 18. und 19. Jahrhundert angesichts weit vorange-
triebener Individualisierung Probleme der Bildung ,höchstpersönlicher‘ Beziehungen auffängt, dient
Partnerschaft – als neues Konzept des 20. Jahrhunderts, das jetzt vorhandene Erfahrungen mit
über Liebe gebildeten Beziehungen und neue sozialstrukturell generierte Probleme aufnimmt – als
Muster der Regelung von Beziehungen.“ (Leupold 1983: 298).

Als wesentliches Leitprinzip dieser Konzeptionalisierung fungiert die stärkere


Druckausübung durch die Individualitätsbestrebungen der Partner auf die Bezie-
hung. Für Leupold ist Individualität in höherem Maße als für Berger und Keller
immer in der Verwirklichung begriffen und wehrt sich deshalb gegen Festlegungen
in der Gegenwart. Liebe aber verlangt diese Festlegung als Grundlage zum Erken-
nen des Anderen in seiner ganzen Breite, um die individuellen Bedürfnisse kom-
munizierbar zu machen, wodurch die Partner sich ganz im Anderen verlieren und
das Risiko auf sich nehmen, selbst durch und mit dem anderen zu scheitern. Bei
dieser Abgrenzung von Partnerschaft gegen Liebe als Basis von Intimbeziehungen
wird das Risiko des gemeinsamen Scheiterns verringert. Denn Partnerschaft betont
den Unterstützungscharakter, wehrt sich gegen Festlegungen und lässt somit mehr
Raum für Veränderungen der Partner, obwohl die Herstellung von Gemeinsamkei-
ten trotzdem die Grundlage bleibt. Dies funktioniert Leupolds Ansicht nach jedoch
nur mit der Perspektive der Auflösbarkeit von Beziehungen und ist deshalb nicht
mehr auf Ehen zu übertragen (vgl. Leupold 1983: 317).
Der von Leupold beschriebene Diskurs über die Autonomiebestrebungen der
Partner untereinander verläuft zwar nach demselben Muster wie bei Berger und
Keller. Aber er nimmt wesentlich mehr Raum ein und ist mit stärkeren Problemla-
138 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

gen konfrontiert. Das liegt vor allem daran, dass die Offenheit der Lebensentwürfe
und die lebenslängliche Suche nach Selbstverwirklichung die Partner in einen stän-
digen Austausch zwingen. Der gleichzeitige Verlust feststehender Werte in Bezug
auf Art und Weise einer Beziehung, führt zur Gefährdung der Kommunikationser-
gebnisse, die der Herstellung von Gemeinsamkeit dienen sollen (vgl. Mahlmann
1991: 169). Damit wird die Beziehung, wie Schelsky schon in den 1950er Jahren
feststellte, in doppelter Hinsicht belastet: „Sie wird so einer von Erwartungen,
Sehnsüchten und Ansprüchen gespeisten Belastung ausgesetzt, unter deren Druck
sie augenscheinlich zusammenzubrechen droht.“ (Schelsky 1954: 15f.). Die Schwie-
rigkeiten führen immer häufiger zu verhärteten Fronten, einem dauerhaften Un-
gleichgewicht bei der Berücksichtigung der Ansprüche auf Autonomie in der Part-
nerschaft und nicht selten zum Scheitern der Beziehung.
Als zweite wichtige Gruppe intimer Beziehungen tragen Freunde zur Stabilisie-
rung von Seinsforderungen bei. Mit dieser Perspektive verlagert sich der Blick vom
Anerkennungsverhältnis Liebe auf emotionale Wertschätzung. Wie kann die Stabili-
sierung individueller Zielsetzungen hier vonstattengehen? Können hier Autono-
miebestrebungen positiv bestätigt und so fehlende Anerkennung durch den Partner
überbrückt werden? Inwiefern lässt sich ein Wandel der Funktion von Freundschaft
zur Zeit des dritten Individualisierungsschubes beobachten? Simmel thematisierte
Veränderungen derartiger Beziehungsformen bereits während des ersten Individua-
lisierungsschubes. Friedrich Tenbruck kommt in seinem Artikel von 1964 ebenfalls
zu dem Schluss, dass Individualisierungsprozesse zu einem Wandel von Freund-
schaften führen (vgl. Tenbruck 1964). Er betont, dass Freundschaften durch Bestä-
tigungen zur Selbst-Stabilisierung beitragen. Mit zunehmender Individualisierung
werden Freundschaften „ein Mittel zur Verwirklichung der persönlichen Ziele des
Individuums“ (Kon 1979: 50; Hervorhebungen im Original). Eine Studie von Fatke
und Valtin belegt eine grundsätzliche Zunahme der Bedeutung von Freundschaften
für die Selbstverwirklichung von Erwachsenen (vgl. Fatke/Valtin 1988). Die Zu-
nahme der Bedeutung von Freundschaften wird als Beleg dafür gesehen, dass ihnen
eine Kompensationsfunktion zukommt (vgl. Nötzoldt-Linden 1994).
Inhaltlich beruht Freundschaft in erster Linie auf freiwilligem Engagement und
einer vorbehaltlosen Interaktion (vgl. ebd.: 79). Gleichzeitig reduzieren Freund-
schaften persönliche und soziale Unsicherheiten, weil sie als sozialisatorischer Spie-
gel wirken und dabei Erinnerungen, gegenwärtige Haltungen und Zukunftspläne
miteinander verbinden. Sie sind

„(…) Marksteine von Ereignissen in verschiedenen Lebensphasen und bei der aktuellen Alltagsbe-
wältigung (…). Sie verkörpern und symbolisieren, was wir waren, was wir sind und sein möchten,
wovon wir uns distanzieren. Durch sie sind unsere Vorlieben und Abneigungen, Stärken und
Schwächen, Deformationen und Wandlungen, unsere raum-zeitlichen Identitäts-Kreise und Status-
bezüge veräußert.“ (ebd.: 205).
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 139

Die Intensität dieser Funktion hängt dementsprechend von der Länge von Freund-
schaften ab. Insgesamt dienen Freundschaften also sowohl der Herstellung von
Zugehörigkeit als auch der Anerkennung von Individualität (vgl. Stiehler 2009: 392).
Empirische Belege über die Mechanismen der Stabilisierung von Seinsforderungen
liegen zur Zeit des dritten Individualisierungsschubes jedoch nicht vor (vgl. Auha-
gen 1993: 225).
Um die Stabilisierungsfunktion bei individuellen Zielsetzungen durch Freund-
schaften in Abgrenzung zum Partner konkreter erfassen zu können, müssen einige
Zusammenhänge auf theoretischer Ebene ausgearbeitet werden. Ein erster Anhalts-
punkt ist: Freunde können andere Perspektiven auf die präsentierten Selbstverwirk-
lichungsstrategien als der jeweilige Partner einnehmen. Die Perspektive ist dabei im
Wesentlichen durch die Dauer der Freundschaft geprägt. Je mehr Vergangenheit
geteilt wurde, umso mehr wird das Wissen darum mit den jeweils sich verändernden
Zielsetzungen in Beziehung gesetzt. Im Rahmen von Freundschaftsinteraktionen
wird so eine andere Gewichtung oder Relativierung zwischen der Identität und den
Seinsforderungen als in Beziehungen vorgenommen. Das Wissen und das Bild, das
der Freund oder die Freundin von demjenigen hat, der sich mit bestimmten Seins-
forderungen präsentiert, wird antizipiert, so dass die Selbstverwirklichungsstrategien
anders dargestellt werden als in Partnerschaften. Diese Kontextabhängigkeit der
Selbstpräsentation führt zu einer Begründung für die jeweils diskutierte Zielsetzung,
die stets zu den Beziehungen passt. So kann z.B. bei der Planung einer beruflichen
Veränderung in Partnerschaften eher mit dem Nutzen für beide argumentiert wer-
den, während in Freundschaften der Nutzen für sich selbst in den Vordergrund
gestellt wird. Obwohl die Zielsetzung dieselbe ist, nimmt die kommunikative Ein-
bettung Einfluss auf die Reaktion.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann angenommen werden, dass
sich die Reaktionen auf diese präsentierten Ansprüche unterscheiden. In Partner-
schaften finden sie vor dem Hintergrund der Herstellung von Gemeinsamkeit statt,
in Freundschaften eher unter dem Rahmen der individuellen Selbstverwirklichung.
Die Stabilisierung von präsentierten Seinsforderungen bzw. geplanten Veränderun-
gen erfolgt in Freundschaften auf einer anderen Grundlage. Sie setzt vorbehaltloser
an der Präsentation an, weil sich Freunde mit einer gewissen Objektivität mit diesen
Zielsetzungen auseinandersetzen können. Sie müssen die Auswirkungen einer mög-
lichen Entscheidung nicht in dem Maße wie der Partner mitdenken, bevor sie Aner-
kennung aussprechen.
Im Hinblick auf die Stabilisierungsfunktion kann nun geschlussfolgert werden,
dass die Anerkennungsleistungen der Partner mit denen der Freunde unter Um-
ständen konkurrieren. Das Individuum muss die Reaktionen des Partners und der
Freunde miteinander vergleichen und gewichten, um zu einer Entscheidung zu
kommen. Freundschaften sind darüber hinaus in einigen Situationen als alleiniger
Stabilisator von Seinsforderungen zu betrachten. Diese Funktion übernehmen sie
140 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

dann, wenn z.B. die Trennung vom Partner als Ziel angestrebt wird. Aber auch hier
gibt es Konkurrenz zwischen Rückmeldungen der unterschiedlichen Freunde, die
auch geschlechtsspezifisch ausfallen können und dann vom Individuum ausgewertet
werden müssen, um zu einer Entscheidung zu kommen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Stabilisierung von handlungsleiten-
den Seinsforderungen durch Liebe und emotionale Wertschätzung den wichtigsten
Teil der Identität betrifft. Durch die grundsätzliche Orientierung an der Individua-
lität und die intensive Auseinandersetzung mit den Selbstverwirklichungsstrategien
wird hier der stärkste Einfluss auf den Verlauf der Identitätsarbeit genommen. Da-
bei fungiert Liebe, wie Berger und Keller argumentieren, als Grundlage, um Selbst-
verwirklichungsstrategien zu entwickeln. In Partnerschaften gelangen Ansprüche
überhaupt erst zu ihrer Formulierung. Emotionale Wertschätzung hat dagegen eher
einen darauf aufbauenden Stabilisierungscharakter.
Gleichzeitig zeigt sich aber auch durch eine soziohistorische Betrachtung des
Wandels von Beziehungen, dass sie durch die Zunahme der Individuationsbestre-
bungen starken Belastungen und der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt sind. Dabei
sind Partnerschaften stärker als Freundschaften vom Druck des Aushandelns von
Autonomie betroffen, weil sie zusätzlich die Aufgabe haben, Gemeinsamkeiten
diskursiv zu erzeugen, die auch für die Zukunft gelten müssen. Grundsätzlich be-
deutet die Verteilung der Anerkennungssuche auf die beiden Kontexte Freund-
schaft und Partnerschaft aber auch, dass in der Zeit des dritten Individualisierungs-
schubes die individuelle Abwägungs- und Gewichtungsarbeit zunimmt.

3.5 Stabilisierung von Ressourcenforderungen durch das


Anerkennungsverhältnis Recht

Die Betrachtung des Anerkennungsverhältnisses Recht unter dem Aspekt seiner


Stabilisierungsfunktion für Selbstverwirklichung bedarf einiger grundlegender Er-
läuterungen zur anspruchsindividualistischen Perspektive auf die Individuationsbe-
strebungen. Diese Perspektive fällt mit dem Prinzip der Anspruchsgerechtigkeit
zusammen, das bis Ende der 1980er Jahre wirkte. Wie bereits in Kapitel zwei er-
läutert, wurde es zu einer soziologischen Zeitdiagnose ausgebaut, in der die Integra-
tion der Individuen in die Gesellschaft auf Grundlage von Ressourcenforderungen
in den Mittelpunkt gerückt wird. Zustande kam dieses Integrationsprinzip auf Basis
der prosperierenden Wirtschaftsentwicklung seit den 1950er Jahren. Der An-
spruchsindividualismus entfaltete sich demnach während der Zeit des höchsten
Niveaus wirtschaftlichen Wohlstandes in Deutschland und führte zu einer ver-
stärkten Durchsetzung sozialer Sicherheitsmaßnahmen auf politischer Ebene. Die
Bürger konnten sich allmählich auf die soziale Fürsorgepflicht des Staates verlassen,
und viele erhielten dadurch erweiterte Möglichkeiten für die eigene Lebensgestal-
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 141

tung. Diese Phase wird in der Literatur auch als Wohlstandsindividualisierung be-
zeichnet. Im Zuge jener Entwicklungen dehnte sich das Anspruchsdenken allmäh-
lich immer weiter aus und führte, wie bereits in Kapitel zwei diskutiert, zu kritischen
Auseinandersetzungen mit der Wohlfahrt gefährdenden Haltung vieler Bürger ge-
genüber staatlichen Leistungen. Welche Mechanismen der Anerkennung von An-
sprüchen lassen sich nun im Einzelnen hierbei beobachten und wie wirkt sich dies
auf das Anspruchsdenken, d.h. die Ressourcenforderungen der Individuen aus?
Eine gesellschaftstheoretische Betrachtung des Anspruchsindividualismus muss
die hier wirksamen Anerkennungsbeziehungen und die damit eintretenden Effekte
auf die Identitätsbildung genauer beleuchten. Für die Anspruchshaltungen, wie sie
im Rahmen dieser Arbeit als Ressourcenforderungen definiert werden, gilt grund-
sätzlich, dass sie an Vertreter der sozialen Umwelt gerichtet werden und damit ihre
Erfüllung fordern. Dabei kann es sich sowohl um die Forderung nach Rechten als
auch nach bestimmten Gütern oder Leistungen handeln. Hierbei wirken jeweils
unterschiedliche Anerkennungsmechanismen. Es ist einerseits zu unterscheiden
zwischen den Anerkennungsleistungen und deren Auswirkungen auf Ansprüche,
die eine bürgerrechtliche Verankerung erzeugen und jenen, die sozialrechtlich ver-
ankert sind. Im ersten Fall ermöglicht Anerkennung Selbstachtung auf Grundlage
von Forderungen nach Autonomie. Im zweiten Fall Selbstverwirklichung auf
Grundlage von konkreten Bedürfnissen nach Ressourcen.
Die bürgerrechtliche Durchsetzung der Anspruchsgerechtigkeit gründet auf der
allgemeinen Vorstellung von Freiheitsrechten, die den Bürgern eines Landes zuge-
schrieben werden. Dies ist ein politisch legitimiertes Selbstverständnis in der Bun-
desrepublik. Individuelle Autonomiebestrebungen werden verstärkt über die rechtli-
che Auseinandersetzung mit Ansprüchen erstritten. Die allgemeine Grundlage dafür
ist, wie in Kapitel zwei erläutert, die bürgerrechtlich verankerte Regelung von Auto-
nomie, die Selbstverwirklichung zu einem Grundrecht macht. Dadurch wird dem
Individuum als Staatsbürger ermöglicht, bestimmte Bedürfnisse als Ansprüche zu
etablieren. Die Anerkennung dieser Ansprüche führt zu einem Gefühl der Selbst-
achtung. Diese Selbstbeziehung hat Honneth als moralische Zurechnungsfähigkeit
bezeichnet.
Vor diesem Hintergrund können Erfolge hinsichtlich der Autonomiebestre-
bungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen verzeichnet werden. Diese
lassen sich als Kämpfe um Gleichberechtigung beobachten und entstehen als Folge
erfahrener Missachtung. Missachtungen sind als „Herabwürdigung von individuel-
len oder kollektiven Lebensweisen“ (Honneth 2003: 217) zu verstehen. Im Rahmen
der Anspruchsanmeldung wird Missachtung dann wahrgenommen, wenn die sich in
Ressourcenforderungen ausdrückenden Möglichkeiten zur Erhöhung der Selbst-
achtung durch eine Nicht-Gewährung von Rechten beschränkt werden. Ein darauf
aufbauendes Schamgefühl kann
142 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

„(…) zum motivationalen Anstoß eines Kampfes um Anerkennung werden. Denn die affektive
Spannung, in die das Erleiden von Demütigungen den einzelnen hineinzwingt, ist von ihm jeweils
nur aufzulösen, indem er wieder zur Möglichkeit des aktiven Handelns zurückfindet (…).“ (Hon-
neth 2003: 224).

Zu beobachten sind diese Mechanismen vor allem im Rahmen der Frauen- und
Homosexuellenbewegung. Prinzipiell gelten sie aber für alle gesellschaftlichen
Randgruppen, denen es um Anerkennung ihrer Eigenständigkeit geht. Hierbei zeig-
te sich, dass dieses bürgerrechtlich verankerte Anerkennungsverhältnis zu einer
kontinuierlichen Ausweitung der Rechte führt. Bereits erstrittene Erweiterungen der
Autonomie sind in diesem Bereich bis heute nicht zurückgenommen worden.
Die Frauenbewegung hat sich diverse Rechte im Sinne der Gleichbehandlung
mit Männern erkämpft. Als wichtigste Neuerung kann die Erweiterung des Grund-
gesetzartikels drei von 1994 um folgenden Satz gelten: „Der Staat fördert die tat-
sächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Die Umsetzung von Frauen-
förderung fand und findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Insgesamt dienen die
Maßnahmen jedoch immer dem Abbau von Ungleichheiten im Arbeitsmarkt. Zent-
rales politisches Organ sind hier die Gleichstellungsstellen, die 1986 mit der Ein-
richtung des Ministeriums für Frauen, Familie und Gesundheit nach und nach ent-
standen. 1996 trat das Gleichstellungsgesetz zur Frauenförderung für private Un-
ternehmen und öffentlichen Dienst in Kraft. Für den öffentlichen Dienst ist seit
2001 die Frauenförderung zusätzlich durch die Einsetzungen von Frauenbeauf-
tragten weitergeführt worden. Für die Erhöhung beruflicher Chancen wird bis heute
über die Einführung einer Quotenregelung diskutiert. Sie dient der Erhöhung des
Frauenanteils in allen beruflichen Positionen, in denen dieser zu Gunsten der Män-
ner ungleich verteilt ist. Aber auch andere Fördermaßnahmen, wie der Ausbau von
Kindertagesstätten zwecks schnellerer Wiederaufnahme des Berufes zählt zu den
Errungenschaften der Frauenförderpolitik.
Die Homosexuellenbewegung hat ebenfalls diverse Rechte im Sinne der
Gleichbehandlung erkämpft, die sich bis heute fortsetzen und damit zeigen, dass
der Ausbau individueller Rechte immer mit der Erhöhung des normativen Niveaus
einhergeht. 1957 urteilte das Bundesverfassungsgericht aufgrund einer Verfassungs-
beschwerde noch, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen gegen das Sittengesetz
verstoßen, wodurch tausende männliche Homosexuelle zu Gefängnis oder Zucht-
haus verurteilt wurden. 1969 kam es zu einer ersten Reform und 1973 zu einer
zweiten, wodurch Homosexualität nur noch unter dem Aspekt der Verführung
Minderjähriger strafbar war. 1994 wurde die Strafbarkeit ganz aufgehoben. Im wei-
teren Verlauf kam es zu einer rechtlichen Anerkennung der gleichgeschlechtlichen
Partnerschaft, wie sie 2001 mit dem Gesetz über die eingetragene Lebenspartner-
schaft in Gang gesetzt wurde. Die Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts
von 2004 regelte unter anderem auch die Adoption von leiblichen Kindern des
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 143

Partners und die Aufhebung der Lebenspartnerschaft durch Scheidung. Sie bekam
nun den Status einer Ehe. Die Schwulen und Lesben kämpfen nunmehr um weitere
Rechte, wie ein gemeinsames Adoptionsrecht und ihre Gleichstellung mit Ehepart-
nern im Steuerrecht (vgl. Steffens/Wagner 2009: 244). Weitere rechtliche Regelun-
gen gegen die Diskriminierung der sexuellen Identität, aber auch des Geschlechts
sowie ethnischer Herkunft, Religion, Alter, Weltanschauung und Behinderung sind
im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 festgeschrieben.
Im Gegensatz zu diesen Beispielen für bürgerrechtliche Veränderungen lassen
sich sozialrechtliche Veränderungen grundsätzlich aus politischen Entscheidungen
ablesen. In ihnen spiegeln sich die Maßnahmen zur Gewährung von geäußerten
Ansprüchen. Während Veränderungen bürgerrechtlicher Grundlagen überwiegend
infolge von individuell geäußerten Ansprüchen im Rahmen eines Rechtsstreits er-
folgen, entspringen sozialpolitische Änderungen den Ansprüchen ganzer gesell-
schaftlicher Gruppen (vgl. Kaletta 2008: 96). Politische Veränderungen werden
zwar in allen Bereichen, wie z.B. Sicherheitspolitik, Umweltpolitik, Familienpolitik
usw. auf diese Art erwirkt. Aber für die hier verfolgte Betrachtung des Umgangs mit
Ressourcenforderungen sind lediglich die politischen Veränderungen auf sozial-
staatlicher Ebene relevant, die während der Gültigkeit des Prinzips der Anspruchs-
gerechtigkeit zu beobachten waren.
Sozialrechtlich begründete Anerkennungsmechanismen sind für die Ermögli-
chung von Selbstverwirklichung ebenso relevant wie bürgerrechtliche. Das grundle-
gende Prinzip einer sozialrechtlichen Anerkennung ist die Bedürftigkeit. Kriterien
zur Bestimmung dessen, wer als Bedürftiger betrachtet wird und sich der Unterstüt-
zung des Sozialstaates sicher sein kann, sind Alter, Einkommenslage und Gesund-
heitszustand. In welchem Maße es zu einer Ausweitung sozialstaatlicher Maßnah-
men kommt, hängt von den Wertvorstellungen der Gesellschaft ab. Während der
Zeit der Anspruchsgerechtigkeit erlangte das Prinzip des Abbaus marktvermittelter
sozialer Ungleichheit in der Bundesrepublik Bedeutung. Zur Bestimmung des Gra-
des von Ungleichheit kann zwischen zwei Leitprinzipen unterschieden werden:
absolute und relative Gleichheit.

„Während absolute Gleichheit bedeutet, dass zwischen einzelnen Gesellschaftsmitgliedern bzw. ge-
sellschaftlichen Gruppen keinerlei Unterschiede bezüglich ihrer Rechte und Pflichten wie auch ih-
rer wirtschaftlichen Möglichkeiten bestehen sollten, bedeutet relative Gleichheit, dass es aufgrund
der Legitimation durch einen bestimmten Bezugsstandard Unterschiede zwischen einzelnen Men-
schen oder Gruppen geben darf.“ (Kaletta 2008: 97).

Dabei ist in keiner westlichen Industrienation der Maßstab der absoluten Gleichheit
politisch handlungsleitend, da mit ihm die Auflösung jeglicher Form von sozialer
Ungleichheit verbunden wäre. Relative Gleichheit mündet dagegen in der Ver-
pflichtung Ressourcen bereitzustellen, die zur Selbstverwirklichung der Menschen
minimal nötig sind. Kennzeichen dessen sind das Versorgungsprinzip, das den
144 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

Schutz der Person unabhängig von ihrem Status gewährt, und das Fürsorgeprinzip,
das sich in der Zahlung von Sozialhilfe ausdrückt. Die Einhaltung dieser Prinzipien
wird durch die individuell geäußerten Ansprüche gewährleistet. Über ihre Anerken-
nung wird dann auf Basis des ermittelten Bedarfes entschieden.
Das Prinzip der sozialrechtlich verankerten Anspruchsgerechtigkeit wurde po-
litisch zwischen 1969 und 1998 durchgesetzt. Dies bewirkte, dass die Individuen
davon ausgehen konnten, die Erfüllung ihrer Ansprüche stehe ihnen gerechterweise
zu. Die finanzielle Ausstattung der Sozialpolitik war großzügig geplant worden. Die
Sozialleistungen wurden durch diverse Reformen, wie z.B. die Rentenreform, Re-
formen des Arbeits-und Unfallschutzes und des Gesundheitswesens kontinuierlich
ausgebaut. Grundlage für die Erhöhung des Sozialbudgets waren sehr optimistische
Einschätzungen bezüglich eines weiter anhaltenden Wirtschaftswachstums während
der Regierungszeit der SPD/FDP-Koalition zwischen 1969 und 1982 (vgl. Schmidt
2005: 93). Gleichzeitig stieg jedoch die Inanspruchnahme der Sozialleistungen durch
wachsende Arbeitslosigkeit, die Zunahme von Altersrenten und infolge des allge-
meinen Ausbaus sozialer weiterer Sicherungssysteme.
Mit dem Wechsel der Regierungskoalition zur Ära Kohl wurde ein allmählicher
Abbau sozialstaatlicher Leistungen eingeleitet. Es kam zu Streichungen bei der
Ausbildungsförderung, einer Senkung der Sozialhilfesätze, des Arbeitslosengeldes,
der Arbeitslosenhilfe und bei den Rentenbeiträgen (vgl. Schmidt 2005: 100). Von
Seiten der Opposition wurden erste Proteste gegen einen umfassenden Sozialabbau
laut. 1985 wurde ein Stopp der Kürzungen und eine Verbesserung von Sozialleis-
tungen eingeleitet, die sich vor allem in einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, der Ein-
führung der Pflegeversicherung und in Veränderungen der Familienpolitik äußerten.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Bevölkerung trotz der einsetzen-
den Kürzungen seit 1982 keine großen Einschnitte in ihrem Anspruchsdenken
hinnehmen musste. Die sozialstaatlichen Vorsorge- und Fürsorgeprinzipien fun-
gierten für den Großteil der Bevölkerung als Sicherheitsnetz, so dass die geäußerten
Ressourcenforderungen weitestgehend als anerkannt gelten.
Auf dieser Grundlage stellt sich die Frage, wohin der Zusammenhang zwischen
der kontinuierlichen Anerkennung und der Steigerung des Anspruchsniveaus im
Hinblick auf die Ressourcenforderungen führt? Eine Missachtung von Ansprüchen
würde eine Senkung des Anspruchsniveaus bewirken. Auf der Ebene der Bedürf-
nisbefriedigung ruft Missachtung ein Frustrationserleben hervor. Dies führt zum
Erleben eines Mangels, der einem Kontrollverlust zwischen wahrgenommenen
Optionen und Verwirklichungsmöglichkeiten gleichkommt. Wegen des Prinzips der
Anspruchsgerechtigkeit entstehen jedoch immer wieder neue Anstrengungen zur
Durchsetzung der Ansprüche. Dies hat zur Folge, dass durch Widerstand gegen
Missachtungsvorgänge von Seiten der Politik letztendlich Anerkennung erstritten
wird (vgl. Herbert 1992; Klages 1992). Vor diesem Hintergrund gibt es für die Indi-
viduen keinen Anlass, ihr Anspruchsdenken auch bei Missachtungen zu verändern.
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 145

Um zu klären, welche Auswirkungen die Reaktionen auf Ressourcenforderun-


gen auf die Stabilisierung der Identität haben, müssen die Verarbeitungsstrategien,
die dem Individuum zur Verfügung stehen, herausgestellt werden. Dies dient der
Beantwortung der Frage, wie Erfolgs-, und Misserfolgserlebnisse mit dem Streben
nach Selbstverwirklichung in Einklang gebracht werden können. Ein wesentlicher
Faktor ist hier der Umgang mit Verantwortung. In der Individualisierungstheorie
wurde die Zunahme von Eigenverantwortung als ein grundlegendes Kennzeichen
von Individualisierungsprozessen konstatiert. Das Individuum als Handlungszent-
rum muss mit mehr Autonomie auch mehr Verantwortung für das eigene Tun
übernehmen (vgl. Beck 1986). Auf Grundlage der hier ausgearbeiteten Theorie,
findet dieser Aspekt bereits in der Annahme Berücksichtigung, dass Individuen ihre
Selbstverwirklichung durch Anspruchshaltungen steuern, da ihnen von vornherein
eine stärkere Selbstbindung und damit Verantwortung zugrunde liegt. Die Erfah-
rungen, die die Individuen mit Anspruchshaltungen machen, stärken die Wahrneh-
mung der Eigenverantwortlichkeit. Allerdings lässt sich aus den Betrachtungen der
Anerkennungsmechanismen von Ressourcenforderungen eine Differenzierung in
der Vorgehensweise bei der Zuschreibung von Selbstverantwortung ableiten.
Erfolgreiche Ressourcenforderungen können Individuen problemlos mit
Selbstverantwortung verbinden, da sie für ihr Selbstkonzept nicht bedrohlich sind,
sondern sie in der Angemessenheit der Ressourcenforderung bestätigen. Die Selbst-
verwirklichung kann somit als geglückt bezeichnet werden. Die Zuschreibung von
Selbstverantwortung bei Misserfolgserlebnissen gelingt jedoch nicht so leicht. Sie
müsste auf der Einsicht gründen, zu viel verlangt zu haben, womit die Schuld bei
der eigenen Person gesucht werden würde. Mit dieser Selbstzuweisung von Schuld
und der Erkenntnis der Eigenverantwortlichkeit kann es zu einer Anspruchsreduk-
tion kommen. Bleibt aber die Überzeugung bestehen, dass der geäußerte Anspruch
seine Berechtigung hat, dann wird dem Adressaten die Schuld an dem Misserfolg
zugeschrieben. Das führt dazu, dass der Misserfolg nicht hingenommen wird und in
einer erneuten Anspruchsformulierung mündet. Auf die Art können Ressourcen-
forderungen weiterhin Bestandteil der Selbstverwirklichungsstrategien bleiben, auch
wenn bereits Misserfolge hingenommen werden mussten.29
Die Fremdzuschreibung von Verantwortung für Misserfolg ergibt sich auf-
grund der bedürfnistheoretischen Fundierung erst aus der Tatsache, dass die Indivi-
duen die verweigerten Ressourcen als Optionen für die eigene Selbstverwirklichung

29 Hierdurch wird auch die Erläuterung Luhmanns erst deutlich, durch welche die Selbstverwirkli-
chung als nur im Anspruch existent betrachtet wurde. Luhmann betonte dabei, Selbstverwirkli-
chung sei ein sich Abarbeiten an den Erfahrungen, die man mit seinen Ansprüchen macht. Der
„Soll-Zustand“ des Selbstbildes kann selbst bei kontinuierlicher Ablehnung nur dann weiterhin
handlungsleitend und damit identitätsstiftend sein, wenn das Individuum Selbstbewertungsvorgän-
ge dazwischen schaltet. Diese hat Luhmann nicht in seine Überlegungen einbezogen. Nach seiner
Logik, müssten die Ansprüche, die abgelehnt werden, versiegen.
146 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

notwendig brauchen, wie es z.B. bei der Suche nach Arbeitsplätzen nachvollziehbar
wird. Je nach Wichtigkeit der geforderten Ressource für die eigene Selbstverwirkli-
chung, wird auch die wiederholte Verweigerung des Anspruchs nicht dazu führen,
dass der Anspruch versiegt. Das heißt: Je wichtiger eine Ressourcenforderung ist,
desto öfter wird sie geäußert und desto häufiger werden Verweigerungen hinge-
nommen.
Aus der Artikulation von Ressourcenforderungen ergibt sich noch eine weitere
Konsequenz für die Wahrnehmung von gelungener oder gescheiterter Selbstver-
wirklichung. Konzentriert man sich bei der Funktion von Ressourcenforderungen
auf den Zweck der Verwirklichung von Individualität, dann können sie unter indi-
vidualisierten Anerkennungsbedingungen paradoxerweise sogar eine Bedrohung für
das Individualitätsbewusstsein darstellen (Luhmann 1993). Diesen Punkt hat Luh-
mann herausgestellt. Ressourcenforderungen werden zunehmend gebündelt an
Organisationen gerichtet. Diese können die individuellen Ansprüche nur dadurch
beantworten, dass sie sich immer weiter ausdifferenzieren. Gleichzeitig können
Organisationen ihnen nur dann gerecht werden, wenn sie von einer Mehrzahl von
Personen gefordert werden. So kommt es zu einer Standardisierung des An-
spruchsindividualismus. Mit dieser Standardisierung der Anspruchsbefriedigung
geht, so Luhmann, die in die Anspruchsformulierung gelegte Individualität verloren.
Die Individuen können nicht mehr nachvollziehen, was mit ihren Ansprüchen ge-
schieht. Sie verlieren den Bezug zu ihnen. „Individuen adressieren Ansprüche an
einen Apparat, den sie nicht durchschauen können; je mehr Individualität in die
Ansprüche gelegt wird, desto befremdlicher werden die Bedingungen, unter denen
die Ansprüche sich realisieren lassen.“ (Luhmann 1993: 254). Die damit einherge-
hende Nichtbestätigung von Individualität führt nach Luhmann zur Unzufrieden-
heit. Die Abgrenzungsbemühungen durch Ansprüche, die der Bewusstmachung der
Einzigartigkeit dienten, sind somit gescheitert. Die Unzufriedenheit kann dadurch
aufgehoben werden, dass die Individuen Anspruchsverzicht üben. Das bedeutet
nach Luhmann, sich selbst nicht in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Teilsyste-
men zu begeben. Nichts zu fordern, ist dann ein Anspruch auf Freiheit. In seinem
Verzicht ist dieser Anspruch eine Abwehr gegen jede Form der Begrenzung (vgl.
Luhmann 1995).
Diese Perspektive auf Anspruchsverzicht gilt aber nicht grundsätzlich für den
Mechanismus der Stabilisierung durch Anerkennung. Vielmehr stellt sie einen Spe-
zialfall für eine Werthaltung dar, die sich in der Ablehnung allgemeiner Leitbilder
ausdrückt. Die Unzufriedenheit über die Gleichförmigkeit der Anspruchsanmel-
dung ergibt sich eher aus der Erkenntnis, dass sich die eigenen Ansprüche auf der
Grundlage von gesellschaftlichen Erwartungen und Normen entwickelt haben.
Dazu bedarf es allerdings einer erhöhten Reflexionsleistung. Diese wird aber im
Normalfall nicht vollzogen. Die Tatsache, Ansprüche äußern zu können, reicht hier,
um sich seiner selbst zu vergewissern. Dabei ist es unerheblich, ob andere sich mit
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 147

den gleichen Ansprüchen selbstverwirklichen. Die Strategie des Anspruchsverzichts


ist nur für diejenigen eine Option, die sich tatsächlich durch den wahrgenommen
Fremdeinfluss unfrei fühlen. Das ist beispielsweise bei Gegnern der Konsumgesell-
schaft der Fall. Dem verschwenderischen Umgang mit Waren wird hier ein de-
monstrativer Konsumverzicht entgegen gehalten.
Damit sind die wesentlichen Kennzeichen und Auswirkungen von Anerken-
nung der Ressourcenforderungen auf die Identität benannt: Das Individuum äußert
vor dem Hintergrund des politisch durchgesetzten Prinzips der Anspruchsgerech-
tigkeit Ansprüche auf Leistungen und Rechte und erlebt damit Erfolge oder Misser-
folge. Die Folgen von Anerkennungs- bzw. Missachtungsvorgängen werden unter-
schiedlich verarbeitet. Da eine Anspruchsreduktion während der Gültigkeit der
Anspruchsgerechtigkeit nicht zu beobachten war, wurde auf Grundlage der in dieser
Arbeit bisher ausgearbeiteten theoretischen Zusammenhänge argumentiert, dass
Missachtungen nicht in einer Anspruchsreduktion münden, weil Ansprüche im
Rahmen der Selbstverwirklichung einen von ihrer Wichtigkeit abhängigen Selbst-
bindungsgrad haben. Dadurch muss aus individueller Perspektive weiterhin an
ihnen festgehalten werden. Die Individuen können dies rechtfertigen, indem sie
Misserfolge nicht sich selbst zuschreiben, sondern dem Adressaten der Ressourcen-
forderung.
Mit dieser Darstellung konnte außerdem gezeigt werden, dass während der
Gültigkeit der Anspruchsgerechtigkeit sowohl bei bürgerrechtlichen als auch bei
sozialrechtlichen Entwicklungen die Gewährung von Ansprüchen programmatisch
war. Diese politisch durchgesetzte positive Anerkennung von Forderungen führt zu
einer Steigerung des Anspruchsniveaus, weil hier ein grundsätzlicher Berechtigungs-
glaube besteht. Während auf bürgerrechtlicher Ebene die Gewährung der Autono-
mieansprüche bis heute weiter geführt wird, ist auf sozialrechtlicher Ebene mit dem
Wechsel von der Anspruchsgerechtigkeit auf Leistungsgerechtigkeit eine Begren-
zung der Ressourcenforderungen durchgesetzt worden. Diese Veränderungen wer-
den erst im nächsten Kapitel genauer betrachtet.

3.6 Stabilisierung von leistungsbasierten Selbstansprüchen durch das


Anerkennungsverhältnis positionale Wertschätzung

Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive etablierten sich Leistungsansprüche


durch die Veränderung von positionalen Anerkennungsmechanismen in Folge der
Industrialisierung. Wie bereits dargestellt, wurde positionale Wertschätzung in stän-
disch organisierten Gesellschaften an der kollektiven Leistung der Gruppe ausge-
richtet und war damit lediglich für die kollektive Identität ein stabilisierender Faktor.
In der individualisierten Gesellschaft greift sie auf die individuelle Identität zu. Der
Einzelne kann sich die Anerkennung eigener Leistungen und Fähigkeiten selbst
148 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

zuschreiben und damit von der Gruppenleistung abkoppeln. Motivationsbasierte


Leistungsansprüche werden so zu einem Ausdruck des individuellen Strebens nach
Abgrenzung gegenüber anderen. Mit zunehmender Individualisierung wandeln sich
auch die positionalen Anerkennungsverhältnisse. Die durch Individualisierungs-
prozesse entstehende „Deutungsoffenheit der Werthorizonte“ (Honneth 2003: 210)
macht sich in einer dynamischen Veränderung der beruflichen Anerkennungsbezie-
hungen bemerkbar. Das bedeutet, dass es für die Individuen immer wieder Phasen
geben wird, in denen Anerkennung unsicher wird und sie für die Veränderung von
Anerkennungsverhältnissen kämpfen müssen. Um sich mit Leistungsansprüchen
identifizieren zu können, benötigen sie deshalb die Fähigkeit zur Selbstanerken-
nung.
Wie bereits erläutert, hängt das Erleben von Erfolg und Misserfolg vom An-
spruchsniveau ab. Das Anspruchsniveau bestimmt die Art der Selbstbewertung. In
der Psychologie wird als Ausdruck dieses Selbstbewertungsmechanismus der Stolz
auf Erfolg und die Scham bei Misserfolg verstanden (vgl. Heckhausen 1972). Dies
ist einerseits gekoppelt an das Erfolgs- und Misserfolgserleben durch vorherige
Leistungen, aber auch an kommunikative Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind
soziale Anerkennungserfahrungen. Sie fließen einerseits als sozialisationsbedingter
Erfahrungshorizont in die Selbstbewertung ein. Andererseits können sie aber in
Form von kommunizierter Beurteilung der Leistung auch eine Relativierung des
eigenen Bewertungsmaßstabs bewirken.
Die Fremdanerkennung von leistungsbasierten Selbstansprüchen erfolgt nach
den Mechanismen der gesellschaftlichen Integration. Die Wertschätzung ist hier
also positional gefasst. Sie kann sich entlang objektiver Wertmaßstäbe von Leis-
tungsbewertung äußern. Sie wirken auf die Beurteilung ein, inwiefern eine Leistung
vom Individuum als Erfolg gewertet wird. Ein objektiver Bewertungsmaßstab von
Leistungen ist die Notengebung. Sie wird in vielen Bereichen wie Schule, Studium,
aber auch im Berufsleben häufig als Mittel der Beurteilung eingesetzt. Aufgrund
ihrer enormen sozialisatorischen Prägekraft können Noten als Maßstab für die
Festlegung eines Anspruchsniveaus bei leistungsbasierten Selbstansprüchen gelten.
Orientiert sich jemand kontinuierlich an einer „Eins“, dann prägt diese Zielsetzung
das Anspruchsniveau und bestimmt dadurch das Erfolgs- und Misserfolgserleben.
Bewertung kann aber auch subjektiv erfolgen und ist Ergebnis eines interakti-
ven Aushandlungsprozesses. Diese Anerkennungsebene greift direkt auf die Be-
wertung eigener Leistungen ein, sofern das Individuum die erzielten Leistungen im
Rahmen von Interaktionen thematisiert. Entscheidet es sich für die Erwähnung der
erzielten Leistungen, macht es sich in gewissem Sinn abhängig vom Urteil des Inter-
aktionspartners. Ein bis dahin individuell erlebter Erfolg kann auf diese Weise
durch Missachtung relativiert werden (vgl. Straus/Höfer 2008). Des Weiteren kann
das dauerhafte Ignorieren von Leistungen als Misserfolg gewertet werden, weshalb
es zu Frustrationen kommt, die unter Umständen ein Versiegen von Leistungsan-
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 149

sprüchen bewirken können, wenn nicht mit ausreichend Selbstanerkennung dage-


gen gesteuert wird.
Anders gestaltet sich die Anerkennung im Kontext von Berufsrollen. Diese
Form der Anerkennung ist eingebettet in gesellschaftlich geteilte Wertvorstellungen
über die sich in den Ansprüchen ausdrückenden Fähigkeiten des Individuums. Die
positionale Wertschätzung vollzieht sich entlang von Berufspositionen und kann
sich, wie bereits im Abschnitt 3.4.1 erläutert, auf allgemeine Anforderungen an eine
Berufsrolle beziehen, aber auch an die Fähigkeiten, die den Positionsinhaber einer
Berufsrolle auszeichnen. Hierbei kennzeichnet die in Ansprüchen ausgedrückte
Leistungsmotivation die Wandlungsprozesse innerhalb der Anerkennungsbeziehun-
gen. Die gesellschaftstheoretische Voraussetzung hierfür liefert die Ausdifferenzie-
rung der Erwartungen an Positionsinhaber von Berufsrollen und die sich daraus
ergebende Möglichkeit der Etablierung eigener Leistungsansprüche. Für die Aner-
kennungsbeziehungen, die auf Wertschätzung der eigenen Leistungsansprüche in
Berufsrollen beruhen, wirkt sich der Verlust der Bedeutung kollektiver Werte zur
Zeit des Anspruchsindividualismus in erster Linie problematisch aus. Der Status
einer Person in einer bestimmten Berufsrolle war hinsichtlich der individuellen
Leistungsansprüche noch unbestimmbar, weshalb die Anerkennung dafür noch
ausgehandelt werden musste (vgl. Honneth 2003: 178).
Die Veränderung zu einem an der Individualleistung orientierten Anerken-
nungsverhältnis zeigt sich demnach anhand dieser Aushandlungsprozesse. Damit
sollte der Wert einer individuellen Arbeitshandlung innerhalb des Berufskontextes
bestimmt werden. Dies setzte die Erkenntnis der Arbeitgeber voraus, dass Aner-
kennung von Arbeitnehmern nicht nur als Ausdruck der Kontrolle, sondern als
Bestätigung für die Arbeitsleistungen interpretiert wird (vgl. Holtgrewe 2003). Aus
diesen Anerkennungsmechanismen ging eine schrittweise, aber kontinuierliche
Erweiterung und Präzisierung zu einer persönlichen Form von Anerkennung her-
vor. Hierin spiegelt sich der die Individualisierung kennzeichnende Wertepluralis-
mus. Jedes veraltete Anerkennungsmuster, das ungerechtfertigt aufrechterhalten
wird, erfahren die Individuen als Einschränkung ihres Autonomiespielraums (vgl.
Emcke 2000: 237ff). Sie können als rigide bezeichnet werden (vgl. Faßauer 2008:
63).30
Diese Veränderung bezeichnet Honneth als Wechsel von einer normalisieren-
den zu einer auszeichnenden Anerkennung (vgl. Honneth 2004).31 Normalisierend

30 Diese Art von Anerkennungsverhältnis besteht z.B. in der von Goffman beschriebenen „totalen
Institution“ (Goffman 1973). Hier werden die Mitglieder einer Institution strengen formalen Re-
geln unterworfen. Ihre Tätigkeiten unterscheiden sich nicht voneinander und die Anerkennungs-
mechanismen sind reglementiert.
31 Honneth benutzt diese Unterscheidung in einer Diskussion über Formen ideologischer Anerken-
nung. Diese Perspektive wird hier nicht übernommen, sondern auf die Veränderungen hinsichtlich
positionaler Wertschätzung übertragen.
150 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

wirkt Anerkennung immer dann, wenn sie hinsichtlich der Selbstverwirklichungsbe-


strebungen, die sich in den Leistungsansprüchen ausdrücken, einschränkend wirkt,
weil sie nach einem veralteten Muster vergeben wird, d.h. Eigenleistungen nicht
herausstellt. Für eine individualisierte Gesellschaft muss Anerkennung kontrastiv
sein, weil so Leistungen, denen besondere Ansprüche zugrunde liegen, abgrenzend
hervorgehoben werden. Eine Wertaussage, welche Anerkennung suchende Indivi-
duen auf sich anwenden können, muss „(…) im Vergleich entweder mit der Ver-
gangenheit oder mit der umgebenden Sozialordnung einen Kontrast aufweisen (…),
der eine Gewähr für die Empfindung besonderer Auszeichnung bietet.“ (Honneth
2004: 63).
Dies lässt sich anhand empirischer Beobachtungen belegen. Im Zeitraum des
geltenden Anspruchsindividualismus wurde insgesamt verstärkt über die Krise der
Leistungsgesellschaft und eine schwindende Arbeitsmoral geklagt (vgl. Hondrich et
al. 1988). Die Bindung an Arbeit schien verloren zu gehen und die Zufriedenheit
mit der Arbeit nahm ab (Hondrich 1988: 7). Die Leistungsmotivation verlagerte sich
in andere Bereiche, d.h. vor allem in die Freizeitaktivitäten. Für die Arbeitnehmer
war dies unter anderem auch Folge einer Entfremdung aufgrund derzeit gültiger
unpersönlicher Anerkennungsverhältnisse. Am größten war das Entfremdungspo-
tential in den industriellen Arbeitszusammenhängen, speziell an der Fließbandpro-
duktion.
Eine persönliche Anerkennung der individuellen Leistung erfolgte dort im heu-
te verstandenen Sinne nicht. Wichtig war die Pflichterfüllung, die auf einem Ge-
meinschaftsgefühl innerhalb eines Betriebes beruhte. „Diese Nichtanerkennung der
Arbeit wurde in gewissem Maße kompensiert durch die Würdigung als Beitrag zur
gemeinsamen Wertschöpfung, wobei diese Würdigung eher patriarchalische oder
eher kooperative und verrechtliche Formen annahm.“ (Voswinkel 2002: 73). Die
Anerkennung von Subjektivität im Arbeitsprozess war also lediglich in sporadischer
Form vorhanden. Die hier wirksamen Anerkennungsmechanismen zeichnen sich
durch institutionalisierte Fürsorgeprinzipien wie Etablierung von Betriebsräten und
Gewerkschaften, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Rentenzahlungen aus. Des
Weiteren drücken sich in Betriebsausflügen und dem Feiern von Jubiläen Me-
chanismen der Würdigung von Arbeit aus. Damit verlief die Anerkennung auf einer
sehr abstrakten Ebene, und diente lediglich dazu, das Vorhandensein des Ange-
stellten im Betrieb zu würdigen. Eine Referenz an die tatsächlich individuelle ge-
leistete Arbeit war nicht zu erkennen (vgl. ebd.: 63).
Die in der Mitte der 1970er Jahre einsetzende Kritik an einer Entfremdung zur
Arbeit brachte bereits verschiedene Programme zur „Humanisierung der Arbeits-
welt“ hervor. Das erste wurde vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung,
Forschung und Technologie Hans Matthöfer initiiert. Dabei variierten die Ansprü-
che zwischen der Verbesserung des Arbeitsschutzes, der Möglichkeit der Selbstver-
wirklichung bei der Arbeit, der Ausweitung der Mitbestimmung bis hin zu Ideen zur
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 151

Überwindung der Klassengesellschaft durch Änderung der Gesellschaftsordnung


(vgl. Jaumann 1980: 23). Durch diese Programmatik wurde der Anstoß für mehr
Autonomie gegeben. „Ziel war es, Arbeitsstrukturen menschlicher zu gestalten und
Arbeitsformen zu entwickeln, in denen sich Einzelne als „ganze Menschen“ und
mit ihrer vollen Kompetenz (einschließlich methodischer und sozialer Kompeten-
zen, Verantwortung usw.) in ihre Arbeit einbringen können.“ (Doré/Clar 1997:
171). Die wesentlichen Aspekte einer autonomieorientierten Arbeitsgestaltung sind
bereits 1975 von Werner Fricke ausgearbeitet worden (vgl. Fricke 1975). Er schlug
vor, Innovationen entlang der Bedürfnisse der Mitarbeiter entwickeln zu lassen.
Damit gingen Anregungen zu Veränderungen der betrieblichen Organisations-
struktur und neuen Mitbestimmungsregelungen für institutionelle Veränderungen
einher (vgl. Fricke 1977: 326). Kernelement war hier die begleitende Qualifizierung
der Mitarbeiter, die ihnen helfen sollte, sich kontinuierlich Autonomie- und Ent-
scheidungsspielräume zu erarbeiten. Damals ging es ausdrücklich nicht um Maß-
nahmen zur Erhöhung von Motivation oder Personalführung. Diese Ansätze bau-
ten vielmehr auf die vorhandene intrinsische Motivation, scheiterten allerdings
letztendlich an Widerständen im Management und fehlendem ökonomischen Druck
(vgl. Breisig 1997).
In den folgenden Jahren ließen sich auch Leistungsansprüche im Arbeitskon-
text finden, die Ausdruck intrinsischer Motivation waren, weil sie über die normalen
Anforderungen hinausgingen. Dabei zeigte sich, dass Zufriedenheit vor allem aus
der Erledigung herausfordernder Aufgaben erlangt wird (vgl. Schlie/Stegbauer
1988: 134). In den 1980er Jahren traten diese Formen von Leistungsansprüchen
allmählich in gehobenen Positionen auf. Im Unterschied zu niedrigeren Positionen
traten unter Führungskräften Ansprüche nach Freiräumen für die eigene Arbeitsge-
staltung auf, die eigene Leistungsansprüche entstehen ließen und schließlich andere
Anerkennungsformen nach sich zogen (vgl. Volmerg/Senghaas-Knobloch/Leit-
häuser 1986).
Die Anerkennungsbeziehungen im beruflichen Kontext sind zu dieser Zeit von
balancierenden Aushandlungsprozessen geprägt und dienen dem Sichtbarmachen
individueller Leistungsansprüche in Abgrenzung zu vordefinierten Anforderungen
(vgl. Krappmann 1982). Die Aushandlung findet in erster Linie auf intersubjektiver
Ebene – also zwischen Kollegen oder Mitarbeitern und Vorgesetztem – statt. Aller-
dings muss das Individuum bei der Präsentation seiner individuellen Leistungsan-
sprüche deutlich machen, dass die eigenen Ansprüche über berufsrollenspezifische
Normalanforderungen hinausgehen. Inwiefern die präsentierten eigenen Leistungs-
ansprüche auch als wertvoll anerkannt werden, hängt von den Wertmaßstäben der
anerkennenden Person ab.
Dies führt zur Unsicherheit über Bewertungsmaßstäbe von Leistungen. Im be-
ruflichen Kontext wird vorausgesetzt, dass nur solche Ansprüche als wertvoll aner-
kannt werden, die bedeutungsmäßig an die Berufsrolle anknüpfen. In ihnen sollte
152 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

sich erhöhtes Engagement zur Ausübung der Rolle ausdrücken. Im Ergebnis wer-
den Leistungen hervorgehoben, die eine besondere Bedeutung für die Berufsrolle
haben. Solche Hervorhebungen wirken auszeichnend, weil sie kontrastiv sind – der
Kontrast ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen Rollenträgern und der Verände-
rung der Rollenausübung im Vergleich zur Vergangenheit. Diese Auszeichnung
kennzeichnet eine stärkere Orientierung an den Fähigkeiten des Rollenträgers. Sie
kann symbolisch sein und sich im Kontext verbaler oder nonverbaler Kommunika-
tion ausdrücken. Dem muss jedoch die Präsentation eigener Leistungsansprüche
vorausgehen, wobei erst einmal offen bleibt,

„(…) in welcher Weise Anerkennung nicht nur auf subjektive Bedürfnisse rekurriert, sondern auch
als ein personalpolitisches Instrument zur sozialen Differenzierung und Konkurrenz sowie zur
freiwilligen Leistungssteigerung und Identifikation mit betrieblichen Zielen genutzt wird bezie-
hungsweise werden kann“ (Böhle 2010: 472f.).

Die institutionelle Verankerung von individuellen Leistungsansprüchen innerhalb


der Berufsrolle kann anhand der Entwicklung von veränderten Leistungsbewer-
tungsmaßstäben innerhalb der Zielvereinbarungen verdeutlicht werden. Im Unter-
schied zu traditionellen Formen der Leistungsbewertung ist der „Bezugspunkt nicht
ein einheitlicher, objektiver und in Abstraktion von der Subjektivität der Arbeits-
kräfte bestimmter Leistungsmaßstab, sondern „(…) Ergebnis eines kommunikati-
ven Verständigungsprozesses, an dem die Beurteilten beteiligt sind.“ (Bender 2000:
157).
Damit wurde der Subjektivität der Arbeitnehmer mehr Beachtung geschenkt
und eine Abkehr von „leeren, beliebig interpretierbaren Kriterien“ (Breisig 1998:
299) erreicht. Gleichzeitig bedeutet die Festlegung dieser an subjektiven Leistungs-
ansprüchen orientierten Leistungskriterien wieder eine Normalisierung der Aner-
kennung. Die Individuen gelangen auf dieser Grundlage erst dann zu einer Aus-
zeichnung, wenn sie über das Normale hinausgehende Fähigkeiten präsentieren.
Damit deutet sich bereits ein Mechanismus an, der erst im letzten Kapitel diskutiert
werden soll, weil er unter dem Leitbild des Leistungsindividualismus seine Zuspit-
zung findet.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Stabilisierung der Iden-
tität durch motivationsbasierte Leistungsansprüche unter individualisierten Bedin-
gungen in erster Linie von der Fähigkeit der Selbstanerkennung abhängig ist. In
diese fließen objektive Bewertungsmaßstäbe ein und prägen so das Erleben von
erfolgreichen oder erfolglosen Leistungen. Gleichzeitig können Fremdanerkennun-
gen das individuelle Erfolgs- oder Misserfolgserleben relativieren. Grundsätzlich
können aber auch alle erlebten Anerkennungsleistungen mit einer negativen Selbst-
anerkennung unwirksam gemacht werden. Ebenso können negative Anerken-
nungsleistungen durch positive Selbstanerkennungen relativiert werden. Mit einer
gesellschaftstheoretischen Betrachtung der Anerkennungskontexte von Leistungs-
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 153

ansprüchen werden veränderte berufsrollenbezogene bzw. positionale Anerken-


nungsbeziehungen sichtbar. Sie sind durch einen verstärkten Aushandlungscharak-
ter geprägt, in dem es um die Durchsetzung individueller Fähigkeiten als Bestandteil
der Berufsrolle geht. Im Ergebnis lassen sich ein individualisierter Umgang mit
Rollenerwartungen und die Zunahme von auszeichnenden Anerkennungsverhält-
nissen erkennen.

3.7 Anerkennung von Ansprüchen und ihre Steigerungsdynamik

Mit dieser Analyse der Gestalt von Anerkennungsbeziehungen im Hinblick auf die
drei Anspruchshaltungen konnte herausgestellt werden, durch welche Mechanismen
der Umgang mit den unterschiedlichen Ansprüchen vor dem Hintergrund des kul-
turellen Leitbildes des Anspruchsindividualismus geprägt war. Damit ist für die hier
verfolgte Mikrofundierung der Weg von der Ausbildung von Ansprüchen bis zu der
Ermöglichung einer Identifikation zum Zweck der Identitätsstabilisierung offen
gelegt. Es wurde bereits an einigen Stellen plausibel gemacht, warum Ansprüche
einer Steigerungsdynamik ausgesetzt sind. Das sich in Ansprüchen ausdrückende
Streben nach einem Soll-Zustand konnte erweitert werden, indem es in eine allge-
meine anerkennungstheoretische Argumentation in Bezug auf Identitätsentwicklung
eingebettet wurde. Neben der Grundlage der Optionenvielfalt, die zu einer allge-
meinen Zukunftsoffenheit der Lebensläufe führt und so Ansprüche als handlungs-
leitende Zielsetzungen notwendig macht, um Selbstverwirklichung zu betreiben,
lassen sich aus der Gestalt der Anerkennungsbeziehungen insgesamt Gründe für die
Steigerung der Anspruchsniveaus ableiten.
Das Anspruchsniveau wirkt, wie bereits in Abschnitt 2.3 dargestellt, als Bewer-
tungsmaßstab sowohl auf die Zielsetzungen, Ressourcenforderungen und Selbstan-
sprüche ein. Es wird zur Messlatte für das sich überschreitende Individuationsstre-
ben. Dabei fungiert das in der Vergangenheit Erreichte als Standard, auf dessen
Grundlage höhere Ansprüche ausgebildet werden. Diese formen sich allerdings erst
in Abhängigkeit von Erfolgs- und Misserfolgserlebnissen, die einerseits durch die
Reaktionen der Umwelt hervorgerufen werden, andererseits durch verinnerlichte
Wertmaßstäbe und soziale Vergleichsmechanismen beeinflusst sind.
Durch diese inhärente Wechselwirkung zwischen dem eigenen Streben nach
Selbstverwirklichung und seiner sozialen Beeinflussung, ist das Konzept des An-
spruchsniveaus auch geeignet, um Individualisierung als Selbstverwirklichungspro-
zess unter gesellschaftstheoretischen Bedingungen abzubilden. Dabei werden die
Ambivalenzen zwischen der Ermöglichung von Selbstbestimmung und ihrer Be-
grenzung aus den Veränderungen von Anerkennungsbeziehungen abgeleitet und als
Zeichen neuer Integrationsmechanismen gewertet.
154 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

In Bezug auf die Stabilisierung von Seinsforderungen durch Liebe und emotio-
nale Wertschätzung konnte gezeigt werden, dass derartigen Bestrebungen mehr
Raum gegeben wird, was sich in dem Wandel der Gestaltung der Beziehungen nie-
derschlägt. Das impliziert auch, dass die partnerschaftliche Kommunikation ver-
stärkt durch die Aushandlung von Zielsetzungen geprägt wird. Die Steigerungsdy-
namik der Zielsetzungen zeigt sich dann in der zunehmenden Belastung der Bezie-
hung bei der Herstellung von Gemeinsamkeit. Dass sich die Zielsetzungen über-
haupt in dem Maße entwickeln, ist dem Anerkennungsmechanismus intimer Bezie-
hungen geschuldet. Die wechselseitige Orientierung an der Individualität des Part-
ners schließt die Berücksichtigung der Zielsetzungen ein. Aufgrund der Zunahme
dieser Zielsetzungen müssen allerdings die Anstrengungen bei der Herstellung von
Gemeinsamkeit erhöht werden. So gesehen lässt sich die Steigerungsdynamik auch
aus den Ansprüchen an den Partner nach mehr Wertschätzung der eigenen Indivi-
dualität ableiten. Gleichzeitig sind die abnehmende Kontinuität und der häufigere
Wechsel von intimen Partnerschafen ebenfalls auf die Zunahme von Selbstverwirk-
lichungsansprüchen zurückzuführen.
Die Steigerungsdynamik von Ressourcenforderungen ergibt sich aus anderen
Anerkennungsmechanismen. Die Zunahme solcher Forderungen gründet auf der
bürgerrechtlich verankerten Akzeptanz individueller Autonomie. Hier kann es kei-
nen anderen Weg geben, als sich auf rechtlicher Ebene immer wieder mit den An-
sprüchen der Individuen auseinanderzusetzen, da dies zu einem Grundpfeiler des
demokratischen deutschen Staates geworden ist. Die Entwicklung zu einer Wohl-
standsgesellschaft mit dem gleichzeitigen sozialrechtlich legitimierten Prinzip der
Anspruchsgerechtigkeit führt darüber hinaus zur kontinuierlichen Ausweitung indi-
vidueller Ressourcenforderungen. Die eigentliche Steigerungsdynamik auf individu-
eller Ebene ergibt sich aus der Erfahrung erfolgreicher Anspruchsanmeldungen und
der damit einsetzenden Befriedigungswirkung. Die Erfahrung mit anerkannten
Anspruchsanmeldungen beeinflusst die Wahrnehmung eines Bedürfnisdefizits. Die
Entscheidung weitere Ansprüche anzumelden, hängt davon ab, ob Aussicht darauf
besteht, das festgesetzte Anspruchsniveau nicht zu unterschreiten.32 Im Kontext der
individualisierten Gesellschaft wird die Selbstverwirklichung zum großen Teil durch
diese Erfahrungen mit Ressourcenforderungen geregelt, da sie die Verfügbarkeit
von Optionen begrenzen. In Verbindung mit der Erfahrung einer Berechtigung von
Anspruchshaltungen kommt es zur kontinuierlichen Steigerung von Anspruchsan-
meldungen.

32 In experimentellen Untersuchungen über Anspruchsanpassungen (vgl. Sauermann/Selten 1962)


wurde der Zusammenhang zwischen Anspruchsniveau und der Anpassung an die Niveaus anderer
Individuen in konkreten Situationen untersucht. Damit sollte aufgezeigt werden, unter welchen
Bedingungen es bei nichterfüllten Ansprüchen zu einer Anspruchsanpassung kommt und wann die
Suche nach Erfüllung weitergeführt wird.
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 155

Die Steigerungsdynamik von leistungsbasierten Selbstansprüchen lässt sich aus


den Anerkennungsmechanismen der positionalen Wertschätzung ableiten. Auf der
Basis des individualitätsbedingten Abgrenzungsbemühens der Individuen im Ver-
gleich mit anderen ergibt sich eine zunehmende Identifikation mit Selbstansprü-
chen. Diese findet vor allem in beruflichen Kontexten statt. Hierbei konnte durch
eine gesellschaftstheoretische Betrachtung gezeigt werden, wie die Ausweitung von
Selbstansprüchen eine Veränderung von Anerkennungsbeziehungen nach sich zog.
Dabei ergibt sich die Steigerungsdynamik aus der Bedeutsamkeit der Selbstansprü-
che für die Ausgestaltung der Berufsrolle. Die institutionelle Verankerung von Leis-
tungsansprüchen führt allmählich zu einer Umkehrung des Verhältnisses von
Selbstansprüchen und Forderungen. Ursprüngliche Selbstansprüche werden zu
geforderten Leistungen. Die angestrebte auszeichnende Anerkennung kann dann
nur durch eine Erhöhung des Anspruchsniveaus erzielt werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Unter Beachtung des durch Anspruchsge-
rechtigkeit gekennzeichneten gesellschaftstheoretischen Rahmens wird eine Steige-
rung der Ansprüche aufgrund einer rechtlich ermöglichten Vergrößerung der Opti-
onenverfügbarkeit und eines Strebens der Individuen nach Besonderung in Abgren-
zung zur sozialen Umwelt ersichtlich. Die wechselseitige Anerkennung in persönli-
chen Beziehungen führt zur Ausweitung der individuellen Handlungsautonomie auf
Kosten der Aufrechterhaltung von partnerschaftlicher Gemeinsamkeit. Die Bereit-
stellung staatlicher Leistungen und die Gewährung individueller Rechte ermöglicht
die Steigerung von Selbstverwirklichungs- und Autonomiemöglichkeiten. Die Auf-
weichung starrer Rollenvorgaben und die Aushandlung über die Bewertung indivi-
dueller Fähigkeiten, die in Form von Selbstansprüchen in den beruflichen Kontext
dringen, erweitern den Raum individueller Selbstdarstellungsmöglichkeiten. So
können letztendlich im Sinne der sozialen Aufstiegsbewegungen Veränderungen des
gesellschaftlichen Status entstehen. Aber zu aller erst stellt die Ausweitung eigener
Ansprüche und die damit gemachten Anerkennungserfahrungen ein Problem für
die Herstellung der Identität der Individuen dar, da sie in eine bestimmte Ordnung
gebracht werden müssen, um die Identität insgesamt zu stabilisieren. Dazu sind
Fähigkeiten wie Anerkennungsgewichtung, Relativierungen und wiederum Selbstan-
erkennung wichtig. Diese werden im Folgenden diskutiert.

3.8 Identitätsorganisierende Wechselwirkungen durch


Anerkennungsgewichtung

Für eine Gesamtbetrachtung der Identitätsentwicklung durch Anspruchshaltungen


ist abschließend eine Betrachtung des Aspekts der Anerkennungsgewichtung von-
nöten. Nach einem vollzogenen Anerkennungsakt ist es Aufgabe des Individuums,
156 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

diesen im Hinblick auf andere Anerkennungsformen zu bewerten und zu gewich-


ten. Aufgrund der Kontextgebundenheit der Anerkennung von Seinsforderungen,
Ressourcenforderungen und Leistungsansprüchen müssen die Individuen die Er-
fahrungen mit ihren Ansprüchen immer wieder selbst zueinander in Beziehung
setzen. Die Anerkennungsbeziehungen legen, so gesehen, nur den Möglichkeits-
raum für die Identifikation mit Ansprüchen fest. Erst aus ihrer Zusammenschau
ergibt sich für jedes Individuum eine eigene Perspektive auf den Stellenwert der
unterschiedlichen Ansprüche für ihre Identität.
Bei allen Anerkennungsverhältnissen wirkt die Selbstachtung des Individuums
mit. Individuen können und müssen sich Selbst anerkennen, um Anerkennung zu
verarbeiten. Dabei können sie wertschätzen, was sie geleistet haben und was sie
sind, und sich zusätzlich gegen erfahrene Missachtungsvorgänge abschotten. Der
hier wirksame Mechanismus des Ich-Niveaus, den Ferdinand Hoppe herausgestellt
hat (vgl. Hoppe 1930) dient als Voraussetzung für diese Fähigkeit. Dabei finden
korrespondierend mit niedrigen Selbsteinschätzungen auch Selbstentwertungen
statt, die im Falle einer negativen Anerkennungserfahrung zu einer Bestätigung des
Selbstbildes führen. Personen mit hohem Ich-Niveau haben hier die Fähigkeit, die
negative Anerkennung mit eigener Wertschätzung zu relativieren.
Diese psychologische Perspektive kann im Rahmen der hier verfolgten Argu-
mentation erweitert werden. Vor dem Hintergrund von Individualisierungsprozes-
sen und sich wandelnden Anerkennungsmechanismen wird deshalb die These auf-
gestellt, dass die positive Haltung sich selbst gegenüber letztendlich die Vorausset-
zung dafür bildet, um überhaupt Anerkennung verarbeiten, sortieren und relativie-
ren zu können. Dies ist ein weiteres Kennzeichen des höheren Grades an Eigenver-
antwortung, den Individualisierung hinsichtlich der Identitätsentwicklung erzeugt.
Mit einer entwicklungspsychologischen sowie -soziologischen Argumentation kann
zusätzlich deutlich gemacht werden, dass diese Fähigkeit wiederum davon abhängt,
welche Erfahrungen mit Anerkennung in der Vergangenheit gemacht wurden (Ka-
letta 2008: 136; Keupp 2002: 257).
Eine andere Möglichkeit liegt in der Fähigkeit des Ignorierens von Anerken-
nung oder Missachtung. Diese ergibt sich bereits aus dem Verlust einer allgemeinen
wertverbindenden Relevanzgruppe, die Mead als „generalized others“, d.h. als An-
erkennung gebende Gruppe bestimmt hat. Auf der Grundlage des Wertepluralismus
ist hierbei ein Wechsel der Orientierung in Richtung der „relevanten Anderen“ zu
beobachten. Damit ist gemeint, dass nicht jedes Individuum, das ein anderes aner-
kennen möchte, auch für das andere Individuum relevant ist. Das Individuum be-
stimmt aufgrund selbst gesetzter Kriterien, ob und in welchem Ausmaß es der An-
erkennung von anderen zustimmt. Gleichzeitig gilt dabei, dass das Individuum
immer nur in Teilen seiner Identität anerkannt wird. „Daher ist weder jedermanns
Anerkennung, noch die Anerkennung aller meiner Besonderheiten für mich von
Bedeutung.“ (Ikaheimo/Laitinen/Quante 2004: 81). Die gleichen Aspekte gelten
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 157

auch bei Missachtungsvorgängen. Diese können erst wirksam werden, wenn das
Individuum sie als für sich und die geäußerten Ansprüche relevant definiert.
Darüber hinaus ist das Individuum in der Lage, Erfahrungen mit kontextspezi-
fischer Anerkennung und Missachtung so miteinander in Beziehung zu setzen, dass
ein Mangel an Anerkennung z.B. im Rahmen positionaler Wertschätzung durch die
Anerkennung in persönlichen Beziehungen relativiert werden kann (vgl. Straus/Hö-
fer 1997: 299). Die Selbstverwirklichungsbestrebungen können allerdings auch aus-
schließlich auf den Bereich verlagert werden, in dem die geäußerten Ansprüche an-
erkannt werden, um Enttäuschungen vorzubeugen und Misserfolgserlebnisse zu
vermeiden.
Zusammenfassend sei hier festgehalten, dass der Verlauf der Identitätsbildung
grundsätzlich von Anerkennung abhängig ist. Doch muss sich das Individuum mit
der Anerkennung selbstreflexiv auseinandersetzen, um seine Identität zu stabilisie-
ren. Hierbei nutzt das Individuum Gewichtungen, Umdeutungen, Relativierungen
und Ausblendung von Anerkennungs- und Missachtungsvorgängen und Selbstaner-
kennungsmechanismen. Es kann im Ergebnis auch zu einer völligen Umschreibung
der Identität und der Art des Selbstverwirklichungsstrebens in der darauf folgenden
Selbstpräsentation kommen (vgl. Werschkull 2007: 73). Damit ist der letzte Schritt
zur Erklärung einer anspruchsgeleiteten Identitätsentwicklung vollzogen. Er ent-
spricht einer intraindividuellen Logik der Aggregation. Diese theoretische Grund-
lage ermöglicht es, die Zusammenhänge zwischen Ansprüchen, Identitätsbildung
und Anerkennung empirisch zu untersuchen. Vor allem ist hiermit ein Ansatz erar-
beitet worden, der die Umgangsweisen mit Anerkennung, also das Umdeuten, Rela-
tivieren und Gewichten auf Grundlage der Wichtigkeit eines Anspruches zu erklä-
ren vermag.

3.9 Gesellschaftstheoretische Gesamtbetrachtung einer


anspruchsgeleiteten Identitätsentwicklung

Die gesellschaftstheoretische Betrachtung einer anspruchsgeleiteten Identitätsent-


wicklung setzt sich aus unterschiedlichen Aspekten zusammen. Dazu gehört ein auf
der Grundlage von Individualisierungsprozessen entwickeltes Identitätsverständnis,
die Erarbeitung von anerkennungstheoretischen Perspektiven im Hinblick auf die
Stabilisierung von Anspruchshaltungen, die Verdeutlichung einer der Anspruchsan-
erkennung inhärenten Steigerungsdynamik und die Konzeptualisierung von identi-
tätsorganisierenden Wechselbeziehungen zwischen den Erfahrungen, die die Indivi-
duen mit ihren Ansprüchen machen.
Im Abschnitt über Identitätsarbeit und Interaktion wurde erläutert, dass sich
Identität im Bereich der sozialen Beziehungen als Aushandlungsprozess zwischen
eigenen Bedürfnissen und sozialen Erwartungen darstellt. Unter individualisierten
158 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

Bedingungen bildet die Voraussetzung hierfür vor allem das Bedürfnis nach Indivi-
dualitätserzeugung. Dieses Bedürfnis kann mittels Anspruchshaltungen befriedigt
werden. Auf der Grundlage eines allgemeinen Optionen- und Wertepluralismus in
allen hier betrachteten sozialen Kontexten ergibt sich die Chance und Notwen-
digkeit einer zunehmend an den eigenen Ansprüchen orientierten Selbstdarstellung.
Der Identitätsbildungsprozess beginnt demzufolge mit einer nach Anerken-
nung suchenden Präsentation individueller Ansprüche. Dieses Streben nach einer
individuellen Identität findet im zwischenmenschlichen Bereich statt, weil Selbst-
vergewisserung auf die Anerkennung durch andere Individuen angewiesen ist. Die
drei Anspruchshaltungen werden dabei entweder in persönlichen Beziehungen,
institutionellen oder organisationalen Beziehungen beachtet. Die hier angestoßenen
Aushandlungsprozesse führen zu spezifischen Anerkennungsleistungen.
Persönliche Anerkennungsbeziehungen bilden die elementarste Form des iden-
titätsstiftenden Austauschs. Intime Beziehungen orientieren sich an der Individua-
lität der Person bzw. entstehen erst durch sie. Gleichzeitig müssen intime Bezie-
hungen aber eine gemeinsame Welt schaffen, um Bestand zu haben. Die Orientie-
rung an den individuellen Eigenschaften des Partners ergibt sich daraus, wie sich die
Partner gegenseitig präsentieren. Es wurde erläutert, dass bereits die Darstellung
dieser individuellen Eigenschaften durch die Anwesenheit des Partners verändert
wird. Es entstehen bei beiden Partnern Zielsetzungen, die ohne die Auseinanderset-
zung mit dem Partner unkonkreter geblieben wären und damit nicht identifizierend
gewirkt hätten. Diese Verfestigung der Überzeugungen ist Voraussetzung für daraus
entstehende Ansprüche, die in der Partnerschaft kontinuierlich ausgehandelt wer-
den. Die Partner werden füreinander zu einem wichtigen Stabilisator der persönli-
chen Entwicklung. Sie geben sich Sicherheit in dem, was sie sein wollen. Es kommt
zur Festschreibung des antizipierten Selbstbildes, das in sich in Seinsforderungen
ausdrückt. Grundsätzlich besteht für Intimbeziehungen gerade unter Bedingungen
der Optionenvielfalt die Schwierigkeit, ein Gleichgewicht zwischen Gemeinsamkeit
und dem Streben nach Besonderung herzustellen.
Die Anerkennung von Ressourcenforderungen erfolgt auf rechtlicher Ebene.
Es wurde hier zwischen bürgerrechtlicher und sozialrechtlicher Anerkennung unter-
schieden. Während erstere Autonomieansprüchen antwortet, bezieht sich letztere
auf Selbstverwirklichung. Beide Arten von Ressourcenforderungen gründen auf
dem Glauben, dass der Wunsch nach Erfüllung des eigenen Anspruchs berechtigt
sei. Dieser basiert auf dem Mechanismus der kontinuierlichen normativen Höher-
orientierung. Individualisierte Gesellschaften können hinsichtlich der Autonomie-
ansprüche keine Begrenzungen durchsetzen. Und auch im Rahmen der sozialrecht-
lichen Anerkennung werden Anspruchsbegrenzungen durch politische Vertreter un-
terschiedlicher Lager immer wieder verhindert. Anerkennung von Ressourcenfor-
derungen fungiert deshalb als Regulativ bei der Verfügbarkeit von Optionenvielfalt.
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 159

Die Erfahrungen mit Ressourcenforderungen begrenzen so den Optionenraum und


damit die Möglichkeiten für Selbstverwirklichung.
Die Anerkennung von leistungsbasierten Selbstansprüchen erfolgt durch posi-
tionale Wertschätzung, die vor allem im beruflichen Kontext vergeben wird und
funktionalen Kriterien folgt. Die Wandlung der Anerkennungsbeziehungen im
Rahmen der positionalen Wertschätzung drückt sich in einem verstärkten Aushan-
deln passender Anerkennungsformen aus. Ausgangspunkt dafür sind Entfrem-
dungserfahrungen, die sich aus den noch geltenden kollektivierenden Anerken-
nungsverhältnissen ableiten lassen. Die Arbeitnehmer benötigen andere Formen der
Anerkennung für ihre individuellen über die Norm hinausgehenden Leistungsan-
sprüche innerhalb der Berufsrolle, um sich mit der Arbeit identifizieren zu können.
Eine solche individualisierte Anerkennung ließ sich während der Zeit des An-
spruchsindividualismus auf Grundlage veränderter Zielvereinbarungsmechanismen
vor allem in gehobeneren Positionen beobachten und leitete den Wechsel von einer
normalisierenden zu einer auszeichnenden Form von Anerkennung ein.
Alle Formen der Anerkennung wirken sich auf das Selbstbild aus, welches das
Individuum durch Selbstbeschreibung außerhalb von Kommunikationszusammen-
hängen erzeugt. Die Individuen können die Anerkennungswirkungen selbst relati-
vieren, gewichten oder sogar ignorieren. Der Grad dieser Fähigkeit wird vom Ich-
Niveau und der Fähigkeit zur Selbstanerkennung beeinflusst. Dabei kommt es zur
Auswertung von Anerkennungs- und Missachtungserlebnissen. Missachtung auf
rechtlicher Ebene ist schwerer zu verkraften als Missachtung von Zielsetzungen
oder Selbstansprüchen auf persönlicher Ebene. Missachtung von Zielsetzungen in
persönlichen Beziehungen kann durch neuerliche Aushandlungsprozesse wieder
ausgeglichen werden. Des Weiteren können durch einen Wechsel des Partners oder
der Suche neuer Freunde ausgleichende Anerkennungsleistungen gelingen. Bei der
Missachtung von leistungsbasierten Selbstansprüchen können Leistungssteigerun-
gen die Folge sein. Aus diesen Zusammenhängen wird die Unbeständigkeit und
Schwierigkeit, aber auch Freiheit einer kontinuierlichen Identitätsarbeit für den
Einzelnen ersichtlich.
Die Voraussetzung für eine Theorie von Identitätsbildung als subjektivem Her-
stellungsprozess bildet damit die Vorstellung, dass sich Identität über Bedeutungs-
zuschreibungen aufbaut. Als Identität wird bezeichnet, was das Individuum sich
selbst als Bedeutung zuschreibt. Diese Bedeutungen erlangt das Individuum zum
einen durch die Erfahrungen mit Anerkennungsleistungen der Interaktionspartner.
Darüber hinaus erfordern individualisierte Bedingungen, dass sich die Individuen
mit den Erfahrungen der anspruchsgeleiteten Selbstdarstellung und der dafür ausge-
sprochenen Anerkennung oder Missachtung auseinanderzusetzen, um Identität zu
stabilisieren. Ziel ist die Identifikation mit Ansprüchen auf Grundlage der Herstel-
lung eines Zusammenhangs zwischen alten und neuen Erfahrungen. So kann das
Individuum ein konsistentes Selbstbild erzeugen (vgl. Frey/Haußer 1987a: 7). Iden-
160 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung

titätsstabilisierung ist damit von der Fähigkeit abhängig, alle Erfahrungen in einen
eigenen Zusammenhang zu bringen. Dies ist vor allem dann schwierig, wenn wider-
sprüchliche Anerkennungsleistungen zu gleichen Teilen der präsentierten Identität
erbracht werden.
Gelingt es dem Individuum nicht, diese Konsistenz durch Bedeutungszuschrei-
bung vor allem bei widersprüchlichen Erfahrungen herzustellen, ergibt sich der
Zustand der Identitätsdiffusion. Es stehen sich dann unterschiedliche Bedeutungen
derselben präsentierten Identitätsbestandteile gegenüber und ergeben für die Person
keinen Sinn, verweigern sich somit einer Identifizierung und blockieren die Her-
stellung von Identität. Dieser Zustand der Identitätsdiffusion kann nur aufgehoben
werden, dass die Person sich von widersprüchlichen Erfahrungen ihrer selbst ab-
grenzt und ihnen damit eine identifizierende Bedeutung abspricht.
Die in den letzten beiden Kapiteln erarbeiteten Zusammenhänge werden im
folgenden Schaubild noch einmal plausibel gemacht:

IDENTITÄT

SELBSTBESCHREIBUNGSVORGÄNGE

Emotionale Rechtliche Aner- Positionale


Wertschätzung kennung Wertschätzung

INTERAKTIVE AUSHANDLUNGSPROZESSE

Seinsforderung Ressourcen- Leistungsanspruch


forderung

KOGNITIVE WAHRNEHMUNGSVORGÄNGE

SELBSTVERWIRKLICHUNG
Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung 161

Das Selbstverwirklichungsstreben erfolgt auf der Grundlage von kognitiven


Wahrnehmungsprozessen, durch welche die Optionenvielfalt in individualisierten
Gesellschaften handlungsleitend wird. Optionenvielfalt führt zur Ausbildung der
drei Anspruchshaltungen: Seinsforderungen, Ressourcenforderung und Leistungs-
anspruch. Durch Ansprüche wird Selbstbindung ermöglicht. Sie dienen dazu, Opti-
onen zu wählen und sich als Individuum zu präsentieren. Die Ausbildung der Ans-
prüche wird dabei über soziale Vergleiche gesteuert.
In einem nächsten Schritt werden Ansprüche präsentiert. In einer individuali-
sierten Gesellschaftsform dienen sie der Abgrenzung gegen die bisher erarbeitete
Identität und die Selbstverwirklichungsbestrebungen anderer Individuen. Damit soll
eine Identifikation mit den eigenen Ansprüchen erreicht werden. Die dafür erfor-
derliche Anerkennung erfolgt auf drei Ebenen: als Liebe und emotionale Wertschät-
zung in persönlichen Beziehungen, als rechtliche Anerkennung in institutionellen
Beziehungen und als positionale Wertschätzung in organisationalen Zusammenhän-
gen. Dabei werden die Seinsforderungen über emotionale Wertschätzung, Ressour-
cenforderungen über rechtliche Anerkennung und motivationsbasierte Leistungsan-
sprüche über positionale Wertschätzung stabilisiert.
Da die Erfahrungen mit Anerkennung kontextspezifisch sind, müssen sie in ei-
nen eigenen Zusammenhang gebracht werden. Deshalb werden in den Selbstbe-
schreibungsvorgängen Bedeutungsgewichtungen vorgenommen. Sie relativieren
negative Erfahrungen und ordnen positive Erfahrungen dem eigenen Selbstbild zu.
So entwickeln Individuen ein konsistentes Selbstbild.
Auf diese Weise entsteht eine Identität, die sich entlang der Anspruchshaltun-
gen aufbaut und verändert. Die grundsätzliche Steigerungsdynamik von Anspruchs-
haltungen ergibt sich aufgrund einer individualisierten, durch Optionenvielfalt ge-
kennzeichneten Gesellschaftsform, in der Anspruchshaltungen auf einer allgemei-
nen Berechtigungslogik beruhen. Gleichzeitig unterliegt ihre Bedeutung einer immer
wieder vorzunehmenden Aushandlung, die auf der Basis eines gesellschaftlichen
Wertepluralismus entsteht und damit die Möglichkeiten für Selbstverwirklichung
kontinuierlich erweitert.
Für die objektive Betrachtung von Individualisierungsprozessen, die ihren Aus-
gangspunkt bei den Identitätsbestrebungen der Individuen nimmt, bedeutet dies,
Veränderungen der Integrationsprinzipien der Individuen immer in den geltenden
Anerkennungsbeziehungen und den darin stattfindenden Missachtungsvorgängen
zu suchen.
4 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und
Erfolgsindividualismus

„Es gibt einen Grad der Unterdrückung,


der als Freiheit empfunden wird.“
(Ernst Jünger)

Der eingangs beschriebene aktuell zu beobachtende vierte Individualisierungsschub


wurde durch die Entstehung eines neuen kulturellen Leitbildes eingeleitet. Ulrich
Beck hat im Rahmen der Ausarbeitung der Mechanismen einer reflexiven Moderni-
sierung diese Veränderungen als Radikalisierung der zuvor in „Risikogesellschaft“
herausgearbeiteten Modernisierungsprozesse beschrieben (vgl. Beck/Giddens/Lash
1997). Zentrales Merkmal dieses Wandels ist die zunehmende Prägekraft soge-
nannter „Sekundärinstitutionen“ (Leisering 1997: 143), zu denen der Arbeitsmarkt,
der Sozialstaat sowie die Massenmedien gezählt werden. Diese Institutionen regeln
die Verfügbarkeit von Optionen im Übergang vom dritten zum vierten Individuali-
sierungsschub in veränderter Weise. Aus der Perspektive des in dieser Arbeit einge-
nommen Anspruchshandelns, ist der Wandel in erster Linie bedingt durch eine
Überforderung des Wohlfahrtsstaates und gesellschaftlicher Organisationen. Aus
dieser Überforderung entwickeln sich Begrenzungen der Befriedigungsmöglichkei-
ten von Ressourcenforderungen. Gleichzeitig entstehen Forderungen nach Eigen-
leistungen. Dieser Wandel markiert den Übergang vom Anspruchs- zum Leistungs-
individualismus. Während unter dem Anspruchsindividualismus noch Bedürftigkeit
das vorrangige Integrationsprinzip war, ist es nun Leistung (vgl. Neckel/Dröge
2002: 93).
Dies hat Auswirkungen auf das Anspruchshandeln der Individuen insgesamt.
Der Umgang mit Seinsforderungen, Ressourcenforderungen und Leistungsansprü-
chen verändert sich dabei auf unterschiedliche Weise. Zentrales Merkmal ist jedoch
die Verschmelzung eigener Ansprüche mit Fremdforderungen. Grundlage dafür ist
die Zunahme von leistungsbasierten Selbstansprüchen bei den Individuen. Während
zu Zeiten des Anspruchsindividualismus Selbstverwirklichung überwiegend außer-
halb der beruflichen Tätigkeit gesucht wurde und sich vor allem in alternativen
Lebensstilen ausdrückte, kehrt sich dies seit einigen Jahren wieder in ein Streben
nach beruflichem Erfolg um. Die Selbstbestätigung wird verstärkt durch eigene
Leistungsansprüche gewonnen.
Diese aktuellen Veränderungen sind Ausgangspunkt für die folgende zeitdiag-
nostische Betrachtung neuer Individualisierungsvorgänge. Mit dieser Perspektive ist
es möglich, die Gefährdungslagen für Identitätsentwicklung herauszuarbeiten, da
Zeitdiagnosen dadurch gekennzeichnet sind, sich auf einen Veränderungsmodus zu

D. Lindner, Das gesollte Wollen, DOI 10.1007/978-3-531-19193-5_5,


© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
164 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

konzentrieren. Das Vorgehen dieses Kapitels ist dadurch stärker beschreibend als
das dritte und konzentriert sich vorrangig auf die Suche nach Verschmelzungen
zwischen Selbst- und Fremdansprüchen.
Dazu erfolgt als erstes eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Leistung
und seiner Bedeutung für die Veränderungen im Selbstverwirklichungsstreben der
Individuen. Daran anschließend wird die Verschmelzung von Fremdforderungen
und Selbstansprüchen anhand unterschiedlicher Subjektmodelle diskutiert. Was dies
im Einzelnen für die Identitätsentwicklung der Individuen bedeutet, lässt sich durch
die Analyse der Anerkennungsverhältnisse offen legen. Mit dieser Perspektive auf
ein umfassendes am Leistungsstreben der Individuen ansetzenden Integrationsprin-
zip werden die drei Anerkennungsverhältnisse Liebe bzw. emotionale Wertschät-
zung, rechtliche Anerkennung und positionale Wertschätzung auf gesellschaftliche
Einflussnahmen untersucht, um den Grad der Untergrabung individueller Ansprü-
che durch neue Soll-Normen abschätzen zu können.

4.1 Vorläufer des aktuellen Leistungsindividualismus

Die aktuell zu beobachtende Leistungsorientierung ist keine Neuerscheinung. Leis-


tung war bereits während des zweiten Individualisierungsschubs in den modernen
Industriegesellschaften ein Wert im Rahmen der Entwicklung von Lohnarbeit und
Arbeitsteilung (vgl. Durkheim 1977). Sie fungierte hier in erster Linie als Differen-
zierungsmerkmal im Berufsleben. Diese erste Welle des Leistungsindividualismus
löste den bis dahin geltenden Besitzindividualismus ab. Auf der Grundlage von
Leistungsnachweisen wurden unterschiedliche Entlohnungssysteme und darüber
hinaus die unterschiedliche Verteilung von Machtanteilen und Privilegien innerhalb
von Berufspositionen gerechtfertigt (vgl. Isensee 1977: 415).
Auf gesellschaftlicher Ebene entwickelten sich entlang dieses Leistungsprinzips
Kriterien, nach denen materielle und soziale Lebenschancen verteilt, Teilhabe am
wirtschaftlichen Leben gewährt, Hierarchien in Organisationen begründet und sozi-
ale Ungleichheit zwischen Personen, Gruppen und Klassen gerechtfertigt wurden
(vgl. Neckel/Dröge 2002: 94). Damit unterschied sich das Verteilungsprinzip von
den Integrationskriterien vormoderner Gesellschaften, in denen einzig und allein die
Herkunft über materielle und soziale Chancen entschied.
Der für diese Zeit prägende Begriff „Leistungsgesellschaft“ geht auf die Über-
setzung des Buches „The Achieving Society“ von David McClelland (vgl. McClel-
land 1961) zurück. McClelland wollte das wirtschaftliche Wachstum westlicher
Industrienationen mit dem Leistungsmotiv erklären, das auf Max Webers Analysen
zum Geist des Kapitalismus zurückgeht (vgl. Weber 1988). Er definierte Leistungs-
gesellschaften als Gesellschaften mit schneller wirtschaftlicher Entwicklung (vgl.
McClelland 1961: 109). Sie zeichnen sich durch eine hohe Leistungsorientierung
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 165

ihrer Bürger aus. Vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Steigerung des Wirt-
schaftswachstums entwickelte sich das Leistungsprinzip allmählich zu einem allge-
meinen, monopolartigen Regulativ. Als Mechanismus, der über die Zuweisung einer
beschränkten Anzahl gesellschaftlicher Positionen entschied, regte das Leistungs-
prinzip den Wettbewerb an, begrenzte aber zugleich den Egalitätsanspruch.
Dies lässt sich anhand der Bildungsexpansion seit den 1950er Jahren nachvoll-
ziehen. Mit der Auflösung von Bildungsbeschränkungen verschwand einerseits die
letzte Institution einer schichtspezifischen Verteilung von Statuspositionen. Zu-
gleich steigerte sich jedoch die Konkurrenz von Leistungsträgern auf dem Arbeits-
markt enorm. Die Grenzen des leistungsbasierten Gleichheitspostulats zeigten sich
durch neuartige Schließungsprozesse. Zum einen wurden zunehmend höhere Bil-
dungsabschlüssen gefordert. Arbeitgeber, z.B. Banken, verlangten statt der mittleren
Reife nun das Abitur als Zugangsberechtigung. Dies erschwerte zunehmend den
sozialen Aufstieg für niedriger Gebildete. Zum anderen trat mit der einsetzenden
Bildungsinflation ein strukturelles Problem der Gleichheitsidee zutage. Denn mit
der Entwertung von Bildungsabschlüssen wurden notwendigerweise andere Mecha-
nismen etabliert, um die Erlangung hoher Statuspositionen zu regeln. Dies hatte für
die Individuen zur Folge, dass ihre Aufstiegsansprüche trotz der Bildungsexpansion
vom Scheitern bedroht waren. Studien von Pierre Bourdieu zeigten, dass weiterhin
indirekte Selektionsmechanismen am Werke waren und sind, welche die Aufstiegs-
chancen für Kinder aus unteren Bildungsschichten verringern (vgl. Bourdieu 1982).
Das Leistungsprinzip wirkt als ein auf Gleichheit zielender Inklusionsmechanismus
also immer nur partiell, weshalb Ungleichheiten sich nie vollends auflösen können.
Es ist somit eher als Prinzip einer gerechten Ungleichheit zu bezeichnen.
Auf Grundlage dieser der Leistungsgesellschaft inhärenten Problematik, übte
die Soziologie zunehmend Kritik an dem beschriebenen Inklusionsmechanismus.
Es sollte die Unwirksamkeit der auf Leistungsgerechtigkeit aufbauenden Chancen-
gleichheit offen gelegt werden, die vor allem im Bildungssystem auftrat (vgl. Bour-
dieu/Passeron 1971). Darüber hinaus wurde der durch Leistung legitimierte gesell-
schaftliche Konformismus kritisiert (vgl. Offe 1970). Das Leistungsprinzip be-
trachtete man als Mittel zur Disziplinierung (vgl. Becker 2003: 11) und warf ihm
vor, aufgrund seines allseitig geltenden Legitimitätsanspruchs weiterhin geltende
nicht leistungsbedingte Ungleichheiten zu verschleiern. „Auf diese Weise verdeckt
und befestigt die normative Geltung des Leistungsprinzips bestehende Macht- und
Herrschaftsverhältnisse und erfüllt die Funktion einer Ideologie.“ (Faßauer 2008:
103). Diese Kritik wurde vorrangig von der 1968er Bewegung vertreten. Sie setzte
sich für eine Abkehr des Leistungsethos ein. Ihr Einfluss zog weite Kreise innerhalb
unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus (vgl. Bell 1976) und beeinflusste die auf
politischer Ebene eingeführte Etablierung des Anspruchsgerechtigkeitsprinzips.
Eine Analyse von Heiner Meulemann zum Wertewandel zeigt, dass Leistung als
Wert im Rahmen der Berufsarbeit für die Individuen zwischen den 1960er und
166 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

1990er Jahren an Bedeutung verlor, während die Freizeit zunehmend an Wert für
die Selbstverwirklichung gewann (vgl. Meulemann 1996: 89f). Vor allem die jüngere
Generation verinnerlichte das Leistungsprinzip zu einem wesentlich geringeren Teil
und bildete stattdessen eher hedonistische Werthaltungen aus.
Ein weiterer Grund, der bereits im vorigen Kapitel angesprochen wurde und
die Erosion des Leistungswertes mit verantwortete, lag in Entfremdungserfahrun-
gen auf beruflicher Ebene. Der für die Industriearbeit typische arbeitsteilige Prozess
sowie die fortschreitende Technisierung, Mechanisierung und Automatisierung der
Arbeitszusammenhänge reduzierten den Sinngehalt der Arbeit. Dies führte zu der
Sichtweise, Handlungsspielräume der Arbeitnehmer würden begrenzt und Arbeit
enthumanisiert (vgl. Ulich 1972: 266). „Eine Leistungsgesellschaft wurde als Gegen-
satz einer humanen Gesellschaft angesehen, wobei Leistung vor dem Hintergrund
der tayloristischen Arbeitsrealität und des überkommenen Arbeitsethos als Mühsal,
Belastung und entfremdend verstanden wurde.“ (Voswinkel/Kocyba 2008: 32). In
einer Studie von Ditmar Brock und Eva Brock-Otto (vgl. 1988) konnte diesbezüg-
lich gezeigt werden, dass die zunehmende Konzentration auf die Selbstentfaltung
im Freizeitbereich vor allem in enttäuschten Erwartungen an eine sinnvolle berufli-
che Tätigkeit gründete (vgl. Brock/Brock-Otto 1988). Das Streben nach Selbstent-
faltung drückte sich, wie bereits in Kapitel drei verdeutlicht, beruflich als steigende
intrinsische Motivation aus, was mit den damals vorherrschenden Arbeitsbedingun-
gen nicht in Einklang zu bringen war, die eher zu einer instrumentellen Einstellung
passten. Insgesamt heißt das nicht, dass Leistung an sich als Wert verschwand,
sondern dass sie anders aufgefasst wurde. „Nicht die Intensität des Leistungsver-
haltens hat sich gewandelt, sondern die Intensität, mit der die aufeinanderfolgenden
Generationen ihr Leben als Leistung sehen, oder besser: gelernt haben, ihr Leben
als Leistung zu sehen.“ (Meulemann 1996: 93). Dieser Wertewandel kann deshalb
als ein Wandel von einer „Erwerbsarbeits- zur Lebensarbeits-Gesellschaft“ (Heinz
1995: 84) bezeichnet werden.
Aus diesen Daten ergibt sich, dass der Rückzug ins Private nicht als Abschied
von einer Leistungsmotivation zu verstehen ist, sondern als Ausdruck ihrer eigentli-
chen Bedeutung für die individuelle Selbstentfaltung. Diese „(…) Einstellungsände-
rungen sind vielmehr als die Folge einer Festigung und weiteren Verbreitung tragen-
der kultureller Werte der Industriegesellschaft und des Bestrebens zu verstehen,
diese Werte unter veränderten gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu verwirkli-
chen.“ (Bolte/Voss 1988: 79). Darin kommt die Ablehnung jeglicher Form von
Fremdbestimmung zum Ausdruck. Die Daten der Studie von Karl Bolte und Gün-
ter Voß (vgl. 1988) zeigten jedoch auch, dass diese Haltung vor allem bei höher
qualifizierten Angestellten und Arbeitern zu finden gewesen ist. Hier entwickelten
sich Ansprüche auf eine interessante Erwerbstätigkeit. Der Grund liegt vor allem
darin, dass eigene Ansprüche immer dort entstehen, wo ihnen Berechtigung und
Verwirklichbarkeit nicht abgesprochen werden können. Ansprüche für mehr Hand-
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 167

lungsautonomie wurden somit eher in Beschäftigungsverhältnissen geäußert, in


denen bereits ein gewisser Spielraum bei der Gestaltung der eigenen Arbeitsabläufe
gegeben war (vgl. Heinz 1995: 84).
Nachdem der Wandel der Bedeutung des Leistungswertes im Übergang vom
dritten zum vierten Individualisierungsschub kurz dargestellt wurde, soll es als
nächstes um eine Bestimmung des Leistungsbegriffs gehen, bevor die Kennzeichen
des neuen Leistungsindividualismus herausgearbeitet werden.

4.2 Wandel des Leistungsbegriffs

Wie bereits die Darstellung des Wertewandels zeigte, wird der Leistungsbegriff
vieldimensional gebraucht. Seine Definition variiert sowohl in der umgangssprachli-
chen wie in der wissenschaftlichen Verwendungsweise. „So eindeutig seine Ver-
wendung dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auch erscheinen mag, so wider-
sprüchlich und unscharf nehmen sich seine Konturen aus, wenn das ‚Prädikat’ Leis-
tung näher definiert werden soll.“ (Neckel/Dröge 2002: 93).
Aus soziologischer Perspektive ist Leistung eine Handlung, die sich durch eine
Zweidimensionalität von Aufwand und Ergebnis auszeichnet (Neckel 2004: 142).
Aufwand meint, dass zur Leistungserbringung ein gewisser individueller Einsatz
bzw. subjektive Kosten oder Mühen nötig sind (Bolte 1979: 20). Das bloße Warten
auf das Eintreten eines Ergebnisses kann nicht als Leistung bezeichnet werden. Die
Beurteilung des Aufwandes orientiert sich dabei entweder an den Fähigkeiten bzw.
Ressourcen oder an den Anstrengungen bzw. am Einsatz (Voswinkel 2005: 292).
Mit Ressourcen sind stabile Merkmale wie z.B. erworbene Qualifikationen gemeint.
Der Einsatz ist die davon unabhängig betrachtete Leistung.
Gleichzeitig wird Leistung auf Grundlage einer spezifischen Motivation erb-
racht, die bereits als Leistungsanspruch definiert wurde. „Im reinen Fall ist Leis-
tungsgüte oder Leistungsmenge ein Ziel um seiner selbst willen, sei es, dass die
Sache es verlangt, man es ihr schuldig zu sein glaubt oder dass man darin seine
Tüchtigkeit beweisen will.“ (Heckhausen/Heckhausen 2006: 185). Die Leistungs-
menge wird direkt auf den Grad der Motivation zurückgeführt, die Leistungsgüte
unterliegt den Bewertungen der sozialen Umwelt. Dabei lassen sich sachliche, sozi-
ale und ökonomische Bewertungskriterien voneinander unterscheiden (vgl. Faßauer
2009: 109). Die sachliche Leistungsbeurteilung bezieht sich auf die Menge und
Qualität der hergestellten Güter oder Dienstleistungen. Die soziale Beurteilung
meint den Problemlösungsaspekt einer Leistung, wie sie sich z.B. in Kunden- oder
Gemeinwohlorientierung ausdrückt. Die ökonomische Leistungsbewertung betrach-
tet zum einen die marktliche Verwertbarkeit und zum anderen den Erfolg einer
Leistung (vgl. ebd.: 109).
168 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

Die Ergebnisbewertung wird zusätzlich unter dem Einfluss geltender Normen


und Werte vorgenommen. „Was jeweils als Leistung gilt, ist davon abhängig, was
die Angehörigen einer Bezugsgruppe (Vorgesetzte, Kollegen, Familie, Betriebsrat
etc.) vor dem Hintergrund ihrer Kriterien und Maßstäbe als Leistung bezeichnen,
anerkennen und durchsetzten.“ (Schettgen 1996: 180). Diese Anerkennungsakte
wirken wiederum auf die Leistungsmotivation ein und ändern das Verständnis des-
sen, was als Leistung empfunden wird. Damit unterliegt die Definition einer Hand-
lung als Leistung einer historischen Variabilität. Es ist deshalb Aufgabe der Analyse,
epochentypische Mechanismen der Qualifikation von Tätigkeiten als Leistung, der
Maßstabsentwicklung von Leistungsbemessung und der Verhältnisbestimmung der
unterschiedlichen Komponenten des Leistungsbegriffs wie „Aufwand, Regelhaftig-
keit, Wettbewerb, Zielverwirklichung und Ertrag“ (Neckel/Dröge 2002: 93) aufzu-
decken.
Mit Hilfe dieser Kriterien lässt sich der Wandel des Leistungsbegriffs näher fas-
sen. So findet sich in tayloristisch geprägten Arbeitsorganisationen noch ein Leis-
tungsverständnis, bei dem die Bewertung des Verhältnisses von Aufwand und Er-
gebnis durch Zeitmessung erfolgte (vgl. Voswinkel 2000b). Im Zuge der kontinu-
ierlichen Optimierung der Arbeitsverläufe wurde der Varianzspielraum des zeitli-
chen Aufwands für die Produktion immer geringer, so dass sich zur Messung der
Leistung normale Verrechnungsgrade herausbildeten (vgl. Schmiede/Schudlich
1976).
Das heutige Verständnis von Leistung konzentriert sich immer häufiger einsei-
tig auf das Ergebnis. Für das Individuum entsteht dabei das Problem, dass seine
Leistung am Markterfolg gemessen wird, wodurch die Bewertung der Leistungsgüte
insgesamt starken Veränderungen ausgesetzt ist. Dies führt bei der Leistungsmoti-
vation der Individuen zu Verunsicherungen. Zugleich gründet die Leistungsbeur-
teilung je nach Kontext nicht mehr allein in den Fähigkeiten, sondern rekurriert auf
Persönlichkeitseigenschaften. Vor allem in Unternehmen, wo Selbstverantwortung,
Teamfähigkeit oder Kreativität zu den Leistungsanforderungen zählen, ist der Wan-
del von einer Leistungsbeurteilung auf der Grundlage von Fähigkeiten zugunsten
von Persönlichkeitseigenschaften bereits vollzogen (vgl. Neckel/Dröge/Somm
2008: 42).
Dieser Wandel kann durch die Ergebnisse einer qualitativen – auf Gruppendis-
kussionen beruhenden – Untersuchung über die Einstellungen zu Leistung belegt
werden (vgl. Dröge 2007; Neckel/Dröge/Somm 2008). Hier wurden fünf unter-
schiedliche Bewertungsrahmen von Leistung analysiert: Arbeit, Gesellschaft, Sache,
Markt und Person. Im Hinblick auf Arbeit wird der Blick auf den Vollzug der Tä-
tigkeit und die damit verbundene Anstrengung gerichtet. Beim Ergebnis der Leis-
tung steht die soziale Komponente, der Beitrag zum gesellschaftlichen Gemeinwohl
im Mittelpunkt. Bei der sachlichen Bewertung von Leistung geht es um fachliche
Fähigkeiten, bei der marktbezogenen um die Verkäuflichkeit der Leistung. Der
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 169

Bewertungsrahmen „Person“ orientiert sich an der Authentizität, die sich im Leis-


tungshandeln ausdrückt. Im Vergleich der unterschiedlichen Bewertungsrahmen
spricht sich eine deutliche Mehrheit der Befragten für die Wichtigkeit des Markter-
folgs und des sich in der Leistung ausdrückenden Selbstverwirklichungsdrangs als
Bewertungsmaßstab für Leistungen aus. Die Bewertung nach sachlichen und so-
zialen Kriterien und einer an Anstrengung orientierten Aufwandsbeurteilung von
Leistung wird dagegen nur noch von einer Minderheit vertreten (vgl. Dröge 2007:
101).
Die Folgen dieser Bewertungsmaßstäbe konnten in einer anderen Studie empi-
risch aufgezeigt werden. In der Infratest-Studie „Gesellschaft im Reformprozess“
von 2006 spiegelt sich die neue Haltung gegenüber Leistung in zwei Typisierungen
wider: in den sogenannten „etablierten Leistungsträgern“ und den „Leistungsindivi-
dualisten“. 15% der Befragten wurden den etablierten Leistungsträgern zugeordnet
und 11% den Leistungsindividualisten (vgl. Müller-Hilmer 2006; Neugebauer 2007).
Beide Gruppen zeichnen sich dadurch aus, der Leistungsorientierung eine hohe
Bedeutung beizumessen. Die etablierten Leistungsträger repräsentieren vor allem
das kleinstädtische gehobene Milieu. Sie sind überwiegend hochqualifiziert, haben
oftmals Führungspositionen und eine sichere berufliche Position inne. Sie beziehen
ein hohes Nettoeinkommen und orientieren sich eher materialistisch. Sie sind stark
leistungsorientiert, elitebewusst und konservativ. Gleichzeitig sind sie überwiegend
religiös. Die Leistungsindividualisten kommen aus „gutem Hause“, sind vorwiegend
hochqualifiziert und überwiegend selbständig tätig. Sie zeichnen sich durch hohes
Einkommen, eine materialistische Werthaltung, starke Berufsorientierung und ein
ausgeprägtes Unabhängigkeitsstreben aus. Sie wollen eine Gesellschaft, die sich in
erster Linie am Leistungsprinzip orientiert. Mehr als die Hälfte dieses Typs kommt
überraschenderweise aus dem Osten Deutschlands. Zwei Drittel davon sind männ-
lich. Sie sind überwiegend nicht gläubig.

4.3 Individuelle Leistungsansprüche oder Forderungen nach Leistung?

Mit diesem Verständnis des Wertewandels, seiner Verhältnisbestimmung von Arbeit


und Freizeit und der zunehmenden Anspruchshaltungen in Bezug auf selbstbe-
stimmte Arbeit verwundert es nicht, dass die Selbstentfaltungswerte seit den 1990er
Jahren allmählich wieder mit Leistungsansprüchen im Rahmen der beruflichen
Tätigkeit einhergehen. Dabei zeigt sich, dass Leistung freiwillig erbracht wird, wenn
die Arbeitsinhalte interessant und der eigenen Selbstentfaltung förderlich sind. Das
Streben nach Identifikation mit der Arbeit kann anhand der Entwicklung der neuen
Dienstleistungsberufe plausibel gemacht werden. Dieses Tätigkeitsfeld expandierte
seit Ende der 1980er Jahre stark. Gleichzeitig nahm die Anzahl der Selbstständigen
zu, deren Kerngeschäft im Dienstleistungssektor liegt (vgl. Willke 1999: 149).
170 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

In der Literatur werden im Hinblick auf die Antriebskraft dieser Neuorientie-


rung am Leistungsprinzip zwei konträre Positionen eingenommen: die eine traut
dem Individuen einen erhöhten Leistungswillen zu, die andere schreibt dem öko-
nomischen Druck von Seiten der Unternehmen die eigentliche Hebelfunktion zu.
Baethge stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass die Suche nach Selbst-
verwirklichung im Berufsleben auf das allgemein gestiegene kognitive Niveau zu-
rückzuführen ist. Dieses ergibt sich aus verlängerten Ausbildungszeiten und drückt
sich in einer Stabilisierung des Eigensinns der Individuen aus, der in einer Erhö-
hung der arbeitsbezogenen Sinnansprüche mündet.
„Je länger sich Bildungs- und Ausbildungszeiten ausweiten, desto weniger prägt das Arbeitssys-
tem unmittelbar die Einstellungen der Subjekte, desto mehr wird es umgekehrt über Ansprüche
und Einstellungen der Subjekte mit lebensweltlichen Einflüssen konfrontiert.“ (vgl. Baethge 1991:
266).

Gründe für diese neuen Sinnansprüche an den Beruf sieht Baethge unter anderem
im allgemeinen Sinnverlust, der in der individualisierten Gesellschaft zunehmend,
z.B. in Hinblick auf Religion und Familie zu beobachten ist. Mit der Konzentration
auf Leistung konnten die Individuen selbst Sinnzuschreibungen erzeugen.
Kratzer betont hingegen den Einfluss verschärfter Marktbedingungen, die vom
Management der Unternehmen an die Beschäftigten weitergegeben werde und zum
Mitmachen auffordern. Dies zeige sich in der systematischen Verknappung von
Personalressourcen und der Einführung neuer Arbeitsformen, wie Projektarbeit etc.
(vgl. Kratzer 2003).
Diese beiden Positionen sollen im Folgenden unter dem Aspekt von An-
spruchshaltungen untersucht werden. Die Diskussion wird im Hinblick auf die
Frage geführt, ob der Anstieg des neuen Leistungswertes den Selbstansprüchen der
Individuen oder Fremdforderungen durch Unternehmen und Gesellschaft geschul-
det ist. Dabei wird ausgehend von der Betrachtung beruflicher Leistungsprinzipien
auf eine allgemeinere Ebene des Leistungsprinzips abgehoben.

4.3.1 Selbstverwirklichung im Beruf

Diese Perspektive geht von der bereits im Kapitel drei vorgestellten Annahme aus,
dass der Wegbereiter neuer Sinnansprüche an berufliche Arbeit die verstärkte Kritik
an belastenden und entfremdenden Arbeitsbedingungen war. Die daraufhin ent-
standenen neuen Sinnansprüche, die seit Ende der 1980er Jahre vermehrt von den
Individuen an die Erwerbstätigkeit herangetragen wurden, drücken sich vor allem in
Forderungen nach neuen Formen der Selbstbestimmung aus. Ziel ist es, den bisher
erlebten Entfremdungserfahrungen zu entkommen.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 171

„Man will innerlich an der Arbeit beteiligt sein, sich als Person einbringen können und über sie eine
Bestätigung eigener Kompetenzen erfahren. Man will sich in der Arbeit nicht wie ein Jedermann,
sondern als Subjekt mit besonderen Fähigkeiten, Neigungen und Begabungen verhalten können
und die Tätigkeit in der Dimension persönlicher Entfaltung und Selbstverwirklichung interpretieren
können.“ (Baethge 1991: 262).

Diese Einstellung wird Anfang der 1990er Jahre nicht mehr nur bei hoch- sondern
auch bei niedrig qualifizierten Facharbeitern sowie bei Un- und Angelernten gefun-
den.
Wie bereits angedeutet, traten diese Subjektivierungsansprüche aber zuerst im
Rahmen der Dienstleistungsberufe auf, da hier in stärkerem Maße „kommunikative
und intellektuelle Fähigkeiten“ (Jäger 1999: 155) in den Arbeitsprozess eingebracht
wurden und als Mittel zur Selbstbestätigung dienten.

„Diese Angestellten lehnten sachlich nicht begründete Autoritätsverhältnisse ab, wollten sich in der
Arbeit weiterentwickeln, Kompetenz und Unabhängigkeit gewinnen und andererseits sich nicht
von der Arbeit auffressen lassen, um mehr Zeit für ihr Privatleben zu haben.“ (Drinkuth 2007: 13).

Baethge bezeichnet diesen Typus von Arbeitnehmern als „Selfdevelopers“ und


grenzt sie gleichzeitig gegen das in den 1980er Jahren vorherrschende Modell des
„Hedonisten“ ab. Die Ansprüche, die an die Arbeit gestellt werden, gehen in ihrer
Funktion über den Spaß hinaus. Sie dienen der Sinnstiftung für die eigene Lebens-
führung. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, dass Arbeit allmählich
einen hohen Wert für die Selbstverwirklichung gewann. Die Individuen stellen zum
Erhalt ihrer Handlungsfähigkeit einen Zusammenhang zwischen Lebensentwürfen
und Anforderungen der Arbeitswelt her, „in denen die Strukturen der Arbeitswelt
als Mittel der eigenen Lebensführung fungieren“. (Krömmelbein 2004: 191).
Diese artikulierten Sinnansprüche, die Baethge als „normative Subjektivierung“
(Baethge 1991: 7) bezeichnet, führen einerseits zur Ausweitung der Handlungsop-
tionen zugunsten der Beschäftigten, die sich vor allem in neuen Formen der Mitge-
staltung der eigenen Arbeit ausdrücken. Andererseits erhöhen sie die intrinsische
Leistungsmotivation und münden in einem Anstieg der freiwillig investierten Ar-
beitszeit. Hinzu kommt die immer stärkere Übernahme von Eigenverantwortung,
die sich aus der geforderten Erhöhung von Selbständigkeit ergibt. Dabei steigt auch
der Anspruch an das Ergebnis der geleisteten Arbeit.
Eine 1995 veröffentlichte Studie von Baethge et al. konzentriert sich auf die
Untersuchung der Ansprüche von hochqualifizierten Angestellten und zeigt die
Weiterentwicklung der Anspruchshaltungen im Beruf (vgl. Baethge et al. 1995).
Nach der ersten Phase des Kampfes um Beteiligung und Eigenverantwortung, die
Baethge et al. in einer Studie von 1988 untersucht haben (vgl. Baethge et al. 1988),
werden jetzt Forderungen nach Flexibilisierung der Arbeitszeiten ermittelt. Analy-
siert werden Konflikte zwischen den traditionellen Betriebsstrukturen und subjekti-
ven Ansprüchen auf die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben (vgl. Baethge et
172 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

al. 1995: 269f). Dass sich dies zuerst bei hochqualifizierten Arbeitnehmern finden
lässt, ist leicht nachzuvollziehen. Es handelt sich um die bereits in hohem Maße
selbstständig Arbeitenden, die viel Selbstverantwortung tragen und zeitlich stark in
den Beruf eingebunden sind. Von dieser Gruppe abgesehen, treten Forderungen
nach Flexibilisierung vor allem bei berufstätigen Müttern auf.
Aus einer anderen Perspektive auf Subjektivierungsansprüche an die Arbeit ar-
gumentieren Pongratz/Voß in Anknüpfung an die von ihnen etablierte „Arbeits-
kraftunternehmerthese“ (1998). Sie untersuchen inwiefern Subjektivierungsansprü-
che auch in Normalarbeitsverhältnissen zu beobachten sind, sprich unter mittel- bis
niedrigqualifizierten Arbeitern und Angestellten (vgl. Pongratz/Voß 2003). Die
Studie gründet auf der Typisierung individueller Erwerbsorientierungen und der
damit verbundenen Motive und Strategien im Umgang mit Erwerbsarbeit. Die
Autoren gehen davon aus, dass die neuen Erwerbsorientierungen infolge der Reor-
ganisationsmaßnahmen wie Gruppenarbeit und Projektarbeit entstanden sind, die
von der Unternehmungsführung eingeführt wurden, um kostensparender zu wirt-
schaften. Pongratz und Voß konzentrieren sich in ihrer Untersuchung aber nicht
auf den Zusammenhang zwischen strukturellen Änderungen und veränderten be-
ruflichen Einstellungen, sondern lediglich auf die Untersuchung der subjektiv wahr-
genommenen Eigenmotivation hinsichtlich der eigenen Arbeit. Damit sprechen sie
sich gegen den in der Managementliteratur dargestellten Kausalzusammenhang
zwischen Strukturveränderungen und der Verbesserung der Leistungsmotivation
aus. Hinzu kommt, dass die Untersuchung von Baethge et al. Belege für neue Sinn-
ansprüche lieferte, die noch vor der Umstrukturierung der Organisationsstrukturen
entstanden. Deshalb können die von Pongratz/Voß gewonnenen Erkenntnisse als
Belege für eine Zunahme an eigenmotivierten Subjektivierungsansprüchen interpre-
tiert werden. Dies wird im Rahmen der Darstellung der Ergebnisse im Einzelnen
deutlich gemacht. Die Studie untersucht weniger die Sinnansprüche, wie sie von
Baethge et al. herausgestellt wurden, sondern fragt nach der auf den eigenen Beruf
bezogenen Leistungsorientierung. Aus diesem Verständnis leiten die Autoren verän-
derte Erwerbsorientierungen ab, die sie in drei Motiv-Typen unterscheiden: die
Leistungsorientierungen, berufsbiographische Orientierungen und Flexibilisierung
von Arbeit im Verhältnis zum Privatleben.
Die Leistungsorientierung gliedert sich in die Typen Leistungssicherer und
Leistungsoptimierer. Der Leistungssicherer meint den eher herkömmlichen Ar-
beitstyp, dem es nicht um die Verwirklichung seiner Leistungsansprüche bei der
Arbeit geht. Die Leistungsoptimierung fußt im Gegensatz dazu auf der Forderung
nach Spaß an der Arbeit. Auf dieser Grundlage werden eigene Leistungsansprüche
definiert, die auch unter nicht optimalen Arbeitsbedingungen erbracht werden (vgl.
ebd.: S. 67). Arbeit wird als eine persönliche Herausforderung betrachtet, die Sinn
erzeugt und den Charakter einer Selbstverpflichtung bekommt. Pongratz und Voß
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 173

stellen die Leistungsorientierung demnach auf die Basis allgemeiner Subjektivie-


rungsansprüche an die Arbeit.
Der zweite Typus wurde unter der Perspektive der berufsbiographischen Ori-
entierung entwickelt. Er betont die Selbstverwirklichung durch Arbeit als Teil der
eigenen Erwerbsbiographie. Dabei werden die sogenannten Statusarrangierten von
den Karriereambitionierten unterschieden. Die Statusarrangierten sind entweder mit
ihrem aktuellen beruflichen Status zufrieden und verteidigen diesen Anspruch gegen
Forderungen nach außen oder sie entwickeln eine berufliche Höherorientierung
aufgrund von externem Druck und nicht aus eigenem Antrieb heraus (vgl. ebd.: 93).
Die Karriereambitionierten sind insgesamt aus eigenem Antrieb an beruflicher Wei-
terentwicklung interessiert und streben nach Positionsverbesserungen innerhalb des
Unternehmens oder nach einer kontinuierlichen Steigerung ihrer Chancen auf dem
Arbeitsmarkt (vgl. ebd.: S. 95ff).
Auch bei diesem Typus der Erwerbsorientierung ist das Verhältnis von Ursache
und Wirkung nicht klar. Entstehen berufsbiographische Orientierungen aufgrund
neuer Arbeitsformen oder sind sie in erster Linie Ausdruck eines individuellen Stre-
bens nach Selbstverwirklichung, das zu den neuen Arbeitsformen geführt hat? Pon-
gratz und Voß verweisen diesbezüglich auf die Parallelen zu den Ergebnissen der
Studie des Bremer Sonderforschungsbereichs „Statuspassagen in der Erwerbstätig-
keit“ (vgl. Witzel/Kühn 2000). Diese Untersuchung konzentriert sich auf die Phase
des Übergangs junger Erwachsener von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit. Das
ist allerdings eine Gruppe, die ihre Ambitionen unter vorberuflichen, das heißt
schulischen und familiären Sozialisationsbedingungen entwickelt hat. Ihre Erwerbs-
biographie-Pläne entstanden nicht als Folge der Einbindung in Arbeitsstrukturen.
Demzufolge kann hier davon ausgegangen werden, dass sich das Bedürfnis nach
beruflichem Aufstieg nicht aus der Einbindung in bestimmte Arbeitsprozesserfah-
rungen ergibt, sondern als Anspruch bereits mitgebracht wird.
Der dritte Typus bezieht sich auf den flexiblen Umgang mit Arbeitszeit. Pong-
ratz und Voß fassen damit diejenigen zusammen, deren Bestrebungen sich darauf
beziehen, Beruf und Privatleben besser in Einklang bringen wollen. Im Unterschied
zu der Baethge-Studie finden Pongratz und Voß diese Fälle nicht mehr nur unter
Hochqualifizierten. Inhaltlich werden hier Arbeitnehmer einsortiert, die eine gere-
gelte Arbeitszeit anstreben und dabei Beruf und Privatleben voneinander trennen.
Dazu gehören auch Arbeitnehmer, die eine starke Varianz der Arbeitszeiten akzep-
tieren, wobei hier wiederum zwei Arten gefunden wurden: einerseits Arbeitnehmer,
bei denen die Anforderungen, wie z.B. Kundenaufträge, Phasen von hohem und
leichtem Arbeitsaufwand und somit unregelmäßige Belastung erzeugen, andererseits
solche Arbeitnehmer, die aufgrund eigener Gestaltungsansprüche ihre Arbeitszeiten
und -orte flexibel einrichten. Die Bereitschaft zur privaten Nacharbeit in der Frei-
zeit und zur Verschiebung des täglichen Arbeitsendes ist hier besonders hoch (vgl.
ebd.: 116). Auch bei diesem Typus kann nicht festgestellt werden, ob sich die Flexi-
174 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

bilisierungseinstellungen bezüglich der Arbeit aus veränderten Arbeitsformen erge-


ben. Jedoch deuten die Befunde von Pongratz/Voß daraufhin, dass sich die An-
sprüche nach Flexibilisierung auf Grundlage der veränderten Arbeitsstrukturen
ausgeweitet haben. Die Daten zeigen, dass Flexibilisierungsansprüche von denjeni-
gen geäußert werden, die eine hohe Arbeitsbereitschaft an den Tag legen. Aufgrund
dessen fordern sie selbstbewusst Regelungen, die ihren individuellen Arbeitsrhyth-
men gerecht werden.
Die hier vorgestellten empirischen Befunde zeigen die Vielfalt der Subjektivie-
rungsansprüche im Rahmen der beruflichen Tätigkeit. Der Wunsch nach Selbstver-
wirklichung durch Arbeit drückt sich in einer erhöhten Leistungsmotivation aus.
Diese schlägt sich wiederum in Strategien zur erwerbsbiographischen Karrierepla-
nung nieder. Die Forderung nach Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist Folge dieses
Strebens nach beruflicher Selbstverwirklichung und zeigt, dass sich die Arbeitneh-
mer ihres Beitrags für das Unternehmen bewusst sind und auf dieser Geschäftsbasis
etwas zurückfordern.
In Bezug auf die von Pongratz und Voß überprüfte Kausalität zwischen verän-
derter Unternehmensstruktur und verändertem individuellem Verhalten lässt sich
zusammenfassend feststellen: Die Analysen führen zu dem Missverständnis, intrin-
sische Leistungsmotivation, die als Subjektivierung der Arbeit dargestellt wird, sei
Folge von betrieblichen Umstrukturierungen. Vielmehr kann der Schluss gezogen
werden, dass Individuen mit ihren Sinnansprüchen an Arbeit die Arbeitsprozess-
strukturen allmählich verändert haben. Die daraufhin von den Unternehmen entwi-
ckelten Umstrukturierungen bauten auf diesen Ressourcen auf. Nur bei wirklich
leistungsmotivierten Arbeitnehmern konnten sich die von Pongratz und Voß darge-
stellten Subjektivierungstendenzen entwickeln. Im Hinblick auf die Arbeitnehmer
mit wenig intrinsischer Leistungsmotivation, die als Leistungssicherer beschrieben
wurden, wird deutlich, dass Leistungsmotivation auf eine instrumentelle Haltung
zur Arbeit zurückzuführen ist, auf die auch neue Arbeitsstrukturen erst einmal kei-
nen wesentlichen Einfluss haben. Hier müssten weitere Analysen folgen, um die
Zusammenhänge klarer aufzuzeigen (vgl. Marrs 2009: 348).

4.3.2 Selbststeuerung als Forderung

In den letzten Jahren ist ein weiterer Wandel in der Entwicklung des Zusammen-
wirkens von veränderten Arbeitsstrukturen und individueller Leistungsmotivation
zu beobachten. Dieser Wandel wird vielfach unter dem Aspekt der Forderung nach
mehr Eigenständigkeit und Selbstkontrolle am Arbeitsplatz diskutiert.
Erste Veränderungen, die auch Pongratz und Voß vor Augen hatten, als sie ihre
Analyse begannen, lassen sich ebenfalls im Bereich der Dienstleistungsbetriebe
feststellen. Als empirischer Bezugspunkt gilt hier vor allem die Reformierung deut-
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 175

scher Verwaltungseinrichtungen auf Grundlage des neuen Steuerungsmodells


(NSM). „In der Verwaltungsrealität ist das Neue Steuerungsmodell als die deutsche
Variante eines neuen ‚Public Management’ seit Mitte der neunziger Jahre zum
Schlüsselkonzept eines sich beschleunigenden Reformprozesses avanciert.“ (Sper-
ling 1998: 5). Die Binnenstruktur von Verwaltungen wurde umfassend reorganisiert,
um mehr Effizienz und Effektivität der Arbeitsleistungen zu ermöglichen. Eine
tragende Säule des NSM war die Dezentralisierung von Organisationsstrukturen
bzw. der Verantwortungsbereiche (vgl. Banner 1991, Reichard 1994). Der damit
verbundene Abbau von Hierarchieebenen und die Etablierung von Teamstrukturen
sollten zu einem höheren Maß an Kompetenz, Eigenverantwortung und Selbstor-
ganisation der Mitarbeiter führen (vgl. Müller-Jentsch 2007: 95).
Diese Form von Verwaltungsorganisation baut auf dem Vertrauen in die Fä-
higkeit zur Selbstregulierung der Mitarbeiter auf und leitet den Weg zu einer ver-
stärkten Nutzung des sogenannten „Humankapitals“ (Becker 1993) ein, das für die
Verbesserung von Unternehmensstrukturen aller Art nutzbar gemacht werden
sollte. Humankapital beschreibt in einem engeren Begriffsverständnis die individu-
ellen Fähigkeiten, Erfahrungen und Kenntnisse des Arbeitnehmers und in einem
weiter gefassten Begriffsverständnis die Persönlichkeit, Begabungen, Motivationen
und Einstellungen. Laut der klassischen OECD Definition soll durch die Einbin-
dung dieser individuell charakteristischen Leistungsmerkmale eine Erhöhung des
persönlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Wohlergehens erreicht werden. Die
Nutzung dieser individuellen Leistungsmerkmale erhöhte die Chance für innovative
Entwicklungen in Unternehmen. Man konnte sich Wettbewerbsvorteile sichern und
am Markt bestehen. Für die Mitarbeiter bedeutete dies, dass Eigenschaften wie
Kreativität, Durchsetzungsvermögen, Teamfähigkeit u.v.m. von den Unternehmen
gefördert wurden. Dazu ging man von einem Mitarbeiter mit hoher Bereitschaft für
ständige Weiterbildung aus.
Diese Prozesse bilden die allmähliche Einbindung von immer mehr Eigen-
schaften des Mitarbeiters ab, die im Ergebnis institutionell z.B. in Zielvereinbarun-
gen verankert wurden. Hiermit schlägt die Förderung von intrinsischer Motivation
in die Anforderung um, sich mit allem Wissen und Können in den Arbeitsprozess
einzubringen und sich um die Entwicklung der passenden Eigenschaften selbst zu
kümmern.

„Dieser Zwang zur Selbstverwirklichung steht im Zentrum einer neuen Arbeitsmoral, die weder auf
Disziplin und Unterordnung noch auf verinnerlichte Verhaltensprogramme reduziert werden kann.
Verlangt wird nicht mehr nur die Befolgung von Regeln, sondern die Fähigkeit und Bereitschaft zur
eigenständigen Definition und Lösung von Problemen.“ (Heidenreich 1996: 28).

Dieses Verständnis einer Verschmelzung von Fremd- und Selbststeuerungsforde-


rungen im Rahmen des Arbeitsverhältnisses ist in der These des „Arbeitskraftunter-
nehmers“ (vgl. Voß/Pongratz 1998) angelegt. Voß/Pongratz gehen, wie bereits im
176 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

Rahmen der Darstellung ihrer Studie gezeigt, davon aus, dass sich aus unternehme-
rischer Sicht eine Abkehr von fordistisch geprägten Arbeitnehmervorstellungen
beobachten lässt. In der These des Arbeitskraftunternehmers weisen sie auf Formen
betrieblicher Forderungen an die Selbstorganisation der Arbeitsausführung und der
gesamten Lebensführung hin, die hier genauer beschrieben werden sollen.
Aus Gründen der Kosteneinsparung und der Anpassung an komplexere und
verschärfte Marktbedingungen kam es zu Umstrukturierungen der Arbeitsprozesse
mit dem Ziel, die Verantwortlichkeiten der Arbeiternehmer zu erhöhen. Im Ergeb-
nis entstanden individualisierte, d.h. indirekte Formen der Kontrolle von Arbeit, die
sich in „rudimentären betrieblichen Handlungsvorgaben“ (Pongratz/Voß 2000:
231) ausdrücken und in einer verstärkten Selbstüberwachung münden. Sichtbar
werden diese Veränderungen in neuen Arbeitsformen, in denen die Selbstorganisa-
tion eine größere Rolle spielt, als in konventionellen Arbeitsformen. Dazu gehören
Projekt- und Gruppenarbeit, Führung durch Zielvereinbarungen, flexibilisierte
Arbeitszeiten, Heim- und Mobilarbeit. Die Projektarbeit, die sich bei Angestellten in
unterschiedlichen Branchen entwickelt hat, zeichnet sich durch größere Spielräume
für die Selbstorganisation der Arbeit, eine Erhöhung der Eigenverantwortung und
die Ausweitung zeitlicher Verfügbarkeiten wegen nicht einschätzbarer Kundenwün-
sche aus.
Diese Umstrukturierung des Arbeitshandelns führte zu einem Bedeutungsge-
winn von sozialen, kommunikativen und organisatorischen Kompetenzen. Darüber
hinaus wurde der Umgang mit unsicheren Problemstellungen gefordert (vgl. Sau-
er/Döhl 1997; Kocyba 1999). Das schlug sich in veränderten Zielvereinbarungen
nieder, die ergebnisorientiert definiert wurden und sich nicht mehr wie bisher am
zeitlichen Aufwand oder an individuell erbrachten Anstrengungen orientierten. Den
Beschäftigten wurde so eine höhere Verantwortung bei der Kosten-, Prozess- und
Ergebnisplanung übertragen (vgl. Kalkowski 2004: 105). Des Weiteren ging mit
dieser Umstrukturierung des Arbeitshandelns eine Flexibilisierung der Arbeitszeit
einher, was zur Folge hat, dass die Nutzung von Arbeitskraft vor allem in Dienst-
leistungsberufen auf Abruf geschieht. Insgesamt führte die beschriebene Umstruk-
turierung zu einem Verlust des Modells der Normalarbeitszeit (vgl. Kels 2008:
114f.). Die Arbeitnehmer begannen, wie Pongratz/Voß behaupten, „aktive Selbst-
steuerung im Sinne allgemeiner Unternehmenserfordernisse“ (Pongratz/Voß 2003:
23) zu betreiben und sich selbst einem disziplinierenden Zwang zu unterwerfen.
Neu an diesen Unterordnungstendenzen war die Freiwilligkeit zur Mobilisierung
von nützlichem Arbeitsvermögen (vgl. Moldaschl 1998).
Nach Pongratz und Voß wirkt sich diese Mobilisierung auf drei Ebenen aus: in
der Selbstkontrolle, der Selbstökonomisierung und der Selbstrationalisierung.
Selbstkontrolle meint die verstärkte Überwachung der eigenen Tätigkeit. Selbstöko-
nomisierung meint demgegenüber die zielgerichtete Vermarktung der eigenen Fä-
higkeiten. Selbstrationalisierung bezeichnet schließlich die Durchorganisierung des
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 177

eigenen Lebens und die Ausrichtung auf die Arbeit.33 Diese Veränderungen der
Haltung zum Beruf stellen eine Zuspitzung der ursprünglichen intrinsischen Leis-
tungsmotivation der Arbeitnehmer dar.
Die neuen Anforderungen beeinflussen nicht nur das arbeitsbezogene Verhal-
ten der Individuen, sondern greifen auch in private Lebensbereiche ein. Als Konse-
quenz wird der gesamte Lebenszusammenhang durchgestaltet, was tendenziell in
einer Verbetrieblichung der Lebensführung im Allgemeinen mündet. Der Arbeits-
kraftunternehmer ist so gesehen

„(…) die gesellschaftliche Form der Ware Arbeitskraft, bei der Arbeitende nicht mehr primär ihr la-
tentes Arbeitsvermögen verkaufen, sondern (inner- oder überbetrieblich) vorwiegend als Auftrag-
nehmer für Arbeitsleistung handeln – d.h. ihre Arbeitskraft weitgehend selbstorganisiert und selbst-
kontrolliert in konkrete Beiträge zum betrieblichen Ablauf überführen, für die sie kontinuierlich
funktionale Verwendungen (d.h. Käufer) suchen müssen.“ (Pongratz/Voß 1998: 139).

Diese Nutzbarmachung aller subjektiven Potentiale für den Arbeitsprozess be-


schreibt eine neue Form von Subjektivierung, die unter dem Schlagwort „Ökono-
misierung des Lebens“ gefasst wird.
Zur näheren Bestimmung dieser fremdgesteuerten Subjektivierungsprozesse
kann Fritz Böhles Argumentation herangezogen werden. Er findet auf Grundlage
vorhandener Konzepte über Subjektivierungsprozesse in Arbeitszusammenhängen
vier Erklärungsmodelle für die betrieblich induzierte Subjektivierung: Steuerung
durch ökonomische und technische Zwänge; kulturelle Psychotechniken; Techniken
der Disziplinierung; Entgrenzung von Zweckrationalität und Selbstrationalisierung
(vgl. Böhle 2003). Böhle sucht Antworten auf die Fragen: „Unter welchen Bedin-
gungen die Beschäftigten in selbstgesteuerten Arbeitsformen ihr Arbeitshandeln an
betrieblichen Erfordernissen und Zielen ausrichten, und welche neuen arbeitspoliti-
schen Konflikte und Probleme sich daraus ergeben.“ (ebd.: 120). Das erste Erklä-
rungsmodell konzentriert sich auf die indirekte Steuerung von Arbeitsanforderun-
gen. Diese Arbeitsanforderungen, also das „Wie“ der Zielerreichung lassen sich
zunehmend nicht mehr aus konkreten Vorgaben ableiten. Vielmehr steigt die An-
zahl von nur noch abstrakten Rahmenbedingungen und Budgetvorgaben für die
Arbeitnehmer. Die Leistungsbewertung erfolgt mehr und mehr ergebnis- und weni-
ger prozessorientiert. Insgesamt kommt Böhle zu dem Schluss, „(…) dass es nun
sehr viel stärker als in der Vergangenheit im Interesse der Arbeitskräfte ist, der
(erfolgreichen) Bewältigung von Arbeitsanforderungen ein höheres Gewicht beizu-

33 Die hierauf aufbauende und im vorherigen Abschnitt erläuterte empirische Untersuchung von
Pongratz/Voß zeigt aber auch, dass die Orientierungen Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und
Selbstrationalisierung unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Vor allem zeigten die Befragten eine
eher begrenzte Bereitschaft, die eigenen Fähigkeiten unter rationalen Gesichtspunkten zu vermark-
ten (vgl. Pongratz/Voß 2003: 170).
178 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

messen als der Orientierung an offiziellen Vorgaben für das ‚wie’ ihres Arbeitshan-
delns.“ (Böhle 2008: 98).
Die kulturellen Psychotechniken sind Kern des zweiten Erklärungsmodells. Es
bezieht sich auf die Macht, die aus den Einflüssen der vom Management geschaffe-
nen Unternehmenskultur entsteht. Die Beeinflussung setzt bei den Orientierungen
der Arbeitnehmer an und bindet sie dadurch anders in den Arbeitsprozess ein (vgl.
Deutschmann 1989). „Macht wird (…) viel wirkungsvoller dort ausgeübt, wo es
dem Mächtigen gelingt, nicht nur die Handlungen, sondern den Willen der Be-
herrschten zu lenken.“ (Deutschmann 1989: 384). In dieser Haltung drückt sich das
neue Leitbild einer starken, profitablen und erfolgsträchtigen Unternehmenskultur
aus, das in immer mehr Bereichen zur Norm für das Arbeitshandeln wird und
Selbstverpflichtung erzeugt.
Andere Techniken der „Disziplinierung“ zeigen sich in neuen Formen der Ver-
haltensbeeinflussung durch das Personalwesen, wie Assessment Center, Mitarbei-
tergespräche und Zielvereinbarungen (vgl. Opitz 2004). Hierbei werden nicht mehr
nur Leistungen des Arbeitnehmers definiert, sondern die Fähigkeiten und Potentiale
der Person insgesamt ermittelt. Dieses Vorgehen der individualisierten Personal-
auswahl und -förderung beeinflusst die Haltung der Person zu ihrer Arbeit. Dies
führt insgesamt dazu, dass Verhaltensweisen am Zweck des Unternehmens ausge-
richtet werden und Unternehmen zu „Händlern von Existenzweisen“ (ebd.: 144)
werden, indem sie Individuen produzieren, die dem Idealbild der Unternehmens-
kultur entsprechen wollen.
Das Modell der Entgrenzung von Zweck- und Selbstrationalität, dient der Of-
fenlegung handlungssteuernder Prinzipien, die Pongratz/Voß unter dem Aspekt der
„Ökonomisierung des Lebens“ beschrieben haben. Der Subjektivierungsprozess
entwickelt laut Böhle eine so umfassende Dynamik, dass nicht mehr nur die Ein-
gliederung von individuellen Fähigkeiten in den Arbeitsprozess angestrebt wird,
sondern bereits ihre Aktivierung. Diese Maßnahme greift über die Arbeitsbeziehun-
gen hinaus in die Planung des Lebens ein. „Damit wird deutlich, dass die Neu-
schneidung der Interaktionsmechanismen dazu beiträgt, dass die Selbst- und Le-
bensentwürfe der Subjekte einerseits verstärkt durch die Arbeitswelt geformt wer-
den und zugleich als Ausdruck individueller Verwirklichung und kollektiver Ge-
meinschaft behauptet werden.“ (Krömmelbein 2004: 195).
Mit dieser Zusammenfassung unterschiedlicher Beiträge zu aktuellen Entwick-
lungen in der Arbeitswelt sind erste Mechanismen des vierten Individualisierungs-
schubes offen gelegt. Die Wirkmacht des so konzipierten Leistungsindividualismus
wurde darüber hinaus im Rahmen zeitdiagnostisch entwickelter Subjektmodelle in
umfassender Weise thematisiert. Im Anschluss werden diese Subjektmodelle vorge-
stellt.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 179

4.4 Subjektmodelle zum Leistungsindividualismus

Die im Folgenden diskutierten Subjektmodelle beschäftigen sich mit der These


einer beruflich geforderten Ökonomisierung und suchen nach Spuren dieser allseiti-
gen Ökonomisierung. Vorgestellt werden der diskursanalytisch ausgerichtete Ansatz
von Ulrich Bröckling „Das Unternehmerische Selbst“ und der kulturtheoretische
von Andreas Reckwitz „Das hybride Subjekt“. Beide beleuchten Verschmelzungen
von Fremd- und Selbstansprüchen und ermöglichen ein tieferes Verständnis des
Verhältnisses von Fremd- und Selbstansprüchen und des Ausmaßes der Ökonomi-
sierung.

4.4.1 Bröcklings Ansatz zur Selbstrationalisierung

Ulrich Bröckling hat die Mechanismen einer auf alle Lebensbereiche übergreifenden
Verschmelzung von Fremd- und Selbstrationalisierung in seiner Arbeit über die
Ökonomisierung des Selbst genauer untersucht (vgl. Bröckling 2007). „Das Unter-
nehmerische Selbst“ trägt aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen eine
neue übergreifende Subjektivierungsform zusammen, bei der es nicht mehr um
Selbstbestimmung durch eigene, Autonomie verwirklichende Anspruchshaltungen,
sondern um Fremdbestimmung durch Fremdansprüche geht.
Bröckling analysierte dazu unterschiedliche Theorieangebote aus Soziologie,
Psychologie und Ökonomie, verschiedene Managementprogramme, Kommunikati-
ons- und Kooperationstechniken und diverse populäre Ratgeber (vgl. ebd.: 10). Ziel
seiner Analyse ist die Herausarbeitung einer allgegenwärtigen Ökonomisierung, die
nunmehr alles individuelle Handeln im Sinne des Rationalitätsanspruchs durch-
dringt. Diese Subjektivierungsform kennzeichnet er als ein

„(...) Bündel aus Deutungsschemata, mit denen heute Menschen sich selbst und ihre Existenzwei-
sen verstehen, aus normativen Anforderungen und Rollenangeboten, an denen sie ihr Tun und Las-
sen orientieren, sowie aus institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien, die und
mit denen sie ihr Verhalten regulieren sollen.“ (ebd.: 7).

Ausgehend von gesellschaftlichen Strukturveränderungen leitet er Veränderungen


für die gesamte Lebensgestaltung ab. Die diskursiv erzeugten Rationalitäten, durch
die Gesellschaft seiner Meinung nach erfahrbar und gleichzeitig von den Individuen
hergestellt wird, bilden den Schwerpunkt seiner Betrachtung. Er arbeitet ein uni-
verselles Gesellschaftsmodell heraus, das zunehmend durch Marktförmigkeit ge-
kennzeichnet ist.
In diesem dem Gesellschaftsmodell inhärenten Ansatz des Entrepreneurship
steckt, laut Bröckling, neben dem Aufruf zum Streben nach Markterfolg für unter-
nehmerisches Handeln auch ein normatives Modell individueller Lebensführung,
180 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

das einer totalen Mobilmachung gleicht. „Die Analytik unternehmerischen Han-


delns ist nicht zu trennen von der zumindest impliziten Aufforderung, das eigene
Tun und Lassen so auszurichten, dass es diesem Typus möglichst nahe kommt.“
(ebd.: 123). Dies sei dem Wunsch nach Befreiung aus der Unproduktivität geschul-
det. In dieser Vorstellung findet der Humankapitalansatz seine Zuspitzung. Es gehe
aktuell darum, Humankapital selbst zu nutzen, um die eigene Produktivität zu stei-
gern. Die Individuen müssten dabei zwei bisher gegensätzliche Persönlichkeitsele-
mente in sich vereinen: Zum einen Kreativität und Nonkonformität, und zum ande-
ren nüchternes, pedantisches Kalkulieren.
Die Antriebskraft dieser neuen Handlungsmaxime liegt in der Entgrenzungs-
und Überbietungslogik der sich verändernden Arbeitsmärkte und der sogenannten
„privaten Aufmerksamkeitsmärkte“ (ebd.: 125f). In beiden Bereichen gilt persönli-
ches Wachstum als Leitlinie. Die Individuen geraten durch soziale Vergleichsmecha-
nismen in einen Kampf um Aufstiegsmöglichkeiten, wodurch die Aufmerksamkeit
für das Entwickeln, die Nutzung und den Ausbau eigener Ressourcen gesteigert
wird. Das vom unternehmerischen Selbst verfolgte Ziel ist in allen Lebensbereichen
ein idealer und deshalb unerreichbarer, aber immer erstrebenswerter Zustand (vgl.
Bröckling 2007: 126). „Niemand besitzt die erforderlichen Eigenschaften von Ge-
burt an und erwirbt sie ohne entsprechende Anreize, weshalb diese gar nicht früh
genug einsetzen können.“ (ebd.: 145). Damit ist eine präventive Haltung zur eige-
nen Entwicklung verbunden, um Fehler von vornherein zu vermeiden.34
Projektarbeit ist für Bröckling das Paradebeispiel der Implementierung urs-
prünglich organisatorisch verankerter selbstverantwortlicher und vor allem flexibler
Handlungsleitlinien. Projektarbeit dient der Bewältigung von Diskontinuierungs-
und Beschleunigungseffekten und organisiert eine Arbeitsform in den Unterneh-
men, die sich durch Kurzlebigkeit und Dynamik auszeichnet (vgl. ebd.: 278). Bröck-
ling zieht aus der Analyse diverser Ratgeberliteratur den Schluss, dass die betriebli-
che Projektmanagementstrategie auch in der Organisation der privaten Lebenswel-
ten der Arbeitnehmer Anwendung findet bzw. finden sollte. Das Leben als Projekt
entspricht einer radikalisierten Form des Patchworkidentitätskonzepts. Es ist mit ei-
nem kaleidoskopartigen Prinzip der „Projektportfolios“ (Bröckling 2007: 279) ver-
gleichbar. „Die Individuen werden heute dazu angehalten zu leben, als ob sie ein
Projekt aus sich selbst machten: (…) sie sollen einen Lebensstil entwickeln, der
ihren Existenzwert ihnen selbst gegenüber maximiert.“ (Rose 2000: 14).
Das Projekt-Ich, wie es Bröckling formuliert, ist in höchstem Maße fluid und
bedarf einer klaren Strukturierung, die von der konsequenten Planung der selbstge-
steckten Zielsetzungen bis hin zu Strategien der Belohnung reichen. „Checklisten,
Selbstverpflichtungen und persönliche Jahres-Klausuren sollen dem Einzelnen

34 Diese Haltung konnte auch bereits in der Darstellung des vierten Individualisierungsschubes
herausgestellt werden.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 181

helfen, den Überblick über die Vielzahl individueller Projekte zu behalten.“ (Bröck-
ling 2007: 280). Den eigentlichen Grund für diese zunehmende Selbstökonomisie-
rung sieht Bröckling in der Offenheit des Lebens. „Es wäre kein Projekt und es
brauchte kein Management, wäre von Beginn an klar, was am Ende herauskommen
wird.“ (ebd.: 282).
Die allseits drohende Gefahr des Scheiterns wird zusätzlich potenziert, da die
Individuen um Wohlstand, Erfolg und Zufriedenheit konkurrieren. Die daraus
entwickelten Anforderungskataloge sind derart hochgesteckt, dass die Individuen
zwangsläufig scheitern müssen. Da sie jedoch stets nur partiell scheitern, entsteht
ein unaufhörlicher Sog zwischen dem Aufruf zum unternehmerischen Leben und
dem immer wieder neuen Versuch nach dessen Einlösung. „Das unternehmerische
Selbst existiert nur als Realfiktion im Modus des Als-ob – als kontrafaktische Unter-
stellung mit normativem Anspruch, als Adressierung, als Fluchtpunkt von Selbst-
und Sozialtechnologien, als Kraftfeld, als Sog.“ (ebd.: 283).
Die Anforderungskataloge lassen den Individuen allerdings Raum für kritisches
Fragen und Distanzierungen. In Kombination mit der weiterhin hoch gehaltenen
Entscheidungsfreiheit besteht die Möglichkeit, sich gegen Selbstoptimierung zu
entscheiden. Die Strategien des Umgangs mit als unbefriedigend empfundenen
Anforderungen sind von Bröckling folgendermaßen charakterisiert worden: Distan-
zieren, Umdeuten, Verschieben, ins Leere laufen lassen oder Zurückweisung (vgl.
Bröckling 2007: 284).35 Allerdings sind auch diese Abgrenzungsstrategien wiederum
in das allseitige Subjektivierungsprogramm integriert. Daher stellt sich für Bröckling
die Frage, wie eine Absage an Selbstoptimierungsstrategien aussehen kann. Dies
käme einer Befreiung aus der Freiheit nahe, da auch die Abweichung von der Norm
zum Programm gehört. „Ein vom unternehmerischen Subjektivierungsregime un-
berührtes Außen oder einen ihm entzogenen Innenraum des Selbst gibt es nicht
oder wenn, dann nur als Zone zukünftiger Eroberungen, wo ungenutzte Ressour-
cen ihre Erschließung harren.“ (ebd.: 285).
An diesem Ansatz muss kritisiert werden, dass er insgesamt einen Diskurs über
das Subjekt nachzeichnet. Was jedoch nicht bedeutet, dass sich die ermittelten An-
forderungen tatsächlich in Handlungen ausdrücken. Robert Lembke hat dies als
unterwerfende Subjektivierung bezeichnet, weil er auf Zwang und nicht auf Freiheit
beruht (vgl. Lembke 2005). Bröckling geht es um die Strategien der Subjektformie-
rung, die sich mittels diskursiv erzeugter Identitätszuschreibungen fassen lassen (vgl.
Schneider 2009: 273). So werden auch die von ihm ermittelten Selbstbefreiungs-
strategien über eine diskursive Einordnung in das umfassende Subjektivierungspro-
gramm immer wieder entwertet.

35 Diese entsprechen den Abgrenzungsstrategien, die im Abschnitt 2.6 in der Darstellung des Um-
gangs mit Optionen vorgestellt wurden.
182 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

Mit dieser Einschätzung gerät die gesamte Persönlichkeit in einen Strudel der
Vermarktung. Alle Fähigkeiten und Eigenschaften werden im Hinblick auf die
Brauchbarkeit für andere modelliert. Die Bestätigung der eigenen Fähigkeiten hängt
somit von ihrem Marktwert ab.

„Diese Vermarktung des Individuums (…) hat zwar dazu beigetragen, die Grundelemente mensch-
licher Individualität – Selbstbewusstsein und Weltbeziehung, innere Differenziertheit und Freiheits-
fähigkeit – zu steigern und zu verbreiten, zugleich aber eine destruktive Dynamik in Gang gesetzt,
indem sie die Fähigkeiten des konkreten Einzelnen in Mittel der sozialen Anpassung verwandelt
und tendenziell allen Welt- und Sozialbeziehungen die verdinglichende Warenform übergestreift
hat.“ (Schiller 2006: 347).

Aus der Last des Möglichen wird die Last der Begrenzung.

4.4.2 Reckwitz` Konzept des hybriden Subjekts

Betrachtet man aus kulturtheoretischer Sicht die Effekte der Wechselwirkung zwi-
schen der allseitigen Ökonomisierung und den individuellen Leistungsorientierun-
gen auf den Verlauf der Identitätsentwicklung, entstehen diese durch eine Subjekt-
bildung, die von den Individuen selbst initiiert wird. Das Subjekt setzt sich aus
sozial-kulturellen Formen zusammen, stellt seine Identität jedoch selbst durch All-
tagspraktiken her. Dieser Herstellungsprozess vollzieht sich in der Teilnahme an
sozialen Praktiken, in denen spezifische Formen von Subjektivität enthalten sind
(vgl. Reckwitz 2006: 39). Soziale Praktiken sind als „sozial geregelte, typisierte, rou-
tinisierte Form des körperlichen Verhaltens“ (ebd.: 36) zu verstehen, die spezifische
Wissensformen enthalten.
An diese Vorstellung der praxisorientierten Identifikation mit Subjektmodellen
knüpft Reckwitz’ Darstellung unterschiedlicher Subjektmodelle an. Für die Zeit seit
den 1980er Jahren beschreibt Reckwitz ein modernes Subjektmodell, das sich aus
ästhetischen wie ökonomischen Elementen zusammensetzt und zwei zuvor beste-
hende Modelle vereinigt.

„Die Entstehung und Verbreitung der modernen Subjektkultur des Arbeitens ist vielmehr durch
mehrere – zunächst weitgehend voneinander unabhängige – kulturelle Entwicklungen seit Beginn
der 1970er Jahre beeinflusst: ein post-bürokratischer (neoliberaler) Managementdiskurs (…); eine
Modifizierung der Arbeitsidentitäten und damit –ansprüche in den neuen Mittelschichten (…), die
materiale Kultur der digitalen Revolution (…), eine Modifizierung der Konsumentenkultur vom so-
zialen Normalismus zur Individualästhetik.“ (ebd.: 501).

Mit dieser Zusammenstellung will er der eindimensionalen Betrachtung jener Auto-


ren entgehen, welche die Ökonomisierung als hervorstechendste Subjektivierungs-
form herausgestellt haben.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 183

Neben den Eigenschaften eines post-bürokratischen Angestelltensubjekts er-


mittelt Reckwitz Kreativität als Kernbestandteil der neuen Angestelltenkultur. Kre-
ativität und Unternehmertum verschmelzen miteinander zu einer Doublette. „Die-
ses Arbeitssubjekt bildet damit ein hybrides Arrangement von kreationistischer,
ästhetischer Subjektivität, klassisch bürgerlicher – nun entmoralisierter – Selbstkon-
trolle und dem – nun individuelles Profil statt sozialer Konformität prämierendem –
personality salesmanship der Angestelltenkultur.“ (ebd.: 510).
Kreativität ist dem Künstlerideal entlehnt, dient der Verwirklichung von Indi-
vidualität und orientiert sich an der Nachfrage von sich kontinuierlich verändernden
Märkten. Kreativität wird demnach einerseits vom Individuum als Selbstanspruch
entwickelt, aber auch als Fremdanspruch an das arbeitende Individuum herangetra-
gen (vgl. ebd.: 513). Das Individuum verrichtet seine Arbeit unter Eigenregie und ist
gleichzeitig gezwungen sich unternehmerischen Prinzipien zu unterwerfen. Zur
Geltung kommt diese Kreativität in der Erzeugung innovativer Produkte oder
Dienstleistungen. Dabei kommt es zu einem inneren Innovationserleben, das ein
Gefühl von außeralltäglicher Konzentration auf die Such- und Findestrategien nach
neuen Lösungen erzeugt. Dadurch kann das Individuum sich seiner Un-Austausch-
barkeit versichern. Darüber hinaus wird Kreativität zum biographischen Projekt. So
verknüpft sich der Wunsch nach persönlicher Entfaltung und neuen Erfahrungen
mit Arbeit (vgl. ebd.: 513).
Des Weiteren ist das Kreativsubjekt Teil einer übergreifenden Kreativgemein-
schaft und stilisiert sich in Abgrenzung zu anderen über die Kleidung, die Büroein-
richtung, den Umgangston usw. Der so in die Arbeitswelt hineingetragene Lebens-
stil wird wichtig bei der Zusammenstellung von Teams, die gemeinsam Projekte
bearbeiten. „Die Rekrutierung von Personen in ein Projektteam erfolgt dann zu
großen Teilen anhand von Stilkriterien.“ (ebd.: 516). Reckwitz geht davon aus, dass
diese über die fachliche Passung hinausgehenden Kriterien nicht verbalisierbar sind.
Sie wirken als feine Unterschiede in Form von Subcodes einzelner vorhandener
Kreativgemeinschaften. Damit nennt Reckwitz erste Tendenzen neuerer Schlie-
ßungsprozesse in den projektbasierten Arbeitsformen. Allerdings muss dies mangels
empirischer Untersuchungen als interessante, aber bisher nicht belegte These be-
trachtet werden.
Im Hinblick auf die gesamte Arbeitsbiographie arrangiert sich das Individuum
mit den Risiken des Scheiterns, indem es einen Sinn für beständige Selbstverände-
rung entwickelt (vgl. ebd.: 522f.). Fester Bestandteil der Lebensplanung bleibt somit
immer der Anspruch einer dauerhaften Selbstorganisation, wie sie von Pong-
ratz/Voß beschrieben wurde. Für Reckwitz gehören zusätzlich die Netzwerkfähig-
keit und der Aufbau einer individuellen Reputation dazu. Nur so können die Indivi-
duen im Sinne einer Karriereentwicklung inhaltlich wechselnde Tätigkeiten auf-
nehmen.
184 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

Risiken dieser experimentellen Praxis der Selbstverwirklichung durch den Beruf


ergeben sich aus folgenden immanenten Widersprüchen: der

„(…) Spannung zwischen expressiv-strategischer Selbstorientierung und Teamorientierung, zwi-


schen dem Anspruch der Selbstverantwortlichkeit und der Kontingenz des Marktes; schließlich und
vor allem zwischen dem Individualitätsanspruch und der Anforderung der flexiblen Marktadap-
tion.“ (ebd.: 524).

Dies schlägt sich in einer übergeordneten Spannung zwischen Authentizitätsstreben


und Angepasstheit nieder.

„Unterminiert werden kann die Kohärenz des post-bürokratischen Arbeitssubjekts (…) durch die
Spannung zwischen der Anforderung einer permanenten Arbeit an sich selbst, welche die individu-
elle Verantwortlichkeit für erfolgreiches Arbeiten dem Einzelnen zuschreibt, und der Abhängigkeit
des individuellen Erfolges von der Nachfragelogik des Marktes, der nicht Leistungsfähigkeit prä-
miert, sondern zufällig aktuell nachgefragte Leistungen.“ (ebd.: 525).

Reckwitz’ aktuelles Subjektmodell setzt sich neben Arbeit aus zwei weiteren As-
pekten zusammen: persönlichen Beziehungen und Konsum, wobei der Bereich der
persönlichen Beziehungen weiter unten dargestellt wird.
Bei all diesen interessanten Beobachtungen aus Reckwitz` kultursoziologischer
Perspektive, ergibt sich allerdings ein Problem im Hinblick auf den Umgang mit
Reckwitz` Ergebnissen. In seiner Auffassung der Übernahme von Subjektmodellen
bleibt die Frage unklar, wie sich das Subjekt selbst reproduziert. Wie erfolgt die
Einverleibung eines Subjektmodells? Wie vollzieht sich die Selbstinterpretation?
Wie schreibt sich das Subjekt selbst Sinn zu und wie entsteht Identität? Worin be-
steht der Antrieb des Subjekts?
Laut Reckwitz‘ Ansatz sind in sozialen Praktiken grundsätzlich Subjektmodelle
enthalten, die über bestimmte Codes durch die Subjekte reproduziert werden. Diese
Codes weisen eine binäre Struktur auf, wodurch bestehende Subjektmodelle sich
durch Abgrenzungsprozesse zu Anti-Modellen formen lassen.36 Aus der Aneignung
und Ablehnung dieser Subjektmodelle erzeugt das Subjekt seine Identität. Sie ist
nichts anderes als eine „spezifische Form des Selbstverstehens, der Selbstinterpre-
tation, welche im Rahmen einer Subjektkultur in die Subjektform eingelassen ist“
(ebd.: 45).
Diese Selbstbeschreibungen können nach Reckwitz zwei Formen annehmen.
Entweder interpretiert sich das Subjekt als unveränderlich und konstant oder als
veränderlich und entwicklungsoffen. In jedem Subjektmodell sind bestimmte „Iden-
titätsverlockungen“ (ebd.: 46) enthalten, die dem Subjekt begehrenswerte Ich-

36 Dieser Mechanismus ist ebenfalls in der Darstellung des Umgangs mit Optionen anhand der
Fähigkeit zur Umformung und Abgrenzung von Optionen beschrieben worden.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 185

Ideale37 anbieten und zur Identifikation einladen. Die Erzeugung von Individualität
muss demnach ebenfalls als eine soziale Praktik mit spezifischen Codes verstanden
werden. Praktiken der Individualität sind beispielsweise Abgrenzungen vom Kon-
ventionellen, Aktivitätsmultiplizität und Innovativität (vgl. ebd.: 48). Individualität
ist so gesehen ein kollektives Muster und stützt sich auf die Überwindung räumli-
cher Grenzen und der routinisierten Reproduktion über einen längeren Zeitraum
hinweg (vgl. ebd.: 37).
Des Weiteren entstehen Individualitätsformen aufgrund von Spielräumen, die
innerhalb der Subjektmodelle möglich sind, und aus Mischformen, die sich aus einer
Kombination von Praktiken und Codes oder aus dem unintendierten Misslingen der
Reproduktion der Subjektmodelle ergeben können. Wobei aus all diesen individu-
ellen Formen der Individualitätserzeugung wiederum kollektiv geteilte Muster der
Individualitätserzeugung entstehen. Als Voraussetzung dafür müssen sich jedoch
die Abweichungen von bereits existenten Subjektformen häufen. Damit wird
gleichzeitig eine Verbindung zwischen Kulturtheorie und dem Konzept des sozialen
Wandels hergestellt. Diese kulturtheoretische Perspektive löst das Problem der
Innerlichkeit des Subjektbegriffs indem sie das Subjekt als sozial-kulturell geformt
betrachtet und feststellt, es sei vor der Reproduktion sozialer Praktiken nichts als
ein „organisches Substrat“. Die Reckwitzsche Konzeption enthält einerseits ein Sein
durch Selbstinterpretation infolge reproduzierter Subjektmodelle, aber auch ein
Sollen durch Rekurrierung auf Ich-Ideale in der Subjektkultur. Reproduktion der
Subjektkulturen wird durch Übernahme bzw. Identifizierung von Ich-Idealen er-
reicht.
Reckwitz’ Identitätskonzept unterstellt also eine Sollenskomponente. Er rekon-
struiert Anreizstrukturen für dieses Sollen in der Umwelt, sei es in Form von Sub-
jektkulturen, Lebensstilen oder vermittelt über das medial konstruierte „Imaginäre“.
Er unterstellt weiterhin einen Bedarf bei den Subjekten, sich diese Schablonen ein-
zuverleiben. Da Reckwitz’ Analyse der hybriden Subjektkulturen ihrer Richtung
nach von der Kultur zu den Subjekten verläuft, kann dieser Bedarf an Ich-Idealen
und der Reproduktion von Subjektkultur nur als gegeben vorausgesetzt werden. Die
Frage nach den Mechanismen der Aneignung, deren Antwort diesen Bedarf klären
könnte, stellt sich aus dieser Perspektive für den Autor nicht.
Geht man allerdings davon aus, dass die Identifikation mit Subjektkulturen auf
individuellen Ansprüchen gründet, stellt sich die Frage: Wie werden diese neuen
Anforderungen zum eigenen Antrieb bei der Identitätsentwicklung? Der Ansatz,
der in Kapitel vier dieser Arbeit entwickelt wurde, rückt deshalb die intersubjektive
und institutionelle Aushandlung von Anerkennung in den Mittelpunkt. Auf diese

37 Diese Vorstellung ist vergleichbar mit der von Luhmann ausgearbeiteten Orientierung an An-
spruchsschablonen, die den Individuen von gesellschaftlicher Seite zwecks Identifikation zur Ver-
fügung gestellt werden.
186 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

Weise können Aussagen über Einflüsse auf Identitätsverläufe getroffen werden. Da


das Individuum die Wirklichkeit vor allem aus der Einbindung in soziale Beziehun-
gen erfährt, entfaltet sich die Wirkung von Subjektivierungsprogrammen oder Sub-
jektmodellen erst auf Basis der dort ausgehandelten Anerkennungsleistungen. Mit
der hier ausgearbeiteten Vorstellung einer anspruchsgeleiteten Identitätsentwicklung
kann so gezielt nach Tendenzen der Untergrabung eigener Anspruchshaltungen
durch neue Soll-Normen gesucht werden. Wie Bröckling mit der Vorstellung eines
Projekt-Ich plausibel gemacht hat, kam es zu keinem Verlust, sondern eher zu einer
Zunahme von Leistungsansprüchen und Seinsforderungen. Die genauen Mecha-
nismen der Vermischung von Forderungen und eigenen Ansprüchen müssen wie-
derum aus den Anerkennungsleistungen abgeleitet werden. Mit dieser Vorstellung
kommt man sowohl über Bröcklings Vorstellung von diskursiv erzeugten Machtef-
fekten auf die Subjektivierung, als auch über die Reckwitzsche Auffassung einer
praxisorientierten Identifikation mit Subjektmodellen hinaus.
Die hierfür notwendigen Grundlagen zu Anerkennungsbeziehungen sind be-
reits in Kapitel 4 dargestellt worden. Im Folgenden werden die Veränderungen der
Anerkennungsakte unter dem Leitbild des Leistungsindividualismus näher beleuch-
tet.

4.5 Anerkennungsmechanismen im Leistungsindividualismus

Die bei Bröckling und Reckwitz beschriebene Verschmelzung von Selbstansprü-


chen und Fremdforderungen kann vor dem Hintergrund eines neuen Leistungsin-
dividualismus aus anerkennungstheoretischer Perspektive konkretisiert werden.
Hierfür ist die Beobachtung einer Zunahme der Bedeutung individueller Leistungs-
ansprüche grundlegend, die in veränderten Verhältnisbestimmungen der Selbstver-
wirklichung und dem Leistungsstreben münden. Rückschlüsse auf den spezifischen
Umgang mit den drei Arten von Anspruchshaltungen können jedoch nur aus der
Analyse der Anerkennungsbeziehungen gezogen werden.
Aufgrund der bereits dargestellten Veränderungen kann die These aufgestellt
werden, dass die Anspruchshaltungen unter den Bedingungen des Leistungsindivi-
dualismus insgesamt an identifikatorischer Kraft verlieren und sich somit die Me-
chanismen der Identitätsentwicklung verändern. Die Auseinandersetzung mit empi-
rischen Erkenntnissen zu aktuellen Anerkennungsleistungen soll insgesamt neue
Rahmenbedingungen für die Identitätsentwicklung kennzeichnen. Darüber hinaus
dient die Analyse der Abschätzung der Gefahr einer Selbstentfremdung, die in der
Verschmelzung von Fremd- und Selbstansprüchen angelegt ist.
Analog zur Ausarbeitung im vorigen Kapitel werden im Folgenden die drei Be-
reiche Liebe bzw. emotionale Wertschätzung, rechtliche Anerkennung und positio-
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 187

nale Wertschätzung analysiert und gegenüber den Mechanismen während des An-
spruchsindividualismus abgrenzend untersucht.

4.5.1 Leistungsindividualismus und positionale Wertschätzung

Wie bereits dargestellt, orientiert sich Anerkennung im beruflichen Kontext seit der
Industriealisierung an Leistung. Allerdings änderte sich die Definition, welche
Handlungen als Leistung bewertet werden. Die professionellen Standards zur Leis-
tungsbeurteilung sind einem dynamischen Wandel unterworfen, was bereits in der
Darstellung der Anerkennungsmechanismen während des Anspruchsindividualis-
mus deutlich wurde. Vor dem Hintergrund sich etablierender individueller Leis-
tungsansprüche und noch bestehender kollektivierender Anerkennungsformen,
musste Anerkennung neu ausgehandelt werden. Nun gilt es herauszuarbeiten, in-
wiefern sich Anerkennung auf der Grundlage eines Arbeitshandelns, das an eigenen
Ansprüchen ausgerichtet ist, innerhalb des Leistungsindividualismus verändert hat.
Von zentraler Bedeutung für das Betrachten dieser Veränderungen sind die Ar-
beiten von Stephan Voswinkel (vgl. Voswinkel 2000a, 2000b, 2001, 2005 Voswin-
kel/Kocyba 2008). Seine Argumentation soll im Folgenden die Grundlage für die
genauere Beschreibung der Wirkkräfte von Anerkennung unter Bedingungen des
Leistungsindividualismus bilden. Voswinkel geht davon aus, dass sich in den letzten
Jahren ein Wandel von der Anerkennung der Normalleistung zur Leistungsexzel-
lenz erkennen lässt. Normalleistungen werden, wie bereits im vorigen Kapitel dar-
gestellt, unter Bedingungen des Leistungsindividualismus immer seltener gewürdigt.
„Wo subjektivierendes Arbeitshandeln als Selbstverwirklichung erscheint, gibt es für
Anerkennung in Form von Würdigung keinen legitimen Raum.“ (ebd.: 79). Für die
Individuen bedeutet dies, immer häufiger nur noch für außergewöhnliche Leistun-
gen positive Rückmeldungen zu bekommen. Hierin zeigt sich die wesentlichste
Zuspitzung innerhalb des Leistungsindividualismus.
Dieses Anerkennungsverhältnis wird von Voswinkel als Bewunderung bezeich-
net. Bewunderung ist in erster Linie an besondere Leistungen gebunden. Damit
wird die tatsächlich erbrachte Leistung aus der Masse der Pflichterfüllung herausge-
hoben.

„Man erhält sie für eine hohe Produktivität der Arbeit, für wirtschaftlichen Erfolg, für Kompetenz
und Entscheidungsfähigkeit, auch für körperliche Kraft und Geschicklichkeit. Bewunderung ist als
Anerkennungsgehalt in Arbeitsbedingungen enthalten, die solche Aspekte fördern und vorausset-
zen.“ (Voswinkel 2000a: 41).

Damit werden individuell zurechenbare Fähigkeiten und Leistungen anerkannt.


Diese Form der Anerkennung verleiht Prestige und schlägt sich in der Reputation
188 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

des Angestellten nieder. Sie dient somit der Positionierung innerhalb des Unter-
nehmens und auf dem Arbeitsmarkt und fördert gleichzeitig die Konkurrenz.
Aufgrund dieser Mechanismen werden Ansprüche und Anspruchsniveaus ab-
gewertet, die von diesen Leistungen abweichen bzw. darunter liegen. Das Streben
nach Würdigung wird heute als ein Zeichen mangelnder Selbstansprüche gewertet,
das Streben nach Bewunderung dagegen als legitime Strategie zur Abgrenzung von
Normalleistern respektiert (vgl. ebd.: 49). Dieser Wandel zeigt zum einen die erwei-
terten Möglichkeiten, Anerkennung auf der Grundlage des eigenen Einsatzes zu
erhalten. Zum anderen macht er aber auch deutlich, dass die Zuschreibung von
anerkennenswerten Leistungen durch die konkurrierenden Abgrenzungsbemühun-
gen der Individuen kontinuierlich eingedämmt wird (vgl. Kaletta 2008: 29).
Das Streben nach Reputation, das mit der Bewunderung als Anerkennung an-
gestoßen wird, kann zum Selbstzweck werden, da Reputation als Kapital der Ab-
grenzungsbemühungen immer wichtiger wird. Mit dem Wandel von der Würdigung
zur Bewunderung ist deshalb die Gefahr der Demotivation verbunden. Das Streben
nach Reputation enthält bereits ein Entfremdungsmoment, das Voswinkel als „ent-
subjektivierte Evaluation“ (Voswinkel 2002: 82) bezeichnet. Damit beschreibt er,
dass die Reputation, die das Subjekt erlangt, durch Beobachtung bewertet werden
muss. Sie wird in erster Linie durch Mitarbeiterbeurteilungen an das Subjekt heran-
getragen. Insofern sich das Subjekt auf diese Bewertung konzentriert, entfernt es
sich bereits von seinem Leistungsstreben. Die Psychologie bezeichnet dieses Phä-
nomen als Gegensätzlichkeit zwischen Leistungsmotivation und Leistungsorientie-
rung (vgl. McClelland 1995). Die Leistungsmotivation wird von aufgabeninhärenten
Kriterien beeinflusst, beispielsweise von Aufgaben, die als herausfordernd empfun-
den werden. Erst aus sozial-evaluativen Anreizen, wie z.B. der Relevanz eines Er-
gebnisses, kann dagegen die Leistungsorientierung erwachsen (vgl. Brunstein/Hoyer
2002: 53). Das Individuum wird von den Effekten seiner Arbeit angetrieben, die
sich nicht mehr an die eigentliche Leistung zurückbinden lassen. Unter den Bedin-
gungen des Leistungsindividualismus besteht deshalb die Gefahr einer Entfrem-
dung von den eigenen Leistungsansprüchen.
Mit dieser Perspektive zeigt sich eine weitere Zuspitzung der Auffassung dar-
über, welche Handlungen als anerkennenswert gekennzeichnet werden. Die Be-
wertung orientiert sich zunehmend an Kennziffern und wird so immer marktbezo-
gener, d.h. absatzorientierter. Wie bereits in den Darstellungen zur beruflichen
Selbstverwirklichung in Abschnitt 4.3.1 angeklungen, wird nicht mehr die hervorra-
gende Leistung bewertet, sondern der wirtschaftliche Erfolg, der aus ihr resultiert.
Dieser Erfolg bezieht sich nur auf aktuell nachgefragte Leistungen und ignoriert
damit alle anderen Leistungen, auch wenn sie sehr gut sind. Unter diesen Bedingun-
gen gelangt eine neue fremdgesteuerte Anpassung an Marktförmigkeit in die indivi-
duellen Ansprüche an die eigenen Leistungen.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 189

Die Ausrichtung des Leistungsstrebens an einem Erfolgshorizont, dessen Kri-


terien die Individuen nicht ermitteln können, führt zur Erosion des Leistungsprin-
zips. Auf dieser Basis entwickelt sich eine zusätzliche Gefahr der Entfremdung
gegenüber den eigenen Leistungsansprüchen (vgl. Neckel 2000, 2001). Es geht
immer seltener darum, wie bestimmte Ziele erreicht werden, sondern darum, dass
sie erreicht werden. Da Anerkennung so von Glück und der strategischen Nutzung
günstiger Gelegenheiten abhängt, wird sie insgesamt unsicherer (vgl. Voswinkel
2002).
Die Individuen haben nach Voswinkel zwei Möglichkeiten, um dieser Gefahr
der Selbstentfremdung zu entgehen (vgl. Voswinkel 2002: 87f.). Sie können auf
Anerkennung verzichten und an ihren eigenen, leistungsbasierten Ansprüchen fest-
halten. Das ist möglich, wenn sie sich selbst für ihre Leistungen anerkennen.
Gleichzeitig liegt in dieser Haltung wiederum die Gefahr einer Entfremdung von
den Unternehmensstrukturen, was zu einer inneren Kündigung führen kann. Wird
diese Haltung von Kollegen oder Chefs als Missachtung wahrgenommen, kann
daraus ein noch größerer Sinnverlust entstehen, durch den die Motivation weiter
sinkt. Und da subjektivierte Arbeitsprozesse eine innere Beteiligung voraussetzten,
gehen damit wichtige Ressourcen verloren. Die zweite Möglichkeit besteht darin,
wegen der wahrgenommenen Missachtung Ansprüche nach veränderten Anerken-
nungsmechanismen zu äußern, die tatsächlich erbrachte Leistungen wieder stärker
berücksichtigen.38
Axel Honneth argumentiert über Voswinkels Entfremdungsthese von Selbstan-
sprüchen hinaus und spricht von der Gefahr der Selbstverdinglichung (vgl. Hon-
neth 2002, 2005). Diese entsteht durch die Präsentation von geforderten Selbstan-
sprüchen. Die eigenen Leistungsansprüche werden zunehmend nicht mehr geäu-
ßert. Anerkennung, die für angeeignete Ansprüche ausgesprochen wird, erfüllt wie-
derum keine Funktion mehr für die Identitätsstabilisierung und wird von Honneth
als Anerkennungsvergessenheit beschrieben. Im Ergebnis entsteht eine passive
Haltung gegenüber den eigenen Ansprüchen. Die Individuen sind von ihnen abge-
trennt. Eine sich so entwickelnde Selbstentfremdung wirkt sich auf die Gestalt der
Identität eines Individuums aus.
Honneth begründet dies mit dem Spannungsverhältnis zwischen der evaluati-
ven, d.h. nur versprochenen, und der materiellen, d.h. tatsächlich erbrachten Kom-
ponente von Anerkennung. Er nennt jede Form, in der beide Komponenten ausei-
nanderfallen, eine Anerkennungsideologie (vgl. Honneth 2004). Ideologisch ist diese
Anerkennung deshalb, weil sie bei den Individuen die freiwillige Übernahme gesell-
schaftlicher Aufgaben und Pflichten herbeiführt. Damit erschwert sie die Autono-
miebedingungen der Individuen, erzeugt systemkonforme Einstellungen und wirkt

38 Diese beiden Haltungen sind vergleichbar mit den von Individuen genutzten „exit“ oder „voice“
Optionen im Rahmen organisationalen Handelns (vgl. Hirschmann 1970).
190 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

herrschaftssichernd (vgl. ebd.: 51). Honneth hat dazu die Trennung zwischen dem
evaluativem Versprechen und der materiellen Erfüllung von Anerkennung genauer
untersucht und die beiden Mechanismen auch auf den Ansatz des Arbeitskraftun-
ternehmers angewendet (vgl. Honneth 2004: 67).
Evaluativ erfolgreich ist Anerkennung immer dann, wenn die Individuen Aus-
zeichnungen auf sich beziehen und damit zu Selbstachtung gelangen. Aber der
Anerkennungsakt bleibt „gewissermaßen unvollständig, solange er nicht in Verhal-
tensweisen mündet, die den artikulierten Wert auch tatsächlich zum Ausdruck brin-
gen.“ (ebd.: 67). Diese Verhaltensweisen sind im Rahmen der Arbeitskraftunter-
nehmerthese vor allem als institutionelle Maßnahmen innerhalb der Unternehmen
zu verstehen. Für das Individuum muss ersichtlich sein, dass sich auch die Unter-
nehmensstrukturen ändern, um den neuen Werteigenschaften der Arbeitnehmer
gerecht zu werden. Honneth sieht aber gerade hier eine Kluft, da sich die Ar-
beitsbedingungen seiner Meinung nach nicht genügend gewandelt haben. Dadurch
bleibt die Anerkennung unglaubwürdig und symbolisch. Die Auswirkungen dieses
Anerkennungsdefizits zeigen sich auf individueller Ebene darin, dass sich die Indi-
viduen gezwungen fühlen, intrinsische Motivation, Flexibilität und Begabung ledig-
lich vorzutäuschen (vgl. ebd.: 68). Damit käme es also zu keiner Verschmelzung,
sondern zu einer den Individuen bewusst bleibenden Kluft zwischen Fremdanfor-
derung und Selbstanspruch. Symbolische Anerkennung bewirkt damit eine Form
der freiwilligen Unterwerfung. Aber solange keine empirischen Belege dafür ge-
sammelt werden, „dass die Betroffenen selbst bestimmte Anerkennungspraktiken
als repressiv, einengend oder stereotypisierend erfahren, fällt es äußerst schwer,
zwischen ideologischen und gerechtfertigten Formen der Anerkennung sinnvolle
Unterscheidungen zu treffen.“ (ebd.: 54).
Honneth plausibilisiert die hier angedeuteten Probleme zwischen neuen Soll-
Normen und den identitätsstiftenden Ansprüchen jedoch an anderer Stelle mittels
empirischer Belege (vgl. Honneth 2005). Er konzentriert sich auf die Art der Selbst-
präsentation, die den Individuen institutionell abverlangt wird, und zeigt exempla-
risch an Bewerbungsgesprächen in bestimmten Dienstleistungsberufen die hohe
Tendenz zur Simulation von Absichten. Auf gleiche Weise betrachtet er internetba-
sierte Partnervermittlungen, wo sich ebenfalls vorgetäuschte Selbstansprüche be-
obachten lassen, was weiter unten noch ausführlicher diskutiert wird. In allen Kon-
texten ist die Selbstpräsentation immer häufiger der Gefahr einer bloßen Simulation
von Absichten, Zielen oder Gefühlen ausgesetzt. Im veränderten Verlauf von Be-
werbungsgesprächen kann dies beobachtet werden. Sie dienen heute immer seltener
der Darstellung der bisherigen beruflichen Laufbahn, sondern der zu erreichenden
Ziele.

„Diese Aufmerksamkeitsverlagerung von der Vergangenheit in die Zukunft zwingt den Betroffenen
mit aller Wahrscheinlichkeit eine Perspektive auf, in der sie ihre eigenen, arbeitsbezogenen Einstel-
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 191

lungen und Empfindungen als etwas begreifen lernen, das sie wie ‚Gegenstände’ zukünftig hervor-
zubringen haben.“ (Honneth 2005: 105).

Mit dieser Haltung geht Selbstbindung durch Ansprüche verloren und ein Identi-
tätsverlust droht. Je häufiger Individuen zu einer derartigen Selbstinszenierung
gezwungen sind, umso stärker machen sie die Erfahrung, keine eigenen Ansprüche
mehr zu haben und nur das zu wollen, was erwartet wird.
Hier ist jedoch danach zu fragen, ob die alleinige Präsentation von zukünftigen
Arbeitszielen in Bewerbungsgesprächen schon ein derartiges Entfremdungspoten-
tial birgt. Wenn Individuen dazu gedrängt werden, sich mit vorgetäuschten Ansprü-
chen zu präsentieren, dann führt das allein noch nicht zum Problem der Entfrem-
dung, da die Individuen in diesen Situationen selbst darüber reflektieren können,
wie ehrlich sie sind. Sie haben immer die Möglichkeit, sich bewusst von der gefor-
derten Selbstpräsentation innerlich abzugrenzen. Trotzdem können sie an den Ar-
beitsplatz, um den sie sich bewerben, eigene Ansprüche richten, um mit innerer
Beteiligung arbeiten zu können. Zu identitätsbedrohlichen Konflikten kann es je-
doch dann kommen, wenn eine dauerhafte Kluft zwischen der bewusst vorge-
täuschten Selbstpräsentation und den eigentlichen, möglicherweise nicht stark aus-
geprägten oder nicht passenden Anspruchshaltungen wahrgenommen wird.
Ein weiterer Aspekt betrifft die veränderten Rahmenbedingungen und den da-
mit verbundenen Druck, sich in Bewerbungsgesprächen als jemand präsentieren zu
müssen, der seinen Lebenslauf eigenständig plant und auch schon immer geplant
hat. Ein Bruch im Lebenslauf, etwa ein zurückliegendes Scheitern, ist individuell
zurechenbar. Deshalb müssen diese Brüche in der Bewerbung umgedeutet und in
Abhängigkeit von den aktuell verfolgten Zielen als richtige Entscheidung präsentiert
werden. Solche Neukonstruktionen des beruflichen Werdegangs erhöhen die Ten-
denz, sich als jemand zu präsentieren, der schon immer wusste, wohin er beruflich
wollte. Auch hier besteht die Gefahr einer Selbstverdinglichung.
Diese Zusammenhänge machen deutlich, wie wichtig die Fähigkeit ist, sich
selbst gegenüber eine anerkennende Einstellung zu entwickeln. Nur so kann man
sich mit den tatsächlich eigenen Ansprüchen identifizieren und damit für eine ge-
wisse Stabilität in der Identitätsentwicklung sorgen. Geht diese selbstanerkennende
Haltung verloren, weil die Individuen permanent zu einer selbstentfremdenden
Vortäuschung von Ansprüchen gezwungen werden und den Bezug zu ihren eigenen
Ansprüchen verlieren, ist die gesamte berufliche Identitätsentwicklung gefährdet.
Hiermit sollen die anerkennungstheoretischen Betrachtungen des beruflichen
Kontextes abgeschlossen werden. Ausgehend von einer Entwicklung zur Anerken-
nung von exzellenten Leistungen konnte gezeigt werden, dass Anerkennung heute
zunehmend auf Basis von wirtschaftlichen Erfolgskriterien ausgesprochen wird.
Dies untergräbt allmählich die Prinzipien des Leistungsindividualismus, weshalb
bereits von einem Erfolgsindividualismus gesprochen werden kann. Des Weiteren
192 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

konnte gezeigt werden, dass unter diesen Bedingungen die Gefahr einer Anerken-
nungsideologie besteht. Das damit verbundene Entfremdungspotential hinsichtlich
der eigenen Ansprüche wird durch einen weiteren Mechanismus verschärft: den
Zwang zu einer den Forderungen entsprechenden Selbstpräsentation. Die so ent-
stehende Kluft kann nur durch Selbstanerkennung geschlossen werden.

4.5.2 Leistungsindividualismus im Rahmen von Ressourcenforderungen

Für die Bestimmung der Identitätsentwicklung innerhalb des Leistungsindividualis-


mus müssen dessen weitere Auswirkungen betrachtet werden. Neben der berufsba-
sierten Untersuchung der Anerkennung von Leistungsansprüchen und der dort
auftretenden Gefahr der Verschmelzung mit Fremdansprüchen bedarf es der Ana-
lyse von Ressourcenforderungen. Die Veränderungen zeigen sich auf rechtlicher
Ebene.
Hier lässt sich ebenfalls ein veränderter Anerkennungsmodus beobachten. Es
zeigt sich ein Wandel vom Integrationsprinzip der Bedürftigkeit hin zur Eigenver-
antwortung. Das Fürsorgeprinzip des Anspruchsindividualismus verliert auf unter-
schiedlichen Ebenen seine Wirksamkeit. Wohlfahrtsstaatliche Leistungen werden
gekürzt, Eigenverantwortung wird gefordert. Der Wandel verbirgt sich politisch
hinter den Maßnahmen zum aktivierenden Sozialstaat.
Seit Ende der 1980er Jahren wurde das Mitnahmeverhalten der Bürger gegen-
über sozialstaatlichen Leistungen kritisiert. Der Staat geriet aufgrund wachsender
Spar- und Kürzungszwänge immer mehr unter Druck. Das überzogene Niveau
sozialstaatlicher Strukturen wurde für diese Krise verantwortlich gemacht, die sich
vor allem in anhaltender Arbeitslosigkeit, sinkenden wirtschaftlichen Wachstums-
raten, staatlicher Verschuldung und Steuerbelastungen sowohl in der Wirtschaft als
auch bei Arbeitnehmern zeigte. Was als Problemlösungsansatz begann, entwickelte
sich zum Problemverursacher (vgl. Bäcker et al. 2008: 75). Dies mündete in um-
fangreichen Maßnahmen zum Leistungsabbau, um sich nur noch auf die wirklich
Bedürftigen konzentrieren zu müssen. Politisch legitimiert wurde dies mit dem
Leitbild der drohenden Gefahr einer Überlastung des Sozialstaates durch Bürger,
die als „Sozialschmarotzer“ stigmatisiert wurden. Die unrechtmäßige Inanspruch-
nahme sozialstaatlicher Leistungen sowie Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit und
Leistungsmissbrauch führte zu der Sicht, der bisherige Sozialstaat sei ein Auslauf-
modell. Mit Hilfe medialer Berichterstattung über spektakuläre Einzelfälle wurde
eine Rechtfertigungsgrundlage für die geplanten Kürzungen konstruiert.39

39 In einer Studie von Lamnek et al. kam man allerdings zu dem Schluss, dass es nur eine sehr geringe
Zahl von Personen gibt, die Leistungen missbrauchen und dass diese nun als Sündenböcke für die
Krise verantwortlich gemacht werden (vgl. Lamnek/Olbrich/Schäfer 2000).
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 193

Zusätzlich entstand eine Diskussion über die negativen Auswirkungen sozial-


staatlicher Leistungen auf die Wahrnehmung von Bürgerpflichten.40 Man argumen-
tierte vor allem mit der schwindenden Leistungsbereitschaft und Eigeninitiative von
Sozialhilfeempfängern. Der Kanon wurde in einer Anzeige der Initiative Neue Sozi-
ale Marktwirtschaft in der FAZ im Jahr 2001 formuliert: Der Sozialstaat in seinem
bisherigen Ausmaß mache Menschen abhängig und sei dadurch unsozial geworden.
Die Agenda 2010 der Schröder-Regierung leitete den Umbau des Sozialstaates
auf der Grundlage von neoliberalem Gedankengut ein. Am 14. März 2003 eröffnete
Bundeskanzler Schröder seine Regierungserklärung mit den Worten: „Wir werden
Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleis-
tung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ (Presse- und Informationsamt der
Bundesregierung 2004: 8). Unter dieser neuen Perspektive setzte man eine Vielzahl
von Maßnahmen durch, welche durch die Forderung nach mehr Eigenleistung
gekennzeichnet waren: die private Altersvorsorge, eine Verringerung der Bezugs-
zeiten von Arbeitslosengeld, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozial-
hilfe (Hartz IV), Kürzungen in den Leistungskatalogen der Krankenkassen, neue
Zuzahlungsregelungen bei Medikamenten und die Einführung der Praxisgebühr
(vgl. Butterwegge 2005: 207). Politisch bewegte man sich auf den Abbau des so-
zialstaatlichen Prinzips der Anspruchsgerechtigkeit zu. Die Bürger mussten akzep-
tieren, dass man ihren Ansprüchen nicht mehr in dem gewohnten Ausmaß gerecht
würde und stattdessen Zahlungen von ihnen forderte. Insgesamt führen die zu-
nehmenden Kürzungen bestimmter Ressourcen zu einer Beschneidung von Mög-
lichkeiten im Rahmen der Selbstverwirklichung.41 „Die Gesellschaft des Mehr nahm
den Staat in die Verantwortung, die Gesellschaft des Weniger setzt auf das Indi-
viduum, setzt es somit auch frei bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten.“ (Beck
2005: 15).
Die Auswirkungen dieses Wandels auf die Selbstverwirklichung zeigen sich auf
unterschiedlichen Ebenen. Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit bewirkt in erster
Linie einen Verlust an Sicherheit, was jedoch keinen Anstieg von Eigeninitiative zur
Folge hat. Im Gegenteil: „Der Gedanke, dass die Sicherung der eigenen Existenz
die Basis darstellt für jegliche Erweiterung subjektiver Handlungsspielräume, geht in
diesem Denken völlig verloren.“ (Völker 2002: 3). So treten bei der Umstellung auf
Eigenverantwortung, die sich mit der Forderung nach mehr Eigenleistung verbin-
det, Probleme auf. Arbeitslose, die durch die Einführung der Hartz IV-Reform mit

40 Zur Übersicht der öffentlichen Debatte über den Sinn des Sozialstaates und Rechtfertigungen für
Kürzungen, Butterwegge 2005.
41 Die Dramatik der erzwungenen Anspruchsreduktion zeigt sich z.B. anhand der Arbeitslosengeld-
debatte. Das im Februar 2010 gefällte Urteil des Bundesverfassungsgerichts erklärt die seit 2005
geltenden Hartz IV Sätze für verfassungswidrig. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Exis-
tenzminimum sei hiermit nicht gewährleistet. Deshalb müssen die Sätze zum Januar 2011 wieder
erhöht werden. Hier zeigen sich erste Umkehrbewegungen innerhalb der Kürzungsdebatte.
194 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

drastischen Mittelkürzungen konfrontiert sind, können in vielen Fällen nicht einfach


durch stärkere Eigenleistung eine Verbesserung ihrer Situation herbeiführen, da
ihnen Kompetenzen dazu fehlen.42 Die strukturellen Gründe für Arbeitslosigkeit
werden hier individualisiert. Die Zuschreibung von Eigenverantwortung kann
rückwirkend auf den gesamten Lebenslauf angewandt werden, wodurch längst zu-
rückliegende Entscheidungen zu selbstverschuldeten Ursachen der jetzigen Situa-
tion werden (vgl. Butterwegge 2005: 101). Auf diese Weise entsteht der Vorwurf,
die selbst gesetzten Ansprüche an die eigene Leistung seien zu niedrig gewesen und
dies sei der Grund für den nun drohenden sozialen Abstieg. An dieser Stelle wird
noch einmal deutlich, dass Ansprüche auf sozialen Aufstieg bereits zu einer Norm
geworden sind, die als Fremdforderung an die Individuen herangetragen wird (vgl.
Honneth 2002: 155).
Auch die Unsicherheiten des Arbeitsmarktes wirken sich auf vielen Ebenen auf
die Vermischung von Selbst- und Fremdansprüchen aus. Exemplarisch sollen hier
zwei erwähnt werden, um die Problematik zu skizzieren. Die erste betrifft die Bil-
dungspolitik, die zweite die Familienpolitik. Im Bereich der Bildungspolitik ist die
Hochschulreform ein geeignetes Beispiel. Die deutschen Hochschulen stehen seit
Jahrzehnten in der Kritik, nicht genügend auf die Bedingungen des Arbeitsmarktes
vorzubereiten. Die Studienreform sollte deshalb mehr Effektivität, Effizienz und
Qualität der Ausbildung erzeugen. Diese Bemühungen mündeten in der Umgestal-
tung der Studienstruktur in Bachelor und Master. Verbunden waren diese Maßnah-
men mit der Forderung nach einer besseren Berufsbefähigung, die in einer Erhö-
hung der Praxisanteile, der Vermittlung von berufsqualifizierenden Kernkompeten-
zen und einer größeren Anwendungsorientierung mündeten (vgl. Tegethoff 2008:
134f.). Gleichzeitig wurden aufgrund der finanziellen Krise und den seit den 1960er
Jahren stetig steigenden Studierendenzahlen ab 2005 allgemeinen Studiengebühren
in Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen
und im Saarland eingeführt.
Damit bewegte sich die Politik ebenfalls weiter von der Anspruchsgerechtigkeit
weg. Durch die Studienstrukturreform und die Einführung der gestuften Studien-
gänge wird ein verstärkter Effizienzgedanke in die Hochschulbildung getragen, der
sich auch auf die Anspruchshaltungen der Studierenden auswirkt. Die Einführung
von Studiengebühren hat zum einen eine abschreckende Wirkung auf Studierwillige,
die wegen ihres sozioökonomischen Hintergrunds die Kosten nicht tragen können.
Hierbei findet trotz der Bereitstellung von Darlehen eine Beschneidung der Selbst-
verwirklichungsmöglichkeiten statt. Studiengebühren werden zu einem strukturellen

42 Empirische Studien belegen, dass die am meisten Hilfebedürftigen oftmals gerade keine Unterstüt-
zung erfahren und als hoffnungslose Fälle abgeschrieben werden (vgl. Ludwig 1996: 283). So be-
steht bei der Umstellung auf den aktivierenden Sozialstaat wiederum die Gefahr, dass gerade die
gefördert werden, die auch die größten Chancen auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt
haben.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 195

Hindernis für Schülerinnen und Schüler, wodurch sie bei der Entwicklung ihrer
beruflichen Ansprüche die Hochschulbildung nicht als Option wahrnehmen. Dies
entspricht bereits einer Begrenzung der Anspruchsbildung, weil die Auseinanderset-
zung mit beruflichen Zielen unter anderen Voraussetzungen betrieben wird.
Diejenigen, die sich für ein Studium unter diesen Bedingungen entscheiden, tun
dies nun nicht mehr unter dem Aspekt der Ressourcenforderung, sondern eines
gekauften Gutes. Ein Studium, für das gezahlt werden muss, hat einen anderen
Stellenwert bei der Kosten-Nutzung-Abwägung. Dabei wird die Wahl des Studien-
faches zunehmend stärker von wahrgenommenen beruflichen Chancen bestimmt
und immer seltener von individuellen Neigungen. Studien zum Wertewandel von
Jugendlichen belegen die Tendenz einer Wertsynthese zwischen Selbstentfaltung
und Chancenstrukturen auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Isenberg 2000, Deutsche Shell
2002; Klages 2002; Oechsle et al. 2009). Der Anspruch auf eine möglichst sichere
Zukunft konkurriert dabei zunehmend mit dem Anspruch auf einen Studienplatz,
bei dem das Interesse am Fach im Vordergrund steht.
Eine weitere Veränderung des Anspruchs auf Hochschulbildung ergibt sich in-
folge der Modularisierung und der Einführung von Kreditpunkten. Einerseits be-
einflusst diese Struktur das Leistungsstreben durch kontinuierliche Prüfungen. An-
dererseits schwächt sie aber das Gefühl der Eigenverantwortung durch Verschulung
und Fragmentierung der Bildungsinhalte. Immer wieder wurde deshalb die Kritik
laut, die Veränderung der Studienstruktur berge die Gefahr einer kognitiven Eng-
führung des Bildungsanspruchs, die der Zweckfreiheit von Bildung zuwider läuft
(vgl. Graßl 2008: 208f). Die Studierenden wiederum sind sich über die Anerken-
nung der neuen Studienabschlüsse unsicher. Dies erhöht den Konkurrenzdruck,
wodurch die Anstrengungen gesteigert werden und sich zunehmend an der Ver-
wertbarkeit der erworbenen Bildung und arbeitsmarktrelevanten Kompetenzen
orientieren (vgl. Baumgart 2006: 21). Diese Veränderungen führen insgesamt zu
einer Untergrabung von Selbstansprüchen.
Auch in der Familienpolitik lässt sich die Zunahme von ökonomischem Den-
ken erkennen. Dieser Wandel wird jedoch nicht durch die Leistungsreduktion von
Seiten des Staates ausgelöst, sondern geht mit der Entwicklung von Soll-Normen
einher. Die familienpolitische Wende, die seit 2003 betrieben wird, bestimmt die
Funktion von Familien entlang ökonomischer Kriterien und verändert somit Stück
für Stück ihr bisheriges Bild (vgl. Ostner 2008: 49). Dahinter steht eine neue Per-
spektive auf den Beitrag, den Familien für den Staat leisten sollen. Vor allem Kinder
gelten dabei als gesellschaftliches Kapital, dessen Förderung neue Ansprüche an die
Familien stellt. Die nachhaltige Familienpolitik sieht im Wesentlichen vor, die Ge-
burtenrate zu erhöhen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern,
um die Frauenerwerbsanteile zu erhöhen.
196 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

„Eltern (Mütter wie Väter) sind nun aufgefordert, vor allem erwerbstätig zu sein, um Konsum und
dadurch Beschäftigung zu ermöglichen und um der Armut insbesondere ihrer Kinder, vorzubeu-
gen; sie sollen auch die Kinder im Interesse einer sozialinvestiven Gesellschaftspolitik in professio-
nelle Hände geben. Sozialpolitik für Kinder hat sich in Beschäftigungspolitik für die Eltern verwan-
delt, sowie in eine Politik, die das kindliche Humankapital fördert. Haushalt und Familie sollen
markt- und beschäftigungsfreundlicher werden.“ (ebd.: 57).

Die drohende Kinderarmut wird durch Bildungsferne und Erziehungsunfähig-


keit der Eltern begründet.43 Die Politik wirft damit den niedrigeren Bildungsschich-
ten ihren mangelnden Aufstiegswillen vor. Die Eltern sollen selbst nach sozialem
Aufstieg streben und dasselbe auch ihren Kindern abverlangen. Dies mündet in der
Norm, für die Förderung aller nötigen Potentiale unter Zuhilfenahme von Experten
Sorge zu tragen. Dadurch nimmt die außerhäusliche Betreuung zu, wodurch sich
auch die Institutionalisierung der Kinder verlängert. Diese neue politische Aus-
richtung wird von medialer Berichterstattung über zunehmende Kinderarmut und
Familienversagen gestützt. Auch wenn solche Phänomene tatsächlich auftreten,
werden sie – genau wie in der Debatte um den aktivierenden Sozialstaat – benutzt,
um mehr Steuerung ausüben zu können und Elternrechte einzuschränken. Ein
Effekt dieser Politik ist die Verrechtlichung der Eltern-Kind-Beziehung. Hieraus
entwickelt sich ökonomisches Denken in der familialen Lebenswelt, was zugleich
die Beschneidung der Wahlfreiheiten bedeutet (vgl. ebd.: 61).
Die beschriebene Einflussnahme zeigt sich weiterhin in der Arbeitnehmer-
Norm für Mütter. Innerhalb des vorher geltenden politischen Paradigmas wurde
Müttern noch nahe gelegt, bis zum dritten Geburtstag des Kindes nicht zu arbeiten.
Die Veränderung dieser Norm fand in der 2004 eingeführten Regelung für die Ar-
beitslosengeld II beziehenden Mütter ihren Ausdruck. Darin wurde festgelegt, dass
Mütter verpflichtet sind, bis zum dritten Lebensjahr des Kindes dem Arbeitsmarkt
wieder zur Verfügung zu sehen. „Zukünftig wird Wahlfreiheit – die Möglichkeit, in
der Familienphase weniger oder kindgerecht flexibel zu arbeiten – mehr denn je von
den finanziellen Möglichkeiten des Haushalts – paradoxerweise damit auch vom
Einkommen des Partners abhängen.“ (ebd.: 61). So geht mit der angestrebten Ent-
lastung des Sozialstaates auch die Gefahr einer Entpluralisierung des Wohlfahrts-
staates einher.
Diese rechtlichen Veränderungen untergraben einerseits individuelle Selbstan-
sprüche durch Fremdforderungen, die sich in Maßnahmen zur Förderung des Kin-
des ausdrücken. Die neue Arbeitnehmer-Norm, die auf dem beruflichen Selbstver-
wirklichungsbestreben der Frauen aufbaut, kann als Beschneidung der Wahlfreihei-
ten von Müttern interpretiert werden. Diese Soll-Normen werden jedoch nur in
Verbindung mit vorhandenen Wünschen nach sozialem Aufstieg und Karriere bei

43 Ganz aktuell wurde auch 2008 von Ursula von der Leyen argumentiert, dass Gelder für die Kinder
von den Eltern zweckentfremdet werden und deshalb neue Steuerungsmöglichkeiten erforderlich
sind.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 197

den – meist – hochqualifizierten Frauen wirklich wirksam. Bei niedrig qualifizierten


Frauen, die ihre Selbstverwirklichung in der Mutterschaft sehen, wirkt die Arbeit-
nehmer-Norm im Gegensatz dazu als Druck und vermittelt ihnen die Vorstellung,
der Anspruch sei allein nicht ausreichend.
Aus anspruchstheoretischer Sicht hat die Umstellung von der Anspruchs- zur
Leistungsgerechtigkeit eine weitere Konsequenz. Die sozialstaatlichen Kürzungen
wirken als Zwangsbeschneidung von Ansprüchen. Laut des Konzepts der An-
spruchssteigerungsmechanismen von Willi Herbert (vgl. 1992) sollte sich deshalb
ein Frustrationsmoment einstellen, das eine unfreiwillige Senkung des Anspruchsni-
veaus verursacht. Die Rhetorik der Eigenverantwortlichkeit, verbunden mit der
Beschränkung von Ressourcen, lässt diese Frustration jedoch nicht dadurch entste-
hen, dass die Betroffenen die Beschneidung der Möglichkeiten als von der Umwelt
aufoktroyiert empfinden, sondern deshalb, weil sie immer häufiger sich selbst die
Schuld dafür geben (Günther 2002: 135). Diese Veränderungen haben Individuali-
sierungstheoretiker als Umwandlung von Systemverantwortlichkeit in Eigenverant-
wortlichkeit bezeichnet. Die erzwungene Anspruchsreduktion wird daher immer
seltener auf strukturelle Probleme zurückgeführt.
Die skizzierten bildungs- und familienpolitischen Beispiele zeigen jedoch, wie
eine Vermischung von Fremd- und Selbstansprüchen durch ökonomisierende Maß-
nahmen entstehen kann. Obwohl sich dies ebenfalls als Beschneidung von Mög-
lichkeiten betrachten lässt, münden jene Mechanismen nicht in einer Anspruchsre-
duktion. Sie lösen im Gegenteil eine kontinuierliche Anspruchserhöhung aus, was
als Folge des durch die Anerkennungsmechanismen erzeugten Anpassungsdruckes
verstanden werden muss.
Mit diesen Hinweisen auf die Auswirkungen des Umgangs mit Ressourcenfor-
derungen vor dem Hintergrund des Integrationsprinzips Leistungsgerechtigkeit
zeigt sich eine Zunahme von Unsicherheit, des Empfindens von selbstverschulde-
ten Beschränkungen der Selbstverwirklichung und eine Untergrabung von Selbstan-
sprüchen durch politisch durchgesetzte Fremdforderungen. Die Beispiele für die
Verschmelzung von Selbstansprüchen und Fremdforderungen durch rechtliche
Anerkennungsmechanismen ist ein weiterer Beleg für das Umsichgreifen einer um-
fassenden Leistungsorientierung.

4.5.3 Leistungsindividualismus im Rahmen von Intimbeziehungen

Die Veränderungen der Anerkennungsmechanismen unter den Bedingungen des


Leistungsindividualismus wirken sich auch auf die Aushandlungsprozesse in Intim-
beziehungen aus. Die hier verfolgte Darstellung greift wiederum die Grundaussage
der allseitigen Ökonomisierung des Lebens auf, wie sie Pongratz/Voß, Bröckling
und Reckwitz formulierten. Diese Ökonomisierung zeigt sich im privaten Bereich
198 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

durch einen Umgang mit den eigenen Zielsetzungen, der am Modell des Projektma-
nagements des Berufs ausgerichtet ist. Die konsequente Erarbeitung von Le-
bensprojekten führt, wie Bröckling es beschrieben hat, zu einem disziplinierten und
organisierten Umgang mit eigenen Ansprüchen. Dahinter steht die Annahme, An-
sprüche nähmen wegen der steigenden Unsicherheit der Anerkennung im Beruf zu
und wechselten häufiger. Die Intimbeziehungen tragen die Last, weil in ihnen die
Zielsetzungen kommunikativ ausgehandelt werden müssen. Dabei vermehren sich
nicht nur die präsentierten Zielsetzungen, sondern auch die Ansprüche, die an den
Partner gerichtet werden. Die kommunikative Aushandlung dieser Ansprüche ist
deshalb einem steigenden Druck ausgesetzt.
Eva Illouz hat zu Aspekten der Ökonomisierung und dem erhöhten Aushand-
lungsdruck empirische Studien durchgeführt (vgl. Illouz 2003, 2006). Darin be-
trachtet sie die Aushandlungsprozesse in persönlichen Beziehungen aus einer um-
fassenderen Perspektive des kapitalistischen Marktprinzips. Illouz sucht nach einer
Verknüpfung zwischen Kapitalismus und Liebesbeziehungen in Form eines allge-
meinen kapitalistischen Narrativs. Ein solches Narrativ lässt sich aus den subjekti-
ven Äußerungen ableiten und prägt die Beziehungen im beruflichen und privaten
Kontext gleichermaßen. Die emotionsfreie öffentlichen Sphäre und die mit Emoti-
onen gesättigte privaten Sphäre werden vermischt (vgl. Illouz 2006: 12).

„Frauen und Männer der Mittelschicht [sind, D.L.] im Laufe des 20. Jahrhunderts dazu angehalten
(…), sich sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Familie auf intensive Weise ihren Emotionen zu-
zuwenden, und zwar indem sie in beiden Bereichen ähnliche Techniken anwenden, um das Selbst
und seine Beziehungen zu anderen in den Vordergrund zu rücken.“ (ebd.).

In der Studie „Der Konsum der Romantik“ (vgl. 2003) weist Illouz einen Zusam-
menhang zwischen Interaktionsmechanismen in intimen Beziehungen und dem
Marktprinzip anhand des Konsumverhaltens nach. In „Gefühle in Zeiten des Ka-
pitalismus“ (vgl. 2006) behandelt sie den veränderten Umgang mit Gefühlen. Sie
geht hier auch von der These einer allgemeinen Ökonomisierung der Beziehungs-
pflege aus und konzentriert sich auf die Aufhebung der Trennung des emotionalen
privaten Bereichs und des eher sachlichen Arbeitsrahmens.
Die Studie „Der Konsum der Romantik“ konzentriert sich konkret auf die
Verwebung von Liebes- und Konsumsemantiken. Illouz untersucht diese auf
Grundlage von Interviews, in denen die Befragten gebeten wurden, ihre Vorstellun-
gen über romantische Liebe zu beschreiben. Ihr Analysefokus liegt auf der Heraus-
arbeitung einer Konsumhaltung, die als Kennzeichen der Vermarktlichung gesehen
wird. Konkret stellt Illouz heraus, wie sich die Vorstellungen einer gelingenden
Beziehungspflege mit einer Konsumhaltung verknüpft. Hierin entdeckt sie einen
Entfremdungscharakter, der einer Verschmelzung von Selbst- und Fremdansprü-
chen gleichkommt. Die Individuen verbinden die Gestaltung der Beziehung mit der
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 199

Nutzung von Konsumgütern, wodurch die Beziehung von ihnen abhängig wird.44
Illouz Ausgangspunkt lautet, dass die Freizeitgestaltung von Paaren und die Her-
stellung von romantischen Momenten sich zunehmend an einer gemeinsamen Par-
tizipation von Gütern orientieren.
Laut Illouz verschuldet vor allem die Werbung diese Perspektivverschiebung.
In der Werbung werden Waren aus den Bereichen Freizeit, Natur, Exotik, Urlaub
usw. mit Bedeutungen versehen und so zu einer romantischen Utopie verdichtet,
derer sich die Paare zur Gestaltung ihrer Beziehung bedienen. Konsumierte Erfah-
rungen und das romantische Vergnügen verschmelzen miteinander. Ihrer Meinung
nach wird Warenkonsum auf diese Weise zum Selbstzweck, um Intimität herzustel-
len. „Im modernen romantischen Ideal ist es der bloße Akt des Konsums, der den
romantischen Augenblick darstellt und erzeugt.“ (Illouz 2003: 72). Das Prinzip der
Unersättlichkeit, das bei der Bedürfnisbefriedigung durch Konsumgüter gilt, über-
trägt sich auf die Haltung zur Beziehung. Illouz sieht das vor allem in der Anfangs-
phase von Beziehungen gegeben. Hierein zeigt sich eine neue Form der Bezie-
hungseinstellung mit dem Charakter von Affären, die lediglich der „Jagd nach Ver-
gnügen“ (ebd.: 272) dienen und nicht in einer verpflichtenden Beziehung münden.
Die Konsumhaltung findet sich aber auch in festen Beziehungen, in denen Bindung
mit Konsum hergestellt wird.
Im „Konsum der Romantik“ skizziert Illouz des Weiteren den Gedanken einer
zunehmenden Rationalisierung der Kommunikation, der in der zweiten Studie wei-
ter ausgebaut wird. Diese Rationalität kann auf zweierlei Weise beobachtet werden:
zum einen während der Partnersuche und zum anderen im Hinblick auf die Aus-
handlungshandlungsprozesse innerhalb der Beziehung. Bei der Partnerwahl geht es
um die Beobachtung eines interessegeleiteten Verhaltens, „(…) dass die Vorzüge
und Schwächen eines anderen Menschen den eigenen Bedürfnissen anzupassen
versucht.“ (ebd.: 272). Dieser Umgang mit potentiellen Partnern ist so gesehen ein
rationaler, weil der Nutzen für die eigene Selbstverwirklichung den Kosten für die
Beziehungspflege gegenübergestellt wird. Auch Reckwitz betont in seiner Analyse
der Subjektmodelle:

„Nicht nur, dass alle persönlichen Beziehungen – entbunden von sozialen, ökonomischen oder
moralischen Ansprüchen – zum Gegenstand nahezu vollständiger Beziehungswahl statt Bezie-
hungsvorgabe werden, auch die Fortsetzung dieser Beziehungen – insbesondere der Partnerschaft –
wird zum Gegenstand einer ständig neu zur Entscheidung gestellten, wechselseitigen rational choice
(…).“ (Reckwitz 2006: 528).

44 Ihre Argumente lassen sich deshalb an die Auffassungen der klassischen kritischen Theorie anbin-
den. Adorno und Horkheimer ging es in der Darstellung des Gefährdungspotentials der Autono-
mie von Individuen auch um die Untergrabung echter Bedürfnisse durch falsche Konsumorientie-
rungen (vgl. Horkheimer/Adorno 1947).
200 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

Die Ökonomie der Wahl arbeitet mit dem Vergleich zwischen dem aktuellen und
einem potentiellen Partner. Die Entscheidung für einen Partner wird durch einen
Vergleich der personalen Vorzüge und Nachteile getroffen. Das gleiche Prinzip gilt
bei der Entscheidung zur Trennung von einem Partner. Die Partner fordern be-
ständige Anregung durch den Partner. Geht diese verloren, wird, Reckwitz’ Ansicht
nach, mit zunehmend rationalem Kalkül über die Auflösung der Beziehung nachge-
dacht (vgl. ebd.: 547). Das entspricht einer Radikalisierung der Wahl. Die Kalkula-
tion der erbrachten und zu erbringenden Leistungen des Anderen für die eigene
Bedürfnisbefriedigung mischt sich mit dem romantischen Ideal des Begehrens und
dem Wunsch, die Bedürfnisse des Anderen zu befriedigen. Der Andere wird mit
seinen Eigenschaften und seinem Potential mehr und mehr zum Impulsgeber für
die eigene Entwicklung. Das Begehren oder die Liebe knüpft zunehmend an dieser
Funktion an und verliert ihren Selbstzweck. „Selbstliebe und Selbstkultivierung
können dann als unabdingbare Voraussetzung zu einer konstruktiven Liebe zum
Anderen gedeutet werden.“ (ebd.: 535). Diese Tendenzen müssen jedoch erst ein-
mal von der Empirie bestätigt werden.
Innerhalb persönlicher Beziehungen entsteht nach Reckwitz eine neue Kultur
der Intimität. Beziehungen dienen zunehmend als Medium, um der expressiven
Subjektivität zur Verwirklichung zu verhelfen. Der Umgang mit ihnen weist Ähn-
lichkeiten zum Markthandeln auf. Die Beziehung wird von Reckwitz insgesamt als
ein Projekt gedeutet, in dem Emotion, Alltag, Vertrauen, Kommunikation usw.
kreiert werden. Auch Illouz sieht die Gefahr, dass emotionale Bindung und Liebe
als grundlegendes Anerkennungsverhältnis von Nützlichkeitserwägungen untergra-
ben wird.
Reckwitz hat diese Mechanismen auch auf Freundschaftsbeziehungen übertra-
gen. Sie kommen ebenfalls aufgrund veränderter Strategien zustande (vgl. Reckwitz
2006: 533). Ein Freund wird danach ausgewählt, ob er Anregung verspricht und
damit das Erleben bereichern kann. Länger währende Freundschaften werden da-
raufhin befragt, inwiefern sie neue Elemente für das eigene Ich bereithalten. Dar-
über hinaus ändert sich die Konstellation der Freundschaftsbeziehungen bestimm-
ter gesellschaftlicher Milieus dahingehend, dass sie nicht mehr ein Netzwerk bilden,
bei dem sich alle untereinander kennen. „Die gesteigerte räumliche Mobilität der
creative class und ihre Vernetzung über elektronische und digitale Kommunikations-
technologien potenzieren dabei den Raum möglicher Freundschaften.“ (ebd.: 534).
Auch wenn Partnerschaften das Zentrum der Intimbeziehungen bilden, werden
Freundschaften immer wichtiger, da sie zum einen länger andauern können als
Partnerschaften und zum anderen für die „multiple Erfahrungssuche“ (ebd.: 535)
benötigt werden.
In den partnerschaftlichen Aushandlungsprozessen ist die zunehmende Ratio-
nalisierung mit einem höheren Konfliktpotential verbunden. Die Fähigkeiten zur
Konfliktlösung werden immer wichtiger.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 201

„Diese Praxis stellt nicht nur das reibungslose praktische Funktionieren des Paares wieder her, son-
dern fördert auch eine kommunikative Rationalität, die davon ausgeht, dass zwei autonome Ichs
mittels Kommunikation ihrer Bedürfnisse und der Anerkennung der Legitimität dieser Bedürfnisse
zu gegenseitigem Verständnis und Liebe gelangen können.“ (Illouz 2003: 274).

Dabei bedienen sich die Individuen einer ökonomischen Sprache, in welche die
Emotionalität der Beziehung eingelassen ist. Reckwitz betont demgegenüber, dass
die Partner sich an Managementtechniken zum Führen von Verhandlungen und
zum Herstellen von Vertrauen orientieren. Auf diese Weise sollen Rollenverträge
und ein Beziehungs-Bargaining festgelegt werden, mit deren Hilfe sich die Partner
gegenseitig die eigenen Wünsche präsentieren wollen. Konfliktfähigkeit ist die zent-
rale Kompetenz dieser Verhandlungen (vgl. Reckwitz 2006: 537).
Für Illouz drückt diese stärkere Rationalisierung der Kommunikation vor allem
den Kampf um Gleichberechtigung aus. Frauen verbessern auf diesem Wege ihre
Position und verschaffen ihren Bedürfnissen mehr Raum. Diese rationalisierte
Kommunikation resultiert aus dem steigenden Anteil von Eigeninteressen, die in
den Beziehungen verwirklicht werden sollen und die unter Umständen die Liebe als
Orientierung am anderen untergraben. Die Veränderung der Liebessemantik ergibt
sich nach Illouz’ Meinung insgesamt aus der Vermischung von rationalen und irra-
tionalen sprachlichen Ausdrucksmitteln sowie einem allgemeinen Misstrauen ge-
genüber der Liebe, welches durch das Hinterfragen alter Verständlichkeiten zu-
stande kommt (vgl. Illouz 2003: 277). Daraus könnte folgen, dass Beziehungen
allmählich den Charakter einer Handelsware erhalten, was aber unter Berücksichti-
gung kontextspezifischer Merkmale nur die Empirie endgültig beantworten kann.
Illouz selbst ermittelt in ihrer Studie, dass bei der Verzahnung von Selbstverwirkli-
chung, Liebe und rationaler Kommunikation nur da Veränderungen auftreten, wo
die Partner Berufen nachgehen, die mit einem gewissen Grad an Autonomie ausge-
übt werden können und Raum für Selbstverwirklichung lassen (vgl. ebd.: 278).
Eine Zuspitzung dieser Tendenz, findet sich in der zweiten Studie von Illouz
über Gefühle im Kapitalismus. Hier steht die Beeinflussung von privaten Kommu-
nikationsstrategien durch therapeutische, ökonomische und feministische Diskurse
im Mittelpunkt (vgl. Illouz 2006: 60). Die Diskurse werden aus Ratgebern abgeleitet,
welche zum Zwecke der erfolgreicheren Bedürfnisformulierung zu einer entemo-
tionalisierten Kommunikation raten. Illouz bezeichnet dies als emotionalen Kapita-
lismus, der eine Kultur hervorbringt,

„(…) in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen, um so
jene breite Bewegung hervorzubringen, die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil
ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben – vor allem der Mit-
telschichten – der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft.“ (ebd.:
13).
202 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

Hierbei entsteht eine Selbstentfremdung von den eigenen Ansprüche auf zwei-
erlei Ebenen: den Gefühlen und Bedürfnissen. Beide werden innerhalb der Kom-
munikation von einer Sprachideologie beeinflusst. Die Kommunikation führt zu
einer „Spaltung zwischen einem intensiven subjektiven Leben einerseits und einer
zunehmenden Objektivierung der Mittel des Ausdrucks und des Austausch von
Emotionen (…).“ (Illouz 2006: 62). Sprechmuster, die dazu dienen Emotionen zu
bewältigen, werden standardisiert, wodurch die Fähigkeit verloren zu gehen droht,
schnell und unreflektiert seine Gefühle zu äußern. Gefühle werden nun zu „(…)
äußerlichen Gegenständen, die beobachtet und kontrolliert werden sollen.“ (ebd.:
56). Dadurch verlagert sich das Erfahrungserleben in ein Kommunikationserleben,
was die emotionale Bindung der Partner aufhebt.
Als einen der Gründe für Veränderung in der Selbstdarstellung nennt Illouz die
Nutzung des Internets für die Partnersuche. „Die romantischen Beziehungen wer-
den nicht nur im Rahmen von Märkten organisiert, sie sind selbst zu Fließbandpro-
dukten geworden, bestimmt zu schnellem, effizientem, billigem und reichlichem
Konsum.“ (Illouz 2006: 135). Hier besteht die Gefahr einer Vergegenständlichung
von Beziehungen. Die internetbasierten Partnerbörsen basieren auf einer Logik,
„(…) die ein öffentliches und emotionales Selbst voraussetzt und zur Darstellung
bringt, mehr noch, die das öffentliche emotionale Selbst den privaten Interaktionen
vorausgehen lässt und sie konstituiert.“ (ebd.: 99). Die Selbstpräsentation in Part-
nerbörsen verwandelt das private Selbst in ein öffentliches und trägt zu einer Textu-
alisierung von Subjektivität bei. Dies entspricht einem Selbstzugang, der das Selbst
mittels Sprache externalisiert und dadurch objektiviert (vgl. ebd.: 119). Denn: bei
dieser Form der Partnersuche kommt man ohne emotionale Ressourcen aus.
„Das Problem ist nicht so sehr, dass die Internettechnologie das persönliche und emotionale Leben
verarmen lässt, sondern sie ungekannte Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und Beziehungsbil-
dung schafft, denen gleichwohl die emotionalen und körperlichen Ressourcen fehlen, die bislang
zur Aufrechterhaltung solcher Kontakte und Beziehungen gedient hat.“ (ebd.: 164).

Illouz findet heraus, dass es zu einer Standardisierung der Selbstdarstellung kommt,


wobei die hierfür genutzten häufigsten Adjektive „aufgeschlossen“ und „offen“
sind. Sie sollen die Veränderungsbereitschaft der Individuen betonen. Wie bereits in
Abschnitt 4.4.2 anhand von Bewerbungsgesprächen verdeutlicht, sieht Honneth
auch hier die Gefahr der Selbstverdinglichung (vgl. Honneth 2005). Er bezieht sich
dabei auf die Beobachtung einer standardisierten Form der Selbstdarstellung und
der Kontaktaufnahme bei der Partnersuche. Die persönlichen Angaben in Partner-
börsen werden in Form von unterschiedlichen Rubriken erfasst. Auf Grundlage der
meisten Überlappungen werden potentielle Partner vorgeschlagen. In dem darauf-
hin einsetzenden E-Mail Verkehr stellt man die eigenen Ansprüche und die An-
sprüche an einen potentiellen Partner dar. Diese Art der Kommunikation ähnelt
laut Honneth einer Vermarktungssituation (vgl. Honneth 2005: 105). Gleichzeitig
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 203

betont er, dass die eigenen Ansprüche passiv beobachtet werden, wodurch ihr
Selbstbindungscharakter stetig verloren zu gehen scheint. Bei einem solchen Selbst-
präsentationszwang besteht die Gefahr einer zunehmend durch Selbstvermarktung
geleiteten Selbstbeziehung.45
Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Art und der Umfang der
Selbstdarstellung weiterhin eine freiwillige Entscheidung des Individuums bleibt.
„Von Vorlagen dieser Art geht keine bezwingende Kraft auf die Subjekte aus. Sie
werden daher auch nicht als Gebilde interpretiert, dem man sich unbedingt beugen
müsste.“ (Ellrich/Funken 2007: 88). Darüber hinaus lässt sich argumentieren, dass
die Art der Selbstdarstellung auch äußert produktiv für die Individuen sein kann
und nicht unbedingt in einer Selbstverdinglichung münden muss. „(…) Erfah-
rungsberichte aus der netzbasierten Partnersuche zeigen, dass für viele der Suchen-
den die ‚geforderten’ Selbstbeschreibungen äußert produktive Selbsterkundungen
darstellen – und vielfältige Prozesse der Selbstfindung und Selbsterfindung generie-
ren.“ (Kellner 2007: 115).
Das grundlegendere Problem dieser Art der Selbstpräsentation ist eher der pro-
visorische Charakter, den die Präsentation der Eigenschaften und Ansprüche erhält.
Da die Form der Selbstdarstellung jederzeit verändert werden kann und zu einer
Objektivierung der Ansprüche führt, erhöht sich die Gefahr der Selbstverdingli-
chung. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu der Selbstdarstellung in face to face
Interaktionen, wo das Gegenüber jede Änderung registrieren kann und möglicher-
weise auch Rechtfertigungen für neue Formen der Selbstpräsentation verlangt.
Illouz folgert aus dieser veränderten Art der Selbstpräsentation, dass auch Be-
ziehungen ihrer emotionalen Basis beraubt werden. Sie werden durch psychologi-
sche Techniken zu einem kalkulierbaren Gegenstand. Die Trennung zwischen stra-
tegischem und emotionalem Handeln gelingt so immer weniger. Beziehungen ver-
lieren ihren besonderen Charakter, formen sich zu kognitiven Objekten und werden
Kosten-Nutzen-Analysen unterzogen.

„Konnte das konventionelle kapitalistische Subjekt noch zwischen ‚Strategie’ und reiner ‚Emotion’
hin und her pendeln, liegt das kulturelle Hauptproblem in der Internet- und Psychologieära darin
(…), dass ihm dieses Hin und Her zwischen Strategie und Emotion nicht mehr behagt. Die Ak-
teure scheinen, häufig gegen ihren Willen, im Strategischen steckenzubleiben.“ (ebd.: 163f.).

Die Emotionalität wird aus den Aushandlungsprozessen herausgetrennt. Die


Selbstpräsentation gegenüber dem anderen findet in auf Basis einer abstrakten Hal-

45 Diese Gefahr sah Habermas sogar bereits 1956 in einer Studie über Heiratsannoncen in Tages-
zeitungen. Die Inserenten liefern sich seiner Meinung nach „einem System vergleichbarer und das
heißt meßbarer Leistungen“ (Habermas 1956: 997) aus. Es geht demnach um die Beobachtung von
allgemeinen organisierten und standardisierten Selbstdarstellungsprinzipien, die sich im Gegensatz
zu denen in natürlichen Begegnungen negativ auf die Selbstbeziehung auswirken können.
204 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

tung zur eigenen Autonomie statt (vgl. ebd.: 62). Dadurch wirkt sich die Entemoti-
onalisierung auch auf den Grad der Selbstbindung durch Ansprüche aus. Da ein
Grundmerkmal von Ansprüchen ihre Kopplung an die Emotion ist, führen die
Veränderungen der Kommunikation über Ansprüche durch den Verlust an Emoti-
onalität zu einer schwindenden Bindungskraft. Vor diesem Hintergrund ändert sich
die Bedeutung der Ansprüche. Ihre Ausbildung und die darauf folgende Präsenta-
tion bekommen einen experimentellen Charakter. Dadurch gehen die Identifikation
und der Stabilisierungseffekt für die Identität zunehmend verloren.
Diese empirischen Belege können als zeitdiagnostische Gefährdungstendenzen
für die Verschmelzung des Leitgedankens der Rationalität des Leistungsindividua-
lismus und der privaten Lebensführung verstanden werden. Sowohl die Partnerwahl
als auch die kommunikativen Aushandlungsprozesse innerhalb der Partnerschaft
sind einer zunehmenden Ökonomisierung ausgesetzt, die sich in unterschiedlichen
Facetten zeigt. Sie schließt sowohl das Prinzip der Marktförmigkeit, als auch das der
Rationalisierung und der Konsumption ein. Bei der Anbahnung von Partnerschaf-
ten in Partnerbörsen entsteht eine neue Marktförmigkeit, bei der eine effiziente und
schnelle Partnersuche ermöglicht wird. Innerhalb dieser Partnerbörsen findet eine
Selbstvermarktung statt, wie sie schon im Rahmen beruflicher Anerkennungsbe-
ziehungen diskutiert wurden. Die kommunikativen Aushandlungsprozesse in der
Partnerschaft orientieren sich an den Prinzipien therapeutischer Kommunikation.
Die angestrebte erfolgreiche Formulierung individueller Bedürfnisse geht mit einer
starken Entemotionalisierung einher. Des Weiteren ist die Beziehungspflege mit
einer konsumistischen Erlebnisorientierung verflochten, wodurch eine Abhängig-
keit zwischen der Aufrechterhaltung einer Beziehung und unterschiedlichsten Kon-
sumgütern entsteht.
Hinter diesen Phänomenen steht eine Selbstverwirklichungsstrategie, die am
Projekt-Ich ausgerichtet wird. Dabei geht es vor allem darum, eine Vielzahl von
wechselnden Ansprüchen als Bestandteile der Identitätsentwicklung anzuerkennen
und sich um ihre Erfüllung zu bemühen. Der Antrieb für die Ausbildung immer
neuer Ansprüche entsteht aus dem Bewusstsein einer zunehmenden Unsicherheit
von Anerkennung vor allem in beruflichen Zusammenhängen. Dadurch fungieren
Ansprüche heute mehr als Versuchsprinzip. Dieser experimentelle Umgang mit
Ansprüchen mündet vor dem Hintergrund der verstärkten Ausrichtung an berufli-
cher Anerkennung auch in einem häufigeren Wechsel von Lebenszielen, der sich
auf die Stabilität von Partnerschaften auswirkt. Die Aushandlungsanforderungen an
die Partner werden somit immer größer. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass auf-
grund der Standardisierungs- und Entemotionalisierungstendenzen in der Selbstdar-
stellung Ansprüche einen geringeren Grad an Selbstbindung besitzen. Dadurch geht
ihre identitätsprägende Kraft verloren.
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 205

4.6 Zusammenfassende Betrachtung

Das vierte Kapitel ging von der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Leitbild aus,
das den bis zum Ende der 1980er Jahren wirkenden Anspruchsindividualismus
abgelöst hat. Die wichtigste Voraussetzung dieses Wandels war die Zunahme von
Selbstverwirklichungsbestrebungen innerhalb der Berufe. Auf dieser Beobachtung
aufbauend wurde die These einer allseitigen Ökonomisierung vorgestellt, die davon
ausging, dass die Individuen ihr Handeln mehr und mehr der beruflichen Selbst-
verwirklichung unterordnen. Um das Übergreifen ökonomischer Haltungen auf die
individuellen Selbstverwirklichungsansprüche genauer zu erfassen, wurden zwei
Subjektmodelle diskutiert. Die darauf folgende anerkennungstheoretische Betrach-
tung der Aushandlungsprozesse von Ansprüchen beabsichtigte zu zeigen, wie sich
die Ökonomisierung auf die Anspruchshaltungen der Individuen im Einzelnen
auswirkt. Ausgehend von Veränderungen des beruflichen Kontextes wurden sozial-
staatliche und politische Dynamiken im Umgang mit Ressourcenforderungen unter-
sucht. Und auch in intimen Beziehungen konnten veränderte Aushandlungspro-
zesse aufgezeigt werden, in denen sich ein Wandel im Umgang mit Anspruchshal-
tungen ausdrückt.
Mit Hilfe der beispielhaften Darstellung der Selbstdarstellungspraktiken und
Anerkennungsmechanismen, die unter dem Leitbild des Leistungsindividualismus
angewandt werden, treten verschiedene Auswirkungen auf das individuelle Selbst-
verwirklichungsstreben zutage. Im beruflichen Rahmen zeigte sich nicht nur eine
Abhängigkeit zwischen Anerkennung und Marktförmigkeit bei der Bewertung von
individuellen Leistungen (vgl. Voswinkel 2001), sondern auch eine eigentümliche
Vermischung von Fremdforderungen und Selbstansprüchen (vgl. Bröckling 2007).
Diese Wandlungsprozesse stellen eine Zuspitzung der Ambivalenz einer zwischen
Chance und Risiko hin- und her pendelnden Individualisierung dar. Die allgemeine
Optionenvielfalt wird untergraben von Begrenzungstendenzen, die einerseits struk-
turell bedingt sind, anderseits nicht intendierte Folgewirken einer anspruchs-
geleiteten Selbstverwirklichung darstellen. Hierbei lässt sich eine zunehmende Ori-
entierung an Markterfolgen auf struktureller Ebene und eine Rationalisierung der
Selbstverwirklichung auf individueller Ebene erkennen. Beides entsteht, da Risiko-
lagen in der individuellen Wahrnehmung zunehmen. Der Grund für diese Wahr-
nehmung liegt in der stärkeren Konkurrenz, einer stärkeren Nachfrage nach hohen
beruflichen Leistungsansprüchen sowie einer ausgeprägten Erfolgsorientierung.
Damit werden bereits Tendenzen zu einem Wandel vom Leistungs- zum Er-
folgsindividualismus sichtbar. Die darin liegende Gefahr des Nicht-Mit-Halten-
Könnens, geht mit einer Entfremdung von den eigenen Ansprüchen einher, da
Misserfolge immer seltener auf die tatsächlich erbrachten Leistungen zurückgeführt
werden können. Diese Entfremdung wird durch den zunehmenden Druck einer
nicht authentischen Selbstdarstellung im beruflichen Kontext verstärkt. Die hier
206 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

wirksame Norm der Selbstpräsentation, hat sich in vielen beruflichen Kontexten


durchgesetzt und führt zu einer Präsentation von geforderten und damit passenden
eigenen Anspruchshaltungen.

„Es gibt so etwas wie neue Selbstdarstellungszwänge, die faktisch auf eine neue Form der Selbst-
verleugnung hinauslaufen, eine neue Phänomenologie der Entfremdung, eine Gestalt der In-
authentizität, die aus dem Druck resultiert, sich stets authentisch darstellen zu müssen (…).“
(Kocyba 2000: 132).

Hier zeigt sich eine Entwicklung, die nicht nur immer mehr Eigeninitiative bei der
Aufgabenerfüllung als Anforderungen an die Berufsrolle stellt , sondern die ver-
langt, eigene Ansprüche auf Selbstverwirklichung im Beruf zu suchen. Berufe mit
Aufstiegsmöglichkeiten und Selbstentfaltungschancen tendieren dazu, wie Honneth
argumentiert hat, in Bewerbungsgesprächen eine Selbstdarstellung des Potentials
und der Zielsetzung einzufordern, die sich in Erfolgsorientierung ausdrücken. Zu-
gleich fließt die eigene Erfolgsorientierung und damit ihre Marktförmigkeit bzw.
Verwertbarkeit in die Selbstdarstellung mit ein. Das hat zur Folge, dass bei der Prä-
sentation von Ansprüchen im beruflichen Kontext bereits die Orientierung am
Markterfolg berücksichtigt werden muss, um überhaupt als passender Selbstan-
spruch anerkannt zu werden. Eine berufliche Selbstverwirklichung, die sich von den
bisherigen Leistungsansprüchen immer weiter entfernt und mit einer marktgerech-
ten Erfolgsorientierung betrieben wird, geht allerdings mit einer zunehmenden Fle-
xibilisierung der eigenen Ansprüche einher, was Einfluss auf die Identitätsentwick-
lung nimmt.
Die wachsende Anzahl von Ansprüchen und die Vortäuschung und Flexibilisie-
rung von Zielsetzungen führt zu einer nachlassenden Identifikationskraft der An-
sprüche. Es entsteht die Tendenz zur Selbstverdinglichung. Die Selbstverwirkli-
chung, die zunehmend unter dem Projekt-Ich-Konzept geplant wird, muss in einer
gelockerten Bindung an die eigenen Ansprüchen münden, da das Risiko des Schei-
terns gleichbleibend groß ist. Dadurch kann eine Vermischung von leistungsbasier-
ten Selbstansprüchen und Seinsforderungen entstehen. Die leistungsbasierten
Selbstansprüche werden in ihrer Gesamtheit zum Antrieb und Maßstab gelingender
Selbstverwirklichung. In Verbindung mit der Unsicherheit der Anerkennung dieser
Ansprüche kommt es nicht nur zur Steigerung des Anspruchsniveaus, sondern auch
zum häufigeren Wechsel der Anspruchshaltungen. Insgesamt bemühen sich die
Individuen stärker, Selbstverwirklichung auf umfassende Weise zu betreiben. Die
Selbstpräsentation verändert sich dahingehend, viele Ansprüche als Zeichen der
Vielseitigkeit der individuellen Potentiale zu präsentieren. Im Vergleich zum An-
spruchsindividualismus kann eine Überschreitung der individuellen Pluralisierungs-
tendenzen beobachtet werden.
Den Individuen stellt sich diese neue Rationalisierung im Umgang mit Selbst-
verwirklichung aber nicht als aufoktroyiert dar, sondern in erster Linie als eine
Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus 207

ernsthafte Bemühung um die Verwirklichung eigener Ansprüche. Der tatsächliche


Grad der Verstrickung eigener Lebensplanung, beruflicher Selbstverwirklichung mit
zunehmendem Misserfolgsrisiko und starker Leistungskonkurrenz gerät meist erst
dann ins Bewusstsein, wenn starke Entfremdungsgefühle auftreten, die durch
Selbstanerkennung nicht mehr aufgefangen werden können. Empirisch lässt sich
dies z.B. an den steigenden Zahlen der Burn-Out Fälle und Depressionen ablesen.
Darüber hinaus entwickelt sich durch die Rationalisierung von Anspruchshal-
tungen eine weitere Gefahr. Gemeint ist der Verlust der emotionalen Bindung, die
nach Luhmann ein Kernelement der Anspruchsausbildung ist und sich von bloßen
Erwartungen abhebt. Ohne diese Bindung kann es zu keiner wirklichen Aneignung
des Anspruches kommen. Ein Anspruch ist nur dann wirksam, wenn man sich mit
ihm bis zu einem gewissen Grad identifiziert. Daher stammt die These, dass An-
sprüche der Selbstvergewisserung dienen. Eine nach den Projekt-Ich-Maßstäben
betriebene Selbstverwirklichung mündet in einer Management-Haltung gegenüber
einer Vielzahl von Ansprüchen, die verwirklicht werden sollen. Sie zieht damit auch
einen Verlust der emotionalen Bindung an sie nach sich.
Durch den zweckorientierten Umgang mit Ansprüchen und die damit einher-
gehende Entfremdung verlieren diese ihre ursprüngliche identitätsstabilisierende
Bedeutung. Durch die mangelnde Identifikation mit fremdgesteuerten Selbstan-
sprüchen und dem erhöhten Risiko der Missachtung dieser Ansprüche drohen
Identitäten zu scheitern, wenn sie nicht einen Weg der Gewichtung finden und sich
so wieder ein Stück von den Anerkennungsmechanismen des Leistungsindividua-
lismus lösen.

„Die Multiplikation einander widersprechender, inkonsistenter Perspektiven, die sich in der Zeit-
dimension als rascher Wechsel diskontinuierlicher Fragmente darstellt, untergräbt die Fähigkeit der
Subjekte, Erlebnispartikel und Erfahrungsbruchstücke auch nur ansatzweise in einer biographi-
schen Gestalt integrieren zu können.“ (Wagner 2000: 147).

Auch intime Beziehungen weisen ähnliche Entwicklungen auf. Sowohl bei der Part-
nerwahl, als auch in der Aushandlung der einzelnen Ansprüche der Partner unterei-
nander, ist eine zunehmende Zweckorientierung zu beobachten. Hinzu kommt,
dass Partnerschaften – und darüber hinaus auch Freundschaften – durch den
Wechsel von Ansprüchen bedroht sind, da sie die Selbstverwirklichungsbestrebun-
gen immer häufiger in andere Richtungen lenken und eine gemeinsame Zukunfts-
planung erschweren.
Der Stellenwert von Anerkennung erfährt insgesamt durch die Rationalisierung
von identitätsstabilisierenden Ansprüchen eine Veränderung. Das rationale An-
spruchsmanagement rechnet stärker mit dem Scheitern und arbeitet immer schon
an Ausweichplänen für neue Zielsetzungen, weshalb Ansprüche schneller gewech-
selt werden. Ansprüche werden demnach aufgrund mangelnder Anerkennung nicht
gesenkt, sondern zunehmend fallen gelassen. Deswegen ändert sich die Bindungs-
208 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus

kraft, die positive Anerkennung auf Ansprüche ausübt. Sie erzeugt keinen wirkli-
chen Befriedigungseffekt mehr. Und wo dieser fehlt, wird eine Identitätsstabilisie-
rung zunehmend schwerer.
Letztendlich wirken sich diese Veränderungen auch auf die Zielsetzungen des
Individualitätsbestrebens aus, die ursprünglich mit den Ansprüchen verwobenen
waren und mit dem Verlust der Selbstbindung ihrer Grundlage entbehren. Ange-
sichts dieser allseitigen Untergrabung der Selbstansprüche durch Fremdforderungen
finden die Individuen immer seltener eine angemessene Gewichtung zwischen feh-
lender und nicht wirksamer Anerkennung. Diese Mechanismen beeinflussen das Er-
leben der eigenen Individualität negativ. Die Individuen können mit fremdbe-
stimmten Ansprüchen kein Gefühl der Einzigartigkeit mehr erzeugen. Und es stellt
sich die Frage, worin die
„(…) Einmaligkeit eines Subjekts bestehen [soll, D.L.], das sich mit konkreten Bestimmungen aus-
staffiert (...)? Es handelt sich um ein abstraktes Subjekt, dem seine konkreten Bestimmungen eben-
so äußerlich bleiben wie dem Leib das Hemd, der Anzug, die Krawatte.“ (Schiller 2006: 341f).

Markus Schroer hat die Mechanismen der Verschmelzung zwischen eigenen An-
sprüchen und gesellschaftlichen Erwartungen folgendermaßen zusammengefasst:

„Die klassische Streitfrage, ob das Individuum seinen Anspruch auf Individualität der Gesellschaft
abtrotzen und erkämpfen muss oder ob die Gesellschaft sich genau jenes individualisierte Indivi-
duum schafft, das sie zu ihrem Fortbestehen benötigt, scheint dahingehend aufgelöst werden zu
können, dass Ansprüche des Individuums an die Gesellschaft im Laufe der Zeit zu Erwartungen
der Gesellschaft an das Individuum umgemünzt werden. Die einstmals eingeforderten Freiräume
zur Selbstpräsentation und –analyse sind längst in den gesellschaftlichen Verwertungszusammen-
hang eingespeist worden, so dass ein rundum eigenverantwortliches Individuum zum Idealbild der
Gegenwartsgesellschaft avanciert ist.“ (Schroer 2008: 117).

Es bleibt zu hoffen, dass diese Phase der problematischen Verschmelzung von


Fremd- und Selbstansprüchen darin mündet, dass mehr Individuen lernen, die
Wichtigkeit der eigenen Ansprüche für die Identitätsentwicklung anzuerkennen und
sich stärker für veränderte Anerkennungsmechanismen einzusetzen. Durch die
allmähliche Veränderung der Anerkennungsbeziehungen könnten individuellen
Lebensläufe dem allgemeinen Entfremdungs- und Destabilisierungstrend entge-
genwirken. Die Gefahr einer zunehmenden Selbstverdinglichung und die dadurch
verstärkten Sinnlosigkeitserfahrungen ließen sich so abwenden.
5 Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische
Überprüfungen

Die vorliegende Arbeit verfolgte das Ziel eine individualisierte Handlungslogik für
das Streben nach Selbstverwirklichung zu entwickeln. Ausgangspunkt war die hand-
lungstheoretische Unterbestimmtheit des seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“
ausgetragenen Diskurses über Individualisierungstendenzen in der deutschen Wohl-
standsgesellschaft. Als Kernproblem wurde hierbei die mangelnde Berücksichtigung
der subjektiven Wahrnehmung dieser strukturellen Veränderungen herausgearbeitet.
Dadurch zeigte sich, dass in der Individualisierungstheorie eine theoretische Erklä-
rungslücke bezüglich des Vorhandenseins individualisierter Bedingungen und der
Logik individualisierter Handlungen besteht. Die theoretische Argumentation der
Arbeit diente deshalb dazu, einen Erklärungsansatz zu entwickeln, der zum einen
das Problem löst, wie Individuen individualisierte Bedingungen wahrnehmen und
zum anderen, wie sich Individualisierung in den Handlungen der Individuen aus-
drückt.
Zu diesem Zweck ließen sich aus der Individualisierungstheorie zwei analyti-
sche Konzepte ableiten, die noch nicht in systematischer Weise zu einer Offenle-
gung individualisierter Handlungslogik zusammengeführt wurden. Dies sind die
Konzepte der Optionenvielfalt und der Selbstverwirklichung. Während Optionen-
vielfalt Ausdruck individualisierter Bedingungen ist, ist Selbstverwirklichung Aus-
druck der Folgen von Individualisierung auf der Mikroebene des Handelns. Beide
Konzepte erfassen all jene Veränderungen, die als Freisetzung, Entzauberung und
Reintegration von Ulrich Beck zusammengetragen wurden und eigneten sich für die
Erarbeitung einer individualisierten Handlungslogik. Der hierauf aufbauende Erklä-
rungsansatz sollte also den Umgang mit einer gewachsenen Optionenvielfalt aus
individueller Perspektive theoretisch erfassen. Dabei wurde darauf fokussiert, den
Umgang mit Optionen im Rahmen von selbstverwirklichenden Handlungen zu
erklären.
Dabei sollte jedoch berücksichtigt werden, dass Individualisierung nicht auto-
matisch Optionenvielfalt und in dessen Folge Selbstverwirklichung erzeugt. Dieser
Schluss ist immer wieder aus der Darstellung der Individualisierungstheorie gezogen
worden und es wurde kritisiert, dass mit der Pauschalargumentation einer umfas-
senden Zunahme von Optionen keine Differenzierung nach strukturellen Unter-
schieden in der Verfügbarkeit von Optionen vorgenommen werden kann. Darüber

D. Lindner, Das gesollte Wollen, DOI 10.1007/978-3-531-19193-5_6,


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210 Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen

hinaus wurde auch kritisiert, dass die Bestimmung der Abhängigkeiten zwischen der
Erweiterung von Handlungsspielräumen und strukturellen Begrenzungen nicht
umfassend in die Theoriebildung mit eingeflossen ist.
In der vorliegenden Arbeit konnte mit einer historischen Rückschau auf den
Verlauf der Individuierung gezeigt werden, dass einseitige Deutungen von Individu-
alisierung als entweder Autonomieerweiterung oder –begrenzung der Komplexität
dieses Wandlungsprozesse nicht gerecht werden, da Individualisierung von Anbe-
ginn an durch ein Changieren zwischen der Zunahme von individueller Wahlmög-
lichkeiten und einer darauf einsetzenden Begrenzung dieser gekennzeichnet war.
Die Ausarbeitung einer individualisierten Handlungslogik sollte dieser Komplexität
Rechnung tragen können, indem berücksichtigt wird, dass sich sowohl Autonomie-
gewinn als auch strukturelle Begrenzungen im Umgang mit Optionen und in den
unterschiedlichen Verläufen der Selbstverwirklichung gegenseitig durchdringen.
Um zum einen den Grad des Autonomiegewinns theoretisch zu fassen, setzte
die theoretische Argumentation der vorliegenden Arbeit in einem ersten Schritt an
der Problematik der Wahrnehmung von Optionenvielfalt an. Die erste Frage, die
hier zu beantworten war, bezog sich auf die Klärung der Voraussetzungen, welche
die Individuen für die Wahrnehmung von Optionenvielfalt brauchen. Hierbei pro-
fitierte die Argumentation erneut von der historischen Rückschau auf den Verlauf
der Individuierung, da sich so zeigen ließ, dass einer individualisierten Handlungs-
logik die Fähigkeit zugrunde liegt, Ansprüche zu stellen. Dass Individuen Ansprü-
che ausbilden und notwendig brauchen, um Optionen wahrzunehmen, zu bewerten
und daraufhin überhaupt eine Auswahl treffen zu können, ist deshalb als ein ele-
mentares Kennzeichen der individualisierten Handlungslogik herausgestellt worden.
Die phänomenologische Auseinandersetzung mit diesen Zusammenhängen zeigte,
dass Optionen sich vor dem Hintergrund des Freisetzungs- und Entzauberungsar-
guments und dem damit einhergehenden Verlust normativer Verbindlichkeiten,
dem Individuum als Störungen des Alltags präsentieren und es zur eigenen Ausei-
nandersetzung zwingen. Die Individuen können sich vor dem Hintergrund steigen-
der Deutungsoffenheiten nicht mehr wie in der Vormoderne auf einen gültigen
normativen Rahmen stützen. Optionen werden deshalb von den Individuen etwe-
der als Handlungsrecht, als Handlungsangebot oder als Deutungsangebot wahrge-
nommen und lösen Selbstvergewisserungsvorgänge aus, die eine eigene Bewertung
der Option erforderlich machen. Natürlich fließen in diese Bewertungen soziale
Wertvorstellungen ein, aber auch diese müssen als Bewertungskriterium selbst ge-
wählt werden und dies ist nur möglich auf der Grundlage eines eigenen Anspruchs.
Nach dieser Bewertung stehen den Individuen unterschiedliche Strategien zum
Umgang mit Optionen zur Verfügung. Es kann zum einen zur Zurückweisung oder
zum bewussten Ignorieren einer Option kommen. In diesem Fall ändert sich für das
Individuum nichts. Zum anderen kann es auch zur Übernahme einer Option kom-
men, was sich in Veränderungen der Handlungsroutinen niederschlägt.
Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen 211

Diese Überlegungen zum Umgang mit Optionenvielfalt dienten dazu, den Ver-
lauf der Selbstverwirklichung entlang einer individualisierten Handlungslogik zu
erklären. Dabei war das Hauptargument, dass sowohl die Entscheidung für eine
Zurückweisung bzw. das Ignorieren als auch die Übernahme einer Option für
Selbstverwirklichung auf der Basis eigener Anspruchshaltungen erklärbar wird.
Ansprüche wirken somit als Bewertungsgrundlage beim Umgang mit Optionen und
sind Handlungsmotivation bei der Aneignung von bestimmten Optionen. Damit
wird deutlich, dass Ansprüche eine Zielsetzungsdimension enthalten, die das Stre-
ben nach Selbstverwirklichung abbilden kann. Der Grad der Selbstverwirklichung
lässt sich demnach an der Höhe und der Art der Ansprüche ablesen. Dies ist der
eigentliche Autonomiegewinn der Individualisierung.
An dieser Stelle lassen sich erste Anschlussmöglichkeiten für empirische Über-
prüfungen entwickeln. Dabei wäre es erforderlich, die phänomenologisch erarbei-
teten Strategien zum Umgang mit Optionen zu validieren. Ratsam wären hier qua-
litative Studien und experimentelle Designs. In einer qualitativen Interviewstudie
könnte zum einen eine Typologie über die Arten der Optionen entwickelt werden,
die im Rahmen des Lebenslaufs wahrgenommen wurden. Dabei müsste auch die
Umgangsweise mit auftauchenden Optionen geprüft werden, die dann auch entlang
sozialstruktureller Kriterien typisiert werden sollte, um Hinweise auf schicht- bzw.
milieuspezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Wahrnehmung von
Optionen zu erhalten. Ein anderer wichtiger Aspekt wäre eine genaue Untersu-
chung der Bewertungsgrundlagen. Hierbei wäre es interessant herauszufinden, in-
wiefern die Höhe eigener Anspruchshaltungen als Bewertungsgrundlage für das
Zurückweisen von sich bietenden Optionen als Argument herangezogen wird und
wie häufig ungünstige äußere Bedingungen als Grund für die Zurückweisung ge-
nannt werden. Einen anderen Zugang würde der Einsatz gedankenexperimenteller
Methoden bieten. Mit einer solchen Studie käme man näher an den Kern individu-
eller Ansprüche, da Gedankenexperimente ein Denken in Möglichkeiten erlauben.
Hier könnte ein hypothetischer Umgang mit Optionen unter vorgestellten idealen
Bedingungen Aufschluss über die handlungsleitenden Anspruchshaltungen geben,
wobei diese Analyse einen Vergleich unterschiedlicher Altersgruppen einschließen
sollte, da jüngere Menschen im Vergleich zu älteren weniger mit Situationen kon-
frontiert worden sind, die Anspruchsanpassungen erforderlich machen.
Die weiterführende Argumentation in der vorliegenden Arbeit berücksichtigte
jedoch nicht nur die Funktion von Ansprüchen als Bewertungsgrundlage von Opti-
onen, sondern konzentrierte sich darauf, Selbstverwirklichung als einen anspruchs-
geleiteten Entwicklungsprozess zu beschreiben, in dem dann die strukturellen Be-
grenzungen der Individualisierung sichtbar gemacht werden können. Damit wurde
eine zweite Funktion von Ansprüchen in die individualisierte Handlungslogik inte-
griert. Diese Funktion bezieht sich auf den Forderungscharakter von Ansprüchen.
Indem sie als Forderungen geäußert werden, lassen sie das Streben nach Selbstver-
212 Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen

wirklichung sozial sichtbar werden. Nur so konnten sie überhaupt zu einem Grad-
messer von Individualisierung werden. Mit der Präsentation von Ansprüchen hängt
aber auch der Erfolg der Selbstverwirklichung von der Anerkennung dieser An-
sprüche ab. Das Präsentieren von Ansprüchen hat für die Individuen die Funktion,
sich als Individuum mit einem bestimmten Potential zu zeigen. Die Auseinanderset-
zung mit individualisierten Bedingungen zeigte, dass diese Art der Selbstpräsenta-
tion nötig wird, da die Entwicklung individueller Lebensläufe zunehmend entstan-
dardisiert wird und somit Erklärungen über Zielsetzungen für die Zukunft in der
Selbstpräsentation mitgeliefert werden muss. Zur Darstellung der eigenen Person
gehört nun neben dem aktuellen Entwicklungsstand immer auch die Darlegung der
Möglichkeiten für zukünftige Entwicklungen. Diese werden als Ansprüche präsen-
tiert und ermöglichen dem Gegenüber die Identifikation einer sich selbstverwirkli-
chenden Person.
Mit der Konzentration auf eine theoretische Klärung des Verlaufs einer an-
spruchsgeleiteten Selbstverwirklichung vor dem Hintergrund einer grundlegenden
Optionenvielfalt war zusätzlich die Neukonzeption des Verständnisses von indivi-
dualisierter Identitätsbildung verbunden, die dem Umstand Rechnung trug, dass
Identitäten einem lebenslangen Entwicklungsprozess unterliegen. Identitätsbildung
wurde im Rahmen der Argumentation einer anspruchsgeleiteten Selbstverwirkli-
chung so definiert, dass die Anerkennung von Ansprüchen einer Identitätsstabilisie-
rung gleichkommt. Damit liegt der Arbeit ein Identitätskonzept zugrunde, das die
Offenheit des Lebenslaufs als Folge von Freisetzungs- und Entzauberungsmecha-
nismen ernst genug nimmt, und damit berücksichtigen kann, dass sich auch aus der
bloßen Präsentation von Ansprüchen – die einem Entwurf einer möglichen Zu-
kunft gleich kommt – Identitäten verändern können und dazu eine spezifische
Auseinandersetzung mit der erbrachten Anerkennung erforderlich machen. Gleich-
zeitig war es hiermit möglich, Begrenzungen der Selbstverwirklichung aus der Miss-
achtung von Ansprüchen abzuleiten.
Diese weitreichenden Funktionsbestimmungen von Ansprüchen wurden zur
besseren Darstellung der Argumentationsstränge entlang der Logik des Modells der
soziologischen Erklärung zu einer umfassenden individualisierten Handlungslogik
ausgebaut. Ansprüche fungieren in diesem Modell als Handlungsmotivation für die
Wahl von Optionen unter Berücksichtigung individualisierter Situationsbedingun-
gen. Dies entsprach der Offenlegung der Logik der Situation. Gleichzeitig müssen
Ansprüche als Forderungen präsentiert werden und verlangen nach Anerkennung,
die für die Stabilisierung der Identität benötigt wird. Damit ist die eigentliche Hand-
lungsebene des Mehrebenenmodells angesprochen. Die individuelle Ausei-
nandersetzung mit diesen Anerkennungsakten wurde im Sinn der Logik der Aggre-
gation als ein intraindividueller Vorgang in das Modell integriert, da die Folge dieser
Auseinandersetzung die Identitätsstabilisierung des Individuums ist und nicht die
kollektive Folge unterschiedlicher individueller Identitätsentwicklungen. Damit
Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen 213

wurde zwar der Mehrebenenlogik der soziologischen Erklärung entsprochen, wird


aber durch den Ansatz auf der Motivationsebene zu einem reinen Mikromodell
individueller Handlungen. Insgesamt ist mit dieser Konzentration auf die Zusam-
menhänge zwischen Handlungsmotivation und sozialen Situationsbedingungen
einerseits und der Präsentation von Ansprüchen, ihrer Anerkennung und den indi-
viduellen Verarbeitungsstrategien von Anerkennung anderseits ist eine Erweiterung
der handlungstheoretischen Überlegungen zur Individualisierungstheorie erarbeitet
worden.
Für die Ausarbeitung der einzelnen Argumentationsstränge ist entlang der Lo-
giken dieses soziologischen Erklärungsmodells mit unterschiedlichen theoretischen
Abstraktionsgraden argumentiert worden. Da die unterschiedlichen Zielsetzungs-
dimensionen der Anspruchshaltungen als grundlegender Handlungsantrieb für
Selbstverwirklichung entwickelt werden sollte, wurde eine sozialtheoretische Be-
stimmung gewählt. Die Erarbeitung der Präsentationsfunktion von Ansprüchen
und deren Anerkennung wurde vor dem Hintergrund konkreter moderner gesell-
schaftlicher Strukturbedingungen, d.h. auf gesellschaftstheoretischer Ebene vorge-
nommen. Abschließend ist nach aktuellen Gefährdungslagen der ausgearbeiteten
anspruchsgeleiteten Identitätsentwicklung auf einer zeitdiagnostischen Ebene ge-
sucht worden.
Die sozialtheoretische Auseinandersetzung mit Ansprüchen diente der Abgren-
zung unterschiedlicher Zielsetzungsdimensionen von Anspruchshaltungen. Hierbei
wurden entwicklungsbasierte Seinsforderungen, Ressourcenforderungen und moti-
vationsbasierte Leistungsansprüche als die drei Hauptzielsetzungen individualisierter
Selbstverwirklichung formuliert. Seinsforderungen sind dabei als allgemeine Zielset-
zungen auf der Ebene der Lebenslaufplanung definiert worden, die die Individuen
an sich selbst richten und dabei das Gefühl der Planbarkeit vermitteln. Ressourcen-
forderungen sind abgrenzend dazu als an die Umwelt gerichtete Ansprüche nach
Rechten und Gütern konzipiert worden. Ihre Erfüllung bzw. Nichterfüllung ermög-
licht und begrenzt auf ganz grundlegende Art – nämlich als Optionenvorsorge – die
Selbstverwirklichung. Leistungsansprüche sind wiederum als Selbstansprüche defi-
niert worden und beziehen sich auf den Gütegrad eigener Leistungen und Fähig-
keiten. Insgesamt bilden diese drei Anspruchsformen die Wollensbereiche ‚Werden
wollen‘, ‚Haben wollen‘ und ‚Erreichen wollen‘ ab und erfassen die Antriebsfakto-
ren der individuellen Selbstverwirklichung.
Zur Erklärung der grundlegenden Antriebskraft von Anspruchshaltungen wur-
de darüber hinaus auf sozialtheoretischer Ebene argumentiert, dass Selbstentwürfe
der Validierung bedürfen. Diese erfolgt durch den Mechanismus des sozialen Ver-
gleichens. Mit der Berücksichtigung des psychischen Drangs des sozialen Vergleichs
wurde eine erste, den Ansprüchen inhärente Steigerungsdynamik, entwickelt, die
dann mit einer ausblickhaften gesellschaftstheoretischen Betrachtung der sozialen
214 Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen

Ursachen der Anspruchssteigerung ausgebaut wurden und damit einen Erklä-


rungsansatz für die kontinuierliche Steigerung des Individuierungsbestrebens liefert.
Anhand dieser theoretischen Konzeptualisierung zeigen sich weitere An-
schlussmöglichkeiten für empirische Studien. Diese könnten der Überprüfung die-
nen, inwiefern und in welcher Weise sich die drei Anspruchsformen im Streben
nach Selbstverwirklichung bei den Individuen wiederfinden. Auch hier wäre eine
qualitative Interviewstudie mit dem Ziel der Typologisierung ratsam. Hierbei wäre
wichtig, zu untersuchen, ob eine der drei Anspruchshaltungen die Grundlage der
Selbstverwirklichung bildet und damit die Ausbildung der anderen beiden An-
spruchshaltungen beeinflusst. Wie in Kapitel zwei dargestellt, wären alle drei For-
men theoretisch denkbar. Des Weiteren wäre eine Forschung nach Unterschieden
des Anspruchsdenkens im Hinblick auf sozialen Status, Bildungsgrad, Geschlecht
und Alter von großer Bedeutung. Dies ließe sich mit größeren quantitativen Befra-
gungen realisieren und brächte die dringend nötigen systematischen Hinweise zu
den sozialstrukturellen Unterschieden der Selbstverwirklichungsbestrebungen. Da-
rüber hinaus könnte der Steigerungsgrad der Ansprüche anhand sozialer Ver-
gleichsmechanismen einer empirischen Überprüfung unterzogen werden. Hier wä-
ren wiederum experimentelle Studien mit sozialpsychologischem Fokus hilfreich, da
der Vergleich mit anderen z.B. vor dem Hintergrund selbst erbrachter Leistungen
zu Veränderungen des eigenen Leistungsstrebens führen kann oder auch die Be-
wertung einer Leistung durch andere zu Veränderungen im eigenen Leistungsden-
ken führt. Dies ließe sich natürlich auch bei den beiden anderen Anspruchshaltun-
gen durchführen. Die Erforschung der Anspruchserhöhung bei Ressourcenforde-
rungen wäre auch durch experimentelle Computerlaborstudien möglich, in denen
der Vergleich mit Mitspielern, die mit besseren Ressourcen ausgestattet sind, zu
Anspruchsformulierungen nach ebenfalls besseren Ressourcen führt. Und das Er-
fassen der Steigerung von Ansprüchen bei Seinsforderungen ließe sich gut durch
Gruppendiskussionen, in denen über Zielsetzungen gesprochen wird, mit einer
vorher nachher Befragung ermitteln.
Da Ansprüche als Forderungen geäußert werden müssen, wurde zur näheren
Erklärung der hier wirkenden Mechanismen im dritten Kapitel eine gesellschafts-
theoretische Betrachtung der Anerkennungsbeziehungen vorgenommen. Dies ge-
schah im Hinblick auf die identitätsstabilisierende Funktion von Ansprüchen. Als
Voraussetzung musste deshalb ein theoretisches Konzept entwickelt werden, aus
dem sich die Antriebskraft von Ansprüchen für die Identitätsentwicklung unter
individualisierten Bedingungen ableiten lässt. Aus der Auseinandersetzung mit un-
terschiedlichen Identitätstheorien konnten die wesentlichen Elemente für die Be-
stimmung von Identität zusammengetragen werden: die Auffassung einer offenen
Identitätsentwicklung, die Notwendigkeit ihrer intersubjektiv vermittelten Stabilisie-
rungen und die Anforderung Identität im Rahmen von Interaktionen zu präsentie-
Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen 215

ren. Diese Elemente wurden auf das Konzept der anspruchsgeleiteten Identitäts-
entwicklung übertragen.
Die auf diesen Vorstellungen aufbauende Auseinandersetzung mit Anerken-
nungsleistungen legte den Einfluss von Anerkennung auf das Anspruchsdenken
offen. Die sozialphilosophische Betrachtung von Anerkennungsbeziehungen durch
Axel Honneth samt der Erweiterung von Barbara Kaletta bereitete die gesell-
schaftstheoretische Analyse der Anerkennungsbeziehungen vor. Es wurde zwischen
drei Anerkennungsbeziehungen unterschieden. Erstens: Anerkennungsleistungen,
die im Rahmen von Intimbeziehungen vergeben werden und dazu dienen, Seinsfor-
derungen zu stabilisieren. Zweitens: rechtliche bzw. moralische Anerkennungssys-
teme zur Analyse des Umgangs mit Ressourcenforderungen. Und drittens: posi-
tionale Wertschätzungsvorgänge zur Beschreibung der Anerkennungsmechanismen
von Leistungsansprüchen.
Die Betrachtung der Anerkennungsbeziehungen erfolgte dabei unter der Per-
spektive eines kulturellen Leitbildes, welches die Identifikation zeitspezifischer
Werthaltungen bei den Anerkennungsakten erlaubt. Das kulturelle Leitbild aus der
Zeit des dritten Individualisierungsschubes wurde als Anspruchsindividualismus be-
zeichnet, wobei das wesentliche Kennzeichen dieser Zeit das Prinzip der An-
spruchsgerechtigkeit war.
Mittels empirischer und theoretischer Plausibilisierungen von Studien aus dieser
Zeit sind so die Mechanismen der einzelnen Anerkennungsakte punktuell herausge-
arbeitet worden. Mit dieser Analyse ist gleichzeitig auch eine Erweiterung der Aner-
kennungstheorie gelungen. Die Arbeit ermöglicht ein genaueres Verständnis der
Zusammenhänge zwischen Wertvorstellungen und tatsächlich erbrachten Anerken-
nungsleistungen, aber auch der Zusammenhänge zwischen Selbstpräsentation und
den zugrunde liegenden Werthaltungen. Die konkreten Inhalte von Anerkennungs-
akten sind bisher weder von Honneth noch von anderen Theoretikern für alle drei
Anerkennungsbeziehungen im Hinblick auf die Identitätsentwicklung der Indivi-
duen herausgestellt worden.
Die Analyse der Anerkennungsbeziehungen brachte folgende zentrale Er-
kenntnisse hervor:

1. Die Anerkennung von Ressourcenforderungen folgt sowohl hinsichtlich


bürgerrechtlicher als auch sozialrechtlicher Ansprüche dem Prinzip der
Anspruchsgerechtigkeit und ermöglicht dadurch Selbstverwirklichung auf
hohem Autonomieniveau.
2. Im Berufskontext findet ein Kampf um individualisierte Formen der Aner-
kennung von Leistungsansprüchen statt. Und es entsteht eine stärkere
Verknüpfung zwischen Selbstverwirklichung und Beruf.
216 Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen

3. Intimbeziehungen sind vor dem Hintergrund steigender Ansprüche auf


Selbstverwirklichung mit Problemen bei der Herstellung von Gemeinsam-
keit konfrontiert. Dies zeigt sich anhand wachsender kommunikativer An-
strengungen bei den Aushandlungsprozessen.

Hier sind weitere Sekundäranalysen nötig, da in dieser Arbeit keine umfassende


Aufarbeitung der empirischen Belege aus der Zeit des Anspruchsindividualismus
geleistet werden konnte. Vor allem wäre eine Offenlegung der Missachtungsvor-
gänge dieser Zeit nötig, um trotz des geltenden Prinzips der Anspruchsgerechtigkeit
nach Einschränkungen bei der Selbstverwirklichung der Individuen zu suchen.
Möglicherweise bietet eine systematische sekundäranalytische Auswertung z.B. des
sozioökonomischen Panels oder des Allbus interessante neue Erkenntnisse zu dem
allgemeinen Zuwachs an Selbstentfaltungswerten oder Ansprüchen an die eigene
Selbstverwirklichung und dem politisch durchgesetzten Prinzip der Anspruchsge-
rechtigkeit, das beispielsweise mittels der Zusammenstellung spezifischer Variablen
zum Ungleichheitsempfinden oder der Zufriedenheit mit politischen Vertretern
operationalisiert werden könnte.
Um die Entstehung einer anspruchsgeleiteten Identität zu erläutern, wurde im
dritten Kapitel abschließend auf gesellschaftstheoretischer Ebene argumentiert, wie
sich die Individuen mit Erfahrungen dieser Anerkennungsformen auseinanderset-
zen. Es wurde herausgestellt, dass eine erfolgreiche Identitätsstabilisierung die Fä-
higkeit zur Selbstanerkennung und Anerkennungsgewichtung voraussetzt. Der
wachsenden Gefahr von Identitätsdiffusionen durch mangelnde oder widersprüch-
liche Anerkennungsakte müssen die Individuen entgegenwirken, indem sie Aner-
kennung eigeninitiativ auswerten, um Ansprüche aufrechterhalten zu können. Auf
diese Weise wurde Identitätsentwicklung als die sich beständig verändernde Relation
zwischen der Ausbildung und Präsentation von Ansprüchen einerseits und den
dazugehörigen Anerkennungserfahrungen andererseits erfasst. Bricht die Anerken-
nung der präsentierten Ansprüche auf Selbstverwirklichung, Ressourcen oder eigene
Leistungen weg, drohen Identitäten zu scheitern.
Diese Theorieperspektive erweitert das Verständnis einer nie abgeschlossenen
Identitätsbildung unter individualisierten Bedingungen. Um diese theoretisch erar-
beiteten Zusammenhänge zu validieren, sind wiederum spezifische empirische
Überprüfungen nötig. Diese sind vor allem für die Betrachtung der Zusammen-
hänge zwischen Selbstanerkennung, Fremdanerkennung oder Missachtung und der
Stabilisierung von Identität vonnöten. Dabei bieten sich ebenfalls qualitative Stu-
dien an, um systematisch nach den Strategien der Selbstanerkennung zu forschen
und deren Relativierungsfunktion gegenüber Missachtung zu ermitteln. Wichtig
wären darüber hinaus Studien, die sich mit der Aufrechterhaltung von Ansprüchen
bei anhaltender Missachtung beschäftigen. Wie lange hält beispielsweise jemand an
bestimmten beruflichen Zielen fest, obwohl immer wieder die Erfahrung gemacht
Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen 217

wird, dass die dafür nötigen Ressourcen nicht bereitgestellt werden bzw. die dafür
nötigen Fähigkeiten nicht ausreichen? Auch dies ließe sich gut mit experimentellen
Studien überprüfen. Außerdem wäre von Interesse, wie sehr Missachtungserfahrun-
gen beispielsweise im beruflichen Kontext durch die Anerkennung von Partnern
oder Freundin relativiert werden können.
Das letzte Kapitel der Arbeit beschäftigte sich speziell mit den Gefahren der
Identitätsdiffusion und nahm dazu eine zeitdiagnostische Perspektive ein. Hiermit
wurde vor allem dem bereits in der historischen Rückschau ermittelten Changieren
zwischen Autonomiegewinn und –begrenzung nähere Aufmerksamkeit gewidmet.
Vor dem Hintergrund des aktuell vollzogenen Wandels vom Anspruchs- zum Leis-
tungsindividualismus, wurden neue Soll-Normen identifiziert, die mit den Selbstan-
sprüchen der Individuen auf unterschiedlichen Ebenen verschmelzen und damit auf
eigentümliche Weise Autonomiebegrenzungen durchsetzen. Die aktuell zu be-
obachtende steigende Leistungsorientierung entwickelte sich im Rahmen von Be-
rufskontexten auf der Grundlage der erkämpften individualisierten Anerken-
nungsformen aus den Zeiten des Anspruchsindividualismus. Es konnte gezeigt
werden, dass es zunehmend zu einer Verlagerung der Selbstverwirklichung auf den
Beruf kommt. Die hierauf aufbauenden Maßnahmen zur Nutzung dieses „Human-
kapitals“ führten zu einer Forderung nach höheren individuellen Selbstansprüchen.
Durch das so entstandene vermehrte Streben nach beruflichem Erfolg besteht
die Gefahr einer Ökonomisierung des Lebens, bei der Selbstverwirklichung immer
stärker an Kriterien der Nützlichkeit ausgerichtet wird. Die Nutzung allen Potentials
für das Erreichen beruflicher Erfolge führt zu Veränderungen der Funktion von
Ansprüchen. Zum einen kommt es zu einer neuen Steigerungsdynamik bei den
Leistungsansprüchen aufgrund des Leistungsdrucks innerhalb des Berufskontextes.
Zum anderen nehmen Ansprüche zu, sind jedoch der Gefahr ausgesetzt, wegen
unsicherer Anerkennungsbedingungen immer häufiger fallen gelassen zu werden.
Eine Erklärung hierfür bot die Vorstellung eines „Projekt-Ichs“, das mit immer
mehr Möglichkeiten jongliert, um erfolgreich zu sein. Hier zeigten sich neue Gefah-
ren für Identitätsdiffusionen, die wiederum mit einer Analyse der Anerkennungsbe-
ziehungen unter den Bedingungen des Leistungsindividualismus zusammengetragen
wurden.
Die Analyse brachte folgende Ergebnisse hervor:

1. Im Rahmen der institutionell geregelten Anerkennungsbeziehungen zeigen


sich wesentliche Veränderungen im Wechsel des Prinzips der Anspruchs-
gerechtigkeit zur Leistungsgerechtigkeit. Vor allem der Abbau sozialer Si-
cherheiten und die Forderung nach mehr Eigenleistung kennzeichnen die-
se Entwicklung. Die so erzeugten Einschränkungen der Selbstverwirkli-
chungsmöglichkeiten kommen einer zwangsweisen Anspruchsreduktion
gleich. Darüber hinaus werden Selbstverwirklichungsbestrebungen im
218 Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen

Rahmen von Ressourcenforderungen von neuen Nützlichkeitskriterien un-


tergraben.
2. Die beruflichen Anerkennungsbeziehungen sind unter dem Leitbild des
Leistungsindividualismus durch den Wechsel der Anerkennung von Leis-
tungsexzellenz zum Erfolg gekennzeichnet. Mit dieser Zuspitzung auf das
Anerkennungsziel Erfolg wird Anerkennung unsicher und kann nicht
mehr auf die eigenen Leistungsansprüche zurückgeführt werden. Hinzu
kommt, dass unter dem Druck einer erfolgreichen beruflichen Selbstver-
wirklichung Ansprüche immer häufiger vorgetäuscht werden, weil Unter-
nehmen sie fordern.
3. In Intimbeziehungen nimmt der Aushandlungsdruck vor dem Hintergrund
steigender Ansprüche unter dem Leitbild des Leistungsindividualismus zu.
Hierin zeigen sich Vermischungen neuer Soll-Normen mit Selbstansprü-
chen anhand eines stärkeren Rationalisierungsdrucks. Die Rationalisie-
rungstendenz im Umgang miteinander erhöht die Gefahr einer Entemoti-
onalisierung und Versachlichung der Kommunikation innerhalb von Be-
ziehungen.

Diese Gefährdungslagen bewirken Verunsicherungen sowohl im Rahmen der Res-


sourcenforderungen und Leistungsansprüche als auch der Seinsforderungen. Die
Anerkennung von Ansprüchen wird im Übergang vom Prinzip der Anspruchs- zur
Leistungsgerechtigkeit immer stärker an Nützlichkeitskriterien ausgerichtet. Eine
anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung ist dadurch der Gefahr einer Selbstver-
dinglichung ausgesetzt. Die Fähigkeit der Individuen sich selbst anzuerkennen und
Anerkennung zu gewichten, wird umso wichtiger. Dieses ist das letzte Ergebnis der
Arbeit.
Vor allem im Hinblick auf die Gefahr der Selbstverdinglichung müssten empiri-
sche Studien zeigen, wie stark der Selbstbindungscharakter der eigenen Ansprüche
aktuell tatsächlich ist. Auch hier käme man mit qualitativen Studien zum Umgang
mit Ansprüchen sehr weit. Die Fragen, die hier am besten in biographischen Inter-
views zu beantworten wären, müssten sich sie auf die Erfassung der Anzahl der
Seinsforderungen und der Dauer ihrer Wirkung beziehen. Zusätzlich wäre zu erfor-
schen, wie häufig Ansprüche fallen gelassen werden und aufgrund welcher Erfah-
rungen. Möglicherweise zeigen sich hier auch Tendenzen eines starren Festhaltens
an spezifischen Ansprüchen, die jeglicher Missachtung trotzen. Auch dies wäre eine
Strategie, die denkbar ist im Umgang mit derartigen Anerkennungsproblemen. Im
Zusammenhang damit sollte die Frage geklärt werden, welche Strategien bei den
Selbstanerkennungs- und Gewichtungsmaßnahmen im Zuge dieser Entwicklung
neu entstehen, um erfolgreich Identitätsentwicklung betreiben zu können.
Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen 219

Darüber hinaus sind Studien erforderlich, die sich systematisch den Anerken-
nungsmechanismen in den verschiedenen Kontexten widmen. Es wäre wichtig,
herauszufinden, wie Anerkennung im Beruf überhaupt vergeben wird, welche Leis-
tungen tatsächlich Anerkennung finden und in welcher Form das geschieht. Für die
Ermittlung der erforderlichen Leistungsansprüche sind systematische Beobach-
tungen von Bewerbungsgesprächen in den unterschiedlichsten Berufsgruppen sehr
wertvoll.
Darüber hinaus böten auch Dokumentenanalysen von Stellenausschreibungen
Hinweise auf die erwarteten Ansprüche. Ähnliches ließe sich mit der Analyse von
individuellen Zielvereinbarungen erreichen. Die Analyse der Veränderungen der
Anerkennungsmechanismen im Bereich sozialstaatlicher Leistungen könnte eben-
falls mittels Dokumentenanalysen eine Vielzahl von Belegen für eine umfassende
Anspruchsbeschneidung zusammentragen.
Im Rahmen von Intimbeziehungen wäre es erforderlich zu erforschen, wie
stark der Aushandlungsdruck zwischen den Partnern aktuell tatsächlich ist und in
welchem Maße Rationalisierungsstrategien Einlass in die Kommunikation gefunden
haben. Gerade der letzte Punkt ließe sich sicher hervorragend mit konversations-
analytischen Untersuchungen aufgezeichneter Diskussionen um die Aushandlung
von Anspruchshaltungen erfassen. Auch systematische Studie über Trennungs-
gründe könnte helfen, die These zu stützen, dass Beziehungen immer häufiger an
der Zunahme an Selbstverwirklichungsansprüchen scheitern.
Zu guter Letzt bleibt noch die Aufgabe einer Einschätzung zukünftiger Ent-
wicklung einer so analysierten anspruchsgeleiteten Selbstverwirklichung. Die neuen
individualisierten Bedingungen, die zu einer Gefährdung der Selbstverwirklichung
geführt haben, wird entgegen der eingangs erwähnten Einschätzung der Autoren
Miegel und Wahl (vgl. Miegel/Wahl 1993) nicht das Ende des Individualismus ein-
leiten. Der Grad an Selbstentfremdung und Selbstverdinglichung der aktuellen
Entwicklung wird auch vor dem Hintergrund ausgeklügelter Systeme der Selbstan-
erkennung und Anerkennungsgewichtung nicht mehr lang hinzunehmen sein, da
die Arbeit gezeigt hat, dass die Individuen ihre Anspruchshaltungen notwendig
brauchen, um ihre Identitäten stabilisieren zu können.
Vor diesem Hintergrund werden die bereits eingesetzten Rückzüge aus den ak-
tuell zu beobachtenden Fremdforderungen immer häufiger auftreten, da bisherige
Entwicklungen zeigen, dass sich Individuen die Felder autonomer Selbstverwirkli-
chung immer wieder neu erstreiten. Der Kampf um Anerkennung ist einer der
wesentlichsten Antriebsfaktoren sozialen Wandels. Die möglichen Folgen dieser
Entwicklung werden sich in veränderten Anspruchshaltungen bzw. einem anderen
Umgang damit niederschlagen und Veränderungen der Anerkennungsbeziehungen
bewirken.
Mittels der individualisierten Handlungslogik, die in dieser Arbeit entwickelt
wurde, werden sich Erweiterungen und Begrenzung des Optionenraums auch wei-
220 Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen

terhin erfassen lassen. Somit ist es möglich, mit ihrer Hilfe auch zukünftige Indivi-
dualisierungsschübe systematisch auf handlungstheoretischer Ebene nachzeichnen.
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