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Urs Luge Grosse Bruder Und Andere Geschichten
Urs Luge Grosse Bruder Und Andere Geschichten
Deutsch
Urs Luger
Große Brüder
und andere Geschichten
L E K T Ü R E F Ü R E R WA C H S E N E
MIT AUDIOS ONLINE
Hueber Verlag
Umschlagfoto: © Getty Images/iStock/Chalabala
Illustrationen: Jörg Saupe, Düsseldorf
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe
Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung
eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag
keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Legende:
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„Wenn ich ehrlich bin, es stimmt. Ich habe das gedacht.“
„Warum?“
„Weil … ich weiß nicht … viele Obdachlose wollen Geld, oder?“
„Ich möchte eigentlich nur die schöne Aussicht genießen.
So wie Sie.“
Natascha ist noch nicht ganz überzeugt, dass der Mann wirklich
nichts von ihr will. Also bleibt sie erst mal ein Stück von ihm
entfernt stehen.
„Waren Sie schon einmal drin?“, fragt der Mann nach einer Weile.
„Nein. Aber ich habe eine Karte für morgen.“
„Sie sind nicht aus Hamburg, oder? Das hört man.“
„Ich komme aus Leipzig. Freunde haben mir das Ticket zum
Geburtstag geschenkt.“
„Freuen Sie sich schon?“
„Ja, Beethovens 6. Sinfonie wird gespielt.“
„Die Pastorale, wie schön.“ Der Mann beginn leise eine Melodie
zu summen.
„Sie kennen das Stück?“
„Warum nicht?“
„Ich weiß nicht, Sie sind obdachlos. Ich hab nicht gedacht, dass …“
„… dass ich mich für Musik interessiere?“
„Sie haben doch sicher andere Probleme. Und Sie können sich
wahrscheinlich auch keine Konzertkarte leisten.“
„Das stimmt“, sagt er. „Aber wissen Sie, ich hatte auch ein Leben,
bevor ich obdachlos wurde.“
„Oh ja, natürlich, bitte entschuldigen Sie.“
Sie schweigen eine Weile. Der Mann summt weiterhin Melodien
aus der Pastorale.
Schließlich fragt Natascha: „Und in Ihrem früheren Leben – da
war Musik wichtig?“
„Ja, sehr. Ich habe Geige gespielt, in einem großen Orchester.“
„Oh, wow, das ist ja toll.“
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„Meine früheren Kollegen spielen heute und morgen in der
Elbphilharmonie.“
„Und deshalb sind Sie hier?“
„Genau.“
Natascha sieht den Mann an.
„Was mit mir passiert ist, wollen Sie wissen, nicht wahr?“,
sagt er.
Sie nickt.
„Ich hatte einen Unfall. Und habe mir die Finger der linken
Hand gebrochen.“
Er zeigt ihr seine Hand.
„Sie sieht eigentlich ganz normal aus.“
„Aber sie funktioniert nicht mehr normal.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich kann die Finger nicht mehr so gut und so schnell bewegen
wie früher. Ich habe oft Schmerzen.“ Der Mann bewegt
vorsichtig seine Finger. „So kann man nicht Geige spielen.“
„Das tut mir sehr leid. Aber … warum sind Sie obdachlos
geworden? Warum haben Sie nicht einfach einen anderen Job
gemacht? Musikmanager, oder so etwas Ähnliches? Wo die
linke Hand nicht so wichtig ist.“
„Ja, das wäre gut gewesen. Aber als ich nicht mehr Geige spielen
konnte, bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich hatte das Gefühl,
mein Leben ist zu Ende. Meine Kollegen vom Orchester waren
sehr nett und wollten mir helfen. Aber ich war wütend. Ich
fand es unfair, dass sie weiter Musik machen konnten und ich
nicht. Ich wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Und dann
kam auch noch der Alkohol. Irgendwann war mir alles egal,
ich bezahlte nicht mal mehr meine Rechnungen. So verlor
ich meine Wohnung. Seit fünf Jahren lebe ich nun auf der Straße.“
„Das tut mir sehr leid“, sagt Natascha noch einmal und schaut
ihn an. „Sie sehen aber gar nicht mehr so … äh … wütend aus.“
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„Das ist alles lange her. Ich habe meinen Frieden gefunden. Man
kann nicht ewig wütend sein, oder? Und mit dem Alkohol habe
ich auch aufgehört.“
„Wollen Sie denn nicht zurück in ein Leben mit Beruf und
Wohnung?“
„Ich weiß es nicht“, sagt der Mann und sieht hinaus aufs Wasser.
„Vielleicht ja, vielleicht nein. Für heute reicht es mir, dass ich
hier bin und weiß, dass drüben in der Elbphilharmonie meine
früheren Kollegen schöne Musik machen.“
„Aber hören können Sie sie nicht.“
„Ich höre sie in meinem Kopf.“
„Wissen Sie was“, sagt Natascha und ist ein bisschen von sich
selbst überrascht. „Hier, nehmen Sie meine Karte. Dann können
Sie morgen die Musik richtig hören.“
„Das geht doch nicht, das ist Ihr Geburtstagsgeschenk.“
„Genau. Und ich kann damit machen, was ich will.“
Sie gibt ihm die Karte.
„Danke! Vielen Dank. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“
„Sie brauchen gar nichts zu sagen. Nur gut zuhören.“
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ÜBUNGEN
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02 2 Große Brüder
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Hayo zog seine Jacke enger um sich. Drinnen war es heiß
gewesen, er hatte getanzt, er war nass vom Schweiß, und
die Nacht war kalt. Keine Wolken am Himmel, nur der
untergehende Mond und die letzten Sterne. Hier gab es keine
öffentlichen Verkehrsmittel, zum nächsten Bus musste er
über eine halbe Stunde gehen.
Bumm, bumm, bumm
Leise, weit entfernt hörte Hayo die Beats noch, dann waren
auch sie weg und vor ihm lag nur die stille, dunkle Straße.
Er erinnerte sich an manche Gebäude, die er auf dem Weg
zum Club gesehen hatte. Doch irgendwann sah alles fremd
aus. Vielleicht, dachte er, machten das die Nacht und seine
Müdigkeit, vielleicht hatte er sich aber auch einfach verlaufen.
Hayo sah auf sein Handy. Er war tatsächlich falsch gegangen.
„Na, wen haben wir denn da? Schön getanzt im Club?“
Er sah erschrocken auf.
Vor ihm stand ein großer Mann mit einer Stange aus Metall
in der Hand und sah ihn unfreundlich an.
„Weglaufen nützt nichts. Ich bin sowieso schneller als du“, sagte er.
Hayo dachte daran, wie lange er getanzt hatte und wie müde er
war – der Mann hatte vermutlich recht. Andererseits, heißt es
nicht: Angst verleiht Flügel? Und Angst hatte er genug.
„Also, du gibst mir jetzt dein Geld, deine Uhr und dein Handy.
Dann bin ich nett und tue dir nichts.“
Hayo holte seinen Geldbeutel aus der Tasche.
„Warum stehst du eigentlich hier?“, fragte er.
„Was willst du damit sagen?“
„Hier kommt doch keiner her.“
„Du bist ja hier.“
„Ich habe mich bloß verlaufen.“
„Willst du mir jetzt sagen, wie ich meinen Job machen soll?“
„Also, Job, ich weiß nicht …“, sagte Hayo vorsichtig.
Angst verleiht Flügel: Wenn man Angst hat, kann man sehr schnell
weglaufen.
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„Klar ist das mein Job. Aber du brauchst so etwas ja nicht zu tun.
Hast einen anderen Job. Was machst du überhaupt so?“
„Ich arbeite als Grafiker bei einer Zeitung.“
„Aha ... Egal. Jetzt her mit dem Geld. Ich habe nicht ewig Zeit.“
„Verstehe, es ist ja auch unglaublich viel los hier. So viele Leute,
und von allen musst du das Geld kassieren.“
Hayo sah sich um. Alles dunkel, alles leer. Sie waren weit und
breit die einzigen auf der Straße.
„Was mich zu meiner Frage zurückbringt: Warum stehst du hier,
warum nicht an einem Platz, wo mehr Leute vorbeikommen?“
Irgendetwas stimmte hier nicht. Das machte Hayo neugierig.
Und die Neugier siegte über die Angst. „Also, jetzt komm schon,
du bekommst ja sowieso mein Geld. Da kannst du mir doch
erzählen, was los ist.“
„Ist ja auch egal, dann erzähle ich es dir eben. Mein großer
Bruder hat den besseren Platz. Ich bin nur der kleine, deshalb
muss ich hier stehen.“
„Das ist unfair.“
„Klar ist das unfair. Aber was soll ich machen?“
„Ich kenne das“, sagte Hayo. „Ich bin auch der jüngere Bruder.
Das ist manchmal nicht lustig.“
„Das ist NIE lustig!“
„Stimmt. Immer habe ich nur seine alten Sachen bekommen.
Seine Kleidung, sein Fahrrad.“
„Wen interessiert schon ein Fahrrad? Ein Auto! Wer hat zu
seinem 18. Geburtstag eines bekommen?“ – „Er wahrscheinlich.“
„Und wer hat keines bekommen?“ – „Du.“
„Ganz genau. Und wenn er etwas kaputt gemacht hat, wem hat
er die Schuld gegeben?“
„Und wer bekam immer das größte Stück von der Torte?“
„Und wer hat immer versucht, mir meine Freundin
auszuspannen?“
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„Und wer hatte immer das schönere Zimmer?“
„Große Brüder!“
„Wirklich das Letzte!“
Es machte Spaß, mit diesem fremden Mann über seinen Bruder
zu schimpfen, aber Hayo war trotzdem müde und wollte nach
Hause.
„Hier, ich gebe dir das Geld“, sagte er, „aber ich behalte meinen
Ausweis, okay?“
„Du brauchst mir gar nichts zu geben, Mann. So von kleinem
Bruder zu kleinem Bruder.“
„Das ist sehr nett, danke! Alles Gute für dich.“
„Gib mir mal dein Handy“, sagte der Mann dann.
Also doch. Das Handy nimmt er, dachte Hayo.
Der Mann zeigte in der App mit dem Stadtplan von Berlin auf
eine Straße in der Nähe.
„Guck mal, da geh nicht lang. Da wartet mein großer Bruder. Der
soll nichts verdienen.“
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ÜBUNGEN
02 1. Auf dem Weg nach Hause. Lesen oder hören Sie die Geschichte
und ergänzen Sie die Adjektive. Achten Sie auf die richtige Form.
falsch •müde•fremd•alt•leer•kalt
a Der Club liegt in einem Industrieviertel.
b Hayo ist sehr .
c Er geht durch die Nacht zum Bus.
d Die Straßen sind .
e Hayo nimmt einen Weg.
f Dort sieht alles aus.
c Warum zeigt der Räuber Hayo einen guten Weg auf der
Karte?
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03 3 Enten
„Da sitze ich nun also wieder. Auf der gleichen Bank, im
gleichen Park. Und ihr? Seid ihr auch die Gleichen wie damals?“
Quak, quak …
Die Enten holen sich die Brotstücke, die Paul auf den Boden
wirft. Weiter hinten hört man Stimmen, aber bei der Bank an
dem kleinen See ist alles ruhig.
„Schon komisch, dass jetzt ich hier sitze und euch füttere
und nicht sie. Ich weiß schon, ihr versteht mich nicht, aber
irgendjemandem muss ich doch alles erzählen, oder?“
Die Enten quaken.
„Also, damals saß sie hier auf der Bank im Englischen Garten,
mit einer Tüte voll trockenem Brot. Und ich kam eigentlich nur
zufällig vorbei. Ich war im Urlaub, dem ersten seit zwei Jahren.
Als junger Journalist hat man nicht viel Zeit für Ferien. Es ist ein
stressiger Job. Man muss immer dranbleiben, sonst bekommt ein
anderer den nächsten Auftrag. Aber trotzdem, ein Urlaub nach
zwei Jahren, das muss doch möglich sein, habe ich mir gedacht.
Und so bin ich nach München gefahren, und mein Hund kam
auch mit. Kennt ihr den noch, Enten? Wegen meines Hundes
habe ich Anja eigentlich erst kennengelernt. Er konnte nie
ruhig sein, hat die ganze Zeit gebellt. So hat er alle Enten verjagt.
Deshalb war sie sauer auf mich, und so sind wir ins Gespräch
gekommen. Vielleicht sollte ich euch sogar danken, dass ihr
damals weggeflogen seid. Sonst wären wir nie …“
Paul lässt seinen Blick über den Park wandern, den See, die
Wiesen und Bäume. Weiter hinten sieht er die beiden Türme der
Frauenkirche und ein paar andere hohe Gebäude.
„Andererseits, wenn ich sie damals nicht kennengelernt hätte,
dann wäre ich jetzt auch nicht hier und wäre nicht so traurig.
Vielleicht wäre es anders besser gewesen, was sagt ihr?“
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Die Enten quaken. Sie laufen herum und streiten sich um die
letzten Stücke Brot.
„Ja, ja, da habt ihr schon recht, das wäre auch keine Lösung. Ich
bin schon froh, dass ich sie damals getroffen habe. Und es hat
ja alles so gut angefangen … wir haben uns mehrmals gesehen,
während ich in München war, und ein wenig später hat sie
mich in Wien besucht. Da wusste ich noch gar nicht so genau,
ob ich überhaupt mit ihr zusammen sein will. Verrückt, oder?
Dass mir das nicht gleich klar gewesen ist.“
Quak, quak …
„Ja, natürlich, das findet ihr auch. Verrückt … Oder quakt ihr
nur, weil das ganze Brot schon wieder weg ist? Keine Sorge,
ich habe noch genug.“
Die Enten laufen aufgeregt durcheinander und stürzen sich
auf das neue Brot.
„So ist es brav, esst nur, wenigstens euch geht es gut. Aber
eines sage ich euch: Als wir uns dann in der Nacht vor dem
Stephansdom in Wien zum ersten Mal geküsst haben, da hatte
ich keinen Zweifel mehr. Da wusste ich genau, was ich will.“
Paul sieht lächelnd hinaus aufs Wasser.
„Ich weiß auch nicht, wann es dann begonnen hat. Wann es
nicht mehr so richtig gestimmt hat zwischen uns beiden.
Am Anfang war ja alles noch gut. Es war bloß ein bisschen
schwierig, weil wir uns so selten gesehen haben. Eine
Fernbeziehung eben.“
Die Enten quaken.
„Ja, genau, so etwas ist gar nicht leicht, da seid ihr nicht die
einzigen, die das so sehen. Anja hatte einen Vertrag an einem
Münchner Theater – sie ist Schauspielerin, habe ich das
nicht erwähnt? Und ich war bei einer Zeitung in Wien. Über
ein halbes Jahr lang haben wir in unterschiedlichen Städten
gelebt. Aber dann habe ich zu einer Zeitschrift nach München
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gewechselt, damit ich mehr mit ihr zusammen sein kann, und
wir sind gemeinsam in eine Wohnung gezogen. War das das
Problem, fragt ihr euch jetzt sicher. Aus der Ferne funktioniert
die Beziehung gut, aber wenn man sich die ganze Zeit sieht,
gibt es Probleme?“
Quak, quak …
„Falsch gedacht, Enten! Es ist super gelaufen.“
Quak, quak …
„Und jetzt seid nicht so ungeduldig, ich erzähle euch ja gleich,
wie dann alles den Bach hinuntergegangen ist. Aber viel zu
erzählen gibt es da ohnehin nicht. Es ist einfach … passiert.
Anja hat die ganze Zeit mit interessanten Schauspielern
zusammengearbeitet. Und die waren nicht nur interessant,
das kann ich euch sagen, manche haben auch wirklich gut
ausgesehen. Naja, ich bin eifersüchtig geworden, ich habe mich
blöd verhalten. Aber sie … bei ihr war es eigentlich gar nicht so
viel anders. Ich bin viel gereist als Journalist, und das hat ihr
nicht gefallen. ‚Kommt deine Kollegin wieder auf die Reise mit?
Die mit den blonden Haaren? Wie lange seid ihr zusammen
weg? Wohnt ihr im gleichen Hotel?‘ Solche Dinge hat sie mich
dauernd gefragt.“
Die Enten quaken.
„So, hier ist mein letztes Brot. Ich muss wohl schnell fertig
werden mit meiner Geschichte. Wenn es nichts mehr zu fressen
gibt, dann seid ihr alle weg, fürchte ich.“
Paul streut die Brotstücke auf den Boden und sieht den Enten
zu, wie sie aufgeregt fressen. Dann erzählt er weiter: „Wir haben
immer öfter gestritten, meine Reisen wurden immer länger.
Und sie ging immer öfter und länger mit ihren Kollegen aus.
Wir waren eigentlich fast nie mehr gemeinsam zu Hause. Und
gestern …“
Eine Träne rinnt über Pauls Wange.
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„Gestern haben wir uns getrennt, nach einem riesengroßen
Streit. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, um was es da
gegangen ist, ich weiß auch nicht mehr, wer sich von wem
getrennt hat. Es war plötzlich da. Und keiner hat etwas dagegen
gesagt. Keiner konnte mehr einen Schritt zurück machen.“
Paul sieht traurig auf den See hinaus.
„Aber eines ist klar: Das war die dümmste Entscheidung meines
Lebens. Ich würde viel dafür geben, wenn ich den Tag gestern
noch einmal leben könnte. Und diesmal besser. Ach was, ich
müsste wohl das ganze letzte Jahr noch einmal leben – aber so
etwas gibt es nur im Film.“
Die Enten quaken.
„Ja, ja, euch ist das egal, ich weiß. Euch interessiert bloß fressen,
fressen, fressen. Aber Pech gehabt: Ich hab kein Brot mehr.“
Paul zeigt den Enten die leere Tüte.
„Ich hätte noch ein bisschen Brot“, sagt da jemand hinter ihm.
„Vielleicht könnten wir die Enten gemeinsam füttern.“
Er dreht sich um.
„Anja …“
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ÜBUNGEN
03 1. Paul und Anja. Was war früher, was ist heute? Lesen oder hören
Sie die Geschichte und kreuzen Sie an.
früher heute
a Paul füttert die Enten im Park. ⚪ ⚪
b Anja füttert die Enten im Park. ⚪ ⚪
c Paul und Anja lernen sich kennen. ⚪ ⚪
d Paul ist wegen Anja traurig. ⚪ ⚪
e Paul lebt in Wien. ⚪ ⚪
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04 4 Mit Mozart in der U-Bahn
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„Sind Sie immer so gekleidet?“, fragte Lin Na.
„Nur wenn ich arbeite.“
„Was arbeiten Sie denn?“
„Ich verkaufe Konzertkarten.“
„Und da müssen Sie aussehen wie Mozart?“
„Ich verkaufe Karten für die Wiener Mozart-Konzerte. Dort
tragen alle Musiker ähnliche Kleidung wie ich jetzt.“ Er streckte
ihr die Hand hin und sagte: „Ich heiße übrigens Raphael.“
„Hallo, ich bin Lin Na.“
„Wollen wir uns nicht duzen?“
„Ich weiß nicht, ob ich das kann: Einen großen Komponisten
duzen …“ Lin Na lachte.
„Weißt du, was das Komische an der Sache ist? Ich studiere
Musik. Ich bin wirklich ein Komponist.“
„Aber nicht Mozart.“
„Nein, leider nicht.“ Er lächelte und fragte dann: „Studierst du
auch in Wien?“
„Nein, ich bin nur zu Besuch hier.“
„Du sprichst aber sehr gut Deutsch.“
„Ich habe auch an einer der besten Hochschulen Chinas Deutsch
studiert. In Shanghai, an der Fudan Universität.“
„Nicht schlecht“, sagte Raphael. „Und was machst du in Wien?“
„Ich besuche eine Freundin, die hier studiert.“
Sie schwiegen eine Zeit lang. In der U-Bahn war es angenehm
warm. Die anderen Leute redeten miteinander, sahen auf ihre
Handys oder saßen einfach da und machten gar nichts.
Dann fragte Lin Na: „Magst du deinen Job?“
„Ich stehe bei jedem Wetter auf der Straße und muss den Leuten,
die vorbeigehen, Konzertkarten verkaufen. Was denkst du?“
„Naja, klingt nicht so toll. Aber wenigstens bist du dabei Mozart.“
Sie lachte.
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„Was hast du in Wien schon alles gemacht?“, fragte Raphael.
„Ach, du weißt schon, das Übliche: Schloss Schönbrunn
angesehen, die Hofburg, das Sisi-Museum. Wie alle Touristen.“
„Warst du auch schon bei der Ruprechtskirche? Oder auf dem
Zentralfriedhof?“
„Auf dem was …?“
„Dem Zentralfriedhof. Das ist der größte Friedhof von Wien.“
„Bist du verrückt?“ Bis jetzt war ihr der junge Mann sehr
sympathisch gewesen, Lin Na hatte sogar gedacht, vielleicht
wäre es nett, ihn ein wenig besser kennenzulernen. Aber warum
redete er jetzt plötzlich von einem Friedhof?
„Warum verrückt? Der Zentralfriedhof ist fast schon eine
Sehenswürdigkeit in Wien. Viele Touristen gehen da hin. Viele
berühmte Leute liegen dort.“
„Auch Mozart?“
„Von Mozart gibt es ein Denkmal bei den Gräbern der anderen
großen Komponisten. Aber sein Grab ist nicht dort.“
„Schade.“
„NÄCHSTE STATION: KENDLERSTRASSE“, hörte man aus dem
Lautsprecher der U-Bahn.
„Oje, ich glaube, ich muss hier raus“, sagte Lin Na. Eigentlich
hätte sie gern noch ein bisschen länger mit diesem seltsamen
jungen Mann geredet.
„Hey, wie lange bist du noch in Wien?“, fragte Raphael. „Wollen
wir uns mal treffen?“
„Hmm … weiß nicht. Was möchtest du denn machen?“
„Ich habe gehört, es gibt da Konzerte mit Musikern, die alle
aussehen wie Mozart. Die sollen sehr gut sein. Und zufällig weiß
ich, wo man tolle Karten bekommt.“
„Also gut … einverstanden. Aber nur, wenn du mit dieser
Kleidung zum Konzert kommst.“
„Mit dieser …? Nur die Musiker tragen dort so etwas, nicht das
der Friedhof: dorthin bringt man das Grab: an der Stelle liegt auf dem
die Menschen, wenn sie tot sind Friedhof ein Toter in der Erde
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Publikum. Das wäre ziemlich peinlich.“
„Trotzdem, so oder gar nicht.“
„Also gut.“
„Das wird sicher lustig“, sagte Lin Na und schrieb Raphael ihre
Telefonnummer auf. Dann stieg sie aus.
Ich habe einen schlechten Job und wirklich seltsame Kleidung,
dachte Raphael. Aber ich habe eine nette Frau kennengelernt.
„Danke, Mozart!“
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ÜBUNGEN
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05 5 Nur zwei Eis?
Das Mädchen hat ein Eis in der Hand und sieht die alte Dame
mit großen Augen an.
„Schmeckt dir Eis auch?“, fragt sie dann.
„Klar, wer mag Eis nicht?“
„Ich weiß nicht, vielleicht hat es noch gar kein Eis gegeben,
als du ein Kind warst.“
„So alt bin ich nun auch wieder nicht“, sagt die Frau lachend.
„Aber du hast ganz weiße Haare.“
„Stimmt.“
„Und du hast ganz viele Falten im Gesicht.“
„Stimmt auch.“
„Also bist du alt. So alt wie meine Oma. Vielleicht sogar noch älter.“
„Also gut, du hast recht, ich bin gaaanz alt.“
Das Mädchen lacht.
„Und das Eis?“, fragt sie dann. „Hat es das schon gegeben, als du
jung warst?“
„Hat es schon gegeben. Aber ich habe nicht oft Eis bekommen.“
„Warum nicht?“
„Wir hatten wenig Geld. Und Eis war damals ziemlich teuer“,
sagt die Frau.
„Das ist schade. Wie oft hast du denn Eis gegessen?“
„Vielleicht zwei oder drei Mal pro Jahr.“
Das Mädchen macht große Augen.
„Waaas? Das glaube ich dir nicht.“
„Warum nicht?“
„Das ist viel zu wenig.“
„Wie oft isst du denn Eis?“
„Also, gestern habe ich ein Eis bekommen. Und heute. Das sind
schon mal zwei. Am Sonntag auch. Und davor weiß ich es nicht
mehr.“
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„Da hast du aber Glück.“
„Mein Freund Marco bekommt noch öfter Eis als ich“, sagt das
Mädchen.
„Das ist dann aber wirklich sehr oft.“
„Marco hat auch ganz schlechte Zähne. Er hat schon ein Loch
hier.“ Das Mädchen zeigt in ihren Mund.
„Alles wegen dem Eis?“
„Nein, auch wegen der Schokolade. Marco isst jeden Tag
Schokolade.“
Das Mädchen schleckt wieder an ihrem Eis.
„Möchtest du auch?“, fragt sie dann und hält der alten Frau ihr
Eis hin.
„Nein, danke. Aber das ist sehr nett von dir.“
„Meine Mama sagt immer: Wir sollen die guten Sachen teilen,
dann werden sie noch besser.“
„Da hat sie recht, deine Mama.“
„Eigentlich stimmt es nicht“, sagt das Mädchen und zuckt mit
den Schultern. „Das Eis schmeckt genau gleich, egal, ob ich es
allein esse oder dir auch etwas gebe.“
Sie schleckt wieder.
„Vielleicht kauft meine Mama dir auch ein Eis. Weil du so
wenig Geld hast.“
„Das ist schon okay. Ich habe heute mehr Geld als früher.“
„Bist du reich?“
„Nein, aber ich habe genug Geld.“
„Da hast du aber Glück! Meine Mama hat nie genug. Immer
jammert sie: Das muss ich noch bezahlen, und das muss ich
noch kaufen. Und dafür brauche ich noch Geld. Und für den
Urlaub muss ich auch noch sparen.“
„Wo ist denn eigentlich deine Mama?“
Die Frau sieht sich um. Es sind ziemlich wenige Leute im Park.
Und sie sieht keine junge Frau, die allein ist.
schlecken: mit der Zunge mit den Schultern zucken: die Schultern
essen schnell hinauf- und hinunterbewegen.
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„Ich weiß nicht“, sagt das Mädchen. „Ich habe sie schon eine
Weile nicht mehr gesehen.“
„Schon lange?“
„Ja, sehr lange.“
„Hast du sie verloren?“
„Wieso verloren? Man kann seine Mama doch nicht verlieren.
Ein Spielzeug kann man verlieren. Oder vielleicht seinen
Rucksack für den Kindergarten.“
„Aber wo ist denn dann deine Mama?“
Die Frau wird ein bisschen nervös.
Das Mädchen zuckt mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Habe ich doch gesagt.“
„Ist sie vielleicht einkaufen?“
„Vielleicht.“
„Oder ist sie hier im Park?“
„Das glaube ich nicht. Dann wäre mein Papa böse auf sie.“
„Warum wäre er böse?“
„Er mag es nicht, wenn meine Mama da ist.“
Das Mädchen schleckt wieder an ihrem Eis. Sie sieht ein
bisschen traurig aus.
„Das … verstehe ich nicht“, sagt die Frau.
„Das ist doch nicht schwer zu verstehen. Bei Jonas ist es
genauso. Und bei Elsa auch.“
Die alte Frau sieht das Mädchen fragend an.
„Die Eltern von Jonas und Elsa sind auch geschieden.“
„Ach so. Und dein Papa“, fragt die Frau dann, „ist der hier im
Park?“
„Ja klar, was denkst du denn?“ Das Mädchen lacht.
„Papa!“, ruft sie und winkt einem Mann, der zwei Bänke weiter
sitzt und ein Buch liest.
Er winkt zurück, packt sein Buch ein und kommt zu ihnen.
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„Guten Tag“, sagt er. „Na, Amelie, hast du eine neue Freundin
gefunden?“
„Ja, aber weißt du was? Sie isst fast gar kein Eis. Nur zweimal
im Jahr.“
27
ÜBUNGEN
05 2. Welche Antwort passt? Lesen oder hören Sie die Geschichte und
ordnen Sie zu.
a Warum macht die alte Frau sich Sorgen?
1 ⚪ Sie glaubt, dass Amelie zu viel Eis isst und das ist ungesund.
2 ⚪ Sie glaubt, dass Amelies Vater böse auf sie ist.
3 ⚪ Sie glaubt, dass Amelie ihre Mutter verloren hat.
b Warum ist es für Amelie ganz normal, mit ihrem Vater im Park
zu sein?
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06 6 Ich kaufe mir den Mond
Als zwei Polizisten kommen, sagt Jan: „Endlich, die Polizei! Sie
können mir sicher helfen. Wo wohnen denn in Freiburg die
reichen Leute? Sie wissen schon, um sie auszurauben …“
„Den nehmen wir gleich mit“, sagt der Polizist zu seiner Kollegin.
„Ja, besser vorsichtig sein. Die Chefin soll entscheiden, was wir
mit ihm machen. Bringen wir ihn ins Polizeipräsidium.“
„So, und jetzt erklären Sie mir mal genau, was Ihr Plan ist“, sagt
sie zu Jan, nachdem sie losgefahren sind.
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„Mein Plan ist ganz einfach: Ich gehe in die Häuser der Reichen
und nehme Geld und Schmuck mit. Und vielleicht auch Kuchen.
Kuchen mag ich nämlich sehr. Besonders Schokoladenkuchen.
Sicher haben manche von den Reichen Schokoladenkuchen zu
Hause, was denken Sie? … Und Sie, mögen Sie auch Kuchen?“
„Jeder mag Kuchen“, sagt die Polizistin.
„Das stimmt nicht, meine Tante Frieda mag Kuchen nicht
besonders gern. Aber wenn ich sie besuchen komme, dann bäckt
sie trotzdem immer einen. Ist das nicht eine liebe Tante?“
Die beiden Polizisten sehen sich fragend an.
„Aber zurück zu meinem Plan“, sagt Jan und holt ein paar
Plastiktüten aus seinem Rucksack. „Schauen Sie, ich habe genug
zum Tragen mitgenommen. Was denken Sie, wie viel passt in
eine Tüte? 3 Millionen Euro? 5 Millionen? Und dazu noch ein
Schokoladenkuchen. Oder sogar zwei. Später fahre ich dann mit
dem Zug in die Schweiz. Dort wohnen auch viele reiche Leute,
habe ich gehört.“
Die Polizistin sieht Jan lange an und sagt dann leise zu ihrem
Kollegen: „Ich glaube, der ist verrückt.“
„Mit dem Geld kaufe ich mir ein Schloss, und dort lebe ich mit
meiner Prinzessin. Und wenn noch genug übrig ist, kaufe ich
mir den Mond.“
„Ich glaube nicht, dass der irgendwelche Probleme machen
wird“, sagt der Polizist und schüttelt den Kopf.
„Und wenn der Mond einmal mir gehört“, redet Jan weiter, „dann
lasse ich ihn nur für mich scheinen. Und erst wenn mir jeder
Mensch auf der Erde viel Geld gegeben hat, darf er wieder für
alle scheinen. Mit diesem Geld kaufe ich dann die Sonne. Und
die … Naja, Sie können es sich denken.“
Sie bleiben vor dem Präsidium stehen.
„Ich glaube, den lassen wir laufen“, sagt die Polizistin und tippt
sich mit dem Finger an die Stirn.
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„Sie können gehen“, sagt sie zu Jan.
„Gehen? Einfach so? Das ist schade. Ich finde Sie eigentlich nett.
Ich wollte Ihnen sogar etwas von meinem Schokoladenkuchen
geben.“
„Bitte steigen Sie aus.“
Jan sieht das Polizeiauto wegfahren und lächelt. Dann überquert
er hinter dem Polizeipräsidium die Berliner Allee, geht in die
Wilmersdorfer Straße und klingelt bei Nummer 14a.
Eine ältere Frau öffnet die Tür.
„Hallo Jan, komm doch herein“, sagt sie und umarmt ihn.
„Du warst aber schnell hier! Hast du ein Taxi vom Bahnhof
genommen?“
„Hallo Tante Frieda, nein, das war gar nicht nötig. Zwei
Polizisten haben mich vom Bahnhof mitgenommen.“
„Das ist aber nett von ihnen! Und jetzt komm, setz dich, ich
habe Schokoladenkuchen gebacken.“
31
ÜBUNGEN
06 1. Ankunft auf dem Bahnhof. Lesen oder hören Sie die Geschichte
und ergänzen Sie die passenden Wörter.
a Jan fährt mit dem Zug nach .
b Jan bittet die Leute am Bahnhof um .
c Jan möchte reiche Leute .
d Die ältere Frau glaubt, dass Jan einen macht.
e Doch ein Mann ruft wegen Jan die .
2. Was gehört nicht zu Jans „Plan“, von dem er der Polizei erzählt?
Streichen Sie durch.
den Mond kaufen die Sonne kaufen
ein Schloss kaufen reiche Leute ausrauben
die Schweiz kaufen der Plan
dicke Autos stehlen
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07 7 Den Strand entlang
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Bei der Ruine wollen sie sich treffen, aber wird Matteo wirklich
kommen? Er ist kein Frühaufsteher, das hat er immer gesagt. Er
mag die Nacht lieber, die Lichter in den Straßen, in den Fenstern
der Bars und Cafés. Er mag es, wenn sich der Mond im Meer
spiegelt, wenn man am Wasser sitzt und den Wellen zuhört und
der Musik aus den Strandcafés.
Sie, Sarah, mag eigentlich beides, Abend und Morgen, aber ein
bisschen lieber den Morgen. Wenn die Luft noch frisch ist,
die Sonne noch neu, wenn die Stadt noch schläft, so wie jetzt,
wenn man Pläne für den Tag machen kann, wenn alles möglich
scheint.
Und sie mag Matteo, sie mag ihn sogar sehr. An ihrem letzten
gemeinsamen Abend, vor zwei Tagen, haben sie sich an den
Händen gehalten, und sie haben sich geküsst. Und wer weiß,
vielleicht werden sie sich heute wieder küssen, zwischen den
Steinen der Ruine, und nur der blaue Himmel, die Sonne und
die Vögel, die weit oben ihre Kreise ziehen, werden zusehen.
Sarah möchte noch einmal Matteos Hand in ihrer spüren, seine
Lippen auf ihren, aber sie möchte es gleichzeitig auch nicht.
Es wird alles nur schwerer machen. Den Abschied. Denn genau
das wird es heute sein, ihr Abschied.
Natürlich, sie hat seine Nummer und er ihre, sie werden
telefonieren und Nachrichten schreiben, oft, das haben sie sich
versprochen. Er wird jeden Tag an sie denken und sie an ihn.
Im nächsten Jahr werden sie sich wiedersehen, und wer weiß,
vielleicht auch schon früher. Sarah wird Italienisch lernen, sie
hat sich schon online für einen Kurs angemeldet.
Und im nächsten Jahr wird sie nicht nur Urlaub hier machen, sie
wird länger bleiben, sich für einen Ferienjob bewerben, in einem
Café vielleicht, wie Matteo, dann haben sie den ganzen Sommer
für sich.
Aber bis zum nächsten Jahr ist es noch lang.
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Sarah geht weiter den Strand entlang, und sie weiß schon, was
ihre Eltern sagen werden, sie kann es jetzt schon hören: Bist
du denn überhaupt in Matteo verliebt, so richtig in ihn? Im
Urlaub fühlt sich doch alles besser an – wenn man gemeinsam
über den Strand geht, die Luft nach Salz und Wasser riecht
und die Sonne langsam untergeht. Aber wenn man wieder zu
Hause ist, im normalen Leben, sieht alles ganz anders aus. Und
sie werden sagen: Es gibt noch so viele andere Jungen, auch
in der Schweiz, du wirst dich neu verlieben, es wird nicht
funktionieren mit Matteo, Italien ist zu weit entfernt. So war es
doch auch bei deinen Freundinnen Leonie und Emma, im letzten
Jahr. Beide haben im Urlaub einen netten Jungen kennengelernt,
beide waren verliebt, beide haben, zurück in Zürich, schnell den
Kontakt verloren. Warum sollte es bei dir anders sein?
Aber dann halte ich mir einfach die Ohren zu, denkt Sarah
und lacht.
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Sarah ist jetzt schon fast bei der Ruine und geht ein wenig
schneller. Sie spürt noch den Sand sanft unter ihren Füßen,
sieht die Sonne, die höher steigt, hört die Wellen, wie sie an
den Strand laufen. Aber das ist alles nicht mehr so wichtig.
Wichtig ist jetzt nur noch, ob hinter den alten Mauern Matteo
auf sie wartet, ob sie ihn noch ein letztes Mal sehen kann,
spüren, noch einmal seine Hand halten. Bevor sie zurück ins
Hotel muss, einpacken, auschecken, ins Taxi, ins Flugzeug,
zurück nach Zürich, weit weg, immer weiter weg von Matteo
und dem Meer.
Jetzt steht sie vor der Ruine und hat ein bisschen Angst
hineinzugehen. Was, wenn er nicht da ist? Wenn sie für ihn
nichts weiter ist als eine Touristin wie viele andere auch? Ein
Mädchen, das er küsst und gleich wieder vergisst, wenn sie
abreist?
Weit entfernt, am Rand der Stadt, sieht sie jemanden auf einem
Moped. Er fährt in ihre Richtung und winkt. Aber winkt er ihr?
Ist das wirklich …? Er ist noch so weit entfernt.
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ÜBUNGEN
07 1. Sarah und Matteo. Lesen oder hören Sie die Geschichte und
antworten Sie mit Stichworten.
Sarah Matteo
a Wo lebt er/sie?
b Welche Tageszeit
mag er/sie?
c Was macht er/sie
in Italien?
d Was hat er/sie
am letzten Abend
gemacht?
2. Wie geht es mit Sarah und Matteo weiter? Was denkt Sarah und
was ihre Eltern? Kreuzen Sie an.
Sarah Eltern
a Sarah und Matteo bleiben zusammen. ⚪ ⚪
b Sarah lernt Italienisch. ⚪ ⚪
c Sarah verliebt sich neu. ⚪ ⚪
d Sarah und Matteo telefonieren oft. ⚪ ⚪
e Sarah verliert schnell den Kontakt mit Matteo. ⚪ ⚪
f Sarah macht einen Ferienjob in Italien. ⚪ ⚪
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08 8 Bist du traurig?
Die Musik kam aus dem Lautsprecher hinter ihr, ein paar
Meter weiter hörte sie schon das nächste Weihnachtslied.
Ihr Kinderlein kommet, so kommet doch all …
Manche Leute liefen gestresst an ihr vorbei, wollten schnell
ein paar schöne Weihnachtsgeschenke finden. Andere gingen
langsam und sahen sich die Stände genau an. Und viele
waren einfach nur auf dem Striezelmarkt, um gemeinsam mit
Freunden einen heißen Tee zu trinken und ein Stück Stollen
zu essen.
Charlotte hatte keinen Stress. Sie hatte alle Zeit der Welt.
Aber froh war sie darüber nicht.
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Sie setzte sich auf eine Bank in der Nähe des Weihnachts-
markts. Hier konnte man noch gut die Musik, die Stimmen
und das Lachen der Kinder hören und die heißen Getränke und
Bratwürste riechen. Aber Charlotte war mit ihren Gedanken
weit weg und bemerkte es kaum.
Da stand plötzlich er vor ihr: dick, rote Jacke, rote Hose, weißer
Bart, eine rote Mütze auf dem Kopf und dazu ein großer leerer
Sack. Der Weihnachtsmann.
„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte er.
„Meinetwegen“, sagte Charlotte und machte Platz.
Der Weihnachtsmann setzte sich und sagte: „Du siehst traurig
aus.“
Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Dass jetzt irgendein Typ, der
sich als Weihnachtmann verkleidet hatte, mit ihr über ihre
Gefühle reden wollte.
„Und du siehst müde aus“, sagte sie.
„Klar bin ich müde. Was denkst du denn? Weihnachten kommt
bald. Das ist jedes Jahr ein Riesenstress.“
„Aber dafür wirst du sicher auch nicht schlecht bezahlt, oder?“
„Wieso bezahlt?“, fragte der Weihnachtsmann. „Da geht es doch
nicht ums Geld.“
„Ja klar, du machst das alles bloß, weil du so ein netter Typ bist.“
„So … äh … könnte man das vielleicht sagen.“
Sie saßen eine Weile still nebeneinander.
„Also, warum bist du traurig?“, versuchte es der Weihnachts-
mann noch einmal.
Der gibt nicht auf, dachte Charlotte.
„Also gut, es ist ja kein Geheimnis“, sagte sie dann. „Ich habe
vor Kurzem meinen Job verloren. Das ist nicht so toll, ein paar
Tage vor Weihnachten.“
„Oje, das tut mir leid!“
„Vielleicht kannst du mir ja einen neuen Job zu Weihnachten
bringen?“
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„Ich glaube, das funktioniert nicht.“
„Kein Job in deinem großen Sack?“
Der Weihnachtsmann schaute hinein. „Nein, ich fürchte nicht.“
„Der ist ja sowieso leer. Hast du heute schon Feierabend?“
„Nein, ich mache bloß eine kleine Pause. Bevor ich die nächsten
Geschenke austeile. Und weißt du, ganz leer ist mein Sack nie.
Möchtest du vielleicht einen heißen Tee?“
„Klar, wenn du mich einlädst.“
Der Weihnachtsmann zog einen Becher Tee aus seinem Sack.
„Aber pass auf, der ist noch ganz heiß.“
„Wo hast du den denn ...? Na egal, vielen Dank.“
Sie kostete vorsichtig. Heiß und süß, sehr gut.
„Möchtest du auch ein Lebkuchenherz dazu?“
„Warum nicht.“
Er holte ein großes Herz aus seinem Sack. Für Charlotte stand
darauf. Frohe Weihnachten.
„Wie hast du denn das gemacht? Da steht ja mein Name drauf.“
„Klar, ist ja auch für dich.“
„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte Charlotte. „Bist du
einer von diesen Verrückten?“
„Ich soll verrückt sein, bloß weil dein Name auf dem Herz steht?“
„Läufst du mir nach?“
„Klar bin ich dir nachgelaufen. Du hast so traurig ausgesehen.
Da musste ich doch etwas tun.“
„Das finde ich jetzt ein bisschen unheimlich. Ich will deine
Hilfe nicht.“
Charlotte stand auf.
„Viel kann ich dir sowieso nicht helfen. Kein Job in meinem
Sack. Ich kann dir nur diesen wirklich leckeren Lebkuchen
geben. Willst du ihn nicht mal probieren?“
Der Lebkuchen sah wirklich gut aus und roch wunderbar.
„Meinetwegen. Was kann schon Schlimmes passieren?“
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Charlotte setzte sich wieder und nahm einen Bissen von dem
großen Lebkuchenherz.
Sie kaute langsam und schmeckte all die Gewürze, die sie
schon als Kind geliebt hatte. Sie dachte an die vielen schönen
Weihnachten als kleines Mädchen, an die Kerzen auf dem
Weihnachtsbaum, die Plätzchen, die Geschenke,
die Weihnachtslieder.
Sie nahm noch einen Bissen und dann noch einen. Und je
mehr sie aß, desto fröhlicher wurde sie. Sie bemerkte wieder
die Musik und das Lachen vom Striezelmarkt, sah die Lichter.
Und sie hatte plötzlich Lust, selbst wieder dort hinzugehen. Ihr
Problem würde das nicht lösen, aber es würde Spaß machen,
ein oder zwei Stunden lang nicht über die schwierigen Dinge
im Leben nachzudenken.
Der Weihnachtsmann war aufgestanden.
„Du gehst schon?“, fragte sie und war fast ein bisschen enttäuscht.
„Ja, tut mir leid, ich habe heute noch Einiges zu tun.“
„Verstehe schon, Weihnachtsstress …“, sagte Charlotte und lachte.
Sie blieb noch kurz sitzen, trank ihren Tee aus und ging dann
zurück zum Striezelmarkt.
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ÜBUNGEN
2. Der Weihnachtsmann. Richtig (r) oder falsch (f)? Kreuzen Sie an.
r f
a Der Weihnachtsmann setzt sich zu Charlotte. ⚪ ⚪
b Er verdient viel Geld als Weihnachtsmann. ⚪ ⚪
c Er möchte Charlotte helfen, weil sie traurig ist. ⚪ ⚪
d Er besorgt Charlotte einen tollen Job. ⚪ ⚪
e Er schenkt ihr heißen Tee und ein Lebkuchenherz. ⚪ ⚪
f Charlotte freut sich, dass ihr Name auf dem
Herz steht. ⚪ ⚪
g Der Lebkuchen erinnert sie an Weihnachten in
ihrer Kindheit. ⚪ ⚪
h Nachdem Charlotte den Lebkuchen gegessen hat,
geht sie nach Hause. ⚪ ⚪
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Das große Geschichten-Quiz
2 Große Brüder
a Warum begegnet Hayo dem Räuber?
A ⚪ Er möchte ihn treffen, weil er ein alter Freund ist.
B ⚪ Die App auf seinem Handy zeigt den falschen Weg.
C ⚪ Der Räuber läuft ihm nach.
D ⚪ Hayo verläuft sich und geht den falschen Weg.
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3 Enten
a Wo sitzt Paul und füttert die Enten?
A ⚪ Bei der Frauenkirche.
B ⚪ Beim Stephansdom.
C ⚪ An einem Fluss.
D ⚪ Im Englischen Garten.
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5 Nur zwei Eis?
a Warum hat die alte Dame als Kind selten Eis gegessen?
A ⚪ Ihre Familie hatte nicht viel Geld.
B ⚪ Sie hatte sehr schlechte Zähne.
C ⚪ Sie mochte kein Eis.
D ⚪ Damals gab es noch kein Eis.
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7 Den Strand entlang
a Wo wollen Sarah und Matteo sich treffen?
A ⚪ Am Strand.
B ⚪ Bei einer Ruine.
C ⚪ In Matteos Café.
D ⚪ In Sarahs Hotel.
8 Bist du traurig?
a Warum ist Charlotte traurig?
A ⚪ Sie mag Weihnachten nicht.
B ⚪ Sie hat ihren Job verloren.
C ⚪ Sie bekommt keine Geschenke zu Weihnachten.
D ⚪ Der Weihnachtsmann interessiert sich nicht für sie.
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LÖSUNGEN
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LÖSUNGEN
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