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Fragen wie der nach Handlungsspielräumen für Meisterswitwen und zur Wertung

„der“ frühneuzeitlichen Zunft als eigennützig-elitärer Institution. Mit der Frage


nach dem Disziplinierungspotential sozialer Unterstützung innerhalb der Korpora-
tionen sowie nach der Relevanz interner sozialer Differenzierung für die Chance auf
den Erhalt von Unterstützungsleistungen werden Perspektiven für weitere Studien
aufgezeigt. Ebenso wäre dem Phänomen der Sterbekassen, die im 18.Jh. in kursäch-
sischen Städten weit verbreitet waren, in einem gesamtstädtischen und regional
weiter gefassten Kontext noch weiter nachzugehen.

Heinrich Bullinger Werke. Abt.2: Briefwechsel. Bd. 15. Briefe des Jahres 1545.
Bearb. v. Reinhard Bodenmann, Alexandra Kess, Judith Steiniger. Unter Benützung
der Abschriften v. Emil Egli u. Traugott Schieß. Philologische Beratung durch
Ruth Jörg. Zürich, Theologischer Verlag Zürich 2013. 746 S., € 138,–.
// doi 10.1515/hzhz-2014-1473
Thomas Kaufmann, Göttingen

Unter den umfänglicheren reformationsgeschichtlichen Briefeditionen, die derzeit


im Erscheinen begriffen sind, dürfte der vom Institut für Schweizerische Reforma-
tionsgeschichte in Zürich bearbeitete Bullinger-Briefwechsel diejenige sein, die das
meiste bisher unbekannte Textmaterial zu bieten hat, den weitesten geographi-
schen Horizont umspannt und die größte Zahl an Korrespondenten vereinigt. Ähn-
lich wie bei anderen Reformatoren wuchs auch bei dem Zürcher Antistes die Menge
der Briefe und mit ihnen die Zahl der Kontexte und die Weite des europäischen Ho-
rizontes mit fortschreitendem Alter; bald, so fürchtet man, wird die Korrespondenz
eines Jahres nicht mehr zwischen zwei Buchdeckel zu bannen sein. Der schon jetzt
über eine vorbildlich nutzbare online-Datenbank (http://www.irg.uzh.ch/
hbbw.html) verfügbare Bestand der ersten vierzehn Bände der Briefedition macht
den lange im Schatten Zwinglis stehenden Bullinger nun zu einer der am besten stu-
dierbaren Gestalten der Reformationsgeschichte überhaupt.
Mustergültig ist die Edition des Bullinger-Briefwechsels nicht nur hinsichtlich
der Stetigkeit und Zügigkeit ihres Erscheinens – der mit 259 Einzelstücken und 80
Korrespondenten reiche Band erscheint zwei Jahre nach dem stattlichen Vorgänger-
band –, sondern auch in Hinblick auf die sich weiterentwickelnde Pragmatik der
Edition selbst. Dann, wenn vertretbare Ausgaben von Bullingerbriefen bereits in gut

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zugänglichen Editionen des 19.–21.Jahrhunderts vorliegen, beschränkt man sich
auf eine Zusammenfassung der Texte. (Vollständig überzeugend sind die dabei ent-
stehenden Effizienzgewinne allerdings nicht; denn inskünftig muss man etwa die –
nicht ganz leicht zugängliche! – Vadian-Korrespondenz hinsichtlich der in ihr ent-
haltenen Bullingeriana zusammen mit diesem Band benutzen. Deshalb wäre es
wünschenswert, wenn man in der Onlineversion künftig alle Volltexte zugänglich
machen würde.) Dem allgemeinen Rückgang profunder Lateinkenntnisse begegnet
man seit diesem Band durch über die bisherigen Regesten deutlich hinausgehende
gründliche Zusammenfassungen, die schwierigere Passagen ausführlich erläutern;
die Abschnitte des jeweiligen Briefes und der Zusammenfassung sind jetzt typogra-
phisch aufeinander abgestimmt, so dass man leicht zwischen beidem hin- und her-
wechseln kann. Neu ist auch eine ausführliche inhaltliche Einleitung in den Gehalt
des gesamten Briefmaterials eines Bandes, die die zum Teil sehr disparaten Kontexte
von Bullingers Wirken in einen allgemeinen reformationsgeschichtlichen Horizont
stellt.
Die Suchfunktionen der Onlineversion erlauben thematische und prosopogra-
phische ‚Tiefenbohrungen‘, die bisher eher in Tagen als in Stunden zu leisten gewe-
sen wären. An dem Bullinger-Briefwechsel sieht man in eindrucksvoller Weise, wie
sich ein editorisches Langzeitvorhaben – finanziert durch den Schweizerischen Na-
tionalfonds – behutsam, aber konsequent zu ‚modernisieren‘ und die Chancen der
Digitalisierung zu nutzen vermag, ohne an seinen ureigensten historisch-philologi-
schen Standards Schaden zu nehmen.
Der vorliegende Band enthält Dokumente zu einer Reihe sehr interessanter The-
men und Konstellationen, die von allgemeinem reformationsgeschichtlichen Inte-
resse sind: Er spiegelt das Ringen der Schweizer mit und um eine Antwort auf
Luthers Kurzes Bekenntnis (1544), dem wahnwitzig polemischen testimonialen ‚Va-
let‘ des Wittenberger Reformators in Richtung auf die ‚Sakramentierer‘, und er re-
flektiert die politischen Spannungen und Kompromisse innerhalb der Eidgenossen-
schaft, die sich aus der Verweigerung der protestantischen Kantone gegenüber einer
Heiligennamen enthaltenden traditionellen Eidesformel ergaben. Der Band bezeugt
die enge Verbindung zwischen Konstanz (vor allem Ambrosius Blarer, auch Konrad
Zwick) und Zürich – in dieser Phase die wichtigste theologie- und konfessionspoli-
tische Brücke zwischen Deutschland und der Schweiz, die auch von dem einen kai-
serlichen Angriff fürchtenden Schmalkaldischen Bund ‚betreten‘ wurde; auch unter
dem Gesichtspunkt der Buchdistribution und der ‚Netzwerkbildung‘ war Konstanz

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für Bullinger wichtig. Sodann lässt das Briefmaterial des Jahres 1545 erneut das an-
haltend komplizierte Verhältnis zwischen der Zürcher und der Basler Kirche, zwi-
schen Bullinger und Myconius zutage treten. Instruktiv sind hier auch manche Ein-
zelheiten: Noch drei Jahre nach seinem Tod geisterte Karlstadts „larva“ (Nr.2116,
S.200,2) durch Basel; auch im Verhältnis zu Schwenckfeld dachten die beiden Antis-
tes unterschiedlich; Basel, der europäische Zielort vieler Glaubensflüchtlinge, war
auch eine wichtige Informationszentrale über das niederländische Täufertum.
Die kirchen- und allgemeinpolitischen Themen, auf die im Spiegel der Bullinger-
Korrespondenz ein spezifisches Licht fällt, sind die auch sonst bekannten: Die wach-
senden Spannungen zwischen Karl V. und den Protestanten im Reich im Vorfelde
des Schmalkaldischen Krieges und die Kontakte der schmalkaldischen Bundesver-
wandten zur Eidgenossenschaft; die Konzilsfrage infolge der päpstlichen Einladung
nach Trient; die militärisch-politischen Konflikte um die Restitution Braunschweig-
Wolfenbüttels; die Bedrohungsängste der Eidgenossen durch einen übermächtigen
habsburgischen Kaiser; das Kölner Reformationsexperiment Hermann von Wieds.
Unbestechlich war Bullinger in seinem konfessionspolemischen Urteil über den
Papst, den er für den antichristlichen Drahtzieher hinter allen Bedrohungen hielt,
gleichviel ob es um politische Manöver Karls V. und Franz’ I. oder um ein Massaker
an den Waldensern in der Provence und Verfolgungen in den Niederlanden ging.
Von unverzichtbarer Bedeutung wird der Band für jede künftige Beschäftigung
mit theologiegeschichtlichen Fragen sein. Wie breit das Meinungsspektrum unter
den ‚reformierten‘ Theologen in Bezug auf die Umgangsweise mit Luthers unsägli-
chem Kurzen Bekenntnis war, ist erst durch diese Edition wirklich erkennbar. Inso-
fern bietet dieser Band wichtiges Material für die Rekonstruktion der Genese des re-
formierten Protestantismus und der spezifischen Bedeutung Bullingers in diesem
Prozess.
Auch in handwerklicher Hinsicht liegt eine hervorragende reformationsge-
schichtliche Edition vor. Die philologische Akribie und Verlässlichkeit der Textprä-
sentation, die Präzision der Kommentierung und der zusammenfassenden Inhalts-
erschließung, die Zuverlässigkeit der Datierungen und der Kontextualisierungen –
all dies kann nicht genug gelobt werden. Dieser Band des Bullinger-Briefwechsels
zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass eine gehaltvolle Edition neue wissenschaftli-
che Perspektiven zu eröffnen vermag. Das Unternehmen hat noch dreißig Jahrgänge
mit immer weiter wachsenden Quantitäten vor sich – eine wahrhaft herkuleische
Aufgabe, die ein ermutigendes ‚weiter so!‘ ebenso verdienen wie benötigen dürfte.

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Gigliola Fragnito, Storia di Clelia Farnese. Amori, potere, violenza nella Roma
della Controriforma. (Biblioteca storia.) Bologna, il Mulino 2013. 329 S., € 25,–
// doi 10.1515/hzhz-2014-1474
Arne Karsten, Wuppertal

Über den „gran Cardinale“ Alessandro Farnese (1520–1589), Enkel Papst Pauls III.
(1534–1549) sagten die Zeitgenossen, er gebiete über die drei schönsten Dinge Roms:
den Palazzo Farnese an der gleichnamigen Piazza, die von ihm gestiftete Jesuiten-
Kirche Il Gesù – und seine Tochter Clelia. Palast wie Kirche sind inzwischen zahlrei-
che wissenschaftliche Studien gewidmet, während die schöne Clelia bisher ein
postumes Mauerblümchendasein geführt hat. Das ändert sich nun durch die glän-
zende Studie, in der sich Gigliola Fragnito mit dem Leben dieser illegitimen Tochter
eines der einflussreichsten Kardinäle seiner Zeit beschäftigt.
Um es kurz zu machen: Das Buch stellt geradezu das erreichte Ideal einer moder-
nen, kulturgeschichtlich-multiperspektivischen Biographie auf dem aktuellen
Stand der Forschung dar. Es liest sich spannend, denn die Autorin versteht es, ihre
profunde Quellen- und Sachkenntnis im Dienste einer anschaulichen, immer wie-
der auch sensibel interpretierenden Darstellung der Persönlichkeit Clelia Farneses
(1557–1613) einzusetzen. Doch die Beschäftigung mit der Protagonistin, ihrer halb
im Verborgenen, außerhalb Roms, verbrachten Kindheit, ihrer Heirat mit dem römi-
schen Aristokraten Giovan Giorgio Cesarini, ihrer Rolle in der römischen „guten Ge-
sellschaft“ und im Kontext der väterlichen (nicht erfüllten) Ambitionen auf die Tia-
ra, mit ihrem Leben nach dem frühen Tod des ersten Ehemanns und der zweiten Hei-
rat mit dem Ferrareser Marchese Marco Pio di Savoia – diese ganze detaillierte
Schilderung eines zugleich begünstigten und bedrohten Lebenswegs dient nicht
nur dazu, dem Leser ein individuelles Lebensschicksal im frühneuzeitlichen Rom
plastisch vor Augen zu führen, sondern entwirft zugleich ein anschauliches Bild der
Epoche. Die Bedeutung von Herkunft und Erziehung, die Gestaltung von Heirats-
verhandlungen und Ehealltag, die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen
Ambitionen und Kunstpatronage, den Verlauf zentraler politischer Konfliktlinien,
etwa zwischen Spanien und Frankreich oder zwischen den Häusern Farnese und
Medici, all das und vieles mehr entwickelt die Autorin mit gelassener Erzählkunst
aus den Quellen.
Die Studie verfügt über einen ausführlichen Anmerkungsapparat und ein Perso-
nenregister; leider fehlt ein Literaturverzeichnis. Aber das ist auch wirklich die ein-

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