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Familie hat viele Gesichter

Das Bild der Familie in der Geschichte

In unserem Kulturkreis gab es - soweit wir darüber verlässliche Daten besitzen - schon im-
mer verschiedene Familienformen nebeneinander. Die Kleinfamilie, die auf vielen Werbefotos zu
sehen ist, ist keine Erfindung der heutigen Zeit. Solche Kleinfamilien oder Kernfamilien (Eltern und
ihre Kinder) gab es auch schon vor der Industrialisierung. Doch sie besaßen kaum Eigentum und
zählten zur unteren sozialen Schicht. Auch wenn diese Form der Familie zahlenmäßig weit ver-
breitet war, wurde ihr keine große Bedeutung beigemessen. Die Idealfamilie der vorindustriellen
Zeit war die große Haushaltsfamilie: die Bauernfamilie auf dem Land, die Handwerks- oder Kauf-
mannsfamilie in der Stadt.

Typisch für diese Haushaltsfamilien war, dass sie gemeinsam für ihr Auskommen sorgten.
Sie bewirtschafteten einen Bauernhof, besaßen einen Handwerksbetrieb oder ein Handelsgeschäft.
Außer dem Kern der Familie zählten nicht nur engere Verwandte dazu. Auch nicht verwandte Mit-
glieder des Haushalts, z.B. Knechte oder Mägde auf dem Bauernhof, gehörten zur Familie und wur-
den im Alter durch sie versorgt. Diese Großfamilien bildeten also nicht nur eine Arbeits-, sondern
auch eine Versorgungsgemeinschaft.
Ab dem 18. Jahrhundert entstand durch den wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums eine
Familienform, bei der Wohn- und Arbeitsstätte getrennt waren. Der Mann arbeitete außer Haus,
während die Frau für die Haushaltsführung und die Kindererziehung zuständig war. Je nach Wohl-
stand gehörte zu diesen bürgerlichen Familien auch entsprechendes Dienstpersonal.

Familien heute

Die Familie mit einer nicht erwerbstätigen Mutter war auch in der Arbeiterschaft das Vor-
bild. So wurden Lohnforderungen im 19. Jahrhundert auch damit begründet, dass die Ehefrauen der
Arbeiter sich dann ganz um die Familien kümmern könnten. Doch diese Wunschvorstellung ließ
sich selten umsetzen. Die meisten Frauen in Arbeiterfamilien mussten mitverdienen. Das Ideal der
Kleinfamilie mit einer nicht erwerbstätigen Ehefrau und Mutter blieb auch im 20. Jahrhundert be-
stehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es vorübergehend Wirklichkeit. 1950 waren 76 Prozent
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aller Mütter mit Kindern unter 18 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland Vollzeithausfrauen.
Erst Ende der 1960er- Jahre änderte sich allmählich die Einstellung. Viele Frauen sahen eine eigen-
ständige Berufstätigkeit zunehmend als Chance zur Selbstverwirklichung.
Heute gibt es vielfältige Formen des Zusammenlebens: verheiratete und nicht verheiratete
Paare mit und ohne Kindern, Alleinerziehende und durch Wiederverheiratung eines oder beider
Elternteile entstandene so genannte Patchworkfamilien.

M 2 Perspektiven für Familien

„Familie ist, wo Kinder sind", stand in den Koalitionsvereinbarungen der Bundesregierung


von 1998 und 2002. Der Slogan wurde von vielen Organisationen begeistert aufgenommen. Von
der Umsetzung der Definition in die Realität sind wir noch weit entfernt. Das traditionelle Familien-
modell wusste eine männliche Arbeitsbiografie mit einer lebenslangen Hausfrauen- oder Zuverdie-
nerinnenexistenz zu verzahnen, nicht aber zwei Erwerbsbiografien. Wie sehr die Balance zwischen
Beruf und Familie noch immer auf Kosten der Frauen geht, zeigt, dass in Westdeutschland im Jahr
2003 von den 25- bis 45-jährigen Frauen 84,8 Prozent (Ost 76,5 Prozent), die keine Kinder im
Haushalt haben, berufstätig waren, aber nur 63,1 Prozent (Ost 75,2 Prozent), die Kinder haben.

Neben der Kernfamilie bestehen bereits vielfältige Lebensformen. Es wäre viel gewonnen,
wenn Familienpolitik das zur Kenntnis nehmen würde. Für die Zukunft geht es darum, dass keine
Lebensform bevorzugt und keine benachteiligt wird und allen Menschen, ob mit oder ohne (eige-
ne) Kinder, gleiches Recht und Existenzberechtigung für die von ihnen gewählte Lebensform zu.
gestanden wird, solange dort niemand ausgebeutet, unterdrückt oder seinen eigenen Interessen wi-
dersprechend behandelt wird. Wäre das erreicht, würde es keine Rolle spielen, ob Menschen alleine,
zu zweit oder zu mehreren, mit oder ohne (eigene) Kinder, zusammen leben, und auch nicht, aus
welchem Land sie kommen und welche Hautfarbe sie haben. Es geht um freie Zusammenschlüsse
unter freien Menschen.
G. Notz: Impulse für eine Gesellschaft von morgen geben.
In: Das Parlament Nr. 33/34, 16.8.2004, S.l

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Texterläuterungen

Alleinerziehende: 2005 gab es in Deutschland 2,6 Mio. alleinerziehende Elternteile, davon 87


Prozent Mütter. Der häufigste Grund dafür, dass man alleinerziehend wird, ist eine
Scheidung.

Aufgaben

1. Beschreiben Sie die veränderten Idealvorstellungen von Familie im Laufe der Geschichte.
Fertigen Sie dazu einen Zeitstrahl mit der Beschreibung der verschiedenen Familienformen an.
2. Welche Gesichtspunkte sind für Sie entscheidend, um von einer Familie zu sprechen? Wer
gehört bei Ihnen zur Familie?
3. Berichten Sie, in welchen Familienkonstellationen Kinder in Deutschland heute leben (M3, M4).
4. Werten Sie M 2 aus. Diskutieren Sie in der Gruppe, welche Lebensformen von der Familien-
politik berücksichtigt werden sollten

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Elternwille und Kindeswohl - vom Wandel der Erziehung

Kinder brauchen Eltern

Ein Säugling verfügt über Instinkte und Reflexe und vor allem über eine ausgeprägte Lern-
fähigkeit. Doch um zu überleben, ist er von der Versorgung durch die Mutter abhängig. Er braucht
die liebevolle Zuwendung seiner Eltern. Durch sie und/ oder andere Bezugspersonen wird sein
weiterer Lebensweg entscheidend geprägt. Wie Kindheitserinnerungen aus dem 19. Jahrhundert
zeigen, waren die Beziehungen zwischen Eltern und Kind überwiegend von Befehl und Gehorsam
bestimmt. Wenn es Probleme gab, wurde Gehorsam auch durch Prügel erzwungen. Liebe und Zärt-
lichkeit im Verhältnis zu den Kindern waren nicht sehr ausgeprägt. Besonders der Vater stellte eine
Respektperson dar und verhielt sich sehr distanziert. Seine Autorität stellte ihn über die anderen
Familienmitglieder und schützte ihn vor jeder Kritik.
Bei allen Unterschieden in der Lebensführung war man sich in der Erziehung einig: Ob Ar-
beiter-, Bauern- oder Bürgerfamilien - Kinder hatten zu gehorchen. Disziplin und Gehorsam blie-
ben auch im 20. Jahrhundert noch lange die Haupttugenden, die die Erziehung in den Familien und
im gesamten Schulsystem prägten.

Mündigkeit und Selbstbestimmung

Mit dem wachsenden Wohlstand Ende der 1950er-Jahre veränderte sich das Bild in der
Bundesrepublik Deutschland. Zunehmende Freizeitmöglichkeiten, kulturelle Einflüsse, vor allem
aus den USA, und die Angebote der Medien führten zu neuen Leitbildern.
Eine eigene Jugendkultur entwickelte sich auch in Abgrenzung zu den Eltern. Diese Ent-
wicklung mündete schließlich in den Jugendprotesten Ende der 1960er-Jahre. Erst da kam es zu
einer Ablösung jahrhundertealter Leitvorstellungen. Die Mündigkeit des demokratischen Staats-
bürgers und die Selbstbestimmung der Persönlichkeit lösten die alten Erziehungsziele Autorität und
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Gehorsam ab. Darüber gab es heftige öffentliche Debatten. Bedeutete z.B. Selbstbestimmung, dass
die Kinder sich selbst überlassen wurden? Sollten gar keine Autoritäten mehr gelten? Positionen,
die in diese Richtung zielten, fanden keine Mehrheit. In der Auseinandersetzung wurde klar, dass
Erziehung zur Selbstfindung der Kinder und Jugendlichen führen soll. Dazu gehört auch die Ver-
antwortlichkeit jedes Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft.
Es besteht zwar heute Einigkeit über die Ziele der Erziehung. Noch immer wird aber unter
Wissenschaftlern und in der Öffentlichkeit heftig darüber diskutiert, wie diese Ziele zu erreichen
sind.

M 2 Demokratische Erziehung

Die folgende Charakterisierung eines demokratischen Erziehungsstils stammt von dem


Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann:
Autorität können wir Erwachsenen nur gewinnen, wenn wir uns auf eine Beziehung mit
unseren Kindern einlassen. Autorität in einer demokratischen Gesellschaft gewinne ich nur, wenn
ich als Älterer mit den Jüngeren zusammen an deren Lebensplan arbeite. Wenn ich deutlich mache,
dass ich meinen eigenen Plan habe, den ich allerdings auch immer wieder revidieren muss. Das ist
wohl das Entscheidendste: sich für die Pläne der Kinder und Jugendlichen interessieren, ihnen An-
regungen geben, sie kontinuierlich bei der Umsetzung begleiten. So kann ich im Verhalten zu den
Kindern Autorität gewinnen.
Da der demokratische Erziehungsstil von seiner Konzeption her am Modell der gleichbe-
rechtigten, spiegelbildlichen Erziehung orientiert ist, stellt er auch sehr stark auf die Achtung des
Kindes ab, die nachweislich die Selbstachtung fördert. Selbstachtung wiederum ist die absolute
Voraussetzung für den Aufbau eines Selbstwertgefühls, der positiven Wertschätzung der eigenen
Person; sie schützt vor solchen abweichenden und ausweichenden Bewältigungsmechanismen wie
Aggressivität, Selbstaggressivität und Depressivität.
Klaus Hurrelmann: Mut zur demokratischen Erziehung.
(In: Pädagogik 7-8/1994, S. 13ff., gekürzt)

M 3 Niedersächsisches Schulgesetz

§ 2 Bildungsauftrag der Schule


(1) Die Schule soll (...) die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des
Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und
sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln. (...)
Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden,

- die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende
staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesell-
schaft beizutragen,
- nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu
achten,
- ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität
und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten,
- den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere die Idee einer gemeinsamen Zukunft der
europäischen Völker, zu erfassen und zu unterstützen und mit Menschen anderer Nationen und
Kulturkreise zusammenzuleben, - Konflikte vernunftgemäß zu lösen, aber auch Konflikte zu
ertragen (...).

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Texterläuterungen:

a) Erziehung 1887: In einem Erziehungshandbuch von 1887 heißt es, das Kind solle lernen, „sich
selbst zu verleugnen, zu überwinden und zu beherrschen, dass es nicht blindlings den Trieben
des Fleisches und der Sinnlichkeitt folge ...“
b) Bis 1957 stand folgender Satz in bundesdeutschen Familienrecht: „Der Vater kann kraft des Er-
ziehungsrechtes angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden.“
c) ... und §1626 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) heute: Bei der Pflege und Erzieh-ung
berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu
selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es
nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben
Einvernehmen an.

Aufgaben

1. Listen Sie auf, welche wesentlichen Veränderungen sich bei den Erziehungszielen seit dem 19.
Jahrhundert ergeben haben.
2. Interviewen Sie Ihre Eltern oder Großeltern über ihre Erziehung. Bereiten Sie die Fragen in
Gruppen vor und werten Sie Ihre Ergebnisse in der Studiengruppe aus.
3. Werten Sie M 1 aus: Welche Erziehungsziele stehen heute im Vordergrund? Vergleiche Sie mit
M3: Wo stimmen schulische und familiäre Ziele überein? Diskutieren Sie, welche Erzieh-
ungsziele Ihnen am wichtigsten erscheinen.
4. Berichten Sie in eigenen Worten, wie Erziehung in der demokratischen Gesellschaft nur
gelingen kann (M2). Vergleichen Sie mit Ihren eigenen Erfahrungen. Wo können Sie
zustimmen, wo nicht?

Zusammenleben in der Familie

Familienleben braucht Regeln

Die Familie wird im Grundgesetz „unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung"
gestellt (Artikel 6 GG). Damit wird das besondere Interesse des Staates an der Familie unterstri-
chen. Sie genießt seinen besonderen Schutz, soll aber auch bestimmte Aufgaben erfüllen und steht
dabei sozusagen unter staatlicher Aufsicht. Damit ist nicht gemeint, dass der Staat jede Familie
überwacht. Aber es gibt eine Vielzahl von gesetzlichen Bestimmungen, die das Familienleben
regeln.
Aber auch innerhalb der Familien gelten meistens bestimmte Regeln, die die Familienmit-
glieder selbst aufstellen. Viele Eltern orientieren sich dabei an den Erfahrungen ihrer eigenen Kind-
heit. Das heißt aber nicht, dass sie es genauso machen wollen, wie sie es erlebt haben. Viele Eltern
grenzen sich in ihrem Erziehungsverhalten ganz bewusst von den eigenen Kindheitserfahrungen ab.
Die Regeln, die jede Familie für sich aufstellt, orientieren sich auch nach der Art von Fa-
milie. Eine alleinerziehende Mutter wird andere Regeln aufstellen, als sie in einer Familie mit
„klassischer" Rollenaufteilung gelten. Hier steht ein Elternteil, meistens die Mutter, als ständiger
Ansprechpartner für die Kinder zur Verfügung. Sind hingegen beide Elternteile berufstätig, werden
sowohl auf den Ehepartner als auch auf die Kinder mehr Pflichten zukommen.

Kinder haben Rechte und Pflichten

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Obwohl meistens die Eltern die Regeln in der Familie festlegen, sind Kinder dennoch nicht
schutzlos ihrer Willkür ausgesetzt, denn Kinder haben ihre eigenen Rechte. Von Geburt an stehen
sie unter dem Schutz des Grundgesetzes.
Die Veränderung der Erziehungsstile und die rechtlichen Reformen im Familienbereich
haben die Situation der Kinder verbessert. Nach wie vor gibt es jedoch Eltern, die von ihren Kin-
dern Unterwerfung und Gehorsam fordern und diese Ziele auch mit Gewalt durchzusetzen ver-
suchen. In solchen Fällen hat der Staat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht einzugreifen.
Kindesmisshandlungen werden strafrechtlich verfolgt. Im Jahr 2000 wurde ein Gesetz
verabschiedet, das Gewaltanwendung in der Erziehung, z. B. Ohrfeigen, generell verbietet (§1631
Absatz 2 BGB). Das Gesetz stellt klar, dass Erziehung grundsätzlich frei von Gewalt sein muss. Bei
Verstößen hat das Jugendamt jetzt eine bessere gesetzliche Grundlage, um schneller einschreiten zu
können. Insgesamt wird damit der Schutz von Kindern und ihre Rechtsstellung deutlich
verbessert. Mehr Rechte für Kinder bedeutet jedoch nicht, dass sie von Pflichten ganz frei wären.

M 2 Gewaltfreie Erziehung - Eine Bilanz

Die Bekämpfung der Gewalt, insbesondere auch im sozialen Nahbereich, ist eines der zen-
tralen Anliegen der Bundesregierung. Zu den wichtigsten gesetzgeberischen Maßnahmen, die in
den letzten Jahren zur Verwirklichung dieses Anliegens getroffen wurden, gehört das im November
2000 in Kraft getretene Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Mit diesem Gesetz wurde
ein „Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung" im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Körper-
liche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen
wurden für unzulässig erklärt. Ziel des Gesetzes ist es, die Anwendung von Gewalt als Erziehungs-
mittel zurückzudrängen, ohne die Eltern zu kriminalisieren. Das Gesetz zielt daher in erster Linie
auf einen Bewusstseinswandel ab. Es soll an die Eltern appelliert und das Bewusstsein dafür ge-
schärft werden, dass Gewalt kein geeignetes Erziehungsmittel ist.

Gleichzeitig soll mit dem Gesetz erreicht werden, dass sich Eltern vermehrt und frühzeitig an Fa-
milienbildungs- und -beratungseinrichtungen wenden. Es ist daher auch gesetzlich klargestellt
worden, dass es zu den Aufgaben der Familien-, Kinder- und Jugendhilfe gehört, den Eltern Wege
aufzuzeigen, wie Konfliktsituationen gewaltfrei gelöst werden können. Die Gesetzesänderung
wurde von September 2000 bis Ende 2001 durch eine bundesweite Kampagne „Mehr Respekt vor
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Kindern" begleitet. Diese hatte zum Ziel, die Neuregelung bekannt zu machen, die Öffentlichkeit
für die schädlichen Folgen der Gewalt zu sensibilisieren und in der Bevölkerung einen Bewusst-
seinswandel hin zu dem neuen Leitbild einer gewaltfreien, von Respekt und Fürsorge für das Kind
geprägten Erziehung zu fördern.
Bundesministerium der Justiz, 2003

Texterläuterungen

a) Artikel 6 Grundgesetz:
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst
ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht ddie staatliche Gemeinschaft.
b) Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 1631
(2) Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische
Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

Aufgaben

1. Zeigen Sie an einem (erfundenen) Beispiel auf, wie sich Erfahrungen des Zusammenlebens in
der Familie auf das weitere Verhalten von Kindern auswirken können (Text, M4).
2. Werten Sie M3 aus. Wie beurteilen Sie die Rechtslage?
3. Welche Veränderungen hat die Neufassung des § 1631 BGB gebracht (M2)?
4. Diskutieren Sie in der Gruppe: Was verstehe ich unter Kindesmisshandlung?

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Familienpolitik in Deutschland

Die Familienpolitik umfasst alle Maßnahmen, die dem rechtlichen Schutz von Ehe, Familie,
nichtehelichen Kindern (Art. 6 GG) und ihrer materiellen Förderung dienen.

Sie ist darauf gerichtet,


- das Ehe-, Verwandtschafts-, Kindschafts- und Vormundschaftsrecht zu regeln,
- die drei Familienfunktionen Nachwuchs, Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation zu
fördern,
- daraus abgeleitete Förderungen, insbesondere der Familiengründung, Kindererziehung, der Ver-
einbarkeit von Beruf, Mutter bzw. Vaterschaft und Familie sowie des Existenzminimums für
Kinder zu sichern.

Familienpolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die sozial-, wirtschafts-, bildungs- und woh-
nungspolitische Themen umfasst. Familienangelegenheiten werden vom Bundesministerium für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugendliche (gegründet 1953), von Länderministerien und von Bera-
tungsstellen der Kommunen, Kirchen und Sozialverbänden betreut. Anders als in der DDR haben
die bundesdeutschen Regierungen der Nachkriegszeit versucht, an das bürgerliche Familienleitbild
der Jahrhundertwende anzuknüpfen und die nichtberufstätige Ehefrau und Familienmutter zur Norm
zu machen. Allerdings standen dem die zahlreichen Kriegerwitwen, die „vaterlose Gesellschaft",
entgegen, ferner auch die Erfahrungen zweier Kriege mit dem Einsatz der Frauen in der Kriegswirt-
schaft.

Erwerbstätige unter den Müttern (in %) 2002


alte Bundesländer neue Bundesländer
Zahl der Kinder Vollzeit Teilzeit Vollzeit Teilzeit
1 Kind 25,6 35,8 51,3 18,4
2 Kinder 17,2 43,3 51,2 20,4
3 und mehr Kinder 13,0 34,0 32,7 21,4

Keines der bisher in Deutschland praktizierten familienpolitischen Leitbilder konnte die


Teilung der häuslichen Pflichten bewirken, ausgenommen in der Kindererziehung.
In der Bundesrepublik stehen sich seit längerem zwei familienpolitische Konzepte entge-
gen.

Die Familie mit berufstätiger Ehefrau und Die Familie mit nichtberufstätiger Ehefrau
Mutter, die ihre Berufstätigkeit in der Pha- und Mutter, die ihre familiären Pflichten
se, in der die Kinder geboren und betreut langfristig in den Mittelpunkt rückt. Nach
werden, befristet unterbricht. Nach diesem diesem Konzept werden z. B. Mütter durch
Konzept werden z. B. Kindergärten und - Erziehungsgeld gefördert.
horte und Tagesmütter gefördert.

Zu wichtigen familienpolitischen Maßnahmen in der Bundesrepubik gehören:

- Einführung des Kindergelds als Kernstück des Familienlastenausgleichs (1954),


- Förderung des Eigenheimbaus für Familien durch unverzinsliche Darlehen,
- Förderung von Alleinerziehenden (Unterhaltsvorschuss, wenn der zweite Elternteil nicht zahlt;
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Betreuungs- und Erziehungsfreibeträge im Steuerrecht) - bei wachsender Akzeptanz nichttradi-
tioneller Familienformen,
- Ehe- und Familienrechtsreform von 1977 (partnerschaftliche Ehe ersetzt das Leitbild der Haus-
frauenehe),
- Erziehungsurlaub und Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung (1986),
- Verbesserungen des Familienlastenausgleichs (angehobene Steuerfreibeträge, Kindergeld- und
Erziehungsgeldzahlungen, Jugendhilfe),
- Berücksichtigung nichtehelicher und gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften.

Armutsrisiko Kind?

Vor jeder Bundestagswahl veröffentlichen die Parteien ihre Wahlprogramme, um die Wäh-
lerinnen und Wähler für ihre Politik zu gewinnen. In den Programmen hat die Familie einen hohen
Stellenwert. In der Realität jedoch ist die Situation für viele Familien sehr schwierig. Verschiedene
Untersuchungen zeigen, dass ein großer Prozentsatz der Kinder in Deutschland in Armut lebt. Da-
bei zeigt der Armutsbericht der Bundesregierung von 2005, wie stark Armut von der Famili-
enform abhängt.

- Rund 1,1 Mio. Bezieherinnen und Bezieher von Sozialhilfe sind Kinder unter 18 Jahren. Mit
einer Sozialhilfequote von 7,2 Prozent (Ende 2003) weisen sie im Vergleich zur Gesamtbevöl-
kerung (3,4 Prozent) einen deutlich höheren Hilfebedarf auf.
- 55 Prozent von ihnen leben in Haushalten von Alleinerziehenden und nur 35 Prozent in Zwei-
Eltern-Familien.
- Während nach wie vor der überwiegende Teil der deutschen Kinder mit Sozialhilfebezug aus
alleinerziehenden Haushalten stammte, galt dies nur für 35 Prozent der ausländischen Kinder
mit Sozialhilfebezug.

Arm, ärmer, Kind

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Maik hat kein eigenes Fahrrad, und Marie fahrt nicht in den Urlaub. Zwei Kinder, eine Ge-
meinsamkeit: Ihre Eltern haben nur halb so viel Geld im Monat wie ein deutscher Durchschnitts-
bürger. Damit gelten sie als „arm" – zwei von rund 1,5 Millionen Kindern in Deutschland, die ge-
meint sind, wenn von Kinderarmut gesprochen wird. Maik und Marie sind nicht obdachlos. Sie
sehen nicht verlottert aus. Aber sie sind benachteiligt – ganz einfach deshalb, weil sie weniger ha-
ben als die meisten anderen Kinder in der Republik.
Wenn eine vierköpfige Familie ihre Miete bezahlt hat und dann über weniger als 1500 Euro
monatlich verfügt, lebt sie nach hiesiger Definition in Armut. Der Anteil der Kinder, auf die das zu-
trifft, ist in den vergangenen Jahren in Deutschland stärker gestiegen als in fast allen anderen Indu-
strienationen.
„Anders als in der Dritten Welt geht es bei uns nicht ums physische Überleben", sagt Karl
August Chasse, Sozialwesen-Professor an der Universität Jena. „Aber die Auswirkungen für die
Kinder können so massiv sein, dass ihre Lebenschancen erheblich beeinträchtigt werden." Die Er-
scheinungsformen der Armut haben sich in den vergangenen 25 Jahren verändert. Kinder sind seit-
her die Hauptbetroffenen, denn heute trifft es durch die hohe Arbeitslosigkeit mehr und mehr Fa-
milien.
M 2 Artikel von: Ph. Krohn, Die Zeit, 6.4.2005

Staatliche Familienförderung

In Art. 6 des Grundgesetzes wird die Familie unter den besonderen Schutz des Staates ge-
stellt. Massive wirtschaftliche Nachteile für Familien mit Kindern widersprechen demnach der Ziel-
setzung des Grundgesetzes. Deshalb bemüht sich die Bundesregierung um einschneidende Verbes-
serungen:

- 2002 wurde das Kindergeld nochmals angehoben.


- Familien mit Kindern werden steuerlich stärker entlastet.
- Familien wird nach der Geburt eines Kindes Elterngeld gezahlt, wenn sie das Kind selbst ver-
sorgen.

Um dem weiteren Rückgang der Geburtenzahlen entgegenzuwirken, muss die Familienpo-


litik neben den rein finanziellen Hilfen für Familien mit Kindern auch für ein kinderfreundliches
Umfeld sorgen. Damit beide Elternteile berufstätig sein können, muss für kostenlose Betreuungs-
einrichtungen für Kinder aller Altersstufen gesorgt werden. Obwohl in Deutschland ein gesetzlicher
Anspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind ab 3 Jahren besteht, sieht die Realität anders
aus. Viele Kinder können nur einige Stunden einen Kindergarten besuchen, doch Ganztagsangebote
fehlen weitgehend.

M 3 Grundsätze der Familienpolitik

Eine nachhaltige Familienpolitik schafft passende Rahmenbedingungen für Familien und


trägt wesentlich zu einer familienfreundlichen Gesellschaft bei. Familien brauchen ein abgestimm-
tes Ineinandergreifen gezielter Maßnahmen in den Bereichen Infrastruktur, Zeit und Geld. Notwen-
dig ist deshalb ein Politik-Mix, der den Ausbau der Kinderbetreuung verfolgt, der Familien finan-
ziell wirksam unterstützt und der mit einer verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf das
enge Zeitkorsett junger Familien weitet.
www.bmfsfj.de/PoHtikbereiche/familie.html

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Texterläuterungen

a) Kindergeld: Das Kindergeld wird einkommensunabhängig gezahlt. Es ist nach der Zahl der
Kinder gestaffelt und beträgt seit dem 1. Januar 2002 für erste, zweite und dritte Kinder monat-
lich 154 Euro für vierte und weitere Kinder monatlich 179 Euro (Stand 2007)
b) Elterngeld wird seit 2007 14 Monate an Eltern gezahlt, die das neugeborene Kind selbst be-
treuen.

Aufgaben

1. Nennen Sie Gründe für die Schlechterstellung von Familien mit Kindern (M1, M4)
2. Erläutern Sie, was Armut für ein Kind in Deutschland bedeutet (M2).
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3. Erstellen Sie eine Tabelle der staatlichen Leistungen für Familien. Wie lange werden sie
gewährt (M5)?
4. Erfolgreiche Familienpolitik besteht nicht nur aus finanzieller Unterstützung. Erstellen Sie einen
Katalog eigener Forderungen an die Familienpolitik und diskutieren Sie ihn in der Gruppe.

Familien in Deutschland

Familien in Deutschland sehen sich –wie anderswo auch – tief greifenden gesell-
schaftlichen Veränderungen gegenüber. Neue Lebens- und Beziehungsformen, der
Wandel der Arbeitswelt und allerlei Hemmnisse von mangelnder Kinderbetreu ung
bis zu fehlenden finanziellen Ressourcen führen dazu, dass immer weniger junge
Menschen sich den Wunsch nach einer eigenen Familie erfüllen. So schrumpft und
altert die Bevölkerung – mit drastischen Folgen.

FAMILIE SEIN in Deutschland heißt auch heute noch in den meisten Fällen: die Mutter
kümmert sich um Haushalt und Kinder, der Vater sorgt fürs Geld zum Leben. Doch der „Mythos
Mutter" bröckelt, Frauen – selbstbewusst und hervorragend ausgebildet – wollen beides: Kind und
Karriere: Männer, - geprägt vom „Balancing", dem von Unternehmen und Arbeitsforschern
propagierten Ausgleich zwischen Beruf und Privatem – verbringen immer mehr Zeit mit dem
Nachwuchs; die Firmen – geplagt vom Verlust weiblichen Know-hows – sorgen für neue
innerbetriebliche Betreuungsmöglichkeiten. Und die Politik? Die hat nun auch ihr Herz für die Fa-
milien entdeckt. Abgeordnete aller Couleur übertrumpfen sich mit Forderungen nach mehr Geld für
Kinder und Eltern, nach Krippenplätzen und Ganztagsschulen, nach Gleichberechtigung für Frauen.
Familienpolitik ist wieder ein Thema, in der Politik wie in den Medien, wo seit Wochen „Zurück
zur Familie", „Abenteuer Kind" und „Cabrio statt Kinderkarre" getitelt wird.

Der Generationenvertrag auf der Kippe

Aufgeschreckt hat sie alle vor wenigen Wochen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts,
das unmissverständlich deutlich machte: der Generationenvertrag, die Verantwortung der Jungen
für die Alten und Schwachen, funktioniert nicht mehr. Die Pflegeversicherung, genauso wie die
Renten- und große Teile der Krankenversicherung, bauen in Deutschland darauf, dass die Jungen
mit ihren Beiträgen die Versorgung der Senioren garantieren. Doch nun steht dieses Konzept auf
der Kippe. Der Grund: Es fehlen die Kinder. Wie in den meisten modernen Gesellschaften geht
auch in Deutschland die Schere zwischen Sterbefällen und Geburten auseinander. Wurden 1964 in
Gesamt-Deutschland noch 1,36 Millionen Kinder geboren, waren es 1999 nur noch 771000. Die
Zahl der Todesfälle lag mit 846 000 erheblich über der Zahl der Geburten. Die deutsche Bevölke-
rung schrumpft aber nicht nur, sie wird auch immer älter – ebenfalls in Europa kein singuläres Fak-
tum. Noch 1997 waren 21,5 Prozent der deutschen Bevölkerung unter 20 Jahren alt, fast ebenso
viele waren 60 und älter. Im Jahre 2050 dürfte der Anteil der Unter-Zwanzigjährigen auf 15 Prozent
gesunken und der der Alten auf 38 bis 40 Prozent gestiegen sein.

Kinderlose und Familien im Wettstreit

Was passieren müsste, um die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland vor dem Kollaps
zu bewahren, malte der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg aus. Entweder brin-
gen alle Frauen im gebährfähigen Alter in den kommenden Jahrzehnten im Schnitt nicht mehr nur
1,3 sondern 3,8 Kinder zur Welt. Oder es wandern in den nächsten 50 Jahren rund 188 Millionen
junge Ausländer ein. Oder das Rentenalter steigt langfristig auf 73 Jahre. Für die Verfassungsrichter
stand angesichts der nicht übermäßig realistischen Alternativen fest, dass die Sozialsysteme einer
Generalüberholung bedürfen: Wer Kinder aufzieht und damit die Verantwortung für die Versorger
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der folgenden Generation auf sich nimmt, muss in Zukunft von Beiträgen für die Sozialkassen
zumindest teilweise befreit sein. Das wäre schon ein Fortschritt, findet Kerstin Decker (Redakteurin
der Leipziger Volkszeitung, 3 Schulkinder. Ihr Mann ist Leiter der Online-Redaktion der Leipziger
Volkszeitung). Für sie war klar, dass Sie nach der Geburt ihrer Kinder bald wieder an ihren Arbeits-
platz zurückkehren wollte – weil Sie gerne Redakteurin ist, aber auch, weil die Familie auf ihr Ge-
halt nicht allzu lange verzichten konnte. „Wenn es mehr Erziehungsgeld gäbe, wäre ich nach Anna-
bels Geburt auch noch ein bisschen länger zu Hause geblieben", räumt sie ein. Weil man ihr aber
zudem eine interessante berufliche Perspektive eröffnete, nahm sie bereits nach acht Monaten
wieder an ihrem Redaktionsschreibtisch Platz.
Auch wenn derzeit in der Republik ein bizarrer Wettstreit darüber ausgebrochen ist, ob sich
Familien oder Kinderlose stärker ausgebeutet und sozial benachteiligt fühlen dürfen, fest steht, dass
Kinder Geld kosten. Nach Berechnungen des Bundesfamilienministeriums summieren sich bei
einem Ehepaar mit einem Kind die öffentlichen und privaten Aufwendungen bis zum 18.
Lebensjahr auf mehr als 715 000 Mark. Etwa ein Drittel davon trägt der Staat. Zwar zahlen Kinder-
lose höhere Steuern, doch der meist unvermeidliche Verzicht eines Elternteils auf den Job wiegt
unterm Strich schwerer. Nach Berechnungen des Statistischen Landesamtes in Baden-Württemberg
von 1998 müssen junge Ehepaare mit Kindern „deutliche Einkommensnachteile'' gegenüber Kin-
derlosen in Kauf nehmen. So hatten kinderlose Paare pro Kopf 2545 Mark netto zur Verfügung.
Familien mit einem Kind kamen auf 1594 Mark, 37 Prozent weniger. Bei zwei Kindern waren es 49
Prozent, bei drei Kindern gar 57 Prozent weniger.
Nachdem die Familien jahrelang von der Politik eher stiefmütterlich behandelt wurden,
erhöhte die rot-grüne Regierung nach dem Regierungswechsel 1998 das Kindergeld zunächst in
zwei Stufen von 220 auf 270 Mark. Die Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld von monatlich
600 Mark für die ersten beiden Lebensjahre des Kindes wurden deutlich angehoben. Anfang 2002
steht die nächste Kindergelderhöhung um weitere 30 Mark für das erste und zweite Kind an. Zudem
können nun berufsbedingte Betreuungskosten steuerlich geltend gemacht werden, und die
steuerliche Absetzbarkeit von Betreuungs- und Ausbildungskosten wurde erweitert. „Wir sind auf
dem richtigen Weg", sagt Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD), doch weiß sie, dass
kein Paar für Nachwuchs sorgt, nur weil es pro Kind 30 Mark mehr zum Ausgeben hat.

Mangelnde Betreuungsmöglichkeiten

„Wir müssen alles dafür tun, damit die Übernahme von Elternverantwortung vereinbar ist
mit anderen Wünschen zur Lebensgestaltung", sagt Ministerin Bergmann und meint vor allem die
Kombination von Beruf und Familie, „eine der großen gesellschaftlichen Zukunftsaufgaben". Die
Bundesregierung hat deshalb schon bald nach Regierungsantritt entsprechende Initiativen ergriffen:
So können Eltern seit 1. Januar 2001 die „Elternzeit", wie der Erziehungsurlaub seitdem heißt, ge-
meinsam in Anspruch nehmen und gleichzeitig auf Teilzeitarbeit bis zu 30 Wochenstunden umstei-
gen. Auf Unterstützung durch die Bundesländer und Kommunen freilich ist die Bundesregierung
angewiesen, wenn es darum geht, eine der größten Hürden der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
zu überwinden: die mangelnden Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Von insgesamt 35 000 allge-
mein bildenden Schulen bieten gerade einmal 2015 Schulen Unterricht am Nachmittag an. Vor
allem in den alten Bundesländern ist das öffentliche Betreuungsangebot äußerst dürftig. Meist kom-
men dort die Schulkinder um die Mittagszeit hungrig nach Hause. Dabei wünschen sich 50 Prozent
der Eltern für ihren Nachwuchs eine Ganztagsbetreuung.
Kerstin Decker kann sich glücklich schätzen, im Osten Deutschlands zu leben. Hier
profitieren die Frauen vom noch immer dichten Netz an Krippen, Kindergärten und Horten, das in
der DDR geknüpft worden war, um Frauen in die Arbeitswelt zu integrieren und die
systemkonforme Erziehung des sozialistischen Nachwuchses zu gewährleisten. Natürlich wünscht
sich niemand die Verhältnisse in den sozialistischen Kinderkrippen, geprägt von staatlichen Plänen

15
und autoritärer Pädagogik, zurück. „Aber wir sind froh, dass wir diese Angebote haben", sagt
Kerstin Decker, „und nutzen sie auch".
Zwar beschleicht sie bisweilen das „schlechte Gewissen, dass eines zu kurz kommt: der Job
oder die Kinder." Kerstin Decker will dennoch auf keines verzichten und weiß sich durchaus in
einer von vielen beneideten Stellung. Mit der guten Betreuungssituation, die zwei Jobs und zwei
Gehälter ermöglicht – und mit zwei Elternteilen – gehört ihre Familie nicht zu den Unter-
privilegierten im Land. Viel härter trifft es da die steigende Zahl der Alleinerziehenden, vor allem
die Mütter. Sie weisen mit Abstand die höchsten Sozialhilfequoten auf. Jede dritte Frau, die ohne
Partner zwei Kinder versorgt, bezieht Hilfe zum Lebensunterhalt. Von den drei Millionen Sozial-
hilfeempfängern ist inzwischen jeder dritte unter 18 Jahren alt. Immer mehr Kinder und Jugendliche
werden als „arm" eingestuft, und immer häufiger werden sie zum Armutsrisiko. Die jungen Deut-
schen ficht die Statistik nicht an. Die Zahl derer, die Familie als „sehr wichtig" einstufen, liegt bei
rund 80 Prozent. Gar 90 Prozent der Jugendlichen träumen davon, später zu heiraten, und Frauen
unter 20 Jahren möchten im Schnitt noch immer zwei Kinder haben. Doch die Realität hinkt hinter-
her: Zwar ist die Ehe nach wie vor die weitaus beliebteste Form des menschlichen Zusammenle-
bens. Doch nach rund 500 000 Eheschließungen in den 80er-Jahren lassen sich heute nur noch etwa
430 000 Paare trauen. Die Zahl der Paare, die ohne Ehering zusammenleben, steigt Jahr für Jahr an.
Ebenso die Zahl der Scheidungen. Jede dritte Ehe wird früher oder später getrennt. Ebenso wird bei
weitem nicht jeder Kinderwunsch in die Tat umgesetzt. Ein wichtiger Grund: Immer weniger junge
Frauen möchten auf ihren Beruf verzichten, um sich den Kindertraum zu erfüllen.

Chancengleichheit für Frauen und Männer

In manchen Unternehmen scheint die Botschaft angekommen zu sein. Im inzwischen glo-


balen „war for talents", dem Kampf um die besten Köpfe, haben die Manager die Frauen entdeckt.
„Noch nie gab es so gut qualifizierte Frauen wie heute", sagt Familienministerin Bergmann. Frauen
von der Erwerbstätigkeit auszuschließen, sei deshalb „eine Verschleuderung menschlicher Ressour-
cen", ergänzt ihre Parteifreundin Renate Schmidt.
Die Lufthansa etwa hat die Palette der Arbeitszeitmodelle um Teil- und Gleitzeit, Telearbeit,
Jahresarbeitszeit und Sabbaticals erheblich erweitert. Alle Angebote richten sich an Männer wie
Frauen. „Wer sich so genau überlegt, wie er arbeiten will, ist meist hoch motiviert und will bewei-
sen, dass es klappt", sagt Gerhard Weiß, Beauftragter für Chancengleichheit.

Lebensformen und Familie im Wandel

Der soziale Wandel in Deutschland hat die privaten Lebensformen und die Familie als die
am weitesten verbreitete Grundform menschlichen Zusammenlebens stark verändert.

In der vorindustriellen Zeit dominierte das Ideal der Großfamilie, die neben Familienmit-
gliedern mehrerer Generationen und Verwandten auch familienfremde Personen umfasste (Haus-
haltsfamilie mit Produktionsfunktion, z. B. Familienbetriebe in Handwerk und Landwirtschaft).
Das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie ist in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Ent-
standen. Im 19. Jh. breitete sich dieses Leitbild zunehmend in allen Schichten aus.
In der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre dominierte als Ideal und Lebensform
die bürgerliche Kernfamilie mit nicht erwerbstätiger Mutter und zwei Kindern („Normalfamilie").
Geringe Scheidungsraten, hohe Heiratsneigung, frühes Heiratsalter und höhere Geburtenraten wa-
ren weitere Merkmale.

16
Es zeichnet sich ein Strukturwandel der bürgerlichen Familie ab.

Strukturwandel der bürgerlichen Familie


 Abnahme der Mehrkinder-Familien (vorherrschendes
Modell: Zwei-Kinder-Familien)
Rückgang der Kin-
 wachsende Kinderlosigkeit von Frauen, „späte Mutter-
derzahl
schaft"
 starker Rückgang der Eheschließungen bei kontinuier-
lichem Anstieg der Scheidungsquote
Geltungs- und Bin-
dungsverlust der Ehe  starker Anstieg (und zunehmende gesellschaftliche Ak-
zeptanz) der nichtehelichen Lebensgemeinschaften, der
Singles und Alleinerziehenden
 Abnahme von „Normalfamilien"-Haushalten ;
 Zunahme von neuen Lebensformen: Wohngemein-
schaften, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Paare
Pluralisierung der Le- ohne Kinder, alleinerziehende Mütter, Singles, „Patch-
bensformen und ver- work"-Familien
änderte Familien- und  Abnahme der Haushaltsgröße (insbesondere Rückgang
Haushaltsstrukturen der Mehr-Generationen-Haushalte) bei wachsender Haus-
haltszahl; starker Anstieg der Einpersonen-Haushalte
bzw. von Alleinlebenden, wachsender Anteil von Haus-
halten ohne Kinder

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Der Wandel der Lebens- und Familienformen steht in engem Zusammenhang mit
 dem demografischen Wandel (Geburtenrückgang, steigende Lebenserwartung),
 einem Wandel des Geschlechterverhältnisses (veränderte Rollenbilder von Mann und
Frau, weibliche Berufstätigkeit, Doppelverdiener-Familien, gleichberechtige Partnerschaft,
parti-zipativeres Eltern-Kind-Verhältnis, veränderte Erziehungsziele),
 einem Wandel der Werte in Bezug auf Familie, Ehe, Kinder, Partnerschaft und einer Aus-
weitung der „Normalitätsvorstellungen",
 Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung in entwickelten Gesellschaften (Indi-
vidualisierung des Lebenslaufs, Differenzierung der privaten Lebensformen),
 politischen Reformen im Ehe-, Familien- und Scheidungsrecht.
In Deutschland dominiert nach wie vor das „Normalitätsmuster" der bürgerlichen Kleinfa-
milie, eine Pluralisierung hat vor allem im Nicht-Familiensektor – bei den Lebensformen ohne Kin-
der – stattgefunden.

- Abweichungen vom traditionellen Familienmodell und individualisierte Lebensformen finden


sich überdurchschnittlich stark in Großstädten und in höheren Bildungsschichten. Dagegen
dominieren in sozialen Unterschichten die herkömmlichen privaten Lebensformen. Von Armut
bedroht sind vor allem junge Familien, alleinerziehende Mütter, kinderreiche Familien (ver-
stärkt in ausländischen Familien).

18
Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung gibt an, dass eine Familie
zum Lebensglück notwendig ist. Zugleich nimmt die Zahl Al leinlebender (Singles) zu,
wobei viele Singles eine feste Partnerschaft ohne gemeinsamen Haushalt haben bzw. eine
Partnerschaft nicht grundsätzlich ablehnen. Gleichgeschlechtliche Lebensformen haben
zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz und eine Grundlage rechtlicher Gleichstellung
(Partnerschaftsgesetz vom 1.8.2001) gefunden.
Die tendenziell nachlassende Bindungskraft des traditionellen Familien modells und
die Verstärkung individualisierter Lebensformen eröffnen zwar neue
Handlungsmöglichkeiten, führen aber auch dazu, dass durch Verhandlungs- und
Abstimmungsprozesse neue Arrangements und Regelungen im Zusammenleben von
Partnern und Familienmitgliedern, aber auch zwischen Familie und Beruf gefunden
werden müssen.

Texterläuterungen

a) Lebensformen sind relativ stabile Muster privater Beziehungen, die als Formen des Alleinlebens
oder Zusammenlebens (mit oder ohne Kinder) beschrieben werden.
Die zentralen Kriterien zur Beschreibung von Lebensformen sind die Haushaltsgröße und Gene-
rationenzusammensetzung, die sozialrechtliche Stellung der Personen, der Familienstand (ver-
heiratet, verwitwet, geschieden) und die Kinderzahl.
b) In der DDR wurde das „sozialistische Familienideal“ verfolgt, das der bürgerlichen Kleinfamilie
ähnelte, aber die erwerbstätige Mutter einschloss.
c) Die Darstellung in der Tabelle beruht auf dem Datenreport 2002, die Grafik auf Angaben des
Statistischen Bundesamtes.
d) Die Geburtenrate liegt bei durchschnittlich 1,4 Kindern in den alten Bundesländern und 1,1 Kin-
dern in den neuen Ländern pro Frau (2002).
e) Im Zentrum der Veränderungen in Ehe und Familie steht die veränderte Rolle der Frau (v.a.
weibliche Erwerbstätigkeit), die mit einer größeren Wahlfreiheit der Lebensgestaltung verbun-
den ist (ökonomische Unabhängigkeit, Option der Scheidung, Leben mit Kindern oder ohne
Kinder).
f) Die Zunahme der Alleinlebenden ist zurückzuführen auf den Anstieg des Durchschnittsalters
bei Heirat und Geburt, auf gewachsene Scheidungsraten, gestiegene Lebenserwartung und
größere Autonomie der jungen Generation.

DER FAMILIENKRACH

Ehegattensplitting, Freibeträge, Kindergeld: Mit Milliarden will der Staat die Familie
fördern - aber der Nachwuchs bleibt aus.

I. Das Leben als klassische Familie, also Vater und Mutter mit Trauschein und eigenen
Kindern, wird von immer weniger Menschen in Deutschland praktiziert. Sehr fremd erscheinen
heute schon die fünfziger Jahre, damals wurden 98 Prozent der Kinder in eine klassische Familie
geboren.
Kinder fehlen, Familien zerbrechen. Es sinkt nicht nur die Zahl der klassischen Familien,
noch drastischer sinkt die Zahl der Familien mit traditionellem Rollenmodell: Blieben Mitte der
sechziger Jahre noch zwei Drittel der Ehefrauen zu Hause, um sich um ihre durchschnittlich 2.5
Kinder zu kümmern, so sind es heute noch gut ein Drittel.
Die traditionelle Familie gibt es noch, aber sie hat Konkurrenz bekommen von anderen
Modellen. Der Blick in eine beliebige Schulklasse zeigt es. Zum Beispiel in einer Schule in Ham-
burg besuchen die Klasse 2a 30 Schüler. Jedes dritte Kind – 10 Kinder von 30 – kommen aus Patch-
workfamilien oder getrennten Partnerschaften.

19
Familie, was ist das? Familie ist, wo man ohne zu fragen zum Kühlschrank gehen kann,
wenn man Durst hat.

II. Vater, Mutter, ein, zwei, viele Kinder, Mutter bleibt zu Hause, Vater bringt Geld – das ist
nicht mehr die Regel. Das ist der Sonderfall. Heißt das, die Familie ist vom Aussterben bedroht?
Oder muss man sich nur die Vorstellung ändern, was eine richtige Familie ist?
Eine „Revolution'", so sagt es „Time Magazine", frisst sich durch Europa, und nicht Gesetze
wie das Elterngeld sind der Motor dieser Revolution, sondern der gesellschaftliche Wandel, auf den
sie reagieren.
Die klassische, bürgerliche Familie war sozial und zeitlich immer ein sehr begrenztes Phä-
nomen. Sie ist eine Erfindung des Industriezeitalters, denn erst mit der Industrialisierung trennten
sich Arbeitsplatz und Wohnort, trennten sich die Aufgabenbereiche von Männern und Frauen: Die
Männer gingen in die Fabrik oder ins Büro, die Frauen blieben zu Hause. Was ökonomisch er-
wünscht war, wurde mit Ideologie gefestigt: Er sollte sich ganz auf den täglichen Konkurrenzkampf
im Kapitalismus konzentrieren. Sie wurde dafür idealisiert – als von Natur aus aufopferungswillige
Mutter.
Schon damals allerdings sah die Realität oft anders aus; Arbeiterfamilien konnten es sich
meist gar nicht leisten, dass die Frau zu Hause blieb, und viele Bürgerfrauen empfanden ihre Rolle
bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert als zu eng. Doch obwohl oder gerade weil die Realität
oft anders aussah, hatte diese klassische bürgerliche Familie als Ideal Bestand.
Familie, das ist das Glücksversprechen der Selbsverständlichkeit, das Versprechen einer
Liebe, die nicht durch Wohlverhalten verdient werden muss, die nicht prekär ist, sondern verläss-
lich, für jedes Mitglied, jederzeit. Gerade an diesen Erwartungen zerbricht sie dann oft – ein Para-
doxon der Moderne.

III. Es mag bitter sein, aber es ist Zeit für einen Abschied, nicht von der Familie, sondern
von einer Illusion. Es gibt keinen Weg zurück.
Forscher des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung haben in einem Vergleich
europäischer Länder untersucht, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Geburten-
ziffern auswirken. Ihr Ergebnis muss ins Grübeln bringen: Wo mehr Frauen arbeiten, wo mehr
Scheidungen gezählt werden und der Grad der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen
als hoch bewertet wird – ebendort ist die Fruchtbarkeit vergleichsweise groß: 1.8 Kinder pro Frau in
Schweden, Finnland, Dänemark.
Frankreich macht jetzt Schlagzeilen, hat 2006 den Wert von 2.1 erreicht - ein Spitzenwert in
Europa, mit dem die Bevölkerungszahl erhalten bleibt. Und in Frankreich sind deutlich mehr Mütter
mit zwei Kindern im Beruf als in Deutschland, werden noch mehr Kinder nichtehelich geboren –
dort ist es fast schon jedes zweite Kind, in Deutschland ist es etwa jedes vierte.
Wo Frauen keine Angst haben müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und in Abhängigkeit
von ihrem Mann zu geraten, wo sie nicht fürchten müssen, in ein unerwünschtes Lebensmodell
zurückzufallen oder aus einer verunglückten Partnerschaft keinen Ausweg zu finden, wo sie sich
darauf verlassen können, dass der Vater sich an der Familienarbeit beteiligt, wagen sie eher den
Schritt zum eigenen Kind.

IV. Wo die Gesellschaft moderner ist, genau dort werden mehr Kinder geboren. Und nicht
in den Horten der Tradition.
Meine Frau muss nicht arbeiten, das war die Haltung der Männer in bürgerlichen Kreisen.
Und der Staat mit seinem Ehegattensplitting trug dazu bei, dass es jahrzehntelang dabei blieb.
In den frühen sechziger Jahren begann das Modell von der Alleinverdiener-Ehe zu bröckeln.
Dann kam die Zeit, als die Pille dafür sorgte, dass die Frauen umsetzen konnten, was sie schon lan-
ge wollten: nämlich die Gleichung Frau gleich Mutter zu sprengen. Die 68er Bewegung blieb an-
fangs im Privatleben noch sehr bürgerlich, aber verabschiedete sich dann von der klassischen Fa-

20
milie und brach in Wohngemeinschaften auf. Nicht nur, um sich der väterlichen Gewalt zu Hause
zu entziehen, sondern auch, weil die Lebenslügen jener bürgerlichen Familien ans Licht gezogen
wurden – Mutter war eben häufig doch nicht so glücklich im Dienst der Familie. Vater war eben
häufig doch nicht so fürsorglich und treu.
Das war auch im Jahr 1900 nicht anders. Aber jetzt wurde es nicht mehr hilflos und re-
signiert zur Kenntnis genommen. Jetzt wurde immer häufiger die Scheidung eingereicht: 1965 gab
es noch siebenmal so viele Eheschließungen wie Scheidungen, 1985 waren es fast dreimal so viele,
2005 wurden nur noch knapp doppelt so viele Hochzeiten wie Scheidungen registriert.
Kein Abschied von der Familie ist entstanden, aber eine Individualisierung, die das Leben
freier, aber eben auch anstrengender macht. Eine komplizierte Lage, der sich die modernen Men-
schen gegenübersehen: Sie müssen selbst wissen, ob sie zusammenziehen oder nicht, ob Hochzeit
oder nicht, Scheidung oder nicht, ob Kinder, wann und wie viele, mit wem und warum. Ob beide
arbeiten, wie viel sie arbeiten und wohin mit der Oma, wenn sie dement ist. Ein Alltag, der über-
fordern kann. Auch daran zerbrechen viele Ehen.
Früher war die Fürsorge der Männer im Wesentlichen ökonomisch geprägt, sie brachten
genügend Geld nach Hause und zeigten Frau und Kindern auf diese Weise, was sie ihnen wert
waren. Nun sind die Männer in der Rolle, ihre Fürsorge für Frau und Kinder neu definieren zu
müssen.
Seit Mitte der sechziger Jahre verschwanden in der Schwerindustrie, im Bergbau, bei den
Stahlkochern viele Jobs, später dann auch in anderen traditionellen Branchen. Die Familien konnten
sich nicht länger in der Sicherheit wiegen, dass der Mann seine Arbeit ein Leben lang behält, dass
sein Lohn auf Dauer reicht, um alle zu ernähren. Also brauchte man auch die Arbeitskraft der Frau-
en – vor allem im Dienstleitungsbereich.
Es kam die Bildungsoffensive der sechziger Jahre, das Fundament für den Wandel von der
Industrie- zur Dienstleislungsgesellschaft, die vor allem jungen Frauen neue Lebensperspektiven
gab. Und diese Perspektiven wollen sie jetzt nicht mehr verlieren. In einer Bertelsmann-Studie ist es
nachzulesen: Jede zweite Frau in einem Paarhaushalt mit Kindern unter zwölf Jahren geht nicht ar-
beiten. Aber nur sechs Prozent sagen: Ich habe es so gewollt.

V. Nicht Ideologie und Familienpropaganda werden die Familie retten und für Kindersegen
sorgen und auch nicht Milliarden vom Staat. Notwendig ist es, auf den gesellschaftlichen Wandel
zu reagieren und eine Umwelt zu schaffen, in der ein Kind nicht als Problem empfunden wird, das
es zu bewältigen gilt, sondern als Glück. Deutschland muss sich Vorbilder suchen. Deutschland
hinkt vielen seiner Nachbarstaaten weit hinterher.
Eine Idee aus Niederlanden gibt der Lebensplanung mehr Freiheit. Bislang ist der Lebens-
zyklus dreiteilig organisiert: In der Jugend wird gelernt, darin wird gearbeitet, und im Alter erholt
man sich. So staut sich in der Mitte des Lebens alles: die Karriere, das Familienleben und womög-
lich auch Fürsorge für die eigenen Eltern. Rushhour des Lebens nennt man diese überfordernden
Jahre zwischen dreißig und Mitte vierzig.
Auch hier hat die Realität längst den Entwurf überholt, an dem noch immer festgehalten
wird. Von den nach 1970 Geborenen werden nicht wenige Frauen an die hundert Jahre alt werden.
Und sie werden mit sechzig weitaus leistungsfähiger sein, als ihre Altersgenossinnen ein paar
Jahrzehnte zuvor. Warum also mit Mitte dreißig völlig erschöpft zwischen Konferenzen hin und her
eilen oder sich gegen das eine oder andere entscheiden?
„Lebenslaufregelung", so heißt ein Modell aus Holland, ein Versuch, dem einheitlichen
Lebensmuster zu entkommen: Mitten im Leben erlaubt man sich Auszeiten, kümmert sich um die
Erziehung seiner Kinder, die Pflege der Eltern oder unternimmt eine Reise um die Welt. Finanziert
wird diese Auszeit durch Ansparen von Teilen des Gehalts.
Diese Regelung ist für Frauen und Männer gedacht und kommt in den Niederlanden gut an.
Das Kabinett erwartet, dass im Jahr 2009 etwa drei Millionen Holländer die Lebenslaufregelung
nutzen werden.

21
In Ländern wie Schweden oder Dänemark trägt das Elterngeld zu den hohen
Geburtenziffern bei. In Island nehmen fast 90 Prozent der Väter ihre Väterzeit. Island, Dänemark,
können das Vor-bilder für Deutschland sein?

VI. Das Strittige an Elterngeld und Krippenförderung ist der gesellschaftliche Wertewandel.
Seit Beginn der Bundesrepublik wird mit diesem Gesetz zum ersten Mal ein verändertes Frauen-
und Familienbild unterstützt. Belohnt wird nicht mehr die Mutter, die sich möglichst lange zu
Hause um ihre Kinder kümmert – belohnt wird die Frau, die vor der Familiengründung berufstätig
war und gut verdient hat. Und es wird ihr nahegelegt, nach einem Jahr wieder in den Beruf zurück-
zukehren, auch weil die Wirtschaft darauf Wert legt, denn das Land wird es sich immer weniger
leisten können, dass eine gut ausgebildete weibliche Arbeitskraft bei der Hausaufgabenbetreuung
der eigenen Kinder versumpft.
Geld zeugt keine Babys, aber es kann das Denken verändern. Und wenn Väter sich mehr
beteiligen, kann auch das eine Ermutigung sein zum nächsten Kind. Das Elterngeld belohnt etwas
mehr Gleichberechtigung; es ist eher ein gesellschaftspolitisches Signal als eine wirkliche Verände-
rung. Aber möglich ist es doch, dass Väter, die sich auf die Partnermonate einlassen, Geschmack an
einer neuen Vaterrolle finden.
Manche sind schon dabei. Die Einstellungen haben sich sehr verändert in den vergangenen
Jahren: Nur noch 10 Prozent der Deutschen wünschen sich die Hausfrauenehe – bei den Männern
sind es 13, bei den Frauen 8 Prozent.
Es gibt sie ja durchaus, die „neuen Väter", die ihr Leben gern um die Familie willen anders
organisieren würden. Die mehr sein wollen als ein Ernährer, der morgens einen Abschiedskuss auf
Kinderbäckchen gibt und abends vielleicht gerade noch rechtzeitig heimkommt, um die Gutenacht-
geschichte zu erzählen. In Deutschland ist ein Potential von 20 Prozent dieser neuen Väter: Sie wür-
den gern, trauen sich aber häufig nicht.
Trauen sich nicht, in Teilzeit zu gehen oder Elternzeit zu nehmen, weil die Firma in Schwie-
rigkeiten käme, weil das Geld nicht reichen könnte oder weil der Chef und die Kollegen mit Ver-
achtung drohen – Väterzeit ist in Deutschland ein Statement, keine Selbstverständlichkeit.
Geld allein wird nicht reichen. Nachwuchs kann man nicht kaufen. Familien brauchen Zeit,
brauchen Arbeitsplätze und Kinderbetreuung, brauchen auch Optimismus, ohne den geht es nicht.
Dass Familie Glück bedeutet, davon sind noch immer die meisten überzeugt, auch die Jun-
gen. Gut drei Viertel der Deutschen finden, dass eine gute Familienbindung sehr wichtig ist. das
sind fast 10 Prozentpunkte mehr als ein Jahrzehnt zuvor, bei den Jugendlichen sogar 15 Prozent-
punkte mehr.
Viele von ihnen wünschen sich Kinder; allerdings längst nicht alle, die an die Familie als
Ort der Geborgenheit glauben. Familie mit oder ohne Kinder, Familie mit zwei Vätern oder
angeheira-teten Geschwistern. Familie ohne Trauschein – es gibt viele Wege, ein altes Ideal auch in
Zukunft zu leben.
(Nach: Anke Dürr, Barbara Supp. Claudia Voigt. Der Familiekrach. Der Spiegel. 9/2007. S. 52 –
72)

22
Gleichstellungs- und Geschlechterpolitik

Gleichstellungspolitik und Geschlechterpolitik (Gender mainstreaming) fordern und för-


dern ausgehend von der Verfassungsnorm die Gleichberechtigung der Geschlechter.

Ihre rechtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen sind:

- der Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann (Art. 3 Abs. 2 GG),
- die aus der deutschen Vereinigung (Einigungsvertrag) herrührende Konkretisierung des Grund-
gesetzes von 1994, nach der der Staat die „tatsächliche" Gleichberechtigung fördert und auf die
Beseitigung von „bestehenden Nachteilen" hinwirkt (Art. 3 Abs. 3 GG),
- das Gleichberechtigungsgesetz des Bundes und der Länder,
- die dem Gleichberechtigungsgrundsatz angepassten Regelungen im Arbeits- und Dienstrecht, im
Sozialversicherungs-, Witwen- und Waisenrecht,
- der sozialgeschichtliche Wandel der Familie von der patriarchalischen zur partnerschaftlichen
Familie,
- der sozialgeschichtliche Prozess der Emanzipation der Frau.

Mit dem Verbot der Benachteiligung von Frauen oder Männern befassen sich Gleichstel-
lungsbeauftragte oder Ämter des Bundes, der Länder, Kommunen sowie Körperschaften öffent-
lichen Rechts und Betriebe. Sie haben die Gesetzesanwendung zu kontrollieren, persönliche Bera-
tung öffentlich anzubieten und dienen als allgemeine Ansprechstelle.
Als Instrumente zur Herstellung von Chancengleichheit werden genutzt:

- Frauenförderprogramme in Ausbildung und Beruf sowie


- Frauenquoten in politischen Organisationen (Parteien) und im öffentlichen Dienst.

Geschlechterpolitik (Gender mainstreaming) ist der Prozess und die Methode, um die Ge-
schlechterperspektive in die Gesamtpolitik aufzunehmen.

Geschlechterpolitik ist eine zweite, umfassendere Strategie zur Erreichung von Chancen-
gleichheit. Politische Entscheidungen und Maßnahmen sind danach so zu betreiben, dass in jedem
Politikfeld und auf allen Entscheidungsebenen die Ausgangsbedingungen für und die Auswirkun-
gen auf beide Geschlechter berücksichtigt werden.

Gleichstellungspolitik Geschlechterpolitik
 geht von bestimmten, konkreten Prob-  alle politischen Entscheidungen und
lemstellungen, die Ungleichheit der Maßnahmen werden unter der ge-
Geschlechter beinhalten, aus schlechtsspezifischen Perspektive be-
 nur bestimmte Ämter oder Personen (z. trachtet
B. Frauenausschuss oder Gleichstel-  alle politischen Akteure prüfen alle poli-
lungsbeauftragte) suchen nach Lösun- tischen Entscheidungen und Maßnahmen
gen auf Geschlechterungleichheiten
 kurze Zeiträume  längere Zeiträume

23
Gleichberechtigung von Mann und Frau
Geteilter Haushalt?

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist im Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland (Artikel 3 GG) verankert. Danach darf niemand u. a. wegen seines Geschlechts be-
nachteiligt werden. Doch trotz dieser Gleichheit vor dem Gesetz bestehen im Alltag noch immer
erhebliche Unterschiede. Erwerbstätige Frauen und Männer müssen Familie, Haushalt und Beruf
miteinander vereinbaren. Oftmals haben Männer, die nach der Arbeit nach Hause kommen, Feier-
abend, während auf erwerbstätige Frauen der zweite Arbeitsplatz wartet. Man spricht deshalb auch
von der Doppelbelastung der Frau.

Gleiche Chancen in Schule und Beruf?

Frauen ordnen ihre beruflichen Wünsche oft der Familie unter. Doch mehr und mehr sind
Frauen heute nicht mehr bereit, auf ihre persönlichen Perspektiven zu verzichten. Der Beruf be-
deutet für sie mehr als bezahlte Arbeit. Er fördert die Selbstständigkeit und finanzielle Sicherheit, er
24
bringt Anerkennung und neue Kontakte. Gerade bei den veränderten Familienverhältnissen ist es
für Frauen heute wichtig, finanziell unabhängig zu sein, damit sie z. B. bei einer Scheidung nicht in
materielle Not geraten.
Obwohl schon seit einigen Jahren mehr Mädchen als Jungen Abitur machen und der Anteil
der Hochschulabsolventen nahezu gleich ist, schlägt sich diese Entwicklung noch nicht im Anteil
von Frauen in Führungspositionen nieder. Vor allem im oberen Management sind nach wie vor
kaum Frauen anzutreffen. Auch in der Politik sind Frauen trotz steigenden Anteils noch immer
unterrepräsentiert.

Zurück am Herd

Zuerst die gute Nachricht: Frauen sind immer gebildeter. In der Schulbildung haben sie die
Männer inzwischen überholt, 40,6 Prozent der Frauen bis 30 Jahre hatten im Jahr 2004 Abitur. Von
den Männern waren es nur 37,8 Prozent. Und unter den Hochschulabsolventen herrscht inzwischen
Geschlechterparität; die ehemalige Dominanz der Männer ist gebrochen. Hurra, möchte man ange-
sichts solcher Zahlen rufen. Denn wo Bildung immer wichtiger wird, sollten die Frauen ja nun ge-
sellschaftlich und beruflich auf dem Vormarsch sein.
Die gesellschaftliche Emanzipation der Frauen gerät vielmehr ins Stocken. Immer noch ist
Diskriminierung nach dem Geschlecht auf dem Arbeitsmarkt üblich. Manch Grund für diese Un-
gleichbehandlung ist eher harmlos: Zum Beispiel werden typische Frauenberufe schlechter entlohnt
als typische Männerjobs. Kriminell wird es allerdings, wenn derlei Strukturunterschiede gar nicht
existieren. Hier diskriminieren Arbeitgeber die Frauen direkt. Sie verdienen weniger als ein Mann,
der genau den gleichen Job macht. Nur, weil sie Frauen sind. Nicht viel besser sieht es bei der
Verteilung der Arbeitszeit zwischen den Geschlechtern aus. Die Zahl der Frauen, die voll beschäf-
tigt sind, hat stark abgenommen: von 1991 bis 2004 um 1,6 Millionen. Die Frauenquote stieg nur,
weil gleichzeitig 1,8 Millionen Frauen mehr in Teilzeit arbeiteten. Unter den Frauen mit Kindern
arbeitet nur noch ein Fünftel ganztags. Die Erwerbstätigkeit von Männern nimmt hingegen zu,
wenn Kinder im Haushalt sind. In Deutschland dominiert immer noch das klassische Ernährer-
modell: Der Mann verdient das Geld, die Frau steigt aus dem Job, mindestens aber aus der Voll-
zeitarbeit, aus - und kümmert sich um die Kinder. Da tröstet auch der Hinweis nicht, dass es in
anderen EU-Ländern ähnlich ist.
Insgesamt kein gutes Zeugnis. Und schon ist sie da: die Schuldfrage. Unter medialem Gene-
ralverdacht stehen traditionell die Männer. Generell würden die Männer in der Gleichberechti-
gungs-Debatte zu negativ dargestellt. So hätten Befragungen ergeben, dass inzwischen sehr viele
Männer gerne eine aktivere Erzieherrolle einnehmen und dafür weniger arbeiten wollten. Andere
Erhebungen allerdings zeigen: Sie tun es nicht.
M 3 Text von: B. Schwentker, Die Zeit, 5.1.2006

25
M 5 Entwicklung der gesetzlichen Gleichstellung

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 1896 § 1354


Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden An-
gelegenheiten zu, er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung.

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 1900 §1356


Die Frau ist ... berechtigt und verpflichtet, das gemeinschaftliche Hauswesen zu leiten. (...)

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) seit 1977 § 1356


(2) Die Ehegatten regeln die Haushaltsführung im gegenseitigen Einvernehmen. Ist die Haushalts-
führung einem der Ehegatten überlassen, so leitet dieser den Haushalt in eigener Verantwortung.
(3) Beide Ehegatten sind berechtigt, erwerbstätig zu sein. Bei der Wahl und Ausübung einer Er-
werbstätigkeit haben sie auf die Belange des anderen Ehegatten und der Familie die gebotene
Rücksicht zu nehmen.

Aufgaben

1. Gleichberechtigung im Haushalt: Beschreiben Sie die Aufgabenverteilung in Ihrer Familie


und vergleichen Sie mit M 1.
2. Fassen Sie die Veränderungen des § 1356 BGB zusammen. Wie könnte die Diskussion eines
Ehepaares über die beiderseitige Erwerbstätigkeit ablaufen (2. Absatz, neueste Fassung)?
3. Berichten Sie über den aktuellen Stand der Gleichberechtigung (M 1 bis M4). Entwerfen Sie
in der Gruppe Plakate, was Sie sich in dieser Hinsicht noch für die Zukunft wünschen.

26
Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Frauen wollen heute mehrheitlich beides: in einer Partnerschaft oder Familie leben und Kin-
der aufziehen und einen interessanten und anspruchsvollen Beruf erlernen und diesen auch ausüben.
Neben dem traditionellen Rollenverständnis stehen der Berufstätigkeit beider Elternteile in
Deutschland viele praktische Hindernisse im Weg. Öffentliche Kinderbetreuung und familien-
freundliche Arbeitszeitmodelle sind Voraussetzungen dafür, dass Frauen und Männer Familie,
Haushalt und Beruf miteinander vereinbaren können. Während es meistens auf privater Basis für
Klein- und Kindergartenkinder noch Betreuungseinrichtungen gibt, die den Arbeitszeiten der Er-
wachsenen angepasst sind, ist es spätestens mit dem Schuleintritt der Kinder für viele Mütter ohne
fremde oder familiäre Hilfe nicht mehr möglich, Vollzeit zu arbeiten, da es kaum Ganztagsbetreu-
ungen für Schulkinder gibt. Auch Arbeitgeber können durch flexible Arbeitszeiten oder andere
familienfreundliche Maßnahmen dazu beitragen, dass sich Familie und Beruf vereinbaren lassen.

27
„Es lag an den Kindern“
(M4 Kinder als Karriere-Bremse?)

Die 32-jährige Grafikerin Lea Rau traute ihren Augen nicht, als sie ihre zurückgesandte Be-
werbungsmappe durchblätterte. Mit dickem Rotstift waren die Namen ihrer drei Kinder im Lebens-
lauf unterstrichen. Bei diesem Job hatte sie sich große Chancen ausgerechnet. Berufs- und Aus-
landserfahrung, gute Englischkenntnisse - das alles konnte sie vorweisen. Vergeblich. „Es lag an
den Kindern", ist sie sich sicher. Im Kampf um die knappen Stellen sind Kinder ein Hindernis. Das
wissen auch Profis wie die Personalberaterin Claudia Haag: „Wenn ich unter fünf Kandidaten eine
Mutter habe, hat sie keine Chance. Selbst wenn sie qualifizierter ist als alle anderen. Es gibt Auf-
traggeber, die von vornherein klarstellen, dass sie keine Bewerberin mit Kind wollen." Bei Männern
spielt das offensichtlich keine Rolle. „In den Köpfen vieler Manager herrscht das Mittelalter - der
Mann hat das Auto und die Frau die Kinder", empört sich Lea Rau. Kaum ein Vater wird im
Vorstellungsgespräch gefragt, wie er die Betreuung seiner Kinder regelt. Bei Müttern dagegen kann
sich daran entscheiden, ob sie den Job kriegen.
In kaum einem anderen europäischen Land geben so viele Mütter ungewollt den Job auf. In
der Hälfte aller deutschen Familien mit Kindern unter sechs Jahren verdient der Mann allein den
Lebensunterhalt. Gewünscht wird diese Arbeitsteilung aber nur von knapp sechs Prozent der Fa-
milien. Anders in Schweden: Dort steht in nur einem Viertel aller Familien mit Kindern unter sechs
die Frau am Herd, während der Mann arbeiten geht; in jeder zweiten Familie arbeiten dort beide
Elternteile Vollzeit. Doch wenn auch bei uns mehr Frauen Familie und Beruf vereinbaren sollen,
brauchen wir wesentlich mehr Angebote für Ganztagsbetreuung.
Zwischen 60 und 80 Prozent der Frauen in Führungspositionen sind kinderlos. Denn wer
nach oben will, muss ständig verfügbar sein, Leistung allein genügt nicht. Karriere machen die
28
meisten Frauen selbst dann nicht, wenn sie auf Kinder verzichten - schließlich ist jede Frau po-
tenziell Mutter. Nur fünf Prozent der Topmanager in deutschen Großunternehmen sind weiblich.
Unternehmen, die Frauen Kinder und Karriere ermöglichen, sind selten. Aber es gibt sie. Familien-
freundliche Personalpolitik ist beispielsweise für die Bausparkasse Schwäbisch Hall schon seit
Jahren ein Standortfaktor, um qualifiziertes Personal anzuziehen. Das Unternehmen hat nicht nur
mehrere Kindertagesstätten, hier teilen sich auch viele Eltern die Arbeitsplätze.
Fabienne Melzer in: Die Zeit 9/2003
M 5 Steuerrechtliche Probleme

Man muss sich zunächst klar machen, worum es eigentlich geht: Seit 1958 fördert der Staat
in Deutschland steuerlich die Tatsache, dass zwei Menschen miteinander verheiratet sind. Denn das
Ehegattensplitting fördert, anders als die Verteidiger behaupten, die immer gerne auf den Schutz
von Ehe und Familie im Grundgesetz verweisen, keineswegs Familien, sondern den Ehestand. Ob
ein Paar Kinder hat oder nicht, zählt dabei nicht. Entscheidend ist alleine der Trauschein. Aus libe-
raler Sicht muss man heute jedoch fragen, ob es überhaupt Sache des Staates ist, bestimmte Lebens-
formen zu unterstützen. Denn nicht verheiratete Paare gehen bei dieser Steuerförderung leer aus,
auch wenn sie Kinder haben. Und dem Ziel, Frauen gleichberechtigt in das Berufsleben einzuglie-
dern, steht das Splitting sogar im Wege.
Zeit online, 4/2006

Aufgaben

1. Der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stehen verschiedene Hindernisse im Weg. Werten Sie
M3 und M6 aus.
2. Diskutieren Sie Lösungsmöglichkeiten (M 2 und M 3).

Wandel im Geschlechterverhältnis

In Deutschland und anderen entwickelten Industriestaaten haben sich die Rolle, das Selbst-
verständnis und die Lebenssituation von Frauen im 20. Jh. grundlegend gewandelt.

29
In der Bundesrepublik ist die Gleichberechtigung der Geschlechter als gesellschaftliches
Grundprinzip verfassungsrechtlich verankert.

 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" (Art. 3 Abs. 2 GG).

Da die juristische Gleichberechtigung allein nicht ausreichte, um in der Praxis eine tatsäch-
liche Gleichstellung zu erreichen, wurde das Grundgesetz 1994 noch ergänzt.

 „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und
Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."

Gleichstellung umfasst neben gleichen Rechten und Pflichten für Männer und Frauen Dis-
kriminierungsverbote, Chancengleichheit sowie Abbau von sozialen Ungerechtigkeiten in der Ge-
sellschaft.

In der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich die neue Frauenbewegung in den


1970er-Jahren aus Impulsen der Studentenbewegung und parallel zu anderen Neuen Sozialen Be-
wegungen, wie Umwelt- oder Bürgerrechtsbewegung.
Die neue Frauenbewegung setzte sich für gleiche Rechte und Chancen für Frauen und Män-
ner in allen Lebensbereichen - Gleichstellung von Mann und Frau - ein. Zentrale Ziele waren:

 gleicher Zugang zu Bildung, Ausbildung, allen Berufen, Macht- und Entscheidungspositionen,


um eine gleichberechtigte Teilhabe in den Strukturen und Institutionen von Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft zu begründen,
 gleichberechtigte Geschlechterbeziehung und Aufhebung der traditionellen Rollen- und Arbeits-
teilung in der Familie,
 Anerkennung frauenspezifischer Interessen, Bedürfnisse und Sichtweisen sowie Schaffung auto-
nomer Freiräume.

Die Forderungen der Frauenbewegung haben die gesellschaftliche Realität in Deutschland in


kontinuierlichen Diskussions- und Aushandlungsprozessen weitgehend verändert und zahlreiche
Fortschritte in Bezug auf Gleichberechtigung gebracht:

 Das Selbstverständnis von Frauen und Männern ist mehrheitlich vom Gleichheitsanspruch ge-
tragen.
 Typische Mädchen- bzw. Jungensozialisationen wurden deutlich abgeschwächt (im Erziehungs
stil dominiert die Norm der Gleichbehandlung der Geschlechter).
 Die Zukunftsvorstellungen und Werte von Männern und Frauen hinsichtlich Familien- und Be-
rufsorientierung sowie Partnerschaftlichkeit haben sich weitgehend angeglichen.
 Die Dominanz von typisch männlichen und weiblichen Lebensmustern und Rollen wurde auf
gehoben, es entstanden ein modernisiertes Geschlechterverhältnis, mehr Wahlmöglichkeiten für
Frauen (Familie, Kinder und/oder Karriere) und vielfältigere Formen von Sexualität.
 Bildungsstand und -chancen haben sich angeglichen, ebenso wie das Ausbildungsniveau von
Frauen und Männern (teilweise bessere Bildungsabschlüsse von Frauen).
 Die weibliche Erwerbstätigkeit ist gestiegen, was auch auf mehr Einflussmöglichkeiten von
Frauen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik verweist.
 Die Rechtsgrundlagen der Gleichstellung wurden verändert, z.B. durch Reformen des
Ehe-, Familien- und Scheidungsrechts, eine kontinuierliche Gleichstellungspolitik wird
betrieben.

30
Texterläuterungen

a) Die heutigen Rechte der Frauen sind Ergebnis eines jahrhundertelangen Emanzipationsprozes-
ses – zum einen als weibliche Befreiung aus traditionellen Rollenmustern, Lebensweisen und
vorurteilsbeladenen Klischeevorstellungen und zum anderen als Kampf gegen die Vormacht-
stellung des Mannes und die Unterdrückung der Frau in Gesellschaft und Staat.
b) Mit dem Amsterdamer Vertrag 1999 erhielt die Gleichstellungspolitik der Europäischen Union
eine rechtliche Grundlage. Die konkreten Maßnahmen sind in den einzelnen europä-ischen
Staaten jedoch national geregelt (z.B. Frauenförderung, Gleichstellungsbeauftragte).
c) Die Frauenbewegung kritisierte u.a. die Dominanz der männlichen Form in der Sprache und
kämpfte für die sprachliche Repräsentanz von Frauen (Bürger und Bürgerinnen). Gegenwärtig
werden zunehmend geschlechtsneutrale Formulierungen, „fachgerecht” statt „fachmännisch”
oder „Studierende” statt „Studenten” bevorzugt.

Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt

Trotz der Erfolge der Frauenbewegung und der Garantie der Gleichberechtigung im Grund-
gesetz, trotz der mittlerweile erfolgten Angleichung des Bildungsstandes und Ausbildungsniveaus
von Männern und Frauen blieben auch in der Bundesrepublik Deutschland soziale und politische
Benachteiligungen von Frauen bis heute bestehen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und in der
Familie. Das gilt auch für die Länder der Europäischen Union.

geschlechtsspezifische Ungleich-
Europäische Union Deutschland
heiten auf dem Arbeitsmarkt
Frauen sind häufig stärker von Ar- 1,7 % (höhere Ar- -1 % (niedrigere Arbeits-
beitslosigkeit betroffen als Männer beitslosenquote von losenquote von Frauen)
(Differenz zwischen den Arbeits- Frauen)
losenquoten von Frauen und Män-
nern)
Frauen stellen die Mehrheit der Teil- 34 % der Frauen, 7 % 39 % der Frauen, 5 % der
zeitbeschäftigten der Männer Männer

Einkommensschere: Frauen werden 16 % 21 %


schlechter bezahlt als Männer
Frauen besetzen wesentlich weniger 24% der Professuren, 20% der Professuren, 31 %
Entscheidungs- und Führungs- 25% der Parlaments- der Parlamentssitze, 27 %
positionen in Wirtschaft, Wissen- sitze, 30 % der wirt- der wirtschaftlichen Füh-
schaft und Politik schaftlichen rungspositionen
Führungspositionen

Eine wichtige Ursache dieser Ungleichheiten liegt in der eingeschränkten Berufswahl jun-
ger Frauen, die sich weniger für technikorientierte, naturwissenschaftliche und innovative Berufe in
wachsenden Zukunftsbranchen (z.B. neue Technologien) entscheiden. Junge Frauen und Männer
wählen nach wie vor überwiegend „Frauen-" bzw. „Männerberufe".

31
typische „Frauenberufe" typische „Männerberufe"
Berufe in den Bereichen Erziehung/ Berufe in den Bereichen Technik, Elek-
Pädagogik, Gesundheit, Soziales (z. B. tronik, Mechanik, Ingenieur- und Bau-
Kindergärtnerin, Krankenschwester, wesen, Maschinenbau (z. B. Kfz-Mecha-
Altenpflegerin, Lehrerin, Ärztin), Büro niker, Industriemechaniker, Informa-
und Einzelhandel (Verkaufspersonal), tiker, Ingenieur), Naturwissenschaften,
Reinigungsbereich Verkehrswesen

Die Unterscheidung in „Frauen- und Männerberufe" beruht auch auf traditionellen Rollen-
bildern über die geschlechtsspezifische „Eignung" für bestimmte Berufe (körperliche und intel-
lektuelle Fähigkeiten, soziale Kompetenzen). Viele Tätigkeiten in typischen „Frauenberufen"
ähneln unbezahlten Tätigkeiten im privaten Haushalt (Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege). Sie
sind häufig gesellschaftlich weniger anerkannt und werden geringer entlohnt. Eine Hauptursache für
die Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt liegt in der ungleichen Verteilung der Aufgaben'innerhalb
der Familie.

Texterläuterungen

1. Frauen wurden erst 1909 in ganz Deutschland zum Studium zugelassen. Heute stellen Frauen
EU-weit 55 % der Akademiker.
2. Die Zahlen in der Tabelle sind dem Gleichstellungsbericht der Europäischen Kommission 2004
entnommen.
3. Statistisch gesehen handelt es sich dann um „Frauen-“ oder „Männerberufe“, wenn 80 % oder
mehr Frauen bzw. Männern die Erwerbspositionen in einem bestimmten Beruf besetzen.
4. Zur Erweiterung des Berufsspektrums von Mädchen und jungen Frauen gibt es immer wieder
staatliche Modellversuche und Maßnahmen, z.B. die zeitweise Trennung von Jungen und Mäd-
chen in bestimmten Unterrichtsfächern, aber auch Förderprogramme, z.B. für gewerblich-tech-
nische Ausbildungsberufe.

Ungleichheiten in der Familie

In der Familie ist die gleichberechtigte, partnerschaftliche Aufteilung der Aufgaben noch
nicht erreicht, nach wie vor dominiert die Zuständigkeit der Frau für Haushalt und Kindererziehung.
Einerseits ist die Erwerbstätigkeit der Frauen selbstverständlich geworden, andererseits
übernehmen Frauen auch weiterhin Verantwortung für Familie und Kinder. Mögliche Folgen oder
Gefahren sind:

 eine Doppelbelastung der Frauen durch Familienarbeit und Berufstätigkeit (Stress, hoher Koordi
nierungsaufwand),
 Konflikte durch kollidierende Leitbilder von „guter Hausfrau und Mutter" und „erfolgreicher,
berufstätiger Frau" (Vernachlässigung von Mutterrolle oder Karriereorientierung),
 geringere zeitliche Flexibilität und reduzierte Leistungsfähigkeit im Beruf (Teilzeitbeschäftigun-
gen, „Karrierebrüche", Erwerbsunterbrechungen, begrenzte Aufstiegschancen),
 höheres Kündigungsrisiko, materielle Unsicherheit, schlechtere Einstellungschancen auf Grund
möglicher Mutterschaft, erschwerter beruflicher Wiedereinstieg nach der Familienphase,
 geringere Rentenansprüche.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt ein Frauenproblem.

32
In Deutschland wählen die meisten Frauen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie das
„Dreiphasenmodell“ (Berufstätigkeit bis zur Geburt des ersten Kindes - Familienphase - Rückkehr
in die Erwerbsarbeit). In der zweiten Erwerbsphase entscheiden sie sich überwiegend für Teilzeitar-
beit, die jedoch weniger Aufstiegs- und Karrierechancen bietet. Dagegen orientieren sich die mei-
ten Männer am erwerbszentrierten Lebenslaufmodell (berufliche Karriere und Vollzeit-Stelle) und
setzen Familienarbeit und Kindererziehung in Verantwortung der Frau voraus.
Die Mehrheit der Frauen orientiert sich am Bild der modernen, emanzipierten Frau. Aspekte
des traditionellen Frauenbildes (z.B. Mutterrolle) werden mit neuen Werten, wie Karriereorientie-
rung, neue Pädagogik in der Kindererziehung kombiniert. Die Mehrheit der Männer akzeptiert zwar
die neue Frauenrolle, orientiert sich selbst aber überwiegend noch am traditionellen männlichen
Rollenbild, was sich z.B. in der geringen Inanspruchnahme der Elternzeit zeigt. Zudem sind Politik
und Wirtschaft, insbesondere Arbeits- und Berufswelt, nach wie vor an männlichen Lebens- und
Verhaltensmustern ausgerichtet.

Texterläuterungen

a) Ein wesentlicher Grund für das Überleben der „überkommenen“ geschlechtsspezifischen fa-
miliären Arbeitsteilung liegt in der Stabilität der traditionellen Rollenbilder (Frau als
Hausfrau, Muter und Ehefrau, Mann als berufstätiger Ernährer der Familie).
b) Die steigende Erwerbsquote von Frauen hat bereits erhebliche Auswirkungen auf die Geburten-
rate in Deutschland. Frauen bekommen im Durchschnitt in immer höherem Alter immer we-
niger Kinder (niedrige Geburtenrate).

Ungleichheit zwischen Frauen und Männern


Rainer Geißler

Neben den schichtspezifischen Differenzierungen gehören die sozialen Ungleichheiten zwi-


schen den Geschlechtern zu den wesentlichen Charakteristika der Sozialstruktur moderner Gesell-
schaften. Die Sozialstrukturanalyse geht davon aus, dass soziale Ungleichheiten zwischen Frauen
und Männern nicht von natürlichen, biologischen Unterschieden herrühren, sondern dass ihnen im
Wesentlichen soziale Ursachen zugrunde liegen. In der industriellen Gesellschaft hat sich eine be-
sondere Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Arbeitswelt, im öffentlichen Leben
und in der Privatsphäre herausgebildet. Zwischen Männern und Frauen existieren typische Unter-
schiede in den sozialen Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Rollenanforderungen, die sich
über geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse auch auf die Persönlichkeit, auf Einstellungen,
Motivationen und Verhaltensweisen niederschlagen. Wie in allen entwickelten Gesellschaften sind
auch in Deutschland Differenzierungen dieser Art in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt worden.

Bildung und Ausbildung

Die Entwicklung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zeigt, dass sich im Bildungsbereich


geschlechtstypische Ungleichheiten am schnellsten und besten abbauen lassen. Mädchen erzielten
schon immer die besseren Schulnoten und wurden seltener nicht versetzt. Aber erst durch die Dis-
kussion um die Ungleichheit der Bildungschancen in den sechziger Jahren wurden sie dazu ermu-
tigt, die besseren Schulleistungen auch in angemessene Bildungsabschlüsse umzusetzen. Ihr Defizit
unter den Abiturjahrgängen ist in der Bundesrepublik Anfang der achtziger Jahre verschwunden.
Inzwischen hat sich der erhebliche weibliche Bildungsrückstand im allgemein bildenden Schul-
system in einen leichten Bildungsvorsprung verwandelt.
Durch eine stärkere Reglementierung bei der Zulassung zum Studium, aber auch durch eine
gezielt mütterfreundliche Gestaltung von Studienbedingungen (kostenlose Kinderbetreuung an den
Hochschulen, besondere Unterkünfte, Kinderzuschläge bei Stipendien, Sonderregelungen beim Stu-
33
dienablauf) konnten die Studienchancen der Frauen denen der Männer angeglichen werden. Jedoch
konnten die jungen westdeutschen Frauen Mitte der neunziger Jahre erstmals die Männer überho-
len.
Mit Recht hebt die Frauenforschung hervor, dass traditionelle Unterschiede zwischen den
Geschlechtern bei den Entscheidungen für bestimmte Schul- und Studienfächer und auch bei der
Berufsausbildung weiterhin fortbestehen. Frauen tendieren nach wie vor dazu, sich auf „frauenty-
pische" Studiengänge wie Erziehungs-, Sozial-, Sprach- und Kulturwissenschaften zu konzentrieren
und bestimmte Studiengänge zu meiden. Die Distanz der Mädchen zu Mathematik, Physik, Chemie
und Technik ist zum Teil direkt auf Umgangs- und Organisationsformen in den Schulen zurück-
zuführen.
Auch in der Berufsausbildung stoßen die Bemühungen um die Gleichstellung von Männern
und Frauen auf Probleme. Trotz besserer Schulnoten und zum Teil höherer Ausbildungsniveaus
sind die jungen Frauen die Verliererinnen im Wettbewerb um knappe Ausbildungsplätze. Frauen
werden auch nach dem Abschluss der Lehre schwerer in den Beruf übernommen und müssen ihre
berufliche Laufbahn auf einem niedrigeren Statusniveau beginnen. 1997 erlernten 54 Prozent der
jungen Frauen lediglich zehn Berufe.

Arbeitswelt

Bessere Bildungschancen der Frauen lassen sich nicht angemessen in bessere Berufschancen
umsetzen. In der Arbeitswelt sind die Männerprivilegien widerstandsfähiger als im Bildungssystem.
Frauen sind in den letzten Jahrzehnten in allen entwickelten Gesellschaften immer stärker in
den Arbeitsmarkt vorgedrungen. Die Erwerbstätigkeit gehört inzwischen zum Lebensentwurf der
modernen Frau. Obwohl Frauen zunehmend in die bezahlten Arbeitsprozesse einbezogen werden,
haben sich in der Arbeitswelt markante Ungleichheiten zu ihrem Nachteil erhalten. Zum einen exi-
stieren geschlechtsspezifisch geteilte Arbeitsmärkte, die für Frauen tendenziell schlechtere Ar-
beitsbedingungen, niedrigere Einkommen, ein niedrigeres Sozialprestige sowie höhere Armuts- und
zum Teil auch Arbeitsplatzrisiken mit sich bringen. Zum anderen stoßen Frauen auf erhebliche
Hindernisse beim Aufstieg in die höheren Etagen der Berufshierarchien. Die durchschnittlichen
Arbeitseinkommen der Frauen liegen vergleichsweise niedrig, weil mehr als ein Drittel von ihnen
Teilzeitarbeit verrichten. 1999 waren es 38 Prozent im Vergleich zu fünf Prozent der Männer. Aber
auch vollbeschäftigte Frauen verdienen erheblich weniger als Männer.
Die Einkommensunterschiede zwischen den Vollbeschäftigten beiderlei Geschlechts konn-
ten in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verringert werden. Da das Prinzip „gleicher Lohn für
gleiche Arbeit" weitgehend durchgesetzt ist, sind die Ursachen für die niedrigen Frauenverdienste
weniger in „direkter Lohndiskriminierung" zu suchen. Sie hängen vor allem damit zusammen, dass
Frauen häufiger in schlechter bezahlten Berufspositionen und Lohngruppen sowie in Branchen mit
Niedriglöhnen beschäftigt sind. Des weiteren sind sie auf die Verpflichtungen der Frauen in den
Familien und bei der Kinderbetreuung zurückzuführen. Die Folgen der häuslichen Einbindung sind
weniger Überstunden, kürzere Arbeitszeiten, weniger übertarifliche Zulagen (zum Beispiel für
Schichtarbeit) sowie weniger Berufsjahre und kürzere Betriebszugehörigkeiten, die sie am Aufstieg
in höhere Lohngruppen hindern.
Frauen haben es erheblich schwerer als Männer, beruflich Karriere zu machen. Zwar rücken
sie inzwischen zunehmend in die höheren Ebenen der Berufswelt vor, dennoch vollzieht sich beim
Aufstieg in die leitenden Positionen eine deutliche Auslese nach Geschlecht. Es gilt weiterhin die
Regel von der hierarchisch zunehmenden Männerdominanz: je höher die Ebene der beruflichen
Hierarchie, um so kleiner der Anteil der Frauen. In den Chefetagen der Berufswelt - in Wirtschaft,
Verwaltung und Wissenschaft, in Medien und Justiz - sind die Männer immer noch weitgehend
unter sich. Dies gilt etwas abgeschwächt selbst für „feminisierte" Bereiche wie Gesundheits- und
Bildungswesen, wo mehrheitlich Frauen arbeiten.

34
Die Ursachen für die Schwierigkeiten der Frauen beim beruflichen Aufstieg sind vielschich-
tig. Das wichtigste Hindernis ist die traditionelle geschlechtstypische Rollentrennung in der Fami-
lie, die den Frauen die Hauptlast bei der Kindererziehung und privaten Haushaltsführung aufbürdet.
Aber auch geschlechtstypische Sozialisationsprozesse sowie Vorurteile gegenüber Frauen in der
Arbeitswelt spielen eine Rolle. 1995 beklagten 72 Prozent der westdeutschen und 79 Prozent der
ostdeutschen Frauen, sie müssten mehr leisten als Männer, um in die gleiche Position zu kommen.
Männer beobachten die aufstiegsmotivierte Frau offenbar häufig mit einem besonders kritischen
Blick und zweifeln an ihrer Kompetenz, Belastbarkeit und Führungstätigkeit.

Politik

Nach und nach fassen die Frauen auch im politischen Bereich Fuß: Dennoch sind die Folgen
der jahrhundertelangen Aussperrung der Frauen von der Politik auch heute noch deutlich spürbar.
Obwohl sich Frauen häufiger als früher parteipolitisch engagieren, sind sie in den Parteien
bis heute Minderheiten geblieben. Auch in den Gewerkschaften sind Frauen - trotz des vergleichs-
weise hohen weiblichen Organisationsgrades in den neuen Bundesländern - mit 31 Prozent der Mit-
glieder (1997) schwach vertreten.
Bemerkenswert ist die kontinuierlich wachsende Zahl der Parlamentarierinnen in den beiden
letzten Jahrzehnten. Ihr Anteil unter den Bundestagsabgeordneten stieg von neun Prozent im Jahre
1980 über 21 Prozent 1990 auf 31 Prozent im derzeitigen Bundestag.

Rolle in der Familie

Die Schwierigkeiten bei der Gleichstellung der Frauen in Beruf und Politik hängen insbe-
sondere mit ihrer Rolle in der Familie zusammen. Die Rollentrennung in der bürgerlichen Gesell-
schaft hatte dem Mann die bezahlte Erwerbsarbeit außer Haus sowie die öffentlichen Aktivitäten
und der Frau die unbezahlten privaten Verpflichtungen bei der Haushaltsführung und der Kinder-
erziehung zugewiesen. Veränderungen an diesem Muster der Arbeitsteilung in Beruf und Politik
setzen voraus, dass sich auch die Arbeitsteilung in der Familie verändert. Wenn die Frau mit zu-
sätzlichen Verpflichtungen in Beruf oder Politik belastet wird, muss man sie in der Familie ent-
lasten, um sie nicht zu überlasten. Die eingefahrene traditionelle Rollentrennung zwischen Männern
und Frauen in den Familien erweist sich jedoch als sehr zählebig. Obwohl Frauen immer häufiger
einem Beruf nachgehen, nehmen ihnen die Männer nur zögerlich Teile der häuslichen Aufgaben ab.
Die Starrheit der herkömmlichen Arbeitsteilung in der Familie war und ist das Haupthin-
dernis für die Gleichstellung der Frauen in Arbeitswelt und Politik. Die Aussage lässt sich unter
anderem an den fünf folgenden Punkten konkretisieren:

 Viele Mütter mildern die Kollision von Familien- und Berufspflichten durch den
vorübergehenden Ausstieg aus dem Beruf oder durch Teilzeitarbeit. Die Entscheidung für eine
dieser Varianten ist gleichbedeutend mit mindestens vorübergehendem Verzicht auf beruflichen
Aufstieg, in vielen Fällen bedeutet sie auch beruflichen Abstieg.
 Spitzenberufe sind meist „Anderthalb-Personen-Berufe". Sie sind auf einen helfenden
Partner zugeschnitten, der dem Berufstätigen „den Rücken frei hält", damit dieser Zeit und Energien
möglichst voll dem Beruf widmen kann. Die Rolle der Helfenden fällt nach dem traditionellen
Rollenverständnis der Frau zu und bedeutet für sie Abstriche an ihren eigenen beruflichen Am-
bitionen.
 Weitere wichtige Voraussetzungen für Spitzenkarrieren sind der Einstieg im richtigen
Alter und das ständige „Am-Ball-Bleiben". Frauen können diese Bedingung häufig nicht erfüllen,
weil wichtige Fundamente für den beruflichen Aufstieg in einer Lebensphase gelegt werden, in der
sie durch Heirat und Kinder besonders stark in Anspruch genommen sind.
 Wenn die beruflichen Ambitionen der Frauen geringer sind als diejenigen der Männer, so
liegt es unter anderem daran, dass sie eher bereit sind, Konflikte zwischen Beruf und Familie
35
zugunsten der Kinder und des Partners zu lösen und Abstriche an ihren Karrierewünschen
vorzunehmen.
 Welchen Verzicht im familiären Bereich diejenigen Frauen leisten müssen, die auf
beruflichen Aufstieg setzen, wird aus einer Studie über leitende Angestellte in der Wirtschaft
deutlich. 1996 waren nur 3,5 Prozent der Männer in Führungspositionen ledig, aber 75 Prozent der
Frauen. 2,5 Prozent der Männer waren geschieden im Vergleich zu acht Prozent der Frauen.
Gesunkene Chancen auf dem Arbeitsmarkt
Nach der deutschen Vereinigung haben die ostdeutschen Frauen einen Teil ihres Gleichstel-
lungsvorsprungs eingebüßt. Frauen sind auf dem krisengeschüttelten Arbeitsmarkt der neuen Län-
der stärker in Bedrängnis geraten als Männer. Wegen ihrer erheblich schlechteren Wiedereinstel-
lungschancen lagen ihre Arbeitslosenquote, die Dauer der Arbeitslosigkeit und der Anteil unter den
Langzeitarbeitslosen meist um 40 bis 100 Prozent höher als bei Männern, obwohl ihre Berufsnei-
gung nach der Wende nicht etwa ab-, sondern zugenommen hat.
Da Frauen aus gehobenen und mittleren Berufspositionen häufiger verdrängt werden als aus
niederen, nimmt die Männerdominanz in den höheren Ebenen der Berufshierarchie wieder zu.
Verschiedene Mobilitätsuntersuchungen zeigen übereinstimmend, dass die Turbulenzen auf dem
Arbeitsmarkt den Männern erheblich bessere Aufstiegschancen bieten. Diese klettern - je nach
Studie - zwei- bis dreimal häufiger als Frauen auf der sozialen Leiter nach oben. Den Frauen wer-
den dagegen die größeren Abstiegsrisiken beschert, sie finden sich nach einem beruflichen Wechsel
doppelt so häufig wie Männer in einer niedrigeren Position wieder. Der Abbau der Kinderbetreu-
ungseinrichtungen und der staatlichen Hilfen für erwerbstätige Frauen haben die Doppelbelastung
erhöht. Die Probleme am Arbeitsmarkt wirken auch auf die häusliche Arbeitsteilung zurück und
verschärfen insbesondere bei den Arbeitslosen deren Geschlechtstypik.
(aus: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 269/2000, S. 45-51)

Aufgaben

1. Überprüfen Sie ausgehend von den oben stehenden Materialien, wie weit Rechtsstatus und
soziale Wirklichkeit übereinstimmen.
2. Diskutieren Sie mögliche Ursachen und Abhilfen, z.B. in Bezug auf das Thema „Frauen als
Führungskräfte". Beziehen Sie die unten stehende Karikatur ein.

„Ihr müsst halb verhungert sein, ihr Ärmsten! Aber ich habe nach Dienst-
schluss noch Tanjas Kleid abgeholt, den Staubsauger in Reparatur gegeben.
Beim Metzger war es wieder so voll [...] in zehn Minuten gibt es Abendbrot [...]"
36
Aufgaben

1. Informieren Sie sich ausgehend von b und c aktuell über die Frauenanteile in den Organen und
in den nationalen Parlamenten der EU-Staaten.

b) Frauen in den Organen/Institutionen der Europäischen Union

Mitglieder darunter Frauenanteil


Organ/Institution
insgesamt Frauen in %
- Europäisches Parlament (EP) 626 188 30,0
- EP-Ausschuss für die Rechte
der Frau und Chancengleich- 38 34 89,5
heit
- EP-Ausschuss für auswärtige
Angelegenheiten... 65 11 16,9
- Europäische Kommission 20 5 25,0
- Rat der EU (Außenminister) 15 3 20,0
- Europäischer Gerichtshof 15 1 6,6
- Europäischer Rat 31 3 9,7
- Wirtschafts- und Sozialaus- 222 38 17,1
schuss
- Ausschuss der Regionen 222 31 14,0

c) Frauen in den nationalen Parlamenten der EU-Staaten sowie Norwegens

Mitglieder Frauenanteil in
Rang Land darunter Frauen
insgesamt %
1. Schweden 349 152 43,6
2. Dänemark 175 66 37,7
3. Finnland 200 74 37,0
4. Niederlande 150 55 36,7
5. Norwegen 165 60 36,4
6. Deutschland 669 207 30,9
7. Österreich 183 49 26,8
8. Spanien 347 93 26,8
9. Belgien 150 35 23,3
10. Portugal 230 45 19,6
11. Großbritannien 658 121 18,4
12. Luxemburg 60 10 16,7
13. Irland 166 22 13,3
14. Italien 630 72 11,4
15. Frankreich 577 60 10,4
16. Griechenland 300 19 6,3
Total 5009 1140 22,8
nur EU-Staaten 4844 1080 22,3
Stand: März 2000
(Zusammengestellt anhand der Europäischen Datenbank des Frauen-Computer-Zentrums Berlin
[www.db-decision.de]; nach: Aus Politik und Zeitgeschichte 31-32/2000)

37
Aufgabe

a) Werten Sie die Karikatur M21 aus. Gehen Sie von der Karikatur M 21 aus und beziehen Sie die
geschlechtsspezifischen Ergebnisse des Lerntests PISA ein, bei dem die Forscher feststellten:
„Mädchen schneiden in einigen Bereichen mittlerweile so gut ab, dass die schwachen Leistun-
gen der Jungen nun zunehmend Anlass zur Besorgnis geben."
Die Ergebnisse sind online verfügbar über www.pisa.oecd.org. oder www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/
ergebnisse.pdf

Männergesellschaft - Gibt's die noch?

Reine „Männerwelten" sind in den modernen Industriestaaten seltener geworden. Man asso-
ziiert Chefetagen, Stammtische, Fußball und nächtliche Werbung im Sportkanal. Die traditionelle
Dominanz hat abgenommen, theoretisch stehen alle privaten und öffentliche Bereiche sowohl Män-
nern als auch Frauen offen. Wird dies von beiden Seiten wahrgenommen, verändern sich die Le-
bensbereiche notwendigerweise. Eine systematische „Männerforschung", welche die überkomme-
nen Männlichkeitsmuster kritisch analysiert, hat noch keine lange Tradition, entwickelte sich jedoch
stärker seit den 1990er-Jahren. Daneben findet man in Alltag und Medien eine Renaissance alter
Rollenbilder.
Einmalig in der bundesdeutschen Männerforschung dürften jedoch die Studien zum Einstel-
lungswandel von Männern sein. Fanden sich hier in den Siebzigerjahren noch überwiegend traditio-
nelle Vorstellungen hinsichtlich der Gestaltung des Geschlechterverhältnisses, sind nach der jüngst
vorgelegten Männerstudie von Paul M. Zulehner und Rainer Volz rund ein Fünftel der bundes-
deutschen Männer so genannte „neue Männer". Diese sind partnerschaftlicher in der Beziehung, be-
teiligen sich deutlich mehr an Haus- und Familienarbeit, sind neue Väter, unterstützen ihre Partne-
38
rinnen in ihrer Berufstätigkeit und lehnen Gewalt als Mittel der Konfliktlösung in der Partnerschaft
eindeutig ab. Ein Fünftel der Männer verhält sich jedoch nach wie vor traditionell, sieht den passen-
den Platz der Frauen im Heim und am Herd – eine Meinung, die allerdings auch rund ein Sechstel
der befragten Frauen vertritt. Dazwischen finden sich die pragmatischen und unsicheren Männer,
deren zukünftiges Rollenmuster eher noch unklar zu sein scheint. Vor dem Hintergrund dieser Zah-
len zeigt ein Blick auf vorliegende Ergebnisse der kritischen Männerforschung, dass zwei hegemo-
niale Männerbilder, die auch gut 30 Jahre Frauen- und Männerbewegung nicht schwächen konnten,
als zentrale Blockaden einer weiteren geschlechterdemokratischen Ausgestaltung des Geschlechter-
verhältnisses von Seiten der Männer gesehen werden können: der Mächtige Mann und der Arbeits-
mann. [... ] Um seiner Rolle gerecht zu werden, übt der Mächtige Mann aber auch Gewalt gegen
sich selbst aus – Gewalt, die sich in einer besonderen Beziehung von Männern zum eigenen Körper
äußert und in einem gegenüber Frauen insgesamt schlechteren Gesundheitszustand resultiert. So
liegt die Suizidrate von Männern allgemein höher als die von Frauen, infolge eines riskanteren Ver-
haltens in der Freizeit sind mehr männliche als weibliche Jugendliche von Unfällen betroffen. Män-
ner liegen in der Altersgruppe zwischen 18 und 59 Jahren sowohl beim Tabak- als auch beim Alko-
holkonsum vor Frauen. Männer betreiben weniger Körperhygiene und Körperpflege und weisen in
der Altersgruppe der 45- bis 65-Jährigen die höchste Todesrate durch Herzinfarkt auf. Hinzu
kommt, dass die Berufe mit den meisten Arbeitsunfällen nach wie vor typische Männerberufe sind,
dass Berufskrankheiten mit Ausnahme der Hautkrankheiten durchgängig Männer erleiden. So wei-
sen Männer allgemein eine um sechs Jahre kürzere Lebenserwartung als Frauen auf, wobei jedoch
nicht alle Männer den Risiken gleichermaßen ausgesetzt sind. Männliche Professoren etwa leben
rund neun Jahre länger als ungelernte Arbeiter, sozial benachteiligte Männer weisen mehr als dop-
pelt so oft Herz-Kreislauf-Krankheiten auf als sozial besser gestellte Männer.
Männlichkeit als Negation des Weiblichen drückt sich letztendlich in einer spezifischen
Form männlicher Emotionalität aus. Männer sind – wie häufig fälschlicherweise unterstellt –
keineswegs unemotional, sondern dem Macht-Mann wird aus dem gesamten Horizont möglicher
Emotionalitätsformen nur ein gewisser Ausschnitt zugestanden.
Männer, welche aus familiären Gründen in Teilzeit arbeiten oder Erziehungsurlaub in An-
spruch nehmen wollen, sehen sich noch immer mit massiven Hindernissen konfrontiert. Insbeson-
dere die Einstellungen von Führungskräften sowie vorherrschende Leistungsvorstellungen und Kar-
rieremuster, die sich am Arbeitsmann ausrichten, werden als zentrales Hindernis gesehen. Teilzeit-
männer gelten als wenig leistungsbereit und loyal, Erziehungsurlauber als „unmännlich". Von daher
ist es nicht verwunderlich, dass bei Volkswagen bis zum Zeitpunkt der generellen Arbeitszeitver-
kürzung kein Mann eine individuelle Reduzierung seiner Arbeitszeit in Erwägung gezogen hatte:
„Weniger finanzielle Gründe als schlicht die ,Unüblichkeit' einer Teilzeitbeschäftigung [ . . . ] war
hierbei ausschlaggebend gewesen." Auch die Hälfte der Männer, die sich bei BMW für ein flexibles
Arbeitsmodell interessierten, schreckte davor zurück, dieses in Anspruch zu nehmen. Als Gründe
gaben sie vor allem Vorbehalte der Vorgesetzten sowie befürchtete Einbußen an Karrierechancen
an.
Die Kehrseite des hohen Stellenwerts der Erwerbsarbeit zeigt sich darin, dass Männer von
Erwerbslosigkeit besonders stark betroffen sind, stehen ihnen in dieser Situation doch kaum Alter-
nativen zum Arbeitsmann offen.
(Peter Doge, Geschlechterdemokratie als Männlichkeitskritik; in: Aus Politik und Zeitgeschichte,
31 -32/2000)

Aufgaben

1. Stellen Sie auf der Basis von unten stehenden Bildern und Karikaturen ältere und neuere
Rollenbilder von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen gegenüber.
2. Diskutieren Sie die Frage nach „Gewinnen und Verlusten" bei einer Veränderung traditioneller
Rollenbilder.

39
40
Häufige Ursachen von Eheproblemen

Eheprobleme sind im Laufe einer langjährigen Partnerschaft so gut wie unvermeidbar. Auch
wenn wir uns einen Partner wählen, der uns in Vielem ähnlich ist, gibt es im Laufe einer Partner-
schaft viele Ereignisse und Veränderungen, die Anlass für Eheprobleme sein können. Schauen wir
uns die häufigsten Ursachen und Auslöser von Eheproblemen an.
Eheprobleme durch mangelnde oder fehlende Kommunikation
Wenn beide Partner ein unterschiedlich starkes Bedürfnis nach Austausch haben, ist das
zunächst einmal kein Problem. Ein Problem entsteht, wenn der eine Partner vom anderen fordert,
dass er dasselbe Bedürfnis wie er hat bzw. sich abgelehnt und unwichtig fühlt, wenn er sich nicht
wie er verhält. Mehr darüber in Eheprobleme aufgrund mangelnder Kommunikation.

41
Eheprobleme durch mangelnde Konfliktlösestrategien
Selbst wenn wir einen Partner wählen, mit dem wir in vielen Bereichen übereinstimmen, so
unterscheiden wir uns doch zeitweise in unseren Bedürfnissen und Erwartungen. Wenn wir nicht in
der Lage sind, uns darüber auszutauschen, kann dies zu Eheproblemen führen. Mehr darüber in
Eheprobleme Konfliktlösestrategien.
Eheprobleme durch mangelnde Nähe und zu große Distanz
Menschen unterscheiden sich darin, ob sie emotionale Nähe zum Partner zulassen können
und wie viel Nähe sie benötigen, um sich sicher zu fühlen. Das unterschiedliche Bedürfnis nach
körperlicher Nähe kann zu Problemen führen. Mehr darüber in Eheprobleme Nähe Distanz.
Eheprobleme wegen Geld
Auch wenn es als Tabu gilt, Geld und Liebe miteinander zu verknüpfen, so führt der unter-
schiedliche Umgang mit Geld in der Partnerschaft häufig zu Konflikten. Mehr darüber in Ehepro-
bleme wegen Geld.
Eheprobleme aufgrund unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen
Jeder Mensch hat einen eigenen Maßstab, was er als ordentlich und unordentlich ansieht.
Treffen zwei Menschen aufeinander, deren Maßstäbe weit auseinander liegen, dann gibt es viel
Konfliktstoff. Mehr darüber in Eheprobleme Ordnung.
Eheprobleme aufgrund von Eifersucht
Eifersucht ist ein Beziehungsgift, das für reichlich Konfliktstoff sorgen und damit zu großen
Eheproblemen führen kann. Mehr darüber in Eheprobleme infolge von Eifersucht.
Eheprobleme durch Eigenschaften des Partners
Manchmal wählen wir einen Partner, der Eigenheiten hat, die wir selbst auch gerne hätten.
Im Laufe der Partnerschaft können diese Eigenschaften jedoch auch für Konfliktstoff sorgen. Mehr
darüber in Eheprobleme durch Eigenschaften des Partners.
Eheprobleme aufgrund von Hobbys
Nicht immer haben Paare gemeinsame Interessen und Hobbys. Verbringt einer der beiden
Partner sehr viel Zeit mit seinem Hobby, kann dies zu Eheproblemen führen. Mehr darüber in Ehe-
probleme Hobby.
Eheprobleme aufgrund von Machtansprüchen und Dominanz
In einer Partnerschaft müssen viele Entscheidungen getroffenen werden, die die Familie, den
Beruf, den Haushalt, die Finanzen oder Kindererziehung betreffen. Wer setzt sich durch, wer ent-
scheidet, was und wie etwas gemacht macht? Streitereien sind vorprogrammiert. Mehr darüber in
Eheprobleme infolge von Entscheidungen.
Eheprobleme aufgrund von Routine
Je länger Paare zusammen sind, umso mehr besteht die Gefahr, dass die Partnerschaft durch
Routine erstickt wird und sich die Beziehung abkühlt. Mehr darüber in Eheprobleme Routine.
Eheprobleme aufgrund Haushaltsaufgabenteilung
Während früher Haushalt und Kindererziehung alleine das Ressort der Frau waren, wird
heute auch vom Mann Mithilfe erwartet. Diese Erwartungshaltung bietet viel Konfliktstoff. Mehr
darüber in Eheprobleme Haushalt.
Eheprobleme aufgrund der Kinderziehung
Die Kindererziehung bietet vielfältige Anlässe, die zu Eheproblemen führen können.
Schauen wir uns an, welche das sind. Mehr darüber in Eheprobleme Kindererziehung.
Eheprobleme aufgrund von Untreue und Seitensprung
Ein Seitensprung erschüttert jede Beziehung und führt zunächst immer zu Eheproblemen.
Mehr darüber in Eheprobleme Seitensprung.
Eheprobleme durch Sexualität
Die Sexualität in einer Beziehung bietet vielfältige Anlässe für Eheprobleme. Mehr darüber
in Eheprobleme durch Sexualität.
Eheprobleme durch Geburt eines Kindes

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Ein Kind kann für eine Beziehung eine harte Zerreisprobe sein. Mehr darüber in Ehepro-
bleme durch Kinder. Mehr darüber in Eheprobleme Geburt eines Kindes.
Eheprobleme durch Eltern und Schwiegereltern
Der Partner bringt meist auch seine Eltern mit in die Beziehung. Oftmals leidet die
Partnerschaft unter dem Einfluss der Eltern. Mehr darüber in Eheprobleme durch Eltern.
Eheprobleme im Alter
Mit zunehmendem Alter verändern wir uns meist in unserer Persönlichkeit, in unserem
Verhalten und körperlich. Dies kann zu Eheproblemen führen. Mehr darüber in Eheprobleme im
Alter.

Aufgabe

Wählen Sie eines der Eheprobleme aus und bereiten sie darüber einen Bericht vor. Suchen Sie den
Stoff für den Bericht im Internet. Geben Sie als Suchbegriff das unterstrichene Problem ein.
Hinweise zum Anfertigen und Präsentieren der Kurzberichte finden Sie im lokalen Netz
(Raum D 401, Datei „Selbständige Arbeit“).

43
Unser Verständnis von Arbeit
Arbeiten, um zu leben

Mit Arbeit verdienen Menschen Geld. Arbeit sichert die Existenz einzelner Menschen und
häufig auch ganzer Familien. Ohne Arbeit wäre aber auch ein Staat nicht überlebensfähig, denn
Arbeit finanziert über Steuereinnahmen den Staat. Neben der materiellen Seite von Arbeit gibt es
aber auch ideelle Aspekte. Durch Arbeit werden Ideen und Wünsche verwirklicht.

Arbeit als Last

Arbeit schafft aber auch Abhängigkeiten und bedeutet Mühsal. Sie schränkt z.B. unsere freie
Zeit ein. Die Arbeitszeit diktiert unseren Lebensrhythmus. Während der Arbeitszeit folgen wir eher
selten unseren privaten Bedürfnissen. Lange Zeit wurde Arbeit gleichgesetzt mit Mühsal und Qual.
Der Zwang zur Arbeit lastete wie ein Fluch auf den Menschen. Im Gegensatz zum Paradies, in dem
alles Notwendige ohne eigenes Zutun im Überfluss vorhanden ist, ist der Mensch gezwungen zu ar-
beiten, um zu überleben. Wer immer es sich leisten konnte, überließ die schwere körperliche Arbeit
Sklaven oder Besiegten.
Erst um 1500 n. Chr. zur Zeit der Reformation wurden Fleiß, Arbeitseifer und Disziplin zu
Tugenden, an denen die Menschen gemessen wurden.

Arbeit als Teil der eigenen Identität

Heute versteht man unter „Arbeit" in erster Linie die Erwerbsarbeit. Ansehen und Bedeu-
tung eines Menschen werden häufig durch seine Arbeit oder seinen Beruf bestimmt. Sie dient nicht
mehr nur der Sicherung des Lebensunterhalts und der Beruf wird zum wichtigen Bestandteil der
eigenen Persönlichkeit. Damit in engem Zusammenhang steht, dass die nicht erwerbstätige Arbeit,
wie z. B. die Hausarbeit, eine sehr geringe Wertschätzung erfährt. Auch wenn genug andere Arbeit
da wäre, ist Arbeitslosigkeit für die meisten noch immer ein schwerer Makel.

M 4 Beruf: Notwendiges Übel oder Selbstverwirklichung?

Nie wieder arbeiten - für nahezu zwei Drittel der europäischen Beschäftigten eine äußerst
verlockende Vorstellung. Der Wunsch, dem Arbeitsalltag zu entfliehen, scheint aber weniger durch
Stress am Arbeitsplatz hervorgerufen zu werden. Vielmehr steht hier das Streben nach Selbstver-
wirklichung im Vordergrund, denn rund die Hälfte träumt davon, außerhalb der beruflichen Ver-
pflichtung ihren wahren Interessen nachzugehen. Nur etwa zehn Prozent wollen aufgrund von
Stress und Belastung dem Arbeitsleben den Rücken kehren.
Dem Traum von einem Leben ohne Job hängen im europäischen Vergleich die italienischen
und niederländischen Beschäftigten am stärksten nach. Rund zwei Drittel träumen davon, den Beruf
an den Nagel hängen zu können, um endlich das zu tun, was sie wirklich interessiert. Nur jeder
Dritte glaubt, dass der tägliche Gang ins Büro für ihn unentbehrlich ist.
Im Gegensatz dazu scheinen 43 beziehungsweise 41 Prozent der deutschen und schwedi-
schen Arbeitnehmer gerade in ihrem Job die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung zu finden. Für
sie stellt der Beruf eine sinnvolle Aufgabe dar, ohne die ein Leben geradezu unvorstellbar ist.
(aus: Stern vom 22.3.2004)

Texterläuterungen

Lateinisch: labor = die Mühe; laborare = arbeiten, sich anstrengen, leiden


Französisch: le travail = die Arbeit
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Italienisch: lavorare = arbeiten; il travaglio = die Qual

Aufgaben

1. Erläutern Sie in einem kurzen, zusammenhängenden Text, was Sie unter Arbeit verstehen.
2. Arbeit und Vergnügen – ein Gegensatz? Begründen Sie Ihre Einstellung .
3. Erklären Sie, welche Sicht von Arbeit z. B. in den italienischen und lateinischen Begriffen
steckt. Diskutieren Sie, welchen Stellenwert Arbeit heute bei uns hat.
4. Befragen Sie die Studenten in Ihrer Gruppe nach den beruflichen Tätigkeiten ihrer Eltern und
ordnen Sie die Tätigkeiten in die Grafik (M 3) ein.
(aus: Politik und Wirtschaft, ein Lehrbuch für die Klasse 8, 2006)

Formen und Ursachen von Arbeitslosigkeit


Im Januar 2006 waren in der Bundesrepublik Deutschland 5,012 Mio. Menschen als arbeits-
los registriert.
Arbeitslosigkeit entsteht aus einem Ungleichgewicht am Arbeitsmarkt: Das Angebot an Ar-
beitskräften übersteigt die Nachfrage, sodass ein Teil der arbeitswilligen und -fähigen Erwerbsper-
sonen zeitweise keine Beschäftigung hat.
Im Januar 2006 betrug die durchschnittliche Arbeitslosenquote in Deutschland 12,1 %
(1993:9,8%). Sie war
- mit 7,2 % in Baden-Würtemberg am niedrigsten,
- mit 21,2 % in Mecklenburg-Vorpommern am höchsten.
Mit 12,0% lag beispielsweise Niedersachsen im Mittelfeld.
Aufgrund der hohen Zahl von Arbeitslosen spricht man heute von Massenarbeitslosigkeit.
Was sind nun die Ursachen für Arbeitslosigkeit? Wie wir schon wissen, werden im Zeit-
alter der Automatisierung immer mehr Arbeiten von Maschinen übernommen - die Anzahl der Ar-
beitsplätze im produzierenden Bereich geht immer weiter zurück. Zugleich werden zunehmend
höher qualifizierte Arbeitskräfte benötigt. Gering qualifizierte und ungelernte Arbeitskräfte finden
daher auf dem Arbeitsmarkt kaum noch oder nur noch zeitweise Arbeit.

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Arbeitsplätze gehen auch dadurch verloren, dass Unternehmen zunehmend zur Kostenmi-
nimierung gezwungen sind. Sie verlagern z.B. Teile ihrer Produktion in so genannte Billiglohn-
länder oder in kleinere, kostengünstigere Unternehmen. Die Arbeitsplätze der hier Beschäftigten
sind meist weniger sicher, denn ihr Arbeitgeber ist oft stark von der Auftragslage des Großunter-
nehmens abhängig. In Abhängigkeit von den Ursachen von Arbeitslosigkeit werden verschiedene
Formen der Arbeitslosigkeit unterschieden.
Texterläuterungen

a) Trotz der allgemeinen Tendenz ist aber auch zu beachten, dass Arbeitsplätze nicht nur
verloren gehen!
Im wachsenden Dienstleistungsbereich entstehen täglich neue Arbeitsplätze.
b) Arbeitslosigkeit kann sein : dauernd – vorübergehend; freiwillig – unfreiwillig
Zahl der registrierten Arbeitslosen x 100
c) Arbeitslosenquote = Zahl der Erwerbslosen
Erscheinungsformen/ Ursachen von Arbeitslosigkeit
strukturelle
konjunkturelle saisonale
Arbeitslosigkeit
Arbeitslosigkeit Arbeitslosigkeit
Ursache sind Veränderungen Ursache sind Konjunktur- Ursachen sind jahreszeitliche
in der Wirtschaftsstruktur schwankungen. Die Nach- Produktionsschwankungen, die
und/oder technologische frage nach Gütern (und hauptsächlich durch die Witterung
Entwicklungen. damit die Produktion) ist bedingt sind, z.B.:
- Region: z.B. Arbeitslose geringer, als es die Mög- - Im Winter werden nur wenige
im Bundesland A – offene lichkeiten zu ihrer Arbeitskräfte im Baugewerbe
Stellen im Bundesland B Produktion sind. benötigt, da bei Frost viele
- Branche: z.B. Entlassun- Das entsteht z.B.: Arbeiten nicht durchführbar sind.
gen in der Kohleindustrie - - in Zeiten von Wirtschafts- - Die Erntezeit für Gemüse und
Arbeitskräftemangel im krisen oder Obst beträgt oft nur wenige Wo-
Gesundheitswesen - bei geringem wirtschaft- chen, Saisonarbeitskräfte zur
- Qualifikation: z. B. Su- lichen Wachstum. Ernte werden daher nur für kur-
che nach Facharbeitern - Die Folge ist die Entlas- ze Zeit eingestellt.
hohe Zahl ungelernter sung von Beschäftigten in
Arbeitsloser größerem Umfang, da Teile
- Beruf: kein Bedarf an von Unternehmen oder
Malern - Mangel an Elek- sogar ganze Unternehmen
trikern aufgegeben werden müs-
sen.

Projekt: Erstellen Sie einen Arbeitsmarktbericht. Recherchieren Sie im Internet unter der Adresse
http://statistik.arbeitsagentur.de. den aktuellen Stand der Arbeitslosigkeit in der BRD und in der
Republik Belarus. Erfassen Sie folgende Daten: Wie viele Menschen sind jeweils arbeitslos? Wie
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hoch ist die Arbeitslosenquote von Männern, Frauen und Jugendlichen? Wie hoch ist die Anzahl
der Langzeitarbeitslosen? Wer gehört zu den Problemgruppen am Arbeitsmarkt (z.B. ältere Arbeit-
nehmer, Halbtagsarbeitskräfte, gering Qualifizierte, ausländische Arbeitnehmer, gesundheits-
beeinträchtigende Arbeitnehmer usw.)? Wie viele offene Stellen gibt es? Präsentieren Sie die Er-
gebnisse in der Gruppe in Form eines Arbeitsmarktberiches. Werten Sie die Ergebnisse aus.

Folgen von Arbeitslosigkeit

Die Mutter von Anja und Markus, die in einem Textilunternehmen als Näherin gearbeitet
hat, ist aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen entlassen worden. Sie ist bereits 45 Jahre alt
und hat es damit schwer, neue Arbeit zu finden. Schon nach kurzer Zeit reicht ihr die Hausarbeit als
Beschäftigung nicht mehr aus – sie fühlt sich zunehmend nutz- und wertlos und verfällt in eine dep-
ressive Stimmung, die die ganze Familie zu spüren bekommt.

Arbeitslosigkeit führt sehr oft zu einer Verschlechterung der familiären Situation, zu einer
Störung des gewohnten Zusammenlebens, zu einer Zunahme von Konflikten. Sie hat damit direkte
Folgen für den Betroffenen und sein soziales Umfeld.
 Anja ist sauer auf ihre Eltern, die ihr diesmal nicht die begehrte und aus Anjas Sicht unverzicht-
bare Markenjeans kaufen wollen. Da Anjas Mutter arbeitslos ist, würde das Geld nur noch für
preiswerte Jeans reichen, sagen die Eltern. Anja fehlt dafür das Verständnis – für den Friseur
der Mutter reicht es doch auch!
Hohe Arbeitslosigkeit hat aber auch Folgen für die Gesellschaft. Es kommt vor allem zu
Konflikten zwischen den Zielen der Arbeitsmarktpolitik auf der einen Seite und gesamtwirtschaft-
lichen Interessen und Zielen auf der anderen Seite.

- So ist es einerseits das Ziel der Arbeitsmarktpolitik des Staates, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen,
also Arbeitsplätze zu erhalten und zu vermitteln sowie Rahmenbedingungen für die Bereitstel-
lung neuer Arbeitsplätze zu schaffen.
- Andererseits muss der Staat für die Umsetzung dieser Aufgaben enorme finanzielle Mittel auf-
wenden, die den Staatshaushalt sehr stark belasten. Zu diesen Ausgaben kommen noch jene für
die soziale Absicherung von Arbeitslosen und ihren Angehörigen durch Zahlung so genannter
Lohnersatzleistungen (Arbeitslosengeld, Sozialhilfe). Zugleich sinken jedoch die Einnahmen
des Staates durch geringere Steuereinnahmen. Denn Arbeitslosigkeit bedeutet für den Betrof-
fenen: kein Einkommen. Kein Einkommen aber bedeutet für den Staat: keine Einnahmen aus
der Lohn- und Einkommenssteuer. Einkommenseinbußen bedeuten außerdem, dass der gesamte
Güterkonsum sich verringert. Damit gehen die Einnahmen aus der Umsatzsteuer für den Staat
zurück. Zudem kommt es bei sinkender Konsumnachfrage zu neuen Entlassungen von
Arbeitskräften.

Arbeitslosigkeit hat sowohl Folgen für den Betroffenen und sein soziales Umfeld als auch
für die Gesellschaft/den Staat.

47
Folgen der Arbeitslosigkeit
für den Arbeitslosen/sein soziales
für die Gesellschaft/denStaat
Umfeld
- vermindertes Haushaltseinkommen - wachsende Ausgaben für so genannte
- verminderter Lebensstandard, wenn Lohnersatzleistungen (Arbeitslosengeld
keine finanziellen Reserven vorhan- und Sozialhilfe aus den Mitteln der
den sind (z.B. einfachere Kleidung, Arbeitslosenversicherung)
keine Markenware mehr) - wachsende Ausgaben für Maßnahmen
- generell verminderter Konsum zur Arbeitsplatzsicherung und – be-
- Schwierigkeiten, Kredite zu tilgen schaffung (z.B. auch Ausgaben für die
- z.T. Umzug in eine preiswertere Qualifizierung und Umschulung)
Wohnung nötig - sinkende Einnahmen durch niedrigere
- Einschränkung der Freizeitaktivitäten Steuereinnahmen (Lohnsteuer, Einkom-
(z.B. Verzicht auf Urlaubsreisen oder menssteuer, Umsatzsteuer) und fehlen-
zu teure Kulturveranstaltungen) de Beiträge zur Sozialversicherung
- Verschlechterung des sozialen Status - mögliche negative Folgen für das
und sozialer Beziehungen (z.B. Ver- Wirtschaftswachstum (z.B. durch eine
lust von Freunden, Partnerschafts- geringere Nachfrage) und für die Wett-
konflikte, Partnertrennung, Aufmerk- bewerbsfähigkeit (z.B. durch einen
samkeitsverlust den Kindern gegen- Mangel an qualifizierten Facharbeitern)
über)
- Depression und Verschlechterung der
Gesundheit, Gefahr der Vereinsamung
und der Problemlösung durch Drogen-
konsum
(aus: Politik/Wirtschaft, Lehrbuch für die Klasse 8, 2009)

Jäger, Bauer, Banker


Wie wir morgen arbeiten werden:
Ein Blick zurück nach vorn

Josef Ehmer. Die Jäger und Sammler kamen und gingen, ebenso die Land-, und Industrie-
arbeiter. Die Zukunft der Arbeit liegt in freier Lohnarbeit auf städtischen Arbeitsmärkten des
Dienstleistungssektors. Und eines steht bereits fest: Deren soziale Probleme werden sich nicht mit den
Institutionen und Ideologien der westlichen Industriegesellschaften lösen lassen.

Noch nie in der Geschichte hat es so viele arbeitende Menschen gegeben wie heute. Vor
1000 Jahren haben weltweit vielleicht 250 Millionen Menschen gelebt, vor 100 Jahren etwas mehr
als eineinhalb Milliarden, heute sind es rund sechseinhalb, 2050 werden es neun Milliarden sein.
Die große Mehrheit von ihnen leistet in irgendeiner Weise Arbeit. Dabei zeichnet sich die globale
Arbeitswelt von heute durch eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" aus. Arbeitsverhältnisse
und Praktiken, die an frühere Epochen der Menschheitsgeschichte erinnern, existieren neben sol-
chen, die vermutlich die Zukunft vorwegnehmen.
Was meinen wir, wenn wir von Arbeit sprechen? Schon die großen Wörterbücher des 18.
Jahrhunderts haben sich um Definitionen bemüht. In der „Encyclopedie" von Diderot und d'Alem-
bert heißt es, Arbeit sei die „tägliche Verrichtung, zu welcher der Mensch durch seine Bedürftigkeit
verurteilt ist und der er gleichzeitig seine Gesundheit, seinen Unterhalt, seine Heiterkeit, seinen ge-
sunden Verstand und vielleicht seine Tugend verdankt". Ähnliche, wenn auch deutlich prosaischere
Formulierungen finden wir im 20. Jahrhundert. Der „Brockhaus" von 1966 definiert Arbeit als „das

48
bewusste Handeln zur Befriedigung von Bedürfnissen, darüber hinaus als Teil der Daseinserfül-
lung".
Das ist ein weites Verständnis von Arbeit, das plausibel klingt und attraktiv erscheint. Aber
geht es tatsächlich darum, wenn wir von „Arbeit" sprechen, von „Arbeitsplätzen" oder von „Ar-
beitslosigkeit"? Offensichtlich nicht. Seit dem späten Mittelalter hat eine begriffliche Verengung
des Arbeitsbegriffs stattgefunden, die in der modernen Gesellschaft zur Gleichsetzung von Arbeit
mit Erwerbsarbeit führt. Wenn heute im Alltag, im politischen Diskurs und nicht zuletzt in der So-
zialstatistik von Arbeit die Rede ist, geht es nicht um alle "täglichen Verrichtungen, zu welcher der
Mensch durch seine Bedürftigkeit verurteilt ist", sondern nur um jene „Verrichtungen", die zu Ein-
kommen führen, die bezahlt werden, die Waren produzieren oder Dienstleistungen darstellen. In
den Lehrbüchern der Ökonomen gilt Arbeit als „für einen anderen gegen Entgelt geleistete Tätig-
keit". Allgemeiner formuliert, ist Arbeit „unter den Bedingungen der modernen Erwerbswirtschaft
jede Tätigkeit, die ein anderer durch Zahlung eines Geldbetrags herbeiführt und damit zugleich (als
in irgendeinem Sinne für ihn nützlich) anerkennt" (Heiner Ganßmann).
Der Begriff der Arbeit, der sich in der Neuzeit durchsetzte, ist also eingeschränkt. Er um-
fasst weder vormoderne Formen einer primär für den Eigenbedarf produzierenden Subsistenzöko-
nomie noch die – auch heute noch in großen Teilen der Welt vorherrschenden – Mischungsverhält-
nisse aus agrarischer Subsistenzwirtschafl und Erwerbstätigkeit. Die vielen reproduktiven Tätig-
keiten in Familie, Haushalt und sozialen Beziehungen werden von unserem Arbeitsbegriff ebenfalls
nicht erfasst, mit allen Konsequenzen für die Geschlechterbeziehungen. „Der Mann arbeitet im
Schweiße seines Angesichts und bedarf erschöpft der tiefen Ruhe; das Weib ist geschäftig immer-
dar, in nimmer ruhender Betriebsamkeit", wusste schon der „Brockhaus" von 1815. Auch ehrenamt-
liche zivilgesellschaftliche Aktivitäten, die in modernen Gesellschaften zunehmende Bedeutung
erlangen, werden nicht als Arbeit gewertet. Skepsis gegenüber dem heute vorherrschenden Arbeits-
begriff ist also durchaus am Platz. Er ist historisch bedingt und daher veränderbar.
Die Beschränkung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit ist nicht zufallig. Sie ist verbunden
mit der Durchsetzung von Marktwirtschaft und Kapitalismus, zunächst in Europa und später welt-
weit. Erwerbsarbeit wurde zur vorrangigen Existenzgrundlage der gesamten Gesellschaften wie der
einzelnen Familien und Individuen. Das veränderte die Einstellung zur Arbeit und führte zu Bewer-
tungen, die man als „bürgerliche Arbeitsethik" bezeichnen kann ...
In den entwickelten Industriestaaten war das 20. Jahrhundert auch das Jahrhundert der Ar-
beitszeitverkürzung. In gewerkschaftlichen Bewegungen wurde ein Slogan populär, der auf Trans-
parenten und in Flugblättern aufschien: „Nicht für die Arbeit leben wir, für das Leben arbeiten wir."
Sozialwissenschaftliche Umfragen in vielen europäischen Ländern zeigen ein verbreitetes Bedürf-
nis, einige Stunden in der Woche weniger zu arbeiten. Die Ausdehnung der Schul- und Ausbil-
dungszeiten und der immer frühere Übertritt in den Ruhestand haben die Zahl der Arbeitsjahre ver-
kürzt, und die steigende Lebenserwartung hat den Anteil der Erwerbsphase am Lebenslauf drastisch
verringert. Seit den 1970er-Jahren entstand ein neues, positives Bild des Ruhestands. Er erscheint
immer mehr als wohlerworbenes Recht, als erwünschte von Arbeit befreite und mit vielfältigen
Aktivitäten gestaltbare Lebensphase.
Im reichen Norden der Welt hat Freizeit den Charakter eines Privilegs der „leisure dass" ver-
loren und ist zu einem Bestandteil der modernen Lebensweise geworden. Geht der globale Trend in
dieselbe Richtung? In einer 1995 weltweit durchgeführten Umfrage zur Arbeitsethik wurde den in-
terviewten Personen aus 40 Ländern die Frage gestellt, ob Arbeit die wichtigste Sache sei und Frei-
zeit nur der Wiederherstellung der Arbeitskraft diene, oder ob Freizeit das Wichtigste sei und die
Bedeutung der Arbeit nur darin bestehe, Freizeit zu ermöglichen. Das Ergebnis zeigt erstaunliche
Unterschiede: In Ländern wie Brasilien, den Philippinen oder Saudi-Arabien sahen zwei Drittel der
Befragten Arbeit als das Wichtigste an, in Ländern wie Australien, Tschechien, Dänemark oder
Großbritannien dagegen votierte mehr als die Hälfte für die Freizeit. In Ländern mit einem geringen
Beschäftigungsgrad, mit hoher Arbeitslosigkeit, unstabilen Arbeitsverhältnissen und niedrigen Löh-
nen wurde Arbeit am höchsten geschätzt; in Ländern mit hohem Beschäftigungsgrad, hohem Ein-

49
kommen, starker arbeitsrechtlicher Regulierung und sozialstaatlicher Sicherung, vor allem in Euro-
pa, dagegen die Freizeit. Je mehr die Menschen Arbeit einen Wert an sich zusprechen, desto weni-
ger arbeiten sie; je mehr sie arbeiten, desto geringere Bedeutung schreiben sie der Arbeit zu", fol-
gerten Chris und Charles Tilly. Auch in den westlichen Gesellschaften kann man aber nicht von
einem völligen Bedeutungsverlust der Arbeit ausgehen, sondern eher von der Suche nach einer
neuen Balance zwischen Erwerbsarbeit und frei verfügbarer Zeit.

Von der Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft

Wie aber sah und sieht die Praxis der Arbeit aus? Global betrachtet, befinden wir uns noch
immer in der Transformation der Arbeitswelt, die in Europa in der frühen Neuzeit begann und im
20. Jahrhundert die gesamte Welt erfasste. Ihr Kern liegt im Übergang von der Landwirtschaft als
wichtigster Grundlage menschlicher Existenz zu einer Wirtschaftsweise, die von Dienstleistungen
geprägt ist. Seit dem vielbeschworenen „Beginn der Geschichte der Arbeit" – dem Übergang von
Jäger- und Sammlergesellschaften zu agrarischen Gesellschaften, der sich vor rund 10 000 Jahren
zunächst im südlichen Anatolien, in Mesopotamien und im Jordantal vollzogen hatte – war die
Landwirtschaft dominierend. In der frühen Neuzeit begann in einzelnen Regionen Nordwesteuropas
eine Gewichtsverschiebung in Richtung Gewerbe und Industrie, die in der „industriellen Revolu-
tion" des 18. und 19 Jahrhunderts eine ungeheure Beschleunigung erfuhr. In England, dem Mutter-
land der industriellen Entwicklung, war schon um 1800 nur mehr ein Drittel der Bevölkerung in der
Landwirtschaft beschäftigt, in Deutschland, überstieg kurz nach 1900 die Zahl der gewerblichindu-
striell Erwerbstätigen jene in der Landwirtschaft. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor al-
lem in der Boomperiode der fünfziger und sechziger Jahre, wurde in den meisten ökonomisch ent-
wickelten Staaten Industrie und Gewerbe zum vorherrschenden Arbeitsort.
Langfristig gesehen blieb die Dominanz der industriellen Arbeitswelt aber eine kurze Episo-
de. Im 20. Jahrhundert war es der Dienstleistungsbereich, in dem die Anzahl der Beschäftigten am
schnellsten wuchs. In den USA arbeitete schon um 1950 mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen in
diesem Sektor, in den westeuropäischen Industriestaaten und in Japan vollzog sich der Übergang
zur Dienstleistungsgesellschaft in den siebziger Jahren. Gegenwärtig sind in den wirtschaftlich ent-
wickelten Ländern der Welt, einschließlich der EU, rund vier Prozent der Erwerbstätigen in der
Landwirtschaft tätig, rund 24 Prozent in der Industrie und rund 72 Prozent – fast drei Viertel – im
Dienstleistungsbereich. Weltweit arbeiten 36 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, 22
Prozent in der Industrie und – schon oder erst – 42 Prozent im Dienstleistungssektor. In Südasien ist
noch immer fast die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, in Afrika südlich der Saha-
ra sind es sogar zwei Drittel. Der Trend geht jedoch überall in dieselbe Richtung, wobei in vielen
sich spät entwickelnden Volkswirtschaften die in der europäischen Geschichte so wichtige Indu-
striephase übersprungen wird und ein direkter Übergang von der Landwirtschaft zu den Dienstleis-
tungen erfolgt. Allein zwischen 1996 und 2006 ist der weltweite Anteil der agrarisch Beschäftigten
um fünf Prozent gefallen, jener der Dienstleistenden im selben Maße gestiegen.
Diese Daten zeigen einen grundlegenden Wandel der Arbeitswelt an. Menschliche Arbeit
dient heute nur zu einem kleinen, und tendenziell weiter schwindenden Teil der Herstellung von
Gütern, seien sie agrarischer oder gewerblich-industrieller Art – kurz all dem, was über Jahrtausen-
de hinweg der Inbegriff von Arbeit war. Arbeit ist heute mit dem Transport und dem Austausch von
Gütern befasst (Handel, Verkehr, Marketing, Werbung), mit Kommunikation und Mobilität, mit
Kultur und Unterhaltung, mit Bildung und Wissenschaft, mit öffentlicher Verwaltung, mit dem So-
zial- und Gesundheitswesen, nicht zuletzt mit Geld (Banken, Versicherungen etc.). Alle diese
höchst unterschiedlichen Tätigkeiten werden in der Statistik unter dem Begriff der Dienstleistungen
subsumiert. Die Gegenwart und Zukunft der Arbeit liegen zweifellos in diesem weit gefächerten
Bereich.

50
Drei Thesen zur Zukunft der Arbeit

Die epochale Transformation von der Landwirtschaft zu den Dienstleistungen hat gravieren-
de Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse. Erstens kommt es zu einer weiteren Zunahme
unselbständiger Arbeit. Weltweit befindet sich heute fast die Hälfte aller Erwerbstätigen in dieser
sozialen Position, in den entwickelten Staaten sind es rund 85 Prozent. Arbeitgeber, alleinarbeitende
Selb-ständige und mithelfende Familienangehörige verlieren zahlenmäßig weiter an Gewicht. Die
Gegenwart und Zukunft der Arbeit bestehen – wesentlich stärker als jemals zuvor in der Geschichte
– in Lohnarbeit. Historisch gesehen war die Entwicklung der Lohnarbeit mit Individualisierung ver-
knüpft. Arbeit wurde aus familiären, kommunalen oder genossenschaftlichen Bindungen gelöst.
Lohnarbeit ist allerdings eine abhängige und besonders verwundbare Form von Arbeit. Die Abhän-
gigkeit von Arbeitsmärkten und Arbeitgebern war stets ein gravierendes Problem und hat mit der
Globalisierung des 21. Jahrhunderts eine neue Dimension erhalten. In den europäischen Industrie-
gesellschaften des 20. Jahrhunderts wurde versucht, die Unwägbarkeiten der Lohnarbeiterexistenz
durch kollektive Zusammenschlüsse der Arbeitenden, durch rechtliche Regelung von Arbeitsver-
hältnissen und durch sozialstaatliche Sicherungen zu mildern. In der westlichen Welt scheinen diese
Sicherungsformen ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Die weltweite Zunahme der Lohnarbeit
lässt sie aber weiterhin als unverzichtbar erscheinen.
Zweitens hat Lohnarbeit im Dienstleistungsbereich eine lange historische Tendenz zur
freien Arbeit verstärkt. Landwirtschaftliche Arbeit, die nicht nur der eigenen Subsistenz dient,
basierte in vielen historischen Gesellschaften auf Zwang, sei es Sklaverei oder feudale
Abhängigkeit. Industrielle Zwangsarbeit findet man in den totalitären europäischen Staaten des 20.
Jahrhunderts, in den nationalsozialistischen Lagern wie im sowjetischen Gulag. Auch die moderne
Ökonomie ist allerdings nicht automatisch frei von Zwangsarbeit. Die Internationale
Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass gegenwärtig mehr als zwölf Millionen Menschen mit
Gewalt zur Arbeit gezwungen werden, darunter viele Frauen und Mädchen als Opfer des globalen
Sex-Business.
Drittens ist Arbeit mehr als je zuvor städtische Arbeit geworden. Der Rückgang der land-
wirtschaftlichen Beschäftigung wird begleitet vom Wachstum der städtischen Bevölkerung. Im Jahr
2007 lebten zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in Städten als in ländlichen Gebie-
ten. Global gesehen, liegen Gegenwart und Zukunft der Arbeit in freier Lohnarbeit auf städtischen
Arbeitsmärkten des Dienstleistungssektors: vom Rikschafahrer der indischen Metropolen bis zum
klimatisierten Finanzbüro der Londoner City, von der in Italien illegal arbeitenden moldawischen
Altenpflegerin bis zum Software-Entwickler im Silicon Valley...

51
Verstöße gegen Rechtsordnung –
die Gerichte entscheiden
„Öffentliches Recht" und „Privatrecht"

Unsere Rechtsordnung unterscheidet zwischen zwei großen Rechtsbereichen.

- Unsere Rechtsbeziehungen zu anderen Privatleuten und privaten Organisationen (Betrieben,


Geschäften) sind im „Privatrecht " (auch: Zivilrecht) geregelt. Die umfassendste Gesetzessam-
mlung dazu ist das „Bürgerliche Gesetzbuch" (BGB). Bei Streitigkeiten sind die „Zivilgerichte"
zuständig.
- Überall da, wo wir es mit staatlichen Stellen (dazu gehören z.B. die Amter der Stadtverwaltung,
aber auch die öffentlichen Schulen) oder mit Rechtsvorschriften zu tun haben, deren Einhaltung
vom Staat überwacht wird und bei deren Nichteinhaltung staatliche Strafen drohen (Verstöße
gegen die Verkehrsordnung, Diebstahl, Drogenhandel usw.), spricht man von „öffentlichem
Recht". Wichtigstes Gesetzbuch dazu ist das „Strafgesetzbuch" (StGB). Zuständig für das
Strafrecht sind die Strafgerichte. Anhand der folgenden Sammlung konkreter Beispiele können
Sie sich Klarheit über diese Unterscheidung verschaffen (nur 4 der 13 Fälle sind
privatrechtlicher Natur). Begründen Sie jeweils Ihre Zuordnung.

Öffentliches
Nr. Fall Privatrecht
Recht
1 Mord bzw. Totschlag
Streit zwischen den Nachbarn Hinz und Kunz:
Ein Ast ragt über die Grundstücksgrenze und
2
soll nach Meinung von Herrn Kunz abgesägt
werden. Hinz will das aber nicht.
Schüler klagt gegen die Nichtversetzung we-
3
gen „ungerechter" Notengebung.
Bürger A klagt gegen eine verweigerte Bau-
4
genehmigung.
Frau Zorn klagt gegen das Fahrradgeschäft
5 Plattfuß wegen einer überhöhten Reparatur-
rechnung.
Die Brüder Max und Moritz streiten wegen
6
einer Erbschaft.
Ein Beamter wird wegen Bestechlichkeit ver-
7
klagt.

wiHubert L. wurde bei Handel mit Kokain er-


8
wischt.
Bürger Findig klagt gegen den Steuerbescheid.
9
10 Opa Fritz klagt gegen den Rentenbescheid.
Frau Kornblume klagt gegen das Reisebüro
Sonnenschein, weil die Nachtruhe im Urlaubs-
11
hotel an der Costa Brava durch den Lärm einer
Diskothek gestört wurde.
Herbert Stempel wurde beim Fälschen eines
12
Personalausweises erwischt.
52
Isolde Kummer klagt gegen ihren Ex-Verlob-
13 ten Frank S. Er hat sie mit einer anderen Frau
betrogen und sie geohrfeigt.

Öffentliches Recht Privatrecht

- Völkerrecht - Bürgerliches Recht


- Verfassungsrecht Schuldrecht
- Kirchenrecht Sachenrecht
- Verwaltungsrecht Familienrecht
- Steuerrecht Erbrecht
- Strafrecht - Handelsrecht
- Prozessrecht - Gesellschaftsrecht
- Sozialrecht - Arbeitsrecht

Jugendliche vor Gericht

Jugendstrafrecht: Welche Strafen sind möglich?

Maßnahmen Gründe, die für die Anwendung der betreffenden Maßnahme


sprechen können
A. Erziehungsmaßre-
geln (§ 9)
1. Weisungen  Einmalige Straftaten, die durch Umstände der Lebensführung
2. Erziehungsbei- wesentlich mitverursacht wurden
 Wenn mangelnde elterliche Erziehungsmöglichkeit als Täter-
standschaft
merkmal festgestellt wird
3. Fürsorgeerziehung  Wenn bei einer 17-Jährigen die Familie eine drohende Verwahr-
losung nicht aufhalten kann
B. Zuchtmittel (§13)
1. Verwarnung  Einmalige Straftaten, für die der Jugendliche in seiner Person
2. Auflagen selbst verantwortlich ist
3. Jugendarrest  Schäden aus Übermut
 Delikte aus mangelnder Selbstkontrolle bei besonderer Gele-
genheit, z.B. leichter Diebstahl, Körperverletzung u.a.
C. Jugendstrafe (§17)
1. Freiheitsentzug von  Schwere Straftaten mit hohem Schuldgehalt
bestimmter Dauer  Insbesondere bei Heranwachsenden und Feststellung „schädli-
2. Freiheitsentzug von cher Neigung" z. B. bei Wiederholungstätern
unbestimmter Dauer
(Andreas Gerster, Recht mit Methode, C. C. Buchners Verlag, Bamberg 2004, S. 22)

53
Für Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren ist das Jugendgericht zuständig. Wer jünger
als 14 Jahre ist, gilt als nicht strafmündig. Das bedeutet, dass Mädchen und Jungen in diesem Alter
noch nicht bestraft werden können. Heranwachsende im Alter von 18 bis 21 Jahren könnten eben-
falls nach dem Jugendgerichtsgesetz verurteilt werden, wenn sie zum Tatzeitpunkt in ihrer Reife
Jugendlichen nahestehen. Dies entscheidet der Richter im Einzelfall. Die Zusammensetzung des
Jugendgerichts hängt von der Schwere der Straftat ab: Bei einfacheren Straftaten besteht es aus
einem Richter. Ist die Straftat schwerwiegender, wird dieser von zwei Schöffen unterstützt. Das
sind ehrenamtliche Mitarbeiter, die mit dem Richter über das Urteil beraten. Dabei haben sie die
gleichen Rechte wie ein Richter. In besonders schweren Fällen, zum Beispiel bei Mord, besteht das
Gericht aus drei Richtern und zwei Schöffen. Je nach Schwere der Straftat kann das Jugendgericht
verschiedene Strafen aussprechen. Zunächst wird es prüfen, ob sogenannte Erziehungsmaßnah-
men angebracht sind. So kann das Gericht zum Beispiel verfügen, dass der Jugendliche
 eine Lehrstelle oder eine Arbeitsstelle annehmen muss,
 bestimmte Gaststätten nicht mehr besuchen darf,
 gemeinnützige Arbeiten, zum Beispiel in einem Altenheim oder einer Jugendeinrichtung, leisten
muss,
 für einige Zeit in einem Heim oder in einer Pflegefamilie untergebracht wird.
Sozialarbeiter vom Jugendamt betreuen die Jugendlichen nicht nur vor Gericht und während
der Verbüßung der Strafe, sondern vermitteln auch Beratung (zum Beispiel Drogenberatung) und
Hilfen bei Konflikten mit den Eltern. Wenn Erziehungsmaßnahmen nicht ausreichen, kann das Ju-
gendgericht auch Zuchtmittel anwenden. Es kann zum Beispiel
 eine Verwarnung aussprechen;
 anordnen, einen Schaden wieder gutzumachen, zum Beispiel indem der/die Angeklagte eine
Geldbuße an eine gemeinnützige Einrichtung zahlt;
 Jugendarrest in Form von Freizeitarrest an Wochenenden oder als Dauerarrest bis zu vier Wo-
chen verhängen.
Wenn eine besonders schwere Schuld vorliegt, wird eine Jugendstrafe verhängt. Das be-
deutet für den Jugendlichen eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten bis höchstens zehn
Jahren. Ist ein Jugendlicher bereits mehrfach straffällig geworden, wird das Urteil strenger ausfallen
als bei einem nicht vorbestraften. Ist zu erwarten, dass der Jugendliche künftig nicht mehr straffällig
wird, wird das Gericht die Strafe zur Bewährung aussetzen. Das bedeutet, dass der Jugendliche zu-
nächst nicht ins Gefängnis muss, sich aber über einen längeren Zeitraum einwandfrei zu verhalten
hat und sich regelmäßig bei der Polizei melden muss. Begeht er in dieser Zeit eine Straftat, muss er
seine Haftstrafe antreten.

Aufgaben

1. Erläutern Sie anhand des Textes die schematische Übersicht zu möglichen Maßnahmen im
Rahmen des Jugendstrafrechts.
 Inwiefern begegnet der Staat Jugendlichen „mit größerer Nachsicht“? In welchen Fällen werden
auch Erwachsene (bis 21 Jahre) vor Gericht wie Jugendliche behandelt? Wie stehen Sie zu einer
Verschärfung des Jugendstrafrechts?
 Wodurch unterscheiden sich „Erziehungsmaßnahmen“ von „Zuchtmitteln“ und diese von „Ju-
gendstrafe“?
2. Stellen Sie heraus, welche drei Gerichte bei Jugendstrafsachen zuständig sein können und wo-
nach sich die jeweilige Zuständigkeit richtet.
3. Als Richter sollen Sie Maßnahmen nach dem Jugendgerichtgesetz in den nachfolgend genann-
ten Fällen verhängen. Begründen Sie, warum Sie sich für eine bestimmte Maßnahme entschie-
den haben. Es ist auch möglich, mehrere Maßnahmen nebeneinander zu verhängen.
 Anna, 16 Jahre, zerkratzt in leicht alkoholisiertem Zustand nach einer Party die Tür eines S-
Klasse Mercedes, weil sie die „Bonzen“ nicht leiden kann. Schaden: 2500 Euro.
 Bert, 17 Jahre, schlägt mit Freunden einen 12-jährigen Jungen zusammen, das Opfer wird dabei
verletzt.
 Chris, 14 Jahre, lässt in einem Kaufhaus die neue CD der Gruppe „Natural“ mitgehen und wird
dabei erwischt.
 Dennis, 18 Jahre, dringt mit Freunden in ein Grafikbüro ein und entwendet PCs und weitere Ge-
räte im Wert von 15 000 Euro. Beim Versuch, die Ware zu verkaufen, wird er erwischt. Er ist
schon mehrmals wegen Diebstahls beim Jugendrichter gelandet.
 Ellis und Felix, 17 Jahre, werfen „zum Spaß“ Steine von einer Autobahnbrücke auf die Fahr-
bahn, eine Mutter von drei Kindern stirbt.

Der Fall Peter K.

Das Jugendgericht tagt.

Der 16-jährige Realschüler Peter K., als ältestes Kind einer Witwe in der Kleinstadt W. auf-
gewachsen, ist bisher mit dem Gesetz noch nie in Konflikt gekommen. Im Frühsommer stellt er
fest, dass er das Klassenziel nicht erreichen wird. Hierüber ist er bestürzt, wagt es aber nicht, sich
mit seinen Angehörigen auszusprechen. Er reißt von zu Hause aus und fährt per Anhalter in die
Großstadt X. Nach eintägigem Herumstreichen ist sein Taschengeld verbraucht und er überlegt, wie
er zu Geld kommen kann. Auf einem Spaziergang in einem Waldgebiet sieht er eine 40-jährige Spa-
ziergängerin, die eine Handtasche mit sich führt. Er entschließt sich, die Handtasche an sich zu brin-
gen. Da er mit Widerstand seines Opfers rechnet, bewaffnet er sich mit einem handfesten Stock. Er
schleicht sich an die Fußgängerin heran, schlägt sie mit dem Stock zweimal auf den Kopf. Sie stürzt
zu Boden, er entreißt ihr die Tasche und entflieht. Das Opfer erwacht nach einer Viertelstunde aus
der Bewusstlosigkeit mit leichten Verletzungen. Zwei Stunden später wird Peter K. festgenommen.
Er befindet sich bis zu der 6 Wochen nach der Tat stattfindenden Hauptverhandlung in Untersu-
chungshaft.

Wie würden Sie entscheiden? – Vorschriften und Paragraphen

Im Folgenden drucken wir die für den Fall Peter K. relevanten Vorschriften aus dem Straf-
gesetzbuch ab. Sie sollen den Fall selbst bearbeiten und dazu ein Urteil formulieren.

§ 52. Tateinheit. (1) Verletzt dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz
mehrmals, so wird nur auf eine Strafe erkannt.

§ 223a. Gefährliche Körperverletzung. (1) Ist die Körperverletzung mittels einer Waffe, insbe-
sondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs, oder mittels eines hinterlistigen
Überfalls oder von mehreren gemeinschaftlich oder mittels einer das Leben gefährdenden Behand-
lung begangen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren.
(2) Der Versuch ist strafbar.

§ 249. Raub. (1) Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit
gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Ab-
sicht wegnimmt, sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem
Jahr bestraft.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

§ 250. Schwerer Raub. (1) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn
1. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub eine Schusswaffe bei sich führt,
2. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub eine Waffe oder sonst ein Werkzeug oder
Mittel bei sich führt, um den Widerstand eines anderen durch Gewalt oder Drohung mit
Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, ;
3. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub durch die Tat einen anderen in die Gefahr
des Todes oder einer schweren Körperverletzung (§ 224) bringt oder
4. der Täter den Raub als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Raub
oder Diebstahl verbunden hat, unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds begeht.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren.

Aufgabe

a) Bilden Sie mehrere Arbeitsgruppen, beraten Sie in diesen Gruppen über den geschilderten Fall
Peter K. und formulieren Sie jeweils ein begründetes Urteil. Die Grundlagen dafür bilden die
oben abgedruckten Vorschriften.
b) Vergleichen Sie die verschiedenen von Ihnen gefällten Urteile miteinander.

Der Ablauf des Gerichtsverfahrens –


Strafprozess und Zivilprozess

Der Ablauf eines Strafverfahrens

Das Strafverfahren ist ein gesetzlich geordnetes Verfahren, in dem darüber entschieden
wird, ob ein strafbares Verhalten vorliegt. Es gliedert sich in die Abschnitte
- Ermittlungsverfahren
- Eröffnungsverfahren
- Hauptverhandlung und
- Vollstreckungsverfahren.
Sobald die Staatsanwaltschaft vom Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, ist sie nach dem
so genannten Legalitätsprinzip verpflichtet, den Sachverhalt zu erforschen. In einem Ermittlungs-
verfahren untersucht sie, ob Anlass besteht, gegen den Beschuldigten eine öffentliche Klage zu
erheben oder das Verfahren einzustellen. Dabei bedient sie sich vielfach polizeilicher Hilfe. Bei der
Erforschung des Sachverhalts müssen Polizei und Staatsanwaltschaft alle zur Entlastung und zur
Belastung des Beschuldigten dienenden Tatsachen und Umstände von Amts wegen ermitteln.
Glaubt die Staatsanwaltschaft, dass sie dem Beschuldigten ein strafbares Verhalten nachweisen
kann, verfasst sie eine Anklageschrift und legt diese dem Gericht vor.
Damit beginnt das Eröffnungsverfahren. Das Gericht teilt dem Angeschuldigten die An-
klageschrift mit und fordert ihn auf, sich zu der Anklage zu äußern. Schreibt das Gesetz die Mitwir-
kung eines Verteidigers vor – was vor allem bei schweren Straftaten der Fall ist -, so bestellt das
Gericht jetzt dem Angeschuldigten, der noch keinen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung beauf-
tragt hat, einen sog. Pflichtverteidiger. Das Gericht prüft dann noch einmal, ob der hinreichende
Verdacht einer strafbaren Handlung besteht und deshalb die Anklage zur Hauptverhandlung zuge-
lassen werden kann. Das Eröffnungsverfahren endet mit der Ablehnung der Eröffnung des Haupt-
verfahrens oder mit dem Eröffnungsbeschluss. Den Eröffnungsbeschluss übersendet das Gericht
dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft. Außerdem werden der Termin zur Hauptverhandlung
bestimmt, der Angeklagte, Zeugen, Sachverständige usw. zum Termin geladen und sonstige Be-
weismittel herbeigeschafft.
Die Hauptverhandlung ist das Kernstück des Strafverfahrens. Sie läuft so ab:
- Der vorsitzende Richter stellt fest, ob die erforderlichen Personen anwesend sind, und belehrt die
Zeugen über ihre Zeugenpflichten.
- Dann vernimmt der Vorsitzende den Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse.
- Der Staatsanwalt verliest die vom Gericht zugelassene Anklage.
- Der Angeklagte wird darauf hingewiesen, dass es ihm freisteht, sich zur Sache zu äußern; er soll
sich nicht möglicherweise selbst belasten müssen. Will er aussagen, wird er vernommen.
- Nun erfolgt die Beweisaufnahme: Es können Zeugen vernommen, Sachverständige angehört und
Urkunden verlesen werden. Außerdem kann das Gericht eine Sache oder einen Ort selbst in
Augenschein nehmen. Nach jeder Beweiserhebung erhalten der Angeklagte, sein Verteidiger und
der Staatsanwalt Gelegenheit, sich zu äußern.
- Nach Abschluss der Beweisaufnahme fasst der Staatsanwalt das Ergebnis der Hauptverhandlung
zusammen und stellt einen bestimmten Antrag an das Gericht.
- Hat der Angeklagte einen Verteidiger, hält auch dieser einen zusammenfassenden Schlussvortrag
und stellt einen Antrag.
- Der Angeklagte hat das letzte Wort.

Nun zieht sich das Gericht zur Beratung über das Urteil zurück. Anschließend verkündet der
vorsitzende Richter im Namen des Volkes das Urteil.

Im Zivilprozess ist manches anders

Strafprozess Zivilprozess

Ein Beschuldigter hat gegen eine Strafvor- Eine Privatperson oder ein Unternehmen
schrift verstoßen und soll im öffentlichen möchte einen Rechtsanspruch gegen eine
Interesse zu einer Strafe verurteilt werden. andere „Partei" durchsetzen.

Grundlage ist das Strafgesetzbuch (StGB) Grundlage ist das Bürgerliche Gesetzbuch
und die Strafprozessordnung (StPO). (BGB) und die Zivilprozessordnung (ZPO).

Staatsanwalt (als Vertreter des Staates) und Kläger und Beklagter stehen sich gegenüber.
Angeklagter stehen sich gegenüber.
Gerichtliches Verfahren beginnt mit Gerichtliches Verfahren beginnt mit
a) Einreichung der Anklageschrift oder a) Einreichung einer Klageschrift oder
b) Erlass eines Strafbefehls. b) Erlass eines Mahnbescheides.

Im Vordergrund des Verfahrens steht der Im Vordergrund des Verfahrens steht der
Amtsermittlungsgrundsatz, d.h. die Staats- Verhandlungsgrundsatz, d.h. der Kläger muss
anwaltschaft muss jede strafbare Handlung, den Prozess selbst in die Wege leiten. Das
von der sie weiß, „von Amts wegen" ver- Gericht darf nicht von sich aus Beweise erhe-
folgen. Das Gericht muss die Beweise erhe- ben, sondern ist an die vorgebrachten Anträ-
ben. ge und Tatsachen gebunden.

Bei Nichterscheinen des Angeklagten kann er Bei Nichterscheinen einer Partei kann gegen
für die Hauptverhandlung durch die Polizei sie ein Säumnisurteil ausgesprochen werden.
herbeigebracht werden. Sollten beide Parteien nicht anwesend sein,
„ruht" das Verfahren, weil kein Kläger da ist.

Die Tat und die Schuld des Angeklagten Die Partei, die ihren Rechtsanspruch
muss das Gericht eindeutig beweisen. durchsetzen will, hat die Beweislast und
muss ihren Anspruch als „Beweispflichtiger“
„untermauern“ und beweisen.

Der Streit um die Brosche – Frau Loibl und Frau Reiter vor dem Zivilgericht

Frau Loibl aus Starnberg hat von Frau Reiter eine Brosche gekauft. Frau Loibl nimmt das
Schmuckstück gleich mit und verspricht, den Kaufpreis in Höhe von 1800 Euro am nächsten Tag zu
bezahlen. Als das nicht geschieht, mahnt Frau Reiter den Kaufpreis an und verlangt Zahlung bis
spätestens zum 10.5.2006. Frau Loibl antwortet, dass ihr die Brosche gestohlen wurde. Da sie nun
nichts mehr davon habe, sei sie auch nicht bereit, den Kaufpreis zu bezahlen. Frau Reiter überlegt,
wie sie zu ihrem Geld kommen kann. Frau Reiter darf nicht selbst zu Gewaltmitteln greifen, um
Frau Loibl zur Zahlung zu zwingen. Denn im Rechtsstaat ist die Anwendung von körperlichen
Zwangsmitteln dem Staat vorbehalten.
Frau Reiter muss also zum Gericht gehen.
Ja, und zwar zum Zivilgericht, weil es sich bei der Forderung aus einem Kaufvertrag um
einen privatrechtlichen Anspruch handelt. Die Klage ist im Allgemeinen bei dem Gericht zu erhe-
ben, bei dem die Beklagte ihren Wohnsitz hat. Deshalb ist hier das Amtsgericht Starnberg zustän-
dig.
Könnte Frau Reiter auch beim Landgericht klagen?
Nein. Das Landgericht wäre erst dann zuständig, wenn der eingeklagte Betrag, der soge-
nannte Streitwert, die Summe von 5000 Euro übersteigen würde.
Was muss Frau Reiter tun, wenn sie Frau Loibl verklagen will?
Sie reicht eine Klageschrift ein. Darin schildert sie den Hergang des Falles und stellt den
Antrag, Frau Loibl zur Zahlung von 1800 Euro sowie Zinsen hieraus zu verurteilen. Beim Amtsge-
richt besteht auch die Möglichkeit, die Klage mündlich zu Protokoll der Geschäftsstelle zu erklären.
Natürlich könnte Frau Reiter auch einen Rechtsanwalt bevollmächtigen, sie in der Rechtssache zu
vertreten und Klage zu erheben. In jedem Fall muss Frau Reiter beim Einreichen der Klage einen
Kostenvorschuss für das Gericht bezahlen. Beim Streitwert von 1800 Euro sind das ca. 220 Euro.
Frau Reiter kann den Betrag entrichten, indem sie bei der Kostenstelle des Amtsgerichts die Ge-
richtskostenmarke kauft und auf ihren Schriftsatz klebt.
In unserem Fall hat Frau Reiter beim Amtsgericht Starnberg Klage erhoben. Wie erfährt
Frau Loibl davon ?
Indem ihr das Gericht die Klageschrift zustellt. Mit Zustellung der Klage setzt das Gericht
der Beklagten zugleich eine Frist, um auf die Klage zu erwidern, und bestimmt einen Termin zur
mündlichen Verhandlung.
Und wie geht es dann weiter?
Wahrscheinlich so: Frau Loibl schreibt dem Gericht, sie sehe keinen Grund, den Kaufpreis
für etwas zu bezahlen, das sie nicht mehr besitzt. In der mündlichen Verhandlung erörtert der Rich-
ter mit den Parteien die Sachlage. Frau Reiter wiederholt ihren Antrag, Frau Loibl zur Zahlung von
1800 Euro zu verurteilen. Frau Loibl beantragt, die Klage abzuweisen.
Was geschieht nun ?
Nachdem der Sachverhalt klar ist und die Anträge gestellt sind, entscheidet der Richter über
die Klage. Dazu beurteilt er den Streitfall anhand der dafür bestehenden Rechtssätze, hier also der
Vorschriften des Kaufrechts.

Nach den Angaben der Parteien steht für den Richter fest: Es wurde ein Kaufvertrag über die
Brosche geschlossen. Frau Loibl erhielt die Brosche ausgehändigt. Frau Reiter hat den vereinbarten
Kaufpreis in Höhe von 1800 Euro aber noch nicht bekommen. Aus dem Gesetz ergibt sich, dass der
Käufer verpflichtet ist, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu bezahlen. Dass Frau Loibl die
Brosche verloren hat, ist dabei ohne Bedeutung. Denn mit der Übergabe der verkauften Sache geht
auch die Gefahr eines Diebstahls auf den Käufer über. Auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt weist
der Richter bereits in der mündlichen Verhandlung hin, um Frau Loibl mit der Entscheidung nicht
zu überraschen.
Dieser Hinweis könnte Frau Loibl veranlassen, den Kaufpreisanspruch anzuerkennen. In
diesem Fall erlässt der Richter auf Antrag von Frau Reiter ein Anerkenntnisurteil. Möglicherweise
versucht Frau Loibl aber auch, einen Vergleich mit Frau Reiter zu schließen, wonach sie beispiels-
weise den Kaufpreis in Raten bezahlen kann. Wird der Prozess durch Vergleich beendet, ergeht
kein Urteil. Der Vergleich wird im gerichtlichen Protokoll beurkundet.
Weigert sich Frau Loibl dagegen weiterhin, den Kaufpreis zu bezahlen, wird sie durch strei-
tiges Endurteil zur Zahlung verpflichtet.
Als „Verliererin" hat Frau Loibl die Kosten des Verfahrens zu tragen. Sie sind erheblich ge-
ringer, wenn der Rechtsstreit durch Anerkenntnisurteil oder Vergleich beendet wird, da in diesen
Fällen keine Urteilsgebühr, das sind hier 150 Euro, anfällt.

Beobachtungsaufträge für den Gerichtsbesuch

1. Aufruf zur Sache durch den vorsitzenden Richter

- Worum geht es bei der zu verhandelnden Sache?


- Was stellt der Richter zunächst fest?
- Welche Personen sind vor Gericht anwesend?
2. Vernehmung des Angeklagten zur Person
- Notieren Sie die Ergebnisse der Befragung in Stichworten.
3. Verlesung des Anklagesatzes durch den Staatsanwalt
-Was wird dem Angeklagten zur Last gelegt?
- Auf welche Strafvorschriften beruft sich der Staatsanwalt?
4. Vernehmung des Angeklagten zur Sache
- Worüber wird der Angeklagte belehrt?
- Sagt er etwas darüber aus, ob er seine Tat bereut?
- Wie reagiert der Angeklagte im Laufe der Vernehmung hinsichtlich der Vorwürfe?
- Zeigt er sich kooperativ, d.h. macht er weitere Angaben?
5. Beweisaufnahme
- Mit welchen Hinweisen eröffnet der Vorsitzende die Beweisaufnahme (Zeugenbelehrung)?
- Wie verläuft die Vernehmung der Zeugen?
- Was sagen die Zeugen und Sachverständigen zur Sache aus?
- Werden weitere Beweise erhoben?
6. Plädoyer des Staatsanwaltes
- Wie argumentiert der Staatsanwalt?
- Welche Sprache verwendet er?
- Wie lautet sein Antrag?
7. Plädoyer der Verteidigung
- Wie argumentiert der Verteidiger?
- Was spricht seines Erachtens zugunsten des Angeklagten?
8. Das letzte Wort des Angeklagten
- Macht der Angeklagte überhaupt von seinem Recht Gebrauch?
- Was sagt der Angeklagte?
- Entschuldigt er sich, zeigt er Reue?
9. Urteilsberatung
- Wie lange berät das Gericht?
10. Verkündung des Urteils
- Wie fällt das Urteil aus?
- Wie begründet der Richter das „Urteil im Namen des Volkes"?
- Geht er in seiner Begründung auf Argumente des Staatsanwaltes bzw. der Verteidigung ein?
Wenn ja, auf welche Argumente?
- Wie reagieren die Prozessbeteiligten?
- Empfinden Sie das Urteil als gerecht?
(aus: Sozialkunde/Politik, Mai 2003, Grundwissen Jugend und Recht; Verf.: Tilmar Hummerich-
Ferbers)

Recht und Gerechtigkeit im Rechtsstaat

Von „Recht" lässt sich bei einer sozialen Ordnung - wie sich aus der Definition ergibt - nur
dann sprechen, wenn sie an der Idee der Gerechtigkeit orientiert ist. Zum Recht gehört nicht, dass
die Gerechtigkeit vollständig verwirklicht wird. Angesichts der Unvollkommenheit des Menschen
dürfte das nicht erreichbar sein. Entscheidend ist aber, dass 5 sich das Recht am Leitziel der Ge-
rechtigkeit orientiert und damit Gerechtigkeit zu verwirklichen sucht. [...]
Über die Gerechtigkeit wurde von 1 allen großen abendländischen Philosophen
nachgedacht. Dieses „Gespräch über die Jahrtausende hinweg" führte nicht zu so vollständiger
Übereinstimmung, dass die Gerechtigkeit allgemeingültig definiert werden könnte, aber über einige
Grundfragen wurde doch weitgehende Einigung erzielt. So werden von allen Philosophen zwei
Merkmale der Gerechtigkeit herausgehoben:
- Das Verhalten aller ist nach der gleichen Regel zu beurteilen. Für alle hat das gleiche
Maß zu gelten: Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln. Umgekehrt ausgedrückt:
Zweierlei Maß ist willkürlich und damit ungerecht.
- Als weiteres Merkmal der Gerechtigkeit wird betont, dass „Jedem das Seine "
zukommen müsse. Jeder soll das (aber auch nur das) erhalten, was ihm gebührt. [...]
Die Diskussion der beiden Merkmale zeigt aber auch, dass bei der Anwendung der Ge-
rechtigkeitsmerkmale zusätzliche Entscheidungen darüber notwendig sind, worin sich im Einzelfall
die Menschen gleichen und worin nicht und was denn „das Seine" ist, das dem Einzelnen gebührt.
Über die Werte, die bei derartigen Entscheidungen zu beachten sind, geben das Grundgesetz und
die Länderverfassungen, vor allem deren Grundrechtskataloge, wichtige Hinweise.
(Dieter Fuchs/Ewald Schellenberger, Recht. Ein Arbeitsbuch für die Kollegstufe, Schöningh Verlag,
Paderborn, 10. Aufl. 2002, S. 8ff.)

Was ist ein Rechtsstaat?

Wir leben in einem Rechtsstaat. Das bedeutet, dass jeder Bürger, aber auch jede staatliche
Einrichtung sich dem Recht unterordnen und in seinem Handeln die Gesetze beachten muss.
Deswegen spricht man auch von der Herrschaft der Gesetze im Rechtsstaat im Gegensatz zur
Willkürherrschaft in Diktaturen. Weitere Merkmale eines Rechtsstaates sind:

Rechtsgleichheit: Die Gesetze gelten für alle Bürger gleich. Es darf in der Rechtsprechung
keine Rolle spielen, wie reich oder einflussreich jemand ist; auch der Ärmste soll die Chance haben,
zu seinem Recht zu kommen.
Rechtssicherheit: Gesetze müssen veröffentlicht werden, damit jeder Bürger sich darüber
informieren kann, welche Folgen ein Verstoß haben kann. Außerdem dürfen Gesetze nicht rück-
wirkend gelten. Niemand darf also für eine Tat bestraft werden, die zu diesem Zeitpunkt nicht ver-
boten war.
Bindung der Gesetzgebung an das Grundgesetz: Die Gesetze werden von den Abgeord-
neten des Deutschen Bundestages und – in manchen Fällen – von den Vertretern der Bundesländer
gemacht. Doch die Abgeordneten dürfen nicht einfach Gesetze formulieren, die ihnen gerade pas-
sen. Sie müssen sich an das Grundgesetz halten. Kein Gesetz darf gegen die Menschenwürde ver-
stoßen. So können die Abgeordneten auch nicht einfach mit einem Gesetz die Todesstrafe einfüh-
ren, denn das wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Rechtswegegarantie: Jeder Bürger, der sich in seinen Rechten verletzt sieht, kann ein Ge-
richt anrufen.
Unabhängigkeit der Richter: Richter und Gerichte sind in ihren Entscheidungen nur an die
Gesetze gebunden. Keine staatliche Behörde, kein Politiker darf ihnen Weisungen erteilen oder ver-
suchen, Einfluss auf den Ausgang eines Prozesses zu nehmen.

Aufgabe

a) Erläutern Sie die fünf Merkmale eines Rechtsstaates.

Rechtssicherheit im Rechtsstaat – Beispiele

Im Grundgesetz In Beispielen

Jeder hat Rechtsschutz vor den Gerichten Eine Gemeinde hat den Übungsraum für die
gegen Rechtsverletzungen durch die staat- lokalen Musikbands trotz einer früheren
liche Gewalt. Alle Handlungen des Staates Zusage wegen Lärmbelästigung geschlos-
sind gerichtlich nachprüfbar [Art. 19 (4) sen. Dagegen klagen die Musiker vor dem
Satz 1 ]. Auf dieser Rechtsweggarantie be- Verwaltungsgericht.
ruht das Verwaltungsrecht.
Die durch die Parlamente beschlossenen Die Einführung der Todesstrafe wäre ver-
Gesetze dürfen der Verfassung nicht wider- fassungswidrig (Art. 102). Mörder müssen
sprechen. Das Handeln von Regierung und mit „Lebenslänglich" bestraft werden, der
Verwaltung ist an das gebunden, was recht- einzig vorgesehenen Strafe (STGB § 211).
lich festgeschrieben ist [Rechtsbindung, Art.
20 (§)]. Dasselbe gilt für die Gerichte.
Ausnahmegerichte, die neben bestehenden Zur Aburteilung eines Terroristen ein spe-
Gerichten gebildet werden und nur Einzel- zielles Gericht zu schaffen, ist verfassungs-
fälle beurteilen, sind verboten. Jeder hat das widrig. Verboten ist auch, Richter von ihrem
Recht auf den Richter, der für seinen „Fall" bisherigen Sachgebiet zu trennen und ihnen
zuständig ist. Die richterliche Zuständigkeit willkürlich bestimmte Fälle anderer Gebiete
ergibt sich aus Gesetzen (z.B. Zivilprozess- zuzuteilen.
ordnung), die das Einteilungsverfahren re-
geln (Art. 101).
Aufgabe der Gerichte ist es, einen bestimm- Sachbeschädigung einer Telefonzelle: Im
ten Sachverhalt zu beurteilen. Dazu ist, soll Prozess gegen den Angeklagten darf sich der
das Urteil alle Umstände berücksichtigen, Richter die Tat nicht nur aus der Sicht der
die Anhörung aller Betroffenen nötig. Der Anklage schildern lassen. Er muss, wie es
Beschuldigte muss die Gelegenheit erhalten, die Strafprozessordnung vorsieht, ebenso
persönlich Stellung zu nehmen und so das den Angeklagten dazu vernehmen.
Urteil zu beeinflussen [Rechtliches Gehör,
Art. 103 (1)|.
Gesetze, die eine Tat bestrafen wollen, die Nicht nur die Tat selbst, auch die Höhe der
zum Zeitpunkt ihrer Begehung nicht strafbar Strafe darf nicht rückwirkend festgelegt
war (rückwirkende Gesetze), sind verboten werden. Das ist besonders wichtig bei
[Art. 103 (2)J. Nulla poena sine lege - keine schweren Straftaten.
Strafe ohne Gesetz.
Wenn jemand bereits rechtskräftig verurteilt Ein wegen Nötigung zu einer Geldstrafe
wurde, darf er wegen derselben Tat nicht er- Verurteilter darf wegen derselben Tat nicht
neut verfolgt werden [Verbot mehrmaliger ein zweites Mal bestraft werden.
Bestrafung, Art. 103 (3)].

Auch nach einer Verhaftung hat der Festgenommene verschiedene Rechte, die Willkürakte
verhindern sollen. Ein weiterer, nicht ausdrücklich im Grundgesetz erwähnter Grundsatz ist die so
genannte Unschuldsvermutung (Art. 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte): Nur
wenn ein Gericht rechtskräftig gesprochen hat, darf man von einem Menschen sagen, dass, worin
und wie er ein Gesetz gebrochen hat. Bis dahin muss gegenüber jedermann von der Vermutung der
Unschuld ausgegangen werden.
(aus: Politik-Wirtschaft, Arbeitsbuch 8, 2009)

Aufgabe

a) Unter den Merkmalen des Rechtsstaates ist die Rechtssicherheit für die Praxis der Rechtspre-
chung und damit für das Verhältnis des einzelnen Bürgers zur Rechtsordnung von besonderer
Bedeutung. Erläutern Sie an den einzelnen Beispielen aus dem oben stehenden Text, welche
Regelungen des Grundgesetzes darin zum Tragen kommen.

Jugendstrafe - angemessen und zweckmäßig?

Protokoll der Angst

Ort der Handlung: ein Stadtteil am Rande Hamburgs. Beteiligte: ein Schüler aus gutem
Haus, zwei Halbwüchsige vom sozialen Rand. Spätsommer des Jahres 2002. Bastian, ein 16- jäh-
riger Handelsschüler, 1,80 Meter groß, blond, noch nicht sehr lebenserfahren, trifft seinen früheren
Mitschüler Malik wieder, ebenfalls 16. Mit dem hat er sich früher, auf der Hauptschule, gut verstan-
den.
Auf dem Sportplatz einer nahe gelegenen Schule spielen die beiden in den nächsten Tagen
mit Gleichaltrigen Fußball und Basketball, tauschen CDs, fahren anschließend auch mal in die In-
nenstadt.
Zum dritten oder vierten Treffen bringt Malik einen Kumpel mit. Der ist fast zwei Jahre
älter und ein richtiger Muskelmann: untersetzt, mit breiten Schultern und kräftigen Oberarmen. „Ich
bin Jerome", stellt er sich vor, reicht Bastian freundlich die Hand, klopft ihm auf die Schulter. Nach
dem Sport, die Jungs sitzen im Gras, fragt der freundliche Jerome beiläufig: „Sag mal, Bastian, hast
du zufällig Geld dabei?" „Leider nein", lügt Bastian, guckt zum Schein in sein Portemonnaie. „Gib
doch mal rüber", verlangt Jerome, packt sich die Geldbörse.
Den 50-Euro-Schein, dessen Existenz Bastian verheimlichen wollte, steckt der Ältere ein-
fach ein. „Du hast hoffentlich nichts dagegen", sagt er dazu leise. Malik, der alles beobachtet, der
die ganze Zeit geschwiegen hat, beruhigt: „Du kriegst das bestimmt wieder, Bastian."
„Abziehen" nennen Jugendliche derartige Übergriffe. Das klingt so harmlos, als ginge es um
eine Art Sport - dabei handelt es sich juristisch betrachtet um eine erhebliche Straftat.
In vielen Großstädten gehört „Abziehen" längst zum polizeilichen Alltag: Kinder, Jugendli-
che und Heranwachsende, die sich wegen ihrer Herkunft oder ihrer sozialen Situation benachteiligt
fühlen, nehmen ihren vermeintlich reicheren und privilegierteren Altersgenossen teure Markenkla-
motten, Handys, Unterhaltungselektronik und Bargeld ab. Jedes Jahr registriert die Polizei Tausen-
de solcher Delikte.
Am Tag nach dem Verlust seiner Barschaft bittet Bastian zu Hause um Fahrgeld für den
Bus. „Du hast doch gerade Taschengeld bekommen", schimpft die Mutter. „Wo sind denn die 50
Euro?" „Ausgegeben." „Wofür?" Keine Antwort.
Die Mutter fragt nicht weiter, will den Sohn nicht bedrängen, wundert sich nur. Sonst ist der
Junge doch so offen, warum diesmal nicht? Schließlich ist er 16, beruhigt sie sich, da hat man eben
Geheimnisse. Außerdem: Bastian ist neu auf der Handelsschule, hat Bammel vor den dortigen An-
forderungen, muss sich erst eingewöhnen. Das fällt dem sensiblen Schüler schwer genug. [...]
Richtig wohl fühlt sich Bastian nur auf dem Fußballplatz. Da weiß er seinen Körper, dessen
Arme und Beine sonst so schlaksig an ihm herumbaumeln, richtig einzusetzen, da wird er von allen
respektiert. Linksfüßer ist er, Leistungsklasse spielt er, in der B-Jugend, darauf ist er stolz.
Sechs Wochen später. Auf dem Schulsportplatz trifft Bastian erneut seinen früheren Mit-
schüler Malik und dessen Kumpel Jerome, zufällig. Der Handelsschüler traut sich nicht, sein Geld
zurückzufordern. Er versucht sich schnell zu verdrücken.
Jerome versperrt ihm den Weg. „Einen geilen Discman hast du da", sagt er, „lass doch mal
hören." Und nimmt Bastian den tragbaren Mini-Disc-Player ab. „Den leihst du mir doch sicher."
Bastian protestiert, will sein Eigentum nicht hergeben. Malik, der erneut geschwiegen hat, mischt
sich ein. „Du kriegst ihn morgen wieder", verspricht er. „Mein Wort drauf." Am nächsten Tag
klingt das ganz anders. „Jerome hat das Ding", bedauert Malik übers Handy, „ich hab damit nichts
zu tun."
Bastian meidet fortan den Schulsportplatz, auf dem er so oft seine Nachmittage verbracht
hat, beschränkt sich auf das Training in seinem Verein. Wenn er allein die Wohnung verlässt,
nimmt er nie mehr Geld mit, als er für eine Fahrkarte braucht.
November 2002. Jerome steigt in den Bus ein, in dem Bastian von der Schule nach Hause
fährt. Bastian guckt weg, aber Jerome entdeckt ihn, setzt sich neben ihn, legt ihm den rechten Arm
um die Schulter: „Wie schön, dich zu sehen."
Aus der Umarmung wird ein Schwitzkasten, Bastian kriegt kaum noch Luft. „Du kannst mir
einen großen Gefallen tun", flüstert Jerome. „Ich brauch Anfangskapital für mein Geschäft." „Was
für ein Geschäft?" „Meine Sache."
1500 Euro soll Bastian rausrücken, und zwar schnell. „Aber ich krieg nur 50 Euro Taschen-
geld im Monat", entgegnet Bastian, versucht, sich aus der Umklammerung zu befreien.
Sein Peiniger lässt ihn los. „Lass dir was einfallen", droht er. „Deine Eltern haben doch ge-
nug Kohle" – Jerome ist informiert. Er hat, zusammen mit Malik, das Grundstück von Bastians El-
tern ausgespäht. Hat das großzügige Haus der Eltern gesehen, die beiden Mercedes auf dem Park-
platz davor. Weiß, dass Bastians Vater ein kleines Unternehmen führt. Stellt Bastian ein Ultimatum.
„Ich gebe dir sechs Wochen", erklärt er, „dann will ich das Geld sehen." Bis dahin werde er
anrufen, jeden Tag, um zu kontrollieren, ob Bastian auch spure. „Verstanden?"
Die Menschen in Bastians Umgebung spüren die Veränderung des Schülers. Sie können sie
sich jedoch nicht erklären.
Die Mutter versteht nicht, warum ihr Sohn sein geliebtes Handy nicht mehr benutzt, das Ge-
rät, dessen Tonsignal sonst ständig nervte, ausgeschaltet zu Haus lässt. Warum Bastian nicht mehr
an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnimmt, kaum noch etwas isst, nicht mehr wie sonst Freunde
besucht, sich schon nachmittags in sein Zimmer einschließt, die Verstärker seiner Musikanlage auf-
dreht, sich hinter dem Röhren von HipHop und Rap verbarrikadiert.
Die Lehrer in der Handelsschule sind ratlos angesichts der verheerenden Leistungen des
neuen Schülers, beklagen dessen Mangel an Konzentration. „Nicht geeignet für unsere Schule",
lautet ihr Urteil.
Der Fußballtrainer fragt Bastian, warum er so miserabel spiele, was zum Teufel mit ihm los
sei. „Nichts, gar nichts", wehrt der Linksaußen ab. „Wirklich nichts."
Die Angst, die ihn einfach nicht mehr loslässt, nicht in der Schule, nicht auf dem Fußball-
platz, nicht zu Hause, diese Angst lässt ihn auch schweigen.
Er fürchtet, Jerome könnte sich an seinen Eltern rächen, an seiner Schwester. Und er hofft,
die Bedrohung werde irgendwann von selbst vorübergehen wie ein böser Traum. Aus Angst, Jero-
me und Malik wieder zu treffen, traut sich Bastian kaum noch aus dem Haus. [...]
Dezember 2002. Jerome lauert Bastian auf, Malik ist auch dabei: „Du bist ja nie zu errei-
chen", beschwert sich Jerome. „Denkst du, du könntest mich verarschen?"
Der fast 18-Jährige zerrt Bastian in eine dunkle Ecke, hinter eine Mauer. Dann schlägt er zu.
Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Immer ins Gesicht. „Jetzt reicht's", ruft Malik. „Hör auf!" Aber
Bastians Peiniger reicht es noch nicht. „Auf die Knie", schreit er Bastian an, der sich zitternd nie-
derkniet. Und, auf Befehl Jeromes, mehrfach den Satz wiederholen muss: „Entschuldige, dass ich
mich nicht gemeldet habe." Es gehe für Bastian um Leben und Tod, droht Jerome. Ob Bastian das
überhaupt klar sei? „Wenn du nicht zahlst, gehen wir das nächste Mal in den Wald. Dort liegen
noch mehr verbuddelt, die nicht zahlen wollen."
Danach ist Jerome plötzlich wieder richtig freundlich. Einen Haschisch-Handel wolle er mit
Bastians Geld aufziehen, erzählt er freimütig. Wenn der etwas abwerfe, woran kein Zweifel be-
stehe, bekomme auch Bastian seinen Anteil. Versprochen.
Zuvor aber müsse das Geld her. Frist: eine Woche. [...]
Noch fünf Tage. Bastian, verzweifelt, verletzt und gedemütigt, weiß nicht, was er tun soll.
Zur Polizei? Aber werden ihm die Beamten glauben? Endlich, endlich die Eltern informieren? Aber
werden die ihn nicht fragen, warum erst jetzt? Sich selbst das Geld besorgen? Aber wie? Klauen,
einbrechen, rauben? Einfach abhauen? Noch drei Tage. Bastians Mutter, in Eile, lässt morgens den
Tresor offen stehen. Bastian wühlt hektisch nach Bargeld, findet stattdessen Schecks, blanko unter-
schrieben. Nimmt einen weg.
Noch zwei Tage. Der Schüler liegt die ganze Nacht wach. Überlegt: Soll er, soll er nicht?
Eine Geschichte über Jerome kommt ihm in den Sinn. Von dem heißt es, er habe kürzlich bei einer
Schlägerei seinem Gegner mit einem Faustschlag den Kiefer zertrümmert.
Noch ein Tag. Bastian trägt auf dem Scheck den Betrag von 1500 Euro ein, traut sich zur
Bank. Der Kassierer schaut ihn zwar misstrauisch an, verlangt den Personalausweis. Bastian be-
kommt jedoch das Geld, ruft sofort Jerome an. Am Treffpunkt, einer Bushaltestelle, zieht Jerome
sein Opfer beiseite: „Hier sind zu viele Augen." Hinter einer Hecke zählt er die Scheine, auch Malik
ist wieder mitgekommen. Jerome strahlt, haut Bastian auf die Schulter: „Auf dich kann man sich ja
doch verlassen." – und gibt dem 16-Jährigen den vor Monaten gestohlenen Discman zurück, zur
„Belohnung".
Abends setzt sich Bastian erstmals seit vielen Monaten wieder ins Wohnzimmer. Denkt
nicht an den nächsten Tag. Spürt nur, dass eine enorme Last von ihm abgefallen ist. Guckt sich mit
Eltern einen Film an, lacht sogar. Isst mit Appetit. „Was ist passiert?", fragt der Vater irritiert.
Am Morgen danach entdeckt die Mutter die Abhebung, forscht bei der Bank nach, infor-
miert den Vater. Der eigene Sohn ein Dieb. Aber wieso? [...]
Auch Bastian erzählt bei der Polizei zunächst nur die halbe Wahrheit. Er hat noch immer
Angst, behauptet deshalb, er würde seine Peiniger nicht kennen. Bricht schließlich beim zweiten
Verhör zusammen, erzählt alles.
Als er den Namen Jerome nennt, holt ein Beamter eine Fotomappe. „Ist er das?" „Das ist
er." „Den kennen wir schon." Jerome wird morgens aus dem Bett geholt. Ja, er habe Bastian ge-
schlagen, räumt er ein. Und Geld bekommen habe er auch. Aber nur, weil ihm Bastian welches
schulde. Er sei im Recht gewesen. Der Haftrichter lässt Jerome trotz dringenden Tatverdachts wie-
der frei. Grund: Er hat einen festen Wohnsitz, und, was noch schwerer wiegt, einen Arbeitsplatz.
Der soll nicht gefährdet werden. Bedingung: Jerome und auch Malik dürften keinerlei Kontakt zu
Bastian oder dessen Eltern aufnehmen. [...]
Ende März 2003. Die Hamburger Staatsanwaltschaft klagt Jerome und Malik wegen
Diebstahls und räuberischer Erpressung an. [...]
Bastian fürchtet sich vor dem Prozess. Er weiß, dass er als Zeuge auftreten muss, hat Angst,
Jerome und Malik vor Gericht zu begegnen.
Maliks Mutter ruft bei Bastians Eltern an. Ob man sich nicht mal treffen, über alles reden
könne? Schließlich stehe Maliks Zukunft auf dem Spiel. Und die wolle man ihrem Sohn doch sicher
nicht verbauen wegen so eines Jungenstreichs. Bastians Mutter hat abgelehnt.
Das Geld, die 1500 Euro, ist weg. Jerome hat sie offenbar gleich ausgegeben.
(aus: Wirtschaft – Politik, 8. Schuljahr, 2006)

Aufgaben

1. Haben Sie Verständnis für Bastians Verhalten? Begründen Sie Ihre Meinung.
2. Nennen Sie Situationen, die Bastian bis zur Eröffnung des Prozesses erlebt hat.
3. Beschreiben Sie das Umfeld von Malik und Jerome. Diskutieren Sie die Motive für ihre Hand-
lungen.
4. Welche Konsequenzen haben Malik und Jerome zu erwarten?
5. Welche strafbaren Handlungen haben Malik und Jerome begangen: Verbrechen und Vergehen,
Beihilfe, Körperverletzung, Bedrohung, Diebstahl, Unterschlagung, Raub, Erpressung, räube-
rische Erpressung oder Begünstigung?

Migration weltweit
Menschen in Bewegung

Weltweit sind Tausende von Menschen in Bewegung. Viele von ihnen sind Kinder und jun-
ge Menschen unter 25 Jahren. Sie verlegen vorübergehend oder dauerhaft ihren Wohnsitz. Diese
Wanderungen werden als Migrationen bezeichnet. Wandern Menschen aus einem Land aus, werden
sie als Emigranten bezeichnet, wandern sie ein, handelt es sich um Immigranten. Die meisten
Menschen hängen an ihrer Heimat und verlassen sie nur aus schwer wiegenden Gründen. Das kön-
nen wirtschaftliche Probleme sein, Arbeitssuche, Krieg, Vertreibung oder Verfolgung.

Auswanderung früher

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Wanderungen hat es schon immer gegeben. So kam es im
Laufe der Zeit in Deutschland immer wieder zu Aus- und Einwanderungen. Bereits im 12. Jahrhun-
dert wanderten viele Menschen aus dem heutigen Deutschland aus. Sie waren auf der Suche nach
fruchtbaren Gegenden, in denen sie sich niederlassen konnten. Im 16. und 17. Jahrhundert verließen
viele Menschen aus religiösen Gründen das heutige Deutschland. Damals konnten die Könige und
Fürsten allein bestimmen, welche Religion in ihrem Staat zugelassen war. Menschen anderer Glau-
bensrichtungen blieb häufig nur die Flucht. Wesentlich mehr Personen verließen aber dann im 19.
und 20. Jahrhundert ihre alte Heimat, hauptsächlich mit dem Ziel Nordamerika. In dieser Zeit
wuchs die Bevölkerungszahl stark an. Gleichzeitig kam es in Deutschland und anderen Teilen Euro-
pas durch Missernten immer wieder zu Hungersnöten. So waren viele Menschen gezwungen, ihre
Heimat zu verlassen und sich in der Fremde Arbeit zu suchen und sich niederzulassen.
Aufgaben

1. Legen Sie ein kleines Lexikon an, in dem Sie die Begriffe Migration, Emigrant und
Immigrant erklären.
2. Werten Sie M 1 aus: Wo konzentrieren sich die Regionen, aus denen die Menschen
abwandern? Wohin wandern Armutsflüchtlinge aus Afrika aus? Begründen Sie, welche
Regionen von der Einwanderung profitieren könnten.
3. Erarbeiten Sie anhand der Materialien M 3 bis M 5 sowie des Textes einen kurzen Vortrag
zum Thema „Abwanderung aus Deutschland früher - Zuwanderung heute".

Arbeitskräfte gesucht: Gastarbeiter

Die Welt kennt die Deutschen als eine fleißige Nation. Wenn sie arbeiten, schweifen sie
nicht ab und halten sich genau an das Wort ihres Vorgesetzten. Da die deutschen Arbeitgeber gehört
haben und wissen, dass auch die Türken fleißig und disziplinliebend sind, verlangen sie von uns Ar-
beiter.
Ihr dürft nicht zulassen, dass dieses gute Bild des Türken befleckt wird. Arbeitet wie Bienen,
seid wachsam und lernt schnell, was ihr noch nicht wisst. Haltet euch an die Betriebsordnung. Be-
ginnt die Arbeit pünktlich und beendet sie pünktlich. Lasst euch nicht krankschreiben, wenn es
nicht unbedingt notwendig ist. Werdet eurem Vorarbeiter oder dem Arbeitgeber gegenüber nicht
grob und laut. Nehmt die Vermittlung durch die Betriebsräte, die es in deutschen Firmen gibt, in
Anspruch und werdet Mitglied in den Gewerkschaften.
M 1 Aus einer Informationsbroschüre des türkischen Arbeitsamtes (1963)

Arbeitskräfte gesucht

In den 1950er-Jahren kam es in Deutschland zu einem starken Wirtschaftswachstum. Es


wurden so viele Arbeitskräfte gebraucht, dass man in Deutschland nicht mehr genug fand. Deshalb
beschloss die Bundesregierung, in anderen Staaten um Arbeitskräfte für die deutsche Industrie zu
werben.
1961 waren bereits 1,2 Prozent der Arbeitskräfte in der deutschen Wirtschaft aus dem Aus-
land zugewandert, bis 1973 stieg die Zahl auf 6,4 Prozent. Sie wurden als Gastarbeiter bezeichnet,
denn die deutschen Politiker waren davon ausgegangen, dass die Zuwanderer nur eine begrenzte
Zeit bleiben und dann wieder in ihre Heimatländer zurückkehren wollten. Die meisten Gastarbeiter
kamen in die Großstädte und in die Verdichtungsräume, wo sich die Industrie konzentrierte. Zudem
warben die einzelnen Bundesländer in unterschiedlichen Staaten um Arbeitskräfte. Baden-Württem-
berg warb z. B. verstärkt um italienische Gastarbeiter, während ins Ruhrgebiet und nach Berlin tür-
kische Arbeitnehmer angeworben wurden.

Ausländische Mitbürger kamen

In den 1970er-Jahren verringerte sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Es wurden


nun keine zusätzlichen Arbeitskräfte aus dem Ausland mehr benötigt, sodass ein Anwerbestopp
erfolgte. Es durften keine Gastarbeiter mehr angeworben werden.
Da sich viele der zugewanderten Arbeitnehmer inzwischen in Deutschland eine neue Exis-
tenz aufgebaut hatten, wollten sie nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren. Stattdessen zogen
in den 1980er-Jahren im Zuge der Familienzusammenführung weitere Menschen aus dem Aus-
land nach Deutschland zu. Inzwischen leben die Familien der ehemaligen Gastarbeiter schon in der
dritten Generation in Deutschland: die Gastarbeiter (Großeltern), deren Kinder und Enkelkinder.
Das Herkunftsland mit seiner Religion, seinen Traditionen und Wertvorstellungen hat gro-
ßen Einfluss darauf, wie leicht oder schwer es den ausländischen Mitbürgern gelingt, sich möglichst
konfliktfrei in ihrem Zielland einzuleben.

M 2 Interview mit dem türkischen Gastarbeiter M. Denisz aus Anlass des 40. Jahres-
tages des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens:

Wann kamen Sie nach Deutschland?


1964 mit 16 Jahren.
Wohin in Deutschland führte sie ihre Immigration?
Ich kam nach Münster.
Aus welchen Gründen verließen Sie dieTürkei?
Aus finanziellen Gründen. Ich ging nach Deutschland, um meine Familie zu unterstützen.
Planten Sie, nur für einen begrenzten Zeitraum in Deutschland zu bleiben?
Ursprünglich plante ich, nur für eine begrenzte Zeit in Deutschland zu bleiben. Daraus ist leider ein
langer Zeitraum geworden.
Hatten Sie schon Vorkenntnisse der deutschen Sprache?
Ich konnte gar kein Deutsch, als ich nach Deutschland kam. Doch es war nicht schwierig für mich,
die deutsche Sprache zu lernen.
Welcher Tätigkeit gingen Sie nach Ihrer Ankunft in Deutschland nach und welchen Beruf haben Sie
heute?
Direkt nach meiner Ankunft in Deutschland arbeitete ich auf dem Bau, heute habe ich eine Ausbil-
dung als Kranführer.
Wie empfanden Sie Ihre Aufnahme durch die deutsche Bevölkerung?
Damals bin ich ausgesprochen freundlich im Berufs- und Sozialleben aufgenommen worden. Aus-
länderfeindlichkeit spüre ich erst jetzt.
Haben Sie noch Sehnsucht nach Ihrem Heimatland? Werden Sie in Deutschland bleiben?
Ich sehne mich sehr nach meiner Heimat, aber ich bin auch gerne in Deutschland. Ich würde gerne
zurück, habe aber Angst, keinen Anschluss mehr zu finden.
(Jojo - Online-Journal des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften – Fachjournalistik,
Universität Gießen)
Texterläuterungen

a) Anwerbeabkommen: Deutschland hat mit vielen Ländern Anwerbeabkommen geschlossen,


weil die deutsche Wirtschaft dringend Arbeitskräfte brauchte:

1955 mit Italien 1963 mit Marokko


1960 mit Spanien 1964 mit Portugal
1960 mit Griechenland 1965 mit Tunesien
1961 mit der Türkei 1968 mi Jugoslawien

b) Gastarbeiter: Menschen, die von der deutschen Regierung geholt wurden, damit sie in
Deutschland arbeiten. Mit den Regierungen der Herkunftsländer gab es Verträge (Anwerbeab-
kommen)

Aufgaben

1. Berichten Sie mithilfe der oben stehenden Texte über Gastarbeiter in Deutschland.
2. Welche Informationen der türkischen Regierung sind wichtig und hilfreich, welche nicht (M 1)?
3. Werten Sie M 5 aus: Aus welchen Ländern kommen die meisten in Deutschland lebenden Aus-
länder? Welche Ausländergruppen leben bereits am längsten in Deutschland?
4. Fassen Sie zusammen: Warum kam Herr Denisz nach Deutschland, wie erging es ihm hier,
möchte er wieder zurück (M 2)?
5. Diskutieren Sie, ob Sie ein Land, in dem Sie bis zu 20 Jahre gelebt habt, verlassen würden.

Arbeit gesucht: Traumziel Europa

Europa - das Schlaraffenland?

Europäer in Afrika - das sind hauptsächlich Geschäftsleute und Touristen, die in Luxusho-
tels wohnen und sich alles leisten zu können scheinen. Oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen,
die bei Katastrophen aller Art Hilfsgüter in großen Mengen verteilen können. So entsteht in den
armen Ländern der Erde der Eindruck, in Europa seien alle reich. Verstärkt wird dieser Eindruck
noch durch die Medien wie Fernsehen und Radio, die in Nachrichtensendungen, aber auch durch
Filme und Unterhaltungssendungen eine Vorstellung von Europa vermitteln.

Afrika - das Armenhaus

Immer wieder erscheinen Schreckensmeldungen aus Afrika in den Nachrichten. Von den
zehn ärmsten Ländern der Erde liegen neun in Schwarzafrika. In den meisten Familien leben noch
immer vier bis fünf Kinder. Oft reicht das Nahrungsmittelangebot für die große Familie nicht aus.
Missernten durch Dürrekatastrophen verschlimmern die Lage zusätzlich.
In vielen Regionen Afrikas finden Kriege oder Bürgerkriege statt. Die Menschen müssen
vor den kriegerischen Auseinandersetzungen fliehen oder sie werden vertrieben oder zum Kriegs-
dienst gezwungen. In den Flüchtlingslagern und vom Krieg zerstörten Dörfern herrscht große Not.
Aufgaben

1. Viele Tage auf dem Meer in einem Boot, was bedeutet das für die Passagiere?
2. Nennen Sie Gründe, warum die Afrikaner Gefahren und Strapazen auf sich nehmen, um ins
Traumland Europa zu kommen.
3. Werten Sie M7 aus: Aus welchen Ländern kommen die Flüchtlinge? In welchen europäischen
Ländern kommen sie an?
4. Vergleichen Sie die Lage der deutschen Auswanderer im 18. und 19. Jahrhundert mit der der
afrikanischen Flüchtlinge heute. Sammeln Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
5. Werten Sie M6 aus: Welche Lösung wird hier vorgeschlagen? Diskutieren Sie in der
Gruppe darüber.

Binnenwanderung in Europa

Auf der Suche nach Arbeit

Innerhalb der Europäischen Union haben die EU-Bürger das Recht auf freie Wahl ihres
Wohn-, Arbeits- und Ausbildungsortes. Sie können sich also innerhalb der Staaten der EU frei
bewegen. Man spricht dabei von Binnenwanderungen, d.h. Wohnortverlagerungen innerhalb einer
festgelegten Raumeinheit wie z.B. Gemeinden, Bundesländern oder der EU. Obwohl die wirtschaft-
lichen Verhältnisse in den einzelnen Staaten der EU sehr unterschiedlich sind, leben und arbeiten
nur sehr wenige Europäer dauerhaft im Ausland. Wanderungsziele sind die Regionen der EU, in
denen Arbeitskräfte gesucht werden. Neben den Ballungsgebieten sind das häufig auch Regionen,
in denen zukunftsträchtige Industriezweige wie z.B. der Hightech- Industrie gefördert wurden
(Mittelmeerregion Frankreichs; Raum München). Den größten Anteil an den Binnenwanderungen
hat die saisonale Zuwanderung. Viele Menschen vor allem aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten
Osteuropas kommen als Saisonarbeiter für einen begrenzten Zeitraum nach Deutschland.
Binnenwanderung in Deutschland

Die neuen Bundesländer verzeichneten zum Teil nach der Wiedervereinigung dramatische
Bevölkerungsverluste durch Binnenwanderung in den Westen. In den meisten neuen Bundeslän-
dern herrscht seit Jahren eine extrem hohe Arbeitslosigkeit und ein erheblicher Mangel an Lehrstel-
len. Das veranlasst vor allem junge Leute und zu einem großen Prozentsatz junge Frauen in die
alten Bundesländer abzuwandern. So entstehen nicht nur Bevölkerungsverluste durch Abwande-
rung, sondern es fehlen junge Frauen und Familien im gebärfähigen Alter. Der Bevölkerungsrück-
gang durch Abwanderung wird so noch durch sehr niedrige Geburtenraten verstärkt.
Der Bevölkerungsschwund führt in den Städten und Gemeinden zu ersten Problemen. Teil-
weise stehen ganze Stadtviertel leer und werden abgerissen. Schulen, Kindergärten und Kranken-
häuser werden geschlossen, sodass lange Anfahrtswege für die Bewohner entstehen.
Aufgaben

1. Werten Sie M1 und M4 aus: Erklären Sie, welche Regionen in Europa und in Deutschland für
Binnenmigranten attraktiv sind.
2. Nennen Sie Regionen in Europa, die von Abwanderung bedroht sind, und solche, in die die Men-
schen zuwandern.
3. Führen Sie eine Pro-und-Kontra-Diskussion durch: Saisonarbeit oder Umzug in ein anderes
Land, um der Arbeitslosigkeit zu entfliehen? Was spricht für oder gegen jede dieser Möglich-
keiten?
4. Berichten Sie ausführlich über die Auswirkungen starker Abwanderung (M 5, M 6).

Deutschland - ein Einwanderungsland?

Einwanderung

Wanderungsbewegungen von Menschen hat es zu allen Zeiten und überall gegeben.


Deutschland ist da keine Ausnahme. Ob es die Römer vor 2000 Jahren waren, die Hugenotten im
17. Jahrhundert, die Polen, die Anfang des 20. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet eingewandert sind, oder
die Gastarbeiter in den 1950er- und 1960er-Jahren - die Einflüsse all dieser Menschen haben das
Land geprägt.
Deutschland gehört seit einigen Jahren zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an Ein-
wanderern, denn jährlich wandern nach Deutschland mehr Menschen ein als aus. Bei den Zugezo-
genen handelt es sich vor allem um EU-Mitglieder und Familienangehörige von Migranten, aber
auch um ausländische Studierende, Asylsuchende, Saisonarbeitnehmer, Arbeitnehmer, die von
Firmen nach Deutschland geschickt wurden, Spätaussiedler und IT- Fachkräfte.
Von den ausländischen Mitbürgern lebt ein Drittel schon länger als zwanzig Jahre in
Deutschland, mehr als die Hälfte länger als zehn Jahre. Fast ein Viertel der ausländischen Mitbürger
ist bereits in Deutschland geboren. So ist ein großer Teil der Mitbürger ohne deutschen Pass längst
hier zu Hause.

Flucht und Asyl

Im Jahre 2005 waren nach Angaben des UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Verein-
ten Nationen) mehr als 20 Millionen Menschen auf der Flucht. Als Flüchtlinge bezeichnet man
Personen, die infolge von Krieg, politischer Verfolgung oder existenzbedrohender Notlagen ge-
zwungen sind, ihre Heimat vorübergehend oder auf Dauer zu verlassen. Viele Länder gewähren
Verfolgten Asyl. In Deutschland ist das Recht auf Asyl im Grundgesetz verankert. Die Asylsu-
chenden müssen jedoch nachweisen, dass sie in ihrem Heimatland verfolgt und bedroht werden.
Außerdem müssen sie von ihrem Heimatland direkt mit dem Flugzeug oder Schiff nach Deutsch-
land kommen, da sie auf dem Landweg schon durch andere sichere Staaten gekommen wären (alle
unsere Nachbarländer), die dann für sie zuständig sind. Die Zahl der Asylsuchenden ist in Deutsch-
land in den letzten Jahren stark gesunken.

M 3 Einwanderungsland a. D.

Deutschland war ein Einwanderungsland - in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren,
in den 1980ern und 1990ern. Wahrhaben wollte das kaum einer, damals. Heute bekennt sich
Deutschland nach langer Debatte dazu, ein Einwanderungsland zu sein. Was nicht zuletzt daran
liegt, dass ein Fünftel der Bevölkerung selbst einen „Migrationshintergrund" hat. Dennoch geht die
Politik mit der neuen Erkenntnis nicht richtig um: Ohne eine schnelle und grundlegende Reform des
seit 2005 geltenden Zuwanderungsgesetzes, ohne eine radikale Öffnung werden wir den weltweiten
Wettlauf um die besten Köpfe verlieren. Und werden die längste Zeit Einwanderungsland gewesen
sein. Tatsächlich war klar, dass das Gesetz wenige Wissenschaftler, IT-Spezialisten, leitende Ange-
stellte ins Land locken würde. Es ist in vieler Hinsicht ein Zuwanderungs- verhinderungsgesetz. Die
Asylbewerberzahlen sind so niedrig wie seit den frühen 1980ern nicht. Die Zahl der Einbürgerun-
gen ist in den vergangenen fünf Jahren um ein Drittel abgesackt. Gerade Topleuten aus Schwellen-
ländern präsentiert sich Deutschland keineswegs als Ort der besten Chancen. Es dürfte ihnen als
modernes Land vorkommen, das aber zurückfällt. Als Land, das kleine Forschungsbudgets hat,
dafür aber ein aufgeblasenes Ausländerrecht.
Leo Klimm, Financial Times Deutschland, 29.8.2006
Aufgaben

1. Bringen Sie die Aussage der Karikatur M 1 mit einem Satz auf den Punkt.
2. Werten Sie M4 aus und versuchen Sie eine Erklärung dafür, dass Deutschland bis 2005 so
weit nach vorne gerückt ist.
3. Die meisten Migranten leben in Nordrhein-Westfalen und Baden- Württemberg. Erklären
Sie das. (M 2).
4. Werten Sie M3 und M5 aus und sammeln Sie Argumente, die dagegen sprechen, dass
Deutschland ein Einwanderungsland ist.
5. Deutschland - ein Einwanderungsland: Ja oder nein? Begründen Sie Ihre Ansicht.

Ausländer in Deutschland: einfach nur fremd?

„Das Fremde und das uns Vertraute macht uns entweder Angst oder gibt uns ein gutes Ge-
fühl. Damit ist aber nicht notwendigerweise gesagt, dass der Ausländer in jedem Fall der Fremde
und der Deutsche der Vertraute ist. Ein Hooligan ist fast allen Deutschen etwas vollkommen Frem-
des, das ihnen zuwider ist, aber ein ausländischer Kollege am Arbeitsplatz oder auch der italieni-
sche und griechische Gastwirt sind uns doch vollkommen vertraut.“ (Zitat des ehemaligen
Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker)
Wir alle essen gerne beim Italiener oder Griechen, kaufen Obst und Gemüse beim Türken,
benutzen japanische Fernsehgeräte und MP3-Player und reisen in alle Welt. Aber im Zusammen-
leben mit unseren ausländischen Mitbürgern gibt es immer wieder Probleme.
Den Menschen, die vor einigen Jahrzehnten dringend als Arbeitskräfte benötigt wurden, be-
gegnen heute viele mit Misstrauen und Ablehnung. Da es heute nur noch wenige Arbeitsplätze gibt,
sind sie nun Konkurrenten.
Andererseits haben z. B. viele Türken nur türkische und Russlanddeutsche nur russland-
deutsche Bekannte. So bleibt man sich gegenseitig fremd und Vorurteile werden nicht abgebaut.
Außerdem führt das Leben nur unter den eigenen Landsleuten dazu, dass selbst Kinder aus auslän-
dischen Familien, die schon Jahrzehnte in Deutschland leben, die deutsche Sprache nicht beherr-
schen. Das verringert ihre Chancen in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt.
Sowohl die Bundesregierung als auch viele Institutionen und Verbände bemühen sich des-
halb darum, die ausländischen Mitbürger besser in die Gesellschaft zu integrieren (einzugliedern),
damit aus Fremden mit der Zeit Mitbürger werden.
M 2 Vorurteile gegenüber Fremden
(Interview mit Ümit, einem jungen Türken, der in Deutschland aufgewachsen
ist:)

Welche Vorurteile gegen Türken nimmst du wahr?


Es gibt das Vorurteil, dass Türken jedem an die Kehle springen, sobald es um ihre Schwester geht.
Ich bin seit drei Jahren mit einer Deutschen zusammen. Die Großmutter wollte wissen, ob meine
Freundin jetzt Kopftuch tragen muss.
Wie sind deiner Meinung nach die Vorurteile entstanden?
Ich glaube, dass es sich um Meinungen handelt, die jemand gebildet hat, ohne die entsprechenden
Erfahrungen gesammelt zu haben. Diese Bilder werden weitergetragen. Durch Medien, Bekannte,
Witze.
Was tragen Türken zu den bestehenden Vorurteilen bei?
Wenn Türken in ihrer abgeschlossenen Gesellschaft leben, wie soll man dann zueinander kommen?
Viele Türken zeigen wenig Interesse an der deutschen Gesellschaft. Es gibt viele Beispiele, in de-
nen Deutsche massive Schwierigkeiten mit türkischen Jugendlichen haben. Dafür gibt es Gründe:
andere Wertvorstellungen, unterschiedliches Aggressionspotential, niedrigere Hemmschwellen.
Wie begegnet ihr den Vorurteilen?
Wir sollten uns auf die Deutschen einlassen und zeigen, wie wir Türken sind. Dann würden wir ein
anderes Bild schaffen.
Wie wünschst du dir das türkische Leben in Deutschland?
Dass wir gar nicht mehr darüber reden, welcher Herkunft jemand ist. Im Grunde zählt doch nur, wo
ich bin, was ich mache und meine eigene Persönlichkeit.
(Vor)urteile - alles Klischee oder was? In: etap. Deutsch-türkisches Leben. Heft 3/2000, S. 38-41;
gekürzt und leicht verändert)

M 3 Überfälle in Serie auf Ausländer in Ostdeutschland


(Überfälle in Berlin, Wismar und Weimar)

Am Himmelfahrtstag kam es in Ostdeutschland zu zahlreichen Angriffen auf Ausländer.


Mehrere der Qpfer wurden dabei erheblich verletzt. In Berlin nahm die Polizei insgesamt 14 Perso-
nen fest. Sie hatten sich an drei ausländerfeindlichen Überfällen an Himmelfahrt beteiligt. Die
Übergriffe richteten sich gegen vier Türken, einen Libanesen und einen Mann aus Guinea. Zu aus-
länderfeindlichen Übergriffen kam es auch in Weimar und in Wismar. In Weimar wurden drei
Männer aus Kuba und Mosambik von mutmaßlich rechtsradikalen Schlägern überfallen und zum
Teil schwer verletzt. Bei den Schlägern handelt es sich nach Angaben der Polizei um Männer im
Alter von 19 bis 29 Jahren. Sie hatten am Abend eine private Feier in einem Hof in der Innenstadt
überfallen. Die Polizei nahm acht Tatverdächtige fest. Die Staatsanwaltschaft Erfurt stellte Haft-
antrag gegen drei Rechtsradikale. Nach ersten Ermittlungen gehörten diese der Kameradschaft
„Braune Aktionsfront Apolda" an, sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft am Freitag. Nach
Angaben der Staatsanwaltschaft waren die Täter betrunken. Bislang gebe es keine Anzeichen dafür,
dass sie gezielt in den Hof kamen.
In Wismar wurde ein Inder verletzt. Mehrere Männer hätten dort auf einem Flohmarkt einen
Händler angegriffen. Die größte Aufgabe bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus komme der
Bildung und Erziehung zu, sagte Huber, der Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD). Gerade die Jugendlichen, die auf einen Hauptschulabschluss zugingen, müss-
ten so begleitet werden, dass sie im Anschluss einen Ausbildungsplatz fänden.
Dies sei vergleichbar mit den Anstrengungen, die zur Integration von Jugendlichen aus Mi-
grantenfamilien benötigt würden, sagte der Bischof weiter. „Immer dort, wo es um Gruppen geht,
die aus ihrer Dynamik heraus Fremden- oder Menschenfeindlichkeit entwickeln, müssen wir stärker
auf die soziale Situation achten als auf den Reisepass."
www.spiegel.de, 26.5.2006, gekürzt und leicht verändert

Aufgaben

1. Berichten Sie darüber, was im Text geschildert wird. Beschreiben Sie ausführlich, welche
Menschen Ihnen fremd erscheinen.
2. Sammeln Sie Vorurteile gegenüber Fremden und vergleichen Sie sie mit den Aussagen von Ümit
(M2). Welche Gründe gibt es für das problematische Zusammenleben mit Deutschen?
3. Vergleichen Sie die Lebensumstände von Deutschen und Ausländern (M4). Wo sehen Sie
Ursachen für Probleme? Begründen Sie Ihre Antwort.
4. Informieren Sie sich in den Medien über fremdenfeindliche Übergriffe (M 3 und M 5). Berichten
Sie darüber: Opfer, Täter, Ursachen.
5. In M 3 werden Maßnahmen zur Verbesserung des Zusammenlebens von Deutschen und Auslän-
dern genannt. Fassen Sie sie in einem zusammenhängenden Bericht zusammen.
Integrationspolitik

Integration in Schule und Beruf

Seit dem 1. Januar 2005 ist das Zuwanderungsgesetz in Kraft, das die Zuwanderung regelt
und auch die Integrationsförderung beinhaltet. Zuwanderung und Integration gehören eng zusam-
men, denn die zugewanderten Menschen müssen auf Dauer erfolgreich eingegliedert werden. Des-
halb erhalten alle Neuzuwanderer, die sich rechtmäßig und dauerhaft in Deutschland aufhalten, ein
Grundangebot zur Integration. Doch das ist nur die rechtliche Seite. Damit Integration dauerhaft
gelingt, müssen die Menschen im Alltag aufeinander zugehen.
Ein besonderes Problem ist die mangelhafte Schulbildung. Sie ist Folge davon, dass selbst
in der dritten Generation vor allem viele türkischstämmigen Kinder sehr schlecht Deutsch sprechen
können. Aufgrund der schlechteren Schulabschlüsse haben ausländische Jugendliche auch schlech-
tere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Nur knapp ein Drittel der Jugendlichen findet einen Ausbil-
dungsplatz.

M 2 Ziele der Integrationspolitik

Die Gestaltung von Zuwanderung und Integration gehört zu den wichtigsten Aufgaben der
nächsten Jahrzehnte. Sie erfordert eine langfristig ausgerichtete Politik.
 Deutschland muss weiterhin seine Verantwortung und Verpflichtung als Mitglied der interna
tionalen Staatengemeinschaft wahrnehmen. Das gilt insbesondere für die Verpflichtungen aus
der
Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wir setzen uns
für die weltweite Achtung der Menschenrechte und die Stärkung des Völkerrechts ein und ge-
währen politisch Verfolgten Schutz.
 Zuwanderung muss so gestaltet werden, dass sie auch im Bewusstsein der Bevölkerung eine
Bereicherung für unser Land darstellt. Dies setzt unter anderem voraus, dass die inländische Ar-
beitslosigkeit abgebaut, die Integration der hier lebenden Zuwanderer verbessert und die der
Neuzuwanderer gefördert wird. Integration ist eine dauerhafte politische und gesellschaftliche
Aufgabe, die alle im Land lebenden Menschen betrifft.
 Maßnahmen zur Förderung der Integration sollen den Zuwanderern eine gleichberechtigte Teil-
habe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben ermöglichen.
Zugleich müssen Toleranz, Akzeptanz und wechselseitiger Respekt zwischen den Bevölkerungs-
gruppen gestärkt werden. Integrationsangebote müssen bereitgestellt werden. Zuwanderer sind
berechtigt und gehalten, sie wahrzunehmen.
(Zuwanderung gestalten - Integration fördern, S. 2; hrsg. v. Bundesministerium des Innern, Berlin
2001)

M 3 Quote für Ausländer

Deutschland braucht eine Migranten-Elite und sollte sie deshalb gezielt fördern.
Deutschland ist ethnisch und kulturell vielfältiger als angenommen. Von den insgesamt 82,4 Millio-
nen Menschen in Deutschland kommen 15,3 Millionen aus dem Ausland oder sind Nachkommen
von Einwanderern. Wirft man jedoch einen Blick auf Institutionen, Medien, Lehrerkollegien, Hoch-
schulen, Ministerien und Gerichte, so bleibt die Zuwanderung der letzten 50 Jahre unsichtbar. Viel
Talent bleibt meist schon viel früher auf der Strecke, denn Kinder von Migranten haben es in
deutschen Schulen ungleich schwerer als ihre deutschen Mitschüler.
Die Politik steht unter Zugzwang. Die Bundesregierung kündigte auf dem Integrationsgipfel
im Sommer an, das Thema Bildung in den Mittelpunkt ihrer Integrationsbemühungen zu stellen.
Wissenschaftler betonen seit langem, dass sich auch die Einstellungspolitik öffentlicher Institutio-
nen und privater Unternehmen ändern muss, um Menschen mit Migrationshintergrund für die
Bandbreite aller Berufsfelder zu gewinnen.
Prominente Identifikationsfiguren könnten auch eine wichtige Rolle dabei spielen, Auslän-
der zu motivieren, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Wenn es normal ist, von einem Richter
türkischer Herkunft vor Gericht angehört zu werden, rückt auch die Mehrheitsgesellschaft näher an
die Realität ihres Landes. Vielleicht ist ja bald die Zeit reif für einen deutschen Außenminister tür-
kischer Herkunft oder eine französische Präsidentin, deren Mutter einst aus Kamerun nach Frank-
reich einwanderte.
(J. Novy, S. Stemmler, www.zeit.de, 4.9.2006, gekürzt und leicht verändert)
Aufgaben

1. Werten Sie M5 aus: Beschreiben Sie die dargestellten Lebensverhältnisse und formulieren Sie
mögliche Zukunftswege für ausländische Kinder und Jugendliche. Welche Ziele sollte eine
Integrationspolitik verfolgen?
2. Erläutern und bewerten Sie die Maßnahmen der Integrationspolitik in Deutschland (M2).
3. Nehmen Sie zu den Argumenten in M3 Stellung und diskutieren Sie darüber.
4. Informieren Sie sich über die Integrationsmaßnahmen in der Republik Bealrus.

M 6 Hilfe für Flüchtlinge

Der UNHCR wurde 1950 in Genf gegründet und hat heute Büros in 114 Staaten. Er hat zwei
große Aufgabengebiete. Er versucht einerseits, Flüchtlinge zu schützen, und andererseits, dauer-
hafte Lösungen für ein neues Leben in einer sicheren Umgebung zu finden. Als Sofortmaßnahme
bei großen Flüchtlingsbewegungen z. B. infolge von Kriegen stellt er sauberes Trinkwasser, Nah-
rungsmittel, Unterkünfte und Medikamente zur Verfügung. Darüber hinaus unterstützt und über-
wacht die Organisation aber auch die dauerhafte Ansiedlung der Flüchtlinge. Das kann sowohl bei
der Rückkehr ins Herkunftsland sein als auch im Asyl. Hier wird den Flüchtlingen z. B. mit Saatgut,
landwirtschaftlichen Geräten und Baumaterial geholfen.

UNHCR = United Nations High Commissioner for Refugees (Hoher Flüchtlingskommissar der
Vereinten Nationen

Pro Asyl wurde 1986 als deutsche Menschenrechtsorganisation gegründet, die heute etwa 13
000 Mitglieder hat. Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit setzt sie sich für den Schutz von Flüchtlingen
und Asylsuchenden in Deutschland ein. Gleichzeitig hilft die Organisation aber auch konkret z.B.
bei Behördengängen und Prozessen vor Gericht oder bei der Verbesserung der Lebensbedingungen
in den Flüchtlingsunterkünften.

Aufgaben

1. Die Integrationsproblematik wirft immer wieder Schlagzeilen auf. Sammeln Sie Zeitungsberichte
zu dem Thema und werten Sie sie aus.
2. Informieren Sie sich in Gruppen über je eine Flüchtlingshilfsorganisation und stellen Sie ein
Projekt „Ihrer" Organisation vor.
Migration und Integration

Die Bundesrepublik Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland.


Die deutsche Bevölkerung wird durch vielfältige Migrantengruppen ergänzt. Die wichtig-
sten sind:
- Bürger der Europäischen Union (Freizügigkeit nach EU-Recht),
- Spätaussiedler (deutsche Volkszugehörige aus der Sowjetunion, aus Ost- und Südosteuropa),
- Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staaten (Arbeitsmigranten, wie Saisonarbeiter, „Gastarbeiter"),
- Familienangehörige der in Deutschland lebenden Ausländer (Familienmigration),
- Ausländer, die in bestimmten Berufen tätig sind und auf der Grundlage von Sonderregelungen
nach Deutschland gekommen sind (z.B. „Green Card"),
- Asylsuchende, die in ihrem Heimatland politisch verfolgt werden,
- anerkannte Flüchtlinge aus den Krisengebieten der Welt, die ihr Heimatland wegen Krieg,
Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen, Verelendung verlassen haben sowie Bürger-
kriegsflüchtlinge mit befristeter Aufenthaltserlaubnis und illegale Flüchtlinge.

Anfang 2002 lebten etwa 7,3 Mio. Ausländer (8,9 % der Wohnbevölkerung) sowie 1 Mio. ein-
gebürgerte Einwanderer in Deutschland. Die Migranten konzentrieren sich auf die alten Bundes-
länder und dort wiederum auf Großstädte und industrielle Ballungszentren. 2001 waren 10,3 %
der Wohnbevölkerung in den alten Bundesländern und 2,4 % in den neuen Ländern Ausländer.

Die Arbeitsmigranten und ihre Familien bilden den größten Teil der ausländischen Bevöl-
kerung in der Bundesrepublik - etwa 6,2 Mio. der 7,3 Mio. Ausländer (2002). Der Großteil stammt
aus den Ländern, aus denen die Bundesrepublik im Zuge des Arbeitskräftemangels in den 1960er-
Jahren „Gastarbeiter" anwarb: aus der Türkei, Jugoslawien, Italien, Griechenland und Spanien.
Durch Familiennachzug und höhere Geburtenraten stieg der Anteil der ausländischen Wohnbevöl-
kerung seitdem kontinuierlich und bildet ethnische Minderheiten. Jeder fünfte Ausländer ist bereits
in Deutschland geboren (2. und 3. Generation). Viele Arbeitsmigranten wurden zu Einwanderern,
die längerfristig oder auf Dauer im Land bleiben.
Migranten leisten einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und bereichern
das gesellschaftliche Zusammenleben kulturell. Ihre Integration bleibt jedoch eine dauerhafte Auf-
gabe von Staat und Gesellschaft.
Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der ethnischen Minderheiten haben sich seit den
1980er-Jahren deutlich verbessert. Es gab Integrationsfortschritte besonders bei der größten Gruppe
der Arbeitsmigranten und ihren Familien durch begrenzten sozialen Aufstieg, Verbesserung des
Rechtsstatus, der Bildungs- und Berufschancen sowie der Einkommens- und Wohnverhältnisse.
Zudem nahm in der breiten Bevölkerungsmehrheit die Akzeptanz der ethnischen Minderheiten
kontinuierlich zu und die sozialen Kontakte verbesserten sich – im Freundeskreis, in der Nachbar-
schaft, am Arbeitsplatz.
Dennoch sind die sozialen Ungleichheiten keineswegs überwunden.

Texterläuterungen

a) Ein politisch Verfolgter erhält in Deutschland nach Art. 16a GG Asyl. Seit 1993 kann sich aber
nicht mehr auf dieses Recht berufen, wer aus einem „sicheren Herkunftsland“ kommt oder über
einen „sicheren Drittstaat“ einreist. Bei Anerkennung seiner poltischen Verfolgung in einem
Asylverfahren erhält er als Asylberechtigter Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnis.
b) In vielen EU-Ländern ist der nominelle Ausländeranteil wesentlich geringer als in Deutschland,
da sehr viel mehr Migranten eingebürgert werden (z.B. in Schweden etwa zehnmal mehr).
c) Integration, lat. integratio = Wiederherstellung eines Ganzen – der Zusammenschluss von
Teilen zu einer Einheit; soziologisch die Eingliederung von Personen bzw. Gruppen in Gesell-
schaft bzw. Staat.

Ungleiche Chancen

Die sozialen Ungleichheiten zwischen ausländischer Bevölkerung und deutscher Mehr-


heitsgesellschaft sind nach wie vor gravierend:

- Über die Hälfte der Ausländer ist im untersten Teil der Schichtungshierarchie angesiedelt (ge-
ringes Niveau in Bildung, Ausbildung und beruflicher Qualifikation).
- Ausländer sind überdurchschnittlich häufig in niedrig qualifizierten, belastenden und gefährli-
chen Arbeiten beschäftigt (bei hohem Anteil an Un- oder Angelernten), was auch höhere Ge-
sundheitsrisiken birgt.
- In der ausländischen Bevölkerung ist die Arbeitslosenquote mit 16,4 % erheblich höher – West-
deutsche 8,6 % (2002).
- Ausländische Haushalte haben durchschnittlich ein geringeres Pro-Kopf-Nettoeinkommen – 73
% des deutschen Einkommens (1998).
- Ausländer leben häufiger in Armut – 22 %, Deutsche 7 % (2000).
- Ausländische Bevölkerungsgruppen leben durchschnittlich schlechter und beengter als die
Deutsche Bevölkerung (mehr Personen in kleineren Wohnungen, Wohnumfeld mit hohen Um
welt- und Verkehrsbelastungen).
In großen Teilen der ausländischen Bevölkerung findet sich eine hohe Konzentration dieser
sozialen Ungleichheiten. Sie werden verstärkt durch eine begrenzte gesellschaftliche Teilnahme,
was zu minderen Rechten, schlechteren Berufschancen, zu sozialer Isolation, geringerer politischer
und sozialer Partizipation führt. Auch spezifische Migrantenprobleme, wie Trennungserfahrun-
gen, Kultur- und Identitätskonflikte sowie Diskriminierungserlebnisse verstärken soziale Ungleich-
heiten.
 In der mit etwa 2 Mio. größten Gruppe der ethnischen Minderheiten in Deutschland, den Tür-
ken, zeigt sich z. B. eine starke Konzentration sozialer Ungleichheiten. Sie bestehen in schwe-
ren und belastenden Arbeiten, Konflikten zwischen deutscher und traditioneller Heimatkultur,
schlechten Deutschkenntnissen, hohen Isolationstendenzen und Bildungsdefiziten.
Zentral für die Integration ethnischer Minderheiten sind die Bildungs- und Berufschancen
der Migrantenkinder, da sie über die Lebenschancen künftiger Generationen entscheiden. Trotz
festzustellender Bildungsfortschritte zeigen sich bei Migrantenkindern nach wie vor erheblich ge-
ringere Bildungs- und Berufschancen.
Die Ursachen für die Bildungsproblematik der Migrantenkinder liegen in mangelnden
Sprachkompetenzen, Schwierigkeiten der Migrationssituation (z. B. Kulturdifferenzen), familiären
Bedingungen (z. B. geringe Lernunterstützung, beengte Wohnsituation) sowie an Defiziten der
schulischen Förderung (z.B. Mängel im interkulturellen Verständnis oder im Deutschunterricht).

Diese Bildungsdefizite wirken sich negativ beim Übergang in die Arbeitswelt aus, vor allem
auch angesichts der Lehrstellenknappheit und der wenigen Ausbildungsplätze. Sie gelten als zentra-
le Ursache für Integrationsprobleme der jungen Migrantengeneration und können gravierende Fol-
gen nach sich ziehen, wie ein hohes Risiko der Arbeitslosigkeit, Randständigkeit, Kriminalität.
Integrationsdefizite werden zudem durch Gewalt gegen Ausländer verstärkt.

 2000 wurden in der Bundesrepublik 998 fremdenfeindliche Aktionen wie Tötungsdelikte, Kör-
perverletzungen, Sprengstoff- und Brandanschläge registriert.
Gewalt gegen Ausländer findet zwar nur bei einer kleinen Bevölkerungsminderheit Sym-
pathien, kann aber im Zusammenhang mit alltäglichen Formen der Ausländerfeindlichkeit und
Diskriminierung – Beleidigungen, Benachteiligungen und Ausgrenzungerfahrungen – vielfältige
psychische Belastungen und weiter wirkende Folgen mit sich bringen. Besonders in Großstädten
verursachen Integrationsdefizite auch Tendenzen der Segregation oder Abschottung. Diese können
zur Herausbildung von sozialen Brennpunkten führen, wenn sich verschiedene Probleme bündeln,
wie massive Sprachschwierigkeiten, religiöser Fundamentalismus, Kriminalität, Armut und Ar-
beitslosigkeit.

Texterläuterungen:

a) Jede 7. Ehe, die 1999 in Deutschland geschlossen wurde, war binational.


b) Die Angaben zur Situation von Ausländern in Deutschland sind den Berichten der Ausländer-
beauftragten (2002) und dem 1. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung „Le-
benslagen in Deutschland“ (2001) entnommen.
c) 1983 waren 30% der jugendlichen Migranten ohne Schulabschluss, 1999 waren es nur noch
17%.
d) Die erste international vergleichende PISA-Studie kam zu dem Ergebnis, dass Migrantenkinder
im deutschen Bildungssystem erheblich schlechter gefördert werden als in Schulsystemen vieler
anderer Länder.
e) Die Abschottung ethnischer Gruppen innerhalb von Städten wird auch als problematische Bil-
dung von „Parallelgesellschaften“ bezeichnet.

Integration - Integrationspolitik

In Deutschland wird sich der Anteil der Migranten in Zukunft voraussichtlich weiter erhöh-
en, bedingt durch globale und europäische Migration, weltweite Flüchtlingsströme und den ökono-
misch-demografischen Bedarf. Die Integration von Ausländern und ethnischen Minderheiten in
die deutsche „Kerngesellschaft" wird deshalb eine große Herausforderung bleiben. Integration wird
von Politikern und Wissenschaftlern sehr unterschiedlich interpretiert, aber es herrscht Einigkeit
darüber, dass Integration als Prozess gegenseitiger Annäherung von Migranten und Aufnahmege-
sellschaft gestaltet werden muss. Spracherwerb, interkulturelles Lernen, gleiche Bildungschancen
und Erwerbstätigkeit gelten als zentrale Voraussetzungen für erfolgreiche Integration und Partizi-
pation von Zuwanderern. Dass Deutschland aufgrund des demografischen Wandels und des damit
verbundenen Arbeitskräftedefizits in Zukunft verstärkt auch auf Zuwanderung angewiesen sein
wird, ist weitgehend Konsens. Strittig sind jedoch die geeigneten Konzepte der Integration und
die politische Steuerung der Zuwanderung.

 Das Konzept der „multikulturellen Integration" verfolgt eine Integrationspolitik, die die Akzep-
tanz und Chancengleichheit ethnischer Minderheiten mit dem Prinzip der „Einheit in Verschie-
denheit" verbindet. Ziel sind gesellschaftliche Bedingungen, in denen Mehrheit und ethnische
Minderheiten auf der Basis gemeinsamer Sprache, Regeln und Grundwerte der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung im gegenseitigen Respekt für die jeweiligen sozialen und kul-
turellen Besonderheiten gleichberechtigt und in Frieden miteinander leben.

Fremde und Fremdsein - Vorurteile und Feindbilder

Vorurteile bewerten Menschen und Zusammenhänge vereinfachend und verallgemeinernd.


Sie sind durch eine einseitige und verzerrte Wahrnehmung gekennzeichnet. Vielfach richten sie sich
gegen soziale Gruppen, indem allen Mitgliedern dieser Gruppe bestimmte, meist negative und un-
veränderliche, Eigenschaften und Verhaltensweisen pauschal zugeschrieben werden. Dazu gehören
nationale Stereotypen („Polen/Deutsche/Amerikaner sind ..."), aber auch rassistische Menschenbil-
der (z. B. „primitiver Afrikaner").
Vorurteile dieser Art sind Ausdruck von Bedrohungsgefühlen, einer grundsätzlichen Ableh-
nung des Andersartigen oder Ergebnis unkritisch übernommener Vorstellungen und Feindbilder.
Sie sind häufig mit der Diskriminierung von Minderheiten verknüpft, können aber auch machtpo-
litisch instrumentalisiert werden, wie das antisemitische Bild des „verschlagenen, geldgierigen
Juden" zeigt, das im Nationalsozialismus als Legitimation für die Ermordung des jüdischen Volkes
eingesetzt wurde.
Oft sind Vorurteile emotional tief verankert und daher rationalen Argumenten nur schwer
zugänglich. Langfristig können sie aber durch umfassende Information und konkrete Erfahrungen
allmählich entkräftet werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Überprüfung der Vorurteile an
der Realität bzw. belegbaren Fakten.
In Deutschland ist die Vorstellung verbreitet, Ausländer seien grundsätzlich krimineller als
Deutsche (40% der Befragten, ALLBUS-Studie 1996). Dieses Bild des „kriminellen Ausländers"
wirkt sich erschwerend auf die Integration von Migranten aus. Es lässt Zuwanderung für viele Deut-
sche als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erscheinen und befördert fremdenfeind-
liche Einstellungen. Ausländer können schnell zu „Sündenböcken" werden, wenn der statistische
Anstieg von Kriminalität mit dem steigenden Ausländeranteil in der Bevölkerung kausal verknüpft
wird. Politische Forderungen und Entscheidungen, insbesondere in der Ausländerpolitik, werden
ebenfalls durch solche Annahmen beeinflusst (z. B. Einschränkung des Asylrechts, Steuerung der
Zuwanderung).
Soweit diese Auffassung argumentativ begründet wird, stützt sie sich im Wesentlichen auf
die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamtes. Demnach liegt der Anteil aus-
ländischer Tatverdächtiger mit 23,5 % erheblich höher als der rund 9 %ige Anteil von Ausländern
an der Gesamtbevölkerung (PKS 2003).
Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch die Problematik einer oberflächlichen Interpreta-
tion statistischer Daten:

- Die Statistik erfasst nur Tatverdächtige in polizeilichen Ermittlungen. Die Zahl der Angeklagten
und als schuldig Verurteilten lässt sich daraus nicht ableiten. Als weiterer Unsicherheitsfaktor
kommt die Dunkelziffer unentdeckt gebliebener Gesetzesverstöße hinzu.
- Die Kriminalstatistik nimmt auch Ausländer auf, die sich ungesetzlich in Deutschland aufhalten
(z. B. illegale Flüchtlinge) oder nur kurzfristig im Land sind (z. B. Touristen, Angehörige aus-
ländischer Streitkräfte). Die Bevölkerungsstatistik erfasst aber nur den geringeren Anteil von
Ausländern mit gemeldetem, festem Wohnsitz in Deutschland. Da nicht bekannt ist, wie viele
Ausländer sich tatsächlich in Deutschland befinden, ist aufgrund dieser Zahlen auch kein aus-
sagekräftiger Vergleich zwischen deutschen und ausländischen Bevölkerungsgruppen möglich.
- Rund ein Viertel der Delikte ausländischer Tatverdächtiger ist ausländerspezifisch, d. h. es han-
delt sich vor allem um Verstöße gegen das Ausländer- und Asylrecht (z. B. unerlaubte Einreise,
abgelaufene Aufenthaltserlaubnis, Scheinehe).
- Die ausländische Bevölkerung ist strukturell anders zusammengesetzt als die deutsche: Es gibt
überdurchschnittlich viele junge Männer ohne abgeschlossene Berufsausbildung, die in Großstäd
ten in schlechten sozialen Verhältnissen leben. Damit finden sich hier mehr Risikogruppen, die
auch bei Deutschen eine höhere Kriminalitätsrate aufweisen.
- Bei ausländischen Jugendlichen zeigt sich ein markanter Anstieg krimineller Delikte. Dies ist vor
allem auf Integrationsmängel, Ausgrenzungserfahrungen und soziale Ungleichheiten zurückzu-
führen, die sich in gravierenden Ausbildungsdefiziten sowie hohen Armuts- und Arbeitslosig-
keitsraten manifestieren. Die Straffälligkeit sozial integrierter Ausländer ist aber statistisch nicht
höher als bei Deutschen mit ähnlichem Sozialprofil.
Bei Berücksichtigung all dieser Faktoren wird deutlich, dass die Vorstellung von der allge-
mein höheren Ausländerkriminalität einer differenzierten Analyse nicht standhält.
Auch die Massenmedien beeinflussen stark die individuellen und gesellschaftlichen Vor-
stellungen von den „Fremden" und damit den Umgang der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit
Migranten bzw. ausländischen Bevölkerungsgruppen.
Die Andersartigkeit des „Fremden" – z. B. das „Kopftuch-Tragen" oder Bet-Rituale – er-
scheint in vielen Medien vor allem als problematisch: als Störung der etablierten Ordnung oder
Bedrohung der eigenen Werte, Identität und Kultur. Es werden vorrangig negative Phänomene
aufgenommen und oft vereinfacht, oberflächlich und klischeehaft dargestellt.
In den 1980er-Jahren wurde z. B. besonders in der populistischen Boulevardpresse das
komplexe Thema „Grundrecht auf Asyl" auf das negative Bild der „Asylantenflut" verkürzt. Die
meisten Berichte suggerierten eine unterschwellige Bedrohung der deutschen Bevölkerung durch
einen unkontrollierbaren „Massenstrom" von Asylbewerbern und schürten damit „Angst vor Über-
fremdung". Zu den medialen Mitteln gehörte die ständige Wiederholung schematischer Bilder (z. B.
lange Schlangen von fremd aussehenden Asylbewerbern vor überfüllten Ämtern), aber auch die
floskelhafte Verwendung von negativ besetzten Metaphern (z. B. „Ansturm von Flüchtlingen" oder
„Das Boot ist voll").
In den 1990er-Jahren rückte das Thema „Ausländerkriminalität" bzw. organisierte Krimina-
lität in den Vordergrund („Russen-Mafia", Drogen- und Mädchenhandel), das das Feindbild „ge-
fährlicher, krimineller Ausländer" unterstützt. Medienberichte machen „Fremde" häufig noch frem-
der und bedrohlicher, indem sie negative Vorurteile bestätigen und verstärken. Diese Art der Dar-
stellung kann Ängste schüren, die für fremdenfeindliches Denken und Handeln mitverantwortlich
sind. Medien können aber auch zum Abbau von Vorurteilen und einem vielfältigeren Bild beitra-
gen, wenn Zusammenhänge und Hintergründe beleuchtet werden und vermehrt über positive Bei-
träge von Migranten in Deutschland berichtet wird.
Internationale Migration

Ängste vor terroristischen Bedrohungen und kultureller Überfremdung prägen die


öffentliche Diskussion um die Auswirkungen von Migration. Ihre positiven Effekte werden dabei
oft vernachlässigt.

Im Jahr 2005 lebten nach Angaben der von der UNO eingesetzten Weltkommission für
Internationale Migration fast 200 Millionen Menschen - das sind etwa drei Prozent der Weltbevöl-
kerung - länger als ein Jahr nicht in dem Land, in dem sie geboren wurden. Statistisch genau sind
diese Zahlen jedoch nicht. Denn zum einen werden in den amtlichen Statistiken vieler Entwick-
lungsländer Aus- und Einwanderer nicht systematisch erfasst. Zum anderen beziehen diese Anga-
ben nicht die Dunkelziffer der irregulären Migration mit ein. Als irreguläre Migrantinnen und
Migranten werden Menschen bezeichnet, die gesetzeswidrig in ein fremdes Land einreisen oder
sich dort unerlaubt aufhalten.
In der medialen Berichterstattung über internationale Migration stehen die damit verbunde-
nen Sicherheitsprobleme gegenwärtig im Zentrum der Aufmerksamkeit. Internationale Migration
und internationaler Terrorismus werden dabei häufig miteinander verknüpft. Ängste vor terroristi-
schen Bedrohungen wie kultureller Überfremdung führen insbesondere in den hoch entwickelten
Ländern des Westens zu fremdenfeindlichen Abwehrreaktionen und überlagern im öffentlichen
Diskurs die positiven Effekte von Migration.

Aktuelle Erkenntnisse

Auch wenn die Angaben internationaler Organisationen zum Teil auf Schätzungen beruhen,
lassen sich doch einige Trends in der Entwicklung der internationalen Migration beobachten:
Danach ist die Anzahl internationaler Migranten seit den 1970er Jahren deutlich gestiegen: von 82
Millionen 1970 auf 175 Millionen 2000. Da inzwischen fast in jedes bzw. aus jedem Land der Welt
Menschen ein- bzw. auswandern, ist die klassische Unterscheidung zwischen Herkunfts-, Transit-
und Zielländern immer schwieriger zu treffen.

Während der Anteil der im Ausland geborenen Personen in den Entwicklungsländern in den
letzten Jahren stagniert oder sogar leicht zurückgegangen ist, ist er in den entwickelten Ländern
deutlich gestiegen. So nahm zwischen 1990 und 2000 der Anteil der Migranten an der Gesamtbe-
völkerung in Nordamerika um 48 Prozent zu (von 27 Millionen auf 40 Millionen) und in Europa
um 15,8 Prozent (von 48 Millionen auf 56 Millionen). In Asien hingegen ging er im gleichen
Zeitraum um 0,4 Prozent zurück und stagniert bei circa 50 Millionen. Auch in Afrika blieb der
Anteil der Migranten an der Gesamtbevölkerung relativ konstant und liegt bei circa 16 Millionen.

Schubkräfte globaler Wanderungsbewegungen

Eine mit dem Bevölkerungswachstum oft nicht Schritt haltende Wirtschaftsentwicklung,


Umweltprobleme wie die Ausweitung der Wüsten und damit verbundene Wasserknappheit, Kriege,
Bürgerkriege und allgemein instabile politische Ordnungen bilden wesentliche Schubkräfte inter-
nationaler Wanderungsbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert. Ungleiche Entwicklungschancen,
deutliche demografische Unterschiede sowie undemokratische Regierungsführung und damit
verbundene politische Instabilität haben zu einem bis heute andauernden Anstieg der internationa-
len Migration geführt.
Insbesondere die seit den 1970er Jahren beschleunigte Verflechtung internationaler Wirt-
schaftsbeziehungen (Globalisierung) hat eine verstärkte Öffnung nationaler Grenzen für den Aus-
tausch von Gütern, Dienstleistungen und Kommunikationsmedien mit sich gebracht, die internatio-
nale Wanderungsbewegungen aus verschiedenen Gründen begünstigt:
 Beschleunigung und Verbilligung des Transports tragen wesentlich zur Erhöhung der weltweiten
räumlichen Mobilität der Menschen bei.
 Technologische Entwicklungen wie die Einführung von Kabel- und Satellitenfernsehen und die
Digitalisierung der Kommunikation verringern die kulturelle Distanz zwischen den Menschen.
Bilder westlicher Konsumgesellschaften werden in alle Teile der Welt vermittelt und erzeugen
Anreize, in wohlhabendere Gesellschaften abzuwandern.
 Die Revolutionierung von Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten schafft die Grundlage
für die Entstehung grenzüberschreitender Netzwerke unter den Migrantinnen und Migranten. E-
Mail und Telefon ermöglichen die unkomplizierte und kostengünstige Pflege familiärer und
freundschaftlicher Bindungen zu den Daheimgebliebenen.
 Die Auslagerung von Produktionsstätten aus den westlichen Industrieländern in Niedriglohn-
länder motiviert die dortige ländliche Bevölkerung, in die Städte abzuwandern. Diese Binnen-
migration ist für viele nur der erste Schritt zur grenzüberschreitenden Migration in die Großstädte
der so genannten Ersten Welt.

Formen der Abwanderung

Arbeitsmigration

Die weltweite Arbeitsmigration verlief nach 1945 entsprechend der jeweiligen ökonomi-
schen Entwicklung in den verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich. In den westlichen In-
dustrieländern Europas entstand durch das ökonomische Wachstum eine Nachfrage nach Arbeits-
kräften, die das Angebot an heimischen Arbeitnehmern weit überstieg. Diese Phase der Öffnung des
Arbeitsmarktes für internationale Arbeitsmigranten endete mit der 1973 beginnenden Energiekrise.
Zuwanderung aus den Herkunftsländern der Arbeitsmigranten fand danach nur noch durch den
Nachzug von Familienangehörigen statt. Insgesamt wanderten über 30 Millionen Menschen im
Rahmen der Arbeitsmigration nach 1945 in die industriellen Zentren Westeuropas. Dabei handelte
es sich in der Regel um gering qualifizierte Arbeitnehmer.
Zwar hat sich inzwischen der aufenthaltsrechtliche Status der Mehrheit dieser Arbeitsmi-
granten und ihrer nachgezogenen Familien verfestigt, doch treten in den letzten Jahren die Integra-
tionsdefizite dieser Gruppe immer deutlicher in Erscheinung: Die Unruhen in den Pariser Vor-
städten 2005 sowie die aktuelle Debatte um die schwachen Schulleistungen von Migrantenkindern
in Deutschland verdeutlichen die ungelösten Folgeprobleme der Arbeitsmigration. Die sich im
Erfolg rechtsradikaler Gruppierungen manifestierende Zunahme von Fremdenhass ist ein weiteres
Indiz, dass die Integrationsproblematik bisher unzureichend gelöst wurde.
Für Angehörige der EU-Mitgliedstaaten gilt generell die Freizügigkeit der Arbeitsaufnahme
innerhalb der EU. Lediglich für Arbeitnehmer aus den 2004 in die EU aufgenommenen ost- und
mittelosteuropäischen Staaten gibt es in einigen Ländern wie etwa Deutschland mehrjährige Fristen
bis zur vollen Öffnung des nationalen Arbeitsmarktes. Außerdem werben manche EU-Länder durch
Sonderprogramme (zum Beispiel das deutsche Green-Card-Programm) gezielt hoch qualifizierte
ausländische Arbeitnehmer wie etwa Computerfachleute an.
Mit der Verteuerung des Ölpreises nach 1973 stieg in der persisch-arabischen Golfregion die
Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften. Das motivierte vor allem Menschen aus den arabi-
schen Nachbarländern sowie aus süd- und ostasiatischen Ländern zur Einwanderung. Mit circa neun
Millionen internationalen Arbeitsmigranten erreichte die Zuwanderung in die Golfregion Anfang
der 1990er Jahre ihren Höhepunkt.
Das starke Wirtschaftswachstum im asiatischen Raum hat seit den 1970er Jahren vor allem
eine innerasiatische Arbeitsmigration gefördert. Da in Asien 60 Prozent der Weltbevölkerung leben,
ist das Migrationspotenzial in dieser Region besonders hoch. Die Ausbildung von qualifizierten
Fachkräften hält in vielen asiatischen Ländern nicht mit der Industrialisierung Schritt. Ihr Bedarf an
Fachleuten kann nur durch Zuwanderung aus den schon höher entwickelten Ländern gedeckt wer-
den. Zugleich ziehen gering qualifizierte Arbeitnehmer aus relativ schwach entwickelten Ländern in
die boomenden Wirtschaftszentren höher entwickelter Industrieländer wie Korea, Taiwan oder
Thailand.
Seitdem die klassischen angelsächsischen Einwanderungsländer rassistische Diskriminierun-
gen in ihrer Einwanderungspolitik in den 1960er und 1970er Jahren aufgegeben haben, zieht es
asiatische Arbeitsmigranten vermehrt nach Neuseeland, Australien und Nordamerika. In Australien
und Kanada bilden sie inzwischen sogar die stärkste Einwanderergruppe.

Ethnisch privilegierte Migranten

Einen Sonderfall der internationalen Migration stellt die Einwanderung von Angehörigen
der eigenen „ethnischen" oder religiösen Gemeinschaft dar. Zahlreiche Staaten privilegieren die
Zuwanderung von Volksangehörigen. So gewährt etwa Deutschland seit 1950 Angehörigen
deutschstämmiger Minderheiten in Ostmittel- und Osteuropa das Recht auf Einwanderung und den
direkten Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft. Circa 4,5 Millionen Aussiedler und Spätaussied-
ler sind seither in die Bundesrepublik gekommen.

Flüchtlingsmigration

Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der UN - seit Juni 2005 hat dieses Amt
der Portugiese Antonio Guterres inne - stieg die Zahl der weltweiten Flüchtlinge ab Mitte der
1970er-Jahre deutlich an: von 2,5 Millionen vor 1975 auf 9,2 Millionen 2005. Diese Zahlen be-
ziehen sich auf die Personen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 und
dem Zusatzprotokoll vom 31. Januar 1967 als „Flüchtlinge" zu bezeichnen sind.
Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe sowie politische
Überzeugung sind nach dieser Definition die fünf Verfolgungsgründe, nach denen eine Person
als Flüchtling anzuerkennen ist. Nach dem 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz gilt in
Deutschland auch eine Verfolgung aus geschlechtsspezifischen Gründen Fluchtgrund.
Nachdem Mitte der 1990er-Jahre die Flüchtlingszahlen in Deutschland wie in anderen in-
dustrialisierten Ländern stark angestiegen waren, zeigen die Asylstatistiken der letzten Jahre für die
EU wie für die klassischen angelsächsischen Einwanderungsländer eine fallende Tendenz.
In den fünfzig am stärksten industrialisierten Staaten sank die Flüchtlingszuwanderung seit
2001 durchschnittlich um circa 40 Prozent. In den 25 Mitgliedstaaten der EU wurden 2004 36 Pro-
zent weniger Asylanträge gestellt als 2001. In den Jahren 2001 bis 2004 beantragten 1,9 Millionen
Menschen Asyl in einem EU-Staat. Das entspricht 4,2 Asylanträgen pro 1000 Einwohner in der EU
in vier Jahren. Die Antragsteller kamen 2004 insbesondere aus den GUS-Staaten, aus Serbien und
Montenegro sowie der Türkei; dagegen ging die Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak
um mehr als 80 Prozent zurück.
Sinkende Flüchtlingszahlen in Europa und den angelsächsischen klassischen Einwande-
rungsländern sind nicht zuletzt auf Änderungen im politischen Umgang mit Asylsuchenden zu-
rückzuführen. So sind nicht nur in Deutschland, sondern auch in Dänemark, Frankreich, Italien, den
Niederlanden und Großbritannien die Regelungen der Asylpolitik in den 1990er-Jahren deutlich
verschärft worden. Nationale Asylpolitiken werden zunehmend auf europäischer Ebene abge-
stimmt. Um einen Anstieg von Flüchtlingszahlen im eigenen Land zu vermeiden, möchte dabei kein
Staat liberaler erscheinen als ein anderer.

Eine wichtige Einzelmaßnahme in der Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen ist die


Drittstaatenregelung. Danach können Flüchtlinge nur dann einen Asylantrag stellen, wenn sie
nicht über ein als sicher geltendes drittes Land, in dem ihnen keine Verfolgung droht, eingereist
sind. Weitere Maßnahmen der europäischen Flüchtlingspolitik sind: Verschärfung von Visa-
Bestimmungen, verminderte Geld- und Sachleistungen für Asylbewerber, Einschränkung ihrer
Bewegungsfreiheit etwa durch Unterbringung in Heimen und Lagern, Beschleunigung von Asyl-
verfahren und schnellere Abschiebung derjenigen Flüchtlinge, deren Antrag auf Asyl abgelehnt
wurde.
Immer wieder weisen Menschenrechtsorganisationen auf die problematischen Folgen der
Harmonisierung der europäischen Asylpolitik hin. So kritisiert die Vereinigung Pro Asyl die im
Dubliner Abkommen festgelegte Regelung, wonach das Asylverfahren in der Regel in dem EU-
Land stattfinden muss, das dem Asylsuchenden den Zutritt in das Gemeinschaftsgebiet gewährt hat.
„Was so harmlos klingt, hat den europäischen Flüchtlingsschutz aus den Angeln gehoben. Die Län-
der in der Mitte Europas schieben in die Grenzregionen ab, über die die Flüchtlinge einreisen. Und
dort herrschen Praktiken, die mit einer humanen und menschenrechtlich geleiteten Flüchtlingspoli-
tik nichts mehr zu tun haben." Während Nichtregierungsorganisationen die inhumanen Folgen der
europäischen Abschottungspolitik beklagen, ist einigen Regierungen die „Festung Europa" nicht
zuletzt aufgrund der irregulären Migration aus dem Norden Afrikas noch immer nicht sicher genug.

Irreguläre Migration

Die irreguläre oder illegale Zuwanderung hat in den letzten Jahren die stärkste Aufmerksam-
keit in den Medien gefunden. Bilder überquellender Flüchtlingsboote, Berichte über Rettungsakti-
onen vor den Küsten Italiens, der Kanarischen Inseln oder Australiens, Dokumentationen über
nächtliche Grenzüberschreitungen mexikanischer Wanderarbeiter im Süden der USA sowie Schlag-
zeilen über Menschenschmuggel und Schlepperorganisationen erwecken den Eindruck, dass die
Bedrohung für die äußere und innere Sicherheit westlicher Gesellschaften durch unkontrollierte Zu-
wanderung unerwünschter Migranten dramatisch zunähme.
Harte Fakten, die einen Anstieg der unerlaubten Migration - die Vereinten Nationen spre-
chen neutraler von „irregulärer Migration" - belegen, sucht man in diesen Bedrohungsszenarien
vergeblich. So schwanken die Angaben für Deutschland zwischen 600 000 und einer Million Men-
schen, die sich hier illegal aufhalten. Experten gehen davon aus, dass zwar in der ersten Hälfte der
1990er Jahre die Zahl der irregulären Migranten in Deutschland zunahm. Seit 1996 ist diese Zahl
jedoch nicht gestiegen, vermutlich sogar gesunken.

Dabei ist nicht auszuschließen, dass sich bloß die Art der Migration gewandelt hat. Illegali-
tät in Deutschland entsteht demnach weniger durch unerlaubte Zuwanderung von Personen ohne
oder mit gefälschten Reisedokumenten als durch nachträglich entstehende Illegalität: Vermehrt
kommen Personen mit einem Touristenvisum nach Deutschland, reisen jedoch nach Ablauf des
Visums nicht wieder aus.
Das globale Ausmaß der irregulären Migration ist nicht genau zu quantifizieren. Nach
Schätzungen der UNO gibt es jährlich 2,5 bis vier Millionen unerlaubte internationale Grenzüber-
tritte. Fünf Millionen bzw. zehn Prozent der in Europa lebenden Migrantinnen und Migranten wer-
den als Personen mit irregulärem Status bezeichnet. In den USA wird ihre Zahl sogar auf zehn
Millionen geschätzt. Trotz verstärkter Grenzkontrollen reisen dort jährlich circa 500 000 Migranten
unerlaubt über die Grenze zu Mexiko ein.
Während die Zuwanderung hoch qualifizierter Migrantinnen und Migranten erwünscht ist
und mit der entsprechenden Nachfrage auf den Arbeitsmärkten der entwickelten Länder begründet
wird, wird die irreguläre Zuwanderung durchweg negativ beurteilt. In der öffentlichen, meist emo-
tionsgeladenen Debatte werden vor allem negative Folgen für die nationale Sicherheit sowie die
Notwendigkeit verschärfter Grenzkontrollen hervorgehoben. Zentrale Kritikpunkte sind:
 Irreguläre Migration stellt die Ausübung der staatlichen Souveränität in Frage. Insbesondere in
den klassischen Einwanderungsländern USA oder Australien werfen viele Bürger den uner-
laubten Migranten vor, sich nicht an die Spielregeln der offiziellen Einwanderungspolitik zu
halten und dadurch die Integrität und Effizienz der nationalen Migrations- und Asylpolitik zu
untergraben.
 Da irreguläre Migration zu verschärftem Wettbewerb um knappe gesellschaftliche Güter, vor
allem Arbeitsplätze, führt, fördert sie Fremdenfeindlichkeit. Diese wirkt wiederum negativ auf
die Akzeptanz legaler Migranten zurück. Staatliche Legalisierungsprogramme könnten den
prekären Status der irregulär Eingereisten aufheben, werden aber, wie die heftige Debatte um
die Verschärfung des Einwanderungsrechts in den USA zeigt, aufgrund wachsender kultureller
Überfremdungsängste von der Bevölkerung der Aufnahmeländer immer weniger unterstützt.
 Irreguläre Migration ist oft mit Korruption und organisiertem Verbrechen in Form von Men-
schenschmuggel und Menschenhandel verbunden und stellt dadurch eine Bedrohung für die
innere Sicherheit dar. Schätzungen zufolge werden weltweit jährlich bis zu vier Millionen Men-
schen von Schlepperorganisationen über Grenzen geschleust. Das Geschäft der Schlepper ist
risikoreich und lukrativ. So verlangen sie etwa für das Schleppen einer Person aus China nach
Europa 10 000 bis 15 000 US-Dollar; die Einschleusung in die USA ist mit 30 000 US-Dollar
noch teurer. Die Eingeschleusten sind aufgrund der hohen Kosten meist langfristig von den
Schlepperorganisationen abhängig. Zwangsprostitution, Beschaffungskriminalität und
Drogenhandel sind häufig die Folge.
 Der gesetzeswidrige Grenzübertritt gefährdet das Leben der betroffenen Migranten. Nach Schät-
zungen des Internationalen Zentrums für die Entwicklung von Migrationspolitik sterben circa
2000 Menschen jedes Jahr bei dem Versuch, das Mittelmeer von Afrika nach Europa zu
überqueren.
 Aus gewerkschaftlicher Perspektive werden vor allem negative Folgen für die Lohnentwicklung
kritisiert. Untersuchungen in den USA haben jedoch gezeigt, dass die Zuwanderung illegaler Ar-
beitskräfte dort nur geringe Auswirkungen auf Löhne und Beschäftigung hat.

Staatliche Steuerungsversuche

Die EU-Staaten, aber auch die USA und Australien haben auf die irreguläre Migration mit
verschärften Sicherheitsmaßnahmen reagiert. Milliarden von Dollar wurden in verbesserte Grenz-
kontrollen investiert. So wurden Grenzzäune und Barrieren - etwa im Süden der USA oder an den
Grenzen der spanischen Enklaven in Nordafrika - errichtet und die Zahl der Grenzbeamten erhöht.
Es wurden zusätzliche Visumsauflagen eingeführt, Migranten mit irregulärem Status verhaftet,
Menschenschmuggler hart bestraft, maschinenlesbare Pässe eingeführt und biometrische Daten
eingesetzt. Datenschützer kritisieren allerdings, dass der Einsatz dieser Daten oft ohne ausreichen-
den Schutz der Privatsphäre und der bürgerlichen Freiheitsrechte erfolgt und häufig eine diskrimi-
nierende Praxis darstellt.
Um zu verhindern, dass potenzielle Asylbewerber nationales Territorium betreten können,
wird auch die Einrichtung exterritorialer Auffanglager nach dem Vorbild Australiens erwogen. So
hat die australische Regierung 2001 auf Papua-Neuguinea und der kleinen Pazifikinsel Nauru und
damit in Gebieten, die als sichere Drittländer betrachtet werden, Zentren zur Bearbeitung von Asyl-
anträgen eingerichtet.
EU-Politiker haben vorgeschlagen, nach australischem Modell die irreguläre Zuwanderung
aus Nordafrika durch die Einrichtung von Auffanglagern in Libyen oder anderen nordafrikanischen
Staaten zu regulieren. Da jedoch die humanitären Bedingungen in diesen Lagern sowie die Praxis
der Asylanerkennung nicht hinreichend von der EU kontrolliert werden können und die betreffen-
den nordafrikanischen Staaten keineswegs als sichere Drittstaaten gelten, ist diese Maßnahme heftig
umstritten.
Weitgehender Konsens herrscht demgegenüber hinsichtlich der intensivierten Verfolgung
und drastischen Bestrafung von Schleusern und Menschenhändlern. Auch die Beschleunigung von
Asylverfahren, die Einschränkung der Freizügigkeit von Asylbewerbern, die Reduzierung der Beru-
fungsmöglichkeiten bei einer Ablehnung des Asylgesuchs sowie eine rigorosere und schnellere
Ausweisung von abgelehnten Asylsuchenden werden in vielen Ländern für sinnvoll gehalten.
Die sicherheitspolitischen Maßnahmen beziehen sich jedoch nicht ausschließlich auf die
Bekämpfung der irregulären Migration. So wurde als Reaktion auf die zunehmende Angst vor
Terroranschlägen auch die erleichterte Ausweisung von Migranten mit legalem Aufenthaltsstatus in
das deutsche Zuwanderungsgesetz aufgenommen. Danach können nicht nur Mitglieder einer terro-
ristischen Vereinigung, sondern auch geistige Brandstifter wie zum Beispiel Hassprediger in Mo-
scheen ausgewiesen werden.
Auch durch die Regelanfrage über verfassungsfeindliche Erkenntnisse vor der Erteilung
einer Niederlassungserlaubnis sowie vor der Entscheidung über eine Einbürgerung soll das Bedroh-
ungspotenzial von Migranten reduziert werden. Die gegenwärtig debattierten Einbürgerungstests
können ebenfalls als sicherheitspolitische Maßnahme gedeutet werden.
Solche kurzfristigen Aktionen sollten jedoch durch langfristige Strategien wie vor allem eine
verbesserte internationale Zusammenarbeit und eine zwischenstaatliche Dialogpraxis ergänzt wer-
den. Entschuldungsstrategien, eine verstärkte Öffnung des Weltmarktes für Produkte aus Entwick-
lungsländern sowie Hilfen beim Aufbau marktwirtschaftlicher und demokratischer staatlicher
Strukturen können wichtige vorbeugende Maßnahmen sein, um den Auswanderungsdruck in den
weniger entwickelten Ländern zu verringern.

Positive Auswirkungen der Migration

In der Regel sind es nicht die Ärmsten der Armen, sondern die dynamischen und gebildeten
Menschen der Entwicklungsländer, die den Weg in Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften su-
chen. Aus diesem Grund wird die Abwanderung qualifizierter Migranten aus den Entwicklungs-
ländern oft als brain drain kritisiert.

Doch muss sich dieses Phänomen, wie das Beispiel abgewanderter indischer Computerfach-
leute zeigt, nicht unbedingt negativ auf die Entwicklungsländer auswirken. Da in Indien mehr IT-
Ingenieure ausgebildet als auf dem heimischen Arbeitsmarkt nachgefragt wurden, wanderten seit
den 1960er-Jahren viele Computerfachleute in die USA ab und trugen dort wesentlich zum Aufstieg
der IT-Branche bei. Viele von ihnen machten sich selbstständig und gründeten international tätige
Firmen. Dabei nutzten sie ihre Verwandtschaftsbeziehungen, um internationale Netzwerke aufzu-
bauen. Diese kamen auch der Entwicklung der indischen Computerindustrie zugute.

Durch Rücküberweisungen tragen Migranten zudem zur wirtschaftlichen Entwicklung ihrer


Herkunftsländer bei. Der Wert der über offizielle Wege geleisteten Rücküberweisungen betrug
2004 etwa 150 Milliarden US-Dollar und damit fast das Dreifache der offiziellen Entwicklungshil-
fe. Nach Schätzungen der UNO werden etwa 300 Milliarden US- Dollar zusätzlich über inoffizielle
Kanäle transferiert.
Auch die Rückwanderung von einst ausgewanderten Experten kann Migration zu einem
wichtigen Entwicklungsfaktor machen. Positive Rückkehreffekte lassen sich am Beispiel der Ent-
wicklung der Hardware-Industrie in Südkorea und Taiwan aufzeigen. Doch nicht allen Ländern
gelingt es, Abwanderungs- und Rückwanderungsprozesse für eine produktive Wirtschaftsentwick-
lung zu nutzen.
Internationale Migration wird seit dem 11. September 2001 verstärkt als sicherheitspoliti-
sches Problem betrachtet und durch entsprechende Maßnahmen reguliert. Diese dominante Pers-
pektive sollte jedoch die ökonomische und humanitäre Bedeutung grenzüberschreitender Wande-
rungsprozesse nicht völlig vergessen lassen.
Um die positiven Entwicklungspotenziale der internationalen Migration zu stärken, ist eine
verbesserte Koordination nationaler Migrationspolitiken wichtig. Neben der Prävention irregulärer
Migration sollte dabei der Einfluss von Migration auf Wirtschaft und Entwicklung, die Einhaltung
menschenrechtlicher Normen, Flüchtlingsschutz, Familien- und Migrantenrechte sowie die politi-
sche und soziale Integration von Migranten und Migrantinnen in die Aufnahmegesellschaft berück-
sichtigt werden.
(aus: Informationen zur politischen Bildung, Heft 291, 2006)
Migration und Integration
(Deutschland-Chronologie)

Deutschland ist ein Einwanderungsland. 2005 lebten in Deutschland 15,3 Millionen Men-
schen, die entweder selbst oder deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind. Die deutsche Po-
litik hat sich lange Zeit schwer getan, diese Tatsache zu akzeptieren. Vielleicht trübte der Vergleich
mit den „klassischen" Einwanderungsländern den Blick auf die Realitäten. Anders als beispiels-
weise die Millionen Menschen, die in immer neuen Einwanderungswellen in die USA emigrierten,
galten die Arbeitskräfte, die seit 1956 nach Deutschland kamen, zunächst nicht als Einwanderer, die
dauerhaft in Deutschland bleiben wollten. Man nannte sie „Gastarbeiter", weil ihr Aufenthalt nur
vorübergehend sein sollte.
Die Arbeitsmigranten, wie sie auch genannt werden, sollten in der Zeit des „Wirtschafts-
wunders" den Arbeitskräftemangel bestimmter Industriezweige ausgleichen helfen. Die Grundlage
für die gezielte Anwerbung von Arbeitskräften in den damals wirtschaftlich rückständigen Regio-
nen des Mittelmeerraums bildeten Anwerbeabkommen; das erste wurde am 21.12.1955 mit Italien
für ein Kontingent von 100000 Arbeitskräften geschlossen. Darin heißt es: „Die Regierung der Bun-
desrepublik Deutschland teilt, wenn sie einen Mangel an Arbeitskräften feststellt, den sie mit der
Hereinnahme von Arbeitern italienischer Staatsangehörigkeit beheben will, der italienischen Regie-
rung mit, in welchen Berufen oder Berufsgruppen und in welchem annähernden Umfange Bedarf an
Arbeitskräften besteht."
Die Unterbringung der „Gastarbeiter" erfolgte nur provisorisch. Die überwiegend männli-
chen, jungen Arbeitskräfte lebten ohne Familienangehörige in Baracken oder Sammelunterkünften.
Niemand ging davon aus, dass ihr Aufenthalt in Deutschland auf Dauer angelegt war, denn die Ar-
beitsverträge galten in der Regel nur für neun bis zwölf Monate. Nach dieser Zeit sollten sie wieder
in ihre Heimat zurückkehren und durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden. Der Arbeitskräftebedarf
der boomenden deutschen Wirtschaft überstieg aber alle Erwartungen, sodass die „Gastarbeiter"
blieben. Auch wurden mit weiteren Mittelmeerländern Anwerbeabkommen geschlossen: Spanien
und Griechenland (1960), Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1961t), Tunesien (1965) und
Jugoslawien (1968).
„Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen." Dieser viel zitierte Satz des
Schweizer Schriftstellers Max Frisch war ursprünglich auf die schweizerische Einwanderungspoli-
tik gemünzt; er charakterisiert aber auch die damalige Situation in Deutschland. Weil sich die Auf-
enthaltszeiten der angeworbenen ausländischen Beschäftigten immer weiter verlängerten, kamen
dank des neuen Ausländergesetzes von 1965 auch die Ehegatten und Kinder der „Gastarbeiter" nach
Deutschland. Über ihre Integration in die deutsche Gesellschaft hatte sich der Gesetzgeber keine
Gedanken gemacht. Es gab beispielsweise keine verbindlichen Deutschkurse für Einwanderer, so
dass viele auch noch nach langen Jahren des Aufenthalts in Deutschland über keine ausreichenden
Deutschkenntnisse verfügten.
Nach dem Anwerbestopp, den die Regierung 1973 angesichts der einsetzenden Ölkrise und
Arbeitslosigkeit verhängt hatte, blieb der Familiennachzug für lange Zeit die einzig legale Form der
Zuwanderung. Obwohl es 1973 schon rund Millionen „Gastarbeiter" und Familienangehörige gab,
die sich dauerhaft auf ein Leben in Deutschland eingerichtet hatten, hielt die Bundesregierung an
dem Konzept einer „Integration auf Zeit" fest. Immerhin wurde 1978 mit Heinz Kühn (SPD) erst-
mals ein „Beauftragter der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und
ihrer Familienangehörigen" ernannt. Allerdings folgte darauf kein Politikwechsel: So wurde noch in
den 80er- und 90er-Jahren nicht nur der Familiennachzug erschwert, sondern sogar die „Rückkehr-
bereitschaft" gefördert, wenn auch nur mit geringem Erfolg.
Nach dem Ende des Kalten Krieges kam es zu einer erneuten Einwanderungswelle in die
Bundesrepublik, die von zwei unterschiedlichen Gruppen getragen wurde:
 Zum einen verstärkte sich mit der Lockerung bzw. Öffnung der Grenzen die Zuwanderung von
Aussiedlern, die ihren Höhepunkt 1990 mit der Ankunft von fast 400000 Menschen erreichte.
Als Aussiedler bezeichnete man bis Ende 1990 die Angehörigen der deutschen Minderheiten,
die teilweise seit Generationen in Ostmitteleuropa, Osteuropa, Südosteuropa und Asien gelebt
haben und nach Deutschland eingereist sind, wo sie die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten.
Seit 1991 gelten alle deutschstämmigen Einwanderer als Spätaussiedler. Um Schwierigkeiten
bei ihrer Integration zu vermeiden, wurde 1993 das Aufnahmeverfahren geändert und die Zahl
der jährlich Aufzunehmenden begrenzt. Danach müssen Aussiedlungswillige hinreichende
deutsche Sprachkenntnisse nachweisen und so lange in ihrem Herkunftsland warten, bis über
ihre Aufnahme in Deutschland entschieden worden ist.

 Zum anderen stieg zeitgleich die Zahl der Flüchtlinge aus Asien und Afrika, die in der Bundes-
republik Asyl suchten. Später kamen Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien
hinzu. Nach einer erheblichen Einschränkung des Grundrechts auf Asyl im Jahre 1993 sowie
einer drastischen Verschärfung des Asylverfahrens sank die Zahl der Asylbewerber. Die Ab-
schottungspolitik der Europäischen Union gegenüber Flüchtlingen, welche mit einem systema-
tischen Ausbau der EU-Außengrenzen verbunden ist, hat dazu geführt, dass die Zahl der Asyl-
Erstanträge in der EU von 672400 im Jahr 1992 auf circa 182000 im Jahr 2006 zurückging,
obwohl die EU in der Zwischenzeit um zwölf Länder erweitert wurde.
Von 1954 bis 2002 kamen 31 Millionen Menschen nach Deutschland, 22 Millionen zogen
im gleichen Zeitraum weg. Die Nettozuwanderung lag also bei 9 Millionen. Trotz dieser Zahlen
ging die deutsche Politik bis in die 90er- Jahre davon aus, Deutschland sei „kein Einwanderungs-
land". Erst die Erkenntnis, dass die Bevölkerungszahl Deutschlands ohne kräftige Zuwanderung
erheblich schrumpfen würde, hat zu einem Umdenken geführt. Die Parteien sind sich inzwischen
grundsätzlich einig, dass Deutschland erstens mehr für die Integration der Migranten tun muss und
zweitens „Zuwanderung" braucht. Die späte Anerkennung dieser Realitäten schlägt sich in zwei
Gesetzen nieder, die erst nach heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen und zahlreichen
Kompromissen zustande kamen.

Einwanderung und Auswanderung

Das neue Staatsangehörigkeitsrecht von 2000 bestimmt, dass Kinder von Ausländern, die
seit mindestens acht Jahren in Deutschland leben und eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung
besitzen, bei Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Zwischen dem 18. und 23. Lebens-
jahr müssen sie sich entscheiden, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit oder die ihrer Eltern be-
halten wollen. Generell haben Ausländer bereits nach acht Jahren rechtmäßigen Aufenthalts in der
Bundesrepublik einen Einbürgerungsanspruch. Allerdings wurden die Einbürgerungsbedingungen
2007 verschärft, indem ausreichende deutsche Sprachkenntnisse und Kenntnisse der deutschen
Rechts- und Gesellschaftsordnung zur Voraussetzung der Einbürgerung gemacht wurden.
Das 2005 in Kraft getretene „Zuwanderungsgesetz" will, wie der umständliche Titel besagt,
„zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integ-
ration von Unionsbürgern und Ausländern" beitragen. Im Einzelnen regelt es das Aufenthaltsrecht,
den Zugang zum Arbeitsmarkt, den Kindernachzug, die rechtliche Stellung und Duldung von
Flüchtlingen sowie die Förderung der Integration. Erstmals erhalten alle Neuzuwanderer, die sich
rechtmäßig und dauerhaft in Deutschland aufhalten (Ausländer mit dauerhaftem Aufenthalt in
Deutschland, Spätaussiedler sowie Unionsbürger) ein einheitliches, bundesgesetzlich geregeltes
Grundangebot zur Integration.

Für das Recht der Staatsangehörigkeit sind zwei Prinzipien von Bedeutung: Das lus
Sanguinis bzw. Abstammungsprinzip, wonach der Erwerb der Staatsangehörigkeit an die Staats-
bürgerschaft der Eltern gebunden ist, und das lus Soli bzw. Geburtsortsprinzip, wonach der Staat die
Staatsbürgerschaft an alle Kinder verleiht, die auf seinem Staatsgebiet geboren werden. Bis 1999
galt in Deutschland nahezu ausschließlich das Abstammungsprinzip. Mit dem neuen Staatsangehö-
rigkeitsgesetz von 2000 wurde im Prinzip das Geburtsortsprinzip eingeführt, allerdings mit einigen
einschränkenden Bedingungen: Kinder ausländischer Eltern, die durch die Geburt Deutsche sind,
haben zunächst zusätzlich zu der deutschen auch die von den Eltern abgeleitete ausländische Staats-
angehörigkeit. Sie müssen sich aber nach dem 18. Geburtstag zwischen der deutschen und der aus-
ländischen Staatsangehörigkeit entscheiden („Optionspflicht").
Die mit den neuen Gesetzen verbundenen Erwartungen haben sich zunächst nur teilweise
erfüllt. So ging die Zahl der Einbürgerungen seit 2000 kontinuierlich zurück und auch die Nettozu-
wanderung (Differenz zwischen Zu- und Fortzügen) fiel deutlich unter das Niveau, das Arbeits-
marktexperten und Sozialpolitiker für erforderlich halten, um das Beschäftigungs- und Rentensys-
tem in einer alternden Gesellschaft langfristig zu stabilisieren.
Aber auch die Integration der Einwanderer und ihrer Kinder in die deutsche Gesellschaft ist
noch lange nicht vollendet, was sich beispielsweise in schlechteren Bildungsabschlüssen und höhe-
rer Arbeitslosigkeit zeigt. Vor diesem Hintergrund berief die Bundesregierung 2006 erstmals einen
„Integrationsgipfel" mit Vertretern der Einwanderer ein, um einen „nationalen Integrationsplan" zu
erarbeiten, der zahlreiche Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen zur Verbesserung der
Bildungs-, Arbeits- und Lebenssituation der Migranten vorsieht.

Texterläuterung: Bei (Aus-)Wanderungsentscheidungen spielen Push- und Pull-Faktoren eine


Rolle. Die Push-Faktoren bezeichnen die Einflüsse auf die Menschen im Abwande-
rungsgebiet, ihre Heimat zu verlassen; die Pull-Faktoren stellen die Anziehungskräf-
te im Zuwanderungsgebiet dar.
Aufgaben

1. Stellen Sie Push- und Pull-Faktoren für die Arbeitsmigration nach Deutschland zusammen.
2. Nennen Sie Gründe, weshalb die deutsche Politik es lange Zeit vermied, von Einwanderung zu
sprechen.
3. Pietro ist 16 Jahre alt und besucht die 10. Klasse des Gymnasiums. Seine Eltern sind vor 25
Jahren aus Süditalien nach Deutschland gekommen. Diskutieren Sie, welche Begriffe auf ihn
und seine Eltern zutreffen: „Gastarbeiter", „Einwanderer", „Ausländer" oder...
4. Beschreiben und erklären Sie die Grafik 39.1.
5. Erläuteren Sie das Schaubild 40.7.
6. Zeigen Sie am Wortlaut des neuen Grundgesetzartikels 16 a auf, welche Konsequenzen die
Grundgesetzänderung für Menschen hat, die in Deutschland Asyl suchen.
7. Wodurch unterscheidet sich die rechtliche Stellung der „Aussiedler" von derjenigen anderer
Zuwanderer?
8. Setzen Sie das neue Staatsangehörigkeitsrecht von 2000 in Bezug zur Grafik 47.2
9. Arbeiten Sie an M3 das Verständnis der Bundesregierung von „Integration" heraus.
10. Stellen Sie anhand der Texte M4 und M5 bestehende Hindernisse auf dem Weg zur Integration
der Zuwanderer heraus.
11. Zeigen Sie auf, was die wirtschaftlichen und sozialen Folgen sein könnten, je nachdem welche
Projektion des Erwerbspersonenpotentials eintreffen würde.
12. Skizzieren Sie den Weg, den Deutschland von der Ankunft der ersten „Gastarbeiter" bis zum
„Nationalen Integrationsplan" zurückgelegt hat.

Religionen: Konfliktpotenzial
oder kulturelle Bereicherung?

Ein Aspekt, der Konflikte im Integrationsprozess mit sich bringen kann, ist das Miteinander
der verschiedenen Religionen in Deutschland. Die größte Gruppe der Migranten gehört mit fast drei
Millionen Menschen dem Islam an. Im über 50 Jahre alten deutschen Grundgesetz ist festgelegt,
dass jeder Mensch eine Religion haben und sich öffentlich zu ihr bekennen darf. Aufgrund der Aus-
übung seiner Religion darf niemand benachteiligt oder bevorzugt werden. Eingeschränkt wird die
Religionsfreiheit erst, wenn eine Religion oder extremistische Gruppen sich gegen andere im
Grundgesetz garantierte Freiheiten richten.
Die Ausübung ihrer Religion wird Ausländern durch geringes Interesse und mangelnde
Rücksichtnahme seitens der deutschen Bevölkerung allerdings oft erschwert. Eine positive Ausnah-
me ist beispielsweise die Ford AG, deren Werkskantine im islamischen Fastenmonat Ramadan auch
nach Einbruch der Dunkelheit geöffnet hat. Erstaunlich viel Rücksicht wurde bereits vor fast 40
Jahren auf muslimische "Gastarbeiter" in Köln genommen: Am 3. Februar 1965 stellte der damalige
Erzbischof von Köln, Kardinal Frings, ihnen den Kölner Dom zur Verfügung, damit sie "ihren Fas-
tenmonat Ramadan würdig feiern können". Heute stehen Muslimen in Deutschland rund 2.000 Mo-
scheen zur Verfügung, von denen viele nur klein und nicht in repräsentativen Gebäuden unterge-
bracht sind. Sie werden von Moscheevereinen getragen, die mit christlichen Kirchengemeinden ver-
gleichbar sind und wie diese soziale Einrichtungen betreiben. Köln ist heute die Stadt, in der nach
Berlin die meisten türkischstämmigen Einwohner leben. Über 75.000 Menschen waren es Ende des
Jahres 2000. Fünf der insgesamt sechs wichtigsten religiösen Dachverbände der Muslime in
Deutschland haben hier ihren Sitz. Den über 80.000 in Köln lebenden Muslimen stehen um die 30
Moscheen zur Verfügung, außerdem gibt es eine Medrese genannte islamische religiöse Lehran-
stalt.
Streng religiöse Muslime sind aufgrund ihrer Kleidung äußerlich leicht zu erkennen und
müssen deshalb bisweilen negative Erfahrungen machen. Die gesetzlich garantierte Religionsfrei-
heit schützt nicht vor Diskriminierungen, etwa in der Schule oder im Beruf. Ein Beispiel für Miss-
verständnisse, welche die Ausübung des Islam in Deutschland für viele Menschen erschweren, ist
die Tatsache, dass viele muslimische Frauen Kopftücher tragen. Ihr Anblick ist für manche Nicht-
Muslime ein Symbol des Fremden und der Unterdrückung der Frau im Islam. Obgleich es vor-
kommt, dass Frauen zur Verschleierung gezwungen werden, trägt die überwiegende Mehrzahl von
ihnen es jedoch als Teil der islamischen Bekleidungsvorschriftcn freiwillig. Praktizierende musli-
mische Frauen wollen zeigen, dass sie sich dem Islam verbunden fühlen und nach den Regeln des
Korans (in dem das Tragen einer Verschleierung nicht vorgeschrieben ist) und der Sunna (= Tradi-
tion, Brauch) leben. So könnte man das Kopftuch mit dem Tragen des Kreuz-Symbols eines gläubi-
gen Christen vergleichen.
Der Umgang mit der Verschleierung wird in muslimischen Ländern unterschiedlich gehand-
habt. So ist sie in Saudi-Arabien und im Iran Gesetz, während es in der Türkei sogar ein Kopftuch-
verbot in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Universitäten, Parlamenten oder Behörden gibt.
Zudem wurde im September 2001 das Verbot, ein Kopftuch zu tragen, vom türkischen Erziehungs-
ministerium auf private Bildungseinrichtungen ausgedehnt. Im Fall der Verschleierung profitieren
türkische Muslime von der deutschen Gesetzgebung, die liberaler ist als die in ihrem Herkunftsland.
Das Recht, ein Kopftuch zu tragen, gilt allerdings nicht uneingeschränkt: 1998 wurde eine deutsche
Lehrerin islamischen Glaubens nicht in den Schuldienst übernommen, weil sie auf das Tragen eines
Kopftuches während des Unterrichtens nicht verzichten wollte. Dieses Urteil, das für viele im Wi-
derspruch zur Religionsfreiheit steht, wurde in der deutschen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass Migranten anderer Religionen die Religionsfreiheit in
Deutschland für sich nutzen können, ist der Bau des größten hinduistischen Tempels Europas im
Ruhrgebiet, der im Juli des Jahres 2002 eröffnet war. Den ca. 60.000 in Deutschland lebenden Hin-
dus, bei denen es sich zu einem großen Teil um tamilische Bürgerkriegsflüchtlinge handelt, stehen
schon heute mehrere kleinere Tempel zur Verfügung.
Die Existenz verschiedener Religionen kann eine Bereicherung für die deutsche Gesellschaft
bedeuten. Dennoch ist es vielen Deutschen unangenehm, eine Moschee oder einen Tempel in ihrer
unmittelbaren Nachbarschaft zu haben. Auch nach Jahrzehnten des Zusammenlebens begegnet man
dem Fremden noch oft mit Vorurteilen. Sie können nur abgebaut werden, wenn durch die gegensei-
tige Kenntnis des "Anderen" Verständnis erwächst, das den Abbau von Vorurteilen fordert.

Ethnische Konflikte

Ethnische Konflikte entstehen zumeist dann, wenn Minderheitengruppen über einen länge-
ren Zeitraum wirtschaftlich oder politisch diskriminiert und benachteiligt oder verfolgt werden.
Gewaltsam ausgetragene ethnisch oder religiös motivierte Konflikte führen zu zahlreichen,
bis in die Millionen reichenden Opfern:

 1947/48 – im Konflikt zwischen Indien und Pakistan: 4 bis 6 Mio. Inder (Muslime und Hindus);
 1975-1978 in Kambodscha: 2 Mio. Khmer, 10000 Vietnamesen;
 1991-1995 in Exjugoslawien: 300000 Bosnier, Kroaten, Serben;
 1994 in Ruanda und Burundi: 450000 bis 800000 Tutsi und Hutu.

Ethnische Auseinandersetzungen beziehen sich vor allem auf

- Bedrohung von Minderheiten mit Vernichtung durch Völkermord und Auslöschung,


- Bedrohung der Existenz von Bevölkerungsgruppen durch Massenmorde oder Massaker,
- unmittelbare Gefährdung durch territoriale Invasion, Verfolgung und Vertreibung oder
Zwangsumsiedlung.

Eine große Rolle spielen Identitätsfragen und Identitätskonflikte wie die Abwehr von Assi-
milierungsmaßnahmen, Unterdrückung und Rassismus. Wenn ethnische oder religiöse Gruppen
oder Stammesverbände ein ausgeprägtes Identitätsbewusstsein entwickeln, kommt es häufig zu
blutigen Auseinandersetzungen.

- Im Sudan entstand der am längsten dauernde ethnopolitische Konflikt Afrikas aus einem harm-
losen Streit um die Besetzung von Verwaltungsposten zwischen Nord- und Südsudanesen. Da
der Streit nicht beigelegt werden konnte, eskalierte er allmählich zu einem Bürgerkrieg. Die
christlich-schwarzamerikanischen Südsudanesen fühlten sich diskriminiert und bevormundet
durch den arabisch-islamischen Norden (z.B. war die Schulsprache Arabisch statt Englisch) und
gründeten eine Rebellenbewegung. Da keine Kompromisse in religiösen und kulturellen Fragen
gefunden wurden, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit mehr als 2 Mio. Toten.

Texterläuterungen

a) Der Begriff ethnischer Konflikt ist etwas einseitig, denn er erfasst die vielschichtigen Konflikt-
ursachen nicht genügend.
b) Republik Sudan: Fläche: 2505813 km2; Einwohner: 25 Mio., Bevölkerungsgruppen: (40%
Araber, 30% Südsudanesen, 13% Sudaniden, 10% Nubier, 5% Kuschiten, 2% Sonstige)
c) Übergang zur Unabhängigkeit: Im Unabhängigkeitsreferendum, das entsprechend dem Frie-
densabkommen vom 9. bis 15. Januar 2011 durchgeführt wurde, sprachen sich rund 99 % der
abstimmenden Südsudanesen für die Unabhängigkeit aus. Der sudanesische Staatschef Umar
Hasan Ahmad al-Baschir hat dieses Ergebnis anerkannt. Die Unabhängigkeit wurde nach
einer Übergangszeit am 9. Juli 2011 erklärt.
In der Übergangszeit bis zur Unabhängigkeit wurden die Institutionen der beiden Landesteile
allmählich getrennt. So wurden südsudanesische Beamte im Norden und nordsudanesische Be-
amte im Süden in ihren jeweiligen Landesteil versetzt. Im Februar entließ der Norden sämtliche
Vertreter des Südens aus der Nationalversammlung. Im März wurde die Botschaft des Nordens
in Juba eröffnet. Ab Mai spitzte sich die Lage allerdings zu, da es Kämpfe im Abyei-Gebiet gab,
wobei die Armee des Nordens die Stadt Abyei einnahm. Nach Vermittlung Südafrikas einigten
sich die Konfliktparteien am 21. Juni 2011 auf die Einrichtung einer demilitarisierten Zone in
der Grenzregion.
Globaler Terrorismus – die neue Gefahr
Terrorismus in neuer Dimension

Die Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington
waren der Höhepunkt einer neuen Form des Terrorismus im ausgehenden 20. und beginnenden 21.
Jahrhundert. Sie forderten Tausende von Opfern und verursachten einen kaum messbaren wirt-
schaftlichen Schaden. Die Urheber waren 19 Attentäter des radikal-islamischen Terrornetzwerkes
Al Qaida („Basis") unter Führung des saudischen Millionärs Osama Bin Laden. Der UN-Sicher-
heitsrat stufte die Terroranschläge als Gefahr für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit
ein.
U. Schneckener, Globaler Terrorismus, in: Informationen zur Politischen Bildung 3/2003, S. 53-56

M3 Globaler Terror

Kai Hirschmann vom Institut für Sicherheitspolitik in Essen spricht von „globalem Terroris-
mus", wenn mindestens eine von vier Bedingungen zutrifft:

1. Die Zielsetzungen und Begründungen der Terroristen für ihre Anschläge beziehen sich nicht auf
eine begrenzte Region, sondern sind global angelegt.
2. Der Aktionsraum der Terroristen ist nicht auf eine bestimmte Region beschränkt, sondern sie
operieren global.
3. Die Mitglieder der Terrorgruppen stammen aus vielen Ländern, sodass mit der Ausweitung ihrer
Aktivitäten in diesem Umfeld gerechnet werden muss.
4. Es handelt sich um eine weltweite „Idee in den Köpfen" (Ideologie), wie im Fall „Al Qaidas".
P. Brokemper u. a.: Geschichte Real 3. Berlin, 2005, S. 219

M 4 Eine Religion wird verantwortlich gemacht

Die Tatsache, dass die Attentäter von New York Moslems waren und ihre Tat mit ihrem
Glauben, dem Islam, zu rechtfertigen versuchten, erhärtete bei vielen Menschen weltweit die Über-
zeugung, dass der Islam eine Gewalt verherrlichende Religion sei. Massentötungen, wie sie bei
Terroranschlägen häufig die Folge sind, werden jedoch weder vom Koran noch von der Scharia
(islamische Gesetzgebung) gebilligt oder gar verlangt. Im Gegenteil: Die „Muru'a", die Mannes-
ehre, verbietet es ausdrücklich, Schwächere wie Kinder, Frauen oder alte Menschen anzugreifen.
„Selbstmordattentäter haben keine Ahnung von ihrer Religion, sie wissen nicht, dass sie eine
Todsünde begehen", urteilt der Islamexperte Bernard Lewis in einem Zeitungsartikel.
(Das Parlament, 22.12.2003)

Aufgaben

1. Schlagen Sie in einem Lexikon den Begriff „Terrorismus" nach und stellen Sie fest, worin sich
diese Definition von der von Hirschmann (M3) unterscheidet.
2. Diskutieren Sie: Kann einer Religion die Verantwortung für die Terroranschläge gegeben wer-
den (M4)?
3. Wie reagieren die Vereinten Nationen auf den Terrorismus (M6)? Informieren Sie sich über die
aktuellen Entwicklungen.
Gemeinsamer Kampf gegen den Terror

Terrorismus als Bedrohung der internationalen Gemeinschaft

Der UN-Sicherheitsrat rief nach dem Anschlag im September 2001 in zwei Resolutionen
zum Kampf gegen den Terrorismus als Bedrohung von Frieden und Sicherheit auf. Die NATO
erklärte den Bündnisfall, d. h., sie sah die Terrorangriffe als kriegerische Aktion gegen die USA an
und war zur gemeinsamen Verteidigung bereit. Der wichtigste Stützpunkt des Terrornetzwerks Al
Qaida war das von radikalen Islamisten, den Taliban, regierte Afghanistan. Da diese sich weiger-
ten, Bin Laden auszuliefern, stürzten die USA in einer Militäraktion das Talibanregime. Eine Über-
gangsregierung, in der alle afghanischen politischen Gruppen mit Ausnahme der Taliban vertreten
sind, betreibt seit 2002 den Wiederaufbau des durch Bürgerkrieg und Luftkrieg zerstörten Afgha-
nistan. Dabei wird sie durch zahlreiche Staaten und eine internationale Schutztruppe mit deutscher
Beteiligung unterstützt.

Das Terrornetzwerk Al Qaida

Bin Laden konnte in Afghanistan nicht gefasst werden. In mindestens 20 Staaten wurden
jedoch mutmaßliche Al-Qaida- Mitglieder inzwischen inhaftiert. Allein auf dem kubanischen US-
Stützpunkt Guantanamo saßen 2004 rund 600 Verdächtige ein. Wegen des starken Verfolgungs-
drucks und der Ausdünnung der Leitungsebene wandelte sich der Aufbau von Al Qaida. Nun han-
delt die Organisation in Form selbstständiger Einheiten weiter, die kaum noch zentral gesteuert wer-
den und die über neue Stützpunkte in verschiedenen Ländern verfügen (u.a. im Jemen, am Horn von
Afrika, in Ägypten).
Ziel der Al-Qaida ist witerhin die Vernichtung Israels, der USA und aller Verbündeten. „Die
Tötung der Amerikaner und ihrer Verbündeten ist persönliche Pflicht jedes Moslems", heißt es in
einer Fatwa, einem islamischen Rechtsgutachten Bin Ladins, das Al-Qaida Anfang 1998 im
afghanischen Khost veröffentlichte. Verantwortlich ist diese Organisation für mehrere Aufsehen
erregende Attentate auf US-Einrichtungen, von denen der Anschlag auf das World Trade Center
und das Pentagon am 11. September 2001 den Höhepunkt bildet.
Texterläuterungen
Al Qaida: Al Oaida - das sind viele Organisationen. [...] Bis zum Jahr 2001 erstreckte sich bin
Ladens Netzwerk, laut einer Zählung des US-Außenministeriums, über etwa 55 Staaten.
[...] Am besten beschrieben ist Al Oaida heute als ein terroristisches Franchise-
Unternehmen. Im Namen des Dschihad kann jeder kämpfen, der die Ziele der Bewegung
teilt. Dabei können die Veteranen den Nachwuchs-Dschihadisten mit Know-how,
Kontakten, Waffen und Geld weiterhelfen. [...]

Uneinigkeit beim Irak-Krieg

Während die Weltgemeinschaft die USA gegen Afghanistan und Al Qaida einmütig unter-
stützte, war der Sicherheitsrat in der Frage eines Krieges gegen den Irak uneinig.
Die USA und Großbritannien befürworteten einen Krieg, da der Irak Massenvernichtungs-
mittel (ABC-Waffen) besitze und die Welt damit bedrohen würde. Die übrigen Länder im Sicher-
heitsrat, besonders Frankreich und Deutschland, sahen die Begründung der USA für einen Präven-
tivkrieg als nicht stichhaltig an und verweigerten die Unterstützung.
Daraufhin besetzten die USA und Großbritannien in einem kurzen Krieg den Irak allein und
setzten die Regierung des Diktators Saddam Hussein im April 2003 ab. Beide Länder begannen die
Verwaltung und den Wiederaufbau des Landes zu übernehmen. Massenvernichtungsmittel, deren
Sicherstellung ein Ziel des Krieges war, wurden nicht gefunden und die Gestaltung einer demokra-
tischen NachkriegsOrdnung erwies sich bisher als extrem schwierig.

M 2 UN-Beschluss gegen Terrorismus

Der Sicherheitsrat (...) (verurteilt) in Anerkennung des naturgegebenen Rechts zur indivi-
duellen und kollektiven Selbstverteidigung im Einklang mit der Charta, (...) unmissverständlich mit
allem Nachdruck die grauenhaften Terroranschläge am 11. September 2001 in New York (...) und
betrachtet diese Handlungen, wie alle internationalen terroristischen Handlungen, als Bedrohung
des Weltfriedens. (...)
Der Sicherheitsrat (...) fordert alle Staaten dringend zur Zusammenarbeit auf, um die Täter,
Organisatoren und Förderer dieser Terroranschläge vor Gericht zu stellen, und betont, dass diejeni-
gen, die den Tätern, Organisatoren und Förderern dieser Handlungen geholfen, sie unterstützt oder
ihnen Unterschlupf gewährt haben, zur Verantwortung gezogen werden.
(Resolution 1368 des UN-Sicherheitsrats vom 12. September 2001)
Aufgaben

1. Erklären Sie die UN-Resolution (M2). Welche Bedeutung misst sie dem Terrorismus bei?
2. Begründen Sie, warum Maßnahmen gegen den Terrorismus nur mit großem Aufwand zum Er-
folg führen können.
3. Erklären Sie die Bedeutung der UNO bei der Sicherung des Weltfriedens (M3). Gibt es Alterna-
tiven zum Vorschlag des Karikaturisten?
4. Informieren Sie sich über den Einsatz von EU-Truppen weltweit: Länder, Ziel des Einsatzes, ...

Transnationaler Terrorismus

Terrorismus als eine Form politisch motivierter Gewaltanwendung reicht weit in der Ge-
schichte zurück. Er hat jedoch verschiedene Ausprägungen erfahren. Seit Beginn der 1980er-Jahre
trat neben den nationalen Terrorismus verstärkt der internationale. Die terroristischen Anschläge
des 11. September 2001 bedeuten eine weitere Zäsur: Sie sind Ausdruck eines „neuen" Terroris-
mus, der eine Weiterentwicklung sowohl des nationalen wie auch des internationalen Terrorismus
darstellt.

Texterläuterungen

a) Terror, lat. terror = Schrecknis, Schreckensnachricht


b) Die Angaben im Diagramm beziehen sich auf alle terroristischen Anschläge im genannten Zeit-
raum.

Begriff und Typen des Terrorismus

Terrorismus ist eine selbstständige politisch-militärische Gewaltstrategie nichtstaatlicher


Akteure. Sie zielt vorrangig darauf, Furcht und Schrecken bei der Zivilbevölkerung zu erzeugen, um
einen Gegner empfindlich zu schwächen.

Terroristische Gewaltstrategie setzt auf psychische Effekte. Nicht die Einnahme eines Terri-
toriums, sondern die Einschüchterung einer Bevölkerung, bestimmter sozialer Gruppen oder Perso-
nen wird angestrebt. Ziele mit Symbolgehalt - z.B. religiöse Orte, Denkmäler, Regierungsgebäude -
werden angegriffen, um einen Gegner zu provozieren oder zu demütigen.
Öffentliche Verkehrsmittel und Einrichtungen sind Anschlagsorte, um zu signalisieren, dass
jeder erreicht werden kann. Attentate auf Personen, Entführungen und Erpressungen gehören dazu.
Terroristische Anschläge sind zugleich eine Übermittlungsform politischer Botschaften an
Freund und Feind, denn Terroristen verstehen sich als Interessenvertreter von „Unterdrückten". Da-
raus speist sich vielfach das Bewusstsein moralischer Überlegenheit. Religiös motivierter Terroris-
mus, der seit den 1980er-Jahren deutlich zugenommen hat, ist lediglich außerweltlich legitimiert.
Solche Anschläge sind mit wesentlich mehr Opfern verbunden.

In der Gegenwart sind drei Typen des Terrorismus präsent: der nationale Terrorismus, der
internationale Terrorismus und der transnationale Terrorismus.

Die ersten beiden Typen sind notwendige Vor- oder Entwicklungsstufen des transnationalen
Terrorismus.

nationaler Terrorismus internationaler Terrorismus transnationaler Terrorismus


Anwendung von Gewalt in- Anschläge auf Bürger oder das Agieren in transnationalen Netz-
nerhalb eines Staates –Täter Territorium eines anderen Staa- werken und Räumen – ohne lo-
und Opfer unterliegen der tes – Täter und Opfer gehören kale Verortung; der Westen (bes.
gleichen staatlichen Autori- verschiedenen Staaten an; Weltmacht USA) ist erklärter
tät; zielt auf die Veränderung einer Gegner; zielt auf Veränderung
zielt auf die Veränderung ei- nationalen Ordnung der internationalen Ordnung
ner nationalen Ordnung
 „Klassische" Form des  Bilden von Außenstellen,  transnationale Ideologie
Terrorismus, bildete sich ohne Stammsitz aufzuge-  dezentrale netzwerkartige
im 19. und 20. Jh. heraus; ben Organisationsformen global
 stand/steht im Zusam-  Kooperation zwischen Ter-  Leitungsebene, „Operateure",
menhang mit antikolonia- rorgruppen, z. B. bei Terrorzellen mit kooperieren-
len Befreiungsbewegun- OPEC-Attentat 1975 in den Terrorgruppen
gen, sozialrevolutionären Wien verbunden
Ideologien, ethnonationa-  Arbeitsteilung zwischen  multinationales Unternehmen
lem Separatismus oder re- Kommandostrukturen und mit zahlreichen Finanzie-
ligiösem Fundamentalis- rekrutierten Attentätern rungsformen
mus;  Internationalisierung der
 ist weltweit vorherr- Finanzierung und Logistik
schend
Typische Beispiele für die Beispiele: Prototyp:
Zeit nach 1945:  palästinensische HAMAS transnationales Netzwerk Al-
 baskische ETA  libanesische Hisbollah Qaida
 kurdische PKK jeweils mit weltweiten Verbin- ■ Attentat auf das World Trade
 deutsche RAF dungen bis nach Lateinamerika Center 2001
 nordirische IRA und Westafrika

Definition und Abgrenzung

Der Begriff „Terrorismus" bezeichnet heute eine andauernde und geplante Gewaltan-
wendung mit politischer Zielsetzung, um mit terroristischen Methoden das Verhalten des Gegners
zu beeinflussen.
Diese Definition enthält fünf Komponenten, die der Abgrenzung dienen:
 Es muss sich um eine über einen Zeitraum andauernde Gewaltausübung handeln, damit Einzel-
Ereignisse wie der Tyrannenmord (Zeitpunktereignisse) nicht unter Terrorismus fallen.
 Es muss sich um ein vorher geplantes Vorgehen handeln, damit spontane Gewalt, wie sie zum
Beispiel auf Demonstrationen ausbrechen kann, nicht unter Terrorismus fällt.
 Es muss eine politische Zielsetzung wie etwa beim ethno-nationalen oder weltanschaulich-
ideologischen Terrorismus vorliegen, damit wirtschaftliche Beweggründe für Gewaltanwendung
(zum Beispiel Organisierte Kriminalität) nicht als „Terrorismus" zählen.
 Die beiden letzten Komponenten dienen der Abgrenzung zum Freiheits-, Partisanen- oder Que-
rillakampf. Es muss sich um terroristische Methoden handeln und nicht um eine Guerilla-Kriegs-
führung: das heißt Terroranschläge, bei denen eine Trennlinie zwischen am Konflikt Beteiligten
(Kombattanten) und unschuldigen Dritten (Nicht-Kombattanten) nicht existiert.
So wird beim islamistischen Terrorismus ohne Unterschied jeder zum Opfer, der sich zum Zeit-
punkt des Anschlages am Ort aufhält, während Rebellen- und Partisanenbewegungen in der Re-
gel differenziert gegen die Einheiten und Verbände des Gegners und damit nicht gegen alle am
Ort befindlichen Personen vorgehen. Zudem wollen sich Terroristen im Unterschied zu Freiheits-,
Partisanen- oder Guerillabewegungen überwiegend nicht an die Stelle des Gegners setzen, son-
dern diesen zu einer Änderung seines politischen Verhaltens nötigen. Der deutsche Terrorismus-
forscher Franz Wördemann stellte hierzu 1977 fest: „Guerillas wollen den Raum, Terroristen das
Denken besetzen".
Von „Internationalem Terrorismus" wird dann gesprochen, wenn die Ziele, Begründungen
und Aktionsräume der Terroristen sich nicht nur auf eine Region bzw. ein Land beziehen.
Sehr wichtig bei der Analyse des Phänomens „Internationaler Terrorismus" ist, dass nicht,
wie es häufig geschieht, Methoden und Ziele der politischen Gewalt miteinander vermischt werden.
Der Begriff „Terrorismus" bezeichnet ausschließlich eine illegale und menschenverachtende Hand-
lungsmethode, trifft aber keinerlei Aussage über die Legitimität oder Verständlichkeit der ange-
strebten Ziele.

Texterläuterungen

a) Terrorismus ist nicht identisch mit staatlich organisiertem oder geduldetem Terror („Staatster-
ror“). Er unterscheidet sich auch vom Terror als Kriegsphänomen oder als revolutionäres
Kampfmittel.
b) Nationaler Terrorismus wird auch als interner Terrorismus bezeichnet.

Neue Dimension des Terrors

Nationaler und internationaler Terrorismus unterscheiden sich nicht in ihrer Zielsetzung,


aber in ihren Strategien, Taktiken und Methoden. Der transnationale Terrorismus hat eine eigene
Zielsetzung und stellt eine Perfektionierung der Internationalisierung dar. Er verfügt über Organi-
sationsstrukturen, eine Logistik und eine finanzielle Grundlage, die dem international agierenden
Terrorismus weit überlegen sind.
 Das Terrornetzwerk Al-Qaida verfügt z. B. über mehrere legale und illegale Finanzierungs-
wege und wird zudem vorrangig von nichtstaatlichen Akteuren unterstützt. Es kann auf drei
Einnahmequellen zugreifen: auf das Privatvermögen des Multimillionärs BIN LADEN, auf Ein-
nahmen aus legalen Geschäften und Spenden, auf zahlreiche illegale Quellen (kriminelle Ge-
schäfte, Waffenhandel, Drogenschmuggel usw.).
Die Erklärung des Westens als Gegner bzw. der Weltmacht USA als Hauptfeind entspricht
einer von Al-Qaida und ihrem Anführer BIN LADEN vertretenen globalen Konfliktlinie zwischen
„Ungläubigen" und „Rechtgläubigen". Zu den „Ungläubigen" werden die USA, Israel, Europa,
Russland und die Regime der meisten arabischen Staaten gerechnet, zu den „Rechtgläubigen" die
islamistischen Bewegungen, mit Al-Qaida an der Spitze.
 „Die Anweisung, Amerikaner und ihre Verbündeten - Zivilisten und Militärs - zu töten, ist eine
individuelle Pflicht für jeden Muslimen, der dies in jedem Land tun kann, in dem dies möglich
ist..." (BIN LADEN: Erklärung des Heiligen Krieges gegen Juden und Kreuzfahrer vom 22.2.
1998; zitiert nach: ALEXANDER/SWETNAM, Usama bin Laden's al-Qaida, 2001, S. 2)
Mit der antiamerikanischen Ausrichtung hob der transnationale Terrorismus die Unterschei-
dung zwischen Zivilisten und Militärs, die bisher in den Terrorgruppen Berücksichtigung fand, auf.
Der Kampf gegen die USA soll dabei von einer Internationalen Islamischen Front (World Isla-
mic Front) geführt werden, der neben Al-Qaida verschiedene islamistische Gruppierungen angehö-
ren.
 Al-Qaida unterhält nach Schätzungen zu Gruppen in etwa 55 Staaten Kontakte. Dazu zählen
bereits seit Ende der 1980er-Jahre die beiden ägyptischen Organisationen Islamischer Dschihad
und Islamische Gruppe. Sie hatten 1998 den Aufruf BIN LADENS zur Gründung einer World
Islamic Front mitunterzeichnet und sind sowohl organisatorisch wie personell mit Al-Qaida
weitgehend verschmolzen.
Im Unterschied zum internationalen Terrorismus, der über Koalitionen von eher heterogenen
Gruppen agiert, bemüht sich der transnationale Terrorismus um eine möglichst homogene Anhän-
gerschaft mit einheitlicher Ideologie. Der Ideologie kommt dabei eine Doppelfunktion zu: Sie dient
als Handlungsanleitung für den Einzelnen und sie ist verbindendes Element für die Mitglieder der
transnationalen Gruppe.
 Al-Qaida und BIN LADEN vertreten eine globalisierte und besonders militante Version der
Dschihad-Ideologie. Diese Ideologie lässt keinen Raum für Verhandlungen oder Kompromisse,
die als Abweichung von der „reinen Lehre" betrachtet werden. Sie weist den Dschihad-Kämp-
fern die „heilige Pflicht" zu, die bestehende „Ordnung der Unwissenheit", die durch die Hege-
monie der USA gekennzeichnet ist, zu zerstören und durch eine neue „islamische Ordnung" zu
ersetzen - unabhängig davon, wie lange der dazu nötige Kampf dauert und welche Kosten er
verursacht.
Der transnationale Terrorismus verfügt insgesamt über die Bereitschaft und die Fähigkeit,
ein wesentlich höheres Zerstörungspotenzial einzusetzen als der internationale Terrorismus. Er kal-
kuliert auch wesentlich höhere Opferzahlen ein.

Texterläuterungen: Der Begriff Dschihad (= sich bemühen) hat im Islam eine doppelte Bedeu-
tung: Er bezieht sich auf individuelle Anstrengungen um den Glauben
(„großer Dschihad“), und er bezeichnet die – auch gewaltsam geführte –
Auseinandersetzung mit den „Ungläubigen“ („kleiner Dschihad“).

11. September 2001

Der Anschlag auf das World Trade Center war Ausdruck des Terrors in neuer Dimension.
Dieser Anschlag - koordiniert mit einem Anschlag auf das Pentagon – unterscheidet sich
von bisherigen Terrorakten in mehrfacher Hinsicht.

- Der Terrorangriff erfolgte auf dem Territorium der USA. Das war der zweite Anschlag (nach
dem Anschlag auf das World Trade Center 1993) überhaupt in diesem Land. In anderen Regio-
nen der Welt finden seit Jahrzehnten Terroranschläge statt.
- Der Anschlag zeigte, über welches ungeheuere Zerstörungspotenzial Terroristen verfügen. Nie
zuvor hat ein Terroranschlag so viele Tote gefordert und mehr ökonomische Schäden angerich-
tet als dieser. Erstmals ging es offensichtlich nicht nur um ein Maximum an zu erweckender
weltweiter Aufmerksamkeit, sondern auch um ein Maximum an Opfern.
- Umfang und Ausführung des Anschlags auf das World Trade Center simultan mit dem Anschlag
gegen das Pentagon waren nur auf der Grundlage einer langen Planungs- und Vorbereitungs-
phase möglich (z. B. Flugpraxis). Das Risiko, durch Sicherheitsbehörden enttarnt zu werden
oder die Aktion durch zu viele Mitwisser im Vorfeld zu gefährden, war deshalb extrem hoch. Es
wurde beherrscht.
- Erstmals wurden der Weltöffentlichkeit Live-Bilder von einem Terroranschlag zugänglich ge-
macht. Bis dahin wurden in den Medien nur die Folgen von Terrorakten dargestellt.

Der transnationale Terrorismus stellt die Terrorbekämpfung auf nationaler und internatio-
naler Ebene vor neue Herausforderungen.

Strategien und Erfahrungen, die im Kampf gegen den Terror noch in den 1980er-Jahren
angewendet wurden, sind infrage gestellt. Das transnationale Terrornetzwerk, die Vernetzung von
Al-Qaida mit anderen lokalen Gruppen kann nicht mit militärischen Mitteln bekämpft werden. Viel-
mehr ist eine internationale Zusammenarbeit von Polizei, Justiz und Geheimdiensten erforderlich.
Eckpunkte stellen die Bekämpfung der Terrorfinanzierung, die Eindämmung des internationalen
Waffenhandels und die Lösung von Regionalkonflikten, die den Aufbau terorristischer Strukturen
begünstigen, dar.
Vor allem muss internationales Recht und damit die Rolle der Vereinten Nationen weiter-
entwickelt und gestärkt werden.

Texterläuterung: Nach Schätzungen starben bei den Anschlägen auf das WTC und das Pentagon
am 11. September 2001 mehr als 3000 Menschen.
Die bis dahin höchsten Opferzahlen gab es, als fast zeitgleich Auto- und LKW-Bom-
ben in Bombay detonierten (etwa 400 Tote, über 1000 Verletzte) und 1998 nach si-
multanen Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania (257 Tote, über
5000 Verletzte).
(aus: Politik, Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe, 2009, S. 401-405)

Der islamistische Terrorismus


Islamistischer Terrorismus ist ein Terrorismus, der durch extremen religiösen Fanatismus
vor dem Hintergrund islamistischer Ideologie motiviert ist. Islamistische Terroristen berufen sich
zur Rechtfertigung ihrer Aktionen auf die Grundlagen des Islams, auf den Koran und die Sunna,
wobei diese dem Zweck entsprechend interpretiert werden.

Gewaltideologie „Dschihadismus"

Seit den 1980er-Jahren hat sich als neues terroristisches Phänomen die Gewaltideologie des
„Dschihadismus" ausgebreitet, die ihre Wurzeln und Inspirationsquelle in der fundamentalistischen
Bewegung des Islamismus hat. Die Weltreligion Islam darf nicht mit Islamismus oder Dschihadis-
mus gleichgesetzt werden, denn sie wird von diesen sektenartigen Minderheitenströmungen zur Le-
gitimierung von Gewalt missbraucht. Der Islamismus entwickelte sich als totalitäre politische Ideo-
logie im zeitgenössischen Islam. Muslimische Rechtsgelehrte stellten sich die Frage nach der Ursa-
che der seit dem Mittelalter zunehmenden westlichen Überlegenheit (auf politischem, wirtschaftli-
chem, militärischem Gebiet) und nach den Ursachen des eigenen sozio-ökonomischen und politi-
schen „Niedergangs".
Das neue islamistische Denken begann in den 1920er-Jahren in Ägypten und Indien. Das
Fundament der heutigen Gewaltideologie findet sich in den Schriften des ägyptischen Grundschul-
lehrers Sayyid Qutb (1906- 1966). Ihr zentraler Inhalt ist der Kampf gegen den Westen, die Ableh-
nung seiner Werte und der kulturellen Moderne. Den Grund für den „Niedergang" der muslimi-
schen Zivilisation sieht Qutb darin, dass die muslimische Welt durch Übernahme westlicher Werte
ihre religiöse Orientierung und damit ihre Entwicklungschancen verloren habe. Das aber könne ein
rechtgläubiger Muslim nicht dulden. Daher müsse die (religiöse) „Wiedererweckung" der islami-
schen Länder in einem „Dschihad" durch eine Bewegung zurück zu den Wurzeln betrieben werden.
Der Glaubensbegriff des Dschihad geht auf koranische Suren zurück und wird oft falsch als
„Heiliger Krieg" übersetzt. Vielmehr bedeutet er „Bemühung, Anstrengung, Streben". Traditionell
wird zwischen dem „kleinen" und dem „großen Dschihad" unterschieden. Der große Dschihad be-
zeichnet eine individuelle Anstrengung im Glauben, während der kleine Dschihad für eine gemein-
same Anstrengung zur Verteidigung des eigenen Glaubens steht. Qutb, der den Dschihad-Begriff
selektiv und missbräuchlich verwendet, sieht eine derartige Verteidigung mit Gewalt als erforder-
lich an. (...)

Das „3-2-1-Modell“

Die Ideologie des gewaltsamen Dschihad lässt sich zu einem „3-2-1-Modell" zusammen-
fassen, das heute fast allen Terroranschlägen dieser Richtung zugrunde liegt. Es geht von drei Fein-
den, zwei Angriffsarten und dem „Dschihad" als Verteidigungsmaßnahme aus:

- Die Feinde sind: „die Kreuzfahrer" (westlich-christliche Staaten), „die Juden" (der Staat Israel)
und „die Handlanger" (diejenigen muslimischen Regierungen, die Erfüllungsgehilfen westlicher
Unterdrückung seien). Diese drei Feinde hätten die Unterlegenheit und Unterdrückung der mus-
limischen Welt zu verantworten. Darüber hinaus würden sie auch eine Gegenbewegung der
„wahren Muslime" niemals zulassen, da dies ihren Interessen zuwiderlaufe.
- Den Feinden werden zwei Angriffsarten unterstellt: Zum einen besetzten sie mit ihren Soldaten
muslimische Länder und unterdrückten die Bevölkerung (physischer Angriff). Zum anderen
übertrügen sie ihre Werte und Verhaltensmuster auf muslimische Staaten und unterdrückten da-
mit deren einheimische Kultur (psychischer Angriff).
- Zur Verteidigung gegen die Feinde und ihre Angriffe sei eine gemeinsame Anstrengung
(Dschi-had) erforderlich: zum einen in den „besetzten Regionen" (Ländern) durch Kampf, zum
anderen im Herzen der Feinde durch Anschläge („Nadelstichtaktik").

Nach diesem Modell müssen aus dem gesamten Bereich der muslimischen Welt (Umma)
freiwillige Kämpfer zum Dschihad zusammengeführt werden, um als dschihadistische Elite ihrer
vermeintlich religiösen Pflicht nachzukommen. Solche internationalen Kämpfer werden als
Mudschahedin bezeichnet.
Der Dschihad-Kampf wird als Weg gesehen, an dessen Ende eine neue, fundamentalistische
Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stehen soll. Vorbilder einer derartigen Ordnung
sind im religiösen Sinne die Ordnung zu Zeiten des Propheten Mohammed sowie in der heutigen
Zeit das Regime der Taliban („Studierende des Islam") in Afghanistan in der zweiten Hälfte der
1990er-Jahre. (...) Ihren Aufrufen zum Kampf folgten zudem Tausende aus den muslimischen
Staaten und der Diaspora weltweit. Gemeinsam mit Ayman al-Zawahiri gründeten sie eine Dienst-
leistungsorganisation (Provider), die für die Mudschahedin Ausbildung, Logistik und Waffen anbot
und Geld bereitstellte. Sie nannte sich „Al Qaida" und verstand sich als die kleine Elite (Avant-
garde) im Sinne Azzams, die voranschreitet. Zermürbt von steigenden Opferzahlen und explodie-
renden Kosten zogen die Sowjets nach fast zehn Jahren Krieg 1989 aus Afghanistan ab.
Die Dschihadisten zogen folgende Schlussfolgerungen: Wo immer Muslime nach Dschiha-
disten-Sicht unterdrückt und bedroht sowie ihre Länder besetzt werden, lohnt sich ein Dschihad.
Der Preis für den Gegner kann so in die Höhe getrieben werden, dass er ihn schließlich nicht mehr
bezahlen will oder kann.
Der Islam

Der Islam versteht sich als die Religion der Unterwerfung unter den souveränen Willen Got-
tes. Er gründet zum einen auf dem Koran, der für den gläubigen Muslim die göttliche Offenbarung
enthält, und zum anderen auf dem verbindlichen und vorbildlichen Weg des Verkünders des Islam,
Mohammed (der so genannten sunna). Endlich bildet die Scharia, das religiöse Gesetz, in allen
Bereichen des Lebens die zu befolgende Richtschnur.
Die Gemeinschaft der Muslime versteht sich nicht nur als Kern des islamischen Staates, son-
dern auch als Vorbild der gesamten menschlichen Gesellschaft. So haben die Muslime sich dafür
einzusetzen, ihren Glauben zu verkünden und sich die Oberhoheit in aller Welt zu verschaffen
(Koran, Sure 9,33). Dieser Einsatz (dschihad) gilt zunächst dem Schutz der islamischen Gebiete
gegen die Übergriffe und Gefahren von jeder Seite (vgl. 5,57; 9,23). Darüber hinaus soll der Macht-
bereich ausgedehnt werden, notfalls, so die klassische Lehre im Mittelalter, mit den Mitteln des
bewaffneten Kampfes. Diese Pflicht obliegt der Gemeinschaft als solcher und hört erst auf, wenn
alle Menschen den islamischen Glauben angenommen oder sich dem islamischen Staat unterworfen
haben.
Heute teilen sich die muslimischen Gelehrten in Bezug auf den dschihad in zwei Lager. Die
einen wollen den kämpferischen Charakter dieses Einsatzes nach dem Vorbild des Mittelalters wie-
der lebendig machen. Die anderen legen den Akzent eher auf den Frieden als eigentlicher Zweck
des Einsatzes der Muslime für die Sache des Glaubens (vgl. 8,61; 4,90,94). Bereits im Mittelalter
fand eine Uminterpretation des dschihad- Begriffes statt. Theologen und geistliche Lehrer meinten
damals, dass der Einsatz für die Sache des Islam hauptsächlich im Inneren der Gläubigen selbst und
innerhalb der Gemeinschaft zu erfolgen habe, durch Unterbindung des Bösen und Unterstützung
des Guten, Bemühen um Wohltätigkeit und soziale Arbeit. Nach außen hin sollen die Verkündigung
und die politischen Anstrengungen den bewaffneten Kampf ersetzen, es sei denn, das islamische
Gebiet werde angegriffen oder gerate in Gefahr. [...]
Obwohl die Muslime eine Einheit aufgrund ihrer Religion bilden, ist die Islamische Welt
vielfältig differenziert: religiös durch Konfessionen und Sekten; durch unterschiedlichen Anteil an
der Bevölkerung eines Gebietes; durch unterschiedliche Auffassung zum Verhältnis von Politik und
Religion.
Die Islamische Welt ist, auch als Ergebnis historischer Entwicklungen, kein einheitlicher
Block. Zwar gibt es übergreifende Zusammenhänge und Bewegungen sowie gemeinsame Grundla-
gen; aber jeder islamische Staat hat sein eigenes Profil. [...]
Die politisch-religiöse Differenzierung ergibt sich vor allem aus den unterschiedlichen Auf-
fassungen über das Verhältnis von Politik und Religion - in der islamischen Lehre sind beide ja eng
verknüpft. Laizismus (radikale Trennung von Politik und Religion) und Fundamentalismus (radi-
kale Einheit von Politik und Religion) sind die Extreme.

Der Islamismus

Islamismus (arabisch islamiyya) ist der Uberbegriff für verschiedene ideologische Strömun-
gen, von denen nur wenige gewaltbereit sind. Oft wird er mit „Fundamentalismus" gleichgesetzt,
wobei Letzteres eine christliche, nicht unbedingt übertragbare Definition ist (s.u.). Der Islamismus
als politische Ideologie entwickelte sich innerhalb einer breiten Bevölkerung, als in den Sechziger-
und vor allem Siebzigerjahren der arabische Nationalismus scheiterte. Dazu kamen der soziale, kul-
turelle und ökonomische Verfall vieler islamischer Staaten, rapide Urbanisierung [Verstädterung]
und Arbeitslosigkeit, aus denen ein Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen und seinen
Errungenschaften resultierte.
[...] Islamisten teilen die Vorstellung, dass die islamische Welt sich aus Ungerechtigkeit und
Armut nur erheben kann, wenn die Muslime zur ursprünglichen, reinen Gesellschaftsform des „Gol-
denen Zeitalters" des Propheten zurückkehren. Sie erkennen die Trennung zwischen Staat und Re-
ligion nicht an und verlangen die volle Anwendung des islamischen Gesetzeswerks der Scharia.
In dieser „islamischen Ordnung" sollen alle Lebensbereiche so gestaltet sein, wie es von
Gott durch den Koran und das Vorbild des Propheten und der frühen Gemeinde (Sunna) verbindlich
vorgegeben sei.
Militante Islamisten glauben sich legitimiert, die „islamische Ordnung" mit Gewalt durch-
zusetzen. Sie beziehen sich dabei auf die im Koran enthaltene Aufforderung zum „Dschihad" (...),
die sie – abweichend von anderen Muslimen – als heilige Pflicht zum unablässigen Krieg gegen alle
„Feinde" des Islams sowohl in muslimischen als auch in nichtmuslimischen Ländern ansehen.
(Kai Hirschmann: Internationaler Terrorismus; in: Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert, Informa-
tionen zur politischen Bildung Bonn, Heft 297, 7.8.2006

Der Fundamentalismus

Unter Fundamentalismus versteht man den Missbrauch der Religion für politische Zwecke -
dementsprechend gibt es auch einen christlichen, jüdischen, hinduistischen Fundamentalismus. Der
islamische Fundamentalismus zielt auf die Errichtung eines Gottesstaates mit dem Anspruch auf
Universalität [weltweite Geltung]. Es handelt sich um eine totalitäre Ideologie im Kampf der Zivi-
lisationen, die sich speziell gegen westliche Vorstellungen richtet. Dem Westen werfen die Funda-
mentalisten moralischen Verfall und Orientierungslosigkeit vor. Sie wollen demgegenüber eine
klare Orientierung durch den radikalen Rückgriff auf den Ur-Islam, die genaue Befolgung der Vor-
schriften und wortwörtliche Erfüllung der Glaubenssätze, verordnen.
Größere oder kleinere fundamentalistische Gruppierungen gibt es in den meisten islami-
schen Staaten als Opposition, ebenso unter den Muslimen in nicht-islamischen Staaten.

Der Extremismus

Nicht alle islamistischen oder fundamentalistischen Gruppen sind zu schrankenloser Gewalt


bereit. Die Extremisten als militante Muslime sind überhaupt nur scheinbar religiös motiviert; sie
berufen sich zwar auf den Koran, was aber auch von gläubigen Muslimen als unecht verurteilt wird.
Zahlreiche extremistische Gruppen sind von einem deutlichen Defizit an differenzierter Aussage
geprägt, weshalb gemäßigte Muslime bestreiten, dass die Extremisten in Ubereinstimmung mit dem
Koran und der rechten islamischen Lehre handeln. Oftmals spalten sich radikale Gruppen von einer
Bewegung ab, wenn sie pragmatisch oder reformverdächtig wird. Deshalb tauchen bei terroristi-
schen Anschlägen immer wieder zuvor unbekannte Gruppen auf.
(Kai Hirschmann: Internationaler Terrorismus; in: Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert, Informa-
tionen zur politischen Bildung Bonn, Heft 297, 7.8.2006

Aufgaben

1. Erläutern Sie die Gefährlichkeit des internationalen Terrorismus, der auf Dschihadismus und
Islamismus beruht.
2. Analysieren Sie die Bestandteile der dschihadistischen Ideologie mithilfe soziologischer
Begrif-fe. Inwiefern bzw. an welchen Stellen muss diese Ideologie als verbrecherisch
gekennzeichnet werden?
3. Vergleichen Sie Islamismus und Islam.

Terrorismus gestern und heute

Terrorismus ist kein neues Phänomen. Fachleute unterscheiden heute vier Gruppen von
Terroristen:
 geistig verwirrte Einzeltäter, die sich als Auserwählte sehen und ohne ein unterstützendes Netz-
werk für ihre „Mission" tätig werden;
 revolutionäre Gruppen, die politische oder soziale Veränderungen durch Gewalt herbeibomben
möchten (Beispiel: die frühere Rote Armee Fraktion, RAF);
 ethnische oder politische Minderheiten, die gewaltsam für ihre Autonomie in einem Staatswesen
kämpfen (Beispiel: die kurdische PKK);
 Gruppen mit religiösen oder pseudo-religiösen Motiven (Beispiele: die Aum-Shinrikyo-Sekte in
Japan oder die Al-Qaida des Osama Bin Laden).
Am gefährlichsten sind dabei jene Gruppen, die aus vorgeblich religiösen Motiven Massen-
morde verüben, weil kein Zweifel daran besteht, dass ihnen Menschenleben nichts bedeuten und sie
auch Zivilisten nicht verschonen werden.
Terror und Terrorismus sind überall - die Medien sind voll davon. Da werden die Begriffe
schnell unscharf. Die Alltagssprache ist mit dem Terror schnell bei der Hand. Eine Rockerbande
terrorisiert ein Viertel oder ein Mann seine Familie. [...]
Terror im eigentlichen Sinne meint jedoch systematische Gewalttätigkeit. Menschen werden
bedroht, verletzt oder getötet - Sachwerte vernichtet. Gewalttätige Übergriffe und Anschläge von
Rechtsextremisten auf Ausländer bespielsweise sind Terror. Sie sind aber kein Terrorismus. Davon
ist erst die Rede, wenn die Gewalt nicht nur vereinzelt und situationsbezogen von Einzeltätern und
kleinen, spontan gebildeten Gruppen ausgeht, sondern politisch geplant und gelenkt ist.
Terroristen sind Fanatiker, aber nur selten Verrückte. Das fand auch das FBI heraus, das vor
ein paar Jahren Persönlichkeitsprofile von 115 ideologisch motivierten Flugzeugentführern erstellte.
Verglichen mit anderen Gewaltverbrechern und nicht weltanschaulich motivierten Flugzeugentfüh-
rern fand man ungewöhnlich wenig geistige Störungen und Drogenmissbrauch. [...] Das terroristi-
sche Gedankensystem ist die extreme Fortsetzung eines fehlgeleiteten Idealismus und des Gerech-
tigkeitswahns. Der Terrorist meint, für die Humanität zu kämpfen - und richtet ein Blutbad an, in
dem jede Humanität ertrinken muss.
Die grausamsten terroristischen Verbrechen geschehen heute im Namen von Religionsfüh-
rern. 1995 begingen religiös motivierte Täter zwar „nur" ein Viertel der Terroranschläge in der
Welt, schreibt der US-Terrorismusexperte Bruce Hoffman. Es waren aber die blutigsten: 60 Prozent
aller Toten gingen auf ihr Konto. Bei Terrorakten, die mehr als acht Tote forderten, waren nur reli-
giöse Fanatiker am Werk. „Während weltlich motivierte Terroristen selten die Auslöschung vieler
Menschen anstreben, weil solche Exzesse ihren Zielen schaden, legen es die religiös motivierten oft
auf solche Gemetzel an", meint Hoffman. [...]
Nicht nur die neuartige Motivation und die Maßlosigkeit der Gewalt bringen Fachleute dazu,
von einer neuen Qualität des Terrorismus zu sprechen. Anders als die Gruppen der Vergangenheit
arbeiten Terroristen heute in kleineren, nicht hierarchisch aufgebauten, schwer fassbaren Organisa-
tionen.
Der Einzelne kennt so nur wenige andere Mitkämpfer. Er kann seiner Gruppierung nicht viel
schaden, falls er gefangen genommen wird oder überläuft. Der neue Terrorismus ist auf straffe Or-
ganisation gar nicht mehr angewiesen. Ein klares politisches oder nationalistisches Programm gibt
es ohnehin nicht. Man ist sich einig über den Feind und darin, dass es ihn zu treffen gilt, wo immer
möglich.
Der neue Terrorismus operiert international. Seine Finanzierung und Logistiknetze über-
schreiten alle Grenzen. Die Terroristen nutzen allgemein zugängliche Technologien wie das Inter-
net, um schnell und sicher zu kommunizieren. Geld kommt aus politischen Massenorganisationen,
aus weltweiten Wirtschaftsaktivitäten mit ganz legalen Unternehmen; aber auch die Grenzen zur
organisierten Kriminalität sind fließend. „Solche lose verknüpften supranationalen Terrornetze sind
schwer einzuschätzen, zu verfolgen und zu infiltrieren", heißt es im Bericht der „Nationalen Ter-
rorismus-Kommission" des US-Kongresses aus dem Jahr 2000.
„Sicherheitspakete“ – Wie lässt sich die „innere Sicherheit“ erhöhen?

Schon bald nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 wurden in der Bundesrepub-
lik wie auch in anderen Ländern Überlegungen angestellt, mit welchen Maßnahmen und Regelun-
gen man im eigenen Lande die Sicherheit gegen terroristische Anschläge (innere Sicherheit) erhöh-
en könne. Neben der Stärkung der Arbeit der Sicherheitsorgane wurden in einem ersten „Sicher-
heitspaket" folgende Regelungen beschlossen:
Eine neue Verordnung zur Flughafensicherheit sieht schärfere Kontrollen im Flugverkehr
und die Pflicht der Flughafenbehörden zur Überprüfung ihres Personals (auch unter Zuhilfenahme
von Daten der Geheimdienste) vor. Der neue Paragraph 129 b des Strafgesetzbuches ermächtigt die
Polizei dazu, auch gegen solche Mitglieder ausländischer Terrorgruppen zu ermitteln, die sich bis-
her in Deutschland nichts haben zu Schulden kommen lassen. Die Streichung des Religionsprivilegs
im Vereinsgesetz bedeutet, dass islamistische Organisationen, die auch in Deutschland vertreten
sind, nicht mehr wie Religionsgemeinschaften, sondern wie Vereine behandelt und somit auch ver-
boten werden können, wenn sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgen.
Durch die Streichung des Religionsprivilegs ermöglicht, verbot das Bundesinnenministe-
rium am 12.12.2001 die türkische islamistische Vereinigung „Kalifatstaat" und weitere 19 Teilorga-
nisationen. Die von Köln aus geleitete Gruppierung ziele auf die Weltherrschaft des Islam auf der
Grundlage der Scharia, des islamischen Rechts, und richte sich gegen die demokratische Ordnung
in Deutschland. Bereits am 15.11.2000 war der selbsternannte Führer der Organisation, Metin Kap-
lan („Kalif von Köln"), wegen eines Mordaufrufs zu vier Jahren Haft verurteilt worden.
Uber ein zweites, von Bundesinnenminister Schily vorgeschlagenes „Anti-Terror-Paket"
entstand eine lebhafte Diskussion. Das vom Bundestag am 14.12.2001 verabschiedete Artikelgesetz
(Änderung von 17 Einzelgesetzen), dem der Bundesrat am 20.12.2001 zustimmte, sieht u.a. vor:
Erweiterung der Kompetenzen des Bundeskriminalamtes und der Geheimdienste (Möglichkeit der
Datenerhebung bei Banken und anderen Dienstleistungsunternehmen), Verschärfung des Auslän-
derrechts (u.a. Erweiterung der Gründe für die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung und der
Gründe für eine Ausweisung von Asylbewerbern), Möglichkeit, dass Personalausweise und Reise-
pässe „neben Lichtbild und Unterschrift weitere biometrische Merkmale von Fingern oder Händen
oder Gesicht des Inhabers enthalten".
Kritiker befürchten, dass durch die Art und die Fülle der Maßnahmen der Datenschutz er-
heblich gefährdet werde, dass die Freiheitsrechte des Bürgers eingeschränkt würden und die Bun-
desrepublik sich auf den Weg zu einem Uberwachungs- und Kontrollstaat begeben.
(aus: Politik, ein Arbeitsbuch 9/10, 2007; S. 234-246)

Texterläuterungen

a) Warum kann man den Terroristen nicht den Geldhahn zudrehen?: Die Welt ist voll von Al
Oaida-Sponsoren. Unmittelbar nach dem 11. September 2001 veröffentlichte die US-Regierung
die Namen von 2500 Firmen und Einzelpersonen, die verdächtigt werden, Terroristen zu
finanzieren. Darunter finden sich mehrere sudanesische Banken, palästinensische, ägyptische
und jemenitische Wohlfahrtsorganisationen. Bisher sind etwa 200 Millionen Dollar eingefroren
worden. - Eine Winzigkeit, verglichen mit den immensen Summen, die saudische Stiftungen
ausgeben, um - so die offizielle Version - den puritanischen Wahabismus in alle Welt zu
verbreiten. Das private Vermögen des Ex-Saudis bin Laden wird auf etwa 300 Millionen Dollar
geschätzt. Zusätzlich soll Al Oaida jährlich etwa 30 Millionen Dollar einnehmen. Eine reiche
Kriegskasse. Die Vorbereitung und Ausführung des 11. September kostete laut dem Kongressbe-
richt des 9/11-Untersuchungsausschusses zwischen 400 000 und 500 000 Dollar.
b) Wie kann der Terrorismus besiegt werden?: Auf lange Sicht muss es darum gehen, potenziel-
len Terroristen ihre Motivation zu entziehen. Diese speist sich vor allem aus dreierlei. Erstens
aus dem Gefühl des Gedemütigtseins durch einen technisch und wirtschaftlich überlegenen
Westen. Zweitens aus einer religiös unterstützten Selbststilisierung zum Opfer und einer damit
verbundenen moralischen Selbsterhöhung. Drittens aus dem Glauben, dass die ungläubigen
Unterdrücker Rache verdient haben. Mit schuld an der Konjunktur des antiwestlichen
Verschwörungsglaubens sind die eklatanten Bildungsdefizite in der arabischen Welt. Laut einer
Studie der UN sind seit dem 9. Jahrhundert nur 100 000 Bücher ins Arabische übersetzt worden.
Das sind knapp so viele, wie in Spanien pro Jahr übersetzt werden. Zudem mangele es insgesamt
an Freiheit und guter Regierungsführung. Der Kampf gegen den Terrorismus ist also auch ein
Kampf gegen ein dumpfes Weltbild. Aber lässt sich der Al Oaidaismus eindämmen wie einst der
Kommunismus? Für ein solches Containment müsste der Westen in einen ideellen Wettstreit mit
einer rückwärtsgewandten, selbstgerechten Islaminterpretation treten. Als „Gegenideologie"
freilich hat er nur Pluralismus und Liberalismus zu bieten. Und das heißt eben: Ungewissheit.
Jochen Bittner, „Das weltweite Al Oaida-Netz", in: Die Zeit Nr. 29 vom 14. Juli 2005

Aufgaben

a) Beschreiben Sie anhand der oben stehenden Materialien und aufgrund Ihres Vorwissens den
Ablauf des Terroranschlags vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York
und das amerikanische Verteidigungsministerium in Washington. Worin lag das Neue und
Furchtbare dieses Verbrechens für die Menschen in Amerika und in der ganzen Welt? Wie ha-
ben Sie selber dieses Ereignis erlebt?
b) Geben Sie einige Informationen zum Begriff und zur Entwicklung des Terrorismus. Machen Sie
im Einzelnen deutlich,
- was man unter dem viel gebrauchten Begriff Terror bzw. Terrorismus zu verstehen hat und
worin die Motive der unterschiedlichen Gruppen von Terrorismus liegen;
- welche Bedeutung der auf religiösem Fanatismus beruhende Terrorismus in den 1990er-
Jahren gewonnen hat, und
- was man unter „internationalem Netzwerk-Terrorismus“ versteht. Erläutern Sie dazu das
Beispiel des Terrornetzwerks Al-Qaida, zu dem die Terroristen des 11. September 2001 ge-
hören.
c) Die Hintergründe und die Ursachen des Terroranschlags vom 11. September und einer Reihe
weiterer schwerer, ebenfalls durch islamistische Terroristen verübter Anschläge im Jahre 2002
(u.a. auf der tunesischen Ferieninsel Djerba, wo am 11.4.2002 bei einer bewusst herbeigeführten
Explosion eines Tanklastwagens vor einer jüdischen Synagoge 19 Menschen, darunter 14 Deut-
sche, ums Leben kamen, und auf der Südseeinsel Bali, wo am 12.10.2002 bei einem Anschlag
auf eine Diskothek ein ganzer Straßenzug in Schutt und Asche gelegt und fast 200 Menschen
getötet wurden) sind außerordentlich vielfältig und werden z.T. auch unterschiedlich beurteilt.
Wir haben im Text einige wichtige Aspekte ausgewählt, an denen Sie aufzeigen können,
- welche Bedeutung religiöse Motive für die Terroristen des 11. September gehabt haben,
- welche Rolle antisemitische und antiamerikanische Einstellungen spielen und inwiefern sich
der islamistische Terrorismus gegen politische ud gesellschaftliche Wertvorstellungen und
die Verbreitung der „westlichen Zivilisation“ richtet.
4. Machen Sie deutlich, warum es so schwierig ist, den „Netzwerk-Terrorismus“ wirksam zu
bekämpfen, und informieren Sie sich anhand der obigen Texte über die Maßnahmen, welche die
deutsche Bundesregierung zum Schutz vor terroristischen Anschlägen ergriffen hat. Gehen Sie
dazu auch auf das Spannungsverhältnis ein, das zwischen solchen Maßnahmen und den
Freiheitsrechten der Bürger besteht.
Der internationale Terrorismus –
weiterhin eine Gefahr?

Der 11. September 2001 war ein einschneidendes Ereignis, aber nicht das Ende der Ent-
wicklung des internationalen Terrorismus. Das Terrornetzwerk Al Qaida bewies trotz des erklärten
„Kriegs gegen den Terrorismus" auch weiterhin seine Handlungsfähigkeit in schrecklichen Terror-
anschlägen.

Al Qaida „reloaded"

Al Qaida baut ihre Strukturen um - und ist keineswegs am Ende, stellen die westlichen Ge-
heimdienste fest. In Afghanistan, aber auch Pakistan gibt es schon wieder Trainingscamps. Osama
Bin Ladens Netzwerk ist dabei, zu neuer Stärke zu finden. (...) Natürlich kann kein Zweifel daran
bestehen, dass das Netzwerk nicht einmal annähernd über die Kapazitäten verfügt, mit denen es
9/11 organisierte. Aber die Versuche, sich neu zu organisieren, sind unübersehbar. Die neuen
Camps sind ein Indiz. Zwischen 10 und 300 Dschihadisten fassen sie, berichtet „Time". „Wir wis-
sen, dass es sie gibt, aber es ist wie eine Nadel im Heuhafen zu suchen", zitiert das Magazin einen
US-Militär in Afghanistan. (...) Al Qaida hat sich in den vergangenen Jahren als ausgesprochen
widerstandsfähig erwiesen. Auf den Afghanistankrieg reagierte das Netzwerk mit zwei Entschei-
dungen: Die Veteranen, so ordnete es Bin Laden an, sollten in ihre Heimatländer zurückkehren und
das Werk dort fortführen. „Al Qaida kommt nach Haus", tauften Terrorexperten das Phänomen -
denn plötzlich war das Netzwerk überall präsent, wie Anschläge von Bali bis Madrid und von Riad
bis London zeigten. Die zweite Reaktion: Eine Öffnung gegenüber dem sympathisierenden Umfeld.
Jeder Anhänger durfte und sollte fortan im Namen des Netzwerks zur Tat schreiten, teilten die Ka-
der mit. Sie lieferten die Ideologie und das Know-how gleich mit.

Schwere Terroranschläge seit dem 11. September 2001

Seitdem 11. September 2001 sind eine Reihe schwerster Terroranschläge verübt worden,
die Islamisten angelastet werden:
- 11. April 2002: Bei einem Sprengstoffanschlag auf eine Synagoge auf der tunesischen Insel
Djerba reißt ein Selbstmordattentäter 21 Menschen mit in den Tod.
- 12. Oktober 2002: Bei Bombenanschlägen auf Diskotheken der indonesischen Ferieninsel Bali
sterben 202 Menschen.
- 28. November 2002: Drei Selbstmordattentäter sprengen ein Auto vor einem israelischen
Touristenhotel in Mombasa (Kenia) in die Luft: 18 Menschen sterben.
- 12. Mai 2003: In der saudischen Hauptstadt Riad sterben 35 Menschen nach einer Serie von
Bombenanschlägen in hauptsächlich von Ausländern bewohnten Vierteln.
- 16. Mai 2003: Bei fünf Anschlägen auf westliche und jüdische Einrichtungen in Casablanca
(Marokko) sterben 45 Menschen.
- 15./20. November 2003: Bei Bombenanschlägen auf jüdische und britische Einrichtungen in
Istanbul sterben mindestens 57 Menschen.
- 11. März 2004: In vier Nahverkehrszügen in Madrid explodieren zehn Bomben. 191 Menschen
sterben.
- 24. August 2004: Nach Sprengstoffexplosionen stürzen zwei russische Passagierflugzeuge in
Südwestrussland ab. In den Trümmern sterben 90 Menschen.
- 1. September 2004: In Beslan (Nordossetien) überfallen 32 Bewaffnete eine Schule und nehmen
mehr als 1300 Geiseln. Bei der Befreiungsaktion sterben 330 Geiseln, darunter 172 Kinder.
- 7. Juli 2005: In London reißen Selbstmordattentäter in U-Bahnen und in einem Bus 56 Menschen
mit in den Tod. 700 Menschen werden verletzt. Zwei Wochen später scheitern weitere
Attentatsversuche.
- 23. Juli 2005: Im ägyptischen Badeort Scharm el Scheich werden 66 Menschen getötet.
- 9. November 2005: In der jordanischen Hauptstadt Amman reißen Selbstmordattentäter bei
Explosionen in drei westlichen Hotels mindestens 58 Menschen mit in den Tod.
Nach: dpa-Pressemeldung vom Juli 2006

Aufgaben

a) Stellen Sie die Fakten zum 11. September 2001 in einer Übersicht oder einem Plakat dar.
b) Was sind die Merkmale der schweren Terroranschläge nach dem 11. September 2001 und
beurteilen Sie sie im Hinblick auf die Strategie der Terroristen. Recherchieren Sie darüber im
Internet, z.B. bei www.spiegel-online.de.
Gefahr durch ABC-Waffen

Trotz diverser Rüstungskontrollabkommen sind ABC-Waffen zunehmend verbreitet. Sor-


ge bereitet vor allem das iranische Atomprogramm. Zudem ist die Gefahr, dass sich Terroristen
ABC-Waffen beschaffen, größer geworden.

„Frieden schaffen ohne Waffen" - von diesem Menschheitstraum ist die Welt nach wie vor
weit entfernt. Aus Sicht der Industrieländer rückt dabei eine Gefahr immer mehr in den Vorder-
grund: die zunehmende Verbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen (ABC-
Waffen). Der Einsatz schon sehr einfacher Atomsprengköpfe kann durch die enorme Druckwelle
und die anschließende radioaktive Strahlung großen Schaden anrichten. Chemische Kampfstoffe
führen zumeist zum Erstickungstod. Biologische Kampfstoffe sind Krankheitserreger, die tödliche
Seuchen wie Pocken oder Pest verursachen können.
Die gleichzeitige Verbreitung weit reichender Trägermittel, vorwiegend Raketen, kann west-
liche Industriestaaten neuen direkten Bedrohungen aussetzen. Die Terroranschläge vom 11. Sep-
tember 2001 haben einer breiten internationalen Öffentlichkeit zudem die Gefahren bewusst ge-
macht, die von ABC-Waffen in den Händen von Terroristen ausgehen können.

Motive für die Beschaffung

Die Gründe, warum sich Staaten ABC-Waffen und weit reichende Trägermittel zu verschaf-
fen suchen, sind vielfältig und überlagern sich oft. Eine Motivation mag in dem Wunsch liegen,
Nachbarstaaten einzuschüchtern und zu bedrohen. Dies war beispielsweise im Irak unter der Herr-
schaft von Saddam Hussein der Fall, der in den 1980er Jahren einen Krieg gegen den Iran führte
und dabei chemische Waffen einsetzte. 1990 überfiel der Irak Kuwait, besetzte es und konnte erst
durch die militärische Aktion „Wüstensturm" unter Führung der USA wieder zum Rückzug bewegt
werden. Die zuvor hergestellten Bestände an chemischen und biologischen Waffen setzte der Irak
während dieses Krieges jedoch nicht ein.
Andere Staaten zeigen Interesse an ABC-Waffen, um die eigene Sicherheit gegenüber ambi-
tionierten Nachbarn aufrechtzuerhalten. Ein wichtiges Beispiel ist der Iran. Nicht nur verfügen Is-
rael und der Nachbar Pakistan bereits über Nuklearwaffen. In Teheran ist man auch besorgt, dass
die USA, die mittlerweile in der gesamten Region eigene Streitkräfte stationiert haben, versucht
sein könnten, einen Regimewechsel herbeizuführen. Denn für die Regierung von US-Präsident
George W. Bush hat die Demokratisierung des Nahen Ostens besondere außenpolitische Bedeu-
tung. Ein autoritär regierter Klerikerstaat, der in den Besitz von Nuklearwaffen kommen könnte,
läuft dieser Strategie zuwider. Er stellt aus Sicht der USA eine große Bedrohung dar.
Pakistans Kemwaffenerwerb wiederum erfolgte als Reaktion auf entsprechende Bemühun-
gen Indiens. Neu-Delhi führte bereits 1974 eine Nuklearexplosion durch. Im Sommer 1998 vollzog
es eine Reihe von Kerntests zu militärischen Zwecken, auf die Pakistan umgehend mit eigenen
Kernwaffentests reagierte.
Indien seinerseits entschied sich für den nuklearen Weg, weil es sich an seiner Nordgrenze
der Nuklearmacht China gegenübersieht. Darüber hinaus wollte Indien seinen internationalen Status
aufwerten.
Das von Kim Jong II stalinistisch regierte Nordkorea ist ein völlig isoliertes Land. Es hat im
Februar 2005 selbst offiziell behauptet, bereits Kernwaffen zu besitzen. Experten streiten darüber,
wie glaubwürdig diese Behauptung ist, schließen aber ein bereits einsatzfähiges Atompotenzial
nicht aus. Dieses wird in Pjöngjang wohl als eine Art Überlebensgarantie angesehen. Außerdem
bietet die Weitergabe von Raketentechnik - zum Beispiel an den Iran oder Syrien - Nordkorea eine
willkommene Devisenquelle.
Die so genannten Sechser-Gespräche, an denen neben den USA und Nordkorea auch China,
Russland, Südkorea und Japan teilnehmen und in denen es um den Stopp für das nordkoreanische
Atomprogramm geht, wurden Ende 2005 vorerst ausgesetzt. Im Prinzip stehen sich zwei kaum mit-
einander zu vereinbarende Standpunkte gegenüber: Während Washington die vollständige Abrüs-
tung des nordkoreanischen Atomprogramms einfordert, will Pjöngjang den USA vor allem wirt-
schaftliche Zugeständnisse und umfassende Sicherheitsgarantien abringen, wie etwa das Verspre-
chen, Nordkorea nicht militärisch anzugreifen.
Die überwiegende Mehrzahl der Staaten hat sich gegen den Erwerb von ABC-Waffen ent-
schieden. Einige - darunter Deutschland - fühlen sich im Rahmen der Nato durch die Kernwaffen
der USA mitgeschützt. Für andere Staaten spielen ABC-Waffen in ihren Regionen keine Rolle und
würden nur zu Komplikationen führen. Manchen fehlen die finanziellen und technischen Vorausset-
zungen zur Entwicklung und Herstellung dieser Waffen. Wiederum andere fühlen sich den interna-
tionalen Normen verpflichtet, die biologische und chemische Waffen verbieten und den Kreis der
Staaten, die Kernwaffen besitzen dürfen, einschränken.

Sonderfall Iran

Europa grenzt im Süden an den Nahen und Mittleren Osten. Dass sich Staaten dieser Region
um ABC-Waffen und weit reichende Raketen bemühen, ist daher auch aus europäischer Sicht be-
sorgniserregend. Dabei kommt dem Iran eine zentrale Rolle zu.
Teheran hat durch die Inkraftsetzung internationaler Abkommen auf den Besitz von nuklea-
ren, chemischen und biologischen Waffen verzichtet. Dennoch hegen viele Beobachter Zweifel, ob
sich das Land auch daran hält. In Kooperation mit Russland hat der Iran einen Leichtwasserreaktor
gebaut. Dieser kann nur schwer für militärische Zwecke missbraucht werden. Problematischer ist
dagegen, dass der Mullah-Staat darüber hinaus einen vollen nuklearen Brennstoffkreislauf anstrebt.
Im August 2002 wurde bekannt, dass der Iran auch eine Urananreicherungsanlage errichtet.
Über eine solche Technologie verfügen derzeit nur etwa zehn Länder, die meisten von ihnen sind
auch im Besitz von Atomwaffen. Teheran gibt vor, die im Bau befindliche Einrichtung lediglich zu
zivilen Zwecken nutzen zu wollen. In der Tat dienen Urananreicherungsanlagen oft zur Herstellung
schwach angereicherten Urans, das zur Produktion von Brennstäben für Kernkraftwerke verwendet
wird. Ohne größere bauliche Veränderungen kann dieselbe Technologie aber auch zur Produktion
hoch angereicherten Urans genutzt werden, das für den Bau von Kernwaffen benötigt wird.
Auffällig ist, dass Iran die Anreicherungsanlage mit einer relativ hohen Produktionskapazität
schon sehr weit vorangetrieben hat, obwohl - abgesehen von dem Reaktor in Buschehr, für den die
Brennstäbe aus Russland geliefert werden sollen - weitere geplante Kernkraftwerke noch nicht ein-
mal auf dem Reißbrett geplant sind. Daher spricht vieles für einen militärischen Verwendungs-
zweck der Urananreicherung. Außerdem stellte sich ab dem Herbst 2002 heraus, dass Iran über vie-
le Jahre nicht vorschriftsmäßig mit der Internationalen Atomenergiebehörde (International Atomic
Energy Agency -IAEA) kooperiert und beispielsweise Uranimporte aus China nicht gemeldet hatte.
Darüber hinaus unterhält der Iran ein sehr aktives Raketenprogramm. Die Shahab-III-Rakete
mit circa 1300 Kilometer Reichweite ist bereits einsatzbereit, weitere Raketentypen sind in der Ent-
wicklung. Ein solch breit angelegtes Raketenprogramm ergibt aber nach Ansicht der meisten Ex-
perten nur Sinn, wenn beabsichtigt wird, diese Waffen mit nuklearen Sprengköpfen ausstatten zu
können.
Zwischen 2003 und 2005 haben die so genannten EU-3-Staaten Deutschland, Frankreich
und Großbritannien auf diplomatischem Weg versucht, den Iran zum Verzicht auf Atomentwicklun-
gen zu bewegen, die militärisch missbraucht werden können. Doch die Verhandlungspartner konn-
ten sich nicht auf eine Lösung verständigen. Im März 2006 beschloss die IAEA, dass sich von nun
an der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit dem „Fall Iran" zu befassen habe. Dieser könnte
Sanktionen gegen den Iran beschließen.

Nutzung durch Terroristen?

Die Terror-Anschläge vom 11. September 2001 auf die USA wurden mit einer derartigen
Skrupellosigkeit durchgeführt, dass sich viele Beobachter fragten, ob als nächste Steigerung des
Schreckens mit dem Einsatz von ABC-Waffen seitens der Terroristen zu rechnen sei. Trotz des
nachweisbaren Interesses Osama bin Ladens und seiner Anhänger an ABC-Waffen konnte jedoch
nicht bestätigt werden, dass sich das Terrornetzwerk Al Oaida tatsächlich solche Waffen verschafft
hat.
Kurze Zeit nach dem 11. September 2001 tauchten in den USA Briefe an Regierungsange-
stellte auf, die mit Milzbranderregern verseucht waren. Diese Briefe forderten fünf Todesopfer und
führten zu weiteren Infektionen. Zwar stammten sie wahrscheinlich nicht von Al Oaida.
Die sich anschließende öffentliche Debatte konzentrierte sich dennoch auf die Frage, wel-
chen Schaden Terroristen mit biologischen Kampfstoffen anrichten könnten. Dabei ist grundsätzlich
davon auszugehen, dass sich Terroristen Zugang zu Krankheitserregern verschaffen können, etwa
indem sie sie von toten Menschen oder Tieren isolieren.
Das größte Hindernis dürfte jedoch in der effektiven Ausbringung biologischer Kampfstoffe
bestehen. Um wirklich große Schäden zu verursachen, müssten diese Kampfstoffe in großen Men-
gen hergestellt und so aufgearbeitet werden, dass sie als Nebelwolken ausgebracht und von der an-
gegriffenen Bevölkerung eingeatmet werden könnten. Ohne staatliche Unterstützung dürften Terro-
risten dazu nicht in der Lage sein.
Schon heute können Mitglieder der Nato, allen voran die Türkei, direkt durch Raketen be-
droht werden, die in Ländern des Nahen und Mittleren Ostens stationiert sind. Aufgrund der massi-
ven konventionellen Überlegenheit der Atlantischen Allianz und der amerikanischen nuklearen Ab-
schreckung wäre jeder Angreifer jedoch einem kaum zu kalkulierenden Risiko ausgesetzt.
Bei einem Kriegseinsatz alliierter Truppen, darunter auch deutscher Soldaten, in der Region
könnten diese jedoch vor Ort mit Raketen bedroht werden. Hinzu kommt: In weiterer zeitlicher
Perspektive sind in einem solchen Konfliktszenario auch erpresserische Drohungen seitens einzel-
ner Staaten des Nahen und Mittleren Ostens direkt gegen europäisches Territorium nicht auszu-
schließen.
Gegenüber Terroristen würde eine Strategie der Abschreckung nur wenig ausrichten. Sie
verfügen nicht über ein eigenes Territorium, gegen das sich entsprechende militärische Gegenmaß-
nahmen richten könnten. Ohnehin nehmen Selbstmordattentäter und ihre Unterstützer keinerlei
Rücksichten auf das eigene Überleben.

Internationale Abwehrstrategien

Für europäische Staaten stehen Rüstungskontrollabkommen im Vordergrund, um den Ge-


fahren zu begegnen, die mit der Verbreitung von ABC-Waffen einhergehen. So verbietet das 1997
in Kraft getretene Chemiewaffen-Übereinkommen (CWÜ), dem bisher 178 Staaten beigetreten
sind, die Herstellung und Beschaffung von chemischen Kampfstoffen. Das Biologiewaffen-Über-
einkommen (BWÜ) von 1975 verfolgt das gleiche Ziel in Bezug auf Biowaffen. Der aus dem Jahr
1970 stammende Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (Nuclear Non-Proliferation Treaty - NPT)
erlaubt nur fünf Staaten - den USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China - den Besitz
von Kernwaffen. Sie sind laut Vertragstext jedoch an ihr Versprechen gebunden, die eigenen Nuk-
leararsenale zu reduzieren und schließlich ganz abzurüsten.
Diese Verträge setzen wichtige internationale Normen. Allerdings sind ihnen einige Staaten
nicht beigetreten. Indien, Pakistan und Israel besitzen zwar Kernwaffen, sind aber keine Mitglieder
des NPT. Nordkorea hat im Februar 2003 verkündet, aus dem Vertrag auszusteigen. Außerdem sind
die Kontrollen der IAEA, die eine tatsächliche Einhaltung des Verbots sicherstellen sollen, oft nicht
ausreichend. Die meisten Inspektionen finden angemeldet statt, und die Zugangsrechte der Inspek-
toren sind begrenzt.
Daher drängen die USA darauf, neben der multilateralen Rüstungskontrolle die Exportkon-
trollen der Industrienationen zu stärken. Dazu soll besonders die im Mai 2003 ins Leben gerufene
Proliferation Security Initiative dienen. Die an ihr beteiligten Staaten - mittlerweile sind es mehr
als sechzig - agieren auf der Grundlage des Völkerrechts sowie ihrer jeweiligen nationalen
Gesetzge-bung. Durch den Vollzug bestehender Rechtsvorschriften soll der Transport verbotener
Materialien zu Lande, zur See und in der Luft wirksam unterbunden werden.
Daneben werden zunehmend militärische Vorkehrungen getroffen. Im Vordergrund des öf-
fentlichen Interesses steht dabei das amerikanische Projekt einer Raketenabwehr. Hauptziel ist es,
die westliche Handlungsfähigkeit auch dann aufrechtzuerhalten, wenn es zu Erpressungsversuchen
mit ABC-Waffen und Raketen kommen sollte. Ob eine effektive Raketenabwehr technisch möglich
und auch finanzierbar ist, wird sich erst in der Zukunft herausstellen.
Hinsichtlich terroristischer Bedrohungen streben die USA und ihre Verbündeten an, den
Zivil- und Katastrophenschutz zu stärken. Deutschland hat beispielsweise Pockenimpfstoff ange-
schafft, der für die gesamte Bevölkerung ausreichen soll. Auch ein entsprechender Einsatzplan wur-
de erarbeitet. Zudem werden Ärzte darin geschult, durch biologische Kampfstoffe verursachte Er-
krankungen zu erkennen.

Weitere Rüstungskontrollabkommen

ABM (Abkürzung für englisch Anti-ballistic missile, dt.: Rakete zur Bekämpfung anfliegender bal-
listischer Feindraketen). Die USA und die UdSSR schlossen 1972, dann 1974 einen modifizierten ,
zeitlich unbefristeten ABM-Vertrag, in dem sie sich gegenseitig die Errichtung von je einem
ABM-System mit bis zu 100 Startrampen und 100 Abfangraketen zugestanden. Der ABM-Vertrag
gewährleistete die gegenseitige Abschreckung.

INF (Abkürzung für englisch Interrmediate-range Nuclear Forces, dt.: Nukleare Mittelstrecken-
kräfte). Am 8.12.1987 unterzeichneten Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Washington
den INF-Vertrag über den vollständigen Abbau landgestützter Mittelstreckenraketen mit Reichwei-
ten von 500 bis 5500 km. Es war der erste Vertrag, durch den eine Kategorie von Kernwaffen tat-
sächlich beseitigt wurde.
SALT (Abkürzung für englisch Strategic Arms Limitation Talks (auch. Treaty, dt.: Abrüstungs-
verhandlungen und Abrüstungsabkommen zwischen den USA und der UdSSR zur Begrenzung der
strategischen Waffen (Atomwaffen und Trägersysteme). Die Verhandlungen wurden seit 1969
hauptsächlich in Helsinki und Wien geführt. Ein erstes Vertragswerk (SALT I) wurde am 26.5.1972
in Moskau von L. Breshnew und R. Nixon unterzeichnet; es begrenzte den Umfang der Raketen-
abwehrsysteme und die Zahl der Interkontinentalraketen beider Seiten. Unmittelbar danach weitere
Verhandlungen; sie führten zur Unterezeichnung von SALT II durch L. Breshnew und J. Carter
am 18.6.1979 in Wien. Diese Abkommen sah eine weitere Begrenzung der strategischen Offensiv-
waffen vor. Die Ratifizierung durch den US-amerikanischen Senat wurde wegen des sowjetischen
Einmarsches in Afghanistan Ende 1979 ausgesetzt. Anstelle der ursprünglich geplanten Verhand-
lungen von SALT III wurden 1982 die Gespräche über START aufgenommen.

START (Abkürzung für englisch Strategic Arms Reduction Talks, dt.: Gespräche über die Redu-
zierung strategischer Waffen): eine Serie von Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR
über die Verringerung ihrer strategischen Kernwaffen. Die Gespräche begannen am 29.6.1982 in
Genf. Am 31.7.1991 wurde in Moskau der START-Vertrag (START-I) unterzeichnet, der u. a. eine
Reduzierung der atomaren Gefechtsköpfe auf eine Obergrenze von jeweils 6000 beinhaltet. Nach
dem Ende der UdSSR bemühten sich der US-amerikanische Präsident Bush und der russische Präsi-
dent Jelzin um eine Fortsetzung der Abrüstungsgespräche. Ein weiterer START-Vertrag (START-
II), der am 23.1.1993 in Moskau von Russland und den USA unterzeichnet wurde, sieht einen Ab-
bau der Gefechtsköpfe auf 3000 (Russland) bzw. 3500 (USA) vor. Im Januar 1993 abgeschlosse-
ner Vertrag zwischen Russland und den USA ergänzt den START-Vertrag vom 31.7.1991. Die
beiden Großmächte verpflichteten sich, bis 1999 ihre Arsenale auf 6000 Sprengköpfe und maximal
1600 Trägersysteme zu reduzieren.
(aus: Informationen zur politischen Bildung, Nr.291/2006)
Weltpolitische Konflikte

Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte sich eine völlig neue internationale Situation
herausgebildet: Der Kalte Krieg war beendet, der Ost-West-Konflikt aufgehoben, die Bipolarität der
Welt aufgelöst. Eine neue Weltordnung des Friedens und der Gerechtigkeit schien möglich.

Die Welt ist jedoch nicht stabiler geworden. Vielmehr sind neue Instabilitäten entstanden
durch weitere Krisenherde, durch die Zunahme von gewaltsamen Auseinandersetzungen, durch
Kriege neuer Art und terroristische Anschläge in neuer Dimension.

 Bereits 1990/91 brach im Nahen Osten der zweite Golfkrieg aus, ihm folgten weitere in fast al-
len Teilen der Welt. 1992 gab es 55 Kriege und Bürgerkriege, 2001 schätzungsweise 155 poli-
tische Konflikte, von denen 38 gewaltsam ausgetragen wurden. 2002 wurden 42 Gewaltkonflik-
te gezählt, die meisten davon in Afrika. Zu den 2003 geführten Kriegen gehörte der Krieg gegen
Irak – sein Ende hat das Konfliktpotenzial nicht veringert.

Die Folgen dieser verstärkt auf Waffen und Gewalt setzenden Konfliktaustragungen sind
gravierend:

1. Acht Mio. Menschen starben in den letzten zwei Jahrzehnten durch bewaffnete Konflikte, in der
Mehrzahl Zivilpersonen. Allein der so genannte Grenzkrieg zwischen Eritrea und Äthiopien
1989 und 2000 forderte bis zu 100 000 Todesopfer.
2. An der Jahrtausendwende befanden sich mehr als 20 Mio. Menschen auf der Flucht. Mindestens
ebenso viele wurden nach Schätzungen des UNHCR innerhalb ihrer Heimatländer aufgrund in-
nerstaatlicher Konflikte bzw. massiver Menschenrechtsverletzungen vertrieben.

Texterläuterung. Der Anteil getöteter Zivilpersonen im Verhältnis zu gefallenen Soldaten ist


zunehmend gewachsen. Außerdem kann beim Einsatz vieler Waffen, z.B. Landminen,
oft nicht mehr zwischen militärischen und zivilen Opfern unterschieden werden.

Ursachen und Hintergründe von Konflikten und Kriegen

Die Ursachen der Gewaltkonflikte und Kriege sind vielschichtig. Sie haben historische Wur-
zeln, liegen in ökonomischen und machtstrukturellen Verhältnissen begründet, sind ethnisch, reli-
giös oder ideologisch geprägt.

Zu wichtigen Ursachen der gegenwärtigen Kriege gehören:

1. der Zerfall von Staaten,


2. die Ethnisierung von Konflikten,
3. die Privatisierung militärischer Gewalt,
4. die Verbreitung des islamischen Fundamentalismus.

Zerfall von Staaten

Die Aufhebung des Ost-West-Konfliktes war mit Zerfall und Umbrüchen in vielen Staaten
Osteuropas, aber auch in Staaten der südlichen Weltregion verbunden.

Umbrüche und der Staatenzerfall in Osteuropa hatten dabei Folgen in zweierlei Hinsicht:
1. Zum einen wurde die stabilisierende Balance zwischen den Machtblöcken, die sich um die USA
und die Sowjetunion gruppierten, aufgehoben. Die USA verblieb als einzige Supermacht und als
einziger Staat mit weltweiter militärischer Präsenz. Das bringen sie zur Geltung, nicht zuletzt in
dem 2003 geführten Hegemonial- und Weltordnungskrieg gegen Irak.
2. Zum anderen führten die Auflösung des Ostblocks und die Umbrüche in osteuropäischen
Staaten zu erheblichen innenpolitischen Destabilisierungen.
Ihr Zerfall war vielfach verursacht durch gewaltsame Ausbrüche jahrzehntelang unter-drückter
ethnischer und religiöser Konflikte. Minderheiten forderten ihr Selbstbestimmungs-recht und
ihren eigenen Staat. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien (1991-1995, 1999) liegen z.B. darin
begründet, der Gewaltkonflikt zwischen Russland und Tschetschenien ebenso.

In einer Reihe von Ländern der Dritten Welt, vor allem auch in Afrika, wurden seit den
1990er-Jahren zahlreiche Macht- und Herrschaftskämpfe ausgetragen. Schwäche, Scheitern und
Zerfall der Staaten waren häufig dabei sowohl Ursache wie auch Folge gewaltsamer Konfliktaustra-
gungen. Die nach Abwahl oder Sturz langjähriger Herrscher agierende neue politische Elite schei-
terte vielfach. Vetternwirtschaft (Nepotismus), Korruption und private Bereicherung an der Macht
traten in Erscheinung. Gewaltanwendung nach innen und Einsatz militärischer Mittel nach außen
waren unmittelbar damit verbunden.

 Der blutige Bürgerkrieg in Somalia begann mit dem Sturz des von außen gestützten Diktators
Muhammad Siad Barre 1991. Es war ein Kampf um die Macht, geführt von zwei Clans, die bis
dahin relativ gleichgewichtig im Land wirkten. Die 2000 errichtete Übergangsregierung wurde
auch von vielen Warlords nicht anerkannt. Alle Einigungsversuche der Konfliktparteien
scheiterten bisher.

Texterläuterungen

a) In einigen Fällen geschah die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts einer Minderheit


friedlich, so z.B. die staatliche Trennung der Slowakei von Tschechien.
b) Die Ursachen der Konflikteskalation in Somalia liegen nicht in einer Ethnisierung. Somalia ist
eines der ethnisch homogensten Länder der Welt. (99 % der Bevölkerung sind Somalis, der Re-
ligion nach Sunniten und sprechen die gleiche Sprache.)

Ethnisierung von Konflikten

Viele Konflikte, die gewaltsam ausgetragen werden, sind Ausdruck aufgebrochener ethni-
scher und religiöser Widersprüche zwischen Staaten, Gruppen oder Volksstämmen.

Sie wurzeln in Traditionen mit zumeist langer Geschichte und bringen häufig verfestigte und
schwer überwindbare Feindbilder hervor. Für diese Ethnisierung von Konflikten gibt es in vielen
Ländern Ansatzpunkte. Fast zwei Drittel der 127 größeren Staaten der Welt beheimaten mindestens
eine politische Minderheit. In etwa 40 % der Staaten leben sogar mehr als fünf größere ethnische
Gruppen, von denen mindestens eine Benachteiligungen und Repressionen ausgesetzt ist.

 Im ethnisch, religiös und sozial sehr heterogenen Inselstaaat Indonesien prägen seit Jahren ge-
waltsam ausgetragene Konflikte und Bürgerkriege die Situation des Landes. In verschiedenen
Regionen kämpfen ethnische Gruppen (Aceh, Osttimor, Molukken, Kalimantan, Irian Jaya,
Nord-Sulawesi) um die Unabhängigkeit von der Zentralregierung.
Texterläuterung. In Indonesien gibt es neben den Javanern (40 % der Bevölkerung) über zehn
ethnische Volksgruppen, die etwa 170 verschiedene Sprachen sprechen.
Privatisierung militärischer Gewalt

In Krisen- und Konfliktregionen der Welt wird Gewalt nicht mehr nur von Staaten und ihren
Institutionen (Armee, Milizen) wahrgenommen, sondern zunehmend auch von nichtstaatlichen Ak-
teuren.

Das sind transnationale terroristische Netzwerke, „Gewalt“-Unternehmer, internationale


Sicherheitsfirmen und Söldneragenturen, die Form und Zweck zeitgenössischer Kriege beeinflussen
und sie aus Eigeninteresse fördern. Diese Akteure verfolgen weniger politische Ziele als vielmehr
ökonomische Interessen.

 In Afghanistan finden trotz UNO-Kontrolle und Stationierung von US- und NATO-Truppen
(seit 2002) bewaffnete Auseinandersetzungen statt. Sie werden von rivalisierenden Warlords
geführt. Private Milizen nehmen an Militäroperationen gegen die Taliban teil.
Die Durchsetzung des Verbots, Opium anzubauen, scheiterte vor allem, an den ökonomischen
Interessen lokaler Warlords, deren militärische Macht vielfach auf der Kontrolle des Drogen-
handels beruht.

Islamischer Fundamentalismus

Gruppen des islamischen Fundamentalismus, die antiwestlich orientiert sind und terroris-
tische Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele betrachten, haben im letzten Jahtrzehnt
deutlich an Einfluss gewonnen.

Gewalt und Terror, Konflikte und Krisensituationen werden seit den 1990er-Jahren verstärkt
mit radikal-fundamentalistischen Bewegungen und Gruppierungen in Verbindung gebracht. Dem
liegt vor allem die in der islamischen Welt stattfindende „Reaktivierung“ ihrer Werte und Traditio-
nen zugrunde, die seit der Machtergreifung des schiitischen Religionsführers Ayatollah Ruhollah
M. Khomeini im Iran (1979) versärkt erfolgte. Der Islam wurde zur Grundlage des politisch-sozia-
len Lebens erklärt.
Der islamischebFundamentalismus wird in starkem Maße durch islamische Bruderschaften
(Ägypten, Sudan) und islamische Parteien, Bewegungen und Gruppen (Algerien, Palästina) getra-
gen, die oftmals auf terroristische Gewalt zur Durchsetzung ihrer Zieele zurückgreifen.

 Die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York 2001, die schweren Anschläge
von Bali (2002) und Jakarta (2003) belegen die Dimension der Gefährdungen, die dem islami-
schen Fundamentalismus innewohnen.

Texterläuterung. Der Fundamentalismus ist ursprünglich im 19. Jahrhundert als Strömung in


protestantischen Kreisen der USA entstanden, existiert in allen Religionen mehr oder
weniger. Allgemein wird er als kompromissloses Festhalten an politischen, weltan-
schaulichen und religiösen Grundsätzen bestimmt.
Islam und Fundamentalismus dürfen nicht gleichgesetzt werden.
(aus: Politik, Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe, 2009)

Entwicklung und Aufhebung des Ost-West-Konflikts

Der Ost- West-Gegensatz prägte das Weltgeschehen im Zeitraum von 1917 bis 1989. Be-
stimmend wurde er in der internationalen Politik im Zuge der Entwicklung des Zweiten Weltkrie-
ges: Die traditionelle europäisch dominierte Staatengesellschaft brach zusammen. Als Haupsieger-
mächte gestalteten die Sowjetunion und die USA zunehmend konfrontativ die Nachkriegsordnung.

Dem Ost-West-Konflikt lag der Interessenkonflikt zwischen zwei entgegengesetzten Syste-


men zugrunde, dem westlichen Kapitalismus mit den USA an der Spitze und dem von der Sowjet-
union geführten östlichen Kommunismus/Sozialismus.

Der Interessenkonflikt mündete in einen machtpolitischen Gegensatz, weil beide Seiten da-
nach strebten, ihre Ordnung universal durchzusetzen. Immer mehr Regionen der Welt gerieten in
den Sog der Ost-West-Spannung. Andere Konflikte, wie der Nord-Süd-Konflikt oder der Nahost-
konflikt spielten unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts eher eine neben- oder untergeord-
nete Rolle.
Der Ost-West-Gegensatz hatte militärische, wirtschaftliche, ideologische und kulturelle Di-
mensionen. Die sich feindlich gegenüberstehenden militärischen Allianzen NATO und Warschauer
Pakt häuften ein gewaltiges Zerstörungspotenzial an. Durch permanentes Wettrüsten, verbunden mit
der Entwicklung der Nukleartechnik, entstand die Gefahr einer globalen Vernichtung.

Texterläuterung: Wegen der Fixierung der Weltpolitik auf zwei dominante Pole wird vielfach auch
von der „Bipolarität“ des internationalen Systems gesprochen.

Entstehung des Ost-West-Konflikts

Die Grundlagen des bipolaren Weltsystems entstanden 1917 mit der Machtübernahme der
Kommunisten in Russland, die 1922 die UdSSR gründeten und ihren Anspruch auf eine „Weltre-
volution“ ideologisch begründeten. Die Vereinigten Staaten verweigerten bis 1933 die Anerken-
nung des neuen Staates. Im Zweiten Weltktieg kämpften ab 1942 die USA und die UdSSR gemein-
sam gegen Deutschland. 1943 befestigte die Konferenz in Teheran die Anti-Hitler-Allianz; die 1945
in Jalta stattgefundene Konferenz entschied über die Zweiteilung Europas und legte die Einfluss-
Sphären der UdSSR und der USA fest.
Die UdSSR etablierte in den von der „Roten Armee“ befreiten osteuropäischen Ländern und
Gebieten prosowjetische, kommunistische Regierungen. Die USA – gestützt auf wirtschaftliche
Überlegenheit und das seit August 1945 errichtete Atomwaffenmonopol – erstrebten ein freies
marktwirtschaftliches Europa unter ihrer Führung. Auf dieser Basis entfaltete sich der Ost-West-
Konflikt in der Nachkriegszeit.
Die Konfrontation gewann gegenüber der Kooperation die Überhand: UdSSR und USA ver-
traten gegensätzliche machtpolitische Interessen, Ziele und Ideologien, die sich auf Sozialismus
bzw. Kapitalismus bezogen.

USA ---- Übergang zur Konfrontation ---- UdSSR


 UdSSR wird Einflussnahme auf die  Sowjetisierung im gesamten Macht-
Westzonen in Deutschland verwehrt: bereich wurde betrieben, schloss Aus-
Stopp der Reparationslieferungen, sschaltung nichtkommunistischer Kräfte
Nichtzulassung zur Ruhrkontrolle (1946) ein (Tschechoslowakei 1948)
 Konzept der Eindämmung sowjetischer  Gründung der Kominform als Instru-
Machtausweitung im Nahen Osten (Iran, ment der Abriegelung und ideologischen
Türkei) Mobilisierung (1947) – führte zum so-
 Truman-Doktrin: ideologische Mobili- wjetisch-jugoslawischen Ideologie-
sierung des Westens gegen kommunis- konflikt (1947-1956)
tische Subversion (1947)  Gründung des Rates für gegenseitige
 Marshall-Plan: finanzielle Hilfe für west- Wirtschaftshilfe (COMECON) in Mos-
liche Besatzungszonen Deutschlands und kau durch die Ostblockstaaten UdSSR,
für europäische Staaten zwecks Wieder- Bulgarien, Ungarn, Rumänien, Tsche-
aufbau der im Krieg zerstörten Wirt- choslowakei (1949)
schaft (1947)  Berlinblockade (24.06.1948- 12.5.49);
 Durchführung der Währungsreform in Sperrung der Zufahrtswege zu den West-
den Westzonen und in den Westsektoren sektoren Berlins als Antwort auf die
von Berlin (1949) Währungsreform

Texterläuterungen

a) Bereits auf der Potsdamer Konferenz im Augus 1945 konnte nicht für alle auf der Tagesordnung
stehenden Probleme (z.B. für die Reparationsfrage) ein Konsens gefunden werden.
b) Kominform: Abk. für Kommunistisches Informationsbüro (Organisation europäischer kommu-
nistischer Parteien)
c) Die Berlinblockade war der erste Höhepunkt des Ost-West-Konflikts.

Kalter Krieg

Die Eigenart des Ost-West-Konflikts bestand von Anfang an darin, dass er trotz beständi-
ger Kriegsdrohung nicht zu einem militärischen Zusammenstoß führte. Das Gleichgewicht der
Kräfte sicherte letztlich den Frieden.

Die Welt zerfiel 1948/49 endgültig in zwei Blöcke, die sich feindlich gegenüberstanden.
Das beinhaltete in den folgenden Jahren auch die jeweilige Einbindung der beiden 1949 gegründe-
ten deutschen Staaten Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Deutsche Demokratische Republik
(DDR).

 Stationen der Westintegration der BRD waren:

1. Vereinbarung der Außenminister der drei Westmächte über die Einbeziehung der BRD in das
westliche Paktsystem (1950),
2. In Kraft-Treten des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952),
3. In Kraft-Treten der Pariser Verträge und des Deutschlandvertrages: Recht auf Aufstellung
eigener Streitkräfte, Aufnahme in die Westeuropäische Union und in die NATO (1955),
4. Unterzeichnung der Vertragswerke über den „Gemeinsamen Markt“ (EWG) und die Europä-
ische Atomgemeinschaft (1957).

 Stationen der Ostintegration der DDR waren:

1. Aufnahme in den 1949 gegründeten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (1950),


2. Teilnahme an der Gründungskonferenz des Warschauer Paktes und Unterzeichnung des
Vertrages über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR (1955),
3. Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und Unterstellung eines großen Teils
ihrer Einheiten unter den Befehl des Vereinigten Oberkommandos des Warschauer Paktes
(1956).

Die Vertiefung der Konfrontation der beiden Blöcke bis in die 1970er-Jahre, die vor allem
auf dem Ausbau des militärischen Drohpotenzials beruhre, schlug sich in einem „Gleichgewicht des
Schreckens“ nieder.
Trotz der darin liegenden Gefahren war es zugleich eine Voraussetzung dafür, dass zuge-
spitzte internationale Situationen und gewaltsame Konflikte in verschiedenen Regionen der Erde
nicht in einen Dritten Weltkrieg umschlugen. Solche Höhepunkte des Kalten Krieges waren nach
der Berlin-Blockade der Korea-Krieg (1950-1953), der Bau der Berliner Mauer (1961), die Kuba-
Krise (1962), der Krieg in Vietnam (1964-1975), der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts
in die Tschechoslowakei (1968).

In den 1970er-Jahren begann eine stärker auf Entspannung ausgerichtete Rhase. Sie enthielt
eine Reihe von Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen und -abkommen zwischen den
USA und der UdSSR (u.a. die SALT-Verträge).
Die multilaterale „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) in
Helsinki kam zustande, wo über eine Verbesserung der Ost-West- Beziehungen im europäischen
Bereich verhandelt und eine gemeinsame Schlussakte verabschiedet wurde. Die Beziehungen der
beiden deutschen Staaten wurden durch ein vielgestaltiges Vertragsnetz untersetzt – so mit dem
1972 geschlossenen Grundlagenvertrag, der wie weitere Ostverträge der BRD auf den Grund-
pfeilern Gewaltverzicht und Unverletzlichkeit der Grenzen beruhte.
Der Rüstungswettlauf wurde mit dem Beschluss der NATO zur Stationierung von Mittel-
streckenraketen in Europa sowie mit dem Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan 1979 erneut
vorangetrieben, der Entspannungsdialog zwischen USA und UdSSR brach wieder zusammen. Un-
geachtet dessen blieb das deutsch-deutsche Verhältnis relativ stabil.

Texterläuterungen

a) Den Begriff Kalter Krieg prägte 1947 der amerikanische Journalist Walter Lippman (1889-
1974).
b) 1952 zündeten die USA, 1955 die Sowjetunion ihre erste Wasserstoffbombe.
c) 1973 wurden beide deutschen Staaten ordentliche Mitglieder der Vereinten Nationen.

Ende des Ost-West-Konflikts

Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa und dem
Auseinanderbrechen der UdSSR (1989-1991) verlor der Ost-West-Konflikt seine politische Grund-
lage.

In den 1980er-Jahren traten in mehreren Ländern des Ostblocks ernste Krisenerscheinungen


zu Tage, die mit Stagnation und Rückgang des Nationaleinkommens verbunden waren und sich in
nationalen und sozialen Konflikten entluden. Die von Gorbatschow in der UdSSR 1987 initiierte
Reformpolitik (Glasnost, Perestroika) sollte den weiteren Bestand der UdSSR als Supermacht si-
chern. Sie vertiefte aber eher den Niedergang.
Mit der Reformpolitik war zugleich ein Wandel der sowjetischen Außen- und Sicherheits-
politik verbunden. Das führte vor allem auch zu neuen Abrüstungsvereinbarungen zwischen den
USA und der UdSSR:

1. 1987 wurde der Vertrag über die Beseitigung aller landgestützten Mittelstreckenwaffen in Euro-
pa (INF) unterzeichnet.
2. 1990 wurde der KSZE-Vertrag über die konventionelle Abrüstung abgeschlossen.
3. 1991 wurde der START-Vertrag unterzeichnet, der erhebliche Rüstungsminderungen beinhal-
tete.

Die Einigung Deutschlands stellte einen wichtigen Faktor bei der Aufhebung des Ost-
West-Gegensatzes dar. Sie wurde bereits am 3. Oktober 1990 auf der Grundlage eines Einigungs-
vertrags, der den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland vorsah, rechtlich vollzogen.
 Unmittelbar nach dem Fall der Mauer in Berlin (9. November 1989) legte Bundeskanzler Kohl
ein Zehn-Punkte-Programm vor, das längerfristig auf eine Wiedervereinigung der beiden deut-
schen Staaten orientierte. Zugleich traten zunehmend mehr DDR-Bürger mit Demonstrationen
und Willensbekundungen für eine rasche Herstellung der Einheit ein.

Seine volle Souveränität (im Sinne einer völkerrechtlichen Identität von Deutschem Reich
und vereinigtem Deutschland) erhielt Deutschland durch den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ vom
12.09.1990. Er wurde zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des
Zweiten Weltkrieges geschlossen und beinhaltet

1. die Anerkennung der Außengrenzen Deutschlands unter Verzicht auf deutsche Gebietsansprü-
che,
2. den Verzicht auf den Besitz von ABC-Waffen sowie
3. eine Begrenzung der Stärke der Streitkräfte auf 370 000 Soldaten.

Struktur und Perspektiven des Nord-Süd-Konflikts

Der Nord-Süd-Gegensatz gehört seit den 1960er-Jahren zu den großen weltpolitischen Kon-
fliktkonstellationen, durch die internationale Politik strukturiert wird. Im Kern handelt es sich um
einen sozioökonomischen, außenwirtschaftlichen und verteilungspolitischen Interessenkonflikt zwi-
schen Entwicklungsländern und Industrieländern. Er widerspiegelt das fundamentale Nord-Süd-
Entwicklungsgefälle in den Bereichen der technologischen Kompetenz, der ökonomischen Produk-
tivität und des materiellen Lebensstandards.

Seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation und dem Wegfall der so genannten „Zweiten
(sozialistischen) Welt“ hat sich der Nord-Süd-Gegensatz noch vertieft. Dabei schlagen sich ver-
stärkt ökologische, bevölkerungs- und sicherheitspolitische Entwicklungen nieder.
Nord-Süd-Konflikt bezeichnet den konflikthaften Gegensatz in der wirtschaftlichen, politi-
schen und sozialen Entwicklung zwischen den Industriestaaten der nördlichen Erdhalbkugel und
den Entwicklungsländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas.

Texterläuterung: Die geographische Bezeichnung Nord-Süd ist ungenau, denn nicht alle Länder
des Südens gehören zu den Entwicklungsländern (z.B. Australien, Neuseeland) und
auch nicht alle Entwicklungsländer liegen auf der Südhalbkugel. Nach dem Zerfall
der Sowjetunion werden die daraus hervorgegangenen Länder Zentralasiens zu den
Entwicklungsländern gerechnet.

Entwicklungsländer und ihre Differenzierungen

Der Kampf gegen den Kolonialismus, der Mitte der 1960er-Jahre weitgehend abgeschlossen
war, führte zur Entstehung neuer Staaten, die als Länder der „Dritten Welt“ bzw. als Entwicklungs-
länder bezeichnet wurden. Ihnen gemeinsam war das Grundanliegen, die Folgen kolonialer Abhän-
gigkeit und Unterentwicklung zu überwinden und die tiefe ökonomische Kluft zu den Industriestaa-
ten zu beseitigen. Innere und äußere Faktoren, besonders die bestehende Weltwirtschaftsordnung,
wirkten dem aber entgegen.

 Anfang der 1970er-Jahre übten die Entwicklungsländer durch Verschärfung einer Ölkrise zum
ersten Mal wirtschaftlichen und politischen Druck auf die Industrieländer aus. Es fanden Aus-
einandersetzungen in verschiedenen Gremien der UNO, insbesondere in der UNCTAD, in der
die Entwicklungsländer über die Stimmenmehrheit verfügen, statt. Die UN-Vollversammlung
verabschiedete 1974 eine Erklärung und ein Aktionsprogramm zur Errichtung einer neuen Welt-
wirtschaftsordnung (NWWO) sowie die Charta über die wirtschaftlichen Rechte der Staaten.
Dennoch konnten weder dadurch noch durch die 1977 gebildete Nord-Süd-Kommission oder
weitere Initiativen die gravierenden Entwicklungsunterschiede zwischen den Ländern des Sü-
dens und des Nordens abgebaut werden.

Die Gruppe der Entwicklungsländer weist gemeinsame Merkmale, aber auch größer wer-
dende Unterschiede auf.

Texterläuterungen

a) „Dritte Welt“ ist ein Begriff, der aus der Zeit des Ost-West-Konflikts stammt. „Erste Welt“
meinte die kapitalistischen Industriestaaten, „Zweite Welt“ die sozialistischen Staaten.
b) UNCTAD: Abk. für United Nations Conference on Trade and Development = UN-Konferenz
für Handel und Entwicklung; sie wurde 1964 gegründet – ausgelöst durch die in der Gruppe
der 77 zusammengeschlossenen Entwicklungsländer.

Gemeinsame Merkmale der Entwicklungsländer

ökonomisch sozial soziokulturell/politisch ökologisch


 geringes  sehr hohes  instabile politische  armutsbedingter
durchschnittliches Bevölkerungs- Ordnungen ökologischer
Pro-Kopf-einkom- wachstum  Herrschaft einfluss- Raubbau (z.B.
men  starke Wanderungs- reicher Gruppen, durch Rodungen,
 extrem ungleiche bewegungen in Familien, Sippen Überweidung, Ge-
Einkommensver- Ballungsräume  geringe soziale Mobi- wässerver-
teilung  hohe Analphabe- lität (traditionelle schmutzung
 unzureichende tenrate, niedriger Wert- und Verhal-  Zerstörung anfäl-
Infrastruktur Bildungsstand tensmuster) liger Ökosysteme
 Erwerbstätigkeit  hohe Arbeitslosig-  unzureichender  geringe ökolo-
und Produktion in keit Schutz der Menschen- gische Auflagen
traditionellen Sek-  Hunger und Unter- rechte und Schutzmaß-
toren ernährung  ethnische Gegensätze nahmen
 niedrige Produkti-  schlechte medizi-  häufig gewaltsame
vität nische Versorgung Konfliktaustragung
 hohe Auslands-  relativ geringe
verschuldung Lebenserwartung

Die allgemeinen Merkmale sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeprägt. Be-
sonders im letzten Jahrzehnt haben sich Unterschiede zwischen den Entwicklungsländern verstärkt.
Sie werden deshalb untergliedert in die wenig entwickelten Länder und die Schwellenländer.
Die wenig entwickelten Länder – die Less Developed Countries (LDC) - sind Länder mit
einem niedrigen Pro-Kopf-Einkommen (unter 745 US-Dollar), mit geringer Entwicklung des
menschlichen Kapitals (Lebenserwartung, Gesundheit, Ernährung, Bildung, Alphabetisierungs-
grad) und Strukturschwächen der Wirtschaft (Anteile der Industrie am Bruttoinlandsprodukt,
Beschäftigtenzahl in der Industrie, Stromverbrauch pro Kopf, Ausrichtung der Exporte).
Die LDC-Gruppe umfasst große wie kleine Länder, rohstoffreiche und rohstoffarme. Sie
sind durch ethnische und kulturelle Unterschiede gekennzeichnet und weisen teilweise erhebliche
wirtschaftliche und soziale Differenzierungen auf, z.B. ungleiche Entwicklungen zwischen städti-
schen und ländlichen Räumen, Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen Männern und
Frauen.
In diese Gruppe gehören auch die 49 am wenigsten entwickelten Länder – die Least Deve-
lopend Countries (LLDC).

 Die Bildung der Gruppe der LLDC-Länder geht auf einen Beschluss der Vollversammlung der
Vereinten Nationen von 1971 zurück. Sie nehmen in der entwicklungspolitischen Arbeit der
UN einen besonderen Stellenwert ein. Seit 1991 wird für die Einstufung der Länder ein Katalog
von verschiedenen Kriterien verwendet, um die Strukturelemente der Armut möglichst genau
zu erfassen.

Die Gruppe der Schwellenländer – die Newly Industrializing Countries (NIC) – umfasst die
Länder, die sich auf dem Weg zur Industrialisierung befinden. Grundlage dafür sind die staatliche
Förderung gewerblichen Unternehmertums, verstärkter Export von Fertigwaren in Industrieländer
und Ausbau eines leistungsfähigen Dienstleistungssektors. Es sind Länder mit ungleicher Entwick-
lung: Zum einen gibt es neben Zentren und Regionen mit hoher Produktivität auch rückständige
Gebiete, zum anderen sind die Länder nur mit einzelnen Produkten oder Branchen auf den interna-
tionalen Märkten konkurrenzfähig.

Texterläuterungen

a) Die Weltbank gruppiert alle Länder der Erde nach dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Die
Vereinten Nationen errechnen seit 1990 den Human Development Index (HDI) nach den
Indikatoren Pro-Kopf-Kaufkraft, Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate. Es ist nicht nur
die Wirtschaftskraft eines Landes, sondern auch ihre Umsetzung in soziale Entwicklungen
ausschlaggebend.
b) Die am wenigsten entwickelten Länder werden zudem als „Vierte Welt“ bezeichnet, davon
befinden sich 34 in Afrika, südlich der Sahara.
c) Zu den Schwellenländern gehören u.a. Brasilien, Mexiko, Indien, Südkorea, Malaysia, Indone-
sien.
Friedensgefährdung durch Destabilisierung

Im Gegensatz zum Ost-West-Konflikt, in dem sich hochgerüstete Militärblöcke mit unge-


heurem Vernichtungspotenzial gegenüberstanden, sind die aus dem Nord-Süd-Konflikt erwach-
senden Gefahren anderer Art. Sie sind nicht in einem globalen militärischen Zusammenstoß oder in
einem weltrevolutionären Flächenbrand zu sehen. Die „Staaten des Südens“ sind auch keine gefügte
Allianz, die ihre Interessen mit koordiniertem politischen Druck verfolgt.

Die vom Nord-Südgefälle ausgehende Friedensgefährdung besteht im Konfliktpotenzial von


Hunger, Klassenkämpfen, Staatskrisen, Massenfluchtbewegungen, neuen Sicherheitsproblemen und
armutsbedinger Umweltzerstörung.

Wohlstand und Ordnung in den Industriestaaten sind also weniger durch mögliche Kriege
mit armen Ländern als vielmehr durch politische, soziale, ökonomische und ökologische Destabi-
lisierung bedroht.
Dabei sind im letzten Jahrzehnt neue Risiken und Gefahren hinzugekommen, die im
Wechselverhältnis von Wohlstand und Massenkonsum im Norden sowie Armut und Massenelend
im Süden begründet liegen. Das betrifft

- die latente Zerstörung regionaler und globaler Ökosysteme,


- die wachsenden internationalen Migrationsbewegungen und
- die Proliferation von Massenvernichtungswaffen.

Bei der Umweltzerstörung in vielen Regionen der Dritten Welt handelt es sich sowohl um
armutsbedingte Umweltzerstörung (beispielsweise Erosionsschäden infolge von Holzeinschlag zur
Brennstoffgewinnung) als auch um Schäden, an deren Entstehung die Industrieländer häufig selbst
beteiligt sind (als Kapitalgeber, Konsumenten von im Raubbau gewonnenen Produkten, Lieferanten
von Giftmüll usw.). Die Weltmarkteinbindung der Entwicklungsländer und der verschuldungsbe-
dingte Zwang zur Steigerung der Exporterlöse verstärken noch den Raubbau natürlicher Ressour-
cen.
Zudem betrachten die „Länder des Südens“ die von den Industrieländern betriebene Durch-
setzung internationaler Umweltstandards als Einschränkung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten (z.B.
FCKW-Produktion). Da die Industrieländer die Hauptverantwortung für die Bedrohung globaler
Ökosysteme tragen, fordern sie von ihnen umfassende finanzielle und technologische Unterstützung
bei der Umsetzung entsprechender Maßnahmen.

Migrations- und Flüchtlingsbewegungen haben vor allem in den Regionen der „Dritten
Welt“ stark zugenommen. Zwar bewegen sich über 90 % der Flüchtlingsströme innerhalb dieser
Regionen, aber der Migrationsdruck auf die Industrieländer hat deutlich zugenommen – sowohl aus
den Entwicklungsländern des Südens wie auch aus den Transformationsländern des Ostens.
Die Bekämpfung der Migrations- und Fluchtursachen in den Ursprungsländern und –regio-
nen wird damit immer mehr zu einem eigenen Interessenfeld der entwickelten Länder. Abschot-
tungs- und Abwehrmaßnahmen, wie sie z.B. die USA gegen Wirtschaftsflüchtlinge aus Mexiko
verhängt haben, werden eher zur Zuspitzung des Problems führen.
Aus dem Nord-Süd-Gegensatz erwächst die Gefahr eines globalen Sicherheitsproblems.
Es äußert sich in der Zunahme von Angst und Bedrohung durch terroristische Anschläge, in der
Forcierung militärischer Rüstung in Ländern der „Dritten Welt“ und in der akuten Gefahr der wei-
teren Verbreitung atomarer, chemischer und biologischer Massenvernichtungswaffen sowie moder-
ner Trägersysteme in diesen Ländern. Im Schatten des Ost-West-Konflikts sind eine Reihe von
Entwicklungsländern zu wichtigen Militärmächten herangewachsen, wie z.B. Indien oder Pakistan.
Die von den Industrieländern vorgelegten Initiativen für Rüstungsabbau und Rüstungskontrolle
kollidieren zunehmend mit den Souveränitäts- und Machtansprüchen dieser Länder.
Andererseits kommen Waffenexporte und Technologietransfer in erheblichem Umfang aus
den Industrieländern selbst. Mit der Auflösung der Sowjetunion hat sich das Problem der Kontrolle
von Exporten und Technologietransfers vor allem in Bezug auf Nuklearwaffen noch weiter ver-
schärft.

Texterläuterungen

a) Proliferation, engl. = Bezeichnung für Weitergabe von kerntechnischem Material und kern-
technischem Verfahren an Länder, die sich nicht internationalen Kontrollen über deren Ver-
wendung unterwerfen.
b) An der Jahrtausendwende befanden sich mehr als 20 Mio. Menschen auf der Flucht.
c) Die Nuklearrüstung Indiens, Pakistans, Nordkoreas, Irans und Israels befindet sich außerhalb
der Kontrolle des Atomwaffensperrvertrages.
d) Rüstungsexporte bergen vor allem die Gefahr, regionale Konflikte innerhalb der „Dritten Welt“
zu verstärken.

(aus: Politik, Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe, 2009)


Konfliktherd Nahost

Der Nahe Osten ist seit vielen Jahrzehnten eine der konfliktreichsten Regionen der Welt.
Die zahlreichen Krisen und Kriege beeinträchtigen sowohl die regionale Entwicklung wie auch die
internationale Sicherheit erheblich.

Es gibt besondere Faktoren im Nahen Osten, die Konflikte begünstigen:

- Über 60 % der Erdölreserven der Welt lagern in dieser Region. Das hat wesentlich zur Ent-
stehung von Konfliktzonen entlang der Seetransportwege Persischer Golf, Suezkanal, Horn von
Afrika geführt. Außerdem ist ein extremes Wohlstandsgefälle zwischen den Staaten mit und
ohne Ölvorkommen entstanden.
- Es hat sich eine sehr unterschiedliche ideologische und politische Entwicklung der Staaten voll-
zogen. In einigen Staaten fanden Revolutionen gegen westliche Abhängigkeit (Ölgesellschaften,
Militärbasen) statt, so in Syrien, Irak. In anderen Staaten wurden die Monarchien mit wohl-
fahrtsstaatlichen Orientierungen gefestigt, so in Kuwait, Saudi-Arabien oder in den Vereinigten
Arabischen Emiraten.
- Unklare, teilweise willkürliche Grenzziehungen zwischen den Staaten durch die ehemaligen
Kolonialmächte sind bis in die Gegenwart Ursache von Konflikten verschiedener Ausmaße.
- Wasserknappheit und der Streit um die Nutzung der Flüsse sind ein Konfliktfeld, in dem die
Türkei eine Schlüsselrolle einnimmt.

Texterläuterungen

a) Der Nahe Osten umfasst die arabischen Staaten des Maschrik (Syrien, Libanon, Jordanien,
Irak, besetzte palästinensische Gebiete), der Arabischen Halbinsel (Saudi-Arabien, Kuwait,
Katar, Bahrein, Vereinigte Arabische Emirate, Oman, Jemen), Ägypten sowie Israel und die
Türkei als nichtarabischen Staat.
b) In der Türkei entspringen die wichtigsten Flüsse der Region.

Hauptkonflikt

Der arabisch-israelische Konflikt ist der Hauptkonflikt (Nahostkonflikt). Er beinhaltet ter-


ritoriale, politische, sozioökonomische und kulturell-religiöse Streitpunkte. Im Kern stehen sich
Israel und die Palästinenser gegenüber.

Nach der 1948 erfolgten Gründung des Staates Israel als einziger Staat auf dem Territorium
des ehemaligen britischen Mandatsgebiets wurde die Stellung zu Israel Dreh- und Angelpunkt
arabischer Politik. Es war ein ausdrückliches Ziel der 1945 gegründeten Arabischen Liga, die Unab-
hängigkeit Palästinas zu vertreten. Die Bildung des selbstständigen Staates Israel konnte sie jedoch
nicht verhindern.
1948 wurde der erste arabisch-israelische Krieg geführt. Ihm folgten eine Reihe weiterer
Kriege, von denen mehrere um Palästina geführt wurden. An diesen Kriegen waren auch die Nach-
barstaaten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien, Irak und Saudi-Arabien beteiligt. Sie unterstützten
dabei weitgehend die Palästinenser, verfolgten aber gleichzeitig eigene Machtinteressen.

Bewaffnete Auseinandersetzungen im Nahen Osten


1948 Unabhängigkeitskrieg Israels
1956 Eingreifen Israels in die Suezkrise – mit England und Frankreich gegen
Ägypten
1967 Sechs-Tage-Krieg Israels gegen Ägypten und Syrien
1973 Jom-Kippur-Krieg Ägyptens und Syriens gegen Israel
1978 Eroberung des Südlibanons durch israelische Truppen
1980-1988 irakisch-iranischer Krieg
1982 Invasion Israels in Libanon
1987-1990 erste Intifada („Krieg der Steine“ gegen israelische Besatzung)
1990-1991 Besetzung und Annexion Kuwaits durch den Irak, Golfkrieg zur Befreiung
Kuwaits
1994 Bürgerkrieg im Jemen
2000 Beginn der zweiten Intifada
2003 amerikanisch-britischer Krieg gegen den Irak

Israel besetzte zeitweilig größere Gebiete, dem sich auch die UNO und die Supermächte
UdSSR und USA entgegenstellten. Dennoch festigte Israel seine Macht im Nahen Osten und erwei-
terte sein Territorium.
1964 wurde die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO gegründet, zunächst inner-
halb des Staates Israel, seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 auch für die israelisch besetzten Gebiete.

 „Die Befreiung Palästinas ist vom arabischen Standpunkt aus nationale Pflicht. Ihr Ziel ist es,
der zionistischen und imperialistischen Aggression gegen die arabische Heimat zu begegnen
und den Zionismus in Palästina auszutilgen.“
(Palästinensische Nationalcharta vom 17. Juli 1968)

Die PLO wurde 1974 von allen arabischen Staaten als einzige rechtmäßige Vertreterin des
palästinensischen Volkes anerkannt und zur UNO zugelassen.
1993 unterzeichneten Israel und die PLO nach ihrer gegenseitigen Anerkennung in Wa-
shington das Gaza-Jericho-Abkommen, einen Rahmenplan zur langfristigen Verwirklichung des
Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser.

Texterläuterungen

a) Die Gründung des Staates Israel entsprach einem Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen.
Ein palästinensischer Staat wurde jedoch nicht gegründet.
b) Der Arabischen Liga, die ihren Sitz in Kairo hat, gehören 21 Mitgliedstaaten und die PLO als
Vollmitglied an. Die Liga dient vor allem der Streitschlichtung zwischen den Mitgliedern sowie
der Wahrung ihrer Souveränität und der arabischen Außeninteressen.
c) Seit 1967 (Sechs-Tage-Krieg) hält Israel die Westbank, Ostjerusalem, den Gazastreifen und die
Golanhöhen besetzt und erweiterte sein Territorium erheblich. Die ebenfalls eroberte Sinai-
Halbinsel wurde 1982 an Ägypten zurückgegeben.
d) Zionismus: 1893 geprägte Bezeichnung für die Bewegung zur Errichtung eines jüdischen Staa-
tes in Palästina. Theodor Herzl (1860-1904) gab dieser Idee auf dem I. Zionistischen Weltkon-
gress 1887 eine feste Form. Es begann eine forcierte Einwanderung der in aller Welt
zerstreuten und verfolgten, Pogromen ausgesetzten Juden. Der Holocaust hatte diese Situation
noch zugespitzt.

Konfliktregelung

Es gab bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Initiativen zur Beilegung des Konflikts. Ver-
schiedene Akteure auf regionaler und internationaler Ebene vertraten dabei aber oft diametrale An-
sichten, weshalb eine umfassende Lösung bisher nicht möglich wurde.
So verliefen auch die wenigen Aktivitäten der Anrainerstaaten ergebnislos, weil sie durch
gegensätzliche Positionen blockiert wurden. Das erschwerte auch ein erfolgreiches Wirken der
Arabischen Liga.

Die Vereinten Nationen nahmen wiederholt zu den Konflikten im Nahen Osten Stellung
und verabschiedeten eine Reihe wichtiger Resolutionen.

 Die Resolution S 242/1967 zu Palästina, die eine der wichtigsten ist, forderte den „Rückzug der
israelischen Streitkräfte aus den ... besetzten Gebieten, die Respektierung und Anerkennung der
Souveränität, der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit jedes Staates der
Region und dessen Recht, innerhalb sicherer anerkannter Grenzen frei von Androhungen oder
Akten der Gewalt in Frieden zu leben“.

Aber erst nach dem Ende des Kalten Krieges und des 2. Golfkrieges wurde die Aufnahme
von Friedensverhandlungen möglich. Das Abkommen von Oslo 1993 galt zunächst als Durchbruch
im Nahostfriedensprozess. Es setzte jedoch nur einen normativen Rahmen und griff solche ansteh-
enden Entscheidungsfragen wie Staatsbildung, israelische Siedlungen, Sicherung der Rückkehr
palästinensischer Flüchtlinge nicht auf.

 Das Oslo-Abkommen zwischen Israel und den Palästinensern enthielt vor allem Sicherheits-
regelungen, die Orientierung auf einen Teilrückzug der israelischen Truppen und Rechtsfragen
zu den wirtschaftlichen Beziehungen. Mitte der 1990er-Jahre wurde im Rahmen des Oslo-Ab-
kommens eine Teilautonomie für palästinensische Gebiete festgeschriben, die den Abzug des
israelischen Militärs aus palästinensischen Städten vorsah.

Eine neue Initiative ist die so genannte Roadmap des Quartetts UNO, Europäische Union,
USA und Russland vom Mai 2003, die einen Friedensfahrplan für den Nahen Osten darstellt.

 Danach soll bis 2005 ein demokratischer Staat entstehen, Israel soll sich auf ein Gebiet in den
Grenzen von 1967 zurückziehen. Siedlungsstopp, eine gerechte Lösung der Flüchtlingsfrage
sowie Friedensverhandlungen mit Syrien und Libanon sind vorgesehen. Voraussetzungen sind
die Einhaltung des Waffenstillstands, die Beendigung des Terrors und der generelle Verzicht
auf Gewaltanwendung.

Texterläuterungen

a) Für die Mitglieder der Arabischen Liga ist ein Beschluss nur dann bindend, wenn sie ihm zu-
gestimmt haben.
b) Neben dem arabisch-israelischen Hauptkonflikt bestehen im Nahen Osten weitere Spannungs-
herde mit hohem Konfliktpotenzial, so am Persischen Golf (Irak, Iran, Kuwait) und im Jemen.
Auch das länderübergreifende Kurdenproblem ist ein immer wieder aufbrechendes Konfliktfeld.
Die UNO hat zu mehreren Konflikten Stellung genommen, z.B. mit der Resolution 678/1990 zum
2. Golfkrieg: Der Irak wurde ultimativ aufgefordert, das besetzte Kuwait zu räumen. Die
irakischen Truppen wurden dann unter Billigung der UNO durch Koalitionstruppen unter ame-
rikanischer Führung zurückgedrängt.

Konfliktlagen

Die wichtigsten Probleme, die einer Regelung bedürfen, betreffen die Errichtung eines
palästinensischen Staates, die Gestaltung der Siedlungs- und Flüchtlingspolitik sowie die Rolle
Jerusalems als Hauptstadt.
Staat Die Grenzen eines palästinensischen Staates waren bisher nicht eindeutig de-
finiert. (Möglich wäre die Staatsbildung auf der Westbank und im Gazastrei-
fen. Die getrennten Gebiete könnten durch einen Korridor verbunden sein.)
Siedlungen Seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 betreibt Israel eine gezielte Siedlungspolitik,
die Ende der 1990er-Jahre noch verstärkt wurde. Etwa 400 000 israelische
Siedler auf der Westbank, im Gazastreifen und im nahezu geschlossenen Sied-
lungsring um Jerusalem erschweren die Staatsbildung Palästinas erheblich.
Eine Auflösung der Siedlungen wäre jedoch außerordentlich kompliziert.
Flüchtlinge Mit 5,3 Mio. Flüchtlingen bilden die Palästinenser die größte Flüchtlingsgrup-
pe der Welt. Sie geht vor allem auf 1947/48 und 1967 zurück. Die palästinen-
sische Seite drängt auf ein Rückkehrrecht. Eine unkontrollierte Rückkehr der
palästinensischen Flüchtlinge würde den jüdischen Charkter des Staates Israel
infrage stellen.
Jerusalem Mit der Klagemauer, dem Felsendom, der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempel-
berg und der Grabeskirche ist Jerusalem das Zentrum der Heiligtümer von drei
Weltreligionen: Judentum, Islam und Christentum. Israel hat Jerusalem zur
ewigen, ungeteilten Hauptstadt erklärt, Palästina beansprucht Ostjerusalem als
Hauptstadt eines künftigen palästinensischen Staates

Die Regelung dieser Konfliktfelder wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem dauer-
haften Frieden im Nahen Osten.
(aus: Politik, Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe, 2009)
Krieg und Friedlosigleit: Warum gibt es Kriege? –
Vier Beispiele
Unsere Weltkarte zeigt einige Staaten, in denen es in den Jahren 1973 bis 1976 zu Unruhen,
Krisen und Gewalttaten kam. Die folgenden Texte beschreiben vier Beispiele gewaltsamer Konflik-
te. Untersuchen Sie sie, indem Sie jeweils fragen:

- Welche Gegner waren oder sind beteiligt?


- Aus welchen Ländern kommen sie? Was wollen sie erreichen?
- Welche Ursachen können Sie ermitteln? Was müßte man darüber hinaus noch erfahren, um
genaueres über die Ursachen aussagen zu können?

Vietnam: gegensätzliche Gesellschaftsordnungen

In der französischen Kolonie Indochina gelang es der vietnamesischen Volksbefreiungs-


armee von 1946 bis 1954, die Kolonialmacht Frankreich zu besiegen. Auf einer Konferenz in Genf
1954 wurde Vietnam in zwei Staaten geteilt. Die Volksrepublik Nordvietnam (Hanoi) errichtete
unter der Führung der kommunistischen Partei eine kommunistische Gesellschaftsordnung. Sie
wurde dabei von der Volksrepublik China und der Sowjetunion durch Waffenlieferungen unter-
stützt. Dagegen begab sich die Regierung der Republik Südvietnam (Saigon) immer stärker unter
den Einfluß der USA. Nachdem sich der südvietnamesische Diktator Diem 1956 geweigert hatte,
allgemeinen Wahlen in ganz Vietnam zuzustimmen, um anschließend eine Regierung für ein wie-
dervereinigtes Vietnam zu bilden (wie es in Genf 1954 vereinbart worden war), kam es zu Kämpfen
mit den Truppen der kommunistischen Befreiungsfront (Vietcong). Zuerst schickten die Amerika-
ner nur einige Militärberater nach Südvietnam, im Jahre 1969 kämpften dort jedoch - neben der
südvietnamesischen Armee - nahezu 550 000 amerikanische Soldaten. Die USA begründeten diese
Beteiligung mit dem Argument, Südvietnam und auch die übrigen Staaten Indochinas vor dem
Kommunismus bewahren zu müssen. Die Großmacht Amerika konnte jedoch diesen Krieg nicht
gewinnen. Zu den militärischen Schwierigkeiten kam die Kritik zahlreicher Menschen, sowohl aus
Amerika selbst als auch aus anderen Staaten. Sie fragten danach, welchen Sinn es haben könne, eine
kommunistische Machtübernahme zu verhindern - um den Preis der Vernichtung von Millionen
Menschen und der Zerstörung eines ganzen Landes.

Nordirland: Bürgerkrieg

Irland wurde im Mittelalter englisches Lehensland. Seit dem 17. Jahrhundert enteigneten die
englischen Könige zahlreiche katholische irische Bauern und gaben deren Land an protestantische
englische Grundbesitzer. Besonders betroffen davon war der Norden der irischen Insel. Hier wurde
der größte Teil der irischen Bevölkerung vertrieben. Zu dem konfessionellen Gegensatz kam somit
in Nordirland noch ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Streit: Die reichen protestantischen
Grundbesitzer verdrängten die katholischen irischen Bauern von ihrem Besitz.
In einem Bürgerkrieg kämpften die Katholiken Irlands 1919 bis 1921 gegen die britische
Herrschaft. Die Regierung entschloß sich, Irland zu teilen. Der größere Teil Irlands wurde selb-
ständig, nur Nordirland, wo inzwischen mehr Protestanten als Katholiken lebten, blieb beim briti-
schen Königreich. Seither kämpfen Gruppen der katholischen Bevölkerung Nordirlands für eine
Gleichberechtigung mit den Protestanten. Einige von ihnen, so die geheime Irisch-Republikanische
Armee (IRA), wollen die Loslösung vom britischen Königreich und die Vereinigung mit der südli-
chen katholischen Republik Irland (Hauptstadt Dublin). Die protestantische Bevölkerung Nordir-
lands fürchtet aber ihrerseits, bei einer Vereinigung mit der Republik Irland von den Katholiken
benachteiligt zu werden.
Zypern: nationale Gegensätze

Die Bevölkerung der Mittelmeerinsel Zypern besteht zu 82 % aus Griechen und zu 18 % aus
Türken. Zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen kam es schon öfters zu gewalttätigen Aus-
einandersetzungen. Teile der griechischen Bevölkerung verlangen den Anschluß der selbständigen
Insel an Griechenland. Dies lehnen die Türken ab. In einem Abkommen einigten sich 1960 Grie-
chenland, die Türkei und die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien über die Rechte der einzel-
nen Bevölkerungsgruppen und bestimmten die Gebiete, in denen sie – voneinander getrennt – le-
ben sollten.
Die Lage spitzte sich am 15. Juli 1974 erneut zu. Griechische Offiziere der Nationalgarde
(Armee) setzten den Präsidenten Makarios ab. Ihr Ziel war es, Zypern an Griechenland anzuschlie-
ßen. Makarios floh ins Ausland.
„Am 20. Juli landeten türkische Truppen bei Kyrenia und nahmen in wiederholten Vorstö-
ßen, während diplomatische Bemühungen um die Entschärfung des Konflikts scheiterten, den gan-
zen Nordteil Zyperns in Besitz. Von den 516 000 Inselgriechen (82 Prozent der
Gesamtbevölkerung) sind 172 000 (ein Drittel) vertrieben oder geflüchtet ... Die Nato-Partner
Griechenland und die Türkei gerieten über die Zypernkrise fast in kriegerische Auseinandersetzun-
gen. Griechenland verließ aus Protest über das Vorgehen seines Bündnispartners die
Militärorganisation der NATO..."
Am 13. Februar 1975 trennte sich die türkische Bevölkerungsgruppe von der Republik Zy-
pern und rief für das von türkischen Soldaten besetzte Gebiet einen eigenen Staat aus.

Krieg im Nahen Osten: Der Staat Israel und die arabischen Staaten

Der Staat Israel wurde 1948 gegründet. Die arabische Bevölkerung dieses Gebietes (Palä-
stinenser) und die arabischen Nachbarstaaten bekämpften ihn von Anfang an. Viele Palästinenser
flohen in die Gebiete der anliegenden arabischen Staaten. Dort leben sie heute noch zu Tausenden
in großen Flüchtlingslagern.
„Am 6. Oktober (1973), am jüdischen Versöhnungstag, brach der vierte Nahostkrieg mit
einem arabischen Überraschungsangriff an zwei Fronten aus. Insbesondere die ägyptischen An-
fangserfolge am Suezkanal und im Sinai zerstörten" Israels Ruf, unbesiegbar zu sein. „In verlust-
reichen Materialschlachten ... konnte Israel sich schließlich aus der Defensive befreien. Zuerst
suchten die Israelis auf den Golanhöhen die Entscheidung gegen Syrien. Doch blieb ihr Vormarsch
auf Damaskus stecken. Auch Marokkaner, Iraker und Jordanier kämpften hier. Erfolgreicher war
Israels Umfassungsmanöver am Suezkanal. Mitten im Vormarsch brachte der Sicherheitsrat (der
Vereinten Nationen) durch gemeinsame Initiative der beiden Supermächte (USA und UdSSR) einen
Waffenstillstand zuwege ... Am 21. Dezember (1973) begann in Genf eine Nahost-Friedenskonfe-
renz, nachdem Israel und Ägypten schon vorher direkt miteinander verhandelt hatten."
In den Verhandlungen seither besteht Israel auf sicheren Grenzen, die von den arabischen
Staaten anerkannt werden sollen. Die Araber, vor allem die Sprecher der Flüchtlinge, verlangen den
Rückzug der Israelis aus den besetzten Gebieten und die Gründung eines eigenen palästinensischen
Staates.

Aufgaben

1. Wodurch unterscheiden sich die vier Beispiele? Berücksichtigen Sie dabei: die Zahl der Gegner
– gesellschaftliche Unterschiede zwischen den gegnerischen Gruppen - Ort des gewaltsamen
Konflikts – politische und gesellschaftliche Entwicklung vor dem Ausbruch des Konflikts –
Ziele der Gegner.
2. Hier können Sie nun unabhängig von diesem Text weiterarbeiten. Versuchen Sie, mit Hilfe von
aktuellen Informationen aus Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehnachrichten und Büchern die
gegenwärtige Lage in diesen Gebieten zu beschreiben. Wurden die Konflikte in der
Zwischenzeit gelöst? Bestehen nach wie vor Spannungen?

Krieg, Konflikt, Konfliktlösung

Von Krieg als Mittel für politische Ziele, von Kriegspoltik wie auch von Friedenspolitik wird
seit der Entstehung von Staaten gesprochen.

Kriege werden zwischen Staaten bzw. Staatenbündnissen (Staatenkrieg) oder innerhalb von
Staaten zwischen verfeindeten sozialen, politischen, religiösen oder ethnischen Gruppen (Bürger-
krieg) geführt.
Je nach Rechtsstatus, sozialer Basis, auslösendem Konfliktgegenstand, Mitteln oder Ausmaß
werden verschiedene Kriegstypen unterschieden:

nach dem Rechtsstatus der zwischenstaatlicher, nationaler, antikolonialer, Befreiungs-,


Kriegsparteien binnenstaatlicher, Antiregime-, Sezessionskrieg
nach der vorherrschenden Bauernkrieg, Bürgerkrieg, Volkskrieg
sozialen Basis
nach dem kriegsauslösenden Herrschafts,- Ressourcen, Gesinnungskrieg
Konfliktgegenstand
nach dem Kriegsausmaß totaler Krieg, begrenzter Krieg (begrenzt nach Region, Mit-
tel, Ziel, Betroffenheit der Bevölkerung)
nach den Mitteln psychologischer bzw. kalter Krieg, konventioneller Krieg,
nuklear-taktischer Krieg, nuklear-strategischer Krieg

Texterläuterung: Staaten stellen Heere und Kriegsflotten auf mit Soldaten – früher auch mit
Söldnern – unter dem Befehl von Anführern, Offizieren, Feldherren. Disziplin,
Bewaffnung und das Vorhandensein von Taktik und Strategie gehören zum Krieg-
führen.

Definitionen von Krieg

Krieg als gesellschaftliche Erscheinung wird unter verschiedenen Gesichtspunkten – quali-


tativen und quantitativen – bestimmt.

Krieg ist ein organisierter, mit Waffengewalt ausgetragener Machtkonflikt zwischen Völ-
kerrechtsubjekten (Staaten, Bündnissen) oder zwischen Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Staa-
tes zur gewaltsamen Durchsetzung politischer, wirtschaftlicher, ideologischer oder militärischer
Interessen (qualitative Definition).

Unter quantitativer Sicht ist Krieg ein gewaltsamer Massenkonflikt mit den Merkmalen:

- zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte sind beteiligt, mindestens auf einer Seite stehen reguläre
Streitkräfte einer Regierung;
- auf beiden Seiten ist ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Kriegführenden
und des Kampfes gegeben;
- bewaffnete Operationen finden mit gewisser Kontinuität und nach einer planmäßigen Strategie
auf beiden Seiten statt.

Ein bewaffneter Konflikt unterscheidet sich von einem Krieg dadurch, dass er diese Krite-
rien nicht in vollem Umfang erfüllt.
Die klassische politische Kriegsdefinition, die zumeist herangezogen wird, stammt von Carl
von Clausewitz.

 „Der Krieg ist ... ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu
zwingen ... Der Krieg geht immer von einem politischen Zustande aus und wird nur durch ein
politisches Motiv hervorgerufen. Er ist also ein politischer Akt ...
Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“

Texterläuterungen

a) Die quantitative Definition des Krieges geht auf die Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegs-
ursachenforschung (AKUF) zurück.
b) Carl von Clausewitz (1780-1831) war preußischer General, Militärreformer und Begründer der
modernen Kriegstheorie; in seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ entwickelte er die Definition des
Krieges. In der Gegenwart wird vielfach die Ansicht vertreten, dass Krieg nicht mehr die
Fortsetzung, sondern das Ende der Politik ist.

Kriegsursachen

Allgemeine Kriegsursachen sind Interessengegensätze, unvereinbare Ansprüche und


Machtkonkurrenz zwischen Staaten oder gesellschaftlichen Gruppen.

Dabei geht es um Machtvergrößerung durch Gewinn von ökonomischen Ressourcen, Terri-


torien und Bevölkerungen (z.B. Anschluss von Minderheiten jenseits der Grenzen) und/oder um den
Anspruch, Vormacht (Hegemonialmacht) in einer Region zu sein. Auch die Ablenkung von inneren
Spannungen durch außenpolitische Abenteuer kann eine Kriegsursache sein.
Spezifische Kriegsursache ist die politische Entscheidung, solche Konflikte nicht friedlich
zu lösen, sondern durch bewaffnete Gewalt zu entscheiden. Die eigenen Machtansprüche sollen so
auf Kosten anderer Staaten oder Gruppen durchgesetzt werden.
Die Voraussetzungen für die Kriegführung im Sinne der Kriegsvorbereitungen werden
durch materielle, soziale und geistige Aufrüstung geschaffen.

materielle quantitativ:
Aufrüstung  Erhöhung der Truppenstärke
 Vergrößerung der Zahl der Waffensysteme (Panzer, Raketen,
Flugzeuge)
qualitativ:
 Technische Verbesserung der Systeme (z.B. Automatisierung,
Elektronosierung)
 Neuentwicklungen (z.B. Laserwaffen, Kleinstatombomben)
soziale  Militarisierung und Mobilisierung der Gesellschaft (z.B. im
Aufrüstung Bildungswesen und in der Jugenderziehung
 Glorifizierung von Militär
 Aufstellen paramilitärischer Verbände
geistige  Erzeugen von Feindbildern (z.B. „Frankreich ist Deutschlands
Aufrüstung Erbfeind“ vor 1914; „Achse des Bösen“, US-Präsident Bush 2002
über Irak, Iran, Nordkorea)

 Die Kriegsursachenforschung stellt Faktoren der Kriegsentstehung (Rüstungswettläufe,


unvereinbare Ziele von Staaten, psychologische und ideologische Massenmobilisierung) und
ihre Verflechtungen fest und misst anhand möglichst vieler Kriege deren Dauer, die Art und
Zahl der Beteiligten, die Höhe der militärischen und zivilen Opfer, die Kriegskosten sowie den
Umfang der Zerstörungen. Auf dieser Basis sind Kriegsstatistiken und auch Kriegswarnungen
möglich. Doch sie ersetzen nicht qualitative politische und historische Einzelanalysen von Krie-
gen.

Moderner Krieg

Die Art, wie die Menschen Krieg führen, entwickelte sich historisch und lässt sich bestimm-
ten Epochen und Kulturen zuordnen. Heeresorganisation, Waffentechnick, Strategie und Kriegs-
ziele z.B. der griechischen Stadtstaaten (Poleis), des Römischen Imperiums, der Germanen in der
Völkerwanderung und der mittelalterlichen Feudalmächte waren durchaus verschieden, aber immer
wurde Mann gegen Mann gekämpft.
Etwa im 17. Jahrhundert begann mit der Einführung der Feuerwaffen (Muskete, Artillerie,
Sprengmittel), der Aufstellung stehender Heere und der Kriegsflotte der europäischen Nationen die
Entwicklung der modernen Kriegsweise.

Kennzeichen des modernen Krieges sind Verstaatlichung, Massenhaftigkeit, Technisierung,


Entgrenzung.

Verstaatlichung Massenhaftigkeit Technisierung Entgrenzug


 Staat als Kriegs-  allgemeine  Kampfentschei-  Krieg zu Lande,
herr und als Wehrpflicht dungen fallen zu Wasser, unter
Kriegsorganisator  ökonomische durch technisch Wasser, in der
 Waffen sind und ideologi- potenzierte und Luft und mittels
Staatseigentum sche Mobilisie- massierte Waffen- Satelliten/Raketen
 politische rung der ganzen wirkung im erdnahen Kos-
Kriegsbegrün- Gesellschaft  Schnelligkeit und mos
dungen Automatisierung  Vernichtungskraft
aller Systeme potenzierts sich in
immer kürzeren
Zeiträumen
 höhere zivile als
militärische Opfer

Die Entwicklung des modernen verstaatlichten, politisch motivierten Krieges vollzog sich in
Etappen. Sie begann mit den Kabinettskriegen des Absolutismus, umfasst die Massenkriege der
Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert, die beiden Weltkriege 1914-1918 und 1939-1945 und
reicht bis zur atomaren Abschreckung und zum Ost-West-Konflikt 1946-1989.

 Die Massenkriege der Nationalstaaten waren charakterisiert durch Massenaufgebote – die


allgemeine Wehrpflicht wurde festgesetzt. Die Technisierung der Kriegführung begann (1866
Erfindung des Dynamits), es wurden strategische Vernichtungsschlachten geführt.

An den beiden Weltkriegen, die um die Hegemonie im internationalen System geführt wurden,
nahmen immer mehr Staaten teil; die Zahl der Opfer – vor allem Zivilisten – wuchs um ein
Vielfaches, und die Zerstörungen waren langfristig. Der Gegner sollte vernichtet, nicht nur ge-
schlagen werden. Die Kriegführung wurde industrialisiert. Masseneinsatz von Maschinenge-
wehren und schwerer Artillerie prägten den Ersten Weltkrieg, fortschreitende Entgrenzug den
Zweiten Weltkrieg: Flächenbombardements, Massenerschießungen, Vertreibungen, Taktik der
„verbrannten Erde“ waren Kennzeichen.
Das atomwaffengestützte Abschreckungssystem zwischen den beiden Militärblöcken NATO
und Warschauer Pakt unter der Führung der beiden Weltmächte USA und Sowjetunion beruhte
auf dem „Gleichgewicht des Schreckens“. Das Risiko eines Krieges war wegen der „totalen
Waffen“ (Atom- und Wasserstoffbomben, ballistische Raketen) und der gesicherten gegen-
seitigen Zerstörung unkalkulierbar geworden. Die Kriegführung verschob sich auf kostspielige
und existenzbedrohende Rüstungswettläufe, aus strategisch fundierte Drohungen und Gegen-
drohungen sowie auf „Stellvertreterkriege“ (z.B. die Kriege in Korea, Vietnam oder Afghanis-
tan).

Nach 1990 wurde eine Vielzahl „neuer“ Kriege gezählt, die regional entstanden und in
denen es um ethnische und soziale Probleme bis hin zur Zerstörung von Staaten und Gesellschaften
geht.

Texterläuterungen

a) Massenkriege der Nationalstaaten im 19. und 20 Jahrhundert waren u.a. die napoleonischen
Kriege, der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, die Balkankriege 1910/1912.
b) Als Reaktion auf das Abschreckungssystem entstand die Friedens- und Konfliktforschung als
neue politikwissenschaftliche Disziplin mit kritischem Charakter gegenüber den Strategiekon-
zepten eines gewinnbaren Atomkrieges.

Vielfalt moderner Kriege

Kriegsart Beispiele/Besonder-
Krieg führende Parteien
heiten
Staatenkrieg zwei Staaten Irak gegen Iran 1980-1988;
Indien gegen Pakistan 1948,
1965, 1971 (Streit um Kasch-
mir)
Befreiungsbewegung ge- Algerische Befreiungsfront
Antikolonialer
gen Kolonialmacht FLN gegen Frankreich 1955-
Befreiungskrieg
1962
Partisanenbewegung gegen kubanische Rebellenbewegung
diktatorisches Regime (Fidel Castro) gegen Batista-
Regime 1953-1959;
Guerillakrieg
Partisanenbewegung gegen afghanische Stammeskrieger
Besatzer gegen sowjetische Armee
1979-1989
Regierungstruppen gegen Kolumbien 1948-1963, 1978;
Bürgerkrieg ethnisch-religiöse Minder- Libanon 1975-1984
heiten
Zentralregierung gegen jugoslawische (serbische) Ar-
Unabhängigkeitsbewegung mee gegen bisherige Bundes-
Sezessionskrieg
staaten 1991-1995;
(Unabhängigkeitskrieg)
indonesische Armee gegen
Provinz Aceh (Sumatra)
internationale Allianz ge- Befreiung Kuwaits von iraki-
Allianzkrieg im UNO-
gen Aggressor scher Besetzung unter Führung
Auftrag
der USA 1991
bewaffnete Milizen Demokratische Republik Kon-
gegeneinander und gegen go; seit 1998 – Einmischung
Bandenkrieg/deregulierter
Regierung von fünf Nachbarstaaten;
Krieg (Krieg ohne Regeln und
Ruanda/Burundi – Völker-
Grenzen)
mordaktionen der Hauptstäm-
me 1994-1995

Konflikte und Konfliktintensität

Kriege sind Konflikte, die militärisch ausgetragen werden, aber nicht jeder Konflikt ist mit
Krieg gleichzusetzen.
Gewalt ist eine Art, Konflikte auszutragen, aber es gibt auch gewaltlose Methoden, mit Kon-
flikten umzugehen.

Konflikte (Streitfälle, Auseinandersetzungen) entstehen aus unterschiedlichen Interessen


und Zielen mindestens zweier Konfliktparteien. Das können Personen, Gruppen oder Staaten sein.

Konflikte sind normale Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens. Wandel in den gesell-
schaftlichen Verhältnissen, wirtschaftliche Entwicklungen und Innovationen (Erneuerungen, um-
wälzende Erfindungen) liefern ständig neue Anlässe für Konflikte. Andererseits ist gesellschaftli-
ches Leben ohne Konsens (Übereinstimmung, Gemeinsamkeit) unmöglich. Konsens muss trotz
aller Konflikte immer wieder hergestellt werden, damit die Institutionen (Regierung, Verwaltung,
Gesetzgebung usw.) arbeitsfähig bleiben. Ohne Konsens gäbe es auch keine Bündnisse zwischen
Staaten (z.B. die NATO) und keinen Zusammenschluss (z.B. die Europäische Union).

Konfliktaustragung und -lösung kann entweder konfrontativ, bis zur Gewalt eskalierend,
oder konsensorientiert, durch Kompromiss deeskalierend, erfolgen.

Texterläuterungen

a) Eskalation: Steigerung der Konfliktintensität im Krieg durch den Einsatz von Massenvernich-
tungswaffen
b) Deeskalation: Verminderung der Konfliktintensität, z.B. durch Einsetzung eines Vermittlers und
durch Verhandlungsangebote

Mittel der Konfliktlösung

Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Staaten können friedlich gelöst werden.

Das ist möglich durch Einschaltung einer „dritten Instanz“ zwischen den Konfliktparteien,
deren Autorität von allen anerkannt wird:

- Ein Vermittler oder Schlichter „moderiert“ den Dialog (z.B. ein Vermittlungsausschuss zwi-
schen den Parteien im Parlament oder ein Diplomat als Schlichter zwischen Staaten in einem
internationalen Konflikt).
- Das Recht regelt die Ansprüche der Konfliktparteien, dann entscheidet ein Gericht über die
Konfliktlösung.

Besondere Arten der Konfliktaustragung sind die Methoden der symbolischen Gewalt, des
gewaltlosen Widerstandes und der „sozialen Verteidigung“.
- Die Methode der symbolischen Gewalt unterscheidet zwischen Gewalt gegen Sachen und
Gewalt gegen Personen. Sie wurde z.B. angewendet in den Auseinandersetzungen um die
Atommülltransporte nach Gorleben (massive Behinderung des Transports, aber keine Angriffe
auf Polizei und Bundesgrenzschutz).
- Gewaltloser Widerstand ist besonders mit dem Wirken des indischen Freiheitskämpfers ge-
gen die britische Kolonialmacht, Mahatma Gandhi, verbunden. Seine Mittel waren Weigerung
der Inder, mit den britischen Behörden zusammenzuarbeiten und britischen Befehlen zu gehor-
chen (ziviler Ungehorsam), Boykott britischer Erzeugnisse, gewaltlose Demonstrationen und
die Verbreitung der Wahrheit über die Kolonialherrschaft in Flugblättern. (Wesentlich durch
gewaltlosen Widerstand errang Indien 1947 die Unabhängigkeit.)
- „Soziale Verteidigung“ (civilian defence) ist eine auf Gewaltlosigkeit und Nichtzusammen-
arbeit beruhende Haltung, mit der die Bevölkerung eines Landes eine feindliche militärische
Besetzung oder einen Militärputsch zum Scheitern bringen kann. Die Bürger erhalten die demo-
kratischen Institutionen, machen aber keinerlei Zugeständnisse an die Gewaltherrschaft (Auf-
rechterhaltung basisdemokratischer Informations- und Versorgungsnetze, Verweigerung von
Gehorsam und Kollaboration, Boykotte, Streiks).

Texterläuterungen

a) Mahatma Gandhi (1869-1948): Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung


b) Die Losung der Bürgerbewegung in der DDR „Keine Gewalt“ wurde 1989 von allen poli-
tischen Kräften in der DDR akzeptiert und sicherte den Erfolg der friedlichen Revolution.

Demokratie und Frieden

Demokratische Staaten führen keine Kriege gegeneinander, sondern lösen Konflikte zwi-
schen sich mittels gewaltloser Institutionen, durch Dialoge, Verhandlungen, Abkommen. Das wird
durch Bündnisse, die zwischen ihnen bestehen, durch Vertragsbeziehungen und Mitgliedschaften in
internationalen Organisationen erleichtert. Dennoch zeigt sich, dass demokratische Staaten häufig
an Kriegen beteiligt sind.

 Großbritannien war im Zeitraum von 1945 bis 2002 in 23 Kriege involviert, die USA in 18,
Frankreich in 16. Diese Länder stehen zusammen mit Indien an der Spitze der an Kriegen
beteiligten Staaten.

Gegenüber diktatorischen Regimen und in Fällen von Völkermord greifen demokratische


Staaten durchaus auf Mittel der militärischen Gewalt zurück – auch im Rahmen von Allianzsys-
temen und als humanitär begründete Intervention. Beispiele sind der Kosovo-Krieg der NATO
gegen Serbien 1999, die Intervention in Afghanistan 2001 und der Irak-Krieg der USA 2003. Diese
Aktionen werden der Öffentlichkeit gegenüber als Kriege im Namen der Menschenrechte und mit
dem Ziel der Demokratisierung gerechtfertigt. Völkerrechtlich waren jedoch weder der Kosovo-
Krieg noch der Irak-Krieg untersetzt. Demokratie und Menschenrechte in einem Land mit be-
waffneter Gewalt von außen dauerhaft zu etablieren, gelang nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan,
Deutschland-West und in Österreich – seitdem aber nicht wieder.
(aus: Politik, ein Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe, 2009)

Kriege neuer Art

Im neuen Jahrtausend setzt sich ein Trend fort, der bereits in der zweiten Hälfte des vergan-
genen Jahrhunderts begann: Gewaltsame Konflikte konzentrieren sich auf die Armuts- und Krisen-
regionen des Südens, wobei vergleichsweise wenige zwischenstaatliche Kriege geführt werden.
Die überwiegende Zahl der Gewaltkonflikte findet innerhalb von Staaten und in grenzüber-
schreitenden Kriegsregionen unter zunehmender Beteiligung nichtstaatlicher Akteure statt. Die
Kriege der Gegenwart unterscheiden sich von den klassischen Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts
durch eigene Merkmale.

Die Wesensmerkmale der neuen Kriege sind Regionalisierung, Internationalisierung und


Entstaatlichung.

Texterläuterung: Weit über 90 % der mehr als 200 Kriege, die seit dem Zweiten Weltkrieg geführt
wurden, fanden in den Regionen des Südens statt. Von den weltweit 29 kriegerischen
Konflikten im Jahr 2002 wurden elf in Afrika, zehn in Asien, sechs im Vorderen und
Mittleren Orient und zwei in Lateinamerika ausgetragen.

Regionalisierung

Regionalisierte Kriege sind die heute gängigste Konfliktform.

Das sind innerstaatliche Kriege, in denen die Nachbarstaaten und Großmächte direkt mit
Streitkräften oder mittelbar – durch Waffenlieferungen, finanzielle oder logistische Unterstützung –
einbezogen sind. Kriegerische Gewalt reicht dabei häufig über die Grenzen hinaus. Nachbarstaaten
oder aus ihnen stammende substaatliche Akteure, wie Rebellen oder Milizen, greifen ein.
Zugleich überschreiten Kriegsflüchtlinge und –vertriebene die Grenzen. Grenznahe Flücht-
lingslager in Nachbarstaaten werden zu Rückzugs- und Rekrutierungsbasen für die bewaffnete
Opposition, und Regierungstruppen nehmen bei deren Verfolgung keine Rücksicht auf Staatsgren-
zen.

 An den beiden Kriegen, die 1966 in der Demokratischen Republik Kongo geführt wurden,
waren eine Vielzahl von Rebellen und mehrere Nachbarstaaten beteiligt (Ruanda, Uganda, Bu-
rundi, Angola, Simbabwe u.a.).
Am Horn von Afrika bilden Teile der Territorien mehrerer Staaten eine besondere Konflikt-
region durch die Zirkulation von Waffen, durch grenzüberschreitende Aktivitäten von Rebellen-
gruppen und traditionale Gewasltformen, wie Viehdiebstahl.

Texterläuterungen

a) Die verschiedenen grenzüberschreitenden Aktionen werden auch als „spill over-Effekte“ be-
zeichnet. Sie führen dazu, dass Kriege in zahlreichen Weltregionen nur noch verständlich wer-
den, wenn sie als Bestandteil regionaler Konfliktsysteme analysiert werden.
b) Die Völkermordaktionen in der Demokratischen Republik Kongo sollen mehr als 2,5 Mio.
Menschen das Leben gekostet haben.

Entstaatlichung von Krieg

Neue Kriege werden nicht mehr erstrangig um politische Ziele geführt, sondern verfolgen
zumeist ökonomische Zwecke. Das ist mit einer Entstaatlichung des Krieges verbunden.

In Krisenregionen, wo Staaten schwach, gescheitert oder völlig zerfallen sind, wie z.B. in
Somalia oder Afghanaistan, besteht kein staatliches Gewaltmonopol. Staaten werden entweder zu
Gewaltakteuren unter anderen, oder der Staat bzw. seine militärischen Machtmittel und Institutio-
nen, wie Polizei und Verwaltung, sein Territorium und seine Bürger werden selbst Beute von be-
waffneten Gruppierungen.
Kriege drehen sich demzufolge häufig nicht um die Eroberung der Staatsmacht bzw. Regie-
rungsgewalt oder um die Errichtung neuer staatlicher Strukturen. Sie werden vielmehr wegen wirt-
schaftlicher Zwecke geführt.
Die Ausrichtung auf vorrangig ökonomische Ziele von Kriegen ist ein Ausdruck ihrer „Ent-
staatlichung“ bzw. „Privatisierung“. Es ändern sich damit auch die Formen der Kriegsführung:

- Der Krieg ist nicht mehr erstrangig gegen ein bewaffnetes Gegenüber gerichtet, sondern gegen
die Zivilbevölkerung.
Es gibt keine klaren Frontverläufe, und an die Stelle von Schlachten treten Massaker, Massen-
vergewaltigungen, systematische Plünderungen und Vertreibungen, wie z.B. in den Kriegen im
ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren oder in den Konflikten in Ruanda 1994.
- Ursprünglich einheitliche bewaffnete Formationen spalten sich im Verlauf solcher Kriege oft in
verschiedene, untereinander rivalisierende und sich bekämpfende Gruppen. Es bestehen lose
Kommandostrukturen. „Warlords“ und ihre zumeist jugendlichen Zuläufer sind aus persönli-
chem Profit- und Machtstreben an der Aufrechterhaltung von Kriegsökonomien interessiert und
sorgen für eine endlose Fortsetzung von Kriegen – in der westafrikanischen Kriegsregion Li-
beria, Guinea, Sierra Leone wird z.B über Jahrzehnte Krieg geführt.
- Staatliche Sicherheitskräfte sind ebenfalls oft gespalten und stehen vielfach nicht unter der
Kontrolle ihrer jeweiligen Regierungen, zumal sie schlecht oder gar nicht besoldet werden. Sie
führen deshalb auch auf eigene Rechnung Krieg zum Zweck des Beutemachens. Damit beför-
dern sie noch den Zerfall des Staates, den sie eigentlich schützen sollen. Das ist z. B. in Afgha-
nistan, Somalia und der Demokratischen Republik Kongo zu beobachten.

Diese Art der Kriegsführung ist grundlegend verbunden mit einer Zurücknahme der
Zivilisation, mit der Ausweitung von Kriegökonomien sowie mit der Transformation von Gewalt in
die Nachkriegszeit.

Zurücknahme der Zivilisation Krieg wird die Lebensform ganzer Generationen,


Zwangsrekrutierungen, Einsatz von Kindersoldaten

 In West- und Zentralafrika, Kambodscha und


auf den Philippinen kämpfen etwa 300 000
Miderjährige (UNO-Angaben 2003).

Entstehung von Kriegsökonomien Waffen- und Drogenhandel, Ressourcenverschleu-


derung, Erpressung von Hilfsorganisationen, Tätig-
keit von Söldneragenturen und privater Sicherheits-
firmen

 Angola und Westafrika verkaufen „blutige Dia-


manten“ und Erdöl.
Transformation von Gewalt Nachkriegszeiten werden Vorkriegszeiten, Kriegs-
gewalt geht in organisierte Gewaltkriminalität über.

 In El Salvador wurden nach Beendigung des


Bürgerkrieges in der zweiten Hälfte der 1990er-
Jahre jährlich mehr Menschen getötet als
während des Krieges.
Texterläuterungen

a) Die Ausrichtung von Kriegen vorrangig auf ökonomische Zwecke erschwert zunehmend eine
Unterscheidung zwischen ihnen und organisierter (Gewalt-)Kriminalität.
b) Warlords (engl. = Kriegsherren); Akteure, die im Zuge von Bürgerkriegen und Staatsverfall
bestimmte Territorien kontrollieren, ihre Macht mit privaten Armeen sichern und von Kriegs-
ökonomien profitieren (Ausnutzung von Ressourcen und Bevölkerung)
(aus: Politik, Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe)

Die Neuen Kriege und ihre Akteure

Auch wenn an fast allen Kriegen Staaten beteiligt waren, so sind die meisten doch von
nichtstaatlichen, mitunter gar privaten Akteuren bestimmt worden: Clanchefs, Rebellenführer und
Warlords haben das Heft des Handelns übernommen, und Staaten waren in sie zumeist nur reaktiv
verwickelt. (...)
Wenn nunmehr die Entstaatlichung des Krieges mit einer wachsenden Reökonomisierung
der Gewaltanwendung einhergeht, dann deswegen, weil es den Staaten - von Ausnahmen an den
Rändern ihrer Kolonialreiche abgesehen - gelungen war, eine konsequente Trennung von Erwerbs-
leben und Gewaltanwendung sicherzustellen. Es ist ein Charakteristikum der neuen Kriege, dass
dies nicht mehr der Fall ist: Die an ihnen Beteiligten sichern sich ihren Lebensunterhalt durch Ge-
waltanwendung oder zumindest die Errichtung eines Gewaltregimes.
Das reicht von Bürgerkriegsgenerälen, die Bohr- und Schürfrechte in den von ihnen kontrol-
lierten Gebieten an internationale Konzerne verkaufen, bis zu den vielfältigen Verbindungen lokaler
Warlords mit der internationalen Kriminalität, in denen der Handel mit Rauschgift, Diamanten, Tro-
penhölzern, Giftmüll und Frauen zur dauerhaften Erwerbsquelle geworden ist. Vom Commandante
der kolumbianischen Kokainguerilla bis zu den freiwilligen Kämpfern der Al Qaida gilt inzwischen,
was früher auf vereinzelte Warlords und Putschgeneräle begrenzt schien: Sie leben vom Krieg, und
deswegen haben sie kein Interesse am Frieden.
Im Unterschied hierzu hat der Staat seit der Aufstellung stehender Heere seine Soldaten ver-
sorgt, gleichgültig, ob Krieg oder Frieden herrschte. Die Truppen erhielten Sold und Verpflegung,
gleichgültig, ob sie im Feld standen oder in der Garnison lagen. Aus Kriegern in Soldaten verwan-
delt waren sie zur Existenzsicherung auf den Krieg nicht angewiesen, sondern fungierten als ein
Instrument der Staatenpolitik, das der Durchsetzung bestimmter Ziele und Zwecke diente. Diese
mögen aus heutiger Sicht verabscheuenswürdig oder doch zumindest den geforderten Einsatz nicht
wert gewesen sein. Doch bildeten sie eine Vorgabe, von der her der Krieg begonnen, aber auch
beendet wurde. Damit das Militär ein gefügiges Instrument in den Händen der Politik war, mussten
die Soldaten einer strikten Disziplin unterworfen werden, und dazu gehörte vor allem, dass Rauben
und Plündern, Morden und Vergewaltigen verboten waren und dieses Verbot mit drakonischen
Strafandrohungen durchgesetzt wurde. (...)
Alle Kriege – Staaten-wie Bürgerkriege, Raubzüge wie Stammeskriege, Pazifizierungs- wie
Befreiungskriege – beruhen auf ökonomischen Voraussetzungen, die sicherstellen, dass die Gewalt-
anwendung nicht mangels kontinuierlicher Ressourcenzuführung zum Erliegen kommt. In den klas-
sischen Staatenkriegen war es die regelmäßige Abschöpfung des gesellschaftlichen Mehrprodukts
mittels Steuern sowie die Aufnahme von Staatsschulden, durch die der Krieg finanziert wurde.
Die Folgen dieser Form der Kriegsfinanzierung waren oft drückend und eine Last für die
zukünftigen Generationen, aber sie vernichteten durch ihre unmittelbaren Folgen nicht die Grund-
lagen des wirtschaftlichen Lebens. Das ist bei den meisten der neuen Kriege anders: Sie finanzieren
sich durch Raubökonomien und vernichten die wirtschaftlichen Grundlagen ganzer Länder und Ge-
nerationen.
(Herfried Münkler: Die neuen Kriege und ihre Akteure, Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfa-
len, Das Magazin 2/2002)
Texerläuterung: Ein Kriegsherr, Kriegsfürst bzw. Warlord (engl.) ist ein militärischer und poli-
tischer Anführer, der in einem begrenzten Gebiet die Kontrolle übernommen hat.

Nichtstaatliche Gewaltakteure

Idealtypisch lassen sich nichtstaatliche Gewaltakteure in vier Kategorien fassen: Kriminelle,


Terroristen, Kriegsherren und Rebellen. Gemeinsam ist ihnen allen die Anwendung von Gewalt zur
Erreichung ihrer Ziele. Sie unterscheiden sich jedoch erheblich in ihrer Zielsetzung, in der Zielgrup-
pe ihrer Gewaltanwendung, deren geographischer Reichweite und im Verhältnis zum Gewaltmono-
pol. Auf sehr allgemeiner Ebene kann festgestellt werden:

1. dass Kriegsherren und Kriminelle eher wirtschaftliche Ziele verfolgen, während Terrorgruppen
und Rebellen politische Absichten hegen,
2. dass die Zielgruppe der Gewaltanwendung von Rebellen und organisierter Kriminalität überwie-
gend andere Gewaltorgane sind – staatlich legitimierte, wie Polizei und Sicherheitskräfte, bzw.
konkurrierende Rebellengruppen und kriminelle Organisationen, während Terroristen und
Kriegsherren unbewaffnete Zivilisten zur Hauptzielgruppe ihrer Gewaltakte machen,
3. dass die geographische Reichweite der Gewaltausübung von Kriegsherren und Rebellen in der
Regel regional begrenzt und auf die Ausübung territorialer Kontrolle ausgerichtet ist, während
die der transnational organisierten Kriminalität und der internationale Terrorismus globaler Na-
tur ist mit nur sehr indirektem territorialen Bezug,
4. dass Kriegsherren und Rebellen darauf abzielen, in den von ihnen beherrschten Gebieten das
staatliche Gewaltmonopol zu verdrängen und zu ersetzen, während die Gewaltausübung von
organisierter Kriminalität und Terroristen mit dem staatlichen Gewaltmonopol koexistiert, die
der organisierten Kriminalität sie sogar voraussetzt.
(Stefan Mair: Die Globalisierung privater Gewalt, spw-Studie S 10, Berlin 2002, S. 9f.)

Aufgaben

1. Stellen Sie die Motivlagen, davon insbesondere die ökonomischen Motive, der verschiedenen
außerstaatlichen Akteure Neuer Kriege dar.
2. Erläutern Sie das Geflecht von Interessengruppen, in dem die verschiedenen Gruppen von
Akteuren agieren.
3. Diskutieren Sie, inwieweit auf diese Akteure neuer Kriege eingewirkt werden kann Loten Sie
Möglichkeiten einer neuen Sicherheitspolitik aus.

Irak-Krieg 2003

Der Krieg, den die USA im Bündnis mit Großbritannien gegen den Irak und sein diktatori-
sches Regime im März 2003 führten, war ein zwischenstaatlicher Krieg. Er wurde als Anti-Terror-
Krieg verstanden.
Der Irak-Krieg war ein Hegemonial- und Weltordnungskrieg, der auf eine politische Neu-
ordnung des Nahen Ostens zielte.
Es war ein asymmetrisch geführter Krieg eines hoch überlegenen Akteurs, der sich auf mas-
sive Luftangriffe stützte, um die eigenen Verluste zu minimieren. Das Ende des Krieges bewirkte
kein Ende des gewaltförmigen Konfliktaustrags unterhalb der Kriegsschwelle.

Kriegsparteien USA-geführte Allianz gegen das Regime Saddam Husseins im Irak


Politische  Kampf gegen internationalen Terrorismus
Legitimation  Entwaffnung des irakischen Regimes, das mit
Massenvernichtungsmitteln drohte
 Regimewechsel im Irak
Politischer Zweck Politische Neuordnung des Nahen Ostens
 Beseitigung des Regimes im Irak
 Zugriff auf zweitgrößte Ölreserven der Welt
Militärische  Aufbau von überlegener Macht und lange Phase der Drohungen
Strategie  Zielgenaue Schläge bei Luftwaffenangriffen
 Schnellster Vormarsch, keine Frontbildung, Vermeiden von
Häuserkampf
Medienbild technisch absolut überlegene amerikanische Soldaten besiegen die
Kräfte des Diktators und befreien das irakische Volk
Kriegsergebnis/  diktatorisches Regime ist geschlagen und aufgelöst – Irak unter
regionalpolitisch amerikanisch/britischer Protektoratsverwalung
 keine von Irakern legitimierte Regierung
 keine ABC-Waffen-Vorräte entdeckt
Kriegsergebnis/  USA-Vormarsch im Nahen Osten
weltpolitisch  europäische Rolle in der Welt gering und umstritten
 Bedeutung der UNO eingeschränkt
 Schwächung des internationalen Terrorismus nicht nachweisbar
Kriegstypbestim-  politisch: Supermachtkrieg gegen kleineres Land mit Diktatur
mung  militärisch: stärkste Militärmacht der Welt (Luftwaffe, Marine,
gepanzerte Verbände) gegen unterlegene Landstreitkräfte =
asymmetrischer Krieg

Die USA sahen ihre Militärschläge durch die im November 2002 verabschiedete UN-Reso-
lution 1441 gedeckt. Sie hatte dem Irak „ernsthafte Konsequenzen“ angedroht, wenn Auflagen zur
Vernichtung von Kampfmitteln und Raketen nicht befolgt würden.

Dieser Krieg setzte ebensowenig wie die entstaatlichten neuen Kriege an konkreten An-
griffsplänen eines Gegenübers an. Er ging allein von der Existenz eines potenziell bedrohlichen
Regimes aus und stellt deshalb eine eklatante Verletzung des Völkerrechts dar. Er hätte nur mit
eindeutigem Mandat des UN-Sicherheitsrates geführt werden dürfen.
Der Irak-Krieg hat um einiges mehr die reale Gefahr begründet, dass das bestehende Völker-
recht und die damit verbundenen multilateralen Verfahren innerhalb des UN-Systems nicht mehr
beachtet werden und statt dessen eine unipolare Weltordnung entsteht. Eine der zentralen Fragen,
die einer Klärung bedürfen, ist die nach der Selbstverteidigung oder Rechtfertigung eines Prä-
emptivkriegs.

 Unter dem Eindruck des Terroranschlags am 11. September 2001 entwickelten die USA die
Doktrin einer „präemptiven Selbstverteidigung“, die im Irak-Krieg Anwendung fand:
„Die Vereinigten Staaten werden sich kontinuierlich um die Unterstützung der internationalen
Gemeinschaft bemühen, doch werden wir nicht zögern, wenn nötig allein zu handeln, um unser
Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen, indem wir präemptiv gegen solche Terroristen
vorgehen, um sie daran zu hindern, unserem Volk und unserem Lande Schaden zuzufügen.“
(aus: Kriege und Konfliktbewältigung, in : Globale Trends 2004/2005)

Texterläuterungen

a) Zwischenstaatliche Kriege sind in der Gegenwart nach wie vor relevant. Sie sind sehr zer-
störerisch. Das zeigen z.B. die Kriege zwischen Eritrea und Äthiopien (1998 und 2000), die
bis zu 100 000 Todesopfer forderten.
b) Präemptivkrieg, engl. pre-emptive = vorbeugend; in der Militärsprache: einem unmittelbar
erwarteten gegnerischen Angriff durch eigenen Angriff zuvorkommend (zu unterscheiden
von präventiv)
(aus: Politik, Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe, 2009)

Krieg im ehemaligen Jugoslawien

Der Vielvölkerstaat Jugoslawien, der in der Zeit des Kalten Krieges einen vom Ostblock
unabhängigen Weg gegangen war, befand sich am Beginn der 1990er-Jahre in einer tiefen Krise.
Nationale, soziale und religiöse Widersprüche brachen auf und schlugen in einen Bürgerkrieg um.
Militärische auseinandersetzungen, so genannte „ethnische Säuberungen“, Massenvergewaltigun-
gen und Massaker führten zu schwersten Menschenrechtsverletzungen, zu etwa 250 000 Toten und
2,2 Mio. Flüchtlingen. Die NATO griff in Kampfhandlungen ein – auch ohne Mandat der UNO, die
Friedenstruppen stationierte und mehrere Resolutionen verabschiedete.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg gebründete Föderative Volksrepublik Jugoslawien – seit
1963 Sozialistische Föderative Republik (SFRJ) zerfiel. Die Provinz Kosovo wurde unter interna-
tionale Verwaltung gestellt.

Ethnische Situation

Die SFRJ war ein heterogener Vielvölkerstaat – ein Land mit zwei Alphabeten, drei Sprachen, drei
Religionen und neun Nationalitäten.

Serbien 5,8 Mio. Einwohner, 66 % Serben, 34 % Sonstige


 Provinz Wojwodina: 2,0 Mio Einwohner, 54 % Serben, 19 % Un-
garn, 27 % Sonstige
 Provinz Kosovo: 1,8 Mio. Einwohner, 77 % Albaner, 13 % Serben,
10 % Sonstige
Kroatien 4,7 Mio. Einwohner, 75 % Kroaten, 12 % Serben, 13 % Sonstige
Slowenien 1,9 Mio. Einwohner, 91 % Slowenen, 9 % Sonstige
Bosnien- 4,3 Mio. Einwohner, 40 % Bosnier (Muslime), 32 % Serben,
Herzegowina 18 % Kroaten, 10 % Sonstige
Montenegro 0,6 Mio. Einwohner, 69 % Montenegriner, 13 % Bosnier, 7 % Albaner,
11 % Sonstige
Mazedonien 2,0 Mio. Einwohner, 67 % Mazedonier, 17 % Albaner, 16 % Sonstige

Texterläuterung: Stand der Tabellenangaben: Juli 1991

Historische Wurzeln des Konflikts

Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Ethnien auf


dem Balkan reichten bis in das 12. Jahrhundert zurück.

Besonders konfliktträchtig waren die komplizierten Volkstums- und Religionsgrenzen, die


sich über Jahrhunderte herausgebildet hatten.

 In der Antike verlief hier z. B. die Grenze zwischen dem Oströmischen und dem Weströmischen
Reich, was sich bis heute in der Trennung in orthodoxe (Serben) und katholische (Kroaten)
Christen niederschlägt. Später war die Region Militärgrenze zum Osmanischen Reich und damit
auch Grenze zwischen Christentum und Islam.

Im 16. Jahrhundert siedelte die habsburgische Verwaltung vertriebene Serben und Kroaten
auf der Krajina an. Es entstand ein gemischtes Siedlungsmuster der Volksgruppen.
Das alte Jugoslawien entstand nach dem Ersten Weltkrieg 1918 durch die Vereinigung der
Slowenen, Kroaten und Serben der österreichisch-ungarischen Monarchie mit den Serben im Kö-
nigreich Serbien und in Montenegro als „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“. Es gab
anhaltende Zwistigkeiten zwischen Kroaten und Serben. Im Zweiten Weltkrieg wurde im Westteil
des Königreichs ein faschistischer Satellitenstaat Kroatien errichtet, während das übrige Land unter
italienisch-deutsche Besatzung geriet. In einem „totalen Bürgerkrieg“ kämpften kroatische Usta-
schas, serbische Tschetniks und serbische Partisanen gegeneinader. Den Kampf entschied die Par-
tisanenarmee unter Josip Broz Tito 1944/45 für sich. Im November 1945 wurde die Föderative
Volksrepublik Jugoslawien gegründet.
Die neu gebildeten sechs Teilrepubliken Serbien (mit den autonomen Provinzen Wojwodi-
na und Kosovo), Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Montenegro unter-
schieden sich erheblich hinsichtlich ihrer ökonomischen Basis. Vor allem der entwickelte Norden
(Kroatien, Slowenien) drängte nach Unabhängigkeit.
Außenpolitisch verfolgte Jugoslawien einen unabhängigen Kurs und nahm einen führenden
Platz in der Bewegung der Nichtpaktgebundenen ein. Innenpolitisch unterdrückte Tito, der faktisch
Alleinherrscher im politischen System eines Sozialismus jugoslawischer Prägung war, jegliche
Autonomiebestrebungen erfolgreich.
Nach dem Tod Titos spitzte sich die Situation in den Teilregionen Jugoslawiens immer mehr
zu.

 Die Inflation, die 1982 noch bei 30 % gelegen hatte, war 1988 auf 257,2 % hochgeschnellt. Die
Auslandsverschuldung betrug 22 Mrd. Dollar. Die Arbeitslosenquote stieg auf 17 %. Es fanden
zahlreiche Streiks (1988 waren es etwa 2000) und Protestaktionen gegen ddie Regierung statt.

Texterläuterung: Josip Broz Tito (1892-1980) war zunächst Ministerpräsident, ab 1953 Staats-
präsident auf Lebenszeit.

Ausbruch des Bürgerkrieges

Ende der 1980er-Jahre brachen die Konflikte zwischen den Völkern wieder auf. Die Kluft
zwischen dem reichen Norden (Kroatien, Slowenien) und dem armen Süden (Kosovo, Mazedonien)
vertiefte sich. Die wirtschaftlich entwickelten Teilrepubliken im Norden nahmen eine eher födera-
listische, liberale, marktwirtschaftliche Position ein. Die größte Teilrepublik Serbien orientierte sich
auf eine zentralistische Planwirtschaft. Das stieß zunehmend auf den Widerstand der Mehrheit der
anderen Republiken. Der Konflikt zwischen Serbien und der Provinz Kosovo, die seit der Verfas-
sungsreform von 1974 über weit gehende Rechte verfügte, spitzte sich besonders zu. Ständige Un-
ruhen und gewaltsame Auseinandersetzungen fanden statt.
Im Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Im September spra-
chen sich 90 % der Kosovo-Albaner für die Unabhängigkeit aus. Der offene Krieg brach aus.

Jugoslawien-Kriege 1991-1995
Juni/Juli 1991 Krieg in Slowenien
Der slowenischen Unabhängigkeitserklärung folgt der „Kleine Krieg“
zwischen der jugoslawischen Bundesarmee und den slowenischen
Territorialstreitkräften; Waffenstillstand auf Vermuttlung der EU
(Brioni-Abkommen)
Juni 1991 bis Krieg in Kroatien
Jan. 1992 Die Bundesarmee interveniert nach kroatischer Unabhängigkeits-
erklärung.
1993 Die Krajina sagt sich von Kroatien los und erklärt den Anschluss an
die Republik Serbien.
April 1992 bis Krieg in Bosnien-Herzegowina
Nov. 1995 Die Bundesarmee interveniert nach der Unabhängigkeitserklärung.
1994 Erster militärischer Einsatz der NATO seit ihrer Gründung:
Abschuss von vier serbischen Flugzeugen in der Flugverbotszone
1995 Serben nehmen die bosnischen Sicherheitszonen Srebrenica und
Zepa ein – dem folgen massive Luftschläge der NATO gegen
Stellungen der bosnischen Serben.
1995 Die kroatische Armee erobert die Krajina und Westslawonien; mehr
als 170 000 Serben werden vertrieben.
14.12.1995 Dayton-Friedensabkommen
Es wird zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina ge-
schlossen und sieht die Erhaltung der staatlichen Einheit Bosnien-
Herzegowina als Dach einer bosniakisch-kroatischen Föderation und
einer Serbischen Republik mit der Hauptstadt Sarajevo vor.

Texterläuterungen

a) Die serbische Minderheit im Kosovo stützte sich zunehmend auf Hilfe aus Belgrad. 1989 kün-
digte Belgrad die Verfassung von 1974 auf – anlässlich des Jahrestages der Schlacht auf dem
Amselfeld (1389), wo die Serben eine Niederlage gegen die Türken erlitten hatten.
b) 1993 verabschiedet die UNO die Resolution 827. Sie legt die Errichtung eines internationalen
Kriegsverbrechertribunals in Den Haag zur Ahndung der Verbrechen in Jugoslawien fest.
c) Durch die Resolution 824 stellt die UNO sechs bosnische Städte und Gemeinden mit mehrheit-
lich muslimischer Bevölkerung unter ihren besonderen Schutz.

Kosovo-Krieg

1998 eskalierte die Situation im Kosovo erneut. Der Konflikt zwischen den nach wie vor um
ihre Unabhängigkeit kämpfenden Kosovo-Albanern und den sie verweigernden Serben brach ge-
waltsam auf. Serbische Kräfte besetzten erneut die Provinz.

Im Kern war der Kosovo-Konflikt ein Identitätskonflikt.

Kämpfe zwischen der Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) und serbischen Einheiten for-
derten ebenso wie die Luftangriffe der NATO gegen serbische Gebiete Opfer, besonders unter der
Zivilbevölkerung.

 Nach Schätzungen

- flohen über 900 000 Kosovo-Albaner aus der Heimat,


- wurden etwa 11 000 Kosovo-Albaner Opfer von Massakern und wurden ermordet,
- fielen mindestens 4550 Menschen den NATO-Bombardements zum Opfer, darunter etwa
500 Zivilisten,
- wurden bei den Lufteinsätzen der NATO 45 Straßen- und Eisenbahnbrücken zerstört.

Nach 79 Kampftagen mit mehr als 32000 Lufteinsätzen seitens der NATO und Umfang-
reichen diplomatischen Bemühungen endete der Krieg. Die serbischen Truppen zogen sich aus dem
Kosovo zurück, die Provinz wurde unter internationale Verwaltung gestellt.

Texterläuterungen
a) Nach dem Scheitern diplomatischer Bemühungen um Konfliktbeilegung griff die NATO in den
Krieg ein – ohne Mandat der UNO.
b) Der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic (geb. 1941) hatte die Unterzeichnung der
Vereinbarung von Rambouillet (bei Paris) abgelehnt (Febr./März 1999). Diese sah vor, dass die
Provinz Kosovo innerhalb von Serbien eine umfassende Autonomie erhält und hier Truppen der
NATO stationiert werden.
c) Milosevic wurde im März 2001 verhaftet und drei Monate später dem UN-Tribunal in Den
Haag übergeben. Er wurde wegen zu verantwortender Kriegsverbrechen angeklagt.

Konfliktlösung

Eine Bilanz des Kosovo-Krieges wirft generelle Fragen nach Wegen der Friedenssicherung
und –erhaltung auf – besonders im Hinblick auf politisch-ethnische Bürgerkriege. Eine entscheiden-
de Frage ist die nach einer verbindlichen Weiterentwicklung des Völkerrechts zugunsten humani-
tärer Interventionen in nationalstaatliche Souveränität. Das ergibt sich vor allem aus der von der
NATO getroffenen Entscheidung zu einer massiven Militärintervention auf der Basis nicht kodifi-
zierten Völkerrechts.

 Der zeitgenössische Philosoph Jürgen Habermas deutet den Krieg der NATO gegen Jugosla-
wien bereits als ein Zeichen dafür, dass eine Transformation des Völkerrechts in ein „Recht der
Weltbürger“ auf die Tagesordnung gerate.
Der Politologe Elmar Altvater wies diese Sicht jedoch als „staats- und rechtstheoretische
Rechtfertigung eines Aggressionskrieges“ zurück.

Es geht auch um das moralische Dilemma der Durchsetzung von Menschenrechten – unge-
achtet der Einmischung in die inneren Angelegeheiten eines souveränen Staates – mit Gewalt. Und
wenn am Ende eines Krieges – wie des im Kosovo geführten – schließlich nur eine protektionis-
tische Ordnung steht, so kann das keine generell anstrebenswerte Konfliktlösung sein, zumal sie für
einen längeren Zeitraum umfangreiche militärische Kräfte bindet.
(aus: Politik, Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe, 2009)

Kurden: Volk ohne Land


Kurden sind das zahlenmäßig größte Volk ohne Land. Sie siedeln vor allem in der Türkei,
im Irak, Iran und in Syrien und bilden hier jeweils eine nationale Minderheit.
Die Kurden gliedern sich in zahlreiche Stämme. Sie sind teilweise sesshaft, leben aber auch
als Nomaden. Haupterwerbszweige sind Ackerbau und Viehzucht. Die Kurden haben keine gemein-
same Sprache, ihre Kultur wurde in den Aufenthaltsländern oft unterbunden. Das, aber auch die
Konflikte zwischen den kurdischen Stämmen und ihren Führungsschichten erschweren eine Einheit.
Kurden gehören überwiegend der moslemischen Glaubensrichtung an, wobei etwa 75 % von ihnen
Sunniten sind.

Kurden in der Türkei

Nach dem Ende des Osmanischen Reiches wurde den Kurden im Vertrag von Sèvres 1920
zunächst ein eigener Staat in Aussicht gestellt. Doch schon drei Jahre später wurden sie dem so ge-
nannten Türkisierungsprogramm unterworfen. Der nach diesem Programm in Angriff genommenen
Modernisierung des Landes nach westlichem Vorbild standen die Kurden ablehnend gegenüber. Bis
heute nehmen sie eine distanzierte Haltung zur türkischen Regierung ein. Die Kurden wurden lange
als „Bergtürken" verfolgt, ihre Aufstände wiederholt niedergeschlagen. Auch wenn sich ihre Lage
seit den 1990er-Jahren insgesamt verbessert hat, wurden die Rechte der kurdischen Bevölkerung
durch Sonder- und Ausnahmegesetze – wie das Antiterrorgesetz 1991 – immer wieder beschnitten.
Die Inhaftierung von PKK-Führer ABDULLAH ÖCALAN 1998 und seine Verurteilung schwächte die
kurdische Bewegung. Mit dem von der Türkei gestellten Antrag auf Mitgliedschaft in der Europä-
ischen Union wird das Kurdenproblem wieder stärker international diskutiert.

Kurden im Irak

Die Situation der irakischen Kurden war seit der Staatsgründung 1921 bis zur Errichtung der
Schutzzone nach dem Golfkrieg von 1991 sehr wechselhaft. Stark nach Unabhängigkeit strebend,
rangen sie der irakischen Regierung zum Teil weit reichende politische und kulturelle Rechte ab.
Zugleich waren sie massiven Repressionen bis hin zu Massenvernichtungen ausgesetzt. 1975 wurde
ihnen nach einem niedergeschlagenen Aufstand eine Teilautonomie zugebilligt. Parteien entstan-
den, z. B. die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und die Kurdische Demokratische Partei. Seit
dem irakisch-iranischen Krieg in den 1980er-Jahren wurde jedoch ein nahezu vernichtender Feld-
zug gegen die Kurden geführt.
Mit der UN-Resolution 688 von 1991 wurde eine Schutzzone für die kurdische Bevölkerung
Iraks errichtet, eine international geduldete Autonomie wurde verfügt. Selbstverwaltungseinrich-
tungen entstanden. Dennoch blieben bürgerkriegsähnliche Zustände, vor allem verursacht durch die
Rivalität der Kurdischen Demokratischen Partei und der PUK. Seit dem Sturz des Regimes von
SADDAM HUSSEIN 2003 haben die Autonomiebestrebungen der irakischen Kurden neuen Auftrieb
bekommen.

Kurden im Iran

Im Vielvölkerstaat Iran leben neben den Persern fast zu 50 % Angehörige nationaler Min-
derheiten, darunter die Kurden. 1946 wurde im Iran der bisher einzige kurdische Staat gegründet,
die Republik Mahabad. Sie wurde jedoch nach wenigen Monaten durch die iranische Armee zer-
schlagen. Regionale Aufstände wurden mit Deportationen und Vernichtung ganzer Stämme nieder-
geschlagen.
Der nach wie vor bestehende Konflikt zwischen den Kurden und der Regierung der Islami-
schen Republik Iran beruht in erster Linie auf religiösen Unterschieden zwischen sunnitischen Kur-
den und schiitischen Persern. Die während der islamischen Revolution 1979 gegebene Zusage, den
Kurden politische und kulturelle Autonomie zu gewähren, wurde nach dem Sieg der Revolution
nicht eingehalten. AYATOLLAH KHOMEINI erklärte ihnen statt dessen den Heiligen Krieg. Dennoch
leben die Kurden hier in weitgehend sicheren Verhältnissen.

Humanitäre Katastrophen
Bürgerkriege führen oft zu Flucht und Vertreibung der Zivilbevölkerung und damit zu
humanitären Katastrophen. Sie entstehen aber auch infolge von Naturkatastrophen, ökölogischen
Zerstörungen oder Krankheiten.

Humanitäre Katastrophen sind:

- Hungersnöte, ausgelöst durch Dürren, Überschwemmungen, Kriege und Vertreibungen;


- Epidemien, z.B. Aids in Afrika oder Choleraausbreitung bei den Auseinandersetzungen zwi-
schen Hutu und Tutsi in Ruanda und Burundi;
- Massenmorde und Massenvergewaltigungen von Frauen und Kindern, z.B. im Krieg um
Bosnien und Herzegowina.

Besonders konfliktreich sind humanitäre Katastrophen, die infolge des Zerfalls von
Staaten und des Kampfes verschiedener Gruppen um die Macht entstehen. Solche Katastrophen
haben große politische, ökonomische und gesellschaftliche Auswirkungen, was vor allem auf drei
Faktoren zurückzuführen ist:

- auf instabile Gesellschaften, die in der Regel nicht in der Lage sind, Konfliktsituationen zu
bewältigen,
- auf Art und Dauer der Katastrophen; z.B. lassen sich die Folgen eines Erdbebens leichter
bewältigen als die einer Bürgerkriegssituation,
- auf die Häufigkeit, in der Katastrophen auftreten.

Im Gefolge humanitärer Katastrophen ist die langjährige Tätigkeit solcher humanitärer


Organisationen, wie „Brot für die Welt“, „SOS-Kinderdorf international“, „Deutsches Rotes Kreuz“
oder „Ärzte ohne Grenzen“ von großer Bedeutung. Sie bilden heute ein umfassendes internationales
Hilfssystem, das entweder national oder international organisiert ist.
Wie die inzwischen 30-jährige engagierte Arbeit der „Ärzte ohne Grenzen“ zeigt, ver-
suchen ihre Helfer – oft unter Einsatz des eigenen Lebens – die schlimmsten Folgen dieser Ka-
tastrophen zu lindern, indem sie eine medizinische Versorgung aufbauen, Nahrungsmittel, Be-
kleidung und Unterkünfte bereitstellen oder technische Geräte zum Einsatz bringen.
(aus: Politik, Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe, 2009)

Texterklärungen

a) Im UN-Sprachgebrauch werden humanitäre Katastrophen als „complex emergencies“ be-


zeichnet.
b) Die Aids-Epidemie raubt den afrikanischen Ländern die produktivsten Arbeitskräfte zwi-schen
15 und 49 Jahren.
c) Ärzte ohne Grenzen, frz.: Médecins Sans Frontiéres; 1971 in Paris gegründet, 1999 Frie-
densnobelpreis in Anerkennung ihrer weltweiten humanitären Arbeit.

Umweltkatastrophen

Eine Umweltkatastrophe oder ökologische Katastrophe ist eine von Menschen verursachte,
plötzliche und äußerst starke Beeinträchtigung der Umwelt, die die Krankheit oder den Tod von
vielen Lebewesen zur Folge hat. Dies macht den deutlichen Unterschied zur Naturkatastrophe aus,
die ihre Ursache in rein natürlichen, nicht vom Menschen beeinflussten Vorgängen hat.
Eine Umweltkatastrophe wird meist ausgelöst durch einen Betriebsunfall (wie z. B. der
Dioxin-Unfall von Seveso 1976, das Bhopalunglück von 1984, die nukleare Katastrophe von
Tschernobyl 1986, die Öltanker-Unfälle Amoco Cadiz 1978, Exxon Valdez 1989 oder Prestige
2002) und Verkehrsunfälle z. B. von Tanklastwagen mit Gefahrengut. Es kann sich aber auch um
die Folgen schleichender Umweltverschmutzung handeln, die dann in relativ kurzer Zeit gravierend
sind bzw. wahrgenommen werden wie z. B. der Treibhauseffekt, das Ozonloch oder das
Waldsterben. Im Bereich der Luftverschmutzung stellt die Smog-Katastrophe in London 1952
ein bekanntes Beispiel dar. Zu den Umweltkatastrophen gehören:

 Brandkatastrophe und Feuerkatastrophe


 Flutkatastrophe und Sturmflut
 Chemiekatastrophen
 Seuchen
 Ölpest

Einiges deutet darauf hin, dass Umweltkatastrophen eine große Rolle bei der Entwicklung
des Umweltbewusstseins spielen. Während die Umweltverschmutzung oft schleichend oder für
die menschlichen Sinnesorgane nicht wahrnehmbar ist, lösen Umweltkatastrophen durch ihre
Plötzlichkeit und Heftigkeit bei vielen Menschen Ängste und Sorgen aus und lassen so Umwelt-
bewusstsein und aktiven Umweltschutz wachsen.

Umweltkatastrophe als Schadensursache und Schaden

Die Häufigkeit großer Naturkatastrophen hat sich seit den 1960er-Jahren mehr als ver-
doppelt, die daraus resultierenden volkswirtschaftlichen Schäden sind auf das Siebenfache und die
versicherten Schäden auf das Vierzehnfache gestiegen. Immer mehr Menschen fallen den
Katastrophen zum Opfer. Verantwortlich für diese Entwicklung ist vor allem die zunehmende
Konzentration von Bevölkerung und Werten in Hochrisikogebieten wie z.B. an der Küste Floridas,
die immer wieder von verheerenden Hurrikanen heimgesucht wird.
Mit Ausnahme von Erdbeben sind praktisch alle Naturkatastrophen wetterbedingt. Wenn-
gleich eine Zunahme extremer Wetterereignisse heute noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden
kann, geht die Klimaforschung davon aus, dass die fortschreitende Erwärmung der Erd-atmosphäre
in den nächsten Jahrzehnten zu einem vermehrten Auftreten von Stürmen, Über-schwemmungen
und Dürren führen wird.
Das Jahr 2005 war vor allem durch Wetterkatastrophen geprägt. Rund die Hälfte der er-
fassten Schadenereignisse waren Stürme. Die Kosten, die sie den Volkswirtschaften verursachten,
beliefen sich auf über 185 Mrd. US-Dollar. Über 83 Mrd. US-Dollar versicherte Werte zer-störten
allein die Hurrikane in den USA, der Karibik und Mexiko. Die folgeschwerste humanitäre
Katastrophe löste ein Erdbeben aus, das im Oktober im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Indien
88000 Todesopfer forderte und zu den fünf schwersten der letzten hundert Jahre zählt. So viele
Todesopfer wurden in den letzten 25 Jahren nur noch zweimal verzeichnet: 1991 nach einer
Sturmflut in Bangladesch und 2004 nach dem Tsunami in Südostasien. Insgesamt kamen bei Na-
turkatastrophen 2005 mehr als 100000 Menschen zu Tode. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass
auch die versicherten Schäden mit 94 Mrd. US-Dollar eine noch nie da gewesene Dimen-sion
erreichten: die bisherige Rekordbelastung von 2004 verdoppelte sich. Die Zahl der Natur-
katastrophen lag mit etwa 650 dokumentierten Ereignissen im Durchschnitt der letzten 10 Jahre.
Umweltkatastrophen verursachen Schäden. Umweltschäden katastrophalen Ausmaßes
können durch Brandstiftung oder Achtlosigkeit und Unaufmerksamkeit ausgelöst werden, so die
zur Umweltkatastrophe erwachsende Brandkatastrophe oder Unfall eines Gefahrenguttransporters
zu Land, zu Luft oder zur See. Geringfügige Ursachen können sowohl durch den Ketten- oder
Domino-Effekt wie durch den Schmetterlingseffekt durchaus Naturkatastrophen auslösen. Doch
schon der durch Klimaveränderung vorbereitete katastrophale Flutschaden sprengt die Grenzen
des herkömmlichen Elementarschadens.
(aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie)

Nuklearkatastrophe von Fukushima

11. März 2011 – Aufgrund von Schäden an Stromversorgung und Kühlsystemen, welche
durch das große Erdbeben vom 11. März 2011 und den darauf folgenden Tsunami verursacht
wurden, kam es in drei Reaktoren und zwei Abklingbecken des Kernkraftwerks Fukushima (Fu-
kushima I) zur Überhitzung der Brennelemente. Es ereigneten sich mehrere Explosionen: Im Block
1 am 12. März, im Block 3 am 14. März und im Block 2 sowie Block 4 am 15. März. Bei diesen
Explosionen wurden bei Block 1 und 3 die äußeren Gebäudehüllen stark beschädigt und
radioaktives Material freigesetzt. Zudem brachen in den Blöcken 3 und 4 mehrere Brände aus und
setzten große Mengen an radioaktiven Stoffen frei. Zur behelfsmäßigen Kühlung wurde in die
Reaktorkerne von Block 1, 2 und 3 zunächst Reinwasser, dann mit Borsäure versetztes Meer-
wasser und letztlich wieder Reinwasser eingepumpt. Auch in die betroffenen Abklingbecken wurde
Wasser von außen her nachgeführt.
Seitens der japanischen Regierung wurden in mehreren Schritten Evakuierungsmaßnahmen
mit einem Radius von zuletzt 20 km angeordnet, von denen bislang etwa 80.000 Menschen
betroffen sind; in einem Umkreis von 30 km wurde den Bewohnern empfohlen, sich nicht ins Freie
zu begeben (dies betrifft 200.000 Menschen) und Fenster und Türen geschlossen zu halten; die
USA empfahlen wenige Tage nach der ersten Explosion eine Evakuierungszone von 80 km, davon
wären ca. 2 Mio. Menschen betroffen.
Nachdem die Reaktorgebäude so weit dekontaminiert waren, dass man sie betreten und die
vollständigen Datenaufzeichnungen der Unfälle bergen und auswerten konnte, berechnete der
Kraftwerksbetreiber Tepco verschiedene mögliche Abläufe der Kernschmelzen in den Reaktoren 1
bis 3. Nach einem der errechneten Szenarien war der größte Teil der Brennstäbe in Reaktor 1
bereits 16 Stunden nach dem Beben größtenteils geschmolzen.
(aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie)

China erhöht Fahigkeit zur Bekämpfung und Vorbeugung von


Naturkatastrophen

Am 12. Mai 2009 wird in China nicht nur dem verheerenden Erdbeben in der Provinz
Sichuan vor einem Jahr gedacht, sondern auch erstmals der Tag der Vorbeugung und Bekämp-fung
von Naturkatastrophen begangen. Chinas Regierung habe die wissenschaftliche Erforschung von
Naturkatastrophen wie Erdbeben und Hochwasser verstärkt und sei dabei, einen Mechanismus zur
Vorbeugung und Vorhersage von solchen Naturkatastrophen einzurichten. Dies erklärte Zou Ming,
der Leiter der Abteilung für Katastrophenbekämpfung im Ministerium für Zivile Angelegenheiten,
am Montag in Beijing. Die Katastrophenbekämpfung sei bereits in die sozioökonomische Planung
miteinbezogen worden und werde von der Regierung als wich-tiger Garant für die nachhaltige
wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung angesehen, sagt Zou Ming: "China wird mehrere
wichtige Projekte umsetzen, welche die Fähigkeit zur Katastrophenbekämpfung erhöhen und das
Notfallrettungssystem des Landes verbessern werden. Zu diesen Projekten gehören unter anderem
die Risikoüberprüfung und die Fähigkeit der Katastrophenbekämpfung in häufig von
Naturkatastrophen heimgesuchten Gebieten, Projekte zur Vorbeugung von Katastrophen sowie
Projekte zur Katastrophenbekämpfung mit Hilfe von Satelliten. Solchen Projekten wird in diesem
Jahr Priorität eingeräumt."
Zur Vorbeugung und Überwachung von Naturkatastrophen will China in Zukunft vor allem
die Vorteile seiner beiden Satelliten "Beidou" und "Xingzuo" nutzen. Parallel dazu will China
mehrere Beobachtungssatelliten ins All schicken, um die geophysikalischen Phänomene besser
erforschen zu können, bei denen ein Zusammenhang mit Erdbeben vermutet wird. Dazu Du Wei,
der Vizedirektor der Abteilung zur Erdbebenvorbeugung beim staatlichen seismologi-schen Amt:
"Wir haben bereits Ende 2008 ein Projekt zur Beobachtung der Erdbebenzonen in China
gestartet. Insgesamt stehen für dieses Projekt über 400 Millionen Yuan RMB zur Verfügung. Auf
diese Weise wird die Fähigkeit unseres Landes zur seismologischen Beobachtung und Erforschung
weiterhin erhöht."
Am Montag hat die chinesische Regierung erstmals ein Weißbuch über ihre Maßnahmen zur
Bekämpfung von Naturkatastrophen veröffentlicht. Aus dem Weißbuch gehen nicht nur die
Bemühungen und Erfolge Chinas im Bereich der Katastrophenbekämpfung in den vergangenen
Jahren hervor. Die chinesische Regierung verspricht darin auch, einen Mechanismus zur Be-
kanntmachung von Informationen im Katastrophenfall zu errichten. Der neue Mechanismus soll
sicherstellen, dass die Bevölkerung im Fall einer Katastrophe rechtzeitig und vollständig informiert
wird. Durch die transparente Berichterstattung soll das Kontrollrecht des Volkes gewährleistet
werden.
(Quelle: Radio China International, 11. Mai 2009)
Organisationen und Instrumente
kollektiver Sicherheit

Die neuen Instabilitäten in der Welt, die sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts durch
das Aufbrechen alter und das Entstehen neuer Konflikte herausgebildet haben – bei Zunahme des
Einsatzes von Gewalt –, fordern verstärkte Bemühungen zur Verwirklichung der Idee der kollekti-
ven Sicherheit.
Kollektive Sicherheit ist eine durch mehrere Staaten vertraglich vereinbarte Ordnung, in
der Gewaltanwendung untersagt und der Schutz jedes Staates einer umfassenden oder regionalen
Staatenorganisation übertragen ist.

 Die Bundesrepublik Deutschland hat beispielsweise im Grundgesetz festgelegt: „Der Bund kann
sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er
wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und
dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern“
(Art. 24 Abs. 2)

Kollektive Sicherheit beruht auf solchen Prinzipien, wie gegenseitiger Gewaltverzicht,


friedliche Streitbeilegung, Beistand im Falle der Friedensbedrohung durch Einzelne, Beseitigung
von Konflikturachen. Das Ziel, ein wirksames Sicherheitssystem zwischen Staaten oder Staaten-
gruppen zu schaffen, kann mithilfe bestimmter Maßnahmen erreicht werden. Dazu gehören:

a) Nichtangriffsverträge,
b) Rüstungskontrolle,
c) internationale Schiedsgerichtsbarkeit,
d) Neutralitätsabkommen
e) Konsultationen im Falle einer Friedensbedrohung
f) Abrüstungsdialog
g) Errichtung entmilitarisierter Zonen,
h) Aufstellung gemeinsamer Streitkräfte.

Verschiedene internationale Organisationen und Institutionen wirken seit Jahrzehnten für ein
System kollektiver Sicherheit. Das sind vor allem die Vereinten Nationen (UN), aber auch die Or-
ganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Internationale Nichtregierungs-
organisationen (INGOs), die nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft NATO.
Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts stehen sie vor neuen Herausforderungen und Aufga-
ben.

Texterläuterung: Kollektive Sicherheit ist abzugrenzen von kollektiver Verteidigung, bei der sich
Staaten in Bündnissen gemeinsam gegen eine äußere Bedrohung organisieren.

Vereinte Nationen und Weltfriedensordnung

Die Vereinten Nationen (UN) sind eine Staatenverbindung zur Sicherung des Weltfriedens
und zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg
als überstaatliche Organisation, vor allem ausgehend von den Erfahrungen des Kampfes gegen den
Nationalsozialismus und Faschismus, gegründet. Ihr Grundanliegen besteht in der Beilegung von
internationalen Streitigkeiten und Friedensbrüchen durch friedliche Mittel und in der Lösung von
Konflikten durch die Anwendung wirksamer Kollektivmaßnahmen.
Ziele und Aufgaben der UN

Die UN-Charta beinhaltet die Ziele und Grundsätze, die für alle Mitgliedstaaten bindend
sind. Sie ächtet den Krieg und betont den Grundsatz des Gewaltverbots, indem sie die Mitglied-
staaten verpflichtet, auf jegliche Androhung von Gewalt in den internationalen Beziehungen zu ver-
zichten (Art. 2). Zugleich verankert sie ausdrücklich das Recht zur individuellen und kollektiven
Selbtsverteidigung.
Hinsichtlich der Streitbeilegung unterscheidet die Charta zwei Vorgehensweisen, die ent-
sprechend dem Eskalationsgrad (der Zuspitzung) des jeweiligen Konflikts angewendet werden kön-
nen:

Friedliche Beilegung von Streitigkeiten Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch


(Kap. VI) des Friedens und bei Angriffshandlungen
(Kap. VII)
Bei Konflikten, die die internationale Si- Das können Sanktionsmaßnahmen sein, wie
cherheit bedrohen, sollen sich die Streitpar- Unterbrechung der wirtschaftlichen oder di-
teien „zunächst um eine Beilegung durch plomatischen Beziehungen, der Verkehrs-
Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, verbindungen und der Telekommunikation.
Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Ent- Es können aber auch „mit Luft-, See- oder
scheidung, Inanspruchnahme regionaler Landstreitkräften die zur Wahrung oder
Einrichtungen oder Abmachungen oder Wiederherstellung des Weltfriedens ... er-
durch andere friedliche Mittel eigener forderlichen Maßnahmen“ durchgeführt
Wahl“ bemühen. werden

 Einsätze von so genannten Blauhelm-Soldaten werden in der Charta nicht erwähnt, sie haben
sich in der Praxis entwickelt und gelten im Sinne der Charta als rechtmäßig.
 Der Einsatz der UN-Friedenstruppen zur Friedenserhaltung ist nur mit Einverständnis aller Kon-
fliktparteien möglich und bedarf der Zustimmung des Sicherheitsrates.

Eine wichtige Aufgabe ist der Abrüstungsdialog. Er wird von der Generalversammlung
wahrgenommen, gestützt auf die Arbeit der UN-Abrüstungskommission und auf die Genfer Abrüs-
tungskonferenz. Die Abrüstungskommission, die sich aus allen Mitgliedern der UN zusammensetzt,
ist das einzige universelle Diskussionsforum für Rüstungskontrollthemen.

Texterläuterungen

a) Vereinte Nationen, engl. = United Nations (UN); auch Organisation der Vereinten Nationen =
United Nations Organization (UNO). Die Vereinten Nationen wurden am 24.10.1945 als Nach-
folgeorganisation des Völkerbundes gegründet. Hauptsitz ist NewYork. Ihr gehören 193 Staaten
an (2011).
b) Die UN-Charta wurde am 26.06.1945 beschlossen. Die enthaltenen Ziele und Grundsätze sind
weltweit zu gültigen Normen des Völkerrechts und der kollektiven Sicherheit geworden.
c) Der Einsatz von UN-Streitkräften unterliegt der Zustimmung der vetoberechtigten ständigen
Mitglieder des Sichereheitsrats.
d) Die Genfer Abrüstungskonferenz umfasst 38 Staaten und tagt seit 1978 regelmäßig.

Struktur und Tätigkeit der UN

Die UN realisiert ihre Ziele und Aufgaben durch die Tätigkeit verschiedener Gremien: durch
Hauptorgane, Neben- und Hilfsorgane sowie durch eigenständige Sonderorganisationen.
Zu den Hauptorganen der UN gehören seit 1994 die Generalversammlung, der Wirtschafts-
und Sozialrat, das Sekretariat, der Sicherheitsrat sowie der internationale Gerichtshof. Neben- und
Hilfsorgane unterstützen die Arbeit der Hauptorgane, z.B. die Abrüstungskommission den Sicher-
heitsrat.
Unterorganisationen der UN sind u.a. das Kinderhilfswerk UNICEFF oder das Umwelt-
programm UNEP. Die Sonderorganisationen der UN sind als eigenständige internationale Orga-
nisationen durch Abkommen mit den UN verbunden.
Der UN-Sicherheitsrat (auch Weltsicherheitsrat) trägt die Hauptverantwortung für die Ein-
leitung und Durchführung von Maßnahmen zur Beilegung von internationalen Konflikten bzw. für
die friedliche Herbeiführung politischer Veränderungen. Er trifft als einziges Organ der UN für alle
Mitglieder verbindliche Entscheidungen. Von der Übereinstimmung der fünf Ständigen Sicherheits-
mitglieder hängt dabei ab, ob und mit welchen Maßnahmen in den einzelnen Fällen reagiert wird.

 Durch Wahrnehmung des Vetorechts blockierten sich die Antipoden des Ost-West-Konflikts in
der UN häufig gegenseitig und damit auch die Möglichkeiten aktiver Friedensgestaltung. So
blieb die Tätigkeit der UN bis 1990 vielfach auf Vermittlunsaufgaben beschränkt, wie z.B. im
Nahen Osten oder in Zypern. Nach Aufhebung der Ost-West-Konfrontation haben die Vereinten
Nationen eine Vielzahl an Resolutionen verabschiedet und damit die jahrelange Selbstblockade
überwunden. Allerdings wurden viele Resolutionen nicht umgesetzt oder verfehlten auch die
gewünschte Wirkung, wie z.B. das Wirtschaftsembargo gegen den Irak im 2. Golfkrieg 1991,
das weit stärker die Bevölkerung als das diktatorische Regime traf.

Seit den 1990er-Jahren sind die Vereinten Nationen in neuer Weise gefordert – sowohl
hinsichtlich der Ausgestaltung eines wirksamen Systems der kollektiven Sicherheit wie auch hin-
sichtlich der Demokratisierung ihrer Entscheidungsstrukturen und der Bewältigung ihrer Finanz-
probleme, die immer weniger Friedensmissionen und Blauhelmeinsätze zulassen.

 Im letzten Jahrzehnt stellten sich vermehrt Aufgaben der militärischen Friedenssicherung. Die
UN, die nicht über eine eigene Streitmacht verfügt, ist deshalb auf Truppenkontingente ihrer
Mitglieder angewiesen.
 Verschiedene Missionen der UN scheiterten, wie z.B. die in Bosnien und Herzegowina 1995
oder in Sierra Leone 2000, weil die militärischen und zivilen Möglichkeiten klassischer Blau-
helmeinsätze in solchen komplexen Konflikten nicht ausreichten.
Schließlich verstärkten auch das Interventionsdilemma, das durch den vom UN-Sicherheitsrat
nicht gebilligten Einsatz der NATO im Kosovo-Konflikt 1999 entstanden ist, sowie der von den
USA und Großbritannien geführte Krieg gegen Irak 2003 ohne UN-Mandat die Forderung,
Grundlage und Spielraum ihres Handelns neu zu prüfen und weiter auszugestalten.

Texterläuterungen

a) Bis 1994 gehörte der Treuhandrat noch zu den Hauptorganen der UN.
b) UNICEFF, Abkürzung für engl. United Nations (International) Childrens (Emergency) Fund =
Kinderhilfsfonds der UN (Weltkinderhilfswerk); wurde 1946 gegründet und ist heute in 160
Entwicklungsländern tätig.
c) UNEP, Abkürzung für engl. United Nations Environment Programme = Umweltprogramm der
Vereinten Nationen; wurde 1972 gegründet.

Agenda für den Frieden

Bei der anstehenden Neuprofilierung des Wirkens der UN steht der Ausbau des Konzepts
des Peace-Keeping (der Friedenssicherung) im Vorfeld von Gewaltausbrüchen bzw. die Konflikt-
prävention im Mittelpunkt. Für dieses Konzept wurde 1992 mit der „Agenda für den Frieden“, die
eine abgestufte, auf verschiedene Konfliktsituationen flexibel anwendbare Orientierung beinhaltet,
der Grundstein gelegt.

Agenda für den Frieden


Vorbeugende Friedensschaf- Friedensiche- Friedenskonsoli-
Agenda- Diplomatie fung (peace- rung (peace- dierung (post-con-
Prinzip (preventive making) keeping) flict peacebuil-
diplomacy) ding)
Ziel Spannungsabbau, Beendigung Entschärfung Sicherung von Frie-
Vermeidung einer eines offenen einer entstan- den nach Beendi-
Konfliktsituation Konflikts denen Kon- gung eines Kon-
fliktsituation flikts
Schritte/Maß-  Früherkennung  Verhand-  Einsatz  Entwaffnung
nahmen eines Konflikts lung, Ver- von UN- der Kriegspar-
durch Beobach- mittlung, Friedens- teien
tung Schieds- truppen,  Schadensbesei-
 Verhandlungen, spruch (z.B. u.a. zur tigung und Hilfe
Hilfe bei Ver- durch den Sicherung bei Neuaufbau
trauensbildung Internatio- humanitä-  Flüchtlingsbe-
zwischen Kon- nalen Ge- rer Aktio- treuung, Schutz
fliktparteien richtshof), nen der Menschen-
wirtschaft-  Überwa- rechte
liche oder chung der  Förderung der
politische Einhaltung Vertrauensbil-
Sanktionen von Frie- dung
 Friedenser- densab-
zwingung kommen
durch Ein- oder eines
satz von Waffen-
Truppen stillstands

Die Vorschläge der Agenda schufen seit Ende 1990er-Jahre neue Optionen für das Wirken
der Vereinten Nationen, so z.B. durch mehrere Missionen, die sie im Prozess der Erreichung der
Unabhängigkeit Osttimors von der Zentralregierung Indonesiens wahrnahmen:
 UNAMET (UN Assistance Mission in East Timor) ab Juni 1999 mit dem Auftrag, ein Unab-
hängigkeitsreferendum zu organisieren und durchzuführen – im August 1999 stimmten über
80% der Bevölkerung zu;
INTERFET (multinationale Streitmacht unter Führung Australiens) – im September 1999 be-
auftragte der UN-Sicherheitsrat Australien, Frieden und Sicherheit nach schweren Zwischen-
fällen, die von proindonesischen Milizen und indonesischem Militär verursacht wurden, wieder-
herzustellen und UNAMET zu schützen;
UNTAET (UN Transitional Authority in East Timor) ab Oktober 1999 mit dem Auftrag, den
Aufbau eigenständiger staatlicher und politischer Verwaltungsstrukturen durch eine zivile Über-
gangsverwaltung und humanitäre Hilfsmaßnahmen zu unterstützen;
UNMISET (UN Mission of Support in East Timor) ab Mai 2002 mit dem Auftrag, stabile poli-
tische und gesellschaftliche Verhältnisse nach erreichter Unabhängigkeit zu sichern und Hilfe
beim Aufbau staatlicher Strukturen – z.B. neuer Polizeieinheiten – zu geben.

Trotz einer Reihe von Misserfolgen und vorhandener Schwächen verfügen die Vereinten
Nationen über vielfältige Erfahrungen bei der Friedensschaffung, -sicherung und –konsolidierung.
Das Spektrum erfolgreich eingesetzter Mittel und Verfahren reicht von Blauhemdeinsätzen und Be-
obachtermission über humanitäre Hilfe, Demobilisierungs- und Reintegratiosprogramme bis zum
Einsatz von Sondergesnadten.
Die Vereinten Nationen sind das umfassendste Instrument multilateraler Friedenssicherung.

Texterläuterung: Die Agenda für den Frieden wurde 1992 von dem damaligen Generalsekretär
der UN, Boutros Ghali, vorgelegt. Es sind Vorschläge für die Stärkung der friedenssichernden
Rolle der Vereinten Nationen.
(aus: Lehrbuch für die gymansiale Oberstufe, 2009)

OSZE – Sicherheit und Zusammenarbeit für Europa

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) versteht sich als
eine „regionale Abmachung der UN“ und ist ein Hauptinstrument zur Frühwarnung, Konfliktverhü-
tung und Krisenbewältigung sowie der friedlichen Beilegung von Konflikten in Europa.
Sie ging 1995 aus der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)
hervor. Die KSZE – eine internationale Zusammenkunft von 33 europäischen Staaten, den USA
und Kanada – arbeitete von 1973 bis 1990. Sie verabschiedete 1975 die „Schlussakte von Helsinki“,
eine politissche Verpflichtung in drei Körben.
Bedeutsam waren die Folgetreffen zu Fragen von Abrüstung und Entspannung.
Mit der Charta von Paris für ein neues Europa verständigten sich die OSZE-Staaten 1990
auf Grundsätze ihrer Zusammenarbeit. Seit 1995 nimmt die OSZE als regionale Staatenorganisation
im euro-atlantischen Gebiet „zwischen Vancouver und Wladiwostok“ grundlegende nichtmilitäri-
sche Aufgaben für die gemeinsame Sicherheit wahr. Sie ist mit 55 Mitgliedstaaten die derzeit größ-
te sicherheitspolitische Organisation für Europa und einige angrenzende Regionen.

Texterläuterungen

a) Die drei „Körbe“ der Schlussakte von Helsinki beinhalten:


1. Prinzipien der Beziehungen der Staaten untereinander;
2. Zusammenarbeit in Wirtschaft, Handel, Wissenschaft, Technik, Umwelt;
3. menschliche Kontakte, Informationszugang, Kulturaustausch.
b) Wichtige Grundsätze der Zusammenarbeit der OSZE-Staaten sind: Rechtsstaatlichkeit, Markt-
wirtschaft, Achtung der Menschenrechte, Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Der OSZE gehören alle Staaten Europas sowie die zentralasiatischen, transkaukasischen und
nordamerikanischen Staaten an.

Struktur und Wirken der OSZE

Die OSZE umfasst eine feste Struktur beratender und beschließender Organe, operativer
Institutionen sowie kurz- und langfristiger Missionen.
Diese Organe und Einrichtungen können in allen Konfliktphasen auf spezifische Weise
eingesetzt werden:

- Die politischen Organe der OSZE dienen in erster Linie als Podium für die Konsultationen
und gegebenenfalls als Verurteilung von Fällen gewaltsamer Konfliktaustragung. Sie haben
allerdings nicht die Kompetenz, Sanktionen zu verhängen.
- Politische Mechanismen der Organisation wurden zwischen 1989 und 1991 festgelegt. Es sind

a) Der Mechanismus für Konsultationen und Zusammenarbeit in Bezug auf ungewöhnliche


militärische Aktivitäten,
b) Der Mechanismus für Konsultationen und Zusammenarbeit in dringenden Situationen,
c) Der Mechanismus der menschlichen Dimension, der darauf zielt, durch Dialog und
Zusammenarbeit die Achtung von Menschenrechten, Grunsdfreiheiten, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit zu fördern.
- Die OSZE hat ihrem Wirken verschiedene Streitbeilegungsprozeduren zugrunde gelegt:

a) die Hinzuziehung einer Drittpartei zu Beratungen über die friedliche Beilegung von Streitig-
keiten zwischen Teilnehmerstaaten (Valetta-Mechanismus),
b) die Anwendung von Vergleichs- oder Schiedsverfahren mittels einer Vergleichskommission
oder durch den Gerichtshof.
- Von zentraler Bedeutung für das Wirken der OSZE ist ihr flexibles Instrumentarium: Verbin-
dungsbüros „vor Ort“ und Entsendung von Missionen. Die seit 1992 eingesetzten Langzeitmis-
sionen dienen der Krisenfrüherkennung, vorbeugender Krisenprävention, friedlicher Beilegung
laufender Konflikte oder nachsorgender Krisenbewältigung. Sie umfassen solche Tätigkeiten
wie Untersuchung von Konfliktursachen, Tatsachenermittlung, (Wahl-) Beobachtung, Überwa-
chung und Förderung der Einhaltung der Menschen- und Grundrechte sowie gemeinsamer
Grundprinzipien und Vereinbarungen, Hilfe beim Aufbau rechtstaatlicher Strukturen. Es gab
bisher zahlreiche Missionen mit unterschiedlichen Zielsetzungen.

 Von 1992/93 bis 2001 waren Missionen in Estland und Lettland tätig, um Belange der russi-
schen Minderheiten zu schützen.
Nach dem Kosovo-Krieg 1999 wurde eine Mission entsandt, um u.a. Wahlen organisatorisch zu
unterstützen und zu übewachen.
Seit 1999 ist eine Mission zur Überwachung der Grenze zwischen Georgien und dem russischen
Tschetschenien tätig, um weitere Konflikteskalationen zu verhindern.

Texterläuterungen

a) Die Aufgaben, die dem Mechanismus der menschlichen Dimension verpflichtet sind, werden in
erster Linie von den OSZE-Langzeitmissionen wahrgenommen.
b) Oftmals fördert die bloße Präsenz einer internationalen Organisation einen Rückgang der
Gewalttätigkeit.
(aus: Lehrbuch für die gymansiale Oberstufe, 2009)

Internationale Nichtregierungsorganisationen

Nichtregierungsorganisationen(NGOs) leisten wichtige Beiträge bei der vor- und nach-


sorgenden Bearbeitung von Konflikten, insbesondere durch Dialog und Aussöhnung sowie Aufbau
friedlicher zivilgesellschaftlicher Strukturen.
Viele in den letzten Jahrzehnten entstandene NGOs arbeiten im transnationalen Bereich.
Sie verfolgen grenzüberschreitende Zielsetzungen und engagieren such in bestimmten Tätigkeits-
bereichen.

NGO/INGO Tätigkeitsbereich
Internationale Kompagne zum Verbot Kriegsopferschutz
von Landminen
Kinderhilfswerk Terre des Hommes Entwicklung
Internationle Ärzte für die Verhütung Friedenserhaltung
des Atomkriegs
Gesellschaft für bedrohte Völker Minderheitenschutz

Tätigkeit der NGOs

Entsprechend ihrem spezifischen Organisationscharakter und ihren grundlegenden


Zielstellungen werden NGOs vor allem tätig durch
- Mobilisierung der Öffentlichkeit durch konkrete Aktionen oder öffentlichkeitswirksame Kam-
pagnen;
- Sammlung von Expertenwissen, vor allem durch „vor Ort“-Arbeit;
- Lobbyarbeit bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern;
- Verknüpfung globaler und lokaler Sichtweisen und Aufgaben („Glokalisierung“), indem sie
globale Probleme thematisieren und lokale Lösungsansätze bearbeiten.

 Nach der Beseitigung des Taliban-Regimes in Afghanistan 2001 erarbeitete Amnesty Interna-
tional mehrere öffentliche Berichte, so über die rechtliche Situation im Land, über die Lage von
Frauen und von Flüchtlingen. Diese Berichte enthielten zugleich eine Reihe von Verbesserungs-
vorschlägen.

Die Zusammenarbeit mit den NGOs und ihren Experten wird immer häufiger von den inter-
nationalen Organisationen – der UN, der OSZE oder dem Europarat – gesucht.

 Im Rahmen ihrer für das Jahrzehnt 2000-2010 ausgerufenen „Internationalen Dekade für eine
Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit zugunsten der Kinder dieser Welt“ hat die UN den
NGOs eine wichtige Rolle zugemessen. Unter Federführung von UNESCO und UNICEF sind
vor allem NGOs tätig, um

- Projekte zur Förderung weltweiter Friedenserziehzung von Kindern zu entwickeln, was die
Zusammenarbeit mit staatlichen Einrichtungen einschließt;
- einen Erfahrungsaustausch mit ähnlichen Gruppen zu führen und dabei moderne Kommu-
nikatiosmittel (vor allem das Internet) zu nutzen,
- einen weltweiten Dialog zu entwickeln und zu pflegen.

Texterläuterungen. Nichtregierungeorganisationen, engl. Non Governmental Organization =


nichtstaatliche Organisation; International tätige NGO werden auch als INGO bezeichnet.
NGOs werden im Jahrbuch internationaler Organisationen der Union of International Asso-
ciations registriert, wenn sie folgenden Kriterien genügen:

- Unabhängigkeit von Staat und Wirtschaft,


- dauerhafte Organisationsstrukturen;
- professionelle Arbeits- und demokratische Binnenstruktur,
- Bearbeitung von Problemen in Wahrnehmung von Gemeinwohlinteressen,
- Grenzüberschreitende Zielsetzungen,
- Mitgliedschaft, Finanzierung und Amtsträger aus mindestens drei Staaten.
(aus: Lehrbuch für die gymansiale Oberstufe, 2009)

NATO und Bundeswehr

Die nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft NATO und die Bundeswehr sind militäri-


sche Instrumente, deren Rolle sich nach Aufhebung der Ost-West-Konfrontation grundlegend ver-
ändert hat. Seit 1990 passen sie sich der neuen sicherheitspolitischen Lage, die in der Welt entstan-
den ist, an. Sie unterliegen selbst einem Wandel.

NATO

Die NATO ist eine zwischenstaatliche Organisation ohne Hoheitsrechte, in der die Mitglie-
der ihre volle Souverenität behalten.
Zivile und militärische Organisation Organisation der NATO

Das Grundkonzept der NATO war seit ihrer Gründung, abschreckend und kriegsverhindernd
zu wirken und ein Gegengewicht zu den Streitkräften der verbündeten osteuropäischen Staaten (ab
1955 im Warschauer Pakt) zu bilden. Nach der Auflösung des Warschauer Pakts 1991 verlagerte
sich die NATO-Strategie auf vorausschauende Konfliktverhütung, internationale Konfliktbewälti-
gung und Friedenssicherung.
Seit 1999 wirkt die NATO auf der Grundlage eines neuen strategischen Konzepts. Es be-
inhaltet traditionelle und neue Aufgaben.
Das neue strategische Konzept orientiert auf vier Aufgabenfelder:

1. auf das Bündnis als Fundament für ein stabiles euro-atlantisches Sicherheitsumfeld,
2. auf das Bündnis als wesentliches transatlantisches Forum für Konsultationen unter den Verbün-
deten und für sachgerechte Koordinierung ihrer Bemühungen in den Bereichn, die sie gemein-
sam angehen,
3. auf die Stärkung von Sicherheit und Stabilität des euro-atlantischen Raums durch Krisenbewäl-
tigung,
4. auf Abschreckung und Verteidigung im Falle von Aggressionsdrohungen oder Angriff gegen
einen NATO-Staat.
Bereits ab 1992 engagierte sich die NATO militärisch außerhalb ihres Bündnisgebietes.

 In Bosnien und Herzegowina bildete sie ab 1995 den Kern der multinationalen Friedenstruppen
IFOR und SFOR. In den Kosovo-Konflikt griff die NATO 1999 mit Luftangriffen ein und be-
teiligte sich maßgeblich an der internationalen Ordnungsstreitmacht KFOR.

Die neuen Aufgabenfelder der NATO sind teilweise noch umstritten, vor allem unter zwei
Aspekten:

Gewichtung im Verhältnis zur alten Mandatierung (Auftrag) für


Kernaufgabe kollektiver Verteidigung Kriseneinsätze
Viele europäische Staaten befürchten, dass Sie soll in der Regel durch den UN-
Kriseneinsätze der NATO zu stark durch Sicherheitsrat erfolgen – darin wird die
die Interessen der Weltmacht USA Gefahr einer Blockierung von NATO-
dominiert werden; deshalb wird verstärkt Einsätzen durch Veto-Staaten (z.B. China)
für die Beibehaltung der ursprünglichen gesehen; ein Gegenvorschlag ist die
Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung Selbstmandatierung, ein anderer das Setzen
plädiert. auf Entscheidungsfindungen im Rahmen der
UN.

Texterläuterungen

a) NATO: Abk. für North Atlantic Treaty Organization = Nordatlantikpakt. Die NATO wurde am
4. April 1949 von zwölf Staaten als westliches Verteidigungsbündnis gegründet. Weitere Mit-
glieder traten in den Folgejahren bei, so u.a. die BRD 1955, 1999 Polen, Ungarn und Tsche-
chien. 2004 kamen sieben osteuropäische Staaten hinzu.
b) IFOR: Abk. für engl. Implementation Force = Umsetzungstruppe; internationale Friedenstrup-
pe mit UN-Mandat und unter NATO-Kommando zur militärischen Absicherung und Umsetzung
der für Bosnien und Herzegowina beschlossenen Friedensvereinbarungen; endete 1996, wurde
durch SFOR fortgeführt.
c) SFOR: Abk. für engl. Stabilizatuion Force = Stabilisierungstruppe; internationale
Friedenstruppe in Bosnien und Herzegowina.
d) KFOR: Abk. für Kosovo Force, seit 1999 im Einsatz befindliche internationale Friedenstruppe
zur militärischen Absicherung einer Friedensregelung.
(aus: Lehrbuch für die gymansiale Oberstufe, 2009)

Neue Rolle der Bundeswehr

Die seit den 1990er-Jahren neue sicherheitspolitische Lage in Europa und die veränderten
Aufgaben der NATO führten zu Veränderungen für die Bundeswehr.
Im Rahmen der deutschen Sicherheitspolitik hat die Bundeswehr den Auftrag,
- Deutschland und seine Staatsbürger gegen politische Erpressung und äußere Gefahr zu
schützen,
- die militärische Stabilität und die Integration Europas zu fördern,
- Deutschland und seine Verbündeten zu verteidigen,
- dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit im Einklang mit der Charta der Vereinten
Nationen zu dienen,
- bei Katastrophen zu helfen, aus Notlagen zu retten, humanitäre Aktionen zu unterstützen.
Darin widerspiegeln sich traditionelle und neue Aufgaben.
Aufgaben und Umbau der Bundeswehr

Ende der 1990er-Jahre wurde dem Wirken der Bundeswehr als neuer Grundsatz die „Fäh-
igkeit zum regional begrenzten Kriseneinsatz“, der die Fähigkeit zur kollektiven Bündnis- und Lan-
desverteidigung einschließt“, zugrunde gelget. Mit der Orientierung auf Kriseneinsätze wurde der
Umbau der Bundeswehr eingeleitet.

 „Kern dieser Bundeswehr müssen schnell verfügbare, präsente Einsatzkräfte von Heer, Luft-
waffe und Marine sein, die für die ganze Breite friedensunterstützender Einsätze und für jede
Form der kollektiven Verteidigung im Bündnis geeignet sind. ... Das Personalstärkeverhältnis
der Teilstreitkräfte verändert sich. Luftwaffe und Marine werden einen größeren Anteil einneh-
men als bisher. Das Heer wird absolut und relativ kleiner.“
(Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“, 2000, S. 48)

Mir der Veränderung der Grundaufgaben der Bundeswehr hat sich die Debatte um eine
Wehrreform verstärkt. Eine zentrale Frage, die mit unterschiedlichen Positionen vertreten wird, ist
die nach Erhalt der Wehrpflichtarmee oder ihrer Ablösung durch eine Berufsarmee.

Pro Berufsarmee Pro Wehrpflichtarmee


Teilnahme an multinationalen Kriseneinsätzen Bündnissolidarität in der NATO ver-
im Rahmen der UNO, NATO, NATO, OSZE pflichtet zur erweiterbaren Verteidigungs-
oder EU erfordern ein besonderes Krisenmana- fähigkeit der Bundeswehr im Falle einer
gement und gut ausgebildete Spezialkräfte. größeren Bedrohung und unter Beachtung
der strategischen Lage Deutschlands in
Europa.
Wehrpflicht bedeutet Beschränkung individuel- Die Wehrpflicht fördert die gesellschaft-
ler Freiheit; das ist nur in einer zugespitzten liche Anerkennung der Bundeswehr.
sicherheitspolitischen Lage gerechtfertigt.
Eine notwendig bessere Ausrüstung der Armee Die hohen Kosten einer Umstellung zur
kann durch Mittelumschichtung von Personal- Berufsarmee können vermieden werden.
kosten erreicht werden. Zudem können für die Berufsarmee gute
Nachwuchskräfte gewonnen werden.
Mit der Entscheidung des Europäischen Ge- Die Zukunft des bisherigen Zivildienstes
richtshofes, dass auch Frauen Militärdienst in seiner sozialipolitischen Bedeutung ist
ausüben können, entsteht ein größerer Perso- an den Erhalt der Wehrpflicht gebunden.
nalüberhang.
Texterläuterungen

a) Zwischen 1990 und 2002 reduzierte sich der Umfang der Streitkräfte um ca. 43%. Umbaupläne
von 2004 sehen vor, die Bundeswehr bis 2010 dreifach zu gliedern:

- Eingreifkräfte (etwa 35 000 Soldaten,


- Stabilisierungskräfte (etwa 70 000),
- Unterstützungskräfte (etwa 170 000).

b) Das Bundesverfassungsgericht stellte in einem Beschluss vom 20.2.2002 fest: „Die gegenwärtige
öffentliche Diskussion für und wider die allgemeine Wehrpflicht zeigt sehr deutlich, dass eine
komplexe politische Entscheidung in Rede steht. Die Fragen beispielsweise nach Art und Umfang
der militärischen Risikovorsorge, der demokratischen Kontrolle, der Rekrutierung qualifi-zierten
Nachwuchses sowie nach den Kosten einer Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee sind sol-che der
politischen Klugheit und ökonomischen Zweckmäßigkeit, die sich nicht auf eine verfas-
sungsrechtliche Frage reduzieren lassen.“
(aus: Lehrbuch für die gymansiale Oberstufe, 2009)
c) Die Personalstruktur der Bundeswehr ist seit 1990 in mehreren Schritten den veränderten
Anforderungen angepasst worden. Gemäß dem jetzt gültigen Personalstrukturmodell (PSM
2010) hat die Bundeswehr seit 2010 eine Friedensstärke von etwa 250.000 Soldaten und
75.000 zivilen Mitarbeitern. Etwa 20 Prozent der Soldaten sind noch Wehrpflichtige, die
übrigen sind Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit. Mit der Neuausrichtung der Bundeswehr
ist seit 2011 eine neue Zielgröße festgelegt worden. Zukünftig ist ein Gesamtumfang von bis zu
185.000 Soldaten vorgesehen, der sich aus 170.000 Zeit- und Berufssoldaten inklusive
Reservisten sowie aus 5.000 bis 15.000 Freiwillig Wehrdienstleistenden zusammensetzt.
Während des Kalten Krieges verfügte die Bundeswehr über eine Sollstärke von etwa 495.000
Soldaten. Nach der Wende wurde im Rahmen des zwei-plus-vier-Vertrags eine Obergrenze von
370.000 Soldaten für die Bundeswehr festgelegt. Diese Festlegung ist bis heute völkerrechtlich
bindend.
Interkulturelle Kommunikation
LERNWORTSCHATZ

das Ansehen, das A. ist gut/schlecht; die Anspielung, -en, eine A. machen auf (A); der Antrag,
Anträge, einen A. stellen; aufbauen, die Beziehungen a.; die Aufmerksamkeit, die A. richten auf
(A); der Aufwand, Aufwände, (k)einen großen A. betreiben; durchdénken, einen Fall d.; sich
einordnen in (A); einschätzen; empfinden als (A); erleben; die Etikette, -n; die Feindschaft, -en;
die Fusion, -en; gehorchen; gelten als (N); die Gewohnheit, -en; die Herkunft; das Image, das I.
beeinflussen; die Improvisation, -en; improvisieren; die Integration, die europäische I.;
integrieren; interkulturell; die Kanzlei, -en; das Klischee, -s; die Kommunikation; kommunizieren;
der Kompromiss, -e; der Konflikt, -e, K. lösen; der Konsens, -e; das Konsensmodell, -e; lösen,
einen (Ausnahme)fall l.; die Manieren (PL.) (= die Umgangsformen); das Missverständnis, -se;
das Protokoll, -e; schätzen; der Schiffbruch, S. erleiden (= scheitern) die Spitzenkraft, - kräfte;
das Stereotyp, -e; überbr´ücken, Unterschiede ü.; die Übersiedelung; vernachlässigen; das
Vorurteil, -e; der Wert, -e, der W. bemisst sich/ist abhängig von (D);
der Wirtschaftsmotor, -en

Aufgabe 1. Lesen Sie zunächst die Berichte “Wie Franzosen die Deutschen in Unternehmen
sehen”und erfüllen Sie dann die darauf folgende Aufgabe.

Erfahrungsbericht 1

“Ja, die Zusammenarbeit mit den Deutschen ist nicht immer einfach. Ich will einen präzisen
Fall nennen. Letztes Jahr wollten wir Kunden nach Deutschland schicken, was wir schon lange
nicht mehr getan haben. Wir hatten das Ganze über sechs Monate verteilt und dann sagten die Deut-
schen ab.
´Nein, wir können sie nicht empfangen. Unser Versuchszentrum ist erst in einem Jahr fer-
tig.´ Wir erklärten ihnen, dass sie keinen großen Aufwand zu betreiben hätten. Aber die Deutschen
sagten: ‘Nein, es geht nicht.’
Wir haben uns trotzdem durchgesetzt. Die Deutschen waren sauer, weil sie die Kunden nicht
unter bestmöglichen Bedingungen empfangen konnten. Wenn alles exakt geplant gewesen wäre, zu
dem Zeitpunkt, den sie uns genannt hatten, dann wäre ganz bestimmt alles perfekt gewesen.
Die Kunden waren aber sehr zufrieden. Auf französischer Seite meint man, das das Ganze
nicht übel war; für die Deutschen ist es sehr, sehr schlecht gelaufen.
Wissen Sie, in Frankreich sagen wir uns, dass ein Jahr zu warten vollkommen lächerlich ge-
wesen wäre, denn es ging nur um Zweitagesbesuche, die man notfalls auch im-provisieren kann.
Improvisation, das kennen sie nicht bzw. davon wollen sie nichts wissen.
Wir lösen 20 % der Ausnahmefälle. Die Deutschen durchdenken 80 % der Fälle, und die 20
% Ausnahmen, die vernachlässigen sie notfalls.
Darin liegt aber wohl auch ihre Stärke auf industriellem Gebiet.”

Erfahrungsbericht 2

“Auf juristischem Gebiet ist die deutsch-französische Zusammenarbeit die reinste Katastro-
phe! Die Deutschen sind sehr viel diskursiver und weit weniger synthetisch als die Franzosen.
Ein Freund von mir, ein Anwalt, arbeitete mit einer Kanzlei in Paris, die einen Vertreter in
München hatte. Beide waren mit einem Fall beschäftigt, den er ihnen geschickt hatte. Die Antwort
aus München kam ziemlich schnell, aber mit zehn Kilo Papier, und die Franzosen sagten: ‘Was
denken die sich eigentlich dabei? Wie sollen wir denn die Zeit finden, das alles zu lesen, zu durch-
denken und zusammenzufassen? Die Deutschen können wirklich nichts.’
Die Deutschen baten die Franzosen um ein Dossier; das dauerte drei Wochen, und es kamen
drei Seiten. Die Deutschen meinten: ‘Also, diese Franzosen! Ein Haufen Spaß-vogel, Dilettanten
und Faulpelze.’
Eine Synthese zu machen, das ist effizienter, kann aber zu vielen Missverständnissen führen.
Und das Problem dabei, wenn man nicht bis zum Anfang zurückgeht, wie das die Deutschen immer
tun, besteht darin, dass man vieles nicht versteht. Unsere deutschen Partner erhalten oft sehr synthe-
tische Briefe von Franzosen in hochrangiger Stellung. Und da verstehen sie nicht, was gemeint ist.
Die Schreiber gehen einfach davon aus, dass sie so einiges schon wissen. Das ist aber nicht immer
der Fall.”
(aus: Exportwege neu, Kursbuch 3, Kapitel 3)

 Beschreiben Sie die Probleme zwischen Deutschen und Franzosen, die jeweils vorliegen.

Probleme Bericht 1 Bericht 2


Worum geht es?
Probleme der Franzosen
mit den Deutschen
Probleme der Deutschen
mit den Franzosen
mögliche
Ursachen/Hintergründe
Aufgabe 2. Lesen Sie die folgenden Texte und erfüllen Sie dann die nach dem Text
stehenden Aufgaben.

Eine seltsame Alchemie zwischen Deutschen und Franzosen.

a) Deutschland und Frankreich sind nach wie vor die Wirtschaftsmotoren der Europäischen Union.
Die beiden Nationen stellen die größten Volkswirtschaften in Europa dar und haben seit dem Be-
ginn der Europäischen Integration in den 1950er-Jahren sowie dem Èlysée-Vertrag von 1963 ihre
Beziehungen immer weiter ausgebaut. Das betrifft besonders die Wirtschaft. Allein das Handelsvo-
lumen zwischen den beiden Staaten belief sich 2007 auf 130 Milliarden Euro. 9,6 % seiner Exporte
führte Deutschland in das Nachbarland im Westen aus, für Frankreich beliefen sich die Ausfuhren
nach Deutschland im selben Zeitraum sogar auf 14,5 % seines Gesamtexports. Sehen lassen kann
sich auch die Zahl der grenzüberschreitenden Fusionen. Längst vergessen scheint die unheilvolle
Geschichte der beiden Länder, die im 19. und 20. Jahrhundert drei große Kriege gegeneinander
führten und deren Feindschaft erst mit der Annäherungspolitik von de Gaulle und Adenauer Ende
der 1950er-Jahre abgebaut werden konnte.
b) “Eine seltsame Alchemie stellt sich ein, wenn Deutsche und Franzosen zusammentref-fen”, hat
Jacques Pateau beobachtet, Professor für interkulturelles Management an der Technischen Univer-
sität Compiégne nördlich von Paris, zu dessen Kunden namhafte Unternehmen wie Aventis und
EADS gehören. 1999 veröffentlichte er seine Forschungsergebnisse über die Probleme deutsch-
französischer Firmen. Auf Deutsch erschien das Buch im selben Jahr unter dem Titel “Die seltsame
Alchemie in der Zusammenarbeit von Deutschen und Franzosen” im Campus Verlag Frankfurt/-
Main.
Einen wesentlichen Unterschied sieht Pateau in dem eher auf Meinungsverschiedenheit
(Dissens) angelegten Individualismus der Franzosen und dem Konsensmodell der Deutschen, in
dem der Einzelne sich in eher kollektiv formulierte Ziele einordnet.

c) Inzwischen ist die deutsch-französische Partnerschaft und Freundschaft längst Alltag. Der Eu-
phorie folgte zunehmend Nüchternheit in den Beziehungen und anfängliche Neu-gierde auf den
jeweils fremden Nachbarn wich einer gelassenen Gleichgültigkeit. So geht in beiden Ländern die
Bereitschaft, die Sprache des anderen zu lernen, stetig zurück. Allzu leicht könnte man da ver-
gessen, dass dieser Alltag in den Geschäftsbeziehungen nicht unproblematisch ist.
Deutsche und Franzosen haben es nicht immer leicht miteinander, besonders wenn es um die
Teamarbeit in deutsch-französischen Unternehmenskooperationen geht, wo ein möglichst reibungs-
loses Miteinander gefragt ist. Doch oft funktioniert die Zusammenarbeit im Detail nicht, was nicht
nur an den mangelnden Sprachkenntnissen der Partner liegt.
d) Nach Pateaus Erkenntnissen kommunizieren Deutsche eher direkt, sind langsamer, ge-nauer,
detaillierter als Franzosen. Sie wirken bieder und versuchen sich unterschiedlichen Rahmenbedin-
gungen anzupassen. Auf die Franzosen wirken sie starr und unflexibel. Einen eher spontanen bis
chaotischen Eindruck machen die Franzosen dagegen auf die Deutschen. Ihre Kommunikation ver-
läuft schneller, spielerischer, leichtfüßiger und voller An-spielungen, die sie allerdings immer nur
aus ihrem französischen Umfeld beziehen – welches ein Deutscher meist nicht kennt und deshalb
nicht versteht. Die französischen Vertriebsleute eines deutschen Autozulieferers faxten zum Bei-
spiel ihrer Zentrale, sie würden nächste Woche Besuch von PSA Peugeot Citroё erhalten. Es stand
nicht ausdrücklich drin, aber die Franzosen meinten: „Helft uns bei unserem Schlüsselkunden,
schickt jemanden aus Deutschland dazu“, berichtet Pateau. Die Deutschen zuckten jedoch nur mit
den Schultern, denn sie kapierten überhaupt nichts. Die Unterschiede zeigen sich auch bei den Ar-
beitsmethoden. Französische Ingenieure sind oft Generalisten, denen das große Ganze wichtig ist,
aber nicht die Details. Deutsche Ingenieure sind dagegen Spezialisten mit akribischer Detailfreude.
Ihr Arbeitsgebiet ist im Team genau abgesteckt, systematisch werden die Aufgaben hintereinander
abgehakt, die Aufmerksamkeit ist immer nur auf eine einzige Sache gleichzeitig gerichtet. Die
französischen Kollegen machen dagegen immer viele Dinge gleichzeitig, auch außerhalb ihrer
offiziellen Zuständigkeit.
e) Pateau leitet die Unterschiede aus der historisch-politischen Entwicklung ab. Frankreich ist ein
zentralistisches System. Der Sonnenkönig Ludwig XIV. schaltete die letzten regio-nalen
Machtzentren der Aristokratie aus, indem er den Adel zwang, bei Hofe im Schloss Versailles zu
wohnen. Diese höfische Gesellschafft hat dem Land ihren Stempel aufgedrückt, Etikette und
Protokoll sind in Frankreich noch immer enorm wichtig. “In Frank-reich bemisst sich der Wert des
Einzelnen aus seiner Nähe zur Macht”, sagt der französische Philosoph Jacques Demorgon. “In
Deutschland ist der Wert des Einzelnen abhängig von seiner Funktion für die Gruppe”, fügt Pateau
hinzu. Das ist die Sachorientierung, die Franzosen als kalt empfinden. Doch Plateau ist
zuversichtlich, dass sich die Unterschiede überbrücken lassen: “Der einzige Unterschied, der
wirklich zählt, ist der zwischen dem Frankenwein und dem französischen Wein.”

 Erstellen Sie nun eine Übersicht mit den im Text genannten Eigenschaften der
Deutschen und der Franzosen.

Deutsche Franzosen
 Können die folgenden Behauptungen dem Text entnommen werden? Kreuzen Sie
an.

Behauptungen ja nein
1. Der Text befasst sich mit der Vertiefung der deutsch-französischen
Freundschaft.
2. Ohne Frankreich und Deutschland wäre die EU nicht so stark.
3. Ohne Frankreich und Deutschland gäbe es keine gemeinsame Wirt-
schaft- und Währungsunion.
4. Die Deutschen und Franzosen haben sich wieder auseinandergelebt und
verfolgen ihre eigenen Ziele.
5. Nachdem immer mehr Unternehmen Partnerschaften mit Unter-nehmen
des Nachbarlandes eingegangen sind, wurde festgestellt, dass es bei der
Zusammenarbeit immer wieder zu Schwierigkeiten kam.
6. Pateau wollte mit seiner Forschungsarbeit beweisen, dass deutsch-franzö-
sische Kooperationen nicht funktionieren.
7. Pateau hat herausgefunden, dass die Deutschen gruppenorientiert sind,
während die Franzosen individualistisch sind.
8. Wenn die Deutschen mehr Französisch und die Franzosen mehr Deutsch
lernen würden, würden die Partnerschaften problemlos funktionieren.
9. Es genügt, wenn die betroffenen Unternehmen mehr Sprachlehrer einstel-
len.
10. Die Kenntnis der jeweils anderen Sprache ist nur ein erster Schritt,
danach müssen die Angestellten von Firmen, die deutsch-französische
Kooperationen eingegangen sind, das Verhalten der jeweils anderen Seite
kennen und verstehen lernen.
11. Wenn die beteiligten Unternehmen die Schwierigkeiten in der
Zusammenarbeit von Franzosen und Deutschen beheben könnten, würden
sie viel Geld sparen.
12. Die Deutschen müssten einfach so werden wie die Franzosen und die
Franzosen müssten die Eigenschaften und Verhaltensweisen der Deutschen
annehmen, dann wäre alles in Ordnung.
Ergänzen Sie die Lücken.

 Dass die k... Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen mit der Intensivierung der
deutsch-französischen F... und dem Zusammenwachsen E... längst nicht beendet sind, zeigt sich am
deutlichsten in U... zwischen den beiden Völkern, wo interkulturelle M..., kommunikative
Störungen und Reibereien zwischen den Beteiligten leider auch zum U... gehören. Jacques Pateau,
ein Germanistikprofessor aus Compiègne, hat diese untersucht und seine E... in dem Buch „Die
seltsame Alchemie in der Zusammenarbeit von Deutschen und Franzosen“ veröffentlicht. Danach
liegen die U... vor allem in der unterschiedlich verlaufenen Geschichte der beiden Völker. Während
sich in Frankreich der a... Z... durchsetzte und einen Menschentypus formte, der seinen g... W...
vor allem aus seiner N... zur Macht heraus definiert, haben die Deutschen sich immer wieder in
streng aufeinander abgestimmte Gruppen einordnen müssen. So sei der W... d... E... in
Deutschland abhängig von seiner F... für die Gruppe, was die Franzosen als kalt empfinden würden,
so Plateau.

Aufgabe 3. Wen beschreibt Pateau jeweils? Setzen Sie die folgenden Wörter in die Lücken ein.

deutsch – Deutsche – Franzosen – Deutschland – Frankreich

Anmerkung: Jacques Pateau ist Professor an der Technischen Universität in Compiègne, nördlich
von Paris. Der Germanist und Kommunikationswissenschaftler unterrichtet dort
Interkulturelles Management. Ein Journalist führte mit ihm ein Interview über die
interkulturellen Probleme in der Zusammenarbeit von deutschen und französischen
Managern.

Ein Gespräch über interkulturelle Probleme

Prof. Pateau: ... Das heißt: ... sind direkter als ..., die viele Dinge implizit meinen, aber nicht
deutlich aussprechen. ... finden die Anspielungen der ... oft verwirrend, die sich
umgekehrt von der unhöflichen und direkten Art der ... zurückgestoßen fühlen.
Journalist: Und die Arbeitsmethoden?
Prof. Pateau: ... arbeiten meist einen Stapel von oben nach unten ab, während ... gern mehrere
Dinge parallel bearbeiten. In ... kommt meist die Funktion vor der Person, in ... ist es
genau umgekehrt. Das ... zwischenmenschliche Klima in den Firmen erscheint den ...
als kalt, da allgemeingültige Regeln dominieren. Sie lösen viel lieber Probleme über
persönliche Beziehungen – was ... wiederum als willkürlich empfinden.
Journalist: Welche Unterschiede sehen Sie im Management?
Prof. Pateau: In ... ist die Distanz zwischen dem Machthaber und seinen Untergebenen meist
kürzer als in ... . Der Boss muss eher einen Konsens mit seinen Fachleuten suchen, die
viel autonomer als in ... sind. Entscheidungen werden in ... länger und sorgfältiger
vorbereitet, dann aber auch diszipliniert umgesetzt. In ... regiert der Chef oft als
Monarch, wie es ihm gefällt. Der Patron wechselt ständig den Kurs, ist unbeständig.
Seine Leute haben aber nach der Entscheidung viel mehr Freiheit zur Kreativität und
Improvisation bei der Umsetzung. ... Firmen neigen dagegen zu Systematik, aber auch
zur Schwerfälligkeit.

 Aufgaben zum Interview


1. Wo könnte es bei einer Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Managern zu
Problemen kommen?
2. Wie könnte ein deutsch-französisches Unternehmen die Vorteile des jeweiligen Systems zu
seinem Vorteil ausnutzen?
3. Wie sehen Entscheidungsprozesse und Arbeitsstile in Ihrem Heimatland aus (z.B. multiaktiv =
man macht mehrere Dinge auf einmal/linear = man konzentriert sich auf eine Sache)? Welche
Hierarchien müssen ausländische Geschäftsleute bei Ihnen beachten?

Aufgabe 4. Lesen Sie die folgenden Texte und erfüllen Sie dann die nach den Texten stehenden
Aufgaben.

Kulturunterschiede zwischen Deutschland und Belarus –


Ein Erfahrungsbericht

Ich, eine junge Deutsche, bin für zwölf Monate in die Republik Belarus gekommen, um ihre
Kultur und Menschen kennen zu lernen. Offen zu sein für alles, war mein Motto und das bedeutete
für mich: versuchen, die Menschen zu verstehen, die Sitten und Bräuche nicht zu bewerten, der
Kultur einfach positiv gegenüberzustehen. Schon bald musste ich jedoch meine anfangs kritiklose
Einstellung einschränken. Ich musste anerkennen, dass ich eine Deutsche bin und dadurch auch
einen anderen kulturellen Hintergrund habe, den ich nicht einfach ausblenden kann.
Ich hatte erwartet, dass die Belarussen völlig anders seien und leben würden als die Deut-
schen, doch die Unterschiede kristallisierten sich erst mit der Zeit heraus. Sie betreffen vor allem
die Zukunftsperspektiven: Wie viele andere junge Deutsche plane ich auch zum Beispiel ein Stu-
dium mit Auslandsaufenthalten und zahlreiche Reisen durch Europa während der Semesterferien.
Für viele belarussische Jugendliche ist es dagegen schon schwer einen Studienplatz zu bekommen,
wenn sie keine Beziehungen haben oder keine hohen Studiengebühren zahlen können. Falls sie
politisch eher oppositionell tätig sind, ist es oft sogar aussichtslos. Von einem Auslandsaufenthalt
können viele nur träumen.
In die Zukunftsperspektiven spielt auch die Rolle der Frau mit hinein. In Belarus ist es üb-
lich früh zu heiraten, meist im Alter von 20 bis 22 Jahren, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen
bietet eine Heirat die Chance, das Elternhaus zu verlassen und unabhängiger zu werden. Zum ande-
ren ist es - vor allem für die belarussischen Frauen - ganz normal, früh Kinder zu bekommen. Die
Frauen identifizieren sich häufig noch mit der Mutter- und Hausfrauenrolle, gleichzeitig ist es aber
ebenso selbstverständlich, dass sie einer oder mehreren Berufstätigkeiten nachgehen. Wobei anzu-
merken ist, dass die Hausfrauenpflichten in der Regel in Belarus gesellschaftlich noch höher be-
wertet werden und mit mehr sozialem Prestige verbunden sind, als dies in Deutschland der Fall ist.
Zunehmend ist die Frauenrolle in Belarus im Wandel begriffen, immer mehr Frauen streben nach
eigener Unabhängigkeit und Karriere, wobei Kinder und Familie nicht aus der Lebensplanung
herausfallen.
Als Frau unter Männern beschleicht mich oft das Gefühl, dass sie davon ausgehen, ich hätte
nichts zu sagen. Man wird durchaus beachtet, bleibt nicht unbemerkt, vor allem wenn das Äußere
stimmt. Aber die Frau ist eher ein Anschauungsobjekt und nicht ein selbstbewusstes Wesen mit
einer eigenen Meinung. Als ich einen Freund fragte, wie seine Traumfrau denn sein müsste, antwor-
tete er mir: «Sie muss schön sein und Röcke tragen...». Und die belarussische Frau ist schön. Wer
schon einmal hier war, kann dies bestimmt bestätigen. Sie sind schön in ihren Miniröcken und
hochhackigen Schuhen und immer perfekt geschminkt. Zu Hause kümmern sie sich ganz selbst-
verständlich um das Essen und den Abwasch. Auch unter Jugendlichen ist dieses Rollenverhalten
stark ausgeprägt. Ich denke und habe es auch oft gehört, dass viele Frauen zufrieden mit dieser
Rolle sind. Der Gerechtigkeit halber ist hier anzufügen, dass die belarussischen Männer sich ihrer
Rolle ebenso bewusst sind. Er schätzt die Frau und seine höflichen Gesten, wie einer Dame die Tür
aufhalten, den Vortritt lassen oder ihr in und aus dem Mantel helfen, gehören zu den alltäglichen
Verhaltensregeln.
Wo noch finden sich kulturelle Unterschiede? Die Osteuropäer sind sehr emotional, hört
man immer, und es stimmt tatsächlich. Und sie sind, wie Heike Sabel so schön in ihrem Buch
«Nastupnaja Stancyja - Die nächste Station» schreibt: entweder «himmelhoch jauchzend» oder «zu
Tode betrübt». Falls jemand Liebeskummer hat, so versinkt er oft in tiefem Weltschmerz, der auch
nach außen gezeigt wird. Die Emotionalität wird in der Öffentlichkeit frei ausgelebt und vielen
Menschen sieht man an, wie es ihnen geht. Über Kleinigkeiten freuen sich die Belarussen wie Kin-
der, singen und tanzen. Über kleinere Probleme wie ein kaputtes Auto oder Ähnliches regt man sich
gar nicht erst auf. Das ist nun mal so, und einer der häufigsten Sätze in derartigen Situationen ist
«vs'io budet», was so viel bedeutet wie «Es wird schon werden» oder «Alles wird gut.» Hier kann
man die Belarussen eigentlich nur bewundern. Würde sich in Deutschland nicht fast jeder schon
wegen eines Kratzers am Auto die Haare raufen? Aber wir Deutschen können auch in anderer Hin-
sicht von unseren osteuropäischen Nachbarn viel lernen. Was habe ich mir nicht alles anhören müs-
sen, als ich verkündete, dass ich für ein Jahr nach Belarus gehen würde! «Die Russen klauen doch
alle: pass bloß auf dich auf! Wirst du dort denn überhaupt etwas zu essen bekommen? Erfrierst du
dort im Winter auch nicht?» Alle diese Fragen schlugen mir entgegen, als sei Minsk in Sibirien zu
finden. Und mit wie viel Wärme und Vorurteilslosigkeit begegneten mir die Belarussen! Niemand
erzählte mir, wie der Deutsche an sich eigentlich sei, oder lehnte mich als Deutsche ab. Und das ist
umso erstaunlicher, als dieses Volk im Zweiten Weltkrieg unter den Deutschen unsagbar gelitten
hat. Die Bevölkerung von Belarus wurde um ein Viertel dezimiert im Verlauf des Krieges. Jede
Familie war davon betroffen und der 9. Mai, der Tag des Sieges, erinnert noch heute daran. Er ge-
hört zu den größten belarussischen Feiertagen und wird mit Ehrenparaden und einem Volksfest
begangen. Kälte und Vorurteile jedoch sind mir nie begegnet.
Viele Belarussen sind sehr national eingestellt, sie lieben ihr Land und ihre Kultur, ihre Hel-
den und ihre Eishockeymannschaft. Mir als junge Deutsche fehlt dieses Nationalbewusstsein; ich
habe keine innige Beziehung zu Deutschland. Ich bin nicht stolz auf mein Land und dessen Ge-
schichte, weil dies so schnell Assoziationen hervorruft, mit denen ich nichts zu tun haben möchte.
Die Belarussen können das meist nicht verstehen; sie lieben ihr Land. Und einige meinten zu mir,
dass sie natürlich auch gerne auswandem wurden, wie es viele schon getan haben, aber sie könnten
in einem anderen Land nicht überleben; es wäre einfach nicht «ihr Land». Von in Deutschland le-
benden Belarussen habe ich Ähnliches gehört. Deutschland sei toll, den Menschen gehe es so gut,
alles sei modern und schön und überall gebe es so viel zu kaufen, dass man sich gar nicht satt sehen
könne. Aber sie hatten unglaubliches Heimweh, schon nach einigen Tagen im «Traumland»
Deutschland.
Einen - so oft proklamierten - Kulturschock wird man meiner Ansicht nach in Belarus nicht
erleiden, wenn man den Menschen nur offen gegenübertritt. Denn dann versteht man mit der Zeit
die Ursachen ihres Lebensstils, der nun einmal nicht unserem Komfort entspricht. Bei mir trat der
Kulturschock erst ein, als ich nach meiner Zeit in Belarus zurückkehrte in die heile Welt namens
«Deutschland». Ich war schockiert vom materialistischen Konsumdenken der Deutschen.

 Was sind die Kulturunterschiede im Leben der Deutschen und Belarussen?


 Wie ist die Rolle der Frau in Belarus und in Deutschland?
 Was meinen Sie? Ist jede Kultur eine Mischung?
 Lesen Sie die 19 Beispiele menschlichen Verhaltens! Welche Verhaltensweisen sind in Ihrem
Land tabu? Haben die Verhaltensweisen bei Ihnen eine Bedeutung?
 Gibt es andere Verhaltensweisen, die in Ihrem Land tabu sind?
 Es gibt mindestens vier Verhaltensweisen, die generell in Deutschland tabu bzw. als unpassend
empfunden werden. Welche?
nicht direkt tabu,
nicht
Verhaltensweisen aber unhöflich oder tabu
tabu
ungewöhnlich
1. Jemandem auf die Schulter klopfen
2. Sich in der Öffentlichkeit umarmen und küssen
3. Mit viel Gestik reden
4. Die Arme verschränken
5. Sich laut unterhalten
6. Mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzen
7. Zum Begrüßen die linke Hand reichen
8. Die Hände in die Hüften stützen
9. Laut streiten
10. Betrunken auf der Straße torkeln
11. Beim Reden dem Partner nicht in die Augen
schauen
12. Mit dem Finger auf etwas zeigen
13. Zeigen, dass man wütend ist
14. Jemandem den Arm um die Schultern legen
15. Sich die Nase schneuzen
16. Jemandem über den Kopf streichen
17. Beim Essen schmatzen
18. Auf die Straße spucken
19. Ein harter Händedruck

Warum sehen Russinnen so viel schöner aus?

Miniröcke, Stöckelschuhe und Markenlogos sieht man in ehemaligen Ostblockstaaten viel


häufiger als hierzulande. In Deutschland wiederum kann man insbesondere russische Migrantinnen
oft am Outfit erkennen. Wer sie nach den modischen Unterschieden fragt, muss sich auf einiges
gefasst machen.

Der Witz zum Markenwahn

Gerade in den 90er Jahren war der Markenwahn besonders ausgeprägt. Es gibt sogar Witze
darüber. Zwei neureiche Russen unterhalten sich. Sagt der eine: «Wo hast du deine Krawatte her?»
Sagt der andere: «Na, von dem Laden an der Ecke, hat nur 200 Dollar gekostet.» Sagt der eine:
«Bist du doof, die gibt’s doch in dem Laden da vorne für 500 Dollar!» Das im Witz verlachte Mar-
kenbewusstsein der reichen Männer spielt im wahren Leben heute nicht nur für ihre eigene Garde-
robe eine Rolle. «Die Männer achten ganz genau darauf, was die Frauen anziehen», sagt Tikhomi-
rova. «Und die Frauen wiederum versuchen zu gefallen. Das hat nichts mit Romantik zu tun. Es
geht darum, einen möglichst reichen Mann zu finden.» Wer will, kann sogar in Kursen Nachhilfe
darin bekommen, wie man sich einen Oligarchen angelt. Das ist gar nicht so leicht, wie schon die
Statistik nahe legt. Viele russische Männer saufen sich nämlich früh ins Grab, im Schnitt werden sie
gerade mal 59 Jahre alt und leben somit fast 13 Jahre weniger als die Frauen. Die Folge: Selbst
weibliche Schönheiten bemühen sich um unattraktive Männer. «Auf der Straße sieht man oft eine
gepflegte Frau mit einem total schlampigen Mann an der Seite», erzählt Tikhomirova.
Für die 29-Jährige ist der typisch russische Sexy-Look, der von zahlreichen Glamour-Zei-
tungen propagiert wird, eben keine Feier der holden Weiblichkeit. Im Gegenteil: «Das ist für mich
der Ausdruck einer gescheiterten Emanzipation. Die Frauen müssen Karriere machen, zugleich total
sexy sein und ab einem gewissen Alter auch unbedingt verheiratet.»

«Deutsche Mode ist schön und bequem»

Tikhomirova selbst fällt mit ihren Sandalen und der dunklen Brille an ihrer Bielefelder Uni-
versität sicher nicht auf: «Ich finde deutsche Mode schön und bequem, weil die Weiblichkeit bei
den deutschen Frauen nicht so künstlich, aggressiv und demonstrativ in den Vordergrund gerückt
wird, sondern viel natürlicher und unaufdringlicher rüber kommt.» Sie kennt andere, die ihre Mei-
nung teilen. «In russischen Intemetforen wird viel über solche Fragen diskutiert, und man liest da
immer auch mal, wie frei die deutschen Frauen sind.» Tikhomirova räumt allerdings ein, dass viele
Landsleute ihre These nicht teilen, die Frauen würden sich für die Männer ungebührlich anstrengen.
«Ich kenne auch Frauen, die sagen, sie tragen hohe Schuhe, weil sie sich damit einfach besser füh-
len.»
Tatsächlich erklärt einem das russische Personal in Luxusboutiquen nur zu gerne angesichts
von wolkenkratzerhohen Absätzen, wie unfassbar bequem die Schuhe seien. «Wirklich, auch beim
Arbeiten.» Da kann die deutsche Frau nur dezent schweigen und denken: «Damit schaffe ich es
höchstens vom Taxi bis ins Restaurant.» Und: «Was sagt eigentlich der Orthopäde dazu?» Die rus-
sische Kosmetikerin hat dazu natürlich einen Konter: «Ach, die deutsche Frau macht sich einfach
manchmal zu viel Gedanken über gesundheitliche Dinge.»

 Welche Rolle spielt das Markenbewusstsein in Russland?


 Wie finden Sie den deutschen Kleidungsstil?

Über die Ehe - ein Kommentar

Ehe mit 18? Lieber zweimal messen und einmal schneiden. Das Heiraten ist für viele ein
«romantischer Akt», der die Liebe zu einem «ewigen Bund» werden lässt. Und erst die Hochzeit!
Sie verleiht der Liebe einen Hauch von märchenhaften Gefühlen. Ein Ereignis, das für viele Men-
schen der Höhepunkt ihres Lebens ist.
An dieser Vorstellung ist nichts auszusetzen - solange man «reif» dafür ist. Nur, dieses
schwärmerische Bild ist jetzt wieder «in» unter den «Unreifen». Die Scheidungsstatistiken zeigen,
dass das harmonische eheliche Zusammensein nicht lange anhält. Mit den ersten Rechnungen ist
auch die Märchenhaftigkeit der Ehe erschüttert. Was sind die Gründe dafür, sich mit 18 auf ein
solches Abenteuer, das für Erwachsene vorgesehen ist, einzulassen?
Die meisten Jugendlichen träumen wach: Sie glauben, die «wahre Liebe» gefunden zu haben
und wollen diese Tatsache «für immer und ewig» festhalten. Die Ewigkeit der wahren Liebe beträgt
dann «einige eheliche Monate» oder höchstens «ein eheliches Jahr». Die anderen wollen weg von
Zuhause. Weg von den Eltern, die das Leben der «groß gewordenen», aber noch pubertierenden
Jugendlichen unangenehm machen. Dieser Grund ist nachvollziehbar: Jeder wollte mal gegen die
Eltern rebellieren. Aber ist das Heiraten ein Akt der Rebellion gegen die Eltern oder eine Kapitu-
lation vor sich selbst? Ist es nicht besser, mit den Freunden eine WG zu gründen? Dann wird man
auch «selbstständig». Wie auch immer. Die durch die Ehe gewonnene Selbständigkeit platzt schnell
wie eine Seifenblase.
Die ungewollten Schwangerschaften bei den Jugendlichen führen ebenfalls häufig zu einer
kurzfristigen Ehe. In diesem Fall hat die Ehe eine symbolische Bedeutung: Der junge Mann hat sein
schlechtes Gewissen durch die Eheschließung gereinigt; die junge Frau hat eine Bestätigung für die
Vaterschaft. Und was wird daraus? Ein unterhaltspflichtiger junger Mann und eine allein erziehende
junge Mutter.
Aus all dem können wir schließen, dass die Weisheit: «Was nicht passt, wird passend ge-
macht», nicht für die Ehe unter Jugendlichen gilt. Lieber: «Zweimal messen und einmal schneiden».
Mein Ratschlag ist deshalb, sich alles gut zu überlegen, abzuwarten und ohne schlechte eheliche
Erfahrungen und frühe Scheidung reif zu werden. Denn heiraten und sich scheiden lassen kann man
immer. Eine Ehe führen können Frau und Mann nur dann, wenn sie die nötige Reife erreicht haben.
Die Schlauen von euch sagen jetzt: «Manche werden aber nie reif!» Stimmt auch. Aber darüber
sprechen wir ein anderes Mal.

 Nehmen Sie Stellung zur These “Eine Ehe führen können Frau und Mann nur dann, wenn
sie die nötige Reife erreicht haben”.

Heirats-Trends

Heiraten heißt «sich das Jawort geben». Wozu sagen wir ja im Standesamt? Zu den guten
und den schlechten Tagen und der Scheidung nur durch den Tod? Dieser Mythos von Ehe gilt heute
schon lange nicht mehr. Allerdings sind die Vorstellungen über die Ehe in Russland noch emotio-
naler als in Westeuropa.
Ein Beispiel dafür ist der Ehevertrag. Anfang der 90er gab es diesen Begriff nicht einmal,
mittlerweile gibt es in fünf bis sechs Prozent der russischen Ehen einen Ehevertrag. Der Kontrakt
wird häufig nur auf das Eigentum bezogen («dein Fernseher, mein Sofa»). Und wenn es dann nicht
viel zu besitzen gibt, lohnt es sich nicht, einen Vertrag zu machen. Doch viel stärker sind die mora-
lischen Einwände, die Russen von so einem Dokument abhalten:
«Wir vertrauen uns doch», oder «Eine Ehe ist kein Business», oder eben «Wir lieben uns».
Und vielleicht ist das der große Unterschied. Die Kinder werden weniger, die Businesswomen
mehr, der Glaube an die große Liebe wird aber nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Ehe ist auch
eine politische Angelegenheit. Zu Sowjetzeiten stellte beruflicher und finanzieller Erfolg keinen
besonderen Wert dar, er war sogar negativ besetzt. Heute, wo fast jeder Bereich des Lebens ver-
marktet werden kann, ist Erfolg auch für Frauen ein Muss. In Russland gibt es mittlerweile sogar
mehr Frauen mit Universitätsabschluss als Männer. Frauen, die mehr Zeit in ihre Karriere investie-
ren, haben weniger Zeit, einen Partner zu suchen oder sich um einen Partner zu kümmern. So sin-
ken in Russland wie überall mit steigendem Bildungsgrad der Frauen die Geburtenraten. In Russ-
land wohnen noch immer mehrere Generationen unter einem Dach, ein eigener Haushalt ist für
viele junge Leute nicht finanzierbar. Diese Situation stellt ein Hindernis für die Ehe dar, denn junge
Paare wollen nicht unter der Aufsicht der gesamten Familie ihre Beziehung leben und bleiben
deshalb lieber erst mal unverheiratet. Traditionelle Funktionen von Familie werden von anderen
gesellschaftlichen Strukturen übernommen. Der Mensch bleibt ein Herdentier, doch sucht er Hilfe,
Geborgenheit usw. immer seltener bei Mama und Papa, Oma und Opa, sondern bei Freunden. Da-
mit sinkt der Wunsch, selbst eine Familie zu gründen. Auch in Russland gibt es Paare, die unver-
heiratet Zusammenleben: von 34 Mio. Paaren leben 3 Mio. unregistriert. In Deutschland nannte
man diese Leute eine Weile «Lebensabschnittsgefährten», das klang natürlich wirklich deprimie-
rend. Mittlerweile heißen sie einfach Partner. In Russland ist man immer noch bei der Bezeichnung
Ehemann/ Ehefrau geblieben. Einen großen Unterschied zu Russland gibt es in Deutschland
dennoch: Die Bevölkerungsgruppe der Singles wächst. Deshalb gibt es mittlerweile Single-City-
Guides, Single- Urlaubsreisen, Single-Chats, Single-Partys usw. Das Erstaunliche an all diesen
Veranstaltungen ist, dass sie zumindest vordergründig nicht das Ziel haben, dass aus den Singles
Pärchen werden. Single soll auch Single bleiben dürfen. Das wird in Russland wohl nicht so schnell
kommen, denn hier gilt immer noch das Motto: Wer keinen Partner hat, der sollte sich schnell einen
suchen. Und vielleicht ist das dann ja eine von den vielen großen Lieben.

 Finden Sie die Antworten auf die Fragen!

a) Warum heiratet man?


b) Was hält die Russen/Belarussen vom Ehevertrag ab?
c) Wie wird im Text erklärt, dass “Ehe eine politische Angelegenheit ist?”
d) “Erfolg ist auch für Frauen ein Muss” – welche Konsequenzen hat das für Russland?
e) Welche Hindernisse für die Eheschließung in Russland werden im Text erwähnt?
f) Wie heißen in Deutschland und in Russland die unverheirateten Paare?
g) Welche Bevölkerungsgruppe hat sich in Russland noch nicht herausgebildet?

Andere Länder, andere Sitten

In Damaskus fühlt sich jeder Gastgeber beleidigt, wenn seine Gäste etwas zu essen mitbrin-
gen. Und kein Araber käme auf die Idee, selber zu kochen oder zu backen, wenn er bei jemandem
eingeladen ist. Die Deutschen sind anders. Wenn man sie einlädt, bringen sie stets etwas mit: Ein-
gekochtes vielleicht oder Eingelegtes, manchmal auch selbstgebackenen Kuchen und in der Regel
Nudelsalat. Warum Nudelsalat, mit Erbsen und Würstchen und Mayonnaise? Auch nach zweiund-
zwanzig Jahren in Deutschland finde ich ihn noch schrecklich.
In Damaskus hungert ein Gast am Tag der Einladung, weil er weiß, dass ihm eine Prüfung
bevorsteht. Er kann nicht bloß einfach behaupten, dass er das Essen gut findet, er muss es beweisen,
das heißt eine Unmenge davon verdrücken. Das grenzt oft an Körperverletzung, denn keine Ausre-
de hilft.
Gegen die Argumente schüchterner, satter oder auch magenkranker Gäste halten Araber
immer entwaffnende, in Reime gefasste Erpressungen bereit.
Deutsche einzuladen ist angenehm. Sie kommen pünktlich, essen wenig und fragen neu-
gierig nach dem Rezept. Ein guter arabischer Koch kann aber gar nicht die Entstehung eines Ge-
richts, das er gezaubert hat, knapp und verständlich beschreiben. Er fängt bei seiner Großmutter an
und endet bei lauter Gewürzen, die kein Mensch kennt, da sie nur in seinem Dorf wachsen und ihr
Name für keinen Botaniker ins Deutsche zu übersetzen ist. Die Kochzeit folgt Gewohnheiten aus
dem Mittelalter, als man noch keine Armbanduhr hatte und die Stunden genüsslich vergeudete. Ein
unscheinbarer Brei braucht nicht selten zwei Tage Vorbereitung, und das unbeeindruckt von aller
modernen Hektik. Deutsche Gäste kommen nicht nur pünktlich, sie sind auch präzise in ihren Anga-
ben. Wenn sie sagen, sie kommen zu fünft, dann kommen sie zu fünft. Und sollten sie wirklich
einmal einen sechsten Gast mitbringen wollen, telefonieren sie vorher stundenlang mit dem Gast-
geber, entschuldigen sich dafür und loben dabei die zusätzliche Person als einen Engel der guten
Laune und des gediegenen Geschmacks.
So großartig Araber als Gastgeber sind, als Gäste sind sie dagegen furchtbar. Sie sagen, sie
kommen zu dritt um zwölf Uhr zum Mittagessen. Um sieben Uhr abends treffen sie ein. Und vor
Begeisterung über die Einladung bringen sie Nachbarn, Cousins, Tanten und Schwiegersöhne mit.
Aber das bleibt ihr Geheimnis, bis sie vor der Tür stehen. Sie wollen dem Gastgeber doch eine
besondere Überraschung bereiten. Einmal zählten wir in Damaskus eine Prozession von 29
Menschen vor unserer Tür, als meine Mutter ihre Schwester eingeladen hatte, um mit ihr nach dem
Essen in Ruhe zu reden. Ein leichtfertiges arabisches Sprichwort sagt: Wer vierzig Tage mit Leuten
zusammenlebt, wird einer von ihnen. Seit über zweiundzwanzig Jahren lebe ich inzwischen mit den
Deutschen zusammen und ich erkenne Veränderungen an mir. Aber die Mitbringsel der Gäste?
Wein kann ich inzwischen annehmen, aber Nudelsalat - niemals.

 Warum sind Araber als Gastgeber großartig, aber als Gäste furchtbar?
 Entscheiden Sie sich für die Aussagen, die Ihrer Meinung nach auf Belarus bzw. Deutschland
zutreffen.
 Überlegen Sie, ob es prinzipiell zutrifft oder ob es in bestimmten Situationen Abweichungen
gibt.

1. Blumen sind zu jeder Gelegenheit angebracht.


2. Geschenke werden gleich zu Beginn übergeben.
3. Geschenke werden vor der Überreichung vom Geber ausgepackt.
4. Geschenke werden unauffällig überreicht.
5. Der/die Beschenkte packt die Geschenke des Gebers aus und bewundert sie ausgiebig.
6. Geldgeschenke sind besonders für Beamte notwendig!
7. Alkohol und scharfe Gegenstände sind als Geschenk tabu.
8. Ein Geschenk zurückzuweisen ist unhöflich.
9. Es ist üblich, Lebensmittel zu verschenken.
10. Einem Geschenk sollte später ein Gegengeschenk von ähnlichem Wert folgen.
11. Die Größe des Geschenks zeigt die Stärke der Zuneigung.
12. Eine besondere Dienstleistung eines Angestellten in einem Amt sollte man mit einem Geschenk
belohnen.
13. Es ist üblich, zu einer Einladung ein kleines Gastgeschenk mitzunehmen.
14. Wenn jemand bei der Geschenkübergabe sagt: “Das wäre doch nicht nötig gewesen!”, nimmt
man das Geschenk zurück.
15. Es schenkt die Person, die einen Anlass zum Feiern hat.

«Das Wichtigste für einen Deutschen ist immer nur er selbst!»

60 Jahre nach dem Überfall haben die Russen ein anderes Bild von ihren einstigen Feinden.
Vor genau 60 Jahren, am 22. Juni 1941, begann mit dem Überfall der Hitler- Wehrmacht auf
die Sowjetunion der «Große Vaterländische Krieg», der am 8. Mai 1945 mit dem Sieg der Alliierten
und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands endete. Grund genug, der Frage nachzugehen,
wie heute, sechs Jahrzehnte nach dem deutschen Überfall und zehn Jahre nach dem Ende des Kalten
Krieges, die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion Deutschland und die Deutschen sehen.
«Ausgelassen und mit einer Maß Bier bewaffnet, prosten drei Deutsche sich im Hofbräuhaus zu.» -
Nein, hier haben nicht Amerikaner oder Japaner ihre erste Eingebung zum Thema Deutschland
geäußert, sondern Russen! Auch das nächste von Russen spontan assoziierte Klischee überrascht.
Weder die Verbrechen der Hitler-Wehrmacht noch das Schicksal sowjetischer Zwangsarbeiter fal-
len ihnen ein, sondern «das deutsche Mülltrennen». Die Deutschen, so glauben sie, sind so ord-
nungsliebend, dass sie sogar noch ihren Abfall sortieren. Eine Lehrerin in Lipezk: «Selbst den
Hundedreck sammeln sie in Päckchen!» «Wir sind ordentlich, wir achten auf die Umwelt», bringen
die Russen diese zeitgemäße Variante deutscher Ordnungsmanie auf den Punkt. Aufgefordert, eine
analoge russische Gegenszene zu entwickeln, werfen Russen den Abfall wild in die Gegend. Kom-
mentar: «Es ist eh schon alles dreckig!»
Und die Frauen in den Nachfolgestaaten der UdSSR lassen sich von einer Überzeugung
schon gar nicht abbringen: Die Hausarbeit verrichten in Deutschland Männer und Frauen gemein-
sam, wenn nicht sogar der Mann es ist, der seine berufstätige Frau nach einem stressigen Arbeitstag
liebevoll bekocht. Wer nun allerdings glaubt, die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion würden
die Deutschen mittlerweile einseitig idealisieren, irrt: Von Moskau bis Almaty im fernen Kasach-
stan sieht man die Deutschen nicht nur als ordnungsliebende, umweltbewusste und emanzipations-
freudige Biertrinker, sondern auch als zurückhaltend, unflexibel, etwas langweilig und schlecht
gekleidet. Eine Moskauer Lehrerin: «Deutsche Frauen schenken ihrem Äußeren zu wenig Aufmerk-
samkeit, obwohl sie mehr Möglichkeiten haben als Russinnen. Sie kleiden sich nicht so elegant,
sondern billiger als wir.» Nicht zuletzt gelten die Deutschen als sparsam bis geizig. Für letztere
Eigenschaft existiert im kollektiven Unbewussten der ehemaligen Sowjetbürger eine nahezu arche-
typische Urszene:
Während am Ende einer feuchtfröhlichen Kneipenrunde Russen und Kasachstaner unter-
einander wetteifern, wer nun die Rechnung für alle bezahlen darf - «Die weite Seele kennt keine
Sparsamkeit», sehen sie die Deutschen, mühselig mit dem Taschenrechner beschäftigt, den präzisen
Betrag für jeden einzelnen ausrechnen. Höhnischer Kommentar aus Kasachstan: «Jeder zahlt für
sich allein, jeder stirbt für sich allein.»
Mangelnde Lockerheit diagnostizieren Russinnen und Kasachstanerinnen auch ihren deut-
schen Geschlechtsgenossinnen. Eine 22-jährige russische Studentin aus der Schwarzerde-Region:
«Die streiten sich noch darüber, ob das Stemzeichen Wassermann' besser in, Wasserfrau’ oder,
Wassermänn(in)' umbenannt werden muss! Deutschen Männern dagegen wird angekreidet, sie
wüssten nicht mehr, wie man sich einer Frau gegenüber benimmt. Kein Wunder, dass nur wenige
Russinnen sich vorstellen können, mit einem Deutschen verheiratet zu sein.» Eine junge Verkäu-
ferin: «Ich kann nicht so geregelt leben wie in einem Krankenhaus. Außerdem habe ich keine Lust,
im Restaurant mein Essen selbst zu zahlen. In Russland ist das die Pflicht des Mannes! Super,
wie?» Die Zitate stammen aus einem Forschungsprojekt, das ich auf dem Gebiet der früheren
Sowjetunion durchgeführt habe. Zwischen 1996 und 1999 sollten Germanistinnen und Germanisten
in Russland und Kasachstan in speziellen Seminaren ihre Deutschlandbilder preisgeben. Im szeni-
schen Spiel konnten die Exsowjetbürger ausdrücken, wie sie die Deutschen und im Vergleich dazu
sich selbst sehen. Sechzig Jahre nach dem Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjetunion und
zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges deuten die Ergebnisse auf ein starkes Entdramati-
sieren der Deutschlandbilder in der postsowjetischen Welt hin. In Russland und Kasachstan werden
die Deutschen mit den gleichen Schablonen beschrieben, wenn die Akzente auch unterschiedliche
sind. Im Wesentlichen sind es zwei völlig gegensätzliche Deutschlandbilder, die den Blick bestim-
men: Zum einen dominiert auch in dieser Region das wohlvertraute Bild von den klassischen «ana-
len» Eigenschaften der Deutschen, euphemistisch auch die «preußische Tugenden» genannt: Sie
legen nach wie vor großen Wert auf Pünktlichkeit, sie arbeiten fleißig und konzentriert, sind
sparsam, wenn nicht sogar geizig und legen eine Ordnungs- und Sauberkeitsliebe an den Tag, die
bisweilen starre, kaltherzige und selbstgerechte Züge annimmt. So manifestiert sich die Liebe zu
Sauberkeit und Ordnung in der selbstgerechten Empörung gegenüber denjenigen, die sich diese
Prinzipien nicht so zu Herzen nehmen: Wer Papier auf die Straße wirft, kann sicher sein, sofort zur
Rede gestellt zu werden, und wenn abends im Haus zu laut gefeiert wird, holt man gleich die Poli-
zei. Hier werden die Deutschen also immer noch so gesehen, als seien sie einem psychoanalytischen
Lehrbuch über den «analen Charakter» entsprungen. Allerdings bekommt dieses «klassische»
Deutschlandbild sowohl in Russland als auch in Kasachstan besonders bei der jüngeren Generation
zunehmend Konkurrenz durch ein anderes Bild, das diametral entgegensteht. Es sind dies die
«lockeren», «hedonistischen» und «demokratischen» Deutschen sowie Bilder vom deutschen So-
zialstaat. Dieses Volk frönt ausgiebig dem Bierkonsum und schunkelt zu rheinischer Karnevals-
musik. Es bereist sämtliche Länder der Erde und legt Wert auf sportliche und bequeme Kleidung.
Zudem interessieren sich die Deutschen für Politik, praktizieren in der Schule einen lockeren,
demokratischen Unterrichtsstil, haben die traditionellen Geschlechterrollen aufgeweicht und ver-
halten sich umweltbewusst aus Überzeugung. Sie verzichten auf Pelzmäntel, sortieren ihren Müll
und sparen Wasser. Bewundert wird ohne Ausnahme das Leben der sorglosen deutschen Rentner.
Eine Germanistin aus Almaty: »Die alten Frauen in Deutschland sehen so schön aus, so sorgenlos!»
Zugleich werden die Deutschen allerdings auch als sehr vereinzelt und distanziert gesehen.
Sie gelten als egozentrische Einzelgänger, die wenig Anteil am Leben anderer nehmen. Eine 22-
jährige russische Verkäuferin: »Der wichtigste Mensch für einen Deutschen ist immer nur er
selbst!» Dazu passt, dass die Generationen in Deutschland kaum noch Kontakt untereinander haben.
Dass die Mehrzahl der Deutschen in Kleinstfamilien oder allein lebt, ruft vor allem in Kasachstan
immer wieder großes Erstaunen bis Unverständnis hervor. Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg
herrscht nahezu einhellig folgende Meinung einer kasachischen Universitätsdozentin: «Dass die
heutigen Deutschen für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich sein sollen, erscheint mir so sinnvoll
wie die Verantwortung aller Frauen für die Sünde unserer Urmutter.» Man empfindet gegenüber
den Deutschen keinen Hass, sondern ist sich einig, dass dort heute eine andere Generation lebt, die
an einem Krieg gegen die ehemalige Sowjetunion kein Interesse hat. Ein 25-jähriger LKW- Fahrer
aus der russischen Provinz: «Ich bezweifele, dass Deutschland jetzt einen Krieg führen würde. Das
Lebensniveau ist recht gut und sie sind nicht so dumm, es in Gefahr zu bringen.» Das bedeutet
allerdings keineswegs, dass der Zweite Weltkrieg und die Gräueltaten der Deutschen vergessen
wären. Besonders die russischen Männer verweisen in diesem Zusammenhang nicht ohne Stolz auf
die ihrer Ansicht nach auch heute ungebrochene Schlagkraft ihrer Armee. Viel mehr als der Zweite
Weltkrieg beschäftigt allerdings die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion ein anderes deut-
sches Phänomen, das beispielsweise im multikulturellen Kasachstan noch weitgehend zu fehlen
scheint. Das ist die wachsende Ausländerfeindlichkeit.
Der Autor hat in diesem Jahr das Buch «Deutschlandbilder in der GUS. Szenische Erkun-
dungen in Russland und Kasachstan» veröffentlicht.

 Welches Bild haben sich einzelne Völker von Deutschland gemacht?


 Wie werden die Deutschen gesehen?
 Wie werden die Belarussen/Russen gesehen?

 Beschreiben Sie die unten stehende Karikatur. Nutzen Sie die angegebenen Redemittel.
Redemittel für die Beschreibung der Karikatur:

- Auf dem Bild sieht man/wird dargestellt ...


- Das Symbol des ... wird übertrieben gezeichnet.
- Mit bewusster Übertreibung des ... wird angespielt auf ...
- Das Typische/Das Besondere an ... + D herausstellen/hervorheben/thematisieren.

Aufgaben zu der Karikatur

1. Trifft die abgebildete Karikatur Ihrer Meinung nach auf die Deutschen zu? Zeigen das Bild
etwas für die Deutschen Typisches oder ist es mittlerweile längst überholt?
2. Gibt es überhaupt “Typisches” oder brauchen wir Vorurteile und Stereotype nur, um uns das
andere Volk überhaupt begreiflich machen zu können?
3. Stellen Sie einen Wertekatalog auf mit Vorurteilen und Klischees über die Deutschen, die sich
Ihrer Meinung nach eher bewahrheiten, und solche, die eher zutreffen.

trifft zu trifft nicht zu

Bikulturelle Ehen und Beziehungen

Mit der Globalisierung und der Migration nimmt die Zahl bikultureller Partnerschaften
ständig zu. In Deutschland sind 4 % der Einheimischen mit Ausländem verheiratet. In Frankreich ist
jede fünfte Ehe bikulturell, das sind 20 %, und in der Schweiz sind es etwa 35 %. Fast jeder dritte
Schweizer heiratet eine Ausländerin, fast jede vierte Schweizerin einen Ausländer. 65 % der auslän-
dischen Partner bzw. Partnerinnen von Schweizern stammen aus europäischen Ländern, 35 % sind
aus nicht-europäischen Ländern.
Interessant ist auch die Tatsache, dass bikulturelle Beziehungen etwas stabiler sind als
andere: 45 % der Ehen zwischen Schweizerinnen und Schweizern werden wieder geschieden, aber
nur 39 % der Ehen, bei denen einer der Partner aus dem Ausland kommt. Was ist bei bikulturellen
Paaren anders? In diesen Beziehungen verlässt oft eine Person ihr Heimatland und damit auch ihre
Familie und die Freunde und lebt dann mit dem neuen Partner oder der Partnerin zusammen. Nach
dem ersten Stadium der Verliebtheit können daher schnell Probleme auftauchen, mit denen die bei-
den nicht gerechnet haben. Gründe für Probleme sind vor allem Geld und Arbeit, Sprache und
Kommunikation, Heimweh und psychisches Wohlbefinden, aber auch die Religion. Dazu kommen
oft Probleme mit den Behörden, z. B. wegen der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Wenn ein Aus-
länder oder eine Ausländerin am neuen Ort keine Arbeit findet, kann dies das Gleichgewicht in der
Beziehung schnell stören. Vor allem Männer haben oft Probleme, wenn sie von ihrer Partnerin
finanziell abhängig sind. Daher kann eine gute Arbeit und ein offenes Klima am Arbeitsplatz die
Integration in einer neuen Umgebung sehr positiv beeinflussen. Eine wichtige Rolle spielt auch die
Sprache. Es entstehen schnell Konflikte, wenn die Partner einander sprachlich nicht verstehen,
wenn einer der beiden die Sprache der anderen Person bzw. die Sprache der Umgebung nicht so gut
beherrscht. Für die Kinder dagegen kann eine bikulturelle Ehe, in der die Eltern verschiedene Spra-
chen sprechen, eine Chance sein. Sie lernen meist ohne Probleme mehrere Sprachen.
Viele Menschen, die in eine neue Welt auswandem, denken oft an ihre Heimat und werden
dabei traurig. Sie haben ihre alte Welt im Kopf noch nicht verlassen. Gegen Heimweh hilft ein so-
ziales Netz mit neuen Freunden und Freundinnen. Auch die Integration in einen Sportverein, wo
meist ein offenes Klima herrscht, kann helfen. Wichtige Faktoren für die Integration sind auch
religiöse Werte und Vorstellungen.
Insgesamt kann man sagen, dass für viele bikulturelle Paare das Zusammenleben in einem
neuen Land eine große Chance sein kann. Vor allem dann, wenn beide bereit sind, offen auf die
Probleme der neuen Umgebung und die Probleme des Partners oder der Partnerin einzugehen.

 Wie groß ist der Anteil der bikulturellen Ehen in europäischen Ländern?
 Warum sind bikulturelle Beziehungen etwas stabiler als andere?
(aus: Interkulturelle Landeskunde: Belarus – Deutschland)

Inhaltsverzeichnis

Familie hat viele Gesichter…………………………………………………….........................1


Elternwille und Kindeswohl – vom Wandel der Erziehung………………………………….......4
Zusammenleben in der Familie.........................................................................................................6
Familienpolitik in Deutschland.........................................................................................................9
Familien in Deutschland..................................................................................................................13
Lebensformen und Familie im Wandel..........................................................................................15
Der Familienkrach......................................................................................................................18

Gleichstellungs- und Geschlechterpolitik.......................................................22


Gleichberechtigung von Mann und Frau.....................................................................23
Vereinbarkeit von Beruf und Familie..............................................................................26
Es lag an den Kindern......................................................................................................27
Wandel im Geschlechterverhältnis.................................................................................28
Ungleichheit zwischen Frauen und Männern.................................................................32
Männergesellschaft – Gibt´s die noch?..........................................................................37
Häufige Ursachen von Eheproblemen............................................................................40

Unser Verständnis von Arbeit.......................................................................................43


Formen und Ursachen von Arbeitslosigkeit..................................................................44
Jäger, Bauer, Banker. Wie wir morgen arbeiten werden:
Ein Blick zurück nach vorn..............................................................................................47

Verstöße gegen die Rechtsordnung –


die Gerichte entscheiden........................................................................................51
Der Fall Peter K.................................................................................................................54
Der Ablauf des Gerichtsverfahrens – Strafprozess und Zivilprozess.........................55
Beobachtungsaufträge für den Gerichtsbesuch...........................................................59
Recht und Gerechtigkeit im Rechtsstaat........................................................................60
Was ist ein Rechtsstaat?..................................................................................................61
Rechtssicherheit im Rechtsstaat – Beispiele.................................................................61
Jugendstrafe – angemessen und zweckmäßig?..............................................62

Migration weltweit..........................................................................................................66
Arbeitskräfte gesucht.......................................................................................................68
Arbeit gesucht: Traumziel Europa..................................................................................70
Binnenwanderung in Europa...........................................................................................72
Deutschland – ein Einwanderungsland?........................................................................75
Ausländer in Deutschland: einfach nur fremd?.............................................................78
Integrationspolitik.............................................................................................................81
Migration und Integration.................................................................................................84
Fremde und Fremdsein - Vorurteile und Feindbilder..................................................................87
Internationale Migration...................................................................................................89
Formen der Abwanderung...............................................................................................90
Staatliche Steuerungsversuche......................................................................................94
Migration und Integration (Deutschland-Chronologie).................................................97
Religionen: Konfliktpotenzial oder kulturelle Bereicherung?....................................102
Ethnische Konflikte........................................................................................................103

Globaler Terrorismus – die neue Gefahr...................................................................105


Gemeinsamer Kampf gegen den Terror.......................................................................106
Transnationaler Terrorismus.........................................................................................108
Der islamische Terrorismus.................................................................................112
Terrorismus gestern und heute.....................................................................................115
„Sicherheitspakete – Wie lässt sich die innere Sicherheit erhöhen?........................117
Der internationale Terrorismus – weiterhin eine Gefahr?....................119

Gefahr durch ABC-Waffen...........................................................................................121

Weltpolitische Konflikte...............................................................................................126
Ursachen und Hintergründe von Konflikten und Kriegen..........................................126
Entwicklung und Aufhebung des Ost-West-Konflikts............................................128
Struktur und Perspektiven des Nord-Süd-Konflikts...............................................132
Konfliktherd Nahost......................................................................................................137
Krieg und Friedlosigkeit: Warum gibt es Kriege? – Vier Beispiele.......................142
Krieg, Konflikt, Konfliktlösung....................................................................................144
Kriege neuer Art............................................................................................................149
Irak-Krieg 2003.............................................................................................................153
Krieg im ehemaligen Jugoslawien.............................................................................155
Kurden: Volk ohne Land...............................................................................................159

Humanitäre Katastrophen...........................................................................................161

Organisationen und Instrumente kollektiver Sicherheit.......................................165


Vereinte Nationen und Weltfriedensordnung...............................................................165
OSZE – Sicherheit und Zusammenarbeit für Europa..................................................170
Internationale Nichtregierungsorganisationen............................................................172
NATO und Bundeswehr..................................................................................................173

Interkulturelle Kommunikation..................................................................................178
Eine seltsame Alchemie zwischen Deutschen und Franzosen..................................179
Ein Gespräch über interkulturelle Probleme................................................................182
Kulturunterschiede zwischen Deutschland und Belarus............................................182
Warum sehen Russinnen so viel schöner aus?..........................................................185
Über die Ehe – ein Kommentar......................................................................................186
Heirats-Trends.................................................................................................................186
Andere Länder, andere Sitten........................................................................................187
„Das Wichtigste für einen Deutschen ist immer nur er selbst“.................................189
Bikulturelle Ehen und Beziehungen..............................................................................191
Inhaltsverzeichnis..............................................................................................193

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