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BUCHENWALD

AUSGRENZUNG UND GEWALT


1937 BIS 1945
Themenband zur Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald
Herausgegeben im Auftrag des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung,
Lehrplanentwicklung und Medien, Dr. Andreas Jantowski und
der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
von Volkhard Knigge in Zusammenarbeit mit Michael Löffelsender,
Rikola-Gunnar Lüttgenau und Harry Stein
Diese Reihe wird vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien
verlegt, sie stellt jedoch keine verbindliche, amtliche Verlautbarung dar. Die verwendeten
Personenbezeichnungen beziehen sich auf Personen beiderlei Geschlechts. Dem Freistaat
Thüringen, vertreten durch das Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und
Medien, sind alle Rechte der Veröffentlichung, Verbreitung, Übersetzung und auch die
Einspeicherung und Ausgabe in Datenbanken vorbehalten. Die Herstellung von Kopien und Auszügen
zur Verwendung an Thüringer Bildungseinrichtungen, insbesondere für Unterrichtszwecke, ist
gestattet. Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des Thüringer Instituts für
Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die
Autoren die Verantwortung.

ISSN 0944- 8691


ISBN 978- 3- 9816900- 3- 3

Bad Berka 2016

1. Auflage

BUCHENWALD
AUSGRENZUNG UND GEWALT
1937 BIS 1945

Themenband zur Dauerausstellung in der Gedenkst ät te Buchenwald


Herausgegeben im Auft rag des Thüringer Inst it ut s für Lehrerfort bildung, Lehrplanent wicklung und
Medien, Dr. Andreas Jantowski und der St ift ung Gedenkst ät ten Buchenwald und Mit telbau- Dora von
Volkhard Knigge in Zusammenarbeit mit Michael Löffelsender, Rikola- Gunnar Lüt t genau und Harry Stein

Lektorat : Kat harina Brand, Stefanie Dellemann


Mit arbeit Biografien: René Bienert

Ausstellungsfotografien: Claus Bach

Objekt fotografien: Claus Bach, Kat harina Brand, Peter Hansen

Gest alt ung: werkraum.media, Weimar,


Frieder Kraft unter Mit arbeit von Christ ian Brüheim und Ralf Jehnert

Typographie: 0445 (2xGoldstein, Rheinstet ten)

Titelabbildung: Lagertor
(Fotos: Gedenkst ät te Buchenwald / The Internat ional Court of Just ice,
The Hague; Mont age: Frieder Kraft )

Druck: Gutenberg Druckerei GmbH Weimar

Die Publikat ion wird gegen eine Schut zgebühr von 4 Euro abgegeben.

Gefördert von der Beauft ragten der Bundesregierung für Kult ur und Medien
aufgrund eines Beschlusses des Deut schen Bundest ages sowie von der
Thüringer St aat skanzlei.
Vorworte
Volkhard Knigge 6
Jedem das Seine

Andreas Jantowski 10
Buchenwald
Menschlicher Leidensort – verstörender Lernort

Ausstellung
Nationalsozialismus und Gewalt 14
Weimar – Kulturstadt des Nationalsozialismus 16
Ein Konzentrationslager wird gebaut 23
Novemberpogrom 30
Lebensgeschichten 34

Krieg und Verbrechen 40


Antisemitische Feindbilder und Massenmord 42
Die Mörder 46
Die Zwangsordnung des Lagers 52
Verbrechen und Kooperation 62
Lebensgeschichten 72

Dinge – Geschichten 78
Einkleidung 82
Unterernährung 88
Selbstbehauptung 92

„Totaler Krieg“ 96
Ein Lager für die Kriegswirtschaft 98
Zwangsarbeiter für den „Endsieg“ 104
Selektion und Zwangsarbeit 110
Solidarität und Widerstand 122
Lebensgeschichten 130

Die letzten Monate 140


Der 24. August 1944 142
Die Räumungstransporte 146
Massensterben im Kleinen Lager 148
Todesmärsche 154
Lebensgeschichten 162
April 1945 – die Tage bis zur Befreiung 172

2|3
Nach der Befreiung 184
Ivan Ivanji 200
Statt eines Nachwortes – Mein Weimar
Honig und Galle

Chronologie 206

Aufsätze
Christian Geulen 224
Rassismus und Nationalsozialismus: Eine kurze Ideologiegeschichte

Tim B. Müller 230


Völkisches und antidemokratisches Denken vor 1933

Johannes Tuchel 240


Nationalsozialistische Herrschaftssicherung und Verfolgungspraxis
1933 bis 1937

Ulrich Herbert 248


Die deutsche Gesellschaft im „Dritten Reich“

Nachwort
Norbert Frei
Nach der Zeitgenossenschaft 258

Anhang
Quellenverzeichnis 260
Impressum 262
Dank 266

Bildungsarbeit am außerschulischen Lernort Buchenwald 269

I N H A LT
Jedem das Seine
Volkhard Knigge

Jedem das Seine – gibt es ein schöneres und vor wenigen Jahren gehörten Besucherinnen
menschlicheres Versprechen als das, jeder und und Besucher von KZ-Gedenkstätten in be-
jedem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, trächtlichem Ausmaß der Beteiligtengeneration
persönliche Interessen, Neigungen und Bedürf- an oder zählten zu deren Kindern. Ihnen war die
nisse zu respektieren, niemanden zu benachtei- Vergangenheit – wie ausschnitthaft, zurecht-
ligen, herabzusetzen, keinem zu schaden, keinen gerückt und eingefärbt auch immer – als Erfah-
zu verletzen, Menschen in ihrer Gleichheit und rung und Erinnerung mittel- oder unmittelbar
Unterschiedlichkeit, in ihrer Individualität und gegenwärtig. Erkaltete und gegenwartsferne
Besonderheit zu würdigen und zu achten, jeder Geschichte war diesen Besuchern die Geschich-
und jedem Stimme und Platz in der Gesellschaft te des nationalsozialistischen Deutschland,
zu verbürgen? „Die Gebote des Rechts sind des Zweiten Weltkrieges und der begangenen
folgende: Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, Menschheitsverbrechen nicht. Noch im Sträuben
jedem das Seine gewähren“ – so formuliert der gegen die Auseinandersetzung damit zeigte sich
römische Corpus Iuris Civilis aus der Mitte des deren Lebendigkeit und Relevanz.
6. Jahrhunderts vollständig den Rechtsgrund-
satz, auf den die Kurzform Jedem das Seine zu- Dass dies heute, Jahrzehnte nach Ende des
rückgeht. Im Frühjahr 1938, wenige Monate nach Zweiten Weltkrieges und der Befreiung der
Beginn der Errichtung des Konzentrationslagers Lager, dass dies heute infolge von Migration
Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar, und Einwanderung anders geworden ist, ist
ist diese Formel auf Veranlassung des Lager- eine banale, aber ernstzunehmende Fest-
kommandanten Karl Otto Koch in geschmiede- stellung. Denn man kann – und ein Blick in die
ten Buchstaben als Motto der SS in das Tor des Erinnerungskultur und die neuen und neuesten
Konzentrationslagers eingelassen worden. Auf Ausstellungen zur Geschichte des 20. Jahrhun-
die Sicht von innen, auf den Appellplatz, auf die derts, des Holocaust und anderer Staats- und
Häftlinge dort ausgerichtet, demonstrierte die Gesellschaftsverbrechen erweist das – auf die
Inschrift gebieterisch das angebliche Recht der zeitliche oder herkunftsgeschichtliche Entfer-
SS und des nationalsozialistischen Deutschland nung der Vergangenheit von der Gegenwart auf
auf die brutale Ausgrenzung von Menschen aus drei Weisen reagieren: Man kann die normative
der Gesellschaft – aus politischen, sozialen und Rhetorik und das Pathos der Erinnerung steigern.
rassistischen Gründen. Man kann so tun, als ließe sich Vergangenheit
medial authentisch verlebendigen und unmit-
Ausstellungen an den Orten ehemaliger natio- telbar, so als sei man selbst mitten darin, nach-
nalsozialistischer Konzentrationslager in der oder miterleben. Man kann aber auch danach
Bundesrepublik Deutschland hatten und haben fragen und erfahrbar zu machen versuchen, was
die Aufgabe, die dort geschehenen Verbrechen an Geschichte und historischer Erfahrung für
gegen deren Verharmlosung oder Verleugnung Gegenwart und Zukunft virulent und relevant
unwiderlegbar zu dokumentieren und darzustel- bleibt.
len sowie den Verfolgten Gesicht und Stimme
zu geben. Sie sind Foren, in denen transnational Die Ausstellung Buchenwald. Ausgrenzung
und interkulturell über die Bedeutung der Ver- und Gewalt 1937 bis 1945 geht letzteren Weg.
gangenheit für die Gegenwart nachgedacht und Denn moralisierendes Pathos erzeugt auf Dauer
diskutiert wird. In der Vergangenheit wendeten Widerwillen und bewirkt kein historisches Be-
sie sich dabei in erheblichem Maße an Zeitge- greifen. Unmittelbar verlebendigen und erleben
nossen, die den Nationalsozialismus erlebt, wenn lässt sich Vergangenheit nicht. Denn Geschichte
nicht mitgestaltet hatten, die von ihm geprägt als Darstellung der Vergangenheit ist – selbst in
worden waren und die sich nach 1945 mit diesem der Form einer Ausstellung – nicht Spiegelung,
Teil ihres Lebens arrangiert oder kritisch auf- sondern Konstruktion und Interpretation. Eine
arbeitend auseinandergesetzt hatten. Noch bis Konstruktion allerdings, die nicht beliebig oder

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rein fiktional ist, wenn sie die überlieferten his- lagen einer friedlichen Ordnung zerstört worden
torischen Zeugnisse methodisch sorgfältig er- waren – demokratische Gewaltenteilung, Gleich-
schließt und entsprechend präsentiert. Deshalb heit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit und alle
kann mittels Ausstellungen historische Erfah- anderen Bürgerrechte – und Medien, Justiz und
rung annähernd begreifbar werden und – das ist staatliche Verwaltungen nur noch im Sinne der
ein elementares Ziel der neuen Dauerausstel- Nationalsozialisten funktionierten. Zum anderen,
lung –, es lässt sich mit ihrer Hilfe erschließen, weil die Einstufung der Menschen in angeblich
was man besser nicht tun sollte, damit Staat Höher- und Minderwertige, weil das Bestreiten
und Gesellschaft nicht inhuman umkippen; was unteilbarer Menschenwürde die Gewalt befeuer-
man nicht tun sollte sowohl im Alltag unmittel- ten und als zwingend erklärten.
bar zwischen Menschen als auch in den Berei-
chen von Politik und staatlicher Verfassung, des Angesichts dessen gilt es, die Fassungslosig-
Sozialen, des Kulturellen oder des Rechts. keit zu bewahren und zivilisatorisch fruchtbar
zu machen, die sich einstellt, wenn man be-
Allerdings kommt hier eine weitere Vorausset- greift, wie schnell und widerstandslos sich der
zung hinzu, der die Ausstellung in ausdrücklicher Umbruch und die Etablierung der nationalsozi-
Absetzung von einem Trend der Erinnerungs- alistischen Herrschaft vollzog: „Wieder ist es
kultur Rechnung trägt: Die Auseinandersetzung erstaunlich, wie wehrlos alles zusammenbricht“,
mit dem Nationalsozialismus darf sich nicht notierte der Romanist und Philologe Victor
entkontextualisierend auf das Grauen der Lager Klemperer am 10. März 1933 in seinem Tagebuch.
einengen. Die Lager waren keine isolierten Inseln Zur gleichen Zeit resümierte der Schriftsteller
des namenlos Bösen. Die Verbrechen geschahen Robert Musil: „Freiheit der Presse, der Äuße-
nicht irgendwo abseits, sondern – wie es der rung überhaupt, Gewissensfreiheit, persönliche
Auschwitz- und Mittelbau-Dora-Überlebende Würde – Geistesfreiheit – usw., alle die liberalen
Jean Améry aus bitterer Erfahrung formulierte – Grundrechte sind jetzt beseitigt, ohne daß es
„mitten im deutschen Volke“. Deshalb ver- nur einen einzigen zum äußersten empörte, ja
schränkt die Ausstellung den Blick in die Lager im ganzen, ohne daß es die Leute überhaupt
mit dem Blick in die deutsche Gesellschaft; eine stark berührt.“ Diese beiden Beispiele für eine
Gesellschaft, die Lager und Ausgrenzung über- im damaligen Deutschland, angesichts der
wiegend akzeptierte, für gerechtfertigt und reibungslosen Machtübergabe an Hitler und die
notwendig hielt, die kaum Anstoß nahm, die sich Nationalsozialisten, außergewöhnliche Fas-
der Lager und Häftlinge dort vielfach bediente sungslosigkeit können für die Brüchigkeit unse-
und die schließlich mit dem „totalen Krieg“ von rer Gegenwart sensibilisieren; einer Gegenwart,
Lagern flächendeckend durchsetzt war. Die in der völkischer Nationalismus, rassistische
reibungslose Nachbarschaft von Weimar und Bu- Ungleichwertigkeitsideologien, kulturelle Illibera-
chenwald ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. lität und antidemokratisches Denken keineswegs
überwunden sind.
Vor diesem Hintergrund liegt die fortdauernde
Relevanz von Geschichte und Erfahrung des Na- Auch deshalb haben Überlebende in der Aus-
tionalsozialismus nicht zuletzt in der Erkenntnis, stellung das letzte Wort. Nicht aber, um sich an
wie vergiftet das propagierte Ziel der Schaffung ihnen zu erbauen oder sich mit ihrem Überleben
einer ethnisch homogenen, „rassereinen“, har- voreilig zu trösten. Vielmehr will die Ausstellung
monischen „Volksgemeinschaft“ frei von sozi- bewusst machen und im Bewusstsein halten,
alen und politischen Konflikten war. Jedem das dass es Überlebende waren, die von Anfang an –
Seine nationalsozialistisch gewendet bedeutete man denke z. B. an Eugen Kogon, Bruno Bettel-
nichts anderes, als die Schaffung von Verhält- heim, Benedikt Kautsky oder Robert Antelme –
nissen, die auf Gewalt fußten und die unablässig nicht nur von den Lagern und dem, was dort
Gewalt erzeugten. Zum einen, weil die Grund- geschehen war, berichteten, sondern dass

VORWORT
sie die Lagererfahrung auf ihre Bedeutung für und Verfolgungsgeschichten von Häftlingen.
Gegenwart und Zukunft befragen und durch- Exemplarisch verdeutlichen sie die Zusammen-
dringen wollten: in politischer, in moralischer, setzung der Häftlingsgesellschaft im KZ Buchen-
in sozio-kultureller, in anthropologischer oder wald. Drittens thematisieren Sachzeugnisse aus
ästhetischer Perspektive. Die bloße Darstellung dem Lager bzw. aus dem Besitz von Häftlingen
der Schrecken erschien ihnen unangemessen, („Dinge – Geschichten“) wesentliche Aspekte
eine erkenntnisarme Widerspiegelung von Leid des Lageralltags: Einkleidung, Unterernährung
und Gewalt keineswegs geeignet, Ähnliches in und Selbstbehauptung. Wie in der Ausstellung
Zukunft unmöglich zu machen. Mit Buchenwald spricht am Ende einer, der das KZ Buchenwald
verbinden sich trotz aller Leiden und national- am eigenen Leib erfahren musste. Der ehemalige
sozialistisch praktizierter Gegenmenschlichkeit Diplomat und Schriftsteller Ivan Ivanji rekapitu-
auch elementare Impulse für eine gerechtere liert seine Erfahrung mit Weimar – Weimar als
und mitmenschlichere Welt. historischen Ort, als Symbol, als janusköpfige
Erfahrung und Orientierung.
Die Dauerausstellung Buchenwald. Ausgrenzung
und Gewalt 1937 bis 1945 ist die letzte große Die eigens für diesen Band geschriebenen
Ausstellung, die in der Bundesrepublik Deutsch- Aufsätze ordnen die engere Geschichte des
land gemeinsam von Überlebenden, Historikern, Konzentrationslagers in für ein umfassenderes
Museologen und Geschichtsdidaktikern auf den Verständnis relevante Vor- und Nachgeschichten
Weg gebracht worden ist. In ihr verbinden sich ein: von der Geschichte des modernen Rassis-
Abschied und Zukunft. mus und des völkisch-antidemokratischen Den-
kens bis hin zur Geschichte der Zeugenschaft
Abschied von der Vergangenheit in Gestalt Überlebender nach 1945. Gleichzeitig vertiefen
lebendiger Erinnerung, aber nicht in Gestalt sie den Blick auf die deutsche Gesellschaft im
absoluter Historisierung. Die mit der Aufar- Nationalsozialismus und auf die Entstehung und
beitung des Nationalsozialismus verbundenen Funktion der Konzentrationslager vor und im von
politischen und moralischen Impulse sind ebenso Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg.
wenig historisierbar wie die oben angesproche-
ne Fassungslosigkeit.
Volkhard Knigge
Zukunft, weil sich mit ihrer Entstehung die feste Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit
an der Universität Jena und Direktor der Stiftung Gedenkstätten
Absicht aller Beteiligten verbindet, der staatlich Buchenwald und Mittelbau-Dora
legitimierten, gesellschaftlich mitgetragenen
oder hingenommenen Gegenmenschlichkeit nicht
das letzte Wort zu lassen.

Der Begleitband dokumentiert die Dauerausstel-


lung in ihren wesentlichen Zügen. Er folgt ihrem
thematischen Aufbau und spiegelt ihre drei zen-
tralen, auf je besondere Weise gestalteten Zu-
gänge wider. In vier Kapiteln wird die Geschichte
des KZ Buchenwald und seiner Einbindung in die
deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus
anhand zentraler Zeugnisse, Objekte, Fotos und
Dokumente dargestellt. Der ergänzende Epilog
(„Nach der Befreiung“) wirft den Blick schlag-
lichtartig auf die Nachgeschichte des Lagers.
Einen zweiten Zugang bilden die über 80 Lebens-

Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941. Herausgegeben von Walter Nowojski, Berlin 1995
Robert Musil, Tagebücher. Herausgegeben von Adolf Frisé, Reinbek 1983

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„Wieder ist es erstaunlich, wie wehrlos
alles zusammenbricht.“
VICTOR KL EMPERER , 1 0 . MÄ R Z 1 933

„Freiheit der Presse, der Äußerung überhaupt,


Gewissensfreiheit, persönliche Würde –
Geistesfreiheit – usw., alle die liberalen Grundrechte
sind jetzt beseitigt, ohne daß es nur einen einzigen
zum äußersten empörte, ja im ganzen,
ohne daß es die Leute überhaupt stark berührt.“
ROBERT MUSIL , MÄ R Z 1 933

VORWORT
Buchenwald
Menschlicher Leidensort – verstörender Lernort
Andreas Jantowski

Am Lagertor stehen fünfundzwanzig Schülerin- Korrektur. Muss man daher aus pädagogischen
nen und Schüler der „Neunten“ mit ihrer Leh- Erwägungen „dankbar“ sein für jede, noch so
rerin. Sie befinden sich auf einer Klassenfahrt platte, Äußerung jugendlicher Provokationslust?
nach Weimar und heute steht der Besuch der
Gedenkstätte Buchenwald auf dem Programm. Um auch die „stille“ Werteausprägung päda-
Im Geschichtslehrplan ist der Zweite Weltkrieg gogisch in den Blick zu nehmen, muss man sich
zwar erst in der zehnten Klassenstufe Lernge- auch dem aktuellen Geflecht von Einflüssen,
genstand und die Lehrerin fragt sich jedes Jahr Abhängigkeiten und Konflikten stellen, die unsere
bei dieser Fahrt mit den „Neunten“ wieder, ob die Gesellschaft kennzeichnen. In Analogie zum
Schülerinnen und Schüler vielleicht noch zu jung sprachlichen Bild des „Hin- und Herwandern des
sind für diesen speziellen „außerschulischen Blicks“, wie ihn der Jurist Josef Esser verwendet,
Lernort“, so der exakte Begriff in der Sprache bedarf es einer Brücke zu der Generation, von
der Lehrpläne. Aber in der „Zehnten“ sind Prü- der man nicht automatisch erwarten kann, dass
fungen, die Abschlussfahrt und andere schul- sie sich intensiv mit der Vergangenheit verbun-
organisatorische Schwerpunkte in ihrer Schule den fühlt, eine Generation mit ihren eigenen Er-
vorgesehen. Auf den Besuch dieses Lernortes zu fahrungswelten, weit entfernt von den Gescheh-
verzichten, kommt für die Lehrerin nicht in Frage. nissen damals – eine Brücke zu den Menschen
Sie ist der Meinung, dass jede Schülerin und dieser Generation, mit all ihren Wahrnehmungen,
jeder Schüler während der Schulzeit in Thüringen Positionen und Distanzierungsbedürfnissen, eine
diese Gedenkstätte besucht haben sollte und sie reflektierende Selbstvergewisserung über das
weiß, dass das wieder nicht leicht sein wird. Da Erinnern. Dabei werden individuelle und kollek-
ist dieser Schüler, der auch in der Schule immer tive Voreingenommenheiten offengelegt, die dif-
wieder auffällt und der sich zur Inschrift „Jedem fuse Gefühlslagen auslösen können. Im Prozess
das Seine“ am Lagertor lautstark äußert, dass des Ringens um eine Wertebildung, die sich am
er die Inschrift, trotz des ganzen „Betroffen- Maßstab der Menschenwürde orientiert, gilt es,
heitsgetues“, richtig finde. Der Lehrerin ist diese pädagogisch gefühlvoll zunächst auf Gelungenes
Äußerung peinlich und sie fragt sich, warum sie einzugehen und nicht vordergründig Defizite und
sich das jedes Mal „antut“. Verunsicherungen zu thematisieren. Auf diese
Weise wird, nach und nach, das Verhältnis von
So oder ähnlich könnte das Ausgangsszenario Individuum und Gesellschaft sichtbar, damals
aussehen, wenn mit dem Gang durch das ehe- wie heute, und unterstreicht die Handlungs-
malige Lagertor des KZ Buchenwald auch das macht des Einzelnen sowie der gesellschaft-
Tor zu einer Form der Bildungsarbeit aufgesto- lichen Institutionen in Bezug auf Grundsätze,
ßen wird, die darauf aus ist, Einstellungen und Haltungen und Maßnahmen zur Abwertung der
Werthaltungen zu beeinflussen. Das ist eine Anderen. An diesem Bezugspunkt bleibt dann
pädagogische Aufgabe, die höchste Sensibilität auch kein Platz, das „Dritte Reich“ zu einem
erfordert, denn die Schülerinnen und Schüler sozialen Wohlfahrtsstaat zu stilisieren, in dem
bringen ihre Konstruktionen der Welt bereits Solidarität und Fürsorglichkeit herrschten. In so
in die Schule mit. Deshalb wird es auch darum einer Atmosphäre wird langsam spürbar, dass
gehen, diese erst einmal zu hinterfragen, um man eben nicht bequemerweise vergessen oder
den Prozess der eigenen Positionierung anzu- verdrängen sollte, weil in jeder Gesellschaft vor-
stoßen. Dass es durchaus mit gewissen Risiken urteilsbehaftete Einstellungen handlungssteu-
verbunden ist, laut Stellung zu beziehen, lernen ernd sein können. So ist auch eine Annäherung
die Schülerinnen und Schüler schnell. Die Mei- an die Angst derer möglich, die ausgegrenzt,
nungsbildung und Wertorientierung vollzieht sich entrechtet, täglich mit dem Tod damals rech-
aus diesem Grund nicht selten eher geräuschlos neten und in einigen Teilen der Erde auch heute
und entzieht sich daher mancher notwendigen unsägliches Leid erdulden müssen.

10 | 11
Dieses Hin- und Herwandern des Blicks erhellt sierungs- und Liberalisierungsprozessen moder-
auch die Bedeutung der Inschrift des Lagerto- ner Gesellschaften werde es keine verbindlichen
res und richtet den Blick auf Gelungenes in der Wert- und Sinnvorstellungen geben, hat sich als
Aussage des „auffälligen Schülers“ im konstru- offenkundig falsch erwiesen. Die wertgebende
ierten Ausgangsszenario. Auf gerade auch für Ordnung des Grundgesetzes, die den Pluralismus
junge Menschen leicht nachvollziehbare Weise ermöglicht und Toleranz voraussetzt, hat sich
verdeutlicht das der Prolog der neuen Daueraus- bewährt.“ (Oberreuther in Zitation von Huwen-
stellung „Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt diek, Mäder, Pfennings 2009, S. 1)
1937 bis 1945“. In Gestalt einer audio-visuellen
Animation vermittelt er, auf das Wesentliche Es wäre zudem nicht sachgerecht, sich nur kri-
konzentriert, ereignisgeschichtliche Etappen der tisch mit der bestehenden Werteordnung ausei-
politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen nanderzusetzen und Strategien zur Wertefindung
Transformation in Deutschland von der Macht- zu entwickeln, ohne die Fundamente des gegen-
übergabe an Hitler und die NSDAP 1933 bis zum wärtigen Wertesystems zu kennen. Anerkennt
Bau des KZ Buchenwald 1937. Anschaulich wird man die Wertvorstellungen hinter dem Grundge-
die – beinahe widerstandslos hingenommene, setz und geht davon aus, dass die Werte der be-
von vielen begrüßte und mitgestaltete – Trans- stehenden Rechtsordnung in großer historischer
formation Deutschlands von der Demokratie zur Tradition stehen, die in unserem Recht als eine
rassistischen Diktatur und „Volksgemeinschaft“ fundamentale Errungenschaft des Menschen mit
in Gestalt der Verkürzung und rassistischen Um- hohem kulturellen Wert (Schneider 1987, S. 696)
deutung eines ursprünglich auf Gleichheit ange- niedergelegt ist, dann ist man bei einem Ansatz,
legten römischen Rechtsgrundsatzes zu „Jedem der von Gegnern als „affirmativ“ bezeichnet wird
das Seine“. Hier knüpft die Animation symbolisch wegen der akzeptierenden Grundhaltung. Auch
an. Parallel umreißt sie ereignisbezogen die sollte die Kritikfähigkeit des Schülers nicht zu
nationalsozialistische Zerschlagung der demo- früh strapaziert werden, wie Geißler (1979/80,
kratischen Grund- und Bürgerrechte, wie sie von S. 74) sagt, denn Schüler brauchen zunächst zur
der Verfassung der Weimarer Republik formuliert persönlichen Orientierung stabile Bezüge.
und bis 1933 garantiert waren. Skizziert wird
auch die Entwicklung der rassistischen Gesetz- In der Schule und im Unterricht wird den Schü-
gebung des „Dritten Reiches“ zur Legalisierung lern klar, dass das Wertesystem nicht vollkom-
der Entrechtung, Beraubung und Ausgrenzung men ist, grundlegende Werte für die menschliche
angeblich „Gemeinschaftsfremder“, die 1935 in Gesellschaft jedoch von zentraler Bedeutung
den „Nürnberger Rassengesetzen“ eskalierten. sind. Sie sind sich der Konsequenzen bewusst,
wenn sie gegen diese Werte verstoßen und ent-
Unsere heutigen Bildungsstandards verpflichten wickeln die Bereitschaft, Rechte und Anschau-
auch deshalb die Lehrenden aus gutem Grund ungen anderer zu achten. Selbstkompetenz
auf demokratische Werte und Normen. Insbe- entwickelt sich in diesem Ansatz so, dass sie in
sondere die Grundrechte schützen den Bürger, kritischer Auseinandersetzung an der Verbes-
auch als Schüler, gegen den Allmachtsanspruch serung und Ausgestaltung dieses grundlegend
des Staates und vor Anhäufung übergroßer akzeptierten Wertesystems mitarbeiten.
Macht gesellschaftlicher Gruppen. Anliegen der
Entwicklung von Selbstkompetenz und Eman- Im Hinblick auf diese Schaffung von Akzeptanz
zipation muss es demnach sein, die den Grund- der Grundrechte ist die pädagogische Arbeit in
rechten innewohnenden Wertvorstellungen als den Gedenkstätten von großer Bedeutung. In
Maßstab, der zu vermitteln ist, zugrunde zu einer Zeit, die auf das Ende der Zeitzeugenschaft
legen. In dieser Hinsicht argumentieret auch und die wachsende zeitliche Distanz zu den
Oberreuther: „Erfreulich ist der allgemein gesell- historischen Ereignissen pädagogisch reagieren
schaftliche Befund: Die These, in den Individuali- und entsprechende Bildungsangebote entwickeln

VORWORT
muss, ist die Auseinandersetzung mit den histo- Die weiterentwickelten Lehrpläne in Thüringen
rischen Fakten und Relikten am authentischen nehmen deshalb dezidiert Bezug auf den Besuch
Ort besonders wichtig. Wie an einem Lernort der von Gedenkstätten im Kontext von Wissensver-
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittel- mittlung und Erinnerungskultur zur Geschichte
bau-Dora Werteerziehung, historisches Lernen, des Nationalsozialismus und ermöglichen so
Demokratiepädagogik und kritische Ausein- eine breite und tiefgehende Auseinandersetzung
andersetzung mit dem Geschehenen erfolgen mit der Thematik in allen Kompetenzbereichen.
kann, beschreibt ein Schüler einer 10. Klasse so: Schulen und Gedenkstätten sind wichtige Part-
„Jeden von uns durchfuhr ein eiskalter Schauer, ner für den historischen Bildungsprozess unserer
als wir den Tunnel betraten. Aber im Gegensatz Schüler. Dies findet seinen institutionalisierten
zu den damaligen Häftlingen waren wir in warme Ausdruck auch in der Kooperationsvereinbarung
Jacken gepackt. Unsere Schritte hallten und zwischen dem Thillm und der Stiftung Gedenk-
wir bildeten uns ein, die Arbeitsgeräusche der stätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und
Gefangenen und die Kommandos der Aufseher zu erfährt seine Untersetzung mit vielen gemein-
hören. Wir liefen diesen schier unendlich wir- samen Fortbildungsveranstaltungen, die ins-
kenden Tunnel entlang und schauten sprachlos besondere auf die neue Dauerausstellung zur
und mit leerem Gesicht auf die Trümmerteile der Geschichte des KZ Buchenwald fokussieren. Vor
Raketenproduktion im Stollen des ehemaligen diesem Hintergrund hat das Thillm gemeinsam
Konzentrationslagers Mittelbau-Dora in Nord- mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und
hausen. Wenn man sich umsah, schaute man Mittelbau-Dora eine eigens für Thüringer Schulen
in fassungslose Gesichter, die man sonst nur bestimmte Version des Begleitbandes realisiert.
fröhlich kannte. Jeder von uns sehnte sich nach Sie soll auch und gerade der Vor- und Nachberei-
einem Licht am Ende des Tunnels, ein Licht, das tung des Gedenkstättenbesuchs dienen.
viele Häftlinge nie wieder zu sehen bekamen.“

Andreas Jantowski
Direktor des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung,
Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm)

12 | 13
VORWORT
DIE ERSTEN 149 HÄF TL INGE TREFFEN AM 15 . JULI 1937 AUS DEM K Z SA CHSENHA USEN A UF DER BA USTEL L E
F ÜR DAS NEUE K Z BUCHEN WALD AUF DEM ET TERSBERG EIN. FOTO : KRIMINA L POL I ZEISTEL L E WEIMA R

LAGERBELEGUNG KZ BUCHENWALD
1937-1938
1937 1 938

NEU EINGEWIESENE
HÄ F TLINGE 2 . 912 20.122

IN A NDERE L A GER ”ÜBERSTEL LTE“


ODER ENTL A S SENE HÄ F TL INGE 303 10.884

DURCHSCHNI T TL ICHE BEL EGUNG


DES L AGERS 2.200 7.420

BELEGUNG DES L A GERS


AM JA HRESENDE 2.561 11.028

TOTE
HÄF TLINGE 53 802
Nationalsozialismus
und Gewalt
Deutschland 1937 – Hitlers Partei, die NSDAP, ist unangefochten an der
Macht. Die Mehrheit der Bevölkerung identifiziert sich mit der neuen Ord-
nung oder hat sich arrangiert. Viele profitieren vom wirtschaftlichen
Aufschwung, der mit der Aufrüstung einhergeht.

Die Nationalsozialisten propagieren das Ziel einer „rassereinen“, har-


monischen „Volksgemeinschaft“ – frei von sozialen und politischen Kon-
flikten. In Wirklichkeit haben sie Verhältnisse geschaffen, die auf Gewalt
fußen und fortwährend Gewalt erzeugen. Grundlagen einer friedlichen
Ordnung sind zerstört: demokratische Gewaltenteilung, Gleichheit vor
dem Gesetz, Meinungsfreiheit und alle anderen Bürgerrechte. Medien,
Justiz und staatliche Verwaltungen funktionieren nur noch im Sinne der
Nationalsozialisten. Mit der Regierungsübernahme 1933 hat das Regi-
me Konzentrationslager eingerichtet. Ihr Zweck, die Verfolgung und Ein-
schüchterung von politischen Gegnern, ist erfüllt. Trotzdem werden neue
Konzentrationslager gebaut. Jetzt geht es nicht mehr allein um Terror,
sondern vor allem um die rassistische Umgestaltung der Gesellschaft.

Die nationalsozialistische Einstufung der Menschen in angeblich Höher-


und Minderwertige führt zu permanenter Gewalt. Schon vor dem Krieg
werden mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer von Verfolgung
und Ausgrenzung: neben den politischen Gefangenen in erster Linie
Juden, aber auch als „Zigeuner“ verfolgte Sinti und Roma und andere
stigmatisierte Menschen wie Homosexuelle, Vorbestrafte und
„Arbeitsscheue“.

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WEIMA RER BÜRGER VOR DE M MIT HAKENKREUZFAHNEN GESCHMÜCK TEN DEU TSCHEN NATIONA LTHE ATER , UM 1 938.

Weimar – Kulturstadt
des Nationalsozialismus
Weimar ist Hauptstadt des NSDAP-Gaus Thüringen und hat als Wirkungs-
stätte Goethes und Schillers einen festen Platz im kulturellen Selbstverständ-
nis der Deutschen. Das städtische Bürgertum wie auch die Beamtenschaft
sind mehrheitlich nationalistisch und antidemokratisch eingestellt. Hier kann
die NSDAP schon in den 1920er Jahren ungestört aufmarschieren und 1926
ihren Reichsparteitag im Deutschen Nationaltheater abhalten.

Der Ettersberg, auf dem das neue Konzentrationslager entsteht, ist ein be-
kanntes Symbol der Goethe-Zeit. Das KZ wird problemlos zum Bestandteil der
Stadt: das Krankenhaus und das Krematorium stehen der SS für ihre Zwecke
zur Verfügung. Für Firmen und Geschäfte ist sie ein Kunde wie jeder andere.
Nur die anfängliche Bezeichnung „K.L. Ettersberg“ lehnt das Kulturbürgertum
wegen des Goethe-Bezugs ab. Die SS-Führung reagiert schnell und ändert
den Namen in „K.L. Buchenwald / Post Weimar“.

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NS-Kulturgemeinde.
Die Nationalsozialisten benennen Straßen nach ihren Parteigrößen um.
Selbst Namen, die für die bekannte Kulturtradition Weimars stehen,
verschwinden widerstandslos. Die Bezeichnung des neuen Konzentrations-
lagers stößt bei der NS-Kulturgemeinde hingegen auf Widerspruch.

DIE WEIMARER NS - KULTURGEMEINDE ERHEBT EINSPRUCH GEGEN DIE BEZEICHNUNG


„ K. L . E T TERSBERG“ , WEIL DER ORTSNAME MIT GOETHE IN ZUSAMMENHA NG STEH T.
DIE SS L ENKT SCHNEL L EIN. THEODOR EICKE AN HEINRICH HIMML ER , 24. 7 . 1 937

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
SS in Weimar.
Bereits ein Jahr vor Gründung des Konzen-
trationslagers werden Mitglieder des Wachver-
bandes des KZ Lichtenburg als Stabswache
des NSDAP-Gauleiters in Weimar feierlich
begrüßt.

MI TGL IEDER DES WACHVERBANDES DES K Z LICHTENBURG ALS STABSWA CHE DES NSDA P- GA UL EI TERS IN WEIMA R .

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Zwangssterilisation.
Ärzte des städtischen Krankenhauses beteiligen sich am nationalsozia-
listischen Programm zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Willig voll-
strecken sie die Urteile der „Erbgesundheitsgerichte“. Hunderte, darunter
Häftlinge aus dem KZ Buchenwald, werden zwangssterilisiert.

DAS „L ANDESAMT F ÜR R AS SEWESEN“ WEIMAR ERFAS ST IN K ARTEIEN


UND AHNENTAFEL N DIE „ R AS SISCHE“ HERKUNF T DER BEVÖLKERUNG .
GL EICHZEITIG ERSTEL LT ES GUTACHTEN ZUR AUS SONDERUNG UND
ZWANGSSTERIL ISIERUNG DER ANGEBLICH MINDERWERTIGEN.

DIE S S K ANN AUF DIE MI TA RBEI T DES STÄ DTISCHEN KR A NKENHA USES WEIMA R UND DER
UNIVERSITÄTSKLINIK JENA BEI DER UNFRUCH TBA R MA CHUNG VON HÄ F TL INGEN Z Ä HL EN .
S S - STANDORTARZT AN DEN L EI TENDEN A R Z T BEI DER INSPEK TION DER K Z , 25. 8. 1 937

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
Ziegel für die Gauhauptstadt.
Mit der Produktion von Ziegelsteinen für die nationalsozialistische Um-
gestaltung Weimars will die SS Einnahmen aus der Häftlingszwangsarbeit
erzielen. Eigens dafür errichtet sie eine Ziegelei und ein Außenlager des
KZ Buchenwald in Berlstedt.

DER VERKEHRSVEREIN WEIMAR WIRBT MIT DEM IM BAU BEFINDLICHEN


NS-GA UFORUM ALS NEUE AT TR AKTION WEIMARS , 1938.

ZIEGELEI BERLSTEDT, DAS ERSTE A US SENL A GER DES K Z BUCHEN WA L D, 1 939.


FOTO : ERKENNUNGSDIENST DER S S

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Häftlinge in Weimar.
Schon ab 1938 sind Häftlinge im Stadtbild zu sehen.
Selbst bei der Vorbereitung von NS-Großveranstaltungen
werden sie eingesetzt.

HÄ F TL INGE MÜS SEN QUA RTIERE F ÜR DEN NSDA P- PA RTEI TA G


VORBEREI TEN . IN KL EINEN , VON DER S S BEWA CH TEN
KO MMA ND OS SIND SIE A UCH SPÄTER STÄ NDIG IN DER STA DT
BESCHÄ F TIGT. A NFORDERUNG VON HÄ F TL INGEN DURCH DEN
S S - A BSCHNI T T X X VIII , 1 . 1 1 . 1 938

EINE HÄF TL INGSKOLONNE, HEIMLICH FOTOGR AFIERT


VON EINE M EIN WOHNER GABERNDORFS BEI WEIMAR,
UM 19 4 0 . FOTO: ARMIN MEISEL

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
Reichsführerlager.
Die Hitlerjugend nutzt Weimar als Ort für ihre Führertagungen. Rassis-
tische Reden bestimmen das Programm ebenso wie eine Besichtigung des
KZ Buchenwald und ein Besuch des Deutschen Nationaltheaters.

DIE F ÜHRUNG DER HI TL ERJUGEND BESICHTIGT DAS K Z BUCHENWALD, ENDE MA I 1 938.


FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

„Des Lebens Licht und Schatten gers bloßlegt. Es ist nicht leicht, in Hunderte und
aber Hunderte menschlicher Gesichter zu schau-
Es ist eine Jugend, die bei all dem Schönen, das en, die von Laster und Leidenschaft gezeichnet,
man ihr bietet, hart, wahr und klar erzogen wird, zum Teil nichts Menschliches mehr haben. Und es
die man das Leben rechtzeitig auch in seiner gan- ist doppelt schwer, unter der Überfülle zum Teil
zen Tiefe und Tragik erkennen läßt. Und so führte grauenhafter Verbrecherphysiognomien auch das
man diese Jungen heute Nachmittag noch durch Antlitz des einen oder anderen Mannes zu erbli-
das Konzentrationslager Buchenwald. Selbst für cken, den man lieber in den eigenen Reihen sähe,
einen reifen, gesetzten Mann ist es nicht ganz den verbohrter Fanatismus in das gegnerische
leicht, in die Abgründe der menschlichen Seele zu Lager geführt, und den unschädlich zu machen,
blicken, die der Besuch eines Konzentrationsla- harte politische Notwendigkeit zwingt.“

DER SCHRIF TSTEL L ER C OL IN ROS S BERICH TET ÜBER DEN


BESUCH DER F ÜHRER DER HITL ER JUGEND IN BUCHEN WA L D.
HAMBURGER A N ZEIGER , 31 . 5. 1 938. STA ATS - UND
UNI VERSI TÄTSBIBL IOTHEK HAMBURG

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HÄF TL INGE BEFESTIGEN DEN CAR ACHOWEG. IM HINTERGRUND RECH TS DA S L A GERTOR , FRÜHSO MMER 1 938.
FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

Ein Konzentrationslager
wird gebaut
Im Sommer 1937 schließt die SS die mitteldeutschen Konzentrationslager
Lichtenburg (Preußen), Sachsenburg (Sachsen) und Bad Sulza (Thüringen)
und verlegt 2.000 Häftlinge von dort auf den Ettersberg. Es sind langjährige
politische Gefangene, Zeugen Jehovas und ehemalige Strafgefangene, die
ihre Gefängnishaft bereits abgesessen haben. Im Sommer 1938 verdreifacht
sich die Zahl der Häftlinge durch Aktionen der Polizei gegen „Asoziale“. Unter
diesem Deckmantel werden auch viele Juden und Sinti und Roma verhaftet. Sie
müssen das Lager aufbauen. Flucht oder offenen Widerstand bestraft die SS
mit dem Tod.

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
Baubeginn.
Am 15. Juli 1937 treffen die ersten Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen
auf dem Ettersberg ein. Bis August folgen ihnen die Gefangenen der aufgelös-
ten mitteldeutschen Konzentrationslager.

DIE POL IZEI WEIMAR ARBEITET MIT DER S S BEI DER VORBEREI TUNG HÄ F TL ING SA PPEL L IM K Z BUCHEN WA L D, A UGUST 1 937 . DIE
DES L AGERS ENG ZUSAMMEN. SIE DOKUMENTIERT AUCH DAS EIN- A NGETRETENEN 2. 0 0 0 HÄ F TL INGE TR A GEN NO CH DIE KL EIDUNG DER
TREFFEN DER ERSTEN 149 HÄF TLINGE AUS DEM K Z SACHSENHAUSEN KON ZENTR ATIONSL A GER SA CHSENBURG , L ICH TENBURG , BA D SUL Z A
AM 1 5. JUL I 1937. FOTO : KRIMINALPOLIZEISTELLE WEIMAR UND SA CHSENHA USEN . FOTO : ERKENNUNG SDIENST DER S S

OBEN , L INKS UND NÄ CHSTE SEI TE: BIL DER A US DEM FOTOA L BUM,
DA S L A GERKO MMA NDA NT KO CH A NL EGEN L Ä S ST, UM SEINE L EISTUNG
BEIM BA U DES L A GERS HER A US ZUSTREICHEN , 1 937 / 38.
FOTOS : ERKENNUNG SDIENST DER S S

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Lageraufbau.
Die SS ist stolz auf ihre Aufgabe. Sie lässt den Aufbau des Konzentrations-
lagers, die Zwangsarbeit und Appelle fotografieren. Folter und Mord kommen
nicht ins Bild.

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
Ausgeliefert. „Da in den letzten Tagen wieder ein Gerücht
durch unser Dorf geht, daß unser Herr Pfarrer
Nach der Verhaftung des widerständigen Pfarrers Schneider von hier versetzt werde [...], fühlen
Paul Schneider lässt ihn die evangelische Kirchen- wir uns veranlasst, dieser Sache einmal näher
leitung im Stich. Als er sich im KZ Buchenwald auf den Grund zu gehen, denn wir wissen nicht,
weigert, die Hakenkreuzfahne zu grüßen, quält ihn welche Gründe vorliegen sollten. [...] Wir Unter-
die SS zu Tode. zeichneten bitten und verlangen, daß unser Herr
Pfarrer hier auf seinem Posten tätig bleiben und
weiter wirken und arbeiten soll wie bisher.“

DIE GEMEINDEMITGL IEDER VON HO CHEL HEIM UND D ORNHOL ZHA USEN
A N DA S EVA NGEL ISCHE KONSISTORIUM IN KOBL EN Z , 1 3. 1 . 1 934.
PFA RRER - PA UL - SCHNEIDER - GESEL LSCHA F T E. V. , WEIMA R

„Betrifft: Durchführung Ihrer Versetzung in den


Wartestand
Seit längerer Zeit sind wir von Seiten der Partei
und der Staatspolizei wiederholt und nachdrück-
lich auf Ihr staatsfeindliches Verhalten hingewie-
sen worden. […] Eine solche zutreffende Beurtei-
lung Ihrer ablehnenden Stellung zum Dritten Reich
findet durch die Tatsache Ihres seit November
1937 ununterbrochen andauernden Aufenthaltes
im Konzentrationslager eine weitere Bestätigung.
Wenn in dieser Zeit keine Änderung Ihrer Gesin-
nung hinsichtlich einer positiven und vorbehalt-
losen Bejahung des heutigen Staates eingetreten
ist, sondern nach Ihrer bisherigen Haltung auch
nicht einmal die Aussicht besteht, daß sie in
absehbarer Zeit aus dem Konzentrationslager
entlassen werden können, sehen wir uns damit
vor die unabweisbare Notwendigkeit gestellt, […]
gegen Sie zwecks Versetzung in den Wartestand
vorzugehen.„

DA S EVA NGEL ISCHE KONSISTORIUM DER RHEINPROVIN Z A N HERRN


PFA RRER PA UL SCHNEIDER , ZUR ZEI T IN BUCHEN WA L D, KON ZENTR A -
BEERDIGUNG VON PAUL SCHNEIDER IN DICKENSCHIED UNTER
TIONSL A GER , 1 5. 7 . 1 939. PFA RRER - PA UL - SCHNEIDER - GESEL LSCHA F T
GROSSER BE TEIL IGUNG SEINER GEMEINDE, DER K ATHOLISCHEN
E. V. , WEIMA R
GE MEINDE UND VON MITGL IEDERN DER BEKENNENDEN KIRCHE
A US GAN Z DEUTSCHL AND, 2 1.7.1939.

„Morgens gegen 6.30 Uhr, bei der morgendlichen


Meldung der Stärke des Schutzhaftlagers an
mich, öffnete Schneider plötzlich sein Zellenfens-
ter, kletterte in seiner Zelle hoch, bis er Blickfeld
zu den angetretenen Häftlingen bekam. Mit lauter
Stimme predigte Schneider etwa 2 Minuten zu den
angetretenen Häftlingen. Meinen Befehl, sofort
seine Predigt abzubrechen und sich vom Fens-
ter zu entfernen, beachtete er in keinster Weise.
Darauf gab ich dem Arrestverwalter den Befehl,
Schneider mit Gewalt von dem Fenster wegzu-
bringen.„

MEL DUNG DES 2. SCHU TZHA F TL A GERF ÜHRERS HER MA NN HA CK MA NN


A N DEN KO MMA NDA NTEN VON BUCHEN WA L D, 2. 9. 1 938.
PFA RRER - PA UL - SCHNEIDER - GESEL LSCHA F T E. V. , WEIMA R

26 | 27
Lüge und Wahrheit.
Die Flucht der beiden Häftlinge Emil Bargatzky und Peter Forster von einem Arbeitskommando
wird zum Ausgangspunkt einer diffamierenden Pressekampagne der SS. Nur die sozialdemo-
kratische Presse im tschechischen Exil berichtet über die wahren Hintergründe.

F ÜR DIE ERHÄNGUNG E MIL BARGATZKYS


AM 4 . JUNI 1938 ERRICHTET DIE S S EINEN
GALGEN AUF DE M APPELLPL ATZ UND
NUT ZT IHN AUCH ZUR ERHÄNGUNG PETER
FORSTERS. FOTO : ERKENNUNGSDIENST
DER SS

DIE BEERDIGUNG EINES BEI DER FLUCHT VON ”DIE HINRICH TUNG VON WEIMA R . PETER FORSTERS TOD –
PE TER FORSTER UND E MIL BARGATZKY GETÖTETEN DIE SCHA NDE VON EUROPA“. A RTIKEL A US DER SOZIA L-
SS-MANNES WIRD ZUM HELDENBEGR ÄBNIS DEMOKR ATISCHEN EXIL ZEI TUNG „NEUER VORWÄ RTS“,
A UFGEBAUSCHT. DIE STADT WEIMAR ERÖFFNET PR A G , 1 . 1 . 1 939
A UF DE M HAUPTFRIEDHOF EINEN EHRENHAIN FÜR
DIE SS. THÜRINGER GAUZEITUNG, 18.5 .1938

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
„Rassenforscher“.
Hunderte Sinti werden 1938 verhaftet und nach
Buchenwald gebracht. Die SS ermöglicht dem
„Zigeunerforscher“ Robert Ritter, im Lager an
ihnen Untersuchungen vorzunehmen.

ROBERT RI T TER ( L INKS ) UND SEINE STEL LVERTRETERIN EVA JUSTIN


( MIT TE) ERFA S SEN IM A UF TR A G EINER VO M DEU TSCHEN REICH
FINA N ZIERTEN FORSCHUNG S STEL L E DIE IN „ZIGEUNERL A GERN “
ZUSAMMENGEPFERCH TEN SINTI NA CH R A S SISTISCHEN KRI TERIEN,
A PRIL 1 938.

„ DR . RIT TER IST NOCH CA. 8 TAGE UNTERWEGS , AUGENBLICKLICH IM


KON ZENTR ATIONSL AGER BUCHENWALD.“ JUSTIN AN MANFRED BETZ, L EITER DER TÜBINGER Z WEIG STEL L E
DER „ R ASSENHYGIENISCHEN FORSCHUNGS STELLE“ , 6.2 .1939

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IM K Z SA CHSENHA USEN VER MIS ST UND FOTO GR A FIERT RI T TER DEN SINTO STEFA N
PETER MA NN . NA CH HA F T IN MEHREREN KON ZENTR ATIONSL A GERN WIRD ER 1 9 41 A US
BUCHEN WA L D IN DIE TÖTUNG SA NSTA LT SONNENSTEIN GEBR A CH T UND ER MORDE T.
K ARTEIK A RTE DER R A S SENHYGIENISCHEN FORSCHUNG S STEL L E, 1 939

Otto Schmidt
15.2.1918, Luckenwalde
20.11.1942, KZ Buchenwald

Er ist Musiker. Als 18-Jähriger muss er mit seiner Familie in das


„Zigeunerlager Holzweg“ am Stadtrand von Magdeburg ziehen. Von
der Kriminalpolizei wird er dort unter rassistischen Gesichtspunkten
erfasst, im Juni 1938 als „Zigeuner“ verhaftet und im Rahmen der
Polizeiaktion gegen „Arbeitsscheue“ in Buchenwald eingewiesen.
Dort stellt ihn die SS im Februar 1939 dem „Zigeunerforscher“ Ritter
vor. 1942 stirbt er während eines Menschenversuchs mit Fleck-
fieber. Seine Frau und seine Tochter werden in Auschwitz ermordet.

DIE MAGDEBURGER POLIZEI LIEFERT DIE VERHAF TETEN A US DEM L A GER „HOL Z WEG “
A LS „ZIGEUNER “ IN BUCHENWALD EIN. K ARTEIK ARTE DER HÄF TL ING S SCHREIBSTUBE, 1 938

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
ZUSCHAUER VOR DER AUSGEBR ANNTEN GROS SEN SYNAGOGE
IN L EIPZIG, 10 . 11. 1938

Novemberpogrom
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 Wie der Pogrom, soll auch die Einlieferung die
zerstören Mitglieder der NSDAP, der SA und SS Angst steigern und die Juden zur Auswande-
fast alle Synagogen in Deutschland, plündern und rung zwingen. Nur wenn sie der Enteignung ihres
ermorden Juden. Obwohl das erst halbfertige Besitzes zustimmen und nachweisen, Deutsch-
Konzentrationslager Buchenwald bereits überfüllt land umgehend zu verlassen, entkommen sie dem
ist, weist die Gestapo annähernd 10.000 jüdi- Lager. Aufgrund der katastrophalen hygienischen
sche Männer in das Lager ein. Die Gesamtzahl Verhältnisse und des Wassermangels bricht
der Häftlinge steigt auf 19.676 an. Typhus aus. Erst als die Epidemie auch die umlie-
genden Dörfer erreicht, leitet die SS Gegenmaß-
nahmen ein.

30 | 31
Pogrom.
Die antijüdischen Pogrome vom 9./10. November 1938
hinterlassen in den jüdischen Gemeinden Verwüstung und
Angst. Der 13-jährige Rolf Kralovitz berichtet davon.

„Ich kam also in die Schule mit meinem Fahrrad hen, wo die Scherben auf dem Fußweg lagen, wo
und wollte es in den Fahrradkeller tragen. Und da die Waren aus den Schaufenstern gerissen wor-
kam mir schon einer entgegen und sagte: Heute den waren. Am Augustusplatz sah ich das große
ist keine Schule, die Synagogen brennen. Und ich Konfektionshaus Bamberger & Herz brennen.
fuhr dann los mit meinem Fahrrad in die Gott- Also es war furchtbar. Die ganze Stadt war voller
schedstraße. Und da sah ich die große Gemein- Scherben. Auch am Brühl zum Beispiel. Am Brühl
desynagoge brennen, lichterloh. Ein paar hundert war ja berühmt der internationale Pelzhandel, der
Meter weiter die orthodoxe große Synagoge … sehr stark in jüdischen Händen war. Und da war
Dann fuhr ich durch die Stadt. Und da habe ich auch sehr viel kaputt und sehr viel von der SA
dann alle möglichen jüdischen Geschäfte gese- kaputt gemacht worden.“

ROL F KR ALOVIT Z ERINNERT SICH AN DEN NOVEMBERPO GRO M 1 938


IN L EIPZIG. INTERVIEW 2008, GEDENKSTÄT TE BUCHENWALD

ROL F KR ALOVIT Z (Z WEITER VON LINKS ) MIT FREUNDEN A UF DEM SCHUL HOF DER
EPHR AIM -CARL EBACH- SCHULE IN LEIPZIG, MAI 1939

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
Jüdisches Sonderlager.
In der Woche nach den Pogromen liefert
die Gestapo 10.000 Juden in Buchenwald ein.
Die SS pfercht sie in fünf hastig errichtete
Behelfsbaracken.

SCHEIN WERFER DES L AGERTORES .


F UNDORT : STEINBRUCH 1

IM L ICHT DER SCHEINWERFER FINDET DER ABENDAPPELL DER NACH DEM NOVEMBERPO GRO M EINGEL IEFERTEN JUDEN STAT T,
MI T TE NOVE MBER 1938. FOTO : ERKENNUNGSDIENST DER S S

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Typhusepidemie.
Im jüdischen Sonderlager führt die SS Verhält-
nisse herbei, die zahlreiche Todesopfer fordern.
Durch den akuten Wassermangel bricht eine
Typhusepidemie aus und greift auf die Umgebung
des Konzentrationslagers über.

IN DEN ERSTEN Z WEI JAHREN DES L AGERS


MÜSSEN HÄF TL INGE DAS TRINKWAS SER IN
KÜBEL N UND K A NNEN AUS WAS SERTANKS
HOL EN , DIE VON DER S S AUS WEIMAR HER AN-
GESCHAFF T WERDEN . FUNDORT: NÖRDLICHES
L AGERGEL ÄNDE

MI T SKIZ ZE UND FOTOA NHA NG D OKUMENTIERT EIN S S - HYGIENIKER


DIE A USBREI TUNG DES T YPHUS VO M K Z BUCHEN WA L D IN DIE
ORTSCHA F TEN . A BSCHLUS SBERICH T JOA CHIM MRUGOWSKYS VOM
S S - SA NITÄTSAMT, 21 . 2. 1 939

„In Buchenwald selbst waren die besten Bedingungen für die Ausbreitung der Epidemie gegeben.
Es herrschte die größte Wassernot, so daß auf jeden SS-Mann täglich nur ½ Liter Wasser,
auf jeden Häftling nur ¼ Liter kam. An Waschen, Körperpflege und Reinlichkeit [...] konnte also
überhaupt nicht gedacht werden. [...] Man muß sich wundern, daß die Epidemie unter Berück-
sichtigung dieser überprimitiven Umstände nicht noch größere Ausmaße angenommen hat.“

A BSCHLUSSBERICHT J OACHIM MRUGOWSKYS VO M S S - SANI TÄTSAMT, 21 . 2. 1 939.


THÜRINGISCHES HAUPTSTAATSARCHIV WEIMAR

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
Lebensgeschichten
Zum „Volksfeind“ erklärt
Schon vor dem Krieg werden mehrere Hunderttausend Menschen zum
Opfer von Verfolgung und Ausgrenzung: neben den politischen Gefangenen
und Zeugen Jehovas in erster Linie Juden, aber auch als „Zigeuner“ verfolgte
Sinti und Roma und andere stigmatisierte Menschen wie Homosexuelle,
Vorbestrafte und „Arbeitsscheue“.

KURT A NSIN , UM 1 940

ROL F GR A SHEY, 1 936

THEODOR DRESCHNER, UM 1948

Ein Sinto aus Frankfurt am Main Ein Sinto aus dem Lager Magdeburg Holzweg
Theodor Dreschner Kurt Ansin
3.10.1900, Enzberg 2.10.1921, Bretleben
15.11.1974, Karlstadt 22.3.1984, Berlin

Als einfacher Arbeiter schlägt Theodor Dreschner sich und Das Farbfoto von Kurt Ansin nehmen selbsternannte
die Familie durch. Ein Umzug nach Frankfurt am Main 1937 „Zigeunerforscher“ im Magdeburger Zwangslager für Sinti
soll die Situation verbessern. Doch der Einzug in die Wohnung auf. Schon vorher hat die Magdeburger Polizei alle Sinti wie
wird ihnen verwehrt, alle Sinti werden als „Zigeuner“ in Kriminelle erfasst. Er ist 16, hat sieben Geschwister und
einem Lager zusammengedrängt. Im Juni 1938 erscheinen arbeitet in der Landwirtschaft, als er 1938 willkürlich
dort Kriminalbeamte, alle Männer sollen sich melden. Tags verhaftet und nach Buchenwald verschleppt wird. Knapp
darauf ist er im KZ Buchenwald, wo er beim Lageraufbau ein Jahr darauf entlassen, folgt 1943 die Deportation mit
arbeiten muss. Ein Fluchtversuch misslingt, er überlebt seiner Familie nach Auschwitz. Später schickt ihn die SS
Stockhiebe, Strafkompanie und Steinbruch, passt sich an, als Arbeitssklaven erneut nach Buchenwald. Er überlebt
kann schließlich von einem Todesmarsch fliehen. Nach 1945 die schwere Arbeit im Außenlager Ellrich. Als er heimkehrt,
kämpft er als ehemaliger Häftling mit „schwarzem Winkel“ sind fast alle Angehörigen tot. Er heiratet, gründet eine neue
erneut mit Vorurteilen. Entschädigung erhält er nie. Familie, hat schließlich acht Kinder und 21 Enkel.

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FR A N Z EHRL ICH , SEL BSTPORTR ÄT, 1 934.
ICH 1 934 IN DER ZEL L E, A QUA REL L ÜBER BLEISTIF T

„Auf der Flucht erschossen“


Rolf Grashey
14.11.1903, München
4.9.1937, KZ Buchenwald

Der begabte und sensible Literaturwissenschaftler, Slawist,


Übersetzer und Autor stammt aus einer renommierten Medi-
zinerfamilie und führt in München ein unbeschwertes Leben.
Er veröffentlicht in der Satirezeitschrift „Simplicissimus“
und ist kein Freund der Nationalsozialisten. Mitte der 1930er
MARTIN HAMBURGER AUF DER FAHRT VON Jahre wird Rolf Grashey Opfer der verschärften Verfolgung
HAMBURG NACH SHANGHAI, MAI 1939 von Homosexuellen. Die Gestapo erzwingt Geständnisse von
ihm, er wird 1937 nach Weimar gebracht und im KZ Buchen-
wald als möglicher Zeuge in einem laufenden Schauprozess
inhaftiert. Verzweifelt – auch, weil er den Ruf seiner Familie
nicht beschädigen will – wählt er zwei Tage nach der Einwei-
sung den Freitod und läuft in die SS-Postenkette.

Journalist, „ASR-Häftling“, jüdischer Emigrant Ein BAUHAUS-Schüler


Martin Hamburger Franz Ehrlich
21.1.1876, Berlin 28.12.1907, Leipzig
12.2.1962, Berlin 28.11.1984, Bernburg/Saale

Seit 1933 hat der Journalist und Sozialdemokrat Martin Ham- Der Schlosser Franz Ehrlich studiert von 1927 bis 1930
burger Berufsverbot. Als Vertreter sucht er ein Auskommen, am Bauhaus Dessau und arbeitet dann als Gestalter und
ist als Jude aber an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Typograph in Berlin und Leipzig. Als aktiver Kommunist im
Propagandistisch verknüpfen die Nationalsozialisten Mitte Widerstand verhaftet, weist die Gestapo ihn nach der Zucht-
1938 die gegen Nichtsesshafte und sozial Auffällige durchge- haushaft 1937 in das KZ Buchenwald ein. Seine Fähigkeiten
führte „Aktion Arbeitsscheu Reich“ (ASR) mit der Verhaftung bringen ihn hier ins SS-Baubüro. Er muss Möbel, Gebäude und
von Hunderten ins soziale Abseits gedrängten Juden und auch das eiserne Lagertor entwerfen. Die Gestaltung der
Sinti. Martin Hamburger wird mit etwa 500 Berliner Juden Inschrift „Jedem das Seine“ lehnt er, von der SS unerkannt,
nach Buchenwald eingewiesen, muss unter elenden Lebens- an Schriften seiner Bauhaus-Lehrer an. 1939 entlassen,
bedingungen Zwangsarbeit leisten und kann sich nur durch muss er weiter für die SS-Bauleitung arbeiten, wird 1943 zum
ein Visum retten. Im August 1938 entlassen, wandert er „Bewährungsbataillon“ 999 eingezogen und gerät schließlich
nach Shanghai aus, überlebt auch die schwere Zeit dort und in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr arbeitet er
kehrt 1947 nach Deutschland zurück. als Architekt und Gestalter.

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
OT TO L EISCHNIG ( 2. VON L INKS ) NACH DER
BEFREIUNG IN BUCHEN WAL D, 1945

HANS L I T TEN ( L INKS ) VERTRIT T DEN A NGEKL A GTEN ERNST FRIEDRICH ,


RECH TS DER SCHRIF TSTEL L ER ERICH MÜHSAM, OK TOBER 1 930

„... daß er zu Schaden kommen mußte,


war unvermeidlich.“
Hans Litten
19.6.1903, Halle/Saale
5.2.1938, KZ Dachau

Als ältestes Kind eines Jura-Professors studiert Hans Litten


ebenfalls Rechtswissenschaft, engagiert sich für die Jugend-
bewegung, ist ein Suchender, der sich zum Judentum seiner
Großväter hingezogen fühlt. Als Anwalt vor Gericht, in politi-
schen Prozessen, ist er ein unbequemer Gegner. Er vertei-
digt Arbeiter und Kommunisten, die mit Nationalsozialisten
aneinander geraten sind, lässt Hitler vorladen und gerät so
selbst ins Visier der braunen Totschläger. Noch in der Nacht
des Reichstagsbrandes am 27. Februar 1933 verhaften sie
ihn. Die KZ Sonnenburg, Esterwegen, Lichtenburg, Buchen-
CA RL MIERENDORFF IN SEINEM wald und Dachau sind Stationen seines weiteren Weges.
ARBEITSZIMMER, 1931 Entkräftet und verzweifelt wählt er schließlich im KZ Dachau
den Freitod.

„… ist nach wie vor hartnäckiger Bibelforscher“ „Freunde, greift ein!“


Otto Leischnig Carl Mierendorff
3.8.1907, Pockau 24.3.1897, Großenhain
30.5.1973, Waldenburg 4.12.1943, Leipzig

Otto Leischnig und seine Frau, Eltern einer Tochter, sind Als Sohn eines Textilgroßhändlers steht Carl Mierendorff
Zeugen Jehovas. Wie alle Angehörigen dieser Religions- früh der Zugang zur Bildung offen. Er ist Kriegsfreiwilliger
gemeinschaft verweigern sie sich staatlichen Zwangsaufla- im Ersten Weltkrieg, gründet in Darmstadt eine literarische
gen, insbesondere dem militärischen Dienst. Beide werden Zeitschrift, studiert Volkswirtschaft und geht in die Politik.
deshalb verhaftet und, ohne Aussicht auf Entlassung, in 1930 ist er der jüngste Reichstagsabgeordnete der SPD und
Konzentrationslagern inhaftiert; sie dürfen sich einander einer ihrer mutigsten NS-Gegner. 1931 fordert er öffentlich
nicht einmal schreiben. Otto Leischnig gilt, als er 1938 in Joseph Goebbels heraus. Im Juni 1933 wird er verhaftet und
Buchenwald eingewiesen wird, schon als „Rückfälliger“. misshandelt. Es folgen die Konzentrationslager Osthofen,
Durch seinen Beruf als Schneidermeister kann er dem Börgermoor, Lichtenburg, Esterwegen, Buchenwald. 1938
Steinbruch entkommen und muss in der SS-Schneiderei entlassen, schließt er sich später der Widerstandsgruppe
arbeiten. Die von der SS angebotene Möglichkeit, seiner „Kreisauer Kreis“ an und entwirft Papiere zum gemeinsamen
Religionsgemeinschaft abzuschwören und freizukommen, Handeln der NS-Gegner. Bei einem Luftangriff auf Leipzig
lehnt er ab. Erst 1945 sieht die Familie einander wieder. kommt er ums Leben.

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K ARL PL ÄT TNER,
ERKENNUNGSDIENSTLICHE
AUFNAHME, 1917

PE TER WIL HEL M POL L MANNS ,


ERKENNUNGSDIENSTL ICHE
A UFNAHME , 1938

„Bei ihm erscheint ein besonderer Zwang zur


Arbeit angebracht!“
Peter Wilhelm Pollmanns
1.4.1899, Düsseldorf
2.8.1942, KZ Buchenwald

Keine 20 Jahre alt, ist Peter Pollmanns durch eine Kriegs-


verwundung dauerhaft geschädigt und kann nicht schwer
körperlich arbeiten. Der gelernte Anstreicher hat bald
Schwierigkeiten, für Frau und Tochter zu sorgen. Die Ehe
scheitert. Sein Leiden verschlimmert sich. Dass er nicht
jede Arbeit annehmen kann, akzeptiert das zuständige
Wohlfahrtsamt nicht, streicht Bezüge und hält Zwang für
angebracht. Er ist einer von mehr als 4.000 Männern, die ab
April 1938 in das KZ Buchenwald eingewiesen werden. Sie
müssen den schwarzen Winkel tragen, das Kennzeichen der
„Arbeitsscheuen“ oder „Asozialen“. 1940 entlassen, bringt
ihn eine Beschwerde 1942 erneut nach Buchenwald. Als PA UL MORGA N , A U TO GR AMMK A RTE, 1 926
„Rückfälliger“ überlebt er nur wenige Monate.

Revolutionär und Räuberhauptmann Der König des Kabaretts


Karl Plättner Paul Morgan
3.1.1893, Opperode 1.10.1886, Wien (Österreich)
4.6.1945, Freising 10.12.1938, KZ Buchenwald

In einer Eisenhütte erlernt Karl Plättner den Beruf des For- Ginge es nach dem Vater, sollte Paul Morgan ebenfalls Jurist
mers. Nach der Wanderschaft lässt er sich in Hamburg nieder, werden. Doch dieser besucht die Schauspielschule. In Berlin
muss in den Krieg und kehrt als Invalide heim. Er schließt gründet er ein Kabarett, das 1924 mit „Quo vadis?“ die erste
sich antimilitaristischen Kräften an, später den Kommunis- Parodie auf Hitler aufführt. Bald ist er ein Star, auch im Film,
ten. Nach der Niederschlagung der mitteldeutschen Arbeiter- später geht er ein Jahr nach Hollywood. Wieder in Deutsch-
aufstände 1921 überfällt seine Gruppe Banken. „Enteignung land, wird er nach 1933 kaum noch engagiert und kehrt nach
der Enteigner“ ist die Devise – zehn Jahre Haft die Folge. Er Wien zurück. Die Nationalsozialisten hassen seinen Witz und
schreibt darüber, distanziert sich von der Gewalt und vom seine Klugheit, und sie hassen ihn als Juden. So gehört er,
Stalinismus zieht er sich zurück. Für die Nationalsozialisten nach dem „Anschluss“ Österreichs, zu den ersten Verhaf-
gilt er trotzdem als gefährlich. Sie verhaften ihn im Herbst teten, wird in das KZ Dachau und 1938 nach Buchenwald
1939. Es folgen die KZ Buchenwald, Majdanek, Auschwitz, verschleppt. Bei einem Strafexerzieren auf dem Appellplatz
Mauthausen. Endlich frei, stirbt er an den Folgen der Haft. bricht er im Dezember zusammen und stirbt im Krankenbau.

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
CA RL SCHR A DE, UM 1 930

„Welche Farbe hatte Ihr Winkel am


Häftlingsanzug?“
Carl Schrade
17.4.1896, Zürich (Schweiz)
1974, Frankreich

Als Carl Schrade in den 1920er Jahren wegen kleinerer


Delikte wiederholt vor Gericht steht, ist er für niemanden
eine Bedrohung. Doch mehrfach Straffällige nennen manche
schon jetzt „Berufsverbrecher“. Nach 1933 gelten diese nur
noch als „minderwertige“ Menschen, werden vorbeugend in
Konzentrationslagern inhaftiert und müssen dort den grünen
Winkel tragen. Carl Schrade bleibt von 1934 an in verschie-
denen Lagern inhaftiert und erwirbt sich im KZ Flossenbürg
als Häftlingssanitäter unter Mithäftlingen einen guten
FAMIL IE SCHNEIDER , APRIL 193 4 Ruf. Die Farbe seines Winkels verfolgt ihn jedoch bis in die
deutsche Nachkriegsgesellschaft. Erst in Frankreich, wo ihm
Mithäftlinge helfen, findet er ein neues Leben.

Der „Prediger von Buchenwald“ Ein Bibelforscher verweigert den Wehrpass


Paul Schneider Johannes Steyer
29.8.1897, Pferdsfeld 28.9.1908, Röhrsdorf
18.7.1939, KZ Buchenwald 1.3.1998, Röhrsdorf

Nach dem Theologiestudium arbeitet der Pfarrerssohn am Johannes Steyer tritt 1931 der Religionsgemeinschaft
Hochofen und bei der Stadtmission Berlin, heiratet und wird der Zeugen Jehovas bei, die man zu dieser Zeit auch Bibel-
Pfarrer in Hochelheim. Anfangs imponieren ihm die sozialen forscher nennt. Als sie verboten werden, missioniert er
Versprechungen der Nationalsozialisten. 1933 gerät er in weiter, verweigert den Hitlergruß und den Wehrdienst. Auf
Konflikt mit örtlichen Parteifunktionären. Die Kirchenleitung seine Verhaftung 1935 folgen mehrere Konzentrationslager,
versetzt ihn nach Dickenschied, wo er trotzdem offen für die wo Bibelforscher, die auf der Kleidung den lila Winkel tragen
oppositionelle „Bekennende Kirche“ eintritt. Viermal holt ihn müssen, gebrochen werden sollen. Die SS lässt sie hart
die Gestapo ab, er wird aus dem Gebiet der Rheinländischen arbeiten und isolieren – meist erfolglos. Auch Johannes
Kirche ausgewiesen. Dem Kirchen-Konsistorium ist er unbe- Steyer verweigert sich weiterhin. Er bleibt bis 1945 im Kon-
quem, es duldet die Übergriffe der Gestapo und lässt ihn im zentrationslager. Später malt er Aquarelle mit Motiven seiner
Stich. Seit 1937 in Buchenwald, weigert sich Paul Schneider Haft, für ihn auch Symbole der Hoffnung. Im Jahr nach der
während des Appells zum Hitlergeburtstag 1938 die Mütze ersten öffentlichen Ausstellung stirbt er.
vor der Hakenkreuzfahne zu ziehen. Über ein Jahr foltert die
SS ihn im Arrestzellenbau. Mutig predigt er aus der Zelle.
Der Lagerarzt tötet ihn mit einer Überdosis Strophanthin.

38 | 39
1939 IM K Z BUCHENWAL D. JOHA NNES STEYER VERWEIGERT DIE A NNA HME DES
WEHRPAS SES , AQUARELL , UM 1 970

THEODOR NEUBAUER BESUCHT CL AR A ZETKIN IN BIRKENWERDER BEI


BERL IN , SEPTE MBER 193 2

ERNST WIECHERT, 1937

Historiker, Parteijournalist, Ein Schriftsteller wird


Reichstagsabgeordneter der KPD „gewaltsam zur Besinnung gebracht“
Theodor Neubauer Ernst Wiechert
12.12.1890, Ermschwerd 18.5.1870, Kleinort in Ostpreußen
5.2.1945, Zuchthaus Brandenburg-Görden 24.8.1950, Uerikon (Schweiz)

Der Sohn eines Gutsinspektors geht einen geraden Weg: Der Lehrer Ernst Wiechert ist einer der meistgelesenen
Schule, Jugendbewegung, Studium der Sprachen und der deutschen Autoren. Den Nationalsozialisten scheint er
Geschichte, Promotion mit großem Erfolg, Militärdienst, zunächst nicht verdächtig. Spielen doch einige seiner Texte
Lehrer und jüngstes Mitglied einer wissenschaftlichen mit national-völkischem Denken und liegen ihrer Weltan-
Akademie. Doch mit 30 Jahren, nach dem Kriegserlebnis, schauung nicht fern. Doch er lässt sich nicht vereinnahmen.
ändert er radikal sein Leben. Er ist Landtagsabgeordneter 1933 quittiert er den Schuldienst, lebt auf einem Bauernhof
der KPD, Parteijournalist, Reichstagsabgeordneter, promi- bei München. Mehrfach kritisiert er öffentlich den NS-Staat
nenter Redner und NS-Gegner. 1933 wird er im Widerstand und steht unter Beobachtung. Seinem Protest gegen die Ver-
verhaftet und sechs Jahre ohne Prozess in verschiedenen haftung Martin Niemöllers, eines Theologen der „Bekennen-
Gestapo-Gefängnissen und Konzentrationslagern gefangen den Kirche“, folgt die Verhaftung. Von Anfang Juli bis Ende
gehalten. 1939 aus Buchenwald entlassen, baut er erneut August 1938 ist er im KZ Buchenwald. Die Gestapo bemerkt
eine Widerstandsgruppe auf. Der Volksgerichtshof verurteilt zu seinem Fall: „Der seit 1933 ständig opponierende Ernst
ihn im Januar 1945 zum Tode. Wiechert wurde gewaltsam zur Besinnung gebracht.“

N AT I O N A L S OZ I A L I S M U S U N D G E WA LT
OKTOBER 1939 : NACH IHRER ANKUNF T WERDEN POLNISCHE UND JÜDISCHE HÄ F TL INGE IM SONDERL A GER A UF DEM A PPEL L PL ATZ GESCHOREN
UND „ DESINFIZIERT “. DAS VO M RESTLICHEN K Z ABGERIEGELTE SONDERL A GER WIRD ZUM ORT DES ERSTEN MA S SENSTERBENS IN EINEM DEU TSCHEN
KON ZENTR ATIONSL AGER. INNERHALB VON DREI MONATEN STERBEN 80 0 SEINER INSA S SEN . FOTO : ERKENNUNG SDIENST DER S S

LAGERBELEGUNG KZ BUCHENWALD
1939-1942
1939 19 4 0 19 41 19 4 2

NEU EINGEWIESENE
HÄ F TLINGE 9 .553 2.525 5.890 14.111

IN A NDERE L A GER ”ÜBERSTEL LTE“


ODER ENTL A S SENE HÄ F TL INGE 7.539 5.120 3.897 9.607

DURCHSCHNI T TL ICHE BEL EGUNG


DES L AGERS 8.390 8.290 7.730 8.784

BELEGUNG DES L A GERS


AM JA HRESENDE 11.807 7.440 7.911 9.517

TOTE
HÄF TLINGE 1.378 1.838 1.746 3.049

SOW JETISCHE KRIEG SGEFA NGENE


ER MORDE T DURCH GENICKSCHUS S 8.000
Krieg
und Verbrechen
September 1939 – Deutschland überfällt Polen und beginnt damit den
Zweiten Weltkrieg, der Europa verwüsten wird. Ziel ist die Beherrschung
und „rassische“ Neuordnung des Kontinents. Das zwischen Deutschland
und der Sowjetunion aufgeteilte Polen wird dafür zum Experimentierfeld:
In ihrem Gebiet ermorden die Deutschen die politische und kulturelle
Führungsschicht oder verschleppen sie in Lager. Sie entrechten die Bevöl-
kerung und vertreiben sie von dort, wo Deutsche leben sollen. Polnische
Juden werden in Ghettos zusammengepfercht.

Wehrmacht, SS und deutsche Besatzungsbehörden arbeiten bei der Un-


terwerfung und Ausbeutung der osteuropäischen Länder eng zusammen.
Nach dem Sieg über Frankreich soll die Unterwerfung der Sowjetunion die
gewaltsame Kolonialisierung des Ostens vollenden.

Massaker an der Zivilbevölkerung, wie schon nach dem deutschen Ein-


marsch in Polen, prägen den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.
SS und Sicherheitspolizei stellen „Einsatzgruppen“ zusammen, die gezielt
Millionen Juden, aber auch Roma erschießen. Die Wehrmacht lässt über
drei Millionen Angehörige der Roten Armee in Kriegsgefangenenlagern
verhungern. In Ostpolen richtet die SS 1942 eigens Stätten zur systemati-
schen Vernichtung der europäischen Juden ein. Jüdische Häftlinge depor-
tiert sie aus den Konzentrationslagern im Reich nach Auschwitz.

Seit Beginn des Krieges werden auch Menschen aus den besetzten Län-
dern in die Konzentrationslager verschleppt, die mehr und mehr zu Stätten
des Massenmordes werden. Zudem verschärft das Regime in Deutschland
den Terror gegen seine Gegner.

40 | 41
Antisemitische
Feindbilder
und Massenmord
Eine der ersten Verhaftungswellen nach dem Überfall auf Polen richtet sich
in Deutschland und dem seit 1938 dazugehörenden Österreich gegen staaten-
lose Juden polnischer Herkunft. In Wien setzt die Gestapo 1.000 von ihnen
im Praterstadion fest. Das Klischee vom „Ostjuden“ gehört zum Kern anti-
semitischer Feindbilder. „Rassenforscher“ des Naturhistorischen Museums
Wien verschaffen sich Zugang zum Stadion, um das Klischee wissenschaftlich
zu untermauern. Nachdem sie ihre Arbeit abgeschlossen haben, deportiert
die Gestapo die Inhaftierten in das KZ Buchenwald. Weniger als 50 dieser
Menschen überleben.

A UFL IST UNG DER KOPF MAß E DER IM PR ATERSTADION INHAF TIERTEN JUDEN DURCH DEN AM WIENER NATUR -
HISTORISCHEN MUSEUM ANGESTELLTEN „ R AS SENFORSCHER“ JOSEF WA STL ( A US SCHNIT T) , SEPTEMBER 1 939.

42 | 43
Rassistische Untersuchungen.
Da die „rassenkundlichen“ Erfassungen nicht
zum gewünschten Befund führen, verschwinden
die Ergebnisse im Depot des Naturhistorischen
Museums Wien.

VON „R A S SENFORSCHERN “ A NGEFERTIGTE


GIPSBÜSTE DES IM PR ATERSTA DION INHA F -
TIERTEN LUDWIG A L FRED POST. A LS SIE
A NGEFERTIGT WIRD, IST LUDWIG A L FRED
POST NICH T MEHR AM L EBEN . ER KO MMT
AM 21 . OK TOBER 1 939 IN BUCHEN WA L D UM.

STEREOSKOPISCHE AUFNAHMEN VON LUDWIG ALFRED POST, SEPTEMBER 1 939.


A UF IHRER GRUNDL AGE WIRD DIE KOPFBÜSTE VON IHM A NGEFERTIGT.

Leiter der rassistischen Untersuchungen im


Praterstadion
Josef Wastl (1892–1968)

Bereits in seiner Doktorarbeit Mitte der 1920er


Jahre beschäftigt er sich mit „Rassenkunde“.
1932 tritt er in die NSDAP ein und gründet im
Naturhistorischen Museum Wien eine illegale
NSDAP-Betriebszelle. Seit 1939 Kustos der
anthropologischen Sammlung, wird er 1942
Direktor der anthropologischen Abteilung des
Museums. Nach 1945 wird Wastl als minder-
belastet eingestuft und ist weiterhin als gericht-
licher Sachverständiger tätig, vor allem in Vater-
schaftsprozessen.
J OSEF WASTL ( L INKS ) BEI DER ERFAS SUNG POLNISCHER SOLDATEN
IM KRIEGSGEFANGENENL AGER K AISERSTEINBRUCH, 1940.
STANDBIL D: R AS SENKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN AN KRIEGS -
GEFANGENEN . EIN FARBFILM, 1940

KRIEG UND VERBRECHEN


Massenmord.
Keiner der eingelieferten Juden soll aus Buchen-
wald zurückkehren. Entsprechend handelt die SS:
Sie bringt die Wiener Juden nur provisorisch in
einem Sonderlager unter, verweigert ihnen jede
medizinische Versorgung und lässt sie verhungern.

DIE S S FOTO GR A FIERT DIE A NKUNF T DER


WIENER JUDEN IN BUCHEN WA L D, 2. 1 0 . 1 939.
VORGEF ÜHRT WERDEN A UCH MÄ NNER A US
JÜDISCHEN A LTERSHEIMEN WIENS , DIE DIE
GESTA PO IN DA S K Z BUCHEN WA L D EIN WEIST.
FOTOS : ERKENNUNG SDIENST DER S S

44 | 45
GESICH TSMA SKE VON A BR A HAM MERKER , A NGEFER -
TIGT VO M NATURHISTORISCHEN MUSEUM WIEN NA CH
DEN „R A S SENUNTERSUCHUNGEN “ IM PR ATERSTA DION ,
ENDE SEPTEMBER 1 939.

R ABBINER ABR AHAM MERKER NACH DEM EINTREFFEN IN


BUCHEN WAL D, 2.10 .1939. NEUN WO CHEN SPÄTER KO MMT ER
IM SONDERL AGER AUF DEM APPELLPL ATZ UM.
FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

„Dieses Lager [bestand] aus vier Zelten und einer Holzbaracke, welche vom übrigen
Lager durch eine Stacheldrahtumzäunung streng isoliert war. Wir wurden 500 Mann
in ein Zelt gepfercht und bekamen am Abend die erste Verpflegung. Die Einrichtung der
Zelte bestand aus nackten Holzpritschen, welche in drei Etagen übereinandergeschichtet
waren. Strohsäcke als Unterlage oder Decken gab es keine. Waschgelegenheit war
ebenfalls nicht vorhanden, zur Verrichtung der Notdurft diente eine rasch ausgehobene
Grube. […]

Die Hungersnot war sehr groß. Eine besondere Bestialität hatte sich Hauptscharf.[ührer]
Hinkelmann ausgedacht. Nach den vielen Hungertagen war der einzige Gedanke der
Häftlinge ‚Essen‘. Es ist unmöglich, zu schildern, mit welcher Sehnsucht die vom Hunger
gequälten kranken und ausgemergelten Menschen auf das Erscheinen der Essenkübel
warteten. Als die Kessel eintrafen, ließ Hinkelmann sie wieder fortschaffen. Der psycho-
logische Eindruck, die Verzweiflung waren furchtbar. Es kam vor, daß Hinkelmann die
eingetroffenen Essenkübel vor den Augen der Häftlinge ausschütten ließ. Als die vom
Hunger Gequälten sich darauf stürzten, wurden sie von der SS mit Reitpeitschen und
Knüppeln bearbeitet. Das war eine der Sondervorstellungen, die Hinkelmann seinen
SS-Kameraden gab.“

JAKOB IHR , ÜBERL EBENDER DES SONDERL AGERS AUF DEM APPEL L PL ATZ 1 939/ 40 .
BERICHT 19 4 5, GEDENKSTÄT TE BUCHENWALD

KRIEG UND VERBRECHEN


Die Mörder
Die Angehörigen der SS-Lagerkommandantur
verdanken ihre Karrieren der Entwicklung der
Konzentrationslager. In den Jahren der Macht-
eroberung gehörten sie zu den Schlägertrupps
der SS und bewährten sich als Führungskräfte
oder Wachleute der frühen Konzentrationslager.
Rassebiologisch begutachtet, sehen sie sich
und ihre Ehefrauen als Elite des deutschen
Volkes. Nach ihrem Selbstverständnis haben
sie das Recht, Gewalt gegen „Minderwertige“
auszuüben. Als Aufsteiger, die ihr Privatleben
am bürgerlichen Lebensstil ausrichten, foto-
grafieren und präsentieren diese SS-Männer
sich ebenso stolz wie ihren Arbeitsplatz: das
Konzentrationslager.
DIE DEU TSCHE SCHU TZPOL I ZEI ÜBERGIBT TSCHECHISCHE POL ITISCHE
GEFA NGENE A N DIE S S , L A GERKO MMA NDA NTUR , CA R A CHOWEG , 7.7.1 939 .
FOTO : ERKENNUNG SDIENST DER S S

OBEN UND NÄCHSTE SEITE : IM PRIVATEN ALBUM PR ÄSENTIERT EIN A NGEHÖRIGER DER S S SEINEN DIENST IN WEIMA R - BUCHEN WA L D
STOL Z ALS TEIL SEINER MILITÄRISCHEN L AUFBAHN.

46 | 47
Selbstbild.
Die SS sieht sich als neue Elite des deutschen Volkes. Entsprechend fotografieren
und dokumentieren die SS-Männer ihre Karriere und ihr Leben am Lager.

„Man darf die sadistische Note im Bild des Lagers pause zu versäumen. Dieser zweite Typ war der
nicht übersehen, verkleinern oder verwischen: überaus häufigere; auf ihm baute sich das sata-
aber man muss sie richtig einschätzen. Nichts nisch ausgeklügelte System auf, das eine Reihe
wäre falscher, als zu glauben, die SS wäre eine von Leuten in allerhöchsten Stellen zu durchaus
Horde von Sadisten, die aus eigenem Antrieb, aus rationalen Zwecken erdacht hatte. Alles war dem
Leidenschaft und Gier nach Lustbefriedigung Ziel der Macht, ihrer Ergreifung, Behauptung und
Tausende von Menschen gequält und misshandelt Erweiterung untergeordnet. Diesem Ziel hatte der
haben. Die Einzelnen, die so handelten, waren Schrecken, hatte die Zerbrechung jeglichen physi-
durchaus in der Minderheit; ihr Bild prägt sich schen und moralischen Widerstandes zu dienen.
nur deutlicher ein, weil es schärfer profiliert ist Die Konzentrationslager waren die Mühle, in der
als das des farbloseren Rohlings, der sein Pen- der Wille und der Körper der als Gegner oder als
sum an Brutalitäten vorschriftsmäßig, sozusagen überflüssige Glieder des Volksganzen erkannten
bürokratisch, erledigt, ohne je seine Mittags- Elemente zermahlen werden sollten.“

BENEDIKT K AUTSKY WAR VON 1938 BIS 1945 HÄF TLING IN DEN K Z BUCHEN WA L D UND A USCH WI TZ .
TEUFEL UND VERDAMMTE, WIEN 1961 [ZÜRICH 1946]

KRIEG UND VERBRECHEN


Privatleben.
Die SS-Männer erhalten ein gutes Gehalt und richten sich in der Nähe
des Lagers bequem ein. In ihren Wohnungen umgeben sie sich mit Dingen,
in denen Germanenkult und bürgerliche Biederkeit verschmelzen.

SS-HA UPTSCHARF ÜHRER WERNER FRICKE, DER LEITER DES S S - SONDERSTA NDESAMTES BUCHEN WA L D,
MI T FAMIL IE AUF DER TERR AS SE SEINES HAUSES IN DER S S - SIEDLUNG , UM 1 941 / 42.

SIPPENBET TEN ODER - WIEGEN GEHÖREN ZUM MOBIL IA R DER


S S - FAMIL IEN . HERGESTEL LT WERDEN SIE VON HÄ F TL INGEN DER
L A GERWERKSTÄT TEN . DIE RUNEN ZEICHEN AM KOPFENDE STEHEN
F ÜR DEN R A S SISTISCHEN A HNENKULT DER S S .

1941 /42 MÜS SEN HÄ F TL INGE IN DER PATHOLO GIE TROPHÄ EN F ÜR DIE S S
HERSTEL L EN : GESCHRUMPF TE MENSCHENKÖPFE. Z WEI DA VON WERDEN NA CH DER
BEFREIUNG NO CH A UFGEF UNDEN , EINER DIENTE IM BUCHEN WA L D - PROZES S 1 947
VOR DEM AMERIK A NISCHEN MIL ITÄ RGERICH T IN DA CHA U A LS BEWEIS STÜCK .

48 | 49
Im Dienst.
Lagerkommandant Karl Koch stellt sich einen Stab aus SS-Männern
zusammen, die ihm bedingungslos folgen. Im Konzentrationslager haben
sie uneingeschränkte Gewalt und zahlreiche Möglichkeiten zur persön-
lichen Bereicherung.

Kommandant des KZ Buchenwald 1937–1941


Karl Otto Koch (1897–1945)

Nach Teilnahme am Ersten Weltkrieg und wech-


selnden Arbeitsstellen als kaufmännischer An-
gestellter findet Koch im Alter von 36 Jahren bei
der SS eine berufliche Basis. Als KZ-Kommandant
macht er schnell Karriere: in den KZ Sachsen-
burg, Esterwegen, Lichtenburg, Columbia-Haus,
Sachsenhausen. Die SS-Führung schätzt ihn als
zuverlässigen Mann für grobe Aufgaben und dul-
det seine Herrscherallüren und Unterschlagungen.
Das ändert sich mit der Umstellung der Konzen-
trationslager auf wirtschaftliche Aufgaben. Nun
stürzt er. Um die grenzenlose Korruption inner-
halb der SS zu unterbinden, verurteilt ihn ein
SS-Gericht zum Tode. Am 5.4.1945 erschießt ihn
die SS in Buchenwald.

K ARL KOCH IM HÄF TL INGSL AGER, APRIL 1940.


FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

Ehefrau des Kommandanten Karl Koch


Ilse Koch (1906–1967)

Sie ist eine 28-jährige Stenotypistin bei Reemtsma


in Dresden, als sie den eben zum SS-Offizier be-
förderten Karl Koch kennenlernt. Sie teilt seine
rassistische Weltsicht und begleitet seine weitere
Konzentrationslager-Karriere. Als sie 1937 heira-
ten, ist er Kommandant des neuen KZ Sachsen-
hausen. In Buchenwald richtet sich das Ehepaar
ein, führt ein großspuriges Leben und verschafft
sich die Mittel dafür durch Unterschlagung, Er-
pressung und Raub. Ilse Koch begibt sich häufig
in unmittelbare Nähe von Häftlingen und animiert
SS-Posten zur Gewalt. Sie wird 1947 durch ein
amerikanisches Militärgericht und 1951 durch ein ILSE KO CH MI T EHEMA NN UND SOHN VOR DER
L A GERKO MMA NDA NTUR , A PRIL 1 940 .
deutsches Gericht verurteilt. Ihre lebenslange
Haftstrafe endet mit ihrem Selbstmord im Gefäng-
nis Aichach.

KRIEG UND VERBRECHEN


HA NS HÜT TIG ( RECHTS ) MIT DEM KOMMAN- HERMANN HACK MA NN A LS A RTHUR RÖDL ( RECH TS ) BEI EINEM BESUCH VON
DEUR DER 3. SS-TOTENKOPFSTANDARTE SCHUTZHAF TL A GERF ÜHRER S S - CHEF HIMML ER IN BUCHEN WA L D, 1 939.
„ THÜRINGEN “ BEI DEN S S - K ASERNEN IN DES K Z M A J DA N E K , M A I 1 9 4 2 . FOTO : ERKENNUNG SDIENST DER S S
BUCHEN WAL D, 1938 /39.

2. Schutzhaftlagerführer 1. Schutzhaftlagerführer
Hans Hüttig (1894–1980) Arthur Rödl (1898–1945)

Durch den Eintritt in die SS 1932 will Hüttig seine Er gehört zu den „alten Kämpfern“ der NSDAP und
im Ersten Weltkrieg nicht gelungene militärische wird deshalb von Himmler protegiert. Obwohl Vor-
Karriere nachholen. Nach Dienst in verschie- gesetzte ihn wiederholt als unfähig bezeichnen,
denen Konzentrationslagern kommt er 1938 erhält Rödl seit 1933 mittlere Führungspositionen
nach Buchenwald. Als Schutzhaftlagerführer ist in verschiedenen Konzentrationslagern. Häftlinge
er verantwortlich für die täglichen Abläufe im beschreiben ihn als unberechenbar, brutal und
Häftlingslager und setzt das Lagerregime Kochs alkoholabhängig. In der Aufbauzeit von Buchen-
brutal durch. Später wird er Kommandant der wald befehligt er die Block- und Kommandoführer,
KZ Natzweiler und Herzogenbusch. Noch 1945 zu bestimmt Tagesablauf und Zwangsarbeit der
lebenslanger Haft verurteilt, wird er bereits 1956 Häftlinge. Später wird er Kommandant des KZ
entlassen und lebt fortan unbehelligt. Groß-Rosen und zur Waffen-SS in die Ukraine ver-
setzt. Bei Kriegsende begeht er Selbstmord.

Adjutant des Lagerkommandanten


Hermann Hackmann (1913–1994) Angehöriger des „Kommando 99“
Wilhelm Schäfer (1911–1961)
Nach seinem Eintritt in die SS 1933 macht der
gelernte Maurer Karriere in den KZ Esterwegen Schäfer geht einen für viele SS-Männer typischen
und Sachsenhausen. Von dort kommt er mit Koch Weg: Anfang der 1930er Jahre ist er an Straßen-
1937 nach Buchenwald. Hier steigt er schnell auf kämpfen mit politischen Gegnern beteiligt. Nach
und ist als Adjutant verantwortlich für die Leitung der Machtübernahme der Nationalsozialisten
des Kommandanturstabs. Er wird der engste wechselt der gelernte Maurer in den KZ-Dienst.
Vertraute Kochs. Gemeinsam bereichern sie sich Im KZ Lichtenburg gehört er seit 1933 zur Stamm-
an Häftlingsgeldern. Beide werden daraufhin zum mannschaft, 1937 kommt er nach Buchenwald.
Aufbau des KZ Majdanek nach Lublin versetzt. Als Angehöriger des „Kommando 99“ ist er hier
Nach 1945 wird er zweimal verurteilt. Vorzeitig an der massenhaften Erschießung sowjetischer
aus der Haft entlassen, arbeitet er bis zur Rente Kriegsgefangener beteiligt. Zur „Partisanen-
bei einer Möbelfirma. bekämpfung“ versetzt man ihn später an die
Ostfront. 1961 wird Schäfer in der DDR zum Tode
verurteilt und hingerichtet.

50 | 51
WIL HEL M SCHÄFER (RECHTS ) IN EINEM GARTEN DER BUCHENWA L DER HERBERT A BR A HAM ( 3. VON RECH TS ) A LS A NGEHÖRIGER DES
SS-SIEDLUNG II IN KL EINOBRINGEN, UM 1940. KO MMA NDA NTURSTA BES IM K Z MAJDA NEK , 1 942.

Block- und Kommandoführer


Herbert Abraham (1914)

Mit 14 Jahren muss er die Schule verlassen, ar-


beitet als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft und
geht als Jugendlicher zur SA. 1935 meldet er sich
freiwillig zu den KZ-Wachverbänden, dient zwei
Jahre in der Wehrmacht und wird im November
1938 bei der SS-Totenkopfstandarte Buchenwald
eingestellt. Ab Sommer 1939 ist er Block- und
Kommandoführer beim Kommandanturstab.
Wegen seines Familiennamens von anderen
SS-Männern verhöhnt, legt er sehr großen Wert KÜNF TIGE EHEFR A UEN EINES S S - MA NNES WERDEN R A S SEBIOLOGISCH
BEGU TA CH TET. NUR BEI EINEM POSITI VEN URTEIL WIRD DIE HEIR AT
auf seine „Rassenbegutachtung“ und geht im GENEHMIGT. A NTR A G A UF EHESCHL IES SUNG DES BLO CK - UND KOM -
Lager besonders brutal gegen Juden vor. Im April MA ND OF ÜHRERS A BR A HAM UND SEINER VERLOBTEN MA RIA MA URER
A N DA S R A S SE- UND SIEDLUNG SHA UPTAMT DER S S , MA I 1 94 0
1942 wird er in das KZ Majdanek versetzt, wo er
zum Schutzhaftlagerführer aufsteigt. Seit Kriegs-
ende ist er verschwunden.

„DER MENSCH , DER GEWA LT ÜBER SICH SEL BST HAT, L EISTET DA S
SCH WERSTE UND GRÖS STE. “ DIE TRUHE STEH T IM DIENSTZIMMER
BEIDER L A GERKO MMA NDA NTEN . DER SPRUCH IST DIE VERKÜRZ TE
DIENST ZIMMER DES L AGERKO MMANDANTEN, RECHTS UNTEN IST DIE FA S SUNG EINES A UF NA POL EON BEZO GENEN GOETHE- A US SPRUCHS
TRUHE ZU SEHEN . FOTO : ERKENNUNGSDIENST DER S S A US DEM JA HR 181 5.

KRIEG UND VERBRECHEN


UNTER DEN A UGEN DER S S BE A UFSICH TIGT
EIN K A PO ( MI T A R MBINDE) BA UA RBEITEN VON
HÄ F TL INGEN , TRUPPENGA R A GEN , UM 1 939.
FOTO : ERKENNUNG SDIENST DER S S

Die Zwangsordnung
des Lagers
Die Häftlinge – elend untergebracht, bekleidet und ernährt – sind einer
Zwangsordnung unterworfen, die die SS schon für die frühen Konzentrations-
lager entwickelt hat. Sie müssen marschieren, während des Appells stunden-
lang reglos stehen und einen langen, zermürbenden Arbeitstag bewältigen.
Allgegenwärtig ist die Angst vor willkürlicher Gewalt und vor Strafen, die auf
dem Prügelbock oder im Lagergefängnis, dem „Bunker“, vollstreckt werden.
In den Baracken und Arbeitskommandos setzt die SS Häftlinge zur Organi-
sation ein: Blockälteste für die Baracken, Kapos und Vorarbeiter für die ver-
schiedenen Arbeitsstellen. Sie können, wie die Kapos des gefürchteten Stein-
bruchs, die Übrigen drangsalieren, um sich der SS anzubiedern. Sie können
aber auch, wie viele Pfleger im Häftlingskrankenbau, für Mithäftlinge eintreten.
Die Angst, krank zu werden, bleibt trotzdem. Kranke sind für die SS nutzlose
Menschen und schweben in ständiger Lebensgefahr.

52 | 53
Appell.
Zweimal täglich müssen die Häftlinge zum Zählappell aufmarschieren. Die SS
lässt sie willkürlich lange stehen und prügelt Einzelne vor aller Augen.

ROMA AUS DE M ÖSTERREICHISCHEN BURGENL AND AUF DEM APPEL L PL ATZ , HERBST 1 939.
FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

VON DER BA LUSTR A DE DES


L AGERTORS PR Ä SENTIERT
L AGERKO MMA NDA NT KO CH
( LINKS ) EINEM HO CHR A N -
GIGEN BESUCHER DEN A PPEL L ,
1 939. FOTO : ERKENNUNG S -
DIENST DER S S

„Die täglich stattfindenden Zählappelle waren […] gefürch-


tet. Denn oft musste man stundenlang nach harter Arbeit in
eisiger Kälte und bei stürmischem Wetter stehen. Aber die
SS wollte jeden Tag genau ihre Arbeitssklaven zählen, weil
natürlich viele sich mit Fluchtgedanken trugen. […] Der
Appellplatz hat viele schreckliche Tragödien gesehen. Wie
oft musste das ganze Lager stehen bleiben, wenn ein Häft-
ling geflohen war. […] Alle Exekutionen wurden bis Ende 1942 NA CH FESTGEL EGTEM SCHEMA DER BA R A CKEN-
NUMMERN ERFOLGT DIE A UFSTEL LUNG DER HÄ F T -
auf dem Appellplatz vollzogen, insbesondere der ’Bock‘ war L INGE ZUM A PPEL L . KL A DDE DES HÄ F TL ING S
bei fast jedem Appell in Tätigkeit.“ UND A PPEL LSCHREIBERS MA X MA YR

MA X MAYR ÜBER DEN APPELL IN BUCHENWALD.


DER BUCHEN WALD- REPORT, MÜNCHEN 1996 [1945 ]

KRIEG UND VERBRECHEN


Arbeitskommandos.
Die SS setzt Häftlinge ein, um die Arbeitskommandos zu beaufsichtigen:
die Kapos. Einige Kapos werden zum verlängerten Arm der SS, andere gehen
Risiken ein, um die Situation von Häftlingen zu erleichtern.

DER EHEMALIGE FREMDENLEGIONÄ R JOHA NN HER ZO G IST HÄ F TL ING SK A PO IM STEINBRUCH .


HIER VERR ÄT ER ZWEI TSCHECHISCHE HÄ F TL INGE, DIE SICH EINA NDER BEIM NICH T ERL A UBTEN
WECHSEL DES ARBEITSPL ATZES GEHOL FEN HA BEN . S S - R A PPORTF ÜHRER STRIPPEL ÜBERPRÜF T:
„ STIMMT“ . DER SCHUTZHAF TL A GERF ÜHRER NOTIERT DIE STR A FE: JE 1 0 STO CKHIEBE UND
3 MONATE STR AFKO MPANIE. STR A F MEL DUNG , 2. 2. 1 941

54 | 55
DER STEINBRUCH IST A RBEI TS STÄT TE DER STR A FKO MPA NIEN UND NEU EINGEL IEFERTER
HÄ F TLINGE. DIE S S NU TZ T IHN , UM MENSCHEN „A UF DER FLUCH T“ ZU ERSCHIES SEN. GEWA LT-
TÄTIGE K A POS VERSCHÄ RFEN DIE L A GE IN DIESEM SCH WERSTEN A RBEITSKO MMA ND O
ZUSÄTZLICH .

STEINBRUCH, 19 4 3 . VORN LINKS ARBEITENDE HÄF TLINGE.


FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

„Dieser Walter Krämer [ist] in der Nacht, ganz


geheim, geheim, zu uns ins Lager gekommen und
hat die nötigsten Fälle behandelt. Er hat durchge-
setzt – wie er es gemacht hat, weiß ich nicht – […],
dass ein Teil der Todesbaracke verwandelt wurde
in eine, wie soll ich es benennen, eine Art Kran-
kenstube […]. Mit dem Argument, […] dass er als
Leiter des Häftlingskrankenbaus es nicht ver-
antworten kann, dass sich die Seuchen von den
Häftlingen an die SS verbreiten können. Nicht nur
an die SS, aber auch ins Große Lager und mit dem
Abwasser, das vom Ettersberg […] runter floss ins
Tal, dort waren doch mehr Menschen, und wenn
BAR ACKE 4 ( T UBERKULOSESTATION) DES HÄF TLINGSKR ANKENBA US , sich eine Epidemie verbreitete, das wäre eine
1 9 4 3. INFOLGE VON UNTERERNÄHRUNG, HARTER ZWANGSARBEI T
UND DER ANSTECKUNG IN DEN ENGEN BAR ACKEN BREITET SICH
Katastrophe. Das war so ein Argument, das die
T UBERKULOSE IM KON ZENTR ATIONSL AGER AUS . MIT DEM ARGUMENT Lagerleitung nicht ablehnen konnte.“
EINER GEFÄHRDUNG AUCH FÜR DIE S S TREIBT DER HÄF TLINGSK A PO
DES KR ANKENBA US , DER KOMMUNIST WALTER KR ÄMER, DEN AUSBA U
DER KR ANKENSTATIONEN VOR AN. ER WIRD IM NOVEMBER 1 941 VON A RTUR R A DVA NSKÝ ÜBER DIE IL L EGA L E BEHA NDLUNG KR A NKER
DER SS ERSCHOSSEN . FOTO : ERKENNUNGSDIENST DER S S DURCH WA LTER KR ÄMER . TROTZDEM HA BE ICH ÜBERL EBT,
DRESDEN 20 0 6

KRIEG UND VERBRECHEN


Barackenleben.
Die tägliche Routine in den Baracken lässt die SS „Nicht nur im Vermeiden von Unannehmlichkeiten
von Häftlingen organisieren: den Blockältesten. und Gefahren, auch bei der Erreichung positiver
Sie verteilen die knappe Nahrung und die Schlaf- Ziele waren die Häftlinge aufeinander angewie-
plätze, sie kontrollieren, bevorzugen oder benach- sen. Das galt vor allem für die Arbeit. […] Genau
teiligen Mithäftlinge. dasselbe galt vom Benehmen im Block. Kam
man von der Arbeit, so war Ruhe mindestens so
wichtig wie Wärme und Essen. Lärm und sonstige
Störungen waren streng verpönt, und man konnte
den guten vom schlechten Kameraden am deut-
lichsten an seinem Benehmen im Block unter-
scheiden.“

DER ÖSTERREICHER BENEDIK T K A UTSKY BERICH TET ÜBER DA S


L EBEN IN DER BA R A CKE. TEUFEL UND VERDAMMTE, WIEN 1 961
[ZÜRICH 1 946]

BROT IST ÜBERL EBENSWICHTIG. SEINE GERECHTE VERTEILUNG ENT -


SCHEIDE T ÜBER DIE STIMMUNG IN DER BAR ACKE. DESHALB ZERLEGT
DER BLO CK ÄLTESTE DIE ZUGETEILTEN BROTE IN PORTIONEN UND
WIEGT SIE AB.

HENRI PIECK, DAS INNERE EINER BAR ACKE IM GROS SEN L AGER , KURT DI T TMA R , ORGA NISIEREN WA R TRUMPF, 1 945.
1 9 4 3 /4 5. KOHL E ZEICHNUNG, 52 X 43 CM BUNTSTIF TZEICHNUNG , 21 X 1 5 C M

56 | 57
LAGERSPRACHE

471 1 _ ARBEI TSKOMMAND O DER L ATRINENREINIGER


ABGANG _ HÄF TL INGE , DIE AUS DER L AGERSTATISTIK GESTRICHEN SIND :
TOTE , VERSCHICKTE , ENTL ASSENE
ABHÄNGEN _ AUSSTOSSEN EINER PERSON AUS EINER GRUPPE
A BKOCHEN _ IL L EGAL E BESCHAFF UNG VON DINGEN DURCH GESCHICKTES
AUSNUT ZEN EINER SI T UATION , AUSSER DER REIHE ESSEN
VERSCHAFFEN
ABSPRITZEN _ ER MORDEN DURCH INJEKTIONEN
ACHTZEHN! _ WARNRUF BEI ANNÄHERUNG EINES K APOS ODER EINES
SS- POSTENS
ALM _ T UBERKULOSE - ISOL IERSTATION
BUCHEN WALDER ANANAS _ STECKRÜBEN MI T RÜBENBL ÄT TERN GEKO CH T
ERDKUNDE _ BE ZEICHNUNG F ÜR DAS ROBBEN ÜBER DEN BODEN
DES APPEL L PL AT ZES ALS STR AFE
GRÜNER _ HÄF TL ING MI T DE M GRÜNEN WINKEL
HIMMELFAHRTSKO MMA ND O _ DEPORTATION MI T TÖDL ICHE M AUSGANG
KRETINER _ PSYCHISCH GESTÖRTE UND KÖRPERL ICH VERFAL L ENE
HÄF TL INGE
L AMPENBA UER _ EINER , DER UNGEWOL LT ODER ABSICH TL ICH ÜBER EINE
SACHE REDE T, DIE GEHEIM BL EIBEN SOL LTE
L ATRINEN-PAROLEN _ UNGL AUBHAF TE GERÜCH TE
MUSELMANN _ HÄF TL ING , DER DEN L EBENSWIL L EN AUFGEGEBEN HAT
ORGANISIEREN _ BESCHAFFEN WICH TIGER DINGE IM L AGERSCH WAR ZHANDEL ,
AUCH STEHL EN
PRO MINENZ _ BESSER GEKL EIDE TE UND VERSORGTE HÄF TL ING SF UNKTIONÄ RE
ROTER _ HÄF TL ING MI T DE M ROTEN WINKEL DER POL I TISCHEN HÄF TL INGE
SCHWARZER _ ALS „ ARBEI TSSCHEUER “ GEKENN ZEICHNE TER HÄF TL ING
SINGENDE PFERDE _ KOLONNE JÜDISCHER HÄF TL INGE , DIE BEIM ZIEHEN VON
L ASTK ARREN SINGEN MUSSTEN
SINGENDER WALD _ WAL D NÖRDL ICH DER BAR ACKEN , WO DAS „ BAUMHÄNGEN “
STAT TFA ND
ÜBER DEN ROST GEHEN _ INS KRE MATORIUM KOMMEN , STERBEN
UMLEGEN _ TÖTEN
VOGEL SUCHEN _ SS- AUSDRUCK F ÜR DAS SUCHEN EINES GEFLÜCH TE TEN
ODER BEIM APPEL L ABWESENDEN HÄF TL ING S
WIKINGERSAL AT _ SAL AT AUS GEKOCH TEN STECKRÜBEN UND MÖHREN MI T
WAL FISCHÖL - MAYONNAISE
Z AUNKÖNIG _ SEL BST MÖRDER AM EL EKTRISCHEN STACHEL DR AH T
ZINKER _ VERR ÄTER , SPION
ZUGA NG _ IM L AGER NEU REGISTRIERTER HÄF TL ING
TONNENADLER _ ABWERTEND F ÜR HÄF TL INGE , DIE AUS HUNGER
ABFÄL L E Aß EN
L AGERJUSTIZ _ DURCHSE T ZUNG DER UNGESCHRIEBENEN REGEL N
DES L AGERS DURCH DIE L AGEROBERSCHICH T

KRIEG UND VERBRECHEN


Strafen.
Die SS hat einen Katalog von Strafen: Stockhiebe,
Bunkerhaft, Essensentzug, Strafexerzieren,
Strafarbeiten. Unberechenbar für die Häftlinge
entscheidet sie, was und wie bestraft wird.

DER A RREST ZEL L ENBAU IM TORGEBÄUDE – DER „ BUNKER“ – STEH T DEN HÄ F TL INGEN BEIM A PPEL L TÄ GL ICH VOR A UGEN .
DIE MI T HOL ZPL ANKEN VERBLENDETEN FENSTER GEHÖREN ZU DUNKEL ZEL L EN , EINER GEF ÜRCH TETEN FOR M DER FOLTER .
FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

ES GIBT VERSUCHE , A US DE M „ BUNKER“ ZU FLIEHEN. EINEN MIS SGLÜCK TEN VERSUCH L Ä S ST DIE S S
F ÜR DIE BEWEISAUFNAHME NACHSTELLEN, VOR 1942 . FOTOS : ERKENNUNG SDIENST DER S S

58 | 59
DIE S S VERTUSCH T WIL L KÜRL ICHE MORDE A N HÄ F TL INGEN . EIN BEISPIEL IST DIE ERMORDUNG
VON PHIL IPP HAMBER DURCH DEN S S - MA NN HERBERT A BR A HAM A UF EINER BA USTEL LE BEI
DEN TRUPPENGA R A GEN . BEI DER BEFR A GUNG DER HÄ F TL INGE DES A RBEI TSKO MMA ND OS HAT
SEIN BRUDER ED MUND HAMBER DEN MU T, DEN WA HREN TATHERGA NG ZU SCHIL DERN. A LS
ZEUGEN DES VERBRECHENS WERDEN DA R A UFHIN A L L E HÄ F TL INGE ER MORDET.

DER „BOCK“, EINE VORRICHTUNG


ZUR AUSF ÜHRUNG DER PRÜGELSTR AFE.
ER WIRD BIS 19 4 4 REGELMÄS SIG
BENUT ZT UND DANN ABGESCHAFF T.
REKONSTRUKTION , 195 4

BIS ZUM A PRIL 1 941 WERDEN A L L E 34 JÜDISCHEN HÄ F TL INGE IM A RRESTZELLEN-


BA U ER MORDET. S S - L ISTE DER A UGEN ZEUGEN DES MORDES , 1 940

Leiter des Arrestzellenbaus


Martin Sommer (1915–1988)

Als 16-jähriger Gehilfe auf dem elterlichen Bauernhof schließt


Sommer sich rechtsradikalen Organisationen an. Mit 18 tritt er in
die SS ein und bindet seine weitere Laufbahn an die Entwicklung
der KZ-Wachmannschaften. Der spätere KZ-Kommandant Karl
Koch wird sein Mentor, er formt ihn zu seinem Handlanger. Sommer
ist bis 1943 Chef des „Bunkers“ in Buchenwald, nach der Korruptions-
affäre Koch wird er an die Front versetzt und taucht nach 1945 als
Kriegsversehrter unter. 1958 verurteilt ihn ein Gericht zu lebenslanger
MARTIN SO MMER, UNDATIERT Haft. Elf Jahre später wird er in ein bayerisches Pflegeheim verlegt.

KRIEG UND VERBRECHEN


Krematorium.
Die Erfurter Firma Topf & Söhne baut im Auftrag
der SS Leichen-Verbrennungsöfen für den Dauer-
betrieb. Sie liefert Urnen und Kennmarken, mit
denen die SS Angehörigen einen würdigen Umgang
mit den Toten vortäuscht.

IN STÄ DTISCHEN KREMATORIEN WERDEN BEI DER EIN -


Ä SCHERUNG FEUERFESTE MA RKEN ZU DEN TOTEN GEL EGT.
IN BUCHEN WA L D WIRD DIESE IDENTIFI ZIERUNG BEIM
VERSA ND VON A SCHE N U R V O R G E TÄ U S C H T.
F U N D O R T : DA C H S T U H L D E S K R E M ATO R I U M S

DIE VON TOPF & SÖHNE HERGESTELLTEN ASCHEK APSELN WERDEN GEGEN GEBÜHR A N DIE A NGEHÖRIGEN
VERSTORBENER HÄF TLINGE GESCHICKT. ANSTELLE DER ASCHE IHRES VERWA NDTEN ERHA LTEN SIE NUR
WAHL LOS ABGEF ÜLLTE ASCHE. FUNDORT: DACHSTUHL DES KREMATORIUMS

60 | 61
IM BÜRO DER PATHOLO GIE (BLOCK 2 ) STEHEN MEDIZINISCHE PR Ä PA R ATE A US DEN KÖRPERN TOTER HÄ F TL INGE, 1 943.
FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

TO P F & S Ö H N E E N T W I C K E LT F Ü R DA S K Z A U S C H W I T Z S P E Z I E L L E L E I C H E N - V E R B R E N N U N G S Ö F E N . S I E V E R Ä N D E R T I H R E A B FA L L -
V E R B R E N N U N G S Ö F E N S O , DA S S M Ö G L I C H S T V I E L E L E I C H E N I N K U R Z E R Z E I T V E R B R A N N T W E R D E N KÖ N N E N . E I N E T R E N N U N G D E R
A S C H E I S T N I C H T M Ö G L I C H . D I E E R S T E N Z W E I Ö F E N B A U T D I E F I R M A 1 9 4 2 I M K Z B U C H E N WA L D . K U R Z N A C H D E R F E R T I G S T E L L U N G
L Ä S S T D E R KO M M A N DA N T D E N V E R B R E N N U N G S R A U M F O TO G R A F I E R E N U N D P R Ä S E N T I E R T I H N I N S E I N E M D I E N S TA L B U M .
FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

KRIEG UND VERBRECHEN


IM JUNI 19 4 3 INFOR MIERT DIE S S IHREN AUF TR AGGEBER,
DIE HOECHST AG DER IG FARBEN, DETAILLIERT ÜBER DEN
VERL A UF EINES MENSCHEN VERSUCHS . DIE S S HAT HÄF T-
L INGE KÜNSTL ICH MIT FL ECKFIEBER INFIZIERT UND IN EINE
UNBEHANDELTE UND EINE MIT FLECKFIEBER- THER APIE-
MI T TEL BEHANDELTE GRUPPE GETEILT. DIE ANWENDUNG
DES BEREITS BEI MENSCHENVERSUCHEN IM K Z AUSCHWITZ
VERWENDE TEN MIT TELS BL EIBT WIRKUNGSLOS .

DIE TODESR ATEN DER GEIMPF TEN UND DER UNBEHANDELTEN


HÄ F TL INGE SIND ANNÄHERND GLEICH. AUFLISTUNG DER
NEBEN WIRKUNGEN EINES MEDIZINISCHEN VERSUCHS ,
JUNI 1 9 4 3

Verbrechen und
Kooperation
Die Macht der SS ist schrankenlos. Sie kann Gestapo in den Kriegsgefangenenlagern der
über die Menschen verfügen. Das eröffnet ihr die Wehrmacht sowjetische Kommissare und Juden
Zusammenarbeit mit Institutionen und Unterneh- zur Tötung aussondert, richtet die SS im KZ
men außerhalb der Lager: Polnische Häftlinge Buchenwald eine Erschießungsanlage ein. Eine
werden an die Gestapo für öffentlich inszenierte enge Zusammenarbeit entwickelt sich auch mit
Schauexekutionen abgegeben; in Kooperation mit den Heil- und Pflegeanstalten Sonnenstein und
dem Robert-Koch-Institut, der IG Farben AG und Bernburg. Dort werden im Rahmen der „Euthana-
der Wehrmacht entsteht eigens eine Station sie“ behinderte Häftlinge und jüdische Häftlinge
für medizinische Menschenversuche. Als die als „unproduktiv“ in Gaskammern erstickt.

62 | 63
Menschenversuche.
Der rechtsfreie Raum des Konzentrationslagers
bietet Pharmafirmen und medizinischen Instituten
neue Möglichkeiten für ihre Forschungen. Gemein-
sam mit der SS führen sie im KZ Buchenwald
Menschenversuche durch.

SS-AR ZT ERWIN DING (1912 –1945 ) LEITET DIE VERSUCHS STATION


UND DIE L ABORE IN BLOCK 5 0. ER IST IN ÄRZTEKREISEN ANERK A NNT
UND PFL EGT GUTE BE ZIEHUNGEN ZUR PHARMAINDUSTRIE. AUSWEIS
ZUR BEFÖRDERUNG HO CHINFEKTIÖSEN MATERIALS , UM 19 43

DIE BEHRINGWERKE MARBURG WEITEN SCHON VOR KRIEGSBEGINN D A S R O B E R T KO C H - I N S T I T U T I N B E R L I N U N D D I E B E H R I N G -


DIE PRODUKTIONSK APAZITÄTEN FÜR KRIEGSWICHTIGE IMPFSTOFFE W E R K E HA BEN BIS A NFA NG 1 943 DIE A L L EINIGE ERL A UBNIS ZUR
A US. AUF BESE TZ TE M UKR AINISCHEN TERRITORIUM GRÜNDEN SIE EIN HERSTEL LUNG VON FL ECKFIEBERIMPFSTOFF. DIESE STEL LUNG
INSTIT UT UND L AS SEN DES SEN VERSUCHSIMPFSTOFF IN MENSCHEN - WOL L EN SIE DURCH EINEN NEUEN MA S SENIMPFSTOFF FESTIGEN
VERSUCHEN ERPROBEN. UND KO OPERIEREN MI T DER S S .

NACH DE M FEHLSCHL AG DER ERSTEN ZWEI VERSUCHSREIHEN IN 1 943 WIRD IN BLO CK 50 EINE EIGENSTÄ NDIGE FIL IA L E DES
BUCHEN WAL D BESUCHT ERWIN DING DIE L ABOR ATORIEN DER HYGIENE- INSTITU TS DER WA FFEN - S S EINGERICH TET. DA S
HOECHST AG IN FR ANKFURT A. M. UND MACHT VERSPRECHUNGEN . L A BOR WIRD A UCH VON A USWÄ RTIGEN Ä R Z TEN GENU TZ T.
BEIM ANSCHL IES SENDEN DRIT TEN VERSUCH STERBEN 2 1 HÄF TLINGE FOTO : ERKENNUNG SDIENST DER S S
EINEN QUALVOL LEN TOD.

KRIEG UND VERBRECHEN


„Euthanasie“ – „Aktion 14f13“.
Im ersten Kriegsjahr werden in Pflegeanstalten des Deutschen Reichs
Tausende Patienten planmäßig ermordet. Die daran beteiligten Ärzte
sondern auch im KZ Buchenwald Häftlinge aus, die in den Gaskammern
mitteldeutscher Pflegeanstalten erstickt werden.

FRIEDRICH MENNECKE (3 . VON RECHTS ) MIT ANDEREN ÄRZTEN, DIE A LS GU TA CH TER HÄ F TL INGE IN DEN KON ZENTR ATIONSL A GERN
SEL EKTIEREN , 19 41. EINIGE SIND DIREKTOREN VON PFLEGE ANSTALTEN , IN DENEN SICH GA SK AMMERN BEFINDEN .

„19.50 h: Der erste Arbeitstag in Buchenwald werden, sondern bei denen es genügt, die Verhaf-
ist beendet. Wir waren um 8.30 h heute früh tungsgründe (oft sehr umfangreich!) aus der Akte
draußen. […] Zunächst gab es noch ca 40 Bögen zu entnehmen u. auf die Bögen zu übertragen.
auszufüllen von einer 1. Portion Arier. […] Es ist also eine rein theoretische Arbeit […]. Ich
Um 12.00 h machten wir erst Mittagspause will mich nun lesenderweise noch etwas nach
u. aßen im Führer-Kasino (1 a! Suppe, gekochtes unten in die Halle [des Hotel Elephant] setzen […]
Rindfleisch, Rotkohl, Salzkartoffeln, Apfelkompott und dort bei Radiomusik etwas lesen; vielleicht
[…]). […] Als 2. Portion folgten nun insgesamt spielt auch das Orchester.“
1200 Juden, die sämtlich nicht erst ‚untersucht‘
FRIEDRICH MENNECKE SCHREIBT REGEL MÄ S SIG BRIEFE A N SEINE
FR A U . AM 26. NOVEMBER 1 941 BERICH TET ER ÜBER SEINE A RBEI T IN
BUCHEN WA L D. HES SISCHES HA UPTSTA ATSA RCHI V WIESBA DEN

64 | 65
571 HÄF TL INGE DES KON ZENTR ATIONSL A GERS BUCHEN WA L D WERDEN IN DEN GA SK AMMERN
DER TÖTUNG SA NSTA LTEN PIRNA - SONNENSTEIN UND BERNBURG ER MORDET.

DER JÜDISCHE K AUFMANN RUDOLF SILBERSTEIN AUS DER 1 90 0 GEBORENE RECH TSA N WA LT OT TO STROS S
BERLIN (FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS, KZ DACHAU) A US PR A G ( FOTO : ERKENNUNG SDIENST DER S S ,
IST SEIT 1937 IN HAF T, WEIL ER MIT EINER NICH T- K Z DA CHA U ) IST DER L ETZ TE VORSITZENDE DES
JÜDISCHEN FR AU ZUSAMMENLEBT. AUS BUCHENWA L D BUNDES DER JUDEN IN DER TSCHECHOSLOWA KEI.
WIRD ER IM MÄRZ 1942 NACH BERNBURG GEBR ACH T BEI KRIEG SBEGINN WIRD ER VERHA F TET UND IM
UND DORT IM ALTER VON 42 JAHREN ERMORDET. MÄ R Z 1 942 IN BERNBURG ER MORDET. A UF DER RÜCK-
AUF DER RÜCKSEITE DES FOTOS NOTIERT MENNECKE: SEI TE DES FOTOS VER MERK T MENNECKE: „SCH WERER
„RASSENSCHANDE“. DEU TSCHENHA S SER , HETZER “.

DIE A US SONDERUNG SUNTER-


SU CHUNG MENNECKES FÜR DIE
„SONDERBEHA NDLUNG 1 4f1 3“
DIENT DER VORBEREITUNG ZUR
DEPORTATION . IM OK TOBER 1 94 2
VERL EGT DIE S S DIE MEISTEN
JÜDISCHEN HÄ F TL INGE IN DA S
K Z A USCH WI TZ - MONOWI T Z .
NA CH A N WEISUNG DER SS-
F ÜHRUNG SOL L EN A L L E
KON ZENTR ATIONSL A GER IN
DEU TSCHL A ND „JUDENFREI “
SEIN . ÜBERSTEL LUNG SBEFEHL
SS-WIRTSCHAF TSVERWALTUNGS-
HAUPTAMT A N L A GERKOMMA N-
DA NTEN , 12. 1 0 . 1 942

KRIEG UND VERBRECHEN


Systematische Erschießungen.
Auf Befehl der Wehrmachtführung werden an der sowjetischen Front in Gefangen-
schaft geratene politische Kommissare, Staatsfunktionäre und Juden sofort er-
schossen. Trotzdem fahndet die Gestapo auch in Kriegsgefangenenlagern weiter.
Verdächtigte werden im nächstgelegenen Konzentrationslager durch Genickschuss
ermordet: allein in Buchenwald 8.000 sowjetische Kriegsgefangene.

PERSONAL K ARTEN VON KRIEGSGEFANGENEN AUS DEN STAL AGS ZEITHA IN ( IV H ) UND MÜHL BERG
( I V B) . SIE WERDEN „ AUS DER KRIEGSGEFANGENSCHAF T ENTL AS SEN “ UND IN BUCHEN WA L D ERSCHOS SEN .
A UF DIE GRÜNDE F ÜR DIE AUS SONDERUNG VERWEISEN ROTE AUFKLEBER .

”Es besteht somit keinerlei Veranlassung, den Russen gegenüber


sentimentale oder sonstige Gefühle walten zu lassen. […] Die Exekution
darf nicht im [Kriegsgefangenen]Lager und auch nicht in dessen
unmittelbarer Nähe durchgeführt werden, ferner darf sie nicht
öffentlich sein und es dürfen grundsätzlich keinerlei Zuschauer
zugelassen werden. Nach den vom Inspekteur in Dresden getroffenen
Anordnungen werden die als unzuverlässig ermittelten Sowjetrussen
auf dem schnellsten Wege einem KL. zugeführt, wo dann die Exekution
erfolgt.“

GESTA POANGEHÖRIGE BERICHTEN 1942 VOR PARTEI- UND STAATSFUNK TIONÄ REN
IN WEIMAR ÜBER DIE AUS SONDERUNG SOWJETISCHER KRIEGSGEFANGENER IM
STA L A G IV E ALTENBURG. DER VORTR AG IST „ GEHEIME REICHS SACHE“.
GEDENKSTÄT TE BUCHEN WALD

66 | 67
”Nachdem Sie das erste Mal in dem Untersuchungs-
zimmer waren, was geschah da?“

„Der russische Kriegsgefangene wurde dann hier in


diesem Raum mit dem Rücken zur Wand gestellt. Diese
Wand war ungefähr 2 m hoch, und links und rechts
war sie mit Zahlen versehen, man konnte den Eindruck
haben, dass es eine Messwand war. In der Mitte war
die Wand geschlitzt, ungefähr 8-10 cm weit. Hinter der
Wand stand ein Mann mit der Pistole. Der Mann, der
den Gefangenen an die Wand stellte, gab mit dem Fuß
ein Klopfzeichen für den dahinterstehenden Mann, dass
dieser die Pistole abschießen solle.“

”Standen Sie das erste Mal in diesem Raum und haben


geschossen?“

”Das erste Mal, ja. Zum Schluss habe ich 8 Schuss


abgegeben.“
F ÜR DEN TR ANSPORT DER LEICHEN DER ERSCHOS SENEN
KRIEGSGEFANGENEN L ÄS ST DIE S S SPEZIELLE BEHÄLTER
A NFERTIGEN UND MIT ZINKBLECH AUS SCHL AGEN. MIT
”Sie meinen damit, Sie gaben 8 Schüsse ab, auf 8
IHNEN WERDEN DIE TOTEN SCHNELL UND OHNE SPUREN verschiedene russische Kriegsgefangene?“
INS KRE MATORIUM GEBR ACHT.

”Jawohl.“

”Wohin haben Sie geschossen?“

”Auf den Hinterkopf.“

DER S S - MA NN HORST DIT TRICH , A NGEHÖRIGER DES ERSCHIES SUNG SKOM-


MA ND OS „99“, SCHIL DERT BEI EINER VERNEHMUNG VOR DEM U . S . - MILI TÄ R-
GERICH T IN DA CHA U DEN A BL A UF DER ERSCHIES SUNGEN , 5. 1 1 . 1 947 .
NATIONA L A RCHI VES AT C OL L EGE PA RK , MA RYL A ND

IN EINE M PFERDESTAL L AUS SERHALB DES HÄF TLINGSL AGERS RICH TET DIE S S EINE ERSCHIES SUNG SA NL A GE EIN . SIE TÄ USCH T
DORT EINE MEDI ZINISCHE UNTERSUCHUNG VOR. DIE GEFA NGENEN WERDEN A N DER MES SL AT TE HINTERRÜCKS ERSCHOS SEN .
K ARL FEUERER , POL ITISCHER HÄF TLING, SKIZZE 1945

KRIEG UND VERBRECHEN


Mord zur Abschreckung.
Aufgrund des Rassismus werden Kontakte zwischen deutschen Frauen
und polnischen Zwangsarbeitern brutal unterdrückt. Mit Hilfe der SS führt
die Gestapo zur Abschreckung öffentliche Erhängungen von polnischen
KZ-Häftlingen durch.

HOHENL EUBEN , MIT TE JUL I 1941: ORTSANSÄS SIGE DENUNZIEREN FÜNF FR A UEN BEI DER GESTA PO, WEIL SIE SICH ÖFFENTL ICH MI T
POL NISCHEN ZWANGSARBEITERN ZEIGEN. VOR DEM R ATHAUS WERDEN DIE FR A UEN GESCHOREN UND ZUR SCHA U GESTEL LT. UNTER
BE TEIL IGUNG DER BEVÖL KERUNG FÜHRT MAN SIE DURCH DEN ORT. VIER DER FR A UEN WERDEN A NSCHL IES SEND VON DER GESTA PO
VERHA F TE T UND IN DAS ARBEITSERZIEHUNGSL AGER BREITENAU GEBR A CH T, Z WEI VON IHNEN SPÄTER WEI TER IN DA S FR A UEN - K Z
R A VENSBRÜCK. ZWEI DER IN DIESEM ZUSAMMENHANG VERHAF TETEN POL EN WERDEN SPÄTER BEI POPPENHA USEN GEHENK T.

„Es war immer und immer wieder betont worden, gesetze verstößt. Alle Aufklärungsarbeit war
daß jeder Verkehr mit diesen Kriegsgefangenen, umsonst. Diese Weiber verletzten die deutsche
die letzthin freigelassen und arbeitsverpflichtet Frauenehre und mussten dafür auch büßen. Als
waren, verboten ist, weil es der deutschen Ehre Polenliebchen sollen sie ihren Willen haben, aber
widerspricht, diesem Gesindel nur die Hand zu mit einer deutschen Frau haben sie nichts mehr
reichen und vor allen Dingen, weil eine Blutsver- gemein. Daher wurde ihnen auch der Stolz der
mischung mit diesen Horden gegen alle Rassen- deutschen Frau, ihre Haare, genommen.“

IN EINEM „HEIMATBRIEF “ A N DIE FRONTSOL DATEN DES ORTES


BERICH TET DER BÜRGER MEISTER VON HOHENL EUBEN STOL Z ÜBER
DIE ÖFFENTL ICHE DEMÜ TIGUNG DER FR A UEN , 28. 8. 1 941 .
SAMMLUNG ERNST WOL L

68 | 69
DIE ÖFFENTL ICHE ERHÄNGUNG EINES POLNISCHEN ZWANGSARBEITERS UND VON 1 9 POL NISCHEN HÄ F TL INGEN DES K Z BUCHEN WA L D IN DER
NÄHE DES SÜDTHÜRINGISCHEN POPPENHAUSEN WIRD SOWOHL VO M ERKENNUNG SDIENST DER S S A LS A UCH VON BEOBA CH TERN FOTO GR A FIERT.

„Ich fuhr hin, um zu sehen, ob nicht irgendein 11 Uhr. Von Einöd ist auf der Straße nach Poppen-
priesterlicher Beistand möglich ist. Ununterbro- hausen bis zum Tatort etwa 1 km. Die reinste Wall-
chen fahren von 9-11 Uhr Autos durch Lindenau fahrt […]. Ich eile! Frauen, die sich durch den Wald
[…]. In Einöd ein großer Autopark, eine Unmenge neugierig vorgedrängt hatten und zurückgewiesen
von Fahrrädern […]. Am Wege lagern neugierige worden waren, kommen uns entgegen. ’Es hat
Frauen und Mädchen, die nicht weiter vorgelassen schon begonnen!‘, ’Die ersten hängen schon!‘
werden. Ein Gendarm regelt den Verkehr. Ich trage rufen sie uns roh und gefühllos zu. […] Schon
ihm meine Bitte vor. Es bestünde wenig Aussicht, sehen wir die Menschenmenge, 500, 700 Mann!
daß sie genehmigt werde. Aber ich könnte ja die Auch einige Frauen und Mädchen!“
Gestapo von Weimar einmal fragen. Es geht auf
PFA RRER JOHA NN KR A US S A UF DEM WEG ZUM ORT DER ERHÄ NGUNG .
PFA RRCHRONIK MA I 1 942, A RCHIV DES ER ZBISTUMS BAMBERG

KRIEG UND VERBRECHEN


Schillers Möbel.
Schon vor 1933 ist Weimar ein Zentrum des
deutschen Kulturnationalismus, der sich gegen
alles „Undeutsche“ wendet. Deshalb fügen sich
die Museen und Gedächtnisstätten der Klassik
reibungslos in den Nationalsozialismus ein. Als
der Bombenkrieg auch Weimar und die Häuser
von Goethe und Schiller bedroht, haben die
Verantwortlichen keine Skrupel, KZ-Häftlinge zur
Sicherung ihrer Kulturgüter arbeiten zu lassen.
Die Möbel aus dem Besitz Friedrich Schillers
werden für Monate ins KZ Buchenwald gebracht.
Häftlinge müssen sie dort für den Austausch mit
DIE HOL ZWERKSTÄT TEN DER S S - EIGENEN DEUTSCHEN AUSRÜSTUNGS - den Originalen nachbauen.
WERKE IM KON ZENTR ATIONSL AGER BUCHENWALD, IN DENEN HÄF T-
L INGE DIE DUPL IK ATE DER SCHILLERMÖBEL ANFERTIGEN MÜSSEN.
FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER SS

BL ICK INS SCHIL L ERHA US .


ZEI TGENÖS SISCHE POSTK A RTE

DUPL IK ATE DER MÖBEL FRIEDRICH SCHILLERS UND TR ANSPORTKISTEN ZUR A UFBEWA HRUNG VON
KULT URGÜTERN .

70 | 71
OT TO KOCH ( RECHTS ), PAUL HENNICKE (ZWEITER VON RECH TS ) MI T K A RL A UGUST L EHR MA NN , EDUA RD SCHEIDEMA NTEL,
1 9 41 KO CH, THEODOR EICKE UND ANDEREN VOR DER 1 933 UM 1 935
KO MMANDANTUR DES K Z BUCHEN WA L D, 1 939.
FOTO : ERKENNUNGSDIENST DER S S

Oberbürgermeister von Weimar Stadtbaurat in Weimar


Otto Koch (1902–1948) August Lehrmann (1878–1945)

Koch dringt darauf, die Kulturstätten in Weimar Der langjährige Stadtbaurat organisiert die Her-
auch im Krieg offenzuhalten, um keinen Gedan- stellung der Möbelkopien im KZ Buchenwald. In
ken an eine Niederlage aufkommen zu lassen. ständigem Kontakt mit der SS und den Deutschen
Der Rechtsanwalt ist bereits 1922 der NSDAP Ausrüstungswerken drängt er auf Termineinhal-
beigetreten. Als Oberbürgermeister von Weimar tung und kontrolliert die Qualität der abgeliefer-
organisiert er auch die Erfassung, Enteignung und ten Möbel und Kisten. Mehrfach äußert er sich
Ghettoisierung der Weimarer Juden. Nach Kriegs- zufrieden über die Zusammenarbeit mit der SS.
ende wird er durch die sowjetische Besatzungs- Inzwischen aus gesundheitlichen Gründen pensi-
macht verhaftet und stirbt im Speziallager Nr. 2 oniert, wird er 1944 noch einmal reaktiviert und
Buchenwald. mit der Organisation des gesamten städtischen
Luft- und Brandschutzes beauftragt. Er stirbt im
Februar 1945.
Polizeipräsident von Weimar
Paul Hennicke (1883–1967)
Kustos des Schillerhauses
Von ihm stammt der Vorschlag, Kopien bedeuten- Eduard Scheidemantel (1862–1945)
der Möbel preiswert im KZ Buchenwald anfertigen
zu lassen. Zum Konzentrationslager hat er ausge- Um jeden Preis will Scheidemantel das Schiller-
zeichnete Beziehungen. Der Maschinenschlosser haus vor kriegsbedingten Schäden schützen. Des-
und spätere Reichsbahnbeamte sitzt schon seit halb stimmt er dem Auftrag an das KZ Buchen-
1925 für die NSDAP im thüringischen Landtag. wald zu. Als Literaturhistoriker, Oberregierungsrat
Anfang 1934 erreicht er SS-Generalsrang. 1942 und langjähriger Vorsitzender des Schillerbundes
wird er SS- und Polizeiführer in der besetzten zählt er zu den angesehensten Weimarer Persön-
Sowjetunion und gegen Kriegsende Inspekteur des lichkeiten – auch wegen seiner Verdienste um
Volkssturms. Hennicke wird 1945 von der ameri- den Erhalt der Stätten der Klassik. Als die Kisten
kanischen Besatzungsmacht interniert, aber nicht Anfang Mai 1942 aus Buchenwald im Schillerhaus
verurteilt. Als Rentner lebt er bis zu seinem Tod eintreffen, beginnt er unverzüglich, diese mit den
unbehelligt in Braunschweig. zu schützenden Originalen zu füllen.

KRIEG UND VERBRECHEN


Lebensgeschichten
Krieg und Besatzung
Die Ausweitung von Verfolgung und Gewalt, auch in Deutschland, begleitet
den Krieg von Beginn an. Lange geplante Verhaftungen bringen Menschen,
die als Sicherheitsrisiko gelten, in die Konzentrationslager: Politiker und
Funktionäre früherer Parteien, polnische Juden aus deutschen und öster-
reichischen Städten, Tausende polnische Bürger, angesehene Vertreter der
tschechischen und später auch der niederländischen Oberschicht.

MICHAEL HORVATH, 1952

W Ł A DYS Ł A W KOŻD OŃ ( RECH TS ) MI T FREUNDEN IN WA RSCHA U , 1 946

Deportation einer Roma-Familie Ein polnischer Pfadfinder


Michael Horvath Władysław Kożdoń
3.6.1922, Oberwart im Burgenland (Österreich) 1.9.1922, Chwałowice (Polen)

Ohne Vorankündigung umstellen Polizei und SS am 26. Juni Am Tag des deutschen Überfalls auf Polen feiert Władysław
1939 die Roma-Siedlung in Oberwart. Es ist der Beginn Kożdoń seinen 17. Geburtstag. Der Sohn eines Bergwerk-
der ersten Massendeportation im Burgenland. Die Männer arbeiters ist aktiver Pfadfinder. Drei Wochen später werden
werden über das KZ Dachau nach Buchenwald verschleppt. er und sein Vater auf offener Straße verhaftet. Man wirft
Unter ihnen ist der 17-jährige Michael Horvath. Seine Familie ihm vor, verbotene Pfadfinderbücher zu besitzen. Mit einem
lebt seit Generationen in der Region; trotz aller Diskriminie- der ersten Transporte aus Polen werden beide im Oktober
rungen erinnert er sich an eine glückliche Kindheit. Als 1939 in das KZ Buchenwald deportiert, wo die SS sie in Zelte
„Zigeuner“ leiden er und die übrigen Männer im KZ Buchen- pfercht. Mithäftlinge sorgen dafür, dass Jugendliche wie
wald und später im KZ Mauthausen unter schwersten er nur zu leichteren Arbeiten eingesetzt werden. Über fünf
Arbeitsbedingungen. Als einer von nur wenigen kehrt er Jahre bleibt er in Buchenwald. Seine Eltern werden von der
in die Heimat zurück und gründet eine Familie. Die Diskrimi- SS ermordet. Als Elektroingenieur und Familienvater lebt er
nierungen haben jedoch kein Ende. Ein Bombenanschlag später wieder in Polen und berichtet erst spät über seine
tötet 1995 zwei seiner Enkel. Jugend im KZ.

72 | 73
JINDŘICH WA L DES ( L INKS ) UND FR A NTIŠEK
KUPK A , UM 1 930

RUDOL F BR AZDA (L INKS ) NACH DER BEFREIUNG IN BUCHENWALD, Ein tschechischer Unternehmer -
A PRIL 19 4 5
erpresst und enteignet
Jindřich Waldes
29.6.1876, Nemyšl, Böhmen
1.7.1941, Havanna (Kuba)

Seit der Jahrhundertwende ist Jind ich Waldes ein erfolg-


reicher Industrieller. Seine Druckknöpfe werden in Prag,
Dresden, Paris, London und New York produziert. Er ist Jude
und erkennt früh die Gefahr für seine Familie. 1938 bringt er
sie in die USA, er selbst bleibt in Prag. Nach dem Einmarsch in
die Tschechoslowakei beginnen die Deutschen, die dortigen
Betriebe zu enteignen. Der Unternehmer selbst wird nach
Kriegsbeginn in das KZ Buchenwald verschleppt. Hier erlei-
det er einen Diabetes-Kollaps. Dies hindert die SS nicht, ihn
zu erpressen. Nachdem er auf sein Vermögen, seine Patente
WERNER HIL PERT (L INKS ) UND HERMANN BRILL, 1948 und Fabriken verzichtet hat, wird er 1941 entlassen und darf
in die USA ausreisen. Er stirbt kurz vor der Ankunft auf Kuba.

Anwalt jüdischer Bürger Wegen der ersten Liebe ins KZ


Werner Hilpert Rudolf Brazda
17.1.1897, Leipzig 26.6.1913, Brossen
24.2.1957, Oberursel 3.8.2011, Bantzenheim (Frankreich)

Bereits vor 1933 warnt der Jurist und Zentrumspolitiker Wer- Offen zeigen Rudolf Brazda und sein Freund im Sommer 1933
ner Hilpert öffentlich vor den Nationalsozialisten. Als Steuer- ihre Liebe zueinander. Sie gehen Hand in Hand durch die
und Wirtschafsberater setzt er sich später für Juden ein, die thüringische Kleinstadt Meuselwitz und küssen sich vor aller
enteignet werden sollen. Bei Kriegsbeginn zählt er deshalb zu Augen – trotz der Verbote und Strafandrohungen. Zwei Jahre
jenen Personen, die das Regime präventiv inhaftieren lässt. später wird der Sohn tschechischer Einwanderer erstmals
Im KZ Buchenwald kommt er zunächst in die schwersten verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach deren
Arbeitskommandos, später dann in die Schneiderei. Von dort Verbüßung geht er ins tschechische Karlsbad. 1942 wird er
organisiert er in den Wintermonaten Kleidung für andere hier erneut inhaftiert und in das KZ Buchenwald verschleppt.
Häftlinge. Als Mitglied des Internationalen Lagerkomitees Als Homosexueller muss er zunächst in die Strafkompanie.
kümmert er sich nach der Befreiung um die Versorgung des Doch Mithäftlinge verschaffen ihm eine leichtere Arbeit, was
Lagers. Nach dem Krieg ist er Mitbegründer der CDU, Minis- ihm das Leben rettet. Nach dem Krieg lebt er im Elsass und
ter in Hessen und Präsident der Deutschen Bundesbahn. erlebt im hohen Alter seine späte Rehabilitierung.

KRIEG UND VERBRECHEN


WIL L E M DREES, 19 58 JÓZEF HUWER ( VORN , DRI T TER VON L INKS ) , UM 1 922

In der „Goldenen Ecke“ von Buchenwald


Willem Drees
5.7.1886, Amsterdam (Niederlande)
14.5.1988, Den Haag (Niederlande)

Als die deutschen Truppen die Niederlande besetzen, ist


Willem Drees Fraktionsvorsitzender der sozialdemokra-
tischen Arbeiterpartei. Mit anderen führenden Politikern
verhaften die Besatzer den vierfachen Familienvater im
Juli 1940. Als Druckmittel gegen die Internierung von Deut-
schen in Niederländisch-Indien werden die 350 Geiseln im
KZ Buchenwald interniert. Hier sind sie getrennt von den
anderen Häftlingen untergebracht, von Zwangsarbeit befreit
und auch sonst bessergestellt als die übrigen Häftlinge.
Ende 1941 wird Willem Drees in die Niederlande verlegt, wo
er weitere drei Jahre in Haft bleibt. Nach dem Krieg wird er FR A N Z SCHUSTER , 1 934.
Ministerpräsident. Bis heute ist er wegen seiner Verdienste FOTO : POL I ZEI WIEN
um den niederländischen Sozialstaat bekannt.

Direktor des Missionshauses in Bruczków Arbeitersohn und Kommunist aus Österreich


Józef Huwer Franz Schuster
14.3.1895, Rogów (Oberschlesien) 18.7.1904, Wien (Österreich)
9.1.1941, KZ Buchenwald 23.9.1943, KZ Buchenwald

Sofort nach dem Überfall auf Polen gehen die Deutschen im Eine Woche nach Kriegsbeginn registriert die SS Franz
Herbst 1939 brutal gegen die dortigen Eliten vor. Tausende Schuster im KZ Buchenwald als „Neuzugang“. Seit Monaten
Professoren, Künstler oder Lehrer werden als potentielle hat der Wiener mit Hunderten anderen auf einer Liste mit
„Widerständler“ erschossen oder inhaftiert. Auf einer der Personen gestanden, die im Kriegsfall als „Gefahr für die
Verhaftungslisten steht auch der katholische Priester Józef innere Sicherheit“ verhaftet werden sollen. Aufgewachsen in
Huwer. Seit 1932 arbeitet er im katholischen Missionshaus in einer Arbeiterfamilie, engagiert sich der Techniker früh für
Bruczków, zuerst als Verwalter und Lehrer und nun als Direk- die politische Linke und wird Kommunist. Weil er sich 1934
tor. Die Besatzer richten in dem Kloster ein Internierungs- gegen das neue autoritäre Regime in Österreich stellt, wird er
lager ein und verhaften Józef Huwer. Mit weiteren polnischen für vier Jahre inhaftiert. Nach dem „Anschluss“ an Deutsch-
Geistlichen wird er im Sommer 1940 nach Deutschland ver- land gilt er deshalb als „wehrunwürdig“ und darf nicht zum
schleppt. Im KZ Buchenwald muss er über Wochen im Stein- Militär. In Buchenwald vertritt er Österreich im Internationa-
bruch arbeiten. Die Strapazen überlebt er nur wenige Monate. len Lagerkomitee. Er stirbt unter ungeklärten Umständen.

74 | 75
Lebensgeschichten
Gezielt ermordet
Mit der Aussonderung der Kranken und Behinderten bereitet die
SS einen Massenmord vor, dem vor allem Juden zum Opfer fallen.
Gezielt tötet die SS auch die meisten der von der Wehrmacht
ausgelieferten sowjetischen Kriegsgefangenen. Im Oktober 1942
verlegt sie die jüdischen Häftlinge nach Auschwitz.

MA RTIN GOT THA RD GA UGER , 1 936

PAUL BAR AN YAI (VORDERE REIHE, 3 . VON RECHTS ) MIT ROMA AUS DEM BURGENL A ND A UF DEM A PPEL L PL ATZ ,
HERBST 1939 . FOTO : ERKENNUNGSDIENST DER S S

Christ und Pazifist Burgenländer Roma


Martin Gotthard Gauger Paul Baranyai
4.8.1905, Elberfeld 28.10.1917, Steingraben im Burgenland (Österreich)
14.7.1941, Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 24.2.1940, KZ Buchenwald

Martin Gaugers juristische Karriere im Staatsdienst findet Nach nicht einmal drei Monaten im KZ Buchenwald ist
1934 ein abruptes Ende. Er verweigert den Treueeid auf Paul Baranyai tot. Ende Juni 1939 ist er in einer der ersten
Hitler, wird entlassen und arbeitet fortan als Jurist für die Massendeportationen mit Hunderten burgenländischen
evangelische Kirche. Er stammt aus einer Pfarrersfamilie. Roma zuerst in das KZ Dachau und dann auf den Ettersberg
Sein Vater wird im gleichen Jahr wegen eines kritischen Arti- verschleppt worden. Wie die anderen registriert die SS den
kels verhaftet. Auch er selbst engagiert sich für die inner- 22-jährigen Landarbeiter nach der Ankunft als „Zigeuner“.
kirchliche Opposition. Als er 1940 seine Einberufung erhält, Im Lager sind die Männer schwersten Schikanen ausgesetzt.
versucht sich der überzeugte Pazifist das Leben zu nehmen. In Schnee und Eis lässt die SS sie in dünner Häftlingskleidung
Bei der folgenden Flucht ins Ausland wird er angeschossen. auf Baustellen im Freien arbeiten. Viele überleben den Winter
Es folgen Krankenhaus und Gestapohaft. Nach einem Monat nicht. Wer die Strapazen übersteht, wird im Frühjahr 1940 in
im KZ Buchenwald schickt die SS ihn 1941 zur Ermordung mit das KZ Mauthausen transportiert. Paul Baranyai schafft es
einem „Invalidentransport“ nach Pirna-Sonnenstein. nicht. „Lungenentzündung“ notiert die SS als Todesursache.

KRIEG UND VERBRECHEN


MA RTIN WOL FF, UM 1 939

ROBERT DA NNEBERG , 1 927

Haftgrund: Besitz eines Fahrrades


Martin Wolff
24.9.1894, Aurich
14.3.1942, Tötungsanstalt Bernburg

In Aurich betreibt Familie Wolff ein Ferienheim für jüdische


Großstadtkinder. 1940 werden sie aus Ostfriesland vertrie-
ben und gehen nach Weimar. Der gelernte Viehhändler wird
zur Zwangsarbeit bei einem Kartoffelhändler verpflichtet.
Da Juden keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen dürfen,
FRI T Z LÖHNER -BEDA (RECHTS ) MIT LUDWIG HERZER UND fährt der seit dem Ersten Weltkrieg gehbehinderte Familien-
FR A N Z L EHÁR , UM 1930 vater mit dem Fahrrad zur Arbeit. Auf offener Straße verhaf-
tet ihn die Gestapo Anfang 1942 unter dem Vorwand, unwahre
Angaben über den Besitz seines Fahrrads gemacht zu haben.
Nach wenigen Wochen im KZ Buchenwald lässt die SS ihn in
der Tötungsanstalt Bernburg ermorden. Auch seine Frau und
zwei seiner fünf Kinder überleben den Holocaust nicht.

„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen …“ Einer der Väter des Roten Wien
Fritz Löhner-Beda Robert Danneberg
24.6.1883, Wildenschwert (Böhmen) 23.7.1885, Wien (Österreich)
4.12.1942, KZ Auschwitz um den 12.12.1942, KZ Auschwitz

Seit den 1920er Jahren ist der promovierte Jurist Fritz Errungenschaften wie sozialer Wohnungsbau oder Fortbil-
Löhner-Beda als Schriftsteller und Liedertexter weit über dungen für Arbeiter tragen im sozialdemokratisch regier-
Wien hinaus bekannt. Seine, zusammen mit Franz Lehár ten „roten“ Wien der 1920er Jahre die Handschrift Robert
entstandenen Operetten sind weltberühmt. Offen positio- Dannebergs. Bis zuletzt kämpft der Sozialdemokrat für die
niert er sich gegen das NS-Regime. Nach dem „Anschluss“ Unabhängigkeit Österreichs. Nach dem „Anschluss“ versucht
Österreichs wird er deshalb mit anderen, zumeist jüdischen er, das Land zu verlassen. Die Flucht misslingt und er wird im
prominenten Österreichern über das KZ Dachau in das KZ Oktober 1938 in das KZ Buchenwald gebracht. Seine Familie
Buchenwald deportiert. Im Dezember 1938 schreibt er hier und Freunde kämpfen für seine Freilassung. Mithäftlingen
den Text des offiziellen Buchenwaldliedes, der vielen seiner gelingt es zumindest, ihm leichtere Arbeit in der „Strumpf-
Mithäftlingen Mut macht. Im Herbst 1942 deportiert die SS stopferei“ zu beschaffen. Als die SS das Lager im Oktober
den dreifachen Vater mit den meisten jüdischen Häftlingen 1942 „judenfrei“ machen will, steht auch sein Name auf einer
in das KZ Auschwitz, wo er Wochen später nach schweren Transportliste nach Auschwitz. Wie und wann genau er dort
Misshandlungen stirbt. stirbt, ist bis heute unklar.

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LUDWIG J OHANN FREIHERR BECHINIE
VON L AZ AN , UNDATIERT

FA YBUSCH I TZKEWITSCH , UM 1 935

Sicherheitsdirektor von Salzburg


Ludwig Johann Freiherr Bechinie von Lazan
7.2.1879, Wien (Österreich)
22.7.1941, Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein

Seit 1933 existiert in Österreich ein autoritäres Regime nach


Vorbild des faschistischen Italien. Als Sicherheitsdirektor
von Salzburg soll Ludwig Bechinie es gegen jede Bedrohung
schützen. Ohne Unterschied geht er gegen Sozialdemokraten,
Kommunisten und auch gegen österreichische National-
sozialisten vor. 1938 wird er verhaftet und im Jahr darauf in
das KZ Buchenwald deportiert. Hier trifft er auf Häftlinge, die
er selbst verfolgen ließ. Wer sich an ihm rächt, sind jedoch
österreichische SS-Männer. Er wird gezielt zu Schwerst-
arbeiten eingesetzt und misshandelt. Im Sommer 1941 schickt
die SS den 62-Jährigen mit geschwächten und kranken Häft-
lingen nach Pirna-Sonnenstein, wo sie ermordet werden. A L EKSA NDR MA KEJEW ( L INKS ) MI T EINEM FREUND, 1 937

Verbotene Liebe Vom Rotarmisten zum „Arbeitsrussen“


Faybusch (Ferdinand) Itzkewitsch Aleksandr Makejew
15.8.1891, Lipsko (Russland) 21.11.1919, Obwal (Sowjetunion)
24.7.1941, Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 3.1.1942, KZ Buchenwald

Im Ersten Weltkrieg gerät Faybusch Itzkewitsch in deutsche Aleksandr Makejew ist künstlerisch begabt, vielseitig inte-
Gefangenschaft. Danach bleibt er in Deutschland. Im nie- ressiert und hat bereits mit 20 Jahren ein Lehrerdiplom. Er
dersächsischen Ehmen gründet er eine Schusterwerkstatt verliebt sich in eine Kollegin. Sie wollen heiraten, haben
und verliebt sich in eine Einheimische. 1923 wird ein Sohn Pläne. Vorher muss er jedoch zur Armee und wird in Weiß-
geboren. Seine jüdische Herkunft spielt keine Rolle. Doch russland stationiert. Nach dem deutschen Überfall auf die
seit den Nürnberger Rassengesetzen ist Liebe zwischen Sowjetunion gerät er mit Zehntausenden Rotarmisten in
Juden und Deutschen strafbar. Von Nachbarn denunziert, Gefangenschaft. Die Bedingungen sind verheerend. Unzählige
wird er als „Rassenschänder“ verurteilt. Nach Monaten im sterben oder werden ermordet. Mit 2.000 Kriegsgefangenen
Gefängnis bringt man ihn 1938 in das KZ Buchenwald. Seine wird Aleksandr Makejew im Herbst 1941 in das KZ Buchen-
Lebensgefährtin und er bemühen sich vergeblich um die wald transportiert. Die SS hat jedoch keine Verwendung
Entlassung. 1941 setzt die SS ihn auf die Liste der arbeits- für die Männer. Binnen eines Jahres stirbt jeder Dritte an
unfähigen jüdischen Häftlinge. In Pirna-Sonnenstein lässt gezielter Vernachlässigung. Auch der junge Lehrer überlebt
sie ihn ermorden. nur kurze Zeit.

KRIEG UND VERBRECHEN


Dinge -
Geschichten
Jeder der hier gezeigten Gegenstände hat mehrere
Geschichten. Die Dinge stammen aus dem Lager und
sind dort benutzt worden. Manche haben Überlebende
nach der Befreiung zur Erinnerung an besondere
Situationen im Lager, an nahe stehende Menschen
oder ermordete Freunde und Verwandte aufbewahrt.
Es dauert in der Bundesrepublik Jahrzehnte, bis von
Museen und in Gedenkstätten solche Zeugnisse
der Verbrechen systematisch gesammelt und die
damit verbundenen Geschichten erschlossen und
dargestellt werden.
Einkleidung.
Die SS teilt den Häftlingen bei der Ankunft im Lager minderwertige Kleidung zu,
die sie tagtäglich tragen müssen: bei der Arbeit und bei jeder Witterung, bis
sie zerschlissen ist. Anfangs sind dies gestreifte Häftlingsuniformen, später, im
Laufe des Krieges, Kleidungsstücke von Menschen, die in Auschwitz ermordet
wurden, oft Lumpen. Für Handwerker, Sanitäter oder für die Lagerkapelle gibt
es Arbeitsbekleidung. Neben den Funktionshäftlingen haben nur wenige die
Möglichkeit, sich bessere und wärmere Sachen zu beschaffen. Die aufgenäh-
ten Häftlingsnummern machen jeden für die SS sofort identifizierbar; farbige
Winkel markieren, welcher Kategorie jeder Häftling angehört.

L ÉON DEL ARBRE , A L’ARRIVÉE, APRÈS DÉSINFECTION: DÉPOUILLÉS DE L EURS VÊTEMENTS ( BEI DER A NKUNF T,
NA CH DER DESINFEKTION : IHRER KLEIDUNG BER AUBT), BUCHENWALD 1 944. BL EISTIF TZEICHNUNG .

„Der Anblick der Häftlingskolonnen in diesen verschiedenartigen Anzügen –


von wirklich gutsitzenden Maßanzügen bis zu abgetragenen Lumpen –
war schlechthin grotesk; auch der letzte Eindruck einer Einheitlichkeit
ging verloren, und es mußte dem Blindesten klar werden, daß jedes dieser
Lager eine ganze Welt mit klaffenden sozialen Unterschieden darstellte.“

BENEDIKT K AUTSKY, TEUFEL UND VERDAMMTE, ZÜRICH 1946

82 | 83
HÄF TL INGSJACKE VON RICHARD K AHN- STARRÉ (192 1–19 48) , DEU T- HÄ F TL ING SMA NTEL VON SIMONE LOU YOT ( 1 91 1 ) . DIE 33- JÄ HRIGE
SCHER POL ITISCHER HÄF TLING (NR. 20176), UM 1943 . AB 1 944 L Ä S ST FR A N ZÖSIN TR Ä GT DEN MA NTEL IM WINTER 1 944/ 45 BEI DER
DIE SS AUCH ZIVIL E KLEIDUNGS STÜCKE VON IN AUSCHWITZ ER MOR - Z WA NG SA RBEIT IM FR A UENA US SENL A GER TORGA U .
DE TEN JUDEN AN DIE HÄF TLINGE DES K Z BUCHENWALD A USGEBEN .

HINTEN L INKS: HÄF TL INGS JACKE VON PAUL HIRSCHBERGER ( 1894–


1 9 58 ) , INHAF TIERT ALS ZEUGE JEHOVAS (NR. 1528). „ RÜCKFÄLL IGE“
SIND ZUM WIEDERHOLTEN MALE IN EIN KONZENTR ATIONSL AGER
EINGEWIESENE GEFANGENE. SIE MÜS SEN OBERHALB IHRES WINKELS
EINEN BAL KEN TR AGEN.

A R MBINDEN BE ZEICHNEN DIE AUFGABEN DER FUNKTIONSHÄF TLINGE MA RGI T F ÜRST WIRD A US A USCH WI TZ - BIRKENA U ZUR Z WA NG SA RBEI T
IM L AGER . HIER EINE ARMBINDE MIT DER AUFSCHRIF T „ K APO “ EINES IN DA S A US SENL A GER L IPPSTA DT GEBR A CH T. DIE HÄ F TL INGSMA RKE
NAMENTL ICH NICHT BEK ANNTEN HÄF TLINGS . MUS S SIE UM DEN HA LS TR A GEN . DIE MA RKE ENTHÄ LT DIE LE T Z TEN
DREI ZIFFERN IHRER HÄ F TL ING SNUMMER 25730 .

DINGE – GESCHICHTEN
UNIFOR MBLUSEN Z WEIER NAMENTLICH NICHT BEK ANNTER ANGEHÖ- HÄ F TL ING SKL EIDUNG VON ZDEN K SYROVÁTK A ( 1 907 –1 974) ,
RIGER DER ROTEN AR MEE . DIE IN DEN BLOCKS 1, 7 UND 13 INHAF- TSCHECHISCHER POL ITISCHER HÄ F TL ING . DER 37 - JÄ HRIGE
TIERTEN SOWJE TISCHEN KRIEGSGEFANGENEN BEKO MMEN KEINE A RBEITET A UF DEM HOL ZHOF UND WIRD IM JUNI 1 944 INS
HÄ F TL INGSKL EIDUNG , SONDERN TR AGEN IHRE MILITÄRUNIFOR M A US SENL A GER WA NSL EBEN GESCHICK T.
OHNE R ANG- UND HOHEITS ZEICHEN.
IM HINTERGRUND L INKS : HÄ F TL ING SKL EIDUNG VON JE A N
FONTEYNE ( 1899–1 974) , BELGISCHER POL ITISCHER HÄ F TL ING .
ER WIRD IM MA I 1 944 INS L A GER EINGEL IEFERT UND A RBEI TET
A LS PFL EGER IM HÄ F TL ING SKR A NKENBA U .

SCHUHE EINES NAMENTL ICH NICHT BEK ANNTEN HÄF TLINGS . IN DER HÄ F TL ING SMÜ TZE VON KL A US TROSTORFF. DER 24- JÄ HRIGE MUSS
HÄ F TL INGSTISCHL EREI WERDEN AUCH HOL ZSCHUHE MIT EINEM ZUNÄ CHST IM A RBEI TSKO MMA ND O ENT WÄ S SERUNG UND SPÄTER A UF
L EDEROBERTEIL HERGESTELLT. DIE HALTBARKEITSDAUER DIESER DEM BA UHOF A RBEITEN .
SCHUHE BE TR ÄGT E T WA 16 MONATE.

84 | 85
OBEN L INKS: DIE ANGEHÖRIGEN DER L AGERK APELLE ERHALTEN A B
1 9 4 0 UNIFOR MEN DER EHEMALIGEN KÖNIGLICH- JUGOSL A WISCHEN
GARDE , DIE NACH DER BESETZUNG DURCH DEUTSCHE TRUPPEN
REQUIRIERT WORDEN WAREN. ARBEITSKLEIDUNG VON JA ROSL AV
JIŘIK ( 19 05– 1971), TSCHECHISCHER POLITISCHER HÄF TLING.

OBEN RECHTS: IM GRÖS STEN FR AUENAUS SENL AGER BEI DER HA SA G


L EIPZIG ARBEITEN 5 .0 00 FR AUEN, UNTER IHNEN DIE 42 - JÄHRIGE
FR AN ZÖSIN SUZ ANNE PIC MIT IHRER TO CHTER. HÄF TLINGS JACKE
VON SUZ ANNE PIC.

OBEN GELEGT: ARBEITSKLEIDUNG VON KURT LEONHARDT (1903–1980),


DEUTSCHER POLITISCHER HÄF TLING IM HÄF TLINGSKR ANKENBA U .

A LS ER 1 943 A US A USCH WI TZ IN BUCHEN WA L D EINTRIFF T, ERHÄ LT


DER TSCHECHISCHE POL ITISCHE HÄ F TL ING A NTONÍN SEMER Á K
( 1 924- 1 945) DIESE NUMMER . ER BEHÄ LT SIE A UCH IM A US SENL A GER
D OR A , WO ER VIER WO CHEN VOR DER BEFREIUNG STIRBT.

NACH DE M LUF TANGRIFF IM AUGUST 1944 STELLT DER HÄ F TLING S -


KR ANKENBAU EINEN MOBILEN SANITÄTSTRUPP AUF, ERKENNBAR A N
SEL BSTGEFERTIGTEN ROT- KREUZ- ARMBINDEN. ARMBINDE VON PA UL
BÖHME ( 19 07– 1991), DEUTSCHER POLITISCHER HÄF TLING. A UCH IM GUSTLOFF - WERK II TR A GEN DIE F UNK TIONSHÄ F TLINGE
A RMBINDEN. HIER EINE A RMBINDE EINES NAMENTLICH NICHT
BEK A NNTEN HÄ F TL ING S .

DINGE – GESCHICHTEN
Unterernährung.
Hunger bestimmt den Alltag der meisten Häftlinge. Ihre Nahrung
besteht aus Brot und Suppe. Wer weder Löffel noch Schüssel hat,
ist verloren. Wie viel der Einzelne zu essen bekommt, bestimmt die SS.
Häftlinge der Sonderlager oder des 1942 errichteten Kleinen Lagers
erhalten nur halbe Portionen, weil sie keinem Arbeitskommando zu-
geteilt werden. Essensentzug gehört zu den schwersten Lagerstrafen.
Gezielt setzt die SS auf Hunger, um die Konkurrenz unter den Häftlingen
zu schüren und das Lager zu beherrschen. Mangelkrankheiten und
Tuberkulose, unter der Tausende leiden, breiten sich aus.

„Im Lager herrscht das


Gesetz des Dschungels. Bei der
Verpflegungsverteilung stürzen
sich manche Häftlinge auf die
Essenkübel und die Brote, und
immer bleibt für die letzten
nichts übrig. Manchmal hält
der Verteiler inne, nimmt einen
Knüppel oder auch die volle
Suppenkelle und schlägt zu,
um die wilde Horde in Schach
zu halten. Die Decken, die
Strohsäcke, die Kochgeschirre,
während des Schlafs auch die
Schuhe: alles verschwindet,
alles wird gestohlen. Man muss
sich schlagen, um die Dinge
zu verteidigen oder wieder-
zubekommen, die das Leben
bedeuten, denn wenn man kein
Kochgeschirr hat, gibt es keine
Suppe …“

A IMÉ BONIFA S , HÄ F TL ING 20 80 1 ,


BERL IN 20 1 5 [PA RIS 1 946]

HENRI PIECK, SO MUS STEN SIE NEBEN TOTEN LEBEN, BUCHENWALD 1 944. KOHL EZEICHNUNG ,
21 X 31 CM . „BUCHEN WAL D“ . REPRODUKTIONEN NACH SEINEN ZEICHNUNGEN A US DEM
KON ZENTR ATIONSL AGER, BERLIN/POTSDAM 1949

88 | 89
A LUMINIUMBECHER, DEN HÄF TLINGE NACH DER REGISTRIERUNG DER LÖFFEL TR Ä GT DIE INITIA L EN „JH “, DIE HA F TNUMMER 8 6973,
A USGEHÄNDIGT BEKO MMEN. FUNDORT: GEL ÄNDE DER GEDENKSTÄT TE EINEN HÄ F TL ING SWINKEL UND DA S DATUM „7 . 1 1 . 44“. ER GEHÖRT DE M
DÄ NISCHEN POL IZISTEN HENDRIK JENSEN , DER IM HERBST 1 944 INS
L A GER EINGEL IEFERT WIRD. IM DEZEMBER 1 944 VERL EGT IHN DIE SS
IN EIN KRIEG SGEFA NGENENL A GER . SCHENKUNG HENDRIK JENSEN

OT TOMAR ROTHMANN (192 1), DEUTSCHER POLITISCHER HÄF TLING ,


BRINGT MIT DE M KO CHGESCHIRR EINE ZEITL ANG TÄGLICH ZUSÄTZ -
L ICHES ESSEN ZU SEINEM KR ANKEN MITHÄF TLING HEINRICH BLUM
A US DER HÄF TL INGSK ANTINE INS HÄF TLINGSREVIER.
SCHENKUNG OT TO MAR ROTHMANN

ES SENKÜBEL , KEL L EN , WA S SERK A NNE. DIE TÄ GL ICHE SUPPENR ATION


WIRD MIT KEL L EN A N DIE HÄ F TL INGE A USGETEILT. DIE GROSSE
KEL L E FA S ST EINEN HA L BEN L I TER , DIES ENTSPRICH T EINER GA NZEN
R ATION . NICH T A RBEI TENDE HÄ F TL INGE ERHA LTEN L EDIGL ICH EINEN
VIERTEL L I TER SUPPE. F UND ORT: DA W - GEL Ä NDE

IM HINTERGRUND : ES SENTR Ä GER HOL EN DIE VERPFL EGUNG


F ÜR DIE BLO CKS MIT KÜBEL N A US DER HÄ F TL ING SKÜCHE.
F UND ORT: STEINBRUCH

DINGE – GESCHICHTEN
Selbstbehauptung.
Die Zwangsordnung des Lagers zielt auf die Zerstörung der Persönlichkeit
der Häftlinge. Daher ist es für das Überleben wichtig, Lebensgewohnheiten
und Überzeugungen zu bewahren und den religiösen Glauben sowie die eigene
Kultur im Kern aufrechtzuerhalten und mit anderen zu teilen.

„In Magdeburg, im Lager, sind wir auf der Pritsche gesessen, am Abend, und
sie hat uns gesagt: ‚Madln, ziehts euch ordentlich an! Versuchts euch herzu-
richten, damit ihr net so gedrückt seid. Das deprimiert ja die andern, wenn
eine so elend daherkommt.‘ – Sogar die Kittel haben wir uns gekürzt, stell dir
das vor! Völlig wahllos hast ja Fetzen gekriegt, die dir überhaupt nicht gepasst
haben. Und die Anni hat immer gesagt zu uns: ‚Laßts euch ja net moralisch
unterkriegn! Ihr werdets sehen, es wird alles gut gehn, der Krieg wird bald aus
sein. Durchhalten!‘“

DIE ÖSTERREICHISCHE DEPORTIERTE CILLI MUCHITSCH ÜBER ANNA PECZENIK UND DIE FR A UEN DES
A USSENL AGERS MAGDEBURG. K ARIN BERGER, ICH GEB DIR EINEN MA NTEL , DA S S DU IHN NO CH IN FREIHEIT
TR A GEN K ANNST, WIEN 1987

DEN KLEINEN ALTAR AUS GIPS SCHMUGGELT MA URICE HEWIT T


AUS DEM DURCHGANGSL A GER C O MPIÈGNE BEI PA RIS NA CH
BUCHENWALD UND BRINGT IHN NA CH DER BEFREIUNG MIT NA CH
HAUSE. DIE INSCHRIF T L A U TET: „WEIHNA CH TEN 1 943“.

K ARL SCHUL Z IL LUSTRIERT EINIGE SEINER


BRIEFE , DIE ER AUS BUCHENWALD AN DIE
FAMIL IE SCHREIBEN DARF, MIT KLEINEN
A QUA REL L IERTEN ZEICHNUNGEN. SIE SOLLEN
SEINEN L EBENSWIL L EN ZEIGEN UND DIE
A NGEHÖRIGEN ERFREUEN .

92 | 93
GRE TEL UND OT TO ROTH BEFINDEN SICH BEIDE IM KONZENTR ATIONS- DA S SCHA CHSPIEL WIRD IM L A GER A US HOL ZRESTEN GEFERTIGT
L AGER , DER SOHN BEI DEN GROS SELTERN. FÜR IHN L ÄS ST OT TO ROTH UND NA CH DER BEFREIUNG VON MA URICE HEWIT T NA CH HA USE
VON MITHÄF TL INGEN EINEN BAUERNHOF ANFERTIGEN. EIN S S - MA NN , MI TGEBR A CH T.
DEN ER AUS FR ANKF URT KENNT, SCHMUGGELT DIE TEILE AUS DEM
L AGER . BIS DER BAUERNHOF KO MPLET T IST, VERGEHT SOVIEL ZEI T,
DASS ART UR ROTH NICHT MEHR MIT IHM SPIELT, SONDERN IHN NUR
SORGSAM AUFHEBT, ZULETZT IN ZWEI SCHUHK ARTONS .

L INKS : SUZ A NNE PIC ( VERHEIR ATET ORTS ) FERTIGT DIE KL EINEN
SCHMUCKSTÜCKE IM A US SENL A GER HA SA G L EIPZIG A US A BFA LL-
MATERIA L IEN , UNTER A NDEREM A US SCHIES SDR A H T. DA S A US STROH ,
WOL L E, STOFF - UND PA PIERRESTEN HERGESTEL LTE A DRES SBÜCHLEIN
ERHÄ LT SIE A LS WEIHNA CH TSGESCHENK VON MITHÄ F TL INGEN.

UNTEN : „A LS WIR IN WEIMA R TRÜMMER R Ä UMTEN , HAT EIN FREUND


EINE KL EINE BÜCHSE GEF UNDEN . ER NA HM NUR EINIGE STIF TE HER-
A US UND SCHMIS S DA NN DIE BÜCHSE WEG . ICH HA BE SIE GENOMMEN
UND WÄ HREND DER R Ä UMUNG SA RBEITEN IN WEIMA R WEITER F ÜR
‚PERSÖNL ICHE SA CHEN ‘ VERWENDET. SIE HAT DA NN A UCH DIE REISE
VON BUCHEN WA L D NA CH TEREZÍN ÜBERSTA NDEN UND ICH HA BE SIE
WEITER A LS A NDENKEN BEHA LTEN . DIE INL IEGENDEN STÜCKE HA BEN
A L L E EINE GESCHICH TE, WIE ICH SIE BEKO MMEN HA BE, WA RUM ICH
SIE BEHIELT USW . “ BERICH T CHA RL ES BRUS SEL A IRS , 6. 9. 1 999.
GEDENKSTÄT TE BUCHEN WA L D

DINGE – GESCHICHTEN
DIE MANDOL INE BEGLEITE T HERBERT THIELE ZWISCHEN 193 3 UND 1 945 A UF SEINEN VERSCHIEDENEN HA F TSTATIONEN . SIE TR Ä GT DIE INSCHRIF TEN
„ HERBERT THIEL E , TA UCHA- LEIPZIG, VERHAF TET 193 3 , GRÜS ST DIE FREIHEIT!“, „WIR HOFF TEN A UF FREIHEIT, WIR GINGEN IN DEN TOD ! WIR W URDEN
HEUTE VERSCHL EPPT !“ UND „ APRIL 1945 “ .

FISHEL MEDR ZYZECKI FERTIGT


DEN DA VIDSTERN IM A RBEI TS -
L A GER BL ECHHAMMER A US EINER
UNGA RISCHEN MÜN ZE. ER ÜBER-
STEH T DEN TODESMA RSCH VON
A USCH WI TZ , STIRBT A BER AM
22. FEBRUA R 1 945 IM KL EINEN
L A GER . D ORT WIRD DER DA VID -
STERN 20 1 4 BEI A USGR A BUNGEN
GEBORGEN . F UND ORT: HA L DE II

DER PROGR AMM ZE T TEL EINES KONZERTES STAMMT AUS


EINE M VOM POL NISCHEN HÄF TLING K AZIMIERZ
T YMIŃSKI 19 4 4 /4 5 IN BUCHENWALD ANGELEGTEN ALBUM.
IN IHM SAMMELT ER NEBEN ZEICHNUNGEN UND LIEDTEXTEN
A UCH VON ANDEREN HÄF TLINGEN ENT WORFENE ZET TEL FÜR KET TE UND BRIL L E TR Ä GT BRUNO A PITZ BEI DER A UFF ÜHRUNG VON
DIE SEIT SOMMER 19 4 3 IM KINOSAAL STAT TFINDENDEN SHA KESPE A RES „WA S IHR WOL LT“ IN EINER BA R A CKE DER POL ITISCHEN
HÄ F TL INGSKON ZERTE. HÄ F TL INGE.

94 | 95
MES SER MI T FESTSTEHENDEN KL INGEN SIND IM L A GER VERBOTEN
UND MÜS SEN HEIML ICH HERGESTEL LT WERDEN . SIE KÖNNEN A LS
BESTECK , A BER A UCH A LS WA FFE DIENEN . DIE MES SER WERDEN BEI
A USGR A BUNGEN A UF DEM GEL Ä NDE BUCHEN WA L DS GEBORGEN.

UM DER STÄNDIGEN PL AGE DURCH KLEIDERL ÄUSE HERR ZU WERDEN ,


BAUEN SICH HÄF TL INGE EIN BÜGELEISEN, DAS SIE ERHITZEN, UM MI T
IHM DIE NÄHTE IHRER KLEIDUNG ENTL ANG ZU FAHREN. DAS BÜGEL -
EISEN WIRD 20 04 BEI AUSGR ABUNGEN AUF DEM GEL ÄNDE BUCHEN -
WAL DS GEBORGEN . F UNDORT: HALDE II

HYGIENE A RTIKEL JEGL ICHER A RT SIND VOR A L L EM IM KL EINEN


L A GER A BSOLU TE MA NGELWA RE. Z A HNBÜRSTEN WERDEN GENU T Z T,
BIS SIE VÖL L IG VERSCHL IS SEN SIND. A BGEBRO CHENE STIELE WERDEN
DURCH IMPROVISIERTE NEUE GRIFFE ERSETZ T.

DER KL EINE GR ABSTEIN WIRD VO M JUGOSL AWISCHEN HÄ F TLING DIE BEIDEN FISCHE WERDEN VON GEORGI LOIK A US RINDERKNOCHEN
BERNARD SMRTNIK (1924) IM GEDENKEN AN SEINE BEIDEN GESCHNI TZ T, DIE ER SICH A US DER HÄ F TL ING SKÜCHE BESORGT.
GESTORBENEN BRÜDER LOJZE UND LOVRENC IM K Z RENICCI BEI ER REIBT DIE FISCHE IN JEDER FREIEN MINU TE A N DER HÄ F TLING S-
A RE ZZO HERGESTEL LT. ER BRINGT IHN 1943 MIT NACH BUCHENWA L D, KL EIDUNG BL A NK , BIS SIE GL Ä N ZEN .
WO ER BEI AUSGR ABUNGEN GEBORGEN WIRD. FUNDORT: HALDE II

DINGE – GESCHICHTEN
HÄ F TL INGE DES K Z BUCHEN WA L D BEI A UFR Ä UMA RBEI TEN IN DER KÖL NER
A LTSTA DT NA CH EINEM BO MBENA NGRIFF, JUL I 1 943.

LAGERBELEGUNG KZ BUCHENWALD
1943-1944
19 4 3 19 4 4
MÄ NNER FR AUEN
NEU EINGEWIESENE
HÄ F TLINGE 42.177 97.867 26.298

IN A NDERE L A GER ”ÜBERSTEL LTE“


ODER ENTL A S SENE HÄ F TL INGE 10 .859 63.494 1.841

DURCHSCHNI T TL ICHE BEL EGUNG


DES L AGERS 20 .414 58.334 --

BELEGUNG DES L A GERS


AM JA HRESENDE 37.319 63.048 24.210

TOTE
HÄF TLINGE 3.862 9.468 247
„Totaler Krieg“
1943 – die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad straft die Propaganda
vom baldigen „Endsieg“ Lügen. Als Antwort darauf ruft das Regime den
„totalen Krieg“ aus. Doch im vierten Kriegsjahr ist es nur noch mit Millio-
nen von ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern mög-
lich, die Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten.

Diesen Menschen droht die Einweisung in Konzentrationslager, wenn


sie verbotene Kontakte zu Deutschen unterhalten oder sich der Arbeit
entziehen. Tausende von sowjetischen und polnischen Zwangsarbeiter-
innen und Zwangsarbeitern liefert die Gestapo deshalb in Konzentrations-
lager ein. Auch die Konzentrationslager werden auf die Rüstungsproduk-
tion ausgerichtet. Damit steigt der Bedarf an Häftlingen weiter.

Aus den besetzten Ländern lassen Gestapo und SS Hunderttausende in


die Konzentrationslager deportieren; ab Mitte 1944 sogar Juden – aber
auch Roma – aus Auschwitz, die vor ihrer Vernichtung noch Zwangsarbeit
leisten sollen. Die SS vermietet die Häftlinge an die Rüstungsindustrie und
errichtet in ganz Deutschland, gemeinsam mit den Firmenleitungen,
Außenlager. Sie sind unübersehbar.

96 | 97
Ein Lager
für die Kriegs-
wirtschaft
Das KZ Buchenwald wird zum Rüstungsstandort. Die SS baut eine
Gewehrfabrik und arbeitet eng mit der Rüstungsindustrie zusammen.
Die Firmenleitungen interessiert nichts anderes als die Leistung der
Häftlinge. Um die Produktivität zu steigern, setzt die SS nun nicht mehr
ausschließlich auf Strafen, sondern führt zusätzlich Prämien als
Anreiz ein. Gleichzeitig müssen Häftlinge in mörderischem Tempo eine
Bahnstrecke bauen, die Fabrik und Lager mit dem Bahnhof in Weimar
verbindet. Über sie erreichen ab 1944 auch immer größere Häftlings-
transporte das KZ Buchenwald. Die Ankommenden schleust die
SS nach wenigen Wochen zur Zwangsarbeit in die entstehenden Außen-
lager. Das Hauptlager ist für die meisten Häftlinge jetzt nur noch
Durchgangsstation.

„Die Arbeitszeit ist an keine Grenzen gebunden.“


WEISUNG DES CHEFS DES S S - WIRTSCHA F TSVERWA LTUNG SHA UPTAMTES POHL A N DIE
K Z- KOMMANDANTEN, RUNDSCHREIBEN , 30 . 4. 1 942. BUNDESA RCHIV BERL IN

NEBENUHR EINER ZENTR AL GESCHA LTETEN UHRENA NL A GE DER FIR MA SIEMENS & HA LSKE,
DIE IM RÜSTUNGSWERK UND IM BA HNHOF BUCHEN WA L D ZUM EINSATZ K AM, 1 943.

98 | 99
L AGERKOMMANDANT PISTER (MIT TE), SEIN ADJUTANT SCHMIDT
( L INKS) UND BE TRIEBSLEITER DES RÜSTUNGSWERKS , 1943.
FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S

KZ-Rüstungsbetrieb.
Die Weimarer Wilhelm-Gustloff-Werke mieten
in Buchenwald Produktionshallen samt Häft-
lingen von der SS. Angetrieben von Wachleuten
und Werksangestellten müssen Häftlinge in elf-
stündigen Tag- und Nachtschichten Gewehre
und Geschützteile montieren.

„Der leitende Ingenieur Herr Lohfink ordnete an:


‚Schlagt den Häftlingen ins Gesicht und tretet
ihnen in den Hintern.‘ Zudem verlangte er, dass
man meldete, falls die Häftlinge die Arbeit nicht
vorschriftsmäßig machten […]. Ich folgte die-
sen Anweisungen wohl oder übel. Ich schlug den
Häftlingen ins Gesicht, ich schlug einem Häftling in
seine Genitalien und in die Nieren. Ich beschimpf-
te die Häftlinge, ich drohte ihnen, dass sie nach
mehrfacher Meldung nach Buchenwald kommen
und dort gehängt würden.“

A USSAGE DES VOR ARBEITERS ALFRED REGENHARDT ÜBER DIE DIE BETRIEBSL EITUNG FORDERT VON DER S S , DEN BELGISCHEN
A RBEITSVERHÄLTNIS SE IM GUSTLOFF- WERK IN WEIMAR, HÄ F TL ING HENRI CHA RL IER WEGEN „DIS ZIPL INLOSIGKEI T“
IN DE M EBENFAL LS HÄF TLINGE ARBEITEN MÜS SEN, 12 .5 .1945. A BZUZIEHEN , 8. 1 1 . 1 944. ER KO MMT IN DA S STR A FKO MMA ND O
NATIONAL ARCHIVES AT COLLEGE PARK, MARYL AND „GÄ RTNEREI “ UND VON D ORT IN DA S A US SENL A GER EL L RICH,
WO ER A NFA NG FEBRUA R 1 945 STIRBT.

”TOTA L ER K R I EG “
Produktionssteigerung.
Gewalt bleibt das erste Mittel der SS,
um von den Häftlingen Leistungen
zu erzwingen. Prämien – einschließlich
der Erlaubnis zum Besuch des Häftlings-
bordells – ändern daran nichts.

PR ÄMIENSCHEINE , DAS SO GENANNTE L AGERGELD. HIERMIT KÖNNEN DIE HÄ F TL INGE IN DER


L A GERK ANTINE MINDERWERTIGE NAHRUNGSMIT TEL K AUFEN ODER BORDEL L BESUCHE BEZ A HL EN .

100 | 101
SEI T 1 939 IST MA RGA RETHE W . ( 1 918- 1 990 ) IM FR A UEN - K Z R A VENSBRÜCK INHA F TIERT.
MIT 1 5 MI TGEFA NGENEN BRINGT DIE S S SIE IM JUL I 1 943 NA CH BUCHEN WA L D, WO SIE ZUR
PROSTI TU TION GEZ W UNGEN WERDEN . ERST JA HR ZEHNTE SPÄTER SPRICH T SIE ERST MA LS
ÜBER DIESE ZEIT.

„Wir mussten nun jeden Abend acht Männer wenn wir kommen, wir wollen unseren Teil. Die
über uns rübersteigen lassen innerhalb von zwei beiden haben natürlich ihr Recht verlangt, und
Stunden. Das hieß, die konnten rein, mussten ins damit war ich auch einverstanden, denn das
Ärztezimmer, sich eine Spritze abholen, konnten war mir lieber als die ewigen acht Männer jeden
zu der Nummer, also dem Häftling, konnten ihre Abend. Die beiden kamen abwechselnd, der eine
Sache da verrichten, rein, rauf, runter, raus, kam den einen Tag, der andere den nächsten.
wieder zurück, kriegten nochmals eine Spritze Aber trotzdem bin ich nicht mit heiler Haut davon-
und gingen wieder. [...] Meine Rettung waren zwei gekommen. Da ist mancher gewesen, der auch
politische Häftlinge. Durch diese beiden habe ich Geld hatte, der gesagt hat, ich will auch mein
viele Vergünstigungen bekommen. [...] Vergnügen, dem konnte man sich nicht wider-
setzen. […] Man wird abgestumpft, das Leben
Von Anfang an wurde da beschlossen, wir zählt einfach nicht mehr, denn sie hatten einem
schicken die Häftlinge, die tun dir nichts, aber als Mensch alles kaputt gemacht.“

MA RGA RETHE W . ÜBER DA S L A GERBORDEL L . INTERVIEW 1 99 0


CHRISTA PA UL , Z WA NG SPROSTI TU TION , BERL IN 1 994

IM FOTOAL BUM DES L AGERKOMMANDANTEN PISTER WIRD DAS A LS „HÄ F TL ING S - SONDERBA U “ BEZEICHNETE HÄ F TL ING SBORDEL L A LS EIN
BESONDERS FREUNDL ICH EINGERICHTETER ORT PR ÄSENTIERT, 1 943. WA S DIE ZUR PROSTI TU TION GEZ W UNGENEN FR A UEN HIER ERL EBEN MÜSSEN,
ZEIGEN DIE FOTOS NICHT. FOTOS : ERKENNUNGSDIENST DER S S

”TOTA L ER K R I EG “
Bahnanschluss.
Mit dem Bauprojekt will die SS beweisen, dass mit brutalen Mitteln alles
erreicht werden kann. Doch trotz äußerster Rücksichtslosigkeit ist die
Bahnstrecke Weimar – Buchenwald zur feierlich inszenierten Einweihung nur
provisorisch fertig gestellt. Trotzdem profitiert die Bachstein GmbH davon.

DIE SS DOKUMENTIERT DIE BAUARBEITEN, FRÜHJAHR 1943 . ES SIND GESTEL LTE FOTOS , DIE SPÄTER
A N DIE GÄSTE DER ERÖFFNUNGSFEIER VERTEILT WERDEN. FOTOS : ERKENNUNG SDIENST DER S S

„Das Kommando Bahnbau galt als das Schlechteste im Lager.


Die Häftlinge wurden mit Knüppeln und Schaufelstielen zur Arbeit
angetrieben; Rücksicht auf Witterungsverhältnisse wurde nicht
genommen. Erschöpft erreichten die Kolonnen abends das Lager,
häufig zusammengebrochene Häftlinge tragend mit sich führend.
Eine zusätzliche Ernährung wurde ihnen nicht gewährt. Die Kapos
klagten über die Dezimierung der Stärke ihrer Arbeitsgruppen
und mussten sie ständig durch neue Häftlinge auffüllen lassen.“

DER EHE MAL IGE DEU TSCHE HÄF TLING HANS MUCHE, 1960.
HESSISCHES HAUPTSTAATSARCHIV WIESBADEN

102 | 103
DIE BACHSTEIN G MBH A US BERL IN BETREIBT DIE NEUE STRECKE. SIE A RBEITET ENG MI T DER
S S ZUSAMMEN UND VERDIENT A N A L L EN GÜ TERN UND HÄ F TL INGEN , DIE ÜBER DIE STRECKE
TR ANSPORTIERT WERDEN .

VERTRE TER DER S S , DER BACHSTEIN GMBH, DER REICHSBAHN UND DER STA DT WEIMA R FEIERN DIE ERÖFFNUNG DER STRECKE MI T EINER SONDER-
FA HRT UND EINEM „ K AMER ADSCHAF TSABEND“ IN BUCHENWALD, 21 . 6. 1 943. FOTOS : ERKENNUNG SDIENST DER S S

„Es ist uns ohne Gestellung der Häftlinge nicht „Der tägliche durchschnittliche Güterverkehr
möglich, noch weiter die betriebssichere Unter- beträgt etwa 50 Ladungen. Dazu kommen die
haltung der Bahn aufrechtzuerhalten. Wir bitten stoßweise einsetzenden Häftlingstransporte. [...]
nochmals alles daranzusetzen, daß uns sofort Er [Abteilungspräsident Geier] gab aber seiner
Häftlinge zur Verfügung gestellt werden, damit Befürchtung Ausdruck, ob wir auch in der kom-
die Unterhaltungsarbeiten auf der Anschlußbahn menden Zeit den Verkehr werden bewältigen
von Schöndorf nach Buchenwald sofort wieder können, denn es soll angeblich eine Häftlingsmen-
aufgenommen werden können.“ ge von etwa 40 000 Menschen hierhergebracht,
aussortiert, das Brauchbare oben eingeteilt, das
BACHSTEIN GMBH AN ZENTR ALBAULEITUNG DER S S , 29.7. 1 944. Unbrauchbare wieder abgeschoben werden. Es
THÜRINGISCHES HAUPTSTAATSARCHIV WEIMAR
wird also noch heiße Arbeitstage geben.“

INTERNER SCHRIF T VERKEHR DER BA CHSTEIN G MBH , 1 7 . 8. 1 944.


THÜRINGISCHES HA UPTSTA ATSA RCHI V WEIMA R

”TOTA L ER K R I EG “
BEWA CHT VON DEUTSCHEN SOLDATEN MÜS SEN MÄNNER,
FR A UEN UND KINDER WARSCHAU VERL AS SEN, AUGUST
1 9 4 4 . FOTO: PROPAGANDAKOMPANIE DER WEHRMACHT

Zwangsarbeiter für
den „Endsieg“
Mit der Nutzung der Lager für die Rüstungsproduktion steigt der Bedarf
an Arbeitskräften massiv. Um die Lager zu füllen, verhaften SS und Gestapo
in den besetzten Ländern zahllose Menschen. Diese Aktionen sollen zudem
den Widerstand in der Bevölkerung brechen. Im Herbst 1944 sind im KZ
Buchenwald und seinen Außenlagern 90.000 Häftlinge aus dem besetzten
Europa inhaftiert, darunter erstmals in großer Zahl Frauen.

Bereits der Weg ins Lager wird für die Gefangenen zur Tortur. Zusammen-
gepfercht in Viehwaggons sind sie oft tagelang unterwegs: Durst, Hunger
und Ungewissheit quälen sie. Gedemütigt und verstört erreichen sie das
KZ Buchenwald.

104 | 105
Warschauer Aufstand.
Im August 1944 schlagen Wehrmacht und SS den Aufstand der polnischen Hei-
matarmee (Armia Krajowa) nieder. Sie töten 150.000 Warschauer und depor-
tieren 200.000 zur Zwangsarbeit nach Deutschland, darunter ganze Familien.
Jeder Dritte wird in ein Konzentrationslager verschleppt.

Familie Brzęcka

1944 lebt Stanisława Brzęcka mit


ihren Töchtern Halina (18 Jahre),
Krystyna (16) und Maria (14) im War-
schauer Stadtteil Ochota. Ihr Mann
ist seit Kriegsbeginn verschollen. Die
älteste Tochter Scholastyka lebt in
Frankreich. Kurz nach Ausbruch des
Aufstandes wird die Mutter mit ihren
Töchtern in einem Luftschutzraum
verhaftet und nach Auschwitz de-
portiert. Nach drei Monaten kommen
sie in das Buchenwalder Frauenau-
ßenlager in Meuselwitz. Sie müssen
in einem Rüstungsbetrieb arbeiten.
Alle vier überleben und kehren nach
Warschau zurück.

STANISŁ AWA UND WINCENT Y BRZ CKI BEI WEIHNACH TEN 1 943 IN WA RSCHA U . VON
IHRER HOCHZEIT, 1920 LINKS NACH RECH TS : HA L INA ( 1 926- 20 04) ,
KRYST YNA ( 1 927 - 20 0 9) UND MA RIA ( 1 930 -
2013 )

„4. August 6./7. August


Es ist früh am Morgen. Alle schlafen. […] Plötz- Die Gestapo-Leute haben uns gesagt, dass alle
lich wird die Tür aufgerissen, und mit dem Schrei Einwohner Warschaus ihre Stadt verlassen
‚raus!‘ dringt eine große Gruppe Deutscher mit auf müssen. […] In einer Menschenmenge von aus
uns gerichteten Karabinern ein. […] Die Deutschen den umliegenden Häusern Vertriebenen gehen wir
schreien, wir seien Banditen und aus diesem Haus Richtung Opaczewska-Straße. Auf dem Naruto-
sei auf sie geschossen worden. Dann wird das Tor wicz-Platz werden wir von ukrainischen Söldnern
geöffnet und Frauen und Kindern befohlen, auf aufgehalten. […] Auf der Erde, auf Bündeln und
die Straße hinaus zu gehen. Behängt mit unserem Koffern sitzen dort schon sehr viele Leute. Mutter
Gepäck, gestoßen und geschlagen finden wir uns hat auf einem freien Flecken Erde eine Decke aus-
auf der Straße wieder, die mit irgendwelchen gebreitet und Essen herausgelegt. […] Aneinander
Papieren übersät sind, mit aufgegebenen Koffern, gedrängt, zusammengekrümmt und unglücklich
und über allem hing eine gelbe Staubwolke. […] verbringen wir die ganze Nacht auf dem ‚Grünen
Markt‘.“
MARIA KOSK ( BR Z CK A) ÜBER IHRE VERHAF TUNG.
BERICHT 199 6 , GEDENKSTÄT TE BUCHENWALD

”TOTA L ER K R I EG “
HIL DEBR AND MORO, L A R AFLE DU 9 AVRIL 1944 (DIE R AZZIA VO M 9. A PRIL 1 944) , 1 989.
MORO ( 1926 -20 15) IST EINER DER ÜBER 300 VERHAF TETEN. GEMÄLDE, 1 30 X 1 1 0 C M ( A US SCHNI T T)

Razzia am Ostersonntag.
Am 9. April 1944 führen deutsche Polizisten und Sie verhaften verdächtige und arbeits-
Soldaten in der Kleinstadt Saint-Claude eine fähige Männer. Aus Buchenwald, wohin sie
geplante Aktion gegen den französischen Wider- deportiert werden, kehrt über die Hälfte
stand durch. nicht zurück.

„Am Ostersonntag um 9 Uhr verkündet ein Trom-


meln in den Straßen, dass die gesamte männliche
Bevölkerung sich um 10 Uhr auf dem Platz zu
versammeln hat: Wen man noch in den Häusern
antreffe, werde auf der Stelle erschossen. […]
Um 10 Uhr beginnen die Hausdurchsuchungen. Zu
sechst verschaffen sich die Soldaten Zugang und
richten ihre Maschinenpistolen auf Frauen und
Kinder. Der Nachmittag verläuft zum unheilvollen
Lärm von Gewehrschüssen […]. Um 19 Uhr werden
vom Schulplatz her 307 Männer zu den Rufen ‚Es
lebe Frankreich‘, ‚Es leben die Alliierten‘ wegge-
führt.“

IN EINE M FLUGBL AT T BERICHTEN GEISTLICHE AUS DEM WIDERSTAND DEN FR A N ZÖSISCHEN K A RDINÄ L EN UND BISCHÖFEN
ÜBER DIE VORGÄNGE IN SAINT- CL AUDE UND FORDERN EINE ÖFFENTL ICHE STEL LUNGNA HME, 1 4. 5. 1 944.

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„Ostarbeiter“.
Die aus der Sowjetunion nach Deutschland depor-
tierten Zwangsarbeiter sind in bewachten Lagern
untergebracht. Wegen kleinster Vergehen weist
die Gestapo sie in Konzentrationslager ein. 4.500
sind Anfang 1943 in Buchenwald inhaftiert.

UM SIE ÖFFENTL ICH KENNTL ICH ZU MA CHEN , MÜS SEN „OSTA RBEI TER“
IN BRUSTHÖHE DA S „OST“- ZEICHEN A UF DER KL EIDUNG TR A GEN.
F UND ORT: A RRESTZEL L ENBA U

Leonid Iljitsch Ulenko


30.5.1927, Berdjansk (Ukraine)

Mit 15 Jahren wird Leonid Ulenko zwangsweise nach


Deutschland geschickt. Er muss in einer Fabrik für Kunst-
seide in Köln arbeiten. Nach einem Streit mit einem Vorar-
beiter bleibt er aus Angst der Arbeit fern. Die Firmenleitung
zeigt ihn bei der Gestapo an, die ihn verhaftet. Im Januar
1944 kommt er in das KZ Buchenwald und später in das
Außenlager Hadmersleben. Nach der Befreiung muss Leonid
Ulenko zunächst sechs Jahre in der Roten Armee dienen,
bevor er in seine Heimat zurückkehrt.

L EONID UL ENKO (L INKS ) MIT EINEM UKR AINISCHEN FREUND VOR


DE M KÖL NER DO M , 1943 . SEIT 1943 DÜRFEN „ OSTARBEITER “ IHR
L AGER SONNTAGS VERL AS SEN. TROTZ VERBOTS ENTFERNEN VIEL E
DAS „OST “-ZEICHEN . DAS FOTO WIRD VERMUTLICH VON EINEM
DEUTSCHEN FOTO GR AFEN GEGEN BEZ AHLUNG GEMACHT.

”TOTA L ER K R I EG “
Vom Namen zur Nummer.
Auf die Ankunft im Lager folgt die immer gleiche
Aufnahmeprozedur: Abnahme der Habe, Kahl-
scheren, Desinfektion, Erhalt der Lagerkleidung
und karteimäßige Erfassung.

K A ROL KONIECZN Y ( 1919- 1981), TRYPT YK BUCHENWALDZKI. Z CYCLU O, BUCHEN WA L D ( BUCHEN WA L DER TRIPT YCHON .
A US DE M ZYKLUS „OH BUCHENWALD“ ), 1945 . WAS SERFARBEN UND BL EISTIF T, 20 X 29 C M

108 | 109
HÄF TL INGSAN ZUG DES FR ANZOSEN HUBERT ANESET TI (1923- 20 0 8) A US SA INT- CL A UDE.

HÄF TL INGSPERSONAL K ARTE DES TSCHECHISCHEN HÄF TLINGS FR A NTIŠEK KŘI V Ý, DIE NA CH SEINER A NKUNF T IM K Z BUCHEN WA L D
IM MÄR Z 19 4 4 A NGEL EGT WIRD.

”TOTA L ER K R I EG “
BA R A CKEN WAND AUS DE M AUS SENL AGER BAD
L A NGENSAL Z A, SCHIL DER UND EIN METALLSCHIRM
F ÜR EINE BEL EUCHTE TE BAR ACKENNUMMER AUS DEM
A USSENL AGER EL L RICH- JULIUSHÜT TE.

Selektion
und
Zwangsarbeit
Ende 1943 befindet sich fast die Hälfte der Häftlinge in Außenlagern des
KZ Buchenwald. Unternehmen, Städte, staatliche und militärische Dienst-
stellen beuten ihre Arbeitskraft aus. Insgesamt errichten SS und Firmen
mehr als 130 Außenlager. Häftlinge gehören in Deutschland nun zum
Alltagsbild.

Wohin die Häftlinge kommen, ist oft entscheidend für ihre Überlebenschan-
cen. In der Rüstungsproduktion sind die Chancen größer als auf unterirdi-
schen Baustellen wie im Außenlager Dora. Die meisten Häftlinge gelten als
austauschbare Hilfsarbeiter; ihr massenhafter Tod ist einkalkuliert. Wer nicht
mehr kann, wird zum Sterben in die Konzentrations- und Vernichtungslager
Majdanek und Auschwitz, später in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Häft-
linge leben in ständiger Angst vor Selektionen, bei denen SS-Ärzte über ihre
„Arbeitsfähigkeit“ entscheiden.

110 | 111
Komplizen.
Leiter großer Industriebetriebe fordern bedenkenlos bei der SS KZ-Häftlinge – Frauen
und Männer – als Arbeitskräfte an. Die Firmen zahlen pro Häftling Tagessätze, die
von der SS festgelegt werden. Zur effizienteren Organisation der Zwangsarbeit hat die
SS-Führung das Personal der Lagerkommandantur von Buchenwald ausgetauscht.

L AGERKOMMANDANT PISTER, DER S S - VERWALTUNGSLEITER BARNEWA L D UND S S - A RBEI TSEINSATZF ÜHRER SCH WA RTZ
VERHANDEL N MIT DIREKTOR RINGLEB VON DER RÜSTUNGSFABRIK IN A L L END ORF. ES GEH T UM 12- STUNDEN - SCHICH TEN ,
A UFSEHERINNEN, BAR ACKEN, ELEKTRISCH GEL ADENE Z ÄUNE, WA CH TÜR ME UND TA GES SÄTZE PRO HÄ F TL ING .
A KTEN VER MERK ARBEITSEINSATZFÜHRER SCHWARTZ, 7.6. 1 944

”TOTA L ER K R I EG “
HER MANN PISTER , 19 41 OT TO BARNEWALD, 19 43 ARTHUR RINGLEB, NACH 1945 A D OL F W U T TKE, 1 945

Lagerkommandant 1942–1945 Direktor der Sprengstofffabrik


Hermann Pister (1885–1948) Arthur Ringleb (1895–1980)

Als 16-Jähriger geht er ohne Beruf zur preußi- Ringleb ist bereits vor 1933 ein begeisterter Na-
schen Armee, die ihn lebenslang prägt. Seine tionalsozialist. Als Chemiker wird er 1943 Direktor
militärische Laufbahn endet mit der Niederlage der Fabrik Allendorf GmbH (einer Zweigstelle der
im Ersten Weltkrieg; er verkauft Autos und geht Dynamit Nobel AG), die Sprengstoff und Munition
schließlich zur motorisierten SS, wo seine Solda- für die Wehrmacht herstellt. In dieser Position
tenbiografie zählt. Dort erhält er mit 55 Jahren – verhandelt er 1944 mit Buchenwald über ein
nun Lagerkommandant des SS-Lagers Hinzert – Frauenaußenlager in Allendorf. Für die Firmen sind
den begehrten Offiziersrang. Als Kommandant des KZ-Häftlinge eine günstige Möglichkeit, dringend
KZ Buchenwald ist er ehrgeizig darauf bedacht, benötigte Arbeitskräfte zu bekommen. Zu Kriegs-
sich zu beweisen. Vom amerikanischen Militärge- ende wird Arthur Ringleb verhaftet. Ein Verfahren
richt in Dachau wird er 1947 zum Tode verurteilt. endet mit der Einstufung als Mitläufer.

Leiter der Verwaltung 1942–1945 Kommandierender des Außenlagers Allendorf


Otto Barnewald (1896–1973) Adolf Wuttke (1890–1970er Jahre)

Nach einer kaufmännischen Lehre ist er Soldat Wuttke ist seit 1939 im Wachbataillon von
im Ersten Weltkrieg, danach lange arbeitslos oder Buchenwald eingesetzt. Nach einer Ausbildungs-
mit Gelegenheitsarbeiten beschäftigt. Die SS, in phase im Außenlager Schönebeck wird er ab Juli
die er 1931 eintritt, gibt ihm Halt. In der Verwal- 1944 Kommandoführer des Frauenaußenlagers
tung der Konzentrationslager macht er Karriere Allendorf. Hier bestimmt er über das Vorgehen
und steigt zum Offizier auf. Ab 1942 trägt er die der 46 Wachmänner und 47 Aufseherinnen, hält
Verantwortung für die gesamte Versorgung des Kontakt zur Firma und ist verantwortlich für das
KZ Buchenwald. Das amerikanische Militärgericht Barackenlager, in dem die weiblichen Häftlinge
in Dachau verurteilt ihn dafür 1947 zum Tode. leben. Das amerikanische Militärgericht in Dachau
Das Urteil wird in 15 Jahre Haft umgewandelt, verurteilt ihn 1947 wegen Misshandlung von Häft-
aber schon 1954 wird er entlassen. lingen zu 4 Jahren und 6 Monaten Gefängnis.

112 | 113
WALTER NÜSKE , UM 1944 FOTOALBUM „MEINE DIENSTZEI T. 1 944“ VON GERTRUD L IEBETR A U

SS-Wachmann SS-Aufseherin
Walter Nüske (1893) Gertrud Liebetrau (1922)

Der kaufmännische Angestellte wird mit 51 Jah- Wegen schwieriger Familienverhältnisse wächst
ren zur Wehrmacht eingezogen und im September sie bei ihrer Großmutter auf und startet spät eine
1944 von dort zur SS-Wachmannschaft des KZ Berufsausbildung. Mit 21 Jahren bekommt sie eine
Buchenwald versetzt. Im Außenlager Langensalza Stelle als Bürohilfskraft bei der Rheinmetall Borsig
ist er Posten und bewacht Häftlinge auf dem AG. Als die Firma Aufseherinnen für das KZ-
Weg zur Fabrik. Über seinen späteren Verbleib ist Außenlager benötigt, geht sie im September 1944
nichts bekannt. zur Ausbildung in das Frauen-KZ Ravensbrück.
Anschließend ist sie Aufseherin im Außenlager
Sömmerda. Stolz dokumentiert sie diese Karriere
in einem Fotoalbum.

Organisator der Zwangsarbeit


Albert Schwartz (1905–1984)

Früh schließt sich der Sohn eines Gutsbesitzers


rechten Jugendgruppen an. Er wird Mitglied der
NSDAP, der SA und der SS, deren Konten er in
Danzig (Gdańsk) führt. Vom Sparkassenangestell-
ten steigt er mühsam zum Finanzbeamten auf.
Seit Kriegsbeginn verwaltet er Gefangenenlager
in Danzig, ab 1942 die Zwangsarbeit in Buchen-
wald. 1947 verurteilt ihn das amerikanische
Militärgericht in Dachau zum Tode. Die amerika-
nischen Behörden wandeln das Urteil später in
lebenslange Haft um, aus der er bereits Anfang
der 1950erJahre entlassen wird.
A L BERT SCH WA RTZ ( Z WEI TER VON RECH TS ) , UM 1 943

”TOTA L ER K R I EG “
Frauenlager.
Das Außenlager Allendorf liegt 4,5 km entfernt von der dortigen Munitions-
fabrik. Die jüdischen Zwangsarbeiterinnen müssen dorthin täglich marschieren
und in 12-Stunden-Schichten Granaten mit giftigem Sprengstoff füllen.
Zum KZ Buchenwald gehört ein Dutzend solcher Außenlager mit insgesamt
29.000 Frauen.

UNGA RISCHE JÜDINNEN NACH DER SELEKTION IM K Z AUSCHWI TZ- BIRKENA U : 1 . 0 0 0 VON IHNEN BRINGT
DIE SS IM AUGUST 19 4 4 IN DAS NEUE FR AUENAUS SENL AGER IM HES SISCHEN A L L END ORF, MA I/JUNI 1 944.
FOTO: ERKENNUNGSDIENST DER S S , K Z AUSCHWITZ

„Tausend Frauen wurden ausgewählt, tausend Frauen,


die nach Allendorf verschleppt werden sollten.
Erzsébet Brodt [...] war die letzte, die ausgewählt wurde.
’Tausend!‘, rief Mengele und trennte nach ihr die Reihe ab.
Die dahinter standen, blieben in Auschwitz-Birkenau.“

ÉVA FA HIDI ( PUSZTAI ) ERINNERT SICH AN DIE SELEKTION FÜR DEN TR A NSPORT
NA CH AL L ENDORF. DIE SEELE DER DINGE, BERLIN 2011 [BUDAPEST 20 05]

114 | 115
”Wir gingen also mit schweren, giftigen Rohstof-
fen um, nahmen alles ohne Schutzhandschuhe
in die Hand, für uns waren keine Schutzmasken
und Schürzen erforderlich, wir atmeten alle Gifte
ein und wateten bis zu den Knien in Salpeter. Die
Einheimischen nannten uns ’Zitronen‘, weil unsere
Haut so gelb verfärbt war. Unser Haar, das gera-
de begonnen hatte, wieder nachzuwachsen,
changierte in kräftigeren oder schwächeren Vio-
letttönen, je nachdem, ob man von Natur aus
blond oder dunkelhaarig war. Auf unseren Lippen
und unserer Haut spürten wir ununterbrochen
den bitteren Geschmack des Giftes, das wir nicht
aus- oder abwaschen konnten, unsere gesamte
Umgebung war ja verseucht.“

ÉVA FAHIDI ( PUSZ TAI) ÜBER DAS BEFÜLLEN DER GR ANATEN IN


A L L ENDORF. DIE SEEL E DER DINGE, BERLIN 2011 [BUDAPEST 2005]

GEF ÜL LT WIEGEN DIE GR A NATEN BIS ZU 50 KILO GR AMM.


DAS ÜBERTRIFF T ZUMEIST DAS KÖRPERGEWICHT DER UNTER-
ERNÄ HRTEN FR A UEN , DIE SIE IMMER WIEDER A NHEBEN
UND TR A GEN MÜS SEN .

Éva Fahidi (verheiratet Pusztai)


22.10.1925, Debrecen (Ungarn)

Éva Fahidi wächst in großbürgerlichen Verhältnissen auf.


ÉVA FAHIDI ( 2. VON L INKS ) MIT IHREN ELTERN UND IHRER 1936 konvertiert die jüdische Familie zum Katholizismus.
SCHWESTER GIL IKE , 1930ER JAHRE Nach einigen Monaten in einem Ghetto, wird sie mit ihren
Eltern und ihrer Schwester im Juni 1944 aus ihrer unga-
rischen Heimatstadt in das KZ Auschwitz deportiert. Die
Mutter und die kleine Schwester ermordet die SS in der
Gaskammer, der Vater stirbt an Entkräftung. Éva Fahidi
wird zur Zwangsarbeit nach Allendorf verschleppt. Bei
der Räumung des Lagers flieht sie. Sie kehrt nach Ungarn
zurück, arbeitet im Außenhandel und engagiert sich für
die Aufarbeitung des Holocaust.

”TOTA L ER K R I EG “
Außenlager Dora.
Seit Spätsommer 1943 müssen Häftlinge im Südharz eine unterirdische
Raketenfabrik bauen. Das bei ihnen gefürchtete Außenlager mit dem Deck-
namen „Dora“ wird für die SS zum Ausgangspunkt weiterer Projekte der
Untertageverlagerung der Rüstungsproduktion. Je näher die Niederlage
kommt, desto irrationaler werden die Pläne der SS.

HÄ F TL INGE BEIM STOL L ENAUSBAU IM KOHNSTEIN, SOMMER 19 44. DER FOTO GR A F


WA LTER FRENT Z MACHT DIE AUFNAHME IM AUF TR AG DES RÜSTUNGSMINISTERIUMS .

„Es herrscht höllischer Krach: Die Chefs der in den Boxen, um geklaute Decken und ver-
‚Boxen‘ rufen mit Gebrüll zur Versammlung für die schwundene Pantinenpaare. Und über all diesem
Essensausgabe, die Kapos schreien sich heiser noch das ohrenbetäubende Geräusch der Dyna-
mit ihrem ‚Aufstehen‘ oder ‚stavaitsch‘ (erhebt mitexplosionen, mit denen neue Stollen angelegt
euch), je nach Nationalität; auf dem Boden wird werden, das blecherne Scheppern der Press-
zügellos auf Brotdiebe Jagd gemacht; die entsetz- lufthämmer, die lauten Zusammenstöße der
lichen Schreie der Kerle, die 25 Stockhiebe be- Loren im Tunnel – denn nur einige Planen am
kommen; ein und dieselbe Strafe für alle kleinen Eingang zum Block trennen uns vom Tunnel –,
oder großen Vergehen; die Streitereien um Platz und das geht so vierundzwanzig Stunden lang.“

MICHEL FL IECX, FR AN ZOSE , ÜBER DIE ERSTEN MONATE IN DOR A, IN DENEN DIE HÄ F TL INGE IN
DEN STOL L EN ARBEITEN UND SCHL AFEN MÜS SEN. 3 .000 VON IHNEN STERBEN IN DIESER ZEIT.
VOM VERGEHEN DER HOFFNUNG, GÖT TINGEN 2013 [ÉVREUX 1946]

116 | 117
DER POL E EDMUND POL AK MUS S DOR A NICHT SELBST KENNENL ERNEN . BERICH TE VON MITHÄ F TL INGEN VER A RBEITET
ER 19 4 4 IN BUCHEN WALD IN EINER FALTARBEIT AUS PAPIER . ER NENNT SIE „TUNEL “ ( DER TUNNEL ) .

”TOTA L ER K R I EG “
Häftlinge in den Städten.
Mehrere Städte fordern bei der SS Häftlinge für die
Bomben- und Trümmerräumung an und wälzen die damit
verbundene Gefahr auf sie ab.

WEIBL ICHE K Z-HÄF TL INGE AUS DEM AUS SENL AGER


MEUSELWIT Z MÜSSEN BEI DER GEFÄHRLICHEN R ÄUMUNG
EINES BL INDGÄNGERS HEL FEN, OKTOBER 1944.
KRIEG STAGEBUCH DER STADT MEUSELWITZ, EINTR AG
ZUM 1 3. 10 . 19 4 4

„ BL ICK AUS UNSERE M KÜCHENFENSTER.“ JOSEF FISCHER


FOTOGR AFIERT AUS SEINER WOHNUNG HER AUS HÄF TLINGE BEI
A UFR Ä UMARBEITEN IN KÖL N, OKTOBER 1943 .

118 | 119
KÖLN, JULI 1 943. JOSEF FISCHER KÖL N , 23. 1 0 . 1 943. PETER FISCHER

DUISBURG, 19 4 3 . WIL LY VAN HEEKERN DUISBURG, 1 943. WIL LY VA N HEEKERN WEIMA R , FEB. /MÄ R Z 1 945. GÜNTHER BEYER

WEIMAR , FEB. /MÄRZ 1945 . GÜNTHER BEYER WEIMA R , FEB. /MÄ R Z 1 945. GÜNTHER BEYER KÖ L N , F E B . 1 9 4 3 . JUL IUS R A DER MA CHER

KÖL N , ENDE 19 43 . JUL IUS R ADERMACHER KÖLN, ENDE 1 943. JUL IUS R A DER MA CHER

”TOTA L ER K R I EG “
Auschwitz.
Seit April 1944 verlegt die SS Juden, Sinti und Roma
aus Auschwitz nach Buchenwald, meist in die härtesten
Arbeitskommandos. Nach kurzer Zeit sortieren SS-Ärzte
die „nicht Arbeitsfähigen“ aus. Zu Tausenden werden
sie zurück nach Auschwitz in den Tod geschickt.

„Inzwischen saß ich in der ersten Reihe und hatte ein kalter Schauer. [...] Mein Bewusstsein wollte
einen Orchesterlogenblick auf das, was auf der ihm mitteilen, dass ich Tuberkulose hatte, aber
Bühne geschah. Der SS-Arzt fragte jeden Mann, in Wirklichkeit beantwortete ich ihm seine Frage,
was ihm fehlte, dann faltete er den Zettel mit der indem ich sagte, ich hätte Blasenentzündung.
Gefangenennummer zusammen und legte ihn auf Mechanisch wiederholte er: ‚Blasenentzündung‘.
einen von drei Haufen. [...] ‚Jawohl, Herr Doktor.‘ Seine Hand streckte sich
nach meinem Zettel und legte ihn auf den kleinen
Bis jetzt hatte der SS-Mann mit dem Rücken zu Haufen. ‚Abtreten‘.“
mir gesessen und ich hatte sein Gesicht nicht
sehen können. Aber als ich dran war, vor ihn hin- EUGENE ( JEN ) HEIML ER ÜBER DIE SEL EK TION IN DER KINOBA R A CKE .
BEI NA CH T UND NEBEL , BERL IN 1 993 [NEW YORK 1 959]
trat und ihm ins Gesicht blickte, durchrann mich

INNENR AUM DER KINOBAR ACKE IM K Z BUCHENWALD, 1943 . ENDE SEPTEMBER 1 944 F ÜHRT DIE S S
HIER EINE SEL EKTION JÜDISCHER HÄF TLINGE DURCH. FOTO: ERKENNUNG SDIENST DER S S

120 | 121
DER L AGER AR ZT L EGT DAS ERGEBNIS DER SELEKTION VON ÜBER 1 . 50 0 JÜDISCHEN HÄ F TL INGEN A US DEN A US SENL A GERN MA GDEBURG ( „MA GDA “ )
UND REHMSDORF („ WILLE“ ) VOR. DIE MEISTEN AUS DEN GRUPPEN I UND II ER MORDET DIE S S IN A USCH WI TZ . SEL EK TIONSBERICH T, 1 . 1 0 . 1 9 44

„Alle wußten, auch die Betroffenen, daß das ein Todestransport ist.
Aber das Schwere für unsere Kinder war, daß unter diesen Tausenden,
die vorbeimarschierten, sie bei manchen ihren Vater, ihren Bruder
oder ihren Onkel erkannten und nichts machen konnten, nur wußten,
daß sie diese Menschen nicht mehr sehen werden.“

DER ÖSTERREICHER FR ANZ LEITNER, BLOCK ÄLTESTER IM KINDERBLO CK 8, ÜBER DIE RE A K TIONEN DER
KINDER AUF DEN ABTR ANSPORT DER JÜDISCHEN HÄF TLINGE NA CH A USCH WI TZ AM 3. OK TOBER 1 944.
BERICHT, 19 8 0 ER JAHRE, GEDENKSTÄT TE BUCHENWALD

”TOTA L ER K R I EG “
Solidarität und Widerstand
Solidarität, die alle Häftlinge einschließt, ist in den Konzentrationslagern unmöglich.
Angst und Fremdheit blockieren Vertrauen. Der ständige Mangel an Nahrung und
anderen lebensnotwendigen Dingen erzeugt unablässig Konkurrenz.

Solidarität entsteht in Gruppen, die sich aufgrund gemeinsamer Überzeugungen,


des Glaubens oder der Herkunft finden. Es braucht Zeit, um Vertrauen zu fassen,
die Verhältnisse richtig einzuschätzen und geheime Strukturen aufzubauen. Deshalb
bleibt organisierter Widerstand im Wesentlichen auf das Hauptlager beschränkt.
Trotzdem entstehen auch in Außenlagern Gruppen, in denen man sich hilft.

Häftlinge unterlaufen im KZ Buchenwald die Verhältnisse: Sie bauen nationale Hilfs-


komitees auf, dokumentieren heimlich Verbrechen, beschaffen Nachrichten zum
Kriegsverlauf, sabotieren im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten die Rüstungs-
produktion und verstecken Todgeweihte.

DA S FR A N ZÖSISCHE HIL FSKO MITEE


RUF T ZUR SPENDE VON ROT- KREUZ -
PA KETEN A UF. PA UL GOYA RD, A FIN
QUE TOUS PUIS SENT VIVRE ET REVOIR
L A FR A NCE ET L A BELGIQUE. D ONNE
TON C OL IS – L A SOL IDA RIT – ( DAMI T
A L L E L EBEN KÖNNEN UND FR A NKREICH
UND BELGIEN WIEDERSEHEN . SPENDE
DEIN PA KET – F ÜR DIE SOL IDA RITÄT – ),
1 944/ 45. TUSCHE A UF PA PIER ,
51 X 38 C M

122 | 123
Hilfskomitees.
Politische Häftlinge bilden seit 1943 innerhalb
nationaler Häftlingsgruppen Hilfskomitees,
oft über politische und konfessionelle Grenzen
hinaus. Für Landsleute führen sie Spenden-
und Sammelaktionen durch.

SAMMEL L ISTE DER I TA L IENISCHEN SOL IDA RITÄT, MÄ R Z 1 945.


DA S ITA L IENISCHE SOL IDA RITÄTSKO MITEE ORGA NISIERT IN DEN
BA R A CKEN DES GROS SEN L A GERS SAMMLUNGEN F ÜR I TA L IENISCHE
HÄ F TL INGE IM KL EINEN L A GER . GESAMMELT UND VERTEILT WERDEN
GEL D ( MA RCHI ) , ZIGA RET TEN ( SIGA RET TE) UND TA BA K ( TA BA C C O).

Fausto Pecorari
18.12.1902, Triest (Italien)
17.10.1966, Triest (Italien)

FA USTO PECOR ARI (RECHTS ), EINER DER INITIATOREN DES Fausto Pecorari ist Schatzmeister der christlich-demokra-
SOL IDARITÄTSKO MITEES , NACH SEINER RÜCKKEHR AUS tischen Partei in Triest und engagiert sich im Widerstand.
BUCHEN WAL D, 1 94 5 .
Im September 1944 wird er verhaftet und in das KZ Buchen-
wald gebracht. Pecorari initiiert eine Spendenaktion unter
den italienischen Häftlingen und ist der Kassenführer des
Hilfskomitees Italienische Solidarität. Er überlebt die Haft
und arbeitet von 1946 bis 1948 als Vizepräsident der verfas-
sungsgebenden Versammlung Italiens.

”TOTA L ER K R I EG “
Beweissicherung.
Der Franzose Georges Angéli riskiert sein Leben: Er verschafft sich eine
Kamera aus der Fotoabteilung der SS und macht heimlich Bilder im Lager.
Er kann den Film bis zur Befreiung verstecken.

DIE FOTOS ENTSTEHEN AN EINEM ARBEITSFREIEN SONNTAG IM EIN ERSCHOS SENER HÄ F TL ING , VER MU TL ICH EIN SOW JETISCHER
JUNI 1 9 4 4 . DIE K AMER A HÄLT ANGÉLI VOR DEM BAUCH ODER KRIEG SGEFA NGENER , UM 1 944. DA S S S - FOTO WIRD VON
UNTER DE M AR M . EINES DER ELF FOTOS ZEIGT DIE „ GOETHEEICHE“ A NGÉL I HEIML ICH D OPPELT A BGEZO GEN UND VERSTECK T.
MI T DER WÄSCHEREI UND DEM K AMMERGEBÄUDE. FOTO : ERKENNUNG SDIENST DER S S

Georges Angéli
12.1.1920, Bordeaux (Frankreich)
14.9.2010, Châtellerault (Frankreich)

Beim Versuch, die Grenze nach Spanien zu übertreten,


wird Georges Angéli Anfang 1943 verhaftet. Ab Juni 1943
ist er im KZ Buchenwald. Als gelernter Fotograf arbeitet er
in der Fotoabteilung der SS, dem Erkennungsdienst. Somit hat
er Zugang zu Fotoausrüstungen. Seine Aufgabe ist es,
Abzüge von Negativen zu erstellen. Dies nutzt er auch,
um doppelte Abzüge von SS-Fotos zu machen, die er mit
seinen Aufnahmen als Beweise versteckt. Zurück in Frank-
reich, zeigt er sie in Ausstellungen.

GEORGES ANGÉLI IN HÄF TLINGSKLEIDUNG,


22 .2 .1945 . DAS FOTO WIRD VO M LEITER DER
FOTOABTEILUNG GEMACHT, UM EINE K AMER A
AUS ZUPROBIEREN. FOTO : HUBERT PEITZ
(ERKENNUNGSDIENST DER S S )

124 | 125
Rettung durch Namenstausch.
Für Menschen, die die Gestapo in Konzentrationslagern exekutieren lassen
will, gibt es kaum Rettung. Die einzige Möglichkeit ist der Namenstausch
mit Toten. Im Herbst 1944 retten so Funktionshäftlinge 3 von 37 Angehörigen
des britischen Geheimdienstes.

MIT HILFE VON F UNK TIONSHÄ F TL INGEN WERDEN DREI GEHEIMDIENST- A NGEHÖRIGE A LS
„ T YPHUSKR A NK “ IN DIE FL ECKFIEBERVERSUCHS STATION IN BLO CK 46 EINGEL IEFERT. D ORT
BEKO MMEN SIE DIE NAMEN DREIER KUR Z ZU VOR VERSTORBENER FR A N ZOSEN , DEREN TOD
NO CH NICH T GEMEL DET W URDE. MI T NEUER IDENTITÄT WERDEN SIE IN A US SENL A GER
VERLEGT UND ÜBERL EBEN .

DER AGENT STÉPHANE HES SEL ERHÄLT DIE IDENTITÄT DES FR AN ZÖSISCHEN
ST UDENTEN MICHEL BOITEL. AUF EINEM ZET TEL ERHÄLT ER DIE WICH TIG STEN
INFOR MATIONEN ZU SEINER NEUEN IDENTITÄT, 1944.

STÉPHANE HESSEL (SITZEND, 2 . VON LINKS ) MIT ANDEREN ANGEHÖRIGEN DES BRITISCHEN GEHEIMDIENSTES , 1 941 .

”TOTA L ER K R I EG “
„Feindsender“.
Häftlinge der Elektrowerkstatt bauen aus Ersatzteilen heimlich Radios,
um Nachrichten über den Kriegsverlauf zu erhalten.

IN DER EL EK TROWERKSTAT T
BA UEN HÄ F TL INGE 1 943 HEIM-
L ICH KUR Z WEL L ENEMPFÄ NGER.
IN DEN 1 970 ER JA HREN WERDEN
SIE NA CH ORIGINA L ZEICHNUNGEN
UND A US ORIGINA LTEIL EN RE-
KONSTRUIERT.

KOMMUNISTISCHE
FUNKTIONSHÄFTLINGE IM
KZ BUCHENWALD
In allen Konzentrationslagern setzt die SS Häft- scheiden, ob sie ihre Position zum eigenen Vorteil
linge zur Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs nutzen oder – unter Risiken – sich auch für andere
ein. Zwischen der SS und der Mehrheit der Häft- Häftlinge einsetzen. Nur im Konzentrationslager
linge entsteht so die von ihr abhängige Schicht Buchenwald besetzen deutsche kommunistische
der Funktionshäftlinge. Wenige, wie Lagerälteste, Häftlinge – unter eiserner Führung ihrer illegalen
Blockälteste und Kapos, bekommen Weisungs- Parteiorganisation – ab 1943 alle entscheidenden
und Strafbefugnisse. Eine größere Gruppe ist Posten. Sie sichern in erster Linie das Überleben
verantwortlich für den Betrieb der Magazine, der eigenen Gruppe und schützen Kommunisten
Schreibstuben, Baubüros und des Häftlingskran- aus anderen Ländern: Sie bringen sie in besseren
kenbaus. Zu den Funktionshäftlingen gehören Arbeitskommandos unter, schreiben Transport-
auch die Angehörigen des Lagerschutzes, die listen um und bevorzugen sie bei der Kranken-
Lagerhandwerker und Dolmetscher. Sie sind versorgung. Dies auch auf Kosten anderer Häft-
besser versorgt und stehen über ihren Mithäft- linge. Ihr Einsatz zum Schutz der eigenen Gruppe
lingen. Die SS verlangt von den Funktionshäft- verändert aber auch die Situation des gesamten
lingen unbedingten Gehorsam. Sie müssen Häft- Lagers: Seuchengefahr wird bekämpft, Nahrung
linge überwachen, Transporte zusammenstellen, gerechter verteilt, Gewalt eingedämmt. Es ent-
sich an der Organisation der Zwangsarbeit und stehen begrenzte Räume zur Schonung von
an der Aussonderung von Arbeitsunfähigen Schwachen und zur Rettung von Kindern und
beteiligen. Funktionshäftlinge müssen sich ent- Jugendlichen.

126 | 127
„Arbeitsstatistik“.
Funktionshäftlinge des Kommandos „Arbeitsstatistik“ stellen auf Befehl
der SS die Transportlisten für Außenkommandos zusammen. Auf Intervention
von Vertretern nationaler Gruppen tauschen sie auf den Listen verzeichnete
Menschen zum Schutz anderer, insbesondere politischer Häftlinge aus.

DIE F UNKTIONSHÄF TL INGE DER ARBEITS STATISTIK HALTEN ÜBER EINEN NUMMERNC ODE FEST, WER
VER ÄNDERUNGEN DER LISTE FORDERT. ARBEITS STATISTIK AN HÄ F TL ING S SCHREIBSTUBE, 1 9. 12. 1 944

”TOTA L ER K R I EG “
Häftlingskrankenbau.
Die Möglichkeiten der Häftlingspfleger zu helfen sind begrenzt, den SS-Ärzten
können sie nicht offen entgegentreten. Als Mittel bleiben ihnen vor allem der
Erwerb von Fachkenntnissen und strenge Disziplin.

VIEL E PFL EGER SIND OHNE MEDIZINISCHE VORKENNTNIS SE. IN ARBEITSGEMEINSCHA F TEN
WERDEN SIE DESHALB DURCH ANDERE HÄF TLINGE UNTERRICHTET. TÜRSCHIL D A US DEM
HÄ F TL INGSKR ANKENBAU, UM 1944

HÄ F TL INGSK APO ERNST BUS SE VERLIEST ANORDNUNGEN FÜR DIE PFL EGER BEIM SAMSTA G - A PPEL L IM HÄ F TL ING S -
KR A NKENBAU. HENRI PIECK, DER SAMSTAG- APPELL, 24.11.1943. BLEISTIF T UND A QUA REL L A UF K A RTON , 30 X 84 C M

128 | 129
MI T PROTOKOL L EN , RICHTLINIEN UND SCHULUNGSPL ÄNEN ORGA NISIERT DER HÄ F TL ING SK A PO DIE A BL Ä UFE UND
WEITERBIL DUNGEN IM HÄF TLINGSKR ANKENBAU, 1943 /44. DER SCHREIBER DES HÄ F TL ING SKR A NKENBA US JOHA NNES
BRUMME VERFAS ST VIELE VON IHNEN UND HEBT SIE AUF.

”TOTA L ER K R I EG “
Lebensgeschichten
Widerstand in Europa
1943 trägt die große Mehrheit der Häftlinge im KZ Buchenwald den roten
Winkel der politischen Häftlinge. Es sind vielfach Männer und Frauen, die
sich in den deutsch besetzten Gebieten gegen das NS-Regime gestellt haben.
Sie haben sich verweigert, Verfolgte unterstützt oder aktiv gegen die Besatzer
gekämpft – in Widerstandsgruppen oder in Eigenregie. Ihre Motive sind so
unterschiedlich wie ihre Taten.

PIO BIGO ( L INKS) MIT EINE M FREUND, UM 1946

FLORÉ A L BA RRIER , NA CH 1 945

ROBERT MA ISTRIA U , NA CH 1 945

„Wir waren etwa fünfzig Partisanen …“ Überfall auf einen Deportationszug


Pio Bigo Robert Maistriau
28.3.1924, Druento (Italien) 13.3.1921, Ixelles (Belgien)
28.9.2013, Piossasco (Italien) 26.9.2008, Woluwe-Saint-Lambert (Belgien)

Weil er nicht für den italienischen Diktator Mussolini an der Was der organisierte Widerstand als zu riskant ablehnt,
Seite der Deutschen kämpfen will, folgt Pio Bigo seiner Ein- wagt der Medizinstudent Robert Maistriau mit zwei Freun-
berufung zum Militär im Herbst 1943 nicht. Der junge Mecha- den: Sie stoppen im April 1943 nahe Mechelen einen Deporta-
niker will sich für ein freies Italien einsetzen. Erfahrungen tionszug nach Auschwitz. Mehr als ein Dutzend Deportierte
mit Waffen hat er nicht. Dennoch schließt er sich den Parti- befreien sie – eine bis heute beispiellose Tat. Erst danach
sanen an, die in den Alpen nördlich von Turin leben. Nach schließt er sich einer Widerstandsgruppe im Großraum Brüs-
wenigen Wochen in den Bergen werden sie jedoch verhaftet. sel an, mit der er Sabotageakte durchführt. Im Frühjahr 1944
Für Pio Bigo beginnt eine Odyssee durch verschiedene Lager: wird er verhaftet. Über das KZ Buchenwald verschleppt die
Bergamo, Mauthausen, Linz, Gusen, Auschwitz-Monowitz SS ihn zur Zwangsarbeit in die Außenlager Harzungen und
und ab Januar 1945 das KZ Buchenwald. Zurück in Italien, Ellrich. Bei der Befreiung wiegt er nur noch 39 Kilogramm.
arbeitet er wieder als Mechaniker. Seine Geschichte will In Afrika engagiert er sich später für Entwicklungsprojekte.
niemand hören, erst Jahrzehnte später erzählt er sie. 1994 wird er als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.

130 | 131
OREST W . DWORNIKOW MI T FR A U UND SOHN, 1 939

ANNA PECZENIK (L INKS ),


VER MUTL ICH ENDE DER 1930ER
JAHRE
MAURICE PERTSCHUK , UM 1 941

„Da ich im Druckergewerbe arbeitete, Krankenschwester in den Internationalen


habe ich Flugblätter erstellt.“ Brigaden
Floréal Barrier Anna Peczenik
3.1.1922, Trélazé (Frankreich) 9.2.1911, Sofia (Bulgarien)
25.10.2015, Cagnes-sur-Mer (Frankreich) 12.1944, KZ Buchenwald

Als die Wehrmacht im Sommer 1940 Frankreich besetzt, ar- Aufgewachsen in einer jüdischen Familie, engagiert sich Anna
beitet der 18-jährige Floréal Barrier in einer Druckerei. Er Peczenik früh für die kommunistische Partei Österreichs.
kommt aus einer Arbeiterfamilie, setzt sich für die Gewerk- 1934 wird die Mutter einer Tochter deswegen aus Österreich
schaft und die kommunistische Partei ein. Mit Freunden ausgewiesen. Ihr Weg führt die Krankenschwester über Prag
protestiert er gegen die Verbote der deutschen Besatzer: und Paris nach Spanien, wo sie ab 1937 im Bürgerkrieg bei
Sie drucken und verteilen Flugblätter. Als er zur Arbeit nach den Internationalen Brigaden kämpft. Nach deren Niederlage
Deutschland soll, weigert er sich und versucht zu fliehen. schließt sie sich der französischen Résistance an. Als Kurie-
Die Gestapo fasst ihn und deportiert ihn im Herbst 1943 in rin riskiert sie über Jahre hinweg ihr Leben. 1944 verhaftet,
das KZ Buchenwald. Hier engagiert er sich bis zur Befreiung wird sie in das Buchenwalder Frauenaußenlager in Magde-
im illegalen Lagerwiderstand. Nach der Rückkehr arbeitet burg deportiert. Ihre dortigen Mitgefangenen beeindruckt sie
er in seinem alten Beruf, gründet eine Familie und ist bis zu durch ihren ungebrochenen Lebensmut. Die Umstände ihrer
seinem Tod in verschiedenen Häftlingsverbänden aktiv. Ermordung durch die SS sind bis heute ungeklärt.

Britischer Agent im französischen Untergrund Ein Arzt hilft ukrainischen Partisanen


Maurice Pertschuk Orest W. Dwornikow
31.7.1921, Paris (Frankreich) 26.12.1916, Odessa (Ukraine)
29.3.1945, KZ Buchenwald 2000, Cherson (Ukraine)

Nach Kriegsausbruch meldet sich Maurice Pertschuk frei- Todkrank erreicht Orest Dwornikow Ende 1941 das besetzte
willig zum britischen Militär. Er kommt aus einer russisch- Kirowograd. Seine Einheit der Roten Armee ist zerschlagen.
jüdischen Familie, die lange in Frankreich gelebt hat. Da er Verwandte nehmen ihn auf und verschaffen ihm Arbeit in
Französisch spricht, wirbt ihn der Geheimdienst für eine Spe- einem Krankenhaus. Er schließt sich der „patriotischen
zialeinheit an. Ab 1942 ist er in Frankreich eingesetzt. Trotz Gruppe“ an, einem Freundeskreis, der ukrainische Partisanen
seiner jungen Jahre gelingt es ihm, in Toulouse ein Wider- unterstützt. Ein Spitzel denunziert die Gruppe jedoch. Nach
standsnetzwerk aufzubauen. Er wird verraten und Anfang Monaten in Haft deportiert die SS ihn 1943 in das KZ Buchen-
1944 in das KZ Buchenwald deportiert. Seine wahre Identität wald. Im Außenlager Wansleben kümmert er sich aufopfernd
kann er über ein Jahr verheimlichen. Er gilt als britischer um kranke Mithäftlinge. Zurück in der Heimat, wird er wegen
Student. Erst kurz vor der Befreiung enttarnt die SS den 23- angeblichen Verrats am Vaterland zu zehn Jahren Zwangs-
jährigen Agenten und ermordet ihn im Krematorium. Posthum arbeit verurteilt. Erst Mitte der 1960er Jahre wird er rehabi-
erscheinen 1946 seine im Lager verfassten Gedichte. litiert und arbeitet fortan als angesehener Arzt in Cherson.

”TOTA L ER K R I EG “
JORGE SEMPRÚN , 1 939/ 40

ELLING KVAMME A LS STUDENT, 1 939

FA RIDA SAL IKSJANOWA, 1941/1942

Soldatin hinter feindlichen Linien


Farida Saliksjanowa
23.5.1920, Moskau (Sowjetunion)

Farida Saliksjanowa stammt aus einer Großfamilie, die zur


Minderheit der Tataren gehört. Als Mitglied der Jugendorgani-
sation der Kommunistischen Partei meldet sie sich nach dem
deutschen Angriff freiwillig zur Roten Armee. Nach kurzer
Ausbildung wird die Architekturstudentin als Aufklärerin hin-
ter den deutschen Linien eingesetzt. 1943 wird sie verraten.
Da sie sich weigert, als Agentin für die Deutschen zu arbeiten,
wird sie deportiert. Im Frauenaußenlager Meuselwitz wird sie
ab Oktober 1944 ausschließlich schweren und gefährlichen
Arbeitskommandos zugeteilt. Nach der Flucht vom Todes-
marsch findet sie Unterschlupf auf einem Bauernhof. In ihrer
AL ENA DIVIŠOVÁ, 1942 Heimat arbeitet sie später als Innenarchitektin.

Eine Jungkommunistin hilft jüdischen Freunden Ein Spanier in der französischen Résistance
Alena Divišová (verheiratet Hájková) Jorge Semprún
11.10.1924, Prag (Tschechoslowakei) 10.12.1923, Madrid (Spanien)
2.8.2012, Prag (Tschechische Republik) 7.6.2011, Paris (Frankreich)

Alena Divišová stammt aus einer Arbeiterfamilie. Als die Unter dem Pseudonym „Gerard“ schließt sich der 18-jährige
Deutschen Prag besetzen, hat sie gerade eine Ausbildung Jorge Semprún 1941 einer kommunistischen Partisanengrup-
zur Schneiderin begonnen. Eine jüdische Kollegin bringt sie pe an. Der Philosophiestudent kommt aus einer großbürger-
in Kontakt zu einer kommunistischen Widerstandsgruppe. lichen, linksliberalen Familie, die Spanien nach Ausbruch
Empört über die Verfolgung der Juden, hilft sie untergetauch- des Bürgerkrieges verlassen musste. Zwei Jahre kämpft er
ten jüdischen Freunden und schmuggelt Lebensmittel in das im französischen Untergrund, bevor ihn die Gestapo 1943
Ghetto Theresienstadt. Doch die Gestapo kommt ihr auf die verhaftet und wochenlang foltert. Im KZ Buchenwald, wohin
Spur. Nach Monaten in Haft wird die 19-Jährige 1944 über er später deportiert wird, ist er Teil des illegalen Lagerwi-
das KZ Ravensbrück in die Frauenaußenlager Schlieben und derstandes. Nach der Befreiung kehrt er nach Paris zurück,
Altenburg verschleppt. Auf einem Todesmarsch gelingt ihr die arbeitet als Publizist und engagiert sich im Widerstand
Flucht. Nach einem Studium arbeitet sie später in Prag als gegen das Franco-Regime, später ist er Kulturminister in
Historikerin und wird als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Spanien. Seine Erfahrungen verarbeitet er in vielen literari-
schen Werken.

132 | 133
DA NUTA BR ZOSKO, EINIGE TA GE VOR
DER ZWEITEN VERHA F TUNG 1 942

C ORNEL IUS ANTONIDES , 1935 SVEND - A A GE SCHA L DEMOSE-NIELSEN


IN POL IZEIUNIFOR M, UM 1 943

De Meppelaars Studentischer Widerstand


Cornelius Antonides Elling Kvamme
24.2.1911, Meppel (Niederlande) 23.8.1918, Hafslo (Norwegen)
6.9.1970, Meppel (Niederlande) 3.4.2016, Oslo (Norwegen)

Meppel – eine Kleinstadt in den Niederlanden: Mitarbeiter Den Brand der Universitätsaula in Oslo nehmen die Deut-
eines Pharmaunternehmens bilden einen Widerstandskreis schen im November 1943 zum Anlass, die Universität zu
gegen die Besatzer. Sie verstecken Verfolgte, verteilen schließen und über 1.000 Studenten zu verhaften. Sie gelten
Flugblätter und illegale Zeitungen. Der Buchhalter Cornelius als eine Zelle des Widerstandes. Unter ihnen ist der Medi-
Antonides ist einer von ihnen. Im Mai 1944 wird er vor den zinstudent Elling Kvamme. Anfang 1944 wird er mit über 300
Augen seiner Frau und seiner zwei Kinder verhaftet. Über Kommilitonen in das KZ Buchenwald transportiert. Die SS
das Lager Amersfoort verschleppt ihn die Gestapo mit 19 will die Norweger hier für den Nationalsozialismus gewinnen.
seiner Kollegen in das KZ Buchenwald. Hier werden sie in den Doch die Studenten weigern sich und solidarisieren sich mit
schwersten Arbeitskommandos eingesetzt. Bei der Räumung ihren Mithäftlingen: Sie teilen Rot-Kreuz-Pakete und leisten
des Lagers flieht er. Als einer von nur fünf Überlebenden der medizinische Hilfe. Im Frühjahr 1945 kehrt Elling Kvamme in
sogenannten Meppelars kehrt er schwer krank in die Heimat die Heimat zurück. Wie sein Vater wird er Arzt und arbeitet
zurück. Bis zu seinem Tod leidet er an den Folgen der KZ-Haft. später als Professor an der Universitätsklinik in Oslo.

Abiturprüfung auf dem Gefängnishof Polizisten gegen die Besatzer


Danuta Brzosko (verheiratet Mędryk) Svend-Aage Schaldemose-Nielsen
4.8.1921, Pułtusk (Polen) 16.5.1900, Frederiksborg (Dänemark)
1.9.2015, Warschau (Polen) 26.11.1944, KZ Buchenwald

Nach dem Einmarsch schließen die deutschen Besatzer in 1943 wird Svend-Aage Schaldemose-Nielsen Polizeipräsident
Polen die Gymnasien und Universitäten. Eine höhere Schul- in Odense. Er ist promovierter Jurist, Familienvater und steht
bildung der Bevölkerung soll verhindert werden. Danuta in Kontakt zum dänischen Widerstand. Ein Jahr später häu-
Brzosko nimmt dies nicht hin. Sie will Ärztin werden, wofür fen sich antideutsche Demonstrationen und Übergriffe auf
sie das Abitur benötigt. Sie besucht den Unterricht, der die Besatzer. Da die dänischen Polizisten sich weigern, den
nun versteckt in Wohnungen stattfindet. Doch die Gestapo Widerstand zu bekämpfen, gelten auch sie nun als Gefahr. Im
verhaftet Lehrer und Schüler. Noch im Gefängnis besteht sie September 1944 werden in einer Aktion Tausende von ihnen
heimlich die Abiturprüfung. Wieder in Freiheit, schließt sie verhaftet. Svend-Aage Schaldemose-Nielsen wird mit über
sich dem Widerstand an. 1942 wird sie erneut verhaftet und 1.900 Polizisten in das Kleine Lager des KZ Buchenwald ver-
nun in das KZ Majdanek und Mitte 1944 in das Frauenaußen- schleppt, wo eine Scharlachepidemie ausbricht. Die Überstel-
lager in Leipzig deportiert. Nach der Rückkehr wird ihr Abitur lung der Gruppe in ein Kriegsgefangenenlager erlebt er nicht
anerkannt. Sie studiert, wird Zahnärztin und Schriftstellerin. mehr. Er stirbt kurz zuvor an den Folgen der Epidemie.

”TOTA L ER K R I EG “
Lebensgeschichten
Verfolgung und Widerstand im Deutschen Reich
Im Krieg weitet das Regime die Verfolgung im Deutschen Reich nochmals aus.
Jede Form von Opposition oder Abweichung soll im Keim erstickt werden –
auch durch die Einweisung in ein Konzentrationslager. Gleichzeitig verschärft
sich das Vorgehen gegenüber langjährigen Strafgefangenen. Über 2.000 über-
gibt die Justiz an das KZ Buchenwald. Für viele kommt dies einem Todesurteil
gleich.

LOUIS N . GYMNICH
A LS STR A FGEFA NGENER ,
1 940 ER JA HRE

HER MANN DA FONSECA- WOLLHEIM MIT


DE M Ä LTEREN SOHN HERMANN, UM 1938

JOSEPH ROTH MI T EINER SCHUL KL A S SE, UM 1 937

Haftgrund: „Ausländerfreundlichkeit“ Volksschullehrer und überzeugter Katholik


Hermann da Fonseca-Wollheim Joseph Roth
22.8.1893, Hamburg 30.1.1896, Köln
13.5.1944, KZ Buchenwald 22.1.1945, Bad Godesberg

Im August 1943 verhaftet die Gestapo den Arzt Hermann da Ende August 1944 führt die Gestapo unter dem Tarnnamen
Fonseca-Wollheim in seiner Praxis in Hamburg-Bahrenfeld. „Gitter“ eine deutschlandweite Aktion durch. Potentielle Wi-
Sie beschuldigt ihn, ein zu gutes Verhältnis zu den ukraini- derständler sollen vorbeugend verhaftet werden. Der Bonner
schen Zwangsarbeiterinnen zu haben, die er als Arzt betreut. Volksschullehrer Joseph Roth wird vor den Augen seiner Frau
Dass der kulturell interessierte und vielgereiste Familienvater und der drei Kinder abgeführt. Er ist ein ehemaliger Funktio-
Russisch lernt, wirft die Gestapo ihm ebenfalls vor. Mona- när der Zentrumspartei. Trotz beruflicher Nachteile bekennt
telang hält sie ihn fest, bevor sie ihn im März 1944 in das KZ er sich offen zur katholischen Kirche. Für die Gestapo ist dies
Buchenwald einweist. Wegen seines jüdischen Großvaters Grund genug. Über ein Lager in Köln wird er mit anderen in
gilt er als „Mischling zweiten Grades“. Als Haftgrund führen das KZ Buchenwald deportiert. Zwar kommt er wie die meis-
die Akten „Ausländerfreundlichkeit“ an. Ein Brief im April ten „Gitterhäftlinge“ nach einigen Wochen unter Auflagen
1944 ist das letzte Lebenszeichen an seine Familie. Als seine wieder frei. Für ihn kommt die Entlassung jedoch zu spät.
Todesursache notiert die SS Ruhr und Herzschwäche. Einige Monate später stirbt er an den Folgen der Haft.

134 | 135
GÜNTER PAPPENHEIM , NACH DE M OSK AR NAGENGAST (2. VON LINKS) IN WEHRMACHTUNIFORM, UM 1940
11 . 4. 1 9 4 5

RUDOLF SCHLEIF, UM 1 933

Aus der Pflegeanstalt ins Konzentrationslager Die Marseillaise – eine „staatsfeindliche


Rudolf Schleif Einstellung“
7.10.1918, Leipzig Günter Pappenheim
18.4.1944, KZ Bergen-Belsen 3.8.1925, Schmalkalden

Im KZ Buchenwald erhält Rudolf Schleif 1943 einen schwar- Günter Pappenheim stammt aus einer sozialdemokratisch
zen Winkel. Der SS gilt er als „asozial“. Den größten Teil geprägten Familie. Nach der NS-Machtübernahme wird sein
seines Lebens hat er in Heimen oder Anstalten verbracht. Vater in einem Konzentrationslager ermordet. Seine Mutter
Er kommt aus schwierigen Verhältnissen und leidet seit der und die vier Kinder sind auf sich gestellt und ständigen
Kindheit an den Folgen einer Hirnhautentzündung. Mit acht Schikanen ausgesetzt. 1940 beginnt er eine Ausbildung zum
Jahren kommt er in ein Erziehungsheim, später in eine Anstalt Schlosser. In der Fabrik hat er Kontakt zu französischen
für Gehirnkranke. Hier geht er zur Schule, beginnt eine Lehre, Zwangsarbeitern. Er versteht sich gut mit ihnen und spielt für
doch er gilt weiter als unheilbar. Er wird zwangssterilisiert. sie am französischen Nationalfeiertag auf seinem Akkordeon
Als die Ärzte der Pflegeanstalt Waldheim 1943 arbeitsfähige die Marseillaise. Kollegen denunzieren ihn. Im Oktober 1943
Patienten an die SS ausliefern, steht auch er auf der Liste. wird er in das KZ Buchenwald eingewiesen. Hier erhält er An-
Nach wenigen Wochen im Außenlager Dora transportiert die schluss an Bekannte seines Vaters. Er überlebt das Lager und
SS ihn zum Sterben in das KZ Bergen-Belsen. ist nach der Befreiung selbst viele Jahre politisch aktiv.

Als Kommunist vom Zuchthaus ins KZ Als Homosexueller verurteilt und ermordet
Louis Napoleon Gymnich Oskar Nagengast
8.8.1903, Opladen 23.3.1910, Castrop
12.4.1981, Köln 4.1.1944, KZ-Außenlager Dora

Seine Zuchthausstrafe hat Louis Napoleon Gymnich fast Im November 1943 registriert die SS Oskar Nagengast im KZ
verbüßt, als er im Juni 1943 in das KZ Buchenwald überstellt Buchenwald als homosexuellen Häftling. Er hat soeben eine
wird. Verurteilt worden ist er wegen „Vorbereitung zum Hoch- 18-monatige Gefängnisstrafe wegen homosexueller Kontakte
verrat“. Bereits im Studium ist er in kommunistischen Kreisen verbüßt. Nach Jahren der sozialen Unsicherheit ist er 1933
aktiv. Nach Jahren in Hamburg, Paris und Berlin übernimmt der SA und der NSDAP beigetreten. Seine Situation stabilisiert
der promovierte Germanist in Köln einige Drogerien seines Va- sich in den Jahren danach: Der Stahlarbeiter gründet eine
ters. Eine wird zum geheimen Anlaufpunkt der Kommunisten. Familie und dient später in der Wehrmacht. Er knüpft jedoch
Im Zuchthaus gilt er als „politisch unverbesserlich“, weshalb auch homosexuelle Beziehungen, die ihm zum Verhängnis
die Justiz ihn an die SS ausliefert. In Buchenwald wird er als werden. Als ehemaliges SA-Mitglied trifft ihn die Verfolgung
Blockältester im Seuchenblock 61 eingesetzt – eine schwieri- besonders hart. Die Buchenwalder SS schiebt ihn nach kurzer
ge und konfliktreiche Funktion. Nach dem Krieg lebt er kurz in Zeit in das Außenlager Dora ab. Hier überlebt er nur 19 Tage.
der DDR und später als Redakteur in Köln. Seine Familie erhält später keinerlei Entschädigung.

”TOTA L ER K R I EG “
RUDOL F UND WOL FGANG SCHIEWEG (RECHTS ) ZEUGEN JEHOVA S NA CH DER BEFREIUNG . A LOIS K A SPERKOWI TZ
IN KL EIDUNG DER L EIPZIGER MEUTEN, 1938 ( 1 . REIHE MIT TE) , 25. 4. 1 945

„Schlagt die HJ, wo ihr sie trefft.“


Wolfgang Schieweg
1.9.1919, Leipzig
4.2.1974, Leipzig

Unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus


weist die Gestapo Wolfgang Schieweg Ende 1942 in das KZ
Buchenwald ein. In einem Leipziger Arbeiterviertel ist er ei-
ner der führenden Köpfe der Meute „Reeperbahn“ gewesen,
einer Jugendclique, die sich gegen die Vereinnahmung durch
die Hitlerjugend stellt. Sie tragen eine eigene Kluft, machen
Ausflüge, hören verbotene Musik und scheuen den Konflikt
mit der HJ nicht. Für das Regime sind sie Staatsfeinde, die zu
hohen Strafen verurteilt werden. In Buchenwald setzt die SS
den gelernten Schlosser im Gustloff-Werk und im Außenlager
Schönebeck ein. Nach dem Krieg lebt er wieder in Leipzig. Die
späte Würdigung der Leipziger Meuten erlebt er nicht mehr. WIL HEL M BIL LOTIN , 1939

„Wer das Schwert nimmt, wird durch das Von der Justiz ausgeliefert zur „Vernichtung
Schwert umkommen.“ durch Arbeit“
Alois Kasperkowitz Wilhelm Billotin
15.4.1904, Wien (Österreich) 22.4.1890, Bergheim/Erft
20.1.1984, Wien (Österreich) 22.7.1943, KZ Buchenwald

In Wien schlägt sich Alois Kasperkowitz als Zeitungsausträ- Wilhelm Billotin gehört zu den ersten Sicherungsverwahr-
ger und Gelegenheitsarbeiter durch. Zudem setzt sich der ten, die nach einer Vereinbarung von Justiz und SS ab Ende
Vater einer Tochter unablässig für die Religionsgemeinschaft 1942 in das KZ Buchenwald eingewiesen werden. Nach vier
der Zeugen Jehovas ein. Als er Broschüren verteilt, in denen Jahren als Soldat kann der ungelernte Arbeiter nach dem
der Krieg verurteilt wird, verhaftet ihn die Gestapo. Wegen Ersten Weltkrieg keinen Fuß fassen: Er ist arbeitslos, seine
Antikriegspropaganda wird er im Herbst 1941 zu 10 Jahren Ehe scheitert, er begeht Diebstähle. Im Krieg geht die Justiz
Zuchthaus verurteilt. Vor Gericht verteidigt er entschlossen gegen Männer wie ihn besonders hart vor. Wegen seiner Vor-
seine Überzeugungen. Nach zwei Jahren in Strafanstalten strafen gilt er nun als „Volksschädling“ und „Gewohnheits-
liefert die Justiz ihn 1943 an die SS aus. Er ist fast taub, sieht verbrecher“. 1941 wird er zur dauerhaften Unterbringung
sehr schlecht und ist extrem geschwächt. Nur durch die in einer Justizanstalt verurteilt. Die Auslieferung an die SS
Hilfe anderer Zeugen Jehovas überlebt er im KZ Buchenwald. gleicht einem nachträglichen Todesurteil. Wie sehr viele Si-
Nach der Befreiung kehrt er in seine Heimat zurück. cherungsverwahrte überlebt er in Buchenwald nur kurze Zeit.

136 | 137
Lebensgeschichten
Frauen im Konzentrationslager
Rüstungsunternehmen in ganz Deutschland mieten Frauen aus den Konzen-
trationslagern Ravensbrück, Auschwitz und Bergen-Belsen als Arbeitskräfte.
Allein im Verwaltungsbereich des KZ Buchenwald errichtet die SS 27 Frauen-
Außenlager. Ungarische und polnische Jüdinnen, Polinnen, Frauen aus der
Sowjetunion, aus Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern müs-
sen dort für die deutsche Kriegsindustrie arbeiten.

NINA ANDREJEWSK AJA S A RBEITSK A RTE F ÜR Z WA NG SA RBEI TER , 1 943

HIL DEGARD REINHARDT, 1946

„Ich kam ohne Kinder und ohne alles wieder …“ Als „Ostarbeiterin“ verschleppt
Hildegard Reinhardt (verheiratet Franz) Nina Andrejewskaja (verheiratet Schalagina)
26.2.1921, Tübingen 13.10.1928, Surasch (Sowjetunion)
7.5.2013, Deißlingen 15.10.2002, Moskau (Russland)

Hildegard Reinhardt ist 22 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie Nina Andrejewskaja muss im Herbst 1943 zusehen, wie die
aus Ravensburg in das „Zigeuner-Familienlager“ in Ausch- deutschen Besatzer ihre Heimatstadt niederbrennen. Gemein-
witz-Birkenau deportiert wird. Die Zustände dort sind sam mit ihrer Mutter und Schwester wird sie zur Zwangsar-
katastrophal. Ihre drei kleinen Töchter sterben innerhalb beit nach Sachsen verschleppt, wo die Familie getrennt wird.
kurzer Zeit an Krankheiten und Hunger, sie selbst erkrankt an Die 15-Jährige versucht zu fliehen, doch die Gestapo ergreift
Typhus. Nach der Auflösung des Lagers verlegt die SS sie in sie. Nach Verhören und Misshandlungen wird sie im Herbst
das KZ Ravensbrück und von dort in die Rüstungsfabriken in 1944 in das KZ Ravensbrück eingewiesen. Im Buchenwalder
den Außenlagern Schlieben und Altenburg. Nach ihrer Befrei- Außenlager Taucha muss sie Granaten produzieren. Bei der
ung kehrt sie in ihre württembergische Heimat zurück. Hier Räumung des Lagers gelingt ihr die Flucht. In der Nähe von
erfährt sie vom Tod ihres Mannes. Sie beantragt eine Ent- Chemnitz findet sie ihre Mutter und Schwester wieder. Mit
schädigung, erhält aber lediglich 4.200 Mark: davon jeweils ihnen kehrt sie in die Heimat zurück. Sie lernt Deutsch und
150 Mark für jedes ihrer in Auschwitz gestorbenen Kinder. arbeitet später in Moskau für einen deutschen Diplomaten.

”TOTA L ER K R I EG “
JA C QUEL INE MA RIÉ ( RECH TS ) MI T IHRER FAMIL IE,
NOVEMBER 1 942

„… sonst nehmen sie entweder das Kind


oder jemand von meinen Eltern.“
Aleksandra Pawlowna Lawrik
18.7.1918, Dnipropetrowsk (Ukraine)
20.6.2009, Dnipropetrowsk (Ukraine)

Alexandra Pawlowna Lawrik stammt aus einer armen Fami-


lie. Sie heiratet früh und bekommt einen Sohn. Als Mitglieder
der kommunistischen Partei verhaftet die Gestapo sie und
ihren Vater im Sommer 1943. Sie wird in das KZ Ravens-
brück verschleppt. Im Außenlager Wolfen muss sie in einer
Zellwollfabrik arbeiten. Giftige Dämpfe verätzen ihre Lunge
dauerhaft. Als die SS das Lager im April 1945 räumt, gelingt
ihr die Flucht. Sie schlägt sich bis in ihre Heimat durch. Weil
sie in Deutschland war, gilt sie jedoch als Verräterin. Für eini-
ge Zeit muss sie in ein Arbeitslager und eine Anstellung wird
ROSA DEUTSCH ( RECHTS ) NACH DER BEFREIUNG IN PENIG, 1945 ihr lange Zeit verwehrt. Nach dem frühen Tod ihres Mannes
muss sie allein für ihre nunmehr drei Kinder sorgen.

„… nach langer Fahrt ins Außenlager Penig“ Eine Familie in der Résistance
Rosa Deutsch Jacqueline Marié (verheiratet Fleury)
9.4.1926, Budapest (Ungarn) 12.12.1923, Wiesbaden

Im November 1944 muss sich die Abiturientin Rosa Deutsch in Als die Wehrmacht Frankreich besetzt, lebt Jacqueline Marié
einer Ziegelfabrik am Rande Budapests melden. Mit Tausen- mit ihrer Familie in Versailles. Wie ihr Vater, ein Berufsoffi-
den Jüdinnen und Juden treibt die SS sie von dort zu Fuß zur zier, ihre Mutter und ihr Bruder engagiert auch sie sich im
deutschen Grenze. Über das KZ Ravensbrück bringt man sie Widerstand. Die 17-Jährige verteilt Untergrundzeitungen und
Anfang 1945 in das Außenlager Penig. Hier muss sie Flugzeug- beschafft Informationen. Doch die Gestapo kommt ihnen
teile montieren. Die Frauen leiden unter Kälte, Hunger und auf die Spur. Im Juni 1944 wird sie mit ihren Eltern verhaftet.
Krankheiten. Rosa Deutsch erkrankt lebensgefährlich. Bei Alle drei werden nach Deutschland verschleppt. Sie und ihre
der Räumung lässt die SS sie mit anderen Kranken zurück. Die Mutter bringt die SS über das KZ Ravensbrück in die Außen-
ankommenden amerikanischen Soldaten retten ihr das Leben. lager Torgau, Abterode und Markkleeberg, wo sie für BMW
Sie kehrt in ihre Heimat zurück. Nach über zwanzig Jahren und Junkers arbeiten müssen. Auf dem Todesmarsch gelingt
erhält sie die Fotos, die ein amerikanischer Berichterstatter ihnen die Flucht. Nach der Rückkehr gründet sie eine Familie
von ihr und den übrigen Frauen von Penig gemacht hat. und ist in Überlebendenverbänden aktiv.

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FELICJA SCHÄCH TER , 1 948

A L E X ANDR A PAWLOWNA L AWRIK


MI T IHRE M SOHN ANATOLIJ, 193 6

KL A R A LÖW Y MIT IHRER MU T TER ZSOFIA FRIED,


VOR 1 944

„... zwischen Granaten und Gedichten“ Schwanger in Auschwitz


Felicja Schächter (verheiratet Karay) Klara Löwy
26.1.1927, Kraków (Polen) 22.12.1914, Csenyéte (Ungarn)
9.3.2014, Rishon Leziyon (Israel) 1944, KZ Auschwitz

Nach der Besetzung Krakaus muss Felicja Schächter mit Klara Löwy lebt 1944 mit ihrem Mann, einem Rechtsanwalt,
ihrer Familie die Stadt verlassen. Vorübergehend findet die im ungarischen Miskolc. Sie erwarten ein Kind. Die junge Frau
jüdische Familie Schutz bei einem Bauern. Aus Angst vor der stammt aus einer religiösen jüdischen Familie. Ihr Vater be-
Deportation flieht die 15-Jährige. Da sie keinen Unterschlupf treibt auf dem Land ein Geschäft und eine Landwirtschaft.
findet, kehrt sie schließlich zurück in das Ghetto nach Im Juni 1944 wird das Paar nach Auschwitz deportiert. Dass
Krakau. Im März 1943 bringt die SS sie in das KZ Płaszów sie schwanger ist, kann sie hier noch verbergen. Zur Zwangs-
und später in das Zwangsarbeitslager Skarźysko-Kamienna. arbeit bringt die SS sie in das Außenlager Allendorf. Nach
Im August 1944 wird sie von dort in das Außenlager Leipzig einiger Zeit ist die Schwangerschaft jedoch unübersehbar.
transportiert, wo sie Granaten fertigen muss. In ihrer arbeits- Nun gilt sie als nicht mehr arbeitsfähig. Zusammen mit ande-
freien Zeit verfasst sie Gedichte. Sie überlebt und emigriert ren Schwangeren transportiert die SS sie im Oktober zurück
1950 mit ihrem Mann nach Israel. Sie arbeitet als Lehrerin nach Auschwitz, wo die Frauen ermordet werden. Auch ihr
und berichtet in zwei Büchern über ihre Verfolgung. Mann und ihre Eltern überleben die Deportation nicht.

”TOTA L ER K R I EG “
BEFREI TE HÄ F TL INGE IN DEN SCHL A FBOXEN VON BLO CK 56 IM KL EINEN L A GER DES
K Z BUCHEN WA L D, 1 6. 4. 1 945. FOTO : HA RRY MIL L ER ( U . S . A R MY SIGNA L C ORPS )

LAGERBELEGUNG KZ BUCHENWALD
1945
1 . 1. BIS 31. 3 . 19 4 5 1. 4 . BIS 11. 4 . 19 4 5
MÄ NNER FR AUEN
NEU EINGEWIESENE
HÄF TLINGE 43.823 1.932 --

IN A NDERE L A GER ”ÜBERSTEL LTE“


ODER ENTL A S SENE HÄ F TL INGE 13.379 -- --

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DES L AGERS 82.322 24.840 --

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TOTE HÄ F TLINGE
EVAKUIERUNGSMÄ RSCHE GESCHÄTZT 9.000
Die letzten
Monate
Herbst 1944 – die alliierten Truppen rücken von Westen und Osten auf
das Deutsche Reich vor. Die Wehrmacht ist auf dem Rückzug. Obwohl
der Krieg längst verloren ist, setzt das Regime ihn mit allen Mitteln fort.
In der Bevölkerung mischen sich Fanatismus, Kriegsmüdigkeit, Illusionen
über den „Endsieg“ und Angst vor Vergeltung durch die Alliierten. Ein
breites Aufbegehren gibt es nicht.

Die SS räumt die Lager und Haftstätten in Frontnähe. Die Häftlinge wer-
den in die Konzentrationslager im Reichsinneren transportiert. Im Osten
vertuscht die SS die Spuren der Vernichtung, ermordet für den Transport
zu schwache Häftlinge oder lässt sie sterbend zurück. Viele überleben
die Transporte nicht oder kommen zu Tode geschwächt in den überfüllten
Lagern an. Um die Zwangsarbeit aufrechtzuerhalten, richtet die SS Zonen
für die Sterbenden ein, die nirgendwohin mehr abgeschoben werden kön-
nen. Die Zahl der Toten steigt um ein Vielfaches.

Als sich die Alliierten den Konzentrationslagern im Reichsinneren nähern,


räumt die SS auch diese. Während der Märsche ermordet sie erschöpfte
Häftlinge – teils unter den Augen und mit Beteiligung der Bevölkerung.
Erst die Soldaten der Alliierten stoppen die Verbrechen.

140 | 141
Der 24. August
1944
Am 24. August 1944 greifen amerikanische Bom-
ber das Rüstungswerk und den SS-Bereich des
KZ Buchenwald an. Zu Recht vermuten die Ameri-
kaner hier Produktionsstätten für Steuerungsteile
der A4-Rakete – eine der „Wunderwaffen“, mit
denen das NS-Regime den „Endsieg“ zu erzwingen
hofft.

Die Bombardierung dauert nur 30 Minuten. Aber


sie ist ein sichtbares Indiz für den tiefen Ein-
schnitt, der die Endphase des Lagers einleitet. Die
SS verliert über 100 Männer, erstmals ist sie nicht
mehr Herr der Lage. In Buchenwald werden nicht
nur Produktionsanlagen zerstört, sondern auch
das Gebäude der Gestapo. Weil sie das Werk beim
Angriff nicht verlassen dürfen, sterben fast 400
Häftlinge, über 2.000 werden verletzt.

DER A NGRIFF FINDET MIT TA G S STAT T: 129 FLUGZEUGE,


ÜBER TA USEND SPRENG - UND BR A NDBO MBEN . A UFNA HMEN
DER A L L IIERTEN LUF TA UFKL Ä RUNG , 24. 8. 1 944

142 | 143
HEL DENBEGR Ä BNIS F ÜR DIE BEIM LUF TA NGRIFF GESTORBENEN
S S - A NGEHÖRIGEN A UF DEM HA UPTFRIEDHOF WEIMA R , 28. 8. 1 944.
ES SOL L GESCHLOS SENHEIT UND DURCHHA LTEWIL L EN DEMONSTRIEREN.
FOTOS : ERKENNUNG SDIENST DER S S

DIE L EICHNAME DER BEIM LUF TA NGRIFF GETÖTETEN HÄ F TL INGE WERDEN


IM L A GERKREMATORIUM VERBR A NNT, IHRE A SCHE WEGGEWORFEN .
MEL DUNG VON S S - OBERSCHA RF ÜHRER WA LTER WA RNSTÄ DT, 30 . 8. 1 9 44

D I E L E T Z T EN M O N AT E
DA S FORT BREENDONK, 194 5 . AB MAI 1944 WIRD DIE ZENTR ALE HAF T- UND HINRICH TUNG S STÄT TE DER GESTA PO
IN BELGIEN GER ÄUMT. MEHRERE HUNDERT GEFANGENE WERDEN IN DA S K Z BUCHEN WA L D TR A NSPORTIERT.

Die Räumungstransporte
Häftlinge und jüdische Zwangsarbeiter der auf- häufig zu Tode erschöpft das KZ Buchenwald.
gelösten Lager sollen in die KZ im Reichsinneren Infolge der überstürzten Räumung des Vernich-
gebracht werden. Dafür fehlen jedoch nicht tungslagers Auschwitz und des Konzentrations-
nur die Transportmittel, die verbliebenen Lager lagers Groß-Rosen wird Buchenwald drei Monate
sind auch bereits überfüllt. Nach oft tagelangen vor Kriegsende zum größten Konzentrationslager
Elendsmärschen oder Irrfahrten in offenen Güter- innerhalb des Deutschen Reiches.
waggons erreichen die Menschen entkräftet und

144 | 145
Gefangenentransporte
aus Westeuropa.
Wegen des Rückzugs der Wehrmacht verlegen
Sicherheitspolizei und Militärverwaltungen
planmäßig politische Gefangene und Juden in
die Konzentrationslager des Reiches. Tausende
aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und
Italien gelangen so nach Buchenwald.

„ PLÖTZLICH MUS STEN WIR MI T VIEL EN FREUNDEN IN EINE UNBEK A NNTE RICH TUNG A BFA HREN
(VERMUTLICH DEUTSCHL A ND ) . BEHA LTE MU T, A L L ES WIRD EIN ENDE HA BEN […]. “

DER BELGIER PROSPER ROELS WIRF T F ÜR SEINE FR A U UND KINDER EINE NA CHRICH T A US DEM ZUG ,
MIT DEM ER IM MAI 1 944 A US DEM GEFÄ NGNIS VON GENT IN DA S K Z BUCHEN WA L D GEBR A CH T WIRD.
(VORDER- UND RÜCKSEI TE)

D I E L E T Z T EN M O N AT E
Räumung von Auschwitz.
Als sich die Rote Armee Auschwitz nähert, räumt
die SS das Lager. Sie treibt fast 60.000 Häftlinge
auf Fußmärsche westwärts oder transportiert
sie in offenen Güterwaggons. Unter den im KZ
Buchenwald Ankommenden sind Hunderte von
Toten.

146 | 147
Transport aus Hirschberg.
Hirschberg wird als eines der letzten Außenlager
des KZ Groß-Rosen geräumt. Jeder vierte Häft-
ling kommt unterwegs um, 905 jüdische Männer
treffen am 7. März 1945 in Buchenwald ein. Ihre
persönlichen Gegenstände lässt die SS auf den
Müll werfen.

BEI DER EIN WEISUNG IM MÄ R Z 1 945 ERSTEL LTE „NUMMERNK A RTE “


F ÜR MA RIA N RYŃSKI: VER ZEICHNET SIND PERSONENDATEN , DIE
HA F TNUMMER DES K Z GROS S - ROSEN UND DIE NEUE BUCHEN WA LDER
HA F TNUMMER . DIE VO M TR A NSPORT GESCH WÄ CH TEN NEUA NKÖMM -
L INGE MÜS SEN A UF DER K A RTE UNTERSCHREIBEN .

KE T TENANHÄNGER, INSCHRIF T VORDERSEITE: HIRSCHBERG RSGB, TEXTIL A UFNÄ HER , 20268: MA RIA N RYŃSKI, GEB. 6. 9. 1 918 IN
CHE MIA GOT TL IEB , 1940/45 . DER POLNISCHE JUDE CHEMIA SOSNOWIEC , POL EN . DIE A UF DIE KL EIDUNG A UFGENÄ H TEN
GOT TL IEB WIRD AM 16.3 .1945 IN DAS AUS SENL AGER OHRDRUF HÄ F TL ING SNUMMERN A US HIRSCHBERG WERDEN IM K Z BUCHENWA LD
GEBR ACHT. ER WIRD IN BUCHENWALD BEFREIT UND WANDERT A BGETRENNT UND WEGGEWORFEN . F UND ORT: HA L DE II
SPÄTER IN DIE USA AUS . FUNDORT: HALDE II

L INKS: AUCH UNBEK ANNTE, TOT EINGELIEFERTE HÄF TLINGE BEKO M- A R MBA NDPL A KET TE, INSCHRIF T: MA X NOW Y TA RGER , 20 1 69, GEB.
MEN IN BUCHEN WAL D EINE NEUE NUMMER, SPÄTER VERZICH TET DIE 5. IX . 1 923 IN SOSNOWITZ . ER WIRD AM 22. 3. 1 945 INS A US SENL A GER
SS DAR AUF. NUMMERNK ARTEN K Z BUCHENWALD, JANUAR 1 945 OHRDRUF GEBR A CH T. ER ÜBERL EBT, HEIR ATET IN MÜNCHEN , WIRD
VATER UND WA NDERT NA CH ISR A EL A US . F UND ORT: HA L DE II

D I E L E T Z T EN M O N AT E
Massensterben im
Kleinen Lager
Die SS isoliert die Überlebenden der Räumungs- Die SS nimmt das Massensterben nicht nur
transporte im Kleinen Lager. Es liegt unterhalb in Kauf, sondern tötet regelmäßig Kranke und
des Hauptlagers. Ende 1942 als Quarantänezone Schwache. Inmitten des Grauens schaffen poli-
errichtet, fehlt es dort an allem. In den letzten tische und jüdische Häftlinge im Block 66 einen
drei Monaten vor der Befreiung kommen im Klei- geschützten Raum für Jugendliche und Kinder.
nen Lager über 6.000 Menschen um. Mehr als 900 von ihnen werden gerettet.

HEIMLICH ZEICHNEN HÄ F TL INGE DIE ZUSTÄ NDE IM KL EINEN L A GER . DIE BIL DER
BEZEUGEN, WA S D OKUMENTE UND FOTOS DER S S NICH T WIEDERGEBEN .

A UGUSTE FAVIER , CRO QUIS DANS LE BLOK 61, LE BLOK DE „ L’ ENFER “ A UGUSTE FA VIER , CRO QUIS DU PETI T CAMP. BLOKS DE QUA R A NTA INE
( SKI ZZE IM BLOCK 6 1 , DER BLOCK DER „ HÖLLE“ ), 1945 . DRUCK EINER ( SKIZ ZE VO M KL EINEN L A GER . QUA R A NTÄ NEBLO CKS ) , 1 945.
FEDER -, T USCHE ZEICHNUNG, 25 X 18 CM DRUCK EINER FEDER - , TUSCHEZEICHNUNG , 18 X 25 C M

148 | 149
Massensterben.
In dem vom Hauptlager abgetrennten Kleinen
Lager fehlt es an allem: an Schlafplätzen, Wasser,
Nahrung, Schuhwerk, warmer Kleidung, Schüsseln
und Löffeln. Allein in den ersten hundert Tagen
des Jahres 1945 sterben dort 6.000 Häftlinge an
den Folgen des Hungers.

DIE AUSGABE DES ES SENS ERFOLGT IN DER KINOBAR ACKE, WEIL DIE
ÜBERF ÜL LUNG EINE VERTEILUNG IN DEN BLO CKS NICHT MEHR ZU -
L ÄSST. NUR WER EINE BLECHMARKE VORWEISEN K ANN, ERHÄLT EINE
SCHÜSSEL MIT ES SEN . ES S SCHÜS SEL, FUNDORT: HALDE 2

„Ich sah Karol in der Schlange stehen und es Schnur abgeschnitten hatte, mit dem sie an einem
beunruhigte mich, wie zermürbt er aussah. […] Knopf festgebunden gewesen war. Man befahl
Am meisten beunruhigte mich sein aschfahles ihm, aus der Reihe zu treten. Es lässt sich nicht
Gesicht, dessen Züge ganz verändert waren. Ich mit Worten sagen, wie elend ich mich bei diesem
sah, wie der Türsteher Karol nach seiner numme- entsetzlichen Vorfall fühlte. Ich flehte den Türste-
rierten Metallmarke fragte und wurde Zeuge von her an, Karol hineinzulassen, aber es half nichts;
Karols Bestürzung, als er in seine Tasche griff, sie er bestand darauf, dass es so viele Rationen gab
leer fand und verstand, dass man ihm die Marke wie nummerierte Marken.“
gestohlen hatte, dass man sie von dem Stück
DER POL NISCH - JÜDISCHE HÄ F TL ING L EON FRIM ÜBER SEINEN
SOHN K A ROL , DER KUR Z DA R A UF IM KL EINEN L A GER STIRBT.
SE A SONS IN THE DA RK , JERUSA L EM 20 1 1 [1 963]

FAMIL IE FRIM, UM 1 934: DR.


L EON FRIM ( HINTEN RECHTS),
VOR IHM SOHN K A ROL. NUR
SECHS DER A BGEBILDETEN
FAMIL IENA NGEHÖRIGEN
ÜBERL EBEN DEN HOLOCA UST.

D I E L E T Z T EN M O N AT E
Todesblock.
Im Block 61 des Kleinen Lagers tötet die SS
von Januar bis März 1945 gezielt kranke, schwa-
che oder sterbende Häftlinge. Der leitende SS-
Sanitäter Wilhelm gibt die Giftinjektionen,
Häftlingspfleger werden gezwungen, ihm zu
assistieren und Sterbemeldungen mit falschen
Angaben auszufüllen.

„Ich wurde am 21. Februar 1945 in der Baracke


61 […] angestellt und hatte die Sonderaufgabe,
die Meldungen für Häftlinge zu schreiben, die
in der Baracke 61 starben. […] Vor der Tür schrieb
ein Häftling die Nummern und Namen der Häftlinge
auf, die hineinkamen. Die Liste bekam ich später,
um die Totenmeldungen zu schreiben. Ich musste
am Ende nach meiner eigenen Meinung die diver-
sen Krankheiten, wie Lungenentzündung, Ruhr,
Blutvergiftung als Todesursache eintragen.“

DER ÖSTERREICHISCHE HÄF TLING FELIX R AUSCH BERICHTET ÜBER TOTENMEL DUNG F ÜR I Z A K REICH VO M 1 . MÄ R Z 1 945: A N DIESEM
DAS SCHREIBEN DER TOTENMELDUNGEN. ZEUGENAUS SAGE, 9. 5. 1 945, TA G STERBEN IM K Z BUCHEN WA L D UND SEINEN A US SENL A GERN
NATIONAL ARCHIVES AT COLLEGE PARK, MARYL AND 229 MENSCHEN , 1 65 DA VON IM KL EINEN L A GER . BLO CK 61 MEL DE T
1 35 TOTE.

BLOCK 6 1. DIE HÄF TL INGE NENNEN IHN „ BLOCK DES TODES “ . FOTO : GÉR A RD R A PHA ËL A LGOET, NA CH DEM 1 1 . 4. 1 945

150 | 151
Kinderblock 66.
Mit den Räumungstransporten aus dem Osten kommen zahlreiche Jugend-
liche und auch Kinder ins Kleine Lager. Politische und jüdische Häftlinge richten
eine Baracke für Minderjährige ein, schützen sie vor willkürlicher Gewalt und
sichern für sie Nahrung zum Überleben.

K A L MA N L A NDA U ,
QUA R A NTÄ NE L A GER /
WIR SHL A FEN , 1 945 .
DER POL NISCH - JÜDISCHE
JUGENDLICHE KOMMT IM
FEBRUA R 1 945 A US DE M
K Z GROS S - ROSEN NA CH
BUCHEN WA L D. ZUNÄ CHST
IN BLO CK 58 DES KLEINEN
L A GERS EINGEWIESEN,
WECHSELT ER SPÄTER IN
DEN „KINDERBLO CK “. DIE
ZEICHNUNG ENTSTEHT NA CH
DER BEFREIUNG IN EINEM
HEIM IN DER SCH WEI Z .
FA RBSTIF T, 23 X 18 C M

Antonín Kalina
17.2.1902, Trebitsch/T ebič (Mähren)
1.1.1990, Prag (Tschechoslowakei)

Der Blockälteste ist ab Ende 1944 in einer Schlüsselposition


für Block 66 zuständig. Um die Lebensbedingungen der
Jugendlichen zu bessern, nutzt er seine Kontakte zum Lager-
widerstand. Kalina, in einfachen Verhältnissen aufgewach-
sen, ist kinderlos verheiratet. Nach der deutschen Besetzung
Tschechiens wird der Kommunist verhaftet und ab Septem-
ber 1939 in Buchenwald inhaftiert. Nach 1945 lebt er in Prag.
Über seine Rolle im Block 66 spricht er selten, öffentliche
Anerkennung gibt es erst nach seinem Tod: Im Block 66
Gerettete erwirken 2012 seine Auszeichnung als „Gerechter
unter den Völkern“ durch die Gedenkstätte Yad Vashem.

A NTONÍN K AL INA (VORNE RECHTS ) VOR BLO CK 66 IM KLEINEN


L AGER , NACH DE M 11. APRIL 1945 . STANDBILD: U.S . ARMY SIGNA L
CORPS

D I E L E T Z T EN M O N AT E
BEFREI TE JUGENDL ICHE VOR BLOCK 66 IM KLEINEN L AGER, NACH DEM 1 1 . 4. 1 945.
FOTO: GÉR ARD R APHAËL ALGOET

EINE GRUPPE BEFREITER KINDER, 2 1.4.1945 . DIE MEISTEN VON IHNEN HA BEN IN BLO CK 66 ÜBERL EBT.
FOTO: BYRON H. ROL LINS

152 | 153
IM JUNI 19 4 5 BERICHTET EINE IN
PAL ÄSTINA ERSCHEINENDE DEUTSCH-
SPR ACHIGE ZEIT UNG ÜBER DIE RET TUNG
VON JANEK SZL A IFS Z TAJN. JEDIOT
CHADASCHOT ( NEUESTE NACHRICHTEN),
5. 6 . 19 4 5

JANEK SZL AIFSZ TAJN (MIT TE) ÜBERLEBT


VERSTECKT IM HÄF TL INGSKR ANKENBAU.
BEI DER BEFREIUNG IST ER VIER JAHRE ALT.
FOTO: U. S. AR MY SIGNAL CORPS ,
NACH DE M 11. 4 . 1 94 5

D I E L E T Z T EN M O N AT E
Todesmärsche
Im März 1945 erreichen amerikanische Truppen
Mitteldeutschland. Die SS treibt die Häftlinge
der Außenlager Buchenwalds zum Hauptlager
zurück. Seit dem 7. April verlassen Evakuierungs-
märsche auch das KZ Buchenwald; Tausende
sterben unterwegs an Entkräftung, Begleitmann-
schaften erschießen diejenigen, die nicht mehr
mithalten können.

Lange Häftlingskolonnen passieren in den letz-


ten Kriegswochen Straßen, Dörfer und Städte.
Die Bevölkerung wird Zeuge. Kaum jemand hilft.
Oft beteiligen sich Volkssturmmänner und Hit-
lerjungen daran, geflohene Häftlinge zu jagen
und zu ermorden.

154 | 155
Celle, 8. April.
SS-Männer, Soldaten, Polizisten, aber auch Zivilis-
ten machen Jagd auf KZ-Häftlinge, die aus einem
durch einen Luftangriff beschädigten Zug fliehen
konnten. Fast 200 von ihnen töten sie.

DER AMERIK ANISCHE LUF TANGRIFF GILT DEM GÜTERBAHNHOF VON CEL L E, D O CH A UCH MEHRERE HUNDERT HÄ F TL INGE
WERDEN VERL E T Z T ODER GETÖTET. LUF TAUFNAHME DER U. S . AIR FORCE, 8. 4. 1 945

D I E L E T Z T EN M O N AT E
IM T UMULT AUF DE M BAHNHOF IN CELLE VERLIERT DER FR ANZÖSISCHE HÄ F TL ING CAMIL L E DEL ÉTA NG EINE
MA PPE MIT ÜBER 150 ZEICHNUNGEN, DIE ER IM AUS SENL AGER HOL ZEN A NGEFERTIGT HAT. A N WOHNER FINDEN
DIE MAPPE UND ÜBERGEBEN SIE 67 JAHRE SPÄTER DER K Z- GEDENKSTÄT TE MI T TEL BA U - D OR A .

DER FR ANZOSE ARMAND ROUX ÜBERLEBT R ÄU- DER FR A N ZÖSISCHE HÄ F TL ING GU Y KERGOUSTIN STIRBT NA CH
MUNG, LUF TANGRIFF UND MAS SAKER IN CELLE; DER BEFREIUNG IN BERGEN - BELSEN . WID MUNG : „DEM GU TEN
ER WIRD AM 15 .4.1945 IN BERGEN- BELSEN BEFREIT. K AMER A DEN DER GEFA NGENSCHA F T – HOL ZEN 28- 3- 45 – CAM.
ZEICHNUNG VON CAMILLE DELÉTANG, 17.1 . 1 945 DEL ÉTA NG “. ZEICHNUNG VON CAMIL L E DEL ÉTA NG , 28. 3. 1 945

156 | 157
ARNO WAGNER, 1931 PA UL MÜL L ER , UM 1 934 WIL L I GRIEBEL , DEZ . 1 947

Großlöbichau, 12. April.


30 von einem Todesmarsch geflüchtete Häftlinge werden von Dorfbewohnern
ergriffen oder an die örtlichen NSDAP-Funktionäre verraten. Volkssturm-
männer erschießen die Häftlinge im Steinbruch des Ortes. Die SS ist längst
weitergezogen.

Arno Wagner Willi Griebel


(1904–1948) (1899–1963)

Vier Häftlinge werden zunächst verschont – Zu Beginn schaut er zu, später schießt der stell-
Studienrat Wagner setzt durch, dass diese vertretende Stabsleiter des Volkssturms selbst
ebenfalls erschossen werden. Er ist Stabsfüh- auf Häftlinge. SA-Standartenführer Griebel, seit
rer des Volkssturms im Kreis Jena. Wagner, seit 1925 in der NSDAP, ist gelernter Kaufmann, ab
1930 Mitglied der NSDAP, promoviert 1933 und 1930 arbeitslos. Später wird er Ausbilder für
unterrichtet am Gymnasium in Jena. Bei Kriegs- Wehrertüchtigung in einer Geländesportschule.
ende in amerikanische Gefangenschaft geraten, Bei Kriegsende gerät Griebel in amerikanische
flieht Wagner aus einem Internierungslager in Gefangenschaft. 1947 verurteilt ihn das Landge-
Darmstadt. Wenig später begeht er vermutlich richt Weimar zu lebenslanger Haft, 1956 wird er
Selbstmord. amnestiert.

Paul Müller
(1896–1945)

Er befiehlt und beaufsichtigt die Erschießungen


im Steinbruch. Als NSDAP-Kreisleiter führt er die
lokalen Volkssturmeinheiten. Der Veteran des
Ersten Weltkrieges ist altgedientes NSDAP-Mit-
glied: Bereits 1927 kandidiert der Volksschullehrer
für den Landtag; 1935 bis 1937 ist er Bürgermeis-
ter in Saalfeld. Aus Großlöbichau rückt Müller mit
dem Volkssturm ab; er stirbt einige Tage später
beim Vormarsch amerikanischer Truppen.

D I E L E T Z T EN M O N AT E
Niederschmiedeberg, 16. April.
Der Heizer Arno Bach, ein Sozialdemokrat, trifft zufällig auf zwei
geflohene Häftlinge. Die Brüder Michael und Jurek Rozenek sind aus
dem offenen Güterwaggon eines Transportzuges gesprungen.
Drei Wochen lang versteckt er zusammen mit seiner Frau und anderen
Hausbewohnern die beiden polnischen Juden.

„Noch immer waren wir misstrauisch, da wir es mit etwas Stroh und Wolldecken vorbereitet. [...]
kaum für möglich hielten, dass es noch deutsche Abends brachte uns Arno das Essen selber und
Menschen gab, die uns wirklich helfen wollten. erläuterte uns zugleich die neuesten Nachrichten
[…] über einen hinteren Eingang gelangten wir in über den Stand des Krieges. Für uns war das ein
einen Holzschuppen. Zwischen dem gestapelten Trost, denn es ging dem Ende zu, und wir waren
Holz wurde sehr schnell eine Öffnung hergestellt. sicher untergebracht.“
Dahinter hatte man bereits für uns ein Lager
MICHA EL ROZENEK ERINNERT SICH A N DA S VERSTECK .
”WIE WIRD ES EINMA L ENDEN ?“, WEIMA R 1 991 [1 989]

JUREK ( L .) UND MICHAEL ROZENEK (R.) MIT IHREN RET TERN, MAI 1 945. NEBEN A RNO UND SEINER
FR A U MARGARE TE BACH (2 .U.3 .V.R.) BETEILIGEN SICH WEITERE HAUSBEWOHNER A N DER HIL FE:
BA CHS SCHWESTER LUISE GRIESMANN UND IHR MANN ALFRED ( 3. U. 4. V. L .) SOWIE FRIEDA L IS SA K ( 2. V. L .) .
SIE A L L E EHRT DIE GEDENKSTÄT TE YAD VASHEM 1990 ALS „ GERECH TE UNTER DEN VÖL KERN “.

158 | 159
Nammering, 19. bis 24. April.
Am Bahnhof des niederbayerischen Dorfes muss ein Zug aus Buchenwald
mehrere Tage halten. Als er weiterfahren kann, bleiben 800 Leichen von
Häftlingen zurück, die auf der bis dahin zwölftägigen Fahrt verhungert oder
vor Ort ermordet worden sind. Die SS lässt sie provisorisch verscharren
oder im nahe gelegenen Steinbruch verbrennen.

„Am 19. April wurde ein ganzer Waggon von 45 dem Waggon geworfen; die nur Verwundeten
Häftlingen erschossen. Am nächsten Tage floß das mit Genickschuß getötet und mit dem Gewehr-
Blut noch durch den Boden des Waggons. Die Lei- kolben erschlagen. Tag und Nacht ging das
chen wurden am nächsten Tage 6 Uhr früh aus Morden weiter.“

HEINRICH KLÖSSINGER, BA HNHOFSVORSTEHER IN NAMMERING ,


IST A UGEN ZEUGE DES GESCHEHENS . BERICH T VO M 23. 12. 1 945,
FRIEDENSFORUM F ÜRSTENSTEIN

DIE US-AR MEE L ÄS ST DIE TOTEN DES MAS SAKERS BERGEN UND KONFRONTIERT
DIE EIN WOHNER NAHER DÖRFER MIT DEN VERBRECHEN, 15. –1 7. 5. 1 945.

FA RBFOTOS: SEYMOUR SCHENKMAN

S/ W-FOTOS: HOWARD E. JAMES UND EDWARD BELFER (U . S . AR MY SIGNA L C ORPS )

D I E L E T Z T EN M O N AT E
HEIML ICH FOTOGR AFIERT : DIE KOLONNE IST WENIGE KILOMETER
VOM MARSCHZIEL K Z DACHAU ENTFERNT. EIN TEIL DER HÄF TLINGE
A US DEN K Z BUCHEN WAL D UND FLOS SENBÜRG IST SEIT ÜBER ZWEI
WOCHEN UNTERWEG S , 26.4.1945 .
Hebertshausen, 26. April.
Als sich eine Häftlingskolonne an ihrem Haus
vorbeischleppt, fotografiert die 18-jährige Foto-
laborantin Maria Seidenberger den Elendszug.
Anders als sie ignorieren die meisten Deutschen
die Todesmärsche: Seidenbergers Fotos sind
seltene Ausnahmen.

MA RIA SEIDENBERGER RISKIERT BEREITS 1944 VIEL, SIE SCHICKT


A US DE M K Z DACHAU GESCHMUGGELTE BRIEFE AN ANGEHÖRIGE
VON HÄF TL INGEN , UM 194 5 .

160 | 161
Theresienstadt, 6. Mai.
Seit vier Wochen sind die ursprünglich 4.640 Häft-
linge eines Buchenwalder Zuges in 52 Waggons,
darunter 42 offene Kohlewaggons, eingepfercht.
Auf der Irrfahrt von Weimar nach Theresienstadt
haben sie kaum Verpflegung erhalten, nur etwa
die Hälfte von ihnen erlebt die Befreiung.

A LS DER ZUG EINTRIFF T, IST DIE S S BEREITS A US THERESIENSTA DT


A BGERÜCK T. DA S L A GER UNTERSTEH T DEM ROTEN KREUZ . ZWEI
TA GE SPÄTER IST DIE ROTE A R MEE DA . A UCH NA CH DER BEFREIUNG
STERBEN NO CH VIEL E DER „EVA KUIERTEN “. FOTOS : K A REL ŠA NDA ,
6. 5. 1 945

„Die absolute Des- oder vielmehr gar keine Orga- […] Abends: Kapitulation unterschrieben, keiner
nisation hat heute den Höhepunkt erreicht. Alles, jubelt. Es ist immer noch eine Stille in mir. Die
was läuft, ist Leerlauf. Es gibt keine Instanz, an lebendigen Gedanken, die auf Ausklang hofften,
die man sich wenden kann. […] verlassen das öde Schiff. Ich bin müde, die Welt
hat mich müde gemacht, für ewig?“

DIE 18 -JÄHRIGE AL ICE EHRMANN, SEIT 1943 IM GHET TO THERESIENSTA DT, BEOBA CH TET TA G S ZU VOR
DIE ANKUNF T DES ZUGES ; SIE BEKL AGT DIE AUSBLEIBENDE HILFE F ÜR DIE KR A NKEN UND STERBENDEN .
TA GEBUCHEINTR AG VO M 7.5 .1945 , YAD VASHEM, JERUSALEM

D I E L E T Z T EN M O N AT E
Lebensgeschichten
Räumungstransporte
Seit Sommer 1944 verlegt die SS Zehntausende Häftlinge nach Buchenwald:
Aus Lagern und Gefängnissen in Westeuropa, aus aufgelösten jüdischen
Zwangsarbeitslagern im besetzten Polen, aus Warschau, aus Auschwitz und
dem KZ Groß-Rosen. Mitte Februar 1945 sind im KZ Buchenwald und seinen
Außenlagern 88.000 Männer und 26.000 Frauen inhaftiert.

DIE BRÜDER SHMUEL UND NAF TALI FÜRST (RECHTS ), 1941

NA PH TA L I UND ISR A EL L A U IN FR A NKREICH ,


1 945

Eine Familie aus Bratislava Kindheit im Ghetto Piotrków


Naftali (Jurai) Fürst Israel Meir Lau
18.12.1932, Bratislava (Slowakei) 1.6.1937, Piotrków (Polen)
Shmuel (Peter) Fürst Naphtali Lau-Lavie
20.2.1931, Bratislava (Slowakei) 23.6.1926, Kraków (Polen)
12.3.2003, Kibbuz Lehavot Haviva (Israel) 6.12.2014, Ramat Gan (Israel)

Im Januar 1945 räumt die SS das KZ Auschwitz. Naftali Fürst Ein Leben in Freiheit hat der 7-jährige Israel Lau nicht ken-
ist 13 Jahre alt, sein Bruder Shmuel nur ein Jahr älter. Tage- nengelernt, als er im Januar 1945 mit seinem Bruder Naphtali
lang sind die beiden bei Minusgraden unterwegs, zunächst in das KZ Buchenwald verschleppt wird. Bereits 1939 muss
zu Fuß, dann in einem offenen Güterwaggon. Die Brüder die jüdisch-orthodoxe Familie in ein Ghetto umziehen. Ihren
stammen aus einer jüdischen Familie, die seit 1942 in einem Vater und ihren Bruder ermordet die SS 1942. Israel lebt mit
Arbeitslager leben muss. Anfang November 1944 werden sie der Mutter in einem Versteck, während Naphtali in einer Fa-
mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert, wo die Familie brik arbeiten muss. Bei der Räumung vertraut die Mutter, die
getrennt wird. In Buchenwald kommen die Brüder in den Kin- später im KZ Ravensbrück stirbt, den Jungen ihrem älteren
derblock. Schwer krank erlebt Naftali im April die Befreiung Sohn an, der sich aufopfernd um ihn kümmert. In Buchenwald
des Lagers. Shmuel treibt die SS auf einen wochenlangen bringen Mithäftlinge Israel im Kinderblock unter. Naphtali
Todesmarsch. Erst Anfang Mai wird er befreit. Im Sommer ringt schwer krank monatelang mit dem Tod. 1945 wandern
1945 finden sich die Brüder und Eltern in Bratislava wieder. beide über Frankreich nach Palästina aus, wo Israel als Rab-
Später emigrieren sie nach Israel. biner die Familientradition fortsetzt.

162 | 163
GIL BERTO SAL MONI (L .) MIT MUT TER VIT TORINA UND BRUDER RENATO,
DE ZE MBER 1938

MA URICE HA L BWA CHS , 1 944

Der letzte Transport aus Fossoli


Gilberto Salmoni
15.6.1928, Genua (Italien)

Im August 1944 wird Familie Salmoni für immer getrennt.


Seit Monaten ist sie im Polizeihaftlager Fossoli bei Modena
interniert. Gilbertos Vater ist italienischer Jude, seine
Mutter griechischer Herkunft. Er gilt als „Mischling ersten
Grades“. Seit 1938 leidet die Familie unter den italienischen
Rassengesetzen. Als die Deutschen Italien besetzen, droht
die Deportation. Nach einem Fluchtversuch in die Schweiz
kommt die Familie nach Fossoli. Von hier schickt die SS den
16-Jährigen mit seinem Bruder Renato zur Zwangsarbeit in
das KZ Buchenwald, die Eltern und seine Schwester werden in
CHARL ES BRUSSEL AIRS IN HÄF TLINGSKLEIDUNG Auschwitz ermordet. Die Brüder überleben. In seiner Heimat
NACH DER BEFREIUNG, UM 1945 /46 ist Gilberto später als Ingenieur und Psychologe tätig.

„Nacht-und-Nebel“-Häftling „… im letzten Moment deportiert“


Charles Brusselairs Maurice Halbwachs
18.1.1925, Antwerpen (Belgien) 11.3.1877, Reims (Frankreich)
22.3.2000, Wuustwezel (Belgien) 15.3.1945, KZ Buchenwald

Im oberschlesischen Gleiwitz kann Charles Brusselairs im Die amerikanischen Truppen stehen vor Paris, als die Besat-
Januar 1945 die herannahende Rote Armee bereits hören, zer im August 1944 mit einem letzten Transport Gefangene
als die SS das Lager hektisch räumt. Zu Fuß treibt sie die aus Gefängnissen der Stadt in das KZ Buchenwald schaffen
Gefangenen durch Schnee und Eis gen Westen. In offenen lassen. Der renommierte Soziologe Maurice Halbwachs ist
Waggons erreichen sie im Februar den Ettersberg. Weil er einer der Verschleppten. Er ist Mitglied der Sozialistischen
für den Widerstand Schriften verteilt und bei Fluchten Partei und verheiratet mit einer Jüdin. Seine beiden Söhne
geholfen hat, ist der junge Belgier 1943 nach Deutschland sind im Widerstand aktiv. Im Monat zuvor ist er verhaftet
verschleppt worden. Er gilt als „Nacht-und-Nebel“-Häftling: worden. Mit seinem Sohn Pierre kommt er in Buchenwald
Seine Eltern erhalten keine Informationen über sein Schick- in das Kleine Lager. Der 67-jährige Professor erkrankt hier
sal. Buchenwald muss er Anfang April 1945 mit einem an der Ruhr, an deren Folgen er Monate später vor den
Todesmarsch wieder verlassen. Erst vier Wochen später Augen des Sohnes schließlich elendig stirbt. Seine wissen-
wird er befreit. Nach Monaten in Sanatorien kehrt er 1946 schaftlichen Arbeiten zur Gedächtnistheorie gelten bis heute
nach Belgien zurück. als Klassiker.

D I E L E T Z T EN M O N AT E
MA X WIND MÜL L ER A UF EINEM
BA UERNHOF BEI A S SEN ( NIEDER -
L A NDE) , UM 1 940

RUDOL F BÖHMER ( 2. REIHE , 2 . V.L.) BEI DER ERSTKO MMUNION IM


R A PHA ELSHEIM , 19 41

„Hoffen kann man nur auf den eigenen Willen


und die Stärke des Körpers …“
Piotr Stefanowitsch Korschunkow
12.7.1919, Aleksandrowskoje bei Stawropol
(Sowjetunion)
5.4.2002, Ust-Bargusin am Baikalsee (Russland)

Ende Februar 1945 erreicht Piotr Korschunkow mit Hunder-


ten Häftlingen das Außenlager Leipzig-Thekla. Sie kommen
aus einem Lager des KZ Groß-Rosen, zehn Tage sind sie
unterwegs gewesen. Als Rotarmist ist der junge Russe 1942
in Kriegsgefangenschaft geraten. Weil er versucht hat zu flie-
hen, ist er in das Konzentrationslager eingewiesen worden.
Arbeiten kann er in Leipzig nicht mehr, er ist völlig entkräftet.
Als die SS auch dieses Lager räumt, sperrt sie ihn mit über
300 Kranken in eine Baracke und zündet sie an. Mit letzter
Kraft rettet er sich; über 200 Mithäftlinge sterben in den
Flammen. Nach einem weiteren Jahr als Soldat arbeitet er in
PIOTR KORSCHUNKOW ALS SOLDAT der Heimat als Fotograf und Künstler.
DER ROTEN ARMEE, 9.1.1946

Vom katholischen Kinderheim nach Auschwitz „… bis zum Schluss zu kämpfen.“


Rudolf Böhmer Max Windmüller
24.10.1928, Wesermünde 7.2.1920, Emden
21.11.1968, Braunschweig 21.4.1945, bei Cham in der Oberpfalz

1943 wird Rudolf Böhmers Familie aus Quedlinburg in das 1939 hat Max Windmüller bereits ein Schiff bestiegen, das
„Zigeunerlager“ nach Auschwitz deportiert. Er selbst bleibt ihn nach Palästina bringen soll. Doch er entscheidet sich
zunächst verschont. Erst ein Jahr später entdeckt die Polizei anders. Er bleibt in Europa und schließt sich einer jüdischen
den 15-Jährigen, der seit 1940 in einem Erziehungsheim in Widerstandsgruppe in den Niederlanden an, die Juden bei
Heiligenstadt lebt. Als er nach Auschwitz gebracht wird, ist der Flucht nach Spanien hilft. Er selbst ist 1933 mit seiner
seine Familie bereits tot. Nach der Räumung des „Zigeuner- Familie aus Ostfriesland in das Nachbarland geflohen.
lagers“ wird er im August 1944 in das KZ Buchenwald trans- Von einem Doppelagenten verraten, wird er im Juli 1944 in
portiert. Die SS hat keine Verwendung für ihn. Mit anderen Frankreich verhaftet. Einen Monat später wird er mit einem
jugendlichen Sinti schickt sie ihn zurück nach Auschwitz, letzten Transport aus dem Lager Drancy bei Paris in das
wo die meisten ermordet werden. Rudolf Böhmer überlebt KZ Buchenwald deportiert. Auf einem Todesmarsch bricht
als einer von wenigen. Nach dem Krieg macht es ihm die er krank und entkräftet zusammen. Die SS erschießt ihn,
fortwährende Diskriminierung der Sinti und Roma schwer, kurz bevor die Häftlingskolonne von amerikanischen Truppen
sich ein geregeltes Leben aufzubauen. befreit wird.

164 | 165
Lebensgeschichten
Sonderhäftlinge
Sie stehen in keiner Lagerkartei. Die Geheime Staatspolizei bringt Menschen
nach Buchenwald, nur um sie hier sofort umzubringen. Oder sie sperrt sie
nahe des Konzentrationslagers, im Garnisonsbereich der SS ein: als Geiseln,
stellvertretend für ihre zu Staatsfeinden erklärten Familienangehörigen oder
als mögliche Angeklagte für spätere Schauprozesse.

L ÉON BLUM IN BUCHENWALD, 1944 FRIEDRICH VON R A BENA U , A PRIL 1 937

„… weniger ein Gefängnis als eine Gruft Offizier der Wehrmacht und Theologe
oder ein Grab.“ im Widerstand
Léon Blum Friedrich von Rabenau
9.4.1872, Paris (Frankreich) 10.10.1884, Berlin
30.3.1950, Jouy-en-Josas (Frankreich) 9.-14.4.1945, KZ Flossenbürg

Léon Blum stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Fami- Friedrich von Rabenau dient im Ersten Weltkrieg, in der
lie, wächst in Paris auf und studiert Jura. Er wird Anwalt und Weimarer Republik und in der nationalsozialistischen Wehr-
Literaturkritiker und schließt sich den Sozialisten an. Nach macht. Nebenbei verfolgt er militärgeschichtliche Interessen:
dem Ersten Weltkrieg steigt er zum Vordenker und führenden die Universität Breslau verleiht ihm 1935 den Ehrendoktor. Ab
Kopf der Partei auf. 1936/37 erstmals Ministerpräsident, 1936 baut er das Heeresarchiv auf. Zugleich kritisiert er die
setzt er soziale Reformen durch. Nach der Besetzung antikirchliche Politik des Regimes und geht auf Distanz zur
Frankreichs lässt das Vichy-Regime Blum verhaften und menschenverachtenden Kriegsführung. Mitte 1942 wird er
an Deutschland ausliefern. Ab April 1943 hält ihn die SS als als Chef der Heeresarchive abgelöst und studiert Theologie.
Sonderhäftling im Falknerhaus des KZ Buchenwald gefangen. Verschwörer gegen Hitler gehören zu seinem Freundeskreis.
Er überlebt, kehrt nach Paris zurück und wird erster Sonder- Ende Februar 1945 wird er als Sonderhäftling nach Buchen-
botschafter Frankreichs in Washington. Als Essayist tritt wald gebracht, in eine Zelle mit Dietrich Bonhoeffer. Beide
er für einen humanistischen Sozialismus mit europäischer schafft die SS Anfang April 1945 in das KZ Flossenbürg. Dort
Perspektive ein. wird Friedrich von Rabenau ohne Verfahren ermordet.

D I E L E T Z T EN M O N AT E
MA FA L DA VON HES SEN , UM 1 940

A L E X A NDER SCHENK GR AF VON STAUFFENBERG (RECHTS ) MIT


SEINE M VATER AL FRED SCHENK GR AF VON STAUFFENBERG
( GEST. 1936 ) UND SEINEN BEIDEN SPÄTER HINGERICHTETEN BRÜDERN
ERTHOL D ( L INKS) UND CL AUS (MIT TE), STUT TGART UM 1925

„Sippenhaft“
Familie von Stauffenberg

Nach dem Attentat auf Hitler kündigt Himmler an, man


werde „eine absolute Sippenhaftung einführen“. Die Familie
Stauffenberg solle „ausgelöscht werden bis ins letzte Glied“.
Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist eine der zentralen
Persönlichkeiten der Verschwörung: Er platziert am 20. Juli
1944 die Sprengladung, die Hitler töten soll. Der Staatsstreich
scheitert; das Regime schlägt erbarmungslos zurück. Mitver-
schwörer werden eingekerkert, gefoltert, in Schauprozessen
verurteilt, hingerichtet. Die NS-Führung geht gegen die Fami-
lien vor, besonders gegen die Familie Stauffenberg: Ihr Besitz
wird beschlagnahmt, Angehörige interniert, die Kinder in ein
Heim gebracht. Mit anderen Sippenhäftlingen werden sie ab
Februar 1945 in eine Isolierbaracke nach Buchenwald verlegt.
Anfang April 1945 befiehlt die SS die Evakuierung. Erst am
4. Mai 1945 werden sie in Südtirol von US-Truppen befreit.
RUDOL F BREITSCHEID, UM 1929

„Die Abwehr des Faschismus ist jetzt die Parole.“ „Bomben fielen in unmittelbarer Nähe …“
Rudolf Breitscheid Mafalda von Hessen, Prinzessin von Savoyen
2.11.1874, Köln 19.11.1902, Rom (Italien)
24.8.1944, KZ Buchenwald 27.8.1944, KZ Buchenwald

In jungen Jahren betätigt sich der promovierte National- Mafaldas Ehemann, Philipp Prinz von Hessen, unterstützt die
ökonom Rudolf Breitscheid im bürgerlich-liberalen Spektrum. Nationalsozialisten. Er ist seit 1930 Parteimitglied und wird
Erst mit 38 Jahren schließt er sich der SPD an. 1920 zieht nach der Machtübernahme Oberpräsident der Provinz
er in den Reichstag ein, ist der führende Außenpolitiker der Hessen-Nassau. Als Schwiegersohn des italienischen Königs
SPD. Eindringlich warnt er in der Reichstagssitzung am ist Philipp Verbindungsmann zwischen Hitler und Mussolini.
24. Februar 1932 vor dem Nationalsozialismus. Ein Jahr 1943 besetzen alliierte Truppen Sizilien. Mussolini wird ge-
später muss Breitscheid nach Paris fliehen, arbeitet mit stürzt, Philipp von Hessen verdächtigt, mit der italienischen
daran, das linke Exil zu vereinen und zieht sich, als dies Königsfamilie am Sturz beteiligt zu sein. Er und seine Frau
scheitert, aus der politischen Arbeit fast ganz zurück. werden verhaftet. Getrennt von Mann und Kindern kommt
Französische Behörden liefern ihn im Februar 1941 an die Mafalda im Oktober 1943 nach Buchenwald. Sie muss in einer
Gestapo aus. Ihm soll der Prozess gemacht werden: Hoch- Sonderbaracke leben, wird beim amerikanischen Luftangriff
verrat. Ab September 1943 ist er Sonderhäftling in einer schwer verletzt und stirbt an den Folgen. „Drei Bomben fielen
Isolierbaracke in Buchenwald. Er stirbt beim Bombenangriff in unmittelbarer Nähe“, erinnert sich die Ehefrau Rudolf
auf das Rüstungswerk im August 1944. Breitscheids.

166 | 167
DIE TRICH BONHOEFFER MI T KONFIR MA NDEN IM HA R Z , 1 932

FR ANK PICKERSGIL L , 1938

Im Krematorium erschossen
Ernst Thälmann
16.4.1886, Hamburg
18.8.1944, KZ Buchenwald

Die Gestapo nutzt Buchenwald als Hinrichtungsort. Die Zahl


der so Ermordeten liegt nach Schätzungen bei über 1.000
Männern und Frauen. Das bekannteste dieser Opfer ist Ernst
Thälmann. Sein Aufstieg vom Gelegenheitsarbeiter zum
prominenten Politiker der Weimarer Republik beginnt nach
dem Ersten Weltkrieg. Von der SPD wechselt er über die
USPD 1920 zur Kommunistischen Partei, für die er 1924 in den
Reichstag einzieht. Ein Jahr später übernimmt er den Vorsitz
der KPD und kandidiert als Reichspräsident. Als Parteivor-
sitzender folgt er Vorgaben aus der Sowjetunion. Nach der
„Machtübernahme“ wird die KPD zerschlagen, ihre Mitglieder
verfolgt, ihr Vorsitzender im März 1933 verhaftet. Moabit,
Hannover, Bautzen: nach elf Jahren Einzelhaft wird Ernst
Thälmann nach Buchenwald gebracht und im Krematorium
ERNST THÄLMANN, JANUAR 1932 erschossen.

„Von guten Mächten wunderbar geborgen …“ „Nach Kanada zurückzukehren wäre nur ein
Dietrich Bonhoeffer allerletzter Ausweg.“
4.2.1906, Breslau Frank Pickersgill
9.4.1945, KZ Flossenbürg 28.5.1915, Winnipeg (Kanada)
14.9.1944, KZ Buchenwald
Seine bekanntesten Verse schreibt der evangelische Theo-
loge Ende 1944 in einer Zelle der Berliner Gestapozentrale. Auf einer Farm aufgewachsen, studiert Frank Pickersgill in
Dietrich Bonhoeffer wächst in Berlin-Grunewald auf. Behütet, Kanada Sprachen. 1938 geht er nach Europa, nach Paris.
gefördert, hochbegabt, scheint ihm eine glänzende Karri- Im besetzten Frankreich wird er als feindlicher Ausländer
ere vorgezeichnet. Doch dann kommt Hitler an die Macht. verhaftet und interniert. Doch ihm gelingt die Flucht. In
Bonhoeffer ist ein entschiedener NS-Gegner und einer der London meldet er sich Ende 1942 zum Geheimdienst, zur
führenden Köpfe der „Bekennenden Kirche“. Lehrverbot, Special Operations Executive, kurz: SOE. Ein halbes Jahr
Redeverbot, Veröffentlichungsverbot folgen. Er ist in Staats- später springt er mit dem Fallschirm hinter feindlichen Linien
streichpläne der Widerstandsgruppe seines Schwagers Hans ab. Er soll helfen, ein Widerstandsnetzwerk auszubauen.
von Dohnanyi eingeweiht, deren Attentatsversuche misslin- Doch die Deutschen rollen das Netzwerk auf: Hunderte
gen. Die Gestapo verhaftet ihn im April 1943, verlegt ihn im von Festnahmen, ein schwerer Schlag für die SOE und die
Februar 1945 in den SS-Arrest des KZ Buchenwald und zwei Résistance. Pickersgill wird verhaftet und gefoltert. Kurz
Monate später in das KZ Flossenbürg. Dort verurteilt ihn ein vor der Befreiung von Paris bringt man ihn mit anderen
SS-Standgericht zum Tode. SOE-Agenten zur Ermordung nach Buchenwald.

D I E L E T Z T EN M O N AT E
Lebensgeschichten
Widerstand in Buchenwald
Sie kommen aus ganz Europa und wollen sich
mit ihrer Situation nicht abfinden. Doch das allein
reicht im Konzentrationslager nicht aus. Nur wer
sich auf andere oder eine starke Gruppe stützen
kann und deshalb Mangel, Gewalt und Konkurrenz
nicht so erleiden muss wie die Mehrheit, kann
im Konzentrationslager Widerstand leisten, ohne
selbst unterzugehen.

OT TO HERR MANN , 19 4 8 MA RCEL PA UL AM REDNERPULT BEI


EINER KUND GEBUNG ZUM 1 . MA I 1 945

HERMANN BRILL,
1930/40ER JAHRE

„Dem deutschen Volke sagen,


„Los geht’s! Der Marsch zur Freiheit beginnt!“ welche Maßnahmen notwendig sind“
Otto Herrmann Hermann Brill
29.5.1903, Halle/Saale 9.2.1895, Gräfenroda
29.7.1969, Halle/Saale 22.6.1959, Wiesbaden

Wo er kann, setzt sich Otto Herrmann als Lagerältester im Hermann Brill wird 1943 aus dem Zuchthaus in das KZ Bu-
Außenlager Niederorschel für seine Mithäftlinge ein. Er ist ein chenwald überstellt. Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“
Mann der Tat: In den 1920er Jahren beteiligt er sich als frü- ist der Sozialdemokrat und promovierte Jurist 1938 verurteilt
hes KPD-Mitglied an Straßenkämpfen gegen Rechtsextreme. worden. Seine politische Karriere als Landtagsabgeordneter
Bei Kriegsbeginn weist die Gestapo den gelernten Elektriker in Thüringen und Reichstagsmitglied endet mit der NS-Macht-
in das KZ Buchenwald ein. Unter den dortigen Kommunisten übernahme. Aus Thüringen geht er nach Berlin und ist bis zur
ist er eher ein Außenseiter. In Niederorschel scheut er selbst Verhaftung im Widerstand aktiv. In Buchenwald bildet er das
den Konflikt mit der SS nicht. Als diese das Lager im April Volksfrontkomitee, einen geheimen, parteiübergreifenden
1945 räumt, macht er den Häftlingen Mut. Nach der Befreiung Kreis politischer Häftlinge. Ihre Diskussionen fließen in sein
ist er politisch aktiv. 1948 tritt er jedoch aus der SED aus Manifest „Für Freiheit, Frieden und Sozialismus“ ein, das er
und arbeitet fortan als Hausmeister. Posthum wird er als nach der Befreiung vorstellt. 1945 ist er kurz Regierungspräsi-
„Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. dent in Thüringen, bevor er nach Hessen geht. Er arbeitet am
Grundgesetz mit und ist Abgeordneter im Bundestag.

168 | 169
HENRI MANHÈS (L .) BEI DER ANKUNF T EINER GRUPPE PRO MINENTER FR A N ZOSEN A US DEM BEFREI TEN K Z BUCHEN WA L D
A UF EINE M PARISER FLUGHAFEN, 18.4.1945

„Fondateurs du collectif français“ „Fondateurs du collectif français“


Marcel Paul Henri Manhès, genannt Frédéric
12.7.1900, Paris (Frankreich) 9.6.1889, Étampes (Frankreich)
11.11.1982, L‚Île-Saint-Denis (Frankreich) 25.6.1959, Nizza (Frankreich)

Aus einfachen Verhältnissen stammend, findet Marcel Paul Eine steile Karriere bringt Henri Manhès in die Chefetagen
früh über die sozialistische Jugend seinen Weg zu den französischer Verlagshäuser, bevor er 1933 aussteigt und
Kommunisten und steigt zum Spitzenfunktionär der fran- fortan als Journalist arbeitet. Er stammt aus dem bürger-
zösischen Gewerkschaftsbewegung auf. Als Mitglied einer lich-konservativen Milieu und steigt ab 1940 zu einem der
Widerstandsgruppe wird er 1941 verhaftet und drei Jahre wichtigsten Vertreter General de Gaulles im besetzten
später in das KZ Buchenwald deportiert. Mit dem Gaullisten Frankreich auf. Als solcher kämpft er für die Einigung des
Manhès gelingt es ihm hier, die zersplitterten französischen französischen Widerstandes. 1943 verhaftet, wird er in das
Häftlingsgruppen zu einen. Neben einem Komitee für gegen- KZ Buchenwald deportiert. Mit Marcel Paul gelingt es ihm
seitige Hilfe entsteht die militärisch organisierte franzö- hier, die Gegensätze unter den französischen Häftlingen zu
sische Befreiungsbrigade. Als Kommunist vertritt er die überbrücken. Sie gründen ein Hilfskomitee und bauen eine
Franzosen auch im Internationalen Lagerkomitee. Nach dem französische Befreiungsbrigade auf. Auch später arbeiten
Krieg wird er französischer Industrieminister und engagiert sie zusammen: Unter Industrieminister Paul wird Manhès
sich in Häftlingsverbänden. Staatssekretär.

D I E L E T Z T EN M O N AT E
WALTER BARTEL BEIM INTERNATIONALEN
BEFREIUNGSTAG 19 4 8 IN WEIMAR

PA WEL LYSENKO A LS SOL DAT


DER ROTEN A R MEE, 1 945

FEL IKS GREŚKOWIAK , UM 1946

„Netzwerker des kommunistischen Untergrunds“ „Illegale Anschlüsse“


Walter Bartel Feliks Greśkowiak
15.9.1904, Fürstenberg/Havel 14.5.1921, Wolsztyn (Polen)
16.1.1992, Berlin 31.1.2012, Nowy Tomyśl (Polen)

Walter Bartel stammt aus einer sozialistischen Arbeiterfa- Das selbst gebaute Radio wird Feliks Greśkowiak im Mai
milie. Früh engagiert sich der kaufmännische Lehrling für 1940 zum Verhängnis. Der 19-jährige Pole wird verhaftet
die KPD, die ihn fördert und 1929 zum Studium nach Moskau und Monate später in das KZ Buchenwald verschleppt. Nach
schickt. Von dort zurück, geht er in den Untergrund, wird Schwerstarbeit im Kommando „Gärtnerei“ wird er den Deut-
verhaftet und verbringt zwei Jahre im Zuchthaus. Die KPD schen Ausrüstungswerken zugeteilt. Deutschen Mithäftlingen
lässt ihn fallen. Auf sich gestellt, wird er 1939 in Prag verhaf- fällt hier sein technisches Geschick auf. Der Lagerwiderstand
tet und ins KZ Buchenwald gebracht. Die Kommunisten hier beauftragt ihn deshalb, das Häftlingslager mit geheimen
vertrauen ihm. Er knüpft Kontakte zwischen den verschie- Telefonanschlüssen zu vernetzen. Die Zentrale entsteht in der
denen Nationen und bildet so die Basis für das Internationale TBC-Isolierbaracke. Der junge Elektriker erfüllt den riskanten
Lagerkomitee, in dem er bis zur Befreiung aktiv ist. Die Partei Auftrag. Bis zur Befreiung betreibt er die Anlage. Zurück in
nimmt ihn später wieder auf. In der DDR wird er Professor für der Heimat, bleibt er seiner Leidenschaft treu: Er gründet eine
Zeitgeschichte und ist einer der Köpfe des Internationalen Familie und eröffnet ein kleines Elektrogeschäft.
Buchenwaldkomitees.

170 | 171
FR A N Z L EITNER ( 6. VON L INKS IN DER HINTEREN REIHE)
IN EINER GRUPPE BEFREITER ÖSTERREICHER , 21 . 4. 1 945

„Für die Kinder war die Solidarität


besonders groß.“
Franz Leitner
12.2.1918, Wiener Neustadt (Österreich)
20.10.2005, Höf-Präbach (Österreich)

Weil er Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes ist,


wird Franz Leitner 1939 in das KZ Buchenwald eingewiesen.
Mit 25 Jahren wird er hier Blockältester in Block 8. In diesem
hat der Lagerwiderstand eine Art Schutzraum für Minderjäh-
rige eingerichtet, von denen ab 1943 immer mehr ins Lager
RUDI SUPEK IN WEIMAR, 1945 kommen. Um die Situation der jungen Häftlinge zu verbessern,
beschafft er zusätzliche Nahrung, Kleidung, Medikamente und
erteilt Unterricht. Nach einer Gestapo-Razzia kommt er für
einige Monate in Einzelhaft. Dennoch erleben allein in Block
8 über 370 Kinder und Jugendliche die Befreiung. In seiner
Heimat ist Franz Leitner weiter politisch aktiv. 1999 wird er
für seinen Einsatz als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.

„Handgranaten für den Widerstand“ „Naš glas“ – Unsere Stimme


Pawel Lysenko, alias Alek Mironow Rudi Supek
28.2.1919, Prokopjewsk/Kemerowo (Sowjetunion) 8.4.1913, Zagreb (Kroatien)
28.6.1984, Sysran/Samara (Sowjetunion) 2.1.1993, Zagreb (Kroatien)

Eigentlich sollen Zahnpasta und Seife hergestellt werden. Der Kroate Rudi Supek ist einer der intellektuellen Köpfe des
Doch der Keller der Häftlingskantine scheint der perfekte Internationalen Lagerkomitees. Er vertritt Jugoslawien, eine
Ort, um Sprengstoff herzustellen. Hierfür wählt der Lager- Gruppe mit ganz unterschiedlichen Ethnien und Interessen.
widerstand Pawel Lysenko aus. Der Leutnant der Roten Der Sohn eines Schornsteinfegers ist 1939 aus seiner Heimat
Armee hat die Medizinische Fakultät in Tomsk besucht und ist nach Paris gegangen, um Philosophie zu studieren. Als Mit-
wegen seines chemischen Fachwissens der geeignete Mann glied der kommunistischen Partei mobilisiert er dort jugosla-
für die Aufgabe. Als Kriegsgefangener wird er 1943 in das wische Migranten für den französischen Widerstand. Er wird
KZ Buchenwald eingewiesen, wo er einen falschen Namen 1942 verhaftet und zwei Jahre später in das KZ Buchenwald
angibt. Bei den Sprengstoffexperimenten verletzt er sich zu- deportiert, wo er sich im Lagerwiderstand engagiert. Nach
nächst schwer. Schließlich gelingt es jedoch, einige Granaten der Befreiung arbeitet er an der Lagerzeitung „Naš glas“ mit.
zu bauen. Nach der Flucht von einem Todesmarsch schließt Er beendet sein Studium in Frankreich und ist später in seiner
er sich der Roten Armee an, mit der er Prag befreit. Später Heimat an verschiedenen Universitäten tätig.
arbeitet er als Dozent für Chemie.

D I E L E T Z T EN M O N AT E
April 1945 – die Tage bis
zur Befreiung
Höchste Anspannung kennzeichnet die letzten saker, für eine selbstständige Befreiung reichen
zehn Tage im KZ Buchenwald. Einerseits beschleu- ihre Kräfte nicht.
nigt die SS die Evakuierung und steigert damit
die Angst der Häftlinge. Andererseits verzögern In der Nacht zum 11. April geht der letzte Evakuie-
Funktionshäftlinge und das Internationale Lager- rungsmarsch ab. Um 14:30 Uhr erreichen amerika-
komitee die Zusammenstellung der Marschko- nische Panzer den SS-Bereich und schlagen die SS
lonnen und tragen damit zur Rettung bei; außer- in die Flucht. Eine Viertelstunde später beginnen
dem versuchen sie, Kontakt zu den Amerikanern bewaffnete Mitglieder des Häftlingswiderstandes
herzustellen. Offen ist, was am Tag der Befreiung damit, verbliebene SS-Männer zu stellen und zu
geschehen wird. Häftlinge befürchten ein Mas- entwaffnen. Buchenwald ist befreit.

UM FÜR EINEN R Ä UMUNG STR A NSPORT VORBEREI TET ZU SEIN , PA CK T DER A US MA GDEBURG
STAMMENDE MA X GÖHR MA NN EINEN K A RTON MIT PERSÖNL ICHEN GEGENSTÄ NDEN .

A UFSCHRIF T K ARTONBODEN (INNEN): „ WIR GEHEN IN DEN TOD. WIR WERDEN UNS ZU WEHREN WIS SEN .
MA X GÖHR MANN MAGDEBURG 10.4.45 “ .

172 | 173
D I E L E T Z T EN M O N AT E
5. April 1945

AM 5. APRIL ERREICHEN AMERIK ANISCHE TRUPPEN SÜDLICH VON GOTHA DA S A US SENL A GER OHRDRUF.
KUR Z ZUVOR SIND DIE WACHMANNSCHAF TEN ABGEZOGEN. SIE HABEN Z A HL REICHE KR A NKE UND SCH WA CHE
HÄ F TL INGE ER MORDE T UND VERSUCHT, DEREN LEICHEN ZU BESEI TIGEN . FOTO : BYRON H . ROL L INS , 8. 4. 1 945

„Wir haben in den letzten Wochen viele tausend Fußmärschen, zum großen Teil nur noch für den
Häftlinge durch das Tor wanken sehen, die nach Totenkarren sich herschleppten. Wir wussten,
wochenlanger Reise, zugebracht im Winter im Evakuierung bedeutet für jeden zweiten Mann von
offenen Eisenbahnwagen oder auf tagelangen uns den Tod.“

ERNST THAPE : BUCHEN WALDER TAGEBUCH, EINTR AG VO M 3 .4. 1 945 ( A US ZUG ) .


A RCHI V DER SOZIAL EN DE MOKR ATIE / FRIEDRICH- EBERT- STIF TUNG, BONN

174 | 175
BLOCK 8 AM 5. A PRIL 1945 : 417 JUGENDLICHE UND KINDER .
TA SCHENKL ADDE DES R APPORTFÜHRERS HERMANN HOFSCHULTE,
EINTR AG VOM 5.4 .194 5

IM KINDERBLO CK 8 BEFIEHLT DER BLO CK Ä LTESTE WIL HEL M HAMMA NN , DIE GEL BEN
WINKEL VON DER HÄ F TL ING SKL EIDUNG ZU ENTFERNEN . A LS DIE S S R Ä UMEN WIL L ,
LEUGNET HAMMA NN , DA S S FA ST 1 50 JÜDISCHE KINDER IN SEINEM BLO CK SIND.

„Die SS kam zu unserem Block, um einen Appell mit ja. Dann wandte sich der SS-Mann zurück
abzuhalten [...]. Sie schrien: ‚Alle Juden raus!‘ zu Hammann: ‚Und ihr sagt, hier gibt es keine
Wilhelm Hammann, unser Blockältester, antwor- Juden?‘ Hammann eilte sofort zu dem Kind,
tete: ‚Hier sind junge Leute, aber keine Juden!‘ schob es zu den anderen in die Reihe und sagte
Daraufhin näherte sich einer der SS-Leute einem zu ihm: ‚Aber du hast mir doch gesagt, daß du
sehr kleinen Jungen. Er packte ihn am Kragen kein Jude bist!‘ In diesem Moment meinte der
seiner Jacke, schüttelte ihn mit unglaublicher andere SS-Mann zu seinem Komplizen, er solle
Kraft und brüllte: ‚Du bist Jude oder nicht?‘ Der sich beruhigen. Und sie gingen fort. Der Block-
Kleine war völlig durcheinander und antwortete älteste hat sein Leben für uns riskiert!“

DER DAMALS 16 -JÄHRIGE ELIEZER BUZYN ERINNERT SICH AN DIE RET TUNG DER KINDER IN BLO CK 8.
MIRIAM ROUVEYRE , ENFANTS DE BUCHENWALD, PARIS 1995

D I E L E T Z T EN M O N AT E
6. April 1945
DIE WEIMARER GESTA PO BEREI TET IHREN A BZUG VOR : SIE L Ä S ST GEFÄ NGNISINSA S SEN
ERSCHIES SEN UND FORDERT A USGEWÄ HLTE K Z - HÄ F TL INGE A US BUCHEN WA L D A N –
VERMUTLICH SOL L EN A UCH SIE NO CH BESEI TIGT WERDEN .

Hans-Helmut Wolff
(1910–1969)

Der Weimarer Gestapo-Chef lässt am 5. April in


einem Waldstück 149 Gefängnisinsassen erschie-
ßen. Wolff – schon vor 1933 in der NS-Bewegung
engagiert – geht als Jurist 1937 zur Gestapo,
bekleidet Leitungsposten unter anderem in Den
Haag (1941–44) und kommt erst im März 1945
als SS-Obersturmbannführer nach Weimar. 1947
flieht er aus amerikanischer Haft und lebt danach,
zeitweilig unter falschem Namen, als Geschäfts-
mann in der Bundesrepublik. Ein laufendes Ermitt-
HANS - HELMUT WOLFF, LETZTER CHEF lungsverfahren wird mit seinem Tod eingestellt.
DER GESTAPO IN WEIMAR.
FOTO: AKTE DES R AS SE- UND SIED-
LUNGSHAUPTAMTES DER S S , CA . 1 937

DIE GESTA PO HÄ LT DIE 46 A NGEFORDERTEN HÄ F TL INGE F ÜR DIE


F ÜHRENDEN KÖPFE DES L A GERWIDERSTA NDS . DA ZU BEF ÜRCHTEN
IST, DA S S SIE ER MORDET WERDEN , TA UCHEN SIE IM L A GER UNTER.
L ISTE DER 46 POL I TISCHEN HÄ F TL INGE, 6. 4. 1 945 ( A BSCHRIF T )

176 | 177
8. April 1945
In den letzten Tagen vor der Befreiung stellt die SS Räumungstransporte zusammen.
Insgesamt müssen über 28.000 Häftlinge das Lager zu Fuß oder per Bahn verlassen.

GEFÄLSCHTER BRIEF AN PISTER, 8.4.1945 . VERSTECKT IN EINER KISTE, DIE A NGEBL ICH MEDIZINISCHE INSTRUMENTE
ENTHÄLT, GEL ANGT EUGEN KO GON NACH WEIMAR. DER A NGEBLICH VON EINEM BRITISCHEN FA L LSCHIR MSPRINGER
STAMMENDE BRIEF SOLL K Z- KO MMANDANT PISTER DAZU BEWEGEN , DIE R Ä UMUNG ZU STOPPEN .

Eugen Kogon
2.2.1903, München
24.12.1987, Königstein/Taunus
”An die Alliierten!
Der katholische Publizist wird als NS-Gegner An die Armee
in den 1930er Jahren mehrfach verhaftet. des Generals Patton!
Seit 1939 ist er politischer Häftling in
S.O.S.!
Buchenwald und Häftlingsschreiber des
SS-Arztes Ding-Schuler. Im befreiten Lager Wir bitten um Hilfe.
stellt er für die Amerikaner einen Bericht Man will uns evakuieren.
über Buchenwald zusammen; sein Buch Die SS will uns vernichten.“
„Der SS-Staat“ gilt bis heute als Standard-
werk. Er bleibt Publizist und ist später
Professor für Politikwissenschaft. HIL FERUF MIT EINEM SEL BSTGEBA U TEN
SENDER : Z WÖL F MA L WIEDERHOLEN
HÄ F TL INGE DEN HEIML ICH GESENDE -
EUGEN KOGON IN BLO CK 5 0, TEN A PPEL L A N DIE 3. US - A R MEE
DE M HYGIENE -INSTIT UT DER UNTER GEORGE S . PAT TON .
WAFFEN-SS, KZ BUCHENWALD, GEDENKSTÄT TE BUCHEN WA L D
UM 19 4 4 ( AUSSCHNIT T ).

D I E L E T Z T EN M O N AT E
DAS INTERNATIONALE
LAGERKOMITEE

Im Juli 1943 organisieren deutsche Kommunis- Das Komitee verhindert offene Konflikte zwischen
ten erstmals eine heimliche Beratung mit gleich- den nationalen Gruppen und schützt Mitglieder
gesinnten Häftlingen aus anderen Ländern. von kommunistischen Parteien sowie andere
Danach finden regelmäßig Treffen statt. Dem Widerstandskämpfer. Es koordiniert Hilfe und
Lagerkomitee gehören Kommunisten aus bringt ausländische politische Häftlinge auf
Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Jugos- Funktionsposten. Mitglieder des Lagerkomitees
lawien, den Niederlanden, Österreich, Polen, der beschaffen Informationen über den Kriegsverlauf
Sowjetunion und der Tschechoslowakei an. Die und stellen eigens Gruppen auf, um ein befürch-
Gründung des Lagerkomitees sichert die Vorrang- tetes Massaker der SS kurz vor der Befreiung
stellung der deutschen Kommunisten, obwohl abzuwehren. Es gelingt, dafür Verbandszeug und
Deutsche im Lager nur noch eine verschwindend mehrere Dutzend Waffen zu verstecken.
kleine Minderheit sind.

DER PL A N : DIE VERSCHIEDENEN GRUPPEN DER


MIL ITÄ RISCHEN UNTERGRUND ORGA NISATION SOL LEN
EIN ZEL NE BEREICHE DES GEL Ä NDES BESETZEN .
SKIZ ZE VON WIL L I SA L DEN , 1 945

178 | 179
FA HNE DER „BRIGADE FR ANÇAISE D’ACTION LIBÉR ATRICE“. FÜR IHRE BEFREIUNG SBRIGA DE NÄ HEN
FR AN ZÖSISCHE HÄF TL INGE HEIMLICH AUS GESTOHLENEN STOFFRESTEN EINE FA HNE. SIE BL EIBT
VON SEPTE MBER 194 4 BIS ZUM 11. APRIL 1945 UNTER EINEM BLO CK IM KL EINEN L A GER VERSTECK T.
MI T SEINE M IL L EGAL BESCHAFF TEN PERISKOP AUS SOWJETISCHER PRODUK TION ( L INKS ) HÄ LT DER
FR AN ZÖSISCHE HÄF TL ING LOUIS GROS EINEN DER WACHTÜR ME IM BL ICK .

IM FAL L E DES AUFSTANDS GEGEN DIE S S RECHNET DIE WIDERSTA NDSORGA NISATION MIT VERL ETZ TEN .
IM KR ANKENBAU L EGEN HÄF TLINGE EINEN VORR AT VERBANDMATERIA L A N .

D I E L E T Z T EN M O N AT E
Chronologie
des 11. April 1945
in Buchenwald
M O R G E N S Einheiten der 4. und 6. Panzerdivision der 3. US-Armee
setzen ihren Vormarsch aus der Gegend von Gotha über Erfurt Richtung Osten fort.
G E G E N 1 0 : 0 0 U H R Der Lagerälteste Hans Eiden und Franz Eichhorn werden
ans Lagertor befohlen. KZ-Kommandant Pister kündigt den Abzug der SS an.
1 0 : 0 0 U H R Die Sirene „Feindalarm“ ertönt. Über Lautsprecher kommt
der Befehl: „Sämtliche SS-Angehörige sofort aus dem Lager!“
1 0 : 3 0 U H R Das Internationale Lagerkomitee mobilisiert die
Widerstandsgruppen und gibt illegal beschaffte Waffen aus.
1 1 : 0 0 U H R Infanteriefeuer amerikanischer Truppen nordwestlich
des Lagers.
G E G E N M I T T A G Die Angehörigen der SS-Kommandantur fliehen.
Die Besatzungen der Wachtürme setzen sich ab.
1 3 : 0 0 U H R Die ersten zwei Panzer der 4. US-Panzerdivision nähern
sich aus Richtung Hottelstedt.
1 4 : 0 0 U H R Zwölf amerikanische Panzer werden in der Nähe des Wirtschaftshofes
gesichtet, vier umfahren das Lager am nördlichen Rand. Schwere Gefechte
zwischen amerikanischen Truppen und der SS westlich des Lagers.
1 4 : 3 0 U H R Panzer des 37. Panzerbataillons der 4. Panzerdivision
überrollen den SS-Bereich ohne zu stoppen: Die SS ist militärisch besiegt.
1 4 : 4 5 U H R Die bewaffneten Widerstandsgruppen sammeln sich
unterhalb des Appellplatzes.
1 5 : 0 0 U H R Otto Roth und zwei Elektriker steigen in das Torgebäude
ein. Der Lagerälteste Hans Eiden folgt, hisst die weiße Fahne und unterrichtet
das Lager in einer Lautsprecherdurchsage über die Situation.
1 6 : 0 0 U H R Die Widerstandsgruppen haben die Kontrolle über das Lager
übernommen und 76 Gefangene gemacht.
1 6 : 4 5 U H R Vertreter von zehn Nationen kommen zusammen. Sie setzen
einen Lagerrat und verschiedene Kommissionen ein, die das Überleben
sicherstellen sollen.
G E G E N 1 7 : 0 0 U H R Im Jeep treffen zwei Aufklärer der 4. Panzerdivision,
die Franzosen Emmanuel Desard und Paul Bodot, am Lagertor ein.
G E G E N 1 7 : 1 0 U H R Ein Aufklärungstrupp der 6. Panzerdivision betritt
das Lager am nördlichen Ende. Captain Frederic Keffer, Sergeant Herbert Gottschalk,
Sergeant Harry Ward und Private James Hoyt werden als Befreier begrüßt.
Wie Desard und Bodot bleiben auch sie nur kurze Zeit.

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IM JEEP TREFFEN LEUTNANT EMMANUEL DESARD UND SERGE ANT PAUL BEFREI TE HÄ F TL INGE BEWA CHEN IN DER UMGEBUNG
BODOT ( FOTO) GEGEN 17 UHR AM L AGERTOR EIN. DIE BEIDEN FR A N ZO - DES L A GERS GEFA NGEN GENO MMENE S S - MÄ NNER , 1 1 . 4. 1 945.
SEN SIND AUFKL ÄRER DER 4. PANZERDIVISION DER 3 . US- AR MEE. FOTO : PA UL BOD OT

L EU TNA NT EMMA NUEL DESA RD


STEL LT DEM L A GER Ä LTESTEN
HA NS EIDEN EINEN PROVISORI -
SCHEN A USWEIS A US , 1 1 . 4. 1 945.

IN WEIMA R WIRD OFFENBA R


VON DER S S DIE L IQUIDIE -
RUNG A L L ER HÄ F TL INGE
ERWA RTET. NOTI Z DES BE -
FREI TEN HÄ F TL ING S HERBERT
MORGENSTERN , 1 1 . 4.1 945

„Bei dem Versuch der Herstellung einer telefonischen Fernverbindung


antwortete die Weimarer Telefonistin: ’Wie siehts in Buchenwald aus?‘
Antwort: ’Na, so halb und halb‘
Telefonistin: ’Habt Ihr denn die Häftlinge alle getötet?
Laßt ja keinen raus‘“

D I E L E T Z T EN M O N AT E
E XTRE M UNTERERNÄHRTE ÜBERLEBENDE ERHALTEN BLUTPL ASMA KONDENSMILCH MI T ZUCKER SPIELT BEI DER ERST VERSORGUNG
UND NÄHRLÖSUNGEN; SIE SIND NICHT IN DER L AGE, GEWÖHNLICHE DER HUNGERNDEN EINE WICH TIGE ROL L E. D OSE A US BESTÄ NDEN
NA HRUNG ZU SICH ZU NEHMEN. FUNDORT: STEINBRUCH I DER US - A R MEE. F UND ORT: DA CHBODEN , TORGEBÄ UDE

US-SOL DATEN ÜBERGEBEN DRINGEND BENÖTIGTE DECKEN AN HÄF TL INGE.

182 | 183
IM BEFREITEN L A GER , 18. 4. 1 945.
FOTOS : A RDE A N R . MIL L ER ( U . S . A R MY SIGNA L C ORPS )

D I E L E T Z T EN M O N AT E
Nach der Befreiung
Die befreiten Konzentrations- und Vernichtungslager sind Beweise für die
nationalsozialistischen Verbrechen. Die Amerikaner öffnen Buchenwald
deshalb für internationale Delegationen und konfrontieren die Einwohner
Weimars mit dem Lager. Fotos und Filmaufnahmen gehen um die ganze
Welt. In der Stadt bestreitet man jede Mitwisserschaft und Verantwor-
tung.

Die erste Sorge des Internationalen Häftlingskomitees und der US-Armee


gilt der Rettung Unterernährter und Kranker. Gleichzeitig beginnt die
Dokumentation der Verbrechen. Noch im Lager werden Hunderte von Zeu-
genaussagen aufgezeichnet. Bis Ende 1946 überprüfen amerikanische
Ermittlungsbehörden mehr als 6.000 Verdächtige. In der Bundesrepublik
und in der DDR wird später nur ein Bruchteil der Tatbeteiligten zur Rechen-
schaft gezogen.

Es dauert Jahrzehnte, bis in der deutschen Gesellschaft das Ausmaß der


Verbrechen anerkannt wird. Die Mehrheit der Überlebenden erfährt nie-
mals öffentliche Anerkennung und wird nicht entschädigt. Sinti und Roma,
Homosexuelle oder „Asoziale“ werden jahrzehntelang weiter diskriminiert
und ihre Verfolgung wird ignoriert.

Bereits im befreiten Lager denken Überlebende darüber nach, wie die Er-
fahrung der Häftlinge bewahrt und vermittelt werden kann. Viele von ihnen
engagieren sich im Alltag, in der Politik, in der Wissenschaft und Kunst
dafür, die Frage immer wieder neu zu stellen, was politisch und moralisch
aus der Erfahrung des Nationalsozialismus zu lernen ist.

EIN WOHNER WEIMARS UND AMERIK ANISCHE SOLDATEN IM HOF DES KREMATORIUMS , 1 6. 4. 1 945.
FOTO: WALTER CHICHERSKY (U.S . ARMY SIGNAL CORPS )

184 | 185
Konfrontation mit den Verbrechen.
Als die Alliierten Deutschland erreichen, stoßen sie vielerorts auf Lager und
ausgemergelte oder tote Häftlinge. Die von der Bevölkerung vorgebrachte
Behauptung, von den Lagern in ihrer Nachbarschaft nichts gewusst zu haben,
erscheint deshalb unglaubwürdig. Auf alliierte Anordnung werden Deutsche
mit den Zuständen in den Lagern konfrontiert. Manche müssen sich an der
Beisetzung von Ermordeten beteiligen.

EIN WOHNER WEIMARS VOR DEM GALGEN IM HOF DES KREMATORIUMS . IM HINTERGRUND AMERIK A NISCHE
SOL DATEN UND BEFREITE HÄF TLINGE, 16.4.1945 . 1.000 EINWOHNER WEIMA RS MÜS SEN A N DIESEM TA G DA S
L A GER BESICHTIGEN . FOTO : WALTER CHICHERSKY (U.S . ARMY SIGNA L C ORPS )

„Als die Zivilisten immer wieder riefen: ‚Wir haben nichts gewußt! Wir haben
nichts gewußt!‘ gerieten die Ex-Häftlinge außer sich vor Wut. ‚Ihr habt es
gewußt‘, schrien sie. ‚Wir haben neben euch in den Fabriken gearbeitet. Wir
haben es euch gesagt und dabei unser Leben riskiert. Aber ihr habt nichts
getan.‘“

DIE AMERIK ANISCHE FOTO GR AFIN MARGARET BOURKE- WHITE ÜBER DEN 1 6. A PRIL 1 945 IN BUCHEN WA L D.
DEUTSCHL AND, APRIL 194 5 , MÜNCHEN 1979 [NEW YORK 1946 ]

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Auseinandersetzung in Deutschland.
In beiden deutschen Staaten ist die Mehrheit der Bevölkerung lange Zeit nicht bereit, sich mit der
eigenen Rolle im „Dritten Reich“ auseinanderzusetzen. Die alleinige Verantwortung für den National-
sozialismus wird – unterschiedlich begründet – auf den „Führer“ oder auf hinter ihm stehende Gruppen
geschoben. In der Bundesrepublik zeigt man dabei auf die Spitzen der NSDAP, Gestapo und SS. In der
DDR gelten Großunternehmer und Finanzkapitalisten als Drahtzieher der NSDAP. Das staatlich verordnete
Geschichtsbild der DDR bezeichnet die Großunternehmer und Bankiers als eigentliche Verantwortliche.
In der Bundesrepublik stößt diese Form der Schuldabwehr erst Anfang der 1960er Jahre auf wachsende
Kritik. In der DDR bleibt sie bis zum Fall der Mauer bestimmend.

„Aus Presse- und Rundfunknachrichten der alliierten Mächte geht hervor, daß die Auffassung
vertreten wird, die Einwohnerschaft von Weimar und Umgebung habe von den Greueln in Buchenwald
Kenntnis gehabt und dazu geschwiegen; sie sei daher als moralisch mitschuldig anzusehen. Dieser
harte Vorwurf trifft die Einwohnerschaft der alten Kulturstadt Weimar auf das schwerste; um so
schwerer, als er zu Unrecht erhoben erscheint und in einem Nichtvertrautsein mit den Verhältnissen
im nationalsozialistischen Deutschland seine Ursache hat. [...]
Der Oberbürgermeister und die unterzeichneten Stellen fühlen sich daher verpflichtet, den Gefühlen
der Einwohnerschaft der Stadt und des Landkreises Weimar durch den obigen Bericht Ausdruck zu
geben. Sie appellieren an das Gerechtigkeitsgefühl der Welt, wenn sie bitten, [...] die alte Kulturstadt
Weimar nicht mit einem Makel zu behaften, den sie nicht verdient hat.

gez. Dr. F. Behr, Der Oberbürgermeister der Stadt Weimar


gez. Breitung, Der röm.-kath. Dechant Weimar
gez. Kade, Der evangelische Propst und Superintendent Weimar
gez. Prof. Wahl, Leiter der Weimarer Kulturstätten“

IN EINE M SCHREIBEN AN DIE AMERIK ANISCHE MILITÄRREGIERUNG BESTREI TEN DIE REPR Ä SENTA NTEN DER STA DT
WEIMAR JEDE SCHUL D DER STADTBEVÖLKERUNG AN DEN VERBRECHEN , 1 . 5. 1 945. STA DTA RCHIV WEIMA R

DIE GEDENKFEIERN ZUR BEFREIUNG DES K Z BUCHEN WA LD


STEHEN IN DER DDR GA N Z IM ZEICHEN DES VERORDNETEN
GESCHICH TSBIL DES . SCHL A GZEIL E IN DER PA RTEIAMTLICHEN
ZEI TUNG DER SED „NEUES DEU TSCHL A ND “, 1 1 . 4. 1 960

GEDENKFEIER ZUM 1 5. JA HRESTA G DER BEFREIUNG DES


K Z BUCHEN WA L D, 1 0 . 4. 1 960 .

NACH DER BEFREIUNG


Verletztes Leben.
Das Lager hinterlässt bei Überlebenden schwere
körperliche und seelische Verletzungen. Hunderte
sterben noch in den Monaten nach der Befreiung.

AMERIK ANISCHE MIL ITÄ R Ä R Z TE UND SA NITÄTER DES 120 TH UND DES 45TH EVA C UATION
HOSPITAL RINGEN WO CHENL A NG UM DA S L EBEN VON A NNÄ HERND 5. 0 0 0 KR A NKEN .
HUNDERTE WERDEN MI T IHREN RÖNTGENBIL DERN IN DA S TUBERKULOSEKR A NKENHA US
BL ANKENHAIN BEI WEIMA R VERL EGT.

A NGEHÖRIGE DES 120 TH EVACUATION HOSPITAL VERLEGEN KR ANKE A US DEM KL EINEN L A GER IN DIE
SS-K A SERNEN , 17 . 4 . 1 94 5 . FOTO: U.S . ARMY SIGNAL CORPS

188 | 189
RÖNTGENBIL D VON SIEGFRIED
SCHÜ T T, 1 945

Tuberkulosepatient Siegfried Schütt, 21 Jahre

Geboren in Leipzig. Als 16-jähriger Sinto wird er im Dezember 1940 verhaftet und in das
Jugend-KZ Moringen eingeliefert. Von dort deportiert ihn die SS nach Auschwitz, im August
1944 kommt er in das KZ Buchenwald. Nach acht Wochen im Steinbruch liegt er schwer
krank im Häftlingskrankenbau. Er lässt sich nach der Befreiung auf eigenen Wunsch aus
Blankenhain entlassen, um in Leipzig seine Familie zu suchen. Wochen später kehrt er tod-
krank zurück. Er stirbt am 4. Februar 1946 in Blankenhain.

Wiedergutmachung?
Opfergruppen müssen teils Jahrzehnte darauf warten, bis das ihnen Gesche-
hene als Verbrechen anerkannt wird und sie zumindest eine symbolische
Entschädigung erhalten. In der Bundesrepublik wird die Politik der Wiedergut-
machung von außenpolitischen Interessen wie auch innergesellschaftlicher
Kritik beeinflusst. In der DDR setzt die Entschädigung von KZ-Häftlingen deren
Loyalität zum Staat voraus und bleibt auf Staatsangehörige beschränkt.

NACH DER BEFREIUNG


Überlebende als Zeugen.
Für die ermittelnden alliierten Stellen, später auch für die Justiz, sind die
Überlebenden als Augenzeugen von besonderer Bedeutung und unentbehrlich.
Erstmals können sie als selbstbewusste Persönlichkeiten ihre Erfahrungen
darstellen.

ZWEI WO CHEN NA CH DER BEFREIUNG DES K Z BUCHEN WA L D MEL DEN SICH A UF A NFR A GE DER
AMERIK ANISCHEN ER MIT TL ER 1 79 ÜBERL EBENDE A LS ZEUGEN . IHRE A US SA GEN BIL DEN DIE
GRUNDL AGE FÜR DIE FAHNDUNG NACH SS-TÄTERN UND DEN GRUNDSTOCK DER SPÄTER VOR DEM
AMERIK ANISCHEN MIL ITÄ RGERICH T IN DA CHA U DURCHGEF ÜHRTEN BUCHEN WA L DPROZESSE .

Dimitri Michailow, Student, Russe Peter Lorang, Tischler, Luxemburger


Buchenwald Februar 1944 bis April 1945 Buchenwald 1945

„Obersturmführer Gust hatte die Gewohnheit, „In Gleiwitz wurden wir, zusammen 110 Gefährten,
uns mit einer Peitsche zu ’begleiten‘, oft hetzte bei etwa –15 bis –17 °C in offene Eisenbahnwag-
er seinen Hund auf uns. Wenn er ins Mikrofon gons gestopft. Auf dem Weg nach Buchenwald
sprach, redete er von uns immer als ’Tiere‘, sind allein in meinen Wagen 34 Gefährten verhun-
’Schweine‘ usw. [...] Nicht weniger schreck- gert oder erfroren.“
lich war das Verhalten des Hauptscharführers
Taufratshofer, Spitzname ’Bambus‘. Als Mitglied
des Kommandos 99 gab er oft selbst damit
an, dass er an der Ermordung der ’russischen
Schweine‘ teilgenommen hatte.“

190 | 191
Juliusz Jan Orkisz, Kunstmaler, Pole
Buchenwald April 1941 bis April 1945

„Ich bin Zeuge der Misshandlungen in der Lager-


gärtnerei geworden, wo Hunderte von Häftlingen
ihr Leben verloren haben. Sie mussten in Dreck-
wasser und Exkremente, Mist usw. springen. Einer
der jungen polnischen Häftlinge wurde wahnsinnig
und brachte sich selbst um. Er war erschöpft,
unfähig zu arbeiten, der Krankenbau lehnte ihn
ab und er verlor die Nerven.“

Mat j N mec, Brigadegeneral, Tscheche


Buchenwald 1939 bis 1945

„Ich wurde als Aushilfe beim Bekleiden der Todes-


transporte beschäftigt; das heißt der Transporte,
die aus anderen Lagern nach Buchenwald evaku-
iert worden sind. Hier habe ich zum ersten Mal in
meinem Leben gesehen, was das heißt: ‚zu Tode
hungern‘.“

NACH DER BEFREIUNG


Buchenwalds SS vor Gericht.
Von den mindestens 9.000 SS-Männern und Aufseherinnen, die von 1937 bis
1945 in Buchenwald und seinen Außenlagern Dienst taten, werden wegen Ver-
brechen in Buchenwald vor deutschen und alliierten Gerichten 95 angeklagt
und 79 verurteilt. Zwischen 1945 und 1987 finden 59 Verfahren statt.

AM 11. APRIL 1 947 BEGINNT IN DA CHA U DER BUCHEN WA L DPROZES S VOR EINEM US - MIL ITÄ R-
GERICH T. DIE MEISTEN DER 31 A NGEKL A GTEN SIND MI TGL IEDER DES S S - KO MMA NDA NTUR-
STABES . DANEBEN STEHEN VIER HÄ F TL ING SK A POS UND ILSE KO CH A LS EIN ZIGE FR A U VOR
GERICHT. DER PROZESS ENDET MIT 22 TODESURTEILEN, VON DENEN 10 VOLLSTRECKT WERDEN.

DIE A NGEKL AGTEN IM BUCHENWALDPROZES S , 1947. FOTO: U.S . AR MY SIGNA L C ORPS

DER EHE MAL IGE L AGERKO MMAN-


DANT PISTER BEI DER URTEILS -
VERKÜNDUNG, 14 . 8 . 1947.
FOTO: DE AN L . DENNIS
( U. S. AR MY SIGNAL CORPS )

192 | 193
ILSE KOCH VOR GERICHT, 195 0. IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHL A ND FINDEN 1 9 PROZES SE WEGEN VERBRECHEN IM K Z BUCHEN WA L D STAT T.
A UF ÖFFENTL ICHES INTERES SE STOS SEN VOR ALLEM DIE PROZES SE GEGEN ILSE KO CH VOR DEM L A ND GERICH T A UG SBURG UND GEGEN MA RTIN
SOMMER 19 58 VOR DE M L ANDGERICHT BAYREUTH.

WIL HEL M SCHÄ FER ( MIT TE )


VOR GERICH T, 1 0 . 4. 1 961.
IN DER DEU TSCHEN DEMOKR A -
TISCHEN REPUBL IK ERREGT VOR
A L L EM DER PROZES S GEGEN DEN
EHEMA L IGEN S S - HA UPTSCHA R-
F ÜHRER SCHÄ FER A UF MERK -
SAMKEI T. DA S OBERSTE GERICH T
VERURTEILT IHN WEGEN BETEI -
L IGUNG A N DER ERSCHIESSUNG
SOW JETISCHER KRIEG SGEFA NGE -
NER ZUM TODE.

NACH DER BEFREIUNG


Schwur von Buchenwald – Ursprung und Versionen.
Im Auftrag des Lagerkomitees organisiert eine Gruppe aus österreichischen,
niederländischen, tschechischen, polnischen und ungarischen Häftlingen, darunter
auch jüdische Überlebende, am 19. April 1945 eine Gedenkfeier für die Toten des
Lagers. Die Schlusssätze der dabei in mehreren Sprachen verlesenen Erklärung beto-
nen angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen und des noch nicht beende-
ten Krieges: „Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung.
Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.“ Bereits
einige Tage später wird der „Schwur von Buchenwald“ entsprechend den Zielset-
zungen kommunistischer Häftlinge umformuliert: „die endgültige Vernichtung des
Faschismus mit seinen Wurzeln“ steht für die klassenkämpferische Zerschlagung
des Kapitalismus und die Durchsetzung kommunistischer Herrschaft.

„ BUCHEN WAL DER NA CHRICHTEN“ ,


20 . 4 . 1 9 4 5. IN DER L AGERZEITUNG
WIRD DER SCHWUR EINEN TAG NACH
DER GEDENKFEIER IN DER ORIGINAL -
FA SSUNG ABGEDRUCKT.

194 | 195
Lebensentwürfe.

„Buchenwald den Rücken kehren“

A BREISE BEFREITER KINDER UND JUGENDL ICHER VO M BA HNHOF


WEIMA R NA CH FR A NKREICH , 1 . 6. 1 945. INSCHRIF T A UF DEM WA GGON:
”WO SIND UNSERE ELTERN ? IHR MÖRDER . “

„Einen Neuanfang wagen“

BEFREITE ANGEHÖRIGE DES L AGERSCHUTZES VOR EINER


HOL ZBAR ACKE , NACH DEM 11.4.1945 . BESCHRIF TUNG AN
DER BAR ACKE : ” HEIM WOLLEN WIR ANTIFASCHISTEN.
NAZIVERBRECHER VERNICHTEN. “ FOTO: ALFRED STÜBER

„Erinnern“

”KIBBUZ BUCHEN WA L D “: BEFREITE JÜDISCHE FR A UEN UND


MÄ NNER BEREITEN SICH IN HES SEN A UF DIE A USWA NDERUNG
NA CH PA L Ä STINA VOR , 1 945.

EINE FR AN ZÖSISCHE DELEGATION BESUCHT DAS EHEMALIGE


K Z BUCHEN WAL D, AUGUST 195 0. FOTO : GEORGES ANGÉLI

NACH DER BEFREIUNG


Was bedeutet Buchenwald?
Ehemalige Häftlinge sprechen

Floréal Barrier
„Verlangen wir, zuallererst von uns und dann auch von den anderen,
einen respektvollen Blick auf den, der anders ist als wir selbst.
Verbieten wir jedes Hindernis für die Freiheit, das Leben und
das Leben in Frieden.“
REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG , A PRIL 20 1 5

Léon Blum
„… was auf Gewalt aufgebaut und durch Zwang beibehalten
wird, was die Menschheit erniedrigt, und auf der Verachtung
der menschlichen Person beruht, hat keine Dauer.“
BL ICK AUF DIE MENSCHHEIT, 1947

Jacqueline Fleury
„Europa ist etwas, das sich im Kleinen aufbaut. Durch Austausch.“
INTERVIEW, VERSAILLES 20 1 1

Chava Ginsburg
„Meine Botschaft ist: seid freundlich und tolerant gegenüber anderen Menschen.
Hass auf eine Gruppe kann leicht auf die anderen übergehen. Wir haben auf die harte Tour gelernt –
’Es kann auch dir passieren‘. Wir müssen für eine Welt ohne Hass, religiöse Intoleranz und
Grausamkeit arbeiten. Eine Welt, auf der Frieden herrscht.“
INTERVIEW, GEDENKSTÄT TE BUCHENWALD 2015

Bertrand Herz
„Wir müssen uns der Bedrohung elementarer Menschenrechte widersetzen
und dürfen keinesfalls den Verlockungen des Populismus oder von Ideologien
erliegen, die die Ausgrenzung Einzelner zum Ziel haben.“
DANKESREDE ZUR VERLEIHUNG DER EHRENBÜRGERSCHA F T DER STA DT WEIMA R , 20 0 9

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Stéphane Hessel
„Es gibt kulturelle Unterschiede, aber keine zivilisatorischen. Wenn wir in Gesellschaften
leben, dann bedeutet es, dass jedes Individuum dieselben fundamentalen Rechte hat.
Sie bedeuten zugleich, dass man miteinander leben kann, dass man sich gegenseitig
respektiert, dass man Verantwortung für den anderen hat – das ist Zivilisation.“
REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, A PRIL 20 0 8

Ivan Ivanji
„Keineswegs dürfen wir uns mit dem Zustand, in dem wir leben, zufrieden geben, keineswegs
verzweifeln, wenn die Welt des Friedens und der Freiheit nur ansatzweise geschaffen wurde und
neuerdings selbst da unerwartet wieder bedroht wird. Jetzt sind unsere Kinder und Enkelkinder
gefragt, hoffentlich haben wir sie richtig aufgeklärt, tun das auch heute und hier, haben ihnen
die richtigen Waffen, Werkzeuge und Ideen anvertraut.“
REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 2015

Benedikt Kautsky
„Die menschliche Natur wird man nicht ändern, der Mensch trägt in sich die
Ansätze zum Bösen wie zum Guten – es gilt, die Umstände zu schaffen, unter
denen Achtung vor der fremden Persönlichkeit, Selbstverantwortung und
Rücksicht auf die Rechte der anderen zur Selbstverständlichkeit werden.“
TEUFEL UND VERDAMMTE. ERFA HRUNGEN UND ERKENNTNIS SE A US SIEBEN JA HREN IN DEU TSCHEN
KONZENTR ATIONSL AGERN , 1 946

Rolf Kralovitz
„Hass ist eine schreckliche Sache, egal von wem und nach welcher
Seite. Wir können nur versuchen, zu informieren und die Menschen
zueinander zu bringen, statt auseinander.“
IM GESPR ÄCH MIT SCHÜLERN, 1997

Sol Lurie
„Die Schönheit der Welt ist der Regenbogen an Menschen mit vielen
verschiedenen Hintergründen, und das muss gefeiert werden.“
REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG , A PRIL 20 1 5

NACH DER BEFREIUNG


Charles Palant
„Aber wir konnten doch nicht nur unser eigenes
Haus wieder aufbauen. Wenn wir vom Frieden sprachen,
meinten wir gleichzeitig auch den Aufbau eines
friedlichen Europas.“
INTERVIEW, PARIS 20 11

Éva Pusztai
„… das Schicksal unserer Enkelkinder ist uns das Wichtigste. Das Beste, was
ich ihnen wünschen kann – wenn es auch noch so utopisch klingen mag –, ist:
dass sie sich ein angstloses Leben schaffen können. Dass sie sich eine demo-
kratische Gesellschaft erbauen, in der institutioneller Hass unbekannt ist.“
REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG , 20 12

Jack Unikowski
„Nicht jeder kann ein Held, ein Politiker, ein Philosoph, ein Helfer sein.
Aber jeder Einzelne kann die Würde von jedem anderen Individuum
respektieren oder jemandem in Not eine helfende Hand reichen.“
REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 2015

Imre Kertész
„Heimat? Zuhause? Land? ... Vielleicht wird den Menschen einmal
aufgehen, dass dies alles abstrakte Begriffe sind und dass das, was sie
zum Leben wirklich brauchen, nichts anderes ist als ein bewohnbarer
Ort. Ein solcher Ort wäre wahrscheinlich jede Anstrengung wert.“
DAS EIGENE L AND, 1 996

Eugen Kogon
„Man muss den Terror in seinen Anfängen, in seinen Erscheinungsformen, in seinen Praktiken und in
seinen Folgen entlarven. Denn wir wurden Zeugen davon, und werden es noch immer, wie er sich inmitten
heutiger Demokratien entwickelt, wie er zur Macht kommt und sich als Demokratie selbst ausgibt,
geradezu als eine Regierungsform von Freiheiten.“
TERROR ALS HERRSCHAF TS SYSTEM, REFER AT 1948

198 | 199
Jorge Semprún
„Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten Europas,
besser gesagt, des wiedervereinten Europas, einen Weg zu bahnen,
besteht darin, unsere Vergangenheit untereinander zu teilen, unser Gedächtnis,
unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen.“
REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG, APRIL 20 05

Józef Szajna
„Wir behalten aus der Zeitgeschichte doch nur die größten Mörder in Erinnerung -
Hitler vergisst niemand in Deutschland und auch nicht anderswo auf der Welt. Wer
aber kennt die Opfer? Ich stehe auf der Seite der Menschen, nicht auf der Seite der
Macht und ihrer Repräsentanten; die Führer dieser Welt gehen mich nichts an.“
INTERVIEW MIT I. SCHEURMANN, WARSCHAU 2000

Bruno Bettelheim
„Unser Herz muss die Welt der Vernunft kennen, und die Vernunft
muss sich von einem wissenden Herzen leiten lassen.“
AUFSTAND GEGEN DIE MA S SE. DIE CHA NCE DES INDI VIDUUMS IN DER MODERNEN
GESELLSCHAF T, 1 960

Robert J. Büchler
„Erste Lehre ist Toleranz. Zweite Lehre: Kein Krieg. Weil ohne Krieg wäre
kein Holocaust geschehen. Frieden, Toleranz, gegenseitige Verständigung,
Menschenrechte: Das sind meine Lehren aus dem Lager.“
IM GESPR ÄCH MIT JUGENDLICHEN, DEUTSCHL ANDR ADIO KULTUR - ZEITREISEN , 20 07

Pierre Durand
„Unser langes Leben hat uns gelehrt, dass man nie aufgeben darf,
dass man im Herzen die Flamme der Hoffnung und den Willen bewahren
muss, eine bessere Welt aufzubauen, eine Welt, die der Menschheit
würdig ist.“
REDE ZUM JAHRESTAG DER BEFREIUNG , A PRIL 20 0 1

NACH DER BEFREIUNG


Statt eines Nachwortes – Mein Weimar
Honig und Galle
Ivan Ivanji

Die neugestaltete Dauerausstellung über das des Dichters, gesagt hat, Goethes Eiche ist eine
Konzentrationslager Buchenwald ist die letzte, Buche gewesen und die stand nicht auf dem
an deren Entstehen ehemalige Häftlinge mitge- Gelände, auf dem das KZ errichtet wurde. Eine
wirkt haben, an deren Eröffnung einige der aller- Eiche, die wichtige, ansonsten vertrauenswür-
letzten von uns teilnehmen können. Ich wünschte dige Zeitgenossen, wie Joseph Roth oder Ernst
mir trotzdem – oder gerade deshalb – dass es Wiechert, aber auch die Lager-SS und viele
keine Totenmesse für die im SS-Staat ermorde- Häftlinge, für den Baum Goethes gehalten haben,
ten Menschen wird, kein Kotau vor den letzten hat allerdings existiert, ein Baum, der den Be-
Überlebenden, die angeschwankt gekommen stand Deutschlands garantiert haben soll, aber
sind, sondern die Ermöglichung eines auf Ver- nicht in seine Rinde hat der junge, übermütige
ständnis der Vergangenheit begründeten Blickes Goethe seinen Namen geritzt und sie als Greis
nach vorn. Wir, die man Zeitzeugen genannt hat, Eckermann gezeigt.
haben gesagt, was wir zu sagen hatten. Die Ar-
beit der Gedenkstätten gilt nicht uns, wir wissen, Das Lager hieß Buchenwald, nicht Eichenwald.
was geschehen ist. Ich glaube, sie sollte sich vor Ein alter Spruch warnt: Eichen sollst Du weichen,
allem an junge Mädchen und Burschen wenden, Buchen sollst Du suchen. Allerdings, es klingt
die man jedoch nicht per Schuldekret zwingen gut, wenn man behauptet und schreibt, dass die
darf, Orte des Grauens zu besuchen, sondern stattliche Eiche im KZ bis zum Volltreffer einer
neugierig machen soll auf die Möglichkeiten des Bombe im August 1944 standgehalten hat. Nach-
Menschen, gut oder böse zu sein. dem sie von der Bombe zersplittert wurde, war
es mit Hitlers Deutschland tatsächlich aus.
In der kleinen Stadt Weimar besucht man Höhe-
punkte deutscher Kultur. Das Konzentrationsla- Sicher ist eines, dieser Baum stand nicht im Lan-
ger Buchenwald war nur wenige Kilometer vom de wo die Zitronen blühn.
Zentrum Weimars entfernt. Wunderbares und
Schlimmes gibt es vielerorts auf diesen Plane- Ich habe als Häftling in Buchenwald nichts von
ten, aber nirgendwo befindet sich Schönstes und Goethes Eiche gehört, war zu unwichtig, ein
Erhabenstes, was Menschen gelungen ist, so Nobody, solche Geschichten drangen nicht zu
nahe am Bösesten und Schrecklichsten, das sie mir durch, alle meine Kraft war notwendig, den
begangen haben. nächsten Tag, die nächste Stunde zu überle-
ben. Allerdings hätte ich Gedichte von Goethe,
Der Dichter und Fürstbischof von Montenegro, ganze Balladen, auswendig rezitieren können.
Petar Petrović Njegoš, schrieb: Mein Vater hatte sie mir noch im Vorschulalter
„Nie noch trank man ein Glas voller Honig beigebracht. Vor dem Schlafengehen las er mir
ohne es mit Galle zu verbittern. vor. Er hat in Deutschland Medizin studiert und
Ein Glas Honig fordert ein Glas Galle, Mitte der 1930er Jahre waren die Deutschen für
nur vermischt sind sie dann auszutrinken.“ ihn noch immer das Volk der Dichter und Denker.
Prost! Wahrscheinlich sind wir deshalb nicht rechtzei-
tig geflohen, sind er und meine Mutter ums Leben
Legenden sind für mich Niemandsland zwischen und ich ins Lager gekommen.
historischer Wahrheit und phantasiereicher
Erfindung. Sie sind nicht wahr, werden jedoch Goetheplatz, Weimar. Ein Stück Stadt wie überall
wahrhaftig, wenn viele an sie glauben. Goethes auf der Welt. Busse halten und rasen weiter,
Eiche auf dem Gelände des Konzentrationsla- eilige oder müßig sich umsehende Passanten
gers Buchenwald zwischen Häftlingsküche und und Touristen. Für mich hat der Frauenplan
Wäscherei ist ein Beispiel. Ich glaube, dass wahr mit Goethe zu tun, keineswegs dieser Ort mit
ist, was Johann Peter Eckermann, der Vertraute seinen mir nichtssagenden Häusern, diesem

200 | 201
Menschengemenge. Wenn wir gerade zu Tau- Meine eigenen Erinnerungen sind von den vielen
senden da stehen oder unser Bier trinken, bin schlechten und einigen wenigen guten Spielfil-
ich wahrscheinlich der Einzige, der auch daran men über den Holocaust überlagert. Die Szenen
denkt, dass vor 232 Jahren an diesem Ort der mit in die Viehwaggons gepferchten Menschen,
vierundzwanzigjährigen Johanna Catharina das Fauchen der Lokomotive, die von links nach
Höhn der Kopf abgeschlagen worden ist. Goethe rechts über den Bildschirm fährt, ist stärker, als
hat der Enthauptung des Mädchens zugestimmt. was ich mir gemerkt habe über meine Transporte
Er war damals vierunddreißig Jahre jung. Hat er von Baja in Ungarn nach Auschwitz, Auschwitz
seine Einstellung je verändert? In Dichtung und nach Buchenwald, Buchenwald nach Magdeburg,
Wahrheit erwähnt er das Problem überhaupt Magdeburg nach Buchenwald, Buchenwald nach
nicht, obwohl das öffentlich vollstreckte Urteil Niederorschel, Niederorschel nach Langenstein.
Wirklichkeit, das bedeutet, Wahrheit war, die im Besäße ich den Dokumentenauszug des Interna-
Faust beschriebene, rührende Gretchenszene im tionalen Suchdienstes aus Arolsen nicht, würde
Kerker Dichtung, Theater. Unter Gewissensbis- ich zweifeln, ob meine Wahrheit wahr ist. Sicher
sen hat der Geheime Rat nicht gelitten. Gewalt ist nur, als ich 1944 im Stammlager Buchenwald
schleicht sich bei ihm auch sonst immer wieder war, hatte ich keine Ahnung von der Nähe zu
in seine Dichtung ein. Weimar. Zu Goethe.

Über Goethes energische Zustimmung zum Zum ersten Mal bewusst in Weimar war ich am
Todesurteil ist viel geschrieben worden, denn 26. April 1968. Eine Fahrt auf den Ettersberg
Großherzog Carl August hätte die Kindsmörderin zur Gedenkstätte Buchenwald, ein Bankett im
am liebsten begnadigt, fragte seine Räte aber Elephantenkeller des Hotels Elephant und an-
um ihre Meinung. Goethe hat seine Entschei- schließend ein heimlicher, nächtlicher Besuch in
dung als Jurist und Staatsmann gefasst. Das ist Goethes Haus am Frauenplan. Noch wusste ich
logisch, nicht der Dichter war gefragt. Es war nicht, wie tief sich meine Wurzeln in die thüringi-
durchzusetzen, was er für Recht hielt. Recht und sche Erde bohren würden, auf welche makabre
Ordnung. Der Goetheplatz zu Weimar als Richt- Weise ich hier eine Art von Heimat finden kann.
stätte beweist einmal mehr die Nähe von über- Im Regierungsflugzeug der DDR zwischen Berlin
irdischer Schönheit und höllischer Grausamkeit und Erfurt wurde ich von einem Stewart, geklei-
auch in der Vergangenheit. Und eben in Weimar det wie ein Admiral, mit Säften und scharfen
ist diese Nähe überall sichtbar. Getränken versorgt. Mein neugieriger Blick er-
kannte unten auf der Erde nur Hügellandschaft,
„Und der wilde Knabe brach das Röslein auf Dörfer, Wälder. Das KZ Buchenwald hatte ich
der Heiden!“ Da hilft kein Seufzer vom Röslein, vor dreiundzwanzig Jahren im Viehwaggon mit
Röslein, Röslein rot. etwa achtzig Leidensgenossen verlassen und
jetzt kehrte ich im blauen Anzug mit sorgfältig
„Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“, gebundener, rot gesprenkelter Krawatte als
sagt der Erlkönig. Dolmetscher des jugoslawischen Außenminis-
ters zurück. Darf ich sagen: zum Tatort? Kann
„Halb zog sie ihn, halb sank er hin, / Und ward das Opfer zum Tatort zurückkehren, oder nur der
nicht mehr gesehen …“ Mit schönen Worten Täter?
über Sonne und Mond wird der Fischer ersäuft,
ertränkt, ermordet. Später in einer schwarzen Autokolonne in Beglei-
tung von uniformierten Motorradfahrern bergauf.
„Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser: / Sollte ich jetzt etwas wiedererkennen? Nichts.
Vom Himmel kommt es, / Zum Himmel steigt es, Wie sollte ich? Das war doch ganz anders da-
/ Und wieder nieder / Zur Erde muss es / Ewig mals.
wechselnd.“
Bei solchen Gelegenheiten war es üblich, dass
Einmal Frauenplan – Ettersberg und zurück, bitte. der Dolmetscher des Gastgebers mehr Arbeit
Ich komme von Goethe nicht los. Ich bin gerne übernimmt, als der des Gastes. Ich konnte etwas
in Weimar. Und die Erinnerung an das Konzentra- zurückbleiben. Hinter unseren Rücken lustige
tionslager kann mir längst nichts mehr anhaben. Rufe der Chauffeure und Polizisten. Auf Deutsch.

NACH DER BEFREIUNG


Wie sonst? Aber die sehr lauten deutschen Wieder viele Jahre später zum fünfundsechzigs-
Stimmen brachten die Erinnerung zurück. So hat ten Jahrestag der Befreiung von Buchenwald
auch die SS gebrüllt. Als wir durch das Lagertor bekam ich mit meiner Frau die Suite 100 im Hotel
gingen, das Gelände bergab vor mir lag, wusste Elephant. Natürlich neues Mobiliar, neue Bilder
ich, wo ich war. an den Wänden, aber derselbe Blick zur Garten-
seite hinaus. Hier hat Hitler geschlafen und aus
Außenminister Marko Nikezić wurde von einem dem Fenster geschaut. Wieso hat man dieses
ehemaligen Häftling begrüßt: Zimmer mir gegeben? „Weil Du mit den Dämonen
fertig wirst!“, sagte man mir.
„Mein Name ist Richard Kucharczyk oder, wie
man sich vorschriftsmäßig vorzustellen hatte, Im Gasthof Elephant in Weimar hat Goethe oft
Häftling Nummer 921.“ seinen Wein getrunken. Er war sehr trinkfest,
hat sein Herzog Carl August geschrieben. Hitler
Mein Minister drehte sich um: war Antialkoholiker. In meiner Phantasie könnten
sich die Geister der beiden nach Mitternacht in
„Wir haben doch auch so einen!“, rief er, von den Fluren des Hotels trotzdem begegnen und ...
meinem Standpunkt aus ungeschickt. „Ivanji, wo Drei Punkte an dieser Stelle sollten genügen. Im
stecken sie?“ Hotel Elephant ist mir doch auch der Aschen-
mensch von Buchenwald erschienen, der bisher
Ich musste also vortreten und sagte der Nummer in zwei meiner Romane spukt. Mindestens des-
921, ich sei Häftling Nummer 58.116. Weil er eine halb bilde ich mir ein, sagen zu dürfen:
dreistellige Lagernummer hatte, wusste ich,
dass er zu den ersten hier oben gehört hatte. „Mein Weimar!“

Den Radioreportern gefiel das, sie steckten uns Nietzsche-Archiv. Villa „Silberblick“. Nicht nur
ihre Mikrofone unter unsere Nasen und baten, Ehrfurcht vor dem vernebelten Geist des wort-
wir sollten das doch wiederholen. Ich knurrte sie gewaltigen Philosophen, sondern Bewunderung
an, würgte an einem Knödel im Hals und hätte der Einrichtung von Henry van de Velde. Auch
losgeheult, wenn ich versucht hätte, noch etwas hier war Hitler zu Besuch, um der Hausherrin,
zu sagen. Das war aber nur damals so. Seither Nietzsches Schwester, die Hand zu küssen,
lasse ich die Leute von den Medien mit mir wie es höfliche Österreicher nun einmal so gut
machen, was sie wollen, das ist nun einmal die können. Honig und Galle auch hier beisammen,
Lebensaufgabe von Zeitzeugen. schwer für mich zu sagen, welcher Geschmack
im mir angebotenen Gläschen überwogen hat.
Im Elephantenkeller übernahm wieder der
freundliche deutsche Dolmetscher die Haupt- Im Arbeitskommando von Buchenwald in Nie-
last. Ich wurde neben einen netten Menschen derorschel hat mir H. G. Adler Nietzsche aus der
gesetzt, mit dem ich mich speziell über Goethes Bibliothek des Kapos Hermann zu lesen gegeben.
Beziehung zu Corona Schröter unterhalten habe. Das passt nicht zur üblichen Aussage von Zeit-
Bis heute verstehe ich nicht, warum alle deut- zeugen über ihr Leiden? Im schlimmsten Kriegs-
sche Germanisten die Ménage-à-trois zwischen winter 1944/1945 hat mir le docteur Charles
Goethe, Carl August und der schönen Schauspie- Odic, der Lagerarzt, Schonung gegeben, ich bin
lerin leugnen. Aber der Mann hatte die Schlüssel oft bei ihm im Revier gesessen. Der Doktor hat
für das Haus auf dem Frauenplan, und als sich mir im Raum, wo die Moribunden lagen, gezeigt,
die anderen zurückzogen, durfte ich mitten in dass die Läuse sterbende Körper verlassen.
der Nacht meinen ersten Antrittsbesuch beim Wenn über die graue Decke weiße Punkte nervös
Geheimen Rat von Goethe machen. Wie vielen irgendwohin fliehen, ist es ein Zeichen, dass in
Menschen ist das vergönnt worden? Was das spätestens einigen Stunden der Exitus eintritt.
für mich bedeutet, kann nur verstehen, wer eine
solche Beziehung zu ihm und seinem Werk hat „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, sagt
wie ich. Und wenn man alles zusammenreimt, Goethe, aber Nietzsche antwortet „Das Unver-
habe ich das Hitler zu verdanken. Ist das nicht gängliche ist nur dein Gleichnis ...“
verrückt?

202 | 203
Da habe ich wieder alle meine Gespenster bei- fangener und ich im Laufe des Winters 1945/46
sammen, Nietzsche, Hitler, Goethe: in derselben serbischen Kleinstadt Pančevo
waren, zwar haben wir uns nicht kennengelernt,
„Die Krähen schrein und ziehen schwirren Flugs aber mein Onkel, bei dem ich damals wohnte,
zur Stadt. / Bald wird es schnei´n. – Wohl dem war als Chef der Baubehörde auch für die deut-
der jetzt noch – Heimat hat.“ Auf Empfehlung von schen Kriegsgefangenen zuständig, und ich halte
H.G. Adler im Arbeitskommando Niederorschel es für sicher, dass er mit „diesem deutschen
von Buchenwald gelesen und auswendig gelernt. Architekten“ direkten Kontakt hatte, haben
musste.
Bauhaus. Reverenz. Ich habe im Leben nichts
gebaut, kann aber Pläne lesen und habe deskrip- Auch über den Schöpfer des Lagertors, Mitglied
tive Geometrie sogar gelehrt, aber wenn ich in von Bauhaus, bin ich mit dem KZ und Weimar
Gedanken Bauhaus mit Weimar verbinde, taucht verbunden.
nicht das Museum auf dem Theaterplatz auf,
sondern sofort wieder das Hotel Elephant. Ich Es ist mein Weg, mein Spaziergang, ein jedes Mal,
weiß, aus welchem Fenster der Herberge hinter wenn ich in Weimar bin. Vom Elephanten, Blick
vorgezogenen Vorhängen Walter Gropius mit der über den Marktplatz, dann links, dann rechts
unbeschreiblichen Geliebten der besten Künst- die Schillerstraße lang zum Theaterplatz, das
ler des Jahrhunderts, der Alma Mahler-Werfel, Theater-Cafe, das Theater vor mir. Und Goethe
erschrocken das Geschehen auf dem Marktplatz mit Schiller in dumme Pose geworfen. Ich finde
beobachtet hat, als der Reichswehrkomman- das Theater nicht schön. Ich finde das Denkmal
deur auf die protestierende Menge schießen schlecht. Und ich liebe diesen Anblick trotz-
ließ. Ich weiß, wie entsetzt wenige Jahre später dem, er regt mich auf, er holt Gedanken, Verse,
die braven Weimarer Bürger „das Treiben“ der Erinnerungen aus der Tiefe des Gedächtnisses.
Bauhaus-Studenten beobachtet haben: „An gar Geschichte. Die Weimarer Republik. Hitler wohnt
nicht verschwiegenen Seen und Saalestränden Theatervorstellungen bei. Semprún spricht im
baden Männlein und Weiblein, wie Gott sie ge- Theatersaal. Und vorher, nicht auf denselben
schaffen hat!“ Nackt in der Ilm gebadet haben Brettern, aber doch hier an diesem Ort, die
ein gutes Jahrhundert früher Goethe und sein Uraufführungen von Goethe und Schiller in ihrer
Freund, der Großherzog, und wahrscheinlich die eigenen Inszenierung. Ich glaube zu wissen, wo-
schöne Corona auch, aber quod licet Iovi … rüber ich rede, wenn ich Bach sage und Goethe
und Schiller und Wagner und Liszt und Heinrich
Den Helden meiner Bücher, Gropius und Alma, Heine und Thomas Mann und Stéphane Hessel,
Franz Ehrlich und Siegfried Wahrlich und ihren Jorge Semprún, Imre Kertész. Und Sauckel. Und
Mädchen – historische Figuren, die ich mir Hitler. Und ich in ihrer Gesellschaft.
lebhaft vorstellen kann, aber ebenso erfundene
Personen, die für mich genau so oder mehr noch „Eine Melange, bitte! Sie wissen nicht, was das
lebendig sind – begegne ich auf den Straßen ist? Honig und Galle. Und dann die Speisenkarte!“
und Plätzen und glaube zu wissen, wo sie wann
gegessen, getrunken oder ihre Hemden gekauft Goethe und Schiller? Bronze. So stelle ich mir
haben. Insofern bin ich ein Weimarer, wie sie. die beiden nicht vor. Schiller war, was die Statur
Und den Unterschied zwischen einem Weimarer angeht, einen Kopf größer. Das Denkmal zeigt
und einem Weimaraner kenne ich auch. Obwohl sie gleich groß. Ich halte nicht nur die Dichtung
Hundeliebhaber, würde ich nicht ausgerechnet Goethes, sondern sein Hauptwerk, sein Leben
ein Exemplar dieser Rasse halten. als Gesamtkunstwerk, für bedeutender als das
Schillers. Das Denkmal zeigt sie gleich groß. Ich
Hätte man mich nicht eingeladen, über den Autor besitze einen Tortenheber mit der Abbildung des
der Inschrift „Jedem das Seine“ über dem Tor Denkmals, Salz- und Pfefferstreuer als Büsten
des Konzentrationslagers Buchenwald eine Rede von Goethe und Schiller. Es ist unzählbar, wie
zu halten, über Franz Ehrlich, hätte ich meinen viele Aschenbecher, Teller und Vasen es mit der
Roman Buchstaben von Feuer nicht schreiben Abbildung dieses Denkmals gibt. Ich habe nichts
können. Eine echte Trouvaille, als ich festgestellt dagegen. Aber ich denke jetzt an den Totenkopf,
habe, dass Ehrlich als jugoslawischer Kriegsge- den Goethe für Schillers gehalten und auf seinem

NACH DER BEFREIUNG


Schreibtisch platziert hat. Das ist für mich das Meine Botschaft an die Generation meiner Enkel
Verhältnis der beiden zueinander. Goethe war und Urenkel wäre vor allem nicht, dass sie mei-
ein Jahrzehnt älter, überlebte jedoch den kränk- ner Zeit mit Schrecken oder Nachsicht gedenken
lichen Schiller um mehr als zwei Jahrzehnte. möge, sondern, dass sie überlegt, wie man jetzt
und in der Zukunft jenen Menschen hilft, die in
Der damalige Bürgermeister von Weimar versuch- Not sind, und ich fürchte, das wird noch sehr
te, Schillers sterbliche Überreste in einem „Chaos lange notwendig sein.
von Moder und Fäulnis“ zu finden, entschied sich
für einen relativ gut erhaltenen Totenkopf. Goethe Ich liebe Weimar trotz der vielen Widersprüche,
ließ sich dieses Utensil bringen und stellte es der Notwendigkeit, das Glas Honig der Kunst mit
auf ein blaues Kissen unter einem Glassturz auf der Galle des SS-Staates vermischt zu trinken.
seinen Tisch. Über ein Jahr lang behielt er den Oder liebe ich es nicht trotz, sondern wegen
Schädel des toten, jüngeren Freundes privat bei dieser Nähe des Guten zum Bösen? Das himmel-
sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man hoch Jauchzende in Umarmung mit dem zum
mit modernen Methoden beweisen, dass es der Tode Betrübten?
Schädel von Friedrich Schiller bestimmt nicht
war. Ist das wichtig? So wenig wichtig, wie, ob Kulturstadt Weimar. Weimar, Adresse des
Goethes Eiche auf dem Lagergelände Buchen- Konzentrationslagers Buchenwald. Heute der
wald eine Buche war. Ist wichtig, was man Gedenkstätte und Stiftung. Mein Weimar!
glaubt? Wichtig, wie sich der lebendige Goethe
zum toten Schiller tatsächlich verhalten hat?
Ivan Ivanji
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Schriftsteller und Überlebender des Konzentrationslagers
Buchenwald. Er lebt und arbeitet in Belgrad.
wurden zwei Schrumpfköpfe gefunden, gefertigt
von den Köpfen zweier hingerichteter polnischer
Häftlinge. Makaber. Sie sind nicht öffentlich aus-
gestellt. Natürlich nicht, aber ist der vermeint-
liche Schädel Schillers auf Goethes Schreibtisch
nicht genau so fürchterlich?

204 | 205
Chronologie
KZ Buchenwald
1937 – 1945

206 | 207
DIE ERSTEN BAR ACKEN DES K Z WERDEN AUF DEM ET TERSBERG ERRICH TET. KRIMINA L POL I ZEI WEIMA R , 9. JUL I BIS 20 . A UGUST 1 937

1937
15. Juli Auf dem Ettersberg treffen die ersten 28. Juli Das neue Konzentrationslager
149 Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen ein. „K.L. Ettersberg“ wird nach einem Einspruch
Die SS löst die Konzentrationslager Sachsenburg der Weimarer NS-Kulturgemeinde in
und Lichtenburg auf und bringt die Insassen – „K.L. Buchenwald/Post Weimar“ umbenannt.
Widerständler, Zeugen Jehovas, Vorbestrafte
und vereinzelt auch Homosexuelle – in das 4. August Der Oberbürgermeister von Weimar
neue Lager. Sie müssen es selbst erbauen. genehmigt die von der SS beantragte Nutzung
Lagerkommandant ist Karl Koch. des städtischen Krematoriums zur „Einäscherung
der in Frage kommenden Leichen“.
„Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“
Im März 1937 führt die Kriminalpolizei die erste 5. September Im städtischen Krankenhaus
Verhaftungsaktion zur „vorbeugenden Verbre- Weimar stirbt erstmals ein zur Behandlung
chensbekämpfung“ durch. Ziel ist die rassistische eingewiesener Häftling.
„Säuberung“ der Gesellschaft. Männer mit mehre-
ren Vorstrafen werden in die Konzentrationslager 17. September Die Weimarer Stadträte erklären
eingewiesen und bilden dort die Häftlingsgruppe „grundsätzliches Einverständnis“ mit der Einge-
„BV“ („Berufsverbrecher“). meindung des KZ Buchenwald.

Jahresende Im Lager auf dem Ettersberg


befinden sich 2.561 Gefangene. Seit Sommer
sind 53 von ihnen gestorben.
DIE 3 . SS-TOTENKOPFSTANDARTE „ THÜRINGEN“ MARSCHIERT NACH WEIMA R . THEOD OR HO MMES , S S - ROT TENF ÜHRER , 1 938/ 39

1938
Februar Erste Belegung des „Bunkers“, wie „Arbeitsscheu Reich“
der Arrestzellenbau im Torgebäude von den Häft- Unter Mitarbeit örtlicher Arbeitsämter weist die
lingen genannt wird. Unter dem SS-Aufseher Polizei von April bis Juni 1938 mehr als 4.000
Martin Sommer wird er zur Folter- und Mord- Männer allein in das KZ Buchenwald ein, wo sie
stätte des Lagers. die SS als „ASR-Häftlinge“ registriert.

1. April Das Konzentrationslager gehört ab jetzt


zum Stadtkreis Weimar. Ende Mai Die Teilnehmer des in Weimar tagenden
Reichsführerlagers der Hitlerjugend besuchen das
April Beginn der Massenverhaftung sogenannter Konzentrationslager.
Arbeitsscheuer. Tausende, die eine zugewiesene
Arbeit verweigert haben, obdachlos oder nicht 4. Juni Auf dem Appellplatz wird der Arbeiter
sesshaft sind, werden in die Konzentrationslager Emil Bargatzky vor den angetretenen Häftlingen
eingewiesen. am Galgen erhängt. Er hatte bei einem Flucht-
versuch einen SS-Posten tödlich verletzt. Es ist
die erste öffentliche Hinrichtung in einem deut-
schen Konzentrationslager.

208 | 209
Mitte Juni Mehr als tausend Juden werden im 10. bis 14. November Nach den antijüdischen
Schafstall und im Rohbau der Häftlingsküche ohne Pogromen werden 9.845 Juden in einen Stachel-
Betten, Bänke und Tische untergebracht. Die SS drahtpferch gedrängt, misshandelt und ausge-
richtet sich neben dem Stacheldrahtzaun einen raubt. Sie sollen zur Auswanderung gezwungen
Zoo ein. werden. 250 Juden verlieren dabei ihr Leben.

September Mit Transporten aus Dachau kommen Dezember Infolge der Überfüllung und des akuten
die ersten Österreicher in das Lager. Unter ihnen Wassermangels bricht im Lager Typhus aus.
sind viele Prominente jüdischer Herkunft aus
Kunst, Bildung und Wissenschaft. Jahresende Die Lagerstärke liegt bei 11.028
Gefangenen. Unter den 802 Toten des Lagers im
Oktober Die Zahl der Insassen übersteigt erst- Jahre 1938 sind 408 Juden.
mals 10.000 Häftlinge.

Novemberpogrom
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 orga-
nisiert die NSDAP in ganz Deutschland die Zerstö-
rung der Synagogen und Geschäfte der jüdischen
Bevölkerung. Insgesamt 30.000 Juden werden
verhaftet.

CHRONOLOGIE
BURGENL ÄNDER ROMA STEHEN APPELL BEIM BESUCH EINES HOHEN S S - F ÜHRERS . ERKENNUNG SDIENST DER S S , HERBST 1 939

Burgenländische Roma
Im Sommer 1939 verhaftet die Polizei im öster-
reichischen Burgenland dort ansässige Roma-
Familien und deportiert sie in die Konzentrations-

1939 lager Dachau und Ravensbrück. Es ist die erste


geplante Deportation von Teilen einer Bevölke-
rungsgruppe. Eine Rückkehr in ihre Wohnorte
ist nicht vorgesehen.

Anfang Februar Der „Rassenforscher“ Robert Oktober Die SS pfercht über 3.000 Polen und
Ritter lässt sich von der SS die im Lager inhaftier- Juden in ein Sonderlager am Appellplatz in Zelten
ten Sinti zur Begutachtung vorführen. zusammen. Der Umgang mit ihnen trägt Züge
eines planmäßigen Massenmords.
Februar Nachdem der Typhus auf die nördlich ge-
legenen Dörfer übergreift, muss die SS Maßnah- November Ausbruch einer Ruhrepidemie. Das
men zur besseren Wasserversorgung ergreifen. Auftreten der Seuche in den umliegenden Dörfern
führt zum Konflikt mit staatlichen Gesundheitsbe-
1. April Im Bereich der Lagerkommandantur nimmt hörden.
das Sonderstandesamt „Weimar II“ die Arbeit
auf, die vorrangig in der Registrierung von Toten 9. November Nach dem am Vorabend begangenen
besteht. Attentat auf Hitler in München erschießt die SS
willkürlich 21 jüdische Häftlinge im Steinbruch. Für
September Nach Kriegsbeginn werden 8.500 alle Juden des Lagers folgen drei Tage Essensentzug.
Männer eingewiesen, darunter etwa 700 Tsche-
chen, Hunderte burgenländische Roma, über Jahresende Im Lager befinden sich 11.807 Häft-
2.200 Polen und mehr als tausend Wiener Juden. linge. 1939 sind 1.378 Gefangene in Buchenwald
gestorben.

210 | 211
PASSFOTOS DEU TSCHER HÄF TLINGE FÜR WEHR AUS SCHLIES SUNG S SCHEINE. ERKENNUNG SDIENST DER S S , 1 940

3. April Ernst Heilmann, Mitglied des Deutschen


Reichstages und Vorsitzender der sozialdemo-
kratischen Fraktion im Preußischen Landtag, wird

1940 durch eine Giftinjektion ermordet.

Mai Lagerkommandant Koch lässt für sich und


seine Frau Ilse eine Reithalle bauen.

Jahresbeginn Hunderte Roma und Wiener Juden 30. Mai Der katholische Pfarrer Otto Neururer
werden im Winter Opfer der Kälte, des Hungers stirbt nach zweitägiger Folter im „Bunker“. Er hat-
und der Zwangsarbeit. Die SS ermordet erstmals te einen Mithäftling auf dessen Wunsch getauft.
entkräftete Häftlinge mittels Injektionen. Nach
Plänen der Erfurter Firma Topf & Söhne lässt die Juli 232 Angehörige der niederländischen Intel-
SS neben dem Appellplatz ein Krematorium bauen. ligenz und Beamtenschaft werden als Geiseln
eingeliefert.
Selektion
Die SS sondert entkräftete Häftlinge aus, 22. August Über die Stapo-Leitstelle Posen
ermordet sie oder verlegt sie in andere Konzen- werden 640 Polen eingeliefert.
trationslager. Im Laufe des Krieges entwickelt
sich diese Methode zur gängigen Praxis. September Es ergeht eine Anordnung, den Toten
vor der Einäscherung die Goldzähne herauszu-
Januar Die Direktion der Behring-Werke Mar- ziehen. Seit Sommer ist das Lagerkrematorium in
burg/Lahn erkundigt sich bei der SS nach den Betrieb.
Ergebnissen der Versuche mit einem neuen
Ruhr-Impfstoff, der an Häftlingen auf Verträglich- Jahresende 7.440 Gefangene befinden sich im
keit getestet wurde. Lager. Im Laufe des Jahres sind 1.883 gestorben.

CHRONOLOGIE
DIE FAMIL IE DES SS-HAUPTSCHARFÜHRERS WERNER FRICKE MI T FREUNDEN VOR IHREM NEUEN HA US IN DER S S - SIEDLUNG II
BEI KL EINOBRINGEN . VERSCHIEDENE FOTOGR AFEN, UM 1941

1941
20. Februar 389 niederländische Juden aus NS-Euthanasie
Amsterdam und Rotterdam werden eingeliefert. Nach festgelegten Quoten selektiert das Personal
der Heil- und Pflegeanstalten 1939/40 Anstalts-
Mai/Juni Die SS verlegt die niederländischen insassen und lässt sie in eigens geschaffenen
Juden sowie die Mehrzahl der Sinti und Roma des Gaskammern ermorden. Diese Tötungseinrichtun-
Lagers in das KZ Mauthausen bei Linz, wo sie in gen nutzt die SS bei der 1941/42 durchgeführten
den Steinbrüchen zugrunde gehen. „Sonderbehandlung 14f13“, die der planmäßigen
Ermordung von entkräfteten oder behinderten
5./12. Juli Nach zwei Häftlingstransporten polni- Häftlingen dient.
scher und jüdischer Häftlinge beginnt der sys-
tematische Mord an Tuberkulosekranken durch 13./14 Juli Mit zwei Transporten unter dem
Injektionen. Aktenzeichen „14f13“ werden 187 kranke oder
invalide Häftlinge in die „Euthanasie“-Tötungs-
anstalt Sonnenstein (Pirna) gebracht und in der
Gaskammer erstickt.

212 | 213
„Kommissarbefehl“ November Eine Kommission von „Euthanasie“-
Der Krieg gegen die Sowjetunion wird als Weltan- Gutachtern sondert jüdische Häftlinge zur Ver-
schauungs- und Vernichtungskrieg geplant. Schon nichtung aus.
vor dem Überfall erlässt das Oberkommando der
Wehrmacht den Befehl, gefangen genommene Genozid an den europäischen Juden
Kommissare der Roten Armee sofort zu erschie- Einsatzgruppen der SS, Einheiten der Polizei und
ßen, ebenso frühere Staatsfunktionäre, Angehö- der Wehrmacht ermorden auf besetztem sow-
rige der Intelligenz und Juden. Sonderkommandos jetischen Gebiet systematisch Angehörige der
der Gestapo führen eine ausgedehnte Fahndung jüdischen Bevölkerung. Auf besetztem polnischen
in den Kriegsgefangenenlagern durch und lassen Gebiet richtet die SS Vernichtungslager ein. Plan-
alle Verdächtigen im nächstliegenden Konzentra- mäßig wird die jüdische Bevölkerung Polens und
tionslager erschießen. der von Deutschland besetzten Länder dorthin
deportiert und ermordet. Dem Genozid fallen
September Im Schießstand der Deutschen Aus- sechs Millionen Menschen zum Opfer.
rüstungswerke neben dem Lager ermordet die SS
die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen. Später Jahresende Lagerkommandant Koch wird nach
richtet sie in einem umgebauten Pferdestall west- Lublin versetzt. Im Lager befinden sich 7.911
lich des Lagers eine Erschießungsanlage ein. Vom Häftlinge und 1.903 sowjetische Kriegsgefangene.
„SS-Kommando 99“ werden in den folgenden zwei 1.746 Männer sind 1941 im Lager gestorben. Die
Jahren über 8.000 sowjetische Kriegsgefangene durch Genickschuss ermordeten sowjetischen
durch Genickschuss ermordet. Kriegsgefangenen erscheinen in keiner Statistik.

18. Oktober Die Wehrmacht gibt 2.000 sowjeti-


sche Kriegsgefangene aus dem Kriegsgefange-
nenlager Wietzendorf als Zwangsarbeiter an die
SS ab. Innerhalb des Konzentrationslagers ent-
steht eine besondere Abteilung: das sowjetische
Kriegsgefangenenlager.

CHRONOLOGIE
1942
Januar In den Baracken 44 und 49 beginnen August Das SS-Wirtschaftsverwaltungshaupt-
Menschenversuche mit Testimpfstoffen der amt, dem die Verwaltung der Konzentrations-
Behring-Werke Marburg/Lahn, des Robert lager untersteht, ordnet die Ablieferung der ab-
Koch-Instituts Berlin und des Instituts für Fleck- geschnittenen Haare zur Herstellung von Filz und
fieber- und Virusforschung des Oberkommandos Textilien an. In der Fleckfieberversuchsstation,
des Heeres Krakau. 145 Häftlinge werden künst- die sich jetzt in Baracke 46 befindet, beginnt eine
lich mit Fleckfieber infiziert, fünf sterben im neue Versuchsreihe an Häftlingen. Der Lagerarzt
Verlauf des Versuches. Hermann Pister tritt den regt an, die Totenmeldungen bei sowjetischen
Dienst als neuer Lagerkommandant an. Häftlingen auf ein Minimum zu reduzieren.

Februar In den Weimarer Gustloff-Werken Oktober 405 jüdische Häftlinge werden nach
entsteht das erste Außenkommando bei einem Auschwitz gebracht. Im Krematorium, dessen
Rüstungsbetrieb. Bevor im Herbst 1943 ein Außen- Ausbau abgeschlossen ist, geht der zweite neue
lager in Weimar gebaut wird, kommen die Häft- Verbrennungsofen der Firma Topf & Söhne in
linge täglich aus dem Lager zur Arbeit. Betrieb.

März Im Rahmen der „Sonderbehandlung 14f13“ Auschwitz-Erlass


lässt die SS in der Gaskammer der „Euthanasie“- Am 16. Dezember 1942 gibt Himmler den Befehl,
Tötungsanstalt Bernburg 384 jüdische Häftlinge die in Deutschland und den besetzten Gebieten
ermorden. lebenden Sinti und Roma „familienweise“ nach
Auschwitz-Birkenau zu deportieren.
„Verbotener Umgang“
Seit Mitte 1940 weist die Gestapo polnische 17. Dezember Aus dem Zuchthaus Waldheim trifft
Zwangsarbeiter in Buchenwald ein, die nach der erste Transport mit 108 Sicherungsverwahr-
Angaben von örtlichen NSDAP-Leuten oder ten ein. In den Folgemonaten übergibt die Justiz
Denunzianten verbotene Beziehungen zu deut- der SS zur Zwangsarbeit mehr als 2.000 Siche-
schen Frauen unterhalten haben. Die Frauen rungsverwahrte aus Zuchthäusern und Heil- und
werden in nicht wenigen Fällen öffentlich ange- Pflegeanstalten.
prangert und in das KZ Ravensbrück eingewie-
sen, die Polen erhängt. Sicherungsverwahrte
Gemäß einer Vereinbarung zwischen dem Reichs-
11. Mai Die Lager-SS erhängt öffentlich im Auf- justizminister und der SS geben Heilanstalten
trag der Gestapo bei Poppenhausen 20 polnische und Zuchthäuser einen Teil der zur Sicherungs-
Häftlinge. verwahrung verurteilten Strafgefangenen sowie
politische Häftlinge mit langjährigen Zuchthaus-
Mai Die Stadtverwaltung Weimar lässt Original- strafen an die Konzentrationslager ab. Die damit
möbel aus dem Arbeits- und Sterbezimmer verbundene Absicht wird benannt: „Vernichtung
Friedrich Schillers nach Buchenwald bringen. durch Arbeit“.
Dort fertigen Häftlinge in den folgenden Monaten
Kopien der Möbel an. Jahresende Die SS lässt ein Desinfektions-
gebäude und ein Quarantänelager (Kleines Lager)
Juli Gestapo-Stellen aus ganz Deutschland wei- bauen. Im Lager befinden sich 9.517 Häftlinge.
sen sowjetische Zwangsarbeiter in die Konzen- 1942 sterben 3.049 Gefangene, das heißt jeder
trationslager ein, bis Anfang 1943 allein nach dritte Insasse.
Buchenwald 4.500. An der Straße nach Weimar
bauen Häftlinge eine Gewehrfabrik der Weimarer
Wilhelm-Gustloff-NS-Industriestiftung.

214 | 215
PR ÄSENTATION EINES „ SAUBEREN“ BILDES VON HÄF TLINGSUNTERKÜNF TEN IM S S - FOTOA L BUM.
ERKENNUNGSDIENST K Z BUCHENWALD, ENDE 1943

1943
Mai Französische Regierungsmitglieder, darun-
ter die früheren Ministerpräsidenten Édouard
März Der Rüstungsbetrieb neben dem Lager, das Daladier, Paul Reynaud und Léon Blum, werden
sogenannte Gustloff-Werk II, nimmt mit Häft- im SS-Falkenhof interniert. Léon Blum bleibt dort
lingsarbeitskräften die Produktion auf. Der Bau bis zum April 1945.
einer Bahnstrecke nach Weimar beginnt. Häftlinge
müssen sie in nur drei Monaten errichten. Bei der Juni Aus dem Durchgangslager Compiègne in
Erla-Maschinenwerk GmbH in Leipzig, bei den Nordfrankreich trifft der erste große Transport
Junkers Flugzeugwerken in Schönebeck und bei ein.
den Rautalwerken Wernigerode entstehen große
Außenlager, wo Buchenwaldhäftlinge zur Arbeit in August Bei Nordhausen entsteht das Außenlager
der Rüstungsindustrie gezwungen werden. Große „Dora“ zur Vorbereitung der unterirdischen Rake-
Transporte von polnischen Häftlingen treffen aus tenproduktion. In den ersten sechs Monaten des
den KZ Auschwitz und Majdanek ein. Stollenbaus kommen 2.900 Häftlinge ums Leben.
Die ersten großen Transporte aus der Ukraine
April Im Block 46 findet die dreizehnte Versuchs- kommen in Buchenwald an.
reihe an Häftlingen statt, diesmal mit Fleckfieber-
therapeutika der Firma Hoechst. Über die Hälfte Jahresende Die Lagerstärke ist auf 37.319 Ge-
der Versuchspersonen stirbt während des Experi- fangene angewachsen. Unter ihnen sind 14.500
ments qualvoll. Russen, 7.500 Polen, 4.700 Franzosen und 4.800
Deutsche und Österreicher. Fast die Hälfte von ih-
nen befindet sich in Außenlagern. 3.862 Häftlinge
sterben 1943 im Buchenwalder Lagerkomplex.

CHRONOLOGIE
KÜCHE UND WÄSCHEREI IM ALBUM DES L AGERKO MMANDANTEN PISTER . ERKENNUNG SDIENST DER S S , ENDE 1 943

1944
Januar Die deutsche Sicherheitspolizei deportiert Mai bis Juli 8.000 ungarische Juden – in Ausch-
348 norwegische Studenten der Universität Oslo witz aus dem Vernichtungsprozess herausgezo-
nach Buchenwald. gen – werden nach Buchenwald gebracht und in
Außenlagern schonungslos zugrunde gerichtet.
Januar/Februar Im Außenlager „Dora“ sondern
SS-Ärzte 1.888 entkräftete Häftlinge aus und las- 15. August Durch Evakuierungstrecks aus aufge-
sen sie in das KZ Majdanek verlegen. lösten und frontnahen Lagern im Westen ist das
Stammlager mit 31.491 Menschen überfüllt. Tau-
März Jeder Zweite der insgesamt 42.000 Häft- sende bleiben unter freiem Himmel oder in Zelten.
linge muss in einem der 22 Außenlager für die In den inzwischen 64 Außenlagern befinden sich
Kriegswirtschaft arbeiten. weitere 43.500 Häftlinge.

April Ein Transport von Sinti und Roma, darunter Mitte August Im Rahmen der Verhaftungsaktion
viele Jugendliche, kommt aus Auschwitz. Die SS „Gitter“/„Gewitter“, die dem Attentat auf Hitler
verlegt 1.000 entkräftete Häftlinge des Außenla- folgt, bringt die Gestapo 742 frühere Mitglieder
gers „Dora“ in das KZ Bergen-Belsen. von Parteien der Weimarer Republik in das Lager.

Mai Nach Erhebungen der SS sind 81 Prozent der 18. August Im Krematorium wird der Vorsitzende
Häftlinge des Hauptlagers chronisch unterer- der KPD, Ernst Thälmann, erschossen.
nährt, das heißt 18.990 von 21.500 Menschen.
Jeder Zehnte leidet an offener Tuberkulose.

216 | 217
DIE SS DOKUMENTIERT DIE ZERSTÖRUNGEN NACH DEM LUF TANGRIFF VO M 24. 8. 1 944. ERKENNUNG SDIENST DER S S , A UGUST 1 944

20. August Mit einem Transport aus Paris kommen 6. Oktober Nach einer Selektion unter den ent-
169 alliierte Flieger, die über Frankreich abge- kräfteten jüdischen Häftlingen der Außenlager
schossen wurden, in das Kleine Lager, wo sie bis der Braunkohle-Benzin AG in Rehmsdorf und Mag-
Oktober bleiben. deburg schickt die SS 1.188 Juden zur Vernichtung
nach Auschwitz. Bis Dezember folgen aus anderen
24. August Alliierte Bomber greifen die nahe am Außenlagern weitere Vernichtungstransporte, mit
Stammlager befindlichen Rüstungsbetriebe und denen jüdische Männer, Frauen und Kinder sowie
SS-Einrichtungen an und zerstören sie zu großen Sinti und Roma in den Tod geschickt werden.
Teilen. Da die Häftlinge in der Nähe des Werkes
bleiben müssen, gibt es 2.000 Verletzte und 388 9./10. Oktober Aus Gefängnissen der Wehrmacht
Tote unter ihnen. werden die ersten verurteilten Soldaten zur
Zwangsarbeit in das KZ Buchenwald verlegt. Die
28. August Ein Vernichtungstransport mit 74 jü- neue Häftlingsgruppe heißt „Zwischenhaft II“.
dischen Frauen und Kindern verlässt das Außen-
kommando Hugo-Schneider AG Leipzig in Richtung Ende Oktober Aus dem Außenlager „Dora“ und
Auschwitz. seinen Kommandos wird das selbstständige
Konzentrationslager Mittelbau.
August/September Die SS-Verwaltung von
Buchenwald übernimmt Außenlager des KZ Dezember Durch die Auflösung der Zwangsarbeits-
Ravensbrück mit Tausenden von Frauen. lager in Tschenstochau (Częstochowa), Piotrków
und des KZ Płaszów erhöht sich die Zahl der jüdi-
26. September Die SS schickt 200 jugendliche schen Häftlinge bis Jahresende auf 15.500.
Sinti- und Roma zur Ermordung nach Auschwitz.
Jahresende In Buchenwald und seinen Außenlagern
Ende September/Anfang Oktober 1.953 dänische werden 63.048 Männer und 24.210 Frauen gefan-
Polizeiangehörige werden nach Buchenwald ge- gen gehalten, mehr als ein Drittel von ihnen nicht
bracht. 60 von ihnen sterben im Kleinen Lager. älter als 20 Jahre. 1944 starben 9.468 Häftlinge.

CHRONOLOGIE
HÄ F TL INGE DES K Z BUCHENWALD BER ÄUMEN TRÜMMER NACH EINEM LUF TA NGRIFF A UF WEIMA R . GÜNTHER BEYER , FEBRUA R 1 945

1945
Januar Vor der heranrückenden Roten Armee löst Februar Buchenwald ist das größte unter den
die SS die noch bestehenden Arbeits- und Kon- noch bestehenden Konzentrationslagern. Ende
zentrationslager im besetzten Polen auf und treibt Februar befinden sich im Stammlager und seinen
die Insassen auf mörderische Evakuierungsmär- 88 Außenlagern 112.000 Menschen, davon
sche. Diejenigen, die in Buchenwald lebend an- 25.000 Frauen. Ein Drittel der inhaftierten Män-
kommen, sind von Erschöpfung, Hunger und Kälte ner und Frauen sind Juden. Tausende werden in
gezeichnet und oftmals todkrank. In den meist Außenlager weitergeschickt. Die Zahl der Ster-
offenen Güterwaggons liegen Hunderte von Toten. benden, Kranken und Schwachen, die im Kleinen
Lager zurückbleiben, steigt täglich.
Mitte Januar Block 61 im Kleinen Lager, Teil des
Häftlingskrankenbaus, wird auf Befehl der SS zum März/April Bis zuletzt hält die SS ihr Zwangs-
Ort der Tötung entkräfteter Häftlinge durch Injek- arbeitssystem aufrecht. Erst bei unmittelbarer
tionen. Bis Ende März 1945 ermordet die SS dort Frontnähe werden die Außenlager geräumt. Die SS
mehrere Tausend Häftlinge. erschießt die Gehunfähigen und verübt Massaker
in Leipzig-Thekla, Gardelegen und Ohrdruf.

218 | 219
5. April Die Weimarer Gestapo erschießt im
Webicht 149 Insassen von Polizei- und Gerichts-
gefängnissen der Stadt.

6. April Im Stammlager auf dem Ettersberg


befinden sich 47.500 Häftlinge, davon 22.900 in
den Baracken des Hauptlagers und 18.000 in den
Pferdeställen des Kleinen Lagers. Lagerkomman-
dant Pister befiehlt die Räumung des Lagers.

7. bis 10. April 28.000 Menschen aus dem Stamm-


lager werden in Richtung der Konzentrationslager
Dachau und Flossenbürg sowie zum Ghetto
Theresienstadt per Bahn transportiert oder zu
Fuß getrieben. Tausende kommen auf diesen Mär-
schen um.

CHRONOLOGIE
BEFREI TE UNGARINNEN AUS DEM FR AUENAUS SENL AGER IN PENIG, 1 7 . 4. 1 945. SAMUEL GIL BERT ( U . S . A R MY SIGNA L C ORPS )

1945 – nach der Befreiung


11. April Das 37. Panzerbataillon der 4. US-Panzer- 13. April Auf einer Versammlung deutscher und
division erreicht das KZ Buchenwald. Nach der österreichischer Sozialdemokraten, an der auch
Flucht der SS besetzen Häftlinge des Lagerwider- französische, polnische, belgische, tschechische,
standes die Türme und übernehmen die Ordnung dänische und niederländische Sozialisten teil-
und Verwaltung des Lagers. 21.000 Häftlinge nehmen, verliest Hermann L. Brill das „Manifest
erleben ihre Befreiung und die Ankunft der US- der demokratischen Sozialisten des ehemaligen
Armee. Konzentrationslagers Buchenwald“. Es ist das
bedeutendste programmatische Dokument, das
Seit Jahresbeginn 1945 bis zum 11. April sind im nach der Befreiung im Lager entsteht, und enthält
KZ Buchenwald 15.000 Menschen gestorben. Grundforderungen zum Aufbau eines freien, de-
Hunderte gehen noch nach der Befreiung an den mokratischen Deutschlands.
Folgen der Haft zugrunde. Über die Toten der
Evakuierungsmärsche gibt es nur Schätzungen. 16. April Auf Befehl des amerikanischen Stadt-
Sie liegen bei 12. bis 15.000 Opfern. kommandanten müssen 1.000 Weimarer Bürger
das Lager besichtigen, in dem die Spuren des
Massensterbens und der Gräuel noch für jeden
sichtbar sind.

220 | 221
19. April Trauerfeier für die Toten des Lagers. Die
Überlebenden geben sich ein Versprechen, das
später als „Schwur von Buchenwald“ bekannt
wird.

Ende April Täglich treffen Delegationen alliierter


Politiker, Journalisten und Ermittler ein. Sie wollen
sich vor Ort ein Bild des Lagers machen und be-
richten.

Mai bis August Die Überlebenden verlassen in


Gruppen das Lager. Vorübergehend ist Buchen-
wald auch Sammelpunkt für „displaced persons“
aus anderen Lagern, die ihre Heimreise oder Aus-
wanderung organisieren.

Juli/August Übergabe des Lagers an die


sowjetische Militäradministration. Einrichtung
des sogenannten Speziallagers Nr. 2.

CHRONOLOGIE
Aufsätze

218 | 223
Rassismus und Nationalsozialismus:
Eine kurze Ideologiegeschichte
Christian Geulen

Das System der nationalsozialistischen Konzen- Das lässt sich noch an heutigen Formen des
trationslager im „Dritten Reich“ gehorchte einer Rassismus erkennen. Auch wenn seit der histo-
rassistischen Logik. So unbestreitbar diese Aus- rischen Erfahrung der nationalsozialistischen
sage ist, so wenig kann sie den Anspruch einer Vernichtungspolitik kaum jemand mehr die
genügenden Erklärung erheben. Denn sie wirft „Ausmerzung“ eines Volkes offen zu propagieren
unmittelbar zwei Fragen auf: Was genau ist eine wagt, erkennt man rassistisches Denken nicht
rassistische Logik, was genau ist Rassismus? zuletzt an der impliziten oder expliziten Auffor-
Und: In welchem Verhältnis steht die rassisti- derung, zu handeln, etwas gegen die vermeint-
sche Logik im Nationalsozialismus zur langen liche Gefährdung des Eigenen durch das Fremde
und übergreifenden Geschichte des Rassismus zu unternehmen, das angeblich „unnatürliche“
vor 1933 und nach 1945? Plausibel zu machen, Durcheinander von Menschen und Kulturen zu
auf welche Weise der NS-Staat die Geschichte beseitigen und die Welt auf dem Wege dieser
des Rassismus fortsetzte und ihr zugleich etwas Bekämpfung des Anderen zu verbessern. Das
Neues hinzufügte, kann dazu beitragen, das unterscheidet den Rassismus von Vorurteilen
Singuläre seiner Vernichtungspolitik zu verste- und Ungleichheitsannahmen, wie sie in den
hen und zugleich die historische Herkunft ihrer Selbstverständigungsformen wohl jeder Parti-
Begründungsformen zu erkennen, die ihrerseits kulargemeinschaft, von Nachbarschaften bis zu
nach 1945 keineswegs ein Ende fanden.1 Nationalstaaten, auftreten und dabei Differenz,
gerade in ihrer Betonung, prinzipiell anerkennen.
Damit ist bereits eine erste wichtige Vorausset- Die simple Behauptung dieser Differenz: „wir
zung der folgenden Überlegungen benannt: Der sind anders als die anderen“, kann schwerlich
moderne Rassismus wird hier als eine Praxis bereits als Rassismus verstanden werden. Wo
verstanden, die sich von anderen Formen der aber diese Differenz als Gefahr angesehen wird,
gewalttätigen Ausgrenzung und Anfeindung die es zu beseitigen gilt, wo sie als unnatürlich
nicht durch das Ausmaß oder die besondere gilt oder als Bedrohung des Eigenen, dort kann
Form dieser Gewalt unterscheidet, sondern aus Vorurteilen und Annahmen über das Andere
durch deren Begründung. In eben diesem Sinn rasch die Aufforderung und der Ruf werden, es
ist der Rassismus eine Ideologie, basierend auf zum Wohle aller aus der Welt zu schaffen.
angenommenen Regeln und Gesetzen der Natur,
der Geschichte und des Daseins, an denen sich Diese Unterscheidung ist wichtig auch mit Blick
das menschliche Handeln zu orientieren habe. auf die Geschichte des Rassismus vor 1933.
Doch ist der Rassismus andererseits niemals nur Denn sie markiert den historischen Wandel
Ideologie. Gegenüber der klassischen Funktion vormoderner Formen rassistisch begründeter
moderner Ideologien, die bestehenden Verhält- Ausgrenzung und Unterdrückung hin zum moder-
nisse zu legitimieren und zu festigen, knüpft der nen Rassismus als praxisorientierte Ideologie
moderne Rassismus seine Begründung an eine einer Stärkung und Rettung des Eigenen durch
erst noch zu schaffende Wirklichkeit, an eine Anfeindung des Fremden, wie sie zur unmittel-
Welt, die vom rechten Weg, vom Ursprungsideal baren Vorgeschichte des Nationalsozialismus
abgewichen ist, und geheilt, verbessert oder neu gehört. Denn auch wenn die frühneuzeitlichen
entworfen werden muss. Eben das knüpft die Formen der Unterdrückung, Versklavung und
rassistische Ideologie unmittelbar an die Praxis: langfristigen Vernichtung besonders außereu-
Sie begründet keine angeblich natürlichen Zu- ropäischer Völker allemal Ausprägungen des
stände, sondern verweist auf angeblich natürli- neuzeitlich-europäischen Rassismus waren und
che Zustände, um deren praktische Herstellung entsprechend auch durch pseudowissenschaft-
und damit rassistisches Handeln zu begründen. liche Theorien der Höher- und Minderwertigkeit
Kurz: Der Rassismus „ruft immer erst noch zu der verschiedenen Völkerschaften begründet
ganzer Arbeit auf“.2 wurden, war den Tätern und Akteuren dieser Zeit

224 | 225
die Vorstellung, jene fremden Völker könnten eine ser Dynamik von Kampf und Vermischung könne
Gefahr für die europäische, „weiße“ Überlegen- nur diejenige Rasse längerfristig existieren, die
heit darstellen, ebenso fremd wie die Idee, dass sich gegen ihre Vermischung mit anderen Rassen
ihre Existenz etwas Unnatürliches und deshalb wehrt und ihre Lebensweise mit allen Mitteln
zu Beseitigendes sei. Vielmehr überschlugen sich gegen Überfremdung verteidigt. In vier dicken
die Gelehrten gerade des 18. Jahrhunderts darin, Bänden etablierte Gobineau damit ein Verständ-
die eurozentrische Verteilung von Höher- und nis von Rasse nicht mehr als Ordnungsbegriff,
Minderwertigkeit als eine gegebene, unverän- sondern als abstraktes Entwicklungsprinzip und
derbare und anzuerkennende Weltordnung zu als Gesetz der kulturellen Reinhaltung.
begründen.
In diesem Bruch mit der älteren Tradition der
Noch bis ins 19. Jahrhundert setzte sich dieser Rassensystematiken lag der entscheidende
Anspruch in den vielen anthropologischen und Grund für den erstaunlichen Erfolg dieses, im
ethnografischen Darstellungen der Weltvölker Einzelnen höchst wirren und widersprüchlichen
und „Weltrassen“ fort. Doch mit der Herausbil- Buches in den folgenden Jahrzehnten. Denn
dung des industriekapitalistischen Wirtschafts- Gobineau leistete für den Rassismus, was Charles
systems, mit der Entstehung des nationalisti- Darwin nur wenig später für die Evolutionstheo-
schen Konkurrenzdenkens, mit der allmählichen rie und was der Historismus schon längst für
Wende vom neuzeitlichen Kolonialismus zum den Begriff der Geschichte geleistet hatte: die
modernen Imperialismus, aber auch vor dem Überwindung jener spekulativen Annahmen einer
Hintergrund des universalistischen Gedankens naturgeschichtlichen Entwicklungsmechanik, mit
der einen Menschheit sowie im Horizont des denen die Aufklärung die Moderne eingeleitet,
modernen Begriffs der Geschichte als einem lau- sie aber zwanghaft auf „Fortschritt“ festgelegt
fenden Prozess des historischen Wandels, verlor hatte. An ihre Stelle trat nun die Einsicht, dass
die Idee einer fixen „Weltrassenordnung“ an über Entwicklung, über die Zukunft und über die
Selbstverständlichkeit und schließlich auch an Möglichkeit eines Fortschritts täglich entschie-
Plausibilität. Das Eigene und das Fremde rückten den wird; sie also weder automatisch kommen,
räumlich und zeitlich näher aneinander, es kam noch sich logisch aus dem Vergangenen her-
vermehrt zu transkulturellen Lebensformen und leiten, sondern vom gegenwärtigen Handeln
die geschichtliche Wandelbarkeit und histori- abhängen.4
sche Offenheit politischer, kultureller und sogar
natürlicher Ordnungen rückte immer deutlicher Besonders der Darwinismus mit seinem Gesetz
ins Bewusstsein. der täglich wirkenden natürlichen Selektion, in
der Entwicklung und Fortschritt mit dem schlich-
Eine der ersten Rassentheorien, die darauf ten „Überleben“ gleichgesetzt wurden, galt
reagierte, war der Versuch über die Ungleichheit vielen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
der Menschenrassen des französischen Diplo- als eine naturwissenschaftliche Grundlegung
maten und Hobbyanthropologen Arthur Gobineau der populären Thesen Gobineaus über Rassen-
von 1853.3 Er sah die Weltgeschichte nicht mehr kampf, Rassenmischung und Rassenreinhaltung.
von den ewigen Rassenmerkmalen und den In dieser Theorieverknüpfung störte allerdings
ewigen Rassenunterschieden bestimmt, sondern massiv der Umstand, dass Darwin, und in einem
von ihrer ewigen Vermischung miteinander und gewissen Maße auch Gobineau, gerade indem
von ihrem ewigen Kampf gegeneinander. In die- sie die Entwicklung der Arten und Rassen kausal

1 Als Überblick vgl. Georg M. Fredrickson, Rassismus. Ein historischer Abriss, Hamburg 2004; Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, 2. Aufl.,
München 2014.
2 In dieser Formulierung beschrieben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die Funktionsweise des modernen rassistischen Antisemitismus, sie lässt sich
aber ohne Weiteres auf den modernen Rassismus generell übertragen. Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung [1947], Frankfurt am
Main 1988, hier S. 181.
3 Joseph A. Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen [1853-55], 4 Bde., dt. v. L. Schemann, 5. Aufl., Stuttgart 1939-1940.
4 Vgl. hierzu übergreifend Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte: Verzeitlichung und Enthistorisierung in den Wissenschaften vom Leben im 18. und 19.
Jahrhundert, München 1976; vgl. Charles Darwin, Die Entstehung der Arten [1859], Stuttgart 1963. Schon früh auf die Verantwortungsethik im Darwinismus
hingewiesen hat der amerikanische Philosoph John Dewey, The Influence of Darwinism on Philosophy [1909], in: ders., The Collected Works, Part II: The Middle
Works 1899-1924, Bd. 4: 1907-1909, hg. v. J. A. Boydston, London 1977, S. 3-14.

AU F SÄT ZE
von den Effekten des alltäglichen Verhaltens einherginge, die sich noch Jahre später in der
abhängig machten, vor allem die Zufälligkeit und physischen Erscheinung der mit einem anderen,
Unberechenbarkeit dieser Entwicklung betont „gleichrassigen“ Mann gezeugten Nachkommen
hatten. Am Ende des 19. Jahrhunderts, als die niederschlagen könnten.8 Vom Plantagensystem
technischen Erfolge der Naturwissenschaften der amerikanischen Südstaaten bis zu den ras-
den Historismus als bürgerliche Leitidee zurück- sischen Reinhaltungsgeboten des Nationalsozia-
drängten, ihn durch Rationalisierungsansprüche lismus wurde dieses „Faktum“ den weißen bzw.
verdrängten und die Idee einer technischen „arischen“ Frauen immer wieder als Warnung
Naturbeherrschung wieder in den Vordergrund vor der „Rassenschande“ vermittelt. Daran zeigt
rückte, gab man sich auch im rassentheoreti- sich, dass die Wiedereinführung eines noch heu-
schen Denken mit solchen Zufälligkeiten nicht te oft als fortschrittlich geltenden, auf „Umwelt-
mehr zufrieden.5 einflüsse“ statt auf reine „Vererbung“ setzenden
Evolutionsmodells gerade in seiner impliziten
Rasch wurden sie von der Suche nach solchen Verantwortungsethik durchaus eine Radikalisie-
Mechanismen und Gesetzen ergänzt und über- rung rassistischen Denkens und Handelns zur
formt, die dem Zufall des alltäglichen Kampfes Folge haben kann.9
um Reproduktionschancen doch wieder eine
bestimmbare Richtung und Form geben könnten. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts jedenfalls
Neben Themen der Rassenmischung und des kam es zu einer immer engeren Verknüpfung la-
Rassenkampfes trat nun die Idee einer im Prinzip marckistischer Vorstellungen von der Vererbung
technischen Rassenerzeugung unter bewusster erworbener Eigenschaften, Gobineauscher Ideen
Nutzung der bislang bekannten Entwicklungs- von den Folgen der Rassenmischung, Darwin-
gesetze. So erfuhr etwa jene ältere, noch im 18. scher Konzepte des Rassenkampfes bzw. der
Jahrhundert entwickelte Idee des französischen Selektion sowie immer populärerer Phantasmen
Biologen Jean Baptiste Lamarck, dass auch im einer künstlichen Rassenherstellung. Dabei darf
Laufe des individuellen Lebens erworbene Eigen- man sich diesen Diskurs keineswegs nur als eine
schaften sich an die nächste Generation verer- rassenbiologische Debatte unter Spezialisten
ben könnten, eine ungeahnte Renaissance.6 Die- vorstellen. Vielmehr lebte er insbesondere in
ser auch noch bei Darwin als Ergänzung seiner Deutschland nicht zuletzt von der gleichzeitigen
Selektionsthese mitgedachte Mechanismus bot Entstehung der Populärwissenschaft als einem
die Möglichkeit, der Evolution auf eben der glei- eigenen literarischen Genre und mit einer sich
chen individuell-alltäglichen Ebene eine gewisse rasant entwickelnden Publikationsindustrie.
Richtung zu geben, auf der streng darwinistisch Entsprechend kursierten vereinfachte und von
nur das zukunftsblinde trial-and-error-Spiel von der Naturwissenschaft im engeren Sinne längst
Mutation, Reproduktion und Selektion stattfand. abgekoppelte Versionen aller rassebiologischen
Thesen und Theorien innerhalb kürzester Zeit in
Obgleich von dem deutschen Biologen August sozialwissenschaftlichen, kulturgeschichtlichen,
Weismann durch den experimentellen Nachweis pädagogischen und kunsttheoretischen Texten
der strikten Trennung von Keim- und Körper- der Zeit ebenso wie im Schrifttum der Reform-
zellen schon in den 1880er Jahren widerlegt, bewegungen oder in den Organen des völkischen
entfaltete der Lamarckismus gerade in der Nationalismus und Antisemitismus.10
massiven Kritik an Weismanns Arbeiten eine
neue Popularität, die vom ausgehenden 19. Auch einzelne Naturwissenschaftler wie Rudolf
Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Virchow oder Ernst Haeckel sahen ihre Aufgabe
anhielt.7 Denn noch viel mehr als die Thesen zunehmend darin, die Gesetze, Prinzipien und
Gobineaus oder Darwins belegte der Lamarckis- Theorien der Naturwissenschaft in ihrer prinzi-
mus die Verantwortung des Einzelnen für die piellen Geltung auch für Gesellschaft, Kultur und
Entwicklung der Rasse als Ganzes. Zu seinen Politik deutlich zu machen.11 Am erfolgreichsten
prominenten ideologischen Stilblüten gehörte waren dabei durchweg solche Werke, die zwi-
etwa der rassistische Mythos der Telegonie schen diesen Wirklichkeitsbereichen überhaupt
(Fernzeugung), der besagte, dass der sexu- keinen Unterschied mehr machten und Natur,
elle Kontakt von Frauen zu „fremdrassigen“ Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Kunst
Männern mit dem „Erwerb“ von Eigenschaften und Politik unter den Prämissen sämtlicher

226 | 227
verfügbarer evolutionstheoretischer Logiken überhaupt noch in Völker, Rassen und Kulturen
und Thesen als den angeblich immer gleichen aufzuteilen. Stattdessen betrachtete man sie
Rassengesetzen unterworfen darstellten. Zu jetzt in ihrem gewissermaßen flüssigen, biopo-
ihnen gehörte etwa, an wichtiger Stelle und bis litischen Aggregatzustand: als lebende, biolo-
ins „Dritte Reich“ hinein einflussreich, Houston gisch sich reproduzierende Bevölkerungen. In
Stewart Chamberlains Buch über die Grundlagen diesem Denken gab es endgültig keine gegebene,
des 19. Jahrhunderts.12 feststehende Hierarchie zwischen den Rassen
mehr. Eine solche war vielmehr vollständig zu
Ab 1900 verdichtete sich dieser Diskurs aber einem durch politisches Handeln erst zu errei-
schon wieder zu einer ganz neuen wissenschaft- chenden Ziel geworden, während als sicher und
lichen Disziplin, die in England bereits 1883 von wissenschaftlich vorgegeben allein die Mittel
Francis Galton unter dem Namen „Eugenik“ galten, dieses Ziel zu erreichen: kontrollierte
konzipiert worden war, in Deutschland aber Reproduktion der Bevölkerung und die Stärkung
bevorzugt „Rassenhygiene“ genannt wurde.13 In des erwünschten Eigenen durch Beseitigung des
ihr kam das jüngste der rassentheoretischen unerwünschten Anderen.
Konzepte zur vollen Entfaltung: die Idee einer
kontrollierten Rassenerzeugung. Die Grundidee Vor diesem Hintergrund wird zumindest ein
dieser neuen, bis in die 1930er Jahre internati- kleines Stück die Tatsache erklärbar, warum im
onal populären und kaum umstrittenen neuen ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ausgerech-
Wissenschaft war so simpel wie menschen- net die deutschen Juden, eine im 19. Jahrhun-
verachtend: Die biologische Reproduktion der dert überall in Deutschland so sichtbare wie
Träger gewünschter Merkmale einer gegebenen überwiegend auch national integrierte Partiku-
Bevölkerung sollte gefördert, die Reproduktion largemeinschaft, immer mehr zum Objekt einer
der Träger unerwünschter Merkmale sollte ver- zunehmend aggressiven rassistischen Anfein-
hindert werden. In diesem Konzept kulminierten dung wurden. Das Judentum markierte, aktuell
die bis dahin immer noch primär beschreibenden wie historisch, die Existenzmöglichkeit einer
Rassentheorien zu einer konkreten politischen nationalen Binnenpartikularität (heute würde
Handlungsanweisung, die zugleich die biopoliti- man sagen: einer gesellschaftlich-kulturellen
sche Kernlogik des modernen Rassismus auf den Vielfalt innerhalb der staatlichen Einheit). Eben
Punkt brachte: Dass nämlich die Bekämpfung das aber widersprach fundamental der rassen-
und Beseitigung des Anderen, Unerwünschten theoretischen Annahme, dass nur Homogenität
zugleich die Stärkung des Eigenen, Erwünschten und „Reinheit“ das Überleben von Gemein-
bedeutet. Die formale Aufteilung der Eugenik in schaften sichere. Entsprechend betonte gerade
eine „positive“, fördernde und eine „negative“, der radikale Antisemitismus dieser Zeit immer
ausschaltende Variante unterstrich dabei nur wieder, dass die Juden trotz ihrer vermeintlichen
ihren fundamentalen Zusammenhang. Er wur- Assimilation eigentlich sogar die erfolgreichsten
de vor allem dort plausibel gemacht, wo man Bewahrer von „Rassenreinheit“ seien, was eine
zunehmend darauf verzichtete, die Menschheit umso größere Anstrengung und Rücksichtslosig-

5 Ausführlicher hierzu Christian Geulen, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004.
6 Zu Lamarck vgl. Pietro Corsi, Jean Gayon, Gabriel Gohau (Hg.), Lamarck, philosophe de la nature, Paris 2006.
7 Vgl. August Weismann, Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung, Jena 1892; ders., Über Rückschritte in der Natur, Freiburg 1886.
8 Zur Telegonie vgl. Franz K. Stanzel, Telegonie – Fernzeugung. Macht und Magie der Imagination, Wien 2008.
9 Heute kehrt der Lamarckismus in Gestalt der Epigenetik wieder, die aufgrund neuerer Forschungen davon ausgeht, dass Umwelt und Erfahrung auf dem
indirekten Wege der Beeinflussung der Biochemie des molekulargenetischen Reproduktionsprozesses doch ein wichtiger Faktor in dieser Reproduktion und
damit der Evolution seien. Angesichts der hier umrissenen ideologiegeschichtlichen Zusammenhänge erscheint es aber höchst problematisch, darin vorschnell
den neuen Königsweg einer gemeinsamen Natur- und Kulturforschung zu sehen. Vgl. etwa Peter Spork, Der zweite Code. Epigenetik oder wie wir unser Erbgut
steuern können, Reinbek 2011.
10 Ausführlicher hierzu Geulen, Wahlverwandte.
11 Vgl. etwa Rudolf Virchow, Glaubensbekenntniss eines modernen Naturforschers, Berlin 1873; Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über
monistische Philosophie [1899], Neuausg. hg. v. H. Schmidt, Leipzig 1926.
12 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts [1899], Volksausgabe, 2 Bde., 4. Aufl., München 1906.
13 Zur Geschichte der Eugenik vgl. Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und
Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt 1998.

AU F SÄT ZE
keit im Kampf gegen sie erfordere.14 Auch aus serung durch gezielte Bevölkerungsmanipulation
dem Nährboden dieser rassentheoretischen in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern
„Ideologik“ speisten sich die bekannten antise- am Beginn des 20. Jahrhunderts ein fester
mitischen Verrats- und Verschwörungstheorien Bestandteil der gesundheits-, bevölkerungs- und
der Epoche, wie sie etwa in der Judenzählung kulturpolitischen Überlegungen und Diskussio-
von 1916 oder im Geraune um die Protokolle der nen. Nicht zuletzt die Kosten, die Fürsorge und
Weisen von Zion zum Ausdruck kamen.15 Betreuung von Bevölkerungsteilen verursachten,
die eigentlich unerwünscht oder, wie es die Na-
Auch wenn die Eugenik in der Weimarer Zeit alles tionalsozialisten dann ausdrückten, „lebensun-
andere als einen Mainstream in der deutschen wert“ seien, waren in den ökonomischen Krisen-
Wissenschaftslandschaft darstellte, war sie lagen der Zwischenkriegszeit ein zunehmend
populär und einflussreich genug, um in der Zwi- populäres Argument.17
schenkriegszeit sogar jüdische Wissenschaftler
dazu zu bringen, ihrerseits und in Abwehr gegen Bis hierhin sollte deutlich geworden sein, dass
den Antisemitismus eine eigene Rassenbiologie sehr viele Aspekte der rassenpolitischen Praxis
in Stellung zu bringen, was noch kurz vor der in den nationalsozialistischen Lagern seit 1933
Machtübernahme Hitlers zu rückblickend seltsa- sich wie eine radikale Verwirklichung von Ideen
men Dialogen und Diskussionen zwischen einer und Forderungen lesen lassen, die schon in den
jüdischen und einer antijüdischen Rassentheorie vorangegangenen Jahrzehnten in denkbar expli-
führte.16 Nach 1933 allerdings war es mit solchen ziter Weise formuliert worden waren. Und eben
Versuchen der wissenschaftlichen Diskussion das ist zum historischen Begreifen dessen, was
schlagartig und endgültig vorbei. in den Lagern passierte, auch wichtig zu beto-
nen. Doch erschöpfte sich der nationalsozialis-
Neben der besonderen Rolle, die das Judentum tische Rassismus darin, mit einer Rassenpolitik
im eugenischen Rassismus des frühen 20. Jahr- schlicht bitteren Ernst gemacht zu haben, die bis
hunderts spielte, zeichnete sich dieser auch dahin nur von manchen gefordert worden war?
dadurch aus, dass er den Fokus von der Rassen- Oder erfuhr der Rassismus mit der Machtergrei-
beschreibung, von Rassentypen und globaler fung von 1933 auch noch eine weitere, struktu-
Rassenverteilung auf die praktisch-instrumen- rell neue Entwicklungsstufe?
telle Frage verschob, wie sich eine Rasse erhal-
ten, verbessern oder gar neu erzeugen lasse. Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig,
Ausgehend von der Bevölkerung als der Rasse daran zu erinnern, wie wenig sich das Nazi-
im Rohzustand und Ansatzpunkt jeder Rassen- Regime um die wissenschaftlichen wie auch
politik gerieten jetzt auch Gruppen in den Blick, populärwissenschaftlichen Theorien, Positionen
die sich kaum als Rassen im engeren Sinne und Ansätze der Rassentheorie vor 1933 scher-
beschreiben ließen: die geistig und körperlich te. Von Hitlers Mein Kampf über Rosenbergs
Behinderten, die sozial Schwachen, die chro- Mythus des 20. Jahrhunderts bis zu Streichers
nisch Kranken, die Homosexuellen, die Sträflinge Stürmer bedienten sich die Chef-Ideologen des
und „geborenen“ Verbrecher oder die in anderer Reichs völlig willkürlich mal bei den Völkischen,
Weise gesellschaftlich Marginalisierten. Eine der mal bei den Eugenikern und Bevölkerungstheo-
ersten, international diskutierten und teilweise retikern, mal bei Chamberlain, Gobineau oder
auch umgesetzten Maßnahmen einer solchen Darwin, mal bei den Antisemiten der Jahrhun-
eugenischen Bevölkerungspolitik war etwa die dertwende, mal bei den Volkskulturtheorien der
Zwangssterilisierung geistig Behinderter oder Romantik und oft auch bei den spontan entwor-
als gefährlich eingestufter Straftäter. Flankiert fenen Theorien aus den eigenen Reihen. So gal-
werden sollten diese „negativen“ Maßnahmen ten etwa die 1935 verabschiedeten Nürnberger
durch „positive“ Projekte einer exklusiven Züch- Rassegesetze bei „echten“ Eugenikern im In- und
tung rassisch hochwertiger Bevölkerungsteile Ausland (im Inland allerdings nur hinter vorge-
in abgeschirmten Anstalten und durchaus unter haltener Hand) wissenschaftlich als ein Rückfall
Missachtung der bürgerlichen Sexualnormen. hinter gleich mehrere Jahrzehnte moderner
Auch wenn die Umsetzung solcher Maßnahmen Rassenforschung.18
und Projekte bis 1933 die Ausnahme blieb, war
das eugenische Paradigma einer Rassenverbes-

228 | 229
Der Nationalsozialismus ließ also nicht das schaftlichkeit beanspruchende, aber immer
geringste Bemühen erkennen, seine Rassenpo- schon auf praktische Weltgestaltung angelegte
litik in den legitimierenden Horizont der damals Ideologie von sich aus dazu tendiert, aus Formen
aktuellen Rassentheorie zu stellen – wurde aber der Begründung „rassischer Ordnungen“ Anwei-
zugleich nicht müde zu behaupten, dass jede sungen ihrer praktischen Herstellung zu ma-
seiner politischen Maßnahmen nur der Vollzug chen. Derzeit werden in Deutschland und Europa
einer naturgesetzlichen Notwendigkeit sei. Und rassistische Annahmen und rassentheoretische
genau darin lag das Neue. Das Regime verzich- Begründungen (auch wenn sie sich nicht mehr
tete auf jede wissenschaftliche Legitimation so nennen) unverkennbar wieder salon- und
seiner Politik, löste jeden Begründungszusam- politikfähig. Umso wichtiger erscheint es, ihnen
menhang, der bis dahin noch zwischen Rassen- schon auf der ersten Ebene kritisch zu begegnen
theorie und rassenpolitischer Praxis bestanden und nicht darauf zu warten, bis die Sorge vor
hatte, auf, und schaffte es, einen unmittelbaren „Überfremdung“ in fremdenfeindliches Handeln
Nexus, ja: eine Identität zwischen der eigenen umschlägt.
Praxis und den angenommenen Naturgesetzen
von Rassenentwicklung herzustellen. Jede
Maßnahme galt ihm unmittelbar als ein Akt im Christian Geulen
Rassenkampf. Dessen Vollzug – und nicht seine Professor für Neuere und Neueste Geschichte und deren Didaktik an
der Universität Koblenz-Landau
Ursache, seine Folgen und schon gar nicht seine
theoretische Beschreibung – war das Entschei-
dende und einzig Legitime. Eben das ist zu Recht
die „Selbstermächtigung der Gewalt“ genannt
worden, in deren Rahmen allein das aktive Mit-
machen im Kampf und Terror gegen die Volks-
fremden die Zugehörigkeit zur eigenen Volksge-
meinschaft noch garantierte.19 Hannah Arendt
nannte den gleichen Zusammenhang einmal eine
Prozesslogik der vollständigen „Emanzipation
des Handelns von jeglicher Erfahrung“ und sah
darin ein Kernelement des Totalitären: Unter
Ausschaltung von Erfahrung oder Begründung
wird der Terror zur einzigen Form des Handelns,
das dem angenommenen Naturgesetz vom Ras-
senkampf Substanz und Geltung verleiht – durch
schlichten Vollzug: „Wo gehobelt wird, da fallen
Späne.“20

Zu einer solchen Zuspitzung des Rassismus auf


den Terror als Naturgesetz war es bis dahin und
ist es seitdem nicht mehr gekommen. Die Ent-
wicklungsgeschichte rassistischen Denkens vom
19. Jahrhundert bis in die frühen 1930er Jahre
hinein aber zeigt, dass diese moderne, Wissen-

14 So argumentierte etwa Theodor Fritsch in seinem antisemitischen Handbuch zur Judenfrage, Berlin 1907.
15 Vgl. übergreifend hierzu Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, München 2000; Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus, Hamburg 2001.
16 Vgl. hierzu Veronika Lipphardt, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über ‚Rasse‘ und Vererbung 1900-1935, Göttingen 2008.
17 Vgl. Kühl, Internationale der Rassisten.
18 Hierzu ausführlicher Christian Geulen, Ideology’s Logic: The Evolution of Racial Thought in Germany from the Volkish Movement to the Third Reich, in: Mark
Roseman u.a. (Hg.), Beyond the Racial State. Rethinking Nazi Germany, Cambridge 2016.
19 Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919-1939, Hamburg 2007.
20 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1955], München 1993, S. 732.

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Völkisches und antidemokratisches Denken vor 1933
Tim B. Müller

„Der Wendepunkt ist da“, stellte die Frankfurter Antidemokraten rechnete kaum jemand. Im
Zeitung, das führende liberal-demokratische Gegenteil, gerade die Reihe von Niederlagen, die
Blatt der Weimarer Republik, in ihrem großen, die völkischen und antidemokratischen Kreise
zweiseitigen Leitartikel zu Neujahr 1933 fest. immer wieder hinnehmen mussten, trug zur ihrer
Der „Umschwung“ war „tiefgreifend und vor Radikalisierung in der Weimarer Republik bei.2
allem: er erstreckt sich auf alle dafür wesentli- Diese Deutung mutet nur auf den ersten Blick
chen Gebiete“ – Wirtschaft, Innenpolitik, Außen- paradox an. Eine genauere Betrachtung der Welt
politik, die „geistige Gesamtlage“. Überall waren der Antidemokraten vor 1933 lässt verstehen,
deutliche Zeichen der „Entspannung“ zu erken- wie unwahrscheinlich ihr Erfolg damals vielen
nen. Am wichtigsten war, dass „der gewaltige erschien. Zwar wurzelte der Nationalsozialis-
nationalsozialistische Angriff auf den demo- mus ideologisch und kulturell in der „Unterwelt
kratischen Staat“ nicht nur „abgeschlagen“, des politischen Extremismus, in exzentrischen
sondern durch einen „mächtigen Gegenangriff“ politischen Mini-Sekten“.3 Aber eine direkte
der Regierung beantwortet worden war, was zur Linie zwischen diesen radikal-nationalistischen,
„Entzauberung der NSDAP“ geführt hatte. Gera- rassistischen und antisemitischen politischen
de die Strategie des neuen Reichskanzlers Kurt Milieus und der Errichtung der nationalsozialis-
von Schleicher hatte demnach dazu beigetragen, tischen Herrschaft lässt sich nicht so einfach
„den Nationalsozialisten die Serie von Mißerfol- ziehen.4
gen und Verlusten beizubringen, die erstmals in
großem Stil bei den Reichstagswahlen vom 6. Die Erwartungshorizonte der Zeitgenossen, ihre
November (wo die NSDAP zwei Millionen Stim- Debatten und die Formen, in denen politische
men verlor) festzustellen waren“. Für die klugen Konflikte in der Weimarer Republik ausgetragen
Köpfe der „Frankfurter Zeitung“ war erwie- wurden, legen nahe, dass – ungeachtet ihrer
sen, „daß nichts falscher ist, als den Geist der Fragilität – die Demokratie das Wahrscheinliche
freiheitlichen Demokratie in Deutschland totzu- war, während ihre Zerstörung unwahrscheinlich
sagen“. Zwar hatten die Parteien im Jahr 1932 erschien, selbst noch zu Beginn der 1930er Jah-
gelitten, „aber die Demokratie hat nicht weiter re.5 Die junge Republik hatte, wie andere Demo-
gelitten; sie hat während des letzten halben Jah- kratien in Europa auch, etliche Krisen gemeistert
res geradezu einen Triumph erlebt“.1 und stand in den Augen vieler Menschen, ob
gewollt oder nicht, als alternativlos da. 1928
Diese Perspektive erscheint heute, im Rückblick, hatten selbst intellektuelle Gegner ihren Frieden
ungewohnt, sogar unbegreiflich. Stand nicht mit der Demokratie gemacht. Der Geschäftsfüh-
der große Sieg der Nationalsozialisten, ihre rer des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-
Machtübernahme am 30. Januar 1933 direkt Verbandes, einer mit der Deutschnationalen
bevor? Die Erwartungen vieler Zeitgenossen Volkspartei (DNVP) verbundenen rechten An-
unmittelbar zuvor sahen jedoch anders aus: Ein gestelltengewerkschaft, verlangte von seiner
weiteres Mal hatte die Demokratie erfolgreich Partei, sich nicht nur taktisch, sondern aus
ihre Feinde abgewehrt, und auch der wirtschaft- Überzeugung der Demokratie zu öffnen und einen
liche Aufschwung hatte bereits eingesetzt. Die republikanischen Konservatismus auszubilden.
geschichtswissenschaftliche Forschung fragt Die DNVP hatte sich an Regierungen beteiligt
danach, was diese Gegenwartserfahrungen und den noch sehr weiten Weg zur konservativ-
und Zukunftserwartungen an der Jahreswende demokratischen Volkspartei eingeschlagen.
1932/33 für unser Verständnis des Untergangs Allerdings formierten sich gegen diese „stille
der Demokratie bedeuten. Demokratisierung“ auch starke rechtsradikale
Gegenkräfte in der Partei.6
Ein Punkt, auf den die internationale Wissen-
schaft hinweist, wird auch im Zitat aus der Zwei Jahre später, nach dem Ausbruch der Welt-
Frankfurter Zeitung deutlich: Mit dem Sieg der wirtschaftskrise, die alle zuvor dagewesenen

230 | 231
Krisen in den Schatten stellte, änderte sich alles. de. Dass schließlich Hitler im Januar 1933 zum
Doch das Ende der Demokratie war kein Un- Reichskanzler ernannt wurde, war alles andere
fall, sondern das Resultat von Entscheidungen. als zwangsläufig; es war das Ergebnis einer
Konkurse und Unternehmenspleiten, Massen- Verkettung von politischen Fehlkalkulationen
arbeitslosigkeit, Verelendung und Hunger be- und Intrigen in Elitenkreisen. Aber das Datum
herrschten die Gesellschaft. Zwar erschütterte markierte einen Bruch in der politischen Ent-
die wirtschaftliche Katastrophe die Demokratie wicklung. Die neue „Normalität“, die das natio-
schwer. Auch verschärfte die „Austeritätspoli- nalsozialistische Regime seit Anfang 1933 durch
tik“ der Regierung Heinrich Brünings mit ihrem Gewalt und Gewaltandrohung erzeugte und in
strikten Sparkurs die Krise zwischen 1930 und der sich bald alles um Krieg und Rassismus dre-
1932. Aber zum Untergang der Demokratie von hen sollte, hatte kaum etwas mit der Normalität
Weimar führte beides wohl nicht.7 Die Zuspitzung der Demokratie zu tun.8
der Krise ermöglichte es ab dem Sommer 1932
Vertretern der alten Eliten um Reichskanzler Massenpartizipation, öffentliche Inszenierungen
Franz von Papen, einige Wirtschaftsführer und und Legitimation durch Akklamation waren für
letztlich den Reichspräsidenten Paul von Hinden- den Nationalsozialismus aber schon in der Spät-
burg, einen Umbau der parlamentarisch-demo- phase der Weimarer Republik Mittel der Politik.
kratischen Republik zum autoritären Präsidial- Hitler saß der Demokratie, um eine Formulierung
regime einzuleiten. Zu dieser Strategie gehörte, von Hans Mommsen abzuwandeln, wie ein „Pa-
das erst wenige Monate zuvor ergangene Verbot rasit“ im Nacken.9 Er und seine Partei verstan-
der SA aufzuheben, was einen Wirbel der Gewalt den besser als die seit 1930 Regierenden, wie
entfesselte. Der „Preußenschlag“ vom 20. Juli in der Demokratie Politik gemacht wurde, wie
1932, mit dem die sozialdemokratische Minder- man Stimmungen aufnahm und Probleme für sich
heitsregierung Preußens abgesetzt wurde, und ausbeutete: Mit der Demokratie besiegte er die
Einschränkungen der Pressefreiheit schalteten Demokratie. Es gab nicht nur ein von Zeitgenos-
wichtige demokratische Institutionen aus. Aber sen wahrgenommenes Demokratiedefizit, das
eine Machtübernahme der Nationalsozialisten mit der Krisenbewältigungspolitik verbunden
war in diesem antidemokratischen Plan nicht war. Zugleich präsentierte sich der Todfeind der
vorgesehen – und Stimmen der Zeit wie das Zitat Demokratie, so durchschaubar seine Tarnung
aus der Frankfurter Zeitung zeigen, dass man war, selbst als der bessere Demokrat. Denn
die Demokratie für so stark hielt, dass sie diese Hitler versprach nicht nur bessere Lebensbedin-
autoritären Machenschaften überleben wür- gungen, sondern auch soziale Anerkennung und

1 Ein Jahr deutscher Politik, in: Frankfurter Zeitung, 1.1.1933, S. 1 f.


2 Vgl. Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916-1931, München 2015, S. 633-642.
3 Richard J. Evans, Das Dritte Reich, Bd. 1: Aufstieg, München 2004, S. 86.
4 Die politische Zäsur von 1933 betonen in der jüngsten Forschung etwa Geoff Eley, Nazism as Fascism. Violence, Ideology, and the Ground of Consent in Germany
1930-1945, London 2013; Richard J. Evans, The Third Reich in History and Memory, London 2015, S. 87-117.
5 Vgl. etwa Moritz Föllmer u. Rüdiger Graf (Hg.), Die Krise der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt 2005; Rüdiger Graf, Die Zukunft
der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008; Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der
Zwischenkriegszeit 1918-1939, Göttingen 2005; ders. (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur Politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1918-1933, München 2007;
Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf
2012; Tim B. Müller u. Adam Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015; Benjamin Ziemann, Front und Heimat.
Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997.
6 Vgl. Michael Dreyer, Weimar als „wehrhafte Demokratie“ – ein unterschätztes Vorbild, in: Michael Schultheiß/Sebastian Lasch (Hg.), Die Weimarer Verfassung.
Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt 2009, S. 161-189; Barry A. Jackisch, The Pan-German League and Radical Nationalist Politics in Interwar Germany,
1918-39, Farnham 2012, S. 154; Mergel, Kultur, S. 323-331 spricht von „stiller Republikanisierung“.
7 Brünings Deflationspolitik wird seit Jahrzehnten in der Forschung kontrovers diskutiert; vgl. einführend Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und
Gesellschaft, München 2008, S. 109-114, 128 f.
8 Vgl. neben der klassischen Darstellung von Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der
Demokratie, 2. Nachdr. d. 5. Aufl., Düsseldorf 1984, etwa Hermann Beck, The Fateful Alliance. German Conservatives and Nazis in 1933. The Machtergreifung in
a New Light, New York 2008; Dirk Blasius, Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930-1933, Göttingen 2006; Dreyer, Weimar; Evans, Coercion; Ulrich Herbert,
Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 259-301, 305-324; Gotthart Jasper, Die gescheiterte Zähmung. Wege zur Machtergreifung
Hitlers 1930-1934, Frankfurt 1986.
9 Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966, S. 13, 18; vgl. ders.,
Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche, Stuttgart 1999, S. 136-174, 201-213; ders., Zur Geschichte Deutschlands
im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand, München 2010, S.67-84, zu den Wahlerfolgen der NSDAP etwa Jürgen Falter, Hitlers Wähler, München
1991; Oded Heilbronner, Catholicism, Political Culture, and the Countryside. A Social History of the Nazi Party in South Germany, Ann Arbor 1998.

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politische Teilhabe – als pervertierte Erfüllung beherrschten, antiegalitären Politik und der
einer demokratischen Verheißung. Er musste Ablehnung der Demokratie einig wussten.
sich, um Massen zu mobilisieren, auf die Demo-
kratie einlassen, ihre Sprache sprechen. Der Neubestimmungen des Volksbegriffs, die
Nationalsozialismus ist auch als die Simulation zwischen einer sprachlichen und kulturellen
eines demokratischen Aufbruchs zu verstehen. Einheit einerseits und der politischen Nation
andererseits oszillierten, und seine Komposita
Das zeigt sich auch am Begriff der „Volksge- wie „Volksgemeinschaft“ und „Volksgenosse“
meinschaft“, der heute nahezu ausschließlich tauchten bereits um 1800 auf und spiegelten von
mit dem Nationalsozialismus in Verbindung Anfang an die „schleichende Herausforderung
gebracht wird. Mit den großen Wahlerfolgen zur Demokratisierung“ semantisch wider.12 Seit
der NSDAP seit 1930 wurde in ihrer Propaganda dem späten 19. Jahrhundert artikulierte sich das
die Parole der Volksgemeinschaft prominent. Verlangen nach Demokratie beinahe ubiquitär.13
Damit vermittelte die Partei eine parasitär-de- Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg wurde
mokratische Botschaft, eine Vision von Zukunft in der deutschen politischen Sprache „Volk“
und Optimismus, von persönlichen Chancen und zum „Allgemeinbegriff, an dem alle politischen
gesellschaftlichem Zusammenhalt. Denn „Volks- Lager partizipieren mussten“. Dessen „explosive
gemeinschaft“ war ein Begriff, der auch eine Verwendung“ verwies auf einen „unumkehrba-
bürgerlich-liberale und eine sozialdemokratische ren Trend zur ‚Demokratisierung‘, und zwar quer
Vorgeschichte hatte, ein Wort von damals brei- durch die Regierungsformen“.14 Anfangs kaum
ter Attraktivität. Gemeinschaftsbegriffe konnten mehr als eine Fußnote zu dieser Geschichte der
und können liberal, sozialistisch oder totalitär politischen Sprache war die Wortneuschöpfung
sein. In den 1920er Jahren waren sie Teil der „völkisch“, die um die Jahrhundertwende bereits
demokratischen Diskussion. Alle Schichten und in manchen rechten Kreisen das als französisch
Gruppen sollten ihren Platz in der Demokratie geltende Fremdwort „national“ ersetzt hatte.
finden. Etwas Offenes und Optimistisches hafte- Dass sich diese sprachlichen Unterscheidungen
te dem Versprechen der „Volksgemeinschaft“ an. auch im völkischen Milieu niemals völlig durch-
Noch in der späten Republik, als Hitler und die halten ließen, lässt bereits der Name der Natio-
Nationalsozialisten bereits den demokratischen nalsozialisten erkennen, die im Übrigen das Wort
Volksgemeinschaftsgedanken umdeuteten und „völkisch“ zahlreich benutzten. Letztlich diente
rassistisch aufluden, war es möglich, den Begriff das Adjektiv „völkisch“ vornehmlich der Selbst-
zu verstehen, ohne an Ausgrenzung und Gewalt bezeichnung eines „entschieden antisemitischen
zu denken.10 Siegmund Warburg etwa, der links- Nationalismus“.15
liberale jüdische Hamburger Bankier, konnte sich
noch zum Jahreswechsel 1932/33 vorstellen, Wann betraten diese Völkischen die politische
als demokratischer Wirtschaftsreformer in die Bühne? Eine emblematische Szene, in der sich
Politik zu gehen. „Volksgemeinschaft“ war für die politische Konstellation am Anfang der
ihn gleichbedeutend mit einer Ordnung demokra- Weimarer Republik, die ins Kaiserreich führen-
tischer Partizipation. Oder Otto Wels, einer der den Genealogien und die künftige Radikalisie-
Parteivorsitzenden der SPD: Er stellte in seiner rung abbilden, spielte sich am 25. Juli 1919 ab.
heroischen Reichstagsrede am 23. März 1933 die Zwei Tage zuvor hatte der sozialdemokratische
demokratische, „wirkliche Volksgemeinschaft“ Reichskanzler Gustav Bauer sein Regierungs-
gegen die diktatorische Aufhebung der Grund- programm vorgestellt, das einen ambitionierten
rechte durch ein nationalsozialistisches Ermäch- Demokratiebegriff in den Mittelpunkt stellte.
tigungsgesetz.11 Darüber, was Demokratie war und sein sollte,
herrschte bereits breiter Konsens, ungeach-
Dieses Ringen um die „Volksgemeinschaft“ ist tet exzentrischer Umdeutungen des Begriffs
ein Beispiel dafür, dass mit der Demokratie der durch Außenseiter, zu denen damals auch noch
Volksbegriff so zentral für die politische Debatte Hitler gehörte, der von einer „germanischen
geworden war, dass ihn auch die Gegner einer Demokratie“ sprach, wo er später das Prinzip
demokratischen Entwicklung aufnahmen. Das der „unbedingten Führerautorität“ vertrat.16
galt sogar für die „Völkischen“ in ihren diver- Demokratie war die Realität geworden, die alle
sen Schattierungen, die sich in einer von Eliten Politik organisierte.17 „Das deutsche Volk lechzt

232 | 233
nach Demokratie“, hieß es nur wenig später auf erreicht, aber auch die sozialen Grundlagen
einem Parteitag der linksliberalen Deutschen der Gleichberechtigung sollten garantiert sein.
Demokratischen Partei.18 Reichskanzler Bauer Besonderen Wert legte die Regierung Bauer auf
zweifelte nicht an der Dauerhaftigkeit der neuen die Gleichberechtigung der Frauen als Staats-
Regierungs- und Lebensform Demokratie: „Wir bürgerinnen. Kurz darauf begründete Bauers
nehmen diesen Ruf von jenseits der Grenzen auf, Innenminister Eduard David im Parlament seine
wir sind einig im Glauben an die Unbesiegbar- bekannte Aussage: „Nirgends in der Welt ist
keit der Demokratie, die nicht nur die Gleichheit die Demokratie konsequenter durchgeführt als
zwischen den Volksgenossen, sondern auch die in der neuen deutschen Verfassung“ mit dem
Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zwischen Hinweis auf das Wahlrecht, auf die Möglich-
den Völkern, den Völkerbund erschaffen muss.“19 keit zu Volksentscheiden und darauf, „daß die
Die Vorstellung einer europäischen Konvergenz Frauen in Deutschland die volle staatsbürger-
der Demokratie klingt in diesen Worten ebenso liche Gleichberechtigung errungen haben“. Er
an wie eine optimistische Erwartung für die Zu- stellte fest: „Die deutsche Republik ist fortan
kunft. Was die internationale Perspektive betraf, die demokratischste Demokratie der Welt.“21
sprach Bauer vom Verzicht der Staaten „auf Die Aussprache über dieses Programm vom 23.
einen Teil ihrer Souveränität“ als dem „höchsten Juli 1919 und über die Erklärungen der Minister
Ziel“ der Außenpolitik in einer künftig durch den erstreckte sich über mehrere Tage; am 25. Juli
Völkerbund vereinten Völkergemeinschaft. De- stellte Finanzminister Matthias Erzberger seine
mokratie entfaltete sich in vier Dimensionen, die Vorhaben vor. Der Zentrumspolitiker und christli-
eine beeindruckende Bandbreite des zeitgenös- che Demokrat Erzberger galt als die Zentralfigur
sischen Demokratieverständnisses bezeugten: des Kabinetts. Seine Unterschrift unter dem
erstens Demokratie als Volkssouveränität und Waffenstillstandsabkommen 1918 hatte ihn un-
Selbstherrschaft der Bürger; zweitens Demokra- ter radikalen Nationalisten besonders verhasst
tie als Kultur, Alltag und Lebensweise; drittens gemacht. Mit seiner großen Steuerreform, die
Demokratie als Institutionenordnung und Staats- eine nationale Einkommenssteuer einführte und
verwaltung, als Gefüge des guten Regierens; und dem demokratischen Staat die finanzielle Grund-
viertens die soziale, wirtschaftspolitisch aktive lage verschaffen sollte, machte er sich große
Demokratie.20 Die politische Gleichberechti- Teile des Bürgertums zum Feind. Schon Anfang
gung war mit der nun konstituierten Demokratie 1920 wurde er Opfer eines Attentatsversuchs,

10 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat, in: Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken
in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900-1938, Köln 2013, S. 227-253, mit Hinweisen auf die Forschungsdiskussion; zu Gemein-
schaftsbegriffen vgl. Michael Freeden, Liberal Languages. Ideological Imaginations and Twentieth Century Progressive Thought, Princeton 2005, S. 38-59;
Klaus Lichtblau, „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs, in: Zeitschrift für Soziologie
29 (2000), S. 423-443.
11 Vgl. Niall Ferguson, High Financier. The Lives and Time of Siegmund Warburg, London 2011, S. 49 f., 64-82; Verhandlungen des Reichstags, Stenographische
Berichte, Bd. 457, 2. Sitzung, 23.3.1933, Berlin 1934, S. 33.
12 Reinhart Koselleck u.a., Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe.
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 2004, Bd. 7, S. 141-431, hier S. 382.
13 Vgl. Adam Tooze, Ein globaler Krieg unter demokratischen Bedingungen, in: Müller u. Tooze (Hg.), Normalität, S. 37-69.
14 Koselleck, Volk, S. 390; zum Volksbegriff der frühen Weimarer Republik vgl. auch Heiko Bollmeyer, Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer National-
versammlung zwischen Kaiserreich und Republik, Frankfurt 2007.
15 Uwe Puschner, Die völkische Bewegung. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 9 f., 27; vgl. ders., Walter Schmitz u. Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch
zur „Völkischen Bewegung“ 1871-1918, München 1996; Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008.
16 Adolf Hitler, Mein Kampf. Eine Abrechnung von Adolf Hitler, Bd. 1, München 1925, S. 364; vgl. Hermann Hammer, Die deutschen Ausgaben von Hitlers „Mein
Kampf“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (1956), S. 161-178, hier S. 171; Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“
1922-1945, München 2006; der spätere SS-Vordenker Reinhard Höhn vertrat noch 1929 die Idee „wahrer germanischer Demokratie“; vgl. Michael Stolleis,
Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt 1994, S. 111 f.
17 Vgl. etwa Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; ders. (Hg.), Demokratie in der Krise. Europa in der
Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008; Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000; Mark
Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000; Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte
Europas im 20. Jahrhundert, Berlin 2013; Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014; Andreas Wirsching
(Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007.
18 Hardtwig, Volksgemeinschaft, S. 247.
19 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte (im Folgenden: Verhandlungen), Bd. 328, 64. Sitzung,
23.7.1919, Berlin 1920, S. 1852.
20 Vgl. ebd., S. 1843-1852.
21 Verhandlungen, Bd. 329, 71. Sitzung, 31.7.1919, Berlin 1920, S. 2194.

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am 26. August 1921 wurde er von rechtsextre- durch seinen Verweis auf Lagarde, einen der
men Terroristen ermordet.22 Unmittelbar bevor Urväter und wichtigsten Stichwortgeber des
Erzberger seine Rede hielt, entgegnete am 25. völkischen Denkens.24 Damit legte Graefe ein
Juli 1919 der deutschnationale Abgeordnete und Bekenntnis zur völkischen Ideologie ab, wenn
DNVP-Mitbegründer Albrecht von Graefe(-Gol- auch in seiner nationalistischen Reichstagsrede
debee) auf die Regierungserklärung. Spott über sein radikaler Antisemitismus weniger deutlich
Bauers „Illusionspolitik“ und scharfe Angriffe wurde als in anderen Äußerungen. Sozial gehörte
gegen Erzberger durchzogen seine Rede. Auch Graefe zur Führungsschicht des Kaiserreichs, die
die „Dolchstoß-Legende“ vertrat er bereits, wo- von Massengesellschaft, Sozialismus und Demo-
nach der Krieg nicht „im Felde“ verloren worden kratie ihre privilegierte Stellung bedroht sah. Die
sei, sondern durch die Revolution zu Hause. Die Kriegsniederlage hatte die Anhänger völkischen
demokratische Regierung und die neue Verfas- Denkens radikalisiert. Der allen spektakulären
sung waren Graefe zufolge „das größte Unheil Gewalttaten zum Trotz aussichtslos anmutende
für unser deutsches Volk“. Das Werk Bismarcks Kampf gegen die 1918/19 etablierte Demokratie
würde dadurch zerstört. Einerseits bediente verschärfte ihren Extremismus. Im Zentrum ihrer
Graefe sich der neuen massenpartizipatorischen zum Teil widersprüchlichen und verworrenen
Sprache: Das „Volk“ stand dabei im Mittelpunkt politischen Überzeugungen und Obsessionen, die
seiner Argumentation; die Abschaffung der Mo- Anlass zu vielerlei Rivalitäten und Spaltungen
narchie bedeutete „Vergewaltigung der Mehr- gaben, standen Sprache, Rasse und Religion.
heit durch eine Minderheit – eigentlich ein recht Die Religion, ob in Gestalt eines entjudaisierten
undemokratisches Vorgehen“. Was die Regierung „Deutschchristentums“, einer „Deutschgläu-
betreibe, sei kein Ausdruck „ehrlicher Demokra- bigkeit“ oder neopaganer Germanenkulte, war
tie“. Mit elitärer, gar nicht so auf die neue Zeit demnach „‚der archimedische Punkt‘ der völki-
abgestimmter Überheblichkeit warf Graefe der schen Weltanschauung. Sie lieferte nicht nur die
Regierung andererseits vor, noch nicht reif zu Rechtfertigung der apokalyptischen völkischen
sein für Regierungsverantwortung und erst eine Erlösungslehre von der göttlichen Abstammung
„Lehrzeit“ absolvieren zu müssen. Eine Aufzäh- und Bestimmung der Deutschen. Sie gab den
lung der mit wenig Sozialprestige und Bildung Völkischen überhaupt erst die Begründung für
verbundenen Berufe der Regierungsmitglieder ihr antiegalitäres, rassistisches Denkgebäu-
folgte, aus der unverhohlener Standesdünkel de.“25 Ihr Eintreten für die „Reinheit“ der deut-
sprach. Graefe behauptete, die Bevölkerung schen Sprache nahm in der Vorliebe für neue
sehnte sich „zurück nach dem alten Regime“, Wortschöpfungen skurrile Züge an. Ihr Rassis-
und machte sich zum Sprecher der Besitzenden mus beschränkte sich nicht auf einen rabiaten
und Gebildeten: „Ordnungskraft“ und „Ordnungs- Antisemitismus, sondern entwarf Visionen eines
sinn“ fehlten der Regierung; Graefe bestand auf rassisch reinen deutschen oder „arischen“ Men-
einem Recht auf „Selbstverteidigung“ gegen schen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg schufen
Bolschewisten; er verurteilte die Steuerpläne die Völkischen die Ideologeme ihrer rassisti-
als „Vermögenskonfiskationen“ und erklärte zur schen Weltanschauung sowie ein reichsweites
„heiligen Pflicht, diese Regierung zu bekämpfen“. Netzwerk von Organisationen, die sich bestens
Seine Rede schloss er mit einem Zitat von Paul auf eine ebenso aggressive wie zielgerichte-
de Lagarde.23 te Agitation verstanden. So bereiteten sie den
ideologischen Nährboden, die institutionellen
Was wie die politische Sprache eines Deutsch- Voraussetzungen und das propagandistische
nationalen zu klingen scheint, dessen Traditionen Instrumentarium für die nationalsozialistische
von Revolution und Demokratiegründung er- Bewegung und ihre Ideologie.26 Ob von sozialer
schüttert waren, enthielt wesentliche Elemente Deklassierung bedroht oder nicht, die Mitglie-
völkischen Denkens. Graefe war eine bedeutende der der esoterischen Zirkel und Organisationen,
Figur im Zwischenreich von parlamentarischer die Abonnenten der völkischen Periodika und
Politik und völkischem „Untergrund“. Er gehörte Teilnehmer an ihren Veranstaltungen lassen sich
zu den führenden Mitgliedern des Alldeutschen weitgehend den wilhelminischen Eliten, insbe-
Verbandes (ADV) und bildete mit anderen eine sondere dem Bildungsbürgertum zuordnen. In der
„Völkische Arbeitsgemeinschaft“ in der DNVP. Weimarer Republik ist eine Ausbreitung von Anti-
Offenkundig wurde seine politische Position semitismus und völkischem Denken und schließ-

234 | 235
lich eine Hinwendung zum Nationalsozialismus und der Wehrverein, die sehr breit aufgestellt
besonders unter den Studenten zu beobachten. und eher locker organisiert waren und sich der
Ihre Berufsaussichten verschlechterten sich Aufrüstung verschrieben hatten, die Deutsche
rapide, bis sie mit der Wirtschaftskrise völlig Vaterlandspartei im Ersten Weltkrieg und vor
wegbrachen. Das war das Rekrutierungsfeld für allem der Alldeutsche Verband.29 Letzterer gilt
die spätere „Weltanschauungselite“ der SS, die in der Forschung heute wie schon unter den
jedoch in ihrem Selbstverständnis einen härte- Zeitgenossen damals als Scharnier zwischen
ren, „sachlicheren“ Rassismus ausbildete.27 Aber dem bürgerlichen Radikalnationalismus und dem
nicht immer waren die Zusammenhänge so ein- völkischen Rassismus. Der Alldeutsche Verband
deutig. Die Virulenz des völkischen Denkens, von richtete sich gegen die Demokratie und gegen
dem der Nationalsozialismus seine Symbole und eine als Bedrohung verstandene Moderne und
einige Elemente seiner Sprache übernahm, kann war doch selbst ein Produkt moderner Politik: Er
ideologische Genealogien aufhellen, aber nicht war auf die Bedingungen einer modernen Mas-
den Nationalsozialismus als Massenpartei und senkommunikationsgesellschaft angewiesen,
Herrschaftsform erklären. Das würde allzu sehr und er verstand ihre Möglichkeiten geschickt zu
auf eine „geistesgeschichtliche“ Engführung der nutzen. Insofern zählte er zu jenen Kräften, die
Argumentation hinauslaufen.28 man der „dunklen“ Seite der Moderne zurechnen
kann.30 Schon die frühe Analyse von Eckart Kehr
Historisch viel relevanter als die völkischen sprach 1928 von einer „Art politisch-ideologi-
Esoteriker wurden Netzwerke, gesellschaftliche scher Holding-Company“31, eine neuere Untersu-
Kreise und Organisationen, das eigene Lager chung nennt den ADV eine „Koordinationsinstanz
übergreifende Konstellationen, in denen sich völ- des gesamten rechten Spektrums.“32 Der ADV
kisches Denken in politisch relevantere radikal- umfasste nie mehr als einige tausend, in seiner
nationalistische Diskurse einspeiste. Bürgerliche Hochphase 1923/24 etwa 38.000 Mitglieder.
Leidenschaften für die Größe des Vaterlands, Seine antisemitische und gewaltbereite Mas-
bürgerliche Ressentiments gegen Sozialisten senorganisation „Deutschvölkischer Schutz-
und andere „Reichsfeinde“ und bürgerliches und Trutzbund“, die 1919 gegründet und bereits
Statusbewusstsein trafen dort auf radikalere 1922 wieder verboten war, mobilisierte beinahe
Kräfte und Ideen, vereint im Engagement für 200.000 Mitglieder. Die Mörder Erzbergers und
Deutschland. Hervorzuheben sind der Flotten- Walther Rathenaus unterhielten Verbindungen zu

22 Vgl. Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt 1976.
23 Verhandlungen, Bd. 328, 66. Sitzung, 25.7.1919, Berlin 1920, S. 1912-1925.
24 Differenziert zu Lagarde, der dennoch einer der wichtigsten Referenzpunkte völkischen Denkens bleibt, vgl. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde
und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007.
25 Puschner, Bewegung, S. 17; von den klassischen Deutungen vgl. etwa George L. Mosse, Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des National-
sozialismus, Königstein 1979. Ein anderes Feld, das im vorliegenden Beitrag nicht untersucht wird, ist der intellektuelle Rechtsradikalismus, der mitunter unter
den Begriff der „Konservativen Revolution“ gefasst wird; vgl. dazu die Forschungen in der Nachfolge von Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der
Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962; zuletzt etwa Volker Weiß, Moderne Antimoderne.
Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn 2012.
26 Puschner, Bewegung, S. 25.
27 Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996, S. 42-68; Konrad H. Jarausch,
Deutsche Studenten 1800-1970, Frankfurt 1984, S. 117-122; Michael H. Kater, Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland 1918-1933. Eine
sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik, Hamburg 1975; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des
Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 72-142.
28 Geistesgeschichtliche Kontinuitäten des „gebildeten“ deutschen Rassismus untersucht Per Leo, Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charaktero-
logisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890-1940, Berlin 2013.
29 Vgl. etwa Roger Chickering, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League, 1886-1914, Boston 1984; Geoff Eley, Reshaping the
German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, Ann Arbor 1991; Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte
am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997; Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003; Jackisch, League;
Johannes Leicht, Heinrich Claß 1868-1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn 2012; Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler
Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Göttingen 2007.
30 Hering, Nation, S. 496 f.; vgl. etwa Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933, Paderborn 1999;
klassische Forschungsbeiträge zu diesem Problemkomplex sind Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992; Detlev
J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989; Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung,
Hamburg 2007.
31 Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1970, S. 144.
32 Hagenlücke, Vaterlandspartei, S. 402.

AU F SÄT ZE
dieser Organisation, aus der auch spätere Ganz anders bei den Völkischen, und der Na-
NSDAP-Mitglieder kamen.33 Die „alldeutsche tionalsozialismus radikalisierte das völkische
Nation“, die die Alldeutschen als politisches Ziel Denken über das Volk noch in zwei entscheiden-
anstrebten, sollte von allen inneren Feinden – den begrifflichen Operationen: Zunächst mono-
Juden, Sozialdemokraten, Katholiken, Polen und polisierte er das Nationale, führte es gegen den
anderen kulturellen und nationalen Minderheiten Staat von Weimar und stellte das Volk auch über
– gesäubert sein. Sie verfolgte Annexionspläne in den neuen, „polykratischen“, in vieler Hinsicht
Europa und Kolonialvisionen in der Welt, räumte ungeregelten Staat. Doch was der Nationalsozia-
einer Elite politischen Vorrang ein und wurde lismus als „Neuaufbau auf volklicher Grundlage“
von einem autoritären Führer gelenkt, der immer verkündete, hatte mit früheren Volksbegriffen
mehr die Züge des ursprünglich als Realpolitiker nur wenig zu tun. „Obwohl in der Alltagsspra-
verachteten Bismarck annahm. Die Massen- che der nationalsozialistischen Propaganda
demokratie und das gleiche Wahlrecht wurden ‚Volk‘ seinen Vorrang behauptete, [...] war dieser
abgelehnt, auch die Gleichstellung von Frauen.34 Begriff längst ausgehöhlt.“ Denn er hatte nicht
nur jede staatsrechtliche Bedeutung verloren,
Die Alldeutschen stellten eine Verbindung zwi- sondern – und das war die zweite Umdeutung –
schen völkischem Denken und Bürgertum her. auch „seine ideologische, haltungs- und hand-
Auch aus diesem Grund wurden in der bürgerli- lungsleitende Funktion abgetreten an den Begriff
chen Gesellschaft rassistische, antisemitische ‚Rasse‘“. Wenn Nationalsozialisten an die „Volks-
Ideen und Gewaltbereitschaft hoffähig. Aber gemeinschaft“ appellierten, war das ideologi-
das heißt nicht, dass der traditionelle Konserva- sche Subjekt „Rasse“ gemeint.39 Der Gegensatz
tismus von der völkischen Bewegung kontrolliert von Rasse und Staat, der keiner traditionellen
wurde. Es blieben zahlreiche Spannungen, die Begrenzung und Rationalität mehr zugänglich
sich bis zur Machtübernahme der Nationalso- war, und die Dynamik einer „kumulativen Radika-
zialisten in offenen Konflikten entluden. Macht- lisierung“ verschärften und beschleunigten nicht
fragen und Interessengegensätze lagen diesen nur die rassistische Vernichtungspolitik. Sie
Konflikten oft zugrunde. Ideologisch aber lassen setzten einen Prozess in Gang, der letztlich auf
sie sich im Kern auf den Gegensatz von Staat die „Zerstörung der Politik“ und auf die Selbst-
und Volk zurückführen. Schon Lagarde hatte zerstörung des NS-Regimes hinauslief.40
gegenüber seinem rassistisch-antisemitisch
definierten, durch eine „nationale Religion“ Die nationalsozialistische Fixierung auf den
auch spirituell homogenen Volk den Staat als Begriff „Rasse“ und seine Radikalisierung macht
bloßes „Supplement“ in den Hintergrund treten jedoch nicht nur eine Konstante des völkischen
lassen.35 Für die Alldeutschen hatte das Volk als Denkens sichtbar.41 Unter dem Stichwort „Eu-
exklusive und rassisch homogene Gemeinschaft genik“ vermengten sich Themenfelder, die in
stets Vorrang vor dem Staat, der als „völki- die Mitte der Gesellschaft führten: Sie betrafen
scher Staat“ neu geschaffen werden sollte.36 völkisch-rassistische, konventionelle sozialpo-
Im Gegensatz dazu galt die Loyalität des tra- litische und „sozialhygienische“ Aspekte. Von
ditionellen Konservatismus dem Staat. Dieser sozialpolitischen Maßnahmen zur Förderung
Logik war nach 1918 der „gouvernementale“ der Volksgesundheit bis zu Zwangssterilisierun-
Flügel der Deutschnationalen verpflichtet, der gen medizinisch selektierter „Minderwertiger“,
sich gemeinsam mit konservativen Demokraten der Tötung Behinderter und der Aufzucht einer
gegen die völkische Fundamentalopposition in neuen Superrasse reichte die Bandbreite dieser
den eigenen Reihen stellte und zur Mitarbeit im Erörterungen. Vertreten waren dabei anfangs
Weimarer Staat bereitfand.37 In der demokrati- eine Vielzahl politisch unterschiedlichster
schen Diskussion fielen Volk und Staat zusam- Stimmen. Die moderne Medizin und ihre enorme
men, „Volksstaat“ bezeichnete zumeist eine Bedeutung in der Gesellschaft, die Ausweitung
deutsche Variante des Wortes Demokratie. Der der sozialen Hygiene auf alle Lebenszusammen-
Volksbegriff war im demokratischen Kontext hänge und der Ausbau der Sozialarbeit und
offen und inklusiv angelegt und transportierte Fürsorge schufen ein Handlungsfeld mit fließen-
neben kulturellen Aspekten immer auch politi- den Übergängen: Medizinisch oder ökonomisch
sche Selbstbestimmung.38 begründete Entscheidungen, scheinbar wohl-
wollende, aber paternalistisch-bevormundende

236 | 237
Maßnahmen und rassistische, auf Ausgrenzung konservativen und bürgerlichen Eliten ankam. Sie
und Vernichtung hinauslaufende Aktionen lagen stellten die Entscheidungsträger, als eine Regie-
nahe beieinander. Das war nicht nur ein deut- rungsbeteiligung der NSDAP zunehmend denkbar
sches Phänomen. In den Vereinigten Staaten, wurde.
in Schweden oder Großbritannien fanden sich
Parallelen, und auch internationale Kooperati- Aber im Rückblick richtete das völkische Denken
onen auf diesem Gebiet kamen zustande. Erst den auf Dauer größten Schaden wahrscheinlich
die Entwicklung in Deutschland führte zu einem bereits früher an. Die ideologische Unnachgie-
grundsätzlichen Umdenken auf diesem Gebiet. bigkeit völkischer Radikalnationalisten und ihre
Nachdem die tödlichen Konsequenzen eugeni- grundsätzliche Ablehnung des politischen und
schen Denkens sichtbar geworden waren, verlor gesellschaftlichen Systems der Demokratie
es weltweit seine wissenschaftliche und soziale verhinderten die Bildung einer konservativen
Akzeptanz.42 Sammlungspartei. Möglicherweise hätte eine
solche Partei aller Rechten auf Dauer auch
All diese Entwicklungen blieben nicht ohne Aus- monarchistische und andere antidemokratische
wirkungen auf die Grundlagen der bürgerlichen Kräfte in die Demokratie einbinden können, wie
Gesellschaft, auf ihre Werte und Normen, ihre dies in anderen Ländern damals gelang. Doch die
Vorstellungen und Verhaltensweisen. Die Paro- Radikalen störten und unterbrachen immer wie-
len des Nationalsozialismus überraschten und der den ohnehin schwierigen, zögerlichen und
erschreckten kaum mehr. Seine Worte und Sym- langsamen Prozess der Demokratisierung der
bole waren durch die völkischen Bewegungen Rechten. Die Ansätze, die es dazu in der DNVP
bereits vertraut geworden. Selbst wo völkisches gab, scheiterten wiederholt am unerbittlichen
Denken und alldeutsche Politik nicht auf Zustim- Widerstand alldeutscher und anderer völki-
mung stießen, fand eine Desensibilisierung ge- scher Akteure. Die andauernde Uneinigkeit und
genüber Antisemitismus, Rassismus und Gewalt die vielen Spaltungen im rechtskonservativen
statt. Die Aushöhlung der moralischen Funda- Spektrum begünstigten den Aufstieg des Natio-
mente wurde politisch entscheidend, als es nach nalsozialismus.43
dem plötzlichen Aufstieg des Nationalsozialis-
mus zur Massenbewegung und der Schwächung An diesem Punkt ist auf Albrecht von Graefe zu-
des Parlaments nach 1930 wieder auf die alten rückzukommen. Obwohl der Antisemitismus als

33 Vgl. Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919-1923, Hamburg 1970; Jackisch, League, S. 3.
34 Vgl. Hering, Nation.
35 Koselleck, Volk, S. 374.
36 Vgl. Hering, Nation, S. 349-379.
37 Vgl. etwa Jackisch, League, S. 89-100; Larry Eugene Jones (Hg.), The German Right in the Weimar Republic. Studies in the History of German Conservatism,
Nationalism, and Antisemitism, New York 2014; Thomas Mergel, Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechts-
radikalen Partei 1928-1932, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 323-368; Stefanie Middendorf, Finanzpolitische Fundamente der Demokratie? Haushalts-
ordnung. Ministerialbürokratie und Staatsdenken in der Weimarer Republik, in: Müller u. Tooze (Hg.), Normalität, S. 315-343; Philipp Nielsen, Verantwortung
und Kompromiss. Die Deutschnationalen auf der Suche nach einer konservativen Demokratie, in: Müller u. Tooze (Hg.), Normalität, S. 294-314.
38 Vgl. etwa Koselleck, Volk; Llanque, Denken.
39 Koselleck, Volk, S. 398, 402, 411 f., 413; zur Diskussion um die Institutionenkonkurrenz in der nationalsozialistischen „Polykratie“ vgl. zuletzt Sven Reichardt
u. Wolfgang Seibel (Hg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt 2011; zur Diskussion um die allgegenwärtige, aber
analytisch nur schwer zu fassende Funktion des Volksgemeinschaftsbegriffs im nationalsozialistischen Deutschland vgl. Martina Steber u. Bernhard Gotto
(Hg.), Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014; Volksgemeinschaft und die Gesellschaftsgeschichte des
NS-Regimes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 433-468.
40 Mommsen, Geschichte, S. 117.
41 Vgl. Puschner, Bewegung, S. 49-201.
42 Vgl. etwa Evans, Third Reich, S. 59-84; Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997; Jeremy Noakes, Nazism and
Eugenics. The Background to the Nazi Sterilization Law of 14 July 1933, in: R. J. Bullen, H. Pogge von Strandmann u. A. Polonsky (Hg.), Ideas into Politics. Aspects
of European History 1880-1950, London 1984, S. 75-94; Detlev J. K. Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren
unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982; ders., Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln
1986; Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890-1945,
Göttingen 1987; Paul Weindling, Health, Race and German Politics Between National Unification and Nazism, 1870-1945, Cambridge 1993; zur Kontinuität
eugenischer Konzepte im deutschen Strafvollzug die ersten Kapitel von Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat,
München 2006; zur internationalen Dimension und der Ablehnung eugenischen Denkens nach 1945 Mazower, Kontinent, S. 117-156.
43 Vgl. Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit – Die Deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945, Darmstadt 2001, S. 370-376; Eley, German Right;
Jakisch, League; Larry Eugene Jones, The Limits of Collaboration. Edgar Jung, Herbert von Bose, and the Origins of the Conservative Resistance to Hitler,
1933-34, in: ders. u. James Retallack (Hg.), Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945,
Providence 1993, S. 465-501.

AU F SÄT ZE
ein „kultureller Code“44 der Verständigung unter terten Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch 1920
den zerstrittenen Deutschnationalen diente, ging über den Hitler-Putsch 1923 und die Farce eines
Graefe und seinen Gesinnungsgenossen der tra- angeblichen „Claß-Putsches“ 192648 bis zur
ditionelle Antisemitismus weiter Teile der Partei aufsehenerregenden, aber spektakulär erfolglo-
nicht weit genug. Sie wollten eine rassistische sen Agitation gegen den Young-Plan 1929 reihte
und radikal antisemitische Politik durchsetzen. sich eine Niederlage an die andere. Der Wei-
Ende 1922 verließen sie die Partei und gründeten marer „Republikschutz“ griff härter durch als
die Deutschvölkische Freiheitspartei (DVFP). Sie später kolportiert wurde, der „Deutschvölkische
erzielte vor allem in Mecklenburg einige kleinere Schutz- und Trutzbund“ hatte es zu spüren be-
Erfolge und wurde als norddeutsches Pendant kommen. Die Republik war eine wehrhafte Demo-
zur NSDAP in Bayern betrachtet. 1924 kam es zur kratie. Nach der Überwindung der bürgerkriegs-
formellen Zusammenarbeit der beiden Parteien. artigen Situation der ersten Jahre hatte auch die
Am Ende ging die DVFP in der NSDAP auf. Die Ga- Gewalt in der politischen Auseinandersetzung
lionsfigur beider rechtsextremer Splitterparteien weitgehend abgenommen. Und noch 1932 über-
war in dieser Zeit der Weltkriegsgeneral Erich traf das republiktreue Reichsbanner Schwarz-
Ludendorff, dessen unheilvolle Rolle in der deut- Rot-Gold, dem Sozialdemokraten, christliche
schen Geschichte ein eigenes Thema wäre.45 Der Demokraten der Zentrumspartei und Linkslibe-
Extremismus dieser offen völkisch-rassistischen rale angehörten, an Mitgliedern bei weitem die
Parteien ging jedoch selbst den Alldeutschen zu SA, den kommunistischen Rotfrontkämpferbund
weit, vor allem, weil sie deren politische Chan- und den deutschnationalen Stahlhelm zusam-
cen für gering hielten. Damit richteten sich ihre mengenommen.49 In diese historische Relation
Blicke wieder auf die DNVP, mit katastrophalen muss jede Betrachtung des völkischen Denkens
Folgen. Spätestens nach dem Scheitern des ihren Gegenstand rücken. Weil nach 1933 so
Hitler-Putschs 1923 lenkten der ADV und sein viel geschah, was an die Sprache und Ideen der
Vorsitzender Heinrich Claß ihre Energien darauf, Völkischen erinnerte, wird ihre Bedeutung vor
die DNVP, die sich gerade der Republik annä- 1933 leicht überschätzt. Radikalisierung, takti-
herte, zu unterwandern und auf diesem Wege sche Anpassungen und Strategiewechsel waren
ihre völkischen politischen Visionen zu verwirk- die Folge von Rückschlägen. Der Nationalsozia-
lichen. Ein Erfolg ihrer Strategie war, dass 1928 lismus als eklektische Ideologie bediente sich bei
mit Alfred Hugenberg ein weit rechts stehender den Völkischen. Aber er brachte eine völlig neue
und schließlich zur Zusammenarbeit mit Hitler Qualität in die Politik. Er blieb nicht im völkischen
bereiter Alldeutscher zum Parteiführer gewählt Sumpf stecken, sondern versuchte nach 1928 für
wurde. Moderate Konservative verließen rei- breite Schichten der Gesellschaft attraktiv zu
henweise die DNVP, aber auch die Alldeutschen werden, zu einer Art Volkspartei zu werden. Um
verloren in diesen Jahren einen Großteil ihrer Hitler und der NSDAP schließlich die Gelegenheit
Mitglieder.46 zu eröffnen, ihr Projekt einer neuen, „rassisch
reinen“ und auf Exklusion angelegten „Volksge-
Der politische Bedeutungsverlust des völkischen meinschaft“ zum Regierungsprogramm zu ma-
Denkens war überall erkennbar, aber gleichzeitig chen, bedurfte es aber gewaltiger ökonomischer,
konnte dessen alldeutsche bürgerliche Variante politischer und sozialer Schockwellen. Andern-
die DNVP erobern. Dieser Widerspruch verdeut- falls wären die Nationalsozialisten wahrschein-
licht die Tragik der deutschen Geschichte vor lich wieder im historischen Nichts versunken,
1933. Die Serie der politischen Niederlagen, die und die völkische Bewegung mit ihnen.
das radikalnationalistisch-rassistische völki-
sche politische Milieu hatte hinnehmen müssen, Das war die Erwartung kluger zeitgenössischer
war auch in Zahlen ablesbar. Die DVFP hatte Beobachter. Zu ihnen gehörte der Soziologe
sich nicht durchsetzen können, und die NSDAP Sigmund Neumann, der 1933 ins Exil gehen
errang bei den Reichstagswahlen 1928 ganze musste. Im Jahr zuvor legte er seine Studie Die
2,6 Prozent der Stimmen. Ludendorff, der Held deutschen Parteien vor, die so gedankenreich
des Ersten Weltkriegs, der mittlerweile einer und analytisch präzise ist, dass sie bis heute
völkisch-esoterischen Ideologie anhing, hatte die Forschung zum Kaiserreich, zur Weimarer
bei den Wahlen zum Reichspräsidenten 1925 lä- Republik und zum Nationalsozialismus inspiriert.
cherliche 1,1 Prozent eingefahren.47 Vom geschei- Die NSDAP erfasste er als „Protestbewegung“,

238 | 239
die lager- und schichtenübergreifend gewählt
wurde, soziologisch vor allem eine „Partei des
Mittelstandes“, aber in ihrer Dynamik eine „Fort-
setzung der Jugendbewegung“ war. Den Aufstieg
des Nationalsozialismus seit 1930 beschrieb
Neumann als „Schatten oder Ausdruck der seit 2
Jahren ansteigenden Krise“. Politik war für den
Nationalsozialismus die „Rationalisierung des
Irrationalen“. Die jugendliche Gefolgschaft, auch
die vielen Studenten, trieb die „Liebe zum Unbe-
dingten“ zur Hingabe an den Führer, sie wollten
radikale Taten. Mit seiner 1930 abgegebenen
„Legalitätserklärung gewann aber der National-
sozialismus breite bürgerliche Schichten, die im
Grunde nur eine radikale deutschnationale Par-
tei wollten“. Doch das Bürgertum unterschätz-
te die „echt revolutionären Elemente“ in der
Hitler-Bewegung. Im Hinblick auf das Kommende
erkannte Neumann, dass „die taktische Wen-
dung der Nationalsozialisten, die Staatsmacht
auch auf dem Koalitionswege zu erobern, in Zu-
kunft von großer Bedeutung werden kann“. Aber
er legte auch die inneren Spannungen im Nati-
onalsozialismus dar. Für die Hitler-Partei tickte
die Uhr. Eine Massenprotestbewegung, zu der
die rechtsextreme Splitterpartei geworden war,
ließ sich nicht auf Dauer mobilisieren. „Gewiß
ist: der Nationalsozialismus muß zum baldigen
Erfolg kommen oder in seiner politischen Bedeu-
tung einbüßen. Mit Massen kann man schwerlich
eine Revolution in Permanenz machen.“50 Bei
den Novemberwahlen 1932 büßte die Partei, wie
auch die Frankfurter Zeitung zum Jahreswechsel
1932/33 betont hatte, erstmals seit 1930 wieder
in großem Umfang Stimmen ein. Der Ausgang der
Geschichte ist bekannt.

Tim B. Müller
Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut
für Sozialforschung

44 Zum Begriff vgl. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000.
45 Vgl. Jakisch, League, S. 54-67; Manfred Nebelin, Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2011.
46 Vgl. Jakisch, League, S. 101-158.
47 Vgl. Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 465.
48 Vgl. dazu Jakisch, S. 138-146.
49 Vgl. etwa Dreyer, Weimar; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln
2009; Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Benjamin Ziemann,
Germany after the First World War – A Violent Society? Results and Implications of Recent Research on Weimar Germany, in: Journal of Modern European
History 1 (2003), S. 80-95; ders., Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918-1933, Bonn 2014; diese Beiträge zeigen ebenso wie
Blasius, Ende, dass die Gewalt erst in der Schlussphase der Republik wieder entfesselt wurde.
50 Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932, S. 73 ff., 78, 82, 85 f. und S. 88.

AU F SÄT ZE
Nationalsozialistische Herrschaftssicherung
und Verfolgungspraxis 1933 bis 1937
Johannes Tuchel

Die Übernahme der politischen Macht in SA, 30 Prozent SS und 20 Prozent Stahlhelm)
Deutschland und die damit verbundene Etab- erreichte die Legalisierung der Gewalt eine
lierung der Diktatur in Deutschland wäre dem neue Stufe. Massiv wurde der Wahlkampf der
Nationalsozialismus allein auf legalem und demokratischen Parteien und der Kommunisten
parlamentarischem Weg nicht möglich gewesen. behindert.
Gewalt und Terror gehörten seit Gründung der
NSDAP fest zur nationalsozialistischen Ideologie Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag. Die
und Strategie. Sie waren grundlegende Bestand- Nationalsozialisten besaßen damit den willkom-
teile der nationalsozialistischen Machtetablie- menen Anlass zu einer umfassenden gewaltsa-
rung und wurden zum Eckpfeiler der Herrschaft. men Verfolgung des politischen Gegners. Am 28.
Später ermöglichte die im Inneren gesicherte Februar 1933 erließ Reichspräsident Paul von
Macht die Aggression nach außen. Daher sollen Hindenburg die vorher im Reichsinnenministeri-
im Folgenden kurz die Etablierung der Diktatur um ausgearbeitete „Verordnung zum Schutz von
und die Entwicklung der Konzentrationslager in Volk und Staat“, die den Nationalsozialisten in
den ersten Jahren des NS-Regimes dargestellt den folgenden Jahren als pseudolegale Verfol-
werden.1 gungsgrundlage diente. Sie war eine umfas-
sende Möglichkeit zur Unterdrückung politisch
Andersdenkender und sollte dies bis zum Ende
I. Nach der „Machtergreifung“ des nationalsozialistischen Systems auch
bleiben.2 Die Grundrechte der Weimarer Verfas-
Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident sung waren außer Kraft gesetzt. Wurden zuerst
Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichs- nur Kommunisten mit Hilfe dieser Verordnung
kanzler, Franz von Papen wurde Vizekanzler. In inhaftiert, folgten Gewerkschafter, Sozialdemo-
den ersten Tagen nach dieser „Machtergreifung“ kraten, Sozialisten, parteilose Intellektuelle und
kam es – von regionalen Ausnahmen abgese- alle, die sich der nationalsozialistischen „Gleich-
hen – noch nicht zu der großen „Säuberung“, die schaltung“ widersetzten. Zu ihnen gehörten
SA und Partei erhofften. Die Gewalt musste nun auch sogenannte „Asoziale“ oder „Berufsver-
nicht mehr zur Propaganda und zur Einschüchte- brecher“ ebenso wie die aus rassistisch-ideolo-
rung dienen, sondern die übernommene Herr- gischen Gründen verfolgten Juden und Sinti und
schaft möglichst schnell absichern. Dabei durfte Roma.
der äußere Eindruck der offenen Gewalt nicht in
Konflikt mit der von der NS-Führung verfolgten Bald nach den Reichstagswahlen vom März
Politik der Instrumentalisierung des konservati- 1933 erreichten die Nationalsozialisten mit dem
ven Lagers geraten. Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 und der
folgenden „Gleichschaltung“ auf allen Gebieten
Der Reichstag wurde aufgelöst, Neuwahlen für wesentliche Stationen der Herrschaftsetablie-
den 5. März 1933 angesetzt. Doch dieser Wahl- rung. Die für das „Ermächtigungsgesetz“ not-
kampf unterschied sich grundlegend von allen wendige Zweidrittelmehrheit im Reichstag kam
vorherigen. Am 4. Februar 1933 gab Hermann nur zustande, weil alle 81 kommunistischen und
Göring als kommissarischer preußischer Innen- auch 26 sozialdemokratische Abgeordnete fest-
minister die mündliche Weisung zum härteren genommen worden oder geflohen waren und weil
Vorgehen der Polizei „gegen Marxisten“, die am die Abgeordneten der Zentrumspartei und der
17. Februar 1933 im Erlass „zur Förderung der Deutschen Staatspartei Hitlers Versprechungen
nationalen Bewegung“ ergänzt wurde. Die Polizei einer restriktiven Auslegung des Gesetzes Glau-
konnte – und sollte – nun schießen. Mit der in ben schenkten. Nur die 94 sozialdemokratischen
Preußen nach dem 22. Februar 1933 einberufe- Abgeordneten lehnten es nach einer beeindru-
nen Hilfspolizei (50.000 Mann, davon 50 Prozent ckenden Rede ihres Vorsitzenden Otto Wels ab.

240 | 241
Kurze Zeit später zerstörten die „Gesetze zur tätigung war nicht mehr möglich. Zunehmend
Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ die zersetzten Spitzel der Gestapo die Versuche des
föderale Struktur der Weimarer Republik. In den Neuaufbaus illegaler oppositioneller Strukturen.
folgenden Wochen wurden in allen deutschen
Ländern statt gewählter Ministerpräsiden-
ten nationalsozialistische „Reichsstatthalter“ II. Die frühen Konzentrationslager
eingesetzt und die Landesparlamente aufgelöst.
Damit geriet auch die Polizei überall in Deutsch- Am 8. März erklärte Reichsinnenminister Wil-
land unter nationalsozialistische Kontrolle. helm Frick öffentlich: „Wenn am 21. März der
neue Reichstag zusammentrete, würden die
SA, SS und Polizei arbeiteten eng zusammen. Die Kommunisten durch dringende und nützlichere
Polizei konnte mit Hilfe von Listen verhaften, die Arbeit verhindert sein, an der Sitzung teilzuneh-
zum großen Teil schon in der Weimarer Zeit ent- men. Sie müssten an eine fruchtbringende Arbeit
standen waren. Die SA-Stürme durchkämmten wieder gewöhnt werden; dazu würde ihnen in
systematisch ihre Wohnquartiere nach politi- den Konzentrationslagern Gelegenheit gegeben
schen Gegnern, die dann oft in SA-Heime oder werden.“4
SA-Sturmlokale verschleppt wurden. Auf der
Nürnberger „Burg“ wurde dabei ebenso gefoltert Seit März 1933 entstanden fast 70 Konzentra-
wie in der Dortmunder „Steinwache“ oder in den tionslager, etwa am 21./22. März 1933 das
vielen SA-Lokalen Berlins. Unter dem Mantel der SS-Konzentrationslager Dachau bei München
scheinbaren Legalität wurden viele „persönliche und das SA-Konzentrationslager Oranienburg
Rechnungen“ aus der Weimarer Zeit beglichen. bei Berlin. Hinzu kamen über 30 „Schutzhaftab-
Der Gastwirt, der die SA einmal vor die Tür teilungen“ in Justiz- und Polizeigefängnissen.5
gesetzt hatte, konnte davon ebenso betroffen Zwischen März und April 1933 waren an diesen
sein wie der unter einem SA-Führer wohnende Orten mehr als 45.000 Menschen für kürzere
Kommunist, dessen Wohnung man schon lange oder längere Zeit inhaftiert, für das gesamte
haben wollte. Die Gesamtzahl dieser improvi- Jahr 1933 können wir von über 80.000 Gefan-
sierten Hafträume, die ab Februar 1933 ent- genen ausgehen. In den ersten Monaten wurden
standen und zumeist nur wenige Wochen oder vor allem Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemo-
Monate zur Verwahrung von Häftlingen dienten, kraten, Gewerkschafter in „Schutzhaft“ genom-
bleibt unbekannt. Allein in Berlin sollen es bis men und in Konzentrationslagern inhaftiert.
zu 200 gewesen sein.3 Doch Gewalt und Terror
sollten eine nachhaltige Wirkung erzielen. Daher Viele von ihnen wurden jedoch im Zuge der po-
war auch eine längerfristige Unterbringung der litischen Stabilisierung des Nationalsozialismus
Gefangenen notwendig. aus den Lagern entlassen. Im Juli 1933 etwa gab
es nach einer Umfrage des Reichsinnenminis-
Viele Kommunisten, Sozialdemokraten, Sozia- teriums rund 26.800 „Schutzhaftgefangene“,
listen und demokratische Intellektuelle flohen davon 14.906 in Preußen, 4.152 in Bayern, 4.500
schon 1933 aus Deutschland ins Exil. Die Situ- in Sachsen und 971 in Württemberg.6 Die natio-
ation der in Deutschland verbliebenen Opposi- nalsozialistische Herrschaft war so weit gefes-
tionellen war verzweifelt. Die Parteien wurden tigt, dass die offen gewalttätigen Maßnahmen
aufgelöst oder verboten, die Gewerkschafts- zurückgenommen werden konnten. Ende Oktober
bewegung zerschlagen. Legale politische Be- 1933 waren noch rund 22.000 Gefangene in den

1 Als aktuellste Einführung zum Thema vgl. Nikolaus Wachsmann/Sybille Steinbacher (Hg.), Die Linke im Visier. Zur Errichtung der Konzentrationslager 1933,
Göttingen 2014 sowie Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1: Die
Organisation des Terrors, München 2005, Bd. 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, München 2005.
2 Vgl. Michael Hensle, Die Verrechtlichung des Unrechts. Der legalistische Rahmen der nationalsozialistischen Verfolgung, in: Benz, Ort, Bd. 1, S. 76 ff.
3 Irene Mayer-von Götz, Terror im Zentrum der Macht. Die frühen Konzentrationslager in Berlin 1933/34-1936, Berlin 2008, S. 56.
4 Kuno Horkenbach, Das deutsche Reich von 1918 bis heute. 1933. Berlin 1934, S. 106.
5 Klaus Drobisch/Günther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933-1939, Berlin 1993, S. 12; vgl. ebenda, S. 73, Liste der berüchtigten Folterstätten,
Konzentrationslager und Justizstrafanstalten 1933.
6 Bundesarchiv, R 43 II/398, fol. 91 f.; vgl. Drobisch/Wieland, System, S. 134 mit genauer Analyse der Zahlen.

AU F SÄT ZE
Konzentrationslagern inhaftiert, von denen – vor 1933 rechnete das preußische Innenministeri-
allem mit Blick auf das Ausland – 2.000 Häftlin- um „für die nächsten Jahre mit einer Dauerzahl
ge nach der „Reichstagswahl“ vom 12. November von 10.000 Häftlingen“ und formulierte in einem
1933 entlassen wurden. Die erste Phase der Schreiben an das Reichsinnenministerium expli-
nationalsozialistischen Herrschaftskonsolidie- zit sein Konzept.9 Noch im Sommer 1933 sollten
rung war damit abgeschlossen; objektiv wären die drei Standorte Börgermoor, Esterwegen und
die Konzentrationslager zur Aufrechterhaltung Sustrum 4.000 Häftlinge aufnehmen. Für die
der NS-Diktatur nicht mehr notwendig gewesen. östlichen Regierungsbezirke war vorgesehen,
Ihre Aufgabe hätten die seit März 1933 tätigen die Lager Sonnenburg und Lichtenburg beizube-
„Sondergerichte“, der im April 1935 errichtete halten, zusätzlich das Lager Brandenburg. Diese
„Volksgerichtshof“ und die Strafvollstreckung Lager sollten die Häftlinge aufnehmen, bei denen
der Justiz ohne Weiteres übernehmen können. nur eine kürzere „Schutzhaft“ zu erwarten war
Dies war jedoch nicht der Fall, stattdessen ent- und sich daher ein Transport in das Emsland
stand das genuin nationalsozialistische System nicht lohnte.
der Konzentrationslager, dessen Genese bei
einem Blick auf die Entwicklung in den beiden Ein Erlass des Staatssekretärs Ludwig Grauert
größten deutschen Ländern, Bayern und Preu- vom 14. Oktober 1933 über die „Vollstreckung
ßen, erkennbar wird. der Schutzhaft“ markierte den Höhepunkt der
Zentralisierungsbestrebungen des preußischen
Die Konzentrationslager waren 1933/1934 Innenministeriums. Danach durften Schutz-
Orte des direkten Terrors gegenüber den politi- haftgefangene nur noch in den staatlichen
schen Gegnern des Nationalsozialismus und der Konzentrationslagern Papenburg, Sonnenburg,
indirekten Repression gegenüber der gesamten Lichtenburg und Brandenburg inhaftiert wer-
Bevölkerung, die durchaus in der Presse über die den. „Sonstige Einrichtungen zur Unterbringung
Konzentrationslager informiert wurde. politischer Schutzhäftlinge werden von mir als
staatliche Konzentrationslager nicht anerkannt;
Diese Lager entstanden in enger Zusammenar- soweit sie noch bestehen, werden sie in Kürze,
beit zwischen den Parteiformationen der NSDAP jedenfalls noch vor Ende dieses Jahres, aufge-
und staatlichen Dienststellen. Lokal, regio- löst.“10 Doch dieses Modell ließ sich nicht durch-
nal und überregional kann nicht von „wilden“ setzen; die Differenzen zwischen der Verwaltung
Lagern, d.h. von Haftstätten außerhalb staatli- und den zumeist der SS angehörenden Wach-
cher Kontrolle oder ohne staatliche Beteiligung, mannschaften waren zu groß. Die Versuche, ein
gesprochen werden, sondern eher von „frühen“ preußisches System der Konzentrationslager zu
Konzentrationslagern. Insgesamt gab es eine errichten, waren Ende November 1933 abrupt
regional sehr differenzierte Entwicklung. Kriteri- beendet.11 Konzeptionslosigkeit, Improvisation
en wie Errichtung, Bewachung, Aufsicht über die und Chaos kennzeichneten die Entwicklung bis
Lager, Dauer der Lagerexistenz und der Haft- Mitte 1934. Die Leidtragenden dieser Entwick-
dauer helfen bei der Einordnung. Im Vordergrund lung waren die Häftlinge in den Konzentrations-
steht dabei der Aufsichts- und Kontrollaspekt lagern. In Bayern dagegen war in dieser Zeit kon-
über die „frühen“ Konzentrationslager, die grob sequent ein Modell für die weitere Entwicklung
in fünf Typen eingeteilt werden können: die der Konzentrationslager geplant und umgesetzt
Schutzhaft in Polizei- und Justizgefängnissen, worden.
staatliche Konzentrationslager, regionale Lager
unter staatlicher Kontrolle, Konzentrationslager
von regionalen Herrschaftsträgern und Kon- III. Entwicklung der Konzentrationslager durch
zentrationslager von Parteiformationen.7 die SS

Vor allem in den beiden großen Flächenländern In Bayern entstand nahe München am 21. März
Preußen und Bayern waren bereits früh Zentra- 1933 das Konzentrationslager Dachau. Seine
lisierungsbestrebungen für die „Schutzhaftvoll- Entwicklung war eng mit der SS verbunden. Die
streckung“ erkennbar.8 In Preußen sollten die SS war 1925 als persönliche Leibwache Hitlers
Häftlinge zentral in Lagern in den Moorgebieten gegründet worden und war damit Teil der Partei-
des Emslandes untergebracht werden. Ende Juni organisation der NSDAP. Seit 1929 wurde sie von

242 | 243
Heinrich Himmler als „Reichsführer SS“ geleitet, Schon bald wurde der Unterschied zwischen
der sie zu einer Eliteformation innerhalb der der Haft im Konzentrationslager und der Haft in
NSDAP machen wollte. Himmler weitete Aufga- Gefängnissen und Zuchthäusern deutlich. Die
benbereiche und Einfluss der SS konsequent aus. Justiz besaß in den Konzentrationslagern zuerst
Er machte die SS über ihre ursprüngliche Aufga- in Bayern, später in ganz Deutschland, keinerlei
be des Versammlungs- und Personenschutzes Eingriffsmöglichkeiten. Im Sommer 1933 ermor-
hinaus zu einer „Parteipolizei“ der NSDAP und zu dete die SS in Dachau mehrere Häftlinge. Am 26.
einer ideologisch besonders gefestigten Forma- Juni 1933 wurde der SS-Oberführer Theodor
tion, die als Instrument des Terrors gegenüber Eicke neuer Kommandant des Konzentrations-
den politischen Gegnern diente. Die SS wuchs lagers Dachau.14 Er etablierte in Dachau ein nor-
seit 1929 von ca. 280 Mann auf über 209.000 miertes System der Gewalt, das ein Höchstmaß
Mann Ende 1933 rapide an. an systematischer Brutalität gegenüber den
Häftlingen sichern sollte. Theodor Eicke mach-
Heinrich Himmler war bereits seit dem 9. März te die Gewaltausübung im Lager für Himmler
1933 kommissarischer Polizeipräsident von Mün- berechenbarer und unauffälliger. Er trennte die
chen. Am 15. März 1933 ernannte der kommissa- Lagerverwaltung (Lagerkommandantur) von der
rische Innenminister Adolf Wagner Himmler zum Lagerwachtruppe, die nur für den Postendienst
„politischen Referenten beim Staatsministerium zuständig war und führte Lagerabteilungen
des Innern“ und beauftragte ihn mit der Koor- ein. Dieses Organisationsmodell, mit dem das
dinierung aller Aktionen der politischen Polizei. Konzentrationslager zugleich gegen alle Einflüs-
Am 1. April 1933 verfügte Wagner die Ernennung se und Einsichtnahmen von außen abgegrenzt
Himmlers zum „politischen Polizeikommandeur wurde, sollte sich rasch bewähren. Durch die
Bayerns“ und unterstellte ihm die „bereitstehen- drei Säulen SS, Bayerische Politische Polizei und
den und noch einzurichtenden Konzentrations- Kommandantur des Lagers Dachau wurde das
lager“.12 Konzentrationslager Dachau bis Mitte 1934 voll-
ständig gegen die Eingriffe sämtlicher staatli-
Die Bayerische Politische Polizei schied aus dem cher Institutionen abgeschottet.
Dienstbereich der Polizeidirektion München
aus. Himmler konnte in seiner neuen Funktion Der Terror wurde systematisiert. Wichtigstes
alle anderen Polizeieinheiten zu Exekutivmaß- Instrument der Gewalt gegenüber den Inhaf-
nahmen anfordern. Sein Konzept lässt sich tierten war eine von Eicke bereits in Dachau im
einfach beschreiben: Er übernahm mit staat- Oktober 1933 entworfene „Lagerordnung“, die
licher Legitimität staatliche Aufgaben, die er mit geringfügigen, örtlich bedingten Abweichun-
von der SS erledigen ließ. In seiner dreifachen gen im Sommer 1934 in allen noch bestehenden
Funktion sah Heinrich Himmler das KZ Dachau Konzentrationslagern eingeführt wurde. Diese
als ein auf lange Sicht nutzbares Instrument Lagerordnung sollte bis in die Kriegsjahre hinein
zur Unterdrückung des politischen Gegners: Als mit leichten Veränderungen in sämtlichen Kon-
Bayerischer Politischer Polizeikommandeur war zentrationslagern gelten.
Himmler für die Einweisung und Entlassung der
Schutzhäftlinge zuständig, als Kommandeur der In Bayern wurden jetzt aber nicht mehr nur die
Bayerischen Politischen Hilfspolizei stellte er die aus der Weimarer Zeit bekannten politischen
SS-Wachtruppe mit einem SS-Kommandanten.13 Gegner verfolgt, sondern zugleich sollte auch

7 Vgl. ausführlich dazu Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934-1938,
Boppard 1991, S. 42 ff.
8 Ausführlich dazu: Tuchel, Konzentrationslager, S. 60 f.
9 Briefentwurf von Ende Juni 1933, in: Bundesarchiv, Sammlung Schumacher 271.
10 Bundesarchiv, R 58/264 fol. 1 ff.
11 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 80 ff.
12 Bundesarchiv, Sammlung Schumacher 464.
13 Vgl. ausführlich Tuchel, Konzentrationslager, S. 122 ff.
14 Vgl. zur Biografie ausführlich Tuchel, Konzentrationslager, S. 128 ff. sowie Niels Weise, Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik, KZ-System und
Waffen-SS, Paderborn 2013.

AU F SÄT ZE
jede Neubildung politischer Opposition ver- wurden, so etwa die zu dieser Zeit in Dachau
hindert werden. Heinrich Himmler hatte so in inhaftierten knapp 350 „Arbeitsscheuen“. Der
Bayern bis Mitte 1934 ein Modell der „inneren Kurs, den Himmler jetzt auch gegenüber Ver-
Sicherheit“ des nationalsozialistischen Staates tretern anderer Instanzen des nationalsozia-
errichtet, das ein Höchstmaß an systematisier- listischen Staates einschlug, wenn sie auf die
tem Terror zu gewährleisten schien. Die SS war Einschränkung der „Schutzhaft“ drängten, war
zudem zum Rekrutierungsbereich für die Politi- eindeutig: In den Konzentrationslagern waren
sche Polizei geworden. Um die Politische Polizei nur noch Kommunisten untergebracht, die den
schlagkräftig zu halten, konnten aber ältere und Staat gefährdeten. Diesem Argument sollte
aus Himmlers Sicht befähigte Polizeibeamte, sich kein Nationalsozialist widersetzen können.
auch wenn sie vor 1933 keine Nationalsozialisten Und als Kommunist konnte jetzt jeder definiert
gewesen waren, zum großen Teil im Amt bleiben. werden, der in das bayerische Konzentrations-
Zugleich war die Polizei in dieser Zeit aus der lager eingewiesen wurde. Doch grundsätzlich
normalen inneren Verwaltung herausgelöst wor- änderte sich an Himmlers Anspruch, mit Hilfe der
den, während das Konzentrationslager Dachau Konzentrationslager seine rassistisch moti-
zu einem handhabbaren und wirksamen Instru- vierte gesellschaftsverändernde Politik durch-
ment gegen jede von der nationalsozialistischen zusetzen, nichts. Ab 1935 sollte dies vielfach in
Politik abweichende Regung geworden war. Verhaftungsaktionen gegen unterschiedlichste
Nonkonformes Verhalten, politische Opposition, Gruppen, etwa gegen sogenannte Asoziale oder
weltanschauliche Resistenz, aber auch soziale „Berufsverbrecher“ deutlich werden.
Auffälligkeit, Armut und jede Form unerwünsch-
ten Verhaltens konnten mit der Einweisung in
das Konzentrationslager „geahndet“ werden. IV. Esterwegen, Lichtenburg, Dachau,
Sachsenburg, Moringen
Diese „sozialrassistische“ Komponente wird
auch bei den Einweisungsgründen in das Kon- Ende Juni 1934 entmachtete Hitler die Führung
zentrationslager Dachau im Frühjahr 1934 der SA und ermordete viele ihrer Führer, aber
deutlich. Als der Reichsstatthalter Franz von auch politische Gegner und zwei Generale der
Epp im März 1934 wieder einmal die Reduzie- Reichswehr. Die Aktion wurde vom Reichskabi-
rung der Schutzhaftzahlen in Bayern verlangte, nett am 3. Juli 1934 nachträglich als „Staatsnot-
ließ Himmler in der Bayerischen Politischen wehr“ für rechtens erklärt. Dies zeigt, wie stabil
Polizei eine Statistik der Einweisungsgründe die nationalsozialistische Herrschaft zu dieser
der 2.405 Schutzhäftlinge in Bayern nach dem Zeit bereits war. Mit dem Tod von Reichsprä-
Stand vom 10. April 1934 erstellen. 38,5 Prozent sident Paul von Hindenburg am 2. August 1934
waren wegen „kommunistischer Betätigung“, fasste Hitler sofort die Ämter des Reichsprä-
24,5 Prozent als „KPD-Funktionäre“, 19,5 Pro- sidenten und des Reichskanzlers zusammen.
zent wegen „Hochverrat, marxistischer Betäti- Noch am selben Tag ließ er die Reichswehr auf
gung, staatsabträglicher Kritik, Landesverrat, seine Person vereidigen. Hitler war jetzt „Führer
SPD-Funktionäre“, aber schon 12,8 Prozent als und Reichskanzler“, der nationalsozialistische
„Volksschädlinge“ oder „Arbeitsscheue“, we- „Führerstaat“ hatte sich endgültig durchgesetzt.
gen „Beleidigung“, „asozialem Verhalten“ oder Rassismus, Antisemitismus und Kriegsvorberei-
„Trunksucht“ inhaftiert.15 tungen bestimmten die deutsche Politik in den
nächsten Jahren.
Ein halbes Jahr später betonte Himmler vor
allem die präventiv-polizeiliche Bekämpfung der Schon davor hatte Heinrich Himmler am 20. April
kommunistischen „Bedrohung“: „Zurzeit befinden 1934 die Leitung der preußischen Geheimen
sich in Bayern noch 1396 Personen in Schutzhaft. Staatspolizei übernommen. Er holte sofort Eicke
Davon sind 1269 Kommunisten, 75 Sozialdemo- nach Preußen, denn dieser sollte das in Dachau
kraten und 52 sonstige Personen (Oppositionelle, entwickelte Modell auf weitere Konzentrations-
Hetzer usw.).“16 Auffällig ist, dass sämtliche lager in ganz Deutschland übertragen. Im Mai
andere Kriterien, die noch im April von Bedeu- 1934 erteilte Himmler Eicke den Auftrag, kleinere
tung gewesen waren, nicht mehr erschienen SA-Konzentrationslager aufzulösen und einige
oder hier in die Rubrik „Kommunisten“ integriert andere nach dem Muster Dachaus zu reorgani-

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sieren. Dieser begann damit Ende Mai 1934 im Einrichtungen dar, in denen politische Staats-
Konzentrationslager Lichtenburg.17 Nachdem feinde und Saboteure im Interesse der Volks-
Eicke am 1. Juli 1934 in München an der Ermor- gemeinschaft untergebracht werden müssen.
dung des Chefs der SA, Ernst Röhm, beteiligt [...] Bei aller Anerkennung, die man dem guten
war, wurde er mit Wirkung vom 4. Juli 1934 Willen der Quäker zollen kann, darf die Wohl-
zum „Inspekteur der Konzentrationslager“ und fahrt des gesamten Volkes nicht dadurch aufs
„Führer der SS-Wachverbände“ ernannt.18 In den Spiel gesetzt werden, daß eine Einrichtung, die
Sommermonaten 1934 organisierte Eicke dann gegenwärtig das wirksamste Mittel gegen alle
die Konzentrationslager Esterwegen im Emsland Staatsfeinde bildet, aufgehoben oder durch ir-
und Sachsenburg in der Nähe von Chemnitz neu gendwelche Auflockerungen unwirksam gemacht
und löste das KZ Oranienburg auf. Dies war der wird.“22
eigentliche Beginn des nationalsozialistischen
Systems der Konzentrationslager, das in den Im Frühsommer 1935 gab es in Deutschland
folgenden Jahren von Himmler und Eicke aufge- schließlich die Konzentrationslager in Ester-
baut wurde.19 wegen, Lichtenburg, Dachau und Sachsenburg
sowie für Frauen das Konzentrationslager in Mo-
Ein Blick auf die Gefangenenzahlen zeigt, dass ringen. In ihnen waren zu dieser Zeit rund 3.500
eine objektive Notwendigkeit für die Beibehal- Häftlinge inhaftiert. Von diesen Häftlingszahlen
tung oder gar Weiterentwicklung des Lagersys- ausgehend, entstand in den Folgejahren ein
tems für die NS-Führung nicht mehr gegeben System der Konzentrationslager. Diese dienten
war. Am 1. August 1934 gab es nach den offiziel- weiterhin der Stabilisierung der Diktatur, aber
len Zahlen des Reichsinnenministeriums in auch als Sanktionsinstrument gegenüber allen
Preußen 2.267, in Bayern 2.156, in Sachsen 544 Formen abweichenden politischen und gesell-
und in Württemberg 118 Schutzhäftlinge.20 Diese schaftlichen Verhaltens.
hätten durchaus der Justiz übergeben werden
können, die rechtsförmige Instrumente zur Un-
terdrückung aller echten oder ideologisch defi- V. Das System der nationalsozialistischen
nierten Gegner des Nationalsozialismus besaß.21 Konzentrationslager

Als im Dezember 1934 die Gesellschaft der Das System der Konzentrationslager war ein
Freunde (Quäker) die Auflösung der Konzentra- zentrales Instrument im Denken und Handeln
tionslager forderte, stellte Heinrich Himmler klar, Heinrich Himmlers und wurde von ihm in den
dass die „Konzentrationslager nur aus unbeding- folgenden Jahren mit der Zustimmung Hitlers
ter Notwendigkeit errichtet sind, um nicht nur ausgebaut.23 Zuerst gelang es Himmler, ei-
das deutsche Volk, sondern letzten Endes die nen Vorstoß des Reichsinnenministeriums zur
menschliche Gesellschaft vor zersetzenden und Auflösung der Lager abzuwehren. Im Juni 1935
asozialen Elementen zu schützen. [...] Die Kon- erreichte Himmler bei Hitler die Zustimmung zur
zentrationslager stellen in ihrer heutigen Form Beibehaltung der Lager und einen Ausbau der

15 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 106299, Schreiben Himmlers vom 13. April 1934.
16 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 106299, Schreiben Himmlers vom 15. November 1934. Himmler bezieht sich auf den Stand vom 1. November 1934.
17 Vgl. Johannes Tuchel, Theodor Eicke im Konzentrationslager Lichtenburg. Die Etablierung der Inspektion der Konzentrationslager im Sommer 1934, in: Stefan
Hördler/Sigrid Jacobeit (Hg.), Lichtenburg. Ein deutsches Konzentrationslager, Berlin 2009, S. 59 ff.
18 Bundesarchiv, Bestand Berlin Document Center, Personalakte Theodor Eicke, Personalnachweis.
19 Vgl. Johannes Tuchel, Planung und Realität des Systems der Konzentrationslager, in: Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann (Hg.), Die national-
sozialistischen Konzentrationslager. Göttingen 1998, S. 43 ff.
20 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 106299/1, Schreiben des Reichsministers des Innern vom 5. Oktober 1934.
21 Reichsgesetzblatt 1934 I, S. 341 ff. Zum Volksgerichtshof vgl. Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1974 (Nachdruck
2011); Bernhard Jahntz und Volker Kähne, „Der Volksgerichtshof“. Darstellung der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin gegen
ehemalige Richter und Staatsanwälte am Volksgerichtshof. Senatsverwaltung für Justiz (Hg.), Berlin, 3. Aufl., 1992; Klaus Marxen, Das Volk und sein
Gerichtshof. Eine Studie zum nationalsozialistischen Volksgerichtshof, Frankfurt am Main 1994; Holger Schlüter, Die Urteilspraxis des nationalsozialistischen
Volksgerichtshofs, Berlin 1995.
22 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, HA II, Rep. 90 P, Bl. 100 f.
23 Vgl. zum Gegnerbild Himmlers: Johannes Tuchel, Heinrich Himmler – Der Reichsführer SS, in: Ronald Smelser/Enrico Syring (Hg.), Die SS. Elite unter dem
Totenkopf. Paderborn 2000, S. 234 ff.

AU F SÄT ZE
Wachmannschaften, die zugleich als militärische Er hatte sich sorgfältig vorbereitet und seine
Sondertruppe der SS dienen sollten. Himmler Themen notiert: „1. Behandlung der Kommunis-
besaß zudem Hitlers Zusage, dass die Wachver- ten, 2. Abtreibungen, 3. Asoziale Elemente,
bände und die Konzentrationslager durch den 4. Wachverbände, 5. Gestapa-Erlaß von Frick.“26
Reichshaushalt finanziert werden würden. Himmler konfrontierte Hitler so zuerst mit den
An die Stelle der Verfolgung der politischen Geg- ideologischen Hauptgegnern des Nationalsozia-
ner trat jetzt endgültig ein Präventionskonzept. lismus, danach mit den gesellschaftspolitischen
Im Juli 1935 befahl Himmler, „daß die Zahl der Problemen, die vor dem Hintergrund der rassis-
Schutzhäftlinge aus den Reihen der ehem. K.P.D. tischen Ideologie des Nationalsozialismus im
Funktionäre in dem folgenden Monat um tausend Rahmen der sogenannten „Volksgemeinschaft“
vermehrt werden soll“.24 nicht gelöst worden waren und die jetzt durch
Inhaftierungen in Konzentrationslagern „bewäl-
Reinhard Heydrich ergänzte diese nüchterne tigt“ werden sollten. Frauen, die einen Schwan-
Anordnung Himmlers, dass nicht nur die Perso- gerschaftsabbruch hinter sich hatten, waren
nen in Haft genommen werden sollten, die im hinfort nicht nur der damals gesetzlichen Strafe,
Verdacht illegaler Betätigung stünden, sondern sondern zusätzlich der Drohung durch das
auch die, deren „Verhalten erkennen läßt, daß Konzentrationslager ausgesetzt. Zur Gruppe der
sie nach wie vor staatsfeindlich eingestellt sind, „Asozialen“ gehörten all jene, die von der Norm
und der Verdacht besteht, daß sie in versteckter der „Volksgemeinschaft“ auch nur ein wenig ab-
Form gegen den Staat hetzen“. Zugleich sollten wichen. Kleinste Vergehen konnten ausreichen,
alle „KPD Funktionäre“, die aus der Strafhaft um von der Polizei als „asozial“ abgestempelt
entlassen würden, in Schutzhaft genommen und in ein KZ eingewiesen zu werden. Ende 1938
werden, „sofern es sich bei ihnen um gefähr- waren dann bereits in den Konzentrationslagern
liche Staatsgegner handelt“.25 Diese Ausweitung 12.921 Menschen in „polizeilicher Vorbeugehaft“,
durch Heydrich führte zu einer weit größeren davon 8.892 sogenannte „Asoziale“.
Zahl von Verhaftungen, als sie von Himmler am
12. Juli 1935 gefordert worden war. Die Aktion Im November 1935 konnte Himmler mit Hitlers
wurde auch auf alle außerpreußischen Politi- Hilfe dann die Konzentrationslager auch gegen-
schen Polizeien ausgedehnt. Am 13. August 1935 über der Justiz endgültig abschotten. Häftlinge
wurde sie in Bayern angeordnet, bereits Anfang durften nicht mehr von Rechtsanwälten ver-
August in Sachsen. Nach Dachau wurden rund treten werden; die Todesfälle in den Konzentra-
800 Häftlinge neu eingeliefert, in Sachsenburg tionslagern durften nicht mehr von der Justiz
erhöhte sich die Häftlingszahl von 820 am untersucht werden. Diese grundsätzlichen
10. September 1935 auf 1.537 am 20. Oktober Entscheidungen Hitlers ermöglichten es in den
1935. Es war die erste große Präventivaktion, folgenden Monaten Theodor Eicke, eine grund-
der noch viele weitere folgen sollten. sätzliche Planung für den Ausbau der Kon-
zentrationslager im Rahmen der nationalsozia-
Doch nicht nur politische Gegner waren der listischen Kriegsvorbereitungen vorzulegen:
Gewalt in den Konzentrationslagern ausgesetzt.
Bereits 1933 wurden sogenannte „Arbeits- – Im Norden sollte ein Konzentrationslager in der
zwangshäftlinge“ und „Berufsverbrecher“ in die Nähe von Hamburg entstehen. Da die Hamburger
Lager eingewiesen. Auch die hohe Zahl von 325 Verwaltung den Bau nicht ermöglichen konnte,
„homosexuellen“ Häftlingen in Lichtenburg 1935 musste Eicke den für dieses Lager vorgesehenen
deutete auf die wachsende Bedeutung anderer Wachverband anderen Lagern zuordnen.
Häftlingsgruppen hin. Ihnen sollten bald weitere
Menschen folgen, die in der nationalsozialisti- – Im Nordwesten sollte das Konzentrationslager
schen Gesellschaft an den Rand gedrängt und Esterwegen noch im Frühjahr 1936 ausgebaut
ausgegrenzt wurden. werden. Diese Planungen wurden jedoch im
Sommer 1936 aufgegeben, denn im Zentrum
Am 18. Oktober 1935 schließlich ließ Himmler Deutschlands sollte ein großes Konzentrations-
sich von Hitler die Übernahme der gesamten lager in der Nähe von Berlin entstehen: das Kon-
deutschen Polizei und damit des wesentlichen zentrationslager Sachsenhausen.
Teils des Verfolgungsapparates zusichern.

246 | 247
– In Mitteldeutschland sollte ein weiteres großes schaftliche Pläne zur Ausnutzung der Zwangsar-
Konzentrationslager entstehen, da Sachsenburg beit der Häftlinge und wollte vor allem mit Stein-
und die Lichtenburg für größere Häftlingszahlen brüchen und Ziegeleien eine ökonomische Nische
längst nicht mehr geeignet waren. Die Realisie- in der Autarkiewirtschaft des „Dritten Reiches“
rung dieses Vorhabens sollte mit dem Bau von besetzen. Das System der Konzentrationslager
Buchenwald erst 1937 möglich sein. war so ein zielbewusst eingesetztes Instrument
der nationalsozialistischen Herrschaftssiche-
– In Süddeutschland sollte das Konzentrations- rung, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug
lager Dachau ausgebaut werden, um auch hier eingeschätzt werden kann.
die Aufnahme größerer Häftlingszahlen zu er-
möglichen. Dies erfolgte 1937/38.
Johannes Tuchel
Andere Veränderungen in der Entwicklung der Leiter der Arbeitsstelle Widerstandsgeschichte der Freien Universität
Berlin und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Konzentrationslager sind nicht auf diese grund-
sätzliche Planung Ende 1935 und Anfang 1936
zurückzuführen. Dazu gehörten etwa die Nut-
zung der Lichtenburg als Frauenkonzentrations-
lager, der Ende 1938 / Anfang 1939 einsetzende
Aufbau des großen Frauenkonzentrationslagers
Ravensbrück und die Errichtung der Lager Flos-
senbürg und Mauthausen. Die Errichtung dieser
Lager markierte bereits eine neue und teilweise
veränderte Funktionszuweisung für die Lager,
die verstärkte Ausbeutung der Häftlingszwangs-
arbeit.

Gegenüber den 3.500 Häftlingen im Frühsommer


1935 gab es im November 1936 bereits 4.761
Häftlinge, im November 1938 sollten es noch vor
den Novemberpogromen über 24.000 Häftlin-
ge sein, deren Zahl durch die Verschleppungen
nach den Pogromen auf über 60.000 anschwoll.
Damit waren auch die neuen Lager in Buchen-
wald und Sachsenhausen überfüllt. Nach Ent-
lassungen und einer „Amnestie“ zu Hitlers 50.
Geburtstag waren dann kurz vor dem deutschen
Überfall auf Polen etwa 21.000 Häftlinge in den
Konzentrationslagern gefangen.

Die Konzentrationslager waren seit 1935 damit


Haftstätten für politische Gegner, dienten der
rassistisch definierten „Volksgemeinschaft“
ebenso wie der Prävention gegenüber der Op-
position aus der Arbeiterbewegung und sollten
Ende 1938 unmittelbar den Auswanderungs-
druck auf die deutschen Juden erhöhen. Seit
1937/38 verfolgte die SS zudem eigene wirt-

24 Vgl. dazu Johannes Tuchel/Reinold Schattenfroh, Zentrale des Terrors. Prinz-Albrecht-Straße 8. Das Hauptquartier der Gestapo, Berlin 1987, S. 145.
25 Ebd.
26 Bundesarchiv, NS 19/1447, fol. 17. Ich folge hier meiner Darstellung in Tuchel, Konzentrationslager, S. 312 ff.

AU F SÄT ZE
Die deutsche Gesellschaft im „Dritten Reich“
Ulrich Herbert

Der Nationalsozialismus war eine Sammlungsbe- seit nunmehr zwanzig Jahren anhaltenden wirt-
wegung ohne einheitliche, verpflichtende Dok- schaftlichen, politischen, sozialen Dauerkrise
trin. Seine ideologische Bandbreite war enorm. erlöst werden.
Er verband Antiliberalismus, Antisozialismus
und Antisemitismus miteinander, die Forderung Der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am
nach Lebensraum mit der nach bäuerlichem 5. März 1933 war schon vom Straßenterror der
Leben, die Ablehnung der Kultur der Moderne mit NS-Milizen geprägt, der sich in erster Linie gegen
Antiintellektualismus und völkischer Schwär- die Arbeiterparteien richtete. Gleichwohl war
merei, militaristischen Geist mit sakralisiertem das Wahlergebnis aussagekräftig: Klare Wahl-
Nationalismus, Rassismus mit den biologisti- siegerin war die NSDAP, die einen Regierungs-
schen Konzepten der Eugenik, den Wunsch nach auftrag für eine rechtsautoritäre, nationalisti-
Revanche für die Niederlage im Ersten Weltkrieg sche Regierung erhalten hatte. Allerdings hatten
mit Weltmachtphantasien, völkische Sozialpo- 56,1 Prozent der Wähler nicht für die NSDAP
litik mit der Ausschaltung von Gewerkschaf- gestimmt, die eine Mehrheit nur zusammen mit
ten und Tarifverträgen, Antikatholizismus mit der DNVP erreichte. Eine Option für eine Allein-
Deutschchristentum. Hier fanden sich nahezu herrschaft der Hitler-Partei ergab sich aus den
alle ideologischen Versatzstücke der „Großen Wahlen also nicht. Zählte man aber die Stimmen
Rechten“, wie sie sich seit der Jahrhundertwen- für die eindeutig verfassungsfeindlichen Par-
de und dann verstärkt nach dem Ersten Welt- teien zusammen (NSDAP, DNVP, KPD), so hatten
krieg herausgebildet hatten. mehr als 64 Prozent, fast zwei Drittel der Wähler,
unmissverständlich gegen die Weimarer Republik
Diese verschiedenen und zum Teil widersprüchli- gestimmt. Insofern war das Ergebnis eindeutig:
chen Ideen und Interessen wurden auf zweierlei Die Wähler wollten das Ende dieser Republik.
Weise integriert: zum einen durch die Orientie- Während der ersten zwei, drei Jahre der Diktatur
rung auf den „Führer“, der diese Widersprüche war die Stimmung in der deutschen Bevölkerung
in seiner Person auflöste und der dem Volk durch geteilt. Die Anhänger der Rechten triumphierten
sein Charisma direkt verbunden zu sein schien, und begrüßten jeden Schritt ihrer Regierung und
ohne auf Interessengruppen und Koalitionen jede Rede ihres Führers mit Jubel und Genugtu-
Rücksicht nehmen zu müssen; zum anderen, und ung. Die Indifferenten, Abwartenden bildeten die
damit eng verbunden, durch die Parole von der größte Gruppe. Angesichts der Entbehrungen
„Volksgemeinschaft“: die Ausschaltung der plu- und Enttäuschungen der zurückliegenden Jahre
ralen politischen, sozialen und kulturellen Kräfte, war ihnen Hitler einen Versuch wert; man würde
um „Einheit“ im nationalen und im rassischen sehen, ob er Erfolg hatte oder nicht. Die Anhän-
Sinne herzustellen. Dass mit der „Uneinigkeit“ ger der Republik, zumal der Arbeiterparteien,
des deutschen Volkes die Ursachen des deut- litten hingegen unter dem Terror der NS-Milizen
schen Niedergangs beseitigt würden, entsprach und der Häme der Sieger. Aber sie setzten dar-
der Überzeugung vieler, weit über den Kreis der auf, dass sich diese Regierung als ebenso wenig
Anhänger und Aktivisten des Nationalsozialis- stabil erweisen würde wie ihre Vorgängerinnen
mus hinaus: Gegen die künstliche soziale und und der Spuk schnell beendet sei – vergebens,
politische Zersplitterung im modernen Parteien- wie sich bald herausstellte.
und Verbändestaat stand hier das Postulat der
Gemeinsamkeit von Kopf- und Handarbeit, von Dass die Umwälzungen in den ersten Monaten
Männern und Frauen, Arm und Reich, Süddeut- nach dem Machtantritt der Hitler-Regierung
schen und Preußen, von Katholiken und Pro- so tiefgreifend waren, so schnell vor sich gin-
testanten, Liberalen und Sozialisten. Auf diese gen und auf so wenig Widerstand stießen, lag
Weise, so die hier geweckte Erwartung, würde vor allem an der Energie, der Brutalität und der
auch die politische und militärische Stärke der jugendlichen Begeisterung der NS-Bewegung
Nation wiederhergestellt und das Volk aus der – aber auch an der lähmenden Angst, die sich

248 | 249
unter den Gegnern und potenziellen Opfern der nicht mit allen Forderungen oder Ideen der Nazis
Nazis verbreitete. Sie wurde durch die Berichte einverstanden sein, um seinen Platz im national-
über die Vorkommnisse in den Lagern der SA und sozialistischen Staat zu finden. Es reichte völlig
den Kellern der Polizeipräsidien noch gesteigert. aus, sich nicht dagegen zu stellen.
Es gelang den Nationalsozialisten innerhalb
weniger Monate, nicht nur die Organisationen Wichtiger waren jedoch die neuen sozialpoli-
der Arbeiterbewegung aufzulösen, sondern auch tischen Leistungen – Familienunterstützung,
den Zusammenhalt der Arbeiterschaft innerhalb Ehestandsdarlehen, vermehrte Konsummöglich-
des proletarischen Sozialmilieus zu lockern und keiten, Einführung eines Mindestjahresurlaubs
zu entpolitisieren. Bereits Anfang 1935 ging die und das Angebot von billigen Pauschalreisen.
Gestapo davon aus, dass es einen organisierten Solche Maßnahmen brachten Hitler Respekt
Widerstand gegen das Hitler-Regime nicht mehr und Zustimmung nun auch in solchen Kreisen
gebe. ein, die dem NS-Regime innerlich fernstanden.
Über die Stimmung in der Arbeiterschaft schrieb
Das war nicht nur eine Folge des Terrors, son- ein Berichterstatter der Exil-SPD: „Man kann
dern auch der wirtschaftlichen Entwicklung. gegen Hitler sagen was man will, er ist doch ein
1935 war die Arbeitslosigkeit weitgehend Kerl … So was macht Eindruck auf den Spießer
überwunden, seit 1936 herrschte Arbeitskräf- und auch auf manchen Arbeiter und selbst auf
temangel – für die Haltung des überwiegenden Sozialisten.“ Andererseits war vielen durchaus
Teils der Bevölkerung erwies sich das als aus- klar, worauf das hinauslief. „Wer die Dinge auf-
schlaggebend. Die Erfahrung eines langfristig merksam betrachtet“, hieß es in einer Meldung
stabilen Arbeitsplatzes war vor allem für die aus Westfalen, „der sieht doch, daß die ganze
meisten Arbeiter etwas Neuartiges, das sie seit sogenannte Arbeitsbeschaffung und die Ankur-
Jahrzehnten nicht erlebt hatten. Das prägte die belung der Wirtschaft ein großer Schwindel ist.
Wahrnehmung und Bewertung. Es sind Staatsaufträge, sonst nichts. Einmal hört
das auf, wenn – kein Krieg kommt.“1
Trotz aller Volksgemeinschafts-Propaganda
blieb die soziale Struktur der deutschen Gesell- Auch das Verhältnis des Bürgertums zum Na-
schaft in den 1930er Jahren aber weitgehend tionalsozialismus war nicht widerspruchsfrei.
stabil: Der Anteil der Arbeiterschaft lag weiter- Einerseits gaben sich die Nazis betont antibür-
hin bei etwa 60 Prozent, und an ihrer sozialen gerlich. Die Postulate von Volksgemeinschaft und
Benachteiligung gegenüber den anderen gesell- nationalem Sozialismus riefen bei Unternehmern
schaftlichen Schichten, die von der Aufwärts- wie im Bildungsbürgertum Erschrecken hervor.
entwicklung mehr und schneller profitierten, Mehr noch als die politischen Aspekte war es
veränderte sich nichts. Das Regime versuchte der plebejische Habitus der braunen Milizen, der
allerdings, die soziale Ungleichheit zu kompen- im Bürgertum auf indignierte Ablehnung stieß,
sieren: durch die propagandistische Aufwertung weil die „grobe Ungeistigkeit“ und das laute
des „ehrlichen Arbeiters“ und des „deutschen Gebaren der Nazis in schroffem Widerspruch
Sozialismus“ sowie durch die Mobilisierung von zur Ordnungswelt des deutschen Bürgertums
Ressentiments gegen „Reaktion“ und „Gewerk- stand. Zugleich waren die Nationalsozialisten
schaftsbonzen“ und vor allem gegen die Juden. aber in vielem ja selbst ein Produkt jener bürger-
Das blieb durchaus nicht ohne Resonanz. Die lichen Zivilisationskritik, die seit der Jahrhun-
„Volksgemeinschaft“ konstituierte sich vor dertwende in den antiurbanen Phantasien der
allem durch die Ausgrenzung der Missliebigen: bündischen Jugendbewegung ebenso gepflegt
der politischen Gegner des NS-Regimes, der wurde wie im modernekritischen Radikalismus
rassisch verfemten Juden, der sogenannten der Intellektuellen der „Konservativen Revoluti-
Gemeinschaftsfremden. Wer nicht zu diesen on“. In der Opposition gegen Weimar und Ver-
Gruppen gehörte, konnte von den Segnungen des sailles, dem Verlangen nach einer starken, nicht
neuen Staates profitieren. Man musste durchaus parlamentarisch kontrollierten Regierung und

1 Klaus Behnken (Hg.), Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934-1940, Frankfurt am Main 1980, März 1936, S. 310;
April 1936, S. 465 u. 468 (im Folgenden: Sopade-Berichte).

AU F SÄT ZE
dem Wunsch nach Wiedereinsetzung elitärer fen der Jahre 1930 bis 1933 etwas reduziert, um
Strukturen gegen die nivellierenden Tendenzen auch Wähler über die antisemitisch Eingestellten
des demokratischen Sozialstaates fand sich hinaus zu gewinnen. Aber es war doch für jeder-
das Bürgertum im neuen Staat überwiegend gut mann offensichtlich, dass, wer die Hitlerpartei
aufgehoben und war bereit, die revolutionären wählte oder mit ihr sympathisierte, damit die am
Umtriebe der Nazis als Radikalismus des Über- stärksten anti-jüdische Gruppierung unterstütz-
ganges hinzunehmen. te, die in Deutschland je aufgetreten war.

Der Terror hatte sich in den Anfangsjahren des Einer klaren Linie folgte die antijüdische Politik
Regimes in erster Linie gegen dessen potentielle des Regimes zunächst aber nicht. Die Juden zu
politische Gegner gerichtet. Die „KZs“ waren demütigen, sie aus einflussreichen Positionen zu
nachgerade zum Kennzeichen nationalsozialis- verdrängen, ihr Vermögen an sich zu reißen und
tischer Herrschaft geworden, und Namen wie sie durch Gewalt und Drohungen zur Ausreise
Dachau, später Buchenwald, Sachsenhausen zu veranlassen – darin waren sich die National-
oder Neuengamme gewannen im Land eine sozialisten einig. Noch im Jahr 1933 verließen
angsteinflößende Bekanntheit. Seit etwa 1936, 37.000 Juden das Land. Bis Ende 1937 waren
als sich das Regime etabliert hatte und ein ver- insgesamt 125.000, mithin etwa ein Viertel der
nehmbarer politischer Widerstand nicht mehr in Deutschland lebenden Juden emigriert.
bestand, änderte sich die Funktion der Lager; sie
wurden zunehmend zu Orten der Aussonderung Wirtschaftliche Aspekte der Judenfeindschaft
der „Gemeinschaftsfremden“ aus der deutschen hatten bereits seit dem Aufkommen des moder-
Volksgemeinschaft. Dieser Funktionswandel nen Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert
zielte auf eine Gesellschaft ab, die tendenziell eine besondere Bedeutung besessen. Die Wi-
keine Konflikte mehr kannte, weil die Träger der dersprüche und Aporien des modernen Kapi-
erblichen Veranlagung zu abweichendem und ge- talismus auf das Wirken einer kleinen Gruppe
sellschaftlich als „schädlich“ empfundenem Ver- zurückzuführen, die sich in der Industrie, im
halten ausgesondert, von der Fortpflanzung aus- Handel, im Bankwesen und in den freien Berufen
geschlossen, schließlich „ausgemerzt“ wurden. als besonders erfolgreich erwiesen hatte und
Diese Bestrebungen, abweichendes Sozialver- anscheinend über geheime Kanäle erheblichen
halten, Vererbung und ethnische Zugehörigkeit Einfluss auf die Kräfte des Marktes besaß – dies
miteinander in Beziehung zu setzen, richteten war eine so verführerisch einfache Erklärung
sich in besonderer Weise gegen die „Zigeuner“ der ansonsten unverständlichen Bewegungen
genannten Sinti und Roma. Diese Gruppen, so von Konjunktur und Kapitalmarkt, dass sie auch
urteilten die Erbbiologen, seien als „geschichts- von solchen akzeptiert wurde, die sich selbst gar
und kulturlose Primitive“ anzusehen, die nicht nicht als Antisemiten verstanden. Dabei war der
umerzogen, sondern nur „unschädlich“ gemacht wirtschaftliche Druck auf die Juden von Beginn
werden könnten.2 Seit 1938 wurden daher mehr an untrennbar mit Korruption, Bereicherung und
als 2.000 als „asozial“ stigmatisierte deutsche Raub verbunden. Es waren meist Parteifunktio-
und österreichische „Zigeuner“ in die Konzen- näre, oft aber auch Mitarbeiter oder Konkurren-
trationslager des Reiches eingewiesen. Am ten jüdischer Ladenbesitzer oder Handwerker,
Vorabend des Kriegsausbruchs lag die Zahl der die mit Denunziationen und Gewalt versuchten,
KZ-Insassen bei über 21.000. Der Anteil der von deren wirtschaftlicher Enteignung zu profi-
„Politischen“ unter ihnen betrug nur noch etwa tieren.
ein Drittel.
Bemerkenswert war dabei die Parole, unter der
Die Nationalsozialisten hatten ebenso wie ihr die Enteignung des jüdischen Teils der deutschen
Führer in den Jahren vor der Machtübernahme Bevölkerung vollzogen wurde: „Wiedergutma-
keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die klei- chung“. Die Vorstellung war hier, dass die Juden
ne jüdische Minderheit in Deutschland für einen sich vor und nach dem Ersten Weltkrieg auf
Großteil der Probleme verantwortlich machten, unerklärliche Weise an den Deutschen bereichert
denen sich die Deutschen gegenüber sahen. hätten. Man nehme sich jetzt nur, was einem
Zwar hatte die NSDAP-Führung die Zahl der ext- sowieso gehöre, war die verbreitete Legitimation
rem judenfeindlichen Ausfälle in den Wahlkämp- für den organisierten Raub. Damit konnte auch

250 | 251
der zuvor wirtschaftlich unterlegene Konkurrent Ausschreitungen des Straßenmobs eine stille,
sein Mitwirken an der Zerschlagung des erfolg- gesetzförmige, gleichwohl aber massiv ver-
reicheren jüdischen Textilgeschäfts rechtfertigen, schärfte Politik gegen die Juden begann, die
um es dann für einen Spottpreis zu erwerben. durch die Inhaftierung von mehr als 20.000
jüdischen Männern in Konzentrationslagern nach
Gegenüber den großen jüdischen Unternehmen dem 9. November eingeleitet wurde, legte sich
waren die Behörden und Parteidienststellen die Aufregung schnell. Verfolgung, sogar Mord
allerdings vorsichtiger, denn solche Betriebe zu an Juden, so lautete das Signal dieser Ereignisse
schließen, hätte den Verlust zahlreicher Arbeits- an die Regimeführung, stieß in der Bevölkerung
plätze bedeutet. Erst als sich die wirtschaftli- nicht auf Widerstand, wenn sie still, ohne Auf-
che Lage in Deutschland seit 1936 merklich zu ruhr und Sachbeschädigung und gewissermaßen
bessern begann, wurde auch hier die Zurück- legal stattfand.
haltung aufgegeben. Nun schalteten sich auch
die großen Banken und Versicherungen in die Neben der wirtschaftlichen Erholung infolge
„Entjudung der deutschen Wirtschaft“ ein, und der rapiden Aufrüstung waren es vor allem
die Finanzbehörden wurden zu den Zentralstel- die außenpolitischen Erfolge, die vor 1939 die
len der staatlichen Konfiszierung des jüdischen Zustimmung zum NS-Regime und vor allem zu
Eigentums. Hitler persönlich ansteigen ließen. Der Ein-
marsch deutscher Truppen in das seit Kriegsen-
Gegenüber öffentlichen Drangsalierungen der de entmilitarisierte Rheinland, der „Anschluss“
Juden verhielt sich die breite Bevölkerung indes Österreichs, die Inkorporation des sogenannten
eher indifferent. Man profitierte womöglich von Sudetenlandes – all diese außenpolitischen
der Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden, Coups liefen nach dem gleichen Muster ab: ein
etwa wenn man auf den Platz eines jüdischen riskantes Vorpreschen Hitlers, die Angst vor
Vorgesetzten aufrücken oder das Geschäft eines der Reaktion der Westmächte, dann die enorme
jüdischen Konkurrenten übernehmen konnte. Aus Erleichterung, schließlich die unbändige Begeis-
gewaltsamen Übergriffen versuchte man sich terung und eine Volksabstimmung, die mit 98
hingegen herauszuhalten. Das galt insbesonde- oder 99 Prozent Zustimmung endete. Die war
re für die Pogrome des 9. November 1938, bei zwar manipuliert, kennzeichnete aber doch die
denen Tausende von jüdischen Geschäften und Begeisterung in großen Teilen der Bevölkerung
Wohnungen demoliert, Synagogen in Brand ge- über die erreichten Erfolge.
setzt wurden und mehr als 100 Juden umkamen.
Nahezu alle örtlichen Parteistellen in Deutsch- Der immer ausgedehntere Jubel, der Führerkult,
land berichteten jedoch, dass die „Aktion in der die pompösen Aufmärsche und die Dauerpro-
Bevölkerung weitgehend auf Unverständnis und paganda vermittelten den Eindruck, als stünde
Ablehnung gestoßen sei. Die Gestapo Bielefeld das ganze Volk geeint hinter Hitler und seinem
z.B. erhielt auf eine Rundfrage bei den örtlichen Staat – und diesen Eindruck wollte das Regime
Polizeistellen ausschließlich negative Antworten: ja auch vermitteln. Tatsächlich war wohl ein Teil
Das Vorgehen habe im Volke ‚Kopfschütteln und derer, die 1933 noch gegen Nazis und DNVP ge-
eisiges Schweigen‘ hervorgerufen“, hieß es dort. stimmt hatten, angesichts der wirtschaftlichen
„Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat die und außenpolitischen Dauererfolge ins Lager
Aktion gegen die Juden nicht verstanden und mit der Regimeanhänger gewechselt. Wichtiger war
dem Hinweis verurteilt, daß Derartiges in einem noch, dass es das Regime verstand, eine Atmo-
Kulturstaate nicht vorkommen dürfe“ – so der sphäre des dauernden Ausnahmezustandes zu
einhellige Tenor.3 erzeugen, hervorgerufen durch die ständigen
Großereignisse, bei denen sich Krisenangst und
Als das Regime daraufhin die Form der anti- jubelnde Erleichterung abwechselten, wobei
semitischen Politik modifizierte und statt der dem Führer, der diese Krisen vom Einmarsch im

2 Robert Ritter, Primitivität und Kriminalität, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 31 (1940), S. 198-210, hier S. 200 ff.
3 Antworten auf die Rundverfügung der Stapostelle Bielefeld, 14.11.1938, in: Otto D. Kulka u. Eberhard Jäckel (Hg.), Die Juden in den geheimen Stimmungs-
berichten 1933-1945, Düsseldorf 2004, Nr. 357-370, S. 313-324.

AU F SÄT ZE
Rheinland bis zum Münchner Abkommen ja erst Das schlug sich zuerst in der deutschen Besat-
hervorgerufen hatte, die Bewunderung und der zungspolitik in Polen nieder, die keine Grenzen
Dank des Volkes zuflossen. der Gewaltsamkeit mehr kannte. Hitler hatte
seinen Generälen von Beginn an verdeutlicht,
Nach dem Münchner Abkommen allerdings und dass der Krieg gegen Polen nicht mit den bisher
noch mehr nach dem Einmarsch deutscher bekannten Methoden geführt werde: „Vernich-
Truppen in Prag im Frühjahr 1939 war zwar ein tung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseiti-
weiteres Mal der Umschlag von ängstlicher gung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung
Spannung zu erleichterter Begeisterung festzu- einer bestimmten Linie. [...] Herz verschlie-
stellen, von Kriegsbegeisterung aber war im Volk ßen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Mill.
nichts zu spüren. Die NS-Führung realisierte, Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre
dass sie sich des Rückhaltes für ihre Kriegspo- Existenz muß gesichert werden. Der Stärkere
litik in der deutschen Bevölkerung nicht wirklich hat das Recht. Größte Härte.“5 Bereits in den
sicher sein konnte: Die Deutschen wollten keinen ersten Wochen und Monaten des Krieges wurden
Krieg. Das nahm das Regime zum Anlass, die Tausende von Polen von den Einsatzgruppen aus
„Stimmung und Haltung“ der Bevölkerung ver- SS und Gestapo erschossen, insbesondere Politi-
stärkt zu überwachen, um auf Unzufriedenheit ker, Intellektuelle, Geistliche. Über die jüdische
oder Missstände rasch reagieren zu können – sei Bevölkerung Polens ergoss sich eine Welle von
es mit Repressionen, sei es mit sozialpolitischen Verfolgung und Diskriminierungen. Zehntausende
Rücksichtnahmen. Die Arbeiterstreiks vom Janu- wurden aus den westlichen Teilen des Landes
ar 1918 waren noch in frischer Erinnerung. in das neu geschaffene „Generalgouvernement“
deportiert und dort in „Ghettos“ untergebracht.
So reagierten die Deutschen im September 1939 Tausende von ihnen kamen dabei um.
auf die Nachricht vom Kriegsbeginn eher be-
drückt als begeistert. „Allgemein herrschte bei Für die deutsche Bevölkerung allerdings standen
Kriegsausbruch furchtbare Angst“, notierte ein die Siegesmeldungen und die Erleichterung über
Beobachter der Sopade aus Südwestdeutsch- das schnelle Ende des Krieges gegen Polen im
land. „Auch kritische Geister seien unsicher in Vordergrund. Die deutsche Propaganda zeich-
der Beurteilung der Kriegschancen für Deutsch- nete das Bild eines von verschlagenen Juden
land. Hitler habe bis jetzt immer Erfolge gehabt beherrschten, primitiven und auf niedriger Zivili-
und man könne nicht wissen, wie die Sache dies- sationsstufe stehenden Landes, das dem Deut-
mal ausgehen werde.“ Wie schon bei den vorhe- schen Reich fortan als Kolonialgebiet zu dienen
rigen militärischen Abenteuern wuchs jedoch die habe. In welchem Maße diese Propaganda sich
Zuversicht, als sich die Siegesmeldungen mehr- in der deutschen Bevölkerung verfing, ist nicht
ten: „Jetzt fürchtet man den Krieg nicht mehr. messbar. Zweifellos knüpfte sie an schon lange
Er erscheint jetzt viel weniger schrecklich […]. bestehende antipolnische Ressentiments an.
‚Vielleicht gewinnen wir doch.’“4 Allerdings wurden nun Hunderttausende, dann
Millionen polnischer Kriegsgefangener und Zivil-
Der Krieg war das ureigenste Element des arbeiter ins Reich zur Arbeit gebracht, und mit
Nationalsozialismus. Nun ging es endlich nicht ihnen etablierte das Regime auch im Reich eine
mehr darum, gegensätzliche Interessen und strikte, nach rassischen Kriterien vorgenomme-
die schwierige Organisation einer vielgestalti- ne Hierarchisierung. Die polnischen Zwangsar-
gen modernen Industriegesellschaft mühevoll beiter mussten ein spezielles Abzeichen an der
auszutarieren, sondern um Sieg oder Niederlage, Kleidung tragen, das signalisierte, dass es sich
Triumph oder Untergang. Alles schien nun nur um Menschen minderen Rechtes handelte, die
noch einem einzigen Ziel untergeordnet zu sein, länger arbeiten mussten, weniger verdienten als
dem Sieg. Das vereinfachte alles und legitimierte die Deutschen und einem scharfen Polizeiregi-
alles. Widersprüche, Einwände oder Vorbehalte ment unterworfen waren. Die Differenzierung
waren nun obsolet, und in einer solchen Situation zwischen jenen, die zur deutschen Volksge-
der existenziellen Bedrohung setzte sich in der meinschaft zählten, und jenen, für die das nicht
Regel der radikalste Vorschlag durch. zutraf, wurde nirgends so deutlich und alltäglich
spürbar wie beim „Ausländereinsatz“, dessen
Höhepunkt im Sommer 1944 erreicht wurde, als

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fast acht Millionen ausländische Zwangsarbeiter in diesem Ausmaße noch nie der Fall war. Vor
im Reichsgebiet eingesetzt wurden, von de- dieser Größe verstummt aller Kleinmut und alle
nen die meisten aus Polen und der Sowjetunion Nörgelei.“6 Auch die Militärs waren voller Be-
stammten. Den nationalsozialistischen Behör- wunderung für Hitlers strategische Fähigkeiten,
den bewies das Experiment des „Ausländer- hatte dieser doch gegen die Auffassung der
einsatzes“, dem sie anfangs mit großer Skepsis meisten Generäle den Angriff über die Ardennen
gegenübergestanden hatten, dass eine rassis- durchgesetzt. Mit jedem weiteren „Feldzug“ und
tisch strukturierte Gesellschaft in Deutschland jedem neuerlichen Sieg wuchs die Zuversicht,
tatsächlich funktionierte. und selbst ein kritischer Geist wie der Historiker
Friedrich Meinecke schrieb begeistert: „Freude,
Die Radikalisierung des Regimes bei Kriegsbe- Bewunderung und Stolz auf dieses Heer müssen
ginn schlug aber auch auf die Deutschen selbst zunächst auch für mich dominieren. Und Straß-
zurück. Im Oktober 1939 ordnete Hitler in einem burgs Wiedergewinnung! Wie sollte einem da das
auf den 1. September zurückdatierten Führerer- Herz nicht schlagen. Es war doch eine erstaunli-
lass die Aussonderung und Ermordung Zehntau- che, und wohl die größte positive Leistung des 3.
sender psychisch Kranker an. Daraufhin wurden Reiches, in vier Jahren ein solches Millionenheer
alle Anstalten für geistig Behinderte im Reich neu aufzubauen und zu solchen Leistungen zu
systematisch nach Insassen durchforscht, deren befähigen.“7
Zustand als erblich bedingt angesehen wurde.
Die so ausgesuchten Patienten wurden in eine Dieser Enthusiasmus wurde jedoch vor allem
der sechs dazu bestimmten Krankenanstalten durch zwei Faktoren beeinträchtigt: Zum einen
transportiert und dort in Gaskammern umge- gelang es der deutschen Luftwaffe nicht, die
bracht. Die meist nichts ahnenden Angehörigen britische Royal Air Force zu besiegen, die nach
erhielten eine Mitteilung über den Tod ihrer der „Luftschlacht um England“ nun ihrerseits
Verwandten sowie eine Urne mit Asche. Bis zum damit begann, deutsche Städte anzugreifen.
August 1941 wurden insgesamt 70.273 Behin- Das war für die deutsche Bevölkerung eine neue
derte im Rahmen dieser sogenannten Aktion T4 Erfahrung, denn zwischen 1914 und 1918 hatte
ermordet. Damit war nicht nur eine weitere Stufe der Krieg deutsches Territorium bis auf kleinere
der Eskalation der Gewalt erreicht: Der natio- Ausnahmen nicht erreicht. Die Luftangriffe
nalsozialistische Staat hatte damit begonnen, wurden fortan in immer stärkerem Maße zur
Tausende seiner Bürger zu ermorden – ein in der Bedrohung und begannen ab 1942, die Siegeszu-
Geschichte außerhalb von Bürgerkriegen bis versicht der Deutschen und auch ihr Vertrauen
dahin präzedenzloser Vorgang. in das NS-Regime und die militärische Stärke
der Wehrmacht zu unterminieren.
Mit dem Sieg über Frankreich im Sommer 1940
veränderten sich die Ausgangsbedingungen. Zum anderen war die soziale Lage der Bevöl-
Jubel und Erleichterung in Deutschland waren so kerung von Kriegsbeginn an ein steter Stein
außerordentlich, dass alle Beschwernisse und des Anstoßes. Zwar war der Lebensstandard
Unzufriedenheiten für eine Zeit zurückstanden. in Deutschland bereits in den Vorkriegsjahren
Das Trauma der Niederlage von 1918 war über- niedriger gewesen als in Westeuropa oder gar
wunden, und nie vorher und nie danach war die den USA. Nachdem sich aber die Lage seit Mitte
Zustimmung zu Hitler in der Bevölkerung so stark der 1930er Jahre infolge der Rüstungskonjunktur
und einhellig wie in der Situation im Sommer gebessert hatte, führten die bei Kriegsbeginn
1940. In einem Bericht aus Augsburg hieß es: verkündeten Lohnkürzungen und Arbeitszeitver-
„Die ganze Nation ist nun von einem so gläubigen längerungen zu erheblicher Unruhe in der Be-
Vertrauen zum Führer erfüllt, wie dies vielleicht völkerung. Die Hoffnung der Regimeführung, der

4 Sopade-Berichte, August – Oktober 1939, S. 975-983.


5 Hitler zu den Befehlshabern der Wehrmacht am 22. August 1939, Mitschrift eines Teilnehmers, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP), Serie D:
1937-1941, Bd. 7, Baden-Baden 1956, S. 172.
6 Bericht des Kreisleiters von Augsburg, 9.7.1940, zit. n. Ian Kershaw, Hitler, Bd. 2: 1936-1945, Stuttgart 2000, S. 407.
7 Friedrich Meinecke an Siegfried A. Kaehler, 4.7.1940, in: Hans Herzfeld (Hg.), Friedrich Meinecke, Werke, Stuttgart 1957-1979, Bd. 6, S. 363 f., hier S. 364.

AU F SÄT ZE
Beginn des Krieges und die Appelle an den Patrio- Die Kürzungen wurden daraufhin wieder rück-
tismus würden Unmutsreaktionen in der Bevölke- gängig gemacht. Nichts beunruhigte die Regi-
rung dämpfen, erwies sich aber als Fehlspekula- meführung so sehr wie aufkommende Unzu-
tion, sodass sich das Regime gezwungen sah, die friedenheit in der deutschen Bevölkerung. Das
Einschränkungen alsbald wieder aufzuheben. „Trauma“ der Streiks von 1918 wirkte hier nach,
und die Behörden taten alles, um eine Wieder-
Von der Nachricht über den Beginn des Krieges holung einer solchen inneren Destabilisierung zu
gegen die Sowjetunion im Juni 1941 wurden die vermeiden. Hermann Göring, der die Rücknahme
meisten Deutschen völlig überrascht. Anders als der Rationenkürzungen bekannt gab, wies denn
im September 1939 und bei den anderen „Feld- auch darauf hin, dass die Wehrmacht nun so
zügen“ reagierten sie nicht nur mit Bestürzung große Gebiete in der Sowjetunion erobert habe,
und Angst, sondern mit Entsetzen. Nachdem man dass es zu Einschränkungen bei der Lebensmit-
nach dem Einmarsch in Paris im Grunde schon telversorgung in Deutschland nie mehr kommen
an das Ende des Krieges geglaubt hatte, be- werde: „Zuerst und vor allem in der Stillung des
fürchteten nun selbst die ganz Hitlertreuen eine Hungers und der Ernährung kommt das deutsche
um Jahre verlängerte Dauer des Krieges. Sehr Volk. […] Wenn aber durch Maßnahmen des Geg-
populär wurden jetzt die historischen Vergleiche ners Schwierigkeiten in der Ernährung auftreten,
mit Napoleons Niederlage in Russland. Und an- dann sollen es alle wissen: Wenn gehungert wird,
ders als bei den „Feldzügen“ zuvor ebbte die sor- in Deutschland auf keinen Fall!“10 Offen spielte
genvolle Stimmung auch nicht ab, als im Sommer Göring hier auf den Zusammenhang zwischen
1941 die ersten großen Siege an der Ostfront ge- der Versorgungslage im Reich und der deutschen
meldet wurden. Das Frontgeschehen wurde nun Strategie in der Sowjetunion an, wo die Zivilbe-
noch aufmerksamer verfolgt, und die Sorge um völkerung und die sowjetischen Kriegsgefange-
die eigenen Angehörigen, die im Osten kämpften, nen millionenfach dem Hungertod preisgegeben
rückte in den Mittelpunkt des Interesses. Das wurden, um die Wehrmacht und die deutsche
Eintreffen von Lazarettzügen in Deutschland Bevölkerung zu versorgen.
etwa erregte große Aufmerksamkeit. Die Zahl
der Gefallenen und Verwundeten nahm rapide zu. Dass die Kriegsführung im Osten eine andere
Der Krieg hatte nichts „Unwirkliches“ mehr. war als die im Westen, war jedem Deutschen
bekannt, der auch nur eine einzige Hitlerrede im
Neben den Meldungen von der Front galt die Radio gehört hatte. Die Wehrmacht, so der Ein-
Hauptsorge in der Bevölkerung den Fragen der druck, den man in Deutschland durch Zeitungen
Lebensmittelversorgung, denn die Erinnerun- und Wochenschau, aber auch durch die Berichte
gen an die Hungerwinter im Ersten Weltkrieg der Fronturlauber erhielt, war hier von einem
waren noch frisch. Die Berichte der Exil-SPD unzivilisierten Gegner zu einer barbarischen
meldeten, dass man im Land nun „viel mehr von Kriegsführung gezwungen, über die man besser
Ernährungsfragen spricht als von der Politik. keine Einzelheiten erfuhr. Das galt in Sonderheit
Jeder ist von der Sorge gehetzt, wie komme für die Besatzungspolitik in der Sowjetunion,
ich zu meiner Ration?“8 Als im Frühjahr 1942 über die höchstens insoweit geschrieben und
Rationenkürzungen bekannt gegeben wurden, gesprochen wurde, als man überzeugt war, dass
schien die Stimmung erstmals zu kippen. Die- die hier eroberten riesigen Gebiete nach Zivilisie-
se Maßnahmen, berichtete der innenpolitische rung und Kolonialisierung durch die Deutschen
Geheimdienst der SS, der Sicherheitsdienst (SD), geradezu verlangten. Die propagandistischen
habe „auf einen großen Teil der Bevölkerung Zerrbilder von den „Russen“ als unzivilisierte
geradezu ‚niederschmetternd‘ gewirkt, und zwar Wilde wurden dann zwar durch die Millionen von
in einem Ausmaße wie kaum ein anderes Ereignis Zwangsarbeitern, die aus der Sowjetunion nach
während des Krieges“. Die Stimmung in diesen Deutschland gebracht wurden, zumindest in
Bevölkerungskreisen sei „auf einem im Verlauf Frage gestellt, waren aber wirksam genug, um
des Krieges bisher noch nicht erreichten Tief- über das Vorgehen der deutschen Besatzungs-
stand angelangt. Die militärischen Meldungen truppen im Osten gar nichts Näheres wissen zu
der letzten Tage wurden durch die Bekanntgabe wollen: Krieg ist Krieg.
der Lebensmittelkürzungen vollkommen in den
Hintergrund gedrängt.“9

254 | 255
Anders verhielt es sich mit der Verfolgung der se auf Massenerschießungen von Juden und auf
Juden. Schon die Zwangsdeportationen aus Tötungen mit Gas verbreiteten sich rasch.
den deutschen Städten seit Herbst 1941 waren
ebenso wie die Versteigerung des Besitzes der Um aber die vielen einzelnen Informationen zu
Deportierten in aller Öffentlichkeit durchge- einem Gesamtbild zusammenzusetzen, bedurfte
führt worden. Überall hingen ja Plakate mit der es eines besonderen Interesses, darüber mehr
Aufschrift: „Die Juden sind unser Unglück.“ Ein zu erfahren. Wer ein solches Interesse besaß,
Teil der Deutschen begrüßte die Deportationen, konnte bereits seit Herbst 1942 über das Ge-
etwa als die Juden in Kolonnen durch die einzel- schehen in Osteuropa recht genaue Kenntnisse
nen Ortschaften zum Bahnhof gebracht wurden, erlangen und auch die Größenordnungen des
nicht selten begleitet von johlenden Kindern und Massenmordes erahnen. Aber das taten nur
Jugendlichen. Das war vermutlich eine Minder- wenige, wohl auch, weil die Gerüchte darüber
heit, aber eine lautstarke. Der weitaus größte so furchtbar waren, dass es leichter war, sie zu
Teil der Bevölkerung verhielt sich gegenüber den verdrängen oder sie für unglaubwürdig zu halten.
Deportationen zurückhaltend und reagierte gar Wenn man jedoch bedenkt, dass in den deut-
nicht. Angesichts des Krieges und der riesigen schen zivilen und militärischen Besatzungs-
Opferzahlen an der Front, angesichts der Bom- verwaltungen in Europa mehrere Zehntausend
benangriffe auf die deutschen Städte und der Menschen mit den Deportationen und der Er-
nach wie vor schwierigen Versorgungslage war mordung der Juden direkt oder indirekt beschäf-
das Interesse am Schicksal der Juden, von de- tigt waren, so ist die Vorstellung, es habe sich
nen im Sommer 1941 ja nur noch etwa 130.000 in hierbei um ein nur von wenigen Auserwählten
Deutschland lebten, offenkundig sehr gering. geteiltes Geheimnis gehandelt, einigermaßen
abwegig. Jedoch war die Hinschlachtung von
Allerdings waren die führenden Nationalsozialis- Tausenden und Zehntausenden Juden, überwie-
ten mit Äußerungen über den Judenmord durch- gend Kindern, Frauen und Alten, bereits während
aus nicht so zurückhaltend, wie man später des Krieges mit einer Aura des Unheimlichen und
vermuten mochte. Reichspropagandaminister Furchtbaren verbunden, über das man besser
Joseph Goebbels etwa schrieb am 16. Novem- schwieg oder das man verdrängte.
ber 1941, als in Berlin die Entscheidungen über
das Schicksal der europäischen Juden gefällt Die Hauptsorge der meisten Deutschen galt
wurden, in der Wochenzeitung Das Reich einen hingegen während des Krieges dem eigenen
Leitartikel mit der Überschrift „Die Juden sind Fortkommen und dem Bestreben, das nach Jahr-
schuld“ und bezog sich darin auf Hitlers „Pro- zehnten der Entbehrungen nun endlich erreichte
phezeiung“ im Reichstag am 30. Januar 1939, „normale“ Leben mit Arbeitsplatz, festem Ein-
als der gedroht hatte, dass ein erneuter Welt- kommen und einer gewissen Zuversicht festzu-
krieg zur „Vernichtung der jüdischen Rasse in halten und sich nicht durch die Begleitumstände
Europa“ führen werde. Goebbels schrieb dazu: des Krieges zerstören zu lassen. Die Zahl der
„Wir erleben eben den Vollzug dieser Prophezei- Urlaubsreisen nahm weiter zu, die Kurorte und
ung, und es erfüllt sich damit an den Juden ein Seebäder meldeten hohe Zuwachsraten. Restau-
Schicksal, das zwar hart, aber mehr als verdient rants und Bars waren voll, Tanzvergnügen und
ist […]. Das Weltjudentum erleidet nun einen Revuen ausverkauft. Den Krieg verdrängte man,
allmählichen Vernichtungsprozeß, den es uns zu- so gut es ging.
gedacht hatte.“11 Seit Ende 1941 wurde dann der
Strom der Information über die Geschehnisse Seit der Jahreswende 1942/43 aber begann die
in der Sowjetunion breiter, insbesondere durch Stimmung der deutschen Bevölkerung allmäh-
Berichte der Fronturlauber. Vor allem die Hinwei- lich umzuschlagen – die immer gravierenderen

8 Sopade-Berichte, August – Oktober 1939, S. 975-983; Januar 1940, S. 29 f.


9 Hein Boberach (Hg.), Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, 1938-1945, Herrsching 1984, Bd. 9, 23.3.1942,
S. 3505.
10 Rede Hermann Görings, 4.10.1942, abgedr. in: Götz Aly (Hg.), Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Bonn 2006, S. 149–194,
hier S. 155.
11 Joseph Goebbels, „Die Juden sind schuld!“, in: Das Reich, 16.11.1941.

AU F SÄT ZE
Bombenangriffe sowie die Rückschläge an der der Bevölkerung während des Krieges mehr und
Ostfront, vor allem in Stalingrad, ließen die mehr ihren Bezug zu den sozialen, politischen
Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende geringer und zum Teil auch regionalen Zugehörigkeiten.
werden. So reduzierte sich die soziale Wahrneh- Das hatte viele Ursachen: die fortschreitende
mung der Deutschen immer stärker allein auf die Zerstörung der Wohnviertel in den Städten, die
eigene Existenz, auf das eigene Überleben und Umwälzung der Belegschaften durch Einberu-
das der Männer, Brüder und Väter an der Front. fungen zum Militär und Ausländereinsatz, der
„Die Einstellung eines Großteils der Bevölke- jahrelange Kriegseinsatz der Männer in sozial
rung“, resümierte der SD zum dritten Jahrestag durchmischten Wehrmachtseinheiten, Dienst-
des Kriegsbeginns im Herbst 1942, sei „vielfach verpflichtungen und Evakuierungen der Frauen
durch eine gewisse Resignation gekennzeichnet, und auch die Rationierung des Mangels. Die Bin-
die teilweise sogar in stärkerem Maße Anzeichen dung an die Klasse und das Sozialmilieu, denen
einer Kriegsmüdigkeit zeigt. Die zunehmenden man zugehörte, verlor dabei nicht völlig, aber
Versorgungsschwierigkeiten, drei Jahre Ein- doch zunehmend an Bedeutung. Stattdessen
schränkungen auf allen Gebieten des täglichen formten sich Schicksalsgemeinschaften, deren
Lebens, die an Heftigkeit und Umfang ständig Ergehen von geografischen, militärischen, politi-
zunehmenden feindlichen Luftangriffe, die Sorge schen Faktoren abhängig war, und nicht zuletzt
um das Leben der Angehörigen an der Front“ vom Zufall.
seien Faktoren, die „immer mehr den Wunsch
nach einem baldigen Kriegsende auftreten las- Das NS-Regime reagierte auf Bedrohungsla-
sen“.12 gen seit der Niederlage in Stalingrad mit der
weiteren Erhöhung der Kriegsproduktion, mit
Das konnte gleichwohl mit fortgeltenden Hoff- Kampagnen zur „Totalisierung“ des Krieges und
nungen auf „Vergeltung“ und „Endsieg“ durch- mit einer spürbaren Verschärfung der Unter-
aus einhergehen. Zwar verzeichnete der SD in drückungspolitik auch in Deutschland. Die Zahl
wachsendem Maße kritische Bemerkungen über der Bestrafungen von „Defätisten“ und „Mies-
das Nazi-Regime und seine Funktionäre. Der machern“ nahm seit 1943 deutlich zu. Die Zahl
Führer-Mythos aber war noch wirksam; Hitler der Todesurteile vervielfachte sich – von 926
trauten die Deutschen nach wie vor beinahe im Jahre 1941 auf 5.336 im Jahre 1943.14 Schon
alles zu. Auch die von der deutschen Propagan- wegen kritischer Bemerkungen über das Regime
da systematisch geförderte Angst vor der Roten oder skeptischer Äußerungen über den Kriegs-
Armee band viele noch stärker an das Regime, verlauf wurden nun viele Menschen zum Tode
„Kraft durch Furcht“ wurde das halb spöttisch, verurteilt. Zwar waren auch weiterhin mehr als
halb ernst genannt. Sehr auffällig war dabei, wie drei Viertel aller Aktivitäten der Gestapo gegen
oft in der Bevölkerung darüber spekuliert wurde, die ausländischen Zwangsarbeiter gerichtet, in
dass „die Terrorangriffe eine Auswirkung der denen man in zunehmendem Maße eine Gefahr
durchgeführten Maßnahmen gegen die Juden“ für die innere Sicherheit sah. Aber spätestens
seien und dass, „wenn wir die Juden nicht so seit Mitte 1943 war der Terror des Regimes auch
schlecht behandelt hätten, wir unter den Terror- in der deutschen Bevölkerung wieder sehr deut-
angriffen nicht so leiden müßten“. Solche Hin- lich spürbar.
weise deuten noch auf eine andere Quelle der
Loyalität: auf das Wissen oder doch die dumpfe Im Osten wurde die deutsche Zivilbevölkerung
Ahnung von dem, was „im Osten“ geschah, auf Opfer der verheerenden Vergeltungswut der
die Befürchtung, nun dafür mitverantwortlich sowjetischen Truppen, die fast zwei Jahre lang
gemacht zu werden – und auf die Überzeugung, mehr als 1.500 km durch die zuvor von der
hinter den Kriegsgegnern Deutschlands steckten Wehrmacht besetzten und auf dem Rückzug
doch irgendwie die Juden.13 weitgehend zerstörten westlichen Gebiete der
Sowjetunion marschiert waren und nun, als sie
So traten bei vielen Deutschen Kriegsmüdigkeit die deutsche Grenze in Ostpreußen überschrit-
und zunehmende Entpolitisierung einerseits, ten, ein unzerstörtes, reiches Land betraten und
„Kraft durch Furcht“ und Führervertrauen Rache an den Deutschen nahmen. Überall in Eu-
andererseits gleichermaßen und gleichzeitig ropa flüchteten die Deutschen ins Reichsgebiet –
auf. Dabei verloren Einstellungen und Verhalten aus der Slowakei, aus Kroatien und Jugoslawien,

256 | 257
aus Rumänien; dann vor allem aus den östlichen rückwärtige Konzentrationslager gebracht wer-
Regionen Deutschlands. Ein monate-, zum Teil den sollten. So mussten sich Zehntausende von
jahrelang dauernder Exodus setzte ein, insge- Häftlingen in Fußmärschen und auf Bahntrans-
samt mussten etwa 13 Millionen Deutsche ihre porten so schnell wie möglich ins Reichsinnere
Heimat verlassen. Die Zahl der dabei Umgekom- bewegen. Mehr als die Hälfte der evakuierten
menen ist schwer zu ermitteln, liegt aber nicht Häftlinge kam bei diesen Todesmärschen ums
unter einer Million. Leben, sei es durch Ermordung oder durch Er-
schöpfung und Krankheiten.
Der Zerfall des Führerstaates in der letzten
Kriegsphase ging mit der Dezentralisierung Die Gewalt war von Beginn an das Kennzeichen
der Entscheidungskompetenzen und verstärk- des NS-Staates, und mit dem Krieg waren alle
ter Willkür einher. Die Gewalt durch Gestapo, noch hemmenden Gegenkräfte weggefallen.
NS-Aktivisten oder sogar durch Trupps von Der zehntausendfache Mord an Behinderten in
Hitlerjungen wurde nun zur jederzeit spürbaren Deutschland hatte bereits früh und nahezu öf-
und für die Einzelnen kaum noch berechenbaren fentlich die Bereitschaft des Regimes zu staatli-
Bedrohung. Das galt für Soldaten wie für Zivi- chem Massenmord offenbart. Die Umsiedlungs-
listen und beschränkte sich nicht mehr auf den politik in Polen, die Verfolgung der Juden in ganz
Kreis der „Gemeinschaftsfremden“ oder der Europa, die kolonialistische Vernichtungs- und
politischen Gegner wie noch Monate zuvor. Aber Hungerpolitik in der Sowjetunion, schließlich die
auch die Zahl derer, die sich berechtigt sahen, Ingangsetzung des Genozids an den europä-
den Durchhalteterror auszuüben, erhöhte sich ischen Juden bezeichnen die Stationen einer
dramatisch. In den letzten Kriegsmonaten und Mordpolitik, die alle bisher gekannten Dimensi-
-wochen wurden überall fliegende Standgerich- onen überstieg. Dabei entwickelte sich eine Art
te aufgestellt, die der Desertion verdächtige von Komplizenschaft zwischen der NS-Führung
Soldaten ohne lange Beweisführung öffentlich und Teilen der deutschen Bevölkerung, die sich
erhängen ließen. Zivilisten, die beim Herannahen aus dieser Verbindung bis zum Schluss nicht
fremder Truppen etwa die Kapitulation ihres lösen konnte. Das Ausmaß der Zerstörung, die
Ortes forderten oder auch nur Zweifel am End- Zahl der Ermordeten und Gefallenen, der Ver-
sieg äußerten, wurden hingerichtet – mit einem stümmelten und Verwundeten, der Unbehausten,
Pappschild um den Hals, auf dem stand: „Wegen der Flüchtlinge, der Waisen am Ende des Krieges
Feigheit zum Tode verurteilt.“15 war historisch ohne Beispiel. Europa war vom
Atlantik bis zur Krim zu großen Teilen verwüstet.
In ganz Deutschland kam es in den letzten Am Ende fiel das Inferno der Gewalt auch auf die
Kriegswochen zu Massakern an ausländischen Deutschen selbst zurück.
Zwangsarbeitern – wegen tatsächlicher oder
vermuteter Plünderungen oder als „Rache“
für die Bombardierung deutscher Städte. Oft Ulrich Herbert
aber trat hier auch ein Habitus der Apokalypse Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität
Freiburg
hervor: Wenn man schon selbst unterging, wollte
man vorher noch so viele „Feinde“ töten, wie
man nur konnte, und seien es wehrlose „Ost-
arbeiter“. Am schrecklichsten aber traf es die
KZ-Häftlinge. Im Januar 1945 waren mehr als
700.000 Häftlinge registriert, von denen ein
Großteil angesichts der nahenden Fronten in

12 Boberach, Meldungen, Bd. 11, 3.9.1942, S. 4164.


13 Berichte des NSDAP-Kreisschulungsamts Rothenburg/T., 22.10.1943, und der SD-Außenstelle Schweinfurt, o.D., 1944, in: Kulka u. Jäckel (Hg.), Juden, S. 532,
S. 537.
14 Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006, S. 195-239, S. 451.
15 Himmler, 3.4.1945, zit. n. Elisabeth Kohlhaas, „Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen.“ Durchhalte-
terror und Gewalt gegen Zivilisten am Kriegsende 1945, in: Cord Arendes, Edgar Wolfrum u. Jörg Zedler (Hg.), Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des
Zweiten Weltkrieges, Göttingen 2006, S. 51-79, hier S. 65.

AU F SÄT ZE
Nach der Zeitgenossenschaft
Norbert Frei

Seit der Befreiung des Konzentrationslagers erinnern und an denen der Opfer gedacht wird:
Buchenwald und dem Ende der NS-Herrschaft Es galt zu verstehen und zu akzeptieren, dass
ist ein Menschenalter vergangen, und mittler- die Zeit der Zeitgenossenschaft unausweichlich
weile wächst die dritte Generation heran, die zu Ende geht; dass es bald schon kaum noch
das „Dritte Reich“ nur als Geschichte kennt. Auf Menschen geben wird, die aus bewusster per-
den ersten Blick mag diese Feststellung banal sönlicher Erfahrung Zeugnis ablegen können von
erscheinen, auf den zweiten jedoch verweist sie alledem, was im „Dritten Reich“ geschehen ist.
ganz unmittelbar auf die Herausforderungen, vor
denen Geschichtswissenschaft und Gedenkstät- Die Jüngsten derer, die den Terror von Buchen-
tenarbeit heute stehen. wald am eigenen Leib durchlitten haben, stehen
in ihrem achten Lebensjahrzehnt. Nicht zuletzt
Was folgte daraus für das Vorhaben einer neuen aus den Reihen dieser ehemaligen Häftlinge und
Dauerausstellung im ehemaligen Kammergebäu- ihrer Verbände, die sich seit langem unermüd-
de, das der Direktor der Stiftung Gedenkstätten lich in der Gedenkstätte engagieren, kam der
Buchenwald und Mittelbau-Dora im Einver- Wunsch, ja die Erwartung, die neue Daueraus-
nehmen und in ständigem Austausch mit dem stellung werde mit Blick auf die Kinder des neuen
Wissenschaftlichen Kuratorium und dem Häft- Jahrhunderts konzipiert. In diesem Sinne hat
lingsbeirat seit 2010/11 auf den Weg gebracht das Wissenschaftliche Kuratorium der Stiftung
hat? Im Kern vor allem eines: Die Ausstellung die Arbeit der Ausstellungsmacher beraten und
würde die Geschichte des Konzentrationslagers begleitet.
Buchenwald für die Zeit nach der Zeitgenossen-
schaft begreifbar machen müssen. Sie würde Ein zentrales Prinzip der Neukonzeption ist
die Voraussetzungen dafür zu schaffen haben, die systematische zeitgeschichtliche Kontex-
dass ein historisch gewordenes Geschehen sich tualisierung der Entwicklung des Lagers. Das
auch Besucherinnen und Besuchern erschließt, nimmt die wachsende Distanz zum historischen
deren geschichtliches Wissen und Geschichts- Geschehen und den damit verbundenen gesell-
bewusstsein vielleicht wenig ausgeprägt ist, die schaftlichen Verlust von Kontextwissen auf und
ohne strukturierte Vorkenntnisse in die Gedenk- versucht, beides im Sinne neuer Frageperspek-
stätte kommen und die mit der Zeit des Natio- tiven produktiv zu machen: Die Ereignisse im KZ
nalsozialismus nur mehr wenig oder gar nichts Buchenwald und seinen zahlreichen Außenla-
verbindet – sei es, weil die Familienerzählung gern, die Erfahrungen der Häftlinge, das Ver-
bereits vor ein oder zwei Generationen abgebro- halten der Wachmannschaften, aber auch der
chen ist, sei es, weil es sie nie gegeben hat oder alltägliche Lagerbetrieb und die Planungen der
geben konnte. SS-Führung werden stärker als bisher in ihren
gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhang
Anders als anfangs noch vermutet oder er- und in ihre regionalen Bezüge gestellt. Damit
hofft, bestand die Aufgabe in den letzten Jahren greift die Ausstellung Erkenntnisse der erst im
also nicht in der bloßen „Renovierung“ der seit Laufe der 1990er Jahre intensiver gewordenen
1995 gezeigten Ausstellung. Es ging nicht nur empirischen Konzentrationslagerforschung auf;
um Ergänzung und Überarbeitung, nicht allein insbesondere korrigiert sie ältere Deutungen,
um die Präsentation damals noch unbekannter wonach der gewöhnliche „Volksgenosse“ zwar
oder erst in letzter Zeit zugänglich gewordener von der Existenz der Lager, aber kaum etwas
Quellen, auch nicht nur um die Einbeziehung über die konkreten Vorgänge in ihrem Innern ge-
neuer Forschungsergebnisse und -perspekti- wusst habe. Solche Erklärungen kamen den apo-
ven. Am Ende ging es um die Realisierung eines logetischen Bedürfnissen der beiden deutschen
Paradigmenwechsels. Dieser trifft Buchenwald Nachkriegsgesellschaften entgegen, finden in
nicht anders als andere historische Orte und Ge- den vielfach überlieferten sozial- und alltagsge-
denkstätten, die an die Verbrechen der NS-Zeit schichtlichen Quellen jedoch keine Bestätigung.

258 | 259
Im Gegenteil verdeutlicht die neue Daueraus- Auch deshalb wäre es verfehlt, im gesellschaftli-
stellung anhand eindrücklicher Beispiele und chen Beziehungsgeflecht der Lager nur Täter und
Exponate – darunter die in der Lagerschreinerei Opfer ausmachen zu wollen. Selbst die von Raul
nachgebauten Schiller-Möbel – das dichte Be- Hilberg in die Holocaust-Forschung eingeführte
ziehungsgeflecht zwischen Weimar und Buchen- Kategorie der „Zuschauer“ (Bystander) greift zu
wald. Das Lager auf dem Berg und die Stadt im kurz, weil sie die soziale Dynamik und Faszina-
Tal: Die Nachbarschaft war nicht nur topogra- tionskraft eines Regimes nicht erfasst, das im
fisch eng, und anders als lange behauptet wurde, Verlauf seiner Herrschaft mannigfach Anlässe
beschädigte das KZ auch keineswegs den ins bot, aus Unbeteiligten partiell Mitwirkende und
Völkisch-Chauvinistische gewendeten Ruf der aus distanzierten Beobachtern dankbare Profi-
Stadt der deutschen Klassik. Viele ihrer Bürger teure zu machen. Dass bei alledem ein zentrales
profitierten von dem zusätzlichen Wirtschafts- Funktionsprinzip moderner Industriegesell-
aufkommen. Heute würde man sagen: Buchen- schaften erhalten blieb – die Arbeitsteiligkeit –,
wald war ein Standortfaktor für die gesamte erleichterte es vielen Deutschen, ein Stück des
Region. verbrecherischen Weges mitzugehen und im
Prozess der „Vernichtungsarbeit“ einen Beitrag
Im Sinne einer historischen Forschung, die die zu leisten.
komplizierte soziale Realität des „Dritten Rei-
ches“ nicht hinter bequemen Formeln versteckt, Die fortbestehende Aktualität der hier nur
sucht die neue Ausstellung schließlich die allzu skizzierten Perspektiven auf ein inzwischen
einfache Dichotomie von Tätern und Opfern zu historisch gewordenes Geschehen bedarf keiner
überwinden. Dies selbstredend nicht, um die Tä- Erläuterung, zumal nicht vor dem Hintergrund
ter zu schonen oder die Verbrechen zu relativie- des „Schwurs von Buchenwald“, den die alt
ren. Auch nicht um Überhöhung der Opfer geht gewordenen Überlebenden des Lagers aus An-
es, sondern darum, ihnen in ihrer Ausgesetztheit lass des 70. Jahrestags ihrer Befreiung in einer
Respekt und Mitgefühl zu erweisen, ihre Not eindrucksvollen Zeremonie erneuerten. Aus den
und ihr Bedrängnis begreiflich werden zu lassen intensiven, vertrauensvollen Gesprächen mit
– und sie im Kontext der menschenverachten- ihren Repräsentanten – zu nennen sind hier in
den Perfidie eines Terrorsystems zu verstehen, erster Linie M. Floréal Barrier, der im Oktober
das mitunter sogar Geschundene zu Schindern 2015 verstorbene langjährige Vorsitzende des
werden ließ. Häftlingsbeirats KZ Buchenwald, und M. Bertrand
Herz, der Präsident des Comité International
Der erbarmungslose Rassismus des NS-Regimes Buchenwald-Dora et Kommandos – weiß ich,
blieb nicht auf die Konzentrations- und Ver- dass der kritisch-aufklärerische Impuls, der
nichtungslager beschränkt, aber an Orten wie auch die neue Dauerausstellung kennzeichnet, in
Buchenwald erwies sich seine tödliche Konse- ihrem Sinne ist.
quenz. Doch das heißt nicht, dass eine Mehrheit
der Deutschen sich daran gestoßen hätte. Ge-
wiss, der unverhüllte Terror, mit dem die Nati- Norbert Frei
onalsozialisten 1933/34 gegen ihre politischen Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität
Jena und Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Gegner – und die Juden – vorgingen, wirkte auf Vorsitzender des Wissenschaftlichen Kuratoriums der Stiftung
manchen irritierend, und mehr noch wuchsen Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
die Zweifel eine Dekade später angesichts der
sich abzeichnenden Niederlage; über die längs-
te Zeit seiner Existenz aber fühlten sich die
meisten Deutschen im nationalsozialistischen
„Führerstaat“ gut aufgehoben. Diese soziale
Attraktivität des Regimes muss in Rechnung
stellen, wer die notorische Bereitschaft vieler
„Volksgenossen“ verstehen will, über die tagtäg-
liche Inhumanität gegenüber den sogenannten
Gemeinschaftsfremden hinwegzusehen oder ihr
sogar zu applaudieren.

NACHWORT
Quellenverzeichnis

Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora hat sich intensiv bemüht,
die Inhaber von Bild- und Nutzungsrechten zu ermitteln. Sollten im Einzelfall Rechte nicht
abgeklärt sein, so wird um Kontaktaufnahme gebeten.

Bernd Ahnicke; S. 68 rechts unten Emil-von-Behring-Bibliothek, Phillips-Universität


Familie Anesetti; S. 109 oben Marburg; S. 63 links Mitte
AP/Wide World Photos, New York; Encyklopedia wiedzy Kościele katolickim na
S. 152 unten, 174 l sku; S. 74 rechts oben
Marlis Apitz; S. 94 rechts unten Fédération Nationale des Déportés et Internés
Archiv der sozialen Demokratie/Friedrich- Résistants et Patriotes, Paris; S. 168 links, 217
Ebert-Stiftung, Bonn; S. 27 rechts unten, Filmarchiv Austria; S. 43 unten
36 unten Fonds Photographique Knall-Demars, Paris;
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d’histoire de Sciences Po, Paris; S. 165 links Familie da Fonseca-Wollheim; S. 134 links
Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich; Hanns-Peter Frentz; S. 116
S. 151 oben Frihedsmuseet København; S. 133 rechts
Archives municipale de Saint-Claude; Georg Naftali Fürst; S. 83 rechts unten, 162 links
S. 106 oben Familie Gauger; S. 75 oben
Association Française Buchenwald-Dora, Paris; Gedenkstätte Buchenwald; S. 14, 19 oben,
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Bauhaus-Archiv, Berlin; S. 39 links unten 33 links, 35 links, 36 links oben, 37 rechts,
Constantin Beyer, Weimar; S. 119 Beyer-Fotos, 39 rechts unten, 46 unten, 47, 48 rechts
S. 218 unten, 49 unten, 51 links oben und rechts
Familie Bigo; S. 130 links unten, 54, 56, 59 oben, 60, 62, 63 oben, 67,
bpk, Berlin; S. 167 rechts oben 70 Mitte und unten, 73 Mitte, 77 rechts und
Gonnecke Botmann-Robert; S. 177 unten unten, 83 links, 84, 85 Mitte und unten, 89,
Familie Brusselairs; S. 93 unten, 163 unten 92 rechts, 94 Mitte, 95, 98, 100, 107 oben,
Bundesarchiv/Bildarchiv; S. 28 oben, 37 Mitte, 108, 122, 123 oben, 124, 126, 128, 129,
64, 104, 165 rechts, 167 unten, 168 Mitte 130 rechts, 131 Mitte, 132 links oben,
Bundesarchiv Berlin; S. 28 unten, 29 oben, 133 Mitte, 136 rechts, 137, 138, 139 links
34 Mitte, 51 Mitte, 112, 1. und 2. von links, und Mitte, 143 oben und Mitte, 147, 148,
113 links, 176 oben 149 oben, 166 rechts, 170 oben, 171 links,
Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg; 172, 173, 175, 176 unten, 178, 179, 181 Mitte
S. 50 links, 208 und unten, 182, 187, 189, 193 unten, 194,
Centre d’Études et de Documentation Guerre 195oben, links und unten, 207, 211
et Sociétes contemporaines, Bruxelles; Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin;
S. 144, 150 unten, 152 oben S. 166 links oben
Centropa, Wien; S. 139 rechts Gedenkstätte Mauthausen; S. 72 links
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CTK Czech News Agency; S. 73 oben Ghetto Fighters House Archives; S. 164
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DIZ Stadtallendorf; S. 112, 2. von rechts Familie Hájková; S. 132 unten
Dokumentationsarchiv des österreichischen Familie Hessel; S. 125
Widerstandes; S. 74 unten, 131 links, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden;
151 rechts S. 73 unten
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Agnieszka Dolecka; S. 170 unten 93 rechts oben
Laura Hillmann; S. 76 Mitte

260 | 261
Historisches Archiv der Stadt Köln; S. 96, Familie Pickersgill; S. 167 links oben
119 rechts oben picture alliance/ANP; S. 74 links oben
Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main; Éva Pusztai; S. 115 unten
S. 63 links unten Raphaelsheim Heiligenstadt; S. 164 links oben
ITS, Bad Arolsen; S. 21 oben, 29 unten, 53 unten, Thijs Rinsema; S. 133 links
99 unten, 109 unten, 111, 121, 127, 146, Robert Koch-Institut, Berlin; S. 63 rechts Mitte
147 oben, 150 oben, 153 unten Familie Roels; S. 145
Orit Kamir; S. 149 unten Artur Roth; S. 93 links oben
Kazerne Dossin, Mechelen; S. 130 Mitte Josef Roth; S. 134 Mitte
Klassik Stiftung Weimar; S. 70 unten Jelena Rother; S. 164 unten
Familie Kosk; S. 105 Ottomar Rothmann; S. 89 Mitte
Władysław Kożdoń; S. 72 rechts Ruhr Museum, Essen; S. 119 van Heekern-Fotos
Kraewedtscheskij musei gorodskogo okruga, Sächsisches Staatsarchiv, Leipzig; S. 135 Mitte
Sysran; S. 170 rechts Gilberto Salmoni; S. 163 oben
Kulturamt der Stadt Dachau; S. 160 unten Familie Schieweg; S. 136 links
Familie Kuznetsowa; S. 131 rechts Jörg Schumacher; S. 68 oben und links
Familie Kvamme; S. 132 rechts Familie Semprún; S. 132 Mitte
KZ-Gedenkstätte Flossenbürg; S. 18 Service historique de la Défense, Vincennes;
KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora; S. 117, 156 S. 113 unten
Landesarchiv Berlin; S. 36 rechts oben Staatsarchiv München; S. 34 rechts
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Staatsarchiv Nürnberg; S. 34 links, 65 oben
Abt. Rheinland; S. 37 links, 136 unten Staatsbibliothek zu Berlin; S. 153 oben
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Stadtarchiv Meuselwitz; S. 118 oben
Abt. Magdeburg; S. 29 Mitte Stadtarchiv Weimar; S. 71 links und 1. und
Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, 2. von rechts
Dresden; S. 115 oben Stadtmuseum Weimar; S. 16
Moreshet Archive, Givat Haviva; S. 161 Süddeutsche Zeitung Photo; S. 193 oben
Musée de la Résistance et de la Déportation, The International Court of Justice, The Hague;
Besançon; S. 51 links unten, 55, 61, S. 20 unten, 22, 23, 24 rechts oben und unten,
63 rechts unten, 70 oben, 82, 99 oben, 25, 27 oben, 32 unten, 44, 45 links, 46 oben,
101, 103, 106 unten, 120, 215, 216 49 oben, 50 rechts, 52, 53 oben und Mitte,
Musée de la Résistance Nationale de 58 oben, 71, 2. von links, 75 unten, 210
Champigny-sur-Marn; S. 83 rechts oben, 169 Herbert Thiele; S. 94 oben
Familie Nagengast; S. 135 rechts Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar;
National Archives at College Park, Maryland; S. 17, 19 unten, 27 links unten, 33 rechts,
S. 48 links unten, 112 rechts, 140, 142, 48 oben, 50 Mitte, 51 rechts oben, 59 Mitte,
151 unten, 155, 159 Mitte und unten, 177 oben, 65 unten, 102, 143 unten, 157, 212
183, 184, 186, 190, 191, 192, 220, 221 ullstein bild; S. 59 unten, 166 unten
Naturhistorisches Museum Wien; S. 42, United States Holocaust Memorial Museum,
43 oben, 45 rechts Washington; S. 40, 58 unten, 69, 159 oben,
NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln; 160 oben, 162 rechts, 195 rechts Mitte
S. 107 unten, 118 unten, 119 links oben und Wachtturm-Gesellschaft, Selters; S. 39 oben
Radermacher-Fotos, 134 rechts Wiener Library, London; S. 30
Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv; Yad Vashem, Jerusalem; S. 114, 158, 188
S. 76 links und rechts, 77 links
Suzanne Orts; S. 85 rechts oben, 93 Mitte
Památník Terezín; S. 85 oben links
Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau;
S. 94 links unten
Günter Pappenheim; S. 135 links
Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft e.V.,
Weimar; S. 26, 38 links
Familie Pecorari; S. 123 unten

QUELLENVERZEICHNIS
BUCHENWALD
AUSGRENZUNG UND GEWALT
1937 BIS 1945
Eine Ausstellung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines
Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie von der Thüringer Staatskanzlei.

Wissenschaftliche Leitung Recherchen


Prof. Dr. Volkhard Knigge Dr. Marc Bartuschka, Martina Bauer,
Dr. Imanuel Baumann, Nora Blumberg,
Roland Borchers, Stefanie Dellemann,
Kuratoren Maria Döbert, Maryna Dubyk, Zden k Dytrt,
Jessica Elsner, Nikolai Evseev, Gero Fedtke,
Prof. Dr. Volkhard Knigge Dr. Piotr Filipkowski, Jens Franke, Kati Fromm,
Rikola-Gunnar Lüttgenau Dr. Katja Ganske, Indira Geisel,
Dr. Harry Stein Christoph Gollasch, Wolfram Gugel,
Franka Günther, Anna Hageman, Laura Herrmann,
Ronald Hirte, Hannah Lea Hofmann,
Ausstellungsteam Dr. Julia Hörath, Dr. Nicole Hördler,
Clemens Huemerlehner, Mateusz Jamro,
Wissenschaftlicher Projektkoordinator Torsten Jugl, Mackenzie Lake,
Dr. Michael Löffelsender Dr. Alexander Lange, Lena Langensiepen,
Stephan Laudien, Johanna Lehmann,
Dr. Jens Binner Stefan Lochner, Ronny Oschwald,
Georg Wamhof, M.A. Christian Philipp, Katja Plachov, Juliane Podlaha,
Anita Pröger, Dr. Olga Radchenko,
Wissenschaftliche Mitarbeit Dr. Jörn Retterath, Dr. Wilhelm Rösing,
René Bienert, M.A. Dr. Christian Schölzel, Paul Schütrumpf,
Sabine Stein Christina Shakirova, Laurie Slegtenhorst,
Dr. Jens-Christian Wagner (bis 2014) Lukas Sondermann, Robin Spindler, Éric Vazzoler,
Alexander Walther, Rabea Weber, Juliane Wenke,
Ausstellungsobjekte Anne-Christine Weßler
Holm Kirsten, M.A.
Mitarbeit Kunstwerke
Dr. Sonja Staar Übersetzungen
Assistenz
Helmut Suffa EGLS Judith Rosenthal, Frankfurt am Main
Logan Kennedy und Leonard Unglaub, Nova Scotia
Wissenschaftliche Volontäre Laurence Wuillemin, München
Sven Löhr
Clara Mansfeld, M.A. Lektorat
Katharina Brand
Projektsekretariat
Cornelia Raßloff

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Restaurierung Das Projekt wurde begleitet von
Stefanie Masnick, Sophie Riedel, Häftlingsbeirat des KZ Buchenwald
Friederike Szlosze
Werkstätten für Textilgestaltung & Restaurierung, Mitglieder
Lobenstein Floréal Barrier †, Frankreich (Vorsitzender)
Christiane Schill, Ruth Kaiser Prof. Dr. Robert Bardfeld, Tschechien
Georg Naftali Fürst, Israel
Éva Pusztai, Ungarn
Sanierung ehemaliges Ottomar Rothmann, Deutschland
Kammergebäude Gert Schramm †, Deutschland

Gäste
Janin Mannes Bertrand Herz, Präsident des Internationalen
Hartman und Helm Planungsgesellschaft mbh, Komitees Buchenwald-Dora & Kommandos
Weimar Dr. Silvio Peritore

Wissenschaftliches Kuratorium
Verwaltung
Prof. Dr. Norbert Frei, Jena (Vorsitzender)
Antje Hitzschke Prof. Dr. José Brunner, Tel Aviv
Prof. Dr. Rainer Eisfeld, Osnabrück
Prof. Dr. Mary Fulbrook, London
Öffentlichkeitsarbeit Prof. Dr. Detlef Hoffmann †, München
Prof. Dr. Wolfgang Holler, Weimar
Rosina Korschildgen Cilly Kugelmann, Berlin
Dr. Philipp Neumann-Thein Prof. Dr. Lutz Niethammer, Berlin
Sandra Siegmund Prof. Dr. Henry Rousso, Paris
Prof. Dr. Thomas Sandkühler, Berlin
Dr. Irina Scherbakowa, Moskau
Prof. Dr. Sybille Steinbacher, Wien
ArchD Dr. Simone Walther, Berlin
Prof. Dr. Bernd Weisbrod, Berlin
Prof. Dr. Hermann Wentker, Berlin
Prof. Dr. Wolfgang Wippermann, Berlin

IMPRESSUM
Ausstellungsgestaltung,
Szenografie, Grafik-, Medien- und Lichtkonzeption
Holzer Kobler Architekturen, Zürich/Berlin
Barbara Holzer
Roland Lehnen
Sebastian Hübsch
Diana Bi o
Kira Schnieders
Veronika Malek
Britta Liermann

Ausstellungsgrafik Prolog
2xGoldstein+Fronczek, Rheinstetten Konzeption und Umsetzung
Satz unter Mitarbeit von buchstabenschubser, Potsdam
Erik Schöfer Regie
Jan Gabbert, Ellen Stein
Animation
Medienplanung und -einrichtung, Ksenia Mozhayskaya, Niclas von Steen, Ellen Stein
Videoproduktion Sounddesign
Uwe Bossenz
Nils Menrad Film- und Medienproduktion, Produktion
Karlsruhe Jan Gabbert
Nils Menrad, Nikolaus Völzow,
Sandra Pasic, Julius Schall
Audioproduktion, Tonaufnahmen
Medientechnik speak low Audioproduktion, Berlin
Sprecher
VST Vertriebsgesellschaft für Video-System- Gabriele Blum, Eva Gosciejewicz, Therese Hämer,
und Kommunikationstechnik mbH Markus Hering, Inka Löwendorf, Julian Mehne,
Götz Schubert, Robert Stadlober, Gerd Wameling,
Laura Cameron, Tania Carlin, Andrew Glen,
Beratung Ausstellungslicht Melissa Holroyd, Ben Posener, Monica Solem,
Tomas Spencer, Steve Taylor
Lichtvision Design GmbH, Berlin

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Ausstellungsbau
Vitrinen
Körling Interiors GmbH & Co. KG, Dortmund
Projektleitung
Martin Stockmaier
Technische Projektleitung
Manfred Frammelsberger

Epilog, Lagermodell
Seiwo Technik GmbH, Drebach

Raumkörper
barth Innenausbau KG, Brixen
Projektmanager
Thomas Ziegler

Ausstellungsbeleuchtung
Elektro Schäfer

Reproduktionen
PAL Preservation Academy Leipzig
Anja Grubitzsch, Thomas Bartsch

Objekteinrichtung
m.o.l.i.t.o.r GmbH, Berlin

Grafikdruck
Foto Reklame, Berlin

gefördert von

IMPRESSUM
Zum Gelingen der Ausstellung haben zahlreiche Personen und Institutionen mit Leihgaben, Auskünften,
Rat und Hilfe beigetragen. Sollte trotz sorgfältiger Zusammenstellung jemand vergessen worden sein,
bitten wir um Nachsicht. Allen Beteiligten sei sehr herzlich gedankt.

Agence France-Presse, Paris Centre d'Histoire de Sciences Po, Paris


Bernd Ahnicke, Hildburghausen (Dominique Parcollet)
Aktionskomitee DIZ Emslandlager e.V., Papenburg Centropa, Wien
(Fietje Ausländer) Collège de France, Paris (Anne Chatellier,
Algemeen Rijksarchief, Brussel Christophe Labaune, Caroline Waddell)
Familie Anesetti Dr. Friedrich da Fonseca-Wollheim, Berlin
AP Wide World Photos, New York Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des
Marlis Apitz, Berlin Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen
Arbeitsgemeinschaft KZ-Transport 1945, Deutschen Demokratischen Republik,
Fürstenstein (Nikolaus Saller) Außenstelle Erfurt (Jörg Pittelkow)
Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich- Deutsche Dienststelle (WASt), Berlin
Ebert-Stiftung, Bonn Deutscher Bundestag, Berlin
Archiv des Bistums Passau Deutsches Historisches Museum, Berlin
Archiv Fotoatelier Louis Held Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main
(Inhaber Stefan Renno, Weimar) Stefan von Dobrzynski, Kiel
Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich Dokumentationsarchiv des österreichischen
Archives municipales de Saint Claude Widerstandes, Wien (Irene Filip, Dr. Elisabeth
(Véronique Rossi) Klamper, Dr. Ursula Schwarz)
Association Française Buchenwald-Dora, Paris Dokumentations- und Informationszentrum
Dr. Franziska Augstein, München Stadtallendorf (Fritz Brinkmann-Frisch)
Claus Bach, Weimar Agnieszka Dolecka
PD Dr. Frank Bajohr, München Dr. Axel Doßmann, Berlin
BAL - Musée des Beaux-Arts, Liège Familie Durand
(Carmen Genten) Erinnerungsort Topf & Söhne Erfurt
Familie Banach (Verena Bunkus, Dr. Annegret Schüle)
Familie Bargatzky Fédération nationale des déportés et internés
Familie Barrier résistants et patriotes, Saint-Claude
Bauernhaus-Museum Wolfegg (Jacqueline Vuitton)
Bauhaus–Archiv, Berlin Antonella Filippi, Torino
Bayerische Staatsbibliothek, München Filmarchiv Austria, Wien
Detlef Belau, Mössingen (Ada Becirovic, Susanne Rocca)
Knut Bergbauer, Köln Fonds Photographique Knall-Demars, Paris
Constantin Beyer, Weimar FOTO FAYER & Co GesmbH, Wien
Bibliothèque interuniversitaire de santé, Paris Hanns-Peter Frentz, Berlin
(Solenne Coutagne) Friedensbibliothek-Antikriegsmuseum, Berlin
Maurilio Bigo, Torino Frihedsmuseet, København (Henrik Lundbak)
Carla C. Bittorf, Erfurt Rainer Fröbe, Hannover
Prof. Dr. Ulrich Borsdorf, Düsseldorf Georg Naftali Fürst, Haifa
Familie Botmann-Robert Patrik Gallinnis, Gevelsberg
bpk, Berlin Familie Gauger
Familie Brusselairs Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin
Sam Bryan, New York Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain (Jens Nagel)
Bundesarchiv Berlin Gedenkstätte für die Opfer des KZ Langenstein-
Bundesarchiv Koblenz Zwieberge (Gesine Daifi)
Bundesarchiv, Militärarchiv Freiburg Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig
Centre d'Études et de Documentation Guerre et Getty Images
Sociétés contemporaines, Bruxelles Prof. Dr. Christian Geulen, Koblenz
(Gerd de Coster, Fabrice Maerten) Birgit Gewehr, Hamburg

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Ghetto Fighters’ House Museum, Western Galilee Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt,
(Zvi Oren) Abteilung Magdeburg
Udo Graupner, Markkleeberg Elzbieta Lapszewicz, Sutherland
Louis Gros, Mercury Jean Lemaître, Bruxelles
Wolfgang Große, Niederorschel Hanja Levithan, Israel
René Gymnich, Much Dr. Peter Lieb, Potsdam
Radko Hájek, Praha Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf
Dr. Anna Hájková, Berlin Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück
Peter Hansen, Weimar Peter McFarren
Maria Julia Hartgen, Bad Gandersheim Christa Meier, Aicha vorm Wald
Prof. Dr. Ulrich Herbert, Freiburg Mémorial de la Shoah, Paris
Bertrand Herz, Paris Mémorial de l'internement et de la déportation –
Familie Hessel Camp de Royallieu, Compiègne (Anne Bonamy)
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Militärhistorisches Museum der Bundeswehr,
Yvonne Hewitt-Berthin, Garches Dresden
Laura Hillman, Los Alamitos Moreshet Archive, Givat Haviva
Historisches Archiv der Stadt Köln Familie Moro
Hochschularchiv, Thüringisches Landesmusik- Dr. Tim B. Müller, Hamburg
archiv, Weimar Dr. Torsten W. Müller, Heiligenstadt
Hoechst GmbH, Frankfurt am Main Musée de la Résistance Nationale,
ICRC Photo Library, Genf Champigny-sur-Marne
Imperial War Museum London (Xavier Aumage, Guy Krivopissko)
Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main Musée Pasteur, Paris
International Court of Justice, The Hague Museum der Stadt Bad Gandersheim
(Philippe Couvreur) Muzeum Gross-Rosen (Janusz Barszcz)
International Tracing Service, Bad Arolsen Muzeum Powstania Warszawskiego, Warszawa
(Axel Braisz, Nicole Dominicus, Heike Müller, Manfred Nagengast, Hattingen
Franziska Schubert, Dr. Susanne Urban) National Archives at College Park, Maryland
Ivan Ivanji, Beograd Naturhistorisches Museum, Wien
Julien Bryan Archive, Washington DC (Dr. Margit Berner)
Prof. Dr. Orit Kamir, Jerusalem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Kazerne Dossin, Mechelen (Dorien Styven) Beate Oethinger, Wiesloch
Klassik Stiftung Weimar Österreichische Nationalbibliothek, Wien
Dr. Friedhart Knolle, Wernigerode Suzanne Orts, Aix-en-Provence
Familie Kosk Památník Terezín (Iva Gaudesová, Eva N mcová,
Władysław Kożdoń, Wrocław Jaroslava Nytlová)
Kraewedtscheskij musei gorodskogo okruga, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau,
Sysran Oświęcim (Wojciech Płosa)
Dr. Sybille Krafft, Icking Günter Pappenheim, Zeuthen
Marie Krausová, Praha Familie Peulevé
Kulturamt der Stadt Dachau Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft e.V., Weimar
Eleonora O. Kuznetsowa, Kherson (Elsa-Ulrike Ross)
Familie Kvamme Philipps-Universität Marburg,
KZ-Gedenkstätte Dachau (Albert Knoll) Emil-von-Behring-Bibliothek (Dr. Ulrike Enke)
KZ-Gedenkstätte Flossenbürg Vanna Pecorari, Triest
KZ-Gedenkstätte Mauthausen Nigel Perrin, London
KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora Pfarrarchiv der Herz-Jesu-Gemeinde Weimar
Juliette Lafont-Molins, Ille-sur-Têt Familie Pickersgill
Landesarchiv Baden-Württemberg, picture alliance / ANP
Abteilung Generallandesarchiv Karlsruhe Gisela Plessgott, Berlin
Landesarchiv Berlin Familie Pribula
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Radio Lotte Weimar
Abteilung Rheinland Raphaelsheim Heiligenstadt (Benno Pickel)

DANK
Siegfried Ressel, a+r film, Potsdam The Wiener Library, London
REUTERS Bildagentur (Dr. Christine Schmidt, Marek Jaros)
Rheinisches Bildarchiv, Köln Herbert Thiele, Berlin
Beatrice Richter-Bethge, Flensburg Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar
Thijs Rinsema, Norg (Dr. Bernhard Post, Dr. Frank Boblenz,
Jo Rivett, Wolfenschiessen Gabriele Krynitzki)
Robert Koch-Institut, Berlin Thüringisches Landesamt für Vermessung
Familie Roels und Geoinformation, Erfurt
Artur Roth, Frankfurt am Main Thüringisches Staatsarchiv Meiningen
Josef Roth, Bonn (Dr. Norbert Moczarski)
Renate Rothenaicher, Plattling Jeanette Touissant, Potsdam
Elena Rother, Leipzig Dr. Agnès Triebel, Versailles
Ottomar Rothmann, Weimar Familie Trostorff
Ruhr Museum, Essen Prof. Dr. Johannes Tuchel, Berlin
Peter Sachs, Houston ullstein bild, Berlin
Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig United States Holocaust Memorial Museum,
Gilberto Salmoni, Genova Washington D.C. (Judith Cohen, Bruce Levy)
Uwe Schieweg, Leipzig USC Shoah Foundation
Jürgen Schneider, Weimar Prof. Dr. Jonathan F. Vance, London (Ontario)
Dr. Irmgard Seidel, Erfurt Rik Vanmolkot, Haasrode
Service historique de la Défense, Vincennes Firouz Vladi, Osterode
Patrick Šimon, Praha Vojensky ustředni archiv, Praha
Spiegel TV, Hamburg Wachtturm-Gesellschaft, Selters
Staatsarchiv München (Wolfram Slupina)
Staatsarchiv Nürnberg Dr. Jens-Christian Wagner, Celle
Staatsbibliothek zu Berlin (Christoph Albers, PD Dr. Annette Weinke, Jena
Dr. Christiane Caemmerer) Dr. rer. nat. Katja Weiske, Frankfurt am Main
Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Werner Winkelmann, Hebertshausen
Stadtarchiv Bochum Juliane Witteck, Jena
Stadtarchiv Duisburg Dr. Ernst Woll, Erfurt
Stadtarchiv Eisenach (Klaudius Kabus, Yad Vashem, The Holocaust Martyrs‚ and Heroes‚
Christopher Launert) Remembrance Authority, Jerusalem
Stadtarchiv Hattingen (Thomas Weiß) ZDF Enterprises, Mainz
Stadtarchiv Meuselwitz (Steffi Müller) Detlef Zellner, Leipzig
Stadtarchiv Nürnberg Židovské muzeum v Praze, Praha
Stadtarchiv Weimar (Dr. Jens Riederer)
Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
Stadtmuseum Weimar Besonderer Dank
(Dr. Alf Rößner, Uta Junglas, Marina Reichardt) Musée de la Résistance et de la Déportation,
James Stewart, St. Andrews Besançon
Steven Spielberg Film and Video Archive,
Washington DC
Dr. Bernhard Strebel, Hannover
Studienkreis Deutscher Widerstand
1933-1945 e.V., Frankfurt am Main
Timo Stück, Bonn
Dr. Rüdiger Stutz, Jena
Jacques Suard, Nantes
Süddeutsche Zeitung Photo, München
Zbyn k Syrovátka, Cheb
Familie Szczerkowski
Evelyne Taslitzky, Paris

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Bildungsarbeit am außerschulischen
Lernort Buchenwald
Grundsätze der Bildungsarbeit an der Gedenkstätte Buchenwald
Sehen Reflektieren
Ausgangspunkt für historisches Lernen ist der Die kritische Auseinandersetzung mit der Vergan-
authentische Ort, sind die Lagerüberreste. genheit soll die Aufmerksamkeit für Gefährdungen
Als Sachbeweise verbinden sie Gegenwart und demokratischer, menschenrechtlicher Kultur in
Vergangenheit. Zeitzeugenberichte, Original- Gegenwart und Zukunft schärfen. Erfahrungen
dokumente, Sammlungsgegenstände und weitere und Gegenwartsbeobachtungen von Jugendlichen
anschauliche Materialien ergänzen sie. Als un- sind deshalb ein weiterer Ausgangspunkt für
mittelbare Zeugnisse regen sie die historische Lernprozesse. Gedenkstättenpädagogik verordnet
Vorstellungskraft an und werfen Fragen auf: keine Geschichtsbilder, sondern sie sensibilisiert
Forschendes Lernen statt erhobener Zeigefinger. und befördert reflektiertes Geschichtsbewusst-
Historische Vorstellungskraft ist eine Grundlage sein und selbstständige historisch-ethische
für Empathie und historisches Begreifen. Urteilskraft.

Begreifen Kommunizieren
Jugendliche, die eine Gedenkstätte besuchen, Gedenkstättenpädagogik fördert Dialogfähigkeit
können die Vergangenheit nicht mehr direkt erin- und ist selbst dialogisch angelegt. Gegen den
nern. Deshalb: Erinnerung und Gedenken brauchen nationalsozialistischen Zivilisationsbruch steht
Wissen. Dieses Wissen ist kein Selbstzweck. die Grundsolidarität mit dem Menschen als
Es zielt darauf, am konkreten historischen Bei- Mensch. Interkulturelle bzw. transnationale
spiel zu lernen, was man im Sinne unteilbarer Begegnung und Auseinandersetzung gehören
Humanitas und unteilbarer Menschenrechte nicht deshalb zu den Kernelementen der gedenk-
tut. Es verdeutlicht, unter welchen politischen, stättenpädagogischen Arbeit.
rechtlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen
Menschen zu Tätern werden. Es bewahrt die Er-
fahrung der Verfolgten und Widerstandskämpfer.
Das Wissen ist handlungsorientiert.

Formate und pädagogische Angebote


Überblicksführung ihren Gedenkstättenbesuch vorbereitet haben.
(ca. 2 Stunden) Das Mindestalter beträgt 15 Jahre, die Gruppe
Diese Führung, beginnend im Bereich der Be- kann aus 15 bis maximal 30 Personen bestehen.
sucheranmeldung, wird über den früheren Führungen in Fremdsprachen können begrenzt
„Carachoweg“ und das Lagertor zum ehemaligen vermittelt werden. Für den Aufenthalt inklusive
Appellplatz fortgesetzt, schließt einen Vortrag zur Führung und Museumsbesuch sind mindestens
Lagergeschichte an einem Modell ein, und endet 3,5 Stunden einzuplanen.
nach der betreuten Besichtigung des einstigen
„Krematoriums“. Für Schulklassen empfehlen Ganztägige Veranstaltungen
wir vorher den Einführungsfilm der Gedenkstätte (ab 4 Stunden)
und anschließend eine angeleitete Vertiefung in Ganztägige Veranstaltungen können zu verschie-
der Dauerausstellung zur Geschichte des Kon- denen Themen der Lagergeschichte durchge-
zentrationslagers. Unsere Betreuungsangebote führt werden. Die Programme bestehen aus den
richten sich vorrangig an Schulklassen (ab Klasse Modulen: Einführungsgespräch, themenspezifi-
9), Jugendgruppen und junge Erwachsene, die im sche Führung durch das ehemalige Häftlingslager,
Rahmen der Schule und der politischen Bildung materialgestützte Recherche in den jeweiligen
DURCH DIE ARBEIT MIT F UNDSTÜCKEN IN DER RESTAURIERUNGSWERKSTAT T NÄ HERN SICH JUGENDL ICHE DER GESCHICH TE BUCHEN WA L DS A N .

Dauerausstellungen und Seminarräumen, Auswer- Anmeldung von Gedenkstättenbesuchen:


tungsrunde und Abschlussgespräch. Die Gruppe Damit unsere pädagogischen Mitarbeiterinnen
wird ganztägig von einem pädagogischen Mitar- und Mitarbeiter Ihren Besuch gezielt auf die
beiter betreut. Die konkrete Programmabsprache jeweiligen Wünsche, Fragen und das Wissen
erfolgt durch ein Gespräch mit einem pädagogi- der Gruppe vorbereiten können, möchten wir Sie
schen Mitarbeiter der Gedenkstätte. bitten, nachfolgende Kontaktadressen zu nutzen.
Die weitere detaillierte Planung sollte anschlie-
Mehrtägige Veranstaltungen ßend in einem Telefonat mit Ihnen abgestimmt
(2 bis 5 Tage) werden.
Gedenkstättenexkursionen, Projekttage, Semina-
re und Weiterbildungen für Multiplikatoren wer- Für die Anmeldung von Führungen
den nach den Teilnehmerinteressen geplant und und Multimedia-Guide:
dafür jeweils spezielle Gruppenprogramme ent- Besucherinformation
wickelt. Die Programmplanung entsteht im Dialog Gedenkstätte Buchenwald
zwischen Projektleitern und dem pädagogischen 99427 Weimar-Buchenwald
Mitarbeiter, der die Gruppe in der Gedenkstätte Fon: +49 (0)3643 430 200
betreut. Spezielle Seminarangebote gibt es zum Fax: +49 (0)3643 430 102
Thema Zwangsarbeit und Konzentrationslager, information@buchenwald.de
der engen Nachbarschaft von Weimar und Bu-
chenwald, zur Problematik von Technik und Für die Anmeldung ganztägiger und
Vernichtung - Arbeit und Verantwortung sowie mehrtägiger Veranstaltungen:
zur Geschichte des Speziallagers 2. Zu den Internationale Jugendbegegnungsstätte
Möglichkeiten vor Ort gehört u.a. die Arbeit im Sylke Schmidt
Archiv, in der Bibliothek oder in der Restaurie- Fon: +49 (0)3643 430 190
rungswerkstatt der Gedenkstätte Buchenwald. Fax: +49 (0)3643 430 100
jbs@buchenwald.de
Angesichts der vielen Möglichkeiten werden die
Programmschwerpunkte individuell mit den je-
weiligen Partnern abgestimmt. Die thematischen
Angebote sowie die entstehenden Kosten für das
pädagogische Programm entnehmen Sie bitte der
Homepage der Gedenkstätte.

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