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Heiko Girnth: Sprache und Politik

Sprache ist nicht nur irgendein Instrument der Politik, sondern überhaupt erst die Bedingung ihrer
Möglichkeit. Welche Funktionen übernimmt Sprache in der Politik? Welcher sprachlicher Mittel
bedienen sich Politikerinnen und Politiker? Und warum gibt es immer wieder Verständigungspro-
bleme?

Beispiele für Sprachhandlungen in der Politik: Horst Köhler während einer „Berliner Rede“, Gregor Gysi in einer Bundes-
tagsdebatte, Claudia Roth im Sommer-Interview, Angela Merkel in der politischen Talkshow „Anne Will“, Frank-Walter
Steinmeier beantwortet Fragen von Journalisten, Guido Westerwelle währen einer Parteitagrede.

Politik als sprachliches Handeln


Rechtschreibreform, Kernenergie, Klimawandel: Sprache in der Politik bedeutet vor allem sprachliches
Letztlich kann alles politisch werden, was von öffent- Handeln. Es ist die Handlungspotenz von Sprache,
lichem Interesse ist. Politik umfasst die verschiedens- die für die Politik konstitutiv ist. Wie der Politiker 25
5 ten Sach- und Handlungsbereiche und kann somit Erhard Eppler (SPD) hervorhebt, lässt sich in der Po-
alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durch- litik nur schwer zwischen Reden und Handeln unter-
dringen. Unter diesem weit gefassten Politikbegriff scheiden, „weil das Reden sehr wohl Handeln bedeu-
lässt sich auch das Verhältnis von Sprache und Politik tet“. Wenn Reden Handeln bedeutet, dann heißt das
betrachten. Politische Akteure müssen die Öffent- nichts anderes, als dass Sprechen wie jede andere 30
10 lichkeit informieren, politisches Handeln begründen, Handlung auch eine bestimmte Funktion besitzt und
analysieren, kritisieren und rechtfertigen. Sie bewer- bestimmte Folgen hat. Unmittelbar einleuchtend ist
ten bestimmte Sachverhalte positiv oder negativ, dies bei einer sprachlichen Handlung wie den RÜCK-
stützen die eigene Position argumentativ, stellen sich TRITT ERKLÄREN. Wenn ein Bundespräsident sagt
glaubwürdig dar, greifen die gegnerische Position ar- „Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des 35
15 gumentativ an und werten den Gegner ab. In den Bundespräsidenten“, ist der Rücktritt die Funktion
Printmedien, im Fernsehen, im Rundfunk und im In- der Äußerung und zugleich ihre unmittelbare Folge.
ternet wird über das politische Tagesgeschehen infor-
miert, werden politische Sachverhalte kommentiert Überredung und Information
und interpretiert. Dies alles geschieht mit und durch
Eine zentrale, wenn auch nicht die einzige Funktion
20 Sprache. Sprache ist darum nicht nur irgendein Ins-
politischer Sprache ist „Persuasion“ (= Überredung).
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trument der Politik, sondern überhaupt erst die Be- Sie bezieht sich auf alle Versuche, mithilfe sprachli-
dingung ihrer Möglichkeit. BS 1
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cher Mittel die Meinungen und Einstellungen der Ad- aktionstypen hervor. Der heutige Prototyp eines
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ressaten zu beeinflussen und Vertrauen in die Rich- solchen Interaktionstyps ist die im Fernsehen ausge-
tigkeit des Gesagten und den politischen Akteur zu strahlte politische Talkshow. Sie bietet den politi-
45 schaffen. Da politische Kommunikation in demokra- schen Akteuren Gelegenheit, sich vor einem Millio-
tischen Staaten darauf zielt, Politik öffentlich zu ma- nenpublikum dem politischen Wettbewerb zu stellen, 100
chen, politisches Handeln zu legitimieren und Zu- eigene Positionen zu vermitteln und sich als Person
stimmungsbereitschaft zu erhalten, ist es für die zu profilieren. Wie der Politiker Wolfgang Gerhardt
politischen Akteure unabdingbar, ihr sprachliches (FDP) zu Recht ausführt, erreichen Politiker mit der
50 Handeln persuasiv auszurichten. Im Idealfall geht Teilnahme an einer politischen Talkshow „auf einen
Persuasion dabei den Weg überzeugender Argumen- Schlag mehr Menschen, als man sie in allen Hinter- 105
tation. Die persuasive Funktion findet sich beispiels- und Vorderzimmerveranstaltungen pro Jahr zu Ge-
weise in Debattenreden, politischen Talkshows oder sicht bekommt. Die Quoten für Anne Will, Maybrit
auch in Wahlslogans. Da sich persuasive und infor- Illner oder Hart aber fair liegen beständig weit jen-
55 mative Funktion oft vermischen, spricht man auch seits der Zwei-Millionen-Marke, was bedeutet: Man
von der „informativ-persuasiven Funktion“ politi- müsste das Berliner Olympiastadion 30 – 40 Mal bis 110
scher Sprache. auf den letzten Platz füllen, um von der gleichen An-
Die zentrale Rolle der informativ-persuasiven Funk- zahl Menschen bewusst wahrgenommen zu werden“.
tion macht deutlich, dass Sprachhandeln in der Poli- Die Ausrichtung auf ein Massenpublikum hat zur
60 tik eng mit der Machtfrage verknüpft ist. Es geht um Folge, dass politisches Sprachhandeln inszeniert
Deutungshoheit und Verwendungshoheit von Spra- wird. Die Teilnehmer einer politischen Talkshow 115
che. Denn Sprache ist ein Instrument zur Erlangung, kommunizieren faktisch mit zwei Personengruppen
Sicherung, Ausübung und Kontrolle von Macht. In bzw. Adressaten. Erstens kommunizieren sie direkt
einer freiheitlichen Demokratie ist die informativ- mit den anderen Gästen bzw. der Moderatorin oder
65 persuasive Funktion allerdings keine Einweg-Kom- dem Moderator. Zweitens kommunizieren sie indi-
munikation. Sie kennt nicht nur die Kommunikati- rekt aber auch mit den Fernsehzuschauern. Es entste- 120
onsrichtung Politikerinnen und Politiker – Bürge- hen somit zwei Kommunikationsebenen, die den „In-
rinnen und Bürger, sondern lebt vielmehr auch von szenierungscharakter“ politischen Sprachhandelns
der aktiven politischen Partizipation der Bürger. Da- deutlich machen. Was auf der ersten (inszenierten)
70 zu gehören unter anderem die Beteiligung an Wah- Ebene als Diskussion erscheint, stellt sich auf der
len, die aktive Mitarbeit in Parteien oder Bürgeriniti- zweiten Ebene als Persuasion der Öffentlichkeit dar. 125
ativen, das regelmäßige Sich-Informieren als Der Einfluss der Massenmedien auf politisches Han-
notwendige Voraussetzung und Grundlage politi- deln wird oft auch kritisch mit den Stichworten „Po-
schen Handelns und die Fähigkeit und Bereitschaft litainment“ oder „Mediokratie“ umschrieben. Politik
75 zur politischen Diskussion. […] als Unterhaltung und die Dominanz der Medien be-
stimmen die Politikvermittlung und damit die Art 130
Rahmenbedingungen und Merkmale politi- und Weise, wie Bürger Politik wahrnehmen. […]
scher Kommunikation
Gruppenbezogenheit und Repräsentanz
Öffentlichkeit und Massenmedialität
Neben Öffentlichkeit und Massenmedialität sind
[…] Politische Kommunikation findet zu einem gro-
Gruppenbezogenheit und Repräsentanz wichtige
80 ßen Teil öffentlich statt und wird über die Massenme-
Merkmale öffentlich-politischer Kommunikation. Po- 135
dien Fernsehen, Presse, Rundfunk und Internet ver-
litische Kommunikation ist geprägt durch Wettbe-
breitet. Die Öffentlichkeit als Grundprinzip und
werb und die Konfrontation der Meinungen. Die po-
Voraussetzung freiheitlicher Demokratie hat einen
litischen Akteure stellen sich dem Wettbewerb mit
unmittelbaren Einfluss auf das sprachliche Handeln,
dem politischen Gegner, wobei sie in der Regel als
85 dessen spezifische Ausprägungen in der heutigen
Repräsentanten bestimmter Gruppen, Parteien oder 140
Zeit wesentlich von den Massenmedien mitbestimmt
Verbände agieren. Grob gesagt lassen sich, je nach
werden. Als Folge von Öffentlichkeit und Massenme-
Standpunkt, eine positiv bewertete Eigengruppe und
dialität ist sprachliches Handeln oft „mehrfach adres-
eine negativ bewertete Fremdgruppe unterscheiden.
siert“, also an mehrere Personengruppen gleichzeitig
Die Mitglieder der Eigengruppe besitzen gleiche
90 gerichtet. So kann sich beispielsweise eine Rede im
Deutungs- und Interpretationsmuster, die ein grup- 145
Bundestag gleichzeitig an die Mitglieder der eigenen
penspezifisches Bewusstsein konstituieren. Alles,
Partei, an die Mitglieder der anderen Parteien und an
was im Zusammenhang mit der Eigengruppe steht,
die Bürgerinnen und Bürger richten.
wird als positiv bewertet. Alles, was von den Einstel-
Die massenmediale Ausrichtung politischer Kommu-
lungen der Eigengruppe abweicht, wird hingegen als
95 nikation bringt zudem spezifische mündliche Inter- negativ bewertet. 150 BS 1
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In dem Gegensatz von Eigen- und Fremdgruppe zeigt Prozessualität und Diskursvernetzung
sich das für politisches Handeln oft typische Schwarz- Ein weiteres typisches Merkmal öffentlich-politi-
Weiß-Denken. Die Zugehörigkeit zu einer bestimm- scher Kommunikation ist ihr hoher Grad an Prozes-
ten Gruppe hat Auswirkungen auf das sprachliche sualität und Diskursvernetzung. Darunter versteht 200
155 Handeln und die Erwartungshaltung der Adressaten. man die Tatsache, dass politische Kommunikation
Von Politikern wird erwartet, dass sie bestimmte immer in übergreifende Zusammenhänge eingebettet
kommunikationsethische Maximen erfüllen. Sie sol- ist (z. B. Kampagnen wie Wahlkämpfe) und sich die
len etwa die Wahrheit sagen, klar und verständlich thematisierten Gegenstände immer schon auf bereits
reden und fair sein. Gleichzeitig müssen sie aber auch Vorangegangenes beziehen und auf Künftiges ausge- 205
160 strategische Maximen verfolgen: den Gegner abwer- richtet sind.
ten, die eigene Position positiv darstellen, sich in rele-
vanten Gruppen möglichst wenig Gegner machen. Sprachliche Mittel politischer Kommunika-
Kommunikationsethische und strategische Maximen tion: Wort, Sprechhandlung, Text
können in Konflikt treten. Etwa wenn Politiker sich
Die politischen Akteure bedienen sich spezifischer
165 aus wahltaktischen Gründen bewusst vage ausdrü-
sprachlicher Mittel, um ihre Ziele zu erreichen. Eine 210
cken, um sich nach der Wahl Koalitionsoptionen of-
besondere Bedeutung im Kommunikationsbereich
fenzuhalten. Als ähnlich problematisch erweist sich
Politik kommt den Wörtern zu, insbesondere dem so-
auch das Versprechen in Form eines (strategischen)
genannten „Ideologievokabular“. Darunter versteht
Wahlversprechens. Die Wähler wissen sehr wohl,
man Bezeichnungen für die einer politischen Grup-
170 dass es sich in Wirklichkeit um gar kein Versprechen
pierung bzw. der Gesellschaft zugrunde liegenden 215
handeln kann. Zum Versprechen gehört nämlich not-
Wertvorstellungen und Denkmuster wie z. B. Freiheit,
wendigerweise, dass wer etwas verspricht, auch in
Gerechtigkeit oder Frieden. „Ideologie“ ist dabei
der Lage sein muss, das Versprechen einzulösen. Ver-
durchaus wertneutral zu verstehen und meint nicht
spricht ein Politiker aber vor der Wahl Steuersenkun-
etwa in einem alltagsprachlichen Sinne Auffassun-
175 gen, kann er oder sie sich nach der Wahl auf den
gen, die im Besitz der Wahrheit zu sein glauben, in 220
Standpunkt zurückziehen, die veränderten wirt-
Wirklichkeit aber die Wahrheit verzerren oder falsch
schaftlichen Rahmenbedingungen ließen nun keine
darstellen. […]
Steuersenkungen mehr zu.
Wörter und Sprechhandlungen werden wiederum in
größere Handlungsrahmen und Handlungszusam-
Institutionsgebundenheit
menhänge eingebettet, in sogenannte Texttypen und 225
180 Institutionsgebundenheit ist ein weiteres wichtiges
Merkmal der politischen Kommunikation. Diese ist (gesprächsorientierte) Interaktionsformate. Neben
immer an spezifische institutionelle Gegebenheiten den klassischen Text- und Interaktionstypen der öf-
geknüpft, die das parlamentarisch-demokratische fentlich-politischen Kommunikation (z. B. politische
System vorgibt, etwa in Form von parlamentarischen Rede, Parteiprogramm, politische Talkshow, Debatte,
185 Geschäftsordnungen. Aber auch die Medien geben Interview) gewinnt zunehmend das Internet als Me- 230

bestimmte Regeln vor. Auch das lässt sich zeigen am dium der politischen Kommunikation an Bedeutung.
Beispiel der politischen Talkshow. Diese sind hin- Neue Kommunikationsformen und -plattformen wie
sichtlich des Rederechts, der Rededauer, der Themen- beispielsweise Twitter, Weblog oder Podcast eröffnen
ordnung und der Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit den politischen Akteuren zahlreiche neue Möglich-
190 bestimmter Sprechhandlungen normiert. So wird et- keiten, sich medial zu inszenieren, sich zu profilieren 235

wa die Sprechhandlung BELEIDIGEN als unange- und ihre Botschaften zu verbreiten. Zudem bietet das
messen zurückgewiesen und kann entsprechend Internet ein großes Potenzial für neue Formen der po-
sanktioniert werden. Solche Reglementierungen ha- litischen Partizipation, da hier ein Maximum an poli-
ben natürlich Einfluss auf das Sprechhandeln der po- tischer Information bereitsteht und einem großen
Nutzerkreis die Mitwirkung an der aktuellen politi- 240
195 litischen Akteure, die ihren Gesprächsbeitrag in ei-
schen Diskussion ermöglicht wird.
nem begrenzten Zeitfenster unterbringen müssen.
(2010)
Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 15.07.2010, www.bpb.de/
themen/parteien/sprache-und-politik/42678/einstieg-sprache-und-politik/
(Aufruf: 07.03.2022)

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1. Formulieren Sie sieben Fragen, auf die der Text eine Antwort gibt. Stellen Sie diese Ihrem
Sitznachbarn bzw. Ihrer Sitznachbarin und geben Sie sich gegenseitig Antworten.

2. Zeigen Sie anhand der Zwischenüberschriften, wie der Text aufgebaut ist.

3. Erklären Sie mithilfe des Textes und der Bildcollage den Zusammenhang zwischen Spra-
che und Politik. Stellen Sie dabei auch heraus, welche Funktionen von Sprache im Zusam-
menhang mit der Politik besonders wichtig sind.

4. Zeigen Sie am Beispiel einer


Talkshow auf, was die Rahmenbe-
dingungen für politische Sprache
sind und welche Merkmale sie
hat. Beziehen Sie sich dazu auf
die nebenstehende Abbildung
einer politischen Talkshow.

5. Der Autor unterscheidet zwischen


mündlichen und schriftlichen
Texttypen und Interaktionsforma-
ten, die für die politische Sprache
wichtig sind. Erstellen Sie eine
Übersicht, indem Sie jedem Texttyp und jedem Interaktionsformat Merkmale zuordnen.
Gehen Sie dabei arbeitsteilig vor und fügen Sie die gesammelten Informationen anschlie-
ßend zusammen.

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