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70. Jahrgang, 12–13/2020, 16.

März 2020

AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
Freie Rede
Kübra Gümüşay Anatol Stefanowitsch
DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN. POLITISCH KORREKTE SPRACHE
GEDANKEN ZUR BEDEUTUNG UND REDEFREIHEIT
VON „FREIER REDE“
Marie-Luisa Frick
Sandra Kostner · Sabine Hark STREITKOMPETENZ
GEFÄHRDETE ALS DEMOKRATISCHE
MEINUNGSFREIHEIT? QUALITÄT –
ZWEI PERSPEKTIVEN ODER: VOM WERT
DES WIDERSPRUCHS
Mathias Hong
MEINUNGSFREIHEIT Patrick Gensing
UND IHRE GRENZEN FAKTUM = MEINUNG?

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE


FÜR POLITISCHE BILDUNG
Beilage zur Wochenzeitung
Freie Rede
APuZ 12–13/2020
KÜBRA GÜMÜŞAY ANATOL STEFANOWITSCH
DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN. POLITISCH KORREKTE SPRACHE
GEDANKEN ZUR BEDEUTUNG UND REDEFREIHEIT
VON „FREIER REDE“ Aus sprachwissenschaftlicher Sicht lässt sich
Allzu oft werden Menschen durch pauschale Political Correctness deutlich von Tabuwörtern
Kategorisierungen und Zuschreibungen sprach- und Euphemismen abgrenzen. Politisch korrekte
lich in Käfige gesteckt. Es ist an der Zeit, offene Sprache dient vor allem der gerechtfertigten
Türen in die Käfige einzubauen und Räume für Ächtung von „Slurs“ – Wörter, durch die ganze
neue Perspektiven zu schaffen, sodass alle frei Gruppen pauschal abgewertet werden.
sprechen können. Seite 22–27
Seite 04–07
MARIE-LUISA FRICK
SANDRA KOSTNER · SABINE HARK STREITKOMPETENZ
GEFÄHRDETE MEINUNGSFREIHEIT? ALS DEMOKRATISCHE QUALITÄT –
ZWEI PERSPEKTIVEN ODER: VOM WERT DES WIDERSPRUCHS
Woher kommt es, dass die Wahrnehmung, „man Wir brauchen Widerspruch für qualitätsvolle
kann nicht mehr offen sagen, was man denkt“, Meinungsbildung. Wie kann politischer Streit
offenbar nennenswerte Zustimmung findet? aber dazu beitragen? Eine mögliche Antwort
Sind freie Rede und Meinungsfreiheit tatsächlich liegt darin, dass nur im Bewusstsein von alterna-
gefährdet? Während Sandra Kostner dies bejaht, tiven Standpunkten und Sichtweisen der eigene
argumentiert Sabine Hark dagegen. Standpunkt bestimmt werden kann.
Seite 08–15 Seite 28–33

MATHIAS HONG PATRICK GENSING


MEINUNGSFREIHEIT UND IHRE GRENZEN FAKTUM = MEINUNG?
Meinungsfreiheit gilt grundsätzlich auch für die Meinungen und unbelegte Behauptungen
„Feinde der Freiheit“. Werden die bestehenden werden heute vielfach zu Fakten erklärt,
Grenzen der Meinungsfreiheit jedoch beachtet, während gleichzeitig wissenschaftlich anerkannte
ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- Erkenntnisse häufig zu Meinungen degradiert
gerichts zu diesem Grundrecht auch im Zeitalter werden. Dadurch droht letztlich auch eine
der digitalen Empörungsstürme zukunftsfähig. Entwertung der Meinungsfreiheit.
Seite 16–21 Seite 34–38
EDITORIAL
Sich frei äußern und die eigene Meinung öffentlich verbreiten zu können, ist
für freiheitliche demokratische Gesellschaften unerlässlich: Der ungehinderte
Austausch konkurrierender Argumente und Sichtweisen ermöglicht politischen
Wettbewerb und ist eine wesentliche Voraussetzung für die demokratische
Willensbildung. Entsprechend weitreichend ist der Schutz, den die Meinungs-
äußerungsfreiheit in Deutschland genießt – das in Artikel 5 des Grundgesetzes
verbriefte Grundrecht wird lediglich durch wenige Bestimmungen beschränkt,
etwa durch die Verbote der Beleidigung und der Volksverhetzung.
Was zulässig ist und was nicht, ist Gegenstand juristischer wie gesellschaft-
licher Aushandlung. Angesichts der on- wie offline zu beobachtenden sprach-
lichen Enthemmung und vermehrten Hassrede werden die Grenzen der freien
Rede gerade vielfach ausgetestet und von Gerichten zum Teil neu definiert.
Zugleich wird über den juristischen Bereich hinaus seit Jahren darüber disku-
tiert, was „man“ „noch“ sagen dürfe. „Politisch korrekter“ Sprachgebrauch wird
von einem nennenswerten Bevölkerungsanteil offenbar als Einschränkung der
freien Rede empfunden. Was es indes bedeuten kann, nicht so bezeichnet zu
werden, wie man es sich wünscht, fällt vielen erst auf, wenn sie selbst fremdbe-
zeichnet werden.
Meinungsfreiheit ist mühsam und kann schmerzhaft sein: Sie schützt auch
diejenigen, die sich gegen sie aussprechen; und Äußerungen, die moralisch
fragwürdig erscheinen, können juristisch zulässig sein. Die meisten der damit
verbundenen Zumutungen sind jedoch wechselseitig: Freie Rede bedeutet in der
Regel auch freie Widerrede; ein Recht auf Widerspruchsfreiheit gibt es in der
Demokratie nicht. Für den Schutz von Respekt und Anstand reichen Gesetze
allein aber ohnehin nicht aus – letztlich sind wir alle gefragt, im täglichen Mit-
einander (besser) darauf achtzugeben, um einer weiteren Verrohung Einhalt
zu gebieten.

Johannes Piepenbrink

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APuZ 12–13/2020

ESSAY

DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN


Gedanken zur Bedeutung von „freier Rede“
Kübra Gümüşay

SCHREIB DICH NICHT pliment“ verpacken und waren damit also kein
zwischen die Welten, Problem. Es musste schon eine Vergewaltigung
komm auf gegen geschehen, damit ein Problembewusstsein ent-
der Bedeutungen Vielfalt, stand. Im Falle von sexueller Belästigung am
vertrau der Tränenspur Arbeitsplatz, so beschreibt es Fricker, war der
und lerne leben. belästigende Chef sich keiner Schuld bewusst
und profitierte vom fehlenden Verständnis –
So heißt es in einem Gedichtfragment des jüdi- während die belästigte Angestellte das Gesche-
schen Dichters Paul Celan.01 Er schrieb es in hene weder verstehen, benennen, problema-
Frankreich, auf Deutsch – der Sprache seiner tisieren, noch Maßnahmen ergreifen konnte,
Mutter, der Sprache ihrer Mörder. Wenn ich die- um sich davor zu schützen. Sie blieb hilf- und
ses Gedicht lese, dann höre ich darin nicht nur schutzlos, weil es bis dahin schlicht keinen Be-
die Warnung und Selbstermahnung eines Dich- griff gab, der die Situation beschrieb. Damit war
ters, sich selbst am Leben zu erhalten – vier Jahre, ihre Erfahrung gleichsam nicht existent. Erst mit
bevor er 1970 sein Leben beendete. Ich höre da- der Verbreitung des Begriffes „sexuelle Belästi-
rin auch den Ausdruck der Sehnsucht eines Men- gung“ und einem Verständnis davon, konnte der
schen nach Existenz, nach dem Sein in der Spra- Missstand auch gesellschaftlich problematisiert
che – und dem Sein trotz der Sprache. ­werden.03
Keine Sprache deckt die gesamte Realität, den Wie dieses Beispiel eindrücklich zeigt, ist die
Facettenreichtum, die Perspektivenvielfalt die- Ohnmacht, die diese linguistische Lücke hinter-
ser Welt ab. Es ist, wie einst Ludwig Wittgenstein lässt, immens. Unrecht, Unterdrückungen, Unge-
schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeu- rechtigkeit müssen in Worte gefasst werden kön-
ten die Grenzen meiner Welt.“02 Stattdessen bil- nen, damit Betroffene und Beteiligte, aber auch
det Sprache lediglich das ab, was diejenigen Men- Unbeteiligte sie sehen können. Woran aber liegt
schen, die in einer Sprache Herrschaft, Macht und es, dass die Erfahrungen und Perspektiven be-
Autorität oder Zugang zu diesen besitzen, erfah- stimmter Gruppen in unserer Gesellschaft nicht
ren. Sprache ist das, was sie erleben und zur Spra- oder erst nach langen Kämpfen ihren Weg in die
che bringen. Und was ist mit Ereignissen, die sie Sprache aller finden? Wer hat die Autorität, Er-
nicht erleben? Die sie nicht zur Sprache gebracht fahrungen, Situationen, Ereignisse, Personen und
haben? Personengruppen zu benennen?
Nehmen wir den Begriff „sexuelle Belästi- Die Lücken in unseren Sprachen sind auch
gung“: Was ist, wenn die meisten Menschen die- zutiefst politische. Die Diskussionen um Sprache,
sen Begriff nicht kennen? Die Philosophin Mi- Worte und Benennung sind keine Banalität, kei-
randa Fricker erläutert am Beispiel der USA ne Nebenschauplätze politischer Auseinanderset-
in den 1960er Jahren, welche Folgen es haben zungen. Denn Sprache ist der Stoff unseres Den-
kann, Missstände nicht benennen zu können. kens und Lebens. Sie öffnet uns die Welt, aber
Damals war der Begriff sexual harrassment noch sie grenzt uns auch zugleich ein. Sie öffnet Tü-
nicht verbreitet, es gab kein gesamtgesellschaft- ren, aber baut auch Mauern und versperrt unsere
liches Verständnis dessen, was dieser Begriff Sicht. Ja, keine Unterdrückung wird allein durch
beschreibt. So ließen sich ungewollte Annähe- eine gerechte Sprache ein Ende finden – aber ohne
rungen sprachlich als „Flirt“ oder gar „Kom- eine gerechte Sprache eben auch nicht.

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Freie Rede APuZ

SICHTBARKEIT vor, die Hamburger Bevölkerung würde infolge


dieser „Entdeckung“ nicht nur massenhaft er-
Während ich an diesem Text arbeite, werden in mordet und ihres Besitzes beraubt, sondern fort-
der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 in an auch gegen ihren Widerstand als „Mexikanier“
Hanau zehn Menschen ermordet. Der aus ras- bezeichnet. Es wäre ein Beharren auf der Per-
sistischen Motiven handelnde Attentäter war ein spektive der Ignoranz, der Gewalt, des Mordens,
Rechtsterrorist. Dennoch ist am Morgen nach der kolonialen Herrschaft – und nichts anderes
seinen Taten vielfach wieder von einem „Ein- tun wir, wenn wir die indigenen Völker Amerikas
zeltäter“ und „fremdenfeindlichen Motiven“ die als „Indianer“ bezeichnen oder wenn wir die Ver-
Rede.04 Aber die Menschen, die ermordet wur- wendung des N-Worts verteidigen. Wir beharren
den, waren keine „Fremden“. Das Motiv war damit auf der Perspektive der Kolonisierenden,
Rassismus. Und der Mörder war insofern kein der Sklaventreiber, der Entmenschlichung.
„Einzeltäter“, als eine ideologisch motivierte Tat Letztlich ist es so: „Man“ kann alles sagen.
niemals eine Einzeltat ist. Die Tonangebenden, Doch Menschen so zu bezeichnen, wie sie be-
die Entmenschlichenden, die Schreibenden, die zeichnet werden wollen, ist keine Frage von
dieser Ideologie den Weg bereiten, sind alle an Höflichkeit, auch kein Symbol politischer Kor-
diesen Taten beteiligt. Das wichtigste Wort die- rektheit oder einer progressiven Haltung – es ist
ser Ereignisse ist daher: Rechtsterrorismus. Das einfach eine Frage des menschlichen Anstands.
ist die einzig korrekte Beschreibung, der richtige Dabei sind Menschen, die sich gegen „politisch
Name. Und doch: Wir nennen ihn häufig nicht korrekte“ Sprache positionieren, weder konser-
beim Namen, weil wir ihn sonst sehen, über ihn vativ noch traditionsbewusst. Sie positionieren
sprechen müssten. sich schlicht und einfach gegen Gerechtigkeit. In
Wenn wir heute gereizt, empört, hoch erhitzt ihrem Beharren auf ächtende Sprache verhalten
über gerechte Sprache diskutieren, dann handelt sie sich nicht rebellisch, sondern unterdrückungs-
es sich häufig um Stellvertreterdebatten: „Darf gehorsam. Sie bekennen sich zur Ächtung von
man x noch sagen?“ „Nicht einmal y soll man Menschen.
noch benutzen dürfen?“ Schon diesen Fragen, die Wenn es also um freie Sprache und frei-
eine vermeintlich allgemeine Empörung ausdrü- es Sprechen geht, dann ist doch die eigentliche
cken sollen, wohnt eine Perspektive inne: Wer ist Frage: Wer kann dies gegenwärtig überhaupt?
„man“? Wer spricht hier eigentlich? Um wessen Kann ein Mensch überhaupt sein, frei sein, frei
Vorlieben, Befinden und Perspektive geht es hier sprechen, in einer Sprache, in der er als Spre-
eigentlich? chender nicht vorgesehen war? In einer Sprache,
Stellen Sie sich vor, ein Spanier kommt bei ei- in der er nur vorgesehen ist als einer derjenigen,
ner Schifffahrt nach Mexiko vom Kurs ab und über die gesprochen wird? In einer Sprache, die
legt am Hamburger Hafen an. Er „entdeckt“ für – wie der afroamerikanische Schriftsteller James
sich also tatsächlich Hamburg. Doch nun stel- Baldwin 1964 über das Englische schrieb – sei-
len Sie sich vor, dieser Moment ginge als „Ent- ne „Erfahrung in keiner Weise widerspiegel-
deckung“ Hamburgs nicht nur in seine persönli- te“?05 Kann eine Frau in einer Sprache wie der
che, sondern in die Weltgeschichte ein. Als hätte deutschen frei sprechen? In einer Sprache, in
es vor ihm dort nichts gegeben, keine Geschich- der die Regel gilt: „99 Sängerinnen und 1 Sänger
te, kein Leben, keine Traditionen. Stellen Sie sich sind zusammen 100 Sänger. Futsch sind die 99
Frauen, nicht mehr auffindbar, verschwunden

01 Aus dem Gedichtband „Eingedunkelt“, hrsg. von Bertrand Ba-


diou/Jean-Claude Rambach, Frank­furt/M. 1991; zur Entstehungs- 05 „My quarrel with the English language has been that the
geschichte siehe www.planetlyrik.de/paul-celan-eingedunkelt/​ language reflected none of my experience. But now I began to
2018/09. see the matter in quite another way. If the language was not my
02 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Lon- own, it might be the fault of the language; but it might also be
don 1922, Satz 5.6. my fault. Perhaps the language was not my own because I had
03 Miranda Fricker, Hermeneutical Injustice: Power and the never attempted to use it, had only learned to imitate it. If this
Ethics of Knowing, Oxford 2007. were so, then it might be made to bear the burden of my expe-
04 Tagesschau-Liveblog, 20. 2. 2020, www.tagesschau.de/ rience if I could find the stamina to challenge it, and me, to such
newsticker/hanau-ermittlungen-101.html#Landtagssitzung- a test.“ James Baldwin, The Cross of Redemption: Uncollected
abgesagt. Writings, New York 2010, S. 67 (eig. Übersetzung).

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APuZ 12–13/2020

in der Männerschublade.“06 Das schrieb einst Weil das Weltbild, das dort im Museum ausge-
Luise F. Pusch, die Mitbegründerin der femi- stellt wird, so sehr ihrem eigenen ähnelt.
nistischen Sprachwissenschaft in Deutschland, Wie frei und unbeschwert sie sich im Museum
über die deutsche Sprache und das generische der Sprache bewegen können, wird erst deutlich,
­Maskulinum. wenn wir die zweite Kategorie von Menschen in
diesem Museum betrachten: die Benannten. Sie
SPRACHROHRE sind zuerst einfach nur Menschen, die auf irgend-
EINER KATEGORIE eine Weise von der Norm der Unbenannten ab-
weichen. Sie sind Anomalien im Weltbild der Un-
Lassen Sie uns Sprache als einen Ort denken. Wie benannten, nicht vorhergesehen, anders, fremd.
ein unfassbar großes Museum, in dem uns die Manchmal auch einfach nur ungewohnt, unver-
Welt da draußen erklärt wird. Wochen, Mona- traut. Sie erzeugen Irritationen. Sie sind nicht
te, Jahre, ein ganzes Leben könnten Sie in diesem selbstverständlich.
Museum verbringen. Je mehr Zeit Sie dort ver- Die Unbenannten wollen die Benannten ver-
bringen, desto mehr Dinge begreifen Sie. Sie kön- stehen – nicht als Einzelne, sondern im Kollektiv.
nen eintauchen in Welten, die Sie nie selbst erlebt Sie analysieren sie, inspizieren sie, kategorisieren
haben, die hier geordnet und kategorisiert auf- und katalogisieren sie. Sie versehen sie schließ-
bereitet sind, begreiflich gemacht in Namen und lich mit einem Kollektivnamen und einer Defini-
Definitionen. Sie finden Objekte, Lebewesen und tion, die sie auf die Merkmale und Eigenschaften
Pflanzen aus allen Kontinenten, aber auch Ide- reduziert, die den Unbenannten an ihnen bemer-
en und Theorien, Gedanken und Gefühle, Fan- kenswert erscheinen. Das ist der Moment, in dem
tasien und Träume, längst Vergangenes, aber auch aus Menschen Benannte werden, in dem Men-
Hochaktuelles. schen entmenschlicht werden. Diese Menschen,
Es gibt zwei Kategorien von Menschen in die nun keine mehr sind – die Benannten – leben
diesem Museum: Die Benannten und die Unbe- sorgfältig katalogisiert in Glaskäfigen, beschrif-
nannten. Die Unbenannten sind Menschen, de- tet mit ihren Kollektivnamen. Wir betrachten sie
ren Existenz unhinterfragt ist. Sie sind der Stan- durch die Augen der Unbenannten: gesichtslo-
dard, die Norm, der Maßstab. Unbeschwert und se Wesen, Bestandteile eines Kollektivs. Jede ih-
frei laufen die Unbenannten durch das Muse- rer Äußerungen, jede ihrer Handlungen wird auf
um der Sprache. Denn das Museum ist für Men- das Kollektiv zurückgeführt, Individualität wird
schen wie sie gemacht. Es zeigt die Welt aus ih- ihnen nicht zugestanden. Den Unbenannten, die
rer Perspektive. Das ist kein Zufall, denn es sind sie betrachten, erscheint das als normal, obwohl
Unbenannte, die dieses Museum kuratieren. Sie für sie selbst ihre Individualität die Grundlage
entscheiden darüber, was in diesem Museum aus- ihres Seins ist.
gestellt wird und was nicht. Sie geben den Din- So heißen die Benannten manchmal „Ge-
gen Namen, ordnen ihnen Definitionen zu. Sie flüchtete“, manchmal „Nordafrikaner“, manch-
sind Unbenannte, doch sie selbst machen von der mal „Transfrau“. Dies sind enge, sehr enge Käfi-
Macht der Namensgebung Gebrauch. Sie sind ge. Es gibt auch etwas breitere, die ein bisschen
auch Benennende. mehr Spielraum lassen, aber dennoch eng sind:
Ja, das Museum der Sprache eröffnet uns „Ostdeutscher“ oder „Powerfrau“. Die Be-
die Welt. Aber es erfasst sie keineswegs in ihrer nannten fangen nun an, sich zu ihrem Käfig zu
Vollständigkeit, in ihrem ganzen Facettenreich- verhalten: bloß nicht gefährlich wirken, nicht
tum. Es erfasst lediglich das, was die Benennen- unterdrückt, abgehängt oder zu emanzipiert. In-
den selbst erfassen – so weit, wie deren Sinne und dividualität, Komplexität, Ambiguität – alles das,
Erfahrungen reichen. Nicht weiter. Die anderen was uns und unser Menschsein ausmacht, wird
Unbenannten bemerken diese Einschränkung ihnen abgesprochen, geraubt. Wenn sie zum
nicht, sie bemerken nicht einmal, dass ihr Blick Sprechen aufgefordert werden, dann sprechen sie
auf die Welt durch den anderer Menschen gelenkt als Vertretende ihrer jeweiligen Kategorien. Sie
wird, weil ihnen diese Menschen so ähnlich sind. sprechen, um sich und ihr Dasein zu erklären, zu
rechtfertigen, ihre Existenz zu begründen. Die-
06 Luise F. Pusch, Alle Menschen werden Schwestern. Feministi- ses Sprechen ist kein freies Sprechen, sondern
sche Sprachkritik, Frank­furt/M. 1990, S. 101. Teil der Inspektion. Wir inspizieren sie, um sie

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Freie Rede APuZ

zu begreifen. Wir betrachten sie. Mit den Augen macht aus Kategorien Käfige. Es gibt viele Per-
der Unbenannten schauen wir auf die Benann- spektiven auf diese Welt – so viele, wie es Men-
ten (herab). schen gibt. Jede einzelne ist für sich genommen
Und in dem Moment, in dem ein Begriff wie beschränkt. Alle Menschen sind vorurteilsbehaf-
„Gutmensch“ zur Beleidigung wird, blicken wir tet und begrenzt durch ihre Erfahrungen. Wenn
auf die Engagierten und die Toleranten durch die aber bestimmte Perspektiven – etwa die weißer
Brille der Rechten. Wir setzen sie in einen Käfig Europäer*­innen oder Nordamerikaner*­innen –
und homogenisieren ein weites und heterogenes gegenüber anderen privilegiert werden, wenn ihre
Spektrum von Menschen. Wir reduzieren sie auf eingeschränkte Perspektive hegemonialen An-
wenige Facetten. Als sich der Gebrauch des Be- spruch gewinnt, dann verlieren andere Perspek-
griffes auf diese Weise wandelte, erlebten Men- tiven und Erfahrungen ihren Geltungsanspruch.
schen, die nie zuvor Benannte waren, erstmals, Es ist, als würden sie nicht existieren. Doch an-
was es bedeutet, eingesperrt zu sein und auf eine deren die eigene Perspektive zu verordnen, sei,
Kategorie reduziert zu werden. so schrieb Friedrich Nietzsche, eine „lächerliche
Diese Erfahrung ist auch der Grund, weshalb Unbescheidenheit“.08
der Begriff „alter weißer Mann“07 die so Benann- Letztlich geht es in den Debatten um Spra-
ten derart erzürnt. Ihre Reaktion sollte ihnen ei- che und ihren Gebrauch darum, die Architek-
nen Spiegel vorhalten, in dem sie jäh erkennen, tur der Sprache zu erkennen, sie wahrzunehmen
wie erniedrigend und entmündigend es ist, wenn und zu ertasten. Im übertragenen Sinne: ihre
ein Mensch von anderen als bloße Kategorie be- Mauern zu sehen. Es geht darum, die Last, die
trachtet wird, welche Zumutung das Betrach- Gewalt, die Perspektiven, die bestimmten Wor-
ten von Menschen in vermeintlich absoluten Ka- ten innewohnen, zu begreifen, sich der Macht
tegorien ist. Denn in dem Moment, in dem wir der Sprache bewusst zu werden und offene Tü-
pauschalisierend von „alten weißen Männern“ ren in die Käfige einzubauen. Letztlich geht es
sprechen, betrachten wir sie mit den Augen der darum, Räume für neue Perspektiven zu schaf-
anderen. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt er- fen. Freie Rede bedeutet, eine sprachliche Archi-
leben sie, was es bedeutet, nicht nur für das eigene tektur zu schaffen, die es einer pluralen Gesell-
Verhalten verantwortlich zu sein, sondern für das schaft ermöglicht, facettenreich, perspektivreich
eines konstruierten Kollektivs. Angesichts die- und komplex in ihr zu existieren – sodass alle
ser Bezeichnung fühlt sich manch älterer weißer frei sprechen können.
Herr womöglich tatsächlich dazu gedrängt, sich
dazu zu verhalten – beispielsweise, um sich von
der Zuschreibung abzugrenzen, um unter Beweis
zu stellen, dass er nicht rassistisch, sexistisch und
ignorant ist – oder was auch immer gerade mit
dieser Kategorie assoziiert wird. Auf diese Weise
der eigenen Freiheit beraubt, lässt sich nicht mehr
frei sprechen.
Doch natürlich brauchen wir Kategorien – al-
lein schon, um uns durch die Welt zu navigieren.
Was sich aber ändern muss, ist der Absolutheits-
glaube, der an diese Kategorien gekoppelt ist. Der
Irrglaube, man könnte einen Menschen oder eine
ganze Gruppe von Menschen abschließend ver-
stehen und begreifen, wenn man sie der (augen-
scheinlich) richtigen Kategorien zugeordnet hat,

KÜBRA GÜMÜŞAY
07 Selbstverständlich müsste dieses Beispiel hier spezifiziert
ist Journalistin und Bloggerin; 2020 erschien ihr
werden: Homosexuelle, Trans- oder Männer mit Behinderung
wären hier etwa ausgenommen.
Buch „Sprache und Sein“.
08 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., www.kubragumusay.com
Sämtliche Werke, Bd. 3, München 1999, S. 627. Twitter: @kuebra

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APuZ 12–13/2020

GEFÄHRDETE MEINUNGSFREIHEIT?
ZWEI PERSPEKTIVEN
Woher kommt es, dass die Wahrnehmung, „man kann nicht mehr offen sagen,
was man denkt“, offenbar nennenswerte Zustimmung findet? Sind freie Rede
und Meinungsfreiheit tatsächlich gefährdet? Während Sandra Kostner dies
bejaht, argumentiert Sabine Hark dagegen.

duums ab, und damit auch die freie Entfaltung


seiner Persönlichkeit.01 Wie notwendig dieser
Keine Meinungsfreiheit ohne Grundrechtsschutz ist, ist in den vergangenen

ein Klima der Freiheit Jahren wieder sichtbarer geworden: Anstatt sich
mit den als Zumutung erachteten Argumenten
Andersdenkender auseinanderzusetzen, wird zu-
Sandra Kostner nehmend versucht, die jeweils Andersdenkenden
mithilfe von herabwürdigenden Labels aus dem
Diskurs auszuschließen. Dabei hängt es von der
Meinungsfreiheit ist Zumutung, und das muss sie politischen Richtung ab, welche Labels einge-
in einem freiheitlichen Staat auch sein. Diese für setzt werden. Auf der rechtsäußeren Seite wer-
funktionierende Demokratien grundlegende Er- den vorzugsweise Labels wie „linksgrün versifft“,
kenntnis stieß noch nie auf ungeteilte Zustim- „Gutmensch“ oder „Volksfeind“ verwendet; auf
mung. Das liegt daran, dass es sich bei der Mei- der linken Seite zuvörderst „Rassist“, „Faschist“
nungsfreiheit um ein besonders herausforderndes oder „Nazi“. Das wirft die Frage auf: Warum sol-
Grundrecht handelt, weil es Menschen mit Welt- len gerade heutzutage Meinungen zu spezifischen
anschauungen konfrontiert, die ihre tiefsten Themen als unerträgliche Zumutungen aus dem
Überzeugungen infrage stellen. Solch unangeneh- Diskurs verbannt werden?
men Erfahrungen gehen Menschen gerne aus dem Die genannten Labels zeigen, dass es sich in
Weg – zum Beispiel, indem sie Andersdenkende erster Linie um Themen handelt, an denen sich
meiden oder, wenn dies nicht möglich ist, versu- der Kampf zwischen linker und rechter Identi-
chen, deren Meinungsäußerungen zu diskredi- tätspolitik entzündet. Allen voran sind das die
tieren, um vor sich selbst und anderen rechtfer- Themen Migration und kulturell-religiöse Viel-
tigen zu können, warum sie sich nicht mit dem falt. Aufgrund ihrer gegenwärtig ungleich grö-
Gesagten befassen möchten. Haben Menschen ßeren gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit steht
die Macht dazu, unliebsame Meinungen zu un- nachfolgend die linke Identitätspolitik im Fokus.
terdrücken und die Verkünder dieser Meinungen Vertreter der linken Identitätspolitik – im Fol-
zu bestrafen, erfordert es ein erhebliches Maß an genden Identitätslinke genannt – streben eine Ge-
Charakterstärke beziehungsweise Respekt für die sellschaft an, in der die Gruppen, als deren Für-
Freiheitsrechte anderer, um dieser Versuchung zu sprecher sie sich sehen, keinem Sprachgebrauch
widerstehen. ausgesetzt sind, den sie als Zumutung empfinden
Um die freiheitsfeindlichen Folgen dieser psy- könnten.
chologischen Disposition zu begrenzen, schützt Warum Identitätslinke Sprachregelungen
das Grundgesetz das Recht aller Menschen, ihre nicht nur präferieren, sondern oftmals mit Ve-
Meinungen anderen gegenüber kundzutun. Über hemenz einfordern, ergibt sich aus ihren Zielen.
diesen Grundrechtsschutz sichert der Staat die Die beiden miteinander verwobenen Ziele lauten:
kommunikative Selbstbestimmung des Indivi- Empowerment von Gruppen, die zumeist his-

08
Freie Rede APuZ

torisch betrachtet Opfer von Ungleichbehand- Die Behauptung eines Opfers, dass jemand oder
lungen waren (Opfergruppen), und moralische etwas, seine Gefühle verletzt habe, darf nicht hin-
Läuterung der Gruppen, die Identitätslinke für terfragt werden, da dies zu einer weiteren Ge-
die Ungleichbehandlung verantwortlich machen fühlsverletzung führen könnte und so die Läute-
(Schuldgruppen). Demzufolge hätten beispiels- rung der Schuldseite in Zweifel zöge.
weise kulturell-religiöse Mehrheiten ihre Läute- Heutzutage bedarf es für den Vorwurf eines
rung gegenüber Minderheiten zu beweisen. 02 Um diskriminierenden Sprachgebrauchs nicht mehr
als geläutert zu gelten, reicht es für Angehörige Begriffe, die geprägt wurden, um Menschen ab-
der kulturell-religiösen Mehrheit nicht, individu- zuwerten. Für einen Rassismusvorwurf reicht
ell nachweisen zu können, dass sie weder rassis- schon die Verwendung von Begriffen wie „abge-
tisch noch nationalistisch denken und handeln. hängter Stadtteil“ oder „Problemviertel“ für so-
Erst wenn alle Mitglieder der Mehrheitsgesell- zial schwache Gebiete aus, wenn diese überwie-
schaft in keiner Weise mehr ein solches Denken gend von Menschen mit Migrationshintergrund
und Handeln erkennen lassen, wird auch jeder bewohnt werden. Ob die Bezeichnung „abge-
Einzelne aus dem Schuldstatus entlassen. Die- hängt“ objektiv zutrifft oder nicht, spielt keine
ses Abhängigkeitsverhältnis ist der Grund dafür, Rolle. Relevant für die Einstufung des Sprach-
dass Identitätslinke auf der Schuldseite Druck auf gebrauchs als rassistisch ist einzig und allein die
alle Mitglieder „ihrer“ Schuldgruppe ausüben, emotionale Betroffenheit, die geltend gemacht
um sie zur Aufgabe missliebiger Äußerungen zu wird.
­bewegen. Lange sah es so aus, als wären identitätsrech-
Verstärkt wird der Druck von Identitätslin- te Positionen, das heißt Positionen, die der kul-
ken auf der Opferseite, die wissen, dass ihre ge- turell-religiösen Mehrheit grundsätzlich den Vor-
sellschaftliche Relevanz davon abhängt, dass auf rang einräumen, im öffentlichen Diskurs allenfalls
der Schuldseite ein Läuterungsbedürfnis besteht. noch von marginaler Bedeutung. Dass dem nicht
Daher ist der weit fortgeschrittene Abbau von mehr so ist, trat in Deutschland spätestens mit
Ungleichbehandlungen für sie ein zweischneidi- der „Flüchtlingskrise“ im Herbst 2015 klar zuta-
ges Schwert: Einerseits ist jeder Abbau ein Ge- ge. Die Unerbittlichkeit, mit der Identitätslinke
winn für sie, andererseits büßen sie dadurch ihre gerade in den zurückliegenden Jahren agieren, um
Wirkmächtigkeit ein. Um den Läuterungsdruck Themen zu verschließen und Sprechakte als un-
aufrechtzuerhalten, werden deshalb immer häu- erträgliche Zumutungen zu klassifizieren, hat viel
figer Gefühlsverletzungen ins Spiel gebracht.03 mit dem Aufstieg der AfD zu tun. Die Rückkehr
Da jede Gefühlsverletzung den Läuterungsgrad identitätsrechter Positionen auf die politische
der Schuldseite infrage stellt, achten deren nach Bühne wird von Identitätslinken als Bedrohung
Läuterung strebende Mitglieder peinlich genau erlebt: auf der Schuldseite im Hinblick darauf,
darauf, dass es nicht zu einer solchen Infragestel- dass der Wählerzuspruch für die AfD Zweifel an
lung kommt. Gefühlsverletzungen sind zudem der Läuterung der gesamten Schuldgruppe weckt;
eng mit Sprache verknüpft, weshalb Identitäts- auf der Opferseite hinsichtlich der – nicht unbe-
linke so großen Wert auf einen sensiblen Sprach- gründeten – Sorge, dass ihnen eine gesellschaft-
gebrauch legen. Niemanden verletzen zu wollen, liche Schlechterstellung droht. Die Ausgrenzung
ist ein hehres Anliegen. Die Folgen für ein mei- von Positionen, die nur annäherungsweise mit
nungsoffenes Diskursklima sind jedoch hoch- der AfD in Verbindung gebracht werden könn-
problematisch. Denn: Wer Ungleichbehandlung ten, avancierte deshalb zum obersten Gebot. So
an Gefühlen festmacht, dehnt die Palette der Ta- werden viele, die sich kritisch zur Flüchtlings-
buthemen ins nahezu Unendliche aus. Dabei gilt: politik der Bundesregierung geäußert haben, mit
dem Satz vertraut sein, dass man solche Äußerun-
01 Vgl. Sebastian Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheit- gen lieber unterlasse, weil man sonst AfD-Positi-
lichen Staat, Paderborn 2013, S. 19. onen stärke.
02 Vgl. Sandra Kostner, Identitätslinke Läuterungsagenda. Offenbar hat der Aufstieg der AfD dem
Welche Folgen hat sie für Migrationsgesellschaften?, in: dies.
Diskursklima in Deutschland geschadet: so-
(Hrsg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren
Folgen für Migrationsgesellschafften, Stuttgart 2019, S. 17–73.
wohl durch Meinungsäußerungen von AfD-
03 Vgl. Sandra Kostner, Contra. Streiten mit dem Unterstrich, lern, als auch durch die Mittel, mit denen insbe-
in: Der Tagesspiegel, 24. 11. 2019, S. 5. sondere Identitätslinke den Kampf gegen rechts

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APuZ 12–13/2020

führen. Ob nun durch die Belastung des Dis- instrument, das zur Unterdrückung unliebsamer
kursklimas die Meinungsfreiheit in Deutsch- Meinungen eingesetzt wird, seine Wirksamkeit
land eingeschränkt oder gar gefährdet sei, darü- verliert. Dieses Hauptinstrument heißt Kon-
ber scheiden sich die Geister. So haben wir laut formitätsdruck, wobei dieser wirksam nur von
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „kein Gruppen erzeugt werden kann, die in ihrem so-
Problem mit der Meinungsfreiheit“, sondern nur zialen Umfeld über Macht und Einfluss verfü-
ein „Problem mit unserer Streitkultur“.04 Ver- gen. Wie bereits 1840 eindrucksvoll von Alexis
steht man unter Meinungsfreiheit, dass es staat- de Tocqueville in seinem Buch „Über die Demo-
licherseits keine Eingriffe in dieses Grundrecht kratie in Amerika“ beschrieben, ist soziale Aus-
im Sinne von Strafandrohungen für unliebsa- grenzung das wirkmächtigste Mittel zur Erzeu-
me Meinungen gibt, dann ist der Aussage des gung von Konformitätsdruck. Erreicht wird sie
Bundespräsidenten zuzustimmen. Nur: Wie alle durch das Mittel der Moral, das heißt durch die
Grundrechte lebt auch die Meinungsfreiheit von Einteilung von Meinungen in moralisch gute und
Voraussetzungen, die der Staat allein nicht ga- schlechte.
rantieren kann.05 Zu ihrer vollumfänglichen Ver- Im Frühjahr 2019 gaben fast zwei Drit-
wirklichung ist auch das gleichermaßen freiheits- tel der Befragten in einer Allensbach-Umfrage
liebende, mutige und verantwortungsbewusste an, dass man heutzutage „sehr aufpassen [müs-
Individuum erforderlich. se], zu welchen Themen man sich wie äußert“.
Anders gesagt: Der Staat kann Freiheitsrechte Dies betreffe vor allem die Themen Flüchtlinge
garantieren und schützen, voll entfalten können und Islam.06 Offensichtlich besteht hauptsäch-
sie sich aber nur in einem gesellschaftlichen Kli- lich bei diesen Themen ein sozial hochwirksa-
ma der Freiheit. Und für dieses Klima der Frei- mer Konformitätsdruck. Überdies deuten die
heit ist die Zivilgesellschaft maßgeblich verant- Befragungsergebnisse darauf hin, dass vielen
wortlich. Der Staat kann und muss dieses Klima die Bereitschaft fehlt, den erwarteten Preis für
fördern, erzwingen kann er es jedoch nicht. Er eine öffentliche Meinungsbekundung zu zah-
kann, wenn Individuum A durch die Inanspruch- len. Wie bei allen sozialen Interaktionen sind
nahme der Meinungsfreiheit Individuum B Scha- zwei Seiten beteiligt: in diesem Fall eine Seite,
den zufügt, eingreifen, um B vor A zu schützen. die einen Preis für Meinungsäußerungen fest-
Er kann aber nicht bei jeder sozialen Interaktion setzt, und eine Seite, die sich diesem Preisdiktat
einschreiten, bei der A versucht, eine Meinungs- beugt. Solange Menschen sich einem Preisdik-
äußerung von B moralisch zu diskreditieren be- tat beugen, funktioniert der von gesellschaftlich
ziehungsweise versucht, B aufgrund dieser Mei- diskursmächtigen Gruppen erzeugte Konfor-
nungsäußerung sozial auszugrenzen. Täte er dies, mitätsdruck. Das wissen natürlich auch die-
würde er schnell zu einem freiheitsfeindlichen In- se Gruppen, weshalb sie mit sozialer Ausgren-
terventionsstaat mutieren. zung und moralischer Herabsetzung drohen,
Kurzum: Der freiheitliche Staat lebt davon, um ihre Diskursmacht abzusichern. Migration
dass Menschen einerseits bereit sind, die Frei- und Islam sind für Identitätslinke zentrale Läu-
heit Andersdenkender zu achten, und dass ih- terungsthemen. Deshalb setzen sie alles daran,
nen andererseits die Meinungsfreiheit so viel wert hier diskursbestimmend zu sein. Der zu diesem
ist, dass sie willens sind, für ihre Überzeugungen Zweck ausgeübte Konformitätsdruck verfehlt,
einzutreten, auch wenn sie negative Reaktionen wie die Allensbach-Studie zeigt, seine Wirkung
zu erwarten haben. Die Wertschätzung der eige- nicht. Das heißt nicht, dass Identitätslinke die
nen kommunikativen Selbstbestimmung ist die Macht haben, jeden zu disziplinieren, der von
wichtigste Voraussetzung dafür, dass das Haupt­ ihren Dogmen abweicht. Damit der sogenann-
te chilling effect eintritt, reicht es aus, dass sie in
04 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der Lage sind, gelegentlich ein Exempel zu sta-
der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz am tuieren. Wissen Menschen, dass bestimmte Mei-
18. November 2019 in Hamburg, www.bundespraesident.de/​ nungsäußerungen potenziell mit sozialem Aus-
SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/​
schluss, moralischem Reputationsverlust, einem
2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html.
05 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft,
Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 06 Vgl. Renate Köcher, Grenzen der Freiheit, in: Frankfurter
Frank­furt/M. 1976. Allgemeine Zeitung, 23. 5. 2019, S. 12.

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Freie Rede APuZ

Karriereknick oder gar dem Jobverlust einher- Politikern. Identitätslinke und Identitätsrechte
gehen können, schalten viele lieber in den Risi- betätigen sich also beide bewusst als Preistreiber,
kovermeidungsmodus. um Andersdenkende davon abzuhalten, von ih-
Durchaus verständlich ist diese Reaktion in rem Grundrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch
Institutionen und Betrieben, wo mithilfe von zu machen. Sie bringen damit diejenigen zum
Hierarchien und Gruppendynamiken dafür ge- Verstummen, denen der Preis zu hoch ist. Selten
sorgt werden kann, dass Andersdenkende mit sind das Personen, die dem jeweiligen Gegenpol
Nachteilen – zum Beispiel im Hinblick auf Ver- angehören, sondern Menschen in der großen Mit-
tragsverlängerungen, Beurteilungen oder Beför- te der Gesellschaft: Menschen, die glauben, dass
derungen – rechnen müssen. Daneben gibt es sie etwas zu verlieren haben.
aber viele soziale Interaktionssituationen, in de- Woran es in Deutschland mangelt, geht folg-
nen Individuen außer einem Ansehensverlust lich deutlich über „Probleme mit unserer Streit-
beim Gesprächspartner und einer Abkühlung der kultur“ hinaus, um auf die Diagnose des Bun-
zwischenmenschlichen Beziehung nichts zu be- despräsidenten zurückzukommen. Woran es
fürchten haben. Nur: Der Mensch ist ein soziales mangelt, ist ein Klima der Freiheit, welches die un-
Wesen. Als solchem ist es ihm nicht gleichgültig, abdingbare Voraussetzung dafür ist, dass grund-
welches moralische Ansehen er bei seinem Ge- rechtlich garantierte Freiheiten auch in Anspruch
genüber genießt. Aus diesem Grund versuchen genommen werden. Machen viele Menschen von
viele, bevor sie anderen gegenüber ihre Meinung ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Sor-
kundtun, herauszufinden, woher der moralische ge vor dem erwarteten Preis nicht oder nur einge-
Wind weht, und mit welchem Preis sie für eine schränkt Gebrauch, dann ist der Preis eindeutig
moralisch „falsche“ Meinung in dem für sie maß- zu hoch. Dann muss er reduziert werden, damit
geblichen sozialen Umfeld rechnen müssen.07 Die er nicht das Grundrecht in seinem Gehalt aus-
wichtigsten Orientierungspunkte für die aufge- höhlt. Zumindest in Bezug auf bestimmte The-
stellte Kosten-Nutzen-Rechnung sind: die veröf- men ist eine Preisreduktion offenkundig geboten,
fentlichte Meinung, die Positionierung diskurs- damit die Aushöhlung der Meinungsfreiheit nicht
starker Eliten und das direkte soziale Umfeld. weiter voranschreitet.
Die ersten beiden betreffend, lässt sich feststel- Hier sind sowohl die Zivilgesellschaft als auch
len, dass sie vornehmlich beim Thema Flucht- der Staat gefragt. Letzterer muss darauf achten,
migration zu identitätslinken Moralvorstellun- dass ein Klima der Freiheit besteht. Zu dessen
gen tendieren.08 Ist das direkte soziale Umfeld Förderung können seine Amtsträger allein schon
nicht meinungsoffen beziehungsweise weicht es dadurch viel beitragen, dass sie mit gutem Bei-
nicht mehrheitlich von den ersten beiden Orien- spiel vorangehen – indem sie selbst davon Ab-
tierungspunkten ab, ist die Wahrscheinlichkeit stand nehmen, sozialen und moralischen Druck
hoch, dass Menschen die Kosten einer abwei- auf andere auszuüben und Personen, die zu die-
chenden Meinungsäußerung höher einschätzen sem freiheitsfeindlichen Mittel greifen, nicht be-
als den potenziellen Nutzen. lohnen. Der Zivilgesellschaft fallen zwei Aufga-
Die Identitätsrechten befinden sich in keiner ben zu: Die eine Seite sollte den Preis reduzieren,
vergleichbaren gesellschaftlichen Position, aus die andere den Preis nicht länger leichtfertig ak-
der heraus sie größere Teile der Bevölkerung aus zeptieren. Letzteres erfordert Resilienz, Mut und
Sorge vor sozialer Ausgrenzung und moralischer den Willen, sich nicht bevormunden zu lassen,
Diskreditierung zum Verstummen bringen kön- Ersteres Offenheit und Wertschätzung der Mei-
nen. Den Preis für unliebsame Meinungen trei- nungsfreiheit als Grundrecht für alle – und nicht
ben aber auch sie hoch, und zwar vor allem durch nur für diejenigen mit der „richtigen“ Meinung.
Beschimpfungen und Bedrohungen von Einzel-
personen, insbesondere von Politikerinnen und

SANDRA KOSTNER
07 Vgl. John Stuart Mill, On Liberty, Oxford 1991; Elisabeth
ist promovierte Historikerin und Migrations­
Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung –
unsere soziale Haut, München 1980.
forscherin an der Pädagogischen Hochschule
08 Vgl. Michael Haller, Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien, Schwäbisch Gmünd.
Frank­furt/M. 2017. sandra.kostner@ph-gmuend.de

11
APuZ 12–13/2020

tungsloser Kräfte herein“. Und wer schließlich


versuche, „Verständnis aufzubringen für die an-
Gleichheit ist nicht geblich gefühlte Freiheitsbeschränkung, die doch

verhandelbar in Wahrheit nur eine massiv eingeredete“ sei, be-


sorge „schon das Geschäft der Scharfmacher“.01
Unmissverständliche Worte des Bundespräsiden-
Sabine Hark ten, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig las-
sen. Gefährdete Meinungsfreiheit? Weit gefehlt.
Wer dies dennoch behauptet, schadet der Demo-
Das Desaster ruiniert alles und lässt doch alles kratie selbst.
­bestehen. Aus Steinmeiers Rede lässt sich freilich noch
Maurice Blanchot, 1980 eine andere, vielleicht sogar gewichtigere Einsicht
gewinnen. Nicht jede Meinung ist grundgesetzlich
Zu den unverhandelbaren Prinzipien unserer de- geschützt. Wer andere sprachlich verunglimpft,
mokratischen Grundordnung zählt die Achtung diskriminiert, wer ihre Würde verletzt oder ih-
vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und nen gar nach Leib und Leben trachtet, kann sich
freie Entfaltung, allen voran die Achtung vor der nicht auf das Recht der freien Rede berufen. Ei-
durch Artikel 1 Grundgesetz geschützten Würde nen „Freibrief für die Verbreitung von rücksichts-
jedes einzelnen Menschen. Auch das „Recht, seine losen Beleidigungen und für ungebremsten Hass
Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern auf alle, die anders leben, anders denken, anders
und zu verbreiten und sich aus allgemein zugäng- aussehen, anders lieben“, könne es in der Demo-
lichen Quellen ungehindert zu unterrichten“, wie kratie nicht geben. Meinungsfreiheit, so Steinmei-
es Artikel 5 Absatz 1 GG festlegt, gehört zu diesen ers eindeutige Botschaft, darf niemals als Legiti-
unverhandelbaren Prinzipien. Daraus leiten nicht mation für sprachliche und andere Gewalt dienen.
wenige die absolute Freiheit der Rede ab und in- Kürzer gesagt: Hass ist keine Meinung. Und er ist
sinuieren immer wieder gezielt, die Meinungs- nicht grundgesetzlich ­geschützt.
freiheit sei beispielsweise auch dort gefährdet, wo Wer nun annimmt, damit sei alles zum The-
Minderheiten auf angemessener sprachlicher Be- ma gefährdete Meinungsfreiheit und zum Unter-
rücksichtigung beharren oder die Verwendung ge- schied zwischen Zensur einerseits und der Kritik
waltförmiger und verletzender Rede anprangern, an Hassrede andererseits gesagt, muss sich wieder
wo Femi­nist*­innen Sexismus skandalisieren und und wieder eines Besseren belehren lassen. Denn
rassistisch Diskriminierte diese Diskriminierung die Behauptung, die Meinungsfreiheit sei bedroht
bekämpfen, wo Schü­ ler*­
innen für Klimaschutz – eine Behauptung im Übrigen, die mindestens in-
streiken und Studierende Vorlesungen stören, wo direkt oft so tut, als sei sie das einzig schützens-
Menschen auf geschlechtlich angemessenen Pro- werte Gut, das unsere Verfassung kennt –, tritt
nomen und Anreden bestehen und keine rassisti- noch in einer anderen, nicht ganz so leicht erkenn-
schen Vokabeln in Kinderbüchern lesen wollen. baren Variante auf. Sie lässt sich als weiche Versi-
Wie wenig plausibel die Behauptung einer ge- on der „Hufeisentheorie“ beschreiben: die politik-
fährdeten oder eingeschränkten Meinungsfreiheit wissenschaftlich zwar haltlose, gleichwohl immer
allerdings ist, darauf hat Bundespräsident Frank- wieder aufs Neue aktivierte Theorie, einer bürger-
Walter Steinmeier in seiner Rede anlässlich der lichen Mitte stünden sich am linken und rechten
Jahresversammlung der Hochschulrektorenkon- Ende des Hufeisens zwei extreme, den Rechtsstaat
ferenz in Hamburg im November 2019 noch ein- und jene Mitte gleichermaßen bedrohende politi-
mal hingewiesen: „Die Behauptung, man dürfe sche Kräfte gegenüber. In dieser weichen Varian-
in Deutschland seine Meinung nicht (mehr) frei te wird zwar durchaus ein Unterschied zwischen
aussprechen, ist ein längst ausgeleiertes Klischee rechter Hassrede und linker Kritik an diskrimi-
aus der reaktionären Mottenkiste.“ Es gebe we- nierender Sprache eingeräumt, gleichwohl ist es in
der eine „staatliche Meinungszensur“ noch eine beiden Fällen die mit „der Demokratie“ implizit
„staatliche Sprachpolizei“, so Steinmeier ent- gleichgesetzte „bürgerliche Mitte“, die als die ei-
schieden. Wer das behaupte, lüge und führe Men- gentlich bedrohte Gruppe ausgemacht wird. Hier
schen gezielt in die Irre; wer das glaube, falle „auf heißt es folglich, nicht die Meinungsfreiheit an
eine bewusste Strategie interessierter verantwor- sich sei gefährdet, sondern jene bürgerliche Mit-

12
Freie Rede APuZ

te werde durch linke und feministische Sprech- gewalt im negativen Sinne des Wortes, die Ein-
diktate derart eingeschüchtert, dass sie sich nicht schüchterung“, denn immer nur von rechts kom-
mehr traue, zu reden, wie sie es kenne oder wolle, me, antwortet die Ministerin: „Nein, die kommt
wie ihr also „der Schnabel gewachsen“ sei, so eine natürlich auch von links. Also ich sage mal, eine
Formulierung der Bundesministerin für Bildung Linke, die Diskriminierung und Ausgrenzung
und Forschung, Anja Karliczek. Sie hatte kurz mit Gendersternchen oder Sprachschöpfungen
vor Steinmeiers Hamburger Rede in einem Inter- wie PoC, People of Color, aus der Welt schaffen
view mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ will, hat ja nicht die Diskriminierer und Ausgren-
dergestalt vor einer von links betriebenen Veren- zer, sondern die gemäßigte demokratische Mit-
gung des politischen Diskurses besonders an den te zum Schweigen gebracht.“ Doch damit nicht
Hochschulen und Universitäten gewarnt: „Es geht genug: „Wenn man die gemäßigte demokratische
nicht, dass sich Studenten oder Aktivisten als Mei- Mitte mit solchen hysterischen political correcten
nungszensoren aufspielen.“ Zu viele säßen „auf ei- Dingen zum Schweigen bringt, dann macht man
nem moralischen Thron“, und all diejenigen, die auch die demokratische Immunabwehr gegen die-
sich „nicht voll gendergerecht“ ausdrückten, dürf- se rechten Ausgrenzer, gegen totalitäre Anwand-
ten „nicht gleich runtergemacht werden“.02 lungen kaputt.“03 Eine, gelinde gesagt, durchaus
Ähnlich besorgt um die Möglichkeiten der erstaunlich zu nennende Sicht der gegenwärtigen
bürgerlichen Mitte, sich ungehemmt äußern zu politischen Dinge.
können, zeigte sich jüngst auch Kulturstaats- In ihrer Weimarer Rede am selben Abend führ-
ministerin Monika Grütters. Wie es der politi- te Grütters ihre Überlegungen weiter aus. Und
sche Zufall wollte, sprach Grütters just am 5. Fe- nicht nur, weil sie dabei Ross und Reiter verwech-
bruar 2020 – dem Tag, an dem erstmals bei einer selt, indem sie Linke, Queers, Fem­ in
­ist*innen
Ministerpräsidentenwahl Stimmen der AfD den und People of Color für das Erstarken autoritärer
Ausschlag gaben – in Weimar zum Thema „Die Kräfte verantwortlich macht, lohnt es, ausführ-
Macht der Worte: Wieviel Freiheit braucht die lich aus der Rede zu zitieren. Noch bevor Grüt-
Demokratie – und wieviel Freiheit verträgt die ters also auch nur ein Wort über Hassrede, rechts-
Demokratie?“ In einem Radiointerview im Vor- extreme Gewalt und den Angriff von rechtsaußen
feld ihres Auftritts machte auch sie jene bürger- auf die demokratische Grundordnung verloren
liche Mitte als das wahre Opfer der Forderung hat – was sie im zweiten Teil ihrer Rede, das soll
nach geschlechtergerechten Sprechweisen und der hier nicht verschwiegen werden, auch tut –, hat
Ächtung rassistischer Begriffe aus. Solche Forde- sie bereits detailliert ausgemalt, von wem in ih-
rungen und Gebote schüchterten diese über Ge- ren Augen die Schwächung der Demokratie tat-
bühr ein und produzierten selbst bei eigentlich sächlich ausgeht. Nämlich nicht von jenen, die
wohlmeinenden bürgerlichen Politikern und Po- täglich auf den Straßen und in den sozialen Me-
litikerinnen vor allem Angst. Und das wiederum dien, in den Parlamenten und Talkshows die Frei-
führe dazu, dass diese sich, um nur ja in kein Gen- heit der anderen infrage stellen, von jenen, denen
der-Fettnäpfchen zu treten, lieber gar nicht mehr demokratische Verfahren und Institutionen kein
äußerten, als sich den Angriffen von rechts ent- Wert an sich, sondern lediglich Mittel zum Zweck
gegenzustellen. Wortreich beklagt die Ministerin der Aushöhlung und Usurpation der Demokra-
eine „hysterische Political Correctness“, die „viel tie sind, sondern ausgerechnet von jenen, die die-
Raum“ frei mache „für das, was dann an den Rän- se Demokratie (bislang) am wenigsten schützt. In
dern sich tut“. Es gehe dabei, insinuiert sie, „man- „beinahe keiner öffentlichen Kontroverse“, erläu-
chen wirklich nicht um Verständigung“, sondern tert Grütters einleitend, fehle „das moralisieren-
darum, „Andersdenkende“ zum Verstummen zu de Machtwort, das andere Sichtweisen als illegi-
bringen. Auf die Frage, ob „Demagogie, Sprach- tim stigmatisiert: als diskriminierend, rassistisch,
islamophob, frauen- oder fremdenfeindlich oder
01 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung in anderer Weise reaktionär: sei es des Themas
der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz am
18. November 2019 in Hamburg, www.bundespraesident.de/​
SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/​ 03 Die Radikalisierung des öffentlichen Sprechens, Monika
2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html. Grütters im Interview, 5. 2. 2020, www.deutschlandfunkkultur.de/​
02 „Weimar ist auch heute eine Mahnung“, Anja Karliczek im kulturstaatsministerin-ueber-sprache-und-demokratie-die.​
Interview, in: Der Spiegel, 26. 10. 2019, S. 34 f., hier S. 34. 1008.​de.html?dram:article_id=469544.

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APuZ 12–13/2020

oder auch der Wortwahl wegen, oder weil Humor Stattdessen wird das Begehren nach Sichtbar-
und Ironie im Spiel sind, wo manche keinen Spaß keit und Gehörtwerden, also danach, Gleiche un-
verstehen“. So schwelle die „Lautstärke der Ex- ter Gleichen zu sein, als Knebelung der wahren
treme links und rechts im Meinungsspektrum“ an, Bürger, als Verrohung von Sprache, Literatur und
„die ausgedünnte, gemäßigte Mitte“ verstumme, Kultur abgetan. Um der Behauptung der Äqui-
sei „intellektuell wie gelähmt und sprachlich ein- valenz von rechts und links willen ist Grütters
gehegt. Die selbstgerechte Intoleranz der vorgeb- so letztendlich bereit zu verkennen, dass es im
lich Toleranten, die geradezu obsessive Beschäfti- einen Fall um die Fundamentalisierung des Un-
gung mit dem Kränkungspotential von Worten, terschieds zwischen „Menschen wie wir“ und
die reflexhafte Neigung, Andersdenkende an den „keine Menschen wie wir“ geht,06 während im
Pranger zu stellen und sie ohne nähere Auseinan- anderen Dialog, Deliberation, die Erweiterung
dersetzung mit ihrer Position des Sexismus, des von Vorstellungsräumen und Möglichkeiten zu
Rassismus oder anderer Formen der Diskrimi- existieren, also der Kampf um Gleichheit, auf der
nierung zu bezichtigen, hat die Demokratie nicht Agenda stehen.
stärker gemacht, im Gegenteil. Menschen, die Um hier nicht missverstanden zu werden:
sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht Zensur und die Verhinderung freier Meinungsäu-
wortgewandt genug fühlen, um sich unfallfrei auf ßerungen sind fraglos kritisch zu reflektieren, wo
sprachpolitisch vermintem Gelände zu bewegen, immer sie auftreten. Kritische Begleitung brau-
bleiben öffentlich lieber stumm als ihre Meinung chen auch die ohne Zweifel existierenden dog-
zu äußern.“04 Ein „krachendes Eigentor“, findet matischen, moralisierenden und, ja, manchmal
die Kulturstaatsministerin. auch kläglichen Anwandlungen in den Politiken
Ein krachendes Eigentor ist indes diese Rede jener, die gerade erst begonnen haben, „in der
selbst, lässt sie doch zumindest nicht zweifelsfrei ersten Person Singular zu sprechen“, wie Achille
erkennen, ob es für Grütters einen Unterschied Mbembe sagt,07 das „Alphabetisierungsprojekt in
ums Ganze macht, ob ich jemanden rassistisch oder der Sprache des Schmerzes“, um eine Formulie-
sexistisch beleidige oder ob ich darauf hingewie- rung von Lauren Berlant aufzugreifen.08 Aber soll
sen werde, dass dies eine rassistische, eine sexisti- damit auch gesagt sein, dass freie Rede radikal un-
sche, eine homo- oder trans*feindliche Praxis ist, gehemmte Rede sein sollte? Dass wir keinen Un-
dass Rassismus und Sexismus selbst und nicht de- terschied machen sollten zwischen gewaltförmi-
ren Skandalisierung die Demokratie schwächen. ger, entindividualisierender Rede einerseits und
Ebenso wenig ist erkennbar, dass sie sich die Mühe Rede, die die Würde jedes Einzelnen achtet, an-
gemacht hat, jenen zuzuhören, die für eine ihnen dererseits? Dass wir uns beteiligen sollten an Bos-
gemäße sprachliche Adressierung kämpfen, dass haftigkeit und sich als Humor tarnender Karika-
sie sich ernsthaft beispielsweise mit den unter den tur, an der Verweigerung von Rechenschaft und
Hashtags #metoo und #metwo gesammelten Erfah- Reziprozität? Von einem Absolutismus der freien
rungen von täglicher Ausgrenzung und Herabset- Rede ist Grütters zwar weit entfernt. Doch ist sie
zung, der Verweigerung von Respekt, Würde und bereit, den Schaden zu erkennen, den (auch ihre)
Anerkennung, der Erfahrung von Gewalt, also mit Worte anrichten können, wie Judith Butler un-
der Erfahrung der Verweigerung von Gleichheit, längst in anderem Zusammenhang fragte?09 Und
auseinandergesetzt hat. Ihre Worte lassen weder de- mehr noch: Sind nicht gerade jene Räume demo-
mokratische Empathie noch das Wissen darum ver- kratische Räume, in denen, mit Hannah Arendt
muten, was es bedeutet, „wenn Menschen aus dieser
Welt herausgestoßen werden, wenn die gemeinsam
06 Richard Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, in:
bewohnte Welt auseinanderbricht und Menschen
Stephen Shute/Susan Hurley (Hrsg.), Die Idee der Menschen-
allein auf sich selbst zurückgeworfen sind“.05 rechte, Frank­furt/M. 1996, S. 144–170, hier S. 145.
07 Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Frank­
furt/M. 2014, S. 139.
04 Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der 08 Lauren Berlant, Das Subjekt wahrer Gefühle. Schmerz,
Klassik Stiftung Weimar, 5. 2. 2020, www.bundesregierung.de/​ Privatheit und Politik, in: Angelika Baier et al. (Hrsg.), Affekt und
-1719614. Geschlecht, Wien 2014, S. 87–115, hier S. 88.
05 Christina Thürmer-Rohr, Kontroversen zur Kohabitation 09 Judith Butler, Verletzungen bilden gesellschaftliche Struktu-
– „Denken von anderswo“, in: Feministische Studien 2/2015, ren ab. Judith Butler im Gespräch mit Svenja Flaßpöhler und Nils
S. 308–322, hier S. 320. Markwardt, in: Philosophie Magazin 6/2019, S. 62–65.

14
Freie Rede APuZ

gesprochen, daran gearbeitet wird, allen zu ga- Raum, zu atmen und zu begehren, zu lieben und
rantieren, „in der Welt zu Hause zu sein“?10 Räu- zu leben, wir mit einer „Kritik“ verteidigen, die
me also, in denen Diskriminierung, Hassrede und nur die eigene Befindlichkeit im Blick hat. Statt
Verletzung nicht toleriert werden, in denen wir beispielsweise die Forderung nach geschlechtlich
solcher Rede und solchen Praktiken entschieden angemessenen Sprechweisen bestenfalls ob ihrer
entgegentreten. Safe Spaces werden solche Räume Naivität, schlimmstenfalls ob ihres Dogmatismus
genannt. Auch das ist eine Praxis, die allzu oft un- zu verurteilen, könnten wir lernen, das Begehren
ter Verdacht steht, das Recht des Bürgers auf freie nach Gleichheit in ihnen zu lesen.
Rede zu beschneiden – wie so vieles, das zum Ziel Was wir in diesem Licht betrachtet brauchen,
hat, die Welt für mehr Menschen zu einem Ort ist eine umsichtigere, nachdenklichere und beja-
zu machen, der es ihnen erlaubt, das „Wagnis der hende Idee von Freiheit und Kritik, eine, die ver-
Öffentlichkeit“ einzugehen11 – ein Wagnis, das bunden ist mit der Verantwortung, eine gleichere,
nicht allen gleichermaßen möglich ist, das wir gerechtere und freiere Welt für alle zu schaffen.
aber eingehen können müssen. Denn erst, wenn Wo „frei“ hingegen nur bedeutet, frei von jeg-
wir „vor der Allgemeinheit“ erscheinen,12 für alle licher Verpflichtung zu handeln, warum soll-
sicht- und hörbar werden, wir uns erzählen kön- te dann irgendjemand die Aufgabe übernehmen,
nen, kommt uns Wirklichkeit zu – während wir die Welt freier, gerechter und gleicher zu machen?
zugleich beständig erzählt werden, ob wir wollen Wem es daher lediglich darum zu tun ist, die eige-
oder nicht, ob wir es wissen oder nicht, ob wir die ne moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen,
Erzählung mögen oder nicht. und sich dabei Strategien bedient, in denen Me-
Es geht daher nicht nur darum, was gesagt wird, chanismen am Werk sind, die – mit für den gesell-
sondern auch darum, wer spricht. Es geht darum, schaftlichen Zusammenhalt fatalen Folgen – zu
zu revidieren, wer definiert wird und wem die De- den längst in Gang gesetzten Prozessen der Ent-
finitionen zustehen. Und wo historisch marginali- solidarisierung beitragen, statt diese kritisch zu
sierte Gruppen genau das tun, wo sie sich als Sub- befragen, betreibt das Geschäft der Herrschaft,
jekte neu erzählen, intervenieren sie in eben dieses das anzuprangern doch vorgeblich das Ziel war.
Gefüge der Macht. Sie sprechen zurück, verlangen, Solange daher eine Antwort nicht nur auf
dass die Welt auch einmal durch ihre Augen gese- die Frage, wer sind wir?, sondern auch, zu wem
hen wird. „Weil sie beide bereits Jahre zuvor er- können wir werden?, nicht allen gleichermaßen
kannt hatten, dass sie weder weiß noch männlich möglich ist, sollten jene, die den Unterschied
waren und dass alle Freiheit und alle Triumphe ih- zwischen Herrschaft und Emanzipation nicht er-
nen verwehrt sein würden, hatten sie sich daran kennen mögen – zwischen dem lauten Dröhnen
gemacht, sich als etwas anderes neu zu entwerfen“, der Macht und den ausgefransten Stimmen der
schreibt Toni Morrison über ihre Protagonistin- Subalternen, zwischen autoritären, möglichkeits-
nen Sula und Nell in ihrem Roman „Sula“.13 vernichtenden Gesten der Dehumanisierung und
Ist es das Ziel der Feinde der Demokratie, dem Begehren, in eigenen Begriffen kenntlich zu
durch Gewaltandrohung und -ausübung die Welt werden –, ihre Worte besser abwägen und erst
kleiner zu machen, minorisierte Stimmen zum einmal zuhören lernen, bevor sie Urteile riskie-
Schweigen zu bringen und Räume zu schaffen, ren. Und dies gerade, weil die Feinde der Demo-
die nur den Einen erlauben, „zu atmen, zu begeh- kratie tagtäglich lauter werden und diese nicht die
ren, zu lieben und zu leben“,14 wie Butler sagt, Sprache des Dialogs und der Gewaltfreiheit spre-
während die Anderen in die Nichthörbarkeit, das chen, die Sprache der Demokratie und des Ge-
Nichtverstehbare und die Unlebbarkeit verbannt sprächs zwischen Verschiedenen, die doch für-
werden, so müssen wir (uns) fragen, wessen einander Gleiche sind. Gleichheit indes ist nicht
verhandelbar. Und das gilt für alle.
10 Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Übungen im politischen Denken I, München–Zürich 1994, S. 110. SABINE HARK
11 Dies., Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, ist Professor*in für Interdisziplinäre Frauen- und
S. 169.
Geschlechterforschung und leitet das Zentrum für
12 Ebd.
13 Toni Morrison, Sula, New York 1975, S. 44 (eig. Übersetzung).
Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung
14 Judith Butler, Die Macht der Geschlechternormen und die an der TU Berlin.
Grenzen des Menschlichen, Frank­furt/M. 2009, S. 20. sabine.hark@tu-berlin.de

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APuZ 12–13/2020

MEINUNGSFREIHEIT
UND IHRE GRENZEN
Mathias Hong

Wie weit reicht in Deutschland die Meinungsfrei- rungen an die Rechtfertigung. Für Äußerungen in
heit? Was darf man sagen und was nicht? Im Fol- Angelegenheiten, die die Öffentlichkeit wesent-
genden gebe ich einen Überblick über den Schutz lich berühren, gilt eine Vermutung für die Frei-
der Meinungsfreiheit durch das Grundgesetz heit der Rede.04
(Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG), werfe dabei aber auch Die demokratische Ausrichtung auf die öf-
vergleichende Blicke auf die Europäische Men- fentliche Willensbildung steht dabei nicht im Ge-
schenrechtskonvention (Art. 10 EMRK) und die gensatz zur individuellen Freiheit: Freiheit ist
Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika nicht nur die „halbierte“ Freiheit des Bourgeois,
(First Amendment). sein eng verstandenes privates Eigeninteresse zu
verfolgen, sondern auch die Freiheit der Ci­to­
DAS GRAVITATIONSZENTRUM: yenne, sich die öffentlichen Angelegenheiten zu
POLITISCHE REDE eigen zu machen, die Interessen der Allgemein-
heit zu ihrem individuellen Interesse zu erklären
Die freie politische Rede ist das Gravitationszent- und sich selbst für ihre Durchsetzung zu mobili-
rum der Meinungsfreiheit. Das ergibt sich aus der sieren.05 Das Recht auf Teilhabe an der öffentli-
Normengeschichte und Regelungstradition die- chen Meinungsbildung steht in engstem Zusam-
ses Grundrechts in den freiheitlichen Demokra- menhang zum letztlich in der Menschenwürde
tien, an die der Parlamentarische Rat 1949 ange- verankerten Recht auf demokratische Teilhabe an
knüpft hat und nach der die Meinungsfreiheit „als der öffentlichen Gewalt.06
politische Freiheit gegen jegliche Bevormundung Wenn also zum Beispiel Schülerinnen und
gerichtet“ war.01 Das Bundesverfassungsgericht Schüler im Rahmen der „Fridays for Future“ de-
nennt die Meinungsfreiheit zu Recht „schlechthin monstrieren, dann ist das hohe Gewicht solch po-
konstituierend“ für die freiheitliche Demokratie. litischer Rede zu berücksichtigen, und zwar so-
Warum? Weil erst sie „die ständige geistige Aus- wohl für die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1
einandersetzung“, ermöglicht, „den Kampf der GG),07 die diese besondere Art und Weise der
Meinungen“, der das „Lebenselement“ der De- Meinungsäußerung schützt, als auch für die Mei-
mokratie ist.02 Keine Demokratie kann auf Dauer nungsfreiheit, anhand derer zu beurteilen bleibt,
bestehen, wenn es ihr an Menschen fehlt, die von ob der geäußerte Inhalt unterbunden werden
ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machen. darf.08 Im Konflikt mit der Schulpflicht kann des-
Die Meinungsfreiheit dient allerdings nicht halb jedenfalls für einzelne Demonstrationsteil-
nur demokratischen Zwecken. Sie lässt zunächst nahmen an Beurlaubungen zu denken und bei
einmal alle Meinungen zu, gleich welchen Inhalts, der Sanktionierung von Schulpflichtverletzungen
und sichert so die „kommunikative Entfaltung Zurückhaltung geboten sein.09 Das entspricht der
schlechthin“, in „allen Lebensbereichen, die auf Vermutung für die Freiheit der Rede vor allem in
Interaktion angewiesen sind“.03 Mit diesem wei- Fragen, die die Öffentlichkeit wesentlich berüh-
ten „Schutzbereich“ gilt sie jedoch nicht schran- ren: Denn was könnte die Öffentlichkeit wohl
kenlos. Eingriffe können in gewissen Grenzen stärker berühren als das Schicksal der gesamten
gerechtfertigt sein, und dafür wird die demokra- Menschheit angesichts der verheerenden Folgen
tische Zwecksetzung des Grundrechts bedeut- der drohenden Klimakatastrophe?
sam: Je stärker die öffentliche Meinungsbildung Die Meinungsfreiheit soll gewährleisten, dass
beschränkt wird, desto größer das Gewicht der die öffentliche Debatte „ungehindert, robust und
Meinungsfreiheit und desto höher die Anforde- offen“ geführt werden kann, wie es in einem rich-

16
Freie Rede APuZ

tungweisenden Urteil des U. S. Supreme Court setz und Menschenrechtskonvention hier einen
von 1964 heißt.10 Sie und die anderen Kommuni- stärkeren – nämlich überhaupt einen – Schutz
kationsfreiheiten sind „unbequeme“ Grundrech- vor, und zwar im Wege der sogenannten mittel-
te,11 die gerade auch dem Schutz andersdenkender baren Drittwirkung der Grundrechte auch gegen
Minderheiten dienen.12 Ihnen ein „Protestventil“ Private. Das europäische Grundrechtsverständ-
zu geben,13 kann gerade in einer vorwiegend re- nis trägt damit der Einsicht Rechnung, dass die
präsentativ strukturierten Demokratie auch eine Grundrechte „Freiheit für alle“ sichern sollen,
wesentliche „stabilisierende Funktion“ haben.14 also gleiche und real wirksame Freiheit, die vor
Ein besonders starker Schutz der politischen „Potenziale[n] des Machtmissbrauchs auch durch
Rede kennzeichnet die Meinungsfreiheit auch unter gesellschaftliche Machtträger“ schützt.15
der Europäischen Menschenrechtskonvention und Ungeachtet solcher wesentlichen Unterschie-
der Verfassung der Vereinigten Staaten von Ame- de aber genießt die politische Rede in allen drei
rika. Der Schutz der Meinungsfreiheit unterschei- Grundrechtsordnungen besonderen Schutz: Wie
det sich freilich ansonsten in diesen drei Grund- das Bundesverfassungsgericht sieht auch der Eu-
rechtsordnungen erheblich voneinander: Am wohl ropäische Gerichtshof für Menschenrechte be-
weltweit stärksten ist er in den Vereinigten Staaten, sonders wenig Spielraum für Meinungsbeschrän-
schwächer dagegen unter der Menschenrechtskon- kungen, wenn es um politische Rede (political
vention, während das Schutzniveau des Grundge- speech) oder um Debatten über Fragen von öf-
setzes sich zwischen diesen Polen bewegt. fentlichem Interesse (questions of public interest)
Das Bild dreht sich allerdings, wenn es nicht geht.16 Und auch der U. S. Supreme Court betont,
um die Abwehr staatlicher Eingriffe geht, son- dass politische Rede und Stellungnahmen zu öf-
dern um den Schutz der Meinungsfreiheit vor pri- fentlichen Angelegenheiten den stärksten Schutz
vaten Akteuren, wie etwa den Betreibern sozialer beanspruchen können.17
Netzwerke: Während die Verfassung der Verei-
nigten Staaten davor überhaupt keinen Schutz
gewährt (state action doctrine), sehen Grundge- 08 Vgl. BVerfGE 90, 241 (246) – Holocaustleugnung (1994);
zum Verhältnis der beiden Grundrechte vgl. Hong (Anm. 5),
S. 66 ff.
01 Wolfgang Hoffmann-Riem, Kommunikationsfreiheiten, 09 Vgl. Felix Hanschmann, „It’s the End of the World as We
Baden-Baden 2002, S. 67–70, hier S. 37 f. Vgl. auch Werner Know it“ – Schulpflicht vs. Versammlungsfreiheit, 15. 3. 2019,
Matz, in: Klaus-Berto von Doemming/Rudolf Werner Füsslein/ www.verfassungsblog.de/its-the-end-of-the-world-as-we-know-
Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grund- it-schulpflicht-vs-versammlungsfreiheit; „Lehrkräfte sind gut
gesetzes, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Tübingen 1951, beraten, demonstrationsfreudige Schüler ernst zu nehmen“,
S. 79–89, S. 171–176. Interview mit Tristan Barczak, 14. 3. 2019, www.uni-muenster.de/
02 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) news/view.php?cmdid=10135.
7, 198 (208) – Lüth (1958). Vgl. auch Hoffmann-Riem (Anm. 1), 10 New York Times Co. v. Sullivan, 376 U. S. 254, 270 (1964)
S. 35 („Kommunikation ist ein Lebensnerv einer Demokratie und („a profound national commitment to the principle that debate
eines Rechtsstaats“). on public issues should be uninhibited, robust, and wide-open“).
03 Hoffmann-Riem (Anm. 1), S. 37. Zum Schutz auch unterhal- 11 Vgl. (zur Versammlungsfreiheit) Max-Emanuel Geis, in: Karl-
tender Medieninhalte vgl. BVerfGE 120, 180 (204 f.) – Caroline Heinrich Friauf/Wolfram Höfling (Hrsg.), GG, Loseblattsamm-
von Hannover (2008); BVerfGE 119, 181 (218) – Rundfunkge- lung (Stand: 49. EL, 2/2016), Art. 8 Rn. 141.
bühren (2007). 12 Vgl. BVerfGE 69, 315 (343 f.) – Brokdorf (1985) (Versamm-
04 Ständige Rechtsprechung (StRspr) seit BVerfGE 7, 198 (212) lungsfreiheit kommt „auch und vor allem andersdenkenden
– Lüth (1958). Minderheiten zugute“); Kammerentscheidung des Bundesver-
05 Vgl. Johannes Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für fassungsgerichts (BVerfG-K) vom 19. 12. 2007, 1 BvR 2793/04,
die Durchsetzung des Rechts, Berlin 1997; ders., in: Wolfgang Rn. 28 (Meinungsfreiheit „ist ein Recht auch zum Schutz von
Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle Minderheiten“).
(Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, München 13 Wolfgang Hoffmann-Riem, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen
20122, § 7; Mathias Hong, Die Versammlungsfreiheit, in: Wilfried Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und
Peters/Norbert Janz, Handbuch Versammlungsrecht, München Europa, Bd. IV, München 2011, § 106 Rn. 2.
2015, S. 29 f. 14 BVerfGE 69, 315 (347) – Brokdorf (1985).
06 Vgl. BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon (2009); Mathias 15 Hoffmann-Riem (Anm. 1), S. 30, S. 36.
Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, Tübingen 16 StRspr, vgl. nur Europäischer Gerichtshof für Menschen-
2019, S. 461 ff. rechte (EGMR), Vajnai v. Ungarn, 8. 7. 2008, No. 33629/06, § 47.
07 Vgl. BVerfGE 104, 92 (109 ff.) – Wackersdorf/Autobahnblo- 17 Vgl. Williams-Yulee v. The Florida Bar, 135 S. Ct. at 1664–
ckade (2001) (Stellungnahmen zu „die Öffentlichkeit angehen- 65 (2015) („commands the highest level of First Amendment
den, kontrovers diskutierten Frage[n]“). protection“).

17
APuZ 12–13/2020

DIE GEDANKEN SIND FREI: Allgemeine Gesetze, die die Meinungsfreiheit


VERBOT DER nach Art. 5 Abs. 2 GG beschränken dürfen, sind
STANDPUNKTDISKRIMINIERUNG danach nur solche Gesetze, die „nicht eine Mei-
nung als solche verbieten“, sondern „dem Schut-
Neben ihrer zentralen Bedeutung für die De- ze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine be-
mokratie ist für die Meinungsfreiheit ein wei- stimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts
terer Grundgedanke tragend, der ebenfalls die dienen“.23 Wann das der Fall ist, ergibt sich aus
Geschichte der Kommunikationsfreiheiten insge- einer dreistufigen Prüfung: Allgemeine Gesetze
samt prägt: Die Gedanken sind frei.18 Eine Mei- sind nur solche, die entweder (erstens) gar nicht
nung zu äußern, darf deshalb nicht schon des- an bestimmte Meinungsinhalte anknüpfen oder
halb beschränkt werden, weil schon das Haben (zweitens) an solche anknüpfen, dies aber zum
und Äußern dieser Meinung als solches unter- Schutz von Rechtsgütern tun, die in der Rechts-
bunden werden soll. Grundrechtsbeschränkun- ordnung allgemein – also auch vor Verletzun-
gen „knüpfen nicht an die Gesinnung, sondern gen auf andere Weise als durch Meinungsäuße-
an Gefahren für Rechtsgüter an, die aus konkre- rungen – geschützt sind und sich dabei (drittens)
ten Handlungen folgen“.19 Der Staat bleibt des- nicht nur gegen bestimmte politische, religiöse
halb „rechtsstaatlich begrenzt auf Eingriffe zum oder weltanschauliche Standpunkte richten.24
Schutz von Rechtsgütern in der Sphäre der Äu- Kurz gefasst: Ein Gesetz ist kein allgemeines
ßerlichkeit“, während es ihm nicht zusteht, „auf Gesetz, sondern Sonderrecht gegen bestimmte
das subjektive Innere der individuellen Überzeu- Meinungen, wenn es nicht nur an Meinungsinhal-
gung“ zuzugreifen, auf die „Gesinnung“ und das te anknüpft, sondern sogar bestimmte politische,
Recht, diese als solche mitzuteilen.20 Der Staat religiöse oder weltanschauliche Standpunkte dis-
darf deshalb mit rechtlichen Zwangsmitteln kei- kriminiert (beispielsweise: nur politisch „rechte“,
ne Gesinnungskontrolle betreiben, er darf erst nicht aber „linke“). Nicht schon jede Inhaltsan-
dann einschreiten, wenn aus Meinungsäußerun- knüpfung, sondern erst eine Standpunktdiskrimi-
gen Bedrohungen für äußere Rechtsgüter entste- nierung begründet verbotenes Sonderrecht. Diese
hen, etwa für das friedliche Zusammenleben oder Unterscheidung weist eine deutliche rechtsver-
für das Persönlichkeitsrecht der Mitglieder hin- gleichende Verwandtschaft zu der Unterschei-
reichend eingrenzbarer Personengruppen.21 dung zwischen content discrimination und view­
Der Grundgedanke, dass der Staat kein „Son- point discrimination in den Vereinigten Staaten
derrecht“ schon gegen bestimmte Meinungen auf. Auch der U. S. Supreme Court sieht in der
als solche schaffen darf, findet sich schon in den view­point discrimination gleichsam die Kardinal-
Weimarer Debatten zur Meinungsfreiheit.22 Das sünde wider die Meinungsfreiheit.25 In der Recht-
Bundesverfassungsgericht greift auf diese „Son- sprechung des Europäischen Gerichtshofs für
derrechtslehre“ auf zwei Ebenen zurück: zum Menschenrechte spielen dagegen bislang – pro-
einen bei der Bestimmung des Begriffs der „all- blematischer Weise – weder Inhalts- noch Stand-
gemeinen Gesetze“, in denen die Meinungsfrei- punktdiskriminierungsverbot eine nennenswerte
heit nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken findet, Rolle.
zum anderen aber auch im Rahmen der allgemei- Das Verbot der Standpunktdiskriminierung
nen Verhältnismäßigkeitsprüfung, der sich jede gilt grundsätzlich für alle meinungsbeschrän-
Grundrechtsbeschränkung stellen muss.
23 BVerfGE 7, 198 (209 f.) – Lüth (1958). Siehe auch BVerfGE
117, 244 (260) – Cicero (2007) („die sich nicht gegen die
18 Vgl. Mathias Hong, Ein unbequemes Grundrecht, Meinungsfreiheit (…) an sich oder gegen die Äußerung einer
16. 5. 2019, www.lto.de/recht/hintergruende/​h/70-jahre-gg- bestimmten Meinung richten“).
versammlungsfreiheit-artikel-8-unbequemes-grundrecht. 24 Vgl. BVerfGE 124, 300 (322–325) – Wunsiedel (2009);
19 BVerfGE 111, 147 (159) – Bochumer Synagoge (2004). Mathias Hong, Das Sonderrechtsverbot als Verbot der Stand-
20 BVerfGE 124, 300 (333) – Wunsiedel (2009). punktdiskriminierung, in: Deutsches Verwaltungsblatt 20/2010,
21 Vgl. ebd. (334–338); BVerfGE 93, 266 (301 ff.) – Soldaten S. 1267–1276, hier S. 1268 ff.; Franz Schemmer, in: Christian Hill-
(1995); Dieter Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtspre- gruber/Volker Epping (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 20132,
chung des Bundesverfassungsgerichts, in: Neue Juristische Art. 5 Rn. 99.2.
Wochenschrift (NJW) 27/1995, S. 1697 ff. 25 Vgl. Hong (Anm. 24), S. 1269 f.; Iancu v. Brunetti, 24. 6. 2019,
22 Vgl. die Verweise auf Kurt Häntzschel und Karl Rothenbü- No. 18–302, Justice Kagan, Opinion of the Court; Slip Op., S. 4 f.,
cher in: BVerfGE 124, 300 (327, 332) – Wunsiedel (2009). www.supremecourt.gov/opinions/18pdf/18-302_e29g.pdf.

18
Freie Rede APuZ

kenden Gesetze, das heißt auch für Gesetze terwerfen. Der Zweck, bestimmte Meinungen
zum Schutz der Jugend, der Ehre oder sonsti- schon wegen ihres Inhalts zu behindern, „hebt
ger kollidierender Verfassungsgüter.26 Auch sie das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf“ und
müssen zugleich allgemeine Gesetze sein. Eine ist deshalb als Zweck für meinungsbeschränken-
eng begrenzte Ausnahme davon hat das Bun- de Gesetze von vornherein „illegitim“. Der Ge-
desverfassungsgericht nur für Gesetze aner- setzgeber darf Meinungsäußerungen nicht schon
kannt, die die propagandistische Gutheißung wegen ihrer „rein geistig bleibenden Wirkungen“
der nationalsozialistischen Gewalt- und Will- beschränken wollen.31
kürherrschaft beschränken.27 Für diese Ausnah- Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßig-
me fehlt freilich nicht nur eine tragfähige Be- keit folgt für Meinungsbeschränkungen „eine
gründung,28 sondern sie ist auch unnötig. Denn Art Eingriffsschwelle“: „Gefahren, die lediglich
Rechtsgutsbedrohungen, die von solchen Mei- von den Meinungen als solchen ausgehen“, sind
nungsäußerungen ausgehen, lassen sich auch danach „zu abstrakt“, um die Untersagung die-
durch standpunktneutrale und verhältnismäßi- ser Meinungen zu rechtfertigen; je mehr eine Be-
ge Regelungen abwehren, ohne dass dafür ein schränkung der Meinungsfreiheit zudem „eine
Sonderrecht nur gegen „rechts“ geschaffen wer- inhaltliche Unterdrückung der Meinung selbst
den müsste.29 zur Folge“ hat und je „vermittelter und entfern-
ter die drohenden Rechtsgutverletzungen blei-
SONDERRECHTSGEDANKE ben“, desto eher wird auch die Rechtfertigung
UND VERHÄLTNISMÄ ẞ IGKEIT dieser Beschränkung scheitern.32
Diese Eingriffsschwelle ist zwar bei Weitem
Der Sonderrechtsgedanke, nach dem Meinun- nicht so anspruchsvoll wie etwa der „Branden-
gen nicht schon als solche unterbunden werden burg-Test“ des U. S. Supreme Court, nach dem
dürfen, kommt nicht nur im Gebot der Allge- Meinungsäußerungen erst dann unterbunden
meinheit des Gesetzes aus Art. 5 Abs. 2 GG zur werden dürfen, wenn ein unmittelbar bevorste-
Geltung, sondern wirkt sich auch auf das allge- hendes gesetzwidriges Handeln (imminent law-
meine Gebot der Verhältnismäßigkeit aus,30 das less action) wahrscheinlich ist.33 Sie beruht jedoch
jedes grundrechtsbeschränkende Gesetz und jede auf derselben Grundidee: Der Staat darf jeden-
Auslegung und Anwendung eines solchen Ge- falls nicht schon das Haben und Äußern einer
setzes beachten muss. Der Grundgedanke bleibt Meinung als solches unterbinden oder erzwingen
auch auf dieser Ebene die enge Verbindung zwi- wollen. So darf er etwa Schüler auch nicht zu ei-
schen Gedankenfreiheit und Meinungsfreiheit: nem Treueschwur auf die Flagge (pledge of allegi-
Der Staat darf nicht schon unsere Ideen und Ge- ance) zwingen, wie das höchste Gericht der Ver-
sinnungen als solche einem Rechtszwang un- einigten Staaten 1943 – also mitten im Zweiten
Weltkrieg – entschied: „Wenn es einen Fixstern
26 Vgl. BVerfGE 124, 300 (326 f.) – Wunsiedel (2009). Siehe im Sternbild unserer Verfassung gibt“, so Justice
auch Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamen- Robert Jackson, „dann den, dass kein Amtsträ-
tarische Rat – 1948–1949. Akten und Protokolle: Bd. 7, Boppard ger, ob hoch oder niedrig, vorschreiben darf, was
1995, S. 209 („muß die Grenze (…) schlechthin in den allgemei-
orthodox ist in politischen, nationalen, religiösen
nen Gesetzen liegen (…) Verboten bliebe allerdings, und das
muß beibehalten werden, ein Spezialgesetz, das sich gegen eine
oder anderen Meinungsfragen, oder Bürger dazu
bestimmte Meinung richtet“). zwingen kann, durch Wort oder Tat ihren Glau-
27 Vgl. BVerfGE 124, 300 (327–331) – Wunsiedel (2009) (zu ben daran zu bekennen.“34
§ 130 Abs. 4 StGB); BVerfG-K vom 22. 6. 2018, 1 BvR 2083/15,
Rn. 21 (zu § 130 Abs. 3 StGB).
28 So die ganz überwiegende Auffassung im Schrifttum, vgl. 31 Vgl. BVerfGE 124, 300 (332) – Wunsiedel (2009). Siehe
nur Hoffmann-Riem (Anm. 13), § 106 Rn. 122; Hong (Anm. 24), auch BVerfGE 7, 198 (210) – Lüth (1958) („in ihrer rein geistigen
S. 1271 f. Wirkung“); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der
29 Vgl. Mathias Hong, in: Helmut Ridder/Michael Breitbach/ Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1967, S. 152 („Sonder-
Dieter Deiseroth (Hrsg.), Versammlungsrecht des Bundes und recht (…), das die geistige Wirkung reiner Meinungsäußerung
der Länder, Baden-Baden 20202 (i. E.), § 15 Abs. 2 VersammlG, zu unterbinden sucht“).
Rn. 384 ff., 464 ff. 32 BVerfGE 124, 300 (333 f.) – Wunsiedel (2009).
30 Vgl. Johannes Masing, Meinungsfreiheit und Schutz der 33 Vgl. Brandenburg v. Ohio, 395 U. S. 444, 447 f. (1969).
verfassungsrechtlichen Ordnung, in: Juristenzeitung 12/2012, 34 Vgl. West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319
S. 585–592, hier S. 589; Hong (Anm. 24), S. 1272 ff. U. S. 624, 642 (1943) (eig. Übersetzung).

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APuZ 12–13/2020

MEINUNGSFREIHEIT AUCH Auch ihr Einsatz setzt jedoch ein hinreichendes


FÜR FEINDE DER FREIHEIT Bedrohungspotenzial voraus, auch sie erlauben
daher „kein Gesinnungs- oder Weltanschauungs­
Meinungsfreiheit ist „gerade aus dem besonde- verbot“.42
ren Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen“
und findet darin „unverändert“ ihre Bedeutung.35 HASSREDE UND GRENZEN
Sie schließt deshalb grundsätzlich auch das Recht DER MEINUNGSFREIHEIT
ein, „Kritik an der Verfassung und ihren we-
sentlichen Elementen“ zu üben oder die Ände- Die Meinungsfreiheit schützt danach in gewis-
rung „tragende[r] Bestandteile der freiheitlichen sen Grenzen auch die sogenannte Hassrede (hate
demokratischen Grundordnung“ zu fordern.36 speech), also etwa ausländerfeindliche, sexistische
„Menschenwürdegarantie einschränken!“ oder oder rassistische Meinungsäußerungen, und zwar
„Todesstrafe wiedereinführen!“ sind deshalb grundsätzlich selbst dann, wenn sie fundamen-
zwar Forderungen, die dem Grundgesetz inhalt- tal mit den Wertungen der grundrechtlichen Dis-
lich diametral zuwiderlaufen. Das Grundgesetz kriminierungsverbote oder sogar mit dem Wert
schützt jedoch gleichwohl auch das Recht, sie un- der gleichen Menschenwürde aller über Kreuz
gehindert zu äußern, und vertraut auf die Kraft liegen.43 Auf Grenzen stößt der Schutz solcher
der geistigen Auseinandersetzung „als wirksams- Hassrede freilich in zahlreichen verfassungsge-
te Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer mäßen Normen des Strafrechts und des zivil-
und menschenverachtender Ideologien“.37 Es ge- rechtlichen Persönlichkeitsschutzes.
währt Meinungsfreiheit deshalb grundsätzlich So hält das Strafgesetzbuch einen ganzen
„auch den Feinden der Freiheit“,38 schützt also Strauß von Delikten bereit, die solche Hassrede
auch Gedanken und Meinungen, die wir hassen verwirklichen kann. Die beiden wichtigsten sind
( freedom for the thought that we hate).39 die Beleidigung (§ 185 StGB) und die Volksver-
Auf der anderen Seite gewährleistet die Ver- hetzung (§ 130 StGB). Beleidigung ist die ehrver-
fassung es freilich beispielsweise auch, einen letzende Kundgabe der Nichtachtung oder Miss-
Politiker in einer Versammlung „Faschist“ zu achtung einer anderen Person. Volksverhetzung
nennen – wenn dies auf einer „überprüfbaren begeht unter anderem, wer gegen (abgrenzbare)
Tatsachengrundlage beruht“ und es „um eine die Teile der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu
Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage hin- Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auf-
sichtlich eines an prominenter Stelle agierenden fordert oder sie in ihrer Menschenwürde angreift
Politikers“ geht.40 (§ 130 Abs. 2 Nr. 2 StGB). Unter Hass versteht
Als streitbare Demokratie sieht das Grund- die strafgerichtliche Rechtsprechung eine emo-
gesetz abschließend geregelte Instrumente vor, tional gesteigerte feindselige Haltung, die über
um den Feinden seiner Wertordnung rechtlich bloße Ablehnung oder Verachtung hinausgeht.
entgegenzutreten.41 Dazu gehören insbesonde- Zum Hass aufstacheln heißt, eine solche Hal-
re die Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 tung in anderen zu erzeugen oder zu verstärken,
GG) und das Parteiverbot (Art. 21 Abs. 2 GG). indem man in besonders intensiver Form auf sie
einwirkt. Neben die Beleidigung und die Volks-
35 BVerfGE 93, 266 (293) – Soldaten (1995); BVerfG-K vom
verhetzung treten weitere Tatbestände. So kann
6. 6. 2007, 1 BvR 1423/07 – Heiligendamm, Rn. 28. die Hassrede etwa auch strafbar sein als Nöti-
36 BVerfGE 113, 63 (82) – Junge Freiheit (2005); BVerfG-K
vom 19. 12. 2007, 1 BvR 2793/04 – „Nationaler Widerstand“,
Rn. 28. 42 Vgl. BVerfGE 38, 23 (24. f.) – Herausgeber der Deutschen
37 BVerfGE 144, 20 (Rn. 524) – NPD (2017). National-Zeitung (1974) (für Verwirkung ist „Gefährlichkeit
38 BVerfGE 124, 300 (330) – Wunsiedel (2009). (…) im Blick auf die Zukunft“ entscheidend); BVerfGE 144, 20
39 Vgl. U. S. v. Schwimmer, 279 U. S. 644, 654–55 (1929) (Rn. 570, 573, 585) – NPD (2017) (Parteiverbot verlangt „Poten-
(Justice Holmes, dissenting); BVerfG-K vom 1. 12. 2007, 1 BvR tialität“ der Verwirklichung der Parteiziele).
3041/07 – Todesstrafe, Rn. 15. 43 Vgl. Mathias Hong, Hate Speech im Internet, in: Marion
40 Verwaltungsgericht Meiningen, Beschluss vom 26. 9. 2019, Albers/Ioannis Katsivelas (Hrsg.), Recht & Netz, Baden-Baden
2 E 1194/19. 2018, S. 59 ff.; ders., Hassrede und extremistische Meinungs-
41 Vgl. Ulli F. H. Rühl, Versammlungsrechtliche Maßnahmen äußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem
gegen rechtsradikale Demonstrationen und Aufzüge, in: NJW Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, in: Zeitschrift für ausländisches
1995, S. 561 ff., hier S. 562. öffentliches Recht und Völkerrecht 70/2010, S. 73–126.

20
Freie Rede APuZ

gung durch Drohung mit einem „empfindlichen deverletzung erreicht.46 Denn auch wenn diese
Übel“ (§ 240 StGB), als Bedrohung mit einem (eng zu fassenden) Fallgruppen nicht einschlägig
Verbrechen (§ 241 StGB) oder als Nachstellung sind, kann die gebotene Abwägung (eindeutig)
(Stalking) (§ 238 StGB). Bei bestimmten schwe- zugunsten des Persönlichkeitsschutzes ausfallen.
ren Straftaten, etwa einem Mord oder einem Ter- Der erste Beschluss des Landgerichts Berlin zu
rorattentat, kann es außerdem schon strafbar den Facebook-Postings gegen die Grünen-Poli-
sein, sie anzudrohen (§ 126 StGB) oder zu billi- tikerin Renate Künast vom September 2019, in
gen (§ 140 StGB), ohne bestimmte Personen oder dem übelste Beschimpfungen als zulässige Mei-
Gruppen anzugreifen, sofern die Androhung nungsäußerungen gewertet wurden, hat (schon)
oder Billigung geeignet ist, den öffentlichen Frie- das verkannt.47 Er kann sich daher nicht auf die
den zu stören.44 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
In vielen Fällen ist die Hassrede in sozialen stützen, das im Übrigen in den 1980er Jahren
Netzwerken danach rechtlich eindeutig unzu- die Menschenwürde des langjährigen CSU-Vor-
lässig, während die (bislang weiterhin massiven) sitzenden Franz-Josef Strauß durch Karikaturen
Probleme auf der Ebene der effektiven Strafver- verletzt gesehen hat, die ihn als Schwein darstell-
folgung und Durchsetzung der zivilrechtlichen ten, das mit anderen Schweinen in Richterroben
Unterlassungsansprüche liegen. Der Gesetzge- kopuliert.48 Auch die spätere, teilweise abhel-
ber ist hier gefordert, die Rechtsdurchsetzung zu fende Entscheidung im Künast-Fall vom Januar
verbessern, ohne dabei die Grundrechte der Mei- 2020 dehnt den Äußerungsschutz in teils äußerst
nungsfreiheit und der Privatheit zu verletzen.45 fragwürdiger Weise über die vom Bundesverfas-
Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind dabei sungsgericht anerkannten Grenzen hinaus aus.49
nicht etwa erst in den Fällen der Schmähkritik, Werden diese Grenzen der Meinungsfreiheit
der Formalbeleidigung und der Menschenwür- beachtet, ist die Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts zu diesem Grundrecht, entgegen
44 Vgl. Hong 2018 (Anm. 43).
skeptischer Stimmen,50 auch im Zeitalter der di-
45 Vgl. Die Meinungsfreiheit und das NetzDG, Interview mit gitalen Empörungsstürme und der populistischen
Mathias Hong, 18. 2. 2018, www.netzpolitik.org/2018/die-mei- Desinformation weiterhin zukunftsfähig. Auch
nungsfreiheit-und-das-netzdg-schwerwiegender-verstoss-gegen- wenn die sozialen Netzwerke ein Phänomen
grundrecht.
sind, das die verfassungsgebende Gewalt kaum
46 Zu den ersten beiden Kategorien vgl. Johannes Masing,
Schmähkritik und Formalbeleidigung, in: Alexander Bruns et. al.
vorhersehen konnte – dass ein von Demagogie
(Hrsg.), Festschrift für Rolf Stürner zum 70. Geburtstag, Teil 1, entfesseltes Gruppendenken Menschenwürde
Tübingen 2013, S. 25–42. und Demokratie bedrohen kann, war als solches
47 Vgl. Landgericht Berlin, Beschluss vom 9. 9. 2019, 27 AR 1949 wohlbekannt. Die verfassungsgebende Ge-
17/19, juris, Rn. 21 („Da alle Kommentare einen Sachbezug
walt hat sich gerade unter dem Eindruck solcher
haben, stellen sie keine Diffamierungen (…) und damit keine
Beleidigungen (…) dar“).
Erfahrungen für einen starken Schutz der Mei-
48 Vgl. BVerfGE 75, 369 (379–381) – Strauß-Karikaturen nungsfreiheit entschieden.51
(1987).
49 Vgl. Landgericht Berlin, Beschluss vom 21. 1. 2020, 27 AR Dieser Beitrag ist dem Richter des Bundesverfas-
17/19; fragwürdig erscheinen etwa die Ausführungen zu den
sungsgerichts a. D. Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-
Kommentaren der Ziffern 1, 2, 8, 10 und 17 der Antragsschrift.
50 Vgl. etwa Stefan Magen, Kontexte der Demokratie –
Riem zum 80. Geburtstag gewidmet.
Parteien, Medien und Sozialstrukturen, in: Veröffentlichungen
der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 77/2018,
S. 67–104.
51 Der einflussreiche Verfassungsrechtslehrer Gerald Gunther,
der mit seiner Familie vor antisemitischer Verfolgung und Hetze
in die Vereinigten Staaten geflohen war, sprach sich gleichwohl
zeitlebens gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit aus:
„The lesson I have drawn from my childhood in Nazi Germany
and my happier adult life in this country is the need to walk
the sometimes difficult path of denouncing the bigot’s hateful
ideas with all my power, yet at the same time challenging any
community’s attempt to suppress hateful ideas by force of law.“
MATHIAS HONG
Gerhard Caspar, Gerald Gunther, in: Proceedings of the Ameri- ist Professor für Öffentliches Recht an der Hoch-
can Philosophical Society 4/2004, S. 493–497, hier S. 495. schule für öffentliche Verwaltung Kehl.

21
APuZ 12–13/2020

POLITISCH KORREKTE SPRACHE


UND REDEFREIHEIT
Anatol Stefanowitsch

Die Diskussionen um Political Correctness oder Schließlich sind eine Reihe von Sprechhandlun-
„politische Korrektheit“ prägen seit mittlerweile gen wortwörtlich, also im strafrechtlichen Sin-
fast vierzig Jahren den gesellschaftlichen Diskurs ne verboten, ohne dass dies auf gesellschaftlicher
um die Meinungs- und Redefreiheit. Selbst mode- Ebene kritisch diskutiert würde – unter anderem
ratere Stimmen sehen politisch korrekte Bezeich- die Beleidigung (§ 185 Strafgesetzbuch), die üble
nungen als „Sprachschöpfungen“ einer meist Nachrede (§ 186, § 188 StGB), die Verleumdung
nicht näher definierten „Linken“, die die „gemä- (§ 187 StGB) und die Bedrohung (§ 241 StGB),
ßigte demokratische Mitte (…) zum Schweigen“ die sich typischerweise gegen Individuen rich-
bringe;01 weniger moderate Stimmen sprechen ten, und die Volksverhetzung (§ 130 StGB), die
von einer Kultur der „Zensur, Einschüchterung sich gegen „eine nationale, rassische, religiöse
und Indoktrination“, die unsere Gesellschaft oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte
in eine „geistige Knechtschaft“ führe, indem sie Gruppe“ oder Individuen wegen ihrer Zugehö-
uns veranlasse, uns aus „Angst vor Isolation“ rigkeit zu einer solchen richtet.07
der „Meinung der scheinbaren Mehrheit“ anzu- Ein Grund für die Diskrepanz zwischen der
schließen,02 oder von „Sprachverboten“ und ei- kontroversen Diskussion und den eigentlich we-
ner „Meinungsdiktatur“, die die „Spaltung der nig kontroversen Zielen der Political Correct-
Gesellschaft“ vorantreibe.03 Selbst unter denjeni- ness ist, dass politisch korrekter Sprachgebrauch
gen, die ihr etwas Positives abgewinnen können, in dieser Diskussion unzureichend von zwei
wird oft gemahnt, es mit der Political Correctness oberflächlich ähnlichen Phänomenen abgegrenzt
nicht zu übertreiben.04 wird. Vor allem ihre Kri­ti­ker_­innen setzen poli-
Aber was ist das eigentlich: Political Correct- tisch korrekten Bezeichnungen für Gruppen wie
ness? Lässt man die Kampfrhetorik beiseite, lässt die oben benannten mit Euphemismen,08 „Büro-
sich der Begriff am ehesten so definieren, wie kratensprech“09 oder orwellschem „Neusprech“10
es der Duden tut, nämlich als „Einstellung, die gleich, unterstellen ihnen also eine beschönigende,
alle Ausdrucksweisen und Handlungen ablehnt, verschleiernde oder sogar indoktrinierende Ab-
durch die jemand aufgrund seiner ethnischen sicht. Be­für­wor­ter_­innen eines solchen „politisch
Herkunft, seines Geschlechts, seiner Zugehörig- korrekten“ Sprachgebrauchs sehen in den zu ver-
keit zu einer bestimmten sozialen Schicht, seiner meidenden Bezeichnungen dagegen Schimpfwör-
körperlichen oder geistigen Behinderung oder ter, die es aus Respekt und Höflichkeit zu meiden
sexuellen Neigung diskriminiert wird.“05 Typi- gelte.11
sche Beispiele für solche abzulehnenden Aus- Wörter wie „Zigeuner“, „Spasti“ oder
drucksweisen sind Wörter wie „Zigeuner“ für „Schwuchtel“ sind aber weder gesellschaftliche
Sinti und Roma, „Spasti“ für Menschen mit Be- oder politische Tabuwörter noch einfach nur
hinderungen oder „Schwuchtel“ für homosexu- Schimpfwörter – sie bilden eine eigene Kate-
elle Männer. So definiert, kann die Idee der Po- gorie, die in der internationalen sprachwissen-
litical Correctness eigentlich nicht kontrovers schaftlichen und sprachphilosophischen For-
sein: Selbst unter ihren Gegner_­ innen würde schung als „Slur“ bezeichnet wird – ein Begriff,
wohl kaum jemand argumentieren wollen, dass den ich hier mangels einer präzisen und allge-
es richtig sei, die genannten Gruppen zu dis- mein anerkannten deutschen Entsprechung
kriminieren. Und tatsächlich scheint es allge- übernehme. In diesem Beitrag werde ich Slurs
mein unstrittig zu sein, dass es im öffentlichen gegen Tabuwörter und Schimpfwörter abgren-
Diskurs „Grenzen des Sagbaren“ geben soll:06 zen und damit die Grundlage schaffen, um ihre

22
Freie Rede APuZ

Vermeidung – und damit die sogenannte Politi- eine Weigerung dargestellt und verstanden wer-
cal Correctness – aus sprachethischer Sicht zu den, sich solchen Traditionen gedankenlos zu un-
bewerten. terwerfen. Das gilt natürlich erst recht dort, wo
politisch korrekte Bezeichnungen mit verschlei-
SPRACHTABUS ernden politischen Euphemismen gleichgesetzt
werden – hier kann die Verwendung von Slurs als
Unter Tabuwörtern versteht man Wörter, die heroischer Widerstand gegen die „Meinungsdik-
von Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft ge- tatur“ dargestellt werden.
mieden werden, weil sie sich auf Lebensberei- Bei Slurs handelt es sich aber weder um un-
che beziehen, die mit gesellschaftlichen Tabus liebsame politische Wahrheiten noch um Tabu-
belegt sind.12 Diese Bereiche unterscheiden sich wörter – sie werden von den Be­ für­
wor­ter_in-
von Gesellschaft zu Gesellschaft, aber sie umfas- nen eines politisch korrekten Sprachgebrauchs
sen typischerweise Körperfunktionen (vor allem nicht deshalb abgelehnt, weil sie die Erwähnung
Verdauung und Ausscheidung), Geschlechtsor- der betroffenen Gruppen für unschicklich hal-
gane und sexuelle Handlungen, Krankheiten und ten oder aus politischen Gründen unterdrücken
Tod sowie, in religiös geprägten Gesellschaften wollen. Die Unterstellung einer indoktrinieren-
und Subkulturen, bestimmte Inhalte der jewei- den Absicht ist dabei schon auf den ersten Blick
ligen Religion. Wo diese Bereiche erwähnt wer- wenig plausibel: Jede Meinung, die sich unter
den müssen, geschieht dies entweder durch kli- Verwendung eines Slurs denken und ausspre-
nische Ausdrücke oder durch euphemistische chen lässt, kann schließlich auch unter Verwen-
Umschreibung – zum Beispiel „urinieren“ oder dung der politisch korrekten Alternative gedacht
„Wasser lassen“ anstelle von „pinkeln“ oder gar und ausgesprochen werden. Die Unterstellung
„pissen“. einer beschönigenden Absicht hingegen ist auf
Die Verwendung von Tabuwörtern ist bei uns den ersten Blick schon stimmiger: Zumindest
gesellschaftlich nicht sehr stark sanktioniert – sie einige der von Slurs betroffenen Gruppen sind
gilt schlimmstenfalls als Verstoß gegen das gute über Eigenschaften definiert, die historisch zu
Benehmen. Sie kann sogar positiv bewertet wer- den oben genannten tabuisierten Lebensberei-
den: Da gesellschaftliche Tabus typischerweise chen gehören, sodass auch bei wohlmeinenden
keine rationale Grundlage haben, sondern nur Menschen das Missverständnis entstehen könn-
durch tradierte Vorstellungen von Schicklich- te, dass politisch korrekte Bezeichnungen dazu
keit begründet sind, kann ihre Verletzung als dienen sollen, die Erwähnung dieser Lebensbe-
reiche zu vermeiden. Das erklärt etwa die Be-
zeichnung „Menschen mit besonderen Fähig-
01 Die Radikalisierung des öffentlichen Sprechens, Monika
keiten oder Bedürfnissen“ für Menschen mit
Grütters im Interview, 5. 2. 2020, www.deutschlandfunkkultur.de/​
kulturstaatsministerin-ueber-sprache-und-demokratie-die.​1008.​de.​
Behinderungen. Solche vermutlich in guter Ab-
html?dram:article_id=469544. sicht geschaffenen Umschreibungen werden von
02 Norbert Bolz, Politische Korrektheit führt zur geistigen Betroffenen selbst aber genau wegen der dahin-
Knechtschaft, 4. 1. 2017, https://causa.tagesspiegel.de/politik/ terstehenden euphemistischen Absicht ebenso
haben-wir-es-mit-der-politischen-korrektheit-uebertrieben/
abgelehnt wie die Slurs.13 Die politisch korrek-
politische-korrektheit-fuehrt-zur-geistigen-knechtschaft.html.
03 Daniel Ullrich/Sarah Diefenbach, Es war doch gut gemeint.
ten Alternativbezeichnungen – in diesem Fall,
Wie Political Correctness unsere Gesellschaft zerstört, München
2017. 07 Vgl. Mustafa T. Oğlakcıoğlu/Jan C. Schuhr, Verbotene
04 Vgl. Joachim Gauck, „Ohne Wahrheit kann es keine echte Sprache, in: Ekkehard Felder/Friedemann Vogel (Hrsg.), Hand-
Versöhnung geben“, in: Focus, 28. 9. 2019, S. 28–33. buch Sprache im Recht, Berlin 2017, S. 527–546.
05 Duden, Stichwort Political Correctness; ähnlich auch Iris 08 Vgl. Ullrich/Diefenbach (Anm. 3).
Forster, Political Correctness/Politische Korrektheit, 15. 10. 2010, 09 Grütters (Anm. 1).
www.bpb.de/42730. 10 Gauck (Anm. 4).
06 Vgl. Thomas Mittmann, Vom „Historikerstreit“ zum „Fall 11 Vgl. Till Raether, Eine Liebeserklärung an die „Politische
Hohmann“: Kontroverse Diskussionen um Political Correctness Korrektheit“, 24. 5. 2019, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/​
seit Ende der 1980er Jahre, in: Lucian Hölscher (Hrsg.), Political 87318.
Correctness. Der sprachpolitische Streit um die nationalsozialisti- 12 Vgl. Keith Allan/Kate Burridge, Forbidden Words: Taboo
schen Verbrechen, Göttingen 2008, S. 60–105; Norbert Richard and the Censoring of Language, Cambridge 2006.
Wolf, Sprechen und Sprache in der postfaktischen Politik, in: 13 Siehe Begriffe über Behinderung von A bis Z, o. D., https://
Sprachreport 33/2017, S. 1–6. leidmedien.de/begriffe.

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APuZ 12–13/2020

die Formulierung „Menschen mit Behinderun- Das Verhältnis zwischen Schimpfwörtern


gen“ – verschleiern gerade nicht, sondern benen- und Slurs ist etwas enger und komplexer. Zu-
nen die relevanten Eigenschaften klar, aber mit nächst ist festzuhalten, dass Slurs häufig in be-
neutralen Formulierungen. leidigender Absicht auf Individuen angewendet
werden, die gar nicht zur eigentlich bezeichneten
SCHIMPFWÖRTER Gruppe gehören. Der Ruf „du Zigeuner“ findet
sich beispielsweise in der Fußballfankultur als
Auch der Gebrauch von Schimpfwörtern ist ein ritualisierte Beleidigung gegnerischer Spieler.16
Verstoß gegen gesellschaftliche Vorstellungen von Ihre beleidigende Wirkung entfalten sie dabei
einem angemessenen sprachlichen Verhalten. An- nicht ausschließlich aufgrund einer beleidigen-
ders als bei den Tabuwörtern beziehen sich diese den Wortbedeutung – an sich neutrale Bezeich-
Vorstellungen hier aber nicht auf Schicklichkeit, nungen wie „du Sinto“ oder „du Roma“ könnten
sondern auf Höflichkeit. unter Umständen auf ähnliche Weise verwen-
Jedes Mitglied einer Gemeinschaft erhebt ei- det werden. Beleidigend sind sie grundsätzlich
nen Anspruch auf Handlungsfreiheit, in die von deshalb, weil sie ein Individuum einer Grup-
anderen nicht eingegriffen werden darf (dies wird pe zuordnen, bezüglich derer in der Sprachge-
als „negatives Gesicht“ bezeichnet), sowie einen meinschaft negative Stereotype existieren. Die
Anspruch auf ein positives Selbstbild, das von an- negativen Stereotype werden auf diese Weise
deren als solches anerkannt wird (dies wird als der angesprochenen Person zugeschrieben, was
„positives Gesicht“ bezeichnet). Als unhöflich – wie andere Beleidigungen – deren positives
wird jedes Verhalten betrachtet, das einen oder Selbstbild infrage stellt. Trotzdem fällt auf, dass
beide dieser Ansprüche infrage stellt; als belei- es eben meistens nicht die neutralen Bezeichnun-
digend gelten sprachliche Handlungen, die dem gen sind, die als Schimpfwort verwendet wer-
Gegenüber signalisieren, dass man dessen positi- den. Die Verwendung als Schimpfwort ist aber
ves Selbstbild nicht anerkennt.14 nicht die primäre Funktion von Slurs, und ihre
Schimpfwörter sind solche Wörter, bei denen Vermeidung ist deshalb nicht nur eine Frage der
die beleidigende Absicht Teil der Wortbedeutung Höflichkeit.
ist – typische Beispiele sind etwa „Idiot“, „Arsch-
loch“, „Wichser“, „Schlampe“ oder „Drecksau“. SLURS
Die beleidigende Bedeutung dieser Wörter ist so
unstrittig, dass sich sogar informelle Bußgeldta- Schimpfwörter haben zwei Bedeutungsebenen:
bellen erstellen lassen, die eine Vorstellung da- eine beschreibende, auf der sie sich auf bestimm-
von vermitteln, was ihre Verwendung bei einer te persönliche Eigenschaften beziehen, und eine
Anzeige kosten kann.15 Mit Tabuwörtern haben bewertende, auf der sie diese Eigenschaften als
Schimpfwörter nur insofern zu tun, als sie häu- negativ darstellen. Das Wort „Drecksau“ etwa
fig aus denselben Bedeutungsbereichen stammen beschreibt mangelnde Körperpflege und/oder
– Krankheiten, Körperfunktionen und Hygie- Sauberkeit; die stark negative Bewertung die-
ne, Sexualität. Ihre Verwendung verletzt deshalb ser Eigenschaften wird deutlich, wenn wir es
häufig (aber nicht immer) auch Schicklichkeits- mit weniger negativen Wörtern wie „Ferkel“
tabus. Beleidigend sind sie aber nicht deswegen, oder neutralen Umschreibungen wie „Person,
sondern eben, weil sie einem Individuum sein po- die nicht auf Körperpflege und/oder Sauberkeit
sitives Selbstbild absprechen. achtet“ vergleichen. Sowohl die Zuschreibung
der Eigenschaften als auch deren negative Be-
wertung beruhen dabei auf der Perspektive der
14 Vgl. Penelope Brown/Stephen C. Levinson, Gesichtsbedro-
hende Akte, in: Steffen Kitty Herrmann/Sybille Krämer/Hanne
­Sprechenden.
Kuch (Hrsg.), Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Beiden kann deshalb ganz oder in Teilen wi-
Missachtung, Bielefeld 2007, S. 59–88. Diese sprachwissen- dersprochen werden. Ich kann beispielsweise über
schaftliche Charakterisierung ist übrigens nah an der juristi- jemanden sagen: „Er ist keine Drecksau, sondern
schen Definition im Sinne von § 185 StGB. Vgl. Wilfried Küber,
Strafrecht, besonderer Teil: Definitionen mit Erläuterungen,
Heidelberg 2008, S. 76. 16 Vgl. Zentralrat deutscher Sinti und Roma, Erläuterungen zum
15 Siehe www.bussgeldkatalog.org/beleidigung-im-strassen- Begriff „Zigeuner“, 9. 10. 2015, https://zentralrat.sintiundroma.de/​
verkehr. sinti-und-roma-zigeuner.

24
Freie Rede APuZ

ein sehr gepflegter, ordentlicher Mensch“, oder: mit bestehenden Vorurteilen gegen die bezeich-
„Sie ist schon etwas ungepflegt und/oder unor- nete Gruppe zu tun und würde sich auch auf die
dentlich, aber eine Drecksau ist sie auch wieder „neue“ Bezeichnung übertragen, sodass auch die-
nicht.“ In beiden Fällen akzeptiere ich, dass es se bald ersetzt werden müsse. Für diese Behaup-
Menschen gibt, die zu Recht als „Drecksau“ be- tung, die der Psychologe Stephen Pinker als „Eu-
zeichnet werden, bestreite aber, dass die genannte phemismus-Tretmühle“ popularisiert hat,17 gibt
Person zu diesen Menschen zählt. Ich kann auch es wenig sprachgeschichtliche Evidenz: Die an-
die zugeschriebenen Eigenschaften akzeptieren, geblich neuen, politisch korrekten Bezeichnun-
die negative Bewertung aber ablehnen, in dem ich gen sind häufig genauso alt wie die Slurs, ohne
etwas sage wie: „Er ist keine Drecksau, sondern dass sie deren negativ bewertende Bedeutungs-
eher ein kleines Ferkel.“ Und schließlich kann ebene übernommen hätten, und tatsächlich neue
ich auf eine metasprachliche Ebene wechseln und Bezeichnungen (wie „Menschen mit Behinderun-
das Wort „Drecksau“ ablehnen, indem ich etwas gen“) zeigen ebenfalls keine grundsätzliche Ten-
sage wie: „Er ist keine ‚Drecksau‘, er ist ein un- denz einer solchen Abwertung. Aber selbst wenn
angenehm ungepflegter und/oder unordentlicher der negative Beiklang eines Slurs über die Zeit
Mensch“ (mit einer leichten Betonung auf dem auf eine anfänglich neutrale Alternative übergin-
Wort „Drecksau“). ge, würde das nichts daran ändern, dass die Slurs
Auch Slurs wie „Zigeuner“ haben eine be- zu einem bestimmten Zeitpunkt eine abwerten-
schreibende und eine (negativ) bewertende Be- de Bedeutung haben, die den neutralen Alterna-
deutungsebene. Ihre beschreibende Ebene un- tiven fehlt.
terscheidet sich aber grundlegend von der von Woher diese abwertende Bedeutung kommt,
Schimpfwörtern: Sie bezieht sich nicht auf per- darüber gibt es in der Sprachwissenschaft zwei
sönliche Eigenschaften, sondern auf die Zuge- (einander nicht ausschließende) Erklärungen. Die
hörigkeit zu einer (mehr oder weniger genau erste geht davon aus, dass Slurs, wie mit dem Be-
definierten) Bevölkerungsgruppe. Solange die griff der „Bedeutungsebenen“ beschrieben, zwei
bezeichnete Person tatsächlich zu dieser Grup- Sprechhandlungen gleichzeitig ausführen, dass
pe gehört, kann deshalb weder der beschreiben- sie nämlich eine Gruppe bezeichnen und die-
den noch der bewertenden Ebene widersprochen ser gleichzeitig negative Eigenschaften zuschrei-
werden – zumindest nicht, ohne den Slur impli- ben – dass sie also im Prinzip gruppenbezogene
zit zu akzeptieren. Würde ich beispielsweise sa- Schimpfwörter sind.18 Die zweite Erklärung geht
gen: „Sie ist zwar eine Sinteza, aber keine Zigeu- – wie manche Kri­ti­ker_­innen politisch korrekter
nerin“, oder: „Er ist kein Zigeuner, sondern eher Bezeichnungen – davon aus, dass die Slurs und
ein Zigo“, so wären diese Sätze bestenfalls be- ihre neutralen Alternativen grundsätzlich diesel-
deutungslos, da „Sinto/Sinteza“, „Zigeuner“ und be Wortbedeutung haben. Den abwertenden Bei-
„Zigo“ (ungefähr) dieselbe Bevölkerungsgruppe klang leiten sie aus deren unterschiedlicher Ver-
bezeichnen. Schlimmstenfalls würde ich akzep- breitung innerhalb der Sprachgemeinschaft ab:
tieren, dass es Menschen gibt, die zu Recht als Da die Slurs hauptsächlich von denjenigen Mit-
„Zigeuner“ bezeichnet werden, dass aber nicht gliedern der Sprachgemeinschaft verwendet wer-
alle Sinti und Roma dazugehören. Natürlich den, die eine negative Einstellung gegenüber der
kann ich auch hier auf die metasprachliche Ebene bezeichneten Gruppe haben, mache ich mir deren
wechseln, und die Bezeichnung ablehnen, indem Einstellung zu eigen, wenn ich das Wort ebenfalls
ich etwas sage wie: „Er ist kein ‚Zigeuner‘, er ist verwende.19
ein Sinto“ (mit einer leichten Betonung auf dem
Wort „Zigeuner“).
17 Stephen Pinker, The Game of the Name, in: The New York
Eine solche explizite Ablehnung von Slurs ist, Times, 5. 4. 1994, S. A21.
wie ich argumentieren werde, sprachethisch sogar 18 Vgl. Elisabeth Camp, A Dual Act Analysis of Slurs, in: David
notwendig. Ich setze mich aber damit automatisch Sosa, Bad Words. Philosophical Perspectives on Slurs, Oxford
dem Vorwurf aus, ich wolle „Sprachpolizei“ spie- 2018, S. 29–59; Kent Bach, Loaded Words: On the Semantics
and Pragmatics of Slurs, in: ebd., S. 60–76.
len und von den eigentlichen Themen ablenken.
19 Vgl. Geoffrey Nunberg, The Social Life of Slurs, in: Daniel
Gegner_­ innen politisch korrekter Bezeichnun- Fogal/Daniel W. Harris/Matt Moss, New Work on Speech Acts,
gen lehnen diese oft mit der Behauptung ab, der Oxford 2018, S. 237–295; zu beiden Erklärungen siehe auch Paul
negative Beiklang des Slurs habe ausschließlich Saka, How to Think about Meaning, Dordrecht 2007, S. 121–154.

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APuZ 12–13/2020

Am Wort „Zigeuner“ lässt sich das gut zei- Gelegentlich prägen Minderheiten potenziell
gen: Die so bezeichneten Gruppen selbst ha- abwertende Bezeichnungen für die Mehrheitsge-
ben das Wort nie akzeptiert, sondern sich schon sellschaft – etwa „Alman“ für Deutsche. Um zu
immer Sinti und/oder Roma genannt. „Zigeu- einem Slur zu werden, müssten sie sich mit einer
ner“ war also von Anfang an eine unerwünsch- abwertenden Bedeutung im allgemeinen Sprach-
te Fremdbezeichnung, und wer es verwendet gebrauch durchsetzen. Die Mehrheit übernimmt
hat, hat sich damit mindestens eine Einstellung diese Wörter aber entweder gar nicht oder ent-
zu eigen gemacht, die der bezeichneten Grup- schärft sie, indem sie sie so umdefiniert, dass sie
pe das Recht über ihre eigene Benennung ab- damit nicht mehr die ganze Gruppe, sondern
spricht. Wenn man Slurs mit den Mitteln der nur noch bestimmte stereotype Eigenschaften
Höflichkeitstheorie erfassen wollte, könnte man ­bezeichnet.
das als eine gruppenbezogene Aberkennung ei- Diese Asymmetrie betrifft auch eine Unter-
nes positiven Selbstbildes beschreiben. Je stärker kategorie von Schimpfwörtern, die nur auf Mit-
sich dann die Selbstbezeichnung Sinti und Roma glieder einer bestimmten Bevölkerungsgrup-
durchsetzte, desto klarer beschränkte sich der pe anwendbar sind. Das Wort „Schlampe“ zum
Gebrauch des Wortes „Zigeuner“ auf Gruppen, Beispiel bezeichnet zwar nicht grundsätzlich die
die den Bezeichneten gegenüber stark vorur- Gruppe der Frauen, sondern dient dazu, einzel-
teilsbehaftet sind. Im medialen Sprachgebrauch nen Mitgliedern dieser Gruppe eine bestimmte
findet sich das Wort heute nur noch in rechts- Eigenschaft – ein promiskuitives Sexualverhal-
radikalen Publikationen, und wer es verwendet, ten – zuzuschreiben und dieses negativ zu bewer-
akzeptiert damit die Perspektive dieser Gruppen. ten. Es ist also kein Slur im engeren Sinne, aber da
Wie angedeutet, schließen sich die beiden Erklä- es nur auf Frauen anwendbar ist und die beschrie-
rungen aber nicht aus: Das Wort „Zigeuner“ hat bene Eigenschaft nur in Bezug auf diese Gruppe
über die Jahrhunderte die negative Perspektive negativ bewertet wird, kann es, wie die Slurs, nur
in seine Wortbedeutung inkorporiert und würde in eine Richtung angewendet werden.
diese auch beibehalten, wenn das Wort von kei-
ner bestimmten Gruppe verwendet würde. Dies FAZIT
zeigt sich ja unter anderem daran, dass es auch
Personen gegenüber als Schimpfwort verwendet Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus
wird, die gar nicht zur eigentlich bezeichneten den hier dargestellten Überlegungen bezüglich
Gruppe gehören. möglicher „Grenzen des (öffentlich) Sagbaren“
Es gibt einen weiteren entscheidenden Un- ziehen? Die Sprachwissenschaft selbst bietet hier
terschied zwischen Slurs und Schimpfwörtern. keine Antworten, da ihre Aufgabe – wie die al-
Letztere lassen sich weitgehend symmetrisch an- ler Wissenschaften – zunächst eine Beschreibung
wenden: Wenn ich jemanden als „Drecksau“ be- und Erklärung des Ist-Zustands ist. Dort, wo
zeichne, kann er oder sie mich umgekehrt eben- dieser Ist-Zustand individuelle und gesellschaft-
falls so bezeichnen, denn das Wort bezeichnet liche Probleme verursacht, wäre es aber unver-
ja keine feste Kategorie von Menschen, sondern antwortlich, es bei einer reinen Beschreibung
kann auf alle angewendet werden, denen man die und Erklärung zu belassen. Dass wir heute bei-
betreffenden Eigenschaften zuschreiben möchte. spielsweise über den bevorstehenden weltwei-
Das ist bei Slurs nicht der Fall, denn diese bezeich- ten Kollaps von Klimasystemen und mögliche
nen erstens bestimmte Bevölkerungsgruppen, zu abschwächende Maßnahmen wenigstens dis-
denen einige Mitglieder der Sprachgemeinschaft kutieren, liegt daran, dass Kli­ma­for­scher_­innen
gehören und andere nicht, und zweitens exis- ab den 1970er Jahren begannen, neben der Be-
tieren Slurs innerhalb einer Sprachgemeinschaft schreibung und Erklärung auch Warnungen aus-
nicht für alle Bevölkerungsgruppen gleicherma- zusprechen und konkrete Handlungsvorschläge
ßen. Wenn ein Mitglied der Mehrheitsgesellschaft zu machen.
einen Sinto als „Zigeuner“ bezeichnet, kann die- Ein solcher Handlungsvorschlag, den ich an
ser den Sprecher umgekehrt eben nicht so be- anderer Stelle ausführlich beschrieben habe, ist
zeichnen und – da es für die Mehrheitsgesell- die Anwendung einer sprachbezogenen Varian-
schaft keinen Slur gibt – auch nicht in ähnlicher te der goldenen Regel: „Stelle andere sprachlich
Form antworten. nicht so dar, wie du nicht wollen würdest, dass

26
Freie Rede APuZ

man dich an ihrer Stelle darstelle.“20 Aus die- scher Überlegungen gesellschaftlich aus dem
ser Regel ergibt sich zunächst eine flexibel aus- öffentlichen Sprachgebrauch entfernt oder we-
legbare Anregung, den eigenen Sprachgebrauch nigstens gesellschaftlich sanktioniert wird, ist
daraufhin zu überprüfen, ob man ihn noch ak- das fraglos einen Eingriff in die freie Rede: Es
zeptieren würde, wenn er gegen einen selbst zwingt uns, unsere öffentlichen Äußerungen
gerichtet wäre. In Bezug auf Tabuwörter und auf die Wahl unserer Ausdrucksmittel hin ge-
Schimpfwörter lässt sich dabei kein allgemeines nau zu überprüfen und gegebenenfalls zu redi-
Gebot zu deren Vermeidung ableiten. Mitglieder gieren. Ob es ein Eingriff in die Meinungsfrei-
einer Sprachgemeinschaft können ihre Vorstel- heit ist, ist weniger klar. Die sagbaren Inhalte
lungen von Schicklichkeit oder Höflichkeit da- bleiben von der Wahl der Ausdrucksmittel ja
raufhin reflektieren, wo eigene Grenzen liegen, weitgehend unberührt – in jedem Fall sind sie
und müssen ihr sprachliches Verhalten an diesen weniger stark eingeschränkt, als sie es durch be-
ausrichten – wer bereit ist, Verletzungen der ei- stehende gesetzliche Verbote beleidigender und
genen Vorstellungen von Schicklichkeit hinzu- verleumderischer Sprachhandlungen ohnehin
nehmen, darf nach der goldenen Regel auch die sind.
seines Gegenübers verletzen, und wer hinnimmt, Trotzdem stoßen solche Eingriffe erwartbar
persönlich beleidigt zu werden, darf auch andere auf Widerspruch. Vor allem diejenigen Mitglie-
persönlich beleidigen. Natürlich kann eine Ge- der der Sprachgemeinschaft, die von Slurs nicht
sellschaft sich auf gewisse gemeinsame Grenzen betroffen sind, mögen die negativen Konse-
einigen, aber diese sind dann eben nur für diese quenzen dieses Eingriffs für gewichtiger halten
Gesellschaft und nur für die Dauer des bestehen- als die positiven. Der so entstehende Konflikt
den Konsenses gültig. muss auf gesellschaftlicher Ebene ausgetragen
Das steht im Einklang mit einer rein nor- werden. Das mag zu einer „Spaltung der Ge-
mativen Interpretation des Sagbaren als das, sellschaft“ beitragen, ist aber ohne Alternati-
was wir sagen dürfen. Bezüglich der Slurs kön- ve. Dem Vorwurf einer gesellschaftsspalten-
nen wir aber ein weitreichenderes Gebot zu de- den Wirkung politisch korrekter Sprache lässt
ren Vermeidung ableiten, denn dort ergeben sich sich nämlich die Erkenntnis gegenüberstellen,
die Grenzen aus dem, was überhaupt gesagt wer- dass auch die tradierten Formen des Sprachge-
den kann: Da ein beträchtlicher Teil der Sprach- brauchs spaltend wirken – die Diskussion um
gemeinschaft zu keiner der Gruppen gehört, für gerechte Sprache wurde und wird schließlich
die es solche Slurs überhaupt gibt, stellt sich die von Gruppen geführt, die ab einem bestimmten
Frage gar nicht, ob die betreffenden Personen es Punkt nicht mehr bereit waren, sich sprachlich
akzeptieren würden, wenn man sie mittels sol- anders behandeln zu lassen als die Mehrheitsge-
cher Slurs darstellte – dies ist schlicht unmög- sellschaft. Der tradierte Sprachgebrauch ist also
lich. Über die Grenzziehung können Mitglieder mit seinem Anspruch, kommunikative Norma-
der Mehrheitsgesellschaft deshalb gar nicht indi- lität zu sein, längst gescheitert. Dieser Anspruch
viduell entscheiden: Slurs liegen in jedem Fall jen- lässt sich ohne eine massive Unterdrückung der
seits der Grenzen des Sagbaren und sind aus dem von herabwürdigender Sprache betroffenen
öffentlichen Sprachgebrauch ohne Einzelfall- Gruppen nicht wiederherstellen, und so bleibt
prüfung zu entfernen. Das gilt meines Erachtens allen Diskussionen um einen angemessenen öf-
auch für tradierte Texte der Sprachgemeinschaft – fentlichen Sprachgebrauch nur der Weg nach
dort, wo etwa in Kinderbüchern Slurs verwendet vorn.
werden, ohne dass sich dies aus den Einstellungen
und Perspektiven der beschriebenen Charaktere
ergibt, sind redaktionelle Eingriffe das geringere
Übel gegenüber der gedankenlosen Weitergabe ANATOL STEFANOWITSCH
gruppenfeindlicher Sprache. ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch
Wenn ein Teil des tradierten Wortschatzes an der Freien Universität Berlin. Zu seinen For-
einer Sprache auf der Grundlage sprachethi- schungsschwerpunkten gehören diskriminierende
Sprache, leichte Sprache und kognitive Linguistik.
20 Anatol Stefanowitsch, Eine Frage der Moral: Warum wir www.stefanowitsch.de
politisch korrekte Sprache brauchen, Berlin 2018. anatol.stefanowitsch@fu-berlin.de

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APuZ 12–13/2020

STREITKOMPETENZ ALS
DEMOKRATISCHE QUALITÄT
Oder: Vom Wert des Widerspruchs
Marie-Luisa Frick

Wenn wir fragen, ob Widerspruch einen Wert hat, konsistenzen mit dem demokratischen Prinzip
und ob dieser Wert instrumenteller Natur ist („Wi- riskieren wollen. Unter Bedingungen der kol-
derspruch ist wertvoll, weil er zu X führt“) oder lektiven Autonomie, wie in der Idee der Volks-
ein Zweck an sich („Widerspruch ist immer wert- souveränität ausgedrückt, ist jede(r) gleich sou-
voll“), so entscheidet der Kontext jeweils mit, zu verän. Da sich die Gleichen jedoch keineswegs
welchen Antworten wir gelangen. Im Bereich pri- als individuelle Personen gleichen, treten in offe-
vater Beziehungen werden wir eher weniger von nen demokratischen Gesellschaften unweigerlich
einem Selbstzweckcharakter des Widerspruchs verschiedene Meinungen zutage. Mit dieser Mög-
ausgehen, und wenn wir ihm instrumentellen lichkeit ist nicht nur zu rechnen, sie sollte auch
Wert zusprechen (etwa „Widerspruch macht In- nicht als grundsätzliches Übel beklagt werden, da
teressen sichtbar und führt eher als sein Gegen- sich sonst die Frage stellt, warum man nicht doch
teil zu belastbaren Beziehungen“), werden wir ihn lieber – wenn Uniformität und Harmonie so zen-
qualifizieren (etwa „Widerspruch ist nur in einer trale Werte sind – auf politische Ordnungen setzt,
bestimmten Form wertvoll“). Im Bereich der Wis- die nicht alle Menschen eines politischen Volkes,
senschaft kann man ähnlich fragen und wird viel- sondern nur die besten, klügsten oder gerechtes-
leicht andere Antworten finden, je nachdem, wel- ten als souverän ausweisen. Das bedeutet, De-
ches Wissenschaftsverständnis man zugrunde legt. mokraten müssen mit Widerspruch rechnen und
Im Kontext politischer Öffentlichkeit(en) dürfen ihn nicht prinzipiell ablehnen. Aber sollen
hängt die Frage nach dem Wert von Widerspruch sie ihn auch wertschätzen, also nicht nur hinneh-
zunächst davon ab, ob wir sie auf demokratischem men? Und wenn ja, aus welchem Grund?
oder nicht-demokratischem Boden beantworten.
Dort, wo das Prinzip der Volkssouveränität nicht AUFKLÄRUNG DURCH
geteilt wird, demzufolge Menschen sich selbst re- POLITISCHEN STREIT
gieren dürfen oder andere zum Regieren bestim-
men, die sie abberufen können, kann Widerspruch Wenn alle Mitglieder eines politischen Gemein-
kaum ein Wert sein. Wo die Souveränität einer wesens gleich souverän sind, müssen Vorstel-
Gottheit, der Vorsehung oder einer allweisen Füh- lungen darüber, wie gemeinsame Angelegenhei-
rerin behauptet wird, sind vielmehr Einmütigkeit ten geregelt werden sollen, öffentlich verhandelt
und Gehorsam die entscheidenden Tugenden. Po- werden. Das gilt aus Sicht des demokratischen
litischer Streit, das heißt der zur Methode gemach- Gleichheitsideals sowohl für Mehrheits- als auch
te Widerspruch, erscheint in einer solchen Per- Minderheitspositionen, die beide trotz faktischen
spektive als bedrohliches Anzeichen von Spaltung, Machtungleichgewichts in gleicher Weise für sich
Disharmonie und Schwächung. Widerspruch ist werben und mit demokratischen Mitteln entwe-
dann ein Problem im Sinne eines zu vermeidenden der versuchen dürfen, Mehrheit zu bleiben oder
oder zu überwindenden Defizitzustandes. zu ihr zu werden. Kollektive Selbstbestimmung
Wenn wir die Frage nach dem Wert des Wi- einer aus Individuen bestehenden Gruppe be-
derspruchs jedoch auf demokratischem Boden darf öffentlicher Meinungsbildung, um zu Ent-
stellen, wird er zu einer Möglichkeit, die wir nicht scheidungen zu gelangen, die in demokratischen
ausschließen können und die wir auch nicht ver- Verfahren getroffen werden und dabei stets unter
achten sollten – zumindest, wenn wir keine In- dem Vorbehalt der Revidierbarkeit stehen.

28
Freie Rede APuZ

Demokratische Meinungsbildung und Ent- eigene wie andere, im Feuerbad der Kritik geprüft
scheidungsfindung ist daher kein linearer Pro- und dabei gehärtet oder korrigiert werden. Auf die-
zess, der einen Anfang hat und einen eindeutigen se Weise kann etwas gestärkt werden, das für mün-
Abschluss, sondern das Substrat demokratischer dige Bürgerinnen unverzichtbar ist: Urteilskraft.
Kultur. Da die Art und Weise, wie der Einzelne Wer unwidersprochen seine Meinung pflegt,
seine Meinung bildet und zu welchen Entschei- dem entgeht die Chance, mögliche Schwachstellen
dungspräferenzen er gelangt, immer auch Aus- in ihr zu erkennen. So sehr wir uns auch bemü-
wirkungen auf seine Mit-Souveräne hat, ist es kei- hen können, gegen uns selbst anzudenken, inne-
neswegs gleichgültig, unter welchen Bedingungen rer Selbstwiderspruch kann niemals jene Irritati-
demokratische Meinungsbildung erfolgt. Gera- onseffekte erzeugen, auf die es ankommt, um an
de dadurch, dass demokratische Entscheidungen der Richtigkeit der eigenen Meinung zu zweifeln
nicht gültig sind, weil sie weise, gerecht oder mo- und aus diesem Zweifel die Motivation zu ziehen,
ralisch sind, sondern weil sie durch den Willen sie noch einmal zu überdenken. Eine Konfronta-
einer (einfachen oder qualifizierteren) Mehrheit tion mit neuen oder auch nur anders gedeuteten
getroffen werden, haben Mitglieder eines demo- Tatsachen lädt dazu ein, sich mit den Grundla-
kratischen Gemeinwesens ein genuines Interesse gen eigener Überzeugungen auseinanderzusetzen.
an qualitätsvoller Meinungsbildung. Anders aus- Auf andere Wertorientierungen zu stoßen, kann
gedrückt: Wenn wir als Mitglieder eines demokra- zur Reflexion Anlass geben, was denn die eige-
tischen Gemeinwesens (fast) alles als Recht setzen nen Werte vorzugswürdiger macht. Wie kann
können, sollten wir großes Gewicht darauf legen, jemand anders denken, als man selbst – und da-
uns zu fragen, was wir wirklich wollen (können). bei vielleicht sogar noch (in anderen Hinsichten)
In dieser Einsicht liegt ein erster Anhaltspunkt, ganz vernünftig oder zumindest kein so schlech-
um in politischem Streit nicht nur ein notwendi- ter Mensch sein? Kann es etwa mehr als eine rich-
ges Übel, sondern tatsächlich einen Wert zu sehen: tige Sichtweise auf dasselbe politische Problem
Wir brauchen Widerspruch für qualitätsvolle Mei- geben? Weil wir fehlbar sind, so der norwegi-
nungsbildung. Wie genau kann politischer Streit sche Philosoph Gunnar Skirbekk, „müssen wir
nun aber dazu beitragen? Eine mögliche Antwort auf die anderen hören und uns ihren Argumenten
liegt darin, dass nur im Bewusstsein von alterna- und Betrachtungsweisen öffnen – um uns eigene
tiven Standpunkten und Sichtweisen der eigene Auffassungen zutrauen zu können“.02 Politischer
Standpunkt bestimmt werden kann. Widerspruch Streit zwingt uns, aus dem Horizont des Selbst-
trägt in diesem Sinne dazu bei, jene Transparenz verständlichen herauszutreten und unsere Positi-
herzustellen, die der demokratische „Markt der onen im Lichte konkurrierender Standpunkte zu
Ideen“ erfordert: Wer steht wofür, und wo stehe begründen. Er kann dazu beitragen, uns in unse-
ich? Nur durch Sichtbarmachung von Konflikt- ren Ansichten sicherer zu fühlen – gerade weil wir
linien gewinnen politische Meinungen an Kon- sie der Verunsicherung durch Gegenstandpunkte
tur, können Gegnerschaften, die für das Politische ausgesetzt haben – und uns durch dieses Selbst-
konstitutiv sind, nachvollzogen und auch erfahren vertrauen zu Toleranz anleiten.03
werden.01 Eine solche Aufklärung im engeren Sin- Aufklärung in diesem weiteren Sinne ist da-
ne kann daher als Bedingung der Möglichkeit po- her ein wichtiges Korrektiv zum grundsätzlich
litischer Selbsterkenntnis angesehen werden: Wer voluntaristischen Charakter der Demokratie: Et-
bin ich (und wer sind „die anderen“)? was gilt, weil es mehrheitlich gewollt ist und aus
Wer sich politisch selbst erkennen will, profi- keinem anderen Grund. Nur dort aber, wo politi-
tiert aber nicht allein davon, dass andere sich im sche Interessen diskursiv herausgefordert werden
Widerspruch voneinander unterscheiden lassen, und dadurch Begründungsdruck erzeugen, kann
sondern auch von der Erfahrung des Widerspre- die Vorstellung, dass etwas eher gewollt werden
chens und Widersprochenwerdens selbst. Hier-
durch wird Aufklärung in einem weiteren Sinne
ermöglicht: dadurch, dass politische Meinungen, 02 Gunnar Skribekk, Philosophie der Moderne. Vernunft,
Wahrheit, Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Weilerswist 2017,
S. 73. Vgl. auch John Stuart Mill, On Liberty, in: ders., On Liber-
01 Vgl. Marion Westphal, Die Normativität agonaler Politik. ty, Utilitarianism, and Other Essays, Oxford 2015 [1859], S. 19 ff.
Konfliktregulierung und Institutionengestaltung in der pluralisti- 03 Vgl. insb. John D. Inazu, Confident Pluralism. Surviving and
schen Demokratie, Baden-Baden 2018. Thriving through Deep Pluralism, Chicago 2016.

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APuZ 12–13/2020

kann als seine Alternative, überhaupt Fuß fassen. des Widerspruchs einer von mehreren Anknüp-
Was eher gewollt werden kann als etwas anderes, fungspunkten sein, und zwar in Form der fol-
kann in demokratischen Kontexten jedoch keine genden Frage: Gibt es Formen des politischen
wahrheitsfähige Frage sein, denn die objektiv bes- Streits, die nicht zur qualitätsvollen demokrati-
te oder objektiv vernünftigste Entscheidung kann schen Meinungsbildung beitragen oder diese so-
es dort nicht geben, wo die Souveränität bei Men- gar verhindern?
schen und eben nicht den klügsten, weisesten oder
vernünftigsten Menschen liegt. So ist auch die aus VOM UNWERT POLITISCHEN
politischem Streit hervorgehende Aufklärung im SCHEIN-STREITS
weiteren Sinne keine Garantie für „beste Entschei-
dungen“, da das Recht, für sich selbst zu bestim- Tatsächlich lassen sich Hinweise anführen, dass
men, was als beste Entscheidung gilt, untrennbar nicht jede Art von Widerspruch in diesem ins-
mit der gleichen Souveränität der Mitglieder eines trumentellen Sinne wertvoll ist. Wenn wir uns
politischen Gemeinwesens verbunden bleibt. ein wenig von der idealen Theorie entfernen, ist
Wenn also, wie hier behauptet, Widerspruch festzustellen, dass politischer Streit – unabhängig
zu qualitätsvoller demokratischer Meinungsbil- von seinem Wert für die demokratische Willens-
dung beitragen kann, dann sprechen wir von be- bildung – für die unterschiedlichen Akteure im-
scheidenen Qualitätsstandards für Meinungen: mer auch einen (Un-)Wert hinsichtlich politischer
Sie sollen im Bewusstsein möglicher Alternati- Ziele bedeuten kann: So kann zum Beispiel einer
ven (Aufklärung im engeren Sinne) sowie unter politischen Gruppierung daran gelegen sein, die
Bedingungen von prüfender Kritik (Aufklärung Standpunkte einer anderen Gruppierung gar nicht
im weiteren Sinne) gebildet werden. Mehr kann, erst inhaltlich zu kritisieren, sondern sie schon
gesteht man die Möglichkeit vernünftiger Nicht- grundsätzlich so zu delegitimieren, dass man sich
übereinstimmung ein,04 von Aufklärung im hier die eigentliche Auseinandersetzung mit ihnen er-
beschriebenen Sinne nicht verlangt werden. spart. Oder im Bemühen um Geschlossenheit
Immer dann, wenn etwas als instrumenteller wird versucht, interne Konflikte zu ­kaschieren.
Wert hinsichtlich eines bestimmten Ziels angese- Keine Frage, politisches Kalkül und Taktieren
hen wird, besteht dieser Wert in abhängiger Wei- dieser Art – wie erreiche ich meine politischen
se: Nur insofern also politischer Streit zu Aufklä- Ziele am besten? – hat auch in Demokratien Be-
rung im hier beschriebenen Sinne beiträgt, wäre rechtigung. Jedoch gibt es ethische Schranken, die
er wertvoll. Diese Bedingung ermöglicht nun nicht zuletzt durch den instrumentellen Wert des
konkrete Tauglichkeitsprüfungen beziehungs- politischen Streits für die demokratische Willens-
weise Qualifizierungen von Formen des Wider- bildung gesetzt werden. Um ein paar Beispiele zu
spruchs, die dem Ziel der Aufklärung im engen nennen: Es mag für die Erlangung oder Vermeh-
und weiteren Sinne dienen und solchen, bei de- rung politischer Macht dienlich sein, Gegnerin-
nen es zumindest fraglich ist. Für die Auslotung nen Positionen zu unterstellen, die sie gar nicht
der Grenzen der Meinungs(äußerungs)freiheit – vertreten, um sie in den Augen (von Teilen) des
ob ethische oder rechtliche, sei hier noch ausge- demos zu diskreditieren. Diese Taktiken können
klammert – kann somit der instrumentelle Wert von absichtlich missinterpretierten Äußerungen
bis zu ausgewachsenen Desinformationskampa-
04 Vernünftige Nichtübereinstimmung ist dadurch gekenn- gnen reichen (in denen etwa Internetseiten er-
zeichnet, dass sie auch trotz intensiven Meinungsaustausches stellt werden, die scheinbar der politische Gegner
bzw. intensiver Deliberation bestehen bleibt (vgl. Christopher zu verantworten hat oder „Bot-Armeen“ betrie-
McMahon, Reasonable Disagreement. A Theory of Political
ben werden, die ein bestimmtes Meinungskli-
Morality, Cambridge 2009). Dass es nicht auflösbare (weltan-
schauliche) Konflikte gibt, erkennen nicht nur agonistische und
ma vortäuschen). Auf diese Weise wird Transpa-
pluralistische Demokratietheorien an (vgl. Nicholas Rescher, renz – wer steht wofür und warum – und damit
Pluralism. Against the Demand for Consensus, Oxford 1993; eine wesentliche Voraussetzung für qualitätsvolle
Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopoliti- Meinungsbildung verhindert.
sche Illusion, Frank­furt/M. 2007), sondern auch reflektierte
Politischer Streit, der Widerspruch auf solche
deliberative Demokratietheorien (vgl. Amy Gutmann/Dennis
Thompson, Democracy and Disagreement. Why Moral Conflict
Weisen fabriziert, ist für die beschriebene Aufklä-
Cannot Be Avoided in Politics, and What Should Be Done about rung im engeren Sinne wertlos, ja schädlich. Ähn-
It, Cambridge MA, 1996). liches gilt auch für Aufklärung im weiteren Sin-

30
Freie Rede APuZ

ne, zu der politischer Streit im demokratischen zung und Konfrontation lässt sich an ihnen lernen
Kontext beitragen kann – oder eben auch nicht. – über sich selbst und die anderen. Anders gesagt:
Auf Argumente politischer Gegner nicht einzu- Falschinformationen sind nur dann für die de-
gehen – weil sie es nicht verdienten, ernst genom- mokratische Meinungsbildung komplett wertlos,
men zu werden, oder weil man danach trachtet, wenn man sie als solche stehen lässt und nicht he-
sie durch Diskussionsverweigerung symbolisch rausfordert. Nach dem Motto des US-amerikani-
zu beschädigen –, führt dazu, dass eine sachliche schen Philosophen Lee McIntyre: „Wenn wir Ide-
Auseinandersetzung und damit auch eine kriti- ale haben, für die es sich zu kämpfen lohnt, dann
sche Prüfung der betreffenden Ansichten unter- lasst uns für sie kämpfen. Wenn unsere Werk-
bleiben. Wo politische Meinungen als indiskuta- zeuge als Waffen benutzt werden, lasst sie uns
bel gelten, werden sie zurückgewiesen, nicht aber zurück­erobern.“05
hinsichtlich ihrer Faktenbasis, Schlüssigkeit oder Damit ist freilich ein gewisser Optimismus
normativen Konsistenz analysiert – und schon dahingehend verbunden, dass sich unter Bedin-
gar nicht dekonstruiert, das heißt entsprechend gungen fairen Wettbewerbs tendenziell das bes-
ihrer Schwachstellen entzaubert. Das Nichtfüh- sere Argument beziehungsweise „die Wahrheit“
ren oder Abbrechen diskursiver Auseinanderset- durchsetzt. Dieser Optimismus wird im mo-
zungen verhindert durch den Verzicht auf Auf- dernen Kommunikationszeitalter – jede kann
klärung im weiteren Sinne folglich qualitätsvolle Medienmacherin sein und überall mitreden,
demokratische Meinungsbildung. spektakuläre Absurditäten erhalten mehr Auf-
merksamkeit als nüchterne Differenziertheit,
GESPRÄCHSVERWEIGERUNG? „digitale Stämme“ hören einander nicht zu, son-
dern sprechen nur (abfällig) übereinander – nicht
Doch auch jenseits der Logik politischer Klug- mehr breit geteilt. Die fatalistische Ansicht, dass
heit bleibt die Frage, welche Formen des politi- es nicht lohnt, sich bestimmten Ansichten dis-
schen Streits dem Zweck demokratischer Wil- kursiv entgegenzustellen, ist für die Demokratie
lensbildung entgegenkommen und welche nicht, allerdings gefährlich. Wie die Wissenschaftsphi-
brisant. Ist es nicht, so ein gängiger Einwand, mit losophin Cailin O’Connor und ihr Fachkolle-
Blick auf qualitätsvolle demokratische Willens- ge James Owen Weatherall von der University
bildung kontraproduktiv, politische Meinungen of California erklären, besteht zwischen der Ge-
ernst zu nehmen, die offensichtlich grob falsch sprächsverweigerung mit „postfaktischen“ Zeit-
oder unerträglich sind? Würde nicht, wer ihnen genossen und dem gesellschaftlichen Einfluss von
widerspricht, sie dadurch bereits aufwerten und Falschinformationen ein wichtiger Zusammen-
diskursiv stärken? Und müsste nicht, wenn Auf- hang: „Um von Menschen zu lernen, deren An-
klärung im engeren und im weiteren Sinne er- sichten sich von unseren unterscheiden, müssen
strebt wird, die Möglichkeit, bestimmte Äuße- wir mit ihnen verbunden sein, aber wir müssen
rungen öffentlich vorzubringen, in bestimmten ihnen auch genug vertrauen, um zu glauben, was
Fällen abgelehnt beziehungsweise eingeschränkt sie mitteilen. In einem polarisierten Umfeld ist
werden? diese Art von Vertrauen schwer zu ­erreichen.“06
Angesichts anhaltender Debatten um Falsch- Angesichts dessen, dass Bedingungen fairen
informationen, Verschwörungstheorien und Post­ Wettbewerbs zwischen unterschiedlichen Stand-
faktizität ist diese Frage keine bloß akademische, punkten keine Selbstverständlichkeit sind, son-
sondern selbst politischer Streitgegenstand. Ab- dern immer auch politisch sichergestellt werden
gesehen von der bereits betonten Relativität von müssen – insbesondere durch unabhängige und
Bewertungen dahingehend, was als Beitrag zur unparteiliche öffentliche Medien – ist ein gewis-
qualitätsvollen Willensbildung gesehen werden ses Maß an Realismus über die Möglichkeiten
kann und was nicht, ist hier ein weiterer Aspekt
bedeutsam, der von Kritikern an Diskursräumen,
die auch dem „Irrtum“ offenstehen, gelegentlich 05 Lee McIntyre, Post-Truth, Cambridge MA, 2018, S. 116
(eig. Übersetzung). Vgl. auch Sophia Rosenfeld, Democracy and
übersehen wird. Politische Meinungen tragen
Truth. A Short History, Philadelphia 2019.
nicht als solche selbst schon zur Aufklärung bei, 06 Cailin O’Connor/James Owen Weatherall, The Misinforma-
sondern erst durch Gegenüberstellung mit ande- tion Age. How False Beliefs Spread, New Haven 2019, S. 17 (eig.
ren Ansichten. Nur in antagonistischer Abgren- Übersetzung).

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APuZ 12–13/2020

qualitätsvoller demokratischer Meinungsbildung heißt, wenn wie in den angeführten Beispielen po-
durchaus heilsam. Es ist eben unter Vorzeichen de- litischer Manipulation die Transparenz über die
mokratischer Freiheit nicht ausgemacht, dass das, Angebote am demokratischen Ideenmarkt gezielt
was man für unumstößlich oder evident hält, von angriffen wird oder wenn Standpunkte der öffent-
allen anderen ebenso eingeschätzt wird. Als An- lichen Kritik entzogen werden. Letzteres kann auf
sporn verstanden, seine Sichtweise immer wieder unterschiedliche Weise geschehen: etwa, indem
erneut zu vertreten und zu verteidigen, kann die man Kritikerinnen droht oder sie Drohungen der
Sorge um Diskurshoheit des „Irrationalen“ ausge- eigenen Anhängerschaft ungeschützt aussetzt;
sprochen demokratiefördernd wirken – vorausge- oder auch indem man sich mit der Errichtung von
setzt freilich, die für das demokratische Ethos ent- diskursiven oder sprachlichen Tabuzonen, die nur
scheidende Haltung des Fallibilismus („Ich kann unter Strafe der Stigmatisierung verletzt werden
mich irren“) bleibt im Bewusstsein. Denn wenn können, gegen jegliche Kritik ­immunisiert.
ich an die Möglichkeit absoluter Wahrheit glaube,
warum bejahe ich dann das demokratische Prinzip FREIE REDE ZWISCHEN
und nicht etwa das Führerprinzip?07 RECHT UND ETHIK
Demokratische Streitkultur wächst in die-
ser Sichtweise nicht nur dort, wo man Wider- Was bedeutet das bisher Gesagte für die Frage
spruch als Mittel zur Förderung qualitätsvoller nach Redefreiheit? Unter dem Gesichtspunkt de-
Meinungsbildung (bereits) schätzt, sondern kann mokratischer Meinungsbildung sind die Grenzen
auch dort gedeihen, wo man diesen Wert (zu- der Meinungsäußerungsfreiheit zunächst ausge-
nächst) nicht zuerkennt. Dabei ist es entschei- sprochen weit zu ziehen. Demokratische Willens-
dend, die Frage, welche Äußerungen dem Dop- bildung braucht den Widerspruch, gerade auch
pelziel „Aufklärung“ förderlich sind und welche dort, wo er (zunächst) stört und wertlos erscheint.
nicht, selbst als streitbar offen zu halten. Doch Und nur dann, wenn (Sprach-)Handlungen die
auch wenn man Widerspruch in gewissen Fällen Grundlagen demokratischer Willensbildung an-
keinen Wert zuerkennt, wie etwa dort, wo es sich greifen, das heißt Transparenz über Standpunk-
um Widerspruch zu „unbestreitbaren Fakten“ te und Kritik an ihnen unmöglich macht, ist die
handelt, ist damit noch nicht entschieden, wie Schwelle erreicht, ab welcher die demokratische
man damit umgehen soll. Gemessen am Zweck Souveränität von politischen Subjekten mit Ver-
der qualitätsvollen demokratischen Willensbil- weis auf die demokratische Souveränität aller an-
dung kann man „wertlose“ Diskursbeiträge er- deren beschnitten werden darf.
dulden oder sich für ihre Ächtung aussprechen, Das bedeutet aber nicht, dass nicht aus ande-
wenn man sie für schädlich hält. ren Gründen Einschränkungen der Meinungs-
Angesichts der grundsätzlich gleichen Souve- äußerungsfreiheit argumentierbar sind, etwa
ränität der Mitglieder eines demokratischen Ge- zum Schutz von Freiheitsrechten, wie sie Indi-
meinwesens bestehen im letzteren Fall jedoch viduen in liberalen Demokratien gewährt wer-
Einschränkungen dessen, was als schädlich gel- den. Da aber in diesen Freiheitsrechten traditi-
ten kann. Es reicht nicht aus, zu argumentieren, onell die Meinungsfreiheit selbst enthalten ist,
dass eine bestimmte politische Ansicht die Men- können ihre Schranken immer nur Abwägungs-
schen in die Irre führt. Im Sinne politischer Geg- produkte sein. Auch solche Fragen müssen un-
nerschaft könnte man vielmehr alles daran setzen, weigerlich streitbar bleiben, da es auch innerhalb
mit diskursiven Mitteln gegenzuhalten. Schäd- liberaler Demokratien – man halte sich die Unter-
lich in einem für die qualitätsvolle demokratische schiede zwischen Europa und den USA vor Au-
Willensbildung einschlägigen Sinne wird die Ver- gen08 – offenbar mehr als einen einzigen Weg gibt,
breitung politischer Ansichten erst dann, wenn
sie diese Willensbildung selbst unterminiert – das 08 Zum US-amerikanischen Modell, das ausgehend vom ersten
Verfassungszusatz kaum strafrechtliche Schranken der Mei-
nungsäußerungsfreiheit kennt, dafür aber gesellschaftlichen bzw.
07 Vgl. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, privaten Akteuren und Institutionen Raum lässt für die Einhegung
in: ders., Verteidigung der Demokratie, hrsg. von Matthias problematischer (z. B. nicht „politisch korrekter“) Äußerungen,
Jestaedt/Oliver Lepsius, Tübingen 2006 [1929]; Carlo Invernizzi siehe Arthur Jacobson/Bernhard Schlink, Hate Speech and Self-
Accetti, Democracy and Relativism: Why Democracy Does Not Restraint, in: Michael Herz/Peter Molnar (Hrsg.), The Content and
Need Moral Absolutes, Cambridge 2015. Context of Hate Speech, New York 2012, S. 217–241.

32
Freie Rede APuZ

das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit mit an- chen Umgang pflegte, was können diejenigen
deren Freiheiten in ein „gerechtes“ Verhältnis zu davon lernen, die zurecht eine zunehmende Ver-
setzen. härtung und Kompromisslosigkeit politischer
Um die Streitkompetenz der Mitglieder eines Frontstellungen beklagen?
demokratischen Gemeinwesens zu fördern, benö-
tigen wir aber nicht nur einen (möglichst) offenen STREIT-BILDUNG
Diskursraum, sondern auch einen zivilisierten
Umgang miteinander, der es erlaubt, dass Wider- Neben einer solchen Rückbindung an Prinzipien
spruch erfahren, geübt, ertragen und im besten demokratischer Ethik erfordert Streitkompetenz
Fall auch wertgeschätzt werden kann. Hier gilt auch jenes Maß an Bildung, das es überhaupt erst
es, die Frage nach den Grenzen von Meinungs- ermöglicht, eine Behauptung von ihrer Begrün-
äußerungsfreiheit nicht nur in einem rechtlichen dung zu unterscheiden, eine Beschreibung von ei-
Sinne zu stellen, sondern auch mit Bezug auf eine ner Vorschreibung, eine logisch gültige Ableitung
politische Ethik demokratischer Gegnerschaft.09 von einem Fehlschluss. Damit ist keineswegs ge-
Was kann ich, so ein möglicher Ausgangspunkt sagt, dass Demokratie nur etwas für Gebildete ist.
ethischer Reflexion, selbst dazu beitragen, dass Das ist sie gerade nicht, denn Souveränität wird
andere von politischen Auseinandersetzungen allen Menschen zugesprochen, unabhängig von
mit mir profitieren – sei es nun im Freundes- und Intelligenz oder Bildungsgrad.10
Bekanntenkreis oder online mit Unbekannten? Dennoch kann man gerade in Zeiten zerrüt-
Was kann ich tun, dass sie nicht das Gefühl be- teter Diskussionskultur nicht darüber hinwegse-
fällt, Widerspruch sei zwecklos – oder dass sie hen, dass oft nicht der Wunsch nach Verletzung
sich gar verletzt, beschämt oder unverstanden ab- am Anfang so mancher missglückten Kommu-
wenden und aus eben dieser Auseinandersetzung nikation steht, sondern die Unfähigkeit, seine
die verhängnisvolle Lehre ziehen, man bleibt mit Ansichten stringent zu artikulieren und auf Wi-
seinen Meinungen besser unter seinesgleichen derspruch entsprechend gekonnt zu reagieren.
und tut sich so etwas nicht mehr an? Formen solcher Sprachlosigkeit können dazu
Besondere ethische Verantwortung haben da- führen, dass politische Meinungen sich verhärten
bei Personen, die aufgrund ihres Einflusses auf (etwa, wenn Argumente auf unterschiedlichen
die öffentliche Meinung Vorbildfunktionen ein- Ebenen vorgebracht werden oder gar nicht be-
nehmen. Inwieweit sich etwa Politiker bemü- griffen wird, worin man genau uneins ist) und in
hen, im Umgang mit ihren Kontrahentinnen ethi- weiterer Folge zu Frustrationen führen, die wie-
schen Idealen der Gegnerschaft zu entsprechen derum Aggressionen hervorbringen. Den Um-
oder umgekehrt Konflikte in essenzialistischen gang mit Widerspruch zu erlernen und zu üben,
Freund- und Feindschaftskategorien verhandeln, sollte daher ein Kernauftrag demokratischer poli-
hat Auswirkungen auf die Streitkultur eines de- tischer Bildung sein. Das Kontroversitätsprinzip
mokratischen Gemeinwesens: Es kann sie festi- in Verbindung mit philosophischer Argumentati-
gen oder erodieren lassen. Vorbilder zeigen, dass onslehre ist der methodische Königsweg zur Stär-
etwas möglich ist, was vielleicht unmöglich oder kung einer Haltung des sic et non („so und [so]
immens schwierig erscheint. Wenn etwa die lang- nicht“). Nur wer andere Ansichten theoretisch
jährige Supreme-Court-Richterin Ruth Joan Ba- nachvollziehen kann, obwohl er sie nicht teilt, ist
der Ginsburg mit ihrem inzwischen verstorbenen streitkompetent. Und nur wo ausreichend Men-
Amtskollegen Antonin Scalia, mit dem sie poli- schen streitkompetent sind, kann Streitkultur als
tisch nur wenig verband, dennoch einen wert- einzuübende Gewohnheit in der politischen Aus-
schätzenden, im Privaten sogar freundschaftli- einandersetzung überhaupt erst entstehen.

09 Vgl. Marie-Luisa Frick, Zivilisiert streiten. Zur Ethik der poli-


tischen Gegnerschaft, Ditzingen 2017; dies. Freie Rede im Licht
politischer Ethik: Was soll man nicht sagen (auch wenn man es MARIE-LUISA FRICK
sagen dürfte)?, in: Tanjev Schultz (Hrsg.), Was darf man sagen
ist habilitierte Philosophin und arbeitet als Asso-
Meinungsfreiheit im Zeitalter des Populismus, Stuttgart 2020
(i. E.).
ziierte Professorin am Institut für Philosophie der
10 Zur Kritik an Demokratie aus einem epistokratischen Blick- Universität Innsbruck.
winkel siehe Jason Brennan, Against Democracy, Princeton 2016. www.marieluisafrick.net

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APuZ 12–13/2020

FAKTUM = MEINUNG?
Patrick Gensing

Der Begriff „postfaktisch“ beschäftigt die Öf- Der Kolumnist Sascha Lobo hatte bereits 2012
fentlichkeit seit mehreren Jahren. Im englischen über das Konzept einer wahrheitsunabhängigen
Sprachraum ist von „post-factual“ oder auch Politik geschrieben, in der Meinungen und Tatsa-
„post-truth politics“ die Rede. Unter dem Ein- chen verschwimmen, und kommentiert „Jeder hat
druck des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2016 das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand
und der Leave-Kampagne im Vereinigten Kö- hat das Recht auf eigene Fakten.“05 Und schon
nigreich erklärten die Herausgeber der Oxford Hannah Arendt hatte konstatiert: „Meinungsfrei-
Dictionaries den Begriff „post-truth“ zum Wort heit ist eine Farce, wenn die Information über die
des Jahres 2016. Er bezeichne Umstände, in de- Tatsachen nicht garantiert ist.“06
nen objektive Fakten weniger Einfluss auf die Aber was ist Fakt, was ist Meinung? Wo ver-
öffentliche Meinungsbildung haben als Appel- läuft die Grenze? Und wer legt diese fest? Diese
le an Emotionen und persönliche Überzeugun- Frage beschäftigt unter anderem Gerichte, die ent-
gen.01 scheiden müssen, ob es sich bei einer Aussage um
In Deutschland wurde „postfaktisch“ eben- eine von der Meinungsfreiheit gedeckte Bewertung
falls 2016 zum Wort des Jahres gekürt. Die Ge- oder möglicherweise falsche Tatsachenbehauptung
sellschaft für deutsche Sprache erklärte, der handelt.07 Im Folgenden werde ich einige Erschei-
Begriff stehe im Kontext eines tief greifenden po- nungen des „postfaktischen Zeitalters“ beschrei-
litischen Wandels. Das Kunstwort verweise da- ben und der Frage nachgehen, wie den damit ver-
rauf, „dass es in politischen und gesellschaftlichen bundenen Problemen begegnet werden kann.
Diskussionen zunehmend um Emotionen anstel-
le von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungs- VEREDELUNG VON MEINUNG
schichten sind in ihrem Widerwillen gegen ‚die da
oben‘ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar Allgemein gesprochen, lässt sich feststellen, dass
offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. sich eine Tatsachenbehauptung überprüfen lässt,
Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das während eine Meinung nicht als eindeutig rich-
Aussprechen der ‚gefühlten Wahrheit‘ führt im tig oder falsch klassifiziert werden kann. Dabei
postfaktischen Zeitalter zum Erfolg.“02 stellt sich aber nicht nur die Frage, was als zuläs-
Als Beispiele postfaktischer Politik führte die sige subjektive Bewertung gilt, also um eine von
Jury ebenfalls den Wahlkampf gegen den Verbleib der Meinungsfreiheit gedeckte Äußerung, son-
Großbritanniens in der EU an. Die Befürwor- dern bisweilen auch, wo die Meinungsfreiheit en-
ter des „Brexits“ hatten zum Teil mit gezielten det; nämlich bei Beleidigungen oder übler Nach-
Fehlinformationen den Unmut in der Bevöl- rede. Diese Differenzierung ist sensibel, da sie das
kerung geschürt.03 „Die Wortbildung postfak- in Artikel 5 des Grundgesetzes verbriefte Grund-
tisch“, so die Jury weiter, „könnte auf den ersten recht der Meinungsfreiheit berührt.
Blick befremdlich erscheinen, da sie, vom Latei- In politischen Debatten spielt die Abgrenzung
nischen wörtlich übersetzt, ‚nach-faktisch‘ oder zwischen Meinung und Tatsachenbehauptung eine
‚nach, hinter den Fakten‘ bedeutet. Eher erwar- wichtige Rolle, die gewisse Kompetenzen beim
ten könnte man bei der angegebenen Bedeutung Textverständnis erfordert. Die Kompetenz, zwi-
des Wortes eine Bildung wie kontrafaktisch (‚den schen Meinung und Faktum unterscheiden zu
Fakten widersprechend, entgegengesetzt‘) oder können, ist aber nur eine Voraussetzung für einen
auch, in griechisch-lateinischer Sprachmischung, sachlich fundierten Diskurs; dazu muss die Bereit-
antifaktisch. Zugrunde liegt aber, ähnlich wie bei schaft treten, überhaupt differenzieren zu wollen.
Postmoderne oder Poststrukturalismus, die Vor- Und genau daran scheint es in Debatten nicht sel-
stellung einer neuen Epoche.“04 ten zu mangeln. Denn das Vermengen von Mei-

34
Freie Rede APuZ

nung und Faktum ist ein beliebter propagandis- der AfD-Abgeordnete, könnte man auch behaup-
tischer Taschenspielertrick: Die eigene Meinung ten, es sei – angeblich ganz objektiv betrachtet –
wird kurzerhand als Faktum verkauft und soll so fahrlässig, zu Fuß durch die Stadt zu gehen.
gegen Argumente und Kritik immunisiert wer- Den Trick, die eigene Weltsicht als Tatsache
den. So bezeichnen sich zahlreiche Publizisten, die zu verkaufen, wendete der Abgeordnete Spaniel
eine klare politische Agenda verfolgen, als objek- gleich mehrfach an; so führte er aus, Fahrräder sei-
tiv, neutral oder unideologisch. Sie reklamieren für en „in hohem Maße unpraktisch und gefährlich“ –
sich, die Dinge komplett sachlich zu betrachten wenn man die Angelegenheit „nüchtern betrach-
und inszenieren sich als unabhängige Instanzen. tet“. Eine Formulierung, die dieser Meinung einen
Solches Gebaren ist auch im Deutschen Bun- faktischen Anstrich geben soll. Doch die Frage, ob
destag zu beobachten – nicht erst mit dem Ein- ein Fahrrad praktisch ist oder nicht, kann nicht
zug der AfD (auch Vertreter anderer Parteien pauschal mit richtig oder falsch beantwortet wer-
haben dies zur Genüge gezeigt), aber die Quali- den. Für viele Menschen sind Räder äußerst prak-
tät ist seither eine andere: Immer offensiver wird tisch, andere finden sie ungeeignet für den eige-
die Grenze zwischen Fakten und Meinungen be- nen Gebrauch. Die Frage, ob Fahrräder praktisch
wusst aufgeweicht. So sprach beispielsweise der sind, ist eine rein subjektive Einschätzung, über
AfD-Abgeordnete Dirk Spaniel am 17. Januar die sich trefflich streiten lässt, aber ebenfalls kei-
2020 in einer Bundestagsdebatte zur Verkehrspo- ne Tatsache. Spaniel behauptete in seiner Rede au-
litik. Dabei äußerte er seine Ansichten zum Rad- ßerdem, die „objektiv wirksamste Methode“, um
verkehr in Städten, versuchte aber, diese Meinun- die Sicherheit im Stadtverkehr zu erhöhen, sei der
gen als Tatsachen darzustellen: „Das Propagieren „Ausbau von Parkplätzen, damit unnötige Park-
von Kindertransport auf Fahrrädern in der Stadt platzsuchfahrten entfallen“. Auch diese Einschät-
ist, objektiv betrachtet, fahrlässiger Umgang mit zung ist aber weit entfernt von einer objektiven
der Gesundheit Schutzbedürftiger.“08 Diese Inter- Tatsache, denn es lässt sich durchaus vermuten,
pretation von Zahlen aus der Verkehrsstatistik ist dass ein größeres Angebot an Parkplätzen eher
allerdings alles andere als objektiv, sondern eine noch weiteren Verkehr anziehen könnte – und so-
höchst subjektive Einschätzung. Siegfried Brock- mit nicht die wirksamste Methode zur Redukti-
mann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, on von Verkehr sei. Dazu kommen noch weitere
betont etwa, tödliche Fahrradunfälle würden zum Faktoren, wie beispielsweise der knappe Raum in
größten Teil durch Autos verursacht. Statistiken Städten, sodass wohl Rad- und Fußwege für Park-
bestätigen diese Aussage.09 Argumentiert man wie plätze zurückgebaut werden müssten. Die Be-
hauptung ist also nicht nur fragwürdig, was den
Effekt angeht, sondern auch unterkomplex, da da-
01 Siehe https://en.oxforddictionaries.com/word-of-the-year/
raus folgende Probleme ausgeblendet werden.
word-of-the-year-2016.
02 Gesellschaft für deutsche Sprache, GfdS wählt „postfak-
tisch“ zum Wort des Jahres 2016, Pressemitteilung, 9. 12. 2016, DEGRADIERUNG VON FAKTEN
https://gfds.de/wort-des-jahres-2016/#postfaktisch.
03 Vgl. Patrick Gensing, Vote-Leave-Kampagne – Das Der Trick funktioniert auch andersherum: In De-
350-Millionen-Pfund-Versprechen, ARD-faktenfinder, 16. 1. 2019,
batten zum Klimaschutz werden oft nicht nur
www.tagesschau.de/faktenfinder/ausland/brexit-vote-leave-
campaign-101.html.
Meinungen oder unbelegte Behauptungen zu Fak-
04 Jochen A. Bär, Worterklärung „postfaktisch“, in: GfdS (Anm. 2). ten erklärt, sondern es werden auch wissenschaft-
05 Sascha Lobo, Schneller als die Fakten erlauben, 6. 11. 2012, lich anerkannte Erkenntnisse, die sich angeblich
www.spiegel.de/​a-865523.html. nicht verifizieren ließen, zu Meinungen degra-
06 Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei
diert. So wurde die Behauptung, es gebe keine
Essays, München 1987, S. 58. Vgl. auch Stefan Marschall, Lügen
und Politik im „postfaktischen Zeitalter“, in: APuZ 13/2017,
wissenschaftlichen Beweise für einen Klimawan-
S. 17–22, www.bpb.de/apuz/245217. del, von US-Präsident Donald Trump immer wie-
07 Vgl. Volker Kitz, Meinungsfreiheit: Das wird man doch wohl mal der vorgetragen, ebenso von Brasiliens Präsident
sagen dürfen – oder?, 3. 2. 2016, www.spiegel.de/​a-1074146.html. Jair Bolsonaro und weiteren Politikern. In die-
08 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 17. 1. 2020,
ser Weltsicht ist der Klimawandel also keine Tat-
S. 17680, http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/19/19141.pdf.
09 Vgl. Melanie Katharina Marks, Warum mehr Radfahrer im
sache, sondern eine Meinung. In der Öffentlich-
Verkehr sterben, 31. 5. 2019, www.tagesschau.de/faktenfinder/ keit entsteht so der Eindruck, dass sich einfach
unfallstatistik-radtote-101.html. nur mehrere Meinungen gegenüberstehen, aus der

35
APuZ 12–13/2020

man sich die aussuchen kann, die einem am besten erfahrene Zahnärzte raten mir im Konsens zu einer
passt. Die Folge: Wenn zunächst darüber gestrit- schnellen Operation – dann werde ich kaum auf ir-
ten werden muss, welche faktische Basis es über- gendeinen Astrophysiker oder Ökonomen hören,
haupt gibt, tritt die eigentliche Aufgabe von Po- der mir sagt, der Eingriff sei vollkommen unnötig.“
litik, also die Aushandlung von praktischen und Eine weitere typische Strategie sei das Verbreiten
wirksamen Maßnahmen, das Gestalten, in den von Verschwörungstheorien: „Wenn wissenschaftli-
Hintergrund. che Erkenntnisse unbequem sind, dann wird schnell
Die Auffassung, dass der Klimawandel blo- den Forschern unterstellt, sie würden sich durch
ße Meinung sei, ist mittlerweile auch im Bundes- ihre Ergebnisse doch nur Fördergelder erschleichen
tag anzutreffen. Als etwa der SPD-Abgeordnete wollen. Dabei ist kaum irgendwo diese Vorstellung
Klaus Mindrup in der bereits erwähnten Plenar- so absurd wie in der Klimaforschung. Denn wenn
debatte im Januar 2020 in seiner Rede sagte: „Wir heute ein Wissenschaftler tatsächlich valide Indizien
sehen, dass der Klimawandel stattfindet. Das ist dafür fände, dass der Klimawandel doch nicht men-
erwiesen und bewiesen“, reagierte der AfD-Ab- schengemacht ist und Zehntausende Forscher welt-
geordnete Karsten Hilse mit einem Zwischenruf: weit seit Jahrzehnten völlig falsch liegen – er wäre
„So ein Quatsch! Das ist eben nicht bewiesen!“10 auf einen Schlag weltberühmt, und viele Regierun-
Während seiner eigenen Redezeit führte H ­ ilse gen oder Unternehmen würden ihn sicher mit For-
dann unter anderem aus: „Der Grundgedan- schungsgeldern überhäufen.“12
ke, das Klima überhaupt über eine Verringerung Ähnliches war einst in Kampagnen von Tabak­
der CO2-Emissionen maßgeblich beeinflussen zu konzernen zu beobachten: Wissenschaftliche Er-
können, ist absurd und wird von immer mehr un- kenntnisse, die verifizierte Hinweise auf die
abhängigen Wissenschaftlern abgelehnt.“11 Durch enormen gesundheitlichen Risiken durch Zigaret-
den Hinweis auf „unabhängige Wissenschaftler“ tenkonsum zeigten, wurden gezielt attackiert. Das
konstruierte Hilse einen Gegensatz zu vermeint- Ziel: die Erkenntnisse entweder als fragwürdig an-
lich abhängigen Forscherinnen und Forschern, greifen, sie als eine „Meinung“ von vielen abquali-
die angeblich nur politisch opportune Ergebnis- fizieren – oder die Forschenden als unglaubwürdig
se lieferten. Solche Andeutungen können in Ver- diskreditieren oder schlicht Verwirrung stiften.13
schwörungsmythen gipfeln, in denen die gesamte Weil sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum
internationale Forschung diskreditiert und als ge- Klimawandel nicht grundlegend widerlegen las-
steuert beschrieben wird. sen, werden Forschende zum Feindbild von Ak-
Der Fachjournalist und Buchautor Toralf Staud, teuren, die den Klimawandel oder den Einfluss
der als Redakteur beim Wissenschaftsportal Klima­ des Menschen abstreiten. Ihnen wird nicht nur
fakten.de arbeitet, beschreibt dies als „eine der häu- unterstellt, sie würden entweder fehlerhaft arbei-
figsten Strategien von Desinformations-Kampag- ten oder bewusst manipulieren, sondern sie wer-
nen: Man beruft sich auf angebliche Experten, die den als Teil einer angeblichen Elite dargestellt, die
dann gern ‚unabhängige Wissenschaftler‘ genannt sich gegen „das Volk“ verschworen habe.
werden. Betrachtet man aber genauer, welche Per-
sonen dort als Kronzeugen auftreten, dann haben GEGEN ESTABLISHMENT
die meist keinerlei Fachexpertise in Sachen Klima- UND WISSENSCHAFT
forschung.“ Staud kennt die Versuche, wissenschaft-
liche Erkenntnisse zu entkräften: „Da treten zum Der Trick, Meinung und Faktum zu vermischen,
Beispiel Astrophysiker, Allgemeinmediziner oder wird oft mit anderen Kommunikationsstrategien
Maschinenbau-Ingenieure auf und behaupten, sie des Populismus kombiniert. Dazu gehört vor al-
hätten mehr Kompetenz als ausgewiesene Klima- lem das Agitieren gegen vermeintliche Eliten oder
wissenschaftler. Aber häufig (und auch von Journa- „das Establishment“, während man sich selbst als
listen) wird die Expertise solcher Leute nicht näher „Anwalt des kleinen Mannes“, „Stimme des Vol-
überprüft – was in anderen Lebensbereichen voll- kes“ oder „des gesunden Menschenverstandes“
kommen unüblich ist: Wenn ich zum Beispiel star- präsentiert. Dieses Motiv war sowohl im ersten
ke Zahnschmerzen habe, und neun ausgebildete und
12 Alle Zitate aus einem Gespräch mit dem Autor, 3. 2. 2020.
10 Deutscher Bundestag (Anm. 8), S. 17625. 13 Vgl. Naomi Oreskes/Erik M. Conway, Die Machiavellis der
11 Ebd., S. 17630. Wissenschaft. Das Netzwerk des Leugnens, Weinheim 2014.

36
Freie Rede APuZ

Wahlkampf von Donald Trump als auch bei der wissenschaftlichen Wissens nicht mit so etwas wie
britischen Leave-Kampagne zentral, aber auch absoluter Gewissheit zu verwechseln“.16 Doch ge-
die AfD setzt es ein.14 Bemerkenswert daran ist, nau diese Stärke der Wissenschaft, nämlich die ei-
dass viele der genannten Akteure selbst als Eli- genen Ergebnisse skeptisch zu hinterfragen, wird
te beschrieben werden können: Sie waren oft seit durch pauschale Zweifel und populistische Atta-
Jahren in Wirtschaft und Politik aktiv und Teil cken in eine Schwäche verwandelt.
dessen, was umgangssprachlich mit Establish- Das hat Folgen: In den USA stehen Wissen-
ment umschrieben wird. schaftler, die zum Klimawandel forschen, im Kreuz-
Das Anti-Eliten-Motiv richtet sich auch ge- feuer der Kritik. Die Union of Concerned Scientists
gen die Wissenschaft. Der Präsident der Deutschen dokumentiert seit 2017 Angriffe, die beispielsweise
Forschungsgesellschaft, Peter Strohschneider, be- auf die Umweltbehörde EPA oder die Wetterbehör-
klagte 2017 zunehmende Wissenschaftsfeindlich- de NOAA unternommen werden.17 Die Attacken
keit und populistischen Anti-Intellektualismus. der Trump-Administration auf die Wissenschaft
Seien es die Leugnung des menschengemach- hätten inzwischen so vielfältige Formen angenom-
ten Klimawandels oder die Furcht vor dem Imp- men, dass die US-Regierung dadurch dem wissen-
fen: „Wahn und Lüge, vulgärer Zynismus, nacktes schaftlichen Fortschritt und somit der Gesundheit
Machtkalkül und unverantwortliche Simplifizie- und Sicherheit der Allgemeinheit schade.18
rung beweisen erneut ihre Geschichtsmächtigkeit –
auch gegenüber der Freiheit der Wissenschaft. (…) AUFKLÄRUNG DURCH
Populistische Vereinfachungen und autokratische FAKTENCHECKS?
Durchgriffsideologien verheißen, den Zumutungen
der modernen Welt schadlos entkommen zu kön- Kampagnen zur Desinformation und Propaganda
nen. Deswegen machen sie den sachlichen Diskurs sind beileibe kein neues Phänomen. Die Wirkungs-
ebenso verächtlich wie die methodische Wahrheits- macht solcher Techniken wurde in der Geschichte
suche und die Begründungsbedürftigkeit von Gel- schon vielfach unter Beweis gestellt – oftmals mit
tungsansprüchen. Übrig bliebe dann die Ordnung katastrophalen Konsequenzen. Warum aber er-
der alternative facts.“15 Zugleich schränkte Stroh- leben diese Techniken gerade eine solche Renais-
schneider jedoch ein: Durch Forschung gewonne- sance? Eine entscheidende Ursache dürfte die Di-
ne Evidenz könne und dürfe Politik nicht ersetzen, gitalisierung von politischer Kommunikation und
vielmehr stelle die Wissenschaft der Politik nur die Nachrichtenkonsum sein. Die Mechanismen von
Erkenntnisse zur Verfügung, auf deren Basis Ent- Social-Media-Netzwerken verleiten dazu, zu jeg-
scheidungen getroffen werden. lichen Neuigkeiten umgehend eine Reaktion zu
Dabei ist die Annahme, es gebe eine eindeutige entwickeln: sei es Zustimmung, Ablehnung, Be-
und unumstößliche wissenschaftliche Wahrheit, lustigung, Wut oder Trauer. Wissenschaftliche Er-
genauso schädlich wie das populistische Konzept, kenntnisse, Tatsachen oder Fakten eignen sich für
wissenschaftliche Arbeit durch unbegründete und solche emotionalen Reaktionen denkbar schlecht:
ideologisch motivierte Attacken und Zweifel zu Sie zeichnen sich durch Komplexität und Unein-
verleumden. In Strohschneiders Worten: „Un- deutigkeit aus. Bloße Meinungsäußerungen, ins-
ser Wissen steht unter Revisionsvorbehalt – allein besondere polarisierende, und die Logik der sozia-
dann ist ja an Erkenntnisfortschritte zu denken“; len Netzwerke ergänzen sich hingegen dynamisch:
außerdem sei eine „Haltung offener Ehrlichkeit“ Sie vereinfachen, spitzen zu, sind leicht verständ-
nötig, ebenso wie die „Fähigkeit, von sich selbst lich. Mit Behauptungen und Meinungen lassen
Abstand nehmen zu können, also die eigene Ex- sich Menschen leichter und vor allem schneller er-
pertise nicht schon für das Ganze von Wissen- reichen. Und die Geschwindigkeit von Berichter-
schaft zu halten, die methodische Verlässlichkeit stattung und Nachrichtenkonsum hat sich verviel-
facht, sodass sich die Berichterstattung wiederum
14 Vgl. Eckart Lohse, Kampfbegriff Establishment, 30. 1. 2017,
www.faz.net/-14790617.html.
15 Peter Strohschneider, Über Wissenschaft in Zeiten des 16 Ebd., S. IV, S. VI f.
Populismus, Rede auf der DFG-Jahresversammlung, 4. 7. 2017, 17 Siehe www.ucsusa.org/resources/attacks-on-science.
Halle/S., S. II, www.dfg.de/download/pdf/dfg_magazin/aus_ 18 Vgl. Union of Concerned Scientists, The State of Science
der_forschung/forschung_magazin/2017/forschung_2017_03_ in the Trump Era, 23. 1. 2019, www.ucsusa.org/resources/state-
beilage_dokumentation.pdf. science-trump-era.

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APuZ 12–13/2020

auf das Ereignis selbst auswirken kann, beispiels- daher spielen Feindbilder wie „das Establishment“
weise, wenn es um Falschmeldungen bei Anschlä- auch so eine zentrale Rolle. Der Kulturwissen-
gen oder Katastrophen geht, die Panik auslösen schaftler Michael Seemann hat in einem datenjour-
können. Auch Kriege wie in der Ukraine oder Sy- nalistischen Projekt Hunderttausende Tweets auf
rien werden von Propagandaschlachten begleitet.19 ihre gegenseitigen Beziehungen diagnostiziert und
Für Faktenchecker hält die digitalisierte kam zu dem Schluss, dass die Urheber der Kurz-
Kommunikationswelt somit gleich mehrere He- nachrichten gar nicht in Filterblasen feststecken,
rausforderungen bereit. Denn die oft unterkom- sondern sich vielmehr in „Stammesgesellschaften“
plexen, simplifizierten Behauptungen, die als einfinden. Das Argument fungiert nicht mehr als
Tatsachen verkleidet auf den „Markt der Mei- Beitrag zu einer Debatte, sondern dient der Identi-
nungen“ geworfen werden, müssen zunächst in tätsstiftung.20 Der Blogger David Roberts bezeich-
einen Kontext gesetzt werden, um sie überhaupt nete dieses Phänomen als „tribale Epistemologie“:
überprüfen zu können. Das heißt, die faktische „Eine Information wird nicht anhand von Krite-
Grundlage einer Meinungsäußerung muss her- rien wie wissenschaftlichen Standards der Beweis-
ausgearbeitet werden, denn eine reine Meinungs- führung oder gar der Anschlussfähigkeit an das
äußerung kann nicht als wahr oder falsch klas- allgemeine Weltverständnis beurteilt, sondern ein-
sifiziert werden, sondern nur deren Argumente, zig und allein danach, ob sie den Werten und Zie-
darunter vor allem belegbare Fakten. len des Stammes entspricht. ‚Gut für unsere Seite‘
Aber an wen richten sich solche Faktenchecks und ‚wahr‘ beginnen eins zu werden.“21
überhaupt? Zum einen zeigen die oft erbosten Faktenchecker werden das Problem von Des-
Reaktionen derjenigen, die der Desinformation information und Propagandatechniken nicht un-
überführt werden, dass die Prüfungen durchaus schädlich machen, aber sie können ihre Wirkung
die Verursacher und Verbreiterinnen von geziel- abschwächen und auf bestimmte Milieus begren-
ten Falschmeldungen erreichen. Sie reagieren mit zen. Sie können Falschmeldungen widerlegen, den
Versuchen, die jeweiligen Journalistinnen oder Unterschied zwischen Meinung und Faktum er-
Medien insgesamt als korrupt, inkompetent oder klären und anhand von praktischen Beispielen die
unglaubwürdig zu verunglimpfen. Es handelt sich Mechanismen erklären, um Menschen, die mit Des-
um Strategien, mit denen auch Wissenschaftler information konfrontiert sind – sei es im Freun-
konfrontiert sind. Doch wer meint, ein Fakten- deskreis oder bei der Arbeit, sei es im Netz oder
check könne solche Menschen einfach überzeu- offline – argumentativ zu helfen. Faktenchecks
gen, überschätzt die Möglichkeiten dieser jour- sind ein Angebot und eine Orientierungshilfe.
nalistischen Darstellungsform. Wenn Menschen In ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ schrieb
sogar die Ergebnisse der internationalen wissen- Hannah Arendt, der Austausch und der Streit der
schaftlichen Forschung kurzerhand als falsch oder Meinungen mache das eigentliche Wesen allen
Verschwörung wegwischen, werden sie sich kaum politischen Lebens aus. Dieser Streit wird durch
von einem Faktencheck überzeugen lassen. Desinformation und Propagandatechniken aber
In diesem Kontext darf zudem nicht unter- bedroht. Arendt dazu: „Wo prinzipiell und nicht
schätzt werden, dass die beschriebene Propagan- nur gelegentlich gelogen wird, hat derjenige, der
da vor allem eine Funktion hat: Es handelt sich um einfach sagt, was ist, bereits zu handeln angefan-
eine Abgrenzungs- und Identitätskonstruktion, gen, auch wenn er dies gar nicht beabsichtigte.“22
Das gilt auch für Journalistinnen und Journalis-
ten: Wenn öffentlich gelogen und Meinungen und
19 Vgl. etwa Silvia Stöber, Russische Auslandssender – Waffen Fakten vermischt werden und Meinungsfreiheit
im Informationskrieg, ARD-faktenfinder, 26. 4. 2018, www.tages-
dadurch zur Farce zu werden droht, kann bloßes
schau.de/faktenfinder/ausland/russian-rt-101.html.
20 Vgl. Michael Seemann, Digitaler Tribalismus und Fake News,
Ignorieren keine Option sein.
29. 9. 2017, www.ctrl-verlust.net/digitaler-tribalismus-und-fake-news.
21 Zit. nach ebd.
22 Hannah Arendt, Wahrheit und Politik, in: dies., Zwischen
Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I,
PATRICK GENSING
München 20132, S. 327–370, hier S. 342, zit. nach Judith
Zinsmaier, Hannah Arendt und das „postfaktische Zeitalter“,
ist Redakteur in der „Tagesschau“-Redaktion und
16. 8. 2016, www.praefaktisch.de/postfaktisch/hannah-arendt- leitet den „ARD-faktenfinder“. 2019 erschien sein
und-das-postfaktische-zeitalter. Buch „Fakten gegen Fake News“.

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